Stephan Keiler Brigitte Stangl Ilona Pezenka (Hrsg.)
Reiserecht Europäisches Reiserechtsforum 2008 Tagungsband
SpringerWienNewYork
Universitätsassistent Dr. Stephan Keiler, LL.M. (EuL) Institut für Europarecht und Internationales Recht (IER), Wirtschaftsuniversität Wien Österreich
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Mag. Brigitte Stangl Projektmitarbeiterin Mag. Ilona Pezenka Institut für Tourismus und Freizeitwirtschaft (ITF), Wirtschaftsuniversität Wien Österreich
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ISBN 978-3-211-09458-7 SpringerWienNewYork
Inhaltsverzeichnis Programm Europäisches Reiserechtsforum 2008 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Grußwort des Herrn Staatssekretärs für europäische und internationale Angelegenheiten Hans Winkler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Reiserecht als Teil des Europäischen Privatrechts . . . . . . . . . . Brigitta Jud
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2. Pauschalreise-Richtlinie 90/314/EWG: Notwendige Änderungen aus deutscher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Führich
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3. Das Recht auf Vertragsübertragung gem Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL – eine systematische Betrachtung . . . . . . . Stephan Keiler
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4. (Vor)vertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL und im sonstigen (europäischen) Recht . . . Susanne Augenhofer
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5. Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen (ARB) 1992 . . . . . . . . . . . . . Christoph Grumböck
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6. Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Saria
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7. Die Fluggastrechte-Verordnung und ihre unbestimmten Gesetzesbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ronald Schmid
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Inhaltsverzeichnis
8. Licht am Ende des Tunnels? Streitfragen zur Verordnung 1371/2007/EG im Eisenbahnverkehr sowie zur außergerichtlichen Streitbeilegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Staudinger 9. Die Haftung des Reiseveranstalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Tonner 10. Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht bei «grenzüberschreitenden» Reiseverträgen . . . . . . . . . . . . . . . Brigitta Lurger 11. Rechtsdurchsetzung im Reiserecht – Ausgewählte Probleme Georg Kodek 12. Streitschlichtung statt Prozessführung: Die Schweizer Erfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Metz 13. Die Reiseschiedsstelle Innovative Mechanismen der außergerichtlichen Streitschlichtung im deutschen Reiserecht – Ein Überblick . . Hans-Josef Vogel
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14. Umsetzung der Pauschalreise-RL in das Türkische Rechtssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Necla Akdag-Güney
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Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Programm Europäisches Reiserechtsforum 2008 Donnerstag, 03. Juli 2008 Grußworte des Staatssekretärs für europäische und internationale Angelegenheiten Hans Winkler Pauschalreiserecht Beiträge 1, 2 und 6 Gösta Petri (nicht abgedruckt) Vorsitz: Stefan Griller (Wirtschaftsuniversität Wien) Panelists: Gernot Fieber (Oberösterreichische Arbeiterkammer) Gernot Liska (Wirtschaftskammer Österreich) France Pierret (European Travel Agents’ and Tour Operators’ Association) András Salamon (Rechtsanwalt, Budapest) Ansprüche aus dem Reisevertrag Beiträge 3 und 9 Andreas Riedler (nicht abgedruckt) Vorsitz: Alexander Schmidt (Handelsgericht Wien) Panelists: Wolfgang Graziani-Weiss (Rechtsanwalt, Linz) Antonia Paniza-Fullana (Universitat de les Illes Balears) Michael Wukoschitz (Rechtsanwalt, Wien; IFTTA) Informationspflichten / Allgemeine Reisebedingungen Beiträge 4 und 5 Vorsitz: Ronald Schmid (Rechtsanwalt, Frankfurt; DGfR) Panelists: Alexander Klauser (Rechtsanwalt, Wien) Gerald Stainoch (Jumbo Touristik Gruppe, Wien) Ruth Enthofer-Stoisser (BMASK) VII
Programm
Freitag, 04. Juli 2008 Grußworte des Bundesministers für Soziales und Konsumentenschutz Erwin Buchinger (nicht abgedruckt) Fluggastrechte-VO / Eisenbahnfahrgastrechte-VO Beiträge 7 und 8 Vorsitz: Michael Wukoschitz (Rechtsanwalt, Wien; IFTTA) Panelists: Christian Euler-Rolle (Fly Niki – Niki Luftfahrt GmbH) Renate Dirnbeck (Austrian Airlines Group) Christian Schuster (Tiroler Arbeiterkammer) Internationale Zuständigkeit/IPR / Rechtsdurchsetzung Beiträge 10 und 11 Vorsitz: Kathrin Binder (Universität Wien) Panelists: Johannes Stabentheiner (Bundesministerium für Justiz) Franz Kronsteiner (D.A.S. Österr. Allg. Rechtsschutz-Versicherungs AG) Peter Kolba (Verein für Konsumenteninformation) Streitschlichtung / Streitvermeidung Beiträge 12 und 13 Vorsitz: Tanja Domej (Universität Zürich) Panelists: Irene Welser (CHSH – Partnerschaft von Rechtsanwälten) Ulrike Wolf (European Consumer Centre Austria) Marcus Strasser (Tourismus-Servicestelle, BMWA) Reiserecht aus Sicht der Praxis Moderation: Benedikt Kommenda (Die Presse) Panelists: Haral Glatz (Bundeskammer für Arbeiter und Angestellte) Gregor Kadanka (Mondial GmbH & Co KG, Baden) Heinz Majer (Bezirksgericht für Handelssachen Wien) Thomas Wolf (Wirtschaftskammer Österreich) Gregor Woschnagg (Industriellen Vereinigung; ständiger Vertreter Österreichs bei der EU i. R.) VIII
Vorwort Die Idee eine wissenschaftliche Veranstaltung zum Thema Reiserecht zu organisieren, welche die immanente Internationalität in den Mittelpunkt stellt, geht – wie so oft – auf die Erkenntnis zurück, dass die europäische Dimension bislang nicht ausreichend gewürdigt wurde. In weiten Teilen verdankt der Bestand der Materie Reiserecht – und damit auch das weite Betätigungsfeld für Wissenschaft, Rechtsprechung und Praxis – immerhin weitgehend seine Existenz der europäischen Integration. Darüber hinaus erweisen sich Österreich und Deutschland immer mehr als Zentrum hinsichtlich der Entwicklung des supranationalen Reiserechts: die überwiegende Zahl an Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH zu den zentralen Rechtsakten wurden von Gerichten dieser beiden Mitgliedsstaaten eingeleitet1. Das Europäische Reiserechtsforum/European Travel Law Forum, fand von 03. bis 04. Juli 2008 an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) mit rund 180 Teilnehmern aus 15 Staaten und unter großer Beteiligung von Praktikern und Interessensvertretern statt. Der Erfolg der Veranstaltung wird einer Kooperation des Instituts für Europarecht und Internationales Recht (vormals Europainstitut) und des Instituts für Tourismus und Freizeitwirtschaft der WU sowie der Österreichischen Gesellschaft für Angewandte Forschung verdankt. Ziel des Forums war es, themenspezifischen Vorträge von internationalen Wissenschaftern mit Experten der Tourismuswirtschaft, der Tourismuspolitik und Interessensvertretern unter Einbindung des Auditoriums in Panels zur Diskussion zu stellen. Es ist geplant, das Europäische Reiserechtsforum/European Travel Law Forum in ähnlicher Form 2011 wieder in Wien stattfinden zu lassen; aktuelle Informationen finden sich unter <www.reiserechtsforum.eu> bzw <www.travellawforum.eu>. Die Organisatoren des Europäischen Reiserechtsforum/European Travel Law Forum, die für das vorliegende Werk als Herausgeber fungieren, nutzen die Gelegenheit, sich bei allen Sponsoren, Unterstützern, Vortragenden und
1 Zur Fluggastrechte-VO sind es aktuell sechs (zwei aus Österreich) von acht, zur Pauschalreise-RL immerhin vier (drei aus Österreich) von neun.
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Vorwort
Panelists, bei den Teilnehmern und nicht zuletzt bei der Leitung der beiden federführenden Institute und der WU zu bedanken.2 Die Herausgeber
2 Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird – wie bei juristischen Texten üblich – auf eine explizite Nennung der jeweils weiblichen und männlichen Form verzichtet; die jeweils gewählte Diktion ist ausdrücklich als geschlechtsneutral zu verstehen.
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Grußwort des Herrn Staatssekretärs für europäische und internationale Angelegenheiten Dr. Hans Winkler anlässlich der Eröffnung des Europäischen Reiserechtsforums in der Wirtschaftsuniversität Wien am 03.07.2008 Es gilt das gesprochene Wort! Sehr geehrte Damen und Herren Veranstalter des Europäischen Reiserechtsforums, Sehr geehrter Herr Rektor, sehr geehrter Herr Professor Griller, sehr geehrter Herr Professor Mazanec, sehr geehrte Damen und Herren Professoren aus vielen Teilen Europas, sehr geehrte Damen und Herren aus den Europäischen Institutionen, sehr geehrte Damen und Herren Vertreter aus der Wirtschaft, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich ganz außerordentlich, Sie alle beim Europäischen Reiserechtsforum in Wien begrüßen zu dürfen. Diese vom Europainstitut und dem Institut für Tourismus und Freizeitwirtschaft der Wirtschaftsuniversität Wien sowie vom Österreichischen Institut für Angewandte Forschung in der Tourismus- und Freizeitwirtschaft organisierte Veranstaltung ist einzigartig in Österreich. Den Veranstaltern dieses Forums ist es gelungen, just zu Beginn der großen Reisezeit Experten aus Wissenschaft und Praxis, von nationalen und supranationalen Institutionen in Wien zu versammeln. Das Reiserechtsforum ist somit für Sie DIE Gelegenheit in den kommenden Tagen aktuelle Fragen im Zusammenhang mit den rechtlichen und wirtschaftlichen Grundlagen des europäischen Reiserechts zu diskutieren und aktuelle Entwicklungen gemeinsam zu erörtern.
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Grußwort
Meine Damen und Herren, Wie insb die letzten Wochen und Monate bewiesen haben, ist Europa ein heiß diskutiertes Thema. Oft wird der Vorwurf bemüht, das Europa der Europäischen Union sei zu abstrakt, betreffe den einzelnen zu wenig. Ich denke, dass es an uns liegt zu zeigen, wie jeder einzelne in vielen Bereichen von der EU profitiert. Ich bin davon überzeugt, dass auch Sie alle in diesem Forum dazu einen Beitrag leisten können, diese Aspekte herauszuarbeiten und zu kommunizieren. Sie werden sich in den kommenden Tagen in verschiedenen Panels intensiv mit dem Thema Reiserecht auseinandersetzen. Gerade in diesem Bereich hat die EU bedeutende Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger bewirkt. Ich brauche Ihnen gegenüber die Bedeutung der Pauschalreiserichtlinie oder der Rechtsakte über die Entschädigung oder Unterstützungsleistungen von Fluggästen bei Nichtbeförderung nicht zu betonen. Lassen Sie mich stattdessen kurz die praktischen Seiten des Reisens ansprechen und die Rolle des Außenministeriums in diesem Zusammenhang skizzieren. Die Sommerreisesaison steht vor der Tür und für viele Österreicherinnen und Österreicher bedeutet das Vorfreude auf verschiedenste Auslandsreisen. Für das Außenministerium bedeutet diese Zeit jedoch jedes Jahr eine große Herausforderung. In Folge der stetig steigenden Zahl von Auslandsreisen ist es in den letzten Jahren auch zu einem Anstieg der Hilfsleistungen durch unsere Konsulate und Botschaften gekommen. Letztes Jahr wurden mehr als fünf Millionen Auslandsreisen von Österreicherinnen und Österreichern registriert. Die Zahl der Konsularfälle nahm im Jahr 2007 im Vergleich zum Vorjahr um ca 17% auf 114.969 Fälle zu. Dabei gab es 2007 einen traurigen Hochstand bei der Zahl der im Ausland verstorbenen Österreicher, nämlich 1.902 Fälle. Zunahmen gab es unter anderem auch bei der Ausstellung von Notpässen (+19,9%), bei der Hilfeleistung bei Erkrankung oder Unfall (+14,8%) sowie bei der Betreuung von Sozialfällen (+16,2%) und in finanziellen Notfällen. Neben der rein zahlenmäßigen Zunahme von Auslandsreisen hat sich in den letzten Jahren aber auch das Reiseverhalten der Menschen stark verändert. Stand früher der reine Bade- und Erholungsurlaub im Vordergrund, so zieht es heute immer mehr Menschen, und dabei nicht nur junge Leute, in exotische und weit entfernte Länder bzw. auf Abenteuer- und Erlebnisurlaube, die natürlich auch einer gründlicheren Vorbereitung bedürften, was aber leider nicht immer geschieht. Um die Sicherheit der österreichischen Touristen zu verbessern, appelliert das Außenministerium an diese, ihren Urlaub gut zu planen und sich bereits im Vorfeld über mögliche Unsicherheiten an den Reisedestinationen zu informieren. Immerhin besteht derzeit für zehn Länder eine Reisewarnung und für 17 Länder eine partielle Reisewarnung. Sollte man dennoch in eines dieser Länder reisen müssen, wird dringend angeraten, sich vor Reiseantritt bei der XII
Grußwort
zuständigen Botschaft zu melden und Detailinformationen über die geplanten Destinationen einzuholen. Auf seiner Homepage bietet das Außenministerium unter anderem auch detaillierte Länder- und Reisehinweise für sämtliche Staaten der Welt. Diese wichtigen Informationen werden im Wege unseres weltweiten Netzes an Vertretungsbehörden sowie in Koordination mit den EU-Partnern zusammengestellt und regelmäßig aktualisiert. Sollte trotz guter Vorbereitung und eingehender Vorsichtsmaßnamen dennoch ein Notfall im Ausland eintreten, so können sich österreichische Bürgerinnen und Bürger vertrauensvoll an die zuständigen österreichischen Vertretungsbehörden (Botschaften, Generalkonsulate, Konsulate und Honorarkonsulate) wenden. Diese werden im Rahmen der Gesetze des Empfangsstaates bemüht sein, nach besten Kräften Unterstützung zu leisten. Für Notfälle hat das Bürgerservice des Außenministeriums eine Hotline eingerichtet, die rund um die Uhr unter der Telefonnummer: +43-5011504411 erreichbar ist. Die Mitarbeiter sind mit mehreren hundert Anfragen täglich konfrontiert. Daneben sind aber auch alle Berufsvertretungen weltweit rund um die Uhr im Notfall erreichbar (Service: Information, Reisetipps im Internet unter
); Lassen Sie mich zum Schluss den Veranstaltern erneut zur Organisation dieses Forums gratulieren. Ich wünsche Ihnen, sehr geehrte Damen und Herren, interessante und spannende Gespräche und Diskussionen. Ich bin sicher, dass Sie alle dieses Treffen mit einer Fülle von neuen Anregungen, Eindrücken und auch wertvollen neuen persönlichen Kontakten abschließen werden.
Bundesminister für Soziales und Konsumentenschutz Dr. Erwin Buchinger hebt in seinen Grußworten die Bedeutung des Verbraucherrechts und insbesondere des Reiserechts im Rahmen der Europäischen Integration hervor und die Notwendigkeit von Regeln auf dem internationalen Markt
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1. Reiserecht als Teil des Europäischen Privatrechts Brigitta Jud 1.1 Reiserecht als Teil der «Europäischen Gesetzgebung» 1.1.1 Die Pauschalreise-RL 90/314/EWG vom 13.06.1990 Zentrale Bedeutung im Europäischen Reiserecht kommt der Pauschalreise-RL aus dem Jahr 1990 zu.1 Durch die Angleichung der Vorschriften der Mitgliedstaaten (MS) über Pauschalreisen soll der Wettbewerb gefördert und dem Verbraucher die Möglichkeit geben werden, in sämtlichen MS Pauschalreisen zu vergleichbaren Bedingungen zu buchen.2 Die Pauschalreise-RL soll also zur Vollendung des Binnenmarktes und zur Verstärkung des Verbraucherschutzes beitragen. Sie normiert – wie die meisten anderen Verbraucherschutz-RL auch – lediglich eine Mindestharmonisierung: Gem Art 8 können die MS strengere Vorschriften zum Schutz des Verbrauchers erlassen oder aufrechterhalten. Der Schutz beschränkt sich allerdings nicht auf Verbraucher im engeren Sinn, sondern erstreckt sich auf Reisende im Allgemeinen.3 Auch derjenige, 1 Richtlinie 90/314/EWG des Rates vom 13.06.1990 über Pauschalreisen, ABl 1990 L 158/ 59; zur Pauschalreise-RL siehe Hahnl, Die Pauschalreise-Richtlinie 90/314/EWG, in Saria, Tourismus und Gastronomie (2002) 80 ff. Kietaibl, Pauschalreiserecht (2007) 11 ff. Zu ihrer Umsetzung im österreichischen Recht siehe zB Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht2 (2008) 87 ff; Mayrhofer, Anmerkungen zur Umsetzung der EG-Pauschalreisenrichtlinie in das KSchG, ZfRV 1995, 229 (230 ff); Apathy, Das neue Reisevertragsrecht, RdW 1994, 234; Riedler, Der Reisevertrag, ecolex 1994, 149; Michitsch, Reiserecht, Kommentar der §§ 31b ff KSchG (2004) Vor §§ 31b–31f Rz 9 f. 2 Siehe dazu den ErwGr 2, 3 Pauschalreise-RL. 3 Vgl Art 2 Z 4 Pauschalreise-RL, der den Verbraucherbegriff der RL definiert; siehe dazu Riedler, ecolex 1994, 150; Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht2 85 f; krit zu diesem weiten Verbraucherbegriff Tonner, Reisevertrag, in Gebauer/Wiedmann (Hg), Zivilrecht unter europäischem Einfluss (2005) 518; ders, 10 Jahre EG-Pauschalreise-Richtlinie – eine Bilanz, EWS 2000, 473 f.
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Reiserecht als Teil des Europäischen Privatrechts
der zu beruflichen Zwecken eine Pauschalreise bucht, ist in den Schutzbereich einbezogen.4 Die Pauschalreise-RL ist also genau genommen eine Kundenschutz-RL.5 Dieser Kundenschutz soll – entsprechend der bei Inkrafttreten der RL georteten Probleme – vor allem durch vier Mechanismen erreicht werden: Zunächst einmal soll der Kundenschutz durch ausreichende Informationen des Reisenden und Schutz vor irreführenden Angaben der Reiseveranstalter bewerkstelligt werden. So bestimmt Art 3, dass die dem Verbraucher vom Veranstalter oder Vermittler gegebenen Reisebeschreibungen, ihr Preis und die übrigen Vertragsbedingungen keine irreführenden Angaben enthalten dürfen. Dies gilt im Besonderen für Reiseprospekte. Angaben in Prospekten binden den Veranstalter, sofern nicht ausdrücklich auf Änderungen im Prospekt hingewiesen wurde oder später etwas anderes vereinbart wurde. Dieses allgemeine Irreführungsverbot wird in Art 4 und im Anhang zur RL durch weitere Informationspflichten ergänzt. Ein zweiter Punkt betrifft die Voraussetzungen und Schranken eines einseitigen Preis- und Leistungsänderungsrechts. So bestimmt Art 4 Abs 3, dass ein Verbraucher, der die Pauschalreise nicht antreten kann, seine Buchung auf eine Person übertragen kann, die alle an die Teilnahme geknüpften Bedingungen erfüllt. Mehrkosten sind vom Verbraucher zu tragen. Gem Art 4 Abs 4 dürfen die vertraglich festgelegten Preise nur geändert werden, wenn dies im Vertrag bereits vorgesehen ist und einer der in der RL angeführten Änderungen vorliegt (Beförderungskosten, Wechselkurse etc).6 Bei einer Preisänderung kann der Verbraucher ohne Zahlung einer Vertragsstrafe zurücktreten oder die Zusatzklausel akzeptieren (Art 4 Abs 5). Tritt der Verbraucher zurück oder storniert der Veranstalter die Reise, hat der Verbraucher Anspruch auf eine andere Pauschalreise oder die schnellstmögliche Erstattung aller aufgrund des Vertrages gezahlten Beträge.7 Wenn nach Abreise ein Teil der vereinbarten Leistungen nicht erbracht wird, so hat der Veranstalter (ohne Preisaufschlag) angemessene Vorkehrungen zur weiteren Durchführbarkeit zu treffen und Entschädigungen zu zahlen (Art 4 Abs 7). Können solche Vorkehrungen nicht getroffen werden, hat der Veranstalter für eine Beförderungsmöglichkeit zum Ort der Abreise oder zu einem anderen vereinbarten Ort zu sorgen (Art 4 Abs 7).8
4 Apathy in Schwimann, ABGB V3 (2006) § 31b KSchG Rz 2. 5 Vgl Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht2 55 f; Michitsch, Reiserecht, § 31b Rz 23 ff. 6 Siehe dazu Bläumauer, Der Kerosinzuschlag – Schranken und Hürden von Preisänderungen beim Reisevertrag, RdW 2001, 394 mwN. 7 Siehe dazu Wilhelm, Änderung der Reise und Storno, ecolex 1994, 145; Fischer-Czermak, Leistungsstörungen beim Reiseveranstaltungsvertrag, JBl 1997, 274 (277). 8 Vgl B. Jud, Gewährleistung beim Reiseveranstaltungsvertrag, ecolex 2001, 430.
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Reiserecht als Teil der «Europäischen Gesetzgebung»
Der dritte Punkt betrifft die Haftung des Reiseveranstalters für Reisemängel (Art 5 f). Art 5 verpflichtet die MS, Maßnahmen zu treffen, damit der Veranstalter gegenüber dem Verbraucher die Haftung für die ordnungsgemäße Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen unabhängig davon übernimmt, ob er selbst oder andere Dienstleister diese Verpflichtungen zu erfüllen haben (Abs 1). Außerdem haben die MS eine Haftung für die durch die Nichterfüllung verursachten Schäden sicherzustellen, es sei denn, es trifft weder den Veranstalter noch einen anderen Dienstleistungsträger ein Verschulden, weil die Versäumnisse bei Vertragserfüllung entweder dem Verbraucher zuzurechnen sind oder die unvorhersehbaren oder nicht abwendbaren Versäumnisse einem am Vertrag unbeteiligten Dritten zuzurechnen sind oder die Versäumnisse auf höhere Gewalt oder ein vom Veranstalter nicht abwendbares Ereignis zurückzuführen sind. Der Veranstalter muss sich auch in diesen Fällen bemühen, dem Verbraucher Hilfe zu leisten. Der vierte Punkt betrifft schließlich den Schutz der Reisenden vor Insolvenz des Veranstalters oder Vermittlers. Nach Art 7 der RL hat der Veranstalter nachzuweisen, dass im Falle der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses die Erstattung gezahlter Beiträge und die Rückreise des Verbrauchers sichergestellt sind.9 1.1.2 Die Fluggastrechte-VO 261/2004 vom 11.02.2004 Einen zweiten, wesentlichen Baustein des Europäischen Reiserechts stellt die Fluggastrechte-VO 261/2004 dar,10 welche die sogenannte ÜberbuchungsVO aus dem Jahr 1991 abgelöst hat.11 Die Fluggastrechte-VO ist direkt anwendbar und enthält gemeinsame Bestimmungen für Ausgleichs- und Unter9 Ausf dazu Hahnl in Saria, Tourismus und Gastronomie 97 ff. 10 VO 261/2004/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der VO 295/91/EWG, ABl 2004 L 46/1; siehe ausführlicher zur Fluggastrechte-VO Aufner, Die neue EU-Überbuchungsverordnung, ZVR 2005, 229 (230 ff); Pfeiffer, Die neue EU-Verordnung über Fluggast-Entschädigungen, ÖAMTCFI 2005/97; Schmid, Die Bewährung der neuen Fluggastrechte in der Praxis – Ausgewählte Probleme bei der Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 261/2004, NJW 2006, 1841; ders, Fluggastrechte in der Praxis – Ein Überblick über Entscheidungen zur Verordnung (EG) Nr. 261/004 mit Anmerkungen, NJW 2007, 261; Staudinger/SchmidtBendun, Neuregelung über Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste, NJW 2004, 1897; Keiler, Die Fluggastrechte-VO vor dem EuGH, ZVR 2009, 236. 11 VO 295/91/EWG des Rates vom 04.02.1991 über eine gemeinsame Regelung für ein System von Ausgleichsleistungen bei Nichtbeförderung im Linienflugverkehr, ABl 1991 L 36/5; siehe dazu zB Ofner, Überbuchte Flüge und das Zivilrecht – eine Verordnung der EU, ecolex 1994, 453; Giemulla, Überbuchungen bei Luftbeförderungen, EuZW
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Reiserecht als Teil des Europäischen Privatrechts
stützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung, bei Annullierung oder Verspätung von Flügen. Die Fluggastrechte-VO hat jüngst die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, hat doch das HG Wien erstmals eine Entschädigung wegen Flugverspätung auf Basis der VO zugesprochen.12 Die VO gilt für Fluggäste, die (i) auf einem Flughafen eines MS einen Flug antreten oder – unter bestimmten Voraussetzungen – (ii) auf einem Flughafen eines Drittstaats einen Flug zu einem Flughafen eines MS antreten (Art 3 Abs 1).13 Der Fluggast muss zudem über eine bestätigte Buchung verfügen und sich – ausgenommen bei Annullierung – zur vorgegebenen Zeit, oder wenn keine Zeit angegeben wurde, 45 min vor veröffentlichtem Reisetermin, zur Abfertigung einfinden (Art 3 Abs 2). Im Gegensatz zur früheren Überbuchungs-VO gilt die Flugverkehrs-VO auch für Charterflüge. Die Art 7, 8 und 9 beschreiben die Ansprüche der Fluggäste. Diese Ansprüche sind der nach der Entfernung und – bei alternativer Beförderung – nach der Verspätung abgestufte betragsmäßig festgesetzte Ausgleichsanspruch (Art 7), der Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung (Art 8) und der Anspruch auf Betreuungsleistungen, wie etwa Mahlzeiten, Hotelunterbringung, Beförderung zwischen Flughafen und Hotel sowie unentgeltliche Telefongespräche, Telefaxe oder emails (Art 9). In Art 4 wird die Nichtbeförderung konkretisiert. Wenn es nach vernünftigem Ermessen absehbar ist, dass nicht alle Gäste befördert werden können, hat das Luftfahrtunternehmen zu versuchen, Fluggäste gegen eine Gegenleistung zum freiwilligen Verzicht zu bewegen. Finden sich nicht genügend Freiwillige, kann die Beförderung verweigert werden. Dies löst die Ansprüche nach Art 7, 8 und 9 aus. Mit der Annullierung beschäftigt sich Art 5. Grundsätzlich hat der Fluggast den Anspruch auf Erstattung oder anderweitige Beförderung (Art 8) sowie ge-
1991, 367 (369); Lorenz, Linien- und sonstiger Flugverkehr, in Saria, Tourismus und Gastronomie 106 ff. 12 HG Wien 1 R 206/07a =ZVR 2008, 341 (Michitsch): Die Klägerin wollte nach Johannesburg reisen. Obwohl das witterungsbedingt notwendige Enteisen des Flugzeugs am Flughafen Schwechat nur ca 17 min in Anspruch nimmt, verzögerte sich der Start um mindestens eine Stunde, sodass sie ihren Anschlussflug in Frankfurt versäumte. Erst am nächsten Tag konnte sie weiterfliegen und kam mit knapp zwölfstündiger Verspätung an. Dass die Verspätung der Einflusssphäre der Fluglinie entzogen sei, konnte diese nicht darlegen. Da die Verspätung über fünf Stunden betrug, verlangte die Klägerin Kosten für den Hinflug iHv EUR 511,12 als Entschädigung. Dieser Anspruch wurde vom HG bestätigt. Dieses sah darin sogar eine Nichtbeförderung, wofür aufgrund der Entfernung EUR 600,– als Ausgleichsanspruch zugestanden wären. Dazu T. Arnold, Ansprüche bei Flugverspätung, Annullierung oder Nichtbeförderung, ecolex 2008, 712. 13 Siehe dazu EuGH 10.07.2008 Rs C-173/07 =NJW 2008, 2697 =VRInfo 7/2008, 1; Keiler, Reisemangel durch Vorverlegung des Rückflugs – Ansprüche nach der Pauschalreise-RL und der Fluggäste-VO, Zak 2007, 263 (265 f).
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Reiserecht als Teil der «Europäischen Gesetzgebung»
gebenenfalls auf Unterstützungsleistungen (Art 9). Der Ausgleichsanspruch nach Art 7 besteht nur, wenn der Fluggast nicht «rechtzeitig» – die «Rechtzeitigkeit» wird detailliert geregelt – über die Annullierung verständigt wird. Art 6 präzisiert den Tatbestand der Verspätung. Je nach Entfernung und Dauer der Verspätung gebührt ein Anspruch auf entsprechende Unterstützungsleistungen nach Art 9. Wenn die Verspätung mindestens fünf Stunden beträgt, hat der Fluggast Anspruch auf Erstattung des Flugpreises (Art 8 Abs 1 lit a). Auch Flüge, die im Rahmen einer Pauschalreise erbracht werden, fallen unter die VO, so dass Ansprüche der Reisenden gegebenenfalls aus beiden Regelwerken abgeleitet werden können. 1.1.3 Die VO 889/2002/EG über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen vom 13.05.2002 (Übereinkommen von Montreal) Der dritte vorzustellende Rechtsakt ist das Übereinkommen von Montreal über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen,14 das durch die VO15 in Europäisches Recht «gegossen» wurde. Das Übereinkommen von Montreal löste das Abkommen von Warschau und die entsprechende Vorgänger-VO16 ab.17 Zentrales Anliegen des Übereinkommens und dementsprechend auch der VO ist eine Haftung des Luftfahrtunternehmens bei Unfällen für Sachschäden, Verspätungsschäden und Personenschäden. Die VO ergänzt das Übereinkommen von Montreal um eine Versicherungspflicht für Luftfahrtunternehmen, die sicherstellt, dass alle berechtigten Personen vollen Ersatz erhalten. Überdies erstreckt die VO das Haftungsregime auch auf rein innerstaatliche Flüge. Für Personenschäden haftet das Luftfahrtunternehmen bis zu einem Höchstbetrag von 100.000 Sonderziehungsrechten verschuldensunabhängig. Die Sonderziehungsrechte sind vereinfacht gesagt eine «fiktive Währung», die auf Basis der bestehenden Reserveguthaben der MS beim Internationalen
14 Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr 28.05.1999 (Montrealer Übereinkommen). Dazu Schmid/Müller-Rostin, In-Kraft-Treten des Montrealer Übereinkommens von 1999: Neues Haftungsregime für internationale Lufttransporte, NJW 2003, 3516; Aufner, Neuerungen im Luftfahrt-Haftpflichtrecht, ZVR 2002, 328 (330 ff). 15 VO 889/2002/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.05.2002 zur Änderung der VO 2027/97/EG des Rates über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen, ABl 2002 L 140/2. 16 VO 2027/97/EG des Rates über die Haftung von Luftfahrtunternehmen bei Unfällen, ABl 1997 L 285/1. 17 Zur Entwicklung des Luftfahrthaftpflichtrechts siehe Aufner, ZVR 2002, 328; ders, Das österreichische Luftfahrt-Haftpflichtrecht auf neuem Kurs, ZVR 2006, 349 (350 ff).
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Reiserecht als Teil des Europäischen Privatrechts
Währungsfonds ermittelt wird. 100.000 Sonderziehungsrechte entsprechen derzeit etwas mehr als 100.000,– EUR.18 Für darüber hinausgehende Personenschäden haftet der Luftfahrtunternehmer, wenn er nicht nachweist, dass weder er noch seine Leute den Schaden durch ein unrechtmäßiges Verhalten verursacht haben oder der Schaden ausschließlich auf eine unrechtmäßige Handlung oder Unterlassung eines Dritten zurückzuführen ist. Für aufgegebenes Reisegepäck wird eine verschuldensunabhängige Haftung des Luftfrachtführers für Schäden normiert, die während der Zeit eingetreten sind, in der sich das Gepäck in seiner Obhut befunden hat. Er haftet jedoch nicht, soweit der Schaden auf die Eigenart des Gepäcks oder einen ihm innewohnenden Mangel zurückzuführen ist. Für nicht aufgegebenes Reisegepäck (insb Handgepäck) sieht das Übereinkommen dagegen eine Verschuldenshaftung des Luftfrachtführers oder seiner Leute vor. Für den Bereich der Haftung für Verspätungsschäden statuiert das Übereinkommen eine Verschuldenshaftung des Luftfrachtführers (bzw seiner Leute) mit umgekehrter Beweislast für Schäden, die durch die Verspätung bei der Luftbeförderung von Reisenden, Gepäck oder Gütern entstehen. Für Zerstörung, Verlust, Beschädigung oder Verspätung von Reisegepäck und Gütern sowie für Verspätungsschäden bei der Personenbeförderung normiert das Übereinkommen Haftungshöchstbeträge, die jedoch nicht gelten, wenn der Schaden vom Luftfrachtführer oder seinen Leuten absichtlich oder leichtfertig verursacht wurde.
1.2 Reiserecht als Teil der Europäischen Rechtsprechung Die große Bedeutung des Reiserechts im Europäischen Privatrecht zeigt sich aber nicht nur in den erwähnten legislativen Rechtsakten, sondern auch in dem Umstand, dass der EuGH wiederholt mit der Auslegung der Pauschalreise-RL befasst wurde. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass diesen Entscheidungen eine weit über das Reiserecht hinausgehende Bedeutung zukommt. 1.2.1 EuGH 08.10.1996, Dillenkofer ea/Deutschland verb Rs C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94 Die erste Entscheidung zur Pauschalreise-RL aus 1996 erfolgte im Rahmen eines Vorabentscheidungsersuchens des Landgerichts Bonn in einem zwischen Herrn Dillenkofer und anderen einerseits und der Bundesrepublik Deutsch18 Zum aktuellen Umrechnungskurs .
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land andererseits anhängigen Verfahrens.19 Die Kläger hatten Pauschalreisen gebucht und konnten diese wegen Konkurses der Reiseveranstalter nicht antreten oder mussten auf eigene Kosten von ihrem Ferienort zurückkehren. Den Klägern wurden weder die Beträge, die sie diesen Veranstaltern gezahlt hatten, noch die ihnen für ihre Rückreise entstandenen Kosten erstattet. Die Bundesrepublik Deutschland hatte Art 7 der Pauschalreise-RL, nach dem der Veranstalter nachzuweisen hat, dass im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses die Erstattung gezahlter Beträge und die Rückreise des Verbrauchers sichergestellt sind, nicht fristgerecht umgesetzt. Daher machten die Kläger Schadenersatz gegen Deutschland geltend, da sie bei rechtzeitiger Umsetzung der Pauschalreise-RL vor den Folgen des Konkurses der Reiseveranstalter geschützt gewesen wären. In Fortsetzung seiner bisherigen Rsp zur sogenannten Staatshaftung20 führte der EuGH aus, dass die Nichtumsetzung einer RL innerhalb der festgesetzten Frist als solche einen qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht darstellt und einen Entschädigungsanspruch für den Geschädigten gegen den «nichtumsetzenden» MS begründet. Voraussetzung sei allerdings, dass die RL die Verleihung an Rechten an den Einzelnen bezweckt, deren Inhalt bestimmbar ist und dass zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat auferlegte Verpflichtung und dem eingetretenen Schaden ein Kausalzusammenhang besteht. Diese Voraussetzungen sieht der EuGH in Art 7 der Pauschalreise-RL verwirklicht: Er bezwecke die Verleihung von Rechten an den Einzelnen, die Rechte seien inhaltlich bestimmt und auch der Kausalzusammenhang sei zu bejahen. 1.2.2 EuGH Rs C-140/97 (Rechberger ea/Österreich) Art 7 Pauschalreise-RL wurde nicht nur Deutschland, sondern auch Österreich zum Verhängnis.21 Art 7 wurde in Österreich durch die Reisebüro-Siche-
19 EuGH verb Rs C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94, Slg 1996 I04845 =JZ 1997, 198 (Eidenmüller) =VuR 1996, 396 (Tonner) =EuZW 1996, 654; siehe dazu Huff, Eine erste Bewertung des EuGH-Urteils Dillenkofer, NJW 1996, 3190. 20 Bspw EuGH 19.11.1991 verb Rs C-6/90 u C-9/90 (Francovich ea) Slg 1991 I-05357 =NJW 1992, 165; 05.03.1996 verb Rs C-46/93 u C-48/93 (Brasseerie du Pêcheur), Slg 1996 I 1029 =NJW 1996, 1267; zur Staatshaftung siehe zB Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht2 51 f; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht2 (2007) 38 f. 21 EuGH 15.06.1999 Rs C-140/97 Slg 1999 I-03499 =EuZW 1999, 468 (Tonner) =NJW 1999, 3181; siehe dazu Stix-Hackl, «Pauschalreisen und Staatshaftung» – eine unendliche Geschichte, AnwBl 1999, 470.
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rungs-VO (RSV) umgesetzt.22 In dieser war vorgesehen, dass der Reiseveranstalter durch Abschluss eines Versicherungsvertrages sicherzustellen hat, dass Reisenden bereits entrichtete Beträge erstattet werden, soweit Reiseleistungen infolge Konkurs des Veranstalters unterblieben sind (§ 3 Abs 1 RSV). Diese VO war auf alle Pauschalreisen anzuwenden, die nach dem 01.01.1995 gebucht und nach dem 01.05.1995 angetreten wurden. Der EuGH bejahte auch hier im Ergebnis die Staatshaftung. Ein MS, der der EU am 01.01.1995 beigetreten ist und der die Pauschalreise-RL spätestens bis zu diesem Zeitpunkt umsetzen musste, hat Art 7 der RL nicht ordnungsgemäß umgesetzt, wenn die Regelung nicht für alle nach dem 01.01.1995 durchgeführten Reisen Anwendung findet. Eine Umsetzung des Art 7, die den in dieser Art vorgeschriebenen Schutz auf Reisen beschränkt, die frühestens vier Monate nach Ablauf der Frist für die Umsetzung der RL angetreten werden, stellt auch einen hinreichend qualifizierten Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht dar, auch wenn der MS alle anderen Vorschriften der RL umgesetzt hat. Die Umsetzungsvorschrift wurde vom EuGH auch inhaltlich als unzulässig qualifiziert. Die Versicherungssumme orientierte sich nämlich nicht am Reisepreis oder den Kosten der Rückfahrt, sondern an einem Prozentsatz vom Umsatz des Reiseveranstalters im entsprechenden Quartal des vorangegangenen Kalenderjahres. Eine solche Regelung ist nach Ansicht des EuGH von ihrer Struktur her nicht fähig, einem in dem betreffenden Wirtschaftssektor eintretenden Ereignis Rechnung zu tragen und kann nicht die Erstattung aller vom Verbraucher gezahlten Beträge und seine Rückreise im Fall der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses des Reiseveranstalters für den Verbraucher sicherstellen. 1.2.3 EuGH 14.05.1998, Rs C-364/96 (VKI/Österreichische Kreditversicherung) Mit der Auslegung von Art 7 wurde der EuGH ein weiteres Mal von einem österreichischen Gericht befasst.23 Das Ehepaar Hofbauer, das seine Ansprüche an den VKI abgetreten hat, hatte bei der Karthago-Reisen GmbH eine Pauschalreise nach Kreta gebucht und vollständig bezahlt. Der Inhaber des Hotels, in dem das Ehepaar untergebracht war, hatte von der Zahlungsunfähigkeit der Karthago-Reisen GmbH erfahren und verlangte daher von den Reisenden die Bezahlung sämtlicher Übernachtungen. Da das Ehepaar vom Hotelinhaber 22 BGBl 881/1994; zur RSV siehe ÖAMTC-FI 1995/64. Diese erste RSV wurde von der RSV BGBl 316/1999 abgelöst; dazu Sigmund, Grundsätzliches zur Anwendung der Reisebüroversicherungsverordnung, in Saria, Tourismus und Gastronomie 382 ff. 23 EuGH 14.05.1988 Rs C-364/96, Slg 1998 I-02949 =EuZW 1998, 440 (Tonner) =KRES 10/83 =NJW 1998, 2201 =wbl 1998, 257.
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mit Gewalt am Verlassen des Hotels und somit der Rückreise gehindert wurde, bezahlten sie die Kosten ihrer Unterbringung an den Hotelinhaber. Ihre Ansprüche wurden gegenüber der Österreichischen Kreditversicherungs AG als Versicherer der Karthago-Reisen geltend gemacht. Fraglich war, ob auch die Bezahlung von Beträgen, die der Verbraucher an den Leistungsträger vor Ort erbringt, weil ihn dieser ohne Bezahlung an der Rückreise hindert, vom Schutzbereich des Art 7 als Sicherstellung der Rückreise des Verbrauchers umfasst wird. Auch diese Frage wurde vom EuGH bejaht: Art 7 der RL diene dem Schutz der Verbraucher gegen Risiken, die sich aus der Zahlungsunfähigkeit oder dem Konkurs des Veranstalters ergeben. In einem solchen Fall solle daher auch die Erstattung der vom Verbraucher gezahlten Beträge und seine Rückreise sichergestellt werden. Die Garantie der «Erstattung der gezahlten Beträge» betreffe jene Fälle, in denen die Zahlungsunfähigkeit oder der Konkurs des Veranstalters nach Vertragsschluss und vor Beginn der Erfüllung des Vertrages eintrete oder in denen die Leistungen während der Vertragserfüllung eingestellt werden. Die «sicherzustellende» Garantie der Rückreise des Verbrauchers soll verhindern, dass der Verbraucher während der Erfüllung des Vertrages an seinem Aufenthaltsort deswegen festgehalten wird, weil der Beförderer sich wegen der Zahlungsunfähigkeit des Veranstalters weigert, die der Rückreise entsprechende Leistung zu erbringen. 1.2.4 EuGH Rs C-237/97 (AFS Intercultural) Eine andere Entscheidung des EuGH befasste sich mit der Frage der Anwendbarkeit der Pauschalreise-RL auf ein Schüleraustauschprogramm.24 Der AFS Finland ist ein gemeinnütziger Verein, der zweimal im Jahr Schüler ins Ausland entsendet, in der Regel für sechs bis elf Monate. Die Schüler besuchen eine Schule im Gastland und wohnen bei Familien, die sie kostenlos aufnehmen. Die Schüler werden vom AFS Finland ausgewählt und in den Familien untergebracht. Anschließend organisiert der Verein die Reise der Schüler mit Linienflügen in das Gastland, für die die Schüler ein Entgelt entrichten. Nach Art 2 RL liegt eine Pauschalreise nur vor, wenn mindestens zwei Dienstleistungen zu einem Gesamtpreis verkauft werden und die Leistung länger als 24 Stunden dauert oder eine Übernachtung einschließt. Bei den Dienstleistungen muss es sich um eine Beförderung, eine Unterbringung oder eine andere touristische Leistung handeln, die nicht Nebenleistung ist und einen beträchtlichen Teil der Gesamtleistung ausmacht. Der EuGH verneinte im Ergebnis die Anwendung der Pauschalreise-RL. Zwar erfülle die Organisation der Reise mit Linienflügen unstreitig das Tatbe24 EuGH 11.02.1999 Rs C-237/97, Slg 1999 I-00825 =EuZW 1999, 219 =wbl 1999, 168.
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standsmerkmal «Beförderung» iSd Art 2 Nr 1 RL, doch fehle es hier an einer «Unterbringung» iSd RL. Zur Auslegung des Begriffes «Unterbringung» führte der EuGH aus, dass diese Dienstleistung zwar traditionell von Hotels, Gasthäusern oder ähnlichen Einrichtungen gegen Entgelt erbracht wird, dass aber ein Aufenthalt in einer solchen Einrichtung kein notwendiges Merkmal des Begriffes «Unterbringung» im Sinne der RL ist. Auch dass die von einer Pauschalreise umfasste Unterbringung gewöhnlich von verhältnismäßig kurzer Dauer ist, kann nicht als entscheidendes Merkmal des Begriffes «Unterbringung» im Sinne der RL angesehen werden. Wenn also die Art der Unterbringung, ihre Unentgeltlichkeit und ihre Dauer als solche, jeweils für sich genommen, keine entscheidenden Kriterien für den Begriff der Unterbringung im Sinne der RL sind, bewirken sie doch zusammengenommen, dass eine Aufnahme, die sämtliche vorgenannten Merkmale aufweist, nach der RL nicht als Unterbringung qualifiziert werden kann. 1.2.5 EuGH Rs C-400/00 (Club Tour) In der Entscheidung Club-Tour bejahte der EuGH hingegen die Anwendung der Pauschalreise-RL auf sogenannte «Pauschalreisen à la carte».25 Der Beklagte buchte bei Club Tour eine zweiwöchige Flugreise einschließlich Unterkunft und Vollpension in einem Feriendorf in Griechenland. Club Med kümmerte sich im Auftrag von Club Tour um die Reise, die nach den Wünschen des Beklagten zusammengestellt wurde. Bei der Ankunft im Feriendorf mussten der Beklagte und seine Familie feststellen, dass dieses von tausenden Wespen übersät war. Dies hinderte sie während der gesamten Dauer des Aufenthalts daran, ihre Ferien in vollem Umfang zu genießen. Der Club Med war nicht in der Lage, eine alternative Unterbringung anzubieten. Der Beklagte weigerte sich daraufhin, den mit der Klägerin vereinbarten Reisepreis zu bezahlen. Fraglich war, ob Reisen, die auf Wunsch und Anregung eines Verbrauchers nach dessen Vorgaben organisiert werden, als «Pauschalreise» anzusehen sind, spricht Art 2 Nummer 1 RL doch von einer «im Voraus festgelegten Verbindung von mindestens zwei Dienstleistungen.» Der EuGH führte aus, dass die Definition der «Pauschalreise» iSd Art 2 Nr 1 RL nichts «enthalte», was implizieren würde, dass Reisen, die auf Wunsch und nach den Vorgaben eines Verbrauchers organisiert werden, nicht 25 EuGH 30.04.2002 Rs C-400/00, Slg 2002 I-04051 =EuZW 2002, 402 (Tonner); siehe dazu M. Karollus, Entgangene Urlaubsfreude und Reisen «à la carte» – Zwei EuGHEntscheidungen zur Pauschalreise-Richtlinie, JBl 2002, 566; Hahnl, Die jüngsten europarechtlichen Entwicklungen im Bereich des Pauschalreiserechts: Vorgaben für den österreichischen Gesetzgeber? in Saria, Wer hat Recht im Urlaub? (2002) 126.
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als Pauschalreise iSd RL angesehen werden können. Dies werde durch lit j des Anhangs der RL bekräftigt. Danach gehören zu den erforderlichen Angaben in einem durch die RL erfassten Vertrag alle «Sonderwünsche, die der Verbraucher dem Veranstalter oder dem Vermittler bei der Buchung mitgeteilt hat und beide Parteien akzeptiert haben. «Im Voraus festgelegte Verbindung» schließt daher Verbindungen von touristischen Dienstleistungen mit ein, die in dem im Zeitpunkt vorgenommen werden, in dem der Vertrag zwischen dem Reisebüro und dem Verbraucher geschlossen wird. 1.2.6 EuGH Rs C-168/00 (Leitner/TUI) Die wohl bekannteste Entscheidung des EuGH stellt schließlich der Fall Leitner dar.26 Die Familie von Simone Leitner buchte bei TUI einen Pauschalurlaub in einem All-Inclusive Club in der Türkei. Die 10-jährige Klägerin holte sich bei den im Club angebotenen verdorbenen Speisen eine Salmonellenvergiftung. Sie begehrte unter anderem den Ersatz des während der Pauschalreise erlittenen immateriellen Schadens, also des Schadens, der im Entgang ihrer Urlaubsfreude lag. Das LG Linz war zwar der Meinung, dass dieser immaterielle Schaden nach österreichischem Recht nicht ersatzfähig sei, ging aber davon aus, dass die Anwendung von Art 5 der Pauschalreise-RL zu einem anderen Ergebnis führen könnte und fragte daher den EuGH, ob Art 5 der RL 90/314/EWG dahin gehend auszulegen sei, dass grundsätzlich der Ersatz von immateriellen Schadenersatzansprüchen gebührt. Der EuGH bejahte diese Frage bekanntlich: Nach Art 5 Abs 2 Unterabs 1 RL müssen die MS die erforderlichen Maßnahmen treffen, damit der Reiseveranstalter die Schäden ersetzt, die dem Verbraucher aus der Nichterfüllung oder einer mangelhaften Erfüllung des Vertrages entstehen. Nach Erwägungsgrund 2 und 3 der RL bezwecke die RL die Beseitigung der Unterschiede, die zwischen den Regelungen und Praktiken der einzelnen MS auf dem Gebiet der Pauschalreisen festgestellt wurden und zu Wettbewerbsverzerrungen im Reisegewerbe führen können. Bei Pauschalreisen würde aber das Bestehen einer Schadenersatzpflicht für immaterielle Schäden in einigen MS und das Fehlen einer solchen Pflicht in anderen zu spürbaren Wettbewerbsverzerrungen führen. Außerdem bezwecke Art 5 RL den Schutz der Verbraucher, für die bei Urlaubsreisen der Schadenersatz wegen entgangener Urlaubsfreude besondere Bedeutung habe. Art 5 RL sei vor diesem Hintergrund auszulegen. Wenn auch Art 5 Abs 2 UAbs 4 RL nur
26 EuGH 12.03.2002 Rs C-168/00, Slg 2002 I-02634 =EuZW 2002, 339 (Doehner); vgl dazu B. Jud, Schadenersatz für entgangene Urlaubsfreude, ecolex 2002, 307; Karner, Verpatzter Urlaub und der EuGH, RdW 2002, 204.
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allgemein auf den Begriff des Schadens Bezug nehme, erkenne er doch grundsätzlich auch einen Schadenersatzanspruch für Nicht-Körperschäden, darunter immaterielle Schäden, implizit dadurch an, dass bei Schäden, die nicht Körperschäden sind, die Haftung vertraglich beschränkt werden könne.27 Aus diesen Gründen bejahte der EuGH die Ersatzfähigkeit immaterieller Schäden.
1.3 Reiserecht als Teil der Europäischen Methodenlehre Gerade die Entscheidung Leitner ist abgesehen von ihrer unmittelbaren Aussage – Ersatz für entgangene Urlaubsfreude – auch im Hinblick auf die Europäische Methodenlehre von zentralem Interesse. Darunter versteht man ganz vereinfacht gesagt, auf welche Weise gemeinschaftsrechtliche Normen die Auslegung des nationalen Rechts beeinflussen (richtlinienkonforme Interpretation)28 und dieser Frage vorgelagert, wie das Gemeinschaftsprivatrecht selbst zu interpretieren ist.29 1.3.1 Zur Auslegung der Pauschalreise-RL Ob es in der Sache gerechtfertigt ist, entgangene Urlaubsfreuden in Geld auszugleichen, kann dahingestellt bleiben. Kritik verdient aber mE die Begründung des EuGH. Weder spricht nämlich die von ihm vorgenommene Wortinterpretation des Art 5 RL noch die Berufung auf den Zweck der RL für das erzielte Auslegungsergebnis.30 Art 5 Abs 2 UAbs 4 lautet: «Bei Schäden, die nicht Körperschäden sind und auf der Nichterfüllung oder einer mangelhaften Erfüllung der nach dem Vertrag geschuldeten Leistungen beruhen, können die MS zulassen, dass die Entschädigung vertraglich eingeschränkt wird.» Der EuGH folgert aus der Differenzierung von Körperschäden und sonstigen Schäden die implizite Anerkennung einer Ersatzpflicht für immaterielle Schäden. Warum es sich bei den Schäden, bei denen die Haftung vertraglich beschränkt werden kann, um immaterielle Schäden und nicht um Vermögensschäden handeln soll,31 bleibt völlig im Dunklen. 27 EuGH Rs C-168/00 (Leitner/TUI) Rn 20 bis 23. 28 Öhlinger/Potacs, Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht3 (2006) 91 ff; Gebauer, Europäische Auslegung des Zivilrechts, in Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss 103 ff; Roth, Die richtlinienkonforme Auslegung, in Riesenhuber (Hg), Europäische Methodenlehre (2006) 312 ff. 29 Zur Auslegung des Gemeinschaftsprivatrechts siehe Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht2, 43 ff; Gebauer in Gebauer/Wiedmann (Hg), Zivilrecht unter europäischem Einfluss 97 ff. 30 Dazu ausf B. Jud, ecolex 2002, 307 f. 31 So aber auch Kilches, Immaterieller Schadenersatz bei Pauschalreisen?, RdW 1999, 125.
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«Schlimmer» aber ist die Berufung des EuGH auf den Zweck der RL. Würden immaterielle Schäden nur in einigen MS ersetzt, widerspräche das dem Zweck der RL, Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund sei Art 5 RL dahingehend auszulegen, dass die Ersatzpflicht grundsätzlich auch immaterielle Schäden erfasse. Dieser Argumentation kann keinesfalls gefolgt werden. Die mit der Pauschalreise-RL angestrebte Harmonisierung des nationalen Rechts soll nur ein Verbraucherschutzmindestniveau festlegen. Der nationale Gesetzgeber bleibt daher für alles zuständig, was nicht in der RL zwingend vorgegeben wird.32 Dementsprechend sind die MS nach Art 8 RL auch befugt, zum Schutz des Verbrauchers strengere Bestimmungen zu erlassen oder aufrechtzuerhalten.33 Machen die MS von diesem Recht in unterschiedlichem Ausmaß Gebrauch, bleiben Wettbewerbsverzerrungen naturgemäß erhalten. Dies nimmt die RL aber immer dann in Kauf, wenn sie sich für eine bloße Mindestharmonisierung entscheidet. Wettbewerbsverzerrungen sollen demnach nur soweit verhindert werden, soweit die Harmonisierung in der RL vorgesehen ist. Dass in einigen MS der Ersatz immaterieller Schäden vorgesehen ist, in anderen aber nicht, kann das Ergebnis des EuGH daher nicht rechtfertigen.34 Vielmehr hätte der EuGH den Begriff des Schadens in Art 5 RL «autonom»35 und unabhängig davon auslegen müssen, wie er in den einzelnen MS verstanden wird. Aus demselben Grund kann auch der von der RL bezweckte Verbraucherschutz nicht ins Treffen geführt werden.36 Unstreitig bezweckt die RL den Schutz von Verbrauchern iZm Pauschalreisen. Aber auch hier muss untersucht werden, wie weit der beabsichtigte Schutz nach der Intention der RL reichen soll. Der bloße Umstand, dass der Schadenersatz für entgangene Urlaubsfreude für Verbraucher «besondere Bedeutung» habe, reicht nicht aus, wenn die RL einen solchen Ersatz nicht vorsehen wollte. Es bleibt zu hoffen, dass sich der EuGH kein zweites Mal dieser Argumentation bedient. Andernfalls wären künftig RL nicht autonom auszulegen, son-
32 Köndgen, Die Rechtsquellen des Europäischen Privatrechts, in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre 146 f; Habersack/Mayer, Die Problematik der überschießenden Umsetzung, in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre 344 f. 33 Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht2 45 f. 34 So zutreffend noch der SA von GA Tizzano Rn 22 f. 35 Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht2, 46 f; Riesenhuber, Die Auslegung, in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre 245 ff; Gebauer in Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss 99; Schmidt-Kessel, Europäisches Vertragsrecht, in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre 395. 36 Noch krasser argumentiert der GA Tizziano Rn 26: Die Auslegung der RL habe sich an dem allgemeinen Kriterium auszurichten, wonach ihre Bestimmungen im Zweifelsfall am günstigsten für denjenigen auszulegen sind, der durch sie geschützt werden soll, also für den Verbraucher touristischer Dienstleistungen.
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dern jeweils iSd «strengsten» oder «häufigsten nationalen Umsetzungsregelung». 1.3.2 Richtlinienkonforme Interpretation des nationalen Rechts Bekanntlich hat der österreichische Gesetzgeber auf die Entscheidung Leitner «reagiert» und durch BGBl I 2003/91 § 31e Abs 3 KSchG eingeführt, der mit 01.01.2004 in Kraft getreten ist. Dieser normiert den Ersatz immaterieller Schäden im Pauschalreiserecht explizit.37 Dessen ungeachtet hat aber bereits das LG Linz, das den EuGH um Vorabentscheidung ersucht hatte, Leitner Schadenersatz zugesprochen.38 Das LG Linz und in weiterer Folge auch andere Gerichte haben den Ersatz entgangener Urlaubsfreude also bereits vor der Gesetzesnovelle auf Basis der alten Rechtslage unter Berufung auf das Gebot der richtlinienkonformen Interpretation des nationalen Rechts zugesprochen.39 Auch dies ist mE zu kritisieren. Zwar sind die nationalen Gerichte unstrittig auf Grund des Gemeinschaftsrechts zur richtlinienkonformen Interpretation verpflichtet,40 doch bedeutet das nichts anderes, als die Verpflichtung, das nationale Recht im Lichte des Wortlautes und des Zwecks der RL auszulegen. Das nationale Gericht hat diese Auslegung unter voller Ausschöpfung des Beurteilungsspielraumes, den ihm das nationale Recht einräumt, und in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts vorzunehmen. Zwar leitet der EuGH die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Interpretation aus dem EGV ab,41 doch ist für die Grenze der richtlinienkonformen 37 Siehe dazu P. Bydlinski, Geld statt Urlaubsfreude nun auch in Österreich – zwei Fragen zum neuen § 31e Abs 3 KSchG, JBl 2004, 66; Wukoschitz, Schadenersatz wegen «entgangener Urlaubsfreude», ecolex 2003, 891 (892 ff); Lurger/Augenhofer, Österreichisches und Europäisches Konsumentenschutzrecht2 93 f. 38 LG Linz 15 R 5/00m =JBl 2002, 600. 39 LG Linz 15 R 5/00m; OGH 2 Ob 79/06s =ZVR 2007, 239 (Michitsch); OLG Wien 4 R 13/06w =ZVR 2007, 137; OGH 6 Ob 251/05p =ZVR 2006, 369 (Michitsch), uam; dazu Michitsch, Immaterieller Schadenersatz für entgangene Urlaubsfreude, ZVR 2004, 220. 40 Vgl Klamert, Richtlinienkonforme Auslegung und unmittelbare Wirkung von EGRichtlinien in der Rechtsprechung österreichischer Höchstgerichte, JBl 2008, 158; B. Jud, Die Grenzen der richtlinienkonformen Interpretation, ÖJZ 2003, 521; Langenbucher, Europarechtliche Methodenlehre, in Langenbucher (Hg), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts2 (2008) 26 ff. 41 Der EuGH stützt das Gebot der richtlinienkonformen Interpretation zum einen auf Art 249 Abs 3 EGV, nach dem RL für die MS hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sind, zum anderen auf die Obliegenheit nach Art 10 EGV, alle geeigneten Maßnahmen zur Erfüllung der Verbindlichkeiten des EGV zu treffen, vgl die Nachweise bei Ruffert in Callies/Ruffert, EUV/EGV3, Art 249 EGV Rz 114. Auch in der Literatur wird
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Interpretation allein das nationale Recht maßgebend.42 Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Interpretation besteht nach der Rsp des EuGH ja nur soweit, als das nationale Recht einen Beurteilungsspielraum offen lässt.43 Eine richtlinienkonforme Auslegung muss also nach den Maßstäben des einschlägigen nationalen Rechts überhaupt möglich sein.44 Alles andere würde nämlich auf eine unmittelbare Wirkung von RL hinauslaufen, die nach völlig hA nicht gegeben ist. Meines Erachtens sprechen die besseren Gründe gegen die Möglichkeit, auf Basis der alten Rechtslage den Ersatz immaterieller Urlaubsschäden zuzusprechen. Dieser Meinungsstreit hat sich aber durch die Gesetzesreform erübrigt oder wird es sein, wenn sämtliche «Altfälle» entschieden sind.
1.4 Reiserecht als Teil der Arbeiten an einem «Europäischen Vertragsrecht» Das Reiserecht beeinflusst aber nicht nur die Europäische Methodenlehre, sondern auch die verschiedenen Arbeiten an einem «Europäischen Vertragsrecht». Die derzeitige Praxis der EG, das Gemeinschaftsprivatrecht nur durch punktuelle Harmonisierungsmaßnahmen zu vereinheitlichen, hat verschiedentlich Kritik hervorgerufen.45 Die Rechtsakte der EG sind in sich unsystematisch und widersprüchlich und überdies mit den nationalen Rechtssystemen nicht immer in Einklang zu bringen. Der den MS regelmäßig gewährte Umsetzungsspielraum verstärke die Problematik. Vor diesem Hintergrund gibt es verschiedene wissenschaftliche Projekte, die sich mit der Systematisierung des gesamten Normenbestandes beschäftigen und auf die Erarbeitung sogenannter Principles hinauslaufen. Diese wissen-
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das Schwergewicht zT auf Art 249 Abs 3 EGV (Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung [1994] 256 ff; Rüffler, Richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts, ÖJZ 1997, 121 [123]; Franzen, Privatrechtsangleichung durch die Europäische Gemeinschaft [1999] 296 ff mwN; Roth in Riesenhuber [Hg], Europäische Methodenlehre 309 f) zT auf Art 10 EGV (Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 604) gelegt. Siehe dazu B. Jud, ÖJZ 2003, 522; Langenbucher in Langenbucher, Europarechtliche Bezüge des Privatrechts2 30 ff; Roth in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre 326; Gebauer in Gebauer/Wiedmann, Zivilrecht unter europäischem Einfluss 112. Roth in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre 318. Rüffler, ÖJZ 1997, 126; Franzen, Privatrechtsangleichung 341 ff; Canaris, Die richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung im System der juristischen Methodenlehre, in Koziol/Rummel (Hrsg), Im Dienste der Gerechtigkeit, Festschrift für Franz Bydlinski (2001) 58; Schnorbus, Die richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im nationalen Privatrecht, AcP 201 (2001), 873, 879 jeweils mwN. Müller-Graff, Europäisches Gemeinschaftsrecht und Privatrecht – Das Privatrecht in der europäischen Integration, NJW 1993, 13 (19) mwN; Heiderhoff, Gemeinschaftsprivatrecht2, 42 f; Köndgen in Riesenhuber, Europäische Methodenlehre 146.
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schaftlichen Bestrebungen werden seit einiger Zeit von der Kommission in verschiedenen Aktionsplänen, Mitteilungen und Grünbüchern unterstützt.46 Die Zeichen stehen also auf Erarbeitung eines Europäischen Modellgesetzes, das freilich nicht verbindlich, letztlich aber doch Maßstab für die Europäische Gemeinschaft und die MS sein soll.47 Das jüngste Regelwerk stellt diesbezüglich der sogenannte erste Entwurf eines Draft Common Frame of Reference dar, der im Auftrag der Kommission von einem Joint Network on European Private Law erarbeitet wird.48 Beim DCFR handelt es sich um Prinzipien, Definitionen und Musterregeln für ein gemeinsames europäisches Privatrecht. Teil des Netzwerks sind vor allem die Research Group on the Existing EC Private Law (Acquis Group), die aus dem vorhandenen gemeinsamen Besitzstand allgemeine Prinzipien herausgearbeitet, und die Study Group on a European Civil Code. Betrachtet man nun die Acquis Principles49 einerseits und den DCFR andererseits genauer, dann fällt zunächst einmal auf, dass dem Reiserecht jeweils kein eigenes Kapitel gewidmet oder spezielle Principles aufgenommen wurden, die das Reiserecht betreffen. Dennoch wurde die Pauschalreise-RL mehrfach berücksichtigt. So basieren beispielsweise die (allgemeinen) vorvertraglichen Informationspflichten und das Erfordernis, sämtliche Informationen klar und unmissverständlich zu formulieren, ausweislich der Erläuterungen maßgebend auf den Vorgaben der Pauschalreise-RL.50 Dasselbe gilt für die dort verankerte grundsätzliche Ersatzfähigkeit immaterieller Schäden, die primär auf die Entscheidung Leitner zurückzuführen ist. 46 Grünbuch: Die Überprüfung des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherschutz, COM (2006) 744 final; dazu Welser, Österreich und der gemeinschaftliche Besitzstand im Verbraucherschutz – Bemerkungen zum «Grünbuch», ZfRV 2008, 28; Mitteilung der Kommission zum europäischen Vertragsrecht 11.07.2001 COM (2001) 398 final; Mitteilung der Kommission: Ein kohärentes europäisches Vertragsrecht – ein Aktionsplan 12.2.2003 COM (2003) 68 final; Mitteilung der Kommission: Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstandes – weiteres Vorgehen 11.10.2004 COM (2004) 651 final. 47 Mitteilung der Kommission: Europäisches Vertragsrecht und Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstandes, 3, 5 ff. 48 Study Group on a European Civil Code/Research Group on EC Private Law (Acquis Group) (Hg), Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law, Draft Common Frame of Reference (DCFR), Interim Outline Edition 2008. Siehe dazu McGuire, Der Gemeinsame Referenzrahmen: ein erster akademischer Entwurf, ecolex 2008, 493; Herresthal, Vertragsrecht, in Langenbucher (Hg), Europarechtliche Bezüge des Privatrechts2, 45 ff; zum Aufbau der Netzwerke siehe auch Prisching, Der Gemeinsame Referenzrahmen (GRR) – ein Begriff in aller Munde, ZfRV 2007, 12 (13 f). 49 Research Group on the Existing EC Private Law, Contract I (2007); dies, Contract II (2009). 50 Research Group on the Existing EC Private Law, Contract I 84 f, 95.
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Schluss
Diese Regelwerke zeigen, dass das Reiserecht nicht nur Teil des Europäischen Privatrechts ist, sondern vielleicht sogar umgekehrt, das Europäische Privatrecht unter anderem auf der Basis des Reiserechts geschaffen wird.
1.5 Die Zukunft des Reiserechts in Europa Wie auch immer man zu diesen Vereinheitlichungsbestrebungen stehen mag, sie werden das Reiserecht – wenn überhaupt – erst in ferner Zukunft berühren. Das Europäische Reiserecht hat aber auch eine nahe Zukunft: Die Europäische Kommission veröffentliche im Juli 2007 ein Arbeitspapier,51 in dem ein Überblick über die Schwächen und Probleme der RL auf Basis des Berichts über die Umsetzung der Pauschalreise-RL in den Mitgliedsstaaten sowie den Reaktionen hierauf von Seiten des Parlaments der EU, des Ministerrats und Interessensvertretungen dargeboten wurde. In diesem Arbeitspapier und den hiezu ergangenen Stellungnahmen werden eine Reihe von Klarstellungen und Änderungen der Pauschalreise-RL erörtert, über deren Inhalt sie in den folgenden Vorträgen hören werden. Es soll nur ein – vor allem in jüngerer Zeit medial besonders hervorgehobener Punkt – herausgegriffen werden, nämlich die Haftung des Reiseveranstalters für Zusatzleistungen, die vom Reisenden am Urlaubsort gebucht werden. Manche befürworten eine diesbezügliche Änderung oder Klarstellung der Pauschalreise-RL, die – jedenfalls aus österreichischer Sicht – nicht zwingend erforderlich wäre.52 Der OGH hat nämlich bereits im Jahr 1993, also lange vor Umsetzung der Pauschalreise-RL in Österreich, die Haftung des Reiseveranstalters für eine am Urlaubsort gebuchte Jeep-Safari nach allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen bejaht.53
1.6 Schluss Das Reiserecht stellt unstrittig einen wichtigen Teil des Europäischen Privatrechts dar, dem nicht nur auf Ebene der Europäischen «Gesetzgebung», sondern auch in der Rechtsprechung des EuGH Rechnung getragen wird. Die Bedeutung des Reiserechts beschränkt sich allerdings nicht auf den Schutz der Reisenden an sich. Durch das Reiserecht wurde die Rechtsprechung des EuGH zur Staatshaftung der MS maßgebend konkretisiert, die vom EuGH 51 Arbeitspapier der Kommission zur Pauschalreise-RL; abrufbar unter <ec.europa.eu/con sumers/cons_int/safe_shop/pack_trav/index_de.htm>. 52 Vgl B. Jud, Haftung für am Urlaubsort gebuchte Zusatzleistungen, ecolex 2008, 704 (707). 53 OGH 7 Ob 524/93 =ecolex 1993, 670.
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Reiserecht als Teil des Europäischen Privatrechts
vor allem in der Leitner Entscheidung gewählte Begründung stellt – ungeachtet meiner Kritik – einen wesentlichen Beitrag zur Europäischen Methodenlehre dar. Dasselbe gilt für die daran anschließenden Entscheidungen österreichischer Gerichte, die neue Grenzen der richtlinienkonformen Interpretation gefunden haben. Als Teil des Vertragsrechts beeinflusst das Reiserecht aber auch die derzeitigen Arbeiten an einem Europäischen Modellgesetz. Ja man könnte sogar meinen, dass beispielsweise die Informationspflichten des Reiseveranstalters und seine Haftung für immaterielle Schäden verallgemeinert und zur Basis des allgemeinen Vertragsrechts gemacht werden.
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2. Pauschalreise-Richtlinie 90/314/EWG: Notwendige Änderungen aus deutscher Sicht Ernst Führich 2.1 Einleitung Seit der Pauschalreise-RL1 1990, sind nicht nur wir 18 Jahre älter geworden, sondern auch der Markt der Touristik hat sich stark verändert. Das Konsumverhalten der Nachfrageseite und der Marktauftritt der Reiseindustrie sind heute anders als Ende des 80er Jahre. Der Urlauber will sich nicht nur im Massentourismus an der Adria, auf Mallorca oder den Kanarischen Inseln sonnen, sondern als Individual-Tourist die ganze Welt bereisen. Diesem Trend zum Individualismus folgte der Anbietermarkt und bietet zunehmend über das Internet Click-und-Mix-Angebote in alle Destinationen der Welt an. Der mobile Tourist bucht heute nicht nur Einzelleistungen wie Flüge oder Hotels online, sondern zunehmend auch beratungsintensive Reisepakete mit tagesaktuellen Preisen. Diesem veränderten Markt, muss sich das Recht anpassen, wenn die EU weiterhin einen effektiven Verbraucherschutz auf hohem Standard sichern möchte
2.2 Rahmen-Richtlinie und Pauschalreise-Richtlinie Am 27.05.2008 erklärte die zuständige Kommissarin für Verbraucherschutz Meglena Kuneva anlässlich der Eröffnung der ECTAA-Jahrestagung in Sofia, dass die Kommission eine übergreifende Rahmen-Richtlinie für alle acht Verbraucherschutz-Richtlinien für das Verbrauchervertragsrecht schaffen möchte, während die Pauschalreise-Richtlinie als eigenständige Richtlinie erhalten bleiben soll. Zu der Rahmenrichtlinie möchte ich nicht detailliert Stellung nehmen, sondern nur so viel sagen, dass sich dieser Rahmen mit den notwendigen 1 RL 90/314/EWG, ABl 1990 L 158/59.
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Pauschalreise-Richtlinie 90/314/EWG: Notwendige Änderungen aus deutscher Sicht
Informationsrechten, dem Widerrufsrecht bei Fernabsatzgeschäften, den missbräuchlichen Vertragsklauseln und Fragen des Verbrauchsgüterkaufs beschäftigen wird. Wichtig erscheint mir, nicht nur den Verbraucherschutz zu stärken, sondern auch Handelshemmnisse bei grenzüberschreitende Buchungen abzubauen.
2.3 Vorschläge zur Änderung der Pauschalreise-Richtlinie Da es mir nicht möglich ist, in der mir zu Verfügung stehenden Zeit alle meine Änderungsvorschläge vorzustellen, werde ich mich heute auf fünf zentrale Forderungen beschränken: · · · · ·
Geltungsbereich der Richtlinie und Begriff der Pauschalreise Vorvertragliche Informationspflichten Vertraglichen Informationspflichten Rücktritt des Reisenden vom Vertrag (Stornierung) Schutz des Reisenden bei Insolvenzen.
2.3.1 Geltungsbereich der Richtlinie und Begriffsbestimmungen (Art 1 und 2) Sachlicher Anwendungsbereich der Richtlinie («Begriff Pauschalreise») Der bisherige sachliche Anwendungsbereich der Richtlinie erfasst nur unvollkommen die Entwicklung des Reisemarktes bei Online-Buchungen und die festzustellende Individualisierung des Reiseverhaltens der Touristen. Beiden Gesichtspunkten sollte durch eine Erweiterung des sachlichen Anwendungsbereiches Rechnung getragen werden. Im Voraus festgelegte Verbindung Zur Aufrechterhaltung eines hohen Schutzniveaus bei Reisen ist der Begriff der Pauschalreise in Art 2 Nr 1 RL zu präzisieren. Die «im voraus festgelegte Verbindung» muss auch solche Reisen erfassen, welche erst «kurz vor Vertragsschluss nach den Wünschen des Verbrauchers» zu einem Paket verbunden werden. Durch neue Internet-basierte, dynamische Technologien hat sich das Produkt der Pauschalreise gewandelt. Die traditionelle Katalog-basierte, statische Pauschalreise wird derzeit in vielen Fällen abgelöst durch neue Angebotsformen des Dynamic Packaging.2 Nicht mehr im voraus festgelegte Verbindun2 Führich, Dynamic Packaging und virtuelle Reiseveranstalter, RRa 2006, 50.
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Vorschläge zur Änderung der Pauschalreise-Richtlinie
gen von touristischen Dienstleistungen mit herkömmlichen Katalogen werden angeboten, sondern die Reiseleistungen werden zunehmend auch online im Moment der Anfrage durch den Verbraucher in Echtzeit nach seinen Wünschen aus Beförderung, Unterbringung, Mietwagen und Tickets für Events aus ganz unterschiedlichen Angebotsquellen ausgewählt, nach den Regeln des Veranstaltergeschäfts zu einer Reise gebündelt und vom Verbraucher zu einem Gesamtpreis gebucht. Hierbei stellt sich nach deutscher Literatur und Rechtsrechung die Frage, ob zwischen dem Reisenden und dem Betreiber eines Reiseportals ein Reisevertrag vorliegt oder lediglich eine Reisevermittlung eines Fluges oder eines Hotels, vermittelt durch das Reiseportal. Insoweit hat bereits der EuGH festgestellt, dass der Begriff Pauschalreise in Art 2 Nr 1 dahin auszulegen ist, dass er Reisen einschließt, die von einem Reisebüro auf Wunsch und nach den Vorgaben eines Verbrauchers oder einer beschränkten Verbrauchergruppe organisiert werden. Der verwendete Begriff «im Voraus festgelegte Verbindung» ist dahin auszulegen, dass er Verbindungen von touristischen Dienstleistungen einschließt, die in dem Zeitpunkt vorgenommen werden, in dem der Vertrag zwischen dem Reisebüro und dem Verbraucher geschlossen wird.3 Der Regelungsgehalt dieser Entscheidung sollte zum Schutze des Verbrauchers in den Begriff der Pauschalreise zur Klarstellung aufgenommen werden, um Versuchen der Praxis entgegenzutreten, den Anwendungsbereich der RL 90/314/EWG auszuhöhlen. Auch Reiseportale im Internet erbringen mit ihrer neuen Technologie eine veranstaltergleiche Koordinationsleistung für touristische Dienstleistungen. Daher darf es einem virtuellen Veranstalter durch Geschäftsbedingungen nicht möglich sein, einerseits eine Verbindung eines Reisepakets aus Hauptreiseleistungen zu schaffen und dann durch die Hintertüre einer Vermittlerklausel die eigene Verantwortung für das Reisepaket auszuhöhlen. Es muss verhindert werden, dass Beförderung, Unterbringung oder eine andere vergleichbare touristische wichtige Dienstleistung, welche Bestandteile des Pakets sind, durch AGB zu Fremdleistungen deklariert werden können und nur als vermittelte Fremdleistungen ausgewiesen werden.4 Damit würde man zulassen, dass ein Anbieter einer Pauschalreise seine Kernhaftung als Veranstalter unterläuft. Ich bin daher der Meinung, dass der Begriff «im Voraus festgelegte Verbindung» ersetzt wird durch «bis zum Vertragschluss festgelegte Verbindung». Hierbei sollte klargestellt werden, dass auch eine Kombination von touristischen Dienstleistungen erfasst wird, welche von einem Reiseunternehmen für einen Verbraucher individuell nach seinen Wünschen zusammengestellt wird.
3 EuGH 30.04.2002 Rs C-400/00 (Club Tour) =EuZW 2002, 402 (Tonner). 4 BGH 30.09.2003 =NJW 2004, 681.
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Anwendung auf Einzelleistungen des Veranstalters Wegen der Individualisierung des Reiseverhaltens buchen die Verbraucher oftmals nur einen Flug oder eine Unterkunft aus dem Angebot eines Veranstalters und stellen ihre Urlaubsreise selbst zusammen. Soweit der Verbraucher damit nur eine Reiseeinzelleistung wie ein Hotel oder einen Flug aus dem Prospekt oder einer Internetseite eines Reiseveranstalters auswählt, ist er ebenso schutzbedürftig wie ein Verbraucher, der sich ein Reisepaket durch einen Veranstalter bündeln lässt. Auch ein solcher Verbraucher hat ein Interesse bei einer Insolvenz des Leistungsträgers Hotel oder Airline geschützt zu sein, da er in den meisten Fällen im Wege der Vorauskasse den Preis vor Reiseantritt zu zahlen hat. Auch der Bushil-Metthews-Report des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 20025 forderte eine Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereiches der Pauschalreise-RL. Es ist nicht einzusehen, dass solche Urlauber einen geringeren Schutz haben, wenn sie Komponenten ihrer Reise über das Internet oder bei mehreren Veranstaltern einzeln buchen. Ich schlage daher vor, dass auch touristische Reiseeinzelleistungen wie Beförderung, Unterkunft oder ähnliche gleichwertige touristische Dienstleistungen von der Richtlinie erfasst werden, wenn diese von einem Veranstalter in «eigenem Namen und mit eigener Rechnung» angeboten werden. Tagesreisen Für die Neufassung der Richtlinie erscheint es angemessen, wenn – wie im deutschen Recht – auch Pauschalreisen von weniger als 24 Stunden in den Anwendungsbereich der Richtlinie fallen. Damit werden auch Ausflugsfahrten und eintägige Eventreisen erfasst. Ich schlage daher vor, dass der Passus «wenn die Leistung länger als 24 Stunden dauert oder eine Übernachtung einschließt» entfällt. Gesamtpreis Im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH in der Rs Clubtour und der Tendenz des Marktes zu flexiblen Tagespreisen, erscheint es mir notwendig, den Begriff «Gesamtpreis» neu zu definieren. Der EuGH hat entschieden, dass der Begriff «Pauschalreise» dahin auszulegen ist, dass er Reisen einschließt, die von einem Reiseunternehmen auf Wunsch und nach den Vorgaben eines Verbrauchers organisiert werden. Durch diese flexible Buchungsmöglichkeit kommt es nicht darauf an, dass die Reise zu einem Gesamtpreis bereits im Prospekt oder auf der Internetseite angeboten wird, sondern es 5 EP 19.12.2001, A5–0463/2001.
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muss ausreichen, dass der Gesamtpreis sich am Ende des Auswahlverfahrens der zu buchenden touristischen Dienstleistungen ergibt. Dies hat der deutsche Bundesgerichtshof für Internet-Reservierungen von Nur-Flügen bereits entschieden.6 Allerdings ist der Verbraucher zuvor klar und eindeutig auf diese Art der Gesamtpreisbildung hinzuweisen, um eine Irreführung zu vermeiden. Ich schlage daher vor, dass es für den Begriff Gesamtpreis ausreichend ist, dass dieser erst nach der Auswahlentscheidung durch den Verbraucher ermittelt wird. «Veranstalter» und «Vermittler» Anbieter der Pauschalreise Anbieter einer Pauschalreise ist nach der RL nur derjenige, der die Pauschalreise als eigenes Reisepaket dem Verbraucher anbietet. Dieser Anbieter kann daher selbst ein eigenes Paket bündeln und anbieten oder als echter Vermittler, also als Händler, ein fremdes Reisepaket zu eigenen Konditionen anbieten. Daher stellt die RL oft im Zuge der Wendung «der Veranstalter und/oder der Vermittler» darauf ab, dass es im Ermessen der Mitgliedstaaten steht, welchem von beiden sie die Einhaltung der Verpflichtungen aus der RL auferlegen wollen. Insoweit schlage ich eine Klarstellung in der RL vor, dass der Anbieter der Pauschalreise für solche Reisemängel haftet, welche in seiner eigenen Sphäre auftreten. Gelegenheitsveranstalter Die RL sollte auf alle gewerblichen Veranstalter ausgedehnt werden. Private Gelegenheitsveranstalter sollten nicht erfasst werden. Private Veranstalter, welche nur gelegentlich Pauschalreisen im Rahmen ihres Organisationszwecks organisieren, sollten aus dem Geltungsbereich der RL ausgenommen werden. Wenn daher private, also nicht gewerbliche Organisationen und Verbände wie Sportvereine, Wandervereine, Pfadfindergruppen, Schulen im Rahmen ihres Bildungsauftrags, Kirchen und Geselligkeitsvereine Ausflüge und Fahrten nur für ihre Mitglieder organisieren, sollten diese Aktivitäten nicht von der RL erfasst werden. Diese Aktivitäten erfolgen in Ausübung des Organisationszwecks dieser Einrichtungen und sollten nicht in den Schutzzweck der RL fallen.7 Ich bin daher der Meinung, dass private Veranstalter, welche nur gelegentlich Pauschalreisen im Rahmen ihres Organisationszwecks durchführen, aus
6 BGH 03.04.2003, I ZR 222/00 =NJW 2003, 3055. 7 Führich, Reiserecht5 (2005) Rz 90.
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dem Geltungsbereich der RL ausgenommen werden sollten. Die Formulierung «nicht nur gelegentlich» sollte gestrichen werden. «Verbraucher» Die Pauschalreise-RL sollte den Verbraucherbegriff der anderen acht verbraucherrechtlichen Richtlinien übernehmen. Nach dem Wortlaut in Art 2 Nr 4 Pauschalreise-RL ist nicht klar, ob Verbraucher nur nicht gewerbliche und private Personen sind oder auch solche, Personen, die zu beruflichen oder gewerblichen Zwecken Pauschalreisen buchen, also auch Geschäftsreisende. Ausgehend von einem geschlossenen System eines einheitlichen Verbraucherbegriffs, sollte daher von der RL nur eine natürliche Person erfasst werden, die außerhalb ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit rechtsgeschäftlich handelt (vgl § 13 BGB). Auch die Tatsache, dass eine Geschäftsreise in der Regel nicht pauschal vorfabriziert ist, und zudem schwerlich als «touristische Dienstleistung» im Sinne des Art 2 Nr 1 der RL betrachtet werden kann, spricht dafür, den persönlichen Anwendungsbereich einzuschränken. Zudem besteht kein rechtspolitischer Bedarf, die Pauschalreise-RL über touristische Reisen hinaus auf Geschäftsreisen anzuwenden. Ich bin daher der Meinung, ein Verbraucher sollte als natürliche Person definiert werden, die zu einem Zweck handelt, der nicht seiner gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit zugerechnet werden kann. 2.3.2 Vorvertragliche Informationspflichten (Art 3) Änderungsvorbehalt Der bindende Charakter der vorvertraglichen Informationspflichten in einem Prospekt, wird in der Praxis relativ häufig durch einen Änderungsvorbehalt umgangen. Der bisherige Richtlinientext geht nicht von einer vorvertraglichen Selbstbindung des Veranstalters aus, so dass die Prospektangaben noch nicht per se ein bindendes Vertragsangebot sind. Hieran ist festzuhalten, um die notwendige Flexibilität für notwendige Änderungen der Leistungen und des Preises zu gewährleisten. Ein Prospekt wird in der Regel ein halbes Jahr vor seiner Gültigkeit erstellt. Jedoch sollte die Ausnahme bei der konkreten, jeweiligen Leistungsart erklärt werden und sollte sich auf das konkrete Reisemerkmal beziehen.8 Ich schlage daher insoweit nur vor, dass klargestellt werden muss, dass ein allgemeiner Änderungsvorbehalt nicht ausreichend ist, sondern ein Ände-
8 Führich, Reiserecht5 Rz 656.
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rungsvorbehalt sich auf «konkrete Merkmale der touristischen Dienstleistung und den Reisepreis» beziehen muss. Rücktritt vom Vertrag Nach bisheriger deutscher Rechtspraxis wurde auf besondere Sanktionen bei Verstößen gegen die BGB-Informationspflichten-Verordnung verzichtet. Ausreichend soll ein vertragsrechtlicher Schadensersatzanspruch wegen dieser Pflichtverletzung sein, wenn der Verbraucher einen konkreten Schaden nachweisen kann. Nach Reiseende wird in Deutschland ein Preisminderungsrecht bei einer nicht unerheblichen Beeinträchtigung der Reise bejaht. Diese Sanktion setzt damit voraus, dass der Verbraucher die Reise durchführt und einen konkreten Schaden erleidet bzw ein Beschwerdeverfahren zu einer nachträglichen Preisminderung durchführt. Eine wirksamere Sanktion zur Sicherstellung einer rechtzeitigen und vollständigen Information des Reisenden im vorvertraglichen Bereich könnte die Möglichkeit eines Rücktritts vom Vertrag darstellen, ohne dass der Veranstalter eine Stornoentschädigung verlangen kann. Eine vergleichbare Regelung kennt das deutsche Reisvertragsrecht in § 651l Abs 3 BGB für Gastschulaufenthalte, wenn der Veranstalter seinen Obliegenheiten zur Nennung von Gastfamilie und Ansprechpartner und zur Vorbereitung des Schülers nicht nachkommt. Ich bin daher der Meinung, der Verbraucher sollte ohne Zahlung einer Stornoentschädigung vom Vertrag zurücktreten können, wenn die im Prospekt zu machenden Angaben nicht oder unzureichend gemacht werden. Internet und Fernsehen Die Pflichtangaben des Veranstalters in einem Prospekt sind auch auf Angaben im Internet und bei Werbesendungen im Fernsehen zu erstrecken. Wie beim Prospekt wird mit einer Website im Internet oder mit Werbesendungen im Fernsehen auf Verbraucher eingewirkt, dass diese ein Angebot zum Abschluss eines Vertrages abgeben. Auch diese Angaben müssen klar und deutlich sein und den Veranstalter grundsätzlich binden. Drohende Gefahren Den Veranstalter muss im Rahmen seiner vertraglichen Fürsorgepflicht eine Erkundigungspflicht im Urlaubsgebiet über drohende Gefahren für die Reisedurchführung und für Leib und Leben des Reisenden treffen. Insoweit hat er nach der deutschen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs eine Beobachtungspflicht im Zielgebiet.9 Sobald ein gesteigertes Sicherheitsrisiko für die 9 BGH 15.10.2002, X ZR 147/01 =NJW 2002, 3700.
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Reisedurchführung oder die Sicherheit des Reisenden vorliegt, muss der Veranstalter den Verbraucher durch geeignete und konkrete Informationen in die Lage versetzen, dass er entscheiden kann, ob er eine solche Reise bucht. Die vorvertragliche Informationspflicht sollte daher ergänzt werden, dass in einem Prospekt klar und deutlich auf drohende Gefahren für die Durchführung der Reise und für die Sicherheit des Verbrauchers hinzuweisen ist. Preisangabe Der Trend zu flexiblen Tagespreisen bei Flügen hat in Deutschland dazu geführt, dass der Branchen-Verband DRV und zahlreiche marktstarke Veranstalter die Zulassung von tagesaktuellen Preisen im Prospekt fordern. Ich meine, dass eine feste Preisangabe während der ganzen Gültigkeitsdauer eines Prospekts oder einer Preisliste eines Prospekts zu einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der Pauschalreise führen wird. Zudem kann damit auch den Wechselkursänderungen und der Änderung der Treibstoffpreise Rechnung getragen werden. Letztlich hat der Verbraucher damit weniger Verbraucherschutz. Den berechtigten Interessen des Verbrauchers an einer klaren Preisangabe ist auch gedient, wenn der Kunde den tagesaktuellen Preis bei dem Reisevermittler (für solche Verbraucher ohne Internet) oder von der Website vor der Buchung der Reise erfährt. Letztlich ist insoweit noch anzumerken, dass es hier um die Änderung des Prospektpreises geht und nicht um die Änderung des bereits vertraglich vereinbarten Preises. Dem Schutze des Verbrauchers dient es mehr, wenn der Vertragspreis des Reisepakets nur unter ganz besonderen Voraussetzungen nachträglich geändert werden kann. Liste der Informationen Nennung des ausführenden Luftfahrtunternehmens Auch wenn in der VO 2111/2005/EG die Verpflichtung über die Unterrichtung von Fluggästen über die Identität des ausführenden Luftfahrtunternehmens bereits begründet wurde, erscheint es doch wichtig im Interesse der Transparenz und Kohärenz dieser VO und mit der Pauschalreise-RL die Nennung des ausführenden Luftfahrtunternehmens in die Liste der notwendigen Informationen aufzunehmen. Pass- und Visumerfordernisse Eine Informationspflicht für Pass- und Visumerfordernisse für andere Angehörige von Mitgliedsstaaten ist für den Prospekt nicht zu fordern, da der Prospekt ansonsten überladen wird. Anders ist dies jedoch vor der konkreten Buchung der Reise (Art 4 Abs 1a).
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2.3.3 Unterrichtung vor Vertragsschluss über Pass- und Visumerfordernisse (Art 4 Abs 1a) Die Unterrichtung des Verbrauchers bei der Buchung einer Reise über einzuhaltende Pass- und Visumbestimmungen ist für ihn so wichtig, dass damit der Nutzen der Reise steht und fällt. Hierbei ist in der Richtlinie ausdrücklich klarzustellen, dass diese Unterrichtungspflicht sich auf alle Angehörigen von MS bezieht. Die bisherige Regelung mit dem Passus «des bzw der betreffenden Mitgliedsstaaten» war unklar und führte in Deutschland dazu, dass der deutsche Gesetzgeber auf eine Unterrichtungspflicht gegenüber Angehörigen anderer MS verzichtet hat.10 Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass europarechtlich eine Diskriminierung anderer Angehöriger von MS zu unterbleiben hat. Daher ist zu fordern, dass der Veranstalter und/oder sein Vermittler vor Vertragsschluss mit dem Verbraucher alle notwendigen Informationen für alle EU-Bürger bereit hält (zB durch EDV). 2.3.4 Informationspflichten und Preisänderungen (Art 4 Abs 1 bis 4) Vertragsurkunde Hinsichtlich der «Schriftlichkeit oder anderen geeigneten Form» ist die RL an die E-Commerce-RL 2002/65/EG anzupassen, so dass die Übermittlung des Inhalts des Vertrages auch durch einen dauerhaften Datenträger erfolgen kann. Eine Vertragsurkunde muss daher auch durch E-Mail nach einer Online-Buchung möglich sein. Tag, Zeit und Ort der Abreise und Rückkehr Da nach dem bisherigen Inhalt des Anhangs nach lit b nur «erforderliche Angaben für den Tag, die Zeit und den Ort der Abreise und Rückkehr» zu machen sind, wird in der Praxis häufig dagegen verstoßen und der Verbraucher nicht im Vertrag, sondern erst kurz vor Reiseantritt mit den Reiseunterlagen über die genauen Reisedaten unterrichtet.11 Oftmals wird nicht in der Reisebestätigung eine Zeitangabe für Flüge und auch keine Flugnummer mit dem ausführenden Luftfahrtunternehmen gemacht. Die Interessen des Verbrauchers an seiner zeitlichen Disposition werden damit grob verletzt und die Flexibilität der Auslastung der Flugzeuge zu sehr in den Vordergrund geschoben.
10 Führich, Reiserecht5 Rz 663. 11 Führich, Reiserecht5 Rz 671.
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Ich schlage daher vor, dass im Anhang insoweit klargestellt wird, dass der «genaue Tag und Zeit der Abreise und Rückkehr» ausdrücklich zu nennen sind. Preisänderungen Preissenkung Obwohl Art 4 Abs 4 lit b RL nach seinem Wortlaut auch die Möglichkeit der Preissenkung nach Abschluss des Reisevertrages vorsieht, ist festzustellen, dass kein Veranstalter in Deutschland von dieser Möglichkeit der Preisänderung zu Gunsten des Verbrauchers Gebrauch macht. Dies ist gerade im Hinblick auf USA-Reisen und der Wechselkursänderung des Dollars zum Euro zu beklagen. Auch hat der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung in § 651a Abs 4 BGB keine Verpflichtung zur Preissenkung aufgenommen. Ich bin daher der Meinung, dass die bisherige RL in Deutschland nicht richtig umgesetzt worden ist. Zudem ist zu überlegen, ob in der RL eine nachträgliche Preiserhöhung erschwert werden muss. Die Kommission sollte überlegen, ob sie die deutsche Regelung übernimmt, wonach eine Preiserhöhung bei kurzfristigen Buchungen innerhalb von vier Monaten zwischen Buchung und Reiseantritt unwirksam ist (vgl § 309 Nr 1 BGB). Gerade weil die anderen Mitgliedsstaaten diese Preisgarantie von vier Monaten nicht kennen, sehe ich hier ein Handelshemmnis für grenzüberschreitende Buchungen von Reisen. Ich schlage vor, dass in der RL klargestellt wird, dass in Art 4 Abs 4 gefordert wird, dass eine korrespondierende Preissenkungspflicht neben der Möglichkeit einer Preiserhöhung gefordert wird. Insoweit sollte das Wort «oder» durch «und» ersetzt werden. Ich habe auf die unrichtige Umsetzung der bisherigen RL durch den deutschen Gesetzgeber stets hingewiesen.12 Weiterhin schlage ich vor, dass die Möglichkeit zur Preiserhöhung dadurch zu erschwert wird, dass ein Verbot der Preiserhöhung bei kurzfristigen Buchungen innerhalb von vier Monaten zwischen Buchung und Reiseantritt in die RL eingefügt wird. Berechnung des neuen Preises Die bisherige Formulierung in Art 4 Abs 4 lit a, dass «genaue Angaben zur Berechnung des neuen Preises im Vertrag» erforderlich sind, hat zu Recht dazu geführt, dass in Deutschland nachträgliche Preiserhöhungen schwer durchzusetzen sind.13 Die Methode einer nachträglichen Neuberechnung des Preises kann 12 Führich, Reiserecht5 Rz 55. 13 Führich, Reiserecht5 Rz 55; BGH 19.11.2002, X ZR 243/01 =NJW 2003, 507 und, X ZR 253/01 =NJW 2003, 746.
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ohne Offenlegung der internen Grundlagen der Kalkulation nicht erfolgen, so dass die meisten Veranstalter nach den grundlegenden Urteilen des Bundesgerichtshofs auf Preiserhöhungen verzichtet haben. Auch die Neufassung der Konditionen-Empfehlung des Deutschen ReiseVerbandes DRV aus dem Jahre 2006 verzichtet in Nr 4 auf eine Empfehlung einer Preiserhöhungsklausel. 2.3.5 Rücktritt vom Vertrag durch den Verbraucher und Anspruch auf Entschädigung, insb bei Stornierung (Art 4 Abs 5, 6) Rücktritt vom Vertrag bei erheblicher Änderung Nach Art 4 Abs 5 kann der Verbraucher nur dann vom Vertrag zurücktreten, wenn der Veranstalter an einem der wesentlichen Bestandteile des Vertrages, zB bei den Leistungen, eine erhebliche Änderung vornimmt. Unklarheiten bestehen in der Praxis, wann eine solche erhebliche – aber zulässige – Leistungsänderung vorliegt und den Verbraucher zum Rücktritt oder zu einer Umbuchung auf eine Ersatzreise berechtigt und ab wann eine Pflichtverletzung einer unzulässigen Leistungsänderung vorliegt. Eine solche unzulässige Leistungsänderung stellt sich nach deutschem Recht als Reisemangel dar, wonach der Verbraucher die Gewährleistungsrechte der Minderung, Kündigung und Schadensersatz hat. Ob eine zulässige Leistungsänderung oder eine unzulässige – und damit für den Verbraucher unzumutbare – Leistungsänderung vorliegt, ist eine Frage des Einzelfalls und ist gegebenenfalls in einem außergerichtlichen Schlichtungsverfahren oder einem Gerichtsverfahren zu klären. Ich schlage daher vor, zur Klarstellung in Art 4 Abs 5 den Passus «für den Verbraucher zumutbare Änderung» aufzunehmen. Absage der Reise wegen unzureichender Teilnehmerzahl Soweit der Veranstalter eine vertraglich vereinbarte Reise wegen Nichterreichens einer im Vertrag genannten Mindestteilnehmerzahl absagt, ist der Verbraucher ausreichend geschützt durch seinen Anspruch auf eine gleichwertige Ersatzreise. Es liegt keine vorwerfbare Pflichtverletzung des Veranstalters vor, wenn sich nicht ausreichend viele Teilnehmer für eine wirtschaftlich sinnvoll durchzuführende Reise gemeldet haben. Daher sollte auch kein Entschädigungsanspruch eingeführt werden. Anderseits haben die Veranstalter ein berechtigtes Interesse an einer Preiserhöhung, wenn die vereinbarte Reise gleichwohl mit einer geringeren, als der vertraglich vereinbarten Teilnehmerzahl durchgeführt wird. Ich schlage daher vor, dass der Anhang in lit h insoweit ergänzt wird durch «und soweit die Reise trotz unzureichender Teilnehmerzahl durchgeführt wird». 29
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Stornoentschädigung Die RL sieht bisher keine Regelung zum Rücktritt des Verbrauchers vor Reisebeginn vor. Daher bestehen in den Mitgliedsstaaten unterschiedliche Systeme zur Regelung der Entschädigung des Veranstalters. Bereits der im Jahre 1999 von der Kommission vorgelegte Bericht über die Durchführung der RL14 und der von der Kommission einberufene «Runde Tisch» hat im Jahre 2001 eine Regelung der Stornoentschädigung angemahnt. Obwohl für Deutschland in § 651i BGB eine Regelung geschaffen wurde, ist festzustellen, dass vielfach die verlangten Stornoprozentsätze zu hoch sind und diese ständig steigen. Geht man davon aus, dass der Weiterverkauf zurückgegebener Reisen durch den zunehmenden Last-Minute-Verkauf wesentlich leichter geworden ist, müssten eigentlich die Stornopauschalen sinken. Da jedoch das Gegenteil beobachtet werden kann, liegt die Vermutung nahe, dass in diesem nicht-operativen Geschäft die verlangten Stornosätze zu hoch sind. Ich schlage daher vor, dass in der RL klare Höchstgrenzen für Stornosätze nach Reisearten und nach den Rücktrittszeitpunkten festgelegt werden. Für Flugpauschalreisen können folgende Stornopauschalen bei Rücktritt vor Reisebeginn als angemessen angesehen werden: bis 30 Tage: ab 29. bis 22. Tag: ab 21. bis 15. Tag: ab 14. bis 7. Tag: ab 6. Tag: ab Nichtantritt:
20% 30% 40% 50% 55% 75%
Berechenbarkeit einer Preisminderung Es sollte weiterhin den Mitgliedsstaaten überlassen bleiben, nach welchen Kriterien der Preis bei einer geminderten Reiseleistung herabzusetzen ist. So sehr die gerichtinterne Frankfurter Tabelle zur Reisepreisminderung im Hinblick auf eine Berechenbarkeit des Prozessrisikos zu begrüßen ist, erscheint mir doch die Aufnahme einer solchen Schematisierung in einen Anhang der RL als zu weitgehend. Mit einer solchen Normierung durch den Gesetzgeber wird der Einzelfall nicht mehr gerecht entschieden, sondern nur oberflächlich mit dem Hinweis auf eine solche Tabelle. Transparenter und förderlicher ist die Entwicklung einer Mängeltabelle wie die «Kemptener Reisemängeltabelle» des Autors, welche chronologisch die wichtigsten Urteile der letzten zehn Jahre mit den zuerkannten Minderungsquoten, Bemerkungen zum Einzelfall und den Fundstellen auflistet. 14 SEK (1999) 1800.
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2.3.6 Haftung des Veranstalters (Art 5) Gesamtschuld Zu Recht wird im Arbeitpapier darauf hingewiesen, dass den Verbrauchern die Geltendmachung ihrer Ansprüche insb dann erschwert ist, wenn Vermittler und Veranstalter ihren Sitz in verschiedenen MS haben. Dies gilt gerade für Online-Buchungen für Veranstalter aus Drittstaaten. Daher schlage ich vor, dass ein Vermittler, der Pauschalreisen von Veranstaltern mit Sitz in anderen MS oder in Drittstaaten verkauft, in jedem Fall mit dem Veranstalter als Gesamtschuldner haften sollte. Ersatz des immateriellen Schadens Nach der Rsp des EuGH ist Art 5 dahin auszulegen, dass er dem Verbraucher grundsätzlich einen Anspruch auf Ersatz des immateriellen Schadens verleiht, der auf der Nichterfüllung oder einer mangelhaften Erfüllung der eine Pauschalreise ausmachenden Leistungen beruht. Allerdings sollte dieser Anspruch nur bei einer erheblichen mangelhaften Erfüllung der Reiseleistungen gewährt werden (vgl § 651 f Abs 2 BGB). Ich schlage insoweit vor, klarzustellen, dass Art 5 auch einen Anspruch für immaterielle Schäden gewährt, falls die Reiseleistungen erheblich mangelhaft erfüllt werden.
2.3.7 Schutz bei Insolvenz (Art 7) Absicherungssystem Art 7 regelt bisher nicht das System der Absicherung. Infolgedessen haben sich in den MS unterschiedliche Absicherungssysteme entwickelt, welche sich als Hindernis für eine grenzüberschreitende Tätigkeit des Veranstalters und eine aktive grenzüberschreitende Buchungspraxis des Verbrauchers erweist. Zudem fördern die unterschiedlichen nationalen Systeme nicht den Binnenmarkt bei Dienstleistungen iSv Art 49 EGV. Es ist zu fordern, dass in der RL die Leitlinien der Insolvenzsicherung des Veranstalters festgelegt werden. Insoweit ist aus deutscher Sicht auch vorzuschlagen, dass für eine Tätigkeit als Veranstalter eine gewerberechtliche Zulassung im Sinne einer Lizenzierung in Art 7 RL festgeschrieben wird. Nur so ist es möglich, die Sachkunde und die Bonität des Veranstalters vor der Aufnahme seiner Tätigkeit festzustellen. Die deutsche Regelung, dass erst nach Insolvenz oder bei gerichtlicher Geltendmachung von Ansprüchen die Insolvenzabsicherung des Veranstalters nachgeprüft wird, führt zu keiner effektiven Ab31
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sicherung.15 Nicht ausreichend erscheint die private Einführung einer «weißen Liste» von abgesicherten Veranstaltern, da damit dem Verbraucher die Kontrolle über die Effektivität des Systems übertragen wird.16 Ich schlage daher vor, dass in der RL die Leitlinien der Insolvenzsicherung des Veranstalters präziser festgelegt werden. Haftungsbegrenzung Nach Art 7 RL und den Entscheidungen des EuGH hierzu in den Rs Dillenkofer,17 VKI,18 Ambry19 und Rechberger20 ist eine vollständige Absicherung des Verbrauchers zu fordern. Bereits in der Rs Rechberger hat der EuGH ausdrücklich klargestellt, dass eine Haftungsbegrenzung unzulässig ist. Daher ist auch die deutsche jährliche Haftungsbegrenzung pro Absicherer von EUR 110 Mio nach § 651k Abs 2 BGB unwirksam und stellt eine unrichtige Umsetzung der RL dar. Eine Rechtsvergleichung mit den anderen MS ergibt, dass auch deren Umsetzungsgesetze gegen das Verbot einer Haftungsbeschränkung verstoßen. Ich schlage vor, dass in der RL klargestellt wird, dass eine jegliche Haftungsbegrenzung zu unterbleiben hat. Doppelzahlungen des Verbrauchers Es ist sicherzustellen, dass in der RL gewährleistet ist, dass von dem Verbraucher geleistete Doppelzahlungen an Leistungsträger wie Hotel oder Luftfahrtunternehmen von dem Sicherungssystem übernommen werden. Dies entspricht auch der Rsp des EuGH in der Rs VKI. Ich schlage vor, dass nach «gezahlte Beträge» das Wort «einschließlich Doppelzahlungen an Leistungsträger» eingefügt wird. Organisation der Rückreise Eine vollständige Absicherung des Verbrauchers erfordert, dass der Veranstalter die Organisation der Rückreise sicherstellt, sollte der Verbraucher während der Reise von der Insolvenz seines Veranstalters betroffen sein. Art 7 der RL ist insoweit nicht klar, so dass der deutsche Gesetzgeber lediglich einen Erstat-
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Führich, Reiserecht5 Rz 582 ff. Vgl . EuGH 08.10.1996 Rs C-178/94, Slg 1996 I-04845 =NJW 1996, 3141. EuGH 14.05.1998 Rs C 364/96, Slg 1998 I-02949 =NJW 1998, 2201. EuGH 01.12.1998 Rs C-410/96, Slg 1998 I-07875 =EuZW 1999, 21. EuGH 15.06.1999 Rs C-140/97, Slg 1999 I-03499 =NJW 1999, 3181.
Vorschläge zur Änderung der Pauschalreise-Richtlinie
tungsanspruch in Geld für notwendige Aufwendungen des Reisenden in § 651k Abs 1 BGB vorsieht. Es muss gesetzlich sichergestellt werden, dass der jeweilige Absicherer im Insolvenzfall die Rückreise organisiert und nicht – wie oft geschehen – der Verbraucher ohne notwendige Barmittel am Flughafen tagelang warten muss, bevor er selbst die Rückreise vorfinanzieren kann. Soweit Rückholsysteme auf freiwilliger Basis durch Aktionen die Rückreise der Verbraucher organisieren, ist die Richtlinie an diese Praxis anzupassen. Jedenfalls ist zu fordern, dass der Veranstalter auch die Organisation der Rückreise sicherstellt und es nicht dem Verbraucher obliegt, seine Rückreise selbst zu organisieren und zudem auch noch vorfinanzieren zu müssen. Auch der EuGH betont in der Rs Dillenkofer den Rückreiseanspruch des Verbrauchers. Ich schlage vor, in Art 7 klarzustellen, dass der Veranstalter die Organisation der Rückreise sicherstellt. Insolvenzsicherung von Flügen Nicht erfasst werden sollten in der Pauschalreise-RL der Luftbeförderungsvertrag mit Luftfahrtunternehmen und der Beherbergungsvertrag mit Hotelbetreibern. Eine solche Erweiterung der Pauschalreise-RL würde zu großen Abgrenzungsschwierigkeiten zu bestehenden EG-Verordnungen wie der VO 2027/97/EG bzw der VO 261/2004/EG und internationalen Übereinkommen wie dem Übereinkommen von Montreal über die Beförderung im Luftverkehr führen. Jedoch sollte durch eine neue Verordnung der Gemeinschaft für Luftfahrtunternehmen mit einer EG-Betriebserlaubnis eine eigene Insolvenzsicherung eingeführt werden, da insoweit kein Schutz des Verbrauchers besteht und dieser in den meisten Fällen Tarife bucht, bei denen er den Flugpreis vor dem Abflug zu bezahlen hat. Das Insolvenzrisiko des Luftfahrtunternehmens trägt bisher alleine der Fluggast, obwohl eine steigende Zahl von Insolvenzen in der Gemeinschaft zu beobachten ist. Zudem ist bei dem Boom der Billig-Fluggesellschaften und deren mangelnden Kostendeckung in Zukunft mit erheblichen Insolvenzen zu rechnen. Ich fordere eindringlich eine Insolvenzabsicherungspflicht für Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft.
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3. Das Recht auf Vertragsübertragung gem Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL – eine systematische Betrachtung Stephan Keiler 3.1 Einleitung Die Pauschalreise-RL 90/314/EWG bietet in Art 4 Abs 3 ein Recht des Reisenden, seinen Vertrag auf einen Dritten zu übertragen; dieses Recht ist in der Praxis aus vielfältigen Gründen wenig geübt, insb, weil es den Reisenden wenig bekannt ist und Alternativen zur Übertragung eher propagiert werden. Die Judikatur zu den nationalen Umsetzungsbestimmungen ist folglich sehr dünn gesät, umso mehr Fragen dogmatischer und systematischer Art gehen mit diesem Recht einher. Der Versuch einer systematischen Annäherung1.
3.2 Berechtigte Neben dem eigentlichen (reisenden) Verbraucher als Hauptkontrahent iSd Art 2 Z 4 Alt 1 sind auch solche Personen, die nicht Vertragspartner des Reiseveranstalters, sondern (bloß) Begünstigte aus dem (Pauschalreise-)Vertrag zugunsten Dritter (bspw gem § 881 Abs 1 ABGB bzw § 328 BGB)2 sind, gelten nach der Legaldefinition in Art 2 Z 4 Alt 2 RL als (reisende) Verbraucher bzw Reisende3 und genießen damit die (Schutz-)Rechte der RL4.
1 Ausf Keiler, Das Recht auf Vertragsübertragung (2010, in Druck). 2 Vgl Jagmann in Staudinger (Begr), BGB (2009) § 328 BGB Rz 211. 3 Im deutschen Recht ist weder Reiseveranstalter noch Reisender selbst definiert und § 13 BGB definiert den Verbraucher enger; vgl Führich, Reiserecht5 (2005) Rz 92; Eckert in Staudinger, BGB (2003) § 651a BGB Rz 48. 4 Führich, Reiserecht5 Rz 46.
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Das Recht auf Vertragsübertragung gem Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL
Beim Recht auf Vertragsübertragung ist jedoch zu differenzieren, ob jemand Vertragspartei des Reisevertrages ist oder bloß berechtigter Dritter, da letzterer unter dem Grundsatz nemo plus iuris transfere podest quam ipse habert den Vertrag, dessen Partei er nicht ist, auch nicht übertragen kann, wie bspw die Tochter, die mit der vertragschließenden Mutter eine Reise antritt; hier kommt statt einer Übertragung aber zumindest eine Zession der Forderung auf die Reiseleistung in Betracht. Verbraucher iSd Pauschalreise-RL ist gem Art 2 Z 4 Alt 3 RL auch jede Person, der der Hauptkontrahent oder einer der übrigen Begünstigten die Pauschalreise abtritt; diese Person wird in der RL sodann als „Erwerber“ definiert. Der Schutz der RL gilt demnach explizit auch für den reisenden Verbraucher, der einen Pauschalreisevertrag durch „Abtretung“ – richtig jedoch auch: Übernahme – erworben (bzw übernommen) hat5.
3.3 Die nationale Umsetzung im Überblick 3.3.1 Österreich Das Recht auf Vertragsübertragung wurde in Österreich anlässlich des Beitritts zum EWR6 per 01.05.1994 mit der Novelle 19937 zum Konsumentenschutzgesetz (KSchG)8 im Rahmen der Bestimmungen über den Reiseveranstaltungsvertrag (Synonym: Pauschalreisevertrag)9 in § 31c Abs 3 KSchG umgesetzt. Der Anwendungsbereich ist im Unterschied zur RL weiter, da er auf die Merkmale der Dauer und der obligatorischen Übernachtung gänzlich verzichtet und darüber hinaus das Modul der „sonstigen touristischen Dienstleistung“ in Art 31b Abs 2 lit c nur von der Beförderung gem lit a, nicht aber von der Unter-
5 Vgl ErwGr 10 Pauschalreise-RL. 6 Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen) samt Beilagen, BGBl 909/1993 Anhang XIX (7619). 7 BGBl 247/1993. 8 Bundesgesetz vom 08.03.1979, mit dem Bestimmungen zum Schutz der Verbraucher getroffen werden, BGBl 140/1979 idF BGBl I 60/2007. 9 Ein anderes Konzept verfolgt das Brüsseler Übereinkommen über den Reisevertrag (Convention internationale relative au contrat de voyage – CCV) vom 23.04.1970, welches einerseits in Art 1 Z 2 den Reiseveranstaltungsvertrag („Organized Travel Contract“) und andererseits in Z 3 den Reisevermittlungsvertrag („Intermediary Travel Contract“) definiert und als terminologischen Überbegriff in Z 1 den bloßen Reisevertrag („Travel Contract“) darüber stellt; vgl Rebmann, International einheitliche Regelung des Rechts des Reisevertrages, DB 1971, 1949; „Reiseveranstaltungsvertrag“ war auch die in Deutschland verwendete Bezeichnung vor der RL; vgl Bartl, Reiserecht (1979) Rz 3.
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Die nationale Umsetzung im Überblick
bringung gem lit b abgrenzt10. Der österreichische Tatbestand sieht eine Hinderung des Reisenden als Voraussetzung vor und das Erfordernis der Erfüllung „aller Bedingungen für die Teilnahme“ durch den neuen Reisenden. 3.3.2 Deutschland Der Tatbestand im deutschen Recht diente mit jener im CCV11 auch als Vorbild für vergleichbare Regelungen insb auch jene in der Pauschalreise-RL. Die ursprüngliche Bestimmung des § 651b BGB aus 197912, die mehrheitlich als eine Konstruktion des VzG interpretiert wurde, sah vor, dass der ursprünglich Buchende Vertragspartei blieb13, und dieser alleine die Gestaltungsrechte zB bei Vertragsstörungen und aus Ansprüchen auf Schadenersatz aus dem Vertrag inne hatte14. Mit dem „Gesetz zur Durchführung der Richtlinie des Rates über Pauschalreisen“15 vom 24.06.1994 wurde auch § 651b BGB novelliert und nun nach hL als Vertragsübertragung konzipiert16: Statt nur den Anspruch an der Teilnahme werden nach der Neufassung sämtliche Rechte und Pflichten aus dem Reisevertrag übertragen, auch wenn der Wortlaut immer noch (wohl untechnisch) einen „Eintritt“ erwähnt17. Initiativ zu werden hat der ursprünglich Buchende durch ein (Ersetzungs-)Verlangen, das er bis zum Reisebeginn an den Reiseveranstalter zu richten hat, wobei strittig ist, bis zu welchem Zeit-
10 Vgl Michitsch, Reiserecht (2004) § 31b KSchG Rz 8; Kietaibl, Pauschalreiserecht (2007) Rz 165; fälschlich andere Ansicht bei Hanusch, GewO § 126 Fn 1 (12. Lfg 2004). 11 Vgl zur Geschichte des Reiserechts ausf Pick, Reiserecht (1995) Einl Rz 58 ff; Zunarelli, Package Travel Contracts: Remarks on the European Community Legislation, Fordham TLJ 1993–1994, 489 (491 f). 12 Sog „Reisevertragsgesetz“ vom 13.12.1978, dBGBl 1979 I 509, mit dem die §§ 651a–k in das BGB eingefügt wurden; vgl Löwe, Das neue Reisevertragsgesetz, BB 1979, 1357; Bartl, Das neue „Reisevertragsrecht“, NJW 1979, 1384. 13 Vgl Tonner, Der Reisevertrag5 (2007) § 651b Rz 2; Zechner, Reisevertragsrecht (1989) Rz 220; Jagmann in Staudinger, BGB § 328 Rz 211; zur Abgrenzung siehe Wieland, Das Recht der Pauschalreise in Deutschland und Österreich (1991) 41 ff. 14 BT-Drs 8/786, 8; Tonner in MKBGB IV5 (2009) § 651b Rz 6 f; Pick, Reiserecht § 615b BGB Rz 8; Keller in PKBGB4 (2008) § 651b Rz 3. 15 dBGBl 1994 I 1322, in Kraft gesetzt mit 01.11.1994; vgl Pick, Reiserecht Einl Rz 140; krit Müller, Inkrafttreten des neuen Reisevertragsrechts – Außerkrafttreten des gesetzlichen Schutzes für den Reisenden?, NJW 1994, 2470. 16 Pick, Reiserecht § 615b BGB Rz 11; Kaller, Reiserecht2 (2005) Rz 106 f; Führich, Reiserecht5 Rz 185. 17 Zur Durchsetzung siehe Keiler, Verbraucherrechtliche Ansprüche im Europäischen Sekundärrecht und ihre Durchsetzbarkeit anhand eines Beispiels aus der PauschalreiseRL, Zak 2007, 85; ausf ders, Das Recht auf Vertragsübertragung (in Druck).
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Das Recht auf Vertragsübertragung gem Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL
punkt das Recht tatsächlich zusteht18; der Reiseveranstalter hat idF das Recht, dem Eintritt (der Übertragung) zu widersprechen, wenn der Übernehmer (i) den Reiseerfordernissen nicht genügt19 oder (ii) der Teilnahme an der Reise Gesetz oder hoheitliche Anordnung entgegenstehen20. Ein Widerspruchsrecht wegen eines der zwei taxativen Gründe hat der Veranstalter unverzüglich wahrzunehmen und nur wenn ein solches nicht zusteht, wird die Übertragung wirksam21. Verhindert der Veranstalter zu Unrecht eine Vertragsübertragung, wird er dem ursprünglich Buchenden – mE auch dem reiselustigen Übernehmer insb aus entgangener Urlaubsfreude22 – schadenersatzpflichtig23. § 651b BGB verzichtet auf die Vorbedingung der Hinderung, sodass das Motiv hinter der Vertragsübertragung rechtlich irrelevant bleibt und jedem Reisenden das Recht in dieser Hinsicht uneingeschränkt zusteht, soweit der Übernehmer für die spezifische Reise qualifiziert ist24. Sowohl Übergeber als auch Übernehmer haften in Solidarschuld dem Veranstalter sowohl für den noch offenen Reisepreis als auch für die durch die Übernahme zusätzlich entstehenden Mehrkosten. 3.3.3 Schweiz Das Schweizerische PauschalreiseG25 ist das Ergebnis der im Rahmen des sog autonomen Nachvollzugs des Gemeinschaftsrechts im Folgeprogramm nach Ablehnung des EWR-Abkommens 1992 („Swisslex“)26 erfolgten Übernahme der Pauschalreise-RL in das schweizerische Recht iSe freiwilligen Rechtsan-
18 LG Baden-Baden 11.11.1994, 1 S 72/94; vgl Führich, Reiserecht5 Rz 187 erwägt eine Korrektur nach Zumutbarkeit; Pick, Reiserecht § 651b BGB Rz 13 und Kaller, Reiserecht2 Rz 110 pochen auf den Grundsatz von Treu und Glauben; Eckert in Staudinger, BGB § 651b Rz 7 will teleologisch reduzieren; Tonner, Der Reisevertrag5 § 651b Rz 5 und Keller in PKBGB4 § 651b Rz 5 halten 1–3 Tage für zumutbar. 19 Vgl Pick, Reiserecht § 615b BGB Rz 22 ff; Führich, Reiserecht5 Rz 189; Kaller, Reiserecht2 Rz 118 f; 20 Vgl Keller in PKBGB4 § 651b Rz 9. 21 Eckert in Staudinger, BGB § 651b Rz 8 f; Wieland, Das Recht der Pauschalreise in Deutschland und Österreich 41. 22 Vgl Kaller, Reiserecht2 Rz 132. 23 Tonner, Der Reisevertrag5 § 651b Rz 10; Führich, Reiserecht5 Rz 193; 24 Vgl Bartl, Das neue Reisevertragsrecht, TranspR 1994, 409 (412 ff); Schulte-Nölke (Hg), EG-Verbraucherrecht Kompendium (2007) 227 <www.eu-consumer-law.org>. 25 Bundesgesetz vom 18.06.1993, SR 944.3; vgl Stauder, Pauschalreiserecht in der Schweiz, in DGfR-Jahrbuch 1998 (1999) 21. 26 Vgl Benesch, Das Freizügigkeitsabkommen zwischen der Schweiz und der europäischen Gemeinschaft (2007) 239 (242); Frank, Bundesgesetz über Pauschalreisen (1994) Rz 10 f.
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Das Institut der Vertragsübertragung
gleichung ohne völkerrechtliche Verpflichtung27. Festzuhalten ist, dass Entscheidungen des EuGH zur Auslegung des Sekundärrechts in der Schweiz grds keine rechtlich bindenden Konsequenzen haben, sehr wohl aber bei einer intendierten richtlinienkonformen Interpretation des PauschalreiseG Beachtung finden28. Art 17 Abs 1 PauschalreiseG sieht unter der Marginalrubrik „Abtretung der Buchung der Pauschalreise“ vor, dass ein Konsument (gem Art 2 Abs 3 leg cit) im Falle der Hinderung seine Buchung an einen Dritten abtreten kann, sofern dieser sämtliche „an die Teilnahme geknüpften Bedingungen“ erfüllt und er zuvor den Veranstalter innert angemessener Frist vor der Abreise informiert; Abs 2 ergänzt den Tatbestand um eine Klausel zur Solidarhaftung der beiden involvierten Reisenden. Auch in der Schweiz wird dieses Recht – entgegen dem Wortlaut – nicht nur als Abtretung einer Forderung, sondern deckungsgleich mit den vergleichbaren deutschsprachigen Regelungen als Vertragsübertragung qualifiziert29. Die Verständigung des Reiseveranstalters hat ausdrücklich vor der Übertragung stattzufinden30, damit ergibt sich eine andere Systematik, insb hins der Überprüfung der Voraussetzungen; sonst unterscheiden sich die einzelnen Tatbestandsmerkmale nicht von jenen in der RL.
3.4 Das Institut der Vertragsübertragung 3.4.1 Grundsätzliches Weder im ABGB noch im BGB ist das Rechtsinstitut einer Vertragsübertragung und die Übernahme eines gesamten Vertrages bzw einer Vertragsposition explizit geregelt31. Nach hA ist eine rechtsgeschäftliche Übertragung eines gesamten Schuldverhältnisses aber dennoch zulässig und als eigenständige
27 Kahil, Schweizer Recht auf Europakurs, EuZW 1996, 673 (673 f). 28 Stauder, Aktuelle Entwicklungen des Reiserechts in der Schweiz, RRa 2007, 146 (147); anzumerken ist idZ, dass die Klausel-RL 93/13/EWG nicht in das Schweizer Recht übernommen wurde. 29 Hangartner, Das neue Bundesgesetz über Pauschalreisen (1997) 67 f; unbeachtet lässt Frank, Bundesgesetz über Pauschalreisen 96 f diese Frage. 30 Zur Systematik schweigen sowohl Hangartner, Das neue Bundesgesetz über Pauschalreisen 67 ff als auch Frank, Bundesgesetz über Pauschalreisen 96 ff eisern. 31 Pieper, Vertragsübernahme und Vertragsbeitritt (1963) 11, 14; Gschnitzer, Zur Vertragsübernahme, besonders beim Kreditverhältnis, in FS Wilburg (1965) 99 (100); Röthel/Heßeler, Vertragsübernahme und Verbraucherschutz – Bewährungsprobe für ein junges Rechtsinstitut, WM 2008, 1001 (1001) nennen die Vertragsübertragung wörtlich „ein junges Rechtsinstitut“, Nörr in Nörr/Scheyhing/Pöggeler, Sukzessionen: Forderungszession, Vertragsübernahme, Schuldübernahme2 (1999) 180 ff eine „junge Rechtsfigur“.
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Das Recht auf Vertragsübertragung gem Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL
Rechtsfigur anerkannt32. Die Vertragsübertragung ist nach hA33 nicht nach der Zerlegungstheorie von Demelius34 aufzusplitten und bedingt auch keine Neubegründung des Vertragsverhältnisses35. Die Vertragsübertragung wird iSd sog „Einheitstheorie“36 als einheitliches Rechtsgeschäft verstanden, wodurch die Gesamtheit aller wechselseitigen Rechte und Pflichten37 inklusive rechtlicher Rahmenbeziehung übertragen wird38 und der Vertragsübernehmer an die Stelle der aus dem Schuldverhältnis ausscheidenden Partei tritt39. Bei der Vertragsübernahme werden nicht nur einzelne Rechte oder Pflichten eines Gläubigers oder Schuldners übertragen, stattdessen wird die gesamte Rechtsposition des Übertragenden40 als Gläubiger und als Schuldner mittels selbständigem Rechtsakt oder aufgrund gesetzlicher Anordnung auf einen Dritten übertragen41. Davon umfasst sind nicht nur die gegenseitigen Haupt32 Vgl Mader/Faber in Schwimann VI3 (2006) §§ 1405 f ABGB Rz 10; Krejci, Betriebsübergang und Arbeitsvertrag (1972) 172 f; mit Verweis auf zahlreiche Bspe vgl Schmidt/Kessel, Gläubiger und Schuldner: Mehrheit und Wechsel, in Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts (2008) 289 (Fn 132); OGH 10.01.1984, 4 Ob 193/82 =JBl 1986, 131 (Krejci); 10.05.1988, 5 Ob 541/88 =JBl 1988, 720; aA noch Wolff in Klang VI2 (1952) § 1393 ABGB 292 Fn 7. 33 Ablehnend ua Gschnitzer, Zur Vertragsübernahme, besonders beim Kreditverhältnis, in FS Wilburg 101, 106 f; Pieper, Vertragsübernahme und Vertragsbeitritt 173 ff; Fenyves, Erbenhaftung und Dauerschuldverhältnis 39; Krejci, Betriebsübergang und Arbeitsvertrag 180; vgl aber zum Reisevertrag Apathy, Das neue Reisevertragsrecht, RdW 1994, 234 (235). 34 Demelius, Vertragsübertragung, JheringsJB 1922, 241 (252, 291), der die Vertragsübertragung auf gesetzliche Tatbestände einschränkte und nur eine Kombination aus Zession und Schuldübernahme sah. 35 BGH 20.06.1985, IX ZR 173/84 =NJW 1985, 2528; Mayrhofer (Bearb), in Ehrenzweig, Schuldrecht AT3 (1986) 533 f; H. Böhm, Ausländergrundverkehr und Miete – unter besonderer Berücksichtigung der Unternehmensveräußerung, JBl 1990, 222 (232 f) unter Ablehnung von Blomeyer, Allgemeines Schuldrecht4 (1969) 323 f; vgl idZ jedoch in anderer Materie VwGH 17.03.2005, 2004/16/0254 =GeS 2005, 304; aA Knörzer, Prolongation, Novation und Vertragsübernahme im Gebührenrecht, taxlex 2006, 181. 36 OGH 17.01.1990, 1 Ob 719/89 =JBl 1990, 717; insb iZm § 3 AVRAG siehe Krejci, Betriebsübergang 182 mwN; Fenyves, Erbenhaftung und Dauerschuldverhältnis (1982) 39; Röthel/Heßeler, WM 2008, 1002. 37 Vgl solche idZ bei Lindinger, Obliegenheitsverpflichtungen des Reisenden, ZVR 2007, 224. 38 Pieper, Vertragsübernahme und Vertragsbeitritt 176 ff; Ertl in Rummel II/33 (2002) § 1406 Rz 2. 39 Larenz, Lehrbuch des Schuldrecht I14 (1987) 388 nennt dies eine „Änderung der Rechtszuständigkeit“. 40 Mayrhofer in Ehrenzweig, Schuldrecht AT3 533. 41 Barta, Zivilrecht (2004) 890 ; vgl Perner/ Spitzer/Kodek, Bürgerliches Recht2 (2008) 590, 592; Tonner in MKBGB IV5 § 651b Rz 5 gibt dennoch der Konstruktion des Vertrags zu Gunsten Dritter den Vorzug mit dem Argument der Flexibilität hins der jeweiligen Ansprüche von Übergeber und Überneh-
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Das Institut der Vertragsübertragung
leistungen, sondern auch die äquivalenten und inäquivalenten Nebenleistungspflichten42 sowie die Gestaltungsrechte43 und Obliegenheiten44. Da der Vertragsübernehmer die Gesamtheit aller wechselseitigen Rechte und Pflichten vom Übergeber übernimmt, stehen dem Übergeber als ausscheidender Partei mit Wirksamkeit der Übertragung keine Rechte mehr gegen den verbleibenden Vertragspartner zu. Der Vertragsübernehmer übernimmt die gesamte vertragliche Rechtsstellung des Übergebers, ohne dass dadurch der Inhalt oder die rechtliche Identität des bisherigen Schuldverhältnisses verändert wird45. Der Übernehmer muss das Vertragsverhältnis, dessen Regeln er sich insgesamt unterwirft, als Einheit46 und in der Lage übernehmen, in der es sich aktuell befindet und idR ebenso fortsetzen, wobei es auf den jeweiligen Kenntnisstand des Vertragsübernehmers grds nicht ankommt47. Diese Rechtsansicht wird bei vergleichbarer Rechtslage auch von Lehre und Rsp in Deutschland vertreten48. Die mit der Vertragsübernahme herbeigeführte Rechtsfolge bewirkt eben bloß die Auswechslung des Vertragspartners unter Aufrechterhaltung der Identität des Vertrags49; der Rechtsnachfolger erlangt idF die Rechtsstellung, die der ausscheidende Vertragspartner bisher inne hatte50. Es ist hA, dass die Übertragung grds, dh wenn gesetzlich nichts Anderes angeordnet ist, der Mitwirkung sowohl von Übergeber und Übernehmer als auch der im Schuldverhältnis verbleibenden Partei oder zumindest deren (dann) einseitiger Zustimmung ex post bedarf51, da in der Vertragsübernahme
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mer; in Tonner, Der Reisevertrag5 § 651b BGB Rz 4 ist der Tatbestand jedoch ein Fall der Vertragsübertragung. Vgl Dullinger in Apathy (Hg), Bürgerliches Recht II3 (2008) Rz 1/12. Zum Begriff vgl P. Bydlinski, Die Übertragung von Gestaltungsrechten (1986) 7 ff, in Bezug auf die Vertragsübertragung siehe aaO 26, 181. Vgl P. Bydlinski in Apathy (Hg), Bürgerliches Recht I4 (2007) Rz 3/10, 16; ausf ders, Die Übertragung von Gestaltungsrechten 95 ff. OGH 26.04.2001, 6 Ob 55/01h =EvBl 2001/173; Ertl in Rummel II/33 § 1406 Rz 2 mwN. BGH 10.05.1995, VIII ZR 264/94 =NJW 1995, 2290; vgl Röthel/Heßeler, Vertragsübernahme und Verbraucherschutz – Bewährungsprobe für ein junges Rechtsinstitut, WM 2008, 1002. OGH 17.11.1954, 3 Ob 722/54 =SZ 27/294. BGH 20.06.1985, IX ZR 173/84 =NJW 1985, 2528; 27.11.1985, VIII ZR 316/84 =NJW 1986, 2916 (Dörner); so auch OGH 29.04.2003, 1 Ob 152/02p =RdW 2003, 634; 08.12.1974, 1 Ob 219/74 =MietSlg 26.114; Ertl in Rummel II/33 § 1406 Rz 2. Vgl Röthel/Heßeler, Vertragsübernahme und Verbraucherschutz – Bewährungsprobe für ein junges Rechtsinstitut, WM 2008, 1002. OGH 1 Ob 152/02p mwN; Knerr in PKBGB4 § 398 Rz 132 ff; vgl Roth in MKBGB II5 § 398 Rz 190, 195 f. OGH 14.10.1997, 5 Ob 504/96 =JBl 1998, 577 (Staudegger); vgl Barta/Kohlegger/Stadlmayer, Franz Gschnitzer Lesebuch 607, 628; Mader/Faber in Schwimann VI3 § 1406 Rz 10; vgl Ertl in Rummel II/33 § 1406 Rz 2.
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Das Recht auf Vertragsübertragung gem Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL
immer auch eine privative Schuldübernahme steckt52 und diese für die verbleibende Partei insofern mit dem Risiko verbunden sein kann, dass der Übernehmer über einen geringeren Haftungsfonds als der Übergeber verfügt53. Erteilt der verbleibende Vertragspartner nicht bereits im Vorhinein sein Placet54 oder ist der Parteienwechsel nicht ohnehin im Rahmen einer Drei-Parteien-Einigung (nach der sog Vertragstheorie)55 erfolgt, so wird die Vertragsübernahme in der Regel erst durch eine rechtsgeschäftliche Erklärung von Seiten der verbleibenden Partei, dem Wechsel des Vertragspartners zuzustimmen (sog Verfügungstheorie)56, wirksam57. Die Vertragsübertragung bzw Vertragsübernahme kann folglich als ein einheitliches Rechtsgeschäft sui generis bezeichnet werden58, bei welchem grds eine Vertragspartei gegen eine dritte ausgetauscht wird und welches für ihre Wirksamkeit grds der Zustimmung der verbleibenden Partei bedarf59. Gegenstand der Vertragsübertragung kann grds jedes Rechtsverhältnis und jede Parteistellung sein, soweit die Leistung aus diesem Verhältnis für den Übergeber nicht höchstpersönlich und daher unübertragbar ist60 wie etwa ein arbeitsrechtlicher Urlaubsanspruch, Unterhaltsrechte oder ein Belastungsund Veräußerungsverbot. Abzugrenzen ist die Vertragsübernahme vom Vertragsbeitritt61, bei welchem keine der bisherigen Parteien aus dem Vertragsverhältnis ausscheidet, 52 Vgl statt vieler Krejci in Rummel II/43 (2002) § 6 KSchG Rz 173. 53 Vgl §§ 1405 f ABGB. 54 Vgl idZ die Problematik der Vorauszession und nachfolgender Vertragsübernahme bei Beig, Die Zession künftiger Forderungen 94 f. 55 Krejci, Betriebsübergang und Arbeitsvertrag 186 f; krit Röthel/Heßeler, Vertragsübernahme und Verbraucherschutz – Bewährungsprobe für ein junges Rechtsinstitut, WM 2008, 1003; zu den verschiedenen Spielarten dieser (auch Angebotstheorie genannten) Theorie vgl Pieper, Vertragsübernahme und Vertragsbeitritt 196 f. 56 Pieper, Vertragsübernahme und Vertragsbeitritt 195, 199 ff; lt Gschnitzer, Zur Vertragsübernahme, besonders beim Kreditverhältnis, in FS Wilburg 106 die „Vertragsübernahme im eigentlichen Sinn“. 57 Zuletzt OGH 03.04.2008, 8 Ob 34/08w =Zak 2008, 217; vgl Dullinger in Apathy (Hg), Bürgerliches Recht II3 Rz 5/95; Koziol/Welser, Bürgerliches Recht II13 (2007) 135 (Fn 1); weitere Bspe bei Mayrhofer in Ehrenzweig, Schuldrecht AT3 533 ff; BGH 09.01.1997, VII ZR 266/95 =NJW-RR 1997, 690. 58 Ausf Keiler, Das Recht auf Vertragsübertragung (in Druck); bereits Pieper, Vertragsübernahme und Vertragsbeitritt 160 f nennt die Vertragsübernahme ein Rechtsgeschäft eigener Art. 59 Vgl Pieper, Vertragsübernahme und Vertragsbeitritt 177 f. 60 Vgl Krejci, Betriebsübergang und Arbeitsvertrag 194; vgl zu den höchstpersönlichen, nicht vererbbaren bzw nicht abtretbaren Rechten § 531 bzw § 1393 ABGB; S. Bydlinski in Krejci (Hg), UGB/ABGB (2007) § 39 UGB Rz 22. 61 Dessulemoustier-Bovekercke, KSchG-Novelle – Lücken und Tücken im Lichte der EU, AnwBl 1994, 669 (672) nimmt iZm § 31c Abs 3 KSchG einen Vertragsbeitritt unter
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Das Institut der Vertragsübertragung
aber auf einer Vertragsseite eine weitere Partei mit allen Rechten und Pflichten, daher auch als Gläubiger der vertragstypischen Leistung hinzutritt62; auch hier ist grds die Zustimmung der anderen Vertragsseite obligatorisch63. Bei der Schuldübernahme – aus Sicht des Gläubigers das Gegenstück zur Zession64 – tritt ein neuer Schuldner an die Stelle des alten (sog privative Schuldübernahme gem § 1405 ABGB bzw § 414 BGB)65. Bei einem Schuldbeitritt66 (gelegentlich irreführend als kumulative Schuldübernahme oder Schuldmitübernahme67 bezeichnet)68 tritt ein neuer Schuldner neben den bisherigen Schuldner in das Schuldverhältnis ein, ohne jedoch Rechte aus dem Vertrag zu erwerben. Der neue, weitere Schuldner haftet neben dem alten Schuldner solidarisch; nur bei der Schuldübernahme ist zur Wirksamkeit nach der Verfügungstheorie die Zustimmung des Gläubigers erforderlich, da sich diese (wie grds auch eine echte Vertragsübernahme) negativ für den Gläubiger auswirken kann, wenn der neue Schuldner über eine geringere Bonität verfügt als der bisherige69 (in Deutschland str)70. Andererseits ist die Erfüllungsübernahme als Belastungsübernahme von der Vertragsübernahme zu differenzieren: als (interner) Vertrag zwischen Schuldner und einem Dritten, verpflichtet die Erfüllungsübernahme ohne Rechtswirkungen für den Gläubiger den Dritten, dem Schuldner die Hauptleistung aus dem Vertrag abzunehmen und diesen rein wirtschaftlich zu entlasten71.
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gleichzeitigem Schuldbeitritt an, was schon einerseits unrichtig ist, da ein Vertragsbeitritt ohnehin auch die Schuldnerposition umfasst und einen Schuldbeitritt überflüssig macht und andererseits, weil der ursprünglich Buchende weiterhin Anspruch auf die Reiseleistung hätte und nicht aus seiner diesbezüglichen Vertragsposition ausscheiden würde. Vgl Mayrhofer in Ehrenzweig, Schuldrecht AT3 536 f; Pieper, Vertragsübernahme und Vertragsbeitritt 217 ff. Vgl Ertl in Rummel II/33 § 1406 ABGB Rz 3; P. Bydlinski, Die Übertragung von Gestaltungsrechten 102 f; OGH 26.01.1989, 6 Ob 702/88. Rosch in PKBGB4 § 414 Rz 3. Koziol/Welser, Bürgerliches Recht II13 130; Dullinger in Apathy II3 Rz 5/80 f; Oetker/ Maultzsch, Vertragliche Schuldverhältnisse3 (2007) 644 f. Vgl den gesetzlichen Schuldbeitritt gem § 1409 ABGB; vgl Kurz, Schuldübernahme, Schuldbeitritt und das Verbraucherkreditgesetz, DNotZ 1997, 552. Rohe in Bamberger/Roth, BGB14 § 415 BGB Rz 30. Koziol/Welser, Bürgerliches Recht II13 131; Dullinger in Apathy II3 Rz 5/83 f; Vgl Ertl in Rummel II/33 § 1405 ABGB Rz 1; Mader/Faber in Schwimann VI3 §§ 1405, 1406 ABGB Rz 2; Dullinger in Apathy II3 Rz 5/83. Vgl Möschel in MKBGB II5 § 414 Rz 6; für ein Zurückweisungsrecht Rosch in PKBGB4 § 414 Rz 19 f. Vgl Ertl in Rummel II/33 § 1404 ABGB Rz 2; Neumayr in Koziol/Bydlinski/Bollenberger (Hg), ABGB2 (2007) § 1404 ABGB Rz 2; Mader/Faber in Schwimann VI3 § 1404 ABGB Rz 2; OGH 30.06.1983, 6 Ob 6/83 =SZ 56/117.
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Das Recht auf Vertragsübertragung gem Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL
3.4.2 Rechtsgrund der Vertragsübertragung In einzelnen sonderprivatrechtlichen Vorschriften, ist eine Vertragsübertragung gesetzlich vorgesehen oder als Rechtsfolge eines anderen, bereits abgeschlossenen Rechtsgeschäfts angeordnet72. Die Vertragsübertragung dient gerade dazu, gespaltene Rechtsverhältnisse73 zu vermeiden, bei denen der Veräußerer Vertragspartner und damit Schuldner bleibt und nur die Forderung/en im Wege einer Abtretung auf den Erwerber übergehen74. Beim Rechtsinstitut der Vertragsübertragung ist zu unterscheiden, ob das Vertragsverhältnis75 (i)
aufgrund gesetzlicher Anordnung ex lege und ohne Zustimmung des verbleibenden Vertragspartners als Rechtsfolge eines kausalen Grundgeschäfts zur Gänze und (eher) zum Schutze des/der verbleibenden Vertragspartner/s auf einen Dritten übergeht76 (bspw gem §§ 69 f aVersVG77 bzw § 69 dVersVG78) dieser Vorgang wird auch unscharf als Vertragseintritt bezeichnet79; oder (ii) aufgrund einer bloßen Vereinbarung der an der Übertragung beteiligten zwei Parteien unter Zustimmung der im übertragenen Vertrag verbleibenden Partei bzw aufgrund einer Vereinbarung aller drei Parteien über eine rechtsgeschäftliche – oder auch „gewillkürte“80 – Vertragsübernahme iSd Vertragsautonomie81; oder aber (iii) als gesetzlich normierte Option eines Vertragspartners und unter gesetzlich angeordneter Substitution der grds obligatorischen Zustimmung 72 Dullinger in Apathy II3 Rz 5/95, 5/97; Barta, Zivilrecht 890; Bspe bei Maurer, Die rechtsgeschäftliche Vertragsübernahme, BWNotZ 2005, 114 (114); zur Unterscheidung idZ auch Kaller, Reiserecht2 Rz 113 f. 73 Vgl Lukas, Zession und Synallagma (2000) 11 f. 74 S. Bydlinski in Krejci, UGB/ABGB § 39 UGB Rz 7. 75 Vgl Gschnitzer, Zur Vertragsübernahme, besonders beim Kreditverhältnis, in FS Wilburg 100 ff; Nörr in Nörr/Scheyhing/Pöggeler, Sukzessionen: Forderungszession, Vertragsübernahme, Schuldübernahme2 (§ 17) 183; darüber hinaus sieht § 87 EheG eine Vertragsübertragung durch rechtsgestaltende Entscheidung des Richters iZm dinglichen Rechten an einer Ehewohnung vor. 76 Vgl Demelius, Vertragsübertragung, JheringsJB 72 (1922), 241 (252 ff). 77 Grassl-Palten, Miteigentum und Veräußerung der versicherten Sache, JBl 1994, 375; Schauer, Der Regreß des Haftpflichtversicherers bei Veräußerung der versicherten Sache, RdW 1987, 2. 78 Vgl Langheid in Römer/Langheid (Hg), Versicherungsvertragsgesetz2 (2003) § 69 Rz 14 ff; Kollhosser in Pröls/Martin (Hg), Versicherungsvertragsgesetz27 (2004) § 69 Rz 8. 79 Koziol/Welser, Bürgerliches Recht II13 135. 80 So der Begriff nach Jost, Gewillkürte Vertragsübernahme und gewillkürter Vertragsbeitritt (1936) 3 ff. 81 Vgl Emmerich in MKBGB II5 § 311 Rz 1 ff; Lapp in PKBGB4 § 311 Rz 3 f.
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Das Institut der Vertragsübertragung
des verbleibenden Vertragspartners und uU nach Erfüllung spezifischer (Vor)Bedingungen und ebenso gesetzlich angeordneter Haftungsfolgen (bspw gem § 12 Abs 1 MRG). 3.4.3 Vertragsübertragung im Reiserecht Nun stellt sich die Frage, ob bspw der Tatbestand des § 31c Abs 3 KSchG in das Schema der erwähnten Vertragsübertragung passt. Sowohl Art 4 Abs 3 S 1 Pauschalreise-RL als auch § 31c Abs 3 S 1 verwenden den Terminus „übertragen“ iZm der „Buchung“82 bzw des „Vertragsverhältnisses“. Ziel der Bestimmung ist grds, dass nicht der ursprünglich Buchende, sondern ein Dritter die vertragsgegenständliche Reiseleistung und damit verbundene Rechte in Anspruch nehmen können soll. Sowohl § 651b Abs 1 BGB als auch Art 17 Abs 1 PauschalreiseG verwenden demgegenüber den Terminus der „Abtretung“. Es ist dem Europäischen Sekundärrecht bis dato eigen, dass nicht hinter jeder Regelung ein dogmatisches Konzept steckt, sondern eher danach getrachtet wird, den MS ihre Autonomie der gewachsenen Privatrechtssysteme zu belassen. Die Pauschalreise-RL verfolgt mit ihrem Regime des Reisevertrages nicht das Ziel der sektoralen Rechtsvereinheitlichung, sondern will die (damals) eklatanten Differenzen in Hinblick auf den Verbraucherschutz der Reisenden bloß ausgleichen83. Das Recht eines Reisenden, an seiner statt einen anderen die Reiseleistung und damit verbundene Rechte beanspruchen zu lassen – auch gegen den Willen des Veranstalters – ist aber erklärtes Ziel der Pauschalreise-RL, wenn ErwGr 13 festhält, dass dem reisenden Verbraucher unter bestimmten Umständen die Möglichkeit einzuräumen ist, seine Pauschalreise auf einen Dritten zu übertragen. Um die Pauschalreise als Ganzes, inklusive aller damit einhergehenden Rechte – wie insb die Teilnahme an der Reise, aber auch etwaiger Gewährleistungs- und Schadenersatzansprüche – und Pflichten vom ursprünglich Buchenden auf einen neuen Reisenden zu übertragen, genügt die Abtretung der Ansprüche aus dem Reisevertrag verbunden mit der Übernahme der Kaufpreisschuld nicht. Der bisherige Reisende wäre weiterhin Vertragspartner des Reiseveranstalters und würde kraft Anordnung solidarisch für Reisepreis und Übertragungskosten weiter haften. Der neue Reisende würde zwar den Anspruch auf die Reiseleistung übernehmen, nicht aber automatisch weitergehende Rechte aus dem Reisevertrag ausüben, wie bspw Gestaltungsrechte aus 82 „Buchung“ meint herkömmlich eher den Vorgang des Vertragsschlusses iZm Reisedienstleistungen, allerdings wird der Begriff synonym für Verträge verwendet, die mittels Buchung zu Stande gekommen sind; Eine Buchung ist daher als ein Reisevertrag zu sehen, der vom Reisenden im Wege einer Buchung abgeschlossen wurde. 83 ErwGr 7 sieht Bedarf an einem Minimum an gemeinsamen Regeln, um diesen Wirtschaftszweig (gemeint: der Fremdenverkehr) auf Gemeinschaftsebene zu strukturieren.
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Das Recht auf Vertragsübertragung gem Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL
dem Reisevertrag84 geltend machen können. Es bliebe außerdem im Unklaren, wem gegenüber der Reiseveranstalter Informationspflichten zu erfüllen habe, wann der Übergeber und/oder der Reiseveranstalter die Erfüllung der Bedingungen für die Teilnahme zu überprüfen hätten und welche rechtliche Funktion die Verständigung des Veranstalters hins einer Abtretung und hins einer Schuldübernahme einnehmen würde, außerdem, zu welchem Zeitpunkt die Solidarhaftung einsetzt. Zumindest für die einschlägigen Tatbestände in KSchG, BGB und PauschalreiseG ist daher mangels abschließendem Kriterienkatalog für eine „echte“ Vertragsübertragung im allg Schuldrecht mE dogmatisch argumentierbar, dass nicht nur die Reiseleistung im Wege einer Zession nach allgemeinen Regeln, sondern der gesamte Reisevertrag bzw die gesamte Vertragsposition als Reisender übertragen wird. Die Qualifikation der Konstruktion als Vertragsübertragung ist dogmatisch sauberer und darüber hinaus zielführender iSd Intentionen der RL, da dem tatsächlich Reisenden sämtliche Rechte aus dem Vertrag zukommen und der Reiseveranstalter dennoch nicht belastet wird. Auch wenn sich in der Lit vereinzelt Stimmen gegen die Einordnung als Vertragsübertragung aussprechen: Apathy85 führt dabei die Weiterhaftung des Übergebers und damit wohl das zumindest tw Verbleiben des Übergebers im Schuldverhältnis als Argument ins Treffen; oder wie aktuell Tonner86, der sich idZ für die Anwendung der Lehre vom VzG – wie noch hL bei § 651b aF87 – starkmacht, sodass der ursprünglich Buchende Vertragspartner bliebe und der neue Reisende bloß Berechtigter aus dem Reisevertrag würde, mit dem Argument, diese Konstruktion sei flexibler und die Ansprüche besser voneinander trenne. Letzterem Argument kann mE nicht gefolgt werden, da gerade die Übertragung der gesamten Vertragsposition eine strikte Übertragung und damit Trennung auch der Ansprüche mit sich bringt, wenn dem Übernehmer sämtliche Ansprüche aus dem übertragenen Vertrag exklusiv zustehen. Die ganz überwiegende Meinung88 sowohl in Österreich als auch in Deutschland geht von einer Vertragsübertragung aus, die allerdings nicht in al84 Vgl bspw iZm Gewährleistungsbehelfen aber P. Bydlinski, Die Übertragung von Gestaltungsrechten 149 ff. 85 Apathy, Das neue Reisevertragsrecht, RdW 1994, 234 (235 Fn 20); ders in Schwimann V3 § 31c KSchG Rz 14, der damit eine vollständige Vertragsübernahme verneint. 86 Tonner in MKBGB IV5 § 651b Rz 4; aA jedoch und für die Annahme einer Vertragsübertragung ders, Der Reisevertrag5 § 651b BGB Rz 4. 87 Siehe Fn 12 f. 88 Eckert in Staudinger, BGB § 651b BGB Rz 18; Seyderhelm, Reiserecht (1997) § 651b BGB Rz 3; Führich, Reiserecht5 Rz 185, Kaller, Reiserecht2 Rz 112; Keller in PKBGB4 § 651b Rz 4; AG Leipzig 29.11.2006, 109 C 6537/06 =RRa 2008, 272; Graziani-Weiss, Reiserecht in Österreich (1995) 86 f; Mayer in Kosesnik-Wehrle/Lehofer/Mayer/Langer (Hg), KSchG2 (2004) § 31c Rz 26; Mayrhofer in Fenyves/Kerschner/Vonkilch (Hg), ABGB – Klang Kommentar3 (2006) § 31c KSchG Rz 33 („Vertragsübergabe“); Krejci in
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Das Institut der Vertragsübertragung
len Aspekten dem von manchen in der Lit vertretenen Idealtypus89 – mit den Merkmalen (i) Übertragung des Schuldverhältnisses als Ganzes ohne inhaltliche Änderung; (ii) Auswechslung einer Vertragspartei und Ausscheiden der ausgewechselten; (iii) obligatorische Zustimmung des verbleibenden Vertragspartners – entspricht90; da dieses Modell einer Vertragsübertragung allerdings formal nicht existiert, sondern sich vielmehr eine größere Anzahl von Varianten in verschiedensten (sonder)privatrechtlichen Regelungen findet91, kann mE diese Theorie hinter dem Idealtypus nicht als Begründung dienen, einen tatbestandlichen Vorgang nicht als Vertragsübertragung zu qualifizieren. Die Übertragung eines (Pauschal)Reisevertrages iSv Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL ist mE folglich eine Variante der so zu bezeichnenden „atypischen Vertragsübertragung“. Beim Recht auf Vertragsübertragung, die gestützt auf Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL bzw deren jeweiligen Umsetzungsbestimmungen, handelt es sich nicht um eine rein gewillkürte Übertragung, aber auch nicht um eine durch Gesetz angeordnete, sondern um eine Mischform der beiden im Rechtsgrund unterschiedlichen Arten von Vertragsübertragung. Die Übertragung selbst beruht auf einem Rechtsgeschäft zwischen Übernehmer und Übergeber, der ursprünglich Buchende kann idF autonom aber in vorgegebenen Grenzen entscheiden, ob, wann und unter welchen rechtsgeschäftlichen Bedingungen er wem den Reisevertrag überträgt. Allerdings sieht das Gesetz dazu mehrere Kriterien vor, die dem Schutz des im Vertrag verbleibenden Reiseveranstalters dienen und verhindern, dass der Übertragungsvertrag zu einem Vertrag zu Lasten Dritter wird. Der Tatbestand, der das Recht auf Vertragsübertragung im Reiserecht normiert, substituiert daher die – sonst obligatorische – Zustimmung des Reiseveranstalters als verbleibenden Vertragspartner, wenn eine Hinderung gegeben ist, deren Auftreten für den bisherigen Vertragspartner des Reiseveranstalters (der ursprüngliche Buchende) eine Leistungsannahme uninteressant werden und diese in den Hintergrund treten lässt; darüber hiRummel II/43 § 31c KSchG Rz 5; Michitsch, Reiserecht § 31c KSchG Rz 32; unentschieden Kietaibl, Pauschalreiserecht 234; aA Dessulemoustier-Bovekercke, Die Regelung des Pauschalreisevertrages, JAP 1993/94, 251, (254). 89 Vgl Koziol/Welser, Bürgerliches Recht II13 135; Gschnitzer, Zur Vertragsübernahme, besonders beim Kreditverhältnis, in FS Wilburg 107 ff; Röthel/Heßeler, Vertragsübernahme und Verbraucherschutz – Bewährungsprobe für ein junges Rechtsinstitut, WM 2008, 1003; vgl OGH 1 Ob 719/89. 90 In BT-Drs 12/5354, 11 ist allerdings unscharf von „Eintritt in den Vertrag“ die Rede, was Führich, Reiserecht5 Rz 185 ungeprüft übernimmt, um dann doch als einen „Wechsel des Vertragspartners“ und idF als eine Vertragsübernahme zu qualifizieren. 91 Bspe bei Gschnitzer, Zur Vertragsübernahme, besonders beim Kreditverhältnis, in FS Wilburg 107 ff; Schmidt-Kessel, Gläubiger und Schuldner: Mehrheit und Wechsel, in Staudinger, Eckpfeiler 291 f; Maurer, Die rechtsgeschäftliche Vertragsübernahme, BWNotZ 2005, 118 f.
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Das Recht auf Vertragsübertragung gem Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL
naus ist der Reiseveranstalter geschützt, weil er von der Vertragsübertragung unterrichtet zu werden hat und diese erst mit Zugang der Anzeige wirksam wird. Schließlich wird auch den finanziellen Interessen des Reiseveranstalters begegnet, in dem er einen zweiten Schuldner erhält und durch die Vertragsübertragung jedenfalls nicht schlechter gestellt wird, als bei personell unverändertem Rechtsverhältnis. Der Übergeber scheidet gewöhnlich aus dem Vertragsverhältnis überhaupt aus, da er seine (Vertrags-)Funktion verloren hat. Es kann jedoch vereinbart werden oder – wie in Art 4 Abs 3 S 2 bzw in § 31c Abs 3 S 2 KSchG, § 651b Abs 2 BGB und Art 17 Abs 2 PauschalreiseG – gesetzlich angeordnet sein, dass der Übergeber sich gerade nicht zur Gänze vom Vertragsverhältnis löst, sondern als (Solidar-)Schuldner neben dem Übernehmer als neuen Vertragspartner im Schuldverhältnis verbleibt, aus diesem selbst aber keinerlei Forderungen mehr ableiten kann. Ob man die Rolle des Übergebers bei der Übertragung eines Reiseveranstaltungsvertrages, nachdem er aus dem Rechtsverhältnis gänzlich ausgeschieden ist, nun als eine durch gesetzlich angeordneten Schuldbeitritt sieht und er idF neuerlich am Vertragsverhältnis teilnimmt oder ob man ihn gar nicht gänzlich, sondern nur als Gläubiger ausscheiden lässt, da die Reiseleistung exklusiv jeweils nur einem individualisiertem Reisenden zusteht, und ihn quasi durch einen „Schuldverbleib“ iSe Forthaftung weiter verpflichtet belässt, führt jeweils zum identen Ergebnis: sowohl Übernehmer als auch Übergeber haften für den jeweils noch offenen Reisepreis und für zusätzlich beim Veranstalter entstandene Mehrkosten im Rahmen der Übertragung92.
3.5 Übertragungsgeschäft 3.5.1 Dogmatik Das Vertragsverhältnis wird – wie beschrieben – nur personell verändert, verliert jedoch seine Identität nicht.93 Der in der Reisebranche gängige Begriff „name change“94 ist jedenfalls aus rechtlicher Sicht zu kurz gegriffen, da durch die Vertragsübertragung nicht nur der Gläubiger und Konsument der Reiseleistung ausgewechselt wird, sondern der gesamte Vertrag übertragen wird; ein bloßer Wechsel des Namens ergo der die Reiseleistung in Anspruch neh-
92 Nach Pieper, Vertragsübernahme und Vertragsbeitritt 216 ist die Funktion des Übernehmers reduziert, sodass sich eine Art Bürgerschaft ergibt; vgl zur schwierigen Abgrenzung P. Bydlinski in Koziol/Bydlinski/Bollenberger, ABGB2 § 1347 Rz 1 f. 93 Pieper, Vertragsübernahme und Vertragsbeitritt 94; Kaller, Reiserecht2 Rz 373. 94 Nies, Reisebüro: Rechts- und Versicherungsfragen2 Rz 41; bspw Pkt 7 lit b Bedingungen der L’TUR Tourismus AG vom 01.07.2008 ; vgl auch Grant/Mason, The Law relating to Travel and Tourism4 227.
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Übertragungsgeschäft
menden Person kann diesem Rechtsinstitut nicht genügen und ist daher idZ abzulehnen. Die Zustimmung95 des Reiseveranstalters ist gesetzlich substituiert, sodass es einer grds geforderten Drei-Parteieneinigung96 in diesem Fall nicht bedarf97. Eine Erklärung von Seiten des Übertragenden und des Übernehmers dem Veranstalter gegenüber genügt. Ein Widerspruchsrecht räumt die RL – im Gegensatz zum deutschen Recht – dem Reiseveranstalter ebenso wenig ein. Einer gänzlich anderen Systematik unterliegt nämlich § 651b BGB, wo dem Veranstalter ein Widerspruchsrecht aus in Abs 1 S 2 taxativ aufgezählten Gründen zusteht98, wenn der Übernehmer den Reiseerfordernissen nicht genügt; die Voraussetzungen für die Teilnahme würden daher auf das Übertragungsgeschäft selbst vorgezogen, sodass nicht unterschieden werden kann, wann etwaige Voraussetzungen erfüllt zu sein haben; dies indiziert eine zeitliche Nähe zwischen Übertragung und Abreisetermin, wie es nach der deutschen Regelung vielfach zulässig ist. Ob diese Regelung den Vorgaben der RL entspricht, kann in dieser Hinsicht jedoch bezweifelt werden99. Der Übernehmer wird als Nachfolger des bisherigen Reisenden auch alleiniger Gläubiger des Veranstalters100 und hat sich dem aktuellen Stand des Vertrages zu unterwerfen. Daher treffen ihn im status quo zum einen die Pflichten aus dem Vertrag insb die Zahlung des noch offenen Reisepreises sowie aktuelle Nebenpflichten101 und zum anderen stehen ihm sämtliche Gestaltungsrechte und Einwendungen zu102, die jeweils mit diesem Stadium verbun95 Vgl zum Formerfordernis bei der Vertragsübernahme BGH 18.10.1995, VIII ZR 149/ 94. 96 Vgl etwa Bucher, Obligationenrecht AT 592 f; auch Röthel/Heßeler, Vertragsübernahme und Verbraucherschutz – Bewährungsprobe für ein junges Rechtsinstitut, WM 2008, 1001 (1003) fordern grds für eine Vertragsübertragung stets eine Dreiparteieneinigung. 97 Ähnlich Mayer in Kosesnik-Wehrle ea2 § 31c KSchG Rz 26; Krejci in Rummel II/43 § 31c KSchG Rz 5; Kaller, Reiserecht2 Rz 115 qualifiziert dies als zulässigen Vertrag zulasten des Dritten (nämlich des Reiseveranstalters); aA Eckert in Staudinger, BGB § 651b BGB Rz 19. 98 Vgl Kaller, Reiserecht2 Rz 117 ff; Führich, Reiserecht5 Rz 188 ff; Tonner, Der Reisevertrag5 § 651b Rz 6 ff; Eckert in Staudinger, BGB § 651b Rz 8 ff 99 Vgl Eckert in Staudinger, BGB § 651b Rz 19 f, der – wie Keller in PKBGB4 § 651b Rz 5 – einen Anspruch des Übertragenden auf Zustimmung durch den Reiseveranstalter argumentiert, dabei aber nicht bedenkt, falls der Veranstalter nicht reagiert, also weder zustimmt noch widerspricht; diff Tonner in MKBGB IV4 § 651b BGB Rz 6; Keller in PKBGB4 § 651b Rz 5 nimmt im Regelfall eine konkludente Zustimmung an; nach Führich, Reiserecht5 Rz 188 ist eine solche nicht notwendig. 100 Schmidt-Kessel, Gläubiger und Schuldner: Mehrheit und Wechsel, in Staudinger, Eckpfeiler des Zivilrechts, 289, 291 f. 101 Vgl Lindinger, Obliegenheitsverpflichtungen des Reisenden, ZVR 2007, 224; Führich, Reiserecht5 Rz 157 f. 102 OGH 28.02.1984, 5 Ob 512/84 (RS 0032709).
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Das Recht auf Vertragsübertragung gem Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL
den sind103. Leistungen, die der Veranstalter oder seine Leistungsträger bereits erbracht hat, wie bspw Informations- und Aufklärungsleistungen104, die Übergabe von Gutscheinen oder Unterlagen (zB die Bescheinigung hins der Insolvenzabsicherung gem Art 7 Pauschalreise-RL)105 iZm der Reise, hat sich der Übernehmer anrechnen zu lassen106. 3.5.2 Systematik Chronologisch erfolgt zuerst die (formlose) Vereinbarung zwischen dem ursprünglich Buchenden (Übertragender) und dem Reiselustigen (Übernehmer) und damit die Übertragung des Reisevertrages durch selbständiges Rechtsgeschäft107 (Kauf, Schenkung, Vererbung) und (entgegen dem Wortlaut der RL) ist danach der Veranstalter von der bereits erfolgten Übertragung zu verständigen108. Bis zur tatsächlichen Verständigung ist die Übertragung gegenüber dem Reiseveranstalter nicht wirksam, das Übertragungsgeschäft zwischen Übernehmer und Übergeber im Innenverhältnis aber sehr wohl109. Es ist aber ein Ansatz argumentierbar, der sich am Zweck der europarechtlichen Bestimmung – dem Verbraucherschutz110 und der sekundärrechtlich eingeräumten Möglichkeit, den gesamten Vertrag auch gegen den Willen des Veranstalters auf einen Dritten zu übertragen, orientiert111. Der Übernehmer hat grds für die Reise geeignet zu sein und seine Teilnahme muss mit ernsthaftem Bemühen noch rechtzeitig organisiert werden können, dann wird die Übertragung mit Verständigung des Veranstalters wirksam. Aus den dargelegten Gründen bietet sich daher folgende teleologische Interpretation des Tatbestandes und der Systematik an: 103 Vgl Pick § 651b BGB Rz 12; grundlegend Gschnitzer, Zur Vertragsübertragung, besonders beim Kreditvertrag, in FS Wilburg 103 ff. 104 Vgl Eckert, Das neue Reiserecht, DB 1994, 1052 f. 105 Vgl Keller in PKBGB4 § 651b Rz 19, § 651k Rz 13. 106 Eckert in Staudinger, BGB § 651b BGB Rz 20. 107 Buch 7 Art 506 Abs 2 S 1 Burgerlijk Wetboek (Bürgerliches Gesetzbuch NL) spricht von einem „darauf gerichteten Übereinkommen zwischen dem Übertragenden und dem übernehmenden Dritten; vgl Yaqub/Bedford, European Travel Law (1997) Para 15.64. 108 Vgl Held, Der Reisendenwechsel nach dem neuen Reisevertragsrecht, BB 1980, 185 (186); anders Schulte-Nölke, Kompendium 313, der dem Veranstalter bloß die Absicht (zu übertragen) mitzuteilen fordert. 109 Vgl H. Böhm, Ausländergrundverkehr und Miete – unter besonderer Berücksichtigung der Unternehmensveräußerung, JBl 1990, 232 f. 110 Tonner in Grabitz/Hilf (Hg), Das Recht der EU IV RL 90/314/EWG Vorbem Rz 31 ff (EL 13, 1999). 111 ErwGr 13 Pauschalreise-RL; vgl F. Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff2 (1991) 404 f.
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Abtretung
3.5.3 Konzept Die Übertragung selbst ist an zwei Prämissen112 gebunden: · die, anhand eines objektiven Maßstabes zu prüfende Hinderung des Buchenden iSe Vorbedingung, die bloß glaubhaft zu machen ist und · die offensichtliche individuelle Eignung des Übernehmers für die spezifische Reise anhand der Voraussetzungen; (ii) und steht darüber hinaus bloß unter der Wirksamkeitsvoraussetzung · der Anzeige der Übertragung („Unterrichtung“,). (i)
Die tatsächliche Erfüllung der Voraussetzungen für die spezifischen Reise durch den Übernehmer ist hingegen bloß eine Bedingung für die Inanspruchnahme der Reiseleistung bzw die Teilnahme an der Reise selbst und ist erst nach der Übertragung vom Veranstalter als Vertragspartner und ggf zum jeweils gegebenen Zeitpunkt zu prüfen.113 Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut sowohl des § 31c Abs 3 KSchG als auch aus Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL selbst: Die Bestimmungen in Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL bzw § 31c Abs 3 KSchG fordern die Erfüllung der Bedingungen für die Teilnahme. Damit ist einerseits gemeint, (i) die Bedingungen – die von einem Vermittler auch nachvollzogen und kontrolliert werden können114 – beziehen sich nur auf die Teilnahme an der Reise iSe Teilnahmerechts nur bei Erfüllung und andererseits (ii), die Bedingungen beziehen sich zeitlich erst auf die Teilnahme an der Reise115.
3.6 Abtretung Auch reisende Verbraucher iSd Art 2 Z 4 Pauschalreise-RL bzw Reisende iSd § 2 Abs 2 Z 3 KSchG, die nicht Vertragspartner des Reiseveranstalters, sondern bloß Berechtigte aus dem Reisevertrag iSe VzG gem § 881 ABGB bzw § 328
112 Eine Voraussetzung ist mE ein Zustand, der gegeben sein muss, bevor ein spezifischer rechtlicher Vorgang oder ein rechtlich relevantes Geschehen überhaupt möglich ist. 113 AA Graziani-Weiss, Reiserecht in Österreich 38; wohl auch M. Bydlinski, Reisevertragsrecht, in Schuhmacher (Hg), Verbraucherschutz in Österreich und in der EG 211 (220); unscharf Mayer in Kosesnik-Wehrle ea2 § 31c Rz 23. 114 Zur Rolle des Reisevemittlers idZ vgl Nies, Reisebüro: Rechts- und Versicherungsfragen2 (2005) Rz 111, die unter Annahme einer sonstigen Verletzung der Verpflichtungen bspw aus dem Agenturvertrag die offenkundige Gehbehinderung für eine Trekkingtour oder das Alter für eine Jugend- oder Seniorenreise nennt. 115 Letzteres ist wohl auch der Hintergrund der Aufzählung bei Kaller, Reiserecht2 Rz 119.
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Das Recht auf Vertragsübertragung gem Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL
BGB sind, fallen unter den Schutz der RL mit ihren Rechten und Pflichten116. Diese „übrigen Berechtigten“ können mangels Parteistellung im Reisevertrag diesen auch nicht übertragen, da ihnen die schuldrechtliche Position, die sie einem potentiellen Übernehmer einräumen wollten, selbst nicht zukommt. Diese übrigen Berechtigte sind nicht in der Position, den Vertrag als Ganzes zu übertragen, sehr wohl aber ihre Stellung als Gläubiger aus dem Vertrag abzutreten. Nach allgemeinem Zivilrecht sind sämtliche obligatorischen Rechte, soweit sie nicht höchstpersönlich sind grds im Wege einer Zession gem §§ 1392 ff ABGB bzw §§ 398 ff BGB abtretbar, soweit nicht zwischen den Vertragsparteien etwas anderes vereinbart ist117. Die RL verleiht dem Vertragspartner des Reiseveranstalters das Recht, den Reisevertrag als ganzes im Wege der Vertragsübertragung weiterzugeben, den bloß Berechtigten kommt daher mit Hilfe eines Größenschlusses argumentum a maiori ad minus auf Grundlage von Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL das Recht zu, im Wege der Zession ihren Anspruch auf die Reiseleistung auf einen Dritten zu übertragen, sodass im Reisevertrag auch kein generelles Abtretungsverbot wirksam vereinbart werden kann118.
3.7 Zusammenfassung Das Recht auf Übertragung einer Reise in Art 4 Abs 3 Pauschalreise-RL ist als eine atypische Vertragsübertragung zu qualifizieren. Die grds obligatorische Zustimmung des verbleibenden Vertragspartners bei der Vertragsübertragung, hier des Reiseveranstalters, wird durch das Gesetz substituiert. Aus dem Reisevertrag bloß Berechtigte können grds unter den Bedingungen der Vertragsübertragung – Hinderung als Vorbedingung, Erfüllung der Voraussetzungen, Verständigung des Zessus, Solidarhaftung des Zessionars – ihren Anspruch auf die Reiseleistung abtreten. Der Übernehmer muss grundsätzlich und objektiv für die spezifische Reise geeignet sein, wie jeder andere Reiseteilnehmer auch; dies ist vom Übergeber vor der Vertragsübertragung zu prüfen119. Die spezifischen Voraussetzungen bzw deren Erfüllung sind Bedingungen für die Teilnahme und nicht für die Übertragung selbst.
116 Vgl auch Bech Serrat, La responsabilidad contractual de los organizadores y los detallistas de viajes combinados (2001) 390 f. 117 Vgl Dullinger in Apathy II3 Rz 5/16 ff. 118 Vgl Apathy in Schwimann VI3 (2006) § 31c KSchG Rz 14. 119 Ausf Keiler, Das Recht auf Vertragsübertragung (in Druck).
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4. (Vor)vertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL und im sonstigen (europäischen) Recht Susanne Augenhofer 4.1 Einleitung* In England sorgte folgender Fall1 vor einiger Zeit für Aufregung in den Tagesmedien: David Burnish buchte bei dem britischen Reiseveranstalter Thomson für sich, seine Gattin und seine drei Töchter um 4000,- Pfund (ca EUR 5.034,–) eine Reise auf die Insel Kos, Griechenland, mit Unterkunft im Grecotel Royal Park. Dort stellte er fest, dass im gebuchten Hotel nur ca 25 der 700 anwesenden Gäste Engländer waren. Die verbleibenden Gäste stammten zum Großteil aus Deutschland. Die verschiedenen Freizeitveranstaltungen, wie zum Beispiel Yogakurse und der Kinder-Club, wurden nur in deutscher Sprache abgehalten und die Verpflegung war nach dem Vorbringen von Burnish ebenfalls auf deutsche Gäste ausgerichtet. Wieder zurück in England klagte Burnish den Reiseveranstalter und machte geltend, dass dieser seine Informationspflichten verletzt habe: Der Reiseveranstalter hätte ihn über die Tatsache aufklären müssen, dass das Hotel «german-oriented» sei. Es stellt sich die Frage, ob den Reiseveranstalter tatsächlich eine Informationspflicht hinsichtlich der nationalen Zusammensetzung der Urlaubenden trifft. Allgemein formuliert lautet die Frage: Welche Informationen müssen dem Reisenden zu welchem Zeitpunkt gegeben werden?
* Das Manuskript entspricht dem Stand von September 2008. Spätere Entwicklungen, wie etwa die Umsetzung der RL über unlautere Geschäftspraktiken (vgl Fn 4) in Deutschland mit dem dBGBl 2008 I 2949, konnten nicht mehr berücksichtigt werden. 1 Vgl etwa .
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Vorvertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL
4.2 Gang der Darstellung Im Folgenden sollen die Informationsvorgaben der Pauschalreise-RL,2 auch wenn diese den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen darstellen, nicht im Detail erörtert werden. Vielmehr werden einzelne Bestimmungen herausgegriffen und in Kontext mit anderen Informationsvorschriften gestellt. Die Informationsvorschriften der Pauschalreise-RL sind nicht die einzigen Informationsvorschriften, die Reiseveranstalter und Reisevermittler zu beachten haben: Die Pauschalreise-RL ist nur eine Mindestrichtlinie (Art 8 Pauschalreise-RL). Strengere bzw ergänzende nationale Informationsvorschriften können daher neben der Pauschalreise-RL bestehen. Überdies werden die Informationsvorschriften der Pauschalreise-RL durch weitere europäische Vorschriften ergänzt. Sowohl auf europäischer als auch nationaler Ebene kann es daher zu einer «Parallelität von (Verbraucher-) Schutzinstrumenten»3 kommen. Die folgende Darstellung der existierenden bzw der die Pauschalreise-RL ergänzenden Informationspflichten ist jedoch nicht abschließend. Vielmehr wird nur auf die Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL, dem allgemeinen Zivilrecht und der RL über unlautere Geschäftspraktiken (UGP-RL)4 eingegangen. Gewisse Sachverhalte können jedoch durchaus in den Anwendungsbereich weiterer Richtlinien fallen: Auf Grund der Bekenntnis des europäischen Rechts zum Informationsmodell enthalten alle Verbraucherschutz-Richtlinien umfassende Informationsvorschriften.5 Nicht berücksichtigt werden überdies Probleme im Zusammenhang mit Allgemeinen Geschäftsbedingungen, da diese einem eigenen Beitrag vorbehalten sind.
2 RL 90/314/EWG des Rates vom 13.06.1990 über Pauschalreisen, ABl 1990 C 158/59. Die RL ist eine der acht RL, die zurzeit Gegenstand einer Überarbeitung des Verbraucher-Acquis sind; vgl das Grünbuch zur Überarbeitung des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherschutz, COM (2006) 744 final vom 08.02.2007 sowie das Arbeitspapier der Europäischen Kommission vom 26.7.2007, beide abrufbar unter <ec.europa.eu/consu mers/rights/timeshare_en.htm#travel>. 3 Staudinger, Die Bedeutung der BGB- und VVG-Reformen für das Reise- und Reiseversicherungsrecht, zugleich Rezension zu BGH 12.06.2007, X ZR 87/06 =RRa 2007, 215 (215). 4 RL 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.05.2005 über unlautere Geschäftspraktiken im binnenmarktinternen Geschäftsverkehr zwischen Unternehmen und Verbrauchern und zur Änderung der RL 84/450/EWG des Rates, der RL 97/7/ EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der VO 2006/2004/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (RL über unlautere Geschäftspraktiken), ABl 2005 L 149/22. 5 Zum Informationsmodell vgl etwa Grundmann/Kerber/Weatherill (eds), Party autonomy and the role of information in the internal market (2001); Howells/Janssen/Schulze (eds), Information rights and obligations (2005).
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Einschlägige Rechtsvorschriften
4.3 Einschlägige Rechtsvorschriften 4.3.1 Ausgangspunkt: Pauschalreise-RL In der Pauschalreise-RL sind die Informationspflichten in den Art 3 und 4 geregelt. Nach diesen Bestimmungen hat der Veranstalter und/oder Vermittler den Reisenden über die in den genannten Artikeln aufgezählten Punkte zu informieren. Die RL unterscheidet dabei zwischen verschiedenen Zeitpunkten, zu denen die – sich zum Teil überschneidenden – Informationen gegeben werden müssen. 4.3.2 Umsetzung der Informationsangaben der RL in Österreich Zum Zeitpunkt des Inkraft-Tretens der Reisepauschal-RL war Österreich noch nicht Mitglied der EU. Die RL wurde im Zuge der Konsumentenschutzgesetz (KSchG)-Novelle 1993 in das österreichische Recht übernommen.6 Das österreichische Recht regelt den Reisevertrag nicht gesondert. Vielmehr wird er als gemischter Vertrag angesehen, der Elemente des Werkvertrages, des Dienstleistungsvertrages und der Geschäftsbesorgung enthält.7 Daran hat sich auch mit der Umsetzung der Pauschalreise-RL nichts geändert. Die Informationsbestimmungen der Pauschalreise-RL wurden in Österreich jedoch nicht wie der Großteil der übrigen Bestimmungen in §§ 31b ff KSchG umgesetzt, sondern in der Verordnung über Ausübungsvorschriften für das Reisebürogewerbe (AusübungsV).8 Hierbei ist zu beachten, dass die AusübungsV einen engeren Anwendungsbereich hat als die im KSchG umgesetzten Vorschriften der Pauschalreise-RL:9 In § 1 der AusübungsVO wurde das Erfordernis der Pauschalreise-RL, dass eine Reise mindestens 24 Stunden dauern oder eine Übernachtung einschließen muss, übernommen, in § 31b KSchG nicht. § 1 AusübungsV nimmt überdies auf die Vermittlung von Pauschalreisen Bezug, § 31b KSchG verwendet stattdessen den Begriff Reiseveranstaltungsvertrag. In der Praxis werden diese Unterschiede keine große Rolle spielen. Bedenklich ist hingegen, dass die AusübungsV auf den Gewerbetreibenden abstellt. Diese Einschränkung ist nicht mit der Pauschalreise-RL vereinbar.10 Auf diese RLWidrigkeit soll hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. 6 BGBl 247/1993. 7 Vgl etwa OGH 23.05.2005, 10 Ob 20/05x (alle mit Geschäftszahl zitierten OGH-Entscheidungen sowie alle österreichischen Gesetzte und Bundesgesetzblätter sind unter abrufbar). 8 BGBl 719/1993 idF BGBl II 401/1998. 9 Vgl zB Kietaibl, Pauschalreiserecht (2007) Rz 172, 476. Außerdem stellt die AusübungsV auf den Gesamtpreis ab, vgl dazu Kietaibl, Pauschalreiserecht Rz 477. 10 Kietaibl, Pauschalreiserecht Rz 478 f.
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Vorvertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL
4.3.3 Umsetzung der Informationsangaben der RL in Deutschland In Deutschland war der Reisevertrag bereits vor der Pauschalreise-RL in den §§ 651a ff BGB geregelt. Die Informationsvorschriften der Pauschalreise-RL wurden zunächst in der Verordnung über die Informationspflichten von Reiseveranstaltern (InfV) umgesetzt.11 Im Zuge der Schuldrechtsreform 2001 wurden die reiserechtlichen Informationsvorschriften – gemeinsam mit anderen gemeinschaftsrechtlichen Informationsvorgaben – in die Verordnung über Informations- und Nachweispflichten nach bürgerlichem Recht (BGB-InfoV)12 aufgenommen.
4.4 Relevante Zeitpunkte für die Informationserteilung Die Pauschalreise-RL sowie die Umsetzungsbestimmungen in Österreich und Deutschland unterscheiden hinsichtlich der Informationserteilung zwischen folgenden relevanten Zeitpunkten: 4.4.1 Vorvertragliche Informationspflichten Prospektangaben Unabhängig vom Zeitpunkt ihrer Gewährung dürfen alle dem Reisenden vom Veranstalter oder Vermittler gegebenen Beschreibungen einer Pauschalreise, ihr Preis und die übrigen Vertragsbedingungen keine irreführenden Angaben enthalten (Art 3 Abs 1 Pauschalreise-RL). Das Verbot irreführender Angaben stellte schon zum Zeitpunkt der Verabschiedung der Pauschalreise-RL keine Neuerung dar, da irreführende Werbung bereits nach der RL über irreführende Werbung13 verboten war.14 Die RL über irreführende Werbung ist inzwischen für den Bereich Business to Consumer (B2C) in die UGP-RL aufge11 Vgl zur Geschichte der Umsetzung der Informationsvorschriften der Pauschalreise-RL in das deutsche Recht Tonner, in MKBGB IV4 (2005) Vorbem §§ 4–11 BGB-InfoV Rz 4 ff. Vgl zu den Informationspflichten im deutschen Reiserecht auch Tempel, Informationspflichten bei Pauschalreisen – Eine Bestandaufnahme: Arten, Rechtsnatur, Sanktionen – unter Einbeziehung der Reisebüros, NJW 1996, 1625. 12 Verordnung über Informations- und Nachweispflichten nach bürgerlichem Recht, Neubekanntmachung vom 05.08.2002, dBGBl 2002 I 3002. 13 RL 84/450/EWG vom 10.09.1984 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über irreführende Werbung, ABl 1984 L 250/17. Die RL wurde als RL 2006/114/EG vom 12.12.2006 über irreführende und vergleichende Werbung (kodifizierte Fassung), ABl 2006 L 376/21, neu verlautbart. 14 Tonner in Grabitz/Hilf, Das Recht der EU IV RL 90/314/EWG Art 3 Rz 1 (34. EL, 2008); Reich/Micklitz, Europäisches Verbraucherrecht4 (2003) 18.26.
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Relevante Zeitpunkte für die Informationserteilung
gangen. Hier zeigt sich somit eine erste Überschneidung verschiedener Schutzinstrumente. Hinsichtlich vorvertraglicher Informationspflichten unterscheidet die RL zwischen Informationen in Reiseprospekten und sonstigen vorvertraglichen Informationspflichten. Dem Reisenden muss vor Vertragsabschluss kein Prospekt zur Verfügung gestellt werden.15 Wird jedoch ein Prospekt zur Verfügung gestellt, dann muss dieser deutlich lesbare, klare und genaue Angaben zum Preis und – soweit von Bedeutung – zu gewissen weiteren Punkten enthalten, die in lit a-g aufgezählt sind. Zu diesen Punkten gehören zum Beispiel Bestimmungsort, Transportmittel, ihre Merkmale, und Klasse (lit a); Art, Lage, Kategorie oder Komfort und Hauptmerkmale der Unterbringung sowie ihre Zulassung und touristische Einstufung gemäß den Vorschriften des Gastmitgliedstaates (lit b), Mahlzeiten (lit c) und Reiseroute (lit d). Nach Art 3 RL binden die in dem Prospekt enthaltenen Angaben den Veranstalter bzw den Vermittler, es sei denn, eine der folgenden beiden Ausnahmen ist erfüllt: Die Änderungen sind dem Verbraucher vor Abschluss des Vertrages klar mitgeteilt worden, in diesem Fall ist im Prospekt ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, oder die Änderungen wurden später zwischen den Vertragsparteien vereinbart. Diese Bestimmung trägt der Bedeutung des Prospektes für die Buchungsentscheidung des Reisenden sowie der «Doppelnatur» des Prospekts «als Werbe- und Vertragsaussage»16 Rechnung. In Österreich wurde Art 3 RL in § 2 Ausübungs-V umgesetzt. Bezüglich der Umsetzung fällt auf, dass nach § 2 leg cit die aufgezählten Informationen nur in «entsprechend detaillierten Werbeunterlagen»17 enthalten sein müssen. Diese Einschränkung ergibt sich nicht aus der RL, die nur allgemein von Prospekten spricht. Der erste Satz von Art 3 der RL, nachdem alle gegebenen Beschreibungen nicht irreführend sein dürfen, wurde nicht explizit umgesetzt, ebenso wenig – und anders als in Deutschland (vgl § 4 BGB-InfoV) – wie die Bindungswirkung des Prospektes. Letztere ist jedoch allgemein anerkannt.18 Das Irreführungsverbot im Reiserecht ergibt sich aus dem UWG;19 seit der 15 Reich/Micklitz, Verbraucherrecht4 18.8. 16 Tonner in Grabitz/Hilf IV RL 90/314/EWG Art 3 Rz 18. 17 Nach Auffassung der österreichischen Bundesarbeiterkammer ist der Begriff «detaillierte Werbeunterlagen» hingegen weiter als die Begriffe «Prospekt» und «Kataloge» iSd Pauschalreise-RL und fordert, dass eine überarbeitete Fassung der RL für alle detaillierten Werbeunterlagen gelten soll, vgl die Stellungnahme der Bundesarbeiterkammer vom 26.09.2007 zur Consultation on the Package Travel Directive 90/314/EEC, abrufbar unter <ec.europa.eu/consumers/rights/package_travel_responses_en.htm>. Nach Kietaibl, Pauschalreisevertrag Rz 480, sind «Flugblätter, Inserate und Postwurfsendungen» «idR keine detaillierten Werbeunterlagen» iSv § 2 Abs 1 AusübungsV. 18 M. Bydlinski, Reisevertragsrecht, in Schuhmacher (Hg), Verbraucherschutz in Österreich und in der EG (1992) 211 (218). 19 M. Bydlinski in Schuhmacher, Verbraucherschutz 218.
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Vorvertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL
Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-RL sind Werbeaussagen überdies nach § 922 ABGB zu beachten.20 In Deutschland wurde Art 3 RL in § 4 BGB-InfoV umgesetzt. Dabei wurde die Bindungswirkung von Prospekten explizit erwähnt und keine Einschränkung auf detaillierte Werbeangaben vorgesehen. Richtigerweise ist der Begriff «Prospekt» iSd Pauschalreise-RL weit zu verstehen.21 Ob auch Flyer und Werbeanzeigen darunter fallen, ist strittig.22 Gem § 2 Abs 2 AusübungsV bzw § 4 Abs 2 BGB-InfoV gelten die Informationspflichten auch für vom Reiseveranstalter zur Verfügung gestellte Bild- und Tonträger. Eine Anwendung von Art 3 Pauschalreise- RL auf prospektartige Informationen im Internet ist zu bejahen.23 Vorvertragliche Angaben Unabhängig von der Aushändigung eines Prospektes hat der Veranstalter und/ oder Vermittler den Verbraucher vor Vertragsabschluss schriftlich oder in einer anderen geeigneten Form allgemein über die Pass- und Visumerfordernisse für Staatsangehörige des bzw der betreffenden Mitgliedstaaten, insb über die Fristen für die Erlangung dieser Dokumente sowie über gesundheitspolizeiliche Formalitäten, die für die Reise und den Aufenthalt erforderlich sind, zu informieren (Art 4 Abs 1 lit a Pauschalreise-RL). 4.4.2 Informationsangaben im Vertrag Nach dem Anhang der Pauschalreise-RL muss der Vertrag bestimmte Pflichtangaben enthalten, sofern diese auf die jeweilige Pauschalreise zutreffen. Diese Angaben umfassen zB Bestimmungsort(e) und, soweit mehrere Aufenthalte 20 Gewährleistungsrechts-Änderungsgesetz 2001, BGBl I 48/2001. Für den Mangelbegriff im deutschen Reiserecht vgl die §§ 651c, 651d BGB. 21 Eckert in Staudinger13 (2003) Vorbem zu §§ 651a-651m Rz 55. 22 Dafür Tonner, in MKBGB IV4 § 4 BGB-InfoV Rz 1 mwN; aA OLG München 04.12.2003, 6 U 4309/03 =NJW-RR 2004, 915; Matern, Sind Flyer und Werbeanzeigen «Prospekte» im Sinne der BGB-Informationspflichten-Verordnung? RRa 2007, 154 ff; auch das OLG Frankfurt 08.05.2008, NJOZ 2008, 3246 (die Prospekteigenschaft einer Werbeanzeige verneinend) unterscheidet zwischen Prospekten und Beschreibungen. Vgl auch die Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland zum Arbeitspapier der Europäischen Kommission zur Richtlinie 90/314/EWG vom 13.06.1990 über Pauschalreisen, abrufbar unter <ec.europa.eu/consumers/rights/package_travel_responses_en. htm>, die sich zur Recht dafür ausspricht, dass die Informationspflicht der RL für alle Medien gelten soll, «mit denen der Veranstalter potentielle Kunden anspricht». 23 Reich/Micklitz, Verbraucherrecht4 18.08. In OGH 08.03.2007, 2 Ob 247/05w wurde die Anwendbarkeit der Pauschalreise-RL auf eine vom Reisebüro im Beisein des Reisenden ausgedruckte Lageskizze des Hotels verneint.
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Relevante Zeitpunkte für die Informationserteilung
vorgesehen sind, die einzelnen Zeiträume und deren Termine, Transportmittel, ihre Merkmale und Klasse, Tag und Zeit sowie Ort der Abreise und Rückkehr. Sowohl in Österreich (§ 4 AusübungsV) als auch in Deutschland müssen nach den Umsetzungsbestimmungen die im Anhang der RL aufgezählten Vorschriften als Buchungsbestätigung «bei oder unverzüglich nach Vertragsabschluss» ausgehändigt werden. Das steht im Widerspruch zur RL,24 die dem Reisenden die im Anhang aufgezählten Informationen bei Vertragsabschluss gewähren will. Nach der Umsetzung in Österreich und Deutschland reicht es hingegen, wenn die Informationen nach Vertragsabschluss ausgehändigt werden, dh im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses stehen sie dem Reisenden nicht zur Verfügung. 4.4.3 Informationsangaben vor Beginn der Reise Vor Beginn der Reise müssen dem Verbraucher schriftlich oder in anderer geeigneter Form gem Art 4 Abs 1 lit b Pauschalreise-RL weiter Informationen zur Verfügung gestellt werden, wie zB Uhrzeiten und Orte von Zwischenstationen und Anschlussverbindungen, Angabe des vom Reisenden einzunehmenden Platzes, Kontaktdaten der örtlichen Vertretung des Veranstalters und/ oder des Vermittlers sowie Angaben über den möglichen Abschluss einer Reiserücktrittsversicherung oder einer Versicherung zur Deckung der Rückführungskosten bei Unfall oder Krankheit. Hier stellt sich mE die Frage, ob man bei der Überarbeitung der Pauschalreise-RL Angaben hinsichtlich von Zwischenstationen und Anschlussverbindungen nicht in vorvertragliche Pflichtangaben umwandeln sollten: Für den Reisenden stellt es oft ein böses Erwachen dar, wenn er erst nach der Buchung erfährt, dass er sein Urlaubsziel nur auf Umwegen erreicht.25 Ebenso sollte die Information über die Möglichkeit eine Versicherung abzuschließen vor der Buchung erfolgen.26 In Österreich sind Informationen über die Abschlussmöglichkeit von Versicherungen erfreulicherweise schon vor Vertragsabschluss zu gewähren (§ 3 AusübungsV).
24 Ebenso hins der deutschen Umsetzung Tonner, in MKBGB IV4 § 6 BGB-InfoV Rz 7; ähnlich Führich, Reiserecht5 (2005) Rz 536. 25 Nach Reich/Micklitz, Verbraucherrecht4 18.9., haben die in Art 4 lit b Pauschalreise-RL genannten Informationen hingegen keinen wesentlichen Einfluss auf die Entscheidung des Reisenden, ob er eine Pauschalreise bucht oder nicht. Nach Bläumauer, Reiserecht (2000) 23, dieser folgend Kietaibl, Pauschalreiserecht Rz 504, werden diese Informationen, insb bei Flugreisen, erst kurz vor der Abreise feststehen. 26 Michitsch, Reiserecht (2004) 48.
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Vorvertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL
4.4.4 Informationspflichten nach Vertragsabschluss In diese Kategorie fällt etwa die Pflicht des Vermittlers, den Reisenden über eine Vertragsänderung zu informieren, die diesem nach Art 4 Abs 5 Pauschalreise-RL die Möglichkeit eröffnet, vom Vertrag zurückzutreten. Auch hinsichtlich gewisser andere, nach Vertragsabschluss auftretender Änderungen hat der Reisende informiert zu werden (siehe unten 4.5.6).
4.5 Information über Einreise- und Visabestimmungen und gesundheitspolizeiliche Formalitäten Eine Vorschrift, die die Gerichte immer wieder beschäftigt, ist die Pflicht zur Information des Reisenden über Einreise- und Visabestimmungen und gesundheitspolizeiliche Formalitäten. Eine richtige und vollständige Information über Einreisebestimmungen ist für den Reisenden von besonderer Bedeutung:27 Ihre mangelnde Erfüllung wird in der Mehrzahl der Fälle erst bei der Einreise in das Urlaubsland und nicht schon bei der Ausreise bemerkt. Vor Ort kann der Reisende meist nur mehr gegen hohe Gebühren ein zB fehlendes Visum erlangen. Oft ist jedoch eine nachträgliche Erfüllung der Einreisebestimmungen nicht mehr möglich. So wurde etwa der Reisende in einer Entscheidung des AG München aus 2005,28 der die Einreisebestimmungen in die USA nicht erfüllte, am Flughafen in Atlanta gleich in Polizeigewahrsame genommen und musste unmittelbar danach – ohne jemals das Flughafengebäude zu verlassen – die Rückreise antreten. 4.5.1 Einreisevorschriften nach der Pauschalreise-RL und ihre Umsetzung Gem Art 3 Abs 2 lit e Pauschalreise-RL hat der Prospekt «allgemeine Angaben über Pass- und Visumerfordernisse für Staatsangehörige des bzw der betreffenden Mitgliedstaaten und gesundheitspolizeiliche Formalitäten, die für die Reise und den Aufenthalt erforderlich sind» zu enthalten. Diese Informationen müssen dem Reisenden überdies nach Art 4 Abs 1 lit a Pauschalreise-RL vor Vertragsabschluss schriftlich oder in anderer geeigneter Form mitgeteilt werden. Zu diesem Zeitpunkt hat «insb über die Fristen für die Erlangung dieser Dokumente» aufgeklärt zu werden. In Österreich findet sich die Umsetzung von Art 3 Abs 2 lit e PauschalreiseRL in § 2 Abs 4 lit f der AusübungsV, der mit Prospektangaben überschrieben 27 Vgl Führich, Informationspflichten über Pass- und Visumsvorschriften, RRa 2006, 194 (194). 28 AG München 07.04.2005, 223 C 31089/04 =RRa 2006, 127.
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Information über Einreise- und Visabestimmungen
ist. Nach dieser Bestimmung müssen «Pass- und Visumserfordernisse für Angehörige jenes(r) MS, in dem (in denen) die Reise in detaillierten Werbeunterlagen angeboten wird, sowie über gesundheitspolizeiliche Formalitäten, die für die Reise und den Aufenthalt erforderlich sind» (in detaillierten Werbeunterlagen) enthalten sein, soweit das für die Reise von Bedeutung ist. Nach § 5 Abs 1 AusübungsV müssen diese Informationen, sowie zusätzlich die ungefähren Fristen zur Erlangung der Dokumente, dem Reisenden vor Vertragsabschluss gegeben werden. Wurden in der dem Reisenden zur Verfügung gestellten Werbeunterlage29 bereits die Fristen zur Erlangung der Dokumente dargestellt, kann darauf verwiesen werden, sofern sich in der Zwischenzeit keine Änderungen ergeben haben. Auch gem § 4 Abs 1 Z 6 BGB-InfoV muss der Reisende im Prospekt über «Pass- und Visumerfordernisse für Angehörige des Mitgliedstaates, in dem die Reise angeboten wird, sowie über gesundheitspolizeiliche Formalitäten, die für die Reise und den Aufenthalt erforderlich sind» informiert werden. Nach § 5 Abs 1 BGB-InfoV hat der Reisende, sofern er Angehöriger des Mitgliedstaates ist, in dem die Reise angeboten wird, vor Vertragsabschluss über Pass- und Visumerfordernisse sowie über gesundheitspolizeiliche Formalitäten aufgeklärt zu werden. Diese Informationspflicht besteht nicht, soweit die entsprechenden Angaben bereits in einem von dem Reiseveranstalter herausgegebenen und dem Reisenden zur Verfügung gestellten Prospekt enthalten waren und inzwischen keine Änderungen eingetreten sind. Die Umsetzung in Deutschland unterscheidet sich von der Umsetzung in Österreich dadurch, dass nach dem Wortlaut von § 3 AusübungsV nur auf die Fristen, die zur Erlangung voraussichtlich von Bedeutung sind, verwiesen werden darf, sofern über sie in einer Werbeunterlage bereits informiert wurden,30 nicht aber auf sonstige bereits erteilte Informationen über Einreisebestimmungen.31 Ein Verweis muss jedenfalls hinreichend bestimmt sein. Ein pauschaler Verweis auf die im Katalog enthaltenen Informationen ist daher nicht ausreichend.32 Auch wird Informationspflichten in Prospekten nur dann entsprochen, wenn «für den Reisenden wichtige Informationen an solchen 29 Es ist interessant, dass hier – anders als in § 2 AusübungsV – nicht der Begriff «detaillierte Werbeunterlage» verwendet wird. 30 Es besteht jedoch nach § 2 AusübungsV keine Verpflichtung im Prospekt auf die Fristen zur Erlangung des Visums hinzuweisen. 31 Die ursprüngliche Fassung der AusübungsV nach Umsetzung der Pauschalreise-RL (BGBl 719/1993) ging zu weit, da die in Art 4 Pauschalreise-RL vorgeschriebenen Informationen nicht mehr erteilt werden mussten, wenn sie bereits im Prospekt enthalten waren – unabhängig davon, ob darauf verweisen wurde oder nicht; vgl dazu GrazianiWeiss, Reiserecht in Österreich (1995) 120. 32 Nach Micklitz, in Dauses (Hg), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts H V Rz 276 (23. EL 2008), ist ein Verweis auf den Prospekt zur Erfüllung der Verpflichtung nach § 4 Pauschalreise-RL jedenfalls nicht ausreichend.
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Vorvertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL
Stellen im Prospekt abgedruckt sind, an denen der Reisende nach Treu und Glauben eine entsprechende Information erwarten darf».33 Im Zusammenhang mit dem Erfordernis der Information über Einreisebestimmungen stellen sich insb folgende Fragen: 4.5.2 Informationspflicht gegenüber welchen Reisenden? Unzureichende Umsetzung der Pauschalreise-RL in Österreich und Deutschland Sowohl nach den österreichischen als auch den deutschen Umsetzungsvorschriften besteht nur eine Pflicht zur Information eines Reisenden, der Staatsbürger des MS ist, in dem die Pauschalreise vermittelt wird. Diese Einschränkung widerspricht der Pauschalreise-RL, die sowohl für Prospekte (Art 3 Abs 2 lit e) als auch generell für den Zeitpunkt vor Vertragsabschluss (Art 4 Abs 1 lit a) die Pflicht enthält, über Visums- und Einreiseerfordernisse für «Staatsangehörige des bzw der betreffenden Mitgliedstaaten» zu informieren. Nach der RL muss daher der Reisende, sofern er Staatsbürger eines MS ist, über Visums- und Einreiserfordernisse aufgeklärt werden.34 Eine Begrenzung der Informationspflicht auf Staatsbürger des MS, in dem die Reise angeboten wird, würde auch dem in den Erwägungsgründen erklärten Ziel der RL widersprechen, grenzüberschreitende Buchungen der Reisenden zu fördern. Es kann darin auch keine Überspannung der Informationspflichten gesehen werden: Veranstalter und/oder Vermittler haben leichter Zugang zu den erforderlichen Informationen.35 Bei der Überarbeitung der RL sollte je-
33 LG Frankfurt 25.10.2007, 2-24 S 82/07 =RRa 2008, 74. Ähnlich HG Wien 25.11.1999, 1 R 485/99s, abgedruckt in Schmidt/Saria (Hg), Rechtsmittelentscheidungen des Handelsgerichts Wien (Loseblattsammlung); so auch Kietaibl, Pauschalreiserecht Rz 489; Bläumauer, Reiserecht 19. 34 Führich, RRa 2006, 196; Reich/Micklitz, Verbraucherrecht4 18.9; Kietaibl, Pauschalreiserecht Rz 44. Nach Tonner in MKBGB IV4 § 4 BGB-InfoV Rz 18 besteht die Pflicht zur Information anderer EU-Bürger nur für die Buchung, nicht für die Angaben im Prospekt. AA Eckert in Staudinger § 5 BGB-InfoV Rz 2, nach dem sich eine entsprechende Informationspflicht aus allgemeinen Vorschriften ergibt. 35 AA Stellungnahme der Bundesrepublik Deutschland zum Arbeitspapier der Europäischen Kommission zur Richtlinie 90/314/EWG (Fn 22). In der Stellungnahme wird die Auffassung vertreten, dass es «praktisch unmöglich» sei, dass «ein kleiner Reiseveranstalter die Einreisebestimmungen in über 200 Staaten der Erde für die Bürger aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union kennt». Ein Reiseveranstalter der sich berufsbedingt zwangsläufig des Öfteren mit Einreisebestimmungen in bestimmte Länder, in die er Reisen anbietet, auseinandersetzt, hat jedoch viel leichter und kostengünstiger die Möglichkeit sich diese Informationen zu beschaffen, als ein Reisender, der im Regelfall nicht wiederholt, sondern nur einmal in ein bestimmtes Land reist.
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Information über Einreise- und Visabestimmungen
doch die Verpflichtung zur Information aller EU-Bürger deutlicher formuliert werden. Entscheidungen Wie bereits erwähnt, haben Gerichte sich häufig mit der Erteilung bzw der mangelnden Erteilung von Einreisebestimmungen zu beschäftigen.36 Aus den getroffenen Urteilen lässt sich jedoch keine einheitliche Judikaturlinie ableiten: Das LG München37 hat beispielsweise genauso wie das LG Düsseldorf38 entschieden, dass keine Verpflichtung des Reiseveranstalters zur Aufklärung von Ausländern – iS von nicht Staatsbürgern des MS, in dem die Reise angeboten wird – bestehe. Anderenfalls würden nach Auffassung beider Gerichte die Informationspflichten des Veranstalters überspannt. Das LG Düsseldorf hat in der genannten Entscheidung jedoch ausgesprochen, dass der Veranstalter zu einem Hinweis verpflichtet sei, dass für Ausländer möglicherweise andere Pass- und Visumserfordernisse gelten.39 Umstritten ist weiters, wie weit die Aufklärungspflichten gegenüber nach den österr bzw deutschen Umsetzungsvorschriften grundsätzlich «informationsberechtigten» Reisenden (also Staatsbürger des MS, in dem die Reise angeboten wird) gehen. So hat etwa das Bezirksgericht für Handelssachen (BGHS) Wien40 am 26.02.2007 entschieden, dass es in die Eigenverantwortlichkeit des Reisenden falle, sich über Einreisebestimmungen zu informieren. Demnach sei es ausreichend, wenn im Prospekt auf der dem Angebot gegenüber liegenden Seite unter der Überschrift «Wichtig, bitte lesen!» ua angeführt ist, dass sich Pass-, Visum- und Gesundheitsbestimmungen laufend ändern und sich der Reisende informieren soll. Überdies sei die Webadresse des Außenministeriums angegeben gewesen, auf der sich der Reisende informieren hätte können. Dasselbe Gericht41 hatte jedoch ein Jahr zuvor entschieden, dass der Reisende bei der Buchung umfassend über die Einreisebestimmungen aufgeklärt werden muss. Als allgemein bekannt könne nur vorausgesetzt werden, dass für Reisen ins Ausland ein gültiger Reisepass erforderlich ist. Über darüber hinaus gehende ausländischen Pass- und Einreisevorschriften sei hin-
36 Vgl etwa die kürzlich ergangene Entscheidung des BGHS Wien 24.04.2008, 9 C 146/08y, abrufbar unter . 37 LG München I 15.07.2004, 31 S 22364/03 =RRa 2004, 209. 38 LG Düsseldorf 24.02.2006, 22 S 355/05 =RRa 2006, 162. 39 Ähnlich für Österreich Bläumauer, Reiserecht 20, und Michitsch, Reiserecht 48, beide mit Verweis auf Graziani-Weiss, Reiserecht 120. 40 BGHS Wien 26.02.2007, 6 C 1328/06x-9 =RRa 2007, 286. 41 BGHS Wien 20.07.2006, 4 C 286/06x, abrufbar unter .
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Vorvertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL
gegen zu informieren. Beklagter in beiden Entscheidungen des BGHS war soweit ersichtlich das Reisebüro und nicht der Reiseveranstalter. Im Gegensatz zum zuletzt genannten Urteil hat das LG Bremen42 2004 entschieden, dass keine Verpflichtung des Reisebüros bestehe, darüber aufzuklären, ob ein Reisepass erforderlich ist, oder ein Personalausweis genügt. Das LG Freiburg43 hat hingegen am 22.12.2005 dem Reisebüro eine weitergehende Informationspflicht auferlegt: Nach dieser Entscheidung muss ein Reisebüro – unabhängig von § 5 BGB-InfoV – den Reisenden über die Erforderlichkeit eines Visums und sowie die etwaige Beschaffungsdauer dafür informieren, wenn erkennbar ist, dass der Kunde oder ein Mitreisender möglicherweise ein Visum benötigt. Die Informationspflichten des Reisebüros wurden jedoch vom BGH 2006 erheblich eingeschränkt (vgl dazu unten 4.5.5). Die genannten, sich zum Teil widersprechenden, Entscheidungen, die im Übrigen nur eine kleine Auswahl darstellen, vermischen mE verschiedene Probleme. Diese gilt es jedoch getrennt voneinander zu betrachten. Zunächst ist hinsichtlich von EU-Bürgern, die nicht Staatsbürger des MS sind, in dem die Reise angeboten wird, – wie bereits erwähnt – festzuhalten, dass die Informationspflichten der Pauschalreise-RL auch diesen Reisenden gegenüber bestehen. Die Umsetzungsbestimmungen in Österreich und Deutschland sind diesbezüglich ungenügend. Die betreffenden Vorschriften müssen richtlinenkonform ausgelegt werden.44 4.5.3 Grundlage der Informationspflichten Die in der AusübungsV und der BGB-InfoV enthaltenen Aufklärungspflichten sind keineswegs abschließend: Neben diesen reiserechtlichen Informationsvorschriften besteht eine allgemeine Informationspflicht, die aus dem ABGB bzw BGB resultiert: Vor Vertragsabschluss ergibt sich diese aus der Existenz vorvertragliche Schutzpflichten.45 Nach Vertragsabschluss resultieren Informationspflichten aus den vertraglichen Schutz- und Sorgfaltspflich-
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LG Bremen 05.08.2004, 2 S 122/04 =RRa 2004, 205. LG Freiburg 22.12.2005, 3 S 242/05 =RRa 2006, 126. Vgl die Nw in Fn 34. Vgl dazu etwa Apathy/Riedler in Schwimann (Hg), ABGB IV3 (2005) § 859 Rz 18 f mit weiteren Nw; zur culpa in contrahendo im österreichischen Recht vgl auch Welser, Vertretung ohne Vollmacht. Zugleich ein Beitrag zur Lehre von der culpa in contrahendo (1970). In Deutschland ist die cic seit der Schuldrechtsreform in § 311 Abs 2 BGB geregelt. Vgl dazu etwa Emmerich, in MKBGB II5 (2007) § 311 Rz 50 ff. Zu den Schutz- und Sorgfaltspflichten vgl § 241 Abs 2 BGB und dazu etwa Kramer, in MKBGB IV4 § 241 Rz 1 ff.
Information über Einreise- und Visabestimmungen
ten.46 Überdies ist nunmehr die UGP-RL – bzw deren Umsetzung im aUWG durch die UWG-Novelle 200747 bzw die geplante Umsetzung im dUWG48 – zu beachten: Nach Art 7 Abs 1 UGP-RL ist eine Geschäftspraktik49 auch dann irreführend, «wenn sie im konkreten Fall unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände und der Beschränkungen des Kommunikationsmediums wesentliche Informationen vorenthält, die der durchschnittliche Verbraucher je nach den Umständen benötigt, um eine informierte geschäftliche Entscheidung zu treffen, und die somit einen Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst oder zu veranlassen geeignet ist, die er sonst nicht getroffen hätte» (Art 7 Abs 1). «Als irreführende Unterlassung gilt es auch, wenn ein Gewerbetreibender wesentliche Informationen gemäß Absatz 1 unter Berücksichtigung der darin beschriebenen Einzelheiten verheimlicht oder auf unklare, unverständliche, zweideutige Weise oder nicht rechtzeitig bereitstellt oder wenn er den kommerziellen Zweck der Geschäftspraxis nicht kenntlich macht, sofern er sich nicht unmittelbar aus den Umständen ergibt, und dies jeweils einen Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung veranlasst oder zu veranlassen geeignet ist, die er ansonsten nicht getroffen hätte» (Abs 2). Eine Irreführung durch Unterlassung nach Art 7 der UGP-RL ist gem Abs 5 leg cit dann verwirklicht, wenn den Informationsvorgaben der in Anhang II der UGP-RL nicht abschließend aufgezählten RL nicht entsprochen wird. Zu diesen RL zählt auch die Pauschalreise-RL. Auf Grund der überschießenden Umsetzung der UGP-RL hat diese auch für Geschäftsreisende Bedeutung.50
46 Nach Tonner in MKBGB IV4 § 7 BGB-InfoV Rz 3, verbleibt im deutschen Recht auf Grund von § 651 f BGB für § 241 Abs 2 BGB, § 280 BGB bzw vor Vertragsabschluss für § 311 BGB nur ein geringer Spielraum. 47 BGBl I 79/2007. 48 BT-Drs 345/08. Zu den Wechselwirkungen zwischen UWG und Vertragsrecht vgl zuletzt Busch, Welche Folgen hat die Umsetzung der Lauterkeitsrichtlinie für das Vertragsrecht? Der Regierungsentwurf zur Umsetzung der RL 2005/29/EG aus der Perspektive des Gemeinschaftsprivatrechts, GPR 2008, 158 ff, der auch auf den Einfluss der UGPRL auf die Acquis Principles und den Common Frame of Reference hinweist (159); vgl auch Leistner, Richtiger Vertrag und lauterer Wettbewerb (2007). 49 Art 2 lit d UGP-RL definiert eine Geschäftspraktik als «jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und Marketing eines Gewerbetreibenden, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt». 50 Zur Umsetzung der UGP-RL im aUWG vgl zB Schuhmacher, Die UWG-Novelle 2007, wbl 2007, 557 ff.
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Vorvertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL
4.5.4 Umfang der Informationspflichten Die Informationspflichten sollen die faktische Durchführbarkeit und den reibungslosen Ablauf der Reise gewährleisten, sowie den Reisenden vor Beeinträchtigungen seiner körperlichen Unversehrtheit und seines Vermögens während der Reise bewahren.51 Eine Aufklärungspflicht besteht insb dann, wenn der Reisende eine Information erwarten darf. Nicht zu informieren ist hingegen über Tatsachen, die als allgemein bekannt vorausgesetzt werden dürfen.52 Was der Reisende wissen muss, ist nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen.53 Im Zusammenhang mit den Einreisebestimmungen wird man vom Reisenden nicht mehr verlangen können, als die Kenntnis, dass er ein gültiges Ausweisdokument braucht. Den österreichischen Allgemeinen Reisebedindungen (aARB)54 liegt ein weiteres Verständnis zu Grunde: Sie gehen davon aus, dass der Reisende weiß, dass er einen gültigen Pass – und nicht nur einen Personalausweis – braucht. Hinsichtlich anderer Punkte, über die aufzuklären ist, ist die Abgrenzung, welche Kenntnisse des Reisenden vorausgesetzt werden können, schwieriger. So hatte das LG Dortmund55 2007 zu beurteilen, ob einem Reisender, dem bekannt ist, dass er im Monat des Ramadan in den Oman reist, ebenso bewusst ist, dass damit auch für ihn selbst eine Limitierung der Essenszeiten verbunden ist. Nach Auffassung des LG Dortmund hätte das Reisebüro den Reisenden über die Implikationen aufklären müssen. Eine Aufklärungspflicht, wenn eine Reise nach Dubai in den Zeitraum des Ramadans fällt, hat auch das OLG Wien 200756 bejaht. Andererseits hat das HG Wien57 eine Informationspflicht gegenüber einem Ägyptenreisenden darüber verneint, dass die Cheopspyramide, in der der Reisende meditieren wollte – was er bei der Buchung auch bekannt gegeben hatte – zum Reisezeitpunkt bereits seit einem Jahr geschlossen war. Dies mit der Begründung, es bestehe keine Informationspflicht um den Reisenden vor einer Enttäuschung «seiner esoterischen Erwartungshaltung» zu schützen. 51 So etwa HG Wien 20.04.2001, 1 R 443/00v. Die Entscheidung ist abgedruckt in Schmidt/ Saria, Rechtsmittelentscheidungen des HG Wien. Für Deutschland vgl etwa LG Dortmund 24.08.2007, 17 S 45/07 =RRa 2008, 114; Sprau, in Palandt67 (2008) § 651a Rz 5; Eckert, in Staudinger § 651a Rz 123; Führich, Reiserecht5 Rz 140, 313, mwN. 52 So etwa Kietaibl, Pauschalreiserecht Rz 176; HG Wien 28.11.2001, 1 R 394/01i; abgedruckt in Schmidt/Saria, Rechtsmittelentscheidungen des HG Wien. Für Deutschland vgl zB LG Dortmund 17 S 45/07. 53 So zB LG Dortmund 17 S 45/07. 54 Die ARB sind etwa unter abrufbar. 55 LG Dortmund 17 S 45/07. 56 OLG Wien 27.02.2007, 4 R 153/06h. 57 HG Wien 20.04.2001, 1 R 443/00v; abgedruckt in Schmidt/Saria, Rechtsmittelentscheidungen des HG Wien.
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Information über Einreise- und Visabestimmungen
Aus der allgemeinen zivilrechtlichen bzw lauterkeitsrechtlichen Informationspflicht ergibt sich hinsichtlich der Einreisebestimmungen, dass Drittstaatsangehörige zumindest dann aufgeklärt werden müssen, wenn sie erkennbar nicht aus dem Mitgliedstaat stammen, in dem die Reise angeboten wird.58 Die sich aus dem allgemeinen bürgerlichen Recht beziehungsweise dem UWG ergebenden Informationspflichten sind insb dann von Bedeutung, wenn es sich bei der gebuchten Reise nicht um eine Pauschalreise handelt und daher die Informationspflichten der Pauschalreise-RL jedenfalls nicht zur Anwendung kommen. 4.5.5 Informationspflicht des Reiseveranstalters und/oder des Vermittlers (Reisebüro)? Die Pauschalreise-RL ist hinsichtlich der Frage, wen die Informationspflichten treffen, unpräzise und spricht von «Reiseveranstalter und/oder Vermittler». In der BGB-InfoV wird der Veranstalter als Verpflichteter genannt. Die AusübungsV bezieht sich in den §§ 3 und 4, also in den Vorschriften über die Reisebestätigung und die Information bei Vertragsabschluss, auf Gewerbetreibende, die Buchungen entgegen nehmen. Verpflichteter nach § 2 AusübungsV über Prospektangaben ist ein Gewerbetreibender, der entweder als Veranstalter selbst oder über einen Vermittler die von ihm organisierten Pauschalreisen in entsprechend detaillierten Werbeunterlagen anbietet. Verpflichteter nach der AusübungsV kann daher sowohl der Veranstalter als auch der Vermittler sein. Der Veranstalter bedient sich bei der Erfüllung seiner Informationspflichten im Regelfall des Reisebüros als Erfüllungsgehilfen. Ein Fehlverhalten des Reisebüros ist folglich dem Reiseveranstalter nach § 1313a ABGB beziehungsweise § 278 BGB zuzurechnen.59 Daher ist auch eine Entscheidung des OLG Düsseldorf60 aus 2004 abzulehnen, nach der der Reisende nicht auf die Aussagen des Reisebüros vertrauen darf, wenn diese dem Prospekt widersprechen: Nach der Pauschalreise-RL sind Prospektangaben bindend, es sei denn, vor Vertragsabschluss werden diese korrigiert. Erfolgt eine solche Korrektur
58 Führich, RRa 2006, 196; Eckert, in Staudinger § 4 BGB-InfoV Rz 11 (beide für die Buchung, nicht jedoch hins der Angaben im Prospekt). Siehe auch die Nw in Fn 39. 59 OGH 22.02.1984, 1 Ob 688/83; 23.05.2005, 10 Ob 20/05x; Kietaibl, Pauschalreiserecht Rz 176; Bläumauer, Reiserecht 23; BGH 25.4.2006, X ZR 198/04; Tonner in MKBGB IV4 § 5 BGB-InfoV Rz 3; Führich, RRa 2006, 194. Zur Anwendung von § 1313a ABGB bei Willenmängeln vgl Iro, Zurechnung von Gehilfen im Recht der Willensmängel, JBl 1982, 470 ff, 519 ff; zur Bedeutung von § 1313a ABGB im Gewährleistungsrecht vgl Augenhofer, Gewährleistung und Werbung (2002) 77 ff. 60 OLG Düsseldorf 16.12.2004, 12 U 30/04 =RRa 2005, 206; Tonner in MKBGB IV4 § 4 BGB-InfoV Rz 7.
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Vorvertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL
durch das Reisebüro, so muss der Veranstalter sich das Verhalten des Reisebüros zurechnen lassen, auch wenn dem Reisebüro ein Fehler passiert.61 Daneben wird in Österreich angenommen, dass das Reisebüro in seiner Tätigkeit als Reisevermittler als Sachverständiger für unrichtige und unvollständige Auskünfte haftet (§ 1299 ABGB).62 Diese Haftung besteht neben der Haftung des Reiseveranstalters. Grundsätzlich haftet ein Erfüllungsgehilfe nicht eigenständig aus cic.63 Das Reisbüro hat jedoch als Vermittler ein eigenständiges wirtschaftliches Interesse am Zustandekommen des Vertrages zwischen Reiseveranstalter und Reisenden.64 Es kann keinen Unterschied machen, dass das Reisebüro sein Entgelt in dieser Konstellation vom Veranstalter, mit dem er im Regelfall in einer Handelsvertreterbeziehung stehen wird, und nicht vom Reisenden erhält. Außerdem nimmt das Reisebüro in besonderem Ausmaß das Vertrauen des Kunden auf seine Sachkunde in Anspruch. Besteht im konkreten Fall sowohl eine Verletzung der Informationspflicht durch den Veranstalter als auch den Vermittler, so haften beide als Gesamtschuldner.65 Die Aufklärungspflicht des Reisebüros besteht unabhängig davon, ob eine Pauschalreise vermittelt wurde oder etwa nur ein Hotelaufenthalt oder eine Flugreise. Auch in diesem Fall bringt der Reisende dem Reisebüro Vertrauen entgegen und das Reisebüro hat an dem Vertrag ein wirtschaftliches Interesse, da es in diesen Fällen vom Reisenden eine Servicegebühr bezahlt bekommt.66 Bedenklich ist daher mE eine Entscheidung des BGH aus 2006, in der dieser die Haftung des Reisebüros erheblich eingeschränkt hat:67 Die Kläger hatten eine Reise nach Bulgarien gebucht. Die Einreise scheiterte jedoch daran, dass der 16jährige mitreisende Sohn nur einen Personalausweis und keinen Reisepass mitführte. Der BGH hat in seinem Urteil offen gelassen, ob – wie in Deutschland von der hL bis dahin angenommen wurde68 – 61 LG Frankfurt 12.06.1997, 2/24 S 161/96 =NJW-RR 1998, 196; AG Würzburg 15.06.2004, 16 C 353/04 =RRa 2004, 187; OGH 1 Ob 688/83; HG Wien 09.05.2001, 1 R 5/01h, abgedruckt in Schmidt/Saria, Rechtsmittelentscheidungen des HG Wien; Kietaibl, Pauschalreiserecht Rz 183. 62 OGH 22.02.1984, 1 Ob 688/83; M. Bydlinski in Schuhmacher, Verbraucherschutz 216. Vgl auch Kietaibl, Pauschalreiserecht Rz 182; vgl dazu auch Welser, Die Haftung für Rat, Auskunft, und Gutachten, zugleich ein Beitrag zur Bankauskunft (1983). 63 Vgl OGH 22.02.1984, 1 Ob 688/83; vgl zu dieser Entscheidung Wilhelm, Die gerettete Jagdreise. Besprechung zu OGH 1 Ob 688/83. Bläumauer, Reiserecht 24; vgl auch Koziol/Welser, Grundriss des Bürgerlichen Rechts II13 (2007) 19. 64 Vgl auch HG Wien 06.12.2000, 1 R 495/00s; 20.04.2001, 1 R 443/00v, abgedruckt in Schmidt/Saria, Rechtsmittelentscheidungen des HG Wien. 65 Führich, RRa 2006, 197 mwN. 66 Führich, RRa 2006, 197. 67 BGH 25.04.2006, X ZR 198/04; vgl auch BGH 25.07.2006, X ZR 182/05; vgl zu beiden Entscheidungen Tonner/Schulz, Die Haftung des Reisebüros – von der BGH-Entscheidung vom 25. April 2006 zur Reform der Pauschalreise-Richtlinie, RRa 2007, 50 (51). 68 Vgl die Nw bei Führich, RRa 2006, 196.
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Information über Einreise- und Visabestimmungen
ein stillschweigender Reisevermittlungsvertrag geschlossen wird. Denn selbst wenn ein solcher Vertrag zustanden gekommen sei, dann sei, so der BGH, im Rahmen dieses Vertrages nur die Beratung hinsichtlich der Auswahl der Reise geschuldet, während die davon zu trennende Durchführung der gewählten Reise mitsamt den dabei anfallenden weiteren Aufklärungs- und Hinweispflichten Sache des Reiseveranstalters sei. Nach Auffassung des BGH gehöre zumindest im Regelfall die Unterrichtung über ein Pass- oder Visumerfordernis nicht zur Beratung bei der Auswahl, sondern zur Durchführung der Reise. Der BGH ist somit der Auffassung, dass selbst wenn eine Aufklärungspflicht des Reisebüros bestehen würde, diese jedenfalls zu dem Zeitpunkt endet, in dem der Reisende sich für eine bestimmte Reise entscheidet. Ab diesem Zeitpunkt würden ohnehin Aufklärungspflichten des Reiseveranstalters bestehen. Würde man, so der BGH, Informationspflichten auch des Reisevermittlers bejahen, dann käme es zu einer Gesamtschuld des Reisevermittlers und des Reiseveranstalters. Für eine solche bestehe kein Anlass, weil keine Rechtsschutzlücke des Reisenden bestehe. Dieser Entscheidung muss mE widersprochen werden: Zunächst ist, was der BGH offen gelassen hat, ein Vermittlungsvertrag zwischen Reisebüro und Reisendem zu bejahen.69 Wie zum österreichischen Recht ausgeführt, hat das Reisebüro ein wirtschaftliches Interesse am Zustandekommen des Vertrages zwischen Reisendem und Reiseveranstalter. Des Weiteren bringt der Reisende dem Reisebüro ein besonderes Vertrauen in seine Fachkunde entgegen,70 sodass eine eigene Haftung des Erfüllungsgehilfen aus cic angenommen werden kann. Bei Verletzung dieses Vertragsverhältnisses muss dem Reisenden ein Anspruch aus den §§ 311 Abs 3, 241 Abs 2, 280 Abs 1 BGB zukommen. Auch kann dem BGH nicht darin gefolgt werden, dass die Aufklärung über Einreisebestimmungen nur die Abwicklung der Reise betrifft: Die Notwendigkeit eines Visums und etwaige lange Vorlaufzeiten für die Erlangung eines solchen können durchaus die Entscheidung des Reisenden für oder gegen ein bestimmtes Reiseland beeinflussen.71 Auch die Pauschalreise-RL geht davon aus, dass der Reisende Informationen über Visa- und Einreisebestimmungen vor Vertragsabschluss benötigt – sonst müssten die betreffenden Informationen nach der RL nicht im Prospekt oder zumindest vor Vertragsabschluss erteilt werden. Ebenso ist die Argumentation des BGH nicht überzeugend, dass die Tatsache, dass der Reisende zwei Schuldner habe, wenn man eine Informationspflicht bejahe, gegen die Annahme einer solchen Pflicht spreche. Vielmehr gilt, wie eingangs erwähnt, der Grundsatz der Pluralität von Schutzins-
69 Führich, RRa 2006, 196. 70 Führich, RRa 2006, 197. Einschränkend Tonner/Schulz, RRa 2007, 51. 71 Für eine größere Bedeutung der Einreisebestimmungen als vom BGH angenommen auch Tonner/Schulz, RRa 2007, 53.
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Vorvertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL
trumenten.72 In Deutschland wird der Reisende auch auf Grund der kurzen Ausschlussfrist nach § 651g BGB – danach hat der Reisende die Ansprüche nach den §§ 651c bis 651f BGB innerhalb eines Monats nach der vertraglich vorgesehenen Beendigung der Reise gegenüber dem Reiseveranstalter geltend zu machen – ein besonderes Interesse an einer weiteren Anspruchsgrundlage haben.73 Schließlich besteht ein Interesse des Reisenden an zwei Gläubigern in dem Fall, dass entweder Reiseveranstalter oder Reisevermittler insolvent werden.74 Überdies ist auch das Reisebüro der Informationspflicht nach § 7 UGP-RL unterworfen. 4.5.6 Nachträgliche Änderung der Einreisebestimmungen Wie bereits erwähnt, besteht neben den sich in der Umsetzung der Informationsvorgaben der Pauschalreise-RL ergebenden Informationspflichten auch eine allgemeine schuldrechtliche Informationspflicht. Diese besteht während der gesamten Vertragsdauer. Ändern sich daher zB die Einreisebestimmungen nach Vertragsabschluss, so ist der Reisende darauf hinzuweisen.75 Andere Informationspflichten, die während des Vertragsverhältnisses bestehen können, betreffen etwa eine Informationspflicht gegenüber den sich bereits am Reiseort befindlichen Reisenden über Terroranschläge oder Unwetter.76 Überdies muss der Reisende, wie das LG Frankfurt77 richtigerweise und in Übereinstimmung mit Art 4 Abs 5 Pauschalreise-RL festgestellt hat, auch dann informiert werden, wenn sich nach der Buchung, aber vor Abreise herausstellt, dass das vertragsgegenständliche Hotel überbucht ist. Die nach Art 7 UGP-RL bestehenden Informationspflichten enden ebenfalls nicht mit Abschluss des Vertrages: Die «geschäftliche Entscheidung» des Verbrauchers betrifft nämlich gem Art 2 lit k UGP-RL jede Entscheidung eines Verbrauchers darüber, ob, wie und unter welchen Bedingungen er einen Kauf tätigen, eine Zahlung insgesamt oder teilweise leisten, ein Produkt behal72 73 74 75
Vgl oben Fn 3. Tonner/Schulz, RRa 2007, 54. Führich, RRa 2006, 197. Führich, Reiserecht5 Rz 533; Tonner in MKBGB IV4 § 5 BGB-InfoV Rz 2 (hins einer Pflicht des Reiseveranstalters und gegen eine solche Pflicht des Reisebüros § 651a Rz 51; Eckert in Staudinger § 5 BGB-InfoV Rz 1; so wohl auch Staudinger/Ilchmann, Pauschalreise-, Luftverkehrs-, Eisenbahn- sowie Reiseversicherungsrecht – Rechtsprechung aus dem Jahr 2007/2008 sowie aktuelle Entwicklungen, NJW 2008, 2752 (2754). 76 Vgl dazu Führich, Reiserecht5 Rz 211 f; Schmid, Zur Beobachtungs-, Erkundigungs- und Informationsweitergabepflicht eines Reiseveranstalters hinsichtlich terroristischer Gefahren im Urlaubsland, RRa 2004, 242 ff; Eckert, Terroranschläge im Reisegebiet und die Informationsanforderungen für Reiseveranstalter, RRa 2006, 98. 77 LG Frankfurt 28.03.2008, 2-24 S 139/07 =RRa 2008, 121 (Schmid).
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Sanktionen bei Verletzung der Informationspflicht
ten oder abgeben oder ein vertragliches Recht im Zusammenhang mit dem Produkt ausüben will, unabhängig davon, ob der Verbraucher beschließt, tätig zu werden oder ein Tätigwerden zu unterlassen.
4.6 Sanktionen bei Verletzung der Informationspflicht Die Pauschalreise-RL nennt keine Sanktionen für den Fall, dass die in ihr vorgesehenen Informationen nicht erfüllt werden. Dennoch bleiben Verstöße gegen die in der RL vorgesehenen Informationspflichten nicht ohne Rechtsfolgen. Diese können hier jedoch nur überblicksartig angeführt werden: 4.6.1 Österreich Verletzung der Informationsvorschriften der Ausübungs-VO In Österreich normiert zunächst § 368 GewO für Verstöße gegen die Informationspflichten der AusübungsV eine Verwaltungsstrafe, die bis zu 1.090,– EUR betragen kann. Zivilrechtliche Rechtsfolgen Von größerer Bedeutung sind die zivilrechtlichen Folgen eines Verstoßes gegen die Informationspflichten. Hierbei kommen verschiedene Sanktionen in Frage. So kann eine fehlende, irreführende oder falsche Information beim Reisenden einen Irrtum hervorrufen. Ein durch die Unterlassung einer gesetzlich vorgesehenen Aufklärung verursachter Irrtum stellt nach § 871 Abs 2 ABGB immer einen Geschäftsirrtum dar. Der Reisende kann daher nach § 870 ABGB – abhängig davon, ob der Irrtum wesentlich war oder nicht – entweder Vertragsanpassung oder Vertragsauflösung verlangen.78 Eine Verletzung von Informationsvorschriften kann des Weiteren einen Mangel begründen und zu Gewährleistungsansprüchen des Reisenden führen. Dies gilt insb, wenn die im Prospekt gegebenen Beschreibungen des Hotels nicht der Realität entsprechen. Die Bedeutung von Prospekten im Reiserecht war schon vor der Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-RL im ABGB anerkannt.79 Seit der Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-RL 1999/44/EG ist die
78 Zum Irrtumsrecht allgemein vgl zB Bollenberger in Koziol/Bydlinski/Bollenberger (Hg), ABGB2 (2007) § 871 Rz 1 ff; vgl auch Kietaibl, Pauschalreiserecht Rz 340 ff. 79 Vgl M. Bydlinski, in Schuhmacher, Verbraucherschutz 218. Zur Gewährleistung im Reiserecht vgl auch zB Krejci in Rummel (Hg), ABGB II/43 (2002) § 31e KSchG Rz 1 ff; Kietaibl, Pauschalreiserecht Rz 331 ff.
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Vorvertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL
Bedeutung von öffentlichen Äußerungen in § 922 Abs 2 ABGB explizit festgeschrieben.80 Parallel kann die Verletzung von Informationspflichten zu Ansprüchen aus cic oder zu vertraglichen Schadenersatzansprüchen führen.81 Daneben können Ansprüche nach dem UWG bestehen. Nach richtiger Auffassung stellt das UWG ein Schutzgesetz zugunsten des Verbrauchers dar. Diesem muss daher ein Schadenersatzanspruch zukommen.82 Überdies besteht bei einer UWG-Verletzung ein Anspruch der klageberechtigten Verbände nach § 14 aUWG auf Unterlassung. 4.6.2 Rechtsfolgen in Deutschland Auch nach deutschem Recht kann eine Informationspflichtverletzung zu Gewährleistungsansprüchen und einem vertraglichen Schadenersatzanspruch führen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass diese sich – anders als in Österreich – nicht nach den allgemeinen Vorschriften richten, sondern nach den §§ 651c ff BGB.83 Bei Verletzung vorvertraglicher Informationspflichten kann ein Anspruch aus § 311 Abs 2 BGB iVm § 280 Abs 1 BGB bestehen.84 Eine Verletzung der BGB-InfoV ist unlauter nach § 3 dUWG.85 Die UGP-RL muss schon jetzt bei der Auslegung des dUWG beachtet zu werden. Bei einem Verstoß gegen das UWG können die klageberechtigten Verbände nach § 8 Abs 3 UWG eine Unterlassungsklage einbringen. Ob ein Verstoß gegen das dUWG den Verbraucher berechtigt, einen deliktischen Schadenersatz nach § 823 Abs 2 BGB geltend zu machen, ist strittig.86
80 Zu den Auswirkungen der Umsetzung der Verbrauchsgüterkauf-RL auf das Reiserecht vgl etwa Apathy, Reisevertragsrecht und Gewährleistungsreform, JBl 2001, 477. 81 Vgl die Nw in den Fn 45, 46. 82 OGH 24.02.1998, 4 Ob 53/98t mwN aus dem Schrifttum. 83 Vgl zu den Sanktionen bei Verletzung der reiserechtlichen Informationspflichten etwa Tonner in MKBGB IV4, Vorbemerkungen vor §§ 4–11 BGB-InfoV Rz 21 ff mwN. 84 Dabei ist zu beachten, dass ein Anspruch aus cic – anders als nach österreichischem Recht – nicht geltend gemacht werden kann, sofern es zu einem Vertragsabschluss gekommen ist und dem Reisenden Gewährleistungsansprüche zustehen, dh es besteht keine Konkurrenz von Ansprüchen aus cic und Gewährleistung. 85 Deutschland hat die UGP-RL noch nicht umgesetzt. Nach der Umsetzung sind Informationsverstöße auch in Zusammenhang mit § 5a dUWG idF des Entwurfes (BT-Drs 345/08) zur Umsetzung der UGP-RL denkbar. 86 Vgl etwa die Nw bei Köhler, in Hefermehl/Köhler/Bornkamm, Unlauterer WettbewerbGesetz26 (2008) Rz 1.10.
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Ergebnisse
4.7 Zusammenfassung Um auf den Eingangsfall zurück zu kommen: hätte der Reiseveranstalter Burnish über die Tatsache aufklären müssen, dass das Hotel «german-oriented» war? ME bestand eine Aufklärungspflicht, denn auf Grund der mangelnden Deutschkenntnisse konnte Burnish und seine Familie das geschuldete Freizeitangebot nicht konsumieren, die Reise war daher mangelhaft.87 Andererseits gibt es Entscheidungen in Deutschland und Österreich, die davon ausgehen, dass deutsche oder österreichische Reisende über genügend Englischkenntnisse verfügen müssen, dass sie sich am Urlaubsort auf Englisch bei der Reiseleitung beschweren können.88 Allerdings können (zumindest rudimentäre) Kenntnisse der englischen Sprache wohl bei den meisten EU-Bürgern vorausgesetzt werden, Deutschkenntnisse hingegen nicht.
4.8 Ergebnisse 1. Hinsichtlich der Informationspflichten im Reiserecht besteht eine Vielzahl zu beachtender Rechtsvorschriften, sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene. Die Existenz weitergehender Informationspflichten widerspricht nicht der Pauschalreise-RL, da diese nur als MindeststandardRL konzipiert ist. 2. Bei der Betrachtung der für die Erteilung von Informationen wesentlichen Zeitpunkte ist nicht nur zwischen vorvertraglichen Informationspflichten und Informationen bei Vertragsabschluss bzw in der Buchungsbestätigung zu unterscheiden. Vielmehr existieren auch Informationspflichten, die nach Vertragsabschluss zu beachten sind. 3. Nach § 2 AusübungsV bestehen gewisse Informationspflichten nur, wenn «detaillierte Werbeunterlagen» herausgegeben werden. Das Gebot der richtlinienkonformen Interpretation gebietet diesen Begriff weit zu verstehen. 4. Die Umsetzung des Anhanges der Pauschalreise-RL in Österreich und Deutschland in der Form, dass es auch ausreicht, wenn die im Anhang genannten Informationen unverzüglich nach Vertragsabschluss ausgehändigt werden (Buchungsbestätigung), entspricht nicht den Vorgaben der Pauschalreise-RL. Nach der Pauschalreise-RL müssen die im Anhang aufgezählten Punkte Bestandteil des Vertrages werden und dem Reisenden daher zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses zur Verfügung stehen.
87 Das englische Gericht hat Burnish 750,- Pfund (ca EUR 942,–) zugesprochen und seine Entscheidung auf breach of contract gestützt. 88 Vgl AG Düsseldorf 28.07.2006, 26 C 5498/06 =RRa 2007, 1.
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Vorvertragliche Informationspflichten nach der Pauschalreise-RL
5. Bei der Überarbeitung der Pauschalreise-RL sollte überlegt werden, ob gewisse zurzeit erst vor Beginn der Reise zu gewährende Informationen nicht schon vor Vertragsabschluss gewährt werden sollten. Dies würde dazu beitragen, dem Reisenden eine informierte Entscheidung zu ermöglichen (zB Details über die Anreise, Möglichkeit eine Reiseversicherung abzuschließen). 6. Die Pauschalreise-RL sieht vor, dass sowohl Staatsbürger des MS, in dem die Pauschalreise angeboten wird, als auch Staatsbürger anderer Mitgliedstaaten über Einreisebestimmungen aufgeklärt werden müssen. Die entsprechenden Umsetzungsbestimmungen in Österreich und Deutschland sind daher ungenügend. Bei der Überarbeitung der Pauschalreise-RL sollte diese Pflicht deutlicher formuliert werden. 7. Es besteht eine allgemeine Informationspflicht nach bürgerlichem Recht. Diese umfasst sowohl vorvertragliche Informationspflichten als auch die Pflicht über gewisse Umstände zu informieren, die nach Vertragsabschluss eintreten. Nach der allgemeinen Informationspflicht ist der Reisende über alle Umstände zu informieren, die für die Durchführung der Reise notwendig sind und von denen nicht angenommen werden kann, dass sie den Reisenden bekannt sind. Überdies besteht nach der UGP-RL eine Pflicht über gewisse Punkte zu informieren, um nicht den Tatbestand der Irreführung durch Unterlassung (Art 7 UGP-RL) zu verwirklichen. Informationen dürfen überdies nicht in irreführender Weise gegeben werden. 8. Die Pauschalreise-RL ist hinsichtlich des Schuldners der Informationspflichten unspezifisch. Eine Klarstellung des Verpflichtenden wäre bei der Überarbeitung der RL wünschenswert.89 Das Reisebüro ist Erfüllungsgehilfe des Reiseveranstalters. Dem Veranstalter ist das Verhalten des Reisebüros daher nach § 1313a ABGB bzw § 278 BGB zuzurechnen. Daneben besteht jedoch im Regelfall ein Vermittlervertrag zwischen dem Reisenden und dem Reisebüro, aus dem eigenen Informationspflichten des Reisbüros entstehen. Dieser Vermittlervertrag entsteht unabhängig davon, ob eine Pauschalreise oder eine andere Dienstleistung (zB Flug, Hotel) vermittelt wird. Das Reisebüro als Vermittler hat wie der Reiseveranstalter die Vorschriften der UGP-RL zu beachten.
89 Tonner/Schulz, RRa 2007, 50 (57).
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5. Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen (ARB) 1992 Christoph Grumböck 5.1 Vorbemerkungen 5.1.1 Entstehungsgeschichte der ARB 1992 Rechtsprobleme im Zusammenhang mit Reisen waren schon früh Thema der österreichischen Verbraucherschutzpolitik. In dem am 01.12.1970 von BM Staribacher sen gegründeten Konsumentenpolitischen Beirat1 im damaligen BM für Handel, Gewerbe und Industrie wurde als einer der ersten Unterausschüsse der Wettbewerbsausschuss konstituiert. Dieser hatte sich gleich zu Beginn seiner Arbeiten mit der Prüfung von Reisebedingungen befasst, welche damals von den einzelnen Reiseunternehmen im Rahmen der Privatautonomie selbst individuell ausgearbeitet wurden und die zivilrechtlichen Detailbestimmungen für den Reisevertrag enthielten. In den überwiegenden Fällen waren die Reisebedingungen so konzipiert, dass sie die Reiseunternehmen gegenüber ihren Kunden über Gebühr bevorzugten2. Anfang der 80iger Jahre handelte der Reisebüroausschuss des Konsumentenpolitischen Beirates3, der unter Leitung des Konsumentenschutzministeriums mit Vertretern der Sozialpartner, insb Konsumentenvertretern der Arbeiterkammern und Vertretern der Reisebürobranche der Bundeswirtschaftskammer besetzt war, mit den Reisebedingungen von 1981 Musterbe-
1 Der Konsumentenpolitische Beirat ist ein Beirat aufgrund des Bundesministeriengesetzes; siehe § 8 BMinG 1991. 2 Enthofer, Reiserecht mit Mängeln oder die lieblose Umsetzung von EG-Recht, Konsumentenpolitisches Jahrbuch 1992–1993 (1994) 8. 3 Siehe dazu auch Mayrhofer in Klang3 (2006) § 7 KSchG Rz 6.
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
dingungen für den Reiseveranstaltungs- und Reisevermittlungsvertrag aus4. Diese Reisebedingungen von 1981 haben sich über viele Jahre hinweg bewährt. Vor allem die nicht mehr vertretbaren Stornobedingungen dieser ARB führten letztlich allerdings dazu, dass 1989 mit ihrer Überarbeitung begonnen wurde. Nach fast dreijährigen Verhandlungen wurden die bis dahin geltenden Reisebedingungen 1981 durch die ARB 1992, die seit der Wintersaison 1992/93 verwendet werden, abgelöst5. Die lange Verhandlungsdauer für die Erarbeitung der ARB 1992 zeigt, wie schwierig eine Konsensfindung zwischen Branchenvertretern und Konsumentenvertretern war bzw ist und zeigt auch die Grenzen für die Schaffung von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen durch sozialpartnerschaftliche Pakte anstelle der Legistik. Die ARB 1992 wurden in der Folge zweimal überarbeitet. Das erste Mal bereits im Zusammenhang mit der KSchG-Novelle 1993, durch die eine Anpassung der Haftungsklausel nötig wurde (§ 6 Abs 1 Z 9 KSchG: Unzulässigkeit eines Haftungsausschlusses für Personenschäden); das zweite Mal im Zusammenhang mit dem Gewährleistungsrechts-Änderungsgesetz 20016, welches insb Änderungen bei der Dauer der Gewährleistungsfristen7 und den Gewährleistungsrechtsbehelfen brachte (Primat der Verbesserung bzw des Austausches)8. 5.1.2 Aufbau der ARB 1992 Die ARB 1992 unterteilen sich inhaltlich in drei Abschnitte. Am Beginn steht eine Art «Einleitung», welche erläuternde Vorbemerkungen sowie Begriffsbestimmungen enthält. Hier wird auch vorausgeschickt, dass ein Reisebüro «als Vermittler und/oder als Veranstalter auftreten» kann und die ARB 1992 jenen Vertragstext darstellen, zu dem Reisebüros «üblicherweise» kontrahieren. Daran anknüpfend finden sich Teil «A» Klauseln für die Vermittlungstätigkeit und in Teil «B» Klauseln für die Veranstaltertätigkeit eines Reisebüros. Für den Rechtsanwender stellt sich damit zunächst die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Reisebüro als Vermittler oder als Veranstalter zu qualifizieren ist, schließlich hängt es von dieser (Vor)Frage ab, ob die Bestimmungen des 1. Teiles (Teil «A») oder jene des 2. Teiles (Teil «B») der ARB auf einen konkreten Rechtsfall zur Anwendung kommen.
4 Zur Entstehungsgeschichte dieser Reisebedingungen siehe Zechner, Reisevertragsrecht (1989) Rz 7. 5 Die ARB 1992 idgF können bspw unter eingesehen werden. 6 Vgl dazu Apathy, Reisevertragsrecht und Gewährleistungsreform JBl 2001, 477. 7 Apathy, JBl 2001, 477. 8 Apathy, JBl 2001, 477.
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Vorbemerkungen
Die Beantwortung der Frage, ob ein Reiseunternehmen iwS als Reisevermittler oder als Reiseveranstalter zu qualifizieren ist, kann in der Praxis mitunter schwierig sein.9 Nach § 31b Abs 2 Z 2 KSchG ist Reiseveranstalter eine Person, welche nicht nur gelegentlich von ihr organisierte Reiseleistungen im eigenen Namen anbietet oder deren Erbringung vereinbart. In Übereinstimmung mit der hL10, der Rsp11 und den gesetzlichen Vorgaben definieren die ARB 1992 den Reiseveranstalter als «das Unternehmen, das entweder mehrere touristische Leistungen zu einem Pauschalpreis anbietet (Pauschalreise/Reiseveranstaltung) oder einzelne touristische Leistungen als Eigenleistungen zu erbringen verspricht und dazu im Allgemeinen eigene Prospekte, Ausschreibungen odgl zur Verfügung stellt»12. Von dieser Definition umfasst ist selbstverständlich auch der praktisch häufige Fall, dass ein Reiseunternehmen die für die Reise erforderlichen Leistungen durch den Zukauf von Fremdleistung (durch Leistungsträger) verspricht, die Reise aber im eigenen Namen zum Kauf (zur Buchung) anbietet13. Wer Reisevermittler ist, ist in den reiserechtlichen Vorschriften des KSchG hingegen nicht definiert. Sehrwohl findet sich hingegen in den ARB 1992 eine Defination des Reisevermittlers. Reisevermittler ist demgemäß eine Person, welche die Verpflichtung übernimmt, «sich um die Besorgung eines Anspruchs auf Leistungen anderer (Veranstalter, Transportunternehmen, Hotelier usw) zu bemühen.» Der Reisevermittler stellt somit unmittelbare Vertragsbeziehungen zwischen dem Kunden und dem Reiseveranstalter her14. Ob ein Reiseunternehmen iwS als Veranstalter oder als Vermittler anzusehen ist, hängt letztlich davon ab, ob das Auftreten des Reiseunternehmens aus der Perspektive eines objektiv redlichen Erklärungsempfängers als Reiseveranstaltungs- oder Reisevermittlungstätigkeit gewertet werden kann. Deshalb werden auch Vermittler, die wie Veranstalter auftreten (sog «Anscheinsveranstalter») als Veranstalter behandelt. In diesem Fall haftet der Vermittler dem Reisenden wie ein Veranstalter15, was vor allem aus gewährleistungs- und schadenersatzrechtlicher Perspektive von Relevanz sein kann.
9 Vgl dazu Riedler, Der Reisevertrag, ecolex 1994, 149. 10 Vgl näher Krejci in Rummel I3 (2002) §§ 1165, 1166 Rz 55 mwN. Dazu auch M. Bydlinsky, Reisevertragsrecht, in Schuhmacher, Verbraucherschutz in Österreich und in der EG (1992) 211 f, insb 215 f. 11 Vgl OGH 22.02.1984, 1 Ob 688/83 =SZ 57/37; 12.05.1982, 3 Ob 525/82 =SZ 55/71. 12 Vgl dazu auch Riedler, Der Reisevertrag, ecolex 1994, 149. 13 Riedler, ecolex 1994, 149. 14 Weiss, Pauschalreisevertrag (1987) 31. 15 OGH 08.04.1986, 2 Ob 544, 546/86 =ecolex 1994, 155; so auch Zechner, Reisevertragsrecht Rz 55.
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
5.1.3 Rechtsqualität der ARB 1992 Reisebüros schließen täglich – entweder als Vermittler oder Veranstalter16 – eine Vielzahl inhaltlich ähnlicher Verträge ab. Um nicht mit jedem Kunden für jeden Vertragsabschluss die «Rahmenbedingungen jedes Vertrages» neu aushandeln zu müssen, legen sie ihren Verträgen idR die ARB 1992 oder eigene besondere Reisebedingungen zugrunde oder kombinieren die ARB 1992 mit eigenen besonderen Bedingungen17. Die ARB 1992 haben damit die Rechtsqualität von «Allgemeinen Geschäftsbedingungen» iSd §§ 864a, 879 Abs 3 ABGB18. Für Reisende bedeutet dies, dass sie auf die genaue Ausgestaltung des Inhalts des Reisevertrages meist keinen oder nur einen rudimentären Einfluss nehmen können. Sie haben in der Praxis meist nur die Möglichkeit, den Vertrag entweder unter Akzeptanz der Reisebedingungen (seien es die ARB 1992 oder spezielle, eigens von einem Reiseunternehmen ausformulierte Reisebedingungen) zu schließen oder vom Vertragsschluss überhaupt Abstand zu nehmen. Da in der Praxis das individuelle Verhandeln über die Geltung von Reisebedingungen oder bestimmte Punkte derselben oft nicht stattfindet, nehmen Reisende die Bedingungswerke der Vermittler und/oder Veranstalter idR in ihrer Gesamtheit in Kauf, obwohl sie von letzteren vorformuliert, reiflich überlegt und idR bewusst zu ihren Gunsten ausgestaltet wurden (vgl nur etwa die Haftungsklausel des Punkt A 5.2. der ARB 1992)19. Diese Situation führt letztlich zu einer sog «Verdünnung der Willensfreiheit» der Reisenden, die den Inhalt der Bedingungen oft überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen oder deren Reichweite nicht erkennen und die ARB in ihrer Gesamtheit akzeptieren. Um die in der Praxis typischerweise vorhandene Unterlegenheit der Reisenden auszugleichen und sie vor überschießenden Bestimmungen zu schützen, gilt auch für Reisebedingungen das (strenge) «Kontrollregime» des ABGB bzw KSchG. 16 Vgl Vorbem zu den ARB 1992. 17 Bei einer Kombination der ARB 1992 mit eigenen speziellen Reisebedingungen ist insb darauf zu achten, dass durch die Verquickung der Bedingungswerke der Sinngehalt der Bestimmungen gewahrt bleibt, andernfalls einzelne Bestimmungen wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot (§ 6 Abs 3 KSchG) unwirksam sein können (BGHS 10.10.2006, 18 C 864/06z =KRES 6/165). Mit «Verständlichkeit» iSd § 6 Abs 3 KSchG ist nicht bloß die formale Verständlichkeit iSd von Lesbarkeit, sondern vor allem auch die Sinnverständlichkeit gemeint (OGH 13.09.2001, 6 Ob 16/01y =KRES 1h/32). 18 Michitsch, Reiserecht (2004) 51. 19 Dh natürlich nicht, dass die ARB den Reisenden nur benachteiligen. Die ARB 1992 enthalten ua durchaus Vorschriften, die den Reisenden gegenüber dispostiven Recht begünstigen; soo bspw die Stornoklauseln, die dem Reisenden ein Recht zum grundlosen Rücktritt vom Reisevertrag geben, da sie nach dispostiven Recht in dieser Gestalt nicht hätte; anders nach § 651i BGB.
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Einbeziehung von Reisebedingungen in einen Reisevermittlungsvertrag
5.1.4 AGB-Prüfung nach österr Zivilrecht Ist die Geltung von AGB (oder ARB) zivilrechtlich zu untersuchen, ist aus juristischer Perspektive eine 3-stufige Prüfung vorzunehmen: · Im ersten Schritt ist zu prüfen, ob die ARB/AGB in ihrer Gesamtheit Vertragsinhalt wurden (sog Einbeziehungskontrolle)20. · Zweitens sind alle Einzelbestimmungen jener AGB/ARB, welche Vertragsinhalt wurden, einer sog Geltungskontrolle zu unterziehen. Diese Geltungskontrolle ist nach § 864a ABGB vorzunehmen, was zur Folge haben kann, dass überraschende bzw ungewöhnliche Klauseln nicht Vertragsinhalt werden21. · Drittens sind (verbleibende) Klauseln (bzw Teile von Klauseln) einer sog Inhaltskontrolle zu unterziehen. Dabei wird geprüft, ob Nebenbestimmungen oder Teile einzelner oder mehrerer Nebenbestimmungen gröblich benachteiligend sind. Maßstab dieser Inhaltskontrolle ist § 879 Abs 3 ABGB bzw in Verbraucherverträgen insb § 6 KSchG22.
5.2 Einbeziehung von Reisebedingungen in einen Reisevermittlungs- oder -veranstaltungsvertrag 5.2.1 Allgemeines Für die Einbeziehung von Geschäftsbedingungen gibt es im Wesentlichen drei Möglichkeiten. Die Geltung von AGB kann (i) durch Gesetz oder (ii) durch Verordnung angeordnet sein und (iii) können die Vertragspartner die Geltung von Geschäftsbedingungen ausdrücklich oder konkludent vereinbaren23. Eine gesetzliche Anordnung über die Geltung für ARB für Reiseverträge gibt es weder in Österreich noch in Deutschland oder der Schweiz. Manche Reiseunternehmen vertreten die Ansicht, dass die ARB 1992 unabhängig von einer Parteienvereinbarung kraft Verordnung gelten. Gestützt wird diese Ansicht auf die «Verordnung des Bundesministers für wirtschaftliche Angelegenheiten über Ausübungsvorschriften für das Reisebürogewerbe» (im Folgenden kurz: AusübungsV). Die AusübungsV statuiert in § 6 Folgendes: 20 Koziol/Welser, Bürgerliches Recht I13 (2006) 132; Riedler, Privatrecht I4 Allgemeiner Teil (2006) Rz 13/3 ff. 21 Koziol/Welser I13 133; Riedler, PR I4 AT Rz 13/3, 13/8 ff; P. Bydlinski in Apathy (Hg), Bürgerliches Recht I4 (2007) Rz 6/26. 22 Koziol/Welser I13 134 ff; Riedler, PR I4 AT Rz 13/3, 13/19 ff; P. Bydlinski in Apathy I4 Rz 6/27. 23 Koziol/Welser I13 132; Riedler, PR I4 AT Rz 13/4; P. Bydlinski in Apathy I4 Rz 6/24.
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
«(1) Gewerbetreibende, die auf Grund einer Gewerbeberechtigung für das Reisebürogewerbe als Veranstalter auftreten und ihre Leistungen in entsprechend detaillierten Werbeunterlagen anbieten, haben in diesen ersichtlich zu machen, ob sie die vom Fachverband der Reisebüros im Einvernehmen mit dem Reisebüro-Ausschuß des Kosumentenpolitischen Beirates beim Bundeskanzleramt empfohlenen Allgemeinen Reisebedingungen in ihrer letztgültigen Fassung zur Gänze, nur teilweise oder nicht anerkennen. (2) Werden die ARB vom Veranstalter zur Gänze anerkannt, so genügt diesbezüglich ein Hinweis in den Werbeunterlagen im Sinne des Abs. 1. (3) Anerkennt der Veranstalter die ARB nur teilweise oder nicht, so hat er in der jeweiligen Werbeunterlage im Sinne des Abs. 1 die abweichenden Bestimmungen wiederzugeben und sie den entsprechenden Bestimmungen der Allgemeinen Reisebedingungen gegenüberzustellen. Hinsichtlich jener Bestimmungen der Allgemeinen Reisebedingungen, die vom Veranstalter anerkannt werden, genügt ein diesbezüglicher Hinweis. (. . .)» In der Praxis wird diese Bestimmung fälschlich oft so interpretiert, dass die ARB 1992 immer dann zum Inhalt eines Reisevertrages iwS werden, wenn das Reiseunternehmen keine abweichenden eigenen Reisebedingungen verwendet24. Eine solcher Art «subsidiäre Geltung» der ARB 1992 kraft verordnungsrechtlicher Anordnung ist aber weder vom Wortlaut der AusübungsV gedeckt (aus der bloß eine verwaltungsrechtliche Verpflichtung für Reisebüros abgeleitet werden kann), noch stünde sie mit dem österr privatrechtlichen System in Einklang25. Nach dem Prinzip der Privatautonomie kann jeder Rechtsunterworfene frei entscheiden, ob, mit wem und mit welchem Inhalt er einen Vertrag abschließt. Teilaspekte der Privatautonomie sind die Abschlussfreiheit und die Inhaltsfreiheit. Mit anderen Worten kann jedes Rechtssubjekt frei entscheiden, mit wem und mit welchem Inhalt es einen Vertrag schließen will. Beschränkungen dieser Teilaspekte der Privatautonomie finden sich beim sog «Kontrahierungszwang» (Beschränkung der Abschlussfreiheit) und bei der hoheitlichen Anordnung der Geltung von AGB (Beschränkung der Inhaltsfreiheit). Beides ist nur unter engen Voraussetzungen rechtlich zulässig und anerkannt. Eine Reglementierung von zivilrechtlichen Verträgen durch hoheitliche Anordnung kommt nur in Betracht, wenn dies sachlich gerechtfertigt und im öffentlichen Interesse gelegen ist, etwa zur Sicherstellung bestimmter Versorgungseinrichtungen (bspw Post, Bahn odgl) oder Reglementierung von Preisen (Telekommunikation odgl)26. Wenn oben ausgeführt wurde, dass 24 Zum parallelen Problem in Deutschland vgl Matern, Die Einbeziehung Allgemeiner Geschäftsbedingungen in den Reisevertrag bei Vertragsschluss im stationären Reisebüro, RRa 2008, 212 mwN. 25 Zur dt Rechtslage so auch Matern, RRa 2008, 212. 26 Ob jene Geschäftsbedingungen, deren Geltung per Gesetz oder Verordnung angeordnet wurde, überhaupt als AGB iSd ABGB zu qualifizieren sind, ist durchaus fraglich. Mu-
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Einbeziehung von Reisebedingungen in einen Reisevermittlungsvertrag
die Geltung von AGB durch V prinzipiell angeordnet werden kann, so darf dies also nicht so verstanden werden, dass der Gesetz- oder Verordnungsgeber frei entscheiden kann, auf welche Verträge er inhaltlich einwirken möchte. Da bei Reisen eine Einflussnahme auf die inhaltliche Ausgestaltung von Reiseverträgen weder im öffentlichen Interesse liegt noch irgendeine sachliche Rechtfertigung dafür gefunden werden könnte, wäre die hoheitliche Anordnung der Geltung von AGB wohl gesetzwidrig bzw verfassungswidrig. Dass die eingangs erwähnte V auf die zivilrechtliche Ausgestaltung von Reiseverträgen keinen Einfluss nimmt, zeigt auch der Umstand, dass ein Verstoß gegen § 6 der zitierten Vorordnung keine unmittelbaren zivilrechtlichen, sondern (bloß) verwaltungsrechtliche Sanktionen nach sich zieht: bei Verstößen gegen die Verordnung droht nach § 368 GewO eine Verwaltungsstrafe bis zu € 1090,–, welche in der Praxis aber kaum verhängt wird27. Obwohl die V keine automatische Einbeziehung der ARB in einen Reisevertrag bewirkt, ist sie aus zivilrechtlicher Sicht dennoch nicht bedeutungslos. Die meisten Verpflichtungen nach der V betreffen (vorvertragliche) Informationspflichten. Die Verletzung diese Pflichten kann schadenersatzpflichtig und/oder gewährleistungspflichtig machen28. Dies gilt insb auch für Verstöße gegen die Grundsätze der Prospektwahrheit, -klarheit und -vollständigkeit29. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass gem § 871 Abs 2 ABGB der Irrtum über Umstände, über die nach geltenden Rechtsvorschriften, insb nach den §§ 31b ff KSchG oder der oben zitierten V, hätte aufgeklärt werden müssen, immer als Geschäftsirrtum gilt30. Die Einbeziehung von ARB in einen Reisevertrag erfordert also eine Willenseinigung der Parteien entsprechend dem «Vertragsschlussmechanismus» des § 861 ABGB, also ein Angebot des Reiseveranstalters auf Einbeziehung der AGB sowie eine ausdrückliche oder konkludente Zustimmung des Reisenden31. Zur Klärung der Frage, worin die Willenseinigung zur Einbeziehung von Reisebedingungen liegen kann, muss vorab dargelegt werden, wie Reiseverträge in der Praxis üblicherweise geschlossen werden. Rsp und L neigen zuweilen zu einer unreflektierten Bejahung eines Vertragsschlusses. Tatsächlich birgt der letztlich oft komplexe Buchungsablauf im Hinblick auf die Einbeziehung der AGB ein beträchtliches Risikopotential. Ausgangspunkt der folgenden Betrachtung sind Buchungen in Reisebüros (Buchungen über Internet
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zak (Rechtsfragen der Personenbeförderung nach dem Eisenbahnbeförderungsgesetz, ZVR 1997, 219) qualifiziert solche Geschäftbedingungen etwa als objektive Rechtsnormen; dagegen Lehofer, ZVR 1997, 363. Kieteibl, Pauschalreiserecht (2007) Rz 509. Kieteibl, Pauschalreiserecht Rz 510. Vgl dazu Kieteibl, Pauschalreiserecht Rz 489 ff. Zu den spezifisch Reiserechtlichen Problemen in diesen Zusammenhang vgl Kieteibl, Pauschalreiserecht Rz 342. OGH 05.04.1990, 7 Ob 17/90 =SZ 63/54 =VersR 1991, 327 =VersRdSch 1990, 350; Koziol/Welser I13 132; vgl zur dt Rechtslage Matern, RRa 2008, 211.
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
oder Telefon werden aus den folgenden Überlegungen ausgeklammert); dabei kann das Reisebüro entweder als Reisevermittler oder als Reiseveranstalter auftreten. Bei der Reisevermittlung wird ein sog Vermittlungsvertrag geschlossen, welcher die Vermittlung von Verträgen zwischen dem Reisenden und einem Reiseveranstalter oder Leistungsträger (Hotel, Transportunternehmungen etc) zum Inhalt hat32; durch die Vermittlungstätigkeit des Reisebüros kommt es zu einer direkten vertraglichen Beziehung zwischen dem Reisenden und den vermittelten Leistungsträgern33. Tritt das Reisebüro dagegen selbst als Reiseveranstalter auf, so schuldet es selbst die Leistungen aus dem Reisevertrag. Bei der Reisevermittlung erhält das Reisebüro aufgrund seiner Verträge mit den Reiseveranstaltern/Leistungsträgern von diesen eine – ähnlich einem Maklervertrag34 – Provision35; für den Reisenden ist der Vermittlungsvertrag idR unentgeltlich36. Bei der Reiseveranstaltung hat das Reisebüro Anspruch auf den vollen Reisepreis. Nach hA ist der Reisevermittlungsvertrag idR ein Geschäftsbesorgungsvertrag37. Der Reise(veranstaltungs)vertrag ist ein gemischter Vertrag38 mit Elementen des Werkvertrages39 (Beförderung, Transfer) und der Dienstleistung (Verpflegung). Die Erbringung der einzelnen Reiseleistungen erfolgt arbeitsteilig durch die sog Leistungsträger, welche als Erfüllungsgehilfen des Veranstalters tätig werden40. Der eigentliche Reise(veranstaltungs)vertrag wird also zwischen Reisenden und dem vermittelten Reisveranstalter (so bspw bei einer Pauschalreise) oder dem vermittelten Leistungsträger (bei einer Individualreise) abgeschlossen41. Bei der Reisevermittlung schließt ein Reisender zwei unterschiedliche Verträge mit unterschiedlichem Inhalt und unterschiedlichen Vertragspartnern ab42: einen Reisevermittlungsvertrag mit dem Reisebüro und einen Reise(veranstaltungs)vertrag. Ist das Reisebüro dagegen
32 Tonner, Der Reisevertrag5 (2007) § 651a BGB Rz 36. 33 Tonner, Reisevertrag5 § 651a BGB Rz 39. 34 Für Maklervertrag Rother in FS Lanz (1973) 445; Tonner, Reisevertrag5 § 651a Rz 39; aA Führich, Reiserecht5 (2007) Rz 702 f; vgl aber auch Führich, Reiserecht5 Rz 704. 35 Tonner, Reisevertrag5 § 651a Rz 39. 36 Führich, Reiserecht5 Rz 714 37 Tonner, Reisevertrag5 § 651a Rz 39 mwN. 38 Apathy/Riedler in Apathy III3 (2007) Rz 3/19. 39 Vgl BGH 30.11.1972, VII ZR 239/71 =BGHZ 60, 14. 40 Zur Vertragsspaltung und einer Übersicht über die Umsetzung der RL in ausgewählten MS idZ siehe Schulte-Nölke, Verbraucherschutz bei arbeitsteiliger Leistungserbringung im europäischen Reiserecht, in Kortmann/Faber/Strens-Meulemeester, Vertegenwoordiging en Tussenpersonen, 461 (463 ff). 41 Der Reise(veranstaltungs)vertrag besteht zwischen dem Reiseveranstalter und dem Reisenden (Fischer-Cermak, Leistungsstörungen bei Reiseveranstaltungsvertrag, JBl 1997, 274; Riedler, ecolex 1994, 149); Graziani-Weiss, Reiserecht in Österreich (1995) 13 f. 42 Führich, Reiserecht5 Rz 701.
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Einbeziehung von Reisebedingungen in einen Reisevermittlungsvertrag
selbst Reiseveranstalter, so verfügt der Reisende nur über einen Vertrag mit dem Reisebüro – eben den Reise(veranstaltungs)vertrag. Tritt das Reisebüro als Vermittler auf und verwendet es ARB/AGB, so werden diese Vertragsinhalt, wenn Konsens zwischen den Vertragspartnern über die Einbeziehung der ARB/AGB besteht. Die Einbeziehung ARB/AGB bei der Reisevermittlung stellt in der Praxis idR kein Problem dar; meist sind die ARB/AGB des Reisebüros in den Geschäftsräumlichkeiten gut sichtbar ausgehängt oder liegen in Schriftform vor. Kontrahiert der Reisewillige in der Folge widerspruchslos, so werden die ARB/AGB zumindest konkludent Inhalt des Vermittlungsauftrages. Wesentlich diffiziler ist die Beantwortung der Frage, ob die ARB/AGB des vermittelten Reiseveranstalters/Leistungsträgers Inhalt des Vertrages Reisender – Reiseveranstalter/Leistungsträger werden. Dabei kommt – wie Führich43 betont – der Rolle des Reisevermittlers wesentliche Bedeutung zu, schließlich hat idR nur er unmittelbaren Kontakt zum Reisewilligen, daher kann idR auch nur er das zur Einbeziehung der AGB Nötige tun. Meist ist der Reisevermittler im Rahmen des Geschäftsbesorgungsvertrages dazu verpflichtet, den Reisenden auf die AGB des vermittelten Unternehmers hinzuweisen und diese dem Reisewilligen vorzulegen oder auszuhändigen. Tut er das nicht, kommt der Reisevertrag mitunter ohne ARB/AGB zustande, insofern stellt der Reisevermittler – wie Führich44 ebenfalls hervorhebt – in der Praxis eine gewisse «Schwachstelle» dar. Wie die Buchung eines Reise(veranstaltungs)vertrages in einem Reisebüro in der Praxis konkret vor sich gehen kann, wird im Folgenden näher dargelegt; die reiserechtliche Praxis kennt im Wesentlichen drei Formen des Vertragsschlusses im Reisebüro45. Obwohl die folgenden Ausführungen eher auf die Vermittlungstätigkeit eines Reisebüros zugeschnitten sind, gelten sie in weiten Teilen analog auch, wenn ein Reisebüro selbst als Reiseveranstalter tätig wird, wenngleich in diesem Fall das Reisebüro Erklärungen im eigenen Namen abgibt. Variante 1 Bei der in der Praxis am öftesten anzutreffenden Konstellation unterzeichnet der Kunde unmittelbar im Anschluss an das Beratungsgespräch mit einem Ex43 Führich, Reiserecht5 Rz 127. 44 Führich, Reiserecht5 Rz 127. 45 In der Österreich wurde der Buchungsvorgang im Reisebüro soweit überschaubar noch nicht analysiert; zahlreiche Meinungen finden sich dazu jedoch in der einschlägigen dt Lit: vgl etwa Schmid, Anm zu AG Düsseldorf 29.12.2003, 39 C 11717/02, RRa 2004, 23 (24); Tonner, Reisevertrag5 § 651a BGB Rz 14 ff; Hamburger/Christensen in Klatt/Wahl (Hg), Recht der Touristik – Praxishandbuch (2002) Kap 2 Rz 16 ff.
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
pedient des Reisebüros ein handschriftlich ausgefülltes oder nach Eingabe der erfassten Daten in ein Computer-Reservierungssystem (CRS) ausgedrucktes Reiseanmeldungsformular. Der Expedient nimmt anschließend eine Verfügbarkeits(Vakanz)-Abfrage bezüglich der gewünschten Leistungen mit dem Ziel der Reservierung vor. Diese Anfrage stellt das Angebot des Kunden zum Abschluss eines Reisevertrages dar46. Bei entsprechender Verfügbarkeit generiert der Expedient die verbindliche Reservierung und bestätigt die Buchung regelmäßig zunächst verbal, bevor er dem Kunden eine schriftliche Buchungsannahmeerklärung aushändigt. Die Annahmeerklärung des Reiseveranstalters liegt bei EDV-unterstützter Buchung entweder in der verbalen Erklärung des Expedienten gegenüber dem anwesenden Kunden, dass die Buchung veranstalterseitig bestätigt wurde47 oder in der späteren Aushändigung der schriftlichen Buchungsannahmeerklärung48. Die nachfolgende Übergabe einer Reisebestätigung hat in diesem Fall nur noch deklaratorische Funktion49. Fungiert das Reisebüro als Vermittler, ist es hinsichtlich der Angebotserklärungen des Kunden wohl ebenso wie hinsichtlich der Annahmeerklärung durch den Reiseveranstalter als doppelter Erklärungsbote anzusehen. Variante 2 Bei der zweiten Variante teilt der Kunde dem Expedienten sein Vertragsangebot verbal mit; der Expedient startet anschließend eine Vakanz-Abfrage im CRS. Bei Verfügbarkeit der kundenseitig gewünschten Leistung druckt der Expedient nach Eingabe der erforderlichen Daten in das CRS zum Zwecke der Buchung ein entsprechendes Formular («Buchungsbestätigung») aus. Diese schriftliche «Buchungsbestätigung» wird sodann vom Kunden unterzeichnet und stellt das Angebot des Kunden dar. Die nachfolgend entweder im Reisebüro ausgehändigte oder direkt vom Reiseveranstalter zugesendete «Reisebestätigung» stellt die Annahme des Reiseveranstalters dar50.
46 Zur dt Rechtslage Matern, RRa 2008, 212 mwN. 47 LG Kiel 19.06.1996, 5 S 174/95 =RRa 1996, 203; Tonner, Reisevertrag5 § 651a Rz 65; ähnlich AG Düsseldorf 29.12.2003, 39 C 11717/02 = NJOZ 2005, 2030 und AG Bad Homburg 10.04.2003, 2 C 1901/02 =RRa 2003, 119, die bereits in der Rückbestätigung des CRS die Annahme des kundenseitigen Angebotes sehen; allerdings mangelt es insoweit am erforderlichen Zugang der Annahmeerklärung beim Kunden, so dass diese Auffassung abzulehnen ist. Vgl dazu Matern, RRa 2008, 212. 48 Matern, RRa 2008, 212 f; Hamburger/Christensen in Klatt/Wahl, Recht der Touristik Kap 2 Rz 16 ff. 49 Tonner, Reisevertrag5 § 651a Rz 65; Eckert in Staudinger13 (2003) § 651a BGB Rz 87; Tonner, Reisevertrag5 § 651a Rz 20; Schmid, RRa 2004, 24. 50 Matern, RRa 2008, 213.
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Einbeziehung von Reisebedingungen in einen Reisevermittlungsvertrag
Variante 3 Bei der dritten Variante bestätigt der Expedient die Buchung vor Aushändigung einer schriftlichen Reisebestätigung («Buchungsannahmeerklärung») verbal gegenüber dem Kunden. Die zeitlich nachfolgende Aushändigung der schriftlichen Reisebestätigung («Buchungsannahmeerklärung») des Reiseveranstalters hat nur noch deklaratorische Funktion im Rahmen eines bereits rechtswirksam geschlossenen Vertrages51. 5.2.2 Konsens über die Einbeziehung von AGB/ARB Die Einbeziehung von ARB/AGB setzt Willensübereinstimmung (Konsens) der Vertragsparteien im Vertragsschlusszeitpunkt voraus. Inhalt eines Reisevertrages werden ARB/AGB somit nur, wenn einerseits ein entsprechendes Angebot auf Einbeziehung sowie eine damit korrespondierende Annahme gegeben ist. Einseitiges «Nachschieben der AGB» durch den Aufsteller der AGB, etwa durch bloßen Abdruck (der AGB) am später übermittelten Auftragsbestätigung oder der späteren Rechnung reicht also nicht aus, wenngleich natürlich auch spätere (zusätzliche) Parteieneinigung zur nachträglichen Einbeziehung der AGB und somit gleichzeitigen Änderung des Reisevertrages nicht ausgeschlossen ist. Wie oben ausgeführt stellt idR der Kunde das Angebot zum Abschluss eines Reisevertrages52. Gibt der Kunde etwa ein schriftliches Angebot (etwa durch das Erstellen der Buchungsunterlagen) ab, so ist darin idR ein entsprechender vorformulierter Hinweis des Reiseunternehmens auf die Geltung seiner ARB/AGB enthalten. In diesem Fall inkludiert das Angebot des Kunden zum Abschluss eines Reisevertrages auch das Angebot zur Einbeziehung der ARB/AGB. Aber auch wenn ein solcher schriftlicher Hinweis nicht enthalten ist oder der Kunde sein Angebot zum Abschluss des Reisevertrages verbal unterbreitet, inkludiert idR das Angebot des Kunden zum Abschluss des Reisevertrages auch das Angebot zur Einbeziehung der ARB/AGB: ist dem Kunden nämlich klar, dass das Reiseunternehmen nur unter Einbeziehung seiner ARB/AGB kontrahieren will, etwa wegen eines entsprechenden Hinweises in den Werbeunterlagen (Prospekt, Katalog), eines Aushanges53 in den Geschäftsräumlichkeiten des Reiseunternehmers oder eines Hinweises der Reisevermittlers auf die ARB/AGB, so darf das Reiseunternehmen nach der Ver51 Matern, RRa 2008, 213. 52 Das ABGB auf dem Weg in das 3. Jahrtausend 157; Fritsche, Reiserecht, Justizportal NRW (undatiert) <justiz.nrw.de/BS/Verbraucherschutz/reiserecht.pdf> 4. 53 Wenngleich der Reisende nicht dazu verpflichtet ist im Geschäftslokal «Ausschau nach allfälligen Bedingungen zu halten» (OGH 11.03.1994, 1 Ob 533/94 =ecolex 1994, 465 mwN).
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
trauenstheorie davon ausgehen, dass der Kunde den Inhalt der ARB/AGB konkludent auch zum Inhalt seiner Angebotserklärung erhoben hat54. Nur wenn das Reiseunternehmen aus vertrauenstheoretischen Überlegungen nicht davon ausgehen durfte, dass die ARB/AGB zum Angebotsinhalt erhoben wurden, etwa weil die ARB/AGB entgegen den Verpflichtungen aus der eingangs erwähnten V nicht in den Werbeunterlagen des Reiseunternehmens abgedruckt waren, liegt es am Reiseunternehmen, dem Kunden seinerseits ein entsprechendes Angebot zur Einbeziehung seiner ARB/AGB zu unterbreiten. Dieses liegt meist in der nachträglich übermittelten Reisebestätigung, welche in diesem Fall keine Annahme, sondern eine Ablehnung des kundenseitig unterbreiteten Angebotes verbunden mit einem neuen Angebot zum Abschluss eines Reisevertrages unter gleichzeitiger Äußerung der Einbeziehungsabsicht von ARB/AGB darstellt55. Nimmt der Kunde dieses Angebot an, sei es ausdrücklich oder konkludent56, so kommt der Reisevertrag mit dem Inhalt der ARB/AGB zustande. Wurde der Abschluss eines Reisevertrages schon vor Aushändigung einer schriftlichen Reisebestätigung («Buchungsannahmeerklärung») durch einen Expedienten eines Reisebüros verbal gegenüber dem Kunden bestätigt (Variante 3), so wurde damit der Reisevertrag bereits perfektioniert – wenn der Reisevermittler auf die ARB/AGB des Reiseunternehmens nicht entsprechend hingewiesen hat, uU ohne Einbeziehung der entsprechenden Bedingungswerke. Die später übermittelte Reisebestätigung hat in diesem Fall bloß deklaratorische Wirkung. Ist in dieser Reisebestätigung erstmals ein Hinweis auf ARB/AGB enthalten, so führt dieses einseitige «Nachschieben» nicht zu einen Einbeziehung der ARB/AGB in den Reisevertrag57. Die nachfolgende Reisebestätigung stellt insofern wiederum ein Angebot zur Vertragsänderung mit dem Ziel der Einbeziehung der ARB/AGB dar, welches vom Kunden angenommen werden kann oder nicht58. So könnte etwa in der widerspruchslosen Zahlung des «Reisepreises» oder in einer widerspruchslosen Konsumation der vertragsgegenständlichen Leistung das Akzept einer das Offert modifizierenden Bestätigung liegen59. Diese Art der Einbeziehung von ARB ist im Reiserecht nicht untypisch. Nicht selten kommt es vor, dass ein Reisewilliger in einem Reisebüro eine Reise bucht, eine Anzahlung leistet und erst nach Erhalt einer Buchungsbestätigung gegen Aushändigung der sonstigen Reiseunterlagen den restlichen Reisepreis begleicht. Dieses Procedere bietet sich insb zu Minimierung des Insolvenzrisikos an und entspricht – vereinfacht dargestellt 54 55 56 57 58 59
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Zur Vertrauenstheorie vgl Riedler, PR I4 AT Rz 15/11 ff. Matern, RRa 2008, 213. Matern, RRa 2008, 213 Fn 12 mwN. Vgl dazu Riedler, PR I4 AT Rz 13/6. Fritsche, Reiseverträge 4; Matern, RRa 2008, 213. Fritsche, Reiseverträge 4; Matern, RRa 2008, 213.
Einbeziehung von Reisebedingungen in einen Reisevermittlungsvertrag
– auch der Reisebüro-Sicherungsverordnung. Zu beachten ist dabei natürlich der strenge Konkludenzmaßstab des § 863 S 2 ABGB60. So hat der OGH explizit iZm Reisebedingungen ausgesprochen, dass bei der Buchung einer Reise nicht als allgemein bekannt angenommen werden darf, dass ein Reisebüro nur unter Zugrundelegung von Reisbedingungen kontrahieren will. Reisebüros müssen ihre Kunden vielmehr darauf hinweisen, dass sie nur unter Einbeziehung ihrer AGB (ARB) abschließen wollen und den Kunden die Möglichkeit zur Kenntnisnahme der AGB geben61, tatsächliche Kenntnisnahme des Reisenden vom Inhalt der Bedingungen ist aber nicht erforderlich. Vielmehr reicht – ähnlich dem Unterfertigen einer ungelesenen Urkunde – es, dass der Reiseveranstalter ausreichend deutlich auf die ARB 1992 und/oder seine speziellen Bedingungen hinweist und sie dem Reisenden auf Verlangen auch aushändigt62. Auch in diesem Zusammenhang sei kurz auf die genannte V des BM für wirtschaftliche Angelegenheiten Bezug genommen. Nach § 6 Abs 1 der VO sind Reiseveranstalter dazu verpflichtet, «ersichtlich zu machen, ob sie die vom Fachverband der Reisebüros im Einvernehmen mit dem Reisebüro-Ausschuss des Kosumentenpolitischen Beirates beim Bundeskanzleramt empfohlenen Allgemeinen Reisebedingungen in ihrer letztgültigen Fassung zur Gänze, nur teilweise oder nicht anerkennen.» Für den Fall, dass die ARB 1992 vom Veranstalter zur Gänze anerkannt werden, reicht ein entsprechender Hinweis in den Werbeunterlagen (Prospekt, Katalog) aus. Nach § 6 Abs 3 muss der Veranstalter, wenn er die ARB 1992 nur teilweise oder nicht anerkennt, in seinen Werbeunterlagen «die abweichenden Bestimmungen wiedergeben und sie den entsprechenden Bestimmungen der Allgemeinen Reisebedingungen gegenüberstellen.» Und nach § 6 Abs 6 sind die ARB sowie allfällige Abweichungen davon ersichtlich zu machen. Diese Verpflichtungen haben – ebenso wie die Verpflichtung zur Ausfolgung eines schriftlichen Exemplars der ARB – bloß verwaltungsrechtliche Bedeutung, ein Unterlassen derselben bewirkt weder eine automatische Einbeziehung noch eine Nichteinbeziehung der ARB63. In diesem Sinne ist eine Einbeziehung seiner eigenen, speziellen, abweichenden oder ergänzenden Reisebedingungen eines Reiseveranstalters möglich, auch wenn dieser seine Bedingungen in Verletzung der Verpflichtungen aus der Verordnung nicht in seinen Geschäftsräumlichkeiten aushängt, nicht in seinen Werbeunterlagen abdruckt und auch den ARB 1992 nicht gegenüber stellt, sofern der Reiseveranstalter nur ausreichend deutlich zum Ausdruck bringt, dass 60 OGH 11.03.1994, 1 Ob 533/94 =ecolex 1994, 465. 61 OGH 21.02.1973, 1 Ob 13/73 =SZ 46/24; 26.10.1965, 6 Ob 279/65 =SZ 38/171; vgl dazu auch Mayerhofer, Überlegungen zum Recht der allgemeinen Geschäftsbedingungen, JBl 1993, 94 f. 62 Zu Reisebedingungen vgl OGH 05.11.1981, 7 Ob 52/81 =EvBl 1982/87. 63 So zur dt Rechtslage auch Matern, RRa 2008, 212 mwN.
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
er (nur) unter Einbeziehung seiner Reisebedingungen kontrahieren will. Wenn sich der Reisende eindeutig diesen Bedingungen unterwirft, ist zur Einbeziehung nicht einmal eine Kenntnisnahme durch den Reisenden nötig64. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass es für die Frage, ob ARB/AGB Inhalt eines Reisevertrages wurden, auf den Zeitpunkt bei Vertragsschluss, also den Zeitpunkt der Parteieneinigung abzustellen ist. Zur Einbeziehung von ARB/AGB eines Reiseunternehmens reicht es idR aus, wenn der Kunde wusste oder (iSd Vertrauenstheorie nach den Umständen) wissen musste, dass sein Vertragspartner unter Zugrundelegung seiner AGB kontrahieren will, weil der Kunde in diesem Fall konkludent den Bedingungsinhalt zum Inhalt seiner Angebotserklärung macht. Scheitert die Einbeziehung von ARB/AGB im Vertragsschlusszeitpunkt, so besteht die Möglichkeit einer nachträglichen Vertragsänderung, etwa indem der Kunde ein späteres Angebot zur Vertragsänderung (konkludent) durch Zahlung des Reisepreises und widerspruchslose Konsumation der offerierten Leistungen akzeptiert. Findet eine solche einvernehmliche nachträgliche Vertragsänderung nicht statt, so führt einseitiges «Nachschieben von ARB» durch das Reiseunternehmen, etwa durch den Abdruck in der später übermittelten Reisebestätigungen, der späteren Rechnung odgl nicht (mehr) zur Einbeziehung der ARB/AGB65. 5.2.3 Exkurs: AGB von Leistungsträgern Tritt ein Reisebüro als Reiseveranstalter auf, so schließt der Reisende mit einem Reisebüro einen entsprechenden Reise(veranstaltungs)- bzw Pauschalreisevertrag. Der Reiseveranstalter seinerseits schließt mit Leistungsträgern (Beförderungs-, Beherbergungsunternehmen odgl) entsprechende Verträge zugunsten des Reisenden ab66 und erbringt seine Vertragspflicht durch «Leistungszukauf». Partner des Reise(veranstaltungs)- bzw Pauschalreisevertrages sind der Reisende und der Reiseveranstalter67; der Reisende selbst steht mit den Leistungsträgern in keinerlei Vertragsbeziehung68. Die Leistungsträger sind dem Reiseveranstalter jedoch als «Erfüllungsgehilfen» iSd § 1313a ABGB zuzurechnen. Im Unterschied dazu hat der Reisende bei einer Individualreise jeweils einzelne Verträge mit unterschiedlichen Vertragspartnern, zB einen Beförderungsvertrag mit einem Transportunternehmen, einen Beherbergungsvertrag mit einem Hotelier und/oder einen Mietvertrag mit einem Autovermieter. Sind in den Reise(veranstaltungs)- bzw Pauschalreisevertrag ARB/AGB einbezogen und verwenden auch die einzelnen Leistungsträger ihrerseits 64 65 66 67 68
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Vgl dazu Riedler, PR I4 AT Rz 13/5. Rummel in Rummel I3 (2002) § 864a ABGB Rz 3. Führich, Reiserecht5 Rz 100 f. Fritsch, Reiseverträge 1. Führich, Reiserecht5 Rz 131; Fritsche, Reiseverträge 1.
Einbeziehung von Reisebedingungen in einen Reisevermittlungsvertrag
ARB/AGB, so stellt sich die Frage, ob und gegebenenfalls wie diese ARB/ AGB Rechtswirkungen gegenüber dem Reisenden entfalten. Da der Reisende zu den Leistungsträgern nicht in Vertragsbeziehungen steht69, können die AGB der Leistungsträger nur «mittelbar» über den Reise(veranstaltungs)bzw Pauschalreisevertrag Rechtswirkungen gegenüber dem Reisenden entfalten70. Dafür bieten sich mE zwei Möglichkeiten an: entweder die Verankerung von Klauseln in den ARB/AGB des Reiseveranstalters, welche das Verhältnis des Reisenden zum jeweiligen Leistungsträger regeln (bsp bei einer Flugreise die Verankerung eines Höchstgewichtes oder eine Höchstanzahl von Gepäcksstücken) oder durch einen (pauschaler) Hinweis/Verweis der ARB/AGB auf jene des jeweiligen Leistungsträgers, etwa durch Abdruck der ARB/AGB des/ der Leistungsträger im Reiseprospekt des Reiseveranstalters. Beides ist in der Praxis mit erheblichen Problemen verbunden, wobei faktische Probleme einerseits von rechtlichen andererseits flankiert werden: faktisch weiß der Reiseveranstalter im Zeitpunkt des Vertragsschlusses oft noch nicht, welcher von mehreren verfügbaren Leistungsträgern welche Teilleistung erbringen wird. So steht im Zeitpunkt des Vertragsschlusses oft noch nicht fest, ob die Beförderung mit der Airline «A» oder «B» erfolgen wird. Bei einer sog Roulette-Pauschalreise steht im Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht fest, in welchem Hotel der Reisende letztlich untergebracht werden wird. Auch in diesem Fall weiß der Reiseveranstalter nicht, wie er seinen Vertrag mit dem Reisenden ausgestalten soll. Diese (faktischen) Probleme können sich potenzieren, wenn im Zeitpunkt des Vertragsschlusses noch nicht klar ist, welches Unternehmen die Beförderungs-, welches die Unterbringungs-, welches Zusatzleistungen erbringen wird. Welche Lösungsmöglichkeiten bieten sich für solche Fälle an; welche Bedingungen soll der Veranstalter zum Vertragsinhalt erheben? Der Reiseveranstalter könnte mE versuchen, seine ARB/AGB auf jene der potenziellen Leistungsträger abzustimmen oder mit den potentiellen Leistungsträgern gleiche oder ähnliche Konditionen für seine Reisenden auszuhandeln: so bspw dieselbe Anzahl an Gepäcksstücken oder dasselbe Höchstgewicht für Gepäcksstücke vorschreiben oder, dass die zu Auswahl stehenden All-Inklusive-Hotels dasselbe All-Inklusive-Angebot haben («Cocktails sind nicht integriert» odgl). Dies wird für den Reiseveranstalter ein sehr aufwendiger und risikoträchtiger Spagat zwischen den verschiedenen Interessen sein. Aufwendig wegen der Abstimmung des Leistungsumfanges und -inhaltes der jeweiligen Leistungsträger und risikoträchtig, weil der Reisveranstalter bei einer Abweichung der dem Reisenden vertraglich zugesicherten Leistungen gewährund schadenersatzrechtlich verantwortlich werden kann. 69 Führich, Reiserecht5 Rz 131; Fritsche, Reiseverträge 1. 70 Auch Führich, Reiserecht5 Rz 131 spricht sich dafür aus, dass «einschlägige AGB-Klauseln von Leistungsträgern» von «vornherein» in den Reiseveranstaltungsvertrag einbezogen werden «sollten»
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
Die zweite Möglichkeit stellt mE ein Verweis auf die ARB/AGB der Leistungsträger dar. Auch diese Möglichkeit ist mit erheblichen – viell sogar größeren – Risiken für den Reiseveranstalter verbunden. Ein Pauschalverweis auf AGB von Leistungsträgern wird idR dem Transparenzgebot des § 6 Abs 3 KSchG widersprechen, da bei einem solchen «Bedingungssalat» – so Führich71 – für den Reisenden nicht klar ersichtlich ist, für welche Teilleistung der Reise welche ARB/AGB gelten sollen. Ob ein Verstoß gegen das Transparenzgebot auch dann gegeben ist, wenn der Reiseveranstalter konkret auf die ARB/AGB der potentiellen Leistungsträger verweist («es gelten entweder die AGB der Airline A oder der Airline B), ist bislang noch nicht ausjudiziert, mE sollte ein konkreter Verweis jedoch im Einklang mit dem Transparenzgebot stehen.
5.3 Geltungskontrolle Die Geltungskontrolle ist in § 864a ABGB geregelt, dabei wird nicht mehr – wie bei der Einbeziehungskontrolle – das gesamte Bedingungswerk, sondern jede konkrete Einzelklausel bzw jeder Teil jeder konkreten Einzelklausel der AGB betrachtet72. Gemäß § 864a ABGB werden Bestimmungen ungewöhnlichen Inhalts in AGB und Vertragsformblättern nicht Vertragsbestandteil, wenn sie dem anderen Teil nachteilig sind und er mit ihnen nach den Umständen, vor allem dem äußeren Erscheinungsbild der Urkunde nicht zu rechnen brauchte; es sei denn, der eine Vertragsteil hat den anderen darauf hingewiesen73. ME enthalten die ARB 1992 keine ungewöhnlichen und überraschenden Klauseln; auch die Jud hat bislang keine Klausel der ARB 1992 als ungewöhnlich oder überraschend qualifiziert: im Gegenteil: in einer E74 aus 1994 hielt der 6. Senat des OGH ausdrücklich fest, dass Haftungsfreizeichnungserklärungen in ARB nicht ungewöhnlich sind; gleiches gilt für Stornoklauseln, welche als brachenüblich anzusehen sind (zu den Stornoklauseln der ARB 1992 vgl näher unten)75.
5.4 Inhaltskontrolle Im Rahmen der Inhaltskontrolle wird der Frage näher nachgegangen, ob Klauseln von AGB krasse Abweichungen vom objektiven Recht zu Lasten des Un71 72 73 74 75
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Führich, Reiserecht5 Rz 131. Riedler, PR I4 AT Rz 13/8. Zur Geltungskontrolle ausf vgl Riedler, PR I4 AT Rz 13/10 ff. OGH 11.01.1996, 6 Ob 503/96 =ZVR 1997/34 (Kathrein). Mayrhofer in Klang3 § 7 KSchG Rz 6.
Rechtliche Analyse ausgewählter Klauseln der ARB 1992
terworfenen enthalten. Maßstab dieser Inhaltskontrolle ist die Generalnorm des § 879 Abs 3 ABGB sowie – bei Konsumentengeschäften – die Verbraucherschutznormen des I. Hauptstückes des KSchG, insb § 6 KSchG76. Gemäß § 879 Abs 3 ABGB ist eine Nebenbestimmung in AGB (relativ) nichtig, wenn sie unter Beachtung aller Umstände einen Teil (den Unterworfenen) gröblich benachteiligt. Wann eine gröbliche Benachteiligung iSd § 879 Abs 3 ABGB vorliegt wird – ähnlich wie bei § 864a ABGB – durch einen Vergleich der Rechtspositionen der Vertragspartner mit Klausel einerseits und jener ohne Klausel (allein aufgrund dispositiven objektiven Rechtes) andererseits ermittelt77. Im Gegensatz zu § 864a ABGB reicht jedoch nicht bloße «Benachteiligung», vielmehr muss sie «gröblich» sein, um den Tatbestand des § 879 Abs 3 ABGB zu erfüllen. Nach den verba legalia hat die Beurteilung «unter Berücksichtigung aller Umstände des Falles» zu erfolgen, wobei zu beachten ist, dass eine benachteiligende Regelung durch eine andere umso vorteilhaftere Klausel ausgeglichen werden kann. Entscheidend ist also eine Gesamtwertung. Je krasser die AGB von der Wertung des dispositiven Rechtes abweichen bzw – wenn es solches nicht gibt – sich die Rechtspositionen von AGB-Aufsteller und AGB-Unterworfenem voneinander unterscheiden und je «verdünnter» die Willensfreiheit des Unterworfenen ist, desto eher kann auf gröbliche Benachteiligung des Unterworfenen geschlossen werden78. Verstößt eine Klausel gegen § 879 Abs 3 ABGB, so ist sie nach der L79 relativ nichtig, also – sofern sich der Partner des Aufstellenden auf die Ungültigkeit der Klausel beruft – nicht Vertragsbestandteil, sodass es auch keiner Vertragsanfechtung bedarf80. Die Gültigkeit des Restvertrags wird idR vom Wegfall der Klausel nicht berührt81.
5.5 Rechtliche Analyse ausgewählter Klauseln der ARB 1992 5.5.1 Vorbemerkungen Was nun die Gültigkeit der einzelnen Klauseln innerhalb der Inhaltskontrolle betrifft, ist zweierlei vorauszuschicken:
76 77 78 79 80 81
Riedler, PR I4 AT Rz 13/19 f; P. Bydlinski in Apathy I4 Rz 6/28. Riedler, PR I4 AT Rz 13/24; P. Bydlinski in Apathy I4 Rz 6/29. Riedler, PR I4 AT Rz 13/24. Krejci in Rummel I3 (2002) § 879 ABGB Rz 254. Riedler, PR I4 AT Rz 13/27. vgl Apathy/Riedler in Schwimann ABGB IV3 (2006) § 879 Rz 38 mwN.
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
1. Die ARB 1992 geben weitgehend die allgemein gültigen zivilrechtlichen Grundsätze wieder82, von denen im Rahmen der Privatautonomie nur in beschränktem Maße abgewichen wurde. Die ARB 1992 stehen mE daher in weiten Teilen mit dem geltenden Zivilrecht im Einklang. Im Übrigen enthalten sie vielfach oft bloße Empfehlungen83 (ähnlich wie die dt DRV-Konditionenempfehlungen).84 Manche Bestimmungen haben mE bloß klarstellenden Charakter und sind nicht als normative Anordnungen zu verstehen85. 2. Rsp zu den ARB 1992 ist nur in sehr beschränktem Maße vorhanden; das Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramtes wirft dazu gerade mal zwei Treffer aus, und beide betreffen die Preisänderungsklausel des Punktes B. 8.1.86. Weitere E des OGH betreffen die alte Haftungsklausel, in der ein Haftungsausschluss für Köperschäden bei leichter Fahrlässigkeit vorgesehen war87. Diese E sind für die gegenständliche Untersuchung wegen der Anpassung der ARB an die §§ 6 Abs 1 Z 9 und 31 f Abs 1 KSchG nicht mehr von Interesse. Entscheidungen von Instanzgerichten betreffen ebenfalls zT noch die alte Fassung der ARB 1992 sowie Vereinbarungen von ergänzenden oder speziellen Reisebedingungen von Reiseunternehmen. 5.5.2 Änderung des Reisepreises («Preisänderungsklausel») Unter Punkt B.8.1. Preisänderungen sehen die ARB 1992 Folgendes vor: «Der Veranstalter behält sich vor, den mit der Buchung bestätigten Reisepreis aus Gründen, die nicht von seinem Willen abhängig sind, zu erhöhen, sofern der Reisetermin mehr als zwei Monate nach Vertragsabschluss liegt. Derartige Gründe sind ausschließlich die Änderung der Beförderungskosten – etwa der Treibstoffkosten – der Abgaben für bestimmte Leistungen, wie Landegebühren, Ein- oder Ausschiffungsgebühren in Häfen und entsprechende Gebühren auf Flughäfen oder die für die betreffende Reiseveranstaltung anzuwendenen Wechselkurse. Bei einer Preissenkung aus diesen Gründen ist diese an den Reisenden weiterzugeben. Innerhalb der Zweimo82 Enthofer, Reiserecht mit Mängeln oder die lieblose Umsetzung von EG-Recht 12 Fn 26. 83 So wird etwa unter Punkt 7.1. ausgeführt, dass es sich «empfiehlt», den Rücktritt vom Reisevertrag wegen der Ausübung eines Stornorechts «mittels eingeschriebenen Briefes» zu erklären. Eine Verpflichtung zur Übermittlung eines eingeschriebenen Briefes würde im Anwendungsbereich des I. Hauptstückes des KSchG gegen § 6 Abs 1 Z 4 leg cit verstoßen. 84 Vgl Punkte I.2. und I.3. der DRV-Konditionenempfehlung idgF. 85 So sieht etwa Punkt 7.1.a. vor, dass eine Erhöhung des vereinbarten Reisepreises um mehr als 10% «in jedem Fall» eine wesentliche Änderung des Vertrages ist. 86 OGH 11.07.2005, 7 Ob 117/05i =SZ 2005/97 =ecolex 2005/434 =ZVR 2006/5. 87 OGH 24.03.1998, 1 Ob 400/97y =SZ 71/58 =ZVR 1999/37 =RdW 1998, 455; 11.01.1996, 6 Ob 503/96 =ZVR 1997/34 (Kathrein).
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natsfrist können Preiserhöhungen nur dann vorgenommen werden, wenn die Gründe hierfür bei der Buchung im Einzelnen ausgehandelt und am Buchungsschein vermerkt wurden. (. . .) Eine Preisänderung ist nur dann zulässig, wenn bei Vorliegen der vereinbarten Voraussetzungen auch eine genaue Angabe zur Berechnung des neuen Preises vorgesehen ist. Dem Kunden sind Preisänderungen und deren Umstände unverzüglich zu erklären.» Diese Klausel entspricht nahezu wortgleich der Bestimmung des § 31c KSchG; man sollte daher meinen, die Klausel sei rechtens. Der OGH88 hat jedoch ausgesprochen, dass § 31c KSchG über das Erfordernis des § 6 Abs 1 Z 5 KSchG hinaus gehe, wonach die für die Erhöhung maßgebenden Umstände im Vertrag umschrieben sowie sachlich gerechtfertigt sein müssen und nicht vom Willen des Unternehmers abhängig sein dürfen. Gemäß § 31c Abs 1 KSchG muss für den Vertragspartner des Reiseveranstalters die Berechnung des neuen Preises nachvollziehbar sein, wenn der Reiseveranstalter auf die Möglichkeit einer nachträglichen Erhöhung des bereits vereinbarten Entgelts besteht. Es müsse daher exakt angegeben sein, in welcher Weise sich die in § 31c Abs 1 KSchG taxativ aufgezählten Änderungen auf den Reisepreis auswirken können. Daher sei – so der OGH – die Angabe eines Berechnungsmodus «schon» im Reisevertrag notwendig, damit der Verbraucher auch sein Recht, eine Senkung des Entgelts zu fordern, entsprechend ausüben könne. Damit folgt der OGH der hL zu § 6 Abs 1 Z 5 KSchG, derzufolge dem Verbraucher die Vereinbarung schon bei Vertragsschluss eine möglichst zutreffende Vorstellung vom künftigen Preis vermitteln und ihn in die Lage versetzen können muss, den geänderten Preis zu überprüfen. Da die ARB eine solche Berechnungsformel nicht enthalten, und offenbar die Möglichkeit einer Plausibilitätskontrolle, wie sie von Fenyves/Rubin89 als ausreichend empfunden wurde, nach dem OGH nicht ausreicht, ist Punkt 8.1. der ARB 1992 als teilweise unwirksam (relativ nichtig) zu qualifizieren90. Die reine Wiedergabe des Gesetzestextes ließe darüber hinaus im Unklaren, welche Art von Kostensteigerungen (nämlich uU auch bereits vor Vertragsabschluss eingetretene oder abzusehende) dem Verlangen nach einer Reisepreiserhöhung zugrunde liege. Insofern verstößt Punkt B.8.1. der ARB nicht nur gegen § 31c KSchG und § 6 Abs 1 Z 5 KSchG, sondern ist darüber hinaus wegen seiner Mehrdeutigkeit auch wegen Verstoßes gegen das Transparenzgebot des § 6 Abs 3 KSchG nichtig.
88 OGH 7 Ob 117/05i. Bestätigt wurde die Ansicht des 7. Senates des OGH wenige Monate später durch OGH 04.10.2005, 4 Ob 154/05h. 89 Fenyves/Rubin, Vereinbarung von Preisänderungen bei Dauerschuldverhältnissen und KSchG, ÖBA 2004, 347 (353 ff). 90 Ähnlich auch der BGH in zwei Entscheidungen zum Kerosinzuschlag vom 19.11.2002, X ZR 243/01 und X ZR 253/01.
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
Welche Angaben müssen Preisänderungsklauseln nun aber enthalten, um gesetzeskonform zu sein? Mit dieser Frage haben sich sowohl in Deutschland als auch in Österreich bereits renommierte «Reiserechtler» beschäftigt91. Unstrittig ist, dass der Reisende überprüfen können muss, ob die Preiserhöhung im geforderten Ausmaß berechtigt ist. Damit ist eine pauschale Erhöhung durch den Ausschlag eines bestimmten Prozentsatzes oder eines bestimmten Fixbetrages jedenfalls unzulässig92. So muss der Veranstalter einen schwierigen Spagat zwischen einer «transparenten» Klausel und der Wahrung seiner Preiskalkulation schaffen. Aber wie soll das funktionieren? Nach Schmid93 sei es bereist ausreichend, wenn der Veranstalter darlegt, dass die Mehrkosten die Ursache externer Kostensteigerungen sind und nicht etwa versucht wird, nachträglich den Gewinn zu erhöhen. Nach Noll94 müsse klargestellt sein, dass sich der Reisepreis nur in dem Verhältnis erhöhen kann, wie sich die jeweilige Kostenposition erhöht, an die die Preiserhöhung anknüpft. Wie der Reiseveranstalter die Berechnung des neuen Preises offen legen soll, ohne seine Kalkulation preiszugeben, lässt Noll aber offen. Bläumauer95 erörtert das Problem der Kostenerhöhung (ebenfalls) iZm Treibstoffpreisen. Ihres Erachtens sei eine Preiserhöhung ohne Offenlegung der Kalkulation möglich, wenn die Treibstoffkosten an den durchschnittlichen Treibstoffverbrauch der jeweiligen Flugstrecke gebunden werden. Wenn Bläumauers96 Ausführungen so zu verstehen sind, dass dem Vertrag ein bestimmter durchschnittlicher Treibstoffverbrauch und Treibstoffpreis im Vertragsschlusszeitpunkt zugrunde gelegt wird, so können auch mE Kostensteigerungen durchaus transparent dargelegt werden. Ein ähnliches System ließe sich wohl auch auf andere Kostenfaktoren übertragen, bspw Wechselkursschwankungen. Zu beachten ist schließlich, dass der Berechnungsmodus des geänderten Reisepreises in der AGBKlausel für den Kunden nachvollziehbar dargestellt sein muss. Da das Gesetz von Vereinbarung spricht, nützt es daher nichts, wenn der Veranstalter seinen Kunden in einem Mitteilungsschreiben vorrechnet, wie sich die Erhöhung (externer) Kostenfaktoren auf den Reisepreis auswirkt97.
91 Bläumauer, Der Kerosinzuschlag – Schranken und Hürden von Preisänderungen beim Reisevertrag, RdW 2001, 394; Schmid, Kerosinzuschläge 2000 auf Reiseverträge, NJW 2000, 1301; Führich, Preisänderungen beim Reisevertrag, RRa, 2000, 3672; Noll, Die Auswirkungen des neuen Reiserechts auf die Allgemeinen Reisebedingungen der Reiseveranstalter und Reisevermittler, RRa 1993, 42. 92 Bläumauer, RdW 2001, 395. 93 NJW 2000, 1301. 94 RRa 1993, 44. 95 RdW 2001, 395. 96 RdW 2001, 395. 97 Bläumauer, RdW 2001, 395; dies, Kampf gegen den Kerosinzuschlag, RdW 2006, 11.
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Rechtliche Analyse ausgewählter Klauseln der ARB 1992
5.5.3 Rücktritt mit Stornogebühren Unter Punkt B. 7.1.c (Rücktritt mit Stornogebühren) sehen die ARB 1992 Folgendes vor: «(. . .) Je nach Reiseart ergeben sich pro Person folgende Stornosätze: 1. Sonderflüge (Charter), Gruppen-IT (Gruppenpauschalreisen im Linienverkehr), Autobusgesellschaftsreisen (Mehrtagesfahrten) bis 30. Tag vor Reiseantritt 10% ab 29. bis 20. Tag vor Reiseantritt 25% ab 19. bis 10. Tag vor Reiseantritt 50% ab 9. bis 4. Tag vor Reiseantritt 65% ab dem 3. Tag (72 Stunden) vor Reiseantritt 85% des Reisepreises. 2. Einzel-IT (individuelle Pauschalreisen im Linienverkehr), Bahngesellschaftsreisen (ausgenommen Sonderzüge) bis 30. Tag vor Reiseantritt 10% ab 29. bis 20. Tag vor Reiseantritt 15% ab 19. bis 10. Tag vor Reiseantritt 20% ab 9. bis 4. Tag vor Reiseantritt 30% ab dem 3. Tag (72 Stunden) vor Reiseantritt 45% des Reisepreises.» Unter Punkt B. 7.1.d (No-show) sehen die ARB 1992 Folgendes vor: «No-show liegt vor, wenn der Kunde der Abreise fernbleibt, weil es ihm am Reisewillen mangelt oder wenn er die Abreise wegen einer ihm unterlaufenen Fahrlässigkeit oder wegen eines ihm widerfahrenen Zufalls versäumt. Ist weiters klargestellt, dass der Kunde die verbleibende Reisleistung nicht mehr in Anspruch nehmen kann oder will, hat er bei Reisearten laut lit. c 1. (Sonderflüge, usw.) 85 Prozent, bei den Reisearten laut lit. c 2. (Einzel-IT, usw.) 45 Prozent des Reisepreises zu bezahlen.» Wie eine Stornovereinbarung rechtlich zu qualifizieren ist, bereitet in der österr Praxis oft Schwierigkeiten. Storno kann nach österr Recht Reugeld iSd § 909 ABGB oder Konventionalstrafe iSd § 1336 ABGB sein. Als Reugeldvereinbarung ist eine Stornovereinbarung anzusehen, wenn sie ein freies, willkürliches Abgehen vom Vertrag ermöglicht. Zielt die «Stornogebühr» dagegen bloß auf die Festsetzung eines (Mindest-)Schadensbetrages, liegt eine Konventionalstrafabrede vor98. Ob eine Stornovereinbarung als Konventionalstrafoder als Reugeldvereinbarung anzusehen ist, ist nach den allgemeinen Regeln 98 Schwimann in Schwimann IV3 (2006) § 909 ABGB Rz 11; Reischauer in Rummel I3 (2002) § 909 ABGB Rz 7.
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
der Vertragsinterpretation zu beurteilen99. Dem Wortsinn («Stornieren» = Rückgängigmachen des Vertrages) entsprechend wird jedoch mit der «Storno» regelmäßig ein Reurecht iSd § 909 verknüpft sein100. Auch eine Stornogebühr für den Rücktritt von einer gebuchten Reise ist mE Reugeld, schließlich «erkauft» sich der Vertragspartner des Reiseveranstalters damit das Recht, willkürlich, also ohne Angabe eines Grundes von einem Reisevertrag zurückzutreten101. Die Stornoklauseln des ARB 1992 wurden von den österr Gerichten bislang noch nicht beanstandet. Sehr wohl gibt es jedoch Rsp zur Stornoklausel der Konditionenemfehlungen des DRV. Da sich hinsichtlich des Stornorechts die dt Rechtslage jedoch erheblich von der österr unterscheidet, können die Bedenken der dt Judikatur gegen die Stornoklauseln der Konditionenemfehlungen des DRV idgF nicht ohne weiteres auf die österr ARB 1992 umgelegt werden. Während sich im dt Recht mit § 651i BGB eine explizite Regelung zur Stornierung von Pauschalreisen findet102, fehlt es in Österreich an einer entsprechenden gesetzlichen Vorschrift. Nach § 651i BGB handelt es sich bei der Stornogebühr um einen speziell reiserechtlichen Entschädigungsanspruch, der nach herrschender dt Ansicht überwiegend schadenersatzrechtliche Elemente enthält103, aber weder in Terminologie und Systematik dem BGB entspricht und daher als Schadenersatzanspruch sui generis angesehen wird104. Die Norm beruht auf dem Gedanken, dass niemand gegen seinen Willen eine Pauschalreise, die idR überwiegend eine Erholungsreise sein soll, antreten müssen soll, da andernfalls der Sinn und Zweck der Reise konterkariert werden würde. Zudem können zwischen Buchung und Reiseantritt Umstände eintreten, die dem Reisenden vor Vertragsabschluss nicht bekannt waren und ihm die Teilnahme an der Reise unmöglich machen. Der Reisende braucht nach dem Rücktritt zwar nicht den Reisepreis zu zahlen, muss aber möglicherweise eine Stornoentschädigung bis zu Höhe des Reisepreises entrichten (§ 651i BGB). Die Höhe bestimmt sich nach dem Reisepreis unter Abzug des Werts der vom Reiseveranstalter ersparten Aufwendungen sowie dessen, was er durch anderweitige Verwendung der Reiseleistungen erwerben kann (§ 651i Abs 2 Z 3 BGB). In der Praxis bestehen in Deutschland jedoch – wie auch in Österreich – meist vertragliche Regelungen. Diese müssen für den deutschen Rechtsraum § 651i Abs 3 BGB entsprechen. Reiseveranstalter sind somit verpflichtet, ihre 99 100 101 102 103 104
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Reischauer in Rummel I3 § 909 ABGB Rz 7. Schwimann in Schwimann IV3 § 909 ABGB Rz 11. So auch Riedler, ecolex 1994, 149. Führich, Reiserecht5 Rz 505. Führich, Reiserecht5 Rz 518. Führich, Reiserecht5 Rz 517 Fn 42.
Rechtliche Analyse ausgewählter Klauseln der ARB 1992
Stornoklauseln für jede Reise- und Beförderungsart und nach der Zeit des Rücktritts zu differenzieren. Als Kriterien müssen mindestens herangezogen werden: die unterschiedlichen Reise- und Beförderungsarten, die Zeitdauer zwischen Rücktritt und Reisebeginn und die gewöhnlich ersparten Aufwendungen und der gewöhnliche Erwerb. Damit soll ein gewisses Maß an Einzelfallgerechtigkeit erreicht werden. Festbeträge sind nach dt Recht jedenfalls unwirksam, da § 651i Abs 3 BGB nur Prozentsätze zulässt. Nach der dt Rsp darf dem Reisenden die Möglichkeit des Gegenbeweises, dem Reiseveranstalter sei ein wesentlich geringerer oder gar kein Schaden entstanden, nicht abgeschnitten werden. Die Stornoklausel muss dem Reisenden schon nach ihrem Wortlaut und erkennbaren Sinn die Möglichkeit offen lassen, im Wege des Gegenbeweises einen möglichen geringeren Schaden nachzuweisen (§ 11 Nr 5b AGBG aF). Wenn sich schon aus der Formulierung ergibt, dass der Gegenbeweis ausgeschlossen sein soll oder die Regelung abschließend und verbindlich sein soll, ist die Klausel unwirksam. Das ist der Fall bei Formulierungen wie «ist zu zahlen», «betragen», «mindestens», «auf jeden Fall», «es gelten die folgenden Stornobedingungen», «fordern müssen» und ähnlichen Wendungen. Die Klausel darf nicht den Eindruck erwecken, diese Nachweismöglichkeit bestehe nicht. Die DRV-Konditionenempfehlung enthält in Nr 5.4 seit 2003 den Hinweis: «Dem Reisenden bleibt es unbenommen, dem Reiseveranstalter nachzuweisen, dass ihm kein oder ein wesentlich geringerer Schaden entstanden ist, als die von ihm geforderte Pauschale». Die DRV-Konditionenempfehlung idgF steht insofern in Einklang mit der dt Rechtslage und Rsp. Die ARB 1992 sehen eine solche Möglichkeit nicht vor und enthalten folglich auch keinen entsprechenden Hinweis. Dies heißt per se aber nicht, dass nach österr Rechtslage nicht auch die Möglichkeit besteht, eine Stornogebühr mit dem Argument zu mindern, dass dem Reiseveranstalter tatsächlich kein oder ein geringerer als von der Stornogebühr «gedeckter» Schaden entstanden ist. Wie oben bereits ausgeführt, ist der Reise(veranstaltungs)vertrag nach hM ein gemischter Vertrag, bei dem die Elemente des Werkvertrages überwiegen105. Auf Reiseveranstaltungsverträge sind daher subsidiär zu den besonderen reiserechtlichen Vorschriften (§§ 31b ff KSchG) die allgemeinen Werkvertragsregeln (§§ 1151 ff ABGB) anzuwenden. § 1168 ABGB regelt den Fall, dass die Ausführung eines Werkes aus Umständen unterbleibt, welche in die Sphäre des Werkbestellers fallen. Das bedeutet, dass § 1168 S 2 ABGB auch anwendbar ist, wenn die Teilnahme an einer Reise aus Umständen unterbleibt, welche in die 105 Fischer-Czermak, Leistungsstörungen beim Reiseveranstaltungsvertrag, JBl 1997, 274; M. Bydlinski in Schuhmacher, Verbraucherschutz 213; Krejci in Rummel I3 §§ 1165 f ABGB Rz 55; Weiss, Pauschalreisevertrag (1987) 24 f; Zechner, Reisevertragsrecht (1989) Rz 268; Wukoschitz, Bombenterror auf Tourismusziele – «Allgemeines Lebensrisiko» des Reisenden oder Wegfall der Geschäftsgrundlage?, RdW 1996, 400.
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
Sphäre des Reisenden fallen; der Reisende etwa an der gebuchten Reise nicht teilnimmt, weil er die Lust dazu verloren hat, erkrankt ist, den Abreisetermin versäumt106 oder sonstige Umstände vorliegen, die gegen eine Teilnahme an der Reise sprechen107. War der Reiseveranstalter zur Erbringung seiner Leistung (en) bereit und unterbleibt die Teilnahme an der Reise aus Umständen, die in die Sphäre des Reisenden fallen, so gebührt ihm nach § 1168 S 1 ABGB grundsätzlich auch der Reisepreis. Nach § 1168 S 2 ABGB muss sich der Reiseveranstalter jedoch anrechnen lassen, was er sich durch das Unterbleiben der Reiseleistungen erspart, durch anderweitige Verwendung erworben oder zu erwerben absichtlich versäumt hat. In diesem Sinne muss sich der Reiseveranstalter etwa den Flugpreis anrechnen lassen, wenn der Reisende nachweisen kann, dass alle Plätze auf dem von ihm gebuchten Flug vergeben werden konnten. Die Beweislast für allfällige Ersparungen oder anderweitige Verwendung trägt der Reisende. In der Praxis wird der Beweis der ersparten Aufwendungen oder der anderweitigen Verwendung nicht leicht zu führen sein. So soll etwa nach Tonner108 die Auskunft des gebuchten Hotels, es sei ausgebucht nicht genügen. Nach der üblichen Praxis kann der Reiseveranstalter reservierte Kontingente einige Zeit vor den fraglichen Terminen an den Hotelier zurückgeben und diesem die Gelegenheit geben, sie anderweitig zu vermarkten. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass er in diesem Fall trotzdem Zahlungen an das Hotel leisten muss. Umgekehrt kann bei einem nicht ausgebuchten Hotel nicht automatisch davon ausgegangen werden, dass der Reiseveranstalter Kosten wegen der nicht genutzten Unterbringungsmöglichkeit gehabt hat, denn vielfach sehen die Verträge zwischen Hotelier und Reiseveranstalter vor, dass nicht benötigte Kontingente kostenfrei zurückgegeben werden können. Bei einem ausgebuchten Hotel wird aber der Beweis des ersten Anscheins dafür sprechen, dass dem Reiseveranstalter außer allfälligen Umbuchungskosten keine weiteren Kosten entstanden sind109. Auch der Umstand, dass ein Flugzeug bis auf den letzten Platz besetzt war, bedeutet nicht notwendigerweise, dass der Reiseveranstalter keine Kosten hatte. Im Flugverkehr ist die Überbuchung von Flügen gängige Praxis; eigens ausgeklügelte Systeme (sog «Yield-Management-Systeme») ermitteln die Wahrscheinlichkeit von No-shows und erhöhen die Anzahl der möglichen Buchungen entsprechend, um eine optimale Auslastung zu erreichen. Der Umstand, dass die ARB 1992 dem Reisenden die Möglichkeit der Minderung der Stornogebühr nicht eröffnen, bedeutet nicht, dass sich Reisende automatisch auf § 1168 ABGB berufen kann. § 1168 ABGB ist dispositiv,
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Krejci in Rummel I3 § 1168 ABGB Rz 11. Vgl dazu dazu Krejci in Rummel I3 § 1168 ABGB Rz 11. Tonner, Reisevertrag5 § 651i Rz 18. Tonner, Reisevertrag5 § 651i Rz 18.
Rechtliche Analyse ausgewählter Klauseln der ARB 1992
kann also durch Parteienvereinbarung abbedungen werden110. Die detaillierte Auflistung von Stornosätzen in den ARB 1992 könnte mE durchaus als abschließende Regelung der Rechtsfolgen einer Stornierung und damit als vertragliche Abbedingung des § 1168 ABGB verstanden werden. Da sich die Stornoklausel jedoch in den ARB 1992, welche wie eingangs ausgeführt, als Allgemeine Geschäftsbedingungen iSd §§ 864a und § 879 Abs 3 ABGB anzusehen sind, befindet, entfaltet die Stornoregelung nur dann Wirksamkeit, wenn sie nicht gegen eine der genannten Normen verstößt. Dass Stornoklauseln in Allgemeinen Reisebedingungen geradezu typisch und damit nicht ungewöhnlich iSd § 864a ABGB sind, wurde oben bereits ausgeführt. Fraglich ist jedoch, ob eine Klausel, welche § 1168 ABGB inklusive der darin enthaltenen Möglichkeit zur Minderung des Reisepreises abbedingt, gröblich benachteiligend iSd § 879 Abs 3 ABGB und damit relativ nichtig ist. § 879 Abs 3 ABGB kommt nur auf Nebenbestimmungen in AGB zur Anwendung. Stornoregelungen betreffen «nicht die beiderseitigen Hauptleistungen» (§ 879 Abs 3 ABGB), sind daher nicht notwendiger Bestandteil von Reise(veranstaltungs)verträgen und stellen damit «Nebenbestimmungen» dar111. Relativ nichtig iSd leg cit ist eine Stornoklausel aber nur dann, wenn sie eine gröbliche Benachteiligung zulasten des Vertragspartners des AGB/ARB-Verwenders darstellt112. Ob eine Klausel gröblich benachteiligend iSd § 879 Abs 3 ABGB ist, ist – ähnlich wie bei § 864a ABGB – durch einen Vergleich der Rechtspositionen der Vertragspartner mit Klausel einerseits und jener ohne Klausel (allein aufgrund dispositiven objektiven Rechtes) andererseits zu ermitteln113. Im Gegensatz zu § 864a ABGB reicht jedoch nicht jede «Benachteiligung» für einen Verstoß gegen § 879 Abs 3 ABGB, sondern nur eine «gröbliche»114. Was unter einer «gröblichen Benachteiligung» konkret zu verstehen ist, ist nach den Umständen des Einzelfalles zu entscheiden115, wobei zu beachten ist, dass eine benachteiligende Regelung durch eine andere umso vorteilhaftere Klausel «ausgeglichen» werden kann116. Entscheidend ist also eine Gesamtwertung. Je krasser die AGB von der Wertung des objektiven dispositiven Rechtes abweichen bzw – wenn es solches nicht gibt – sich die Rechtspositionen von AGB110 Krejci in Rummel I3 § 1168 ABGB Rz 3; ders in Rummel I3 §§ 1165, 1166 ABGB Rz 1. 111 Bollenberger in Koziol/Bydlinski/Bollenberger (Hg), ABGB2 (2007) § 879 Rz 22; Riedler, PR I4 AT Rz 13/23. 112 Bollenberger in KBB2 § 879 ABGB Rz 22; Koziol/Welser I13 134 f; Riedler, PR I4 AT Rz 13/24. 113 Bollenberger in KBB2 § 879 ABGB Rz 23; Koziol/Welser I13 135; Riedler, PR I4 AT Rz 13/24; P. Bydlinski in Apathy I4 Rz 6/31. 114 Bollenberger in KBB2 § 879 ABGB Rz 22; Riedler, PR I4 AT Rz 13/24; P. Bydlinski in Apathy I4 Rz 6/31. 115 Vgl etwa die bsphafte Aufzählung bei Koziol/Welser I13 135 f; vgl Riedler, PR I4 AT Rz 13/25. 116 Riedler, PR I4 AT Rz 13/25.
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Ausgewählte Rechtsfragen im Zusammenhang mit den Allgemeinen Reisebedingungen
Aufsteller und AGB-Unterworfenem voneinander unterscheiden, desto eher kann auf gröbliche Benachteiligung des Unterworfenen geschlossen werden117. Da dem Reisenden durch die Stornoklauseln der ARB 1992 ein Recht zum grundlosen «Fernbleiben» von einer gebuchten Reise eingeräumt wird, wird er im Vergleich zu § 1168 ABGB zwar insofern begünstigt, als er nicht vor vornherein den gesamten Reisepreis, sondern nur einen prozentuellen Anteil davon zahlen muss. ME stellen die Stornoklauseln der ARB 1992 aber dennoch eine gröbliche Benachteiligung dar, da weder von vornherein die Möglichkeit einer Reduktion noch eines völligen Entfallens der Stornogebühr für den Fall vorgesehen ist, dass der Reiseveranstalter tatsächlich niedrigere oder gar keine Aufwendungen hatte. Der Reisende wird vielmehr auch das richterliche Mäßigungsrecht verwiesen. Fällt ein Reise(veranstaltungs)vertrag in den Anwendungsbereich des I. Hauptstückes des KSchG, ist im Falle der Stornierung der Reise § 27a KSchG zu beachten. Nach dieser Bestimmung muss ein Unternehmer, welcher trotz Unterbleibens der Ausführung eines Werkes das vereinbarte Entgelt gem § 1168 Abs 1 ABGB verlangt, «dem Verbraucher die Gründe dafür mitteilen», weshalb er sich «infolge Unterbleibens der Arbeit weder etwas erspart noch durch anderweitige Verwendung erworben oder zu erwerben absichtlich versäumt hat». In Relation zu § 1168 S 2 ABGB ist § 27a KschG für den Verbraucher erheblich günstiger, gleichwohl aus § 27a KSchG nicht schlechthin eine Verschiebung der Beweislast resultiert118. § 27a KSchG normiert bloß die Nebenpflicht des Unternehmers, dem Verbraucher klar und verständlich119 die Gründe mitzuteilen, warum eine Anrechnung nicht zu erfolgen hat120. Dass § 27a KSchG auf pauschalierte Entgeltsansprüche in Form von Stornogebühren (Reugeldvereinbarungen) anwendbar ist, hat der OGH bereits 2004 in einer E121 zur Abbestellung einer Lokaleinrichtung ausgesprochen. Auf die Möglichkeit zur richterlichen Mäßigung der Stornosätze gem § 7 KSchG braucht nicht näher eingegangen zu werden, weil bereits die ARB 1992 selbst die Möglichkeit der richterlichen Mäßigung vorsehen (B.7.1. c Abs 2)122.
117 118 119 120 121 122
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Riedler, PR I4 AT Rz 13/25. Eccher in Klang3 § 27a KSchG Rz 2. Kathrein in KBB2 § 27a KSchG Rz 2. ErlRV 311 BlgNR XX. GP 29. OGH 28.01.2004, 1 Ob 268/03y =SZ 2004/20 =JBl 2004, 643. Vgl dazu auch Mayrhofer in Klang3 § 7 KSchG Rz 6. Zur Anwendung des § 7 KSchG auf Stornogebühren der Reise(veranstaltungs)verträgen vgl Zechner, Reisevertragsrecht Rz 108, 284 sowie Weiß, Pauschalreisevertrag 76.
Zusammenfassung
5.5.4 Exkurs: Stornoklauseln und Kartellrecht Nur in Parenthese sei auf die Kartellrechtlichen Probleme, die sich im Zusammenhang mit den Stornoklauseln in der ARB 1992 ergeben, hingewiesen. Seit der letzten Kartellrechtsnovelle (2005) bestimmt § 1 Abs 4 KartG, dass einem Kartell im Sinn des § 1 Abs 1 KartG auch Empfehlungen zur Einhaltung bestimmter Preise, Preisgrenzen, Kalkulationsrichtlinien, Handelsspannen oder Rabatte, durch die eine Beschränkung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt wird, gleichstehen. Ausgenommen sind Empfehlungen, in denen ausdrücklich auf ihre Unverbindlichkeit hingewiesen wird und zu deren Durchsetzung wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Druck weder ausgeübt werden soll noch ausgeübt wird. Die Stornoklauseln ARB 1992 werden wohl unter § 1 Abs 4 S 2 KartG (Empfehlungskartelle) zu subsumieren und aus Sicht des nationalen Kartellrechts daher zulässig sein. Ob die leg cit auch dem Gemeinschaftsrecht (Art 81 EGV) entspricht, ist aber durchaus fraglich123. Die Frage, ob die Prozentsätze aus ARB 1992 deshalb – ähnlich den dt DRV – nicht gestrichen werden sollten, sei nur in den Raum gestellt.
5.6 Zusammenfassung Die ARB 1992 sind mE ein gut gemachtes Bedingungswerk, nicht zuletzt deshalb bewährt sie sich schon viele Jahre. Inhaltlich geben ARB 1992 weitgehend allgemein gültige zivilrechtliche Grundsätze wieder, Abweichungen davon finden sich nur in beschränktem Maße, daher stehen die ARB 1992 mE in weiten Teilen mit dem geltenden österr Zivilrechtsordnung im Einklang. Jene Passagen, die aus rechtlicher Perspektive problematisch sein könnten (bspw ein Schriftformgebot – vgl Teil B.6.), wurden als bloße Empfehlungen konzipiert und sind daher rechtlich nicht «angreifbar». Konkreter Überarbeitungs- bzw Anpassungsbedarf besteht bei der «Preisänderungsklausel», Klarstellungen wären mE auch bei den Stornoregelungen wünschenswert.
123 Vgl dazu nur Holler, Kartellgesetz (2007) 53; Gruber, Das Kartellgesetz 2005 im Überblick, GesRZ 2005, 235; Tremmel, Die Kartellrechtsrefom 2005, ÖBl 2005/38.
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6. Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht Gerhard Saria 6.1 Durch die politischen Entwicklungen bedingte Besonderheiten der Problemstellung Als ich mich im Jahr 2004 zum ersten Mal mit der Frage der möglichen gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzgrundlagen und der sich daraus ergebenden legistischen Spielräume für ein europäisches Reise- und Tourismusrecht beschäftigt habe,1 war das im Grunde erste richtungsweisende Erkenntnis des EuGH zu Art 95 EGV2 als einer der auch für das gegenwärtige und ein zukünftig noch zu schaffendes europäisches Reiserecht maßgeblichen gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzbestimmungen noch frisch im Gedächtnis aller am Gemeinschaftsrecht Interessierten und der Entwurf einer Europäischen Verfassung das hoffnungsfrohe Zeichen einer immer weiter voranschreitenden europäischen Integration, an deren Ende die eine oder andere Form der «Vereinigten Staaten von Europa» stehen würde. In der Zwischenzeit scheiterte das Projekt einer Europäischen Verfassung endgültig, und an die Stelle des Vertrags über eine Verfassung für Europa3 trat der Vertrag von Lissabon.4
1 Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria (Hg), Reise ins Ungewisse – Reiserecht in einem geänderten Umfeld (2005) 29 ff. 2 EuGH 05.10.2000 Rs C-376/98 (Deutschland/Parlament und Rat, „Tabakwerbeurteil I“) Slg 2000 I-8419. 3 Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl 2004 C 310/1. 4 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007, ABl 2007 C 306/1; die in dieser Arbeit gewählte Zählweise der einzelnen hier relevanten Vorschriften des AEUV folgt jener der «Konsolidierte[n] Fassungen des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union», ABl 2008 C 115/1.
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Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht
Vor dem Hintergrund der gerade dargestellten Entwicklungen auf europäischer Ebene seit dem Jahr 2004 liegt es angesichts des Charakters der Veranstaltung nahe, sich erneut mit den primärrechtlichen Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht – dieses Mal jedoch auf der Basis des Vertrags von Lissabon – auseinanderzusetzen. Mit dem negativen Ausgang des Referendums in Irland über den Vertrag von Lissabon ist das weitere Schicksal dieses Reformvertrags zumindest als ungewiss zu bezeichnen. Da aber das in Abstimmung mit dem Veranstalter festgelegte Thema der Arbeit keine explizite Bezugnahme auf den Vertrag von Lissabon aufweist, ist es ohne weiteres möglich, auf diese politischen Vorgänge zu reagieren und sich nicht nur mit den im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Neuerungen im Bereich der für das Reiseund Tourismusrecht einschlägigen Kompetenzvorschriften zu beschäftigen, sondern darüber hinaus auch zusätzliche Aspekte aufzugreifen, die im Rahmen der bereits an anderer Stelle gemachten Ausführungen zu den – wie es nun scheint – jedenfalls für eine nicht unbedeutende Zeitspanne weiterhin einschlägigen primärrechtlichen Vorgaben für ein europäisches Tourismusrecht schon aus chronologischen Gründen nicht behandelt werden konnten. Dementsprechend wird sich die vorliegende Arbeit inhaltlich zum einen mit den für das hier behandelte Thema relevanten Entwicklungen im Bereich der gegenwärtig – noch – geltenden Kompetenzgrundlagen seit dem Jahr 2004, also beginnend mit dem Abschluss meiner letzten Arbeit zu den legistischen Spielräumen für ein europäisches Reiserecht, beschäftigen. Zum anderen erfolgt eine Auseinandersetzung mit jener Rechtslage, die durch den Vertrag von Lissabon geschaffen werden würde. Einerseits interessieren in diesem Zusammenhang allfällige auf dem Vertrag von Lissabon beruhende Änderungen der in meiner früheren Arbeit untersuchten Kompetenzvorschriften. Im Hinblick auf die Problemstellung der vorliegenden Arbeit beschränken sich die diesbezüglichen Ausführungen jedoch auf die materiellen Auswirkungen der geplanten Modifikationen unter grundsätzlicher Außerachtlassung verfahrensrechtlicher Neuerungen bei der Inanspruchnahme der jeweiligen Kompetenzbestimmung. Andererseits wird der im Vertrag von Lissabon neu vorgesehenen Tourismuskompetenz besonderes Augenmerk gewidmet. Dabei lässt sich die Auseinandersetzung mit den gegenwärtig geltenden Kompetenzgrundlagen bereits mit der Überlegung rechtfertigen, dass jede zukünftige Reform des Gemeinschaftsrechts wohl kaum einen vollständigen Bruch mit dem bisher geltenden Recht vornehmen wird, sondern vielmehr auf der gegenwärtigen Rechtslage aufbauen dürfte. Die Behandlung des Vertrags von Lissabon erweist sich dagegen nicht zuletzt deshalb als angebracht, weil unabhängig vom konkreten Schicksal des Vertrags von Lissabon zu erwarten ist, dass die Eckpunkte dieses Vertrags auf die eine oder andere Art die Basis der zukünftigen europäischen Rechtsordnung bilden werden.
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Entwicklungen im Bereich der gegenwärtig geltenden Kompetenzgrundlagen
6.2 Entwicklungen im Bereich der gegenwärtig geltenden Kompetenzgrundlagen In meiner Arbeit aus dem Jahr 2004 habe ich aus rechtlichen und praktischen Gründen eine Reihe von gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzvorschriften als realistisch mögliche Rechtsgrundlagen für den Erlass von Vorschriften auf dem Gebiet des Reiserechts identifiziert: Es handelt sich dabei um die Art 52 Abs 1, Art 71 Abs 1 lit a und d, Art 80 Abs 2, Art 95, Art 153 und Art 308 EGV. Andere, damals auch untersuchte primärrechtliche Bestimmungen – wie insb Art 3 Abs 1 lit u EGV –5 sind ebenfalls für die Rechtsetzung im Bereich des Tourismus auf europäischer Ebene von Bedeutung, doch verleihen sie dem Gemeinschaftsgesetzgeber nicht unmittelbar Rechtsetzungskompetenzen. Im Zuge der nachfolgenden Betrachtungen bleiben sie daher außer Betracht, während die übrigen gerade aufgezählten Kompetenztatbestände entsprechend ihrer Abfolge im noch geltenden Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft nun detailliert behandelt werden sollen. 6.2.1 Art 52 Abs 1 EGV als mögliche Rechtsgrundlage aus dem Bereich der Dienstleistungsfreiheit? Zu Art 52 Abs 1 EGV habe ich im Rahmen meiner früheren Ausführungen als Ergebnis festgehalten, dass diese Kompetenzgrundlage im Hinblick auf das darin normierte Einzelregelungsgebot einen Erlass fach- und berufsfeldübergreifender Regelungen grundsätzlich nicht erlaubt und somit keinen Ansatzpunkt für umfassende Regelungen auf dem Gebiet des Tourismusrechts bildet. Darüber hinaus sind auf Art 52 Abs 1 EGV primär personenbezogene berufsrechtliche Sekundärrechtsakte gestützt worden, sodass die Schaffung reiserechtlicher Vorschriften vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses vom Inhalt der durch Art 52 Abs 1 EGV dem Gemeinschaftsgesetzgeber vermittelten Rechtsetzungsbefugnisse als problematisch erscheinen muss. Da Art 52 Abs 1 EGV entgegen der von manchen vertretenen Mindermeinung, wonach Art 52 Abs 1 EGV als eine Kompetenzvorschrift zur Harmonisierung aller die Dienstleistungsfreiheit aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses einschränkenden mitgliedstaatlichen Regelungen zu qualifizieren ist, im Prinzip allein den Erlass von Aufhebungs-, nicht aber von Koordinierungsmaßnahmen ermöglicht, scheidet überdies jede Schaffung reiserechtlicher Vorschriften zur Einschränkung der Dienstleistungsfreiheit im Verbraucherinteresse unter Berufung auf Art 52 Abs 1 EGV aus. Abgesehen von diesen rechtlichen Überlegungen gibt es außerdem eine Reihe von hier nicht noch5 Dazu Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 29 (46 f).
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Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht
mals darzustellenden praktischen und rechtspolitischen Aspekten, die eine Heranziehung des Art 52 Abs 1 EGV als Rechtsgrundlage für den Erlass tourismusrechtlicher Bestimmungen auf europäischer Ebene unwahrscheinlich erscheinen lässt.6 Der damals entwickelte Befund bedarf angesichts des Fehlens einschlägiger Entscheidungen des EuGH keiner Modifikation. Auch der Vertrag von Lissabon lässt Art 52 Abs 1 EGV materiell unverändert, werden doch nur die Worte «Der Rat erläßt mit qualifizierter Mehrheit auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses und des Europäischen Parlaments» durch die Wendung «Das Europäische Parlament und der Rat erlassen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses» in Art 59 Abs 1 AEUV ersetzt. Damit kommt es aber bloß zu einer Neuregelung der Zuständigkeit zum Erlass von auf Art 59 Abs 1 AEUV als Nachfolgebestimmung des Art 52 Abs 1 EGV gestützten Rechtsakten ohne weitergehende sachliche Änderungen, sodass die von mir an anderer Stelle angestellten Überlegungen selbst bei einem allfälligen Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon weiterhin uneingeschränkt Geltung beanspruchen können. 6.2.2 Die Kompetenztatbestände aus dem Politikbereich Verkehr – Art 71 Abs 1 lit a und lit d sowie Art 80 Abs 2 EGV Nach den Resultaten meiner Untersuchung aus dem Jahr 2004 können Art 71 Abs 1 lit a und lit d EGV sowie Art 80 Abs 2 EGV keine hinreichenden Kompetenztatbestände für den Erlass reiserechtlicher Rechtsakte bilden, die über Fragen der Beförderung und damit in Verbindung stehende Probleme hinausgehen. Während sich derartige Schlussfolgerungen für Art 80 Abs 2 EGV bereits aus dem Wortlaut dieser Bestimmung ergeben, folgt das hinsichtlich der beiden anderen Vorschriften nicht zuletzt aus dem in der Lehre unter Berücksichtigung der Rsp des EuGH entwickelten Verständnis von der Reichweite der nach diesen Bestimmungen dem Gemeinschaftsgesetzgeber eingeräumten Rechtsetzungsbefugnisse. Auf Grund ihrer inhaltlichen Beschränktheit sind Art 71 Abs 1 lit a und lit d EGV einerseits sowie Art 80 Abs 2 EGV andererseits dementsprechend keine tauglichen Rechtsgrundlagen für die Verwirklichung eines umfassenden touristischen Regelungskonzepts auf europäischer Ebene. Das schließt jedoch nicht aus, auf Basis dieser Kompetenzvorschriften touristische Vorschriften transportrechtlichen Inhalts sowie gemeinschaftsrechtliche Regelungen von ihrem Wesen nach eigentlich tourismusrechtlichen Fragestellungen zu schaffen, sofern letztere nur einen entsprechenden Bezug zum Poli-
6 Ausf Begründung dieser Ergebnisse bei Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 52 ff.
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Entwicklungen im Bereich der gegenwärtig geltenden Kompetenzgrundlagen
tikbereich Verkehr aufweisen. Unter Beachtung dieser primärrechtlichen Schranken ist aber eine Berücksichtigung von dem Schutz der Fahrgäste im Speziellen und der Verbraucher im Allgemeinen dienenden Gesichtspunkten im Rahmen von auf Art 71 Abs 1 lit a EGV, Art 71 Abs 1 lit d EGV oder auf Art 80 Abs 2 EGV beruhenden Rechtsakten ohne weiteres möglich.7 Die Geschehnisse seit dem Jahr 2004 bestätigen die Richtigkeit der damals entwickelten Ansicht: Zum einen hat der EuGH zwischenzeitig zu diesen Kompetenztatbeständen – anders als etwa zu Art 52 Abs 1 EGV – in zwei für die vorliegende Themenstellung relevanten Entscheidungen Stellung genommen. Im Urteil Rs C-344/04 hat der EuGH die Gültigkeit einzelner Bestimmungen der Fluggastrechte-VO 261/2004/EG8 bejaht. Zwar ging es in dieser Rechtssache nicht unmittelbar um Inhalt und Reichweite der durch Art 80 Abs 2 EGV vermittelten Rechtsetzungsbefugnisse, doch hat der EuGH im Zuge der von ihm vorgenommenen Prüfung der Gültigkeit der Fluggastrechte-VO 261/2004/EG ungeachtet allfälliger sich aus dem Verfahrensrecht ergebender Schranken für seine Prüfkompetenzen ausgeführt, dass es dem Gemeinschaftsgesetzgeber durch das Übereinkommen von Montreal nicht verwehrt werden konnte, «im Rahmen der Befugnisse der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Verkehrs und des Verbraucherschutzes» Regelungen bestimmten Inhalts zu normieren.9 Eine solche ausdrücklich auf die Befugnisse der Gemeinschaft bezugnehmende Aussage hätte der EuGH wohl schwerlich gemacht, wenn er die Verfolgung des Ziels «Schutz der Fahrgäste» durch den Gemeinschaftsgesetzgeber im Rahmen der Fluggastrechte-VO als mit der Kompetenzgrundlage des Art 80 Abs 2 EGV unvereinbar erachtet hätte. Das gilt umso mehr, als sich der EuGH gerade mit diesem spezifischen Ziel des Rechtsakts mehrmals explizit in seiner Entscheidung auseinandergesetzt hat10 und er daher über den hier diskutierten Problemkreis nicht im Unklaren sein konnte. Keine unmittelbaren Bezüge zu touristischen oder reiserechtlichen Fragestellungen weist dagegen das zweite im vorliegenden Zusammenhang interessierende Erkenntnis des EuGH in den verb Rs C-184/02 und C-223/02 auf. 7 Details zu diesen Ergebnissen und deren Begründung bei Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 54 ff; vgl idS, wenn auch ohne dogmatische Begründung seiner Ansicht, nunmehr Karsten, Passagierrechte und Passagierbegriff im Gemeinschaftsrecht und die Überarbeitung des Gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherrecht, VuR 2008, 201 (202, 204). 8 Verordnung 261/2004/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der Verordnung 295/91/EWG, ABl 2004 L 46/1. 9 EuGH 10.01.2006 Rs C-344/04 (IATA ua/Department for Transport) Rz 46 Slg 2006 I00403 =RRa 2006, 127 =EuZW 2006, 112 (Reich). 10 Vgl etwa EuGH Rs C-344/04 Rz 69, 72, 82.
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Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht
Unter Berufung auf die dadurch erreichte Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr und die damit zwangsläufig verbundene Beseitigung von nationalen Unterschieden, die eine erhebliche Verfälschung der Wettbewerbsbedingungen im Transportsektor bewirken können, hat der EuGH mit dieser Entscheidung den Erlass gemeinschaftsrechtlicher Maßnahmen zur Regelung der Arbeitszeit selbständiger Kraftfahrer unter Inanspruchnahme unter anderem des Art 71 Abs 1 lit d EGV als einen der maßgeblichen Kompetenztatbestände für zulässig erachtet.11 Da aber das Berufsrecht von im Transportgewerbe selbständig erwerbstätigen Kraftfahrern in einer vergleichbar engen Verbindung zum Politikbereich Verkehr wie die Berücksichtigung von Verbraucherinteressen und von dem Schutz der Fahrgäste dienender Gesichtspunkte im Zuge transportrechtlicher Vorschriften steht, folgt aus der vom EuGH in diesen Rechtssachen bejahten Zuständigkeit des Gemeinschaftsgesetzgebers gemäß Art 71 Abs 1 lit d EGV zu einer näheren Ausgestaltung derartiger berufsrechtlicher Aspekte, dass der Gemeinschaft die Rechtsetzungskompetenz nach Art 71 Abs 1 lit d EGV ebenso für touristische Sekundärrechtsakte in der hier beschriebenen Art und Weise zukommen muss. Zum anderen zeigt die «insb auf Artikel 71 Absatz 1» EGV gestützte Eisenbahn-Fahrgastrechte-VO 1371/2007/EG,12 dass jedenfalls die Gemeinschaftsorgane ihrem Handeln das an dieser Stelle dargestellte Verständnis der relevanten Kompetenzgrundlagen zugrundelegen. Andernfalls wäre nämlich der Erlass dieses Rechtsaktes auf Basis von Art 71 Abs 1 EGV als einer dem Politikbereich Verkehr zuzurechnenden Kompetenzvorschrift – die Heranziehung einer anderen Rechtsgrundlage hat der Gemeinschaftsgesetzgeber ungeachtet der eben aus der Einleitung zu den Erwägungsgründen zitierten weiten Formulierung offenkundig als nicht zulässig angesehen –13 nicht möglich gewesen, bezweckt doch die Eisenbahn-Fahrgastrechte-VO ausweislich ihrer Erwägungsgründe schwerpunktmäßig unter anderem den Schutz der Fahrgäste14 nicht zuletzt in ihrer Rolle als Verbraucher.15 Dazu kommt, dass auch in der Literatur die Zulässigkeit des Erlasses dieser Verordnung unter Inanspruchnahme der durch Art 71 Abs 1 EGV vermittelten Rechtsetzungskompetenzen grundsätzlich nicht mit aus dem sachlichen Anwendungsbereich des Art 71 Abs 1 EGV erwachsenden Argumenten angezweifelt wird. Vielmehr werden
11 EuGH 09.09.2004 verb Rs C-184/02 (Spanien/Parlament und Rat) und C-223/02 (Finnland/Parlament und Rat) Rz 30, 39 und insb 40 Slg 2004 I-07789 =EuZW 2004, 660 =EWS 2004, 479. 12 Verordnung 1371/2007/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr, ABl 2007 L 315/14. 13 Vgl Görisch, Einheitlichkeit und Erkennbarkeit der Vertragsgrundlage beim Erlass und bei der Änderung sekundärrechtlicher Vorschriften, EuR 2007, 103 (105 f). 14 Vgl ErwGr 1, 3, 6 und 17 Eisenbahn-Fahrgastrechte-VO. 15 Vgl ErwGr 2 Eisenbahn-Fahrgastrechte-VO.
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Entwicklungen im Bereich der gegenwärtig geltenden Kompetenzgrundlagen
kompetenzrechtliche Bedenken allein im Hinblick auf allfällige Überschneidungen der Eisenbahn-Fahrgastrechte-VO mit einem vergleichbare Fragen behandelnden internationalen Abkommen geäußert.16 Die im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Modifikationen des Art 71 EGV sowie des Art 80 EGV nötigen ebenfalls zu keinen inhaltlichen Anpassungen der im Jahr 2004 erstmals vertretenen und – wie gerade ausgeführt – durch die weitere Entwicklung bestätigten Auffassung betreffend die Reichweite der dem Gemeinschaftsgesetzgeber zur Rechtsetzung in den Bereichen Tourismus und Reiserecht durch die Art 71 Abs 1 lit a und lit d EGV sowie durch Art 80 Abs 2 EGV vermittelten Befugnisse: Schließlich werden die Kompetenztatbestände des Art 71 Abs 1 lit a EGV und des Art 71 Abs 1 lit d EGV durch die mit Art 91 AEUV erfolgende Neufassung dieser Vorschrift überhaupt unberührt gelassen. Alle Abweichungen des Art 91 AEUV vom gegenwärtig geltenden Art 71 Abs 1 EGV betreffen vielmehr bloß die angesichts der Themenstellung hier nicht weiter interessierende Verteilung der Aufgaben zwischen den verschiedenen Unionsorganen im Rechtsetzungsverfahren nach Art 91 AEUV.17 Nichts anderes gilt letztlich für die Neufassung des Art 71 Abs 2 EGV durch Art 91 Abs 2 AEUV, weil sich das in Art 91 Abs 2 AEUV normierte Gebot zur Berücksichtigung der dort aufgezählten Aspekte in entsprechender Weise wohl schon aus Art 71 Abs 2 EGV ableiten lässt.18 Es ist daher nicht davon auszugehen, dass allfällige auf Art 91 Abs 2 AEUV beruhende inhaltliche Änderungen der bisherigen Rechtslage Auswirkungen auf die Rechtsetzungsbefugnisse des Unionsgesetzgebers nach Art 91 Abs 1 lit a und lit d AEUV haben und ihnen insb einen von Art 71 Abs 1 lit a und lit d EGV abweichenden Inhalt geben werden. Die durch Art 100 AEUV vorgenommene vollständige Neufassung des Art 80 Abs 2 EGV wiederum berührt die inhaltliche Reichweite der derzeit noch durch Art 80 Abs 2 EGV und in weiterer Folge dann durch Art 100 Abs 2 AEUV vermittelten Rechtsetzungsbefugnisse nicht, wird doch in beiden Bestimmungen übereinstimmend die Wendung «geeignete Vorschriften für die Seeschif[f]fahrt und [die] Luftfahrt»
16 Vgl Tonner, Der Luftbeförderungsvertrag zwischen europäischer und globaler Regulierung, NJW 2006, 1854 (1856 mwN); Mankowski, Entwicklungen im Internationalen Privat- und Prozessrecht für Transportverträge in Abkommen und speziellen EG-Verordnungen, TranspR 2008, 177 (184 mwN); sowie im Hinblick auf die für das vorliegende Problem ebenfalls irrelevante Kompetenz der Gemeinschaft zur Regelung von Beförderungen ohne grenzüberschreitenden Bezug; vgl dazu Pohar, Rechtsbeziehungen zwischen Fahrgast und Eisenbahn (2006) 347 ff; Schmidt-Bendun, Haftung der Eisenbahnverkehrsunternehmen (2007) 138; Kunz, Der Ausfall eines Zuges im internationalen Zugverkehr, TranspR 2009, 245 (247 f). 17 Vgl Fischer, Der Vertrag von Lissabon – Text und Kommentar zum Europäischen Reformvertrag (2008) Art 71/91 Anm 2. 18 Vgl dazu Jung in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 71 EGV Rz 44.
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Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht
gebraucht.19 Der einzige rechtlich bedeutsame Unterschied zwischen Art 80 Abs 2 EGV und Art 100 Abs 2 AEUV liegt in der Begründung einer direkten Handlungsermächtigung durch Art 100 AEUV.20 Dieser Umstand hat aber keine Bedeutung für den sachlichen Anwendungsbereich der einzelnen Kompetenzbestimmungen, sodass insoweit Übereinstimmung zwischen Art 80 Abs 2 EGV und Art 100 Abs 2 AEUV besteht. 6.2.3 Die Binnenmarktkompetenz nach Art 95 EGV Die Ausführungen im Jahr 2004 zur Tauglichkeit der Binnenmarktkompetenz nach Art 95 EGV für den Erlass reise- und tourismusrechtlicher Sekundärrechtsakte haben sich insb auf die sich aus dem sogenannten «Tabakwerbeurteil I» des EuGH21 ergebenden Schlussfolgerungen betreffend die vom Gemeinschaftsgesetzgeber bei Ausnützung der durch Art 95 EGV eröffneten Rechtsetzungskompetenzen zu beachtenden Grenzen und Schranken gestützt. Seit dem Jahr 2004 hat sich der EuGH im «Tabakwerbeurteil II»22 und in einer Reihe von weiteren Erkenntnissen zu Inhalt und Reichweite der Rechtsetzungsbefugnisse gemäß Art 95 EGV geäußert, ohne allerdings seine ursprünglichen Aussagen noch weiter zu präzisieren oder überhaupt zu revidieren. Vielmehr hat er im Wesentlichen nur die bereits aus dem «Tabakwerbeurteil I» bekannten Ausführungen wiederholt.23 Ausdrücklich klargestellt wurde durch den EuGH allerdings mit dem «Tabakwerbeurteil II», dass ein auf Art 95 EGV beruhender Rechtsangleichungsakt tatsächlich entweder den Zweck einer Beseitigung von Handelshemmnissen oder alternativ dazu den einer Beseitigung von – spürbaren – Wettbewerbsverzerrungen zu verfolgen hat.24 Die damit iS eines alternativen Verhältnisses dieser zwei Tatbestandsmerkmale zueinander unter Ablehnung der Notwendigkeit eines kumulativen 19 So auch Stadler in Schwarze, EU-Kommentar2 Art 80 EGV Rz 29; die Klammerausdrücke geben die – bloß orthographischen – Abweichungen der in Art 100 Abs 2 EGV gebrauchten Fassung dieser Wendung von der des Art 80 Abs 2 AEUV wieder. 20 Fischer, Der Vertrag von Lissabon Art 80/100 Anm 2. 21 EuGH 05.10.2000 Rs C-376/98 (Deutschland/Parlament und Rat) Slg 2000 I-08419. 22 EuGH 12.12.2006 Rs C-380/03 (Deutschland/Parlament und Rat) Slg 2006 I-11573 =EuZW 2007, 46 (Stein) =EuR 2007, 230 (Gundel). 23 Vgl EuGH 14.12.2004 Rs C-434/02 (Arnold André) Rz 30 ff Slg 2004 I-11825 =EuZW 2005, 147 =EWS 2005, 36; 14.12.2004 Rs C-210/03 (Swedish Match) Rz 29 ff Slg 2004 I11893 =EWS 2005, 40; 12.07.2005 verb Rs C-154/04 (Alliance for Natural Health ua/ Secretary of State for Health) und C-155/04 (National Association of Health Stores ua/ Secretary of State for Health) Rz 28 ff Slg 2005 I-06451 =EuZW 2005, 598; 02.05.2006 Rs C-436/03 (Parlament/Rat) Rz 38 f Slg 2006 I-03733 =EuZW 2006, 380; 12.12.2006 Rs C-380/03 (Deutschland/Parlament und Rat) Rz 37 ff, 92 ff Slg 2006 I-11573. 24 So EuGH Rs C-380/03 Rz 67; vgl zu den diesbezüglichen Aussagen des EuGH auch Ludwigs, Case C-380/03, CMLR 2007, 1159 (1166 f).
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Entwicklungen im Bereich der gegenwärtig geltenden Kompetenzgrundlagen
Vorliegens der beiden Kriterien entschiedene Streitfrage bezüglich des Verständnisses der entsprechenden Äußerungen des EuGH im «Tabakwerbeurteil I» macht jedoch schon deshalb keine Modifikation des im Rahmen der früheren Untersuchung entwickelten Ansatzes notwendig, weil dem EuGH im Zuge der damaligen Überlegungen eine solche Auffassung unterstellt worden war.25 Da nicht nur der EuGH seine Rsp zu Art 95 EGV in den hier maßgeblichen Punkten unverändert beibehalten hat und die von ihm zusätzlich vorgenommene Konkretisierung durch den Autor der vorliegenden Arbeit richtig vorhergesehen wurde, sondern überdies die Lehre trotz mancher kritischer Anmerkungen zu der vom EuGH vorgenommenen Auslegung des Art 95 EGV die von diesem verfolgte Linie letzten Endes im Grunde – und sei es auch bloß als unabänderliche Tatsache – akzeptiert hat,26 kann an den im Jahr 2004 erzielten Ergebnissen uneingeschränkt festgehalten werden: Die Schaffung reise- und tourismusrechtlicher Vorschriften unter Berufung auf Art 95 EGV ist somit allein bei einem hinreichenden Binnenmarktbezug des geplanten Rechtsakts zulässig. Ein solcher wird jedenfalls dadurch begründet, dass durch den Erlass der jeweiligen Regelungen Hindernisse für die Verwirklichung der Grundfreiheiten in der Tourismusbranche abgebaut werden und als Folge einer Beseitigung derartiger Barrieren die binnenweite Nachfrage nach oder die binnenweite Vermarktung von touristischen Produkten erleichtert wird. Art 95 EGV darf jedoch nicht als «Ersatzkompetenz» der Gemeinschaft für den Bereich des Verbraucherschutzes missbraucht werden. Für die Berücksichtigung von Aspekten des Verbraucherschutzes bei einer Harmonisierung touristischer Verbraucherschutzbestimmungen nach Art 95 EGV bedeutet dieser Grundsatz, dass der Verbraucherschutz angesichts der 25 So Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 64 Fn 138. 26 Aus der Lit vgl etwa Herr, Grenzen der Rechtsangleichung nach Art 95 EG, EuZW 2005, 171 (173); Vogenauer/Weatherill, The European Community’s competence for a comprehensive harmonisation of contract law – an empirical analysis, ELR 2005, 821 (826 f); Westphal, Die neue EG-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung, EuZW 2006, 555 (557); Ludwigs, Harmonisierung des Schuldvertragsrechts in Europa – Zur Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeit für eine Europäisierung des Privatrechts, EuR 2006, 370 (381 ff); Westphal, Die Richtlinie zur Vorratsspeicherung von Verkehrsdaten – Brüsseler Stellungnahme zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in der «Post-911-Informationsgesellschaft», EuR 2006, 706 (712); Weatherill, The Constitutional Competence of the EU to Deliver Social Justice, ERCL 2006, 136 (141 ff, 145 f, 153 f); Schier/Lehmann, Anmerkung zu EuGH vom 12.12.2006, C-380/03 – Tabakwerbeverbot, GPR 2007, 68 (68 f); Gundel, Anm zu EuGH 12.12.2006, Rs C-380/03, EuR 2007, 251 (253); Schärf, Tabakwerbung nunmehr endgültig verboten, RdW 2007, 594 (594 f); Silny, Die binnenmarktbezogene Rechtsangleichungskompetenz des Art. 95 EG (2007) 73 ff; Hempel Tabakgenuus und Europarecht, ÖBl 2008, 210 (211 f und 213 f); Pauling, Verbraucherschutz und Tabakkontrollpolitik, VuR 2008, 472 (476); Meškic´, Europäisches Verbraucherrecht (2008) 30 ff.
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Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht
Notwendigkeit einer Binnenmarktorientierung von auf Art 95 EGV beruhendem Sekundärrecht nicht der im Wesentlichen alleinige und insoweit primäre Zweck des Rechtsakts sein kann. Vielmehr muss eine diesbezügliche Regelung tatsächlich dem Zweck einer Verbesserung der Bedingungen für die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes dienen. Dessen ungeachtet bleibt jedoch selbst eine schwerpunktmäßige Verfolgung von Verbraucherinteressen durch eine auf Art 95 EGV gestützte Rechtsetzung möglich. Es schadet dementsprechend bei Vorliegen eines sonstigen ausreichenden Binnenmarktbezugs nicht, falls dem Verbraucherschutz für die Setzung einer Harmonisierungsmaßnahme entscheidende Bedeutung zukommen sollte. Darüber hinaus erlaubt Art 95 EGV keine vollständige Rechtsvereinheitlichung in einem bestimmten Sachgebiet. Aus dieser weniger inhaltlichen als vielmehr die Intensität der Harmonisierung betreffenden Einschränkung der Angleichungsbefugnisse des Gemeinschaftsgesetzgebers nach Art 95 EGV folgt nun zum einen hinsichtlich des Regelungsbereichs, dass eine alle reise- oder tourismusrechtliche Fragestellungen umfassende Normsetzung gemeinschaftsrechtlich zumindest problematisch ist. Mit Blick auf die Regelungsdichte ist aus dem Verbot einer vollständigen Rechtsvereinheitlichung zum anderen abzuleiten, dass jede lückenlose, also wesentliche Gestaltungsspielräume der Mitgliedstaaten ausschließende Regulierung eines reiserechtlichen Teilgebiets durch den Gemeinschaftsgesetzgeber die auf Art 95 EGV beruhenden gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungskompetenzen überschreitet.27 Im Jahr 2004 wurde überdies ausgeführt, dass Art 95 EGV dem Gemeinschaftsgesetzgeber die Vornahme einer abschließenden Harmonisierung gestattet und ein Zwang zu einer Mindestharmonisierung weder aus Art 95 Abs 3 EGV noch aus Art 153 Abs 5 EGV erwächst.28 Demgegenüber wird nunmehr unter Berufung auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das Subsidiaritätsprinzip sowie auf hier nicht weiter interessierende Überlegungen primär rechtspolitischer Art eine zwingende Einschränkung der Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers insb nach Art 95 EGV auf die Durchführung einer bloßen Mindestharmonisierung behauptet.29 Gegen diese Ansicht spricht allerdings be27 Umfassende Begründung dieser Ergebnisse und weitere Ausführungen zum Inhalt der dem Gemeinschaftsgesetzgeber im Bereich des Reiserechts durch Art 95 EGV verliehenen Rechtsetzungsbefugnisse bei Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 62 ff, insb 67 ff; die kompetenzrechtliche Frage bei der von ihm vorgeschlagenen umfassenden Richtlinie über touristische Dienstleistungen dagegen ausklammernd Tonner, Pauschalreiserecht und Teilzeitwohnrechte (2008) 99 ff, insb 107 ff. 28 IdS Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 69 mwN. 29 So Tamm, Das Grünbuch der Kommission zum Verbraucheracquis und das Modell der Vollharmonisierung – eine kritische Analyse, EuZW 2007, 756 (759 mwN); ähnl Tonner, Pauschalreiserecht und Teilzeitwohnrechte 23 ff.
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Entwicklungen im Bereich der gegenwärtig geltenden Kompetenzgrundlagen
reits, dass eine solche generelle Beschränkung der Rechtsetzungsbefugnisse nach Art 95 EGV angesichts der ausdrücklichen Regelung des Art 153 Abs 5 EGV wohl eines hinreichenden Anknüpfungspunkts in Art 95 EGV selbst bedürfen würde. Aus dem Fehlen einer mit Art 153 Abs 5 EGV vergleichbaren Anordnung im Rahmen des Art 95 EGV ist nämlich zu schließen, dass die Wahl der konkreten Harmonisierungsart bei auf Art 95 EGV gestützten Rechtsakten gerade im Ermessen des Gemeinschaftsgesetzgebers verbleiben soll. Darüber hinaus ist gegen die Begründung einer Pflicht zur ausschließlichen Verwendung von Mindestnormen mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie mit dem Subsidiaritätsprinzip einzuwenden, dass beide Grundsätze schon allgemein bei der Ausübung der nach Art 95 EGV der Gemeinschaft zukommenden Regelungskompetenzen zu beachten sind30 und im Einzelfall durchaus eine Verpflichtung des Gemeinschaftsgesetzgebers zur Vornahme allein einer Mindestharmonisierung begründen mögen, ohne dass jedoch deshalb ein überzeugender Grund ersichtlich wäre, der die Annahme einer generellen Pflicht zur ausschließlichen Verwendung von Mindestnormen bei Harmonisierungsmaßnahmen nach Art 95 EGV rechtfertigen könnte. Es überrascht daher nicht, dass die vorliegend diskutierte Meinung vereinzelt geblieben ist und im jüngeren Schrifttum weiterhin die Wahl der konkreten Harmonisierungsart bei auf Art 95 EGV beruhenden Rechtsakten explizit oder wenigstens implizit in das Ermessen des Gemeinschaftsgesetzgebers gestellt wird.31 Auch dieser in der Literatur unternommene Vorstoß zur Begrenzung der Rechtsetzungskompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers nach Art 95 EGV begründet somit keinen Bedarf nach einer Revision der im Jahr 2004 entwickelten Ansicht. Die auffälligste, durch den Vertrag von Lissabon vorgenommene Änderung betreffend Art 95 EGV ist die im Verhältnis zu Art 94 EGV erfolgende Umreihung dieser beiden Bestimmungen. Während Art 114 AEUV den ursprünglichen Art 95 EGV ersetzt, wird Art 94 EGV in Art 115 AEUV inhaltlich grundsätzlich unverändert übernommen.32 Am Verhältnis der beiden Vor30 Details dazu bei Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 69 f insb Fn 162. 31 So etwa explizit Silny, Die binnenmarktbezogene Rechtsangleichungskompetenz des Art 95 EG 71; Wichard in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 153 EGV Rz 13 mwN; weniger deutlich Schütze, Co-operative federalism constitutionalised: the emergence of complementary competences in the EC legal order, ELR 2006, 167 ff (168); implizit eine abschließende Harmonisierung auf der Basis von Art 95 EGV für zulässig erachtend Twigg-Flesner, No sense of purpose or direction? The modernisation of European Consumer Law, ERCL 2007, 198 (206); ebenfalls eine abschließende Harmonisierung ohne weiteres für zulässig erachtend und nur das Problem behandelnd, ob Art 95 EGV überhaupt eine Mindestharmonisierung erlaubt Weatherill, The Constitutional Competence of the EU to Deliver Social Justice, ERCL 2006, 136 (152 ff, insb 152, 154 ff). 32 Vgl Herrnfeld in Schwarze, EU-Kommentar2 Art 94 EGV Rz 5, 69; Fischer, Der Vertrag von Lissabon Art 95/115 Anm 1.
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Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht
schriften zueinander ändert sich durch diesen systematischen Eingriff aber nichts, weil – arg die Anordnung «Unbeschadet des Artikels 114» in Art 115 AEUV – Art 114 AEUV als Nachfolgebestimmung des Art 95 EGV in seinem Anwendungsbereich weiterhin wie bisher Art 115 AEUV, also den gegenwärtigen Art 94 EGV, verdrängt. Die sonstigen auf Art 114 AEUV beruhenden Abweichungen von der derzeit noch geltenden Vorgängerbestimmung des Art 95 EGV haben ebenfalls keine Auswirkungen auf den Inhalt und die Reichweite der Rechtsetzungskompetenzen des Unionsgesetzgebers. Die durch Art 114 Abs 1 AEUV eingeführten Neuerungen sind nämlich bloß Anpassungen an die Neuregelung der Aufgaben der einzelnen Unionsorgane im Rechtsetzungsverfahren und an die Umgestaltungen im Aufbau der Verträge. Die weiteren Änderungen in Art 114 Abs 4, Abs 5, Abs 6, Abs 9 und Abs 10 AEUV wiederum sind für die hier behandelte Problemstellung unerheblich, weil ohne Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung der durch Art 114 AEUV vermittelten Kompetenzen der Europäischen Union. Dagegen werden durch Art 114 Abs 2 und Abs 3 AEUV die Art 95 Abs 2 und Abs 3 EGV unverändert übernommen, sodass Art 114 AEUV letzten Endes nicht mehr als eine um redaktionelle Anpassungen ergänzte Neufassung des Art 95 EGV darstellt.33 Damit kann das zu Art 95 EGV erzielte Ergebnis betreffend den Umfang der Kompetenzen des Gemeinschaftsgesetzgebers zur Setzung von Rechtsakten auf dem Gebiet des Tourismus und des Reiserechts auch nach einem allfälligen Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon uneingeschränkt Geltung beanspruchen. 6.2.4 Die Rechtsetzungskompetenzen auf dem Gebiet des Tourismus nach Art 153 EGV Schon im Jahr 2004 konnte gezeigt werden, dass ein Erlass von nicht der Wahrung von Verbraucherinteressen dienenden reiserechtlichen Vorschriften nach Art 153 EGV nicht in Frage kommt. Unzulässig ist weiters eine Inanspruchnahme des Art 153 EGV für Rechtsakte betreffend Personen, die ungeachtet aller Unschärfen des primärrechtlichen Verbraucherbegriffs auf Grund einer Marktteilnahme zu beruflichen oder gewerblichen Zwecken eindeutig keinesfalls als Verbraucher einzustufen sind. Das hat zur Konsequenz, dass gemeinschaftsrechtliche Regelungen betreffend «Geschäftsreisende» nicht auf Art 153 EGV gestützt werden dürfen. Angesichts der bloßen Ergänzungsfunktion des Art 153 EGV im Verhältnis zu Maßnahmen der Mitgliedstaaten scheidet ferner eine umfassende Regelung des Verbraucherschutzrechts auf europäischer Ebene unter Berufung auf Art 153 EGV aus. Zulässig ist nach diesem Kompe-
33 Herrnfeld in Schwarze, EU-Kommentar2 Art 95 EGV Rz 9, 78; Fischer, Der Vertrag von Lissabon Art 94/114 Anm 1.
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Entwicklungen im Bereich der gegenwärtig geltenden Kompetenzgrundlagen
tenztatbestand lediglich die Schaffung von auf einzelne Aspekte des Verbraucherschutzes beschränkten Vorschriften. Daraus ist für die Kompetenz des Gemeinschaftsgesetzgebers zur Normierung tourismus- und reiserechtlicher Bestimmungen nach Art 153 EGV abzuleiten, dass eine lückenlose und umfassende Regelung aller reiserechtlichen Problemstellungen nicht möglich ist und allein tourismus- und reiserechtliche Einzelfragen vom Gemeinschaftsgesetzgeber unter Berufung auf Art 153 EGV aufgegriffen werden können. Überdies wird dem Gemeinschaftsgesetzgeber in Anbetracht der insoweit eindeutigen primärrechtlichen Vorgaben durch Art 15 EGV nur die Vornahme einer Mindestharmonisierung erlaubt.34 Angesichts des Schweigens des EuGH zu inhaltlichen Aspekten des Art 153 EGV seit dem Jahr 200435 lassen sich die gerade referierten Aussagen ohne Modifikationen aufrecht erhalten. Nichts anderes gilt bezüglich des Vertrags von Lissabon, wird doch durch diesen in den materiellen Regelungsgehalt des Art 153 EGV nicht eingegriffen:36 Zum einen sind nämlich Art 153 Abs 1 EGV und Art 153 Abs 3 EGV bis auf sprachliche Anpassungen in Art 169 Abs 1 AEUV und Art 169 Abs 2 AEUV unverändert übernommen worden. Zum anderen werden Art 153 Abs 4 EGV und Art 153 Abs 5 EGV durch Art 169 Abs 3 AEUV und Art 169 Abs 4 AEUV bloß mit solchen Adaptierungen rezipiert, die keine Auswirkungen auf die inhaltliche Reichweite der durch Art 153 EGV vermittelten Befugnisse haben. Art 153 Abs 2 EGV wiederum wird mit einer terminologischen Abweichung, ansonsten aber unverändert zu Art 12 AEUV und erhält somit eine auch systematisch passende Stellung unter den «Allgemein geltende[n] Bestimmungen» des Titels II. Inhaltliche Folgen für die vorliegende Problemstellung ergeben sich aus einem derartigen systematischen Eingriff jedoch keine.37 6.2.5 Die Generalermächtigung zur Rechtsetzung gemäß Art 308 EGV Im Zuge der früheren Auseinandersetzung mit den gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzen auf dem Gebiet des Reiserechts wurde dargelegt, dass Art 308 EGV nur bei Verfolgung eines inhaltlich umfassenden Regelungskonzepts einschlägig ist, durch das reiserechtliche Problemstellungen in einem größeren Umfang aufgegriffen werden. Andernfalls bestünde schließlich die Möglichkeit, dass ein auf Art 308 EGV gestützter Rechtsakt überhaupt nicht als Maß34 Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 56 ff. 35 Vgl etwa EuGH 12.09.2006 Rs C-479/04 (Laserdisken) Rz 71 ff Slg 2006 I-08089 =EuZW 2006, 662 (Runge). 36 Vgl Fischer, Der Vertrag von Lissabon Art 153/169 Anm 2; Berg in Schwarze, EU-Kommentar2 Art 153 EGV Rz 6, 27. 37 Allgemein idS auch Fischer, Der Vertrag von Lissabon Art 6a/12 Anm 1.
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Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht
nahme im Bereich Fremdenverkehr, sondern als – unzulässiger – Versuch zur Umgehung politisch möglicherweise unerwünschter Kompetenzbestimmungen qualifiziert wird.38 Die seit dem Jahr 2004 ergangene Rsp des EuGH zu Art 308 EGV macht nun ein Überdenken dieser Aussagen nicht notwendig. Vielmehr bestätigt nicht zuletzt das Erkenntnis des EuGH in der Rs C-436/03 zur Gültigkeit der Verordnung über das Statut der Europäischen Genossenschaft 1435/2003/EG, dass der Vorwurf einer gemeinschaftsrechtlich verbotenen Umgehung anderer primärrechtlicher Rechtsgrundlagen im Wege einer Heranziehung des Art 308 EGV als maßgeblichen Kompetenztatbestand allein durch die Verfolgung eines umfassenden, wenn auch nicht lückenlosen Regelungsansatzes zu vermeiden ist.39 Die im Vertrag von Lissabon vorgesehenen Änderungen des Art 308 EGV sind dagegen aus inhaltlichen Gründen nicht an dieser Stelle, sondern erst in Verbindung mit der neu durch den Vertrag von Lissabon eingefügten Tourismuskompetenz des Art 195 AEUV zu erörtern.
6.3 Die Tourismuskompetenz nach Art 195 AEUV 6.3.1 Allgemeines zu Art 195 AEUV Mit der Einführung des Art 195 AEUV als Kompetenzgrundlage für den Bereich des Tourismus durch den Vertrag von Lissabon wird einer auf europäischer Ebene schon wiederholt geäußerten diesbezüglichen Forderung entsprochen.40 Zwar hat Art 195 AEUV kein Vorbild im gegenwärtig geltenden Gemeinschaftsrecht, doch sah bereits die Europäische Verfassung mit Art III281 EVV eine vergleichbare Kompetenzvorschrift vor.41 Diese Bestimmung kehrt nunmehr in einer bloß sprachlich adaptierten Fassung im Vertrag von Lissabon wieder.42 Allerdings sind sowohl Art 195 AEUV als auch Art III-
38 Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 47 ff, insb 49. 39 Vgl EuGH 02.05.2006 Rs C-436/03 (Parlament/Rat) Rz 37, 44 Slg 2006 I-03733 =EuZW 2006, 380; vgl ferner idS zu diesem Erkenntnis des EuGH W.-H. Roth, Secured Credit and the Internal Market: The Fundamental Freedoms and the EU’s Mandate for Legislation, in Eidenmüller/Kieninger (eds), The Future of Secured Credit in Europe (2008) 36 (65); Rutgers, Secured Credit and the Internal Market: The Fundamental Freedoms and the EU’s Mandate for Legislation: Commentary, in Eidenmüller/Kieninger (eds), The Future of Secured Credit in Europe 68 (79 f). 40 Vgl die Nw bei Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 40 Fn 46, 49 Fn 85, 72 Fn 171; vgl ferner die Ausführungen bei Fischer, Der Vertrag von Lissabon Titel XXI/XXII Anm 2. 41 Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl 2004 C 310/1. 42 Darauf hinweisend schon Fischer, Der Vertrag von Lissabon Art 176b/195 Anm 1.
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Die Tourismuskompetenz nach Art 195 AEUV
281 EVV in der Literatur weitgehend unbeachtet geblieben.43 Eine Ursache dafür liegt wohl in dem Umstand, dass Art III-281 EVV erst im Rahmen der auf die Fertigstellung des ursprünglichen Konventsentwurfs folgenden Regierungskonferenz in den Verfassungsentwurf eingearbeitet worden ist. In inhaltlicher Hinsicht wurde zu Art III-281 EVV im Wesentlichen nur festgehalten, dass Art III-281 EVV angesichts des darin normierten Harmonisierungsverbots keine taugliche Grundlage für ein – umfassendes – europäisches Reiserecht darstellt, ohne jedoch deswegen auf andere primärrechtliche Grundlagen gestützte Harmonisierungsmaßnahmen zu verhindern.44 Ferner lässt sich den einschlägigen Stellungnahmen der Lehre entnehmen, dass die Schaffung des Art III-281 EVV offenkundig primär vom Wunsch nach Ermöglichung weiterer europäischer Finanztransfers getragen war.45 Ungeachtet der Ungewissheit über das Schicksal des Vertrags von Lissabon zeigt die grundsätzlich unveränderte Weiterführung des Art III-281 EVV durch Art 195 AEUV, dass auch in Zukunft in der einen oder anderen Weise mit der Aufnahme einer eigenen Tourismuskompetenz in das Gemeinschaftsrecht nach dem Vorbild des Art 195 AEUV zu rechnen sein dürfte. Daher sollen an dieser Stelle ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige grundlegende, mit Art 195 AEUV zusammenhängende Fragestellungen diskutiert werden. Ausgegangen wird dabei von Art 195 AEUV idF ABl 2008 C 115/1. Nach Art 195 Abs 1 AEUV ergänzt die Union «die Maßnahmen der Mitgliedstaaten im Tourismussektor, insb durch die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen der Union in diesem Sektor». «Die Union verfolgt zu diesem Zweck mit ihrer Tätigkeit das Ziel,» gemäß Art 195 Abs 1 lit a AEUV «die Schaffung eines günstigen Umfelds für die Entwicklung der Unternehmen in diesem Sektor anzuregen» sowie gemäß Art 195 Abs 1 lit b AEUV «die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten insb durch den Austausch bewährter Praktiken zu unterstützen». Nach Art 195 Abs 2 AEUV erlassen das Europäische Parlament und der Rat «unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten gemäß dem ordentlichen Ge43 Vgl die bloße Erwähnung des Art I-17 EVV bei Soares, The Division of Competences in the European Constitution, European Public Law 2005, 603 (614); die bloße Anführung von Art III-281 EVV bei Ruffert in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 3 EGV Rz 24; vgl ferner die sich im Hinweis auf den in Art III-281 EVV liegenden Ursprung des Art 195 AEUV erschöpfende Kommentierung dieser Vorschrift bei Fischer, Der Vertrag von Lissabon Art 176b/195 Anm 1. 44 So Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 72 f; die von der vorliegenden Arbeit abweichende Nummerierung der einschlägigen Bestimmungen im ursprünglichen Beitrag beruht darauf, dass die damals aktuelle Fassung des Verfassungsvertrags insoweit von der dann in ABl 2004 C 310/1 kundgemachten Fassung des Vertrags über eine Verfassung für Europa abgewichen ist. 45 Vgl Wuermeling, Kalamität Kompetenz: Zur Abgrenzung der Zuständigkeiten in dem Verfassungsentwurf des EU-Konvents, EuR 2004, 216 (218, 222).
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Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht
setzgebungsverfahren die spezifischen Maßnahmen zur Ergänzung der Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der in diesem Artikel genannten Ziele durchführen.» 6.3.2 Folgerungen aus der Rechtsnatur des Art 195 AEUV Art 195 AEUV als Kompetenzvorschrift In Anbetracht des in Art 195 Abs 2 AEUV normierten Harmonisierungsverbots könnte die dogmatische Qualifikation des Art 195 AEUV als Kompetenzbestimmung überhaupt in Frage gestellt werden, zumal unter Zugrundelegung eines auf eine Harmonisierung durch allgemein verbindliche Gemeinschaftsmaßnahmen beschränkten Begriffs des Kompetenztatbestands die Eigenschaft von Art 195 AEUV entsprechenden, weil den Erlass von Unterstützungs- und Ergänzungsmaßnahmen unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung erlaubenden Rechtsgrundlagen im geltenden Gemeinschaftsrecht als Kompetenzvorschriften im eigentlichen Sinn bezweifelt wird.46 Für ein dogmatisches Verständnis des Art 195 AEUV als Kompetenztatbestand spricht nun zum einen, dass Art 195 Abs 2 AEUV selbst ausdrücklich den Erlass spezifischer Maßnahmen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren vorsieht. Zum anderen wird in Art 2 Abs 5 AEUV nach einer Definition der ausschließlichen Zuständigkeit der Union in Art 2 Abs 1 AEUV sowie der geteilten oder konkurrierenden Zuständigkeit der Union in Art 2 Abs 2 AEUV zum Wesen der Zuständigkeiten zum Erlass von Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen ausgeführt, dass die Union in bestimmten Bereichen für die Durchführung von «Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten» zuständig ist, «ohne dass dadurch die Zuständigkeit der Union für diese Bereiche an die Stelle der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten tritt.» Ferner dürfen nach Art 2 Abs 5 AEUV die verbindlichen Rechtsakte der Union in diesen Bereichen keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften beinhalten. Unstrittig scheint dabei nicht zuletzt angesichts der systematischen Stellung dieser Norm zu sein, dass Art 2 Abs 5 AEUV eine dogmatisch eigenständige Kompetenzkategorie beschreibt.47 Dass Art 2 Abs 5 AEUV – anders als Art 2 Abs 1 AEUV und Art 2 Abs 2 AEUV – nicht den Begriff der «Zuständigkeit», sondern jenen der «Maßnahmen» verwendet, ist 46 IdS zu Art 151 EGV und zu Art 152 EGV etwa Schütze, Co-operative federalism constitutionalised: the emergence of complementary competences in the EC legal order, ELR 2006, 167 (169). 47 Im Ergebnis idS auch Wiesner, Unionsziele im Europäischen Verfassungsrecht (2008) 132 f; Fischer, Der Vertrag von Lissabon Titel XXI/XXII Anm 2; implizit Wuermeling, EuR 2004, 223; Lengauer, Der Reformvertrag – Ein bedeutender Schritt in der Herausbildung einer Europäischen Verfassungsordnung, ZfRV 2008, 4 (8).
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diesbezüglich irrelevant, weil durch diese terminologische Besonderheit nur die weiterhin uneingeschränkt bei den Mitgliedstaaten verbleibende Zuständigkeit in den an sich von Art 2 Abs 5 AEUV erfassten Sachgebieten zum Ausdruck gebracht werden soll.48 Vor diesem Hintergrund lässt sich insb mit Blick auf die strukturellen Übereinstimmungen zwischen Art 2 Abs 5 AEUV einerseits und dem eigentlich kompetenzbegründenden Art 195 AEUV andererseits die Rechtsnatur des Art 195 AEUV als Kompetenztatbestand iSd Art 2 Abs 5 AEUV nicht ernsthaft bestreiten. Das gilt umso mehr, als der allgemein jene Bereiche aufzählende Art 6 AEUV, in denen «Maßnahmen mit europäischer Zielsetzung», also «Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten» iSd Art 2 Abs 5 AEUV, getroffen werden, ausdrücklich in Art 6 lit d AEUV als ein solches Gebiet den Tourismus anführt. Das Verhältnis des Art 195 AEUV zu anderen Kompetenztatbeständen Auf Grund des Charakters des Art 195 AEUV als eigenständige und von anderen Rechtsgrundlagen dogmatisch unabhängige Kompetenzbestimmung lassen sich Rechtsakte der Union auf dem Gebiet des Tourismus nicht bloß auf Art 195 AEUV, sondern – bei Vorliegen der jeweiligen Voraussetzungen – ebenso auf alle anderen sachlich in Betracht kommenden Kompetenztatbestände, also insb auf die im AEUV normierten Nachfolgebestimmungen zu den in der vorliegenden Arbeit behandelten primärrechtlichen Normen, stützen. Etwas anderes gilt jedoch im Hinblick auf den Art 308 EGV ersetzenden Art 352 AEUV, weil nach Art 352 Abs 3 AEUV Maßnahmen nach diesem Artikel keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in jenen Fällen beinhalten dürfen, in denen die Verträge eine solche Harmonisierung ausschließen. In Anbetracht des in Art 195 Abs 2 AEUV verankerten Harmonisierungsverbots, des offenkundig in einer Sicherstellung der uneingeschränkten Wahrung der den Mitgliedstaaten im Wege einer Normierung von Harmonisierungssperren verbliebenen Zuständigkeitsbereiche liegenden Zwecks des Art 352 Abs 3 AEUV49 sowie der bisherigen Auslegung des Art 308 EGV als Vorgängerbestimmung zu Art 352 AEUV verbietet sich nach Art 352 Abs 3 AEUV zum einen jeder Versuch einer Umgehung des Harmonisierungsverbots gemäß Art 195 Abs 2 AEUV durch Erlass von Rechtsakten auf Basis des Art 352 AEUV.50 Überdies wird zum anderen eine auf Art 352 AEUV beru48 Wuermeling, EuR 2004, 223; Wiesner, Unionsziele im Europäischen Verfassungsrecht 133. 49 Vgl idS zur entsprechenden Bestimmung des EVV bereits Rossi in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 308 EGV Rz 16. 50 Vgl schon Wuermeling, EuR 2004, 223; Nettesheim, Die Kompetenzordnung im Vertrag über eine Verfassung für Europa, EuR 2004, 511 (521).
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hende Rechtsetzung im Bereich Tourismus selbst dann ausscheiden, wenn sie keiner Umgehung des Art 195 AEUV dient oder – unter Berufung auf den insoweit offenen Wortlaut des Art 352 Abs 3 AEUV – den Erlass von nicht eine Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften bezweckenden Maßnahmen zum Ziel haben sollte. Da nämlich Art 352 AEUV in einer grundsätzlich mit Art 308 EGV vergleichbaren Weise die Subsidiarität einer Rechtsetzung nach dieser Rechtsgrundlage anordnet, müsste Art 195 AEUV als materiell unzureichende, weil das Sachgebiet Tourismus nicht hinreichend erfassende oder als formell unzulängliche, weil nicht die eigentlich erforderlichen Handlungsinstrumente zur Verfügung stellende Kompetenzvorschrift angesehen werden können.51 Unter Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte des Art 195 AEUV ist aber davon nicht auszugehen, war doch die Einräumung – nur eingeschränkter – Befugnisse durch Art 195 AEUV offenkundig entsprechend dem Willen der Mitgliedstaaten zur Wahrung ihrer Zuständigkeiten in diesem Bereich als abschließende Regelung der Unionskompetenzen auf diesem Sachgebiet gedacht.52 Im Anwendungsbereich des Art 195 AEUV scheidet damit im Unterschied zur gegenwärtig geltenden Rechtslage eine Rechtsetzung nach Art 352 AEUV generell aus.53 Das Harmonisierungsverbot nach Art 195 Abs 2 AEUV Schon auf Grund ihrer dogmatischen Natur begründen Ergänzungs-, Koordinierungs- oder Unterstützungszuständigkeiten iSd Art 2 Abs 5 AEUV eine Rechtspflicht der Union zur Koordinierung, Unterstützung und Ergänzung mitgliedstaatlichen Handelns im jeweils erfassten Bereich.54 Sie bilden daher einen Unterfall der konkurrierenden Kompetenzen, bei dem es zu keinem Übergang der Zuständigkeiten auf die Union kommt.55 Der Umfang der durch
51 Vgl zur Bedeutung dieser Kriterien nach gegenwärtig geltendem Recht Saria, Legistische Spielräume für ein europäisches Reiserecht, in Saria, Reise ins Ungewisse 48 f mwN, 70 mwN; Rossi in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 308 EGV Rz 67 ff. 52 Vgl iS einer bewussten Beschränkung der Reichweite der Kompetenzgrundlage Wuermeling, EuR 2004, 226. 53 Vgl Puttler, Sind die Mitgliedstaaten noch «Herren» der EU? – Stellung und Einfluss der Mitgliedstaaten nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages der Regierungskonferenz, EuR 2004, 669 ff (687). 54 Vgl Lengauer, ZfRV 2008, 8. 55 So Weber, Vom Verfassungsvertrag zum Vertrag von Lissabon, EuZW 2008, 7 (12); Papastamkos/Schwab, Der Vertrag von Lissabon – Stärkung der parlamentarischen Dimension der EU, EuZW 2008, 161 (161); idS schon Soares, The Division of Competences in the European Constitution, European Public Law 2005, 603 (613); Nettesheim, Die Kompetenzordnung im Vertrag über eine Verfassung für Europa, EuR 2004, 511 (530); dagegen hinsichtlich der Rechtsnatur dieser Kompetenzart offenkundig aA Smits, The European Constitution and EMU: an Appraisal, CMLR 2005, 425 (430); für die von der
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Die Tourismuskompetenz nach Art 195 AEUV
derartige Kompetenztatbestände vermittelten Rechtsetzungsbefugnisse wird letzten Endes maßgeblich durch das für diese Kompetenzkategorie nach Art 2 Abs 5 UAbs 2 AEUV wesensnotwendige und bereits aus dem gegenwärtig geltenden Gemeinschaftsrecht als Rechtsinstitut bekannte56 Harmonisierungsverbot bestimmt, mit dem offenkundig die uneingeschränkte Wahrung der in Art 2 Abs 5 UAbs 1 AEUV ausdrücklich garantierten Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten in den jeweiligen Bereichen abgesichert werden soll.57 Das in Art 2 Abs 5 AEUV verankerte Harmonisierungsverbot wird in Art 195 Abs 2 AEUV – ebenso wie in anderen, als Kompetenzbestimmungen gemäß Art 2 Abs 5 AEUV einzustufenden Kompetenzgrundlagen des Vertrags von Lissabon –58 nochmals explizit wiederholt. Durch das Rechtsinstitut des Harmonisierungsverbots kommt es im Wege einer Begrenzung der Rechtsmacht der Gemeinschaft zu vollständigen Ausnahmen von der jeweiligen Gemeinschaftszuständigkeit,59 sodass einer Harmonisierungssperre ein umfassendes Verbot jeglicher Rechtsangleichung auf Basis der jeweiligen Ermächtigungsgrundlage zu entnehmen ist.60 Eine bindende, zu einer Harmonisierung von mitgliedstaatlichen Vorschriften führende Rechtsetzung ist somit allein auf Grundlage anderer Kompetenzvorschriften bei Erfüllung der jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen möglich.61 Von manchen wird darüber hinausgehend noch vertreten, dass im Anwendungsbereich von Harmonisierungsverboten Versuche einer faktischen Harmonisierung durch an sich unverbindliche gemeinschaftsrechtliche Handlungsformen ebenfalls unzulässig sein sollen.62 Zwar beziehen
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wohl hL vorgenommene dogmatische Einordnung spricht jedoch schon die historische Entwicklung; vgl Wiesner, Unionsziele im Europäischen Verfassungsrecht 133 mwN. Vgl etwa Art 151 Abs 5 SS 1 EGV; dazu Blanke in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 151 EGV Rz 18; und Art 152 Abs 4 lit c EGV; dazu Wichard in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 152 Rz 16 ff. Ähnl schon Ruffert, Schlüsselfragen der Europäischen Verfassung der Zukunft, EuR 2004, 165 (191). Vergleichbare Regelungen finden sich etwa in Art 165 Abs 4 SS 1 AEUV, Art 166 Abs 4 AEUV, Art 167 Abs 5 SS 1 AEUV, Art 168 Abs 5 AEUV sowie in Art 173 Abs 3 AEUV. Vgl Ludwigs, Harmonisierung des Schuldvertragsrechts in Europa – Zur Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Zuständigkeit für eine Europäisierung des Privatrechts, EuR 2006, 370 (389). So Wiesner, Unionsziele im Europäischen Verfassungsrecht 138; idS ferner Schütze, Cooperative federalism constitutionalised: the emergence of complementary competences in the EC legal order, ELR 2006, 167 (181 f mwN). Vgl Smith, From heritage conservation to European identity: Article 151 EC and the multi-faceted nature of Community cultural policy, ELR 2007, 48 (51); Blanke in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 151 EGV Rz 18; Wichard in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 152 EGV Rz 16. Vgl Ruffert in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 149 EGV Rz 15; Wiesner, Unionsziele im Europäischen Verfassungsrecht 138; Schütze, ELR 2006, 181 f mwN, der dieser Ansicht (vgl 183) wohl ebenfalls zuneigen dürfte.
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Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht
sich – arg die in Art 2 Abs 5 UAbs 2 AEUV in Verbindung mit dem Harmonisierungsverbot gebrauchte Wendung «Die verbindlichen Rechtsakte der Union» sowie die nicht weiter differenzierenden Begriffe «Maßnahmen» und «spezifische Maßnahmen» in Art 195 AEUV – Harmonisierungsverbote grundsätzlich auf die Inhalte, nicht aber auf die Form der in Frage stehenden Maßnahme,63 doch werden als bei einem Harmonisierungsverbot mögliche Maßnahmen in der Literatur grundsätzlich64 nur der Erlass von Empfehlungen sowie die Vornahme von Fördermaßnahmen erwähnt. Letztere können in der Leistung finanzieller Unterstützungen, in der Erbringung anderer Arten von Beiträgen, etwa durch Informations- und Aufklärungskampagnen oder durch die Weitergabe von Information und Know-how, in sonstigen Förderungen ideeller Art oder in der Schaffung besonderer Einrichtungen zur Zusammenarbeit verschiedener Organisationen oder zur Aus- und Weiterbildung bestehen.65 6.3.3 Inhaltliche Vorgaben Bloße Regelung wirtschaftlicher Aspekte nach Art 195 AEUV Nach dem Willen des historischen Gesetzgebers sollte – wie bereits erwähnt – durch die Schaffung des Art 195 AEUV offenkundig primär eine Rechtsgrundlage für die Vornahme von Finanztransfer auf europäischer Ebene bereitgestellt werden. Allerdings hat diese Funktion des Art 195 AEUV keinen unmittelbaren Niederschlag im Text der Bestimmung gefunden. Vielmehr bezieht sich Art 195 AEUV angesichts seines Wortlauts – arg «Tourismussektor» in Art 195 Abs 1 AEUV –, seiner systematischen Einordnung als einzige Vorschrift des Titels XXII «Tourismus» sowie im Hinblick auf Art 6 lit d AEUV auf den Tourismus als solchen. Dessen ungeachtet begründet Art 195 AEUV keine umfassende, bloß durch das bereits erörterte Harmonisierungsverbot eingeschränkte Rechtsetzungskompetenz der Union für das gesamte Tourismus- und Reiserecht:
63 Im Ergebnis ohne nähere Begründung idS auch Wiesner, Unionsziele im Europäischen Verfassungsrecht 138; Ruffert in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 149 EGV Rz 15. 64 Eine Ausnahme bildet etwa Wichard in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 152 EGV Rz 16, der den Erlass von Verordnungen und Richtlinien trotz Harmonisierungsverbots ausdrücklich für zulässig hält; vgl auch Wichard in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 152 EGV Rz 18. 65 Vgl Smith, ELR 2007, 51; Psychogiopoulou, The Cultural Mainstreaming Clause of Article 151 (4) EC: Protection and Promotion of Cultural Diversity or Hidden Cultural Agenda?, ELJ 2006, 575 (582 f); so auch in anderem Zusammenhang Wiesner, Unionsziele im Europäischen Verfassungsrecht 128 f, 134.
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Die Tourismuskompetenz nach Art 195 AEUV
Art 195 Abs 1 AEUV erlaubt nämlich nur die Ergänzung mitgliedstaatlicher Maßnahmen im Tourismussektor «insb durch die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen der Union in diesem Sektor». Durch dieses demonstrativ angeführte Beispiel wird zum Ausdruck gebracht, dass sich der sachliche Anwendungsbereich des Art 195 AEUV grundsätzlich auf eine Regelung wirtschaftlicher Aspekte des Tourismus beschränkt. Maßnahmen nach Art 195 AEUV müssen dementsprechend der Schaffung und Erhaltung günstiger wirtschaftlicher Rahmenbedingungen für die Tourismusbranche dienen. Diese inhaltliche Bindung der auf Art 195 AEUV beruhenden Rechtsetzungsbefugnisse an eine – arg Art 195 Abs 1 UAbs 2 HS 1 AEUV – den eigentlichen Zweck des Kompetenztatbestandes ausmachende Gestaltung des wirtschaftlichen Umfelds des Tourismussektors wird durch die Zielvorgabe des Art 195 Abs 1 lit a AEUV bestätigt. Gemäß Art 195 Abs 1 lit a AEUV besteht das Ziel der Tätigkeit der Union nach Art 195 AEUV darin, «die Schaffung eines günstigen Umfelds für die Entwicklung der Unternehmen in diesem Sektor anzuregen». Während nun Art 195 Abs 1 lit a AEUV eindeutig mit der hier angenommenen wirtschaftlichen Ausrichtung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art 195 AEUV korrespondiert, ist die Zielbeschreibung des Art 195 Abs 1 lit b AEUV dagegen weniger offenkundig auf wirtschaftliche Aspekte ausgerichtet. Die in Art 195 Abs 1 lit b AEUV als Ziel vorgegebene Unterstützung der «Zusammenarbeit zwischen den MS insb durch den Austausch bewährter Praktiken» könnte sich schließlich auch auf nicht-wirtschaftliche Gesichtspunkte beziehen und jegliche mitgliedstaatliche Zusammenarbeit im Tourismussektor erfassen. Das gilt umso mehr, als mit dem «Austausch bewährter Praktiken» – wie die Wendung von der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zeigt – kein Austausch unternehmerischer Geschäftsmodelle, sondern der Austausch von für sich genommen ebenfalls nicht weiter präzisierten staatlichen Praktiken auf dem Gebiet des Tourismus gemeint ist. Da jedoch der «insb» in der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der im Tourismussektor tätigen Unternehmen bestehende Zweck des Art 195 AEUV im Einklang mit dem in Art 195 Abs 1 lit b AEUV beschriebenen Ziel mittels von auf Basis dieser Rechtsgrundlage gesetzten Maßnahmen zu erreichen ist, muss die Unterstützung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten durch die Union gemäß Art 195 AEUV ebenfalls der Verbesserung des wirtschaftlichen Umfelds im Tourismussektor dienen. Aus einer derartigen wirtschaftlichen Ausrichtung des Art 195 AEUV folgt noch kein Verbot einer Berücksichtigung anderer – wirtschaftsfremder – Gesichtspunkte im Rahmen des Erlasses von Maßnahmen nach Art 195 AEUV. Insb Erfordernisse des Verbraucherschutzes können dabei eine Rolle spielen, zumal diesen nach Art 12 AEUV bei der Festlegung und Durchführung der anderen Unionspolitiken und -maßnahmen entsprechend Rechnung zu tragen ist. Vor dem Hintergrund der gerade dargelegten wirtschaftlichen Orientierung des Art 195 AEUV ist aber zu fordern, dass sich andere als wirtschaftliche 123
Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht
Überlegungen nicht zum allein entscheidenden Element einer Inanspruchnahme des Art 195 AEUV entwickeln dürfen, und dass durch eine allfällige Beachtung wirtschaftsfremder Aspekte die wirtschaftliche Ausrichtung von auf Art 195 AEUV gestützten Maßnahmen nicht in den Hintergrund tritt. Wenigstens im Ergebnis muss es damit selbst bei einem nicht unwesentlichen Einfluss nicht-wirtschaftlicher Gesichtspunkte auf den Erlass von Maßnahmen nach Art 195 AEUV zu einer Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen des Tourismussektors oder zu einer sonstigen Verbesserung des wirtschaftlichen Umfelds in der Tourismusbranche kommen. In Anbetracht der in Art 195 Abs 1 AEUV ausdrücklich erfolgenden Zielbindung ist überdies nicht die Verfolgung jeglicher wirtschaftspolitischer Zwecke im Rahmen von auf Art 195 AEUV gestützten Maßnahmen möglich. Die offensichtlich kompetenzbeschränkend gedachte und wohl – wie der Umkehrschluss zu der mit dem Wort «insb» ausgedrückten demonstrativen Anführung des den Zweck der Vorschrift beschreibenden Beispiels nahelegt – taxative Aufzählung der Ziele in Art 195 Abs 1 lit a und lit b AEUV grenzt den Anwendungsbereich des Art 195 AEUV insofern ein, als Maßnahmen nach Art 195 AEUV vorrangig und nicht bloß nebenbei bei eigentlich anderen inhaltlichen Schwerpunkten die in Art 195 Abs 1 lit a AEUV oder – wie aus den fehlenden inhaltlichen Berührungspunkten zwischen den beiden Zielen zu schließen sein dürfte – alternativ dazu die in Art 195 Abs 1 lit b AEUV genannten Ziele zu verwirklichen haben.66 Im Detail wird das in Art 195 Abs 1 lit a AEUV festgelegte Ziel einer Anregung der Schaffung eines günstigen Umfelds für die Entwicklung der Unternehmen im Tourismussektor – bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen und unter Beachtung der übrigen Art 195 AEUV zu entnehmenden Schranken – zu jeder Art von Maßnahmen ermächtigen, die in letzter Konsequenz zu einer Erleichterung der wirtschaftlichen Aktivitäten von Tourismusunternehmen führt. Das in Art 195 Abs 1 lit b AEUV festgelegte Ziel einer Unterstützung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten wiederum ist nach dem insoweit nicht weiter präzisierenden Wortlaut schon durch jede Form der Hilfe bei gemeinsamen Aktivitäten von wenigstens zwei Mitgliedstaaten erreicht, mag diese Zusammenarbeit auch nicht institutionalisiert und ohne eigene rechtliche Basis erfolgen. Die strikte rechtliche Bindung von Maßnahmen nach Art 195 AEUV an die in Art 195 Abs 1 lit a und lit b AEUV niedergelegten Ziele wird dementsprechend durch die inhaltliche Weite der Zielbeschreibungen entschärft.
66 Vgl idS in anderem thematischen Zusammenhang Wiesner, Unionsziele im Europäischen Verfassungsrecht 126 mwN.
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Die Tourismuskompetenz nach Art 195 AEUV
Die Ergänzungsfunktion von Maßnahmen nach Art 195 AEUV Die durch Art 195 AEUV eröffneten Rechtsetzungsbefugnisse der Union erfahren eine Konkretisierung aber nicht nur durch inhaltliche Vorgaben, sondern auch durch die in Art 195 AEUV explizit mit den Wendungen «ergänzt die Maßnahmen der MS» in Art 195 Abs 1 AEUV sowie «zur Ergänzung der Maßnahmen, die die MS zur Verwirklichung der in diesem Artikel genannten Ziele durchführen» in Art 195 Abs 2 AEUV normierte zwingende Ergänzungsfunktion von auf dieser Basis erlassenen Maßnahmen der Union. Eine solche bereits im Rahmen von Kompetenztatbeständen des gegenwärtig geltenden Gemeinschaftsrechts zumindest ansatzweise vorgesehene67 Ergänzungsfunktion primärrechtlicher Kompetenzvorschriften ist allen Kompetenzbestimmungen iSd Art 2 Abs 5 AEUV inhärent, beschränkt sich doch die Zuständigkeit der Union nach Art 2 Abs 5 UAbs 1 AEUV sowie nach Art 6 Satz 1 AEUV auf «Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung und Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten», ohne dass nach Art 2 Abs 5 UAbs 1 AEUV «dadurch die Zuständigkeit der Union für diese Bereiche an die Stelle der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten tritt.» Im Gegensatz zu dieser Aufzählung unterschiedlicher Arten von Maßnahmen in Art 2 Abs 5 AEUV sowie in Art 6 Satz 1 AEUV ermächtigt Art 195 AEUV ausdrücklich nur zur Setzung von Ergänzungsmaßnahmen. Die Möglichkeit eines Erlasses von Unterstützungs- oder Koordinierungsmaßnahmen wird demgegenüber nicht erwähnt. Dass in Art 195 Abs 1 lit b AEUV auf eine Unterstützung durch die Union abgestellt wird, ändert nichts an dieser Feststellung, weil es sich bei dieser Aussage um keine Beschreibung der Art und Weise der Kompetenzausübung, sondern um eine Festlegung eines Ziels für die Tätigkeiten der Union nach dieser Kompetenzbestimmung handelt. Nach dem Vorbild vergleichbarer Auslegungsprobleme im Bereich der gegenwärtig geltenden Kompetenzgrundlagen68 könnte zwar auf eine Differenzierung zwischen Ergänzungsmaßnahmen auf der einen Seite sowie Maßnahmen zur Unterstützung und solchen zur Koordinierung auf der anderen Seite verzichtet werden, doch würde ein derartiger Ansatz weder den verschiedene Kategorien von Maßnahmen anführenden Aufzählungen des Art 2 Abs 5 AEUV und des Art 6 AEUV noch dem insoweit Unterschiede insb zwischen Ergänzung ei67 Vgl etwa Art 151 EGV, Art 152 EGV sowie Art 153 EGV. 68 Aus der jüngeren Lit vgl etwa die Gleichsetzung der im Rahmen verschiedener Kompetenzgrundlagen verwendeten Begriffe «Angleichung», «Harmonisierung» und «Koordinierung» bei Zeitler/Kolling, Das «26. Regime» – Königsweg oder Notlösung der europäischen Rechtsharmonisierung, EWS 2006, 97 (100); Silny, Die binnenmarktbezogene Rechtsangleichungskompetenz des Art. 95 EG 31 f; ferner die Gleichsetzung von «Fördermaßnahmen» nach Art 152 Abs 4 lit c EGV mit ergänzenden und unterstützenden Tätigkeiten der Gemeinschaft bei Wichard in Callies/Ruffert, EUV/EGV3 Art 152 EGV Rz 16.
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Primärrechtliche Rechtsgrundlagen für ein europäisches Tourismusrecht
nerseits und Unterstützung andererseits machenden Sprachgebrauch im Zuge anderer Kompetenztatbestände iSd Art 2 Abs 5 AEUV69 gerecht werden. Es dürfte daher mehr dafür als dagegen sprechen, zwischen Ergänzungs-, Unterstützungs- und Koordinierungsmaßnahmen zu differenzieren,70 dem Begriff der Ergänzung eine eigenständige Bedeutung zuzuerkennen und den Wortlaut des Art 195 AEUV als bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers zur Beschränkung der Rechtsetzungsbefugnisse nach dieser Bestimmung auf Ergänzungsmaßnahmen anzusehen. Unabhängig von der konkreten Lösung der gerade erörterten Fragestellung ergeben sich aus Art 195 AEUV jedenfalls Hinweise auf den spezifischen Inhalt der Ergänzungsfunktion nach dieser Kompetenzvorschrift: Zum einen ist der Erlass von Maßnahmen nach Art 195 AEUV an die vorherige Setzung entsprechender Maßnahmen durch die MS gebunden. Das folgt einerseits aus Art 195 Abs 1 Satz 1 AEUV, wonach die Union die mitgliedstaatlichen Maßnahmen und nicht schon künftig geplante Aktivitäten der Mitgliedstaaten im Tourismussektor ergänzt. Noch deutlicher geht diese Bindung andererseits aus dem Wortlaut des Art 195 Abs 2 AEUV hervor, nach dem die Union zur Ergänzung von Maßnahmen berufen ist, «die die Mitgliedstaaten zur Verwirklichung der in diesem Artikel genannten Ziele durchführen». Wiederum wird an bestehenden Tätigkeiten und nicht an potentiellen Aktivitäten der MS angeknüpft.71 Zum anderen dürfen Ergänzungsmaßnahmen nach Art 195 AEUV in aller Regel nur punktuellen und dienenden Charakter aufweisen. Schließlich spricht Art 195 Abs 1 lit a AEUV von einer Anregung und Art 195 Abs 1 lit b AEUV von einer Unterstützung als Ziel der Ergänzungsmaßnahmen. Primärrechtlich zulässig sind nach Art 195 AEUV also bloß durch die jeweiligen Maßnahmen ausgelöste Auswirkungen niedriger Intensität, die bereits durch geringfügige Eingriffe zu erreichen sind. Schwerwiegende Eingriffe müssen infolgedessen auf Grund der mit ihnen verbundenen weitreichenden Konsequenzen unterlassen werden. Somit bleibt es angesichts der Ergänzungsfunktion des Art 195 AEUV bei einem Primat der mitgliedstaatlichen Politik, der den MS im Grundsatz die inhaltliche Steuerungsgewalt belässt.72
69 Vgl Art 165 Abs 1 UAbs 1 AEUV, Art 166 Abs 1 AEUV, Art 167 Abs 2 AEUV und Art 168 Abs 1 UAbs 2 und 3 sowie Abs 3 AEUV. 70 IdS allerdings ohne Begründung wohl auch Papastamkos/Schwab, EuZW 2008, 161. 71 Es gibt auch Gebiete, in denen anderes gilt; vgl Wiesner, Unionsziele im Europäischen Verfassungsrecht 134. 72 Vgl idS in anderem Zusammenhang Wiesner, Unionsziele im Europäischen Verfassungsrecht 135.
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Schlussfolgerungen
6.4 Schlussfolgerungen Die vorliegende Arbeit zeigt, dass unabhängig von einer allfälligen Reform der Gründungsverträge durch den Vertrag von Lissabon die im Jahr 2004 entwickelten Aussagen zur Tauglichkeit der verschiedenen Kompetenzbestimmungen für die Regelung tourismus- und reiserechtlicher Fragestellungen weiterhin uneingeschränkt Geltung beanspruchen können. Einzig die im Vertrag von Lissabon in Art 195 AEUV vorgesehene Tourismuskompetenz stellt eine wirkliche Neuerung dar. Angesichts der hier herausgearbeiteten inhaltlichen Beschränktheit dieses Kompetenztatbestands bildet Art 195 AEUV jedoch keine taugliche Basis für eine umfassende und wirksame Regelung touristischer Themenkomplexe. Zudem macht Art 195 AEUV einen Rückgriff auf Art 352 AEUV als der Nachfolgebestimmung des Art 308 EGV unmöglich, sodass nach Einführung des Art 195 AEUV auch dieser Weg zur Verwirklichung von weitergehenden Regelungskonzepten versperrt ist. Art 195 AEUV ist folglich in rechtspolitischer Hinsicht als entbehrlich, weil den praktischen Erfordernissen kaum gerecht werdend und letzten Endes zu einer Einschränkung der bisher bestehenden gemeinschaftsrechtlichen Rechtsetzungsbefugnisse führend zu beurteilen.
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7. Die Fluggastrechte-Verordnung und ihre unbestimmten Gesetzesbegriffe Ronald Schmid 7.1 Allgemeines Die VO 261/2004/EG.1 Sie ist trotz des heftigen Widerstands der LuftfahrtIndustrie2 am 17.02.2005 in Kraft getreten. Mir ihr sollte – wie sich aus den Erwägungsgründen3 ergibt, der bestehende Schutz von Passagierrechten verbessert werden. Das ist zum Teil erreicht worden. Wenn man allerdings die Schlussanträge der GA Sharpston zu zwei beim EuGH anhängigen Verfahren4 liest, muss man befürchten, dass sich der Verbraucherschutz nicht in der erwünschten Weise entfalten kann. Fünf wichtige Rechtsprobleme müssen in naher Zukunft beim EuGH entschieden werden. 7.1.1 Rechtsproblem: Die Segmentierung eines Rundfluges oder: Wann ist ein Flug «im Gebiet eines Mitgliedsstaates angetreten»? Weil nur an wenigen Flughäfen das für Großraumflugzeuge notwendige Passagieraufkommen5 im Einzugsbereich desFlughafens generiertwerden kann, müs1 ABl 2004 L 46/1. 2 So wurde ein Verfahren vor dem EuGH angestrengt: 10.01.2006 Rs C-344/04 (IATA ea/ Department of Transport) =RRa 2005, 273 =ELR 2006, 266 (ausf Keiler). Das Gericht hat allerdings festgestellt, dass die VO nicht gegen höherrangiges Recht verstößt. 3 Siehe ErwGr 1, 3, 4, 12. 4 Siehe die SA Sharpston 27.09.2007 Rs C-396/06 (Kramme/SAS) =RRa 2007, 261 und 06.03.2008 Rs C-173/07 (Emirates Airlines/Schenkel) =RRa 2008, 135; die Rs C-396/06 ist inzwischen aus dem Register des Gerichts gestrichen worden. Vgl Tonner, Fluggastrechte und der EuGH, VuR 2009, 209; Keiler, Die Fluggastrechte-VO vor dem EuGH, ZVR 2009, 236. 5 Ein Airbus A340–300 hat in der Standard-Konfiguration durchschnittlich 247, eine Boeing B747–400 hat 344 und ein Airbus A380 hat 555 Sitzplätze.
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Die Fluggastrechte-Verordnung und ihre unbestimmten Gesetzesbegriffe
sen Fluggäste aus anderen Regionen zugeführt werden. Deshalb werden nicht alle Flüge als Nonstop-Flüge durchgeführt. Wer zB von Hamburg nach Bangkok und zurück fliegen will, muss bei deutschen Luftfahrtunternehmen mindestens einmal umsteigen, in Düsseldorf, Frankfurt aM oder München. Je nach Fluggesellschaft kann aber auch ein (weiteres?) Umsteigen am Heimatflughafen des Luftfahrtunternehmens (zB in Dubai oder Abu Dhabi) notwendig werden. Die überwiegende Zahl der Passagier-Flüge sind sog Rundflüge, die von einem Abgangsflughafen über einen Zwischenlandeort wieder zum Abgangsflughafen zurückführen.6 Unter der Geltung des Montrealer Übereinkommens (MÜ) ist ein solcher Flug eine «einzige Beförderung», wenn er schon bei der Buchung als «einheitliche Leistung» gebucht wird; auf mögliche Zwischenlandungen kommt es nicht an (vgl Art 1 Abs 2 MÜ). Dieses internationale Übereinkommen ist durch die VO 2027/97/EG7 europäisches Sekundarrecht. Als integraler Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung bildet es mE zusammen mit den VO 261/2004/EG (Passagierrechte), 2111/2005/EG8 («Schwarze Liste») und 1107/2006/EG9 (eingeschränkte Mobilität) ein «europäisches Passagierrechte-System»10 In diesem Verständnis tritt die die VO 261/2004/EG nicht konzeptionslos neben die anderen Verordnungen; vielmehr schließt sie einige der Lücken, die das MÜ bzw die VO 2027/97/EG gelassen haben11 und ist daher als ergänzende Regelung12 zu sehen.13 Leider ist aber bei der Anwendung der VO 261/2004/EG zu beobachten, dass diese Gesamtleistung (Flug von Hamburg über Bangkok nach Hamburg) in seine «Flugabschnitte»,14 die Teile eines Gesamtfluges sind, segmentiert wird. Wenn dann beim Umsteigen stets ein neuer Flug angetreten und die Anwendbarkeit der Verordnung jedes Mal wieder erneut geprüft wird, hat das erhebliche rechtliche Konsequenzen, die nicht als Verbesserung der Passagierrechte angesehen werden können. Ich will das an zwei Fällen aus der Praxis aufzeigen. 6 7 8 9 10
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ZB ein Flug Frankfurt aM nach Bangkok und zurück. In der Fassung der VO 889/2002/EG, ABl 1997 L 285/1 und ABl 2002 L 140/2. ABl 2005 L 344/15. ABl 2006 L 204/1. Siehe dazu Schmid, RRa 2004, 198; ders, RRa 2005, 144; ders, ZLW 2005, 373; Staudinger/Schmidt-Βenduhn, VersR 2004, 971; andernfalls müsste man der Kommission unterstellen, sie schaffe ohne Gesamtkonzept nur eine Vielzahl von Einzelregelungen. Das MÜ regelt weder die Nichtbeförderung eines Fluggastes oder die Annullierung eines Fluges noch die Pflicht Gewährung von Unterstützungsleistungen. So auch die GA Sharpston in ihren SA in der Rs C 173/07 Rn 56 und 58. Der EuGH hat in der Rs C-344/04 nur gesagt, dass die VO 261/2004/EG (genauer: Art 6) «schlicht neben die des Montrealer Übereinkommens» trete. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass bei der Abfassung des deutschen Textes diesem Aspekt redaktionell wenig Beachtung geschenkt wurde. Die Verordnung spricht von «Reiseabschnitten».
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Allgemeines
GA Sharpston hat in der Rs C-173/07 die Ansicht vertreten, dass ein «Rundflug» in seine einzelnen Flugabschnitte zerlegen sei (Segmentierung), um dann bei jedem Flugabschnitt erneut zu prüfen, ob die Verordnung anwendbar ist. Sollte der EuGH den SA von GA Sharpston folgen, würde das auch die Rechtsstellung derjenigen Fluggäste erheblich verschlechtern, die auf einem sog Direktflug, dh einem Flug mit geplanter Zwischenlandung, reisen. Sie würden nämlich von der Verordnung nicht mehr geschützt werden, wenn die Zwischenlandung an einem Ort erfolgt, der außerhalb des Gebietes der EG liegt und hier der zweite Flugabschnitt annulliert wird oder der Fluggast wegen Überbuchung des Fluges nicht weiter befördert wird. Denn dann würde der zweite Flugabschnitt als eigener Flug zu betrachten sein, der aber nicht «auf einem Flughafen im Gebiet eines Mitgliedstaates . . . angetreten» wurde. Das scheint mir nicht im Einklang zu stehen mit der Ansicht der Kommission, die in ihrer Mitteilung vom 04.04.200715 unter 4 ausgeführt hat: «Das wichtigste Ziel der Verordnung ist die Verbesserung der Situation der Fluggäste bei Unterbrechung ihrer Reise, gleichgültig, ob der Flughafen, an dem sie stranden, ein Drehkreuz ist oder ein Regionalflughafen ist.» Das erscheint mir der richtige Ansatz zu sein, will man wirklich einen hohen Schutzstandard für die Passagiere erreichen. Denn es kann nicht ernsthaft negiert werden, dass ein Fluggast Schutz gerade in diesem Fall besonders dringend braucht. Wer am Abgangsflughafen, der in aller Regel in erreichbarer Nähe des Wohnortes liegt, nicht befördert wird, kann sich leichter selbst helfen als der Fluggast, der fernab der Heimat «strandet» und Schwierigkeiten hat, die Weiterbeförderung notfalls selbst zu organisieren, ein Hotel zu finden etc. Das gilt in besonderem Maße für Urlaubsreisende, deren Rückflug annulliert oder erheblich verspätet wird. Das Zimmer in «ihrem» Urlaubshotel ist inzwischen durch die angereisten neuen Gäste bereits wieder belegt und andere Hotels zu finden, dürfte jedenfalls in der Hochsaison oft unmöglich sein. Die dann meist die einzige Möglichkeit ist Übernachten im Flughafengebäude. Und die Gelegenheiten, sich mit einfachsten Getränken und Essen zu verpflegen, sind auf den meisten touristischen Flughäfen mit fehlender oder einfacher Infrastruktur nur sehr eingeschränkt möglich. Da die Fluggäste von der Flugverspätung bzw -annullierung meist auch erst erfahren, wenn sie bereits abgefertigt im Sicherheitsbereich des Flughafen angekommen sind, können sie auch den Flughafen regelmäßig nicht mehr verlassen, um sich in der nächstgelegenen Stadt zu verpflegen. Die sich in den SA abzeichnende16 restriktive Rechtsprechung des EuGH, hätte aber auch eine andere Folge: Flugreisende wären gut beraten,
15 KOM (2007) 168 endg. 16 Nicht immer, aber doch sehr häufig folgt der EuGH den SA.
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(a) ausschließlich mit Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft zu fliegen und (b) nur noch Non-Stop-Flüge zu wählen, weil sie nur dann sicher sein können, unter dem Schutz der Verordnung zu fliegen. Handelten die Fluggäste entsprechend, würden zumindest nicht-europäische Luftfahrtunternehmen, die – wie die Beklagte in der Rs C-173/07 – häufig ihre Flüge über ihren Heimatflughafen (zB Istanbul, Dubai, Bangkok usw) als Drehkreuz führen, dann recht bald die Auswirkungen der Rechtsprechung wirtschaftlich spüren. So gesehen ist nicht auszuschließen, dass ein mögliches «Obsiegen» der Emirates Airlines, die den Fall vor den EuGH getragen hat, in rechtem Licht betrachtet ein «Pyrrhus-Sieg» ist. Das Luftfahrtunternehmen wird sich sicher bald fragen, ob es gut beraten war, den Rechstreit bis zum Europäischen Gerichtshof zu führen oder ob es nicht besser gewesen wäre, ihn für wenig Geld kundenfreundlich außergerichtlich beizulegen. Und die «Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft» werden bald feststellen, dass ihnen der «Sieg» vor dem EuGH Nachteile bringt: Wie wir gesehen haben, können Non-EU-carrier auf einem Nicht-EU-Flughafen den Anschlussflug (Rückflug) annullieren oder den Fluggast nicht (weiter) befördern, ohne dass die Sanktionen der VO greifen. Die Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft müssen dagegen bei gleichem Sachverhalt die Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen erbringen. Wenn sie also nach einer Entscheidung des EuGH applaudieren, sollten sie sich fragen, ob sie nicht ihren eigenen Wettbewerbsnachteil begrüßen. 7.1.2 Rechtsproblem: Wie ist eine «große Verspätung» von einer «Annullierung» abzugrenzen? Annullierungen gibt es offensichtlich für Luftfahrtunternehmen nicht. Selbst wenn der Flugkapitän den Passagieren mitgeteilt hat, dass der Flug gestrichen wird, und die Passagiere später mit einem anderen Flug befördert wurden, behaupten die Kundendienstsachbearbeiter und die Rechtvertreter der Luftfahrtunternehmen immer und fast gebetsmühlenartig, der Flug sei nur verspätet durchgeführt worden. Als Argument wird dann angeführt, das Luftfahrtunternehmen habe seine Absicht, den Flug durchzuführen, zu keinem Zeitpunkt aufgegeben. Sollte auch der EuGH die Ansicht vertreten, dass die Dauer der Verspätung kein Abgrenzungskriterium ist und es allein darauf ankommt, ob das Luftfahrtunternehmen die Flugdurchführung aufgegeben hat oder nicht, wären künftig zB auch Flüge, die mit einer Verzögerungen von 60 Stunden17 und 17 Siehe AG Rüsselsheim 07.11.2006, 3 C 717/06 =RRa 2007, 46; AG Frankfurt 12.10.2006, 30 C 1726/06 =RRa 2007, 39 (22 Stunden; best durch OLG Frankfurt 14.02.2007, 16 U
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mehr durchgeführt werden, noch als bloße «große Verspätung» anzusehen. Das hätte zur Folge, dass Luftfahrtunternehmen den Passagieren keine Ausgleichsleistung zahlen müssten. Ein Fluggast ist aber bei solchen Verspätungen ungleich stärker belastet als zB bei einer Annullierung eines Fluges und einer einigermaßen zeitnahen anderweitigen Beförderung. Sollte der EuGH die Abgrenzung einer Annullierung von einer großen Verspätung nicht an der Dauer der Abflugverzögerung festmachen, wäre die Kommission aufgerufen, dieses Zeit-Kriterium in der Verordnung nachträglich festzuschreiben, wenn sie ihr Ziel einer Erhöhung des Verbraucherschutzes noch weiter verfolgen will.18 In den verb Rs C-402/07 (Sturgeon/Condor)19 und C-432/07 (Böck ea/Air France) hat der EuGH diese Rechtsfrage zu klären. Die EU-Kommission hat in ihrer Stellungnahme vom 09.01.2008 dazu ausgeführt: «Eine Verspätung kann nach einem gewissen Zeitablauf in eine Verspätung umschlagen. Die Zeitgrenze ist nicht absolut, sondern von einer Gesamtbetrachtung der in den vorliegenden Umständen, insb der Flugentfernung abhängig. Eine geänderte Flugnummer ist ein starkes Indiz für eine Annullierung.» Das ist ein richtiger Ansatz. Doch sollte auch der EuGH in seiner Begründung so vage bleiben, ist der Praxis auch nicht wirklich geholfen. Denn der Streit wird dann um die Frage entbrennen, welcher Zeitablauf bei welcher Strecke angesetzt werden soll. 7.1.3 Rechtsproblem: Ist ein technisches Problem ein «außergewöhnlicher Umstand»? Ich kenne aus meiner anwaltlichen Praxis nur wenige Fälle20 einer Flugannullierung, in der nicht das Argument vorgetragen wurde, es habe «ein technisches Problem» vorgelegen, das zur Annullierung des Fluges geführt habe. Dafür könne das Luftfahrtunternehmen nicht verantwortlich gemacht werden, weil es die Flugzeuge regelmäßig warte. Ließe man eine solche pauschale Behauptung als Entlastungsgrund zu, würde der von der Verordnung angestrebte hohe Schutzstandard für Passagiere nicht erreicht werden.
216/06 =NJW-RR 2007, 1728; der BGH hat in einer Entscheidung 12.07.2006, X ZR 22/ 05 =RRa 2007, 36 zur VO 295/91/EWG offen gelassen, ob eine neunstündige Abflugverzögerung noch eine Verspätung oder schon eine Annullierung ist und entschieden, dass es jedenfalls keine Nichtbeförderung sei. 18 Ich fürchte allerdings, dass die Kommission angesichts des heftigen Streits um die Verordnung keinen Mut zu weiteren Initiativen hat und die Verordnung nicht nachbessert, so dass sie in der jetzigen Fassung, modifiziert durch die Auslegung des EuGH, bestehen bleiben wird. 19 Vgl Vorlagebeschl BGH 17.07.2007, X ZR 95/06 =NJW 2007, 3437 =RRa 2007, 185. 20 Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn sich das Luftfahrtunternehmen auf die Wetterbedingungen oder andere Gründe beruft.
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a. Ich will an dieser Stelle nicht vertiefen, dass sich nach dem Wortlaut der Verordnung die Annahme eines «außerordentlichen Umstandes» schon deswegen verbietet, weil die durch ein technisches Problem verursachte Flugtauglichkeit (airworthiness) tangiert, nicht aber die «Flugsicherheit» (flight safety).21 Denn der EuGH wird möglicherweise technische Probleme – wenn auch mit erheblichen Einschränkungen – als «außergewöhnliche Umstände» anerkennen.22 b. Das Auftreten von technischen Problemen ist im täglichen Luftverkehrsgeschäft nicht Ungewöhnliches; und im «Bedarfsfall» kann ein solches auch schnell «kreiert» werden.23 Daher muss dem Umstand Rechnung getragen werden, dass «außergewöhnlich» mehr ist als «ungewöhnlich»,24 und dementsprechend müssen an den Vortrag des Luftfahrtunternehmens hohe Anforderungen gestellt werden.25 In der (wieder aus dem Register des EuGH gestrichenen) Rs C-396/07 hat die GA ausgeführt: «Technische Gebrechen können ‹außergewöhnliche Umstände› (. . .) darstellen, wenn sie ihrer Art nach weder typischerweise von Zeit zu Zeit bei sämtlichen Luftfahrzeugen und/oder einem bestimmten Luftfahrzeugtyp auftreten, noch bekanntermaßen das fragliche Luftfahrzeug zuvor beeinträchtigt haben.»26 In den verb Rs C-402/07 und C-432/07 hat sich die Kommission diese Definition des Tatbestandsmerkmals «außergewöhnlich» in ihrer Stellungnahme vom 09.01.2008 zu eigen gemacht. Das ist mE ein akzeptabler Lösungsversuch, weil danach die «gewöhnlichen», dh alltäglichen technischen Probleme27 unberücksichtigt bleiben, die auch bei regelmäßiger Wartung auftreten können und ja der Risikosphäre des Luftfahrtunternehmens zuzurechnen sind. Und dass sich ein Luftfahrtunternehmen für die verbleibenden wirklich «außergewöhnlichen» Technik-Probleme soll entlasten können, wird vernünftigerweise Niemand bestreiten. c. Aber auch wenn ein technisches Problem wirklich ein außergewöhnliches ist, dass zur Entlastung heranzogen werden könnte, ist das Luftfahrtunternehmen immer noch nicht entlastet. Es muss vielmehr darlegen, dass die 21 Siehe dazu Schmid, NJW 2007, 261 ff, unter IV 1 und Air&Space Law 2007, 376; weil aber vielen Richtern und Anwälten diese strikte Unterscheidung in der Luftfahrt nicht geläufig ist, wird diese Fragestellung nicht weiter diskutiert. 22 Siehe dazu die SA der GA Sharpston in der Rs C-396/06 =RRa 2007, 261. 23 Denkbar wäre zB dass ein defektes Bauteil, das wegen Redundanz an Bord erst in der nächsten Wartung ausgetauscht werden müsste vorzeitig austauscht. Ausf dazu: Schmid, NJW 2006, 1841, 1844. 24 So auch: AG Rüsselsheim 07.11.2006, 3 C 717/06; LG Darmstadt 10.08.2007, 21 S 263/07 =RRa 2008, 88; AG Wedding 24.05.2007, 22a C 38/07 =RRa 2008, 52. 25 Ein Großteil der deutschen Judikatur tut das bereits. Vgl für viele: AG Frankfurt 04.08.2006, 31 C 1457/06 =RRa 2007, 133; 16.02.2007, 30 C 1701/06 =RRa 2007, 137. 26 SA Sharpston Rs C-396/06 Rn 61. 27 Bspw Reifenschäden, Triebwerksschäden oder Ausfall der Elektronik.
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Annullierung auf außergewöhnliche Umstände zurückgeht, die sich auch dann nicht hätten vermeiden lassen, wenn alle zumutbaren Maßnahmen ergriffen worden wären. Dabei kann aber der bloße Hinweis auf eine «regelmäßige Wartung» der eingesetzten Flugzeuge kann dabei nicht genügen. Die Praxis zeigt, dass sogar schwere technische Probleme auch bei «renommierten» Luftfahrtunternehmen aufgetreten sind, obwohl die Flugzeuge regelmäßig gewartet wurden. So ist zB bei einigen Flugzeugen der SAS vom Muster Dash 8 das Fahrwerk beim Aufsetzen auf der Landebahn weggebrochen, obwohl diese Flugzeuge regelmäßig (aber falsch) gewartet wurden. Bei Austrian Airlines, die denselben Flugzeugtyp betreibt, hat es vergleichbare Unfälle nicht gegeben. Auch die Flugzeuge vom Typ MD 80, die bei American Airlines allesamt vorübergehend stillgelegt werden mussten, wurden zuvor regelmäßig, wenn auch wohl falsch gewartet. d. Hinzuweisen ist noch auf einen Aspekt, der von der Rechtsprechung noch nicht recht beachtet wird: Die GA hat nämlich – wenn auch knappe – Ausführungen gemacht zur Pflicht des Luftfahrtunternehmens, Ersatz-Flugzeuge vorzuhalten. In ihren Schlussanträgen vom 27.09.200728 führt sie aus: «Einer Fluggesellschaft zumutbare Maßnahmen zur Vermeidung einer Lage, in der kein Ersatz-Flugzeug verfügbar ist, bestehen meiner Ansicht nach darin, angemessene Vorkehrungen für entsprechende Zwischenfälle zu treffen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu entscheiden, wie viele Ersatzflugzeuge im konkreten Fall hierfür erforderlich sind, und ob diese zur eigenen Flotte der Fluggesellschaft gehören müssen oder von anderen Gesellschaftern gechartert werden können. Zwar geht es hier nicht um die Vorkehrungen, die die Fluggesellschaft tatsächlich trifft, doch kann die Zahl der außer Betrieb gesetzten Luftfahrzeuge, mit der die Gesellschaft in der Vergangenheit konfrontiert war, hilfreich sein, um zu entscheiden, in welcher Größenordnung Vorkehrungen angemessen wären.» Man darf gespannt sein, was der EuGH dazu sagt. 7.1.4 Rechtsproblem: Sind nur durch Überbuchung bedingte Nichtbeförderungen von der Verordnung erfasst? Das OLG Frankfurt hat am 29.05.2008 in drei Verfahren29 die Ansicht vertreten, dass eine Nichtbeförderung nicht vorliege, wenn der 1. Abschnitt eines Fluges (zB München – Frankfurt – Singapur) mit Verspätung am Umsteigeflughafen ankommt und der Fluggast deshalb auf dem 2. Flugabschnitt nicht
28 SA Sharpston Rs C-396/06 Rn 47. 29 OLG Frankfurt 16 U 178/07, 16 U 238/07 und 16 U 39/08.
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befördert wird. Der 16. Zivilsenat ist – anders als der 1. Zivilsenat30 und das Hanseatische OLG31 – der Meinung, die Verordnung regele insoweit nichts anderes als die VO 295/91/EWG32 vom 04.02.1991, die nur die Nichtbeförderung wegen Überbuchung geregelt habe. Die neue Verordnung habe dieses Regelwerk nur um die Tatbestände der «großen Verspätung» und der «Annullierung» ergänzt. Das kann aber nicht überzeugen. Aus den ErwGr der VO 261/2004/EG ergibt sich, dass der durch die Vorgänger-Verordnung geschaffene «grundlegende Schutz» für Fluggäste und den damit festgelegten Schutzstandard erhöht werden soll. Diese Schutzerweiterung ist aber nicht nur auf die zusätzlichen Regelungen hinsichtlich großer Verspätungen und Annullierungen beschränkt. Vielmehr ist der Schutzstandard auch erweitert worden auf die bislang nicht erfassten Fälle einer Nichtbeförderung, die andere Ursachen hat als die Überbuchung des Fluges haben. Dafür spricht nicht nur der Umstand, dass in Art 4 VO 261/2004/EG nicht mehr von «Überbuchung» gesprochen wird,33 sondern mehr noch eine Regelung, die es in der auf Nichtbeförderung aufgrund Überbuchung beschränkten VO 295/91/EWG noch nicht gab: Art 2 lit j VO 261/2004/EG. Sie bestimmt, dass eine Nichtbeförderung nur dann vorliegt, wenn keine «vertretbaren Gründe» gegeben sind. Als solche können nur Gründe herangezogen werden, die aus dem Verantwortungsbereich des Fluggastes stammen; Gründe, die aus dem Verantwortungsbereich des Luftfahrtunternehmens stammen, können nicht berücksichtigt werden. Überbuchungen sind aber allein vom Luftfahrtunternehmen zu verantworten. Die zugunsten der Luftfahrtunternehmen konzipierte Entlastungsmöglichkeit macht deshalb keinen Sinn, wenn in der neuen Verordnung weiterhin nur die Nichtbeförderung wegen Überbuchung hätte geregelt werden sollen. Bleibt zu hoffen, dass der EuGH das auch so sieht. 7.1.5 Rechtsproblem: Keine Gerichtstandsregelung in der Verordnung34 Eine weitere schwierige Entscheidung bei der Bearbeitung von Fällen aus dem Bereich der VO 261/2004/EG ist die Bestimmung des richtigen Gerichtsstandes. Wo ist die Klage gegen das Luftfahrtunternehmen zu erheben? Am Ge-
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OLG Frankfurt 06.02.2008, 1 U 45/07 =ADAJUR 79463. Hanseatisches OLG 06.11.2007, 6 U 94/07 =RRa 2008, 139. ABl 1991 L 36/5. ME spricht nichts dafür, dass dieser Begriff nur durch ein redaktionelles Versehen weggefallen ist. 34 Siehe dazu ausf Staudinger, RRa 2007, 155.
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richtsstand des Erfüllungsortes!? Gut. Aber was als Erfüllungsort anzusehen ist, ist streitig. Das ist der Abgangsflughafen, an dem eingecheckt wird, meinten das AG Lichtenberg35 und das AG Düsseldorf36. Das OLG Koblenz37 hat (zumindest auch) den Zielflughafen, an dem ausgecheckt wird, als Erfüllungsort angesehen. Das AG Geldern38 hat bei einem Flug von London nach «Frankfurt»Hahn das Gericht als Gerichtsstand des Erfüllungsortes angesehen, in dessen Sprengel der deutsche Ziel-Flughafen liegt. Ganz anders hatte das OLG München39 entschieden. Es ging um einen Flug von München nach Vilnius (Litauen), der annulliert worden war. Das Luftfahrtunternehmen verweigerte die Zahlung der Ausgleichsleistungen. Wo war zu klagen? Der Kläger erhob Klage beim AG Erding, in dessen Gerichtsbezirk der Flughafen München II liegt. Doch das OLG München wies die Klage wegen Unzulässigkeit ab und hob das Urteil der Vorinstanz auf. Das Einchecken sei nicht Schwerpunkt der Leistungen, meint das Oberlandesgericht. Dieser liege in den weiteren zu erbringenden Dienstleistungen (Verkauf des Fluges, Buchung des Sitzplatzes). Deshalb liege der Schwerpunkt der Dienstleistungen am Sitz des Luftfahrtunternehmens. Und dieser lag im zu entscheidenden Fall in Riga. Kein sehr verbraucherfreundliches Ergebnis! Weil aber die Revision zugelassen worden war, wurde die Sache dem BGH vorlegt; in seinem Vorlagebeschluss40 hat er dazu Stellung genommen: Er neigt offensichtlich dazu, das Urteil des OLG München nicht zu bestätigen und den Erfüllungsort dort anzunehmen, wo der Fluggast erstmals eincheckt.41 Das klärende Wort wir nun der Europäische Gerichtshof sprechen müssen. Sollte der EuGH dem OLG München folgen, wäre de jure die Durchsetzung der Ansprüche zwar nicht erschwert, de facto aber schon. Ansprüche, die in der Praxis nur schwer und mit erheblichem Aufwand durchzusetzen sind, können aber nicht als Verbesserung des Verbraucherschutzes angesehen werden.
35 36 37 38 39 40 41
AG Lichtenberg 07.09.2006, 5 C 184/06 =RRa 2007, 45. AG Düsseldorf 08.04.2008, 23 C 14910/07 =RRa 2008, 144. OLG Koblenz 29.3.2006, 1 U 983/05 =OLGR 2006, 485 =RRa 2006, 224. AG Geldern 28.11.2007, 14 C 273/07 =NJOZ 2008, 309. OLG München 16.05.2007, 20 U 164/07 =RRa 2007, 182. BGH 22.04.2008, X ZR 76/07 =EuZW 2008, 478. So auch Staudinger, RRa 2007, 155.
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7.2 Fazit Welche Verbesserungen des Schutzniveaus für Passagiere hat also die neue VO erreicht? 1. Lassen Sie mich zunächst ein Worst-case-Scenario zeichnen, das auf der Annahme aufbaut, dass (i) aufgrund der Urteile des EuGH eine «RundflugBetrachtung» (Hin- und Rückflug sind ein Flug) nicht möglich ist, (ii) nur die Nichtbeförderung wegen Überbuchung von der VO erfasst ist, (iii) eine lange Abflugverzögerung eine große Verspätung, aber keine Annullierung ist und (iv) technische Probleme uneingeschränkt einen Entlastungsgrund darstellen. Das hätte zur Folge: – Die Haftung dürfte «Annullierungen» dürfte praktisch bedeutungslos werden. – Große Verspätungen bleiben ohne großes Risiko für die Luftfahrtunternehmen: es sind keine Ausgleichsleistungen zu zahlen und nur Unterstützungsleistungen zu gewähren. Diese können aber bei geschickter Steuerung sanktionslos verweigert werden. – Langfristige Annullierungen bleiben ohne Rechtsfolgen. – Kurzfristige Annullierungen eines Fluges in das Gebiet der Europäischen Gemeinschaften bleiben ebenfalls folgenlos, wenn ein Non-EU-carrier den Flug streicht. – Aber auch kurzfristige Annullierungen eines Fluges durch ein Luftfahrtunternehmen der Gemeinschaft ohne rechtliche Konsequenzen, wenn man jedes technische Problem immer als «außergewöhnlichen Umstand» wertet. – Nichtbeförderungen, deren Ursache nicht die Überbuchung des Fluges ist, werden von der Verordnung nicht erfasst. So beschränkte sich der Passagierschutz eigentlich im Wesentlichen auf die Nichtbeförderung wegen Überbuchung des Fluges. Der war aber schon in der VO 295/91/EWG geregelt. Eine echte Verbesserung der Fluggastrechte ist das nicht. 2. Die VO hat sich das Ziel gesteckt, den bereits bestehenden grundlegenden Schutzstandard für Fluggäste zu erhöhen.42 Sie konnte das aber nur unzureichend bewirken, weil einige Bestimmungen der Verordnung handwerklich wenig geschickt formuliert und zudem die Konsequenzen nicht hinreichend zu Ende gedacht wurden. Sollte nun auch noch der von mir befürchtete Rückbau der neuen Passagierrechte durch den Europäischen Gerichtshof erfolgen, würde die Verordnung ihr selbst gestecktes Ziel endgültig nicht erreichen können. 42 Vgl ErwGr 1, 3, 4 VO 261/2004/EG.
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Fazit
Wenn die Kommission ihr Ziel der Verbesserung des Schutzstandards für Passagiere noch erreichen will, muss sie die VO 261/2004/EG nachbessern, dh erkannte oder aufgezeigte Unzulänglichkeiten und Lücken schließen. Ich fürchte aber, dass ihr nach der schwierigen Geburt der Verordnung und der massiven Kritik von allen Seiten dazu der Mut fehlen wird. Wenn nicht, sollte muss der europäische Gesetzgeber rasch handeln.
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8. Licht am Ende des Tunnels? Streitfragen zur Verordnung 1371/2007/EG im Eisenbahnverkehr sowie zur außergerichtlichen Streitbeilegung Ansgar Staudinger* 8.1 Einleitung Den zwischenstaatlichen Bahnverkehr regelte bislang das Übereinkommen über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF) vom 09.05.1980,1 welches seit dem 01.05.19852 innerhalb der Bundesrepublik Deutschland gilt. Der Anhang A dieses Abkommens enthält «Einheitliche Rechtsvorschriften für den Vertrag über die internationale Eisenbahnbeförderung von Personen und Gepäck» (ER CIV3). Das Änderungsprotokoll vom 03.06.19994 ist für die Bundesrepublik Deutschland 01.07.2006 in Kraft getreten.5 Die VO 1371/
* Die nachfolgenden Ausführungen sind im ersten Abschnitt bereits abgedruckt in der EuZW 2008, 751 ff. Die Ausführungen zur außergerichtlichen Streitbeilegung sind die Ergebnisse einer im Auftrag des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft, und Verbraucherschutz erstellten Gutachtens, welches auf der Homepage des BMELV im Volltext einzusehen ist. 1 dBGBl 1985 II 132; geändert durch Verordnungen 19.12.1990 (dBGBl II 1662) und 07.05.1991 (dBGBl II 679) sowie durch Protokoll 20.12.1990 (dBGBl II 1992, 1182). 2 dBGBl II 1985, 666, 1001. 3 dBGBl II 1985, 178. Das Änderungsprotokoll zur COTIF 20.12.1990 ist in Deutschland seit dem 01.11.1996 in Kraft (dBGBl II 1996, 2655). 4 Protokoll 03.06.1999 betreffend die Änderung des Übereinkommens 09.05.1980 über den internationalen Eisenbahnverkehr (COTIF). 5 Vgl hierzu dBGBl 2006 II, 827. Zu den Fahrgastrechten vgl jüngst Pohar, Rechtsbeziehungen zwischen Fahrgast und Eisenbahn, 2006, 291 ff; Schmidt-Bendun, Haftung der Eisenbahnverkehrsunternehmen (2007) 79 ff. Zu den neuen Entwicklungen anlässlich des Inkrafttretens vgl Freise, TranspR 2007, 45.
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Licht am Ende des Tunnels?
2007/EG6 stellt vor diesem Hintergrund einen weiteren Schritt des Gemeinschaftsgesetzgebers zur Vereinheitlichung des Eisenbahnbeförderungs- und damit Reiserechts dar. Wie bereits beim Luftverkehr geht mit dem Erlass derartiger Sekundärrechtsakte ein Paradigmenwechsel einher. So erscheint das bisherige staatsvertragsrechtliche System (MÜ,7 COTIF mit dem Anhang CIV) innerhalb der Mitgliedstaaten zum Auslaufmodell zu werden und wächst dem europäischen Gesetzgeber im Verhältnis zu Drittstaaten laut Judikatur des EuGH8 die Abschlusskompetenz für Konventionen zu. Der Vorzug einer Verordnung besteht darin, dass sie an sich von einem bestimmten Stichtag an in sämtlichen (auch beitretenden) MS «self-executing» ist. Zudem vermag der EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens offene und entscheidungserhebliche Fragen mit jedenfalls faktischer Bindungswirkung für sämtliche Spruchkörper im Binnenmarkt zu klären. Vor diesem Hintergrund stellt der Erlass der VO 1371/2007/EG sicherlich einen Fortschritt dar. Indes zeigt eine eingehende Analyse, dass dieser Sekundärrechtsakt möglicherweise nur teilweise Rechtseinheit schaffen und darüber hinaus eine Reihe von Zweifelsfragen aufwerfen wird.
8.2 Abgrenzung der inländischen- von der grenzüberschreitenden Beförderung Nach ihrem Art 37 tritt die VO 1371/2007/EG 24 Monate nach der Veröffentlichung im Amtsblatt der EU am 03.12.2007 in Kraft. Auf den ersten Blick scheint damit ein einheitlicher Rechtsschutzraum zu Gunsten der Fahrgäste greifbar zu sein. Jedoch räumt der Sekundärrechtsgeber den Mitgliedstaaten – teils auf Dauer, teils zeitlich begrenzt – opt out-Rechte ein. Dies folgt aus Art 2 IV, V sowie VI des Rechtsakts. Derzeit erscheint unklar, ob und inwieweit insb osteuropäische Beitrittsstaaten von den weit reichenden Optionen Gebrauch machen. Dies könnte dann allerdings nicht nur zu Schutzdivergenzen innerhalb des Binnenmarkts, sondern vor allem zu Abgrenzungsschwierigkeiten führen. 6 VO 1371/2007/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten im Eisenbahnverkehr, ABl 2007 L 315/14; vgl dazu Schmidt, RRa 2008, 154; Staudinger/Ilchmann, NJW 2008, 2752, 2758; Staudinger/Schürmann, NJW 2009, 2788, 2795. 7 Übereinkommen zur Vereinheitlichung bestimmter Vorschriften über die Beförderung im internationalen Luftverkehr vom 28.05.1999 (ABl 2001 L 194/39); dieses trat am 28.06.2004 für die EG (ABl 2001 L 194/38) und für Deutschland gem Bekanntmachung vom 16.09.2004 (dBGBl II 2004, 1371) in Kraft. Siehe dazu auch Ruhwedel, TranspR 2008, 89. 8 Vgl EuGH (Plenum) 07.02.2006 Gutachten 1/03 «Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Abschluss des neuen Übereinkommens von Lugano über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen» Slg 2006 I-01145.
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Abgrenzung der inländischen- von der grenzüberschreitenden Beförderung
So eröffnet Art 2 IV und V der VO 1371/2007/EG den MS die Möglichkeit, ihre jeweiligen inländischen Schienenpersonenverkehrsdienste – abseits der in Art 2 III des Sekundärrechtsakts genannten Bestimmungen – von dessen Regelungsbereich auszunehmen. Aus der Systematik dieser Vorschrift folgt, dass grenzüberschreitende Schienenpersonenverkehrsdienste uneingeschränkt den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben unterliegen. Abgrenzungsfragen ergeben sich, wenn ein Kunde auf einer laut Fahrplan an sich internationalen Zugverbindung beispielsweise eine Verspätung in demjenigen MS erleidet, in dem sowohl der Ausgangs- und Endpunkt der Beförderung angesiedelt sind. Kann sich dieser Fahrgast dennoch etwa auf Art 17 VO 1371/2007/EG berufen, unterstellt, dass der betreffende MS sein Optionsrecht in Art 2 IV des Sekundärrechtsakts genutzt hat? Nach der Legaldefinition in Art 3 Nr 11 VO 1371/2007/EG handelt es sich bei dem inländischen Schienenpersonenverkehrsdienst um einen solchen, bei dem keine Grenze überschritten wird. Streng genommen ist dies im Ausgangssachverhalt im Hinblick auf den Tatbestand der Verspätung sowie in Bezug auf den konkreten Kunden auch nicht der Fall. Auf diese beiden Aspekte kann jedoch nicht abgestellt werden. So knüpft auch Art 3 Nr 11 VO 1371/2007/EG nicht an den Ort der Verspätung an und greift das Schutzregime des Sekundärrechtsakts zweifelsohne dann ein, wenn ein Kunde mit dem Thalys von Köln nach Paris fahren will, sich eine Verspätung aber bereits in Deutschland ereignet. Ebenso wenig kann es darauf ankommen, ob der Kunde in concreto eine Landesgrenze überschreitet. Dies hätte zur Folge, dass der Schutzstandard erst mit dem faktischen Grenzübertritt aktiviert würde. Schon allein aus Gründen der Rechtssicherheit und Vorhersehbarkeit muss aber mit Beginn der Beförderung feststehen, ob die Verordnung Platz greift oder nicht. Stellte man indes auf den einzelnen Kunden ab, könnte er im Ergebnis über die Anwendbarkeit des Rechtsakts disponieren, je nachdem, ob er die Fahrt vor Grenzübertritt abbricht oder vorgibt, etwa noch in das benachbarte Land weiterreisen zu wollen. Dem Gebot der praktischen Wirksamkeit (effet utile) des Gemeinschaftsrechts entsprechend sollte vielmehr auf das Transportmittel und dessen fahrplanmäßigen grenzüberschreitenden Einsatz abgestellt werden. Dies gilt selbst für den Fall, dass der konkrete Start- und Zielbahnhof in demselben MS liegen. Dass es auf objektive Kriterien ankommen muss, wird durch Art 2 V VO 1371/2007/EG untermauert. Denn in der Regel dürften internationale Schienenpersonenverkehrsdienste einem anderen Preismodell unterliegen, wodurch auch eine berechtige Erwartungshaltung des Fahrgastes in Bezug auf Schutzverbürgungen geschaffen wird. In der Gesamtschau spricht mithin die Rechtssicherheit für den Fahrplan als Abgrenzungskriterium. Andernfalls drohen nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlungen von Fahrgästen innerhalb desselben Transportmittels. Je143
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denfalls aber stellt der hier vertretene Ansatz sicher, dass die Optionsrechte der MS als Ausnahme von dem an sich angestrebten einheitlichen Rechtsschutzraum im Binnenmarkt auch tatsächlich entsprechend ihrem Sinn und Zweck9 restriktiv interpretiert werden. Allein dieses methodische Vorgehen stellt im Ergebnis die Effektivität der VO 1371/2007/EG sicher.
8.3 Mindeststandard oder Vollharmonisierung Die deutsche Bundesregierung hat die in der VO 1371/2007/EG vorgesehenen Fahrgastrechte bereits vor dem binnenmarktweiten Stichtag ihrer Anwendbarkeit Ende 2009 kraft eines nationalen Legislativakts aktiviert.10 Da zum Teil eine Verschärfung des gemeinschaftsrechtlichen Modells gefordert wird,11 ist eine der zentralen Fragen, ob die Verordnung Gestaltungsspielräume gerade bei Verspätungsschäden eröffnet. Dem Wortlaut nach schreibt Art 17 I 2 des Sekundärrechtsakts eine «Mindestentschädigung» vor. Unklar erscheint, ob die Verordnung an dieser Stelle nur einen Mindestschutzstandard vorsieht. Zweifelsohne erlaubt Art 6 II der VO den Eisenbahnunternehmen, Vertragsbedingungen festzulegen, welche die Mindestvorgaben des Rechtsakts überschreiten. Doch darf auch ein nationaler Gesetzgeber über das Schutzniveau hinausgehen? Während letzteres etwa für den Bereich der Haftung für Gepäck im Lichte des Art 11 der VO offensichtlich als zulässig erscheint, ist einer ersten Stellungnahme im Schrifttum12 zu entnehmen, Art 17 VO verbiete abweichende Legislativakte in den Mitgliedstaaten. Eine dahingehende Öffnungsklausel sei im Rat ausführlich diskutiert, indes abgelehnt worden, insb, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden. Begründung wie Ergebnis stoßen auf Widerspruch. Die Haftung der Eisenbahnunternehmen für Verspätungen, verpasste Anschlüsse und Zugausfälle hat der Sekundärrechtsgeber im Kapitel IV sowie Anhang I Titel IV Kapitel II kodifiziert. Art 17 (wie auch Art 18) VO ist dabei nach Art 2 IV und V dieses Rechtsakts nicht zwingend ausgestaltet. Dem nationalen Gesetzgeber kann vielmehr dafür optieren, inländische Schienenpersonenverkehrsdienste von den in Art 2 III VO nicht aufgeführten Regeln (zeitlich beschränkt) freizustellen. Der Begriff der «Ausnahme» in Art 2 IV des 9 ErwGr 25 VO 1371/2007/EG. 10 Gesetz zur Anpassung eisenbahnrechtlicher Vorschriften an die Verordnung 1371/2007/ EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.10.2007 über die Rechte und Pflichten der Fahrgäste im Eisenbahnverkehr vom 26.05.2009 (dBGBl I 2009, 1146); vgl dazu Lindner, Editorial, RRa 2009, 161. 11 Siehe den Antrag der FDP vom 04.07.2008, BT-Drs 16/9804 vom 25.06.2008. 12 Schmidt, RRa 2008, 154, 159.
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Mindeststandard oder Vollharmonisierung
Sekundärrechtsakts ist dabei auch im Lichte des ErwGr 25 nicht auf ein Unterschreiten des Schutzniveaus beschränkt. Dies folgt weder aus dem Wortlaut bzw der Begründung. Noch wäre es mit der allgemeinen Systematik und Zielsetzung des Rechtsakts auch unter Einbeziehung paralleler Regelungen im Luftverkehr vereinbar. So betrifft Art 17 I 1 und 2 VO eine pauschalierte Mindestentschädigung («the minimum compensations for delays shall be as follows») für Verspätungen. Bereits aus dem Wortlaut folgt mithin ganz allgemein, dass der Sekundärrechtsakt für Verspätungen kein abschließendes System von Pauschalen vorsieht. Vielmehr ist den Mitgliedstaaten insofern eine Verschärfung des Schutzniveaus erlaubt. Aus Anhang I Titel IV Kapitel II Art 32 I der VO ergibt sich ferner eine Forderung des Kunden für den Fall, dass die Reise wegen Ausfalls, Verspätung oder Versäumnis des Anschlusses nicht am selben Tag fortgesetzt werden kann oder dies nicht zumutbar ist. Ein derartiger Anspruch greift dabei unabhängig davon ein, ob eine Verspätung von 60 Minuten vorliegt. Es handelt sich um den Ersatz konkreter Schadenspositionen. Auch an dieser Stelle erweist sich das gemeinschaftsrechtliche System als nicht abschließend. Vielmehr bestimmt Anhang I Titel IV Kapitel II Art 32 III 1 VO ausdrücklich, dass im jeweiligen Landesrecht der MS der Ersatz weiterer Schäden vorgesehen werden kann. Nach der hier vertretenen Lesart dürfen die MS dabei nicht nur die Prozentsätze anheben, ebenso stellt die Eingriffsschwelle von 60 Minuten lediglich ein Minimum dar. Gegen die Annahme, den MS sei die Regelungsmacht entzogen, auch bereits bei geringeren Verspätungszeiträumen Pauschalen legislativ zu verankern, spricht, dass der europäische Gesetzgeber in Anhang I Titel IV Kapitel II Art 32 I des Sekundärrechtsakts dem Fahrgast selbst bereits unterhalb dieses Zeitraums einen Anspruch gewährt. Ebenso eröffnet Anhang I Titel IV Kapitel II Art 32 III 1 der VO 1371/2007/EG den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, unterhalb der Schwelle von 60 Minuten einen weitergehenden Ersatz in der dort angesprochenen Fallkonstellation vorzusehen. Abgesehen von dieser Auslegung anhand des Wortlauts sowie der Systematik der VO 1371/2007/EG streiten ihr Sinn und Zweck für die Annahme einer fortbestehenden Regelungsmacht der MS, weitergehende Rechte des Fahrgastes festzuschreiben. Aus den ErwGr 2, 3, 6, 13 lässt sich als ratio dieses Sekundärrechtsakts entnehmen, im Einklang mit seinem Titel Rechte der Fahrgäste zu verbessern. Zu bedenken ist außerdem, dass gerade bei Einbeziehung des Nahverkehrs die Schwelle von 60 Minuten die VO 1371/2007/EG im Ergebnis ihrer Effektivität beraubte; und dies, obgleich gerade der Grundsatz des effet utile eine Auslegung nach Sinn und Zweck gebietet, welcher die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts fördern soll. Der hier vorliegend vertretenen Interpretation scheint auf den ersten Blick entgegenzustehen, dass eine Verordnung zu Rechtseinheit im Binnenmarkt führen und sich ein Eisenbahnunternehmen nicht auf divergierende nationale 145
Licht am Ende des Tunnels?
Regelungen einstellen soll. Allerdings ist der vorliegende Sekundärrechtsakts durch seine opt-out-Rechte schon vom Grundsatz her kein «vollharmonisierendes» Rechtsinstrument. Überdies eröffnet der europäische Gesetzgeber an mehreren Stellen den MS ausdrücklich Gestaltungsspielräume. Ebenso wenig vermag der von der Literatur13 angeführte angebliche Wettbewerbsnachteil als Argument zu überzeugen. So überlässt beispielsweise Anhang I Titel IV Kapitel II Art 32 III 1 der VO es ausdrücklich dem jeweiligen Landesrecht, einen weitergehenden Schadensersatz vorzusehen. Dass mithin die Beförderung innerhalb des Binnenmarkts unterschiedlichen Haftungsregeln unterliegt, begründet für sich genommen keine Wettbewerbsverzerrung. Sofern ein MS für sein Hoheitsgebiet ein Mehr an Fahrgastrechten schafft, entsteht vielmehr ein lokal abgegrenzter Markt, auf dem alle Anbieter von Beförderungsleistungen aus dem In- wie Ausland denselben Regeln unterworfen sind. Andernfalls entstünde vielmehr die Schieflage, dass ein ausländischer Eisenbahnunternehmer, der seine Beförderungsleistung grenzüberschreitend anbietet, nicht identischen Bestimmungen unterworfen wäre wie ein Konkurrent auf demselben Markt. Diese vorangehenden Grundsätze gelten nicht nur für Haftungsverschärfungen im Rahmen des Anhangs I Titel IV Kapitel II Art 32 III 1, sondern gleichermaßen für strengere Vorgaben als Art 17 I 2 der VO 1371/2007/EG. Für die Zulässigkeit, auch bereits unterhalb der Schwelle von 60 Minuten eine pauschale Entschädigung als nationaler Gesetzgeber vorzusehen, spricht in einer übergreifenden systematischen Umschau ebenso der Vergleich mit der VO 261/2004/EG.14 Der europäische Gesetzgeber sanktioniert tatbestandlich im Luftverkehr durch verschiedene Rechtsfolgen unter anderem «große» Abflugverspätungen sowie Annullierungen (Art 5 und 6 VO 261/2004/EG). Aus Art 12 I VO 261/2004/EG folgt dabei mittelbar, dass es einem MS frei steht, dieses Schutzniveau anzuheben; indem etwa ein Mitgliedstaat in seinem Landesrecht ein ausführendes Luftfahrtunternehmen bereits unterhalb der Schwelle einer «großen» Abflugverspätung dazu verpflichtet, konkreten oder pauschalen Schadensersatz zu leisten. Würde es nun die Verordnung im Eisenbahnverkehr ausschließen, etwa unterhalb der sechzigminütigen und damit «großen» Verspätung pauschale Entschädigungen vorzusehen, bedeutete dies abstrakt eine mögliche Schlechterstellung des Eisenbahnkunden gegenüber dem Passagier im Luftverkehr. Damit einher ginge eine ungerechtfertigte Privilegierung der Eisenbahnverkehrs- gegenüber den Luftfahrtunternehmen.
13 Schmidt, RRa 2008, 154, 159. 14 VO 261/2004/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.02.2004 über eine gemeinsame Regelung für Ausgleichs- und Unterstützungsleistungen für Fluggäste im Fall der Nichtbeförderung und bei Annullierung oder großer Verspätung von Flügen und zur Aufhebung der VO 295/91/EWG, ABl 2004 L 46/1.
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Reichweite der Entlastungstatbestände
In der Gesamtschau folgt hieraus: Nach Maßgabe des Wortlauts von Art 17 I 2 der VO 1371/2007/EG, der Systematik und Zielsetzung dieses Sekundärrechtsakts sowie unter Einbeziehung der VO 261/2004/EG im Luftverkehr ist es einem MS nicht nur freigestellt, ab einer Verspätung von 60 Minuten eine weitergehende pauschale Entschädigung festzulegen. Vielmehr kann auch der Verspätungszeitraum von 60 Minuten als Minimum unterschritten werden. Andernfalls drohen Wettbewerbsverzerrungen zwischen Eisenbahn- und Luftverkehr. Selbst wenn eine Öffnungsklausel im Rat diskutiert und abgelehnt worden sein sollte, hat ein solcher Ansatz einer Maximalharmonisierung weder im Haupttext noch in den Erwägungsgründen seinen Niederschlag gefunden. Man mag sich mithin rechtspolitisch dafür entscheiden, den Gestaltungsspielraum nicht zu nutzen. Sekundärrechtlich gehindert ist man hingegen nicht, den Fahrgästen legislativ weitergehende Ansprüche als Art 17 VO 1371/ 2007/EG einzuräumen.
8.4 Reichweite der Entlastungstatbestände Art 17 und 18 der VO 1371/2007/EG sollen nach einer Ansicht im Schrifttum15 unter dem Vorbehalt der Haftungsausschlussgründe in Art 32 II CIV stehen. Dies gelte «jedenfalls für die in Art 17 VO normierte Fahrpreisentschädigung»16 und folge aus der Verweisung des Art 15 VO, «bei deren Auslegung auch ErwGr 14 berücksichtigt» werden müsse. Nun mutet es bereits im Ausgangspunkt dogmatisch befremdlich an, dass die Entlastungstatbestände zwar Art 17, nicht aber ebenso Art 18 desselben Rechtsakts relativeren sollen. Bei einer eingehenderen Analyse zeigt sich allerdings, dass Art 32 II CIV bei keiner der zuvor genannten Bestimmungen Platz greift. Hierfür sprechen zunächst der eindeutige Wortlaut, der systematische Standort der Vorschrift sowie die ErwGr 2, 3, 6, 13. Beide Argumente werden durch Art 15 des Rechtsakts bzw seinen ErwGr 14 nicht entkräftet. Art 15 VO erläutert allein das Zusammenspiel der Haftung von Eisenbahnunternehmen aus Vorgaben rein gemeinschaftsrechtlicher Herkunft auf der einen und vormals staatsvertragsrechtlicher Provenienz auf der anderen Seite. Eine entsprechende Anwendung des Art 32 II CIV schreibt Art 15 des Rechtsakts gerade nicht vor. Nach seiner Formulierung besteht vielmehr ein Vorbehalt für die im Zuge der Vergemeinschaftung des CIV neu geschaffenen Regelungen wie Art 17 und 18 VO. Diese Vorschriften gehen daher auf den Sekundärrechtsgeber zurück, der sie in konsequenter Weise vor die bisherige staatsvertragsrechtliche Haftung stellt. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem ErwGr 14, 15 Schmidt, RRa 2008, 154, 159. 16 Schmidt, RRa 2008, 154, 159.
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Licht am Ende des Tunnels?
der allein den Wunsch des Gemeinschaftsgesetzgebers wiedergibt, ein System zu schaffen, das mit der bisherigen Ersatzpflicht bzw den Fahrgastrechten nach dem CIV «verknüpft» ist und auf der «gleichen Grundlage» beruht. Zu vermuten ist, dass diese etwas «wolkige» Formulierung der Kritik vorbeugen sollte, der Erlass des Rechtsakts bedeute einen kompetenzwidrigen Eingriff in die bestehende Konvention. Dies ist um so mehr vor dem Hintergrund des Vorlageverfahrens17 zur VO 261/2004/EG als Parallelregelung im Luftverkehr verständlich, in dem ein völkerrechtswidriger Verstoß gerügt wurde. Der Gemeinschaftsgesetzgeber bringt mithin lediglich zum Ausdruck, dass der bisherige status quo – soweit politisch konsensfähig18 – überführt und im Ergebnis Kontinuität gewahrt werden sollte. Art 17 und 18 VO 1371/2007/EG haben aber bislang keine Vorgänger im staatsvertragsrechtlichen System. Mithin fehlt es an der «gleichen» Grundlage im Sinne des ErwGr 14 der VO 1371/2007/EG. Und eine «Verknüpfung» mit der Ersatzpflicht nach dem CIV ist insofern sichergestellt, dass sich die Regelungen in Art 17 VO 1371/2007/EG und Art 32 I CIV im Hinblick auf ihre tatbestandlichen Erfordernisse und Rechtsfolgenanordnung unterscheiden und folglich im Ergebnis nebeneinander zur Anwendung gelangen. Wer dem hier vertretenen Ansatz nicht folgt, müsste dem Gemeinschaftsgesetzgeber überdies unterstellen, von dem Vorbild der VO 261/2004/EG abgewichen zu sein und Wettbewerbsverzerrungen zu Lasten der Luftfahrtunternehmer in Kauf zu nehmen. Denn die Betreuungsleistungen nach Art 9 VO 261/2004/EG sind von dem ausführenden Luftfahrtunternehmen stets zu gewähren. Weder bei Nichtbeförderung, Annullierung noch Verspätung ist diesbezügliche eine Entlastung des Unternehmers vorgesehen. Jedenfalls vermag eine kaum aussagekräftige Absichtsbekundung des Gemeinschaftsgesetzgebers in einem Erwägungsgrund nicht den klaren Wortlaut von Art 32 II CIV sowie dessen systematischen Standort zu überspielen. Dies gilt um so mehr, als ein landesrechtliches Haftungsrecht, welches nach Art 32 III CIV in einem bestimmten Umfang ohne Zweifel zulässig ist, ebenso wenig dieselben Entlastungstatbestände vorzusehen braucht. Mithin ist davon auszugehen, dass Art 32 CIV nicht auf die Art 17 und 18 VO 1371/2007/EG durchschlägt und insofern eine Übereinstimmung und Wettbewerbsgleichheit mit dem Luftverkehr besteht.
17 EuGH 10.01.2006 C-344/04 (IATA) Slg 2006 I-00403 =RRa 2006, 127; hierzu Tonner, NJW 2006, 1854; Reich, EuZW 2006, 112, 120 f; Keiler, ELR 2006, 206. 18 Dass nicht sämtliche Bestimmungen (bewusst oder unbewusst) überführt wurden, ist Gegenstand der Analyse der Gerichtsstandszuständigkeit unter 8.8.
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Hilfeleistung im Sinne von Art 18 VO 1371/2007/EG
8.5 Hilfeleistung im Sinne von Art 18 VO 1371/2007/EG: officium nobile oder sanktionsfähige Pflicht? Nach einer Ansicht in der Lit19 verschafft Art 18 VO 1371/2007/EG im Gegensatz zu Art 32 I CIV nicht «einen Aufwendungsersatzanspruch», zudem stehe die Hilfeleistung «unter dem Vorbehalt der «praktischen Durchführbarkeit»». In der Tat zeigt sich bei einer «rechtsvergleichenden» Umschau unter Einbeziehung des Luftverkehrs, dass Art 18 VO 1371/2007/EG von dem Vorbild des Art 9 VO 261/2004/EG zumindest in der Formulierung abweicht. Nun ist ein Sachgrund für die Schlechterstellung des Luftverkehrs nicht ersichtlich. Überdies droht, dass Art 18 II VO 1371/2007/EG letztlich zum Papiertiger wird, wenn einerseits der Vorbehalt mangelnder praktischer Durchführbarkeit extensiv interpretiert werden und dem Kunden überdies kein klagbarer Anspruch zustehen sollte, vor allem bei zu unrecht verweigerter Hilfeleistung. Darüber hinaus ergäbe sich eine Abweichung zum Luftverkehr: So kristallisiert sich zu Art 9 VO 261/2004/EG in Deutschland zunehmend eine vorherrschende Ansicht20 heraus, wonach ein Luftfahrtunternehmer dem Fluggast die Übernachtungskosten ersetzen muss, wenn es dem Kunden wegen einer Annullierung entgegen der zuvor genannten Norm keine Unstützungsleistung gewährt hat. Dieser Anspruch ist auf die Ausgleichszahlung nach Art 7 VO 261/2004/EG nicht anzurechnen21, da Art 12 I 2 leg cit auf Betreuungsleistungen, welche nicht als Schadensersatz zu qualifizieren sind, keine Anwendung findet. Im Hinblick auf den Eisenbahnverkehr lässt sich Art 18 II der VO 1371/ 2007/EG kein Verbot entnehmen, Sanktionen im jeweiligen nationalen Recht für den Fall der in unzulässiger Weise verweigerten Hilfeleistung vorzusehen. Vielmehr steht dieser Ansatz zum einen im Einklang mit dem Gebot der Effektivität des Gemeinschaftsrechts,22 da andernfalls eine verhaltenssteuernde Wirkung fehlte, sich rechtstreu zu verhalten;23 denn letztlich würde derjenige prämiert, der Hilfeleistungen per se versagte. Zum anderen schreibt der Ge19 Schmidt, RRa 2008, 154, 159. 20 Siehe jüngst AG Dortmund 04.03.2008, 431 C 11621/07 =RRa 2008, 188. 21 So auch Führich, Sonderbeilage MDR 07/2007, 9, 11; Staudinger/Schmidt-Bendun, NJW 2004, 1897, 1900; vgl Staudinger/Ilchmann, NJW 2008, 2752, 2756 mwN; siehe auch Bollweg, RRa 2009, 10. 22 Spiegelbildlich ist es mit dem effet utile unvereinbar, in einer Verordnung verankerte Ansprüche unter Rückgriff auf das nationale Recht zu entwerten; vgl in diesem Zusammenhang OLG Koblenz 11.01.2008, 10 K 385/07 =RRa 2008, 181 (krit Staudinger). 23 Dieses Argument wird auch nicht durch die Existenz von Art 32 I CIV entkräftet, da sich die Tatbestände nur teilweise überschneiden. So betrifft diese Norm beispielsweise lediglich die Fortsetzung einer fehlgeschlagenen oder nicht zumutbaren Reise am selben Tag.
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Licht am Ende des Tunnels?
meinschaftsgesetzgeber in Art 32 S 2 iVm ErwGr 22 S 2 VO 1371/2007/EG wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen bei Verstößen gegen diesen Rechtsakt vor. Zusammenfassend ist der Eisenbahnunternehmer zur Hilfeleistung etwa nach Maßgabe von Art 18 II der VO 1371/2007/EG verpflichtet und sperrt der Sekundärrechtsakt nicht den Rückgriff auf das nationale Recht. So darf der deutsche Gesetzgeber beispielsweise dem Kunden bei zu unrecht verweigerter Hilfeleistung einen Aufwendungs- bzw Schadensersatzanspruch einräumen.
8.6 Streik als Entlastungsgrund? Unklar erscheint, ob und inwieweit der Streik etwa von Lokführern einen Entlastungstatbestand im Sinne des Art 32 II lit a bzw lit c CIV erfüllt. Gleichermaßen ist im Hinblick auf die VO 261/2004/EG umstritten, ob der Streik des eigenen Personals zur betrieblichen Sphäre des Luftfahrtunternehmers zählt.24 Sollte sich der Gerichtshof hiermit im Wege eines Vorlageverfahrens befassen, ist dessen rechtliche Einschätzung womöglich auf die VO 1371/ 2007/EG übertragbar.
8.7 Verjährung Während in der VO 261/2004/EG eine Aussage des Gemeinschaftsgesetzgebers zur Verjährung der dort verankerten Ansprüche fehlt,25 scheint in dem Rechtsakt über den Eisenbahnverkehr ein Rückgriff auf nationales Kollisionsbzw Sachrecht weithin entbehrlich. Allerdings ist zu differenzieren: So dürfte Art 60 III lit c VO 1371/2007/EG wohl ungeachtet seiner systematischen Stellung ebenso die Verjährung von Ansprüchen regeln, welche etwa aus einer Verspätung resultieren, und zwar unter Einschluss von Art 17 dieses Sekundärrechtsakts. Abweichendes gilt hingegen für im nationalen Sachrecht wurzelnde Ansprüche bzw Sanktionen wegen zu unrecht nicht erbrachter Hilfeleistungen im Sinne von Art 18 II VO 261/2004/EG.
24 Staudinger, RRa 2006, 254, 255 f; vgl auch Schmid, NJW 2007, 261, 266; so noch Führich, Reiserecht5 (2005) Rz 1004, 1024, 1045; jetzt aber den Streik sowohl der eigenen Leute als auch durch Dritte als einen Entlastungsgrund ansehend: Führich, Sonderbeilage MDR 7/2007, 1, 7; ebenso AG Frankfurt, Urteil vom 08.05.2006 – 32 C 349/06-88 =RRa 2006, 230, 231. 25 Staudinger/Schmidt-Bendun, NJW 2004, 1897, 1900 f.
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Außergerichtliche Streitbeilegung
Unklar erscheint, ob sich die verjährungsrechtliche Lücke in der VO 261/ 2004/EG für bestimmte Fallkonstellationen durch Einzelanalogie zu Art 60 III lit c der VO 1371/2007/EG schließen lässt.
8.8 Gerichtszuständigkeit Ob die mangelnde Überführung des Art 57 CIV in den Anhang I dieses Sekundärrechtsaktes ein bloßes Redaktionsversehen darstellt, erscheint angesichts der Entstehungsgeschichte zweifelhaft. Selbst unter der Prämisse, dass die frühere Gerichtsstandsregel des Art 57 CIV ungeachtet des Inkrafttretens der VO 1371/2007/EG am 03.12.2009 in den Mitglieds- und Signatarstaaten fortgilt, bezieht sich jene angesichts ihres Wortlautes und Standortes jedenfalls nicht auf Ansprüche der Fahrgäste etwa nach Art 17 dieses Sekundärrechtsaktes.26 Insofern dürfte es bei der Anwendbarkeit der Brüssel I-VO27 und damit ihres Art 5 Nr 1 lit b SS 2 verbleiben.28 Mithin erlangt das vom BGH29 initiierte Vorabentscheidungsverfahren zur Frage des Erfüllungsortes bei grenzüberschreitender Luftbeförderung gleichermaßen Bedeutung für den Eisenbahnverkehr bzw die VO 1371/2007/EG.
8.9 Außergerichtliche Streitbeilegung In immer stärkerem Maße gewinnt die außergerichtliche Streitbeilegung an Bedeutung, nicht zuletzt um knappe Justizressourcen zu schonen. Ein Beleg hierfür ist der Juristentag in Erfurt vom 23.-26.09.2008, der sich inhaltlich unter anderem dem Thema Mediation widmet.30 Die nachfolgenden Ausführungen sind die Ergebnisse einer Studie, welche der Verfasser im Auftrag des
26 In diesem Sinne zum Verordnungsvorschlag auch Schmidt-Bendun, Haftung der Eisenbahnverkehrsunternehmen (Fn 7), 161. 27 Verordnung 44/2001/EG des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen; Text im ABl 2001 L 12/1; Berichtigung im ABl 2001 L 307/28; Änderungen im ABl 2002 L 225/13. 28 Die Brüssel I-VO eröffnet angesichts ihres Art 15 III keinen Verbraucherschutzgerichtsstand. 29 BGH 22.04.2008, X ZR 76/07 =RRa 2008, 177; hierzu Staudinger, IPRax 2008, 493; vgl auch EuGH 09.07.2009 Rs C-204/08 (Rehder/Air Baltic) =RRa 2009, 234; dazu Staudinger, RRa 2009, 219. 30 Vgl auch FAZ vom 23.09.2008, 7.
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Licht am Ende des Tunnels?
Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft, und Verbraucherschutz erstellt hat.31 8.9.1 Bundesgesetzlicher Rahmen Insb im Hinblick auf Ansprüche von Fahrgästen wegen Verspätung, verpassten Anschlüssen und Zugausfällen dürfte es sich einerseits um erhebliche Fallzahlen, andererseits um geringe Streitwerte handeln, so dass der Kunde eine klageweise Geltendmachung vor Gericht vielfach in Betracht ziehen dürfte. Daher besteht gerade in diesem Bereich ein unabweisbares Bedürfnis für eine außergerichtliche Streitbeilegung, nicht zuletzt, um die Effektivität gerade der VO 1371/2007/EG sicherzustellen. Dieser Sekundärrechtsakt verpflichtet Mitgliedstaaten zwar nicht explizit dazu, einen außergerichtlichen Streitbeilegungsmechanismus vorzusehen. Allerdings folgt dies mittelbar aus dem Gebot des effet utile im Gemeinschaftsrecht. Darüber hinaus sprach sich die EU-Kommission in zwei Empfehlungen32 dafür aus, abseits der klassischen Rechtsverfolgung vor Gerichten andere Wege in den Mitgliedstaaten zu eröffnen.33 Aus jüngster Vergangenheit lässt sich in diesem Zusammenhang auch die Mediationsrichtlinie34 anführen. Neben diesem Regelungsrahmen des Gemeinschaftsrechts mag als Vergleichsmaßstab auf nationaler Ebene nunmehr der § 214 VVG nF dienen. Die gutachterliche Untersuchung hat gezeigt, dass Durchsetzungs- und Schlichtungsstelle strikt voneinander zu trennen sind. Dies folgt aus der Aufgabenzuweisung. Eine Vermischung der Funktion etwa unter dem Dach des Eisenbahnbundesamts als mögliche Durchsetzungsstelle stünde im Widerspruch zu Art 30 I 2 der VO 1371/2007/EG, den Empfehlungen der Kommission, dem Geist der Mediationsrichtlinie, dem Gewaltenteilungsgrundsatz sowie dem Charakter der außergerichtlichen Streitbeilegung als Konfliktlösung auf der Gleichordnungsebene. Damit ergibt sich der Befund, dass einerseits
31 Der Volltext ist auf der Homepage des BMELV einzusehen. 32 Empfehlung 98/257/EG und 2001/310/EG. 33 So verlangt die EU unter anderem in ErwGr 18 Mediations-RL 2008/52/EG (dazu sogleich) die Einhaltung der Empfehlungen. Hinsichtlich der Fahrgastrechte-VO 1371/ 2007/EG nahm der Gemeinschaftsgesetzgeber in der Entstehungsgeschichte ebenso auf die Empfehlungen Bezug. Überdies betont die Kommission in ihrer Mitteilung an das Europäische Parlament und den Rat zur Stärkung der Rechte von Reisenden in der Europäischen Union, COM (2005) 46 final, unter II. 4. iVm Grundsatz 16 die Pflicht der MS, entsprechende Beschwerdeverfahren einzurichten und verweist auf beide Empfehlungen. 34 RL 2008/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.05.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen, ABl 2008 L 136/3. Vgl hierzu Eidenmüller/Prause, NJW 2008, 2737.
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Außergerichtliche Streitbeilegung
die außergerichtliche Streitbeilegung im Eisenbahnrecht ein Desiderat darstellt, andererseits, diese Aufgabe nicht von der Durchsetzungsstelle abgedeckt wird und kann. Eine Analyse der derzeit bestehenden Schlichtungsmodelle hat zudem ergeben, dass es sich vielmehr anbietet, das in der Praxis überaus erfolgreiche Modell des Versicherungsombudsmannes35 auf das Eisenbahnrecht zu übertragen und den dortigen Besonderheiten anzupassen. Dies betrifft Unterschiede im Hinblick etwa auf Streitwerte oder in tatsächlicher Hinsicht. So stellt jede Beschwerde im Versicherungsrecht im Grundsatz einen Einzelfall dar, wohingegen bei einer Zugverspätung aus einem identischen Sachverhalt eine Vielzahl von Bahnreisenden Ansprüche ableiten können. Wenn aber das Versicherungsombudsmannverfahren vom Grundsatz her überzeugt, stellt sich die Anschlussfrage, ob und inwieweit sich der nunmehr in § 214 VVG nF vom Gesetzgeber angedachte Lösungsansatz übertragen lässt. Der Vorzug des im Versicherungsrecht verankerten Modells, eine Schlichtungsstelle unter bestimmten, engen Voraussetzungen anzuerkennen, bedeutet zunächst keine Beschränkung bereits am Markt bestehender oder neuer Angebote außergerichtlicher Streitbelegung. Es handelt sich vielmehr allein um eine Option, etwa für das hier favorisierte Ombudsmannverfahren. Werden die Erfordernisse der Anerkennung dann auf ministerieller Ebene geprüft und bejaht, so stellt der Ausweis der «anerkannten» Schlichtungsstelle letztlich ein Güte- bzw Qualitätssiegel im Wettbewerb konkurrierender Angebote dar. Dem Kunden bietet das erfolgreich durchlaufene Anerkennungsverfahren eine Gewähr dafür, dass die im Gesetz vorgeschriebenen Standards wie etwa die Neutralität und Professionalität gewahrt sind. Hinzu kommt, dass die Entscheidungen des Ombudsmannes die Funktion eines vollstreckbaren Titels im Sinne des § 794 I Nr 1 dZPO erlangen. Aus staatlicher Sicht bedeutet das Procedere der Anerkennung überdies, mittelbar Einfluss auf die Qualität der außergerichtlichen Streitbeilegung zu nehmen, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zunächst lässt sich anhand des bundesrechtlichen Rahmens ablesen, dass der Gesetzgeber nicht nur außergerichtliche Streitbeilegung für wünschenswert hält, sondern auch, welchen Grundprinzipien sie unterliegen soll. Der Rahmen auf der Ebene des Bundesrechts hat somit Leitbildfunktion auch für die nicht anerkannten Verfahren der Streitbeilegung. Zweitens muss derjenige, der um Anerkennung nachsucht, den objektiven Vorgaben auf der Ebene 35 Basedow, VersR 2008, 750; Friedrich, DAR 2002, 157; v Hippel, Der Ombudsmann im Bank- und Versicherungswesen, 2000, Tübingen 2000; Kalis, VersR 2002, 292 ff; Knauth, WM 2001, 2325; E. Lorenz, VersR 2004, 541; Römer, NVersZ 2002, 289 ff; ders, NJW 2005, 1251; Scherpe, NVersZ 2002, 97 ff; Scholl, Der Versicherungsombudsmann e.V. – Die Erwartungen der Verbraucher, in Der Versicherungsombudsmann e.V., Vorträge, gehalten im Rahmen der Vortragsreihe der Münsterischen Forschungsstelle für Versicherungswesen am 29.10.2001 (2002); Tiffe, VuR 2003, 260.
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des Bundesrechts nicht nur einmalig genügen. Möglich erscheint ebenso, einer Schlichtungsstelle das Gütesiegel wieder zu entziehen, sofern etwa die Mindesterfordernisse unterschritten werden. Eine Partizipation des Staates erscheint ansonsten allein dadurch erreichbar, dass die Anschub- bzw. mittelfristige Mischfinanzierung im Gegenzug ein Mitspracherecht etwa im Hinblick auf die Besetzung des Beirates bzw Auswahl des Ombudsmannes eröffnet. Vor dem Hintergrund der zuvor aufgezeigten Argumente sprechen somit gewichtige Gründe in der Gesamtschau dafür, den in § 214 VVG nF verankerten Ansatz auf den Eisenbahnverkehr zu übertragen und auch dort die Möglichkeit zu eröffnen, Schlichtungsstellen unter bestimmten, engen Voraussetzungen gesetzlich anzuerkennen. Wie in § 214 VVG nF sollte sich der bundesrechtliche Rahmen dabei nur auf abstrakt-generelle Grundsätze beschränken. Einzelheiten des konkreten Schlichtungsverfahrens sind einer Verfahrensordnung vorzubehalten. Dies trägt den Geboten an Rechtsklarheit und -sicherheit hinreichend Rechnung. Eine Verfahrensordnung stellt darüber hinaus ein flexibles Regelungsinstrument dar. In Bezug auf den bundesgesetzlichen Rahmen kann § 214 VVG nF in weiten Teilen übernommen werden. Dies gilt etwa für die Anforderungen an die Anerkennung einer privatrechtlich organisierten Einrichtung als Schlichtungsstelle, welche natürlich auch wieder rückgängig gemacht werden kann. Im Hinblick darauf, dass das Recht, die Gerichte anzurufen, unberührt bleibt, erscheint die Aussage konform mit den Empfehlungen der Kommission und letztlich deklaratorisch angesichts der verfassungsrechtlichen Vorgaben. Indes sollte zumindest in den Motiven klargestellt werden, dass sich im Einzelfall aus der Verfahrensordnung ergeben kann, ob und inwieweit dass etwa ein Eisenbahnunternehmen einseitig an einen Schlichterspruch gebunden werden und ihm folglich eine gerichtliche Prüfung im Einzelfall verwehrt bleiben soll. Durch die weitgehende Annäherung an das Modell von § 214 VVG nF wird auf der Ebene des Bundesrechts die Einheit der Rechtsordnung gewahrt. Allerdings erscheinen die nachfolgenden Modifikationen angezeigt. Die Anerkennung einer privatrechtlich organisierten Schlichtungsstelle Bahn sollte einvernehmlich durch BMJ, BMVBS sowie das BMELV erfolgen. Die außergerichtliche Streitbeilegung sollte sich nicht auf Streitigkeiten von Verbrauchern und Eisenbahnunternehmen beschränken, sondern entsprechend der VO 1371/2007/EG sämtlichen Kunden offen stehen, und zwar unabhängig davon, auf welche Rechtsquelle sie ihre Ansprüche stützen. Der Vorzug der hier vorgeschlagenen Lösung besteht überdies darin, dass der bundesrechtliche Rahmen und damit die außergerichtliche Streitbeilegung durch eine anerkannte Schlichtungsstelle in der Zukunft etwa auf das Luftverkehrsrecht erstreckt werden könnte. So betrafen von den bis Mitte April 2007 eingegangenen Beschwerden bei der Schlichtungsstelle Mobilität zwei Fünftel den Bahnverkehr, während sich der überwiegende Rest auf den Flugverkehr be154
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zog.36 Ein späterer Ausbau des Ombudsmannverfahrens erscheint auch deshalb systemkonform, da Entscheidungsgrundlage im Luft- und Bahnverkehr wesensverwandte Gemeinschaftsrechtsakte sind, vielfach eine Reisekette ohnehin auf beiden Beförderungsmitteln basiert. Letztlich würde durch eine Schlichtungsstelle auch im Luftverkehr der Effektivität des Gemeinschaftsrechts gedient sowie einer etwaigen Wettbewerbsverzerrung vorgebeugt. Eine anerkannte Schlichtungsstelle sollte zwar dem Zwang unterliegen, die Beteiligten davon in Kenntnis zu setzen, ob und in welcher Weise der Antrag behandelt wird. Indes muss eine anerkannte Stelle nicht stets eine Entscheidung in der Sache treffen. Vielmehr ist der Fall denkbar, dass ein unzulässiges Gesuch im Einklang mit der jeweiligen Verfahrensordnung aus formalen Gründen abgelehnt oder eine Beschwerde, die eine rechtsgrundsätzliche Frage betrifft, den ordentlichen Gerichten überantwortet wird. Die Formulierung in § 214 III VVG aF sollte daher präzisiert bzw ein ergänzender Hinweis in die Motive aufgenommen werden. Denkbar erscheint aber ebenso, diesen Passus nicht zu übernehmen. Vorzugswürdig ist, dass eine anerkannte Schlichtungsstelle kein Entgelt von den Fahrgästen erhebt. Das Schlichtungsverfahren sollte für die Kunden kostenlos als Option zur Verfügung stehen. Dadurch wird auch dem Gebot des effet utile im Gemeinschaftsrecht Rechnung getragen. Etwaige Fragen der Finanzierung sollten der Verfahrensordnung vorbehalten bleiben. Inzident setzt die Anerkennung einer Schlichtungsstelle voraus, dass sie in organisatorischer Hinsicht die Aufgaben erfüllen kann. Dies eröffnet eine Prüfung, ob eine Schlichtungsstelle, welche um Anerkennung nachsucht, solide finanziert ist. Im Rahmen der Anerkennung lässt sich überdies sicherstellen, dass etwa in der Verfahrensordnung den ihr unterworfenen Bahnunternehmen die Pflicht auferlegt wird, die Kunden über die Möglichkeit des Ombudsmannverfahrens zu informieren. Von einer Regelung darüber, dass eine Anrufung der anerkannten Schlichtungsstelle den Kunden nicht hindert, Beschwerde bei der Durchsetzungsstelle einzulegen, sollte abgesehen werden. Dieses Recht folgt unmittelbar aus Art 30 II VO 1371/2007/EG. Die Zulässigkeit deklaratorischer Vorschriften bei unmittelbar anwendbaren Verordnungen erscheint europarechtlich zweifelhaft. Hinzu kommt, dass auch § 214 VVG nF keinen derartigen Zusatz vorsieht. Für den Fall, dass das BMJ subsidiär die Aufgaben der Schlichtungsstelle qua Rechtsverordnung einer Bundesoberbehörde zuweist, ist insofern Art 30 I 2 der VO 1371/2007/EG zu beachten. Ein diesbezüglicher Hinweis erscheint allerdings weder im Haupttext noch in den Motiven angezeigt.
36 Zandke-Schaffhäuser, VuR 2007, 214, 218.
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Daher ergibt sich folgender Vorschlag: § x Schlichtungsstelle (1) Das Bundesministerium der Justiz kann im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz privatrechtlich organisierte Einrichtungen als Schlichtungsstelle zur außergerichtlichen Beilegung von Streitigkeiten zwischen Fahrgästen und Verkehrsunternehmen nach diesem Gesetz anerkennen. Die Anerkennung ist im Bundesanzeiger oder im elektronischen Bundesanzeiger bekannt zu machen. (2) Die Beteiligten können diese Schlichtungsstelle anrufen. Das Recht, die Gerichte anzurufen, bleibt unberührt. (3) Privatrechtlich organisierte Einrichtungen können als Schlichtungsstelle anerkannt werden, wenn sie hinsichtlich ihrer Antworten und Vorschläge oder Entscheidungen unabhängig und keinen Weisungen unterworfen sind und in organisatorischer und fachlicher Hinsicht die Aufgaben erfüllen können. (4) Soweit keine privatrechtlich organisierte Einrichtung als Schlichtungsstelle anerkannt wird, kann das Bundesministerium der Justiz im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung und dem Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz die Aufgaben der Schlichtungsstelle durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates einer Bundesoberbehörde oder Bundesanstalt zuweisen und deren Verfahren sowie die Erhebung von Gebühren und Auslagen regeln. 2. Grundzüge der Schlichtung durch einen Ombudsmann bzw für eine entsprechende Verfahrensordnung im Eisenbahnrecht – Die Schlichtung erfolgt durch einen Ombudsmann. Dieser wird von einem Beirat gewählt, der sich aus der Verbraucher- und Befördererseite zusammensetzt. Abhängig von der Finanzierung ist ebenfalls der Staat einzubinden. – Es ist eine Verfahrensordnung zu erlassen, die im Wesentlichen der VerfOVersicherung entspricht. Änderungen sind dahingehend vorzunehmen, dass das Ombudsmannverfahren sämtlichen Fahrgästen und direkt betroffenen Personen offen steht. Voraussetzung für die Streitschlichtung ist die vorherige erfolglose Beschwerde des Fahrgastes beim jeweiligen Bahnunternehmen. Insofern ist Art 27 II VO 1371/2007/EG zu beachten. Regeln zur Verjährungshemmung sind an sich entbehrlich, aus Gründen der Transparenz aber angezeigt. Eine Frist für die Beantragung der außergerichtlichen Streitbeilegung ist in der Verfahrensordnung nicht vorzusehen. Dies entspricht der Ausgangslage beim Verfahren vor dem Versicherungsombudsmann. Die Bahnunternehmen sollten durch die Verfahrensordnung dazu verpflichtet werden, auf die Schlichtungsstelle Bahn hinzuweisen. Es 156
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empfiehlt sich eine längere Amtszeit des Ombudsmannes, im Hinblick auf eine Wiederwahl sind mögliche Risiken abzuschätzen. Die Fahrgäste sollten die Schlichtungsstelle in jeder Form kontaktieren können. Zudem soll sie jährlich über ihre Arbeit und Inanspruchnahme informieren sowie eine elektronische Datenbank über sämtliche Entscheidungen einrichten. Streitfragen, denen nach Einschätzung des Ombudsmannes oder Beschwerdegegners rechtsgrundsätzliche Bedeutung zukommt, sind von den staatlichen Gerichten zu entscheiden. Dies gilt ebenso für Beschwerden, welche eine umfangreiche Beweisaufnahme erforderlich machen. Der Ombudsmann soll ein (pensionierter) Richter sein, der möglichst über Kenntnisse im Beförderungsrecht verfügt. Dies folgt nicht zuletzt aus dem Gebot der Effektivität des Gemeinschaftsrechts und steht im Einklang mit den Empfehlungen der Kommission. Er wird bei der Schlichtung durch juristisch ausgebildete Mitarbeiter unterstützt, welche seiner Aufsicht und seinen Weisungen unterstehen, wobei die Schlichtung ausschließlich durch eine Einzelperson erfolgt. Durch eine dezentrale Arbeitsweise besteht die Möglichkeit, in den Bundesländern und damit ortsnah das Ombudsmannverfahren durchzuführen. Der Ombudsmann kann Entscheidungen und Empfehlungen aussprechen. Entscheidungen, die etwa bei Ansprüchen im Falle einer Verspätung oder eines Zugausfalls einen bestimmten Beschwerdewert (Anhaltspunkte bieten hier EUR 600,– bzw 750,–) erreichen, sind für die Bahnunternehmen bindend und stellen wegen der Anerkennung einen vollstreckbaren Titel im Sinne des § 794 I Nr 1 dZPO dar. Empfehlungen entfalten für keine der Parteien eine Bindungswirkung. Eine Bagatelluntergrenze erscheint nicht angezeigt, wohl aber ein Beschwerdehöchstwert, ab welchem der Ombudsmann unzuständig ist. Die Teilnahme am Ombudsmannverfahren bleibt fakultativ. Es ist davon auszugehen, dass sowohl Bahnunternehmen sowie Kunden diesen Weg angesichts der ökonomischen Anreize beschreiten. Ein mittelbarer Zwang der Partizipation für Bahnunternehmen ergibt sich aus der einseitigen Bindung von Entscheidungen, gerade im Fall ihrer Säumnis. Überdies lässt sich das Ombudsmannverfahren in die Zwangsschlichtung nach Maßgabe von § 15a dEGZPO bzw in das Gerichtsverfahren gem § 278 V 2 dZPO integrieren. Angedacht werden könnte eine Reform des Kostenrechts. Hinsichtlich der Finanzierung empfiehlt sich eine Anschubfinanzierung durch den Staat und damit zunächst eine Mischfinanzierung zwischen diesem und den Bahnunternehmen, die sich verhältnismäßig in der Vertretung im Beirat niederschlägt.
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8.10 Résumé Der Schritt der Vergemeinschaftung des CIV ist ebenso zu begrüßen wie die darüber hinausgehende Verankerung von Fahrgastrechten in einer Verordnung. Damit einher geht, dass der EuGH über die autonome Auslegung der VO 1371/2007/EG wacht. Diese stellt sicher, dass das Einheitsrecht auch übereinstimmend interpretiert wird. Wie im Luft-37 so wird wohl auch im Eisenbahnverkehr dem EuGH die Aufgabe zuwachsen, Zweifelsfragen, die oftmals auf handwerkliche Fehler des Gemeinschaftsgesetzgebers zurückgehen, zu klären oder sogar Lücken zu schließen. Allein die wenigen zuvor aufgeführten Aspekte begründen die Vermutung, dass der EuGH nicht arbeitslos werden dürfte. Schließlich bleibt der deutsche Gesetzgeber in der Pflicht, den gesetzlichen Rahmen für die Anerkennung einer außergerichtlichen Streitbeilegungsstelle zu schaffen. Vorzugswürdig erscheint ein Modell in Anlehnung an den Versicherungsombudsmann, welches den spezifischen Besonderheiten im Eisenbahnverkehr Rechnung trägt. Eine derartige Schlichtungsstelle sollte mittelfristig auf den Luftverkehr erstreckt werden. Von besonderem Interesse erscheint der jüngst in dem von CDU/CSU und FDP geschlossenen Koalitionsvertrag enthaltene Passus: «Außergerichtliche Streitschlichtung Die Einrichtung einer unabhängigen, übergreifenden Schlichtungsstelle für die Verkehrsträger Bus, Bahn, Flug und Schiff wird gesetzlich verankert.»
37 Zur Rolle des EuGH auf diesem Feld siehe Schmid, RRa 2008, 202 ff.; vgl auch Staudinger/Schürmann, NJW 2009, 2788, 2792 f.
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9. Die Haftung des Reiseveranstalters Klaus Tonner 9.1 Einleitung Die Haftung des Reiseveranstalters ist in Art 5 Pauschalreise-RL1 geregelt, der damit eine zentrale Funktion in der RL hat. Die Vorschrift ist mit der RL im Jahre 1990 in Kraft getreten und steht im Rahmen der laufenden Überarbeitung des verbraucherrechtlichen acquis communautaire2 zur Revision an. Im Prinzip hat sich die Haftungsvorschrift bewährt, obwohl ihr Wortlaut und ihre Klarheit durchaus zu wünschen übrig lassen. Sie ist ein Kompromiss zwischen einer verschuldensunabhängigen und einer verschuldensabhängigen Haftung. Im Grundsatz enthält sie in ihrem Abs 1 eine verschuldensunabhängige Haftung, erlaubt dem Reiseveranstalter aber eine Reihe von Einwendungen, so dass im Ergebnis eine verschuldensabhängige Haftung verbunden mit einer Beweislastumkehr zulasten des Reiseveranstalters bezüglich des Verschuldens gilt. Gegenstand dieses Beitrags sind einzelne Probleme bei der Anwendung von Art 5, die aber auf der Ebene der Rechtsanwendung und nicht durch eine grundsätzliche Neugestaltung der Vorschrift gelöst werden sollten. Lediglich ein klarerer systematischer Aufbau des Artikels wäre wünschenswert, worauf aber hier nicht weiter eingegangen werden soll.3 Naturgemäß führt die erwähnte Beweislastumkehr zu Problemen bei der Rechtsanwendung, auf die das Augenmerk gerichtet werden soll. Interessan1 RL 90/314/EWG, ABl 1990 L 158/59. 2 Die Europäische Kommission kündigte in einem Grünbuch die Überarbeitung von sechs zentralen Richtlinien aus dem Gebiet des Verbraucherrechts an, darunter auch der Pauschalreise-Richtlinie. COM (2006) 744 final; vgl dazu Micklitz/Reich, VuR 2007, 121. Krit zu der damit verbundenen Aufgabe des Minimalstandardprinzips Tamm, EuZW 2007, 756. 3 Dazu Tonner, Pauschalreiserecht und Teilzeitwohnrechte – Zur Reform des gemeinschaftlichen Besitzstandes im Verbraucherschutz (2008) 66 ff.
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terweise gibt es sich widersprechende Urteile der Obergerichte aus Deutschland und aus dem Vereinigten Königreich (9.2). Des Weiteren wird im Rahmen von Art 5 der Umfang des Schadensersatzes diskutiert. Zu dieser Frage liegt eine durch eine österreichische Vorlage veranlasste Entscheidung des EuGH vor, die aus Art 5 auch einen Schadensersatzanspruch wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit ableitet.4 Auch hier ist meines Erachtens keine Änderung der Vorschrift veranlasst, da der Schadensersatzbegriff zwanglos iSd zitierten EuGH-Entscheidung ausgelegt werden kann (9.3). Eine andere bislang weniger erörterte Frage soll hier aber etwas näher ausgeführt werden. Durch Ausschlussfristen, die sich auch und insb auf Schadensersatzansprüche beziehen, werden dem Reisenden faktisch die Ansprüche genommen, die er nach der RL haben müsste, wenn die Ausschlussfristen zu kurz sind. Dies erscheint gemeinschaftsrechtlich unter dem Aspekt des effet utile bedenklich (9.4).5 Eher am Rande soll schließlich noch darauf eingegangen werden, dass die Möglichkeiten von Haftungsbeschränkungen außerhalb des Bereichs von Körper- und Gesundheitsverletzungen konkreter in der RL gefasst werden sollten (9.6).
9.2 Beweislastumkehr 9.2.1 Objektive Pflichtverletzung und Verschulden Nach Art 5 Abs 1 RL haftet der Veranstalter für die ordnungsgemäße Erfüllung der vertraglichen Verpflichtungen. Ein Verschulden wird insoweit nicht vorausgesetzt. Der Reisende, der Schadensersatz begehrt, muss aber beweisen, dass der Veranstalter seine Verpflichtungen nicht ordnungsgemäß erfüllt hat, in anderen Worten, ihm obliegt die Beweislast für eine objektive Pflichtverletzung des Veranstalters.6 Wenn pauschal davon gesprochen wird, dass die entsprechenden mitgliedstaatlichen Umsetzungsvorschriften zum Schadensersatz eine Beweislastumkehr enthalten, ist das so nicht richtig; so verbraucherfreundlich ist das Gemeinschaftsrecht nicht. Der klagende Reisende muss also im Einzelnen darlegen, dass erstens eine Pflicht bestanden hat, die der Reiseveranstalter zweitens verletzt hat und dass drittens durch diese Pflichtverletzung der geltend gemachte Schaden entstanden ist. Dem Reisenden obliegt daher sogar eine umfangreiche Beweislast, was dazu führen kann, dass Schadensersatzansprüche daran scheitern. Über das 4 EuGH 12.03.2002 Rs C-168/00 (Leitner) Slg 2002 I-02631. 5 Ausf dazu bereits Tonner/Crellwitz, in FS G. Mayer (2004) 213 ff. 6 An deutschsprachigen Kommentaren vgl Eckert in Staudinger13 (2003) Vorbem zu §§ 651a-m Rn 68; Tonner in Grabitz/Hilf IV (Pauschalreise-RL) Art 5 Rz 2 (EL 13, 1999).
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Beweislastumkehr
Bestehen einer Pflicht des Reiseveranstalters wird man sich immer wieder streiten können, denn diese Pflichten sind im Einzelnen weder im Gesetz noch in dem Reise-AGB aufgeführt, so dass sie häufig erst in einer ex-post-Betrachtung festgelegt werden können. Dabei taucht dann zum Beispiel das bekannte Problem auf, das so genannte allgemeine Lebensrisiko vom Einstandsbereich des Reiseveranstalters abzugrenzen.7 Ist erst einmal das Bestehen einer Pflicht bewiesen, sind die beiden anderen Merkmale weniger problematisch. Hat man beispielsweise festgestellt, dass der Reiseveranstalter für die Beleuchtung eines dunklen Weges auf dem Hotelgelände verantwortlich ist,8 so wird sich unschwer eine Pflichtverletzung ableiten lassen, wenn die Beleuchtung nicht existierte oder unzureichend war. Auch die Kausalität der Pflichtverletzung für den Schaden wird meistens auf der Hand liegen. Es kommt hinzu, dass die Handlungen oder Unterlassungen des Leistungsträgers dem Veranstalter zuzurechnen sind. Art 5 Abs 1 RL sieht dies ausdrücklich vor. Auf den Begriff des Erfüllungsgehilfen nach § 278 BGB muss daher nicht einmal ausdrücklich zurückgegriffen werden. Es kommt also nicht darauf an, ob die Pflichtverletzung vom Reiseveranstalter selbst oder dem Leistungsträger begangen wurde. Dies gilt allerdings nur bei vertragsrechtlichen Ansprüchen, und nur solche deckt die Pauschalreise-RL ab. Bei einem deliktischen Anspruch ist der Leistungsträger nach deutschem Verständnis Verrichtungsgehilfen gem § 831 BGB, für den der Veranstalter nicht einzustehen braucht, da der Leistungsträger in aller Regel nicht weisungsabhängig ist.9 In diesem Falle muss eine eigene Pflichtverletzung des Reiseveranstalters nachgewiesen werden.10 Dies spielt im deutschen Recht eine größere Rolle, da vertragliche Ansprüche immer wieder an der kurzen Ausschlussfrist nach § 651g Abs 1 BGB scheitern und dann nur noch auf deliktische Ansprüche zurückgegriffen werden kann. Diese liegen aber außerhalb des Anwendungsbereichs der Pauschalreise-RL. Erst wenn der Reisende die Voraussetzungen nach Art 5 Abs 1 nachgewiesen hat, eröffnet Art 5 Abs 2 dem Reiseveranstalter Entlastungsmöglichkeiten. Dabei gilt kein genereller Einwand mangelnden Verschuldens, vielmehr ist der Reiseveranstalter auf eine der drei Einwendungen angewiesen, die in Art 5 Abs 2 konkret aufgezählt sind. Diese Einwendungen sind allerdings recht weit gefasst, so dass sie einem generellen Einwand fehlenden Verschuldens nahe kommen. 7 Dazu Eckert in Staudinger § 651c Rz 56 ff; Tonner, Der Reisevertrag5 (2007) § 651c Rz 24 ff. 8 LG Düsseldorf 28.07.2004, 16 O 5/04 =RRa 2005, 26. 9 Allgemeine Ansicht, vgl nur Tonner, Der Reisevertrag5 § 651 f Rz 25. 10 Dies beginnt mit der bekannten Balkonsturz-Entscheidung des BGH 25.02.1988, VII ZR 348/86 =BGHZ 103, 298 =NJW 1988, 1380 und endet vorerst mit der Wasserrutsche, BGH 18.07.2006, X ZR 142/05 =NJW 2006, 3268; dazu Tonner/Tamm, DAR 2007, 65.
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Im einzelnen kann der Reiseveranstalter einwenden, dass die festgestellten Versäumnisse dem Verbraucher zuzurechnen sind, dass es sich um unvorhersehbare oder nicht erkennbare Versäumnisse eines Dritten handelt oder dass die Versäumnisse auf höhere Gewalt oder auf ein Ereignis zurückzuführen sind, dass der Veranstalter trotz aller gebotenen Sorgfalt nicht vorhersehen oder abwenden konnte. Den Veranstalter trifft die Beweislast für die Voraussetzungen einer dieser drei Möglichkeiten. Weder in Deutschland noch in Österreich sind diese Varianten im Einzelnen umgesetzt worden. Man meint, dass die allgemeinen zivilrechtlichen Vorschriften dafür ausreichen.11 Während die ersten beiden Varianten relativ unproblematisch sind, liegen die Schwierigkeiten bei der Alternative drei, dem nicht vorhersehbaren oder abwendbaren Ereignis. Gleichzeitig ist diese Alternative die praktisch wichtigste. Hier ist die Abgrenzung zwischen der vom Reisenden zu beweisenden objektiven Pflichtverletzung und der vom Veranstalter zu beweisenden Nichtvorhersehbarkeit oder Nichtabwendbarkeit, was praktisch seinem Verschulden entspricht, besonders schwierig, und es nimmt daher auch nicht wunder, dass die Praxis in den Mitgliedstaaten diesbezüglich nicht zufriedenstellend ist. 9.2.2 «Hone» und «Reitunfall II» Dies soll an zwei sich widersprechenden Entscheidungen des britischen High Court beziehungsweise des Court of Appeal und des deutschen Bundesgerichtshofs aufgezeigt werden. In der britischen Entscheidung Hone12 ging es um die Notlandung eines Flugzeugs nach einer Bombendrohung. Die Passagiere wurden aufgefordert, das Flugzeug über die Notrutschen zu verlassen. Vor dem Kläger, Mr Hone, rutschte eine beleibte Dame, die im unteren Bereich der Rutsche stecken blieb und sie nicht verlassen hatte, als Mr Hone die Rutsche benutzte. Er versuchte, der Dame beim Verlassen der Rutsche behilflich zu sein, und verletzte sich dabei. Nach ihm rutschte seine Verlobte, die hochhackige Schuhe trug. Sie prallte auf Mr Hone auf, wodurch dieser ein zweites Mal verletzt wurde. Die britischen Gerichte wendeten Sec 15 der Regulation an, mit der im Vereinigten Königreich Art 5 RL wortwörtlich umgesetzt wurde.13 Wie im Vereinigten Königreich üblich, wurde auch die Pauschalreiserichtlinie durch eine 11 In Deutschland bezieht sich der BGH dafür auf den Sorgfaltsmaßstab des § 276 BGB, BGH 09.11.2004, X ZR 119/01 =BGHZ 161, 79 =RRa 2005, 12 (Reitunfall II). 12 Case Hone v Going Places Leisure Travel, Int Travel Law Journal 2001, 12 High Court Manchester 16.11.2000; Court of Appeal 13.06.2001 =Int Travel Law Journal 2001, 153, 159 (Saggerson); dazu ausf Echtermeyer, Die Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie in Deutschland und im Vereinigten Königreich (2007) 147 ff. 13 Statutory Instruments 1992, 3288; zum Inhalt Echtermeyer 116 ff.
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Beweislastumkehr
Regulation 1: 1 umgesetzt, ohne dass sich der Gesetzgeber darum kümmerte, wie sich das neue Gesetz zu seinem rechtlichen Umfeld, dem common law, verhält. Es war zu beobachten, dass die Instanzgerichte, also die county courts, weiterhin reiserechtliche Fälle nach den allgemeinen Grundsätzen des common law entschieden, ohne die neue Regulation zu beachten. Die Hone-Entscheidung ist das erste bedeutendere Urteil, in der ein britisches Gericht nicht allgemeine Prinzipien des common law, sondern eine Vorschrift aus der Umsetzung der Pauschalreise-RL auf einen Pauschalreisevertrag anwandte. Das Gericht sah, dass es zwischen der objektiven Pflichtverletzung und dem Verschulden zu trennen hatte und wies die Klage von Hone mit der Begründung ab, er habe keine Pflichtverletzung des Reiseveranstalters nachweisen können. Vom Ansatz her hat der High Court sicherlich richtig gesehen, dass der Reisende das objektive Bestehen einer Pflichtverletzung beweisen muss. Gleichwohl überzeugt die Entscheidung aus mehreren Gründen nicht. So hätten die Bediensteten der Fluggesellschaft dafür sorgen müssen, dass die Rutsche nicht benutzt wird, solange sich noch ein anderer Passagier darauf befindet. Zum zweiten hätten sie darauf achten müssen, dass die Passagiere das Flugzeug über die Notrutsche ohne Schuhe verlassen. Dies sind allgemein anerkannte objektive Sicherheitsstandards, die hier zweifelsohne verletzt waren. Was Hone und darüber hinaus noch hätte beweisen müssen, bleibt unerfindlich.14 Allenfalls ließe sich die Entscheidung damit rechtfertigen, dass die genannten Pflichten der Fluggesellschaft und nicht dem Reiseveranstalter obliegen. Aber auch insoweit kann die Entscheidung nicht überzeugen. Art 5 Abs 1 und mit ihm Sec 15 der englischen Umsetzungs-Regulation rechnet eindeutig die Pflichtverletzung eines Leistungsträgers dem Reiseveranstalter zu. In der deutschen Reitunfall-II-Entscheidung wurde dagegen zu Gunsten des Reisenden entschieden.15 Der Reisende hatte einen Club-Urlaub gebucht und vor Ort ein Reitpferd gemietet. Bei einem Gruppenausflug wurde er von einem Pferd getreten und verletzt. An den Folgen der Verletzung starb er später. Es war streitig, ob der Reiseveranstalter hätte wissen können und müssen, ob das Pferd als Reitpferd geeignet war. Der Bundesgerichtshof verlangte von dem Reisenden lediglich, dass er ernstlich in Betracht kommende Ursachen vortrüge. Es sollte dann Sache des Reiseveranstalters sein, darzulegen, dass er bei jedem dieser möglichen Geschehensabläufe seinen Sorgfaltspflichten nachgekommen wäre, das heißt ohne Verschulden gehandelt hat. Die Kläger hatten nicht weniger als vier «nicht ohne weiteres von der Hand zu weisende Möglichkeiten eines Verschuldens» (so die Formulierung des BGH) aufgezeigt.
14 Krit auch Echtermeyer, Die Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie in Deutschland und im vereinigten Königreich 116 ff. 15 Siehe Fn 11.
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Die Haftung des Reiseveranstalters
Der Beklagte wurde für verpflichtet gehalten nachzuweisen, «dass er die als Ursache in Betracht kommenden Umstände nicht zu vertreten hat.» Diese Entscheidung geht in einer verbraucherfreundlichen Sinne über die Anforderungen des Art 5 Pauschalreise-RL beziehungsweise der deutschen Umsetzungsvorschrift in § 651 f Abs 1 BGB hinaus. Dabei unterscheidet der BGH zwar in korrekter Weise zwischen der vom Reisenden zu beweisenden objektiven Pflichtverletzung und dem Verschulden, jedoch kommt er dem Reisenden insoweit entgegen, dass dieser nur eine ernsthaft in Betracht kommende Ursache beweisen muss, der zum Schaden geführt hat, also mehrere Alternativen aufzeigen kann. Die Entscheidung ignoriert zwar nicht die Trennung des Gesetzes zwischen der objektiven Pflichtverletzung, die der Reisende nachzuweisen hat, und dem Verschulden, bei dem allein die Beweislastumkehr greift, jedoch belastet es den Reiseveranstalter mit komplexen Anforderungen an die Entlastung und kommt dem Reisenden bei dem ihm obliegenden Nachweis der objektiven Pflichtverletzung entgegen. Das Urteil ist deswegen in der deutschen Lit auch kritisiert worden.16 Vergleicht man Hone und Reitunfall II, so stellt man fest, dass beide Urteile von der Grundstruktur des Art 5 Pauschalreise-RL abweichen, einmal in einem veranstalterfreundlichen, einmal in einem verbraucherfreundlichen Sinne. Der High Court negiert, dass offensichtlich eine objektive Pflichtverletzung vorlag oder er zumindest eine Pflichtverletzung der Fluggesellschaft dem Reiseveranstalter hätte zurechnen müssen, während der Bundesgerichtshof dem Reisenden den Nachweis der objektiven Pflichtverletzung dadurch erleichtert, dass der Nachweis bloß ernsthaft möglicher alternativer Geschehensabläufe ausreicht. Beiden Gerichten ist vorzuwerfen, dass sie sich nicht mit der Frage auseinander gesetzt haben, ob die jeweiligen Fällen dem EuGH gem Art 234 EGV zur Vorabentscheidung vorzulegen gewesen wären. Einiges spricht dafür, dass in beiden Fällen die Vorlagepflicht zu bejahen gewesen wäre, denn die zu entscheidenden Rechtsfragen warfen Zweifel auf, die eine abschließende Entscheidung des nationalen Gerichts nicht zuließen. Dies wird schon daran deutlich, dass dieselbe Rechtsfragen von den beiden Gerichten widersprüchlich entschieden wurde. Durch die unterlassene Vorlage wird die gebotene einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts verhindert. Genau dies zu gewährleisten, ist der Zweck des Art 234 EGV.
16 Eckert, RRa 2007, 113.
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Schadensersatz für nutzlos aufgewendete Urlaubszeit
9.3 Schadensersatz für nutzlos aufgewendete Urlaubszeit 9.3.1 Leitentscheidung: der Leitner-Fall Ein weiterer Problembereich im Zusammenhang mit der Haftungsvorschrift des Art 5 RL ist die Frage, ob der in dieser Vorschrift enthaltene Schadensersatzanspruch einen Schadensersatz wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit enthält. Der Wortlaut der Richtlinie äußert sich dazu nicht. Nach nationalem Recht wurde bislang teilweise ein derartiger Schadensersatzanspruch gewährt, so etwa in Deutschland, wo er in § 651 f Abs 2 BGB bereits 1979 ausdrücklich kodifiziert wurde, teilweise gab es ihn bislang nicht, so etwa in Österreich.17 In der Leitner-Entscheidung hat der EuGH ausdrücklich erklärt, dass ein Schadensersatz wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit vom Schadensbegriff des Art 5 der Richtlinien umfasst sei.18 Dem lag folgender Fall zu Grunde. Die zehnjährige Simone Leitner erlitt während eines Urlaubs mit ihren Eltern in einer Hotelanlage eine Salmonellenvergiftung. Die Eltern mussten sich um das Kind kümmern und konnten ihren Urlaub nicht genießen. Nach dem seinerzeitigen österreichischen Recht gab es zwar einen Schadensersatz wegen immaterieller Schäden, der auch zugesprochen wurde, jedoch fragte das vorlegende Gericht, das Landesgericht Linz, in einem Vorlagebeschluss gemäß Art 234 EGV den EuGH, ob darüber hinaus Schadensersatz wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit zu gewähren sei. Der EuGH bejahte die Frage. Um die Motive des EuGH zu erforschen, lohnt es sich, die SA des GA Tizziano heranzuziehen,19 denn die Urteilsgründe des EuGH sind typischerweise sehr knapp abgefasst, während die SA wesentlich ausführlicher sind und man davon ausgehen darf, dass sich der EuGH die Überlegungen des GA zu eigen macht, wenn er dessen Ergebnisse übernimmt. Aus den Überlegungen von GA Tizziano sind zwei Erwägungen besonders interessant: Zum einen unternimmt er eine rechtsvergleichende Analyse des Schadensersatzrechts in den Mitgliedstaaten und kommt zu dem Ergebnis, dass das Schadensersatzrecht sich immer mehr ausdehne und auch immer stärker immaterielle Momente umfasse. Daraus leitet er ab, dass es in der Tendenz des Rechts der Mitgliedstaaten liege, früher oder später auch einen Schadensersatz für entgangene Urlaubsfreude anzunehmen. Dieses Ergebnis wird auf das Gemeinschaftsrecht übertragen, wobei allerdings offen bleibt, ob es sich dabei um eine spezielle Entscheidung für das Pauschalreiserecht oder eine allgemeine Entscheidung im Rahmen der Entwicklung eines gemeinschaftsrecht17 Vgl für andere MS die Nachweise in Schulte-Nölke (Hg), EG-Verbraucherrechtskompendium – Rechtsvergleichende Studie (2007), <ec.europa.eu/consumers/cons_int/safe_ shop/acquis/comp_analysis_de.pdf> 342. 18 EuGH 12.03.2002 Rs C-168/00 (Leitner). 19 SA GA Tizziano 20.09.2001 Rs C-168/00 =RRa 2001, 325.
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lichen Schadensersatzbegriffes handelt. Nebenbei gesagt sind diese Überlegungen in methodischer Hinsicht sehr interessant, weil hier die rechtsvergleichende Methode für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts fruchtbar gemacht wird.20 Der zweite interessante Aspekt betrifft die am Ziel der RL orientierte Auslegung. Der Generalanwalt rekurriert auf den Verbraucherschutz und schließt daraus, dass wegen dieser Zielbestimmung im Zweifel der verbraucherfreundlicheren Auslegung der Vorrang zu gewähren sei. Wir haben an anderer Stelle von einem Prinzip ‹in dubio pro consumptore› gesprochen.21 Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass dem EuGH zufolge der Schadensersatz wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit zusätzlich zu einem immateriellen Schadensersatz zu gewähren ist. Konsequenterweise ergänzte der österreichische Gesetzgeber nach der Entscheidung das nationale Reiserecht um eine entsprechende Vorschrift (§ 31e Abs 3 KSchG).22 9.3.2 Probleme Die Leitner-Entscheidung wirft zwei Probleme auf. Mehrere Rechtsordnungen, so § 31e Abs 3 KSchG in Österreich und § 651 f Abs 2 BGB in Deutschland, verlangen eine erhebliche Beeinträchtigung als Voraussetzung für den Schadensersatzanspruch wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit.23 Eine derartige Beschränkung auf erhebliche Beeinträchtigungen ist dem LeitnerUrteil nicht zu entnehmen. Vielmehr ist nach diesem Urteil ein Schadensersatz wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit stets zu gewähren. Eine starre Schwelle erscheint mit diesem Urteil nicht vereinbar. Dies heißt nicht, dass Abstufungen je nach dem Grad der Beeinträchtigung nicht mehr möglich sind. In Deutschland haben jedoch die Gerichte vor dem Urteil und zum Teil noch heute die Erheblichkeit einer Beeinträchtigung davon abhängig gemacht, dass die zu Grunde liegenden Mängel zu einer Minderung von mindestens 50% berechtigen.24 Nach Leitner darf man meines Erachtens nicht mehr derart quantifizieren. In der Tat ist zu beobachten, dass einige deutsche Gerichte
20 Zu den Methoden der Auslegung des Gemeinschaftsrechts Tonner/Tamm, FS Stauder (2006) 527 (537 ff). 21 Ausf Tonner/Tamm, FS Stauder 553 ff; krit Riesenhuber, JZ 2005, 829; wie hier Rösler, RabelsZ 2007, 829. 22 Abs 3 wurde durch das ZivRÄG 2004 eingefügt aBGBl I 91/2003; vgl auch Mayer in Kosesnik-Wehrle/Lehofer/Mayer/Langer, KSchG2 (2004) § 31e Rz 13. 23 Zu diesem Aspekt Tonner/Lindner, NJW 2002, 1475. 24 OLG Düsseldorf 07.07.1994, 18 U 35/94 =RRa 1994, 205; OLG Stuttgart 21.12.1993, 6 U 152/93 =RRa 1994, 28; OLG Frankfurt 06.04.1995, 16 U 47/94 =RRa 1995, 147; LG Frankfurt 04.11.1991, 2/24 S 174/91 =NJW-RR 1992, 187; weitere Belege bei Tonner, Der Reisevertrag5 § 651 f Fn 114.
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in letzter Zeit von der 50%-Schwelle Abstand nehmen und statt dessen stärker eine Einzelfallbetrachtung vornehmen.25 Das zweite Problem weist über die Pauschalreise-RL hinaus. Es stellt sich nämlich die Frage, ob das Urteil nur für das Pauschalreiserecht von Bedeutung ist und auf Art 5 der RL zu beschränken ist, oder ob der EuGH darüber hinaus einen Beitrag für einen europäischen Schadensbegriff leisten wollte.26 Der GA hat seine Begründung auf die Entwicklung der Schadensrechts in den Mitgliedstaaten gestützt; das spricht für Letzteres. Auf der anderen Seite ist das Urteil auch aus dem Verbraucherschutz-Ziel der RL abgeleitet, was für eine auf das Pauschalreiserecht beschränkte Geltung spricht. Letztlich ist es Sache des Gemeinsamen Referenzrahmens, aus dem Urteil Konsequenzen für einen allgemeinen Schadensbegriff zu ziehen. Bislang ist dies jedoch noch nicht geschehen; der Draft Common Frame of Reference enthält in seinem Annex 1 zwar eine Definition von «damages», die sich jedoch nicht mit der Frage befasst, inwiefern immaterielle Momente in den Schadensbegriff einzubeziehen sind.27
9.4 Ausschlussfristen Schadensersatzansprüche nach Art 5 RL hängen davon ab, dass der Reisende nicht durch Fristversäumnisse gehindert ist, sie geltend zu machen. Das Reiserecht in den MS sieht im Allgemeinen vor, dass der Reisende Mängel vor Ort anzeigen muss. Im deutschen Recht ist eine derartige Pflicht beispielsweise in § 651d Abs 2 BGB enthalten. Darüber hinaus ist in einigen Rechtsordnungen vorgesehen, dass der Reisende innerhalb eines Monats nach Reiseende Ansprüche beim Reiseveranstalter geltend machen muss. Das deutsche Recht enthält eine derartige Pflicht in § 651g Abs 1 BGB. Nur in wenigen anderen Mitgliedstaaten ist eine eigene Anzeigepflicht nach Reiseende vorgesehen.28 Das österreichische Recht enthält keine Verpflichtung, Ansprüche nach Reiseende innerhalb einer knapp bemessenen Frist geltend zu machen, sondern lediglich die Pflicht, Mängel vor Ort anzuzeigen, § 31e Abs 2 KSchG. Es ist ausdrücklich vorgesehen, dass eine Verletzung dieser Pflicht nicht zum Verlust der Mängelrechte, sondern allenfalls zu einem Mitverschulden führt. Im Rahmen des ZivRÄG 2004 wurde die Einführung einer Ausschlussfrist disku25 OLG Celle 22.04.2004, 11 U 251/03 =RRa 2004, 158; früher schon LG Köln 30.11.1993, 11 S 50/93 =NJW-RR 1994, 741; AG Nordenham 01.10.1993, 3C 318/93 =RRa 1994, 15. 26 Zu diesem Aspekt Tonner, ZEuP 2003, 623. 27 Principles, Definitions and Model Rules of European Private Law – Draft Common Frame of Reference (2008). 28 Schulte-Nölke, EG-Verbraucherrechtskompendium (Fn 17) 343 ff.
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tiert, sie konnte jedoch durch den Einsatz der Verbraucherorganisationen abgewendet werden.29 Jedoch besteht für die österreichischen Verbraucher das Problem, dass wegen der Verflechtung des österreichischen und des deutschen Reiseveranstaltermarktes im Einzelfall deutsches Recht und damit die Ausschlussfrist zur Anwendung gelangen kann.30 Dies ist jedoch nicht automatisch bei einer grenzüberschreitenden Buchung der Fall, da die Rom I-VO31 vom Wohnsitzprinzip des Verbrauchers ausgeht, und zwar auch bei einer Internetbuchung, wenn die Web Site auf den Wohnsitzstaat ausgerichtet ist. Die RL sieht in Art 4 Abs 2 lit a Mindestbedingungen für den Vertragsinhalt vor. Diese sind im Anhang der Richtlinie aufgeführt und enthalten in dessen lit k eine Vorschrift, wonach Fristen, innerhalb derer der Verbraucher etwaige Beanstandungen wegen Nichterfüllung oder mangelhafter Erfüllung des Vertrages erheben muss, in den Vertrag aufzunehmen sind. Die Richtlinie geht also davon aus, dass derartige Fristen in den Mitgliedstaaten existieren und grundsätzlich zulässig sind. Von einem doppelten Anzeigeerfordernis wie nach deutschem Recht ist aber nicht die Rede. Das bedeutet aber nicht, dass die Frist beliebig kurz sein darauf. Vielmehr ist die Länge der Frist unter dem Gesichtspunkt des Effektivitätsgebots des Gemeinschaftsrechts zu betrachten. Dieses verlangt, dass der Verbraucher Rechte, die ihm das Gemeinschaftsrecht zugebilligt, auch tatsächlich ausüben können muss. Eine zu kurze Frist könnte ihn an der Geltendmachung seiner Rechte hindern. Die Praxis zu § 651g Abs 1 BGB in Deutschland zeigt, dass häufig Ansprüche nicht durchgesetzt werden können, weil die Frist bei der Geltendmachung abgelaufen ist. Dies wird daraus ersichtlich, dass es zahlreiche Rechtsstreitigkeiten um die genaue Berechnung der Frist gibt. Insb hat die Frage eine Rolle gespielt, ob der Rechtsanwalt des Verbrauchers innerhalb der Frist eine Originalvollmacht vorlegen muss. Zahlreiche Urteile einschließlich einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs ließen Ansprüche des Verbrauchers scheitern, weil es daran fehlte.32 Inzwischen hat der deutsche Gesetzgeber die Rechtslage insoweit allerdings zu Gunsten des Verbrauchers korrigiert.33 Eine zweite Auswirkung der Einmonatsfrist besteht darin, dass bei ihrer Versäumung häufig in das Deliktsrecht ausgewichen wird. Der BGH hat entschieden, dass die Einmonatsfrist nicht durch AGB auf deliktische Ansprüche
29 Mayer in Kosesnik-Wehrle/Lehofer/Mayer/Langer, KschG2 § 31e Rz 7. 30 Vgl den Hinweis des VKI auf seiner Web Site in dem Beitrag «Mehr Rechte für Pauschaltouristen» aE. 31 VO 593/2008/EG über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I-VO), ABl 2008 L 177/6. 32 BGH 17.10.2000, X ZR 97/99 =BGHZ 145, 343 =RRa 2001, 24; Belege für die instanzgerichtliche Rsp bei Tonner, Der Reisevertrag5 § 651g Rz 19. 33 Im Rahmen des 2. ReiseRÄG vom 23.07.2001, BGBl 2001 I 1658.
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erstreckt werden darf.34 Die Rsp erörtert in zahlreichen Entscheidungen deliktische Verkehrssicherungspflichten.35 Statt dem Verbraucher einen vertraglichen Schadensersatzanspruch nach § 651 f Abs 1 BGB zu gewähren, bei dem der Leistungsträger Erfüllungsgehilfe wäre und sein Fehlverhalten dem Reiseveranstalter zuzurechnen wäre, muss wegen der durch das Fristversäumnis gesperrten Anwendung des § 651 f Abs 1 BGB erörtert werden, ob der Reiseveranstalter eine eigene Pflichtverletzung begangen hat, insb den Leistungsträger nicht hinreichend kontrolliert und die Sicherheitsstandards der Hotelanlage nicht überwacht hat, denn im deutschen Deliktsrecht ist das Verhalten des Leistungsträgers dem Reiseveranstalter nicht zuzurechnen, da er mangels Weisungsabhängigkeit kein Verrichtungsgehilfe gemäß § 831 BGB ist. Neuerdings hat der BGH versucht, die Einmonatsfrist nach § 651g Abs 1 BGB restriktiv zu interpretieren. Die Vorschrift sieht nämlich vor, dass die Frist nicht anzuwenden ist, wenn der Reisende sie ohne sein Verschulden versäumt hat. Die Gründe für die Versäumnis wurden in einer Entscheidung vom 12.06.2007 extensiv interpretiert.36 Außerdem äußerte der BGH in diesem Urteil deutliche Kritik am rechtspolitischen Sinn der Vorschrift. Die gemeinschaftsrechtliche Seite des Problems besteht darin, dass der effet utile nicht verletzt sein darf.37 Aus den zahlreichen Streitigkeiten über das Fristende und dem Ausweichen in das Deliktsrecht ist zu folgern, dass die Frist das Effektivitätsgebot verletzt. Dies folgt vor allem auch daraus, dass das deutsche Recht eine doppelte Anzeigepflicht kennt, nämlich einmal vor Ort gemäß § 651d Abs 2 BGB, und sodann nach Reiseende nach § 651g Abs 1 BGB. Damit rechnet ein juristischer Laie nicht. Die RL spricht auch nur von einer Frist, die eher dem Anzeigeerfordernis vor Ort nach § 651d Abs 2 BGB bzw § 31e Abs 2 KSchG entspricht. Bedenken bestehen daher gegen eine doppelte Frist zum einen und gegen eine unangemessen kurze Ausschlussfrist zum anderen, wobei diese Unangemessenheit vor allem dann besteht, wenn der Verbraucher die Mängel bereits vor Ort anzeigen musste. Da die RL jedoch grundsätzlich die Möglichkeit einer Frist vorsieht, besteht die Konsequenz nicht darin, jede Frist grundsätzlich für unzulässig zu halten, sie muss jedoch angemessen lang sein. Der Gemeinschaftsgesetzgeber wird sich bei der Reform der Pauschalreise-RL mit diesem Problem befassen müssen. Eine Lösung könnte darin bestehen, dass man die Frist auf zwei Monate verdoppelt.38
34 BGH 03.06.2004, X ZR 28/03 =NJW 2004, 2965 =RRa 2004, 215. 35 Vgl die Nachweise bei Tonner, Der Reisevertrag5 § 651 f Rz 25–30. 36 BGH 12.06.2007, X ZR 87/06 =NJW 2007, 2549 =RRa 2007, 215; dazu Tonner, NJW 2007, 2738. 37 Dazu ausf Tonner/Crellwitz in FS G. Mayer 213 ff. 38 Tonner, Pauschalreiserecht und Teilzeitwohnrechte 66 ff, 68.
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9.5 Begrenzung der Höhe von Schadensersatzansprüchen Ein letztes Problem des Art 5 betrifft die Frage, inwiefern Schadensersatzansprüche begrenzt werden können und sollten. Die Vorschrift sieht vor, dass eine Haftungsbegrenzung für Körperschäden nicht möglich ist. Dagegen ist für sonstige Schäden den MS freigestellt, eine vertragliche Haftungsbeschränkung zuzulassen. Diese Einschränkung darf nicht unangemessen sein. Den MS steht es frei zu konkretisieren, was sie unter angemessen verstehen. Der deutsche Gesetzgeber hat beispielsweise in § 651h BGB eine Haftungsbeschränkung auf den dreifachen Reisepreis für zulässig erklärt. Diese Haftungsbeschränkung gilt allerdings nur, wenn sie vertraglich vereinbart ist. Immerhin bedeutete seinerzeit die Haftungsregelung des Art 5 für das deutsche Reiserecht einen Fortschritt, denn die ursprüngliche Regelung des § 651h BGB erlaubte eine Beschränkung auf den dreifachen Reisepreis auch für Körperschäden. Dies führte vor der Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie dazu, dass bei höheren Körperschäden ein Ausweg in deliktischen Ansprüchen gesucht wurde. Unabhängig davon ist sowohl in Deutschland wie in Österreich eine Haftungsbeschränkung für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit nicht möglich. In den MS besteht jedoch eine gewisse Uneinheitlichkeit bei der Haftungsbeschränkung. So wird vielfach außerhalb des Bereichs der Körperschäden eine Beschränkung auf den doppelten Reisepreis für zulässig erklärt.39 Andere wiederum übernehmen lediglich den Wortlaut der RL und belassen es bei einer «angemessenen» Haftungsbegrenzung.40 Aus diesem Grunde erscheint es angebracht, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber bei der anstehenden Überarbeitung der Pauschalreiserichtlinie konkretisiert, was er unter angemessen versteht. Die Beschränkung auf den dreifachen Reisepreis, wie nach § 651h BGB vorgesehen, könnte dabei den richtigen Weg weisen.41
9.6 Schlussbemerkung Unsere Durchmusterung der von Art 5 der RL aufgeworfenen Probleme zeigt, dass es zwar eine Reihe von nicht ganz unstrittigen Fragen gibt, dass aber keineswegs immer gleich der Gemeinschaftsgesetzgeber zu einer Lösung aufgerufen werden sollte. Manche Fragen sollte man der Rechtsprechung überlassen. Dazu ist es allerdings notwendig, dass die Gerichte der MS ihre Verpflichtung aus Art 234 EGV ernst nehmen, wonach sie bei Zweifeln, wie das Gemein39 Schulte-Nölke, EU-Verbraucherrechts-Kompendium 339. 40 Sec 15 (4) der Package Travel Regulation; dazu Echtermeyer, Die Umsetzung der Pauschalreiserichtlinie in Deutschland und im vereinigten Königreich 180, 181 f. 41 Tonner, Pauschalreiserecht und Teilzeitwohnrechte 68.
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Schlussbemerkung
schaftsrecht auszulegen ist, den EuGH einschalten müssen. Wir konnten in diesem Beitrag ein Problem identifizieren, bei dem dies nicht geschehen ist, nämlich die Beweislastumkehr bezüglich des Verschuldens. Dies bedeutet aber nicht, dass deswegen der Gemeinschaftsgesetzgeber auf den Plan treten sollte. Bei einer anderen Frage, nämlich dem Schadensersatz für nutzlos aufgewendete Urlaubszeit, hat der EuGH so klar entschieden, dass eine Kodifizierung des Urteils überflüssig erscheint. Vor einer Kodifizierung sollte überdies die weitere Entwicklung bezüglich eines allgemeinen Schadensbegriffes auf Gemeinschaftsebene abgewartet werden. Einzelheiten des Schadensbegriffs sind ohnehin in der Hand der Rsp besser aufgehoben, solange die Entwicklung noch im Fluss ist. Ein Handeln des Gemeinschaftsgesetzgebers im Bereich von Art 5 ist jedoch bei den Ausschlussfristen geboten. Das deutsche Beispiel zeigt, dass eine zu kurze Frist und ein doppeltes Anzeigeerfordernis die Durchsetzung der aus der Richtlinie folgenden Rechte für die Verbraucher behindern kann. Der Gemeinschaftsgesetzgeber sollte daher vorsehen, dass eine Ausschlussfrist angemessen lang sein muss und dies mit mindestens zwei Monaten konkretisieren. Weiterhin wäre daran zu denken, die Beschränkung des Schadensersatzes für Nichtkörperschäden genauer zu fassen, und eine Beschränkung auf höchstens den dreifachen Reisepreis vorzusehen.
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10. Internationale Zuständigkeit und anwendbares Recht bei «grenzüberschreitenden» Reiseverträgen Brigitta Lurger 10.1 Einleitung «Grenzüberschreitende» Verträge von Reisenden sind nicht nur deswegen im Zunehmen, weil immer weniger Verbraucher im Inland Urlaub machen oder immer weniger Unternehmer ihre Geschäftsreisen auf das Inland beschränken, sondern weil vor allem auch die beiden Vertragspartner eines mit der Reise zusammenhängenden Vertrages immer häufiger in verschiedenen Staaten ansässig sind. Die Reise wird sozusagen bei einem ausländischen Unternehmer «gekauft», nicht bei einem Inländer. Beschleunigt wird diese Vermehrung der «Abschlüsse über die Grenze» natürlich auch durch das Internet, das dem traditionellen Reisebüro um die Ecke teilweise den Rang abgelaufen hat, durch die Globalisierung bzw Internationalisierung der Reisebranche, die Vermehrung des Flugangebots und andere Ursachen. Vom Gesichtspunkt der internationalen Rechtsdurchsetzung (Internationale Zuständigkeit, anwendbares Recht) interessieren weniger diejenigen «grenzüberschreitenden» Reisen, die den Reisenden ins Ausland führen, denn diese sind – wenn beide Vertragsparteien Inländer sind – relativ unproblematisch, als vielmehr jene Reiseverträge, die zwischen Vertragsparteien abgeschlossen werden, die nicht im selben Staat ansässig oder niedergelassen sind: Es interessieren also beispielsweise die österreichische Familie Leitner, die bei einem deutschen Reiseveranstalter eine Pauschalreise in die Türkei bucht, oder der deutsche Geschäftsreisende H, der mit der lettischen Fluggesellschaft L einen Flug von Deutschland nach Litauen und retour vereinbart. Solcherart «grenzüberschreitenden» Verträgen soll daher in der Folge die Aufmerksamkeit zugewendet werden. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen die Pauschalreiseverträge und die Beförderungsverträge (insb Flüge) als die klassischen Reisever173
Internationale Zuständigkeit
träge (siehe 10.2–10.5). Aus Zeit- und Platzgründen kann danach auf andere Vertragstypen, wie Ferienraummiete, Beherbergungsvertrag und Timesharing, nur mehr kursorisch eingegangen werden (siehe 10.6). Die Untersuchung behandelt Individualansprüche von Reisenden gegen deren Vertragspartner und umgekehrt. Verbands-, Sammel- oder Gruppenklagen werden im folgenden Beitrag von Kodek (11.) gesondert diskutiert, hier aber ausgespart. Nach Abtretung eines Individualanspruches aus einem Reisevertrag durch einen Konsumenten an einen Verbraucherschutzverband (oder einen anderen Nicht-Verbraucher) stehen dem nunmehrigem Kläger, dem Verband, die zuständigkeitsrechtlichen Vergünstigungen für Verbraucher (siehe insb den Verbrauchergerichtsstand der Art 15–17 Brüssel I-VO)1 nicht mehr zu.2 Inhaltlich bleibt der Vertrag aber auch nach der Abtretung Verbrauchervertrag, sodass sich das anwendbare Recht weiterhin nach den Verbraucherschutzregeln (insb Art 5 EVÜ)3 bestimmt. Dh etwa, dass eine im Vertrag getroffene ungünstige Rechtswahl, die in Verbraucherverträgen gem Art 5 Abs 2 EVÜ unwirksam ist, auch weiterhin unwirksam bleibt und stattdessen – wie auch zuvor – das Vertragsrecht des Verbraucherwohnsitzsstaates zur Anwendung kommt. Wird der Reisevertrag zwischen zwei Unternehmern abgeschlossen, so gelten die allgemeinen Vorschriften der Internationalen Zuständigkeit und des Internationalen Privatrechts, also innerhalb der EU insb die Art 2, 5 Nr 1, 5 und Art 23 Brüssel I-VO sowie die Art 3 und 4 EVÜ (Art 3, 4, 5 Rom I-VO).4 Handelt es sich beim Reisevertrag hingegen um einen Verbrauchervertrag, so werden – unter gewissen Voraussetzungen – die genannten allgemeinen Vorschriften von besonderen Verbraucherschutzvorschriften des IZVR und IPR verdrängt: siehe insb die Art 15–17 Brüssel I-VO, die dem Verbraucher die Rechtsverfolgung in seinem Heimatstaat bzw am Gericht seines Wohnsitzes ermöglichen, und die Art 5 EVÜ bzw Art 6 Rom I-VO, die eine für den Ver1 VO 44/2001/EG über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl 2001 L 12/12: anzuwenden auf Klagen ab dem 01.03.2002. 2 EuGH 19.01.1993 Rs C-89/91 (Shearson Lehmann Hutton) Slg 1993 I-00139; EuGH 01.10.2002 Rs C-167/00 (Verein für Konsumenteninformation) Rn 33 f Slg 2002 I-08111; Rauscher, Europäisches Zivilprozessrecht2 (2005) Art 15 Brüssel I-VO Rz 2; Nielsen in Magnus/Mankowski, Brussels I Regulation (2007) Art 18 Brussels I Rz 18; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht8 (2005) Art 15 EuGVOO Rz 12. 3 Römisches Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht 19.06.1980 ABl 1998 C 27/34 (EVÜ-Wiederverlautbarung); aBGBl I 119/1998; aBGBl I 18/1999; aBGBl III 166/1998 (Beitrittsübereinkommen); aBGBl III 208/1998 (Text des EVÜ): anzuwenden auf Verträge, die ab dem 01.12.1998 abgeschlossen wurden. 4 VO 593/2008/EG über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I-VO), ABl 2008 L 177/6: anzuwenden auf Verträge, die ab dem 18.12.2009 abgeschlossen werden.
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braucher ungünstigere Rechtswahlvereinbarung nicht zulassen und das Recht des Verbraucherwohnsitzes zur Anwendung bringen.
10.2 Pauschalreisevertrag Zur Verdeutlichung der Rechtslage bei Pauschalreiseverträgen soll die üblicherweise unbeachtete, die international-rechtliche Seite des bereits legendären EuGH-Falles Leitner5 in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden. Die im Sommer 1997 zehnjährige Österreicherin Simone Leitner war bekanntlich in einem türkischen Clubhotel, in dem sie mit ihrer Familie den Urlaub verbrachte, an einer Salmonellenvergiftung schwer erkrankt und klagte im Juni 1998 die TUI Deutschland GmbH & Co KG auf Zahlung von Schadenersatz vor einem österreichischen Gericht (BG Linz-Land). Die Familie hatte mit der deutschen TUI zuvor in einem österreichischen Reisebüro den betreffenden Pauschalreisevertrag abgeschlossen. TUI Deutschland betrieb in Österreich Werbung, veröffentlichte einen Österreich-Katalog und bot ihre Leistungen in österreichischen Reisebüros an.6 10.2.1 Internationale Zuständigkeit Für die internationale Zuständigkeit nach dem damals noch anwendbaren EuGVÜ,7 dem die heutige Brüssel I-VO entspricht, ergibt sich daher, dass gem Art 13 EuGVÜ der Anwendungsbereich des Verbrauchergerichtsstandes eröffnet ist: Es handelt sich um einen Vertrag über die Erbringung einer Dienstleistung iSv Art 13 Abs 1 Nr 3 EuGVÜ, der Unternehmer hat hierfür in Österreich Werbung gemacht und der Verbraucher hat seine Vertragserklärung in seinem Aufenthaltsstaat abgegeben. Bei Erfüllung der Voraussetzung der Werbung oder des Angebots des Unternehmers im Verbraucherstaat (siehe Art 13 Abs 1 Nr 3 EuGVÜ, Art 5 Abs 2 EVÜ), während sich der Verbraucher in diesem Staat aufhält und dort auf diese Werbung oder dieses Angebot des Unternehmers trifft, spricht man von einem «passiven» Verbraucher. Demgegenüber verhält sich der Unternehmer «aktiv» im Hinblick auf die Erschließung des Marktes des Verbraucherstaates: Er richtet seine Marketing- und Verkaufsaktivitäten auf den Markt im Verbraucherstaat aus. Der «Marktort», auf dem der grenzüberschreitend «aktive» Unternehmer und der «passive» 5 EuGH 12.03.2002 Rs C-168/00 (Leitner) Slg 2002 I-02631. 6 LG Linz 02.05.2002, 15 R 5/00m: Folgeentscheidung von EuGH 12.03.2002 Rs C-168/ 00. 7 Brüsseler Übereinkommen 27.09.1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen aBGBl III 167/1998 (Beitrittsübereinkommen), aBGBl III 209/1998 (Text).
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Internationale Zuständigkeit
(grenzüberschreitend inaktive) Verbraucher aufeinandertreffen, liegt in Österreich. Leitner kann folglich gem Art 14 Abs 1 EuGVÜ ihre unternehmerische deutsche Vertragspartnerin TUI vor österreichischen Gerichten klagen (siehe § 28 JN). Eine diesen Gerichtsstand ausschließende Vereinbarung im Reisevertrag wäre gem Art 15 EuGVÜ unwirksam. Ebenso kann die Konsumentin von TUI nur vor österreichischen Gerichten geklagt werden (Art 14 Abs 2 EuGVÜ). Die für ab dem 01.03.2002 (in MS gegen Beklagte mit Wohnsitz in einem MS) eingebrachte Klagen anwendbaren Art 15–17 Brüssel I-VO (Verbrauchergerichtsstand) würden zu demselben Ergebnis führen. Nicht anwendbar wären die Art 13–15 EuGVÜ bzw Art 15–17 Brüssel I-VO aber auf reine Beförderungsverträge (siehe Art 13 Abs 3 EuGVÜ, Art 15 Abs 3 Brüssel I-VO). Die für Verbraucher, die «passiv» Pauschalreiseverträge abschließen, durch den Verbrauchergerichtsstand der Art 13–15 EuGVÜ bzw Art 15–17 Brüssel I-VO erzeugten Schutzwirkungen sind beträchtlich. Es werden sowohl für die aktive als auch für die passive Rechtsverfolgung durch den Verbraucher die günstigstmöglichen Bedingungen geschaffen: Er kann den Unternehmer nahe seines Wohnsitzes verklagen und von jenem nur in seinem eigenen Wohnsitzstaat verklagt werden. Hätte der Verbraucher diese Möglichkeiten nicht, würde er in den meisten Fällen wohl von der Rechtsverfolgung Abstand nehmen, da diese für ihn zu aufwändig und kostspielig wäre. 10.2.2 Anwendbares Recht Die Problematik des (Nicht-)Ersatzes des immateriellen Schadens der «entgangenen Urlaubsfreude»8 wäre in der Rs Leitner niemals aufgetreten, wenn die Gerichte deutsches und nicht österreichisches materielles Recht für anwendbar gehalten hätten: Denn gem § 651 f Abs 2 BGB kann der Reisende bei erheblichen Beeinträchtigungen ohnedies «eine angemessene Entschädigung in Geld wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit» verlangen. Warum aber wendeten die Gerichte österreichisches Privatrecht an? Art 5 EVÜ (Verbraucherverträge) ist – ebenso wie die Art 13–15 EuGVÜ – auf den Pauschalreisevertrag der Familie Leitner anwendbar, da es sich um einen Dienstleistungsvertrag handelte, der Unternehmer Werbung im Verbraucherstaat gemacht hatte (aktiver Unternehmer, passiver Verbraucher, Marktort Österreich) und der Verbraucher seine Vertragserklärung in seinem Heimatstaat abgegeben hatte. Die deutsche TUI muss es – ob aus Unwissenheit oder Berechnung – unterlassen haben, in den Vertragstext eine Rechtswahlklausel zugunsten des deutschen Rechts aufzunehmen. Eine solche Rechtswahlvereinbarung wäre auch nach Art 5 Abs 2 EVÜ wirksam gewesen: Denn das gewählte 8 Siehe heute § 31e Abs 3 KSchG (aBGBl I 91/2003).
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Pauschalreisevertrag
deutsche Recht war für die Konsumentin Leitner ja sogar günstiger als ihr eigenes Aufenthaltsrecht. In Ermangelung einer wirksamen Wahl deutschen (oder anderen) Rechts kommt gem Art 5 Abs 3 EVÜ das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts der Verbrauchers zur Anwendung, für Leitner also österreichisches materielles Recht. Eine vertragliche Wahl österreichischen Rechts hätte natürlich zu demselben Ergebnis geführt. Art 5 EVÜ sieht für Verbraucher, die «passiv» Pauschalreiseverträge abschließen, zweierlei Arten von Schutz vor: (1) Enthält der Vertrag eine Rechtswahlklausel zugunsten einer – aus Verbrauchersicht – ausländischen Rechtsordnung, so wird dieses Recht einer Günstigkeitsprüfung unterzogen. Verglichen wird mit dem Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Verbrauchers. (2) Von den allgemeinen Regeln der Art 3 und 4 EVÜ wird aber auch bei Fehlen einer wirksamen Rechtswahl abgewichen: Entgegen Art 4 Abs 2 EVÜ kommt dann nicht das Recht des Staates des ausländischen Unternehmersitzes zur Anwendung, sondern das Aufenthaltsrecht des Verbrauchers, diesfalls unabhängig von dessen Günstigkeit. Man nimmt an, dass die Anwendung des dem Verbraucher einigermaßen bekannten inländischen Rechts diesem Vorteile in der Rechtsverfolgung bringt und zudem seine Erwartungen in Bezug auf die geltende Rechtslage erfüllt. Die Anwendung des Art 6 Rom I-VO9 (Verbraucherverträge) führt zu denselben Ergebnissen und Schutzwirkungen. Auch im IPR sind reine Beförderungsverträge vom Schutzregime für Verbraucherverträge ausgeschlossen. Dies ergibt sich aus Art 5 Abs 4 lit a EVÜ. Sie unterliegen daher den allgemeinen Regeln des EVÜ (Art 3 und 4). Die Rom I-VO, die für Verträge, die ab dem 18.12.2009 abgeschlossen werden, das EVÜ ablösen wird, nimmt zwar auch Beförderungsverträge von der Verbrauchervertragsbestimmung ihres Art 6 ausdrücklich aus, normiert aber für diesen Vertragstyp selbst eine gesonderte Anknüpfung, die sich in Art 5 Rom I-VO findet und die von den allgemeinen Bestimmungen der Art 3 und 4 Rom I-VO abweicht (siehe dazu unten 10.4.2). Pauschalreisen sind von Art 5 (Abs 5) EVÜ und Art 6 (Abs 4 lit b) Rom IVO kraft ausdrücklicher Nennung erfasst. Das heißt auch, dass die für ausschließlich außerhalb des Verbraucherstaates erbrachte Dienstleistungen bestehende Ausnahme (Art 5 Abs 4 lit b EVÜ, Art 6 Abs 4 lit a Rom I-VO) auf Pauschalreisen nicht zutreffen kann.
9 VO 593/2008/EG über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl 2008 L 177/6.
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Internationale Zuständigkeit
10.3 Buchung im Internet und kollisionsrechtlicher Verbraucherschutz Immer häufiger buchen Verbraucher ihre Reisen direkt im Internet und nicht mehr klassisch im Reisebüro ihres Wohnortes. Sowohl das alte EuGVÜ als auch das EVÜ verlangen als Voraussetzung für die Anwendung ihres Verbraucherschutzinstrumentariums, dass «dem Vertragsabschluss ein ausdrückliches Angebot oder eine Werbung» des Unternehmers «im Staat des Wohnsitzes des Verbrauchers» bzw im Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Verbrauchers «vorausgegangen ist» (Art 13 Abs 1 Nr 3 lit a EuGVÜ, Art 5 Abs 2 EVÜ).10 Es handelt sich dabei um das bereits unter 10.2.1 erläuterte Erfordernis des «passiven» Verbrauchers und des «aktiven» Unternehmers. Bei einer Internetbuchung befindet sich die betreffende Werbung bzw das Angebot des Unternehmers eben nicht körperlich im Verbraucherstaat, sondern unkörperlich im Internet. Das Internet ist bekanntlich aterritorial, dh es ist in keinem Staat verortbar. Inhalte im Internet sind zugleich auch ubiquitär, das heißt überall anzutreffen, in allen Staaten abrufbar. Wenn Inhalte des Internets also überall und nirgends sind, erfüllen sie dann die Voraussetzung der genannten Bestimmungen, im Verbraucherstaat zu sein? Anlässlich der Reform des EuGVÜ, die in der Brüssel I-VO münden sollte, war diese Frage zwischen Vertretern der Wirtschaft und Verbraucherschützern heftig umstritten. Wirtschaft und Industrie befürchteten unabsehbare Belastungen insb für kleinere Unternehmer, die im Internet anbieten wollten. Die Interessensvertreter der Verbraucher konstatierten zu Recht, dass die Verbraucher im gesamten E-Commerce ihrer Rechte mangels realistischer Durchsetzungswege verlustig würden, wenn für Internetgeschäfte kein inländischer Verbrauchergerichtsstand und kein Schutz vor ungünstiger Rechtswahl mehr bereitgestellt würde. Als Ergebnis der Diskussion präsentiert sich heute der Text des Art 15 Abs 1 lit c Brüssel I-VO: Dort wird verlangt, dass der Unternehmer im Verbraucherwohnsitzstaat «eine berufliche oder gewerbliche Tätigkeit ausübt oder eine solche auf irgend einem Wege auf diesen MS oder auf mehrere Staaten, einschließlich dieses MS, ausrichtet und der Vertrag in den Bereich dieser Tätigkeit fällt.» Der Text ist verbraucherfreundlich zu verstehen. Die Ausrichtung der unternehmerischen Tätigkeit auf irgendeinem Wege auf den Verbraucherstaat ist immer dann gegeben, wenn der Verbraucher auf den Unternehmer bzw den Vertrag im Internet aufmerksam wurde und in der Folge tatsächlich
10 Zur strittigen Frage des Bestehens eines kausalen Zusammenhangs zwischen der Werbung (sonstigen unternehmerischen Tätigkeit) und dem konkreten Vertragsabschluss siehe Mankowski, Muss zwischen ausgerichteter Tätigkeit und konkretem Vertrag bei Art 15 Abs 1 lit c EuGVVO ein Zusammenhang bestehen? IPRax 2008, 333.
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Buchung im Internet und kollisionsrechtlicher Verbraucherschutz
ein solcher Abschluss – via Internet oder auf anderem Wege – erfolgt.11 Der Unternehmer kann die Anwendung von ihm nicht erwünschter Rechtsordnungen dadurch ausschließen, dass er Verbrauchern, die in diesen Staaten ihren Wohnsitz haben, den Abschluss verweigert. Das Erfordernis der Abgabe der Vertragserklärung des Verbrauchers in seinem Wohnsitz- bzw Aufenthaltsstaat, das sich noch in Art 13 Abs 1 Nr 3 lit b EuGVÜ und in Art 5 Abs 2 EVÜ befindet, ist in Art 15 Abs 1 Brüssel I-VO gänzlich entfallen. Die Neuformulierung der Voraussetzungen zuständigkeitsrechtlichen Verbraucherschutzes, die in Art 15 Abs 1 lit c Brüssel I-VO verwirklicht ist, wurde in den IPR-Verbraucherschutz des Art 6 Abs 1 lit b Rom I-VO wörtlich übernommen. Aber auch für die Zeit vor Rom I-VO ist Art 5 Abs 2 EVÜ in diesem Sinne auszulegen: Im Staat des gewöhnlichen Aufenthalts des Verbrauchers ist Internet-Werbung dann, wenn sie den Verbraucher zu einem konkreten Vertragsabschluss veranlasst hat, dem der Unternehmer auch zustimmte. Genau mit dieser Zustimmung bestätigt der Unternehmer nämlich auch, dass sein Internet-Auftritt auf den Markt des Verbraucherstaates ausgerichtet ist. Der Wohnsitzstaat des Verbrauchers ist für den Unternehmer in der Regel leicht über eine Abfrage des Wohnortes per Internet feststellbar.12 In diesem Sinne entschied auch das LG Innsbruck am 16.07.200413, das beim (deutschen) Internet-Auftritt eines deutschen Reiseveranstalters, der einen österreichischen Verbraucher zur Buchung im Netz veranlasste, die «Werbung im Verbraucherstaat» bejahte. Man kann daher abschließend sagen, dass sich für den Fall eines Abschlusses des Reisevertrages im Internet im Vergleich zum Abschluss in einem Reisebüro kein zusätzliches Schutzdefizit für den Verbraucher auftut. Die Anwendbarkeit der zuständigkeitsrechtlichen und der IPR-Schutzbestimmungen in allen EG-Rechtsquellen (EuGVÜ, Brüssel I-VO, EVÜ, Rom I-VO) ist gewährleistet.
11 Zum Kausalverhältnis zwischen Internetauftritt und Vertrag siehe Mankowski, IPRax 2008, 333. 12 So auch die hL: Verschraegen in Rummel, ABGB II3 (2004) Art 5 EVÜ Rz 32 mwN; Mankowski, Das Internet im Internationalen Vertrags- und Deliktsrecht, RabelsZ 63 (1999) 203 (234 ff); Lurger, Internet, Internationales Privatrecht und europäische Rechtsangleichung, in M. Gruber (Hrsg), Die rechtliche Dimension des Internet (2001) 69 (75 ff); dies, Internationaler Verbraucherschutz im Internet, in Leible (Hrsg), Die Bedeutung des Internationalen Privatrechts im Zeitalter der neuen Medien (2003) 33 (40 ff) mwN. 13 LG Innsbruck 16.07.2004, 4 R 261/04t =ZVR 2006/128.
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Internationale Zuständigkeit
10.4 Beförderungsvertrag Wie bereits in Kapitel II angemerkt, sind Beförderungsverträge, die von «passiven» Verbrauchern abgeschlossen wurden, in allen einschlägigen EG-Rechtsquellen vom Verbraucherschutzinstrumentarium ausgenommen. Dies gilt für das EuGVÜ (Art 13 Abs 3) ebenso wie für die Brüssel I-VO (Art 15 Abs 3), das EVÜ (Art 5 Abs 4 lit a) und die Rom I-VO (Art 6 Abs 4 lit b). Dh reisende Unternehmer werden prinzipiell gleich behandelt wie reisende Verbraucher. 10.4.1 Internationale Zuständigkeit Klagen aus Beförderungsverträgen sind daher primär am Beklagtengerichtsstand nach Art 2 Brüssel I-VO einzubringen. Ist die beklagte Partei ein Unternehmer, dann kommen gem Art 5 Nr 5 VO Brüssel I auch die Gerichte des Ortes seiner Zweigniederlassung oder Agentur in Frage. Zusätzlich ist der Wahlgerichtsstand des Erfüllungsortes gem Art 5 Nr 1 Brüssel I-VO zu beachten: Der Kläger kann wahlweise statt am Wohnsitz oder der Zweigniederlassung (Agentur etc) des Beklagten, die sich aus seiner Sicht ja im Ausland befindet, auch am Gericht des Erfüllungsortes der charakteristischen Leistung des Vertrages iSv Art 5 Nr 1 lit b Brüssel I-VO klagen. Dies bedeutet für den Kläger, der möglicherweise auch Verbraucher ist, dann einen Vorteil, wenn sich dieser Erfüllungsort aus seiner Sicht im Inland, dh im Verbraucherwohnsitzstaat befindet. Die Beförderung ist eine «Dienstleistung» iSv Art 5 Nr 1 lit b zweiter Spiegelstrich Brüssel I-VO. Aber wo liegt ihr Erfüllungsort, wenn die Reise ins Ausland führt? Befördert wird ja sowohl im In- als auch im Ausland. Wie gewinnt man aus dem Sachverhalt einen einheitlichen Erfüllungsort, an dem alle vertraglichen Ansprüche eingeklagt werden können? Den Parteien ist es auch möglich, die erwähnten Gerichtsstände durch die Vereinbarung eines Gerichtsstandes ihrer Wahl (Prorogation, Gerichtsstandswahl) nach Art 23 Brüssel I-VO auszuschließen. Hier greift erstmals eine sich außerhalb der Brüssel I-VO befindliche Schranke zum Schutz der Verbraucherinteressen ein. Ist der Beförderungsvertrag ein Verbrauchervertrag, so ergibt sich aus der EuGH-E vom 27.06.2000 in der Rs Oceano Grupo,14 die in Auslegung der Klausel-RL15 erging, dass die Festlegung eines ausschließlichen Gerichtsstandes am Unternehmersitz – oder bei grenzüberschreitenden Verträgen wohl auch im Unternehmerstaat – gegen die Klausel-Richtlinie verstößt und daher unwirksam ist.
14 EuGH 27.06.2000 verb Rs C-240/98 bis C-244/98 (Oceano Grupo) Slg 2000 I-04941. 15 RL 93/13/EWG über missbräuchliche Klauseln in Verbraucherverträgen, ABl 1993 L 95/29.
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10.4.2 Anwendbares Recht Nach Art 3 EVÜ ist die Rechtswahl unbeschränkt zulässig. Nur bei der Wahl von Drittstaatenrecht gibt es Einschränkungen, wenn damit EG-rechtlicher Schutz – insb zugunsten von Verbrauchern – ausgeschaltet wird (siehe dazu 10.5 unten). Fehlt eine vertragliche Rechtswahl, so kommt die allgemeine Regel des Art 4 EVÜ zur Anwendung. Es wird vermutet, dass der Vertrag die engste Verbindung zu jenem Staat aufweist, in dem die Partei, die die charakteristische Leistung des Vertrages erbringt (also der Beförderer), ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat (Art 4 Abs 2 EVÜ). Dieser Vermutung ist allerdings nach Art 4 Abs 5 EVÜ dann nicht zu folgen, «wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass der Vertrag engere Verbindungen zu einem anderen Staat aufweist» (Ausweichklausel). Dh das Recht der Niederlassung des Beförderungsunternehmers (Art 4 Abs 2 EVÜ) ist dann nicht maßgeblich, wenn sich im konkreten Vertrag ein stärkerer Anknüpfungspunkt zu einem anderen Staat findet (Art 4 Abs 5 EVÜ). Worin kann aber ein solcher bestehen: bereits in der Tatsache, dass ein inländischer Passagier von einem inländischen Flughafen an einen ausländischen Zielort fliegt und danach per Rückflug wieder ins Inland zurückkehrt? Ist dann die inländische Rechtsordnung, die mit dem Wohnsitz des Passagiers übereinstimmt, anstelle des Rechts des Sitzes des Beförderungsunternehmers anzuwenden? An dieser Stelle treten ähnliche Unsicherheiten in der Auslegung auf wie bei der Bestimmung des Wahlgerichtsstandes des Erfüllungsortes nach Art 5 Nr 1 Brüssel I-VO. Der neue Art 5 Abs 2 Rom I-VO enthält eine Sonderanknüpfung für Personenbeförderungsverträge, die die Anwendung von Art 4 Rom I-VO (charakteristische Leistung etc) ausschließt.16 Auch die Rechtswahlmöglichkeit nach Art 3 Rom I-VO wird beschränkt. Wählbar sind nur mehr die folgenden Rechtsordnungen: des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Reisenden, des gewöhnlichen Aufenthalts oder der Hauptverwaltung des Beförderers, des «Abgangsortes» oder des «Bestimmungsortes». Fehlt eine gültige Rechtswahl, so kommt das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Reisenden zur Anwendung, «wenn sich in diesem Staat auch der Abgangsort oder der Bestimmungsort befindet.» Andernfalls ist das Recht des gewöhnlichen Aufenthalts des Beförderers anzuwenden. Mit Art 5 Abs 3 Rom I-VO wird wieder «ausgewichen»: Wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände eine «offensichtlich engere Verbindung» zu einem anderen Staat als dem Staat der objektiven Anknüpfung ergibt, so ist dieser zu folgen. 16 Zur hL, die sich gegen die Sonderbehandlung von Beförderungsverträgen im IPR ausspricht, siehe Mankowski, Die Rom-I-Verordnung – Änderungen im europäischen IPR für Schuldverträge, IHR 2008, 133 (140) mwN.
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Internationale Zuständigkeit
10.4.3 Beispiele aus der Rsp Es stellt sich die Frage, warum der Verbraucher, der pauschal bucht (siehe 10.2), einen weitaus besseren Schutz in der internationalen Rechtsdurchsetzung genießt als jener Verbraucher, der einzelne Reiseleistungen selbständig mit verschiedenen Vertragspartnern vereinbart, wie zB einen Flug und ein Hotelzimmer. Auf Seiten des Verbrauchers erscheint mir die Schutzbedürftigkeit in beiden Situationen völlig gleich zu sein. Wie stark oder wie wenig sich dieses mE nicht rechtfertigbare Schutzdefizit17 bei Beförderungsverträgen im Einzelnen auswirkt, wird im Folgenden anhand von Beispielen aus der Rsp untersucht. AG Lübeck 13.09.2007 Im der E des AG Lübeck vom 13.09.200718 zugrundeliegenden Sachverhalt buchte eine deutsche Konsumentin im Internet bei einer irischen Fluggesellschaft einen Flug von Lübeck nach Stockholm und retour. Mangels erforderlichen Ausweisdokuments wurde der Konsumentin der Transport mit dem gebuchten Flug von Lübeck nach Stockholm verweigert. Sie klagte die Fluggesellschaft vor dem AG Lübeck auf Zahlung von Schadenersatz wegen pflichtwidriger Nichtbeförderung von Lübeck nach Stockholm. Internationale Zuständigkeit: Das AG Lübeck bejahte seine Zuständigkeit aufgrund des Wahlgerichtsstands des Erfüllungsortes gem Art 5 Nr 1 lit a Brüssel I-VO. Es verabsäumte es dabei offenbar grundlos, den Vertragsgegenstand unter Art 5 Nr 1 lit b (Dienstleistungen) zu subsumieren. Außerdem bezog es sich nur auf den Einzelflug von Lübeck nach Stockholm, dessen Erfüllungsort das Gericht offenbar am Abflugsort annahm. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Klägerin in einem Dienstleistungsvertrag sowohl den Flug von Lübeck nach Stockholm als auch den Flug von Stockholm nach Lübeck gebucht hatte und dass daher für den gesamten Vertrag nach lit b ein einheitlicher Erfüllungsort der charakteristischen Leistung hätte bestimmt werden müssen.19 Eine Aufspaltung der beiden Flüge in zwei Einzelverträge erscheint mir nicht angebracht.20 Dieser alternative Lösungsweg hätte gleichwohl zum selben Ergebnis führen müssen: Erfüllungsort war Lübeck. Anwendbares Recht: Das AG nahm gem Art 4 Abs 5 EVÜ eine engere Verbindung zu Deutschland an. Es begründete dieses Ergebnis damit, dass die Konsumentin deutsche Staatsangehörige mit Wohnsitz in Deutschland sei, auf 17 Ebenso Mankowski, IHR 2008, 140. 18 AG Lübeck 13.09.2007, 28 C 331/07 =NJW 2008, 1239 =NZV 2008, 98 =RRa 2008, 85. 19 EuGH 03.05.2007 Rs C-386/05 (Color Drack GmbH) Rn 26, 39 Slg 2007 I-03699 =IPRax 2007, 444 =EuZW 2007, 370. 20 Ebenso Staudinger, Internet-Buchung von Reisen und Flügen, RRa 2007, 98 (103).
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einer deutschsprachigen Internetseite gebucht habe, und dass Abflugs- und Ankunftsort in Deutschland gelegen haben. Offenbar geht das Gericht diesfalls sehr wohl von einem einheitlichen Vertrag aus, der nicht in die beiden Einzelflüge aufzuspalten ist.21 Diesem Ergebnis ist durchaus zuzustimmen. Obwohl die Ausweichklausel des Art 4 Abs 5 EVÜ zweifellos zur Wahrung der Rechtssicherheit und zur Erzielung von Rechtsvereinheitlichung zwischen den MS sehr eng auszulegen ist,22 kann bei eindeutigem Überwiegen der Berührungspunkte mit dem Aufenthaltsstaat des Reisenden und bei Fehlen jeglicher Berührungspunkte zum Niederlassungsstaat des Beförderers – wie im Fall des AG Lübeck – ihre Anwendung unproblematisch und zu bejahen sein.23 Art 5 Abs 2 Rom I-VO beruft in diesem Fall ebenfalls das Recht des Staates des gewöhnlichen Aufenthalts des Reisenden, da sich zusätzlich der «Abgangsort» in diesem Staat befindet. Die Rom I-VO kodifiziert damit ungefähr jene Regel, die schon zuvor von der deutschen Rsp und Lehre auf der Grundlage der Ausweichklausel des Art 4 Abs 5 EVÜ für Hin- und Rückflüge ab dem Wohnsitzstaat des Reisenden angewendet wurde. OLG Koblenz 29.03.2006 Im dem Urteil des OLG Koblenz vom 29.03.200624 zugrundeliegenden Fall buchte der deutsche Reisende bei der irischen Fluggesellschaft einen Flug von Frankfurt/Hahn nach Oslo und zurück. Der Rückflug wurde wegen Schlechtwetters annulliert. Der Reisende machte mittels Klage aus dieser Annullierung resultierende Ansprüche gegen die Fluggesellschaft vor dem AG Simmern geltend. Das OLG bejahte ebenfalls das Vorliegen eines deutschen Gerichtsstands des Erfüllungsortes (Art 5 Nr 1 Brüssel I-VO): Ähnlich wie das AG Lübeck blickte das OLG bei der Bestimmung des Erfüllungsorts nur auf die fehler21 Ebenso gem Art 4 Abs 5 EVÜ für Fälle des «Rundfluges» von einem Flughafen im Aufenthaltsstaat des Verbrauchers ins Ausland und wieder zurück: Martiny in MKBGB X4 (2006) Art 28 EGBGB Rz 268 mwN zur gleichen Meinung in der deutschen Rsp; von Hoffmann in Soergel, BGB X12 (1996) Art 28 EGBGB Rz 408; Magnus in Staudinger, BGB13 (2002) Art 28 EGBGB Rz 458; aA möglicherweise Verschraegen in Rummel, ABGB II3 (2004) Art 4 EVÜ Rz 85, die für Personenbeförderungsverträge generell auf die Regel der charakteristischen Leistung in Art 4 Abs 2 EVÜ verweist. 22 Martiny, Europäisches Internationales Vertragsrecht in Erwartung der Rom I-Verordnung, ZEuP 2008, 79 (92 f); ders in MKBGB X4 Art 28 EGBGB Rz 107; ders in Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht6 (2004) 162 (Rz 159); Mankowski, Die Ausweichklausel des Art 4 V EVÜ und des System des EVÜ, IPRax 2003, 464 ff; Staudinger, RRa 2007, 98 (109); Verschraegen in Rummel, ABGB II3 Art 4 EVÜ Rz 40; Czernich in Czernich/Heiss, EVÜ Kommentar (1999) Art 4 EVÜ Rz 22. 23 Martiny in Reithmann/Martiny, Internationales Vertragsrecht6 162 (Rz 160). 24 OLG Koblenz 29.03.2006, 1 U 983/05 =NJW-RR 2006, 1356.
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hafte Teilflugleistung, hier also auf den Flug von Oslo nach Frankfurt. Erfüllungsort dieser Flugleistung sei der Bestimmungsort Frankfurt. Anwendbar sei das deutsche Recht, da eine engere Verbindung gem Art 4 Abs 5 EVÜ zu Deutschland gegeben sei. Auch Art 5 Abs 2 Rom I-VO führt zu diesem Anwendungsergebnis.25 OLG München 16.05.2007 – BGH 22.04.2008 – EuGH: Rs C-204/08 Der deutsche Reisende und Kläger dieses Verfahrens26 buchte ebenfalls den schon bekannten «Rundflug» mit Abflugsort und Ankunftsort beim Rückflug in Deutschland (München Erding). Ausländischer Zielort war Vilnius in Litauen. Der Sitz des beklagten Beförderers befand sich in Riga (Lettland) und der Flug wurde in Riga gebucht. Internationale Zuständigkeit: Das OLG München erkannte zwar, dass beide Flüge als Gesamtleistung zu betrachten sind, für die nach Art 5 Nr 1 lit b Brüssel I-VO ein einheitlicher Erfüllungsort zu bestimmen ist. Es gelangte aber zu der verwunderlichen Lösung, dass sich der Erfüllungsort beider Flugleistungen in Riga befinde, obwohl das Flugzeug niemals in Riga oder Lettland gelandet war, weil die gesamte Dienstleistung von Riga aus organisiert worden sei. Das anzuwendende Recht brauchte mangels internationaler Zuständigkeit, dann nicht mehr bestimmt zu werden. Der BGH bezweifelte in seinem Vorlagebeschluss an den EuGH vom 22.04.200827 zu Recht die Richtigkeit des lettischen Erfüllungsortes und legte die Frage der Erfüllungsortbestimmung beim «Rundflug» gem Art 5 Nr 1 lit b Brüssel I-VO erfreulicherweise dem EuGH vor. Von diesem ist nun die verbindliche Aufklärung der erwähnten Auslegungsfragen in Bezug auf Art 5 Nr 1 Brüssel I-VO zu erwarten.28 Anwendbares Recht: Ob auch in diesem Fall nach der Ausweichklausel des Art 4 Abs 5 EVÜ wegen überwiegenden Bezuges das deutsche Recht zur Anwendung kommen muss oder besser doch das lettische Sitzrecht der Beförderers gem Art 4 Abs 2 EVÜ, ist deshalb fraglich, weil hier die Buchung nicht in Deutschland, sondern offenbar in Lettland erfolgte. Der Reisende hatte also auf ein Angebot auf dem lettischen, nicht auf dem deutschen Markt reagiert. Art 5 Abs 2 Rom I-VO löst diese Frage pro futuro eindeutig zugunsten der 25 Siehe auch den ganz ähnlich gelagerten und gleich entschiedenen Fall des OLG Koblenz 11.01.2008, 10 U 385/07 =RRa 2008, 181. 26 OLG München 16.05.2007, 20 U 1641/07 =RRa 2007, 182. 27 BGH 22.04.2008, X ZR 76/07 =RRa 2008, 177. 28 Für eine ausführliche Darstellung der Auslegungsfragen siehe: Staudinger, Der Gerichtsstand des Erfüllungsortes bei der Luftbeförderung nach der Brüssel-I-VO, RRa 2007, 155 (157 ff). Siehe nunmehr EuGH 09.07.2009 Rs C-204/08 (Rehder): Der klagende Passagier kann zwischen dem Erfüllungsortgerichtsstand am Abflugort und am Ankunftsort wählen.
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Beförderungsvertrag
Anwendung des deutschen Rechts, da Abflugsstaat und Aufenthaltsstaat des Reisenden in Deutschland zusammenfallen, auf den Marktort kommt es hierbei nicht an. LG Innsbruck 16.07.2004 Ein vom oben gezeichneten Schema deutlich abweichender Fall der Luftbeförderung eines Verbrauchers lag der E des LG Innsbruck vom 16.07.200429 zugrunde. Auch hier buchte der diesfalls österreichische Reisende bei einem ausländischen, diesfalls deutschen, Unternehmen. Er trat seinen «Rundflug» mit dem ausländischen Zielort in Ägypten allerdings nicht von seinem Wohnsitzstaat Österreich, sondern von Deutschland aus an. Die Buchung war im Internet erfolgt. Der reale Fall betraf eine Pauschalreise, weswegen das LG Innsbruck keine Erwägungen zum Beförderungsvertrag anzustellen hatte. Der hypothetische Fall eines reinen Beförderungsvertrages mit einer deutschen Fluggesellschaft wirft zunächst die Frage auf, ob auch hier der Erfüllungsort des «Rundfluges» (als Gesamtleistung) als in München gelegen anzunehmen ist (falls der EuGH, siehe Punkt 3 oben, zu diesem Ergebnis für den Vorlagefall kommen sollte). ME ist die Frage zu bejahen. Im IPR kommt man keinesfalls mittels Art 4 Abs 5 EVÜ zum Recht des Verbraucherstaates, da sich ja der Abflugs- und der letzte Ankunftsort in Deutschland befinden. Das anzuwendende Recht ist daher gem Art 4 Abs 2 EVÜ mit dem gewöhnlichen Aufenthalt der Fluggesellschaft das deutsche Recht. Auch Art 5 Abs 2 Rom IVO führt zu diesem Anwendungsergebnis. Fazit Der ohne sachliche Rechtfertigung beim Beförderungsvertrag durch das EGRecht entzogene kollisionsrechtliche Verbraucherschutz30 kann nur teilweise durch den Erfüllungsortgerichtsstand des Art 5 Nr 1 lit b Brüssel I-VO, die engere Verbindung des Art 4 Abs 5 EVÜ und Art 5 Abs 2 Rom I-VO kompensiert werden. Denn die erst vom EuGH zu bestätigende Möglichkeit der internationalen Zuständigkeit für Klagen des Reisenden im Verbraucherstaat (Erfüllungsort) und die Möglichkeit der Anwendung von Verbraucherstaatsrecht bestehen nur unter engen Voraussetzungen: Es muss sich um einen «Rundflug» mit Abflugsort und letzter Ankunft im Verbraucherstaat handeln und der Vertrag darf keine Gerichtsstands- oder Rechtswahlklauseln enthalten. Die Vereinbarung eines ausschließlichen Gerichtsstands am Sitz der Flugge29 LG Innsbruck 16.07.2004, 4 R 261/04t =ZVR 2006/128. 30 Wenig überzeugend sind die Begründungen bei Giuliano/Lagarde, Bericht 25, ABl 1980 C 282/1; Verschraegen in Rummel, ABGB II3 Art 5 EVÜ Rz 20; Heiss in Czernich/ Heiss, EVÜ Art 5 Rz 21.
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Internationale Zuständigkeit
sellschaft und der Anwendung des Rechts dieses Staates ist – bedauerlicherweise – auch gegenüber einem Verbraucher nach der Brüssel I-VO, dem EVÜ und der Rom I-VO ohne weitere Einschränkungen gültig. Grenzen ergeben sich lediglich für die Gerichtsstandswahl in vorformulierten Vertragsklauseln durch die Entscheidung Oceano Grupo bei Anwendbarkeit der jeweiligen Umsetzung der Klausel-RL. Dieses deutliche Schutzdefizit bei Beförderungsverträgen, die als Verbraucherverträge abgeschlossen werden, sollte mE vom europäischen Gesetzgeber de lege ferenda möglichst bald beseitigt werden.
10.5 Drittstaaten 10.5.1 Internationale Zuständigkeit Die Rechtslage bei Pauschalreiseverträgen oder Beförderungsverträgen kann sich abweichend von dem oben Gesagten gestalten, wenn Kläger oder Beklagter ihren Wohnsitz in einem Drittstaat (Nicht-Mitgliedstaat der EU) haben. Wenn der Beklagte seinen Wohnsitz in einem Drittstaat hat, gründet sich die internationale Zuständigkeit österreichischer Gerichte auf die autonomen Regeln der JN (§ 27a). Wohnt der Beklagte in der Schweiz, in Norwegen oder Island, so ergibt sich aus dem Luganer Abkommen31 eine ganz ähnliche Rechtslage wie innerhalb der EU-Mitgliedstaaten aus der Brüssel I-VO. In Bälde wird das revidierte Luganer Abkommen vom 30.10.2007 nach Ratifizierung durch die EU sowie die früheren Drittstaaten das alte Abkommen ersetzen.32 Hauptziel des neuen Abkommens ist die Einarbeitung der durch die Brüssel I-VO verwirklichten Änderungen gegenüber dem früheren EuGVÜ (Brüsseler Übereinkommen), damit die alte Parallelität von «Brüssel» und «Lugano» wieder hergstellt ist. Wenn der Unternehmer mit Sitz in einem Drittstaat eine Agentur oder Zweigniederlassung in einem EU-Mitgliedstaat besitzt, in deren Betrieb der Verbrauchervertrag abgeschlossen wurde, wird er gem Art 15 Abs 2 Brüssel IVO wie ein EU-Unternehmer behandelt. Insb die Vorschriften der Art 15–17 Brüssel I-VO über den Verbrauchergerichtsstand sind dann anzuwenden.33
31 Luganer Übereinkommen 16.09.1988 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, aBGBl 448/1996 (LGVÜ). 32 Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Protokoll 1 über bestimmte Zuständigkeits-, Verfahrens- und Vollstreckungsfragen – Protokoll 2 über die einheitliche Auslegung des Übereinkommens und den ständigen Ausschuss, ABl 2007 L 339/3. 33 Staudinger, Reichweite des Verbraucherschutzgerichtsstandes nach Art 15 Abs 2 EuGVVO, IPRax 2008, 107.
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Drittstaaten
Klagt der Unternehmer (oder Verbraucher) mit Wohnsitz in einem Drittstaat seinen in der EU wohnhaften Vertragspartner, so gilt in der EU zwar die Brüssel I-VO, außerhalb der EU, also etwa im Wohnsitzstaat des Klägers, gelten aber andere internationale Zuständigkeitsvorschriften, die einen Gerichtsstand gegen den EU-Vertragspartner eröffnen könnten, der nach der Brüssel IVO nicht bestanden hätte. Der Verbraucherschutz der Art 15–17 Brüssel I-VO greift für einen inländischen Verbraucher gegenüber einem Drittstaatenunternehmer nicht: Er schließt Gerichtsstände für Klagen gegen den Verbraucher im Drittstaat nicht aus; für Klagen gegen den Unternehmer ist die Brüssel I-VO nicht anwendbar, wenn dieser keinen Wohnsitz, keine Agentur oder Zweigniederlassung in einem Mitgliedstaat hat. 10.5.2 Anwendbares Recht Anders als das internationale Zuständigkeitsrecht, ist das IPR grundsätzlich unabhängig davon anzuwenden, ob die Parteien ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat oder in einem Drittstaat haben. Vor Gerichten in einem EU-Mitgliedstaat gelten die Regeln des EVÜ bzw in Hinkunft auch der Rom I-VO. Wird darin auf das Recht eines Drittstaates verwiesen, so ist dieses anzuwenden, nicht das EG-Recht bzw das Recht eines Mitgliedstaates. Außerhalb von Art 5 EVÜ, der ja nur bei «passiven» Verbrauchern mit Pauschalreisen gilt, ist grundsätzlich jede Rechtswahl zulässig, auch die eines für den Reisenden ungünstigeren Drittstaatenrechts (Art 3 EVÜ). Eine nicht unbedeutende Ausnahme von dieser Regel existiert dort, wo durch das EGRecht, insb durch EG-Verbraucherschutz-Richtlinien, ein einheitliches hohes Schutzniveau geschaffen wurde, das von dem gewählten oder sonst anwendbaren Drittstaatenrecht aber nicht erreicht wird. In solchen Fällen kommt entgegen dem EVÜ dennoch das Recht des EG-Mitgliedstaates (meist des Verbraucherstaats) als eine Art Eingriffsnorm zur Anwendung, wenn der Reisende seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedstaat hat und der Vertrag eine weitere enge Verbindung zu einem oder mehreren Mitgliedstaaten aufweist. Dies ergibt sich für den EG-Verbraucherschutz aus diversen IPR-Bestimmungen in Verbraucherschutz-Richtlinien (Klausel-RL, Fernabsatz-RL, FernFin-RL, Verbrauchsgüterkauf-RL, Timesharing-RL), die in Österreich in den § 13a KSchG und § 11 TNG umgesetzt wurden.34 Für Deutschland siehe Art 29a EGBGB. 34 Siehe dazu allg Lurger, Zur Umsetzung der Kollisionsnormen von Verbraucherschutzrichtlinien, in Terlitza/Schwarzenegger/Boric (Hg), Die internationale Dimension des Rechts, FS Posch (1996) 179 ff; Leible/Freitag, Von den Schwierigkeiten der Umsetzung kollisionsrechtlicher Richtlinienbestimmungen, ZIP 1999, 1296.
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Internationale Zuständigkeit
Für alle EG-Verbraucherschutzvorschriften, die keine IPR-Bestimmungen enthalten, sowie für sonstige EG-Rechtsakte, die eine Partei des Vertrages zwingend besonders schützen wollen (zB Handelsvertreter-RL, E-Commerce-RL, Fluggastrechte-VO, Eisenbahn-Fahrgastrechte-VO), ergibt sich die Anwendung der jeweils einschlägigen EG-Schutzvorschriften zugunsten der schwächeren Partei (entgegen den Regeln des EVÜ, die Drittstaatenrecht berufen würden) aus der Entscheidung vom 09.11.2000 in der Rs Ingmar.35 Dieser Ingmar-Gedanke der Absicherung der Anwendung der EG-Schutzstandards zugunsten einer EU-Vertragspartei gegenüber der drohenden Anwendung von ungünstigerem Drittstaatenstaatenrecht, das die Parteien nach Art 3 EVÜ wirksam gewählt haben, hat nun – zumindest ansatzweise – auch Eingang in die neue Rom I-VO gefunden: In Art 3 Abs 4 Rom I-VO wird festgelegt, dass bei starkem Mitgliedstaatsbezug des Vertrages die Wahl eines Drittstaatenrechts durch die Parteien (kollisionrechtlich) zwingendes EGRecht (Eingriffsnormen) nicht abbedingen kann und insoweit also unwirksam bleibt. Der starke Mitgliedstaatsbezug ist dabei mit «Sind alle Elemente des Sachverhalts zum Zeitpunkt der Rechtswahl in einem oder mehreren Mitgliedstaaten belegen» leider deutlich enger als die Ingmar-Regel36 formuliert. Wie der EuGH diese Voraussetzung auslegen wird, bleibt abzuwarten.
10.6 Andere Verträge 10.6.1 Ferienhausmiete Die Verbraucherschutzbestimmungen der Art 15–17 Brüssel I-VO, Art 5 EVÜ und Art 6 Rom I-VO gelten nicht für Miet- bzw Ferienraummietverträge. In der Brüssel I-VO wird die ausschließliche Zuständigkeit am Lageort der Liegenschaft (Art 22 Nr 1), die für Mietverträge von Immobilien generell gilt, für bestimmte Ferienmietverträge durchbrochen: Gem Art 22 Nr 1 UAbs 2 Brüssel I-VO existiert dann ein zusätzlicher Gerichtsstand im Wohnsitzstaat der beiden Parteien des Mietvertrages, wenn die Miete zum vorübergehenden privaten Gebrauch dient, der höchstens 6 aufeinanderfolgende Monate dauert, wenn der Mieter eine natürliche Person ist und Vermieter und Mieter ihren Wohnsitz im selben MS haben. Die Rechtswahl ist gem Art 3 EVÜ unbeschränkt zulässig, da die Verbraucherschutzeinschränkungen des Art 5 EVÜ ja nicht gelten (keine bewegliche
35 EuGH 09.11.2000 Rs C-381/98 (Ingmar) Slg 2000 I-09305. 36 Diese gilt selbst für Fälle, in denen die andere Vertragspartei ihren Sitz in einem Drittstaat hat.
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Andere Verträge
Sache, keine Dienstleistung).37 Liegt eine Rechtswahl nicht vor, so kommt gem Art 4 Abs 3 EVÜ das Recht des Lageortes der Liegenschaft zur Anwendung (Vermutungsregel). Wenn beide Parteien im selben anderen MS wohnhaft sind (und auch dessen Staatsbürgerschaft besitzen), kommt dieses Recht gem Art 4 Abs 5 EVÜ als engere Verbindung zum Tragen.38 Der neue Art 4 Abs 1 lit d Rom I-VO übernimmt die Voraussetzungen des Art 22 Nr 1 UAbs 2 Brüssel I-VO und ordnet diesfalls ausdrücklich die Anwendung des Rechts des gemeinsamen Staats des gewöhnlichen Aufenthalts der Parteien an, das an die Stelle des sonst anwendbaren Lageortrechts tritt (lit c). Auch nach der Rom I-VO (Art 3) ist die Rechtwahl unbeschränkt zulässig. Gem Art 6 Abs 4 lit c Rom I-VO sind Mietverträge über unbewegliche Sachen ausdrücklich vom IPR-Verbraucherschutz ausgenommen. 10.6.2 Hotelzimmer – Beherbergungsvertrag Bei Beherbergungsverträgen ist die Rechtslage gespalten: Der zuständigkeitsrechtliche Verbraucherschutz der Art 15–17 Brüssel I-VO ist anwendbar. Es gibt aber keinen Verbraucherschutz im IPR, weil die Ausnahme des Art 5 Abs 4 lit b EVÜ und des Art 6 Abs 4 lit a Rom I-VO für Dienstleistungen, die ausschließlich in einem anderen als dem Verbraucherstaat erbracht werden, greift. In den Art 15–17 Brüssel I-VO herrscht – anders als in Art 5 EVÜ – kein Typenzwang: Auch Beherbergungsverträge sind Verbraucherverträge iSd Brüssel I-VO. Anwendungsvoraussetzung ist die «Tätigkeit» des Unternehmers (zB Werbung) im Verbraucherstaat. Wie oben gezeigt (Kapitel 10.3), reicht hierzu auch eine Internetbuchung des Verbrauchers aus. Der Verbraucher kann an seinem Wohnsitz klagen und nur dort geklagt werden. Bei Unternehmern als Reisenden findet sich der Erfüllungsort gem Art 5 Nr 1 lit b Brüssel I-VO am Lageort des Hotels. Sowohl Art 5 Abs 4 lit b EVÜ als auch Art 6 Abs 4 lit a Rom I-VO erklären den IPR-Schutz für Verbraucher für unanwendbar, wenn die geschuldeten Dienstleistungen ausschließlich in einem anderen Staat als dem Verbraucherstaat erbracht werden. Es gilt dann gem Art 4 Abs 2 EVÜ bzw Art 4 Abs 1 lit b Rom I-VO das Recht am Unternehmersitz (charakteristische Leistung). Jede Rechtswahl ist möglich (Art 3).39 Freilich ist auch hier die Drittstaatengrenze bei EG-Schutzrecht zu beachten (siehe 10.5 oben).
37 Magnus in Staudinger, BGB13 Art 29 EGBGB Rz 61 mwN; Verschraegen in Rummel, ABGB II3 Art 5 EVÜ Rz 22; aA Heiss in Czernich/Heiss, EVÜ Art 5 EVÜ Rz 20, 24, der die Ferienhausmiete für eine Dienstleistung hält. 38 Czernich in Czernich/Heiss, EVÜ Art 4 Rz 30; Mankowski, IPRax 2003, 471. 39 Czernich in Czernich/Heiss, EVÜ Art 4 Rz 84.
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Internationale Zuständigkeit
10.6.3 Timesharing Bei Timesharingverträgen ist zunächst die Frage der rechtlichen Qualifikation, dh die Frage nach dem Vertragstyp, zu stellen, da hiervon auch die Zuordnung zu den einzelnen Anknüpfungstatbeständen im IZVR und IPR abhängt. Es kann sich um Verträge über dingliche Rechte an Liegenschaften, um gesellschaftsrechtliche Verträge oder um Dienstleistungsverträge handeln. Meist enthalten Timesharingverträge alle der genannten Komponenten, es ist nach der überwiegenden Komponente zuzuordnen. In der Praxis dürften am häufigsten Dienstleistungsverträge vorliegen, deswegen wird in der Folge diese Qualifikation zugrundegelegt. Für dinglich zu qualifizierende Vertragsgegenstände sowie mietvertraglich dominierte Verträge gelten die obigen Ausführungen zur Ferienhausmiete. Sachenrechtliche Rechtsfragen sind nach § 31 IPRG zu beurteilen. Das Timesharing als Dienstleistungsvertrag ist vom Verbraucherschutz der Art 15–17 Brüssel I-VO erfasst. Ebenso kann es unter den Verbraucherschutztatbestand des Art 5 EVÜ bzw Art 6 Rom I-VO subsumiert werden, falls nicht die Dienstleistung ausschließlich im Ausland erbracht wird. Diese Ausnahme ist allerdings eng auszulegen und ebenso wie für Pauschalreiseverträge auch für das Timesharing zu verneinen.40 Art 6 Abs 4 lit c Rom I-VO nimmt sogar ausdrücklich Bezug auf Timesharingverträge, die der Definition der RL 94/47/EG41 entsprechen: Diese sind nicht von der Anwendungsausnahme zum Verbraucherschutz, die für die Miete an unbeweglichen Sachen gilt, erfasst. Dies bringt offenbar den Willen des EG-Gesetzgebers zum Ausdruck, Timesharingverträge jeden Typs (iSd RL 94/47/EG) auch in den kollisionsrechtlichen Verbraucherschutz einzubeziehen. Die Anwendung der Bestimmungen der EG-Timesharing-RL ist durch eine eigene Kollisionsnorm gegenüber Drittstaatenrecht, das nach dem IPR sonst zur Anwendung käme, abgesichert (siehe Art 9 RL). Diese IPR-Regel wurde in Österreich auf recht komplizierte Weise in § 11 TNG umgesetzt. Die Besonderheit dieser Kollisionsregel gegenüber den übrigen RichtlinienIPR-Bestimmungen (umgesetzt in § 13a KSchG) liegt darin, dass sie nicht nur die Rechtswahl von Drittstaatenrecht, sondern auch die Anwendung von Drittstaatenrecht aufgrund objektiver Anknüpfung abwehrt.
40 Vgl auch Heiss in Czernich/Heiss, EVÜ Art 5 Rz 24 zu Ferienhausmietverträgen. 41 RL 94/47/EG zum Schutz der Erwerber im Hinblick auf bestimmte Aspekte von Verträgen über den Erwerb von Teilzeitnutzungsrechten an Immobilien, ABl 1994 L 280/83.
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Zusammenfassung
10.7 Zusammenfassung Die Rechtsdurchsetzung bei grenzüberschreitenden Reiseverträgen ist nicht einheitlich geregelt. Das Internationale Zuständigkeitsrecht und das IPR sind von beträchtlichen Spaltungen durchzogen, die an der Grenze der verschiedenen Vertragstypen verlaufen. Ist der Reisende ein Verbraucher, so könnte er als solcher in den Genuss des besonderen Schutzes in internationaler Zuständigkeit (insb Art 15–17 Brüssel I-VO) und anwendbarem Recht (Art 5 EVÜ, Art 6 Rom I-VO) kommen. Gerade dieser Schutz steht aber für Beförderungsverträge, Ferienraummietverträge und teilweise auch für Beherbergungsverträge nicht zur Verfügung. Reisende, die als «passive» Verbraucher42 Pauschalreiseverträge abschließen, genießen sowohl im internationalen Zuständigkeitsrecht als auch im IPR umfassenden Verbraucherschutz, wodurch ihre individuelle Rechtsverfolgung gegenüber dem ausländischen Unternehmer deutlich erleichtert wird. Schließen sie hingegen reine Beförderungsverträge ab, so ist die Geltung der Verbraucherschutzbestimmungen in beiden Gebieten ausgeschlossen. Der Wahlgerichtsstand des Erfüllungsortes in Art 5 Nr 1 Brüssel I-VO, die Klausel-RiL (Rs Oceano Grupo) und die Ausweichklausel der engeren Verbindung im IPR (Art 4 Abs 5 EVÜ) lindern das Schutzdefizit bei Beförderungsverträgen nur teilweise. Insgesamt erscheint die Nicht-Einbeziehung von Personenbeförderungsverträgen in den kollisionsrechtlichen Verbraucherschutz sachlich nicht rechtfertigbar und sollte daher de lege ferenda beseitigt werden. Ferienraummietverträge unterliegen im internationalen Zuständigkeitsrecht eigenen Regeln (Art 22 Nr 1 Brüssel I-VO), die die Prorogation einschränken. IPR-Verbraucherschutz gilt hier nicht. Beherbergungsverträge eröffnen in der Zuständigkeit, nicht aber im IPR Verbraucherschutz. In beiden Fällen sollte der fehlende Verbraucherschutz im IPR vom Gesetzgeber dringend nochmals überdacht werden. Dagegen genießen Reisende beim Abschluss von Timesharingverträgen vollumfänglich kollisionsrechtlichen Verbraucherschutz. Besondere Regeln gelten gegenüber Drittstaaten. Der zuständigkeitsrechtliche Verbraucherschutz der Brüssel I-VO funktioniert gegenüber Drittstaatenunternehmern nicht. Wenn ein Forum in der EU gefunden ist, ist das in der EU geltende IPR – EVÜ bzw in Hinkunft auch Rom I-VO – grundsätzlich unabhängig davon anzuwenden, ob die Parteien aus einem Drittstaat oder einem MS kommen. Zusätzlich schützen besondere einseitige EG-rechtliche IPR-Bestimmungen vor der Abbedingung von EG-rechtlichen Schutzstandards für Verbraucher und Reisende (IPR-Bestimmungen in Richtlinien, Rs Ingmar, Art 3 Abs 4 Rom I-VO).
42 Siehe Kapitel 10.2.1.
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Internationale Zuständigkeit
Der Einsatz des Internets zur Werbung für und zum Abschluss von Reiseverträgen macht juristisch keine Probleme und führt zu keinen neuen Schutzdefiziten.
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11. Rechtsdurchsetzung im Reiserecht – Ausgewählte Probleme Georg Kodek 11.1 Einleitung Im vorliegenden Beitrag sollen – anknüpfend an die Ausführungen von Lurger zur internationalen Zuständigkeit – ergänzend einige andere Fragen der Rechtsdurchsetzung im Verbraucherrecht erörtert werden. Die sich hier stellenden Probleme reichen im internationalen Bereich von der Beweisaufnahme bis zur Anerkennung und Vollstreckung. Im nationalen Bereich steht die Diskussion über Gruppenverfahren, Sammelklagen und andere Formen der Anspruchsbündelung im Vordergrund. In neuerer Zeit werden zudem auch im Reiserecht zunehmend Möglichkeiten der alternative dispute resolution in Form von institutionellen Schlichtungsstellen und Schiedsverfahren diskutiert. Ein weiterer nicht unerheblicher Aspekt, der im vorliegenden Zusammenhang aus Raumgründen jedoch nicht näher behandelt werden kann, ist schließlich das mit der Rechtsdurchsetzung regelmäßig verbundene Kostenrisiko. Im Sinne eines gebotenen fächerübergreifenden Ansatzes sind die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten der Rechtsdurchsetzung bei der Prüfung von Ansprüchen im Reiserecht – wie auch sonst – stets mit zu berücksichtigen. Zu Recht wurde einmal plastisch formuliert, dass letztlich das Prozessrecht entscheidet, was vom materiellen Recht übrig bleibt.
11.2 Internationale Beweisaufnahme 11.2.1 Die EuBewVO – Allgemeines Auslandsreisen erfreuen sich bei einem großen Teil der Bevölkerung wachsender Beliebtheit. Dies bringt es zwangsläufig mit sich, dass auch im Reiserecht zunehmend Probleme der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung auftre193
Rechtsdurchsetzung im Reiserecht – Ausgewählte Probleme
ten. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht hier üblicherweise die – in diesem Band von Lurger (10.) behandelte – Frage der internationalen Zuständigkeit. Das internationale Zivilverfahrensrecht geht jedoch über die Regelung der internationalen Zuständigkeit weit hinaus. Im Bereich des Reiserechts können hier insb die Regeln über die internationale Beweisaufnahme, aber auch über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Urteile eine Rolle spielen. Innerhalb der EU (mit Ausnahme Dänemarks) ist die grenzüberschreitende Beweisaufnahme durch die EuBewVO1 geregelt. Im Bereich des Reiserechts ist weniger der sogenannte «Beweismittelimport», also die Herbeischaffung eines Beweismittels ins Inland, etwa durch Ladung eines Zeugen aus dem Ausland, als vielmehr die Beweisaufnahme im Ausland selbst von Bedeutung. Letztere kann in Form der klassischen Rechtshilfe erfolgen, bei der das Prozessgericht ein ausländisches Gericht um die Beweisaufnahme ersucht. Nach der EuBewVO ist aber unter bestimmten Voraussetzungen auch eine unmittelbare Beweisaufnahme des erkennenden Gerichts im Ausland möglich. Damit ist das bisher den zwischenstaatlichen Rechtsverkehr maßgeblich prägende klassische Souveränitätsdenken deutlich zurückgedrängt. Ein österreichisches Gericht kann daher in einem Prozess, in dem es etwa um behauptete Mängel in einem ausländischen Ferienklub geht, entweder ein ausländisches Gericht um die Einvernahme von Zeugen (zB Personal des Ferienklubs, andere Gäste etc) ersuchen, aber auch selbst im Ausland Zeugen befragen oder einen Lokalaugenschein vornehmen. Aber auch im Bereich der klassischen Rechtshilfe bringt die EuBewVO eine Reihe von Erleichterungen: Zunächst erfolgt die Übermittlung des Rechtshilfeersuchens unmittelbar von Gericht zu Gericht; die bisher übliche Zwischenschaltung von «Zentralstellen» entfällt daher weitestgehend. Die in den einzelnen Mitgliedstaaten zuständigen Gerichte können dem im Internet abrufbaren Handbuch der Kommission (Europäischer Gerichtsatlas für Zivilsachen) entnommen werden.2 Darin sind alle Orte mit dem jeweils zuständigen Rechtshilfegericht angeführt. Außerdem wurden durch die EuBewVO zehn Formblätter eingeführt, die die üblicherweise im Rahmen der Rechtshilfe auftretenden Verfahrenssituationen abdecken. Diese Standardisierung trägt auch zur Reduktion des Übersetzungsaufwandes bei.
1 VO 1206/2001/EG des Rates vom 28.05.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der MS auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, ABl 2001 L 174/1. Aus der umfangreichen Literatur vgl Müller, Grenzüberschreitende Beweisaufnahme im europäischen Justizraum (2004); Neumayr/Kodek, EuBewVO, in Burgstaller/Neumayr, Internationales Zivilverfahrensrecht (2004). 2 Rechberger/McGuire, Die Europäische Beweisaufnahme-Verordnung und Österreich, ÖJZ 2006, 829 mwN; siehe auch <ec.europa.eu/justice_home/judicialatlascivil/html/cc_ information_de.htm>.
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Internationale Beweisaufnahme
11.2.2 Durchführung Das Rechtshilfeersuchen ist in der Amtssprache des ersuchten Gerichtes abzufassen (Art 5 S 1 EuBewVO). Jeder Staat kann jedoch erklären, dass er neben seiner Amtsprache zusätzliche Sprachen zulässt. Österreich akzeptiert neben Deutsch auch Englisch. Für die erforderlichen Übersetzungen hat immer das ersuchende Gericht zu sorgen. Damit muss immer nur ein Gericht in einer Fremdsprache (aktiv) kommunizieren. Bei der Rechtshilfevernehmung haben die Parteien bzw ihre Vertreter grundsätzlich das Recht der Anwesenheit. Von der bloßen Anwesenheit zu unterscheiden ist die (aktive) Beteiligung von Parteien bzw ihren Vertretern an der Beweisaufnahme. Diese muss vom ersuchenden Gericht durch Ankreuzen des entsprechenden Kästchens auf dem Formblatt A (Pkt 9.2) «beantragt» werden (Art 11 Abs 2 und 3 EuBewVO). Außerdem haben nach Art 12 EuBewVO «Beauftragte» des Prozessgerichts die Möglichkeit zur Anwesenheit. Dies müssen nicht unbedingt Gerichtsangehörige sein; das ersuchende Gericht kann auch andere Personen – wie etwa Sachverständige – als «Beauftragte» bestimmen (Art 12 Abs 2 EuBewVO). Die EuBewVO enthält zudem strikte Zeitvorgaben für die Erledigung des Rechtshilfeersuchens. Dies kommt in einer Reihe von Bestimmungen zum Ausdruck. Das Ersuchen ist nicht nur schnellstmöglich zu übermitteln (Art 6 EuBewVO), sondern auch unverzüglich zu erledigen (Art 10 Abs 1 EuBewVO). Innerhalb von sieben Tagen hat eine Empfangsbestätigung zu erfolgen; innerhalb von 30 Tagen müsste das ersuchte Gericht mitteilen, wenn erforderliche Angaben fehlen. Das Rechtshilfeersuchen soll grundsätzlich innerhalb von 90 Tagen erledigt werden. 11.2.3 Anwendbares Recht Für die Durchführung der Beweisaufnahme ist grundsätzlich das Recht des ersuchten Staates anzuwenden (Art 10 Abs 2 EuBewVO). Dies schließt Zwangsmaßnahmen ein; auch diese richten sich nach dem Recht des ersuchten Staates. Die EuBewVO führt damit nicht zu einer Angleichung oder gar Vereinheitlichung des Beweisverfahrensrechts in den MS. Dass der ersuchte Richter die Beweisaufnahme auf der Grundlage seines eigenen Rechts durchführt, ist schon aus praktischen Erwägungen sinnvoll.3 Das ersuchende Gericht kann aber darum ersuchen, dass «das Ersuchen nach einer besonderen Form erledigt wird, die das Recht seines MS vorsieht» (Art 10 Abs 3 EuBewVO). Damit kann auf indirektem Weg in einem gewissen Rahmen erreicht werden, dass bei
3 Stadler, Die Europäisierung des Zivilprozessrechts, in 50 Jahre Bundesgerichtshof – Festgabe aus der Wissenschaft (2000) 645 (649).
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Rechtsdurchsetzung im Reiserecht – Ausgewählte Probleme
der Beweisaufnahme doch das Recht des Prozessstaates angewendet wird. Ein derartiges Ersuchen kann vom ersuchten Gericht nur dann abgelehnt werden, wenn die gewünschte Form mit dem Recht des MS des ersuchten Gerichts unvereinbar oder wegen erheblicher tatsächlicher Schwierigkeiten unmöglich ist. Diese Ablehnungsgründe sind restriktiv zu handhaben. Es reicht für sich genommen nicht aus, dass die begehrte Form im Prozessrecht des ersuchten Staates nicht vorgesehen ist.4 Daher kann ein derartiges Ersuchen etwa auch darauf gerichtet sein, ein Kreuzverhör zuzulassen oder eine generelle Vernehmung unter Eid durchzuführen. Unzulässig wäre jedoch ein Ersuchen, das gegen Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung verstößt, etwa nach Zulassung aggressiver oder suggestiver Fragestellungen und demütigender Behandlungen.5 Möglich wäre hingegen etwa die wörtliche Protokollierung der Vernehmung, wie sie vor allem in den Ländern des Common LawRechtskreises üblich ist. Hins der Aussageverweigerungsrechte gilt das Kombinationsprinzip: Die die Aussage verweigernde Person kann sich sowohl auf Aussageverweigerungsrechte nach dem Recht des ersuchenden Staates als auch auf Aussageverweigerungsrechte nach dem Recht des ersuchten Staates berufen. Es kommt daher zu einer Kumulation der Aussageverweigerungsrechte (Art 14 EuBewVO). In der Lit wird teilweise von einer «Meistbegünstigung» gesprochen.6 11.2.4 Unmittelbare Beweisaufnahme Außerdem sieht Art 17 EuBewVO die Möglichkeit einer unmittelbaren Beweisaufnahme im Ausland vor. Dabei handelt es sich um eine wesentliche Neuerung gegenüber den bisherigen Möglichkeiten. Die unmittelbare Beweisaufnahme im Ausland stellt nach dem Konzept der EuBewVO keineswegs eine subsidiäre Möglichkeit, sondern grundsätzlich eine gleichberechtigte Alternative zur klassischen Rechtshilfe dar. Inwieweit sie durchzuführen ist, hängt aber vom Verfahrensrecht des Staates des Prozessgerichtes ab. Anders als bei der traditionellen Beweisaufnahme im Rechtshilfeweg führt bei der unmittelbaren Beweisaufnahme im Ausland das Prozessgericht die Beweisaufnahme nach seinem Recht und in seiner Sprache durch, so dass ein einheitliches Verfahrensrecht für den gesamten Prozess einschließlich der ausländischen Beweisaufnahme gilt. Allerdings ist die Möglichkeit der unmittelbaren 4 Berger, Die EG-Verordnung über die Zusammenarbeit der Gerichte auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- und Handelssachen (EuBVO), IPRax 2001, 522; Heß/Müller, Die Verordnung 1206/01/EG zur Beweisaufnahme im Ausland, ZZPInt 2001, 149 (154); Neumayr/Kodek, EuBewVO Art 10 Rz 12. 5 Neumayr/Kodek, EuBewVO Art 10 Rz 13. 6 Berger, IPRax 2001, 522 (524)
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Internationale Beweisaufnahme
Beweisaufnahme mehrfach eingeschränkt. Sie kann nur auf freiwilliger Grundlage erfolgen (Art 17 Abs 2 EuBewVO). Ein Gericht kann daher im Ausland keinesfalls Zwangsmaßnahmen setzen. Die zu vernehmenden Personen sind auf den freiwilligen Charakter ihrer Aussage ausdrücklich hinzuweisen. Außerdem kann die zuständige Behörde des ersuchten Staates Bedingungen für die Beweisaufnahme setzen (Art 17 Abs 4 EuBewVO), etwa die Teilnahme des Gerichts des ersuchten Staates. Das Prozessgericht hat ein Ersuchen an eine bestimmte Behörde im Beweisaufnahmestaat zu stellen; diese Behörde hat innerhalb von 30 Tagen mitzuteilen, ob und gegebenenfalls unter welchen Bedingungen die Beweisaufnahme genehmigt wird. Unter die unmittelbare Beweisaufnahme im Ausland fallen auch Videound Telefonkonferenzen; auch diesbezüglich ist eine Genehmigung der Zentralstelle im Beweisaufnahmestaat erforderlich (Art 10 Abs 4 iVm Art 17 Abs 4 EuBewVO). 11.2.5 Innerstaatliche Durchführungsbestimmungen Die erforderlichen Ausführungsbestimmungen im innerstaatlichen Recht brachte das BGBl I 114/2003.7 Demnach ist eine erforderliche Auslandsdienstreise zwingend zu bewilligen (§ 25 Abs 2a RGV). Gleichwohl unterliegt die Anordnung einer Amtshandlung im Ausland relativ engen Beschränkungen. Zunächst erfordert diese in formeller Hinsicht einen Antrag einer Partei (§ 291a Abs 1 ZPO). In materieller Hinsicht ist Voraussetzung, dass diese Maßnahme völker- oder gemeinschaftsrechtlich zulässig und für das Gericht zumutbar ist, dass die Beweisaufnahme durch ein ersuchtes Gericht aufgrund außergewöhnlicher Umstände nicht ausreicht und dass die Kosten durch einen Vorschuss gedeckt sind, sofern nicht die Voraussetzungen für die Bewilligung der Verfahrenshilfe vorliegen. Die unmittelbare Beweisaufnahme im Ausland stellt daher auch in Zukunft die Ausnahme dar. Dieser Ausnahmecharakter wird durch flankierende verfahrensrechtliche Regelungen unterstrichen. So ist über die Durchführung einer unmittelbaren Beweisaufnahme im Ausland mit Beschluss zu entscheiden. Während die Ablehnung eines derartigen Antrags nicht abgesondert anfechtbar ist, steht – abweichend von allgemeinen Grundsätzen (vgl etwa §§ 291, 349 ZPO) – gegen die Bewilligung der unmittelbaren Beweisaufnahme im Ausland ein abgesonderter Rekurs offen (§ 291b ZPO). Durch diese Regelung soll einerseits das Interesse der Parteien an der Vermeidung unnötiger Kosten gewahrt und ande7 «Bundesgesetz, mit dem die Jurisdiktionsnorm, die Zivilprozessordnung und die Reisegebührenvorschrift 1955 geändert werden». Die Regierungsvorlage findet sich unter 250 BlgNR XX. GP, der Bericht des Justizausschusses unter 273 BlgNR XX. GP; vgl auch den Einführungserlass JMZ 30043B/9/I11/03 des BMJ zur Europäischen Beweisaufnahme-VO vom 17.12.2003, JABl 4/2004.
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Rechtsdurchsetzung im Reiserecht – Ausgewählte Probleme
rerseits der Ausnahmecharakter einer unmittelbaren Beweisaufnahme im Ausland betont werden.8 Nach autonomem innerstaatlichem Recht bestehen diese Möglichkeiten theoretisch auch gegenüber Drittstaaten. Hier ist jedoch auf die völkerrechtliche Zulässigkeit einer derartigen Vorgangsweise besonderes Augenmerk zu legen.
11.3 Anerkennung und Vollstreckung Die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen aus MS der EU ist in den letzten Jahren durch eine Reihe von gemeinschaftsrechtlichen Regelungen wesentlich erleichtert worden. In der Praxis im Vordergrund steht nach wie vor die EuGVVO.9 Nach Art 33 EuGVVO sind Entscheidungen aus MS in Zivilund Handelssachen automatisch in allen anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen; es handelt sich hier um eine ipso-iure-Anerkennung, ohne dass es eines förmlichen Anerkennungsverfahrens bedürfte. Die Verweigerung der Anerkennung ist nur unter den Voraussetzungen der Art 34, 35 EuGVVO möglich. Dazu gehört der Fall, dass ein offensichtlicher Widerspruch zum ordre public des Anerkennungsstaates vorliegt, weiters wenn bei Säumnisentscheidungen das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht rechtzeitig und in einer Weise zugestellt wurde, dass der Beklagte sich verteidigen konnte, es sei denn, der Beklagte hat keinen Rechtsbehelf eingelegt, obwohl ihm dies möglich wäre; weiters bei Unvereinbarkeit mit einer anderen Entscheidung sowie bei Verletzung der Zuständigkeitsvorschriften in Verbraucher- und Versicherungssachen und von Zwangsgerichtsständen. Gerade letzterer Aspekt könnte im Reiserecht Bedeutung erlangen. Dabei handelt es sich um Ausnahmen vom in Art 35 Abs 3 EuGVVO grundsätzlich angeordneten Verbot der Nachprüfung der internationalen Zuständigkeit. Grund für diese Regelung ist der besondere Schutz der typischerweise schwächeren Partei in Versicherungs- und Verbrauchersachen. Bei wörtlicher Auslegung des Art 35 Abs 1 EuGVVO müsste die Anerkennung einer Entscheidung eines nach der EuGVVO unzuständigen Gerichts allerdings auch dann versagt werden, wenn der Verbraucher obsiegt hat. Dies steht mit dem Schutzzweck der Regelung nicht in Einklang. Vor dem Hintergrund dieses Zwecks des Art 35 Abs 1 EuGVVO ist daher wohl eine teleologische Reduktion geboten: Eine ausländische Entscheidung ist trotz Verstoß gegen die Zuständigkeitsvorschriften anzuerkennen, wenn die typischerweise schwächere Partei, in unse8 ErlRV 250 BlgNR XX. GP 2 und 5; Mayr in Burgstaller/Neumayr, Internationales Zivilverfahrensrecht § 291b ZPO Rz 1. 9 VO 44/2001/EG des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl 2001 L 12/1.
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Kollektiver Rechtsschutz
rem Zusammenhang also der Verbraucher, durch die Entscheidung begünstigt wurde.10 Während die Anerkennung ipso iure erfolgt, ist Voraussetzung für die Vollstreckung eines ausländischen Urteils eine Vollstreckbarerklärung («exequatur»). Diese erfolgt auf Grundlage einer vom Ursprungsstaat ausgestellten Amtsbestätigung. Dafür steht das Formular in Anhang V der EuGVVO zur Verfügung. Die Vollstreckbarkerklärung wird in einem einseitigen Verfahren, also ohne Anhörung des Gegners erteilt. Die Verweigerungsgründe werden nicht mehr von Amts wegen, sondern nur dann geprüft, wenn der Verpflichtete einen Rechtsbehelf einlegt (Art 41 EuGVVO). Die innerstaatlichen Umsetzungsbestimmungen enthalten §§ 83 ff EO. Der Vollständigkeit halber ist schließlich darauf zu verweisen, dass eine Reihe von neueren Vorschriften des Gemeinschaftsrechts sogar großzügigere Anerkennungsmöglichkeiten vorsehen. Praktisch bedeutsam könnte hier neben dem europäischen Zahlungsbefehl11 vor allem die am 01.01.2009 in Kraft tretende Verordnung über das europäische Bagatellverfahren12 erlangen. In beiden Fällen bildet ein Verstoß gegen den ordre public keinen Grund mehr für die Verweigerung der Anerkennung; hier kann vielmehr die Anerkennung nur wegen eines Widerspruchs zu einer anderen Entscheidung verweigert werden, wobei auch hier Einschränkungen bestehen. Sofern die Forderung im Ursprungsverfahren nicht bestritten wurde, kommt auch eine Vollstreckung nach der EuVTVO13 in Betracht.
11.4 Kollektiver Rechtsschutz In den letzten Jahrzehnten lässt sich weltweit eine deutliche Zunahme von Massenverfahren feststellen. Beispiele sind Schädigungen durch fehlerhafte Produkte, Unfälle in Kraftwerken oder Industrieanlagen, Unfälle von Massenverkehrsmitteln, die Schädigung von Kapitalanlegern, aber auch – und damit sind wir bereits beim Reiserecht – etwa Durchfallepidemien in einem Ferienklub. Die ZPO enthält für derartige Fälle bisher keine näheren Regelungen. Derartige 10 Kodek in Czernich/Tiefenthaler/Kodek, Europäisches Gerichtsstands- und Vollstreckungsrecht2 Art 35 Rz 9; Schlosser, Eu-ZPR2 Art 27 Rz 33; Kropholler, Europäisches Zivilprozessrecht8 Art 35 EuGVVO Rz 8 mwN unter Fn 9. 11 Vgl VO 1896/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 zu Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ABl 2006 L 399/1. 12 VO 861/2007/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.07.2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen, ABl 2007 L 199/1. 13 VO 805/2004/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.04.2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl 2004 L 143/15 berichtigt durch ABl 2005 L 97/64; geändert durch VO 1869/2005/EG der Kommission vom 16.11.2005, ABl 2005 L 300/6.
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«Massenfälle» müssen daher mit dem traditionellen, mehr als 100 Jahre alten Instrumentarium, das die ZPO bereitstellt, bewältigt werden. Im Einzelnen bestehen hier folgende Möglichkeiten: 11.4.1 Einzelklagen Jeder Geschädigte kann selbst eine eigene Klage erheben. Diese Vorgangsweise bringt jedoch erhebliche Nachteile mit sich. Hierzu gehören zunächst Nachteile im Gebühren- und Kostenrecht, die sich aus der degressiven Gestaltung des jeweiligen Tarifsystems ergeben. Die entscheidenden Nachteile einer individuellen Klagsführung liegen jedoch auf einer anderen Ebene: Diesfalls müssten gleiche Sach- und Rechtsfragen mehrfach geklärt werden, was nicht nur dem Gedanken der Prozessökonomie widerspricht, sondern auch aus Gründen der Rechtssicherheit problematisch erscheint, weil diesfalls gleiche Fragen allenfalls von verschiedenen Gerichten unterschiedlich beurteilt werden könnten.14 Wenngleich eine unterschiedliche Beurteilung von Rechtsfragen auch sonst möglich ist, würde dies bei einem eine Vielzahl von Personen betreffenden identen Sachverhalt von den Parteien und der Allgemeinheit als besonders unbefriedigend empfunden. 11.4.2 Verbindung Eine Verbindung mehrerer gleichartiger Ansprüche (§ 187 ZPO) ist möglich, wenn die Klagen beim selben Gericht anhängig sind. Zwingend ist eine derartige Verbindung nur unter den Voraussetzungen des § 31a JN, also bei Personen- und Sachschäden, nicht aber bei reinen Vermögensschäden. Wenn die Klagen – wie derzeit aufgrund des verbreiteten «Rotationsprinzips» (sog «Radl») nicht ungewöhnlich – in verschiedenen Gerichtsabteilungen anfallen, lässt sich hier eine deutliche Zurückhaltung feststellen. 11.4.3 Testprozess Eine Klärung der Rechtslage kann man auch im Wege eine sog «Testprozesses» erreichen. Dies stellt eine kostengünstige Lösung dar, setzt allerdings eine entsprechende Vereinbarung der Beteiligten (und damit eine entsprechende Kooperationsbereitschaft auf der Gegenseite) voraus, das Ergebnis dieses Verfahrens auch den anderen – nicht ausjudizierten – Fällen zugrunde zu legen. Hinsichtlich der übrigen Ansprüche müsste ein Verjährungsverzicht abgege14 Rechberger, Prozessrechtliche Aspekte von Kumul- und Großschäden, VR 2003, 15 ff; Kodek, Möglichkeiten zur gesetzlichen Regelung von Massenverfahren, in Gabriel/Pirker-Hörmann, Massenverfahren – Reformbedarf für die ZPO? (2005) 311 (318).
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Kollektiver Rechtsschutz
ben werden, was die Praxis trotz der Formulierung des § 1502 ABGB als zulässig ansieht.15 11.4.4 Streitgenossenschaft Eine gewisse Bündelung lässt sich auch dadurch erreichen, dass mehrere Kläger als Streitgenossen auftreten. Die Rsp geht in vergleichbaren Fällen idR vom Vorliegen einer formellen Streitgenossenschaft (§ 11 Z 2 ZPO) aus. Diesfalls findet keine Zusammenrechnung iS des § 55 JN statt. Die subjektive Klagshäufung setzt auch voraus, dass das Gericht für alle Streitgenossen zuständig ist. Allerdings können, sofern nur der Streitwert der Ansprüche eines Klägers die Gerichtshofgrenze übersteigt, nach hA in derselben Klage gegen denselben Beklagten auch Ansprüche, die die Gerichtshofgrenze nicht übersteigen, geltend gemacht werden.16 Die Berufungs- und Revisionszulässigkeit ist freilich für jeden Anspruch gesondert zu beurteilen. Eine einheitliche Beurteilung aller Ansprüche lässt sich daher auf diese Weise wegen der unterschiedlichen Anfechtungsmöglichkeiten nicht immer erreichen. Außerdem bestehen hier ebenso wie bei der Verbindung mehrerer Verfahren faktische Grenzen, weil ab einer bestimmten Anzahl von Streitgenossen das Verfahren nicht mehr handhabbar und unübersichtlich wird. Dies gilt insb dann, wenn die Streitgenossen durch verschiedene Anwälte vertreten werden. Außerdem ist die Streitgenossenschaft nur dann möglich, wenn im Vorfeld des Verfahrens eine Kontaktaufnahme zwischen allen Klägern stattgefunden hat und diese sich auf ein koordiniertes Vorgehen einigen. Die «Bündelung» bleibt damit weitestgehend der Privatinitiative überlassen, ohne dass die Rechtsordnung hiefür einen institutionellen Rahmen bereitstellte. 11.4.5 Das österreichische Modell der Sammelklage Den nach der derzeitigen Rechtslage bestehenden Defiziten bei der kollektiven Rechtsdurchsetzung will ein vom VKI in Zusammenarbeit mit Alexander Klauser entwickeltes Modell einer «Sammelklage nach österreichischem Recht» Rechnung tragen.17 Dieses Konzept besteht darin, dass mehrere Ver15 Vgl Mader in Schwimann, ABGB VI3 § 1451 Rz 16 und § 1502 Rz 1. 16 M. Roth, Neuerungen der Zivilverfahrensnovelle 1983, Beitr ZPR II 209; Rechberger/ Frauenberger in Rechberger, ZPO3 § 227 Rz 2; Schubert in Fasching/Konecny2 § 11 ZPO Rz 19; Kodek, Die «Sammelklage» nach österreichischem Recht, ÖBA 2004, 615; so nunmehr ausdrücklich auch OGH 31.03.2005, 3 Ob 275/04v =ecolex 2005/279 (Kodek). 17 Kolba, Sammelklagen: Österreich ein Vorbild? Vorbild für Österreich? VRInfo 2000/11; «Sammelklage»-Modell des Vereins für Konsumenteninformation, ZIK 2001/4; Klauser, «Sammelklage» und Prozessfinanzierung gegen Erfolgsbeteiligung auf dem Prüfstand,
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braucher ihre Ansprüche an einen Verband (allenfalls auch an einen Verein oder anderen Rechtsträger18) abtreten, welche dann vom Verband «gesammelt» geltend gemacht werden. Die Finanzierung erfolgt bei diesem Modell über eine Prozesskostenfinanzierungsgesellschaft, die gegen eine Erfolgsquote (im Fall des VKI von 30%) das gesamte Prozesskostenrisiko übernimmt. Zum Unterschied von der Verbandsklage macht der Verband keinen eigenen, ihm zur Durchsetzung über individueller Interessen eingeräumten Anspruch, sondern ihm abgetretene Ansprüche einzelner geltend. Neben den sich aus der «Bündelung» der Ansprüche ergebenden praktischen wie psychologischen Vorteilen bringt eine derartige Vorgangsweise eine Ersparnis an Gerichtsgebühren, weil diese nicht auf Basis der einzelnen Ansprüche, sondern auf Basis der Summe der Ansprüche vorgeschrieben werden. Von der – üblicherweise mit «Sammelklage» übersetzten – class action19 amerikanischen Rechts unterscheidet sich das österreichische Modell schon grundlegend dadurch, dass hier nur eine Geltendmachung der Ansprüche namentlich bekannter Personen erfolgt, die auch vor Einleitung des Verfahrens (durch Abtretung ihrer Ansprüche) selbst initiativ werden müssen,20 während die class action alle Personen in der gleichen Lage erfasst, sofern diese nicht ausdrücklich von der «opting out»-Möglichkeit Gebrauch machen. Die Zulässigkeit dieses Modells ist mittlerweile in Lehre und Rsp anerkannt.21 Die «Bewährungsprobe» bestand dieses Konzept im Zusammenhang mit der Geltendmachung von Reisemängeln gegen einen Reiseveranstalter.22 Dabei wurden aus Anlass einer Durchfallepidemie in einem Ferienklub die Ansprüche von 104 Geschädigten gebündelt. Weitere Anwendungsfälle betreffen die Rückforderung überhöhter Kreditzinsen.23 So gelang es in einem
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ecolex 2002, 805; Kodek, Die «Sammelklage» nach österreichischem Recht – ein neues prozeßrechtliches Institut auf dem Prüfstand, ÖBA 2004, 615. Kodek, ÖBA 2004, 617. Dazu aus der neueren deutschsprachigen Literatur vor allem Rechberger, Importware class action?, FS Krejci (2001) II 1831. Kritisch gegen die Bezeichnung «Sammelklage» aus diesem Grund schon Rechberger, Prozessrechtliche Aspekte von Kumul- und Großschäden, VR 2003, 15 (20 Fn 57). Vgl die Nachweise in Fn 17 sowie aus der Rsp OGH 3 Ob 275/04v (zur Zulässigkeit der Klagshäufung nach § 227 ZPO) sowie die unmittelbar aus Anlass einer Sammelklage ergangene E des OLG Wien 28.02.2005, 3 R 165/04p. Auch nach Fasching in Fasching/ Konecny2 § 227 ZPO Rz 16 müssen für die Zulässigkeit der objektiven Klagshäufung neben der Zuständigkeit des Gerichts und derselben Verfahrensart keine weiteren Voraussetzungen erfüllt sein (aA offenbar Kalss, Massenverfahren im Kapitalmarktrecht, ÖBA 2005, 322 [330 ff]). Vgl VR Info 2001/6, 5. «Zinsenstreit» – Kompromiss mit dem einen/Sammelklage gegen die Anderen, VR Info 2003/10, 2; Klauser, Sammelklage und Prozessfinanzierung gegen Erfolgsbeteiligung auf dem Prüfstand, ecolex 2002, 805; Sammelklage gegen BAWAG auf über 8 Mio ausgedehnt, VR Info 2001/10, 2.
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Reformdiskussion
Fall, die Ansprüche von 180 Kreditnehmern gegen die BAWAG im Gesamtausmaß von rund ATS 9 Mio in Form von zwei Sammelklagen zu bündeln, die vom VKI zusammen mit den Arbeiterkammern von Kärnten, Tirol und Vorarlberg organisiert worden waren. Auch im WEB-Verfahren, dem mit insgesamt über 3000 Klägern größten Zivilverfahren Österreichs, wurden – neben einigen Streitgenossenklagen – sieben Sammelklagen erhoben. Wird die Klage von einem klagebefugten Verband erhoben, so kommt diesem die Revisionsbegünstigung nach § 502 Abs 5 Z 3 ZPO zugute. Die Revision ist diesfalls unabhängig vom Streitwert zulässig und setzt lediglich das Vorliegen einer erheblichen Rechtsfrage voraus. Der VfGH hat die Verfassungskonformität der inhaltlich dieser Regelung entsprechenden Vorgängerbestimmung des § 55 Abs 4 JN (idF WGN 1989 BGBl 343/1989) ausdrücklich bejaht.24
11.5 Reformdiskussion 11.5.1 Argumente für eine Bündelung Für die Einführung eines Gruppenverfahrens sprechen eine Reihe von Gründen: Zum einen kann nur dadurch eine – schon aus Gerechtigkeitserwägungen anzustrebende – einheitliche Beurteilung derselben Tat- und Rechtsfragen erreicht werden. Die Abtretung des Anspruchs an einen Verband kann nicht die einzige praktikable Form der Rechtsdurchsetzung sein. Überdies stoßen die klagebefugten Verbände schnell an die Grenzen ihrer finanziellen und personellen Ressourcen. Zusätzlicher Reformdruck kommt aus Brüssel, wo die Kommission im Kartellrecht verstärkt auf «private enforcement» setzt, was das Vorhandensein wirksamer prozessualer Instrumente zur Bewältigung von Massenverfahren voraussetzt.25 Im internationalen Vergleich gibt es längst Regelungen für derartige Verfahren, wobei vor allem auf Großbritannien, Schweden und Deutschland zu verweisen ist.26 11.5.2 Der Vorschlag des BMJ eines Gruppenverfahrens Am 13.10.2004 ersuchte der Nationalrat mit einstimmiger Entschließung das BMJ, gesetzliche Möglichkeiten zur ökonomischen und sachgerechten Bewäl-
24 VfGH 15.12.1994, G126/93 =VfSlg 13.989, dazu auch Kodek in Gabriel/Pirker-Hörmann, Massenverfahren 358 ff. 25 Vgl Klauser, «Private enforcement» von EU-Kartellrecht, ecolex 2005, 87. 26 Umfassend hierzu Micklitz/Stadler, Das Verbandsklagerecht in der Informations- und Dienstleistungsgesellschaft (2005).
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Rechtsdurchsetzung im Reiserecht – Ausgewählte Probleme
tigung von Massenklagen zu prüfen.27 In der Folge wurde im BMJ ein entsprechender Gesetzesvorschlag ausgearbeitet, der als ZVN 2007 zur Begutachtung ausgesandt wurde.28 Das Gruppenverfahren soll eine ökonomische Durchsetzung von Massenansprüchen ermöglichen und auch die Gerichte entlasten.29 Das Verfahren wird mit einer Gruppenklage eingeleitet. Diese muss neben den allgemeinen Erfordernissen einer Klage den Antrag auf Durchführung eines Gruppenverfahrens enthalten (§ 620 Abs 1 ZPO). Der Gruppenkläger hat zu bescheinigen, dass mehreren Personen insgesamt eine große Zahl von Ansprüchen zusteht, die die Voraussetzungen des § 619 Z 2 bis 5 erfüllen. Insgesamt müssen nach dem ursprünglichen Entwurf30 im Verfahren mindestens drei Personen mit mindestens 50 Ansprüchen auftreten. Das «Sammeln» von Klägern muss aber nicht vor der Klagseinbringung erfolgen, sondern kann auch in einer 90-tägigen «Sammelphase» nach der öffentlichen Bekanntmachung der Gruppenklage erfolgen. Ab Einbringung der Gruppenklage kann jedermann, der sich dem Verfahren anschließen will, dem Gruppenverfahren beitreten. Über den Beitrittsantrag wird durch Beschluss entschieden. Voraussetzung für das Gruppenverfahren ist, dass mehrere (zumindest drei) Personen insgesamt eine große Zahl von Ansprüchen geltend machen, die gegen dieselbe Person oder dieselben Personen gerichtet sind, für alle Ansprüche die inländische Gerichtsbarkeit besteht, gleiche Tatfragen oder gleiche Tat- und Rechtsfragen (also nicht nur gleiche Rechtsfragen!) zu lösen sind und die Verfahrensführung als Gruppenverfahren voraussichtlich eine Vereinfachung und Verbilligung gegenüber Einzelverfahren bewirkt. Die Vertretung der Mitglieder der Gruppe erfolgt durch einen Gruppenvertreter. Dieser wird von den Mitgliedern der Gruppe bekannt gegeben. Erfolgt keine derartige Bekanntgabe, ist derjenige Gruppenkläger, der das Gruppenverfahren einleitete, Gruppenvertreter. Über die gemeinsamen Tat- und Rechtsfragen wird mit Urteil entschieden; dabei kann auch über einzelne Anspruchsvoraussetzungen abgesprochen werden. Damit wird im Gruppenverfahren bindend über alle Fragen entschieden, die für alle oder mehrere Gruppenmitglieder von Bedeutung sind. Dies bedingt auch eine Ausweitung des bisher möglichen Gegenstands der Entscheidung und eine Modifikation der bisherigen Konzeption der Rechtskraft und
27 638 BlgNR XX. GP 1. 28 Dazu Kodek, Die Gruppenklage nach der ZVN 2007, RdW 2007, 711. 29 Unter diesem Gesichtspunkt kritisch zum Entwurf des Gruppenverfahrens im Ministerialentwurf der ZVN 2007 Kodek, RdW 2007, 716. 30 Diese Zahlen waren in der Folge allerdings Gegenstand von politischen Verhandlungen zwischen den Koalitionsparteien, sodass später eine Reihe von Varianten kursierten. Hier wird nur der ursprüngliche MinEntw dargestellt, der seinerseits schon deutlich kompromisshafte Züge trägt.
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Alternative Dispute Resolution
Bindungswirkung. Während nach völlig einhelliger Auffassung bisher nur der Spruch einer Entscheidung in Rechtskraft erwächst, nicht aber die Entscheidungsgründe, geht es im vorliegenden Zusammenhang demgegenüber um eine dem österreichischen Verfahrensrecht bisher weitgehend fremde Bindung an Vorfragen und Tatsachenfeststellungen. Hier ist etwa an die Feststellung eines bestimmten Geschehensablaufes in tatsächlicher Sicht oder die Beurteilung eines bestimmten Verhaltens als (allenfalls grob) schuldhaft zu denken. Diese Bindung der Gruppenmitglieder an die im Gruppenverfahren ergehende Entscheidung ist wesentliches Merkmal des Gruppenverfahrens. Dadurch werden nicht nur unökonomische Parallelverfahren, sondern vor allem auch widersprechende Beurteilungen vermieden. Nach rechtskräftiger Beendigung des Gruppenverfahrens sind, sofern es nicht – wie in der Praxis wohl zu erwarten – zu einer vergleichsweisen Regelung kommt, die bisher gemeinsam verfolgten Ansprüche einzeln geltend zu machen. Auch neben dem Gruppenverfahren ist nach dem Entwurf stets die individuelle Rechtsverfolgung möglich. Dieser Entwurf wurde allerdings letztlich wegen massiver Widerstände seitens der Wirtschaft nicht weiter verfolgt. Indes zeigen gerade Vorgänge der jüngsten Vergangenheit (Stichwort «MEL»), dass die Rechtsordnung auf lange Sicht ohne Sonderregeln für derartige Massenverfahren nicht auskommen wird.31 Das 19. Jahrhundert war hier schon wesentlich weiter und sah bei bestimmten Anlageformen (Teilschuldverschreibungen) die Bestellung eines Kurators zur Durchsetzung der Ansprüche der Anleger vor.32
11.6 Alternative Dispute Resolution 11.6.1 Einführung In den letzten Jahren wird im Bereich des Zivilverfahrensrechts international alternativen Möglichkeiten der Streitbeilegung (alternative dispute resolution) verstärktes Augenmerk gewidmet. Die Europäische Kommission veröffentlichte im April 2002 ein Grünbuch,33 das letztlich in die Erlassung der Media31 Der Deutlichkeit halber ist festzuhalten, dass sich dies ausschließlich auf die Notwendigkeit besonderer prozessualer Regelungen bezieht; über die materielle Berechtigung der in diesem Zusammenhang erhobenen Ansprüche ist damit keine Aussage getroffen. 32 Kuratorengesetz 1874, RGBl 1874/49. Dazu Kalss, Anlegerinteressen. Der Anleger im Handlungsdreieck von Vertrag, Verband und Markt (2001) 404 ff; Kodek in Gabriel/Pirker-Hörmann, Massenverfahren 332 ff. 33 Vgl Vorschlag der Kommission der EG für eine RL des Europäischen Parlaments und des Rates über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen, COM (2004) 718 final sowie Grünbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften über alternative Verfahren zur Streitbeilegung im Zivil- und Handelsrecht vom 19.04. 2002, COM (2002) 196 final.
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Rechtsdurchsetzung im Reiserecht – Ausgewählte Probleme
tions-RL34 mündete.35 Der Anwendungsbereich dieser RL ist allerdings aus kompetenzrechtlichen Überlegungen36 auf grenzüberschreitende Streitigkeiten beschränkt. Erfasst ist sowohl die nachträgliche Vereinbarung einer Mediation als auch eine Mediation aufgrund einer gerichtlichen Anordnung oder einer gesetzlichen Verpflichtung. Im Einzelnen verlangt die Mediations-RL eine entsprechende Qualitätssicherung durch die MS, die Vollstreckbarkeit von im Zuge des Verfahrens abgeschlossenen Vereinbarungen, die Vertraulichkeit des Verfahrens und Regelungen über die Unterbrechung bzw Hemmung der Verjährung. 11.6.2 Deutschland In Deutschland wurde in Zusammenarbeit des Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (BMVEL) und des Verkehrsclubs Deutschland die «Schlichtungsstelle Mobilität» geschaffen. Daneben besteht die Reiseschiedsstelle für Online-Buchungen; siehe den Beitrag von Vogel (13.). Dabei handelt es sich um eine vom Verband Internet Reisevertrieb (VIR) seit 2004 organisierte Schiedsstelle, die als vertrauensbildende Maßnahme ins Leben gerufen wurde. Für die Anrufung dieser Reiseschiedsstelle ist der Wohnsitz des Kunden irrelevant. Die ersten vorliegenden Zahlen sind durchaus ermutigend. So wurde der Schlichtungsvorschlag in 96,5% der Fälle angenommen.37 Allerdings waren im ersten Jahr 30% Unzuständigkeitsentscheidungen zu verzeichnen. Nicht verhehlt werden soll allerdings, dass es hier durchaus auch kritische Stimmen gibt.38 So wird die These, dass eine Schlichtung dem Reiserveranstalter ermögliche, einen Kunden zu behalten bzw wiederzugewinnen, teilweise in Frage gestellt. Insoweit liegt der Vorteil der alternative dispute resolution im Reiserecht wohl eher auf einer raschen und kostengünstigen Entscheidung als auf einer echten Versöhnung der Parteien.
34 RL 2008/52/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.05.2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen, ABl 2008 L 136/3. 35 Dazu ausf Mayr/Weber, Europäische Initiative zur Förderung der alternativen Streitbeilegung, ZfRV 2007, 163. 36 Dazu Kodek in Fasching/Konecny V2 Vor Art 1 EuGVVO Rz 11 ff. 37 Schmid, Die Schlichtung im Reiserecht – ein «dorniger Weg?» Erste Erfahrungen mit der «Reiseschiedsstelle» – zugleich eine Erwiderung auf Noll, RRa 2006, 15 (17 ff). 38 Vgl nur Noll, Die Entwicklung von Schlichtungsmodellen im Reiserecht – ein dorniger Weg, RRa 2006, 15 bzw Tonner, «Schlichten statt richten!?, RRa 2005, 110.
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Alternative Dispute Resolution
11.6.3 Österreich Eine Schiedsvereinbarung ist hier nur eingeschränkt möglich. Nach § 6 Abs 2 Z 7 KSchG müsste diese im Einzelnen ausgehandelt werden, was schon aus praktischen Gründen in der Regel nicht in Betracht kommen wird. Denkbar wäre freilich eine nachträgliche Schiedsvereinbarung, nachdem ein Streit entstanden ist. Die ZVN 2002 ermöglichte die Einrichtung von Schiedsgerichten bei Rechtsanwaltskammern und Notariatskammern (§ 59 RAO, § 188 NO). Die Regierungsvorlage führt hierzu aus, dass das Schiedsverfahren im besonderem Maß geeignet sei, sowohl eine Entlastung der staatlichen Gerichtsbarkeit, als auch eine möglichst schnelle und kostengünstige, unbürokratische Bereinigung des Rechtsstreits im Einzelfall unter Wahrung der Parteienautonomie zu gewährleisten. Im Interesse eines weiteren Ausbaus der Rechtsschutzmöglichkeiten erscheine es daher angezeigt, durch entsprechende Legislative und organisatorische Maßnahmen eine möglichst flächendeckende Schiedsgerichtsbarkeit zu fördern.39 Die in den Ausbau der Schiedsgerichtsbarkeit gesetzten Erwartungen haben sich in der Praxis jedoch nicht erfüllt. So findet sich auf der Homepage einer Rechtsanwaltskammer trotz Verstreichens von mittlerweile sechs Jahren unter der Rubrik Schiedsgericht/Schlichtungsstelle nur der Hinweis «Seite in Arbeit».40 Eine vor allem von Seiten der Verbraucherschützer wiederholt geforderte allgemeine institutionelle Verbraucherschlichtungsstelle besteht nicht; deren Einführung scheiterte bisher aus Kostengründen.
39 ErlRV ZVN 2002, 962 BlgNR XXI. GP 20. 40 .
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12. Streitschlichtung statt Prozessführung: Die Schweizer Erfahrung Rolf Metz Überarbeiteter und mit Quellenangaben versehener Vortrag gehalten anlässlich des Europäischen Reiserechtsforums in Wien. Der Vortragsstil wurde beibehalten.
12.1 Ursprung des Ombudsman der Schweizer Reisebranche Die aussergerichtliche Streitschlichtung in der Reisebranche geht auf die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. 1979 reichte Nationalrat Neukommen im Parlament eine Motion, die eine Regelung des Reiseveranstaltungsvertrages forderte, ein. Das Parlament überwies sie als (unverbindliches) Postulat an die Regierung. In der Folge wurde Pierre Tercier von der Universität Freiburg iUe mit einem Rechtsgutachten beauftragt. Er klärte ab, ob der Reiseveranstaltungsvertrag gesetzlich geregelt werden sollte. In seinem Gutachten «Avis de droit sur: L’opportunité d’une reforme du droit des agences et des contrats de voyages» von 1984 kam Tercier zum Schluss, dass eine gesetzliche Regelung nötig und das schweizerische Obligationenrecht entsprechend zu ergänzen sei. Die Regierung war jedoch gegenüber einer Regelung des Reiserechtes kritisch eingestellt. Der Schweizer Juristenverein nahm das Gutachten zum Anlass, seinen Juristentag 1986 den Problemen des Reisevertrages zu widmen. Die am Juristentag geäusserten Meinungen zu einer Regelung waren widersprüchlich.1 In der Folge wurde das Projekt nicht weiterverfolgt.2
1 Schweizerischer Juristenverein (1986) 556 ff. 2 Zur geschichtlichen Entwicklung: Frank, Bundesgesetz über Pauschalreisen (1994) 13 ff; Hangartner, Das neue Bundesgesetz über Pauschalreisen (1997) 1 ff.
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Streitschlichtung statt Prozessführung: Die Schweizer Erfahrung
12.2 Verbandsarbeit des Schweizerischen ReisebüroVerbandes Parallel zur rechtlichen Entwicklung berichteten Medien vermehrt über deutsche Urteile. Mediengerecht wurden die «sensationellen» Gerichtsentscheide in den Vordergrund gerückt. Die Diskussion über ein Reiserecht und die Rechtsentwicklung in den umliegenden Ländern führte dazu, dass der Schweizerische Reisebüro-Verband (SRV) die Initiative ergriff und mit geeigneten Massnahmen eine Regelung des Reiserechtes verhindern wollte. Der damalige Geschäftführer des SRV erkannte die Zeichen der Zeit und stellte sich ab 1988 offiziell als Ombudsman der Reisebranche zur Verfügung.3 Er übte die Tätigkeit als Ombudsman im Rahmen seiner Geschäftsführung des SRV aus, was von Konsumentenschutzkreisen (Konsumten =Endverbraucher) kritisch aufgenommen wurde. Die persönliche Integrität des Geschäftsführers einerseits und die grosse Nachfrage nach seinen Diensten andererseits liessen jedoch die kritischen Stimmen rasch verstummen. So haben wir nun seit zwanzig Jahren einen Ombudsman der Schweizer Reisebranche. Im Laufe der Zeit wurde die Ombudsstelle neu organisiert. Darauf kommen wir zurück (12.8).
12.3 Anzahl der Anfragen Die Anfragen an die Ombudstelle variieren von Jahr zu Jahr. In den Spitzenjahren 2001 und 2005 gingen rund 3.000 Anfragen ein. Im Jahre 2001 erfolgten die Anschläge in Amerika und im Herbst das Swissair-Grounding. 2005 ging ein Reiseveranstalter Konkurs und in der Folge wurde dessen Kundengeldabsicherer zahlungsunfähig. In normalen Jahren liegen die Zahlen tiefer: · · · ·
2003: 2.551 Anfragen 2004: 2.494 Anfragen 2005: 2.960 Anfragen (grösserer Reiseveranstalterkonkurs) 2006: 2.470 Anfragen4
Im Berichtsjahr 2007 wurde der Ombudsman 2024 Mal angefragt. Davon waren 735 schriftliche Dossiers. 717 Dossiers wurden abgeschlossen, wobei 41 Dossiers nur zur Kenntnis des Ombudsman eingelangt waren. Von den restlichen 676 Dossiers konnten 471 mit einer Erklärung (70%), 143 mit einer Geldrückerstattung (21%), 33 mit Reisegutscheinen (5%) und ein Fall mit Geld und Reisegutschein erledigt werden. In 27 Fällen (4%) wurde keine Lö3 Travel Inside 37/30 (1988) 11; Travel Inside 12/29 (1989) 5. 4 Ombudsman der Schweizer Reisebranche, Jahresberichte der entsprechenden Jahre .
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Die Schweizer Mentalität
sung gefunden.5 Auch in den Jahren zuvor erzielte der Ombudsman Resultate mit ähnlichen Prozentzahlen. Man kann sich fragen, aufgrund welcher Faktoren solch gute Resultate erzielt werden. Es gibt verschiedene Ursachen, die der Ombudsstelle zu diesem Erfolg verholfen haben: · · · ·
die schweizerische Mentalität, die gesetzlichen und organisatorischen Grundlagen sowie die Person des Ombudsman.
12.4 Die Schweizer Mentalität Die schweizerische Mentalität ermöglicht die aussergerichtliche Streitschlichtung. So gibt es im Tourismus zwei weitere Schlichtungsstellen: · Der Verband öffentlicher Verkehr () hat für Anliegen im öffentlichen Verkehr eine Ombudsstelle eingerichtet (). · hotelleriesuisse, der Unternehmensverband der Schweizer Hotellerie hat für die Hotellerie eine eigene Ombudsstelle ( unter «Beratung»). Und da kommen wir auf einen nicht rechtlichen Aspekt zu sprechen «gesunder Menschenverstand». Bis jetzt haben sowohl die Anbieter wie die Kunden bei der Lösung von Unstimmigkeiten gesunden Menschenverstand bewiesen. Sie sind auch bereit, von ihren zuerst eingenommen Positionen abzuweichen, um eine einvernehmliche Lösung zu finden. Prozesse um einige wenige Euros wären in der Schweiz nicht denkbar. Nach einer kleinen Umfrage bei den drei grössten Reiseveranstaltern der Schweiz (Kuoni Reisen AG, MTCH [vormals Hotelplan Schweiz AG], TUI Suisse Ltd, in alphabetischer Reihenfolge) und den eigenen Erfahrungen des Vortragenden werden die Reisender fordernder und drohen rascher mit dem Rechtsanwalt, Konsumentenschutzsendungen im Fernsehen oder Konsumentenschutzzeitschriften. Trotz einer «härteren Gangart» nehmen die Beanstandungen nicht zu. Die Reklamationsquote liegt bei den grossen Veranstaltern bei ungefähr 2%. Sie bleibt konstant oder nimmt sogar leicht ab. Auch der Ombudsman stellt seit längerem fest, dass die Anfragen kontinuierlich zurückgehen. In seinem Jahresbericht 2007 nennt er verschiedene Gründe für diese Abnahme: 5 Ombudsman der Schweizer Reisebranche, Jahresbericht 2007; über die Erledigung mündlicher Anfragen gibt der Jahresbericht keine Auskunft.
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Streitschlichtung statt Prozessführung: Die Schweizer Erfahrung
· bessere Prospektausschreibungen, · professionellere Arbeit der Kundendienste, · aufgrund der guten Konjunktur wurden vermehrt teurere Reisen gebucht und · keine Konkurse von Reisebüros.6
12.5 Die Gesetzgebung Der schweizerische Gesetzgeber ist in der Regel zurückhaltend. Die beteiligten Organisationen und die Privatwirtschaft sollen zuerst selber angemessene Lösungen finden. Wenn dies nicht möglich ist oder eine Gesetzgebung zum Schutz der einen Seite notwendig wird, schreitet er ein. Diese Tendenz spiegelt sich auch im Bundesgesetz über Pauschalreisen (PRG) wider. Dieses Gesetz wurde im Rahmen der so genannten Swisslex (Botschaft über das Folgeprogramm nach der Ablehnung des EWR-Abkommens vom 24.02.1993) erlassen.7 Das PRG setzt die Pauschalreise-RL 90/314/EWG in das schweizerische Recht um. Nach Art 18 PRG hat der Veranstalter die von den Reisenden im Voraus bezahlten Beträge sicherzustellen. Der Gesetzgeber übernahm nur die allgemeine Formulierung der RL. Die konkrete Umsetzung der Sicherstellungspflicht blieb der Reisebranche überlassen. So führt die Botschaft II über die Anpassung des Bundesrechts an das EWR-Recht (Zusatzbotschaft II zur EWR-Botschaft) aus, dass die Sicherstellung durch Bürgschaft, Hinterlegung oder Versicherung8 möglich wäre. Da weder Versicherungen noch Banken bereit waren, entsprechende Instrumente anzubieten, entschloss sich der Schweizerische Reisebüro-Verband zur Selbsthilfe. Er gründete die «Stiftung Gesetzlicher Garantiefonds der Schweizer Reisebranche».9 Die Stiftung mit rund 1600 Mitgliedern deckt den grössten Teil des schweizerischen Pauschalreisemarktes ab. Heute ist sie auch Trägerin der Ombudsstelle (siehe 12.8).
12.6 Es geht um kleinere Beträge Das Bundesgesetz über Pauschalreisen unterscheidet zwischen Gewährleistung (Art 12 f PRG) und Haftung für Schäden (Art 14 ff PRG).10 In Art 13 6 7 8 9 10
Ombudsman der Schweizer Reisebranche, Jahresbericht 2007 (Fn 4). Bundesblatt 1993 I 805 ff und 887 ff. Bundesblatt 1992 V 773. . Stauder, Reiserecht, in Kramer ea (Hg), Schweizerisches Privatrecht X (2008) 291 (343 ff, 354 ff); Roberto, Bundesgesetz über Pauschalreisen, in Basler Kommentar OR I4 (2007) Art 13 Rz 2, Art 14 Rz 1 ff.
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Zugang zu den Gerichten
PRG wird zwar von Schadenersatz gesprochen, doch dies ist ein gesetzgeberisches Versehen.11 Bei Personenschäden und grösseren Sachschäden werden in der Regel die Haftpflichtversicherungen der Reiseveranstalter zum Zuge kommen. Alle drei wichtigen Kundengeldabsicherer (Garantiefonds der Schweizer Reisebranche, Swiss Travel Security und Reisegarantie der Travel Professionals Association) verlangen als Beitrittsbedingung ua eine Reiseveranstalterhaftpflichtversicherung. Das heisst, bei den Reiseveranstaltern verbleiben in der Regel die Beanstandungen aus Gewährleistung. Und wenn keine Lösung zur Zufriedenheit des Kunden gefunden wird, kann der Reisende an den Ombudsman gelangen. Auch beim Ombudsman haben wir es fast ausschliesslich mit Gewährleistungsansprüchen zu tun. Bei Gewährleistungsansprüchen ist die Rückforderungssumme auf die Höhe des Reisepreises beschränkt. Eine Reise kann höchstens einen Wert von Null Euro aufweisen (zur Entschädigung wegen nutzlos aufgewendeter Urlaubszeit siehe unten 12.9 unter Nachvollzug des EU-Rechts). Mit anderen Worten haben wir es mit kleineren Summen zu tun. Diese Aussage wird durch die Angaben der drei grössten Reiseveranstalter bestätigt. Diese zahlen im Durchschnitt pro Reklamationsfall zwischen EUR 60,– und 150,– zurück. – Dabei darf angemerkt werden, dass Reiseveranstalter in der Regel kulant sind. Der Schweizer Reisemarkt ist klein und überschaubar. Die Reiseveranstalter sind bei den Kunden namentlich bekannt. Auch wenn die Kundenbindung abnehmen mag, ist sie gleichwohl wichtig. Jeder Kunde, der reklamiert, ist noch nicht verloren. Er kann durch ein gutes Reklamationsmanagement zurückgewonnen werden.12 Daher sind Reisebüros kulant. Wird der Ombudsman eingeschaltet und vertritt er eine andere Ansicht als der betroffene Reiseveranstalter, so befolgt dieser in den allermeisten Fällen die Empfehlung des Ombudsman. Dass die Reiseveranstalter sich ihrer Verantwortung bewusst sind, zeigt auch die abnehmende Zahl der Anfragen beim Ombudsman (trotz zunehmender Anzahl der Reisen, siehe 12.3).
12.7 Zugang zu den Gerichten Das Bundesgericht hat seit dem Inkrafttreten des Bundesgesetzes über Pauschalreisen am 01.07.1994 bis heute nur zwei Urteile zum Pauschalreiserecht gefällt (davon ist eines publiziert13). Dies mag an der Streitwertgrenze von früher CHF 8.000,– (ca EUR 5.000,–) und heute CHF 30.000,– (ca EUR 19.000,–) liegen (Art 74 Abs 1 lit b Bundesgesetz über das Bundesgericht, BBG, in Kraft seit 01.01.2007). Doch das Gericht kann Streitigkeiten von grundsätzlicher Bedeutung auch bei geringerem Streitwert annehmen (Art 74 Abs 2 lit a 11 Roberto, Basler Kommentar OR I4 Art 13 Rz 2. 12 Müller, Qualitätsorientiertes Tourismusmanagement (2004) 76 ff. 13 Bundesgerichtsentscheid (BGE) 130 III 182.
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Streitschlichtung statt Prozessführung: Die Schweizer Erfahrung
BBG). Das Bundesgericht ist in diesen Verfahren regelmässig Rechtsmittelinstanz (Art 71 BBG). So ist zu prüfen, ob der Zugang zu den Gerichten erster Instanz für Endverbraucher zu schwierig ist. Auf kantonaler Ebene (=Länderebene) sind die Kantone verpflichtet für Konsumentenstreitigkeiten ein einfaches und rasches Gerichtsverfahren oder Schlichtungsverfahren bis zum Streitwert von CHF 20.000,– (ca EUR 12.500,–) vorzusehen (Art 97 Bundesverfassung iVm Art 1 Verordnung über die Streitwertgrenze in Verfahren des Konsumentenschutzes und des unlauteren Wettbewerbs). Diese Verfahren können rein mündlich durchgeführt werden (zB § 53 5 iVm § 119 ZPO Zürich). Der Zugang zu den erstinstanzlichen Gerichten wäre daher einfach. Gleichwohl werden die Veranstalter nur in wenigen Fällen gerichtlich belangt. Die kleine Umfrage bei den drei grössten Veranstaltern ergab, dass sie zwischen 0–10 Mal pro Jahr eingeklagt werden. Oder wie der Leiter eines Kundendienstes anmerkte, der Veranstalter klagt häufiger die Kunden als die Kunden den Veranstalter ein. – Dieses Bild wird durch fehlende Publikationen von reiserechtlichen Urteilen in Fachzeitschriften gestützt.14 Die Veranstalter wären einerseits froh, wenn einige wegweisende Urteile höherer Instanzen vorliegen würden, um gewisse Unklarheiten zu beseitigen. Andererseits ermöglicht gerade diese Rechtsunsicherheit die Kulanz der Reisebüros. Würden wegweisende Urteile bestehen, könnten sich die Veranstalter auf diese Positionen zurückziehen. – Reisende haben oft falsche Vorstellungen ihrer Rechte und fordern erheblich zu viel, was in reiserechtlichen Prozessen zu Enttäuschungen führen könnte. Zudem verhindern die Reiseveranstalter durch kulante Erledigung der Beanstandungen Gerichtsprozesse. An dieser Stelle darf darauf hingewiesen werden, dass reiserechtliche Streitigkeiten häufig an fehlenden substantiierten Klagevorträgen resp an der Vorlage mangelhafter objektiver Beweismittel scheitern.15
12.8 Trägerschaft und Organisation der Ombudsstelle Ein weiteres wichtiges Element für eine erfolgreiche Ombudsstelle ist deren Trägerschaft und Organisation. Wie kurz erwähnt (siehe 12.5), musste die Reisebranche beim Inkrafttreten des Bundesgesetzes über Pauschalreisen selber Lösungen zur Sicherstellung der Kundengelder suchen, da weder Banken noch Versicherungen entsprechende Produkte entwickelten. So entschloss sich der Schweizerische Reisebüro-Verband als grösster Verband der Reisebranche zur Selbsthilfe und gründete die «Stiftung Gesetzlicher Garantiefonds 14 Als Ausnahme zB Chaix, La responsabilité de l’organisateur de voyages à la lumière de la jurisprudance genevoise relative aux art 13 et 14 LVF, Schweizerische JZ 2005, 416. 15 Führich, Reiserecht5 (2005) Rz 638 und Rz 640.
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Die Person des Ombudsman
der Schweizer Reisebranche». Dabei handelt sich um eine Stiftung nach Art 80 ff schweizerisches Zivilgesetzbuch. Die Stiftung als juristische Person ist organisatorisch, personell und finanziell vom Schweizerischen ReisebüroVerband unabhängig. In der Folge wurde die Ombudsstelle in den Garantiefonds übergeführt.
12.9 Die Person des Ombudsman Die Aufgabe des Ombudsman ist es, bei Uneinigkeit zwischen Reisenden und Reisebüros faire Lösungen auszuarbeiten ( unter «Wann hilft der Ombudsman»). Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, muss der Ombudsman über Integrität und entsprechendes Fachwissen verfügen. Dass diese Voraussetzungen gewährleistet sind, dafür hat der Stiftungsrat des Garantiefonds, der den Ombudsman anstellt, zu sorgen. Hier wollen wir uns auf die fachlichen Kompetenzen des Ombudsman beschränken. Diese können in · Fachwissen über die Reisebranche und · juristische Kenntnisse unterteilt werden. Wie es scheint, stuft der Garantiefonds das Fachwissen über die Reisebranche als wichtiger ein.16 Dieser Ansicht kann der Vortragende nicht zustimmen. Um ausgewogene und faire Lösungen erarbeiten zu können, braucht es fundiertes rechtliches Wissen. Der Gesetzgeber hat im Gesetzgebungsverfahren die Interessen der verschiedenen betroffenen Kreisen abgewogen und festgelegt. Diese Interessenabwägung und die daraus entstandenen Regelungen sind Grundlage jeder ausgewogenen und fairen Lösung. Nur wer diese Regeln beherrscht, kann korrekte Lösungsvorschläge ausarbeiten. Seit der Gründung der Ombudsstelle im Jahre 1988 ist die Rechtsordnung viel komplexer geworden und die Anforderungen an die Rechtskenntnisse eines Ombudsman entsprechend gestiegen. Der Ombudsman beschäftigt sich vorwiegend im Bereich des OutgoingTourismus. Mit anderen Worten spielen internationale Gegebenheiten mit den entsprechenden rechtlichen Verflechtungen eine massgebende Rolle. Wie Sie alle bestens wissen, gibt es zB in den Bereichen der VO 261/2004/EG, dem Dynamic Packaging oder dem internationalen Internetgeschäftsverkehr viele offene und umstrittene Fragen.
16 Travel Inside 50 (2007) 6.
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Streitschlichtung statt Prozessführung: Die Schweizer Erfahrung
Dazu kommt ein typisch schweizerisches Problem: der autonome Nachvollzug des EU-Rechts.17 Die Schweiz hat freiwillig die Richtlinie über Pauschalreisen übernommen. Beim autonomen Nachvollzug stellt sich nun die Frage, inwiefern die Rechtsprechung des EuGH bei der Anwendung des Pauschalreisegesetzes zu berücksichtigen ist. Wir haben bereits Vieles über entgangene Urlaubsfreude gehört. Im Rahmen des autonomen Nachvollzugs hat man sich zu fragen: Muss die Schweiz das Leitner-Urteil18 nachvollziehen? Das Bundesgesetz über Pauschalreisen gibt keine Auskunft. Dort wird nur von Personen- und anderen Schäden gesprochen (Art 16 PRG). In einem älteren Urteil hat das Bundesgericht einen solchen Anspruch mit der Begründung abgewiesen, dass es sich um einen Genugtuungsanspruch handle und die Voraussetzungen für einen solchen Anspruch nicht gegeben seien.19 Das Urteil wurde vor Inkrafttreten des PRG gefällt. Seither hat das Bundesgericht zu dieser Frage nicht mehr Stellung genommen. – In der Literatur ist die Frage umstritten.20 Der Ombudsman muss sich mit diesen Kontroversen und rechtlichen Entwicklungen auseinandersetzen, um seinem Auftrag gerecht zu werden. Dies ist nur mit fundierten juristischen Kenntnissen möglich.
12.10 Das Verfahren vor dem Ombudsman Das Verfahren vor dem Ombudsman ist freiwillig. Niemand muss den Ombudsman beiziehen. Der Kunde kann einen Reiseveranstalter einklagen ohne vorher beim Ombudsman vorgesprochen zu haben. Die Reiseveranstalter und Reisebüros, die Mitglieder des Garantiefonds der Schweizer Reisebranche sind, sind gemäss Teilnehmervertrag verpflichtet, mit dem Ombudsman zusammenzuarbeiten und ihm auch Akteneinsicht zu gewähren. Einzige Voraussetzung, um die Dienste des Ombudsman in Anspruch nehmen zu können, ist, dass man vorgängig erfolglos mit dem Veranstalter/Reisebüro eine Lösung gesucht hat. Das Verfahren ist grundsätzlich unentgeltlich. Der Reisende kann an den Ombudsman mündlich oder schriftlich gelangen. Wenn der Ombudsman in einem konkreten Fall vermitteln soll, werden Unterlagen studiert werden müssen, so dass eine schriftliche Eingabe unumgänglich ist. Der Ombudsman stellt auf seiner Internetseite (
17 Bundesgerichtsentscheide (BGE) zB 132 III 379; 2 A 503/2000 und 4 C 432/2004. 18 EuGH 12.03.2002 Rs C-168/00 (Leitner/TUI) Slg 2002 I-02631 =NJW 2002, 1255 =RRa 2002, 117. 19 BGE 115 II 481 ff. 20 Befürwortend Stauder, Reiserecht 360 f; krit Roberto, Basler Kommentar OR I4 Art 14/ 15 Rz 11 mwN.
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Aufsicht über die Tätigkeit des Ombudsman
touristik.ch> unter «So gehen Sie vor» ein entsprechendes Formular zur Verfügung). Aufgrund der Anfrage des Reisenden nimmt der Ombudsman mit dem betroffenen Reiseveranstalter/Reisebüro Kontakt auf, um auch dessen Sicht zu erfahren. Je nach Fall trifft er weitere Abklärungen. Dann unterbreitet er einen Lösungsvorschlag. Dieser kann von den Parteien angenommen oder verworfen werden. Wird der Lösungsvorschlag nicht von beiden Parteien akzeptiert, so zeigt der Ombudsman allenfalls weitere Möglichkeiten einer gütigen Einigung auf. Der Ombudsman hat eine grosse Freiheit, ob er telefonisch oder schriftlich die Informationen einholt, dies entsprechend dem bestmöglichen Resultat.21 Aus dieser kurzen Schilderung ersehen Sie, dass das Verfahren vor dem Ombudsman nicht streng reglementiert ist. Vielmehr kann der Ombudsman situationsgerecht vorgehen. Einige aus dem Zivilprozessrecht bekannte Grundsätze kommen auch hier zur Anwendung: · Der Grundsatz des rechtlichen Gehörs: Bevor der Ombudsman einen Lösungsvorschlag den Parteien unterbreitet, holt er immer auch die Meinung der anderen Partei ein. · Die Dispositionsmaxime: In der Regel gelangt der Reisenden an den Ombudsman. In seiner Eingabe bestimmt er den Beschwerdegegenstand. Er kann jederzeit seine Beschwerde zurückziehen, sich mit dem Vorschlag des Ombudsman einverstanden erklären oder diesen ablehnen. · Verhandlungsmaxime: Der Reisende hat in seiner Beschwerde den Sachverhalt dazulegen. Der Ombudsman trifft keine Verpflichtung, diesen «von Amtes wegen» zu erforschen. Erscheint die Beschwerde begründet, ist aber der Reisende nicht in der Lage, seine Anliegen klar zu formulieren oder entsprechend zu dokumentieren, kann der Ombudsman durchaus in einem beschränkten Mass eingreifen, um überhaupt ein korrektes Verfahren zu ermöglichen. Dies bedeutet nicht, dass dadurch die Untersuchungsmaxime anwendbar wäre.22
12.11 Aufsicht über die Tätigkeit des Ombudsman Der Ombudsman ist Angestellter des Garantiefonds der Schweizer Reisebranche und für seine Tätigkeit dem Stiftungsrat Rechenschaft schuldig. 21 Siehe dazu unter «Zuständigkeit», «So arbeiten wir» und «So gehen wir vor». 22 Gude, Der Ombudsmann der privaten Banken in Deutschland, Grossbritannien und der Schweiz (1988) 163 ff.
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Streitschlichtung statt Prozessführung: Die Schweizer Erfahrung
Als Person des öffentlichen Interesses werden seine Meinungsäusserungen und Stellungnahmen von verschiedenen Kreisen beurteilt. Die Kundendienste der grossen Reiseveranstalter verfügen über ein grosses Know-How und viel Erfahrung. Die Konsumenten orientieren sich mittels elektronischer Medien usw über ihre Rechte. Und die Konsumentenzeitschriften und Beratungsstellen widmen sich vermehrt reiserechtlichen Themen. Der Ombudsman ist einer ständigen Kontrolle der eigene Branche und der Öffentlichkeit ausgesetzt. Eine parteiische Stellungnahme zu Gunsten der einen oder anderen Seite würde auf öffentliche Kritik stossen.
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13. Die Reiseschiedsstelle Innovative Mechanismen der außergerichtlichen Streitschlichtung im deutschen Reiserecht – Ein Überblick Hans-Josef Vogel Die Reiseschiedsstelle, die durch den Verein zur Förderung der alternativen Streitschlichtung im Reiserecht getragen wird, ist eine durch die EU anerkannte Streitschlichtungsstelle, die durch große Reisemittler, Veranstalter und Leistungsträger anerkannt wird und für Kunden dieser Unternehmen eine Alternative zum Gerichtsverfahren bietet. Ein unabhängiger Schlichter bietet die Gewähr für neutrale und interessenfreie Beurteilung, die angeschlossenen Unternehmen verstehen die Schiedsstelle als Service an ihre Kunden und effiziente Einrichtung, die die interne Reklamationsbearbeitung entlastet und Rechtsstreite vermeidet.
13.1 Zur Geschichte Die Reiseschiedsstelle geht insb auf die Initiative zweier Juristen, Reinald Taesler und Ronald Schmid (vgl 7.) zurück. Beide, nicht zuletzt aufgrund Ihrer Erfahrung auch im Unternehmen, haben frühzeitig die Notwendigkeit einer effizienten Streitschlichtung erkannt, die es auch ermöglicht, mit dem Kunden in Kontakt zu bleiben. Dies ist bekanntlich einer der wesentlichen Nachteile einer gerichtlichen Auseinandersetzung: An deren Ende steht zwar häufig ein, wie auch immer geartetes, Ergebnis, allerdings oft um den Preis des Verlustes eines Kunden. Nachdem die alternative Streitschlichtung zunächst vornehmlich in Kreisen der Wissenschaft propagiert wurde, nahm dann im Jahre 2005 die Reiseschiedsstelle ihre konkrete Form an. Die seinerzeitigen Mitgliedsunternehmen des Verbandes Internet Reisevertrieb (VIR e.V.), seinerzeit die Unternehmen Avigo, ebookers, Expedia, Ferien.de, Hin und Weg, Holiday & More, MedHotels, Opodo, Last Minute.de und Last Minute.com beauftragten 219
Die Reiseschiedsstelle
die Reiseschiedsstelle mit der Durchführung eines Schlichtungsverfahrens für die Schlichtung von Streitigkeiten zwischen ihnen und den jeweiligen Kunden. Einer der wesentlichen Gedanken war hierbei auch die Schaffung zusätzlicher Sicherheit für den Kunden: anders als im stationären Vertrieb konnte der Kunde im Onlinevertrieb Fragen nicht ohne weiteres durch Rücksprache mit einem ihm bekannten Mitarbeiter klären. Die Reiseschiedsstelle konnte diese Differenz ausgleichen, indem sie dem Kunden einen Kontakt gab. Im Jahre 2007 wurde die Reiseschiedsstelle auch für Unternehmen geöffnet, die nicht Mitglied des V.I.R. sind und rechtlich verselbständigt. Die Reiseschiedsstelle wurde durch den jetzigen Trägerverein übernommen, um die Reiseschiedsstelle einem weiteren Unternehmenskreis offen zu halten und um die Streitschlichtung verbandsübergreifend zu eröffnen. Mitglieder des Vereins sind derzeit ebookers.com, Expedia.com, Gratis tours.com, Holiday & More, Holidaytours, JT Touristik (als erster virtueller Reiseveranstalter), Last Minute.de, Last Minute24, L-Tour, Opodo, Sunnycars, Travel24.com und Travelocity Last Minute.com. Die Einrichtung der Schiedsstelle kann durch die Vereinsmitglieder, aber auch durch auch andere Unternehmen, die sich der Schlichtungsordnung unterwerfen, in Anspruch genommen werden. Zudem unterhält der Verein einen Beirat, in dem Wissenschaft, Praxis und Publizistik die Tätigkeit des Vereins unterstützen.
13.2 Organisation der Arbeit Der durch den Trägerverein bestellte Schlichter, Ronald Schmid, arbeitet inhaltlich unabhängig von dem Verein und seinen Gremien. Die Unabhängigkeit des Schlichters ist eine Grundbedingung der erfolgreichen Tätigkeit und wird durch die Schlichtungsordnung, aber auch durch die Struktur des Vereins und seine Satzung gewährleistet. Die Schlichtungswünsche werden entweder direkt durch Kunden oder aber im Rahmen der Reklamationsbearbeitung durch die die Reiseschiedsstelle akzeptierende Unternehmen an die Reiseschiedsstelle herangetragen. Hier erreichen diese Fälle unmittelbar den bestellten Schlichter, um jedwede Beeinflussung zu vermeiden, insb um die institutionelle Unabhängigkeit des Schlichters vom Trägerverein zu betonen. Es ist auffällig, dass in den letzten mehr als vier Jahren seit Gründung der Reiseschiedsstelle stets eine nicht unerhebliche Anzahl von Reisenden die Reiseschiedsstelle in Anspruch nehmen wollten, die indes weder bei einem Mitgliedsunternehmen gebucht haben, noch bei einem Unternehmen, das an die Reiseschiedsstelle angeschlossen ist. Deutlich wird in diesen Kontakten stets die große Erleichterung des Kunden, eine unabhängige Stelle gefunden zu haben, die sich seiner Beschwerden annimmt. Leider müssen indes diese Schlichtungswünsche abgewiesen werden. 220
Die Typischen Fälle
Nach Erhalt der entsprechenden Unterlagen wird der Sachverhalt durch den Schlichter erfasst. Insoweit existiert eine anerkannte Schlichtungsordnung, derer sich die angeschlossenen Unternehmen unterwerfen. Nach Erfassung des Sachverhalts und etwaiger Rücksprache wird durch den Schlichter entweder ein Schlichtungsvorschlag unterbreitet, der beispielsweise eine Zahlung vorsehen kann oder eine andere Handlung seitens des Reisevermittlers oder aber eine Schlichtung wird abgelehnt, weil Ansprüche des Kunden gegen das Unternehmen nicht bestehen. Immerhin hat die Arbeit der Reiseschiedsstelle so positive Wirkung gezeigt, dass sie bei den über 1000 Fällen, die in den letzten mehr als vier Jahren behandelt wurden, nicht in einem Fall ein Gerichtsverfahren angestrebt wurde, selbst in den Fällen, in denen wegen Fehlens eines Anspruchs ein Schlichtungsvorschlag nicht unterbreitet wurde.
13.3 Die Typischen Fälle Die wesentlichen Aufgaben und Anträge der Kunden lagen hierbei insb bei Reisemängeln, Problemen bei der Luftbeförderung, Buchungsproblemen und Informationsproblemen. Eine nicht geringe Menge an Problemen beruht auf eher lässlichen Unachtsamkeiten auf Kundenseite. So schienen (und scheinen) Kunden selten Ausdrucke zu fertigen, Allgemeine Bedingungen tatsächlich zu lesen, oder das Übersichtsfenster im letzten Schritt der Buchung genau zu kontrollieren. So stand gerade am Anfang in einem nicht unerheblichen Umfang ein Problem im Augenmerk, dass jedem geläufig ist, der schon einmal mit Dropdown-Listboxen gearbeitet hat: unbemerkt verändert sich das voreingestellte Feld, wenn die Box noch aktiv ist, obwohl man meint, längst eine andere Stelle der Seite aktiviert zu haben. So kam es zu Änderungen des Datums, der Personenzahl oder des Flughafens. Nach wie vor, sind eine Vielzahl von Streitigkeiten oder Auseinandersetzungen eher einfach gelagert und betreffen häufig immer wieder einfach aufzuklärende Missverständnisse über die Bedeutung des Reisemittlers, des Reiseveranstalters, des Leistungsträgers sowie das zugrunde liegende Vertragsgeflecht. Es sind eben nicht durchweg die großen Streitigkeiten und die bahnbrechenden Rechtsfragen, die den Reisenden im Alltag bewegen, sondern kleine Probleme, wie etwa die Nennung eines falschen Terminals am Flughafen, eine Umbuchungsgebühr oder andere Dinge mehr. So kommt es immer wieder zu rechtlichen Problemen, die ihre Ursache in der Unachtsamkeit im Zuge eines Buchungsvorgangs haben. Fehlerhaft geschriebene Namen, Buchstabendreher bei email-Adressen, eine falsche TLD, all dies sind Umstände, die im Zuge der späteren Buchung zu erheblichen Problemen führen. 221
Die Reiseschiedsstelle
Neben den entsprechenden Problemen zeigt sich derzeit auch, dass insb die Ausdünnung des Flugplans, Flugzeitenänderungen, aber auch nach wie vor qualitative Mängel in einem erheblichen Umfang die Reisenden beschäftigen. Auch im Jahr 2009 kommt es nach wie vor zu Problemen, etwa weil die Tarifbedingungen nicht ordnungsgemäß durch die Kunden zur Kenntnis genommen werden, oder weil Informationen nicht weitergereicht werden. Feststellen lässt sich, dass insb die im deutschen Recht trennscharf vorhandene Unterscheidung zwischen Reisemittler und Reiseveranstalter mit unterschiedlichen Verantwortungsbereichen dem Reisenden nicht in dem Maße bekannt sind, wie dies notwendig wäre, um immer wieder ordnungsgemäß entscheiden zu können, in welchen Verantwortungsbereich einzelne Mängel fallen. Die Reiseschiedsstelle hat seit Aufnahme ihrer Tätigkeit mehr als 1000 Schlichtungsanfragen erhalten; sie hat – um mit diesem Vorurteil zu brechen – auch keineswegs dem Kunden stets Schlichtungsvorschläge gemacht. In weniger als der Hälfte aller inhaltlich behandelten Fälle (in inhaltlich nicht behandelten Fällen, etwa wegen fehlender Zuständigkeit kann ohnehin keine Schlichtung erfolgen) wurden Schlichtungssprüche erlassen, die ein Zahlung oä des Unternehmens vorsahen. Trotz dieser häufigen Ablehnung hat bislang kein Kunde den Rechtsweg beschritten. Ob dieses Ergebnis auch bei einer Ablehnung von Ansprüchen durch das Unternehmen selbst zu erreichen wäre, darf bezweifelt werden; denn gerade die Unabhängigkeit des Schlichters und seine Neutralität bieten die Gewähr für Akzeptanz.
13.4 Résumé Aus Sicht aller an der Reiseschiedsstelle Beteiligten, auch der Unternehmen, hat sich die Schlichtung bewährt. Die Zahl der Gerichtsverfahren hat abgenommen, von den Kunden, die die Reiseschiedsstelle in Anspruch genommen haben, hat keiner vermeintliche oder tatsächliche Rechte in einem Gerichtsverfahren durchgesetzt. Die ersten Mitglieder, die außerhalb des ursprünglichen Gründungskreises hinzugekommen sind, zeigen deutlich, dass ein großes Interesse an der Schlichtung besteht. Die Installation einer ähnlichen Einrichtung durch andere Verbände zeigt im Übrigen auch den Trend der Zeit. Es bleibt zu hoffen, dass eine durch Unternehmen getragene Schlichtungsstelle als Modell weitere Anerkennung findet, Gerichte entlastet und Kunden bei Problemen gibt, was der Kunde sucht: eine neutrale, ehrliche Antwort nach der Beschäftigung mit seinen Anliegen.
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14. Umsetzung der Pauschalreise-RL in das Türkische Rechtssystem Necla Akdag-Güney 14.1 Einführung Bis in die 80er Jahre kannte die Türkei keine Politik zur Förderung und zum Schutz von Verbraucherinteressen. Nach Fehlentwicklungen innerhalb der türkischen Wirtschaftsordnung sah sich der türkische Verfassungsgeber dazu veranlasst, den Verbraucherschutz in die neue Verfassung von 1982 aufzunehmen. Eine entscheidende Fortentwicklung hat das Verbraucherschutzrecht gleichwohl erst in den 90er Jahren erfahren. Denn ungeachtet der bereits in der Verfassung von 1982 anerkannten Schutzwürdigkeit der Verbraucher und der Ermächtigung des Staates zum Erlass erforderlicher Maßnahmen, wurden entsprechende Initiativen erstmals durch die Zollunion1 von 1995 zwischen der Türkei und der EU auf den Weg gebracht. Letztlich verdankt das heutige Verbraucherschutzgesetz seine Entwicklung dem EU-Gipfel von Helsinki, in dessen Verlauf der Europäische Rat erstmals feststellte, dass die Türkei ein Beitrittskandidat ist.2
1 Am 06.03.1995 beschloss der Assoziationsrat EG–Türkei die Verwirklichung der letzten Phase der Zollunion. Die auf der Grundlage des Assoziationsabkommens begründete Zollunion bildet einen Meilenstein auf dem Weg der Rechtsangleichung der türkischen Vorschriften an das Gemeinschaftsrecht. Um ein gutes Funktionieren der Zollunion sicherzustellen, musste die Türkei vor deren Inkrafttreten wichtige Teile des Besitzstandes der Gemeinschaft übernehmen, vor allem in den Bereichen Zollrecht, Handelsrecht, geistiges Eigentum, Gesundheitsrecht und Wettbewerb. So hat das Türkische Parlament im Jahre 1995 vor der Zollunion das erste Rahmengesetz für den Verbraucherschutz verabschiedet. Siehe dazu Agdag-Güney, Das türkische Wettbewerbsgesetz, ZfTS 1996, 241 f. 2 Näheres dazu Güney, Die Umsetzung von Verbraucherschutz-Richtlinien in der Türkei in Zeitschrift für Gemeinschaftsprivatrecht GPR 2006, 60.
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Umsetzung der Pauschalreise-RL in das Türkische Rechtssystem
14.2 Notwendigkeit einer Rechtsangleichung des türkischen Rechts an das Gemeinschaftsrecht Das Assoziationsabkommen (Ankara-Anlas¸ması)3 von 1964 bildet die Rechtsgrundlage der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei. Das Abkommen selbst enthält keine allgemeinverbindliche, fristgebundene Verpflichtung zur Angleichung des nationalen türkischen Rechts. Vielmehr bewertet es die Übernahme des Besitzstandes der Gemeinschaft als eine wesentliche Voraussetzung für den Beitritt der Türkei zur EU. In Art 284 des Assoziationsabkommens kommt der Wille der Türkei zum Ausdruck, den Besitzstand der Europäischen Union – allerdings ohne Eingehung einer entsprechenden rechtlichen Verpflichtung – zu übernehmen.5 Die Türkei hat sich einseitig an das Ziel der Rechtsangleichung im Ratifizierungsverfahren des Abkommens gebunden und dies durch die Verabschiedung eines an den Vorgaben der Gemeinschaft ausgerichteten Nationalprogramms6 umgesetzt. Da die Möglichkeit eines EU-Beitritts an die Besitzstandsübernahme geknüpft ist, handelt es sich somit um eine völkerrechtliche Obliegenheit, aus der allenfalls politische, aber keine rechtlichen Verpflichtungen zur Rechtsangleichung entstehen. Die eigentliche Rechtsangleichung im türkischen nationalen Recht ist, wie auch in der Schweiz, ein Akt des «autonomen Nachvollzugs». Lediglich der Wunsch nach Beitritt drängt die Türkei, das nationale Recht dem acquis communautaire so weit wie möglich anzupassen. Im Ergebnis führt der «autonome Nachvollzug» jedoch weitgehend zu den gleichen rechtlichen Resultaten und Strukturen, wie sie innerhalb der EU bestehen.7 3 Das Assoziationsabkommen zielte im wesentlichen auf die schrittweise Errichtung einer Freihandleszone, deren wesentlicher Bestandteil neben der Liberalisierung des Warenverkehrs, der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit von Staatsangehörigen in drei Zeitabschnitten von jeweils 5 Jahren der regelmäßige Dialog zwischen der Türkei als Assoziationspartner und der Gemeinschaft mit der Schaffung rechtlicher Harmonie zwischen den beteiligten Partnern war. 4 Das Assoziationsabkommen enthält einen einzigen Artikel (Art 28) über die Übernahme von Verpflichtungen, die aus einer Mitgliedschaft erwachsen. Art 28 des Assozationsabkommens hat folgenden Wortlaut: «Sobald das Funktionieren des Abkommens es in Aussicht zu nehmen gestattet, dass die Türkei die Verpflichtungen aus dem Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft vollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen.» 5 In diesem Sinne besteht die Aufgabe des Assozationsabkommens in der Vorbereitung der Türkei auf eine Vollmitgliedschaft. Sie soll in die Lage versetzt werden, ihre Wirtschaftsund Rechtsordnung nach und nach derjenigen der EU anzunähern und anzupassen. 6 Die türkische Regierung hat ihr Nationalprogramm zur Übernahme des Besitzstands (NPAA) am 19.03.2001 verabschiedet. Das NPAA ist abrufbar unter: . Näheres zur Umsetzung des Programms, Can Hacı, Das Assoziationsverhältnis zwischen der europäischen Gemeinschaft und der Türkei (2002) 283. 7 Güney, GPR 2006, 61.
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Historische Entwicklung des türkischen Verbraucherschutzgesetzes
Die Schweiz verfolgt ebenfalls eine Strategie der Harmonisierung durch autonomen Nachvollzug von EU-Recht. Der Unterschied zwischen beiden «autonom nachvollziehenden» Staaten ist, dass die Schweiz das EU-Recht informell umsetzt, während die Türkei angesichts eines ernsthaft verfolgten Beitrittsgesuchs unter einem vergleichsweise höheren Anpassungsdruck steht und politisch zu einer Angleichung angehalten ist.
14.3 Historische Entwicklung des türkischen Verbraucherschutzgesetzes Der türkische Gesetzgeber hat die Umsetzung von europäischen Verbraucherschutz-Richtlinien in einem Verbraucherschutzgesetzbuch vollzogen.8 So wich er von seinem schweizerischen Vorbild ab, das die Verbraucherschutz-RL zum Teil in das Obligationengesetzbuch integriert und zum Teil in Sondergesetzen geregelt hatte. Eine zweckmäßige systematische Unterbringung der Verbraucherschutz-Bestimmungen in das Obligationengesetzbuch (Borçlar Kanunu/ BK) wäre ohne eine umfassende Reform9 desselben nicht möglich gewesen. Denn die türkische Rechtsordnung kannte keine besonderen Regelungen zum Verbraucherschutz. Derartige Sondernormen hätten erst eingeführt oder das allgemeine Kaufrecht geändert werden müssen. Eine umfassende Reform des nationalen Obligationenrechts hätte jedoch dem Vorhaben, möglichst schnell die Rechtsangleichung der türkischen Rechtsvorschriften an das Gemeinschaftsrecht zu vollziehen, um die Zollunion mit der EU zu vereinbaren, im Wege gestanden. Das erste türkische Verbraucherschutzgesetz/Gesetz Nr 4077 (Tüketicinin Korunması Hakkında Kanun/TKHK) wurde im März 1995 vom Parlament angenommen und trat im September 1995 in Kraft.10 Es bezweckte in erster Linie, den Verpflichtungen aus der Verfassung von 1982 nachzukommen und die bestehender EG-RL in das türkische Recht umzusetzen. Allerdings wurde letzteres Ziel nur unzureichend erreicht. Die Unzulänglichkeiten dieses Gesetzes, veranlassten den Gesetzgeber im Jahre 2003 zu einer grundlegenden Revidierung. Das revidierte Verbraucherschutzgesetz wurde am 14.03.2003 verab8 Bezüglich der systematischen Einordnung des Verbraucherschutzrechtes im nationalen Rechtssystem sind die Lösungen der einzelnen EU-Staaten unterschiedlich. Während einige Länder die Umsetzung in einem gesonderten Verbrauchergesetzbuch vornehmen wie zB Österreich, Frankreich, Spanien, Portugal und Griechenland, integrieren die anderen Länder es thematisch in das Bürgerliche Gesetzbuch wie zB Niederlande, Deutschland, Ungarn und Polen. 9 Ein Entwurf des neuen Obligationengesetzbuchs «Türk Borçlar Kanunu Tasarısı» wurde zur Debatte vorgelegt . 10 Gesetz Nr 4077 vom 23.02.1995, RG (Amtsblatt) 22221, 08.03.1995.
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Umsetzung der Pauschalreise-RL in das Türkische Rechtssystem
schiedet und trat am 14.06.2003 in Kraft.11 Mit dieser Novelle verfolgte der türkische Gesetzgeber zwei Ziele: zum einen die Änderung des Verbraucherschutzgesetzes in Punkten, in denen sich in der Vergangenheit Mangelhaftigkeiten ergeben hatten, zum anderen die Anpassung des türkischen Verbraucherschutzgesetzes an die RL über Fernabsatz, Verbraucherkredite, irreführende Werbung, Pauschalreise, Timesharing und missbräuchliche Vertragsklauseln. Durch das Verbraucherschutzgesetz kommt der Staat einerseits seinen verfassungsmäßigen Verpflichtungen nach, indem er die Schutzregeln schafft und dem Verbraucher eine besonders geschützte Stellung einräumt und andererseits erfüllt er durch die Umsetzung der Verbraucherschutz-Richtlinien in das nationale Recht seine Aufgaben, die ihm für den EU-Beitritt gestellt worden sind. Dem türkischen Verbraucherschutz liegen objektive Kriterien, nicht aber die tatsächlichen wirtschaftlichen Gegebenheiten oder Fähigkeiten der Beteiligten im Einzelfall, zugrunde. Wichtig ist, dass dem Verbraucher der Schutz seiner Interessen als solcher gewährt wird. Dieser allgemeine Leitgedanke «der Schutz des Verbraucherinteresses» ist durch den Zielkatalog in Art 1 TKHK nach Unterzielen aufgeteilt. In diesem Artikel werden die wichtigen Intentionen des Gesetzes unter Berücksichtigung der im Rahmen der Verbraucherpolitik der EU entwickelten Grundrechte12 festgeschrieben.13 Das türkische Verbraucherschutzgesetz ist ein Rahmengesetz, das aus 38 Artikeln und fünf Abschnitten besteht. Das Gesetz regelt materiellrechtliche und prozessrechtliche Fragen des Verbraucherschutzes. Nach der Gesetzessystematik finden sich im ersten Teil des TKHK neben dem Anwendungsbereich und Zweck des Gesetzes auch einheitliche Definitionen der im Gesetz gebrauchten Begriffe für alle Verbrauchergeschäfte.14 Die weitere Ausgestaltung des Gesetzes ist inhaltlich konkreteren Verordnungen15 überlassen. Für 11 Gesetz Nr 4822 vom 06.03.2003, RG (Amtsblatt) 25048, 14.03.2003. 12 Die fundamentalen Grundrechte von Verbrauchern wurden im ersten Aktionsprogramm der Kommission «zum Schutz der Verbraucher « genannt. Entschließung des Rates vom 14.04.1975 betreffend ein erstes Programm der EWG für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl 1975 C 92/1. 13 Güney, GPR 2006, 63. 14 Eine Definition des Begriffs «Verbrauchergeschäft» ist in Art 3h TKHK enthalten: Verbrauchergeschäft ist jedes Rechtsgeschäft, das auf den Waren- und Dienstleistungsmärkten zwischen einem Verbraucher und Verkäufer/Versorger vorgenommen wird. Damit meint der Gesetzgeber eine rechtsgeschäftliche Handlung iwS; das «Verbrauchergeschäft» umfasst sowohl das Rechtsgeschäft als «Akt», als auch das Rechtsgeschäft als Rechtsverhältnis. Im Gegensatz zu der früheren Fassung des TKHK, die einen Kaufvertrag voraussetzte, ist der sachliche Anwendungsbereich nunmehr grundsätzlich unabhängig vom Vertragstyp; Güney, GPR 2006, 64. 15 In den einzelnen Durchführungsverordnungen (DVO) werden der Zweck, der Umfang und die Definition der Begriffen nochmal entsprechend dem Gesetz und den EG-RL neu gefasst. Die einzelnen Verordnungen sind abrufbar unter: .
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Pauschalreiseregelung des Verbraucherschutzgesetzes
die Durchführung des Gesetzes soll das Industrie- und Handelsministerium16 unter Einholung von Stellungnahmen betroffener öffentlicher Einrichtungen, der Verbraucherorganisationen, der Berufsvereinigungen und der Dachverbände Verordnungen erlassen (Art 31 TKHK).
14.4 Pauschalreiseregelung des Verbraucherschutzgesetzes Obwohl die Türkei seit langem ein beliebtes Reiseziel für die ausländischen und türkischen Touristen ist, waren die Pauschalreisen im türkischen Recht bis vor wenigen Jahre noch weit davon entfernt, im Brennpunkt des juristischen Interesses zu stehen. Abgesehen von einigen Hinweisen in den Lehrbüchern, fand man keinen besonderen Überblick über den Sach- und Problemstand.17 Die Umsetzung der Pauschalreise-RL 90/314/EWG in das türkische Verbraucherschutzgesetz erfolgte mit einiger Verspätung im Jahre 2003. Soweit der Verbraucher bei einem Reiseveranstalter eine Pauschalreise bucht, tritt er mit dem Veranstalter in vertragliche Beziehungen. Diese Rechtsbeziehungen zwischen dem Verbraucher und dem Reiseveranstalter sind Gegenstand des Pauschalreisevertrages, welcher in Art 6/C TKHK geregelt ist. 14.4.1 Definition der Pauschalreise Der türkische Gesetzgeber verwendet wie die RL den Begriff «Pauschalreise/ Paket tur». Art 6/C TKHK enthält eine Legaldefinition18 der Pauschalreise. Pauschalreisevertrag ist ein schriftlicher Vertrag, der eine im voraus festgelegte Verbindung aus Beförderung, Unterbringung und anderen touristischen Dienstleistungen, wobei mindestens zwei dieser Elemente kombiniert werden, die zu einem Gesamtpreis verkauft oder zum Verkauf angeboten wird, wenn die Dienstleistung einen Zeitraum von mehr als 24 Stunden umfaßt oder eine Übernachtung einschließt und dessen Ausfertigung dem Verbraucher ausgehändigt werden soll. Kennzeichnend für eine Pauschalreise ist, dass eine Leistungsbündelung angeboten wird, sofern diese Leistungen länger als 24 Stunden dauern oder eine Übernachtung einschließen. Das Gesetz zählt als in Frage kommende Leistun16 In der Türkei ist der Verbraucherschutz dem Industrie und Handelsministerium zugeordnet. Hier befasst sich die Abteilung für Verbraucher- und Wettbewerbsschutz/Tüketiciyi Koruma Dairesi, mit Fragen der Marktüberwachung. 17 Oktay, Saibe, Gezi Sözles¸mesi (1997); Yurt, Bülent, Seyahat Düzenleme Sözles¸mesi (2001); Havutçu, Ays¸e, Seyahat Sözles¸mesi ve Ayıplı I˙ fa Halinde Tüketicinin Hakları, Manisa Barosu Dergisi Temmuz-Ekim (1997) 27 ff. 18 Diese Definition wurde fast wörtlich von Art 2 Pauschalreise-RL übersetzt.
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Umsetzung der Pauschalreise-RL in das Türkische Rechtssystem
gen Beförderung/ulas¸tırma, Unterbringung/konaklama und andere touristische Dienstleistungen/dig˘ er turistik hizmetler auf. Die «anderen touristischen Dienstleistungen» dürfen keine Nebenleistungen wie Essen im Flugzeug oder Einrichtungen im Hotel sein, sondern müssen einen beträchlichen Teil der Gesamtleistung ausmachen. Die in dem Reiseveranstaltersbegriff erwähnten Dienstleistungen wie Ausflüge, Sport, Auskunft, Unterhaltung gelten als andere touristische Dienstleistungen (Pauschalreise-DVO Art 4/c). Der Reisevertrag, wie er in der Regel zwischen Reisendem und Anbieter abgeschlossen wird, wird vom Verbraucherschutzgesetz nicht erfasst. Art 6/C TKHK gilt nicht für alle Reiseverträge, sondern bloß für Reiseveranstaltungen, also eine im Voraus festgelegte Kombination von mindestens zwei Leistungen zu einem Gesamtpreis. Damit ist klargestellt, dass die Erbringung einer einzelnen Reiseleistung, nicht unter Art 6/C fällt. Ob der Veranstalter diese Dienstleistungen vorher kombiniert hat oder, ob die Kombination erst nach den Wünschen des Reisenden nach seinen speziellen Interessen zusammengestellt wird, macht für die Anwendung des Art 6/C TKHK keinen Unterschied. Die Pauschalreise soll zu einem Gesamtentgelt angeboten oder vereinbart werden.19 Das TKHK enthält zwar keine ausdrückliche Regelung wie Art 2 Abs 2 Pauschalreise-RL, wonach der Veranstalter oder Vermittler auch bei getrennter Berechnung einzelner Leistungen, die im Rahmen ein und derselben Pauschalreise erbracht werden, der Richtlinie unterworfen blieben. Nach herschender Lehre kommt die Regelung des Art 6/C TKHK auch dann zur Anwendung, wenn die Einzelleistungen getrennt und nicht als Gesamtpreis berechnet werden aber im Rahmen ein und derselben Pauschalreise erbracht werden.20 Der Gesamtpreis kann deshalb keine notwendige Voraussetzung für die Bejahung der Anwendbarkeit des Art 6/C TKHK sein, weil sonst der Reiseveranstalter die Möglichkeit hätte, sich durch eine Aufspaltung des Gesamtpreises in Einzelpreise dem Anwendungsbereich der Pauschalreiseregelung zu entziehen. 14.4.2 Reiseveranstalter Der Reiseveranstalter21 ist der Vertragspartner des Verbrauchers. Das Verbraucherschutzgesetz selbst definiert den Begriff Verkäufer/Versorger22 aber nicht den Reiseveranstalter. Er wird in Art 4 Pauschalreise-DVO definiert. 19 Aslan, Yilmaz, Tüketici Hukuku, 2. Bası (2004) 559; Zevkliler/Aydog˘ du, Tüketicinin Korunması Hukuku, 3. Bası (2004) 204 ff. 20 Aslan 560; Zevkliler/Aydog˘ du 206; Havutçu 32; Yurt 52 f. 21 Gem Art 4 Gesetz Nr 1618 (Seyahat Acentaları ve Seyahat Acentaları Birlig˘ Kanunu) müssen die Reiseveranstalter ein Gewerbe haben, um Reisen veranstalten zu können. 22 Gem Art Art 3/f und 3/g TKHK ist einVerkäufer/Versorger eine natürliche oder juristische Person einschließlich öffentlicher Unternehmen, die dem Verbraucher eine Ware/ Dienstleistung in Ausübung ihrer gewerblichen oder beruflichen Tätigkeit anbietet. Näheres dazu Güney, GPR 2006, 61f.
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Pauschalreiseregelung des Verbraucherschutzgesetzes
Reiseveranstalter ist jeder Geschäftsbetrieb, der den Touristen zu Erwerbszwecken, Beförderung, Übernachtung, Reise, Sport, Unterhaltungsprogramme anbietet, ihnen touristische Informationen vermittelt und diesbezüglich Dienstleistungen erbringt. Anders als die Pauschalreise-RL unterscheidet das TKHK nicht zwischen dem Reiseveranstalter und dem Reisevermittler. Die Definition des Reiseveranstalters ermöglicht jedoch eine weite Auslegung, so dass der Reisevermittler umfasst werden kann. Der Reiseveranstalter hat als Vertragspartner des Verbrauchers, für Leistungsstörungen einzustehen. Ob die Leistungsstörung unmittelbar beim Reiseveranstalter oder bei seinem Erfüllungsgehilfen eingetreten ist, macht für die Haftung des Veranstalters gegenüber dem Verbraucher keinen Unterschied. Der Begriff des Reiseveranstalters nach türkischem Recht ist weiter als derjenige nach der Pauschalreise-RL, die Veranstalter, die nur gelegentlich Reisen organisieren, aus dem Anwendungsbereich ausnimmt. Für die Anwendung des Art 6/C TKHK ist vielmehr wichtig, dass der Veranstalter durch die Veranstaltung der Reise Gewinn erzielt. Die Regelung findet also auch dann Anwendung, wenn der Veranstalter als Gelegenheitsanbieter auftritt und Gewinn erzielt. 14.4.3 Verbraucher Der türkische Gesetzgeber definiert den Begriff «Verbraucher» in Art 3/e TKHK für alle verbraucherschützenden Vorschriften einheitlich. Verbraucher ist demnach: «jede natürliche oder juristische Person, die eine Ware oder Dienstleistung nicht zu einem gewerblichen oder beruflichen Zweck erwirbt, nutzt oder verbraucht.» Diese Definition des TKHK sieht im Vergleich zum europäischen Verbraucherbegriff, der nur natürliche Personen erfasst, die Erweiterung vor, dass auch juristische Personen des Privatrechts, als Verbraucher behandelt werden.23 Während Idealvereine und gemeinnützige Stiftungen als juristische Per-
23 Damit liegt das türkische Verbraucherschutzgesetz auf der gleichen Linie wie das österreichische KSchG (§ 1 Abs 1 lit 2), das griechische Verbraucherschutzgesetz (Art 1 Abs 4a), das Spanische Allgemeine Gesetz zum Schutz der Verbraucher und Benutzer (Art 1 Abs 2) und das Belgische Gesetz über die Handelspraktiken, die Information und den Schutz Verbraucher (Art 1 Nr 7), die alle auch den juristischen Personen Schutz gewähren, wobei sein Vorbild Schweiz, die durch das positiv formulierte Merkmal des «persönlichen oder familiären Gebrauchs» in Art 120 Schweizer IPRG allein auf natürliche Personen abstellt; ausführlich zur Rechtslage in Deutschland: Pfeiffer, Der Verbrau-
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Umsetzung der Pauschalreise-RL in das Türkische Rechtssystem
sonen durch Art 6 TKHK geschützt werden, werden die juristischen Personen, die Kaufmannseigenschaft24 besitzen, aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes ausgeschlossen.25 Nach Rsp und hL26 können diese nicht Verbraucher sein.27 Zwar nennt die Pauschalreiseregelung des TKHK wie die Pauschalreise-RL den Begriff des Verbrauchers, doch besteht zwischen beiden Begriffen ein Widerspruch, weil der Verbraucherbegriff der Pauschalreise-RL nicht das in anderen Verbraucherschutz-RL vorausgesetzte Merkmal des Vertragsschlusses außerhalb einer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit umfasst und sich damit auf jeden Kunden des Reiseveranstalters erstreckt. Art 6/C TKHK sieht keine Ausnahme von der einheitlichen Definition des Verbraucherbegriffes vor und der Wortlaut des Art 3/e TKHK hindert die Ausdehnung des Anwendungsbereichs des Gesetzes auf Geschäfts- oder Konferenzreisen, da bei diesen Reisen der betriebliche Zweck als Hauptleistung im Vordergrund steht.28 Dass als Verbraucher auch gilt, wer nur den Vertrag schließt ohne selbst die Reise zu konsumieren, ergibt sich aus der Definition des Art 3/e TKHK. Die weite Fassung der Verbraucherdefinition des TKHK ermöglicht es, den Schutz auf die Begünstigten, Familienangehörige und Erwerber zu erstrecken. Verbraucher ist nämlich nicht nur die Person, die die Ware oder Dienstleistung er-
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cherbegriff als zentrales Merkmal im europäischen Privatrecht, in Schulte-Nölke/ Schulze (Hg), Europäische Rechtsangleichung und nationale Privatrechte IX (1999) 38 ff; ders, in Soergel IIa13 (2002) § 13 BGB Rz 46 ff; Micklitz MKBGB IV4 (2001) § 13 BGB Rz 10 ff. Kaufmann ist gem Art 14 TTK, wer ein Handelsgewerbe ganz oder zum Teil im eigenen Namen betreibt. Gemäß Art 18 TTK besitzen alle Handelsgesellschaften Kaufmanneigenschaft. Wenn eine natürliche Person Kaufmanneigenschaft besitzt, so sind diejenige Geschäfte, die einen objektiven Bezug zum Gewerbebetrieb aufweisen, grundsätzlich nicht als Verbrauchergeschäft anzusehen (TTK Art 21). AA Aydın, Die Berücksichtigung des Verbraucherschutzes bei Allgemeinen Geschäftsbedingungen im deutschen und türkischen Recht (2007) 58, 65. Entscheidung der 13. Zivilkammer des Kassationsgerichtshofes (Yargıtay) 13 HD 29.01.2003, E 2001/9279, K 2003/735; 05.07.2001, E 2001/1782, K 2001/5240; Entscheidung der 11. Zivilkammer (11 HD) 17.12.2001, E 2001/9065, K 2001/9636. Zevkliler/ Aydog˘du 8; Atamer, Yes¸im, Verbrauchsgüterkauf in der Türkei, ZEuP 2005, 567 (573); Letzgenannte Verfasserin befürwortet jedoch eine begrenzte analoge Anwendung der Inhaltskontrolle auch bei den Verträgen zwischen zwei Unternehmen. Atamer, Sözles¸me Özgürlüg˘ ünün Sınırlandırılması Çerçevesinde Genel I˙s¸lem S¸artlarının Denetlenmesi (GI˙S¸)2 (2001) 56 f. Da die Handelsgesellschaften keine Privatsphäre haben, gelten alle ihre Geschäfte als im Betrieb ihres Handelsgewerbes vorgenommen. Für die juristischen Personen, die Kaufmanneigenschaft besitzen, besteht keine Möglichkeit sich auf die widerlegbare Vermutung des Art 21 TTK zu berufen; näheres dazu Güney, GPR 2006, 64. AM Zevkliler/Aydog˘ du 200.
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wirbt, sondern auch diejenige, die die Ware nutzt oder verbraucht.29 Somit unterliegen alle Mitreisenden dem Schutz des Gesetzes. 14.4.4 Pauschalreisevertrag Der Pauschalreisevertrag kommt durch die Vereinbarung zwischen Reiseveranstalter und Verbraucher zu Stande. Gemäß Art 6/C TKHK und Art 5 Pauschalreise-DVO muss der Vertrag schriftlich abgefasst werden. Der Reiseveranstalter ist dazu verpflichtet, dem Verbraucher eine Abschrift des Reisevertrages auszuhändigen. Das Gesetz sieht für den Pauschalreisevertrag eine qualifizierte Schriftform vor, wonach der Vertrag bestimmte Angaben enthalten muss (wie zB Bestimmungsorte und soweit mehrere Aufenthalte vorgesehen sind, die einzelnen Zeiträume und deren Termine, Name und Anschrift des Veranstalters, Preis der Pauschalreise inkl Steuern, Zinsen, erster Rate etc).30 Dies ist eine Ausnahme von dem sonst das türkische Recht durchdringenden Prinzip der Formfreiheit (Art 11 Abs 1 BK). Das Schriftformerfordernis soll den Schutz des Verbrauchers gewährleisten. Bezüglich der Schriftform besteht in der türkischen Literatur31 Zweifel darüber, ob sie eine Formvorschrift im engeren Sinne (Gültigkeitsvorschrift) oder eine Formvorschrift im weiteren Sinne (Beweisvorschrift)32 darstellt. 14.4.5 Prospekte und Informationspflichten Art 12 Pauschalreise-DVO verlangt entsprechend der Pauschalreise-RL, dass in dem Prospekt für den Verbraucher deutlich lesbare, klare und genaue Mindestangaben enthalten sein müssen. Diese Angaben decken sich weitgehend 29 GlM Aslan, 567. 30 Diese Angaben sind weitgehend identisch mit den Angaben im Anhang in Art 4 Pauschalreise-RL. 31 Kritik von Serozan, Rona, Tüketiciyi Koruma Yasasının Sözles¸me Hukuku Alanındaki Düzenlemenın Eles¸tirisi, Yasa Hukuk Içtihat ve Mevzuat Dergisi (1996) 583. Widersprüchlich bei Aslan. Der Verfasser, betont zunächst den zwingenden Charakter dieser Schriftform und vertritt, dass die Nichteinhaltung der Schriftform zur Ungültigkeit des Vertrages führe. Andererseits sieht er für den Verbraucher darin eine Gefahr, dass dieser im Falle einer Ungültigkeit des Vertrages seine Rechte aus dem Verbrauchergesetz nicht in Anspruch nehmen kann und verlangt in bestimmten Fällen, dass der Vertrag gültig wird. Aslan, 575; Akipek, S¸ebnem, Tüketici Kredisi (1999) 172 f. Nach Aydog˘ du, hat diese Formvorschrift keine konstitutive Bedeutung. Sie ist vielmehr als Beweisforschrift anzusehen, Aydog˘ du, Murat, 4077 sayılı Tüketicinin Korunması Hakkında Kanun’a göre Kapıdan Satıs¸lar (1998) 92. 32 Die Bestimmungen, die eine Beweisform vorschreiben, unterwerfen die Vertragerklärungen als solche keiner besonderen Form und betreffen nicht deren Gültigkeit. Eren, Fikret, Borçlar Hukuku Genel Hükömler, 8. Bası (2008) 243 f.
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mit den Angaben des Art 3 Pauschalreise-RL.33 Unklare, ungenaue, und undeutlich lesbare Angaben gehen zu Lasten des Reiseveranstalters (Art 6 Abs 4 DVO über missbräuchliche Klauseln). Die Prospektangaben sind für den Reiseveranstalter bindend, sofern nicht ein Änderungsvorbehalt zwischen den Vertragsparteien besteht oder die Änderung später zwischen den Vertragsparteien vereinbart worden ist.34 Die Bindung an die Prospektangaben besteht aber nur dann, wenn der Verbraucher auf Grund des Prospektes gebucht hat. Als Werbung darf der Prospekt nicht unlauter oder irreführend sein. Art 12 Pauschalreise-DVO enthält zwar keine Regelung über das Verbot der irreführenden Angaben, doch die Regelung in Art 16 Abs 1 und 2 TKHK verbietet die Irreführung allgemein für alle Werbung und Ausschreibungen. Ist die Leistungsbeschreibung falsch, kann es zu einem Mangel gem Art 4 TKHK kommen. Der türkische Gesetzgeber subsumiert die Informationspflichten auch unter dem Art 12 Abs 2 Pauschalreise-DVO. Danach ist der Reiseveranstalter verpflichtet, den Verbraucher vor Vertragsabschluss schriftlich zu informieren. Diese Informationspflichten sind weitgehend identisch mit den Angaben des Art 4 Abs 1 Sublit i-iv Pauschalreise-RL. Die Sanktionen gegen eine Verletzung der Informationspflichten durch den Reiseveranstalter richten sich nach den allgemeinen Bestimmungen. Die Informationspflichten sind vorvertragliche Pflichten. Eine falsche oder unterlassene Information bedeutet eine Pflichtverletzung (culpa in contrahendo)35 und begründet die Haftung des Reiseveranstalters.36 14.4.6 Preisänderungen und Rücktritt des Verbrauchers Entsprechend Art 4 Abs 4 Pauschalreise-RL untersagt Art 6 Abs 1 Pauschalreise-DVO Vereinbarungen, die es dem Reiseveranstalter erlauben, nach Vertragsabschluss den vereinbarten Preis zu erhöhen. Eine erhebliche Änderung ist nicht vorausgesetzt. Preiserhöhungen vor dem vereinbarten Abreisetermin sind nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig. Nur eine Änderung von
33 Der Prospekt muss folgenden Angaben enthalten: a) Gesamtpreis inkl Steuern und Zahlungsmodalitäten, b) Bestimmungsort und Transportmittel, c) Hauptmerkmale der Unterbringung, d) Mahlzeiten und Reiseroute, e) Pauschalreise Programm, f) beim internationalen Reisen allgemeine Angaben über Pass- und Visabestimmungen, g) Hinweis darauf, ob für Zustandekommen der Pauschalreise eine Mindestteilnehmerzahl erforderlich ist, und die Angabe, bis wann dem Verbraucher spätestens mitgeteilt wird, ob die Reise storniert wird. 34 Zevkliler/Aydog˘ du 208; Aslan 582. 35 Vorvertragliche Pflichten sind im türkischen Recht nicht ausdrücklich geregelt; sie werden jedoch in Rsp und Lehre einhellig akzeptiert. 36 Aslan 583.
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Abgaben, die die Beförderungskosten betreffen (wie zB Landegebühren, Einund Ausschiffungsgebühren in Häfen, Flughafengebühren, Umsatzsteuer), sowie der für die betreffende Reiseveranstaltung massgeblichen Wechselkurse können den Veranstalter zu einer Preisänderung berechtigen. Die türkische Regelung enthält abweichend von der RL keine bestimmte Frist, während der der im Vertrag genannte Preis nicht mehr erhöht werden darf. So kann der Reiseveranstalter bis zum Abreisetermin den Preis erhöhen.37 Der Reiseveranstalter hat den Verbraucher über die Änderungen unverzüglich zu verständigen. Ist der Veranstalter zur Preisänderung berechtigt, so kann der Verbraucher gem Art 6 Abs 2 Pauschalreise-DVO bei Preisänderungen vor der Abreise vom Vertrag zurücktreten, ohne zur Zahlung einer Stornogebühr oder Vertragsstrafe verpflichtet zu sein. Erklärt der Verbraucher wegen Änderung des Preises den Rücktritt38 vom Vertrag, so führt dies grundsätzlich zu dessen Aufhebung. Art 6 Abs 3 Pauschalreise-DVO räumt dem Verbraucher ein Wahlrecht ein, statt der Rückabwicklung des Vertrages, die Erfüllung des Reiseveranstaltungsvertrages durch die Teilnahme an einer gleichwertigen anderen Reiseveranstaltung zu verlangen, wenn der Reiseveranstalter diese Leistung erbringen kann.39 In diesem Fall wird der Vertrag nicht durch Rücktritt aufgelöst, sondern unter den Voraussetzungen des Art 6 Pauschalreise-DVO inhaltlich geändert. Übt er sein Rücktritsrecht nicht aus, so wird die Preisänderung mit Ablauf der nach den Umständen angemessenen Überlegungsfrist wirksam. 14.4.7 Vertragsübertragung Nach Art 7 Pauschalreise-DVO kann der Verbraucher, der gehindert ist, die Reiseveranstaltung anzutreten, mindestens sieben Tage vor der Abreise das Vertragsverhältnis ohne Zustimmung des Veranstalters auf einen Dritten übertragen, sofern der Dritte die Bedingungen für die Teilnahme an der Reise erfüllt und neben dem Übertragenden für das noch unberrichtigte Entgelt, sowie 37 Aslan 589. 38 Hier wird dem Verbraucher ein Rücktrittsrecht eingeräumt jedoch kein Widerrufsrecht; (aA Zevkliler/Aydog˘ du 212. Das Widerrufsrecht des TKHK unterscheidet sich von den allgemeinen Rechtsbehelfen des Obligationengesetzbuches, die ebenfalls die Vertragsaufhebung zur Folge haben, dadurch, dass es weder einen Mangel des Vertrags (Nichtigkeit, Übervorteilung, Irrtum, Willensmangel) noch eine spätere Vertragsverletzung (Unmöglichkeit, Verzug) voraussetzt. Grob formuliert genügt es zu seiner Ausübung, dass der Widerrufsberechtigte ohne Angabe von Gründen das Geschäft einfach nicht mehr will; Akdag˘ -Güney, Umsetzung der Haustürwiderrufsrichtlinie 85/77/EWG in das türkische Recht, GPR 2008, 24 f. 39 In Art 6 DVO ist nur von einer gleichwertigen Reiseveranstaltung die Rede. Es ist unklar, ob der Verbraucher eine geringerwertige Reiseveranstaltung verlangen darf. Nach einer zwecksmäßigen Interpretation dieser Regelung sollte dies möglich sein.
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für allfällige Mehrkosten infolge der Übertragung solidarisch haftet. Der türkische Gesetzgeber macht den Eintritt des Ersatzreisenden nicht von einer Verhinderung des Verbrauchers abhängig. Es genügt daher, wenn das Interesse des Verbrauchers an einer Übertragung des Vertragsverhältnisses überwiegt.40 Der Reiseveranstalter hat gem Art 7 Pauschalreise-DVO gegen den Dritten und den Verbraucher als Gesamtschuldner Anspruch auf den Reisepreis sowie auf die durch den Eintritt des Dritten entstehenden Mehrkosten. 14.4.8 Rücktritt des Reiseveranstalters Storniert der Reiseveranstalter die Reise vor dem vereinbarten Abreisetag, steht dem Verbraucher Anspruch auf Schadenersatz zu. Neben dem Anspruch auf Schadenersatz kann der Verbraucher die Rückerstattung aller geleisteten Zahlungen verlangen. Die Pauschalreise-DVO sieht in Art 8 zwei Gründe für Rücktrittsvorbehalte von Reiseveranstalters, nämlich höhere Gewalt (mücbir sebep)41 und das Nichterreichen einer Mindestteilnehmerzahl. Wenn die Reise infolge bei Vertragsabschluss nicht voraussehbarer höherer Gewalt erschwert, gefährdert oder beeinträchtigt wird, kann der Reiseveranstalter oder Verbraucher die Reise stornieren. Gem Art 5/f Pauschalreise-DVO können die Parteien im Pauschalreisevertrag auch andere Fälle als «höhere Gewalt» beschreiben und Rechte und Pflichte der Parteien bestimmen. Wenn der Veranstalter die Reise absagt, weil die Anzahl der Personen, die die Reiseveranstaltung gebucht haben, nicht die geforderte Mindestteilnehmerzahl erreicht, trifft ihn kein Verschulden. Eine Stornierung wegen Teilnehmerzahl muss im Reisevertrag ausdrücklich geregelt werden. In diesem Fall steht dem Verbraucher kein Anspruch auf Schadenersatz zu. Aus dem Wortlaut des Art 8 Pauschalreise-DVO geht zwar nicht ausdrücklich hervor, ob der Verbraucher in dem Fall die Teilnahme an eine Ersatzreise verlangen darf, doch die richtlinienkonforme Auslegung42 der Regelung führt zum gleichen Ergebnis wie in Art 3 (6) Pauschalreise-RL. Gleich aus welchem Grund, ausgenommen Verschulden des Verbrauchers, storniert der Reiseveranstalter die Reise, hat der Verbraucher Anspruch auf Ersatzreise, wenn der Vernastalter in der Lage ist, ihm eine solche anzubieten. 40 Aslan 584. 41 Höhere Gewalt ist ein von außen kommendes, keinen betrieblichen Zusammenhang aufweisendes, auch durch die äußerste, nach Lage der Dinge vom Betroffenen vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht abwendbares Ereignis. Von Tuhr/Escher, ATOR II3 (1974) 121; Giovanoli, Silvio, Zufall und höhere Gewalt im schweizerischen Rechte, in Zeitschrift für Schweizerisches Recht, 54/1935, 7; Tekinay, Selahattin Sulhi, Borçlar Hukuku4 (1979) 810 ff. 42 Fn 52.
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14.4.9 Nichterfüllung oder nicht gehörige Erfüllung Nach Reisebeginn ist der Veranstalter verpflichtet, bei nicht Erfüllung oder nicht gehöriger Erfüllung eines Teils seiner vertraglich vereinbarten Verpflichtungen angemessene Vorkehrungen zu treffen, damit die Pauschalreise weiter durchgeführt werden kann und hat gegebenenfalls eine Entschädigung in Höhe der Differenz zwischen der vertraglich vorgesehenen und der tatsächlich erbrachten Leistungen zu zahlen (Art 9 Abs 2 Pauschalreise-DVO). Können Ersatzleistungen nicht erbracht werden oder können sie vom Verbraucher aus triftigen Gründen nicht akzeptiert werden, muss der Reiseveranstalter für eine gleichwertige, kostenfreie Rückbeförderung zum Abreiseort sorgen oder den Verbraucher entschädigen (Art 9 Abs 3 Pauschalreise-DVO) Nach Art 9 Abs 1 Pauschalreise-DVO entfällt jede Haftung wegen Nichterfüllung oder mangelhafter Erfüllung des Vertrages, wenn die festgestellten Versäumnisse bei der Erfüllung des Vertrages dem Verbraucher zuzurechnen sind oder wenn sie auf höhere Gewalt zurückzuführen sind.43 14.4.10 Haftungsbeschränkung Art 5 Absatz 2 Pauschalreise-RL schreibt im letzten Unterabsatz vor: «Bei Schäden, die nicht Körperschäden sind und auf der Nichterfüllung oder einer mangelhaften Erfüllung der nach dem Vertrag geschuldeten Leistungen beruhen, können die Mitgliedstaaten zulassen, dass die Entschädigung vertraglich eingeschränkt wird. Diese Einschränkung darf nicht unangemessen sein.» Der türkische Gesetzgeber übernimmt diese Bestimmung nicht. Nach Art 5/e Pauschalreise-DVO soll der Pauschalreisevertrag eine Regelung enthalten, die die Höhe der Entschädigung, der vom Reiseveranstalter im Falle der Nichterfüllung oder nicht gehörige Erfüllung bezahlt wird, festlegt. 14.4.11 Rügepflicht des Verbrauchers Art 11 Pauschalreise-DVO statuiert eine Rügepflicht des Verbrauchers, also die Obliegenheit, jeden Mangel der Erfüllung des Vertrages innerhalb von 30 Tagen einem Repräsentanten des Veranstalters mitzuteilen. Sie trifft den Verbraucher nur dann, wenn ihm ein Repräsentant des Reiseveranstalters bekannt gegeben wurde. Unterlässt der Verbraucher die gebotene Rüge, so ist dies für ihn folgenlos.
43 Zevkliler/Aydog˘ du 214 f.
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14.4.12 Insolvenzschutz Weder das TKHK noch die Pauschalreise-DVO enthalten eine Regelung über den Insolvenzschutz. Der Insolvenzschutz der Pauschalreise-RL wurde mit etwas Verspätung im Jahre 2007 in das Reiseveranstaltergesetz aufgenommen. Danach müssen die Reiseveranstalter für Pauschalreisen, die in der Türkei verkauft werden, eine Pflichtversicherung abschließen (Art 12 Reiseveranstaltergesetz). Der Reiseveranstalter muss für den Fall der Zahlungsunfähigkeit oder des Konkurses seine Pflichten gegenüber dem Verbraucher versichern. Diese Versicherung umfasst nicht nur die Erstattung bezahlter Beträge sondern auch die Rückreise des Verbrauchers. 14.4.13 Gerichtsstand Bei Verletzung der Vorschriften des Verbraucherschutzgesetzes kann nach Art 23 Abs 2 TKHK Klage erhoben werden. Zur Klageerhebung befugt sind nach diesem Artikel Verbraucher/Tüketici, Verbraucherorganisationen/Tüketici örgütleri44 und das Industrie- und Handelsministerium/sanayi ve Ticaret. Art 23 Abs 2 TKHK sieht für Verbraucher, die Verstöße gegen das Gesetz geltend machen, eine Befreiung von Verfahrenkosten45 vor. Neben dem speziellen Verbrauchergerichten46 sieht das TKHK in Art 22 die Gründung von Schiedsstellen/Tüketici Sorunları Hakem Heyeti vor. Diese Schiedsstellen entscheiden Streitigkeiten aus Verträgen zwischen Verbrauchern und ihren Vertragspartnern. Sinn dieser Schiedsstellen ist es, den Verbrauchern auch bei einem geringen Streitwert, der den Verbraucher zur Einleitung eines gewöhnlichen Verfahrens niemals veranlassen würde, Rechtsschutz zu gewähren. Um einen wirksamen Rechtschutz zu gewährleisten, wird in Art 23 Abs 3 TKHK bei Verbraucherklagen der gewöhnliche Wohnsitz des Verbrauchers als Gerichtsstand bestimmt.
44 Verbraucherorganisationen sind gem Art 3/p TKHK die Vereine und Stiftungen, die zu verbraucherschutzrechtlichen Zwecken gegründet sind und deren Dachverbände. Güney, GPR 2006, 68. 45 So auch die Entscheidung der 13. Zivilkammer des Kassationsgerichtshofes (Yargıtay), 13. HD 27.04.1998, E 2479, K 3578. 46 Art 23 TKHK sieht die Gründung von spezialisierten Verbrauchergerichten vor. In der Türkei wurden in acht Städten 22 spezialisierte Verbrauchergerichte geschaffen. In den anderen Städten müssen die Zivilgerichte erster Instanz die Aufgabe wahrnehmen, Verbraucherstreitigkeiten zu lösen; Güney, GPR 2006, 68.
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Schlussfolgerung
14.5 Schlussfolgerung Das Verbraucherrecht hat in der Türkei viel schneller begonnen Wurzeln zu schlagen und gar Früchte zu tragen, als dies gemeinhin erwartet wurde.47 Es zeigt sich durchaus, dass der türkische Gesetzgeber die Umsetzung der Verbraucherschutzrichtlinien nicht nur als bloße Aufgabe für einen EU-Beitritt ansieht, sondern ihn zum Anlass nimmt, diesen relativ jungen Bereich des Privatrechts weiterzuentwickeln.48 Bei der Rechtsangleichung orientiert sich der türkische Gesetzgeber eng am Wortlaut und am Konzept der europäischen Rechtsakte. Er setzt aber dabei seine alte durch das schweizerische Recht beeinflusste49 Kodifikationstradition fort und vermeidet detaillierte und abstrakte Ausformulierung des Gesetzes. Durch eine bewusste Unvollständigkeit der gesetzlichen Regelung, die oft nur einen äußeren Rahmen setzt, gestattet er einen Ermessensspielraum, den der Richter nach den Maßstäben des Angemessenen, Vernünftigen und Billigen auszufüllen hat.50 Charakteristisch für die türkischen Gesetze ist es weiter, dass sie in besonders starkem Maße von Generalklauseln Gebrauch machen, die erst der Richter durch Aufstellung von Regeln, Leitsätzen und Standard zu konkretisieren hat.51 Im Bezug auf die EU-Rechtskonformität der Pauschalreiseregelungen können folgende Bewertungen gemacht werden: Der türkische Umsetzungsakt zeichnet sich durch eine zum Teil enge Anlehnung an den Wortlaut der RL aus. Daher entsprechen die türkische Normen bis auf die Insolvenzregelung den Art 1 bis 8 Pauschalreise-RL in Systematik und Regelungsgehalt in weiten Teilen. Die Rechtsterminologie wird lediglich an den türkischen Gesetzessprachgebrauch angepasst. Inhaltlich legt der türkische Gesetzgeber bei der Umsetzung einen minimalistischen Ansatz zugrunde. Einige Bestimmungen bleiben zwar hinter der Anforderungen der Richtlinie zurück. Es wird aber 47 An den Zahlen der Verfahren, die bei den Verbrauchergerichten eingehen, und den Kassationsgerichtsentscheidungen ist abzulesen, dass das Verbraucherschutzgesetz im türkischen Recht bereits eine bedeutende Rolle spielt. 48 An der Spitze der Begründung des Gesetzesentwurfes steht als Ziel des Verbraucherschutzgesetzes (und des ihm nachfolgenden Änderungsgesetzes) die Realisierung der sich aus der Verfassung von 1982 für den türkischen Gesetzgeber ergebenden Verpflichtungen. Siehe Begründung des Änderungsgesetzes Nr 4822 06.03.2003, RG Nr 25048, 14.03.2003. 49 Schyneder, Bernhard, Kommentar zum schweizerischen Zivilgesetzbuch, EinleitungPersonenrecht (1998) Allg Einleitung Art 1–10 Anm 136 ff. 50 Zevkliler, Aydın, Medeni Hukuk2 (1995) 85 ff. 51 Die langjährigen Erfahrungen im zivilrechtlichen Bereich zeigen, dass der Vorgang, in dem der Richter und die Rechtsprechung die Tragweite einer offen formulierten geräumig gefassten Gesetzesnorm etappenweise entfalten, keine besondere Bedrohung der Rechtssicherheit darstellt.
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Umsetzung der Pauschalreise-RL in das Türkische Rechtssystem
für die türkischen Gerichte keine schwere Aufgabe sein, mit Hilfe einer richtlinienkonformen52 Auslegung dieses Problem zu bewältigen.
52 Im Grunde besteht weder eine völkerrechtliche Bindungswirkung noch gibt es eine Vorschrift, die dem türkischen Richter generell eine europarechtskonforme Auslegung von Gesetzen vorschreiben würde. Eine Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung für türkische Gerichte kann auch nicht auf Art 10 EGV gestützt werden. Die methodische Rechtfertigung der europarechtskonformen Auslegung des autonom nachvollzogenen Gemeinschaftsrechts liegt jedoch im Gebot teleologischer und historischer Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers. Der türkische Gesetzgeber hat mit der bewussten Umsetzung der RL das übergeordnete Ziel einer Rechtsangleichung anerkannt. Die türkische Rechtsordnung wird der europäischen angeglichen. Das bewusst nach dem Vorbild der RL gestaltete Gesetz soll daher europakonform ausgelegt werden. GIM. Atamer, Verbrauchsgüterkauf, 82.
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Autorenverzeichnis Necla Akdag-Güney Ass.-Professorin an der Juristischen Fakultät der Universität Yeditepe/Istanbul. Prof. Dr. Susanne Augenhofer, LL. M., LL. M. Juniorprofessorin für Bürgerliches Recht und Europäisches Privatrecht mit besonderer Berücksichtigung des Verbraucher- und Wettbewerbsrechts an der Humboldt Universität zu Berlin. Prof. Dr. Ernst Führich Professor für Bürgerliches Recht, insb Reiserecht, an der Hochschule Kempten und Leiter des Competenz Centrums Reiserecht CCR an der Hochschule Kempten. Ass. Dr. Christoph Grumböck, LL. M. Universitätsassistent an der Johannes Kepler Universität Linz. Univ.-Prof. Dr. Brigitta Jud Universitätsprofessorin am Institut für Zivilrecht der Universität Wien. Univ.-Ass. Dr. Stephan Keiler, LL. M. Universitätsassistent am Institut für Europarecht und Internationales Recht (IER) der Wirtschaftsuniversität Wien (WU). Univ.-Prof. Dr. Georg Kodek, LL. M., Hofrat des Obersten Gerichtshofs Universitätsprofessor am Institut für Zivil- und Unternehmensrecht der Wirtschaftsuniversität Wien (WU). Univ.-Prof. Dr. Brigitta Lurger, LL. M. Universitätsprofessorin am Institut für Zivilrecht, Ausländisches und Internationales Privatrecht der Universität Graz.
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Autorenverzeichnis
Rolf Metz Rechtsanwalt Brissago, Schweiz Ass.-Prof. Dr. Gerhard Saria Assistenzprofessor am Institut für Unternehmens- und Wirtschaftsrecht der Universität Wien und Fachbereichsleiter des Fachbereichs Recht an der Fachhochschule Wr. Neustadt. Prof. Dr. Ronald Schmid Rechtsanwalt in Frankfurt/M, Honorar-Professor an den Technischen Universitäten Darmstadt und Dresden sowie Schlichter der Reiseschiedsstelle. Prof. Dr. Ansgar Staudinger Inhaber eines Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Privat-, Verfahrens- und Wirtschaftsrecht sowie Direktor der Forschungsstelle für Reiserecht an der Universität Bielefeld. Prof. Dr. Klaus Tonner Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Europäisches Recht an der Juristischen Fakultät der Universität Rostock und Richter am Oberlandesgericht Rostock. Dr. Hans-Josef Vogel Lehrbeauftragter an der Internationalen Fachhochschule Bad Honnef; Rechtsanwalt in Köln; Vorsitzender des Vereins zur Förderung der alternativen Streitschlichtung im Reiserecht, der die Reiseschiedsstelle <www.reiseschiedsstelle.de> betreibt.
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