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Requiem für Habsburg Erzählungen Piper
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mi ro sl av krl e ž a
Requiem für Habsburg Erzählungen Piper
das buch Weder vordergründiges Zeitkolorit noch folkloristische Draperien bieten die hier versammelten Erzählungen des jugoslawischen Schriftstellers Miroslav Krleža. Die früheste Erzählung stammt aus dem Jahr 1917, die jüngste ist von 1948. Als erbitterter Gegner des ungarischen Feudalismus und der Donaumonarchie bezieht der k. und k. Frontsoldat Krleža nicht bloß Stellung von der südslawischen Situation aus. Der Zusammenbruch der Österreich-ungarischen Monarchie wird für Krleža zu einem Modellfall des 20. Jahrhunderts. Von da aus sieht und erfährt er Europa. Seine Gestalten sind Schattenfiguren, Figuren im Räderwerk der Geschichte. Die zentrale Thematik ist immer wieder die Unausweichlichkeit des Lebens vor dem Tode. Krleža versetzt seine Figuren in einen Ausnahmezustand, in ein – metaphorisch genommenes – Kranksein. Das ist ein luzides Wachsein, in dem seismographisch die Erschütterung der Well registriert werden. Da ist es für Krleža eine langweilige Streiterei, ob Literatur tendenziös zu sein hat oder nicht. In die Zeitläufe läßt sich nicht unmittelbar verändernd eingreifen. Hier weist sich ein europäischer Erzähler von Rang aus, der in der Leidenschaftlichkeit seiner Darstellung, im Exemplarisch-Modernen seiner Gestalten ein Stück Weltliteratur präsentiert.
der autor miroslav krleža ist 1893 in Zagreb geboren. Wegmarken seiner Erziehung und Ausbildung sind das humanistische Gymnasium, die Kadettenschule von Petschoni und die Militärakademie in Budapest, wo die Konfrontation mit der k.u.k. Monarchie zu einer bedeutsamen Wende seines Lebens führt: Er verläßt die Akademie und kämpft als kroatischer Patriot für Serbien im Balkankrieg. Als Spion verdächtigt, wird er nach Ungarn zurückgeschickt. Den ersten Weltkrieg verbringt er als österreichischer Soldat an der galizischen Front und in Kroatien. Die Erfahrungen jener Zeit prägen sich Krleža unauslöschlich ein, werden zur Grundthematik seines Werkes: der Zerfall der österreichischen Doppelmonarchie, die scharfe Kritik an der etablierten Gesellschaft und den sozialen Verhältnissen in Kroatien, die leidenschaftliche Ablehnung von Krieg und Unterdrückung des einzelnen durch den Terror eines Machtapparats, wie er es etwa eindrucksvoll in seinem großen Roman Bankett in Blitwien dargestellt hat. Krležas umfangreiches Werk umfaßt alle literarischen Gattungen; er begann mit expressionistischer Lyrik und schrieb während des Krieges aggressiv pazifistische Erzählungen, denen in den zwanziger und dreißiger Jahren Romane und Theaterstücke folgten.
Die Bücher der Neunzehn
m iro sl av krl e ž a
Requiem für Habsburg Erzählungen
Piper
am sterbebett
E
s war eine milde Herbstnacht. In die Stille hinein hörte man durch das offene Fenster den Wind in den Zweigen, und in regelmäßigen Abständen meldete sich eine Grille. Der Herr stand rauchend am Fenster und schaute in die sternenklare Dunkelheit. Die Dame, an den Fensterflügel gelehnt, redete leise mit weinerlicher Stimme von einem »Gefühlsfetzchen«, das ihr noch als das »Letzte« geblieben sei, aber dann, in einer Nacht, sei auch dieses »letzte Fetzchen« zerrissen worden. Sie sprach von der Ehe als einem skandalösen gegenseitigen Zermürben durch kleinliches Fragen, ob der Milchkaffee wäßrig oder nicht wäßrig sei; ob die Milch mit Rahm oder ohne Rahm sei, und wer wohl eigentlich derjenige sei, der Tag für Tag den Rahm von der Milch abschöpfe; ob man sonntags nachmittags Spazierengehen werde oder nicht Spazierengehen werde, und ob das Dienstmädchen eine zu laute Grobheit gehört oder nicht gehört habe. Kirchenglocken von allen Kirchen und Langweile, Kopfschmerzen und kalte Umschläge. Aber an all das gab es einst ein irgendwo angeheftetes »Gefühlsfetzchen«, jedoch auch dieses zerriß im Lauf einer Nacht, und übrig blieb nichts mehr. Und wenn man für Augenblicke das alles vergaß, war es mehr aus Mitleid und Schamgefühl als aus rechtem Verzeihen. Mit dem Gefühl, nicht entschlossen genug zu sein, um sich an die Dame zu wenden, paffte der Herr eine Rauchwolke nach der anderen. Denn dort, hinter seinem Rücken, am gegenüberliegenden Ende des Zimmers ist eine geschlosse9
ne weiße Flügeltür, und dahinter windet sich auf einem Sterbebett der Ehegatte dieser Dame, den der Arzt schon heute nachmittag aufgegeben hatte. Was hinter dieser weißen Tür noch vor sich geht, ist kein Kampf mehr, sondern es sind die letzten Zuckungen eines fühllosen Organismus. Das sind nur noch Formalitäten. Die bleiche, ehrwürdige Krankenschwester in Schwarz, die mit ihrem Rosenkranz so geheimnisvoll um den Kranken herumrasselt, die grün abgeschirmte Lampe, die Arzneien auf dem Nachtkästchen und der berauschende Chloroformgeruch – alles nur noch Formalitäten. Hinter dieser weißen Tür ist alles schon erledigt. Dieser stumpfsinnige und monotone Gedanke, daß hinter dieser weißen Tür alles erledigt sei, der sich immer wieder hartnäckig aufdrängte, nahm dem Herrn allen Mut, und so schaute er weiter in die Nacht, warf seine Zigarette fort und zündete sich eine neue an. »Du schweigst?« »Ja! Ich schweige. Es gibt Augenblicke, in denen uns tatsächlich nur das Schweigen bleibt.« »Sonderbar! Ganz außergewöhnlich sonderbar. Eigentlich unbegreiflich.« »Was scheint dir so außergewöhnlich unbegreiflich?« »Deine Vorliebe, am heutigen Abend zu schweigen. Ununterbrochen, ein volles Jahr hast du unseren Fall besprochen und ganze Bibliotheken könnte man mit deinen Meditationen über unseren Unglücksfall füllen. Aber heute abend, wo endlich alles – Gott sei Lob und Dank – sein Ende nimmt, meinst du, daß nichts als Schweigen übrigbleibe. Nun, eben das ist es, bitte schön, 10
was mir außergewöhnlich und sonderbar unbegreiflich ist. Voilà!« »Du bist, verzeih, aber ich muß es sagen, heute abend vielleicht doch um eine Nuance zu laut.« »Jawohl, ich bin zu laut, doch der Mensch hat das Recht, in gewissen Momenten laut zu sein! In dieser, in unserer Lage, das weißt du wohl, bin ich heute abend nicht zum ersten Mal laut. Mein Glück wär’s, wenn ich von allem Anfang an lauter gewesen wäre!« Pause. »Alles ging schon in jener Nacht im Weingarten zu Ende!« »In welcher Nacht?« »In welcher Nacht? Noch jetzt könnt’ ich schreien, wenn ich an jene Nacht im Weingarten denke! Aber du fragst noch, in welcher Nacht? Ich versteh einfach euch Männer nicht! In jener Nacht zerriß das letzte Fetzchen von jenem gewissen Etwas, das noch zwischen mir und dem Verstorbenen bestand! Seither weinte ich alles weg. Für mich ist es jetzt kein Ereignis mehr!« Der Herr wußte nicht, warum und weshalb, aber er fühlte unwiderstehlich, falls sie nur noch einmal dieses unglückselige »Gefühlsfetzchen« erwähnen sollte, daß er in große Wut geraten und mit der Hand so kräftig gegen das Fensterglas schlagen werde, daß es seine Adern bis an die Knochen zerschnitten hätte. Heute abend reizte ihn alles: ihre Art und Weise, wie sie über dieses Kapitel ihrer Ehe sprach, als wäre es bereits abgeschlossen, und auch, daß sie diesen unglücklichen Kranken ganz kaltblütig »Verstorbener« benannte, obwohl er noch gar nicht zur Ruhe gekommen war, denn man konnte durch 11
die geschlossene weiße Tür bis hierher hören, wie der fieberhafte Atem eines tödlich Verwundeten, im Sterben Liegenden, in immer kürzeren Intervallen verröchelte. Ungestüm stieß der Herr zwei, drei Rauchwolken aus und begann, aus einem tief verwurzelten Bedürfnis zum Widerspruch, der Dame entgegenzuhalten, daß in jener Nacht im Weingarten überhaupt nichts vorgefallen sei. »Ein für allemal: In jener Nacht im Weingarten ereignete sich gar nichts und außerdem, falls sich auch etwas ereignete und dein Mann in unzurechnungsfähigem Zustand tatsächlich einen Teller zerschlagen haben sollte, so liegt all das so weit zurück, so unaussprechlich weit zurück …« »Falls es sich ereignet haben sollte? Und wenn es so wäre, daß es sich ereignet hätte und falls … besten Dank für so ein falls! Als ob nach, drei Jahren so ein zerschlagener Teller von keiner großen Bedeutung wäre!« »Erstens sind es noch keine drei Jahre und zweitens, falls es wirklich drei Jahre wären, kann man nicht als unsagbar weit zurückliegend bezeichnen, was damals im Weingarten geschah. Die Zeit fließt schließlich und endlich dahin … Na ja! Einerlei! Zwei oder drei Jahre. Was wollte ich sagen? Ja! Ich persönlich kann wohl begreifen, daß ein Mann die Hand gegen seine Frau erhebt. Auch ich wollte einmal eine Frau totschlagen. Es war Frühling. Frühling war, als ich diese Frau zu erwürgen versuchte, sie gab aber keinen Laut von sich, sondern begann meine Hände zu küssen. Ihre Tränen flossen über meine Hände …« »Mir kommt vor, als läge es dir auf der Zunge, daß auch ich ihm die Hand hätte küssen sollen?« 12
»Ich wollte nur eine Art Parallele ziehen, um zu erklären, daß mir das nicht fremd sei und – wie soll ich mich ausdrücken – daß mir sowas nicht so unbegreiflich ist, daß ich es nicht verstehen könnte, wie es dazu kommen kann, daß man in einer gewissen Mißstimmung, in einer Art von Affekt -sagen wir – daß man …« Pause. »Na! Was daß man? Was für ein daß man jetzt wieder, bitte sehr?« »Nun, daß man den erstbesten Gegenstand, der da herumliegt, ergreift: einen Teller, ein Messer, eine Vase …« »Aber er schlug mich blutig! Zumindest hier müßtest du loyal sein und zugeben, daß er mich blutig schlug!« »Er schlug dich blutig und niemand leugnete, daß er dich blutig schlug. Aber du schlugst auch ihn blutig und wenn man aus einer Retrospektive von allen diesen blutigen Schlägereien spricht, dann spricht man nicht genügend leise. Denn sieh doch, du bist heutzutage noch gar nicht in der Lage, von jener Szene im Weingarten, die sich vor einigen Jahren ereignete, ohne Erregung zu sprechen, aher gleichzeitig erwähnst du seinen Tod mit einer derartigen Kaltblütigkeit, daß ich es einfach nicht begreifen kann: Dieser Mensch lebt ja noch hinter jener weißen Tür, sein Herz schlägt noch so laut, daß man es bis hierher hören kann, und du nennst ihn schon Verstorbener!« Derlei konventionelle Dummheiten redend, kam der Herr sich selbst unsagbar geistlos und überflüssig vor. Was klappert er denn da herum wie ein Skelett mit den Rippen? Alles leer wie eine Gerichtsverhandlung. (Angewohnheit eines Rechtsanwaltes, nur um zu reden). Das ist 13
ein Abenteuer, alles zusammengenommen. Alles endet irgendwie in Trübsal. Alles klafft wie ein Krater. Als er da erwähnte, daß er im Frühling eine Frau zu erwürgen versucht hatte, brach ein Strom von Erinnerungen in ihm los. Er entsann sich ganz genau jenes Rauschens der Frühlingsgewässer, die im Graben gurgelten, und auch an den Großen Bären über seinem Kopf erinnerte er sich. Damals war er noch jung und vergeudete seine Zeit in Wäldern und im Erträumen von Frauen. Eigentlich träumte er immer nur von einer einzigen Frau: von jenem Urbild der Frau, das tief in seinem Herzen eingepflanzt war. Vom Urtypus des Weibes: des stillen, zarten, zugetanen, hingebungsvollen, von rosig weißer Hautfarbe und mit einem gefühlvollen Blick. Er aber vagabundierte und lumpte mit ganz anderen Weibern und strolchte mit diesen Weibchen und diesen Metzen umher, aber keine war die Frau. Auch dieses Weib ist nicht die Frau! Und was sucht er denn da, in dieser fremden Wohnung, neben einem fremden Sterbenden, in dunkler Nacht? In tiefer dunkler Nacht? Der Herr fühlte, daß seine Kehle ganz trocken war und seine Zunge am Gaumen klebte. Da blickte er unter den Lidern hindurch vorsichtig auf die Frau und so begegneten sich unerwarteterweise ihre Blicke; und da flammte es für eine Sekunde in ihren Pupillen so grell auf, daß er spürte, wie diese Frau auch von seinem Sterben ebenso grausam und kaltblütig sprechen würde, wie sie vor ihm von jenem Sterbenden hinter dieser weißen Tür spricht. Er wandte sich ab und schritt zum Tisch, wo er sich ein Glas Branntwein einschenkte, es in einem Zug leer14
te und sich niedersetzte. Seine Taschenuhr lag neben der Schnapsflasche. Zwischen dem Kristall der Gläser und der Porzellanschüssel mit reifen Pfirsichen hörte man durch die Stille die Sekundenschläge der Uhr. Das Silber auf dem Tisch, die Pfirsiche und den schimmernden Abglanz der Gläser betrachtend, verlor sich der Herr in Gedanken, wie das Dahinfließen der Zeit eine ganz eigentümliche und offene Frage bliebe, wie alle Erscheinungen zerrönnen und niederrieselten wie die Körner in der Sanduhr, und wie alle menschlichen Bemühungen eigentlich fruchtlos vergingen. Die Uhren unserer Schicksale ticken mit einer uns unverständlichen Präzision, und alles endet schließlich in der Hand des Skeletts, das die Sanduhr über unseren Grabhügel hält. In solche Gedanken verloren, hörte er die Frage der Frau, worüber er denn nachdenke? Es war eine leise, sanfte, servile und untertänige Stimme, eine sozusagen kaum hörbare, intim vibrierende, wie auch ihre Bewegung, als sie vom Fenster zum Tisch kam und hier neben ihm stehen blieb, so daß er den Duft ihrer Wäsche und das Rauschen ihres Kleides spüren konnte. »Ich denke darüber nach, wie todbringend eigentlich jede Minute ist, wie alles abstirbt und wie wir früher oder später sterben werden.« Die Dame wurde unruhig. Ihr Blick wurde glasig und schien mehr traurig als herausfordernd. Es hatte den Anschein, als kämpfe sie mit einem Weinkrampf und wolle ihm vorwerfen, daß sie hier mit Anstrengung aller ihrer Kräfte um und wegen ihm kämpfe, er aber, während sie aus allen Poren ihres Herzens blute, er meditiere darüber, 15
wie doch alle Bemühungen fruchtlos und todbringend wären. Sie sagte jedoch kein Wort, sondern ging lautlos zum anderen Ende des Zimmers, wo sie beim Klavier niedersank und ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckte. Der Herr betrachtete eine Zeitlang stumpf das Zifferblatt seiner Taschenuhr und lauschte auf das Ticken, als wäre hier überhaupt gar nichts geschehen. Dann trank er noch ein Glas Branntwein, erhob sich und kehrte zum Fenster zurück; zündete sich eine neue Zigarette an und starrte in die Dunkelheit. Wie im Halbschlaf versuchte er, sich die Gestalt des Arztes vorzustellen, seine künstliche Maske falschen Mitgefühls und wie verlogen überanstrengt er hier stand, in seinem in der Taille zu eng geschneiderten Jackett, wie steif und mysteriös er die Hände schüttelte und wie er sich, ebenso zugeknöpft, geheimnisvoll mit der Unaufrichtigkeit eines Zauberers in allen Zimmern der sterbenden Patienten herumzudrehen pflegte. Wozu spielen wohl diese Herren die dumme Rolle der Zauberer? Weshalb verstecken sie vor uns gewöhnlichen Sterblichen ihre Geheimnisse unter den schwarzen Tüchern einer sogenannten Wissenschaft, wo es sich doch nur um ein ganz gewöhnliches Geschäft handelt? Und warum zerfressen sich hier köpf- und schweiflose Männchen und Weibchen? Hier kribbelt und krabbelt alles, wie Würmer im Quargel! In der finsteren Allee hörte man Schritte. Vor dem Haus stand eine Gaslaterne, unter der er in jener Nacht eine Zigarette rauchte und in der Tasche nach dem Schlüssel 16
griff, als er zum ersten Mal überlegte, ob er mit dieser Frau schlafen sollte oder nicht. Die Straße war leer. In jener Nacht schneite es. Er rauchte eine Zigarette und lauschte einem gleichen Schritt, der aus der Tiefe der Gasse herankam wie jetzt, und so warf er die Zigarette fort, wendete sich um, sperrte das Haustor auf und legte sich, hier oben, in dieser selben Wohnung zu dieser Frau. Wohin ist all das entschwunden? Da vernahm er hinter seinem Rücken halblautes Flüstern und drehte sich langsam um: Im selben Augenblick wurde ihm klar, daß dort drüben hinter der weißen Tür alles beendet sei. Die Nonne beugte sich zur Dame vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr, ihm schien es, als sprächen die beiden Frauen von einem schwarzen Anzug. Er wendete sich wieder zum Fenster um und hörte Schritte hinter sich, das Rauschen eines Frauenrocks und das Zuschlagen einer Tür; dann starrte er lange Zeit unbeweglich in die Dunkelheit. Endlich raffte er sich auf und schritt, mit der energischen Bewegung eines Menschen, der seine Entscheidung getroffen hatte, durch die weiße Tür ins andere Zimmer. Der nackte Tote lag auf dem Bett. Die Sehnen unter dem rechten Knie waren etwas verkrampft, so daß die rechte Kniescheibe um gute zwei Spannen über die linke ragte. Dieses Mißverhältnis gab der gesamten Stellung des Körpers den Anschein einer außergewöhnlichen, geradezu künstlich heraufbeschworenen krampfhaften Gepreßtheit, und alles an diesem nackten Körper und um ihn herum erschien irgendwie niedergeschlagen und vernichtet. In den abgemagerten, knochigen Händen des 17
Verstorbenen brannte eine Wachskerze, und ihr Licht flackerte zwischen seinen Fingern. So wie dieser gelbe, behaarte, durchsichtige Körper dalag, eine Kerze in den Händen und das rechte Bein dieses Toten um zwei Spannen höher als das linke, wie gebrochen, das alles sah unnatürlich aus. Der Herr stand lang an der Schwelle der weißen Tür und betrachtete die Nonne, die sich mit dem rechten Bein abplagte. Sie versuchte das rechte Knie in die Horizontale zu drücken, aber das Bein kehrte immer wieder in seine verkrampfte Stellung zurück, als wäre es aus Gummi. Dann zuckte die Nonne nervös zusammen, ließ das erhöhte Bein und begann hastig den Überzug der Steppdecke abzuziehen. Die Steppdecke war aus gelber Seide, durchwebt mit blättrigen Blumen dunklerer Färbung. Die Nonne .faltete sie behutsam und ordentlich zusammen und legte sie auf den Lehnstuhl neben dem Bett. Das ganze Zimmer war voll mit Chloroform, und durch das offene Fenster konnte man die lichten Flecken eines neuen Tages am Horizont sehen. Neben dem Bett stand ein großes, flaches Waschbecken aus Porzellan, mit sezessionistischen Arabesken in dunkelblauer Farbe. Über dem Becken lag ein mit Seifenwasser durchtränktes Handtuch und aus diesem tröpfelte die Flüssigkeit eine kleine Lache auf den Teppich. Im Herrn stieg Ekel auf. Er schaute zu, wie die Nonne das Bein des Toten gerade zu ziehen versuchte, wie sie die Steppdecke sorgfältig zusammenlegte, wie sie das Handtuch auswrang, und dachte dabei darüber nach, ob der Mensch gut sein könne? Ob die Güte dieser Frau, die 18
in fremden und unbekannten Häusern Tote wäscht und Steppdecken zusammenlegt, natürlich oder unnatürlich sei, und wem wohl diese fremde Frau so unglaublich überirdisch diene, und weshalb? Er drehte sich um, ging zum Fenster und saugte sich die Brust mit frischer Morgenluft voll. Heute nacht hatte er sich mehr als sechzig Zigaretten angezündet, so daß er bei jedem Schluck sein angebranntes Fleisch fühlte. Danach kehrte er ins erste Zimmer zurück, wo auf einem purpurroten Tischtuch ein großer Teller mit Trauben und reifen Pfirsichen stand. Dort schenkte er sich ein neues Glas Branntwein ein und leerte es wieder in einem Zug. Der Schnaps brannte in seiner Kehle, und dann zündete er sich mechanisch eine neue Zigarette an, aber ihn ekelte vor dem Nikotingeruch, und er warf die Zigarette in einen kleinen mit Asche und Zigarettenstummeln überfüllten Kupferkessel. Der Herr schaute sich im Zimmer um, sah die Gegenstände, die exotischen Pflanzen, die Teppiche, den Golddruck auf den Lederrücken der dicken Bände, und alles dünkte ihm trübselig und unausgeschlafen. Das ist also das bewußte Zimmer? Hier lag er, an langen Winterabenden im Halbschatten, mit den Händen unter dem Kopf und verfolgte mit den Augen den Schatten dieser Frau, der so irreal und durchsichtig über die goldgerahmten Bilder huschte. Hier lauschte er der Musik, die aus ihren weichen und bleichen Händen tröpfelte, die sich so katzenartig wanden. Und nun, was blieb noch übrig von all dem? Dort drüben liegt ein Mensch, mit einem offenen goldenen Gebiß, nackt, haarig, mit deutlich gestreiften Rippen unter seiner durchsichtigen Haut, ein 19
faules Fleisch, mit der um zwei Spannen höheren rechten Kniescheibe. Das ist der Tod! Es ist klar, daß man einmal sterben muß. Und der Tod ist gewissermaßen etwas viel Einfacheres, als es auf den ersten Blick scheint. Der Herr spazierte zweimal durch das Zimmer, vom Fenster zum Klavier und zurück, blieb beim Tisch wie abwesend stehen, goß sich noch einmal ein Glas Branntwein ein und leerte es. Da erinnerte er sich, daß er ein Kind war, dessen einzige Sorgen die unregelmäßigen griechischen Verben waren, als er zum ersten Mal ein Kriminalverbrechen erlebte! Und jetzt raucht er, jetzt trinkt er, und auch in ihm ist alles ein völliger krimineller Leerlauf. Jenes unwahrscheinliche Goldgebiß! Vielleicht würde er nicht alles so schmutzig und so kriminell empfinden, wenn dieses goldene Gebiß nicht wäre. »Schwester, bitte, schließen Sie doch dieses Gebiß!« »Ja, mein Herr! Man müßte den Unterkiefer abbinden! Aber ich kann es nicht allein!« Die Schwester war gerade dabei, dem Verstorbenen die Unterhosen anzuziehen und ließ das weiße Leinen fallen, um den Kiefer des Toten abzubinden; aber weil der Körper noch immer weich war, wand er sich unter den Händen der Krankenschwester, und der Kiefer schnappte immer wieder zurück. »Ich kann es nicht allein, ich bitte Sie; nur einen Augenblick!« Benommen von Branntwein und.der Krankenwache, stand der Herr, sich mühsam beherrschend, auf und schleppte sich scheu auf den Fußspitzen zu dem Toten. Äußerst vorsichtig, um ja nicht das tote Fleisch mit 20
bloßen Fingern zu berühren, hielt er mit zwei Fingern das Tuch über den Kopf des Verstorbenen, erfüllt von panischer Nervosität. Der abgequälte Körper in seinen weißen Unterhosen sah sonderbar aus und ebenso der Kopf mit dem abgebundenen Unterkiefer, als würde er an Zahnschmerzen leiden. Während er über dem Waschbecken die Hände mit starker Lysollösung übergoß, dachte der Herr darüber nach, wie im menschlichen Organismus, aus ganz einfachen Gründen, die Körperwärme erlischt, und wie dann alles genauso endet, wie ein herausgeschnittenes Froschherz auf dem Anatomietisch. Die Sehnen und die Muskel ziehen sich zusammen, das Blut gerinnt und nichts mehr. Es ist ja klar, daß man sterben muß. Das alles ist reinste Mechanik. Die Menschen leben, führen doppelte Buchhaltung, erringen bürgerliche Ehren, freuen sich, grämen sich, und schließlich zerplatzt alles wie Seifenblasen. Und all das wickelt sich einer unsichtbaren, inneren Gesetzmäßigkeit entsprechend ab, und sonderbar ist nur, daß kein lebender Mensch diese Gesetzmäßigkeit anerkennen will. Wären die Menschen tatsächlich so überirdisch gut wie diese Nonne hier, so weichherzig, so anpassungsfähig, so untertänig selbstentsagend, würden sie sich nicht dem unsichtbaren, tiefgründigen und abscheulichen Grauen des Geschehens blind unterwerfen, den rohen, faustkämpferischen, begrenzten Regeln der Not, dann wäre es möglich, gegen die Regel zu leben. Übernatürlich! Zum Beispiel, daß diese unbekannte und fremde Frau diesem ihr völlig gleichgültigen Toten eine Krawatte bindet oder Strümpfe auf seine kalten, wäch21
sernen Füße zieht. Immerfort den gleichen Gedanken wiederholend, sank er inmitten dieser nebulosen und fruchtlosen Bemühungen auf einen Diwan, den Kopf mit beiden Händen stützend. Die Nonne, die die Übermüdung dieses unbekannten Mannes fühlen mochte, näherte sich ihm mitleidsvoll. »Sie sind müde, mein Herr! Diese Zerstreutheit kommt von den Nerven! Es ist ja schon die zweite Nacht Ihrer Krankenwache, zu allem muß man trainiert sein. Aber Sie könnten ohne Gewissensbisse fortgehen! Heute nacht wären Sie hier überflüssig!« Sie sprach diese Worte so unmittelbar, so menschlich rein, so überzeugend, in gemäßigten, logischen Intervallen, daß er ein intimes Bedürfnis verspürte, dieser Frau einzugestehen, er sei hier tatsächlich völlig überflüssig, der überflüssigste Mensch im ganzen Haus, und nicht nur heute nacht, sondern überhaupt, aber jetzt beginne dieses Überflüssigste erst, und darum könne er sich nicht entfernen, sondern werde bleiben, unglaublich, dumm, unerklärbar dableiben! »Sie sind gut, Schwester! Mir scheint, daß Sie unglaublich gut sind!« »Wir alle sind große Sünder vor dem Antlitz des Herrn, und wenn uns etwas retten kann, dann ist es die reine Menschenliebe. Auch Sie drückten in den letzten zwei Nächten aus Sorge um das Schicksal Ihres Freundes kein Auge zu.« »Niemand wünschte so intensiv den Tod dieses Mannes, meine liebe Schwester.« »Oh doch, mein Herr! Ich glaube, daß die Dame – Ihre Verwandte – es noch mehr wünschte als Sie!« 22
»Die Dame, ach ja, die Dame, die Dame … Oh meine liebe Schwester! Ich habe Sie die ganze vorige Nacht betrachtet, Sie saßen unbeweglich und Ihre Augen waren geschlossen, und ich konnte Ihren Blick nicht sehen (nur der Rosenkranz klirrte zwischen Ihren Fingern), aber ich fühlte genau, daß Sie, auch bei geschlossenen Augen, alles sahen. Vielleicht ist es dumm, daß ich Ihnen das sage, aber ich glaube, daß hier nichts geschieht, wovon Sie nicht genau wußten, daß es geschah. Ich kämpfte mit diesem Mann und nun starb er. Und wie sehr ich auch in der vergangenen Nacht wünschte, daß dieser Mann sterben möge, so ist es mir jetzt, glauben Sie’s mir, jetzt wo es geschah, so unsagbar gleichgültig, daß ich zufriedener wäre, glauben Sie es mir, wenn ich selbst dort hinter der weißen Tür läge und keine Kopfschmerzen mehr hätte!« Die Nonne beugte sich zum Herrn nieder und streichelte ihn mit einer unendlich sanften Handbewegung, dann ging sie zum Waschbecken, schüttete Kölnischwasser auf ein Taschentuch und kehrte zum Herrn zurück. Sie neigte sich über ihn, legte den kühlen Umschlag auf seine Stirne und, gerade im Augenblick, als sie das Taschentuch am Scheitel zusammenzog und sich anschickte, einen Knoten zu binden, trat die Dame, die Gattin des Verstorbenen, ins Zimmer. Sie war bleich, trug den Kopf verbunden und hielt in der Hand den schwarzen Salonrock des Verstorbenen und seine Hose. Im ersten Augenblick schien sie derart mit den eigenen Gedanken beschäftigt, daß man den Eindruck gewann, als spräche sie mit sich selbst über die schwarze Weste des Dahingeschiedenen, die sie nirgends finden könne. 23
»Ich verstehe es einfach nicht! Sämtliche Kästen habe ich durchsucht, und doch konnte ich diese Weste nicht finden, als wäre in diesem Haus alles verzaubert! Aber schließlich kann man einen Salonrock auch ohne Weste zuknöpfen, ich glaube, man wird es gar nicht bemerken. Ja! Aber was heißt denn das? Was machen Sie da, wie benehmen Sie sich, was ist denn das für eine Art, ist hier ein Irrenhaus, Sie sind ja verrückt!« »Der Herr hatte einen Schwächeanfall!« »Lassen Sie das, verstanden, ich will kein Wort mehr hören, der Herr hatte einen Schwächeanfall, ja, gewiß, einen Schwächeanfall hatte er, als ob ich nicht wüßte, was das für ein Schwächeanfall ist, als ob ich blind wäre und gar nichts bemerkte!« »Entschuldigen Sie bitte …!« »Schweigen Sie, halten Sie den Mund, haben Sie mich verstanden, schämen Sie sich, Sie benehmen sich ärger als eine Hure!« Der Herr hörte das wortlos an und sprang dann erregt auf. »Ich bitte dich, meine Liebe, was ist denn das für ein Ton, kannst du dich nicht beherrschen?« »Ich, ich soll mich beherrschen, ich soll mich beherrschen,wirklich wunderbar! Ich-soll-mich-be-herrschen?« Mit einem hysterischen Auflachen wirbelte die Dame den Salonrock durch die Luft und schleuderte ihn der Nonne vor die Füße, um dann wie besessen, die Haare raufend und halbverrückt lachend, schreiend aus dem Zimmer zu laufen. Man konnte hören, wie sie durch die Räume raste und die Türen zuschlug, und dann hörte man irgendwo zerbrochenes Glas klirren. 24
Die Schwester hob wortlos die Hose auf und trug sie ins andere Zimmer hinüber, und der Herr betrachtete den zerknüllten und nach Naphthalin riechenden Salonrock, mit den übereinander gekreuzten Ärmeln und nach außen gekehrtem Futter aus Halbseide, auf dem Teppich wie einen eben vom Galgen abgenommenen Gehenkten. Er sah diesen zerdrückten Stoffknäuel am Boden und dachte wehmütig darüber nach, wie die Fieberglut eines verregneten, schmutzigen Frühlings, wenn ein Mann gebeugt und gedemütigt an das Geheimnis des sogenannten ewig Weiblichen rührt; wie alle jene Gefühle des Frauenzaubers in nassen Märznächten, wenn die Feuchtigkeit von den Zweigen der Allee tropft und im Licht der Straßenlampen glitzert, in Erwartung der hyänischen, besessenen, bedrückenden Völlerei zittern und Blut und Leid aufrollen – wie sich nunmehr alles das verdichtet zu komisch übereinander gekreuzten Ärmeln eines Salonrocks, der nach Naphthalin riecht und wie eine zerrissene Puppe nach der Vorstellung zerknüllt auf dem Boden liegt. Anatomische Lügen in Seide und Battist, weiche, verschwitzte Hüften, Klumpen einer sterbenden Liebe, blutige Knoten in den Adern und im Fleisch, all das verflüchtigte sich in einer grauen, feuchten, aschfahlen Morgendämmerung, und das ist nun der Augenblick, in dem sich das Glied wie eine Schnecke in den Unterleib zurückzieht und eine kranke Katze die Zähne gegen den Menschen fletscht, in einem von Bitternis und von Chloroform vernebelten Raum.
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der tod des franjo kadaver
I
n einem Pavillon des Garnisonsspitals, Abteilung C 3 für Haut- und Geschlechtskrankheiten, genannt Kokica, war heute ein großer Tag. Man fand den Infanteristen Imro Svetec, einen Patienten der Kokica, im Klosett in einer Blutlache. Er hatte sich den Hals mit einem Rasiermesser durchschnitten; laut Meldung des Arztes vor Mitternacht. Der Infanterist Imro Svetec aus Nummer 13 im Erdgeschoß wurde auf Befehl der Kommission ins Zimmer zurückgebracht, dort auf sein Bett gelegt und bis zum Eintreffen der Totengräber mit einem schmutzigen Tuch zugedeckt. So wurde das Zimmer Nummer 13 in einer Minute die Sensation des ganzen Spitals und aller Wirtshäuser, Greislereien und Schnapsboutiquen, die um die gelben Kasernen am Stadtrand wie die Pilze emporschossen. Die Nachricht, daß sich in der Kokica wieder ein Soldat den Hals durchschnitten hatte, verbreitete sich hier so rasch, daß sich schon am Morgen sensationslüsterne Zuschauer vor dem trostlosen Gebäude, dessen Fenster mit fingerdicken Eisenstäben vergittert waren, versammelten. Die Patienten von Nummer 13 fühlten, daß auch sie irgendeine Rolle in dieser ganzen Geschichte spielten, und sprangen hinter den Gittern hin und her wie kranke Vögel im Käfig. Zum Teufel, warum sollten sie auch nicht? Die Nachricht lief die leere Straße entlang, die schmutzig und grau war und wo tagsüber sich nichts ereignete, als daß die diensthabenden Wachtmeister sich rasieren ließen oder irgendwo einen Gespritzten hinunterschütteten; und jetzt gab es da auf einmal einen Toten, 27
einen, der sich noch dazu den Hals durchschnitten hatte, von einem bis zum anderen Ende. Da das Zimmer Nummer 13 im Parterre lag, kletterten die Fräuleins und die Kellnerinnen zum Fenster des Zimmers, klopften gegen die Fensterscheiben und verlangten, daß man Svetec enthülle; und wenn sie unter dem Tuch die tiefen, schwarzen, blutigen Halsschnittwunden sahen – so tief aufgerissen, daß man ein ganzes Kochgeschirr hineinstecken hätte können –, dann quietschten die Weiber und fielen vom Fenster herunter, als ob man sie mit kochendem Wasser überschüttet hätte; und die Soldaten lachten und konnten sich gar nicht beruhigen: Wie blöde sich diese Frauenzimmer anstellten! Auch Ljubica mit der roten Bluse kam. Ljubica war von drüben, vom Kanonier; auch sie stieg hinauf, um ihn zu sehen. Das alarmierte das ganze Zimmer Nummer 13, denn Ljubica war in der Kokica das populärste Fräulein der Straße. »Na! Ljubica ist gekommen! Da schau, Ljubica! Servus, Ljubček, Servus!« Alle Patienten stürzten zum Fenster und begannen grinsend die Brüste Ljubicas wie einen kalten Braten abzuknutschen. Sie hielt sich mit einer Hand am Gitter fest, um nicht herunterzufallen, mit der anderen tat sie so, als ob sie sich vor den verschwitzten und schmutzigen Fingern verteidigen wollte. Diese Insekten in weißblauen Kitteln drängten sich um das Fensterloch, schwirrten herum, stießen sich gegenseitig weg und streckten ihre großen knochigen Hände durch das Gitter, um Ljubica zu erwischen. Und Ljubica lachte und schlug sie auf die Hände. »Scht, scht, ihr verfluchten Gauner! Laßt mich los, ich will das sehen! Scht!« 28
»Was willst du sehen, Ljubček? Wir sind doch schöner! Schau uns an! Uns!« »Na, bitt’ schön, ein kleines bisserl möcht’ ich sehen«, bat Ljubica mit sanfter Stimme und versuchte, den Kopf durch das Gitter zu stecken, um im dunklen Zimmer etwas von der großen Sensation, die dort unter dem Leintuch lag, zu erhaschen. Also zog sie der Korporal Zvjezdić an beiden Händen hoch und kommandierte mit halblauter Stimme, in Moll, daß man den Svetec der goldigen Ljubček zeige. Man enthüllte den Toten, da schrie Ljubica und wäre auf den Rücken gefallen, wenn der Korporal Zvjezdić sie nicht zurückgehallen hätte. »Na, na, was fürchtest du dich? Er beißt nicht!« Ljubica aber war so erschrocken, als ob er sie gebissen hätte, und begann zu quietschen, zu lamentieren und so wild herumzuschlagen, daß Zvjezdić seine Beute fahren lassen mußte. »Na, na, Kleine! Wir haben ihn schon zugedeckt! Man kann nichts mehr sehen! Komm zurück, Kleine! Ljubček!« So unterhielt sich bis Mittag das ganze Zimmer, nur der Infanterist Kadaver krümmte sich neben dem seligen Svetec und betete den Rosenkranz, als ob es da draußen keine Ljubček gäbe, als ob diese Gauner sich nicht ihren Spaß machten und er nicht in Zimmer Nummer 13, sondern vor der heiligen Maria wäre. Kadaver kniete neben Svetec, betete halblaut, und seine Haare sträubten sich bei dem fürchterlichen Gedanken: was wird aus mir werden? Denn mit Kadaver war in dieser Nacht etwas passiert, etwas Großes, Schreckliches. 29
Seine Frau wohnte am Bach, im Schatten der heiligen Maria. Er hatte drei Kinder und eine Schusterei, und in Wandkäfigen zwei blinde Nachtigallen, mit grünem Leinen zugedeckt. Er hatte immer selbst auf den Feldern Ameiseneier für die Vögel gesammelt. Zuerst war er Mesner gewesen. Dann heiratete er und flickte Schuhe, dann wurde er Infanterist, und da passierte ihm das Unglück in Budapest, und ganz zufällig, auf Grund irgendeines Befehls, wurde er in seine Garnison zurücktransportiert. Da er bereits ein volles Jahr nicht zu Hause gewesen war – den zweiten Monat lag er schon geschlechtskrank hier –, übermannte ihn plötzlich eine schmerzliche Sehnsucht. So war er heute nacht über die Mauer geklettert, über die so viele Patienten jede Nacht in ihre Abenteuer zogen, und hatte sich bis unter seine Fenster geschlichen. Er hatte seine Wanduhr gehört, in der Dunkelheit der Nacht, nur das Tick-tack der Uhr; er war lange dagestanden, wie ein Dieb, und hatte die Tränen heruntergeschluckt. Mitternacht war schon lange vorüber, als er zurückkehrte, die Wälder entlang durch die obere Stadt, um den Patrouillen auszuweichen, die, auf der Jagd nach solchen Soldatenvögeln ohne Papiere, durch die Stadt streiften. Als er eben von der Mauer herunterspringen wollte, meldete sich die Wache aus der Dunkelheit: »Halt! Wer da?« Instinktiv warf sich Kadaver auf die Straße zurück, da krachte aber schon der Schuß; und dann ein zweiter, der dritte bohrte sich in die Mauer, man hörte, wie das Mauerwerk bröckelte, das Herumtappen der Wache, und als Kadaver in der Dunkelheit zu laufen begann, spürte er, 30
daß er blutete – es strolchten so viele Patienten der venerischen Abteilung C jede Nacht herum, daß die Wachen einen besonderen Schießbefehl bekommen hatten; das war in allen Zimmern verlautbart worden. Man hatte ihn angeschossen, und sein linkes Hosenbein war voll warmer Nässe. Am Bach, irgendwo am Wasser, hatte Kadaver seine Wunde ausgewaschen und sie mit einem schmutzigen Fetzen verbunden. Es war sein einziges Taschentuch, seitdem er beim Kommiß war. Als er morgens über den Misthaufen, am Stall vorbei, irgendwie zurückkam, herrschte im Pavillon bereits Aufregung; die Kommission war eben im Klosett bei dem toten Infanteristen Svetec. Inzwischen wurde bereits untersucht, auf wen die Wache heute nacht geschossen hatte. Da die Mauer blutig war und das Kommando des Spitals annahm, daß ein Patient verwundet worden war, wollte man nach der Essenausgabe alle Paüenten untersuchen, um den Halunken zu finden. Der würde dann schon das Seine kriegen! Und so kniete jetzt der arme Schustermeister Franjo Kadaver über der Leiche von Svetec, dem ehemaligen Infanteristen, den nichts mehr etwas anging, kein Spital, keine Kaserne, kein Krieg, gar nichts mehr, und Franjo sah, wie das weiße Leintuch, unter dem man den Kopf und die Nase des Infanteristen ahnen konnte, in die Höhe ragte, und er wußte, daß es nicht mehr lange bis zur Essenausgabe dauern würde. Nach dem Essen würde man das Tuch von seinem Fuß herunterreißen und feststellen, daß er es war, auf den heute nacht geschossen worden war. Es hatte ihn nicht getroffen, Gott sei Dank, gelobt sei 31
die heilige Jungfrau, es hatte ihn nur gestreift. Das Fleisch war aber daumentief herausgerissen. Und es brannte! Ah, wie das brannte! »Was wird geschehen? Was? Gesegnet sei die Frucht deines Leibes, Jesus!« »Ljubček! Na, was fürchtest du dich? Er beißt dich nicht! Ljubček!« »Heilige Maria, Mutter Gottes, bitt’ für uns, jetzt und in der Stunde unseres Absterbens …« »Ljubček! Na! Ljubček!« schrien die Halunken der Kellnerin zu und lachten. »Was wird geschehen? Arrest! Drei Monate! Kader! Front! Oh! … Gegrüßt seist du, Maria, voller Gnaden … der Herr ist mit dir … O mein Herrgott! Heute nacht hat die Uhr bei mir zu Hause so seltsam zwölf geschlagen! Und eine schwarze Katze ist mir über den Weg gelaufen! Und jetzt liegt da ein Toter! Das alles bedeutet was! … Sei gesegnet du unter den Weibern und gesegnet sei die Frucht deines Leibes …« Ungefähr 150 Patienten standen splitternackt, so wie sie ihre Mutter geboren hatte, zimmerweise zur Visite aufgestellt. Endlich fanden die Ärzte die Verwundung Kadavers. Und es gab den erwarteten Wirbel. »Warum hast du dich nicht gleich gemeldet, du drekkiger Schweinehund?« schrie der Doktor Kadaver an; er war außer sich vor Wut, weil er nach dem schwarzen Kaffee statt zu seiner Tarockpartie in dieses verfluchte Karbolspital hatte gehen müssen. »Was habe ich von meinem Leben? Von sieben bis zwölf plag’ ich mich mit diesen Zagorianer Schweinen, und nicht einmal Tarock spielen kann einer nach dem 32
Essen, nicht einmal das! Und immer so weiter, Tag und Nacht, Tag und Nacht!« Kadaver stand stumm und unbeweglich da, als ob man ihm Hände und Füße abgeschnitten hätte; was hätte er auch sagen sollen? Alle Patienten verfluchten ihn, weil sie seinetwegen bis auf die Knochen durchfroren waren. Wegen dieses verdammten Esels, der nicht einmal über die Mauer konnte! Dieser blöde Mesner! Sie verfluchten seine Mutter, Gott und das Glück. Und Kadaver ließ den Kopf hängen, zutiefst deprimiert. Es schien ihm, daß alles so hatte kommen müssen. Den seligen Svetec hatte man schon hinausgetragen, und die Leute sprachen darüber, ob man ihn mit oder ohne Musik begraben, und ob man ihm einen Salut schießen würde oder nicht. Das Zimmer Nummer 13 sah nun wieder aus, als ob nichts geschehen wäre. Schon vor drei Tagen war ein hoher General angekündigt worden, der mit einer besonderen Kommission des Roten Kreuzes das ganze Spital inspizieren sollte. Die Spitalsmeister vollbrachten binnen 24 Stunden im Pavillon ein kleines Wunder. Da brannten die ganze Nacht die Azetylenlampen, man malte die Zimmer aus, wusch die Gänge mit Petroleum und vergoß dabei eine volle Karbolflasche, so daß die Straße es bis zur Ecke spürte: es kommt ein General. Jeder Patient bekam einen Spucknapf und ein Glas und eben hatte man neue Kittel verteilt, die noch nach Naphthalin rochen, als ein zweites Telegramm mit der Nachricht eintraf, der General würde nicht kommen. Man sammelte die verteilten Kittel in den Zimmern wieder ein, trug die Gläser und Spucknäpfe weg, und die 33
ganze Kokica wurde wieder der alte Schweinestall. Jetzt lagen auf den Tischen wieder fette, ungewaschene Schalen herum, die Fenster waren zerschlagen, daß es zog, und unter dem Generalskalk zeichneten sich die alten Flecken auf den Wänden ab. Kommißbrot, blutige Leintücher, zerschlagene Spiegel, abgenagte Knochen, verfaulte Strohsäcke – eine schaurige Dekoration –, an den Nägeln hingen schwarze Pelerinen wie aufgeblähte Leiber, und über all das senkte sich die Dunkelheit. Die Nachmittagsinjektion war schon vorüber. Die Leute kamen mit gespreizten Beinen, ihre Schlapfen hinter sich herschleifend, vorsichtig, um die entzündeten Wunden nicht zu berühren, Schritt für Schritt, und legten sich still auf ihre Lagerstätten. Über dem Zimmer brütete das Schweigen. Man hörte draußen die Regentropfen, das Knarren eines schwer beladenen Wagens im Dreck. Alles sah leer und öde aus. Und es kam noch immer kein Gespräch zustande, als ob die Injektion heute mehr als gewöhnlich gebrannt hätte. Im Halbdunkel meinte einer, daß sie schon Paprika in die Wunden spritzten – Paprika! »Wozu brauchen wir Paprika? Dem Weib sollte man Paprika einspritzen! Dem Weib, dem verfluchten Vieh!« »Ah! Was brauchen die Weiber Paprika? Wenn du einer Stute was drauf streust, nur soviel, was zwischen die Finger geht, wird sie wild. Mit dem Feuer sollte man ihnen alles verbrennen, den Weibern!« »Ach, wie blöd ihr seid! Wie die Ochsen! Das ist Lapis! Lapisstein und kein Paprika!« »Bellt schon wieder dieses Kalb mit seinen fünfundzwanzig lahren?« 34
»Kusch, Mato!« Mato, so nannte man die Honvéd-Landwehr. Landwehrmann Mato hieß es. »Die Mateks stürmten da und dort.« »Die Mateks gehen vor.« »Die blöden Mateks.« »Das ist Lapis, ich weiß das. Ich war im Trachom-Bataillon. Dort hat man uns jeden Tag die Augen mit Lapis behandelt. Jeden Morgen im Rayon. Ich weiß doch, was Lapis ist und was nicht.« Einen brannte es besonders stark. Er seufzte laut. »Was, zum Teufel, wimmerst du? Bei den Weibern hast du dich auch um nichts gekümmert. Jetzt nimm dich zusammen!« »Nein, selbstverständlich nicht, warum hätte ich auch, gottverdammt? Drei Jahre hab’ ich keine angerührt! Und warum bist du zu ihr gegangen? Warum?« »Ach, der Teufel selbst hat mich hingeführt. Es war an einem Freitag! Und mein alter Stiefvater hat immer gesagt, daß jedes Übel am Freitag kommt. Er hat recht gehabt!« »Ja, als ob’s am Sonntag kein Übel gäb’! Ich war am Sonntag! Es ist nicht gut, mit einer fremden Frau etwas zu tun zu haben, weder am Freitag noch am Sonntag. Das hat mir eine alte Frau gesagt, die sogar einen Toten hat auferstehen lassen.« »Ja, den Teufel hat sie, und nicht den Toten! Warum redest du solchen Blödsinn? Alle alten Weiber gehören ins Feuer! Das sind Hexen! Mir hat auch eine prophezeit, daß mich ein Pferd mit dem Huf erschlagen wird. Ein 35
schwarzes Pferd! Seitdem hab’ ich sicher schon tausend schwarze Pferde gesehen und nichts ist passiert!« »Wart’ nur! Was nicht ist, kann noch werden.« »Ach, lauter Lügen! Es ist nun einmal passiert und jetzt hat man’s!« »So ist es! Die Frau ist schuld und nicht der Sonntag oder Freitag! Wenn es keine Frauen gäb’, gäb’s auch das nicht. Das Luder weiß, wie es um sie steht! Sie weiß es, daß sie verfault ist, aber sie will dir’s nicht sagen, sie ist schuld!« »Sie ist doch nicht verrückt und sagt dir das! Warum sollte sie auch? Hat man es ihr etwa gesagt, als es ihr passiert ist? Wovon soll sie leben?« »Sie kann nichts dafür, ihr ist’s auch passiert!« »Geschieht ihr ganz recht! Schon gut! Alle sollen verrecken daran! Das ganze Dorf soll zum Teufel gehen! Wenn ich zum Teufel gehe, warum nicht auch das Dorf?« »Davon kommt das Übel, Leute, daß wir so sind!« »Ah, und wie sollten wir denn sein? Sag, wie sollten wir sein?« Schweigen. »Na, was ist, bist du stumm? Was? Du weißt nichts! Siehst du, du weißt nichts! Das weiß niemand. Nicht einmal der l’faff auf der Kanzel, nicht einmal der weiß das.« »Wir sind so, wie wir sind! Das ist schon recht. Zuerst ist es uns passiert, jetzt kommen die anderen dran. Jedem das Seine!« »So ist es. Es ist schon recht, daß sie uns angesteckt hat! Das ist ihr Gewerbe!« 36
»Der Teufel hol’ das Gewerbe!« »Ich hätte ihr einen Fünfer hingeschmissen, wenn sie mir das nur gesagt hätte.« »Was einen Fünfer! Zwei Fünfer.« »Was hättest du ihr hingeschmissen? Was blödelst du da? Du hättest sie doch genommen.« »Nein, niemals! Ich soll auf der Stelle blind werden, wenn ich das getan hätte. Jetzt, auf der Stelle, gleich! Die Augen sollen mir ausrinnen, wenn ich sie …« »Ich schon! Ich bin Gott sei Dank nicht zum erstenmal da! Und ich werde wieder …« »Ich hätt’ sie mit dem Fuß weggestoßen, den ekelhaften Dreck!« »Haha, und wie weiß sie ist! Gewaschen! Wie herrschaftlich sie riecht!« »Deswegen ist sie auch so herrschaftlich krank.« »Hihi, dann sind wir jetzt alle Herrschaften!« Und so redeten sie da, wo Liebe einen blutigen Durchfall und faule Lenden bedeutete, in der Abenddämmerung vom Weibe. Wie weiß ihre Haut ist und wie Gott sie erschaffen hat. Aber die Stimmen, daß es nicht Gott, sondern der Teufel war, meldeten sich wieder. Und man sprach von der Erde und ihren Streitigkeiten; wie man in dem und dem Dorf, wenn jemandem mit dem Messer die Kehle durchschnitten worden war, auf das Grabkreuz des Ermordeten ein Messer eingravierte, oder eine Axt oder einen Revolver, je nachdem, womit er umgebracht worden war, zur Erinnerung daran, wie er gestorben war. Und sie redeten von Maria Theresia, die einfache Grenzsoldaten geliebt hatte, daß nur so die Funken stoben. Ei37
ner erzählte, daß die Schweine gerne Leichenfleisch fressen und davon schön fett werden. Von all dem sprachen sie, während draußen der Regen strömte und die Nacht sich schwarz herabsenkte. Tardom-tardom-tardom-tomtom Tardom-tom-tom tardom-tom-tom. Das feuchte Fell der Trommeln schallte und hallte durch das ganze Zimmer. Durchnäßte Soldatenzüge zogen durch den Dreck und trommelten apathisch und lässig. »Ah, man trommelt heute nicht mehr so, wie man damals getrommelt hat, im Frieden. Damals war der Tambour ein Kerl, voller Kraft, richtig gemästet. Der Herr Tambour hatte die ganze Weisheit im kleinen Finger. Nur die alten Füchse konnten Tambour werden. In den Manövern trugen sie in ihren Trommeln gebackene Schweine und Gänse, die sie in den Quartieren stahlen, ihr Schnurrbart glänzte von Fett. Das waren Philosophen, die im Schatten eines Maulbeerbaums behaglich wiederkäuten, während ihrer Truppe die Zunge heraushing. Und wenn die Truppe nach Hause ging, hielten die Trommeln sie in Stimmung. Da donnerte das weiße gespannte Trommelfell, als ob es zerplatzen wollte, und es klang nicht so matt und traurig wie heute. Das dröhnte in den Soldatenschädeln, daß sich die Hüften und Muskeln spannten und sie vorwärtsstürzten im Schwung von Drill und Disziplin.« Jetzt wurden die Trommelwirbel schwächer. Traurig und hoffnungslos zog die lange, bis auf die Haut durchnäßte Kolonne dahin, wie eine zertretene Blindschleiche über gelbe Pfützen kriecht. In Zweierreihen schlichen sie, einer in den Stapfen des anderen, gebrochen und zer38
malmt, in der Kolonne dahin. Das matte Dröhnen der Trommeln drang durch die Wände, seufzte im Zimmer, und die Patienten spürten, wie draußen das Kadergespenst drohend marschierte. Wie lange noch, und auch sie würden ihre Karbolhemden ausziehen, sich wieder in die Uniformsäcke einschnüren, sich durch Dreck und Schnee schlagen, um am Ende zu verrecken. »Schau sie an, wie sie sich daherschleppen, wie nasse Pferde!« »Na, haben sie dich noch nicht angetrieben?!« Der das sagte, war ein alter Veteran, mit roten Narben übersät, verwundet und Vater von fünf Kindern. Fast zitterte etwas wie Freude in seiner Stimme: »Was wollt ihr überhaupt, ihr Kücken? Was soll das für ein Gottesübel sein? Du ißt jeden Tag Fleisch, schläfst im Bett und arbeitest nichts!« Vom Ende des Zimmers, wo es schon finster war, meldete sich jemand: »Zum erstenmal lebst du wie ein Herr! Sogar den Kaffee bringt man dir ans Bett!« »So ist es. Du bist nicht in der Marschkompanie! Nicht beim Kader! Wirst nicht naß, wenn’s regnet, es geht dir doch gut!« »Ja, es wäre schön! Wenn das Übel nicht wäre.« »Und was ist schon dabei? Man kuriert dich! Umsonst! Wenn du in Zivil wärst, müßtest du Hunderte und Hunderte zahlen, und wärst dann noch immer nicht ausgeheilt! Und draußen, ging’s dir da besser? Läuse, Minen, Wasser. Und hier ist alles so schön! So sauber!« »Ja, es ist schön, das ist die pure Wahrheit. Und sau39
ber ist es. Oh! Aber man ist nicht gesund! Das ist es. Ich möchte lieber an der Front sein und gesund …« »Und was ist schon die Front? Sardinen haben wir gegessen, in Öl, und feinen Käs’. Und Wein haben wir getrunken!« »Einen sauren Rachenputzer, zum Teufel! Ein Rachenputzer war das und kein Wein.« »Ja! Und schwarzen Kaffee haben wir den ganzen Tag getrunken. Es ist uns gut gegangen.« »Das ist wahr! Wenn man es so recht nimmt, was ist das schon, die Front? Du hüpfst im Graben ein wenig hin und her. Dann gehst du spazieren und schaust durchs Schießloch, wie durchs Fenster, damit dir die Zeit vergeht! Schläfst ganze Tage …« »Und wenn du auf Wache bist, schläfst du dann auch? Beim Angriff, wenn die Hosen voll sind?« »Was schwätzt du daher? Mußt du nicht da draußen tagelang graben und immer mit gekrümmtem Buckel kriechen, daß es dir das Kreuz zerreißt? Wasser auspumpen, Latrinen putzen. Dich wie ein Wurm krümmen!« »Und zu Hause krümmst du dich nicht? Du Ochs! Da krümmst du dich auch, hier wie dort. Das ist alles eins. Da requirieren sie bei dir, die Herren, und dort kämpfst du wieder für diese Herren …« »Heb ihn auf, den Tschik. Mato, zünd ihn an und rauch. Mir schmeckt der Tschik. Mir auch, Mato, mir auch.« Schon schmettern aus der Ferne die Trompeten der Infanterie, die irgendwo weit draußen im Nebel unter40
tauchte. Jokl, der alte Gauner, summte den Refrain der Infanterietrompeten und zündete sich dabei eine Zigarette an. »Hallo, du Esel! Gib mir auch Feuer!« »Mir auch! Du blöder Hund!« »Mir auch, mir auch!« Die Stimmen schrien wie verrückt nach Feuer, die Feuersteine blitzten, und die Männer begannen zu rauchen. Es ist behaglich und schön, wenn man sich so auf dem Bett ausstreckt, unter einem sicheren Dach, man zündet die Zigarette oder die Pfeife an und horcht, wie es draußen regnet. Es regnet und es schneit, und der Wind jault irgendwo im Schornstein, und die Dachrinnen triefen und singen. Man liegt so schön und spürt die Wärme der Pelzweste und spuckt nach links und spuckt nach rechts vor lauter Behagen, das nicht einmal die schwerste Granate zerstören kann. Nicht einmal die dicke 15 cm. So liegt man und denkt, wie es einmal da und dort in Strömen geregnet hat, wie eben jetzt; wie man auf der nackten Erde gelegen ist und sich mit der Zeltplane zugedeckt hat, die irgendwie so verrückt in einem krummen Dreieck zugeschnitten war, daß sie immer zu eng oder zu kurz war, so daß man sich nie richtig zudecken konnte. Es rinnt einem in den Hals, und wenn man den Hals zudeckt und die Zeltplane hinaufzieht, regnet es auf die Knie. Die Füße werden naß, das Wasser quillt durch die zerrissenen Schuhe, daß die wunden Zehen ankleben, es sickert in die fauligen Gamaschen und verursacht Abszesse. Die fünfzig Kilometer drücken auf Ferse, Wade und Hüfte wie Blei; und es regnet; und die Angst vor dem 41
nächtlichen Marsch durch die Wälder, wo alles so dunkel ist, links und rechts; zwei Tage schon keine Verpflegung, und irgendwo erwachen Kanonen und beginnen zu murren. Hier gibt es das alles nicht. Ein Dach über dem Kopf, ein weiches Bett, der Schmerz von der Injektion ist schon abgeebbt, gleich kommt das Nachtmahl, alles ist so warm … so behaglich … Da summt durch den Regen der sanfte Refrain: »Der Regen weht, Serbien vergeht …« Von dem kleinen Eisenofen in der Ecke erhob sich eine andere, etwas tiefere Stimine und begann sentimental und halblaut den Refrain weiter zu singen: »Die Sonne lacht, Kroatien erwacht …« »Kroatien erwacht …« Kadaver, der die ganze Nacht kein Auge geschlossen und dann den ganzen Vormittag lang für den seligen Svetec gebetet und zu den Füßen der Leiche gekniet hatte, voller Angst vor der Fahndung und mit völlig erschöpften Nerven, hörte zu, wie sie schwätzten, Tag für Tag dasselbe. Eingelullt von dieser Monotonie, verlor er sich in einen Traum, nickte ein wenig ein, und schnarchte bald. Kadaver begann mit offenem Mund einen Faden zu spinnen, einen langen knotigen Faden, von Zeit zu Zeit in etwas Halblautes und Geröcheltes verwickelt, einen Faden, der aus einer besonderen Tiefe zu kommen schien. »Psst! Gottverdammt! Ruhig! Wer ist das?« Alle verstummten und horchten. Man hörte das Schnarchen. »Zum Teufel, warum sitzen wir hier wie die alten Weiber im Finstern?« 42
»Gib Zündhölzer her! Das Nachtmahl wird sowieso bald kommen.« »Zündhölzer! Zündhölzer!« »Hrrrrhhahhrrhrr … hrrr … hrrhahr …« »Na, der verdammte Kerl wird noch ersticken! Wer ist das?« »Das ist sicher Kukec!« »Nein, das ist nicht Kukec! Kinder, das ist Kadaver! Natürlich, das ist Kadaver! Der verdammte Mesner!« Der fünfundzwanzigjährige Toni Jokl war ein Zyniker, ein berufsmäßiger Stadtstrizzi, ein Strolch, der schon mehrere Male vor dem Richtertisch und im Kittchen war und sich selbst als Zuchthauskandidaten bezeichnete. »Wir Herren Zuchthauskandidaten« pflegte er von sich und seinesgleichen zu sagen. Als Kinder findet man sie nur im Winter in der Schule, gerade solange die Blechgroschen für die Volksküche verteilt werden; schon in den ersten sonnigen Tagen sind die Wälder voll von ihnen. Die Halbwüchsigen tragen Koffer, verkaufen auf dem Markt Zeitungen und stehlen, wo sie etwas erwischen. Dann werden sie Sodawasserverkäufer, Schinder, Totengräber, Fiaker und ähnliches, falls es mit der Polizei keine Konflikte gegeben hat. War etwas vorgekommen, was ihnen den Weg zum »ehrlich« verdienten Brot verschloß, dann wurden sie Zuchthauskandidaten, wie Jokl das zu bezeichnen liebte. Jokls Etappen waren: die Volksküche, der Marktplatz, die Polizei (21 Tage zum erstenmal), wieder der Marktplatz, wieder die Polizei, dann die erste große Liebe, der Richtertisch und der Krieg. Jetzt diente Jokl im berühmten Teufelsregiment und verbarg 43
sich in der Kokica [Hühnchen], die ihn mit ihren Flügeln wie das Huhn ihr Kücken barg. Die Lazarettstation hieß aus zwei Gründen Kokica, weil sie erstens die Landwehrler vor dem Kader und vor der Front bewahrte und zweitens, weil die Patienten einmal gehört hatten, daß die Bazillen in ihrem kranken Blut Kokken heißen. So kam Jokl im Zimmer 13 mit Kadaver zusammen, dem Schustermeister vom Bach, dessen Fenster auf dieselben Zwetschgenbäume undZäune der oberenStadt starrten, wie das Zimmer von Jokls verwitweter Mutter, bei der er wohnte. Jokl, der Kadaver schon von früher kannte, erriet sofort, wie es mit dem armen Schuster stand, daß seine Frau keine Ahnung hatte, daß er hier in der Stadt, in der Kokica war. Sie zitterte um ihren Mann, den sie an der Front glaubte und’ der schon so lange nicht geschrieben hatte, haha, und er, der alte Vogel, hoho, lag da auf der Abteilung C. So stand es also? Na, dem konnte man auch ein Ende bereiten! Jokl bereitete dem auch gründlich ein Ende. Er hatte eine starke Karte in der Hand. Mit der Drohung, daß er ihn, wann immer er wolle, seiner Frau verraten könne, plünderte er Kadaver vollkommen aus. Über hundert Kronen Bargeld, ein Paar gute Schuhe, zwei Hemden, Gamaschen, die Feldflasche, ein neues Futter für die Pelerine, eine Silberuhr, das alles hatte er aus Kadaver herausgepreßt. Außerdem hatten sie ihre Mäntel getauscht, Jokl faßte Kadavers Tabak, seine halbe Portion Kommißbrot, er aß seine Fleischration, er sog ihm von Tag zu Tag das Blut aus wie eine Wanze und verbitterte ihm mit der ständigen Drohung, ihn seiner Frau zu verraten, das Leben. 44
Jokl hütete sich, Kadavers Geheimnis der Stube zu verraten, er wollte ihn allein an der Leine halten. Er hatte nur erzählt, daß Kadaver in verschiedenen Kirchen Mesner war, weshalb man Kadaver in der Kokica den »Mesner« nannte. Da es Jokl gelang, Kadaver vollkommen von allen anderen zu isolieren, zapfte er ihm allein das Blut tropfenweise wie eine Spinne ab. Auch konnte Kadaver niemand recht leiden, weil er der eifrigste Patient war. Wenn sich die ganze Stube nach der Injektion vor Schmerzen krümmte, schrie der lange Kadaver, dem ein dicker, roter, ein wenig abgezupfter Schnurrbart herunterhing, fanatisch: »A-a-ha! Das ist gut, das ist gut! Das ist Gottes Strafe! Ja, brennen soll es! Brennen soll es! Je stärker, desto besser.« So schrie Kadaver und wand sich wie eine kranke Katze; er fastete ganze Tage hindurch in der festen Überzeugung, daß dieses Spital das Fegefeuer sei, in dem er sich jetzt von seinen Sünden reinigen könne. Beelzebub war, den Zylinder auf dem Kopf, im Auto an ihm vorbeigefahren, Kadaver hatte Ihn erkannt, aber zu spät. Jetzt mußte man diese Folter durchhalten und die Sünden abbüßen! So reinigte sich Kadaver schon zwei Monate lang im Spital von seinen Sünden und fastete, daß er zu einem Skelett abmagerte. Den Rosenkranz um die Finger gepreßt, betete er täglich ungezählte Male das Vaterunser mit dem Ave Maria. Die ganze Zeit über quälte ihn ein einziger Gedanke: einmal nachts zu seinem Haus zu schleichen. Und so hatte er sich heute nacht nach Hause gestohlen, und jetzt sollte er daran zugrunde gehen. Er lag zerschla45
gen und erschöpft da und schnarchte. Sie zündeten die Kerze an. Beim gelben zitternden Kerzenschein sah der Mesner wie ein Toter aus, ganz steif. Um seine Finger war der Rosenkranz mit den dicken Perlen gewunden. Das Licht brach sich auf der Glatze des Mesners, sein Schädel schimmerte auf dem Strohsack, als ob er aus lackiertem Wachs wäre. Jokl betrachtete hämisch sein Opfer, während eine teuflische Idee durch seinen Kopf blitzte. »Hallo, Leute! Sollen wir ihn verzaubern? Wie den Italiener gestern auf Nummer 7! Wo ist ein Spiegel?« Im Nu schaffte Jokl einen kleinen Spiegel herbei und bemühte sich, den blassen Widerschein der Kerze, den der Spiegel zurückwarf, wie ein Bündel auf Kadavers Augenbrauen zu lenken, die alt, runzelig und schwarz, ja rußig aussahen. Die Augäpfel schienen unter den fein verästelten Äderchen etwas angeschwollen. Die weißen Strahlen krochen über die liefen Augenhöhlen und zerflossen wie weißes Magnesium über dem kranken und leidenden Gesicht des unglücklichen Mesners, das der rötliche, üppige Schnurrbart beschattete. Der Schatten seines glatzköpfigen Schädels fiel auf die Wand, verzerrte sich dort zu grotesken Dimensionen und zitterte wie ein Phantom. Fast alle Patienten waren aufgestanden, das ganze Zimmer stand um das Bett des Mesners herum und starrte auf das grausige Spiel. »Weiß Gott, ob es Jokl gelingen wird, Kadaver ganz einzuschläfern, wie es ihm gestern auf Zimmer 7 mit dem Italiener gelungen ist!« Jokl hatte den Italiener so tief eingeschläfert, daß er es nicht spürte, als man ihn in das Klosett führte. Erst dort 46
wachte er auf und erschrak zur Freude der ganzen Kokica gewaltig. Doch jetzt herrschte vollkommene Ruhe – man wartete gespannt –, wird es gelingen oder nicht? Lange, lange fielen jene Lichtstreifen aus dem Spiegel auf die runzeligen Züge und Augenbrauen des Mesners, auf die Masse, ausgesogene Maske, auf das beschattete, leidende, von Furchen durchzogene Gesicht. D.och nichts! Vergeblich! Es wird ihm nicht gelingen. Der Mesner schnarchte weiter. Als ihm aber ein paar unter die Arme griffen und ihn aufzuheben versuchten, begann er herumzuschlagen, als ob er Fliegen verscheuchen wollte. Er spürte es noch, er war noch nicht hypnotisiert! Jokl wurde nervös. Er wußte, warum die Sache nicht gelang! Er konnte sich nicht konzentrieren. Er war zerstreut. Was schimmert dort, unter dem Kittel Kadavers? Etwas Goldenes?! Das ist doch ein goldenes Medaillon. Das gemeine Aas! Trägt ein goldenes Medaillon am Hals, von dem ich nichts weiß? Das ist zwanzig Kronen wert, mindestens. Und die unehrliche Kanaille hat mir das verheimlicht! Na, ich werde es dir schon zeigen, du Schuft! Ein stummer, tiefer Haß ergriff Jokl, es reizte ihn, den hinterlistigen, gemeinen Kadaver zu zertreten – nur weil er ihm das goldene Medaillon verheimlicht hatte. Der Wille zum Hypnotisieren zerrann, er schielte nur schief auf des Mesners Gold, das unter dem Kittel schimmerte. Er beugte sich so ungeschickt vor, um es besser sehen zu können, daß sich das Licht vollends auf der Wand zerstreute. »Paß auf!« schrien halblaut die Patienten links und rechts von ihm. Jokl war aber so zerfahren, daß er jetzt 47
zitterte und das Licht nicht mehr auf dem Gesicht des Mesners tanzen, sondern nur über den Strohsack und das Leintuch kriechen lassen konnte. Ah so? Ein goldenes Medaillon hat er? Und jetzt hab’ ich mich noch mit der Komödie blamiert. Zum Teufel! So ein Schwein von einem Mesner! Er schob die rauchende Stearinkerze mit einer perversen Gebärde unter die Füße Kadavers. Kadaver hielt den linken Fuß ausgestreckt, der knochig und gelb über das Leintuch hinausragte, da die Pritsche zu kurz war. Als die Kerzenflamme sein Fleisch versengte, begann das ganze Zimmer wild und ausgelassen zu brüllen vor Lachen. Kadaver bäumte sich auf, wie irrsinnig vor Schmerz, stieß erschrockene Laute aus, stolperte, als er sich auf der Pritsche aufrichtete, und fiel krachend zu Boden … Im ganzen Zimmer lachten sie, als ob sie am Bauch gekitzelt worden wären, daß die Unterhosen, die Gedärme und Kinnbacken, die Hosenschnüre und die nach Karbol stinkenden Kittel wackelten. Draußen auf dem Gang schlugen sie mit den Füßen gegen die Tür, daß die Bretter ächzten und krachten, das Zeichen, daß das Nachtmahl vor der Tür stand. »Nachtmahl! Nachtmahl! Nachtmahl!« Das ganze Zimmer begann wild zu schreien, alle sprangen auf und stürzten auf einmal zur Tür, vor der zwei Patienten im Hemd standen, jeder ein fettiges Brett in den Händen, auf dem die Näpfe mit dem Nachtmahl rauchten. »Gibt es Nudeln? Oder Brei?« »Schon wieder das verfluchte Grünzeug! Der Teufel soll sie holen!« 48
»Wie das stinkt, Kruzifix!« »Und wo ist heute abend wieder das Fleisch? Das haben die in der Küche wieder gestohlen! Die verdammten Köche!« »Es ist ja drinnen, was fluchst du, blöder Kerl?« »Das soll bei dir Fleisch sein, Mato? Das ist eine zerrissene Schuhsohle und kein Fleisch!« »Ein verfluchtes Leben! Immer nur Grünzeug!« Sie stürzten sich wie hungrige Sklaven auf das blutige Roßfleisch, tranken die saure, schmutzige Brühe, zerrissen das Fleisch mit Zähnen und Händen, klapperten mit den Löffeln in den Blechnäpfen, daß das ganze Zimmer schepperte, wie wenn die Kühe von der Wiese nach Hause läuten. Jokl hatte heute keinen Gusto, er stieß seinen Napf von sich; in seinem Kopf spukte das goldene Medaillon. Draußen auf der Straße fiel die Abenddämmerung ein. Die dicken Gitterstäbe zeichneten sich grob auf der bläulichen Mauerfarbe ab, wie in einem Gefängnis. Draußen hörte man die Kinder rufen: »Die neuesten Nachrichten! Abendblatt! Wir werden keinen Abend satt!« Wie oft hatte Jokl diese Kinder mit einem Groschen so lange gelockt, bis sie zur Mauer gekommen waren, und dann hatte er sie blitzschnell mit siedendheißem Wasser begossen; heute war er nicht zu solchen Späßen aufgelegt. Heute gingen ihm Ideen im Kopf herum, er heckte immer wieder neue Pläne aus, wie er zu dem Medaillon kommen könne, das Kadaver vor ihm versteckt hielt. »Willst du heute nicht fressen?« fragte ihn der alte Japa und kramte mit den Fingern in Jokis Grünzeug her49
um, um den Fetzen Roßfleisch aus dem sauren Wasser herauszufischen. »Ich kann nicht. Nimm’s dir nur.« Der alte Japa, Japica, verstaute das Roßfleisch in seinem Napf. Es gab mehrere, deren Magen das abscheuliche Pferdefleisch nicht vertragen konnte und wiedergab. Von ihnen sammelte der alte Idiot das Fleisch ein, er sortierte es, salzte es ein und versteckte es in seinem Beutel, nachdem er noch Tabak darübergestreut hatte, damit es nicht stank. Der alte Schwachsinnige, von dem niemand wußte, wie er Soldat geworden und wie ihm das passiert war, hob das Fleisch für seine Enkel auf, um es ihnen nach Hause zu bringen, wenn es so weit war; doch das Fleisch war schon ganz verdorben. »Japa! Nimm, du gescheiter Trottel! Deine Kinder werden krepieren, wenn sie das fressen!« »Warum?« »Weil es stinkt wie Scheißdreck, Japica!« »I wo, in deinem Kopf stinkt’s.« Dann ging leise die Tür auf, ganz leise, und in der Öffnung erschien ein Kinderköpfchen und zwitscherte dort in einem piepsenden Sopran sein Abendlied. Das waren diese kranken Vöglein, »Herr, ein bißl Brot!«, die in den Kanälen und Hintergärten wohnten und in den Soldatenspitälern lebten, die sie wie Schwärme kleiner Leichenvögel umflatterten. Das war jenes Proletariat, »das es bei uns eigentlich gar nicht gibt«. Diese Kinder verzogen ihre Mundwinkel mit einer degenerierten Mimik, verzerrten die Lippen wie grinsende Masken und begannen laut zu weinen. Das Kind 50
stand in der Tür des Zimmers, heute abend genauso wie gestern, eine Blechdose in der Hand, in der einmal Seidenbonbons waren und in die es jetzt stinkendes, saures Wasser und Kommißbrot sammelte. Es sah aus wie ein Sautrank – es war aber für Menschen zubereitet worden. »Wo ist deine Mutter?« fragte aus dem Halbdunkel ein großer, halbnackter tierischer Kerl das Kind in der Tür. Er kam näher und begann das Mädchen mit seiner schwieligen, behaarten Pranke zu streicheln. »Geh, komm, mein Armes! Wärm’ dich!« Der Lange hob das Mädchen in seine Arme und trug es zu sich ins Bett. Seine blutunterlaufenen Augen röteten sich und fingen zu glänzen an. Dann hörte man aus der Dunkelheit plötzlich Kinderweinen und Wimmern. »Laß das Kind, du verfluchtes Aas!« Alle regten sich auf, sie warfen die Bank um, zwei, drei Ohrfeigen knallten und es entstand ein Wirbel. Irgendwo, am Ende des Zimmers, begannen sie sich schreiend zu schlagen. »Kennst du gar keine Gottesfurcht? Gott wird dich mit seinem Donner zerschmettern!« »Laß ihn. Was geht das mich an? Mir ist alles egal.« Jokl, der nur mit halbem Ohr zuhörte, wie sich die Leute stritten und balgten, war nervös vor Unentschlossenheit: sollte er die Sache mit dem Medaillon jetzt erledigen oder auf morgen verschieben? Wie von irgend etwas getrieben, torkelte er auf und ging, besessen wie ein Nachtwandler, Kadaver suchen, obwohl ihm sein Verstand sagte, daß es besser sei, bis morgen zu warten. Kadaver lag auf seiner Schlafstelle; der Fuß, den er sich verletzt hatte, als er über das Bett fiel, schmerzte ihn. Es 51
brannte ihn zweifach. Die Wunde von heute nacht und dieser blutige Riß. Kadaver war gar kein sonderlich guter Mensch. Willensschwach, ließ er sich treiben wie die Algen im Wasser; gingen die Wellen höher, dann hatte auch er Auftrieb, und je nachdem, welche Strömung ihn trug, schwamm er in einer frommen Betäubung oder von Neid erfüllt. Wenn es Menschen gibt, die zum Leid geboren sind, dann war Kadaver einer von Ihnen. Dieser lange Tuberkulöse mit der kretinisch vorgehenden Kinnlade konnte seinen Lebensweg nicht geradeaus gehen, er mußte immer über irgend etwas mit seinen langen Beinen stolpern und hinfallen. Als Kind ministrierte er in einem katholischen Kloster. Damals schon spielte er eine traurige Rolle in einem Homosexuellen-Skandal, der die Sensation der kleinen Provinzstadt war. Die Kinder – sixtinische Soprane – sangen im Kloster das Mendelssohnsche Ave Maria, und aus diesem Mendelssohnschen Ave Maria unter Harmonium-Begleitung entwickelte sich die ganze Geschichte bis zum Gerichtsakt auf dem grünen Richtertisch mit den brennenden Kerzen. Da stand nun der kleine Ministrant Kadaver, die Blicke des ganzen Tribunals auf sich gerichtet, und wurde, wer weiß wie, zum Angelpunkt des ganzen Prozesses, von dessen Geständnis es abhing, wie sich diese ganze antiklerikale Kampagne entwickeln würde. Er sah in die Flammen der Wachskerzen, die unruhig flackerten, in die kleinen Schweinsaugen des Präsidenten, die in bestimmten Abständen aufzuckten, und alle warteten, daß er, Kadaver, der Ministrant, das entscheidende Wort spreche. Ja oder nein. Er 52
aber schwieg, aus Angst – sie erstickte ihn fast –, und er konnte weder ja noch nein sagen! Es würgte ihn immer stärker im Hals, er begann plötzlich zu schreien, sich auf die Brust zu schlagen, wie ein Büßer vor dem Altar, er stürzte in einem schrecklichen Krampf auf die Knie und begann laut zu schluchzen. »Ich bin unschuldig! Ich bin unschuldig!« schrie das arme Kind unter Tränen und schlug sich wieder auf die Brust. Seine Verstrickung in diesen Monsterprozeß und das Bild des Jammers, das er damals vor dem Tribunal geboten hatte, enthüllten das Gleichnis von Kadavers Leben. Nie gelang es Kadaver, sein Leben sinnvoller zu gestalten, er kniete immer vor irgend etwas, er schlug sich auf die Brust und beteuerte seine Unschuld, er litt und fügte sich tatenlos drein. Vielleicht wäre er, wenn das damals nicht passiert wäre, im Kloster geblieben und eingekleidet worden, wovon er immer geträumt hatte. So aber fand er sich nach dem Prozeß auf die Straße gesetzt und wurde Schuster. Als achtzehnjähriger Laienbruder kam er dann wieder zur Kirche und war lange Mesner. Er schmückte die Altäre mit Papierblumen, löschte die Kerzen aus, wischte den Staub von der Orgel, und das alles, bis er endlich auf einen Teufel stieß, diesen Teufel heiratete und wieder alte Schuhe zu flicken begann. Er war heute noch immer nicht sicher, ob sein erstes Kind von ihm war, und wie es zu Hause und in seiner Familie aussah, davon wußte er fast nichts. Wie töricht ihm das in Budapest mit der hinkenden Frau passiert war! 53
Sie hinkte und ihre Zähne rochen schlecht. Er spürte, daß .sich etwas Grauenhaftes auf ihn stürzte, konnte aber nichts dagegen tun. Vielleicht war es ihm so bestimmt. Er war damals Rekonvaleszent und vor dem Urlaub – und jetzt lag er da, vergiftet und blutig geschlagen! Aber das alles hätte er noch ertragen und hinuntergeschluckt, weggebetet und gesühnt, wenn dieser Jokl nicht dagewesen wäre. Der Teufel selbst mußte ihn geschickt haben! Das war die größte Versuchung seit seiner Geburt. Dieser grauenhafte Jokl! Als er jetzt fühlte, wie Jokl zu seiner Pritsche schlich und sich, freundlich tuend, auf seinen Strohsack setzte, zitterte er vor Angst und Zorn. Der aufgeschundene Knochen brannte. Dieser Schmerz flößte ihm eine Widerstandskraft ein, die er sonst nicht hatte. »Paß auf, Kadaver! Gib mir zwei Kronen!« »Ich hab’ nichts! Gestern hab’ ich dir die letzte gegeben.« »Du hast nichts, zum Teufel!« Pause. »Kadaver! Gib mir zwei Kronen!« Mit schärferer Betonung. »Aber, lieber Jokl, ich sag’ dir doch, ich hab’ nichts.« »Du lügst! Du hast was. Ich weiß, daß du was hast!« »Ich hab’ nichts. Nicht einen Heller hab’ ich. Ich hab’ dir alles gegeben, was ich gehabt hab’!« »Du gibst sie mir also nicht?« »Ich hab’ nichts. Nicht, daß ich nicht will! Wenn ich sie hätte, würde ich sie dir geben.« »Du lügst! Was hast du nicht? Du lügst frech! Und das Medaillon? Na! Was ist mit dem Medaillon?« »Was für ein Medaillon?« 54
»Du, verstell’ dich nicht … Paß einmal auf, Kadaver: Du weißt, daß ich keine Witze mache! Das Medaillon, das du um den Hals hängen hast!« Kadaver griff instinktiv mit beiden Händen nach dem Medaillon. Dieses Medaillon hatte er als Kind von seinem Taufpaten, dem Kanonikus, bekommen. Darin war ein Splitter vom heiligen Kreuz von Golgatha. Er hätte sich eher auf der Stelle den Kopf abschneiden lassen, als dieses Medaillon vom Hals heruntergenommen. Als ob er den Teufel vertreiben wollte, fuhr er entschlossen mit der Hand empor und stieß Jokl mit einer ungewöhnlichen Kraft von sich. »Putz’ dich! Marsch!« Jokl, überrascht von diesem Ausbruch Kadavers, rutschte aus und wäre auf den Buckel gefallen, wenn er sich nicht rasch gefangen hätte und auf die Füße gesprungen wäre. Ein paar Augenblicke prüfte er Kadaver mit hochgezogenen Augenbrauen, als plötzlich jemand stark und energisch klopfte; Jokls Aufmerksamkeit wurde abgelenkt; er sah auf die Tür. »Das ist Adam! Das ist Adam! Herein, komm herein!« rief das ganze Zimmer, und viele sprangen mit freudigem Lachen auf, um Adam zu sehen. Adam, ein blasser, gebeugter Epileptiker, war eine Attraktion in der Kokica, und insbesondere für das Zimmer Nr.13. Der zahnlose, zitternde Greis mit den dunklen Augengläsern, um die sich rund um die Augenhöhlen die Röte einer akuten eitrigen Entzündung verbreitete, war hier in der Kokica der große Priester der Mutter Venus, der heiligen Göttin der Liebe. Er trug in seinem schwarzen Beutel die greulichste pornographische Ware, die 55
man sich nur ausdenken kann, und fütterte mit diesen vielerlei Wundern seine Kücken in der Kokica. Vor vielen Jahren war er irgendwo in der Provinz im Staatsdienst gewesen. Er hatte es schon zum Manipulanten gebracht, aber dann gab es bei irgendwelchen Wahlen eine Schießerei, die seiner Meinung nach von den Magyaren vom Zaun gebrochen worden war, und da er eine solche Schande einfach nicht ertragen konnte, hatte er einem eine heruntergehaut, dem Bezirkshauptmann oder einem Kommissär, jedenfalls irgendeinem von den Großen. »Ich hab’s getan, ich hab’s getan. Und ich hätte ihn erschlagen, das verfluchte magyarische Blut, wenn sie mich nicht in den Arrest gesperrt hätten.« Er wurde hinausgeworfen. »Weil ich für eine gerechte Sache gekämpft habe!« So litt Adam, im Kampf für die gerechte Sache. Seine Frau verließ ihn, er bekam die Epilepsie und sank immer tiefer; jetzt war er ganz unten, fast schon am Boden. Die Nächte verbrachte er auf einer Schlafstelle bei einer alten Frau, wo sie fünfzehn im Zimmer waren und er zum Bettgenossen einen Gewalttäter hatte, der ihn immer an die scharfe Bettkante stieß, wo es hart und kalt war. Er verköstigte sich in den Spitälern und trug um den Kautschukkragen eine rote Krawatte, weil er ein roter Teufel war. Denn bevor die roten Teufel diesen unseren Stall nicht wie Kühe mit roten Zungen reingeschleckt haben werden, wird keine Ordnung herrschen. »Was gibt’s Neues, Adam? Servus, Adam!« schrien sie im Zimmer voller Erwartung, da er schon einige Tage nicht da gewesen wari »Jajaja, ich bin gekommen, meine Kücken! Ich bin ge56
kommen, jajaja. Warum denn nicht? Da bin ich. Aufgepaßt, meine lieben Täubchen! Aufgepaßt, neue Ware! Für fünf Kronen, neue Ware!« Er ging zum Tisch, machte seinen Wundersack auf und holte noch nie gesehene Sensationen hervor. »Kleopatra, die afrikanische Königin, mit einem Neger!« »Und da, die heilige Theresia mit der Taube!« »Und das da?! Die Alte mit dem Alten!« »Die Alte mit dem Alten haben wir schon gehabt. Und die heilige Theresia haben wir auch schon gesehen.« »Aber Kleopatra nicht, meine Kücken! Schaut euch den Neger an, wie fürchterlich!« »Na, gib deine Kleopatra her! Was kostet deine Nonne, he?« »Fünf Kronen! Alles zu fünf Kronen! Das ist aber auch solid, bitte schön! Das ist nicht irgendwas! Das ist unzerreißbar, bitte, das ist feine Ware!« »Haha, schaut euch den Neger an, wie er sich windet und plagt! Haha, schaut euch den an!« Die Leute waren wie verrückt nach diesen kleinen Figuren, die aus einer grauen Masse gegossen waren, die weder Harz, Gummi noch Kautschuk war und sich wie Teig dehnte. Was Adam da brachte, waren merkwürdige Perversitäten, wer weiß aus welchen obskuren Quellen. Fünf Kronen kosteten bei ihm die Figuren, zwei Kronen die Photos. Die Leute kauften die kleinen Plastiken und spielten damit wie Kinder. Es war gar nicht so leicht, die ausgehungerte Phantasie des Spitals immer wieder mit neuen Sensationen zu reizen. Dazu gehörte schon etwas, diese schlaffen Nerven und diese Resignation aufzupeit57
schen, Adam plagte sich redlich, er lief tagelang herum und mühte sich ab, um die Kaprizen seiner Kunden zu befriedigen. Während sie in dem Sack mit den Figuren wühlten, schlich Adam unbemerkt zum Tisch und schleckte die Schalen aus, kaute die Rinden des Kommißbrotes und kratzte mit den Fingern das abgestandene Fett vom Blech. Die weibliche Nacktheit erfüllte das ganze Zimmer. Die Männer stellten die Photos der nackten Frauen neben Flaschen und Kerzen, und jetzt, im gedämpften, gelben Licht, während »Theresia mit der Taube« und. »Kleopatra mit dem Neger« und »Die Alte mit dem Alten« durch das traurig-verdüsterte Zimmer wanderten, hörte man, wie Adam die Knochen ablutschte und wie ein Hund zerknackte. Unbeholfene Worte fielen, gelallt und geröchelt, gespenstisch und nackt wie das Leben. Man begann vom Weibe zu reden. Das Weib ist stark. Die Injektion verscheuchte es nur für kurze Zeit; man verfluchte es nur, solange die Injektion im Körper brannte. Das Weib aber war stärker als alles. Aus jedem Patienten schoß jetzt die Flamme, und wenn Adam schon lange fort und Gott weiß wo war, warfen sich die verspielten und brünstigen Männer noch auf den Pritschen hin und her, als ob er sie verzaubert hätte. »Ach Weiber, Weiber«, seufzten sie in der Dunkelheit, daß sich die Kiefer dehnten und die Mäuler zitterten und durch die Poren aus der Tiefe der Schweiß brach, wie Dampf aus dem Kessel. Der Kanonier Mirko Krlec war in Zivil Typograph; er war tuberkulös – er hustete ein bißchen, kh-kh –, Sozialdemokrat und Esperantist, kh-kh, korrespondierte mit 58
Esperantisten aus Japan und Argentinien und glaubte fest, daß der Sozialismus siegen werde, kh-kh, und redete davon im Zimmer seit dem ersten Tag. Er war kein Parteiagitator, er war Amateur und Dilettant in diesen prophetischen Belangen, aber mit viel Herz und Liebe; er stopfte sich damit den Kopf voll, daß man alles unterminieren müsse, links und rechts, and daß an einem Tag alles zusammenstürzen werde. Er verstreute in der Kokica eine ganze Menge Broschüren über entsprechende Themen, wie: Was ist Sozialismus?, Die Pariser Kommune, Die Lügen der römischen Kirche. Die Leute begannen zu lesen bis zur dritten Seite; dann wurde es ihnen langweilig oder sie verloren den Zusammenhang; so konnte man diese Broschüren, fettbefleckt und zerrissen, überall herumliegen sehen; sogar im Klosett und im Ambulatorium flogen die zerrissenen roten Blätter umher. Krlec lag links von Kadaver – rechts hatte der selige Svetec gelegen – und so mußte Kadaver, der treue Katholik, die gottlosen und gotteslästerlichen Reden mitanhören – Dynamit, mit dem Krlec die Kokica unterminierte und fromme Seelen vergiftete. Auch heute, nachdem Adam gegangen war und sich die Leute Im Pavillon verlaufen hatten, um Besuche zu machen – sie waren bis zur Inspektion frei und besuchten in dieser Zeit die Kollegen aus den anderen Zimmern –, sammelte sich um das Bett des Krlec eine Gruppe, die sich hier zu einem gemütlichen Gespräch zusammenfand, mit dem sie Tag um Tag die Zeit vertrieb. Da war der Infanterist Hrmeščec, durch und durch vergiftet, degeneriert und von Visionen heimgesucht; 59
der Invalide Gregorić, dem sie das linke Bein unter dem Knie amputiert hatten, und der alte Koren. Hier fanden sich auch genug Neugierige ein, man rauchte, spuckte und wälzte große Probleme. Man redete von den Steuereintreibern und daß Gott auch eine Art Steuereintreiber sei und daß er, wenn es überhaupt einen Gott gäbe, ein Steuereintreiber sein müsse, der kein Geld nimmt. Daß man heute nichts ohne Geld anfangen könne, und daß es am besten wäre, wenn es keinen Gott gäbe. Jemand behauptete, daß Gott für alles auf der Welt sorge, auch für dieses Zimmer hier in der Kokica, auch dieses Zimmer führe Gott in seinem Buche. »Dummkopf! Glaubst du, daß Gott keine vernünftigere Arbeit hat, als für solches Vieh zu sorgen, wie wir es sind?« »Ja, was kümmert sich Gott um uns! Es hilft nichts, ob du betest oder nicht. Da war mit mir der junge Toni Petrić draußen an der Front. Der Mensch schleckte ununterbrochen die Altarsäulen ab und trug alles der Kirche zu. Und was hat es ihm geholfen? Ich weiß selbst nicht, wieviele Talismane und Herzen Marias er um den Hals hatte. Nichts half es ihm. Es zerschmetterte ihm den Schädel wie jedem anderen.« »So ist es. Das sind alles Weibermärchen! Das haben sich alles die Pfaffen ausgedacht, um es leichter zu haben. Was glaubst du, wieviel Zentner Wachs verkauft die Kirche dem Volk? Und es ist immer dasselbe Wachs. Jedesmal dasselbe. Das arme Volk bezahlt es mit blutigen Schwielen. Na ja.« »Weil die Leute verrückt sind. Es wäre besser, wenn sie ihr Geld versaufen.« 60
»Meine Frau hat mir einen Fuß aus Wachs mitgegeben. Und ein Herz. Und bei einem Angriff zerschmolz es!« »Und mir die Meine den heiligen Rocco. Und als ich fast verblutet bin, hat mir der heilige Rocco einen Dreck genützt. Da hab’ ich ihn zerrissen. Zum Teufel mit ihm. Das ist alles Lüge. Nützt nichts.« »So ist es. Es hilft nichts. Du krepierst so und so. Es ist alles eins!« »Ah, Leute, das ist nicht ganz so! Das sind keine Kleinigkeiten, das hängt nicht davon ab, ob du daran glaubst oder nicht! Du kannst auch nicht daran glauben, und es geht doch weiter, auch ohne dich. Wir haben auch einen ungläubigen Thomas im Dorf gehabt, der nichts glauben wollte. Er wettete, daß er das Kruzifix ohrfeigen werde. Er kam zum Kruzifix, es war Sonntag mittags. Als auf einmal … ein Donner aus dem klaren Himmel …« »Du lügst …« »Das linke Auge soll mir ausrinnen, wenn ich lüge. Der Blitz hat ihn vor dem ganzen Dorf niedergeschlagen.« »Hast du es gesehen?« »Ich hab’s nicht selbst gesehen. Das ist wahr. Ich würde lügen, wenn ich sage, ich hab’s gesehen. Nein, das nicht. Aber ich hab’ die Leute davon reden gehört. Ich war damals Schweinehirt.« »Na ja. Du hast die Leute davon reden gehört! Man hat dir was erzählt! Aber gesehen hast du’s nicht. Mit deinen Augen.« »Ich hab’s gesehen. Mit meinen Augen«, meldete sich eine zitternde Stimme aus der Ecke. »Ich hab’ einen gesehen, der den ganzen Körper voll Würmer hatte. Dicke 61
Würmer, wie Finger, sie haben ihm die Wunden gebissen und gekratzt. Er hat die Hostie mit den Zähnen gebissen! Er hat gewettet, daß er sie aussaugen und ausspucken wird!« »Ach was! Bei uns hat man auch erzählt, daß aus der Hostie Blut fließt, wenn man einen Nagel in sie einschlägt. Wir haben’s probiert und vielleicht ein Dutzend Nägel in die Hostie eingeschlagen …« »In die Hostie?« »Ja! Mitten in die Hostie! Und nichts ist geschehen.« »Das sind alles Lügen! Sie haben Gott erfunden und schrecken das Volk mit diesem Gott!« »Halt’s Maul! Was redest du da für Blödsinn?« »Ja. Jetzt spuckt ihr auf alles! Wenn aber die Granaten rechts und links einschlagen, dann ist euch Gott gut genug? Dann ist es gut, zu knien und die Kerzen anzuzünden?« »Wer zündet schon Kerzen an? Wer betet? Niemand betet zu niemand. Unser Zug hat die Kirche in Lahovci ausgeplündert. Die Stellung ist oben über dem Friedhof gelaufen, so daß die Kirche von den Unseren unterminiert wurde, wir hatten sie aber schon vorher ausgeplündert. Aus den Kirchenbänken haben wir die Unterstände gebaut und die hölzernen Altarheiligen haben wir wie Rekruten in den Graben gestellt. Wir haben sie gemustert, geohrfeigt und ihnen die Pfeifen ins Maul gesteckt, zum Rauchen. Und solange wir diese Heiligen geohrfeigt haben, ist es uns gut gegangen. Die Züge links und rechts sind aufgerieben worden, wir nie.« »Warte nur! Das wirst du nicht überleben!« 62
»Ach! Was wird mir passieren? Nichts wird mir passieren! Und was geschieht, geschieht, basta!« »Na, wie ist das denn? Gibt es überhaupt einen Gott oder nicht?« Endlich wagte Hrmeščec diese große und entscheidende Frage zu stellen. Dieses Thema interessierte ihn ganz besonders. Alle diese Gespräche drehten sich um Gott, verflüchtigten sich aber in einem Herumtasten, so daß am Ende nie etwas Klares und Positives herauskam. Hrmeščec war daran persönlich interessiert, er wollte wissen, woran er war. Denn Hrmeščec war tief-in Schuld verstrickt, ein großer Sünder. Er hatte irgendwo in Galizien in einem Halbtraum ein Kind umgebracht und der Mutter den Hals abgeschnitten. Das war vor drei Jahren. Erst viel später war ihm langsam zum Bewußtsein gekommen, was er eigentlich getan hatte, es begann tief in ihm etwas zu nagen und sein Blut zu saugen. Nachts hörte er das Weinen des Kindes, das er mit der Tuchent erdrosselt hatte. Als sich das kleine Geschöpf noch unter seinen Händen bewegte und zuckte, hatte er stärker zugedrückt – bis diese Stille entstanden war. Nächtelang hörte Hrmeščec jetzt das Kinderweinen, er konnte nicht einschlafen vor Angst. Er dachte schon daran, in die Kirche zu gehen und alles zu beichten. Aber als er ins Spital kam, verwarf er diesen Gedanken wieder. Er war schon ganz vergiftet und weder Weihwasser noch ein Hokuspokus des Pfarrers konnte das von ihm abwaschen; er würde schon zum Teufel gehen. Und nun hörte er hier vom Kanonier Krlec, daß es keinen Gott gibt und daß Gott nur eine Erfindung der Reichen ist und die Hölle und 63
das Fegefeuer nur in den Gehirnen der Bourgeois leben. So etwas hörte man gerne. Denn wenn das stimmte, gab es auch alle jene Qualen der Hölle nicht. Wo die Teufel die Menschenseele in ihrem eigenen Schmalz braten, mit Mistgabeln durchstechen und dann ihre Kuhschwänze schwingen. Nach dieser Frage des Hrmeščec herrschte lange Ruhe, wer hätte auch die Kraft zur endgültigen Antwort gehabt. Und in dieser Stille wurde der Kanonier Krlec sich seiner Berufung bewußt, diesen verwirrten Knoten zu lösen und den klaren Ausweg zur Rettung aufzuzeigen. Vor langer Zeit, es war noch ein paar Jahre vor dem Krieg, hatte ihn die Parteizentrale in die Provinz zu einer Versammlung geschickt. Als Delegierter der Zentrale war er auf dem Bahnhof von einem feierlichen Menschenzug mit roten Fahnen empfangen worden. Nach dem ihm zu Ehren veranstalteten Fackelzug hatte er vom Balkon zur Masse gesprochen, und dieses dekorative Bild – rote wehende Fahnen – prägte sich so gewaltig in seine Seele ein, daß er nie von seiner Sache sprechen konnte, ohne auch diese symbolischen roten Fahnen einzubeziehen. Er stellte sich in seinem Hirn diese Revolution, die da kommen würde und endlich auch sicher kommen wird, wie einen Zug mit roten Fahnen vor, mit Fackeln, der mit der Marseillaise durch alles und über alles hinwegstürmt. Er hörte die silbernen Stimmen, die Bässe und Baritone: Vorwärts, Söhne des Vaterlandes … So begann er von dem neuen Gott zu sprechen, der mit der roten Fahne vorwärtsgeht, der alle alten Götter, alle unsere Himmel und Höllen, Kirchen, Heiligen und 64
Altäre stürzen und einen neuen Himmel aufbauen wird. Und er wird unser Leben sein, dieser neue Himmel! Für diesen neuen Gott wird nicht nur ein einziger gekreuzigt werden, sondern Millionen und Abermillionen werden es, aber dieser Gott wird siegen! Und wir alle, die wir ihm heute die Wege ebnen, sind seine Soldaten und seine Propheten. »Und wird uns dein neuer Gott mit der Fahne unsere alten Sünden vergeben?« fragte Vid Hrmeščec plötzlich spöttisch und überlegte, daß es ganz günstig wäre, dieser Partei des neuen Gottes beizutreten, wenn es so sicher war, daß er siegen und alle stürzen werde. »Selbstverständlich wird er uns vergeben! Deshalb kommt er ja, um uns zu vergeben!« »Und dann wird es keine Hölle mehr geben? He? Keine Qualen, keine Hölle?« »Nein, keine Hölle! Größere Qualen, als die unseren kann es ohnehin nicht mehr geben. Das, meine Lieben, ist schon die letzte Hölle! Und wenn wir alles zerschlagen und vernichten, dann wird es auch keine Qualen mehr geben.« Der Invalide Gregorić beugte sich vor, wobei er so ungeschickt mit seiner Prothese an das Bett schlug, daß die Blechfeder in der Prothese unangenehm schepperte, wie eine alte kaputte Uhr. »Und was wird mit uns Invaliden geschehen, wenn dein neuer Gott kommt?« »Ihr geht auch mit uns, wir gehen alle zusammen, Arm in Arm! Wir alle gehen hinüber, Leute! Wir schreiten jetzt über die blutige Sintflut hinweg, und wenn wir nicht selbst eine Brücke bauen, werden wir alle ersaufen, und dann kann uns niemand mehr helfen.« 65
»Gut gegeben. Recht hat er.« »Ja, Leute, eine Brücke müssen wir bauen! Eine Brükke! So wie die Bettler, die Krüppel und Blinden, die Invaliden und Lahmen auf den richtigen Brücken weinen und bitten, so sind wir heute alle Bettler, Zerrissene, Zerstückelte, Vergiftete, Zertretene! Auch zu uns muß der Gott mit der roten Fahne kommen, der uns dorthin führt, wo man menschlicher lebt! Was haben wir schon von unserem Leben gehabt, frage ich? Hat sich jemand um uns gekümmert? Irgendein Amt? Bittschriften hast du geschrieben, und sie haben dir nichts gegeben. Sie haben dich nur ausgenützt und ausgeplündert.« »So ist es, ja! Das ist die Wahrheit!« »Und du bist vor dem Altar gekniet. Und was hast du davon gehabt? Da schau, den Fuß haben sie dir abgeschnitten, vergiftet bist du und hungrig! Und wenn wir uns alle zusammentun in einer großen Prozession, müssen wir hinauskommen! Wir müssen! Aber wir warten, daß man uns hinausführt! Dort, wo wir hingehen, dort wird es keine Kasernen, keine Lazarette, keine Granaten geben, dort werden wir alle satt und gebadet sein, und es wird uns besser gehen als heute … wir werden weißes Brot essen …« So sprach der Kanonier Krlec, und das ganze Zimmer hörte ihm andächtig zu. Sie spürten die grausame Absurdität ihres Lebens – wie oft hatten sie nicht selbst schon so gedacht, daß unbedingt etwas kommen müsse und daß es so nicht ewig bleiben könne. Solchen Reden hörten sie gerne zu. Und er langweilte sie auch nicht. Da gab es keine Engel und keine Vaterunser, weder Heilige 66
noch Disziplin, wo man vom weißen Brot und irgendeinem guten Leben sprach. Wie schön wäre das, endlich gesund zu sein, sich sattessen und auf der guten Straße spazierengehen zu können und nicht mehr im Dreck zu stecken. Und das alles wird wirklich kommen. Warum sollte man da nicht an rote Fahnen glauben. Man wird rote Fahnen nehmen und das alles wird … Kadaver, leidend und wie zerschlagen, lag ruhig da und hörte diese gottlose und grausame Geschichte mit an. Jedes Wort durchbohrte sein Herz. Der Rosenkranz war um seine Hand gewickelt, er preßte die kleinen Perlen zwischen den Fingern und schwitzte vor Qual nach jedem dieser grausamen Worte. Diese verfluchten Teufel stürzten da Gott, unseren einzigen Herrn, und wollten einen neuen Himmel hier auf Erden errichten. Ja! Es ist wahr: das hier ist eine Hölle! Es ist wahr! Aber wir haben gesündigt, schwer gesündigt. Nicht nur ein heiliges Sakrament haben wir mit unseren dreckigen und unglücklichen Füßen zertrampelt, und dafür müssen wir dulden und leiden. Nur mit Gebeten und mit demütiger Reue können wir aus dem da herauskommen! Nicht mit roten Fahnen! Das sind alles verfluchte sozialistische Lügen! Was für einen Himmel wollen die errichten? Was für einen Himmel? Und er spürte als guter Soldat der katholischen Kirche die Notwendigkeit, seine Waffe zu ziehen und sich mit diesen Ketzern und Schmutzfinken da für die heiligen Dogmen und Wahrheiten zu schlagen. Er konnte doch nicht solche Gotteslästerungen dulden. Es war seine Pflicht, zu handeln. Aufgeregt, das Blut schoß ihm ins 67
Gesicht und seine Stimme zitterte, richtete er sich auf und begann heftig zu gestikulieren. »Das sind alles Dummheiten und Lügen, was ihr da redet! Der da lügt euch was vor, und ihr nehmt es für bare Münze! Ich kenne diesen Strolch! Glaubt ihm nicht! Das ist ein Sozialist!« Die Leute fuhren auf, als ob jemand einen Stein auf sie geschleudert hätte. Jemand einen Sozialisten nennen, war eine schwere Anschuldigung. Ein langes und fatales Schweigen entstand. Krlec, der arme tuberkulöse Krlec, wand sich und wartete. Das Schweigen dauerte. Das war jenes Schweigen auf dem Hof des Kaiphas, in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, als die Frau den Petrus in der Morgendämmerung fragte, ob er ein Sozialist sei. – »Ich kenne dich«, sagte die Magd, »du warst auch bei jener sozialistischen Bande.« Und Simon Petrus, der Sohn Jonas, leugnete die Verbindung mit dieser Bande und sagte, daß er kein Sozialist wäre, und der Hahn meldete sich in der Bierstube zum ersten Male. Kadaver spürte die Wirkung seiner Worte und wurde davon mitgerissen. »Man sollte das alles beim Rapport melden! Solche sozialistischen Schufte schaffen nur Verwirrung und machen das Volk verrückt! Alle diese Gauner und Tagediebe gehören eingesperrt! Dann würde Ordnung herrschen!« »Es ist nicht die Frage, ob ich ein Sozialist bin oder nicht!« antwortete Krlec, »sondern ob das wahr ist, was ich sage, oder ob das nicht wahr ist!« Kadaver sah, daß er einen Keil in diese gottlose Dreckbande getrieben hatte. Jetzt durfte man nicht locker las68
sen. Triff den Teufel, wo du kannst! Triff ihn gleich zum erstenmal, sonst steht die Schlange wieder auf und beißt dich. Er durfte nicht zulassen, daß Krlec sich wieder erhebt. »Doch – eben das ist die Frage! Sie sind einer von den Roten! Ich kenne Sie! Leute glaubt ihm nicht! Er wird euch alle zum Bösen verleiten. Er ist ein Aufwiegler. Ich hab’s gehört, wie er euch aufgewiegelt und zur Revolution aufgefordert hat. Ich werde das melden. Ich lasse es nicht zu, daß man hier Gott beleidigt.« »Wer hat beleidigt? Hab’ ich euch aufgewiegelt, Leute?« verteidigte sich Krlec verlegen. Es war keine angenehme Sache, als Sozialist zum Rapport zu müssen. »Ich habe von den teuflischen Sozialisten gehört, daß sie kleinen Kindern, bevor sie das dritte Jahr vollendet haben, ilie Kehle durchschneiden und ihr Blut trinken«, meldete sich da wieder eine Stimme. »Wer ist dieser Dummkopf? Wer redet solchen Blödsinn? Wer das sagt, weiß nicht, was Sozialismus ist«, meldete sich zur Verteidigung der guten Sache der Amerikaner Djordje Djurašević, ein Serbe, der bis jetzt passiv alle diese Gespräche und Reden mit angehört hatte. Er war in Amerika gewerkschaftlich organisiert gewesen und ignorierte Krlec, weil er alles marxistisch dargelegt und begründet haben wollte und nicht so irgendwie, so privat. Marxistisch, weil man den Sozialismus nur marxistisch deuten konnte. Alles andere war doch Blödsinn. »Wo aber ist der, der gesagt hat, daß die Sozialisten den Kindern die Kehle abschneiden, ha? Er soll sich jetzt melden. Auge in Auge. Der arme Dummkopf! Weißt du, 69
Unglücksvogel, daß der Sozialismus in Amerika steinerne Kirchen baut, Dome und Paläste? Das ist Sozialismus und nicht, was ihr glaubt. Die amerikanische Republik United States da drüben…« »Warum bist du dann nicht in Amerika geblieben, wenn dort der Sozialismus ist?« »Warum ich nicht geblieben bin? Das ist meine Sache, und glaubst du, daß ich nicht mit dem ersten Schiff zurückfahren werde? Gleich, wenn dieser verfluchte Krieg aus ist.« »Das ist kein verfluchter Krieg! Sondern ein Krieg für den König, den Glauben und das Vaterland!« »Und wer sagt das?« »Wer? Ich, Franjo Kadaver, der Schustermeister! Da schau her! Ich sa’g’s, wenn du nichts dagegen hast.« »Na, eine feine Sorte greift den Sozialismus an.« »Ich greife nichts an. Ich verteidige nur. Den ganzen Abend greift ihr schon an! Gott und den Staat! Und ich verteidige den wahren kroatischen Glauben und gebe ihn niemandem auf der Welt preis. Keinem Wallachen, keinem Sozialisten, keinem Amerikaner!« »Was ist das für ein kroatischer Glaube? Einen serbischen Glauben gibt es! Das ist allgemein bekannt. Wann hat aber jemand von einem kroatischen Glauben gehört? Der soll sich melden! Haha, wahrer kroatischer Glaube, haha.« »Ach so, du fragst, was das für ein kroatischer Glaube ist? Mich fragst du das? Was soll ich mit einem solchen Dummkopf? Was für ein kroatischer Glaube das ist? Das ist unser heiliger, kroatischer katholischer Glaube! Habt 70
ihr gehört? Ich gestatte es niemandem auf der Welt, diese Heiligtümer des Volkes zu beleidigen. Was seid ihr für Kroaten, Leute? Sie spucken auf euren Gott und euren Glauben, diese verblödeten Amerikaner und Sozialisten. Und ihr duldet das alles! Schämt euch, pfui!« Die Leute duckten sich, verkrochen sich in sich selbst und schwiegen. »Das ist wahr, zum Teufel, das ist wahr«, meldete sich einer vom Zimmer 25, dem Kadavers Worte einleuchteten. »Was ist wahr? Nichts ist wahr! Das sind alles Dummheiten ohne Kopf und Fuß!« rechtfertigte sich Djurašević. Er wollte nicht nachgeben. Der alte Koren hörte das fruchtlose Hin und Her, und auch er, ein alter Praktiker, der in Bayern auf einem Landwirtschaftskurs gewesen war und seitdem nur von Dampfpflügen träumte, wollte in den Streit eingreifen und ihn in sein Fahrwasser lenken. »Leute, das ganze Hin und Her, ob es einen Gott gibt oder nicht, wird die Welt nicht retten. Alle diese Religionen, ob serbische oder kroatische, das ist alles nur Glaube. Wenn uns aber etwas rettet, wird es der Dampfpflug sein. Ja, der Dampfpflug, sage ich, und dafür gebe ich meinen Kopf her! Das ist alles Politik und wieder Politik! Wir brauchen keine Politik, sondern Getreide.« »Wer hat dir denn gesagt, du alter Bock, daß der Sozialismus keine Dampfpflüge will? Eben das will er. Alles vom Grund auf umackern.« »Ja, und uns den Glauben und Gott rauben?« fuhr Kadaver streitsüchtig auf und ließ nicht locker. »Um alle 71
Altäre und Heiligen zu stürzen, nicht? Nichts werdet ihr umstürzen, weil das alles ein Meisterstück Beelzebubs und eine Lüge ist. Die Hauptsache ist, daß man ehrlich, gut und keusch ist und betet. Alles andere kommt von selbst.« An diesem Abend nahm Jokl an der Debatte nicht teil, obwohl er hier sonst immer energisch seine Meinung vertrat. Seine Weltanschauung war zynisch, aus der Zuchthausperspektive. Er lebte zwischen all den anderen aus dem Zimmer sein Leben auf seine Art, für sich allein. Heute abend war er aber nicht zu einem Streit aufgelegt. Heute abend ging ihm etwas viel Wichtigeres als dieser ganze Amerikanismus, Sozialismus und Katholizismus im Kopf herum. Er dachte noch immer an das goldene Medaillon Kadavers. Es mußte mehr als zwanzig Kronen wert sein, weil er nichts davon hören wollte. Und wie er sich nur aufgebäumt hatte, dieser Dreck von einem Mesner, und gleich zugestoßen! Aber das macht nichts, man mußte ihm energisch kommen, man mußte ihm ein Ultimatum stellen, entweder – oder. Er wäre ihm längst energisch gekommen, mit Ultimatum und so – aber nach ihrem Zusammenstoß war Adam erschienen, und nachher hatte sich alles so überstürzt, daß Kadaver keinen Augenblick allein war, und jetzt bellten die da wieder lauter Blödsinn! Unerträglich! Was blödelte der Mesner da mit seiner widerlichen Diskantstimme? Ach, was für ein Unsinn! Das überstieg doch wirklich schon alle Grenzen! Er schwärmte von Keuschheit? Er behauptete, daß es das Wichtigste sei, keusch zu bleiben? 72
»Hör’ einmal, sag mir, bist du keusch und ehrlich?« »Was?« Jokls bissige Frage kam so scharf und unerwartet, daß Kadaver erschrak. Jokls Stimme traf ihn wie ein Messerstich. »Mein Gott! Keusch! Niemand ist so keusch, wie er sollte! Unsere heilige katholische Pflicht ist, daß wir es werden!« »Ach so? Es ist unsere heilige Pflicht? Ich habe nicht gefragt, was unsere Pflicht ist, sondern ich frage dich, ob du ehrlich und keusch bist! Das frage ich dich!« Kadaver entging der ironische Ton Jokls nicht. Er wußte genau, wo der hinaus wollte. Jokl verstand Kadaver nicht. Niemand verstand ihn und begriff seine Qualen. Überhaupt Jokl! Ein Mensch, der ihn quälte. Und jetzt – er hatte recht, er hatte recht. Warum sollte er recht haben? Es war ihm passiert. Und was hatte er nicht deswegen gelitten, gesühnt und bereut. Durfte ihn jetzt auch noch dieser Dieb quälen? Nein, er hatte kein Recht dazu! Kadaver kämpfte mit seinen Gedanken und schwieg ein paar Augenblicke unschlüssig. »Na, warum schweigst du? Mir scheint, du glaubst selbst nicht zu sehr an deine Ehrlichkeit!« »Wie meinst du das?« »Wie ich das meine? Also gut! Ich meine, daß du kein Recht hast, da vor dem Zimmer anzugeben. Wir sind alle unter der Haut blutig! Alle! Warum sollen wir uns da voreinander was vormachen? Ich bin ein Zuchthauskandidat! Ich mache mich aber nicht besser, als ich bin. Ich sage: ja, ich bin ein Zuchthauskandidat und basta! Ich 73
war bei den Weibern und werde wieder zu ihnen gehen. Ich habe Syphilis und werde sie wieder kriegen. Ich schäme mich deswegen nicht. Aber dein Schöntun, pfui, das kann ich nicht leiden. Nein, das kann ich nicht leiden! Da schwafelst du von Gott und der Ehrlichkeit, vom heiligen Leben, und wenn man genauer hinschaut, bist du ein Schwein wie ich! Vielleicht ein noch größeres! Wenn wir uns jetzt ausziehen würden, ich weiß nicht, wer dreckiger ist!« Jokl stieß das alles in einem Satz mit großer Heftigkeit heraus, Kadaver buchstäblich mit Worten überschüttend. Der arme Schustermeister spürte, daß Jokl zum Generalangriff auf ihn angesetzt hatte, vor dem ganzen Zimmer, um ihn zu vernichten. In seinem Kopf wirbelte es, als ob er falle. Mit einer erstickten und vollkommen ergebenen Stimme sagte er leise: »Gott ist mein Zeuge, daß ich dir nichts schuldig bin. Und noch immer erbete ich jeden Tag zwei Kronen für dich! Was willst du von mir? Ich habe dir alles gegeben. Ich habe nichts mehr.« »Ich will von dir nichts! Habt ihr gehört, Leute, wie er mir das Wort im Mund umdreht. Ich will nichts von ihm! Das sind mir die richtigen Meister, die alles umdrehen! Warum laßt ihr euer Hirn von dem da versalzen, so einem alten dreckigen Hurentreiber! Fragt ihn, auf wen man heute nacht geschossen hat! Haha! Es ist ihm noch nicht genug, daß er da ist, er springt noch über die Mauer! Haha! Die Mädchen drehen sich in seinem Kopf, dem alten Ochsen, und da küßt er seinen Rosenkranz und schleckt ihn ab … hehe …« 74
Wirklich! Dieser starke Kontrast, daß man diesen Mann, der da ganze Nächte lang auf seiner Pritsche Rosenkranz betete, heute nacht angeschossen hatte, weil er von seinem Mädchen zurückgekommen war, dieser Kontrast wirkte. Das ganze Zimmer grinste hämisch und neidisch. Kadaver erhob sich, er war blaß geworden, unbeholfen stand er mitten im Zimmer. Alle lachten. »Gott weiß, ob du beim Mädchen auch den Rosenkranz küßt«, fing Jokl, der Teufel, wieder an und grinste und dann lachten alle anderen wie im Chor über Kadaver. »Du lügst!« »Was? Ich lüge?« »Du lügst!« »Leute! Habt ihr ihn gehört? Das ganze Spital ist Zeuge, daß man ihn heute nacht angeschossen hat, das ganze Spital weiß, daß er ein Wüstling ist, und er sagt mir vor allen, daß ich lüge!« »Du lügst!« »Ich lüge also? Na schön! Ja, ja, ich lüge! Aber hört mir jetzt gut zu! Nicht nur, daß man diesen Wüstling heute nacht angeschossen hat – er ist auch verheiratet! Er hat eine Frau und drei Kinder und liegt hier im Lazarett wie ich und sagt mir noch, daß ich lüge! Ja! Drei Kinder hat er und eine Frau, der alte Ochs, und statt sich zu heilen, läuft er mit den Mädchen herum!« »Du lügst!« »Ich lüge nicht! Ich schwöre auf mein Grab und auf mein Glück und meine selige Mutter, daß das alles wahr ist, jedes Wort! Soll er doch auch schwören, wenn er kann!« 75
»Du lügst, du lügst!« schrie Kadaver und dieser einzige Schrei kreischte automatisch aus ihm, und er spürte nichts anderes, als daß Jokl log, daß alles eine grausame Lüge war und er gegen diese Lüge nichts unternehmen konnte, weil ihm das alles so bestimmt war. »Pst! Ruhe! Die Inspektion kommt!« flüsterte da einer und kroch unwillkürlich ins Bett und zog den Mantel über seinen Kopf. Man hörte draußen im Gang Sporen und das Rasseln des vernickelten Offizierssäbels; irgend jemand löschte blitzschnell die Kerze aus und hüllte das Zimmer in Dunkelheit. Die Tür ging auf, der gelbe Schein der Soldatenlampe huschte über die Wand. Die Inspektion blieb ein paar Augenblicke stehen und horchte, wie jemand in der Ecke verstellt schnarchte; dann ging die Tür wieder leise zu, und man hörte nur die Sporen und den Säbel – immer ferner und ferner. Am nächsten Tag, nach der Visite, als die Patienten aus dem Ambulatorium zurückkamen, nahm Jokl Kadaver beiseite. Er war von einer bedrohlichen Ruhe. »Paß auf, Kadaver, auf mein Ehrenwort! Wenn du mir nicht gleich dein Medaillon gibst, gehe ich, mein Ehrenwort, aber direkt, hör zu, direkt zu deiner Frau. Und der Teufel soll mich hier auf der Stelle auffressen, wenn ich ihr nicht alles sage! Auf mein Ehrenwort!« Kadaver begann eben von neuem den Rosenkranz, er sah Jokl nur an und wollte sein Gebet fortsetzen. Er war sehr blaß. »Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden. Dein Wille …«, da blieb er stecken und konnte nicht weiter. 76
»Also, was ist, willst du es hergeben oder nicht?« Kadaver drehte Jokl den Rücken zu. Er verkroch sich ganz in sich. Er sah in diesem Augenblick ganz winzig aus, ganz ungewöhnlich erschöpft und durchsichtig. Jokl sah den gebeugten Kadaver an, seine Nase verlängerte sich zu einem Schnabel, er spürte, daß er nicht viel daran zu fressen hätte, wenn er in dieses Fleisch hineinbeißen würde. Das Aas! Noch wenn sie ihn begraben, wird er mit beiden Händen sein Medaillon festhalten. Er soll zum Teufel gehen! Jokl drehte sich um und ging durch den Stall in die Stadt, über den Misthaufen, das war der sicherste Weg, und wurde so zum Schicksal Kadavers. Jokl wußte selbst nicht, warum er das tat. Vielleicht, weil er ohnehin wußte, daß da nichts mehr zu holen war und er das Medaillon sowieso nicht bekommen werde. Aber auch, weil Kadavers Geheimnis unbeschreiblich an ihm zehrte. Wenn man Jokl zufällig begraben hätte, wäre noch aus seinem Grab jene sagenhafte Syrinxflöte herausgewachsen und hätte gespielt und Kadavers Geheimnis ausgeplaudert. Und nun, als er gestern vor dem ganzen Zimmer dieses Geheimnis preisgegeben hatte, war gar nichts passiert! Aber in ihm brannte ein krankhaftes Bedürfnis, daß hier etwas passieren müsse. Er wird schon sehen, der verfluchte Mesner! Er wird schon sehen! Also ging er in die Stadt. In der Schusterei, wo die zwei Nachtigallen hinter dem grünen Tuch hockten, sagte er alles Frau Kadaver, die es zuerst nicht glauben wollte, sich nur immer bekreuzigte und dann laut zu weinen begann. 77
Das Mittagessen war kaum vorbei, im Zimmer schepperten noch die Schalen, als ein Sanitäter vom Haupttor kam und Kadaver holte. Kadaver wußte sofort, was war, und folgte dem Sanitäter widerstandslos mit gebeugtem Kopf. Die Szene mit der Frau begann zuerst gefühlvoll: »Schau, Ružica, das ist unser Papa! Unser armer Papa, der uns verlassen hat.« Dann begannen Ružica und Staffek auf das Kommando ihrer Mutter laut zu weinen und danach wuchs sich diese sentimentale Szene zu einem Skandal aus, wie ihn nur solche 92 Kilo schwere Frauen, wie die Kadavers, zu entfesseln vermögen, wenn sie vor dem Tor des venerischen Spitals ihrem Mann seine Lektion erteilen. »Du bist dies und du bist das! Frißt dich nicht die Scham? Sinkst du nicht in den Boden? Was hast du mir eingebrockt! Hab’ ich das um dich verdient? Pfui! Du bist kein Mann, du bist ein Schwein!« Und so weiter und so fort. Die Szene erreichte ihren Höhepunkt, als ihm Frau Kadaver in einem hysterischen Anfall die Augen auskratzen wollte, während alle Insassen sich lachend an den offenen Fenstern drängten, denn die Nachricht, daß unten Frau Kadaver ihren Mann ohrfeige, hatte sich augenblicklich durch das ganze Spital verbreitet. Kadaver stand still und mit gesenktem Kopf da, als der Sanitäter schimpfte, daß es schon spät und Frauenbesuche hier überhaupt verboten seien und der Herr Offizial bald kommen werde. Kadaver ging wortlos, wie ein Sträfling, zurück, in den Vorraum des Klosetts, und blieb dort bis zur Abendinjektion auf der Mistkiste sitzen. 78
In der Nacht, als alle schon schliefen – nur der Infanterist Vid Hrmeščec redete laut im Traum herum, irgend etwas von »Kinder dürfen hier nicht herein«, wobei er schmerzlich seufzte –, lag Franjo Kadaver in schwerem Kampf wach, der Blutschweiß drang ihm aus den Poren. Was war alles geschehen?! Er hatte jene Nacht in Budapest gesündigt! Das war klar. Dort begann es. Und hier in dieser Hölle, wo alles nach Karbol stank, waren die Pinzetten scharf und die Ärztefinger leichenkalt. Da hingen Nickelnadeln und furchtbare Kautschukröhren, und alle Flaschen trugen Totenköpfe, da war die Hölle, in der er leiden und sühnen mußte. Da haben mich die Teufel gequält! Jokl ist auch ein Teufel! Und diese Sozialisten! Das sind erst Teufel! Die Doktoren sind Teufel, dies alles ist die Hölle, und ich, statt zu sühnen, ganz zu sühnen, statt meine Sünde in mir zu töten, ich bin so schamlos vergiftet und – oh, Gott ist mein Zeuge, daß ich nicht schuldig bin. Ich konnte es nicht aushalten. Ich mußte da einmal heraus, wenigstens für eine halbe Stunde! Ich mußte! Was hab’ ich denn davon gehabt? Ich habe dort die ganze Nacht vor meinem Haus geweint. Nicht einmal das war mir vergönnt. Hier sollte ich .bleiben, bis zum Ende. Ja, hier sollte ich bis zum bitteren Ende leiden. Ich wurde ja auch gleich bestraft dafür. Man hat mir noch in derselben Nacht dafür ein Stück Fleisch herausgerissen. Ach, ich hätte die Wahrheit sagen sollen! Ihm das Medaillon geben. Und als er auf mich losgegangen ist und alles vor allen gesagt hat, hätte ich hier mitten im Zimmer niederknien müssen, mir an die Brust schlagen und vor allen beichten. Ja, meine Brü79
der in Christo! Schaut her, es ist wahr, was dieser Mann spricht! Ich habe eine Frau und drei kleine Kinder und meine Arbeit, das ist wahr. Und es ist mir doch passiert. Das ist eine große Sünde. Aber Gott soll mein Zeuge sein, man hat mich nicht bei der Sünde angeschossen, sondern beim Leid. Ich habe die ganze Nacht vor meinem Heim geweint und auf die Uhr gehört, wie sie schlug. Ich wollte mich aber nicht erniedrigen, und ich hatte recht. Alles, was geschehen ist, ist recht geschehen! Gott zum Ruhm! Was bleibt mir noch zu tun? Da ist jetzt alles zugrunde gegangen, alles ist besiegelt. Ich bin nicht mehr. Über mir das Kreuz. Meine Frau hat mich vor allen geohrfeigt und bespuckt, und die Kinder haben geweint, die Kinder haben mich beweint. »Weine, Ružica, weine, Ružica, wir haben keinen Papa mehr. Papa ist gestorben!« Und Kadaver spürte, daß er wirklich nicht mehr existierte und alles zugrunde gegangen war und er seufzte tief. Dann stand er auf, nahm seinen Hosenriemen, ging leise hinaus ins Klosett und band den Riemen an den star ken Haken, an dem sich vor zwei Tagen einer aus Sibirien aufgehängt hatte. Das Gas zischte in der Lampe, und in der Artilleriekaserne, weit draußen, meldeten sich die Trompeten. »Steh’ auf, steh’ auf, Landwehrmann, draußen bricht der Tag an!«
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die schlacht bei bistrica lesna
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iese Geschichte einer Episode der Schlacht bei Bistrica Lesna wurde geschrieben zu Ehren des gefallenen Korporals Mato Pesek und sechs gefallener Soldaten der zweiten Kompanie des zweiten königlich-ungarisch-kroatischen Honvédbataillons, und zwar: Vid Trdak, Franjo Blažek, Štef Loborec, Štef Lovrek, Imbre Pecak und Matija Križ, die beim heldenhaften Angriff auf die Kote 313 fielen und so ihr königlich-ungarisch-kroatisches Honvédblut zu Ehren des tausendjährigen Königreichs des heiligen István vergossen – im Sinne des ungarisch-kroatischen Ausgleiches vom Jahre 1868. Friede ihrer Asche! Der Korporal der Reserve Mato Pesek und die sechs Helden unserer Erzählung lebten alle das stille und bittere Leben, das Millionen unserer Menschen leben, die sich Jahrhunderte hindurch in unserem Dreck abrackern, ihn in jedem Frühjahr und Herbst umpflügen, um aus ihm eine Handvoll Körner herauszuschinden, zu Ostern oder zu Weihnachten eine Schnitte Weizenkuchen zu essen, an den zwei leuchtenden Tagen, da man die tägliche Last im Kreuz nicht spürt und nur dem Vieh in den Ställen zu trinken gibt, den ganzen Vormittag vor der Kirche steht, raucht und vor sich hinspuckt. In dem jahrhundertelangen Nebel von Fronarbeit und Schuften, Rauchfangsteuer, Leibeigenschaft und Prügeln, in diesem feudalen Nebel, der noch im Jahr 1914 unter der Regierung von Franz Joseph I. über unseren Dörfern wie ein trauriger Schleier geweht hat, empfinden alle unsere Helden dieses 81
Leben als etwas vom Herrgott Geschaffenes. Der Großvater und der Urgroßvater (sie sollen nicht beklagt sein) haben so gelebt, was gibt es da nachzudenken und was kann man da tun? Alles, wie es liegt und steht, hat der Herrgott selbst geschaffen (gelobt sei Er), und die Bauern sind eben arme Teufel, da sie der Herrgott selber arm geschaffen hat. So ist das im Pfarrhof und im Kataster aufgeschrieben, in den Paragraphen, im Gemeindeamt und in den Gesetzen bei Gericht, wo der liebe Gott Herren eingesetzt hat, auf die armen Bauern aufzupassen, damit sie ordentlich die zehn Gebote befolgen, ihre Steuern, Zuschläge und Umlagen bezahlen, zu den Soldaten gehen und, wenn es Gott gefällt, auch in den Krieg ziehen. Und so haben unsere sieben Honvédsoldaten ihre Cvetana, ihre Lisaka oder ihre kranke oder schwindsüchtige Rumena jeden Morgen, Mittag und Abend, jeden Tag, den Gott werden ließ, im Sommer und Winter, bei Regen und Schnee, schon dreißig Jahre zur Tränke geführt. Sie haben geackert und gegraben, Weizen und Gerste gesät, Roggen und Buchweizen, Rüben und Kukuruz, die Weingärten umgegraben, das Gras und das Grummet gemäht und ein drittes Mal geschnitten (wenn der Herbst glücklich und warm war), und das von frühmorgens bis in die Nacht hinein, so daß ihnen das Kreuz weh getan hat. Denn unser Boden ist unfruchtbar und steil, man muß tief ackern und kräftig düngen, damit er nicht versagt. Und all das war schwer. Pflügen ist schwer. Säend und eggend durch nasse Furchen zu waten ist schwer. Das Vieh zu warten ist schwer. Ein Ochs ist ein Ochs, und 82
ein Schwein ist ein Schwein, man muß ihnen alles fertig hinstellen. Stroh und Heu und Häcksel und Klee. Der Dünger muß unter ihnen weggekratzt werden, es muß gestreut, das Vieh gestriegelt werden, man muß das alles tun, man muß es, denn wenn man es einen einzigen Tag versäumt, so starrt einem der andere Tag wie der Untergang entgegen, darum muß man! Das Obst muß gepflückt, der Essig gepreßt, der Hanf gebrochen und das Leinen gesponnen werden, denn was aus der Fabrik kommt, ist teuer, und alle Kräfte müssen angespannt werden, damit der Mensch nicht nackt und barfuß krepiert. Denn der Mensch bohrt den Brunnen (ohne Brunnen geht es nicht), das verschlingt Tausende. Er streicht das Haus, es verfällt sonst; die Hütten im Weinberg müssen mit Stroh gedeckt werden, die Drescher fressen ein Zehntel der Ernte auf, und wenn der Bauer sich und das Gesinde bekleiden will, muß er den Stall leeren. Und wo bleiben die Verpflichtungen, die alten Schulden, die Hypotheken und die Advokaten? Die Sorgen haben nie ein Ende. Der Krämer trägt für zwei, drei neue Schüsseln, für einen Glaszylinder und ein paar Bänder Körbe voll Eier und Bohnen weg. Der Opankenmacher auf dem Markt zieht dem Menschen die Haut ab für diese verfluchten Opanken; die Steuern wachsen, die Zehnten ziehen auf die eine, Steuereinnehmer und Gendarmen auf die andere Seite, die Heger, Kanzlisten, Offiziale, Kaplane, Lehrer, alle tragen etwas weg und stehlen: Eier, Geflügel, Schnaps und Wein, Speck und Nüsse (wie Hamster und Marder), und alle schlagen sie auf den Bauern ein wie auf das Vieh. Der Bauer merkt wohl, daß er irgendwie der Letzte ist 83
und daß man ihm sehr viel aufgebürdet hat; aber wenn er es auch sieht – was hat er davon? Die Beamten und Gendarmen, die Kasernen und Behörden, die Gemeinden und Akten, die Kanzleien, all das scheint unseren Helden wie eine Maschinerie, die von den Herren Doktoren nur erfunden worden ist, um armselige Lebewesen zur Ader zu lassen, um nachzuschauen, was die Säcke der Bauern enthalten, ihre Schweine und Stuten zu zählen; und diese ganze Maschinerie in ihrem Dreigang: Herrschaft, Doktor und König, und all die Einrichtungen des königlichen Beamtenapparats unterschätzen jene gewaltige, unbesiegbare Lebenskraft in ihnen; wenn unsere Helden über sich und ihr Leben nachdenken, sieht das beiläufig so aus: »Das ist meine Hütte, ihr Dach ist steil, der Regen rinnt links und rechts herunter, darum regnet es mir nicht auf den Kopf. Es ist eine gute Erfindung, daß das Wasser nicht auf meinen Kopf rinnt; dieses verrußte warme Dach hat mir mein verstorbener Großvater als Erbe hinterlassen, jetzt gehört es mir, und ich werde es meinem Sohn hinterlassen, weil das eine kluge Sache ist, das Dach über dem Kopf (der Mensch wäre wie ein Vieh, wenn er kein Dach hätte). Ich sitze unter meinem Pilzdach und schaue zu, wie sich der Rauch ringelt, wie das himmlische Wasser fließt und die Äcker bewässert. So ist es recht. Die Frau leckt das Garn wie eine Spinne, im Topf rollen meine Kartoffeln, und es wird sich auch noch ein fettes, geräuchertes Kippchen am Dachboden finden. Das ist alles. Mehr brauche ich eigentlich nicht. Es läßt sich leben! Der Mensch zündet die Pfeife in der Dämmerung an und betrachtet die gelben Augen der Katze 84
im warmen Ochsendunst. Wie Leuchtkäfer blitzen sie. Es läßt sich leben!« Alle diese armseligen Dörfer und Ansiedlungen der Zagorjaner Landschaft, wie sie verstreut in den Wäldern und Schluchten liegen, haben in ihrer Vergangenheit zahlreiche Katastrophen erlebt; als dann eines Abends, da man das Getreide drosch und schuftete und alle Dorftennen von den dumpfen Schlägen widerhallten, die Nachricht vom Ausbruch dieses letzten habsburgischen Kriegs kam, da war dieser unglückselige Krieg für die Menschen weder das erste, noch das letzte Unglück. Sie waren schon einigemal bis auf den Grund abgebrannt, an Pest und Cholera dahingestorben, auch vor Hunger und durch gräfliche Hiebe; als die Türken die Siedlungen um Karlovac im Drautal überrumpelt hatten, setzten sie die ganze Gegend in Brand, und nach der Katastrophe von Stubica im Jahre 1573 raubten die österreichischen Arkebusiere aus Parma, Piacenza und Spezia, die Condottieri aus der Schweiz und aus Spanien unter der österreichischen und päpstlichen Flagge alles, was sie konnten, bis zur letzten Wurst im Rauchfang und bis zum letzten Faden im Webstuhl. Im Sinne des Ausgleichs von 1868 schossen die ungarischen Gendarmen auf die Leute, die Achtundvierziger und die Veteranen der grünen Kader der Tage von Custozza und Solferino, vergewaltigten ihre Frauen und Mädchen, die Frauen gebaren ihre Kinder, trennten sie eigenhändig mit der Sichel vom Nabel und standen am dritten Tag nach der Geburt auf; die Toten wurden wie in alter heidnischer Zeit mit Wein begossen. Daß an den Ufern der europäischen Meere viele gewaltige 85
Kaiserreiche entstanden und untergingen, daß neue Erdteile entdeckt wurden, daß das Leben sich von Grund auf änderte, all das ging diese Menschen hier nichts an. Jawohl! In den Tälern wurden Kirchen und Gefängnisse erbaut: steinerne Gebäude mit Flaggen und römischen Kreuzen, mit Blitzableitern und Orgeln, mit Gittern und Paragraphen; doch alle diese Strafanstalten, Ämter und Kirchen waren gestern noch nicht da, und es mochte sein, daß es diese Kirchen, Schriften und Paragraphen schon morgen nicht mehr geben würde, und daß die Dörfer Kalvarienberg, St.Elisabeth und St.Johann wieder wie früher Fuchsendorf oder Wolfsgrub hießen, als ob nichts gewesen wäre! Gelobt sei Jesus Christus! Weil unsere Leute an die Ereignisse diesen erhabenen Maßstab der Erfahrung legten, war es natürlich, daß sie sich über diesen sogenannten Krieg nicht so sehr aufregten. »Hei! es gibt Krieg!« »Ah, mein Gott, Krieg! Was kann man da tun? Die Herren Doktoren werden schon wissen, was sie wollen, wenn sie diesen Krieg machen.« »Das ist Sache der Herren, das ist ihr Krieg!« Manchmal kam die Nachricht, daß diesem oder jenem der Fuß abgerissen worden sei, und, bei Gott, manchmal auch der Kopf. Die Frauen begannen nach Jodoform zu riechen, man hörte, daß manche in den Grünen Kader eintraten; (aber der rupfte mehr die Reichen als die Knechte, dieser Grüne Kader, es wird schon werden, was werden wird)! »Es ist schon dagewesen, daß kein Krieg war, und es wird wieder so werden, daß es keinen gibt.« 86
»Es ist zwar wahr, daß er die Frauen verdorben hat, aber die Männer in den Kasernen und Spitälern sind auch nicht besser geworden.« »Jedem das Seine. Wer am Leben bleibt, wird sehen. Alles hat seine Zeit. Jede Gewalt zu ihrer Zeit.« Es begann als Idylle. Den armen Waldarbeitern und Knechten, die ein ganzes Leben lang mit dem Hornvieh zusammengepfercht im Stall geschlafen hatten, schien das Geschehen in den asphaltierten Städten (wenn es dort regnete, glänzte das Trottoir wie ein Spiegel) im ersten Augenblick leichter als die verzweifelte, dunkle, schwere Arbeit, sie hatten das Gefühl, als seien sie für eine Minute aus dem unerträglich schweren Sklavenleben emporgetaucht. Sie hatten von einem eigenartigen Land reden gehört, dem Schlaraffenland, wo die gebratenen Enten und Hühner den Menschen in den Mund fliegen, auf den Wiesen Schweine und am Spieß gebratene Spanferkel weiden, silberne Uhren und Ketten auf den Bäumen hängen; dieses Leben in der Stadt schien ihnen in den ersten Tagen wie solch ein Schlaraffenland. Überall Fleischereien voll Geselchtem. Keulen, Rippen und roter Speck von dicken Schweinen, die tödlichen Wunden fein mit fettem, schwarzem Ruß verschmiert, durch die blutigen Löcher Nägel gesteckt, da hängen ausgestopfte Därme, fette Würste baumeln überall, die Grammeln duften in den Porzellanschüsselnn, die mit Draht umflochten sind, damit sie nicht auseinanderfallen. Lauter Selchfleisch. Städte voll Geselchtem! Die Schinken hängen wie Fahnen. Am Aushängeschild der Fleischhacker weiße, abgeschnittene Ferkelköpfe, zerrissene Kälber rings um 87
die Kirche, weiße Laken im Wind, alle schön mit frischem, duftendem Blut begossen, blutige Abdrücke von Fleischerhänden auf den Laken; lauter feine Friseurläden, die nach feinster Seife duften, ihre Messingschilder knarren und winseln im Wind, daß es eine wahre Freude ist. Und wieviele berühmte Gasthäuser mit Schildern, herrlich bemalt, einmal mit schwarzen Katzen, Kanonen, Bäuerinnen, dann wieder mit weißen Katzen, gerupften Hühnern mit gebrochenen Gelenken, auf fünfzackige Gabeln gespießt, große Gläser voll schaumigen Biers, in den Auslagen fette Palatschinken, Krapfen, Schmalzgebackenes, alles duftet, alles singt. Wie herrlich muß das am Sonntagnachmittag sein, wenn der Mensch seine ganze Löhnung in der Tasche trägt, ein Glas Slivowitz oder Gewürzschnaps trinkt, es mit einem Lebzeltherz versüßt und mit Wein und Gespritztem begießt, wenn dann die Mädchen kommen, Tamburitza und Harmonika, die Schenke zittert vom Tanz, die Frauenbrüste sind warm, du beißt hinein und spürst auf dem entzündeten Gaumen den salzigen Schweiß des Frauenkörpers und Blut; du tanzt wie der blutige Fasching, du bist herrlich besoffen, überall Dienstmädchen, gestärkte Unterröcke, rote Bänder, nackte, schwarze, dreckige Knie und Hüften, Schütteln, Tamburitzen, Baßgeigen, du-du, du-du, dudeldudel-du, die Tante liebt das Häschen, ju-hu-hu, juh-juh, ju-hu-hu … Der Korporal der Reserve Mato Pesek und die Landwehrsoldaten Vid Trdak, Franjo Blažek, Štef Loborec, Štef Lovrek, Imbre Pecak und Matija Križ hatten die Sache mit 88
dem Krieg auf diese idyllische Weise mit einem feurigen Kolo am Sonntagnachmittag begonnen; aber die Sache war, bei Gott, nachher gewachsen und hatte sich wie eine Wunde entzündet, und unsere Helden mußten, bei Gott, hunderte und hunderte Kilometer weit mit dem Zug fahren oder zu Fuß gehen, jammerten viel in Spitälern und Gefängnissen und erkannten viele Wahrheiten, bis zu jenem Sonntagmorgen, da es ihnen bestimmt war, einer nach dem andem beim Angriff auf die Kote 313 bei Bistrica Lesna den Heldentod zu sterben. Als es an jenem Morgen zum Gefecht kommen sollte, war der Honvéd Vid Trdak der traurigste von allen. Er hatte von seinen Kindern geträumt und erinnerte sich an die Leere, jene furchtbare Leere, in die er, es war noch keine fünf Tage her, geblickt hatte. Etwas schnürte ihm so sehr die Kehle zusammen, daß er nicht einmal seinen schwarzen Kaffee austrinken konnte, sondern ihn in den Kot schüttete. Gerade vor seinem Einrücken zur Marschkompanie hatte er seine Frau begraben; in seinem Haus waren seine zwei Kinder zurückgeblieben, der ältere Knabe war sieben und der jüngere vier Jahre alt. Mit der Verwandtschaft seiner Frau und mit seiner eigenen hatte er sich zerstritten, und bis zu dem Augenblick, da das Telegramm kam, daß er ins Feld müsse, hatte er viele Nächte jammernd auf dem stinkenden Strohsack verbracht, weil er nicht wußte, wie er für seine Kinder sorgen sollte. In jener letzten Nacht zu Hause kam ihm der Gedanke, zur erlauchten königlich-kroatisch-slawonisch-dalmatinischen Landesregierung oben auf dem Markusplatz zu 89
gehen, direkt zum erlauchten Banus, um sich zu beklagen und ihn zu fragen, was mit seinen Kindern geschehen werde, wenn er an die Front kam. Der erlauchte Banus sollte etwas in seiner Sache unternehmen. So hatte unser Vid Trdak viele Türen passiert und vergebens an viele Türen geklopft; er wußte nicht, ob er seine Mütze auf dem Kopf behalten sollte, um wie ein richtiger Soldat zu grüßen, oder sich mit der Mütze verbeugen sollte wie ein richtiger Bauer und Knecht, wenn er um sein Recht bat. So salutierte er irgendwie barhäuptig, und man lachte ihn aus; irgendwo schmissen sie ihn hinaus und sagten ihm, er sei ein gewöhnliches Schwein; einen Amtsraum mit der Mütze auf dem Kopf zu betreten, »vielleicht, damit sich die Läuse auf seinem Kopf nicht erkälten«! Auf diesem Kreuzweg durch die endlosen Korridore und Zimmer der königlichen Landesregierung stieß er auf ein Männlein, das gefühllose Augen hatte, und über dessen Kopf ein gelbes Gaslicht geräuschvoll zitternd brannte; im Raum herrschte Halbdunkel. Vid Trdak sang auch jenem Mann sein Klagelied herunter. Der Alte hörte ihn mit gefühllos gläsernen Augen an, schaute über ihn in die Luft, stopfte Riz-Abadie-Hülsen mit mittelfeinem bosnisch-herzegowinischem Tabak und schlichtete eine Zigarette nach der anderen in die Schachtel, die fast schon voll war. »Ja! Schon recht, Gevatter. Ich habe das alles schon gehört, mein Lieber. Ja. Aber wo soll ich Ihre Kinder unterbringen? Wir haben hier keinen Platz für Ihre Kinder! Wir können ein Protokoll aufnehmen! Das ist alles, mein lieber Gevatter!« 90
»Ja! Aber ich bitte schön, Herr Doktor – oder sagen wir – Herr Oberst! Was soll ich mit dem Protokoll? Ich weiß nicht, wohin ich mit den Kindern soll!« »Wieviel Grund haben Sie?« »Zwei Morgen!« »Und ein Haus?« »Auch ein Haus!« »Na! Warum sollen die Kinder nicht im Haus bleiben?« »Weil, Herr Doktor … Gott sei mit Ihnen! Aber der älteste ist sieben Jahre alt! Kann er denn allein bleiben?« »Sehen Sie, Gevatter, Sie bekommen eine monatliche Unterstützung! Geben Sie jemandem im Dorf diese Unterstützung!« »Aber was macht denn diese lächerliche Unterstützung aus? Dafür tut keiner etwas!« »Geben Sie sie zu Verwandten! Sie werden doch Verwandte haben?« »Hab ich, hab ich, aber es wäre besser, wenn ich keine hätte! Was ist das für eine teuflische Verwandtschaft? Gott gebe, daß sie das Wasser überschwemmt! Das Gras würde schon fünfmal über mich gewachsen sein, wenn es so gekommen wäre, wie es mir meine Verwandtschaft wünscht. Die Furchen haben sie mir umgeackert, das Haus niedergerissen, was sollen meine Kinder bei solchen Verwandten?« »Ja! Und was können wir dafür, Gevatter? Wir nehmen die Kinder prinzipiell nicht in die Stadt! Wenn wir sie nämlich nehmen, werden die Kinder verkommen. Sie werden proletarisiert, sie werden arme Schlucker werden, 91
verstehen Sie?« »Ja. Aber bin ich nicht auch ein armer Schlucker, Herr Doktor? Wir sind doch alle arme Schlukker!« »Ihre Kinder sollen zu Hause auf dem Grund bleiben! Sehen Sie, Gevatter, unser Volk verkommt sowieso! Was wird denn aus uns werden, wenn wir unsere Scholle verlassen und proletarisiert werden? Ihre Kinder werden Vagabunden in der Stadt werden, Gevatter!« »Und was soll ich mit ihnen tun? Ich muß sie dann erwürgen, damit sie nicht krepieren. Was kann ich tun, daß meine Kinder nicht herumlungern? Ich vagabundiere auch wie ein Strolch, Gott sei mit Ihnen, Herr Vorstand!« »Gevatter! Geben Sie sie zu guten Leuten!« »Ach, ich bitte Sie, wo sind diese guten Leute?« »Glauben Sie mir, Gevatter, im Interesse Ihrer Kinder hat es keinen Sinn, sie in die Stadt zu zerren! Es ist im Interesse Ihrer Kinder, sie auf der Scholle zu lassen!« »Aber wo sollen sie bleiben, wo, um der fünf Wunden Christi willen? Wo sollen sie bleiben?« stöhnte Vid Trdak verzweifelt in dem dumpfen Zimmer auf dem Markusplatz. Er war dem Weinen nahe, etwas krampfte sich in seiner Brust zusammen. Um Gottes Willen, er ging doch morgen nn die Front! »Es wird sich schon etwas finden, Gevatter. Wir werden an die Gemeinde einen Brief schreiben.« »Der Dorfschreiber ist ein Dieb und Gauner!« »Wir werden an den Pfarrer schreiben.« »Aber ich bitte Sie! Seine Hochwürden …« 92
Vid Trdak machte eine Handbewegung. »Wir werden allen schreiben, allen, Gevatter! An den Bezirk und das Komitat. Wir werden urgieren, daß Ihre Unterstützung erhöht wird. Jetzt werden sowieso die Unterstützungen erhöht. So, jetzt werden wir schön das Protokoll aufsetzen, mit Ihrer Hilfe, Gevatter, und alles wird gut werden.« Während Vid Trdak dort oben bei der königlichen Regierung das Protokoll unterschrieb, kam ihm der unangenehme Gedanke, dieses Protokoll sei eine Lüge, und es gebe dort oben weder eine königliche Landesregierung noch einen erlauchten Banus, noch irgend etwas anderes, sondern es sei einfach so, daß da nur ein kurzsichtiger Mann Zigaretten stopfte und sie eine neben der anderen in ein Schächtelchen ordnete. Er hatte schon oft darüber nachgedacht, daß diese Protokolle, Kanzleien und Akten Betrug und Lüge seien, berechnet für die Armen und Bauern, aber bis zu diesem Augenblick war ihm das noch niemals so endgültig klar geworden. Alles war Leere, nirgendwo war jemand, nur ein Mann mit gläsernen Augen saß in einem halbdunklen Zimmer und stopfte Riz-Abadie-Zigaretten mit mittelfeinem bosnisch-herzegowinischem Tabak. Neben dem Honvéd Vid Trdak im zweiten Glied der zweiten Doppelreihe marschierte der Honvéd Štef Loborec, ein alter Frontsoldat. Die Wunde an seiner rechten Schulter brannte unter dem Riemen des Tornisters und des Mannlichergewehrs. Vergebens schob er das Gewehr von der rechten auf die linke Schulter, der Riemen schnitt ein 93
und schmerzte bei jedem Schritt. Der Honvéd Štef Loborec war durch Schützengräben und Sturmangriffe hin und her gejagt worden; dann wurde er am Oberschenkel verwundet; nachdem er im Spital genesen war, wurde er wieder an die Front geworfen, wo er an Typhus erkrankte, lange auf den Tod lag, aber doch nicht starb; dann wurde er in die Genesungsabteilung geschickt; er war schon zu einem sechswöchigen Rekonvaleszentenurlaub bestimmt, als eine außerordentliche Kommission in das Spital platzte und ihn mit siebenunddreißig anderen in die Kaserne abkommandierte, zum Ersatzbataillon. Štef Loborec war noch keine zwei Monate verheiratet, als sie ihn von seiner l’rau fortgerissen hatten, und er empfand diesen sechswöchigen Urlaub als »sein heiliges Recht«, das ihm niemand verweigern durfte. Und doch hatten sie ihm dieses »heilige Recht« geraubt. Er wurde verbittert, er fiel in Apathie und kümmerte sich um gar nichts mehr. Vorher hatte er freiwillig die Schuhe der Unteroffiziere geputzt, und wenn man ihn in die Kantine schickte, lief er hin und zurück; jetzt aber brummte er jedesmal beleidigt, und man mußte ihm eine herunterhauen oder ihm einen Fußtritt in den Hintern versetzen, damit er den Befehl befolgte. Als die Kompanie für die Front ausgerüstet wurde, stand er auf Wache; am nächsten Tag waren für ihn keine Schuhe da. Die Unteroffiziere sprachen von einer Kiste im Hauptlager, die nicht mehr angekommen sei, später lachten sie ihn aus; er solle nur in zerrissenen Schuhen gehen! »Der Herr, der sich mit Mädchen herumtreibt, wäh94
rend die Kompanie ausgerüstet wird, um an die Front zu gehen…« »Ich war auf Wache!« »Kusch! Marsch hinaus, frecher Ochs!« Er war beim Rapport, er wurde aufgeschrieben, er bekam seine Schuhe nicht, so ging er zum Bataillon, um sich über seine Kompanie zu beschweren, »sein Recht« zu fordern; wurum sollte er den Gaunern im Magazin seine Schuhe schenken? Man beförderte ihn aber beim Bataillonsstab mit einem Fußtritt hinaus, sagte ihm, er sei ein Irrsinniger, ein Hund, ein Schwein, ein Dieb! Er solle sich nur vorsehen, daß man ihn nicht am nächsten Morgen anbinde! Als er die Stufen des Bataillonsgebäudes hinunterrollte, verletzte er sich am Geländer. In tiefer Niedergeschlagenheit ging er zum Magazin; das Magazin war mit schweren Eisenstangen verbarrikadiert und mit einem Vorhängschloß abgesperrt. Alles war vor ihm verbarrikadiert und verriegelt; während er nichts anderes forderte als »sein heiliges Recht«. Man muß das Rechtsgefühl eines alten Frontkämpfers begreifen. In der Zeit vor dem Abtransport, wenn das Blei von acht Magazinen scharfer Patronen an ihrem Gürtel hängt, wenn in den Bataillonsschleifereien die Bajonette geschliffen werden – den ganzen Tag quietschen die Schleifsteine auf blankem Stahl –, fühlen die Frontsoldaten in ihrem Inneren urtümliche Bärenkräfte erwachen. Dieses blutige und tierische Empfinden verliert sich dann allmählich im Dreck der Etappe und in den Qualen des Biwaks, aber in der Kaserne, wo noch alles operettenhaft zugeht, wo die Säbel blitzen, die 95
Trompeten schmettern, die Truppen im Takt marschieren, da fühlen sich die Frontsoldaten als Helden. Und wenn sie sich mit dem Kanzleipersonal vergleichen, fühlen sich diese armen Menschen wie Riesen, die auf große Abenteuer ausgehen; vor ihnen liegen Schlachten, Blut, Feuer, und sie werden nicht unter den warmen Dächern bleiben wie diese Diebe, Schreiber, Schwindler, Marodeure, Strolche, diese grauen, faulen Bäckerschweine und Fouriere. Es geht ihnen gut, diesen Bataillonsigeln! Sie werden nicht sieben lange Nächte in Viehwaggons frieren, die verfluchten Nissen, sondern werden im warmen Zimmer schwarze Flöhe auf das Papier schmieren, Kommißbrot fressen und Wermut schlürfen! Warum sollen sie nicht auch einmal ein wenig in die Welt riechen, wo die Kugeln zwitschern? Da erwacht in den Frontsoldaten der Haß des hungrigen Wolfs, wenn er den warmen Stall riecht. Darum ist nicht gut, den Frontsoldaten anzufassen, darum meiden erfahrene und friedfertige Schreiber an diesen letzten Tagen den Frontsoldaten wie dieAussätzigen. Mit gebeugtem Haupt und traurig kam Štef Loborec aus dem Magazin zurück; es war ihm schon klar, daß er jetzt mit alten, zerrissenen Schuhen in den galizischen Kot würde abfahren müssen, und daß er vom ersten Regen nasse Füße bekommen würde. Als er so in Gedanken mitten auf dem Kasernenhof auf den dicken längerdienenden Stabsfeldwebel Šmit, den Chef aller Magazine, stieß, beschloß er, noch einmal sein Glück zu versuchen und sich beim obersten Befehlshaber aller Magazin-Schuhe und -Nägel zu beschweren. Er wollte fragen, 96
wie das mit ihm sei, und mitteilen, wie unanständig und schweinisch sie ihn bedient hatten. Er blieb vor Šmit stehen und stampfte noch schön stramm mit der Ferse auf, damit die Sache besser aussah, doch Šmit fletschte aufgeregt die Zähne: »Geh zum Teufel! Laß mich in Ruhe!« »Herr Stabsfeldwebel, ich bitte gehorsamst, aber meine Schuhe …« Der Herr Stabsfeldwebel, den man den ganzen Tag wegen irgendwelcher siebenundzwanzig Kronen und sechzehn Heller in einer Abrechnung bis aufs Blut seckiert hatte, war gerade dabei, die Warenpartien nach der fraglichen Summe durchzurechnen und die vergessene Ausgabe zu suchen. Loborec aber brachte ihm alle Kombinationen durcheinander, und so loderte er auf: »Marsch, du Zagorjaner Dieb! Ihr seid alle Diebe!« »Ich bin kein Dieb, sondern sie haben mir mein Recht gestohlen!« Šmit hörte gar nicht, was der da wollte und redete, aber ihn ärgerte die unglaubliche Frechheit dieses gewöhnlichen Honvéds, der ihn anhielt und ihm erzählte, daß er stehle, wo sie ihm doch den ganzen Vormittag auf der Division dasselbe vorgesungen hatten, diese ungarischen Schwindler. So gab er Štef Loborec mit voller Kraft eine Ohrfeige, um all diese Komplikationen loszuwerden. In diesem Augenblick gingen ein paar’Köche mit einem goßen Kessel voll schwarzem Kaffee über den Hof. Loborec sprang in besinnungslosem Zorn und dadurch in seiner Frontkämpferehre gekränkt, daß er, der morgen das drittemal an die Front ging, hier in der Garnison von einem diebischen Krämer von Magazineur geohrfeigt worden 97
war, auf den Stabsfeldwebel zu und warf ihn in den Kaffeekessel. Šmit, im kochenden Kaffee gebadet, riß den Säbel heraus, packte Loborec an der linken Schulter und stach ihn ins Fleisch. Als Loborec im Halbdunkel zwischen zerzausten Kastanienbäumen, neben dem verschütteten Kaffee, von der Wache, der Bereitschaft und dem Koch entwaffnet und festgenommen wurde, spürte er genau, daß alles, was hier geschah, äußerst ungut war. Verwundet, blutig geschlagen, durch die Drohung mit Kriegsgericht, irgendwelchen Paragraphen und Erschießen eingeschüchtert, ging er noch in der Nacht auf einen Kompromiß ein, nur um Komplikationen zu vermeiden, die sich daraus ergeben mußten, daß er das Bajonett gegen einen Vorgesetzten gezückt hatte. So ging er tatsächlich am nächsten Tag fiebernd mit dem betrunkenen Transport ab, der wie eine Horde wilder Tiere brüllte, den Herrgott und alle Heiligen im Himmel verfluchte, alle, vom Kommandanten bis zum-Bremser am Zugsende, der unausgeschlafen und frierend mit seiner roten Fahne im letzten Waggon saß. Das ereignete sich zu einer Zeit, da der Krieg schon überreif war, und da man in diesen Fronttransporten spürte, daß die Ketten schon irgendwo gerissen waren. Es gab weder Fahnen noch Musik noch Blumen mehr, die Gulaschkessel wurden umgestürzt; das war kein Gulasch mehr, sondern übelriechender Harn, das war kein Rindfleisch, das waren gekochte Katzen; das harte, verschimmelte Kommißbrot wurde gegen die Fensterscheiben des Wartezimmers geschleudert, die Kellner in den Bahnhofsrestaurationen wurden verprügelt, Lampen zerschla98
gen; als jemand einen Zigarettenstummel in Ballen von gepreßtem Heu warf, die auf einer ungarischen Station bis zur Höhe des zweiten Stocks gestapelt waren, und als der Transport, vom Feuer rot beleuchtet, sich in Bewegung setzte, lachten alle Leute. Irgendwo in den Karpaten, wo die Buchstaben auf den Stationen schon kyrillisch geschrieben waren, und wo sich gleich hinter dem Bahnhof steile, hohe, dunkle Felsen voll dichten Nadelwalds erhoben, waren eine ungarische Maschinengewehr-Truppe und Tiroler aneinandergeraten. Wie Štef Loborec hörte, hatte angeblich ein Ungar seine Portion schwarzen Kaffee nicht bekommen; daraufhin hatten die Magyaren einen schmutzigen Nachttopf in den Wartesaal des Bahnhofs gebracht, und dabei hatte der Stationsvorsteher einen Burschen erschossen; kurz, die Soldaten gerieten aneinander. In dem Rattern der Maschinengewehre, dem Schrillen des Telefons und dem allgemeinen Durcheinander hatte Loborec plötzlich das starke Bedürfnis, sich in dieses Gefecht einzumischen; denn er war sicher, daß hier wieder einem Menschen sein heiliges Recht genommen worden war. Als er diesen Gedanken im Waggon laut werden ließ, zuckten die Leute die Schultern, nickten, spuckten aus und streckten sich wieder auf ihre Strohsäcke, müde, hungrig und laut gähnend. Ihre Gesichter waren von dem harten Schnittstroh auf dem Boden des Waggons zerstochen und zerkratzt. Der Gedanke rumorte und bohrte jedoch während der ganzen Reise in Štef Loborec weiter. Warum fuhr er da wieder an die Front, wenn es keine Gerechtig99
keit gab? Er war schon draußen im Schützengraben gewesen, er hatte dort schon seine siebzehn Monate hinter sich gebracht. Seinen Urlaub hatten sie ihm nicht gegeben; auch seine Schuhe hatten sie nun gestohlen, seine Schulter blutig geschlagen, und so warfen sie ihn wieder hinaus in den Nebel, in den Dreck, ins Blut und in den Tod. Es war ein stiller Sonntagmorgen, die Nebel dampften im Osten, da und dort sah man kaum wahrnehmbare Flekken der Morgendämmerung. Die Kompanie marschierte in Kot und Regen durch den Wald, man hörte nichts als das Klirren der Waffen, der Schaufeln und Laternen. Rechts und links vom Weg fühlte man die enormen Massen des Walds, doch in Štef Loborec bohrte unentwegt derselbe Gedanke: Wenn er dort unten im Dorf, wo sie übernachtet hatten, in den Stall gekrochen wäre, sich in der Mistgrube versteckt hätte, die ganze Nacht bis zum Abmarsch dort geblieben wäre, so wäre er alles los gewesen und hätte zurückgehen können. Er war verwundet, sie hätten ihn irgendwo im Lazarett aufgenommen. Er hätte sich aus alldem gerettet und hätte nicht leiden müssen wie ein Tier. Die Kompanie hielt auf einer Waldlichtung im Halbdunkel; die Offiziere warteten auf telefonische Befehle, die Mannschaften erhielten eine Rastpause. Die Leute rochen den Kampf. Schon seit zwei Tagen hörte man die Kanonen, vorne in den ersten Doppelreihen erzählte jemand mit scharfer, schriller Stimme, daß er sich durchaus nicht an das Gesicht jenes Russen erinnern kön100
ne, den er, als er das letztemal hier draußen gewesen war, erstochen hatte. Der Esel hatte sich unter einer Buche versteckt, doch habe er ihn mit dem Bajonett aus dem trockenen Laub hervorgestöbert. Während der Balgerei habe ihn der Russe in den linken Zeigefinger gebissen; noch jetzt sah man die Spuren des Bisses tief im Finger. Es roch nach den feuchten Tannenbrettern, aus denen die Divisionstelefonisten auf der Lichtung ihre Hütte zusammengenagelt hatten, Rauch stieg auf; ein Telefonist wusch die Kessel aus und erzählte den Leuten, daß auf demselben Telefonmast vor zwei Tagen ein Spion aufgehängt worden sei. Vor seinem Tod hatte er sich Zwetschgen und Brot gewünscht, um sich noch einmal anzuessen; sie gaben ihm die Zwetschgen, sollte er sich damit anessen! Er konnte aber nicht beißen, denn er war zu aufgeregt, der Saft rann herunter, es sah aus, als fließe Blut aus seinem Mund. Es war aber kein Blut, sondern der Saft von den Zwetschgen. »Ha-ha!« »Nicht einmal das Brot konnte er beißen, er zerkrümelte es zwischen seinen Handflächen und verstreute es im Kot für die Vögel!« »Und was macht unser Rutzner? Ha?« »Ach, der hat es besser als wir!« »Er war ein guter Mensch, schade um ihn!« Man konnte aus dem Gerede entnehmen, daß dieser »unser Rutzner« höchstwahrscheinlich aufrichtige Sympathien in der Kompanie genossen hatte, daß ihn die Leute gern hatten und schätzten. Im Zivilberuf war er Schreiber gewesen und hatte sich in den Landgemeinden durchge101
hungert; dann gelang es ihm, in einem muffigen Zimmer der königlich-ungarisch-slawonisch-dalmatinischen Landesregierung auf dem Markusplatz unterzukriechen. Dort zeichnete er mit dem Lineal Register und füllte die Kolonnen mit Zahlen und Buchstaben. Dieser »unser Rutzner« hatte in seinem Leben einige Bücher gelesen, darüber, daß es keinen Gott gebe, und daß die Demokratie unbedingt und ganz sicher die Welt retten werde. All das war in seinem Gehirn durcheinandergeraten; er hatte sich viel den Kopf darüber zerbrochen, wie er eigentlich zu diesem Gott und dieser Demokratie stünde. Rutzners Nerven waren schon längst zerrüttet, seine Nieren waren verbraucht wie ein durchlöchertes Sieb. Er nannte diesen Zustand »nervliche Desorganisation«, und von den Nieren sprach er immer als von etwas, das eine besonders zersetzende Tendenz habe und »das – ist es eben«! Mit dem Satz »das ist es eben« glaubte Rutzner das Verborgenste und Geheimnisvollste im Leben zu erkennen. Er spürte, wie seine Zähne faulten und ausfielen, und daß die Drüsen (irgendwelche fetten und vergifteten Drüsen tief in seinem Inneren) nicht funktionierten, wie es sein sollte. Alles in ihm verfaulte: Sein Herz zitterte hilflos unter der Wucht der Ereignisse, er fühlte, wie es flatterte, er spürte, daß seine Nägel, wie die eines Toten, von selbst wuchsen. Während er so darüber nachdachte, »daß es eben so sei«, führte er ein trauriges und unglückliches Leben, bis sie ihn zum Bataillon schickten, wo er zweimal verwundet wurde. Im Zivilleben war es seine Lieblingsbeschäftigung gewesen, auf dem Damm des stinkenden Kanals am 102
Stadtrand spazieren zu gehen, dort, wo der Gestank und Kot der ganzen Stadt sich hinwälzte, wo riesige Ratten, so groß wie Kaninchen, umhersprangen. Damals hatte sich Rutzner eine endgültige und traurige Weltanschauung ausgetüftelt, die auf dem Grundgedanken beruhte, daß die ganze Stadt nur dieses stinkenden Kanals wegen existierte. Die Menschen schlachteten einander ab und litten, schluckten Kalorien und reisten, schrieben Bücher darüber, »daß es keinen Gott gibt, und daß die Demokratie die Welt retten wird«, und das alles letzten Endes nur, damit alles Leid und alle Ideen in solch einen schwarzen, kotigen Kanal flössen. Dieser Pessimismus verhärtete sich in Rutzner nach seinen Fronterfahrungen nur noch mehr, er zweifelte sogar an der Demokratie und wollte nicht einmal mehr über sie nachdenken. Egal! Demokratie oder keine Demokratie! Alles endete zum Schluß doch im kotigen Kanal! Im Dorf Bistrica, wo sie einquartiert waren, hatte Rutzner mit der Frau des Hufschmieds, die er zwei Jahre vorher kennengelernt hatte, etwas angefangen. Es war eine fruchtbare Frau, diese Hufschmiedin, deren Mann man als Hochverräter erschossen hatte. So war sie mit fünf Kindern zurückgeblieben. In dieser Nacht blieb Rutzner bei der Frau, daran war nichts Besonderes. Ein warmes Bett, viele rot-weiß gestreifte Bettdecken, in Schweiß gebadete üppige Frauenhüften in den Federn und irgendwo in der Ferne das Rollen des Kanonendonners. Ein Reiter mit einer Laterne schwankte noch über die kotige Straße, und man hörte, wie das Pferd mühselig die Hufe aus dem Dreck zog. Nebel sank nieder, Rutzner erinnerte 103
sich noch, daß er auf dem Tisch der Küche (deren Boden aus roten Ziegeln bestand) seine Pfeife liegengelassen hatte. Gerade in diesem Augenblick erschien ihm die Welt, durch die der Reiter watete, ungewöhnlich tief. Das Kind im Zimmer begann zu weinen, er stand da, dumm, krank und verlassen. So fanden sie ihn am nächsten Morgen im Heuschober, an einem dicken Pfosten hängend. In der linken Hand hielt er die Pfeife, und das wirkte ungewöhnlich auf Vid Trdak. Sie waren in derselben Doppelreihe gestanden, wenn »Doppelreihe rechts« kommandiert wurde, hatte sich Vid Trdak um Rutzner wie ein Flügel um den Türstock gedreht, und immer sprang er mit Rutzner in die Doppelreihe hinein; so hatten sie viel miteinander gesprochen; in der Doppelreihe, im Waggon und in der Kaserne; Rutzner kannte Trdaks Sorgen, aber er tröstete ihn nie. »Du wirst krepieren, deine Kinder werden krepieren, auch ich werde krepieren, darüber wird sich niemand aufregen! Ich bitte dich! Glaubst du denn, daß ich den Markusplatz nicht kenne? Du glaubst, daß dort der alte kurzsichtige Schreiber sitzt und Riz-Abadie-Zigaretten stopft, was? He-he! Und du glaubst, daß er Doktor ist? Es gibt niemanden dort! Weder den alten Doktor noch den Banus noch die Regierung! Alles ist leer! Alles kommt in den schwarzen Kanal!« Ja, er war da gewesen, noch gestern war er in der Doppelreihe marschiert, und jetzt war er nicht mehr da. Er war einfach aus der Doppelreihe ausgetreten. Hinter dem Rücken von Vid Trdak lachten die Leute den Bataillons104
maurer Viktor aus. Dieser hatte vom Herrn Major Urlaub erhalten, aber nur unter der Bedingung, daß er nach Hause fahre, um seine Frau wie eine Hündin niederzuknallen. Sie hatte ihn auf die niederträchtigste Weise mit dem alten Müller betrogen. Während er hier an der Front blutete, hatte die Frau das Haus verlassen und war in die Mühle gezogen. Jetzt war Viktor zurückgekommen; aber ohne Ergebnis. »Hör mich an, Viktor«, hatte ihm der Bataillonskommandant vor dem Urlaub gesagt: »Ich lasse dich weg von der Front, aber gib mir dein Ehrenwort, daß du diese Hündin auf jeden Fall erschießen wirst!« »Hier, Herr Major, mein Ehrenwort! Ich werde sie wie eine Hündin erschießen!« Und der Maurer Viktor war von der Front abgegangen und hatte die Frau nicht erschossen. »Wo ist dein Ehrenwort, Viktor, Viktor!« Die Offiziere kamen aus der Telefonhütte, alle in Kautschuk- und Gummimänteln, bestiegen die Pferde, Kommandos hallten über das Bataillon hin, alle setzten sich wieder in Bewegung, schwerfällig und müde. Der Mann, der über das Schicksal unserer Helden in der Schlacht bei Bistrica Lesna entschied, hieß Richard Weisersheimb, Ritter von Reichlin-Meldegg und Hochenthurm. Er stand im Rang eines Oberstleutnants im Generalstab und war Operationschef jener Armee-Gruppe, in der sich unsere Zagorjaner Truppe als kaum wahrnehmbarer roter Bleistiftstrich auf einer grauen, vollge105
zeichneten Karte im Maßstab 1:75 000 verlor. Auf der Karte des Herrn Oberstleutnants war nicht zu sehen, daß die ganze Gegend von Granaten zerwühlt war, als ob die Erde von toll gewordenen Wildschweinen massakriert worden wäre. Und die Tausende, die sich an diesem Morgen unsichtbar und leise durch Schluchten und Gebirgstäler bewegten, sahen nicht aus wie Massen von verwundetem und eitrigem Fleisch, sondern waren rote Pfeile, deren Spitzen auf die gewundenen blauen Striche der russischen Stellungen gerichtet waren. Auf der Kote 313 stand eine gemauerte Kapelle mit einem gekreuzigten Christus aus Blech, der von den Einschüssen völlig durchlöchert und zerfetzt war. Ein reichsdeutsches Kommando hatte an der Wand eine schwarze Tafel mit den Namen von neunundzwanzig Soldaten angebracht, die man vor zwei Monaten gemeinsam in einem Massengrab bestattet hatte. Es waren Grenadiere einer Sturmkolonne gewesen, die über die Kote 313 nach Osten vorgedrungen war. Später brach die Front an dieser Stelle zweimal zusammen, die Russen drangen bis über die Kapelle hinaus vor, dann verließen sie sie wieder. Der flache Hügel, mit Gesträuch bewachsen, beherrschte die ganze Umgebung. Von ihm aus öffnete sich der Blick weit über Flüsse, Felder, Furchen und Pappeln bis zu dem Dorf, wo sich nach Mitternacht »unser Rutzner« aufgehängt hatte, weiter bis zu dem Waldkomplex, vor dem man mit einem guten Fernglas deutlich die zerstörte und verbrannte Eisenbahnstation sehen konnte; dort hatten die Zagorjaner ihre ersten Stellungen gegraben. 106
Diese Kote 313 war für die allgemeine Entwicklung der Lage von großer Wichtigkeit. Sie war ein strategischer Angelpunkt, um den sich alle Kombinationen des Herrn Richard Weisersheimb drehten, ebenso wie die des Barons von Frederiksen, seines Doppelgängers auf russischer Seite, eines Gentleman mit silbernen Sporen, einem Bojarentitel aus der Zeit Peters des Großen und mit hohen Auszeichnungen. Dieser Baron von Frederiksen war nach Weisersheimbs fachmännischer Überzeugung ein »Dummkopf«, »ein Dilettant«, »ein Ignorant« und »ein Patzer«. »Idiot! Wenn er seine Kasansche Brigade, die gestern hier verblutet ist, vierundzwanzig Stunden früher in die Linien geworfen hätte, alles wäre umgekehrt gekommen, aber so! Wir werden diesem Patzer zeigen, wer und was wir sind!« So war es, als ob Richard Weisersheimb, Ritter von Reichlin-Meldegg und Hochenthurm, mit seinem Gegner, Baron Frederiksen, auf der anderen Seite der Front Schach spielte; er zog mit einem roten Bleistift über die Kote 313 einen Strich und konzipierte dabei eine neue Kombination. Dieser taktische Einfall aber bedeutete für die Brigade unserer Märtyrer (die frisch gebügelt und noch eingestaubt mit Kampfer aus dem Magazin hinter den in Nebel gehüllten Wäldern kampierte), daß sie schon am nächsten Morgen, der gerade am Sonntag war, in Blut waten würde. Die Niedergeschlagenheit der Leute wuchs von Schritt zu Schritt, alle hatten das Gefühl, als trügen sie Steine im Bauch. Dieses Gefühl zwingt den Menschen aus der 107
Doppelreihe in den Graben, um tüchtig Wasser zu lassen; jeden Augenblick trat einer aus, blieb im Graben stehen, dann lief er wieder, um seinen Platz zu erreichen. Bei diesem nervösen Hin- und Herlaufen klirrte die Ausrüstung an den Leuten wie das schwere Geschirr an Lastpferden. Sie marschierten an einem zerstörten Munitionswagen vorbei, daneben lag ein entkleideter Toter, mit einer Zeltbahn halb bedeckt. Seine Fußlappen waren schmutzig und durchnäßt. Eine Krähe saß ihm auf der Hüfte, sie flatterte hoch und ließ sich krächzend im Kot nieder. Der Wald lichtete sich immer mehr, das Gelände zog sich breit hinunter bis zum Bach, der sich an dieser Stelle tief ins Erdreich gekerbt hatte. Es sah aus, als habe jemand seinen übernatürlich großen Daumennagel in den grauroten Lehm gedrückt und die Erde auseinandergerissen, so daß sie nun wie eine eitrige, alte Wunde klaffte. Der Wind rauschte durch das Laub, als plötzlich der erste Schuß fiel. Vorher hatte eine gespenstische Stille geherrscht, wie sie solche Geschehnisse immer verhüllt; die Patrouille, die weit vorausgesandt worden war, kehrte mit der Nachricht zurück, die russischen Stellungen seien am Waldrand. Der Schuß hallte weit über die Äcker und Felder. Die Leute, die noch kein Schießpulver gerochen hatten, atmeten tief auf, es schien ihnen nicht so furchtbar. Es knallte nur, als ob irgendwo in der Ferne ein Brett auf das andere gefallen wäre. Das war ja gar nichts. Dann fiel der zweite Schuß. Noch zwei. Dann Stille. Die Leute stampften über abgerissene belaubte Äste, alle waren über und über schmutzig, und ihre bleiche Gesichtsfarbe wirkte unnatürlich. Sie marschierten so zag108
haft, daß die Stimme des Korporals Pesek in dieser feierlichen Stille (während der jeder sein Herz in der Kehle spürte) doppelt voll und streng klang. »Was ist los? Seid ihr denn Ballerinen? Verfluchte Maulesel, Laufschritt!« Sie rannten alle ins Bachbett, wo ihnen das Wasser bis zu den Knöcheln reichte, und ordneten sich dort in Reih und Glied. Einige fremde Soldaten bewegten sich über die Äcker, einmal hüpfend, dann wieder kriechend. Alles schien lächerlich und unglaublich zugleich. Štef Lovrek betrachtete die fremden Soldaten, die sich in der Ferne wie Pflüger über den Furchen ausnahmen (es waren aber keine Pflüger, sie führten keinen Pflug, sondern Gewehre). Er blickte auf die nasse und aufgewühlte Erde, er beugte sich hinunter, um zu ertasten, was für eine Erde das sei. Es schien ihm, als sei sie gut und tief gepflügt und könne guter Boden sein. In dem Augenblick aber, da sich Štef Lovrek niederbeugte und mit der Hand die Erde berührte, zwitscherte etwas wie ein Spatz, und Vid Trdak, sein Kamerad aus der siebenten Doppelreihe, lehnte sich an ihn, als sei ihm schlecht geworden. In die heimtückische Stille, die nun einsetzte, ratterte weit weg, irgendwo am rechten Flügel, im Wald ein Maschinengewehr, das Gepolter breitete sich über die Täler und wogte immer weiter und weiter; in den weiten Wogen des Widerhalls ertönte dumpf der Abschuß eines Geschützes. Der Knall war so stark, als stünde die Kanone nur fünf Schritt entfernt, laut und tief wie ein Böllerschuß vor der Kirche zu Ostern. In diesem Augenblick ertönten Abschüsse irgendwo in der Ferne, es war wie 109
Orgelton, und etwas flog wie ein Vogel über den Graben und den Bach und über die Leute hinweg. »Zu hoch«, rief jemand überrascht. »Kusch!« Lovrek hörte die Kanonen, gespannt wartete er, ob es noch einmal donnern würde, da packte ihn Vid Trdak, krampfhaft wie ein Ertrinkender. Lovrek spürte nur, wie Trdak weich zusammensackte, und sah, wie Blut aus seinem Mund quoll und über die Hände floß. »Vid, Vid, um der fünf Wunden Christi willen!« Vid Trdak antwortete nicht. Seine Augäpfel glitzerten bläulich, blutiger Schaum stand auf seinen Zähnen; er schluckte und mahlte mit den Kiefern, als ob er wiederkäue. Trdak hatte noch jenes Spatzenzwitschern gehört und den Ausruf »zu hoch!«, als ihm schwarz vor den Augen wurde. Er erinnerte sich, daß er vergessen hatte, jenem Herrn Doktor auf dem Markusplatz zu sagen, daß er um rasche Erledigung bitte. Hätte er das aber auch nicht vergessen, jener Doktor hätte ohnehin keine Zeit gehabt, er mußte Riz-Abadie-Zigaretten stopfen … und Rutzner hat gesagt, es gebe nichts – gar nichts, weder eine Regierung noch einen Banus noch einen Doktor, nichts … Štef Lovrek bückte sich zu Vid Trdak nieder. Er wollte ihn aufheben oder irgend etwas Gescheites tun, etwas Menschliches, das hier am Platz war; er konnte sich aber nicht erinnern, wo er das Verbandszeug hatte, wo hatte sich dieses verdammte Päckchen versteckt, in der Tasche oder im Tornister? Über den Graben pfiff wieder eine Granate, auch sie war zu hoch; gleich darauf wieder drei, alle drei zu hoch. Die Menschen begannen wie die Kühe 110
vor dem Feuer davonzulaufen, man sah nichts, hörte nur irres Schreien und Pfeifen. Lovrek war ganz verwirrt, er wußte nicht, was er tun sollte. Mit den Leuten rennen, schreien, Vid Trdak hier im Kot liegen lassen, oder was sonst? »Verflucht sei deine verrückte Mutter! Sie werden dich wie einen Hund niederschießen! Marsch!« Loverk schrak wie aus einem Traum hoch. Vor ihm stand der Korporal Pesek, bedrohte ihn mit dem Revolver, schrie und fluchte aus vollem Halse, niemand war sonst zu sehen, alle waren irgendwo in der Erde verschwunden, nur er stand da und vor ihm der Korporal Pesek mit dem Revolver. Gehorsam wie ein Kalb lief Lovrek auf einen Holzklotz zu; er war noch drei Schritte von dem Klotz entfernt, als neben ihm eine Granate einschlug und ihn eine Fontäne von Erde in den Bach schleuderte. Er lag im Wasser. Ein steiler schwarzer Wasserstrahl, mit Schlamm vermischt, schoß rechts in die Höhe, ein ebensolcher schwarzer Strahl links, dann begann die Erde zu hüpfen, wie wenn während eines Gewitters Tropfen in die Pfützen fallen, da einer, dort einer, immer mehr, und immer schneller. Lovrek spürte, wie die nasse Uniform und die Wäsche an seiner Haut klebten, seine Augen waren bespritzt von einer grauen, fauligen, grünlich glitschigen Mischung aus Moos und Erde, und die Hände waren blutig von Trdaks Blut. Sein Ellbogen brannte heftig, er hatte sich mitgerissen, am Knie war nur ein kleiner Kratzer, fiju, fiju, fiju pfiffen scharfe Fäden durch die Welt, es war wie auf der Schießstätte, wenn sie in der Deckung die Zielscheiben aufstellten. Ein Stück Böschung löste sich 111
über ihm, dick und schwer fiel es in den Bach, wie ein mit dem Messer abgeschnittenes Stück Teig. Man hörte, wie Wasserbläschen im Schlamm gluckerten. Die Pfeifen schrillten, irgendwo vorne in den Hagebutten- und Brombeersträuchern wurde geschossen. Ein Trompeter lief auf allen Vieren schnell wie ein Affe durch den Graben, Lovrek wollte ihm nachschreien, wo die zweite Kompanie sei, aber in dem Donner, der durch den Wald hallte, hörte man kein einziges Wort. Nur die Granaten brummten wie Baßgeigen. Das Getöse wurde immer stärker, und neben Lovreks Ohren pfiff ein Geschoß, als sei es zugespitzt. Im selben Augenblick bohrte sich ein anderes vor ihm in die Erde und riß sie auf; die Erde stöhnte müde und tief, wie eine geschlagene Kreatur. Man hörte, wie sich im Wald ein Baum vom Wipfel bis zur Wurzel spaltete. Lovrek lag auf dem Rücken in einer Krümmung des Baches, gerade in einer Viehtränke. Alles war von Hufen zertreten und mit Kuhmist verpestet. Er wollte sich umdrehen, um unter den umgestürzten Balken zu kriechen; dort war es vielleicht wärmer. Aber er konnte sich nicht bewegen, er spürte eine unaussprechliche Müdigkeit, die er nie, nicht einmal in der größten Augusthitze beim Dreschen, verspürt hatte. Seine Beine waren so schwer, als wäre sein Körper ein aufgeweichter Zementsack, und die Augen fielen ihm zu; er hielt seine Lider nur so weit offen, daß in eine seiner Pupillen ein dünner waagrechter Lichtstrahl fiel. Durch einen dichten Schleier, wie durch Tränen, sah er Wassertropfen, die wie an einem Spinnennetz von Blatt zu Blatt krochen. Štef Lovrek erinnerte 112
sich genau, wie ihn Trdak an den Schultern festgehalten und wie er angefangen hatte, Blut zu spucken, und wie Pesek geschrien hatte, den Revolver in der Hand; all diese Vorstellungen schlichen jetzt wie etwas Weiches schneckengleich durch sein Gehirn. Alles erschien ihm schleimig, klebrig und kalt. Er wunderte sich, daß Pesek ihn so angeschrien und sogar mit dem Revolver bedroht hatte; jetzt lag er da zu seinen Füßen, grün, taub und bewegte sich nicht, während weiße Schrapnellwölkchen wie Schneebälle über seinen Kopf flogen. Die Erde flog, als werfe sie jemand mit der Schaufel hoch, und der Rauch, der Kot, alles war so still. Štef Loborec war noch immer mit dem Gedanken beschäftigt, wie es gewesen wäre, wenn er sich irgendwo im Dorf in einem Düngerhaufen versteckt hätte, als das Artilleriefeuer losbrach; er blieb im Graben liegen wie ein erfahrener Veteran, der weiß, daß es das erste Prinzip einer klugen und erfolgreichen Kriegsführung ist, liegen zu bleiben, den Kopf in den Dreck zu bohren, die Augen zuzudrücken, je länger, desto besser. Er lag unbeweglich und steif, und als er einmal zusammenfuhr, wußte er nicht, ob alles nur einen Augenblick oder furchtbar lange gedauert hatte; er hatte den Zeitbegriff verloren, er hatte das Gefühl, als sei er aus einem Traum erwacht. Um ihn her waren lauter Magyaren, die magyarisch fluchten und vorwärts gingen. Ein magyarischer Riese war über ihm stehengeblieben und stieß ihn mit dem Fuß in den Hintern. Da stand er auch auf und lief den Ungarn nach. Die Magyaren gingen vor, also ging er auch vor, einerlei! Ma113
gyar ember! Alamvašut! Da mußte er eben, sonst knallten ihn die magyarischen Schweine noch nieder wie einen Hund! Er war liegengeblieben, so lange er konnte. Jetzt war alles einerlei. Der russische Doppelgänger des Herrn Oberstleutnant Richard Weisersheimb, Baron von Frederiksen, der »Dilettant« und »Idiot«, der gestern so leichtsinnig wie ein Hasardeur seine Kasansche Brigade verspielt hatte, ließ nicht zu, daß ihm die Kote 313 durch irgendwelche Gegenangriffstricks genommen wurde. Er hatte diesen Anschlag präzis vorausgesehen, darum hatte er in der vorigen Nacht doppelte Artillerieunterstützung eingesetzt und mit Rotstift auf der Karte einige tscherkessische Transporte hinzugefügt, die schon drei Wochen durch schmutzige russische Stationen gereist waren. Er hatte den Befehl gegeben, den Frontabschnitt um jeden Preis so lange zu halten, bis diese Transporte eingetroffen waren. Schwarze Erdfontänen von Granateinschlägen sprangen links und rechts in die Höhe. Štef Loborec lief wie eine verlorene Ameise durch die Kolonnade schwarzer Rauchsäulen, keuchend und atemlos warf er sich wie betäubt ins Feuer, als ihm plötzlich war, als hätte ihn jemand mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Es war aber ein Erdklumpen. Fette Rauchschwaden aus schwarzen Wolken, Splitter gespaltener Stämme, dorniges Gesträuch, kotige Erde wirbelten über die Köpfe der Menschen hin. Loborec fühlte, wie etwas Warmes über sein Gesicht spritzte; als 114
er mit dem Finger darüberfuhr, um zu sehen, was es sei, war sein Finger blutig, als hätte er eine Wanze zerdrückt. Das Blut tropfte. Die Menschen schrien rechts und links, aber man konnte nicht ein Wort verstehen. Das Donnern hielt an, spitze Fäden von Maschinengewehrgeschossen und Feuer waren um ihn, Rauch, das Stöhnen der Verwundeten, schwerer, betäubender Geruch von Schießpulver. All das drang in Augen und Ohren, in Poren und Nerven, und Loborec war von dem starken Bedürfnis durchdrungen, sich irgendwo zu verstecken. Er bohrte wie ein Käfer das Gesicht in die Erde und atmete schwer. Dampf stieg von ihm auf wie von einem Pferd. Rechts von ihm stöhnte jemand, dieses Stöhnen erfüllte Loborec mit verhängnisvoller Beklommenheit. Scharlachrotes Feuer brach überall an seinem Körper aus, er begann sich wie ein Krätziger mit seinen behaarten Fingern zu kratzen, an den Lenden, den Knien; er hatte das Bedürfnis, sich nackt auszuziehen, aufzuspringen und wegzulaufen, seine Sohlen, die so teuflisch juckten, zu kratzen, zu schreien, sich in Stücke zu reißen – aber gerade vor ihm bohrte sich ein Geschoß in die Erde, und über ihm pfiff es. Loborec hatte das Gefühl, das Geschoß sei in sein Auge gedrungen. Er betastete seinen Augapfel und wunderte sich, daß er noch auf seinem Platz und heil war. Seine Augenlider zitterten nervös von dem ununterbrochenen Prasseln der Explosionen, und in dem Regen von Geschossen, die wie Körner umherflogen, spannte sich seine Hirnhaut. Alles dröhnte in ihm, als schlüge jemand seinen Schädel gegen die Wand. In seinen Eingeweiden brannte starke Hitze von dem 115
heftigen Druck der Explosionen. In einem Augenblick absoluter Dunkelheit drückte Loborec die Hände an die Augen, er verkrampfte sich in der Absicht, sich noch tiefer in die Erde einzugraben, als alles von neuem aufflammte. Er hatte das Gefühl, als würde er von einem Feuerwerk grüner Funken emporgerissen, er drehte sich einigemal um und spürte, verklebt von dem Schmutz, der an seinem Hals herunterrann, wie schwerer, würgender Phosphordampf über ihm wogte. Das kitzelte in Nasenlöchern und Kehlkopf, und er hatte das Bedürfnis zu niesen. Er hätte gern geniest, doch traute er sich nicht einmal zu zucken; er hörte nur die Gewehre, die knatterten wie Wetterhähne im heftigen Wind: Da kommt der heilige Michael, und er wird die Weintrauben ernten. Lange blieb er unbeweglich, dann raffte er sich auf und begann sich langsam abzutasten, ob er noch lebe. Er grub sich ans der Erde, neben ihm lag ein Kopf. Es war ein Kopf aus der Sturm-Kolonne mit dem Helm, mit einem Riemen verschnürt wie ein Postpaket. »In Doppelreihe rechts, vorwärts!« Gott mit uns! Sturmangriff! Gott sei seiner Seele gnädig! Ein zerbrochener Gewehrkolben wirbelte hoch im Rauch, über die Furchen hinweg zog weißes Gas, alles roch nach glühendem Eisen und nach Brand, es brodelte unentwegt und zischte in den Lachen wie Hufeisen in der Schmiedewerksttätte. Loborec kam auf den Gedanken, daß es gut wäre, die Grube, in die ihn vielleicht der heilige Rochus geworfen hatte, zu vertiefen. Mit großer Mühe begann er seinen Spaten, der ihm vom Rücken gerutscht war, zu suchen. Lange quälte er nich mit dem Riemen des Spatens ab. Als 116
er ihn endlich herausgeholt hatte, klirrte etwas, und der Spaten flog ihm in hohem Bogen aus der Hand. Weg ist er!, dachte er, und rollte sich wie ein Knäuel zusammen, als im nächsten Augenblick etwas vorbeisauste und ihm an den Kopf prallte. Das Fleisch brannte, die Streifwunde blutete, er betastete mit schmutzigen Fingern seinen Kopf und besah dumm seine blutigen Finger; dann streichelte er wieder seinen Kopf, und sein Herz schlug wild und laut. Vor ihm in einem Erdhaufen lag ein Mantel, ein Geschoß hatte einen Knopf dieses Mantels abgerissen, der Knopf war herumgewirbelt wie ein Schweinchen, wenn die Hirten auf der Wiese mit den Schweinen herumtoben. »Das ist ein Geller, der Teufel soll seine Mutter holen, und noch einer.« »Da schießt jemand gerade auf mich, der Teufel soll ihn holen,« dachte Loborec und griff nach seinem Gewehr. Sein Gewehr aber war nirgends zu finden, es war jedenfalls im Graben geblieben. Er lag hier neben einer Leiche, ohne Gewehr, noch immer mit dem Gedanken beschäftigt, daß es viel klüger gewesen wäre, wenn er in einem Misthaufen in Bistrica geblieben wäre, als sich hier in einem Ackerfeld an Gottes Sonntag abschlachten zu lassen. Bis zu diesem Augenblick war er noch immer ein Mensch, der unklar empfand, daß ihm Unrecht geschehen war, und daß es anständiger gewesen wäre, sich auf jene Banditen und Bäcker, Fouriere und Schwindler zu stürzen; das Gewehr zu nehmen und auf all diese Gauner im Hinterland zu schießen, vom General angefangen bis zum Bataillonsschuster. Wie ein zahmes Tier hatte er sich bisher vor diesem Feuer gefürchtet; jetzt aber bohrte 117
er seine Schnauze unter den grünen Mantel des unbekannten ungarischen Toten, blutig und wütend, weil er überzeugt war, daß jemand gerade auf ihn schoß. Dann packte er das Gewehr des Toten und schoß in den Nebel, in den Kot, in die Brombeersträucher, ins Nichts. Wem hatte er etwas angetan? Ihm hatten sie seinen sechswöchigen Urlaub geraubt, seine eigene Frau hatten sie mit dem Gewehrkolben vom Kasernenzaun weggetrieben. Geschunden hatten sie ihn, durch die Spitäler geschleift, die Schuhe hatten sie ihm gestohlen, und jetzt schössen sie noch auf ihn? Wer war dieses Schwein, das auf ihn schoß? Wir wollen doch sehen, ob es sich Štef Loborec noch länger gefallen läßt, daß alle auf ihm herumtrampeln! So wütete Štef Loborec, und sein Gewehr donnerte wie ein Motor, der Gewehrlauf rauchte, das Holz wurde heiß, die heißen Hülsen sprangen aus dem Magazin wie aus einer Häckselmaschine, an Štefs Fingern dampften weiße Brandblasen. Mit Volldampf fuhr er auf der Lokomotive der Schlacht. Der Totenzähler der Division, Palčić (im Zivilberuf Student und Nervenbündel, ein Mann, dessen Kehle sich bei jeder Kleinigkeit zusammenschnürte und dessen Augen von unaussprechlichem Kummer glänzten), zählte in der Volksschule von Bistrica Lesna seit dem vergangenen Tag die Toten von der Kote 313. Das erste Bataillon des Zagorjaner Regiments, das auf dem linken Flügel gestanden war, hatte am meisten gelitten. Zweiundsiebzig Totenscheine lagen auf dem Tisch des Divisionstotenzählers, der diese Papiere aus dem gelben Metalldeckel schälte und 118
das Material in die Akten und Tabellen der Division einordnete. Vom zweiten Bataillon hatte es die zweite und dritte Kompanie erwischt. Im zweiten Zug der zweiten Kompanie waren sieben liegengeblieben! Der Korporal Mato Pesek und sechs Honvéds. Der erste in der Reihe war der Honvéd Matija Križ. Geboren, geimpft, gefallen. Anbei seine Hinterlassenschaft: zwei Briefe, vierundzwanzig Kronen, ein Taschenmesser, ein Spiegel. Der erste Brief aus dem Besitz von Matija Križ war mit schwerer Taglöhnerhand geschrieben und stammte von Katica Rodeš. Er lautete so: »Wenn ich Flügel hätte, würde ich an Deine verführerische Bust fliegen wenn ich ein Falkenauge hätte würde ich auf Deine herrliche Brust schauen wenn ich Perlen um den Hals hätte würde ich sie um Dein Herz winden nur daß du mir noch schöner noch lieber und teurer bist siehst Du so liebe ich Dich und wenn ich müßte würde ich mein Leben um Dich hergeben aber wie ich aus deinem Brief entnehme tadelst Du mich und erwähnst daß ich Dir nicht treu bin hab keine Angst um mich mein Lieber nur durch Dich kann ich selig und zufrieden werden beschreiben kann ich das nicht ich werde mein Herz herausnehmen und vor Dich hinlegen daß Du in ihm Dein ganzes Bild siehst Dich ganz siehst wie ich Dich liebe. Geschwätzige Zungen können nicht ruhen und so verleumden sie mich Unschuldige und Reine daran ist mein 119
Schwiegervater schuld der möchte daß ich die Seine werde bis mein Pepo aus Italien nachhause kommt. Du glaube aber nicht daran es ist traurig wenn Deine Mutter mich beschimpft daß ich beim Schwiegervater schlafe wo sollte ich aber schlafen wenn ich es bei Dir nicht kann denn was wird Pepo sagen wenn er nachhause kommt Štefek Francetić war nämlich mit Pepo in Italien und Pepo ist gesund und lebt Gelobt sei Jesus und Maria auf Wiedersehen Katica Rodeš.« Der zweite Brief des Honvéd Matija Križ war nicht von Kati Roth, sondern von Ljubica Jankić, einem anscheinend noch unverheirateten Mädchen. »Hier ein lieber Liebesgruß von Ljubica Jankić Gelobt sei Jesus und Maria lieber Mato mein Goldschatz ich lasse Sie wissen daß ich Ihre Karte am dritten Abend erhalten habe und mein Herz war froh wie ich Ihre Karte erhalten habe. Jetzt schreibe ich Ihnen dieses Brieflein, weil mein Herz mir keine Ruhe gibt. Lieber Mato mein Herz mein Gold meine Liebe. Ich nehme den Bleistift in die rechte Hand um einen Brief zu schreiben weil wir beide nicht zusammen sind. Leuchtender Stern meines Herzens ich liebe Dich noch mehr als Gott und jetzt läßt er mir die strahlende Sonne leuchten und sie grüßt das süße Herz. Mein Liebster schreiben Sie mir über den Brief den Sie am Muttergottestag bekommen haben ich bitte Sie schreiben Sie mir ob Sie wirklich vergiftet und krank sind wie es mir Blaž Kovač gesagt hat denn ich schreibe schon das dritte Mal und ich habe Angst daß Sie in der Stadt in eine 120
andere verliebt sind. Empfangen Sie einen guten und lieben Gruß von Ljubica Jankić.« Der Student Palčić wurde über dem Brief der Katica Rodeš nachdenklich. Dieser Brief war nun hieher auf den Totenevidenztisch gekommen, und das war also das Ende einer Liebesgeschichte. Katica Rodeš hatte sicher in das ausgetrocknete und verstaubte Tintenfaß gespuckt, mit dem umgedrehten Federstiel umgerührt, wie sie die Einbrenn im Topf umrührte, dann hatte sie den ganzen Sonntagnachmittag aus dem Liebesbriefsteller irgendwelche banalen Ausdrücke abgeschrieben, um am Ende in diese bunte Zitatensammlung eine kleine Wahrheit einzuflechten, bitter wie ein Wermutstropfen. Der Student Palčić kannte diese Art von Korrespondenz, er hatte schon Tausende und Tausende solcher Briefe gelesen, die mit nackten rosigen Engelchen beklebt waren, und blutenden Herzen, immer mit der gleichen Hand in der Diagonale geschrieben, von oben links bis nach unten rechts; der Student Palčić wußte schon im voraus, wann jener gewisse Umschwung aus dem Süßen ins Bittere kam, und all das erschien ihm langweilig und traurig. Das war etwas, hier in dem leeren Schulzimmer die ganze Nacht zu sitzen und zu lesen, daß die Eva Katančec dem verstorbenen Landwehrsoldaten Blažek drei Tauben schicke. »Die erste bringt Dir die Liebe, die zweite dies Brieflein und die dritte ein Röschen! Ich wußte alles, was in den Weinbergen mit Janica Goričanec gewesen ist und warum du mir nicht schreibst, Gott mir Dir!« Und wie die Jaga Pecak an den kroatischen König schrieb, daß die demütig Un121
terzeichnete so frei sei, zum Zweck der Zuwendung der hohen väterlichen Gnade das beiliegende untertänigste Gesuch gehorsamst zu schicken. Das »beiliegende untertänigste Gesuch« der Jaga Pecak hatten die königlichen Behörden auf dem Dienstweg an die zuständige Militärbehörde geschickt, zur dortigen zweckdienlichen Verwendung. Die zuständige Behörde hatte das Gesuch auf kurzem Dienstweg an die Bittstellerin zurückgesandt (beziehungsweise an ihren Mann, den Landwehrsoldaten Pecak) mit der Bemerkung, daß sich Seine Majestät der König der Kroaten nicht herabgelassen und nicht erbarmt habe, er habe auch nicht geruht, seine allerhöchste väterliche Gnade zu erteilen. Demgemäß werde Honvéd Imbro Pecak nicht auf seinen Grund und Boden zurückkehren können, wie Jaga es erbeten und was sie sehr erhofft und wofür sie dem Schreiber auf der Gemeinde eine fette Gans und siebenundzwanzig Eier geschenkt hatte. Alle zugrundegegangen! Die Gans und die siebenundzwanzig Eier, Jagas Hoffnungen und Imbro Pecak! All das liegt in der metallenen Hülse der Identitätskapsel, die der Student und Totenzähler Palčić auseinanderschält, wonach er schwarz auf weiß geschrieben findet, daß Imbro Pecak gefallen ist, nachdem er gegen Cholera und Typhus geimpft wurde, sich verheiratet hatte und im Dorf Trnje Jezušovo in der Gemeinde St.Anna geboren worden war. Auch die silberne Uhr des Korporals Mato Pesek ist hier, unter deren Deckel ist ein Ausschnitt aus dem Schusterkalender eingeklebt, darauf steht zu lesen, daß Herr Mato Pesek diese silberne Uhr als Belohnung vom Kalenderver122
lag bekommen hat, weil er das im Kalender Der Schuster veröffentlichte Rätsel: ›Wer früh aufsteht, fällt selber in die Grube‹, und: ›Wer andern eine Grube gräbt, hat doppeltes Glück‹ gelöst hatte. Der Student Palčić hat schon genügend Totenscheine gestapelt und Gesuche gelesen, er sieht deutlich die Marica Blažek auf dem Totenbett, und wie ihr die Verwandten das Totenlicht anzünden: die Kinder weinen, sie stirbt an der Schwindsucht, und ihr Franjo liegt hier auf dem Katheder der Volksschule in Bistrica Lesna, Galizien, mit drei Liebestauben von der Eva Katančec. »Eine bringt Dir die Liebe, die zweite dies Brieflein und die dritte ein Röschen!« Und wenn Štef Loborec zu seiner jungen Frau zurückgekehrt wäre, hätte er sie völlig versoffen vorgefunden. Die Kuh, die Schweine, das Geflügel, ein halbes Joch Wiesengrund, alles das hatte Loborec’ Frau vertrunken, in dem Wahn, daß Štef tot sei und nicht mehr zurückkehren werde. Den Schrank und die Polster und die Laken, alles hatte sie vertrunken, ein Laken für vier Kronen. Alles in Štef Loborec’ Heim war zusammengestürzt, und wenn er zurückgekehrt wäre, hätte er seine Frau betrunken und besinnungslos in einem Graben gefunden, wo die Dorfkinder sie mit Steinen bewarfen. Dann hätte er sie gewiß blutig geschlagen, und so war es besser, daß er überhaupt nicht zurückkehrte. Und der Vater des Honvéd Blažek, der schon das siebzigste Jahr überschritten hatte, schwach und krank war und niemanden hatte, der ihm etwas Warmes kochen oder waschen wollte, dessen Pferde blind, dessen Schweine krepiert waren, dem der Hagel alles zerstört hatte, der schrieb seinem Sohn, seiner rechten Hand, er solle heim123
kommen auf den Grund, er solle ein Gesuch schreiben, er solle sich melden, daß man ihn nach Hause gehen ließe, denn so lasse sich das alles nicht mehr ertragen. Die Totenscheine fallen wie Regen auf den Tisch des Totenzählers, mit den Totenscheinen die Briefe und die Gesuche der gefallenen Honvéds. Der Student Palčić liest und registriert, alles ist zu Ende, da gibt es weder Arznei noch Rechtsmittel, weder Einspruch noch Berufung. Nicht nur Vid Trdak blieb hier mit sechs seiner Kameraden aus dem zweiten Glied der zweiten Kompanie, mit seinem Gesuch, in dem er zu schreiben vergessen hatte, daß er um rasche Erledigung bäte; Brigaden und Divisionen von Toten waren durch diese Tabellen hindurchgegangen und marschierten weiter in die Ewigkeit, stumm, gebeugt, elend, unschuldig zum Tode verurteilt. Sie marschieren in Doppelreihen, im stummen Trab endloser nächtlicher Kolonnen, ihre Ausrüstung rasselt, die Mannlicher, die Spaten und die Bajonette, man hört, wie sie ihre Soldatenstiefel aus dem Dreck ziehen, und der Divisionstotenzähler hält einen Augenblick im Zählen inne und spitzt wie ein Hund die Ohren. Er hält den Atem an vor der panischen Gewißheit: Draußen marschieren jetzt die Zagorjaner Grubenarbeiter vorbei. Ihr ganzes Leben lang haben sie Ruß, Gestank und giftige Gase eingeatmet, nun sind sie aus dem Grab auferstanden, haben ihre Öllampen angezündet und marschieren stumm in Doppelreihe in eine andere Grube, aus der man nicht mehr wiederkehrt. Auch die Weinbauern von der unteren Drau, die Stubitzer Taglöhner, die Urenkel des Bauernkönigs Matija Gupec mar124
schieren draußen im Dunkel, alle werden hier auf diesem Katheder landen, und er wird ihre Liebesbriefe lesen, ihre Gesuche, wird die barbarisch einfältigen Photographien betrachten, in Dokumenten blättern, und es wird niemals ein Ende haben.
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baracke 5 b
G
raf Maximilian Axelrode, Komtur des Souveränen Malteserordens, war bereits in seinem vierzehnten Lebensjahr bei den Johannitern Chevalier de Justice gewesen; in Gala trug er das silberne Kreuz. Statt der sechzehn adeligen und ritterlichen Ahnen, die nötig waren, um in den Hohen Malteserorden aufgenommen zu werden, konnte Graf Maximilian Axelrode in der Linie seines Herrn Vaters und seiner Frau Mutter, der hochgeborenen Fürstin, mit achtundzwanzig Federbüschen und Goldhelmen aufwarten, unter denen allen schon blaues Blut gepocht hatte; und als das Hohe Priorat des Souveränen Malteserordens die kostbare Familienchronik mit den goldenen Siegeln der Kabinettskanzlei Seiner Majestät zur hohen und höchsten Imprimatur gesandt hatte, sprach man davon wie von einem großen Ereignis, das zu seiner Zeit auf der ganzen Erdkugel nicht seinesgleichen hatte. Graf Maximilian Axelrode hatte sein ganzes Leben hindurch nur ein einziges Ideal: für die hohe Malteserdevise pro fide das bloße Schwert zu zücken und sich, in den schwarzen, in schweren Falten fallenden Ordensmantel gehüllt, mit kühner und heller Stirn in den Tod zu stürzen. So hatte er, als er zum erstenmal nach Jerusalem gereist war, über dem Marmor von Santa Maria Latinæ bitterlich geweint, voll Trauer, daß es ihm nicht vergönnt war, seine Gebeine neben denen des vor achthundert Jahren gefallenen Gottfried von Bouillon verstreut zu haben, oder 127
doch wenigstens dreihundert Jahre später auf Rhodos und Malta, als dort die Kanonen gedonnert hatten. Aber ach, er war in einer jämmerlichen und dummen Zeit auf diesen Globus geworfen worden, in einer Zeit, in der die hochadeligen Leute vom Schlage eines Villers de L’Isle-Adam sich in sozialistische Agitatoren verwandelt hatten, die am 1.Mai den Pöbel aufwiegelten, und in der das größte militärische Ereignis irgendein Manöver war, bei dem nur mit Platzpatronen geschossen wurde. Pfui über dieses idiotische Zeitalter der Dampflokomotiven, das als Ganzes an die Schienen der sozialen – vielmehr der sozialistischen – Demokratie gebunden zu sein schien, in der die edlen Malteserritter einander mit bürgerlichen Melonen auf dem Kopfe in Hotels treffen mußten, und in der das Duell gesetzlich verboten war. So trauerte Graf Maximilian Axelrode volle dreiundsechzig Jahre. Als er eines Tages erwachte, schien es ihm, als träume er. Ein Lakai überbrachte ihm eine Depesche vom Priorat des Hohen Ordens, in der ihm mitgeteilt wurde, daß die Generalmobilmachung verkündet worden sei, und daß der Souveräne Malteserorden seiner hohen Tradition gemäß dazu ausersehen sei, im Namen seiner großen Devise pro fide die Fahnen zu erheben und irgendwo draußen in der Etappe des kaiserlichen Heeres seine Zelte aufzuschlagen, um einen Samariterdienst einzurichten. So kam es, daß Graf Maximilian Axelrode zum Chef eines großen Lazaretts wurde, das aus zweiundvierzig Holzbaracken bestand; einer eigenen elektrischen Zentrale, einer ganzen Kompanie Schwestern vom Roten Kreuz und so weiter und so weiter … Das Heer 128
rückte hundert Kilometer nach Osten vor und zog sich dann zweihundert Kilometer nach Westen zurück, marschierte dann wieder nach Osten, von einem Feldzug zum andern, und das war der Krieg. Und so wanderte auch Graf Maximilian Axelrode mit seinem Malteserzirkus von Osten nach Westen, von Stanislau nach Krakau und umgekehrt, zwei volle Jahre. Und nun war es August des Jahres 1916, die Sonne brannte mit 42 Grad Celsius herab, und die Lage war gespannt und ernst. Das Lazarett war mit einer Kopfzahl von fünfzehnhundert Verwundeten voll belegt, dazu hatte es den Anschein, als hätten die Russen die Eisenbahnverbindung zur Rechten und zur Linken abgeschnitten, und als werde sich der Herr Graf und Großmeister des Malteserordens in zwei Wochen in Moskau befinden. Um die Mittagszeit kam eine Depesche, die besagte, daß die Russen ihre Linien bereits nördlich über die beiden Bahnstationen hinaus vorgeschoben hätten, daß aber das Lazarett an Ort und Stelle bleiben solle, weil ein Gegenangriff im Gange sei. Da die Eisenbahnlinie im Norden von den Russen abgeschnitten war, hatten sich sämtliche Transporte nach Süden in Bewegung gesetzt, und so war es selbstverständlich zu Zusammenstößen gekommen. Das Ergebnis: 72 Tote und eine Unzahl von Verwundeten. Dazu kam, daß es in den Zügen keine Verpflegung mehr gab und daß die Verwundeten schon seit fünf Tagen nach Wasser schrien. Man ernährte sie – lachen Sie nicht, es ist wahr – mit Pillen gegen Würmer; auf allen Bahnhöfen hatte man den Kopf verloren, und Graf Axelrode war gezwungen, fünfhundert weitere Patienten in sein überfülltes Lazarett 129
aufzunehmen. Dieser Tag war der heißeste des ganzen Sommers, die Sonne hatte mit ihren glühenden Strahlen die Erde förmlich zusammengepreßt, und es schien, als habe jemand auf die weißen Holzbaracken einen glühenden Mühlstein geworfen und damit alles in Brand gesteckt. Die Bretter bogen sich und bekamen Sprünge vor Trockenheit, und der Kalk schuppte sich ab wie Greisenhaut. Der grüne Rasen und die Blumen in den dekorativen Rondells verdorrten, welkten und zerfielen, als hätte man sie zertreten. Unter den neuen fünfhundert Verwundeten, die Graf Axelrode über sein Soll hinaus aufnehmen mußte, lag auch Vidović, ein Student, mit zerschossener Lunge; er blutete. Der Mensch kann wirklich nirgends mehr verdrecken als an der Front, aber als man Vidović genauso schmutzig wie alle anderen, die man an jenem Augusttag aus den Viehwagen geholt hatte, in das große Dampfbad trug, konnte er doch noch Ekel empfinden. Wenn man einen so bejammernswerten, nervösen Menschen, wie Vidović einer war, aus den ihm angemessenen westeuropäischen Lebensbedingungen heraus direkt in dieses Dampfbad transportiert hätte, dann hätte der arme Vidović zweifellos Krämpfe bekommen und angefangen zu speien. Aber nach all dem, was Vidović gestern und heute erlebt hatte – nach dem Bahnhofsbrand der vergangenen Nacht, in der ein Benzinkanister nach dem anderen explodiert war; nach der Verabreichung von wurmvertilgenden Pillen, während tausendzweihundert Hälse nach Wasser gebrüllt hatten, und es doch kein Wasser gegeben hatte; nach dem Aufenthalt im Viehwagen –, muß130
te er in diesem Bad nicht speien, obwohl ihn dennoch alles anekelte. In dem stinkenden, gelben Wasser des Betonbeckens schwammen graugrüner Seifenschaum, blutige Verbandsfetzen und eitergetränkte Watte. Das Wasser dampfte und stank nach Dreck und Lehm, die heißen Duschen rauschten, und durch den dichten Dampf sah man schwarze Schatten, die im Dunst hin- und herrannten; alle Menschengesichter waren geschwollen und blutig, irgendwo surrte ein Dynamo, und es war Mittag im August. Irgendwo unter einer heißen Dusche starb ein Mann, ein anderer schrie, die Ventilatoren summten wie unsichtbare Insekten, und Russen in khakifarbenen Blusen brachten neue Verwundete wie Säcke angeschleppt; die Schwestern, die Verwundeten und die Ärzte schrien, alle liefen hin und her, und alle hatten den Kopf verloren. Vidović wurde in dieser dreckigen, blutigen Hölle gebadet und hernach in die Baracke 5 B getragen, die aussah wie der Bauch eines riesigen Schleppkahns. Mit unerbittlicher Pedanterie waren dort sechzig präzis sortierte Betten aufgestellt, auf jedem lag ein Körper, und über jedem Bett hing ein Zettel, damit man auch wußte, wem der jeweilige Körper gehörte, erste Gruppe: Knochenbrüche (die Knochen ragten hervor wie Späne; die Männer lagen tagsüber lautlos da, erst in der Nacht meldeten sich die Verwundeten mit jämmerlichen Stimmen). Zweite Gruppe: Amputierte (Arme oder Beine oder beides; die Wunden waren nicht verbunden, sondern dorrten unter dem Tüll wie die Auslage eines Fleischerladens). Die dritte Gruppe, links vom Eingang, war die 131
Zuwachsgruppe. Dieser Zuwachs befand sich in der Baracke 5 B nur auf der Durchreise. Er durchwanderte sie auf dem Weg vom Bad in die Leichenhalle. Sobald jemand dieser dritten Gruppe zugeteilt wurde, dann wußte die ganze Baracke, wie es mit ihm stand; er war ein Todeskandidat. Als man den verwundeten Vidović in die Baracke gebracht und auf das Bett Nummer 8 gelegt hatte, spuckte ein Ungar, ein riesenhafter Kerl aus Gruppe 1 (Knochenbrüche) verächtlich aus und malte mit einem Finger das Zeichen des Kreuzes in die Luft. »No hát, Istenem! Den hätten sie doch direkt in die Leichenhalle bringen können. Servus.« »Eine neue Nummer 8 ist gekommen, Kinder!« »Nummer 8, Nummer 8!« Die Nachricht verbreitete sich rasch durch die Baracke, und viele Köpfe hoben sich, um die neue Nummer 8 in Augenschein zu nehmen. Gewiß, sie alle hatte das Leben tüchtig hergenommen und zur Ader gelassen, aber wenn einer auch keine Füße mehr hatte, so war er noch lange nicht Nummer 8, sondern Nummer 21 oder Nummer 15. »Mir fehlt ein Arm – ja. Und mein Knochen ist gebrochen, ja. Aber ich lebe! Du lieber Gott! Ich lebe.noch immer. Und wenn morgen die Russen einen schwarzen Sarg hereinschleppen und Nummer 8 darin verstauen, werde ich schön meine Pfeife stopfen, zuschauen, wie die Fliegen am Fliegenfänger kleben bleiben, und meine Milch trinken. Das ist immerhin ein Leben und nicht das Schicksal von Nummer 8.« Schon seit vier Tagen wechselte die Nummer 8 ständig. Noch heute morgen hatten die russischen Gefangenen 132
einen ihrer Kameraden hinausgetragen. Seine Gedärme waren zerrissen gewesen, und er hatte zwei Tage und zwei Nächte hindurch gebrüllt. Vor dem Russen war dort ein gutmütiger Wiener gelegen, und jetzt kam Vidović an die Reihe. Im Bett Nummer 7, links von Vidović, lag ein sibirischer Mongole mit Kopfschuß; er lag schon den dritten Tag in Agonie. Er schrie irgendwelche grellen Selbstlaute, die keiner verstand, und alle glaubten, es gehe schon zu Ende mit ihm. Er warf sich aber immer wieder herum, und auf seinem Kopfverband zeigten sich frische Streifen von rotem, brennendem Blut. In Nummer 9, zur Rechten, lag ein junger Slowake mit durchschossenem Hals im Sterben. Seine Luftröhre war durchtrennt; er atmete durch eine Glaskanüle, und man hörte in dem Röhrchen ganz deutlich ein Gemenge von Eiter, Blut und schäumendem Speichel gurgeln. Und die Baracke 5 B fing an zu wetten, daß Vidović den Morgen nicht erleben werde. »Ich kenn’ doch unseren Doktor. Wen er nicht gleich unters Messer nimmt, mit dem ist es aus.« »Das ist nicht wahr. Er würde ihn nicht bis morgen hier liegen lassen, wenn es so wäre. Der Kerl ist noch jung.« »Dieser Bacsi aus Wien hat schon Reis gegessen und gelacht, aber wir sind gleich unters Messer gegangen.« »Also abgemacht? Auf eine Flasche Dunkles? Bis morgen!« »Gut. Auf eine Flasche Dunkles.« Und so brach die Augustnacht herein. Große Sterne entzündeten sich, riesig, blitzend, und das unendliche, blaue Gewölbe bedeckte wie eine Kristallschüssel das ganze Tal mit Axelrodes Malteserlazarett; Tausende und Aber133
tausende Tonnen von Glut lasteten auf der Baracke 5 B; nirgends ein Windhauch, der für einen Augenblick Erfrischung gebracht hätte. Die Fliegen schliefen und summten nicht mehr in der Baracke, und irgendwo in der Mitte dieses entarteten Schiffs, das mit Menschenfleisch vollbeladen war, brannte eine grüne Lampe, und alles schwamm im Halbdunkel. Dunkel, Dunkel, Halbdunkel – und der Schmerz, der unsagbare Schmerz, der sich tagsüber verkrochen hatte und der jetzt in jedem Herzschlag und in jedem Atmen der Poren war. Jetzt spürte man auch die leiseste Erschütterung in den zusammengeflickten Knochen. Jede Erschütterung zerrte an den Nerven und ließ die Stimmen aus den Tiefen der Menschen bersten wie Lava aus einem Vulkan. Der Mensch biß die Zähne zusammen, er schwitzte und zitterte, schäumte und biß sich auf Zunge und Lippen, doch auf einmal zwängten sich die Kiefer auseinander, das Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse, und die Stimme schrie aus tiefstem Grund wie aus einem Brunnenloch. »Mamma mia! Mamma mia!« jammerte ein Italiener hinten im Saal. »Gospodi, gospodi, gospodi!« stöhnte ein Russe mit Bauchschuß. Dann war es wieder still, eine grüne Stille, Halbdunkel. Vom Blutverlust erschöpft, hatte Vidović den ganzen Nachmittag geschlafen. Jetzt wachte er auf und wußte nicht, wo er war, was mit ihm geschehen und wie er hierher geraten war. Er hörte menschliche Stimmen, die stöhnten, und der Brand in seinen Wunden hatte sich irgendwie beruhigt. Die Glut war erloschen. Nur mit größ134
ter Mühe fand er eine etwas kühlere Stelle auf seinem Kissen. Seine verbrannten Lider klebten aneinander, eine schwere und taube Stille lastete auf ihnen, Durst drang von unten herauf, die Baracke fing an, zu zergehen und in wohligem Dunkel zu zerfließen, als wieder ein tierischer Schrei laut gewordenen Schmerzes die Baracke durchdrang. Und dieser Schrei zerbrach das ganze Gebäude des mühselig auf dem kühlen Ende des Kissens aufgebauten Traums. Alles fiel in einem einzigen Augenblick zusammen. Und so ging es die ganze Nacht, immer wieder von neuem. »Ah, oh, nur fünf Minuten, nur eine Minute Schlaf!« Es mußte schon gegen Ende der Nacht sein, denn ein klares Licht floß durch den grünen Tüll. Draußen schrien die Wachen, und ein Lichtstrahl, der an der Lampenschnur hinaufkroch, schien im Morgenwind zu erzittern. Falter flogen um die Nachtlampe und flatterten mit den Flügeln. »Wie spät ist es?« Es gab keine Zeit, es gab nichts, nur den Schmerz. »Mammamia! Mamma mia! Gospodi! Gospodi!« »Ach, wenn ich nur eine Minute schlafen könnte, nur eine Sekunde.« »Gospodi!« Am nächsten Morgen verschlechterte sich die Situation ernstlich. Der Russe war am frühen Morgen nach Süden vorgedrungen und hatte auch die letzte kaiserlich-königliche Eisenbahnverbindung unterbrochen. Die Züge 135
begannen, in umgekehrter Richtung zu fahren, und an die Maschinisten wurde der Befehl gegeben, die Lokomotiven zu sprengen, so daß sie wie Spielzeug in die Luft flogen. Alles geriet durcheinander: die Artillerie, die Verwundeten, die Magazine, die großen Divisionsküchen mit ihren rußigen Rohren, Pontons, Pferde, eine wahre Sintflut. Ununterbrochen krachte es von den Detonationen der gesprengten Lokomotiven. Den ganzen Morgen hindurch marschierten Truppen, und die Patienten des Malteserlazaretts aus den Baracken A, C und D, Leichtverwundete, die man nicht auf Bahren tragen mußte, da sie sich von selbst fortschleppen konnten, sahen belustigt durch den Stacheldraht hinaus auf das Chaos des Rückzugs, auf die Straße, auf der die Menschen heute, vom Sonnenstich getroffen, umfallen würden, während es den Verwundeten immer noch ganz gut ging. Da standen sie unter dem Rotkreuz-Zeichen, und niemand würde sie jagen; wenn der Russe kam, würde man sie irgendwohin in weite Ferne abtransportieren, in russische Lazarette und Lager, dort würde es keinen Krieg geben, sie würden am Leben bleiben, und der Krieg würde aller Wahrscheinlichkeit nach noch an diesem Morgen für sie zu Ende sein. Die einzige Idee in den Köpfen der Verwundeten war eben das: der Krieg möge zu Ende sein, je eher, desto besser. Graf Maximilian Axelrode, Chef des Malteser-Lazaretts, hatte das aristokratische weibliche Personal – zwei Baroninnen und eine Generalin – im Auto weggeschickt. Er selbst hatte sich entschlossen, hier, bei seiner Malteserfahne, mitten in der Gefahr bis zum Letzten auszuhar136
ren. Die Glocke am Dach der Leichenhalle läutete, und Graf Axelrode wandelte in seinem schwarzen Mantel mit dem Malteserkreuz wie jeden Morgen durch die Barakken und betrachtete die nackten, gelben Leichen in den Särgen, die von Russen geschleppt wurden. Die Russen trugen die Toten und begrüßten den Grafen; sie verbeugten sich tief, wobei sie die Mützen abnahmen und damit beinahe den Boden berührten. »Es ist unglaublich, wie der Betrieb im Lazarett in den letzten zwölf Stunden nachgelassen hat!« Tatsächlich, der gestrige Tag war eine ungewöhnliche Nervenstrapaze gewesen. Die verdammte Sonne hatte alle Hirne überhitzt, und alarmierende Nachrichten, Depeschen und die Sprengung der Lokomotiven hatten auf die Stimmung gedrückt.. Und dann dieser neue Transport, der die ganze Hausordnung des Lazaretts in den Küchen und Ambulatorien durcheinandergebracht hatte! Ach Gott, dieser neue Transport! Aber heute, wo draußen Einheiten vorbeimarschierten, die man überblicken konnte wie ein Schachbrett, auf dem die Figuren umfielen – heute wurde die allgemeine Lage deutlicher, und alles schien sich aufzulösen. Wann hätte sich – noch gestern um diese Zeit! – jener Sanitätsgefreite getraut, vor den Augen Seiner Exzellenz Kognak aus einer großen Flasche zu trinken? Und jetzt hatte er sogar bemerkt, daß der Graf sich näherte, und doch trank er ruhig weiter, als gehe ihn das Ganze nidits an. Und warum grinsten fast alle Patienten so spöttisch? Was sangen diese Russen da? (Die russischen Gefangenen sangen beim Gottesdienst in ihrer Baracke, denn heute war ein orthodoxer Feiertag). 137
Heute goß auch niemand die Rondells, obwohl es in einem Lazarettbefehl ausdrücklich so bestimmt war. Nirgends war jemand, der seine Pflicht tat. Er stand unter diesem Pöbel ganz allein. So einsam wie ein Schatten stand der Graf da und war ganz erschüttert. Er hatte nicht mehr die Energie, die Dinge wieder ins Lot zu bringen, und wußte nicht, was er tun sollte. Er konnte keine Verbindung mit dem Oberkommando bekommen, er hatte keine Anweisungen, und der Divisionsstab war vor einigen Minuten in einer Autokolonne vorbeigesaust und hatte gar nicht angehalten. So rief der Graf die Abteilungschefs in seine Baracke, um mit ihnen zu beraten, was zu tun sei. Die einen waren dafür, daß fünfzig Prozent des Personals hierbleiben und die anderen fünfzig Prozent abrücken sollten; andere waren wieder nicht dafür, und die dritten waren weder für die erste noch für die zweite Maßnahme und wollten etwas Drittes; und so ging es lange hin und her, bis man am Ende beschloß, gar nichts zu tun – bis auf weiteres. Dieses »bis auf weiteres« war indessen schon um fünf Uhr nachmittags erreicht, denn zu dieser Zeit wurde es sonnenklar, daß sich das Lazarett in der kommenden Nacht zwischen den Fronten befinden würde. Die Russen hatten an diesem Frontabschnitt keinen Kontakt mit den kaiserlich-königlichen Truppen, und wenn der geplante, bereits vor vierundzwanzig Stunden angekündigte massive Gegenstoß nicht gelang – was sehr wahrscheinlich war –, dann würde irgend ein Sanitätsoffizier einer russischen Division mit dem Malteserlazarett nach seinem Gutdünken verfahren. So beschloß 138
man endlich, daß sich Graf Axelrode mit den Chirurgen, dem kostbarsten Material und fünfzig Prozent des Personals auf ein etwa fünfzehn Kilometer weiter westlich gelegenes Gut zurückziehen sollte, um von dort aus mit irgendeinem Kommando in Kontakt zu treten und sich schriftlich darüber zu beschweren, daß man ihn und sein Lazarett vollkommen vergessen hatte – wie eine Nadel im Heuhaufen! Und es war doch ganz und gar keine Nadel, sondern ein Malteser-Lazarett mit eine Kopfzahl von tausendfünfhundert Verwundeten. Die letzten Infanterie-Einheiten zogen an ihnen vorüber, und man hörte das Artilleriefeuer schon ganz nahe. Dann zerschnitten die Verwundeten den Stacheldraht, setzten sich In den Straßengraben und unterhielten sich mit den Männern, die aus der Schlacht kamen, über »ihn«. »Er« war Brussilow, »er« war der Russe. »Wo ist er? – Ist er schon in der Nähe? – Was macht er jetzt? Wann wird er kommen? – Er ist im Anmarsch. Bis Wien wird er sich nicht mehr aufhalten lassen.« Die Truppen waren müde und durstig, und jeder sagte etwas anderes, nur eines stand fest: er kam immer näher. Der Abend kam, und Scheinwerfer begannen am Himmel zu spielen. Kanonen donnerten in der Ferne, und die allerletzten Gruppen zogen vorbei. Aber er kam nicht. Er war aus unerklärlichen Gründen stehengeblieben, so wie man stehenbleibt, um Atem zu schöpfen. Drei Kilometer vom Lazarett entfernt floß unter Weiden ein schmutziges, breites Wasser. Dort brannten die Brücken, das sah man ganz klar, aber am anderen Ufer war es ganz ruhig, so als gäbe es dort niemanden. In die139
ser geheimnisvollen Spanne Zeit, in der man gar nichts wußte: weder, was er tat, noch wo er war, kam sich das ganze Malteser-Lazarett vor, als hänge es irgendwo zwischen Wien und Moskau in der Luft, aber wahrscheinlich war Moskau etwas näher als Wien. Später war irgend jemand so geistesgegenwärtig gewesen, die erste Flasche Kognak aus dem Magazin zu stehlen, denn er hatte schon gewußt, was morgen sein würde. Die russischen Verwalter waren vielleicht noch pedantischer als die österreichischen. Im Magazin gab es Kognak und roten Burgunder und ungarische Weine und Champagner, und eine Stunde später war das ganze Malteser-Lazarett vollgesoffen; der Wein floß durch die Baracken, und volle Bierflaschen wurden zerbrochen, denn wer trank schon Bier? Die russischen Gefangenen begannen, fasziniert von der lichten Illusion, daß sie morgen schon in ihre Dörfer im Ural oder an der Wolga zurückkehren könnten, durch alle Baracken zu tanzen. Dann fing ein ungarischer Arzt an, mit seinem Revolver auf die Wärter zu schießen, in dem Bestreben, seinen Alkoholbrand mit Pulver zu löschen. Daraus entstand eine regelrechte Schießerei, eine kleine Schlacht, und der ungarische Arzt mußte sich vor der elementaren Gewalt geschlagen zurückziehen und verschwand mit den Schwestern in der Nacht. Zwei deutsche Schwestern, Schwester Frieda und Schwester Marianne (deren Verlobter bei Verdun gefallen war und die immer Ullsteinbücher las), wurden in ihren eigenen Zimmern vergewaltigt. Und dann geriet alles außer Rand und Band, die Menge löschte ihren Freiheitsdurst immer gewaltiger, 140
zuletzt war sie bis zum Wahnsinn vollgesoffen mit Illusionen, und alles schien wie ein trunkener Traum. Die Raketen, die alle paar Minuten aus dem Wald drüben aufstiegen, wurden von den betrunkenen Verwundeten, die in ihren Hemden, mit Flaschen in der Hand, herumsaßen, mit Gejohle und Gepfeife begrüßt, und alles war von Sinnen wie auf einem Jahrmarkt. Den Verwundeten, die sich nicht bewegen konnten, wurde der Wein in Töpfen ans Bett gebracht, und all die Knochenbrüche und die amputierten Beine, die in der Baracke 5 B wie in der Auslage eines Fleischerladens unter dem Tüll dorrten, betranken sich ganz schön; und mitten auf Vidovićs Bett begannen irgendwelche Ungarn Siebzehn und Vier zu spielen. »Bank! Bank!« schrien sie, mischten die Karten und tranken, und ihre Gesichter sahen aus wie die Fratzen chinesischer Piraten, verzerrt und grinsend, mit schadhaften Zähnen. »Einundzwanzig!« Irgendein Teufel war auf das Dach der Baracke gestiegen und begann dort zu tanzen. Er trampelte herum, und es schien, als würde das Dach jeden Augenblick einstürzen und sie alle in irgendeinen Abgrund mitreißen. Aus der Baracke C hörte man Harmonika, Okarina und Gusla. Dort waren Männer aus Syrmien, die im Chor sangen: »I mama i tata!« Das freche und ausgelassene Scherzo zitterte nach, und man konnte es in der Baracke 5 B, in der der durchlöcherte und verzweifelte Vidović lag, gut hören. Nur ein einziger Gedanke brannte in seinem Kopf: Werden sie mich operieren? Wenn sie mir heute das alles herausgenommen hätten, würde ich nicht mehr bluten. Wo sind 141
sie? Warum operieren sie mich nicht? Was geschieht da? »Einundzwanzig! Bank! Das Ganze!« »Mert arról én nem tehetek hogy nagyon nagyon szeretlek taralalalalalala!« sang jemand von den Amputierten aus der Budapester Bande. Er hatte die Gaze-Decke, die für den amputierten Fuß bestimmt war, wie einen Hut über den Kopf gestülpt, und ein Italiener sang die Irredenta, und sein Tenor widerhallte herrlich: »Amore, amore, amore!« Man sang, man trank, man vergoß Schnaps, und dann begannen die Scabies-Kranken, einander mit Besen durch die Baracken zu jagen, und johlten dabei; alles brüllte wie in einer Menagerie, und es schien, als hätten sich alle Insassen der Baracken wie schmutzige, verwundete, blinde Hühner zusammengetan und angefangen, auf einem einzigen, abgeschnittenen und verbundenen Bein nach dem Takt der Geschützmusik, die immer stärker vom Bahnhof herüberdrang, zu tanzen. »Händewaschen vor dem Essen, Nach dem Stuhlgang nicht vergessen!« jodelten die Tiroler im Chor, indem sie diesen Vers von den Zetteln lasen, die in den drei Landessprachen beschriftet überall angebracht waren. Die Ungarn wollten nicht hintanstehen und sangen den entsprechenden Vers auf Ungarisch: »Egyél igyál de mindig elóbb mosdjál«, und in der dritten Sprache lautete der Vers: »Peri ruke svagda prije jela, Peri poslije ispražnjenja tijela«. 142
Aber die kroatischen Soldaten sangen ihn nicht richtig, sondern lallten ihn spottend nach, als sei er in einer afrikanischen Sprache abgefaßt. Ein steirischer Kaiserjäger, dessen Brille die Augen wie mit Lupen vergrößerte, so daß sie wie grüne Glaskugeln hervortraten, wollte vor Lachen zerspringen. Er hustete und japste und lief dabei puterrot an; beinahe wäre er erstickt, während ihm die Zunge brechen wollte bei dem Versuch, diesen kroatischen Text nachzusprechen: »Peri ruke svagda prije jela, Peri poslije ispražnjenja tijela!« »Haha, das ist aber wirklich dumm! Ist das nicht blöd, dieses ›peri‹? Du, was ist das, dieses ›peri‹?« »Waas isdas? Waas isdas? Blöder Trottel! Nix, nix. Sag du ihm, Štef, was das heißt, du warst doch in Graz. Kum, kum, Šnaps!« Und sie tranken und grölten, zogen einander auf, sangen und brüllten: ein ungeheures Babylon. Einer hatte im italienischen Kriegsgefangenenlager gelernt: »porca madonna, io parlo italiano!«, und das schrie er den Italienern zu und winkte ihnen: »porca madonna, porca porca porca!«; und jemand verspottete die Rumänen mit einem Zitat, das er in der Typhusbaracke des Lazaretts aufgeschnappt hatte: »Nueste permis aščipi per podele, haha! Šči rumunjesči!« »Liebe Brüder, ich bitte euch, seid ruhig, mir tut’s weh, mir tut’s so schrecklich weh!« schrie Vidović, aber seine Stimme verlor sich; er röchelte nur mehr, und Blut quoll ihm zwischen den Zähnen hervor. «Te! Mi az? Weh? Mindig ez a Weh! Mi az Weh?« 143
»Das ist, wenn einem etwas weh tut«, erklärte ein Slowak dem Ungarn. »Weißt du, wenn du verwundet bist, dann tut’s dir weh, oder wenn du dich wo anschlägst, dann tut’s dir auch weh.« »Micsoda? Anschlägst? – Haha! Weh! Weh!« »I mama i tata …« Und die Kanonen schossen immer stärker, als fällte jemand auf der Baracke Bäume. Der vor achtundvierzig Stunden angekündigte massive Gegenstoß gelang wirklich, und die Russen wurden im Morgengrauen mit großer Wucht zurückgeworfen und auf beiden Hügeln umgangen. Fünf Bataillone Infanterie und einige Batterien wurden gefangengenommen, und Graf Maximilian Axelrode kam schon um halb zehn in Begleitung der Baronin Liechtenstein in seinem Wagen im Lazarett an. Zuerst fand eine große Untersuchung statt, wegen der Vergewaltigung der zwei deutschen Krankenschwestern. Um halb eins wurden sieben Russen, die vorher ihr eigenes Grab hatten ausschaufeln müssen, erschossen. Dann wurden dreihundertfünfzig Simulanten (die mit Trachomen behaftet gewesen waren, mit Scabies und Geschlechtskrankheiten), ferner Leute mit Streifschüssen und einige aus den Baracken für interne Krankheiten, deren Temperatur nicht über 38 Grad betrug, in den Kampf geworfen, so daß im Lazarett schon um halb eins die nüchterne Ordnung der Malteser wieder eingezogen war. Um die Autorität der kaiserlichen Fahne und die so sehr korrumpierte Disziplin wiederherzustellen, befahl 144
Graf Axelrode, daß der große Sieg der vergangenen Nacht mit einem Fackelzug gefeiert werden sollte. Alle Insassen des Lazaretts, ohne Unterschied, wurden angewiesen, an einer schwarz-gelben Fahne vorbeizumarschieren, und alle, die nicht gehen konnten, sollten von den Russen auf Bahren vorbeigetragen werden. Aber defilieren mußten sie alle. Und so geschah es auch. Die Patienten traten gruppenweise an, und jeder Mann bekam einen Lampion in die Hand gedrückt, und den ganzen Zug führte ein Verpflegungsoffizier, der noch nie auf einem Pferd gesessen hatte. Er verstand es aber gut, mit seinen Sporen zu klirren und die Menge wie ein Regisseur zu dirigieren. So formierte sich ein Zug von einigen hundert Mann mit grauen, blutigen Verbänden, und jeder einzelne hielt einen grünen oder roten Lampion in der Hand, und die lebhaften Farben hoben sich grell von der aschgrauen Tünche der Dämmerung ab, und alles sah aus wie eine Legion von Gespenstern. Der Zug setzte sich in Bewegung. Die Enkel der Männer, die 1848 auf den Barrikaden von Wien gefallen waren, die Söhne von Garibaldis Fahnenträgern, hussitische Gottesstreiter, Jelačićs Grenzer, Kossuths ungarische Honvéds zogen vorbei, verkrüppelt, humpelnd, verunstaltet, verbunden, amputiert, mit Stöcken, auf Wägelchen und Tragbahren, sie taumelten, stießen einander an – und dort stand eine große schwarz-gelbe Fahne, davor Graf Axelrode in Schwarz, geschmückt mit dem Malteserkreuz, hinter ihm Krankenschwestern mit dem Roten Kreuz und Ärzte, und alle sangen im Chor: »Gott erhalte!« Die Männer gingen still einher, mit gesenkten Köpfen, wie verschämt. 145
Sie waren noch verkatert von gestern nacht, sie trugen gelbe Lampions und Kerzen wie bei einem Begräbnis, und ein Hornist war auf ein Barackendach gestiegen, wo er die Generaldecharge intonierte. Als man Vidović von diesem beschämenden Defilee in die Baracke 5 B zurückgebracht hatte, glühte er in hohem Fieber. Alles hatte sich in der vergangenen Nacht zum Schlechteren gewandt, und die Insassen der Baracke, die noch vom Alkohol aufgepeitscht waren, spürten ihre Wunden jetzt um so stärker brennen. Der Sibirier auf Nummer 7 hatte sich in der Nacht schwer angetrunken, am Morgen war er tot. Man hatte ihn noch lange in der Baracke liegenlassen, und alles stank fürchterlich von seinem vielen Blut. Der Slowak mit der Kanüle auf Nummer 9 quälte sich noch immer, und man konnte ihn schwer atmen hören. Irgendwo unter den Ungarn schrie entsetzlich ein Russe. Heute nacht hatte er noch tanzen wollen, jetzt schrie er wie verrückt. »Az atya úr istennét, ennek a Ruszkinak! Ruszki!« »Halt’s Maul, Russki! Was schreist du so?« »Ich hab auch Schmerzen und bin doch ruhig!« »Ich will auch schlafen, verfluchter Hund!« »Russki kusch!« »Pst! Ruhe! Pst, pst!« Vidović lag da und hörte, wie sie in der Baracke stritten, und fühlte sein Ende nahen. Wozu bin ich überhaupt geboren, und was für einen Sinn hat es gehabt, in eine blöde Gassenhauerzivilisation hineingeboren zu werden, in der es keine Trauer gibt, in der alles nur Operette ist? Wie beschämend ist doch mein 146
Tod! Wie tief beschämend! Ich wollte das alles überleben, Neues erleben. Und was ist geschehen? Spitäler und nur Spitäler. Welche Phrase auf der ganzen Erdkugel könnte den Sinn eines solchen Spitals ergründen? Nichts als Spitäler! Seit zwei Jahren schon wandere ich von Spital zu Spital. In dekorativen Staatsspitälern war ich mit hochherrschaftlichen Huren, in Klosterspitälern, in denen die Tuberkulosekranken sterben. Man spritzt ihnen irgendein Serum ein, an das keiner glaubt! Baracken! Diese schmutzigen, stinkenden, verlausten Holzbaracken! Ach, wie traurig und ekelhaft ist das alles! In dem Wunsch, irgend etwas zu tun, sich loszumachen, aufzuspringen, davonzulaufen, aus vollem Hals zu schreien, wollte Vidović sich aufrichten, konnte es aber nicht. Der Schmerz hatte den Aufruhr seiner Nerven niedergeworfen, er verlor sich in einem Nebel, und er begann laut zu stöhnen. »Pst! Pst!« zischte es aus der Dunkelheit; die Baracke protestierte. Der Schmerz preßte die zahllosen blutigen Glieder, die durch die ganze Baracke 5 B verstreut waren, wie ein Schraubstock. Der Schmerz nahm übernatürliche Formen an, und die Menschen begannen, Gott anzurufen. Der Herrgott wurde als letzte Instanz angerufen, so wie man Bittschriften an die Hofkanzlei sendet, wenn schon alle anderen Mittel versagt haben. Irgendein Ungar rief seinen Isten an, damit er ihm helfe. In breiten, weißen Leinenhosen solle er kommen und zwei, drei Flaschen roten Stierbluts bringen, und irgendein Teufel solle kommen, um aufzuspielen, damit man 147
endlich einmal sterbe oder auferstehen könne, denn so gehe es nicht mehr weiter. »Gospodi, gospodi, gospodi!« schrie ein Russe, blaß und durchsichtig wie eine byzantinische Ikone. Er rief seinen russischen Gott an, der im Bojarenpelz auf goldenem Thron im Kreml saß; der russische Mensch schrie, er schrie, daß sogar Mütterchen Moskau seine Stimme hören konnte, er schrie aus allen Kräften und faltete die Hände und weinte wie ein neugeborenes Kind: »Gospodi! Gospodi!« Vidović fuhr zusammen, und es schien ihm, als sei Isten zu dem Ungarn gekommen, als habe er sich auf sein Bett gesetzt und labe ihn aus einer Flasche, und der Ungar trank, immer mehr, und die Geigen schluchzten, ach, wie gut das tat, beim Schluchzen der Geigen von jemandem gelabt zu werden. Es war gut. Darauf konnte man schlafen. Auch der kaiserlich-russische Herrgott schritt mit seinem kostbar gekleideten Gefolge durch die Baracke, und die Ikonen glühten im Ewigen Licht, und die Glokken des heiligen Mütterchens läuteten, und der alte Herr mit dem weißen Bart, im seidengefütterten Pelzmantel, vergrub seine Hände in den russischen Eingeweiden und nahm dem Russenmenschen die blutige Kugel heraus, und ihm wurde leicht, so leicht: »Ich danke dir, Gospodi, jetzt geht es mir gut.« Da schau, jeder von ihnen hat seinen Gott! Auch der Italiener aus Fiume (mamma mia, mamma mia!), auch er hat seine Kardinäle und Päpste und seine römischen Fahnen, und der Russe und der Ungar, jeder hat seinen Gott, und wen habe ich? Auch mir tut es weh, 148
auch ich bin zerschossen worden, genauso wie die – ich habe niemanden! Vidović hatte solche Schmerzen, daß er die Hände erhob, um sie nach irgend jemandem auszustrecken; seine Hände blieben in der Luft hängen, und er spürte schreckliche Leere, es würgte ihn in der Kehle, und er begann laut zu weinen: »O ja! Ich habe vor unseren Kneipen einen Christus hängen gesehen, es war ein richtiger kroatischer Christus, und alle zweiunddreißig Rippen waren ihm gebrochen, die Brust durchbohrt, und er blutete aus unzähligen Wunden. Und ich habe nicht an ihn geglaubt. Zu solch einem hölzernen Christus, der auf der schmutzigen, eiterdurchflossenen Straße steht, in einer Gegend, die nicht einmal ein Betrunkener passiert, ohne sie zu verfluchen – zu einem hölzernen kroatischen Gott, der nackt und elend ist und dem der linke Fuß fehlt, oh, zu einem solchen Gott, der eine Soldatenkappe trägt, zu dem könnte ich beten, er allein könnte mir helfen. (Lieb Vaterland, magst ruhig sein, Wir wollen alle Mütter sein – fest steht und treu die Wacht am Rhein!) Was ist los? Bin ich wahnsinnig geworden? Zu wem bete ich da? Ich habe Schmerzen. Ich bete. Was für Stimmen sind das?« Von draußen strömte durch den grünen Gazevorhang über Vidovics Kopf gelbes Licht herein, und er hörte Frauenstimmen, die in Moll leise Verse sangen, und er hörte Kristallgläser klingen. Sie klangen leise, und auch die Stimmen waren leise, aber deutlich: Lieb Vaterland, magst ruhig sein … 149
Gleich neben der Baracke 5 B stand eine Laube, in der die Ärzte und Ordensdamen vom Roten Kreuz regelmäßig zu Abend aßen, und heute war ausnahmsweise auch Graf Axelrode bei einem Festessen anwesend, um mit dem Personal zusammen den Sieg zu feiern. Von diesem großartigen Ereignis angespornt – es hatte ja schon geschienen, als seien die Würfel falsch gefallen, und dann hatte doch alles eine Wendung zum Guten genommen – und von den patriotischen Melodien seiner patriotischen Damen, die bereit waren, jedermann für den Krieg zu begeistern, eingelullt, erhob sich Graf Maximilian Axelrode, Komtur des Malteserordens, und hob sein Glas, um einen Toast auf den Sieg auszubringen. Er sprach hingerissen von den siegreichen Feldzügen Seiner Majestät, in welchen auch von jeher die Malteserfahne geweht hatte, unbesiegt und souverän: »Meine Damen! Luogotenente Fra Giovanni Battista Ceschi a Santa Croce, der mit eigenen Augen den Angriff der Jakobiner auf unser heiliges Malteserkreuz mitangesehen hat und den hier vorzustellen ich die Ehre habe, dieser edle Ritter, meine Damen, hat in seiner Chronik geschrieben, daß die schwarzen Malteserpelerinen im göttlichen Schatten Spalier stehen würden, wenn dereinst der Herr über der erloschenen Sonne das Gute vom Bösen scheiden würde.« Vidović hörte das Klirren der Gläser in der Laube und erkannte die Stimme des gräflichen Kommandanten, und dessen maskenhaftes Gesicht fiel ihm ein, wie er es heute Abend beim Fackelzug gesehen hatte. Ich bin wahnsinnig geworden. Ich wollte schon beten. 150
Und dabei singen die da draußen und feiern den Sieg, und dieser Malteserritter hält eine Rede … »Was ist mit Nummer 9? Er hat sich die Kanüle aus dem Hals gezogen, er blutet! Schwester!« »Pst! Pst!« »Aber Nummer 9 blutet! Schwester!« »Wo sind sie denn alle? Wo ist die Schwester? Nummer 9 …« Draußen in der Laube, jenseits der weißgestrichenen Bretterwand, klangen die Gläser aneinander, und hier hatte sich Nummer 9 in der Agonie die Kanüle aus dem Hals gerissen, und sein Blut floß. Nummer 9 atmete schwer, er röchelte wie ein abgestochenes Schwein, immer leiser und leiser … Vidović wollte schreien, er hatte aber keine Stimme mehr. Es wurde ihm klar, daß man für Nummer 9 eine Kerze anzünden sollte. »Man müßte eine Kerze für ihn anzünden. Für sein Seelenheil«, wiederholte er ununterbrochen, und seine Augen starrten auf die Blutlache von Nummer 9. Und er wollte aus ganzer Kraft schreien, aber durch seine Kehle pfiff es nur wie durch ein Sieb. »Kusch. Der Teufel soll deine Mutter holen.« »Az apád istennét! Csönd!« »Kusch!« »Nummer 9 ist gestorben! Nummer 9 ist gestorben! Und diese Kavaliere draußen singen und stoßen mit den Gläsern an. Fra Giovanni Battista a Santa Croce. Ich möchte ihn sehen. Ich möchte diesen Malteserkavalier sehen …« Und in einer letzten Aufwallung, die eigentlich der Todeskrampf war, stand Vidović auf und zerriß 151
den Gaze-Vorhang über seinem Kopf. Da tat sich ihm ein helles Quadrat auf, und in dem blaßgrünen Licht sah. er zwischen den Blättern der Laube weiße Damen mit roten Kreuzen sitzen, betrunken und laut lachend, diese zukünftigen Mütter zukünftiger Mörder. Pfui! wollte Vidović schreien, und ein letzter heller Gedanke blitzte in seinem Kopf auf: man müßte den Nachttopf nehmen und mit allem Dreck auf das weiße Tischtuch werfen, damit ein großer Fleck entstünde, ein riesengroßer, schrecklicher Fleck auf dem weißen Tischtuch, und alle mit den Fingern zeigten und schrien: Dreck! Dreck! In dem Bestreben, diesen seinen letzten, jämmerlichen Gedanken zu verwirklichen, bückte sich Vidović nach seinem Nachttopf und fühlte noch im Fallen, wie seine Hände in den schrecklichen Dreck fuhren. Dann wurde alles in Blut getaucht, in das Blut, das wie ein Sturzbach aus ihm hervorquoll.
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requiem für habsburg eine novembernacht des jahres 1918
Notwendige Vornotiz (Entnommen der Tageszeitung Obzor vom 14.November 1918, Nr. lxix, S. 3, Nachmittagsausgabe). Das Fest dauerte bis zum frühen Morgen. Und wie es schon geht in diesen stürmischen Zeiten, in denen sich alle, selbst die intimsten, geselligen Veranstaltungen allzu gerne in politische Versammlungen verwandeln, wurde auch der gestrige Thé dansant zum Schauplatz einer stürmischen Debatte, die tief in unsere Zukunft einschneiden wird und viel Licht auf die Zustände wirft, die dem Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie vorausgingen. Als sich nämlich Oberstleutnant Kvaternik erhob, um zu sprechen, rief der kroatische Dichter Miroslav Krleža: »Nieder mit dem Unwürdigen!«, womit er auf die Tätigkeit des Oberstleutnants Kvaternik im Dienst des k.u.k. österreichisch-ungarischen Gouvernements in Serbien anspielte. Die Anwesenden nahmen sehr scharf für und gegen diesen Zuruf Stellung, der das Losungswort jener Strömung ist, die eine radikale Reinigung des nationalen Lebens von allem alten Österreichertum anstrebt. Darauf stand der Delegierte für Militärangelegenheiten, Herr Doktor Matthias Drinkowitsch, auf und nahm in einer längeren Rede die kroatischen Offizie153
re in Schutz, die ihr Ehrenwort gegeben hatten, ihrem Vaterland ehrenhaft zu dienen. Anschließend erhob sich Herr Miroslav Krleža, den das Publikum aufgefordert hatte, das Wort zu ergreifen, und begann seine Ausführungen, wie er selbst betonte, nicht vom Standpunkt jener darzulegen, die sich während des Krieges in den Offiziersmessen besoffen, sondern im Namen derer, für die er als Symbol das kroatische 25. Honvédregiment anführte, dessen Mannschaften, von ihren eigenen Offizieren mißhandelt und in den Tod getrieben, in ihrer Seele die Idee der nationalen Befreiung trugen und ihre Rettung von Serbien erwarteten, vom gleichen Serbien, gegen das sie von ihren eigenen Offizieren gehetzt wurden. Bei diesen Worten entstand großer Lärm, Zwischenrufe und Beifallsäußerungen waren zu hören, und die ganze Versammlung zerfiel in Gruppen, vor welchen einzelne Redner, Offiziere, Freiwillige, Unteroffiziere, Soldaten, Bürger und vor allem alle diejenigen, die während des Krieges eingekerkert und als politisch Verdächtige von einer Front zur anderen gejagt wurden, ihre Ansichten entwickelten. Im allgemeinen Lärm hörte man nichts von dem, was einzelne zur Sprache brachten. Aber dann ließ das Festkomitee die Musikkapelle einen Kolo aufspielen und damit wurde dieser Zwischenfall momentan beigelegt, ohne daß Herr Krleža seine Rede hätte beenden können. Das war eine betrunkene Nacht, und wie betrunken; so verrückt betrunken, daß sich alle Ruhmeskränze und 154
Fahnen, alle Schlachten am Kajmakčalan [1], alle Ikonen und Heiligenaltäre gemeinsam mit der blauen Adria und der kroatischen Nationalhymne Unser schönes Vaterland in wunderlichem Durcheinander zur Tollheit dieser dummen, zügellosen Zecherei vermengten; so betrunken, wie es eben jene längstvergangenen Tage waren, als unsere österreichisch-ungarische Wirklichkeit trunken die Stufen des Thrones der Dynastie Karadjordjević hinabrollte. Wie eine leere Bierflasche hinabrollt … »Königlich, hermelinverbrämt und purpurn« war die Trunkenheit der Nacht in der Vision dieser besoffenen, vor Begeisterung, Siegesrausch und Glückshalluzinationen rasenden und tollen Horde, einer so betrunkenen Horde, daß sie plötzlich ihre Einbildungen für wahr hielt und vergaß, daß sie träumte. Wirklich, alle waren vollständig besoffen, als ich mich gegen Mitternacht in dieses royalistische Gewühl mischte. In der großen Turnhalle des Kolo und des Sokol lärmten und brüllten sie, wie man eben bei uns in stinkenden Schnapsbuden, Schenken und Kneipen herumbrüllt – von der nördlichen bis zur südlichen Grenze des Landes, von den syrmischen Weinbergen bis Laibach und bis zu den Klöstern Metochiens und Mazedoniens. Welch ein Bajram spießbürgerlicher Begeisterung! Was für ein markerschütterndes Gebrüll der Säufer! Was für ein fliegenhaftes, kopfloses Schwärmen durch dichte, undurchsichtige Rauchschleier! Welch ein Lärm der Zungen und Sohlen, welch ein schmarotzerisches Schilcher-, Dingač- und Muskateller-Saufen! Was für ein fröhlicher kaiserlicher Leichenschmaus zu Ehren der (nach einer Behauptung der geschätzten Redaktion des 155
Horizont) »zweimal auf legale Weise erwählten kroatischen Dynastie Habsburg«! Von den ungefähr fünfzigtausend allerauserwähltesten Auserwählten unserer politischen Creme der Creme betrank sich hier in dieser Nacht die Blüte der Agramer südslawischen loyalistischen Intelligenz, und alle die Detektive, Minister, Bevollmächtigten des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen, die österreichisch-ungarischen Großgespane und kroatisch-slawonisch-dalmatinischen Dichter und Zöllner wurden angesichts dieses üppigen Mahles und der Aussicht auf eine unendliche Folge ebenso üppiger und schlemmerischer Gelage (die andauern würden bis ans Ende unserer Tage!) vor Begeisterung völlig verrückt. Berauscht, betäubt und weinselig wurden unsere Zylinderträger, die grauen Juristen- und Beamtenfiguren, in dieser Nacht bonapartistisch laut und aufdringlich, als hätten sie sich, schwarz durch Pulverrauch, blutig und fettverschmiert in der triumphalen Rolle historischer Sieger zu dieser ruhmvollen Teegesellschaft durchgefochten. Wie Raben und Dohlen, die zu Leichen auf den Ackerfeldern niedergleiten (und Leichen liegen jetzt ja überall zahllos herum, weil sich der Tod in den vergangenen vier Jahren in ziemlich allen unseren Schluchten und Tälern ausgetobt hat und noch immer von jeder Seite Brand- und Leichengeruch zu spüren ist), ließen die Mitglieder dieser Gesellschaft über der Kadavermahlzeit ein Freudengekrächze hören. Und besoffen waren sie wirklich vollständig, diese armseligen Aasgeier, als ich gegen Mitternacht in das südsla156
wische Gewimmel stieß. Die liebe abgeschiedene Dynastie ist erst vor wenigen Tagen entschlafen und über der kaiserlichen, buchstäblich noch warmen Leiche wurde schon pathetisch eine andere Dynastie begrüßt, eine »junge, bäuerische, fortschrittliche Dynastie, die Stuart Mills übersetzt«, eine Dynastie, die »sozialistisch«, »national«, ja sogar »republikanisch« ist! Diese – quasi – »republikanische Dynastie«, diese Dynastie in Bundschuhen, vergießt heute abend ganze Krüge voll Malvasier. Sie hat Tische mit Würsten und Torten übersät, damit unter königlichem, besoffenem Grunzen auch jenes bißchen Verstand dahinschwände, das bis jetzt noch nicht aus den halbleeren, betrunkenen Schädeln verdampft ist! Und seht, rings um diese besoffene Teegesellschaft lodert der Brand des Aufruhrs im Volk, während man hier die allslawische Dreivierteltakt-Polka hündischer Loyalität tanzt: Daß eine neue Aula wieder pro nobis da sei und daß diese nicht de nobis – sine nobis zu herrschen beabsichtige, sondern pro nobis – in signo veræ et perpetuæ … Gleichberechtigung der Volksstämme. An verschiedenen Stellen der Stadt Agram flammen die Dächer, die Feuerhähne krähen und von den brennenden Türmen in Turpolje hört man das Klagen der Glocken. Wieder einmal ist seit dem Jahr 1848 Bewegung in das Volk gekommen, es hat sich erhoben, um Schluß zu machen mit dem Knien vor Zylinderhüten und Kadavern und endlich Menschenwürde zu gewinnen. Aus dem Dunkel knallen Schüsse und aus der Ferne kläfft ein Schwarzlose-Maschinengewehr, aber hier tanzen die 157
Sofkas, die Zlatas und die Olgas ihren trunkenen illyrischen Koloreigen, eine närrische Kumpanei springt über die Tische und zerschlägt Gläser auf diesem neolegitimistischen, neoslawischen Fest eines kleinbürgerlichen politischen Mehlbreis und Mischmaschs. Kreischend und quietschend drängt sich unser »holdseliges Schönes Geschlecht« an die »hoffnungsvollen serbischen Offiziere«, die Vertreter der serbischen Armee, denen patriotische Bürger Blumen, Cognac und Würstchen anbieten, erfüllt von aufrichtiger illyrischer Volksbegeisterung für die Sieger des Tages, völlig hingerissen wie zur Zeit des seligen Banus Jelačič [2]. Unsere süßen Agramer Fräulein vergessen ihre miedertragenden kaiserlichen Kavaliere in Pejačević-Hosen schnell beim Klirren der Gläser und Waffen, beim Pfeifen der Flöten und Zirpen der Tamburitzas vergessen unsere herzigen und reichgeputzten jungen Damen ihre kaiserlich-königliche agramerische Straußiana und ihren Walzertraum, und unsere süßen Mädchen und Zuckerbäcker-Dämchen umschmeicheln jetzt die Serben und tanzen im slawonischen Nationalkostüm aus dem Besitz des Frauenvereins in Petrinja die Srbijančica, einen serbischen Kolotanz – und zwar in Bundschuhen, denn unsere neue nationale Dynastie ist republikanisch, sie übersetzt Stuart Mills: »Unser König ist ein Freund Bakunins« und so ist auch unser junger Regent eine Art von freisinnigem Bakunin-Anhänger: revolutionär, idealistisch, panslawistisch – und südslawischer Demokrat! Einfach süß! Zum Bussi-geben! ZumZwickibussi-geben! Ich dränge mich zwischen den Tischen hindurch, die 158
von unzähligen großen Schüsseln mit Riesenfischen aus der Save bedeckt sind, und denke still an die Verse des unsterblichen Stoss [3] im Gedicht Das Standbild des kroatischen Vaterlandes: »Der Wels bewegt den Schnurrbart stolz und schlau, Schnappt mit dem Maul nach Fischlein in der Sau! Jedoch des lieben Vaterlandes Bild, o Graus, Schnarcht auf der Bahre schon im Totenhaus.« Mich durch ein hirnloses Schnapsgelage hindurchdrängend, wo alles durcheinanderirrt unter dem Einfluß verschiedener starker Weine und Wermutgetränke, wo Champagnerpfropfen knallen und der goldige Ausbruch schäumt und wo alles verwässert und zur rotzigen und blöden Euphorie eines übernationalen Massenwahnsinns zerschmolzen ist, denke ich über Stoss’ Trauer nach und darüber, daß sich seither nichts geändert hat. Ich stehe inmitten dieses trunkenen Deliriums und beobachte – nun, nun liebe Vaterlandsfreunde! – wie in diesem Weinberg Groß-Illyrien alles mit Weinlaub geschmückt dasteht, wie alles kreischt und alles johlt, alles jauchzt und alles grunzt wie in einem Gedicht von Mirko Bogović [4]: »A – Be – Ce und A – Be – We, Das ist unser schlimmstes Weh …« Alles ist betaut von Tränen und Schweißtropfen, alles ist benetzt von den Wassern des Himmels, alle übergeben sich, alle lassen Wasser ab nach allen Seiten, daß die Gewässer, die uns durchströmen, nur so aufgurgeln und dahinrieseln, wirtsmäßig, wie bei einem Symposion und wirklich: ganz illyrisch antik ist alles in Fluß geraten, 159
panta rei … In dieser schwitzenden Hölle, diesem Gestank von Parfüm, Schnaps und Schießpulver, wo Eisenöfen wie glühende Kupferkessel Hitze ausstrahlen, wo dicker Zigarrenrauch aufsteigt, daß durch diesen grauen Schleier rotbackige Masken wie blutverschmierte Wangen hervorleuchten, riecht alles säuerlich, nach Beuschel, nach Kuttelflecken, nach Würstchen, alle stoßen miteinander an und alles säuft, alles brüllt: hoch! Toni lebe hoch, hoch Milan, hoch Signor Matteo – er hat eine schöne Rede gehalten, da ist nichts zu sagen – es lebe Signor Matteo – auf Ihre Gesundheit, Herr Matthias – es lebe Comte Ivo, Fürst von Ragusa – addio, Patrizier – hoch Peter – es lebe Svetozar – hoch Gaj – hoch Jelačić … Alle singen von Serben und Bosniaken, von dem grauen Falken Miletič – Dort, dort, in der Ferne, hinter den Morgen, dort ist Prizren, dort ist … – Erhebe dich, Banus, Kroatien ruft dich – Rote Wangen, roter Wein – Unser schönes Vaterland – Kolo, Kolo in der Runde – Unser schönes Vaterland – Tanzt die Jugend mit im Bunde – Es weidet die Herde, es klingt das Horn – Der Morgen bricht an, der Tag erwacht – Dort, dort in der Ferne – Dort ist die Insel von Bled, verkitscht und blöd … Alle singen vom Triglav, vom Amselfeld, singen bis zur Bewußtlosigkeit, in trunkener Hysterie – und ich dränge mich durch ins Gewimmel und denke: also das ist unsere Nationalgeschichte, und niemand wird je wissen noch erkennen, wie das eigentlich so aussah in einem historischen Augenblick, da die Stadt Agram im Monat November des Jahres Achtzehn den Untergang Österreichs feierte. 160
Ich geriet auf diesen Ball ganz zufällig, aus Einsamkeit und Melancholie. Schon seit mehreren Tagen quälte mich das unbestimmte Gefühl, daß um mich herum zuviele tote Dinge lägen. Sziget, Mohácz, Belgrad, Castell Uovo, Knin, Sisak – der österreichische General Katzianer[5] liegt irgendwo bei Kostajnica im Morast, die Fische der Una haben ihn gefressen und auf seiner Kanone, der »Katzianerin«, wurde Niklas Zrinyi in Sziget der Kopf abgeschlagen; der alte Graf Herberstein sitzt auf seiner Pettauer Burg und starrt desperat auf die grüne Drau, die Drau fließt lautlos dahin und wälzt den frühen Novemberschnee rasch mit sich, und um den alten Grafen Herberstein schweigen die Rüstungen und die Portraits der Zrinyi, die alten Tapisserien von Czakathurn; auch vor seinem Schloß steht schon die Pfändungskommission, schon hört man die Trommel, schon sind die Exekutoren da im Namen des ermordeten Zrinyi[6]… O Zar Lazar, ehrenwerten Stammes, wo nur bleibst du, da sind wir nun mit eine Flasche doppeltgebranntem Šlivovic, und die goldene Puppe liegt allein in der Kiste, völlig allein im goldenen Ornat. Laß uns anstoßen, Zar Lazar, was schweigst du denn, trauriger Serbe, im Dom des Sankt Dominius zu Spalato flackert ein einziges Altarlämpchen und längliche Schatten zittern auf den korinthischen Säulen, »Christe eleison« murmelt der Chor der Dominikaner, nun vereinigen wir uns mit den Schismatikern in partibus infidelium, um die Kirche des heiligen Donat zu Zara schreien Eulen. Hier dauert eine vierhundertjährige Nacht, wir schreiten über Kadaver und alles ist voll von Leichen, Armen, Beinen, Schädeln, 161
Riesenschlangen, Beinhäusern, Friedhöfen, Katakomben, und dort liegt Jajce, dort liegt der letzte bosnische König Stefan Tomašević und hält den eigenen Katharerkopf in seinen Händen, in der Kirche zu Remete schläft Jan Pannonius, Homosexueller, Dichter, Atheist, Bischof, völlig anonym in seinem eigenen Land, unbekannt, nicht anerkannt, ungedruckt und nach vierhundert Jahren vollständig vergessen; auf dem Agramer Friedhof schlafen die Illyrer Vraz und Prešeren, Vaterlandsfreunde, Knechte, zweihundertsechzig Dächer des heiligen Franziskus: »Morgen wird es etwas Wurst mit Bohnen geben, wenn der liebe Gott will« – die Kathedrale zu Djakovo steht leer, irgendwo in der Nachbarschaft grunzt ein Schwein, der Bischof schläft, und um Strizivojna-Vrpolje-KapellaBatrina-Vučjak jammern zu Tode verwundete madjarische Lokomotiven. Ein letztes habsburgisches Notturno, ein großes pathetisches Poem, das seinen Dichter nicht findet. Zu Füßen des Velebit-Gebirges schlägt das dunkle, das hochwogende Meer gegen das Ufer von Obrovac bis Tulove Grede, nirgends ein Mensch, und um Verlika und Sinj belfern Mitrailleusen, und Schüsse hallen von den Mauern der Stadt Zengg wider. Auf den Pfählen werden die abgeschlagenen Häupter der Uskoken[7] von Unruhe ergriffen, ein seltsames Gerücht kam ihnen zugeflogen: Österreich ist untergegangen. Ich las in dieser Nacht Vojnovič – einige seiner Phrasen über die nationale Einigkeit und die nationale Befreiung –, und noch nie war mir dieser Dichter so sehr aus Papier und Snobismus zusammengesetzt erschienen wie in dieser Nacht. 162
Wozu brauchen wir diese zweitrangige italienische Ware, um Gotteswillen? Über den Dächern glühte der rote Schein der Brände so intensiv, daß sich Strähnen purpurner Schatten durch das Zimmer ergossen und ich, schon selbst beunruhigt, aufstand und durchs Fenster blickte. Auch die Tauben auf den Gesimsen der Fassaden wurden unruhig, begannen herumzuflattem und die Schornsteine zu umkreisen. – Da brennen die Lagerhäuser um den Südbahnhof, und über Turpolje ist der Himmel blutrot. Um Gorica, Stupnik, Mraclin und an der Odra nicht alles in Flammen. Dugo-Selo und Kerestinec, St.-Ivan-Zelina und Kneginec, Belec, Lobor, Puštša, alles brennt … Österreich verschwand vor einigen Tagen so lautlos aus unserer kleinen Stadt, daß eigentlich keiner unserer sehr geehrten und lieben Mitbürger merkte, daß es gar nicht mehr unter uns weilt. Alles war an seinem Platz geblieben: Das Hospital der Barmherzigen Brüder, die Eisenhandlung Wasnerthal, die Apotheke Mittelbachs, .die Filiale des Grazer Kaufhauses Kastner & Öhler, das Grand-Hotel, die Erste Kroatische Sparkasse, die EskomptBank, der Basar Berger, die Buchhandlung Kugli, das Cafe Korso und das Restaurant Jägerhorn, die goldenen Uhren im Schaufenster Bulwans, die Bücher bei Breyer, die Mäntel bei Bettelheim und Mosingers Fotografien. Im Schaufenster eines Basars auf dem Ban-Jelačić-Platz hatte man einem süßen weißen Pudel aus Wolle unsere geliebte Trikolore als kokette Masche umgebunden, und im Schaufenster der Apotheke Zu den Wunden des Herzen Jesu hatte man eine ebenso kokette Masche aus unserer 163
geliebten Trikolore zusammen mit einer weißen Chrysantheme an der Gipsfigur des Hippokrates befestigt; relativ viele »liebe Trikoloren«, naß vom Novemberregen, schwankten im Wind vor den Fenstern langweiliger bürgerlicher Zwei-Zimmer-Wohnungen der Häuser im Stadtzentrum, wo über dem offenen Grabe Österreichs schon nicht mehr allzuviel über dieses Ereignis gesprochen wurde. Wie einen krepierten Fisch in nasses Zeitungspapier (der Extraausgabe) eingewickelt, hatten die guten Bürger dieses tote Österreich unlängst nach Hause gebracht, dann aßen sie den zu Allerheiligen obligaten gebratenen Truthahn, und ihre einzige Sorge – ob auch am Ersten das Novembergehalt richtig ausgezahlt werden würde – war ihnen vom Herzen gefallen, alles ist in bester Ordnung, die Staatskasse des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen hatte die Bezüge am Ersten ordnungsgemäß überwiesen, die Staatskasse eskomptiert als Schalter ordnungsgemäß weiter, das Theater hat nicht aufgehört, die Lustige Witwe zu spielen, in Ordnung, bitte schön, es fiel eben nur einmal der Vorhang – und alles ändert sich wie bei einem raschen Dekorationswechsel auf der Bühne, zwischen dem einen und dem anderen Akt. In den Ämtern nimmt man die Bilder Franz Josephs von den Wänden und hängt an dieselben Nägel Bilder König Peters in roter Marschallsuniform, und der Chor der intellektuellen Igumanen, Archimandriten und Mönche, iz tmine zabvenija tropar ubirajuštši ,[8] hat sein altes Lied von Anschluß, Vorschuß und Einigung zu brummen angefangen: daß die kirchenslawische und die 164
serbische Sprache zwei Wege sind, die uns zu einem Ziele führen. Unter dem Rauschen dieser schönrednerischen Kaskaden wurden alle Agramer lyrischen Stieglitze wieder lebendig, und alle vaterländisch empfindenden Hängelampen beganncn sich in diesem Winde zu wiegen, denn man fragt nicht danach, wer der lateinischen und wer der östlichen Kirche angehört, wenn er nur wohlmeinend ist … man fragt nicht, wie einer das Kreuz schlägt, sondern was für ein Blut ihm die Seele wärmt, denn … mit der Elle des Glaubens mißt man des Menschen Torheit. Von allen unseren Weiden geschnitten, begannen so viele Flöten zu tirilieren in jenen Tagen, daß durch ihr Gequietsche kein einziges vernünftiges, menschliches Wort mehr zu hören war. Ich hielt es im Zimmer nicht mehr aus. Die Straßen waren leer, nirgends ein Mensch, nur das Gebäude des Kolo und des Sokol strahlte im vollen Glanz des ersten südslawischen Damentees nach vier langen Kriegsjahren. Ich wußte, daß unsere »demokratischen« Damen, die sich auf den Plakaten selbst »Frauen«, und noch dazu »südslawische Frauen« genannt hatten, dem eigenen bürgerlichen Stil zum Trotz und zu Ehren der serbischen Offiziere heute abend in allen Räumen des Kolo und des Sokol einen Gala-Tee veranstalteten, und so zogen mich die festlich erleuchteten Fenster dieses vaterländischen Frauen –, um nicht zu sagen Weiber-Tees aus dem Dunkel, und so fand ich mich schließlich in diesem besoffenen Getümmel, immer noch ein wenig geistesabwesend und traurig. 165
Ich steige zur Galerie empor. Von hier oben sehe ich durch das Gewühl der Tanzenden, die den Schütteltanz tanzen, der Dudelsäcke, Baßgeigen, Bratschen, Zigeuner, Militärtrompeten, Klavierspieler auf die royalistische Ehrentafel mit dem Damasttischtuch in der Mitte des Saales. An der Spitze dieser Tafel sitzt Seine Exzellenz Herr Matthias Drinkowitsch, Bevollmächtigter für Militärangelegenheiten des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen, und neben Seiner Exzellenz dem Bevollmächtigten für Militärangelegenheiten sitzt der ehemals dem kaiserlichen und königlichen Generalstab zugeteilte Oberstleutnant der kaiserlich-königlichen Infanterie, Herr Slavko Kvaternik, als Kanzleichef des Bevollmächtigten für Militärangelegenheiten des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen, als stellvertretender Stabschef der Kroatischen Nationalen Armee und ihr interimistischer Oberkommandierender. Ich habe schon Drei Honvéds, Königlich-ungarische Honvednovelle, Der Tod des Franjo Kadaver, Honvéd Jamnrek und Tausend und ein Honvédtod geschrieben, und dieser elende Wicht von einem kaiserlichen und königlichen Oberstleutnant, einem Bevollmächtigten des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen zugeteilt als stellvertretender Stabschef der Kroatischen Nationalen Armee, stellt in diesem Augenblick für mich nichts anderes vor als eine Figur aus meiner eigenen Antikriegsprosa. Auf dem mit Damast bedeckten Tisch stehen Rosen in Silberkelchen, lachende Schweinsköpfe, Schilcher, Jerusalemer, Tokayer, Burgunder, Wermut, Cognac, Maraschino, Torten, Gleichgewicht, Muscalzonistangen: Muscalzoni 166
als patriotische Gabe derselben zarten Damenfingerchen, die dem großen Bischof von Djakovo Petit-Points-Stikkereien für sein Zimmer verfertigten, als es um die Illusion einer südslawischen Einigung unter dem Schutze der bischöflichen Mitra seines Salonbischofstums ging, und welche dann, als patriotische südslawische rosen-fingerige Feen, mit denselben Fingerchen die Jeanetten in den österreichischen Kriegslazaretten handhabten, um vielleicht auf diese Weise als Samariterinnen des Österreichischen Roten Kreuzes ihren großen vaterlandsliebenden Banalratsnamen ins ›Goldene Buch des Kroatischen Volkes ‹ einzutragen. Und nachdem sie vier Jahre lang nach dem Motto des Generalfeldmarschalleutnants von Scheure »Die Kerle sollen sich gegenseitig auffressen« gewirkt hatten, haben sie heute abend auf Silberaufsätze eine Unmenge von Vanillenstangerln und Pfefferkuchen gehäuft, nach dem gerade aktuellen patriotischen Agramer Motto »Die armen serbischen Kerle sollen sich anfressen«. Beim Abschneiden der Arme und Beine des Volkes behilflich zu sein, mit hippokratischen Metzgern in der Gala kaiserlich-königlicher Truppen-Oberärzte zu kokettieren, eine charmante Krankenschwester mit blutrot gefärbten Haaren à la Salome abzugeben, tagtäglich Jochanaans Honvédkopf auf Blechschüsseln, unter Servietten vorborgen, in die Totenkammer zu tragen, auf Wohltätigkeitsfesten in der Nationaltracht aus der Gegend von Djakovo für die Verlängerung des kaiserlichen Gemetzels zu tanzen, goldene Nägel in die slawische Linde einzuschlagen, die Massen zurückkehrender Verwundeter mit Blumen zu rmpfangen, als handle es sich um 167
ein Maifest, vor den goldenen Krönungspantöffelchen des Thronfolgers Otto die Knie zu beugen, gestern noch eine gute, loyale Kroatin und feine Dame gewesen zu sein und heute abend schon eine südslawische demokratische Frau mit einem einzigen Ideal -der Dynastie Karadjordjević – auf den pastös bemalten Lippen, das bedeutet: der Entwicklungslinie auf dem Graphikon der Karriere des Herrn Gemahls, des Banalrates, getreulich zu folgen; er hat alle seine österreichischen Orden heute abend in den Kehrricht geworfen, um morgen schon mit neuen balkanischen Schellen klingeln zu können, die schon seit Jahrzehnten von derselben Wiener Fabrik, immer gleich geschmacklos und gleich einträglich wie Hundemarken, hergestellt werden. Ich bin in einer wahren Hamlet-Stimmung. Von der Galerie herab beobachte ich diese ganz gut organisierte kaiserliche und königliche Offiziersmesse – man raucht Zigarren, Frontwitze werden erzählt (Hier haben wir soundsoviele Geiseln erschossen, dort haben wir Tausende dieser Schurken und Verräter aufgehängt) und findet es heute abend ganz intim und behaglich, geistreich und elegant – wirklich geistreich und gemütlich, denn draußen knistert der Brand des Aufruhrs, die glühenden Schmetterlinge des Feuers fliegen empor und kleine glimmende Fallschirme schweben in funkelnden Spiralen müde und langsam herab, zum Gekläff der Mitrailleusen dieser selben Herren hier, der Herren Kvaternik und Gebrüder, gegen dasselbe kroatische Volk, das noch gestern über die kaiserlichen Menagen Kvaterniks sang: »O Kaiser Karl, umsonst suchst du Courage, 168
Gibst du uns nicht die Offiziersmenage!« Aber wie es auch sei: dem Volke nützt alles nichts! Diese Herren Kvaternik haben die Dinge sehr gut zu ihrem eigenen Nutzen und Frommen eingerichtet. Kaiserliche Offiziersmessen haben ihre tiefere Logik! Dieses irrsinnige, betrunkene Festmahl von der Galerie herab völlig passiv betrachtend, ohne jede, selbst die allergeheimste Absicht, in diesen kaiserlich-königlichen karadjordjischen Weihnachtskuchen Essig zu tun und so den slawischen Kuchen mit irgendwelcher byronischer oder gribojedowscher Logik zu versauern, hatte sich mein Denken in Vorstellungen aufgelöst. Meine Vorstellungen waren von ganzen Komplexen historischer Reminiszenzen umnebelt: in Sankt Petersburg schlägt sich Lenin für die Internationale, der Schatten des Dogen Dandolo ist mit seinen Galeeren vor Zara aufgetaucht, die Italiener rücken in Istrien ein bis zum Quarnero, und hier sind die Entente-Truppen aus Saloniki in ihren Gummimänteln eingetroffen; Pferde, Kanonen, Waggons (mit den in Kisten verpackten Opfern des Prozesses von Saloniki) [9], auf der Riva degli Schiavoni brüllt die Masse, dort bellt d’Annunzio der Menge etwas vor, Laternen spiegeln sich flimmernd im schwarzen, schlammigen Wasser, der Wind pfeift, die Consiglio degli Dieci tagt … der Morlacchia [10] droht wieder einmal der Untergang, im Schweizerflügel der Wiener Hofburg zittert Kerzenglanz, Habsburg liegt aufgebahrt auf dem Katafalk, und hier rücken die Anamiten, Türken und Albaner des Marschalls Franchet d’Esperey an und tragen auf ihren Fahnen die Konterrevolution. Diese schwarzgelben Kreaturen werden die 169
Aurora versenken, denn unsere kaiserlich-königlichen und königlich-republikanischen Kornilows und Denikins sind eine internationale Pest … Habsburgs Untergang ist in der Geschichte des kroatischen Volkes ein wichtiges Datum. Allein durch das Faktum, daß Habsburg heute abend, vor unseren Augen, hier im Turnsaal, auf seinem Paradebett aufgebahrt liegt, schließt sich der Kreis von vierhundert blutigen Jahren habsburgisch-kroatischer Geschichte. Heute abend erst stirbt hier vor unseren Augen das Jahr 1527: die Stände und Orden des Königreichs Kroatien waren im Jahr 1526 um Mariae Geburt ohne ihren ungarischen königlichen Herrn geblieben und zu Silvester hatten sie sich schon einen anderen gefunden, wie es der päpstliche Legat der Signorina meldete: »Per trovarsi un’ altro Signore.« Und unsere heutigen Stände und Orden hier (diese Dentisten, Advokaten und Pfaffen) haben ihren König nach vierhundertjähriger Herrschaft voll Blut und Tod kaum verloren, sozusagen erst vorgestern verloren, zu Allerheiligen, und seht nur, sie haben ihn noch gar nicht begraben, und trotzdem wollen sie nicht einmal bis zum Advent warten, um Habsburg Zeit zum Erkalten zu lassen, schon heute haben sie der königlichen Croatia einen neuen Freier gefunden. Und dieses Fest ist die kroatische Hochzeit mit den Karadjordjević! Aus diesen besoffenen Hochzeitsgästen hier spricht heute der Branntwein und schreit und brüllt und singt lauter politischen Blödsinn, hält sie alle unter seiner Gewalt und Führung und führt sie schon so, daß sie sich im Wacholderbranntwein und im Zwetschgenbranntwein wälzen wie in einer vollbespie170
enen Arche Noah. Die ganze Galeere des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen schaukelt auf den Wogen dieser alkoholischen Sündflut auf und nieder mit ihrer ganzen Last von Giraffen und Affen, und alles kreischt, alles blökt und alles brüllt kreuz und quer im ganzen Land, von der Avala bis Czakathurn: addio, Lazar, Milan, Matthias, Anton. Svetozar, schreibt uns, glückliche Reise, Dort, dort, weit am Meeresstrand, – Dort ist Onkel Peters Schloß und er reitet ein weißes Roß, – Auf, auf, zum Kampf, die Schwerter aus den Scheiden, – Jetzt spreche das Gewehr, – König Peter, der Held, – Mit festem Schritt und Tritt, – Setz’ den Fuß auf, stampfe fest drauf, – Frei fliegt der Vogel durch die Lüfte … und alles überbrüllt der Baßbariton eines schon heiser gewordenen Bruder Liederlich, der das zarte Liedchen vom kleinen Nachen unter Weidenzweigen grölt. Und was braucht es noch der Worte? Nur ein Esel sieht nicht ein, daß dies unser einziger Ausweg ist, Sakrament noch einmal, und alle sind besoffen wie Pferdediebe, denen es gelang, die beste Stute zu stehlen und nach Zigeunerart über die Grenze zu verduften! Der Branntwein spricht aus dem Bevollmächtigten für Militärangelegenheiten des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen, Herrn Doktor Matthias Drinkowitsch, denn wäre er nicht besoffen wie ein illyrischer Gott (hei, seht, die Auferstehung der Götter, der illyrischen Götter!), wie könnte er seinem »ersten Mitarbeiter und Freund«, Herrn Oberstleutnant Kvaternik, als »einem Patrioten« zutrinken, der »bereit ist, für sein Volk den eigenen Kopf zu opfern, und zwar wann immer es sei – und wenn es 171
nötig sein sollte, noch heute abend!« Che ubriacone [11] – denke ich für mich über unseren Signor Matteo, welcher »geliebte Brüder – wie jeder unter uns, unserem Volke Ehre gemacht hat«, – über diese lächerliche Kreatur von einem Dentisten, mit seinem dichten, bürstenartigen Haar wie dem eines Stachelschweines, der sich als echter Zivildentist bei diesem kaiserlichen und königlichen Henker einschmeicheln will. Bravo, Sig nor Matteo! Ich beobachte Herrn Doktor Matthias Drinkowitsch, wie er zutunlich und hündisch-servil um die Gnade dieser kaiserlichen und königlichen Fleischerdogge buhlt, die vier Jahre lang nichts anderes getan hat, als unser Volk abzuschlachten, und die auch heute abend nichts anderes tut, als dieses selbe Volk umzubringen von Syrmien bis Czakathurn, und ich habe den Eindruck, dieser glorreiche Bevollmächtigte des serbisch-kroatisch-slowenischen Nationalrates sei schon vollständig senil! Sein Liebling, der Schwiegersohn Josua Franks [12], Oberstleutnant Kvaternik, schmatzt sich jetzt als echtes Chamäleon mit den Offizieren des Königs Peter Karadjordjević ab, bereit, heute Abend jeden zu erschießen, der nicht für König Peter Karadjordjević ist, wie er noch gestern jeden hängte, der für König Peter Karadjordjević war, und so, wie er bei der ersten besten Gelegenheit die Leute wieder für Habsburg und gegen Peter hängen lassen wird oder für Peter gegen Habsburg oder für irgendwen, der irgendwann einmal an den Ufern der Drau oder in den Straßen dieser Stadt auf einem weißen Pferd als Sieger auftauchen wird – denn er ist kein Mensch, sondern eine Karikatur aus meiner Antikriegsprosa. 172
Da mir alle diese Junker und kaiserlichen Magnaten schon bekannt waren – aus meinen eigenen literarischen Werken, mit denen ich schon über ein Jahr lang in den verschiedensten Redaktionen antichambrierte und die keiner drucken wollte –, fühlte ich mich wie in einem sonderbaren Traum. Inmitten der Realität einer kaiserlichen Offiziersmesse, inmitten der gespenstischen Kosmogonie, die ich beschrieben oder, wenn Sie wollen, mir »ausgedacht« – hatte, versuchten mich alle meine Zeitgenossen (fast einstimmig) zu überzeugen, daß ich bei der Beschreibung dieses Henkergesindels nur erfände und daß die Dinge niemals so schwarz gewesen seien, wie ich sie in meiner tendenziösen Prosa darlegte. Was ist also wahr? – überprüfte ich meine eigenen Wahrnehmungen. Ist dieser Kvaternik wirklich der Kvaternik, der sich – blöder Ochs von einem Menschen! – als Generalstabschef des österreichischen kaiserlichen und königlichen Gouvernements in Serbien im Jahr 1915 mit einer Zigarette zwischen den Lippen unter den Galgen fotografieren ließ, auf denen sich die gehängten Serben mitten auf dem Hauptplatz Terasije in Belgrad im Winde wiegten? Ist es derselbe Oberstleutnant Kvaternik, den ich während der elften Offensive am Isonzo in Lovrana beobachtete – bei einer ebensolchen Offiziersmesse, wie sie heute abend hier, gleich einem Vampyr, den serbischen Zaren Lazar und den Bischof Joseph Georg Stroßmayer gespenstisch vertretend, wieder aus dem Grabe gestiegen ist? Hat dieser Oberstleutnant Kvaternik, der seinem Generalissimus Maitressen zuführte, tatsächlich Tausende 173
von Opfern erhängt und erschossen, die wirklich erhängt und erschossen wurden? Hängt und erschießt er nicht auch heute abend noch immer, und zwar überall in unserem »schönen Vaterland«, und steht nicht dieser ganze Frondienst als Henker, Bordell-Hausdiener und Offiziersmessenleiter in einem paranoiden Verhältnis zu allen Prinzipien menschlicher Logik? Und jetzt faselt hier dieser besoffene und dumme Provinzdentist Signor Matteo in trunkenen, hurrapatriotischen Superlativen von diesem Henker, und das ganze zusammenhanglose und blödsinnige Geschwätz zersetzt sich bis zu vollkommener Schwachsinnigkeit und zerrinnt in ein Etwas, das man den triumphalen Sieg des unitaristischen jugoslawischen royalistischen Gedankens nennt! Daß solche Figuren gewaltiges Unglück über uns gebracht haben und daß man dieser Schlange den Kopf zertreten müßte, empfand ich – als sicherer Todeskandidat der elften Isonzoschlacht, der ich war – ganz ungewöhnlich intensiv. Das alles sind ja die reinsten Zusammenbrüche des gesunden Menschenverstandes und Inkompatibilitäten jeder Art! Das Land wird den Bischöfen und den Thurn und Taxis zu eigen bleiben und diese salonikischen und kajmakčalanischen Gebrüder werden sich und uns alle »in der brüderlichen Umarmung« solcher Kvaterniks in neue Abgründe stürzen. Diese Junta der »Weißen Hand« ist heute abend in unserer Stadt eingetroffen, mit einem ganzen Transport des Todes: Apis, Malobabić, Princip, Sarajevo und Saloniki; sie hat in Odessa eine Menge Menschen umgebracht im Namen eines ebenso royalistischen unitaristischen Systems, wie 174
es auch jetzt dieser blöde Matteo und dieser schwarzgelbe Kretin predigen! Diese Junta hat den Betrug von Korfu zusammengebraut, sie wird Spalato und Istrien, »Acquisito Nuovo e Vecchio«, an Venedig verkaufen, sie handelt auf Grund des Londoner Vertrages, ihretwegen verfiel Šupilo [15] dem Wahnsinn und schließlich: was kann schon aus so einer teils kaiserlichen und teils königlichen Jugomelange entstehen als die konterrevolutionäre Verneinung alles dessen, was sich »Mensch« nennt? Diese Serben sind nicht hergefahren, um Fiume zu verteidigen, sondern um jeden zu verhaften, der nicht »Es lebe König Peter!« brüllt. Wir werden Illyrier sein von Seiner Majestät des Königs Peter Karadjordjević Gnaden und diese besoffenen Mihajlović und Matthias und Ante und Pribac und Budislav Gregor Andjelinović, aus dem »Ruhmeschor« unserer intellektuellen Landsmannschaft, werden uns eine solche Konstitution bescheren, daß uns selbst die hier versammelten lieben und herzigen Damen, »Illyriens hochherzige Töchter«, in der nächsten Weltkatastrophe mit allen ihren Rot-Kreuz-Jeanetten nichts nützen werden! Kaum ist es uns gelungen, aus der stinkenden habsburgischen Mausefalle mit heiler Haut zu entkommen – siehe da!, schon wollen uns die hier mit einer neuen, riesigen serbischen Gendarmenmütze zudecken! Und wer denn? Und in wessen Namen? Im Namen welcher politischen Konzeption und welchen Planes? Solche armselige »Zugereiste« wie die der Kvaternik und diese kaiserlichen und königlichen Kornilows und Koltschaks, für die der Begriff des Staates nichts anderes ist als der eines Menageriekäfigs! Diese Herren Tierbän175
diger in ihren Husaren-Attilas, mit Pistole und Knute bewaffnet, betätigen sich als professionelle Dompteure ganzer Völker und im Grunde ist doch alles nur ein besoffener Zirkus und eine läppische Galavorstellung, die vom Teufel gejagt zur Hölle fährt auf Nimmerwiedersehn. Das Toben dieser Nacht, das Abbrüllen von Liedern, das Jauchzen beim Kolotanzen – ein vehementer Schwachsinn hatte diese Horde zu einer seltsamen, symbolischen Höhe des Taumels emporgerissen, daß mir schien, als schwebten diese Phantome von Zechern einige Zentimeter über dem Erdboden und als wären sie, inmitten dieses tollen Rasens, behext von ihrer Einbildung und lodernd im Feuer des Branntweins, gar nicht wirklich. Das war der Lärm von Hirngespinsten, das klagende Gebrüll der Sinnesverwirrung, des Hochmutes, der sturmgejagte, blutrote Rauch des Brandes, der in dieser Schenke wie eine Wolke dampfte, aus der es zornig, dumpf und irrsinnig donnert: Hei, Trompeter von der kriegerischen Drina –, König Peter, der Held –, Jugoslawische Mutter –, Auf, auf, Komitatschis … als ob jedes alte Weib hier in dieser Nacht ein Schwein gekauft, ihm einen Strick ums Bein gebunden hätte und jetzt mit dem quiekenden Ferkel um die Wette laufe. Bügel, Trense und Zaumzeug sind zerrissen, Rad und Speichen sind gebrochen bei diesem Rollen des gesunden Menschenverstandes in den Abgrund, und der Dümmste von allen Betrunkenen war Doktor Matthias Drinkowitsch, ein alter, kleinbürgerlicher Großkroate. Als also dieser Minister Signor Matteo, das funkelnde Glas in der Hand, seinen Trinkspruch beendet hatte 176
und nach einem begeisterten (beinahe einstimmigen) Beifall Herrn Oberstleutnant Kvaternik das Wort erteilte (einem ebenso habsburgtreuen Großkroaten), der sich im Namen des kvaternikischen »kroatischen« Offizierskorps für die Ansprache des »kroatischen« Kriegsministers bedanken wollte, um im Namen des »kroatischen« Offizierskorps die Offiziere des siegreichen Heeres seiner Majestät des serbischen (und südslawischen) Königs Peter und des Prinzregenten zu begrüßen, und als Herr Kvaternik inmitten vollkommener Stille aufstand und sein Glas erhob, rief ich von der Galerie herab, wahrscheinlich die intensive Disharmonie dieses dramatischen historischen Augenblicks aufs Tiefste fühlend und aus dem intimen dramaturgischen Bedürfnis, diese – im Drama schon überflüssige – Figur von der Bühne zu entfernen, mit lauter Stimme: »Nieder mit Kvaternik!« Meine drei Worte lösten einen gewaltigen Lärm aus. Gleich einem Sturm brach der Beifall los, und in dem elementaren Donnern der Füße, Stiefel, Zigarren, Brillen, Messer, Teller, Gläser und schweißfeuchten Handflächen, im Gebrüll blutwangiger Masken hörte man vor allem den Namen Kvaterniks, der im vollen Winde trunkener Begeisterung der anwesenden Matrosen, Sokoln, Detektive und Minister durch den Raum segelte. Als sich dann unter Gezisch – pssst, pssst! – alles wieder beruhigt hatte und Doktor Matthias Drinkowitsch sich wieder erhob, mit dem Messer an sein Glas klopfte und solchermaßen, ziemlich nervös, mit der Geste eines Tischvorsitzenden dieses patriotische Ungewitter wieder beschwor, hörte man den Herrn Bevollmächtigten für 177
Militärangelegenheiten des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen mit der ganzen Würde seiner Autorität, in pathetischen, abgehackten Stakkato-Sätzen, zum zweiten Mal – und dieses Mal schon ein wenig erzürnt – seinem Freund und wichtigsten Ratgeber, dem Kommandanten des kroatischen Heeres, das Wort erteilen: »Das Wort hat Herr Obersdeutnant Kvaternik!« Wie auf der Bühne, nach dem Stichwort, rief ich sofort und diesmal schon viel lauter: »Nieder mit Kvaternik!« Die goldenen Kragen der Generalität, die hohen Zivilbeamten, die Ordinarien, die Extra-Ordinarien, die Würdenträger, die zahlreichen Schönen als Vertreterinnen des zarten Geschlechts, das rote Futter in den Umhängen der Archimandriten, das Funkeln der goldenen Kreuze und Epauletten, ein Wald drohend erhobener Hände – alles geriet wieder in die wogende Bewegung eines Tumults, einer wahren Empörung, unter Beifallsklatschen, Säbelgerassel und Räuberspfiffen. Man wußte nicht, wer gerufen hatte und woher diese Stimme von oben herabgeflogen war, und die Menschen um mich herum, oben auf der Galerie, betrachteten mich mit verstörten Blicken wie einen, der im Begriff ist, sich vom Bord eines Schiffes hinabzustürzen, um sich in einem Augenblick der Geistesverwirrung zu ertränken. Herr Doktor Matthias Drinkowitsch, ein Zivilist in halbnüchternem Zustand, waffenlos, als echter, neugebackener Kriegsminister sich seiner Rolle und seines Amtes als Tischvorsitzender wohl bewußt, wandte den Kopf hilflos hin und her, suchte die Galerie mit seinen Blicken ab, um die Stelle zu finden, von der dieser Zwischenruf 178
des leibhaftigen Gottseibeiuns erklungen war, um dann mit der Stimme eines wahrhaftigen Kommandanten und Oberkommandierenden des Heeres den Bürgern Ruhe zu befehlen und im Kommandoton zu erklären, er sei hier »der Älteste« und er habe Herrn Kvaternik das Wort erteilt. »Nieder mit Kvaternik!« – rief ich zum drittenmal, nicht nur um konsequent zu bleiben, sondern auch, weil ich nun selbst inmitten dieses Getümmels in Feuer geraten war. Ich hatte in dieser Nacht noch kein Glas Wein getrunken und war vollkommen nüchtern. In der Ferne knatterten Maschinengewehre. Ich erinnere mich sehr wohl, Kvaternik in diesem Moment durchaus nicht deshalb gehaßt zu haben, weil er volle vier Jahre Menschen abschlachtete, erschoß und hängte, sondern weil er auch an diesem Abend noch immer mordete, erschoß und hängte. »Kvaternik ist nicht würdig, hier das Wort zu ergreifen!« schrie ich den Herrschaften an der königlichen Tafel zu, und nach den Pfiffen zu schließen, die unten im Saale ertönten, riefen meine bedeutungsvollen Worte den Unwillen vieler hervor; aber trotzdem war zu erkennen, daß es hier auf dieser Teegesellschaft auch Leute gab, denen der logische Schluß, Kvaternik sei nicht würdig, heute und hier Trinksprüche auszubringen, nicht so ganz fremd war. Meine Worte hatten den trunkenen Lärm in zwei Teile geteilt. Die einen skandierten: »Drinko! Drinko! Drinko!« und die anderen riefen: »Hoch! Hoch! Hoch!«, doch dieses anscheinend einstimmige »Hoch!« war mit ziemlich vielen »Abzug!«-Rufen vermischt. 179
»Abzug, Abzug, Abzug, Abzuuuug, Kvaternik!« Den Aufruhr überschrie Signor Matteo Drinkowitsch, jetzt schon sichtlich beunruhigt und wütend: »Ich fordere diesen Feigling, der uns hier so böswillig und provokant behelligt, auf, sich zu melden! Wir wollen wissen, wer er ist, denn hier muß Ordnung herrschen!« Ich meldete mich. Mit Vor- und Zunamen, und um mich vor diesen hochkultivierten Würdenträgern auch mit einem gesellschaftlichen Attribut auszuweisen, stellte ich mich als Schriftsteller vor, und zwar als kroatischer Schriftsteller. Zu meiner größten Überraschung rief mein Name bei einem guten Teil der Anwesenden intensiven und anhaltenden Beifall hervor, worauf ich (als hundertprozentig naives politisches Greenhorn, das ich war) annahm, sie stimmten mir logischerweise zu. »Hoch! Hoch! Hoch!« Sie aber klatschten mir Beifall nur unter der Voraussetzung, es handle sich um die Zwischenrufe eines royalistischen Porteparole, der nur deshalb weiterlärmte, um aus Begeisterung für den König noch länger brüllen zu können. Ganz verwirrt durch diesen unerwarteten und stürmischen Applaus wiederholte Matthias Drinkowitsch kurz und streng: »Ich sagte schon: Das Wort hat Oberstleutnant Kvaternik!« »Und ich sagte: Nieder mit Kvaternik!« Mein demonstrativer Protest brachte Signor Matteo um die Fassung und er begann, im Ton eines besoffenen Dentisten zu brüllen, hier sei er der Befehlshaber, er habe das Recht, Befehle zu erteilen, nur unbedingte Disziplin könne retten und nicht Anarchie, und er werde jeden 180
aufhängen, der sich dieser Disziplin nicht unterordnen wolle! Und er werde auch mich aufhängen, ohne Rücksicht darauf, wer und was ich sei, wenn ich mich nicht unterwerfe. »Sie drohen mir also mit dem Galgen, nicht wahr?« fiel ich dem Kriegsminister mit erhobener Stimme ins Wort. »Da werden wir doch eher Sie selbst aufhängen! Ich sagte ›Nieder mit Kvaternik!‹, weil Ihr lieber Kvaternik da im Jahr 1916 Generalstabschef des kaiserlich-königlichen österreichischen Gouvernements in Belgrad war und weil alle jene Leichen an den Galgen auf dem Hauptplatz der Stadt Belgrad Kvaterniks Leichen waren; weil er eine schwarzgelbe Kreatur ist und gerade das vorstellt, was unser Volk zum Aufruhr getrieben hat und heute noch treibt! Ruft doch die Generäle Scheure und Rhemen und Potiorek auch herbei! Auch den Admiral Horthy hättet Ihr einladen können! Er hat Euch ja die ganze österreichische Flotte übergeben und das Ehrenwort seiner Loyalität dazu! Zeichnet doch Horthy für sein Massaker in Cattaro mit dem Orden des Nationalrates der Serben, Kroaten und Slowenen aus! Bravo! Nieder mit den österreichischen Junkern, nieder mit Kvaternik! Diese Dinge könnt Ihr nicht mit Galgen aus der Welt schaffen! Welche Schande!« Ich feuerte meine Argumente gegen diesen kaiserlichköniglichen Henker ungewöhnlich schnell und temperamentvoll ab. Ich schrie, um Signor Matteo zu überschreien, und war dabei wegen seiner verdammten Galgen in eine aufgeregte Stimmung geraten. Diese Galgen des Herrn Drinkowitsch waren im Moment nicht nur eine 181
Phrase staatserhaltender politischer Kannegießerei irgendeines Unteroffiziers! Diese Galgen waren schon damals tatsächlich das Symbol der royalistischen nationalen Einigung in jenen dramatischen Tagen, als es in den Wäldern von Mitgliedern des Grünen Kaders [14] nur so wimmelte und das ganze Land von politisch sterilen Bränden rauchte. Nach den von mir mit erhobener Stimme gesprochenen Worten kam es zur völligen Auflösung des betrunkenen und erregten Haufens im Saale. »Gut spricht er, der Hurensohn«, rief ein volkstümlicher Baßbariton dieser royalistischen Creme, und die Minister, Detektive, Bevollmächtigten, Archimandriten, Igumanen, Mönche, Kanoniker, Professoren der Theologischen Fakultät, königliche ordentliche Universitätsprofessoren und Bezirksvorsteher, Sokoln und Matrosen brüllten mit müden, heiseren und vom vielen Schreien rauhgewordenen Stimmen: »Hoch! Hoch!« und »Nieder! Nieder! Niiiieder!« Oberstleutnant Kvaternik stand unter der Galerie am Tisch der Generäle und Minister, und zwar so, daß ich mich genau über seinem Kopf befand. Äußerst verblüfft und sichtlich völlig geistesabwesend, mit dem Glas in der Hand, stand er halb zur Galerie gedreht und starrte über die Schulter zu ihr hinauf und mit gläsernem Blick mich an, ohne zu ahnen, daß ich mich da oben unsäglich unbehaglich fühlte. Ich schämte mich aufrichtig meiner selbst, ebenso wie ich mich seiner schämte, ich schämte mich für alle in dieser besoffenen Schenke, denn damals war ich noch ein sentimentaler Lyriker, und dieser Hen182
ker mit dem Profil eines weißhaarigen Aasgeiers, dieser dumme Raubvogel, der Tausende von Menschenaugen aus ihren Höhlen gehackt hatte, verstand wahrscheinlich von alledem nichts. Für ihn und für eine gewisse Anzahl seiner Trabanten (Detektive, Generäle und Bezirksvorsteher) war das alles nur »Demagogie und Bolschewismus« … und im gesellschaftlichen Sinn ein Skandal! Ein bedauerlicher Mangel an Takt und guter Erziehung. Meine Antwort war eine logische Replik auf die Drohung des Kriegsminister Matthias Drinkowitsch, daß er mich hängen lassen würde, wenn ich nicht aufhörte, Oberstleutnant Kvaternik das Wort abzuschneiden; aber meine mehr oder weniger bekannten Argumente hatten ebenfalls eine dramatische Unruhe in die Menge gebracht und von allen Seiten brüllte man immer lauter, ich müsse das Wort erhalten. Der Kampf um meine Redefreiheit dauerte eine ganze Weile. Dieses Gebrüll nahm völlig trunkene Formen an und wäre fast in eine Schlägerei ausgeartet. Hände, Säbel, Revolver, Gewehre – alles geriet in Bewegung. Unter gellenden Pfiffen schwoll der Lärm immer mehr an. »Das ist wahr, Kvaternik war Generalstabschef des kaiserlichen Gouvernements in Belgrad, hat dort eine Menge Leute aufgehängt – und heute organisiert er die neue jugoslawische Armee! Eine Schande! Nieder mit den österreichischen Generälen, nieder mit Borojević, nieder mit Lipovčak, nieder mit den Henkern!« »Das sind Lügen! Da ist Demagogie! Kvaternik ist einer der Verschwörer, er gehörte der von Matthias Drinkowitsch geleiteten Konspiration an! Hoch Signor Matteo!« 183
»Pfui! Pfui! Pfui! Nieder! Nieder! Nieder!« »Die Konspiration des Matthias Drinkowitsch! Sehr wichtig – allerdings! Sie wollen doch nicht behaupten, Kvaternik habe Österreich zerstört? Kvaternik ist Josua Franks Schwiegersohn! Nieder mit den Frankianern!« [15] »Das ist alles Demagogie! Das ist nur bolschewistische Propaganda! Werft ihn doch von der Galerie hinunter! Nieder mit dem Kommunismus!« »Er sagt doch die Wahrheit, wir geben ihn nicht her, man soll ihm das Wort erteilen! Hooooch!« Ich saß auf der Galerie wie in einer Theaterloge und sah hinab auf die Hände in weißen, gestärkten Manschetten, wie sie sich ausstreckten und drohten, sah hinab auf blitzende nackte Säbel, auf Zigarren, Messer und Gläser, auf dieses betrunkene Gewimmel, das zu meinen Füßen im raucherfüllten Festsaal wogte, und ich schämte mich. Ich war nüchtern, vielleicht als einziger in diesem Treiben. Der Anblick der dicken Bäuche der Domherren und Archimandriten überwog als fundamentaler Eindruck alles andere in meinem Bewußtsein. In diesem überschäumenden Weingelage, wo aus dem Gekreisch Tobsüchtiger die Weiberstimmen schrillten wie das Gemekker tollgewordener Ziegen, überkam mich der Ekel über diesen blöden Metzgerladen. Da steht jetzt unter dieser Galerie einer jener arroganten kaiserlichen »Feschaks«, ein geschnürter und gebügelter miserabler Kerl von einem habsburgischen Lakaien und schlauem Kriminellen, der die Menschen umbringt und dazu Champagner trinkt, der angesichts von Galgen blaublütige Märchen vom »Walzerzauber« träumt, und wenn heute nbend 184
dieser Kerl sein Glas zu Ehren Seiner Majestät des Königs Peter erhebt, so lügt er an der Bahre einer blutbesudelten Dynastie und trinkt ebenso verlogen schon einer anderen, ebenso blutigen Dynastie zu, und ich – wie kann ich es denn dieser besoffenen Horde klarmachen, daß sie blind ist und nicht weiß, was sie tut? Das Gebrüll läßt das ganze Gebäude wie bei einem Erdbeben erzittern und das dumpfe Gedonner der Füße gibt diesem tollen Getöse das Drohende eines zunehmendes Ungewitters … Immer lauter erklingt es von nllen Seiten: Wir wollen ihn hören! Laßt ihn reden, er redet gut, er spricht die Wahrheit! Matthias Drinkowitsch, sichtlich indigniert über diese peinliche Äußerung allgemeinen Mißtrauens, hielt nochmals ein komplettes Plädoyer zu Gunsten seines Klienten. Er sei ein guter Offizier, ein Generalstabsoffizier und Fachmann, er habe den Treueeid geleistet und sein Offiziersehrenwort gegeben, seinem Vaterland loyal zu dienen. Dabei drohte er mir wieder mit dem Galgen (wenn ich ihn nochmals stören sollte), und so überschrien wir einander und ich erklärte, das sei durchaus keine billige Demagogie, sondern eine prinzipielle Frage und es gehe hier nicht darum, ob Minister Drinkowitsch (persönlich) zu Kvaternik Vertrauen habe oder nicht, weil es eben nicht um Kvaternik persönlich gehe, um Kvaternik als Einzelperson, sondern um Kvaternik als Prinzip! »Kvaternik ist nicht berufen, Kvaternik hat überhaupt keine Qualifikation, heute abend hier die serbischen Offiziere zu begrüßen, weil Kvaternik die Angehörigen unseres Volkes zum Galgen verurteilte, wenn sie nicht 185
gegen das, was heute abend als Sieg der Nation gefeiert wird, kämpfen wollten! Ich spreche darüber vollkommen konkret, im Namen der Mannschaft des Agramer 25.Honvédregiments, in dem ich persönlich die skandalösen Gewaltmethoden eben dieser Herren Patrioten hier miterlebt habe! Nieder mit Kvaternik!« »Wir wollen ihn hören!«, hallte es im ganzen Saal beinahe einstimmig wider. »Hooooch! Hooooch!« Matthias Drinkowitsch trotzte eine Zeitlang diesem Sturm, um dann resigniert die Achseln zu zucken und mir das Wort zu erteilen, worauf er ergeben in seinen Sessel an der Spitze dieser dummen Bankettafel zurücksank. Völlige Stille trat ein. Plötzlich spürte man den fernen Duft frischer Fichten. Das kam von den Girlanden aus Fichtenzweigen, und ich roch ferne Wälder mit blauen Lichtungen, Stille und reine Einsamkeit eines anderen weit entfernten Planeten, auf dem es kein Blutvergießen und keine Kvaterniks gibt. Da nahm ich denn das Wort, ohne im Augenblick zu wissen, wie ich mich ausdrücken sollte. Im Geist sah ich die endlose Bildergalerie dieser schwarzgelben Kondottieri bis herauf zu Horthy und Gömbös, dieser Landsknechte, Junker und Militaristen, dieser Henker, die schon seit Jahrhunderten, in fremdem Sold stehend, morden und brennen und denen es völlig gleichgültig ist, wen sie hängen und wem sie die Gurgel durchschneiden, denn sie sind professionelle Henker, berufsmäßig und aus angeborener Neigung. Und es wurde mir ungewöhnlich klar (nicht nur als dem Autor jener königlich-un186
garischen Honvéd-Prosa, deren Thema ich auf Hunderten von Seiten variiert hatte, sondern auch als Kroaten), daß es sich auch hier um einen dramatischen Zusammenprall der Jahrhunderte handle und daß das National- und Kulturbewußtsein dieser Söldlinge auf so tiefer Stufe stehe, um unabwendbar auf diesem blutigen Ball zwischen den Zylinderträgern, den Archimandriten, den Teilnehmern an der Schlacht bei Kajmakčalan und den Anhängern der Dynastie Karadjordjević früher oder später einen skandalösen Krawall zu provozieren. Wie aus Stein gemeißelt stand eine Szene vor meinen Augen: Die hohenzollerschen Junker gehen von der Bühne ab, aber hier rehabilitieren diese provinzlerischen Dummköpfe diesen Lümmel von einem Grenzer, diesen Kellner und Zuhälter letzter Sorte! Und warum? Um die Dynastie Karadjordjević der Nation mit Polizeigewalt aufzwingen zu können! Und das alles geschieht unter dem Deckmantel des Kroatentums! So nahm ich denn das Wort im Namen der zahllosen Toten dieses Gemetzels, die von denselben Kvaterniks umgebracht worden waren. Diese Herren Kvaterniks praßten in solchen kaiserlichen Offiziersmessen wie der gegenwärtigen, während Hunderttausende von Männern unseres Volkes in Kot und Schnee krepierten. »Alles habt Ihr zu einer ordinären, besoffenen Offiziersmesse gemacht! Ihr habt wohl Riesling und Burgunder, aber nie einen Gedanken im Kopf getragen, und um Euren Riesling hier in Ruhe saufen zu können und um Eure Würste hier fressen zu können, schlachtet Ihr schon seit vier Jahrhunderten unser Volk ab und auch heute abend 187
erschlagt Ihr es noch und hängt es um desselben Rieslings und derselben Würste willen! Das ist ja gar keine nationale Einigung, gondern die reinste Schande! Es ist völlig absurd, daß dieser Kvaternik da heute abend den serbischen Offizieren einen Toast bieten will, den Offizieren desselben Serbiens, dessen Bürger er noch gestern an die Laternenpfähle hängte, um heute abend, zur Feier der Befreiung und der Nationalen Einigung, hier vor unseren Augen wieder eine kaiserliche und königliche Offiziersmesse erstehen zu lassen! Bringt doch besser alle Eure Torten und Würste den hungrigen serbischen Soldaten, die draußen am Bahnhof in ihren Waggons frieren, weil uns die siegreiche russische Revolution gelehrt hat, daß nicht die Mitglieder des Nationalrats, sondern die Soldaten- und Arbeiterräte jener Faktor sind, jener politische Faktor, den Lenin …« Lenins Name wirkte in dieser betrunkenen Nacht wie ein Donnerschlag! Nachdem ich die Torten und Würste und die hungrigen serbischen Soldaten und die siegreiche russische Revolution und die Soldatenräte erwähnt hatte, versetzte der Name Lenin die tausend südslawischen, royalistischen Kleinbürger in sinnlose Aufregung, und diese besoffene Bande begann, im Gedenken an die nationale Heiligkeit des Sankt-Veits-Tages mit Fäusten, Gläsern und Flaschen auf die Tische zu schlagen; die Offiziere zogen ihre Säbel aus den Scheiden und ihre Revolver aus den Taschen, die Damen begannen zu kreischen und unter Pfiffen, Zischen und Johlen, unter Blitz und Donner der Wut und Entrüstung hörte man sie schreien: »Pfui, pfui, pfui! Nieder! Nieder mit dir, du Hundesohn, 188
du Schwein, marsch hinaus, werft ihn hinunter, es lebe Drinko – Drinko – Drinko! –, es lebe die Nationale Einigung, es lebe König Peter Karadjordjević, es lebe Prinzregent Alexander, es lebe Jugoslawien, es lebe die siegreiche serbische Armee, unsere Verbündeten sollen leben, es lebe Franchet d’Esperey, es lebe Vojvoda Putnik, es lebe Vojvoda Mišić, es lebe Serbien, es lebe die Nationale Einigung, es lebe der Regent Alexander, es lebe…« Unter dem hysterischen Unisono einer höllischen kompakten demokratischen Mehrheit winkte der Herr Bevollmächtigte Matthias Drinkowitsch mit einer großartigen, eines biblischen Tetrardien würdigen Geste mit der Hand und überantwortete mich seinen Banditen, indem er ihnen bedeutete, mit mir nach Gutdünken zu verfahren, mich von der Galerie hinabzuwerfen oder aus dem Haus zu schleudern, mich zu zertreten oder niederzusäbeln, weil mich in diesem Augenblick die Sofkas, die Olgas und die Zlatas aus den Reihen unseres Volkes gestoßen hatten, und so wurde ich auf Gnade und Ungnade betrunkenen Matrosen und Sokoln ausgeliefert, durchgeprügelt und in den Straßenkot geworfen. Aus dieser kroatischen Schenke flog ich hinaus und im Nebel auf der Straße fand ich mich wieder. Mit einigen kräftigen gestiefelten Fußtritten in den weicheren Teil meiner irdischen Substanz (der in besseren Prosawerken nie namentlich genannt wird) beehrt, blieb ich, ausgepfiffen und niedergetreten wie ein Glühwürmchen von einer Schweinsklaue, zurück. Ich war völlig ruhig und alles erschien mir äußerst lächerlich. Die Sofkas, Olgas und Zlatas hatten mich aus189
gepfiffen, ohne mir zu erlauben, daß ich erst meine Arie sänge. Ich muß sie ganz schrecklich enttäuscht haben. anmerkungen [1] Erster strategischer Erfolg der serbischen Armee nach dem Zusammenbruch des Jahres 1915. [2] General Graf Josip Jelačić, 1848 Oberbefehlshaber der aufständischen kroatischen Truppen; warf die Revolution in Wien nieder. [3] P. Stoss, romantischer Dichter Kroatiens. [4] Romantischer kroatischer Dichter; kämpfte für die Einigung der Südslaven. [5] Feldherr in den Türkenkriegen. [6] Der letzte Sproß dieser kroatischen Adelsfamilie, Graf Peter, Banus von Kroatien, wurde 1671 in Wiener Neustadt als Verschwörer enthauptet. [7] Der Aufstand der Uskoken gegen die Türkei, Venedig und Österreich (1573–1617) wurde im Madrider Frieden liquidiert. [8] »Aus der Finsternis des Vergessens ein neues Kirchenlied anstimmend« (kirchenslawisch). [9] Dimitrjević Apis, Leiter der Verschwörung gegen die Dynastie Obrenović und des Attentates von Sarajevo; als Verschwörer und Organisator eines angeblichen Attentats gegen den Prinzregenten Alexander zum Tode verurteilt und mit seinem Mitarbeiter Rade Malobabić im Juni 1917 erschossen. [10] Dalmatinisches Küsten- und Hinterland. [11] Was für ein Saufbold! 190
[12] Der Esseger Advokat Josua Frank leitete eine Fraktion der 1860 von Ante Starćević gegründeten Staatsrechts-Partei und spielte innerhalb der kroatischen staatsrechtlichen Bewegung eine agent-provokatorische Rolle. Wurde als österreichisch-madjarischer Doppelagent entlarvt. [13] Franz Šupilo, kroatischer Politiker vor der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg, Vorkämpfer für eine politische Einigung der Südslawen, im Rahmen des bekannten Friedjung-Prozesses in Österreich als Hochverräter kompromittiert, trat während des Krieges im Exil aus dem revolutionären südslawischen Komitee aus und beendete 1917 in England sein Leben. [14] Seit Ende 1916 flohen Marodeure und Deserteure aller Art in die südslawischen Wälder und zogen als unorganisierte Guerillagruppen durch das ganze kroatische Land. Sie sammelten sich manchmal zu größeren Scharen und führten sogar größere Überfälle auf Gendarmerieposten und Kreisämter durch. [15] Politische Fraktion der kroatischen StaatsrechtsPartei.
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kroatische rhapsodie
M
agyar állam vasutak. Personenzug Nummer 5309. Waggon dritter Klasse. Der Zug bewegt sich auf einer der zahlreichen Linien des großen Mechanismus der MÁV, deren Netz sich auch über unsere südslawischen Gebiete gesponnen hat. Die Zeit: Mai 1917, im dritten Jahr des internationalen Kriegs, um die Mittagszeit. Ein poetischer Tag. Die Sonne spielt mit den Wolken. Auf der letzten Station ist ein Haufen Leute in den Zug geklettert, und so ist diese gelbe hölzerne Schachtel mit Frauen überfüllt. Auch mit Greisen und Kindern. Und mit allerlei. Die Sonne hat diesen Waggon mit ihren feurigen Klauen zusammengepreßt. Die Schwüle ist unerträglich drückend. In dem Rauch, dem Ruß und dem Grauen schwimmen die Gestalten wie Phantome, zuweilen scheint es, all dies sei nur ein Traum, eine krankhafte Vision. Manchmal wieder ist alles grauenhaft klar. Das ist keine Vision, keine Szene, kein Traum, all das ist Wirklichkeit. In einer Menschengruppe weint leise eine Frau. Die Schwindsucht hat sie ausgelaugt. Sie macht es nicht mehr lange. Sie ist noch nicht alt, aber das Sterben hat sie schon zermalmt. Sie jammert, und die Nächsten hören ihr zu. Die Frau, weinend: »Ihr Leute, ihr Leute! Es tut mir leid, daß ich jetzt allein zu Hause verkümmere – wie ein Vieh. Nur das.« Die Schwindsucht hat ihr die flammenden Nägel in die Kehle gebohrt. Die Frau würgt und hustet. Man spürt die 193
dämonische Gegenwart von etwas Furchtbarem, wenn die Frau keucht. Der Husten würgt sie. Wie ein teuflischer Refrain hallt er durch den ganzen Waggon. Viele Frauen, durchsichtige Kinder und zerknitterte Greise husten. Der ganze Waggon keucht, hustet, windet sich vor Schmerzen, spuckt Blut. Stirbt. Die Frau: »Ich weiß, ich werde sterben. Was liegt mir daran? Die anderen sterben auch. Gott hat gegeben – Gott tötet auch. Aber es tut mir leid, daß ich niemanden habe, der mir eine Kerze anzünden wird, wenn ich sterbe. Ohne Kerze werde ich …« Sie wird wieder vom Husten geschüttelt. Sie windet sich. Zwischen ihren kleinen Knien, die von der Krankheit abgezehrt sind und wie Kinderknie aussehen, hält sie einen Bienenkorb. Aus Weidenzweigen geflochten und mit Kuhmist beschmiert. Sie wirft dicke, gestockte Fetzen blutigen Schleims aus. Fliegenschwärme stürzen sich gierig auf diese rötlichen Lachen und baden in der blutigen Flüssigkeit. So viele Menschen spucken Blut, daß es auf dem Boden des Waggons nur so fließt. Ein Alter hat sich an die Seite der Frau gesetzt. Es ist ein grauhaariger Riese. Ein Patriarch. Ein Hüne. Ein Mordskerl. Mit Bärenfäusten umklammert er eine bloße, glänzende Axt. Die Axt verliert sich in diesen Riesenhänden voller Blut, Kot und Schweiß. Er kaut schwarzen Tabak. Er lauscht dem Gejammer der kranken Frau. Er beugt sich zu ihr nieder, als wolle er sie trösten. Der Hüne: »Was tut dir denn leid, Unglückswurm? Wenn du selber weißt, daß es nicht länger als zwei bis drei Wochen 194
dauern wird? Was fährst du dann herum, einmal dahin, einmal dorthin?« Die Frau wird unruhig. Der grobe Ton beleidigt sie: »Warum ich herumreise? Was geht das denn dich an, du Halunke?« Eine schrille Frauenstimme aus der Rauchwolke: »Und wohin fahrt Ihr, Mütterchen?« Die Frau: »Ich? Nirgendwohin!« Wieder quält sie der Husten und sie spuckt Blut. »Wenn ich schon ins Gras beißen muß, dann wenigstens bei meinen Leuten. Trotzdem: es wird mir leichter fallen.« Sie weint traurig und laut wie ein verwundeter Hund: »Ich bin allein im Haus geblieben, ich gehe zu meiner Tochter sterben. Es ist doch leichter, bei seinem Kind zu sterben.« Eine Stimme: »Und wo ist Ihre Tochter?« Die Frau: »Sie ist verheiratet, zwei, drei Stationen weiter. Diesen Bienenkorb bringe ich ihr mit.« Der alte Bär, der Hüne, murmelt schmatzend und stößt Massen stinkenden Rauchs von sich: »Allein! Donnerwetter. Allein im Haus! Haha! Warum hast du nicht mehr Kinder geboren? Da wärst du nicht allein geblieben. Ich – Gott sei Dank – habe sechzehn gezeugt. Dreimal waren es Zwillinge. Zwillinge! Habe sie auch begraben – Gott sei Dank. Sechzehn. Abgebrannt bin ich auch. Meine Alte ist gestorben. Auch sie habe ich in die Erde geworfen und bin allein geblieben. Und jetzt strolche ich herum und fälle Bäume. Gott weiß, wo. Und doch. Es ist gut. So lange man gesund ist. Aber du, meine Liebe – bei Gott –, du wirst nicht mehr lange Brot fressen.« 195
Als ob er sie liebkosen und trösten wolle, legt der Rohling seine Pranke auf sie. Aus jeder seiner Gesten spricht die barbarisch-rohe Zufriedenheit der Kreatur, die vieles mitgemacht, die gesehen hat, wie Sklaven sterben, die vom Leben verunstaltet ist, aber dennoch trotzt. Er genießt seinen Trotz, wenn er sieht, wie ein Stück Leben zerstört wird. F.ine mitleidige Stimme: »Es ist gut, daß es ist, wie es ist, nein, es ist nicht gut, aber es wird nicht lange dauern. Je eher, desto besser. Der Mensch quält sich sowieso nur. Wie ein Vieh! Genau wie ein Vieh!« Die Frau weint kläglich, als wolle sie den Verdacht abwehren, sie sei unfruchtbar: »Ich war ja nicht immer allein. Ich habe sechs geboren. Zwei sind schon als Kinder gestorben. Eine hat geheiratet, und einer meiner Söhne ist irgendwo an der Drina gefallen. Der andere ist nach Italien gezogen – der andere ist in Rußland. Der in Italien rührt sich nicht mehr seit Jahren, der andere ist in Rußland gefangen.« Stimmen: »Und wo ist dein Mann?« Die Frau: »Er dient dem Kaiser und schiebt Wache in Zagreb. Er hat geschrieben, um Ostern herum wird er nach Hause kommen. Und später, sagt er, geht er auch an die Front, oder was weiß ich wohin.« »Der Frühling kommt – das Mädchen pflanzt im Garten …« hört man eine lachende Stimme; in einem Winkel des Waggons spinnt sich ein feines, vibrierendes Lied an, wie das seidene rote Gewebe an den Brüsten weißhäutiger Bäuerinnen, die ihre Perlenzähne zeigen, singen und Schnaps trinken. Der Reichtum des schwelgerischen öst196
lichen Lebens erfüllt den Waggon. Im Nebel des Rauchs, in der Sonnenglut, in den blutigen Poren tanzt ein wahnsinniger slawischer Gott, er praßt und feiert das ruhmreiche slawische Leben. Ein Bauer, dünn, spitz, gallig und kläglich, mischt sich in das Gespräch. Er hat lange darüber nachgedacht, was er sagen will: »Ich lebe. Ich betrachte. Ich denke: Warum quält sich das Vieh? Die Katzen leiden nicht. Auch das Schwein leidet nicht. Nur das Vieh, und das dient nicht beim Militär.« Eine kluge Stimme: »Warum? Es leidet, weil es Herdenvieh ist! Und es wird aufgefressen von den guten Menschen. Darum leidet es. Aber der Mensch, auch wenn er ein Schwein ist, leidet nicht. Wie kommt es, daß man dich nicht in die Montur gesteckt hat?« Der Bauer: »Sie haben mich genommen. Aber was sollen sie mit mir? Zu den vergangenen Pfingsten habe ich zu schwer gehoben, so daß meine Gedärme herunterhängen. Und sie wollten mich für die Wache. Dann hat man mich auf Befehl entlassen.« Ein junger Bursch lacht spöttisch auf: »Ob du dir nicht vielleicht selbst die Gedärme gedehnt hast? Mit Steinen! Das wird bei uns so gemacht – bei Gott. Später gehen die Gedärme von selbst zurück – und man tanzt wieder Kolo.« Alle lachen schallend. Draußen auf den Feldern jagen Vögel und Tiere aus Angst vor diesem Menschenlachen kopflos Über Furchen, Saaten und Gebüsch. Das Lied des Eisens hallt, glühender Ruß fliegt umher, Getöse, Rauschen und höllisches Knirschen. Die MÁV fährt durch unser Land… 197
Der junge Bursch schreit den Alten auf der anderen Bank frech an. Der Alte ist ein Bosniak. Ein Türke mit Fez. Er hat sich in türkischer Art niedergehockt, die Beine angezogen, er schweigt und schaut vor sich hin. Der junge Bursche: »Und wohin fährst du, Mujo? Dienst du bei den Bosniaken, beim zweiten oder dritten Regiment?« Der Muselman starrt versteinert vor sich hin. Er bläst den Rauch von sich. Er hat sich in etwas verschaut und starrt. Hin und wieder zuckt er mechanisch zusammen. Er dient nicht bei den Bosniaken, weder beim zweiten noch beim dritten Regiment. Er verschlingt mit seinen kleinen, grünen Äuglein den breitschultrigen Mann, der ihm gegenüber sitzt. Es ist ein Matrose. Ein junger Bursche. Auf seiner Mütze steht in goldenen Buchstaben: ›K.u.k. Flugstation‹. Er schneidet Brot. In der Hand hält er eine Schinkenkeule. Da aber die Sonne darauf brennt, schmilzt das Fett von der Keule und rinnt hinunter. Der fette Saft kriecht an den von der Hitze angeschwollenen Händen entlang. Höchstwahrscheinlich ist der Bursche auf Urlaub gewesen, und die Mutter hat ihn mit Lebensmitteln überladen. Mit Mehlspeisen, Fleisch und Wein. Wie ein junges Raubtier beißt er in das rote Fleisch, daß die Knorpel krachen. Und der Muselman, gelb, hungrig, nackt und verloren in seiner Leinenbluse, die um den Hals zugeschnürt ist, verschlingt ihn mit den Augen. Im Geist ißt er mit dem Matrosen. Wie ein Hund verfolgt er jede Bewegung seines Gegenübers. Der Hunger hat ihm die Farbe ausgezogen, die Augenringe ausgelaugt – sein Körper ist abgemagert wie eine Leiche, die am Pfahl ver198
west. Der riesengroße glatzköpfige, mongolische Schädel ist von verheilten schmutzigen Narben zerschnitten wie der Kopf einer Vogelscheuche im Kornfeld. Wenn eine Krume dem Matrosen auf den Boden fällt, eine Krume Weißbrot auf den bespuckten, dreckigen, blutigen Boden, fett und schwarz von Karbolöl und Pech, bückt sich der Muselman und pickt sie mit der Gefräßigkeit eines hungrigen Fisches auf. Diese biblische Szene betrachtet ein Zivilist. Er ist heute zwar noch in Zivil, aber morgen wird er es nicht mehr sein: er rückt ein. Morgen muß er sich bei seiner Truppe stellen. Schon vor zwei Tagen waren sie in dem kleinen Provinzstädtchen – wo er beim Königlichen Finanzamt mit der Herstellung von Abschriften für 90 Kronen monatlich seine Tage verbracht hatte – aufgetaucht, die weißen gespenstischen Plakate mit der schwarzen mystischen Überschrift ›Stellungsbefehl‹. Lange hat dieser Zivilist auf das Plakat gestarrt – es hat geregnet – und er hat ein wunderliches Gefühl gehabt. Siehe da! So ein gewöhnliches weißes Papier flattert in sein Leben – und vernichtet alles. Den ganzen Ablauf seines Lebens hat es zerstört. An Stelle des abgeschiedenen Gasthofs, wo Tiroler Landschaftsbilder hängen und die Vorgesetzten Preference spielen, des abgeschiedenen Büros und der Spaziergänge die Maulbeerallee oder die Eisenbahnschienen entlang – nun dieser Verfall, dieser Schmutz, in den er gefallen ist. Hinter ihm liegt eine durchwachte Nacht imZug-Schrecken, Schmerz, Schuld und Leiden. Seine Nerven sind dermaßen aufgewühlt, daß ihn jetzt die Grausamkeit des Matrosen furchtbar verletzt. Diese Barbarei 199
brennt in ihm, und er, die bescheidene Subalternbeamtenfigur, schreit angriffslustig: »He, Sie Schwein! Sehen Sie denn nicht, wie dieser arme Tropf Ihre Krumen frißt? Schämen Sie sich nicht?« Er erschrickt über seinen Ton. Aber jetzt ist es schon geschehen. Die Mine ist explodiert. Der Matrose: »Kusch! Was geht das Sie an?« Der Zivilist: »Sie sind ein Schwein!« Dieses Wort kommt ihm wirkungsvoll vor. »Das ist eine Schweinerei!« Der Matrose: »Noch ein Wort – und ich häng dich an deinem Schlips auf!« Der Zivilist: »Vieh! Da hungert ein Mensch und krepiert, und Sie platzen vor …« Der Matrose: »Was! Vieh? Da hast du für das Vieh, verfluchter Zivilist!« Er springt auf, packt den Mann am Mantel und stößt ihn mit aller Kraft zu Boden; dann beginnt er ihn mit den Fäusten zu bearbeiten. Der Zivilist kratzt ihn hysterisch mit seinen langen Schreibernägeln. Der Matrose hat sich wieder gesetzt, ißt kaltblütig weiter. Der Subalternbeamte stillt mit seinem Taschentuch das Blut, das ihm aus der Nase rinnt. Der Zug jagt über Brücken. Der Muselman schaut und wundert sich. Der Matrose: »Bei Gott! So ein Vogel! Gib, gib, gib ihnen nur! Und wer wird mir was geben, wenn ich nichts mehr habe ? Wenn ich meine ganze Armut aufgefressen habe, werde ich allein krepieren. Ich würde noch glücklich sein, wenn ich hinter jemandem die Krumen auflesen könnte! Aber zum Teufel, dort bei uns in der Flugsta200
tion gibt es Wasser und Steine – und keine Krumen! Und so ein Zivilist …« Aus dem Kratzer an seiner Hand fließt Blut. Abwechselnd saugt er das Blut auf und frißt. Eine bleiche Frau, die von der Armut des Muselmans offenbar gerührt ist, zieht aus ihrem Ranzen Maisbrot und reicht es dem Türken. Auf ihrem Ranzen liegt ein kleines Mädchen. Es ist voller Krätze und nur dürftig verbunden. Aus den Wunden fließt Eiter – viele Fliegen haben sich auf dem Gesicht des Mädchens niedergelassen. Es weint, kratzt sich und schreit. Der.Muselman schluckt gierig. Während er ißt, gerät er in bessere Laune. Der Muselman: »Schon drei Tage hab ich nicht einen Bissen gegessen. Ich kann mir gerade nur eine anzünden. Ich komme aus Mazedonien. Dort war ich ›Arbeiten‹! Und jetzt – in den Kader. Und dann an die Front. Es ist auch besser an der Front – dort hungert man nicht …« Einige Frontsoldaten auf Urlaub beginnen zu grinsen. Ihr Lachen ist nicht spöttisch. Es ist so unerbittlich, daß es alle Illusionen des Muselmans von der Front vernichtet. Ein Arbeiter, der vom Frontbraten träumt, ha-ha! Ein Frontsoldat: »Und was glaubst du denn, du Esel? Daß die Front ein Jahrmarkt ist? Oder eine Wallfahrt, wo Met ausgeschenkt wird?« Ein anderer Frontsoldat: »Was glaubst du denn, du Unglückswurm, was das ist, die Front? Dummkopf, weißt du überhaupt, was Cholera ist?« Der Muselman mit dem Mund voll Kukuruzbrot schüttelt den Kopf. Er weiß nicht, was das ist, Cholera. Der zweite Frontsoldat: »Cholera, das ist eine Krank201
heit, die frißt dir deine Gedärme auf, und du krepierst in zwei Tagen. Und ich, ich habe die Cholera gehabt. Man sagt, es sind kleine Viecher wie Ratten, die deine Gedärme fressen. Mich haben diese Viecher gefressen! Ich habe direkt gefühlt, wie sie einander in meinen Gedärmen jagen. Wie kleine Ratten. Aber was ist schon dabei!« Alle lachen. »Aber du kannst mir glauben, auf meiner eigenen Hochzeit habe ich vor Freude nicht so getanzt wie damals, als ich die Cholera bekam. Vor Freude, Kümmeltürk! Ich kam von der Front ins Krankenhaus. Ich war sicher, daß ich ins Krankenhaus komme. Ich habe die Cholera in der Frontlotterie gewonnen, Vieh!« Die anderen Frontsoldaten, als ob sie persönliches Verdienst daran hätten:» So steht es, Kümmeltürk, mit der Cholera!« Ein alter Invalide, dem die rechte Hand fehlt, mit einer Tapferkeitsmedaille aus dem Jahr 1866 und einem Patriarchenbart: »Bei Gott! Im Sechsundsechzigerjahr, als wir unter Radetzky die Italiener verdroschen haben …« Die Frontsoldaten, junge Leute, lachen den Alten aus wie ein Kind: »Haha! Radetzky, mein Lieber! Das war ein Kaisermanöver. Ihr habt damals Krieg gespielt! Heute, wenn du das sehen würdest, wie eine Granate eine ganze Kirche in Trümmer legt …« Das kleine krätzige Mädchen weint. Eine Wolke schwarzer Fliegen hat sich auf seine Wunden gesetzt. Die Mutter verjagt die Fliegen und beruhigt die Kleine: »Kusch, du verfluchte Sau! Ich werfe dich aus dem Fenster, wenn du nicht aufhörst. Kusch!« 202
Stimmen: »Was fehlt denn dem Kind?« Die Mutter: »Ach, diese Pest hat sie befallen und keiner kann ihr helfen. Weder alte Weiber noch Kräuter noch Hexereien noch Salben können ihr helfen. Es wird so groß wie ein Gulden, dann platzt es. Wir fahren in die Stadt … zum Doktor . ..« Die andere Mutter: »Zu welchem Doktor? Du, ich gehe auch zum Doktor mit meinem Kleinen. Und ich weiß nicht, wo ich übernachten soll …« Das Kind ist ein Idiot mit einem Kropf. Die Beine haben sich unter dem Gewicht des Körpers wie weichgewordene Kerzen gebogen. Sein Kopf ist angeschwollen wie eine Melone, die Augen quellen hervor. Es schreit, grölt, heult und beißt in die Zigarettenstummel, die es vom Boden aufhebt. Sein Rückgrat ist gekrümmt und durch sein Hemdchen sieht man die knochigen Wirbel. Ein Kretin. Ein kleines Tier, Eine Alte: »Bei Christus, Gevatterin, es wäre besser, der Herr würde sich Ihres Sohnes erbarmen!« Die zweite Mutter: »Wenn Sie nur wüßten, was ich nicht alles versucht habe, ihn umzubringen. Aber er ist ein Zäher, zäher als irgendeiner von uns. Nackt schläft er die ganze Frostnacht draußen im Hof, und nichts! Selbst der Hund friert an der Kette und scheppert mit den Zähnen und heult, aber er … nichts …« Eine Frau: »Vielleicht zünden Sie eine Kerze an. Gott wird ihn sterben lassen! Gott ist gut. Er wird sich erbarmen!« Die zweite Mutter: »Das habe ich doch getan, auch die Kerze habe ich angezündet, der Teufel soll sie holen! Was 203
habe ich nicht alles gemacht – nichts. Da seht! Jetzt ist ihm der Knochen herausgesprungen, nichts wie Unannehmlichkeiten!« Der Frontsoldat: »Man müßte ihn in einen Sack stekken, und wie eine Katze ins Wasser mit ihm. – Gib her, daß wir ihn ein wenig geraderichten – damit auch er an die Front kann!« Schallendes Gelächter. Schwielige, grobe Hände pakken das Kind, die Leute lachen, zerren an ihm und kichern. Sie spucken Blut und keuchen im Nebel des gelben Rauchs und der drückenden Hitze. In diesem kranken Durcheinander, dem Gestank, dem Dunst von Infektionskrankheiten, dem Haufen von Ranzen, Säcken, Gepäck, im Chaos dieses kranken Lebensabhubs wüten die Gespenster der alleszerstörenden Tuberkulose, des Kriegs und der Pest. Wie ein unsichtbarer Dämon zerbröckeln die Krankheiten die Hirne dieser Menschen, die Leute schreien und lachen vor Schmerzen, sterben und reisen, flüchten – irgendwohin, der letzten schwarzen Station entgegen, immer weiter … In der Ecke neben dem offenen Fenster sitzen zwei abgerissene, armselige, anämische Studenten. Sie saugen die warme Maisonne in sich ein, die manchmal von den Sümpfen und Mooren, über die sich der MÁV-Zug wälzt, widerstrahlt. Mit krankhafter Leidenschaft greifen sie in die Debatte ein. Sie sprechen von der kroatischen Idee. Vom südslawischen Problem. Darüber, wie unsere jüngsten Talente in der Fremde verkümmern: in Barcelona, Paris, Rom. Wie sie versinken. Wie sie sterben. Wie viele von ihnen sind gestorben! Verkümmert. Schändlich. 204
Häßlich. Oh, wie viele von ihnen durchwandern den Globus und suchen die Heimat. Auch in den Gefängnissen, in den Kaffeehäusern, in den Redaktionen leiden so viele Talente. Aus Liebe zum Leben leiden sie. Und das Leben, ihr Leben ist die Heimat, die Heimat, sie fährt in der dritten Klasse. Einer von ihnen ist kämpferisch, der andere resigniert. Der Kämpferische: »Aber, ich bitte Sie! Alle unsere Leute sind verwelkte Pflanzen. Um den Zusammenbruch zu erleben, muß man hart sein. Aber diese unsere Leute sind Gummi-Elastikum. Ich lese alle ihre Gedichte. Ich sehe, was sie auf die Leinwand schmieren. Oh, wie ist das alles leer, blutarm und flach. Wie dumm ist das alles! Diese ihre germanischen ›Stilleben‹- und ›Stubenglück‹Matineen, wie furchtbar dumm ist das alles! Welche kroatische Generation hat so viel gelitten wie wir? Und wo bleibt der Niederschlag dieser Leiden? Vom poetischen Ausdruck will ich gar nicht sprechen …« Der Stille, Resignierte: »Sie müssen sich nicht aufregen, mein Lieber. Wir sind alle Opfer des teuflischen europäischen Fatums. Unsere Berufung ist das Leiden. Schmerzen und Leiden. Und jener Genius, der gute kroatische Genius, dieser unser Erlöser, der das Wort und die Form des Ausdrucks finden wird, jener Messias, der uns von der Krankheit, die uns auslaugt, heilen wird – Er kommt! Sehen Sie, ich glaube, daß Er kommt. Wenn ich nur einen Augenblick daran zweifeln würde, daß Er kommen wird – glauben Sie mir – bei Gott –, ixh würde hinunterspringen, unter diese MÁV-Räder …! Ich glaube: Er kommt! Er muß kommen! Er wird uns hei205
len. Er wird ein Werk schaffen, und dieses Werk wird das Heilmittel für alle Schmerzen sein. Es ist nur traurig, daß Er nicht aus unserer Generation stammen kann. Er wird dieses Chaos aus höherer Perspektive betrachten.« Der Kämpferische: »Dummheiten! Das sind banale Geschichten, diese Beschwörungen des Genius. Wir wollen nicht warten. Wenn man auf etwas wartet, besteht die Möglichkeit, daß es nicht kommt. Aber wir wollen das Werk! Heute! Und das Heilmittel! Und die Auferstehung. Heute! Wir haben doch unsere Auferstehung. Heroische, gesunde – wilde – Auferstehung. Auferstehung der Kunst und des Bildes und der Verse, der Musik heute …« Der Resignierte lächelt. Dieses Lachen, nein, es ist nicht herausfordernd. Das ist nicht das Lachen eines Menschen, der nicht glaubt. Das ist eine gewisse traurige Lebenshaltung, die entsteht, wenn jemand dauernd den Heiland betrachtet, wie er mit wunden Knien tot am Kreuz hängt. Und dieser Jemand weiß, was es bedeutet, am Kreuz zu hängen – mit durchbohrten Rippen und gebrochenen Knien –, weil er schon selbst viele Male sein Golgatha durchlebt hat, und er weiß, daß es für ihn – für ihn persönlich – keinen Himmel gibt. Das ist das Lächeln der Menschen, die von allen Göttern verlassen sind. Aber es dauert nur einen Augenblick. Denn im nächsten Augenblick schafft solch ein Gehirn sich selbst seinen Gott, den es anrufen wird – schweigend. Der Resignierte: »Sie sprechen von gesunder Auferstehung. Würden Sie bitte so gut sein und diesen Waggon hier betrachten? Dieser Waggon wird den Genius nicht erblicken …« 206
Der Kämpferische: »Das geht alles vorüber. Diese Leute hier werden aussteigen! Es werden gesunde Reisende kommen. Und der Zug wird ganz sicher Kosmopolis erreichen …« Der Resignierte: »Ohne Zweifel: der Zug geht nach Kosmopolis. Aber so lange wir reisen, werden uns immer solche traurige und kranke Menschen begleiten. Barbaren und Sklaven.« Der Kämpferische: »Das ist ja das Verfluchte – diese unsere Resignation. Wie können Sie so weibisch träge sein? Wie können Sie so unintelligent sein?« Der Kämpferische wirft sich in die Brust: »Auch mich hat es – hundert Teufel – schon einigemal im Leben erwischt! Wo ich mich überall herumgetrieben habe! Heizer war ich, auf einem Schiff. Europa habe ich zu Fuß durchwandert. Im Gefängnis war ich – auch gekämpft habe ich, 1913 als serbischer Freiwilliger im Balkankrieg. Und trotzdem – ich bin noch stark, ich lasse mich noch nicht unterkriegen …« Der Resignierte: »Das alles ist eine Temperamentsund eine Nervensache. Auch ich habe mich überall herumgetrieben und habe einiges durchgemacht. Aber mein letztes Leiden hat mich erschlagen. Als ich mit den kroatischen Truppen in den Krieg gezogen bin, das hat mich moralisch erschlagen. Ich kann nicht einmal sagen, daß ich zweifle. Aber ich bin krank. Ich glaube, daß jener, den ich anrufe, mich nicht hört. Sehen Sie – zu jener Mittagsstunde, als ich mit den Kroaten In diesen blöden Krieg gezogen bin, ist mir der Sinn unserer Leiden bewußt geworden. Wir leiden für die Geburtsstunde des Geni207
us – aber wir werden ihn nicht erblicken. Ja, das ist mir klar geworden! Wir werden ihn nicht erblicken. – Nur die Reinen und die Kommunikanten können ihn sehen. Und wir – schauen Sie –, wie schmutzig wir sind …« Der Kämpferische schreit: »Gerade wir sehen Ihn!« Der Resignierte: »Das ist eine Lüge. Sie sehen Ihn nicht. Das ist Ihre Lüge, genau so eine wie die Lüge jener lyrischen Jammergestalten, die vom ›Stilleben‹ und ›Stubenglück‹ singen. Ihre Sonette und ihre Stilleben, Gläser, Tischtücher, Äpfel, Fliegen und ihr Heroismus im Warten – alles das gleiche. Ein Traum! Der verlogene Traum einer Pseudozivilisaition! Und das zu wissen, tut furchtbar weh!« Der Kämpferische: »Weiberdummheiten, Hysterie! Auch mich überfällt manchmal Resignation, aber ich lasse mich nicht unterkriegen!« Der Resignierte: »Nein! Es ist keine Hysterie. Erlauben Sie. Alles das ist mir klar geworden – damals. Es ist Mittagszeit. Sie sind mit dreifarbigen Kokarden und mit Blumen geschmückt, sie gehen in den Kampf … oh, wie furchtbar klar …« Er faßt sich an den Kopf, schließt die Augen und blickt machtlos und einfältig vor sich hin; er sieht: Die Masse wälzt sich dahin. Die Trommeln dröhnen – die Trompeten schmettern … und er, trunken von Schnaps und Wein, geht wie im Halbtraum, betäubt, zitternd … den Tornister auf dem Rücken, die Riemen schneiden in sein Fleisch … Alkoholdunst über der Kolonne … das Blei in den Patronentaschen zieht einen hinunter, zum Asphalt… das Mannlichergewehr, das Bajonett … Waffen … rote Gesichter … alles vibriert … alles 208
singt. Oh, alles singt … Und die Trikolore mit dem heiligen Herzen Jesu weht, betrunkene Menschen jauchzen, die Mützen fliegen in die Luft, es raucht, dampft, man trinkt aus Feldflaschen, lacht, hüpft und jauchzt. Die Musik stimmt eine Tanzmelodie an. Und ganze Kolonnen mit Fahnen, die in der Mittagssonne wehen, tanzen. Nicht nur eine Kolonne, unzählige, unübersehbare Massen von Kolonnen, alle heben sie die Fahnen, tanzen Kolo. Alle tanzen, alles wälzt sich, alles geht. Alles geht irgendwohin. In den Rauch, in das Feuer, ins Blut, in den Wahnsinn. Und die Trommeln dröhnen, die Trompeten schallen, die Messingbecken klirren, die Menschen schreien, die Rosen duften, die Tücher wehen, und die Fahnen, die heiligen Fahnen, die kroatischen Fahnen … Alle Straßen tanzen, die ganze Stadt und die Golddukaten, die Pelze und Parfüms, die Seide und die Edelsteine in den Läden, die glitzernde europäische Lüge all dieser häßlichen, verrußten, unsympathischen, grauen Straßen, die seidenen Toiletten der Damen, die Fiaker, die Dächer, die Tramways, die Paläste, alles tanzt. Und die Kolonnen, unzählige Kolonnen und das Volk, das ganze Volk, tanzt … Das Blut ist ihm zu Kopf gestiegen. Zitternd, erregt, Bitternis im Herzen, beginnt er zu weinen, mit der Stimme eines verwirrten, dummen, hilflosen Kindes. Und der zweite hat sich an ihn geklammert, er zittert fanatisch, neurasthenisch … er sieht das alles auch und empfindet mit … krankhafte Feuchtigkeit bedeckt plötzlich seine Hände, dann beginnt er mit ihm zu weinen … hilflos … kindisch … armselig … sentimental … Der Resignierte streichelt sein Haar. In Tränen, schluch209
zend: »Ja! Wie soll man das ausdrücken? Es ist unmöglich. All dem Ausdruck zu verleihen bedeutet Genesung. Aber wir sind krank. All das ist nur Zuckung. Eine pathetische, hellenische, heroische Zuckung … Irrsinn … Traum … aber es ist nicht der Ausdruck, sondern Fieber, Delirium!« Diese kindische, schwachsinnige Sentimentalität ertrinkt in der Flut verschiedenster Formen: Menschen, Frauen, Kinder, Geschrei, in dem Räderwerk des Zuges der MÁV, der keuchend über Brücken und Straßen hüpft, über Wiesen und Äcker, und dieser ganze Lärm, die Häuser, Wälder, Felder, Dörfer, Kirchen und Hügel vereinen sich zu einem irrsinnigen Rhythmus – in ein Chaos von Rauch, Krankheiten, Schrecken, Leiden und Irrsinn. Links und rechts von den Schienen, so weit das Auge reicht, unten silbrige Gewässer. Unter dem Silber faulen Heu und Saaten. Traurige schwarze Vögel fliegen über die modrigen, toten Gewässer, und die Trauerweiden ragen aus dieser Überschwemmung hervor wie schwarze schimmernde Bälle. Und alles nur Wasser und Wasser und Wasser und Überschwemmung und Sümpfe und Pfützen und Kot. Eine Stimme: »Und warum ist das alles unter Wasser?« Die Bauern: »Warum? Weil sich keiner darum kümmert. Einen Teufel scheren sich unsere Herren darum, daß wir zugrunde gehen. Sie betrachten sich auf dem Fußboden, über den sie gehen, wie in einem Spiegel. So schön haben sie es. Wir haben es nicht einmal zu Weihnachten so gut. Wir? Wir ertrinken, wir verfaulen hier in 210
diesem Schlamm, wir schlürden diese Sümpfe, wir nähren die Gelsen mit unserem l’leisch.« Eine Stimme: »Das wäre ein guter Boden, wenn man ihn entwässerte. Wenn er nur nicht unter Wasser stünde, wäre dass ein wunderbarer Boden!« Zweite Stimme: »Tausende werfen sie für Dummheiten hinaus. Und hier verwüstet das Wasser den Boden …« Dritte Stimme: »Dieses stinkende Wasser ist noch immer besser als die Herren. Wo sie erscheinen, ist es, als wäre die Pest gekommen. Bei uns haben sie alle Wälder abgenagt; sie sägen und fällen, führen das Holz weg – alles ist kahl. Wir aber frieren im Winter – neben den Sägewerken, wo sich das I lolz auf den Waggons türmt.« Stimmen: »Die Pfaffen ziehen uns auch die Haut ab. Und die Gendarmen schlagen uns. Und plündern uns aus. Sie rauben uns das Land, das Getreide und die Ochsen…« Ein Alter: »Ja, das ist nicht immer so gewesen. Als der Kaiser die Militärgrenze regiert hat, war es besser. Damals ist man gegen die Italiener gezogen, und es gab Brot und Feigen. Und die Getreidekammern waren voll. Und die Ställe gedrängt voll Vieh. Und die Felder bearbeitet … jetzt aber ist alles Wüste. Es gibt keine Menschen … es gibt keine Genossenschaft, es gibt keine Pferde, keine Ochsen … es gibt gar nichts. Und seht, Leute, ich bin alt, wenn ich aber den Bienen zuhöre, wie sie summen, glaubt mir, auch sie summen traurig … viel trauriger als früher… in den alten Zeiten …« Stimmen: »Oh, gesegnete alte Zeiten! Da war Friede und Gottes Segen. Und jetzt ist alles vergebens, auch die 211
Wallfahrten nützen nichts, auch die Gelübde nicht – weder die Wachskerzen noch die Litaneien – gar nichts! Alles ist jetzt verflucht!« Die Frauen lamentieren: »Ja, es gab auch Wein und Kuchen und Milch und Honig … und alles. Wir haben gelacht … und gesündigt … und wir wußten nicht, was es bedeutet, wenn Friede auf Erden ist.« Ein schmerzliches Klagelied ertönt von den Lippen aller kranken Reisenden – ein Gebet um Frieden, Segen, Erde. Diese Erde ist in ihrem Blut, ihrem Gehirn, ihren Worten, in ihrem Fluch und Segen. Das Land ist ihr erster und letzter Besitz, und es ist, als seien sie Teil dieser armen kroatischen Erde, die hier unter dem Wasser fault. Und sie weinen ihr nach und sie beschwören jemanden, der ihnen helfen könnte, der diese Erde wieder umpflügt, damit sie Früchte trägt, zu duften beginnt, damit sie lächelt … Ein Veteran des Volksaufstandes zeigt auf einen gepflügten Acker: »Siehst du, da hat ein Weib gepflügt…« Der zweite Veteran: »Als hätte ein Kind die Erde geritzt, wie sollte auch ein Weib ordentlich pflügen können!« Eine Frau: »Bei Gott! Schimpft nur auf die Frauen! Und was würdet ihr essen, wenn es uns nicht gäbe – die Frauen? Bei Gott, ihr würdet vor Hunger krepieren dort draußen in euren Gräben, wenn wir nicht geackert und gesät hätten. – Auch die Pferde habt ihr uns weggenommen, um Krieg zu führen, und wir selbst müssen den Pflug ziehen!« Ein grauhaariger Veteran: »Was schwatzt du da für Dummheiten, Alte? Es wäre besser, wir wären in den 212
Gräben vor Hunger krepiert, als so …« er verschluckt, was er sagen wollte. Man sieht durch die Fenster auf den Feldern Reihen von schwarzen Frauen, die pflügen und säen. Lauter schwarze Frauen beim Pflügen. Und in den Bergen und Wäldern ballen sich die grauen Spukgestalten des Hungers. Sie strecken ihre Krallen aus und fressen die Dörfer auf. Und die Dörfer schreien. Und Leichenzüge ziehen vorbei. Die Glocken läuten, und der Zug schlängelt sich, klettert auf Berge, windet sich durch einsames Ödland, wütend streut er Bündel von Funken aus. Das Ödland fängt Feuer und verbrennt rauchend. »Gewettet haben, gewettet – ein Jüngling und ein Mädchen…« singen rotgesichtige betrunkene Bäuerinnen ganz hinten im Waggon. Schmucke Seidentücher, kostbare Pelzröcke mit Tressen, Spiegel, Spitzen, gestickte Rosen – all das ergießt sich über das Elend … wohlriechender, aufreizender Luxus. Der Alkohol hat die Nerven der Frauen aufgewühlt – ihr entfesseltes Lied erblüht wie wollüstige Blumen aus Fleisch, und ihr Duft erfüllt den Waggon. Der Alte, verärgert: »Schaut einmal an, diese Huren, wie sie nur schreien …« Die roten Bäuerinnen, herausfordernd: »Du würdest auch, Alter, wenn du nur jung wärst …« Eine alte Frau: »Gott wird euch strafen, Frauen, in solchen Zeiten …« Die roten Bäuerinnen: »Man lebt nur einmal, du Unglückselige – Gott das Seine – und uns das Unsrige. Sollen wir vielleicht weinen? Wenn der Mond scheint, wie 213
riecht das Heu … man liebt wie noch nie. – Und noch schöner jetzt als jemals!« Ein Soldat: »Und wo wart ihr, Mädchen?« Die Bäuerinnen: »Wir haben die Ochsen verkauft … und haben Geld. Heh – viel Geld!« Sie ziehen aus ihren Tüchern Banknoten. Bündel von Banknoten. Ein Luftzug weht durch den Waggon und verstreut die Banknoten im Waggon. Der ganze Waggon gerät in irrsinnige Bewegung. Alle schreien: Geld! Geld! Sie stoßen und schlagen einander, um eine rote oder blaue Banknote zu erwischen. Gelächter, Irrsinn, Lieder, Küsse, Rauch, Husten, Flüche, Gebete, Klagelieder, all das brodelt, schäumt über und wütet. Draußen reihen sich Häuschen aneinander, und es scheint, als nähere der Zug sich einem Städtchen. Traurige Schenken, vor denen melancholische Schindmähren stehen, Zäune, Gärten, Obstbäume, Pappelalleen, tamtim-tim-tim – der Zug springt über Weichen, und da ist ein grauer, verzweifelter Bahnhof mit einem Restaurant davor – eine Völkerwanderung. Der Zug hat noch nicht gehalten, da stürzt sich schon eine Schar Frauen, Bauern, Gendarmen, Verwundete, Invalide, Bosniaken, Kinder, Herren und Träger auf die Waggons. Die kopflose Menge wütet. Hände strecken sich nach den Aufgängen, Gepäck fällt herunter, Menschen schreien – Kopflosigkeit hat die Masse ergriffen und frißt wie Fieber um sich. Eine Kiste fällt und bricht einem Mann den Fuß. Er heult vor Schmerzen. Man trägt ihn weg. Eine Lokomotive erfaßt ein Kind und erdrückt es. Chaos und Flüche. Aus dem Postwaggon werfen die Leute in ihrem Wahn214
sinn die Pakete. Beamte mit goldbestickten, roten Schleifen, blutunterlaufenen Augen, gehen und schwimmen wie im Traum. Sie schreien. Alle schreien. Sie brüllen. Eine trächtige Hündin schlürft genießerisch aus den Spucknäpfen im Wartesaal. Die Maschinen keuchen, irgendwo bläst die Trompete eines Militärtransports. Der Zug mit den roten Kreuzen rollt ein. Verwundete. Irgendwo mühen sich traurige Ochsen. Gedränge am Zug. Frauen mit Schachteln weinen, Säuglinge fallen in den Staub. Und der Zug ist überfüllt. Er faßt nichts mehr. In den großen Waggon hat sich eine Prozession hineingedrängt, auch ein Gendarm mit Zigeunern ist dabei, die einem Mann aus Syrmien, den der Gendarm begleitet, vorspielen, verweinte Frauen, einige Soldaten mit schwarzen Kisten. Ein Invalider, dem beide Beine fehlen, wird in den Waggon geladen, die Leute klettern noch hinauf und schreien, zahllose Pfeifen schrillen, die Menschen winken, und der Zug bewegt sich, stößt Rauch von sich. Die Räder drehen sich … gleiten, es raucht … fährt … alles fährt … »Mit Gott, Andja! Gott behüte dich!« schreit ein junger Bursche in Uniform und hält noch immer eine junge, gesunde Frau in seinen Armen. Aber er muß sie loslassen – der Zug hat sie auseinandergerissen. – Er kehrt an die Front zurück. Und die Frau schreit – sie kann sich nicht mehr beherrschen – sie läuft neben dem Zug her, sie weint – auch der Mann weint. Die Frau ist gestolpert und fällt hin, über sie fällt ein Soldat, der den Zug erreichen wollte. Er trägt auf seinem Rücken zwei Säcke Mehl, einer davon zerreißt. Er rafft sich zusammen und er215
klimmt noch die Trittbretter – und erst jetzt bemerkt er, was ihm passiert ist. Er hat den Sack Mehl ausgeschüttet. Der Mann ist schon alt und hat eine Glatze, er beginnt bitterlich zu schluchzen. Der Bursche schaut noch immer mit Augen voll Tränen zum Hahnhof zurück, dann wendet er sich, um seinen Schmerz abzuschütteln, seinem Kameraden zu: »Herrgott, was liegt dir so viel an diesem bißchen Mehl?« Der glatzköpfige Soldat: »Mir liegt mehr an dem Mehl als dir an deiner Frau! Siehst du, schon zweimal war ich verwundet, schon zwei Jahre stehe ich draußen und habe nicht geweint. Und jetzt könnte ich vor Kummer umkommen. Mein Herz will mir bersten …« Der andere tröstet ihn: »Herrgott, neues Mehl wird sich schon finden!« Der glatzköpfige Soldat: »Ja, aber ich werde es nicht bekommen! Morgen fahre ich an die Front. Und ich bin nicht von hier. Ich bin aus dem Bergland. Und dort gibt es gar nichts. Meine Frau ist gestorben. Und die vier Kleinen sind allein zurückgeblieben. Ich bin nach Hause gekommen und habe die Kuh verkauft, um ihnen Brot zu beschaffen. Jetzt bin ich hierher gereist. Meinen ganzen Urlaub habe ich verfahren – und jetzt habe ich es ausgestreut.« Der Schmerz überwältigt ihn, und er beginnt schrecklich zu weinen. Der Kondukteur. Ein gutmütiger Mensch. Ein Dickwanst aus Kiskunfelegyháza oder so. Er stößt mit dem Fuß nach den an den Trittbrettern Hängenden: »Marsch, du Aas! Marsch! Wenn du hinunterfällst und zermalmt wirst, bleibt nur ein blutiger Brei von dir! Gott gebe, daß 216
du stürzst und dir den Hals brichst. Aber nicht, während ich verantwortlich bin! Glaubst du, mir liegt an dir? Den Teufel liegt mir an dir! Dann stellen sie mich vor Gericht und bestrafen mich. Weißt du! Die Herren! Oho! Die Herren! Und wie sie mich bestrafen!« Er schiebt die Leute vor sich her in diesen Käfig und schließt sorgfältig die Tür: »Die Karten, bitte!« Zu einem besser gekleideten Strolch: »Die Augen fallen mir zu! Vierzig Stunden habe ich nicht geschlafen. Schon drei Jahre fahre ich ununterbrochen mit diesem Vieh. Das sind keine Menschen. Sie fallen von den Waggons wie Kälber. Erst gestern ist einer zerquetscht worden! Kopf und Füße! Die Frauen haben gekreischt! Heh! Die Karten! Die Karten, bitte!« Er zwängt sich durch, schlägt um sich, schimpft – stößt, schwitzt und schreit. Er übt seinen Dienst aus. »Immer wieder ließ sie ihn, Pfarrer Jocas Fräulein …« stimmen ein paar Betrunkene ausgelassen an, und die Zigeuner spielen auf ihren Fiedeln die feine Melodie von den Pferdekoppeln, der Ebene, den Ziehbrunnen und den Weiden, und von der anderen Seite antwortet der Chor: »Kaiser Karl und Kaiserin Zita, Ihr habt kein Korn, was führt ihr Krieg?« Der Syrmier, gut gelaunt: »Hei, bei Gott, du feiner Patron – spiel mir mein Lieblingslied: Nur ein schönes Mädchen gibt es auf der Welt und ich werde dich mit Fünfern bepflastern!« schreit er und küßt den Primas ab. Der Primas geht auf ein Motiv aus dem Pester Orpheum über, weinerlich und flach. Der Mann aus Syrmien singt, und 217
die übrigen mit ihm: »Ich hab mir meine Pfeife angezündet …« Der reiche Bauernsohn aus Syrmien wirft mit Fünfguldenstücken um sich: »Ha-ha! Ihr sollt sehen, wenn ein großer Herr wie ich einrückt …« Stimmen: »Was für ein feiner Herr bist du, wenn dich Gendarmen eskortieren?« Der Syrmier: »Was, mich eskortieren Gendarmen? Das sind keine Gendarmen, das ist die Staatsmacht, die mit mir einrückt. Warum eskortieren sie mich – das ist eine Dummheit. Ich bin ein bißchen spazieren gegangen, weißt du. Nur so. Ein wenig. Und das darf man nicht. Das darf man nicht, nach dem Reglement. Da hat mich die hohe Macht erwischt. Und letzt geht sie mit mir, damit es schöner ausschaut. Haha! Nicht wahr, Macht?« Er küßt den Gendarmen. Die Zigeuner. Den ganzen Waggon. Zerbricht mit Flaschen die Fensterscheiben. Der Gendarm lacht: »So ist es, Brüderchen! Die Macht! Ehre und Ruhm der Macht! Seht, das ist es: alles ist gut. Alles war gut. Und alles wird gut. Wenn ich dir sage – alles wird gut! Eine Kugel in den Kopf und alles wird gut!« Sie trinken. Die Zigeuner geigen. Sie küssen einander ab. Frauen, die von der Prozession zurückkommen. Sie haben für den Frieden gebetet. Sie haben mit dem Kreuz der Pfarrkirche eine Wallfahrt für den Frieden zu einer benachbarten wunderwirkenden Madonna gemacht. Und sie haben das riesengroße schwere hölzerne Kreuz ihrer Pfarrkirche in den Waggon mitgebracht. Sie tun Buße und beten mit lauter Stimme die Litanei. Die Frauen: 218
»Morgenstern! Turm Davids! Elfenbeinerner Turm! Königin der Sünder! Bitt füruns! Bitt für uns! Bitt für uns!« Dieser Refrain übertönt die Stimmen der Kranken und Unhörbaren, die die Lobpreisung singen und in den verrauchten irrsinnigen Wirbel gefallen sind wie die welken Blütenblätter unsichtbarer kranker Blumen. Viele Menschen im Waggon schließen sich dieser traurigen Klage an, und die verzweifelte Beschwörung höherer Mächte kämpft mit dem trunkenen, betäubten Element. Lautes Wehklagen einer armen Witwe, die sich in Schmerzen windet, dringt durch den Waggon: »O weh, o weh! Nie mehr werden ihn meine Augen schauen! Nie, nie, nie mehr! Was bin ich für eine traurige arme Seele! Was hab ich Gott angetan, daß er mich so quält, so straft? Nur er ist nicht da! Wo ist er, mein Guter, Lieber …« Stimmen: »Was hast du denn, Gevatterin?« Die Witwe: »Da seht, was mir ist! Das ist mir!« Sie zieht eine Telegramm aus dem Busen. Dämonischer Zorn überfällt sie, sie reißt das Telegramm in Fetzen und spuckt aus. »Da … pfui… pfui … das ist mir! Der Mann ist mir gestorben. Auf diesem Papier steht es, daß er gestorben ist. Im Krankenhaus. Und sie rufen mich zum Begräbnis. Und noch vor einer Woche hat er geschrieben, daß es ihm gut geht. Wie einen Fleischfetzen haben sie 219
ihn von der Front ins Spital gebracht und jetzt ist er gestorben, o weh, o weh; wie ein Stück Fleisch haben sie ihn zerhackt.« Sie rauft sich die Haare, zerkratzt sich mit den Fingernägeln das Gesicht. Sie reißt sich die Kleider vom Leib. Ein Anfall. Die Leute trösten sie: »Beruhigen Sie sich doch! Seien Sie vernünftig, Gevatterin! So viele sind doch jetzt gefallen. Es geht nicht anders! Jetzt ist schon so eine Zeit … an fällt …« Die Witwe bäumt sich auf und wehklagt: »Was geh’n mich die andern an? Der Teufel soll die ganze Welt holen, wenn er mir gestorben ist! Wenn er wenigstens zu Hause auf dem Friedhof bei der Kirche begraben wäre! Wenn ich wenigstens wüßte, wo er ist! Damit ich sein Kreuz sehe und es den Kindern zeige. Aber nichts! Gar nichts! Dort irgendwo in der verfluchten Stadt, ich weiß selber nicht, wo – o weh, o weh!« Schluchzen würgt sie. Ihre Trauer wirkt so ansteckend auf die Trauen, daß die Welle des Bußgebets anschwillt … »O Königin der Sünder! Bitt für uns!« All diese Frauen, Mütter und Schwestern, Witwen und Bräute wehklagen im Geist mit der schwarzen Frau. In unzähligen Begräbnissen gehen sie hinter den Särgen, über die das schwarz-gelbe Tuch gebreitet ist, wenn auf schwarzem Samt der Schlegel den Totenmarsch schlägt. Und all diese Frauen geleiten in einem endlosen Begräbnis ihre Toten zu Grabe und beten verzweifelt: »Maria, Königin der Sünder, erbarm’ dich unser! Maria, Königin des Himmels! Bitt für uns! Maria, Sternenkönigin! Bitt für uns! Bitt für uns!« 220
»Zuckerln, Eier, Wein!« Einige häßliche, skrofulöse Frauen mit Körben haben sich in den Waggon gedrängt und machen einen höllischen Lärm: »Eier, Käse, Wein!« Die Männer greifen ihnen an Brüste, Knie, Röcke, sie grinsen und lachen laut. Am verrücktesten lacht eine Frau, deren Gesicht von Pocken zerfressen ist, und die keine Nase hat. »He, Burschen, Wein! Liebe! Käse! Allerlei!« Ein junger, gesunder, betrunkener Lackel zieht sie an sich und umarmt sie. Er lacht. Ein bleicher, eingefallener Mann betrachtet ihn und warnt: »Mach nur, mach! Du wirst genau so draufzahlen wie ich! Ich habe auch meinen Kopf in den Trank gesteckt! Und da siehst du: sie hat mir das ganze Blut versaut!« . Der Lackel: »Warum sollte ich verunglücken? Eine Frau ist eine Frau. Mit oder ohne Nase! Und was liegt daran, wenn ich ins Unglück gerate? Kann ich denn schwerer verunglücken als im Schützengraben? Und dort gibt es keine Frauen, was brauche ich eine Nase ohne Kopf?« Der bleiche Mann: »Wenn du wüßtest, wie das ist, wenn du weder tot noch lebendig bist. Was dann, wenn du keinen Fuß hast? Nichts. Du bist doch gesund. Aber so, mein Lieber! Wenn du unter Menschen dahinschleichst und selber kein Mensch bist! Alles zwickt dich. Das Blut gerinnt dir. Und durchgemacht hast du mehr, als wenn sie dir den Kopf abgeschnitten hätten.« Die Frau fordert ihn heraus. Er stößt sie von sich. »Gehst du, Luder? Wenn ich einen glühenden Haken hätte, würde ich ihn dir in 221
den Bauch stoßen, Ekel!« Er schlägt sie. »Sie brennen dich, schneiden, spritzen, quälen, versengen dich – und doch bleibst du vergiftet, und am Ende erschießen sie dich.« Der Invalide mit der Prothese: »Bei Gott, geschnitten haben sie mich auch. Gebrannt und versengt. Und wie! Und ich habe nicht mit einer Frau geschlafen.« Stimmen: »Wo hast du sie denn verloren, alle beide?« Der Invalide: »Alle beide, bei Gott! In Galizien. Ich bin durch den Wald geritten, als eine Granate daherpfiff, und Schluß!« Stimmen: »Hat es sehr weh getan?« Der Invalide: »Na ja, nicht gerade sehr.« Eine Stimme: »Ich habe so einen Elenden gesehen, der war Rumäne. Er hat geweint wie ein kleines Kind, aber ihm hat man beide Beine an den Hüften abgeschnitten.« Der Invalide: »Auch mir haben sie sie gerade unter der Hüfte abgeschnitten!« Die gleiche Stimme: »Aber dort waren viele von denen. Zwei ganze Reihen in der Baracke. Und alles trocknete unter dem weißen Tüll, damit die Fliegen nicht an .das blutige Fleisch kommen; Wie die Schinken!« Sie lachen und betasten die Prothesen. Der Invalide steht auf und zeigt, wie solide seine Prothesen sind: » Seht, das ist eine feine Sache. Ich habe zu Hause noch ein Paar. Als Reserve.« Die Stimmen: »Und wo hast du sie bekommen?« Der Invalide: »In Rußland. Ich war sowieso gefangen. Ja, ja in Rußland!« 222
Die Stimmen: »Also, in Rußland bist du gewesen? Und Prothesen haben sie dir gegeben? In welcher Stadt war das?« Der Invalide: »Ah, es waren so viele, ich kann mich nicht mehr erinnern, wo ich überall gewesen bin. Zu allerletzt, weiß ich, war es Moskau. Barnavult und dann Moskau.« Die Leute: »Ist Moskau denn eine große Stadt?« Der Invalide: »Groß! Sehr groß! Wir sind im Automobil spazieren gefahren. Es gibt viele Kirchen. Lauter Kirchen. Und eine Tramway. Und irgendein Wasser fließt mitten durch die Stadt …« Die Frauen, wieder mit weinerlicher Stimme: »Maria, Königin der Sünder, bitt für uns!« Betrunkene Soldaten: »Kusch, Weiber! Was greint ihr da, zum Teufel? Wenn ihr gesehen hättet, was wir gesehen haben, würdet ihr keine Dummheiten daherreden! Zigeuner, spielt! Leute, trinken wir! Singen wir, Leute!« Wein und Schnaps werden ausgeschenkt, heisere Kehlen schreien mit unerträglicher Stimme, und das betrunkene Lied zittert durch den verrauchten, erhitzten Waggon. Alle Konturen sind verwischt, man kann nichts mehr unterscheiden. Alles ist eine einzige Masse – formlos, erhitzt, verrückt. Der Veteran weckt den Burschen, der von der jungen Frau träumt, die er zu Hause zurückgelassen hat: »Warum hast du dich wie eine Katze zusammengerollt? Sei ein Mann! Und was, wenn du ins Gras beißt? Es gibt schon Männer, die deine Frau trösten werden!« Der Bursche, apathisch: 223
»Es ist mir schon einerlei. Kommst du auch vom Urlaub?« Der Alte: »Vom Urlaub an die Front. Meine zwei Söhne auch, beide waren schon im Feuer. Aber da, noch einen kleinen Schluck, stärk dich ein bißchen, damit du vergißt …« Sie machen einen herzhaften Schluck und stärken sich, sie betrinken sich, um zu vergessen. Alle trinken, um zu vergessen. Um zu vergessen, daß sie in die öden, gekalkten, grausam leeren Kasernen zurückkehren, wo am Ende des Gangs so traurig die Petroleumlampen brennen. Wo der Himmel immer bewölkt ist, und man den Regen hört, wie er in die Dachrinne tropft; wo in den leeren Höfen die Kessel rauchen, wo Läuse und Wanzen sind, wo Krätze und Geschwüre sind, Schwindsucht, Schweiß und Blut. Alle trinken, um zu vergessen, daß sie in die Gräben zurückkehren, die von Stacheldraht starren, vor denen die dunkle Ungewißheit gähnt, wo Minen und Füße flattern – und Gliedmaßen und Granaten, wo das Blut dampft. Rotes Menschenblut. Aus Angst vor dem Menschenblut saufen die Menschen Schnaps. »Haha, der Böhm! Schau einmal den Böhmen an! Er hat Blutwürste! Ich rieche die Blutwürste, nur weiß ich nicht, wo sie sind – dabei hat sie der Böhm versteckt!« Ein Soldat setzt sich in Bewegung und entreißt einem unscheinbaren, kleinen Männchen die Würste, die es in einem roten Tuch versteckt hat. Das Männchen rauft mit ihm: »Das ist Raub! Ich bringe das meiner Frau vom Markt! Räuber, Verbrecher!« 224
Die Burschen haben ihn jedoch gefaßt, essen sein Brot und die Würste und lachen. »Schaut euch den Böhmen an! Der Böhm hat eine Harmonika, spiel, Pane!« Das Männchen windet sich, vor Wut tritt Schaum auf seine Lippen. Der Syrmier kann kaum mehr auf seinen Füßen stehen: »Was, der Böhm hat eine Harmonika? Du, Böhm, wenn du spielst, bekommst du einen Fünfer, zwei Fünfer!« Alle schreien erregt: »Böhm, drei Fünfer.!« Das Männchen schwankt. Dann nimmt es die Harmonika und spielt: «Nigdy se ne vrati …« Meckernde Musik strömt durch den Waggon. Betrunkene überschreien sie. Die Zigeuner klimpern und winseln auf den Fiedeln, die Bäuerinnen schreien Juhu … und zugleich mit diesem hysterischen Lärm leiern die Witwen und Wallfahrerinnen ihr weinerliches Gebet: »Maria, Königin der Sünder! Bitt für uns!« Flaschen zerschellen an Telegraphenstangen, ein Singen und Fliegen, ein wilder Flug über glitschige, leuchtende Schienen. Der Zug dampft zornig, rast mit einer Masse irrsinnig gewordener, betrunkener, wilder, sterbender Leute über Äcker und Hügel und hinterläßt riesige Schwaden dichten, schwarzen Rauchs. Weiter hinten sitzen in einem grauen Güterwagen mit der Aufschrift: ›36 ember (Mann), 6 PS (Pferde)‹ auf schwarzen Kisten die Eisenbahner. Der Dienst hat ihnen den letzten Rest des Verstandes ausgesaugt. Mit ihren roten Fahnen und ausgelöschten Laternen haben sie sich halbtot in diesen grauen Waggon verkrochen, wo zwischen den schwarzen Särgen und Kisten auch für sie 225
noch so viel Platz ist, daß sie sich ausstrecken und einige Zeit schlafen können. Sie sitzen Im Halbdunkel und reden miteinander. Ein grauhaariger, zahnloser Eisenbahner: »Bei Gott, wir werden alle krepieren wie die Mähren. Der Mensch rakkert und rackert, dann ist es aus. Ich mach’ es nicht mehr lange. Man frißt nichts, schläft monatelang nicht, was ist das für ein verfluchtes Leben?« Der zweite Eisenbahner: »Dazu diese Teuerung. Meine Frau weint ständig. Sag mir einmal, wie soll ich meine acht Rotzlöffel auf einmal anziehen? Ein Paar Schuhe kostet schon achtzig Kronen!« Der Alte: »Und warum stiehlst du nicht die ärarischen?« Der Junge: »Aber ich habe ja schon genommen, was mir zusteht. Alles haben sie schon zerrissen. Das ist furchtbar. Manchmal denkt man, es wäre am besten, wenn man ihnen alle acht Hälse durchschneiden würde, diesen armen Tröpfen. Warum sollen sie sich quälen? Warum den ganzen Tag suchen, wo sie Brotkrumen aufpicken könnten? Habe ich denn Brot?« Der Alte: »Ich wurstle mich noch irgendwie durch. Der Sohn schickt mir Geld. Wenn nur dieser Dienst nicht wäre. Und ich wollte gerade vor dem Krieg in Pension gehen. Aber wie soll man jetzt in Pension gehen? Krepieren könnte man vor. Hunger bei diesen zehn Gulden. Aber so schickt mir der Sohn …« Der Junge: »Ah, das ist aber ein guter Bursche!« Der Alte: »Ein feiner Bursche. Und gescheit. Na ja, ein bißchen sozialistisch. Aber macht nichts.« 226
Der Jüngere: »Und wo fährt er jetzt?« Der Alte: »Wien–Budapest. Schnellzug! 87 Kilometer in der Stunde. Das sind dir herrliche Maschinen. Dein ganzes Herz klopft vor Freude, wenn du siehst, wie das bläst und fliegt, und mein Sohn diese Maschinen fährt!« Seine Augen leuchten. Die Augen dieser schon stumpf gewordenen Schraube, dieser geschlagenen Bestie leuchten. In ihm erwacht der edle Trieb des Herrn, des leuchtenden Menschen, der stets seinen Weg geht – vorwärts. Und dieser alte Eisenbahner wärmt sich in Elend und Hunger an den großen europäischen Gefühlen. So plätschert ihr Gespräch dahin, und der Rhythmus der Räder begleitet es wie eine merkwürdige, teils heitere, dann wieder traurige Melodie, und das Halbdunkel im Waggon und die Schwüle des Maitags schläfern sie ein. Sie sind auf die schwarzen Kisten niedergesunken und träumen. Die schwarzen Kisten zeichnen sich in der Dunkelheit des Waggons gespenstisch ab. Man weiß nicht, ob es Särge oder Kisten sind und wohin sie reisen. Sie müssen schon lange hier sein, ohne daß sich jemand um sie gekümmert hat, denn an ihren Ecken haben sich Spinnweben gebildet. Staub hat sich auf die Etiketten gelegt, man sieht nicht mehr, was für Waren sie enthalten. Und in diesen schwarzen Kisten, in ihrem hundertjährigen Traum sorgsam begraben, liegt die ganze kroatische Tradition. Die Fürsten der Republik Ragusa in kostbaren Ornaten, düstere Könige mit Fahnen, Emblemen, stählernen Helmen, im Panzer, schlummern auf Urkunden wie auf Kopfkissen, Helden, Scholastiker und Phantasten, alle träumen sie mit überkreuzten Händen, wächsern, stumm, 227
in schwarzen Kisten in einem grauen Güterwaggon. In der Kiste, auf der der alte Wächter schnarcht, träumt Seine Majestät der Erhabene Kroatische Genius. Es scheint nur, daß er träumt. Eigentlich wacht er. Er ist so wach wie das strahlende Gefühl vom Bewußtsein aller Lebensformen vom Triglav bis Saloniki, von den Karpaten bis zur Adria. Und der alte Eisenbahner ist, benommen vom Traum, von der Kiste heruntergerollt, als der Zug über eine Brücke gedonnert ist, und Seine Majestät der Kroatische Genius hat sich aus der Kiste erhoben. Vielleicht hat ihn das Gespräch der beiden anämischen Talente vorn im Waggon dritter Klasse veranlaßt, heute wieder aufzuerstehen und über Land zu wandern. Er steht im Waggon. Er sieht nicht heroisch aus. Seine Formen kann man im Halbdunkel des Waggons nicht klar unterscheiden. Er ist ausgehungert, der Kroatische Genius, zerrupft und elend, gebrochen von den schwarzen Stürmen, die über sein Haupt hinweggeweht sind, über diesen mumienartig vertrockneten Kopf, der ihm in den letzten fünfzehnhundert Jahren, als politisch furchtbar gefährlich, viele Male abgehauen worden ist. Sein Körper ist verstümmelt von den Schlägen, die er in schweren Kämpfen erhalten hat, da er sich noch als Pirat in der Adria schlug – im Apennin für die Anjous, an der Drau für die Árpáden, auf dem Balkan und in Mitteleuropa für die Habsburger, auf dem ganzen Globus mit blutigem Schwert. Wie oft hat er in den amerikanischen Bergwerken als Sklave geschmachtet, als Seemann, als Lastträger, als verfluchter Paria – und als Durchlauchtiger über Akten gebrütet. Überall sind Wunden, gestocktes Blut, Er228
niedrigung, Verdammnis. Er ist in Sträflingsgewänder gehüllt. Die trägt er seit jener Zeit, da er in einem politischen Prozeß verurteilt worden ist. Er hat seine Nummer, und in dem groben, grauen Sack sieht er aus wie ein auferstandenes Skelett. Aus seinen Augen aber flammen noch immer glühende Blitze, und im Haar glänzt ein Stern aus Edelsteinen, hell und unerloschen. Und er hört jenes betrunkene Grölen und verrückte Heulen aus dem Waggon, geht ungestört und unsichtbar durch den ganzen Zug bis in den verrauchten, trunkenen, entfesselten Waggon dritter Klasse. Im Waggon weinen die Traurigen, jammern die Kranken, lachen die Betrunkenen, beten die Sünder, im Waggon lebt das Volk. Aber diese ganze Volkssauferei, die Lieder und das Gejammer, die Küsse und Flüche, Hunger und Freude, das alles ist eine gewaltige unbewußte Beschwörung jenes, der da kommen soll. Und der Zug eilt weiter, läßt Häuser, Weingärten, Bäche und Stationen hinter sich, die Menschen schreien, stürzen vorwärts und leben. Der Genius betrachtet sie aufmerksam. Eine mystische Gesellschaft ist in den Waggon gestürmt. Man weiß nicht, sind es Magier, Komödianten oder Seiltänzer. Ist es ein Zirkus oder ist es ein Gottesdienst? Man weiß es nicht. Mit ihnen sind eine Menge Ausrufer gekommen. Gewöhnliche Marktschreier in goldgestickten Diplomatenfräcken, damit es eleganter aussieht. Man weiß nicht einmal, ob es Mitreisende sind, die mit ihrer Komödie auf den Jahrmarkt fahren, oder geflügelte Geister. Die Lieder und die Gebete im Waggon sind verstummt. Die Menschen fürchten sich. 229
Die Ausrufer im Diplomatenfrack im Chor: »Volk, du hast Angst vor falschen Göttern! Aber bei uns, bei uns sind Leute, denen sich unser Volksgott gezeigt hat, ein rot-weiß-blauer Volksgott! Er tanzt bei uns, und zwar nur bei uns! Bei uns hat man das Wunder der Herrschaft entdeckt! – Schau, bewundere und bete an!« Der Zauberer tritt vor, in eine antike Toga gehüllt, und beginnt, sich zu produzieren. Im Handumdrehen hat er mit seinem Zauberstäbchen aus nichts eine ganze Menagerie dressierter Tiere hervorgezaubert. Goldgefiederte Vögel schwirren durch den Waggon, Bären brummen, Kentauren wiehern, unendlich große Zikaden, vor kleine Wagen gespannt, rennen durch den Waggon, und in den Wagen sitzen bunte Dithyramben und klingeln. Die Frauen schreien vor Angst, Nachtigallen schlagen, der Gendarm und der betrunkene Syrmier küssen eine Kentaurierin und machen sie betrunken. »Haha, du Volk! Das ist noch gar nichts! Jetzt folgt die europäische Attraktion!« Schwarzer Klerus tritt im Chor auf und singt in lyrischer Stimmung das Vaterunser. Kleine gelbe Äffinnen spielen auf der Klarinette katholische Gesänge. Diese Vorstellung gefällt den Wallfahrern und Invaliden. Sie singen mit. Der Dompteur der Kreaturen schnalzt mit der Peitsche, die Kleriker singen, die Leute heulen. Ein Mandarin zeichnet stilisierte Sterne wie viereckige Kreuze von Jahrmarktsrosenkränzen, viereckige Blumen, Blätter wie Insekten, mit vielen Beinen, die Kleriker werfen und jonglieren mit Sonetten, der Bär brummt und tanzt, die jungen Bäuerinnen füttern ihn mit Lebkuchen; 230
Wahnsinn. Und die Ausrufer in Diplomatenfräcken schreien immer lauter: »All das, all das ist eine Kleinigkeit. Aber was jetzt folgt, ist der Gipfel aller Sensationen, London, Kongo, Rom, Mekka, Paris, alle sind davor in die Knie gesunken und haben gebetet. Fünf Kontinente haben vor dieser Offenbarung die Weihrauchkessel entzündet. Napoleon der Große hat sich im Grab umgedrehtHosiannah! Hosiannah!« Ein verwegener Mann in rotem Talar ist vorgetreten. Er stößt einen Hajdukenpfiff aus, einen gespenstischen, furchtbaren Pfiff. Alle Leute im Waggon haben sich zurückgezogen. Pause. Noch ein Pfiff. Aus der Ferne ertönt dumpfes Donnerrollen. Auch das Pfeifen des Mannes in rotem Talar schwillt an, das Donnerrollen kommt näher. Der Pfiff wirbelt wie ein verrücktgewordener Orkan, irgendwo in der Ferne schlagen Blitze ein. Der Himmel ist voller Pfeile, dunkle Wolken ziehen auf, die Sonne ist erloschen. Die Wallfahrerinnen haben Kerzen angezündet, geweihte Kerzen, die Menschen sind bleich und warten. Und in Sturm und Gewitter, in Donner und Blitz, taucht über den Bergen ein riesiges, drohendes schwarzes Gespenst auf. »Das ist das Gespenst von Marko, dem Königssohn!« schreien die Ausrufer in den Diplomatenfräcken. Das mittelalterliche Gespenst wächst ins Unermeßliche. Donner. Dunkelheit. Angst. Das mystische Gespenst bricht Felsen ab und beginnt sie in das Tal zu werfen, durch das der Zug fährt. Der Zug beginnt wie eine erschrockene Schlange zu zischen, die Felsen beginnen zu bersten, sie stürzen herunter. Staubwolken. Das Gespenst wird im231
mer wütender, der Donner rollt, Orkan, Grauen. Und der Mensch im roten Talar pfeift immer heftiger und reizt mit seinem Pfeifen das hünenhafte Gespenst. Ein Felsenregen fällt hinter den Zug, der wie eine verwundete Schlange weiterzischt. »Betet! – Betet!« schreien alle Ausrufer im Diplomatenfrack … »daß er uns verschont und nicht vernichtet! Daß er sich unser erbarmt, der große Königssohn Marko!« Der ganze Waggon fällt dem Mann im roten Talar zu Füßen. Die Leute zünden für ihn Kerzen an, küssen den Saum seines Kleids, sie beten und wehklagen: »Du bist der Prophet, du bist Gott, du bist der Heilige Geist persönlich! Erbarme dich, verschone uns!« Der Mann im roten Talar pfeift immer lauter, das Gespenst ist verschwunden, ist in Rauch aufgegangen, irgendwoher ist die Sonne durchgedrungen und taucht den Waggon in Gold. Die Menschen liegen niedergemäht am Boden, Todesschweiß hat sie bedeckt. Sie zucken und erwachen. Und die grau vermummten Zweifler, die wie Heuschrecken in den Waggon gefallen sind, schreien: »O Volk, wie bist du leichtgläubig! Das sind Komödianten, die reisen auf den Jahrmärkten umher! Und du blutest, du rackerst dich ab, du stirbst! Dich müßten sie anbeten, vor dir müßten sie in die Knie sinken! Und nicht du vor ihnen, Volk, erwache!« Der Frontsoldat: »So ist es. Sie haben recht. Wir verbluten, wer gibt uns etwas dafür? Solche Dummheiten! Werfen wir sie hinaus, hinaus!« Die maskierten Zweifler: »Hinaus mit ihnen, hinaus 232
mit ihnen, wir wollen sie nicht! O heiliges Volk, du Märtyrer! Warum fährst du dritter Klasse? Und warum fährst du überhaupt? Halte den Zug an, dreh ihn um, damit er dich führt, wohin du willst! Aber nicht, wohin sie wollen. Zieh ihn von den Schienen, er soll dich ins Glück führen! Was quälst du dich ab und leidest?« Der Frontsoldat: »Natürlich! Warum sollen wir an die Front fahren? Es hat keinen Sinn! Man muß den Zug anhalten!« Die maskierten Zweifler: »Man kann den Zug nur anhalten, wenn von euch so viele zwischen die Schienen springen, daß sich die Achsen verbiegen. Spring vom Zug, Volk! Oder wirf die Komödianten hinunter!« Einige springen vom Zug und bringen sich um. Der Zug dampft nur zornig, pfeift und rast weiter. Er hat einige Köpfe zerschmettert. Eine Bagatelle. Die anderen stürzen sich in grimmigem Zorn auf die Komödianten und wollen sie aus dem Zug werfen. Ein blutiger Kampf entsteht. Die Wallfahrerinnen schlagen mit ihren riesigen Kreuzen um sich, die Frontsoldaten schießen aus Gewehren und Pistolen, die Fensterscheiben klirren, der Zug pfeift, alles ist ein einziger Wirbel, die vermummten Zweifler lachen. Der Genius ist bleich aufgestanden und schaut. Zerschlagen, verwundet, voll Kummer, gequält, hungrig, durchbohrt, zerschnitten, bespuckt, verachtet, im Straflingsgewand, steht er wie eine Säule im Gefecht, und ein Stern leuchtet über seinem Haupt. Er sieht Legionen toter Soldaten marschieren und schreien. Die Gräber haben sich geöffnet, die Toten sind auferstanden, die Glocken läuten zum Requiem, unend233
lich viele Trauerkondukte ziehen im Regen vorbei, und Frauen weinen. Geschmückte Heerscharen jauchzen und stürzen sich in den Kampf, Verwundete stöhnen, Städte brennen, ein furchtbarer Kanonendonner hallt über die Erde. Prozessionen wehklagen und beten, Kerzen werden angezündet, Menschen reisen, man jagt sie über die Schienen, sie schreien, Fahnen wehen, Kanonen dröhnen, Blut wird vergossen. Und im blutigen Fieber schlägt der Puls des Volks. Das Volk ist krank. Das Blut rollt gewaltig, irrsinnig durch seine roten Adern, das Herz will bersten. Das rote Herz des Volks! Es brennt im Fieber, flammt lichterloh – und ertrinkt in der Flamme der brennenden Krankheit. »Wo ist das sonnenhafte Heil? Wo ist die blaue Morgendämmerung, da ich von den Klippen über dem Meer das erstemal den Süden erblickt habe? Oh, wo ist jene blaue Morgendämmerung? Als ich ein gesundes, mutiges Geschlecht in dieses ruhmreiche Land gebracht habe? Als die weißen Priester die Hymne an die Sonne gesungen haben, als das Volk unter den Linden dem Sonnengott gehuldigt hat. Wo ist jene blaue Morgendämmerung? Sie wurde in diesem Waggon erdrosselt, wo Menschen sterben, Sterbende fressen, leiden und sich abquälen. Werden sie die Sonne erreichen? – Zur Sonne! Zur Sonne!« Dieser gigantische Elan hat den Genius an die Maschine gestoßen. Er hat den Zugführer unter die Räder geworfen, selbst die Kurbel, die Sperrketten und die Hähne ergriffen. Als ob der Blitz durch den Zug gefahren wäre, erschauern die Leute und hören auf, sich zu schlagen. Der Rhythmus wird heißer, das Tempo immer schneller. Die 234
Achsen brennen vor Hitze, die Telegraphenstangen sind zu einer schwarzen Masse zusammengeschmolzen. Der Zug gleitet nicht mehr, eilt nicht mehr, rast nicht mehr, er fliegt. Dörfer, Berge, Flüsse, Wiesen, Äcker, alles wird zu einem einzigen Blinden Fleck, über den ein schwarzes, rasendes Tier fliegt, uns dessen Nüstern feurige rote Dampfstrahlen sprühen. Die Menschen merken, daß der Zug der Magyarischen Staatsbahnen immer schneller wird, und schreien. Das Untier wirft alles um. Die Waggons, die Tender, Eisen und Ketten, alles heult gespenstisch, die Strecke hinter dem Zug bleibt als verwüsteter, durchpflügter, dunkler, flammender Strich zurück. Im Eingeweide dieser schwarzen Bestie beginnen sich die Menschen an die Brust zu schlagen, zu beten, zu fluchen und aus dem Zug zu springen. Manchmal weht eine flammende Wolke aus der Maschine herein, vermengt Haare, blendet die Augen und verbrennt alles. Und der Zug fliegt – und schlägt wie ein flammender Blitz in eine kleine Station ein. Beamte sind hinausgeeilt, ringen die Hände, schauen zum Horizont, wo Wälder brennen und der Zug verschwunden ist. Morsezeichen ticken entlang der ganzen Sirecke. »Zug Nr.5309 ist irrsinnig geworden. Haltet ihn auf!« Irgendwo weiter vorne hat sich das Gespenst der Magyarischen Staatsbahnen auf einer Station in einen anderen, mit Benzin beladenen Zug gebohrt, hat ihn zermalmt und einen Großbrand hervorgerufen. Die Magazine brennen. Der Zug hat die Station zerstört und rast weiter. Draußen auf der Strecke stößt er mit einem Transportzug zusammen. Er wirft ihn um, vernichtet ihn, 235
Hunderte von Toten rollen den Damm hinunter, er rast weiter wie ein feuriges Geschoß, wie ein Blitz, wie das Licht. »Zur Sonne! Zur Sonne!« Der Genius jauchzt und spielt auf der Klaviatur der Sperrketten und Hähne ein Fortissimo der phantastischen Geschwindigkeit. Er rollt nicht mehr auf den Schienen, er schlängelt sich über Felder und Äcker, verwüstet Dörfer, entzündet Feuer, und alles brennt. In den Städten wehen die Fahnen, Spitäler stürzen ein, Gräber öffnen sich, die Toten singen Psalmen, und der Zug rast über sie hinweg, zertrümmert und zerstört. Rasend geworden, bohrt er sich in Glockentürme, Gebäude, Bauten, wirft sie nieder, zermalmt sie und hinterläßt eine rote Spur von Flammen und Blut. Wie ein Erdbeben stürzt er auf die Länder, er rüttelt und vernichtet Kathedralen, Theater, Akademien, Kasernen, Paläste, Schlösser, Redaktionen, Ateliers, Büros, Kirchen, Parlamente, Lügen, luxuriöse kroatische Lügen – das ist kein Zug mehr, das ist ein leuchtender, flammender Komet, der mit seinem purpurn leuchtenden Schweif alles, was er erreicht, anzündet und vernichtet. Das ist der Dorn, das ist die Feuersbrunst, das ist der jubelnde Schrei nach der Sonne.
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die ganz gewöhnliche und traurige geschichte der hochzeit, der ehe und der scheidung des obergespans klanfar
H
err Doktor Joseph Klanfar, Königlich Öffentlicher Notar für den elften Bezirk, hielt um die Hand der jüngsten Tochter Seiner Exzellenz des Herrn Doktor B.Szlougan, eines magyarophilen Politikers und Königlichen Hofrates, an. Das war, in der dritten Phase seiner Karriere, einer der bedeutendsten Siege unseres sehr sympathischen Helden, der als Sohn des Ziegelbrenners Barthel Klanfar zum Provinzadvokaten avancierte, dann Königlich öffentlicher Notar und schließlich Bräutigam der als Tänzerin und Tennisspielerin in der Gesellschaft bekannten Melitta von Szlougan wurde, einer charmanten und nobel erzogenen Dame. Wer seinerzeit gesehen hätte, wie unser Herr Doktor Klanfar – bereits im fünften Jahrzehnt seines Lebens – im abgewetzten Stadtpelz, mit einer Rechtsanwaltstasche unter dem Arm, mit Plattfüßen und goldenem Gebiß ohne Ergebnis und Erfolg durch unsere schmutzigen Straßen watete, hätte gewiß zu klagen begonnen – nicht über das Schicksal unseres lieben Herrn Doktor, sondern über den unglaublich dornigen und traurigen Verlauf der Dinge in unserem Land. Auf diese Art und Weise irrte also unser Doktor Klanfar von einem Klienten zum anderen, klagte alle möglichen Altweiber-Tratschgeschichten ein, versuchte zweifelhafte Bagatellschulden einzutreiben, ver237
faßte auf Grund anonymer Briefe zwielichtiger grauer Gestalten Anklageschriften, flüsterte in den halbdunklen Gängen des Königlichen Kreisgerichtshofes mit armen Leuten, intervenierte beim Wohnungsamt, antichambrierte in den Vorzimmern verschiedener angesehener Personen und lebte so, leer und sinnlos von Jahr zu Jahr, leerer und immer leerer von Tag zu Tag, wie ein Wandkalender, von dem man jeden Morgen ein Blatt abreißt. So wandelte unser Herr Doktor langsam und gelangweilt zwischen seinem möblierten Zimmer, wo alles nach Rauch und Urin roch, daß man meinen konnte, in einem drittrangigen Hotel zu sein, und seiner Rechtsanwaltskanzlei mit einem amerikanischen Schreibtisch und dem goldumrahmten, mit Wachs gesiegelten Doktordiplom hin und her. Er wohnte am untersten Ende einer langweiligen Straße zweistockhoher Häuser, ohne Geschäftsläden und ohne Alleebäume, und mußte am Sonntag den ganzen lieben Nachmittag lang zuhören, wie jemand im zweiten Stock des Hauses Grieg klimperte, um sich dann völlig nikotinverseucht, mit chronischem Rachenkatarrh und geröteten Augen in seine Kanzlei zu begeben, wo er das Material für den kommenden Tag vorbereitete, Zigaretten aus bosnisch-herzegowinischem Tabak drehte und sein goldumrahmtes Doktordiplom betrachtete, auf dem in zehn Zentimeter großen Antiqua-Versalbuchstaben geschrieben stand, daß Herr Doktor Klanfar, Sohn des Ziegelbrenners Barthel, in den bürgerlichen Adelsstand erhoben und aus einem namenlosen Plebejer in unserem höchsten Wissenschaftlichen Institut des Kaisers und Königs Franz Joseph I., in dem unsere Herren Hermaphro238
diten mit Fistelstimmen schwere und erstklassige Weisheit als Kurzware verkauften, zum Doktor der Rechte fabriziert wurde – in dieser Königlichen Kurzwarenhandlung des Rechtes, des Kultes und der Weisheit. So im Stadtpelz herumzuschlendern, zwei auf Raten gekaufte Anzüge zu tragen, nicht ganz anständig rasiert und nur scheinbar lebend zu sein, während man eigentlich irgendwo in seinem Inneren völlig tot ist, als Rückhalt irgendein Sparkassenbuch mit dreißig-, vierzigtausend Dinar zu besitzen und das als einzig Positives in unserem ganzen kleinbürgerlichen Dreck zu empfinden (also all das bäuerliche, klanfarische in uns: der Wunsch, ein eigenes Dach über dem Kopf zu haben, alles andere soll der Teufel holen), herumzuirren in diesen unmöglichen, leeren und verdreckten Straßen, an die vierzig Zigaretten täglich zu drehen und an seinen Fingernägeln zu kauen – mit einem Wort: als ein Herr Doktor Klanfar zu vegetieren, das ist eben die jämmerliche Daseinsform unserer Intelligenz, das ist das elende Hundeleben des zur Lateiner-Würde promovierten hungrigen Bauernfleisches in einer lügnerischen und sinnlosen Zivilisation, wie es die unsrige in den letzten drei, vier Jahrhunderten des Klanfarismus war. So brachen sie hervor aus dunklen Wäldern (in denen bis vor kurzem, bis magyarische Ingenieure Tunnels bohrten und Eisenbahnschienen verlegten, die Bären eine Alltäglichkeit waren) – aus schweren und primitiven Lebensverhältnissen, aus Weiten, in denen Thymian duftete und Kuhglocken läuteten –, so zogen kleine Klanfars in unsere Provinzstädte, wo sie den Mühlen 239
der europäischen Zivilisation geopfert wurden. Diese Geschöpfe aus dem Halbdunkel kamen an und wurden in einem ungesunden Schüttelfrost zu »Intelligenzlern« ausgebildet, um sich dann im Laufe de ersten und zweiten Jahrzehnts in traurige und armselige Ge stalten aufzulösen. Da, sehen Sie sich unseren Herrn Doktor an, der schleppend aus der Schenke ins Kaffeehaus geht und lebt, wie etwa zweitausend unserer Intellektuellen leben: Er würgt eine Kalbsstelze mit Salat und Palatschinken hinunter, schlürft schwarzen Kaffee, verklagt in dumpfen Zimmern alte Weiber und trägt einen Stadtpelz. Die Palatschinken; das zähe Kalbfleisch, der Stadtpelz – das sollte jenes hohe, glänzende, positive Herrschaftsleben sein, ist aber unser vielgepriesenes, epikureisches und klanfarisches Lebensprinzip: es zählt einzig und allein nur, was du in dich stopfen und auf dich hängen kannst – alles andere ist blauer Dunst. Der Stadtpelz auf Raten und das Kalbfleisch im schmutzigen Gasthaus sind die Erfüllung dieser tiefgründigen klanfarischen Weisheit, und für diesen Stadtpelz sind die Klanfars zwölf Jahre hindurch Vorzugsschüler, büffeln die Klanfars zwölf Jahre lang verzweifelt die unregelmäßigen griechischen Verben und Pandekten, verabscheuen die Klanfars krampfhaft jede Idee, jeden Ausweg, jede scheinbar gefährliche und politisch verdächtige Windmühle – nur, um in einem Stadtpelz aus der Sintflut ihrer Armut und Unordnung hinausschwimmen zu können, denn etwas anderes als Armut und Unordnung gibt es bei uns nicht. Aus dem Wald zu kommen, in dem Bären und Wölfe, Schwindsucht und 240
Schnaps hausen und das Leben schwer wie Blei ist, vom ersten Vorzugszeugnis an im Gymnasium der Klosterbrüder (wo man im Klosterkonvikt bei Kraut und Brot herumleidet) keine Kindheit mehr zu haben, stets den Druck auf sich zu spüren: wenn du kein Vorzugsschüler bist, fliegst du aus dem Konvikt; fortwährend zu büffeln, sich immer um jeden Preis vorzudrängen, nie satt und beruhigt, sondern stets in Angst zu sein, das Vorzugszeugnis und das Stipendium zu verlieren – da wandelt man sich eben mit dieser ewigen Angst im Leib, ohne irgendein Lichtzeichen, ohne Begeisterung, in eine Vogelscheuche, bleibt endgültig ein Vorzugsschüler und ein Stipendiat, kauft sich einen Stadtpelz, schluckt Kalbsbraten mit Palatschinken und erreicht damit alles, was bei uns zu erreichen ist. Joseph Klanfar studierte Rechtswissenschaft, als gerade talentlose Wiener Studenten bei uns in den Kaffeehäusern Unsinn schwatzten und nach dem Schema antiklerikaler Kulturkampfbewegungen auf Kroatien der »überirdische und schreckenerregende Schatten der Jesuiten« niederging. Zwei, drei Westler, Trinkkumpane unserer Kneipen, ließen sich von gewissen Fremdwörtern bluffen – von »Dekadenz« oder »L’art pour l’art« – und Joseph Klanfar durchzechte manchmal zwei, drei Nächte mit irgendeinem von diesen Dekadenten und Lartpourlartisten, aber dieses ganze Geschwätz blieb für ihn auch weiterhin unklar und trüb. »L’autonomie absolue de l’art«, die Moderne, die Sezession, die Erotik, die Freiheit, das Kroatentum, der Liberalismus, der Antiklerikalismus – das alles erschien seinem klanfarischen Gehirn 241
nur als Schutthaufen irgendwelcher Begriffe und bot insgesamt nichts, an das man hätte glauben können. Viel zu unfähig, um von einer dieser papierenen Konstruktionen in Bewegung oder Begeisterung versetzt zu werden, und völlig ohne innere Kraft lebte Joseph Klanfar in der Überzeugung, für ihn wäre das alles samt und sonders durchsichtig, als beobachte er es hinter den Kulissen. Er, Klanfar, weiß genau, wie eitel, wie sinnlos das alles ist! Er zahlte ja einem solchen Dekadenten und Westler einen Liter Wein! Mit derlei Phrasen ließ er sich nicht an der Nase herumführen! Danach wurde unser Klanfar vierter Konzipist beim berühmten Rechtsanwalt und politischen Drahtzieher Doktor Szmerdelszky und begann, sein Leben bei Hinterlassenschaftsverhandlungen, in Gerichtssälen und in Registraturen weiterzuführen. Gerichtsverhandlungen höhlen langsam alle überflüssigen Illusionen aus, und so wetzte sich auch Doktor Klanfar in Gerichtssälen ab wie ein verschlissener alter Rock. Immer und ewig Archive, immer kleine Trinkgelder an Amtsdiener, damit sie die Aktennummer bekanntgeben, immer die Logik strapazieren, um eine falsche These zu verteidigen, immer und überall unaufrichtige und verschmitzte Gesichter, so daß man unwillkürlich gegen alles, was gut und positiv sein sollte, mißtrauisch wird. Dieses eintönige und inhaltslose Leben steigerte alle seine negativen, mißtrauischen klanfarischen Instinkte noch mehr, und so entwickelte und formte sich seine Persönlichkeit zu dem, was solche Personen bei uns sind: zu einer egoistischen, kleinlichen, blöden, unaufrichtigen und völlig leergebrannten Figur. 242
Diese klanfarische Figur reiste im Jahr Vierzehn als Kadettaspirant nach Galizien ab und kehrte im Jahr Siebzehn als Leutnant zurück, zweimal verwundet und mit dem Signum Laudis und der Großen Goldenen Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. Sein Chef, Dr. Szmerdelszky, vermittelte diesem zweimal verwundeten und tapferen Reserveoffizier die Berechtigung für eine Anwaltspraxis, und damit begann die Karriere des Doktor Joseph Klanfar, die ihn bis zum Stadtpelz, Goldplomben und dem langsam, aber ständig anwachsenden Sparkassenbuch aufwertete. So wanderte also unser Herr Doktor von einem Klienten zum anderen, verklagte alte Weiber und trieb Schulden ein und würde bis zu seinem Tod alte Weiber verklagt und Schulden eingetrieben haben, wenn ihn nicht eines Tages sein früherer Chef und Wohltäter, Dr. Szmerdelszky, auf der Straße angehalten und gefragt hätte, ob er nicht Obergespan werden wolle. »Wie bitte?« »Wollen Sie Obergespan werden?« »Bitte sehr – ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor!« »Die Sache ist ganz einfach, Klanfar: es handelt sich um die Parzellierung eines Großgrundbesitzes von 7000 Hektar. Der Obergespan muß unsere Vertrauensperson sein. Kommen Sie mit mir, damit ich Ihnen die ganze Angelegenheit erkläre …« Dann klärte der ehemalige Chef unseren Helden auf, worauf es ankäme, und so wurde Klanfar Obergespan, so parzellierten sie die 7000 Hektar, so kaufte er ein dreistöckiges Haus im Zentrum der Stadt, so wurde er Öffent243
licher Notar und so hielt er um das edle Fräulein Melitta Szlougan an, die Tochter des Hofrats Benjamin Szlougan. Aus dem Klanfarismus stieg er zum Szlouganismus auf. Vom Sohn eines Ziegelbrenners brachte er es zum Adeligen, zu einem Kammerdiener, zu zwei Stubenmädchen, zu einem Chippendale-Speisezimmer – mit einem Wort: zum Mitglied der Agramer Elite. Durch die Dämmerung, wenn der Himmel in einem herbstlichen, bleichschimmernden Opal verlischt und die Gaslaternen im ersten grünlichen Schein blinzeln, durch diese Dämmerung trippelt gebeugt der Exponent der kroatischen magyarophilen Politik, seine Exzellenz Benjamin Edler von Szlougan. Schwere Gewitterwolken beginnen sich über der Stadt zu ballen, und der Herbstwind meldet sich laut an Firmenschildern und klopft an Blechtafeln, während sich Benjamin Szlougan, dieser alte Fuchs, der als junger kroatischer Unabhängigkeitskämpfer in die Politik eintrat und – am Anfang – hasardierte, sich jedoch später von Budapest kaufen ließ, auf dem Heimweg vom Kaffeehaus befindet. Gebeugt, in einem ziemlich abgewetzten Überzieher, grün und gelb im Gesicht, still, gichtig, kehrte er durch den Trubel der Straße nach Hause zurück. In seinem Kopf schleppt er heute abend einen einzigen Gedanken: morgen um zehn Uhr vormittags wird sich seine Tochter Melitta mit Doktor Klanfar vermählen. Neben dem stets gegenwärtigen Gedanken an sein Magengeschwür trägt Seine Exzellenz, Herr Szlougan, heute abend auch den Gedanken an die morgige Hochzeit mit sich und fühlt sich so elend, als würde er schon den gan244
zen Tag lang ein letztes inneres Gespräch vor dem Tod führen. Affirmierte er sich denn eigentlich im Leben? – Nein, er gab seinen Calvinismus auf, trat zu den Katholiken über, bekam sogar einen hohen päpstlichen Orden, hielt Reden und agitierte, schrieb gegen seine bessere Überzeugung politische Schweinereien – und das Resultat war Null. Das Resultat ist, daß seine Tochter, sein Liebling, der einzige Lichtblick in seinem.Alter, daß seine Melitta irgendeinen Klanfar heiratet, den Sohn eines Ziegelbrenners. Woher kam dieser Mensch eigentlich, wer verschaffte ihm das Patent eines Öffentlichen Notars? Wie kam er zu seinem dreistöckigen Haus? Ein Seufzer. Tiefste Resignation. Er politisierte dreißig Jahre lang,verstand aber nie,etwas herauszupolitisieren. Das einzige Ergebnis seiner langjährigen Spekulationen, den Weingarten in Bukovec, mußte er Neunzehnhunderteinundzwanzig verkaufen, ebenso seine Villa in Voloska. In die Spiralen seiner traurigen Gedanken verbohrt, mit dem Kopf wackelnd und tief gebeugt, geht die alte Exzellenz nach Hause und spürt dabei, wie irgendwo tief unten in den Gedärmen das Geschwür wie Salzsäure brennt und beißt, ununterbrochen und ohne Ende. Noch nie kam Exzellenz Szlougan sein Leben so nutzlos verstrichen vor wie an diesem Abend. Noch nie schien ihm alles so hoffnungslos und finster wie an diesem Abend. Die Bananen sind eingetroffen – um ihn herum lachen junge, weißgekleidete Mädchen einer ihm unverständlichen und fremden Shimmy-Zivilisation, aber ein 245
Geschwür zerstört seinen Organismus und seine Melitta vermählt sich mit irgendeinem Doktor Klanfar. Ein schwarzes, zahnloses altes Weiblein mit einem schwarzen Kopftuch – das ist die Klanfarin, das ist die Schwiegermutter seiner Melitta, und dieses Weibsbild war heute so unverschämt, ihm ihre Hand zuerst zu reichen, als hätte er irgendwo mit ihr zusammen Schweine gehütet. Unglaublich impertinent! Aber im Grunde genommen äußerst einfach und sehr traurig. Und von Rechts wegen, wenn man die Dinge so nimmt, wie sie eigentlich sind: Alle seine Zeitgenossen waren Herren, ja, das waren sie, Grandseigneurs im wahrsten Sinn des Wortes, aber Politiker, nein, das waren sie nicht. Die Zukunft steht Schulter an Schulter mit diesen anonymen Klanfars aus den Ziegelbrennereien, deren Mütter keine Zähne haben und mit schwarzen Kopftüchern umhergehen. Das ist die sogenannte Demokratie. Eigentlich: unbegreiflich und blöd! Nie, auch nicht im Traum, hätte er geglaubt, daß er ein so aussichtsloses Alter erleben werde. Und das ist eben das Fatale, daß keiner seiner Altersgenossen sich zu einem reichen und schöpferischen Alter emporzuschwingen vermochte: um das Leben im achten Jahrzehnt aus einer entsprechenden Höhe zu betrachten, von der aus das gesamte Geschehen wie ein Relief plastisch im Raum wirken müßte und man die Zeitprobleme als solche für überwunden halten sollte. Er hatte sich sein Alter ertragreich, erfüllt von Erfolgen und Frohsinn vorgestellt: Da seht her! So handelt man! So beurteilt man! So stirbt man! Aber statt dessen: ertrinkende Gestalten rechts 246
und links. Mist. Niedergestampfter und vergessener Mist. Auch diese Heirat Melittas ist der mistige Gedanke eines Ertrinkenden. Seine Melitta wird Klanfar heißen, und wenn der Kerl will, wird sie ihm obendrein noch kleine Klanfars gebären müssen! Furchtbar! Und während Exzellenz Szlougan sich wegen seines Geschwüres ärgert und ganz in sich versunken vor Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit weint, sinkt die Dunkelheit immer tiefer herab und Finsternis breitet sich aus. Ein schwarzes Pferd neben dem Gehsteig, vor einen Milchwagen gespannt, streckte plötzlich wie ein Cerberus seine blutrote Zunge heraus und erschien seiner Exzellenz wie ein haariger, schwarzer Teufel, während die Säule eines Neubaues mit einer daran gelehnten Leiter aussah wie ein Symbol des Holzes von Golgatha, von dem der Gekreuzigte abgenommen wurde. Das ist das Ende. Consumatum est. Ein Geschwür zerfrißt Seine Exzellenz, die Edeldamen Szlougan verwandeln sich in Klanfarinnen. Eigentlich ekelhaft. Einst ein berühmter und lorbeerbekränzter Komödiant, ein Liebling des gesamten kroatischen Landtages, ein Rhetor, der vor diesem Forum von edlen Vorbildern und den Tugenden der Römer sprach und der in Leitartikeln als »der weiseste Patriot« bezeichnet wurde, geht Exzellenz Szlougan nun völlig unbekannt durch die Straßen, ein altes Männlein, niedergebeugt, ganz fremd in Raum und Zeit, und was noch trauriger ist: ohne irgendeine positive Spur zurückzulassen. Seine austro-magyarophilen Konzeptionen brachen zusammen und seine Enkel sollen Klanfar heißen. 247
Ein Herbstmorgen, sonnig und warm. Menschen unter verwesender Haut, blaß wie unterirdische Pilze, ziehen traurig durch die Straßen und tragen ihre sämtlichen Geheimnisse in sich: verfaulte Backenzähne voll Arsen, zerknitterte Wechselformulare, Schulden und Todesanzeigen. Über und über mit Leukoplast verpickt, verwundbar, müde ziehen die Menschen vorbei, einer nach dem anderen, mit Goldbrücken im Mund, mit Watte in den Ohren, zugeknöpft mit Hirschhornknöpfen, tierisch in noch warmen Tieren abgezogenen Pelzen, wachsen sie im grüngelblichen Widerschein der herbstlichen Allee aus der Tiefe der Straße immer größer empor, verdampfen sie wie Schatten auf der Leinwand, wie Spukgestalten. Ganze Prozessionen solcher behaarter Geschöpfe, mit komischen untermenschlichen Bewegungen, in denen Jahre von Stockschlägen stecken, ziehen vorüber. Die strömende Bewegung der Menschen in den Straßen ist wie eine Art Hoher Reitschule in einem Straßenzirkus, der Weg aus der Steinhöhle, in der die Menschen ihre nahen Verwandten gebraten haben, war weit bis zu den Straßen der heutigen Städte, wo diese sogenannten Zweifüßler nach polizeilichen Verkehrsordnungen und nach dem Takt der Gummiknüppel spazieren und sich selbst zu überzeugen suchen, daß sie keine Menschenfresser mehr seien. Heute tragen die Menschen Melonen aus Stoff auf ihren Köpfen oder Körbchen aus Stroh, grüßen einander höflich, gehen aufrecht und sehr geschickt auf ihren Hinterbeinen vorbei und sind sehr stolz darauf, daß sie keinen Schweif mehr haben und daß ihre Dres248
sur, die sie (man weiß eigentlich nicht, warum) Zivilisation getauft haben, Millionen Jahre alt ist. Die Menschen ziehen wie Komödianten durch die Straßen und spielen ihre billigen Statistenrollen auswendig. Die Menschen tragen in ihren Köpfen bunte Bilder von Rechtsordnung, von Geheimnissen des Himmels, und leiern wie Papageien einander angelernte Dinge vor, aber alles, was sie in ihren Köpfen und in ihren Taschen tragen, hat keinen besonderen Wert. Alte Nickeluhren und Wechselscheine, alte Weltanschauungen, durch die sie die Welt wie durch gesprungene Brillen betrachten – das alles sind Requisiten einer sterilen Vorstellung, mit der sich die Menschen vorgaukeln, daß über ihnen die weiße Taube des heiligen Geistes flattere. Durch die sonnige, herbstliche Allee wandelt so die Exzellenz Edle von Horn, Witwe des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Kamillo von Horn. Die Dame ist ungewöhnlich bleich und trägt ein Samtband um den Hals, in dessen ovalem Anhänger ihr verstorbener Ehegatte Kamillo von Horn – Präsident des Obersten Gerichtshofes – in einem geschweiften, plüschüberzogenen Lehnstuhl sitzt und bei jedem Schritt auf ihre verwelkte Haut klopft. In der Doppelglocke ihres schwarzen Rockes, in bis zu den Knien reichenden Barchentunterhosen, im weißen Unterkleid, das sich beim Gehen wie ein Totentuch bläht, ist diese Dame in ihren hohen, bis zu den Knöcheln reichenden, runzligen Chevreau-Schnürschuhen, mit ihrem altmodischen Samtkäppchen und ihrem massiven schwarzen Spazierstock das Bild eines vergan249
genen Zeitalters, das aus dem Grab stieg und an diesem milden, ffühherbstlichen Morgen spazierengeht. Hoch über ihr, über der Platanenallee und über den Straßen der Stadt, surrt eine Rotte von Aeroplanen, um sie herum lärmen die siebzig Pferdestärken amerikanischer Autos (siegreiche Technik, kaufen Sie Palma-Gummisohlen, lesen Sie Sorel, Einstein, Apollinaire …), aber sie, die Edle Kornelia von Horn, wandelt hier wie ihr eigenes Monument. Jetzt kommt ihr ein würdiger Herr entgegen, im grauen Anzug mit weißer Weste und einer Brillantnadel, mit einer schweren Goldkette und mit noch kaum schlotternden Knien, und grüßt die Exzellenz Kornelia durch tiefes, zeremonielles Ziehen seines grauen Halbzylinders: Küß die Hand, Exzellenz! Es war ein höchst angesehener Herr, Daniel Staromoravečki, Edler ó-Moraveczi, mit dreiundneunzig Herzschlägen in einer Minute, jeder siebente Herzschlag unregelmäßig, mit geringer Sklerose, Blähungen, sonst aber noch ganz intakt. Für Seine Exzellenz, den Herrn Staromoravečki-ó-Moraveczi, war das Leben ein altmodisches Ölgemälde, eine sonnige Platanenallee, in der alte Herren im Ruhestand über verschiedene erfolglose Operationen reden und darüber, daß die Mediziner nichts verstehen, über die Narkose und über den Stuhlgang und über eine Schnepfenjagd im Jahre Dreiundneunzig, – eine Allee, in der die Frauen der Exzellenzen vorbeispazieren und die Herren einander komplimentieren, alles wohlwollend, alles wohlerzogen, alles aus der Distanz des eigenen Ansehens und der eigenen Würde. Derartig blieben die beiden Exzellenzen stehen und derartig begannen sie ein Gespräch, derartig 250
wandelten sie durch die Allee wie zwei Puppen aus einem altertümlichen Panoptikum. »Also, lieber Morawecz, was sagen Sie zu der Szlougan?« »Was könnt’ man denn sagen, Exzellenz, heute ist ja sowieso alles auf den Kopf g’stellt! Eigentlich, wenn man’s richtig nimmt, ist dieser Klanfar eine ganz gute Partie!« »Aber er ist beinah ein Fünfziger!« »Na, na, auch Melitta war nicht erst gestern bei der Konfirmation. Wenn ich mich recht erinnere, ist sie Sechsundneunzig geboren! Und dieser Klanfar hat Bargeld und ein eigenes Haus, ein ganzes Palais, und die Einnahmen seiner Kanzlei schätzt man auf achthunderttausend jährlich. Ich sag’s Ihnen, Exzellenz, eine ganz gute Partie!« »Na schön, schön, aber seine Mutter … Man sagt, daß dieses alte Bauernweib mit dem Kopftuch in die Kirche kommen wird! Ich gehe mir das Spektakel anschauen!« »Sehens’, Exzellenz, das ist’s halt, was wir gar nicht verstehen können. Das ist die heutige hochgepriesene Demokratie! Und der Kerl soll angeblich ein ernster Ministerkandidat sein! Sehen Sie, verehrte Frau von Horn, das ist’s, was ich nicht verstehen kann!« »Nein nein, mein Lieber, sowas lasse ich mir nicht entgehen! Dieses Spektakel geh ich mir ansehen! Ich hör’, der alte Szlougan ist ganz desperat! Armer Benjamin! Ich verstehe ihn schon!« Alle kamen, um sich das Spektakel – und als Clou die alte Klanfarin mit dem Kopftuch anzusehen. In den er251
sten Kirchenbänken versammelte sich die Creme der Agramer Gesellschaft, vierschichtig sortiert wie feinste Gerbaud-Pralinen, in Stanniol, in plissiertem Krepp, mit Ananas und mit unverfälschtem Tokayer. Da erschien die Exzellenz Frau Loyen-Grebengradska mit ihren zwei Töchtern Renate und Emilie, in Begleitung des jungen Doktor Dominecz-Ladanjski, dem Adjunkten am Konsularamt in Barcelona und Bräutigam des Fräulein Renate, einer intimen Freundin der Braut Melitta von Szlougan. In einem der Ehrenfauteuils saß an der Seite des Hofrates und Brautvaters, Seiner Exzellenz Herrn Benjamin Szlougan, der Ehrenkonsul einer südamerikanischen Republik, Exzellenz und Hofrat Isidor Fabian, Großindustrieller und Bankier, als Trauzeuge der Braut, und neben ihm die Balzacsche Figur des Hochstaplers Doktor Szmerdelszky, von dem die ganze Stadt wußte, daß er ein Lügner, ein Betrüger und ein Makler in dunklen Geschäften war, aber dessen benevolentes Klopfen auf jemandes Schultern noch immer als eine außerordentliche Auszeichnung hingenommen wurde. Seine Gattin, Antonia Szmerdelszky, geborene Merlin, in einem mit Goldbrokat herausgeputzten Kreppkleid und einem wertvollen neunfachen Perlenkollier, in Begleitung ihrer intimen Freundin Dolores, der Gattin des Präsidialrates Ritter von Gnyday, war als Zeugin dieser Hochzeit und als eine ob ihres erkenntlichen Wohlwollens berühmte Dame »herrlich wie eine Ikone« vom Schicksal hier aufgepflanzt, um diesen Kreis »gepflegten Geschmacks und erlesener Kultur« zu verschönern und zu veredeln. Da war auch Doktor Keresztess Krišavec mit seiner Freundin 252
Baronin Lenbach, da waren die Edlen von Urban, die Ritter Kmetsky und, last not least, Madame Baehrenreither, die Gattin des Chefs der Bank ›Baehrenreither Brothers Ltd.‹, in Begleitung ihrer Gesellschaftsdame, des edlen Fräuleins von Wagner. Die Kirche war mit Leuten vollgestopft, und alle diese angefaulten Rübengesichter, alle diese Stumpfnasen und verschwitzten Masken, alle diese schönen Damen, aufgedonnert wie Puppen in Schaufenstern, alle diese angestrichenen Weibsbilder, alle Gebisse und Mäuler, alle diese Schädel, im Kirchenschiff eng aneinander geschlichtet, diese Augengläser und zerknüllten Strümpfe, die eingedrückten Schuhe und falschen Perlen, falschen Zähne und falschen Stimmen und die Kunstblumen sahen unglaublich aus. Während des Gottesdienstes herrschte zeitweise Stille, und dann hatte Fräulein Melitta, die Braut, das Gefühl, als würden die vielen Töne, die an diesem Morgen rund um sie schwirrten, zu leuchtenden Silberkugeln erstarren, geräuschlos, als wären sie zu Eis gefroren. Alle Vögel, die Räder und die Gummihupen und die Glocken, die Springbrunnen und das Klappern der Absätze von Passanten auf dem Asphalt, die Orgel und in der Orgel ein verworrenes Meistersinger-Motiv, der Mesner, der wie ein gebratenes Ferkel dumm vor sich hinstarrte (nur hatte er keinen Apfel im Maul, sondern Brillen aus Stahl vor den Augen) – alles kam Melitta geradezu unglaublich blöd vor. Die Wachskerzen auf dem Altartisch brannten lichterloh wie auf der Szene eines exotischen anamitischen Theaters, und von Zeit zu Zeit konnte man das Klirren 253
der Weihrauchkessel wie das Klirren von Schwertern hören. Der Überwurf auf einem Seitenaltar im linken Kirchenschiff sah grau aus wie Leintücher in einem schäbigen Hotel, und Melitta gewann den Eindruck, daß diese Kirche zweitrangig geführt werde: Es ist teuer und die Bedienung nicht viel wert, und außerdem sind auch die Leintücher nicht gewaschen! Drei Priester lasen die Messe: ein Monsignore und zwei Kapläne. Die Herren speisten, tranken Wein, wischten wie Kellnerinnen die Becher aus, sangen durch die Nase; einer von den dreien war offensichtlich verschnupft, denn er schneuzte sich dauernd, und einen anderen beunruhigte eine dämonische spätherbstliche Fliege, die boshaft immer wieder auf seine Tonsur zurückkehrte. Die Hauptattraktion fehlte. Die alte Klanfarin war nicht in die Kirche gekommen. »Es ist besser, Mama, wenn Sie nicht kommen«, sagte ihr der Sohn, der Obergespan, einige Minuten vor der Abfahrt zur Kirche und stellte sie so vor eine vollendete Tatsache. »Schon gut, mein Sohn, so wie du’s meinst, so ist’s am allerbesten«, verbeugte sich die alte Klanfarin vor ihrem Sohn, dem Obergespan. Und so verschwand sie auch, damit sie keiner von den Hochzeitsgästen zu Gesicht bekäme. Da der alte Szlougan keinen großen Haushalt führte, wurde das Festmahl im Grandhotel serviert, und die Jungvermählten reisten mit dem Nachtexpreß nach Rapallo ab. Aus der Perspektive unseres lieben und über alle Maßen angesehenen Bräutigams blieb das Allerheiligste des 254
auf so feierliche Weise eingesegneten Sakraments der Ehe durch einen Schleier glücklicher Arglosigkeit verdeckt: Er allein in der ganzen Stadt hatte keine, auch nicht die entfernteste Ahnung davon, daß die Auserwählte seines Herzens schon seit Jahren mit ihrem Vetter Oliver die sogenannte »freie Liebe« kultivierte – sozusagen schon seit ihrem ersten Ballabend. Oliver Urban, Melittas Vetter zweiten Grades, ein Meister in allen Kunstkniffen des Snobismus, vor allem aber in Liebeskünsten, die er schon am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Namen des modernen wissenschaftlichen Prinzips der »erotischen Hygiene« den jungen Damen der Agramer Gesellschaft explizierte, »Ritter von« nach einem fiktiven blaublütigen Großvater, wurde als Sohn seines banalrätlichen Vaters und als Absolvent der Wiener Konsularakademie im Hinblick auf eine Karriere im diplomatischen Dienst dem Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten zugeteilt, um bald danach die Rolle eines reinrassigen »Gentilhomme d’Ambassade« zu spielen, da er sieben Sprachen geläufig beherrschte und zu Gesandtschaften ins Ausland reiste, einem Läufer im Schachspiel gleich, aber doch schon ein Virtuose im gefährlichen Spiel auf dem spiegelglatten Parkett der Diplomatie. Ritter Oliver begann seine diplomatische Karriere unter der Obhut des Barons Zwiedinek-Südenhorst, eines persönlichen Freundes seines verstorbenen Vaters, und dieser Herr Baron führte ihn, nach der Liquidierung des Zwangsregimes Goluhovo-Goluhovski, in die Salons der Baronin Watterwyl und des Barons Pirquet de Cesenatico ein, so daß es unserem Oliver gelang, auf einer Tee255
gesellschaft bei der Watterwyl dem Grafen B. die Hand zu drücken, über den man flüsterte, daß er der »zukünftige Mann« am Ballhausplatz sei. Zwischen Neunzehnhundertzehn und Neunzehnhundertvierzehn war Ritter Oliver Sekretär des Envoyé-extraordinaire und Ministreplenipontiaire bei der Regierung Portugals, des Grafen W., und danach Referent beim Charge d’affaires in Saloniki, dann aber Zeremonialattache bei Seiner Exzellenz dem kaiserlich- und königlichen außerordentlichen Botschafter Fürst L., in der feierlichen Suite der russischen kaiserlichen Pilgerfahrt zur Muttergottes von Kasan als Dank für die Genesung des Thronfolgers. Neunzehnhundertvierzehn erwischte ihn der Krieg in Madrid, aber es gelang ihm, als Kurier der Gesandtschaft zum kaiserlichen Hof in hochwichtiger Mission auf einem holländischen Schiff Genua zu erreichen und via Triest nach Wien zu kommen, wo er, eine eintönige Beamtentätigkeit am Minoritenplatz ausübend, bis Ende Oktober des fatalen Jahres Neunzehnhundertachtzehn verblieb. Seit dem Beginn seiner Karriere war es Olivers Ideal, ein véritable Grandseigneur zu werden, also sich in Salons so unauffällig bewegen zu können, daß Gesten zwar zu keiner oberflächlichen Manier ausarten, aber möglichst doch die Gewandtheit der Bewegungen betonen, ganz nach Art und Weise, wie geborene Salonlöwen über das Parkett zu gleiten verstehen, vornehm zu sein, mit jenem laissez aller und savoir vivre von oben herab, diesen beliebten kaiserlich-königlichen, obersteirischen und agramerischen Phrasen, jedoch so, daß dies alles nicht zur Phrase eines alten Salonschauspielers, sondern zum wirk256
lichen Erlebnis voll schöpferischer Kraft wird. Man erzählt sich in Salons Dummheiten über Kleinigkeiten des täglichen Lebens, über einen flachen englischen Sattel oder einen kulinarischen Einfall, über ein unbekanntes Liebesabenteuer – aber so darüber zu reden, daß jedes Wort wie ein Kunstwerk erscheint, war eben das Ideal unseres Ritters, und gerade wegen dieser Kunstfertigkeit konnte er seine bedeutendsten gesellschaftlichen Siege feiern: sein dreimonatiges Verhältnis mit der holländischen Baronin Amanda van der Dussen-Kastergat – in Amsterdam ein öffentliches Geheimnis – und jenes mit der Reichsfürstin L., der Gattin des k. und k. Botschafters, das ein ebensolches Geheimnis in Sankt Petersburg war. Auf seinem Nachttisch lagen von allem Anfang an zwei Bücher: Ch. de Martens Manuel diplomatique de précis de droits et des functions des agents diplomatiques, in Schweinsleder gebunden und mit einem vergoldeten Blechverschluß, sowie Das Gothaische genealogische Taschenbuch der gräflichen Häuser, in dem er jede Nacht blätterte wie ein frommer Kaplan in seinem Brevier. Auf allen seinen Reisen trug Ritter Oliver zwei Bilder mit sich: ein Portrait seines Urgroßvaters, des Ritters der Ehrenlegion, mit einem Windspiel, und die große Radierung Godefroys nach der bekannten Zeichnung Jean Baptiste Isabeys Der Wiener Kongreß. Seit jeher befaßte er sich passioniert mit kulturhistorischen Studien über die Malerei, und mit seinem Essay über das angeblich von Lawrence gemalte Portrait des Lords Castle-Reagh in der Galerie der Gräfin Medika Kinszky, der in den Münchner künstlerischen Monatsheften erschienen war, er257
warb er sich in Kreisen gesellschaftlicher Snobs das solide und beneidenswerte Ansehen eines hochgebildeten Kunstfachmannes. Ihm glückte nämlich der Beweis, daß der angebliche Lawrence der Gräfin Kinszky kein Original, sondern eine Kopie ist, da das Original schon im Jahr Achtzehnhundertzweiundvierzig bei einem Brand im englischen Schloß Sommerset den Flammen zum Opfer gefallen war. So, wie viele seiner Kameraden beim Kartenspiel oder bei Pferderennen Geld verdienen, verschaffte er sich sein »Taschengeld« durch den Verkauf alter Bilder, wobei er im Jahr Neunzehnhundertdreizehn mit seiner Madrider Kollektion ein ganzes kleines Vermögen einhandelte. Als dann im Jahr Neunzehnhundertachtzehn schwere Tage für die kaiserliche Metropole anbrachen, wurde Ritter Oliver brotlos. Er arbeitete als Eintänzer in Bars, als Filmschauspieler, in einem amerikanischen Wohlfahrtsbüro zur Bekämpfung des Hungers und zur Unterbringung kranker Kinder während der Ferien, konnte ohne seine tägliche Dosis Kokain nicht leben, und alles schien darauf hinzuweisen, daß er mit einer Kugel im Kopf enden werde. Diese schwere Krise dauerte zwei Jahre, aber eines Tages (es war im Spätherbst) kaufte er wie im Fieberwahn vor dem Tod für sein letztes Geld eine Fahrkarte und reiste über Budapest nach Belgrad ab, um entweder im serbischen diplomatischen Dienst unterzukommen oder sich zu erschießen. Elend in Belgrad nach dem Elend in Wien. Nur war in Belgrad alles noch viel trauriger. Der Schmutz in den Straßen, die Teerkessel, die Azetylenlampen der Kasta258
nienbrater, die orientalischen Aborte und die Käsefladen in den mazedonischen Garkochereien – alles, alles war traurig. Da saß Ritter Oliver Urban, Legationsrat der kaiserlichen und königlichen Botschaft in Madrid, beim siebenten Glas Schnaps in einer der verdreckten Kneipen an der Save, hörte der Zigeunermusik zu, trank teilnahmslos seinen doppelten Šlivovic und hatte keinen einzigen Gedanken im Kopf. Alles in ihm war völlig leer. Ein Vakuum im Rauch der Zigeunermusik, mit einem einzigen Gedankenschimmer: er, Ritter Oliver Urban, säuft jetzt in einer osteuropäischen Hafenstadt, die der »wichtigste Handelsplatz auf dem Weg zum Nahen und Fernen Osten ist«, und hier, über diesen »wichtigsten Platz«, vielleicht sogar über den Boden dieser Kneipe, marschierten die Kreuzritter nach Konstantinopel! Gottfried von Bouillon zog mit seinen Fahnen und Wappenschilden durch diese Kneipe, auch Prinz Eugen, der edle Ritter, aber jetzt ist alles Nebel und Dreck, Depressionen und Branntwein. Außer dem Finanzministerium, einem ruhigen und hübschen einstöckigen Gebäude, das, von einem Park umgeben, ein Edelsitz sein könnte; außer der Himmelfahrtskirche, die mit ihrer russischen Silhouette Oliver Urban an seine herrlichen Tage in Sankt Petersburg erinnerte; außer den westeuropäischen Vaubanschen Profilen der alten Festungswälle Prinz Eugens war für Oliver alles in dieser Stadt nur Nebel und Depression. Er lernte einige neu ernannte Minister kennen, Kaufleute, Zinzaren und Beamte, sprach über seine Anstellung im diplomatischen Dienst, über seine juristische Ausbildung, seine Spezialkenntnisse im internationalen Han259
delsrecht und seine langjährige Praxis an ausländischen Gesandtschaften, daß er sieben Sprachen beherrsche und ausgezeichnete Diplome habe; und so, über Lügen und Korruptionen daherredend, wartete er Tage um Tage in den Vorzimmern verschiedener einflußreicher Herren – aber ohne Erfolg. Von einer eventuellen Anstellung im diplomatischen Dienst war überhaupt nie die Rede. Hätte er nicht Baron Ungher, seinen alten Freund und Kameraden aus dem Karrieredienst getroffen, der hier an der Gründung einer ›Jugoschwedischen Import und Export A.G.‹ mitwirkte und ihm ein paar Tausender borgte, die ihn vor dem Verhungern retteten, würde er sich erschossen haben, weil er nicht einmal mehr das Geld für Kokain aufbrachte und sich auch die Absicht, auf einer Konstantinopler Luxusschifflinie Steward zu werden, wie alle anderen Pläne ins Nichts auflöste. Er begann mit irgendwelchen Bohemiens zu trinken, die nächtelang über Fragen quatschten, die in den Kaffeehäusern des Westens vor dreißig Jahren aktuell waren, mit Malern, die sich in ihrem Schwachsinn darüber wunderten, daß sie ihre silber-goldenen dekadenten und diffusen Bilder nicht verkaufen konnten: auf einem Tisch Orangen neben einem gelbseidenen, durchsichtigen Florentinerhut mit blauer Schleife. So saß er eines Tages wieder im Kaffeehaus, in Verzweiflung und düsteres Nachdenken versunken, als ihn eine Hand sanft berührte. »Um Gottes willen, Herr von Urban, was machen Sie hier?« Es war die Fürstin L. – im Pelzmantel, jung, gebadet, 260
massiert, geschminkt, schlank. Die Fürstin L., seine Liebe in Madrid und Sankt Petersburg! Und als er ihr dann erklärte, daß er hier wie ein Schiffbrüchiger gestrandet sei und nicht aus und ein wisse, versprach ihm diese sympathische Dame, die wegen der Parzellierung ihres tausendsiebenhundert Hektar großen slawonischen Besitzes hierher gekommen war, an zuständiger Stelle für ihn ein Wort einzulegen. »Vielleicht läßt sich was richten!« Und so wurde das Gesuch Ritter Olivers nach einigen Tagen erledigt. (»Ich hab Ihnen die Sache gerichtet!«), und er reiste, in seinem diplomatischen Rang reaktiviert, nach Wien ab. Mit der Wiederaufnahme seiner Diplomatenlaufbahn begann aber für Oliver Urban die Zeit der Dummheiten und des Unglücks. Er war vom Elend, vom traurigen Dasein und vom Hunger derart erschüttert, daß er aus Angst vor der Armut in Panik geriet. Nachdem es ihm anscheinend glücklich gelungen war, aus dem Chaos auf die positive Grundlage von monatlich hundertzwanzig Dollar hinaufzuschwimmen, wurde Oliver Urban zum Opfer der fixen Idee, um jeden Preis reich werden zu müssen. Er begann Karten zu spielen, verstrickte sich in Spielschulden und wurde außerdem zur Zeit der Inflation als Kurier in eine peinliche Schmuggelaffaire verwikkelt: Es gab zwar keine direkten Beweise, daß er Valuten geschmuggelt hätte, aber dennoch wurde er gezwungen, seinen Abschied zu nehmen. Nach diesem Zusammenbruch kehrte er nach Agram zurück, setzte seine kulturgeschichtlichen Studien fort und schrieb Feuilletons für Zeitungen; so geriet er in den Sog des Redaktionsbetriebes, wurde Journalist und Kunstkritiker. 261
Alles war also mißlungen, den dunklen Gesetzen des biblischen Fluches folgend, die für unseren Planeten gelten, und so fand sich unser als Feuilletonist der Agramer deutschsprachigen Presse spärlich ernährter Ritter wieder im gastfreundlichen Haus seines Onkels, der Exzellenz Vizepräsident des kroatischen Landtages, Benjamin Szlougan, ein; und so bekam ihn der Herr Obergespan Klanfar als Mitgift, als Familienmitglied und Melittas Berater in allen Fragen des Protokolls, des Geschmacks, der Malerei, der Mode, der Lektüre, der Musik und sozusagen auch als Trabanten, der die edle Dame in ihren Krisen, die sich immer drohender am Horizont abzuzeichnen begannen, zu trösten hatte. Vom ersten Tag des Abenteuers ihrer Ehe an war sich Fräulein Melitta Szlougan (als Gattin Klanfars) mehr und mehr darüber im klaren, daß sich ihre Verbindung in ein Todesurteil verwandeln müßte, falls es ihr tatsächlich bestimmt sein sollte, mit ihrem struppigen Partner bis ans Ende dieser anstößigen Heuchlerei – die Dummköpfe aus völlig ungeklärten Gründen zu einem legalisierten Heiligtum erklärten – gemeinsam zu wandeln. Bereits am Beginn ihres Ehepfades, schon in den italienischen Hotels, hatte Klanfar Lust zum Schlafen, wenn sie Lust zum Lesen hatte; und wenn sie Lust zum Schlafen hatte, begann der Herr Gemahl im Augenblick, in dem er seine müden Augen schloß, zu schnarchen, und so ging es weiter, von der Brautnacht an, die im übrigen völlig inhaltslos, geradezu eisig, ertrinkend kalt und fischartig verlief, und in der Klanfar würdevoll schnarchte, als reiste er allein und einsam im leeren Coupe der Vizinalbahn; 262
und als sie dann eines Tages (nach der Rückkehr) wagte, ihm diskret vorzuschlagen, daß es aus vielerlei Gründen doch angebracht wäre, getrennte Schlafzimmer zu haben, überschüttete sie Klanfar mit den weisen Bauernsprüchen seiner Mutter, daß »eine Scheidung vom Bett zur Scheidung vom Tisch führen müsse« und daß die Ehefrau »ihrem Gatten in seinen natürlichen Bedürfnissen beistehen müsse«, weshalb man auch die Ehebetten zusammenzustellen pflege, »um den Mann vor außerehelichen Versuchungen zu schützen, denn nur in einem gesunden Ehekörper lebe auch ein gesunder Ehegeist …« Klanfar liebte es überhaupt, zu den verschiedensten Gelegenheiten immer wieder seine Mutter zu zitieren, vor allem dann, wenn es darum ging, daß die gnädige Frau viel zu viel für ihre Schönheit und für ihre Schneiderinnen ausgab oder wenn davon die Rede war, daß er seiner Gattin erlauben mußte, ein Pferd zu besteigen und, statt des Morgenspazierganges, über taufrische Wiesen auszureiten (wie es auch der Hausarzt ihres verstorbenen Papachens wegen der ersten Anzeichen einer Spondylitis wärmstens empfohlen hatte); und weil die alte Klanfarin in Ohnmacht gefallen wäre, hätte sie ihre Schwiegertochter hoch zu Roß gesehen, wollte dieser Herr überhaupt nichts davon wissen, und so drängte sich das Phantom der zahnlosen Ziegelbrennersfrau, die ihr ganzes Leben lang Brennessel und Futterbrei für ihre Säue gekocht und die verdreckten Stiefel ihres Ziegelbrenners gebürstet hatte, dieser Ehe als höchste Autorität in allen strittigen Fragen auf – und davon gab es von Tag zu Tag immer mehr … 263
Die Tatsache der Spazierritte, die Melitta jeden Morgen in Begleitung ihres Ritters Oliver unternahm, wandelte sich in der plebejischen Perspektive Klanfars in eine eigenartige, mit den guten Sitten unvereinbare Herausforderung, und Melittas Schwäche, auf Seide Rosen zu malen, hauptsächlich Rosen, aber auch Pfirsichblüten, Zigarillos zu rauchen, Whisky zu schlürfen, den ganzen Tag Bridge zu spielen, Ravels Pavane für eine tote Infantin zu verherrlichen, sich den Tee täglich nach englischer Sitte um fünf Uhr nachmittags mit Gongschlägen servieren zu lassen, in ihrem ehrbaren und konservativen Haushalt außer ihrem treuen Ritter Urban allerhand Bohemiens und Maler, insgesamt lauter moralische und materielle Taugenichtse zu versammeln – diese Schwäche wandelte sich durch die ständige und eigentlich beleidigende Mißachtung seitens Klanfar zum Objekt nervöser und später hysterischer Streitereien, die regelmäßig mit groben Drohungen endeten, daß die Ehe gewissermaßen ein juristisches Arrangement sei und nur solange gültig bleibe, als die Partner mit den Bedingungen einverstanden sind, unter denen dieser Vertrag, wie jeder andere, geschlossen wurde. Das Thema dieser advokatlichen Haarspaltereien dramatisierte sich zeitweise bis zu klanfarischen Exzessen und zu Trennungen, die in Form von Melittas Ausflügen nach Wien eine Art Sicherheitsventil bildeten, doch jetzt wurde dieser ohnedies schon lumpig und elend zusammengeflickte, verfaulte Fetzen von der alten Klanfarin mit ins Grab genommen, da ihr Tod den Bruch herbeiführte. 264
Den illustren Herrn erreichte ein Telegramm, daß seine Mutter unerwartet und plötzlich gestorben sei; sie verschwand still und wortlos, um ihrem einzigen Sohn durch ein länger dauerndes Sterben keine Unannehmlichkeiten zu bereiten; sie schlief einfach ein und zwar ausgerechnet, als hätte das der Teufel aus Bosheit getan, am Vorabend des Faschingsdienstags, während Frau Melitta plante, als Lady Patronesse auf einem unserer Galabälle zu ersdieinen. Gleichgültig, man könnte wohl auch sagen abgestumpft dem Tod seiner Mutter gegenüber, wie er übrigens auch der lebenden Mutter gegenüber war, ließ Klanfar nach Hause telefonieren, daß nun vom Ball keine Rede mehr sein könne und daß man seine schwarzen Kleider vorbereiten möge, da er heute abend zum Begräbnis fahren werde, und zwar gleich nach dem Abendessen um acht Uhr fünfzehn. Als er jedoch aus seinem Büro nach Hause kam, hörte er schon im Vorzimmer Melitta lustig am Klavier im Salon klimpern, wo sie, in Gesellschaft ihres Oliver und ihrer jüngsten Zuneigung, eines anonymen malenden Klecksers, das modische und frivole Chanson von der kleinen blonden Yvonne präludierte. Seine arme alte Mutter liegt aufgebahrt, er will zur Beerdigung seiner bemitleidenswerten Mama fahren, aber in seinem Haus wird Klavier gespielt und gesungen, und wer sind schon diese Leute, die da singen? Irgendein deklassiertes Gesindel von Bohemiens, unverschämte Affen, die ihn vor der ganzen Stadt kompromittieren; er selbst aber kommt sich vor wie ein schwachsinniger Dummkopf, und statt jenem ritterlichen Diplomaten und Schmuggler 265
eine Ohrfeige zu versetzen, hielt er beim Durchschreiten des Salons an, um die Beileidsbezeugungen dieser Kreaturen entgegenzunehmen … Melittas schiffbrüchiger Diplomat begann, ihm etwas über seine Frau Mama vorzudeklamieren, ihr Tod müsse wohl als sehr schmerzlich empfunden werden, doch sie sei ja bereits eine Dame im vorgerückten Alter gewesen und deshalb sei es völlig natürlich, daß diese alte Dame ihre Seele ausgehaucht habe. Und jener andere, ein Bewunderer des Maltalentes Melittas, ihr Maestro, dieser talentlose Schmierfink, der vor ihm Bücklinge macht, nur damit er ihm für eine seiner Blödheiten zwei, drei Tausender abbetteln könne, diese zahnlose Jammergestalt quatschte schwachsinnig, wie er den Tod ausschließlich mit den Augen eines Malers betrachte … Diese herausfordernd dummen Phrasen rührten in Klanfar die Gefühle des Sohnes auf, des Sohnes, der seine Mutter beweint, und deshalb eilte er aus dem Salon, wobei er die Tür so demonstrativ hinter sich zuwarf, daß sich eine Amorette aus dem plastischen Supraport löste und mit einem Haufen Mörtel auf den Parkettboden fiel, als sei das ganze Haus von Grund auf erschüttert worden. »Diesem Kretin dort erscheint der Tod grau wie Nebel, aber er könnte andererseits auch rot sein wie ein gekochter Krebs oder wie eine altmodische Teetasse …«, wiederholte er für sich eine ganze Kaskade schwachsinniger Kretinismen, während er in sein Zimmer hastete, wo er vor dem Foto der Mutter nervös eine Kerze anzündete, und als er dann in den Salon zurückkehrte, fand er dort 266
niemand mehr vor. Nach längerer Zeit trat Melitta, die ihre Gäste demonstrativ laut und mit übertrieben betonter Liebenswürdigkeit hinausbegleitet hatte, ein, und als er so allein mit ihr war, stellte er eine stereotype klanfarische Untersuchung an, warum man das Abendessen noch nicht serviere, obwohl er doch telefoniert hatte, daß man es um halb acht servieren sollte? Melitta hätte keine Ahnung gehabt, daß er über das Abendessen etwas telefonisch durchgab, niemand hätte ihr etwas darüber mitgeteilt, nur, daß man nicht zum Ball gehen werde, sie war beim Zahnarzt, es sei ja besprochen worden, daß man heute den Ball besuchen wolle und sie habe, selbstverständlich, nur das verstanden, na ja, das sei menschlich, aber trotzdem sei sie nicht mehr gewillt, solche Satrapenmanieren zu ertragen, denn während hier unter Berufung auf die sogenannte Pietät der Tod dramatisiert werde, als wäre er in diesem Fall ein außerordentlich tragisches Ereignis, vergesse der Herr andererseits angesichts dieser pathetisch apostrophierten Würde des Todes nicht auf seine Würstchen, als wären Würstchen gerade heute abend von irgendwie schicksalhafter Bedeutung und als wäre es überaus schicklich, in so tiefer Trauer an Würstchen zu denken. Ein Wort ergab das andere, und diese Unterredung entwickelte sich so zu einem immer ärgeren Platzregen unverantwortlicher Phrasen: man flirte schamlos in seinem Heim, man schmuse, singe und musiziere, während seine Mutter auf dem Totenbett liege, irgendwelche Affen verletzten durch ihr Betragen die elementarsten Taktgefühle und er müsse, vor der Abreise zum Begräbnis seiner 267
Mama, eigenhändig die Koffer packen, sie selbst packen bei einer siebenköpfigen Dienerschaft, alles das seien falsche Prämissen der gnädigen Frau, denn sie als feinfühlende Dame folgere natürlich gar nicht, daß auch sie mit ihm zum Begräbnis dieser Dulderin fahren müßte oder im Angedenken an die alte, vielgeprüfte Seele eine Kerze anzünden sollte … Er sei dieser Dinge schon längst überdrüssig und, bitte recht schön, man solle auch nicht den alten weisen Spruch vergessen, daß bei Bettelleuten am Samstag alles gerieben und gewaschen werde, Fußböden und Tische und auch die schmutzigen Unterhosen, und demnach wäre es am gescheitesten, hier im Hause auch den trüben Bodensatz eines Tages fortzuspülen und sich gegenseitig, ohne Rücksicht auf die Folgen, reinen Wein einzuschenken … Aufgewühlt von einem ganzen Paket feiner Intrigen, das ihr Oliver überbrachte, »alle ihre Phantasiebilder in Verbindung mit Maestro Aurel wären Luftschlösser, weil der Herr akademische Maler nicht im entferntesten daran denke, mit ihr (wie sie sich einbilde) nach Italien zu reisen, denn er halte sie für eine unbegabte, hysterische alte Dame, und falls er sich überhaupt jemals von seiner jetzigen Gattin scheiden lassen sollte, würde er eine Rotznase heiraten, ein ungebildetes, primitives Mädchen aus der Vorstadt, das ihm derzeit als Modell sitze«, und so weiter und so weiter, und unter der Sturzflut von Klanfars dröhnender Rede, angeekelt von den wirklich billigen Bazarphrasen über ungewaschene Unterhosen, reinen Wein und Unzucht in besudelten Ehebetten, erniedrigt vom Brüllen, das wie Donner grollte (und die 268
ganze Dienerschaft neugierig zusammenführte), wurde der Dame schwarz vor den Augen, als müßte sie in Ohnmacht fallen, und sie erwiderte in vor Schande erregtem Ton, weil dieser Sohn eines Ziegelbrenners sich erdreistete, ihr seine einseitigen vulgären Abrechnungen drohend ins Gesicht zu schleudern, als wäre sie ein Dienstmädchen. Zuerst hatte sie, auch selbst die Ungehörigkeit der Situation fühlend, als dieser Zottelbär unter Klavierklängen in den Salon stürzte und sie bei jenem unglückseligen Chanson angetroffen wurden, gar nicht die Absicht, diesem würdelosen, in jeder Hinsicht unter ihrem Niveau stehenden Streit bis zur Absurdität zu steigern; ihre Weigerung, an Mamas Begräbnis teilzunehmen, bemühte sie sich heuchelnd damit zu entschuldigen, daß es keinen Sinn hätte, sie noch einmal einer solchen Qual auszusetzen, zumal Klanfar seit dem Tod ihres Vaters ja wisse, wie stark ihre Idiosynkrasie gegen Beerdigungen sei, und außerdem wäre sie nach der Wurzelresektion rekonvaleszent (wer sich zwei Zähne ziehen läßt, ist , doch außerstande, eine ganze Nacht zu fahren), aber dann, von der diabolischen Ehedialektik befeuert, konnte sie sich nicht länger beherrschen, als dieser gottlose Herr sich erkühnte, ihr Mamas bäuerliche Totenkerze vorzuhalten als einen demagogischen Beweis, daß unter diesem Dach außer ihm niemand nur ein Körnchen menschlicher Gefühle besitze, und so wurde sie heftig, indem sie die Logik einfach weiterverfolgte … Dieser aufgeblasene Liberale, dieser Herr Demokrat, dieser Quasimodernist, der mit seinen fortschrittlichen 269
Ideen protzt und Kirche und Glauben verhöhnt, der gar nicht verheimlicht, daß er nicht an übernatürliche Geister glaubt, sondern geradezu damit prahlt, beruft sich jetzt plötzlich auf das Seelchen seiner Mutter, als ob das nicht der ganz gewöhnliche Trick eines hinterwäldlerischen Winkeladvokaten wäre! Es ist gar nicht wahr, daß sie nicht zum Begräbnis der Mutter fahren wolle, weil diese eine Magd war und er der Sohn einer Magd ist, denn die Menschen unterscheiden sich nicht dadurch, ob einer als Sohn einer Magd geboren wurde, sondern dadurch, ob einer ein Herr ist, und Herr Klanfar ist, ohne Rücksicht auf seine Geburt, kein Herr und wird nie ein Herr sein, und schließlich ist auch alles, was er da von irgendwelchen schamlosen Zuständen daherredet, die er nicht mehr dulden könne, völliger Blödsinn, an dem nichts Konkretes ist, aber es entspricht nicht ihrem Stil, sich mit einem Analphabeten zu streiten, der von den fundamentalsten Elementen einer guten Erziehung keine Ahnung hat. Das ist weit unter ihrer Würde! Krankhaft empfindlich wegen seines sozialen Minderwertigkeitskomplexes, von dem er sich seiner Gattin gegenüber nie befreien konnte seit jenem ersten Tag, an dem sie ihm als ihrem Freier gnädigst erlaubte, ihre blaublütige, herrschaftliche Hand zu küssen, geriet der gute Mann tatsächlich in Wut und näherte sich seiner Frau, als wollte er sie schlagen. Sein Stil und seine Lebensweise, seine Herkunft und seine Erziehung, alles das entspricht selbstverständlich der gnädigen Frau, wenn er für sie Schecks unterschreibt, aber wenn er mit ihr ein paar menschliche Worte sprechen möchte, dann ist das 270
selbstverständlich nicht sachlich, dann ist es selbstverständlich der grundsätzliche Mangel einer Kinderstube; wenn die Dame jedoch ein sachliches Gespräch wünsche, einverstanden, schön, er kann auch sachlich reden: falls ihr dieser Ehebund nicht mehr entsprechen sollte, bitte sehr, nichts dauert ewig! Die ganze Angelegenheit läßtsich sehr einfach beseitigen, durch einen einzigen Brief ihres Rechtsanwalts … Dieser Tamburitzaspieler, dieser behaarte Gorilla (der Ravels Pavane für eine unbegreifliche Dummheit hält), dieser Parvenu mit seinen gelben amerikanischen Schuhen, dieser Neureiche mit seinem Hasenfellkragen am plebejischen Pelzmantel, mit seinen idiotischen Manschetten, die er während des Mittagessens abstreift und links und rechts vom Suppenteller postiert wie zwei Kathoden auf einem Tisch für physikalische Experimente, insgesamt alles an und in diesem Menschen, seine behaarten Bauerntatzen, die ihm bis an die Knie herunterbaumeln, sein herabhängender Unteroffiziersschnauzbart, an dem er immer knabbert, sein Zahnstocher im Mund oder zwischen zwei Fingern, wenn er einem die Hand reicht, mit seiner Zunge stets in dem einen oder dem anderen faulen Zahn im Mund – die Summe all dessen erschien Frau Melitta in einem hellsichtigen Augenblick als eine eigentlich nicht preiswerte, eine schlecht bezahlte Transaktion: dieses Ziegeleigeschöpf zeigt überhaupt keine, nicht einmal die geringste Neigung, eines seiner dreistöckigen Häuser seiner Frau zu übertragen, gar nicht davon zu reden, daß er Varadijevo auf sie überschreiben lassen 271
würde (was bis zum Tod des Vaters eigentlich ihr Ideal war) – lauter völlig eitle Illusionen … Zweifellos droht dieser Mensch mit der Ehescheidung. Erlaubt sich dieser Mensch da, sie vor einer eventuellen Kündigung zu mahnen, als wäre sie eine Vertragsangestellte, und weshalb? Nur, weil dieser feine Mensch da nicht mehr wünscht, daß ihr »Ritter, jene kompromittierte Kreatur, jener Hochstapler, der in Verbindung mit dem Strafgesetz steht und stand«, auch nur ein einziges Mal noch die Schwelle ihrer eigenen Wohnung überschreite … Ihr Oliver, ihr liebster Kamerad und Freund noch aus den Tagen der Kindheit, ihre einzig wirkliche, erste, keusche Liebe, ein Herr vom Scheitel bis zur Sohle, dieser Oliver darf also nicht mehr die Schwelle ihres »Eigenheims« überschreiten, nur weil es »der ganzen Stadt bekannt sei«, daß Oliver diesem Herrn Klanfar da Hörner aufsetze! Als sie diesem Trottel zu widersprechen wagte und behauptete, daß sie mit ihrem lieben Vetter Oliver nie leiblichen Umgang hatte und auch jetzt nicht habe und alles eine Lüge sei, da erschauerte Klanfar vor Ekel, wie ein Mensch so unverschämt lügen könne, denn so, wie sie lüge, habe noch nie jemand gelogen… Kühl und erhaben verwahrte sich Frau Melitta gegen eine derartige Beschuldigung. Pardon, sie habe Klanfar nie in irgendeiner Sache belogen, pardon, in dieser Hinsicht konnten sie sich ja nie verstehen. Sie habe ihm schon bei Abschluß ihres »Ehevertrages« (jawohl, sie zitiere hier buchstäblich seine De272
finition), damals also habe sie ihm feierlich erklärt, daß sie ihre Einwilligung aus materiellen Gründen gebe und sie habe das auch nie verheimlicht, er aber, falls er es nicht vergessen hat, hätte passiv beigepflichtet … In ihrem Leben spielten viele Menschen eine wichtige Rolle, niemals aber er! Körperlich und subjektiv fühlte sie sich nie an ihn gebunden. Und was die eheliche Treue anbelange, dann möge der Herr, falls ihn das interessieren sollte, gefälligst zur Kenntnis nehmen, daß ihre Gemeinsamkeit in dieser Hinsicht voll und ganz konsumiert sei. Auch heute stehe sie in einer sehr intimen Relation zu einem Herrn, aber, bitte schön, der betreffende sei nicht Ritter Urban! Und das sei beiläufig alles, was sie ihm zu sagen habe. Ein Samstagabend im Vorfrühling. Die Weidenkätzchen blühten schon ab, doch der Frühling hatte sich noch immer nicht eingestellt. Die abendliche Dämmerung war zu beiden Seiten der Straße neblig und bedrückend. Dort hungerten kümmerliche Dörfer, mit Strohdächern und entlaubten Hecken und Kruzifixen und Leiterkarren, die einen Sack Maismehl durch den Straßenkot schleppten. Hungrig und verdreckt kehrten Kühe von der Weide heim; jeden Augenblick sprang ein Rindvieh vor das Auto, das durch den Schmutz der aufgeweichten Straße watete und traurig eintönige Signale hupte, die Fahrtgeschwindigkeit auf fünfzig Kilometer in der Stunde reduzierend. Auf den Zäunen hingen blaue und rote Fetzen zum Trocknen, und Frauen wuschen auf den Schwellen der offenstehenden Türen ihrer Hütten die Betten. Gelbe, ordinäre Betten aus weichem Föhrenholz, mit einem ro273
ten Jesuherz. Aus Bottichen dampfte Treber, Milchtöpfe trockneten, auf Pfähle gestülpt, Schweine grunzten, Rauch strömte unter Vordächern heraus und alle Bewegungen, Stimmen und Farben auf dieser Palette der Abenddämmerung verschwanden in grauer Eintönigkeit. Ja ja, sie reiben ihre Ehebetten und Tische, sie ohrfeigen und bespucken sich gegenseitig, aber dieses hungrige Zigeuner- und Bettlervolk läßt sich natürlich nicht scheiden, dachte Klanfar und noch nie war ihm das Ringen mit allem Menschlichen so erfolglos vorgekommen wie an diesem Abend. In seinem Biberpelz, mit fünfundsiebzig Kilometer in der Stunde durch das traurige und graue Halbdunkel sausend, erschien ihm aus der Sicht des lackierten und tapezierten sechzigpferdigen AustroDaimler die frisch gepflügte Erde unaussprechlich schwer, denn die Bauern mußten ihre Pflüge im aufgeweichten Kot mit solcher Anstrengung handhaben, daß es den Eindruck machte, als stünden sie dauernd auf der gleichen Stelle. Vor drei Tagen war der Herr Großindustrielle aus Amsterdam zurückgekehrt, wo er in Sachen des Exportkonsortiums Qulanfard Société Anonyme zu tun hatte, und in seinem Auto mußte er heute abend unwillkürlich Vergleiche zwischen diesen ausgehungerten Kühen und seinen holländischen Eindrücken ziehen. Als Gast einets Geschäftsfreundes, eines Amsterdamer Bankiers, durchkreuzte er im Auto ganz Brabant und erreichte über den Rhein zwischen s’Hertogenbosch und Nijmwegen wieder die Route Arnhem–Utrecht. Jenes strahlende, herrliche gottgesegnete niederländische Land mit seinen Kanälen 274
und asphaltierten Straßen kam ihm jetzt, angesichts dieses Drecks und der verhungerten Kühe, wie ein Bild des Garten Eden vor. Dort sind die Viehställe mit blau-weißen Kacheln ausgelegt, hier aber ist alles schwindsüchtig und wurmstichig, der Wind pfeift durch die Löcher im Giebel und die elektrische Beleuchtung ist weit und breit unbekannt. Wie unfruchtbar ist unser verfluchtes Land, wie schwer ist es belastet. Wie dumm, aus dieser Erde Getreide züchten zu wollen, mit einem einsamen Pflug und einer einzigen armseligen Kuh, auf eine so unrentable und mittelalterliche Art, wie es die Menschen in diesem Land tun. Dieses Korn ist bedeutend teurer als das kanadische, und wozu wird also hier ein halber Hektar Land umbrochen, wenn man in Kanada dreißigtausend Hektar in einem einzigen Zug pflügen kann, viel rationeller und viel billiger? Wie weit ist man hier doch hinter den holländischen Spargeln und Erdbeeren zurückgeblieben! Aus der Tiefe eines Parks leuchtete Licht durch die Glasscheiben des Jurjewo-Schlosses der verstorbenen Gräfin Harbuval-Montherlant, im trostlosen Halbdunkel flimmerten unruhig die riesigen, erleuchteten Fensterquadrate der neuen Spinnerei wie eine Reihe festlich erleuchteter Malerateliers, in denen außerordentlich lustige Dinge passieren. Klanfar kannte sich im Gebiet um Schloß Varadi sehr gut aus, im Umkreis von hundert Kilometern waren ihm alle dort gelegenen feudalen und industriellen Objekte bekannt. Das war ja das typisch Klanfarische an ihm: er betrachtete die Landschaft nicht mit den Augen eines Malers, sondern eines Bauern; für 275
ihn galt einzig die klanfarische Perspektive der Wirtschaftlichkeit. Da ging die gräfliche Nugentsche Ökonomie an Imrey über und jetzt brennt er hier Spiritus. L’Industrielle ist daran mit siebenundvierzig Prozent beteiligt. Bei einer zweiundzwanzigprozentigen Amortisation wird sich das mindestens elf Jahre lang noch nicht rentieren! Ein gänzliches Hochstaplergeschäft! Es wäre interessant zu wissen, wer in der ›Industriellen‹ diesen Imrey stützt? Goldberger? Und dann dieses Jurjevo der Montherlant! Da baut die ›Stoffexport A.G. Tkanex‹ schon die zweite Spinnerei. Daran sind mit siebzig Prozent die ›zugereisten‹ polnischen Habenichtse beteiligt. Na ja, versteht sich, die Herren Polen aus der Polakei, ein ausgesprochen jüdisches Wuchergeschäft. Unseren Zagorjaner Mädchen zahlen sie zwölf Dinar Tageslohn. Der Großindustrielle war überzeugter Antisemit. Ihm galt der Semitismus als Synonym für ausländischen Kapitalismus, und der Kapitalismus war seiner Ansicht nach so lang ausländisch, bis nicht auch er als Rechtsberater oder als unbenanntes Mitglied des Verwaltungsrates seinen Platz am grünen Tisch gefunden hatte. An der ›Montana-Bauxit A.G.‹, an der Klanfar mit rund siebenhunderttausend Dinar beteiligt war und von der er neben der ordentlichen elfprozentigen Dividende noch außerordentliche Monatstantiemen bezog, an diesem internationalen Mammutunternehmen waren schwedische Aktionäre mit achtzig Prozent beteiligt, und dennoch veröffentlichte Klanfar unter seinem eigenen Namen in der demokratischen Zeitung Slovo einen vehementen Ar276
tikel gegen »jene nebelhaften und durch gar nichts zu begründenden Verleumdungen, daß sich unsere Industrie in fremden Händen befinde. Sie ist rein national und bildet unsere einzige Hoffnung auf eine Lösung unseres volkswirtschaftlichen Problems in anständiger und europäischer Art und Weise«. Die Glasdächer der Tkanex-Spinnereien auf Jurjevo, die neuen roten Schornsteine mit weißen Rauchfahnen, die Kantinen, die elektrische Beleuchtung der Straße von Jurjevo, eine Harmonika, die man durch die halboffene Tür einer Schenke hören konnte – all das zusammen hallte in der grauen Eintönigkeit dieser bedrückenden Dämmerung lustig wie Schellenklang wider. Da kommen solche ausländischen Schlucker mit leerem Koffer daher und verändern diesen Nebel durch eine regelrechte elektrische Beleuchtung, der Teufel soll sie holen! Und auch für Schloß Varadi zeigt Tkanex Interesse. Bei seinem Rechtsanwalt liegt schon seit einem Monat das Kaufangebot für diesen Besitz vor. Sie bieten eine Million und neunhunderttausend! Da sind auch die neuen Industriekolonien von Janekovčina! Was wollen denn diese blöden Sozialisten noch? Das sind ja recht nette Häuschen, und jedes hat einen kleinen Garten und einen Schweinestall. Selbstverständlich: Golfspielen können Zementmischer und Kumpel nicht, das ist doch sonnenklar! Hier hatte Generaldirektor M. während des vorjährigen Streiks Unannehmlichkeiten. Die Leute sind arbeitswillig, sie wollen arbeiten, um nicht hungern zu müssen, um ein Dach über dem Kopf zu haben, um ein Minimum zu verdienen, und das ist letzten Endes doch 277
mehr als gar nichts, aber eine Schar gewissenloser Schufte verhindert von oben her ein Konsolidierung auf der Basis eines Taglohns von siebzehnDinar. Wir schaffen Arbeitsmöglichkeiten, erschließen neue volkswirtschaftliche Quellen, bieten Gelegenheiten, ein derart hundertprozentig passives und übervölkertes Gebiet (halbwegs) aufzuwerten, damit dieses Bettlervolk sozusagen irgendwie gekleidet und ernährt werden kann, und dann wird hier bei uns jede Möglichkeit, dem Volk und dem nationalen Wohlstand zu helfen, von oben erschwert, und alles ist nur ein ganz ordinärer Politikasterschwindel. Nur Industrialisierung, und zwar rascheste Industrialisierung kann uns aus dieser agrarwirtschaftlichen Misere heraushelfen. Das ist die einzige politische und nationale Parole! Alles andere ist faules Spiel. Die Luft war feucht und der Südwind wälzte dicke Wolken über die Gebirge, in allen Dingen und Erscheinungen spürte man eine Depression. Klanfar fühlte sich .erschöpft. Der Austro-Daimler glitt wie ein Motorboot durch den Kot, und Klanfar erschienen die Telegraphenstangen, die ersten Lichter in den Bauernhütten, die über der Straße schwebenden Gondeln einer Fabrikseilbahn als ein völlig leeres und sinnloses Etwas, das irgendwo – man weiß nicht, aus welchen konkreten Gründen, Sinn und Zweck verlor. Wozu alle diese nicht endenwollenden Scherereien wegen Erhöhung oder Verminderung der Taglöhne um vierzig Heller? Wozu dieses Schweben der Seilbahngondeln? Wozu dieses Gleiten über schlammige Straßen, wenn doch alles keinen richtigen tiefen, inneren Zweck 278
hat? Man schuftet wie ein Hund und schafft sich eine ganz anständige Existenz, aber innerlich ist alles faul und ohne jede Menschenwürde und Befriedigung. Und auf dem Grund von all dem liegt irgendeine giftige Melitta samt ihren Lügen und ihren Liebhabern, liegt seine eigene verpfuschte Ehe, ja, man könnte eigentlich sagen: sein aussichtsloses, verspieltes Leben. Seit jenem erzwungenen und plötzlichen Bruch am Vorabend des Begräbnisses seiner Mutter, seit jenem trübseligen und schicksalschweren Ereignis, das seit langem in der Luft lag und auf einmal in einer viel heftigeren Form, als irgendwer erwarten konnte, zum Ausbruch kam, blieb Klanfar in völlig leerer Ungewißheit zurück. Er reiste nach Holland, lastete sich neue Geschäfte und neue Sorgen auf, zechte in Berlin und in Den Haag zwei, drei Nächte mit sehr teuren Damen, legte einige tausend Kilometer zurück und fuhr dann, wieder heimgekehrt, zum Schloß Varadi; seither war ein voller Monat vergangen, aber die Angelegenheit auch nicht um einen einzigen Millimeter vorangekommen. Noch vor seiner Abreise in die Niederlande gab er seinem Rechtsanwalt, dem Ehescheidungs-Spezialisten Doktor Krišovec, den Auftrag, sich mit Doktor Kohn, dem Anwalt Melittas, in Verbindung zu setzen, um den juristischen Teil dieser äußerst delikaten Angelegenheit zu regeln. Nach seiner Rückkehr aus Amsterdam fand er ein Schreiben des Doktor Krišovec (der inzwischen nach Belgrad abreisen mußte und ihn daher nicht mündlich informieren konnte) vor, in dem ihm dieser berichtete, 279
die illustre Dame habe bei ihrem Rechtsberater keinerlei Direktiven hinterlassen und weile, soweit er unterrichtet sei, gegenwärtig zu Besuch bei ihrer Freundin, der Gräfin Orcyval-Dugaresza in Szent Niklás bei Sziget; soweit ihm (Doktor Krišovec) bekannt, sei die gnädige Frau geneigt, die ganze Sache mit einer materiellen Vergütung zu regeln. Die Summe sei nicht sehr groß, es handle sich um eine Bagatelle … Zum Schluß wußte Klanfar nicht, was er eigentlich unternehmen sollte. Die Scheidungsklage einreichen und seine Frau vor aller Öffentlichkeit der Untreue beschuldigen oder die Schuld auf sich nehmen, die Affaire in größter Stille liquidieren und für einige Zeit ins Ausland reisen, Schloß Varadi verkaufen oder in der Stadt bleiben – was machen und wie es machen? Eine Menge Fragen, eine Menge Unruhe und dumme Unentschlossenheit, dazu dieses langweilige und blöde Herumjonglieren mit dreckigen Millionen, die man eigentlich Bagatellen nennt. Vor Schloß Varadi stieg die Straße ziemlich stark und in Serpentinen durch Weinberge an, bei jeder Windung des Weges öffneten sich neue Blicke über Ackerland und Waldparzellen in das Tal, in dem neblige und graue Hügel wie Inseln zu schwimmen schienen. Über der Straße, auf einem Abhang, konnte er zwischen Lindenbäumen und Pappeln den Turm der Barockkirche von Latinsko Gornje sehen, die zu Ehren Johannes des Geköpften erbaut wurde, und daneben das weiß gestrichene Pfarrhaus. Zur Pfarre von Latinsko Gornje gehörte auch Schloß Varadi mit seinem Meierhof und einer Siedlung, die sich 280
als Kolonie der Bediensteten und der Handwerker unter der gräflichen Burg entwickelt hatte, und die Grafen Varadi waren einige Jahrhunderte hindurch Kuratoren der Pfarrkirche von Latinsko Gornje. Dort war in den neunziger Jahren ein Pfarrer aus Kärnten, ein gewisser Kramer, ein Magyarophiler und im Wahljahr Achtzehnhundertvierundneunzig Kandidat des Grafen Khuen für den kroatischen Sabor, der dann, als Khuen die Opposition wie einen faulen Fetzen zertrat, als Berichterstatter über die Immunität der Abgeordneten in jenem blutigen magyarophilen Sabor in Verruf kam. Klanfar war genau neun Jahre alt, als dieser Hochwürdige Herr Kramer seine Geliebte niederschoß, die junge Lehrerin Klanfars, Fräulein Ljubica. Das Bild des toten Mädchens, die Holztreppe im Pfarrhaus, über die das Blut geflossen war, der Leichnam des über die Treppe heruntergekollerten blonden Fräuleins, der wie eine Wachsfigur dreißig Stunden liegen blieb, bis die Gerichtskommission eintraf, dieses unklare kriminelle Bild blieb im Gehirn des Knaben, wie alte zwischen den Seiten eines Buches vergessene Stiche unauslöschlich haften. Auf dem gräflichen Meierhof erzählten noch lange danach die Angestellten der Käserei, die Ziegelbrenner, die Werkmeister und die Kammerdiener der Grafenfamilie vom toten Fräulein Ljubica und von ihrer Romanze mit dem Schloßgärtner, dem Schweden Larsen. In der Schenke Steiners belauschte Klanfar (als kleiner Bub) hinter dem Schanktisch versteckt das Flüstern der Kammerdiener, als der alte Joscha, der Leibdiener des Grafen, sein obligates Krügel Bier trank, seine Pfeife schmauchte 281
und über Larsen erzählte, wie dieser in jeder Nacht erst einige Minuten vor Tagesanbruch nach Hause gekommen war. Der alte Joscha wußte, daß ein Liebesabenteuer dahintersteckte, aber wer hätte wohl denken können, daß gerade die Lehrerin Ljubica mit im Spiel war? Klanfars Erinnerung an den schwedischen Gärtner war ganz und gar schemenhaft. Der große blonde Skandinavier trieb sich zwischen blühendem Flieder herum, beschnitt Georginen und schleppte mit Hilfe der Knechte Palmen und Oleander in die Kellerräume; die Umrisse der Figur blieben gegenwärtig, aber das Gesicht verlor sich völlig. Gerade vor dem Schulhaus mußte der Chauffeur bremsen und einem betrunkenen Kutscher hilflos Signale geben, der sich hartnäckig weigerte, Platz zu machen. Versunken in seine Erinnerungen und eingewickelt in sein Lederplaid und sein warmes, weiches Biberfell, wagte der illustre Herr Großindustrielle Klanfar einen schüchternen und unruhigen Blick auf das gelbliche, vom Regen verwaschene ebenerdige Gebäude. Vor der Schule reihten sich hohe, knorrige Thujen, Lorbeersträucher und Immergrün aneinander, im Mäandermuster gestutzt, phantastisch stilisiert in spiraligen Windungen: ein Werk des schwedischen Gärtners Larsen. Unverändert gleich waren die Buchstaben auf der schwarzen Tafel, verschmiert und durch den Regen verwaschen, den Taubenschlag hatte man mit hellblauer Farbe neu gestrichen und den Feigenbaum, der neben dem Wasserbottich unter dem Vordach gewachsen war, hatte man gefällt. Ja, und da sind auch die vier Fenster des großen Schulzimmers, in dem in einer Ecke der Kasten steht, mit einer ausgestopften 282
Eule, einem Globus und einer rot-schwarz lackierten Leydenerflasche. Und dort das Fenster der Lehrerin, aus dem sie mit ihrer üppigen Frisur und ihren Ballonärmeln heraussah – alles blieb unverändert, wie es einst war, nur hatte sich zwischen jenem Kind von damals und dem Herrn im Austro-Daimler ungeheuer viel Zeit aufgebaut, dazu Ereignisse und Gestalten, phantastisch viele Gestalten, wie riesengroße, am Horizont erdrückend anwachsende bizarre Gewitterwolken. Am Fenster der Lehrerin stand eine Frau in einer rötlichen Barchentbluse und blickte, den Zylinder einer Petroleumlampe putzend, ziemlich verschlafen auf das Auto, das sich auf der Straße abquälte, um den tauben Kutscher zu überholen. Da also erschoß dieser Pfarrer seine Geliebte und tat recht daran, aber er persönlich, er ließ sich von seiner Frau ins Gesicht spucken, ließ sich von ihr erniedrigen, wie man keinen Hund erniedrigen darf, und er hat nicht nur gar nichts unternommen, sondern ihm ist es auch jetzt noch nicht annähernd klar, was er in diesem konkreten Fall tun sollte. Mit einer völlig unbewußten Geste streckte er sich in seinem Sitz aus und drückte sich tief in die gepolsterte Rückenlehne, wobei er seine Hand zum Browning gleiten ließ. In der Tasche seines Reisepelzes steckte ein Futteral aus Hirschleder, und unter den Fingern des dicken Hasenfellhandschuhs konnte er die Waffe spüren. Wohl, wohl – der Browning ist da, aber wann und wo hatte man schon gehört, daß ein Klanfar geschossen hätte? Die Klanfars sind Vorzugsschüler, die Klanfars handeln wohl mit dreißig Prozent Profit, aber die Klanfars sind zu ge283
schickte Juristen, um gegen das Strafgesetz zu verstoßen, die Klanfars lassen sich Hörner aufsetzen, aber sie schießen nie ohne schriftlichen Befehl. Als kaiserlich-königlicher Reserveleutnant hatte Herr Klanfar drei galizische Juden erschießen lassen und war bei der Exekution persönlich anwesend. Aber dafür gab es einen schriftlichen Befehl und die Hinrichtung war keineswegs seine private Angelegenheit. Doch jetzt ist alles vollständig chaotisch! Wie Bohnen im Topf mischt sich in ihm alles durcheinander: die drei Juden aus Vorobiovka, das Fräulein Ljubica, Larsen, Melitta – alles verlor den Zusammenhang! Das sind die total überspannten Nerven! Entlang der Straße begannen sich die ersten Gebäude des Meierhofs von Schloß Varadi aneinander zu reihen. Da, die angebrannte Weide, an der die Bauern Spuren eines Teufelshufs entdeckten, dort das morastige Weideland, über dem dicke Nebel wie Milch hängen und in spätsommerlichen Nächten Sumpflichter wie Seelen aus dem Fegefeuer herumirren! Und da steht noch Varadis alte Ziegelbrennerei, heute Eigentum des Juden Steiner; zwischen jenen Formenmustern und den Latten der Darrenräume watete sein seliger Vater, der Ziegelbrenner Barthel, mit kotigen Stiefelschäften und mit seiner Pfeife, während in seiner linken Rocktasche der Zollstock klapperte. Und schau: das Haus des Ziegelmeisters! Jemand trägt heißen Schweinetrank. Es riecht nach gekochten Nesseln und Kleie, und in der Scheune rasselt die Häckselmaschine genauso, wie sie rasselte, als sie vom illustren Herrn Klanfar gedreht wurde. Damals war das Haus des Ziegelmeisters lichtblau angemalt, heute ist hier alles 284
schmutzig. Durch die offene Tür sieht man eine brennende Petroleumlampe auf dem Tisch, und unter den Akazienbäumen hört man eine Stimme nach den Kühen rufen. Ah – da ist auch die große Wiese mit den Enten und der Herz-Jesu-Kapelle, mit Steiners Greißlerei und Mazans Schenke. Über alle diese Objekte tasteten sich die großen Magnesiumfühler des Austro-Daimlers, und die Mauern der Häuschen, die beleuchteten Fenster, die Schatten der Fußgänger blieben im lauen, taubstummen Halbdunkel zurück wie in einem Raum. Im Kegel der Scheinwerfer tauchten Gegenstände und Gestalten auf und verschwanden wieder wie Gespenster im Lichtkreis einer Wunderlampe. Bei der Scheune bog der AustroDaimler rechtwinkelig ab und fuhr durch eine Pappelallee zum Schloß Varadi. Zwischen Fichtenbäumen und Arrangements, mit denen Larsen seine meisterliche Gartenkunst bewies, leuchteten im ersten Stock links und rechts vom Balkon die Fensterquadrate: man sah, daß der illustre Herr nach allen Vorschriften eines herrschaftlichen Empfangs erwartet wurde. Unruhe bedrückte Klanfar und er strolchte wie ein reißender Wolf umher; sein Wille konnte, was früher nie der Fall war, die Nerven nicht im Zaum halten; nirgends war ein Platz, wo Klanfar seine Ruhe zurückgewinnen konnte. Einige Zeit lebte er in Schloß Varadin, übersiedelte dann in den Weinberg von Kostanjevec, kehrte wieder nach Schloß Varadi zurück, reiste nach Wien, traf sich mit gewissen Damen und lumpte mit ihnen in kleinen Provinzhotels, konnte aber keine Ruhe finden. Sein 285
Schlaf war unruhig und abgerissen und wenn er erwachte, fühlte er sich müder als vor dem Niederlegen. Das einzige, das ihn noch angenehm einschläfern konnte, war Geschwindigkeit. Er raste in seinem Austro-Daimler mit einem Tempo von hundertzehn Kilometer in der Stunde über die jämmerlichen Straßen, und wenn dann nach einem dieser Ausflüge die Dienerschaft das Auto säuberte, stoben nach allen Seiten Federn der Gänse, Enten und Hühner, die unter Klanfars Räder gekommen waren. Allein in den siebenundzwanzig Zimmern von Schloß Varadi, wußte er mit sich selbst nichts anzufangen. Petroleumlampen stanken, der Frühlingsregen weinte, alle Zimmer waren unglaublich leer, von jeder lebenden Seele verlassen, und es langweilte ihn, Bücher zu lesen oder mit dem Bezirksvorsteher um sieben Dinar Karten zu spielen. Zwei-, dreimal lud er irgendeine Gesellschaft aus der Komitatsstadt ein, betrank sich bis zur Bewußtlosigkeit, und dabei kam es fast zu einer Schlägerei mit einem früheren Ulanenrittmeister, weil er der Frau Rittmeisterin die Kakteen im Wintergarten derart demonstrierte, daß er eine Ohrfeige bekam. In jener Nacht benahm er sich lümmelhaft, halbverrückt, und nach diesem Skandal knirschte er noch fünf Tage lang mit den Zähnen, ohne mit irgend jemanden ein Wort sprechen zu wollen. In Laibach kam es zu einer Prügelei mit unbekannten Studenten; einer zerschlug ihm seine Brille, worauf er zwei Tage fiebernd und blutend in einem Hotelzimmer verbringen mußte. Aus Wien kamen einige Soubretten zu Besuch, Damen aus der Halbwelt, einer von ihnen wollte er die Rückfahrt nicht bezahlen, worauf sie sich beim 286
Bezirksvorsteher beschwerte. Als sie daraufhin über die Grenze abgeschoben wurde, sickerte die Affaire in eine Provinzzeitung als Notiz »über einen Obergespan, der seine Ehre und seinen Verstand versäuft«. Er verklagte den Provinzskribenten beim Gericht, verfaßte persönlich Memoranden an den Staatsanwalt, und wegen dieser närrischen Plänkeleien ganz außer sich, ohrfeigte er einen Waldhüter, von dem er dann beinahe erschossen wurde. Der Waldhüter wurde verhaftet und wegen Mordversuchs angeklagt, ein kleines Drama spielte sich in den Hegerkreisen ab, während Klanfar im Weingarten von Kostanjevec Bowlen braute und mit der Winzerin Veronika, einer grazilen und milchfarbigen Steirerin, poussierte. Die Erinnerung an den verblichenen Grafen Varadi quälte ihn bis zur Weißglut. Alles hier gehörte immer noch Varadi, die Grabsteine, die Wappen, die Treibhäuser und die Aussichten, die Statuen, die Terrassen und die Prunkräume, alles war mit dem unsichtbaren Siegel Varadis gekennzeichnet. Er, der Großindustrielle und Obergespan Klanfar, der dieses Herrschaftsgut parzellieren, in eine Dampfspinnerei, in eine Kantine umwandeln, der das ganze Haus, einen Ziegel nach dem andern, verkaufen und diese blöden und funktionslosen Türme dem Boden gleichmachen könnte – er ist hier nur ein Passant, ein Zugereister, ein Landstreicher, ein Irgendjemand, der in diesem Schloß wie in einem Hotel wohnt, denn dieses Haus gehört nicht ihm, sondern Varadi, der Teufel soll sein Angedenken vertilgen! Alles gehört hier Varadi. Wie die Pranke eines Löwen liegt der Schatten 287
Varadis auch heute noch auf diesen Wiesen, auf diesem Ackerland, in den Köpfen dieser Leibeignen, dieser Käseklopfer, Ziegelbrenner und Schreiber, der Satan soll alle diese Tölpel und Ignoranten holen! Noch immer zittern die Seelen dieser Leibeignen vor seiner gräflichen Herrlichkeit und erzählen sich untereinander auf dem Meierhof, daß der Geist Seiner Exzellenz, des alten Grafen, durch die Gänge wandle. Noch heutzutage spuken solche gräflichen Erinnerungen in ihren analphabetischen Kürbisköpfen wie Talgkerzen, die allmählich erlöschen, dabei aber lange und unangenehme Schatten an die Wände werfen. Die Enkel der Leibeignen wissen zwar nicht, was die deutsche Inschrift auf der Granittafel unter dem Hauptaltar in Latinsko Gornje bedeutet: ›Betet für die erlauchte Seele I.D. der Gräfin Irma Várádyde Várad et Latinsko, geb.Reichsgräfin Bellegarde-Hartenau‹, aber wenn sie an dem einen oder anderen Buchstaben des gräflichen Titels herumrätseln, leuchtet in ihren Hirnen dieser hochherrschaftliche Name mit einem jenseitigen und übernatürlichen Glanz, während er, Klanfar, für dieselben Menschen, ebenso wie für seine Frau Gemahlin der Sohn eines Ziegelbrenners bleibt und ein Usurpator ist, den der liebe Gott deshalb schon noch mit der gebührenden Strafe verfolgen werde. Im Bahnhofsgebäude von Kostanjevec errichtete der verstorbene Graf Varadi seinerzeit auf seine Kosten eine eigene Wartehalle mit zwei Salons und einem Vorzimmer, einen Salon mit roter Seide, den anderen mit grünem Plüsch tapeziert, das Vorzimmer für die Dienerschaft sezessionistisch hell. Dreimal schon hatte Klanfar die Eisenbahndirektion er288
sucht, ihm gegen Bezahlung zu erlauben, die gräfliche Wartehalle zu benützen, aber obwohl die Räume jetzt leer standen und er sich außerdem verpflichtete, sie auf eigene Kosten neu einrichten zu lassen, wurde er abgewiesen. Der Herr Graf durfte drei Wartezimmer haben, er jedoch nicht einmal eines, und nur, weil er der Sohn eines Ziegelbrenners war. Die Raubtierkrallen des ritterlichen Grafen rissen vom Rücken der Fronbauern das Fleisch ab, aber alle diese Vögte, Diener, Meister und Gärtner, alle Maschinisten und Pächter, die sich da um das Schloß herumtrieben wie Zirkusleute vor einer Vorstellung, dieses ganze Lumpenpack ist heute davon überzeugt, daß er, Klanfar, persönlich daran schuld und dafür verantwortlich sei, wenn den Herrn Lakaien das Vergnügen genommen wurde, herrschaftliche Sohlen schlecken zu dürfen. Alle hassen ihn, als hätte er persönlich Varadi beraubt und deshalb auch die materielle Verantwortung für alle wirtschaftlichen Folgen zu tragen. Die Gäste der Gräfin, die Reiter im roten Frack auf ihren Parforcejagden, die ersten Damen auf Fahrrädern, Kricket und Tennis – das alles war ein unbegreiflicher und halbgöttlicher Zeitvertreib für die Fronbauern, und von den Damen im dunklen Schatten des Parks sprach man wie von übernatürlichen Wesen aus einer höheren, unbekannten Welt. Als Kind hielt auch er, Klanfar, den Grafen für einen Halbgott und es schien ihm nicht im geringsten widernatürlich, wenn sein Vater Barthel Seiner Exzellenz die Hand küßte; heute aber, da er doch von keinem einen Handkuß verlangt, heute, da er mit Panduren und Winzern wie mit seines289
gleichen spricht, heute, da er dem Bauernvolk aus Mlaka erlaubte, durch seinen Park zu gehen und so den Weg um rund zwei Kilometer zu verkürzen, heute achtet ihn keiner und keiner grüßt ihn, aus reiner Dankbarkeit für seinen Großmut verdrecken und verstinken ihm die Benutzer des Abkürzungsweges seine Blumenbeete, stehlen Holz aus dem Park, fällen wie richtige Vandalen seine Weidenbäume! Und das nennt man heutzutage Demokratie! Er schuftet, trägt hundertprozentig sein Risiko, plagt sich für das Wohl des Volkes, opfert seine Nerven, und zum Dank dafür hassen ihn alle auf dem Meierhof und lästern ihn als den Sohn eines Ziegelbrenners. Nach dem Tod des jungen Grafen, der irgendwo im malaiischen Archipel beim Haifischfang ertrank, wollte die alte Gräfin keinen fremden Menschen mehr in der Nähe des Schlosses sehen; es wurde ihr zu einer idée fixe, daß unbekannte Gesichter als Unheilsboten wieder eine erschütternde Nachricht überbringen könnten. Da die Straßen zwischen dem Meierhof und dem Schloß Eigentum der Varadi waren, wurden sieben Waldhüter als Wachen an allen Zugängen zur Schloßstraße aufgestellt, damit kein Fremder sich an das Schloß heranschleiche und die Gräfin mit seinem plebejischen Gesicht erschrecke. Wie verwunschen, in schwarzem Samt mit langer Schleppe, stets in Trauer gekleidet, geisterte diese alte Närrin ganze Nächte lang durch die Zimmer des Schlosses, während ihr zwei Domestiken neunarmige silberne Leuchter vorantrugen. So lebte sie in Trauer um ihren Sohn, den Haifischjäger, vereinsamt auf Schloß Varadi, so deckte sie das ganze Varadital mit einem Trauerflor zu bis zum 290
stummen Stillstand, ließ alle Hunde auf ihrem Majoratsgut vergiften, um in ihrer gräflichen Trauer ungestört und allein zu sein, golden und unzugänglich eingerahmt wie ein ehrwürdiges altes Gemälde. Aber ihre Tochter, Comtesse Charlotte (die später nach Ungarn heiratete), tyrannisierte in permanentem Tages- und Nachtdienst drei Köche und drei Köchinnen mit ihrer neurasthenischen Verdauung. Nachts, so nach halb zwei, kam sie auf die bizarrsten gastronomischen Ideen: zu sehen, wie ein lebender Karpfen in siedendem Öl gemartert wird, gekochte Nüsse zu essen oder sich am Geruch der Erde mit rohen Schwämmen zu berauschen. Sie pflegte sieben bis fünfzehnmal täglich rohes Fleisch zu schlucken, nie mehr als ein winziges Stückchen, und ernährte sich mehr von Gerüchen als von eßbaren Substanzen. Zwei Käser hielten ein ganzes Lager verschiedener Käsesorten für sie bereit, und ihr persönlich wurde auf riesengroßen, kostbaren Silberplatten serviert. Die Comtesse erschoß mit ihrem Gewehr Hunde auf dem Majoratsgut und verwundete einmal einen Heger durch einen Schuß in den Bauch, weil sich dieser ihr im Wildpark, im tiefen Wald unterhalb Ivanovec, kaum nennenswert widersetzte. Das fünfjährige Mädchen des Dorfschmieds wurde tot auf einer Wiese gefunden, und obwohl amtlich nie festgestellt werden konnte, wer das Kind erschoß, flüsterten alle Leute im Meierhof, daß es die junge Gräfin gewesen sei. So also herrschten die Varadi auf ihrem Schloß – er aber öffnete nicht nur einen allgemeinen Durchgang durch den Park, lud nicht nur Gäste in diese gräflichen Räume ein, sondern trug sich sogar mit dem Gedanken, 291
ein einstöckiges Haus der Kammerdiener-Siedlung in ein Krankenhaus umbauen zu lassen. Und das Ergebnis von allem: nichts! Als er kürzlich jenem Waldhüter völlig berechtigt eine Ohrfeige gab und dieser zweimal auf ihn schoß, setzte eine Hetze ein, als hätte er geschossen und wäre nicht beinahe selbst erschossen worden. Und jetzt nehmen es ihm alle übel, daß er jenes verrückte Rindvieh bei Gericht anzeigte, denn wahrscheinlich hätte er es um Verzeihung bitten sollen! An jedem Tag, den er in Schloß Varadi verlebte, steigerte sich sein Haß auf dieses antipathische und verfluchte Gemäuer. Das Grafenschloß, das herrschaftliche Ansehen, sein eigenes Leben in diesen fremden, leeren Räumen, alles, alles paßte ihm nicht, wie ein ungewohnter beim Trödler erstandener Anzug. Er fühlte sich in diesem für ihn falsch zugeschnittenen Kostüm nicht wohl. Alles kam ihm fremd und unwirklich vor. Er begann zu erkennen, daß er ausschließlich unter dem Einfluß Melittas hierhergekommen war. Schloß Varadi war ihre Idee, damit sie hier mit ihren Liebhabern Tauben schießen, Hirsche und Fasane jagen, die Sommerferien verbringen, Tennis spielen konnte; und während hier auf dem Schloß sein Schwiegervater, Seine Exzellenz Herr Benjamin Szlougan, nach Forellen angelte und nach links und rechts Befehle regnen ließ, wohnte seine arme alte Mutter, die Witwe eines Ziegelbrenners, einsam in jenem schäbigen Häuschen an der Straße zum Meierhof. Die Alte wollte unbedingt in ihrer Hütte mit den zwei Fenstern, der Spalierrebe und dem altertümlichen öligen Tragbalken bleiben. In der Erinnerung, wie ihr gelbes ausgedörrtes Vogelgesicht, ähnlich dem Ant292
litz einer Wachspuppe, auf der rot-weiß gestreiften Bettdecke lag, fühlte Klanfar, wie zurückgedrängter unterbewußter Groll gegen die ganze Szlougansche Bande in ihm aufstieg. Wegen dieser Kreaturen hatte er die arme alte Magd vernachlässigt, die gute, hilfsbereite Seele, die jedem demütig zu Diensten war: den gräflichen Narren auf der Burg ebenso wie dem alten Trunkenbold Barthel und ihm selbst, dem undankbaren Sohn, und sogar diesen ungarischen Großsprechern in seinem eigenen Heim. Wegen dieser ekelhaften Abenteurer, um einer antipathischen snobistischen Gans willen verleugnete er seine arme Alte, diese Märtyrerin. Aber alles hört einmal auf und der Schlußstrich ward gezogen, wie es eben in der Natur der Dinge liegt. Das hier auf Schloß Varadi, das hat sich »ausvaradiert«. Melitta hat es ausgeheckt, und jetzt Schluß damit! Mit seinem ganzen klanfarischen Ansehen wird er ihr dafür bürgen, daß sie nie wieder über die Schwelle dieses Schlosses Varadi schreiten werde! Ganz Varadijevo wird er zu den bekanntgegebenen Bedingungen verkaufen. Wenn man ihm eine Dividende von mindestens fünf Prozent der Nominale garantiert, wird er eventuell für Vierhunderttausend Aktien nehmen. So, und damit ist jetzt alles ausgestrichen und unterfertigt.
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die übersetzer Aus dem Serbokroatischen übersetzt von: Boženga Begović Requiem für Habsburg (1948) Maksimilian Mrzljak Die ganz gewöhnliche und traurige Geschichte der Hochzeit, der Ehe und der Scheidung des Obergespans Klanfar (1930), Am Sterbebett (1924), Milica Sacher-Masoch und Reinhard Federmann Baracke 5 B (1921), Kroatische Rhapsodie (1917), Die Schlacht bei Bistrica Lesna (1923), Der Tod des Franjo Kadaver (1921). Die Jahreszahl verweist auf das Entstehungsdatum der Erzählung.
Am. d. Scanners: Personenverwechslungen in der Übersetzung der Schlacht bei Bistrica Lesna (Lovrek mit Loborec) wurden durch Vergleich mit dem kroatischen Originaltext identifiziert und stillschweigend bereinigt.
einmalige sonderausgabe veröffentlicht im oktober 1968 als band 166 der reihe die bücher der neunzehn titelnummer 1692 piper verlag münchen einband und sdiutzumschlag werner rebhuhn, unter verwendung eines photos von robert löbl, bad tölz. © 1968 stiasny verlag, graz, mit dessen freundlicher genehmigung der abdruck dieser textauswahl als lizenzausgabe erfolgt.
folgende erzählungen wurden weggelassen, da sie in gleicher übbersetzung im bereits eingestellten band krleža,miroslav - tausenundein tod enthalten sind: die maske des admirals die grille unter dem wasserfall föhn über der provinzstadt der tod des thomas bakran.