Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 586 Zone-X
Rettungsaktion für Chybrain von Kurt Mahr Im Labyrinth der Nickelfestung ...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 586 Zone-X
Rettungsaktion für Chybrain von Kurt Mahr Im Labyrinth der Nickelfestung In den mehr als 200 Jahren ihres ziellosen Fluges durch die Tiefen des Alls haben die Besatzungsmitglieder des Generationenschiffs SOL schon viele gefährliche Abenteuer bestanden. Doch im Vergleich zu den schicksalhaften Auseinandersetzungen, die sich seit dem Tag ereignen, da Atlan, der Arkonide, auf geheimnisvolle Weise an Bord gelangte, verblassen die vorangegangenen Geschehnisse zur Bedeutungslosigkeit. Denn jetzt, im Jahre 3804 Solzeit, geht es bei den Solanern um Dinge von wahrhaft kosmischer Bedeutung. Da geht es um den Aufbau von Friedenszellen im All und um eine neue Bestimmung, die die Kosmokraten, die Herrscher jenseits der Materiequellen, für die Solaner parat haben. Und es geht um den Kampf gegen Hidden-X – einen mächtigen Widersacher, der es auf die SOL abgesehen hat und dessen Standort man inzwischen kennt. Bei dieser erbitterten Auseinandersetzung, die zwischen Atlan und den Solanern auf der einen und Hidden-X mit seinen Sklaven auf der anderen Seite ausgetragen wird, wechseln Züge und Gegenzüge einander ab. Nun, nach Abwehr des »Anschlags auf die Zukunft«, ist wieder Atlan an der Reihe. Zusammen mit einigen Helfern unternimmt er die
RETTUNGSAKTION FÜR CHYBRAIN …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide startet eine Rettungsaktion. Wöbbeking - Atlans Auftraggeber. Blödel - Atlans Begleiter. Chybrain - Das Objekt der Rettungsaktion des Arkoniden. Sanny - Die Molaatin läßt sich nicht versklaven. Wuschel - Ein junger Bakwer.
1. »Heh, Blödel!« Der alte Mann ging leicht vornübergebeugt. Seine Kleidung war schludrig, der Schnauzbart streckte seine gekräuselten Haare nach allen Richtungen, und die Frisur, die dem Alten bis auf die Schultern herabhing, schien seit Wochen keinen Kamm mehr gesehen zu haben. Als er sich jedoch umwandte, leuchtete ein zorniges Feuer aus seinen Augen, das Sexton Ornet hätte warnen müssen. Sexton aber hatte sich an diesem Abend eine Extraprise Selbstvertrauen in die Nase geschoben und sicherheitshalber mit einem Becher Scharfen nachgegossen. Er ging auf einer Wolke, und alles, was er von jetzt an unternahm, mußte ihm gelingen. »Meinst du etwa mich?« fragte der Alte mit drohend knurrender Stimme. »Ja, dich. Wen sonst.« Sexton sah sich grinsend in dem schmalen Decksgang um. »Ist ja sonst keiner da, oder?« »Mein Name ist nicht Blödel«, protestierte der Alte. »Du verwechselst mich mit meiner Dienstleistungsperson …« »O nein«, lachte Sexton hämisch. »Du bist Hage Nockemann und gleichzeitig ein Blödel, weil du meinst, Ysidra hätte was für dich übrig.« Hage Nockemann versuchte mit Mühe, seinen Schultern eine straffere Haltung zu verleihen.
»Ah! Und du meinst, sie hat nichts für mich übrig?« »Nimm dir einen Spiegel und schau dich an!« Sexton Ornet lachte schallend. »Was sollte eine Klassefrau wie Ysidra an dir finden?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Hage Nockemann mit entwaffnender Beiläufigkeit. »Ich bin auf dem Weg, es herauszubekommen.« Er wandte sich ab, als wolle er weitergehen; aber im nächsten Augenblick stand Sexton vor ihm und hielt ihm die Faust unter die Nase. »Du läßt Ysidra in Ruhe«, knurrte Sexton. »Sie gehört mir.« »Hat sie das gesagt?« erkundigte sich Nockemann mit der Sachlichkeit des Wissenschaftlers. »Ja.« »Blödel!« »Das nennst du mich nicht noch einmal …« Sextons Faust schoß nach vorne; aber bevor er den Arm gehörig abwinkeln konnte, wurde er von der Seite her ergriffen. Scheinbar aus dem Nichts schlängelte sich ein tentakelähnliches Greifwerkzeug hervor, packte Sextons Handgelenk und begann, daran zu ziehen. »Verdammt!« stieß Sexton hervor. »So spricht man nicht«, belehrte ihn eine Stimme von seltsam knarrendquietschendem Klang. Ein Ruck, und Sexton Ornet wurde vollends von seiner Wolke gerissen. Er schlidderte den Korridor entlang und prallte mit dem Schädel gegen einen metallenen Vorsprung. Halb benommen blieb er liegen, und in seinem benebelten Gehirn entstanden die Umrisse eines Vorsatzes, die Aufgaben des Abends niemals mehr mit soviel Selbstvertrauen anzugehen. »Das soll dir eine Lehre sein, Sexton«, sagte Hage Nockemann mit scharfer Stimme. »Ich nahm an, daß du mir Schwierigkeiten machen würdest, deshalb brachte ich Blödel mit. Geh mir von jetzt an aus dem Weg, und laß vor allen Dingen Ysidra in Ruhe.«
*
Blödel war unverkennbar das Produkt seines schrulligen Herrn, des ebenso fähigen wie exzentrischen Galakto-Genetikers Hage Nockemann. Blödel hatte seine Laufbahn als Laborrobot begonnen; aber als Nockemann einer Allzweck-Maschine bedurfte, war ihm der Laborgehilfe gerade recht gekommen. Er hatte ihm einen Leib in der Form eines Rohrs mit einer Länge von 1,22 m und einem Durchmesser von 34 cm verpaßt. Der Leib wurde gestützt von einem Paar kurzer Beine, auf denen Blödel sich in watschelndem Gang bewegte. In der Röhre waren mindestens ein Dutzend ausfahrbare Meßinstrumente installiert, die sich im inaktiven Zustand in Klappbehältern verbargen. Der röhrenförmige Leib war überdies der Sitz zweier Arme, die nach der Art von greifklauenbewehrten Tentakeln bis zu einer Länge von zwei Metern ausgefahren werden konnten. Einem dieser Arme war Sexton Ornet mitsamt seinem synthetischen Selbstvertrauen zum Opfer gefallen. Den oberen Abschluß des seltsamen Gebildes machte ein zwei Zentimeter hoher Hals, auf dem der annähernd zylindrische Schädel mit einer Höhe von 9 cm thronte. Blödel verfügte über ein umfangreiches Komplement an Wahrnehmungsorganen, deren auffälligstes ein einzelnes, großes Auge war, das den Vorderteil des Schädels beherrschte. Die Körperoberfläche des Roboters bestand fast zur Gänze aus Metall. Ausnahmen waren lediglich gewissen Teile des Auges und – ein Schnauzbart aus grünen Plastikfasern, die Blödels Kinn zierten. Das Benehmen des Roboters war üblicherweise kindlich bis kindisch, manchmal affig, selten ernst. Hage Nockemann hatte entschieden, daß das Gehabe seiner »Dienstleistungsperson« ihrem Namen zu entsprechen habe. In Wirklichkeit war Blödel seit dem Umbau ein Hochleistungsrobot erster Güte. Er diente nach wie vor in erster Linie wissenschaftlichen Zwecken, was in dem Umstand zum Ausdruck kam, daß er keinerlei Waffen besaß. Allerdings
verstand er es vorzüglich, seine flexiblen Greifarme auch für nichtforschende Verwendungen einzusetzen – wie die Geschichte des heutigen Abends bewies. Manchmal – wie zum Beispiel im Augenblick – fungierte Blödel als Leibwächter. Hage Nockemann, von dem das Gerücht ging, er lebe nur der Wissenschaft, hatte in Wirklichkeit zwei kleine Laster: Er fühlte sich trotz seines Alters noch gelegentlich zum anderen Geschlecht hingezogen, und zwar auf wenig diskriminierende Art und Weise – und er war ungezwungenen Umtrunken nicht abhold, auch dann nicht, wenn die einzige Gesellschaft nur aus seiner eigenen Person bestand. Ysidras Ruf hatte sich bis zu Hage Nockemanns abgelegenem Labor herumgesprochen. Der Galakto-Genetiker sah sich darauf veranlaßt, zu ermitteln, was an den erstaunlichen Gerüchten wahr sein könne. Es war Blödel gelungen, Ysidras Anschrift festzustellen: Mittelteil, Sektor achtzehn, Deck vier, Apt. 138 – eine der weniger gut beleumundeten Gegenden des großen, alten Fernraumschiffs. Und jetzt befand er sich als Leibgardist in Hage Nockemanns Troß auf dem Weg zur Unterkunft der Dame, über die das Bordgeschwätz soviel Interessantes zu berichten wußte. Blödel bot sich aufgrund seiner rein positronischen Denkungsweise keine logische Grundlage, auf der er die Attraktivität der weiblichen Wesen, zu denen sein Erbauer sich hingezogen fühlte, hätte beurteilen können. Jedoch schien ihm Ysidra einer minderen Kategorie anzugehören. Sie war fünfzig Jahre alt, mithin noch jung, aber keineswegs mehr von knackiger Frische. Ihre Kleidung bot dem Auge mehr als der Einbildungskraft, und in ihrem Quartier herrschte ein aufdringlicher Geruch, der Blödels olfaktorischen Sensoren schwer zu schaffen machte. Um so tadelloser war dagegen Hage Nockemanns Betragen. Er hatte Ysidra mit väterlicher Zuneigung begrüßt, den Willkommenstrunk nach der Art eines Gentleman angenommen und geleert und kam nun galant auf den eigentlichen Zweck seines
Besuchs zu sprechen. »Ich habe festgestellt«, sagte er mit seiner etwas schrillen Stimme, »daß in den abgelegenen Wohngegenden der SOL wenig Klarheit darüber herrscht, womit sich die Bordwissenschaft dieser Tage intensiv beschäftigt. Das ist, besonders angesichts der ständigen Gefahr, die uns von Hidden-X droht, bedauerlich. Ich habe mich daher entschlossen, dem Unwissen abzuhelfen. Ich bin gekommen, liebe Ysidra, um dich über das Prinzip der perfidkomplexen Robotik aufzuklären. Das nötige Anschauungsmaterial habe ich gleich mitgebracht.« Ysidra starrte ihn an, als sei ihm unversehens ein zweiter Kopf gewachsen. Dann prustete sie und begann, kreischend zu lachen. »Du bist hierher … ooooh, das ist gut! Das ist unbezahlbar! Perfix … perfex-komplide Robotik! Oh, halt mich fest – ich glaube, ich platze!« Hage Nockemann verfolgte den unerwarteten Heiterkeitsausbruch ohne Verständnis. »Interessiert dich das nicht?« erkundigte er sich, als Ysidra aus Atemnot eine Lachpause einlegen mußte. Ysidra schüttete sich den Inhalt ihres Bechers in die Kehle. »Interessiert mich das?« schrillte sie mit hervorquellenden Augen. »Perfekt … hick … komplette Roboter? Mein ganzes Leben … hör zu … mein ganzes Leben lang habe ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als gerade über perplex-korrffitte Roboter alles zu lernen, was es zu lernen gibt.« Sie wollte sich ausschütten vor Lachen. Hage Nockemann stand auf, und Blödel erkannte an seinem konsternierten Gesichtsausdruck, daß jetzt der Augenblick gekommen war, da der Galakto-Genetiker den weiteren Verlauf des Abends auf einen neuen Kurs bringen würde. In der Tat wandte sich Nockemann direkt an ihn. »Dienstleistungsperson Blödel? Es ist für positrosomatische Servomechanismen immer ein traumatisches Erlebnis, bei der
Belehrung eines Unwissenden gegenwärtig sein zu müssen. Ich gebe dir daher den Auftrag, diesen Raum sofort zu verlassen.« Als Blödel sich gehorsam umwandte und auf die Tür zuwatschelte, zischte der Wissenschaftler hinter ihm her: »Aber bleib in der Nähe!« In dem Gewirr der Gänge, Schächte und Korridore, die das Wohngebiet im Sektor 18 des SOL-Mittelteils charakterisierte, suchte Blödel sich einen bequemen Ort, an dem er das Wiederauftauchen seines Meisters geduldig abzuwarten gedachte. Der Eingang zur Unterkunft 138 lag in seinem Blickfeld. Es konnte Hage Nockemann, wenn er wieder zum Vorschein kam, nichts widerfahren, ohne daß sein Leibwächter es mitbekam. In den Stunden, die er wartend verbrachte, hätte Blödel ohne Mühe Material für eine umfassende »Soziologie der SOL« sammeln können -wenn ein derartiges Unterfangen seiner Basisprogrammierung entsprochen hätte. Es bestand kein Zweifel daran, daß sich die Gesellschaft der SOL unter dem Einfluß des Arkoniden und des neuen High Sideryt sowie infolge der Abschaffung der SOLAG und des von ihr zum Gesetz erhobenen Kastensystems konsolidiert hatte. Die Schiffsführung unter Breckcrown Hayes hatte den. Solanern Richtung und Ziel, ihrem Leben einen neuen Sinn gegeben. Es gab keine Monsterjagden mehr, kein Buhlen um die Gunst der Ahlnaten oder Magniden. Das Schicksal der SOL entwickelte sich nach einem festen, sinnvollen Plan – auch wenn dieser der breiten Öffentlichkeit nur in Umrissen bekannt war. Die Solaner standen voll und ganz hinter Atlan und Breckcrown Hayes. So mußte es auf den Außenstehenden wirken. Die Gesellschaft der SOL bot sich seinen Blicken als monolithischer Block dar. In Wirklichkeit war sie so vielschichtig und vielgestaltig wie eh und je. Was sollte sich daran geändert haben? Es waren noch immer dieselben Solaner wie zur Zeit Chart Deccons und seines erlauchten Magniden-Kreises – von geringfügigen Änderungen, wie sie sich
zum Beispiel durch die Auswanderung nach Osath ergaben, abgesehen. Von innen betrachtet, wirkte der vermeintliche Monolith eher wie eine aus mehreren Lagen bestehende, von Einschlüssen durchsetzte Schieferplatte. Es gab auch heute an Bord der SOL noch Wesen, die ihren privaten Vorteil für wichtiger hielten als das Wohl des Ganzen – Männer, Frauen, Exoten, die die Gebote der Schiffsordnung mißachteten und ihren eigenen Interessen nachgingen. Freilich, es wurden ihrer immer weniger. Die Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate mit ihren mitunter tödlichen Gefahren hatten Hunderte von gesellschaftlichen Außenseitern dazu überredet, daß es besser sei, einer festgefügten, ihres Zieles bewußten Gemeinschaft anzugehören, denn als einzelner sein egoistisches Dasein zu fristen. Aber ganz würde sich die Subkultur der »Abseitigen« niemals ausrotten lassen. Ein paar würde es immer geben, die sich in keinen Rahmen passen ließen. Die Statistik verlangte es so. Blödel wurde während seines Wartens von einem halben Dutzend Gestalten angesprochen, die er ohne Zögern als »zwielichtig« bezeichnet hätte, wenn ihm die Bedeutung des Wortes klar gewesen wäre. Mancher der Vorbeigehenden kannte ihn. Wer in den Bordnachrichten bewandert war, hatte Bilder von Hage Nockemanns »Dienstleistungsperson« des öfteren zu sehen bekommen. Einen besonders aufdringlichen Burschen mußte Blödel vermittels eines schmerzhaften Winkelgriffs belehren, daß mit ihm nicht zu spaßen sei. Aber alsbald war die Zeit der Ablenkungen vorüber. Die Tür des Quartiers Nr. 138 öffnete sich, und zum Vorschein kam schwankenden Schritts ein kleiner, alter GalaktoGenetiker, dessen Augen triumphierend leuchteten. Es konnte niemand entgehen, daß Hage Nockemanns Belehrungsbesuch ein voller Erfolg gewesen war. Blödel fuhr den rechten Greifarm eine halbe Handspanne weit aus und benutzte das Greifwerkzeug, das ihm als Handersatz diente, um den
Schwankenden unauffällig zu stützen. Nockemann hätte niemals zugelassen, daß die Öffentlichkeit erfuhr, er habe den Weg nach Hause nicht mehr aus eigener Kraft finden können. Seine Geistesgegenwart bewies der Wissenschaftler, indem er alles, was ihm in den vergangenen Stunden zugestoßen war, sofort vergaß und eifrig auf seine Dienstleistungsperson einzureden begann, wobei er erklärte: »Ein ganz phantas … tasisches Wissensgebiet, diese perfid … nick … komplexe Robotik. Du glau … laubst gar nicht, wie beeindruckt die Leute davon sind. Dabei ist es ein durchaus ernsthaftes Wissensgebiet. Du mußt dich darum kümmern, sobald wir wieder im Labor sind.« Diese Aussage gab Blödel zu denken. Hage Nockemann mochte noch so sehr im Bann der lotterhaften Freuden stehen, denen er sich mitunter hingab: Wenn er von einem »durchaus ernsthaften Wissensgebiet« sprach, dann war an der Sache etwas dran. Er nahm sich vor, seinem Herrn mit freundlicher Überredung zu einem frühen Beginn der heutigen Ruheperiode zu verhelfen und sodann in Nockemanns computerisierten Aufzeichnungen nachzusehen, was von dem neuen Forschungsgebiet zu halten sei.
2. Geraume Zeit zuvor hatte sich in einem Kontinuum, das hinter einer Dimensionsfalte gegen den Einblick von der SOL aus geschützt war, eine Serie weitaus ernsterer Ereignisse abgespielt. Drei Molaaten waren Hidden-X in die Falle gegangen. Sie kauerten in einer erbärmlich winzigen Zelle, die keinerlei Einrichtung enthielt und deren Wände aus reinem Nickel bestanden. Unmittelbar nach ihrer Einkerkerung war Chybrain im Innern des kleinen Gefängnisses materialisiert. Das Wesen aus Ewigkeitssubstanz hatte Sanny, der Paramathematikerin, zugeflüstert, es sei am Ende seiner Kräfte. Die
Wände der Zelle hatten in rot und grünem Schimmer aufgeleuchtet. Er könne von hier nicht mehr entkommen, waren Chybrains letzte Worte gewesen. Dann hatte er sich vor den Augen der entsetzten Molaaten aufgelöst. Seitdem waren Stunden vergangen. Die Wände, von einer unauffindbaren Lichtquelle matt beleuchtet, hatten ihren metallischen Schimmer wieder angenommen. Sanny, Oserfan und Ajjar – letzterer einer der »kleinen Baumeister«, die im Auftrag von Hidden-X an der Konstruktion des Flekto-Yn gearbeitet hatten – sprachen nur wenig miteinander. Es gab nichts zu sagen. Die Enge der Zelle wirkte bedrückend. Die Stille ringsum war vollkommen. Sanny dachte an Chybrain. Das fremdartige Wesen war ihr im Lauf verschiedener Begegnungen immer vertrauter geworden. Sie war die einzige, die es berühren konnte. Sie allein vermochte, es in artikulierter Form zu verstehen. Sie empfand Zuneigung zu dem fremden Geschöpf, das von einer kindlichen Mentalität beseelt zu sein schien. Offiziell war nichts darüber bekannt, woher Chybrain kam, ob er ein mit organischem Intellekt begabtes Wesen, ein Roboter oder schlechthin ein Klumpen aus Energie war. Sanny hingegen war davon überzeugt, daß Chybrain mehr Verstand als ein durchschnittlicher Molaate, mehr Emotionen als selbst der instabilste Solaner und darüber hinaus nahezu magische Fähigkeiten besaß, die ihr und ihren Mitgefangenen in dieser verzweifelten Lage sehr zustatten gekommen wären, wenn sich das fremde Geschöpf nicht plötzlich in Nichts aufgelöst hätte. Sie empfand tiefe Sorge. War Chybrain … gestorben? Sie zögerte, den Gedanken zu formulieren, weil sie nicht wußte, ob ein Wesen wie Chybrain überhaupt sterben konnte. Kurz vor seinem Verschwinden schien er in Bedrängnis gewesen zu sein. Er war erschöpft. Man konnte sich – wenn man annahm, daß er tatsächlich nur aus Energie bestand – ohne Mühe vorstellen, daß ihm die Energie einfach ausgegangen war. Das Nachdenken über Chybrain erfüllte Sanny mit einem
seltsamen Gefühl der Unruhe, das sie nie zuvor empfunden hatte. Ein Gefühl körperlicher Übelkeit packte sie, als hätte sie etwas Verdorbenes gegessen. Sie sah sich um, musterte Oserfan und Ajjar und versuchte festzustellen, ob sie an ähnlichen Beschwerden litten. Das war naiv, gestand sie sich ein. Keiner von ihnen hatte im Lauf der vergangenen dreißig Stunden zu essen bekommen. Ein neues Empfinden, das aus dem Nichts heraus zu materialisieren schien, überraschte sie. Sie wußte nicht, woher der Gedanke gekommen war, aber einen Atemzug lang erschien es ihr attraktiv, in Maske an Bord der SOL zurückzukehren und nachzusehen, wie dort die Dinge standen. Ihr wacher Instinkt warnte sie. »Vorsicht!« sagte sie scharf. »Etwas greift nach uns.« Oserfan wandte sich zu ihr um. Als hielt er es für selbstverständlich, daß sie über die Vorgänge in seinem Bewußtsein informiert sei, sagte er lächelnd: »Was gefällt dir nicht daran? Ich halte es für eine gute Idee.« »Besser, als in dieser winzigen Zelle herumzuhocken«, pflichtete Ajjar bei. »Merkt ihr nicht, woher das kommt?« zischte Sanny zornig. »Woher auch immer«, antwortete Ajjar mit einer Geste, die Gleichgültigkeit ausdrückte. »Alles ist besser als das hier.« Sanny begann zu rechnen. Der Einfluß, den sie spürte, machte ihr wenig aus. Oserfan und Ajjar dagegen schienen ihm bereitwillig zu erliegen. Sie führte ihre Widerstandskraft darauf zurück, daß sie eine paramathematische Begabung besaß, die Atlan »annähernd mutantisch«, genannt hatte. Die suggestive Kraft konnte von nirgendwo sonst als von Hidden-X ausgehen. Und alles, was von dort kam, war auf tödliche Weise gefährlich. Wie würde Hidden-X reagieren, wenn ihm klar wurde, daß es über sie keine Macht hatte? Sanny nahm sich vor, wachsam zu sein. Sie zuckte unwillkürlich zusammen, als Ajjar plötzlich aufsprang. »Wir könnten schon längst unterwegs sein«, sagte er heftig, und
die großen, runden Augen, die seinen kahlen Rundschädel beherrschten, glänzten in fiebrigem Feuer. Sein Blick fiel auf Sanny, und die kleine Molaatin erschrak vor der Intensität des Hasses, der ihr entgegenloderte. »Nur eines hält uns noch zurück.« »Du weißt, was das ist«, bemerkte Oserfan hämisch. »Ja, ich weiß es«, knurrte Ajjar. »Warum unternehmen wir nicht etwas dagegen?« Sanny drückte sich in die Höhe und wich zur rückwärtigen Wand der Zelle zurück. Viel Distanz war es nicht, die sie auf diese Weise zwischen sich und ihre beiden fanatisierten Artgenossen brachte: »Ihr seid verrückt!« stieß sie hervor. »Laßt mich in Ruhe. Geht, wohin ihr wollt … aber laßt mir meinen Frieden.« Oserfan und Ajjar standen vor ihr. Arme und Hände mit dichtem, grünem Pelzbesatz reckten sich ihr entgegen. »Ohne dich dürfen wir nicht gehen«, sagte Ajjar gehässig. »Es läßt uns nicht. Wenn wir also gehen wollen …« Sanny spürte das Rumoren in ihrem Bewußtsein. Hidden-X schleuderte seine gesamte Willenskraft gegen ihre mentale Barriere. Sie wußte, daß sie standhalten würde. Um Hidden-X brauchte sie sich in diesem Augenblick nicht zu sorgen, wohl aber um Ajjar und Oserfan. Sie hatten den Auftrag erhalten, durch physische Gewalt zu bewirken, was psionische Beeinflussung nicht hatte erreichen können. Lasse ich sie gewähren, dann bin ich verloren, fuhr es ihr durch den Sinn. Ich muß sie aus dem Gleichgewicht bringen. Angriff ist die beste Verteidigung. Ajjars ausgestreckte Hand berührte sie. »Nein, nicht …«, jammerte sie ängstlich. Ihr Gewimmer machte Ajjar noch selbstsicherer. »Du glaubst nicht im Ernst«, sagte er höhnisch, »du könntest uns …« Er war seiner Sache so gewiß, daß er den Schlag nicht kommen sah. Sannys Faust traf ihn dicht unter der Schläfe. Er gab einen
überraschten Schrei von sich und taumelte seitwärts. Sanny unterlief ihn, brachte ihn zwischen sich und den völlig verblüfften Oserfan. Sie bekam Ajjars Arm zu fassen, winkelte ihn ab und schleuderte den verstörten Angreifer an die gegenüberliegende Wand. Ajjar gab ein grunzendes Ächzen von sich, als er gegen das harte Metall prallte, und sank haltlos in sich zusammen. »Und jetzt kommst du!« schrie Sanny und stürzte sich auf Oserfan. Sie krümmte sich nach vorne und rammte dem Verdutzten den Schädel in den Leib. Oserfan schnaufte überrascht und ging wimmernd zu Boden. Sanny setzte hinterdrein und begann, ihn mit den Fäusten zu bearbeiten, bis er zeternd um Gnade flehte. »Hör auf!« jammerte er. »Ich … wir wollen nichts mehr … laß ab von mir, ich bitte dich … beim heiligen Graal von Heimat-eins …« Sanny ließ von ihm ab. Schwer atmend richtete sie sich auf. Inzwischen war Ajjar wieder auf die Beine gekommen. Sie witterte Gefahr und wandte sich blitzschnell um. Ajjar aber riß die Arme in die Höhe, um seinen Kopf zu schützen und keuchte: »Ich will nichts mit dir zu tun haben, du Teufelin!« Sanny lachte schallend. Sie war ein wenig verwirrt darüber, daß ihr die Prügelei tatsächlich Spaß gemacht hatte. Aber der Anblick der beiden verhinderten Raufbolde, die mit hängenden Armen vor ihr standen, war mehr, als sie mit ernster Miene verdauen konnte. »Ihr Wahnsinnsknechte!« sprudelte sie hervor. »Hidden-X hat sich in euren Gehirnen eingenistet, und ihr merkt es nicht. Was es mit euch vorhat, ist böse. Aber anstatt auf meine Warnung zu hören, versucht ihr …« Sie brach mitten im Satz ab, als sie merkte, daß ihre Worte keinerlei Eindruck machten. Oserfan und Ajjar hörten ihr nicht einmal zu. Sie blickten einander an, und Ajjar sagte mit halblauter Stimme: »Ich glaube, wir dürfen ohne sie gehen.« Oserfan machte eifrig die Geste der Zustimmung. »Ja, auch ich höre es«, versicherte er. »Es ist so weit. Wir brauchen nicht auf sie zu
warten!« Und dann geschah etwas überaus Verblüffendes. Oserfan und Ajjar lösten sich vor Sannys Augen auf – gerade so, wie Chybrain es vor ein paar Stunden getan hatte. Nur veränderte sich diesmal die Beschaffenheit der Wände nicht. Sie horchte. Es war unheimlich still. Sie drehte sich langsam um die eigene Achse und blickte in jeden Winkel des kleinen Gefängnisses. Es gab keinen Zweifel. Ajjar und Oserfan waren verschwunden. Sie war allein. Auch der Druck, der auf ihrem Bewußtsein gelastet hatte, war verschwunden. Sie kauerte sich auf den harten Boden. Vergebens versuchte sie zu ermitteln, welchen Plan Hidden-X mit ihren beiden Artgenossen verfolgte. Aber ihre paramathematische Fähigkeit, Dinge zu berechnen, die außerhalb der Reichweit des normalen Verstandes lagen, versagte gegenüber dem geheimnisvollen Wesen, das im Flekto-Yn seine Zuflucht gesucht hatte. Sie erinnerte sich an das, was sie selbst empfunden hatte, als Hidden-X seine psionischen Fühler auszustrecken begann. Zurück zur SOL. Nachsehen, was sich dort tut. Es war naiv, von Hidden-X Aufrichtigkeit zu erwarten. Zurück zur SOL war vermutlich ein echter Impuls, aber die Beauftragten hatten dort mehr zu tun, als nur nachzusehen und Informationen zu sammeln. In Maske, fiel Sanny plötzlich ein. Die beiden Molaaten würden, wenn sie die SOL erreichten, dort nicht als Ajjar und Oserfan auftreten. Hidden-X hatte vor, ihnen eine Verkleidung zu verpassen. Dem Meister der Spiegelung ging es darum, seine Handlanger nicht in ihrer wahren Gestalt sehen zu lassen. Die Solaner sollten getäuscht werden. Aber wie – und zu welchem Zweck? »Du hast recht«, flüsterte eine Stimme. »Hidden-X spiegelt sie in einen solanischen Wirtskörper.« Sanny richtete sich kerzengerade auf. »Wer spricht?« fragte sie laut.
»Psst«, flüsterte die fremde Stimme. »Du brauchst deine Stimmbänder nicht anzustrengen. Deine Gedanken reichen aus. Woher willst du wissen, daß Hidden-X diese Zelle nicht abhorcht?« »Wer bist du?« dachte Sanny. »Das ist gleichgültig.« Jetzt spürte sie deutlich, daß die Antwort unmittelbar in ihrem Bewußtsein materialisierte. Den flüsternden Tonfall bildete sie sich nur ein. »Hauptsache ist, wir können uns miteinander verständigen. Ich komme von draußen und weiß einiges, was dir noch unbekannt ist.« »Draußen?« »Von jenseits der Dimensionsfalte. Auf der SOL stehen die Dinge nicht zum Besten.« »Was geht dort vor? Was will Hidden-X mit Oserfan und Ajjar erreichen?« »Es hat vor, sie mit dem Körper eines Solaners zu umgeben und sie beobachten zu lassen, wie sich seine Rache vollzieht. Hidden-X hat einen giftigen Keim an Bord der SOL gepflanzt und will wissen, wie er sich verbreitet.« »Sie sollen ihm darüber berichten?« »Ja, so ist es vorgesehen.« Sanny lächelte still vor sich hin. »Willst du spielen?« fragte sie plötzlich. »Ich kann nicht. Ich habe keine Kraft … heh, was ist das für eine dumme Frage?« Der Besitzer der Mentalstimme hatte erkannt, daß er überrumpelt worden war. »Glaubst du, du kannst mir etwas vormachen?« fragte Sanny gutgelaunt. »Wo steckst du, Chybrain?« Die Antwort kam nicht sofort. Erst nach einer geraumen Weile meldete sich die geistige Stimme wieder. »Ich kann es dir nicht sagen.« Das Bewußtsein, aus dem die Gedanken kamen, stand unter dem Einfluß psychischer Qual. »Wenn ich es dir sagte, würdest du mich … würdest du mich …«
Sanny erschrak. Sie erinnerte sich an die Unruhe, die sie empfunden hatte, während sie über Chybrains Schicksal nachdachte. An das Gefühl der Übelkeit, als hätte sie etwas Verdorbenes gegessen. Nein, das kann nicht wahr sein! »Es ist wahr«, flüsterte Chybrain. »Ich bin in dir. Dein Körper war das einzige Versteck, das mir sicher genug erschien.«
* »Und jetzt – was?« fragte Sanny, nachdem sie den Schock überwunden hatte. »Ich habe ein paar Stunden Zeit gehabt, Kräfte zu sammeln«, antwortete Chybrain, wesentlich zuversichtlicher gestimmt, seitdem er erkannt hatte, daß das gegenwärtige Arrangement Sanny nicht belastete. »Nein – nicht auf deine Kosten. Meine Kräfte kommen aus einer anderen Quelle. Ich bin noch lange nicht wiederhergestellt. Aber ich brächte es zuwege, eine Öffnung in der Wand dieser Zelle zu schaffen.« »Wozu«, wollte Sanny wissen. »Damit wir uns im Labyrinth des Flekto-Yn verirren?« »Überleg dir, welche andere Wahl noch bleibt«, antwortete das Energiewesen. »Hidden-X hat die Hoffnung aufgegeben, daß es dich auf geistigem Weg unter Kontrolle bringen könne. Es hat vor, dich hier verhungern zu lassen. Deine Überreste sollen die Bakwer beseitigen.« »Was sind Bakwer?« »Ich weiß es nicht. Es spielt auch keine Rolle. Willst du hier verhungern?« »Nein«, sagte Sanny. Ironisch gestimmt fügte sie hinzu: »Und dir wäre mit einem verhungerten Körper als Versteck vermutlich ebensowenig gedient.«
»Laß das«, wies Chybrain sie zurecht. »Ich verdiene keinen Spott. Wer war es, der dich vor Hidden-X´ bösen Psi-Kräften gerettet hat?« Erstaunt horchte Sanny auf. »Du warst das?« murmelte sie. »Und ich dachte …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Dankbarkeit erfüllte sie. Sie war der Ansicht gewesen, ihrer paramathematischen Gabe sei es zu verdanken, daß Hidden-X ihr nichts anhaben konnte. Jetzt erst kam ihr zu Bewußtsein, wie lächerlich diese Annahme gewesen war. Chybrain empfand die Regung, die ihr Herz bewegte. »So ist es besser«, sagte seine Gedankenstimme freundlich. »Wir sind aufeinander angewiesen. Ich brauche deine Stärke, und du brauchst meinen Schutz gegen Hidden-X.« »Ich bin einverstanden«, antwortete Sanny feierlich. »Du befreist uns aus dieser Zelle. Was wird, wenn wir draußen sind?« »Wir sehen uns um. Hidden-X hält dich hier für sicher. Eine Zeitlang zumindest werden wir seiner Aufmerksamkeit entgehen. Vielleicht gelingt es uns, die Transmitterhalle wiederzufinden, in die ihr die befreiten Sklaven führtet …« »Hidden-X wird dafür gesorgt haben, daß wir den Transmitter kein zweites Mal gegen seinen Willen in Betrieb nehmen können«, unterbrach Sanny. »Oder eine andere Transmitterstation«, hielt Chybrain ihr entgegen. »Wer weiß, wie viele solcher Anlagen es im Flekto-Yn gibt. Außerdem darfst du nicht vergessen, daß Atlan bemüht ist, die Dimensionsfalte zu durchstoßen. Wenn er hier auftaucht, müssen wir beweglich sein! Nichts ist sinnloser, als untätig hier herumzusitzen.« »Ich sagte schon, ich bin einverstanden«, antwortete Sanny. »Wann willst du anfangen.« »Jetzt.«
* Sie hatte versucht, sich vorzustellen, wie es sein würde, und in der entscheidenden Sekunde aus Furcht vor dem Unbekannten unwillkürlich die Augen geschlossen. Sie empfand nichts. Der Schmerz, den sie erwartet hatte, blieb aus. Verwundert fragte sie sich, ob Chybrains Vorhaben fehlgeschlagen sei. Sie machte die Augen auf … Da schwebte er vor ihr, ein eiförmiges Gebilde, dessen Körperoberfläche in den vertrauten Farben Rot und Grün schillerte. Er glitt auf die Wand der Zelle zu, und alsbald begann das Metall auf merkwürdige Art zu leuchten. Es schien zu zerfließen; aber es war kein Schmelzprozeß im herkömmlichen Sinn. Es entstand keine Hitze dabei. Eine Öffnung wurde geschaffen. Sie war von unregelmäßiger Form und gerade so groß, daß Sannys zwergenhafter Körper sich hindurchzwängen konnte. Besorgt musterte sie Chybrain. Das rote und grüne Schillern war stumpf geworden und wich einem fahlen Grau. »Groß genug?« Seine Mentalstimme hatte einen matten, erschöpften Klang. »Groß genug, Chybrain«, antwortete sie. »Du mußt dich ausruhen.« »Ich komme schon.« Im nächsten Augenblick war das Wesen aus Jenseitsmaterie verschwunden. Sanny wußte, daß es in ihrem Körper Schutz gesucht hatte. Aber wiederum spürte sie nichts. Das leise Gefühl der Übelkeit war längst vergangen. Ich gewöhne mich allmählich daran, mit Chybrain schwanger zu gehen, dachte sie belustigt. Dann machte sie sich daran, durch die Öffnung zu kriechen. Das Loch tunnelte durch eine Wand von einem halben Meter Dicke. Sie bestand aus reinem Nickel. Es war müßig, darüber zu spekulieren, wozu eine Wand von solcher Stärke gebraucht wurde.
Das Verständnis der Motive, die Hidden-X bewegten, war herkömmlicher Logik nicht zugänglich. Draußen erstreckte sich ein kahler, hell erleuchteter Korridor, der in weitem Bogen aufwärts (links) und abwärts (rechts) kurvte. »Wohin?« dachte Sanny. »Ich weiß es nicht«, lautete Chybrains Antwort. »Ich hatte nicht mehr genug Kraft, das Flekto-Yn zu erforschen, bevor ich mich in dir versteckte.« Sanny wog beide Möglichkeiten gegeneinander ab. Der Gang lag still und verlassen. Von nirgendwo her kam ein Geräusch. Sie entschied sich für den Weg nach rechts, weil die Steigung des Korridors nach links beachtlich war und sie keinen Grund sah, warum sie sich körperlicher Anstrengung unterziehen sollte, solange sie nicht wußte, ob die Mühe sich lohnte. Hidden-X hatte sie und ihre beiden Artgenossen aus der Transmitterhalle auf eine Weise entführt, die ihr keine Möglichkeit der Orientierung ließ. Sie wußte nicht, wo im Innern des Flekto-Yn sie sich befand. Sie hatte wenig Ahnung vom inneren Aufbau des Flekto-Yn. Ihr Wissen beschränkte sich darauf, daß es riesengroß und über alle Maßen komplex war. Sie trottete den Korridor hinab. Mehrere hundert Meter legte sie zurück, ohne daß ihr auch nur eine einzige Abzweigung in den Weg kam. Wände, Decke und Boden des Ganges waren glatt und fugenlos und bestanden aus schimmerndem Nickel – wie fast alles in dieser Festung, in der Hidden-X Zuflucht gesucht hatte. Mitunter war die Beleuchtung so eigenartig, daß sie die Kanten des Korridors verschwinden ließ. In solchen Augenblicken kam Sanny sich vor, als bewege sie sich durch eine lichterfüllte, konturlose Weite. Im Innern des Flekto-Yn herrschte eine künstliche Schwerkraft, deren Wert dem entsprach, den die kleine Molaatin von der SOL her gewöhnt war. Sie schrie entsetzt auf, als das vertraute Gefühl der Gravitation plötzlich aussetzte. Der Magen wollte sich ihr umstülpen, und voller
Schreck erkannte sie, als die Beleuchtung Konturen wieder hervortreten ließ, daß das schimmernde Metall ihrer Umgebung sich an ihr vorbei nach oben bewegte. »Keine Angst, es ist weiter nichts als ein Antigravschacht«, hörte sie Chybrains geistige Stimme. Der sanfte Fall dauerte etliche Minuten. Aus der Tiefe drangen Geräusche herauf. Sanny beugte sich zur Seite, so daß sie nach unten blicken konnte; aber der Schacht bot sich ihren Augen dar wie ein spiegelndes Rohr, das sich bis in die Unendlichkeit zu dehnen schien. Der sanfte Aufprall auf die Schachtsohle kam für Sanny völlig überraschend. Mit einemmal spürte sie die vertraute Schwerkraft wieder. Sie sah sich um und entdeckte im verwirrenden Geglitzer der Wände eine schmale Öffnung. Jenseits lag ein Gang, der sich abwärts senkte. Je weiter sie sich vom Schacht entfernte, desto mehr veränderte sich die Beleuchtung. Die in Wänden und Decken verborgenen Lichtquellen strahlten in verschiedenen Farben. Dadurch entstanden Kontraste, die es Sanny leichter machten, sich zu orientieren. Der Lärm, den sie während des Abstiegs schon gehört hatte, wurde lauter. Sie vernahm krachende, metallische Geräusche und aufgeregtes, schrilles Zirpen, bei dem es sich um die akustischen Äußerungen eines fremden Lebewesens handeln mochte. Voller Neugierde eilte sie voran. Aber Chybrain warnte sie: »Sei vorsichtig. Du weißt nicht, was auf uns zukommt.« Die Wände des Korridors traten plötzlich zur Seite. Vor Sanny senkte sich der Boden in Form einer Rampe in einen großen, höhlenähnlichen Raum hinab. Wie der Raum im einzelnen gestaltet war, blieb Sanny zunächst verborgen. Unmittelbar vor ihr spielte sich ein Geschehen ab, das ihre gesamte Aufmerksamkeit beanspruchte. Zuerst erkannte sie weder Sinn noch Zusammenhang. Dann aber wurde ihr klar, daß sie Augenzeugin eines erbitterten Kampfes wurde. Die Teilnehmer der Auseinandersetzung waren ein metallen
schimmerndes, ellipsoides Gebilde, offenbar ein Roboter, der sich mit erratischen Bewegungen gleitend durch die Luft bewegte, und fünf kugelförmige, haarige Wesen, die es eindeutig darauf abgesehen hatten, dem Roboter den Garaus zu machen. Die Kugeln hätten Durchmesser zwischen 40 und 60 Zentimetern, trugen einen dichten, dunkelblauen bis schwarzen Pelzbesatz und waren unglaublich beweglich. Sie huschten den Boden entlang und an den Wänden empor und entwickelten dabei Geschwindigkeiten, die das Auge verwirrten. Sanny gewann zuerst den Eindruck, sie bewegten sich rollend und kugelnd. Erst später erkannte sie an gewissen Malen des Pelzbesatzes, daß die Kugelwesen stets dieselbe Haltung einnahmen. Sie besaßen anscheinend an der Körperunterseite Fortbewegungsmechanismen, denen sie ihre Flinkheit verdankten. Fasziniert beobachtete Sanny, wie eines der Pelzgeschöpfe an der Wand des Höhlenraums emporschoß, sich abstieß und im Sprung gegen den torkelnden Roboter pralle. Der Robot mußte im bisherigen Verlauf des Kampfes bereits Schäden erlitten haben, sonst hätte er versucht, über die Rampe hinweg zu entkommen. Der Zusammenstoß schleuderte ihn beiseite. Er prallte gegen die Wand und glitt haltlos taumelnd nach unten. Einer seiner Greifarme (oder war es eine Antenne?) hing schlaff herab. Die Pelzwesen stürzten sich auf das nahezu hilflose Opfer. Sie begruben es unter sich. Am gelegentlichen Zucken des haarigen Knäuels erkannte Sanny, daß der Robot noch ein paar vergebliche Abwehrbewegungen machte. Sie konnte nicht sehen, womit die kugelförmigen Geschöpfe beschäftigt waren, aber sie machten den Eindruck nahezu hektischer Aktivität, und dabei erzeugten sie eine Vielzahl knirschender, krachender und knacksender Geräusche. Minuten später ließen sie von ihrem Opfer ab. Sie wichen auseinander. Sannys Blick fiel auf den Ort, an dem der Robot zu Boden gegangen war – und ihre Augen weiteten sich in ungläubigem Staunen. Keine Spur von dem unglückseligen Maschinenwesen war mehr zu sehen.
»Wir ziehen uns besser zurück«, warnte Chybrain in diesem Augenblick. »Wir wollen nicht, daß sie auf uns aufmerksam werden.« Sanny gehorchte, ohne sich lange zu besinnen. Sie hastete den sanft ansteigenden Korridor zurück. Von Zeit zu Zeit blieb sie stehen, um zu lauschen. Es war still ringsum. Kein Laut drang mehr aus dem höhlenähnlichen Raum, in dem der merkwürdige Kampf stattgefunden hatte. Allmählich gewann Sanny die Fassung wieder. »Was für Geschöpfe waren das?« wollte sie wissen. »Das waren die Bakwer, von denen ich schon früher zu dir sprach«, antwortete Chybrain. »Was haben sie mit dem Roboter gemacht?« »Sie haben ihn aufgefressen. Die Bakwer sind der organische Reinigungsmechanismus des Flekto-Yn.«
3. Atlan streckte sich in seinem Lieblingssessel, daß die Glieder des alten Möbelstücks knackten. Er faltete die Hände über dem Leib und starrte in die Dunkelheit. Gebt mir eine Stunde, dachte er flehentlich, damit ich mit meinen Gedanken ins reine komme. Er hatte die Beleuchtung in seinem Quartier in SOL-City gelöscht, um von nichts abgelenkt zu werden. Er brauchte diese Ruhepause, wenn er seinen Verstand nicht verlieren wollte. Zuviel war in den vergangenen Tagen geschehen. Die Ereignisse hatten sich überstürzt, und zum größten Teil waren sie unerfreulicher Natur gewesen. Es hatte mit Hidden-X' höhnischer, telepathischer Botschaft begonnen, die Rache sei vollzogen. Auf die Gefangennahme der drei Molaaten – Sanny, Oserfan und Ajjar – über die er im gleichen Atemzug berichtete, konnten sich seine Worte nicht beziehen. Denn wie wollte er sich an den Solanern mit der Festsetzung dreier
Molaaten rächen? Die wahren Zusammenhänge hatten sich nur zögernd offenbart. Es war Hidden-X gelungen, einen toxischen Keim an Bord der SOL zu schmuggeln. Die Solaner sollten unfruchtbar gemacht werden. Hidden-X, für den Zeit ohne Bedeutung war, hätte damit den gewünschten Sieg über den verhaßten Gegner errungen. Er hätte nur zu warten brauchen, bis die gegenwärtige SolanerGeneration eines natürlichen Todes starb, und die SOL wäre ihm von selbst in die Hand gefallen. In seiner Überheblichkeit hatte Hidden-X jedoch einen entscheidenden Fehler begangen. Es hielt die Besatzung der SOL für eine homogene Masse gleichartiger Wesen und hatte sich die Buhrlo-Frau Hreila Morszek als Keimträgerin ausgesucht – ohne zu ahnen, daß die Biologie der Buhrlos sich in wesentlichen Zügen von denen der herkömmlichen Solaner unterschied. Der Keim, den Hage Nockemann schließlich isoliert hatte, war sofort wirksam geworden – aber nur unter den Buhrlos. Nockemann sagte voraus, daß die Geburtenrate der Buhrlos sich während dieser und kommenden Generationen drastisch verringern werde. Hreila Morszek und ihr Begleiter Tristan Bessborg fanden im Verlauf der Wirren den Tod. Aber damit begann der eigentliche Alptraum erst. Plötzlich war ein neuer Bessborg an Bord der SOL aufgetaucht. Er verhielt sich feindselig, verwickelte ein solanisches Suchkommando in ein mit scharfen Waffen geführtes Scharmützel und fand den Tod, wobei von seinem Körper nur wenig übrigblieb. Reste seiner Körpersubstanz wurden an das galakto-genetische Labor zur Analyse gesandt, und Hage Nockemann stellte zu jedermanns Verblüffung fest, daß es sich bei dem vermeintlichen Tristan Bessborg um einen Molaaten »in Maske« gehandelt haben müsse. Die Entwicklung strebte dem Höhepunkt entgegen, als kurze Zeit später ein weiterer Tristan Bessborg gemeldet wurde. Diesem ging man, um den Fehler nicht zu wiederholen, behutsamer zu Leibe. Auch er verlor schließlich das Leben; aber bevor er starb, brach seine Maske in sich zusammen, und zum Vorschein kam – Oserfan. Mit
seinen letzten Worten gab er zu verstehen, daß Hidden-X Sanny, Ajjar und ihn eingefangen und in seine Dienste gepreßt habe. Oserfan wußte nicht, wer der erste Molaate gewesen war, den Hidden-X in der Maske des Tristan Bessborg an Bord der SOL geschickt hatte. Es konnte nur Ajjar oder Sanny gewesen sein. Der Gedanke, daß ein übereifriger Solaner womöglich ausgerechnet der allseits beliebten Paramathematikerin das Lebenslicht ausgeblasen hatte, rief lähmendes Entsetzen hervor. Mittlerweile starb Oserfan in Frieden, nachdem er zuletzt noch erfahren hatte, daß sich sein Volk auf dem Weg in die angestammte Heimat befand. In die Sorge um Sannys Schicksal mischte sich der Kummer über Akitars Verbleib. Der Chailide war durch Wajsto Kölschs Bemühung von seiner Heimatwelt zur Zone-X gebracht worden. Atlan und Breckcrown Hayes hofften, daß sie mit Hilfe der paramental begabten Chailiden einen Abwehrwall gegen den Mentaldruck errichten könnten, mit dem der Gegner das Innere der Zone-X erfüllte. Akitar hatte dem Vorhaben nicht ablehnend gegenübergestanden. Er wolle sich zuerst einmal umsehen, war seine Reaktion gewesen. Bereits beim ersten Vorstoß in die Tiefe der Zone war er verschollen, und es gab vorläufig keinen Hinweis darauf, was ihm zugestoßen war. Zu den wenigen erfreulichen Ereignissen der jüngsten Vergangenheit gehörte die Auffindung der Unterlagen, die für den Bau eines Hypervakuum-Verzerrers gebraucht wurden. Chybrain hatte Sanny von der Existenz der Daten während eines ihrer privaten Gespräche berichtet – Sanny war die einzige, die sich mit Chybrain auf pseudotelepathische Art und Weise »unterhalten« konnte. SENECA behauptete, er wisse nichts von den Unterlagen. Es war der Roboter Blödel, der den winzigen, inpotronik-kompatiblen Datenträger schließlich fand – im Innern des Erdklumpens, der einst Valara Brackfaust gehört hatte und angeblich von Terra stammte. SENECA verstand die Daten nicht – das heißt: Es fehlte ihm die Kenntnis der fremden Technologie, deren Produkt der
Hypervakuum-Verzerrer war – aber er konnte sie verarbeiten und entschied, daß sie ein Objekt beschrieben, das mit Bordmitteln gebaut werden konnte. Man hatte sofort mit dem Bau begonnen, an einem Ort, der ein Lichtjahr weit in sicherer Entfernung von der gefährlichen Zone-X lag. Vier bis acht Wochen, schätzte SENECA, würden die Konstruktionsarbeiten in Anspruch nehmen. Dann, so hoffte Atlan, stand der SOL ein Gerät zur Verfügung, mit der die Dimensionsfalte durchdrungen werden konnte, hinter der sich Hidden-X versteckt hielt. Oggar und der HORT waren zurückgekehrt. Die Molaaten hatten sich auf ihren Heimatwelten, die von den Ysteronen mit schuldbewußtem Eifer wiederaufgebaut worden waren, niedergelassen. Friede herrschte in All-Mohandot und seinen vorgelagerten Sterneninseln. Auch das war eine Entwicklung, die Atlan unter die positiven Aspekte der vergangenen Wochen einreihte. Zum Schluß – vor vier Tagen Standardzeit, um genau zu sein – war noch eine Entwicklung eingetreten, die den Arkoniden verwirrte. Weit außerhalb der Zone-X hatten die Geräte der SOL ein Objekt geortet, bei dem es sich nur um Wöbbeking handeln konnte. Nun galt Wöbbeking im allgemeinen als ein Freund der Solaner, hatte er ihnen – und im besonderen Atlan – doch schon mehrere Male gegen tödliche Bedrohungen zur Seite gestanden. Aber diesmal hatte er dem Arkoniden eine telepathische Botschaft zukommen lassen, die einen Vorwurf enthielt. Er wollte wissen, warum Atlan sich nicht mehr um Chybrain gekümmert habe. Der Arkonide war ihm die Antwort schuldig geblieben. Er verstand den Sinn der Frage nicht. Seitdem legte Wöbbeking ein höchst seltsames Verhalten an den Tag. Er näherte sich der Zone-X mit seiner charakteristischen Wandergeschwindigkeit von 50 Prozent Licht, jedoch auf erratischem Kurs. Plötzlich war er verschwunden, tauchte Stunden später an einem weit entfernten Ort wieder auf und begann das seltsame Manöver von neuem. So ging
es nun schon seit Tagen, und die einzige Erklärung, die SENECA für Wöbbekings eigenartiges Gehabe finden konnte, lautete: »Er versucht, sich an die SOL heranzuschleichen, ohne daß HiddenX ihn bemerkt.« Niemand hatte widersprochen, so unsinnig SENECAS Feststellung sich auch anhören mochte. Man wußte nicht, welche Mittel der Wahrnehmung Hidden-X und welche Möglichkeiten der Tarnung Wöbbeking zur Verfügung standen. Es war schwer zu glauben, daß der Unsichtbare jenseits der Dimensionsfalte einen Vorgang übersehen könne, den die Orter der SOL mühelos registrierten. Nur eines stand fest: Von all den mitunter skurrilen und grotesken Erklärungen, die einem in den Sinn kommen mochten, war SENECAS die plausibelste. Wöbbeking war vor fünf Stunden zum letzten Mal wahrgenommen worden. So lange hatte er sich noch nie zuvor versteckt gehalten. Atlan spürte, daß eine Entscheidung auf ihn zukam. Die Denkpause hatte ihn beruhigt und gekräftigt. Er schaltete die Beleuchtung ein und trat zu seinem Arbeitstisch, über dem ein kleines, dreidimensionales Bild der Molaatin Sanny schwebte. Aus dem Bild heraus lächelte sie ihn keck an. Zwei große, leuchtende Augen beherrschten das intelligente Gesicht. Der zwergenhafte Körper, ganze 47 Zentimeter groß, trug einen dichten, grünen Pelzbesatz; lediglich der Schädel war völlig kahl. Wie alle Wesen ihrer Art trug Sanny einen Lendenschurz, der von einem Gürtel gehalten wurde, von dem allerlei Beutel und sonstige Behältnisse herabbaumelten. Sannys einziges anderes Kleidungsstück war ein Umhang aus dünnem, weichem Fell, den sie über der Schulter mit einer Spange geheftet hielt. Atlan musterte das Bild lange und nachdenklich und erwiderte das Lächeln. »Gebe Gott, daß wir uns wiedersehen, Sanny«, sagte er halblaut. Ein Gedanke entstand in seinem Bewußtsein, deutlich und mit Nachdruck. Nein, er hatte nichts mit Sanny zu tun. Der Arkonide
hörte eine kräftige Mentalstimme sagen: »Ich, Wöbbeking, bin gekommen, um mit dir zu sprechen.« Weit im Hintergrund zirpte blechern ein Warngerät. Die Orter hatten den mächtigen Körper erfaßt, der aus dem Nichts materialisiert und längsseits der SOL gegangen war. »Ich bin bereit, Wöbbeking«, antwortete Atlan.
* »Du siehst ziemlich mau aus«, begrüßte Blödel seinen Erbauer, als er ihm an diesem Morgen zum ersten Mal über den Weg lief. »Nebbich«, brummte Hage Nockemann. »Das muß man in Kauf nehmen. Ohne Fleiß kein Preis, ohne Schmerz kein Herz. Außerdem – wozu habe ich einen Schrank voll Phynezedrin?« Er entnahm dem Behältnis eine kleine, grellblau gefärbte Kapsel, drehte sie zwischen den Fingern und sah sich unschlüssig um. »Sei ein Freund, Blödel«, bat er, »und schaff mir einen Becher Wein herbei – von dem weißen, leichten. Der hilft mir …« »Hol ihn dir selber«, fiel ihm der Robot grob ins Wort. »Alkohol und Drogen! Ich mache nicht deinen Komplizen, wenn du dich vergiften willst.« Nockemann musterte ihn empört. »Du bist wirklich noch einfältiger, als dein Name sagt«, stellte er fest und zapfte sich das Gewünschte aus einem Servohahn, der die Aufschrift FORMALDEHYD trug. »Ich will was von dir wissen«, sagte Blödel, während sein Herr die blaue Kapsel mit einem entschlossenen Schluck hinunterspülte. »Was?« »Bin ich etwa auch ein perfid-hick-komplexer Roboter?« Hage Nockemann blinzelte amüsiert. Phynezedrin war eine überaus rasch wirkende Droge. »Was bringt dich auf die Idee?« wollte er wissen.
»Ich habe mir gestern Nacht deine Unterlagen angeschaut …« »Wer hat dir das erlaubt?« erkundigte sich der Wissenschaftler mit gespielter Entrüstung. »Niemand. Schließlich geht es um mein eigenes Dasein, und da sollte ich nicht das selbstverständliche Recht haben, mir anzusehen, was du über mich zusammenfaselst?« Nockemann sah ihn an und schüttelte den Kopf. »Ich muß mir die Basisprogrammierung deines interpersonellen Verhaltenssektors ansehen«, murmelte er wie im Selbstgespräch. »Du wirst mir zu frech. Kein einziges Wort bekommst du aus mir heraus, solange sich dein Benehmen nicht bessert.« »Bitte, bitte …« bettelte Blödel. »Ich mein's ja nicht so.« »Also gut. Nein, du bist kein perfidkomplexer Robot. Aber du stehst nahe an der Grenze. Um genau zu sein: Als ich dich umbaute, schwebten mir die Umrisse der PKR-Theorie schon vor.« Blödels Auge starrte den Wissenschaftler an, als wolle es ihn hypnotisieren. »Was sonst noch?« fragte Nockemann. »Perfid heißt soviel wie treulos, nicht wahr?« »Treulos, untreu – so was Ähnliches. In dem Zusammenhang, in dem ich das Wort gebrauche, bedeutet es ›nicht arttreu‹.« »Was heißt das?« »Gott der Gerechte!« regte Nockemann sich auf. »Gelesen hast du alles, nicht wahr, und verstanden kein einziges Wort!« »Roboter gehören keiner Art an«, widersprach Blödel. »Deshalb kann ich den Begriff ›nicht arttreu‹ nicht verarbeiten.« »Oh, da täuschst du dich aber«, belehrte ihn der Wissenschaftler mit erhobenem Finger. »Von wem stammt deine Programmierung?« »Von einem Computer.« »Und dessen Programmierung? Deine Logik, ob du es wahrhaben willst, ist typisch menschlich. Du denkst entlang derselben Bahnen wie ein Mensch.« »Ich bin also ein Mensch?«
»Bewahre! Du bist eine Blechkiste. Dein Denkmuster ist menschlich.« »An welcher Stelle kommt die Perfidie ins Spiel?« »Die klassischen Philosophen forderten eine Harmonie zwischen Form und Gehalt«, antwortete Hage Nockemann, der mit einemmal ernst geworden war. »Eine solche Harmonie stellen Körper und Geist des Menschen dar – von Ausnahmefällen abgesehen. Im Gehirn des Menschen spielten sich ganz andere Vorgänge ab, wenn er vier Arme statt zwei oder drei Nasen statt einer hätte. Oder wenn er die Form einer Qualle besäße. Verstehst du?« »Ja«, bestätigte Blödel. »Wenn also einer herginge und den Geist eines Menschen in einen nichtmenschlichen Körper steckte, dann zerstörte er die natürliche Harmonie. Er erzeugte einen Hybriden, ein perfides Wesen, wie ich es nenne.« »Was hat das mit Robotern zu tun?« »Das fragte ich mich zu Anfang auch. Wenn Geist und Körper von Natur aus aufeinander abgestimmt sind, dann müßte die Forderung nach Harmonie eigentlich auch für ein künstliches Geschöpf erhoben werden können. Gesetzt den Fall, ich baute einen Roboter mit drei Armen. Natürlich kann ich mir Anwendungen für den dritten Arm ausdenken, aber meine Gedanken sind die eines zweiarmigen Menschen. Wenn ich selbst drei Arme hätte, würden mir wahrscheinlich ganz andere Dinge einfallen. Ich statte den dreiarmigen Roboter mit einem positronischen Bewußtsein aus, das auf der Basis zweiarmiger Logik programmiert wurde. Der Roboter wird mit seinem dritten Arm etwas anzufangen wissen; denn ich, der Programmierer seines Bewußtseins, habe mir eine Menge einfallen lassen. Wieviel mehr aber könnte er damit ausrichten, wenn er von einem Dreiarmigen programmiert worden wäre? Und viel schlimmer noch: Wenn es sich um einen Roboter handelt, der von sich aus neues Wissen aufnehmen und verarbeiten kann, wird er eines Tages nicht dahinterkommen, daß er unzureichend
programmiert wurde? Und entsteht aus dieser Erkenntnis ein psycho-positronisches Trauma?« Hage Nockemann hatte sich – wie immer, wenn es um eines seiner wissenschaftlichen Lieblingsthemen ging – in Eifer geredet. Er begleitete seine Worte mit den Armbewegungen eines Dirigenten. Das strähnige, schmutzig graue Haar wirbelte ihm um den Kopf, und wenn er nach einem passenden Ausdruck suchen mußte, dann fuhr die eine Hand unwillkürlich zum Schnauzbart und begann, dessen Enden zu zwirbeln. »Ich habe Tentakel anstelle von Armen«, bemerkte Blödel. »Richtig. Insofern bist du anders. Aber du hast zwei Tentakel, nicht vier oder acht. Ich sagte schon, du stehst nahe der Grenze. Die wahren Probleme entstehen in den Fällen solcher Roboter, die körperlich gänzlich anders gebaut sind als ihre Erschaffer und dennoch nach deren Logik denken müssen. Ich stelle mir vor, da kann es zu ganz ernsthaften Fehlentwicklungen kommen. Natürlich spreche ich nur von Robotern mit autarker Intelligenz – nicht von Maschinen, die für bestimmte Zwecke gebaut werden und nicht in der Lage sind dazuzulernen.« »Mit anderen Worten: Du sprichst von Robotern wie mir«, stellte Blödel fest. »Das ist richtig.« Blödels großes Auge nahm einen eigenartigen Glanz an. Er hob den rechten Fuß und begann, einen monotonen Takt auf den Boden zu klopfen. Die grünen Plastikfäden seines Schnauzbarts zuckten, als er im gleichen Rhythmus zu sprechen begann: »Harmonie – Formundgehalt … Harmonie – Formundgehalt …« Er wandte sich um und stapfte davon. Seine Stimme wurde lauter. »Harmonie – Formundgehalt … Harmonie – Formundgehalt …« Hage Nockemann sah mit besorgtem Blick hinter ihm drein. »Mein Gott, jetzt ist er vollends übergeschnappt«, murmelte er.
* Einen Unbefangenen hätte der Anblick womöglich erschreckt. Der Bildschirm in Atlans Unterkunft zeigte ein riesiges, eiförmiges Gebilde, das auf der Steuerbordseite der SOL schwebte – ein Ellipsoid von mehr als zwei Kilometern Länge und einer Dicke von über zwölfhundert Metern. Die Oberfläche des Eis bestand aus einer verwirrenden Fülle sechseckiger Plättchen, die aus der Ferne winzig wirkten, obwohl jede der Kanten zwanzig Meter lang war. Der geheimnisvolle Körper besaß ein geringes Maß an Eigenstrahlung. Die Sechsecke leuchteten in mattem Grün und hellem Rot, den charakteristischen Farben der Jenseitsmaterie. Auf der kleineren Bildfläche des Interkoms war Breckcrown Hayes besorgtes Gesicht zu sehen. »Ich habe Kontakt mit ihm«, sagte Atlan. »Bitte, laßt mich gewähren.« Hayes nickte. »In Ordnung. Wir stören dich nicht.« Die Verbindung erlosch. Der Arkonide konzentrierte sich auf seine Gedanken. »Ich habe deine Frage gehört«, dachte er. »,Warum hast du dich nicht mehr um Chybrain gekümmert?' Ich verstehe sie nicht.« Das riesige Ei lag reglos. Atlan nahm zur Kenntnis, daß Wöbbeking dort materialisiert war, wo ihn der Leib der SOL gegen direkte Sicht aus dem Zentrum der Zone-X schützte. War das Absicht? Benützte Wöbbeking die SOL als einen Teil seiner Deckung? »Chybrain ist in Gefahr«, kam die Antwort. »Er ist hinter der Dimensionsfalte verschwunden. Er ist erschöpft. Wenn ihm nicht geholfen wird, kann es sein, daß er Hidden-X in die Hände fällt.« »Warum soll ich daran schuld sein?« fragte Atlan. »Es ist deine Pflicht, ihm zu helfen!« »Ich bin bereit dazu. Was mir fehlt, ist eine Möglichkeit, die Falte
zu durchdringen. Aber sag mir eines: Warum kannst du Chybrain nicht helfen?« »Das blaue und das antigelbe Gluon begegnen einander nicht«, antwortete Wöbbeking mit einem Vergleich aus der subnuklearen Teilchenphysik, dessen Bedeutung Atlan für den Augenblick entging. »Hidden-X auf der einen, Chybrain und ich auf der anderen Seite sind für immer voneinander getrennt. Du weißt das. Ich verstehe deine Frage nicht.« Atlan schüttelte verzweifelt den Kopf. »Du vermutest viel mehr Wissen in mir, als ich in Wirklichkeit besitze«, formulierte er seine Antwort. »Außerdem ergeben deine Gedanken keinen Sinn. Wenn das blaue und das antigelbe Gluon einander niemals begegnen, wie kann Chybrain dann Hidden-X in die Hände fallen?« »Die Antwort steckt in dir«, erklärte Wöbbeking. »Du besitzt das Wissen. Du brauchst nur darüber nachzudenken. Du bist bereit, Chybrain zu helfen?« »Das sagte ich.« »Ich schaffe dir einen Weg.« Atlan horchte auf. Es lag ihm nicht daran, dem geheimnisvollen Wesen zu widersprechen; aber er brauchte Informationen. Wöbbeking gab sich zurückhaltend. Wenn er mehr von ihm erfahren wollte, mußte er ihn in eine längere Unterhaltung verwickeln. »Ich bin dabei, meinen eigenen Weg zu bauen«, sagte er. »Ich weiß davon«, antwortete Wöbbeking. »Es ist ein nützliches Unterfangen. Wenn der Augenblick kommt, da du zur entscheidenden Auseinandersetzung mit Hidden-X antrittst, wird der Weg, den du baust, dir dienlich sein. Aber bis dahin müssen noch zwei andere Voraussetzungen erfüllt sein.« Er weiß vom Bau des Hypervakuum-Verzerrers, dachte der Arkonide erstaunt. Unter den anderen Voraussetzungen, die Wöbbeking erwähnt hatte, konnte er sich im Augenblick nichts vorstellen.
»Chybrain braucht deine Hilfe jetzt«, fuhr das fremde Wesen fort. »Er kann nicht warten, bis du deine Straße gebaut hast.« »Hast du die Kraft, mich ins Hypervakuum zu bringen?« fragte Atlan. »Hält Chybrain sich dort auf?« »Wenn er noch existiert, ist er dort«, sagten Wöbbekings Gedanken. »Im Hypervakuum, im Flekto-Yn. Was den ersten Teil deiner Frage betrifft: Ja, ich habe die Kraft. Ich kann dich und deine Begleiter durch die Dimensionsfalte befördern. Aber die Zeit wird knapp.« »Begleiter?« echote der Arkonide. »Das Risiko ist zu groß. Ich kann niemand sonst den Gefahren aussetzen, die im Flekto-Yn lauern.« »Nimm Roboter«, riet Wöbbeking ungerührt. »Ja, das ginge …« »Nicht mehr als fünf. Für dich und fünf Roboter kann ich den Weg bahnen. Was darüber hinausgeht, ist ein Risiko, das wir vermeiden können. Noch eines!« »Ja?« »Hidden-X wird verwirrt und entsetzt sein, wenn du unerwartet in seinem Reich auftauchst. Das ist gut so. Daraus entsteht dir ein Vorteil. Es wird wissen wollen, wie es dir gelungen ist, die Dimensionsfalte zu durchstoßen. Es darf niemals erfahren, daß es Wöbbeking war, der dir geholfen hat.« Atlan versuchte, sich vorzustellen, wie es ihm gelingen würde, Hidden-X' para-psionischen Verhörmethoden zu widerstehen, sollte er ihm jemals in die Hände fallen. »Ich würde dir das gerne versprechen«, sagte er. »Aber ich weiß nicht, ob ich im schlimmsten Fall noch die Kraft habe, mein Versprechen zu halten.« »Du wirst dich von Hidden-X nicht einfangen lassen.« Es lag eine merkwürdige Ungeduld in Wöbbekings Mentalstimme. »Dann kann es dir nicht schwerfallen, das Schweigen zu wahren.« »Dann nicht«, gab Atlan zu.
»Du bist bereit aufzubrechen?« »Nicht sofort. Ich brauche ein wenig Zeit.« »Wozu? Willst du die Sache überdenken?« »Nein. Ich habe gesagt, daß ich bereit bin, Chybrain zu helfen. Dabei bleibe ich. Aber ich bin nicht allein. Ich habe Freunde – Menschen, für deren Wohlbefinden ich verantwortlich bin. Ich möchte mich mit ihnen besprechen und die nötigen Vorbereitungen mit Umsicht treffen. Wieviel Zeit bleibt uns insgesamt?« »Achtundvierzig Stunden, nach deiner Zeitrechnung. Aber Chybrain …« »Ich mache mir ebenso viel Sorgen um Chybrain wie du.« Es war das erste Mal, daß der Arkonide es wagte, Wöbbekings Gedankenstrom zu unterbrechen. »Gib mir eine Stunde. In einer Stunde nehmen wir die Verbindung wieder auf.« »Beeile dich.« Wöbbekings Mentalstimme klang gequält. »Ich bin hier. Ruf nach mir, auch wenn die Stunde noch nicht um ist.«
* »Du willst meine Meinung hören.« Breckcrown Hayes' narbenbedecktes Gesicht war finster. »Gut. Hier hast du sie: Du hast den Verstand verloren!« Atlan sah in die Runde. Sein Blick begegnete ernsten Mienen. Joscan Hellmut starrte verbissen vor sich hin. Argan U, der possierliche kleine Bär mit dem orangefarbenen Schuppenkleid, hielt den Kopf gesenkt. Lediglich Bjo Breiskoll lächelte ein wenig. »Nimm's uns nicht übel, Freund«, bat er. »Aber wir sorgen uns um dich.« »Ihr geht von falschen Voraussetzungen aus, meine ich.« Atlan zwang sich zur Ruhe. Er hatte keine Zeit. Jede Minute zählte. Aber es führte zu nichts, wenn er sich Menschen gegenüber – »Wesen«, verbesserte er sich im stillen –, die nur um sein Wohl besorgt waren,
Unwillen und Ungeduld anmerken ließ. »Ich bin sicher, daß Wöbbeking über Möglichkeiten verfügt, mich in Innern des FlektoYn zu schützen.« »Frag ihn doch, welche das sind«, schlug Breckcrown Hayes vor. »Wir haben keine Zeit«, wehrte Atlan ab. »Also gut. Deine Entscheidung liegt fest?« Atlan lächelte. »Sie lag fest, als ich hier hereinkam. Ich dachte nur, ich könnte mir bei euch ein wenig moralische Unterstützung holen.« Da tat der ansonsten zurückhaltende High Sideryt etwas, was ihn bislang noch niemand hatte tun sehen: Er holte aus und versetzte dem Arkoniden einen kräftigen Schlag auf die Schulter. »Du hast noch immer besser gewußt als wir, was geht und was nicht geht«, lachte er. »Wir haben dich schon öfter für einen Narren gehalten und nachher festgestellt, daß in Wirklichkeit wir die Dummköpfe waren. Wenn du dich von Wöbbeking ins Hypervakuum schießen lassen willst – wer sind wir, daß wir uns unterfangen sollten, dich davon abzuhalten?« Atlan stand auf. »Der Ehre zuviel«, sagte er knapp. »Ich bin älter als ihr, viel älter. Das ist der einzige Unterschied. Ich brauche fünf Roboter.« »Vier«, sagte eine Stimme vom Eingang her. Der Arkonide sah auf. Hage Nockemann stand unter dem offenen Schott. Er lächelte ein wenig verlegen. Hinter ihm waren die Umrisse des Roboters Blödel zu sehen. »Wir haben nach dir gesucht«, sagte Atlan. »Es wäre nützlich gewesen, wenn du an dieser Besprechung teilgenommen hättest.« Hage Nockemann machte eine schlenkernde Kopfbewegung. »Es tut mir leid, ich hatte mit diesem Blechkasten zu tun. Es geht um einen Vorstoß ins Hypervakuum, nicht wahr? Ins Flekto-Yn?« »Das ist richtig.« »Ich dachte es mir. Ich habe Wöbbeking auf den Bildschirmen gesehen und kam zu dem Schluß, daß sein unerwarteter Besuch
kein anderes Resultat haben könne.« Er wandte sich halbwegs zur Seite und wies auf Blödel. »Das ist einer, den du unbedingt mitnehmen mußt.« Blödel trat vor. »Das ist ganz klar«, sagte er. »Schon wegen des Prinzips der perfid-hick-komplexen Robotik.« »Wie bitte?« fragte Atlan verständnislos. »Zum Schmieren wieder, das dünne Öl verwendet, wie?« spottete Breckcrown Hayes. »Ich mache dich darauf aufmerksam«, erklärte Blödel würdevoll, »daß Roboter meiner Komplexität nicht geschmiert werden. Es werden hier und dort gewisse Lubrikationsmittel gebraucht; aber dazu verwendet man kein Öl, sondern Diakarbonyl und Metamolybdänit.« Dem Arkoniden war inzwischen ein Gedanke gekommen. Die Roboter, die ihn begleiteten, würden notwendigerweise vom höchstentwickelten, fortgeschrittensten Typ sein müssen. Fünf gleichartige Maschinenwesen – identisch bis hinab zum kleinsten Baustein ihres Basisprogramms. Für Hidden-X leicht zu erkennen. Wenn es einen der Roboter durchschaut hatte, kannte es die Funktionsweise aller. Nahm er dagegen Blödel mit … nun, Blödel paßte in keines der konventionellen Schemata der Robotik. Er war ein Unikum, ein Faktor der Verwirrung. »Gut, du kommst mit«, erklärte Atlan kurz entschlossen. Er wandte sich an den High Sideryt. »Vier Hochleistungsrobots – auf dem schnellsten Weg.« Er schritt hinaus und ließ eine einigermaßen verwunderte Zuhörerschaft hinter sich zurück.
* »Du bist zeitig zurück«, begrüßte ihn Wöbbekings mentale Stimme.
»Ich weiß das zu schätzen.« »Wir wollen keine Zeit verlieren«, antwortete Atlan. »Was hast du mir noch zu sagen?« »Nur daß du deinen Auftrag unbedingt erfüllen mußt, wenn du in dieses Universum zurückkehren willst.« »Ist das eine Drohung?« fragte der Arkonide verwundert. »Nein. Ich drohe nicht. Der Mechanismus, den ich benütze, um dich ins Hypervakuum hineinzutransportieren und dich von dort wieder zurückzuholen, funktioniert nur unter gewissen Voraussetzungen. Die wichtigste Voraussetzung für die Rückkehr ist, daß Chybrain sich bei dir befindet. Es ist etwas, worauf ich keinen Einfluß habe, glaube mir.« Atlan zögerte. Er hatte inzwischen über die beiden Bedingungen nachgedacht, die erfüllt sein mußten, bevor er zum letzten Gang mit Hidden-X antrat. Eine davon glaubte er zu kennen: die Beseitigung des Mentaldrucks, den Hidden-X als Verteidigungsmittel benützte. Aber wie stand es mit der zweiten? Der Arkonide war durchaus bereit, alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um Chybrain zu retten. Aber die Rettungsaktion war nur ein Teil seines Anliegens. Wenn sich ihm schon die Möglichkeit bot, ins Hypervakuum vorzudringen, dann wollte er die Gelegenheit nützen, Hidden-X soviel Schaden wie möglich zuzufügen. Es lag ihm nicht daran, daß Wöbbeking von seinem Plan erfuhr; er hätte sonst glauben mögen, daß er die Suche nach Chybrain nur mit halber Energie zu betreiben gedachte. Aber es wäre für ihn nützlich gewesen, zu erfahren, welches die zweite Bedingung war. Wenn er sie bei diesem Vorstoß erfüllen konnte – um so besser für den weiteren Verlauf der Auseinandersetzung mit Hidden-X. »Du sprachst von zwei Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, bevor der entscheidende Kampf beginnt«, sagte er. »Welches sind sie?« »Du wirst beizeiten darüber erfahren«, lautete Wöbbekings
Antwort. »Bis dahin ist es noch Zeit. Im Augenblick geht es nur um Chybrain.« Atlan hatte diese Reaktion erwartet. Er besaß Erfahrung im Umgang mit übergeordneten Wesenheiten. Sie machten ein kindliches, manchmal nervtötendes Spiel daraus, geringeren Geschöpfen wichtige Informationen vorzuenthalten – so, als büßten sie ihre Überlegenheit ein, wenn sie ihr Wissen preisgäben. »Ich weiß«, antwortete er. »Wie bringst du mich ins Innere des Hypervakuums?« »Du und deine Freunde, ihr habt vor kurzem Besuch gehabt, nicht wahr?« Atlan brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, worauf Wöbbeking hinauswollte. »Ja, Hidden-X schickte uns zwei maskierte Molaaten«, bestätigte er. »Sie hinterließen eine Spur, einen gangbaren Pfad. Auf diesem Pfad befördere ich dich ins Flekto-Yn. Aber die Spur bleibt nicht ewig. Wenn sie erlischt, gibt es keinen Weg mehr hinein oder heraus. Deswegen ist dein Unternehmen auf achtundvierzig Stunden begrenzt.« »Wie soll ich mich gegen Hidden-X schützen? Es beherrscht den Bereich des Flekto-Yn bis in den letzten Winkel. Es wird mich sofort wahrnehmen und danach trachten, mich zu vernichten. Was wird dann aus Chybrain?« »Wenn dieser Fall einträte, wäre Chybrain verloren«, antwortete Wöbbeking dumpf. »Aber Hidden-X' Wahrnehmungsvermögen unterliegt anderen Gesetzen als die Sinne organischer Wesen. Es ist keineswegs unumgänglich, daß es dich sofort bemerkt. Allein aus diesem Grund muß vermieden werden, daß Hidden-X von meiner Anwesenheit erfährt.« »Ich verstehe dich nicht«, reagierte der Arkonide verdutzt. »Das ist nicht nötig. Wir dürfen nicht mehr Zeit verlieren. Bist du zum Aufbruch bereit?« »Meine fünf Begleiter warten in der Zentrale auf mich«, sagte
Atlan. »Geh dorthin und gib mir ein Zeichen, wenn alle Vorbereitungen abgeschlossen sind. Ich leite den Transportvorgang sofort ein.« Das Hintergrundgemurmel des Mentaläthers erlosch. Wöbbeking hatte die Verbindung getrennt. Atlan machte sich auf den Weg zur Zentrale. Er empfand Beklommenheit.
4. Sanny kehrte nicht zum Schacht zurück. Dort führte kein Weg weiter. Sie wartete und lauschte in Richtung des höhlenförmigen Raums mit der Rampe. Wenn eine halbe Stunde vergangen war, ohne daß sie von dort ein Geräusch gehört hatte, dann wollte sie von neuem in diese Richtung vordringen. »Sag mir, warum die Bakwer den Roboter angegriffen haben«, sprach sie zu Chybrain, indem sie die Aufforderung so präzise wie möglich in ihren Gedanken formulierte. »Sie sind die Reinigungstruppe, soviel ist mir inzwischen klar«, antwortete das Wesen aus Jenseitsmaterie. »Es ist möglich, daß der Roboter beschädigt war und beseitigt werden mußte.« Das, gestand Sanny ihm insgeheim zu, war eine Möglichkeit. Aber der Kampf zwischen den Bakwern und dem Robot hatte in ihr einen ganz anderen Eindruck hinterlassen. Sie bezog die Art der Räumlichkeit in ihre Überlegungen ein und den Umstand, daß der Kampf geraume Zeit gedauert hatte. Die ersten Geräusche waren bereits zu hören gewesen, als sie noch langsam durch den Schacht in die Tiefe glitt. »Hätten die Bakwer einen intakten Roboter angegriffen?« fragte sie. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, reagierte Chybrain. »Wenn sie die Saubermacher sind, dann muß man annehmen, daß sie unter Hidden-X' Einfluß stehen. Wie sollten sie auf den Gedanken
kommen, Roboter anzugreifen, die ebenfalls für Hidden-X Dienst tun?« »Das ist es eben, was ich gerne erklärt haben möchte«, antwortete die Molaatin. »Ich bin nämlich überzeugt, daß es genau so war.« »Was bedeutete es für uns?« erkundigte sich Chybrain geringschätzig. »Eine ganze Menge. Wenn die Bakwer Roboter angreifen, dann sind sie womöglich Hidden-X' Gegner. Wer gegen Hidden-X ist, steht auf unserer Seite. Können wir nicht jede Unterstützung gebrauchen, die sich uns bietet?« »Du hast recht. Aber deine Theorie ist ziemlich weit hergeholt.« Sanny ging darauf nicht ein. »Sind die Bakwer intelligent?« wollte sie wissen. Es war ihr nicht klar, über welche Möglichkeiten der Wahrnehmung Chybrain verfügte. Noch in der Zelle, in der sie mit Oserfan und Ajjar angefangen war, hatte er angegeben, er wisse nichts über die Bakwer, außer daß sie das Gefängnis säubern sollten, nachdem Sanny planmäßig verhungert war. Nachdem sie den Kampf zwischen den Bakwern und dem Robot beobachtet hatten, war er zu der Ansicht gelangt, es müsse sich bei den kugelförmigen Pelzwesen um Hidden-X' Reinigungstruppe handeln. Sie hielt es nicht für ausgeschlossen, daß er die Fähigkeit besaß, ins Bewußtsein anderer Lebewesen zu schauen. »Das ist eine schwierige Frage«, materialisierten Chybrains Gedanken in ihrem Verstand. »Ich erkenne Ansätze von Intelligenz – die Fähigkeit logischen Kombinierens, die Gabe der Sprache, aber der Überbau fehlt.« Sanny war nicht sicher, was sie sich unter einem »Überbau« vorzustellen hatte. Aber intuitiv begriff sie, was Chybrain ihr mitteilen wollte. »Du meinst, sie sind von Natur aus intelligent – aber irgendein Einfluß hat ihre Intelligenz beschnitten?« »Das ist eine gute Art, ihren Zustand zu beschreiben«, bestätigte
Chybrain. Sanny versank in einen Zustand tiefer, fast tranceähnlicher Nachdenklichkeit. Sie aktivierte ihre paramathematische Gabe und begann, das Problem der Bakwer zu »berechnen«. Sie spürte, daß sie auf dem richtigen Weg war. Die Bakwer waren von Natur aus intelligente Wesen. Hidden-X hatte sie sich zu Dienern gemacht. Zu irgendeinem Zeitpunkt war ihm der Verdacht gekommen, daß die Bakwer ihm aufgrund ihrer Intelligenz gefährlich werden könnten. Es hatte daraufhin Maßnahmen ergriffen, das Denk- und Kombinationsvermögen der Pelzwesen zu verringern. Auf diese Weise entstanden Kreaturen, die, nach Chybrains Worten, zwar die Ansätze der Intelligenz, jedoch nicht den »Überbau«, besaßen. Dieser Begriff war ihr inzwischen klar. Chybrain meinte damit die intensive Aktivität mentaler Prozesse, die im Bewußtsein eines intelligenten Wesens vorzufinden war. Gesetzt den Fall, die Bakwer hätten bemerkt, daß Hidden-X sie der Intelligenz beraubte. Wäre es dann nicht denkbar, daß sie zu Rebellen geworden waren – vielleicht nicht alle, nur ein Bruchteil: jener Teil nämlich, bei dem der Prozeß der Verdummung am langsamsten fortschritt? Sanny war so gut wie sicher, daß sie sich auf der richtigen Spur befand. Die Bakwer – zumindest jedoch ein Teil der Bakwer – waren Feinde von Hidden-X. Sie mußte versuchen, mit ihnen in Verbindung zu treten. Wenn die Bakwer in der Tat die Reinigungstruppe verkörperten, dann kannten sie sich im Innern des Flekto-Yn aus. Und nichts war für Sanny wichtiger, als einen Überblick über dieses Labyrinth zu finden, in dem sie mit Chybrain gefangen war. Wie immer stellte sich die paramathematische »Berechnung« der kleinen Molaatin beizeiten als fehlerfrei heraus. Die Bakwer waren in der Tat so, wie Sanny errechnet hatte. Ihr Fehler lag in der Schlußfolgerung, die nicht auf paramathematischer, sondern
herkömmlicher Logik beruhte. Wer gegen Hidden-X ist, muß mein Verbündeter sein. An dieser Stelle hatte Sanny ihren Fehler gemacht, wie sie bald herausfinden würde.
* Sie kehrte zu dem Raum zurück, in dem die Schlacht zwischen dem Roboter und den Bakwern stattgefunden hatte. Es war keine Spur des Kampfes mehr zu sehen. Sanny kam zu Bewußtsein, was ihr bei der Unterhaltung mit Chybrain entgangen war: daß die Bakwer einen höchst eigenartigen Metabolismus besitzen mußten. Roboter bestanden zum größten Teil aus Metall; ihr Innenleben setzte sich aus halborganischen, zum Teil toxischen Substanzen zusammen. All das nahmen die Bakwer in sich auf? Sie erinnerte sich an das Bild, das sie hier gesehen hatte: fünf kugelförmige, dicht bepelzte Körper, die in einem wahren Freßtaumel den Roboter unter sich begraben hatten – und ein leiser Schauder lief ihr über den Rücken. Sie brauchte die Bakwer als Verbündete, aber sie wußte nicht, ob es ihr leichtfallen würde, mit ihnen auszukommen. Der Höhlenraum, stellte sich heraus, hatte außer der Rampe weitere vier Ausgänge. Sanny untersuchte die ersten zwanzig Meter eines jeden und fand sie untereinander identisch. Sie hatten die Form von Schläuchen mit ovalem Querschnitt: zwei Meter hoch und knapp einen Meter weit. Für sie, die Zwergin, stellten sie keine Schwierigkeit dar. Aber sie fragte sich, wie größere Kreaturen, zum Beispiel die Roxharen, mit derart engen Verkehrswegen zurechtgekommen sein mochten. Sie entschied sich aufs Geratewohl für einen der vier Schläuche. Er zog sich in vielen Windungen durch das Innere der fremdartigen Nickelwelt. Mitunter führte er so steil nach unten oder in die Höhe, daß Sanny Mühe hatte, den Halt zu wahren. Allmählich ging ihr
auf, daß es sich bei Gängen dieser Art wahrscheinlich gar nicht um Verkehrswege handelte. Der Schlauch besaß keine Abzweigungen, keine Kreuzungen, und seine Wände waren überall gleich kahl. Er führte trotz seiner vielen Windungen nirgendwohin. Er mußte einem gänzlich anderen Zweck dienen. Stunden vergingen. Chybrain wußte keinen Rat. Sanny spürte, wie ihre Kräfte allmählich zu Ende gingen. Sie brauchte Ruhe; mehr noch aber bedurfte sie der Nahrung. Sie wußte, daß es im Innern des Flekto-Yn Anlagen gab, in denen Pflanzen wuchsen, mit deren Früchten der Hunger derer gestillt wurde, die am Bau der Nickelfestung arbeiteten. Eine solche Plantage versuchte sie zu finden. Der stets gleiche Anblick des schimmernden Metalls, das den grellen Schein der weißen Heliostrahler reflektierte, brachte sie allmählich um den Verstand. Sie wollte etwas Grünes sehen, weichen Boden unter den Füßen spüren. Manchmal dachte sie darüber nach, ob es nicht besser wäre, umzukehren und einen anderen Weg einzuschlagen. Aber dann stellte sie sich die endlosen Kilometer vor, die sie würde zurückwandern müssen, bis sie die Kaverne mit der Rampe wieder erreichte. Und wer garantierte ihr, daß einer der anderen Schläuche rascher an den Ort führte, den sie erreichen mußte, wenn sie dieses Abenteuer lebend überstehen wollte. Sie begann, Rastpausen einzulegen. Wenn sie eine Stelle fand, an der der Schlauch eben verlief, ließ sie sich einfach zu Boden fallen und versuchte auszuruhen. Manchmal verfiel sie in einen Zustand des Halbschlafs, in dem wilde Träume sie peinigten. Sie sah sich wieder auf der Landschaft im Nichts, in den Wirren der Jagd nach dem Zentralkegel. Dort hatte sie ein Bild des Flekto-Yn gesehen … Es fuhr wie ein Ruck durch ihren Verstand. Das waren keine Alpträume! Ihr Unterbewußtsein wollte sie auf etwas aufmerksam machen! Sie kniff die Augen zusammen und versuchte mit Anstrengung, sich jede Einzelheit des Bildes in die Erinnerung zurückzurufen. Das Flekto-Yn war ein riesiges, komplexes Gebilde,
alles andere als monolithisch, mehr aus zahllosen Bestandteilen wahllos zusammengesetzt. Nur ein einziger Punkt inmitten des unübersichtlichen Gewirrs war ausgezeichnet: er stellte (soweit sich das ermitteln ließ) das geometrische Zentrum des Gebildes dar und war durch einen riesigen Hohlspiegel markiert. Der Spiegel – daran erinnerte sich Sanny plötzlich – hatte einen Durchmesser von 16.000 Kilometern. Es war klar, daß ihm eine besondere Bedeutung zukam. Nicht von ungefähr saß er im Mittelpunkt der titanischen Struktur, deren Maximaldimension mit 150.000 km mehr als dreizehnmal so groß war wie der Durchmesser des Planeten, den Sanny als ihre Heimat betrachtete. Warum drängte dieser Gedanke sich ihr auf? Sie nahm zur Kenntnis, daß der paramathematische Komplex, der ihrem Verstand anhing, vorübergehend die Kontrolle über ihr Bewußtsein übernommen hatte. Sie sollte dazu bewegt werden, eine, »Berechnung« anzustellen – ohne Zweifel eine solche, die zur Beseitigung der gegenwärtigen Zwangslage diente. Zur Ingangsetzung des Berechnungsprozesses war weiter nichts erforderlich als die Zustimmung ihres Normalbewußtseins. Sie machte es sich so bequem wie möglich und dachte: Immer nur zu. Es gibt ohnehin nichts mehr zu verlieren. Spiegel waren ein charakteristisches Werkzeug der Wesenheit, die Atlan Hidden-X genannt hatte. Hidden-X' Spur durch das Universum war mit Spiegeln bestreut. Die Sonne Super in dem FiktivUniversum, das die Landschaft im Nichts enthielt, hatte sich als gewaltiger Hohlspiegel entpuppt, dessen Aufgabe es war, die Fiktion der Landschaft zu stabilisieren. Wo immer Hidden-X sich aufhielt, wo immer es einen seiner Pläne zu verwirklichen gedachte, waren Spiegel im Spiel. Was geht das mich an? fragte sich Sanny. Niemand wußte, was für eine Art von Kreatur Hidden-X war. Die plausibelsten Hypothesen liefen darauf hinaus, daß es sich um ein substanzloses Geschöpf handelte, ein Wesen, das lediglich aus
Mentalenergie bestand – oder vielleicht aus Jenseitsmaterie wie Chybrain und Wöbbeking. Es selbst hatte sich »unsichtbar« genannt und unterstützte somit die Theorie. Wie wurde es wirksam? Auf welche Weise vollbrachte es seine verruchten Taten – die Unterjochung der Roxharen, die Knechtung der Ysteronen, den Bau der riesigen Nickelfestung? Wie bewegte es sich? Wie machte es sich verständlich? Es war klar, daß die Spiegel etwas damit zu tun haben mußten. Hohlspiegel rufen im unbefangenen Bewußtsein die Assoziation mit der klassischen Optik hervor, mit Lichtstrahlen und ihrer Bündelung, mit Teleskopen und Radarantennen. Aber Hidden-X war weder ein optisches Gebilde, noch unterlag es den Gesetzen der klassischen Physik. Und doch benutzte es Spiegel nicht nur zur Übermittlung von Informationen, sondern auch zum Transport seiner selbst. Dieses Resultat ergab sich klar und deutlich aus Sannys paramathematischen Überlegungen. Es war ihr nicht klar, ob die Frage, wo Hidden-X sich aufhalte, sinnvoll war. Gesetzt den Fall, es handelte sich bei Hidden-X um ein fünfdimensionales Wesen (eine Möglichkeit, die nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden konnte), dann ließ sich ihm kein Aufenthaltsort im vierdimensionalen Kontinuum zuweisen. Als plausibel erschien Sanny jedoch, anzunehmen, daß Hidden-X seinen Sitz nicht unmittelbar im Brennpunkt der jeweiligen Spiegel habe. Mit anderen Worten: Es mußte dafür gesorgt sein, daß die Informationen, die Hidden-X mit Hilfe der Spiegel übermitteln wollte, von seinem Undefinierten Aufenthaltsort zum Fokus der Spiegel gelangte. Von dieser Erkenntnis waren es nur noch ein paar kurze, logische Schritte bis zum Verständnis der Funktion des Schlauches, in dem Sanny sich befand. Der Schlauch war ein Signalleiter! Hidden-X' Mentalimpulse, wiewohl hyperdimensionaler Natur, bedurften des reflektierenden Metalls und einer gewissen Form, eines bestimmten Querschnitts des Schlauches, um auf optimale Art und Weise ans
Ziel zu gelangen. Sie befand sich, ohne daß sie es bisher geahnt hatte, inmitten des Weges, den Hidden-X' Gedanken nahmen. War sie von ihnen berührt worden? Sie glaubte es nicht. Hatte Hidden-X sie bemerkt? Auch das war unwahrscheinlich. Es wähnte sie nach wie vor in der kleinen Nickelzelle, in der sie verhungern sollte. Nichts deutete daraufhin, daß das feindliche Geistwesen ihre Flucht bemerkt hatte. Es wurde ihr klar, was sie zu tun hatte. Der Schlauch, durch den sie sich bewegte, führte von dem Ort, von dem Hidden-X' Gedankenimpulse ausgingen, zu dem Hohlspiegel, der im Zentrum des Flekto-Yn installiert war. Sie wußte nicht, auf welchem Weg sie sich befand: zum Ausgangsort der Impulse oder zum Hohlspiegel. Aber eines war ihr plötzlich auf schmerzhafte Weise deutlich: Wenn Atlan jemals den Weg durch die Dimensionsfalte fand und die Nickelfestung erreichte, dann würde er nichts Vordringlicheres im Sinn haben, als den großen Spiegel zu vernichten. Denn ihm selbst mußte in der Zwischenzeit aufgegangen sein, welche wichtige Rolle die Spiegel für Hidden-X spielten. Wenn sie mit dem Arkoniden zusammentreffen wollte, dann mußte sie auf diesem erbarmungslosen Weg bleiben – und hoffen, daß sie sich in der korrekten Richtung bewegte. Es blieb ihr keine andere Wahl. Chybrain, der ihre Gedanken miterfolgt hatte, ließ sich hören: »Du hast recht. Und wenn es in diesem Kosmos eine Macht der Gerechtigkeit gibt, dann wird sie dafür sorgen, daß du dein Ziel erreichst.« Sanny horchte verwundert auf. Das waren merkwürdige Gedanken für Chybrain, die Kinderseele. Und dennoch gaben sie ihr Mut. Es war fast wie ein Wunder. Durch Chybrains Zuspruch gekräftigt, machte sie sich auf den Weg, und kaum eine halbe Stunde später fand sie den Stollen, der in einer scharfen Krümmung seitwärts vom Schlauch abzweigte. Der Hintergrund war von
zwielichtigem Halbdunkel erfüllt; aber die warme Luft, die ihr aus dem Stollenmund entgegenschlug, roch nach Erde und Pflanzen. Sie erschrak vor der Wucht, mit der der Hunger, einen halben Tag lang unterdrückt, sich plötzlich wieder bemerkbar machte. Hals über Kopf drang sie in den Stollen ein. Die großen Augen gewöhnten sich rasch an das trübe Licht. Sie hörte Geräusche. Da endlich kam ihr zu Bewußtsein, daß es in dieser feindseligen Umgebung mehr zu beachten gab als nur das Knurren ihres Magens. Sie verlangsamte den Schritt und horchte aufmerksam auf die Leute, die aus dem dämmrigen Zwielicht an ihr Ohr drangen. Aufatmend identifizierte sie das Plätschern von Wasser. Sie näherte sich einer Pflanzung, die unter Berieselung stand. Vertraute Gerüche strömten auf sie ein. Zum ersten Mal nahm sie sich Zeit, den Stollen zu mustern, der sie ans Ziel ihrer hungrigen Wünsche führen sollte, und es fiel ihr auf, daß er von ungewöhnlicher Form war. Wände, Decke und Boden bestanden aus Nickel – wie anders hätte es in diesem Alptraum von einer Festung sein sollen? Der Querschnitt war rechteckig; die Höhe betrug kaum mehr als sechzig Zentimeter. Für wen war ein solcher Gang geeignet? Doch nur für die zwergenhaften Gestalten der Molaaten, die Hidden-X als »kleine Baumeister« gedient hatten. Plötzlich ergab die Vertrautheit der Gerüche, die ihr entgegenschlugen, einen ganz einfachen Sinn. Um die kleinen Baumeister zu verköstigen, hatte Hidden-X Gewächse anpflanzen lassen, wie sie die Molaaten von ihren Heimatwelten gewohnt waren. Sanny unterschied die Düfte von Sochil, Abrak und Rembrun; sie roch die Früchte der Belikani-Stauden und der Mechlaq-Bäume, und das Wasser lief ihr von neuem im Mund zusammen. »Oh, Chybrain – das wird ein Fest!« jubelte sie und stürmte vorwärts. Der Stollen mündete in eine weite Halle. Von der Decke herab troff Feuchtigkeit, sammelte sich in den Blättern der Pflanzen und fiel platschend zu Boden. Das Erdreich bestand aus einer fetten,
schwarzen Krume, in der die Gewächse prächtig gediehen. Sie waren bleich infolge des Mangels an Licht, aber mühelos erkannte Sanny die Bäume und Stauden, die Büsche und Gräser wieder, die sie zum letzten Mal auf Heimat-11 gesehen hatte. Ein abwegiger Gedanke drang in ihr Bewußtsein und warf für die Dauer eines Atemzugs einen Schatten auf ihre Begeisterung. Wenn die Bakwer hier eindrangen – würden sie das alles für Abfall halten, der beseitigt werden mußte? Sie schob die Idee beiseite. Sie stillte ihren Durst mit dem Wasser, das von den Blättern rann, und aß von den Früchten, die in verschwenderischer Fülle von den Zweigen der Gewächse hingen. Sie erkannte, daß die Pflanzung seit geraumer Zeit die ihr zugedachte Funktion nicht mehr versah: Herabgefallene Belikani und Mechlaqs lagen zu Hunderten auf dem Boden, viele davon schon verfault. Es mußte Wochen her sein, seit die letzte Gruppe von Molaaten hier gewesen war und ihren Hunger gestillt hatte. Sie hielt inne, als der Magen ihr signalisierte, daß er mehr nicht aufnehmen könne. Sie spürte eine wohlige Müdigkeit, die ihr tief in den Gliedern saß und durch eine ausgiebige Ruhepause honoriert werden wollte. »Wir kehren in den Schlauch zurück«, sagte sie zu Chybrain, »und finden den großen Hohlspiegel. Aber vorher muß ich ein paar Stunden schlafen.« »Ruh dich aus«, redete das Jenseitswesen ihr zu. »Während du schläfst, passe ich auf.« Sanny fertigte sich aus Blättern ein primitives Lager und streckte sich darauf aus. Der Schlaf übermannte sie binnen weniger Sekunden. Sie wußte nicht, was es war, das ihre Ruhe störte: Chybrains Warnung oder der physische Kontakt mit einem pelzigen, stachligen Körper. Sie öffnete die Augen und erstarrte vor Schreck. Eine Kugel von achtzig Zentimetern Durchmesser ragte unmittelbar neben ihr in die Höhe. Blasse, wurmähnliche Beinchen, die mit kleinen Saugnäpfen bewehrt waren, setzten sich ihr auf den
Leib, und ein faltiges, breites Maul erzeugte saftige, schmatzende Geräusche aus lauter Vorfreude auf das köstliche Mahl, das zu verschlingen es sich anschickte.
5. »Wir sind bereit, Wöbbeking«, dachte Atlan. Kaum eine Sekunde später vernahm er das sanfte Hintergrundgeräusch des telepathischen Äthers. Wöbbeking hatte die Verbindung hergestellt. Er sprach: »Der Transportvorgang läßt sich mit keinem dir bekannten Prozeß vergleichen. Du wirst unwirkliche Phänomene zu sehen bekommen. Laß dich dadurch nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Wichtig ist allein, daß du das Hypervakuum erreichst.« »Was geschieht mit den Robotern?« wollte der Arkonide wissen. »Auch sie werden irreale Erscheinungen wahrnehmen. Warne sie davor. Sag ihnen, daß sie auf nichts reagieren dürfen – es sei denn, du gibst ihnen Befehl dazu.« Atlan verständigte sich mit den vier Spezialrobotern. Blödel hatte sie nach den ersten vier Buchstaben des mnemonischen Alphabets benannt: Alpha, Beta, Charlie, Delta. Er erteilte auch Blödel seine Anweisungen. Dann wandte er sich von neuem an Wöbbeking: »Wenn die Frist abgelaufen ist, wirst du uns finden?« »Wo immer ihr sein mögt«, antwortete das Fremdwesen. »Es sei denn, ihr hättet das Hypervakuum bereits verlassen. Die wichtigste Voraussetzung ist jedoch, daß sich Chybrain bei euch befindet.« Atlan und seine robotischen Begleiter waren in einem kleinen Raum, der an die Kommandozentrale der SOL grenzte. Der Arkonide warf einen letzten Blick in Richtung der Monitor-Kamera, durch die er von Breckcrown Hayes und Mitgliedern seines Teams beobachtet wurde. Er sah, wie die Wände des Raumes zur Seite wichen und
transparent wurden. Draußen aber lag nicht die Zentrale, sondern die finstere Kälte des Weltalls. Atlan hatte die Schutzmontur geschlossen, und doch glaubte er zu spüren, wie sich beißender Frost auf der Haut festsetzte. Ein leises Schwindelgefühl machte sich bemerkbar, als die gewohnte Gravitation der SOL aussetzte und er schwerelos durch den schwarzen Abgrund gewirbelt wurde. Formen, Gestalten tauchten aus der Finsternis auf. Er sah ein im Licht von Millionen Lichtern blinkendes und blitzendes Etwas, eine verworrene, in sich verdrehte Struktur aus Tausenden scheinbar sinnlos zusammengefügter Bestandteile. Er sah den riesigen Teller des Hohlspiegels in der Mitte und erinnerte sich an das Bild, das er im Zentralkegel der Landschaft im Nichts vor Augen bekommen hatte. Das Flekto-Yn! So, wie es sich ihm darbot, wirbelnd, spiegelnd, in Hunderten von Facetten glitzernd, schien es nicht wirklich. Es war ein Zerrbild, das seine Phantasie produzierte – eine Halluzination, wie Wöbbeking gesagt hatte. Es blähte sich auf und schrumpfte wieder zusammen. Es verschwand von der Schwärze des Hintergrunds und tauchte an anderer Stelle wieder auf. Atlan begann, die Zusammenhänge zu begreifen. Der Weg durch die Dimensionsfalte war weder einfach noch geradlinig. Wöbbeking bewegte ihn und seine Begleiter entlang der Spur, die die beiden Molaaten hinterlassen hatten. Die erratische Bewegung mochte damit zu tun haben, daß die Spur undeutlich geworden war – oder mit der Schwierigkeit des Vordringens durch die Faltung des Hyperraums. Er wußte es nicht. Er sah das Ziel, aber es schien sich gegen ihn zu sträuben. Es wich ihm aus. Es taumelte und purzelte durch die konturlose Schwärze, bis ihm die Orientierung verlorenging. Er sah sich um und versuchte, seine Roboter irgendwo zu finden; aber statt ihrer gaukelten in der Finsternis bunte, wabernde Lichtvorhänge, deren Anblick seinen Gleichgewichtssinn vollends aus dem Takt brachte. Es wurde ihm übel. Der Medomechanismus seines Raumanzugs verpaßte ihm eine Injektion,
die den rebellierenden Magen vorübergehend beruhigte. Er schloß die Augen und ließ sich dahintreiben. Er wollte nichts mehr sehen, sich von nichts mehr zusätzlich in Verwirrung stürzen lassen. Plötzlich gab es einen Ruck. Das Außenmikrophon übertrug eine Serie klappernder Geräusche. Die wirbelnde Bewegung erstarb. Er spürte, wie Schwerkraft nach ihm griff. Er war auf den Beinen gelandet und hatte festen Boden unter den Füßen. Noch bevor er die Augen öffnete, hörte er Blödels schrille Stimme: »Mein Gott, ist das eine einsame Gegend!«
* Er sah sich um. Zu beiden Seiten erstreckte sich ein weiter, hell erleuchteter Korridor, weiter als das Auge reichte. Er war von ovalem Querschnitt, und die Wandung bestand aus schimmerndem Nickel, in dem sich die grelle, blauweiße Helligkeit der Fusionslampen erbarmungslos reflektierte. Er horchte. Es gab keine Geräusche. Der breite Gang lag leer und verlassen – wie Blödel gesagt hatte. Aber im Hintergrund vernahm er das leise Rauschen des Mentaläthers, wie er es gehört hatte, als Wöbbeking das letzte Mal mit ihm in Verbindung trat. Nur war es diesmal nicht Wöbbeking. Was er empfing, war die Ausstrahlung eines mächtigen Unterbewußtseins, das irgendwo in den Tiefen dieser aus Nickel bestehenden Welt lauerte. Es war Hidden-X selbst, dessen mentale Strahlung er wahrnahm. Er ließ sich Zeit, bis die Augen sich an die grelle Helligkeit gewöhnt hatten. Dann musterte er den Korridor von neuem, und die Aussichtslosigkeit seines Unterfangens kam ihm plötzlich zu Bewußtsein. Wöbbeking hatte ihn ins Ziel gebracht. Aber das FlektoYn besaß einen Durchmesser von 150.000 Kilometern. Wie sollte er
in einer Frist von weniger als zwei Tagen eine Welt von der Größe des Jupiter durchsuchen? Wie konnte er sich einbilden, daß es auch nur die Spur einer Hoffnung gab, Chybrain zu finden? Selbst sein Ersatzplan schien völlig undurchführbar. Wie wollte er den großen Hohlspiegel finden? Welche Entfernung konnte er in den 47 Stunden, die ihm noch zur Verfügung standen, zurücklegen – selbst wenn er in Rechnung zog, daß ihm und den Robotern leistungsfähige Antigrav-Aggregate zur Verfügung standen, die sich als Triebwerke verwenden ließen? Er musterte die kleine Schar seiner Getreuen. Blödel und die vier Spezialroboter hatten den Durchgang durch die Dimensionsfalte unversehrt überstanden. Sie warteten auf seine Anweisungen. Was sollte er ihnen sagen? »Sieh dich um«, forderte der Extrasinn ihn auf. »Was siehst du?« »Einen Gang«, antwortete er verwundert. »Einfach einen Gang?« »Er hat einen merkwürdigen Querschnitt. Runden Boden, runde Decke …« »Erinnert dich an einen Signalleiter, nicht wahr?« »Ja, das tut er«, bekannte Atlan überrascht. »Aber was …« »Was macht Hidden-X mit dem Hohlspiegel?« Unter dem Einfluß des Extrasinns begann der Arkonide, dieselben Überlegungen anzustellen, die an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit Sanny, die Paramathematikerin, beschäftigt hatten. Es bedurfte nur des logischen Anstoßes. Einmal auf den richtigen Pfad gebracht, entwickelten sich seine Gedanken von selbst. »Ein Signalleiter, der Informationen zur Abstrahlung an den Spiegel überträgt.« »Du bist nicht auf den Kopf gefallen«, bemerkte der Extrasinn »Das heißt – in einer Richtung führt der Korridor direkt zum Spiegel hin.« »Genau.« »In welcher?« Der Extrasinn antwortete nicht. Atlans Verstand arbeitete auf
Hochtouren. Die Idee eines dreidimensionalen Signalleiters für Informationen, die ohne Zweifel auf hyperenergetische Weise kodiert waren, hatte ihn ursprünglich verwirrt. Jetzt aber erkannte er, daß Konzepte, die aus der konventionellen Physik stammten, sich hier ohne weiteres anwenden ließen. Herkömmliche Signalleiter erzeugten ein Druckgefälle, das dafür sorgte, daß dem Signal um so weniger Widerstand entgegengesetzt wurde, je weiter es sich vom Ausgangsort entfernte. Ihr Querschnitt weitete sich allmählich. Er wandte sich an einen der vier Spezialroboter. »Ich brauche eine genaue Messung«, sagte er. »Bestimme den Vertikaldurchmesser des Korridors in Abständen von zwanzig Metern. Aus der Änderung …« »Wozu willst du Zeit verschwenden?« fiel ihm Blödel ins Wort. »Was …?« »Ich habe das längst getan. Es fiel mir nämlich auf, daß es sich bei diesem Gang womöglich um einen Informationskanal handeln könne. Du weißt schon – einen Weg, mit dessen Hilfe Hidden-X hyperenergetische Mentalimpulse an den großen Spiegel überträgt?« »Ja, ja … weiter!« drängte Atlan ungeduldig. »In diesem Fall«, reagierte Blödel gelassen, »müßte sich der Durchmesser des Ganges kontinuierlich verändern – von eng am einen Ende bis weit am anderen.« »Ja – und?« »Ich habe nachgemessen. Du weißt, ich bin mit einem exzellenten Sehvermögen ausgestattet. In der Richtung, in die du jetzt blickst, weitete sich der Korridor um zwanzig Mikrometer pro Meter.« »Das … das kannst du …« Blödel nickte würdevoll. »Ja, das kann ich feststellen. Es liegt an der Grenze meines Wahrnehmungsvermögens – ich meine: ohne hinzugehen und die Messung an Ort und Stelle vorzunehmen. Aber du kannst dich auf die Exaktheit des Resultats verlassen. Ich nähme es dir nicht übel,
wenn du einen der Spezialkanister hinschicktest, damit er das Ergebnis nachprüft.« Atlan sah ihn verdutzt an. Dann lachte er hell auf. »Spezialkanister?« »Nun, einen dieser Supermechanismen«, sagte Blödel, wobei er mit einem halb ausgefahrenen Greifarm eine vage Geste in Richtung der vier Spezialroboter machte. »Sie können angeblich doch alles.« »An deiner Stelle«, meldete sich der Extrasinn, »würde ich mich der Zuneigung dieses Roboters versichern.«
* Sie trieben mit hoher Geschwindigkeit durch den glitzernden Korridor dahin. Atlan lauschte aufmerksam auf das mentale Hintergrundrauschen; aber bis zum Augenblick hatte Hidden-X sich noch nicht gemeldet. Schlief es? Gab es Pausen in der Aktivität des unheimlichen Fremdwesens? Dem Arkoniden war klar, daß er seine Mittel in weniger als optimaler Weise nützte. Er war auf dem Weg zum Hohlspiegel, daran gab es keinen Zweifel. Aber ein Teil seines Auftrags lautete noch immer, Chybrain zu finden. Schlimmer noch: Er würde nicht zur SOL zurückkehren können, falls er das Zwergwesen aus Jenseitsmaterie nicht fand. Er mußte seine Roboter verteilen, damit mehrere verschiedene Bereiche des Flekto-Yn gleichzeitig abgesucht werden konnten. Aber bisher war der Gang aus schimmerndem Nickel absolut eingleisig verlaufen. Es gab keine Abzweigungen. Atlan begann, mit der Möglichkeit zu rechnen, daß er erst in unmittelbarer Nähe des Spiegels eine Gelegenheit finden würde, die Suche mit größerer Effizienz zu betreiben. Stunden vergingen. Atlan verköstigte sich aus den Vorräten, die er in seiner Raummontur mitführte. Er wußte wohl, daß die Luft im Innern des Flekto-Yn atembar war, daß verträglicher Druck und
normale Temperaturen herrschten. Er hatte den Helm trotzdem nicht geöffnet. Er wußte nicht, auf welche Weise und wie schnell Hidden-X reagieren würde, wenn es feststellte, daß seine Festung unerwünschten Besuch erhalten hatte. Und dann, als er am wenigsten damit rechnete, teilte sich plötzlich der Gang. Blödel war der erste, der es bemerkte. Beide Zweige der Gabelung schienen gleichberechtigt. Beide nahmen an Durchmesser zu, je weiter man sie verfolgte, und führten daher zweifellos zum Hohlspiegel. Atlan gab dreien seiner Spezialroboter genaue Anweisungen, wie sie sich zu verhalten und wonach sie Ausschau zu halten hätten. Er machte ihnen ebenso klar, daß sie sich voneinander trennen mußten, sobald sie auf eine weitere Verzweigung stießen und festgestellt hatten, daß beide Zweige auf den Spiegel zuliefen. Sie hatten erstens nach Chybrain zu suchen und zweitens danach zu trachten, daß sie den Spiegel erreichten. Sie gaben an, sie hätten den Auftrag verstanden, und er überließ es ihnen, die Einzelheiten auszuarbeiten. Als Grundregel galt, daß hyperenergetische Kommunikation (konventionelle Verständigung per Radiokom war wegen des überall vorhandenen Nickels ohnehin unmöglich) nur im Notfall stattfinden durfte. Man mußte damit rechnen, daß Hyperkom-Impulse von Hidden-X wahrgenommen wurden. Nachdem die Maschinen sich entfernt hatten, machte Atlan sich mit den verbleibenden Begleitern weiter auf den Weg. Die Struktur des Flekto-Yn hatte sich in diesem Sektor der Nickelfestung offenbar zu ändern begonnen. Der Korridor nahm jetzt drastisch an Weite zu, gleichzeitig beschrieb er eine Zahl enger und scheinbar sinnloser Windungen. Atlan spürte, daß er sich einer wichtigen Zone näherte. Er schätzte die bisher zurückgelegte Strecke auf fünfhundert Kilometer. War der Zufall so gnädig mit ihm gewesen, daß er sich jetzt schon in der Nähe des großen Spiegels befand? »Haltet an und bewegt euch nicht!« hörte er Blödels Stimme. Die Anweisung des Roboters hatte etwas merkwürdig Dringendes
an sich. Atlan reagierte sofort. Er neutralisierte die Vorwärtsbewegung und kam zu einem schwebenden Halt. Die zweite Maschine war von Blödel offenbar ebenfalls instruiert worden. Sie bremste ab und trieb bis vor die Mündung eines mächtigen Ganges, die der Arkonide erst in diesem Augenblick bemerkte. Hier fand offensichtlich eine Durchdringung zweier Signalleiter-Korridore statt. Die Kreuzung bildete einen mächtigen Hohlraum von mehr als zwanzig Metern lichter Weite. Auch Blödel hatte inzwischen angehalten. Auf völlig menschliche Weise fuhr er sich mit der Hand dorthin, wo man unter den grünen Fasern seines synthetischen Schnauzbarts den Mund vermutete, und bat um Schweigen. Atlan spähte in die glitzernde Helle. Er nahm Bewegung wahr. Aus dem konturlosen Schimmer der Metallwände schob sich der Umriß eines schweren, unregelmäßig geformten Roboters. Der Arkonide unterdrückte den instinktiven Reflex der Hand, die nach der Waffe greifen wollte. Gegen diese Maschine hatte er keine Chance. Sie näherte sich schweigend, ein Koloß von unbekannter Funktion, gehorsamer Diener des Geistwesens Hidden-X. Er verstand ihre Wahrnehmungsmechanismen nicht, aber er bemerkte, daß sie sich für ihn und seine Begleiter interessierte. Sie wurde langsamer. Ein daumendicker, scharf gebündelter Lichtstrahl zuckte auf und glitt an der Wand entlang. Es war klar: Der Robot wußte nicht, wen oder was er vor sich hatte. In seinem positronischen Bewußtsein konnten unmöglich die Erscheinungsmuster aller intelligenten Wesen und Robottypen gespeichert sein. Aber er besaß die Fähigkeit der Kombination. Er konnte untersuchen, was ihm aus der Erinnerung nicht bekannt war, und auf analytischem Weg die Identität der drei fremden Objekte ermitteln. Wenn das geschah, hatte die letzte Stunde geschlagen … Er schrak auf, als neben ihm eine blecherne Stimme ertönte und ein quietschender Bariton zu singen begann: »In eighteen-fourteen, we took a little trip …«
Fassungslos sah er, wie Blödel in taumelnde, purzelnde Bewegung geriet. Er überschlug sich mitten in der Luft und bewegte sich auf die Mündung des Quergangs zu. Die Arme hatte er nur zum kleinen Teil ausgefahren, so daß der fremde Robot sich von ihnen nicht bedroht zu fühlen brauchte. »… along with Colonel Jackson down the mighty Mississippi.« Blödel wurde schneller. Er schoß in den Seitengang hinein, und die fugenlosen Wände aus purem Nickel verstärkten und leiteten seine markerschütternde Stimme wie ein erstklassiges Megaphon. Der fremde Robot schien eine Sekunde lang unschlüssig; aber dann wurde ihm klar, daß das seltsame, lauthals plärrende Objekt ihm entkommen würde, wenn er nicht schleunigst nachsetzte. Das positronische Äquivalent der Neugierde lenkte seine Bewegungen. Er betrachtete es als seine Aufgabe, zu ermitteln, was ihm da an fremdartiger Apparatur in die Quere gekommen war. »We took a little bacon an' we took a little beans …« Atlan setzte sich in Bewegung. Er fürchtete um Blödel; aber wenn es Hage Nockemanns Spezialkonstruktion an den Kragen gehen sollte, dann war es auch um den fremden Roboter geschehen. Der Arkonide riß den Magnetverschluß einer Tasche am Oberschenkel seiner Montur auf und brachte zwei kleine Sprengkapseln zum Vorschein – einen Teil des Vorrats, mit dem er Hidden-X' Hohlspiegel zu vernichten gedachte. »… and we caught the bloody British in the town of New Orleans.« Er spähte in den Gang hinein. In der glitzernden Ferne war Bewegung auszumachen; aber Einzelheiten konnte er nicht erkennen. »We fired our guns …« Ein greller Blitz zuckte auf. Der berstende, dröhnende Krach einer titanischen Explosion barst aus der weiten Höhlung des Korridors. Die Druckwelle packte Atlan und schleuderte ihn beiseite. Eine blauschwarze Qualmwolke schoß aus der Mündung des Ganges.
Metallsplitter prasselten – und dann taumelte mitten aus dem chaotischen Durcheinander etwas, das wie eine zerbeulte Ofenröhre aussah. Es prallte mit schepperndem Krach an die gegenüberliegende Wand und entpuppte sich als die unverwüstliche »Dienstleistungsperson« Blödel. Ein wenig mühselig raffte der Robot sich auf. Seine Stimme klang gequält, als er erklärte: »Ich muß mich im Abstand verrechnet haben. Ich hätte längst in Sicherheit sein sollen, als die Kapsel explodierte.« Noch während er sprach, glätteten sich die Beulen in der Oberfläche des röhrenförmigen Körpers. Hage Nockemann hatte dafür gesorgt, daß sein Produkt aus selbstreparierenden Materialien erster Güte gebaut wurde. Schon nach wenigen Sekunden leuchtete Blödels großes Auge wieder in seinem charakteristischen, leicht impertinenten Glanz. »Diese Maschine wird uns keine Schwierigkeit mehr machen«, erklärte er in einer Weise, die man durchaus als selbstbewußt bezeichnen konnte. »Ich würde dich gern meiner Dankbarkeit versichern, wenn es einen Zweck hätte«, sagte der Arkonide sarkastisch. »Aber in Zukunft muß ich darauf bestehen, daß du deine Aktionen mit mir absprichst.« »War keine Zeit«, verteidigte sich Blödel. »Ich muß dir das Prinzip erklären …« »Nicht jetzt. Die Vernichtung eines seiner Roboter kann Hidden-X nicht entgangen sein. Wir sind in Gefahr.« Er wies in den nach links abzweigenden Gang. »Du dort hinein«, befahl er dem letzten der vier Spezialroboter. »Du weißt, worum es geht.« Die Maschine setzte sich in Bewegung und verschwand wenige Sekunden später aus dem Blickfeld. »Wir dorthin«, entschied Atlan. Er aktivierte den Antigrav und schwebte über die Gangkreuzung hinweg in jenen Teil des
Korridors, aus dem der fremde Roboter erschienen war. »Sobald wir weit genug entfernt sind, legen wir eine Ruhepause ein.« »… and the British kept a-co-min'…«, beendete Blödel die Zeile, die er infolge der Explosion nicht mehr zu Ende hatte singen können. Atlan lachte trocken auf. »Eines Tages wirst du mir erklären müssen, woher du dieses uralte Lied kennst.« »Das ist ganz einfach …«, bot Blödel sich eifrig an. »Nicht jetzt«, wies ihn der Arkonide zurecht.
* Sie machten halt, als sie einen Punkt erreichten, von dem aus der Korridor – inzwischen mit einer Weite von 35 Metern – sich steil in die Tiefe senkte. Wie eine riesige Rutschbahn lag die glitzernde Metallfläche vor ihnen. Von dem Ort, an dem Blödel den fremden Roboter beseitigt hatte, waren sie vierzig Kilometer entfernt. Weder Hidden-X noch die vier Spezialrobots hatten sich bisher gemeldet. Die endlose Stille wurde allmählich zum seelischen Druck, der dem Arkoniden Unbehagen verursachte. Er löste den Helm und schob ihn nach hinten. Blödel kauerte vor ihm, mit dem Rücken an die Wand des Ganges gelehnt. »Jetzt kannst du dich ausplappern«, forderte Atlan ihn auf. »Wir haben ein paar Minuten Zeit.« »Das Prinzip der perfid-hick-komplexen Robotik«, begann Blödel großspurig. »Ich habe es von …« »Hick! Wieso hick?« unterbrach ihn Atlan verwundert. »So nannte es Hage Nockemann«, verteidigte sich der Robot. »Mit einskommafünf Promille im Blut, ohne Zweifel«, spottete Atlan gutgelaunt. »Der Name ist an sich schon grotesk genug, auch ohne daß du einen zusätzlichen Gluckslaut einbaust.« »Du kennst das Prinzip?« erkundigte sich Blödel verwundert.
»Nockemann sprach davon. Ich dachte nicht, daß er es ernst nähme.« »Sehr ernst«, bekräftigte Blödel. »Heute hat es seinen ersten Test bestanden.« »Inwiefern?« »Der fremde Robot wußte auf Anhieb nichts mit uns anzufangen. Unsere Erscheinungsmuster waren ihm fremd. Wenn er erfahren wollte, was er vor sich hatte, mußte er uns analysieren. Er litt an einem Handikap infolge des Umstands, daß sein Körper und Geist nicht miteinander harmonierten – von wegen der Programmierung durch Hidden-X, von dem man annimmt, daß es überhaupt keinen Körper hat. Er hatte Identitätsprobleme und übertrug diese auf die Objekte, die er analysieren sollte. Einfache Strukturen hätte er leicht erkennen können. Aber indem ich ihm ein Theaterstück vorführte, brachte ich ihn vollends aus dem Gleichgewicht. Er war gleichzeitig unsicher und neugierig, als er mich verfolgte. Mein Verhalten entsprach keiner erkennbaren Logik; ich verfolgte offenbar keinen logisch erkennbaren Zweck. Mit der Zeit hätte er mich wahrscheinlich als defekten Robotmechanismus eingestuft; aber so lange konnte ich nicht warten. Ich schlug ein paar Haken, kehrte um und deponierte eine der Sprengkapseln. Als er über sie hinwegflog, aktivierte ich den Zünder. Um ein Haar mit zuviel Erfolg.« »Es war eine beeindruckende Leistung«, nickte Atlan anerkennend. »Ich weiß nicht, ob sie unbedingt etwas mit dem Prinzip der perfidkomplexen Robotik zu tun hat; aber auf jeden Fall hast du uns aus einer Zwangslage gerettet.« »Ich danke für das Lob«, sagte Blödel artig. »Wegen der Theorie brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Das verstehen ich und Nockemann wesentlich besser.« »Ich dachte es mir«, bemerkte Atlan trocken. »Und jetzt über das Lied …« »Richtig, das Lied! Woher hast du es?« »Von Nockemann. Er hat sich aus den SOL-Archiven eine
Sammlung alter Texte und Melodien zusammengestellt. Die Lieder singt er des öfteren, wenn er … wenn er …« »Des Weines voll und des Verstandes leer ist«, half Atlan ihm aus der Klemme. »Ja, so könnte man es ausdrücken. Er hat mir oft klarmachen wollen, daß das Lied historische Bedeutung besitzt. Kennst du es etwa?« Der Arkonide lächelte – ein wenig traurig, ein wenig verklärt. »Ich habe es oft gehört«, sagte er. »Das war vor langer Zeit.« Im nächsten Augenblick horchte er auf. Ein helles Zirpen drang aus einem der winzigen Nachweis- und Warngeräte, die in den Brustteil seiner Montur eingearbeitet waren. Er schob sich den Helm über den Kopf und musterte die Anzeigen, die auf die Innenfläche der Sichtscheibe geblendet wurden. »Es hat einen unserer vier Roboter erwischt«, knurrte er böse. »Das heißt …« Er kam nicht weiter. Mit mörderischer Wucht explodierten die mentalen Impulse eines fremden Bewußtseins unmittelbar in seinem Gehirn. Er glaubte, eine Stimme zu hören, die so mächtig war, daß sie das Riesengebilde des Flekto-Yn bis in seine Grundfesten hinab zum Zittern brachte. Die Stimme sprach zu ihm: »Ich weiß nicht, wie du den Weg hierher gefunden hast. Aber ich weiß, wo du dich aufhältst. Du bedeutest für mich, den Mächtigen, keine Gefahr. Bereite dich aufs Sterben vor, Arkonide!« Atlan lauschte dem mentalen Echo hinterher. Es klang durch das Gewirr der Gänge und Hallen im Innern der Nickelfestung, wurde immer ferner und ließ schließlich nur noch das Hintergrundrauschen übrig, das er zuvor schon gehört hatte. Hidden-X hatte zu ihm gesprochen. Die Stunde der Entscheidung war gekommen.
6.
Mit einem gellenden Entsetzensschrei sprang Sanny in die Höhe. Das faltige Maul schloß sich mit einem enttäuschten Schmatzlaut. Dutzende bleicher, wurmähnlicher Beinchen zappelten haltlos in der Luft. Das kugelförmige Pelzwesen rollte zur Seite, und Sanny erkannte voller Panik, daß es nicht allein gekommen war. Wenigstens zehn der fremdartigen Geschöpfe trollten sich zwischen den Stauden und Büschen. Sie fraßen auf, was an Abfällen zu Boden gefallen war. Das Erdreich selbst und die Pflanzen jedoch ließen sie ungeschoren. Sie wußten offenbar genau, welches ihre Aufgabe war. Nur was sie von Sanny zu halten hatten, war ihnen nicht klar. Sanny wich zurück. Die Mehrzahl der Bakwer schenkte ihr keine Beachtung; nur zwei rückten auf sie zu, darunter das Geschöpf, das sich angeschickt hatte, die Molaatin zu verzehren. »Hört auf! Laßt ab!« zeterte sie. »Ich bin weder Proviant, noch eure Feindin …« »Es hat keinen Zweck«, unterbrach sie Chybrains Mentalstimme. »Wir wissen bereits, daß sie von beschränkter Intelligenz sind. Und selbst wenn sie Verstand hätten, wäre ihnen deine Sprache unbekannt.« Die beiden Bakwer zirpten schrill und aufgeregt. Sie vergrößerten ihre Geschwindigkeit. Es schien ihre feste Absicht, sich das ungewöhnliche Mahl nicht entgehen zu lassen. Sanny wandte sich zur Flucht. Sie erinnerte sich deutlich, wie flink die Pelzwesen sich bewegt hatten, als sie den Roboter angriffen. Es schien ihr zweifelhaft, ob sie entkommen könne. Aber die Panik saß ihr in den Gliedern. Sie sah noch das faltige Maul vor sich, das sich schmatzend über sie zu stülpen begann. Sie rannte, was die Beine hergaben. Glücklicherweise waren infolge der ausgiebigen Mahlzeit ihre Kräfte wiederhergestellt. Sie stürzte den Stollen entlang, der die molaatische Plantage mit dem Hauptkanal verband. Manchmal, wenn sie sich umsah, glaubte sie zu erkennen, daß die Bakwer hinter ihr zurückfielen. Der schmale Gang behinderte ihre
Bewegungen. Das Pelzwesen, das sich hatte auf sie stürzen wollen, besaß einen Durchmesser von achtzig Zentimetern. Es kam längst nicht so behende voran wie sie, die Zwergin. Sie gewann neue Zuversicht. Die Lage war so aussichtslos nicht. Das Gefühl der Panik verebbte. Der Verstand begann von neuem zu funktionieren. Warum griffen die Bakwer sie an? Sanny und Chybrain waren zu der Überzeugung gelangt, daß die Pelzwesen Hidden-X feindlich gesinnt waren, weil dieses ihre Intelligenz beschnitten hatte. Wenn sie sich aus diesem Grund gegen den Herrn der Nickelfestung auflehnen konnten, warum waren sie dann nicht schlau genug, um zu erkennen, daß auch Sanny Hidden-X' Gegnerin war? Und warum versahen sie nach wie vor ihre Reinigungsfunktion? Wäre es nicht logisch gewesen, daß sie sich weigerten, für Hidden-X den Dreck wegzuräumen? »Wir wissen nicht, wieviel Logik sie noch besitzen«, meldete sich Chybrain. »Ich habe darüber nachgedacht. Es ist möglich, daß sie alles, was sich im Innern des Flekto-Yn bewegt, für Hidden-X' Geschöpfe halten. Sie versuchen nicht, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, weil sie zu wissen glauben, daß alles, was auf sie zukommt, feindlich ist.« »Das ist eine Möglichkeit«, stimmte Sanny nach kurzem Nachdenken zu. Die beiden Bakwer, die sie verfolgten, waren nirgendwo mehr zu sehen. Dafür glänzte in wenigen Dutzend Metern Entfernung vorab das helle Licht des Hauptkanals. »Wie kann ich sie überzeugen?« Chybrain antwortete nicht sofort. Sanny verließ den Stollen und drang in den Kanal ein. Das grelle Licht blendete sie, aber auch aus halb zusammengekniffenen Augen erkannte sie, daß die Dinge hier längst nicht so zum Besten standen, wie sie es erwartet hatte. Kälte kroch ihr das Rückgrat empor, als sie die Mauer der Pelzwesen erblickte, die ihr in der Richtung, die sie hatte einschlagen wollen, den Weg versperrte. Sie wandte sich um – dorthin, woher sie ursprünglich gekommen war – und sah das gleiche Bild. Die Bakwer
verhielten sich ruhig. Nicht eine einzige ihrer zirpenden Stimmen war zu hören. Sie hatten ihr Opfer fest. Es gab keinen Grund für Aufregung mehr. Aus dem Stollen kamen leise kratzende Geräusche. Die beiden Verfolger hatten ihr Vorhaben nicht aufgegeben. »Wenn du jemals eine brillante Idee hattest«, flüsterten Sannys Gedanken entsetzt, »jetzt ist die Zeit, sie hören zu lassen!« »Ich glaube, ich verstehe einige ihrer Gedanken«, sagte Chybrain. »Gut. Was denken sie?« »Sie sind gierig auf das Mahl.« »Welche ermunternden Einfälle hast du sonst noch?« »Wieviel Mittel stehen dir noch zur Verfügung? Kannst du eine kleine Explosion veranstalten?« »Und die Bakwer noch gieriger machen, indem ich ein paar von ihnen umbringe?« »Nein, nein. Das ist nicht der Plan. Du mußt Schaden anrichten. Dort, in der Stollenmündung. Dort werden die Rundpelze nicht in Mitleidenschaft gezogen.« »Wozu …« »Wenn du jetzt lange diskutierst, ist deine letzte Chance vertan«, warnte Chybrain. Sanny straffte sich. Die Utensilien, die sie in den Gürtelbeuteln bei sich trug, hatten die Gefangennahme durch Hidden-X fast unbeschadet überstanden. Das Fremdwesen sah offenbar keine Möglichkeit, wie eine Handvoll zumeist herkömmlicher Chemi- und Physikalien seiner riesigen Nickelfestung schädlich werden könnte. Sanny zerrte an einem Beutel, löste die Schlaufe, spähte ins Innere des winzigen Behältnisses. Sie sah sich um. Falls die Bakwer sahen, was sie tat, dann ließen sie es sich nicht anmerken. Sanny wußte nicht, wo sich ihre Wahrnehmungsorgane befanden. Sie horchte in den Stollen hinein und hörte das schleifende Kratzen, das ständig näher kam. Sie griff in den Beutel und zerrieb eine geringe Menge der
körnigen Substanz zwischen den Fingerspitzen. Sie spürte, wie sich der Staub erhitzte. Sie schnürte den Beutel wieder zu und schleuderte ihn beiläufig, als sei er ihr zu nichts mehr nütze, in die Mündung des Stollens. »Sie haben es gesehen«, meldete Chybrain. »Ich weiß nicht, wo ihre Augen sitzen. Aber sie haben es gesehen. Sie sind mißtrauisch. Was für eine Wirkung willst du erzielen? Sind wir …« »Duck dich!« schrie Sanny und ließ sich im gleichen Augenblick zu Boden fallen. Grünlichgelbes Feuer brach aus dem Stollenmund hervor. Ein rollender, donnernder Krach erschütterte das Gefüge der metallenen Festung. Qualm verdunkelte die Szene, aber durch die treibenden Rauchschwaden hindurch leuchteten Flächen glühenden Nickels. Die Masse der Bakwer war in Bewegung geraten. Zirpende, gellende Stimmen waren zu hören, sobald sich der Lärm der Explosion gelegt hatte. »Sie haben Angst«, berichtete Chybrain. »Und sie verstehen nicht. Dank für die Warnung. Ich bin froh, daß du dich geduckt hast. Sonst hätten wir unsere eigene Demonstration womöglich nicht überstanden.« Sanny richtete sich auf. Ihr Pelz war an mehreren Stellen versengt. Sie hatte Schmerzen über dem linken Auge; aber es war nichts Ernsthaftes, wie sie sich rasch überzeugte. »Sprich zu ihnen, Chybrain«, flehte sie. »Überzeuge sie, daß ich nicht ihr Feind bin!« »Wie kann ich sprechen? Ich habe keinen Mund?« »Sprich durch mich.« Bakwer drängten sich durch den dünner werdenden Qualm heran. Ihre Aufregung war zum Teil gewichen. Sie schienen ängstlich. Ihre Stimmen zirpten verhalten. »Leih mir dein Bewußtsein«, bat Chybrain. »Nur so lange, wie ich brauche, um die Bakwer zu überzeugen.« Sanny zögerte für den Bruchteil einer Sekunde. Was meinte er?
Wollte er sie aus ihrem Verstand ausquartieren? »Rasch«, drängte Chybrain. Sie gab ihm ihre Zustimmung. Ein seltsames Gefühl durchflutete sie. Sie sah, sie hörte, sie fühlte – alles war wie zuvor, nur schien sie einen Schritt zur Seite getreten. Diese Wahrnehmungen waren nicht ihre eigenen. Sie wurden ihr zugespielt. Dann hörte sie sich sprechen. Ja, es war ihre eigene Stimme. Sie sprach die Worte einer fremden, zirpenden Sprache, die sie nie erlernt hatte. Und doch verstand sie jeden Laut. Chybrain dirigierte ihr Bewußtsein. Sie lauschte ihm, während er durch ihren Mund sprach. »Seid ohne Angst. Ich komme als Freund. Das Wesen, das diese ungeheure Festung beherrscht, ist unser aller Feind. Ich bin gekommen, um ihn überwinden zu helfen. Ich habe euch gezeigt, daß mir Macht gegeben ist, die metallenen Strukturen dieses Gebäudes zu zerstören. Aber ich bin nicht allein. Meine Freunde sind in der Nähe. Ich muß sie finden. Wollt ihr mir dabei helfen?« Es war ein merkwürdiger Vorgang. Noch deutlicher als zuvor hatte Sanny das Gefühl, sie sei weit von der Szene entfernt und verfolge sie mit Hilfe eines Aufnahmegeräts. Sie hörte sich sprechen, aber es war nicht sie, die sprach. Sie hatte damit gerechnet, daß unter den Bakwern Verwirrung ausbrechen würde. Daß sie die Worte nicht verstanden, entweder weil der Mund, der sprach, ihre Sprache nicht beherrschte, oder weil die Gedanken zu kompliziert für ihren simplen Verstand waren. Aber das Gegenteil geschah. Einer unter den Bakwern rollte nach vorne, kein Riese, eher ein Geschöpf von durchschnittlicher Größe, mit einem Durchmesser von 50 Zentimetern. Er lehnte den Körper leicht nach hinten, so daß die Unterseite sichtbar wurde, der faltige Mund, die wurmähnlichen Armstummel – und eine Reihe von Wahrnehmungsorganen, die kreisförmig um den Mund herum angeordnet waren. Der Mund begann, sich zu bewegen. Eine schrille, zirpende
Stimme erklang, und abermals verstand Sanny, als ob sie diese Sprache schon seit langer Zeit beherrschte: »Wir haben deine Macht gesehen. Du bist unser Freund. Wir helfen dir. Sag uns, wohin wir dich führen sollen!«
* Mit einem Ruck kehrte Sanny aus der Unwirklichkeit zurück. Eine Stimme rief sie aus der Ferne. »Hörst du mich?« Vor ihr erhob sich die Wand der Bakwer. Hinter ihr stand ein Wall behaarter, kugelförmiger Wesen. Aus dem Stollen quoll eine dünne, träge Rauchfahne. Das schabende Kratzen war nicht mehr zu hören. »Wer ruft?« »Ich, Chybrain. Du hast mir dein Bewußtsein überlassen. Jetzt gehört es wieder dir. Verstehst du?« Es sprach Sorge aus den Gedanken der Mentalstimme. Chybrain, das Kind! Sanny empfand Rührung. Er hatte ihren Verstand übernommen, um ihr zu helfen; aber jetzt war er besorgt, daß er ihr Schaden zugefügt haben könne. Sie zwang sich zur Ruhe. Sie konzentrierte sich auf die Lage, die sich ihrem Blick darbot. Sie sah sie mit eigenen Augen, nicht mehr als entfernter, unbeteiligter Beobachter. »Ich verstehe«, sagte sie. Der Bakwer, der sich nach hinten gelehnt hatte, um deutlicher sprechen zu können, kippte wieder nach vorn. »Verstehen sie mich, Chybrain?« fragte Sanny. »Nein. Sie wissen, worum es geht. Du kannst ihnen durch Zeichen zu verstehen geben, was du willst. Ihre Gedanken sind beschränkt, aber freundlich. Sie werden sich Mühe geben, zu begreifen, was du ihnen klarmachst. Und wenn die Lage wirklich schwierig wird …« Er zögerte.
»Was dann, Chybrain?« wollte Sanny wissen. »Wir können wiederholen, was wir eben getan haben«, antwortete die geistige Stimme des kleinen Fremdwesens. »Wenn du keine Angst davor hast.« »Nein, ich habe keine Angst«, sagte Sanny fest. Die Bakwer drängten sich ringsum. Sanny begann zu gestikulieren. Sie zeigte den metallenen Schlauch entlang. Dann legte sie die Hände aneinander und formte mit gewölbten Handflächen eine Schüssel. Durch zusätzliche Gesten gab sie zu verstehen, daß es sich um eine große Schüssel, um ein Gebilde von riesigem Ausmaß handelte. Am Gezirpe der Pelzwesen erkannte sie, daß sie verstanden worden war. Die Bakwer traten auseinander, so daß eine Gasse entstand. Einer von ihnen setzte sich in Bewegung, die Gasse entlang. Auf seinen winzigen Beinen gewann er so rasch an Geschwindigkeit, daß er schon nach wenigen Sekunden wie eine große, haarige Kanonenkugel den Korridor entlang schoß. Sanny streckte abwehrend beide Arme von sich und lachte hell auf. »Nein, so schnell kann ich nicht!« rief sie. Drei Bakwer drängten sich an sie heran, ausgewachsene Exemplare mit einem Körperdurchmesser von rund 60 Zentimetern. Sie bewegten sich im Gleichschritt und bildeten mit ihren Kugelkörpern ein enges Dreieck. In der Mitte des Dreiecks befand sich, gebildet von den drei dicht aneinandergedrängten Körpern, eine gepolsterte Kuhle. Sanny begriff. »Versprecht, daß ihr mich nicht fallen laßt«, bat sie. Dann griff sie dem vordersten Bakwer in den Pelz und schwang sich hinauf. Die Kuhle war bequem. Sie saß in ihr wie in einem weich gepolsterten Sessel, der ihrer Körperform angepaßt war. »Von mir aus kann's losgehen«, sagte sie halblaut. Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, da setzten die Bakwer sich in Bewegung. Und schon nach der ersten Minute stand fest, daß Sanny
eine Erfahrung zuteil wurde, wie sie sie noch nie in ihrem Leben gemacht hatte. Das Bakwer-Trio bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von gut und gern 50 Kilometern pro Stunde. Vor den dreien rannte eine Vorhut, die aus zwanzig Bakwern unterschiedlicher Große bestand, und hinterdrein folgte die große Menge der Pelzwesen, die Sanny noch vor einer halben Stunde als delikate, exotische Mahlzeit betrachtet hatten. Der seltsame Zug bewegte sich bergauf, bergab, um scharfe und sanfte Krümmungen des metallenen Schlauches. Und jedesmal, wenn eine Verzweigung oder eine Gangkreuzung auftauchte, wußte die Vorhut offenbar aufgrund des Instinkts, welche Richtung sie einzuschlagen hatte. Sanny war überzeugt gewesen, daß die Bakwer nach ein paar Minuten ermüden würden. Aber ihre Befürchtung bewahrheitete sich nicht. Es steckte eine ungeheure Energie in diesen bepelzten Körpern. Es kam nicht einmal zu einer Ablösung der drei Kugelwesen, in deren Mitte sie ruhte. Angesichts der unaufhörlich vorbeirasenden Wände aus schimmerndem -Nickel bemächtigte sich ihrer schließlich ein Gefühl der Euphorie. Sie steigerte sich in eine durch keinerlei logische Überlegung gestützte Zuversicht hinein, daß von nun an nichts mehr schiefgehen könne. Schließlich aber meldete sich der paramathematische Sektor ihres Verstands und machte ihr klar, daß sie mit Hilfe der Bakwer wohl den großen Hohlspiegel erreichen werde – aber das allein brachte noch nicht die Rettung. Nur wenn Atlan annähernd zur gleichen Zeit in der Gegend des Spiegels erschien und sie sich ihm anschließen könnte, bestand Hoffnung, daß es ihr gelang, aus dieser Falle zu entkommen. Chybrain meldete sich. Er hatte seit mehr als einer Stunde nichts mehr von sich hören lassen. »Verzage nicht. Deine Aussichten sind nicht so schlecht wie du denkst.« »Was weißt du davon?« fragte Sanny überrascht. »Ich hörte die Stimme des Hidden-X«, sagte Chybrain. »Vorhin, als
ich die Kontrolle über dein Bewußtsein besaß. Sie sprach zu Atlan. Er ist in der Nähe.«
7. Acht Stunden später verlor er seinen zweiten Spezialroboter. Das Zirpen des Alarmgebers und das stete rote Blinken des Warnsignals auf der Helmscheibe waren ein trauriger Abgesang auf ein kostbares, pseudomenschliches Gerät, das das positronische Gebot der Selbsterhaltung aus Pflichtbewußtsein – wenn auch programmiertem Pflichtbewußtsein – mißachtet und sich geopfert hatte. Er wußte nicht, wie es Hidden-X Streitkräften gelang, seine schwerbewaffneten Maschinen zu überwältigen. Um Einzelheiten zu erfahren, hätte er weitere Kommunikationskanäle öffnen und damit ein größeres Risiko der Entdeckung eingehen müssen. Die Streiter der Gegenseite waren ohne Zweifel ebenfalls Roboter. Ob technische Überlegenheit eine Rolle spielte, blieb dahingestellt. Atlan war jedoch überzeugt davon, daß sie eine beträchtliche Überlegenheit der Zahl besaßen. Zudem kannten sie sich im Innern des Flekto-Yn aus, während seine Maschinen sich an jeder Gangkreuzung neu orientieren mußten. Blieben zwei Spezialroboter, die irgendwo in weiter Ferne durch das Labyrinth der Nickelfestung schwebten, und er selbst mit seinem Begleiter Blödel, der sich als ein umsichtiger und einfallsreicher Kämpfer entpuppt hatte. Von Hidden-X waren noch mehrere Male wüste Drohungen zu hören gewesen. Das Dröhnen der Mentalstimme des Herrn der Nickelfestung übertönte jeden Gedanken, mit dem Atlan gerade beschäftigt sein mochte; aber es war nicht immer von gleicher Intensität. Der Arkonide gewann den Eindruck, als suche Hidden-X mit Mühe nach den Eindringlingen. Er konnte sie von sich aus nicht finden. Seine Drohungen – von denen er bisher keine einzige hatte verwirklichen können – waren in
Wirklichkeit Herausforderungen an Atlan, das Visier zu lüften und zu antworten. Atlan schwieg. Zusammen mit Blödel drang er immer weiter in das Gewirr der Gänge, Kanäle, Schläuche und Korridore des FlektoYn vor. Seine anfängliche Zuversicht hatte einen Dämpfer erhalten. Er mochte dem Hohlspiegel nahe sein; aber das Labyrinth war so verwirrend, daß er hier Tage, wenn nicht gar Wochen hätte verbringen können, um auf forschende, analytische Weise die Richtung zu finden, die auf dem geradesten Weg zum Spiegel führte. Soviel Zeit blieb ihm nicht. Von der Frist, die Wöbbeking ihm gesetzt hatte, war die Hälfte verstrichen. Chybrain hatte sich bisher nicht gemeldet. Es war Atlans Hoffnung, daß er das mentale Toben des Hidden-X empfinge und daran erkannte, daß jemand gekommen war, um ihn zu retten. Wenn ihm die Anlage des Flekto-Yn bekannt war, konnte er sich womöglich ausrechnen, daß der große Spiegel derjenige Ort war, an dem die größte Wahrscheinlichkeit eines Zusammentreffens bestand. Wöbbeking hatte das kleine Wesen als geschwächt und erschöpft bezeichnet. Niemand wußte, wie der Kräftemangel sich auf Chybrains Wahrnehmungsfähigkeit und Beweglichkeit auswirkte. Eine hartnäckige Verbissenheit bemächtigte sich des Arkoniden, als er erkannte, daß eine Hoffnung nach der andern sich verflüchtigte. Er hatte sich in der Tat in eine nahezu ausweglose Lage manövriert. Wenn er Chybrain nicht fand, würde Wöbbeking ihn nicht auf dem geplanten Weg zur SOL zurückholen können. Blieb ihm noch die vage Aussicht, daß Hidden-X durch die Zerstörung des großen Hohlspiegels ausreichend geschwächt wurde, so daß sich auf die eine oder andere Weise ein zweiter Weg durch die Dimensionsfalte finden ließ. Wenn es ihm aber nicht gelang, den Spiegel zu erreichen, bevor Hidden-X seinen Standort ermittelte und die geballte Macht seiner Robotarmee gegen ihn und Blödel anrücken ließ, dann …
Das war die Situation. Verfahren wie kaum eine, in der der Arkonide sich je befunden hatte. Bis Wuschel aufkreuzte.
* Aufkreuzen war vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Blödel spähte in einen finsteren Seitengang, der offenbar nicht zum Netzwerk der Signalleiter gehörte. Feuchte, warme Luft strömte ihm daraus entgegen. Blödel richtete sich auf und wollte eine Bemerkung machen, da schoß aus der dunklen Mündung des Stollens ein haariges, rundes Gebilde hervor, kaum so groß wie die geballte Faust eines erwachsenen Mannes, und landete auf der schmalen Schulter des Roboters. Blödel, in dessen Programm Hage Nockemann die Fähigkeit menschlichen Erstauntseins eingebaut hatte, um mehr Spaß an seinem Produkt zu haben, gab einen quietschenden Laut des Entsetzens von sich. Er griff nach der Schulter und wollte das fremdartige Gebilde entfernen. Aber das runde Pelzbündel biß sich in seiner Greifhand fest, und so sehr Blödel die Hand auch schüttelte und schlenkerte – er wurde das eigenartige Ding nicht los. Der haarige Ball gab unterdessen schrille, zirpende Laute von sich, als bereite ihm die Sache ungeheures Vergnügen. Atlan erkannte, nachdem er sich von der ersten Überraschung erholt hatte, daß das Gezirpe des kleinen Geschöpfs artikuliert war. Es lag in den höchsten Frequenzbereichen, die seinem Ohr – und dem Mikrophon seines Helms – noch zugänglich waren; aber es stellte eindeutig eine Sprache dar. Er löste den Helm. »Hör auf«, befahl er Blödel. »Halt den Arm still!« Blödel gehorchte. Atlan näherte die Hand vorsichtig dem robotischen Greifwerkzeug, an dem der haarige Ball sich
festgefressen hatte. Die fremde Kreatur gab ein freudiges Quietschen von sich, sprang über und rollte dem Arkoniden ein Stück weit den Arm hinauf. Blödel besah seine Greifhand. »Bei allen Göttern des heiligen Hellas«, rief er theatralisch, »ich glaube gar, es hat versucht, mich zu beißen.« Die metallene Oberfläche der Hand wies in der Tat einen frischen Kratzer auf. Atlan hob das fremde Geschöpf vom Arm. Es ließ sich das ohne weiteres gefallen. Er drehte es nach oben, studierte die Unterseite des Körpers und nickte zustimmend. »Kann sein. Es hat einen großen, faltigen Mund, dahinter offenbar kräftige Beißwerkzeuge. Dazu ein Gewimmel von Ärmchen und Beinchen, und eine kranzförmige Ansammlung von Wahrnehmungsorganen.« Er hielt sich den kleinen Pelzball vors Gesicht und sagte: »Wer bist du?« »Ärbid-du, ärbid-du«, quitschte die fremde Kreatur fröhlich. »Es ist vermutlich giftig«, äußerte sich Blödel. »Wahrscheinlich. Deswegen möchte ich, daß du dich mit ihm beschäftigst.« »Ich?« entrüstete sich der Roboter. »Du bist gegen Gift nicht empfindlich. Nimm es an dich und widersteh der Versuchung, mit dem Arm zu schlenkern.« Blödel gehorchte. Er hatte längst verstanden, worum es ging. Wenn es im Innern des Flekto-Yn eine Intelligenzform gab, die willens war, sich mit ihnen zu verbünden, dann bedeutete das Vorteile für sie. »Versuch, sein Gezirpe zu analysieren«, sagte Atlan. »Inzwischen suchen wir weiter.« Er selbst trug einen Translator. Aber was war ein solches Gerät weiter als ein Mikrocomputer, der über besondere Fähigkeiten der analytischen Linguistik verfügte? Blödel, dessen positronisches Innenleben aus einem Verbund von mehreren hundert Mikrorechnern bestand, war in weitaus höherem Maße dazu
befähigt, die Sprache des kleinen Pelzwesens zu entschlüsseln. Sie glitten mit hoher Geschwindigkeit dahin. An einer Verzweigung hielten sie an, um zu ergründen, in welcher Richtung es weitergehen sollte. Atlan musterte den Roboter. »Wo ist der kleine Pelzball?« fragte er. Blödels grüner Schnauzbart zuckte. Die Stimmtechnik erzeugte ein meckerndes Lachen. Im rohrförmigen Leib des Roboters klappte eine Lade auf. Das fremde Wesen tauchte auf und zwitscherte vergnügt. Blödel schob es in die Lade zurück und schloß die Klappe. »Da ist es gut aufgehoben«, sagte er. »Wir können uns unterhalten, ohne daß du dir sein Gezirpe ständig anzuhören brauchst.« Es war ein Gebilde, wie sie es noch niemals zuvor zu sehen bekommen hatten: eine Kugel von mehr als hundert Metern Durchmesser. Der Kanal, aus dem sie gekommen waren, mündete hier gleichzeitig mit sieben anderen. Sie kamen von allen Seiten. Atlan sah sich um. Ein Anflug von Panik überkam ihn, als ihm bewußt wurde, daß es keinen logischen Anhaltspunkt gab, mit dem er sich für den einen oder anderen Ausgang hätte entscheiden können. »Wuschel sagt, es ist dieser dort«, erklärte Blödel. Atlan sah ihn erstaunt an. Der Roboter hatte einen seiner Greifarme ausgefahren und deutete in einen der sieben Metallschläuche, die zur Auswahl standen. »Wuschel. Wer ist Wuschel?« »Mein kleiner Freund«, antwortete Blödel liebevoll und wies auf die offene Klappe in seinem Leib. Das runde Pelzwesen saß im Vordergrund der Lade und zirpte. »Du kannst dich mit ihm verständigen?« »Ausgezeichnet«, bestätigte Blödel. »Seine Sprache ist nicht sehr kompliziert. Er gehört einem Volk an, das sich die Bakwer nennt und hier im Flekto-Yn mit mehreren hunderttausend Exemplaren vertreten ist. Er ist ein sehr junger Bakwer. Die Erwachsenen werden im Durchmesser acht- und mehrmal so groß wie er.«
»Und er heißt Wuschel?« »Er hatte bisher keinen Namen. Ich habe ihn ihm gegeben.« »Woher weißt du, daß er ein Er ist?« Eine halbe Sekunde später tat es ihm leid, daß er diese Frage gestellt hatte. Blödel besaß eine gewisse Art, sich Unsicherheit anmerken zu lassen. Sein Auge nahm eine weniger helle Färbung an; er bewegte den Kopf unschlüssig hin und her – so wie jetzt. »Ich weiß es nicht«, bekannte er. »Ich … ich habe es einfach angenommen. Ich werde mich sofort erkundigen …« »Nein, das wirst du nicht«, wies Atlan ihn zurecht. »Aber es ist wichtig …« »Weitaus wichtiger ist, daß wir den Spiegel finden. Wo geht der Weg weiter?« Blödel reckte den ausgefahrenen Arm in die Höhe und wies auf einen Korridor, der schräg nach oben von der Richtung fort wies, die sie gekommen waren – »oben« definiert im Einklang mit dem künstlichen Schwerefeld, das in diesem Sektor des Flekto-Yn herrschte. »Weiß er, wie weit es noch ist?« Die Farbe in Blödels großem Auge nahm einen noch betreteneren Ton an. »Unsere Verständigung ist noch nicht perfekt«, entschuldigte er sich. »Ungefähr«, drängte Atlan. »Ein paar Stunden«, sagte Blödel. »Aber …« »Was – aber?« »Ich bin nicht sicher, ob er weiß, was eine Stunde ist.« Während sie mit hoher Geschwindigkeit dahinglitten, begann Blödel zu sprechen. »Er hat nicht von ungefähr Verbindung mit uns aufgenommen«, sagte er. »Wuschel, meine ich.« »Sondern?« erkundigte sich Atlan. »Er hat zu seiner großen Überraschung gehört, daß es im Innern
des Flekto-Yn Wesen gibt, die Hidden-X feindlich gesinnt sind. Er dachte, wir wären womöglich von derselben Sorte, und wollte uns etwas mitteilen.« »Er kennt die Begriffe Hidden-X und Flekto-Yn?« fragte der Arkonide verwundert. »Nein. Er benennt sie auf andere Weise. Aber ich verstehe, was er meint«, erklärte Blödel. »Was wollte er uns mitteilen?« »Daß sich vor geraumer Zeit eine Abteilung seines Volkes auf den Weg gemacht hat, einen Fremden zu demselben Ziel zu bringen, auf das wir zusteuern.« Atlan horchte auf. »Woher weiß er davon?« »Ich begreife es nicht ganz«, bekannte Blödel. »Aber unter seinem Volk sprechen sich Neuigkeiten offenbar rasch herum. Besonders, da es sich um einen einmaligen Vorgang zu handeln scheint. Eben darum, daß die Bakwer zum ersten Mal auf einen Gegner von Hidden-X stießen.« »Hat er eine Beschreibung des Fremden?« »Ja, und sie hört sich recht merkwürdig an. Er ist ein wenig durcheinander, weil der Fremde weitaus größer als er, aber kleiner als die Erwachsenen seines Volkes ist. Er ist …« »Wie groß?« unterbrach Atlan ungeduldig. »Etwa einen halben Meter, würde ich nach Wuschels Angaben schätzen.« »Weiter!« »Er ist von völlig ungewöhnlicher Form, wenigstens in den Augen der Bakwer. Offensichtlich ist sein Körper nach humanoider Weise gegliedert. Er hat einen Kopf, zwei Arme …« »Blödel, ich bringe dich um, wenn du mich weiter zum Narren hältst«, knurrte der Arkonide. »Es ist eine Molaate, nicht wahr?« »So hört sich die Beschreibung allerdings an«, bekannte der Roboter.
»Name?« »Uuhh – einen Namen hat er, soweit ich das verstehe, nicht genannt.« Atlan schwieg. Ein paar bange Sekunden lang hatte er gehofft, Gewißheit über Sannys Schicksal zu erhalten. War es sie, oder war es Ajjar gewesen, der als erster in der Maske Tristan Bessborgs an Bord der SOL den Tod gefunden hatte? Die Vorstellung, daß Sanny im Kreuzfeuer solanischer Thermoblaster gestorben sein könne, war ihm unerträglich. Zum ersten Mal war ihm klargeworden, wie eng er sich mit der kleinen Molaatin verbunden fühlte. Er suchte voller Verzweiflung nach dem winzigsten Hinweis, aus dem hervorging, daß Sanny womöglich noch am Leben war. Seine Hoffnung war von neuem zunichte geworden. »Wir wollen uns mit dem Fremden treffen«, brachte er mit belegter Stimme hervor. »Sag das deinem … Wuschel!«
* Stunden vergingen. Wuschel – unsichtbar in der Klapplade, und auf unhörbare Weise mit Blödel kommunizierend – wies den Weg. Manchmal begann der Roboter zu sprechen und enthüllte eine weitere, erstaunliche Episode aus dem Leben des seltsamen Volkes der Bakwer, die er soeben von seinem neugewonnenen Freund erfahren hatte. Manche Nuancen waren so grotesk, daß Atlan sich unwillkürlich fragte, ob sie sich so wirklich zugetragen hatten, oder ob der Bericht gefärbt war durch Wuschels Unerfahrenheit. Er war immerhin ein junges Wesen. Hidden-X hatte die Bakwer von ihrer Heimatwelt verschleppt und zum Flekto-Yn gebracht. Ihre Funktion, wenn man Blödels Bericht glauben konnte, war die einer Reinigungstruppe. Sie beseitigten alles, was während der Konstruktion des Flekto-Yn an Abfall anfiel – indem sie es auffraßen. Dabei war es gleichgültig, ob es sich um
organischen Müll, um chemische Wirkstoffe oder Metall handelte. Atlan erinnerte sich an den Kratzer, den Wuschel in Blödels Hand gebissen hatte. Wäre dieser Zwischenfall nicht gewesen, er hätte fest geglaubt, daß der kleine Bakwer ihm einen Bären aufbinden wollte. Entsprach die Geschichte der Wahrheit, dann besaßen die Bakwer einen Metabolismus, von dem sich die Exobiologen der SOL noch nicht einmal hatten träumen lassen. Irgendwann war den Pelzwesen, die von Natur aus über eine hochentwickelte Intelligenz verfügten, das ewige Einerlei zuwider geworden. Sie hatten zu rebellieren begonnen. Hidden-X hatte dem Aufstand die Grundlage entzogen, als es die Bakwer zur Dummheit verdammte. Es nahm ihnen das Denkvermögen – bis auf einen kleinen Rest, den sie zum Versehen ihrer Aufgabe brauchten. Seitdem vegetierten die Bakwer dahin – Feinde des Hidden-X, weil sie im Halbdunkel ihres verminderten Verstands begriffen, daß ihnen von diesem Unrecht getan worden war, und dennoch ihre Funktion als Reinigungstruppe weiterhin gehorsam ausübend. Ein bedrohliches Produkt der Verdummung war der Glaube, daß es im Innern des Flekto-Yn nur solche Strukturen, Kreaturen und Maschinen gebe, die Hidden-X dienten und somit als feindlich betrachtet werden müßten. Alles, was den Bakwern in die Quere kam, mußte vernichtet werden. Atlan fragte sich, wie der einsame Molaate es fertiggebracht hatte, die Pelzwesen von der Gemeinsamkeit ihrer Gesinnung zu überzeugen. Es mußte schwierig gewesen sein. »Wie kommt es«, fragte er Blödel, »daß dein Freund über einen derart wachen Geist verfügt, wenn doch angeblich alle Bakwer in geistiger Umnachtung leben?« »Ich habe ihn das bereits gefragt«, lautete die Antwort des Roboters. »Sie werden nicht dumm geboren. Wenn sie ein bestimmtes Alter erreicht haben, läßt ihnen Hidden-X eine Behandlung angedeihen, bei der achtzig Prozent ihres Verstands zerstört werden.«
»Achtzig Prozent, hat er das gesagt?« »Nein, ich habe es mir selbst ausgerechnet.« »Und von wem hat er die ganze Geschichte, die du mir soeben erzählt hast?« »Die Überlieferung lebt unter den jungen Bakwern fort. Bevor Hidden-X sie verdummt, erfahren sie die Geschichte ihres Volkes. Sie kennen ungefähr den Zeitpunkt, an dem sie zur Behandlung antreten müssen. Bevor Hidden-X sie ruft, teilen sie ihr Wissen den zuletzt Geborenen mit.« Das war Stoff zum Nachdenken. Im Innern des Flekto-Yn lebte ein Volk, dessen Tradition nicht durch die Alten, sondern durch die Jugend lebendig gehalten wurde. Atlan fragte sich, was aus den Bakwern werden mochte – jetzt, da das Flekto-Yn vollendet war und kein Bauschutt, keine organischen Abfälle, keine Chemikalien mehr anfielen. Es war klar, was die Bakwer vorhatten: Sie würden sich an den Robotern sättigen, die überall in der riesigen Weite der Nickelfestung unterwegs waren. Aber was hatte Hidden-X geplant? Hatte es überhaupt jemals einen Gedanken daran verschwendet, was nach der Fertigstellung seiner Festung aus einem Volk werden würde, das es brutal in seinen Dienst gezwungen hatte? Ein dumpfes Grollen rollte durch den weiten Kanal. Es klang wie der Donner einer fernen Explosion. Atlan zuckte zusammen, als er das Zirpen des Warngeräts hörte. Eine Sekunde später leuchtete das blinkende Alarmzeichen auf. Er hatte den zweitletzten seiner Spezialroboter verloren. Stand das Rumpeln der fernen Detonation damit im Zusammenhang? Ein Knacken drang aus dem Helmempfänger. Atlan hörte die wohlmodulierte, aber unbeteiligte Stimme seiner letzten Kampfmaschine. »Hier spricht Charlie. Notlage eins, Notlage eins. Ich habe die Peripherie des Hohlspiegels erreicht. Peilsignal kommt. Beta und Delta sind verloren, Alpha wurde vor wenigen Sekunden in meiner Nähe vernichtet. Hast du verstanden?«
»Verstanden«, ächzte der Arkonide. »Blödel?« »Ich habe das Peilsignal, falls du danach fragen wolltest«, antwortete Hage Nockermanns Sonderkonstruktion.
* Es donnerte und dröhnte in den Eingeweiden der riesigen Nickelfestung Flekto-Yn. Charlie, der letzte überlebende Spezialroboter, verteidigte seine positronische Existenz mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen. Atlan hatte zusätzliche Kommunikationskanäle geöffnet. Er empfing ein klares Bild der Vorgänge in Charlies unmittelbarer Umgebung. Daß Hidden-X ihn jetzt würde orten können, spielte für den Arkoniden nur eine geringe Rolle. Es ging ums Ganze. Im Lauf der nächsten Stunde würde sich entscheiden, ob es ihm gelang, den großen Hohlspiegel zu vernichten oder nicht. Hidden-X zögerte nicht lange, seinen Triumph zu verkünden. »Dein Ende ist gekommen, Arkonide«, dröhnte seine Mentalstimme. »Meine Roboter haben dich im Ziel. Stirb, verfluchter Eindringling!« Atlans Lachen war rauh und trocken. »Hör auf zu prahlen, Großmaul!« schrie er. »Du hast keine Ahnung, wo ich bin, und keiner deiner Roboter befindet sich in meiner Nähe.« Wenn er jemals daran gezweifelt hatte, ob Hidden-X seine Gedanken wahrnehmen könne, nur weil sie an ihn adressiert waren, so wurde die Ungewißheit alsbald beseitigt. Der Herr der Nickelfestung meldete sich von neuem, und die Flut seiner mörderischen Gedanken erzitterte unter dem wilden Zorn, der ihn bewegte. »Das magst du glauben, Arkonide! Sieh dich um, hör dich um! Du hörst den Donner der Explosionen, in denen dein letzter Lakai
vergeht. Ich weiß, daß du dich in der Nähe des Spiegels befindest.« »Wie groß ist dein Spiegel?« höhnte Atlan. »Sechzehntausend Kilometer im Durchmesser, sechstausend Kilometer tief. Was hast du davon, wenn du weißt, daß ich in der Nähe bin? Such mich, du Scheusal! Such mich winziges Geschöpf in einem Gebiet, das so groß ist wie die Oberfläche zweier Planeten!« Hidden-X antwortete nicht mehr. Dafür meldete sich Charlie. »Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Zwei Drittel der motorischen Mechanismen sind beschädigt oder vernichtet. Ich wehre mich.« »Laß es nicht zum letzten kommen, Charlie«, warnte Atlan. »Wenn sie dich erwischen, mußt du an günstiger Stelle positioniert sein.« »Verstanden«, antwortete der Roboter. »Ich bin in guter Position. Ich brauche nur zu warten und im entscheidenden Augenblick den Zündvorgang einzuleiten.« »Halt dich tapfer, Charlie!« rief der Arkonide. »Wir sind in der Nähe. Wir hauen dich heraus.« ' »Mach dir meinetwegen keine Mühe«, sagte Charlie. »Ich bin ersetzbar.« Atlan spürte ein Würgen in der Kehle und begriff zum abertausendstenmal in seinem langen Leben, daß es nichts einbrachte, wenn der Mensch in seiner Phantasie wesenlose Maschinen mit einer Seele ausstattete. Er zitterte, er bangte um Charlie – aber Charlie war weiter nichts als ein Robot. Dann kam der Augenblick, auf den er seit so vielen Stunden gewartet hatte: Der glitzernde Gang stülpte die Wände nach außen, wie der Trichter einer Trompete. Eine riesige Öffnung, viele hundert Meter im Durchmesser, zeichnete sich ab. Dahinter gähnte die sternenlose Schwärze des Nichts, des Hypervakuums, in dem Hidden-X sich mit seiner Nickelfestung versteckt hatte. Er brauchte Blödel keine Anweisungen zu geben. Sie bremsten die halsbrecherische Fahrt ab und landeten auf dem Rand des Trichters. Der Ausblick, der sich Atlan bot, war sinnverwirrend. Vor ihm lag die Schwärze des Alls; aber wenn er nach unten, nach oben, zur
Seite blickte, sah er die ungeheure, verschachtelte Masse des FlektoYn, schimmernd und strahlend im Glanz vieler Millionen von grellweißen Heliolampen. Es war ein Alptraum, geboren aus der verworrenen Phantasie eines wahnsinnigen Architekten. Und dennoch berührte der Anblick einen Punkt in seiner Seele – allein aufgrund der Riesenhaftigkeit des Gebildes, von dem er in Wirklichkeit nur einen winzigen Ausschnitt sah, während die Masse des Ganzen außerhalb seines Blickfelds lag. Er hörte das Dröhnen und Rumoren der Explosionen, die ihm zu verstehen gaben, daß irgendwo in der Nähe der Spezialroboter Charlie um sein Leben kämpfte. Und dennoch war er eine volle Minute lang starr, überwältigt von den titanischen Ausmaßen der größten Struktur, die je außerhalb des Wirkens der Natur entstanden war. Der Trichter, an dessen Rand er hockte, schob sich etliche hundert Meter über das allgemeine Niveau der Umgebung hinaus. Er sah eine Vielzahl ähnlicher Öffnungen im Umkreis von einigen Dutzend Kilometern. Das Gelände wies bedeutende Unebenheiten auf. Es kamen ihm Zweifel, ob er sich wirklich in der Nähe des großen Spiegels befinde. Dann musterte er den Horizont. Er bildete eine scharf gezeichnete, von keiner Kante oder Fuge unterbrochene Linie. Er schien erhöht; es war ein Horizont, zu dem man hinaufblickte. Und Atlan begriff. Die Unebenheiten, an denen er sich störte, waren im Vergleich zum Ausmaß des Hohlspiegels winzige Pockennarben. Wer weit genug entfernt war, daß er die Parabolfläche als Ganzes überblickte, nahm sie vermutlich überhaupt nicht wahr. Der erhöhte Horizont, der sich rings um ihn dahinzog, war der Rand des großen Spiegels. Blödel und er befanden sich nahe dem tiefsten Punkt, annähernd in der Mitte der riesigen Spiegelfläche. Er prüfte die Meßgeräte. Im Innern des Spiegels existierte eine atembare Atmosphäre mit 120 Prozent Normaldruck. Der Schwerkraftvektor, mit einer Größe von 1,02 Gravo, war senkrecht gegen die Spiegelfläche gerichtet. Wie weit die künstliche Atmosphäre in die Finsternis des Alls hinausreichte und auf welche
Weise sie an das Flekto-Yn gebunden wurde, darüber konnte man nur spekulieren – und zum Spekulieren hatte Atlan keine Zeit mehr. Zu seiner Rechten blitzte es auf. Charlie meldete sich mit schleppender Stimme, deren schnarrender Ton auf tiefgehende innere Verletzungen hinwies: »Das Ende … ist nahe … Zündvorgang eingeleitet …« Dort, wo der Blitz aufgeleuchtet hatte, schoß ein schimmernder Punkt in die Höhe. Fauchende, knallende Energiefinger schwerer Thermostrahler griffen nach ihm, verfehlten ihn. Charlie, nur noch ein Wrack, hatte seinen Kurs unter Kontrolle. Er glitt hinter einer Trichtermündung vorbei und brachte das Hindernis zwischen sich und die heimtückischen Schützen. Die Sprengladung, die der Roboter bei sich trug, würde einen Initialschock im Äquivalent von 50 Megatonnen TNT auslösen. Wichtiger als die Primärwirkung der Explosion war dagegen der Sekundäreffekt – ein schwelender Kernbrand, der im Lauf von mehreren Stunden den gesamten Hohlspiegel vernichten würde. Glitzernde Reflexe erschienen über der Spiegelfläche. Hidden-X' Roboter nahmen die Verfolgung auf. Charlie mußte ungestört ans Ziel gelangen, das etliche Kilometer jenseits des Spiegelzentrums lag. Atlan löste die schwere Waffe aus dem Gürtel. Blödel machte sich ohne besondere Aufforderung ebenfalls schußbereit. Zwei armdicke Energiestrahlen stachen fauchend quer über die gleißende Nickellandschaft und knallten in den Pulk der gegnerischen Roboter. Zwei Maschinen explodierten auf Anhieb, eine dritte trudelte schwer angeschlagen und außer Kontrolle davon. Der Rest der Verfolgergruppe, fünf Roboter, formierte sich neu und hielt auf den Punkt zu, von dem das vernichtende Feuer gekommen war. Atlan hatte damit gerechnet – und dennoch traf ihn das wütende Brüllen der Mentalstimme wie ein Hammerschlag. »Jetzt rettet dich nichts mehr, verdammter Arkonide! Ich weiß genau, wo du bist.« Es gelang Blödel und Atlan, einen weiteren Roboter zu vernichten,
bevor Hidden-X Maschinen erkannten, daß ihnen ein Frontalangriff nichts einbrachte. Sie hatten inzwischen ihrerseits das Feuer eröffnet. Es wurde heiß am Rand des Trichters. Aber jetzt waren sie in Deckung gegangen. Nur noch hin und wieder blitzte ein Schuß auf und brachte mehr oder weniger gezielt das Metall der Trichtermündung zum Kochen. Aber der Gegner rückte heran, und mit seiner Reaktionsschnelligkeit und Feuerkraft stellte er eine ernst zu nehmende Bedrohung dar. Mit raschen Seitenblicken verfolgte Atlan den Kurs, den Charlie eingeschlagen hatte. Er wurde nicht mehr verfolgt; aber er antwortete auch nicht mehr auf die kurzen Rufe, durch die der Arkonide sich mit ihm zu verständigen versuchte. Charlie war tot, seine Flugbahn ballistisch. Von den letzten Berechnungen, die er vor dem Absprung angestellt, und von der Laufzeit, die er dem Zünder vorgegeben hatte, hing es ab, ob seine Mission erfolgreich sein würde. Blödel gab einen Laut der Überraschung von sich. Atlan wandte den Kopf. Am Leib des Roboters stand eine Klappe offen. Er folgte Blödels verständnislosem Blick und sah Wuschel, die kleine Pelzkugel, die Innenseite des Trichters hinabrollen. »Es wird ihm hier draußen zu gefährlich geworden sein«, versuchte er, den sichtlich erschütterten Roboter zu trösten. »Siehst du meine Streitmacht?« dröhnte die mächtige Stimme des Herrn der Festung. »Blick dich um! Du bist von allen Seiten eingeschlossen.« »Roboter! Hunderte!« gellte Blödels schrille Stimme* Atlans Aufmerksamkeit war bisher auf die vier angreifenden Roboter konzentriert gewesen. Jetzt sah er sich um. Blödels Schätzung war eher untertrieben. Von allen Seiten her näherten sich Scharen glitzernder Maschinenwesen. – Der Arkonide warf sich herum und glitt ein paar Meter weit in die Trichtermündung hinein. Keine Sekunde zu früh. Ein energetischer Feuerhagel entlud sich über dem Rand des Trichters und verwandelte das Metall in eine
weißglühende, brodelnde Masse. Atlan reagierte instinktiv. Er öffnete die Tasche am Oberschenkel seiner Montur und zerrte zwei Hände voll Sprengkapseln hervor. Er schleuderte die Kapseln hoch über den Trichterrand hinaus – in der Art des Sämanns, der seine Saat so weit wie möglich zu streuen trachtete. Blödel folgte seinem Beispiel. Auch er verfügte über ein Reservoir an Detonationskapseln, das ausgereicht hätte, eine mittelgroße terranische Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Bevor Atlan den Zündbefehl geben konnte, stieg draußen über der Weite der riesigen Spiegelfläche eine neue Sonne in die Höhe – ein tosender, blauweißer Glutball, der mit gierigen, protuberanten Zungen gegen die Schwärze des Alls hinaufleckte. Der Boden begann zu zittern, sich zu schütteln. Mit einem berstenden Knall fuhr die erste Überschallschnelle Druckwelle über die Mündung des Trichters hinweg. »Zündung – und dann nichts wie fort!« schrie Atlan. Sie gaben das Signal, das die Sprengkapseln detonierte. Nicht, daß sie im apokalyptischen Tosen der Explosion, die Charlie ausgelöst hatte, einen bemerkenswerten Unterschied gemacht hätten. Aber sie detonierten rings um den Trichtermund, und wenn Hidden-X' Roboter durch Charlies Bombe noch nicht genügend abgelenkt waren, dann würde die Feuerwand, die um den Trichter herum entstand, sie aus dem Konzept bringen. Atlan hastete durch die Trichtermündung hinab in den Kanal, durch den sie gekommen waren. Blödel folgte ihm auf dem Fuß. Die gesamte Unterstruktur des Spiegels bebte und zitterte unter dem Einfluß der gigantischen Explosion. Die Helmmikrophone übertrugen krachendes Donnern und das schrille Kreischen zerreißenden Metalls. Nichts war da, was den Arkoniden auf die völlig unerwartete Begegnung hätte vorbereiten können.
* Zuerst sah er Wuschel. Wenigstens meinte er, es müsse Wuschel sein: ein haariges, kugelförmiges Gebilde von etwa acht Zentimetern Durchmesser. Es kam auf ihn zugerollt, als hätte es ihm dringend etwas mitzuteilen. Aber bevor er ihm Beachtung schenken konnte, sah er die Masse der Pelzwesen, die meisten viel größer als Wuschel, die aus dem Hintergrund des Korridors herbeigeeilt kam. Er hielt an. Die Hand griff unwillkürlich, wenn auch zögernd, nach der Waffe, die im Gürtel stak. Dann bemerkte er das eigenartige Trio von Bakwern, das sich durch die Menge der behaarten Kugelgeschöpfe nach vorn drängte und in der Senke, die sich zwischen den drei Körpern bildete, eine vertraute Gestalt trug … So schnell war ihm der Helm noch nie vom Kopf gekommen. »Sanny …« schrie er. Sie richtete sich auf, kam über die haarigen Körper ihrer Träger herabgeklettert und sprang ihm in die ausgebreiteten Arme, die er ihr einladend entgegenhielt. Er hob sie auf und drückte sie an sich. Seine Stimme hatte nicht die gewohnte Festigkeit – sie klang geradezu bröcklig, als er sagte: »Sanny, wir haben uns um dich gesorgt.« Die zierliche Molaatin drängte sich an ihn. »Hidden-X hat uns gefangen und festgesetzt«, stieß sie hervor. »Er hat Oserfan und Ajjar in seinen geistigen Bann geschlagen und …« »Ich weiß, ich weiß«, fiel Atlan ihr sanft ins Wort und strich ihr beruhigend über den Rücken. »Wir haben sie an Bord der SOL gefunden.« Er hielt es für überflüssig, sie jetzt schon darüber aufzuklären, daß die beiden Molaaten nicht mehr lebten. »Ich sehe, du hast dir die Bakwer zu Freunden gemacht. Das soll, wie ich höre, recht schwierig sein.« Sie stemmte sich mit den kurzen Ärmchen von seiner Schulter ab und starrte ihm überrascht ins Gesicht. »Du kennst sie? Du weißt von den Bakwern?«
»Einiges«, bestätigte er. Die Wände des Korridors zitterten. Trübe Qualmwolken zogen droben über die Trichtermündung hinweg. Blödel riß die Waffe in die Höhe und feuerte. Atlan sah den Umriß eines gegnerischen Roboters. Blödels Schuß verfehlte das Ziel; aber er zwang den Gegner in Deckung. »Was ist dort draußen los?« wollte Sanny wissen. »Keine Zeit«, antwortete der Arkonide. »Ich erkläre es dir später. Fürs erste müssen wir von hier fort. Kannst du das deinen bakwerischen Freunden erklären?« »Man erklärt ihnen nichts«, sagte Sanny. »Man macht es ihnen vor.« Atlan schaltete den Antigrav ein. Er schwebte langsam über die Menge der Pelzwesen hinweg. Wuschel fiel ihm ein. Er war seinen Artgenossen entgegengelaufen. Was aus ihm geworden sein mochte? Blödel hatte sich ebenfalls in Bewegung gesetzt. Die Bakwer wandten sich um und folgten den beiden schwebenden Gestalten. Aus der Gegend der Tunnelmündung kam das fauchende Knallen eines Strahlschusses. »Was weißt du über Chybrain?« fragte Atlan. »Das ist eine merkwürdige Geschichte …«, sagte Sanny. Weiter kam sie nicht. Etwas Seltsames geschah. Die Wände des Korridors gerieten in Bewegung. Sie wölbten sich auf, sanken in sich zusammen und begannen zu flattern wie Leinwand in einer kräftigen Brise. Sie wurden durchsichtig, und hinter meterdicken Schichten aus purem Nickel erschien die Schwärze des Weltalls. Atlan erinnerte sich. Der Vorgang war ihm vertraut. »Halt dich fest«, flüsterte er Sanny zu. Keinen Augenblick zu früh. Eine Sekunde später war die glitzernde, schimmernde Umgebung des Flekto-Yn verschwunden, und er taumelte durch einen finsteren, eisig kalten Abgrund. Es spielte keine Rolle, daß er im Eifer des Geschehens vergessen hatte, den Helm zu schließen. Er atmete, ohne zu wissen, woher in dieser
schwarzen Leere die Atemluft hätte kommen sollen. Er fror, ohne zu begreifen, warum er in der absoluten Kälte des Weltalls nicht augenblicklich erstarrte. Er spürte einen Druck auf der Brust und erkannte verwundert, daß er von den eigenen Armen herrührte, mit denen er Sanny an sich zu pressen versuchte. Aber Sanny war verschwunden; die Arme hielten nichts mehr. Er sah sich um. Er befand sich allein in der öden Leere. Nein – nicht ganz allein! In der Ferne war ein Lichtpunkt. Er wurde auf ihn zugewirbelt. Der Lichtpunkt breitete sich aus, wurde heller, nahm Konturen an: die Umrisse einer gedrungenen Hantel. Die SOL! An diesem Punkt setzte seine Erinnerung aus. Er ruhte auf einem bequemen Polster. Er sah sich um und erkannte seine Unterkunft, den Wohnraum seines Quartiers in SOLCity. Die Außenbildübertragung war eingeschaltet. Er sah das mächtige, rot und grün schillernde Ei, das Wöbbeking war. Eine Stimme ertönte in seinem Bewußtsein. »Ich danke dir, Atlan. Ich habe mein Vertrauen in den Richtigen gesetzt.« Der Arkonide stemmte sich in die Höhe. »Wöbbeking? Du hast mich zurückgebracht?« »Vereinbarungsgemäß. Ein wenig vor Ablauf der Frist. Aber ich sah, daß du in Bedrängnis gerietst. Es kostete mich zusätzlich Mühe, aber es gelang mir, dich und deine Begleiter aus der Gefahr zu befreien.« »Sanny …« »Sanny, Blödel und Chybrain«, bestätigte Wöbbeking. »Chybrain! Ich habe … er war nicht …« »Er ruht sich in der Heimstatt des Sohnes aus«, erklärte die Geiststimme des Fremdwesens. Atlan erinnerte sich. Er war in Wöbbekings Innerem gewesen. Es gab dort einen Raum, der sich »Heimstatt des Sohnes« nannte und damals auf ihn den Eindruck gemacht hatte, als warte er sehnlich
auf einen Besucher. »Aber ich …«, begann er hilflos. »Sprich zu Sanny«, fiel ihm Wöbbeking ins Wort. »Meine Zeit ist um. Nur dieses eine noch. Du hast Chybrain gerettet. Der Hypervakuum-Verzerrer, das ist eine der drei Bedingungen, die erfüllt sein müssen, bevor du zum entscheidenden Kampf gegen Hidden-X antrittst. Du hast den großen Spiegel zerstört, das war die zweite.« »Du weißt davon?« dachte Atlan fassungslos. »Ich weiß davon. Mehr noch: Ich weiß, daß du meinen Auftrag in erster Linie deswegen annahmst, weil du den Spiegel vernichten wolltest. Deine Absicht war, diesen Plan vor mir geheimzuhalten. Aber man hält vor Wöbbeking nichts geheim. Ich ließ dich gewähren, denn dein Plan war gut.« »Es lag mir nicht daran, dich zu täuschen«, antwortete Atlan. »Aber die Suche, auf die du mich schicken wolltest, erschien mir so aussichtslos …« »Ich weiß. Bei unserer nächsten Begegnung wirst du ein wenig mehr Zutrauen zu Wöbbeking haben. Er schickt seine Freunde nicht auf aussichtslose Suchen. Zurück zur Auseinandersetzung mit Hidden-X. Die dritte Bedingung bleibt weiterhin unerfüllt. Du mußt dich um sie kümmern.« »Die Beseitigung des mentalen Drucks?« »Ja. Auch hier hat dein Intellekt den richtigen Schluß gezogen.« »Gib mir Rat«, bat der Arkonide. »Sag mir, wie …« »Meine Zeit ist um«, unterbrach ihn Wöbbeking. »Du wirst ohne meinen Rat auskommen müssen. Wenigstens für den Augenblick. Später sehen wir uns wieder.« Staunend sah Atlan, wie das Riesenei in Bewegung geriet. Er hatte nur eine vage Vorstellung von den Antriebsmechanismen, über die Wöbbeking verfügte. Aber er erkannte, wie ungeheuer wirksam sie waren. Die Finsternis des Weltraums erlaubt keine Perspektive. Das riesige Ei schrumpfte zusammen, als wäre es ein Ballon, in den
jemand Löcher geschossen hatte. Der Vorgang dauerte nicht mehr als fünf Sekunden – dann war Wöbbeking von der Bildfläche verschwunden.
* »Du trugst ihn mit dir herum?« »Ich wollte es dir erklären, aber es war keine Zeit mehr dazu«, sagte Sanny mit leisem Lächeln. »Chybrain war total erschöpft. Er suchte in mir Zuschlupf. Er kam nur ein einziges Mal zum Vorschein: um eine Öffnung in der Wand der Zelle zu schaffen, in die Hidden-X uns gesperrt hatte.« Das Lächeln erstarb. Sie erinnerte sich an Oserfan und Ajjar, von deren Schicksal sie inzwischen erfahren hatte. »Das erklärt die Sache«, sagte der Arkonide. »Als Wöbbeking uns zur SOL zurückholte, warst du plötzlich verschwunden«, fuhr Sanny fort. »Ich hatte unendliche Angst. Chybrain sprach zu mir, mit seiner Mentalstimme, und versuchte, mich zu beruhigen. Plötzlich unterbrach er sich. Er sagte: ,O weh, da ist der große Spielverderber wieder.' Im nächsten Augenblick kam er zum Vorschein. Du kennst ihn, Atlan: ein eiförmiges Gebilde, das in hellem Rot und Grün schimmert und glitzert, nicht wahr? Ich sage dir, da war kein Schimmer und kein Geglitzer mehr. Er sah aus wie ein verschrumpeltes, faltiges Schildkrötenei, grau und häßlich.« »Erschöpft und am Ende seiner Kräfte«, nickte Atlan. »Er bekommt Gelegenheit, sich zu erholen. Der große Spielverderber hat ihn in die Heimstatt des Sohnes gesperrt.« Sanny reagierte nicht sofort. Nach einer Weile des Nachdenkens fragte sie: »Glaubst du, es besteht irgendein Zusammenhang zwischen Chybrain und Wöbbeking?« »Zusammenhang? Sie leuchten beide rot und grün, sie besitzen
beide Eiform und bestehen aus einer Substanz, die wir in unserer Unwissenheit Jenseitsmaterie genannt haben. Wieviel mehr Zusammenhang wünschst du dir noch?« »Heimstatt des Sohnes«, – wiederholte die kleine Molaatin träumerisch. »Glaubst du, Wöbbeking und Chybrain könnten miteinander verwandt sein?« Atlan musterte sie mit mißtrauischem Blick. »Weiber«, sagte er schließlich, gespielt abfällig. »Immer müßt ihr euch Fragen ausdenken, die kein Mensch beantworten kann.« Hage Nockemann war bester Laune. Diese verdankte er einer kräftigen Probe synthetischen Drambuies, der nach Ansicht des positronischen Taste-O-Meters so vorzüglich ausgefallen war, daß er von dem echten Stoff nur noch mit Mühe unterschieden werden konnte. Nockemann selbst hatte das Getränk hergestellt. Es beseelte ihn der Stolz nicht weniger als der herbsüße, kupfrig goldene Trunk. »Das Prinzip der perfid-hick-komplexen Robotik hat sich also bewährt«, stellte er voller Genugtuung fest. »Ja«, bestätigte Blödel. »Aber es heißt nicht so. Das habe ich von Atlan selbst!« »Wie … hck … heißt es denn?« »Ohne ›hick‹. Einfach perfidkomplex.« »Sage ich doch die ganze Zeit«, beschwerte sich Nockemann. »Perfid … hick … komplex.« Plötzlich weiteten sich seine Augen. Er starrte den röhrenförmigen Leib des Roboters an, dann glitt sein Blick über den Boden und hielt an einem Spalt zwischen zwei kastenförmigen Behältern inne. »Wa-was war das?« stammelte er. »Was war was?« fragte Blödel einfältig. Hage Nockemann deutete mit unsicherem Finger auf die Lade, die in Blödels Leib offenstand. »Plötzlich klappte das Ding dort auf«, sagte er fassungslos, »und hervor kam ein haariger Tennisball.« Der zitternde Finger folgte dem Kurs, den der vermeintliche Ball genommen hatte. »Er
verschwand zwischen den beiden Kästen dort.« Wortlos nahm Blödel das Glas auf, aus dem sein Erbauer zuletzt getrunken hatte, und gab sich den Anschein, als röche er an den Überresten des Getränks. »Ein ziemlich mieser Fusel, was?« erkundigte er sich frech. Hage Nockemann richtete sich schwankend auf. »Ich verbitte mir das«, krähte er. »Der beste Drambuie, der je aus der Retorte kam!« Gleich darauf wurde er ernst, ja sogar traurig. »Du meinst, ich habe mir den haarigen Tennisball nur eingebildet?« »Nein«, antwortete Blödel in versöhnlichem Tonfall. »Was du sahst, war Wuschel. Ein Bakwer. Ich habe ihn aus dem Flekto-Yn mitgebracht. Er ist intelligent. Atlan weiß nichts davon. Er denkt, Wuschel sei unter der Menge seiner Artgenossen verschwunden, kurz bevor Wöbbeking uns zur SOL zurückholte. Wuschel hat den ausdrücklichen Wunsch geäußert, mit mir zu kommen.« »Fühlt er sich nicht einsam, als einziger seiner Art?« »O nein«, beteuerte Blödel. »Einsamkeit, wie du sie dir vorstellst, kennen die Bakwer nicht. Sie sind eingeschlechtig …« Der Wissenschaftler fuhr sich mit den Händen zum Kopf. »O Jammer, o Delirium!« stieß er hervor. »Welch ein fürchterliches Dasein!« »Ja, du säufst zuviel«, bemerkte Blödel trocken. Hage Nockemann starrte ihn verständnislos an. »Mich meine ich nicht«, knurrte er. »Sondern wen?« »Deinen Wuschel. Was soll das für ein Leben sein – eingeschlechtig?«
* Atlan leistete der Müdigkeit keinen Widerstand. Er brauchte die Ruhe. Er erinnerte sich nicht, wann er zum letzten Mal geschlafen
hatte. Die Augen schlossen sich von selbst. Er versank in tiefen, ohnmachtähnlichen Schlaf. Und während er ruhte, drang die fremde Geiststimme in sein Bewußtsein. Er kannte ihren Klang, würde sie wiedererkennen, wo und unter welchen Umständen auch immer er sie zu hören bekam. Sie war nicht so dröhnend, nicht so gewaltig wie drüben, jenseits der Dimensionsfalte, im Innern des Flekto-Yn. Aber er verstand sie deutlich, und die Drohung, die sich in den mentalen Impulsen ausdrückte, wurde ihm bewußt. »Also gut, Arkonide. Du hast den großen Spiegel zerstört und einen kleinen Sieg errungen. Was macht das schon aus? Die Arbeiten am Flekto-Yn waren abgeschlossen, aber jetzt beginnen sie von neuem. Ich brauche Arbeiter. Die letzten, die ich hatte, habt ihr mir entführt. Die neuen Arbeiter seid ihr, die Solaner!«
ENDE
Auf der SOL ist man nach den jüngsten Erfolgen über Hidden-X zuversichtlich, denn es hat sich gezeigt, daß der mächtige Gegner nicht unverwundbar ist. Allerdings hat Hidden-X noch einige äußerst unliebsame Überraschungen für Atlan und die Solaner parat. Dazu gehören auch die KRIEGER FÜR HIDDEN-X … KRIEGER FÜR HIDDEN-X – so lautet auch der Titel des nächsten AtlanBandes, der von Hans Kneifel geschrieben wurde.