Thorin Band 6
Ritter der Finsternis von Al Wallon Er ist der Paladin der dunklen Mächte und er schwört ihnen ewigen G...
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Thorin Band 6
Ritter der Finsternis von Al Wallon Er ist der Paladin der dunklen Mächte und er schwört ihnen ewigen Gehorsam
Es war eine Zeit des Krieges und der Furcht. Die dunklen Mächte kämpften gegen das Licht - sie wollten die Welt der Menschen beherrschen. Der Ritter der Finsternis war ihr Paladin - und seine dunkle Klinge brachte den Tod. Sein Name war Orcon Drac - einst ein Mensch. Dieser Roman erzählt seine Geschichte... * Es war eine unwirkliche Welt, die die beiden Reiter jetzt durchquerten. Öde und leer, eine graue und verwitterte Steinwüste, die schon lange kein Mensch mehr betreten hatte. Dichte Wolken hatten sich am Him mel zusammengeballt und die Sonne war schon seit Ewigkeiten ver schwunden. Ihr Licht schimmerte jetzt in einem gelblich-grünen Schein und tauchte die weite Ebene in eine eigenartige Helligkeit. Anzeichen von Vegetation gab es nur noch ganz spärlich. Wenn hier einmal grüne Felder und Wiesen gewesen waren, so konnte man das nur noch ahnen. Hier und da ragte noch etwas Gras aus dem erd braunen Boden, aber es hatte eine Farbe angenommen, die auf den Zustand dieses Landes hinwies. Das Wasser war schon lange versiegt und gab das Land nun der Zerstörung preis. Dürre und Sterben der Pflanzen - wohin das Auge auch blickte. Einst gewaltige, weit ausla dende Bäume waren mittlerweile abgestorben und ohne Laub. Kahle Äste streckten sich in den wolkenverhangenen Himmel - fast wie ein Zeichen der Klage! Thorin ließ seine Blicke über die kahle Ebene schweifen. Bis zum Horizont war alles still und leer. Keine Vögel am Himmel, kein noch so geringes Anzeichen, dass hier einmal irgend etwas gelebt hatte. Als wenn es sich um einen Teil der Welt handelte, der von den übrigen Menschen gemieden wurde - aus unerklärlichen Gründen... Der dichte Dschungel und die Fiebersümpfe von Cardhor lagen schon weit hinter ihnen zurück. So weit, dass Thorin mittlerweile auf gegeben hatte, sich daran zu erinnern, seit wie vielen Tagen er und Lorys schon diese weite Ebene durchquerten. All die dramatischen 4
Ereignisse, die schließlich dazu geführt hatten, dass Modor, einer der drei Götter der Finsternis, von Thorin besiegt worden war, waren nun ein Teil der Vergangenheit. Thorin wusste nicht, was in der Zwischen zeit geschehen war und ob Azach und R'Lyeh, die Götterbrüder des Herrschers der Sümpfe, nun die letzte Schlacht bereits eingeleitet hat ten. Er und Lorys hatten die Sümpfe von Cardhor verlassen und waren jetzt auf der Spur Orcon Dracs. Der Ritter der Finsternis war Thorin beim letzten Zusammentreffen entkommen und der Nordlandwolf fie berte förmlich danach, endlich den lange fälligen Kampf mit dem Vasall der dunklen Götter auszufechten. Der Wind blies nun unangenehm kalt und ließ insbesondere Lorys frösteln, die hinter Thorin ritt. Die ehemalige Fürstin von Samara hatte sich zwar bisher kein einziges mal beklagt, aber Thorin hatte sie des öfteren in einem unbemerkten Moment beobachtet und dann erkannt, wie schwer ihr der Ritt durch diese Einöde fiel. Ab und zu wankte sie im Sattel. Lorys war müde, aber sie bat Thorin nicht, eine kleine Pause einzulegen, damit sie sich etwas Ruhe gönnen konnte. Denn in ihr wuchs neues Leben heran - und das Kind verlangte ihr besonders viel Kraft ab. Aber mit diesem Kind hatte es eine besondere Bewandtnis, von der weder Thorin noch Lorys etwas geahnt hatten. Erst als es zu der dramatischen Konfrontation mit dem schrecklichen Modor gekom men war, da hatten sich die uralten Prophezeiungen erfüllt. Prophezei ungen, in denen dieses noch ungeborene Kind wohl eine wichtige Rolle spielte. Der allwissende Einar, einer der drei Götter des Lichts, hatte Tho rin und Lorys das mitgeteilt - und er hatte recht behalten. Modor und sein schreckliches Reich waren gefallen, aber noch drohte eine immen se Gefahr von seinen beiden Brüdern - und natürlich auch von Orcon Drac und dem dunklen Heer. Wenn das Heer schon aufgebrochen war, um die übrige Welt der Menschen zu überfallen und sie zu unterjochen - allein das war schon ein Gedanke, den Thorin am liebsten gar nicht weiterverfolgen wollte. Aber doch war und blieb es eine Tatsache, dass er nicht wusste, was in der Zwischenzeit geschehen war. Die Götter des Lichts hatten seit Modors Tod geschwiegen. Weder Einar noch seine Brüder waren Tho 5
rin seitdem begegnet. Lag es an dieser menschenfeindlichen Einöde? Befand sie sich vielleicht schon so weit unter dem Einfluss der dunklen Mächte, dass die Kräfte des Lichts bis hierher nicht mehr vordringen konnten? Möglich war das, denn Thorin hatte das schon einmal erlebt - aber dann hatten es die Götter des Lichts doch noch geschafft, mit dem Nordlandwolf in Kontakt zu treten. Als der Wind so unangenehm wurde, dass er Thorins blonde Mäh ne durcheinander wirbelte, zügelte er abrupt sein Pferd und drehte sich im Sattel zu Lorys um. Die ehemalige Fürstin und werdende Mut ter hielt ihren Kopf gesenkt, um so dem kalten Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten - aber das half nichts. Ihr Körper zitterte und wurde von der Kälte immer wieder geschüttelt - ein erbarmungswürdi ger Anblick! »Wir müssen uns einen Unterschlupf suchen, Lorys!«, rief Thorin, während der Wind nun immer stärker zu heulen begann. Gleichzeitig wurde das fahle gelbliche Leuchten am wolkenverhangenen Himmel immer intensiver. Thorin spürte instinktiv, dass Unheil drohte. »Ich... ich halte es noch ein wenig aus!«, kam es dann über Lorys Lippen. »Kümmere dich nicht um mich - wir müssen doch weiter!« »Nein!«, entschied der blonde Krieger in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. »Du bist vollkommen erschöpft und von dort drüben naht wahrscheinlich ein Sturm. Wir brauchen Schutz - dann kannst du dich ein wenig ausruhen. Oder willst du noch so lange wei ter reiten, bis du bewusstlos vom Pferd fällst? Denk an dein Kind!« Lorys nickte nur, während ihr ein tiefer Seufzer über die Lippen kam. Thorin hatte ja recht mit dem was er gerade gesagt hatte. Sie wollte ihm aber kein Hindernis sein - deshalb hatte sie ihre Erschöp fung bisher stark unterdrückt. Jetzt, wo sie ihm nichts mehr vorzuma chen brauchte, sah Thorin ganz deutlich, wie es in Wirklichkeit um Lorys bestellt war. Er beugte sich im Sattel vor, griff nach den Zügeln von Lorys Pferd und zog das Tier dann einfach mit sich. Weiter drüben erhoben sich einige zerklüftete Felsnadeln und Ge steinsbrocken in den gelblichen Himmel. Wenn sie Schutz suchten, dann würden sie ihn nur dort finden können. Keinesfalls hier draußen in der von Geröll und verdorrten Sträucher übersäten Ebene. Wenn es 6
einen Sturm gab - und es sah alles danach aus, als wenn er gleich ausbrechen würde - dann konnte ihnen das zum Verhängnis werden, wenn sie nicht bald eine schützende Stelle fanden... Auch die Pferde spürten, dass sich das Wetter von einem Augen blick zum anderen änderte. Sie tänzelten nervös und Thorin hatte alle Mühe, die Kontrolle über die Tiere zu behalten und diese daran zu hin dern, dass sie einfach losgaloppierten. Weit am Horizont hatte sich auf einmal eine dunkle Wolke gebil det, die bis auf den Boden zu reichen schien. Eine merkwürdige Form hatte diese Wolke angenommen - sie kam einem dunklen Turm gleich, der sich eigenartigerweise mit jedem verstreichenden Atemzug sogar noch zu vergrößern schien. Aber da hatten Thorin und Lorys schon zum Glück die Felsen erreicht. Wenig später entdeckten sie einen schmalen Einschnitt, der ihnen genügend Schutz bot, um vor dem ausbrechenden Sturm halbwegs sicher zu sein. Sie stiegen hastig von den Pferden, führten die nervösen Tiere weiter in die Felsformationen, während sich der Himmel am Horizont zusehends verdunkelte. Aus dem gelblichen Licht war nun eine schwarze Dämmerung geworden - und das, obwohl der Abend eigent lich noch fern war. Während Thorin die aufgebrachten Pferde mit den Zügeln an den Felsen festband, damit sie sich nicht doch noch losrissen, war auf ein mal ein leises Pfeifen zu hören, das rasch zu einem Heulen wurde. Der dunkle Wolkenwirbel war jetzt schon um ein Vielfaches gewachsen. Am Horizont hatte er sich gebildet und nun raste er über die Ebene genau in die Richtung, wo Thorin und Lorys Zuflucht gesucht hatten! »Bei allen Göttern!«, rief Lorys mit vor Schreck aufgerissenen Au gen, als sie die schwarze Säule näher kommen sah. »Was ist das, Tho rin?« »Ein Orkan - ein Sturm, wie ich ihn selbst noch nicht erlebt ha be!«, gab er mit lauter Stimme zurück, weil das Tosen und Heulen mittlerweile so stark geworden war, dass es in seinen Ohren schmerz te. Geistesgegenwärtig eilte er auf Lorys zu, deutete ihr an, sich ganz flach auf den Boden zwischen den Felsen zu legen und sich nicht mehr zu rühren. 7
Dann war der Sturm auch schon heran. Die schwarze Wolke pfiff und heulte, als wenn der letzte Tag der Welt angebrochen sei. Sie schleuderte Steine und Geröll weit von sich, wo sie durch die Ebene raste. Mit einer unbeschreiblichen Stärke. Ein Gedanke jagte den anderen, als sich Thorin zwang, den Wir belsturm zu beobachten. Es bedurfte keiner großen Phantasie, um sich vorzustellen, was geschah, wenn diese tödliche Wolke die Felsen er reichte. Sie würde alles mit sich reißen und zerstören. Menschen, Pfer de und Gesteinsbrocken! Thorin musste die Augen zusammenkneifen, als der Wind zu hef tig wurde. Er sah kurz zu Lorys und dann wieder zurück zu der dunk len Wolke. Aber genau in diesem Moment änderte sich der Kurs des Sturms. Der gigantische Wirbel drehte auf einmal nach Osten ab, strich nahe an der Felsengruppe vorbei, riss dort Gestein und Erde heraus, schleu derte beides hoch empor. Steinsplitter flogen umher, trafen die Flan ken der Pferde und streiften auch Thorin und Lorys. Die blonde Frau wimmerte vor Furcht, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und wagte nicht, die Augen zu öffnen. Aus lauter Angst, dann dem Tod ins Antlitz zu blicken. Aus Sekunden wurden endlose Augenblicke, aber dann war das Herz des Sturmes auch schon weitergerast, bahnte sich den Weg der Zerstörung durch die Ebene. Bäume wurden ausgerissen, weit davon geschleudert und dort wo sich die dunkle Wolke vorhin noch befunden hatte, war die Erde aufgewühlt und hatte das Innerste nach außen gekehrt. Die Luft tobte und pfiff noch, aber die dunkle Wolke konnte sie nicht mehr gefährden. Als Thorin das so richtig bewusst wurde, atmete er spürbar auf und schickte ein stummes Gebet des Dankes zu den Göttern des Lichts. Ob sie es gewesen waren, die die tödliche Ge fahr von ihm und Lorys abgewendet hatten? Eine Antwort auf diese Frage würde er jetzt zwar nicht erhalten - aber alles was zählte, war, dass sie beide noch am Leben waren und die Pferde bis auf ein paar unbedeutende Kratzer den Sturm gut überstanden hatten. Thorin ging zu Lorys, beugte sich über sie und rüttelte sie an den wohl gerundeten Schultern. 8
»Es ist vorbei«, sagte er mit rauer Stimme. »Wir haben noch ein mal Glück gehabt. Öffne die Augen und sieh selbst, Lorys. Der Sturm ist schon weiter gezogen...« Zuerst reagierte die ehemalige Fürstin von Samara gar nicht auf Thorins Worte. Dem Nordlandwolf gelang es erst beim zweiten mal, Lorys davon zu überzeugen, dass wirklich keine Gefahr mehr drohte. Seine Stimme klang fast beschwörend, so dass Lorys nun den Kopf hob und sich umsah. Ihr Gesicht war noch von den Ängsten gezeich net, die sie hatte durchstehen müssen. »Wie... wie konnte das nur...?« Ihre Stimme geriet ins Stocken, weil ihr in diesem Augenblick die passenden Worte fehlten. »Die Wolke hätte uns in den Tod gerissen!« »Wir hatten viel Glück, Lorys«, sagte Thorin und nahm sie in die Arme, um ihr die Geborgenheit zu geben, die sie nach den ausgestan denen Schrecken dringend nötig hatte. »Die dunkle Wolke richtete sich auf einmal nach Osten hin - von einem Augenblick zum anderen. Wenn es eine Laune der Natur war, so war es unsere Rettung. Viel leicht haben uns auch die Götter des Lichts geholfen - ich weiß es nicht. Aber wir sind noch am Leben und können unseren Weg fortset zen - zuerst wirst du dich aber noch ein wenig ausruhen.« Er bemerkte ihre Blicke und fuhr deshalb rasch fort. »Keine Widerrede, Lorys. Es ist beschlossene Sache. Sonst fällst du irgendwann vom Pferd und hast nicht mehr die Kraft, aufzustehen. Willst du das?« Sie schüttelte stumm den Kopf. »Gut, also nutze die Zeit und schlafe ein wenig«, riet ihr Thorin. »Ich werde solange wachen.« »Aber der dunkle Ritter!«, warf Lorys ein. »Das Heer der Finster nis ist irgendwo da draußen - wir dürfen keine Zeit verlieren!« »Schweig!«, fiel ihr Thorin heftiger ins Wort, als er das zunächst beabsichtigt hatte. Weil Lorys ja eigentlich recht hatte. Aber Thorin hatte die Verantwortung für die heimatlose Frau übernommen, seit die dunklen Mächte die stolze Wüstenstadt Samara vernichtet hatten. Bei diesem Kampf war auch ihr Gemahl Fürst Dion gefallen - und seit die ser Zeit wai sie an Thorins Seite. 9
Der Nordlandwolf fühlte sich auch verantwortlich für das junge Leben, das in ihr heranwuchs und hatte sich geschworen, Mutter und Kind zu schützen so gut es ihm möglich war. Allerdings bedeutete das auch, dass er langsamer vorankam als er durfte. Denn die Mächte der Finsternis nahmen keine Rücksicht auf menschliche Gefühle und Emp findungen. Modors Tod hatte alles verändert und das wusste Thorin. Aber deshalb konnte er Lorys doch nicht zurücklassen! Der innere Zwiespalt zwischen seiner eigentlichen Aufgabe als Kämpfer des Lichts und der des Mannes, der eine hilflose Frau zu be schützen hatte, wurde immer größer - und was noch schlimmer war: Thorin erkannte es mit jeder Minute immer deutlicher... * Er sah, wie Lorys tief und fest schlief. Ihre ebenmäßigen Gesichtszüge spiegelten Ruhe und Frieden wider. Thorin wünschte, dass er selbst diese Ruhe besessen hätte - aber dem war nicht so, denn die Gedan ken, die ihn seit geraumer Zeit plagten, ließen ihn immer mehr ins Zweifeln geraten. Zweifel darüber, ob er überhaupt eine Chance hatte, die bevorstehende Schlacht zwischen Licht und Finsternis noch verhin dern zu können. Denn während er sich mit Lorys hier draußen in der menschenleeren Einöde inmitten der zerklüfteten Felsen aufhielt - was war in der Zwischenzeit geschehen? Immer wieder musste er an das dunkle Heer denken. Er wusste nichts genaues über die Größe, die der finsteren Streit macht, aber er spürte die Gefahr immer deutlicher mit jedem verstrei chenden Atemzug. Eine Gefahr, die den Tod bedeuten konnte. Durfte er dann Lorys überhaupt einer solch schrecklichen Bedrohung ausset zen? Auch wenn das Kind, dem sie irgendwann neues Leben schenken würde, ofensichtlich starke Kräfte besaß, so setzte er leider Leben aufs Spiel, wenn Lorys ihn loch länger begleitete. Seine Gedanken brachen ab, als weiter oben in den Felsen plötz lich ein heller Schimmer zu sehen war. Sofort erhob sich Thorin und zog mit einer geschmeidigen Bewegung das Götterschwert Sternfeuer 10
aus der Scheide auf einem Rücken. Er reckte die Klinge empor, jeder zeit auf einen feindlichen Angriff gefasst. Aber dann sah er eine hünenhafte Gestalt mit langem weißen Haar, die in der rechten Hand eine gewaltige Axt hielt. Auf dem Kopf des Hünen saß ein mächtiger Helm aus Gold, der in der hellen Aura noch mehr glänzte. Zuerst hielt es Thorin für eine Sinnestäuschung, was er sah - aber dann wurde ihm klar, dass es eine Täuschung war. »Thunor«, murmelte er ergriffen. »Thunor, der Donnerer. Bei al len...« Er brach mitten im Satz ab, weil ihm in diesem Augenblick die Worte fehlten. »Du träumst nicht, Thorin«, hörte der Nordlandwolf nun die ver traute Stimme des Herrschers der Götterschmiede. »Ich bin gekom men, weil es an der Zeit ist, dass eine Entscheidung getroffen wird. Denn du haderst mit dir selbst - und das kann dich bald den Kopf kos ten, wenn du erst dem dunklen Heer gegenüberstehst. Die Geschöpfe der Finsternis haben sich jenseits des Horizontes versammelt - viel leicht noch einen Tagesritt von hier entfernt.« »Ich ahnte es bereits, mächtiger Thunor«, erwiderte Thorin wahr heitsgemäß und ließ die Klinge wieder in der Scheide verschwinden. »Ich spüre die Aura der Dunkelheit - sie wird immer stärker, je tiefer wir in dieses öde Land eindringen.« »Die Finsternis gewinnt immer mehr an Einfluss und Macht«, ant wortete der Donnergott. »Wir hätten früher eingreifen sollen - aber noch ist es nicht zu spät. Es ist nicht mehr die Zeit der Worte, sondern die Stunde des Krieges, Thorin. Und du hast hier eine wichtige Aufga be zu erfüllen. Eine Aufgabe, die alles von dir abverlangt - und deshalb bin ich gekommen...« Die Blicke des hünenhaften Gottes richteten sich nun auf die schlafende Lorys, die von dem plötzlichen Erscheinen Thunors noch gar nichts mitbekommen hatte. Ein deutliches Zeichen dafür, wie er schöpft die ehemalige Fürstin von Samara war. »Du hast viel für diese Frau getan, Thorin«, fuhr der Donnergott fort. »Und sie hat die Aufgabe erfüllt, die ihr zugeteilt war. Aber wenn die Schlacht ausbricht, dann sollte sie an einem sicheren Ort sein. An einem Ort, den du jetzt nicht selbst erreichen kannst...« 11
Bei diesem Worten drehte er sich um und hob die linke Hand. Auf dieses Zeichen hin erschien plötzlich ein prächtiger Schimmelhengst, der den Kopf stolz emporhob und seine starke Mähne schüttelte. »Sleipnir«, murmelte Thorin ergriffen, als er den Schimmelhengst sofort wieder erkannte. Das prächtige Tier hatte ihn damals von der Götterschmiede direkt ins Tal des Nachtherzogs Arian gebracht - mit ausgebreiteten Schwingen hoch über den schneebedeckten Glet schern. Es war ein Ritt gewesen, den der Nordlandwolf bis heute nicht vergessen hatte. Ein Ritt hoch über der Welt der Menschen! »Ich sehe, du erinnerst dich«, sagte Thunor mit einem wissenden Lächeln. »Sleipnir wird die Frau in Sicherheit bringen - in ein Land, das weit entfernt von hier liegt. Meine Brüder und ich sehen, dass dir an dieser Frau viel liegt, Thorin. Willst du, dass Sleipnir Lorys in die Eis länder bringt - in dein Heimatdorf? Wo sie in Ruhe abwarten kann, bis die letzte Schlacht geschlagen ist?« Er hielt inne, um zu sehen, welche Wirkung seine Worte bei dem blonden Krieger auslösten. »Es wäre mehr als eine große Erleichterung für mich«, antwortete Thorin wahrheitsgemäß. »Ich stehe für ewig in Eurer Schuld, mächti ger Thunor. Dieser Dank gilt auch Odan, dem Weltenzerstörer und Einar, dem Allwissenden. Eigentlich hätte ich Einar hier erwartet - nicht aber Euch...« »Einar hat am meisten von uns die Verbindung zu dir gesucht, Thorin«, sagte Thunor. »Aber jetzt bin ich gekommen, weil Einar und Odan die Heerscharen des Lichts versammeln - denn die Zeit drängt. Deshalb geh jetzt und wecke Lorys auf, Krieger!«, befahl ihm Thunor. »Handle rasch, denn es ist Eile geboten. Die Zone beginnt bereits schon wieder instabil zu werden. Der Einfluss der dunklen Mächte in diesem Teil der menschlichen Welt macht es uns Göttern des Lichts schwer, an diesem Ort zu verweilen. Und nun geh!« Thorin nickte, wandte sich rasch ab und ging dann hinüber zu Lo rys, die immer noch tief schlief. Er beugte sich zu ihr hinunter, rüttelte sie sanft an den Schultern und bemerkte, wie sie sich leise regte. Er verstärkte den Druck solange, bis Lorys schließlich die Augen auf schlug und sie dann gleich wieder schloss, als sie direkt in das schim mernde Licht oberhalb der Felsen blickte. 12
»Was ist das?«, fragte sie, weil sie verständlicherweise im ersten Moment noch etwas verwirrt war. »Thorin, das ist...« »Du musst dich nicht fürchten!«, unterbrach sie Thorin. »Es ist der mächtiger Thunor. Der Donnerer hat seinen Götterhort verlassen, um dich an einen sicheren Ort zu geleiten. Steh auf - einen Gott soll man nicht warten lassen.« Lorys nickte jetzt und erhob sich rasch. Dann sah auch sie den Schimmelhengst, der in diesem Moment seine mächtigen Schwingen ausbreitete. Sie sah ungläubig zu Thorin und wieder zu dem Hengst, an dessen Seite der hünenhafte Gott stand und ihr ein Zeichen gab, näher zu kommen. »Es ist Thunors Hengst Sleipnir«, sagte Thorin. »Er wird dich in die Eisländer des Nordens bringen - in meine Heimat. Bei meinem Volk bist du einstweilen sicher. Denn du und dein Kind - ihr beide sollt le ben...« In seinen Worten klang etwas Endgültiges an, was Lorys zeigte, dass die Entscheidung bereits getroffen war - von den Göttern selbst. »Und du?«, fragte sie den Nordlandwolf mit leiser Stimme. »Was ist mit dir, Thorin? Du musst allein gegen die dunklen Mächte kämpfen - ich habe Angst um dich...« Jetzt sprach sie zum ersten mal aus, wie sehr sie sich um Thorin sorgte. Der blonde Krieger legte ihr jedoch tröstend eine Hand auf die Schulter und ging dann mit ihr zu der Stelle, wo Sleipnir wartete. »Mein Leben wird von den Göttern des Lichts beschützt, Lorys sonst wäre Thunor jetzt nicht hier. Denk jetzt nicht an mich, sondern an dich und dein Kind. Das ist wichtiger. Und wenn die letzte Schlacht zwischen Licht und Finsternis geschlagen ist, dann werden wir uns wieder sehen, Lorys. In einer besseren Welt als sie jetzt existiert.« Mit diesen Worten hob er Lorys hoch und setzte sie auf den Rü cken des Schimmelhengstes. Ein letzter Blick und ein kurzer Hände druck, dann hieß es Abschied nehmen. Es war ein eigenartiger Moment - auch für Thorin. Vieles zwischen ihm und Lorys blieb nun unausgesprochen. Weil es keine Zeit mehr dafür gab. Aber ihre Blicke tauchten kurz ineinander und darin stand ein gegenseitiges Versprechen. 13
»Halte dich an der Mähne fest!«, erklang nun die Stimme des mächtigen Thunor. »Alles andere kennt Sleipnir. Er bringt dich sicher an dein Ziel!« Das war das Zeichen für den prächtigen Götterhengst. Sleipnir breitete die Schwingen aus und erhob sich dann in die Lüfte. Er stieg hinauf in den Himmel und war schon wenige Augenblicke später zwi schen den fahlen gelben Wolken verschwunden. »Sorge dich nicht um sie, Thorin«, sagte der Donnergott. »Sie steht unter unserem Schutz. Genau wie du. Jetzt denk an die Aufgabe, die vor dir liegt und zögere nicht mehr. Reite in Lichtung des Horizon tes - dort ist das Heer der Finsternis. Der Kampf zwischen dir und Or con Drac - er muss stattfinden. Das ist dein Schicksal, Thorin. Verlass dich stets auf dich und die Kraft der Klinge - beides wird dich auf dei nem Weg leiten. Nur so wirst du über die dunklen Mächte siegen.« Die Gestalt des Donnergottes wurde bei den ätzten Worten all mählich immer undeutlicher. Schließlich war sie nur noch ein blasser Schemen und verschwand dann ganz - als hätte der Moment dieser so entscheidenden Begegnung niemals stattgefunden. Und doch war es so, denn jetzt war er ganz allein auf sich gestellt. Lorys war in Sicher heit, denn er Schimmelhengst brachte sie jetzt in die Isländer des Nor dens. In einen Teil der menschlichen Welt, wo man wahrscheinlich och gar nichts von dem drohenden Schicksal ahnte, das allen Sterblichen drohte! Zumindest hoffte das Thorin. Aber angesichts der immer wei ter eskalierenden Geschehnisse gab es dafür keine endgültige Gewiss heit. All dies lag in der Zukunft - und um die wussten noch nicht ein mal die Götter. Oder vielleicht wussten sie es doch? * Eine blutrote Abendsonne neigte sich allmählich zum fernen Horizont, als der Krieger in der schwarzen Rüstung seine Blicke über die weite Ebene schweifen ließ. Noch Stunden zuvor war der Himmel mit dunk len Wolken bedeckt gewesen und Wind war aufgekommen. Ein hefti ger Wind, dessen Stärke für kurze Zeit zugenommen hatte und fast zu einem Sturm geworden wäre. Dann aber driftete der Wind wieder ab, 14
zog stattdessen tiefer in das Ödland hinein, entfernte sich von dem Ort, an dem sich der dunkle Ritter aufhielt. Stattdessen hatten sich die fahlen, gelblichen Wolken geöffnet und die Sonne war herausgekommen. Aber nicht eine gelbe, strahlen de Sonne, sondern eine rötliche Kugel. Eine andere Sonne, die nicht von dieser Welt war und deren Strahlen sich jetzt auf diesen Teil des toten Landes senkten. Orcon Drac spähte hinauf zu der Stelle des Horizontes, wo sich die Wolken geteilt hatten und den Blick auf die flammende rote Sonne preisgaben. Gleichzeitig hörte er eine wispernde Stimme in seinem Kopf, die er zuerst nicht ganz deutlich wahrnahm. Aber mit jedem Au genblick, in dem die rote Sonne mehr an Kraft gewann, um so deutli cher wurde die Stimme. Eine Stimme, deren Intensität er sich nicht mehr entziehen konnte. DIE STUNDE DER SCHLACHT HAT NUN BEGONNEN, ORCON DRAC, hörte er diese Stimme sagen. SIEH HINAUF ZU UNS! Orcon Drac befolgte ohne Zögern den Befehl, den ihm die ein dringliche Stimme erteilt hatte. Er sah hinüber zur flammenden Sonne und erkannte in deren roter Kugel die Umrisse zweier Gesichter, bei deren Anblick er vor Ehrfurcht zusammenzuckte. Es waren die furcht erregenden Fratzen von Azach und seinem Götterbruder R'Lyeh. Und noch während er in diese Gesichter schaute, deren Anblick einen nor malen Sterblichen ganz sicher in den Wahnsinn getrieben hätte, wurde ihm auf einmal klar, dass irgend etwas falsch war. Modor, kam ihm dann ganz plötzlich der Gedanke. Warum sehe ich jetzt Modors Gesicht nicht? Warum nur seine Brüder? MODOR IST TOT, sprachen die Stimmen nun weiter zu ihm. ES IST GESCHEHEN WAS NIEMALS HÄTTE SEIN DÜRFEN. DU MUSST DIE KÄMPFER DER FINSTERNIS ERWECKEN, ORCON DRAC. ES IST DIE STUNDE DER RACHE! Eisiger Schrecken überkam den dunklen Ritter, als ihm bewusst wurde, was er da gerade gehört hatte. Modor, der Herrscher der Sümpfe von Cardhor, existierte nicht mehr? Das war unvorstellbar und doch war es die bittrere Wahrheit. 15
»Was ist geschehen, mächtige Götter?«, kam es jetzt mit stockender Stimme über Orcon Dracs Lippen. MODOR FIEL DURCH DIE HAND EINES STERBLICHEN, ORCON DRAC, antwortete die grausame Stimme daraufhin. DESHALB WIRST DU UNS IRGENDWANN DARAUF EINE ANTWORT GEBEN MÜSSEN. EINE ANTWORT DAFÜR, WARUM DU DAS NICHT VERHINDERN KONN TEST. ABER DAS MUSS WARTEN BIS DIE SCHLACHT GESCHLAGEN IST. DANN ABER WIRST AUCH DU DICH DAFÜR RECHTFERTIGEN. DENN DU SOLLTEST MODOR IMMER ZUR SEITE STEHEN! »Der mächtige Modor schickte mich selbst weg aus den Sümp fen!«, verteidigte sich der dunkle Ritter jetzt. »Er befahl mir, in das öde Land zu gehen und dort die Heere der Finsternis zu formieren. Hier sollte ich auf seinen Befehl warten - aber er kam nicht. Nun weiß ich auch, warum. Die Hölle soll diesen elenden Thorin verschlingen denn er ist der einzige Sterbliche, dem es gelingen konnte, Euren Bru der zu vernichten. Sein Schwert ist stark und gefährlich - ich selbst habe das schon erfahren...« WIR WISSEN UM DIE KRÄFTE DIESES STERBLICHEN NAMENS THORIN, sagte die Stimme wieder. Orcon Drac wusste nicht, ob es nun Azach war oder R'Lyeh, der zu ihm sprach - aber das spielte jetzt auch keine Rolle. ER IST SCHON AUF DEM WEG INS ÖDE LAND, OR CON DRAC. SEI AUF DER HUT, DENN DU WIRST SEHR BALD GEGEN IHN KÄMPFEN MÜSSEN. TÖTE IHN OHNE ZU ZÖGERN. ER HAT NICHT DIE MACHT, ÜBER DICH ZU SIEGEN. NICHT, WENN DU FEST ENT SCHLOSSEN BIST. DENN AUCH ER WIRD NICHTS MEHR TUN KÖN NEN, WENN DIE FINSTEREN HEERSCHAREN ERST AUF DEM WEG IN DIE WELT DER MENSCHEN SIND. BIST DU NUN BEREIT DAFÜR, OR CON DRAC? »Ich bin es«, versicherte der dunkle Ritter. »Denn ich habe Euch ewige Treue und Gehorsam versprochen. Dort hinter den Hügeln war tet schon ein Teil des Heeres. Ich habe die Gläsernen Kämpfer von Sann-Dok bisher noch nicht erweckt, weil ich auf Modors Befehl warte te und...« 16
TU ES JETZT, verlangte die befehlsgewohnte Stimme. UND DANN. BRICH MIT DEM HEER AUF. EROBERE DIE WELT DER STERBLICHEN UND MACHE SIE ZU EINEM TEIL UNSERES REICHES! Die Stimme hielt für einen winzigen Augenblick inne, bevor sie wieder fortfuhr. Aber nun hatte sie einen geradezu unerbittlichen Klang angenommen, den Orcon Drac sofort heraushören konnte. DIE KRÄFTE DES LICHTS SAMMELN SICH NOCH. WIR MÜSSEN HANDELN UND ZWAR VOR IHNEN. BEFOLGE NUN UNSERE BEFEHLE UND ERWEISE DICH ALS WÜRDIGER FÜHRER UNSERES HEERES, OR CON DRAC. VERNICHTE DIESEN THORIN UND EROBERE DIESE WELT. NUR DANN WIRD MODORS TOD GERÄCHT SEIN! »Ich höre und gehorche, mächtige Götter«, erwiderte der Ritter der Finsternis und verneigte sich in stiller Ehrfurcht vor den beiden Gesichtern der dunklen Götter in der roten Sonne. Das war auch der Moment, wo die Konturen auf einmal zu verblassen begannen, bis sie schließlich gar nicht mehr zu sehen waren. Übrig blieb der flammende Ball der roten Sonne, die nur wenige Augenblicke später wieder hinter den dichten Wolken verschwand. Genauso wie der intensive rötliche Schein. Orcon Drac brauchte einige Zeit, um das zu erarbeiten, was er ge rade erfahren hatte. Es waren Dinge geschehen, mit denen er niemals gerechnet hätte. Der mächtige Modor war tot! Ein Gott war durch die Hand eines Menschen gefallen - etwas, was es eigentlich gar nicht geben durfte. Und doch war es geschehen. Bedeutete das womöglich, dass die Kräfte des Lichts doch stärker waren als die dunklen Mächte, denen er sich verschworen hatte? »Nein!«, stieß er dann mit zorniger Stimme hervor. »Es wird nie mals geschehen, dass die Mächte des Lichts triumphieren. Ihre Welt ist schon dabei, unterzugehen - und sie wird ihr bald fallen...« Der Ritter der Finsternis wandte sich ab und blickte nun zur ande ren Seite der Ebene. Unten zwischen den verwitterten Felsen wartete eine Legion Echsenkrieger auf ihn und seine Befehle. Aber es waren nicht nur die Echsenkrieger, die Orcon Drac hier zusammengezogen hatte. Zur Streitmacht des dunklen Heeres gehörten ebenfalls die Lö wenmenschen von Herlan, riesige Bestien, halb Mensch und halb Tier. 17
Orcon Drac hatte das Tor zwischen den Dimensionen einen winzigen Spalt breit geöffnet und somit diesen Kreaturen den Zugang ermög licht. Sie waren nicht von dieser Welt und aus dieser Zeit, aber sie besaßen einen Kampfeswillen, dem die Sterblichen nicht lange stand halten konnten. »Die Gläsernen Kämpfer...«, murmelte der Ritter der Finsternis. »Nun soll geschehen, was die dunklen Götter verlangt haben.« Er streckte beide Arme in den wolkenverhangenen Himmel empor, schloss die Augen und stimmte dann einen monotonen Gesang in einer Sprache an, die längst vergessen war und nur noch in alten Schriften lebte, von deren Existenz selbst die erfahrenen Priester der Sterblichen nichts mehr wussten. Und doch hatten sie vor ferner Zeit an diesem Ort einmal gelebt - die Gläsernen Kämpfer von Sann-Dok. Aber das war zu einer Zeit gewesen, wo diese Welt noch am Anfang gestanden hatte und sich die ordnenden Kräfte erst zu formen begannen. Nun war die Stunde gekommen, um die ferne Vergangenheit wieder zu neuem Leben zu erwecken - durch die Hand des dunklen Ritters! Mit steinernern Mienen beobachteten unten in der Ebene die Ech senkrieger und Löwenmenschen, wie Orcon Drac in Trance verfiel und seine Stimme immer mehr an Kraft gewann. Gleichzeitig erfüllte ein lauter Donner die Stille des öden Landes und noch ehe der Donner verhallte, geriet die Erde an mehreren Stellen in Bewegung, teilte sich plötzlich. Aus der ausgeworfenen Erde wuchsen unwirkliche Gestalten her vor, Hünengleich - aber mit einem Körper, der in vielen gläsernen Fa cetten schimmerte. Die Gesichter waren wie die lebloser Statuen und in den Augen blitzte es kalt, als sie die Stimme ihres neuen Herrn hör ten. Mit zuerst noch plumpen Schritten setzten sie sich in Bewegung und verließen ihr Grab, in dem sie seit unvorstellbarer Zeit einge schlossen gewesen waren. Orcon Dracs Geist kehrte wieder in die Gegenwart zurück und große Genugtuung erfasste ihn, als er erkannte, dass sein Zauber ge wirkt hatte. Die Gläsernen Kämpfer von Sann-Dok waren auferstanden und diesmal würden sie sich nicht mehr zurückdrängen lassen in ihr Gefängnis. Und mit jedem Menschen, den sie jetzt töteten und in des 18
sen Blut sie wateten, würde auch ihre Kraft wachsen. Kräfte, denen auch die Götter des Lichts nichts entgegenzusetzen hatten! Davon war Orcon Drac fest überzeugt. Die Gläsernen Kämpfer gesellten sich nun zu den anderen Kreatu ren der Finsternis, wurden zu einer weiteren Streitmacht des dunklen Heeres. Der Ritter der Finsternis ließ sich von einem der Echsenkrieger seinen Rapphengst bringen und stieg dann mit einer geschmeidigen Bewegung in den Sattel. Er hob die rechte Hand und das war auch das Zeichen für die Heerscharen, aufzubrechen. Sie verließen die Stätte, die vor Ewigkeiten von Menschen bevölkert gewesen war und folgten nun ihrem neuen Herrscher. Einem Befehlshaber, der sie in die letzte Schlacht führen würde. Und wie diese ausging - daran gab es jetzt keinen Zweifel mehr für Orcon Drac. * Es erschien ihm unendlich lange, seit Lorys ihn verlassen hatte. Au genblicke reihten sich zu Stunden - und in dieser menschenleeren Ein öde verstrich die Zeit seltsam lange. Thorin hoffte aber, dass der Göt terhengst Sleipnir Lorys inzwischen ans Ziel gebracht hatte. Sein Volk in den Eisländern würde die heimatlose Fürstin von Samara ganz si cher mit offenen Armen empfangen. Denn schließlich würde sie den Menschen in Thorins Dorf von ihm erzählen und was er bisher erlebt hatte. Thorin konnte sich gut vorstellen, dass alle sehr erstaunt sein würden, wenn sie erfuhren, welche Aufgabe einem Krieger aus dem Volk der Nordmenschen mittlerweile zugedacht worden war. Das hätte sicherlich keiner erwartet, als Thorin vor langer Zeit sein Heimatdorf verlassen und übers Eismeer in Richtung Süden aufgebrochen war. Mehr als drei Jahre waren seitdem vergangen - eine lange Zeit, die den ehemals jungen unerfahrenen Krieger gestählt hatte. Er war nicht mehr der ziellose Abenteurer auf der Suche nach Beute und Ruhm mittlerweile wusste er, welche Rolle er in den Auseinandersetzungen zwischen Licht und Finsternis spielte. Als der allwissende Gott Einar ihm zum ersten mal davon erzählt hatte, da war Thorin noch nicht 19
bereit gewesen, diese große Last der Verantwortung auf sich zu neh men. Jetzt aber stellte sich die Situation ganz anders dar. Je mehr der Nordlandwolf über die wirklichen Zusammenhänge des ewigen Kamp fes zwischen Gut und Böse erfuhr, um so mehr war er bereit, diese schwere Aufgabe zu erfüllen. Denn er kämpfte nicht mehr für sich, sondern für die übrige Welt der Menschen, die mittlerweile am Rande eines tiefen, unergründlichen Abgrundes stand. Und dafür lohnte es sich zu kämpfen. Denn den Mächten der Finsternis durfte es niemals gelingen, hier noch weiter Fuß zu fassen. Sonst war alles verloren! Seine Gedanken brachen ab, als er plötzlich bemerkte, wie sich am fernen Horizont ein blutroter Schimmer am Himmel bildete. Thorin glaubte gleichzeitig, das hallende Echo eines Donnerschlages zu hören - irgendwo jenseits des Horizontes. Er spürte ebenfalls die Wärme der Götterklinge Sternfeuer. Das Schwert hatte bisher immer auf die Präsenz dunkler Kräfte reagiert. Und jetzt fühlte er die Hitze, die von der Klinge ausging. Thorin zog Sternfeuer daraufhin aus der Scheide und sah, wie seine Waffe in ei nem gleißenden Licht erstrahlte. Ein Licht, das dazu ausersehen war, das Blutrot des dämonischen Himmelsleuchtens zu bekämpfen. Denn dieses rötliche Schimmern war nicht natürlichen Ursprungs! Thorin gab seinem Pferd die Zügel frei und trieb es an. Das zweite Pferd, dessen Sattel mittlerweile leer war, hatte er am Zügel hinter sich geführt. Auch dieses Tier fühlte, wie eilig es der blonde Krieger auf einmal hatte und gab sein Bestes. Staub wirbelte unter den Hufen der Tiere auf, als der Nordland wolf seinen Weg fortsetzte. Und je länger Thorin in Richtung Horizont ritt, um so stärker wurde das Pulsieren der Götterklinge... * Orcon Drac ritt an der Spitze des schweigenden dunklen Heeres. Nur das Janken von Sattelleder und Hufschläge durchdrangen die Stille der menschenfeindlichen Einöde. Die Mienen der dunklen Krieger waren ohne jegliche Regung. Die Echsenwesen blickten starr vor sich hin und 20
folgten ihrem Führer, die Pranken der Löwenmenschen waren in der Nähe ihrer gewaltigen Speere und Spieße. Die unheimlichen Geschöpfe ritten auf zottigen Burlaks, die eben falls mit ihnen auf diese Welt gekommen waren - wilde gehörnte Un geheuer, die nur von den Löwenmenschen von Herlan gebändigt wer den konnten. Vor ihnen marschierten die Gläsernen Krieger von SannDok. Immer im gleichen Tempo und ohne zu ermüden. Eine unbe schreibliche Gefahr für die gesamte Menschheit ging von dieser Streit macht der Finsternis aus, die eine gewaltige kämpfende Masse dar stellte. Zur Schlacht bereite Geschöpfe wohin das Auge auch reichte bis zum fernen Horizont erstreckte sich das dämonische Heer, das sich nun anschickte, in die Welt der Menschen einzufallen. Die Königreiche Samara und Kh'an Sor waren bereits ein Teil des Reiches der Finsternis geworden - dort gab es nichts mehr, was der Finsternis Widerstand leisten konnte. Die wenigen, die es dennoch gewagt hatten, waren mittlerweile längst tot, der größere Teil der Völ ker in die Sklaverei verschleppt oder in dunkle Dimensionen entführt, aus denen es keine Rückkehr mehr gab. Zurück blieb eine zerstörte Welt... Der Ritter der Finsternis wusste genau, welchen Plan er verfolgte. Die dunklen Mächte hatten ihm schon vor sehr langer Zeit ganz ge naue Anweisungen gegeben, welche Länder und Königreiche er zuerst zu überfallen hatte, wenn der entscheidende Tag der letzten Schlacht zwischen Licht und Finsternis gekommen war. Der riesige Kontinent Are Soon war es, der zuerst fallen sollten und mit ihm alle wichtigen und einflussreichen Königreiche. Die Berg herzogtümer von Arnish ebenso wie die wichtigen Hafenstädte Ursol und Vandistan. Der Feldzug würde weiterführen durch die weiten Wäl der von Shenol bis hin zu den ewigen Seen von Camaja. Und niemand würde diesen Siegeszug ernsthaft aufhalten! Wenn diese wichtigen Bastionen erst gefallen und erobert waren, dann gab es auch keinen wirksamen Schutz mehr für die kleineren Grenzländer. Die Eisländer des Nordens würden dem Angriff der wil den dämonischen Horden schutzlos ausgeliefert sein, denn hier hatte der mächtige Azach schon einen eigenen Plan in die Wege geleitet, der 21
ebenfalls zu dieser Stunde seinen Anfang nahm, ohne dass die Men schen in diesen Regionen etwas davon ahnten. Und die Völker des südlichen Meeresreiches mit seinen unzähligen Inseln würden schneller den gnadenlosen Zorn des unbesiegbaren R'Lyeh spüren als es ihnen lieb war. Vollkommen ahnungslos waren sie - denn sie wussten nicht, dass der mächtige Gott schon in ihrem Reich seit Ewigkeiten uner kannt weilte und nur auf den Augenblick gewartet hatte, um dann um so furchtbarer zuschlagen und wüten zu können! Ja, die Menschheit würde untergehen - das war bereits beschlos sene Sache. Orcon Drac folgte einem uralten Plan - auch wenn er einst ein normaler Sterblicher gewesen war, so erinnerte heute kaum noch etwas daran. Er war der Ritter der Finsternis, der Paladin der dunklen Mächte - und nur dafür lebte er. Was früher einmal gewesen war, das lag schon Ewigkeiten zurück. Orcon Dracs Gedanken reisten in die ferne Vergangenheit, wäh rend er sein Heer weiter zum Horizont führte. In eine Zeit, wo alles seinen Anfang genommen hatte... *
Vergangenheit 1 Er war müde und staubbedeckt, als er sein Pferd dem Pfad entlang der Hügelkette folgen ließ. Die Sonne stand hoch am Himmel, aber trotz dem blies ein kühler, schneidender Wind von Westen. Das Große Salzmeer lag nur wenige Stunden entfernt und hier in den Küstenregi onen spürte man das raue Klima, das hier das ganze Jahr über herrschte. Als der Reiter die höchste Stelle des Hügels erreicht hatte, zügelte er sein Pferd und ließ seine Blicke über das Gelände schweifen. Für lange Sekunden schaute er von Westen nach Osten und wieder zu rück. Zwei harte Jahre waren vergangen, seit er seine Heimat verlas sen hatte. Jahre des Kampfes und des Krieges als Söldner für ver schiedene Fürsten und Könige aus den südlichen Reichen. Er hatte es gelernt, sein Schwert zu führen und seine Gegner zu besiegen, aber nun war er des Kampfes müde - wollte wieder zurück an den Ort, den 22
er seine Heimat nannte und wo die Menschen lebten, die er schon seit frühester Kindheit kannte und die ihm vertraut waren. Sein Name war Dracor und er stammte aus einem Hause, das schon seit vielen Generationen in diesem Land lebte. Seiner Familie gehörte die stolze Burg am Fuße der Klippenberge. Er war der älteste von zwei Söhnen der Familie und seine Eltern waren sehr betrübt ge wesen, als er ihnen von seinem Entschluss mitgeteilt hatte, die Heimat zu verlassen und Ruhm und Abenteuer in fernen Ländern zu suchen. Aber das Leben in der Küstenregion war zu friedlich für einen Mann wie Dracor und deshalb hatte sein Entschluss schon lange zuvor fest gestanden. Seinem um drei Jahre jüngeren Bruder Cord hatte er aufgetragen, sich um alles zu kümmern, bis er wieder zurückkehrte und Cord hatte es Dracor versprochen. Sein jüngerer Bruder war zwar manchmal ein heißblütiger, aufbrausender Bursche - aber wenn man ihn brauchte, dann hatte sich Dracor bisher immer auf ihn verlassen können. Und so war er schließlich aufgebrochen und in die Fremde gegangen, aber nun kehrte er wieder zurück. Zurück in ein Land und zu Menschen, von denen ihm jetzt erst so richtig bewusst wurde, wie sehr er beides vermisst hatte. Aber nun gehörten Kampf und Krieg der Vergangenheit an. Er war reifer gewor den in diesen Jahren und Dracor wusste, dass er nun genügend Erfah rung gesammelt hatte, um das Erbe seines Vaters anzutreten. Und sein Bruder Cord würde ihm dabei eine gute Hilfe sein... Der Weg, dem er jetzt folgte, führte geradewegs zur Küste und damit auch zur Klippenburg. Das wuchtige, für die Ewigkeit errichtete Bauwerk befand sich schon mehr als zehn Generationen im Besitz sei ner Familie und sein Vater war ein gerechter Herrscher, der seinen Untertanen nichts abverlangte, sondern stattdessen seine schützende Hand über die Schwachen hielt. Und das dankten ihm die Menschen der Küstenregion, indem Sie treu zu ihm und seiner Familie standen. Dracor trieb sein Pferd jetzt schneller an - er war ungeduldig ge worden, denn er sehnte sich nach dem Moment, wo er endlich seine Familie wieder in die Arme schließen konnte. Das Pferd schien zu ah 23
nen, wie eilig Dracor fes hatte - und es streckte sich, fiel in einen Schnellen Galopp. Jetzt musste gleich das kleine Dorf vor seinen Blicken auftauchen. Und direkt dahinter, in der Nähe des Großen Salzmeeres, erstreckten sich dann die Klippen, auf denen die Burg seiner Familie errichtet wor den war. Plötzlich gewahrte er die Konturen von drei Reitern weiter oben bei einer Gruppe von Nadelbäumen. Sie waren von einem Atemzug zum anderen aufgetaucht und kamen nun direkt auf ihn zugeritten. Dracor bemerkte die blitzenden Schwerter und die Rüstungen, die sie trugen. Aber ihre Haare waren dunkel und die Helme, die sie trugen, erschienen ihm seltsam fremd. Unwillkürlich tastete seine rechte Hand zu dem Schwert in der Scheide. Denn er spürte förmlich die Bedrohung, die von diesen Männern ausging. Es waren Männer, die nicht zu seinem Volk gehörten. Ihre Haut war bronzefarben und die Augen hatten eine schmale Form. Die drei Reiter zügelten nun ihre Pferde direkt vor Dracor, richte ten ihre prüfenden Blicke auf ihn. Der Reiter links von Dracor, der ei nen gehörnten Helm trug und dessen Gesicht von einem zotteligen Bart umrahmt wurde, richtete nun das Wort an ihn. »Wohin willst du?« »Wer will das wissen?«, fragte Dracor stattdessen, denn er hatte in den Jahren als Söldner gelernt, dass es richtig war, immer Mut zu zeigen. So etwas imponierte dem Gegner. Der Bärtige zuckte bei die sen Worten kurz zusammen und schaute hinüber zu seinen Gefährten. Offensichtlich hatten die drei nicht damit gerechnet, jetzt auf jeman den zu treffen, der sich nicht von ihnen einschüchtern ließ. »Ich bin Skald Versgen!«, sagte der Bärtige nach einer kurzen Pause. »Und ich frage dich noch einmal - wohin willst du?« »Mein Name ist Dracor«, bekam der Bärtige daraufhin zur Ant wort. »Dieses Land gehört meiner Familie schon seit vielen Jahren. Ich bin es, der euch eigentlich fragen müsste, was ihr hier zu suchen habt. Also macht endlich den Weg frei, oder es wird hart für euch. Was ist habt ihr mich nicht verstanden?« 24
Ein höhnisches Grinsen schlich sich stattdessen in die Züge der drei Männer. Und wieder war es Skald Versgen, der zu Dracor sprach. »So, du bist also der verloren gegangene Sohn, der in die Fremde zog. Wärst du dort geblieben, dann wäre es bestimmt besser für dich gewesen. Hier gibt es nichts mehr, was wichtig für dich wäre. Dreh dein Pferd um und verschwinde von hier, Dracor. Oder willst du gleich hier sterben? Gegen uns drei wirst du ohnehin den Kürzeren ziehen!« »Ihr Bastarde!«, kam es zornig über Dracors Lippen, der sich die se Beleidigungen nicht mehr länger gefallen lassen wollte. Mit einer geschmeidigen Bewegung riss er sein scharfes Schwert aus der Schei de und drückte gleichzeitig seinem Pferd die Hacken in die Weichen. Das Tier war auf solche Situationen abgerichtet und wusste deshalb ganz genau, wie es sich zu verhalten hatte. Dracors überraschender Angriff kam so plötzlich für die drei Män ner, dass sie jetzt entscheidende Sekunden verloren. Und diesen Vor teil nutzte Dracor natürlich für sich. Er schwang die Klinge und holte zu einem Hieb aus. Skald Versgen wollte sich ducken und den Hieb parie ren, aber seine Reaktion kam viel zu spät. Dracors Klinge traf den Bär tigen am Hals und riss dort eine tiefe Wunde. Blut spritzte empor und ließ Versgen im Sattel wanken. Er stieß einen lauten Schrei aus und fiel dann seitlich vom Pferd, wo er im Sand reglos liegen blieb. Seine beiden Gefährten hatten jetzt aber reagiert und stürmten mit gezogenen Waffen und lautem Gebrüll auf Dracor zu, um ihn in die Zange zu nehmen. Aber keiner von beiden wusste, wie viel Kampfer fahrung Dracor in den Jahren seiner Abwesenheit gesammelt hatte. Er wusste sofort, was die beiden beabsichtigten und duckte sich kurz im Sattel. So entging er dem tödlich geführten Hieb eines der Männer. Der Schwerthieb strich über ihn hinweg - dagegen landete Dracor ei nen sicheren Treffer. Seine Klinge bohrte sich in den Magen des Wege lagerers. Während der Mann schrie, seine Waffe fallen ließ und die Hand auf die blutende Wunde presste, widmete sich Dracor schon dem drit ten Gegner, der auf einmal kreidebleich wurde. Denn er hatte begrif fen, dass Skald Versgen sich getäuscht hatte. Dracor war ein sehr ernstzunehmender Gegner! 25
Der Mann trieb sein Pferd an, wollte Dracor einfach nieder rennen, aber der riss sein Tier im letzten Moment zur Seite, so dass dieser An griff wirkungslos wurde. Dracor befand sich jetzt plötzlich im Rücken seines Gegners und als diesem das bewusst wurde, war es bereits schon zu spät für ihn. Mit einem sauber geführten Hieb trennte Dracor ihm das Haupt vom Kopf, bevor der Mann noch einen Todesschrei ausstoßen konnte. Sein Ende war so schnell gekommen, dass er es wahrscheinlich gar nicht mehr begriffen hatte. Der kopflose Körper stürzte vom Pferd und das Tier galoppierte aufgeschreckt davon. Mit bluttriefender Klinge schaute Dracor zurück. Skald Versgen rührte sich nicht mehr. Er lag leblos im Staub. Nur der zweite Gegner, den Dracor im Magen erwischt hatte, wälzte sich jetzt noch auf dem Boden, stieß ein lautes Stöhnen aus. Aber dieses brach nur wenige Augenblicke später ab und als Dracor sein Pferd näher lenkte, sah er die blicklosen Augen des Mannes. »Bei allen Göttern!«, entfuhr es Dracor. »Was hat das nur zu be deuten?« Er wusste wirklich nicht, wie er diesen gnadenlosen Angriff der fremden Krieger zu deuten hatte. Aber sein Instinkt sagte ihm, dass in den Jahren seiner Abwesenheit in der Küstenregion folgenschwere Dinge geschehen sein mussten. Dinge, die ihre gefährlichen Schatten bereits jetzt schon voraus warfen... Von einer eigenartigen Unruhe getrieben, riss Dracor nun sein Pferd an den Zügeln herum und drückte ihm die Hacken in die Wei chen. Die drei Männer, die ihn hatten töten wollen und stattdessen ihren Angriff mit dem Leben bezahlt hatten, beachtete er überhaupt nicht mehr. Stattdessen jagte ein Gedanke den anderen. Große Sorge um seine Familie überkam ihn jetzt, denn diese drei Männer hatten sich aufgeführt, als seien sie die Herren dieses Landes! Schnell ritt er weiter, denn nun wollte er wissen, was hier in den letzten drei Jahren geschehen war. Fragen, so viele Fragen - er wollte darauf Antworten haben... * 26
Dracor wusste schon im ersten Moment, dass was nicht stimmte, als die ersten Hütten des einen Dorfes hinter der nächsten Wegbiegung auftauchten. Es war ein kleines Dorf, in unmittelbarer Nähe der Küste und am Horizont konnte man das Meer sehen, das den Sandstrand mit immer neuen Wellen überzog. Nicht weit vom Ufer entfernt ankerten die zahlreichen Fischerboote. Eigentlich ein Bild des Friedens und der Ruhe - aber trotzdem fehlte etwas. Nämlich die Menschen. Wieder und wieder ließ der einsame Reiter seine Blicke über die Hütten schweifen. Doch von den Dorfbewohnern sah er nichts - keine spielenden Kinder und auch keine Männer in ihren Booten. Es schien fast, als seit das Dorf vollkommen verlassen und die Bewohner waren aus unerklärlichen Gründen von einem Tag zum anderen verschwun den. Dracor war jetzt doppelt vorsichtig. Er zog seine Klinge aus der Scheide, hielt sie griffbereit und trieb dann sein Pferd wieder an. Das Tier trabte langsam los und Dracor sah immer wieder nach links und rechts, als er die ersten Hütten erreichte. Totenstille - nur der Wind, der vom Salzmeer herüberwehte, füllte die Luft, zerrte an seinen Haa ren. Viele Türen der Häuser standen sperrangelweit offen, bewegten sich im Wind mit einem knarrenden Geräusch. Dreck und Unrat hatte sich zwischen den Hütten aufgehäuft - so als wenn sich schon lange niemand mehr darum kümmert hatte. Dracor überlegte fieberhaft, was hier in den Jahren seiner Abwe senheit geschehen sein mochte. Aber je länger er sich den Kopf auch zerbrach - er fand einfach keine Begründung für das, was er jetzt sah. »Dracor!« Der einsame Reiter zuckte zusammen, als er die hohe, dünne Stimme hörte, deren Hall vom Echo verzerrt wurde. Sofort riss er sein Pferd herum, hielt das Schwert hoch emporgereckt - jederzeit bereit, sich gegen Angreifer aus dem Hinterhalt zu verteidigen. Erneut kam Wind auf, rüttelte an den offen stehenden Türen und Fensterläden, schlug sie hin und her. Sand wurde aufgewirbelt, blies ihm ins Gesicht, so dass er seine Augen zu schmalen Schlitzen zusam menkneifen musste. Das war der Moment, wo er die gebückte Gestalt 27
zwischen den beiden äußersten Hütten erkannte. Sie war dürr und in Lumpen gekleidet. Weiße Haare umrahmten ein faltiges Gesicht mit stechenden Augen, die sich jetzt prüfend auf ihn richteten. »Dracor - warum bist du erst jetzt zurückgekommen?« »Marca«, murmelte Dracor, als er die alte Frau sofort wieder er kannte, die außerhalb des Dorfes in einer abgelegenen Hütte in den Klippen wohnte und bei allen als krasse Außenseiterin gegolten hatte. Sie lebte von dem, was sie aufsammelte - deshalb hatte sie immer einen zweirädrigen Karren bei sich, auf dem sie Dinge stapelte, die nur noch für sie von Wert waren. Auch jetzt stand sie neben diesem Kar ren, fast leblos wie eine Statue, während sie Dracor vorwurfsvoll an sah. »Was willst du noch hier, Dracor?«, hörte der einstige Söldner nun wieder die anklagende Stimme Marcas. »Du bist zu spät!« »Was ist geschehen, Marca?«, wollte Dracor nun von der alten Frau wissen, ohne direkt auf ihre Frage einzugehen. »Bei den Göttern, wo sind all die Menschen aus dem Dorf?« Die alte Lumpensammlerin kicherte schrill, als sie die sorgenvolle Miene Dracors sah. »Hier ist niemand mehr außer Ratten und fetten Spinnen, Dra cor«, fuhr sie dann fort. »Die Menschen sind tot - denn die schwarze Geißel hat sie alle geholt. Und diejenigen, die überlebt haben - sie werden sich mittlerweile wünschen, tot zu sein...« »Du redest wirres Zeug, alte Frau!«, antwortete Dracor nun zor nig, weil er immer noch nicht begriffen hatte, worauf Marca eigentlich hinauswollte. »Sprich jetzt endlich die Wahrheit, sonst...« Er hob das Schwert, um die Drohung in seinen Worten zu untermalen. »Du bringst Tod und Gewalt mit dir, Dracor!«, rief die alte Frau nun und ignorierte die auf sie gerichtete Klinge des einsamen Reiters, der sein Pferd nun in ihre Richtung lenkte. »Ich sehe in deinen Augen viel Leid und Entbehrung - du hättest hier sein müssen, bevor die Schlitzaugen von jenseits des Horizontes kamen und bevor die schwar ze Geißel ausbrach...« Sie hielt kurz inne. »Ich sehe, dass du immer noch nicht verstanden hast. Nun gut, dann will ich dir sagen, was ge 28
schehen ist. Es ist eine bittere Geschichte, Dracor - eine Geschichte voller Unrecht...« Sie stützte sich auf den Rädern des alten Karrens ab und ließ Dra cor bei den folgenden Worten nicht aus den Augen. »Es begann am Ende des ersten Jahres, nachdem du deine Hei mat verlassen hattest. Wie alles anfing, daran erinnert sich niemand mehr. Aber es gab plötzlich die ersten Toten und die Seuche der schwarzen Geißel breitete sich immer mehr aus. Viele starben und andere wurden angesteckt. Nur wenige Wochen vergingen und die Toten gingen bereits in die Hunderte.« »Was hat mein Vater unternommen?«, wollte Dracor jetzt wissen. »Rede schon - hat er den Unglücklichen wenigstens etwas helfen kön nen?« »Bis zu dem Zeitpunkt, wo die schwarze Geißel auch vor den To ren der Klippenburg nicht mehr haltmachte, Dracor«, antwortete Mar ca daraufhin. »Deine Mutter wurde ein Opfer der Seuche - sie starb schon nach wenigen Tagen und daraufhin zog sich dein Vater ganz zurück. Ihn interessierte nicht mehr, was hier draußen geschah. Dein Bruder Cord nahm daraufhin die Zügel in die Hand und ihm haben wir es auch zu verdanken, dass die Eroberer ins Land kamen und schließ lich bestimmten, was hier geschah. Cord empfing nur noch ihre Befeh le und duldete es, dass weiter oben in den unzugänglichen Klippen große Lager errichtet wurden, in denen man die Verseuchten unter brachte. Sie warten dort auf ihren Tod, Dracor - und es ist noch keiner zurückgekehrt, der dorthin gebracht wurde. Das ist die Geschichte, die du hören wolltest, Dracor - und es ist keine angenehme Geschichte. Aber du wolltest sie wissen...« Dracor brauchte einige Augenblicke, um die Fassung beizubehal ten. Was er da gerade aus Marcas Mund vernommen hatte, klang so unglaublich, dass er zuerst gar nicht wusste, was er tun sollte. Jäher Schmerz packte ihm, als ihm klar wurde, dass seine Mutter bereits tot war und sein Vater sich vor Schmerz von allem zurückgezogen hatte. »Cord...«, murmelte er kopfschüttelnd. »Ich verstehe nicht, wa rum er das getan hat. Diese bronzehäutigen Eroberer - von woher 29
kommen sie? Ich habe drei von Ihnen getötet, die sich mir in den Weg stellen wollten, als ich in Richtung des Dorfes ritt.« »Irgendwo von jenseits des Großen Salzmeeres, Dracor«, erwider te Marca. »Genaueres weiß ich auch nicht. Wenn du Fragen auf deine Antworten haben willst, wirst du sie Cord oder deinem Vater stellen müssen.« Erneut kicherte sie schrill bei diesen Worten - ein Zeichen dafür, dass ihr Geist schon fast an der Schwelle des Wahnsinns stand. »Was du auch tust - es ist alles zu spät, Dracor!«, rief sie. »Man wird dich jagen wie einen Hund, sobald Khan Ormond herausfindet, dass du drei seiner Soldaten getötet hast. Selbst dein Bruder wird dich dann nicht mehr retten können. Flieh von hier und vergiss am besten, was du gesehen und gehört hast, Dracor. Deine Heimat - sie ist ohne hin schon tot und wird bald ganz im Strudel des Vergessens ver schwunden sein!« »Ich will Antworten haben!«, erwiderte Dracor mit grimmiger Stimme. »Und ich werde solange bleiben, bis ich sie gefunden habe, daran wird mich nichts und niemand hindern, alte Frau - auch nicht dieser... Khan Ormond. Wer ist das?« »Der Anführer der Eroberer - und mittlerweile ein Freund deines Bruders, Dracor«, erhielt dieser daraufhin zur Antwort. »Du bist ein guter Kämpfer, aber sie werden dich trotzdem jagen und finden - ir gendwann. Die Welt ist schlecht, Dracor...« »Ich weiß«, antwortete der einsame Reiter und gab seinem Pferd die Zügel frei, ohne weiter darauf zu achten, was ihm die alte Frau nachrief. Erneut kam heftiger Wind auf und blies ihm ins Gesicht, wäh rend die stetigen Geräusche des toten Dorfes hinter ihm zurückblieben - genauso wie die alte Frau, die jetzt wieder ihren Karren mit sich zog und weiter in den verfallenen Häusern nach wertvollen Dingen such te... * Orcon Drac wusste nicht, weshalb ausgerechnet jetzt ein Teil seiner
Vergangenheit wieder neu geboren wurde. All dies lag so lange zurück,
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dass er schon fast glaubte, es vergessen zu haben. Aber jetzt, wo die letzte entscheidende Schlacht zwischen Licht und Finsternis in greifba re Nähe gerückt war, dachte er noch einmal daran, wie alles begonnen hatte und dass er auch einmal zu denjenigen gehört hatte, die ge glaubt hatten, dass die Seite des Lichts die bessere war. Mittlerweile wusste der Ritter der Finsternis um die wahren Zusammenhänge. Sein Herz war längst erkaltet, seit jedem Tag, als sich die Ereignisse am Großen Salzmeer zugespitzt hatten. Menschliche Gefühle und Regun gen zählten für ihn nicht mehr. Seine Seele war dunkel vor Hass ge worden, weil es Kräfte gab, die ihm den richtigen Weg gewiesen hat ten. Einen Weg, von dem er niemals mehr abweichen würde - denn er besaß mehr Macht als sich ein Sterblicher jemals erträumt hätte. Die Heerscharen der Finsternis durchquerten weiter das öde Land, näherten sich mit jeder Stunde immer mehr den menschlichen Ansied lungen. Irgendwo jenseits des Horizontes erstreckten sich die Bergher zogstürmer von Arnish - das war auch das erste Ziel des dunklen Hee res. Die Kreaturen der Finsternis würden über die Menschen herfallen und das Reich verwüsten. Solange bis kein Stein mehr auf dem ande ren stand und sich nicht mehr der geringste Widerstand regte. So wie es bei der einst stolzen Stadt Samara der Fall gewesen war, als die Echsenkrieger sie in Schutt und Asche gelegt hatten. Aber trotzdem musste Orcon Drac immer wieder an den blonden Krieger aus dem Norden denken, dessen Schicksal mit dem seinen auf eine unerklärliche Weise verbunden war. Er selbst wusste, dass er die ser Konfrontation nicht ausweichen konnte. Aber den Ort und den Zeitpunkt wollte er selbst bestimmen! Er wollte gewappnet sein, wenn die Stunde der Entscheidung kam - und je mehr er über seinen Gegner wusste, um so besser war es. Deshalb murmelte er mit leiser Stimme eine ihm vertraute Beschwö rung aus dem Buch von Vharya. Noch ehe die letzten Silben der Be schwörung verhallt waren, tauchte unweit vor Orcon Drac plötzlich ein weißlicher Nebel auf, in dessen Konturen sich die Umrisse eines ein zelnen Reiters abzeichneten. Orcon Drac kannte den Reiter - es war Thorin, dieser verfluchte Krieger des Lichts. Diesmal war er nicht in Begleitung der Frau, die mit ihm zusammen in den Höhlen unterhalb 31
von Samara gewesen war. Orcon Drac wusste nicht, warum das so war, aber es war ihm auch gleichgültig. Er beobachtete den blonden Krieger, der ebenfalls das öde Land durchquerte und ganz offensicht lich nach dem dunklen Heer suchte. Der Ritter der Finsternis sah die markanten Felsen hinter Thorin und wusste deshalb sofort, dass sein Gegner noch fast zwei Tage von diesem Ort hier entfernt war. Aber die Art und Weise, wie er sein Pferd antrieb, zeigte dem dunklen Ritter, dass er diese Distanz rasch verrin gern würde. »Er muss wahnsinnig sein«, murmelte Orcon Drac. »Er ist allein und will trotzdem gegen das dunkle Heer kämpfen. Er wird sterben ehe es ihm bewusst wird!« Grenzenloser Hass überkam ihn und ließ ihn die Fäuste zusam menballen, nachdem sich der Nebel wieder verflüchtigt hatte. Orcon Drac hatte gesehen, was er wissen wollte und konnte jetzt die ent sprechenden Vorbereitungen treffen. Der Ritter der Finsternis hatte dem blonden Krieger des Lichts schon einmal gegenübergestanden und wusste, dass er damals beina he den Kürzeren gezogen hätte. Aber da hatte der Gott Modor einge griffen und ihn Thorins Zugriff entzogen. Nun war Orcon Drac aber auf sich selbst gestellt und die beiden anderen Götter der Finsternis rech neten fest damit, dass er seinen Gegner nun ein für allemal besiegte. Schließlich war dieser Thorin nur ein gewöhnlicher Sterblicher - wenn auch mit außergewöhnlichem Mut. Aber außer seinem Schwert besaß er keine anderen Kräfte, die Orcon Drac gefährlich werden konnten. Und mittlerweile kannte der Ritter der Finsternis Wege und Mittel, ge gen die selbst eine solch mächtige Waffe wie das Schwert der Götter nicht ankommen konnte. Denn er war der Vasall der Finsternis - und er hatte unbeschreibliche Macht auf dieser Welt. Eine Macht, die er sich von niemand mehr streitig machen lassen würde! Orcon Drac konzentrierte sich jetzt ganz wieder auf den bevorste henden Eroberungsfeldzug. Er blickte nicht mehr zurück. Sollte dieser Narr Thorin nur kommen - er würde ihn auf seine Weise willkommen heißen und ihm dann den Garaus machen. Denn sein Hass auf das Licht war stark und wuchs mit jedem Tag immer weiter an. Die Fins 32
ternis hatte ihm einen besseren Weg gezeigt. Einen Weg, an dessen Ende man nur Sieger sein konnte und wo man noch mehr Macht be kam. Denn wer die Macht hatte, der kannte die Zusammenhänge und konnte die Schicksale ganzer Königreiche bestimmen. Damals war es auch grenzenloser Hass gewesen, der ihn ange trieben hatte. Hass gegen die, die an dem Unglück Schuld hatten, das seinem Volk und seiner Familie widerfahren war. Erneut glitten Orcon Dracs Gedanken zurück in eine Zeit, die jetzt wieder lebendig wurde. Diesmal sah er aber die Geschehnisse mit ganz anderen Augen, denn der Mann, der damals Rache und Vergeltung gesucht hatte, der hatte nichts mehr gemeinsam mit dem Ritter der Finsternis - auch nicht mehr den Namen! *
Vergangenheit 2 Er folgte dem schmalen Pfad, der weiter hinauf zu den Klippen führte. Bereits jetzt schon konnte er die wuchtigen Mauern der alten Burg erkennen, wo er geboren war und seine Kindheit verbracht hatte. Eine kaum zu zähmende Ungeduld hatte ihn ergriffen, weil er mit seinem Vater sprechen wollte und er konnte es deshalb kaum abwarten, bis er endlich sein Ziel erreicht hatte. Er hatte die halbe Strecke zwischen Dorf und Burg bereits hinter sich gebracht, als er jenseits der Wegbiegung plötzlich Hufschläge und laute Stimmen hörte. Buchstäblich im letzten Moment konnte Dracor noch sein Pferd zur Seite reißen. Er lenkte das Tier weg vom Pfad und hinüber zu einer Stelle hinter einigen Felsbrocken, die ihn zunächst vor den Blicken derjenigen verbargen, die sich nun dieser Stelle des We ges nährten. Erneut hielt Dracor sein Schwert griffbereit und spähte vorsichtig aus seiner Deckung hervor, wartete ab, was weiter geschah. Zuerst waren es zwei Reiter, die hinter der Wegbiegung auftauch ten, dann folgte ein großer Wagen, der von zwei kräftigen Pferden gezogen wurde. Auf dem Wagen saßen oder kauerten fünf Menschen, die allesamt einen ängstlichen Eindruck machten. Dracor hörte das 33
leise Wimmern eines Mädchens, das aber dann rasch verstummte, als einer der beiden vordersten Reiter mit zorniger Stimme etwas schrie, was Dracor nicht genau verstehen konnte. Hinter dem Wagen ritt ein weiterer Mann und der war ebenfalls bewaffnet. Jeder von ihnen hatte ein Schwert bei sich, einer von ihnen trug sogar eine mächtige Lanze, die er gewiss zu handhaben wusste. Also Männer, die ihr Handwerk verstanden. Dracor versuchte mehr zu erkennen, aber die meisten der Men schen auf dem Wagen hatten ihr Haupt verhüllt. Als wenn sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden hatten, was sie erwartete. Aber nicht alle - genau in diesem Moment erhob sich einer der Ge fangenen ganz unerwartet, sprang mit einem Satz vom Wagen und rannte los. Das geschah so plötzlich, dass die vier Männer mit der bronzefarbenen Haut zuerst völlig überrascht waren. Jedoch stieß ei ner von ihnen dann einen grässlichen Fluch aus und trieb sein Pferd an, setzte sofort dem Flüchtenden hinterher. Keine Frage - er würde den armen Teufel in wenigen Augenbli cken eingeholt haben. Und als Dracor sah, wie der Soldat seine mäch tige Lanze schwang, da war ihm auch klar, dass es für solch eine wa gemutige Flucht nur eine einzige Strafe gab - nämlich den sofortigen Tod! Das wollte und konnte er nicht zulassen. Zuviel war in diesem Land geschehen, wo er nicht mehr länger untätig zusehen würde. Er wusste, dass er mit Ärger rechnen musste, wenn er jetzt hier blieb Marca hatte ihn ja gewarnt. Aber diese unglücklichen Menschen auf dem Wagen - sie waren von seinem Volk und die anderen waren die Fremden. Die Eindringlinge, die sein Volk unterjocht hatten! Dracor gab seinem Pferd die Zügel frei und lenkte es hinaus auf den Pfad. Genau in dem Moment, als der Flüchtende die Stelle erreich te, wo Dracor sich verborgen gehalten hatte. Verwirrt und erschrocken zugleich sah der Mann den einsamen Reiter, der in der rechten Hand ein scharfes Schwert hielt. Angriff war in solchen Situationen die beste Verteidigung - das hatte Dracor in den zahlreichen Schlachten und Eroberungsfeldzügen 34
der letzten Jahre gelernt. Er stürmte auf den Soldaten zu, der den Mann verfolgte. Der Soldat, der eben noch geglaubt hatte, eines Flüchtenden gleich habhaft zu werden, sah sich plötzlich einem Angreifer gegen über. Er wollte seine Lanze herumreißen und damit auf den Gegner zielen, aber das schaffte er nicht mehr. Mit einem lauten Schrei bohrte sich Dracors Schwert in die Seite des Mannes. Noch im selben Atem zug riss er die Waffe bereits wieder heraus und richtete sie auf die beiden übrigen Soldaten, die den Wagen bewacht hatten. Die hatten jetzt begriffen, was geschehen war und griffen ebenfalls an. Sie wollten Dracor von zwei Seiten in die Zange nehmen, aber die ser hatte schon mit so etwas gerechnet. Er wich nicht aus, sondern stellte sich den beiden Feinden. Er duckte sich im Sattel und entging so dem Schwerthieb, der nach seiner Kehle gezielt hatte. Der Soldat, der Dracor auf diese Weise hatte töten wollen, war jedoch mit solch einem Schwung heran geritten gekommen, dass er jetzt erst einmal sein Pferd wild an den Zügeln herumreißen musste. Das kostete ihn Zeit und genau diese Zeit nutzte Thorin, um sich gegen den anderen Soldaten durchzusetzen, der ihn jetzt ebenfalls erreicht hatte. Zwei Klingen trafen aufeinander, kreuzten sich kurz und lösten sich dann wieder. Diesmal war es aber Dracor, der den nächsten Hieb als erster führte - und er traf sein Ziel. Sein Schwert erwischte den Gegner am rechten Oberschenkel und riss dort eine tiefe blutende Wunde. Der Mann schrie vor Schmerz laut auf und achtete für einen winzigen, aber dafür um so entscheidenderen Moment nicht auf seine eigene Deckung. Bei einem erfahrenen Kämpfer wie Dracor war das gleichbedeutend mit einem Todesurteil. Denn Sekunden später stieß Dracor noch einmal zu und traf den Mann diesmal tief in der Brust, beendete damit das Leben des Gegners. Er sah, wie sein Feind leblos aus dem Sattel stürzte, nahm das je doch nur kurz aus den Augenwinkeln wahr. Denn mittlerweile hatte der dritte Mann sein Pferd herumgerissen und es wieder unter seine Kontrolle gebracht. Ein unbeschreiblicher Wutschrei kam über die Lip pen des bronzehäutigen Mannes, als er sah, dass seine beiden Gefähr 35
ten bereits tot waren - und das, obwohl es sich nur um einen einzigen Angreifer gehandelt hatte. Sie dagegen waren zu dritt gewesen! »Stirb, du Hund!«, schrie der Mann mit sich überschlagender Stimme und schwang sein Schwert wie ein Besessener. Genau in die sem Moment traf ihn ein Stein am Kopf, ließ ihn im Sattel wanken. Der Gefangene, der zuerst die Flucht ergriffen hatte, war derjenige gewe sen, der ihn geschleudert hatte. Er hatte gesehen, wie der Fremde ihm hatte helfen wollen und hatte deshalb neuen Mut bekommen - vor allen Dingen als er und die anderen Menschen auf dem Wagen er kannten, wie hart und gnadenlos dieser einsame Reiter gegen die Bronzehäutigen vorging. Es war nur ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit - mehr be wirkte der geschleuderte Stein natürlich nicht. Aber er reichte aus, dass Thorin den Mann mit einem sicher gezielten Hieb tödlich verwun den und dann aus dem Sattel stoßen konnte. Ein kurzes Röcheln kam noch aus der Kehle des Mannes, als er in den Staub fiel - Sekunden später war er auch schon tot. Stille breitete sich aus, fassungslose und ungläubige Blicke richte ten sich dann auf den Reiter, der all seine Gegner besiegt hatte. Und dann war es der Mann, der den Stein geworfen hatte, der etwas zu den anderen auf dem Wagen hinüberrief. »Dracor! Es ist Dracor! Almors Sohn ist zurückgekommen!« Nun ergriff neuer Mut die Menschen, die zuvor noch ihr Schicksal akzeptiert hatten. »Was ist geschehen?«, richtete Dracor nun das Wort an den Mann, der den Stein geschleudert hatte. »Wohin wollten euch diese Bastarde bringen?« »In eines der Pestlager!«, stieß nun der Mann mit aufgeregter Stimme hervor. »Es ist viel geschehen, seit Ihr Eure Heimat verlassen habt, Dracor. Viele sind an der schwarzen Geißel schon gestorben und jetzt wollen sie auch unser Dorf vernichten. Aber wir sind gar nicht krank. Keiner von uns - aber es hat in unserem Dorf einen Toten gegeben und jetzt wollen sie uns in das Lager bringen. Aber dort wer den wir alle sterben!« 36
Es waren nur wenige Worte, die der Mann aufgeregt von sich gab, aber Dracor konnte sich gut vorstellen, in welch schlimmer Notlage sich die Menschen in den umliegenden Dörfern befanden. »Ihr seid frei und könnt gehen wohin ihr wollt«, sagte Dracor dar aufhin. »Verlasst aber das Land, macht einen neuen Anfang irgendwo tiefer im Landesinneren. Nur so könnt ihr überleben.« »Aber was ist mit Euch?«, fragte jetzt ein anderer Mann, dessen Körper Spuren der Misshandlung zeigte. »Wollt Ihr etwa allein gegen die Horden Khan Ormonds kämpfen? Es sind doch zu viele...« »Einer muss es tun!«, schnitt ihm Dracor das Wort ab. »Und nun verschwindet endlich, bevor ihr ihnen ein zweites mal in die Hände fällt. Wenn ihr etwas tun wollt, dann betet zu den Göttern!« Mit diesen Worten wandte er sich ab, gab lern Pferd die Zügel frei und ritt einfach weiter. Er wusste, dass es riskant war, direkt auf die Burg zuzureiten - denn er wusste ja schließlich nicht, ob sich in den Mauern weitere Gegner aufhielten. Deshalb entschied er sich im letz ten Moment doch noch anders und beschloss erst einmal, die nähere Umgebung der Klippenburg genau zu inspizieren, bevor er seinen Weg fortsetzte. Denn nur wenn er soviel wie möglich in Erfahrung brachte, würde ihm dies das Überleben in einem Land sichern, das er einmal seine Heimat genannt hatte... * Die Schatten der Abenddämmerung breiteten sieh über den Klippen aus, als Dracor sein Pferd an einer verborgenen Stelle zurückließ und sich dann zu Fuß auf den Weg in die Burg machte. Von einem Versteck aus hatte er das Gelände beobachtet, aber niemand der bronzehäuti gen Feinde hatte sich in der Nähe der Burg blicken lassen. Dracor wusste jedoch, dass dies vorerst nur ein Aufschub war, den ihm das Schicksal gegönnt hatte. Denn irgendwann würden sie herausfinden, wer der Mann war, der bereits einige von Khan Ormonds Soldaten getötet hatte - und wenn dieser Zeitpunkt gekommen war, dann muss te er wissen, was er zu tun hatte. 37
Das Tor zur Burg stand weit offen, auf dem Weg dorthin war das Unkraut wild empor gewuchert. Früher hatte sein Vater hier Leute aus dem Dorf beschäftigt, die sich um den Garten und die nahe gelegenen Felder gekümmert hatten. Aber wie Dracor schon festgestellt hatte, lag alles brach und verlassen. Als wenn niemand mehr in der Burg wohn te. Seine Schritte klangen dumpf auf der Holzbrücke, als er sie über querte und dann den Innenhof der Burg erreichte. Als er dann seine Blicke in die Runde schweifen ließ, entdeckte er das gleiche Bild. Es war nicht das, was man Zerstörung nennen konnte, aber man konnte schon erkennen, dass hier lange niemand mehr nach dem Rechten gesehen hatte - also auch sein Bruder Cord nicht! Allein bei dem Gedanken an seinen jüngeren und einzigen Bruder ergriff ihn eine unbeschreibliche Bitterkeit. Dracor konnte nicht begrei fen, warum sich Cord mit diesem Khan Ormond verbrüdert hatte. Sah er denn nicht, dass Cord sich gegen seine eigenen Brüder und Schwes tern stellte? War er wirklich so dumm, dass er das nicht erkannte? Oder wollte er es vielleicht gar nicht mehr sehen? Auch wenn Jahre vergangen waren, seit Dracor zum letzten mal im Innenhof der Burg gestanden hatte, so kannte er sich hier blind aus. Er näherte sich dem Eingang zum großen Trakt, der hinauf in die Räume führte, wo seine Eltern gelebt hatten. Auch hier war alles offen und jedermann zugänglich. Und kein Laut war zu hören - keine Geräu sche, die darauf hindeuteten, dass hier noch jemand lebte. Aber doch musste es so sein, denn Dracor hatte ja von Marca erfahren, dass sein Vater noch hier war - wenn er sich auch von allem zurückgezogen hat te. Er schritt die breiten Stufen der Treppe hinauf, die in die oberen Räume führten. Schon bald hatte er den langen Gang erreicht, aber nach wie vor blieb alles still. Dann sah er aber den hellen Schimmer unter einer der Türen. Irgend jemand hielt sich dort auf und Dracor würde gleich mehr wissen. Kurz entschlossen öffnete er die Tür, die mit einem schrillen Quietschen nachgab. Im Licht einer flackernden Kerze sah er einen weißbärtigen Mann gebeugt in einem Stuhl sitzen. Er hob noch nicht 38
einmal den Kopf, als er hörte, wie Dracor die Tür öffnete. Stattdessen erklang nun seine brüchige Stimme, die nur noch ein Schatten ihrer selbst war. »Was willst du?«, kam es zitternd über Almors Lippen. »Warum lässt du mich nicht in Ruhe?« »Vater!«, stieß Dracor nun entsetzt hervor, weil er sich nicht mehr länger zurückhalten konnte und trat dann einige Schritte nach vorn. »Bei allen Göttern, Vater - was ist nur geschehen?« Etwas Vertrautes in dieser Stimme ließ den weißhaarigen ehemali gen Herrscher der Küstenregion jetzt den Kopf heben. Müde Augen richteten sich auf den Mann, von dem er angenommen hatte, dass es sein Sohn Cord war. Dann aber begriff er auf einmal, wer jetzt ge kommen war. Im ersten Moment schüttelte er stumm den Kopf und schloss die Augen, öffnete sie dann wieder. Und als er dann sah, dass er kein Opfer eines Traumes aus der glücklichen Vergangenheit ge worden war, kam ein tiefer Seufzer über seine Lippen. »Dracor - bist du es wirklich?« »Ich bin es, Vater«, murmelte Dracor ergriffen, ging auf seinen Vater zu und schloss ihn impulsiv in die Arme. Wie schwach und zer brechlich er auf einmal wirkte! Als Dracor sein Zuhause verlassen hat te, war Almor ein vor Kraft strotzender Mann gewesen. Jetzt aber schien er ganz zerbrochen und willenlos geworden zu sein. »Und ich bin wieder zurückgekommen...« »Ich habe nicht mehr damit gerechnet, mein Junge«, erwiderte Almor und löste sich dann wieder von ihm. »Es ist alles verloren. Deine Mutter, sie ist...« Ihm stockte die Stimme und seine Augen schimmer ten feucht. »Ich weiß es schon, Vater«, fiel ihm Dracor ins Wort, als er er kannte, wie schwer es seinem Vater fiel, den Tod seiner Gemahlin zu erwähnen. »Marca, die alte Kräuterfrau, ist mir begegnet - von ihr habe ich auch erfahren, was in der Zwischenzeit hier geschehen ist. Wo ist Cord, dieser elende Verräter? Er soll es mir selbst ins Gesicht sagen, dass er sein eigenes Volk verraten hat!« »Dein Bruder ist ein Fremder geworden«, antwortete Almor. »Du wirst ihn nicht mehr wieder erkennen. Er hat sich sehr verändert.« 39
»Und weshalb?«, wollte Dracor nun von seinem Vater wissen. »Wie kann er sich nur mit Fremden einlassen?« »Es ist schwer zu begreifen, wenn man es nicht selbst erlebt hat, was hier in den letzten Jahren geschehen ist«, antwortete sein Vater, »dass die schwarze Geißel das Land mit Tod und Verderben überzog, wurde alles anders, Dracor. Das Land wäre zerfallen - aber dann tauchten plötzlich Khan Ormonds Krieger mit ihren Segelschiffen an unserer Küste auf. Sie halfen uns, feindliche Angreifer aus dem Norden abzuwehren - aber niemand konnte damals ahnen, dass sie dann selbst einmal die Macht übernehmen würden. Sie sorgten auf eine Weise dafür, dass die Pest sich nicht hier weiter ausbreitete - indem sie sofort alle Kranken isolierten. In Lagern, wo sie dahinsiechten und sterben konnten. Cord hat sich ihnen angeschlossen, denn Khan Or mond war eine Art Vorbild für ihn, seit du uns vergessen hast. In den ersten Tagen, als die Pest über Land überzog, hat er viel getan, um unserem Volk zu helfen - und ich war stolz auf ihn. Aber dann starb deine Mutter und die Welt brach für mich und auch für Cord zusam men. Ich sehe, was dort draußen stattfindet, Dracor - aber es interes siert mich nicht mehr. Ich kann es ohnehin nicht mehr dem, denn ich bin machtlos. Cord hört nicht auf mich und er ist sowieso mehr drüben bei der Felsenküste, wo Ormond und seine Männer sich niedergelassen haben. Diese Burg hier ist leer und verlassen - denn mein Leben währt auch nicht mehr lange...« »Wie kannst du nur so reden, Vater?«, schnitt ihm Dracor das Wort ab. »Ist das der Mann, den ich einmal grenzenlos bewundert und stolz zu ihm aufgesehen habe? Vater, du bist es für mich gewesen - so wie du wollte ich immer sein. Deshalb bin ich auch weggegangen, um selbst ein Krieger zu werden. Denn du solltest stolz auf mich sein, dass ich eines Tages ein würdiger Nachfolger für dich sein würde...« Almor erwiderte nichts mehr daraufhin, sondern senkte betreten den Kopf. Da wurde Dracors Zorn noch größer. »Wo sind die Lager der Pestkranken, Vater?«, wollte er nun von ihm wissen. »Und wie stark ist dieser Khan Ormond? Sag es mir - ich muss es wissen. Denn ich werde gewiss nicht den Kopf in den Sand stecken und alles erdulden, was hier geschieht. Ich habe bereits einige 40
Männer auf dem Weg hierher getötet und es werden noch mehr sein, wenn ich hier mit allem fertig bin. Nun rede endlich!« Dracors Vater erschrak angesichts der Wildheit, die seinen ältes ten Sohn ergriffen hatte. Ganz kurz glitt sein Geist zurück in die Ver gangenheit, als er selbst noch ein junger und aufbrausender Bursche gewesen war. Aber daran dachte er nur für die Spanne eines einzigen Atemzuges. Dann hatte ihn wieder die Gleichgültigkeit erfasst. »Willst du auch noch sterben? Dann geh nur hin und lass dich ab schlachten. Die Pestlager befinden sich in den Klippen weiter nördlich. Es sind die alten Steinbrüche, die Khan Ormond nun nutzt - ganz si cher weißt du noch den Weg dorthin. Und das Lager der Söldner fin dest du ganz einfach. Reite an der Küste eine halbe Stunde in Rich tung Nordosten, dann wirst du den Lärm der Krieger schon hören. Aber es bringt nichts, was du vorhast. Auch Cord wird dich nicht schützen können, wenn dich Ormonds Leute erst gestellt haben. Ver lass dich nicht darauf, dass dein Bruder mit ihm befreundet ist.« »Ich brauche keinen Schutz von einem, der selbst zum Verräter geworden ist«, erwiderte Dracor daraufhin. »Bei allen Göttern, du bist wirklich nur noch ein Schatten deiner selbst, Vater. Die Götter mögen mir verzeihen, dass ich so denke. Aber ich kann nicht anders!« Völlig verbittert über das Verhalten seines Vaters wandte sich Dra cor ab und verließ das Zimmer. Seine schweren Schritte hallten über den langen Gang, als er zur Treppe eilte. Almor rief ihm etwas nach, aber Dracor nahm das gar nicht mehr wahr. Sein Herz war dunkel vor Wut und Zorn - und der richtete sich insbesondere gegen seinen Bru der Cord. Wenig später hatte er die Mauern der Burg bereits verlassen und befand sich draußen im Freien. Alles war immer noch so menschenleer und verlassen, als er diesen Ort betreten hatte. Nichts wies darauf hin, dass sich Feinde in der Nähe befanden, die ihm womöglich auflauer ten. Dracor begab sich zurück zu seinem Pferd und saß auf. Im Dunkel der Nacht ritt er davon - sein Ziel waren die alten Steinbrüche. Er woll te mit eigenen Augen diese grauenhaften Lager sehen, in denen Men schen einfach dem Tod überlassen wurden... 41
*
Er kannte die Steinbrüche, hatte dort früher als Kind zusammen mit Cord gespielt und von großen Abenteuern geträumt. Kinderträume, dachte Dracor. Die Wirklichkeit ist manchmal viel grausamer. In sicherer Entfernung zügelte er sein Pferd, als er in der Nacht einige helle Lichter bemerkte. Erneut stieg er ab und schlich sich zu Fuß weiter. Dann bemerkte er, dass das Licht von dem flackernden Schein zahlreicher Fackeln kam, die man innerhalb des Steinbruchs entzündet hatte. Auch wenn es Nacht war, konnte Dracor verhältnis mäßig viel von seinem Beobachtungspunkt aus erkennen - ebenso die zahlreichen Männer, die sich am Rande des Lagers und oben auf den Klippen postiert hatten. Der Steinbruch wurde noch schlimmer be wacht wie ein Gefängnis für die verabscheuungswürdigsten Verbre cher, dachte Dracor, während er die Geschehnisse unten am Fuße beobachtete. Er sah zahlreiche Zelte, die man dort errichtet hatte - oder besser gesagt die Reste davon, denn Wind und Wetter hatten den Planen in der Zwischenzeit arg zugesetzt. Sie boten kaum noch Schutz vor Son ne und Regen, jedoch schien sich keiner der Bewacher dafür zu inte ressieren. Ein deutliches Zeichen dafür, dass ihnen vollkommen gleich gültig war, was aus den Menschen wurde, die sie hier eingesperrt hat ten. Dracor entdeckte schwache Bewegungen zwischen den verschlis senen Zelten. Diejenigen, die sich noch auf den Beinen halten konn ten, versuchten das Beste daraus zu machen und bemühten sich sogar noch, den anderen Leidensgenossen irgendwie zu helfen. Aber für die, die nicht mehr gehen konnten, würde sowieso bald jede Hilfe zu spät kommen. In den alten Steinbrüchen regierte der Tod, denn die schwarze Geißel war immer noch nicht vollständig ausgerottet. Dracor bemerkte es an den hastig aufgeschütteten Grabhügeln weiter drüben, direkt unterhalb der Steinmauer. Also stimmte es - wer hier herein kam, der war am Ende und würde hier sterben! Aber nicht in Würde, wie es einem Todkranken zustand, sondern wie ein lausiger Hund! 42
Der Wind trug das Gejammer der Kranken bis hoch zu ihm. Es wa ren bemitleidenswerte Menschen, aber was konnte Dracor tun, um ihre Schmerzen zu lindern? Er wusste um die Gefährlichkeit der Pest und dass es dafür noch keine Heilmittel gab. Aber waren wirklich alle Menschen dort unten krank? Oder landeten in diesem Todeslager viel leicht auch solche, die das Pech gehabt hatten, Khan Ormonds Leuten unbequem zu werden? Auf jeden Fall war es zwecklos, jetzt hier und zu dieser Stunde ir gend etwas zu unternehmen. Dazu waren die Steinbrüche viel zu stark bewacht. Nein, zuerst musste er sich ein Bild von dem Mann machen, der zusammen mit Cord jetzt in diesem Land das Sagen hatte. Da Dra cor von seinem Vater erfahren hatte, wo sich Khan Ormond aufhielt, war dieser Ort sein nächstes Ziel. Lautlos schlich er sich wieder zurück ins Dunkel der Nacht, ohne dass ihn jemand der Wächter bemerkte. Schließlich erreichte er wieder sein Pferd, griff nach den Zügeln und führte das Tier ein Stück mit sich, bevor er es wieder wagte, in den Sattel zu steigen. Aber mittler weile hatte er sich schon so weit von den Steinbrüchen entfernt, dass die Hufschläge des Pferdes ungehört in der Nacht verhallten... * Er folgte der gewundenen Straße, die an der Küste entlang in Richtung Nordosten führte, mittlerweile waren am fernen Horizont bereits die ersten Schimmer der bevorstehenden Morgenröte zu erkennen. Nur noch wenige Stunden, dann würde die Sonne aufgehen und das Küs tenland mit ihrem wärmenden Strahlen überschütten. Normalerweise eine Stunde, wo man hier draußen direkt am Meeresufer einige ruhige und beschauliche Stunden verbringen konnte. Denn das stetige Rau schen der Wellen, die gegen das Ufer schlugen und die klagenden Ru fe der hoch am Himmel reisenden Meeresvögel trugen ihren Teil dazu bei. Dracor jedoch hatte keine Zeit für Empfindungen und Eindrücke dieser Art. Tausend Gedanken gingen ihm im Kopf herum und harrten auf eine Lösung. Schließlich sah er schon von weitem die zahlreichen 43
Segelschiffe, die an dieser Stelle der Küste vor Anker gegangen waren. Es waren mächtige Giganten aus Holz mit eigenwillig geformten Segeln - in einer Art, wie selbst Dracor sie bisher noch nicht zu Gesicht be kommen hatte. Und das, obwohl er schon viele ferne Länder gesehen hatte. Unweit des Ufers hatten Khan Ormonds Soldaten ein großes Lager errichtet, um das man ringsherum hohe Sandwälle aufgeworfen hatte, um so vor einem plötzlichen Angriff auch sicher zu sein. Das sagte Dracor eine ganze Menge über den Mann, der seine Heimat gewisser maßen mit Cords Hilfe in einem Handstreich erobert und sie sich dann Untertan gemacht hatte. Lagerfeuer brannten, Gesänge erschallten aus rauen Kehlen. Dort schien wohl immer noch ein großes Fest im Gange zu sein und das, obwohl der Morgen nicht mehr fern war. Aber Plünderer und solche Hunde wie Khan Ormonds Eroberer hatten wohl das Recht, Feste zu feiern wann und wie sie es wollten... Er überlegte fieberhaft, wie er jetzt weiter vorging und entschied sich dafür, zunächst wieder genügend Vorsicht walten zu lassen. Es würde nicht leicht sein, sich unbemerkt in die Nähe des Lagers zu schleichen, ohne dass ihn jemand bemerkte. Denn dieser Ort wurde noch stärker bewacht als die Steinbrüche. Denn hier war das Herz von Khan Ormonds neuem Reich. Der neue Herrscher verzichtete zwar auf Burgen und Prunk - aber das hatte nichts zu bedeuten. Entscheidend war, dass er mit eiserner Hand über sein neues Reich regierte - und solange es solch charakterlose Bastarde wie seinen jüngeren Bruder Cord gab, die es Ormond noch leicht machten, solange würde dieser Eroberer seine Macht halten und sogar noch ausbauen können. Je mehr er über seine Gegner wusste, um so besser war es. Also war Angriff sozusagen die beste Verteidigung, entschied Dracor. Es blieb ihm nämlich nicht mehr viel Zeit bis die Sonne aufging. Aber in den Stunden zwischen Mitternacht und Morgengrauen reagierten die Sinne der Menschen bekanntlich am wenigsten, weil der Schlaf zu die ser Zeit am tiefsten war. Gab es somit eine bessere Chance, als jetzt zu versuchen, unbemerkt in das Lager einzudringen? Sicher nicht. Also machte sich Dracor daran, seinen Plan in die Tat umzusetzen... 44
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Er sah einige der Soldaten an den Lagerfeuern sitzen, während die Flammen allmählich kleiner wurden. Manche von ihnen hatten sich einfach schlafen gelegt, wo sie sich gerade befanden und schliefen ihren Rausch dort aus. Andere wiederum zogen sich jetzt in die zahl reichen Zelte zurück, um sich wenigstens noch ein paar Stunden Ruhe zu gönnen, bevor neue Aufgaben und neue Befehle auf sie warteten. Dracor hatte sich ganz nahe an drei der Zelte geschlichen, die et was weiter abseits in der Nähe einiger unübersichtlicher Klippen lagen. Dort hatte er zunächst abgewartet und erst einmal alles beobachtet. Dann aber sah er einen der bronzehäutigen Söldner aus dem Zelt kommen, der mit schweren Schritten genau auf die Stelle zuwankte, wo Dracor sich verborgen hielt. Die Schritte des Söldners waren mehr als unsicher. Er schien kräf tig gefeiert zu haben und das zeigte jetzt seine Folgen. Noch bevor er die Felsen erreicht hatte, überfiel seinen Körper plötzlich ein heftiges Zucken und er musste sich würgend übergeben. Dracor riskierte indes noch einen weiteren Blick und sah, dass niemand bemerkt hatte, wo hin dieser Söldner gerade ging. Das war die Chance, auf die er schon gewartet hatte. Hastig erhob er sich aus seiner Deckung und näherte sich dem Söldner mit schnellen Schritten. In der linken Hand hielt er einen scharfen Dolch, während er mit der Rechten den Mann nach hinten riss. All dies geschah so plötzlich und unerwartet, dass der Söldner überhaupt nicht begriff, wie ihm geschah. Und als sein alkoholumne beltes Gehirn endlich Gefahr signalisierte, war er schon tot. Dracor machte kurzen Prozess mit ihm und schnitt dem Mann die Kehle durch. Blut lief über seinen Handrücken, während der Soldat mit einem furchtbaren leisen Röcheln starb. Dracor riss den Toten mit nach hin ten zu den Felsen und zog dann den Umhang des Mannes aus, um sich ihn selbst überzustreifen. Auch der gehörnte Helm des Toten wür de sein Übriges dazu beitragen, dass ihn jeder von weitem für einen 45
von Khan Ormonds Männern halten würde - und genau das hatte Dra cor auch beabsichtigt. Er verschwendete keinen Blick mehr auf den Mann, den er gerade getötet hatte, sondern kam nun wieder zwischen den Felsen hervor. Dabei imitierte er gekonnt den schwankenden Gang des toten Solda ten und hustete leise vor sich hin. Genau wie jemand, dem der schwe re Wein sehr zu schaffen gemacht und dessen Magen ein krankhaftes Eigenleben entwickelt hatte... Sein Plan ging auf. Drüben bei den Feuern sah man nur kurz zu dem wankenden Mann in dem dunklen Umhang hinüber, aber sonst geschah nichts. Dracor blieb ganz ruhig, auch wenn er sich sehr be mühen musste, seine Nervosität zu zügeln. Denn schließlich befand er sich inmitten des Lagers der Männer, die das Ende des Küstenreiches herbeigeführt hatten! Aber bis jetzt ging alles gut - und er dankte im stillen den Göttern dafür. Sein größtes Interesse galt jetzt einem Zelt, das höher war als all die anderen und vor dessen Eingang zwei gekreuzte Lanzen aufge stellt waren. Er nahm an, dass es sich um Khan Ormonds Zelt handel te. Anschleichen, die Lage auskundschaften und dann den Befehlsha ber dieser blutrünstigen Söldnertruppe im Schlaf ermorden - genau das war seine Absicht. Denn Dracor hatte des öfteren bei seinen Aben teuern in fernen Ländern erlebt, dass man einer Schlange nur den Kopf abschlagen musste, damit der Rest des gewaltigen Körpers wehr los war. Und wenn er diesen Söldnern den Anführer raubte - vielleicht überlegten sie es sich ja dann doch anders und verließen seine Heimat wieder. Dracor wusste allerdings nicht, dass alles anders kommen sollte. Seit dem Augenblick, als er den Söldner erstochen und sich in dessen Umhang gehüllt hatte, um das feindliche Lager zu erkunden, hatte sein Schicksal festgestanden - und es würde in ganz anderen Bahnen ver laufen als er sich jemals hätte erträumen lassen... Als er nur noch wenige Schritte von dem großen Zelt entfernt war, hörte er plötzlich einen lauten Fluch aus dem Inneren. Dann sah er, wie eine kräftige Hand die Zeltwand beiseite schlug und ein Hüne von 46
Mann ins Freie trat. Sofort warf sich Dracor zu Boden und rührte sich nicht mehr, stellte sich betrunken und schlafend. Aber aus den Au genwinkeln beobachtete er den Mann ganz genau. »Eine lausige Bande von Säufern!«, hörte er die schwere Stimme des Mannes, an dessen Seite nun ein zweiter erschien, den Dracor unter Hunderten wieder erkannt hätte. Es war sein jüngerer Bruder Cord. »Siehst du, wie viel Wein sie getrunken haben?« Dracor rührte sich nach wie vor nicht und hörte dann, wie sein Bruder antwortete. Und was er sagte, brachte Dracor beinahe zur Weißglut. »Du verfügst über tapfere Soldaten, Khan«, sagte Cord, dessen Zunge ebenfalls etwas anstieß. »Sie haben es verdient, dass sie feiern. Jetzt, wo langsam feststeht, dass wir die Pest bald überwunden haben - und das nur mit der Hilfe deiner Männer...« Der Blick, den der hünenhafte Anführer aus seinen schwarzen Au gen Cord zuwarf, war eindeutig. Es gefiel ihm sehr, dass der Sohn des ehemaligen Herrschers guthieß, was Khan Ormond tat. Ein deutliche res Zeichen seiner Unterwürfigkeit gab es eigentlich nicht. Aber der Führer der Eroberer ließ Cord das nicht spüren, denn er brauchte ihn noch. Dracor besaß genügend Erfahrung, um aus den Blicken und Ges ten eines Mannes eine Menge erkennen zu können. Deswegen wusste er sofort, wer hier die Hauptrolle spielte und wer nur Befehlsempfän ger war. Cord dagegen schien es sogar Freude zu bereiten, Khan Or monds Befehle auszuführen. Vielleicht deswegen, weil er dadurch ei nen Teil der Macht selbst ausüben konnte, die er nie besessen hatte. Das erklärte vieles. Dracor spürte wieder die Wut, die sein Denken und Handeln be stimmte. Sein eigenes Leben bedeutete ihm nichts mehr - aber dieser Hund Khan Ormond, dessen Söldner soviel Leid über sein Volk ge bracht hatten und sein Bruder Cord - die beiden hatten es nicht ver dient, am Leben zu bleiben. Dracor hörte nur schwach, wie Cord und Khan Ormond jetzt über die Pestlager oben in den Klippen sprachen. Stattdessen spähte er in die Runde, versuchte zu erkennen, wie viele Söldner sich jetzt in der unmittelbaren Umgebung des Zeltes ihres Anführers befanden. Nur 47
vier Mann und die waren schwer betrunken, lagen bereits halb im Schlaf. Aber die Zeit verstrich unaufhaltsam und die ersten Sonnenstrah len zeigten sich bereits am fernen Horizont. Hier im Grau der Morgen dämmerung hatte es Dracor noch geschafft, sich verbergen zu kön nen. Aber wenn es erst richtig hell wurde, dann würde man ihn sofort erkennen und handeln - bis dahin musste er weit weg von hier sein. Langsam tastete seine Hand nach dem scharfen Schwert, das er unter seinem Umhang verborgen gehalten hatte und wartete auf den geeigneten Augenblick. Und dieser Moment kam, als Khan Ormond für Sekunden in eine andere Richtung schaute und auch Cord den Blicken des Eroberers folgte... * Urplötzlich sprang Dracor auf und hastete mit zwei Sätzen auf den hünenhaften Anführer der Eroberer zu. Er schwang sein scharfes Schwert und wollte Khan Ormond jetzt den Todesstoß versetzen. Aber ausgerechnet in diesem Moment drehte sich der Herr der E roberer um und sah auf einmal den Angreifer, der für ihn ganz plötz lich aufgetaucht war. Geistesgegenwärtig duckte er sich und entging so dem tödlich geführten Hieb von Dracors Schwertklinge. »Wachen!«, brüllte Khan Ormond, während Dracor sofort wieder nachsetzte, um diesmal zu vollenden, was ihm beim ersten mal nicht gelungen war. Er war so besessen von dem Plan, Khan Ormond umzu bringen, dass er für einen winzigen Augenblick nicht auf Cord achtete, dem er kurz den Rücken zugekehrt hatte. Cord war ebenfalls zusammengezuckt, als der unerwartete Angriff stattgefunden hatte, aber dann reagierte auch er, zog sein Schwert und versuchte sich zu verteidigen gegen diesen ungestümen Angreifer, der Helm und Umhang der Eroberertruppen trug. Aber als der Mann seinen Kopf zur Seite drehte, erkannte Cord plötzlich ein vertrautes Gesicht. Und dann waren die Wachen auch schon da. Es waren fünf Män ner, denen die Strapazen des nächtlichen Gelages noch in den Gesich 48
tern geschrieben stand - aber sie erkannten den Ernst der Situation und griffen sofort den Feind an. Dracor wehrte sich verbissen gegen die zusätzlichen Gegner, focht wie ein Löwe. Aber die Niederlage erhielt er ausgerechnet durch den Mann, mit dem er am wenigsten gerechnet hätte - nämlich durch sei nen eigenen Bruder. Er wollte sich noch zur Seite werfen, als er die Bewegung seitlich von sich ahnte, während er selbst noch alle Mühe hatte, die Hiebe der Wachposten abzuschütteln. Dann traf etwas mit schmerzhafter Wucht seine Schläfe und ließ ihn taumeln. Er stöhnte leise auf, als er sich herumwarf und direkt in das zornige Gesicht seines Bruders schaute, der ihn mit diesem gut gezielten Hieb gefallt hatte. Er spürte das Blut, das in seine Augen rann und erkannte auf einmal, dass seine Sicht plötzlich unscharf wur de. Milchige Schleier zeichneten sich vor seinen Augen ab und die Beine wollten Dracors Gewicht nicht mehr tragen. Sein Schwert entglitt den kraftlosen Händen und fiel in den Sand. Verzweifelt bemühte er sich, die Hände nochmals auszustrecken und die Waffe zu ergreifen, aber das gelang ihm nicht mehr. Dracor brach zusammen und als sein Kopf auf den Boden aufschlug, war sein Be wusstsein bereits in einen tiefen schwarzen Schacht eingetaucht. Still und reglos blieb er dann liegen. * Etwas Eiskaltes, Nasses klatschte plötzlich in sein Gesicht und riss ihn von einem Moment zum anderen aus seiner Bewusstlosigkeit. Er spür te noch den dumpfen Druck an seiner Schläfe, wo ihn der Schwerthieb getroffen hatte, als er sich bemühte, die Augen zu öffnen - was ihm aber erst nach mehreren Versuchen gelang. Dracor hörte ein leises Stöhnen und begriff dann erst, dass es aus seiner eigenen Kehle kam. Er versuchte sich zu bewegen, erkannte dann aber, dass ihn irgend etwas daran hinderte. Arme und Beine wa ren wie taub, als existierten sie überhaupt nicht. Dann wichen die bunten Schleier vor seinen Augen und er begann klar zu sehen. Er blinzelte kurz. 49
»Bist du Hund endlich wach?«, vernahm er dann die zornige Stimme Khan Ormonds, der direkt vor ihm stand und beide Arme vor seiner Brust verschränkt hatte. »Du hast es gewagt, mich anzugreifen - und dafür gibt es nur eine Strafe. Nämlich den Tod!« Dracor erwiderte überhaupt nichts darauf, denn mittlerweile war auch Cord in sein Blickfeld getreten. Seine Miene war ebenfalls wü tend. »Du musst vollkommen wahnsinnig sein, Dracor«, sagte er dann zu seinem Bruder. »Ich weiß nicht, was du damit bezwecken wolltest, aber es war ohnehin erfolglos. Du wärst besser nicht mehr zurückge kommen - hier hast du ohnehin nichts mehr verloren...« »Mach ihm klar, auf was er sich eingelassen hat, Cord!«, ergriff erneut der hünenhafte Khan Ormond das Wort, bevor Dracor etwas sagen konnte. »Und dann sorg dafür, dass dieser Hund seine Strafe erhält - auch wenn er dein Bruder ist...« »Ich habe keinen Bruder mehr, Khan«, antwortete Cord - und mit diesen Worten drückte er genau das aus, was er auch empfand. Dracor wusste, dass er von seinem jüngeren Bruder keine Rück sicht erwarten durfte. Die familiären Bande waren längst gerissen - als hätten sie niemals existiert. Für Khan Ormond war die Sache bereits erledigt. Er wandte sich ab und ging zurück in sein Zelt. »Khan Ormond hat recht«, wandte sich Cord erneut an Dracor. »Du wirst sterben, Dracor. Keiner greift den Herrscher an, ohne dafür bestraft zu werden...« »Was ist nur aus dir geworden, Cord?«, wollte Dracor nun von ihm wissen. »Ich erkenne dich nicht mehr wieder. Du musst tief ge sunken sein, dass du dich mit solchen Bastarden wie Khan Ormond einlässt.« »Überleg dir was du sagst!«, fuhr ihn Cord an und versetzte Dra cor mit dem Fuß einen schmerzhaften Tritt in die Rippen, der diesen aufstöhnen ließ. »Du bist ein Fremder in diesem Land, Dracor. Hier hat sich viel verändert in den letzten Jahren. Dinge, die du nicht verstehen kannst, weil du nicht da warst. Du hattest es ja vorgezogen, lieber den tapferen Krieger zu spielen - und das nur um unserem Vater zu impo 50
nieren. Nun schau mich nicht so erstaunt an - ich weiß längst, dass er dich mir immer vorgezogen hat. Aber das ist nun vorbei. Als die Pest ausbrach, war meine Verantwortung gefragt, dann Vater ist alt und grau geworden. Männern wie Khan Ormond haben wir es zu verdan ken, dass unser Volk überhaupt noch am Leben ist.« »Wenn einer wie du von unserem Volk redet, dann klingen diese Worte wie blanker Hohn«, erwiderte Dracor - auch wenn er wusste, dass er sich für diese Worte mit Sicherheit einen zweiten Tritt einhan delte. Was dann auch geschah. Aber er ignorierte den Schmerz und fuhr stattdessen rasch fort. »Du hast zusammen mit Khan Ormond unser Volk in den Untergang geführt, Cord. Ich habe die Pestlager oben in den Klippen gesehen!« Cord schüttelte verächtlich den Kopf und lachte leise, während er fortfuhr. »Mir war klar, dass du das nicht begriffen hast, Dracor. Du denkst genauso engstirnig wie unser Vater. Ich sehe das anders - und das muss man auch, wenn man die schwarze Geißel wirksam bekämpfen will. Dann muss man die Kranken absondern und von den Gesunden rechtzeitig isolieren, bevor sich die Seuche noch weiter ausbreitet. Nichts anderes haben wir getan - und ausgerechnet einer wie du will uns jetzt dafür verurteilen. Wo warst du denn, als die Krankheit aus brach, Dracor? Warst du zur Stelle, als insbesondere Vater dich brauchte? Er ist an dem Tod von Mutter zerbrochen und hat auch mir einen Teil der Schuld daran gegeben. Für ihn ging es immer nur um dich, Dracor. Du warst sein ganzer Stolz, der einmal das Reich erben würde - das sagte er immer wieder. Du kannst dir denken, wie mir zumute war - aber danach hat keiner gefragt. Aber nun hat sich alles gewendet - und ich sitze jetzt an den Hebeln der Macht. Ich habe ei nen starken Partner, auf den ich mich jederzeit verlassen kann. Wenn die Seuche erst ausgemerzt ist, dann werde ich dieses Reich neu im alten Glanz erstehen lassen, Dracor - aber das wirst du ganz sicher nicht mehr erleben!« »Unser Volk stirbt, Cord«, hielt ihm Dracor entgegen. »Es ist nichts mehr da, was du neu auferstehen lassen kannst - aber du bist ja so von deinem Wahn besessen, dass du die Wirklichkeit um dich 51
herum gar nicht mehr wahrnimmst. Sieh dich doch einmal in den Pest lagern um. Die Menschen sterben dort einen qualvollen Tod und die umliegenden Dörfer sind bereits verlassen. Über was willst du denn regieren, wenn die Pest vorbei ist? Über ein Heer von Geistern und Toten? Das würde zu dir passen. Wach auf, Cord - bevor es zu spät ist...« Dracor hatte Mühe, ein bitteres Lachen zu unterdrücken, als er Cord seine Gedanken klarzumachen versuchte. Auch wenn er ahnte, dass dieser überhaupt nicht hören wollte, was er ihm zu sagen hatte. »Du konntest immer nur große Reden halten, Bruder!«, stieß Cord nun wütend hervor und betonte insbesondere das letzte Wort sehr gehässig. »Unseren Vater hast du immer damit einwickeln können aber mich nicht. Das gelingt dir nicht mehr, Dracor, denn für dich gibt es in diesem Land keine Zukunft mehr. Der Tod wartet auf dich und ich werde es sein, der ihn vollstrecken lässt. Du hast dich in ein Spiel eingekauft, das zu groß für dich gewesen ist, Dracor. Jetzt zahlst du dafür...« Er trat zwei Schritte zurück und wandte sich dann an die Soldaten, die mit ausdruckslosen Mienen den hitzigen Wortwechsel verfolgt hat ten. »Los, bringt ihn weg - hinauf zu der Klippe dort oben!«, befahl er dann den Soldaten. »Beeilt euch!« In seinen Worten klang etwas an, was die Söldner zur Eile mahn te. Sie packten Dracor, rissen ihn hoch und schleiften ihn dann hinauf zu der besagten Klippe. Cord war dabei, als sie ihn dort mit festen Stricken an einen großen Felsen banden, so dass er kein einziges Glied mehr rühren konnte. Cord selbst überprüfte anschließend den richtigen Sitz der Fesseln noch einmal und nickte dann schließlich zufrieden. »Genieß die Aussicht über das Lager, Dracor«, grinste er dann. »Dies ist der Ort, an dem du sterben wirst. Ich lasse dich hier verhun gern und verdursten. Jeden Tag werde ich kommen und zusehen, wie du immer schwächer wirst. Das ist meine Rache dafür, wie du mich immer behandelt hast. Irgendwann gibt es immer Gerechtigkeit...« Er wollte noch mehr sagen, aber in diesem Moment waren Huf schläge zu hören. 52
Dracor blickte mühsam in die Richtung, aus der die Hufschläge zu hören waren - soweit das seine Fesseln überhaupt zuließen. Und dann erkannte er genauso wie Cord fast im selben Moment den Reiter - es war ihr Vater! * Er trug die Rüstung, mit der er vor Jahren immer in den Kampf gezo gen war und an seiner Seite hing ein prächtiger Bihänder, den er wie kein anderer zu führen wusste. Aber das war vor langer Zeit gewesen und sein starker Arm hatte jetzt an Kraft verloren. Doch seine Augen funkelten wieder in dem selben Feuer wie zu dem Zeitpunkt, als er noch über dieses Land geherrscht hatte. Almor hatte sich noch einmal aufgerafft, um in die Geschehnisse einzugreifen, weil er nicht länger zusehen konnte, was hier stattfand. Vielleicht hatte er auch eine dumpfe Ahnung von dem gehabt, in welche Gefahr sein ältester Sohn geriet - und jetzt wollte er diese von ihm abwenden. Khan Ormonds Soldaten, die Cord begleitet hatten, wollten schon auf Almor eindringen, aber eine knappe Geste Cords hielt sie davon ab. Stattdessen war er es, der nun das Wort an seinen Vater richtete. »Was willst du hier? Reite zurück zur Burg. Du hast hier nichts verloren!« Almors Augen richteten sich auf seinen jüngsten Sohn und große Bitterkeit war darin zu erkennen. »Du bist verblendet, Cord«, sagte er dann zu ihm. »Verblendet vor Hass auf deinen Bruder. Bist du wahnsinnig geworden? Binde Dra cor sofort los, oder...« »Oder was?«, fiel ihm Cord mit höhnischer Stimme ins Wort. »Willst du mich vielleicht daran hindern, alter Mann?« Er lachte kopf schüttelnd. »Versuch es nur und es wäre dein Tod. Ich lasse mich von niemanden mehr zurechtweisen - ganz bestimmt nicht von dir. Reite zurück in deine Burg und kümmere dich um deine alten Schriftrollen. Alles andere hat dich ja sowieso nicht mehr interessiert, seit Mutter tot ist. Worauf wartest du noch? Oder hast du mich nicht verstanden?« 53
Dracor sah, wie sein Vater bei den Worten des jüngsten Sohnes sichtlich zusammenzuckte. Es schmerzte ihn, diese Beleidigungen zu hören. Seine Blicke richteten sich auf den an den Felsen gefesselten Dracor, als er wieder das Wort ergriff. »Verzeih mir, dass ich nicht mehr verhindern konnte, was gesche hen ist, Dracor. Ich hatte nicht gedacht, dass Cord so voller Hass ist. Aber Brüder sollten sich untereinander nicht bekriegen. Derjenige, der seinen Bruder tötet, wird auf immer ein Ausgestoßener der Götter sein...« Mit diesen Worten griff er nach dem schweren Bihänder und reck te ihn mit einer Kraft empor, die sein Alter Lügen strafte. »Geht beiseite!«, warnte er die Soldaten. »Ihr bezahlt es sonst mit eurem Leben, ihr elenden Hunde!« Einige der Söldner, die ihre Waffen schon herausgezogen hatten, blickten nun hinüber zu Cord - als wenn sie von ihm nun einen eindeu tigen Befehl erwarteten. »Lass es lieber sein, Vater!«, warnte ihn Cord mit einem drohen den Unterton in der Stimme. »Du wirst nichts daran ändern, was be reits beschlossen worden ist. Khan Ormond hat Dracor zum Tode ver urteilt und ich bin sein Henker!« Als Almor das hörte, weiteten sich seine Augen vor Entsetzen. Dieser Moment des unfassbaren Schreckens hielt aber nur für einen Atemzug an. Dann trieb er sein Pferd an und ritt direkt auf den Felsen zu. »Nein!«, schrie Cord, als er sah, dass sein Vater bereits im Begriff war, mit dem Schwert auszuholen und Dracor von seinen Fesseln zu befreien, die ihn am Felsen jetzt noch gefangen hielten. Aber als er dann sah, dass sein Ruf Almor nicht stoppte, handelte er instinktiv. Er riss sein Schwert ebenfalls heraus und drang damit von hinten auf seinen Vater ein. Dracor sah mit ungläubigen Blicken, was Cord nun plante und er wollte seinen Vater noch warnen - aber dazu war es bereits zu spät. Cords Klinge bohrte sich mit einem hässlichen Laut in den Rücken seines Vaters und stoppte ihn jäh. Cord riss die bluttriefende Klinge heraus und sah dann mit fun kelnden Augen, wie Almor sich ganz langsam im Sattel zu seinem 54
jüngsten Sohn herumdrehte und ihn mit einem Blick ansah, den Cord und auch Dracor nie wieder vergessen würden. Schmerz und Enttäu schung standen in den Augen des alten Mannes geschrieben - und das Wissen, dass nun seine letzte Stunde geschlagen hatte. »Du Narr!«, kam es mit brechender Stimme über seine Lippen. »Verflucht... sollst du sein, Cord. Du... Mörder!« Dann fiel Almor wie eine leblose Puppe vom Pferd, während sich der dunkle Fleck auf seinem Rücken - genau dort, wo die Rüstung ei nen Spalt freiließ - immer vergrößerte. Leere Augen starrten in den morgendlichen Himmel. Almor sah die Sonne seines Reiches nicht mehr... »Du hast es nicht anders gewollt«, murmelte Cord, immer noch ganz aufgewühlt über das, was gerade geschehen war. Auch den um stehenden Söldnern erging es nicht anders, denn sie waren Zeuge einer verabscheuungswürdigen Tat geworden - der Sohn hatte seinen eigenen Vater getötet. »Was starrt ihr mich so an?«, schrie Cord dann die Söldner an. »Worauf wartet ihr nun noch? Los, bringt ihn weg von hier! Ich kann seinen Anblick nicht länger ertragen. Beeilt euch, sonst mache ich euch Beine!« Die Soldaten beeilten sich, Cords Befehle auszuführen, denn in seinen Augen leuchtete ein unseliges Feuer. Der an den Felsen gefesselte Dracor war im ersten Moment noch unfähig, etwas zu sagen. Weil der Schock und der Schmerz über den feigen Mord an seinem Vater noch zu tief in ihm saßen. Aber dann spürte er einen unbeschreiblichen Zorn tief in seinem Inneren, der mit jedem verstreichenden Atemzug immer stärker wurde. »Töte mich, Cord!«, schrie er und zerrte wie ein Verrückter an seinen Fesseln. »Töte mich jetzt gleich - oder du wirst es eines Tages bereuen, du Mörder!« Für diese Worte handelte er sich einen Faustschlag Cords ein, der seine Lippen aufplatzen und Blut hervortreten ließ. Cord nahm dann sein Schwert hoch, das noch vom Blut seines toten Vaters glänzte und richtete es gegen Dracors Kehle. Aber dann schüttelte er nur stumm den Kopf und nahm die Klinge wieder herunter. 55
»Oh nein«, sagte er. »Das wäre ein zu gnadenvoller Tod für dich, Dracor. Du sollst spüren, was es bedeutet, langsam und qualvoll zu sterben - und das wirst du. Ganz sicher, Bruder!« »Ich werde dich töten, Cord!«, rief Dracor und ignorierte die Dro hung seines Bruders. »Irgendwann werde ich dich dafür bestrafen, was du heute getan hast. Das Blut unseres Vaters klebt an dir - und es wird dich irgendwann in den Untergang ziehen!« »Große Worte eines Mannes, der selbst bald tot ist!«, höhnte Cord lachend. »Und falls du es noch hören möchtest - ich bereue nichts, was jetzt geschehen ist. Der Alte hätte in seiner Burg bleiben sollen...« »Du hast ihn feige von hinten ermordet, Cord!«, sagte Dracor mit einer Stimme, die von wutgeladenen Emotionen nur so zitterte. »Und dafür büßt du - das schwöre ich dir!« »Dein Schwur wird dir nichts bringen«, sagte Cord abwinkend. »Warte ab, was in drei Tagen sein wird - dann bist du vor Hunger und Durst so schwach, dass du mich noch anflehen wirst, dich zu töten. Aber ich werde es nicht tun, Dracor!« Mit diesen Worten wandte er sich einfach ab und ging hinunter zum Lager. * Orcon Dracs Gedanken brachen ab, als sich die weite Ebene zuse hends veränderte. Das zuerst flache Land wurde jetzt immer hügeliger und ganz weit am fernen Horizont zeichneten sich auch schon bereits die ersten Ketten der lang gezogenen Berge von Arnish ab. Aber bis dahin war es noch ein gutes Stück Weg. Die klare Luft der Ebene spie gelte Nähe vor, aber Orcon Drac wusste, dass er und das Heer noch einige lange Stunden anstrengenden Rittes vor sich hatten. Aber was bedeuteten diese Strapazen schon angesichts der Belohnung, die auf ihn dort wartete. Wenn er und seine dunklen Kreaturen die Bergher zogtümer von Arnish erst dem Erdboden gleichgemacht hatten, dann stand ihnen der Weg weit offen in die anderen menschlichen Ansied lungen. 56
Was für eine Genugtuung war es, diesen Hass so intensiv zu spü ren! Kein Vergleich zu den Gefühlen und Empfindungen, die er erlebt hatte, als er noch nicht den Göttern der Finsternis begegnet war. Oder hatte er vielleicht damals schon einen Teil von dem geahnt, was er jetzt wusste? Die Herrscher der Finsternis hatten ihm gesagt, dass er auserwählt sei, um an ihrer Seite zu kämpfen, denn nur ein starker Krieger wie er konnte sich dieser Mächte als würdig erweisen. Vielleicht waren die Tage, an denen er hilflos und schwach an die Klippenfelsen gefesselt war, der Beginn eines neuen Lebens für ihn gewesen - für den Mann, der einmal den Namen Dracor getragen hat te und der damals dem Tod näher als dem Leben gewesen war. *
Vergangenheit 3 Er spürte die bleierne Müdigkeit, die von seinem Körper Besitz ergrif fen hatte. In seinem Magen tobte der Hunger und er hätte beinahe laut geschrieen, damit sie ihm etwas zu essen brachten. Doch dann zwang er sich immer wieder dazu, ruhig zu bleiben - obwohl ihm das immer schwerer fiel. Denn diesen Triumph wollte er dem verräteri schen Hund einfach nicht gönnen. Drei Tage waren schon vergangen, seit ihn sein jüngerer Bruder hier oben seinem Schicksal überlassen hatte. Und bei Anbruch eines jeden neuen Tages und bei Sonnenuntergang hatte es Cord sich nicht nehmen lassen, hier heraufzukommen und den weiteren Verfall seines Bruders mit anzusehen. Dracor war vollkommen erschöpft, sein Ge sicht war hohlwangig geworden und seine Zunge klebte wie ein pelzi ger Klotz in seinem Mund. Die Kehle war so ausgedörrt, dass allein der Gedanke nach Wasser ihn fast in den Wahnsinn getrieben hätte. Aber Cord ließ es nicht zu, dass er Wasser bekam - er verhöhnte ihn nur und prophezeite ihm, dass er bald um Gnade winseln würde. Am liebs ten hätte ihn Dracor dafür angespuckt, aber er hatte nicht mehr genü gend Speichel im Mund, um sich diesen Wunsch zu erfüllen. 57
Cord verhöhnte ihn immer aufs Neue und genoss es, wie sehr sich sein Bruder quälen musste. Aber den Triumph würde ihm Dracor nie mals gönnen, dass er in Cords Gegenwart um Gnade flehte. Mittlerweile war er so entkräftet, dass er gar nicht mehr mitbe kommen hatte, dass Cord schon längst wieder gegangen war. Sein Geist driftete immer mehr ab in einen Bereich, den der menschliche Verstand nur schwerlich erfassen konnte. »Ihr Götter«, murmelte Dracor immer wieder leise vor sich hin. »Wenn es Gerechtigkeit gibt, dann zeigt sie jetzt. Dieser Mörder Cord muss seine Strafe erhalten!« Aber so oft er das auch murmelte und immer wieder dachte - es geschah überhaupt nichts. Entweder hörten sie ihn nicht, oder die Göt ter hatten sich schon so lange von den Menschen zurückgezogen, dass sie solche Gebete gar nicht mehr erhörten. Wut und Ohnmacht erfassten ihn in diesen Stunden der Einsam keit. Weil er sich so vollkommen hilflos vorkam und nichts tun konnte, um diesen Zustand noch zu ändern. »Ihr hochnäsigen Götter!«, brüllte er dann in die untergehende Sonne hinauf. »Ihr wollt mich nicht hören - also gut. Vielleicht gibt es ja noch andere Götter - solche, die nicht auf der Seite des Lichts ste hen. Ihr dunklen Geschöpfe, hört ihr mich?«, schrie er seinen Zorn dann in die einsetzende Dunkelheit hinaus. »Ich gelobe euch ewige Treue und Gehorsam, wenn ihr mir helft!« »Willst du das wirklich, Dracor?«, hörte er auf einmal eine ki chernde Stimme in seiner unmittelbaren Nähe. »Willst du dich wirklich Mächten aussetzen, die dein normaler Verstand niemals erfassen kann?« Zuerst glaubte er, dass sein Geist ihm einen Streich vorspielte. Denn als er den Kopf hob und hinüber zu den Klippen sah, erkannte er den alten karren der Kräuterfrau. Die dürre Marca selbst stand nur wenige Schritte neben ihrem Karren, während der aufkommende Wind ihr Haar zerzauste. Dracor wusste gar nicht, wie lange sie schon hier verweilte und ihn beobachtete. »Was willst du, Marca?«, fragte er. »Willst du dich auch an meiner Hilflosigkeit weiden?« 58
Die dürre, in Lumpen gekleidete Frau erwiderte zuerst gar nichts darauf, sondern richtete ihre prüfenden Blicke auf Dracor. Einige Se kunden vergingen, bis sie schließlich antwortete. »Du wirst sterben, wenn nicht etwas zu deiner Rettung ge schieht«, murmelte sie so leise, dass er selbst Mühe hatte, ihre Worte zu verstehen. »Du hast nach den dunklen Göttern in deiner Verzweif lung gerufen - bittest du nun wirklich um ihren Beistand? Wärst du bereit, alles dafür zu tun, wenn du diese Hilfe bekommst?« »Alles - aber auch wirklich alles!«, stieß Dracor heftig hervor. »Ich will nur noch eins - den Tod dieses Hundes Cord. Und wenn es in mei ner Macht stünde, dann würde ich Khan Ormond mitsamt seinem Heer vernichten!« »Es sind eigenartige Worte für einen Mann, der einst für die Ge rechtigkeit kämpfte«, kicherte Marca. »Aber vielleicht kann ich dir ja helfen. Ich weiß um Dinge, die die meisten Menschen schon vergessen haben, weil sie den Glauben daran verloren haben. Aber der Glaube an die dunklen Mächte kann für dich den Sieg bedeuten. Versprichst du mir, sie mit deinem Blut anzurufen, wenn ich dich jetzt los schneide?« »Ich gelobe es!«, rief Dracor ohne zu zögern und konnte es kaum abwarten, bis sich die alte Frau ihm näherte und dann mit einem Mes ser solange die festen Stricke bearbeitete, bis sie sich zu lösen began nen. Augenblicke später war Dracor frei, aber er war so entkräftet, dass er kaum stehen konnte. »Nun erfülle dein Versprechen!«, verlangte Marca mit ungeduldi ger Stimme von ihm und warf ihm das Messer zu, mit dem sie ihn e ben noch los geschnitten hatte. »Wenn du es ehrlich meinst, dann tu es. Gib den dunklen Göttern dein Blut - und sie werden dich erhö ren...« Sie verlangte von Dracor, dass er sich an beiden Unterarmen Wunden zufügte und das Blut dann in einem Kreis auf den Boden trop fen ließ. Dazu sollte er sich dann siebenmal zum Horizont hin vernei gen, während die alte Frau einen Gesang in einer Sprache anstimmte, die Dracor nie zuvor gehört hatte. Unter anderen Umständen hätte Dracor sich ganz sicher sehr dar über gewundert, woher die alte Kräuterfrau dieses Wissen um Dinge hatte, von denen er niemals zuvor gehört hatte. Aber er war viel zu 59
aufgewühlt über die feige Ermordung seines Vaters und dass er dies hatte mit ansehen müssen, ohne selbst etwas dagegen tun zu können. Also tat er, was Marca von ihm verlangte und griff nach dem Dolch. Ein kurzer Schnitt an den Unterarmen, dann trat das Blut auch schon hervor und tropfte zu Boden. Dracor formte einen Kreis und verneigte sich dann in stiller Erwartung siebenmal zum Horizont hin. Marcas monotonen Gesang vernahm er nur ganz von ferne, denn sei ne Gedanken waren ganz auf die Dinge konzentriert, von denen die alte Frau ihm prophezeit hatte, dass er jetzt Hilfe bekommen würde. Das Ganze war irgendwie sehr unwirklich. Auch wenn in regelmä ßigen Abständen Söldner aus Khan Ormonds Heer hier oben vorbei kamen, um nach dem Rechten zu sehen, so blieben sie jetzt merkwür digerweise fern von diesem Ort. Als wenn sie eine unsichtbare Macht daran hinderte, ihre Pflicht zu tun. Und das war auch merkwürdiger weise der Moment gewesen, wo die alte Kräuterfrau auf einmal er schienen war. Hatte sie womöglich das zweite Gesicht? Ahnte sie, dass Dracor jetzt Hilfe brauchte? Noch während sich Dracor stumm verneigte, ballten sich am fer nen Horizont ganz plötzlich dunkle Wolken zusammen, die dann in Richtung der Klippen zogen. Augenblicke später war bereits dumpfes Donnergrollen zu hören, dem wenig später die ersten Blitze folgten. Dann öffnete der wolkenverhangene Himmel seine Schleusen und es fing an zu regnen. Zuerst nur wenige dicke Tropfen, aber dann goss es wie es Kübeln. Dracor war im Nu durchnässt, aber er empfand diesen Wolkenbruch nicht als unangenehm, sondern spürte stattdessen, wie ihn neue Kräfte zu beleben begannen. Als er dann den Kopf hob, erkannte er hoch in den Wolken die Umrisse einer ganz in schwarz gehüllten Gestalt mit einem mächtigen Helm, der das Gesicht völlig verbarg. Eine Stimme drang in seinen Geist ein, die ihn im ersten Moment vor Schreck lähmte. DU HAST DIE MÄCHTE DER FINSTERNIS GERUFEN, STERBLI CHER. WAS WILLST DU VON UNS? FÜRCHTEST DU DICH DENN GAR NICHT VOR UNSEREM ZORN? 60
»Nein«, erwiderte Dracor rasch, weil er ganz genau wusste, dass er jetzt keine Angst zeigen durfte. »Ich will Rache und die Götter ver weigern sie mir...« DU BIST FEST ENTSCHLOSSEN UND VOLLER HASS, fuhr die furcht einflößende Stimme jetzt wieder fort. HASS IST ES, DER DICH VORANTREIBT UND DAS ERFÜLLT UNS MIT GENUGTUUNG. DU WILLST UNSERE HILFE? DU SOLLST SIE HABEN. ABER BIST DU AUCH BEREIT, DAFÜR DEINEN PREIS ZU ENTRICHTEN? »Mein eigenes Leben bedeutet mir nichts«, sagte Dracor. »Ich tue alles für die Rache!« GUT - DANN SOLL GESCHEHEN, WAS DU VON UNS ERBETEN HAST, STERBLICHER. SCHLIESSE DIE AUGEN UND VERTRAUE DICH UNSERER FÜHRUNG AN. DU WIRST NUN EINEN EINBLICK IN DIMEN SIONEN BEKOMMEN, DIE NIE ZUVOR EIN WESEN DEINER ART GESE HEN HAT! Dracor befolgte sofort den Befehl der Stimme und öffnete seinen Geist. Noch im selben Moment wurde sein Körper plötzlich von einer unsichtbaren Faust gepackt und weggerissen. Er öffnete kurz die Au gen und sah, dass die Klippenküste unter ihm in einem dunklen Nebel verschwunden war, so dass er gar nicht mehr sehen konnte, was oben und was unten war. Nach einer halben Ewigkeit - so erschien es ihm jedenfalls - lichtete sich der Nebel wieder und Dracor blickte in die rötlichen Flammen eines gewaltigen Feuers wie er es nie zuvor gese hen hatte. Ein Feuer, das so groß war, dass es sein gesamtes Blickfeld umfasste - und sogar noch darüber hinaus. In den flackernden Flam men erkannte Dracor wieder dieselbe schwarz verhüllte Gestalt von vorhin und erneut hörte er die Stimme. DU WEILST JETZT IN DEN DIMENSIONEN DER FINSTERNIS, STERBLICHER. ICH BIN AZACH - VERNEIGE DEIN HAUPT IN DEMUT VOR MIR UND MEINEN BRÜDERN MODOR UND R'LYEH! Sofort befolgte Dracor diesen Befehl, während eine unbeschreibli che Furcht seinen Körper zu schütteln begann. DIESER MENSCH ERWEIST UNS DEMUT UND GEHORSAM, erklang nun eine zweite, nicht minder furcht einflößende Stimme im Nebel 61
hinter Dracor. UND DAS IST GUT SO. BRÜDER - IST DAS DER DUNKLE KRIEGER, WIE WIR IHN UNS SCHON LANGE WÜNSCHEN? ER IST VOLLER HASS, erklang nun eine dritte Stimme, deren Ur sprung Dracor nicht ausmachen konnte. BRÜDER, GEBT IHM WONACH ER VERLANGT. WEIHEN WIR IHN EIN IN DIE DUNKLEN MYSTERIEN UND ER WIRD ES UNS EWIG DANKEN... »Ich verspreche Euch ewige Treue und Gehorsam, mächtige Göt ter der Finsternis«, gelobte Dracor jetzt. »Gebt mir meine Rache und ich werde nur noch für Euch kämpfen!« Für einen Augenblick herrschte Stille im Nebel und jenseits des riesigen Feuers, aber dann erhielt Dracor seine Antwort - und sie stell te ihn mehr als nur zufrieden. DU SOLLST DEINE RACHE HABEN, vernahm er dann. ABER SIE HAT EINEN PREIS, DEN DU ZAHLEN MUSST. DU WIRST ALLES AUF GEBEN, WAS DIR EINMAL VERTRAUT WAR. KOMM IN DIE REINIGEN DEN FLAMMEN DES FEUERS UND ERFAHRE DIE WAHRHEIT WERDE ZEUGE VON EREIGNISSEN, DIE LANGE ZURÜCKLIEGEN... Noch bevor die Worte endeten, fühlte sich Dracor erneut von der unsichtbaren Faust gepackt und wurde hochgerissen. Ein Strudel trieb ihn direkt auf das große Feuer zu und er spürte die furchtbare Hitze, die von den lodernden Flammen ausging. Dann tauchte er ein in die Flammenhölle - und er schrie so laut wie niemals zuvor, als sich sein Geist gewaltsam öffnete und einen Einblick in fremde Dimensionen nahm. Sein Körper wurde zum Spiel ball der Flammen, aber sie verbrannten ihn nicht. Dracor sah unglaub liche Dinge - vom Entstehen der Welt der Sterblichen und Ereignisse aus anderen Dimensionen, von deren Existenz er vorher gar nichts gewusst hatte. Der Glaube an die bisherige Welt wurde in den lodernden Flammen vernichtet - genauso wie all das, was ihn bisher geleitet hatte. Es schien auf einmal gar nicht mehr von Bedeutung zu sein! Er war Teil einer immer schneller werdenden Spirale, die ihn im mer weiter noch oben schleuderte, während zu beiden Seiten Bilder kamen und gingen. Manche konnte er deutlich wahrnehmen, von an deren wiederum hatte er nur eine kurze Wahrnehmung, die ziemlich undeutlich war. 62
Der Mensch Dracor starb und wurde wiedergeboren. Geblieben war sein Körper, der jetzt in einer dunkel schimmernden Rüstung steckte. Aber seine Seele hatte sich verändert, war erkaltet und in den lodernden Flammen des riesigen Feuers neu geformt worden. DEIN NAME IST JETZT ORCON DRAC, hörte er die Stimme wieder. Aber eigenartigerweise kam sie ihm jetzt seltsam vertraut vor. Als hät te er nur lange geschlafen und wäre jetzt aus einem Traum erwacht, der unbeschreiblich lange angehalten hatte. Zuerst blickte er verwirrt um sich und versuchte sich zu erinnern. Gedankenfetzen erfassten ihn, aber sie schienen einem anderen Wesen zu gehören - jedoch nicht ihm, dem Ritter der Finsternis. DU BEGINNST ZU VERSTEHEN, ORCON DRAC, meldete sich die Stimme wieder, die tief in seinen Geist eindrang. ALLES WAS VORHER WAR, GEHÖRT NUN ENDGÜLTIG DER VERGANGENHEIT AN. DU BIST NUN EIN TEIL VON UNS UND WIR SIND EIN TEIL VON DIR. DU HAST JETZT EINEN PAKT MIT UNS - DENN DU BIST NUN UNSER PALADIN IN DER WELT DER STERBLICHEN. DEINE AUFGABE IST ES, UNS DEN WEG ZUR HERRSCHAFT ZU EBNEN. DIE WELT DER STERBLICHEN SOLL EIN TEIL UNSERES REICHES WERDEN - DU HAST VERSTANDEN, WAS WIR VON DIR WOLLEN? »Ich habe verstanden«, antwortete Orcon Drac und verneigte sich in stiller Demut vor den finsteren Mächten, in deren Welt er hatte schauen dürfen. »Ich werde Euch ein treuer Diener sein - auf immer und ewig!« EIN PALADIN BRAUCHT EINE VERLÄSSLICHE WAFFE, ORCON DRAC, hörte er dann. SIEH HER - DIESES SCHWERT IST VON NUN AN DEIN. ES IST EINE KLINGE, DIE IN DIESEN FLAMMEN GESCHMIEDET WURDE. MIT DIESER WAFFE WIRST DU JEDEM ANDEREN STERB LICHEN ÜBERLEGEN SEIN - AUCH DIE GÖTTER DES LICHTS WERDEN DICH ZU FÜRCHTEN WISSEN! NIMM DIESES SCHWERT JETZT AN DICH, ORCON DRAC UND SETZE ES IN UNSEREM SINNE EIN. Orcon Dracs Hände umschlossen den Knauf eines prachtvoll ge schmiedeten Schwertes. Er spürte die Hitze, die tief in der Klinge steckte und wurde jetzt erneut erfüllt von dem Wunsch, diese Klinge so rasch wie möglich einzusetzen. 63
»Ich spüre, dass das Schwert nach Blut verlangt«, murmelte er. »Blut von Menschen...« DIESES SCHWERT IST EIN TEIL DEINER RACHE, ORCON DRAC, fuhr die finstere Stimme fort. VERNICHTE DAMIT DIE, DENEN DU VERGELTUNG GESCHWOREN HAST. UND WENN DU DARÜBER HIN AUS NOCH HILFE BRAUCHST, SO WIRST DU JEDERZEIT DARÜBER VERFÜGEN KÖNNEN. ÖFFNE DEINEN GEIST FÜR DAS WISSEN, WAS DU NUN ERHALTEN WIRST! Orcon Drac befolgte den Befehl der dunklen Götter ohne Zögern. Das Wissen, das nun von allen Seiten auf ihn eindrang, war gewaltig und ließ ihn wanken. Aber er fasste sich wieder und sog alles wie ein Schwamm in sich auf, den es seit Äonen nach Wasser dürstete. Wie lange dieser Vorgang dauerte, wusste er nicht. Aber als es vorbei war, hatte er verstanden - und zwar alles! DU KEHRST JETZT ALS WISSENDER IN DIE WELT DER STERBLI CHEN ZURÜCK NUTZE DIESES WISSEN, ORCON DRAC UND SETZE ES BEDINGUNGSLOS EIN, WENN DU KÄMPFEN WILLST - FÜR DIE GÖT TER DER FINSTERNIS. UND NUN GEH JETZT UND ERWEISE DICH ALS TREUER VASALL! Noch bevor Orcon Drac darauf etwas erwidern konnte, erfasste ihn erneut der dunkle Nebel und hüllte ihn ein. Er geriet in einen kaum zu beschreibenden Strudel, an dessen Ende dann wieder die Klippen auftauchten. Und als er wieder auf sicherem Boden stand, war der Nebel bereits verschwunden - und mit ihm auch Marca, die alte Kräu terfrau. Orcon Drac war jetzt allein hier oben auf den Klippen. Aber dieser Gedanke kam ihm nur für einen kurzen Moment - denn jetzt wusste er, dass er niemals mehr allein sein würde. Und er wusste ge nau, was er nun zu tun hatte! * Er sah das große Lager der Eroberer unterhalb der Klippen. Die Schiffe lagen in der windgeschützten Bucht noch ruhig vor Anker, aber diese Ruhe würde nicht mehr lange anhalten. Orcon Drac hob beide Arme gen Himmel, schloss die Augen und murmelte Worte in einer fremden 64
Sprache, von deren Existenz er Stunden zuvor noch nichts geahnt hat te. Aber die Zeit zwischen seinem Leben als Dracor und jetzt als Orcon Drac erschien ihm unendlich lange. Es war, als wäre er aus einem tie fen Schlaf erwacht und käme jetzt erst zu neuen Kräften. Und diese Kräfte würden entsetzliche Dinge anrichten, wenn er sie gegen Khan Ormond, dessen Männer und erst recht gegen Cord einsetzte. Er sah Cord nicht mehr als seinen Bruder an, sondern als verräte rischen Sterblichen, der es gewagt hatte, den Ritter der Finsternis ver nichten zu wollen. Allein dafür hatte Cord den Tod verdient - und es lag ganz in Orcon Dracs Ermessen, wie dieser Tod sein würde. Erneut ballten sich dunkle Wolken am fernen Horizont zusammen und wieder waren sie nicht natürlichen Ursprungs. Diesmal hatte sie Orcon Drac mit seinen dunklen Kräften herbeigerufen und er gebot auch dem Wind, der nun zusehends stärker wurde und weiße Schaumkronen auf den brechenden Wellen erscheinen ließ. Unten im Lager hatte man wohl auch schon bemerkt, dass der Wind jetzt stärker geworden war und sich immer mehr zu einem hand festen Sturm ausbreitete. Ein Sturm, der den gesamten Küstenstrich erfasste. Orcon Drac beschwor des Unwetter weiter herauf, während er sah, wie sich im Lager der Eroberer eine kaum zu beschreibende Un ruhe breitmachte. Vor allen Dingen, als sich die festen Anker auf ein mal zu lösen begannen und die Schiffe nun ein Spielball der Wellen wurden. Drei von ihnen wurden von dem plötzlich einsetzenden Sog hinaus aufs offene Meer gezogen, bevor Khan Ormonds Männer irgend etwas dagegen unternehmen konnten. Dann gerieten sie in einen Strudel, der ebenfalls so plötzlich aufgetreten war wie dieser entsetzli che Sturm. Ein Schiff nach dem anderen wurde dann ein Opfer des Meeres und wurde hinab in die Tiefe gezogen, während die Wellen immer höher wurden und bereits jetzt schon die aufgeworfenen Sand wälle kräftig unterspülten, die das Lager schützen sollten. Orcon Drac lächelte, als er sah, wie sehr sich die Soldaten jetzt bemühten, das kommende Unheil aufzuhalten. Sie konnten sich noch so sehr anstrengen, aber das würde den Sturm nicht hindern, seine Zerstörung fortzusetzen. 65
Die Söldner bemühten sich verzweifelt, ihr Schicksal noch hinaus zuzögern. Aber so sehr sie gegen die Wellen und den Sturm fochten, es war alles vergeblich. Schließlich durchbrachen die Wellen des stür mischen Meeres die Sandwälle, spülten Zelte, Vorräte und sonstige Ausrüstungsgegenstände des feindlichen Heeres hinweg. Diejenigen von Khan Ormonds Männern, die sich nicht mehr in Sicherheit hatten bringen können, wurden nun ein Opfer des tödlichen Meeres. Sie wur den von den stürmischen Fluten gepackt und einfach mitgerissen. Selbst diejenigen, die zu den guten Schwimmern zählten und krampf haft versuchten, selbst in dieser ausweglosen Situation ums Überleben zu kämpfen, verloren diesen Kampf. Sie wurden von den Wellen ver schlungen, hinab gerissen in eine tödliche Tiefe, aus der es keine Wie derkehr mehr gab! Die anderen Überlebenden flohen in alle Himmelsrichtungen. Sie hörten nicht mehr auf Khan Ormonds Stimme, der die ganze Zeit ver sucht hatte, Ordnung in dieses Chaos zu schaffen. Aber der Anführer der Eroberer konnte das Ende seines Heeres nicht mehr aufhalten. Er hatte eine Schlacht verloren, bei der von Anfang an feststand, wie sie ausgehen würde, denn gegen die Kräfte der Finsternis war selbst ein bisher erfolgreicher Feldherr wie Khan Ormond nicht gefeit... Orcon Drac lächelte grausam, als er kurz zuvor den einzelnen Rei ter sah, der sich auf sein Pferd geschwungen hatte und hastig aus dem Lager ritt, bevor die Wellen ihren Höhepunkt erreicht hatten. Der Ritter der Finsternis erkannte Cord, der jetzt sein Heil in der Flucht suchte. »Reite nur, Cord«, murmelte Orcon Drac mit leiser Stimme. »Es gibt keinen Ort mehr auf dieser Welt, wo du vor mir sicher bist. Ich finde dich, sobald ich Khan Ormond getötet habe. Und dann wirst auch du sterben...« Er wusste, was er sagte, denn mit seinen neu erlangten geistigen Kräften würde er jederzeit und ganz leicht Cords Spur wieder finden können. Natürlich wusste das Cord nicht und um so erschrockener würde er sein, wenn Orcon Drac ihm erst gegenüberstehen würde. Denn diesmal hatte es Cord nicht mit Dracor zu tun - Dracor war längst tot. Aber Orcon Drac lebte und der kannte keine Gnade. 66
Orcon Dracs Gedanken brachen ab, als er Hufschläge hörte. Sofort drehte er sich um und sah dann zwei Söldner, die ihre Pferde wie Be sessene antrieben und Zuflucht in den höher gelegenen Klippen vor den tosenden Wellen suchten. Der Ritter der Finsternis zog sein Flammenschwert aus der Schei de und stellte sich den beiden Flüchtenden in den Weg. Das geschah so plötzlich und unerwartet für die Söldner, dass sie glauben mussten, ein Geist sei ihnen erschienen. Aber das, was sie jetzt an ihrer Flucht hinderte, war noch schlimmer als ein Geist - denn es war der Ritter der Finsternis, der Paladin der dunklen Mächte. Der vordere der Reiter sah jetzt die Gestalt in der dunklen Rüs tung und spürte die unheimliche Aura, die von ihr ausging. Er rief sei nem Gefährten eine Warnung zu und zog dann sofort sein Schwert, ritt direkt auf den dunklen Ritter zu. Aber Orcon Drac schlug ihn mit einem einzigen Hieb aus dem Sattel und wendete sich dann gleich dem zwei ten Söldner zu, der mit kreidebleichem Gesicht gesehen hatte, was gerade mit seinem Gefährten geschehen war. Auch ihn ereilte der Tod Sekunden später. Die dämonische Klinge durchbohrte ihn und stieß ihn vom Pferd. Orcon Drac gönnte den bei den Toten keine Aufmerksamkeit mehr. Stattdessen griff er sich eines der Pferde, hielt es am Zügel fest und schwang sich dann auf den Rü cken des Tieres. Inzwischen hatte der tosende Sturm an Heftigkeit verloren und auch die brechenden Wellen zogen sich allmählich wieder zurück. Sie hinterließen ein unbeschreibliches Bild der Zerstörung. Und dieser Ort war das Ziel des dunklen Ritters... * Er sah den einsamen Mann inmitten der Trümmer seines Lagers ste hen. In der Rechten hielt er ein Schwert, aber er hatte den Kopf ge senkt und verhielt sich ganz still. Wie ein Mensch, der sich selbst auf gegeben hatte. Der einstige Eroberer und spätere Herrscher des Küs tenlandes stellte ein trauriges Bild seiner Macht dar. Der größte Teil seiner Leute war von den Flutwellen getötet worden, andere wiederum 67
hatten ihr Heil in der Flucht gesucht und würden sicherlich nicht mehr zurückkehren an diesen Ort des Todes. Orcon Drac zügelte nun den Galopp seines Pferdes und ließ das Tier in einen langsamen Schritt verfallen. Auch er hatte sein Schwert griffbereit, blickte hinüber zu Khan Ormond, der jetzt den Kopf hob und den einsamen Reiter sah. Zuerst war es nur ein müder Blick, aber dann wurde daraus ein sichtliches Zusammenzucken angesichts der dunklen, bedrohlichen Rüstung Orcon Dracs. Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück und erhob dann seine Stimme. »Wer bist du?«, kam es mit zitternden Worten über seine Lippen. »Was willst du von mir?«, fragte er dann, als er sah, dass der dunkle Ritter mit der Schwertklinge auf ihn zielte. »Ich kenne dich nicht wende lieber dein Pferd und reite weg von hier. Es gibt nichts mehr, für das es sich zu kämpfen lohnt!« Seine Worte klangen müde und verbraucht. Mit der Vernichtung seines Heeres war auch der Anführer innerlich zerbrochen. Er konnte es einfach nicht fassen, was geschehen war und glaubte sich immer noch in einem sehr schlimmen Alptraum gefangen, aus dem er trotz aller Bemühungen nicht aufwachte... »Ein Kampf lohnt sich immer«, ergriff nun Orcon Drac das Wort. »Vor allem, wenn es um dein kümmerliches Leben geht, Khan Or mond.« Er sah, wie sich die Augen des Hünen plötzlich weiteten. Furcht hatte ihn ergriffen, bestimmte jetzt sein weiteres Handeln. »Ich kenne dich nicht!«, stieß er hastig hervor und riss sein Schwert hoch. »Warum willst du mich töten?« »Weil du den Tod verdient hast, Khan Ormond!«, antwortete Or con Drac mit kalter Stimme. »Du hast Tod und Verderben in dieses Land gebracht und auf nichts Rücksicht genommen. Jetzt schlägt die Stunde der Abrechnung. Wehr dich - dann macht es mehr Spaß, bevor du stirbst!« Es waren grausame Worte, deren Sinn Khan Ormond sofort begrif fen hatte. Genauso wie er spürte, dass er gegen diesen Mann in der dunklen Rüstung keine Chance hatte. Trotzdem wuchs Khan Ormond 68
in diesen Sekunden über sich selbst hinaus. Ein wilder Schrei entrang sich seiner Kehle, als er mit emporgerecktem Schwert auf den Reiter losstürmte und ihn mit einem sicher gezielten Hieb zu töten versuchte. Natürlich hatte Orcon Drac die Absicht des Gegners längst erahnt und den Hieb demzufolge kommen sehen. Er wich aus und schlug dann selbst zu. Er verwundete Khan Ormond an der Seite und der einstige Eroberer geriet nun ins Taumeln. Trotzdem warf er sich herum und startete einen zweiten Angriff, aus dem aber ebenfalls nichts wur de. Erneut verletzte ihn Orcon Drac, diesmal in der Brust. Khan Ormond schrie vor Schmerzen laut auf, stolperte und fiel schließlich zu Boden. Dabei entglitt ihm sein Schwert. Er wollte sich rasch wieder erheben und danach greifen, jedoch war er so schwach, dass es ihm nicht mehr gelang, bevor der dunkle Ritter aus dem Sattel gestiegen war und mit der Waffe in der Hand auf ihn zuging. »Versuch es nur!«, forderte ihn Orcon Drac auf, weil er natürlich längst erkannt hatte, dass Khan Ormond noch einen letzten Versuch wagen wollte - und das trotz der Verletzungen, die ihm der dunkle Ritter zugefügt hatte. Khan Ormond besaß in den letzten Minuten seines Lebens einen gerade unbändigen Willen, diesen Kampf zu gewinnen. Aber es war vollkommen zwecklos, denn er focht gegen Kräfte jenseits aller vor stellbaren Horizonte. Und deshalb stand von Anfang an fest, wer hier der Sieger sein würde! Orcon Dracs Fuß stieß nach dem Schwert, bevor es sein Gegner zu fassen bekam. Durch den Tritt wurde die Klinge einige Schritte weggestoßen - somit jetzt unerreichbar für Khan Ormond. »Der Tod ist zu dir gekommen«, sagte Orcon Drac. »Sieh in sein Gesicht!« Bei diesen Worten öffnete er das Visier seines Helmes. Was Khan Ormond dann sah, war so unvorstellbar, dass sich seine Augen weite ten und ein krächzender Laut über seine Lippen kam. Abwehrend hob er beide Hände, als er die tödliche Klinge auf sich zukommen sah, aber er konnte nicht verhindern, was nun geschah. Mit einem einzigen scharfen Hieb trennte Orcon Drac das Haupt seines Gegners vom Rumpf und erstickte den Todesschrei abrupt. Blut 69
spritzte hoch empor, einer Fontäne gleich, während der Torso noch kurz zuckte, bevor er dann zurückfiel. Wilder Triumph erfasste Orcon Drac. Er hob die Klinge hoch gen Himmel empor und murmelte ein leises Dankesgebet - für die Götter der Finsternis, die ihm solch gewaltige Kräfte gegeben hatten. Noch während die letzten Worte dieses Gebetes über die Lippen des dunklen Ritters kamen, erklang am fernen Horizont ein dumpfes Donnergrollen und noch im selben Moment leuchtete ein gleißender Blitz am Himmel. Das war die Antwort der dunklen Götter und sie stellte Orcon Drac mehr als zufrieden. Denn damit zeigten sie ihm, dass sie sein Handeln absolut billigten. Orcon Drac ließ seine Flammenklinge wieder in der Scheide ver schwinden und stieg dann in den Sattel. Er ritt sofort weiter, denn den ersten Teil seiner Rache hatte er jetzt erfüllt. Nun würde Cord an die Reihe kommen. Doch zuvor wollte er noch etwas anderes erledigen etwas, was ihm ganz plötzlich in den Sinn gekommen war. Und dieser Gedanke nahm immer konkretere Formen an, je mehr er sich das ausmalte. Es würden Folgen sein, die den Göttern der Finsternis sehr gefallen würden - dessen war sich Orcon Drac ganz sicher... * Die Sonne hatte sich zwar mittlerweile ihren Weg durch die dichten Wolken gebahnt, aber Wärme konnte sie heute nicht vermitteln. Dazu war der Wind vom Salzmeer jetzt viel zu stark. Orcon Drac spürte je doch diese Kälte nicht, als er sein Pferd höher hinauf in die Klippen lenkte. Sein Ziel waren die Pestlager, die Khan Ormond dort hatte er richten lassen. Und als er sich diesem Ort näherte, stellte er fest, dass sich nur noch wenige Soldaten als Wachen dort aufhielten. Viele von ihnen waren wahrscheinlich ebenfalls Zeuge von dem geworden, was sich weiter unten am Küstenufer zugetragen hatte. Der geringere Teil der Männer harrte aber dennoch hier aus - wahrschein lich, weil sie hofften, dass Khan Ormond diesen Sturm überlebt hatte und ihnen bald neue Befehle zukamen ließ. 70
Orcon Drac lenkte sein Pferd auf eine Stelle zu, von aus er einen guten Überblick über das ganze Lager hatte und auch sehen konnte, wo sich die restlichen Wachen postiert hatten. Während erneut eine kräftige Brise aufkam, erschien er mit dem Pferd unmittelbar am Klip penrand. Er wob mit seinen Händen einen unsichtbaren Zauber - und der hatte zur Folge, dass der Wind nun den Hall seiner Stimme mit sich trug, so dass jeder der Menschen unten im Lager seine Worte verstehen konnte. Wächter und Gefangene! »Khan Ormond ist tot!«, erklang Orcon Dracs Stimme und er ge noss es, wie die Wachen bei den großen Holztoren erschraken, als sie den dunklen Ritter als unheimliche Silhouette oben auf den Klippen erkannten. Er erschien ihnen wie eine dämonische Gestalt, die nicht menschlichen Ursprungs war. »Sein Heer ist zerschlagen. Flieht von hier, oder ihr findet nur noch den Tod!« Um seine Worte noch zu untermalen, murmelte er kurz einige Sil ben. Ein kräftiger Donnerschlag war die Folge dieses Zaubers und das zeigte den Söldnern nochmals, dass dieser Gegner kein Mensch war. »Die Finsternis regiert im Küstenland!«, rief der dunkle Ritter. »Flieht, oder es ist zu spät für euch!« Die wenigen Wächter, die sich am Holztor und an einigen Stellen der Klippen postiert hatten, zögerten jetzt nicht mehr. Sie ließen alles stehen und liegen und eilten zu ihren Pferden. Sie stiegen hastig in die Sättel und ritten dann schnell davon, als sei eine ganze Horde schreck licher Dämonen hinter ihnen her. Und damit liegen sie noch nicht ein mal so falsch, lächelte Orcon Drac, als er zusah, wie die restlichen Sol daten die Flucht ergriffen und schon bald am Horizont verschwunden waren. »Ihr seid frei!«, rief der dunkle Ritter dann den Menschen zu, die in den Pferchen jenseits des großen Holztores wie Tiere eingesperrt waren. Viele von ihnen hatten mit teilnahmslosen Blicken zugesehen, wie die Peiniger die Flucht ergriffen hatten. Aber es vergingen Minu ten, bis sie begriffen hatten, was das für sie jetzt bedeutete. Die ers ten von ihnen erhoben sich mühsam, krochen teilweise auf das Tor zu und schafften es dann doch noch, es mit vereinten Kräften zu öffnen. 71
Orcon Drac registrierte mit Genugtuung von seinem Standpunkt aus, wie die ersten der Pestkranken das Lager verließen und in die Freiheit taumelten. Weitere Menschen folgten. Nur die ganz Schwa chen und diejenigen, die dem Tode näher als dem Leben waren, blie ben zurück. Und damit hatte Orcon Drac genau das erreicht, was er beabsich tigt hatte. Jetzt würde sich die Pest nicht nur wieder im Küstenland ausbreiten, sondern ganz sicher auch bis ins Landesinnere. Bald würde dieser Teil der Welt gänzlich leer und ausgestorben sein - und die Göt ter der Finsternis würden triumphieren, wenn hier die erste Bastion ihres Reiches entstehen würde. Orcon Drac hatte geschworen, die Macht und den Einfluss der dunklen Kräfte auf der Welt der Sterbli chen zu vergrößern - und gerade jetzt hatte er den ersten Schritt dazu unternommen. Weitere würden schon sehr bald folgen - nicht nur an diesem Ort der Welt. Denn der Ritter der Finsternis hatte nicht verges sen, was er seinen neuen Herren schuldete - und er stand zu dem Schwur, den er geleistet hatte... * Er wusste schon, welches Ziel Cord hatte, bevor er sein Pferd wende te. Denn er hatte ihn niemals aus den Augen verloren. Nicht mit den Kräften, die er besaß. So brauchte er nur noch den Weg zur Klippen burg einzuschlagen - denn diese war Cords Ziel. Warum es ihn ausge rechnet jetzt hierhin zog, wusste Orcon Drac nicht - aber das war ihm auch vollkommen gleichgültig. Es war sowieso nur noch eine Frage der Zeit, bis er endlich Cord gegenüberstand... An die Pestlager und die dort herausströmenden Menschen dachte er nur noch ganz kurz. Natürlich würden diese Menschen so schnell wie möglich versuchen, in ihre Heimatdörfer zurückzukehren. Und da mit brachten sie den übrigen Menschen, die dort noch lebten, den Tod - ein Gedanke, der so makaber war, dass sich Orcon Drac an dieser Idee weidete. Es war nicht weit von der höchsten Stelle der Klippen bis zur Burg, wo er geboren und aufgewachsen war. Nein, korrigierte er sich dann 72
wieder selbst. Dracor ist hier geboren und hat sein Leben dort ver bracht. Aber die Heimat von Orcon Drac - das sind die Flammen der Finsternis jenseits der Dimensionen! Augenblicke später hatte der Rit ter der Finsternis das Burgtor erreicht. Er ritt hindurch und spähte dann nach allen Seiten. »Wo bist du, Cord?«, erschallte dann seine Stimme so laut, dass man sie ganz sicher in jedem Winkel der Burg hören musste. »Es hat keinen Sinn, dass du dich versteckst. Der Tod ist gekommen, um dich zu holen. Mach dich bereit!« Er rechnete nicht damit, jemals eine Antwort zu erhalten, denn Cord war sicherlich viel zu feige, um ihm im Kampf gegenüberzutreten. Nein, dieser Bastard versteckte sich bestimmt irgendwo und hoffte, dass man ihn nicht fand. Was für eine Mühe er sich machte, schüttelte Orcon Drac im stillen den Kopf. Dabei benötigte der Ritter der Finster nis doch nur einen einzigen Gedankenspeer, um herauszufinden, dass sich Cord in einer der Waffenkammern unterhalb der Gemächer seines Vaters aufhielt. Was ihn allerdings schon ein wenig erstaunte, war die Tatsache, dass Orcon Drac außer den Gedanken Cords noch die eines anderen Menschen spürte. Er hielt kurz inne, um zu lauschen und erkannte dann vor seinem geistigen Auge, was in diesen Moment in der Waffen kammer geschah. Cord hatte eine Frau bei sich. Sie hatte dunkle Haare und trug ein schlichtes blaues Kleid. Er sah, wie Cord die Frau mit sich zerrte, wäh rend er selbst nach einer Waffe Ausschau hielt und dann ein Schwert ergriff, an das sich selbst Orcon Drac jetzt noch erinnerte. Es war eine Waffe, die sich schon seit Generationen im Besitz von Almors Familie befunden hatte und nach Almors Tod auf dessen Nachfolger überge hen sollte - und das wäre Dracor gewesen. Aber gegen seine Flammenklinge würde dieses Schwert keine ein zige Sekunde bestehen können und deshalb beschloss Orcon Drac nun, dieses Spiel zu beenden - und zwar auf seine Weise! Er hatte kein Verlangen mehr danach, sein Opfer zu jagen und es unnötig in die Enge zu treiben. Die Stunde der Rache war gekommen - und zwar jetzt! 73
Er formte mit der linken Hand eine unsichtbare Linie und murmel te dazu einige kurze Worte. Dann wurde sein Körper plötzlich ganz durchsichtig, schimmerte kurz und löste sich dann auf. Aber nur um Bruchteile von Sekunden später an einem anderen Ort zu materialisie ren - nämlich mitten in der Waffenkammer, die Cord gerade wieder verlassen wollte. Er hörte den lauten Angstschrei der Frau, als er so plötzlich auf tauchte und gewahrte auch das angstverzerrte Gesicht von Cord, der mit der Waffe in der Hand herumfuhr und dann ungläubig auf die gro ße Gestalt in der dunklen Rüstung starrte. »Nein...«, hörte ihn Orcon Drac murmeln. »Das... das kann doch nicht sein...« »Khan Ormond dachte wahrscheinlich das gleiche, bevor ihn der Tod ereilte«, sagte der Ritter der Finsternis mit grausamer Stimme. »Er wollte es nicht wahrhaben, dass irgendwann einmal die Niederlage kommt. Sein Heer ist in alle Winde zerstreut und er selbst ist tot. Wo hin willst du jetzt fliehen, Cord? Denkst du denn wirklich, dass dir die Flucht noch gelingt?« Er lachte gehässig bei den letzten Worten. »Wer... wer bist du?«, kam es mit stockender Stimme über Cords Lippen, während sich seine Hand fester um den Knauf des Schwertes schloss, das er kurz vor Erscheinen des dunklen Ritters an sich geris sen hatte. »Was bei den Göttern hat das zu bedeuten? Khan Ormond ist tot? Das ist doch...« Er brach mitten im Satz ab, als ihm bewusst wurde, was das be deutete. Niemand würde ihm jetzt beistehen - alle waren tot, auf die er gesetzt hatte. Während Cord noch Mühe hatte, zu begreifen, was gerade ge schah, sah Orcon Drac hinüber zu der Frau, die ängstlich in der Ecke kauerte und mit schreckgeweiteten Augen auf den dunklen Ritter blick te. Hier geschah etwas jenseits ihres Verstandes und das brachte sie fast an den Rand des Wahnsinns. Orcon Drac las ihre verzweifelten, sprunghaften Gedanken und erkannte, dass sie Jola hieß und hier auf der Burg als Dienerin lebte. Sie hatte sich um Almor gekümmert und war als einzige noch geblieben, nachdem die übrige Dienerschaft we gen der Pest das Land längst verlassen hatte. 74
»Du kannst gehen, Frau«, sagte Orcon Drac zu ihr. »Geh jetzt so fort, bevor es zu spät für dich ist!« Er sah in den Augen der Frau und erkannte, dass sie verstanden hatte. Sie erhob sich rasch und verließ die Waffenkammer über die Treppen nach oben. Augenblicke später war das Tappen ihrer Schritte schon nicht mehr zu hören. Sie hatte die Chance erkannt, die eine Laune des Schicksals ihr geboten hatte und nutzte sie sofort ohne dar über nachzudenken. Denn sie hatte die Aura des Todes sofort ge spürt... »Und nun zu uns!«, sagte Orcon Drac. »Willst du kämpfen, Cord? Dann versuch es nur - es wird eine große Genugtuung sein, dich zu enthaupten - worauf wartest du?« Er sah, wie Cord noch zögerte. Zwar hatte er das Schwert schon hoch emporgereckt, aber irgend etwas hinderte ihn noch. Orcon Drac las es in seinen Gedanken und deshalb wusste er, was nun als nächs tes folgte. »Du fragst dich, wer ich bin«, sagte er und erkannte das Erschre cken in Cords Augen darüber, dass ihm die Gedanken nicht fremd blie ben. »Du kennst den Klang dieser Stimme, Cord - alles ist dir vertraut. Aber doch willst du es nicht begreifen, wie sehr sich alles verändert hat, nicht wahr? Schau genau hin, Cord - es ist ein Anblick, den du so schnell nicht mehr vergessen wirst!« Bei diesen Worten öffnete er das Visier seines Helmes. »Nein«, murmelte Cord und schüttelte fassungslos den Kopf. Er taumelte einige Schritte zurück und geriet dabei fast ins Taumeln. »Dracor!«, stieß er dann atemlos hervor. »Aber wie... wie kann das denn sein... bei allen Göttern!« »Die Götter, die du anbetest, hören dich nicht mehr, Cord!«, schnitt er ihm das Wort ab. »Sie haben diese Welt längst vergessen.« Er lachte leise, bevor er fortfuhr. »Ich bin nicht mehr dein Bruder, Cord. Der, der einmal Dracor war, ist längst tot und vergessen. Aber die dunklen Mächte haben Or con Drac, den Ritter der Finsternis, zum Leben erweckt. Kennst du die drei dunklen Götter, Cord? Ihre Namen sind Azach, Modor und R'Lyeh. 75
Sie sind uralt und sind jetzt gekommen, um sich die Welt Untertan zu machen - mit meiner Hilfe!« Cord wollte etwas erwidern, aber er war dazu einfach nicht in der Lage. Eine wilde Panik hatte ihn erfasst, die jeden vernünftigen Ge danken zunichte machte, denn was er gerade gehört hatte, rüttelte an den Fundamenten des menschlichen Erfassungsvermögens. Ein lauter Schrei entrang sich seiner Kehle und er stürmte mit hoch emporgeschwungenem Schwert auf Orcon Drac zu. Dieser An griff kam plötzlich und unerwartet - aber vielleicht nur für einen ge wöhnlichen Sterblichen. Nicht aber für Orcon Drac, der die Gedanken Cords kannte und wusste, dass nun der entscheidende Moment ge kommen war. Orcon Drac trat einen Schritt zur Seite und sah, wie Cord an ihm vorbeistürmte und sein Hieb ins Leere traf. Sofort wirbelte er wieder herum, startete einen zweiten Versuch, der ebenfalls fehlschlug. Statt dessen war es Orcon Drac, der Cords Klinge fast spielerisch abwehrte und ihm gleichzeitig einen Tritt versetzte, der Cord zurückschleuderte und ihn zu Boden stürzen ließ. Noch während sich Cord aufzurappeln versuchte, war Orcon Drac auch schon bei ihm und berührte mit der Spitze seiner Flammenklinge Cords Hals. Die Klinge ritzte Cords Haut, so dass einige Blutstropfen hervortraten. Aber das registrierte dieser gar nicht. Ängstliche Blicke richteten sich auf die dunkle furcht erregende Gestalt, die einmal sein Bruder gewesen war. »Es ist vorbei, Cord«, sagte Orcon Drac mit einer Stimme, die kei nen Widerspruch duldete. »Denk nicht einmal daran, dich noch weiter wehren zu wollen - es würde dir nicht mehr gelingen...« Er hielt einen Moment inne und genoss es, wie Cord sich unter der Klinge wand und mit ängstlichen Blicken zu ihm hoch schaute. »Warum tötest du mich nicht?«, fragte er nun mühsam. »Bring es zu Ende - das ist es doch, was du willst, oder?« »Dracor hätte dich getötet ohne einen einzigen Augenblick zu zö gern«, erwiderte Orcon Drac stattdessen. »Du hast deinen eigenen Vater umgebracht, Cord - und dafür wirst du büßen. Aber gewiss nicht 76
mit einem schnellen Tod - das wäre viel zu einfach für einen Hund wie dich. Nein, ich habe mir etwas anderes für dich ausgedacht...« Inzwischen hatte er seine Klinge sinken lassen, weil er wusste, dass Cord jetzt keinen Widerstand mehr leisten würde. Sein Mut und sein Kampfeswille waren zerbrochen an einer Macht, die stärker war als alles andere! Orcon Dracs Hände woben erneut einen Zauber und sofort bildete sich von einer Sekunde zur anderen ein weißlicher Nebel, der beide umhüllte und die nähere Umgebung vor ihren Augen verschwimmen ließ. Orcon Drac hörte Cords ängstliche Stimme, weil er sein Ende na hen sah, aber das registrierte er nur am Rande. Stattdessen wartete er geduldig ab, bis sich der weißliche Nebel wieder verzogen hatte und die nähere Umgebung wieder klar und deutlich zu erkennen war. Aber sie hatte sich auf einmal verändert. Das war nicht mehr die Waffenkammer, in der sie eben noch gewesen waren, sondern ein Gewölbe, dessen feuchte und modrige Luft in Cords Nase stieg. »Sieh dich ruhig ein wenig um, Cord!«, sagte Orcon Drac. »Be stimmt erkennst du dieses Gewölbe wieder...« Unwillkürlich befolgte Cord den Befehl des dunklen Ritters und wurde dann von einer Sekunde zur anderen leichenblass, als sich die letzten weißlichen Schleier des Nebels lichteten und er sah, wo er sich befand. Orcon Drac deutete seine entsetzten Blicke richtig und ergriff deshalb jetzt wieder das Wort. »Ich sehe, du hast es begriffen, Cord«, lachte er dann gehässig. »Wir befinden uns in dem Gewölbe, in das du damals die ersten Kran ken gebracht hast - als die Seuche gerade ausbrach und noch nicht so weit um sich gegriffen hatte. Dieses Gewölbe hast du dann für alle Zeiten versiegeln lassen, weil du dich dadurch sicherer fühltest...« »Wie... woher weißt du das?«, stotterte Cord. »Das geschah doch alles erst, nachdem du... nachdem Dracor schon lange weggegangen war...« »Ich weiß es eben - damit musst du dich zufrieden geben, Cord«, erwiderte Orcon Drac. »Die verlorenen Seelen in diesen Katakomben ich habe ihre Schreie gehört. Sie verlangen Genugtuung dafür, was ihnen angetan worden ist. Du und deine bronzehäutigen Helfershelfer 77
habt dann bald diese Menschen vergessen, als die Pest im ganzen Küs tenland ausbrach und euch geißelte. Ihr wurdet eines Besseren be lehrt, denn gegen die schwarze Pest gibt es keine wirksamen Hilfsmit tel. Und diejenigen, die ihr hier unten eingesperrt und zu einem grau samen Tod verurteilt habt - sie leben immer noch. Aber sie sind zu Tieren ohne jeglichen Verstand geworden. Schau dich nur in aller Ruhe um, Cord. Du wirst ohnehin dein kümmerliches Leben hier in diesem Gewölbe beschließen!« Noch während er das sagte, versetzte er Cord einen so heftigen Tritt, dass dieser laut aufschrie und kopfüber die Stufen der Treppe hinunterstürzte. Dabei schlug er sich die Stirn auf und Blut lief ihm in die Augen. Er stöhnte laut auf, während er sich die Augen rieb und hastig versuchte, freie Sicht zu bekommen. Und als sich sein Blickfeld wieder zu klären begann, hörte er auf einmal ein eigenartiges Scharren, das weiter hinten aus dem Gewölbe zu kommen schien. »Bei allen...«, murmelte Cord, als er sah, wie sich im Dunkel etli che rot leuchtende Augenpaare abzeichneten und rasch größer wur den. Dazu nahm das Scharren jetzt an Lautstärke immer mehr zu. Und dann hörte Cord noch einige Laute, die ihn jetzt schon fast wahnsinnig werden ließen, bevor er genau sehen konnte, welche namenlosen Schrecken ihn hier unten erwarteten. Es waren schreckliche Grunzund Knurrgeräusche, die nicht aus menschlichen Kehlen kamen! »Die Geschöpfe der Gewölbe haben schon lange auf dich gewar tet, Cord!«, erklang nun die Stimme des dunklen Ritters, während er erneut den Nebelzauber heraufbeschwor, der seine schwarze Gestalt allmählich immer mehr umhüllte und sie vor Cords Blicken verbarg. »Ich hoffe, du weißt, was du ihnen sagen wirst...« Mit den letzten Worten verblasste auch die Gestalt des Ritters der Finsternis und der weißliche Nebel verzog sich ganz plötzlich, als habe es ihn nie gegeben. Cords Blicke dagegen schweiften jetzt in eine ganz andere Rich tung. Denn die rötlichen Augen aus dem dunklen Teil des Gewölbes hatten jetzt Formen angenommen. Nämlich Formen von behaarten, pelzigen Körpern, die sich mit ausgestreckten Armen von allen Seiten 78
dem verräterischen Cord näherten. Ihre einst menschlichen Gesichter waren überall von Narben und eitrigen Geschwüren übersät und bilde ten unbeschreibliche Fratzen, die Cord ahnen ließen, was die Stunde geschlagen hatte. »Nein!«, schrie er, riss beide Arme hoch - und dann stürzten sich die Kreaturen auf ihn. In den nächsten Minuten erfüllten schreckliche Geräusche die alten Gewölbe. Das Mahlen von Zähnen und das Bersten von Knochen war zu vernehmen - und der Todesschrei Cords war bereits schon ver hallt. Denn in einem hatte sich der dunkle Ritter geirrt - die armseligen Geschöpfe stellten Cord gar keine Fragen mehr. Sie waren nämlich schon viel zu tierhaft geworden, um solche Verhaltensweisen über haupt noch zeigen zu können. Cord war für sie nur ein Klumpen Fleisch, Blut und Knochen gewesen - Nahrung... * Orcon Drac spürte nicht den Triumph, den er erwartet hatte, nachdem er wieder in den Burghof zurückgekehrt war und Cord seinen Henkern überlassen hatte. Für ihn war nur ein Kapitel beendet, das ihn noch mit seiner Vergangenheit verbunden hatte - und diese Nabelschnur war jetzt ein für allemal zerrissen worden. Die Götter der Finsternis hatten ihren Teil des Versprechens eingehalten - nun war es an Orcon Drac, sein Gelöbnis zu erfüllen. Und das hieß unter anderem, dass er jeden Befehl der dunklen Mächte zu befolgen hatte! Genau in diesem Augenblick grollte ein ferner Donner am Horizont - genau an der Stelle des Himmels, wo sich einige dunkle Wolken ge bildet hatten. Sekundenbruchteile später zuckte ein greller Blitz auf und in den Wolken formten sich die mittlerweile vertrauten Konturen eines der dunklen Götter. Ob es Azach, Modor oder gar R'Lyeh waren, wusste Orcon Drac noch nicht. Aber mit der Zeit würde er das auch erkennen können. »Ich danke Euch, mächtige Götter der Finsternis!«, rief Orcon Drac mit lauter Stimme und reckte triumphierend seine Flammenklinge empor. »Mit Eurer Hilfe habe ich die besiegt, denen meine Rache galt. 79
Mein Werk ist vollendet und ich warte jetzt auf Eure weiteren Befeh le!« DU HAST GUTE ARBEIT VOLLBRACHT, ORCON DRAC, hörte der Ritter der Finsternis dann eine eindringliche Stimme, die von irgendwo jenseits der Wolken zu kommen schien. UND DU HAST DAFÜR GE SORGT, DASS DIE PEST IN DIESEM LANDE AUCH WEITERHIN WÜTEN KANN. WIR SEHEN, DASS DU JETZT EIN TREUER VASALL GEWORDEN BIST. ES WARTEN NOCH WEITERE AUFGABEN AUF DICH, ABER NICHT MEHR AN DIESEM ORT. NIMM DEIN PFERD UND REITE NACH SÜDEN, BIS DU DIE DSCHUNGELKÜSTE ERREICHT HAST. DU HÖRST DANN VON UNS, SOBALD WIR DICH BRAUCHEN. »Und was geschieht mit dem Küstenland?«, fragte Orcon Drac, weil er verständlicherweise wissen wollte, was die Götter mit diesem Teil der menschlichen Welt noch geplant hatten. DEINEM HUNGER NACH WISSEN SOLL STATTGEGEBEN WERDEN, erhielt er nun als Antwort. JENSEITS DER DIMENSIONEN WARTEN SCHON GESCHÖPFE DARAUF, HIER DIE MACHT ZU ÜBERNEHMEN, ORCON DRAC. EINIGE DAVON WERDEN DICH AUF DEINEM WEG NACH SÜDEN BEGLEITEN. DREH DICH UM UND ERKENNE, WIE GROSS UNSERE MACHT IST! Orcon Drac tat, was man ihm sagte und er wurde Zeuge, wie qua si aus dem Nichts sich von einem Augenblick zum anderen Gestalten vor der Burgmauer abzeichneten. Der Riss zwischen den Dimensionen hatte sich wieder geöffnet und seine Geschöpfe in die Welt der Sterbli chen geschickt - Wesen mit schuppiger Haut und starren, gnadenlosen Augen. DU KANNST ÜBER DIESE ECHSENKRIEGER VERFÜGEN, ORCON DRAC, hörte der Ritter der Finsternis dann wieder dieselbe Stimme. SIE WISSEN, DASS DU IHR HERR BIST UND DASS SIE JEDEN DEINER BEFEHLE SOFORT AUSFÜHREN MÜSSEN. VIELE VON IHNEN WERDEN DAS KÜSTENLAND BEWACHEN UND ES GEGEN JEDEN VERTEIDIGEN, DER EIN FEIND DER DUNKLEN MÄCHTE IST. DU ABER WIRST NACH SÜDEN REITEN. BRICH JETZT AUF - DIE ECHSENKRIEGER WERDEN DIR FOLGEN! 80
Orcon Drac verneigte sich stumm, als die Stimme geendet hatte und schritt dann zu seinem Pferd, das sich angesichts der Echsenkrie ger ziemlich nervös gebärdete. Aber der Ritter der Finsternis hatte das Tier sofort wieder unter seine Kontrolle gebracht. Bald darauf verließ er zusammen mit einem Teil seiner neuen Streitmacht die Klippenburg und das Küstenland... * Er hatte die Löwenmenschen von Herlan als Späher ausgeschickt und jetzt waren sie wieder zurückgekommen. Was sie Orcon Drac dann zu berichten hatten, bestätigte die Hoffnungen des dunklen Ritters. In den Bergherzogtümern von Arnish rechnete man nicht mit einem An griff der dunklen Horden. Die Völker, die dort lebten, wussten wahr scheinlich noch nicht einmal etwas von der bevorstehenden Auseinan dersetzung zwischen den Mächten des Lichts und der Finsternis. Orcon Drac und die dunklen Horden hatten sich bereits in Bewe gung gesetzt und würden bald angreifen. Aber er wunderte sich schon darüber, dass ihn die Götter des Lichts bis zu dieser Stunde noch nicht einmal aufzuhalten versucht hatten. Sie mussten doch wissen, was in der Zwischenzeit geschehen war. Womöglich hatten sie eine Falle ge stellt, in die er und die dunklen Krieger tappen sollten? Jedoch verwarf er diesen Gedanken dann rasch wieder - denn wenn es so gewesen wäre, so hätten es Azach und R'Lyeh gewusst und es ihm ganz sicher mitgeteilt. Wenn Gefahr drohte, dann würden sie es ihm sagen - das hatten sie immer getan. Bis auf eine einzige Ausnahme und die hatte Modor vernichtet! Bei dem Gedanken an den einstigen Herrn der Sümpfe von Card hor kam ihm auch wieder Thorin in den Sinn. Erneut murmelte er eine Beschwörung aus dem Buch von Vharya und versuchte, mit seinen geistigen Kräften Thorins derzeitigen Aufenthaltsort herauszufinden was ihm dann auch gelang. Er entdeckte den blonden Krieger, der der Spur des dunklen Hee res folgte - es war ja auch nicht schwer, denn die dunklen Kreaturen hatten eine breite Fährte in der weiten Ebene hinterlassen, der er ohne 81
große Mühe folgen konnte. Aber Thorin schien erste Spuren der Er schöpfung zu zeigen. Seine Miene wirkte angespannt und müde wahrscheinlich weil er Wasser brauchte. Aber die nächsten Quellen gab es erst wieder in den Ausläufern der Berge, die nach Arnish führ te. Die weite Ebene dagegen war wasserlos. Für Orcon Drac und seine Geschöpfe war das kein Problem. Sie schöpften ihre Kräfte aus ande ren Quellen, aber ein Sterblicher wie dieser Thorin konnte hier drau ßen in arge Bedrängnis geraten. Orcon Drac wunderte sich darüber, welcher Irrsinn diesen Krieger befallen haben musste, dass er noch nicht einmal Wasservorräte mit genommen hatte. Aber wahrscheinlich hatte er sich darauf verlassen, irgendwo hier draußen ein Wasserloch oder eine kleine Quelle zu fin den. Dieser wahnwitzige Glaube würde ihm zum Verhängnis werden, denn im Gegensatz zu dem dunklen Heer würde er noch fast zwei Ta ge benötigen, um hierzu zu kommen. Und zwei Tage voller Hitze und Staub - aber vor allen Dingen ohne Wasser - konnten den Tod bedeu ten. Vielleicht gab es ja gar keinen Kampf mehr zwischen dem Ritter der Finsternis und Thorin? Weil der blonde Krieger gar nicht mehr bis hierher kam... * Thorin hörte das qualvolle Wiehern des zweiten Pferdes, das er am Zügel mit sich führte. In diesem Moment knickte das Tier auch schon mit den Vorderläufen ein und fiel dann seitlich zu Boden. Die Zügel wurden Thorin aus den Fäusten gerissen - so schnell war das alles gegangen. Der Nordlandwolf zügelte sein Pferd, auf dem er selbst saß und sprang dann mit einem Satz aus dem Sattel. Sofort eilte er auf das Pferd zu - aber es bedurfte keiner großen Phantasie, um sofort zu er kennen, dass das Tier nicht mehr aufstehen konnte. Es war zu schwach dazu. Es hatte schon seit gestern nichts mehr zu trinken be kommen - genau wie das andere Pferd auch. Thorin hatte den letzten Schluck Wasser gestern Mittag getrunken und seit dieser Zeit hatte er 82
verzweifelt Ausschau nach einer Quelle gehalten, aber bis jetzt hatte er noch kein Glück gehabt. Und wie es aussah, würde er in dieser E bene auch kein Wasser finden! Das zusammengebrochene Pferd blickte ihn mit qualvollen Blicken an und Thorin beschloss, die Leiden des Tieres zu verkürzen. Er nahm seinen Dolch und schnitt dem Tier die Kehle durch. Ein gurgelndes Wiehern und ein kurzes Zucken, dann war das Tier tot. Im ersten Mo ment hatte Thorin das Blut auffangen wollen, das dem getöteten Tier aus der Kehle lief - dann aber überlegte er es sich doch noch anders. Wenn er es jetzt zu sich nahm, würde es ihn erfrischen, denn es war Flüssigkeit. Aber im Blut war Salz und genau diese Tatsache konnte sich schon bald als tödlicher Fehler herausstellen. Nämlich in dem Moment, wo er noch mehr Durst bekommen würde, weil er Blut ge trunken hatte. Und soweit wollte es Thorin nicht kommen lassen. Lie ber verzichtete er darauf - auch wenn es ihm noch so schwer fiel. Seufzend erhob er sich und ging zurück zu dem anderen Pferd, stieg wieder in den Sattel. Dieses Tier hier war kräftiger und konnte bestimmt noch eine Zeit lang durchhalten. Deshalb wagte es der Nord landwolf, auf ihm noch eine Zeit lang zu reiten. Aber irgendwann musste er auch diesem Tier etwas Ruhe gönnen, sonst würde es unter ihm zusammenbrechen. Was für ein Glück, dass Lorys diese Strapazen nicht miterlebte. Wenn sie jetzt noch an Thorins Seite gewesen wäre - so hätten sie beide jetzt nur noch ein Pferd gehabt. Und zwei Menschen konnte das Tier nicht mehr tragen, dazu fehlte ihm die Kraft. Es wäre das Ende für Thorin und Lorys gewesen - ein schrecklicher Gedanke! Thorin drehte sich nicht mehr im Sattel um, sondern schaute nur noch nach vorn. Irgendwann musste die trostlose öde Ebene ja ein Ende haben! Es war ein Landstrich, den der Nordlandwolf kein zweites mal durchqueren mochte. Zuerst hatte bittere Kälte geherrscht, dann war ein heftiger Sandsturm gekommen und dem war jetzt eine fürch terliche Hitze gefolgt, die an den Kräften von Mensch und Tier zehrte, sie mit jeder verstreichenden Stunde immer mehr schwächte. Und doch musste er weiter der Spur im Sand folgen. 83
Es war eine Fährte, die nicht zu übersehen war. Als wenn eine gewaltige Armee mit einem umfangreichen Tross hier durchgezogen war und die Erde aufgewühlt hatte. Thorin zügelte immer wieder sein Pferd, stieg aus dem Sattel und beugte sich dann zur Erde hinunter, um die zahlreichen Abdrücke zu untersuchen. Mittlerweile kam ihm manches um so vertrauter vor - aber genau das bereitete ihm auch große Sorgen. Denn die Spuren und Abdrücke waren zum Teil ziemlich unförmig und dazu noch größer als der Fuß eines Menschen. Aufgrund der Tiefe, die diese Abdrücke im Sand hinterlassen hatten, konnte Thorin ungefähr auf die Größe derjenigen schließen, die solche Abdrü cke verursacht hatten - es mussten wirkliche Riesen von Gestalt sein. Welche furchtbaren Kreaturen hatten die Götter der Finsternis und Orcon Drac nun wieder zum Leben erweckt? Thorin konnte doch un möglich gegen sie alle ankämpfen! Und doch wusste er, dass er seinen Weg fortsetzen musste. Die Götter des Lichts hatten ihn mehr als einmal daran erinnert, wie wich tig es war, dass dieser Zweikampf zwischen Thorin und Orcon Drac stattfand. Hing davon vielleicht sogar noch der Ausgang der ganzen Schlacht ab? Darüber hatten ihm die Götter nichts gesagt - aber viel leicht auch deshalb, weil sie ihn damit nicht belasten wollten. Er sollte sich lieber auf den Kampf konzentrieren und jeden weiteren Gedanken einfach vergessen... Diesmal verzichtete er darauf, wieder in den Sattel zu steigen, sondern nahm das Tier am Zügel und zog es mit sich. Seine Schritte waren schwer angesichts der prallen Sonne, die jetzt die öde Land schaft mit ihren sengenden Strahlen überzog. Zwar war sie jetzt schon gewaltig weit in Richtung Horizont gesunken, aber dennoch war es heiß und Thorin stand erneut der Schweiß auf der Stirn. Seine Gedan ken kreisten allmählich immer mehr um einen kühlen Schluck Wasser. Er hatte versucht, nicht daran zu denken, aber diese Vorstellung kam ihm immer wieder in den Sinn. Er konnte sich einfach nicht dagegen sträuben, denn sein Körper verlangte nach Wasser und neuen Kräften. Als die Sonne schließlich als glühender Feuerball am fernen Hori zont versank, wusste er, dass er erst einmal eine Ruhepause einlegen musste. Sowohl er als auch sein Pferd brauchten etwas Zeit, um sich 84
von den Strapazen der letzten Stunden zu erholen. Deshalb hielt Tho rin Ausschau nach einem geeigneten Ort und fand ihn schließlich in Form einiger Geröllhaufen, die ihn - falls notwendig - vor den Blicken seiner Gegner verbargen. Wenn er sich überhaupt schon in deren Nä he befand! Thorin ließ seine Blicke in die Runde schweifen, aber er entdeckte nichts, was darauf hinwies, dass er hier Wasser finden konnte. Nur rötliches, vom Zahn der Zeit verwittertes Gestein und jede Menge Erde und Sand. Also band er das Pferd an einem Stein fest und streckte sich dann in unmittelbarer Nähe eines schattenspendenden Felsens aus, versuchte, jetzt neue Kräfte zu sammeln. Tatsächlich schlief er auch gut drei Stunden, bis er von einem Au genblick zum anderen wieder wach wurde - denn jetzt begann es wie der kühl zu werden. Mittlerweile war die Sonne längst am fernen Hori zont untergegangen und die Schatten der Nacht breiteten sich allmäh lich aus. Und mit ihnen kam auch die Kälte der Nacht, die so seltsam widersprüchlich war. Tagsüber herrschte hier eine Hitze wie im Back ofen und in der Nacht fror man sich zu Tode! Aber Thorin empfand diese Kälte jetzt sogar als wohltuend und diesen Vorteil musste er nutzen - um weiter zu reiten. Also zog er sich wieder in den Sattel und trieb sein Pferd an. Na türlich spürte er, wie das Tier unter ihm immer mehr von seiner Kraft verlor und dessen Trab mittlerweile sehr oft zu einem Stolpern wurde. Aber das Pferd gab alles, was in ihm steckte. Das fahle Licht des Mondes überschüttete die weite kahle Ebene mit seinem silbernen Licht und tauchte sie in eigenartig bizarre Kontu ren. Aber das war es nicht, was Thorins Aufmerksamkeit erregte, denn mittlerweile sah er plötzlich ganz weit am Horizont einen hellen Schimmer. Ein Licht, oder ein Feuer - er wusste nicht genau, was es war, denn er war noch viel zu weit davon entfernt. Aber dieser Schimmer erhellte auch etwas am Horizont, was Tho rin erst beim zweiten Hinsehen erkannte. Denn an dieser Stelle war das Land nicht mehr flach und eben, sondern die ersten Hügel waren zu erkennen. Das bedeutete, dass die Ödnis dort zu Ende war. 85
Jetzt hatte er es um so eiliger, diese Hügel zu erreichen. Denn er wusste, dort würde er auch Wasser finden - und Wasser bedeutete Überleben. Das Pferd schien ebenfalls zu ahnen, dass die Mühen und Qualen der letzten Tage sich dem Ende zuneigten - oder es witterte womöglich instinktiv Wasser. Deshalb ließ Thorin seinem Pferd die Zügel frei und das Tier trabte los. Zu einem schnellen Galopp war es nicht mehr fähig. Eine halbe Ewigkeit schien zu verstreichen, bis die fernen Hügel am Horizont allmählich immer deutlichere Konturen annahmen und größer wurden. Aber auch das Licht, das nun unruhig in einem rötli chen Ton schimmerte, war immer größer geworden und schien direkt von der anderen Seite der Hügel zu kommen - also noch einige Stun den entfernt, so dass Thorin nicht wissen konnte, um was es dabei genau handelte. Die Landschaft veränderte sich jetzt immer deutlicher. Zuerst wa ren es nur spärliche Pflanzen gewesen, die zu beiden Seiten der zer wühlten Erde wuchsen, die das dunkle Heer hinterlassen hatte. Aber dann wurde es immer grüner und schließlich sah Thorin im Licht der aufgehenden Morgensonne weiter westlich einen silbrigen Schimmer. Das Pferd trabte jetzt noch schneller und wieherte freudig auf, als es noch vor Thorin erkannte, dass dort drüben ein kleiner Bach vorbei floss. Minuten später hatten Pferd und Reiter den Ort der Rettung er reicht. Thorin sprang vom Rücken des Pferdes - direkt hinein in die wohltuende Nässe, die seinen ausgelaugten Körper von allen Seiten umspülte. Dann trank er einen Schluck, spürte das kühle Nass, das seine pelzige Zunge wie ein Schwamm in sich hinein sog. Und mit jedem weiteren Schluck, den er zu sich nahm, fühlte er, wie die Kräfte wieder zurückkehrten. Dennoch machte er jetzt nicht den Fehler, zuviel zu trinken. Denn er musste sich nach so langer Entbehrung erst einmal langsam daran gewöhnen. Deshalb zog er das Tier wieder vom Bach zurück, das na türlich erbost zu schnauben begann, weil es nicht begriff, warum das sein musste. Aber das Pferd fügte sich schließlich wieder und ließ es willig mit sich geschehen. 86
Unweit des Baches wuchsen einige Sträucher, die rötliche Beeren trugen. Thorin ging darauf zu, riss einige der Früchte ab und roch dar an. Dann biss er in eine hinein und verzog im ersten Moment das Ge sicht, weil sie ziemlich sauer waren. Aber er hatte Hunger und sein Körper verlangte nach neuen Säften. Er aß sich satt, während sein Pferd unweit des Baches graste und so ebenfalls neue Kräfte schöpfen konnte. Zum ersten mal spürte Tho rin eine unbeschreibliche Erleichterung darüber, dass er es geschafft hatte, das öde Land unbeschadet hinter sich zu bringen. Nachdem er sich gestärkt hatte, erhob er sich wieder, um die nä here Umgebung des Baches abzusuchen. Erst jetzt bemerkte er die kreisenden Vögel etwas weiter abseits. Zuerst dachte Thorin, dass er die Ursache dafür war, denn er hielt diese Vögel für Aasgeier, die Aus schau nach Beute hielten. Denn aber sah er, dass weder er noch sein Pferd von den Geiern beachtet wurden, sondern dass sie über einer ganz bestimmten Stelle kreisten, die sich vielleicht zweihundert Schrit te von dem Bach entfernt befand. Von einem unguten Gefühl getrieben, zog der Nordlandwolf Stern feuer aus der Scheide und näherte sich vorsichtig der betreffenden Stelle. Als er näher kam, erkannte er, dass einige der Geier bereits dabei waren, auf ihre Beute niederzustoßen. Bei Thorins Erscheinen ließen die gefiederten Todesboten jedoch davon wieder ab und erho ben sich mit ausgebreiteten Schwingen und mit krächzenden Lauten wieder in die Lüfte. »Ihr Götter...«, murmelte Thorin, als er dann Sekunden später er kannte, dass es sich bei der Beute der Geier um kein Tier handelte. Es war ein Mensch! Mit schnellen Schritten eilte er weiter, sah dann aber, dass jede Hilfe zu spät kam. Es war ein Mann, der sich auf allen Vieren bis zum Bach hatte schleppen wollen, es dann aber doch nicht mehr geschafft hatte. Thorin kniete neben dem Toten nieder und sah dann die furcht bare Wunde in der Brust des Toten. Was für eine Waffe riss nur solche Wunden? Gab es überhaupt solch eine Waffe, oder war der Tote viel leicht sogar von einem wilden Tier zerrissen worden - oder womöglich 87
von etwas, was noch schlimmer war als nur ein Tier, das seinem In stinkt folgte? Thorin untersuchte den Toten, konnte bei ihm aber nichts mehr finden, was Aufschluss über seine Herkunft gab. Anhand der Spuren, die er bis kurz zum Bach zurückgelegt hatte, konnte der Nordlandwolf aber schließen, dass er von jenseits der Berge gekommen war. Zu Fuß und allein! Ob er aus einem der Bergdörfer stammte, die sich vielleicht weiter oben in den Hügeln befanden? Thorin wusste es nicht genau, denn er kannte das Land nicht, das er betreten hatte - aber irgendwo mussten sich ja menschliche Ansiedlungen befinden, denn das Land schien recht fruchtbar und somit für Ackerbau und Viehzucht geeignet zu sein. Erneut wandte er seine Blicke von dem Toten ab, als wiederum das rötliche Schimmern jenseits der Berge seine Aufmerksamkeit er regte. Mittlerweile kam ein leichter Wind auf und er trug etwas mit sich, was Thorins Nase nicht entging. »Rauch«, murmelte er fassungslos. »Das ist Rauch...« Nun ahnte er, welchen Ursprung das rötliche Schimmern hatte, das er schon draußen vom öden Land her bemerkt hatte. Das dunkle Heer war über die Dörfer und Ansiedlungen der Bewohner dieses Lan des hergefallen und hatte sie bereits in Schutt und Asche gelegt! Der Tote hier hatte sich wahrscheinlich noch retten wollen, hatte aber trotzdem sein trauriges Los nur noch hinauszögern können. Dann hatte er auch sterben müssen. Ein Gedanke jagte den anderen, als Thorin nun zu seinem Pferd ging und wieder in den Sattel stieg. War er zu spät gekommen, oder gab es noch eine Möglichkeit, das Grauen zu verhindern, das in dieses Land eingefallen war? Er wusste es nicht, aber er war fest entschlos sen, sich den dunklen Mächten in den Weg zu stellen. Er folgte weiter der Fährte des dunklen Heeres und spürte die Hit ze Sternfeuers, die auch von der Scheide auf seinem Rücken nicht mehr zurückgehalten werden konnte. Die finsteren Mächte waren na he! 88
Er zog die Klinge heraus und sah, wie sie in einem gleißenden Licht zu pulsieren begann und dieses Pulsieren nahm mit jeden Au genblick immer mehr zu. Unter diesen Umständen musste Thorin da mit rechnen, jetzt jeden Moment auf den Gegner stoßen zu müssen. Einen Gegner, von dem er nur ahnen konnte, wie gefährlich er in Wirk lichkeit war. Deshalb lenkte er sein Pferd von dem Pfad hinunter und suchte stattdessen einige Büsche auf, in deren Schutz er sich dann hielt und von hier aus seinen Weg fortsetzte. Er vermutete immer noch, dass das dunkle Heer Wächter zurückgelassen hatte. Aber dem war nicht so, denn das Heer der Finsternis war viel zu stark, als dass diese Krea turen auch nur irgendeine Gefahr fürchten mussten. Konnte Thorin das Unheil überhaupt noch aufhalten? Er allein gegen ein Heer von finste ren Geschöpfen der Nacht? Aber dann fielen ihm erneut wieder die letzten Worte des Donnergottes Thunor ein. Ja, er musste gegen Or con Drac kämpfen - selbst wenn er sich inmitten eines Heeres aus furcht erregenden Geschöpfen aufhielt. Die alten Prophezeiungen von Ushar hatten diese letzte Auseinandersetzung vorausgesagt - aber wie sie ausgehen würde, davon hatte ihm Thunor nichts verraten... *
Epilog
Während das Heer der Finsternis seinen Vernichtungsfeldzug gegen die Menschen begann und Tod und Verderben über die Bergherzogtü mer von Arnish brachte, verfolgten die Götter des Lichts mit großer Sorge diese Entwicklung. Aber auch sie hatten ihre Heerscharen bereits um sich versammelt und schickten sie nun in den Kampf - und der Weltenzerstörer Odan führte sie an. Auch Thunor, der Donnerer und selbst Einar, der Allwis sende hatten ihre Aufgabe zu erfüllen und jeder von ihnen wusste, wie viel davon abhing. Es schlug die Stunde, in der sich entscheiden sollte, ob die Welt der Sterblichen in den Abgrund der Finsternis stürzte, oder ob dieses schreckliche Unheil noch einmal abgewendet werden konnte. 89
Aber auch die Götter der Finsternis waren in der Zwischenzeit nicht untätig geblieben. Sie hatten es bewusst so geplant, dass der letzte, entscheidende Kampf an vielerlei Orten stattfinden sollte. Es war der mächtige Azach, der seinen Geist mit dem seines Götterbru ders R'Lyeh vereinigte und auf diese Weise ein weiteres Tor zwischen den Dimensionen öffnete. Ein Tor, das so groß war, dass weitere dunkle Geschöpfe ihren Weg in diese Welt fanden - und nicht nur in diese Welt, sondern auch in den Hort der Götter des Lichts. Thunors Götterschmiede war verlassen und ohne Schutz - und auch Odans Wolkenhort drohte eine große Gefahr. Denn die Kräfte von jenseits der Dimensionen waren älter als die Götter des Lichts und der Finsternis. Sie hatten den Ruf vernommen und sie waren diesem Ruf auch gefolgt. Und als sie das Feuertor zwischen den Dimensionen durchstießen, erwachte eine dritte Kraft. Eine Kraft, die niemals hätte zum Leben erweckt werden dürfen. Auch nicht von den Göttern der Finsternis! Ende
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