Michael Buschmann Rock im Rückwärtsgang
Manipulation durch »backward masking«
Verlag Schulte + GerthAsslar
© 1987 ...
68 downloads
552 Views
671KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Michael Buschmann Rock im Rückwärtsgang
Manipulation durch »backward masking«
Verlag Schulte + GerthAsslar
© 1987 Verlag Schulte + Gerth, Asslar Best-Nr. 15663 ISBN 3-87739-663-1 1.Auflage März 1987 2. Auflage Juli 1987 3. Auflage Januar 1988 4. Auflage April 1988 5. Auflage Oktober 1988 6. Auflage Mai 1989 Umschlaggestaltung: Herybert Kassühlke Satz: Typostudio Rücker + Schmidt Druck und Verarbeitung: Ebner Ulm Printed in Germany
l La Via Del Iren Subterrano Es Peligrosa! - Diese Warnung tauchte in beinahe jedem U-Bahn-Wagen auf. Der spanische Satz bedeutete: Das unterirdische Zuggleis ist gefährlich! Obwohl sich dieser Hinweis auf die dritte, stromführende Schiene der U-Bahn-Gleisanlage bezog und nicht auf die Gefahren in den Zügen, hätten nicht wenige New Yorker dem übertragenen Bedeutungsinhalt zugestimmt, was bei durchschnittlich achtunddreißig Verbrechen pro Tag nicht verwunderlich war. Die klappernde Masse Stahl der Linie 9 von Queens nach Harlem donnerte fahrplanmäßig durch die schwarze Röhre. Die Musik in dem Wagenabteil mit der Nummer 26 war nahezu identisch mit dem Image, das die einundachtzig Jahre alte Untergrundbahn bei den Fahrgästen genoß. Auf einen Nenner gebracht, lautete es: schrill, schnell, schmutzig! Im Abteil 26 dominierte ausnahmslos die Jugend, 14- bis 18jährige Jungen und Mädchen mit einem phonstarken 2 x 35 Watt Radiorecorder. Aus den Membranen des Geräts quoll der fetzende Sound des Liedes ,Hells Bells' der australischen Hardrock-Band AC/DC. Die Dröhnung, bestehend aus kreischendem Gesang, wenig Höhen und reichlich Bässen, durchflutete das gesamte Abteil und die siebenundzwanzig Paar Ohren darin. Die Stimmung unter den Teenagern reichte von aufgedreht bis lethargisch. Einige holten durch Abschreiben ihre versäumten Hausaufgaben nach, wobei sich Mathematik als der Renner schlechthin erwies. Andere dösten noch müde vor sich hin. Wieder andere kritzelten Sprüche an die verdreckten Fensterscheiben, da die Wände des Wagens, innen wie außen, bereits restlos mit unentzifferbarer Graffiti beschmiert waren, oder erzählten sich Witze, die in nichts sauberer waren als die Fenster. Ein kleiner Rest von besonders Lebhaften sang eifrig alle Lieder mit oder ramponierte mit seinen Klappmessern das Inventar, weil eine Meinungsverschiedenheit über die Frage, wessen Klinge wohl schärfer sei, nicht anders zu klären war.
Unter denen, die ihre Stimmbänder erprobten, befand sich Celeste Rousseau, die eine Vorliebe für harte, kompromißlose Musik besaß. Zusammen mit ihrer Freundin Gina Sheehan kreischte sie mit AC/DC Sänger Brian Johnson um die Wette: „Mein Blitz zuckt über den Himmel. Du bist zwar noch jung, aber du mußt sterben. Ich mache keine Gefangenen, schone kein Leben." Ginas Stimme überschlug sich. Sie räusperte sich und setzte wieder ein: „Ich habe meine Glocken, ich bring dich in die Hölle. Ich kriege dich schon. Satan kriegt dich. Höllenglocken, ja, Höllenglocken! Ich läute die Glocken der Hölle." Celeste ereilte nun das gleiche Schicksal wie zuvor Gina. Protestierend klopfte sie gegen ihre Brust, und beide Mädchen mußten lachen. Dann sangen sie weiter: „Ich gebe dir schwarze Gefühle, dein Rückgrat rauf und runter. Wenn du auf Böses aus bist, dann bist du mein Freund. Sieh mein weißes Licht flammen, wenn ich die Nacht durchspalte. Wenn das Gute links liegt, dann werde ich mich rechts halten ..." Der Junge, dem der Radiorecorder gehörte, zog an seiner Zigarette und beobachtete mit Freuden die beiden singenden Mädchen schräg gegenüber. Den Schalk im Nakken, drückte er auf die Stop-Taste des Geräts. Die Musik verstummte augenblicklich, und das unkontrollierte Gekreische von Celeste Rousseau und Gina Sheehan war für Sekunden allein zu hören. Gelächter ringsum war die Folge dieser Sondereinlage. Herzlich wenig Begeisterung herrschte dagegen bei den Opfern des tückischen Streichs. Celeste Rousseau machte als erste ihrer Wut Luft: „Dewey Sallenger, du bist ein hundsgemeines Ekelpaket! Kommst dir wohl unheimlich komisch vor, was?" Der Angeklagte schien diese Worte als Kompliment aufzufassen. Die Brust des 18jährigen schwoll unter der schwarzen Lederjacke so sehr an, daß das schwarzeT-Shirt mitTotenkopf zum Vorschein kam. Während er den durch-
schlagenden Erfolg seiner Aktion noch sichtlich auskostete und mit seinen Freunden albern herumwitzelte, schritt Gina Sheehan zur Tat. Beleidigt nahm sie ihr Käsebrot und schleuderte es dem Übeltäter unter einem Hagel von Schimpfworten an den Kopf. Die Stimmung im Abteil 26 erreichte den Siedepunkt. Selbst die eben noch Dösenden waren jetzt hellwach, standen auf ihren Sitzen, hüpften, pfiffen und klatschten begeistert Beifall. Der Spötter schüttelte sich den klebrigen Käse mit einem entrüsteten „I bäh!" aus dem Haar. „Auch noch Stinkkäse!" Niemand von den Jungen und Mädchen hatte bemerkt, daß der Zug eine Station anfuhr. Erst als die Bremsen anzogen, wurde es ihnen bewußt. Doch zu spät! Etliche der auf den Sitzbänken Stehenden plumpsten zu Boden. Ernüchterung hatte sie schnell eingeholt und auf den Teppich des Alltags zurückbefördert. Viele Schülerinnen und Schüler mußten an dieser Station aussteigen. Celeste Rousseau und Gina Sheehan stülpten die Kopfhörer ihrer Walkmen über und fuhren Arm in Arm die Rolltreppe der U-Bahn-Station hinauf ans Tageslicht. Der Pulk von Schülern, in dem sie sich noch befanden, würde sich wie jeden Morgen sehr bald auf dem anschließenden Fußweg durch die Straßenschluchten von Harlem zerstreuen. Celeste Rousseau war sechzehn Jahre alt, mittelgroß, mit sportlich ranker Figur. Sie trug langes, blondes Haar, das stets wohlgekämmt und mit ein paar zusammengeflochtenen Strähnen durchsetzt war. Harte Musik war nicht ihr einziges Faible. Sie trug auch für ihr Leben gern Turnschuhe, eine Marotte, die ihre Mutter allmählich nicht mehr guthieß, weil es darauf hinauslief, daß die eleganten Schuhe fern der Welt vergammelten. Eine solche Einstellung ihrer Tochter konnte Mrs. Rousseau mit ihrem religiösen Empfinden nicht in Einklang bringen. Im Stillen sah sie Cels Gleichgültigkeit sogar als sündhaft an, aber was interessierte ihre Tochter schon Sünde oder NichtSünde. Neulich erst, als sie während einer Diskussionssendung im Fernsehen über Abtreibung den Abbruch der
Schwangerschaft als Mord und Sünde bezeichnete, hatte Cel ihre unmißverständliche Meinung vom Stapel gelassen. Sünde sei ein Märchen, hatte sie gesagt, eine Legende, an der bereits der Schimmel sitze, ein Spleen der älteren Generation, der außer Mode gekommen und heute zum Glück nicht mehr „in" sei. Betroffen über diese Haltung, hatte Mrs. Rousseau nach Unterstützung durch ihren Mann Ausschau gehalten. Vergebens! Ihn interessierten derartige Meinungsverschiedenheiten herzlich wenig. Als Sicherheitsbeamter des LaGuardia-Flughafens hatte er den Tag über genug Probleme zu wälzen und nichtige Debatten mit übernervösen Fluggästen zu fuhren, die noch am Boden schon dem Höhenkoller anheimgefallen waren. Er wollte wenigstens nach Dienstschluß seine Ruhe haben. Er bezog ein relativ gutes Gehalt, so daß die Familie sich ein kleines Häuschen in der Nähe des Juniper Valley Parks hatte leisten können. Mit diesem „Schloß im Grünen" im Stadtteil Queens sah er den Grundstein zu einem glücklichen Familienleben gelegt, aus dem nichtswürdige Kontroversen wie über das Schuhwerk und die Sünde gefälligst zu verschwinden hatten. Der Schülerpulk hatte sich tatsächlich merklich gelichtet. Celeste stromerte mit ihrer Freundin die St. Nicholas Avenue entlang, an der die Privatschule lag. Ein paar Meter vor ihnen dröhnte die Anlage Dewey Sallengers. Aber das beeinträchtigte die Qualität der Rocktitel von Iron Maiden, die durch Cels Gehörgänge jagten, nicht im mindesten. Nichts um sich herum sehend noch hörend, kam sie voll auf ihre Kosten. Denn heute war Gina Sheehan an der Reihe zu fuhren und aufzupassen, daß sie mit niemandem zusammenstieß und ordnungsgemäß Ampelübergänge überquerte. Mit einem leichten Stupser in die Rippen weckte Gina ihre Freundin, um sie aufmerksam zu machen auf das, was sich vor ihnen anbahnte. Dewey Sallenger nämlich, umgeben von seiner Clique aus durchweg jüngeren Burschen, die ihm ob seiner coolen Art fast zu Füßen lagen, stand
wieder einmal kurz vor seinem Fünf-Minuten-Auftritt. Jedesmal fing es mit halbstarken Sprüchen und Gebärden innerhalb der Clique an und endete stets mit aggressiven Auswüchsen gegenüber unbeteiligten Außenstehenden. Die Mädchen beobachteten, wie sich die Gruppe wieder einmal auf Kosten des Schwächsten amüsierte und wie ihr Rädelsführer dominierender und gleichzeitig übermütiger wurde, so daß er zunächst an Passanten generell und unverbindlich herumnörgelte und sie anschließend, nachdem kein großer Widerstand erwachsen war, direkt und zielstrebig anpöbelte. Cel und Gina hatten es schon erlebt, daß er Frauen mit obszönem Gerede beleidigte oder Menschen, die ein Kreuz um den Hals trugen, gehässig eine Abwandlung des bösartigen Ausspruchs von John Lennon an den Kopf warf: „Ich bin bald berühmter als Jesus Christus!" Vor Celestes Augen spitzte sich die Situation zu, als ein alter Mann vorüberging, der sich auf einen Gehstock stützen mußte. Nicht genug, daß die Clique ihm keinen Durchlaß auf dem Gehsteig gewährte und er in den Rinnstein auszuweichen hatte, nein, Dewey Sallenger kickte ihm lässig im Vorbeigehen die Gehstütze weg! Abrupt verlor der alte Mann den Halt, kippte zur Seite weg und prallte auf das harte Pflaster des Bürgersteigs. Den beiden Mädchen lief es kalt über den Rücken. „Ojemine!" stieß Celeste entsetzt hervor und ging entschlossen auf die Bande Halbstarker zu. Wie wild hieb sie auf die Rüpel ein, die eigentlich noch ein wenig mit dem wehrlosen Alten zu spielen gedachten, sich aber - durch den unerwarteten und forschen Angriff überrumpelt — nun langsam verzogen. „Haut ab, ihr Idioten! Los! Verschwindet! Ihr seid ekelhaft, wißt ihr das?" Cel zeigte sich nicht wählerisch in ihrer Wortwahl. Sie trat wütend ein paar Löcher in die Luft. „Haut endlich ab! Verzieht euch, ihr Dreckskerle, ihr!" Unter leisem Protest und zaghaften Androhungen zog die Clique endlich ab. Cel wandte sich um und blickte mitleidsvoll auf das Häufchen Elend, das vor ihr hilflos auf dem schmutzigen Teerbelag kauerte.
Sie neigte sich herab und fragte behutsam: „Haben Sie sich verletzt?" Um die Antwort verstehen zu können, riß sie den Kopfhörer herunter, der ihr um den Hals fiel. „Nein", erklang ein leises, fast zerbrechliches Stimmchen. „Mir tut nichts weh. Ich bin nur zu alt und ungelenk, um allein wieder hochzukommen. Wenn du mir dabei helfen würdest?" Cel schaute suchend auf zu Gina, die inzwischen den Gehstock aufgelesen hatte und sofort mithalf, ihre Anerkennung für Cels Tapferkeit nicht verhehlend. „Donnerwetter! Denen hast du es aber gegeben!" Gemeinsam schafften sie es spielend, die zierliche Gestalt auf die Beine zu heben. Mit der einen Hand nahm er den in merkwürdigem Rosa gehaltenen Stock entgegen, und mit der anderen strich er sein dünnes, silberweißes Haar aus dem Gesicht. Mit einem weichen, warmen Lächeln sagte er: „Dank deines mutigen Auftretens bin ich noch in Ordnung. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn man denen freie Hand gelassen hätte." Cel trat verlegen von einem Fußballen auf den anderen, stammelte ein unbeholfenes „Ach, i wo" und klopfte ein bißchen den Staub vom grauen Konfektionsanzug, der den hageren Körper des alten Mannes umschlotterte. Sie musterte anschließend das Ergebnis und strahlte den Mann zufrieden an: „So, geht's wieder?" „Ja. Danke sehr", entgegnete der Mann, an sich hinunterschauend und dann Cels Blick suchend. Nur mit Mühe konnte sie dem entwaffnenden Blick des Mannes standhalten. Er sagte nichts, doch seine braunen Augen sprachen Bände und schienen alles bis ins Tiefste ihrer Seele auszuloten - in ihr zu lesen wie in einem offenen Buch. Die vielsagende Stille zwischen den beiden wurde lediglich von den dumpfen Schlagzeugrhythmen und Gitarrensalven gestört, die aus Cels Kopfhörer kamen. Eine Stimme sang: ,Hölle und Feuer sind bereit, losgelassen zu werden. Fackeln lodern, und geheime Reime werden gepriesen, wenn sie anfangen zu schreien mit hocherhobenen
Händen. In der Nacht brennt das Feuer hell. Das Ritual hat begonnen. Satans Arbeit ist getan. Sechs, sechs, sechs, die Zahl des Tieres ...' Jemand zupfte an ihrem Ärmel. Verwirrt sah sie zur Seite. „Ich will ja nicht drängen. Aber wenn wir nicht bald weitergehen, Cel, kommen wir zu spät zu Mathe. Und du weißt, wie streng Hanselmann sein kann", bemerkte Gina mit wachsender Besorgnis. Cel lugte verstohlen auf ihre Armbanduhr und erschrak: „Oh, jetzt aber schnell!" Und zum alten Mann gewandt, der sie schmunzelnd beobachtet hatte: „Tut mir leid. Wir müssen weiter. Auf Wiedersehen!" Der Mann nickte verständnisvoll. „Beeilt euch, damit ihr meinetwegen keine Scherereien bekommt." Mit einem angedeuteten Winken entfernte sich Celeste, zaghaft rückwärts gehend. „Machen wir!" beteuerte sie. „Und passen Sie gut auf sich auf!" „Das nächste Mal helfe ich dir hoch!" rief er ihr nach. Cel reagierte auf diese Worte nicht mehr, da sie glaubte, sie falsch verstanden zu haben. Auf Ginas Zerren hin drehte sie sich schließlich in Marschrichtung. „Ich weiß was, das du nicht weißt", ulkte Gina plötzlich. „Das wäre aber das erste Mal, seit wir uns kennen", bot Cel Paroli. „Was ist es denn?" „Du verpaßt soeben deine Lieblingsgruppe." Erst jetzt fiel Cel auf, daß sie im Gegensatz zu ihrer Freundin den Kopfhörer nicht aufgesetzt hatte. „Tatsächlich! Iron Maiden!" stellte sie überrascht fest, schloß die Augen und ließ sich — völlig von der Umwelt abgeschottet - berauschen: ,... sechs, sechs, sechs, die Nummer für dich und mich. Ich komme wieder. Ich werde zurückkehren. Und ich werde deinen Körper besitzen und es dir heiß machen. Ich habe das Feuer und habe die Gewalt. Ich habe die Macht, meinen teuflischen Plan zu vollenden ...'
2 „Cel, komm mal herunter!" Mrs. Rousseau rief bereits das vierte Mal, ohne daß sie eine Antwort erhielt. Das reichte. Der Geduldsfaden war gerissen. Sie eilte die Treppe hinauf und stieß dieTür zum Zimmer ihrerTochter auf. „Hörst du nicht?" schimpfte sie ärgerlich drauflos und hielt dann abrupt inne. Nein, sie hörte natürlich nichts! Celeste lag langgestreckt auf ihrem Bett, die Augen geschlossen und den Kopfhörer übergestülpt. Das war erstens ihre Lieblingsbeschäftigung nach der Schule und zweitens ihre Lieblingspose. Kopfschüttelnd trat Mrs. Rousseau ans Bett und puffte Cel gegen die Schulter. Cel fuhr zusammen und nahm erbost den Hörer ab. „Ojemine! Mußt du mich unbedingt so erschrecken?" „Du hast gerade Grund, dich zu beschweren", drehte ihre Mutter den Spieß um. „Deinetwegen schreie ich mich heiser, weil du wieder unter diesen Mistdingern hockst. Du solltest herunterkommen und mir beim Abwaschen helfen." Mrs. Rousseau stammte drohend ihre Hände in die Hüften. „Wie sieht es übrigens mit den Hausaufgaben aus? Schon alles fertig, daß du dich hier faul berieseln lassen kannst?" „Das ist kein Berieseln, sondern eine Rekreationsphase", protestierte Cel schnippisch und setzte hinzu: „Schafft ungemein viel neue Energien. Solltest du auch mal probieren. Außerdem haben wir keine Hausaufgaben^, auf Sonst noch was?" „Ihr bekommt ja in letzter Zeit verdächtig wenig auf. Aber wenn dem so ist, dann kannst du dich wenigstens im Haushalt etwas nützlich machen." Celeste stöhnte. „Ojemine! Keine Hausaufgaben bedeutet noch lange nicht, daß ich auch keinem Streß ausgesetzt bin. Schule ist kein Zuckerschlecken." „Hilfst du mir..." Mrs. Rousseau hatte die Frage noch nicht ganz beendet, da hatte Cel schon ihren Kopfhörer wieder aufgesetzt, sich ins Kissen zurückfallen lassen und ihre Standardantwort in die Luft geschleudert. „Keinen Bock!"
Ihre Mutter atmete tief durch und zog sich resignierend zurück. Eine Weile lag Cel ruhig da. Dann begann sie unbeschwert, Jethro Tülls ,Aqualung' mitzusingen, indem sie den Text von der Rückseite des Plattencovers ablas: „Am Anfang schuf der Mensch Gott. Und er schuf ihn im Ebenbild der Menschen. Der Mensch gab Gott eine Menge Namen, auf daß er der Herr über die ganze Erde sei, wenn es dem Menschen paßte. Am sieben-millionsten Tag ruhte sich der Mensch aus. Und er stützte sich schwer auf seinen Gott und sah, daß es gut war. Der Mensch formte Aqualung aus dem Staube der Erde und eine Menge anderer von seiner Art. Diese niedrigen Menschen warf der Mensch in die Leere. Einige wurden verbrannt und einige aus ihrer Art entfernt. Und der Mensch wurde der Gott, den er geschaffen hatte, und mit seinen Wundern regierte er über die ganze Erde. Als diese Dinge geschahen, lebte der Geist, welcher den Menschen veranlaßt hat, seinen Gott zu schaffen, in allen Menschen und sogar in Aqualung ..." Sie legte die Hülle beiseite, weil die Nadel des Tonarms das Ende des schwarzen Vinylrundes erreicht und sich der Plattenspieler ausgestellt hatte, und erhob sich von ihrem Bett. Verträumt ging sie zu ihrem Schreibtisch am Fenster und fing an, in „Powerhouse" zu lesen, dem Monatsmagazin für Fans der harten Musikszene, das sie abonniert hatte. Sie versank derart in ihrer Lektüre, daß sie fürchterlich erschrak, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte. „Mir scheint, die dauernde Musik hat dich total schwerhörig gemacht. Dreimal Klopfen müßte doch reichen", sagte Mrs. Rousseau. Verstört drehte Cel sich auf ihrem Stuhl um und blickte ihre Mutter an. „Schon gut. Ich war in Gedanken", erklärte sie, durch die Anspielung etwas gereizt. Dann wanderten ihre Augen neugierig auf das Paket, das ihre Mutter im Arm hielt. „Was ist denn das?" „Ein Dankeschön dafür, daß du mich so tatkräftig beim Abwaschen unterstützt hast", entgegnete Mrs. Rousseau
ironisch. Der Hieb erweckte bei Cel ein ehrlich gemeintes Schuldgefühl. „Entschuldige, Mum! Weiß auch nicht, was in mich gefahren ist", gestand sie reuig. „Akzeptiert, Kleines!" Mrs. Rousseau küßte ihre Tochter versöhnlich auf die Wange und stellte das mysteriöse Paket auf die Schreibtischplatte. „Das ist heute morgen mit der Post für dich angekommen. ImTrubel hatte ich es ganz vergessen." „Lieb von dir. Danke!" „Hast du dir irgendwas bestellt?" Cel schüttelte den Kopf und rümpfte skeptisch ihr Stupsnäschen, während sie den quadratischen Karton begutachtete. Erst als ihr Blick auf den Absender fiel, erhellte sich ihre Miene. Wie elektrisiert sprang sie vom Stuhl, umarmte euphorisch ihre Mutter und küßte sie überschwenglich mit den Worten: „Ich hab gewonnen! Hurra! Ich hab gewonnen, Mum! Ist das nicht toll? Ich hab gewonnen! Ojemine! Ich!" Mit Not konnte Mrs. Rousseau sich vor dem Ersticken aus der Umklammerung lösen: „Was ist denn mit dir los, Kleines? Bist du jetzt übergeschnappt?" „Ich freue mich irrsinnig, Mum, das ist alles." Sie verpaßte ihrer Mutter einen letzten Freudenknutscher und machte sich mit flinken Handbewegungen über das Paket her. In Windeseile war der Karton in die Ecke geflogen, stand der Inhalt an dessen Stelle. „Pfui!" schrie Mrs. Rousseau entsetzt auf und sank auf die Bettlehne. „Was, zumTeufel, ist das, Cel?" Celeste schaute mit leuchtenden Augen auf das Objekt und erwiderte in selbstverständlichem Ton: „Beruhige dich, Mum. Mit Teufel liegst du gar nicht so schlecht." Sie kicherte, als habe sie einen Witz gemacht. „Darf ich vorstellen: Das ist Eddie, das Maskottchen meiner Lieblingsband und die rechte Hand desTeufels. Eddie, das ist meine Mutter." Sie kicherte von neuem. Ihrer Mutter war nicht nach Scherzen zumute. Ungläubig und ziemlich blaß um die Nase stotterte sie: „Den willst du doch nicht behalten?"
„Aber natürlich", antwortete Cel ohne Verständnis für die Frage. „Wo denkst du hin! Um Eddie zu gewinnen, habe ich ja extra an dem Preisausschreiben teilgenommen. Sieh hier." Sie hielt ihrer Mutter ein Blatt Papier unter die Nase. „Die Band beglückwünscht mich zum ersten Preis. Und alle fünf haben eigenhändig unterschrieben." Doch ihre Mutter starrte wie gebannt auf das abscheuliche Monster. Es handelte sich um ein Skelett, das in kostbare Kleider gehüllt war und auf einem thronähnlichen Stuhl kauerte. Das totenkopfgleiche Gesicht zierte eine lange, zerzauste Haarmähne; es war zu einem breiten, schmierigen Grinsen verzogen, das von Schadenfreude nur so überquoll. Cel nahm die Statue auf und wies ihr den schönsten Platz im Mittelpunkt ihres Wandregals zu. Sie prüfte ihre Entscheidung, indem sie den Kopf zur Seite warf, und fand sie schließlich ausgezeichnet. Mittlerweile hatte Mrs. Rousseau ihre Fassung und ihre Gesichtsfarbe zurückgewonnen. „Bin gespannt, was dein Vater zu diesem häßlichen Vogel sagen wird." Insgeheim jedoch wußte sie die Antwort: er würde nichts sagen. „Beleidige Eddie nicht!" warf Cel entrüstet ein, zwinkerte ihrem neuerworbenen Gut zu und sprang elanvoll die Treppe hinunter. „Ich muß dringend Gina anrufen und ihr die frohe Kunde berichten." Mrs. Rousseau folgte ihr aus dem Zimmer. „Hat sie etwa auch an dem Wettbewerb teilgenommen?" „Na klar!" rief Cel aufgeregt. Sie konnte es nicht erwarten, ihrer Freundin die Neuigkeit mitzuteilen. „Gina wird vor Neid fast platzen." Sie drückte eine letzte Taste und legte den Hörer ans Ohr. „Nicht so lange, hörst du?" warf ihre Mutter noch ein, bevor sie in der Küche verschwand. „Ja, ja ... Hallo, Gina? Ich bin's, Cel..." Eine Stunde später wurde Mr. Rousseaus Stimme im Hausflur vernehmbar. Wie immer, wenn er von der Arbeit kam, präsentierte er sich angesichts des Feierabends in erstaunlich guter Laune, was seine Frau als erste zu spüren
bekam. Heute zum Beispiel hatte er ihr einen Strauß Blu* men mitgebracht. Cel warf hastig den Hörer auf die Gabel, als sei sie bei etwas Unerlaubtem ertappt worden, und rannte zur Begrüßung auf den Flur. Sie flog ihrem Vater so stürmisch um den Hals, daß dieser fast das Gleichgewicht verlor. „Hi, Daddy!" „Hallo, Mäuschen! He, willst du deinen Vater strangulieren?" Ihr Vater war stämmig wie ein Baum und drei Kopf größer als Cel, so daß sie an ihm baumeln konnte wie eine Klette. „Nee, bloß schmusen." Mr. Rousseau sah sie ahnungsvoll lächelnd an. „Hat mein Schmusekätzchen was auf dem Herzen? Hast du was angestellt?" „Ich? Nö!" tat sie, als sei die Frage absurd, rümpfte ihre Nase und hüpfte vergnügt ins Wohnzimmer. Dort machte sie es sich vor dem Fernseher gemütlich. Ihre Mutter funkte energisch dazwischen: „Wie war's, wenn du Stephen ein bißchen spazierenfahren würdest, anstatt dich vor den Affenkasten zu hocken? Frische Luft • würde ihm gut tun. Und dir würde sie auch nicht schaden, i so blaß, wie du bist." Cel lag schon das obligatorische „Keinen Bock" auf den Lippen, als sie die über den Zeitungsrand schielenden nichts Gutes verheißenden Augen ihres Vaters bemerkte. „Ojemine!" knurrte sie mürrisch, stand aber trotzdem auf und schlurfte lustlos hinaus, um den Kinderwagen für ihr einjähriges Brüderchen zu holen. Obschon ihre Mutter verboten hatte, den Walkman mitzunehmen, versteckte ' Cel ihn geschickt unter ihrer Jacke und zog gelangweilt ab. Außer Sichtweite des Hauses holte sie ihn dann hervor. Sie stellte die Lautstärke so hoch ein, daß auch nicht der kleinste Laut des Gequakes ihres Bruders das Trommelfell mehr erreichte. Sichtlich aufgeheitert ging sie weiter in RichtungJuniperValley Park.
Der Schülerpulk löste sich an der St. Nicholas Avenue wieder auf. Cel hatte den alten Mann nicht vergessen. Wieder einmal mußte sie an den brutalen Zwischenfall des Vortages denken. Und ihre Erinnerung wurde um so lebendiger, je näher sie der ominösen Stelle kam, an der es passiert war. Erheblichen Anteil an ihrer geistigen Rückblende hatte die Tatsache, daß sie es war, die heute zu lotsen und zu wachen hatte. Gina Sheehan war wie entseelt in irgend welcheTräumereien entschwebt, so daß es schien, als bewege ein inwendiger Motor eine ansonsten leere Hülle durch die Gegend. Rauschen. Klack! Cels Walkman hatte sich ausgeschaltet. Sie wechselte die Cassette und drückte die Start-Taste. Das Vorband lief durch, dann setzten die gestochen klaren Aufnahmen ein. Die nächsten fünfundvierzig Minuten waren gesichert. Zumindest war Cel dieser Meinung. Dewey Sallenger und seine Meute schlenderte wie gehabt ein paar Meter voraus. Einer von ihnen deutete plötzlich auf irgend etwas weiter vorn, das überwältigend komisch sein mußte, da einige sich vor Lachen schüttelten, andere sich vor Belustigung auf ihre Oberschenkel schlugen. Cel war der Blick durch die langen Kerls verwehrt. Sie tippte auf einen betrunkenen Straßenpenner, von denen sich viele für ein paar lumpige Cents in aller Öffentlichkeit zur Schau stellten. Ihr taten die Menschen leid, die ihre Würde billig verscherbeln mußten, um das nackte Überleben zu sichern. Ein unhörbares Gicksen entwich ihrem Mund, als sie entdeckte, was Dewey & Co. tatsächlich so amüsierte. Sie blieb abrupt stehen. Gina, von dem plötzlichen Stoppen ihrer Freundin in die Realität zurückgeholt, traute ihren Augen nicht. Deweys Clique, die sonst die ganze Breite des Gehsteigs in Beschlag nahm, öffnete sich urplötzlich zu einem kleinen Spalier, und hindurch kam eine bescheidene Gestalt gehumpelt. Der Mann. Ihr Mann. Mit ausgebeultem Jackett, heiterer Miene und ... einem Walkman! Cel glaubte, ihr Herzschlag setze aus.
Der alte Mann schritt auf sie zu. Seine Augen unablässig auf sie gerichtet und mit einem friedlichen Lächeln auf den Lippen, blieb er vor ihr stehen. „GutenTag, ihr zwei!" „Tag, Sie alleine!" gab Gina keck zurück, die so etwas wie Schüchternheit nicht kannte. „Donnerwetter, Sie haben's ja echt gut drauf! Ich dachte immer, die ältere Generation würde an einem Technologiekomplex leiden." Der alte Mann nickte. „Geht man nicht mit dem Fortschritt, geht er eben allein davon. Rücksichtslos eilt er weiter und weiter, ob man nun Schritt halten kann oder nicht. Wer außer Puste gerät, der fällt zurück, denn der Fortschritt wartet nicht." Gina war beeindruckt. „Das ist richtig weise gesprochen. Genauso wie unser Bio-Pauker. Der kann das auch. Den müßten Sie mal kennenlernen." „Ach, wirklich?" fragte der alte Mann und ließ seinen Blick auffordernd von Gina zu Cel schweifen, die bis dahin stumm Wurzeln geschlagen hatte. „Ja, ja!" versicherte sie hastig und fügte interessiert hinzu: „Aber sagen Sie, wie geht es Ihnen?Wegen des Sturzes, meineich." Als sei das eine olle Kamelle, winkte er ab: „Ein paar far-r benprächtige Fleckchen, mehr nicht. Zum Glück nicht an allerwertester Stelle, so daß ich meine Hauptbeschäfti-; gung, das Sitzen, wenigstens schmerzfrei ausüben kann." i Sie lachten so unbekümmert, daß einige Passanten mit, vorwurfsvoller bis verständnisloser Miene ihre Köpfe: schwenkten, was die drei zu einem nur noch stärkeren Ge-; lächter animierte. Der alte Mann warf ein: „Blanker Neid. diese Muffel. Ob man auf offener Straße ausgelassen froh lich ist oder sie mit einem Eimer Wasser in der Hand überquert, die Menschen wundern sich zu Tode." Gina und Cel stimmten amüsiert zu. Er fuhr im gleichen Tenor fort: „Liest man am Tag acht:' Zeitungen, hält das alle Welt für okay. Aber liest man nur eine Seite in der Bibel, schon ist man verdächtig anormal und wird mit einem versteckten Grinsen schief angeseijl
hen." Er hielt plötzlich selbstanklagend inne. „Was erzähl' ich da bloß! Ihr müßt gewiß weiter, wenn ihr euren Zug nicht verpassen wollt." „Ach, i wo! Wir haben noch viel Zeit", schoß Cel großspurig hervor, ohne dabei auf Gina zu achten, die kontrollierend auf ihre Uhr sah und gänzlich gegenteiliger Ansicht war. ,Für einen Moment wird es noch ausreichen', dachte sie und lauschte aufmerksam, als Cel fragte: „Lesen Sie in der Bibel?" und sofort ernstlich versicherte: „Sie können es mir ruhig gestehen. Ich werde Sie auf keinen Fall schief ansehen." Der alte Mann antwortete mit der gleichen Ernsthaftigkeit: „Regelmäßig, jeden Tag, seit meinem neunzehnten Lebensjahr. Das sind jetzt fast sechs Jahrzehnte." Man merkte Cel an, daß sie mit so einem schweren Fall nicht gerechnet hatte. „Aber dann haben Sie das Buch doch bestimmt schon längst durch, denn da wird doch nie etwas dran umgeschrieben oder eine Fortsetzung wie bei Romanen veröffentlicht." „Schon unzählige Male habe ich das Buch durchgelesen." „Wird das nicht langweilig auf die Dauer, immer wieder dasselbe zu lesen? Sie wissen doch schon, was kommt, ehe Sie umblättern. Ich stelle mir das öde vor." Der alte Mann kniff eine Sekunde nachdenklich die Lippen zusammen. „Nehmen wir an, dein Lieblingsstar würde des Weges kommen, du hättest auch gerade einen Fotoapparat bei dir, und er würde sich anbieten, so lange vor der Linse zu posieren, wie es dir beliebt. Wieviel Fotos würdest du schießen? Eins, oder?" Cel ließ ihrer Phantasie freien Raum. Restlos begeistert malte sie sich die Situation aus. „Ein Bild? Ich bin doch nicht blöd! Wenigstens den Film in der Kamera würde ich total verknipsen." „Aber das ist doch immer die gleiche Person, das gleiche Gesicht, die gleiche Kleidung. Ich stelle mir das langweilig vor auf die Dauer." Cel wurde fast erbost über diese Engstirnigkeit: „Lang-
weilig? Absolut aufregend ..." Dann stockte sie, weil sie bemerkt hatte, daß der alte Mann sinngemäß ihre Antwort verwandt hatte, wenngleich sie die gedankliche Brücke nicht schlagen konnte. Er holte sie auf halber Strecke ab. „Du hast natürlich recht", gestand er, „ich bin sicher, jeder eingefleischte Fan würde von seinem Idol soviel Fotos knipsen, wie ihm zur Verfügung stehen. Denn obwohl es immer die gleiche Kamera und auch das gleiche Motiv bleibt, ändert sich für den Betrachter eine Menge. Er entdeckt mit jedem neuen Blick durch den Sucher vieles, was er bisher übersehen oder was im Verborgenen gelegen hatte. Insofern ist die Angelegenheit auch bei dem fünfzigsten Schnappschuß immer noch absolut aufregend." Damit war die Brücke geschlagen. Cel fühlte sich unwohl wie selten zuvor, da sie das Beispiel verstand und einsah, das Bibelstudium des Mannes trotz gegenteiliger Beteuerungen zu Anfang doch bös geschmäht zu haben. Ausgerechnet diesem lieben, alten Mann hatte sie doch beweisen wollen, daß sie anders war als die anderen Menschen. Ausgerechnet ihn hatte sie kränken müssen. Zum ersten Mal in ihrem Leben schämte sie sich in Grund und Boden. Zum ersten Mal spürte sie, wie Schamröte ihre schmalen Wangen leicht erhitzte. Gina wunderte sich zwar über die ungewöhnlich rosarote Farbe auf den Wangen ihrer Freundin, aber ansonsten hatte sie keine Antenne für das, was sich in ihrer Anwesenheit abspielte. Für sie stand in erster Linie im Vordergrund, daß es höchste Zeit war, auf den Bahnsteig zu gehen, wenn sie den Zug nach Queens noch erreichen wollten. Ungeduldig zupfte sie an Cels Khaki-Pumphose. „Wir müssen uns beeilen!" „Herrjemine, ja doch! Noch einen Moment, bitte." Zum alten Mann gewandt fragte sie: „Was hören Sie denn da schönes? Klassik?" Er schüttelte entschieden sein ' Haupt. „Keineswegs. Ich höre die gleiche Musik wie du." Cel rümpfte sehr skeptisch ihre Nase. „Woher wissen Sie, was ich gerade höre?"
Der Mann reichte ihr seinen Kopfhörer und schaltete das Gerät ein. Cel verfuhr ebenso mit ihrem Recorder und preßte je eine Hörmuschel an jedes Ohr, wobei der Mann zu ihrer Verblüffung erläuterte: „Auf beiden ist das Lied .Snowblind' von Styx." Cel verengte ihre hellblauen Augen und gestand verdutzt: „Tatsächlich! Das ist ja ein Ding! Nur ... bei Ihrem Band verstehe ich den Text gar nicht. Hört sich irre verzerrt und geleiert an. Fast so, so ... na!" Sie schnippte mit den Fingern und lachte dann, weil sie ihren Gedanken für so abwegig und verrückt hielt. „Fast so, wie rückwärts gespielt!" „Ist es auch", bestätigte er wie selbstverständlich. Das Eingeständnis war Anlaß genug für Gina, unversehens in der Unterhaltung wieder aktiv mitzumischen. „Oh, Mann! Sie sind ja ein richtig ausgeflippterTyp. Machen Sie öfter so einen Jux, daß Sie Cassetten rückwärts laufen lassen?" „Ja. Denn das ist eine ziemlich ernste Sache." „Ach!" stieß Gina sarkastisch mit einem mitleidigen Schmunzeln hervor und bestimmte: „Tut mir leid, wir müssen jetzt wirklich los!" Ohne auf Cel weiter Rücksicht zu nehmen, zerrte sie sie einfach am Arm die Stufen zur Plattform hinunter. Über ihre Schulter hinweg rief Cel dem alten Mann lachend nach: „Schade! Hätte gern mehr gehört, denn der Gag ist nicht schlecht." Sie schafften es, sich im U-Bahn-Abteil Fensterplätze zu ergattern. Auf dem Schmierfilm der Fenster ließ sich so herrlich malen. „Ein komischer Kauz, der Alte. Ich glaube, der tickt nicht ganz richtig", knüpfte Gina an das eben Erlebte an und ließ ihren Finger auf der Scheibe kreisen. „Aber er hat's für sein Alter noch voll drauf, sagte Cel begeistert und fuhr nicht ohne Erstaunen fort: „Daß man bei Liedern auch rückwärts was verstehen kann, habe ich nicht gewußt. Du?" „Nee. Glaube ich auch nicht. Überleg doch mal! Wenn
man etwas Vorwärtsgesprochenes zurücklaufen läßt, dann kann doch nur wirres Zeug herauskommen. Ist doch logisch!" Cel schüttelte ihren Kopf. „Ich habe es aber doch mit eigenen Ohren gehört, Gina. Das waren selbst rückwärts vollständige, klare Worte, wie vorwärts gesungen." Gina, der die Diskussion über so ein absurdes Thema allmählich zu bunt wurde, versetzte frostig: „Und was hast du, bitte schön, gehört?" „Vorwärts sangen ,Styx': ,1 try so hard to make it so.' Und rückwärts sagte eine Stimme:,Beweg dich, Satan, bewege dich in unseren Stimmen.'" Gina lachte laut auf. „Bist du sicher?" „Absolut! Das war kein Trick. Das war echt. Voll echt." „Ist ja ein Ding", war Gina nun überzeugt und sann still über dieses Phänomen nach. Cel starrte in sich gekehrt aus dem Fenster hinaus in die pechschwarze Finsternis der Röhre, durch die der Zug hindurchfegte. Sie hatte es mit eigenen Ohren hören können. Es war auf beiden Bändern das gleiche Lied gewesen. Unzweifelhaft! Im Schlaf würde sie es erkennen, und sogar rückwärts. Wie zwei Züge aus entgegengesetzten Richtungen hatten die Strophen sich genähert und am Punkt X getroffen. Es hallte noch frisch in ihren Ohren:,Bewege dich, Satan, bewege dich in unseren Stimmen!'Wie dieses exakte Timing möglich gewesen war, wie es überhaupt dazu kam, daß der alte Mann gewußt hatte, was sie gerade für Musik hörte - es blieb ihr schleierhaft. Sie wußte nur, daß das, was sie gehört hatte, der reinsten Wahrheit entsprach. „Würde mich mal interessieren, wie Styx das gemacht haben. Dich auch?" fragte Cel neugierig. „Naja, schon", gestand Gina zögernd und ergänzte mit einem schelmischen Grinsen: „Vielleicht ganz nützlich, wenn ich bald meine eigene Band gründe." Sie lachten und alberten den Rest der Fahrt herum.
4 Versonnen saß Cel am Abendbrottisch. Sie aß ein paar Happen und stocherte ansonsten lustlos in ihrem Essen herum. Ihrem Vater, der sie seit einiger Zeit von der Seite beobachtet hatte, war nicht entgangen, daß das Verhältnis zwischen Frau und Tochter leicht angespannt war. Entschlossen wollte er der Ursache nun auf den Grund gehen, tupfte sich mit der Serviette die Mundwinkel ab und fing einfach an. „Also, was ist los zwischen euch beiden? Glaubt ihr, ich merke nicht, daß da was ist?" „Ach, eine absolute Lappalie. Nicht der Rede wert", spielte Mrs. Rousseau die Angelegenheit herunter. „Deine Tochter wirft mir fehlendes Verständnis vor, nur weil ich mich nicht für eine Sache interessiere, die sie offenbar sehr beschäftigt." „So? Und was wäre das?" fragte ihr Mann und blickte Cel erwartungsvoll an, die unverwandt auf ihr Essen stierte. Als sie keinerlei Anstalten machte, zu antworten, stieß ihre Mutter sie mit dem Ellenbogen an. „Nun komm! SagesDad! Mir hast du's ja auch erzählt." Cel beschrieb, was sie heute auf dem Nachhauseweg von der Schule erlebt hatte. Bis ins Detail und völlig hingerissen erzählte sie von der rückwärts abgespielten Musik, die sie gehört hatte. Mit leuchtenden Augen schloß sie: „Das war echt irre. Der Satz war so klar verständlich wie jedes Wort, das ich jetzt zu dir spreche. Super, nicht? Hast du gewußt, daß so etwas möglich ist?" Ihr Vater zeigte sich unbeeindruckt. „Wenn du meinst, daß mir das alles verständlich ist, dann irrst du dich gewaltig. Anstatt deine Energie für so einen Firlefanz zu vergeuden, solltest du lieber mit gleichem Elan an deine Schulbücher gefien. Das täte dir besser." Und nach einer kurzen Pause ergänzte er: „Natürlich weiß ich nichts von diesem Rückwärtsquatsch. Es gibt weitaus Wichtigeres im Leben, und das solltest du auch allmählich begreifen." Cel mußte sich ungeheuer zusammenreißen, um nicht
patzig zu werden. Sie faltete ruhig ihre Serviette zusammen und stand auf. „Vielen Dank für euer Verständnis. Entschuldigt mich, aber ich bin satt. Gute Nacht." Damit verließ sie den Tisch und ging auf ihr Zimmer. *
Am nächsten Tag war Cel in der Schule selten mit ihren Gedanken bei der Sache. Geschichtsdaten und Gedichtinterpretationen interessierten sie weniger als die eine Frage, die seit gestern ungeklärt im Raum stand: Was hatte es mit der rückwärts abspielbaren Musik auf sich? Als der Unterricht nach fünf Stunden endlich vorbei war und sie mit Gina den gewohnten Weg zur U-Bahn ging, hoffte sie sehr auf ein erneutes Zusammentreffen mit dem alten Mann. Doch ihre Hoffnung erfüllte sich nicht. Obwohl sie am Eingang der Station noch einige Minuten nach ihm Ausschau hielt, was Gina stark übertrieben fand, mußte sie enttäuscht die Heimfahrt antreten. Zu Hause angekommen, brachte sie ihre Schultasche auf ihr Zimmer, wo sie als erstes die Post studierte, die ihre Mutter für gewöhnlich unübersehbar auf die Schreibtischunterlage legte — vorausgesetzt natürlich, jemand schrieb ihr, was ausgesprochen selten geschah. Doch heute handelte es sich augenscheinlich um einen Ausnahmetag. Ohne auf den Absender zu achten, erkannte sie anhand des Schriftzuges, daß sie das rare Vergnügen hatte, einen Brief von ihrer Freundin Stacy zu bekommen. Sie schlitzte den Umschlag auf, und zum Vorschein kam ein kurzer Brief mit beigelegter Cassette. Sie las: „Hi, Cel! Alles im Lot? Du möchtest sicherlich wissen, was es mit der Cassette auf sich hat? Nun, letzte Woche war ich auf einem DIO-Konzert in Denver. Du weißt, daß ich auch auf Ronnie riesig abfahre. Jedenfalls, geschickt, wie ich nun mal bin, habe ich meinen Recorder mit hineingeschmuggelt und einiges aufgenommen. Dabei spielten sie unter anderem eine neue Version von ,Heaven and Hell', deren mystischen Text ich wahnsinng stark finde und die
ich dir zur Kostprobe kopiert habe. Während des Liedes wurde es in der Halle richtig finster, und die Band brachte ein paar knallige Effekte. Nichts für schwache Nerven, kann ich dir sagen! Etliche fielen um, mußten sich übergeben oder stürzten kreischend aus der Halle. Ich muß gestehen, auch mir wurde ein bißchen mulmig und flau um die Magengegend. Hör mal rein und schreib mir, wie es dir gefallen hat. Auf bald! Deine Busenfreundin Stacy!" Celeste faltete das Blatt zusammen, griff nach der Cassette und legte sie ein. Die Tonqualität der Aufnahme ließ zwar beträchtlich zu wünschen übrig, aber bei heimlichem Mitschneiden durfte man keinen Ohrenschmaus erwarten. Die ersten Strophen waren ihr mehr oder weniger bekannt, dann folgte der neue Teil. Begleitet von harten, abgehackten Gitarrensalven, die Cel irgendwie bedrohlich fand, sang Ronnie James Dio: ,Da ist ein großer schwarzer Schatten, der zu mir aufsieht. Er sagt, die Hölle ist, wo du sein solltest. So komm mit mir, und ich werde dir geben, was du begehrst. Aber zuerst mußt du brennen, brennen, brennen im Feuer.' Er brüllte aus voller Kehle: ,Ich muß dich dorthin schaffen!' Dann folgten ein schauriges Gestöhne und der Satz: ,Das Leben ist so hart', ehe es mit der Untermalung von unaufdringlichen, weichen Orgeltönen weiterging: ,Dann sah ein kleiner, weißer Schatten auf mich herab und sagte, der Himmel ist es, wo du sein solltest. So komm mit mir, weil ich weiß, was zu tun ist.' Der Gesang schwoll erneut zu einem heftigen, protestierenden Gekreische an: ,Und ich sagte, hau ab! Ich will brennen in der Hölle mit euch allen, mit euch allen!' In Jubeltönen fand das okkulte Spektakel dann ein Ende. ,Wir brennen in der Hölle. Ich bring dich dahin! Ich nehme dich mit dorthin! Cel schaltete das Gerät aus und verspürte erstmals beim Hören von Musik eine Gänsehaut, wie sonst höchstens bei Horrorfilmen. Es war ihr, als paeke sie eine leblose, eisige Hand im Genick. Sie schüttete sich vor Unbehagen und musterte ihr Zimmer wie jemand, der fremd darin war. Was ihr vorher nie aufgefallen war - es wirkte plötzlich
kalt und erstickend. Obwohl sich im Zimmer überhaupt; nichts verändert hatte, fühlte sie sich abgeschreckt, isoliert^ gefangen wie eine Maus vor der Schlange. Krampfhaft ve»' suchte sie, den Spuk aus ihrem Kopf zu verbannen, indem sie einen Roman aus dem Bücherregal nahm. Doch weder der Zwang zur Konzentration noch die Gemütlichkeit auf dem Bett konnten die aufsteigenden Gefühle vertreiben. Sie behaupteten sich hartnäckig, als gehörten sie einfach dazu. Cel fröstelte. Sie fühlte sich wie in einem unterkühlten Raum, wie in einem Kühlschrank. In ihren Gedanken spann sich das Empfinden ohne ihr Zutun weiter: ,Wie ... wie in einer ... Leichenhalle! Dort, wo der Tod zu Hause ist.' Entsetzt sprang sie vom Bett auf und lief hinunter zu ihrer Mutter in die Küche. Zögernd, die Arme verschränkt, weil sie fror, lehnte sie sich an den Türrahmen. Ohne aufzusehen, sagte ihre Mutter: „Komm, hilf mir mal!" Sie stand am Wickeltisch und verpaßte dem jüngsten Mitglied der Familie gerade eine frische Windel. Cel ging ihr zur Hand. Ein paar Griffe, und der süße Fratz konnte wieder in sein Bettchen. „Bringst du ihn ..." Mrs. Rousseau stockte. „Kleines, was ist? Du zitterst ja am ganzen Körper! Ist dir nicht gut?" „Ausgezeichnet", log Cel, nahm kurzerhand ihr Brüderchen und brachte es in sein Zimmer. Nachdem sie ihn liebevoll zugedeckt hatte, betrachtete sie ihn nachdenklich für einige Zeit. Zuerst sein rundes, molliges Gesicht. Dann die kleinen Arme, die unkontrolliert in der Luft umherfuchtelten. Seine kugelrunden Augen, die unablässig an ihr hafteten. Und zum Schluß das ehrliche, herzliche Lächeln, das jedes Herz zu bewegen verstand. ,Ojemine! Lach du nur. Ich kann dir bloß raten, werde nie größer oder älter. Sonst wird dir das Lachen noch derbe vergehen, weil dir dann nämlich niemand mehr großartig Beachtung schenkt. Um die Älteren schert sich niemand. Die sind plötzlich ungezogene Strolche und Randalierer, eingebildete Gören und Flittchen.' Sie hielt dem Baby einen Finger hin, den es sofort neugierig untersuchte. Ja, kleiner Bruder, deinetwegen werde
ich nur noch so nebenbei am Leben erhalten. Du bist die Hauptattraktion. Genieß es, solange du es noch bist!' Sie beugte sich tiefer zu dem Kleinen herunter und drückte ihm einen dicken Kuß auf die Stirn. Bevor sie das Zimmer wieder verließ, dieTürklinke bereits in der Hand, drehte sie sich noch einmal um. Mitleidig hauchte sie: „Werde nie größer, kleiner Wurm, hörst du?" An diesem Abend harrte Cel so lange zwischen ihre Eltern gekuschelt vor dem Fernseher aus, bis der Verhandlungsspielraum mit ihrem Vater um eine Verlängerung restlos ausgeschöpft war. Die Sendezeit war für sie unwiderruflich abgelaufen, sie mußte ins Bett. Eine Stunde später lag sie immer noch hellwach. Und Aussicht auf baldige Müdigkeit bestand nicht. Sie zwang sich, ihrer Schlaflosigkeit eine humorvolle Seite abzugewinnen, indem sie zu sich sagte, das Sandmännchen müsse sie nicht nur vergessen, sondern gleichzeitig auch sämtliche Schafe zum Zählen weggelockt haben. Die Aufheiterung war nur von kurzer Dauer. Das Ringen um Schlaf scheiterte fortlaufend daran, daß die Wärme, die sie zwischen ihren Eltern wenigstens andeutungsweise verspürt hatte, langsam aber sicher verflog, präziser: von der Eiseskälte des Zimmers Stück für Stück verschlungen wurde. Da half es auch nicht, daß sie sich enger in ihre Decke einwickelte. Durch das offene Fenster drang recht warme Luft ins Zimmer. Die Vorhänge bauschten sich durch den leisen Abendwind. Lange Zeit noch zitterte sie, bis sie irgendwann gegen Morgen doch vom Schlaf heimgesucht wurde.
5 Müde und wieder ziemlich desinteressiert saß Celeste ihre Stunden in der Schule ab. Da trug selbst der wunderbare Ausblick auf das bevorstehende Wochenende nicht zur Aufmunterung bei. Ihre Eltern hatten vor Tagen schon angekündigt, daß sie zur Großmutter nach Pittsburgh fahren würden. Sie hätte durchaus mitfahren dürfen, aber das erst ein Jahr alte Brüderchen nicht. Der kleine Schreihals machte eine fast achtzigjährige alte Dame bei mehr als einem Tag Anwesenheit bloß verrückt, hatte ihre Mutter erklärt. Folglich - auch Cel mußte daheim bleiben. So verhieß das Wochenende für sie nichts anderes als Babysitten, Babysitten und nochmals Babysitten, während ihre Klassenkameradinnen die Pläne für heimliche Disco-Besuche in die Tat umsetzen konnten. Der Frust darüber beherrschte Cel so sehr, daß sie nicht eine Sekunde mehr an den alten Mann dachte, zumal sie ihn wieder nicht auf dem Schulweg angetroffen hatte, den zweiten Tag hintereinander. Sie verabschiedete sich von Gina, nicht ohne sich zum Frisbeespielen am Nachmittag im Park zu verabreden-ein Luxus, den sie für akzeptabel hielt. Dann trabte sie gemächlich nach Hause. Dort herrschte, wie immer vor längeren Autofahrten, hellstes Durcheinander. Besonders ihre Mutter verstand es unnachahmlich, aus allem eine regelrechte Staatsaktion zu machen. „Hi, Dad!" begrüßte sie ihren Vater, der in der Garageneinfahrt den blankgeputzten Camaro mit Koffern undTaschen belud, und konnte sich ein Spötteln nicht verkneifen. „Soll ich zwanzig Schuß Ehrensalut geben?" „Hallo, Mäuschen! Tu das, und vergiß bei unserer Rückkehr Militärregiment und roten Teppich nicht!" schlug er in die gleiche Kerbe. Mrs. Rousseau hatte ihre Tochter zufällig durch das Schlafzimmerfenster erspäht und stand nun im Hauseingang. „Robert, trödel nicht herum! Celeste, komm herein!" Eine geschlagene halbe Stunde nahm sie sich ihre
Tochter vor, erklärte und ließ wiederholen, zeigte und ließ nachmachen. Schließlich war sie zufrieden — sie konnten beruhigt fahren. Es folgte eine endlose Abschiedsszene mit den allerletzten Tips, dann brauste der weinrote Flitzer davon. Ruhe! Cel warf erst einmal einen Blick in Stephens Zimmer. Hübsch brav lag er da und erledigte seinen Mittagsschlaf. In Vorschau auf den Radau, den er bald machen würde, und ob des verpatzten Wochenendes zischte sie leise zum Bett hinüber: „Vergiß, was ich dir gestern gesagt habe, und werd' möglichst rasch groß!" Pünktlich traf Cel - in geschwisterlicher Begleitung, versteht sich - an der vereinbarten Bank gegenüber der Toll- und Balgwiese ein. Gina war noch nicht da, aber sie ließ nicht lange auf sich warten. In Sportkleidung kam sie wenig später hinter den Bäumen hervorgeradelt. „Hast du heute etwas Größeres vor?" fragte Cel überrascht, die in normaler Schulkleidung erschienen war. Das einzig sportliche Merkmal an ihr, abgesehen von der Figur, bildeten ihre Turnschuhe, und die trug sie obendrein aus purer Gewohnheit. Gina stellte ihr Fahrrad ab und fischte die Frisbeescheibe aus dem Korbgepäckträger. Im Gegensatz zu Cel vermittelte jede ihrer Bewegungen Spritzigkeit und Spiellaune. „Frisbee ist harter Leistungssport. Da kommt es vor allem auf die äußeren Voraussetzungen an", konstatierte sie felsenfest überzeugt und hopste sich auf der Stelle warm. „So?" entgegnete Cel mißmutig. „Na klar!" Im Kniehebelauf näherte Gina sich dem Kinderwagen. „Will wenigstens deinen süßen Bruder begrüßen", ächzte sie. „Guten Tag, mein Spatz. Erkennst du mich wieder? ... Ui, wie drollig!... Du, du, du!" „Ich unterbreche den Flirt sehr ungern", drängte Cel, »aber mir ist, als hätten wir beide uns hier verabredet." „Ja, ja, entschuldige! Er ist so irre niedlich. Man kann sich gar nicht satt sehen." „Dann lade Stephen doch für morgen zu einem ganz-
tägigen Rendezvous ein. Er sagt gewiß nicht nein. Und ich schon gar nicht." „Dein Witz und Charme sind wieder überwältigend. Was machen wir nun mit deinem Bruder?" „Der bleibt hier stehen", erwiderte Cel entschlossen und steckte ihrem Brüderchen den Schnuller in den Mund: „Fertig! Aus!" Gina zauderte einen Moment. „Hast du keine Angst, jemand könnte ihn klauen?" „Ojemine! Wer den klaut, ist selber schuld. Außerdem bleiben wir ja in der Nähe." Gina zog verblüfft ihre Augenbrauen hoch, und beide sprinteten auf die Grünanlage. Kam Cel anfänglich noch relativ häufig ihrer Verantwortung in Form von flüchtigen Sicherheitsblicken nach, so wurden sie mit zunehmender Spieldauer seltener und seltener, bis sie ihre Pflicht beim ausgelassenen Herumtoben ganz vernachlässigte. Sie dachte nicht mehr an Ort und Zeit, nur an die warmen Sonnenstrahlen, das frische Grün des Rasens, die frische Luft-bis sie jäh aus ihrer Begeisterung gerissen wurde! Das schrille Geschrei eines Babys zerriß die Idylle. Cel merkte sofort, woher es kam, und ihr Blick schnellte zum Kinderwagen. Dort beugte sich eine fremde Gestalt über ihr Brüderchen. Sie konnte nicht mehr erkennen, als daß es sich um einen Mann handelte, der mit seinen Händen im Innern des Wagens herumnestelte. Gleich würde er den hilflosen Stephen an sich reißen und fortlaufen. Und sie selbst war noch so weit entfernt... Cel erstarrte einen Moment. Dann ließ sie die Frisbeescheibe fallen und holte alle Reserven aus ihren Beinen heraus, die noch vorhanden waren. Viel zu langsam näherte sie sich. Noch immer war der Mann über den Kinderwagen gebeugt. Stephens Schreien wurde leiser. ,O mein Gott', dachte Cel ohnmächtig, ,er will ihn nicht entfuhren ... er ... er erstickt ihn!' Sie sah ein Kissen vor Stephens Gesicht, die hilflos rudernden Ärmchen, die vergeblich strampelnden Beine. Nackte Panik ergriff sie. Dannein kurzer, stechender Schmerz! Sie war in ein Mauseloch
getreten. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Gras. Nicht ernstlich verletzt, aber dafür total verzweifelt, lag sie da. „O Gott", schluchzte sie, „wenn es dich gibt, warum läßt du das zu?" Sie riß sich zusammen und brüllte: „Lassen Sie meinen Bruder in Ruhe! Hilfe! Polizei!" Der Schmerz ließ nach. Cel wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen und schaute auf. Der Mann stand immer noch am Kinderwagen. Jetzt blickte er auf ihr Geschrei hin zu ihr herüber. Während sie sich hochrappelte, ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen, übersah sie in ihrer Aufregung den Stock, der am rechten Arm des Mannes baumelte. Sie lief schon wieder, so gut sie konnte, und war nur noch wenige Meter von dem Mann entfernt, als sie der zweite Schock traf- braune Augen, ein entwaffnendes Lächeln, silberweißes Haar. Und nun fiel ihr auch der rosa Gehstock auf! „Was haben Sie mit Stephen gemacht?" schrie Cel und schob den alten Mann schroff beiseite, um freien Blick in den Wagen zu haben. Der Mann stutzte. „Ich? Gemacht? Gar nichts!" Unterdessen war auch Gina herbeigeeilt, um ihrer Freundin zu helfen. Doch die sah zu ihrem Erstaunen einen quicklebendigen, vergnügt mit einem Entchen spielenden Stephen. Der alte Mann fragte: „Wißt ihr, wem der Wurm gehört?" „Und ob!" entgegnete Gina. „Ich möchte nur mal wissen, wer diesem armen Ding den Schnuller so weit in den Mund gestopft hat, daß es fast daran erstickte." Er betrachtete das Baby und drückte ein paarmal auf den Bauch der Ente, so daß sie einen quiekenden Ton von sich gab, der Stephen sichtlich erheiterte. Cel war ein Stein vom Herzen gefallen, daß es ihrem Brüderchen gutging. Aber dieses Gefühl überwog nicht lange. Es wurde abgelöst von Scham wegen der ungerechten Verdächtigung und ihres fahrlässigen, lieblosen Verhaltens.
„Das Baby gehört zu mir. Ich habe ihm den Schnuller gegeben", gestand sie leise und beeilte sich zu plädieren: „Aber ich habe ihn nicht absichtlich zu tief hineingesteckt. Das müssen Sie mir glauben!" Zu ihrem Brüderchen hinabgebeugt, gestand sie reuig: „Es war meine Schuld, Stephen. Kannst du mir verzeihen?" Gina legte besorgt ihren Arm um Cels Schulter. „Nun laß dich doch nicht verrückt machen. Du hast nichts Schlimmes getan. Das kann ich bezeugen. Schließlich war ich dabei, als du ihm den Nuckel gegeben hast." „Er wäre meinetwegen fast erstickt!" wollte Cel sich nicht trösten lassen. Gina konterte: „Das sagt er. Weißt du, ob's stimmt? Vielleicht will er mit dieser Behauptung nur von seinen eigenen bösen Absichten ablenken." Der alte Mann tat, als habe er die Beschuldigung überhört, und redete Cel gutmütig zu. „Keine Schuld ist zu groß, als daß sie nicht von Gott vergeben werden könnte. Und er hat dir vergeben." Ginas Haltung wurde feindselig. Gereizt polterte sie: „Das fehlte noch! Zu allem Überfluß auch noch den Frommen mimen. Aber darauf fallen wir nicht herein. Überhaupt ist es eine unerhörte Frechheit, meine Freundin als Schuldige hinzustellen, wo Sie von uns doch wohl der Übelste sind. Und wer sind Sie eigentlich? Und wo kommen Sie her? Ich habe Sie hier im Park nämlich noch nie gesehen. Spionieren Sie uns nach? Es hat fast den Anschein." Sie lachte sarkastisch. „Ungeheuerlich! Erzählen uns, Sie wären rechtzeitig vorbeigekommen, um das Baby vor dem Ersticken zu bewahren. Meinen Sie, wir glauben alles, was ein Dahergelaufener behauptet?" Zynisch setzte sie hinzu: „Der rettende Engel, vom Himmel gesandt! Hoch soll er leben!" Cel starrte ihre Freundin ungläubig an. „Gina, du tust dem Herrn unrecht." „Ach nee! Fällst du mir jetzt auch noch in den Rücken! Das ist der Dank, daß ich dich verteidige, oder was?" „Was regst du dich denn so auf?"
„Ach, ist doch wahr! Der Kerl spielt sich hier auf, als l wäre er Gott. Dabei ist er nichts weiter als ein Heuchler, l Setzt dir Flöhe ins Ohr von wegen rückwärts gespielter l Musik. Und nun kommt er dahergelaufen, sorgt dafür, daß jwir unser Spiel abbrechen müssen und schickt dich anIschließend auf einen Schuld-Trip. Das Schlimme ist, daß (du ihm auch noch alles glaubst. Was weißt du denn von jihm? Wenn es nicht zu albern wäre, würde ich sagen, der Kauz ist unheimlich geil auf dich. Ganz gewiß ist er reif für die Klapsmühle." „Gina! Schämst du dich nicht?" versuchte Cel ihre Freundin zur Vernunft zu bringen. Der alte Mann, der den verbalen Schlagabtausch traurig verfolgte, fiel Cel ins Wort: „Bitte! Bitte! Keinen Streit meinetwegen! Vertragt euch, bitte! Es war wirklich nicht meine Absicht, euch beim Spielen zu stören oder Celeste Schuldgefühle einzuflößen." Cel tat der Mann leid. Deshalb griff sie zu einer Lüge: „Sie haben nicht im geringsten gestört. Gina und ich wollten ohnehin gerade eine Pause einlegen." Ihre Freundin fuhr ihr patzig in die Parade: „Achja? Davon weiß ich ja gar nichts. Na schön, wie du meinst. Aber sieh dich vor. Ich habe dich gewarnt!" Beleidigt wandte sie sich ab, ging erhobenen Hauptes zu ihrem Fahrrad. Bevor sie losfuhr, ließ sie eine letzte Attacke los: „Ruf mich an, wenn du von deinem Opa-Tick runter bist!" Die beiden sahen Gina Sheehan mit unterschiedlichen Gefühlen einen Moment lang nach. Dann konstatierte der alte Mann lakonisch: „Ein ganz schön hitziges Temperament." „Sie nehmen ihr doch nicht übel, was sie gesagt hat, oder? Ich meine, so kenne ich sie gar nicht. Sie ist sonst richtig nett, höflich, zuvorkommend", und mit einem abschließenden Blick auf den immer kleiner werdenden Punkt in der Ferne: „Aber heute scheint ihr eine Laus über die Leber gelaufen zu sein. Ich möchte mich für sie entschuldigen."
Der Mann winkte lächelnd ab: „Das ist nicht nötig. Ich denke, ich war in meiner Jugend nicht viel anders. Auch unbändig und ungestüm. Wollen wir uns nicht setzen? Dann plaudert es sich angenehmer." Cel willigte ein, und beide nahmen auf der Bank Platz. Irgendwie kam ihr das alles komisch vor: auf der einen Seite war ihr, als kenne sie diesen Mann schon seit Jahren, auf der anderen Seite machte ihr der Gedanke zu schaffen, daß sie neben einem Wildfremden saß. Als habe der in ihren Gedanken gelesen, erklärte er: „In einem Punkt hatte deine Freundin recht. Wir sind uns zwar schon mehrmals über den Weg gelaufen, doch voneinander wissen wir fast nichts. Das sollten wir schnellstens ändern." Lächelnd reichte er ihr die Hand: „Mein Name ist Saul Gideon." Cel legte bereitwillig ihr schmales Händchen hinein. „Ich heiße Celeste Rousseau." „Ein sehr hübscher Name. Klingt nicht sehr amerikanisch." Cel streckte ihre Beine von sich und schlug sie übereinander, ihre Hände unter den Schenkeln vergrabend. „Meine Großeltern stammen aus Frankreich. Vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wanderten sie hierher aus." Der alte Mann nickte verstehend. Er hatte den Stock zwischen seine Füße gestellt, so daß seine Hände nun auf dem Knauf ruhen konnten. „Leben die Großeltern noch?" „Nur meine Oma. Mum und Dad besuchen sie übers Wochenende." Der alte Mann las die Traurigkeit aus ihren Worten heraus und sagte: „Und du mußtest hierbleiben und auf deinen Bruder aufpassen. Wärst lieber mitgefahren, wie?" „Zumindest viel lieber, als allein in dem großen Haus ein ödes, kaputtes Wochenende abzugammeln." Sie sann einen Augenblick über ihre Äußerung nach. „Ist zwar nicht fair gegenüber meinem Bruder, aber der versteht ja zum Glück noch nichts." „Nicht fair, aber dafür ehrlich!"
„Saul Gideon klingt auch nicht gerade urindianisch?" „Indianisch ist gut!" gestand er lachend und fuhr fort: „Wir zwei haben einiges gemeinsam. Bei mir waren es nicht die Großeltern, sondern die Eltern, die emigrierten. Sie flüchteten 1932 aus dem Nazi-Deutschland nach Amerika." „Dann sind Sie ein Jude?" Er nickte. Eine kleine Windböe zerzauste sein dünnes Haar, das er sogleich mit der flachen Hand zurechtzustreichen suchte. Cel beobachtete ihn verstohlen von der Seite. Das Profil seines Gesichts war überaus sanft geschnitten, die Haut fein und mit nur ganz geringfügigen Fältchen. Das Gesicht machte ihn wesentlich jünger, als er inWirki lichkeit war und als das körperliche Gebrechen schließen ließ. Zu gern hätte sie ihn nach seinem genauen Alter gefragt. Doch sie wußte von ihren Eltern, daß ihr eine solche ' Frage nicht zustand. Dafür aber konnte sie nun das Thema ansprechen, das sie seit Tagen nicht mehr losließ. Eilfertig sprudelte es aus ihr hervor: „Sie haben mir neulich ein Stück einer Cassette vorgespielt, das rückwärts ablief. Seltsamerweise konnte ich einen Satz verstehen, als wäre das Band doch vorwärts wiedergegeben worden. Die Worte waren: ,Bewege dich, Satan, bewege dich in unseren Stimmen!' Was hat es damit auf sich? Ich würde gerne mehr darüber wissen." „Das sollst du auch", erwiderte der alte Mann. Mit seinen schlanken Fingern kramte er in seiner ausgebeulten Jackentasche und holte den Walkman hervor. Er reichte ihr den Kopfhörer, während er das Gerät selbst auf seinem Schoß behielt. Geduldig wartete er ab, bis Cel ihre Haare hinter die Ohren gestrichen und die beiden Muscheln plaziert hatte. Auf ihr Nicken hin startete er die Cassette. Cel lauschte aufmerksam. Das Lied begann mit schaurigem Heulen, abgehackten Geigensequenzen und dem unheimlich anmutenden Knarren einer Holztür. Noch ein paar wahllos aneinandergereihte Tonfetzen und ein unverständliches Gemurmel wurden hörbar, erst leise, dann an Phonstärke zunehmend.
Cel sah den alten Mann entgeistert an, der mit ernster Miene seinen Zeigefinger an den Mund legte. Sie sollte noch schweigen. Eine Streichersequenz erklang; sie erreichte in einer Übersteuerung ihren Höhepunkt, unter die sich erneut die klaren, aber nicht entzifferbaren Sprachlaute mischten. Das Gemurmel setzte sich für einige Sekunden fort und ging schließlich in eine harmonische Geigenkomposition über. Kurz danach brach die Aufnahme jäh ab, und ein monotones Summen kam über die Kanäle. Cel nutzte die Pause, um sich Luft zu verschaffen. Sie riß den Kopfhörer herunter und stammelte: „Das ist ja schauderhaft. Wie die Begleitmusik zu einem Gruselfilm." „Dabei handelt es sich bloß um eine Passage aus dem Album ,Face the Music' des Electric Light Orchestra", betonte der alte Mann, fingerte noch ein wenig an den Funktionen des Geräts herum und gab ihr ein Startsignal. Sie bereitete sich vor, und das Cassettenlaufwerk änderte seine Richtung. Es fing an, womit es zuvor geendet hatte. Die harmlosen Streicherkompositionen auf rückwärts. Dann, mit einem Male, gingen Cel die Augen über. Eine überdeutliche, hallende Baßstimme dröhnte hämisch: ,Die Musik ist umkehrbar, aber die Zeit ...!' Der Rest der Aussage ging in der nachfolgenden Übersteuerung unter. Ein mehrmaliger, leiser werdender Befehl schloß sich an: ,Dreh zurück, dreh zurück!' Es endete mit Türknarren und Heulen. Cel streifte die Hörer ab. Sie wußte nicht, warum, aber diesmal empfand sie keinen Heidenspaß bei der Musik, im Gegenteil - sie fühlte sich von ELO zumindest an der Nase herumgeführt. Der alte Mann schaute sie fest an und fragte: „Nun würde ich gerne etwas von dir wissen." „Bitte", ermunterte sie ihn, erstaunt über seine Ernsthaftigkeit. „Wie hast du den Ausspruch von Styx,Bewege dich, Satan, bewege dich in unseren Stimmen!' verstanden? Als Jux?" „Klar, als was denn sonst?" „Als genau das, was diese Worte - nüchtern und sachlich
betrachtet - erst einmal bedeuten: als eine Aufforderung an den Teufel, er solle sich in den Stimmen von Styx bewegen, sich ihrer bedienen, sie zu seinem Werkzeug machen." Cel spürte, wie etwas in ihr abrupt einen herben Knacks versetzt bekam. Einen Knacks, durch den die leise Vorahnung in ihr Bewußtsein durchzusickern begann, daß es mehr um sie herum geben mußte als das, was die bloßen Augen erfassen konnten. „Ist der Glaube an den Teufel nicht ein Kinderglaube?" fragte sie zaghaft. „Jeder Schwerverbrecher träumt davon, unerkannt von Opfer zu Opfer durch die Lande ziehen zu können, und geradezu ideal wäre es für ihn, wenn alle Welt auch noch obendrein nicht wahrhaben wollte, daß er überhaupt lebt. In genau dieser optimalen Widerstandslosigkeit kann der Teufel heute ungestört seine Kreise ziehen. Gott spricht von ihm als einem ungehorsam gewordenen Engel, der in seinem Hochmut selbst ein Gott sein wollte. Daher kennen wir Menschen übrigens den Ausspruch .Hochmut kommt vor dem Fall'. Denn gefallen ist dieser Engel, und zwar tief." Diese Antwort schien Cel zwar zu beeindrucken, aber im Endeffekt nicht zu überzeugen. „Zeigen, was dieser Engel ist, kann man nicht?" „Siehst du die Leitung dort hinten?" Der alte Mann deutete mit seinem Stock quer über die Grünfläche hinweg auf eine lange Baumreihe, an der entlang mehrere Masten im Abstand von fünfzig Metern verliefen. Natürlich kannte Cel die Leitung. Sie lieferte Strom für einige Karussels und Buden, die an jedem ersten Wochenende des Monats ihren Weg auf den großen Freiplatz desJuniperValley Parks fanden. „Würdest du an den Masten hinaufklettern und die Kontakte mit der Hand umfassen?" Cel schüttelte heftig den Kopf. „Nee, auf keinen Fall. Ich bin doch nicht lebensmüde." Der alte Mann simulierte den Unwissenden: „Ist doch lediglich ein bißchen Metall, das du berührst."
„Ja, schon, aber da fließt Starkstrom durch. Wissen Sie das denn nicht?" Er zuckte unbeeindruckt die Schultern. „Woher sollte ich? Ich sehe nichts. Du etwa?" Cel lachte laut. „Natürlich nicht. Aber das weiß man." Er hob verdutzt die Augenbrauen. „Aha! Du glaubt also an Strom, obgleich du ihn weder sehen noch greifen kannst?" Cel fand das nicht weiter bemerkenswert und hielt entgegen: „Ich erlebe ja fortlaufend, daß es ihn gibt. Bei elektrischen Geräten zum Beispiel." „Richtig!" pflichtete der alte Mann ihr bei. „Und ebenso sehen wir den Teufel selbst nicht, erfahren aber Tag für Tag indirekt von seiner Existenz. Durch den Strom wird ein elektrisches Messer zum Schneiden bewegt. Durch den Teufel werden Menschen aufgewiegelt, andere zu berauben, eine Frau zu vergewaltigen, Vater und Mutter zu hassen, ein Kind zu mißhandeln, einen Mitmenschen zu töten, Kriege anzuzetteln, und, und, und ... - Meinst du, Celeste, daß du ein Gewissen hast?" „Na klar!" erwiderte sie, ohne zu zögern. „Jeder Mensch hat ein Gewissen." „Hast du es jemals gesehen? Kannst du es mir zeigen?" Sie schüttelte ratlos den Kopf. „Verstehst du, worauf ich hinaus will? Niemand hat je das Gewissen gesehen, aber alle Welt glaubt fest daran. Warum halten wir es nicht genauso mit Gott und demTeufel?" Er deutete mit dem Zeigefinger auf das Unkraut, das unter der Parkbank kräftig wucherte. „Was würde passieren, wenn ich so eine Distel nehmen und sie dem Baby zwischen die Beine legen würde?" „Stephen würde schreien, weil es schrecklich weh tut." „Woher weißt du, daß er Schmerzen haben wird? Ob er es dir sagt? Wirst du den Schmerz sehen?" „Aber ist doch klar, daß er Schmerzen hat." „Sicher ist das klar, doch man kann es nicht beweisen. Es ist Eigenerfahrung, das heißt, daß man selbst einmal Disteln berührt und den Schmerz erlebt haben muß.
Einem Arzt bleibt nichts anderes übrig, als seinem Patienten zu glauben, wenn er über Schmerzen klagt, denn er kann sie nicht messen oder sonstwie nachprüfen. Ebenso verhält es sich, wenn jemand sagt, er habe im Gebet Gottes Nähe verspürt. Dann ist häufig die Folge, daß derjenige als frommer Spinner abgestempelt wird. Wir sehenken demselben Menschen, dem wir die Schmerzen noch abgenommen haben, plötzlich keinerlei Glauben mehr. Paradox, nicht? Dabei ist das - wie bei der Distel - per Eigenerfahrung schnell zu kontrollieren. Aber darauf will sich niemand einlassen. Er könnte ja unrecht haben und sich plötzlich tatsächlich einem Gott gegenübersehen, der ihn geschaffen hat und vor dem er als Sünder dasteht. Nein, nein, das könnte Konsequenzen nach sich ziehen. Lieber den bequemen und risikolosen Weg des Vorurteils gehen." Cel grübelte eine Weile vor sich hin, ab und an ihr Stupsnäschen rümpfend. Sodann verkündete sie entschlossen: „Sie haben recht, das ist seltsam. Ich denke, ich hab's begriffen." Ihre blauen Augen fixierten einen vorübergehenden Passanten, als suche sie in ihm eine Inspiration. Es herrschte nur wenig Betrieb im Park. Erst gegen Abend würde es sich beleben. Schließlich legte sie ihren Kopf zur Seite. Die quer über ihr Gesicht fallenden Haare warf sie mit einer Handbewegung über die Schulter. Sie blickte den alten Mann geradewegs an. Das feine Vibrieren ihrer Augenlider verriet deutlich, daß in dem hübschen Köpfchen scharf überlegt wurde. „Ist Dämon gleichzusetzen mit Teufel?" Der alte Mann beschränkte sich auf ein Nicken, um sie nicht unnötig zu unterbrechen. „Wie kann Jesus dann, wie es an manchen Stellen der Bibel heißt, Dämonen austreiben, also gleich mehrere? Der Teufel ist doch bloß eine Person." „Das schon, aber der Satan hat seine Mitstreiter. Denn mit ihm ist noch eine ganze Schar von anderen Engeln abtrünnig geworden. Er ist sozusagen der Anführer; die anderen folgen und dienen ihm. Mit ,Dämon' ist nicht nur
der Teufel, sondern auch ein böser, unreiner Geist gemeint." Cel spann mit dieser Information den Faden weiter. „Dann glauben Sie also, daß auch heutzutage zum Beispiel ein Fallsüchtiger nicht einfach so fallsüchtig ist, sondern daß Dämonen ihre Finger im Spiel haben, sprich, daß er besessen ist, und daß, wenn man diesen austreibt, der Mensch von seiner Fallsucht geheilt ist?" „Ja, daran glaube ich." „Können Sie das etwa?" Unübersehbar hatte Cel einen wunden Punkt getroffen. Die Miene ihres Gegenübers verzerrte sich ein wenig. Bedauernd antwortete der alte Mann: „Ich muß gestehen, daß der Teufel auch mit mir zuweilen leichtes Spiel hat. Mir fehlt das blinde Vertrauen, der absolute Glaube. So viele Gaben liegen bei Gott für mich bereit, mit denen ich mächtige Wunder zur Ehre Jesu wirken könnte, aber sie bleiben wegen meines Unglaubens ungenutzt. Gott hat jeden Glaubenschristen zu einem Spezialhandwerker ausersehen, doch er kann mit ihnen nur kleine, bescheidene Dinge tun, weil diese Helfer sich sträuben und oft nicht glauben, daß sie zu größeren Taten geschaffen wurden. Und so ist der Teufel der Nutznießer unseres Versagens. Und ich glaube, Jesus wird uns eines Tages diese Feigheit haarklein vor Augen führen. Dann wird uns bewußt werden, was wir hätten bewerkstelligen können, wenn wir nur Glauben gehabt hätten wie ein Senfkorn!" Die Ergriffenheit des alten Mannes ließ Cel eine Minute betroffen schweigen und erst dann den philosophischen Schluß ziehen: „Wenn ich das recht sehe, steht uns einiges ins Haus. Denn an diesem Unglauben krankt ja wohl die gesamte Welt." Der alte Mann hatte seinTief rasch überwunden. „Daher geschehen solche Heilungen auch so selten. Im besten Fall geben Menschen die Existenz der Person Jesu zu. Sobald es an seinen Rang als Sohn Gottes oder sein Wort geht, wird nur noch höhnisch gelacht, geleugnet oder zumindest mitleidig gelächelt. Es gibt wohl nicht mehr ein Wort in der
Bibel, das nicht von irgend jemandem überprüft, in Frage gestellt und schließlich verworfen oder wenigstens in Zweifel gezogen wurde. Zweifel ist sowieso die stärkste Waffe des Satans. Zweifel schafft Verwirrung. Deswegen trägt der Teufel auch nicht zu Unrecht den Beinamen ,diabolos'. Das ist Griechisch und heißt übersetzt ,Durcheinanderbringer'." Cel zeigte sich zwar stark bewegt von diesen Worten, aber so recht überzeugt war sie nicht. „Sie können aber doch nicht bestreiten, daß die Bibel einige Widersprüche enthält, die ihre Glaubwürdigkeit nicht gerade fördern." Der alte Mann lächelte ahnungsvoll. „Das liegt wohl eher an unserem mangelhaften Verständnis. Aber was wichtig für unsere Rettung ist, das hat Gott unmißverständlich und klar herausgestellt. An uns liegt es, das zu glauben. Gott will unser Vater sein, und wir sollen seine Kinder werden." Cel hob verblüfft ihre Brauen und bekannte ehrlich: „Von der Warte aus habe ich das noch gar nicht betrachtet." Ihre Augen blieben an einem Jogger haften, der locker vorbeitrabte, während sie über die Worte des alten Mannes nachdachte. Der hob in der Zwischenzeit das Entchen vor seinen Füßen auf, das Stephen in seinem Übermut aus dem Kinderwagen gefeuert hatte, und begann mit dem Kleinen zu scherzen. Cel fragte sich, wieviel ihre Lieblingsmusiker von Gott, dem Teufel, der Bibel und all diesen Dingen wußten. Alles? Über diese Frage brauchte sie sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen. In Gedanken ging sie auf eine weite Reise! *
Sie saß des nachts in einem Zug. Neonlicht kämpfte gegen die Schwärze an. Der Zug rollte aus dem Bahnhof ins of, fene Land hinaus, und die Dunkelheit nahm zu. Cels Pupillen gewöhnten sich rasch an die neuen Lichtverhältnisse, und sie nahm durch das Fenster eine öde, wüste Landschaft wahr - karg und leblos wie nach einer
Feuersbrunst. Sie konnte Schatten erkennen, denn es war Vollmond. Bei den Schatten handelte es sich aber nicht bloß um regungslose, bizarr geformte Stämme und Äste, sondern auch um Gestalten, die hier und da umherhuschten und deren Zahl ständig wuchs, bis schließlich überall Bewegung war. Die Gestalten sahen aus wie Menschen. Sie schauten elend und ausgezehrt, ja, versklavt aus. Und in der Tat, sie waren Sklaven. Denn hinter jeder Gestalt stand ein Wächter, der sie mit Peitschenhieben und glühenden Stacheln an der Arbeit hielt, damit sie auch nicht eine Sekunde Ruhe finden konnten. Da war nicht einer, der zum Zug aufblickte. Da schien nicht einmal einer zu sprechen. Gleich willenlosen Gerippen gehorchten sie den Befehlen der Wächter und wurden skrupellos verheizt. Cel fing an, die grausamen Wächter zu hassen, die selbst feine Kleider und kostbaren Schmuck trugen und sehr wohlgenährt aussahen. Sie versuchte, ihre Gesichter genauer zu erhäschen, und erschrak fürchterlich, als es ihr gelang: Jeder Wächter besaß genau die gleichen Gesichtszüge wie sein Sklave, ein tadelloses Spiegelbild! Die Sklaven wurden von niemandem geknechtet als nur von sich selbst — von niemandem außer ihren eigenen Zielen und Begierden! Wie entsetzlich! Die Reise ging in hohem Tempo weiter, während draußen das Treiben und Schuften unvermindert anhielt. Cel wunderte sich allmählich, daß nach wenigstens zwölf Stunden Fahrt immer noch nicht die Spur eines Sonnenaufgangs zu entdecken war. Aber offensichtlich war sie die einzige, die die Ablösung der Nacht durch den Tag vermißte. Niemand sonst kümmerte sich um das Fehlen des großen Lichts - der Sonne. Statt dessen regierte weiter das kleine der Mond - erhaben am schwarzen Gewölbe. „Wo bleibt der Tag mit seinem lebenspendenden Licht?" fragte Cel. Ein Mitreisender wußte bestens über die Lage Bescheid. „Was du seit unserer Abfahrt erlebst, ist der Tag für die Menschen da draußen. Sie kennen kein anderes Licht und verlangen auch nicht nach mehr Helligkeit. Was der Fürst
ihnen vorprojiziert, genügt ihnen. Außerdem hält er sie mit Arbeit in Atem, so daß es ihnen erst gar nicht in den Sinn kommt, nachzudenken und nachzufragen, ob es nicht irgendwo einen Ort mit hellerem Licht gibt, und ihnen verborgen bleibt, daß sie den größten Mangel leiden." Und wieviel sie ermangelten! Cel konnte nicht begreifen, daß die Menschen ihren erbärmlichen Zustand nicht bemerkten. Wie total verblendet mußten sie sein, daß sie die finstere Nacht für den hellichten Tag hielten, daß sie nicht kapierten, daß sie sich auf diese Weise kaputtmachten und über kurz oder lang krepieren würden. Was war das bloß für ein nachlässiger Fürst, der sein Volk wie einTyrann derart verbluten und verkommen, ja blind ins Verderben rennen ließ? „Sein Volk?" wiederholte der Begleiter zynisch. „Das ist nicht sein Volk. Aus Unwissenheit hängt es ihm nach. Der Fürst ist ein Möchtegern, ein perfekter Magier der Illusion. Er ist ein verschlagener Ausbeuter und brutaler Folterer. Du wirst ihn bald sehen." „Wann wird das sein?" „In Kürze. Sobald wir das Ziel der Reise erreicht haben." Cel preßte ihre Nase ganz dicht ans Fenster und blickte beflissen in Fahrtrichtung. In der Ferne war der Himmel rötlich gefärbt. Es hatte den Anschein, als stehe der gesamte Horizont in lodernden Flammen. Je näher der Zug kam, desto mehr glich alles einem weißglutähnlichen Inferno, und desto konzentrierter wurde der Geruch von Schwefel. Dann endlich sah sie den Fürsten, und es drang ihr eiskalt durch Mark und Bein. Größer als das größte Hochhaus, das sie je gesehen hatte, ragte er empor. Ihr Schrecken und ihre Abscheu verwandelten sich in Panik, als sie die vor der Lok verlaufenden Gleise vorausverfolgte, die in dem grellen, vor Hitze flimmernden Ungetüm verschwanden. Der Zug steuerte schnurstracks auf das gewaltige Monstrum zu! Sie jagten mit Höchstgeschwindigkeit in die Hölle hinein!
Cel hatte jetzt die Antwort auf ihre Frage. Die Musiker wußten Bescheid! Sie wußten alles! *
Zaghaft blinzelnd nahm Cel die Konturen einer vertrauten Person neben sich wahr. Kurz daraufwar sie mit allen fünf Sinnen wieder im Park. Genüßlich atmete sie die warme Luft ein und neigte ihre rechte Wange den Sonnenstrahlen zu, die durch das Blätterwerk drangen. Hoch oben im Wipfel eines Baumes zwitscherte ein Vogel aus voller Kehle. Seine Stimme wirkte wie Balsam auf ihr angekratztes, wundes Gemüt - sie zitterte leicht, ihr Hemd klebte naß am Rücken, und auf ihrer Oberlippe hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. Zum ersten Mal seit ihrer „geistigen Wiederkehr" würdigte sie den alten Mann eines Blickes, den dieser erwiderte. Seine braunen Augen, die sonst wie ein Einwegspiegel alles erforschten und selbst keinen Einblick gestatteten, ließen ausnahmsweise einmal ein Lesen zu und verrieten Cel, daß er wußte und verstand, was sie dachte. Kurz angebunden zitierte er sie: „Die Musiker wissen alles!" Nun hatte Cel eine Vorstellung davon, wo es langging. „Im Fall von ELO ist es superoffensichtlich", sagte sie, „daß eine vorher besprochene Bandpassage rückwärts darunter gemischt worden ist. Aber wie haben Styx das gemachtPVorwärts hört man absolut nichts Verdächtiges heraus." Der alte Mann konnte zu diesem Punkt nur mit den Schultern zucken. „Das kann ich nur vermuten. Entweder tarnen die Musiker ihre Zweitbotschaften, indem sie sie bei fertigen Liedern untermischen, oder sie maskieren sie, indem sie die Verse so komponieren, daß sie rückwärts gesungen ebenfalls einen Sinn ergeben. Die zweite Methode ist zwar kompliziert und langwierig, aber dafür spräche, daß hauptsächlich Bruchstücke von Liedern betroffen sind." „Hmmm!" Cel verfiel ins Grübeln. Dann fragte sie:
„Gibt es so etwas wie ein Paradebeispiel für Rückwärtsmaskierung, ich meine ein Lied, das voll davon ist?" Der alte Mann brauchte nicht lange zu überlegen. „Das schlimmste Werk dürfte meines Wissens wohl ,Stairway to Heaven' von Led Zeppelin sein." Erst jetzt beschlich ihn eine Vorahnung, und er erkundigte sich nach dem Grund ihrer Frage. Cel bemerkte lapidar: „Nur so!" Der alte Mann spürte, daß sich eine tiefere Absicht hinter ihrer Nachfrage verbarg, und ließ nicht locker. Doch auch sein erneutes Nachsetzen blieb ohne Erfolg. Cel hüllte sich beflissen in den Mantel des Schweigens und ließ sich um keinen Deut ausforschen. Statt dessen servierte sie ein schelmisches Schmunzeln, das nicht minder entwaffnend wirkte als das gelegentliche Lächeln ihres Gegenübers. Unverhofft meldete sich der kleine Stephen zu Wort, was Cel veranlaßte, einen Blick auf die Uhr zu werfen. Sie erschrak. Die Zeit war wie im Fluge vergangen. Dem kleinen Schreihals mußte geschwind der Hunger gestillt werden. Sie sprang auf. „Es tut mir leid, die Unterhaltung so hart abwürgen zu müssen..." „Ist doch logo, wie ihr jungen Leute zu sagen pflegt", warf der alte Mann ein und erhob sich, schwer auf seinen Stock gestützt, mühsam von der Bank. „Der süße Fratz hat schließlich auch ein Anrecht auf Zuwendung", bekannte er, seinen freien Arm als Stütze für den steif gewordenen Rücken nutzend, um sich ein wenig aufzurichten, „Soll ich ...", machte Cel Anstalten, unter seine Arme zu greifen, was er strikt ablehnte. „Nein, nein! Ich gebe zwar eine jämmerliche Figur ab, und es ist nett von dir, mir helfen zu wollen, aber sonst hab' ich ja auch keinen, der mir hilft." Er lächelte zuversichtlich, doch das konnte Cels Mitleid auch nicht auslöschen, „Haben Sie wirklich niemanden, der sich um sie kümmert? Eine Frau? Oder Kinder? Oder ein paar Freunde?" „Meine Frau starb vor sieben Jahren an Krebs. Kinder konnte sie keine bekommen, und für eine Adoption hatten wir die erforderlichen Voraussetzungen nicht vorzuwei-
sen. Was meine Freunde betrifft, so sind die meisten entweder schon tot oder von ihrem eigenen Fleisch und Blut in ein Altersheim abgeschoben worden." Cel bekam sogleich ein schlechtes Gewissen, seine Erinnerungen aufgewühlt zu haben. Beschämt entschuldigte sie sich. „Verzeihen Sie bitte mein Neugier. Ich wollte nicht indiskret sein." „Das warst du auch nicht", versetzte er und fügte mit einem aufmunternden Klaps seines Gehstocks gegen die Sohle ihrer Turnschuhe hinzu: „Und nun sieh zu, daß dein Brüderchen nicht verhungert. Sein Wohlergehen hängt heute von dir ab. Wir sehen uns gewiß bald wieder." Cel machte mit dem Kinderwagen eine Kehrtwendung und hatte sich schon ein paar Schritte entfernt, als sie noch einmal innehielt und sich umdrehte. Sie sah den Mann blinzelnd an und sagte zögernd: „Abgesehen von Stephen bin ich allein zu Hause. Sie haben auch niemanden. Warum raufen wir uns nicht zusammen und leisten uns gegenseitig Gesellschaft? Kommen Sie doch einfach mit!" Der alte Mann lächelte dankbar. „Das ist ein verlockendes Angebot. Danke für die Einladung. Aber ich kann jetzt nicht." Enttäuschung machte sich in Cel breit. Doch dann flakkerte neue Hoffnung in ihr auf, und sie sagte: „Wie war's mit heute abend?" Der alte Mann dachte über die Offerte gründlich nach. Angespannt wartend wippte Cel auf den Fußballen auf und ab. „Wann?" Cel strahlte begeistert. „Um acht?" Er nickte. „Abgemacht." Sie gab ihm ihre Anschrift und schob vergnügt tänzelnd den Wagen vor sich her. Ihr emotionaler Höhenflug hielt einen weiten Teil der Strecke über an. Sie dachte zurück an die glänzende Idee, die ihr zugeflogen und rasch zum festen Vorhaben geworden war. Den Klassiker ,Stairway to Heaven' der legendären Rockformation Led Zeppelin kannte sie selbstverständlich in- und auswendig. Ihre Freundin Gina besaß den Live-Soundtrack der Gruppe mit dem Song. Es war ein Lied zum Schwärmen und zum
Träumen, bei dem vom Text bis zur Musik alles phänomenal abgestimmt war, eine sagenhafte Melodie, märchenhafte Lyrik sowie ein aufreizend nasaler Gesang. Cel legte sich einen Plan zurecht!
6 Daheim angekommen, schloß sie die kunstvoll gedrechselte Haustür auf, manövrierte den Kinderwagen in den Flur und kickte die Tür mit der Ferse zu. Dann sorgte sie als erstes für das leibliche Wohl ihres Brüderchens. Anschließend machte Stephen sein Bäuerchen und schloß vorerst rundum zufrieden seine Augen. Nachdem Cel ihn in sein Bett gepackt hatte und sicher sein durfte, daß er auf längere Sicht fest schlief, machte sie sich an die Verwirklichung ihrer Idee. Sie marschierte ins Wohnzimmer, langte nach einem Stuhl und setzte sich rittlings vor die Stereoanlage ihres Vaters, die aus vielen kostspieligen Einzelbauteilen bestand. Eines davon bildete eine hochwertigeTonbandmaschine. Bevor Cel begann, vergegenwärtigte sie sich noch einmal das Problem. Mischten Musiker im Studio die Botschaften unter ihren Text, oder lag der Kniff im phonetischen Bereich, indem sie Wörter so wählten und betonten, daß diese rückwärts ebenfalls Wörter ergaben?Wenn letzteres zutraf, mußte das zwangsläufig bedeuten, daß unabhängig von den technischen Möglichkeiten jeder in der Lage war, beim Nachsingen die gleichen Rückwärtsmitteilungen zu produzieren, vorausgesetzt natürlich, derjenige sang ungefähr originalgetreu. Verlief so ein Versuch hingegen negativ, war klar, daß die Botschaften untergemischt wurden. Cel tauschte die eingelegte, bespielte Spule gegen ein leeres Band aus und startete das Gerät mitsamt Verstärker. Aus einem Fach des Wandschranks, in dem allerlei Zubehör sorgfältig verstaut lag, kramte sie das Mikrofon hervor und schloß es an die entsprechenden Buchsen an. Unterdessen zeigte ein grünes Lämpchen in der Kontrollarmatur an, daß die Solldrehzahl des Tonwellenmotors erreicht war. Cel drückte daraufhin gleichzeitig zwei Tasten, „Aufnahme" und „Pause". Das Experiment konnte beginnen. Zur Einstimmung summte sie ein paar Takte und schaltete von „Pause" auf „Start" um. „Da ist eine Lady, die glaubt, alles was glitzert, ist Gold ..."
Sie traf sowohl den Rhythmus als auch die Laute exakt auf den Punkt. Alle sieben Strophen des circa achtminütigen Stücks zog sie auf dieseWeise reibungslos durch. Am Ende konnte sie befriedigt auf die Stop-Taste drücken. Der Versuch schien ausgezeichnet geklappt zu haben. In Kürze würde er das Geheimnis der Rückwärtsmaskierung preisgeben müssen. Cel war gespannt wie ein Flitzbogen. Während sie das Mikro zurück zu den anderen Utensilien packte und den Kopfhörer zur Hand nahm, sann sie über den Vers ziemlich am Anfang des Liedes nach: „Du weißt, manchmal haben Worte zwei Bedeutungen." Den Schalter, der die variable Umspulgeschwindigkeit regulierte, drehte sie auf „Minimum". Als nächstes setzte sie den Rücklauf in Gang und sorgte per Fingerberührung der Spule für die nötige Feinabstimmung, damit die korrekte Geschwindigkeit möglichst nicht überschritten wurde. Mit der noch freien Hand betätigte sie den CueingRegler, der ein Hineinhören in die Aufnahme während des Umspulens ermöglichte. Die ersten neun Verse suchte sie ergebnislos ab. Dann aber schlug es in ihr ein wie eine Bombe! Sie vernahm eindeutige Wortfetzen. Um absolut sicher zu gehen, spulte sie kurz vor, dann wieder zurück. Klar und sauber ertönte es: ,Ich werde singen, weil ich ... lebe.'War das schon der Beweis oder eine akustische Täuschung? Der alte Mann hatte dieses Lied als Paradebeispiel empfohlen, also mußte es von Maskierungen wimmeln. Sie forschte weiter. Der übernächste Vers verschaffte ihr eine winzige Bestätigung. ,Den ... kann ich nicht aus ...' Cel empfand ihren Fund immer noch nicht als stichhaltig, hatte immer noch Zweifel. Ein weiterer Vers, dann kam der hundertprozentige Beweis: ,Es gibt kein Entkommen!' Damit stand für sie fest, daß die zwei vorhergehenden Bruchstücke auch maskierte Stellen waren, an deren • Vollständigkeit es deswegen mangelte, weil sie die präzise Betonung nicht getroffen hatte. Vor allem aber offenbarten die Passagen die Methodik, mit der die Musiker hantierten. Kein Untermischen, sondern eine raffiniert ausgetüftelte Phonetik, das war in diesem Fall das Geheimnis!
Die Beweise für ihre Schlußfolgerungen sollten noch eindrucksvoller kommen. DreiVerse auf einen Schlag hintereinander: , Auf dein Wohl... er ...! Es wurde ein kleines Kind nackt geboren. Da ist Macht... Er wird dir sechs geben.' Trotz dieses Erfolges wollte sich die makellose Freude in Cel nicht einstellen. Sie schmeckte einen Wermutstropfen. Obwohl sie weitaus mehr entdeckt hatte, als sie anfangs erwarten durfte, enttäuschte sie dieTatsache, daß sie lediglich unvollständige, ja auf den ersten Blick sogar harmlos anmutende Botschaften entziffert hatte. In ihrer Ahnungslosigkeit über die wirkliche Tragweite ihrer Nachforschungen jagte sie - begierig nach fetterer Beute - die restlichen Strophen durch. Vergeblich! Auch wiederholtes Durchhorchen brachte nichts ein. Sie nahm gerade die vorletzte Strophe in Angriff, als dieTürglocke läutete. Schon aufgerieben und nahezu entnervt von der erfolglosen Suche, warf sie zornig den Kopfhörer hin und stapfte streitlustig zur Tür. Ungestüm riß sie sie auf und fuhr erschrocken zusammen. Verstohlen schielte sie auf ihre Armbanduhr an der linken Hand, die verkrampft die Türklinke hielt. Sie fiel aus allen Wolken: die Zeiger standen auf Punkt 20 Uhr! Dem alten Mann entging das Wechselbad der Gefühle seiner Gastgeberin nicht. Verschmitzt lächelnd fragte er: „Galt die reizende Einladung von heute nachmittag nur bis zum Eingang, oder gestatten Sie auch, daß ich eintrete, mein Fräulein?" Die witzig vorgebrachte Anspielung animierte beide zu einem herzlichen Lachen. „Mit meinen Manieren steht's nicht zum besten", tadelte sich Cel und trat beiseite. Der alte Mann widersprach mit einem Augenzwinkern: „Ach was, dein Benimm ist reine Berechnung. Ich soll nämlich nur länger vor derTür stehen, damit auch wirklich jeder Nachbar in diesem noblen Viertel mitkriegt, welch galanter Charmeur bei dir zu Gast ist." „Oh, welch eine Tragödie!" verkündete Cel und klatschte theatralisch in die Hände. „Meine Absichten sind entblößt. Darf ich die Tür jetzt schließen, mein Herr?"
Beide mußten lachen, während die Tür leise zuklickte. Cel führte ihren Gast ins Wohnzimmer, wo der alte Mann in dem angebotenen Ledersessel Platz nahm. Ihr fiel erst jetzt auf, daß er außer dem Stock auch eine Plastiktüte bei sich hatte, die er zwischen seine Füße plazierte. Der alte Mann maß mit geübten Blicken den Raum ab. Er fand, daß er Geschmack und Gemütlichkeit ausstrahlte. Besonders fielen ihm eine Kentia-Palme, ein freistehender Franklinkamin mit Vorrat an Zedernkloben sowie ein Bartolomeo-Christofore-Flügel auf. „Spielst du Klavier?" Cel, die ihm den Rücken zugewandt hatte, schaute ihn zuerst begriffsstutzig an und folgte dann seinem Blick auf das antiquierte Schmuckstück. „O nein!" winkte sie heftig ab. „Das ist eine ausschließliche Domäne meines Vaters. Mir bleibt nur solch ein Instrument. Aber das bewältige ich selbst im Schlaf in vollendeter Perfektion." Der alte Mann lachte auf, denn Cel hatte bei diesen Worten auf die Stereo-Anlage gedeutet. Sie sprach weiter und vermeldete nicht ohne Stolz: „Trotzdem habe ich damit ein pikantes Rätsel gelüftet. Ich weiß nämlich nun, wie die Bands rückwärtsmaskieren." Der alte Mann schaute alarmiert auf. In knappen Zügen berichtete Cel ihm von ihrem einfallsreichen Schachzug und untermauerte ihre gewonnene Erkenntnis, indem sie den genialen Trick über die Aktivboxen erneut vorführte. Der alte Mann war so aus dem Häuschen, daß seine Finger vor Aufregung zitterten. Er freute sich riesig, denn seit gut einem Jahr hatte er vergebens versucht, der Methodik des Rückwärtsmaskierens auf die Schliche zu kommen. Die zündende Idee war ihm versagt geblieben. Dabei war sie, wie sich nun herausstellte, eigentlich ebenso simpel wie plausibel. Der alte Mann ließ seinem Enthusiasmus freien Lauf. „Ich beglückwünsche dich zu diesem Forschergeist. Das war meisterlich. Wie ein Geschenk vom Himmel!" Der Funke der Begeisterung sprang auf Cel über.
„Teamwork ist alles! Wir geben eben ein duftes Duo ab!" „Apropos", lenkte der alte Mann ein, griff nach der Plastiktüte und reichte sie Cel. „Es wird Zeit, daß ich meinen Beitrag leiste." Sachte holte Cel den Inhalt hervor und durchkämmte ihn erst einmal neugierig. Es handelte sich fast durchweg um nagelneue Schallplatten. Er meinte: „Ich schlage vor, wir führen uns als erstes Led Zeppelin zu Gemüte, um die bestehenden Lücken zu schließen." Cel sortierte zwar die korrekte Plattenhülle aus, aber ansonsten blickte sie ziemlich betreten drein, da sie nicht wußte, wie das funktionieren sollte. Dem alten Mann entging ihre Ratlosigkeit nicht. Schritt für Schritt erteilte er ihr die nötigen Instruktionen: Schallplatte auflegen, Verstärker einschalten, Plattenspieler auf manuelle Bedienung umstellen, Tonarm zur besagten Liedstelle hinüberführen, behutsam aufsetzen ... die erste Panne! „Der Teller dreht sich. Wenn ich jetzt die Nadel auflege, hören wir vorwärts", klagte Cel. „Der Stecker muß aus der Dose." Der Teller rotierte langsamer, behäbiger, bis er schließlich stehenblieb. Sodann holte Cel den Vorgang nach, bei dem sich die Saphirnadel wie auf einem Luftpolster gemächlich in die Rille senkte. „Und jetzt entgegen dem Uhrzeigersinn drehen", wies er sie an. Cel lugte ängstlich über ihre Schulter. „Kann dabei auch nichts kaputtgehen? Ich meine Nadel, Antrieb oder so?" Er schüttelte den Kopf: „Keine Sorge. Die heutigen Nadeln sind sehr robust. Das einzige, was mit Sicherheit Schaden nimmt, ist die Schallplatte selbst. Aber das wiederum ist unwichtig. Und in bezug auf den Antrieb - er ist doch gewiß quartzgesteuert, oder?" „Ja." „Dann verkraftet er die Belastung bequem. Ich habe zu Hause einen riemengetriebenen, der rückwärts schon mo-
natelang hart an die Kandare genommen wird und die Umpolung, wenn man so will, nach wie vor problemlos verträgt." Diese Zusicherung verscheuchte alle Widerstände in Cel. Vorsichtig bewegte sie den Plattenteller per Zeigefinger. Es funktionierte tadellos! Nur mit dem konstanten Lauf in 33er Geschwindigkeit haperte es zu Anfang ein bißchen. Sie gab sich die größte Mühe und wurde rasch belohnt. In HiFi dröhnte es aus den Boxen, was Cel bei ihrem Versuch andeutungsweise aufgegabelt hatte. Von Harmlosigkeit konnte plötzlich keine Rede mehr sein: ,Ich werde singen, weil ich mit Satan lebe!' Ihr Finger hielt den Teller unvermindert in Schwung. Die zweite Stelle kam ebenso prompt wie brutal: ,Ich kann den Herrn nicht ausstehen!' Für einen Moment hatte Cel den Finger nicht mehr unter Kontrolle, so daß das Tempo unter 33 sank, und der Klang zu leiern begann. Sie faßte sich, brachte den Teller zurück auf Normalgeschwindigkeit: ,Es gibt kein Entkommen! Auf das Wohl meines süßen Satans!' Cel spürte, daß ihr Magen rebellierte. Sie fühlte sich elend. Ihr Gehirn bekam unterdessen von der sich immer noch rückwärts drehenden Platte die Botschaft geliefert: ,Es wurde ein kleines Kind nackt geboren! Da ist Macht in Satan! Er wird dir 666 geben!' Cel wußte zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß es sich bei „666" um die biblische Zahl des Antichristen handelt. Diese Worte bildeten jedenfalls den Auslöser, und nun ging alles sehr schnell. Ihr Magen verkrampfte sich. Sie sprang auf. Der Tonarm fegte hoppelnd über die Schallplatte, der Stuhl polterte zu Boden. Mit beiden Händen vor dem Mund stürzte sie aus dem Zimmer. Der alte Mann kramte eine Streichholzschachtel aus seiner Hosentasche hervor und zündete eine Kerze an, die schräg neben dem Sessel in einem feinen Halter auf dem Marmortisch stand. Dann klaubte er Platte und Hülle zusammen und verstaute sie in der Plastiktüte. Er ließ sich gerade wieder im Sessel nieder, als dieToilettenspülung betätigt wurde. Erwartungsvoll richtete er sein Augenmerk auf
die Wohnzimmertür. Ein paar Minuten verstrichen noch, bevor Cel frisiert und frischgemacht im Rahmen stand. Der alte Mann wühlte erneut in seiner Hosentasche, dieses Mal in der anderen. „Hier, nimm! Ein Pfefferminzbonbon! Das vertreibt den scheußlichen Geschmack im Mund." Benommen schlurfte sie ins Zimmer und machte von dem Angebot dankend Gebrauch. „Daß ausgerechnet mir das passieren mußte!" bejammerte sie ihr Mißgeschick und ließ sich zerknirscht auf einen Lederpuff fallen. Mit hängenden Schultern starrte sie in die zuckende Kerzenflamme. „Es mag sich anzüglich und lieblos anhören", sagte der alte Mann teilnahmsvoll, „aber deine Reaktion ist positiv. Sie zeigt, daß du im Gegensatz zu vielen aus deiner Generation, denen ich das gleiche vorspielte und die es rundweg verlachten, noch keineswegs vollends abgestumpft bist." Pause. „So, ich denke, wir brechen den Abend an diesem Punkt besser ab." Er war im Begriff aufzustehen, als Cel entschlossen Einspruch erhob: „Nein! Bitte nicht! Ich bin wieder fit. Ehrlich!" Das Kerzenlicht reflektierte sich in ihren Augen, während sie ihn hoffnungsvoll ansah. „Sie haben doch noch mehr Platten mitgebracht. Lassen Sie uns weitermachen. Bitte! Grausiger können die Maskierungen kaum noch werden. Und falls doch, bin ich jetzt vorbereitet." Der alte Mann zögerte. Dann lehnte er sich wieder zurück ins weiche Leder. Erleichtert schenkte Cel der Kerze von neuem ihre Aufmerksamkeit; sie verbreitete eine angenehme Atmosphäre; von Stille und Besinnlichkeit. Der alte Mann beobachte ohne Unterlaß Gels Gesichtsausdruck. Er las darin eine bunte Vielfalt von Regungen, die ihn zu der Frage veranlaßten, was sie so einnehmend beschäftige. Da sie keine Antwort parat hatte, fingerte sie erst einmal am aufgeweichten Kerzenwachs herum, formte und verformte es und ritzte mit ihren langen Finn;
gernägeln eine Kerbe hinein, durch die flüssiges Wachs an der Kerze hinablief und erhärtete, ehe es den Halter erreichte. „Mir wird soeben bewußt", sie lutschte an ihrem Bonbon und schob es mit der Zunge auf die andere Mundseite, „wie viele Platten- und Liedertitel, die ich früher für belanglos und zufällig ausgewählt hielt, vor diesem Hintergrund Sinn bekommen: Leute hinters Licht zu führen. Mir fällt zum Beispiel ein, daß das Electric Light Orchestra eine LP veröffentlicht hat, die sich ,Secret Messages' nennt. Meine Freundin Gina und ich haben sie uns im Plattenladen angehört, und ich weiß noch, wie wir uns über die Rückseite des Covers amüsiert haben. Es stellte das Foto einer Holzkiste dar, wie sie in Häfen täglich verschifft werden. Diverse Sticker waren darangeheftet, und wie mit einem Eisen eingebrannt, stand darauf der Hinweis: ,Warnung - enthält geheime Rückwärtsbotschaften!'" Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. „Wir haben die Verkäuferin aus Jux sogar noch gefragt, was das zu bedeuten habe. Sie hat nur mit der Schulter gezuckt und es als Gag abgetan. Als Gag! Wenn ich mir vorstelle, wie die Band uns vereimert hat, wie wir für doof verkauft wurden... Und die lachen sich über unsere Blödheit eins ins Fäustchen und verdienen sich obendrein auch noch dumm und dämlich an uns." Die Stirn des alten Mannes kräuselte sich vor Erstaunen über diese Einsicht. Cel sprach weiter: „Oder wenn ich an Led Zeppelin denke. Die haben ein Live-Album herausgebracht, auf dem ,Stairway to Heaven' natürlich nicht fehlen darf. Sinnigerweise nannten sie die LP ,The Song Remains the Same'. Und um der Verdummungsmasche die Krone aufzusetzen, leitet ihr Sänger Robert Plant das Stück mit den Worten ein: ,Dies ist ein Lied der Hoffnung', wo er doch genau weiß ..." Ihr blieb vor Empörung die Luft weg. „Er und seine Meute belügen Menschen auf ganz abgebrühte, eiskalte Weise, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie hauen Menschen übers Ohr, die sie ehrlichen Herzens mögen und
verehren und von deren Geld sie in Saus und Braus leben. Diese sogenannten Stars und Idole heimsen mit einem freundlichen Grinsen Ruhm und Kohle ein, und wenn sie sich vom Publikum abgekehrt haben, schmieden sie neue Pläne und reiben sich genüßlich die Hände. Wie beschränkt sind wir doch, daß wir sie anhimmeln wie Übermenschen und ihnen gutgläubig nachlaufen, wo sie uns doch nur Böses wollen!" Ihr Gedächtnis ließ noch mehr Beispiele aus dem Schwamm der Erinnerung ans Licht sickern. „ AC/DC betitelt ein Album ,Back in Black'! ,Defenders of the Faith' heißt das Werk einer Band, die sich den Namen des Verräters Jesu gegeben hat: Judas Priest!" Sie lachte sarkastisch: „Fragt sich nur, welchen Glauben an wen sie zu verteidigen gedenken. Wir kriegen die Ansichten der Musiker vor den Kopf geknallt und beachten sie gar nicht, halten sie womöglich für einen gut eingefädelten Scherz! Einen Gag!" Sie schlug sich an die Stirn. „Wie heillos bescheuert von mir!" „Heillos gewiß nicht!" berichtigte der alte Mann mit Hintergedanken und ergänzte: „Es ist in der Tat kurios. Der Mensch weigert sich oft, die ihm mitgeteilte Wahrheit zu glauben. Lüge akzeptiert er viel lieber als Wahrheit. Ich habe mal eine Geschichte gelesen, die dieses Phänomen anschaulich beschrieb. Wenn meine grauen Zellen mich nicht falsch informieren, handelt sie von einem Hausbesitzer, der zwei Obdachlose aufnimmt. Sie reden offen davon, daß sie Brandstifter seien, was der Eigentümer als gelungenen Witz abtut. Er glaubt ihnen kein Wort, obwohl in dem Ort, in dem er wohnt, in jüngster Zeit eine ganze Kette von Brandanschlägen verübt worden sind, und nimmt sie freizügig in seine Dachkammer auf Tage später beginnen sie, Benzinfässer auf den Dachboden zu schaffen, was ihm nur ein müdes „Sie sollten vorsichtig sein" entlockt. Er verweist auf die vielen Hausbrände in letzter Zeit und glaubt an einen köstlichen Scherz, als sie ihm sagen, sein Haus sei das nächste. Er ist so vernagelt, daß er ihnen sogar unwissend beim Verlegen der Zündschnüre behilflich ist,
und als er sie fragt, wozu das gut sei, und sie ihm antworten, zum feschen Abfackeln seines Hauses, kann er wieder nur über den köstlichen Humor der beiden lachen. Am Abend bevor sein Haus nun in Schutt und Asche fällt, gibt er ihnen zudem sogar noch Streichhölzer als Vertrauensbeweis dafür, daß er ein vorurteilsfreier Mensch ist und sie nicht für Brandstifter hält. Am Interessantesten ist eine Aussage, die einer der angeblichen Witzbolde macht; sie stellt wohl so etwas wie eine Lebensweisheit dar: , Scherz ist die drittbeste Tarnung. Die zweitbeste ist die Sentimentalität. Aber die beste und sicherste Tarnung ist und bleibt die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand!'" Cel hatte sorgsam gelauscht und blitzschnell die Parallele gezogen. „Sieht ja beinahe so aus, als könne der Mensch zwischen Wahrheit und Lüge überhaupt nicht mehr unterscheiden, als gehörte Blindheit für das Wahre, aber auch für die Aufrichtigkeit anderer Menschen, zum täglichen Brot." Der alte Mann quittierte ihre Selbstkritik mit einem Nicken. Das Dreivierteljahrhundert, das er nun auf diesem Globus lebte, hatte ihn nur zu gut gelehrt, wie schnell die Menschen ihren Nächsten kritisierten und dabei ihre eigene Person als unfehlbar und unantastbar hinstellten. Es war Mode, mit dem Finger auf andere zu zeigen, und keinem fiel auf, daß in dieser Geste drei Finger auf einen selbst deuteten! „Sollen wir mit der Entlarvung weitermachen?" fragte er. „Unbedingt! Ich bin jetzt richtig wild darauf!" antwortete sie und wechselte vom Sitzkissen auf einen Stuhl über. Sie nahm die Schallplatten entgegen, die der alte Mann auswählte. Gleich bei der ersten stutzte sie. „Was denn, die soften Popper auch?" „Ich habe extra ,Alphaville' als Nächstes genommen, um von vornherein dem Irrtum das Wasser abzugraben, die Rückwärtsmaskierung mit antichristlichen Botschaften sei eine Domäne der harten Musikszene. Tatsächlich ist sie in allen Sparten vertreten."
Cel legte den Titelsong ,Sounds Like a Melody' auf und fing an zu drehen. Der alte Mann hatte nicht zuviel versprochen. Schon sehr bald tönte es: ,Das Böse, der Meister Gottes, herrscht über dich!' Diese erschütternde Information wiederholte sich kurz darauf. ,Das Böse, der Meister Gottes, herrscht über dich!' Eine neue Mitteilung schloß sich fast nahtlos an. ,Das Böse, Baby, ist der Stoff für dich!' Cel nahm die zweite Platte in Empfang, tauschte diese später gegen eine andere, und so ging es eine sehr lange Zeit. Die US Band ,Mötley Crue', auf deren Album ,Shout at the Devil' der Hinweis vermerkt war: ,Vorsicht: diese Platte könnte Rückwärtsbotschaften enthalten', behauptete in ihrem Lied .Heiter Skelter': ,Der Himmel ist Hölle!' ,Depeche Mode' polterten auf ihrem Unwerk ,Master and Servant' die verteufelnde Botschaft: ,Die Dienerscharen der Hölle seid ihr!' In ihrem Welthit ,Like a virgin' gab Madonna eine bezeichnende Beschreibung ihres eigenen Ichs. Sage und schreibe drei Mal tönte sie: ,Ich wandele in Sünde!', und zwei Mal setzte sie hinzu: Ja, ich bin eine Betrügerin!' Bruce Springsteens Rock-Hymne ,Born in the USA' war ebenfalls nicht ohne Rückwärtsmaskierungen. Diese Tatsache schockte Cel über die Maßen, war doch Springsteens großes soziales Engagement im ganzen Land bekannt. In seiner charateristischen Reibeisenstimme sang er: ,Von jetzt an mache ich, was ich will. O Christus, du bist der Schmutz und Abschaum!' Norwegens Jungstars ,a-ha' waren auch nicht so unschuldig, wie sie aussahen. Auf ihrem Erfolgslied ,Take on me' ließen sie die Botschaft los: ,Der Himmel ist verloren!' Das europäische Gegenstück zu Madonna hieß Sandra. Aber nicht nur den Erfolg hatten sie miteinander gemein, sondern auch das Maskieren. Sandras Song ,Hey, little girl' enthielt die Rückwärtsnachricht ,Das Böse ist in mir! Ich werde wirklich eine Hure sein!' Auch in Deutschland schien in der Pop-Szene das Teu-
felskarussell in Gang zu kommen. Dieter Bohlen, Kopf des erfolgreichen Duos .ModernTalking' hatte das Lied ,Midnight Lady' produziert, das dann der Ex-Sänger von ,Smokie', Chris Norman, sang. Eine von mehreren Rückwärtsmaskierungen des Hitparaden-Stürmers war: ,Die Kirche ist verdammt!' Cel wurde zunehmend unruhiger. Cyndi Lauper, Erfolgsdame mit Blitzkarriere, gehörte auch zu den Bösewichten. Sie wies in ihrem Lied ,She bop' den Hörer rückwärts daraufhin, daß er .hilflos gegenüber dem Bösen, gegenüber dem Rückwärtsspielen' sei. Eine Nachricht, die sie mit einem schadenfrohen, quiekenden ,Ha, ha, ha!' abrundete. Im nächsten Lied, ,Purple Rain' vom kometenhaft emporgestiegenen Prince prophezeite dieser, daß ,der Himmel kurz davorsteht, gesprengt zu werden'. Wie schon bei der Gruppe ,a-ha' war auch in diesem Fall an dem verwendeten Wort ,heaven' klar zu erkennen, daß nicht etwa der azurblaue Himmel (englisch: sky) gemeint war, sondern der unsichtbare Himmel, in dem der Schöpfer-Gott thront. Cels Bewegungen wurden wegen ihrer inneren Unruhe hastiger. Auch die Rolling Stones hatten in ihrem Lied ,Tops' die Rückwärtsmaskierung nicht ausgelassen. In ihrer Reklame für den Teufel verkündeten sie: ,Ich liebe dich, sagte derTeufel!' Unter dem Hagelfeuer der dämonischen Schlagworte ging es mit Cels Gemüt zusehends bergab. Innerlich aufgewühlt, die Nerven angekratzt, neigte sich ihre Widerstandskraft rapide dem Ende zu. Die Krone der teuflischen Verherrlichung setzte DIO auf: ,Das Böse liegt im Hinterhalt! Das Böse geht und schiebt seinen Weg! Wir werden bösartig! Das Böse, das Böse geht weiter!' Und noch viel öfter erklang das Wort ,Böse', aber die nachfolgenden Satzteile waren teils vermengt, teils verschluckt und somit nicht klar erkenntlich, so daß nur eines überdeutlich wurde: das ganze Lied
,Holy Diver' mußte aufs Schrecklichste durchmaskiert sein. Wuchtig knallte Cel die Schutzhaube des Plattenspielers herunter. Das genügte bereits, um ihre aufgestaute Energie zur Entladung zu bringen; sie beruhigte sich. Nachdem sie einige Male tief Luft geholt hatte, verließ sie angewidert ihren Stuhl, schoß mit dem Fuß den Lederpuff näher an den Sessel des alten Mannes heran und kniete sich darauf, während ihre Augen rastlos auf dem gemusterten Teppich umherwanderten. Eine dringliche Frage plagte sie, zu deren Beantwortung ihr nicht einmal die blasseste Idee vorschwebte. „Okay!" meinte sie schließlich. „Das Beweismaterial türmt sich haushoch auf. Die Rückwärtsmaskierung ist eine Tatsache und eine Schweinerei. Daran gibt's nichts zu rütteln. Was aber nicht in meinen Schädel rein will, ist der Grund dafür. Ich sehe weit und breit keinen. Was bezwekken die Musiker damit, Mr. Gideon?" Zum ersten Mal, seit sie sich kannten, hatte Cel den alten Mann mit Namen angesprochen. „Hast du vergessen, daß wir einTeam sind? Da duzt man sich untereinander!" Cel strahlte über beide Wangen. „In Ordnung, Saul!" verbesserte sie von Herzen gern. Nach dieser Korrektur ging er auf ihr Anliegen ein: „Es gehört sich zwar nicht, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten, aber in diesem Fall muß ich mit der Etikette brechen. Was glaubst du, sehnen Musiker am meisten herbei?" „Möglichst fix einenTop-Hit zu landen", erwiderte sie wie einstudiert. „Und was bringt ein Top-Hit so mit sich?" Wieder kam es flott: „In erster Linie viel Geld und Ruhm." „Du kennst die Band ,Van Haien'?" Cel nickte stumm. Der alte Mann fragte weiter: „Kannst du mir etwas über den Erfolg der vier Boys berichten, bevor sie das Lied Jump' herausbrachten?"
Cel rümpfte grübelnd ihr Naschen. „Eigentlich nicht. Denn vorher hatten sie so gut wie keinen. Ihre ersten vier LPs verzeichneten nur mäßige Verkaufszahlen. Die Konzerte waren kaum ausgebucht. Es gab keine Singleauskopplung und erst recht keinen Welthit." „Und was ereignete sich, als Jump' erschien?" „Das Lied stürmte die Charts. Hier, in Europa, überall. Van Haien war über Nacht in aller Munde und sehr gefragt. Restlos ausverkaufte Konzerte blieben keine Seltenheit. Stories über die Vier in den Musikmagazinen waren an der Tagesordnung - ein echtes Van-Halen-Fieber", wußte Cel nicht ohne leise Begeisterung zu erzählen. „Hat dich die Blitzkarriere nicht verwundert?" „Nö! Einmal mußte der internationale Durchbruch ja gelingen." „Wieso mußte er das?" hakte der alte Mann nach. „Es gibt zuhauf Gruppen, die Jahrzehnte Musik machen und es trotzdem nie schaffen." Saul Gideon stand mühsam auf und bediente nun selbst die Stereoanlage. Nachdem er Van Halens Jump' aufgelegt hatte, begann er, den Plattenteller zu drehen. Cel stemmte den rechten Ellenbogen in den Oberschenkel und stützte ihr Kinn in den Handteller. Obschön rückwärtsgespielt, erkannte sie die Melodie auf Anhieb. Nach allerhand Wortfetzen hörte sie die klare und unmißverständliche Botschaft: ,Ich lasse Satan auf mir!' „Die also auch!" Sie machte aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl. „Die duftesten Songs sind maskiert und verdreckt!" „Und die erfolgreichsten!" schloß der alte Mann an und ließ sich nach dieser kurzen Episode wieder in den Sessel sinken. Als er nicht weitersprach, blickte Cel ihn durchdringend an. „Du willst doch damit etwas andeuten." „Erraten!" sagte er und hüllte sich vorerst in Schweigen, so daß sie gespannt ihre Lippen aufeinanderpreßte. „Daß ein Zusammenhang zwischen der Anwendung der Rückwärtsmaskierung und dem Riesenerfolg der Platte besteht?" „Richtig! Und dazu möchte ich dir gerne etwas vorlesen."
Cel verschränkte die Arme und stützte sie auf die überkreuzten Beine auf. Der alte Mann holte ein kleines Büchlein aus der Innenseite seines Jacketts, blätterte sorgsam darin, bis er die gewünschte Stelle gefunden hatte, und räusperte sich leicht, ehe er in ungewohnt sonorer Stimme las: „Dann führte der Teufel Jesus auf einen hohen Berg und zeigte ihm in einem Augenblick alle Reiche des Erdkreises. Und der Teufel sprach zu ihm: ,Ich will dir alle diese Gewalt und Herrlichkeit geben, denn mir ist sie übergeben, und wem irgend ich will, gebe ich sie. Wenn du nun vor mir anbetest, so soll sie ganz dein sein.' Da entgegnete ihm Jesus: ,Es steht geschrieben: Du sollst den Herrn, deinen Gott, anbeten und ihm allein dienen.'" Stille. Cel hatte zwar den Zusammenhang noch nicht erfaßt, doch die Worte trafen sie mitten ins Herz. Sie schloß die Augen, um sie nachklingen zu lassen. Soweit sie sich entsinnen konnte, war dies das erste Mal, daß sie Worte der Bibel in Seelenruhe zu verarbeiten und ernstzunehmen in der Lage war. Sie wußte nicht, warum, aber sie tat die Schriftstelle im Gegensatz zu ihrer üblichen Reaktion nicht als prähistorische Legende ab, sondern empfand sie als brandaktuell. Der alte Mann schloß das Büchlein, ohne es jedoch aus der Hand zu legen, und sprach weiter: „Der Teufel versucht Jesus und schlägt ihm einen Handel vor, weil er genau weiß, daß seine Niederlage vorprogrammiert ist, wenn er den Sohn Gottes nicht rasch auf seine Seite zieht. Und mit dieser Niederlage würden Menschen, die er haßt wie die Pest, die Möglichkeit haben, ihrem Verderben zu entkommen und ewiges Leben zu erhalten. Deshalb muß er unter allen Umständen den freiwilligen Opfergang Christi ans Kreuz verhindern. Aus diesem Grund bietet er Jesus ein aus Sicht der Menschen schmackhaftes und vortreffliches Geschäft an. Er soll vor ihm, dem Teufel, niederknien, ihm huldigen und Leib und Seele verschreiben, dann werde er alles erhalten, was die Welt zu bieten hat: Reichtümer, Ruhm, Macht. Voller Stolz prahlt der Teufel, daß er dies alles verteilen kann, wie er will und an wen er
will, weil es ihm übergeben wurde. Und das sind weder Faxen, Flausen noch Luftschlösser! Der Vater der Lüge hat ausnahmsweise mal die Wahrheit gesagt, zumal Jesus ihm in diesem Punkte nicht widersprochen hat. Gemäß der Bibel hat der Teufel demnach die Herrschaft über die Erde und kann sie verwalten, wie es ihm beliebt. Nur eines tut er nicht: er verschenkt nichts! Erst muß der Mensch eine Vorleistung erbringen, dann wird er bezahlt. Das heißt, er muß erst dem Satan hinterherlaufen und ihm allein gehorchen. Und die Bezahlung besteht eben aus nichts anderem als dem, was die Welt bietet, da er über mehr ja keine Verfügungsgewalt hat. Geld, Ländereien, Autos, Häuser, Starruhm, Erfolg — das sind seine Zuckerstücke, mit denen er lockt und auf die etliche Menschen hereinfallen. Aber unter der süßen Zuckerglasur verbirgt sich eine bittere Pille, die sie mitschlucken. Der Teufel bereitet ihnen ein angenehmes, unbeschwertes Leben in Saus und Braus hier auf Erden, aber nach ihrem Ableben kommt der Katzenjammer. Es ist wie nach einer herrlichen, nächtlichen Orgie - am Morgen danach kommt der Kater mit Kopfschmerz und Elend. Van Halen haben ihre Kniee vor ihm gebeugt und ihm einen Dienst erwiesen, indem sie ihn rückwärts auf ihrer Platte verherrlichten. Als Gegenleistung haben sie Ruhm und Geld in Form eines internationalen Top-Hits geerntet." Cel hockte mit offenem Mund da. Sie konnte eine Menge vertragen, aber diese Auslegung nachzuvollziehen, bereitete ihr enorme Schwierigkeiten. Schließlich bemerkte sie distanziert: „Klingt irgendwie sagenhaft logisch. Aber warum die Rückwärtsmaskierung als Dienstleistung? Ist doch albern, da das eh keiner hört. Vorwärts wäre wesentlich sinnvoller." „Was du bewußt hörst, verarbeitet dein Gehirn automatisch. Zum Beispiel sage ich dir, daß es gestern geregnet hat. Dein Gehirn wertet diese Aussage aus. Du bildest dir deine eigene Meinung, die vermutlich so aussehen würde: ,Der quatscht Blech. Es hat gestern überhaupt
nicht geregnet.' Mit dieser Beurteilung ist die Sache erledigt." Cel nickte. „Soweit kapiert." „Angenommen, ich würde jetzt einen Satz singen, der rückwärts die Nachricht enthält, daß es gestern geregnet hat. Würdest du wieder entgegenhalten können, daß das nicht wahr ist?" „Nee, die krieg' ich ja gar nicht mit!" „Und jetzt kommt das Gefährliche. Bewußt hörst du sie nicht, aber dein Ohr nimmt sie trotzdem auf. Und dein Unterbewußtsein ist fähig, die Strophe rückwärts zu entschlüsseln. Es erfährt somit, daß es gestern geregnet hat. Da es weder verarbeiten noch auswerten kann, wird die ihm zugeführte Botschaft alsTatsache gespeichert, obwohl es überhaupt nicht geregnet hat und du diesen Satz nie akzeptieren würdest, wenn du ihn bewußt erfährst." Cel schnitt eine sehr skeptische Grimasse. „Jetzt wird's spekulativ und utopisch. Sicherlich bekomme ich bewußt keinen Ton von der Maskierung mit, sonst hätte ich ja von alleine und viel früher diese schweinische Marotte herausgefunden. Aber woher willst du wissen, daß die Rückwärtsnachrichten vom Unterbewußtsein verstanden werden?" Er hatte mit diesem Einwand gerechnet. „Es gibt drei Beweisgründe. Zum einen die Wissenschaft, zum anderen die Musiker selbst, zum dritten die Logik." Er befeuchtete seine Lippen. „Im Kino laufen vor dem menschlichen Auge vierundzwanzig Bilder pro Sekunde ab. Besonders pfiffige Werbestrategen mogelten unter je vierundzwanzig Bilder ein Bild, das eine Coca-Cola-Dose darstellte. Mit dem bloßen Auge war diese Manipulation für die Zuschauer nicht wahrnehmbar. Das Resultat der das Unterbewußtsein ansprechenden Beeinflussung war überwältigend. Rund Dreiviertel der Kinobesucher verspürten in der Pause einen ebenso unbändigen wie unerklärlichen Durst nach Cola." Er ließ seine Worte kurz nachwirken und fuhr dann fort: „Diese Werbetechnik ist übrigens verboten worden. Was
nun auf den Sehsinn zutrifft, warum soll das nicht auch für das Gehör gültig sein? Zumal dann, wenn Musiker in ihrer Überheblichkeit die Gefahr der Rückwärtsmaskierung selbst zugeben!" Er reichte ihr die Platte ,Coup d'Etat' von der Gruppe ,Plasmatics'. Auf seinen Wunsch hin spielte sie den Schluß des Liedes ,The Damned'. Der letzte Akkord war längst verklungen, als ein Gemurmel einsetzte. Es hielt Sekunden an, dann verstummte es, und der Tonarm lief zur Zentrierachse hin aus. Neugierig geworden drehte Cel die Scheibe zurück. Die Sängerin der Band proklamierte lauthals, daß Cel fast die Augen übergingen: .Zugestandenes Programmieren schadet deiner Gesundheit. Die Gehirngewaschenen wissen nicht, daß sie gehirngewaschen werden.' Cel wandte sich mit Wut im Bauch zum alten Mann um. „Da schlägt's einem ja die Zacken aus der Krone. Gehirnwäsche! Wollen die uns zu willenlosen Puppen umfunktionieren? Das ist ja beinahe schon kriminell!" Der alte Mann fügte hinzu: „Und wenn man den Grundtenor der heimlich ins Gehirn geschleusten Nachrichten betrachtet, so wird klar, daß ganze Massen von ahnungslosen Jugendlichen anscheinend zu Legionen des Teufels erzogen werden sollen. Und damit bin ich beim dritten Beweis, dem Faktor Logik. Niemand kann mir weismachen, daß Musiker wochenlang am Rückwärtstexten herumdoktern, wenn sie wissen, es ist ohne Sinn und die Wirkung gleich Null." Diese Argumente überzeugten Cel. „Und was sind das deiner Meinung nach für Wirkungen? Ich meine, die Folgen durch die Cola-Dose sind klar, aber hierbei?" Sie ließ die Platte in die Schutzhülle gleiten. „Ich spüre nichts." „Das Ergebnis einer Beeinflussung ist für den Betroffenen selbst relativ schwer auszumachen, vor allem, wenn es um den Glauben geht, in diesem Fall jedoch rasch aufzuzeigen. Gehst du in die Kirche? Liest du in der Bibel? Glaubst du an Jesus als deinen persönlichen Retter? Hast du ihm dein Leben übergeben? Betest du zu ihm? Ist es dir eine
innere Not, anderen von ihm zu erzählen? Für einen Christen alles selbstverständliche Dinge!" Auf diese Palette von Fragen hatte Cel nur eine Antwort, die Bände sprach. Sie senkte ihren Blick. Der alte Mann sprach weiter: „Falls dem nicht so ist, dann hat der Teufel mit Hilfe seiner Handlanger sein Ziel erreicht. Warum tun sich Jugendliche so schwer mit dem Glauben? Warum finden sie heutzutage kaum noch zur Bibel?Wie viele sind es beispielsweise aus deiner Klasse?" Beschämt mußte Cel kleinlaut gestehen: „Niemand." „Sicherlich gibt es auch noch andere Gründe für die wachsende Gleichgültigkeit gegenüber Gott. Die Musik aber, von fast allen Menschen geliebt und gern gehört, ist und bleibt das effektivste Medium zum Fernhalten des Menschen von Gott und zum schleichenden Umpolen eines freien Menschen in einen Gefolgsmann des Satans." Cel schauderte: „Das hört sich fürchterlich an und jagt mir regelrecht Angst ein; wie rabenschwarz du alles malst!" „Das alles ist rabenschwarz! Das Böse wird in immer drastischerer Form ,in' und zum Maßstab des Normalen für die Welt. Dieser ausgestreute Same ist es, aus dem der Antichrist seine vielen Anhänger rekrutieren wird. Denn das hat ja schon ein Adolf Hitler voll begriffen, als er sagte: ,Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft.' Die Musiker sind sozusagen Wegbereiter und Erzieher. Und wie überaus offen und knallhart Musiker selbst von sich aus diesen Bogen zu dem Judenhasser und Massenmörder Adolf Hitler spannen, beweist zum Beispiel dieTatsache, daß Ronnie James DIO seiner Europa-Tournee den Namen ,Hitler EuropeanTour' gegeben und eigens T-Shirts mit dem Bild des Führers und ,Heil Hitler'-Gruß in Umlauf gebracht hat. In der Tat ein sehr finsterer Ausblick. Und die Zukunft wäre hoffnungslos, wenn es Jesus nicht gäbe. Jedes Jahr zur Weihnachtszeit singen wir zu Recht, daß uns ein Retter geboren ist. Aber haben wir uns auch schon mal gefragt, vor wem oder was er uns erretten will? An diesem Punkt schweigt die breite Masse meistens. Diesen ge-
danklichen Schritt vollziehen sie lieber nicht weiter. Denn den Himmel akzeptiert jeder - ,Wir kommen alle in den Himmel'! Vom Teufel und der Hölle will niemand etwas wissen. Verstehst du den Widerspruch?" Cel nickte. Das klang wirklich verdächtig schizophren. Auch wenn man bei einer Medaille meist nur die Vorderseite begutachtete, weil man sie wegen ihrer außerordentlichen Schönheit nicht umdrehen wollte, so existierte die Kehrseite trotz alledem. Eine riskante Einstellung, die vergleichbar ist mit einer lebenden Schlange, die man lieber für ausgestopft hält, weil man sie dann unbeschadet passieren kann. Sie beißt trotzdem gnadenlos zu! Die Realität läßt sich nicht durch Wunschdenken in Illusion umwandeln. Sie ist da und gültig, egal ob mit oder ohne unsere Zustimmung. Cel wurde schlagartig der Widersinn bewußt. Der Mensch glaubt selbst an den Unterschied zwischen Gut und Böse. Und da sollte Gott diese Gegensätze einfach übergehen? Selbst auf Erden trennt der Mensch so weit wie möglich Gut von Böse, indem er Verbrecher an einen abgesonderten Ort verbannt. Und bei Gott sollen sie alle mit ihm unter einem Dach wohnen? Cel kam diese Haltung immer paradoxer vor. Der alte Mann unterbrach ihre Gedanken: „Auch wenn sich die eben skizzierten Schatten bereits über die Welt gelegt haben, so bleibt für jemanden, der auf Jesus vertraut, der Blick frei. Denn er ist Licht und hat die Macht der Finsternis für uns überwunden. Viele Sterbliche nennen wir Stars. Doch sie sind keine Sterne. Wer sie als Navigationshilfe nimmt, verirrt sich und erleidet Schiffbruch. Sie sind allenfalls Sternschnuppen. Und nach diesen kann und darf man nicht segeln, wenn man nicht lebensmüde ist. Auch auf Jesus möchte ich die abgedroschene Phrase ,Superstar' nicht gern anwenden, denn er ist mehr. Er ist weit mehr! Unbeschreiblich viel heller! Er ist Gott!" Jäh wurde er durch das Schlagen der Uhr unterbrochen. Es war Punkt 23 Uhr. Der alte Mann stieß einen Pfiff aus, „Die Zeit vergeht wie im Fluge."
Er langte nach seinen Sachen und zog sich am Stock in den Stand. Ein bißchen verdattert über den kurzentschlossenen Aufbruch ihres Besuchers, nahm Cel bloß beiläufig Notiz von dem Präsent, das der alte Mann zum Abschied sorgsam neben die Kerze plazierte. In ihrem Schein glitzerten fünf goldene Lettern auf dem Einband. Als sie ihren Gast zur Tür geleitete, brannte noch eine Frage auf ihrer Zunge. „Saul, wie lange gibt es schon das Rückwärtsmaskieren?" Der alte Mann verzog nachdenklich seine Lippen. „Tja, also, genau kann ich dir das auch nicht beantworten. Ich weiß nur, daß die Beatles auf ihrem , Weißen Album' schon diese Manipulation anwandten. Das muß Mitte der Sechziger gewesen sein. Ob sie es erfanden oder schon Musiker vor ihnen? Keine Ahnung!" Cel fiel bei der Nennung der Beatles aus allen Wolken: „Was denn? Die auch?" Er nickte. „Ja, die harmlosen, netten Pilzköpfe auch. Sie setzten damals zwar noch keine teuflischen Botschaften ab, aber hauten die Welt übers Ohr, indem sie auf Liedern den Hörern einredeten, Paul McCartney sei tot." Er nahm ihre Frage nach dem Zweck vorweg. „Was geschieht nämlich mit den Verkaufszahlen von Platten, wenn der Tod eines Musikers bekannt wird?" Cel brauchte nicht lange zu überlegen, sondern sich nur die Ereignisse nach den Todesfällen von John Lennon und Elvis Presley in Erinnerung zu rufen. „Sie schnellen wie eine Rakete in die Höhe." Sie gab sich noch nicht zufrieden: „Weißt du ein paar Maskierungen auswendig?" Er schien wirklich auf alles vorbereitet. Ohne zu zögern, antwortete er: „Auf dem Lied ,Revolution Number Nine' taucht zigmal die Beschwörungsformel auf: ,Mach mich an, toter Mann! Mach mich an, toter Mann!' Am Ende von ,I'm soTired' wird rückwärts gemurmelt: ,Paul ist jetzt tot. Ich vermisse ihn, ich vermisse ihn, ich vermisse ihn!' Der Song ,Glass Onions' enthält die Nachricht: ,Er wird vermißt!'" „Das ist ja ein Ding!" reagierte Cel überwältigt. „Es
scheint wohl niemand zu geben, der nicht Dreck am Stekken hat." „Ein gar nicht so schlechtes Fazit", resümierte der alte Mann und trat hinaus in die Nacht. „Woher weißt du eigentlich in der Musikszene so gründlich Bescheid?" fragte Cel. „Ich meine, meine Eltern können nicht einmal mit den Namen der Bands etwas anfangen, die ich höre. Und meine Eltern sind wesentlich jünger als du." „Der Wirbel um die Beatles damals hat mich aufhorchen lassen. Und von da an bin ich einfach am Ball geblieben, so daß eins zum ändern kam." Cel nickte, zufrieden mit der Antwort. „Sehen wir uns bald wieder?" Er hatte schon einen Schritt getan und wandte sich nun um. Ein Lichtstrahl der Haustürlampe fiel aufsein lächelndes Gesicht. „Natürlich. Ich melde mich", verkündete er in einer Gewißheit, als könne keine Macht der Welt ihn daran hindern.
7 Ziemlich ermattet schlich Cel hinauf in ihr Zimmer. Dort hockte sie sich auf die Bettkante. Ans Schlafen war nicht im entferntesten zu denken, dazu war ihr Innerstes von den furchtbaren Erkenntnissen des heutigen Abends zu sehr aufgewühlt. Sie fühlte sich hellwach, wie nach einem Schlaf rund um die Uhr, wenngleich nicht ebenso ausgeglichen. Sie vermeinte, das Flattern ihrer Nervenstränge unter der Haut zu spüren. Unruhig wechselte sie hinüber an den Schreibtisch. Zum ersten Mal fragte sie sich, was das alles zu bedeuten hatte. Eine Menge hatte sich verändert. Sie hatte das Tor zu einer völlig neuen Welt aufgestoßen. Was sie vor wenigen Tagen noch belächelt hätte, kam ihr heute normal vor - der Glaube an einen Teufel, der Musiker für seine Zwecke einspannte! Und doch - sie spürte, daß nicht alles glatt war, daß da Unordnung in ihr herrschte. Noch nicht lange. Erst kurze Zeit. Genauer: seit sie dem alten Mann begegnet war. Sie wußte nicht, ob sie sich darüber freuen oder ärgern sollte, und so schlug sie sich mit Gefühlen herum, die im krassen Gegensatz zueinander standen. Zuneigung und Verwünschung! Verfluchung und Liebe! Eine Zerreißprobe, die eine Entscheidung von ihr forderte. Doch Cel war nicht bereit noch in der Lage dazu, und daher versuchte sie zu flüchten. Sie legte irgendeine Cassette ein, um in der Musik zu versinken und alles hinter sich zu lassen. Aus den Boxen hörte sie DIO flüstern: ,Sprich nicht mit Fremden! Sprich nicht mit Fremden, denn sie sind nur da, um dir weh zu tun. Reite nicht im Sternenlicht, denn die Worte könnten sich als Wirklichkeit bewahrheiten. Verstecke dich nicht in Türöffnungen, du könntest einen Schlüssel finden, der deine Seele auftut. Geh nicht in den Himmel, denn er ist in Wirklichkeit nur die Hölle...' Nein! Nein! Nein! Aufhören! Sofort! Sie drückte die
Stop-Taste und hielt sich die Schläfen. Der Strudel, in den sie vollständig hatte versinken wollen, hatte sie schnell wieder ausgespien wie ein Wal. Ihr war ganz heiß geworden, und der milde Abendwind, der durchs offene Fenster hereinwehte, schenkte ihr wenig Linderung. In ihrer Not, der Forderung nach einer Entscheidung erfolgreich zu entkommen, griff sie zu dem Roman, den sie derzeit las. Irgendwie mußte ihr die Flucht doch gelingen! Wie an einen rettenden Strohhalm klammerte sie sich an das Buch. Es mußte ablenken! Sie zwang sich zum Weiterlesen, bohrte ihren Blick ganz fest in die Paperbackausgabe, bannte ihre Augen auf die Buchstaben. Irgendwann mußten Lust und Konzentration einfach wiederkehren und das ominöse „Klick" zum Abschalten der umgebenden Wirklichkeit besorgen. Drei Zeilen weit kam sie, dann wurde es schlimmer. Der Inhalt des Buches schürte die Kohlen nur noch eifriger. Ehe sie die Flucht überhaupt antreten konnte, saß sie schon wieder eingeklemmt in den Schraubstock der Realität. In dem Roman ging es nämlich um ein Dokument, genannt Jesus-Papier', das die Kirche Christi in Schrecken versetzte, weil es eine verdrängte Wahrheit enthüllen sollte: starb Jesus wirklich am Kreuz? Als sie sich den Bestseller von Robert Ludlum vor Wochen gekauft hatte, war sie vom Stoff gefesselt gewesen. Seite für Seite hatte sie verschlungen. Dann, vor drei Tagen, war ihr Interesse auf einen Schlag verflogen. Und jetzt, wo sie an den Faden anknüpfen wollte, erweckte das Thema Ekel in ihr. Etwas ließ Cel plötzlich aufhorchen. Was war das? Sie lauschte. Es war ein gewohntes Geräusch, aber doch gleichzeitig auch recht seltsam. Um Mitternacht klingelte das Telefon? Wer konnte das sein? Hastig sprang sie vom Bett auf und rannte ins Wohnzimmer. Das Läuten setzte gerade zum siebten Mal an, als Cel endlich den Hörer abnahm. Obwohl sie mit aller Gewalt ihrer Stimme Kraft und Entschiedenheit zu verleihen suchte, um dem nächtlichen Störenfried zu zeigen, daß mit
dieser Adresse nicht zu spaßen war, entsprang ihrer Kehle nicht mehr als ein krächzendes, angstvolles „Hallo?" Ein dicker Kloß saß ihr im Hals. Cels Anspannung sackte sturzartig ab, als sich aus dem Hörer der Wortschwall einer ihr sehr vertrauten Person in ihr Ohr ergoß: „Na endlich, Kleines! Wo hast du gesteckt? Wir haben den ganzen Nachmittag und Abend versucht, dich zu erreichen. Hast du dich wieder rumgetrieben?" „Mum, du?" Cels anfängliches Erstaunen schlug in Ärger um. „Herrje, weißt du, wie spät es ist?" „Das frage ich dich, mein Fräulein!" schallte es zurück. „Wir wollten nur eben kurz durchläuten, daß wir gut angekommen sind, und hocken nun schon sorgenvolle Stunden vor dem Telefon, weil unser gnädiges Fräulein mal wieder flügge war. Was war los?" „Oje! Was soll schon los gewesen sein? Heute nachmittag war ich mit Stephen und Gina unterwegs." „Und?" „Und was?" Mrs. Rousseau schnarrte ungehalten wegen der Begriffsstutzigkeit ihrer Tochter in den Hörer. „Und heute abend! Stell dich nicht so dumm an! Meinst wohl, du kannst mit deiner Hinhaltetaktik vertuschen, daß du dich amüsieren gegangen bist und deinen Bruder ohne Aufsicht gelassen hast? Herrschaftszeiten! Kannst du nicht mal ein Wochenende zugunsten deines armen Brüderchens auf eine Annehmlichkeit verzichten?" „Herrje! Wieso? Ich war den ganzen Abend zu Hause", verteidigte sich Cel ob dieser Unterstellung. „Und warum bist du dann nicht ansTelefon gegangen?" '•' „Ich hatte Besuch. Wir müssen es überhört haben. Oder der Apparat war kurzzeitig defekt." Sie hörte ihre Mutter am anderen Ende ungläubig lachen. „Eine bessere Ausrede hast du dir nicht parat gelegt? Das Rufzeichen kam durch. Wir haben extra die Störungsstelle angerufen, zur Kontrolle. Wer war denn da? Gina?" Die Verlockung zur Lüge stand sperrangelweit wie ein Scheunentor auf, da sie sich im Hinterkopf ausrechnete,
daß ihre Mutter die Antwort „Gina" eher akzeptieren würde, als wenn sie sagte, daß ein siebzigjähriger Mann zu Besuch gewesen war, den sie erst seit dreiTagen kannte. Es kostete sie große Überwindung, der Wahrheit treu zu bleiben. „Nein. Ein älterer Herr. Du kennst ihn nicht." Wieder kam dieses Lachen, das Cel zeigte, daß ihre Mutter ihr keine Silbe glaubte. „Hattest du nicht genug Zeit, dir ein passableres Alibi einfallen zu lassen? Mir scheint, du legst es regelrecht darauf an, es auf die Spitze zu treiben. Na schön, mein Fräulein! Wie du willst! Wir sprechen Sonntag weiter. Dein ungezogenes Verhalten wird ein Nachspiel haben." Cel meinte, sich verhört zu haben. Ein Nachspiel? Wofür? Weil sie die Wahrheit, die reinste Wahrheit gesagt hatte? Wollte ihre Mutter ihr nicht glauben? Sie wurde nervös. Es mußte doch einen Weg geben, daß ihre Mutter zur Vernunft kam und einsah, daß sie im Unrecht war. Besaß Ehrlichkeit denn überhaupt keinen Wert mehr? Es gab einen Ausweg. Ihren Vater. Mit ihm verstand sie sich prächtig und besser als mit ihrer Mutter. Er würde ihr glauben. Voll Hoffnung fragte sie: „Gibst du mir mal Daddy?" „Daddy war schon drauf und dran, wieder zurückzufahren, weil er sich Sorgen machte. Auch Oma ist ganz außer sich über deine Verantwortungslosigkeit. Kleines, Kleines, du hast dir viel verscherzt! Ab Sonntag werden wir wohl andere Seiten aufziehen müssen. Wie geht es Stephen?" Cel war stocksauer über die ihr widerfahrene Ungerechtigkeit und herrschte patzig zurück: „Euerm Stephen geht es gut. Er schläft." Als habe ihre Mutter den aufmüpfigen Tonfall überhört, sagte sie: „Dann geh du jetzt auch ins Bett. Gute Nacht." „Nacht!" blaffte sie in die Muschel und knallte den Hörer auf die Gabel, daß die Glocke im Gehäuse schellte. Wütend stampfte sie auf den Fußboden. „Mist! Hätte ich doch bloß gelogen!" Wütend schritt sie durchs Wohnzimmer und verharrte
einen Moment an dem Sessel, wo der alte Mann gesessen hatte. Sie erinnerte sich an eine Lebensweisheit, die er ihr gesagt hatte und die sie nun so schmerzlich traf: „Die beste und sicherste Tarnung ist und bleibt die blanke und nackte Wahrheit. Die glaubt niemand!" „O wie wahr!" gestand sie bekümmert und wollte weitergehen, als ihr Blick den Tisch streifte, auf dem ein Buch lag. Sie erkannte es als dasjenige, aus dem der alte Mann die Versuchung Jesu vorgelesen hatte. Sie glaubte, er habe es vergessen, ergriff es und verzog sich grollend auf ihr Zimmer. Nachdem sie das kleine Buch achtlos auf ihrem Schreibtisch abgelegt hatte, führte sie der erste Weg zum Cassettendeck. Sie mußte sich schleunigst abreagieren, setzte sich für eine ordentliche Dröhnung Kopfhörer auf und legte sich aufs Bett. Ihr kam die Fortsetzung von DIOs hartem Rocksong .Don'tTalk to Strangers', den sie vorhin noch so empörend gefunden hatte, irgendwie gelegen. Stählern, roh und kompromißlos erklang es: ,Hey du! Du kennst mich, du faßt mich an, ich bin Wirklichkeit! Kannst du mich nicht fühlen? Ich bin Gefahr. Ich bin der Fremde.' Die tiefe, klangvolle Stimme wurde aggressiver. ,Und ich, ich bin Dunkelheit, ich bin Zorn, ich bin Schmerz. Ich bin Meister der bösartigen Lieder, die du drinnen in deinem Gehirn singst, die dich in den Wahnsinn senken. Sprich nicht mit Fremden, laß sie nicht hinein in deinen Verstand!' Die Stimme schloß ihr Bekenntnis mit den Worten:, Sprich nicht mit Fremden, denn sie sind nur da, um dich traurig zu machen!" In Cel verhärtete sich plötzlich der Verdacht, ob nicht der alte Mann schuld an ihrer scheußlichen Situation war, an der ungerechtfertigten Anschuldigung seitens ihrer Mutter und an der Unruhe und Zerfahrenheit in ihrem Innersten. Ein neuer Song quetschte seine Droge in ihre Gehirngänge. Er stammte von einer dreiköpfigen Band, die nicht zu Unrecht den Namen ,Venom' (Gift) trug. Wie bei einem schwarzen Ritual brüllten sie mit vulgärer, dreckiger Reib-
eisenstimme: ,Satan, Vater, hilf mir aus diesem Grab! Dämonen, Krieger, seit jeher meine Sklaven. Sünder, Lügner bewache deine Dornenkrone. Priesterinnen, Pfarrer lebt euer Leben der Verachtung. Ich kann die Feuer der Hölle und Gotteslästerung entfachen. Wir können zu einem starken, teuflischen Königtum wachsen. Teufel, Engel, Aasgeier der Nacht! Laßt den Hochofen hell brennen. Wir werden nicht müde.' Müde wurde auch Cel nicht. Der gröbste Unfriede war verflogen, auf der Oberfläche kehrte Ruhe ein. Unter der dünnen Krustejedoch arbeitete der Vulkan weiter. Die Vernunft reichte nicht so weit, daß Cel sich näher mit dem Umstand befaßte, warum weder der alte Mann noch sie das angebliche Läuten des Telefons mitbekommen hatte, obwohl beide in Reichweite gesessen hatten. Die nächtliche Kühle ließ Cel frösteln. Sie stützte sich auf die Ellenbogen und lugte zum Fenster hinüber. Sie hatte vergessen, es zu schließen, und nun flatterten die Gardinen fast bis unter die Decke. Ein Unwetter schien sich anzukündigen. Sie nahm den Kopfhörer ab, stand auf und schritt zum Fenster. Als sie es geschlossen hatte, fiel ihr Blick auf eine Veränderung, die der Wind angerichtet haben mußte. Das Buch des alten Mannes, das sie vorhin achtlos abgelegt hatte, war auf einmal aufgeschlagen. Sie führte schon ihre Fingerspitzen unter das Buch, um es sogleich wieder zuzuklappen, als sie unvermittelt innehielt. ,Ob wohl noch mehr so interessante Dinge in diesem Buch stehen, wie die, die Saul vorgelesen hat?' fragte sie sich im Stillen und vertiefte sich in die Zeilen. Ihr Blick schweifte zunächst irrend umher, da Cel nicht wußte, wo sie mit dem Lesen beginnen sollte. Schließlich blieben ihre Augen an der Zahl 53 kleben, neben der die Frage gestellt wurde: „Wer hat unserer Verkündigung geglaubt?" Damit war Cels Neugier endgültig erwacht, und sie beugte sich leicht über Tisch und Buch. „Er ist von uns wie ein Reis emporgeschossen, wie ein Wurzelsproß aus dürrem Erdreich. Keine Gestalt besaß er, noch Schönheit. Und als wir ihn sahen, da hatte er kein An-
sehen, daß wir seiner begehrt hätten. Er war verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann der Schmerzen, leiderfahren; wie einer, vor dem man sein Angesicht verbirgt. Er wurde verabscheut, und wir haben ihn für nichts geachtet." Unbewußt zwängte Cel sich zwischen Stuhl und Tisch, ohne ihr Lesen zu unterbrechen. Ihr entging sogar das automatische Abschalten des Cassetten-Recorders. „Fürwahr, er hat unsere Leiden getragen, und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen. Und wir, wir hielten ihn für bestraft, von Gott geschlagen und niedergebeugt." Fasziniert zog Cel das Buch näher zu sich heran. Sie achtete auch nicht auf die zuckenden Blitze, die hie und da den nächtlichen Himmel über New York erhellten. „Doch um unserer Übertretungen willen war er durchbohrt, um unserer Missetaten willen zerschlagen. Zu unserem Frieden lag die Strafe auf ihm; durch seine Striemen ist uns Heilung geworden." Ihr Kopf sank tiefer und tiefer in diese Zeilen. Welch armer Mensch! Warum half ihm denn keiner? Wieso taten die Menschen diesem Gutmütigen und Sanften noch mehr weh? „Wir alle irrten umher wie Schafe. Jeder ging seine eigenen Wege. Aber Gott ließ ihn die Schuld von uns allen treffen. Er wurde mißhandelt, doch er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird. Wie ein Schaf, das stumm ist vor seinen Scherern." Tränen schössen Cel in die Augen. Sie war verzweifelt über die Hartherzigkeit der Menschen. Wozu besaßen sie Augen, wenn sie sie doch nicht benutzten?Wie konnten sie nur so einen Menschen vernichten, der so liebevoll und gut war, den man einfach liebhaben mußte? Trauer und sogar ein bißchen Wut keimten in ihr auf. „Wenn er sein Leben als Schuldopfer hingegeben haben wird, wird er Samen sehen und viele Lebenstage, und der Plan Gottes wird in seiner Hand gedeihen. Nach der Mühsal seiner Seele wird er Frucht sehen und sich sättigen.
Durch sein Leiden wird mein gerechter Knecht viele rechtfertigen, indem er ihre Missetaten auf sich nimmt. Darum will ich ihm die Vielen als Anteil geben, und die Mächtigen fallen ihm als Beute zu dafür, daß er sein Leben ausgeschüttet hat in den Tod und sich unter die Übeltäter zählen ließ." Cel wischte sich die Augen und fühlte Freude angesichts der Verheißung einer Vergeltung. Sie war keine rachsüchtige Natur, aber diese Schmähungen gingen ihr an die Nieren. Der gemeine Mord an einem so gütigen, friedfertigen, wundervollen Menschen durfte nicht ungesühnt bleiben. Das verlangte ganz einfach der Gerechtigkeitssinn. Sollte er sich Beute nehmen, siegen und triumphieren, wie er selbst zur Beute geworden war - unschuldigerweise. Das war gut! Ihr Stimmungsbarometer kletterte wieder. Doch ehe sie das emotionale Hoch richtig auskosten konnte, purzelte sie auch schon erneut talwärts. Den Ausschlag gab der letzte Satz des Kapitels: „Er hingegen hat die Sünde vieler getragen und für die Abtrünnigen Fürbitte getan." Als sei sie die gesamte Zeit des Lesens über mit Blindheit geschlagen gewesen, fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. Das Wort „Sünde" sprang ihr förmlich ins Gesicht. Hier war nicht irgendein Mensch gestorben — sondern Jesus Christus! Nicht irgendwelche Menschen aus grauer Vorzeit hatten seinen Tod verschuldet - sondern auch sie selbst, Celeste Rousseau! Sie war die Hartherzige, die Gleichgültige, die Undankbare. Diese bestürzende Wahrheit traf sie wie ein Dolchstich. Fassungslos ließ sie den Kopf auf das Buch sinken. „Oh, es tut mir leid, Jesus!" schluchzte sie. Dabei faltete sie unwillkürlich ihre Hände und begann das erste herzliche Gebet ihres Lebens zu sprechen: „Jesus, ich... ich danke dir, daß du mich nicht vergessen hast... obwohl ich nie an dich gedacht habe. Ich habe gemacht, was ich wollte, aber du, du hast mich nicht abgeschoben. O Jesus, ... ich habe viele Fehler gemacht ... ich bitte dich ... vergib sie mir alle ... alle ... bitte! Hilf mir, bitte! Ich will zu dir, zu deinen Leuten gehören. Du warst es, den sie damals an dem Kreuz
umgebracht haben. Sie sagen, dadurch werde ich meine Schuld los, und ich glaube, das ist wahr. Herr, Jesus, ich möchte dir danken für das, für alles, weil du mich nicht aufgegeben hast. Ich möch ..." Ihre Stimme versagte. „Ich möchte, daß du mich aufnimmst in deine Welt; daß ich mein Leben für dich leben ..." Dann war ihre Stimme ganz weg, und nur noch ihre Tränen redeten weiter. In Gels Seele ging es in diesem Augenblick zu, als stochere jemand in dem stinkenden Abfall einer Müllhalde herum und gebe den Befehl, allen Unrat in seinen eigenen Vorgarten abtransportieren zu lassen. Während die ersten Regentropfen gegen das Fenster klatschten und draußen über der Stadt die Atmosphäre in Kürze vom niederprasselnden Regen gereinigt sein würde, floß aus Cel still und leise Träne über Träne und entgiftete ihren Körper. Sie fühlte, wie zunehmend Ballast von ihr genommen wurde. Die Entsorgung, die Umverteilung tat wohl. Erleichtert erhob Cel ihr Gesicht von der Bibel. Sie spürte, daß sich eine Veränderung in ihr ereignet hatte. Sie konnte sie nicht genau bestimmen und fragte auch nicht danach. Sie wollte sie lieber in vollen Zügen auskosten. Ein innerer Friede beseelte sie, von dem sie wünschte, er würde nie vergehen. Mit ihm hielt unversehens auch die Müdigkeit ihren Einzug. Als Cel sich wenig später in ihr Schmusekissen kuschelte, wußte sie nicht, daß sich an ihr in dieser Nacht exakt das vollzogen hatte, was Jesus als unbedingtes Muß für einen jeden Menschen gefordert hatte, der gerettet werden wollte - sie war von neuem geboren!
8 Im Parterre fing der kleine Stephen wie auf Kommando zu brüllen an. Ein Lid ging auf, dann das andere — Cel war hellwach. Sie räkelte sich kurz und schlüpfte unter der Bettdecke hervor. Sie hatte prächtig geschlafen. Bevor sie sich selbst für den Tag schick machte, versorgte sie erst einmal den Schreihals, bis er restlos zufrieden an seinem Schnuller nuckelte. Nach dem Waschen und Anziehen ging sie in die Küche, um gemütlich zu frühstükken. Nachdem sie den Tisch hergerichtet hatte, ließ sie entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit das Radio ausgeschaltet. Sie merkte gar nicht, daß sie mit einer jahrelangen Tradition brach, weil sie heute morgen einfach keine Musik brauchte. , Wie wunderschön Stille doch sein kann', dachte sie über ihre neue Erfahrung nach und wunderte sich, daß sie nicht früher schon solche Augenblicke gesucht hatte. In ihrer Sucht nach dem oberflächlichen Lärm aus dem Radio hatte sie eine Menge verpaßt, das ärgerte sie. Sie hatte sich um viel wertvolle Zeit betrügen lassen. Selten hatte sie derart gutgelaunt und zufrieden gefrühstückt. Sie räumte den Tisch ab. Nachdem sie in den Briefkasten geschaut und das wöchentliche Magazin ihres Vaters entnommen hatte, entschloß sie sich, mit Stephen einen Spaziergang zu machen. Er würde sich gewiß freuen wie ein Schneekönig. Sie bettete ihr Brüderchen in den Kinderwagen und flitzte hinauf in ihr Zimmer, um sich Turnschuhe anzuziehen. Während sie sie zuband, wurde eine merkwürdige Kanonade auf sie abgefeuert. Ihre Quellen schlummerten verborgen in den Wandpostern. Bewußt verspürte Cel nichts. Sie wollte auch schon das Zimmer verlassen, als ein Gedanke aufkeimte, der sie sich umdrehen ließ. Als rede jemand durch den Mantel der Gewohnheit auf sie ein, dachte sie daran, daß sie sonst auf ihren Touren immer den Walkman mitnahm. Um ein Haar hätte sie ihn vergessen — das erste Mal. Sie sah zum Regal herüber, wo er lag. Da plötz-
lieh meldete sich eine andere Stimme, um sie zum Fortgehen ohne den Walkman zu bewegen. Ehe Cel sich versah, steckte sie im tiefsten Labyrinth. Sie stand hilflos da und spürte, wie der Versucher sich ihr näherte. Mit List und Charme suchte er sie zu betören, die linke Tür als Ausgang aus dem Labyrinth zu nehmen. Sie war recht groß, und hinter ihr lockte viel Spaß. Aber da gab es noch einen zweiten Ausweg, den sie trotz der betörenden Einladung wahrnahm, nämlich eine Tür zu ihrer Rechten. Sie war zwar wesentlich kleiner, besaß hingegen den Vorteil, daß sie bereits offenstand. Nun lag es einzig an ihrer Entscheidung. Sie hatte die Qual der Wahl. Und es wurde für sie wirklich zur Qual. Denn sie spürte, wie sie - von zwei Magneten angezogen - in der Mitte zu zerreißen drohte. Dann siegte die Verlockung der verschlossenen Tür; Cel machte einen Schritt darauf zu und hielt den Walkman in beiden Händen! Gemächlich spazierte sie durch die Nachbarschaft. Stephen schien es übermäßig Spaß zu bereiten, im frühmorgendlichen Sonnenschein herumchauffiert zu werden. Er strampelte fröhlich, seine grün-grauen Augen leuchteten, und die Bäckchen besaßen eine gesunde, frische Farbe. Seine glänzende Stimmung übertrug sich nicht einmal zumTeil auf Cel. Sie wirkte niedergeschlagen und übersah sogar einige Menschen, die sie sonst zu grüßen pflegte. Einige von ihnen deuteten ihr Verhalten als üble Laune, weil sie nicht in sie hineinschauen konnten. Wären sie dazu in der Lage gewesen, hätten sie ein mörderisches Schlachtfeld erblickt. Seit sie das Haus verlassen hatte, tobte es in ihr. Der Walkman war betriebsbereit, aber sie hatte sich immer noch verkniffen, ihn auch einzuschalten. Sie hatte den gestrigen Demonstrationsabend nicht vergessen und würde ihn auch nie mehr in ihrem Leben vergessen können. Wenn sie nun die Cassette hörte, was würde ihrem Gehirn unbewußt mitgeteilt? Mit welchem diabolischen Zeug würde sie vollgestopft? Wollte sie sauber bleiben, nicht zum Spielball skrupelloser Musiker werden, dann mußte sie verzichten. Eine harte Konsequenz. Aber so ganz ohne Musik? Ihre Finger trommelten unentschlossen an
der Start-Taste herum, wobei sie ein Zittern befiel, als leide sie an Entzugserscheinungen. Wider alle Gewissensbisse wurde sie schwach. Ihr Herz pochte rasend, als es erst schwerfällig, dann spritzig erklang: ,Er ist die Träne in deinem Auge. Versucht worden von seiner Lüge. Er ist das Messer in deinem Rücken. Er ist Wut. Er ist die Klinge zum Messer. Aber in Zeiten des Verdorrens werden wir stehen und fuhren, stark sein und lachen und rufen, rufen, rufen zum Teufel...' Hastig schaltete sie das Gerät wieder aus. Was da über Chromdioxid kam, konnte sie plötzlich nicht mehr ertragen. Es machte sie krank, brachte sie an den Rand des Erbrechens. Der Kopfhörer blieb für eine beträchtliche Wegstrecke stumm, in der sie sich allmählich erholte. Nachdem sie wieder auf dem Damm war, kam die zweite Versuchung über sie. Um die Gewissensbisse zu lindern, spulte sie die Cassette vor, bis sie glaubte, ein erträglicheres Lied der Gruppe ,Mötley Crue' erwischt zu haben. Sie stellte den Walkman an. Wie Schnellfeuer schoß es in ihr Ohr: ,Die Kinder schreien in Schrecken durch die Nacht, jeden Biß mit Freude liebend ...' Klack! Sie kannte den Song. Gleich würde buchstäblich wieder der Ruf zumTeufel laut. Sie spulte weiter. Ein neuerlicher Versuch. ,Wir sind sowohl Sünder als Heilige. Keine Frau, aber eine Hure. Ich kann den Haß schmecken. Nun, ich töte dichjetzt. Sieh, wie dein Gesicht blau wird ...' Klack! Der Ekel war nicht zum Aushalten und verursachte Cel physische Pein. Die tiefe Abscheu, die sie empfand, strangulierte sie wie eine Kandare. Gott bedrängte sie, weil er sie liebhatte. Sie sah nur einen Weg aus diesem Dilemma: Sie öffnete die Lade des Recorders, entnahm die Cassette, zerriß das Band, warf sie aufs Pflaster und trat mit ihrer Ferse herzhaft zu. Es krachte. Das Plastik war entzwei und mit ihm die Verführung. Erleichtert atmete sie auf. Der Anblick ihres so geliebten Steckenpferdes beglückte sie sogar. Sie fühlte sich wie von einer Meduse, einer umgarnenden Qualle, befreit und mußte über ihre
eigene Courage staunen. Froh setzte sie ihren Spaziergang fort, mal beschwingt hopsend, mal ihr Brüderchen nekkisch kitzelnd. Sie grüßte hier, sie kickte ein Steinchen dort. Zu der Sonne am Himmelszelt gesellte sich eitel Sonnenschein in ihr Herz. Doch wie so oft sprossen rasch die Dornen und drohten das zarte Blümlein zu überwuchern. Schon bald machte die anfängliche Heiterkeit und Unbekümmertheit einer tristen Leere Platz. Zweifel an dem, was sie getan hatte, überfielen sie. Nein, sie durfte nicht länger allein sein, sie benötigte Ablenkung. Vielleicht würde ihr Zug dann nicht mehr so schnell zum Entgleisen gebracht werden können. Sie lenkte ihre Schritte in Richtung Gina Sheehan. Dort würde sie Zwischenstation machen. Die beiden Mädchen plauderten ausgelassen. Gina schwärmte in höchsten Tönen von ihren gestrigen Abenteuern mit ein paar Jungen, die sie bei ,Frenchi', einer Discothek, kennengelernt hatte. Einer von ihnen besaß sogar schon einen Führerschein. Er würde sie heute Abend abholen und zu ,Frenchi' fahren. „Hat er denn schon ein eigenes Auto?" fragte Cel. „Nö. Aber einen echt großzügigen alten Herrn." „Und was werden deine Eltern dazu sagen?" Gina grinste. „Er holt mich ja nicht von hier ab. Wir haben die nächste Querstraße als Treffpunkt vereinbart." Cel beneidete ihre Freundin und seufzte: „Ach ja, muß das herrlich sein, sich von einem Verehrer herumkutschieren zu lassen!" Ein Unterton von Schwermut lag in ihrer Bewunderung. Der Trübsinn nahm noch zu bei dem Gedanken, daß sie zur gleichen Zeit zu Hause sitzen und babysitten würde. Sie schaute in das unschuldige Gesicht ihres Brüderchens. Stephen lag zwischen ihren Füßen in einem Korb, den man eigens zum Zweck des Transports vom Gestell des Kinderwagens trennen konnte. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, was für Mühen er anrichtete, wie viele Wochenenden er seiner Schwester verkorkste. Und dann dieses treue Anlächeln, das auch das
stählernste Herz erweichen konnte. Diesem Steppke sollte sie böse sein? „Und du?" wurde sie gefragt. „Und ich?" fragte sie verwirrt zurück. „Ja, ich meine, was hast du gemacht?" erläuterte Gina ihre Frage. „Ich hatte Besuch." Gina pfiff vielsagend und hob den Zeigefinger. „Olala! Da sind Hahn und Henne noch nicht ganz ausgeflogen, und schon verwandelt das Küken das heimische Nest in einen Taubenschlag. Wie heißt er denn? Kenn' ich ihn?" „Herrje! Was du wieder denkst!" entgegnete Cel leicht entrüstet. „Er heißt Saul Gideon." „Nie gehört", gab Gina interessiert zurück. „Aber du kennst ihn vom Sehen. Es ist der alte Mann." „Du machst Witze!" Cel schüttelte mit vollem Ernst den Kopf. „Wieso sollte ich?" „Mensch, Cel, das ist doch nicht normal! Der Alte ist fast scheintot. Was willst du denn mit dem?" „O Gott, was redest du für'n Blech!" konterte Cel unwirsch. „Das ist weder schön noch fair. Du tust gerade so, als sei das etwas Verbotenes, einen älteren Herrn einzuladen." „Gegen reifere Männer ist ja an sich nichts einzuw enden. Aber in diesem Fall muß man schon von Überreife sprechen. Bei dem uralten Knacker rieselt der Kalk ja schon aus den Hosenbeinen. Das findest du doch wohl nicht etwa schick?" Cel war ernstlich pikiert. „Ich glaube, wir sollten mal etwas klarstellen. Saul und ich sind kein Liebespaar. Und wir hatten gestern auch kein Rendezvous, sondern ein irre gutes Gespräch. Er hat mich genauer über die Gefahren der Rockmusik aufgeklärt. Das ist alles. Deine Anspielungen sind schmutzig und geschmacklos." Gina wehrte ab. „Schon gut! Ich wollte dir nicht auf den Schlips treten. Aber du weißt, was ich von dem Alten halte. Ein Klopfer ist noch milde ausgedrückt", tat sie unum-
wunden ihre Meinung kund, wobei sie eine Hand von rechts an ihrem Gesicht vorbei nach links führte und schnappende Bewegungen machte. Cel verteidigte den alten Mann leidenschaftlich gegen alle Verdächtigung und Stichelei: „Er ist keineswegs senil, wenn du das meinst, sondern geistig voll auf der Höhe. Dein Hänseln ist ungerecht." „Okay, vergiß es! Ich kann eh sagen, was ich will. Du behütest ihn wie eine Glucke ihr Geschlüpftes." Sie machte eine wegwischende Handbewegung. „Was anderes: Ich habe meinem neuen Verehrer eine Scheibe abgeluchst, die dich interessieren dürfte." Sie griff hinter sich und zog aus einer langen Palette Schallplatten eine Hülle heraus. „Hier, zum Aufnehmen!" Cel fühlte sich merkwürdig vor den Kopf gestoßen. „Extra für mich?" „Klar! Du hörst doch gerne Heavyrock. Oder hat der Alte dich schon total verhex ...?" Gina zog ein Gesicht, als habe sie sich soeben in die Nesseln gesetzt. „Entschuldige! Ist mir so rausgerutscht." „Schon gut", erwiderte Cel und musterte das Cover. ,Venom' war ihr geläufig, wenngleich nicht diese LP, die sich ,Black Metal' nannte. Die Vorderseite zeigte den Kopf eines Ziegenbocks. Auf dem linken Ohr befand sich ein umgedrehtes Christuskreuz. Rechts trug er die Zahl des antichristlichen Tieres - 666! In der Stirnmitte prangte der funfzackige Stern der Satansanbeter. Die Symbole weckten in Cel unwohle Gefühle, obwohl ihr die Bedeutungen nicht bekannt waren. Sie betrachtete die Rückseite. Dort fiel ihr ein Zweiteiler auf, bei dem sich ihr fast der Magen umdrehte: ,Wir trinken das Erbrochene der Priester, machen Liebe mit der sterbenden Hure. Wir saugen das Blut des Tieres und halten den Schlüssel zum Tor des Todes.' Anstatt erbaut zu sein, verließ Cel ihre Freundin hin- und hergeworfen vom Wind der Ungewißheit. Nervös trottete sie den Gehsteig entlang. Seit kurzem fühlte sie ein seltsames Tapsen auf ihrer Schulter, das sie zu irgnorieren versuchte.
„Ich furchte, ich verstauche mir eher meinen Finger, als daß du dich umschaust." Cel fuhr erschrocken herum. Ein vertrautes Lächeln. Eine leise Stimme. „Daran sieht man, daß du eben ein außergewöhnliches Mädchen bist." Cel tat das Kompliment sichtlich gut. „Saul!" stieß sie begeistert hervor, und wie ein Geysir sprudelte sie unbefangen heraus, was ihr seit ihrer Trennung widerfahren war. Sie erzählte von ihrem Besuch bei Gina und erwähnte natürlich ihr einmaliges Erlebnis vom gestrigen Abend. „Du hast übrigens deine Bibel bei mir vergessen", fiel Cel ein. Saul schmunzelte verschmitzt, woraus sie nicht ganz schlau werden konnte, und sagte: „Die darfst du behalten, wenn du willst." „Und ob ich will!" kam es hervorgeschossen. Cel dachte an die Stelle, die sie über Jesus gelesen hatte. Aber zu ihrer Beschämung mußte sie sich eingestehen, daß sie ansonsten eigentlich rein gar nichts von ihm wußte. „Du, Saul" - sie genierte sich ein wenig—, „es klingt echt blöd, aber ... kannst du mir mehr von Jesus erzählen? Ich würde so gerne alles von ihm wissen." „Alles?" lächelte der alte Mann. „Wollte man das niederschreiben, würde selbst die ganze Welt die Bücher nicht fassen. Doch etwas kann ich dir von Jesus erzählen." Er befeuchtete seine Lippen und begann, während sie ihren Weg fortsetzten: „Was sein Wesen betrifft, so will ich dir eine kleine Geschichte erzählen. Ein Mann wollte eines Tages hoch hinaus, doch statt eines Höhenflugs fiel er tiefer als zuvor und fand sich in einer ausgetrockneten Zisterne wieder. Er bemühte sich nach Leibeskräften herauszukommen, vermochte es aber nicht. Da kam Buddha des Weges. Er fragte: ,Freund, was machst du da unten?' Der Mann antwortete: Ja, du siehst doch, daß ich hier hineingefallen bin. Komm! Hilf mir heraus!' Da sprach Buddha: ,Ach, mein Lieber. Alles Leben ist Leiden. Gib dich mit deinem Schicksal zufrieden.' Und er ging fort. Bald daraufkreuzte
Mohammed die Zisterne und sah den Mann. ,Ich will dir wohl helfen', sagte er, ,aber du mußt mir ein Stück entgegenkommen.' Beide streckten ihre Arme aus, doch sie erreichten sich nicht. Und auch Mohammed ging weiter. Sodann kam ein Guru vorbei, der für solche Fälle bestens ausgerüstet war. Er nahm sein Seil und warf ein Ende hinab. Der Mann war überglücklich, endlich einen Helfer angetroffen zu haben, und wollte sich schon ans Seil anknoten, als der Guru sagte: ,Du, es ist geschickter, wenn du zuerst dein Hab und Gut anbindest, damit wir es nicht zurücklassen müssen und es verloren geht.' Der Mann fand diesen Vorschlag einleuchtend und tat entsprechend. Der Guru zog die Sachen hinauf. Als er sie aber hatte, packte er sein Seil wieder ein und machte sich händereibend auf und davon. Kurz darauf passierte ein Jude den Brunnen. Er hörte die Wehrufe und blickte hinein. Noch immer lag der Mann verwundet auf dem Grund. Der Jude sah ihn in seiner Not und eilte fort. Aber nicht, um ihn im Stich zu lassen, sondern um einen Strick aus dem sieben Stadien entfernten Dorf zu holen. Als er zurückkehrte, sicherte er ihn und seilte sich ab. Er lud den Mann auf seine Schulter und wuchtete ihn hinauf ans Tageslicht. Der Mann, froh über die erlangte Freiheit und seine Rettung, ließ sich trotz größter Ermattung das Fragen nicht nehmen:,Fremder, so viele Hoffnungen schaute ich an der Öffnung der Zisterne, aber durchweg alle trogen sie, bis dein Antlitz erschien. Sag, woher bist du? Und wie ist dein Name?' Da entgegnete der Jude: ,Ich komme aus Nazareth, und mein Vater gab mir den Namen Wunderrat-Friedefürst.'" Der alte Mann legte eine kunstvolle Pause ein, ehe er resümierte: „Das ist Jesus Christus! Aber ich muß dir noch etwas erzählen: Vor zweitausend Jahren lebte ein Königssohn auf dieser Erde, der sich aus freien Stücken zum Stallknecht degradieren ließ; dem ungerechterweise ins Gesicht gespien und der mit einem Rohrstock geschlagen wurde; der von Freunden und Familie im Stich gelassen wurde; der sich für
andere verlachen und verspotten ließ; dem Soldaten mit einer Geißel den Rücken aufrissen und lange Dornen tief in die Kopfhaut stießen; der sich stellvertretend und unschuldig für die Verbrechen anderer Nägel in Hände und Füße schlagen ließ. Verraten und von aller Welt gehaßt, hing er Stunden am Holz. In sengender Hitze durchlebte er freiwillig die Qualen der Hölle^wr uns, um schließlich in den Tod zu gehen -für uns! Auch das ist Jesus Christus! Doch wen berührt diese Tat noch? Wer denkt heute noch an ihn? Wo ist unsere Trauer?Wo sind unsere Tränen?" Obschon Cel seit einigen Stunden ein neuer Mensch war und in Lebensverbindung mit Gott stand, erkannte sie, daß der alte Mann auch von ihrer jahrelang vernachlässigten Beziehung zu Jesus Christus redete, von ihrer groben Mißachtung und von ihrer sturen, hartherzigen Oberflächlichkeit. Keine Trauer! Kein Mitleid! Keine Träne! Und kein Gedächtnis! Nur eiskalte Unberührtheit! Was für eine dicke Haut mußte sie gehabt haben, daß diese Gedanken nicht viel früher in sie gedrungen waren. So oft hatte sie schon vonJesuTod gehört, aber was das hieß, hatte sie nie erfaßt. Sein Sterben war ein Abstraktum für sie gewesen, eine Erzählung aus lange vergangener Vorzeit. Und nun war ihr, als würde Jesus eigens für sie, für sie ganz persönlich, an Stelle von Celeste Rousseau, noch einmal ans Holz geschlagen, und als erlebte sie die Kreuzigung hautnah mit. Diese Offenbarung war für Cel zuviel. Sie warf sich an die Brust des alten Mannes und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie weinte über sich, ihre Bosheit und ihre Schuld. *
Wieder zu Hause, versorgte Cel als erstes ihr Brüderchen und kam anschließend ins Wohnzimmer, wo der alte Mann es sich bequem gemacht hatte. „Was zu trinken, Saul?" „Ja, gerne. Das gleiche wie für dich", unterbrach er die Begutachtung einer ziselierten, goldenen Tischglocke.
„Das nenne ich Mut", konstatierte Cel bewundernd und wollte schon auf den Fersen kehrtmachen, als er fragte: „Wieso Mut?" Sie schmunzelte. „Weil ich mir einen Milchshake genehmigen wollte." Der alte Mann hob seine Brauen, änderte die Bestellung aber nicht. Statt dessen bemerkte er: „Milch hilft gegen Maroditis. Übrigens, das ist doch eine Dienerglocke?" „Stimmt. Wenn schon keinen Diener, dann wenigstens eine Glocke, sagt mein Daddy. Er betrachtet sie als eine Art Statussymbol." „Und du?" „Als Quatsch und unnützen Staubfänger. Meinen Milchshake muß ich mir ja doch selber machen", entgegnete sie und machte sich auf in die Küche. Im Handumdrehen saßen sie mit zwei gefüllten Gläsern auf denselben Plätzen wie am Abend zuvor. Sie plauderten und ließen es sich schmecken. Nach einer Weile schnitt Cel an, was sie beide bisher nur oberflächlich hatten erörtern können - die Maskierung in Liedern der Beatles. „Was du über die Pilzköpfe erzählt hast, weicht total ab von dem Satansdreck, den man sonst rückwärts hört. Die Vier haben also indirekt der Welt vermittelt, daß Paul tot sei, indem sie beispielsweise ,Paul ist jetzt tot! Ich vermisse ihn!' rückwärts ans Ende von ,I'm soTired' brachten, um mehr Knete zu kassieren?" „Das ist allgemein angenommen worden. Durch einen Schwindel wollten sie sich bereichern." „Und haben sie's geschafft? Ich meine, daß sie stinkreich geworden sind, ist hinlänglich bekannt. Aber dadurch? Oder haben sie erst viel später abgesahnt?" „Du bist sehr jung und weißt nicht, was sich damals abgespielt hat. Darum laß es mich knapp zusammenfassen. Im Oktober 1969 führte ein Discjockey namens Gibbs aus Detroit ein merkwürdiges Telefonat. Der Anrufer behauptete, Paul McCartney sei tot, und schlug Gibbs vor, das Lied .Revolution Number Nine' einmal rückwärts zu spielen. Nebenbei bemerkt — die Bezeichnung ,Lied' ist
sehr schmeichelhaft, denn es handelt sich eher um ein minutenlanges Kauderwelsch bunt zusammengewürfelter Mißklänge. Jedenfalls, der Discjockey probierte es aus, und was er hörte, brachte ihn in Schwung. Auf diese Weise wurde ein turbulentes Jahresende eingeläutet. Gerüchte kursierten in Presse, Funk und Fernsehen, wonach Paul McCartney bei einem Autounfall im Jahre 1966 umgekommen sei. Dieser Unfall ist angeblich auf .Revolution Number Nine' rückwärts zu hören. Als Ersatzmann für McCartney habe die Band einen Linkshänder verpflichtet, der sich einer chirurgischen Gesichtsoperation hatte unterziehen lassen müssen, um dem Verblichenen wie ein eineiiger Zwillingsbruder zu gleichen. Die Gerüchteküche kam dergestalt ins Brodeln, daß einen Monat später, also im November 1969, eine Fernsehsendung über diese verzwickte Episode ausgestrahlt wurde. Lee Bailey, seines Zeichens Staranwalt und Verteidiger der Band, trat in Aktion. Er erklärte, die Spekulationen um Pauls Ableben seien samt und sonders an den Haaren herbeigezogen, was sich bald bewahrheitete, als nämlich McCartney aus Schottland wiederkehrte. Sein dünner Kommentar:, Wenn ich tot wäre, bin ich der Letzte, der es erfahren hat!' Mit dieser ,Enthüllung' verlor der Publicitywirbel zwar an Dynamik, aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Ob diese Hinweise über McCartneysTod auf den BeatlesProduktionen nun beabsichtigt waren oder nicht, ob das verhinderte Tragik-Epos inszeniert oder Zufall war - fest steht, daß zu Weihnachten prallgefüllte Portemonnaies und leergefegte Lager der Plattenfirma ,Capitol Records' als hübsche Geschenke warteten. Soweit der chronologische Ablauf." Cel hatte die ganze Zeit über still und angespannt dagesessen. Zum ersten Mal regte sie sich und lockerte ihren Körper. „Donnerwetter! Das ist mir noch nie zu Ohren gekommen!" bekannte sie beeindruckt. „Wenn man sonst über die Beatles liest, heißt es meistens, daß es hochkarätige Künstler waren, die die Musik richtungsweisend prägten.
Auf Postern und Platten machen sie stets den Eindruck der Unschuld vom Lande, die keiner Fliege was zuleide tun kann. Es schaut immer so aus, als stehe unbeschwerte, flotte Musik im Vordergrund und als sei das Geld ein unabänderliches Nebenprodukt, das man wohl oder übel in Kauf nehmen müsse." Der alte Mann nickte, um Cels Erkenntnis zu unterstreichen. „So imposant wie das unerschütterliche Image, so imposant ist auch die Latte der klaren Belege. Die Lieder .Revolution Nimber Nine' und ,Fm soTired' erwähnte ich bereits. Am Ende von ,Strawberry Fields Forever' murmelt John Lennon vorwärts: ,Ich habe Paul begraben!' In ,Glass Onion' singt er den Vers ,Das Walroß war Paul'. Letzteres ist auf den ersten Blick nichts Atemberaubendes." Cel bestätigte: „An dem Walroß war ja nun überhaupt nichts Schlimmes, eher total Ulkiges." „Das ändert sich, sobald man weiß, daß ,Walroß' aus dem Griechischen kommt und .Leiche' bedeutet." Cel schnappte nach Luft. „Auf der dritten Seite des Bilderbuches ,Magical Mystery Tour' sitzt Paul McCartney vor einem Zeichen, auf dem geschrieben steht ,Ich war'. Zwanzig Seiten weiter trägt er eine schwarze Nelke, ein Symbol für den Tod. Genauso wie die Szene auf der Hülle von ,Sgt. Pepper's', wo über seinen Kopf eine Hand gehalten wird, auch ein Symbol für den Tod. Die ..." Er stockte, weil Cel ihre Hand gehoben hatte und aufgestanden war. „Das genügt." „Ich bin aber noch lange nicht fertig!" wehrte er ab und beobachtete, wie sie sich Schreibzeug zusammensuchte.' Dann kam sie zurück und nahm eine schreibbereite Haltung ein. „Sag mir bloß die Titel der anrüchigen LP's. Ich würde sie liebend gerne unvoreingenommen selber unter die Lupe nehmen." „Bitte. Dem steht nichts im Wege. ,Sgt. Pepper's' und
,Abbey Road' sind untersuchenswert." Schmunzelnd diktierte er weiter. Cel notierte emsig, begutachtete den Zettel, faltete ihn und ließ ihn in der Hosentasche ihrer engen Jeans verschwinden. Der alte Mann griff nach seinem Glas Milchshake und leerte es. „Ahh! Das ist lecker", lobte er und stand auf. „So, nun muß ich aber los." Nur unter Protest und mit der Zusage, sich möglichst bald wiederzusehen, ließ Cel ihn gehen. Ihr war, als hätten sich empfindsame Fäden zwischen ihnen gesponnen. Um die zurückbleibende Leere zu betäuben, wählte sie das Allheilmittel aus der Hausapotheke - den Fernseher. Gerade lief irgendein Spielfilm. Da sie den Zusammenhang nicht gleich verstand, schwirrten ihre Gedanken schnell ab in ein anderes Areal - zu Gott. Sie wußte, daß er sie unendlich liebte. Was sie noch nicht recht erfassen konnte, war dieTatsache, daß er an ihrem ganzen Leben - ohne Ausnahme teilhaben wollte. Daß er Gemeinschaft mit ihr suchte wie zu Zeiten Adams, als er in der Kühle des Tages durch den Garten wandelte, um bei seinem Abbild zu sein, und in väterlicher Sorge rief: „Adam, wo bist du?" Ihre Gedanken schweiften weiter zu der Engelwelt, die sie umhegte und für sie mit den abtrünnigen, bösen Mächten stritt. Zu Jesus, Mensch und Gottessohn zugleich, der für sie lebte und starb, um als Mittler und Fürsprecher vor dem Vater für sie einzutreten. Zu ihrem Heiland, der in Voraussicht auf alle ihre Vergehen und bösen Umtriebe zum Vater gesagt hatte: „Ich bezahle die Schuld!" Cel fühlte grenzenlosen Stolz in sich, denn sie durfte sich des treuesten, mächtigsten Schutzes erfreuen, den es überhaupt gab. Begeistert kuschelte sie sich tiefer in den Sessel hinein. Dabei berührte sie versehentlich einen Sensor der Fernbedienung, so daß das Programm auf einen Kanal umsprang, der rund um die Uhr Videos präsentierte. Gerade lief ein Clip von ,Prince' mit dem Titel ,1 Would Die for You'. Cel erinnerte sich sofort, daß sie mit Saul das Lied ,Purple Rain' von eben diesem Sänger untersucht hatte
und fundig geworden war. Prince hatte darin rückwärts Satans Botschaft an die Welt weitergeleitet: ,Der Himmel steht kurz davor, gesprengt zu werden.' Sie war gespannt, was nun kommen würde. ,Ich bin weder Frau noch Mann. Ich bin etwas, das du nie verstehen wirst. Ich werde dich niemals schlagen, niemals belügen. Wenn du böse bist, werde ich dir Stück für Stück vergeben. Du, ich würde für dich sterben, Darling, wenn du es möchtest.' Was sang dieser Musiker für Unfug? Er verdrehte ja alles! ,Ich bin weder dein Liebhaber noch dein Freund. Ich bin etwas, das du niemals begreifen wirst. Kein Grund zur Sorge, kein Grund zum Weinen. Ich bin dein Messias ...' Die Mattscheibe wurde dunkel. Energisch hatte Cel die gelbe Aus-Taste gedrückt. Ihre anfangs beschwingte Laune, die jäh zu versanden gedroht hatte, kehrte rasch zurück.
9 Im großen und ganzen war der Samstag ohne weitere besondere Vorkommnisse vergangen. Der anbrechende Sonntag sollte umso heiklere parat halten. Eines davon konnte Cel sich lebhaft ausmalen. Sobald ihre Eltern das Auto in der Garage geparkt hätten, würde sie die angemeldete Abreibung beziehen. Taschengeldentzug? Tracht Prügel? In dieser Beziehung verhielten sie sich weder zimperlich noch wählerisch. Daddy konnte ordentlich hinlangen. Dabei hatte sie doch nichts verbrochen! Wie konnte sie ihnen das nur klarmachen? Gar nicht! Darüber nachzugrübeln, war aussichtslos. Auch Daddy würde sie gewiß nicht mehr für sich gewinnen können, dafür hatte ihre Mutter ihn bis zu der Rückkehr zu sehr bearbeitet. Und vor allem nicht in dieser Situation, wo Stephen den Zankapfel darstellte. Aus! Vorbei! Aber was sollte sie sich den ganzen Sonntag vermiesen, wenn das Donnerwetter erst gegen Abend auf dem Programm stand? Trotz dieses Vorsatzes schlich sie mehr oder weniger bedrückt umher. Zudem befiel sie gähnende Langeweile. Zwar war sie in puncto Fernsehen um eine schlechte Erfahrung reicher, aber es juckte ihr in den Fingern, den Kasten doch wieder einzuschalten. Schon lag die Fernbedienung in ihrer Hand. In ihrem linken Ohr erklang ein kraftvolles Ja, im rechten Ohr ein beschwörendes Nein. Jemand, den sie mochte, beobachtete sie. Sie wollte ihn nicht kränken und erkannte eine Chance, ihm Freude zu machen. Das reichte. Die Fernsteuerung landete auf dem Sofa, und Cel verzog sich in die Küche, wo sie den Speiseplan für den Mittag durchdenken wollte. Sie kam nur bis zu dem Entschluß, irgend etwas aus dem Eisfach im Microwellenherd aufzuwärmen. Über das „Was" konnte sie sich nicht klarwerden, weil das Radio sie in seinen Bann zog. Sollte sie, oder sollte sie nicht? Cel traf ihre Wahl, und Augenblicke darauf dudelte der Kasten. Die Musiker von ,Depeche Mode' unterhielten die Zuhörer gerade mit ihrem neuen Lied ,Blasphemous
Rumours'. Cel erinnerte sich, daß der alte Mann diese Gruppe als Negativbeispiel mit der Rückwärtsmaskierung ,Die Dienerscharen der Hölle seid ihr!' angeführt hatte. Vorwärts sangen sie nun: ,Mädchen von sechzehn. Das ganze Leben vor ihr. Schlitzte ihre Handgelenke auf. Die Nase voll vom Leben. Hatte keinen Erfolg. Dank dem Herrn für kleine Gnaden. Ich möchte keine gotteslästernden Gerüchte in Umlauf bringen, aber ich glaube, daß Gott einen üblen Sinn für Humor hat. Und wenn ich sterbe, erwarte ich ihn lachend vorzufinden.' Das reichte schon. Klick! — Der Kasten war ausgeschaltet. Sauer über ihr Versagen, vergaß sie, warum sie überhaupt in der Küche war, flitzte hinunter in den Keller und durchstöberte so lange eine verstaubte Kiste, bis das Oberste zuunterst lag. Erst dann hatte sie nämlich gefunden, wonach sie fieberhaft gesucht hatte: drei Schallplatten aus ihrer softigen Lebensphase, die sie sogleich ausgemustert hatte, nachdem sie ihr Faible für härtere Musik entdeckt hatte. Lichterloh brannte in ihr das Verlangen, Rückwärtsmaskierungen an den Tag zu fördern. Sie war einfach wütend auf diese hinterhältige Verführung. Also begab sie sich ins Wohnzimmer und setzte sich an die Stereoanlage ihres Vaters. Zum Opfer Nummer eins erkor sie Chris de Burgh. Geduldig machte sie sich daran, sein Album ,Crusaders' zu untersuchen. Es dauerte eine Weile, und ihr Arm drohte bereits zu erlahmen, als die Alarmglocken schrillten. Sie war fündig geworden! Etwa in der Mitte des Liedes ,Carry on' konnte sie eine rückwärts gesprochene Nachricht hören, die nach ein bißchen Tüfteln folgendes beinhaltete: ,Zu ihrem letzten und endgültigen Ruheplatz ruft das Universum die Welt, Ziel unbekannt, der Kurs ist auf die Sterne gesetzt.' Cel war verblüfft über den Umfang der Botschaften, die ' Musiker absetzten. In klar atheistischer Tendenz wurde hier auf Astrologie hingewiesen. Nicht Gott hielt demzufolge die Zügel in der Hand, sondern die Natur. Ein Plan existierte angeblich nicht. Der Mensch war sein eigener
Herr. Der Knecht bedingte sich aus, den König zu übergehen und auf eigene Faust zu regieren. Und noch etwas lernte Cel hinzu. Bislang hatte sie de Burgh für einen seriösen, rechtschaffenen Künstler gehalten - wie man sich doch irren konnte! Daß auch er in dem Schlamassel der absichtlichen Manipulation des Unterbewußtseins mitmischte, verdeutlichte, daß an äußerer Erscheinung nicht alles abzulesen war. Das nächste Machwerk drehte sich auf dem Plattenteller. Immer wieder erklangen die Worte des Queen-Sängers Freddie Mercury: ,Entscheide dich, Marihuana zu rauchen!'Vorwärts ergab die Stelle den Titel des Liedes , Another One Bites the Dust'. Diese gemeinen Kerle wollten sie dazu animieren, Drogen zu nehmen. Eine Droge, von der aus der Schritt zur Abhängigkeit von Heroin und womöglich zum „goldenen Schuß" nicht mehr weit war. Sie wollten sie nicht nur verführen, sie drogenabhängig machen, nein, sie wollten sie ruinieren, sie vernichten. In ihrem Zorn griff Cel nach dem schwarzen Rund, zerbrach es und warf es von sich. Die Hülle zerriß sie in lauter kleine Fetzen. Sofort nahm sie ihr drittes Opfer in Angriff. Dabei handelte es sich um den Song,Voyage of no Return' vom Electric Light Orchestra. ,Christus, du bist der Widerliche! Du bist abscheulich!' Ohne langes Fackeln erwischte es auch diese Platte. „Zum Haareraufen, nicht wahr?" „Und wie!" bestätigte Cel seufzend, ehe ihr das Unheimliche der Situation bewußt wurde. Rastete sie jetzt endgültig aus? Vermeinte Stimmen zu hören und antwortete auch noch! Wo doch niemand im Zimmer war! Oder etwa doch? Waren das gedämpfte Schritte, die - über den Teppich schlurfend - sich auf sie zubewegten? Um ihre Vermutung bestätigt zu sehen, hätte sie sich umdrehen müssen. O nein, bitte kein Spuk, bangte sie krampfhaft. Ein leichter Schatten legte sich über sie. Seinen Atem glaubte sie im Nacken zu spüren.,Nicht doch!' flehte sie. „Aha, das Kolumbusfieber hat sie befallen", konstatierte die Stimme neben ihr.
Cel sah erleichtert zur Seite. Kein Spuk! Der alte Mann hatte sich zu den Albumhüllen auf dem Fußboden herabgeneigt und richtete sich nun wieder auf. „Schön, daß du da bist!" rief Cel erlöst. „Wie bist du hereingekommen?" „Durch den Garten über die Terrasse." Cel achtete nicht weiter auf dieTatsache, daß ihr Gast einen ungewöhnlichen Eingang gewählt hatte, sondern schielte schon neugierig nach dem, was der Mann hinter seinem Rücken verbarg. „Schenk viel mehr Blumen während des Lebens, denn auf den Gräbern blüh'n sie vergebens!" lauteten seine Begleitworte. „Die sind nicht aus eurem Garten!" Cel war überwältigt. „So wunderschöne haben wir auch gar nicht", rief sie mit leuchtenden Augen. „Danke, Saul!" Beinahe ehrfurchtsvoll nahm sie den herrlichen Strauß Blumen entgegen und stellte ihn in einer geeigneten Vase auf den Marmortisch. Später würde er natürlich in ihrem Zimmer stehen. Nachdem der alte Mann sich niedergelassen hatte, fragte er interessiert, auf die Plattenhüllen deutend: „Auf Neuigkeiten gestoßen?" „Wie man's nimmt. Für dich bestimmt kalter Kaffee", bemerkte sie bescheiden und faßte kurz zusammen. Nachdem sie geendet hatte, korrigierte der alte Mann sie: „Von wegen kalter Kaffee! Queen fehlten mir bislang in meiner Sammlung. Außerdem kenne ich einen fanatischen Bengel, den diese Entdeckung nachhaltig schockieren und auf Dauer kurieren dürfte." Aufgrund ihrer Entdeckung konnte jemand von der Gefahr der Musik überzeugt werden? Diese Vorstellung erstaunte Cel. Beschwingt klaubte sie die Überreste ihrer Opfer vom Boden zusammen, während der alte Mann sich entsprechende Vermerke in seinen Taschenkalender eintrug. Nachdem die Plattenreste dorthin entsorgt waren, wo sie hingehörten, nämlich in den Müllschlucker, brachte Cel ein schwieriges Problem auf, das sich allmählich wie ein
Negativ im Fotolabor in ihrem Geist entwickelte. Dieses Mal gesellte sie sich zu ihrem Gast auf die Couch. „Du, Saul", begann sie genau überlegend, so daß sich zwischen ihren Augen ein Fältchen bildete, „die Frage mag wieder blöd klingen, aber ich kriege ehrlich nicht geregelt, wieso so unheimlich viele Musiker Satanisten sind. Das sind sie doch nicht von Geburt an. Und auch ihre Eltern haben sie doch bestimmt nicht dazu erzogen. Wie kommen sie zu so einer widerlichen Sache wie Rückwärtsmaskierung?" „Diese Machenschaften haben sie vielleicht von Aleister Crowley abgeguckt, einem bekannten Satansanbeter. Er predigte, alles rückwärts, das heißt widernatürlich zu tun. Beispielsweise rückwärts zu gehen, zu schreiben, zu sprechen, zu lesen und so weiter." „Rückwärts zu singen!" warf Cel demonstrativ ein. Der alte Mann nickte. „Gewiß auch das. Immerhin machen viele in der Musikbranche keinen Hehl daraus, daß Crowley ihnen nicht nur geläufig ist, sondern sie ihn in gewisser Weise auch verehren. So taucht ein Bild von ihm auf dem Beatles-Album ,Sgt. Pepper's' auf. Ozzy Osbourne, Ex-Sänger der Black Sabbath, besingt ihn in einem seiner Lieder. Auf der Innenhülle einer DIO-Platte ist er ebenfalls abgelichtet." Cel machte eine betroffene Miene. „Aber du liegst richtig. Die Musiker sind nicht von Babyschuhen an so gott- und zügellos. Es gibt im allgemeinen keine grundlegenden Unterschiede zwischen ihrem Heranwachsen und deinem oder meinem, was die Glaubenserziehung, Schule et cetera anbelangt. Viele gehen einen ganz normalen Bildungsweg und erlernen gutbürgerliche Berufe, wobei sie in ihrer verbleibenden Freizeit aus Spaß musizieren. In diesem Hobby aber orientieren sich die meisten an ihren Idolen. Deren Beherrschung der Gitarre, deren perfekter Sound und - nicht zu vergessen - der eigene Ehrgeiz mit Blick auf möglichen Ruhm und viel Geld lassen die jungen Heißsporne nach ihren Vorbildern streben. Sie üben immer eifriger, um besser zu werden; be-
ginnen zu texten und zu komponieren; versuchen ihrer Musik einen eigenen, neuartigen Stil zu verleihen; feilen hier, feilen da. Unermüdlich spielen, proben, Rackern, schuften sie nach Feierabend, denn die Lehre, Schule oder der Job stehen noch im Vordergrund. In ihrem Heimatbezirk schnuppern sie durch kleinere Auftritte Bühnenluft. Sie finden Gefallen an der prickelnden Atmosphäre, vor Zuschauern zu spielen und ungeteilte Beachtung, vielleicht sogar schon Bewunderung zu erhalten. Applaus stimuliert zu neuen, größeren Taten. Durch Bewerbung oder Beziehung landen sie schließlich in Clubs, werden entweder fest angestellt oder tingeln umher. Injedem Fall fließt nun auch das erste Geld, und Job oder Ausbildung rücken in den Hintergrund. Nicht selten klappern Talentsucher von Plattenfirmen derartige Clubs ab, um nach aufstrebenden, entwicklungsfähigen Bands Ausschau zu halten. Entdecken sie eine, ist es zur ersten Studioaufnahme nicht mehr weit. Nach stärkerem Aussieben erhält die Auslese Zeit und Mittel, acht, neun Lieder zu fabrizieren. Mit dem gutbürgerlichen Berufsweg ist es spätestens jetzt vorbei. Die Gruppe stürzt sich in die Arbeit. Kommt das Debütalbum gut an, wird nicht nur die anfanglich aus Furcht vor einem Flop vorsichtshalber limitierte Auflage vergrößert; die Gruppe bekommt einen längerfristigen Vertrag, der zum Beispiel vorsieht, daß sie binnen zweier Jahre zwei weitere LP's abliefern muß. Interviews, Fotosessions, Autogrammstunden, Pressekonferenzen, Konzerte stehen von nun an auf dem Tagesprogramm. Dazu die festgesetzte Frist, bis dann und dann neues Liedmaterial geschrieben und eine super Nachfolge-LP zusammengebastelt zu haben. Der Streß beginnt. Hast du schon einmal versucht, in Hast und unter Leistungsdruck Kreatives zu schaffen, das ein Millionen-Publikum begeistern soll?" Cel winkte lachend ab, brachte aber ein Erlebnis aus ihrer eigenen Erfahrung ein. „Vor Wochen bekamen wir in Kunst die Hausaufgabe, ein Bild mit dem Motiv ,Krise' zu erstellen, und bestimmt nicht aus lauter Menschenfreund-
lichkeit hat uns unsere Lehrerin vierzehn Tage Zeit dafür gegeben. Nun, wie dem auch sei, sowohl Idee als auch Umsetzung klappten ausgezeichnet. Am Tag vor dem Abgabetermin besuchten uns Verwandte aus New Haven mit ihrem vier Jahre alten Sprößling. Das Bild lag auf dem Schreibtisch meines Vaters, weil ich dabei war, ihm einen maßgerechten Rahmen zu verpassen. Ahnungslos aßen wir Abendbrot, als der Bengel unverhofft mit einem Papierbogen am Tisch aufkreuzte, ihn stolz präsentierte und losstammelte: ,Hat ich gut malt?' Die Szene war so drollig, daß ich ihm zunächst gar nicht böse sein konnte und auch keinen Unfrieden verursachen wollte. Aber mein Bild war hin. Er hatte es zusammen mit den Filzstiften erspäht und kräftig seinen Senf dazugetan. Die große Verwünschung kam erst, als ich mich auf mein Zimmer verzog, um ein neues zu malen. Obwohl ich das Original vor mir liegen hatte, stümperte ich entsetzlich herum. Im Anblick der davongaloppierenden Zeit wurde jeder Pinselstrich zur Qual. Das Resultat war schließlich, daß ich gegen Mitternacht den zweiten Anlauf entnervt abbrechen mußte und am anderen Morgen ohne Bild zur Schule ging." Der alte Mann nickte verständnisvoll und ergänzte: „Meine Schulzeit war laufend von solchen Zeitproblemen geprägt. Da ich schwer von Begriff war, geriet ich bei Klassenarbeiten stets ins Schwitzen, wenn der Lehrer seinen Countdown für die Abgabe der Hefte startete und ich erst bei der Mitte meines Aufsatzes oder der Hälfte der Rechenaufgaben war. Meist kam dann beim Anrennen gegen die Zeit nichts Gescheites zusammen, ähnlich wie bei deinem Bild. Und wir brauchten keine Meisterwerke abzuliefern. An ihnen hing nicht unsere Existenz. Ja, Kreativität unter Druck ist ein mörderisches Unterfangen. Und wer dem ausgesetzt ist, steht in der Gefahr, ins falsche Fahrwasser abzurutschen. Nicht wenige Bands suchen darum nach Mitteln, die den Streß dämpfen und die Phantasie anregen. Sie greifen zu Alkohol und leichten Aufputschern, wobei sie feststellen: Alles wird erträg-
lieber, sie schaffen mehr als je zuvor, und es läuft wie von selbst. Der britische Sänger Paul Young zum Beispiel gibt in seinem Lied ,Love of the Common People' rückwärts zu: ,Mein Haschisch blies das Lied frontal in mich hinein! Jetzt bin ich ein Ausgeflippter!' Etwaige Bedenken über solche Hilfsmethoden sind flugs ausgeräumt - die ganz Großen machen es ja auch. Daß es auf der anderen Seite warnende Beispiele gibt wie Elvis Presley oder Bon Scott von AC/ DC, die sich quasi zu Tode gesoffen haben, interessiert nicht großartig. Wie viele Stars sind schon mit Stoff erwischt worden oder nehmen selbst härtere Drogen! Paul McCartney wurde von der Flughafenpolizei geschnappt. Jimi Hendrix starb infolge einer Überdosis Pot an seinem Erbrochenen. Brianjones von den Rolling Stones ertrank in seinem Pool nach Drogenkonsum. John Bonham, Trommler bei Led Zeppelin, starb 1980 als schwerer Trinker und Konsument einer Heroin-Kokain Mischung, genannt Speed Balls, an seinem Erbrochenen. Tommy Bolin spielte bei Deep Purple, bis er 1975 an einer Überdosis starb. Gregory Herbert von ,Blood, Sweat &Tears', Bob Hite von der Gruppe ,Canned Heat', James HoneymanScott sowie Peter Farndon von den ,Pretenders' starben allesamt an einer Überdosierung. Und das ist nur die viel zitierte Spitze des Eisbergs. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Mit dem Einstieg in die Drogenszene ist entweder der baldige Selbstmord vorprogrammiert oder aber der erste, nicht minder verhängnisvolle Schritt auf das Teufelskarussell zu getan. Das Abgleiten in echte satanische Gefilde wird dadurch beschleunigt, daß bei Parties, Studioaufnahmen und Live-Konzerten Erfahrungen ausgetauscht werden oder renommierte Bands die Newcomer unter ihre Fittiche nehmen. Der eine Sänger wälzt sich im Exzess auf der Bühne und brüllt ,dog si natas, dog si natas!', was vorwärts bedeutet ,Satan ist Gott!', so geschehen bei einem Konzert von Black Oak Arkansas; andere zertrümmern auf der Bühne reihenweise Fernseher mit einem Hammer,
wie zum Beispiel Wendy O. Williams von den ,Plasmatics' bei einem Konzert in Milwaukee! Angesichts dieser Lehrmeister ist es nicht verwunderlich, daß die anfänglich kleinlauten, zurückhaltenden Jungen von nebenan wagemutiger werden. Sie sehen, wie ihre Idole, die nun Konkurrenz geworden sind, mit blutrünstigen Shows und satanischen Effekten die Massen elektrisieren, Geld und Ruhm damit kassieren, während sie selber im Schatten stehen. Also eifern sie ihnen nach. Sie kopieren entweder oder ersinnen noch scheußlichere Dinge, wobei sie rasch merken, daß es tatsächlich funktioniert — daß sie die Masse beherrschen können und sie ihnen bedingungslos zujubelt und folgt. Sprosse für Sprosse klettern sie die Ruhmesleiter empor. Was sie nicht bemerken, ist der verzehrende Moder, in dem sie mehr und mehr versinken. Und hat man sich einmal auf dasVabanquespiel mit Satan eingelassen, kommt man aus seinen klebrigen Fängen nicht wieder los. Der Tribut kann hoch sein -Verlust des ewigen Lebens!" Aufmerksam wie selten hatte Cel einer Biographie gelauscht, die zuhauf wie angegossen auf etablierte Bands paßte und die kommende Kometen so oder ähnlich durchlaufen würden. Sie wußte, daß der beschriebene Schicksalslauf kein plumpes Geschwätz war. Trotzdem gehörte nach ihrer Ansicht eine Frage gestellt. Unschlüssig betrachtete sie den alten Mann: „Woher besitzt du diese Insider-Kenntnisse?" Er schmunzelte. „Es scheint dir wenig geheuer, aber du wirst überrascht sein. Es bedarf lediglich der genauen und fortwährenden Studien von Musikmagazinen und Rocklexika. Man findet dort nicht komplette Bilder, aber nahezu in jedem Heft zumindest ein Puzzlestück, das - mit anderen gesammelt und zusammengefügt-ein Bild ergibt, und was für eins! Werdegänge werden beschrieben, man erfährt, wer bei wessen Tournee Vorgruppe war, wie eine Band in Londoner Clubs entdeckt wurde. In Interviews geben Musiker - ob gewollt oder ungewollt — Lebensphilosophien preis: daß Musik und Beruf auf Dauer unver-
träglich sind und man sich für eine Sache entscheiden muß. Oder da protzt ein Bassist, daß er gerne für Newcomer die sogenannte Patenschaft übernimmt und es ihn beglückt, wenn er als Produzent Starthilfe zu einer steilen Karriere sein kann." „Denkst du da an einen bestimmten Bassisten?" hakte Cel neugierig nach. „Allerdings. Der Bassist von KISS schmückt sich derartiger Lorbeeren mitWendy O.Williams." Ihre Stirn kräuselte sich nachdenklich. „Die mit dem Hammer in Milwaukee?" Sie zog eine angewiderte Grimasse. „Ob die ekelerregende ..." Sie hielt abrupt inne, als habe sie etwas gehört. Auch der alte Mann spitzte seine Ohren. Das Schreien war jetzt deutlich vernehmbar. Scherzhaft meinte er: „Da verlangt ein Stupser sehnlichst nach seinem großen Schwesterchen." Cels Blick wanderte zur Uhr. „Ich würde eher sagen, nach Eßbarem. Es ist schon weit über seine Zeit." Stephen bekam sogleich seine Ration. Als Cel nach einer Viertelstunde zurückkehrte, wirkte sie sonderbar verändert. Es fiel dem alten Mann augenblicklich auf, nur wußte er nicht, wie er den Umschwung einordnen sollte. Sie war plötzlich merkwürdig zugeknöpft. „Ist etwas mit Stephen? Du siehst irgendwie geplagt aus." Er konnte ihr Gesicht nicht beobachten, das ihm sicherlich Aufschluß gegeben hätte, weil sie ihren Kopf gesenkt hielt und die Haare es dadurch wie einen Schleier verbargen. Sie schüttelte kurz den Kopf und versetzte knapp: „Indirekt." • '!• Teilnahmsvoll strich er ihre Haare beiseite. „Kann ich helfen?" 4 „Ach, es ist eigentlich gar nichts. Ich mach mal wieder" aus einem Titel gleich ein ganzes Drama." „Und was besagt dieser Titel?" Als ob es das Selbstverständlichste der Welt sei, rasselte sie die Antwort herunter: „Daß ich heute Abend Dresche beziehe." Sie fügte erklärend hinzu: „Und als ich eben bei
Stephen war, wurde ich mir dessen wieder bewußt. Es ist nämlich seinetwegen. Nicht, daß er Schuld hätte. Also folgendes ..." Halbwegs verständlich schilderte sie die Hintergründe. Der alte Mann schaute sie an und wandte ein: „Das kann ich einfach nicht glauben, daß deine Eltern sich wegen einer solchen Lappalie derart autoritär verhalten." Cel hielt ihren Kopf gebeugt und sah unverwandt auf ihre Hände, die nervös miteinander beschäftigt waren. Der Gedanke an die Rückkehr ihrer Eltern zermürbte sie nachhaltiger, als sie wahrhaben wollte. Trotzdem nahm sie ihre Eltern in Schutz: „Sie sind nicht autoritär, auch wenn es den Anschein hat... wirklich nicht... aber hin und wieder recht streng." Der alte Mann zog seine Hand zurück, so daß ihr Haar erneut wie ein Schleier fiel. „Es mag platt klingen - bestimmt sind sie streng aus Sorge um dich. Eltern, die ihre Kinder lieben, züchtigen sie, wenn nötig. Das ist ein Prinzip, das Gott nicht nur gutheißt, sondern für sich ebenfalls in Anspruch nimmt." „Ich weiß, daß ich Vater und Mutter ehren soll. Aber ungerechte Strafe aus Laune überstrapaziert den Gehorsam." „Da stimme ich dir voll zu", warf der alte Mann eilends ein. „Kinder haben nicht bloß Pflichten, sie haben auch Rechte. Viele Eltern gehen fahrlässig darüber hinweg, daß Gott ihnen auch die Pflicht auferlegt hat, Kinder nicht grundlos zu erzürnen, zu ärgern oder gar grundlos zu schlagen. Auch Eltern müssen ihr Handeln abwägen und eines Tages Rechenschaft darüber ablegen." Cel war fasziniert von diesem Plädoyer und starrte den alten Mann mit großen Augen an. „Daß sich das so verhält, ist mir neu." Sie schöpfte Zuversicht für ihren Fall. „Ob meine Eltern davon wissen?" Der alte Mann umschloß mit seiner Hand fest die ihre. „Wir wollen doch nicht unken, oder? Laß uns lieber was tun." Dieser Vorschlag erschien ihr zwar reichlich vermessen,
aber sie registrierte seinen geheimnisvollen Gesichtsausdruck. „Du denkst tatsächlich an etwas Konkretes?" „Natürlich", lachte er. „Nichts ist ausweglos! Gott weist uns in seinem Buch eine wundervolle Pforte, der wir zu unserem Leidwesen und zu seiner Betrübnis wenig, ja, gar keine Beachtung schenken. Er bietet sich an, ein Anliegen mit seiner Allmacht zum Gelingen zu bringen, wenn sich zwei Menschen in eben dieser Sache einig sind und ihn anrufen und bitten. Denn er verspricht, anwesend zu sein, wo sich zwei Kinder Gottes in seinem Namen versammelt haben. Und haben wir das nicht?" „Ja!" antwortete Cel zögernd. „Was hindert uns dann, es in die Tat umzusetzen?" „Nichts!" hörte sie sich leise flüstern. Sie bewegte ihre Lippen im Einklang mit den Worten des alten Mannes: „Unser Vater, vertrauend auf deine Zusage, bitten wir im Namen deines Sohnes Jesus Christus, daß du Celeste vor der ungerechten Strafe bewahrst, die sie bedrückt. Belehre ihre Eltern, damit sie sich nicht versündigen, Amen." Der Geist Gottes, den er vor 2000 Jahren nach der Himmelfahrt Jesu auf die Erde sandte, um seine Gemeinde zu bauen und zu trösten, erfüllte Cel. Glücklich wiederholte sie das „Amen". Die Uhr schlug zur vollen Stunde und holte Cel aus ihrer Versunkenheit. Sicherheit und Ruhe in Hinblick auf den Abend, an dem die Gerechtigkeit siegen würde, erfüllten sie. Der alte Mann nahm das Schlagen der Uhr zum Anlaß, sich zum Aufbruch zu rüsten. „Bitte nicht! Erzähl mir mehr!" kam es Cel über die Lippen geschossen, die richtigen Heißhunger auf Neues hatte, doch der alte Mann schüttelte den Kopf. „Ein andermal gern." „Oh!" seufzte Cel enttäuscht. „Es ist doch erst früher? Nachmittag." „Eben darum!" erwiderte er standhaft, tupfte ihr mit der Fingerspitze auf die Nase und zögerte nun nicht mehr, um i
nicht durch ihre quengeligen Einsprüche und Überredungskünste von seinem Entschluß abzukommen. Während er aufstand, fuhr er fort: „So kann ich noch heute deine heilsame Arznei dem kränkelnden Queen-Fanatiker verabreichen." Dieser Ausblick entschädigte sie ein wenig. Sie nutzte die ihr noch verbleibende Zeit, um ihrem Brüderchen Gesellschaft zu leisten. Er schaffte es tatsächlich, sie aufzumuntern, während sie ihn fürsorglich bemutterte. Cel vergaß die ganze Welt um sich, so sehr widmete sie sich ihrem Brüderchen. Das geschwisterliche Beisammensein wurde nur einmal kurz unterbrochen, als die Sirenen von vorbeirasenden Polizeifahrzeugen aufheulten. Nach einer Stunde hatte sich Stephen derart verausgabt, daß ihm ohne jeden Mucks die Augen zufielen. In Erwartung ihrer Eltern deckte Cel den Abendbrottisch, aß selbst aber noch nicht, obwohl ihr durch das ausgefallene Mittagessen flau im Magen geworden war, sondern gönnte sich nur einen Joghurt. Dann ging sie auf ihr Zimmer. Gerade hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, da war ihr, als sei sie gegen eine Wand aus Bosheit gelaufen. Unsicher versuchte sie, die Quelle zu orten. Langsam näherte sie sich dem Ziel: von der Tür zum Wandregal, von da zum mittleren Fach - dann sah sie es. Was sonst hätte die Quelle sein können als das Maskottchen - die Eddie-Figur? Cel hatte genug! Sie visierte das Maskottchen an, packte es und donnerte es auf den Boden, wo es vollkommen zersplitterte. Ihr verblieb nicht viel Zeit, über die Bescherung nachzusinnen — schließlich hatte sie soeben ihr teuerstes Andenken in einen Scherbenhaufen verwandelt —, denn im unteren Stockwerk hörte sie jemanden ihren Namen rufen. „Celeste, Kleines, wo bist du?" Eine männliche Stimme schloß sich an: „He, Mäuschen, wir sind's!" Es dauerte Sekunden, ehe Cel schaltete: ihre Eltern waren heimgekommen!
„Gott sei Dank!" stieß sie erleichtert aus, stürzte die Treppe hinunter und fiel ihrer Mutter in die Arme. Sie spürte sofort, daß die Erleichterung auf Gegenseitigkeit beruhte - ein Umstand, der sie ziemlich stutzig machte. Auch ihr Vater, sonst verhältnismäßig reserviert, zeigte sich alles andere als kurz angebunden und begrüßte Cel, als habe er sie Jahre nicht gesehen. „Was bin ich froh!" meinte er und umarmte seine Tochter immer wieder. Vor Verblüffung stumm, ließ Cel die Liebkosungen über sich ergehen. Gegen blaue Flecken dieser Art hatte sie nichts einzuwenden. Auch nach dem Grund für die überschwenglichen Liebesbezeugungen brauchte sie nicht zu fragen, da es ihrer Mutter wie ein Wasserfall über die Lippen kam: „Wir sind eben in einen Sperrgürtel der Polizei gekommen. Sie haben Straßenblockaden errichtet, weil ein geistesgestörter Sexualverbrecher aus einem Sanatorium in Rochester ausgebrochen ist und hier im Park ein Mädchen angefallen und vergewaltigt hat. Schrecklich, nicht?" Sie zog Cel wieder zu sich heran und herzte sie innig. „O Kleines, wie gut, daß dir nichts passiert ist! Mir fällt ein Stein vom Herzen! Dad und ich waren in größter Sorge. Und wer weiß, wo der Sittenstrolch jetzt herumlungert." Dann hielt sie sie auf Armlänge von sich und blickte sie eindringlich an. „Du gehst vorläufig nicht aus dem Haus, hast du verstanden?" „Ja, Mum", versicherte Cel, von der hellen Aufregung und Besorgnis ihrer Mutter eingeschüchtert. „Vielleicht lauert der Wahnsinnige schon hinter einer Hecke oder einem Busch in unserem Garten. Robert", wandte sie sich verschreckt an ihren Mann, „du mußt unbedingt alle Fenster undTüren im Haus kontrollieren. Und deine Pistole trag vorerst bitte auch im Haus." „Nur keine Panik! Ich hole erst die restlichen Sachen aus dem Wagen." Ihr Mann blieb die Ruhe selbst. Während Mrs. Rousseau wie ein aufgescheuchtes Huhn nach ihrem jüngsten Sproßling schaute, schlenderte Cel gedankenverloren ins Wohn-
zimmer, um sich zu sammeln. Sie erinnerte sich: als sie mit Stephen spielte, hatte sie Sirenen vernommen. Vermutlich waren da die Funkstreifen an ihre Einsatzorte gerast. Sie hörte den Wagenschlag und daß die Haustür abgesperrt wurde. Als sie zwanzig Minuten später zu Tisch saßen und das Haus wie eine Burg gesichert war, blieb Cel wortkarg. Sie erwähnte mit keiner Silbe die Dinge, die sie das Wochenende über ereilt hatten. In sich gekehrt kostete sie die Tatsache aus, daß der Vater des Erbarmens, der Gott alles Trostes, so wundervoll ihr Gebet erhört hatte. Nach dem Essen räumte und wusch sie gemeinsam mit ihrer Mutter ab, wünschte ihren Eltern eine gute Nacht und begab sich auf ihr Zimmer, wo sie behend die Bruchstücke der Eddie-Figur zusammenklaubte. Aber sie beschränkte sich nicht nur darauf, denn sie spürte, daß es höchste Zeit war, reinen Tisch zu machen. Frohen Herzens riß sie sämtliche Poster von Iron Maiden & Co. von den Wänden und begann, alle Musik-Cassetten zu löschen, die sie mühsam in jahrelanger Kleinarbeit aufgenommen hatte. Dann zerbrach sie die wenigen Schallplatten, die sie noch besaß. Während der Löschkopf ihres Recorders die vergifteten Widerhaken aus dem Chromband herauszog, spürte Cel, wie ein immenser Druck von ihr wich. So ähnlich mußten sich die Negersklaven gefühlt haben, als die Leibeigenschaft abgeschafft worden war. Noch am selben Abend warf sie den ganzen Schutt in den Müllcontainer und zog damit einen unwiderruflichen Schlußstrich. Nach einer kleinen Verschnaufpause, in der sie noch einmal über diese ganze Entwicklung nachdachte, ging sie frohen Herzens zu Bett und schlief sofort ein. *
Cel warf einen Blick auf ihren Radiowecker. Es war Zeit zum Aufstehen. Gähnend schleppte sie sich ins Bad. In der Küche wartete ihre Mutter bereits mit dem Frühstück aus Cornflakes und Fruchtsaft auf sie. Ihr Vater hatte heute frü-
her zur Arbeit fahren müssen, was die unordentlich zusammengelegte Morgenzeitung ausdrucksstark dokumentierte. Normalerweise hielt Cel absolut nichts von derartiger Lektüre, aber heute war das anders. Als sie sich nämlich nach dem Frühstück Freiraum für ihr Mathematikbuch zu verschaffen gedachte, sprang ihr die Überschrift ins Auge: „Teenager jüngstes Kult-Opfer". Cel zog die Seite näher zu sich heran und begann, den mehrspaltigen Artikel zu lesen. „Der 16jährige Schüler Tom Abens aus Long Island ist gestern am späten Nachmittag tot in einem abgelegenen Waldgebiet aufgefunden worden. Nachdem er vier Tage zuvor von der Schule nicht nach Hause gekommen war, hatten die beunruhigten Eltern im zuständigen Polizei-Department eine Vermißtenanzeige aufgegeben. Die Beamten fanden durch Befragung der Klassenkameraden heraus, daß Abens amTage seines Verschwindens nicht wie gewohnt per Bus heimwärts gefahren war, sondern am Schulausgang ein Motorrad bestiegen hatte, dessen Fahrer er offensichtlich gut gekannt hatte. Nach Aussagen der Schüler setzte sich das Motorrad, ein japanisches Modell, in Richtung auf Abens Wohnort in Bewegung. Was dann geschah, bleibt für die Kripo ein Rätsel. Aus der Art und Weise, wie der Junge zuerst gefoltert und später getötet wurde, sowie aus einigen Indizien, die man bei der Leiche fand, zieht die Polizei den Schluß, daß einmal mehrTeufelsanbeter am Werk waren. Inwiefern Abens zu diesem Kreis gehörte oder nicht, ist noch ungeklärt. Die Eltern des toten Jungen jedenfalls halten eine aktiveTeilnahme ihres Sohnes an dämonischen Ritualen für völlig ausgeschlossen. Dazu der ermittelnde Chief Inspector Wyatt Carlisle: Selbstverständlich halten Eltern schützend ihre Hand auf den Ruf ihrer Kinder. Doch häufig tun sie das aus purer Fehleinschätzung oder absichtlicher Leugnung der Realitat. Es ist das gleiche wie mit Rauschgiftsucht. Entweder bemerken es die Eltern nicht, oder sie verdrängen es einfach. Niemals würde eine Mutter ihrem minderjährigen
Sohn gestatten, pornographische Magazine zu lesen oder sich mit Satanismus zu beschäftigen. Betrachtet man aber etwa die Albumhüllen und Texte der Platten von Rockgruppen, wird offenbar, daß sie mit nackten Frauen, Transvestiten und satanischen Symbolen nur so übersät sind, daß sie zu Sex und Drogenmißbrauch aufrufen und teuflische Riten verherrlichen — lauter Dinge, zu denen die Jugendlichen auf diese Weise, also quasi durchs Hintertürchen, uneingeschränkten Zugang haben.' In einem Fernsehinterview mit CBS äußerte sich der namhafte Diplom-Psychologe Prof. Dr. Roscoe Monckton zu diesem schwerwiegenden Vorfall. Darin beteuerte er ernstlich, daß Teufelsanbeter auch von der Lyrik und der verabreichten sublimierten Suggestion - einer verfeinerten seelischen Beeinflussung in Form von Rückwärtsmaskierung und Symbolik —zu Wahnsinnstaten inspiriert werden. Er verwies auf einen Zwischenfall, der sich kürzlich in der Nähe von Cincinnati zugetragen hatte. Ein Junge mußte dort in einem Krankenhaus gegen Tetanus geimpft werden, weil er den Kopf einer Fledermaus abgebissen hatte. Als Begründung für seine Barbarei lieferte er den Hinweis, daß sein Idol Ozzy Osbourne (Rocksänger aus England und selbstproklamierter ,Prinz der Dunkelheit') ihm das auf seinem Album ,Speak of the Devil" vorgemacht habe. Monckton wörtlich: .Wieviel Schreckliches muß noch geschehen, ehe wir begreifen, wie gefährdet die junge Generation ist, ehe wir aufhören, die Beeinflußbarkeit des Menschen zu verharmlosen, und zu strengerer Zensur schreiten?'" Es folgte noch eine Kolumne mit dem Kommentar des Redakteurs, aber den zu lesen, schaffte Cel nicht mehr. Ihre Mutter saß ihr stichelnd im Nacken. „Du solltest dir lieber Geometrie anschauen, als diesen Unfug zu konsumieren. Dafür gibt es keine Zeugnisnoten, und der hilft dir im Leben später auch nicht weiter." Ein bißchen unwillig gehorchte Cel ihrer Mutter.
10 Sehr zum Beifall von Cel und ihrer Klasse kam zu Beginn der fünften Stunde der Schuldirektor ins Klassenzimmer und verkündete, daß der Geographieunterricht wegen Erkrankung des Lehrers ausfallen müsse. Auf launige Art vermittelte er den Schülern, daß keine Vertretung für die zwei Stunden geplant sei. „Was ist zehn Packen minus neun Packen?" Wie im Chor erscholl es laut und einmütig: „Einpakken!" Unter großemTrubel verließ die Klasse in Windeseile das Klassenzimmer. Auf dem Schulhof kamen Cel und Gina auf keinen gemeinsamen Nenner, was sie nun mit den neugewonnenen Stunden anfangen sollten. Gina hatte wegen einer Fünf in der Physikarbeit muffige Laune und wollte nach Hause, Cel verspürte den Drang, einfach ein bißchen durch die Straßenschluchten New Yorks zu bummeln. Da ein Kompromiß unmöglich war, trennten sie sich schließlich am Schultor, und jeder ging seinen eigenen Weg. *
Wie lange war sie nun schon unterwegs? Cel schaute auf ihre Uhr und stellte fest, daß noch einige Zeit verblieb, bis ihre nächste U-Bahn fuhr. Sie hatte die Universität passiert und stand an der 125. Straße West, Ecke 8. Avenue. Während sie sich noch unschlüssig umsah, filterten ihre Augen aus der Menschenmenge eine Figur heraus, die so gar nicht ins Bild paßte. „Ha!" entfuhr es ihr. „Das gibt's doch gar nicht!" Auf der anderen Straßenseite ging der alte Mann. Fast ungeduldig wartete sie, bis die Ampel grünes Licht signalisierte, dann: ; überquerte sie die Straße und machte sich daran, ihn einzuholen. Es zeichnete sich ab, daß sein Ziel der Central Park war. Seltsamerweise erhöhte er sein Tempo, je näher er der riesigen Grünanlage kam. Kurzerhand entschied sich Cel da-
für, respektvolle Distanz zu wahren. Gewissensbisse, daß es nicht in Ordnung wai; jemandem nachzuspionieren, blieben aus. Irgendwie verspürte sie sogar eine Verpflichtung zu ihrem Tun. Der alte Mann zweigte gleich zu Anfang des Parks vom Hauptweg ab, ging ein Stück, um dann den schmaleren Nebenweg ebenfalls zu verlassen und seinen Weg quer über das Grün fortzusetzen. Die eigenwillige Route fand unverhofft vor einem einzelnen, mittelhohen Strauch ihr Ende. In gebührender Entfernung suchte Cel Deckung hinter einem Baum, mit einem Auge um dessen Stamm herumschielend. Doch so sehr sie auch ihre Sehkraft strapazierte, erspähte sie nicht mehr als einen einsamen Mann, der einen gewöhnlichen Busch betrachtete. Gedankenverloren fixierte Saul Gideon den Busch, an dem er schon so oft vorbeigegangen war. Ihm war, als bestätige Jesus ihm, daß der Satan ihn bald auf besondere Weise versuchen und seinen Glauben erschüttern wolle. Doch der Herr verhieß ihm auch Schutz und noch mehr: Nicht lange, und er würde ihn zu sich holen! Cel entschied sich dafür, sich auf leisen Sohlen wie ein Indianer an den alten Mann heranzupirschen und ihn zu überraschen, wie er es mit ihr schon oft getan hatte. Und in der Tat klappte ihr Vorhaben reibungslos. Er schien nichts zu merken. Als sie direkt hinter ihm stand, betrachtete er immer noch wie versteinert den Busch. Sachte streckte sie ihre Arme aus und hielt ihm genau in dem Moment mit den Händen die Augen zu, als er im Begriff war, sich vom Strauch wegzuwenden. Dazu sang sie nach einer Melodie eines Kinderspiels: „Blinde Kuh, rate nu, wer hält dir die Augen zu?" Der alte Mann lachte. „Celeste! Wo kommst du denn her?" Nachdem er die kleine Quizfrage souverän gemeistert hatte, schenkte sie ihm das Tageslicht zurück und begann ausgelassen zu erzählen, während sie sich einhakten und gemeinsam spazierengingen. Die weltlichen Geschehnisse waren abgehakt, da beschrieb sie ihm stolz, wie der Herr sie gestern abend vor der Strafe ihrer Eltern bewahrt hatte und wie sie auf ihre Art mit der Musikszene abgerechnet
hatte. Als sie mit diesen Neuigkeiten geendet hatte, erzählte sie ihm von einem schrecklichen Alptraum, den sie neulich gehabt hatte. Darin hatte sie hautnah ein fürchterliches Gericht Gottes an den Menschen miterlebt. „Glaubst du, Saul, daß Träume, und auch mein Alptraum, einen Sinn haben?" Sehr zu ihrer Verblüffung entgegnete der alte Mann ohne zu zögern: „Was du geträumt hast, war kein Alptraum, sondern eine Botschaft, die so oder ähnlich bald Wirklichkeit werden wird. Eines nicht mehr fernen Tages wird Gott seineTenne durch und durch reinigen und seinen Weizen in die Scheune sammeln, die Spreu aber mit unauslöschlichem Feuer verbrennen." Cel wurde blaß. „Das kann nicht ...Wieso Gericht? Und dann dieses Verstoßen und Umbringen so vieler Menschen. Das alles kann doch gar nicht sein! Gott liebt doch alle Menschen! Wieso sollte er sie dann bestrafen?" „Gott liebt die Menschen und will, daß alle aus der Macht der Finsternis errettet werden. Er ist Liebe! Da gebe ich dir vollkommen Recht. Aber findest du es logisch, wenn ein überführter Straftäter von seiner Anklagebank aufsteht und vom Richter verlangt, er dürfe ihn nicht verurteilen, sondern müsse Liebe walten lassen? Man darf nicht Gott für seinen Zorn uns gegenüber die Schuld in die Schuhe schieben. Hier gilt immer noch das Verursacherprinzip. Und wenn wir die Menschen bis in unsere Zeit betrachten, wäre längst wieder eine Sintflut fällig gewesen. Daß Gottes Wesen mehr enthält als Liebe, wollen die meisten Menschen nicht wahrhaben, obwohl die Bibel das ganz deutlich macht. Der Prophet Jeremia nennt Gott zum Beispiel den „Gott der Rache"! Und im Römerbrief steht: „Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr." Cels Protest wich kleinlauter Beharrlichkeit. „Aber Gott liebt doch uns Menschen!" „Eindeutig! Daran gibt es keinen Zweifel! Schließlich hat er seinen eigenen Sohn für uns gegeben. Aber viele ignorieren eben, und zwar zum Teil mutwillig, daß Gott mehr ist als Liebe." Anhand weiterer Stellen der Schrift
untermauerte er die Behauptung, daß Gott auch gerecht und seine Geduld mit der Bosheit der Menschen nicht grenzenlos ist. Cel war so aufgewühlt, daß sie nervös am Daumennagel knabberte. „Aber ich will auf keinen Fall aus der Frohbotschaft eine Drohbotschaft machen. Denn niemand, der glaubt, wird diesen Zorn Gottes erleben müssen. Gott hat nämlich den Zorn und die Strafe für alle Menschen auf Jesus geladen. Aber sie müssen das im Glauben annehmen. Wer es nicht glaubt, der wird auch nicht davon befreit. Jeder kann wählen, was ihm lieber ist. Nicht umsonst mahnt Gott im Johannesevangelium mit großer Dringlichkeit: ,Wer an den Sohn Gottes nicht glaubt, ihm nicht gehorcht, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm.'" Der alte Mann legte eine kurze Pause ein. „Die meisten Menschen gehen über die Warnungen Jesu hinweg. Sie zimmern sich ihren Gott zurecht, wie er ihnen genehm ist: ein naiver Weichling, den man nach Belieben herumschubsen, vereimern und dem man Vorschriften machen kann, der abhängig ist von der Gunst der Menschen. Noah baute sich damals vor der Sintflut eine Arche aus Holz. Gott hat uns eine geschenkt in seinem Sohn Jesus Christus, mit genügend Platz für alle Menschen. Doch die überwiegende Mehrheit verzichtet auf den reservierten Platz und zieht gleichgültig ihrer Wege. Sie merken nicht, daß nicht mehr viel Zeit ist." Aus Cels Wangen war das Blut gewichen. „Wenn sie doch zur Besinnung kämen! Sonst kann es für sie nur ein bitterböses Erwachen geben." Gerade wollten sie den Park an einem der Westausgänge verlassen, als der alte Mann eine Idee hatte. „Hast du noch Zeit?" Cel schaute zur Uhr. Sie hatte. Kurze Zeit später standen sie in der nächsten U-Bahn-Station am Bahnsteig. Leises Rauschen, dann anschwellendes Getöse kam aus einem der Tunnel. Ein Licht tauchte in der pechschwarzen Röhre auf. Cel und Saul stiegen in einen der mittleren Wagen ein. Als
sie wenig später ihr Ziel erreicht hatten, war Cel im ersten Augenblick leicht enttäuscht. Das Empire State Building besaß auf sie keine große Anziehungskraft mehr. Zu oft hatten ihre Eltern sie als kleines Kind hierher gebracht. Warum? Sie wußte es nicht. Vielleicht hatte sie hier Höhenluft schnuppern sollen, quasi als Einstimmung auf die steile Karriere, die sie anstreben sollte. Nachdem sie jedoch die Aussichtsplattform betreten hatten, war ihr nicht mehr so langweilig zumute. Der alte Mann wandte sich unverzüglich nach Südwesten, und das nicht der Sonne wegen, die lediglich eine Nebenrolle spielte — ein grandioser Regenbogen umspannte Richmond, Elizabeth und Newark! Der alte Mann begann die Bibel zu zitieren: „Meinen Bogen setze ich in die Wolken, und er soll das Zeichen des Bundes sein zwischen mir und der Erde. Und es wird geschehen, wenn ich Wolken über die Erde führe, so soll der Bogen in den Wolken erscheinen, und ich werde meines Bundes gedenken, der zwischen mir und euch ist und jedem lebendigen Wesen. Nie mehr sollen die Wasser zu einer Flut werden, alles Fleisch zu vernichten. Wenn der Bogen in den Wolken erscheint, werde ich ihn ansehen, um zu gedenken des ewigen Bundes zwischen Gott und jedem lebendigen Fleische, das auf Erden ist." Sie kostete die Ansicht aus, bis der Regenbogen verblaßt war. Dann fuhren sie wieder mit dem Fahrstuhl hinunter und traten hinaus auf die belebte 34. Straße. Ohne Cels Zustimmung abzuwarten, begleitete er sie zur Pennsylvania Station und bestieg mit ihr einen Zug nach Queens, um sie nach Hause zu bringen. Unterwegs, in dem unterirdischen Tunnel, der Manhattan sowie den East River quer durchzog, sann Cel über eine Frage nach. „Du, Saul, ich weiß, daß Lügen, Stehlen, Hassen und dergleichen Sünde ist. Du verstehst, was ich meine? Kannst du mir mehr über Sünde sagen?" Der alte Mann nickte und überlegte, weil er keine Pauschalantwort parat hatte. „Unter einer Sünde versteht man all diejenigen Dinge, die gegen Gottes Gebote verstoßen.
Gott ist ein heiliger Gott und kann keine Gemeinschaft mit Sündern ertragen. So sagt der Prophet Jesaja, daß unsere Sünden eine Scheidung gebracht haben zwischen uns und Gott." Mittlerweile hatten sie die Long Island City Station erreicht, von wo aus die Strecke oberirdisch weiterverlief. „Man kann die Trennung zwischen Gott und den Menschen anhand einer Naturgegebenheit gut verdeutlichen. In Europa, insbesondere in der Nord- und Ostsee, gibt es viele kleine Inseln, die einst zum Festland gehörten. Heute sind sie von ihm getrennt. Und warum? Ein Sund liegt zwischen ihnen und trennt sie voneinander. Der Begriff ,Sund' ist übrigens mit dem Wort ,Sünde' verwandt. Bin ich soweit verständlich?" Cel strich sich durchs Haar, nickte und lobte: „Astrein!" „Diese durch den Sund entstandene Kluft muß nun überbrückt werden, damit Festland und Insel verbunden sind. Denn eine kleine Insel bezieht von dort alle notwendigen Güter. Ist der Kontakt abgerissen, gehen die Bewohner irgendwann zugrunde. Ebenso verhält es sich mit der Gott-Mensch-Beziehung. Ohne die Lebensader zu Gott muß die Seele des Menschen sterben." Der alte Mann brachte Cel fast bis vor die Haustür, wo sie pünktlich ankam, als sei der Unterricht nach der sechsten Stunde zu Ende gewesen. Ihre Einladung, auf einen Sprung hereinzukommen, schlug er aus. Ihrem Drängen hingegen, dann zumindest am Nachmittag einen Spaziergang zu unternehmen, gab er unter der Bedingung nach, daß er sie nicht von den Hausaufgaben abhalte. Mit einem verstohlenen Grinsen verneinte sie und ergänzte: „So vielTolles wie in den letzten sieben Tagen habe ich nicht annähernd während meiner bisherigen Schullaufbahn gelernt. Und das sind immerhin, äh ..." Sie richtete ihren Blick nach oben, während sie rechnete. „... stramme neun Jahre." Nach diesem Bekenntnis schloß sie die Tür auf und verschwand nicht ohne ein kurzes Winken im Haus.
Der alte Mann verließ Queens noch nicht. Er fühlte sich beauftragt, erst noch einen Versuch zu unternehmen. Er ging ein paar Straßen weiter, um dann von neuem vor einen Hauseingang zu treten. Ein kurzer Blick auf das Namensschild über dem Schellenknopf genügte: C.E Sheehan. Hier war er richtig. Nur ein Mal brauchte er zu läuten, dann öffnete Mrs. Sheehan die Haustür. Er stellte sich knapp vor und äußerte den Wunsch, Gina sprechen zu dürfen. Mrs. Sheehan ließ ihn draußen warten und ging hinein. Als sie zurückkam, bedauerte sie, ihre Tochter sei nicht anwesend. Für den alten Mann bestand kein Zweifel: Gina Sheehan hatte sich verleugnen lassen! Trotz dieser Abfuhr gab er nicht auf. Er ließ eine halbe Stunde verstreichen und begab sich dann hoffnungsvoll zu einem Fernsprecher. Er wählte Familie Sheehans Nummer und brauchte auch diesmal nicht lange zu warten. Schon nach dem ersten Klingeln wurde der Hörer am anderen Ende der Leitung abgehoben. Eine Mädchenstimme rief erwartungsvoll in die Muschel: „Na endlich, Rick!" Für einen Moment herrschte Stille. Der alte Mann wagte zunächst keine Silbe zu sprechen, da er ahnte, welche Reaktion es hervorrufen würde. Er tat es dann nur deshalb doch, weil ihm ein wortloses Auflegen zu albern vorkam. Er hatte gerade angesetzt, als das Donnerwetter auch schon losbrach, Gina feuerte eine Kanonade von Beschimpfungen auf ihn ab. „Lassen Sie mich endlich in Ruhe und verschwinden Sie aus der Leitung. Ich erwarte einen wichtigeren Anruf." Dann machte es plötzlich „klick", und ein monotoner Summton lag Saul Gideon im Ohr. Traurig hängte er ein und schlich - auf seinen Stock gestützt - davon. Er ahnte nicht, daß er trotz scheinbarer Niederlage seinen Teil an der Arbeit für heute zufriedenstellend und exakt so ausgeführt hatte, wie es geplant gewesen war, so daß Gott nun selbst für den Rest des Tages und die Nacht an Gina Sheehan handeln konnte.
11 Gegen 15.30 Uhr stand der alte Mann vor dem Haus der Rousseaus. Cel kam sofort an die Tür. Als sie ihn sah, verriet ihr Gesicht augenblicklich die Freude, die sie empfand. „Fertig zum Gehen?" fragte er ohne Umschweife. Sie nickte strahlend. Mit dem kleinen Stephen im Bunde marschierten sie los zum Jumper Valley Park. Bereits nach wenigen Metern blieb Cel stehen. Das versteckte Schmunzeln, das ihre Lippen umspielte, während sie ihre Hand in die Tasche der Jeansweste tauchte, verriet ihm, daß sie etwas ausheckte. Dann drehte sie sich ihm frontal zu und nahm eine würdevolle Pose wie bei einer Zeremonie zur Ordensverleihung ein. Ohne ein Wort hielt sie ihm unvermittelt ein Schmuckkästchen hin. Sie brauchte gar nichts zu sagen. Ihr Strahlen sprach Bände. Überrascht zog er seine buschigen Brauen hoch und nahm das Präsent dankbar lächelnd entgegen. „Wofür ist das?" fragte er und bestaunte das verheißungsvolle Schächtelchen. „Meines Wissens ist heute nicht mein Geburtstag." „Muß denn erst ein besonderer Tag sein, um jemandem etwas schenken zu dürfen?" „Natürlich nicht", bestätigte er und blickte unverwandt auf das Geschenk. „Dieses Freudebereiten macht den Tag erst zu etwas Besonderem." Ein wenig unbeholfen machte er sich daran, das Kästchen zu öffnen, als Cel mit leicht getrübtem Gewissen scheu einwarf: „Bevor du zu große Erwartungen hegst, laß mich sagen, daß die äußere Verpackung mit dem Inhalt nicht recht übereinstimmt. Ich konnte keine andere auftreiben. Nur für den Fall, daß du jetzt glaubst..." Der alte Mann unterbrach die Enthüllung: „Wenn da jetzt ein Diamantring drin wäre, würde ich dir das nie verzeihen. Außerdem habe ich viel zu dünne Finger, um so etwas zu tragen. Und was noch wichtiger ist: ich ziehe ein Geschenk aus dem Herzen einem aus dem Portemonnaie vor." Behutsam hob er das Deckelchen und begutachtete
das „Schmuckstück". In einen flauschigen, ockergelben Wattebausch gebettet, lag ein getrocknetes Vergißmeinnicht. Ein Anflug freudiger Überraschung huschte über sein Gesicht, was Cel zu dem spontanen Kommentar ermunterte: „Es soll genau das sein, was sein Name bedeutet." Sie rümpfte ihre Nase und schlug vor: „Wollen wir uns setzen?" Der alte Mann nickte. Mit seinem Stock zeigte er auf ein schattiges Plätzchen unter einem Baum. Auf dessen mächtigen Wurzeln ließen sie sich schließlich nieder. Angeregt von der herrlichen Natur um sie herum, fragte Cel plötzlich: „Glaubst du, Saul, daß die Welt eines Tages in einem Atomkrieg vernichtet wird?" Der alte Mann winkte ab. „Jesus hat schon recht, wenn er fordert, daß wir Gott und nicht Menschen furchten sollen. Momentan läuft es umgekehrt. Alle Welt hat Angst vor Bomben und Raketen und schert sich einen Dreck um Gottes Allgewalt. Sogar Christen!" E.r schüttelte verständnislos den Kopf. „Und woher kommt es, daß du das weißt, aber andere nicht?" fragte Cel. Der alte Mann sah sie traurig an. „Viele Christen sind gar keine Christen. Sie haben Geburtsschein, Taufschein, Trauschein, aber sie haben Jesus nicht. Sie sind bloß Namenschristen. Selbst diejenigen, die regelmäßig zur Kirche gehen, sind nicht automatisch Christen, wie die Bibel sie definiert. Sie haben Christus nicht in sich, wenn sie nicht wiedergeboren sind. Vielleicht wissen sie nicht einmal, was , wiedergeboren' eigentlich ist, weil sie die Heilige Schrift ignorieren. Wir leben heute im Zeitalter der Technik; es gibt kaum noch Analphabeten, und Bibeln sind zuhauf überall erhältlich. Er wird es uns einmal vorhalten, wenn wir dieses einmalige Geschenk abschlagen." Cel brachte einen Begriff zur Sprache, den sie nicht verstand, den der alte Mann aber eben benutzt hatte. „Du erwähntest vorhin, daß viele Christen nicht wiedergeboren seien. Was ist denn Wiedergeburt?"
Der alte Mann holte tief Luft, weil er dieses brisante Thema nicht aus dem Stegreif mit einem Satz abhandeln konnte. Er überlegte kurz und begann: „Wiedergeburt ist ein Handeln Gottes. Manche Bibeln übersetzen es auch mit ,von neuem geboren' oder ,von oben geboren' sein. Gemeint ist nicht, daß wir zusehen müssen, in den Mutterleib zurückzukehren, um dann nochmals auf die Welt zu kommen. Nie mehr wirst du oder irgend jemand sonst leiblich in diese Welt geboren werden. Was Jesus mit , Wiedergeburt' meinte, war, daß Gott uns in geistlicher Hinsicht ein neues Leben schenkt. Daß wir geistlich erneuert, eben neu geboren werden müssen. Gott macht das nicht bei jedem automatisch oder mit Gewalt. Wir dürfen uns frei entscheiden. Daß wir dann auch selbst die Konsequenzen tragen müssen, versteht sich von selbst. Wer ewiges Leben haben möchte, muß wiedergeboren werden. Wer es nicht haben will, der kann weiterleben wie bisher und wird von Gott auch nicht belästigt. Um es einmal ganz praktisch auszudrücken: wir müssen ganz persönlich ja zu Jesus sagen, und das heißt, wir müssen ihn als unseren persönlichen Heiland annehmen, der unsere ganz persönliche Schuld gesühnt und die Strafe dafür abgebüßt hat. Einiges von dem, was ihr der alte Mann gerade erzählt hatte, kam Cel aus eigener Erfahrung bekannt vor ...
12 Nach dem Telefonat mit dem alten Mann hatte Gina Sheehan den ganzen Nachmittag über ein schlechtes Gewissen. Auch wenn sie krampfhaft dagegen ankämpfte, kam sie nicht davon los. Nicht einmal vor ihrem Freund konnte sie ihren Gemütszustand verbergen, als er wenig später bei ihr anrief. Ungeschminkt bekam er ihre Übellaunigkeit und Gereiztheit zu spüren. Ihren Vorwurf, warum er sich erst jetzt melde, erwiderte er mit der Bemerkung, daß er es morgen noch mal versuche, wenn sie besserer Stimmung sei, und legte kurzerhand auf. Durch diesen Streit, über dessen Überflüssigkeit sie sich im nachhinein maßlos ärgerte, war sie nur noch stärker aus der Balance gebracht. Ihre innerliche Zerrissenheit, Rastlosigkeit und der quälende Unfriede, der sie beseelte, hielten bis zum Abend an, bis sie schließlich bedrückt zu Bett ging. Lange Zeit noch lag sie in ihrer Unzufriedenheit wach, ehe ihr gegen Mitternacht die Augen zufielen. Kurze Zeit später hatte sie einen Traum, an den sie sich am anderen Morgen noch deutlich erinnern sollte. *
In dem glitzernden Palast herrschte eine frohe und ausgelassene Stimmung. Kein Zwielicht und schon gar keine Zwietracht war da, die die Atmosphäre hätte stören oder trüben können. Ein heller und wunderschöner Morgenstern thronte über diesem Glück und wachte darüber, daß alles so blieb. Gina und die vielen anderen Gäste fühlten sich pudelwohl in dieser ausgeprägten Harmonie aus hellstem, rosarotem Licht, wärmster Gemeinschaft und berauschender Unterhaltung. Für sie gab es nicht einen einzigen Stein des Anstoßes in diesem vollkommenen Prunkbau. Einige der zumeist jugendlichen Anwesenden stierten gefesselt auf Video-Monitore und jubelten stürmisch und ergeben ihren Königen der schwarzen Rillen zu. Was sie in
ihrer gutgemeinten Leichtgläubigkeit übersahen, aber ebenfalls verschlangen, war das Bild im Hintergrund eines jeden vorgeführten Video-Clips: Ein dunkelhäutiger, muskulöser Menschenrumpf ragte hinter einer scharfgeschliffenen Felsenkette mit einigen spitzen Erhebungen empor. Er stand an einem abendlich feuerroten Horizont, der in schmutzigbraune, zerrissene Wolkenbänder überging, durch die hie und da der Vollmond leuchtete. Die Augen der Gestalt waren blitzend rote Schlitze. Die linke Hand hielt sie vor der Brust, nur Zeigefinger und kleiner Finger abgespreizt. Die andere Hand kreiste mit einer schweren Eisenkette über dem Kopf. An deren Ende wuchs ein feines Strickwerk aus Fangarmen, das durch das Zelluloid der Filme hindurch aus den Bildschirmen zu kriechen und sich unmerklich, aber fest über die Jugendlichen zu legen schien, sie umspann und zu Gefangenen machte, ohne daß sie es merkten. Gleichzeitig prasselte ein Hagel von Klängen auf die Zuhörer nieder. Die unterschwelligen Töne schlüpften unbemerkt schlangengleich in sie hinein und bissen sich in ihnen fest. Ein weiterer Teil der Gäste ergötzte sich an dem Anblick eines Priesters, der unter ihnen umherging. Sie tanzten erregt im Rhythmus seines Taktes, sangen begeistert mit und waren schon nach wenigen Augenblicken in Trance. Gina hatte sich mit einer Gruppe um einen anderen Priester geschart, der auf einer blinkenden Glaskugel stand, seine Gitarre daran angeschlossen hatte und wie ein Besessener auf die Saiten einschlug. Seine Anbeter lagen auf dem Fußboden und hatten Kopfhörer auf, die an eben diese Kugel angeschlossen waren. Wie verzaubert zuckten sie und wanden sich im Trommelfeuer der Gitarrensalven. Ihre verzerrten Gesichter verrieten, daß sie die dröhnende Musik nur unter Schmerzen ertrugen. Alle faßten an ihre Kopfhörer, als wollten sie sie von sich reißen, aber niemand tat es. Keiner von ihnen wurde gewahr, daß der Strom, der von der Kugel aus durch ihr Ohr in ihr Innerstes floß, ihre Gehirne allesamt löschte und neu programmierte. Wie ein Roboter wurden sie umfunktio-
niert und mit Botschaften gefuttert, von denen sie nichts wußten. Auch Gina merkte nichts und wäre bis zum Ende der Programmierung angeschlossen geblieben und immer weiter mit Instruktionen vollgepumpt worden, wenn sie nicht von jemandem gestört worden wäre. Sie schlug überrascht die Augen auf. Vor ihr stand Cel! Apathisch streifte sie den Kopfhörer ab, und beide Mädchen blickten sich stumm an. Dann plötzlich wurde das glitzernde Palastgewölk von einem Brausen erfüllt, das wie eine Stimme klang. „Hast du gesehen? Sie scheuen sich nicht, diese Greuel zu verüben. Keine Scham noch Reue ist in ihnen. Sie tun, was böse ist in meinem Augen, und reizen mich in einem fort. Also will auch ich handeln in meinem Grimm. Mein Auge soll nicht schonen, noch werde ich mich erbarmen. Gehet hinaus aus der Schandgrube des vollendeten Morgensterns, denn er ist der Engel, der sich mir gleichmachen wollte und den ich verstoßen habe. Fliehet auf die Berge, denn das Ende ist da!" Dann erscholl ein Befehl. „Nahet euch, ihr Aufseher, dem Höhlengewölk, ein jeder mit seinem Werkzeug der Zerstörung in seiner Hand!" Sogleich kamen sechs Männer vom oberen Tore, ein jeder mit seinem VernichtungsWerkzeug in der Hand. In ihrer Mitte war ein Mann, mit Leinen bekleidet, der ein Schreibzeug an seinen Hüften trug. An ihn wandte sich der Wind: „Gehe in die Höhle und mache ein Zeichen an die Stirn der Leute, welche seufzen und jammern über all die Greuel, die in ihr geschehen." Im gleichen Moment, als die Stimme das gesagt hatte, erschien auf Cels Stirn ein blauesT. Ein Mann, den Gina als Saul Gideon erkannte, ergriff Cels Hand, und ein heftiges Erdbeben erschütterte den Palast. Ein großes Loch entstand, durch das die Versiegelten entflohen. Noch während Saul und Cel hindurchschlüpften und flüchteten, schaute Cel sich nach ihrer Freundin Gina um, und ihre Augen flehten sie an: „Komm mit! Schnell!"
Gina zögerte einen Augenblick. Als sie Cel dann nachlaufen wollte, versagten die Beine ihr den Dienst. Sie waren wie gelähmt. Das Gehirn, das sie normalerweise steuern sollte, gehorchte ihr nicht mehr. Sie hatte jegliche Befehlsgewalt darüber verloren. Auch sie erkannte jetzt, daß sich bitter rächte, was sie getan hatte. Die Musik, der sie sich ausgesetzt hatte, hatte laufend bösen Samen in ihr Gehirn gestreut, der rasch zu keimen begonnen hatte. Nun war er bereits zu krebsartigen Geschwüren ausgewuchert, so daß der Großteil ihres Gehirns befallen und ihrWille ausgeschaltet war. Tatenlos mußte sie mitansehen, wie Cel auf die rettenden Berge floh, während sie selbst verzweifelt zurückblieb. Panik brach in dem Palast aus. Das Rosarot, das alles so herrlich erfüllt hatte, zeigte nun sein wahres Gesicht und veränderte sich allmählich ins BräunlichSchwarze. Dann brach Finsternis herein. Jedem der Gäste wurde schlagartig bewußt, daß er auf raffinierte Weise betrogen worden war. Allesamt saßen sie unentrinnbar in der Falle! Der Wind pfiff eisiger und stärker. Zu den sechs Männern sprach er: „Die Missetaten des schillernden Palastes sind groß. Jeder Meter seines Bodens ist voll von Blutschuld und Rechtsbruch. Sie spotten: .Verlassen hat Jahwe die Erde, er sieht nicht.' Nun kann auch ich nicht mehr mitleidig sein und Milde üben. Ihren Wandel will ich ihnen vergelten. Als ich sie warnte, verlachten sie in ihrem Hochmut meine Worte. Gehet also durch den Palast und schlaget die Priester, die keine sind, und ihre Anbeter, die vor ihnen zu Boden fallen. Gehet hinein!" Und die Männer stürmten in den Palast. Gina beobachtete starr vor Entsetzen, wie sich an einem Gast nach dem anderen der Zorn Gottes entlud. Jeder, der ohne das rettende Siegel war, wurde von den Männern hingestreckt. Sie wollte wegsehen, aber sie konnte nicht. Sie befühlte ihre Stirn, ob sie wenigstens dasTbesaß. Nichts! Ihre Stirn war kahl und blank! Es ging schnell, dann war an allen das Urteil vollstreckt - nur noch nicht an Gina. Von panischer Angst ergriffen,
hielt sie verzweifelt nach einem Spalt im Gestein Ausschau, um sich zu verkriechen. Aber alles, was sie entdeckte, war einer der Video-Monitore. Sie schlüpfte hinter ihn, aber sie hoffte vergebens. Sie blieb nicht verborgen. Ein Schwerthieb zerschmetterte den Monitor. Rettungslos stand sie nun von Angesicht zu Angesicht dem Rächer gegenüber, der erbarmungslos das Schwert hob ... ,
;
*
-
Wieder dieses dumpfe Pochen, dann eine gedämpfte Stimme: „He, du Murmeltier! Aufstehen!" Gina klimperte mit ihren Augenlidern. „Du kommst zu spät zur Schule", erklang es von neuem. Gina registrierte nach und nach die Umgebung ihres Zimmers und ihre Mutter, die besorgt ins Zimmer trat. „Was ist heute los mit unserer Madame? Soll ich einen Kübel Wasser oder eine Sänfte holen?" „Ja, ja", gähnte Gina ihr schlaftrunken entgegen, kroch im Zeitlupentempo aus den Federn und stand benommen auf. Sie gähnte erneut und reckte sich behäbig. Ihr Körper fühlte sich wie gerädert an. Der Traum saß ihr noch frisch im Gedächtnis. Sie hatte ihn ungefähr verstanden und versuchte, ihn mit allen Mitteln aus ihren Gedanken zu tilgen.
13 Den ganzen Vormittag über hatte Gina sich Cel gegenüber kühl und distanziert verhalten. Schweigsam waren die beiden in der U-Bahn gefahren, stumm hatten sie nebeneinander die Schulbank gedrückt, und das einzige, was Gina nach Schulschluß zu ihr sagte, war: „Ich habe was zu erledigen." Damit war sie auch schon verschwunden und ließ eine ziemlich ratlose Celeste Rousseau am Schultor zurück. Diese mißachtende Eigenbrötlerei hätte sich in früheren Tagen nie zutragen können. Daß es heute jedoch dazu kam, zeigte Cel schonungslos, daß die Kluft zwischen ihnen immer tiefer und breiter wurde. In atemberaubendem Tempo näherten sie sich dem Moment, ab dem der Spalt vielleicht für immer - unüberbrückbar sein würde. Daheim saß sie gerade mit ihren Eltern am Mittagstisch, als das Telefon läutete. Cel lief sofort zum Apparat. Am anderen Ende der Leitung war Saul Gideon. Zu ihrer hellen Begeisterung fragte er sie, ob sie Zeit habe, sich mit ihm um vier Uhr beiTower Records — dem größten Schallplattengeschäft New Yorks - zu treffen. Ohne zu zögern entgegnete sie: „Da fragst du noch? Dafür habe ich immer Zeit! Also, bis um vier." Der Hörer ruhte soeben auf der Gabel, als der Sturzbach von Fragen auch schon floß. Wer? Wann? Wie? Wo? Nachdem der Wissensdurst der Eltern gestillt war, folgte ein kategorisches Nein zu der Unternehmung! Cel glaubte, schlecht zu träumen. Das konnte nicht wahr sein. Ihre Eltern verbaten ihr, um vier Uhr beiTower Records zu sein? Das bedeutete, kein Saul... nein! Das ertrug sie nicht. Sie beschwor ihre Eltern leidenschaftlich, ihre Meinung zu ändern. Doch die beharrten auf ihrem Veto. Sie taten es nicht des alten Mannes wegen; von ihm wußten sie gar nichts. Cel hatte nur den Namen genannt, da hatten ihre Eltern ihn auch schon voreilig als Schulfreund eingestuft. Nein, ihre Bedenken lagen in einem anderen Bereich. Daß ihre Tochter morgens und mittags mit der U-Bahn
fuhr, konnten sie noch einigermaßen verantworten, weil genügend Mitschüler anwesend waren, so daß der eine indirekt dem anderen ein Schutz sein konnte. Aber sie am Nachmittag allein in dieser Kanalisation des Bösen zu wissen, durch dessen Röhren sich Abschaum und Verbrechen wälzten, überschritt ihre Angstschwelle bei weitem. Sie wollten verständlicherweise kein unnötiges Risiko eingehen, und mit nichts - auch nicht mit Bitten und Betteln konnte Cel die lauernde Gefahr in den Gedanken ihrer Eltern verharmlosen. Als sie die Sinnlosigkeit ihres fieberhaften Umstimmungsversuchs erkannte, ließ sie Messer und Gabel fallen und stürmte heulend auf ihr Zimmer. Dort warf sie sich verzweifelt auf ihr Bett und vergrub ihr Gesicht im weichen Plüschkissen. Schniefend und schluchzend lag sie da, mit einem grausamen Schicksal hadernd. Aber sollte sie jetzt in Selbstmitleid zerfließen oder einen anderen Weg gehen - einen neuen, neu gefundenen ...? Sie hob ihren Kopf aus dem Kissen, und zwei große, dunkle Kreise zeichneten sich auf dem Samt ab. Die Spuren ihrer Tränen guckten sie an. Cel störte sich jedoch nicht daran. Sie dachte nur noch an eins - an das Treffen mit Saul. Und es dämmerte ihr. Es gab einen Weg dorthin. Einen, der so sicher war wie der morgige Aufgang der Sonne im Osten. Was hatte Saul getan, als die anscheinend unabänderliche Abreibung durch ihren Vater so nah wie der Mitternachtsschlag bevorstand? Er hatte gebetet. Das war's! Gebet! Sie war sich ihrer Sache so sicher, daß sie ohne Umschweife Gott um eine Ebnung des Weges zumTower Records Gebäude anflehte. Als sie ihre Bitte vorgetragen hatte, war es exakt 14.30 Uhr. Eine nervenzehrende Wartezeit begann. Voller Optimismus begab sich Cel an ihren Schreibtisch und erledigte ein paar Hausaufgaben. Das Fach Geschichte ging ihr locker von der Hand, ebenso die Ausarbeitung des Kunstreferates über Stilmittel und ihre Wirkung. Als indes Mathematik an die Reihe kam, geriet ihr Triebwerk ins Stocken. Geometrie ließ sie sich ja noch gefallen, aber AI-
gebra-Aufgaben ödeten sie an. Die wirkliche Gedulds- und Glaubensprobe fand ihren Anfang. Hatte sie über ihrer konzentrierten Arbeit den Vier-Uhr-Termin weitgehend verdrängt, schoß er nun mit Macht in den Vordergrund, als sie aus Langeweile auf die Uhr schaute. Eine Dreiviertelstunde verblieb noch. Von Unruhe gepackt, trippelte sie nervös mit den Füßen. Die vor ihr liegende Buchseite, prallvoll mit Gleichungen, sagte ihr soviel wie leeres Papier. „Jesus, vergiß mich nicht", flehte sie besorgt, und ihre Gedanken schweiften umher, nach Möglichkeiten suchend, wie er den Weg ebnen könnte. Vielleicht kam Gina und fragte nach, ob sie mit ihr in die Stadt fahren wolle. Unwahrscheinlich! Gina sprach ja nicht mehr mit ihr und mied sie wie die Pest. Vielleicht änderten ihre Eltern ihre Meinung. Ausgeschlossen! Die doch nicht. Was blieb sonst noch? Daß Saul sie abholte? Ebenfalls unmöglich! Dann hätte er nicht vorher angerufen, um sich mit ihr zu verabreden. Ihr Optimismus sank auf den Nullpunkt. Weit und breit kein Ausweg. Nur zerplatzende Ballons und Sackgassen. 15.26 Uhr. Ihre Ungeduld wuchs. Es mußte sehr bald etwas passieren, wenn sie nicht zu spät kommen wollte, da sie mindestens eine halbe Stunde unterwegs sein würde. Saul würde gewiß warten, wenn sie nicht pünktlich eintraf. Ein paar Minuten konnte sie sich verspäten. Aber mehr als einen ISminütigen Spielraum würde sie nicht zur Verfügung haben. Eine magere halbe Stunde verblieb noch, und nichts, absolut nichts tat sich. Kein Lichtschimmer imTunnel, dereinen möglichen Ausgang anzeigte. Ärgerlich und frustriert schlug Cel ihr Mathematikbuch zu. „Warum erhörst du meine Bitte nicht? Willst du nicht, daß ich Saul treffe?" murmelte sie verzweifelt. Der Uhrzeiger, in der Schule stets ein Vertreter der langsamen Fortbewegung, raste nun plötzlich im Eiltempo voran - 15.33 Uhr! Wütend über ihn, wütend über Gottes Stille und sein scheinbares Nichtstun, fegte sie mit einer wuchtigen Armbewegung die Mathematikutensilien zu Boden und fluchte Weinerlich: „Mist, verdammter! Ich dachte, wenigstens auf dich ist immer Verlaß."
Ohne sich dessen bewußt zu sein, verdunkelte sie mit ihrer Anklage und Vertrauenslosigkeit eigenhändig den Silberstreif, der sie so sicher vor dem Absturz bewahrt hatte. Ehe sie sich versah, fiel sie in totale Hoffnungslosigkeit. Es klopfte an der Zimmertür. Aufgeschreckt sammelte Cel die Schulsachen vom Boden auf und rief mit unsicherer Stimme: „Ja!" Die Klinke wurde gedrückt, und ihr Vater trat ein. Unter größter Kraftanstrengung versuchte sie ihre Aufgeregtheit und Aufgelöstheit zu verbergen und ihrem Vater zuzuhören. „Du, Mäuschen. Mum und ich wollten dir nicht böswillig eins auswischen. Wir sind um dich besorgt. Das ist der Grund. Du weißt doch selbst, wie viele Grausamkeiten gerade in der U-Bahn tagtäglich verübt werden. Mum und ich legen keinen Wert darauf, von der Polizei einen Kondolenzbesuch zu erhalten oder dich im Krankenhaus zu besuchen. Wir hätten keine ruhige Minute, wenn wir dich jetzt gehen lassen würden. Aber wenn dir so enorm an der Verabredung liegt, daß du sogar dein Lieblingsdessert dafür sausen läßt" - er interpretierte ihre wutentbrannte Flucht vom Mittagstisch humorvoll, da ihm sehr am Glätten der rauhen Wogen gelegen war- „ließe sich eventuell etwas arrangieren. Eigentlich wollte ich erst morgen mit Duncan Meacher bei der Chase Manhatten Bank zusammentreffen, aber ich habe eben mit ihm telefoniert, und er konnte den Termin auf heute Nachmittag vorverlegen. Das heißt, daß ich jetzt nach Manhatten rüberfahre und du mitfahren kannst, wenn du magst. Ich setze dich ab, wo du willst, und hole dich nach einer Stunde wieder ab. Na, wie steht's damit?" Da sich keinerlei Begeisterung für seinen Vorschlag zeigte, verlängerte er die Zeit. „In Ordnung. Sagen wir zwei Stunden. Ist das ein Angebot?" Er hatte nicht damit gerechnet, daß sie dankbar vor ihm auf die Knie fallen würde, aber diese reservierte Reaktion, bei der nicht ein Hauch von Freude zu sehen war, kränkte ihn nun doch. Er entschuldigte ihre Gleichgültigkeit damit, daß sie ihn wohl nicht richtig verstanden habe, und
wiederholte seine Offerte. „He, Mäuschen! Deine Verabredung. Wir sind startklar. Ich bring dich hin." Die Uhr zeigte 15.47 Uhr. Dieses Angebot so kurz nach Kassenschluß stachelte Cels Zorn nur noch mehr an. „Ich will nicht mehr", entgegnete sie hart und wandte sich brüsk von ihrem Vater ab. Der widerum wußte gar nicht, wie ihm geschah. Stocksauer konterte er: „Das ist doch ein schlechter Scherz! Deinetwegen ändere ich meinen Terminplan und den anderer Leute, und wofür? Für die launischen Zicken meinerTochter. Sind wir vielleicht deine Hampelmänner? Überlege dir gut, was du nun willst." Verärgert stand er zwischen Tür und Angel und wartete auf eine Antwort. Cel wußte, daß ihre Entscheidung Konsequenzen haben würde. Lehnte sie das Angebot ihres Vaters ab, wonach ihr momentan am meisten der Sinn stand, dann würde sie es auf lange Sicht und auf der ganzen Linie mit ihm verscherzt haben. War das der Egotrip wert? Die ohnehin miese Situation, weil sie Saul nicht sehen konnte, würde sich durch einen derartigen Rachefeldzug nur verschlimmern. Nichts wäre gewonnen. Vor allem - würde dieses hartherzige, nicht-verzeihen-wollende Verhalten Jesus gefallen? Sie stand auf, ging hängenden Kopfes auf ihren Vater zu und umarmte ihn wortlos. Dieser Liebeserweis war für ihn Antwort genug. Er erwiderte ihre Liebkosung zufrieden lachend, schwang sie ansatzlos kopfüber über seine Schulter und trug sie die Treppe hinunter. Seine übermütige Tat ließ Cel erst erschrocken kreischen, dann jedoch amüsiert das Schicksal der entführten Braut hinnehmen. Ausgelassen, ja, fast schon ein wenig in erfrischend kindlicher Albernheit stiegen sie in den Camaro, so daß Mrs. Rousseau über das Benehmen ihres Mannes erst den Kopf schüttelte, später aber neidisch wurde, nicht mitfahren zu können. Doch nach ihr schrieen buchstäblich die Pflichten der Mutter, denn Stephen buhlte in seinem Bettchen mit Geplärr um ihre Gunst. Mit Erfolg, wie so oft!
14 Sie waren da: UpperWest Side, direkt vorTower Records. Ihr Vater war um den Wagen gegangen und hatte galant die Tür geöffnet. „Wir sind da, Mäuschen", sagte er. Cel stieg aus. Ein flinker Blick auf ihre Uhr verriet ihr, daß es 16.21 Uhr war. Die Verabredung mit Saul war geplatzt. Was sollte sie also zwei Stunden lang hier treiben? Ihr Vater störte ihre Überlegung: „Wo ist denn dein Freund?" „Er muß gleich kommen. Wir haben uns für halb fünf verabredet", log sie kurzerhand und wurde sogleich mit einem drückenden Gewissenbiß bestraft. Mr. Rousseau, dem gar nicht auffiel, daß seine Tochter am .Mittagstisch ja von vier Uhr gesprochen hatte, entgegnete freudig: „Überpünktlich. Das ist natürlich prima", und stellte sich darauf ein, mit ihr zu warten, bis der Freund kam. „Die zehn Minuten hab' ich auch noch Zeit." „Nein!" stieß Cel entsetzt hervor, als habe ihr Vater soeben eine Untat vorgeschlagen, und war sofort um Mäßigung bemüht, um keinen Verdacht zu erregen. „Nein, bitte nicht, Daddy", bat sie etwas weniger lebhaft. „Das sieht doch albern aus. Was soll Saul denn von mir denken? Daß ich noch Bettnässer bin und einen Aufpasser brauche?" Ihr einschmeichelnder Tonfall und die treuherzigen Augen taten ihr Werk, so daß ihr Vater ein Einsehen mit ihren Bedenken hatte. „Wann bist du fertig mit Mr. Meacher?" Er überlegte. „So in einer Stunde etwa. Warum?" „Gut. Hol mich in einer Stunde ab." ;'. „Aber Mäuschen", wehrte er ab, „für dich ..." „Keine Widerrede", fuhr sie im Stil einer resoluten Ehefrau dazwischen. „Eine Stunde ist besser als keine, und dafür danke ich dir. Aber wenn du meinetwegen eine geschlagene Stunde herumhängen mußt, habe ich keine Freude mehr an dem Treffen." Er sah sie verblüfft an. „Na schön. Einverstanden." Er
drückte ihr einen Kuß auf die Stirn, stieg wieder in den Camaro und preschte mit einem Kavalierstart davon. Cel atmete erleichtert auf. Froh sein konnte sie indessen nicht. Ihre Lüge machte ihr noch zu schaffen. Um sie herum herrschte ein buntes Treiben. Es schien, als hege ganz New York die Absicht, ausgerechnet jetzt zu Tower Records zu gehen, der Schallplattenhauskette mit den größten und raffiniertesten Läden. Wahre Wunderdinge waren über sie im Umlauf, bespickt mit zahllosen Superlativen. Der Laden, vor dem sie nun stand, hatte vier Millionen Dollar gekostet. Der zweite in New York, in Greenwich Village, sollte angeblich der größte der Welt sein, mit vier Etagen und einem Inventar von 450 000 Platten. Beide Geschäfte waren häufig bis Mitternacht geöffnet und bis zum Bersten mit der jüngeren Generation gefüllt, die sogar lieber eine Nacht im Tower verbrachte als im Kino oder sonstwo. Ein Grund für diese außerordentlich hohe Anziehungskraft lag in der glitzernden Eleganz. Die Decken waren mit Spiegeln belegt, rotes und gelbes Neonlicht sorgte für Beleuchtung, viel Chrom und Glas rundeten den Glitter ab. Zudem, und das stellte ohne Zweifel die Hauptattraktion dar, flimmerten aufTV-Monitoren, die von den Decken oder an den Wänden hingen, pausenlos Rock- und Pop-Videos. Cel beobachtete, wie gerade eine Schar Fans in Lackhosen und mit Sonnenbrillen hineinging, während eine andere mit geflickten Klamotten, kunterbunten Haaren und - was besonders in Mode gekommen war - mit lebenden Mäusen auf den Schultern mit Stapeln von Schallplatten unterm Arm herauskam. Sie überlegte noch, ob sie sich einreihen sollte, um die verbleibenden sechzig Minuten zu überbrücken, als es ihr auf einmal schwarz vor Augen wurde. Irgend jemand hielt ihr von hinten die Augen zu. Da dies ohne Worte geschah, wußte sie nicht einmal, ob die Person männlich oder weiblich war. Ohne auch nur einen Versuch zu riskieren, gab sie auf. Die Hände lösten sich, und sie fuhr herum, daß ihr blondes Haar durch die Luft wirbelte und die hindurchscheinenden Sonnenstrahlen es
für Augenblicke in ein goldenes Funkenmeer verwandelten. Was sie erblickte, kam derart überraschend, daß sie es für Sekundenbruchteile für eine Einbildung hielt. Spätestens beim Klang der Stimme wußte sie jedoch mit absoluter Sicherheit, daß aus dem absolut Unmöglichen Wirklichkeit geworden war. „Ich bin aufgehalten worden. Entschuldige, bitte! Nett, daß du so geduldig gewartet hat", bedankte sich der alte Mann. „Das gibt's doch nicht!" machte Cel ihrem Erstaunen Luft. „Ich bin selbst eben erst gekommen. Auch ich bin aufgehalten worden. Mann, das ist ja wie abgesprochen! Meine Hoffnung war schon längst baden gegangen." Cel erzählte im Abriß, was sich zugetragen hatte, und schloß: „Es ist wundervoll, daß Gott mich nicht im Stich gelassen hat. Das Gebet ist echt ein Wundermittel." „Aber Vorsicht!" hob der alte Mann einen warnenden Zeigefinger. „Es ist kein Patentrezept. Verfall'ja nicht dem Irrtum, Gott würde jetzt alles tun, was du willst. Gebet ist keine Waffe, mit der man Gott zur Kapitulation zwingen könnte. Es ist das Bitten des Gläubigen, der seinem Gott alles zutraut, aber auch alles hinzunehmen bereit ist, was seine Hand gibt. Es wird auch mal scheinbare Enttäuschungen geben, nämlich dann, wenn dein Vorhaben nicht mit seinem Willen übereinstimmt." „Wollen wir hineingehen?" fragte er und deutete mit seinem Stock auf den Eingang vonTower Records. Sie hatten das Geschäft noch nicht ganz betreten, da ärgerte sich Cel auch schon, daß sie freiwillig eine Stunde hergegeben hatte. Cel fragte nicht nach, warum Saul ausgerechnet diesen Treffpunkt gewählt hatte. Sie dachte an ihren Spickzettel, holte ihn hervor, und schon war ihr Forschergeist entflammt. Auf ihm hatte sie die Titel zweier Beatles-Schallplatten notiert, die sie eigenständig, ohne Vorurteil, überprüfen wollte. Für die legendären Pilzköpfe aus Liverpool mit ihren Unmengen an Produktionen hatte Tower eine Art Separee eingerichtet. Dort - wie überall - herrschte
akuter Platzmangel. Gel und der alte Mann hatten große Mühe, sich durch das dichte Gedrängel bis dorthin vorzukämpfen. Bevor sie anfing, die Boxen nach den beiden Demonstrationsobjekten zu durchstöbern, rief Cel sich noch einmal ins Gedächtnis, worum es ging: Pauls angeblicherTod; Medienschwindel. Sie legte los und brauchte auch nicht lange zu suchen, da hielt sie das Album ,Abbey Road' schon zwischen den Fingern. Der erste Blick vermittelte ihr auf Anhieb, daß es sich bei dem Bildmotiv um eine Beerdigungsprozession handelte. Die vier Musiker überquerten auf dem Coverbild die Straße, die der Platte den Namen gab. John Lennon war als Pfarrer gekleidet, Ringo Starr als Leichenbestatter und George Harrison als Totengräber, während Paul McCartney die Straße barfuß überquerte, als ginge es zu seiner Beerdigung. Cel suchte weiter in dem Bild, wobei ihr ein Volkswagen auffiel, der ein sehr seltsames Nummernschild trug: „28 wenn"! Was hatte das zu bedeuten? Ein glänzender Einfall kam ihr in den Sinn, mit dem sie, ohne es zu ahnen, gleich auf der richtigen Fährte war. „Du, Saul. Wie alt war wohl der McCartney ungefähr, als er diese Scheibe aufnahm?" „27Jahre", erwiderte der alte Mann, der ihrTun zwar genau verfolgte, sich ansonsten aber merklich zurückhielt. Cel biß sich grübelnd auf die Unterlippe. „Sie-ben-undzwan-zig", wiederholte sie leise. Sie guckte von neuem auf die Albumhülle. Eine Beerdigungszeremonie. „28 wenn". Sie versuchte zu kombinieren und traf den Nagel auf den Kopf. McCartney wäre 28 geworden. Wann? Ja, wenn er nicht gestorben wäre. Das war ein Hammer! Klare Botschaft, gut versteckt! Obschon eineTatsache nicht bestätigter als bestätigt sein konnte, nahm Cel forsch das nächste verdächtige Album unter die Lupe —,Sergeant Pepper's'. Fast zu ihrem Erstaunen waren hier alle vier Beatles zu sehen, wenngleich das Motiv des Bildes wieder etwas mit Tod zu tun hatte. Die Vier standen um ein Grab herum. Pauls Grab konnte es dieses Mal offenbar nicht sein. Wessen dann? Cel wurde den
Eindruck nicht los, daß es irgendeine Besonderheit aufwies. Jetzt hatte sie sie! Die gelben Blumen auf dem Grab! Sie waren dergestalt arrangiert, daß sie eine Bass-Gitarre in der Haltung für Linkshänder formten. Also doch erneut eine versteckte Anspielung auf McCartneys Tod. Er war Linkshänder und spielte Bass. Cel war platt. Dann erst entdeckte sie den stärksten Hinweis: eine Hand wurde über McCartneys Kopf gehalten - das Zeichen für den Tod! Sie klappte die Hülle auf. Das großformatige Innenbild zeigte Paul McCartney mit einem Abzeichen am Arm, auf dem drei Buchstaben geschrieben standen - OPD. Um zu erkennen, was sie bedeuteten, bedurfte es keiner scharfsinnigen Überlegungen: „officially pronounced dead" - offiziell für tot erklärt! Dieser Beweis setzte der Sache nun wirklich die schäbige Krone auf. Die harmlosen Pilzköpfe waren in Wirklichkeit ungenießbare, giftige Pilze. Zusammen mit den vielen anderen Schallplatten, den Büchern und nicht zuletzt den Rückwärtsmarkierungen konnte Cel sich lebhaft vorstellen, wie ahnungslose Massen von vier Scheinheiligen überlistet und übel manipuliert wurden, wie sie den vier Spitzbubis chancenlos auf den Leim gingen und ihnen zu Reichtümern verhalfen. Angeekelt steckte Cel die Platte zurück in die Box, und wie nach einem Halt suchend, schaute sie sich in der Gegend um. Die Sache ging an ihre Substanz! Eine eigenartige Beklemmung überkam sie, die in Atemnot gipfelte. Fort! Sie mußte schnell fort von hier! Ohne Vorankündigung quetschte sie sich aus dem Separee der Ölsardinen in ein Gefilde mit etwas größerer Atemfreiheit. Es dauerte eine Weile, bis der alte Mann sie eingeholt hatte. „Möchtest du lieber gehen?" fragte er. Cel zögerte unsicher. „Du wolltest mir doch bestimmt ein paar deftige Kostproben zeigen, oder?" Er schmunzelte über ihre Wortwahl. „Mir scheint, du bist jetzt schon restlos bedient." Sie lockerte ihr Haar. Die Atemnot war vorüber. „Vor zwei Wochen noch hat mir das alles hier nichts ausge-
macht." Sie beschrieb mit der Hand einen Halbkreis. „Aber heute, wo ich weiß, was Sache ist, geht mir der Zauber gehörig auf den Keks. Ich komme mir vor, als gehörte ich nicht mehr zum Rudel, sondern wäre eine, die abseits einer Bühne steht und ein trauriges Drama beobachtet, bei dem sie vorher mitgewirkt hat." Der alte Mann nickte verständnisvoll. „Tut es dir leid um deinen Abgang aus dem Stück?" Ohne zu zaudern, schüttelte sie den Kopf. „Absolut nicht. Ich kenne jetzt das Drehbuch und weiß, daß im Schlußakt alle auf der Bühne umkommen werden. Daß ich verschont bleibe, ist mehr als nur Entschädigung für alles, auf das ich außerhalb des Rampenlichts verzichten muß." Er sann über ihren Vergleich nach. „Wollen wir den Schatz aus totem Gewürm heben?" Er gedachte nicht, ihren Elan zu bremsen, und ging voran zu einem Plattenstand, wo er im Handumdrehen das gesuchte Album entdeckte. Es hieß ,No Rest for theWicked' und war von einer Band namens ,Helix'. Das Übel war für Cel mit Leichtigkeit zu erfassen. Auf einem Bett, von Nebel umgeben, saß ein junger Mann. Es war leicht ersichtlich, womit er sympathisierte. Ihn zierten zwei Hörner auf dem Kopf und ein Schwanz mit Stachel — die altbekannte Darstellung des Teufels. Der Anblick des Bildes frischte ihr Gedächtnis auf. Sie glaubte, ähnliches schon einmal gesehen zu haben. Gezielt stöberte sie unter A nach. Da! Sie hatte sich nicht geirrt. Der Gitarrist hatte zwei Hörner auf dem Kopf, und in der Hand hielt er das Ende eines eisernen Teufelsschwanzes. AC/DC hatte sich auf,Highway to Hell' des gleichen Motivs bedient. Der alte Mann war wieder an der Reihe. Von A nach B war es nicht weit, und so holte er das Doppelalbum ,The Mob Rules' von Black Sabbath hervor. Das Bild auf der Vorderseite kam Cel irgendwie bekannt vor. Nicht genau so, aber vom Muster her. Er fragte: „Schon mal was vomTuch vonTurin gehört?" Sie schnippte mit den Fingern. Das war's. „In Religion haben wir mal kurz darüber gesprochen. Das Tuch von
Turin soll das Grableinen sein, in das Jesus eingehüllt war. Auf ihm ist angeblich sein ganzer Körper abgedrückt." Er staunte über ihre Kenntnisse. „Richtig. Und vor allem der Abdruck seines Gesichtes ist sehr bekannt." Cel blickte wieder auf das Cover. Das war nicht Jesus, wie in der Schule gezeigt. Es handelte sich um eine verfälschte Imitation des Tuches von Turin, denn auf ihm prangte die Fratze des Satans. Und um sie herum standen gesichtslose Schwachsinnige. Cel schnitt angewidert eine Grimasse. Der alte Mann packte das abscheuliche Ding wieder an Ort und Stelle zurück, wühlte in den Platten und sprach weiter: „Und hier eine Platte von derselben Band, mit dem Ex-Deep-Purple-Sänger lan Gillan." Beim Anblick der schaudererregenden Hülle wurde Cel kalkweiß um die Nase. Sie zeigte ein Baby mit leuchtend giftgrünen Augen und Fingern, an denen überlange, spitze, gelbe Nägel wuchsen, mit Hörnern auf der nackten Stirn und aus den Mundwinkeln blitzenden Vampirzähnen. Eine Steigerung des Abartigen, eine klare Perversion christlicher Lehre sowie ein weiterer Beweis, daß Musiker über die Bibel und die unsichtbare Welt Bescheid wußten, stellte der Titel der Schallplatte dar: ,Born Again'! Ein Begriff, den Cel in seiner enormen biblischen Bedeutung nach dem gestrigen Gespräch mit dem alten Mann einordnen konnte. Ohne göttliche Wiedergeburt war das ewige Leben für einen Menschen so unerreichbar entfernt wie die Spitze des Mount Everest für einen Seeigel. Und hier wurde dieser Akt nicht nur belächelt oder madig gemacht, sondern ins Gegenteil verkehrt. Die Wiedergeburt als eine Umwandlung des Menschen in einen Vampir, als eine Beseelung des Menschen mit dämonischen Kräften! Der alte Mann fügte hinzu: „Sehr makaber ist übrigens, daß ausgerechnet dieser lan Gillan bei dem Rock Musical Jesus Christ Superstar' den Part von Jesus sang!" Cel fühlte Beklemmung. Wie konnten Menschen nur so dreist und abgebrüht sein? Wie konnten Menschen nur einen so triebhaften Haß gegenüber Christus entwickeln?
Viele Menschen entschieden sich gegen Jesus, weil sie sich nie in ihrem Leben ausdrücklich für ihn entschieden hatten. Aber solch einen bewußten, ungezügelten, rastlosen Eifer gegen ihn, solch ein energisch böswilliges Auflehnen, solch ein erbitterter Feldzug gegen den König der Juden war unglaublich - und doch nackte Realität! Bevor sie weitermachten, wurde ihre Aufmerksamkeit auf eine Clique gelenkt, die sich - im Musikrhythmus zappelnd, hüpfend und winkend - um einen Monitor scharte, auf dem die australische Band ,Real Life' ihren Top Hit ,Send Me an Angel' abzog. Enthusiastisch sangen die Jugendlichen von Beginn an kräftig mit und hatten keinen blassen Schimmer, wie sehr sie gelinkt wurden. Unbewußt ließen sie sich Dolche in ihre Seelen stoßen, indem ihr Unterbewußtsein mit satanischen Parolen vergewaltigt wurde. An einer Stelle bekamen ihre Gehirne die Nachricht eingetrichtert: ,Ich bin im Tal der Schlange!'Wenig später hieß es drastisch: ,Christus ist geschlagen! Christus ist k.o.! Ich bin gegen ihn!' Sozusagen nach dem Slogan „doppelt gemoppelt hält besser" wurde das Bombardement noch einmal wiederholt. Damit war die Speicherung beendet und versiegelt. Die Mädchen und Jungen jubelten am Schluß vor dem Monitor, sich für die manipulative Verführung auch noch bedankend, und suchten gehirngewaschen und für dumm verkauft einen neuen Trip beim nächsten Video-Clip. „Ein Beispiel", der alte Mann wühlte wieder in der Box, „das verdeutlichen soll, daß Black Sabbath bereits in den Anfängen dem okkult-teuflischen Machtbereich angehörte." Die Vorderseite der LP ,Sabbath Bloody Sabbath' beherrschte ein Bettgestell aus den Knochen eines Skeletts, das mit der Zahl des Antichristen versehen war: 666. Auf dem Bett lag ein Mann, der von einer Schlange erdrosselt wurde. Nachdem sie sich durch das Gedränge zum Buchstaben „I" durchgeboxt hatten, suchte der alte Mann das Album .Piece of Mind' von Cels Ex-Lieblingsband ,Iron Maiden'
heraus. Cel kannte es wie ihre eigene Westentasche -jedenfalls glaubte sie das! Der alte Mann kommentierte: „Viele Musiker, die Gott und seinen Christus schmähen, kennen die Bibel besser als manche Christen, die sie eigentlich kennen sollten. So nennt sich zum Beispiel ein Mitglied von der Band ,Venom' Abaddon, ein Begriff, der im neunten Kapitel der Offenbarung auftaucht, wo geschrieben steht: ,Sie haben über sich einen König, den Engel des Abgrundes. Sein Name ist auf Hebräisch Abaddon.' Dieses Wort heißt übersetzt , Verderber'. Eine andere Band hat sich den Namen ,Sodom' aus dem ersten Mosebuch zugelegt. Das war ein Ort, an dem die Menschen Sodomie trieben, also Unzucht mit Tieren, und den Gott dafür mit Feuer und Schwefel einäscherte. Ein anderes Beispiel: der Ex-Sänger von ,Iron Maiden', Paul Di Anno, gründete kürzlich eine neue Gruppe mit dem Namen ,Gogmagog'. Das ist eine Verschmelzung aus den Worten Gog und Magog, die sowohl im Alten Testament beim Propheten Hesekiel als auch im Neuen in der Offenbarung vorkommen und stellvertretend für die antichristlichen Heere stehen, die bald gegen Israel ziehen werden, um es zu vernichten." Demonstrativ hielt er ihr nun das neue Werk von ,Iron Maiden' unter die Nase. Das Coverbild zeigte das Gerippe Eddie, das an Ketten gefesselt lag. Schmerzverzerrt, mit schwachem Leuchten tief in den schwarzen Augenhöhlen und an einigen Stellen blutend, zerrte es an den Ketten, an denen sich einige Glieder bereits zu lösen begannen. Daß es sich um eine Anspielung auf das zwanzigste Kapitel der Offenbarung handelte, demzufolge der Satan nach lOOOjähriger Fesselung in Ketten für eine kleine Weile freigelassen wird, wurde Cel klar, als sie auf der Rückseite der Platte ein Zitat aus dem einundzwanzigsten Kapitel der Offenbarung las. „Und Gott wirdjedeTräne von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Trauer, noch Verstand, noch Schmerz wird mehr sein." Der alte Mann erläuterte kurz, daß es um eine Beschrei-
bung des ewigen Lebens auf der neuen Erde ging. Cel hingegen störte etwas. Eine Eigenheit des neuen Lebens mißfiel ihr, paßte nicht in die Wesenszüge Gottes und zur Haltung, die er gegenüber den Menschen hatte. Und Cel behielt recht. Absolut deutlich wurde es ihr, als Saul Gideon den Originaltext aus der Bibel vorlas: „Und Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, nochTrauer, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein." Aha! Das Zitat auf der Platte war also nur angeblich der Bibel entnommen. ,Iron Maiden' hatte die Schrift ins Negative verkehrt und „Geschrei" durch „Verstand" ersetzt. Angeblich würde Gott den Geretteten keinen Verstand gestatten, was hieße, daß die Menschen auf der neuen Erde ohne Gehirn herumliefen — willenlos, stumpfsinnig, wie leere Hülsen, wie Puppen. Sollte Gott so ein miserables Schicksal für diejenigen vorgesehen haben, die er unter Leid und Schmerz mit größtmöglichem Aufwand erlöst hatte? Abgerundet wurde die Gottesverachtung durch ein Foto auf der Innenseite der Platte, dessen Sinn sich für Cel erst mit diesem Hintergrundwissen voll erschloß. Die fünf Musiker saßen an einem gedeckten Tisch, in der Mitte als Hauptgericht fein garniert und auf einem Tablett aus blankem Edelmetall serviert — ein menschliches Gehirn! Ohne Schwermut, sondern eher ein bißchen bitter gestand Cel: „Ich fand die fünf aus England mal so toll. Aber was die für eine Sauerei mit der Bibel machen ..." Ihr versagte die Stimme. „Es kommt leider noch viel schlimmer", warnte der alte Mann sie vor, „Iron Maiden hat nämlich bewußt die Warnung in den Wind geschlagen, die am Ende der Offenbarung unmißverständlich geschrieben steht: ,Ich bezeugejedem, der die Worte der Weissagung dieses Buches hört: Wenn jemand zu diesen Dingen hinzufügt, so wird Gott ihm die Plagen hinzufügen, die in diesem Buche geschrieben sind. Und wenn jemand von den Worten des Buches dieser Weissagung wegnimmt, so wird Gott sein Teil wegnehmen von dem Baume des Lebens und aus der heiligen
Stadt, wovon in diesem Buche geschrieben ist.'" Und er fugte hinzu: „So schaufeln sich Iron Maiden ihr eigenes Grab." Saul schlug vor, sich als nächstes eine Passage der LP ,Animals' von Pink Floyd vorspielen zu lassen. Dazu begaben sie sich in die Nähe der Kasse, wo eine lange Reihe Plattenspieler standen, die von mehreren jungen Damen bedient wurden. Zwei waren noch nicht besetzt, so daß sie mit einem freundlichen Lächeln an einen von den beiden gebeten wurden. Der alte Mann äußerte seinen Wunsch, die Mitte des zweiten Songs der zweiten Seite anzuspielen, dem das liebenswürdige Fräulein mit einem ergebenen Nicken nachkam. Praktisch an der Anlage war, daß sie sowohl über Kopfhörer verfugte als auch über zwei getrennte Ohrhörer — für den sogenannten „Partnerlausch". Und genau diese Art wählten Celeste Rousseau und Saul Gideon. Die Diamantnadel des Tonarms setzte an der melodiösen Instrumentalstelle auf; es verblieb noch Zeit bis zum Eigentlichen. Der alte Mann nahm die Gelegenheit als willkommenen Anlaß, Cel mit Psalm 23 vertraut zu machen. Während harmonische Töne in ihrem linken Ohr erklangen, las sie die Verse: „Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er lagert mich aufgrünen Auen, er führt mich zu stillen Wassern. Er erquickt meine Seele. Er leitet mich in Pfaden der Gerechtigkeit um seines Namens willen. Auch wenn ich wandere im Tal des Todesschattens, fürchte ich kein Unheil, denn du bist bei mir." Der Psalm bestand zwar aus mehrVersen, aber die Nadel gelangte nun an die erwünschte Stelle. Ein abrupter Tempowechsel setzte ein. Den neuen Rhythmus bestimmte ein Bass, dann und wann verschönert durch Synthesizerklänge. Orgelstakkatos mit kleinen Intervallen mischten sich ins Musikbild, wurden leiser. Geblök von Schafen kam auf. Und noch ehe es abebbte, ertönte eine Stimme, wie man sie mit seelenlosen Robotern verbindet - metallisch, verzerrt und ein wenig hallend, monoton und gefühllos. Cel mußte ihr Ohr enorm spitzen, um zu verste-
hen, was sie sprach, denn sie war nicht laut und wurde zudem von kontinuierlich zunehmender Lautstärke der Musik überlagert: ,Der Herr ist mein Hirte, den ich nicht will. Er zwingt mich zu lügen. Durch Auen grün führt er mich zu stillen Wassern. Er erlöst meine Seele mit blitzendem Messer. Er hängt mich auf an Fleischerhaken in hohen Räumen. Er verarbeitet mich zu Lamm-Koteletts, denn er hat große Macht und großen Hunger.' Die Kaschierung durch die Musik wurde stärker, so daß vereinzelt Teile des Anti-Psalms verschluckt wurden.,... der Tag kommt, meistern wir ... durch große Hingabe die Karate-Kunst. Wir werden uns erheben ... und dann werden wir dem Sodomit das Wasser in die Augen treiben.' Dann war die pervertierte Rezitation der Bibel zu Ende, aber nicht das gotteslästerliche Spottreiben insgesamt. Im normalen Stil ging es weiter: .Blökend und plappernd fallen wir mit einem Schrei über seinen Hals her. Welle über Welle an wahnsinnigen Rächern. Jubelnd marschieren wir ...' Der alte Mann legte seinen Ohrhörer beiseite, Cel folgte dem Beispiel. Fassungslos angesichts der bösartigen Kopie des dreiundzwanzigsten Psalms resümierte sie: „Gotteshaß in höchster, nein, tiefster Perfektion!" Und fast verzagend fügte sie hinzu: „Haben die denn gar kein Gewissen!?" Unterdessen legte neben ihnen ein Jugendlicher seinen Kopfhörer beiseite und verzog sich in das Gewühl, obwohl die aufliegende Platte noch nicht zu Ende war. Die Musik lief weiter. Der alte Mann hörte mit einem Ohr hin. Das Lied war von ,Police' und hieß ,Every Little Thing She does is Magie'. Es stammte von der LP ,Ghost in the Machine', die sich gerade auf dem Plattenteller drehte. Er erkannte es sofort und wußte, wenn nicht gleich der Tonarm von dem schwarzen Rund gehoben wurde, würden er und Cel zwei markige Rückwärtsbotschaften einstecken müssen. Da er darauf absolut keinen Wert legte, wollte er soeben nach einer der Damen Ausschau halten, als eine von ihnen auch schon zur Stelle war und die Nadel aus der Rille hob, so daß Cels und Sauls Unterbewußtsein nicht die zer-
fressende Formel eingetrichtert bekam: ,Das Böse ist als letztes zu bekämpfen! Die Bösen haben Gewalt!' Mit freundlicher Erlaubnis der Verkäuferin, die die Platte gerade in die Schutzhülle gleiten ließ, langte der alte Mann über den Ladentisch nach dem Cover. Cel hatte es schon ungezählte Male gesehen und kannte es daher gut. Was gab es Besonderes an drei wirr gestalteten Digitalfiguren auf pechschwarzem Untergrund, die alles mögliche darstellen konnten - Zahlen, Buchstaben oder geometrische Formen? Vielleicht zur Unkenntlichkeit verformte Zahlen. Vielleicht halbvollendete Achten. Oder vielleicht große Bs. Vielleicht, vielleicht, vielleicht! Cel stellte zu ihrer Verwunderung fest, daß der alte Mann seine Aufmerksamkeit gar nicht dem Cover schenkte, sondern dem Menschengetümmel. Es schien ihr, als halte er nach jemandem Ausschau. Sie wollte ihn gerade antippen und fragen, wonach er denn suche, da löste er sich unversehens von ihr und sprach einen jungen Mann an. Verstehen, was die beiden redeten, konnte sie nicht. Sie sah lediglich das Nicken des Angesprochenen, der daraufhin seine Spiegelglassonnenbrille absetzte, sie dem alten Mann gab und ihm folgte. Der alte Mann lieferte keinerlei Kommentar, sondern nahm das Police-Album aus Cels Händen und hielt das Spiegelglas in angemessenem Abstand davor, so daß sich in jedem Brillenauge die Digitalanzeige vollständig widerspiegelte. Das Resultat dieser Aktion ließ die anfänglich wirren, wahllosen Figuren in einem ganz anderen Licht erscheinen. Der junge Mann brachte zum Ausdruck, was alle drei sehen konnten. „Ist ja irre! Hab mich immer schon gefragt, was die Dinger bedeuten sollen. Die Scheibe hab ich nämlich. Aber daraufbin ich nie gekommen. Drei spiegelverkehrte Sechsen!" Er lachte. „Irre! Auf was für Ideen die kommen. Echt guter Gag. Kann ich meine Brille zurückhaben?" Der alte Mann gab sie ihm schweigend wieder. Spiegelverkehrt, getarnt, sublimiert hatte die Gruppe .Police' die Zahl des Antichristen, 666, im Großformat auf das Cover ihrer LP pressen lassen!
Sie setzten ihren Erkundungsgang beim Buchstaben ,S' fort. DasAlbum, das der alte Mann herauspickte, litt keinerlei Mangel an Hulderweisen an Satan. Auf den brennenden Plattentitel ,Show no Mercy' baumelten Teufelsschwänze herab. Ein menschenähnliches Wesen mit dem Kopf eines Ziegenbocks trug einen Teufelsstern auf der Stirn. In einem weiteren, angedeuteten Stern war der Name der Rockformation zu lesen: ,Slayer' — Schlachter! Auf der Rückseite fand die düstere Reklame ihre Fortsetzung. Die Zahl des Widerchristen, 666, tauchte auf sowie zwei auf dem Kopf stehende Kreuze. Ein Bandmitglied trug es um den Hals, ein anderer hielt es demonstrativ verkehrt in der Hand. Ein Blick auf die Songtitel zeigte Cel, daß die Lieder der Gruppe entsprechend ausgerichtet waren: ,Evil Has No Boundaries', ,The Antichrist'! Mit der Deutung der umgekehrten Kreuze hatte Cel noch so ihre Schwierigkeiten. „Was hat es eigentlich mit den Kreuzen auf sich?" fragte sie rundheraus. Der alte Mann steckte das Album zurück und erklärte den Zusammenhang bereitwillig. „Kaiser Nero aus dem alten Rom ist dir ein Begriff?" Sie zuckte unsicher mit den Schultern. „Ich weiß nur so viel, daß er damals die Christen verfolgte und Rom in Brand steckte." „Richtig, er ist einer der größten Christenhasser aller Zeiten. Und zum Zeichen seiner Verachtung gegenüber diesem Glauben und dem Kreuz Christi ließ er die bekennenden Gläubigen mit dem Kopf nach unten kreuzigen." Er hatte eben ausgesprochen, da wurde er sehr unsanft von der Box fortgestoßen: „Platz da, Opa!" Zwei junge Burschen benötigten offensichtlich immense Bewegungsfreiheit. Sie machten sich an den Schallplatten zu schaffen und zogen genau die heraus, die Cel und der alte Mann vor wenigen Augenblicken untersucht hatten. Die beiden rissen noch die rotzige Bemerkung, er solle seine Vorträge gefälligst im Altersheim abhalten, als sie auch schon wieder verschwunden waren. Cel faßte ihn besorgt am Arm. „Alles in Ordnung?"
Von einem kleinen Schrecken abgesehen, war er sofort wieder auf dem Damm. „Ein ungemütliches Örtchen, was? Anscheinend sind wir hier fehl am Platze." „Ich denke, wir verduften lieber. Für heute haben wir genug." Der Ausgang war fast erreicht. Erleichtert schaute Cel den alten Mann an, der nun geduldig geradeaus in den Rücken seines jugendlichen Vordermannes starrte. Ihr Blick folgte dem seinen und prallte auf eine Jeans-Weste, auf die ein Stoffposter genäht war. Es trug den Spruch: „See you in hell!" - Auf Wiedersehen in der Hölle! Sein Kumpel links neben ihm stolzierte mit einem ähnlichen Slogan herum. Das Poster zeigte ein Skelett mit einem heißen Easy-Rider-Motorrad und war unterschrieben mit: „Ride Like Hell!" - Fahr' wie der Teufel! Als sie dann endlich im Freien waren und wieder durchatmen konnten, fragte der alte Mann Cel: „Sind dir dieTotenköpfe aufgefallen, die so manche Gruppen benutzen?" Sie senkte leicht ihren Kopf zu einem angedeuteten Nikken und brachte ihre Vorahnung zum Ausdruck. „Wieder ein Symbol?" „DerTotenkopf wie das Skelett sind gemeinhin Zeichen für die irdische und ewige Vergänglichkeit des Menschen. Eigentlich ist der Tod etwas Natürliches, oder zumindest wird er als solches von vielen betrachtet. Aber genaugenommen ist er eine Art Lohn. Ein Lohn, den Adam durch das Aufbegehren gegen Gott und den Gehorsam gegenüber Satan bezog. DerTotenkopf stellt also den sündhaften Menschen dar. Was Adam geworden ist, sind wir alle geworden. Das mag eigentümlich klingen, ist im Grunde aber leicht begreiflich. Adam war so etwas wie eine Form, aus der alle anderen Menschen entstehen sollten, das heißt, alle Nachkommen sollten sein wie er. Nehmen wir einen Konditor. Er backt Plätzchen aus einer bestimmten Form, und alle werden genauso wie eben diese Form. Hat die Form nun eine Beule, so werden auch alle Plätzchen eine Beule haben. Und genau das ist durch Adam geschehen. Er hat Sünde, wir haben Sünde! Wer
einen amerikanischen Vater hat, ist Amerikaner. Ich hatte jüdische Vorfahren und bin deshalb Jude. Wie viele meinen, sie sind gleich bei ihrer Geburt ein Kind Gottes, nur weil sie in eine Gesellschaft hineingewachsen sind, die sich christlich nennt! Ist denn ein Kind, das in einem Pferdestall zur Welt kommt, ein Fohlen? Jeder muß sich darüber klar werden, daß er als Gegner Gottes geboren wird. Um das zu ändern, haben wir nur eine Möglichkeit - mit fliegenden Fahnen zu desertieren und uns öffentlich zu Gott zu bekennen. Sünde ist wie eine Erbanlage, eine Triebfeder, die Menschen zum Sündigen drängt. Jeder trägt unweigerlich den Stempel Adams - wie die Plätzchen die Beule. Und was macht der Konditor? Er wirft die alte Form fort und nimmt eine neue, makellose Form, mit der die Plätzchen bestens gelingen. Was tat Gott? Er schuf eine neue Kreatur. Und wo wurde diese zweite ,Form' für die Menschen ergreifbar? Am Kreuz von Golgatha! Dort, mit Jesu Tod, wurde sowohl die Vergebung von den einzelnen, zählbaren Sünden wie Lüge, Unzucht, Ehebruch, Zorn geschenkt, als auch die alte, mit der Triebfeder Erbsünde behaftete Kreatur getötet und durch die Auferstehung mit einer neuen Kreatur quasi von vorne angefangen. Diese neue Schöpfung aber tritt nicht wie die alte automatisch in Kraft, sondern wird erst wirksam durch den Glauben an den Gekreuzigten und Lebendigen." Zwei junge Mädchen standen nicht weit von ihnen und lutschten an ihrem Eis. Cel bemerkte, daß die beiden sie mit spöttischen Blicken beobachteten und sich zwischendurch gegenseitig ins Ohr tuschelten, um dann in albernes Gekicher zu fallen. Die beiden schienen zu verstehen, worüber sie mit dem alten Mann sprach, und machten sich offenbar lustig darüber. Cel schnappte eine Phrase auf, die den Inhalt ihres Gesprächs durch den Kakao zog, woraufhin beide Mädchen wiehernd lachten. Doch das Lustspiel starb jählings ab, denn einer der beiden war in ihrem Übermut das Eis entglitten und auf den Asphalt geplatscht. Dem nun einsetzenden Schwall von Flüchen wandte Cel
kurzerhand den Rücken zu, aber nicht ohne im Augenwinkel erhascht zu haben, daß am Ohr des zornigen Girls etwas Auffallendes baumelte. Ein Kreuz nämlich! „Im Klartext heißt das", nahm der alte Mann das Gespräch wieder auf, „daß derjenige ..." „Moment, moment!" winkte Cel eilig ab. „Jetzt hab ich das erst begriffen. Es gibt zwei Arten von Sünde! Die eine Sünde als Quelle, die von Geburt an in jedem ist, und die Sünden, die daraus als Bäche ans Licht treten, die man zählen kann, wie die Sünde des Stehlens, die Sünde des Mordens und so weiter. Ist das richtig?" „Haargenau!" pflichtete er ihr bei. Cel stieß überrascht einen Pfiff aus. „Und das alles, weil Adam sich mit Gott überworfen und alles vergeigt hat." „Vorsicht! Wir dürfen Adam nicht als alleinigen Bösewicht hinstellen. Für Ehebruch, Lüge, Mord, Unglauben sind wir selbst verantwortlich und schuldig. Unsere Sünden können wir nicht auf Adam abwälzen und unsere Hände in Unschuld waschen, indem wir sagen: ,Der Adam, der war's.' Nein, stehlen tun wir. Doch es gibt einen, auf den wir unsere Verfehlungen werfen können, weil er für unseren Haß, für unsere Lästerungen, für unsere Fehltritte zu Gott gesagt hat: Vater, Strafe mich! Und ein Opfer muß her. Eine Strafe muß vollzogen werden, darauf wird unser Verkläger, der Satan, eines Tages vor Gott bestehen. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn ich nicht will, daß Jesus für mich durch die Hölle gegangen ist, dann werde ich eines Tages selbst in sie hinein müssen. Aber im Gegensatz zu Jesus wird es für mich kein Zurück geben." Sie begannen, auf der Parkfläche auf und ab zu bummeln. Eine Horde Motorradfahrer, die - nach den Schriftzügen auf ihren Jacken zu urteilen - den „Höllenengeln" angehörten, preschte in ohrenbetäubendem Lärm an ihnen vorbei. Der alte Mann wartete, bis das fürchterliche Röhren der Maschinen auf ein erträgliches Niveau abgeklungen war; dann erst redete er weiter. „Gewiß ist es sehr schwierig, die Bedeutung von ewigem Tod zu ermessen. Aber die meisten bedenken ja nicht
einmal, daß sie nur ein einziges Leben haben. Hast du mal darüber nachgedacht, was es heißt, daß wir nur dieses eine Leben haben? Wenn dein Schulheft unansehnlich verschmiert ist, kannst du hingehen, dir ein neues kaufen und noch einmal von vorne beginnen. Aber mit einem Leben kann man das nicht tun. Das gibt es bloß ein einziges Mal. Wie furchtbar muß es sein, wenn wir das unansehnlich verschmiert haben, wenn wir das falsch gelebt haben! Ist das verpatzt oder verspielt, dann ist es in alle Ewigkeit hin. Oder wie schrecklich ist es, wenn man von einem Leben sagen muß: es blieb alles beim alten — bis ans Ende! Da ist der Sohn Gottes gekommen und verkündet: ,Siehe, ich mache alles neu. Ich lösche die Vergangenheit. Ich hole euch ins Reich Gottes.' Und wir winken belästigt ab: ,Ach, nein'!" Der alte Mann deutete mit seinem Stock auf das TowerGebäude und fuhr fort: „Wer Verkäuferin lernt, wie einige da drinnen, sich aber für das Verkaufen nicht interessiert, der hat seinen Beruf verfehlt. Klare Sache, nicht?" Cel nickte. „Unser Beruf ist es, Kinder Gottes zu werden. Wenn ein Mensch sich dafür nicht interessiert, dann hat er seinen Beruf verfehlt. Er kann natürlich alles mögliche ersatzweise machen. Trotzdem gilt: jeder fängt erst dann an, wirklich Mensch zu sein, wenn er Kind des lebendigen Gottes geworden ist." Sie machten am Ende des Parks kehrt und gingen zurück. „Es ist schmerzvoll, wie viele sich in dieser Welt verstricken und auf sie bauen. Wie sie verkennen, daß das, was man sieht, zeitlich und vergänglich ist, und das, was man nicht sieht, ewig. Sie streben und raffen, aber begreifen nicht - und dabei rühmen wir uns doch sonst so sehr unserer Intelligenz -, daß sie nichts in die Welt hineingebracht haben und auch nichts herausbringen werden. Sie sind wie Termiten auf einem Faß. Nagen und fressen sich voll am leckeren Holz. Einer von ihnen hat von einer drohenden Gefahr Wind bekommen, rennt umher und brüllt: ,Los, alle weg hier! Runter vom Faß! Da ist Dynamit drin!' Doch
andere verbreiten, daß das nicht stimme und daß in den hübschen Fässern leckerer Whisky sei. Die meisten futtern seelenruhig weiter und sagen: ,Ich höre nichts. Ich sehe nichts.' Und dann, eines Tages, fliegen sie mitsamt ihrer Spezerei in die Luft! Idiotisch, nicht? Solch ein Verhalten gebührt einem Esel, aber keinem Wesen mit Verstand. Jeder Mensch würde doch für einen Psychopathen, für schwachsinnig gehalten werden, wenn er an einem Spiel teilnimmt, bei dem er für l Dollar maximal 2 Dollar gewinnen kann, während er am Tisch nebenan bei gleichem Einsatz 20 Millionen Dollar einstreichen wird. Aber genauso vernagelt und töricht jagen wir dem Zwei-Dollar-Gewinn nach. Wo in einem Laden die Schallplatten nur einen Dollar preiswerter zu haben sind, darin scharen sich gleich die Massen, da will jeder sein Scheibchen abhaben. Der Laden hingegen, in dem es die Ewigkeit kostenlos gibt, der bleibt ratzekahl leer; auf das Angebot wird gepfiffen, als hätte man ja schon zwei Ewigkeiten zu Hause und wüßte gar nicht mehr, wohin damit." Er machte ein trauriges Gesicht. „Die Spezies Mensch ist so schlau, daß sie mit neunzig morschen und unsicheren Holzlatten ein Haus bauen will und dabei das unerschöpfliche Reservoir einer Ziegelfabrik verwirft. Das ist so ungemein dumm wie das Weltall groß ist." Cel wollte etwas erwidern, brach aber sofort ab, weil ein weinroter Camaro auf die Parkfläche rollte. „Oh, mein Daddy! Komm! Ich stell dich ihm vor!" forderte sie den alten Mann auf, wartete aber nicht auf ihn, sondern rannte schon vor, um ihren Vater rechtzeitig auf sich aufmerksam zu machen, damit er keine unnötige Suchaktion zu starten brauchte. Die Räder standen eben still, als sie sich auch schon durchs Seitenfenster lehnte und ihren Vater mit einem dikken Kuß auf die Wange überraschte. „Oh! Danke, Mäuschen!" sagte er und war ein bißchen verwundert, niemanden in der Begleitung seiner Tochter zu sehen. „Hat dich dein Kavalier versetzt, oder hat er sich schon aus dem Staub gemacht?"
„Wo denkst du hin!" tat sie pikiert. „Er ist ein Gentleman par excellence. Dort kommt er." Sie zeigte durch die Windschutzscheibe in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ein Mann kam; zwei Frauen; ein Junge auf einem BMX-Rad. Aber kein Saul Gideon! Sie tauchte aus dem Innern des Wagens wieder heraus. Sicher, sie war unhöflicherweise vorausgeflitzt, und das ärgerte sie im nachhinein auch; aber soweit war es doch gar nicht gewesen. Er hätte doch längst zu sehen sein müssen. Oder war ihm etwas zugestoßen? „He! Wo willst du hin?" rief ihr Vater, aber Cel war schon fort und an die Stelle zurückgelaufen, von wo aus sie ihren Alleingang unternommen hatte. Nichts! Sie spähte in alle Himmelsrichtungen, drehte sich mehrmals wie ein Kreisel um die eigene Achse. Nichts! Nirgends eine Spur. Er war wie vom Erdboden verschluckt. Ziemlich niedergeschlagen schlich sie zum Auto zurück und setzte sich ohne ein Wort auf den Beifahrersitz. Ihre Gedanken kreisten um Sauls plötzliches Verschwinden. Es kam ihr doch sehr mysteriös vor. Wo um alles in der Welt war er nur abgeblieben? Ihr Vater, der glaubte, die Ursache ihrer Verstimmung zu wissen, versuchte sie zu trösten. „Kopf hoch, Mäuschen! Kein Grund zur Resignation. Solche Situationen sind sehr nützlich, weil sie noch rechtzeitig den Charakter des Partners an den Tag bringen, ehe größere Wunden entstehen können." Er drehte den Zündschlüssel herum und startete den Motor. „Es gibt noch mehr Jungs. Und ganz gewiß welche, die mehr Charakter haben." Damit verließ der Camaro dasTower-Gelände. Cel fand es unheimlich rührend, wie ihr Daddy ums Trostspenden bemüht war, und es tat ihr leid, daß er sich auf dem Holzweg befand. Auf der anderen Seite war sie aber auch nicht bereit, ihn von seinen irrtümlichen Vermutungen zu befreien; das hätte einen langwierigen Dialog nach sich gezogen, und außerdem fühlte sie sich innerlich irgendwie müde und ausgelaugt. So verzichtete sie darauf und auf jedwede sonstige Konversation, so daß aus der Autofahrt mehr oder weniger eine Reise des Schweigens wurde.
„Du, Daddy?" ergriff Cel sehr zur Freude ihres Vaters schließlich doch die Initiative zum Gespräch. „Ja, mein Mäuschen. Was gibt's? Endlich übern Berg?" „Stell dir mal vor, wir würden jetzt" — sie sah auf das Chronometer im Armaturenbrett - „um 17 Uhr 37 verunglücken. Könnte doch sein, nicht?" „Rein theoretisch schon", schwächte ihr Vater den Gedanken dadurch ab, daß er ihn ins Reich der Utopie verwies. „Und?" „Wenn wir tödlich verunglücken, was meinst du, wo du um 18 Uhr 37 bist?" Die Karosserie wackelte für Augenblicke unruhig hin und her, der Wagen wurde langsamer. „Was ist denn das für ein Quatsch!" empörte sich ihr Vater. „An sowas denkt man nicht einmal, Mäuschen. Man stirbt noch früh genug. Dein ganzes Leben hast du noch vor dir. Genieß das erst einmal." Seine Stimme wurde kontrollierter und der Wagen wieder schneller. „Außerdem bin ich auch erst 38. Kein Alter also, wenn man bedenkt, daß die Lebenserwartung im Durchschnitt über 70 Jahre beträgt. Warum sollte ich da jetzt schon ans Sterben denken und mich verrückt machen? Glaub mir" - sein Tonfall drückte Lebenserfahrung und Weisheit aus — „das Fracksausen vor dem Tod kommt noch früh genug." Er sah zu seinerTochter herüber, die unverwandt nach vorn aus der Frontscheibe blickte. Zufrieden quittierte er ihr Schweigen als einen Beleg ihrer Zustimmung. Einige Sekunden noch beobachtete er ihr weiches, ausdrucksloses Gesicht, das sich plötzlich in eine Schreckensgrimasse verwandelte. Er folgte ihrem Blick und zuckte zusammen wie vom Blitz getroffen. Bremslichter! Halt! In Panik trat er aufs Bremspedal. Die Reifen quietschten, als müßten sie jeden Moment platzen. Die zwei roten Augen rasten auf sie zu. Faßten die Bremsklötze denn gar nicht? „Bleib stehen, du Mistding!" fluchte er. Aber der Wagen gehorchte ihm nicht, er schien über die Fahrbahn zu fliegen. Noch wenige Yards ... die beiden Augen weiteten sich. Er glaubte schon, das Krachen gequetschten Blechs zu
hören, als das Auto abrupt stehenblieb und sein Körper nach vorn gerissen, dann in den Sitz gepreßt wurde. Das Quietschen der Reifen hatte aufgehört - Stille. Mit angehaltenem Atem blinzelte er durch die Scheibe und blies dann vor Erleichterung das letzte Bißchen Luft aus der Lunge. Haarscharf! Die Anspannung der Muskeln löste sich. Nicht mehr als die Breite eines Haares trennte die Schnauze seines Camaros von dem Kofferraum eines Mercedes. „Schwein gehabt!" keuchte er benommen und warf einen Blick auf seine Tochter, um sich zu vergewissern, wie sie den Schock verkraftet hatte. „Alles in Ordnung, Mäuschen?" Sie versuchte, sich zu entspannen und nickte. „Puhhh! Das war knapp! Aber von Glück würde ich nicht sprechen." Daß ihr offensichtlich weder physisch noch psychisch etwas Ernsthaftes passiert war, freute ihren Vater, aber zugleich ärgerte er sich über ihre Bemerkung. Nachdem er sich halbwegs von dem Schrecken erholt hatte, schlug seine Erleichterung um in Aggression über dieses Mißgeschick und über Cels Belehrungsversuch, daß Göttin Fortuna auf keinen Fall bei dieser wundervollen Rettung ihre Hand im Spiel hatte. Außerdem mußte dringend ein Sündenbock her. Er war rasch gefunden. „Hast mich ganz nervös gemacht mit deinem blühenden Unsinn von wegen Sterben. Ich hoffe, es ist dir eine Lehre, daß man den Teufel nicht an die Wand malen soll!"
15 Cel brach ihr Frühstück ab, weil es schon sehr spät war, und rannte zur U-Bahn. Am Haus der Sheehans hielt sie einen Moment inne und sah zur Uhr. Sie hatte durch ihr Laufen Zeit eingeholt, so daß sie jetzt nur unwesentlich später dran war als sonst. Sollte sie zur Haustür gehen oder nicht? Gina würde bestimmt noch daheim sein. Wenn sie nun weiterging, würde der Graben der Zwietracht zwischen ihnen nur noch tiefer ausgehoben. Außerdem war der Zwist ohnehin banal und albern. Das Kriegsbeil mußte begraben werden. Sie war sicher, daß Gina nach ein paar Stunden Schlaf darüber gewiß genauso denken würde. Couragiert nahm sie die Aussöhnung in Angriff. Auf ihr Läuten hin kam Mrs. Sheehan zur Tür. „Cel, du?" Sie schien fast aus allen Wolken zu fallen. Cel schöpfte bereits einen leisen Verdacht. „Morgen, Mrs. Sheehan. Warum denn nicht? Ich komme doch jeden Morgen, um Gina abzuholen." „Ja, schon. Es ist nur, weil Gina mir sagte, du würdest heute anderweitig zur Schule gebracht." „Bin ich doch noch nie", hielt Cel dagegen. „Ein bißchen hat mich das auch stutzig gemacht. Aber ich dachte mir, warum sollte Gina mich anlügen." „Sicherlich hat sie sich da verhört oder etwas verwechselt", beeilte sich Cel einzuwerfen. Da Mrs. Sheehan keine Anstalten machte, Gina zu rufen, dränge Cel behutsam mit dem Hinweis auf die fortgeschrittene Zeit. „Ist Gina soweit? Ich fürchte, die Bahn wartet nicht auf uns." Die Antwort traf Cel trotz leiser Vorahnung wie ein Paukenschlag. „Oh, das tut mir leid, Celeste, aber Gina hat ja heute nicht mit dir gerechnet und ist deswegen allein zur U-Bahn gegangen." ,Und wie mir das erst leid tut', dachte Cel im stillen, verabschiedete sich und machte sich enttäuscht auf zur Station. Es tat ihr weh, daß der Streit so verbissene Formen angenommen hatte, aber allein war sie machtlos. Wie
konnte man einen Graben zuschütten, wenn in ihm jemand stand, der immer tiefer buddelte? Gina stand schon wartend auf der Plattform. Den Blickkontakt, der sich für Sekundenbruchteile ergab, nutzte Cel zu einem Winken, das jedoch unerwidert blieb. Gina gebärdete sich abweisend und starrte stur auf die Gleise. Dieses neuerliche Scheitern eines Annäherungsversuchs raubte Cel den letzten Mut, und sie gab es auf. Als der Zug einlief, suchte sie sich ohne Rücksicht auf Gina einen eigenen Platz. *
Am Nachmittag lief in einem Haus in unmittelbarer Nachbarschaft der Rousseaus ein Mädchen wie bestellt und nicht abgeholt von einem Zimmer zum anderen und fiel seiner Mutter gehörig auf den Wecker. „Dein Gerenne macht mich ganz nervös! Hast du nichts zu tun? Schulsachen zum Beispiel? Oder verabrede dich doch mit Cel!" Bezüglich des unangenehmenThemas Celeste Rousseau zog Gina sich mit einer Lüge aus der Affäre und verdrückte sich in ihr Zimmer, um weiterem neugierigen Gebohre aus dem Weg zu gehen. Aus lauter Langeweile stellte sie schließlich ihren Plattenspieler an und nahm eine ältere Musikzeitschrift zur Hand, die sie aufgrund der relativ öden Berichte nicht bis zu Ende gelesen hatte. Aber nun war zum Totschlagen der Zeit jedes Mittel recht. Auf dem Plattenteller drehten sich eifrig ,Blue Oyster Cult' mit dem Titel ,Mirrors'. Gina wußte nicht, daß diese Gruppe eine Vorliebe für ein äußerst merkwürdiges Emblem hatte. Es handelte sich dabei um ein auf dem Kopf stehendes, ' spiegelverkehrtes Fragezeichen, dessen Punkt im Zentrum ; von drei gleichförmigen Balken lag. Zwei befanden sich links und rechts von dem Punkt in horizontaler Ebene. Der dritte stand senkrecht über dem Punkt und bildete mit ihm sozusagen ein Ausrufezeichen. Gina hatte keine Ahnung, daß dieses Symbol vor langer Zeit von römischen
Soldaten eingeführt worden war, die mit ihm Verwirrung unter den Christen stiften wollten, ob Jesus denn nun wirklich gekreuzigt worden war oder nicht. Das Kreuz von Golgatha und der Kreuzestod Jesu sollten durch dieses satanische Symbol in versteckter und verfeinerter Form in Frage gestellt werden. Gina zwang sich, einen Artikel zu lesen, der überschrieben war: „Sexy Gottesmutter des Rock". Er handelte von dem phänomenalen Comeback der Tina Turner und begann so: „,Ich bin ein neues Paar Augen, ein ursprünglicher Geist', singt Tina Turner mit gewohnter Whiskey-Stimme. Das Lied ,Ich könnte eine Königin gewesen sein', das Turners herrlich poliertes Album .Private Dancer' eröffnet, war ausdrücklich für sie geschrieben worden - mit einem Wink auf ihren Glauben an die Reinkarnation eines Verstorbenen. Überhaupt ist die Sängerin in ihrer Religiosität sehr eigenwillig. So sitzt sie beispielsweise vor jedem ShowAuftritt auf einem Stuhl hinter dem Bühnenvorhang, reibt die hölzernen Gebetsperlen und spricht buddhistische Erleuchtungsformeln, bis sie in eine Art Trance-Zustand kommt und bereit ist, auf der Bühne alles zu geben. Und sie gibt wirklich ..." ,Auch das noch!' zischte Gina in Gedanken und blätterte verärgert weiter. Konnte sie denn nicht einmal hier von diesem Religionskram verschont bleiben? Während sie noch zürnte, bekam ihr Unterbewußtsein eine Botschaft verpaßt. Blue Oyster Cult hatten sich nämlich auf ihrer LP eines neuen Tricks bedient. Verlangsamt, mit etwa einem Achtel der Normalgeschwindigkeit, hatten sie ihrem Song ,You are Not the One' vorwärts die Botschaft untergemischt: ,Unser Vater, der im Himmel ist Satan!' Gina begann auf der nächsten Seite einfach einen neuen Artikel, der über die Zukunftspläne der Sängerin .Madonna' informierte. Dabei fiel ihr Blick auf das Foto in der Mitte, und sie war bedient. Es veranlaßte sie, sich das eigentliche Geschreibsel des Artikels zu schenken. Madonna posierte - aufreizend wie immer - in einem schwarzen
Rock, auf dem in stechend gelben Buchstaben das Wort .Teufel' in verschiedenen Sprachen abgedruckt war. „Hört das denn gar nicht auf!" schimpfte sie jetzt laut, überschlug wütend gleich mehrere Seiten, und das so heftig, daß zwei von ihnen zerrissen. Bei dem Bericht, mit dem sie als nächstes konfrontiert wurde, verweilte sie auch nicht wesentlich länger. „Pia Zadora (29), das süße Stimmchen aus dem Welthit ,When the Rain Begins to Fall', kann ein echtes Teufelchen sein - in ihrem schwarzen Pailletten-Kostüm. Für 100000 Dollar hat die kleine Sängerin bei der Münchner Bavaria-Film die Hölle nachbauen lassen, mit einem Thron für den Satan, Rauchschwaden und Feuerbällen. Eine Mordskulisse also. Und das alles für ein Video-Clip ihres Liedes ,Little Bit of Heaven'. Wer das zahlt? Natürlich Pias Mann, der Milliardär Meshulam Rikliss (60)." „Verdammt!" fluchte Gina und schleuderte das Heft mit Wucht gegen die Wand. Sie war es leid. ,Wenn ich auf diese Weise keinen gescheiten Zeitvertreib habe, dann eben anders', dachte sie mürrisch und kramte ihre Schlittschuhe aus dem Schrank. Wie elektrisiert machte sie sich auf zum Eisstadion - selbstverständlich mit Walkman -, wo sie auf Biegen und Brechen den Kampf gegen die nervtötende Langeweile gewinnen wollte. Schon nach ein paar Runden auf dem glatten Parkett zu zünftiger Musik wurde klar, daß sie den Kampf verlieren, daß sie - egal, in was sie sich auch stürzte - in nichts Ruhe finden würde. Entnervt gab sie auf und verließ das Eis. Sie tupfte sich mit ihrem Handtuch das Gesicht ab, als jemand sie unverhofft von der Seite ansprach. „Darf ich dich zu einer kühlen Erfrischung einladen? Frei nach Wahl? In der Bar?" Gina sah nach rechts, woher die Stimme kam, und war im ersten Moment völlig baff. „Was machen Sie denn hier?" „Ich habe dich gesucht", gab der alte Mann offen zu. „Und wie haben Sie mich gefunden? Niemand wußte, daß ich hier bin."
„Ich doch, wie du siehst. Aber lassen wir das. Jedem sein Geheimnis, okay?" antwortete er und wiederholte seine Einladung zu einer Erfrischung in der Bar. Ginas Abneigung gegen ihn hatte sich wieder freigeschaufelt. „Und dann wollen Sie mich rumkriegen, wie Sie es mit Cel gemacht haben, was? Mit diesem Quatsch vom Rückwärtsmaskieren und so. Ganz schön cleverer Trick. Aber nicht mit mir." Der alte Mann entschied sich für eine andere Strategie. „Wenn du dir so sicher bist, daß das Quatsch ist, wovor zierst du dich dann? Du hast doch dann nichts zu befürchten. Oder etwa doch?" „Ha, ha, ha!" quälte sie sich ein Lachen ab. „Absolut nicht. Ich nehme ihre Einladung an. Wollte sowieso nachher was trinken. Auf diese Weise spare ich Geld." Der alte Mann ließ sie sich in ihrem Triumph sonnen. „Sagen wir in zehn Minuten am Eingang der Bar?" Sie nickte mit einem überheblichen Grinsen, begab sich zu ihren Sachen, wechselte die Schuhe, machte sich frisch und wartete, bis eine Viertelstunde verstrichen war. Dann erst ging sie zur Bar. Der alte Mann erkannte an dem triumphierenden Leuchten ihrer Augen, daß sie ihn absichtlich hatte warten lassen, ließ sich aber nichts anmerken. Als sei sie pünktlich auf die Sekunde, führte er sie an einenTisch, rief die Kellnerin und bestellte eineTasseTee. Gina bestand darauf, wenn auch auf seine Kosten, ihre getroffene Wahl an Eiscreme selbst zu verkünden. Daß es sich dabei um die teuerste Portion handelte, war sicherlich kein Zufall. Von ihrem Platz aus konnten sie hinunter auf die Eisfläche sehen, was sie reichlich und schweigend ausnutzten, bis die Bestellung serviert wurde. Dann war es am alten Mann, die Stille zu durchbrechen. „Um noch mal auf die Rückwärtsmaskierung zurückzukommen. Wieso hältst du sie für Quatsch? Glaubst du nicht, daß sie existiert und Satan darin verherrlicht wird?" Sie leckte mit ihrer Zungenspitze am Löffel und erklärte
selbstsicher: „O doch! Ich glaube sogar beides. Es ist ja leicht nachprüfbar." Der alte Mann war verblüfft. Das nahm ihm fast den Wind aus den Segeln. „Hört sich beinah so an ... hast du es überprüft?" „Und wenn schon? Was ist dann? Es ist und bleibt ein Gag. Nichts weiter." Ihre Antwort bedeutete indirekt ein Eingeständnis. Sie hatte es also getan. „Du meinst, dein Unterbewußtsein und dein Verhalten bleiben davon unbeeinflußt?" Den Löffel im Mund, nickte sie. Er nippte an seinem Tee und sprach weiter: „Wie war's mit einem Spiel?" Ohne Zögern willigte sie ein. „Gerne. Wenn's irgendwie dienlich ist." Er wußte, daß sie mit „dienlich" meinte, ihn von seinem Irrweg zu überzeugen. Trotzdem begann er das Spiel. „Sprich bitte dreimal hintereinander Blut, Blut, Blut." Sie tat es ohne Verzug. „Blut, Blut, Blut!" „Was fließt, wenn du dir in den Finger geschnitten hast?" „Blut!" „Was fließt, wenn dein Bein ab ist?" „Blut!" „Wann gehst du über die Ampel?" „Bei Rot ... Stop! Nein!" Gina war plötzlich von der Rolle. Gereizt wetterte sie: „Das ist primitiver Unfug und beweist rein gar nichts." „Sind wir uns ja schon in einem Punkt einig", resümierte er. Sie schaute ihn an, als wollte sie sagen: „Ich hör' wohl nicht richtig." „Dieser Versuch war in der Tat von der primitiven Sorte. Interessant ist nur, daß er, obwohl er so schrecklich urtümlich und dürftig ist, dich dazu gebracht hat, bei Rot über die Straße zu gehen, obschon du genau weißt, daß das verboten ist. Würde ich dich jetzt fragen, du würdest mit hundertprozentiger Sicherheit ,Grün' antworten. Wenn aber
schon ein primitiver Trick von wenigen Sekunden so wirksam ist, daß er dich veranlaßt, etwas zu sagen, was du normalerweise nie sagen würdest, wieviel mehr beeinflußt und manipuliert dich dann erst einTrick, der technisch perfekt ausgetüftelt und versteckt ist und der nicht Sekunden, sondern jeden Tag Stunden auf dich einhämmert?" Sie warf ihren Löffel unbeherrscht auf den Tisch. „Das ist doch reine Spekulation!" keifte sie in unterdrückter Lautstärke, um keine Aufmerksamkeit in der Bar zu erregen. „Wie wollen Sie belegen, daß satanische Botschaften mich beeinflussen, he? Können Sie in mich hineingucken? Wollen Sie vielleicht Gehirnströme messen?" „Das ist überflüssig." Er überlegte, ob er ihr sagen sollte, daß ihr Verhalten genug verriet, aber das würde sie vielleicht als Beleidigung auffassen. Niemandem wäre mit einer noch vergifteteren Atmosphäre gedient. Deshalb hielt er sich zurück und sagte: „Ein paar gezielte Fragen, und die Sache ist offensichtlich." Ihr Jähzorn legte sich, weil sie unversehens Oberwasser witterte. „Ach ja? Und was sollen das für geheimnisvolle Wunderfragen sein, die mich angeblich aufdecken wie ein hingelegtes Blatt Karten?" Dem alten Mann gefiel diese Metapher, und er fing an zu fragen: „Warum hast du keinen Draht zur Bibel, so daß du nicht einmal einen Versuch unternimmst, in ihr zu lesen? Warum fällt es dir so unsagbar schwer, an Jesus zu glauben?" Gina grinste zynisch. „Darauf kann ich mit links antworten. Erstens, die Bibel ist ein altertümliches Buch, völlig unpassend für die heutige Zeit. Zweitens, wer sagt, daß ich an Jesus nicht glauben kann? Ich will nicht!" „Darf ich fragen, was genau an der Bibel unmodern und inaktuell ist?" „Na, alles!" „Hat dich von 1. Mose 1,1 bis Offenbarung 22,21 kein einziger Satz angesprochen? Auch nicht die prophetischen Worte des Waldsterbens und der akuten Wasserverschmutzung, die sich heute vor deinen Augen erfüllen?"
Sie wandte sich ein wenig unbehaglich auf ihrem Stuhl. „Alles hab' ich natürlich nicht gelesen." „Na schön", schlug er versöhnlich vor, „nehmen wir das, was du gelesen hast." „Was soll das?" fuhr sie ihn barsch an. „Sie wissen doch genau, daß heutzutage kein Jugendlicher mehr die Bibel liest!" „O Verzeihung!" entschuldigte sich der alte Mann gekünstelt. „Ich war nur von dem Normalfall ausgegangen, daß jemand, wenn er sagt, das Wetter sei mies, auch weiß, von welchem Wetter er überhaupt spricht. Wenn deine Freunde dir sagen, das Lied von dem und dem sei Mist, läßt du dann die Finger davon und läufst herum und sagst allen deinen Bekannten: ,Hört mal, das und das Lied ist Mist'? Oder Freunde sagen dir, das Wasser im Schwimmbecken sei eiskalt. Rennst du nun frierend weg? In beiden Fällen kontrollierst du doch wohl, ob dem wirklich so ist, wie gesagt wird. Und das ist auch gut so, das hat nichts mit Mißtrauen zu tun. Deine Meinung von der Bibel ist ein Vorurteil, das du irgendwo aufgeschnappt hast. Jeder, dem du berichtest, der Film gestern sei genial gewesen, wird dich auslachen und mit dem Kopf schütteln, wenn du zugeben mußt, daß du den Film gar nicht gesehen hast. Kommst du dann mit der Begründung, andere hätten's dir gesagt? Der hält dich doch für naiv, geistig unterentwickelt, ganz einfach für beschränkt. Mit solch einem Verhalten blamiert man sich bis auf die Knochen. Niemand gibt sich freiwillig diese Blöße, außer im Umgang mit der Bibel - da leisten wir uns diesen Luxus; da macht es uns nichts aus, naiv, ohne eigene Meinung, abhängig, beschränkt zu sein; da ist geistige Unterentwicklung plötzlich modern, wenn sie nur davor schützt, in der Bibel zu lesen." Er machte eine Pause und nahm einen Schluck Tee. Er spürte, wie Ginas musternder Blick auf ihm ruhte. „Aber damit sind wir nicht bei der Wurzel des Problems. Was hält dich zurück, in der Bibel zu lesen?" „Die Musik, was?" erwiderte sie ironisch.
„Warum nicht? Ich kann es nicht beweisen, aber du mir auch nicht das Gegenteil. Fest steht, daß auch diejunge Generation vor Gottlosigkeit nur so strotzt, daß das Berieseln mit Musik die Passivität fordert und dir objektiv die Zeit zum Lesen stiehlt. Wieso sperren so viele Jugendliche sich gegen Jesus? Wieso suchen sie ihn nicht? Du betonst, du wolltest nicht an Jesus glauben. Darf ich den Grund wissen? Hat er dir was getan?" Sie verdrehte ob dieser für sie albernen Frage die Augen. „Natürlich nicht. Aber warum sollte ich glauben wollen? Was bringt das?" Er beobachtete, wie sie wieder selbstbewußt an ihrem Eis schlemmerte. „Hättest du einem Menschen vor 4000 Jahren ein Feuerzeug in die Hand gedrückt, hätte er gewiß ebenso reagiert wie du jetzt: Was soll das? Was bringt das? Er hätte es weggeworfen und weiterhin mühsam versucht, Feuer anzuzünden. Erst wenn er das Feuerzeug ausprobiert hätte, wäre er anderer Meinung gewesen und hätte es als kostbaren Schatz an seine Brust gedrückt. Was ich damit sagen will, ist, daß du etwas verurteilst, was du nie ausprobiert hast. Du verwirfst Jesus als Versager, obwohl du ihm nie eine Chance gegeben hast. Was kannst du bei einem Versuch denn verlieren? Ich verspreche dir, du wirst nichts einbüßen! Und ich erhöhe sogar den Einsatz ums Doppelte: du wirst alles gewinnen!" Gina reagierte härter, als er in dieser Phase erwartet hatte. „Hören Sie doch auf mit Ihrem schmalzigen Gerede", bemerkte sie abfällig und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das ist kein Gerede. Du wirst kaum jemanden finden, der es bereut, daß er Jesus in sein Leben aufgenommen hat." „Stimmt, das ist kein Gerede, das ist dummes Gewäsch", versetzte sie kalt und schaute abschätzig an seinem recht schäbigen Jackett auf und ab. Er ließ sich nicht provozieren. „Wieviele Bekannte hast du?" Sie blickte ihn erst erstaunt, dann argwöhnisch an. „Sind Sie etwa auf eine genaue Zahl aus?"
„Nur eine ungefähre Zahl." „Dreißig, vierzig, fünfzig, was weiß ich. Ich führe nicht Buch darüber." „Wie viele von denen kannst du als nahe Freunde bezeichnen?" „Zehn oder fünfzehn vielleicht." „Wie viele sind Busenfreunde?" „Zwei, drei. Aber was soll das Verhör?" „Augenblick, du wirst es sofort begreifen. Wie viele würden für dich im wahrsten Sinne des Wortes Kastanien aus dem Feuer holen? Wie viele würden dich nicht im Stich lassen, sondern zu dir halten, wenn du sie zutiefst gekränkt, verachtet, ins Gesicht geschlagen, mit Füßen getreten hättest?" Gina brauchte nicht lange zu überlegen. „Keiner!" „Und trotzdem gibt es jemand, der sich das alles von uns hat bieten lassen, und der uns dennoch nicht im Stich gelassen hat. Der dir den Stachel gezogen hat, obwohl du ihn dir durch eigenes Verschulden eingefangen hast. Nicht mit einer sterilen Pinzette hat er dir den Stachel gezogen. Mit zerstochenem Kopf, gebrochener Nase, zerrissenem Rücken, zerschlagenen Händen und Füßen - mit seinem eigenen Tod! Stört dich das nicht, daß da einer gesagt hat:,Schlagt mich für Gina ans Kreuz!'? Läßt dich das echt kalt, daß es jemand gibt, der dich so brennend liebt, daß er sein eigenes königliches Leben für dich freiwillig, ohne Vorbehalte, ohne Bedingungen opferte? So abgebrüht kann doch keiner sein, daß nicht ein Funken Gegenliebe fliegt, wenn da ein Mensch mit offenen Armen steht, der aus Liebe alles gegeben hat und nun auf Gegenliebe hofft." Er sah sie durchdringend an und merkte ihre Betroffenheit. Sie war starr wie eine Mumie und schwieg, aber dann legte sich unversehens etwas wie ein Schatten über sie. Ihre auftauende Miene gefror wieder. „Jetzt wird auf der Sentimentalitätswelle geritten, um mich einzuwickeln, was?" Sie lachte. „Aber nicht mit mir. Pech gehabt! Bei mir ziehen die krummen Touren nicht. Sie müssen sich schon Originelleres einfallen lassen, wenn Sie mich überreden wollen."
Der alte Mann wurde resoluter. „Weißt du, wer ohne Gott leben will, darf das! Gott bietet sich uns nur an. Wir können ihn ablehnen. Willst du ohne ihn leben? Darfst du! Willst du ohne Bibel leben? Darfst du! Ohne Gebet? Darfst du! Willst du Gottes Gebote übertreten? Darfst du! Wer Jesus nicht will, darf ihn ablehnen. Wer in die Hölle laufen will, der darf das! Bei Gott gibt es keinen Zwang. Nur mußt du dir über die Folgen klar sein und darüber, daß du es fünf Minuten vor dem Tod nicht wirst fassen können, was Gott dir ein Leben lang angeboten hat. In der Hölle bist du Gott dann endgültig los." Gina wurde noch giftiger. Die Fronten verhärteten sich mehr und mehr. „Hölle! Hölle!" blaffte sie. „Wenn Christen mit ihrem Latein am Ende sind, kommen sie mit ihren Drohungen. Und das soll kein Zwang sein?" „Ist es auch nicht", erwiderte er lakonisch. „Daß ich nicht lache!" konterte sie schnippisch. „Lach nur! Es ist trotzdem nur die Warnung vor einer Gefahr. Wenn ein Arzt sagt, du sollst mit dem Rauchen aufhören, weil er sonst dein Bein amputieren muß, ist das eine Drohung? Versucht er nicht vielmehr, seiner Pflicht nachzukommen, Leben zu erhalten? Gibt er nicht einen gutgemeinten Rat, um Schaden vom Patienten abzuwenden? Genauso verhält es sich mit einem Christen. Es ist seine Pflicht als Kind Gottes, einen Menschen auf Gefahren hinzuweisen, die bevorstehen, wenn er sich nicht ändert. Es ist ein gutgemeinter Rat. Als du ein kleines Kind warst und deine Mutter dir sagte, du solltest nicht die heiße Herdplatte berühren, sonst würdest du dich verbrennen, hat sie dir da etwa gedroht?" Er gab selbst die Antwort. „O nein! Aus Liebe hat sie dich davor gewarnt, damit du dich nicht verletzt. Oder hättest du es lieber gehabt, wenn deine Mutter geschwiegen und du dich verbrannt hättest?" Der alte Mann machte eine todernste Miene, als er den Nachsatz sprach: „Und aus demselben Beweggrund warne ich dich vorder Hölle." „Wie nett von Ihnen! Ich mag das Melodramatische", zog sie sein Anliegen ins Lächerliche. „Wenn Sie so gnädig
sein würden und mir verraten, wovor genau Sie mich warnen wollen? Vor einem Feuer? Vor vielen häßlichen Wesen, die mich foltern und quälen bis in alle Ewigkeit?" „Du hast anscheinend nicht zugehört. Ich sagte schon, daß du Gott endgültig los bist, wenn du stirbst, ohne ihn in dein Leben aufgenommen zu haben. Und davor will ich dich warnen, denn dann wirst du nie wieder zu ihm kommen können - auch nicht, wenn du dir nichts sehnlicher wünschst. Ich finde es einfach traurig, wie beharrlich du Jesus von dir stößt." Gina schüttelte verständnislos den Kopf. „Können Sie mir mal verraten, wieso Sie diesen Jesus auf einen so hohen Sockel stellen? Er war ein scharfsinnig denkender Mensch, okay. Hatte recht gute Ideen, von wegen Armut, Frieden und so, das muß man zugeben. Vielleicht war er auch ein Religionsstifter, na und? Von denen gab und gibt es unzählige. Im Endeffekt hatte er auch nur zwei Arme und zwei Beine, und wie er endete, zeigt doch, daß er auch nicht mehr als ein hilfloser Wicht war." Dem alten Mann fiel es sehr schwer, sich zu beherrschen. Daß es ihm gelang, verdankte er dem Gedanken an dieTatsache, daß Jesus dieses Mädchen über alles liebte, daß er auf Golgatha auch an sie gedacht hatte, als er ausrief: „Es ist vollbracht!" „Es ist nett, daß du Jesus einen scharfsinnigen Verstand u n d gute Ideen zugestehst. Aber das ist doch Haarspalterei. Du kannst nicht mit dem Skalpell an der Person Jesu herumsezieren. Wenn jemand sagt: ,Ich bin Caesar', so ist er es, oder er ist es nicht. Eine dritte Alternative existiert nicht. Jesus behauptet von sich, er sei Gottes Sohn. Entweder ist er es, oder er ist es nicht. Zu sagen, er sei ein bedeutender Lehrer oder Prophet gewesen, ist gönnerhafter Unsinn. Du kannst ihn als Volksverführer und Scharlatan brandmarken, oder du mußt ihn als den Weg, die Wahrheit und das Leben anerkennen. Ein Mittelding ist unmöglich!" Gina versuchte, diesen Volltreffer durch patzige Maulerei zu übertünchen. „Und wieso sollte gerade er die Weis-
helt gepachtet haben? Die Moslems sind von Mohammed, die Buddhisten von Buddha ebenso überzeugt." Der alte Mann bemühte sich, die Angelegenheit an einem neuen Faden aufzuwickeln. „Ich habe Cel letztens von einem bösen Phänomen in der Musik erzählt." Gina wollte schon entnervt dazwischenfunken, als er ihre Meckerei bereits in der Entstehung abwürgte. „Laß mich bitte ausreden. Es wird kein Roman, sondern eine einfache Aufreihung von nachprüfbaren Fakten. Hör sie dir wenigstens an. Danach kannst du sie zerpflücken, wie du magst. Okay?" Sie bedeutete ihm mit einem warnendenTippen auf ihre Armbanduhr, sich ja zu beeilen. „Im Stenographiestil!" ging er auf ihre Geste ein. „Rock- und Popgruppen wenden Rückwärtsmaskierung an. Darin verhöhnen sie Jesus, jedoch nie Buddha oder Mohammed. Auf Plattenhüllen drucken sie Worte der Bibel mit spöttisch verdrehtem Sinn. Auszüge aus dem Koran hingegen zitieren die Bands nicht. Selbst in Asien, wo diese Religionen beheimatet sind, sprießen Musiker wie Pilze aus dem Boden, dieJesuTod verachten, indem sie das Kreuz auf den Kopf stellen. Als Beispiel brauche ich nur ,Loudness' zu nennen." Am Zucken ihrer Augenlider merkte er, daß er mitten ins Schwarze getroffen hatte. Was er natürlich nicht sehen konnte, waren die Bilder vor ihrem geistigen Auge mit einer raschen Abfolge derjenigen Cover der genannten Band, die sie zu Hause im Plattenschrank hatte. Ein Album hieß ,Devil Soldier' und zeigte ein kleines Kind mit Fangzähnen, Fledermausflügeln und glühenden Augen, während das anuere den Titel ,Law of the Devils Land' trug. „Na und?" spielte sie die Gleichgültige und Unbeeindruckte. Der alte Mann fuhr fort: „Gewiß hast du schon oft die Ausrufe ,Oje', .Herrje',,Ojemine' gehört." Natürlich hatte sie. Cel benutzte sie des öfteren, und sie selbst dann und wann auch. „Alle drei sind Entstellungen, zum Teil aus der lateini-
sehen Sprache. ,Oje' bedeutet ,O Jesus', ,Herrje' bedeutet ,Herr Jesus', und .Ojemine' ist Latein für ,O Jesu domine', also ,O Herr Jesus'. Unbedacht und geringschätzig mißbrauchen wir Tag für Tag den Namen Jesu. Warum rufen wir nicht aus ,Obud!' für ,O Buddha' oder ,Omohamine!' für ,O Herr Mohammed'? Nein, automatisch huscht uns der Name Jesu über die Lippen. Und weißt du, weshalb das so ist?" Sie wußte es nicht. „Weil Satan, der Feind, der Vater der Lüge, genau weiß, daß Jesus der einzige Weg ist. Daß Jesus der einzige Name ist, durch den der Mensch gerettet werden kann. Und das ist der Grund, weshalb er versucht, in uns und mit uns aus dem Namen Jesus ein nutzloses und wertloses Wort zu machen, dutzendmal am Tag ausgesprochen, und die Leute kapieren nicht, was da eigentlich über ihre Lippen kommt." Das Bombardement der Argumente zeigte Wirkung am massiven Bollwerk. Ginas Mundwinkel zuckten nervös. Seinem musternden Blick konnte sie nicht standhalten, so daß sie Ausflucht in der Offensive suchte, wobei sie weniger das Problem als vielmehr die damit verbundene Person attackierte. „Puh!" stieß sie verächtlich aus. „Das ist Ihre Theorie. Denken Sie im Ernst, ich glaube einem schrulligen Kauz wie Ihnen? Bei Ihrer scheinheiligen Frömmigkeit hätten Sie ins Kloster gehen sollen. Aber die wollten wohl auch keinen Fanatiker." Den harten Angriff auf seine Person wertete der alte Mann positiv. Er sah sich auf dem richtigen Weg und war nun voller Hoffnung über ein gutes Ende. Nachdem Gina sich gefaßt hatte, versetzte sie naseweis, als sei die Überlegenheit plötzlich auf ihrer Seite: „Ist Ihnen eigentlich schon mal aufgefallen, daß Sie aus einer Position heraus argumentieren, die die Bibel wie selbstverständlich als unantastbare Größe, als der Weisheit letzter Schluß ohne irgendwelche Macken hinstellt?" „Ein Grund, warum die Bibel seit 2000 Jahren - und
heute auch für mich - eine solche Überzeugungskraft hat, ist einfach geschildert: In ihr und hinter Jesus stehen erfüllte Prophezeiungen, wie du sie sonst nirgendwo findest." Gina verdrehte gelangweilt die Augen, weil sie glaubte, nun würden ein oder zwei an den Haaren herbeigezogene Scheinbeweise kommen. „Und welche, bitte schön?" Der alte Mann ließ sich nicht beirren. „Durch den Propheten Jesaja verhieß Gott rund 700 Jahre vor Christi Geburt das Kommen des Messias. Er kündigte an, daß eine Jungfrau schwanger werden würde. Ein jüngerer Zeitgenosse Jesajas namens Micha nannte etwa um die gleiche Zeit den genauen Ort dieser heilsbedeutsamen Niederkunft - Bethlehem. Der Prophet Hosea verkündete um 750 vor Christus die Flucht Jesu und seiner Eltern nach Ägypten sowie ihre Rückkehr von dort. Vorhergesagt wird um 600 vor Christus vom Propheten Jeremia der Kindermord von Bethlehem, mit dem der König Herodes seinen Rivalen beseitigen wollte. Ferner Jesu späterer Wohnort Nazareth, und drittens sein Einzug in Jerusalem auf einem Esel." Gina Sheehans Augen wurden größer und größer vor Erstaunen. Es war unverkennbar, daß sie mit so einer Lawine von Beweisen nicht im mindesten gerechnet hatte. „Aber noch einiges mehr wurde haarklein prophezeit, das sich Jahrhunderte später genau so ereignete. In Psalm 41 steht, daß Jesus von einem Freund verraten wird. Sacharja schreibt, daß Jesus von allen seinen Jüngern verlassen wird. Und genau das tritt ein - einsam und verlassen geht Jesus ans Kreuz, wo er mit Essig und Galle getränkt wird, wie es in Psalm 69 längst niedergeschrieben wurde. Gott läßt den Propheten Jesaja den Leidensweg Jesu weissagen. Er geht sogar so weit, daß er durch Mose, Sacharja und in Psalm 22 zwei Details ankündigt, die Jahrhunderte später Tatsache werden: daß sie nämlich Jesus als Gekreuzigtem nicht die Beine brechen, sondern ihm in die Seite stechen werden; daß man seine übrigen Kleider zerteilen, über seinen Rock indessen das Los werfen wird. Und auch
nach Jesu Tod am Kreuz erfüllt sich noch eine schier unglaubliche Einzelheit: Jesus wird in das Grab eines Reichen l gelegt, so, wiejesaja es lange zuvor geschrieben hat." Der alte Mann machte eine kleine Pause, um sich zu sammeln. Gina wollte die Gelegenheit nutzen, um zu poltern: „Zufall! Nichts als Zufall!", aber sie war zu beeindruckt. Mit gekünstelter Ablehnung konnte sie nicht verbergen, daß sie innerlich angeschlagen war. Der alte Mann machte konsequent weiter, obwohl er bemerkte, daß sich Druck in ihr aufstaute wie in einem Kessel ohne Ventil und daß eine Explosion unmittelbar bevorstand. „Auch hinter Israel stecken eine Menge Prophezeiungen der Bibel, die, ein halbes Jahrtausend vor Christi Geburt geschrieben, heute, 2500 Jahre später, quasi vor unseren Augen in Erfüllung gehen. Gott spricht durch die Propheten Jeremia und Hesekiel, daß er Israel zur Mißhandlung und zum Unglück, zum Fluch und zum Spott unter alle Völker zerstreuen, daß er es vertreiben werde aus dem Land, welches er ihren Vätern gegeben hat. Siebzig nach Christus tritt die Katastrophe ein: Jerusalem wird bis auf die Grundmauern zerstört und das Volk Israel in alle Winde zerstreut. Was sie im Exil durchmachen, ist grauenvoll. Doch Gott läßt durch Jeremia, Hesekiel und Sacharja Gnade aufblitzen und gleichzeitig weissagen, daß er sein Volk sammeln werde aus den Ländern des Aufgangs und des Untergangs der Sonne, um ihnen das Land Israel zu geben, aus dem er sie vertrieben hat. Es ist nämlich nicht selbstverständlich, daß heute in Israel so viele Juden wohnen. Deshalb ist der denkwürdigste Meilenstein biblischer Erfüllung der 14. Mai 1948 — der Tag der Staatsgründung Israels!" Gina schluckte heftig. Ihr Adamsapfel bewegte sich auf und ab. Mit äußerster Mühe brachte sie hervor: „Ist doch alles Quatsch!" Saul Gideon war sich darüber klar, daß der Dampf im Kessel stetig zunahm. Wie würde er sich entladen? Er setzte seine Ausführungen erst einmal fort.
„Aber noch viel mehr an biblischen Prophezeiungen erfüllt sich gerade in unseren Tagen. So weissagte der Prophet Sacharja, daß es einen Krieg geben wird, bei dem das Fleisch jedes Menschen verfaulen wird und seine Augen in den Höhlen und seine Zunge im Munde verwesen werden. Damals eine unvorstellbare Sache. Auch noch vor hundert, ja, sogar vor 50 Jahren. Aber heute, im Zeitalter der Atom-, Wasserstoff- und Neutronenbombe beileibe keine Utopie mehr, sondern eine reale Bedrohung, mit der wir tagtäglich leben müssen." Sein Tee war inzwischen kalt geworden. Er trank den Rest trotzdem und schob die Tasse beiseite. Seinem vom vielen Erzählen ausgetrockneten Mund tat die Flüssigkeit gut, und er konnte mit neuem Elan weitersprechen. „Sehr Interessantes sagt die Bibel sogar über ein Thema, das selbst vor 30 Jahren noch gar nicht aktuell war, heute aber ganz plötzlich weltweit akut geworden ist: das Waldund Flußsterben..." „Aufhören!" schrie Gina dazwischen und sprang auf. Der Kessel war detoniert! „Sofort aufhören!" Ihre Augen flackerten erregt und stierten den alten Mann wütend an. Daß die Gäste im Lokal nun allesamt zu ihr herübersahen, war ihr egal. Die Welle des Hasses spülte Gina hinweg und machte sie für die vielen Zuhörer blind. „Du verdammter Scharlatan!" fauchte sie erbost. „Willst mich mit Süßholzraspeln einfangen, du hinterlistige Natter! Aber ich bin auf der Hut. Mich kriegst du nicht. Mich wirst du nicht in ein wandelndes Grab verzaubern, wie du es mit Cel gemacht hast!" Eine Tirade haßerfüllter, bösartiger Beschimpfungen und Beleidigungen prasselte wie ein Hagelsturm auf den alten Mann nieder. Er erkannte, daß er verloren hatte. Es würde vorerst kein gutes Ende nehmen. Enttäuscht und tieftraurig saß er still da, während sie ihn verwünschte und verfluchte. Daß sie in ihrer Rage nicht auf ihn einschlug, glich einem Wunder. Dann, nachdem sie sich ordentlich abreagiert hatte, war sie plötzlich verschwunden.
Von draußen aus dem Eisstadion drang dumpf die Musik eines Rolling-Stones-Songs herein: ,... Erlauben Sie mir bitte, mich vorzustellen. Ich bin ein Mann von Wohlstand und Geschmack. Ich ziehe schon lange Jahre in der Welt herum, habe schon vielen Menschen Seele und Glauben gestohlen. Ich war da, als Jesus Christus seine Stunde des Zweifels im Glauben hatte. Ich stellte verdammt sicher, daß Pilatus seine Hände wusch und Sein Schicksal besiegelte. Ich hoffe, Sie erraten meinen Namen. Aber was Ihnen Kopfzerbrechen bereitet, ist das Wesen meines Spiels ...' Der Titel des von Mick Jagger gesungenen Liedes hieß ,Sympathy for the Devil'!
16 .Wenn die Welt euch haßt, dann wißt, daß sie mich schon vor euch gehaßt hat. Wenn ihr von der Welt stammen würdet, würde die Welt euch als ihr Eigentum lieben. Aber weil ihr nicht von der Welt stammt, sondern weil ich euch aus der Welt erwählt habe, darum haßt euch die Welt. Denkt an das Wort, das ich euch gesagt habe: Der Sklave ist nicht größer als sein Herr. Wenn sie mich verfolgt haben, werden sie auch euch verfolgen.' Bewegt sah Cel vom Buch auf und zum Fenster hinaus. Ein unstillbares Verlangen hatte sie wieder einmal gepackt, noch mehr, noch viel mehr über den zu erfahren, der sie aus dem ewigen Eis gefischt und vor dem Erfrieren gerettet hatte. Also hatte sie sich aufs Bett gelegt und angefangen, in der Bibel zu lesen. Zunächst hatten ihre Beine noch keß in der Luft gebaumelt, aber bald waren sie auf die Matratze gesunken und lagen dort seither regungslos. Cel hatte nämlich seit fast zwei Stunden ihre Augen nicht von den Seiten gelassen, es sei denn zu sporadischen Unterbrechungen, in denen sie über einiges nachsann - so wie jetzt, da sie hinauf zu den vorbeiziehenden Schäfchenwolken blickte. In dieser Zeit hatte sie eine merkwürdige Erfahrung gemacht, eine fast unglaubliche, umwälzende Erfahrung. Denn während sie in der Bibel las, hatte sie das Gefühl, daß umgekehrt auch die Worte sie, den Leser, lesen konnten. Sie fühlte sich nicht nur angesprochen und verstanden, sondern regelrecht durchleuchtet. Sie überlegte, was die Textstelle zu bedeuten hatte. Jesus war damals von den Menschen gehaßt worden, und wenn seine Nachfolger gehaßt würden, so sollten sie sich an sein Schicksal erinnern. Das „Wozu" lag auf der Hand. Ihr war klar, daß es ein ungemeiner Trost für den Gehaßten sein mußte, daß Gott selbst auch geschmäht und verlästert worden war. Was ihr ein paar Grübelfalten auf der Stirn bereitete, war die Aussage, daß sie nicht von der Welt stammten. Wie konnte das sein? Jeder Mensch war doch ein Teil der Welt, oder nicht? Anscheinend nicht!
Sie kam nicht weiter dazu, sich Gedanken darüber zu machen, da ihr Vater nach ihr rief. Sie schwang sich vom Bett und trat auf den Flur hinaus. „Was ist?" fragte sie, leicht übers Treppengeländer gebeugt. Ihr Vater stand unten und guckte zu ihr herauf. „Mrs. Sheehan hat eben angerufen. Ob ich Gina ins Krankenhaus fahren könnte. Sie hat einen Unfall gehabt, und Mr. Sheehan ist mit dem Wagen geschäftlich unterwegs. Willst du mit, Mäuschen? Vielleicht kannst du sie ein bißchen trösten." Ohne eine Sekunde zu zögern, erklärte Cel sich bereit, zog sich Turnschuhe und ihre rosa Jacke an und sprang die Treppe hinunter. Im Auto setzte sie sich für alle Fälle gleich nach hinten, um Zeit zu sparen, falls es sehr schnell gehen mußte. „Was hat Gina denn?" fragte sie. Ihr Vater zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung." Mrs. Sheehan und Gina standen bereits am Straßenrand, als der weinrote Camaro um die Kurve geprescht kam. Cel richtete ihr Augenmerk besonders auf Gina und stutzte. Ihr sah man alles an, Ärger, Unwillen - nur keinen Unfall! Was ging hier vor? Der Wagen stoppte. Ihr Vater stieg aus, begrüßte die beiden und wechselte ein paar Worte mit Mrs. Sheehan. Was sie besprachen, konnte sie nicht verstehen. Ihr fiel vor allem auf, daß Gina es tunlichst vermied, sie anzusehen. Diese ablehnende Haltung wurde noch offenkundiger und schroffer, als Mr. Rousseau den Wagen öffnete und Gina auf die hintere Sitzbank zu Cel kletterte, ohne sie zu begrüßen. Es hinderte Cel nicht, ihrerseits wenigstens ein „Hallo!" über die Lippen zu bringen, auch wenn die Resonanz gleich Null war. Sie wußte genau, daß die Kluft zwischen Gina und ihr ein gefährliches Ausmaß angenommen hatte. Wenn sie jetzt nicht schnellstens aufeinander zugingen, war bald die letzte Chance verspielt. Die ungeschminkte Feindseligkeit machte Cel während der Fahrt doppelt zu schaffen. Immer wieder suchte sie krampfhaft nach Ansatzpunkten, den Schutt zwischen ihnen beiden auszuräumen, und immer wieder scheiterte sie, teils am
eigenen Stolz, teils an der Angst vor Ginas Reaktion. Ihre Freundin kauerte in der Ecke, als wolle sie sich schützen, als sitze sie in unmittelbarer Nähe eines Pestherdes. Die eisige Atmosphäre im Fond erhielt wenigstens durch das ungetrübte Gespräch zwischen den Elternteilen dann und wann ein paar wärmende Strahlen. „Sie brauchen kein Strafmandat zu riskieren, Mr. Rousseau. So dringlich ist es nicht", kommentierte Mrs. Sheehan das überhöhte Tempo des Camaro. „Wie Sie meinen", entgegnete Cels Vater, und die Geschwindigkeit verringerte sich merklich auf die vorgeschriebenen Meilen. „Wenn ich meinTöchterlein nicht gedrängt hätte, von allein wäre sie wohl nie ins Krankenhaus gegangen. Sie meint, mit ihrem Fuß sei alles in Ordnung. Aber wenn man binnen einer Stunde gleich drei Mal heftig umknickt, kann doch was nicht stimmen. Sicher, er ist nicht sehr dick geschwollen. Aber man soll das nicht unterschätzen, oder was meinen Sie?" „Auf keinen Fall darf man das!" pflichtete er ihr bei. „Es war vollkommen richtig, daß Sie uns angerufen haben. Lieber einmal vergeblich zum Arzt, als eine Verletzung verschleppen und sich ein Leben lang Vorwürfe machen." „Genau! Das habe ich Gina auch gesagt", stimmte Mrs. Sheehan zu. Sie war beruhigt, Unterstützung für ihre Maßnahme gefunden zu haben. „Zumal sie, wie sie mir erzählte, im Eisstadion ganz schmerzhaft umgeknickt ist. Und seitdem hat sie diese Beschwerden." Mr. Rousseau nickte fachmännisch: „Da ist bestimmt etwas mit dem Fuß nicht in Ordnung." Die Unterhaltung zwischen den Elternteilen hatte Cel Mut gemacht, das Problem am Kragen zu packen. Tapfer wagte sie es, den Mund aufzutun. „Ich finde es bescheuert, daß jeder für sich brummig herumhockt, als sei der andere Luft. Können wir uns nicht vertragen und miteinander quatschen wie früher?" „Wie früher?" wiederholte Gina ungläubig und führte ihren Zeigefinger an die Schläfe. „Bei dir piept's wohl!
Zwischen uns wird es nie mehr wie früher sein. Du bist für mich gestorben! Wenn du unbedingt quatschen willst, dann geh doch zu deinem Opa, diesem abgetakelten Greis. Oh, wie ich den verfluche! Der Blitz soll ihn treffen!" Cel war entsetzt. War das das Mädchen, das jahrelang ihre beste Freundin gewesen war, mit der sie ihre tiefsten Geheimnisse ausgetauscht hatte? Mit der sie den Schwur geschlossen hatte, auf ewig Freunde zu bleiben und gemeinsam durch dick und dünn zu gehen? Nein! „Wie kannst du bloß so reden!" „Ach du! Du bist doch sowieso blind. Hast dich von ihm belatschern lassen wie eine dumme Gans. Und was ist dabei herausgekommen? Keine eigene Meinung hast du mehr. Bist dem Kerl hörig. Kapierst überhaupt nicht, daß er unsere Freundschaft kaputtgemacht hat." Cel war geschockt. „Das stimmt doch gar nicht, Gina! Du tust ihm un ..." „Ach, fahr doch zur Hölle!" schnitt Gina ihr rüde das Wort ab und wandte ihr den Rücken zu. Mit dieser Verwünschung hatte sie es endgültig vollbracht, der konsternierten Cel den Mund zu stopfen. Cel sagte nichts mehr, weil es nichts mehr zu sagen gab. Sie spürte auf ihrer Haut, daß neben ihr der leibhaftige Haß saß. Ein Satz kam ihr ins Bewußtsein: ,Der Sklave ist nicht größer als sein Herr.' Und wie durch eine Eingebung, begann sie vage zu begreifen, was Jesus gemeint hatte, als er von den auserwählten Menschen und denen „aus der Welt" sprach. *
Alle vier suchten sie die Ambulanz des Hospitals auf. Als der behandelnde Arzt Gina dann in die Röntgenabteilung weiterverwies, blieb Cel sehr zum Mißfallen ihres Vaters zurück und begab sich statt dessen zu einer Sitzecke. Sie setzte sich in einen der Sessel und nahm eines der kunterbunt auf dem Tisch liegenden Magazine, um die Wartezeit zu überbrücken. Lustlos blätterte sie von Seite zu
Seite, ohne daß auch nur ein Artikel ihr Interesse wecken konnte. Über ihr befand sich als Unterhaltungsservice des Hauses ein Lautsprecher, aus dem Musik kam, die das Warten angenehmer gestalten sollte. Sie erkannte das momentan laufende Instrumentalstück mühelos. Es war von, Alan Parson's Project' und besaß den knallharten, unmißverständlichen Titel: ,Luzifer'! Ein Bericht weckte plötzlich doch Neugier in ihr. Obwohl es sich um keine Musikzeitschrift handelte, brachte sie eine Reportage über das sagenhafte Phänomen Michael Jackson. Besonders unter die Lupe nahm Cel zuerst die Begleitfotos. Eines zeigte den Sänger in seiner üblichen Flitterkleidung. Dabei schien es, als blinzelte unter dem offenen blauen Jackett eine feuerrote Schlange hervor. In der linken Hand hielt er ein Mikrofon, die rechte posierte ziemlich unscheinbar vor dem Körper. Doch gerade sie stellte den Clou des Fotos dar. An ihr waren nämlich als einzige der Zeige- und Kleinfinger vorgestreckt - zum Satansgruß! Am Fuße des Fotos befanden sich sechs Aufnahmen aus seinem Horror-Video .Thriller', die Jackson in allmählicher Verwandlung in einen Werwolf zeigten. Diese Bilder riefen Cel Teile eines Liedtextes in Erinnerung: ,Etwas Böses lauert im Dunkel. Du versuchst zu schreien, aber Entsetzen nimmt dir den Laut. Du beginnst zu frieren, als der Horror dir zwischen die Augen schaut. Niemand wird dich von dem Tier erretten, das im Begriff ist, loszuschlagen. Es gibt keine Flucht. Die Kreaturen der Nacht rufen, und die Toten beginnen, in ihrer Verkleidung zu wandern. Es gibt kein Entrinnen aus den Rachen der Fremdlinge. Dies ist das Ende deines Lebens. Die Dämonen nähern sich dir von allen Seiten. Sie werden dich besitzen, es sei denn, du änderst die Nummer auf deiner Kennmarke. Kreaturen schleichen auf der Suche nach Blut. Der faulste Gestank ist in der Luft. Die grauen, aasverzehrenden Geister aus jedem Grab brechen über dich herein, um deine Verdammung zu besiegeln.' Für Cel stand fest, wie sie diesen Musiker einzuordnen hatte, noch bevor sie überhaupt den Text des Artikels ge-
lesen hatte. Die Merkmale sprachen eine zu deutliche Sprache. Der Text berichtete über die musikalische Vergangenheit Jacksons, über sein Raketen-Album ,Thriller', das mit 30 Millionen verkaufter Exemplare zum besten aller Zeiten avanciert war, und seine erfolgreiche Zusammenarbeit in Form von Videos und Liedern mit dem Ex-Beatle Paul McCartney. ,Aha', dachte Cel, ,mit diesem schlauen Fuchs. Das erklärt natürlich eine ganze Menge.' Sie dachte an das warnende Beispiel der Band ,Van Haien'. Ein plötzlicher Super-Erfolg war oft mit einem Knicks vor dem Gott der Welt verbunden, der diese Güter verteilte - vor Satan! Nach der Karriere wurde auch seine Person und Privatsphäre ein bißchen näher beschrieben, was für Cel aber nicht viel hergab. Von ganz anderem Kaliber erwies sich da schon die nächste Spalte - ein Interview mit ihm. Darin hob er nämlich seinen Glauben als praktizierender ,Zeuge Jehovas' hervor und betonte, daß er jeden Tag mehrere Stunden von Haustür zu Haustür ging, um das Evangelium zu verkünden. Das haute Cel um, und sofort erwachte der Zweifel, ob sie diesen Musiker nicht zu Unrecht ins feindliche Lager eingestuft hatte. Die beißende Ungewißheit, die sich plötzlich breitmachte, räumte der Artikel selbst wieder aus dem Weg: „Schon jetzt, zum Tourneestart, steht fest, daß die Gebrüder Jackson ab Anfang Dezember nie wieder etwas gemeinsam unternehmen werden. Das ist das Resultat der neiderfüllten Zänkereien, die in starkem Kontrast zu der öffentlich immer sehr betonten Gläubigkeit und Nächstenliebe stehen. Während am Endejeder Show auf dem gigantischen Video-Schirm über der Bühne die freundliche Mahnung aufleuchtet, vorsichtig nach Hause zu fahren, treffen sich die verfeindeten Fraktionen zur nächsten Runde am Verhandlungstisch." Das war eine klare Antwort. Sie paßte wie angegossen in das bisherige Bild, das die Fotos und der Liedtext ihr von Jackson vermittelt hatten. Und was hatte Jesus warnend
von den Wölfen in Schafspelzen gesagt?, An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.' Blanker Neid und unversöhnlicher Zwist, dazu Satansgruß und dämonische Texte, das waren allesamt zweifellos faule Früchte. Und ein guter Baum konnte keine faulen Früchte geben ... Sie legte das Magazin weg, als sei sie von ihm wie von einem Insekt gestochen worden. Sie ahnte nicht, daß die Ge^ fahr eines giftigen Stiches ihr noch von ganz anderer Seite auflauerte. Während sie es sich nämlich bequem machte, richtete sich ihr Hörsinn automatisch auf die flotten Swing-Töne, die auf sie herabrieselten. Die Gruppe ,Queen' sang ihr ,Crazy Little Thing Called Love', und eine deftige Rückwärtsbotschaft stach unbemerkt in ihr Unterbewußtsein: ,Zur Hölle mit der Bibel! Alles, was ich will, ist Magie!' Und gleich darauf, zur richtigen Einzementierung dieser antichristlichen Formel, wurde der Ausruf wiederholt. Noch war von Gina keine Spur zu sehen, und so wagte Cel sich zum zweiten Mal an den Stapel Zeitschriften. Während sie das tat, fiel ihr die Antwort ein, die der alte Mann ihr vorTagen auf ihre Frage gegeben hatte, woher er denn die vielen Informationen über die Musik-Szene habe. „Es bedarf lediglich des genauen Lesens von Musikniagazinen", hatte er gesagt. Und das stimmte. Es funktionierte wirklich, wie sie heute erlebte. Diesmal wählte sie ein reines Musikmagazin, zudem eins, das nicht spartengebunden war, sondern seine Fühler in nahezu alle Musikrichtungen ausstreckte. Obgleich es sich um eine etwas ältere Ausgabe handelte, fand Cel sie ungeheuer interessant, denn die Fakten die sie suchte, waren nicht zeitgebunden. Gleich auf der ersten Seite, unter der Rubrik „Rock History", die sich mit der Gruppe ,KISS' beschäftigte, stieß Cel auf eine Menge Tatsachen, die sie getrost unter den Wahlspruch eines ,Black Sabbath'-Liedes einordnen konnte: ,Wir wollen nur deine Seele!' Zwischen den Fotos, die die Geschichte von ,KISS' erzählten, entdeckte sie zwei besonders vielsagende. Das
erste war während einer Pressekonferenz in Japan aufgenommen worden. Es zeigte den Bassisten der vier Boys, Gene Simmons, wie er demonstrativ den Satansgruß in die Reihen der ahnungslosen Journalisten absetzte. Das zweite war eine Ablichtung des LP-Covers ,Love Gun'. Auch darauf tat sich besonders Gene Simmons hervor, indem er mit seiner linken Hand wieder alle Welt von Satan grüßte. Die Machart dieses Covers erinnerte Gel an das Album ,Destroyer' der Band und an ein schauriges Lied darauf, das den Namen ,God of Thunder' trug. Es war zwar schon lange her, daß sie es das letzte Mal gehört hatte, aber einiger Verse konnte sie sich noch erstaunlich gut entsinnen. Damals hatte sie sie in ihrer Unwissenheit allerdings als bloße „Show" abgetan. Erst heute, Jahre danach, begriff sie die wahre Dimension der Worte: „Ich versammle Finsternis um mich her, damit sie mich erfreue, und ich gebiete dir, vor dem Gott des Donners niederzuknien, dem Gott des Rock'n Roll." Was Cel nicht wußte, sich aber leicht denken konnte, war, daß ,KISS' natürlich eine wirksame Waffe Satans-das Rückwärtsmaskieren - in ihren Schöpfungen nicht ungenutzt ließen. Und daß sie mit Botschaften wie ,Wenn du mich liebst, schneide dich! Der Teufel selbst ist dein Gott!' tatkräftig mithalfen, Millionen Menschen an dem empfindlichsten Organ zu treffen, das sie besaßen - ihrem Gehirn! Cel brauchte nur umzublättern, um unter der Überschrift „Newcomer" einer Fortsetzung des okkulten Gedankenguts ausgesetzt zu sein. Besonders ins Auge fiel ihr die Band ,Warlord' wegen ihrer bemerkenswerten Slogans. Der eine hob die zwei Gitarristen hervor: .„Zerstörer' und ,Erzengel' erwarten euch mit ihren Hits ,Luzifer's Hammer' und ,Black Mass' zum Start ihrer US-Tournee." Der andere verriet das Motto der Tour: „Die Kanonen der Zerstörung haben begonnen ..." Diese Ergüsse teuflischen Denkens konnten Cel nicht mehr schockieren, sondern nur noch mehr in ihrer Meinung bestätigen: Das Beet des Unkrauts wurde fleißig ge-
düngt. Die Musiker wußten, was die Stunde geschlagen hatte, und bienenfleißig führten sie ihren Auftrag gehorsam aus. Sie formten willige und willenlose Menschen. Menschen, die, vollkommen geschwächt, dem verfallen würden, der sich mit Macht vom Himmel her ankündigte - Luzifer. Da von Gina immer noch nichts zu sehen war, blätterte Cel weiter. Die Musik aus den Lautsprechern hatte mittlerweile gewechselt. Die Radiostation spielte nun das neue Werk der australischen Hardrocker, AC/DC' mit demTitel ,Danger', dessen Text Cel unbewußt mithörte: .Sprich nicht mit Fremden. Halte dich fern von Gefahren. Sprich nicht mit Fremden, die lächeln. Halte dich fern von Gefahren alle Zeit. Rotes Licht blitzt auf...' Ein mächtiges Stakkato von Schritten näherte sich und riß Cel aus ihrer Lektüre. Ein Arzt und zwei Schwestern liefen an ihr vorbei und den Gang hinunter. Sirenengeheul erreichte seinen Höhepunkt und starb abrupt ab. Cel warf die Zeitschrift auf den Tisch, erhob sich, trat neugierig auf den Gang und schaute dem eiligen Krankenhauspersonal nach. Noch ehe die drei an die Doppeltür des Notausgangs gelangten, wurde sie schon von zwei Krankenwagenfahrern aufgestoßen, die eine rollende Trage mit einer Person daraufhindurchschleusten. Hinter ihnen folgte ein uniformierter Polizist. Für einen Augenblick konnte Cel Teile des Ambulanz wagens im Hintergrund auf der Rampe ausmachen, dann schnappte die Tür zu. Unterdessen waren Arzt und Schwestern zur Stelle, beugten sich über die Person auf der Trage, fingerten hektisch hier und dort. Dabei fuhren sie immer weiter den Gang hinauf auf Cel zu. „Er hat verdammt viel Blut verloren", sorgte sich ein Krankenwagenfahrer. Der Arzt nickte. „Wir werden eine Bluttransfusion vornehmen." „Soll ich das Labor informieren?" fragte eine der Schwestern. „Ja. Und dann den OP. Vielleicht müssen wir operieren." Die Schwester entfernte sich rasch in Richtung Telefon.
Der Polizist warf ernst ein: „Wenn sie den Mann überhaupt noch flicken können. Er ist übersät mit Messerstichen. Bei einem Kultverbrechen machen die Jungs ganze Arbeit. Für mich ist es ein Wunder, daß er überhaupt noch atmet." Als der Ausdruck „Kultverbrechen" fiel, trat der Arzt von derTrage zurück, ordnete an, den Patienten auf die Intensivstation zu bringen, und blieb mit dem Polizisten stehen. Die anderen gingen eilig weiter. „Sind Sie sich ihrer Sache in punkto Kultverbrechen sieher?" hörte Cel den Arzt skeptisch fragen, während sie unverwandt auf den kleinen, hetzenden Troß schaute, der sie bald passieren würde. Der Beamte nahm sorgsam seine Sonnenbrille ab. „Ich weiß, warum Sie Bedenken haben. Auch wir waren erst sehr mißtrauisch. Aber das obligate Zeichen an der Stirn des Opfers sowie eine Bekenntnisschrift, die wir amTatort gefunden haben, haben uns eines anderen belehrt. Es gibt keinen Zweifel, daß der Mann Opfer einer dieser barbarischen Sekten geworden ist." Der Arzt schüttelte entsetzt und verständnislos seinen Kopf. „Welch ein Irrsinn! Der Mann muß doch mindestens sieb ..." Der Arzt unterbrach sich und fuhr entgeistert herum, weil ein gellender Schrei den Flur durchdrang und noch durch den Widerhall an den Wänden gesteigert wurde. Zusammen mit dem zu Tode erschrockenen Polizisten beobachtete er, wie ein junges Mädchen kreidebleich, mit Augen, die vor Grauen fast aus den Stirnhöhlen quollen, und verkrampftem Körper schwankend an der Wand lehnte. Ohne zu zögern, liefen sie zu ihr hin und lösten einen Krankenwagenfahrer ab, der Celeste stützend aufrecht hielt, damit sie nicht zusammenklappte. „Gehen Sie mit den beiden!" sagte der Arzt und wies mit dem Kopf in Richtung der Schwester und des Kollegen, die unbeirrt vorausgegangen waren. „Wir kümmern uns um sie." Der Fahrer rannte Patient und Betreuern nach, während
der Arzt sich Celestes annahm. Mit Hilfe des Polizisten versuchte er, sie zu einem der Sessel zu fuhren, was ein schwieriges Unterfangen war, da sie fortlaufend Anstalten machte, der Trage zu folgen. Sie schafften es schließlich, den zarten, zittrigen Leib zum Sitzen zu bringen. „Was hat sie nur?" fragte der Polizist unschlüssig. „Es scheint, als wolle sie auch noch hinter dem gräßlichen Anblick herlaufen." „Vermutlich eine Überreaktion", diagnostizierte der Arzt knapp und bedeutete mit einem Kopfnicken einer Schwester, die von dem Aufschrei angezogen worden war, seine Aufgabe zu übernehmen. „Es ist nichts Ernstes. Bleiben Sie bei ihr und messen Sie alle zehn Minuten Puls und Blutdruck", ordnete er an und ergänzte: „Falls wider Erwarten eine Komplikation eintreten sollte, holen Sie einen Arzt herzu. Ansonsten können Sie sie in einer halben Stunde entlassen." Damit jagte er seinem Patienten auf die Intensivstation hinterher. „Was ist denn passiert? Das arme Ding ist ja total verstört", bemerkte die Schwester, als sie Cels ausdrucksloses Gesicht und die leblosen Augen sah. „Wie weggetreten!" „Nur zu verständlich", konstatierte der Polizist, „der scheußliche Anblick des blutüberströmten Mannes hat sie umgehauen. Nicht jeden Tag bekommt man einen wie Vieh abgestochenen Menschen zu Gesicht. Da habe selbst ich weiche Knie gekriegt." Von hinten wurde er von der Schwester angesprochen, die Labor und OP antelefoniert hatte. „Haben Sie die Personalien des Mannes?" Der Beamte wandte sich um. „Bedaure, nein. Er trug auch nichts bei sich, was eine Identifikation ermöglicht hätte. Darum bin ich mitgekommen. Vielleicht ist er nachher ansprechbar." Die Schwester zog eine pessimistische Grimasse. „Wenn er überhaupt durchkommt, wird er gewiß lange Zeit bewußtlos bleiben. Sollen wir Sie nicht lieber benachrichtigen, sobald wir etwas über ihn erfahren haben?"
Der Beamte zögerte, rang sich aber schließlich durch. „Wahrscheinlich doch besser. Und sollten wir zuerst..." „Officer, schnell!" rief die Schwester dazwischen, die bei Cel gerade den Puls maß. „Das Mädchen scheint den Mann zu kennen!" Eilig sprang der Beamte herbei. „Jedenfalls meine ich das aus ihrem Nuscheln herauszuhören", schwächte die Schwester eilends ab, um allzu großen Optimismus gleich im Entstehen zu dämpfen. Er ging in die Hocke und horchte. „... er kann doch nicht... so treu ... wozu ... sterben ...Josua ..." „Da!" stieß die Schwester leise hervor. „Da hat sie's wieder gesagt: Josua! Vielleicht heißt der Mann so." „Psst!" bat der Officer energisch um Ruhe. Cel hing noch immer ziemlich benommen vom Schock im Sessel. Ihr Brabbeln wurde eine Idee deutlicher. „Hilf! Hilf ihm! Bitte! ... geh nicht! ... nein!... Saul! Geh nicht!" Der Polizist war ratlos, weil die zusammenhanglosen Brocken keinerlei Aufschluß gaben. „Dieser Zustand ist doch nicht normal, Schwester. Können Sie sie nicht aus ihrer Umnebelung holen, damit wir wissen, ob sie phantasiert oder nicht? Aus dem Mischmasch wird ja keiner schlau." Die Schwester blickte ein bißchen hilflos und verlegen drein. „Das ist in der Tat anormal und mir bislang noch nicht untergekommen. Sieht aus, als stände sie unter Drogen ... Nein! Nicht! Lassen Sie das! Sie können doch nicht einfach...!" Der Polizist hatte begonnen, Celestes zierliche Wangen mit seinen robusten Händen zu tätscheln und ließ auch auf das empörte Drängen der Schwester hin nicht davon ab. Da verbal für sie nichts auszurichten war, griff sie resolut mit Armen und Ellbogen ein. „Das sind Methoden, die Sie auf Ihrem Präsidium anwenden können!" keuchte sie und schaffte es, den Beamten von Cel fortzuzerren, der nur wenig Widerstand leistete. „Aber hier sind wir in einem Krankenhaus!" Der Beamte gab nach. „Schon gut. Verzeihung. Ich
wollte weder Streit noch meine Kompetenzen überschreiten." Als die beiden Kampfhähne sich wieder der Patientin zuwendeten, wurden sie von einem Paar klarer, scharfer Augen gemustert. „Wo haben Sie Mr. Gideon hingebracht?" fragte Cel bestimmt. Die beiden wußten gar nicht, wie ihnen geschah. „Wen? Mr. Gideon? ...Wie geht es... dir... denn? Alles ... in... Ordnung?" stotterte die Schwester verdattert. „Ich möchte wissen, wo Mr. Gideon ist!" fuhr sie die Schwester unsanft an. Der Polizist wurde als erster mit der neuen Situation fertig. „Du meinst, wo sich Josua befindet?" „Josua?" Hatte er also daneben getippt. Hoffentlich stimmte wenigstens der zweite Name. Er versuchte es von neuem. „Achja, Saul heißt er, nicht wahr?" „Ja. Saul Gideon." „Damit wir uns nicht mißverstehen. Wir reden beide von dem alten Mann auf der Trage?" „Ich für meinen Teil, ja." Auf Cels Bestätigung hin holte er einen Notizblock aus der Brusttasche seines Hemdes und schrieb den Namen auf. „Weißt du auch, wo er wohnt?" Cel hob ihre Schultern. „Keine Ahnung. Ich kenne ihn erst seit ein paar Tagen." „Hat er eine Frau, Kinder, Verwandte oder Bekannte, die wir benachrichtigen können?" Sie überlegte. „Frau oder Kinder hat er keine. Das hat er mir mal erzählt. Und ansonsten bin ich überfragt." Plötzlich schoß dem Beamten ein merkwürdiger Gedanke durch den Kopf, dem er unverzüglich nachging. „Wie kommst du eigentlich hierher?" Sie blickte ihn verständnislos an, so daß er die Frage neu formulierte. „Ich meine, woher wußtest du denn, daß er einem Verbrechen zum Opfer gefallen war?" „Das wußte ich ja gar nicht." Über das Gesicht des Polizisten huschte eine Wolke der
Ungläubigkeit und des Verdachts. „Warum bist du dann ausgerechnet jetzt hier?" Den tieferen Hintersinn der Fragen nicht erfassend antwortete Cel unbefangen: „Ich warte auf meine Freundin Gina. Sie ist beim Röntgen. Mein Vater hat sie hergefahren, weil sie übel mit dem Fuß umgeknickt ist. Und da hab' ich sie natürlich begleitet." Nun meldete sich auch wieder die Schwester zu Wort, die die ganze Zeit über das stille Verhör verfolgt hatte. „Gina Sheehan heißt die Freundin. Die Aussage kann ich bestätigen, Officer. Ich habe sie selbst zur Röntgenabteilung gefahren." Der Beamte nickte zufrieden, bemerkte kurz: „Der Zufall war wieder am Werk", schaute auf seinen gähnend leeren Block und stellte nachdenklich fest: „Nicht viel, aber immerhin etwas." Er klappte ihn zu und steckte ihn zurück in die Hemdtasche. „Vielen Dank für deine nette Hilfe, mein Fräulein." „Nichts ist Zufall!" hielt Cel dagegen und setzte hinzu: „Sie sagten vorhin zu dem Doktor, bei Saul hätte eine Nachricht gelegen. Darf ich die mal sehen?" Ohne Zögern reichte er ihr die Bekenntnisschrift, die in durchsichtiges Plastik verpackt war, damit keine Spuren verwischt werden konnten. Indem er sie preisgab, konnte er nichts verlieren, sondern nur gewinnen, war seine Überlegung. Jeder Anhaltspunkt war von Bedeutung. Das Blatt besaß Schulheftformat und war feuerrot. Rechts oben befand sich in pechschwarzer Tinte ein Stempelaufdruck. Er zeigte den ftinfzackigenTeufelsstern auf einem Zacken stehend. In ihn hineingezeichnet war ein Ziegenkopf. Die Botschaft selbst war ein schwer leserliches Gekrakel aus drei Zeilen zu je sechs Wörtern, das Cel aber zu entziffern vermochte: „Die gerechte Strafe eines elenden Schnüfflers. Niemand sabotiert, ohne Vergeltung zu empfangen. Legion wacht, quillt an zum Sieg." KISS
„Hast du eine Ahnung, was mit .Schnüffler' und .sabotieren' gemeint sein könnte?" fragte der Beamte. Sie hatte! Aber sie zog vor, zu schweigen und statt dessen selbst eine Frage zu stellen. „Was bedeutet denn das ,KISS' am Ende?" Sie ahnte, daß die gleichnamige Rockband wohl kaum damit gemeint sein konnte, obschon sie ja nachweislich auch an dem Satans-Zirkel beteiligt war. Der Polizist antwortete bereitwillig. „Alle derartigen Schriften waren bisher so unterzeichnet. Bei manchen stand in Klammern die Bedeutung darunter. Deshalb weiß ich zuverlässig, daß ,KISS' die Abkürzung für ,Knights in Satan's Service',,Knechte im Dienste Satans', ist." Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Hast du wirklich keine Ahnung, wodurch der alte Mann sich den Zorn der Satanskirche zugezogen haben könnte?" Da wurde Cel bewußt, daß die vage Vermutung, die sie zu haben glaubte, absurd war. Sicher, er hatte Menschen auf die Schlichen der Knechte des Teufels aufmerksam gemacht, aber das allein konnte wohl kaum der Grund sein. Im Prinzip taten das viele. Nein, Saul Gideon mußte einen Schlag im großen Stil gegen die Kirche Satans ausgeführt haben, worauf sie mit einer brutalen Hinrichtung reagierte. Aber welchen? „Keine Ahnung", wiederholte sie traurig ihre Antwort von vorhin und gab ihm das Beweisstück zurück. Aufgrund der eingetretenen Stille hörte sie seit längerem mal wieder die Musik aus den Deckenboxen. Dennis DeYoung von der Gruppe ,Styx' sang: „Die Zeit ist endlich gekommen, die Maske wegzuwerfen. Jetzt kann jeder sehen, meine wahre Identität..." Schritte und das Geklapper von Metall wurden laut und lauter. Schließlich tauchten die beiden Krankenwagenfahrer mit ihrerTrage auf. Ihre Mienen verrieten alles. Im Vorbeigehen sagte einer der beiden mit unterdrücktem Groll: „Finden Sie die Mörder, Officer! Finden Sie diese Schweine!" Mörder? Man konnte doch erst von einem Mord sprechen, wenn ...!Tränen schössen Cel in dieAugen. Oh, nein!
Er durfte nicht tot sein! Er konnte nicht tot sein! Nicht ohne ...! Sie rannte einfach so schnell sie konnte drauflos. Daß der Polizist und die Schwester ihr nachriefen, davon nahm sie keine Notiz. „O Gott, er darf nicht tot sein! Jesus! Jesus!" schluchzte sie unaufhörlich, während sie einen Gang nach dem anderen entlang lief. Wohin? Niemand hatte ihr gesagt, wo er hingebracht worden war. Und doch wußte sie es. Er konnte nur auf der Intensivstation liegen. Personal, Besucher und Patienten hielten für Sekunden inne, um dem verzweifelten Mädchen nachzuschauen. Durch die Tränen in ihren Augen konnte Cel nur verschwommen ihre Umgebung wahrnehmen. Trotzdem stieß oder rempelte sie niemanden an und erkannte sogar das rote Hinweisschild an der Tür: Intensiv. Bei klarem Kopf hätte sie logisch bedacht, daß man gerade diese hochsensible Station nicht so ohne weiteres betreten konnte. So jedoch lief sie voll gegen die verriegelte Tür. Als habe der Knall ihres Kopfes gegen das Gitterglas sie wachgerüttelt, wurde sie sich der Situation und der Umstände bewußt und erinnerte sich an die Schelle. Heulend betätigte sie sie und wartete ungehalten. Sie schellte wiederum und wartete. Schellte, wartete. Schellte in einem fort. Ebenso stürmisch, wie geschellt wurde, wurde schließlich auch die Tür aufgesperrt, und eine empörte Schwester trat heraus. „Was fällt...", wollte sie den Unhold zur Räson bringen, als dieser auch schon an ihr vorbei hineingeschlüpft war. „Halt! Hiergeblieben! Sie dürfen da nicht rein!" rief sie hinterher und setzte dem Eindringling sogleich nach. Sie erreichte ihn hingegen erst, als er bereits in den Armen des Arztes zappelte. Bevor sie eine wütendeTirade vom Stapel lassen konnte, hatte der Arzt abgewunken. „Natürlich kannst du zu ihm", hörte sie ihn beschwichtigend zu dem Mädchen reden. „Die nette Schwester da gibt dir einen grünen Kittel und zwei Plastikstrümpfe, dann kannst du hinein. Das muß jeder Besucher machen, damit der Raum steril bleibt. Sonst erkranken die ändern
Patienten noch schlimmer. Und das willst du doch nicht, oder?" Cel schüttelte den Kopf. Sodann bedeutete der Arzt der Schwester mit einer Geste, das Nötige zu veranlassen. Die verdatterte Frau befolgte die Anweisung nicht ohne Widerwillen und kleidete Cel ein. Der Arzt brachte Cel selbst zum Bett des alten Mannes. „Hast du schon mal einen Sterbenden gesehen?" „Er ist gar nicht tot?" „Noch nicht. Aber er wird seine Verletzungen nicht überleben. Soll ich oder eine Schwester bei dir bleiben?" Cel brachte nicht mehr als ein schwach gehauchtes „Nein" über ihre Lippen. Sie stand nur noch wenige Schritte vom Bett entfernt, und zu sehr lahmte sie die Nähe des Todes. Der Arzt respektierte ihren Wunsch. Er wartete zwar ihre Reaktionen ab, bis sie direkt neben dem Bett stand, ließ sie aber dann allein, als sich keine Anzeichen von Ohnmacht oder Hysterie einstellten. Cel trat an das Bett, als begegnete sie nicht einem Sterbenden, sondern einem Schlafenden. Und wie man einen Schlafenden ansprechen konnte, so sprach sie den alten Mann an: „Tag, Saul. Ichbin's, Cel", flüsterte sie leise. Kein Muskel regte sich in dem bereits aschfahlen, eingefallenen Gesicht, auf dessen Stirn sie einenTeufelsstern mit Bannzirkel sah. „Kannst du mich hören, Saul?" Plötzlich begannen sich seine blutleeren Lippen zu bewegen, und sie hörte sein unverwechselbares zartes Stimmchen. „Cel, meine Tochter. Spuck dir auf einen Finger und fahre mit ihm über meine Stirn." Sie befeuchtete einen Finger mit Speichel und fuhr über seine Stirn. Der Stern verschwand, als radiere sie mit einem Gummi Bleistiftstriche aus. „Nimm einen Stuhl und setze dich her zu mir. Ich habe dir noch viel zu erzählen." Cel tat, wie ihr geboten, dann sprach der alte Mann leise weiter. „Cel, meine liebeTochter, so spricht der Herr zu dir, der dich gebildet hat: Fürchte dich nicht, denn ich habe
dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein. Wenn du durchs Wasser gehst, ich bin bei dir, und durch Ströme, sie werden dich nicht überfluten. Wenn du durchs Feuer gehst, wirst du nicht versengt werden, und die Flamme wird dich nicht verbrennen. Fürchte dich nicht, meine Tochter, denn du bist teuer und wertvoll in meinen Augen, und ich habe dich lieb. Nochmals sage ich dir, furchte dich nicht, denn ich bin mit dir. Siehe, das habe ich dir gesagt, auf daß du guten Mutes bist." Eine längere Pause trat ein. Dann fragte der alte Mann: „Cel?" „Ja?" „Würdest du mir aus der Bibel vorlesen? Sie liegt auf dem Nachttisch." Cel entdeckte sie sofort. Zusammen mit den anderen Wertsachen, die die Schwestern aus den Kleidungsstücken genommen hatten, lag sie auf dem Tisch neben dem Bett. Sie brauchte sich nicht einmal zu erheben. Bequem langte sie nach rechts und hielt sie in der Hand. Er nannte ihr zwei Stellen aus dem Johannes-Evangelium. Sie schlug auf und begann zu lesen: „Euer Herz erschrecke nicht! Vertrauet auf Gott und vertrauet auf mich! In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen; wo nicht, so hätte ich es euch gesagt. Ich gehe hin, euch eine Stätte zu bereiten. Und wenn ich hingehe und euch eine Stätte bereite, so komme ich wieder und werde euch zu mir nehmen, auf daß auch ihr seid, wo ich bin. Wohin ich aber gehe, wisset ihr, und ihr kennet den Weg." Ein glückliches Lächeln umspielte die Lippen des alten Mannes, und Cel glaubte, ihn bestätigend nicken zu sehen. Mit bewegter Stimme, die am Ende des letzten Verses fast gänzlich zu versagen drohte, las Cel die zweite Passage: „Wahrlich, ich sage euch, ihr werdet weinen und wehklagen. Die Welt wird sich freuen, ihr aber werdet trauern. Doch eure Traurigkeit soll in Freude verwandelt werden. Wenn eine Frau gebiert, so hat sie Traurigkeit, weil ihre Stunde gekommen ist. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst, um der Freude willen,
daß ein Mensch geboren ist. So habt auch ihr nun Traurigkeit. Ich werde euch aber wiedersehen, und dann wird euer Herz sich freuen, und niemand wird eure Freude von euch nehmen." Ergriffen, mit Tränen in den Augen, schloß Cel das Buch. Sie hatte verstanden. Es ging um die Wiederkunft Jesu. Cel empfand Schmerz und Freude zugleich. Klopfenden Herzens saß sie da, ihre Lippen aufeinandergepreßt und ihren Blick unverwandt auf das Gesicht Saul Gideons gerichtet. Es wirkte noch blasser als bisher, fast totenbleich. Innerlich spürte sie, daß sie soeben seine Wiedersehensworte gesprochen hatte. Seit er seine junge „Tochter" gebeten hatte vorzulesen, war kein Ton mehr über seine Lippen gekommen. Sein Mund war zu einem Strich geschlossen. Cel konnte dieses Gefühl des endgültigen Schweigens und des endgültigen Abschieds kaum aushallen. Würde er ihr denn kein „Wiedersehen!" mehr sagen? Plötzlich wurde ihr die Situation, in der sie sich befand, erst richtig bewußt. Dieser Saul Gideon würde nie mehr aufstehen, nie mehr mit ihr Spazierengehen, ihr nie mehr so wunderschöne Geheimnisse von Gott erzählen, sie nie mehr überraschen und aufheitern. Niemals mehr würde er sie mit seinem liebevoll entwaffnenden Lächeln und seinen warmen, braunen Augen ansehen, die in ihr gelesen hatten wie in einem offenen Buch. Sie erinnerte sich noch sehr genau an denTag, an dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Neun Tage war es nun her, daß ihm der Stock weggetreten worden und er auf den Asphalt gefallen war. Als passierte es jetzt gerade, sah sie deutlich, wie Gina und sie ihm aufhalfen, wie sie ins Gespräch kamen, wie ... Die Erinnerung schlug in ihr ein wie eine Bombe! Die Worte, die er ihr damals nachgerufen und von denen sie geglaubt hatte, sie falsch verstanden zu haben, diese Worte klangen auf einmal frisch und unmißverständlich in ihrem Ohr: „Das nächste Mal helfe ich dir hoch!" Das hatte er gesagt. Sie hörte den Zuruf ganz deutlich, als spreche er ihn jetzt noch einmal zu ihr. „Das nächste Mal helfe ich dir hoch!" Und auf einen Schlag erkannte
sie: Er hat sein Wort erfüllt, das er an diesem Tag gegeben hatte. Er hat sein Versprechen gehalten und ihr in wundervoller Weise aufgeholfen. Und heute, neunTage nach seiner Ankündigung, war es endgültig geschehen - sie stand! Er hatte sie nicht vom Asphalt aufgelesen. O nein! Er hatte viel mehr getan. Aus den Abwässern der Sünde und aus der Kanalisation der Hölle hatte er sie emporgehoben und befreit. Von nun an brauchte sie kein Rattendasein mehr zu fristen, sondern war zum Leben erwacht, zu ihrer ursprünglichen Bestimmung zurückgekehrt und ein geliebtes Kind des ewigen Gottes geworden. Jetzt war es ihr völlig klar: Gott hatte den alten Mann zu seinem Boten erwählt, um sie, Celeste Rousseau, die widerspenstige und entlaufene Tochter, zu ihrem himmlischen Vater zurückzuführen. Sie hatte am eigenen Leib erfahren, daß der Tod Jesu Christi auf Golgatha kein automatisches Überstülpen des Heils auf jeden Menschen bedeutete. Erst wenn man wie sie jetzt aufrecht und kerzengerade stand, begriff man, daß man die gesamte Zeit über im Dreck gelegen hatte. Aber viele Menschen gingen ihrem Leben nach, als wäre bereits alles in schönster Ordnung, eben weil sie nicht wußten, daß sie auf verlorenem Posten standen, daß sie das Leben eines Toten führten, daß sie erst die Kindschaft des Teufels abstreifen mußten und so lange von Gott getrennt bleiben würden, bis das geschah. Und geschah es nie im Leben, würde die Scheidung von Gott die Ewigkeit fortdauern müssen. Eine elende, grausame Konsequenz! Vor allem, wenn sie aus purer Unwissenheit resultierte. Ja, die Welt mußte die Wahrheit erfahren! Viele halfen schon, tödliche Viren auszurotten. Und sie, Cel Rousseau, würdejetzt auch helfen, die ewig-tötende Unwissenheit auszurotten! Sie sah das entwaffnende Lächeln des alten Mannes vor sich, sein bedeutungsvolles Nicken, als wolle er sie in ihrem gedanklichen Vorhaben ermutigen und stärken. Ein paar Stationen der neun Tage, in denen sie ein Stück ihres Lebensweges miteinander gegangen waren, liefen vor ihrem geistigen Auge ab. Im nachhinein durchschaute sie, daß jeder Tag eine tiefere Einweihung in Gottes Geheim-
nisse bedeutet hatte, daß jeder einzelne von ihnen eine Zurüstung zur Freude und ein Baustein im Fundament der großartigen Erbschaft gewesen war, die auf sie wartete. Die letzte Station war erreicht. Nun würden sich ihre Wege erst einmal trennen. Noch einmal begann Saul Gideon, etwas zu flüstern. Cel fühlte instinktiv, daß es das letzte Mal sein würde. „Ich habe den guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet. Fortan liegt für mich die Krone der Gerechtigkeit bereit, die mir der Herr zur Vergeltung an jenem Tage geben wird, der gerechte Richter. Aber nicht mir allein, sondern euch allen, die ihn liebgewonnen haben." Cel schluckte heftig und war der Auflösung nahe. Sie zerschmolz wie Wachs, als sie die dicke Träne sah, die aus dem Augenwinkel des alten Mannes kullerte. Verzweifelt stürzte sie sich auf seine Brust und umklammerte sie, so fest sie konnte, als könne sie ihn damit am Gehen hindern. Bittere Tränen ergossen sich auf den geliebten Freund. Dann, als sie wieder zu sich kam, bemerkte sie, daß sich der Brustkorb nicht mehr hob. Der alte Mann war tot! Oder? War er nicht jetzt endlich bei Jesus? Cel schöpfte ein kleines bißchen Hoffnung und dachte: .Christen sehen sich nie zum letzten Mal!' *
Die Fahrstuhltür glitt auf, und Mrs. Sheehan und Mr. Rousseau traten heraus. „Wollen Sie schon zum Wagen gehen, während ich Cel eben hole?" Mrs. Sheehan nickte, und so gab er ihr die Wagenschlüssel. Dann machte er sich auf zur Ambulanz. Er befand sich gerade auf dem Flur dorthin, als am oberen Ende aus einem Nebengang Celeste auftauchte. „Cel! Hallo, Mäuschen!" rief er ungeniert, auch wenn er dafür einige wenig freundliche Blicke kassierte. Cel reagierte sofort und kam auf ihn zugelaufen. Ihre erste Äußerung betraf Gina und ihr Befinden. Mr. Rousseau kratzte
sich im Nacken. „Tja, es sieht durchwachsen aus. Die Röntgenaufnahmen zeigten einen Bänderanriß. Gina ist gleich auf die chirurgische Station gebracht worden. Daher hat es auch so lange gedauert. Der Chefarzt ist gerade bei ihr, und vielleicht muß sie noch heute operiert werden." Cel erwiderte nichts, sondern hängte sich schweigend am Arm ihres Vaters ein. Gemächlich schlenderten sie den Flur zurück in Richtung Ausgang. Aus den Lautsprechern über ihnen trällerte die Band ,Duran Duran' vergnügt ihren Hit,Union of the Snake': ,... befindet sich im Anstieg. Der Bund der Schlange befindet sich im Anstieg ...'
John Rockwell Trommelfeuer Oft erst auf den zweiten Blick wird deutlich, was die Stars der internationalen Musikszene tatsächlich erreichen wollen: die totale Entfremdung der Jugendlichen von ihren Eltern und der Gesellschaft. Um dieses Ziel zu erreichen, um alte Normen und Werte außer Kraft zu setzen, ist jedes Mittel recht. Da findet sich die Beschreibung „himmlischer" Trips neben der Verherrlichung von Sex und Gewalt und unverblümtem Satanismus. John Rockwell, ein Insider der amerikanischen Musikszene, deckt die Machenschaften verantwortungsloser Plattenbosse schonungslos auf. Mit zahlreichen Beispielen weist er die Gefährlichkeit nach, die gerade von Texten der Rockmusik ausgeht. Das Buch ist eine notwendige Ergänzung für die Diskussion um Rockmusik und eine wichtige Informationsquelle für alle, die in dieser Diskussion stehen. Taschenbuch, 128 Seiten Best.-Nr. 15549 Dan & Steve Peters/Cher Merrill Manipulation im Rückwärtsgang Was ist „backward masking"? Schon seit den Beatles gibt es Anzeichen dafür, daß manche Rock- und Popstars ihre Platten mit verborgenen Botschaften versehen. Warum und wie tun sie das? Und - was noch wichtiger ist - wie beeinflussen diese Botschaften die Hörer? In dem Bestseller „Rock im Rückwärtsgang" von Michael Buschmann wurden diese Fragen bereits erzählerisch verarbeitet. Hier ist nun ein Sachbuch, das Fakten vorstellt und unterschiedliche Standpunkte zum Thema „backward masking" beleuchtet. Es richtet sich an alle, die mehr darüber wissen und zu einer eigenen Meinung gelangen wollen. Taschenbuch, 144 Seiten Best.-Nr. 15671