Rod Jones Julias Paradies Roman Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Kalka
Klett- Cotta
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Rod Jones Julias Paradies Roman Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Kalka
Klett- Cotta
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Julia Paradise« bei McPhee Gribble Publishers Pty Ltd © 1986 Rod Jones © für die deutsche Ausgabe Ernst Klett Verlag für Wissen und Bildung GmbH, Stuttgart 1990 ISBN 3-608-95681-6
Rod Jones Julias Paradies Roman Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Kalka
Klett-Cotta
Für Chris
In nicht wenigen Fällen, besonders bei Frauen und wo es sich um Klärung erotischer Gedankengänge handelt, wird die Mitarbeiterschaft der Patienten zu einem persönlichen Opfer, das durch irgendwelches Surrogat von Liebe vergolten werden muß. Freud, Zur Psychotherapie der Hysterie
Dummheit besteht ja darin, daß man zu Endergebnissen kommen möchte. Wir sind ein Faden, aber wir wollen das ganze Gewebe kennen... Flaubert, Briefe
Teil Eins
Seit
einigen Jahren hatte ein schottischer Arzt mit Namen Kenneth Ayres - allgemein bekannt als »Honeydew« Ayres - von britischen Patienten der Internationalen Zone gelebt, insbesondere von Reisenden, die im Astor House Hotel abstiegen. Neuankömmlinge entdeckten bald, daß »Honeydew« vom Tabak kam, der Ayres zur Gewohnheit geworden war: Gallaher's Honeydew, mit dem er sich ständig die Pfeife stopfte. Später mochten sie geflüsterte Gerüchte hören, daß es noch einen anderen, zwielichtigeren Grund für den Beinamen gab. Im Frühjahr 1927 war Ayres vierunddreißig, und er machte großen Eindruck, nicht zuletzt wegen seiner äußeren Erscheinung. Er war groß und breit, ein Zwei-Zentner-Mann, eingeschnürt in einen unbehaglichen steifen Kragen und einen blauen Sergeanzug. Wenn er seine Leibesfülle aus dem Klub zurück ins Hotel bewegte (sein Appartement im zweiten Stock des Astor House umfaßte auch sein Sprechzimmer), mußte Ayres oft innehalten und keuchend eine kleine Pause machen. Rikschakulis mußten sich anstrengen, um im Gewühl des Nachmittags Verkehrs von Schanghai Ayres' Gewicht in Bewegung zu setzen. Man hätte ihm im Schanghaiklub begegnen können - er besaß dort eine provisorische Mitgliedschaft, die irgendwie nie zu einer ständigen wurde, aber auch nie erlosch - an der ihm angemessenen Stelle halbwegs die lange Theke der Bar hinab in der Gruppe der sogenannten »Freiberufler« neben den Geschäftsführern der Unternehmen und den Hauptbuchhaltern. Oder er wäre im ersten Stock anzutreffen gewesen, in einem der tiefen ledernen Klubsessel, mit einem Glas Brandy und seiner Pfeife nach Tisch, im Gespräch mit einem anderen jungen Mann, vielleicht eben erst im Osten angelangt. Denn von seinem Körperumfang abgesehen, war das andere, was an Ayres beeindruckte, seine Konversation. Drei Dinge gab es, von denen er gerne erzählte: Edinburgh, wo er seine Kindheit verbracht und die Universität besucht hatte; Sigmund Freud, unter dessen Ägide Ayres ein Jahr lang in Wien studiert hatte und dem er mit seinem Bart entfernt ähnelte; und schließlich liebte es Ayres, sich über seinen Landsmann J. M. Barrie zu unterhalten,
dessen Stück Peter Pan er in der Londoner Premierensaison 1904 mit seinem Vater während der Schulferien gesehen hatte, wobei er sich prompt in die Schauspielerin verliebt hatte, welche die Wendy gab. (Barrie sollte übrigens, ganz nebenbei bemerkt, 1930 Rektor der Universität Edinburgh werden.) Ayres war nach jedem Maßstab außer dem seinen erfolgreich. Er war der Sohn eines schottischen Colonels, und nach dem Schulabschluß hatte er seinen Vater enttäuscht, indem er sich weigerte, in sein Regiment einzutreten, und sich statt dessen der Medizin zuwandte. Während des Studiums in Edinburgh hatte er begonnen, sich für die Behandlung nervöser Störungen zu interessieren. Im Krieg arbeitete er in einem Militärhospital in Herefordshire mit Schockpatienten, die aus den Schützengräben zurückgekehrt waren. Er lernte unter den Krankenschwestern ein Mädchen aus der Gegend kennen und heiratete sie. Als nach dem Kriege ihre Familie bodenständige, alteingesessene Leute - anfing, sich im Landkreis nach einer sicheren Praxis für ihn umzusehen, zeigte sich seine kaledonische Unruhe, und eine Zeitlang reisten Ayres und seine junge Frau durch Europa. Zuerst dachte er daran, am Hospital seine Arbeit mit den gestörten Patienten fortzusetzen, doch dann verbrachte er ein Jahr in Wien als Mitglied von Freuds Graduiertenseminar, was sich mühelos und ganz zufällig zu ergeben schien. Ayres war nicht genial, doch er war ein begabter und gewissenhafter Student. Er stand im Schatten der brillanten Leuchten in Freuds Kreis, aber selbst für mittelmäßige Männer kommt ein Jahr, da ihr Leben scheinbar eine klare Richtung erhält, und für Ayres war es dieses Jahr in Wien. Doch sollte ihn in jenem Winter 1919 noch etwas Größeres treffen: die Grippeepidemie. Seine Frau erkrankte in Wien und starb noch vor der Ankunft in London. Drei Jahre lang arbeitete Ayres bis zur Erschöpfung, um seinen Schmerz zu vergessen; konnte es nicht; und entschied sich für das andere große Linderungsmittel der Engländer: die Schiffskarte nach Osten. Er fuhr mit Zielort Sydney ab, doch verließ er, einer Laune folgend, das Schiff in Schanghai und lebte seitdem dort.
Ayres war in Schanghai mehr oder weniger ein Außenseiter geblieben. Er verbrachte seine Tage im Rennklub und in der Bar, doch unter all seinen Bekannten konnte er keinen seinen Freund nennen. Gesellschaftlich begegneten ihm die Briten mit höflichem und respektvollem Mißtrauen. Es war, als hätte er, dessen Terminkalender mit all den Namen ihrer Gattinnen und Töchter und deren kleinen Unpäßlichkeiten, ihrer Hysterie und den nervösen Zusammenbrüchen nach beendeten Liebesaffären gefüllt war, schon genug von ihren Geheimnissen erfahren, und sie hielten Distanz zu ihm. An China, dieser ungesunden Traumlandschaft des Leids, hatte er keinerlei Interesse. Er war nicht wie jene Engländer, die Mandarin lernten und gelehrte Studien aufnahmen. Das Beste an Schanghai war für Ayres, daß es ein Ort der Durchreise war. An der langen Bar oder im Foyer des Astor House beobachtete Ayres all jene anderen fremden Leben, die vorbeizogen - die Engländerinnen (selbst die Gesunden unter ihnen sahen blaß und krank aus), die jungen Abenteurer, die angehenden Maler und Schriftsteller, darauf aus, einen Fünfer zu schnorren; die jungen, rosigen amerikanischen Missionare, die, wie es schien, durch ihre bloße Anzahl Christus in China zu verbreiten hofften. Manche von ihnen waren unerträglich langweilig. Sie waren ausgelaugt und fanatisch und sprachen von nichts anderem als vom Christentum und von China im selben Atemzug. Andere waren verängstigt, die Neulinge, deren einzige Großstadterfahrung in den drei Tagen San Francisco bestand, bevor ihr Schiff auslief, und die nun, konfrontiert mit Lärm und Anblick von acht Millionen Heiden, plötzlich spürten, wie ihr Glaube Risse und Sprünge bekam. Sie hatten verschwitzte Hände und eingesunkene Augen und hofften, ihre Angst würde sich nicht auf ihren Gesichtern zeigen. Manchmal tauchten sie nach Monaten wieder auf, gebrochene Männer, verstörte Frauen, fortan nur noch Teil des großen Müllhaufens der Großstadt und oft Opfer von Rauschgiften. In eben jenes Foyer des Astor House Hotel kam spätnachmittags an einem Samstag eine Frau gerannt, blieb zögernd stehen, wandte sich um und war wieder hinter den Glasscheiben der sich noch immer bewegenden Drehtür verschwunden, so plötzlich, wie sie erschienen war. Ayres hatte ihr Gesicht nur ganz kurz gesehen. Ihre Augen, die verwirrt funkelten, zogen seinen Blick an. Er bemerkte, daß sie dem
Hotelangestellten an der Rezeption auch aufgefallen war, der vielleicht vermuten mochte, sie sei eine Prostituierte. All dies geschah in kaum einer Sekunde; als Ayres sie bemerkte, war sie bereits auf dem Rückzug. Augenblicke später war sie wieder da, diesmal an den Arm eines Geistlichen geklammert. Der trug einen Hut, einen Priesterkragen aus Zelluloid, einen dunklen Anzug und schleppte seinen Pappkoffer selbst, obwohl ihm ein Träger durch die Tür gefolgt war, der nichts zu tun hatte. Die Frau war noch immer verschreckt und verwirrt. Als der Angestellte an der Rezeption, ein Chinese, die beiden ansprach, kreischte sie auf, tastete hinter sich nach einem der bequemen Foyersofas, setzte sich und schlief sofort ein, zur nicht geringen Verwunderung des Angestellten. Der Missionar schlurfte schüchtern zum Empfang, immer noch seinen Pappkoffer fest in der Hand, um sich zu erklären. Ayres verfolgte all dies mit seinem gewohnten distanzierten Interesse und war überrascht, den Chinesen in seine Richtung deuten zu sehen; und dann zu sehen, wie der Geistliche mit demselben unsicheren Schritt auf ihn zutrat und den Hut abnahm. Er war ein Mann um die fünfzig, schätzte Ayres, blond, mit schütterem Haar und blaßblauen Augen. Als er zu sprechen begann, erfuhr Ayres, daß sein Name William Paradise war, daß er für die Methodistenmission in Schanghai tätig war und daß er, seinem harten Akzent nach zu schließen, Australier war. »Meine Frau«, sagte er langsam, »hat kürzlich so etwas wie einen Schock erlebt.« Ayres schien nicht besonders beeindruckt. Er warf den Stummel der Zigarre, die er geraucht hatte, in den Messingspucknapf, zog sein großes Taschentuch hervor, wischte sich eine Speichelflocke aus dem Mund, betrachtete sie prüfend, schob das Taschentuch wieder ein und tastete nach seiner Pfeife. »Ich fürchte, es hat sie alles etwas aufgeregt.« Der Mann hielt inne und starrte Ayres unsicher an. »Alles ist ihr wohl ein wenig zuviel geworden. Ich fürchte, es hat bei ihr ganz ausgehakt.« Ayres sah durch das Foyer zu der ruhig schlafenden Frau hinüber. Sie war klein, unauffällig, durchschnittlich, unbestimmten Alters, und
sie trug ein schwarzes Wollkostüm. Reverend Paradise sagte: »Wären Sie so gut, sie zu untersuchen?« Ayres fand seine Pfeife und betrachtete die schwarze Teerschicht im Kopf angewidert. »Bringen Sie sie am besten nach oben. Versuchen Sie, sie zu wecken. Oder wenn Sie wollen, können ein paar Boys sie in eine Karre laden und im Gepäckaufzug hinaufbringen. « Der andere sagte entschuldigend: »Der Fall meiner Frau hat vor Ihnen schon mehreren Ärzten Rätsel aufgegeben.« Dann fügte er noch hinzu: »Ich erwarte keine Wunder von Ihnen.« Ayres' Zimmer lagen im zweiten Stock, der mit dem Erdgeschoß durch einen notorisch unzuverlässigen Lift verbunden war, einen Eisenkäfig, der in all seinen Kabeln und Rollen stöhnte und schulterte, selbst wenn er funktionierte. Er war der Fluch von Ayres' Leben: als schwergewichtiger Mann haßte er Treppen. An diesem Samstagnachmittag - Ayres' gewohnte Teestunde war schon vorüber - funktionierte der Aufzug, wenn auch der Liftboy nirgends zu sehen war. Ayres ging an dem kleinen Holzverschlag mit dem Schiebefenster vorbei und sah den Boy drinnen in eine Decke gewickelt schlafend auf seinem Stuhl sitzen. Er stieg die drei Stufen zur Tür des Aufzugs empor, öffnete das eiserne Scherengitter und winkte den Missionar mit seinem Koffer in den Lift. Die Tür schloß sich, und er betätigte den Hebel. Die Kabel zitterten und wimmerten, und sie fuhren aufwärts. Ayres sah noch, wie zwei Träger die schlafversunkene kleine Frau in eine hölzerne Karre luden. Zunächst schien es Reverend Paradise Unbehagen zu bereiten, die intimen Details der Erkrankung seiner Frau einem Fremden preiszugeben, doch als er seine Geschichte erst einmal begonnen hatte und in Fahrt kam, machte er auf Ayres den Eindruck eines freundlichen, intelligenten Mannes, dessen erstes Anliegen es war, daß seine Frau wieder gesunden sollte. Beim Sprechen nickte er von Zeit zu Zeit, wie um sich selbst die Wahrheit seiner Worte zu bekräftigen. Ayres konnte sich folgende Geschichte zusammenreimen: Während ihres ersten Jahres in diesem Lande war die Frau immer wieder von dem Verlangen überfallen worden, tagsüber zu schlafen. Sie war früher bei der Erledigung ihrer Pflichten als Lehrerin äußerst energisch gewesen. Im Verlauf dieser Anfälle von Schläfrigkeit hatte
sie begonnen, einzelne deutsche Sätze zu sagen. Als Kind hatte sie ihren Vater daheim deutsch reden hören, obwohl sonst in jeglicher Hinsicht Englisch ihre Muttersprache war. Ihr Gatte konnte kein Deutsch. Das Verlangen nach Schlaf wurde von schlafähnlichen Zuständen begleitet, die zu ganz verschiedenen Tageszeiten auftraten »Wachträume«, wie Reverend Paradise sie nannte. Selbst beim Essen und während der Unterhaltungen mit Besuchern der Missionsstation schlief die Frau des Missionars buchstäblich im Stehen ein. Auf einer langen Evangelisierungsreise durch das Landesinnere mit verschiedenen englischen Missionaren (Lehrern und Ärzten) hatte seine Frau begonnen, über gewisse Störungen ihres Sehvermögens zu klagen. Bei der Gruppe befand sich ein englischer Arzt, der ihr Sedativa verabreichte. Als jedoch diese Behandlung aufhörte, kehrten die Sehstörungen zurück, und er nannte sie nun anders: Halluzinationen. Einfach ausgedrückt: Sie fing an, Tiere zu sehen, die nicht da waren. Diese Zoopsie nahm viele Formen an - ein Triumph der Phantasie, wären es bewußte Erfindungen gewesen. Sie sah Mäuse, Ratten, Insekten, Schlangen; ihre Vorstellungskraft schien die klassischen Ekeltiere zu wählen. Eine ihrer hartnäckigsten Halluzinationen war eine kleine grellgemusterte Schlange, die sich am Rande ihres Blickfeldes über den Boden bewegte. Ihre Zoopsie wurde vom Entsetzen vor realen Tieren begleitet. Die bloße Berührung eines Fells, selbst an einem Mantel, verursachte ihr Übelkeit. Ihr kleiner Hund, den sie früher zärtlich verwöhnt hatte, erschien ihr nun ekelhaft, und sie tötete ihn in einem Anfall des Entsetzens mit einem Spazierstock. Ein ernstes Problem - im Hinblick auf die Tätigkeit der beiden als christliche Missionare in diesem Land - ergab sich daraus, daß die Patientin eine aggressive Form von Sinophobie entwickelte und die Einheimischen, selbst christliche Chinesen, mit denen sie zusammenarbeiteten, als Hunde bezeichnete. Auch traten gravierende Halluzinationen von Feuer auf. Sie meinte, sie sei (oder würde gleich) in einem brennenden Gebäude eingeschlossen. Diese Halluzinationen verzehrten sie, schleuderten sie in Paroxysmen des Schreckens bis hin zu dem Punkt, wo sie den Qualm roch, das Knistern der Flammen und
die Schreie der anderen Opfer hörte und die Hitze des Feuers an Händen und Gesicht spürte. Sie war mit ihrem Gatten zu der kleinen Missionsschule zwanzig Meilen hinter Schanghai zurückgekehrt, wo sie augenblicklich wohnten und arbeiteten. Sie beschimpfte jetzt sogar ihre europäischen Kollegen. Sie war eine peinliche Last für ihren Mann, doch ein Kreuz, das es zu tragen galt. Sie war unverschämt zu Besuchern und machte ihrem Mann furchtbare Szenen. Sie hatte Anfälle, bei denen sie den Kopf gegen die Wand schlug, sich die Knöpfe von den Kleidern riß und ihre Nacktheit zeigte. Ihr Wahn steigerte sich so sehr, daß sie mehr und mehr in ihrem Zimmer blieb. Sie lebte in einer vom täglichen Leben der Missionsschule fast völlig getrennten Dämmerwelt. Sie führte das abgeschottete Leben einer Kranken und wurde zunehmend abhängig von Medikamenten. Perioden völliger Erschlaffung wechselten mit dem Aufblitzen brillanter Halluzinationen, während derer sie manchmal bis spät in die Nacht hinein schrieb, in jene einfachen Hefte, in welche die Schüler ihre Übungstexte eintrugen. Während dieser »kreativen« Perioden verließ sie manchmal ihr Zimmer und durchstreifte das Gelände der Missionsstation und die umliegende Landschaft im Zustand großer Erregung. Zu anderen Zeiten nahm sie den Zug nach Schanghai und wanderte bei Nacht oder Tag mit ihrer Kamera durch die gefährlichen und unhygienischen Chinesenviertel - eine ihrer Wahnvorstellungen war es, daß sie sich für eine »ernsthafte« Photographin hielt. Zu solchen Zeiten war ihr Benehmen oft aggressiv und abweisend, und sie wurde ein regelmäßiger Gast in den Polizeizellen der Internationalen Zone. Am Abend zuvor war sie zu einer dieser Eskapaden aufgebrochen, und Reverend Paradise war den ganzen Morgen umhergelaufen, um sie zu suchen. Endlich hatte er sie, in ihrem augenblicklichen elenden und erschöpften Zustand, in einem von Arbeitern besuchten Teehaus gefunden; von dort hatte er sie hierhergebracht. Reverend William Paradise beendete seine Geschichte in ähnlich bemitleidenswerter Erschöpfung. Er fuhr sich mit dem Taschentuch über die erhitzte, gerötete Stirn. Ayres sah ihn aus seinem Sessel mit ruhig prüfendem und halb verächtlichem Blick an. »Ich sollte
vielleicht erwähnen«, sagte er mit leiser Stimme, »daß solche Fälle hierzulande häufig, nahezu trivial sind.« Ein ungläubiger Klagelaut entfuhr dem Geistlichen. »Fälle wie der meiner Frau, sagen Sie?« »Ich habe ganze Krankensäle voll neurotischer Engländerinnen gesehen, die meisten Opfer des Ehrgeizes ihrer Männer in der Kolonialverwaltung. Manche sind auch nur bis obenhin voller Gin und werden dort erst einmal trockengelegt und ruhen sich aus.« Der andere sagte mit seiner leisen, bittenden Stimme: »Wir sind Methodisten.« Ayres betrachtete ihn; hinter seinem Bart schien sich sein Mund amüsiert zu verziehen. Er sagte: »Wir machen Asien dafür verantwortlich. Früher oder später werden die Frauen nach Hause geschickt, und ich glaube wohl, daß in vielen Fällen Heimweh als Erklärung genügt.« »Und meine Frau fällt Ihrer Ansicht nach in diese Kategorie?« »Durchaus nicht. Ich wollte Sie lediglich darauf hinweisen, daß ich sehr schwere Fälle von Demenzen bei europäischen Frauen hier in China gesehen habe, und daß am Ende die Kur ganz einfach eine Schiffskarte nach Hause war.« »Wir sind hier zu Hause, Ayres. Dies ist jetzt unsere Heimat. Wir haben eine Mission.« Ayres schaute ihn an und bemühte sich nicht, seine Verachtung zu verbergen. Der andere erkannte dies und fuhr rasch fort: »Aber Sie sind so gut und untersuchen sie?« »Ich werde sie untersuchen.« Ayres versuchte zu lächeln, was jedoch die Beunruhigung seines Besuchers nur erhöhte. »Wie Sie sagten: keine Wunder. Gehen Sie wieder hinunter und trinken Sie einen Tee, und ich schaue, was ich für sie tun kann. Versuchen Sie den Strudel. Man serviert hier gute Sachen zum Tee.«
Julia Paradise war wach. Sie lag auf seinem Lederdiwan und sah sich in dem fremden Zimmer um, in dem sie zu sich gekommen war. Verschiedene Mienen glitten über ihr Gesicht: Verbissenheit, Erstaunen, wieder eine momentane Erschlaffung, dann der Ausdruck völliger, rührender Niedergeschlagenheit. Wenn sie sprach - hie und da ein Wort auf Ayres' Fragen - , klang ihre Stimme undeutlich wegen des Speichels, der hin und wieder aus ihrem Mundwinkel rann. Hübsch war sie nicht. Ihr dunkles Haar war kurz und doch wirr, und ihre Augen erschienen unnatürlich groß wegen ihres mageren Gesichts. Ihre Haut war blaß und wirkte blutlos und ungesund. Ihr nervöser kleiner Körper war ausgezehrt, als hätte er sich nie gerundet, wäre noch immer der eines Mädchens, und anscheinend hatte sie keine Brüste. Es war Ayres unmittelbar klar, daß die zuckende Erregung ihrer Gesten und das regelmäßige Versinken in den Ausdruck maskenhafter Apathie die Symptome einer ernsten nervösen Erkrankung waren. Die Maske verzog sich von Zeit zu Zeit ohne Vorwarnung in krampfhafte tics douloureux. Ihre Hände waren besonders dünn, die Haut spannte sich über den Knöcheln, und die Finger selbst waren gerötet und schuppig wie von einer Dermatitis. Ihr Gesicht mit den dunklen Augen, scharf sich abzeichnenden Wangenknochen und dem kurzgeschnittenen Haar war von solcher Hagerkeit, daß Ayres sich fragte, ob sie nicht doch ein organisches Leiden haben mochte und das Opfer einer auszehrenden Krankheit war. Nach dem Bericht ihres Mannes war er zu dem Schluß gekommen, daß sie hysterisch war; eine Hypothese, die sich offenbar mit der des zuvor hinzugezogenen Arztes traf. Dann lächelte Ayres plötzlich grimmig. Er ging zum Schreibtisch und packte langsam und methodisch seine Tasche aus. Er war nicht so weit Spezialist, daß er es nicht auch mit den normalen Beschwerden der Hotelgäste zu tun gehabt hätte, Magenverstimmungen und Diarrhöe, Halsentzündungen und Grippe; das, was das tägliche Brot des unbedeutenderen Arztes war, beschäftigte auch ihn neben seinen Streifzügen in die exotischen Gärten des Bewußtseins. Er sortierte den Inhalt seiner Tasche - das Stethoskop, den Blutdruckmesser, die große
verchromte Injektionsspritze und die Dose mit den Nadeln, und dann die andere Dose, welche die Ampullen mit Morphium enthielt. Die kleine Frau, auf den Rand des Diwans gekauert und sich von Zeit zu Zeit das Kinn mit dem Handrücken abwischend, beobachtete ihn nun mit glänzenden Augen. Er ging zu ihr und half ihr, die schäbige schwarzwollene Kostümjacke auszuziehen, und dann rollte er den Ärmel ihrer Bluse hoch. Er hatte richtig geraten. Innen war ihr rechter Arm mit Einstichstellen übersät. Er schaute sie an, doch sie blickte auf ihren Arm hinab, und ihr Gesicht verriet keinerlei Empfindung. Als er dann zum Schreibtisch hinüberging, um sich Spritze und Ampulle zu holen, hörte er den Laut, den sie ausstieß, eine Art tiefes heiseres Knurren in der Kehle - genau den Laut, den ein krankes Tier macht. Ein Schluchzen, ein Schniefen, das Geräusch des eingesaugten Speichels. Er nahm die Flasche Alkohol und einen Wattebausch. Sie streckte den Arm aus und wartete. »Heute nicht«, sagte er. »Wir lassen, glaube ich, Ihren Arm etwas ausruhen.« Er hob ihren Rocksaum über die Knie, über den unförmigen Wulst ihrer aufgerollten Strümpfe. Er rieb das Fleisch mit Alkohol ab; dann hob er die Spritze, durchstach die straffe Gummimembran der Ampulle und zog den Inhalt auf. Sie zuckte zusammen, als er die Nadel in ihren sauberen weißen Schenkel drückte.
Es schien, als sollte Ayres nun endlich an diesem Nachmittag seine Ruhe haben. In seinen Räumen kam es ihm dunkel, still, leer vor. Er hatte jetzt nichts mehr zu tun, war auf unklare Weise verärgert; für gewöhnlich gönnte er sich den freien Samstagnachmittag, der in England üblich ist. Ayres ging zurück ins Arbeitszimmer — ein großer Raum vorne, der auf die Straße sah. In einer Ecke war ein prachtvolle s Fenster aus bernstein- und rosenfarbenem Buntglas — eine Merkwürdigkeit m einem Hotelzimmer, wie er immer gedacht hatte. Die Kacheln um den kleinen Kamm paßten farblich zu dem Bernstein glas. Ein einsamer Samstagnachmittaggeruch hing in seinen Zimmern. Der Geruch alter Möbelpolitur und der leichte Duft von
Orangen, der ihn aus irgendeinem Grund an Reverend William Paradise erinnerte. Ayres ließ die Jalousien herunter, zog die Vorhänge zu und schaltete dann die beiden Stehlampen an, deren Licht in unregelmäßigem Rhythmus aufstrahlte und verglomm, je nach der schwankenden Stromproduktion der Elektrizitätswerke von Schanghai. Dann ließ er seinen schweren Körper in den Kaminstuhl sinken, einen großen Lehnsessel mit einer holzgeschnitzten Lehne und aufgepolstert mit burgunderrotem Samt und gestreiftem, abgestepptem Damast. Auch hatte er seine Leselampe mit dem grünen Schirm angemacht, obwohl er nicht die Absicht hatte, sich an den Schreibtisch zu setzen, wo sich dicke Bündel Briefe und englische Zeitungen und Zeitschriften stapelten. Die Tür des Arbeitszimmers öffnete sich, und sein chinesischer Boy kam mit einem Kaffeetablett herein. Als er wieder ging, streckte Ayres den Arm aus und goß sich eine Tasse ein, um sich dann wieder zurückzulehnen, in Weste und Hemdsärmeln. Er trank in kleinen Schlucken; etwas beschäftigte ihn. Vielleicht hatte er Kopfschmerzen, doch sein Gesicht war wie das eines Menschen, der versucht, sich an etwas Vergessenes zu erinnern, und trug nicht so sehr den Ausdruck plötzlichen Schmerzes. Eine Ader pochte an seiner Schläfe, ein leises, hartnäckiges Klopfen, als ob er an etwas gemahnt werden sollte. Nun kam der Boy wieder, diesmal mit Ayres' Rauchgerät. Dies bestand aus einer kleinen Spirituslampe, zwei Pfeifen und einem kunstreich geschnitzten Jadekästchen. Wortlos wurden die Pfeifen gestopft. Der Boy nahm ein Kügelchen klebriges Opium und rollte es zwischen Daumen und Zeigefinger, dann spießte er es auf die Nadel und ließ es in einer Spiritusflamme backen, bis es knisterte. Als Ayres sich mit der an den Mund gehaltenen Pfeife vorbeugte, schob der Boy die Nadel in den Kopf. Die Pfeife knisterte, und Ayres sog den Rauch in die Lunge. Der Boy präparierte die zweite Pfeife ebenso und ging. Ayres rauchte auch diese und lehnte sich im Sessel zurück. Eine lange Zeit verging. Seine Gedanken wollten nicht die Ruhe seiner Trance durchbrechen, indem sie zu ihm sprachen. Er spürte, wie ein Gedanke sich in ihm erhob und dann wieder zerging, ehe er ihn erkennen konnte. Er spürte, daß er unmittelbar davor stand, sich selbst etwas Entscheidendes zu
gestehen, doch daß er sich von einem solchen unwiderruflichen Schritt zurückhielt wie vor einem Schuldgeständnis: so mochte zum Beispiel einem Mörder zumute sein.
Zwei- oder dreimal die Woche war es Ayres' Gewohnheit, in die Stadt zu gehen und seine Malerfreunde zu besuchen. Der neueste von diesen Künstlern war ein gewisser Morgan, ein junger Absolvent der Slade School in London und schottischer Landsmann. Als Ayres ihn kennenlernte, lebte er wie ein Tier, hungrig, in einem kahlen ungeheizten Zimmer im Chinesen viertel, wo er zum Schlafen nur eine Matte auf den Steinboden legte und seine Bilder (wenn er sich Farben leisten konnte) auf die Seiten alter Holzkisten malte. Ayres spielte den Mäzen und verschaffte dem Mann eine angemessenere Unterkunft im alten Amerikanischen Freihafen, gab ihm ein wöchentliches Taschengeld und bezahlte den Lohn für die Modelle. Diese Modelle waren stets chinesische Mädchen, die kaum das Kindesalter hinter sich hatten. Wahrscheinlich wären beide Männer schockiert gewesen, hätten sie ihr tatsächliches Alter gekannt. Es waren Prostituierte, die Ayres selbst in einem Haus in der Straße des Sprudelnden Brunnens besorgte. Nachdem der Maler sich ihrer den ganzen Tag bedient hatte, bediente sich manchmal Ayres ihrer des Nachts. Da diese Mädchen alle dünn und klein waren, ergab der sexuelle Gegensatz zu seinem eigenen unförmigen Körper ein fast schmerzhaftes Bild; es war, was er wollte. Nachts in der Wohnung des Künstlers nahm er sie immer in derselben Stellung: von hinten. Alle diese Mädchen waren in seiner Begriffswelt »Wendys«, mit ihren schmalen, knabenhaften Körpern, ungeformten Brüsten, knochigen Hüften und schlanken Armen. Ayres war sich hierüber nachsichtig klar. Er war vertraut mit Freuds Bemerkung, daß »irgendein perverser Zug im Geschlechtsleben normaler Menschen selten fehlt«. Anschließend zahlte er manchmal für Künstler und Modell einen Drink und etwas zu essen in einem der Nachtklubs des Viertels. Und dort, vor dem Haus in der Szetschuanstraße, das Morgan bewohnte, gleich neben dem Postamt, sah er Willy Paradises kleine Ehefrau, spät in jener Nacht nach ihrer seltsamen Konsultation am Samstagnachmittag.
Er hatte gerade den Hut aufgesetzt und den Mantel angezogen und war die Treppe her abgekommen. Es war, als hätte sie an der Tür gestanden und wäre sich unschlüssig gewesen, ob sie eintreten solle, als Ayres erschien. Sie wandte sich rasch ab und ging, eingehüllt in ihren dicken Mantel, ihren Korb umklammernd, die Straße entlang davon. Es war beinahe Mitternacht, und die Straße war verlassen. In den Eingängen des Postamtes kauerten sich Bettlerfamilien zusammen und suchten Schutz vor dem Wind. Nun rannte die kleine Frau mit solch drängender Hast, daß die Bettler ihr mit den Augen folgten, doch keiner sich die Mühe machte, sie anzusprechen. Ayres ging ihr nach, zehn, zwanzig, dann fünfzig Meter hinter ihr. Sie wandte sich nicht um. Sie überquerte schließlich die Grenze zum französischen Distrikt, und immer noch folgte Ayres ihr. Die französischen Polizisten verließen ihre Baracke nicht. Ayres sah die Schatten ihrer Köpfe sich im Licht gegen das matte Glas bewegen. Julia Paradise war in eine Region von Mietshäusern eingedrungen, von rattenwimmelnden Wohnungen, wo die Abwässer offen in den Straßen rannen. Zwischen den Gebäuden waren noch provisorische Behausungen aus flachgeklopften Kerosinkanistern, Holzkisten und allem irgend zu beschaffenden Materia l errichtet worden. Alle paar Monate marschierte eine Abteilung französischer Soldaten durch den Distrikt und riß die Hütten ein, daß ihre elenden Bewohner wieder auf der Straße saßen. Doch in dieser Nacht war der einzige Laut, der den Schlaf der Slumbevölkerung störte, das Geräusch der hastenden Schritte einer Frau, und dann, noch weiter entfernt, der schwere Tritt und der keuchende Atem von Dr. Ayres. Er war nun auf eine der Hauptstraßen des Distrikts geraten - er glaubte, es sei die Avenue Edouard VII, konnte sich aber ohne das Licht von Straßenlaternen nicht sicher sein. Dies war nicht sein übliches Terrain. Die halbverfallenen Häuser hatten Blocks von Mietwohnungen und größeren Gebäuden Platz gemacht. Aus den dämmernden Fenstern kamen plötzliche Fragmente von Gesprächen, ein Lied, ein Streit, das Schreien eines Kindes. Die Ladenlokale waren mit Wellblechstücken gesichert, die wohlhabenderen Geschäfte mit schweren Eisengittern verrammelt. Als Ayres um die nächste Ecke bot, war sie fort.
Er wußte, daß sie in eines der niedrigen dunklen Häuser verschwunden sein mußte, die gierige Vermieter in Labyrinthe einzelner Zimmer aufgeteilt hatten, in denen oft zwei, drei Familien eng zusammengedrängt hausten. Er ging zurück, die üble Straße entlang, und fühlte sich kalt und einsam und voll Angst. Die Häuser sahen ihm nun alle gleich aus, und das gelegentliche hochgelegene Fenster, aus dem das schwache schwankende Licht einer Kerosinlampe schien, hatte nichts Beruhigendes. Er konnte sich nicht ganz losmachen von dem Gefühl, daß die Frauengestalt ihn in eine Gefahr gelockt hatte oder in einen Hinterhalt, daß jeden Augenblick nun jemand aus den Schatten vor ihn treten würde. Er konnte nichts tun, nur seinen Schritt in Richtung der vergleichsweisen Sicherheit des französischen Postens beschleunigen, sich dort ein Taxi nehmen und in die mühseligen Verhandlungen über den Preis der Fahrt zum Astor House eintreten. Er klopfte ans Fenster des ersten Wagens in der Schlange. Der Fahrer fuhr empor, aus dem Schlaf geschreckt; er mochte gedacht haben, Ayres sei einer der französischen Polizisten.
Er
sah sie dann mehrere Male in der Stadt, immer mit demselben alten Regenmantel, demselben Kopftuch, dem Einkaufskorb am Arm. Ein zufälliger Beobachter, der ihren Beruf gekannt hätte, würde wohl gedacht haben, daß sie sich um die Armen der Stadt kümmerte und den Mittellosen Nahrung und Wohnung verschaffte. Gewöhnlich war sie weit genug entfernt oder so im Gedränge der Menge verborgen, daß sie Ayres nicht zu grüßen brauchte. Nur einmal sah er sie in Gesellschaft von jemand anderem. Es war an einem Sonntagnachmittag. Sie schlenderten Arm in Arm im Sonnenlicht die Bund entlang. Die hochgewachsene Gestalt trug einen Männerhut und hatte eine Aktentasche dabei; von der anderen Straßenseite herüberblickend nahm Ayres an, es sei ihr Mann. Dann, als das Paar die Staße überquerte und auf ihn zu kam, sah er, daß es eine Frau war, mit ernstem Gesicht unter der Hutkrempe. Sie gingen nahe genug an ihm vorbei, daß er die silbernen Kreuze an ihrem Blusenkragen blinken sehen konnte. Er ging ihnen in müßiger Laune bis zu dem
grimmigen Gebäude nach, wo die YWCA und der Frauenverein untergebracht waren (der Nachfolger der Vereinigung zur Abschaffung des Füßebindens). Sie gingen die Treppenstufen hinauf und verschwanden innen im Düster. Dann, an einem frühen Morgen, als Ayres, noch im Abendanzug, von einem Fest im Black-Cat-Nachtklub in der frischen Morgenluft nach Hause ging, sah er Frau Paradise über den Gemüsemarkt schlendern. Er stand ganz in ihrer Nähe, als sie aufblickte und ihn sah. Sie fuhr zusammen, als sie ihn erkannte, senkte rasch den Kopf und drängte sich durch die Menge der Kauflustigen davon; sie sah in ihrem ewigen Regenmantel und ihrem Kopftuch schäbig aus. Ayres hatte in dieser Nacht genügend getrunken, um seinen Entschluß, sie diesmal einzuholen, zu festigen, und er schob sich rücksichtslos durch die Masse der am frühen Morgen zusammengeströmten Käufer. Als sie sah, wie nahe er war, hielt die Frau an und wartete, und er konnte die unruhige Spannung in ihren Augen sehen. Sie hatte den Korb über dem Arm, als wäre sie hier unter den Frauen der armen chinesischen Familien, um Gemüse einzukaufen. Dann entdeckte er, daß in dem Korb eine ziemlich teuer aussehende Kamera lag. Sie bemerkte seinen Blick und riß den Korb weg. »Ich mache Photographien«, sagte sie einfach. Und doch waren dies keine so ganz einfachen Worte. Man sagte doch wohl »Ich photographiere«? Aber die kleine Missionarin hatte mit Nachdruck, beinahe herausfordernd, »ich mache« gesagt. Dann waren ihre Augen wieder verschwommen und leer geworden, und sie sah weg von ihm, ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagernd. Unausgesprochen stand zwischen ihnen das gespenstische Verschwinden vor Morgans Wohnung. Und Ayres war immer noch hinreichend betrunken und entschlossen, sich zu rächen, indem er eine ausführliche Erklärung erzwang. Er vermehrte ihre Unruhe, indem er sie bat, mit ihm zu frühstücken. Vielleicht war es ihre Verlegenheit, vielleicht fiel ihr keine plausible Entschuldigung ein. Jedenfalls nahm sie die Einladung an. Sie sagte, sie würde ihm Gesellschaft leisten - doch nur zu einer Schale Tee.
Nun war für gewöhnlich das Frühstück für Ayres eine gewichtige Angelegenheit. Er erbaute gerne seinen Tagesplan auf dem Fundament aller möglichen Varianten und Kombinationen von Innereien und Eiern. Besonders schätzte er etwas Leber oder Niere zu den Rippchen und dem Speck, um den neutralen Geschmack der Eier zu würzen. Das Frühstück aus einer Schale chinesischem Tee bestehen zu lassen, war für diesen Mann unvorstellbar, und doch folgte er ihr gehorsam durch die Menge, mit Zylinder, Schwalbenschwanz und weißem Seidenschal. Überall in den Marktgassen fand man Teehäuser. Europäer suchten sie normalerweise nicht auf, es waren einfache Läden, mehr schlecht als recht ausgestattet, mit rascher Bedienung für eilige Arbeiter. Doch die Frau des Missionars schien ein bestimmtes Teehaus im Sinn zu haben. Als sie eintraten, starrten die Kulis, die mit ihren Teeschalen und Zigaretten auf den Holzbänken saßen, sie an. Sie wirkten hier, mit Ayres im Abendanzug, ebenso auffallend und unpassend wie jene Kulis, wenn sie in ihren Unterhemden und Steppjacken zum Tee in den Speisesaal des Astor House gekommen wären. Julia Paradise schien zu ihrem Tee nicht viel sagen zu wollen. Sie betrachtete die schäbige Einrichtung ringsum - den schmutzigen grünen Anstrich der Tische und Bänke, den Dampf des Teekessels, dessen Niederschlag in Rinnsalen am Fenster herabtropfte, das Sägemehl auf dem Boden und überall den dichten Qualm billigen Tabaks. Ihr Blick traf den von Ayres von Zeit zu Zeit, und - dies überraschte ihn - sie schien zu lachen. Die Arbeiter auf ihren Bänken schwiegen und beobachteten die Eindringlinge mit Furcht und Mißtrauen: der Teufel selbst hätte eingetreten sein können. Vielleicht amüsierte sich die Frau darüber, daß sie Ayres in seinem Abendanzug in diesen Affenkäfig gelockt hatte. Er sagte nach einer Weile: »Wenn Sie lieber gehen und in angenehmerer Umgebung Tee trinken möchten -« Sie schüttelte sofort den Kopf. »Das ist es nicht.« »Das Frühstück in meinem Hotel ist vorzüglich.« »Das ist es gewiß.« Es lag jetzt Ironie in ihrem Ausdruck, und ihre leicht vorstehenden Augenzähne waren zu sehen, doch ob in einem lustigen oder einem boshaften
Lächeln vermochte er nicht zu sagen. Er formulierte seinen nächsten Satz mit Sorgfalt. »Sie kennen, glaube ich, mein Hotel. Sie haben mich dort vor einigen Wochen besucht.« Sie schien nicht begriffen zu haben. Er fuhr fort: »Das war an jenem Tag, als ich Sie abends vor Morgans Haus gesehen habe.« Sie hörte sich seine Tatsachenbehauptung ungerührt, unbewegt an. Sie bestritt es nicht, wie könnte sie? Sie senkte den Blick, doch gleich schaute sie ihm wieder in die Augen: dieser herausfordernde Gesichtsausdruck, der Ayres bereits als charakteristisch erschien. Einen Moment lang befürchtete er, sie würde fragen, mit welchem Recht er ihr gefolgt sei. Aber sie sagte rasch: »Ich verbringe manche Nächte in der Stadt. Auf der Suche nach Motiven für meine Photographien.« »Im Dunkeln?« »Ja.« Sie ließ sich zu keiner weiteren Erklärung herbei. Er sagte listig: »Sie kennen also Morgan?« Ayres bemerkte, daß einige der alten Zeichen von Anspannung sich langsam wieder in ihr Gesicht zurückschlichen. Das nervöse Zucken eines Wangenmuskels unterhalb des Nasenlochs war wieder da. Sie fing an, mit einer Stimme zu sprechen, die wieder den Schatten eines deutschen Akzents hatte. Innehaltend, den Blick auf einen imaginären Gegenstand gerichtet, stockte sie im Satz, unterdrückte ein nervöses Schlucken, und Ayres wußte, daß sie wieder ihre Tiere sah. Schließlich sagte sie - und sie schien eher eine phantastische Kreatur anzusehen als Ayres - anklagend: »Sie haben sie getötet.« Ayres war ohne seine Arzttasche einigermaßen hilflos. Es war offensichtlich, daß sie halluzinierte, wie sie sich da auf dem Holzstuhl hin und her wiegte. Er wußte, daß er sie schnell von hier fort bringen mußte. Die chinesischen Arbeiter waren gegangen, andere hatten ihre Plätze eingenommen. Deren Neugier beim Anblick von Europäern - selbst solch bizarrer Europäer, die Abendkleidung in einem Teehaus am Markt trugen -ließ rasch nach, und sie achteten nicht auf das groteske Benehmen der Frau. Ayres konnte nichts tun. Er knallte ein paar Kupfermünzen auf den Holztisch, trat hinter sie, hob sie vom Stuhl
hoch und warf sie sich über die Schulter. Nun verfolgten die chinesischen Gäste seine Bewegungen mit konzentrierter Neugier. Wie er sie hochhob, kippte der Korb, und die Kamera klirrte im Sägemehl über den harten Steinfußboden. Einer der Zuschauer hob das schwarze Objekt mißtrauisch auf, dann den Korb, und gab ihn in Ayres' freie Hand. So trat er aus dem rauchigen Halbdunkel des Teehauses hinaus in das Getümmel und grelle Sonnenlicht der morgendlichen Straßen. An jenem Morgen entdeckte Ayres in seiner Wohnung im Astor House Hotel die Patientin mit der größten hypnotischen Suggestibilität, die ihm je im Leben untergekommen war. Keine der Damen in Wien, deren Krankengeschichten er studiert hatte, nicht einmal die legendären Erfolge des Meisters selbst, boten ein Subjekt, dessen anderes, »verborgenes« Selbst in der Hypnose derartig zugänglich wurde oder dem Gesicht, welches sie der Welt zeigte, so auffallend entgegengesetzt war. Nicht, daß Ayres etwas auf die überschwenglicheren und lächerlichen Behauptungen gegeben hätte, die in manchen Kreisen zugunsten der Hypnose als Therapie aufgestellt werden. Die Hypnose, wie er sie in Wien anzuwenden gelernt hatte, begann mit der Berührung, mit einem Handauflegen. Schon hier erwies sich die außerordentlich starke Beeinflußbarkeit von Julia Paradise. Er begann mit einer Massage der Trapeziusmuskulatur, den Nacken hinunter und die Schultern entlang. Diese Muskeln waren hart und verkrampft. Mehrmals schlug sie die Augen auf und bat auf englisch um Morphium. Nach einer Weile der Massage erlaubte er ihr, eine halbe Stunde zu schlafen und ihre Ängste zu vergessen. Ayres nutzte diese Zeit, um ein Bad einlaufen zu lassen und sich umzuziehen. Er bestellte Kaffee und Eier und frühstückte im Sprechzimmer, weiter über sie wachend. Als er sah, daß die Frau wach und relativ entspannt war, ermutigte er sie, von ihrer Kindheit in Australien zu erzählen. Er befragte sie vorsichtig, entlockte ihr die Antworten. Er gestattete ihr, abzuschweifen, und unterbrach sie nicht, um sie auf den Weg zurückzubringen. Nach und nach, im Verlauf einiger Stunden, baute sie ein so lebendiges Bild auf, eines, das auf beunruhigende Weise im Widerspruch zu jenen Einzelheiten ihres frühen Lebens stand, welche
ihm ihr Mann erzählt hatte, daß Ayres nicht mehr glauben konnte, sie sei im üblichen Sinne des Wortes hypnotisiert. Er nahm diese wilden und oft obszönen Ausbrüche von Phantasie in ihre Welt der Tiere als bloße Halluzinationen. Er schloß, daß sie in der Hypnose tatsächlich ihre Träume »aussprach«, wie sie sich in ihrem Unbewußten ereigneten. Gleichzeitig war sie bewußt genug, um zu ihm sprechen zu können. Später, als sie ganz erwacht war, betonte sie, daß ihre Kindheit auf der Pflanzung ihres Vaters im Norden von Queensland, Australien, ruhig und glücklich verlaufen war. Sie erzählte, daß sie ein ernsthaftes und gläubiges Kind gewesen war, und daß ihre Heirat mit einem Prediger vollkommen angemessen geschienen hatte. Dann teilte ihr Ayres einiges von dem mit, was sie in der Hypnose gesagt hatte. Sie schlug ihn nicht ins Gesicht, obwohl es anfangs so aussah, als könnte sie das tun. Schließlich sagte sie nur, daß sie ihm nicht glaube. Sie erklärte sich einverstanden, in drei Tagen wiederzukommen; mittlerweile hatte der Fall wirklich Ayres' Interesse erregt. Bevor sie ging, erwähnte sie noch, daß sie kurz nach der Ankunft in China sehr ernsthaft erkrankt war und in das Amerikanische Krankenhaus eingeliefert werden mußte. »Ich bin damals beinahe gestorben«, sagte sie zu ihm. Diese Behauptung, sie habe in Lebensgefahr geschwebt, wurde nach einem einstündigen Kampf mit dem Telephonnetz Schanghais widerlegt. Die Unterlagen des Amerikanischen Krankenhauses bestätigten, daß sie im vorigen Jahr drei Tage Patientin gewesen war, doch wegen einer ganz gewöhnlichen Gastroenteritis.
Jeden Dienstag fuhr sie mit dem Zug in die Stadt, und nachmittags kam sie in Ayres' Appartement und ließ sich von ihm hypnotisieren. Die Fülle von Phantasieprodukten, derer sie sich in entspanntem Zustand entledigte, setzte ihn in Erstaunen. Er gab ihr regelmäßig eine Dosis Morphium, um den Schlaf herbeizuführen, und vor dem Schlaf lag ein mehrere Stunden andauernder Rauschzustand. Manchmal benutzte er diese Rauschperioden, um sie zu detaillierter Beschreibung ihrer Halluzinationen aufzufordern. Es schien der Frau ungeheure Erleichterung zu verschaffen, diese entsetzlichen Bilder zu
verbalisieren und dadurch harmlos zu machen, und sie erwachte nach den Sitzungen ausnahmslos erfrischt. Doch es geschah noch etwas anderes: Ayres war überzeugt, daß er sich endlich jenen psychischen Geschehnissen ihrer Kindheit nähern durfte, die ihrer hysterischen Krankheit zugrundelagen. Sie halluzinierte nicht ständig. Manchmal war sie entspannt genug, um ohne ständiges Nachfragen über die kleinen Alltagsdetails aus der Missionsschule zu reden. Ihre Mission war dem Ideal gewidmet, Mädchen eine christliche Erziehung zukommen zu lassen. Diese Bemühung war bei einigen der konservativen Familien in der Gegend auf Widerstand gestoßen; es war noch nicht allzu lange her, daß das Füßebinden noch legal praktiziert wurde. Julia Paradise sprach von zwei oder drei der Mädchen, die sie im Vorjahr unterrichtet hatte und die nun von ihren Familien unter dem Druck anderer von der Schule genommen worden waren. Eines der Mädchen war anscheinend gestorben - jedenfalls regte es sie auf, darüber zu sprechen, und Ayres hielt sich mit seinen Fragen klug zurück. Doch auch im Verlauf relativ fröhlicher Unterhaltungen plagten sie immer noch Halluzinationen. Selbst als sie ihm ein Gedicht rezitierte sie konnte einige von Keats und eines von Coleridge auswendig - , lauerten die Tiere in den Ecken von Ayres' Sprechzimmer auf sie. Sie stockte einen Augenblick in der Zeile, die sie gerade sprach, und Ayres interpretierte diese kleine Pause schließlich so, daß sie eine Maus unter das Bett hatte laufen sehen. Hie und da verfiel sie in ihre »Schlafzustände«, und Ayres gewöhnte sich daran wie ihre anderen Bekannten. Eines Nachmittags unterbrach sie sich plötzlich und beklagte sich darüber, daß eine große Kröte direkt vor ihnen mitten auf dem Teppich saß. Es gelang ihnen sogar, darüber zu lachen. Häufiger jedoch war, daß die Belastung durch ihre Halluzinationen, der Zwang, sozusagen alle ihre Sinneseindrücke sortieren und entscheiden zu müssen, welche real waren und welche eingebildet, zuviel für sie wurde und daß das alte Entsetzen wiederkam und mit ihm sich verschärfende hysterische Symptome. Sie beschrieb im Lauf der Wochen diese Tiervisionen in allen Details. Zierliche Schlangen wie Peitschenriemen, »von der Farbe roter Erde«; Kröten, »groß wie eine Männerhand, schrecklich blaß und hautfarben«. Jegliche plötzliche oder unerwartete Bewegung am
Rand ihres Gesichtsfeldes - etwa ein im Luftzug sich regender Vorhang - hatte die Macht, sich für sie in ein Tier zu verwandeln. Diese neurotischen Symptome komplizierten sich natürlich durch ihre Sucht, die Ayres, so gut er konnte, unter Kontrolle zu bringen versuchte. Manchmal gelang es ihr, ihn zu überreden, daß er ihr über die Tagesration von fünf Gran pro Tag hinaus noch eine weitere Ampulle ließ, falls sie eine ganz schlimme Nacht haben sollte. Doch offenbar hatte sie noch eine andere Quelle gefunden, und an manchen Dienstagen sah er an der Trägheit ihrer Bewegungen, der Apathie ihres Gesichtsausdrucks, daß die von ihm gesetzte Dosis überschritten worden war. Ayres nahm an, daß ihr Mann davon noch immer keine Ahnung hatte - ein Zustand, der Ayres recht war, wußte er doch nur allzugut, wie falsch die Auffassung des Nichtsüchtigen von der Sucht sein kann. Außerdem war sie eine einigermaßen stabile Süchtige, und Ayres war nunmehr vollkommen überzeugt davon, daß nicht ihre Sucht die Ursache ihrer Probleme war. Selbst unter dem Einfluß von Morphium war sie immer noch in der Lage, sich klar und intelligent auszudrücken, und da, wenn sie körperlich erschöpft war, mit wirrem Haar und wilden Augen, hatte sie für Ayres groteskerweise einen sexuellen Reiz. Tatsächlich begann ihre schmale Gestalt ihn stark zu interessieren. Ihr kaum bemerkenswertes sommersprossiges kleines Gesicht wurde nun dominiert von ihren Augen, die in ihrem Kopf glitzerten, wenn sie versuchte, ihm die Intensität ihrer Halluzinationen begreiflich zu machen. Im allgemeinen hatten ihre Gespräche etwas ironisch Neckendes. »Woher wissen Sie, daß diese Tiere nicht wirklich da sind?« fragte sie. »Es sieht sie niemand sonst.« »Wenn sie aber nun wirklich da sind und es sich nur so verhält, daß weder ich noch Sie sie im Moment sehen können?« »Unsinn!« »Aber wäre es denn nicht möglich, daß die Tiere wirklich da sind und daß sie sich jetzt verstecken, um mich zu verwirren? Die Möglichkeit müßten Sie doch zumindest zugeben.«
»Nein!« lachte er. »Die wollen nur Sie allein ärgern. Sie haben nichts gegen mich.« »Nein!« Wenn sie lachte, verwandelte sich ihr ernstes, bekümmertes Gesicht völlig. Sie sah dann aus wie ein junges Mädchen, das gleich etwas Schönes geschenkt bekommt. »Oder vielleicht schauen Sie nicht richtig hin, Sie geben sich nicht genug Mühe.« »So denken nur verrückte Leute. Nicht der Arzt.« »Wie wollen Sie denn sonst begreifen, worunter Ihre Patienten leiden?« Sie schwieg eine Weile, dann fügte sie hinzu: »Ich denke nie daran, daß Sie noch andere Patienten haben könnten außer mir.« Sie sah ihn unverwandt an, die Lippen zusammengepreßt. Sie hatte stark zu schwitzen begonnen, obwohl es kein besonders heißer Tag war. »Sehen Sie die Tiere jetzt?« Sie formte stumm das Wort »Nein« mit ihrem Mund, doch der abwesende Blick äußerster Konzentration ließ Ayres daran zweifeln. Immer, wenn Ayres sie genauer nach ihrer Kindheit fragte, richtete sich zwischen ihnen die unsichtbare Schranke auf. Nicht, daß sie sich geweigert hätte - sie sprach von ihrer Kindheit mit so lebhaften und gesuchten Einzelheiten, daß Ayres stets glaubte, sie halluziniere. Dann, eben als er das Gefühl hatte, in diesem Fall in eine Sackgasse geraten zu sein, sagte sie an einem Nachmittag, als sie ganz entspannt und bei vollem Bewußtsein war, etwas auf deutsch zu ihm. Er erinnerte sich natürlich daran, daß ihr Vater während ihrer Kindheit deutsch gesprochen hatte und daß ihr Mann berichtet hatte, während der Anfangsphase ihres Nervenzusammenbruchs habe sie deutsch geredet. Ayres selbst hatte sich während seines Jahres in Wien die Sprache angeeignet, so daß er genau verstand, was sie gesagt hatte: »Also sie haben noch einen Heizer geschickt.« Instinktiv tat Ayres so, als begriffe er nicht, und antwortete mit einem abwesenden »Hmmm?« Sie lachte und fuhr auf englisch mit etwas ganz anderem fort. Ayres konnte sich des Gefühls nicht erwehren, daß sie ihn hier geneckt hatte, und es kam ihm der Gedanke, daß sie ihn vielleicht auch in anderer
Hinsicht angeführt haben mochte. Doch die Tatsache, daß sie das Wort Heizer gesagt hatte, blieb in seinem Bewußtsein haften. Man hatte einen Heizer geschickt. Es schien wie der Schlüssel zu etwas. Als er so getan hatte, als verstünde er nicht, hatte er einen kurzen, doch unzweifelhaften Blick der Verachtung von ihr aufgefangen. Sie war noch weit von einer Heilung entfernt. Gelegentlich erschien sie in einem Zustand an Ayres' Tür, der von Panik nicht weit entfernt war. Ohne ein Wort des Grußes zog sie dann ihren Mantel aus und legte sich auf Ayres' Diwan, wo sie gereizt darauf wartete, daß die Massage und die beruhigenden Worte begannen. Wenn sie so angespannt war, flogen die Worte aus ihr hervor - ihre Halluzinationen, ihre alten Tierphobien, die Zuneigung für ihre tote Schülerin, Kleinigkeiten über Willy und die Missionsstation strömten durcheinandergewürfelt daher, Alptraum und Wirklichkeit in einem. Es war, als wäre ihr Bewußtsein ein Dampfkochtopf voll solcher Ängste und Bilder, als könnte alles in ihrem Kopf katastrophal explodieren, wenn es nicht die Erleichterung des wöchentlichen Besuchs bei Ayres gäbe, und als würde dann wieder ein hysterischer Zusammenbruch eintreten. Die Tiere, schlaue Kreaturen, lauerten ihr ohne Gnade auf: Kröten und Schlangen verfolgten sie, wohin sie auch von der Missionsschule aus ging. Die gestärkten weißen Laken, die sauber gebügelte Decke von Ayres' Bett, die alt weiß gestrichenen Querstäbe des Bettgestells, sie waren kein Hindernis. Eines Dienstags erwachte sie nach ihrer Morphiuminjektion und fand eine aufgeblähte Kröte auf ihrem Bauch sitzen, die sie anstarrte. Immer wieder sah sie beim Aufblicken von einem Buch in Ayres' Wohnzimmer die dünnen braunen Schlangen sich in stummer Aufmerksamkeit über das Parkett winden. Ayres befürchtete, daß sie zum permanenten lebenden Vorwurf an seine unfähige Wissenschaft werden könnte. Endlich aber, nach vielen Wochen, ereignete sich etwas. Die Stimmung der Patientin wurde anscheinend plötzlich besser, ihr allgemeiner Gesundheitszustand besserte sich ebenfalls, und ihre Halluzinationen suchten sie seltener heim. Sie konnte sich mehr im täglichen Leben der Schule engagieren. Sie berichtete, daß ihr Mann ihr erlaubt habe, einen Teil ihrer Unterrichtspflichten wieder aufzunehmen. An schönen Morgen führte sie die Mädchen nach
draußen und trug ihnen unter dem Maulbeerbaum im Garten der Mission Gedichte vor. Sie fing sogar an, über Pläne für einen kleinen Urlaub zu reden. Solchermaßen beschäftigt, schlief sie besser, und ihre nächtlichen Wanderungen durch die Stadt schien sie eingestellt zu haben. Nur mit dem Arzt zusammen fuhr Julia Paradise fort, die Welt ihrer Krankheit zu erforschen. In seinem dunklen Raum mit den geschlossenen Läden, wo der Rauch seiner Pfeife in gerader Linie aufstieg, um sich mit den flatternden Ventilatorflügeln an der Zimmerdecke zu treffen, war sie ihrer selbst sicher, wurde sie dreist. Sie fing an, Ayres ganz bewußt jene Einzelheiten ihrer Kindheit mitzuteilen, welche ihn in »halluzinierter« Form so tief beunruhigt und erregt hatten. Nun entwarf sie kühl und methodisch für ihn das Bild ihres Vaters, Joachim Johannes. Sie lag auf dem Bett des Doktors, entspannt in der Krümmung seines großen blassen Armes oder von ihm abgewandt mit dem Gesicht zur Wand, die Augen geöffnet, von Zeit zu Zeit den Kopf auf dem Kissen drehend, um seine Reaktion zu beobachten; später kletterte sie auf ihn, kniete über seinem aufgeblähten Bauch, so daß er ihre flache kleine Brust und die dunklen, Nüssen ähnelnden Nippel betrachten konnte. Und die ganze Zeit redete sie und redete, als wollte sie niemals aufhören. Auf diese Weise begann ihr regelmäßiges Dienstagnachmittagsverhältnis.
Teil Zwei
Als sie dreißig war und unter dem Bann jener verrückten Musik stand, die sie »Honeydew« Ayres vorsang, wanderte Julia oft zum Duck River in Nordaustralien zurück, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte. Insbesondere verweilte sie gern bei jenem Morgen, als sie gleichmütig von ihrem entsetzten Vater fortgetrieben war, der auf dem Dach des Freudenhauses zu Mem zurückblieb. Ihr Vater, Joachim Johannes, ein in Deutschland geborener Forscher und Naturkundler, dessen Leistungen mittlerweile in Vergessenheit geraten sind, war oft fort von dem großen Holzhaus, das im Sumpfland am Rande des Regenwaldes stand und das er und seine englische Frau geerbt hatten. Julia war in diesem Haus geboren worden, und sie hatte deutliche Erinnerungen an das Geräusch und den Anblick der in der Abenddämmerung in Wolken aufsteigenden Moskitos, schon von frühester Kindheit an. Sie erinnerte sich, wie die Dienerschaft, Kanaken und Chinesen, in ihrer seltsamen Mischung aus Sprachen geschwatzt hatte, wenn sie die kleine Julia hastig ins Haus trugen und die Moskitonetze vor die großen Fenster spannten. Selbst damals schon, vor der Krankheit und dem Tod der Mutter, machten die Kindermädchen und Gouvernanten Julia das Leben schwer. Wenn er zu Hause war und nicht legendäre Gipfel im Westen bestieg oder südliche Ozeane überquerte, lebte ihr Vater auf dem braunen Entenfluß, wo er mit bloßer Brust in der tropischen Sonne, mit seinen Zeichenblöcken und einer Korbflasche voll Wein unten im Boot dahinruderte. In jenen Stunden, die sie mit ihrem angeheiterten Vater auf dem alten Kahn verbrachte, schien es dem Kind, daß sein Lebensziel schon erreicht war. Es war ihr Vater gewesen, der sie zuerst im Pferdewagen hinunter zu dem breiten, langsamen Fluß mitgenommen hatte und der sie in die Welt der wilden Flußtiere einweihte. Während sich im Boot die großen Muskeln seiner Brust und seiner Arme beim Rudern spannten, fand er Zeit, ihr die verschiedenen Spezies des wimmelnden Vogellebens und die stumpfen Bänder der Schlangen an den braunen Ufern zu erklären. Durch ihren Vater, »Doktor« Johannes - ein immenser Mann mit seinem kleinen Bergsteigerhut und seiner fest
zwischen die Zähne geklemmten Zigarre - bildete sich ihre Liebe zum Leben des Flusses. Ihrem Vater wurde vorgeworfen (zuerst von seiner Frau, dann von den Frauen, die er einstellte und verführte), daß er das Mädchen, das es zu erziehen galt, zu einem so wilden Kind hatte werden lassen. Jahre später stand ihr Vater mit Tina Terrina auf dem Dach des Hotel Continental in Mem, am Morgen der großen Überschwemmung, während die Baulichkeiten und der Tierbestand der Farmen im Oberland an ihnen vorbeischössen. Er war völlig verblüfft, seine Tochter das Steuerruder handhaben und gekonnt die größeren Baumstämme vermeiden zu sehen und die aufgeblähten Kadaver der Schweine, Schafe und Rinder, die flußabwärts bis zum Delta und den Mangrovenhainen gereist waren und schließlich das Meer erreichten.
Julia war sehr klein, die Welt riesengroß. Sie war zeitig ins Haus gegangen, weil gleich Unterricht war. Sie liebte das Arbeitszimmer ihres Vaters mit den Lederstühlen, dem großen Schreibtisch aus Sequoienholz und den Wänden voller Bücher. Mehr noch aber faszinierte sie das Labor, das sich hinter einer Tür aus mattem Glas anschloß. Dort drinnen stellte ihr Vater seine Tierpräparate her, und dort bewahrte er seine ganzen Instrumente und seine Schübe mit mineralogischen Proben auf. Selbst die seltsamen, furchtbaren Gerüche zogen sie an: Formaldehyd, Ammoniak, Spiritus. Vor allem liebte sie es, ihren Vater dort bei seiner Arbeit zu beobachten, zuzusehen, wie er mit seiner weißen Schürze, die Weste und Krawatte bedeckte, seine wissenschaftlichen Zaubersprüche über tote und lebende Materie sprach. Manchmal (einen solchen Ruf hatte er in der Umgebung) war sie ins Labor gerannt und hatte ihn überrascht, wie er gerade in den aufgerissenen Mund eines Mannes von den Inseln spähte, der buschige Koteletten hatte und an Zahnschmerzen litt, oder wie er wunderbarerweise ein Baby aus einer der drei dicken De VoerSchwestern hervorholte, die am Rand der kleinen Siedlung wohnten und alle die gleichen Strohhüte mit Schleiern und Rosen aus Kreppapier trugen.
Türklinken waren unerreichbar, und sie konnte kaum die schwarze Bibel ihres Vaters vom Lesepult heben. Heute wollte sie, daß er ihr vorlas, aber das Arbeitszimmer war leer, bewohnt nur vom Geruch der Lederstühle und dem Licht, das von der anderen Seite der Mattglastüre hereindrang. Dort sah sie den Schatten ihres Vaters, der sich über etwas drinnen beugte - gebeugt vielleicht über die Waschschüssel oder dabei, sich vor dem Spiegel den Bart zu bürsten. Sie stand eine lange Zeit im Zwielicht des Arbeitszimmers und rätselte, was das Stöhnen bedeuten mochte, das sie hörte, beobachtete seinen sich beugenden Schatten, der auf der anderen Seite des matten Glases geschäftig war. Sie sparte sich den herrlichen Augenblick auf, wenn sie hineingehen würde, und er würde seine Überraschung und seine Freude zeigen und sich dann wieder der Arbeit am Tisch und auf den Werkbänken zuwenden. Das kleine Mädchen in seinem sauberen Kleidchen, die schwere schwarze Vaterbibel an ihren mageren Bauch gepreßt, näherte sich der Glastür. Die Schatten fuhren fort, sich zu bewegen. Wie sie die Tür berührte und wie sich diese auftat, überkam sie große Müdigkeit. Das Buch entglitt ihren Händen und verlor sich irgendwo, und sie betrat den Raum langsam, als bewegte sie sich durch die warme Landschaft des Schlafs. Es kam so plötzlich über sie, daß sie erstaunt war, nicht dagegen anschreien und selbst nicht einmal die Augen schließen zu können. Doch als sie sich nun sprechen hörte, war ihre Stimme ganz alt, als sagte jemand anderes: »Papa?« Einen Augenblick lang sah sie die Dienerin, Dolly Hang, ihre vollen Lippen, zusammengepreßten Augen, die glatten Streifen von Narbengewebe auf den Wangen. Schmerz und Mitleid mit dem Kind im Gesicht. Sie war über den blankgescheuerten Holztisch gebeugt, den Rock zum Bauch hochgerafft, die Hinterbacken entblößt. Ihr Vater, vollständig bekleidet und in jeder Hinsicht seine Würde wahrend, abgesehen davon, daß seine Hose offen war, drang soeben von hinten in sie ein. Ihr Vater sah auf die Frau hinunter, deren Gesicht Julia immer erschreckt hatte, als überraschte es ihn, sie dort zu erblicken, dann sah er zu seiner Tochter an der Tür.
Das Mädchen drehte sich fort und rannte mit seiner erstaunlichen Entdeckung in den Garten, wo seine Mutter begraben lag. Blitzblauer Nachmittag begrüßte es. Wohlwollender, allerweltlicher Tag, dem jedes Gefühl von Frevel fehlte. Nasse Wäsche flappte an der Leine wie Gelächter. »Douglas!« rief das Kind. »Douglas, komm schnell!« Wie durch einen Trick der Zeitrafferphotographien ihres Vaters sah sie ihn nahen. Douglas Hang lehnte sich nach vorn, als er vom Gemüsegarten herbeirannte, den Spaten in der Hand, mit dem er Kartoffeln gestochen hatte. Das scharfe Blatt blinkte in der Sonne. Er stieß den Spaten tief in die Luft, rechts, links, und wie er aus einer Stellung in die andere zuckend näherglitt, war er plötzlich an ihrer Seite. Doch etwas stimmte nicht. Dolly Hang stand hier im Garten, immer noch vorgebeugt mit entblößtem Hintern. Alle Mitglieder der Familie Hang und ihre längst verstorbenen Ahnen in zeremonieller Tracht schritten im gleichen Rhythmus mit derselben zuckenden Bewegung voran, ein wohleinstudierter Tanz, das Skelett des Drachens konnte nur das Kind sehen. Subtilste Genauigkeit war im Rhythmus ihrer Schritte, sie bewegten sich magisch, sie lächelten, diese Geister, und sie zeigten ihr durch das Lächeln, daß sie wußten: Sie war da. Lächeln eines unmißverständlichen Wiedererkennens. Es erschien Julia seltsam, daß sie nicht versuchten, mit Worten zu ihr zu sprechen. Der verschwimmende Wirbel sich bewegender Ahnen konzentrierte sich wieder in Douglas Hang an ihrer Seite. Sie hörte, wie das Wasser von der Pumpe klatschend in den Blecheimer tropfte; dann spürte sie das kalte Wasser auf ihren Wangen. Nun starrte sie empor in Dolly Hangs Gesicht. Zuerst konnte sie nicht begreifen, wie die Frau hier draußen im Garten unter dem Bunya-Bunya-Baum sein konnte, wenn sie zur gleichen Zeit im Laboratorium ihres Vaters war. Dann ging ihr auf, daß die Zeit vergangen sein mußte und daß sie auf dem Boden lag, eine graue Decke über sich. Die Welt wurde dunkel, und als es wieder hell war, war Dolly Hangs Gesicht noch da. Das Kind spürte den starken Drang, zu sprechen. Nie zuvor hatte sie ein so brennendes Bedürfnis empfunden,
die Wörter durch die Wände ihres Mundes hindurch in die Luft hinauszuschleudern, doch der Bann, der von Dolly Hangs Gegenwart ausging, und der Nebel der sie verschwommen umtanzenden HangVorfahren versiegelten die Wörter unter ihrer Zungenwurzel, wo sie erstarben, und das Kind in Dolly Hangs Armen erschauerte, es juckte sie am ganzen Leib, und sie merkte, daß sie nichts sagen konnte.
Ihre Krankheit führte zu einem plötzlichen Umschwung in Joachims Haltung hinsichtlich der Kindererziehung. Nun war er in neurotisch gesteigertem Maße der Beschützer der kleinen Stummen und schränkte ihre Bewegungsfreiheit grausam und unnatürlich ein. Das Kind, das morgens immer im Freien unterrichtet worden war, mußte nun im dunklen Haus eingesperrt bleiben. Die Lektionen bestanden ausschließlich im Lesen englischer Bücher. Obwohl sie nicht sprechen und, wie es schien, auch nicht hören konnte, verbrachte sie mit denen lange Stunden. Joachim fand sich in der Lage, nun mehr Zeit zu Hause zu verbringen, und fing im Ernst an, endlich seine große Monographie über die Fortpflanzung der pazifischen Korallen zu schreiben. Jeden Morgen saß er allein in seinem Arbeitszimmer, ging all die Notizen durch, die er Jahre hindurch in die verschiedensten Schubladen geworfen hatte, und trug alles sorgsam - auf deutsch - mit seinem Füllfederhalter in ein ledergebundenes Tagebuch ein, groß wie ein altes Buchhalterjournal, das er einmal in seiner Jugend erworben und all die Jahre zu diesem Zwecke aufbewahrt hatte. Jeden Nachmittag nahm er seine Tochter auf einen naturkundlichen Ausflug mit, wenn auch der Weg, den er sie durch den Garten führte, stets völlig sicher war. Sie boten einen seltsamen Anblick unter der Sonne von Queensland, der europäische »Doktor« mit seinem penibel gestutzten Kinnbart, dem Filzhut und dem Spazierstock, in seinem leichten Baumwollanzug, und das kleine Mädchen, dessen Gesicht nun eine Maske blasser Ernsthaftigkeit war, mit dem fragenden Ausdruck, den die Taubstummen annehmen. Sie hatte nun keine Sommersprossen mehr, ihre Züge zeigten nicht einmal die leiseste Sonnenbräune, das lange schwarze Haar war unter den breiten Rand des Sonnenhutes
gesteckt, das zartknochige Handgelenk leicht erhoben, um den Gedanken an irgendeinen plötzlichen Angriff aus dem Gebüsch rechts und links der Gartenwege abzuwehren. Ihre Augen, die ständig von einer Seite zur ändern flogen, wenn sie den Weg entlang ging, waren im Laufe des Sommers auf beunruhigende Weise dunkler und dunkler geworden. Das Kind hatte eine Art, durch den Vater hindurchzusehen, die ihn befremdete. Er las darin keinen Vorwurf wegen seines Verhaltens. Hinter diesem kühlen starrenden Blick lag etwas wie Spott. Oder etwas wie eine Einladung, auch einen Blick auf jenen Ort zu werfen, an welchem sie zu leben fortfuhr. Während der Jahreszeit, als es zu immer derselben Nachmittagsstunde regnete, fand er sie oft auf der Veranda an der kühleren Südseite des Hauses, die er mit Töpfen vollgestellt hatte, in denen seine exotischen Pflanzenexemplare wuchsen. Eines Tages hatte sie ihm den Rücken zugekehrt und war sich anscheinend seines Nahens nicht bewußt, obwohl Joachim nie gänzlich von der Realität ihres Leidens überzeugt war. Das Geräusch der Regenflut, die auf das Dach und in die Baumkronen trommelte, war sehr laut. Von ihr ungesehen sprach er, beschrieb all das Schlimme, das er ihr antun würde, während das Mädchen weiter in den Regen starrte. Als er endlich um sie herumging und vor ihr stand, schien sie ihn einen langen Augenblick nicht zu sehen. Diese Schübe von Apathie nannte er schließlich in Gedanken ihre »Absenzen«, mit dem präzisen Ausdruck des Wissenschaftlers. Obwohl Joachim sich lange sorgte, daß ihr Verstand in irgendeiner Weise in Mitleidenschaft gezogen worden sein könnte, zeigte das Mädchen nach wie vor bei ihrer Lektüre unbezweifelbare Intelligenz. Als es aber auf ihren zwölften Geburtstag zuging und sie ihre Periode bekam, nahm ihr mathematisches Vermögen zu seinem großen Ärger ab. Sie hatte kein Interesse daran, bis spät in die Nacht aufzubleiben und mit ihrem Vater in seinem holzgezimmerten Observatorium im Garten zu sitzen, mit Teleskop und Statistiken, und den Weg eines herannahenden Kometen am Sternenhimmel aufzuzeichnen. Dies war natürlich der Halleysche Komet, dessen Bahn sich 1910 der Erde näherte. Jetzt galt das einzige Interesse des Mädchens romantischer Literatur, und es beschränkte sich nicht auf die billigen Sensations-
romane, die sich Julia von ihren ungebildeten Gouvernanten lieh. Sie verschlang in wenigen Wochen den ganzen Shakespeare und lernte dann ganze Strecken von Palgraves Gedicht-anthologie Golden Treasury auswendig. Obsessiv las sie immer und immer wieder jenes Gedicht, in dem Coleridge beschreibt, wie er sich dem Palast des Kubla Khan näherte und die Musik des Mädchens mit der Zimbel hörte. All dies lehnte Joachim verachtungsvoll ab, wenn er auch als Wissenschaftler wie als Deutscher dem Werke Shakespeares eine widerwillige Bewunderung zollte. Der Mann machte sich außerordentliche Umstände, um seiner Tochter europäische Gouvernanten zu verschaffen. Stets machten diese jungen Frauen die Eisenbahnreise in den Norden umsonst. Einmal erhielt er auf seine Anzeigen in der Wochenzeitung der Küstenstadt ein Schreiben einer verwitweten Dame, die selbst eine zwölfjährige Tochter hatte. Er dachte, diese Gesellschaft könnte Julia aus ihrer Starre lösen. Das andere Kind, ein böses flachshaariges holländisches Mädchen, dessen Erfahrungen in der Missionsschule an der Küste es mit einer Julia weit überlegenen Bosheit und List ausgerüstet hatten, wurde bei Streit von seiner Mutter stets bevorzugt. Joachim konnte den Anblick des verständnislosen Kummers im Gesicht seiner Tochter nicht ertragen und schickte die Frau weg, obwohl sie in jeder anderen Hinsicht eine tüchtige und sorgfältige Arbeitskraft war. Doch schickte er sie nicht fort, ehe er sie nicht eines Nachts, als sie es am wenigsten erwartete, in sein hölzernes Observatorium geleitet und im vollen Lichte des Halleyschen Kometen verfuhrt hatte. Im Anzeigenteil des Mem Courier setzte sich seine Suche nach einer Gouvernante fort. Wenn es Joachim sich nur eingestanden hätte: Seine Suche war zum Scheitern verurteilt, denn er suchte nicht so sehr nach einer Gouvernante als nach einer Nachfolgerin von Julias englischer Mutter in seinem Bett. Und nur eine Frau, die seinen Avancen draußen in der Observatoriumshütte Widerstand entgegengesetzt hätte, wäre dieser Ehre würdig gewesen. Er glaubte, eine solche Dame gefunden zu haben, als die in Schottland geborene Vera in das Haus am Entenfluß einzog. Ihre Nationalität war in seinen Augen dem Englischen nahe genug, daß sie sich als Ersatz für seine geliebte tote Elizabeth eignen mochte. Sie
wurde eines Nachts kurz nach ihrer Ankunft ins Observatorium eingeladen. Als sie sich über das Okular des Teleskops beugte, fuhr er mit der Hand an ihrem kühlen Bein empor. Sie fing so sehr zu schreien an, daß es einer Dosis Laudanum bedurfte, die sie bewußtlos machte. Während sie in der Nacht ohne Besinnung dalag, eroberte sie der Wissenschaftler. Als sie erwachte und an den blutbefleckten Laken und an ihrer schmerzenden Scham ablas, was geschehen war, ging sie fort. Trotzdem erinnerte sich Joachim ihrer später stets angenehm als des seltenen Falles: einer wirklich tugendhaften Frau.
Julia war dreizehn,
und ihre Brüste hatten sich zu entwickeln begonnen. Sie war noch genauso fremd ihrem Vater gegenüber wie zuvor, fast so unzugänglich, sagte er sich, wie die Berge am Ursprung des Duck River, die er einst erforscht hatte. Selbst seinem wissenschaftlichen Eifer gelang es nicht, die »nördlichen Breiten« seiner Tochter zu vermessen. Die Haut seiner Tochter hatte, seit diese die Sonne vollkommen mied, dasselbe Aussehen angenommen wie die seiner Frau während der langen Zeit ihrer Pflegebedürftigkeit: blaß, blutlos, der »englische Teint«. Und eines Tages beim Mittagessen, während sie ihre Suppe aßen, fiel ihm auf, daß ihre Zähne sich veränderten. Die Augenzähne entwickelten sich so, daß beim Offnen und Schließen des Mundes während des Essens die Spitzen der Zähne auf der Unterlippe zu liegen kamen - wie bei seiner Frau, als sie jung gewesen war. Er spürte einen unwillkürlichen Erinnerungsschauer durch sein Bewußtsein regnen. Bei ihren unregelmäßigen Besuchen an der Küste behandelte er seine Tochter in der Öffentlichkeit so, als wäre sie bereits seine Frau. Er ging mit ihr in die Läden der kleinen Hafenstadt, und sie trug die Kleider ihrer Mutter, die er vor zwanzig Jahren in Europa gekauft hatte. Ihre Mutter war eine kleine Frau gewesen, doch selbst so mußte Julia die Säume der langen Kleider aufheben, wenn sie unter den Veranden die heiße Hauptstraße mit kleinen Schritten hinunterging. Es waren schöne Kleider. Sie trug ein maßgeschneidertes Kleid mit engen Ärmeln und einen Spenzer, abgesetzt mit Samt, Stickerei und
Borten. Es gab ein anderes Kleid aus spitzenbesetztem lila Chiffon, das sie gern trug, mit einer edelsteinbesetzten Schnalle an seinem Samtgürtel. Ihr Vater ließ sie in der Stadt den kleinen Hut der Mutter tragen, mit einer Straußenfeder und einem malvenfarbenen Schleier, der gerade ihre Augen bedeckte. In ihren fraulichen Kleidern und dem extravaganten Hut nahm er sie mit zum traurigen Tea Room des Städtchens, dem Astoria, das neben einer Tuchhandlung hinter seiner großen Veranda im Halbdunkel lag. Der Tuchhändler, ein kleiner Mann mit grauer Schürze, kam immer an die Ladentür gerannt, um sie vorbeigehen zu sehen. Dort saßen sie bei Tee und Kuchen am Fenster, ehe sie am späten Nachmittag die Schmalspurbahn nach Hause nahmen. Durch das Fenster des Cafes oder im Zugabteil wirkten Kosmetik und Kleidung überzeugend, wenn auch bei näherem Hinsehen ihr angemaltes kleines Gesicht grotesk war. Zu Hause überwachte er das Entkleiden, damit die Kostüme auch ordentlich dort aufbewahrt wurden, wo sie all die Jahre verbracht hatten, im Zedernholzschrank der Mutter. Eines Abends, als sie mit der Pferdekutsche vom Bahnhof zurückgekehrt waren und Julia die kostbaren Unterröcke abgelegt hatte, faßte er sie plötzlich von hinten um die Taille. Seine Finger stachen durch ihr Baumwollhemd, und sie drehte sich um in der Befürchtung, ihn auf irgendeine Weise verärgert zu haben. Sie war überrascht, durch seinen Bart ein Lächeln zu sehen. Er ging in sein Arbeitszimmer und kam mit einem ledergebundenen Folianten zurück, aus dem er verschiedene Aquarelle hervorzog, die er von Vogelarten gemalt hatte. Auf einigen der dicken Stücke Kartonpapier hatte er exakt die ausgestopften Vögel von der Wand seines Arbeitszimmers kopiert; auf anderen waren Skizzen sich paarender Vögel. Es erregte ihn, wenn er im Garten auf ein solches Vogelpaar stieß, das sich flatternd gegeneinanderwarf. Er hatte oft seinen Stock gehoben, um sie auf dieses Phänomen hinzuweisen. Er gefiel sich sogar selbst in koketten kleinen Pirouetten, um die Vögel nachzuahmen, und lachte und forderte Julia auf, mitzumachen bei dem Spiel. Nun, neben dem Zedernschrank, setzten sich die Spiele fort.
In den Zeiträumen zwischen den verschiedenen Gouvernanten und während Julia mit ihren Büchern auf dem Zimmer blieb, war Joachim nachlässig geworden, was Nacktheit im Hause betraf. Er hatte letztes Jahr die gesamte Dienerschaft entlassen, seinen Ideen von Rassenreinheit folgend. An den späten Nachmittagen, wenn er gewöhnlich ein Bad nahm und wenn das schräg fallende Licht tief durch die Lattenritzen der Fensterläden eindrang und in die Gänge schien, war es, als wäre neben dem Mann und dem Mädchen noch ein Drittes gegenwärtig, das sich nicht zur Gänze auf die Erinnerung an die umdüsterte, kranke Frau zurückführen ließ, die in dem Zimmer hinten im Haus gestorben war und nach all den Monaten voll Wärmpfannen und Klistieren schon lange vor dem Tode das Aussehen vollständiger Leblosigkeit gehabt hatte. Nun lag an den Nachmittagen in der Stille etwas Listiges, etwas, das unvermeidlich seinen Zwang ausübte. Wenn er eine Frau aus dem Bordell in Mem den Entenfluß herauf anreisen ließ, war Joachim nicht immer besonders vorsichtig, daß die Schlafzimmertür ganz geschlossen blieb. Mittlerweile hatte er seine Zweifel an der Taubheit seiner Tochter, und einmal in diesem Sommer brachten die heulenden Schreie gestillter Lust, welche die Frau ausstieß, das Mädchen dazu, stumm ihr Auge an den Türspalt zu legen. Joachim bemerkte die leichte Veränderung des Lichteinfalles dort (trotz der Tatsache, daß er in diesem Augenblick immer noch im vollen Besitz der Frau war), und er wußte, daß sich das Mädchen nicht aus Scham, sondern voll Eifersucht davonschlich, ihre Kindheit nun endgültig hinter ihr.
Es war wieder Regenzeit, jene Jahreszeit, da Joachim - der den Wind haßte - ganze Tage bei geschlossenen Läden im Bett verbrachte, umgeben von einer fast dauerhaften künstlichen Nacht. Er saß mit der Brille im Bett, die Kerzen brannten, sein Schreibbrett balancierte auf seinem großen Bauch. Nachschlagewerke, die er vor Wochen aus seinem Arbeitszimmer herübergeschafft hatte, stapelten sich auf dem Boden bis zur Höhe des Bettes, seine Notizen und Manuskripte lagen um ihn verstreut.
Zu diesen Zeiten verdoppelten, verdreifachten sich Julias Haushaltspflichten, so daß sie sofort einschlief, wenn sie einen Augenblick für sich hatte. Sie mußte für ihn kochen, und trotz seiner Trägheit war sein Appetit gigantisch. Sie mußte regelmäßig seine Nachtgeschirre leeren, von denen es zwei gab, eines für jede Ausscheidungsfunktion. Und sie massierte seinen Dickbauch, um die Schmerzen während seiner Anfälle von Flatulenz zu lindern. Dann, als wäre dies ein natürlicher Bestandteil ihrer Pflegerinnenpflichten, nachdem seine Winde ausgetrieben waren, sein Glied erigiert, machte sie ihren Mund zum Gefäß, das seinen Samen auffing. Je länger seine Winterschlafintervalle dauerten, desto weniger war er geneigt, das Bett überhaupt noch zu verlassen. Wie mit seinen anderen körperlichen Bedürfnissen war auch in der Beziehung zwischen ihnen beiden eine subtile Veränderung vor sich gegangenIhr sexueller Verkehr hatte seit dem Zeitpunkt ihrer ersten Menstruation die Spontaneität des Beginns behalten, als sie zuerst angefangen hatten »Vögel zu spielen«, jenes Spiel, mit dem er sie an die teilweise Penetration gewöhnt hatte. Sie nahm es als etwas ganz Natürliches hin, daß er zu jeder Zeit des Tages oder der Nacht in sie eindrang. In der Küche, während sie ihre Arbeit machte, draußen im Garten, selbst bei Tisch vor der halbgegessenen Mahlzeit trat Joachim einfach hinter sie, hob ihre Röcke und nahm sie mit einigen brutal wirkungsvollen Stößen. Dies war seine niemals wechselnde Methode, sie zu genießen, als wäre der Anblick ihres blassen verwirrten Gesichts, während er es tat, selbst für sein verhärtetes Herz nicht zu ertragen gewesen. Vom frühen Alter von dreizehn Jahren an hatte sie das Eindringen seines erigierten Penis als einen natürlichen und nicht weiter bemerkenswerten Körpervorgang hingenommen. Nun, da ihr Vater länger und immer länger im Bett liegenblieb, lernte sie, seine sexuellen Bedürfnisse nach der Uhr abzuschätzen. Diese Pflichten wurden so alltäglich, daß sie sich ihnen ohne einen Gedanken unterzog. Nachdem sie ihm geholfen hatte, sich seines Flatus zu entledigen, schob sie sich das lange schwarze Haar aus dem Gesicht, legte ihre Wange an den weichen Wanst und führte die Fellatio beiläufig, aber kompetent durch. In dieser Stellung konnte sie, wie sie herausfand, den Hals über die Bettkante strecken und seinen Samen in eines der Nachtgeschirre aus Porzellan spucken.
Manchmal, wenn sie sich so mit dem Gesicht nach unten über die Bettkante schauend ausruhte und seinem sich verlangsamenden heiseren Atem lauschte und dem Monsun, der draußen die Bäume rüttelte und mit dem Blechdach klapperte, sah sie sein auf dem Boden verstreutes Manuskript, die kreuz und quer mit seiner spinnwebfeinen deutschen Handschrift in schwarzer Tinte beschriebenen Seiten. Wenn sie die Augen halb schloß, ordneten sich die Zeilen in neuen Mustern, und es gefiel ihr, über ihre mögliche Bedeutung Vermutungen anzustellen. Nach und nach, indem sie hier und dort ein Wort erkannte, begann sie einzelne Zeilen des Textes zu entziffern. Auch lagen da seine herrlichen Zeichnungen von Pflanzen, Felsformationen, Vögeln, anderen Tieren und von den weiten Städten, die sich die Korallen unter Wasser erbauen. Sie liebte es, diese Farben zu betrachten, das zarte Nachtblau, das Tizianrot, Magenta, das herbstliche Rotbraun, das Kornblumenblau; Rosa, Drachenblut und Zinnober; Meergrün, Jade und Smaragd der Korallen, die er in seinen Aquarellen eingefangen hatte. Und stets war sie später, wenn sie gesprochenes Deutsch hörte oder es auf einer Druckseite sah, wieder im stickigen Dunkel jenes Zimmers mit dem Geschmack von Samen im Mund. Während eines dieser langen Bettaufenthalte brachte Joachim die Symptome einer Hautkrankheit hervor. Ein Fleck ledriger Haut war aufgetaucht und breitete sich dann bedrohlich von seinem Ursprung unter der linken Achselhöhle aus, quer über die dicke, hängende Brust, und hatte begonnen, langsam den Bauch hinabzuwuchern. Zuerst hatte sich die schuppige Haut zu schimmelsporenähnlichen Knötchen zusammengezogen. Dann war sie gelblich, schließlich bräunlich geworden, und der ganze Fleck hatte sich verhärtet und glich einem Stück Rindsleder. Falls Joachim sich wegen seiner Hautkrankheit Sorgen machte, ließ er es das Mädchen nicht merken. Manchmal dachte Julia tatsächlich, ihr Vater würde sich in ein Pilzgewächs verwandeln. Die harte Haut auf seinem Bauch wechselte mit dem Anschwellen und Abebben des Mondes ihre Farbe. Das Leder war tiefdunkelbraun geworden, doch zu gewissen Zeiten des Monats erwachte Julia in der Nacht und entdeckte, daß der Fleck ein schillerndes Orange war oder ein blasses Gelb, mit braunen Punkten übersät. Am Morgen, wenn er sich hinreichend wohl fühlte, um an
seinem Manuskript zu arbeiten, betrachtete sie verstohlen die Schimmelpilze an den Wänden und sah, daß auch sie die Farbe gewechselt hatten. So kontrollierten Joachims Krankheit und die feuchten Wucherungen an den Wänden einander heimlich. Mit jeder Regenzeit war das Haus mehr verrottet. Moos kroch die Fensterrahmen entlang, Farnsträucher sprießten aus den Außenwänden, und wenn Blätter und überhängende Äste auf das Dach fielen, blieben sie dort liegen und boten üppigen Kompost für die nächste Generation parasitischen Wachstums. Ein kleines Weichholzbäumchen mit glänzenden ovalen Blättern wuchs auf der Veranda, und die Wurzeln hingen durch die Löcher im rostigen Blechdach und kitzelten dem, der töricht genug war, im Dunkeln über die Veranda zu gehen, das Gesicht. Von einem dieser verschlungenen Wurzelknäuel war es, daß sich eines Nachmittags, als Julia allein in einem alten Korbsessel saß, ihr Golden Treasury las und dem Stöhnen ihres Vaters und einer Frau lauschte, die sich innen im abgedunkelten Hause liebten, eine grüne Baumschlange langsam löste. Jeden Muskel ihres Leibes angespannt wartete sie darauf, daß die Schlange sich auf natürlichem Wege auflösen und wieder zu einer unschuldigen Wurzelfaser werden möge. Sie beobachtete ihr scharfes Auge, ihren reglosen Reptilienmund, während die Schlange den Rücken krümmte und immer tiefer durch die Luft auf sie zu schwang.
Stunden später, als ihr Vater sie endlich fand, wirkte sie mehr tot als lebendig. Joachims Schwierigkeit bestand darin, daß die Dielen der Veranda um das Loch herum, durch das sie gestürzt war, so zerfallen waren, daß er beim Hinknien, die Arme hinabgereckt nach dem schmutzigen Bündel, das seine Tochter war, mit dem eigenen Knie durch das Holz brach und sich gerade noch vor dem Fall in die Grube unter der Veranda retten konnte. Er rief die ganze Zeit ihren Namen, wieder und wieder, dann fluchte er auf Deutsch, und diese Rufe brachten die Hure aus den dunklen Eingeweiden des Hauses zum Vorschein, die sich eben noch in einen roten Hausmantel wickelte. Joachim holte eine eiserne Brechstange aus dem Schuppen und stemmte die morschen Dielen auf, bis er genügend Raum hatte, sich hinunterzulassen. Holzläuse hüpften im Dämmer hin und her.
Namenlose und unbenennbare Insekten, seltsame Mischformen und mutierte Asseln und Egel hatten sich schon in ihren Mund, in Nasenlöcher und Ohren gesetzt. Joachim wagte nicht, unter ihre zerrissenen Kleider zu sehen, aus Angst vor den Lebensformen, die er dort entdecken mochte. Als er das Mädchen ins Haus getragen hatte, war es durch nichts wiederzubeleben, weder durch Riechsalz noch durch heiße und kalte Tücher auf der Stirn. Eis an den Schläfen und kräftige Schläge auf die Wangen versagten; sie gab kein Zeichen von Bewußtsein. Joachim und die Frau aus der Stadt wachten die ganze Nacht bei Julia. Gegen Morgen war das Mädchen »übern Berg«. Im Morgengrauen atmete Julia immer noch, und Joachim war erleichtert, daß er nun doch nicht die Zwölf-Meilen-Reise in die kleine Hafenstadt machen mußte, wo Dr. Perkins seine Praxis hatte. Im Laufe der Nacht hatte er von der Frau erfahren, daß Julia schwanger war.
Julias Angst vor Schlangen war so groß, daß sie sich weigerte, die banalsten und harmlosesten Gegenstände zu berühren. Es war zuviel verlangt, daß sie eine Gummimatte aufheben sollte, aus Angst vor der Kaltblütigkeit des Materials. Manchmal füllte sich ein Damenhandschuh auf dem Garderobentisch plötzlich mit Energie und regte sich für sie. Die trockene Textur von Schnüren oder Tauen führte zu Anfällen von Zittern und Übelkeit. Selbst die rote Seidenschnur, die den Morgenmantel ihres Vaters schloß, mußte in einer Schublade verborgen werden, wegen ihrer flüssigen, sich windenden Kühle und weil sie bei einem bestimmten Einfallswinkel des Lichts für Julia so aussah, als bewegte sie sich. Oft saß sie mit dem Rücken zu den dünnen Knäueln in den großen spiritusgefüllten Gläsern im aufgegebenen Labor ihres Vaters. In dem großen Raum schälte sich die Farbe von den Wänden, und alle Oberflächen waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Doch stahl sie sich manchmal hinein, wenn sie wußte, ihr Vater würde sie nicht überraschen, und wenn sie unentdeckt den Schlüssel aus der Tasche der über dem Schlafzimmerstuhl hängenden Weste nehmen konnte, und dann saß sie in der düsteren Atmosphäre all der Gerüche von Wissenschaft.
Die
Frau, deren Liebesgeheul Julias Schlaf an jenem fernen Nachmittag gestört hatte und dazu führte, daß sie ein Auge an den Türspalt legte, war eine echte italienische Prostituierte und hieß Tina Terrina. Nach jenem ersten Besuch hatte sie regelmäßig von Mem den Zug nach Norden genommen, um jeweils mehrere Tage mit dem unglücklichen professore am Entenfluß zu verbringen, gegen eine finanzielle Entschädigung selbstverständlich. An jenem ersten Nachmittag war das Mädchen zufrieden gewesen. Sie hatte geglaubt, daß ihr Vater der Fremden weh tat und daß er sie bald mit dem Sonntagszug fortschicken würde. Doch auf einer anderen Ebene faszinierte Tina Terrina sie. Sie malte ihren Mund in Form eines großen roten Herzens an, und an den braunen Armen, die bloß aus ihrer Bluse hingen, baumelten goldene Reifen. Tina Terrina schien sich in keinem Kleid wohl zu fühlen, wenn sie eines trug. Sie schaute sich immer in den Ausschnitt und versuchte, ein imaginäres Staubflöckchen zu entfernen. Später am Nachmittag, nach den dunklen, stickigen Stunden der Liebe mit dem Mann, dessen Haut an ihm faulte, nahmen sie das Mädchen mit zum Fluß hinunter zum Baden. Am ersten dieser Nachmittage sah Julia, daß Tina Terrina ohne Badeanzug war. Sie lief einfach von der Kutsche durch die Gummibäume bis zum Rand der weiten Ebene grünen Wassers, die der Entenfluß war, und fing an, sich auszuziehen. Julia sah der Frau dabei zu, und sie sah die fülligen braunen Nippel, die Grübchen in den Schenkeln, die großen weißen Hinterbacken, die in Fettwülsten herunterhingen, die schockierende Ausdehnung des schwarzen Schamhaars. Tina Terrina löste den langen Haarzopf, der ihr über den Rücken hing, stieß sich vom Ufer ab und schwamm in den Fluß, dessen mit einer dicken grünen Schleimschicht bedeckte Oberfläche sich kaum kräuselte. Dann sah das Mädchen zu, wie sich ihr Vater entkleidete, seine unansehnliche Haut entblößte, und der Frau folgte. Julia saß in ihrem bauschigen Baumwollkleid am Ufer und beobachtete die beiden im Wasser spielenden Figuren. Ihr Gesicht trug immer noch den ratlosen Ausdruck der Taubstummen. Wie konnte sie mit solch üppigem Fleisch in Konkurrenz treten? Sie, mit
ihren glatten dunklen Brustwarzen, der kleinen Wölbung ihres Bauches, die so langsam wuchs? Sie war von der vulgären, mütterlichen Schönheit der Frau vollkommen verblüfft. Selbst Julia hatte das Gefühl, daß sie ihr Gesicht gegen Tinas schlaffen Bauch drängen, ihren Mund an diese großen weichen Brüste pressen wollte.
Tina Terrinas Besuche wurden häufiger, und sie beanspruchte mehr und mehr von Joachims Zeit. Nicht länger verbrachte er den ganzen Tag im Bett. Sein Buch hatte er während seiner Krankheit liegen lassen, und die wiederkehrende Gesundheit weckte das Interesse nicht mehr. Er wartete auf die Erleichterung, die Tinas Besuche mit sich brachten, auf die Kutschenfahrt zum Bahnhof, wo er sie in ihren grellen Kleidern den Bahnsteig entlangrennen sah, wie sie den Pappkoffer im Lauf von einer Hand in die andere nahm. Sie kam aus Mem am Bahnhof an und trug ihre bunten Kleider und Hüte, aber an den folgenden Tagen nahm ihre Kleidung nach und nach ab, bis sie schließlich in Seidenschlüpfern durch das Haus ging, mit großen braunen baumelnden Brüsten. An manchen Nachmittagen nach den langen Liebesbegegnungen ging sie ganz unbekleidet im Haus umher. Es gab noch etwas anderes, eine Art Entsühnung: Tina Terrina hatte nebenbei in Joachim die Freude am Schenken geweckt. Einmal, als sie wieder vom Bahnhof abreiste, hatte er ihr das Bündel zerfledderter Pfundnoten in die Hand gedrückt. Sie hatte sie gewohnheitsmäßig gezählt, und dann, einem plötzlichen Impuls folgend, wieder in Joachims große Pfoten gesteckt, so energisch, daß er nicht widersprach. Das Gesicht des Mannes strahlte vor Dankbarkeit, und der Augenblick blieb lang in seinem Gedächtnis. Nach einem ihrer Besuche hatte er ihr kleines goldenes Kruzifix an seiner Kette unter den Laken und Decken gefunden. Er hatte es selbst getragen, das Gewicht des Goldes streifte die kranke Haut seiner Brust, und er wollte es ihr beim nächsten Mal zurückgeben. Sie sagte, er solle es als ein Geschenk behalten, und er legte es nicht mehr ab. Er fing an, sie hingebungsvoll zu heben, und bei jeder Wiederholung des Geschlechtsakts beider verstärkte sich die Erinnerung an jenen
Augenblick der Dankbarkeit. Dieser Augenblick am Bahnhof enthielt für Joachim etwas, das Grundlage einer zweiten Ehe hätte sein können, hätte es nicht statt dessen zu einer Art religiöser Bekehrung geführt. Als er eines Tages im Freudenhaus in Mem übernachtete, begleitete er Tina in die katholische Kirche, beichtete dem fraulichen irischen Priester seine Sünden und bezeichnete sich von nun an als Katholiken. Julia geriet bei der Aussicht, ihren Vater teilen zu müssen, in Panik, obwohl er jetzt sorgfältig jeden körperlichen Kontakt mit ihr vermied. Es gab Geheimnisse, die vor jeglichem Außenseiter bewahrt werden mußten, und es beunruhigte sie sehr, als sie von ihrem Beobachtungspunkt an der Türe aus sah, wie Joachim Tina in manche davon einweihte. Diese fügte ihren eigenen charakteristischen Geruch dem des verfallenden Hauses hinzu, so daß sich Julia noch Tage nach ihren Besuchen bei dem Gedanken ertappte, Tina Terrina sei immer noch da. Mochte sie die Fenster noch so lange öffnen, die schweren Gerüche der Frau waren nicht auszulöschen. Noch konnten die Bonbons, die Tina Terrina tütenweise vom Laden in Mem mitbrachte und widerwillig Stück für Stück als Belohnung für den einen oder anderen Dienst an Julia austeilte, ihren fauligen Atem verdecken. Julia überraschte sie eines Nachmittags in Joachims Schlafzimmer, wo sie die Bücher anstarrte, die vor Monaten auf dem Boden verstreut liegengeblieben waren. Sie rätselte an der seltsamen Handschrift herum und kommentierte mit entzückten Ausrufen die Schönheit seiner Skizzen und seiner Aquarelle von Korallen. Julia ging ins Zimmer und setzte sich neben sie und trat wieder ein in die Welt der Korallen, die sie als Kind bewohnt hatte. An einem anderen Nachmittag fand Julia sie vor dem Spiegel in Joachims Schlafzimmer, wo sie ihren Körper mit parfümiertem Öl einrieb, einerseits, um ihren Geruch zu verbergen, doch auch um der Pflege ihrer Haut willen, die braun und schuppig geworden war, so daß sie gelegentlich aussah wie von Spinnweben überzogen. Erst später, als Tina Terrina anfing, denselben heftigen Geruch auszuströmen wie ihr Vater, begriff das Mädchen, daß Tina Terrina sich Joachims Hautkrankheit zugezogen hatte.
Eines Nachts, als ihr Vater mit Tina in Mem war, saß Julia allein auf der Veranda; Falter flatterten gegen ihr Gesicht. Die waren so groß und weiß, daß sie wie unbeholfene blinde Vögel waren, vom Ozean herübergeweht, und Julia überkam plötzlich eine Vorahnung, daß Joachim nicht zurückkehren würde. Der Wind begann sich in den Gummibäumen zu regen. Sie fing an zu weinen, ein trockenes Fauchen klang in ihren Ohren, das von irgendwo außen zu kommen schien, von einer Stelle im Garten. »Papa«, rief es. Die Falter spürten ihre Angst und griffen heftiger an. Julia hatte sich noch nie vor den Faltern gefürchtet, doch je mehr nun die Panik in ihr aufstieg, desto rascher wirbelten die Falter um die Kerosinlampe und klatschten gegen ihr Gesicht. Sie fing einen im Zorn in den hohlen Händen und riß sorgfältig die Flügel von dem leichten, trockenen Leib. Die anderen Falter flogen gegen die Lampe, und erst Minuten später fiel es ihr ein, den Docht herunterzudrehen. Die Insekten verschwanden, Julia blieb allein mit den in der Finsternis sich vervielfältigenden Nachtgeräuschen, und sie fing wieder an zu weinen, einfach, kräftig, wie ein Kind. »Papa, Papa!« rief sie weinend. Auf wunderbare Weise bildeten sich wieder Wörter in ihrem Mund. Ihr ganzes weiteres Leben sollte sie, wenn immer sie weinte, die wolligen Flügel der Falter zwischen den Fingern fühlen.
Stürme
waren zu dieser Jahreszeit häufig. Es kam dann eine seltsame Veränderung des Tageslichts und eine vollkommene Stille, in der alle Vögel verschwanden. Die Männer drängten sich unruhig auf den Docks und sicherten die Fischerboote und schauten nervös auf See hinaus, ob sich die Palmen auf Charlotte Island schon bogen. Doch dieser Sturm hatte sich nachts erhoben. Joachim schaute aus den Fenstern des Hotel Continental in den prasselnden Regen und sah, daß der schlammige Fluß durch die Straße strömte. Das Geräusch des auf das Blechdach hämmernden Regens war so laut, daß er sich hinüberbeugen und in Tina Terrinas Ohr rufen mußte, um sich verständlich zu machen. Als die Flut am nächsten Morgen stieg, mußten die Hotelbewohner die Treppe zum ersten Stock hochgehen; oben klammerten sie sich ans
Geländer des Balkons. Sie riefen den Männern in Booten drunten auf der Straße zu, daß sie in Sicherheit waren. Da geschah es, daß Joachim zu seinem großen Erstaunen seine Tochter in dem hölzernen Skiff vorbeiziehen sah, das er all die Jahre an der kleinen Mole im Entenfluß liegen hatte.
Ein Schwarm kleiner Papageien schoß über die dunkle Wasseroberfläche, gerade über Julias Kopf hinweg. Sie warf die Hände vors Gesicht. Die Vögel, leuchtend karmesinrot, grün und blau, flogen im Regen durch die Eukalyptusbäume davon. Das Ufergras war schon von den steigenden Wassern des Flusses überflutet. Der Regen fiel schneller und blendete sie, und nun konnte das Boot nur noch mit der Strömung dahinschießen, gegen die im Wasser hüpfenden Baumstämme und gegen Tierkadaver stoßend. Sie lag auf dem Rücken; das Geräusch des rauschenden Wassers und der ächzenden Planken des alten Bootes war so einförmig, daß es ihr eigenes Atmen hätte sein können. Vor ihr fegte der Fluß durch den Tunnel des Windes in die Dunkelheit. Dann wurde das Boot an Wände massiven Wassers geschleudert; zweimal spürte sie, wie es sich überschlug. Zersplitterte Baumkronen ragten aus dem Wasser, und als der Wind nachließ und die Sonne einen Moment hervorkam, fand sich Julia in einer Höhle aus grünem Licht. Sie sah das feuchte graue Holz eines gestürzten Baumstammes plötzlich ganz nahe an ihrer Wange, spürte das hohle Pochen gegen ihren Schädel, und das Licht verschwand. Unsichtbare Finger berührten ihre Beine dicht unter der Wasseroberfläche. Sie wurde langsamer, dann hielt sie an, während Holztrümmer weiter an ihr vorbeischössen. Schilf peitschte auf sie ein, und das Fischnetz, das sich um sie geschlossen hatte, zog sich zusammen. Die Zeit verging, und Geräusche aus der Welt drangen zu Julia. Ein Hund bellte. Eine Kröte blähte sich am Rand ihres Gesichtsfelds. Julia kniff die Augen zusammen und wartete, daß die Kreatur verschwand, aber als sie die Lider wieder öffnete, war das Gesicht
eines Mannes dicht an dem ihren. Er hatte keinen Bart, und sein Haar war heller als Hafer. Er hatte blaue Augen und blasse Wimpern und trug eine ärmellose schwarze Weste mit einem runden weißen Kragen. Und der untere Teil seines Leibes war gummiartig, glänzend, wie ein Fisch. Dann tat er etwas, was sie entsetzte: Er öffnete seinen Mund, und Gelächter klang hervor.
Ein außergewöhnliches Verbrechen ereignete sich. König Edward hing an der Wand und beobachtete Julia im Büro des Stationsvorstehers in Mem. Sie lag auf einem Feldbett in der Ecke, die Hand ruhte auf dem geschwellten Bauch. Und dort, über ihr an der Wand, beobachtete sie der Mann mit dem gleichen Bart, wie ihr Vater einen hatte. Würde der König sich von der Wand abhaken und zu ihr hinübergehen, lächelnd und bärtig in seiner Uniform, mit seinem Schwert und seiner königsblauen Schärpe und sie, ohne den Blick von ihr zu wenden, entkleiden? Doch es war der Stationsvorsteher, der sich hastig auszog; sein langes wollenes Unterhemd hing ihm über die Schenkel. Sein Gesicht war gerötet von der Anstrengung, die es ihn kostete, seine Schuhe auszuziehen, und sein Dreitagebart gab ihm ein drohendes Aussehen. Er langte unter sie, und sie spürte, wie seine Fingernägel in ihren Hintern kniffen. Als er fertig war, erhob er sich von dem Feldbett, wandte sich zur Wand, wo das Bild des Königs hing, und lachte. Dann knöpfte er sich ordentlich die Hose zu. Nach und nach erfüllte der Geruch von gekochtem Huhn den Raum, und Julia bemerkte, daß sie völlig ausgehungert war. Mit einer grauen Decke um den Leib ging sie zur Tür und öffnete sie leise. Der Mann, der als Prediger gekleidet war, wandte ihr den schwarzen Rücken zu und rührte in einem Topf auf dem Holzherd. Er überraschte sie, indem er zu ihr sprach, ohne sich umzudrehen. »Ich habe mich schon gefragt, wann Sie hereinkommen würden.« Als er endlich sein Gesicht zu ihr wandte, war sie von seiner Freundlichkeit schockiert. Der Prediger schien von ihrem starrenden Blick nicht weiter befangen. Unbeholfen schob er seine Pfeife in den feuchten Mundwinkel und sagte: »Ich und die Fischerei. Es ist bei mir eine Leidenschaft. Ich habe die Netze vor dem Sturm eingeholt.« Er sah sich in der trostlosen kleinen Küche nach einem Streichholz um,
dann drehte er sich plötzlich wieder zu ihr und lächelte: »Meine Liebe«, sagte er. »Gott hat gesagt, daß er mir eine Frau senden wird.«
Teil Drei
Wie es bei festlichen Anlässen seine Gewohnheit war, ließ Willy Paradise in seinem Garten ein großes Feuerwerk aufbauen. Er hatte sich entschlossen, daß dieses Jahr an Julias Geburtstag, trotz ihrer Krankheit, das Feuerwerk prächtiger ausfallen sollte als je zuvor. Hoy T'Hoy, ein Feuerwerker aus dem Dorf, der die alte Tradition pflegte und stets die pyrotechnischen Darbietungen bei den Dorffesten plante und ausführte, war für alles verantwortlich. Am frühen Morgen hatte Mr. Hoy seine Raketen an Reihen zugespitzter Bambusstäbe gebunden, die an einer Seite des Rosengartens der Mission entlang standen. Auf Brettern, die an das Verandageländer angenagelt waren, hatte er seine römischen Fackeln und Feuerräder angebracht, während an genau bezeichneten Stellen am Boden kleine Ladungen verborgen waren, die er »Tom-Toms« nannte, deren dumpfe Schläge Fontänen von Erdklumpen himmelwärts schleudern würden. Auch hatte er auf der Veranda eine Auswahl Feuerwerkskörper bereitgelegt, die von Hand geworfen werden sollten: Knallfrösche verschiedener Größe und Stärke, Leuchtkugeln, Lichter und Schwärmer in jeder nur vorstellbaren Farbe, wie auch die besonderen Schöpfungen dieses speziellen Handwerkers, denen die Dorfbewohner Namen wie Kometen, Sonnen, Monde und Sterne gegeben hatten. Die Knallfrösche, zu Hunderten aufgestapelt, waren mühsam über Monate hinweg von Hand gerollt, sorgfältig mit Salpeter gefüllt und mit glänzendem roten Papier beklebt worden - Rot, der chinesischen Farbe der Festlichkeit. Hoy T'Hoy hatte seine Raketen, Patronen und Wunderkerzen mit seinem eigenen Markenzeichen der »Sterne« präpariert, die den Himmel beim Explodieren mit farbigen Feuern füllten. Er hatte das übliche weiße Feuer vorbereitet, die Funkengarben und Fontänen aus Kaliumchlorat, wie auch das leuchtend weiße Magnesium, das Strontium-Rot, Barium-Grün, Natrium-Gelb und Kupferblau. Im Garten, wo man es von der Veranda aus deutlich würde sehen können, hatte Mr. Hoy am Nachmittag dann das Hauptstück der Vorführung aufgebaut, entworfen von Willy Paradise selbst. An den Rändern würden Wasserfälle von Feuer brennen und »Bäume« aufragen, Stämme und Äste aus Feuer, die hochschössen und gegen den Nachthimmel stehenblieben. In der Mitte, am Ehrenplatz, hatte
Mr. Hoy einen Holzrahmen gebaut, an welchem die Feuerwerkskörper angebracht waren, die zu vertikal und horizontal rotierenden Rädern werden würden. Und da, an einer Bambuskonstruktion an den Latten des Holzrahmens, würde sich die große Paradise-Uberraschung entfalten: der Unio n-Jack aus farbigen Lichtpfeilen.
Als Ayres mit dem Zwei-Uhr-Zug aus Schanghai an der Lokalstation ankam, wartete Julia mit dem kleinen grünen Automobil. Ayres fragte sich sofort, wer wohl hinter der Einladung, ihren einunddreißigsten Geburtstag mitzufeiern, stecken mochte. Die Einladung hatte ihn in der Handschrift des Geistlichen erreicht, ein kurzer, förmlicher Brief, der die vorgesehene Abendunterhaltung umriß, und Ayres hatte ebenso formell geantwortet. Julia war eben erst auf die Missionsstation zurückgekehrt, nachdem sie eine Woche in Hangtschou verbracht hatte. Sie war dort in einem von Engländern betriebenen Hotel abgestiegen, das über einen der dortigen Seen schaute, und eine andere Missionsdame, eine gewisse Gerthilde Platz, hatte sich um sie gekümmert. Ayres wußte dies natürlich alles. Julia selbst hatte sich vierzehn Tage vorher in dieser Angelegenheit an ihn gewandt, während sie sich am Ende eines ihrer regelmäßigen Dienstagnachmittage ankleidete. Willys Zustimmung zur Reise nach Hangtschou, so hatte sie erklärt, hinge von Ayres' Bestätigung ab, daß die Reise ihr nicht schaden würde und daß sie in keiner Weise mit der von Ayres geplanten Therapie, die so gut anzuschlagen schien, in Widerspruch stehe. Ayres hatte gesehen, daß ihr die Reise viel bedeutete. Hangtschou war l18 Meilen entfernt, wenn man den Zug benutzte, ein Ort in schöner Seenlandschaft am Fuß der Auge-des-HimmelsBerge. Das Sprichwort heißt: »Oben ist der Himmel und unten Hangtschou.« Ayres dachte, der Ortswechsel hätte Julia möglicherweise gutgetan und ihre Stimmung gehoben. Die größte Gefahr dabei war, daß jegliche übertriebene Aufregung ihre schwachen Nerven überreizen und einen neuen manischen Schub zum hysterischen Zusammenbruch hervorrufen könnte, fern von ihrer Familie und ihren Freunden. Wenn sie eine der regelmäßigen Sitzungen psychischer Entlastung bei Ayres versäumte, könnten sich
die Halluzinationen wieder in ihrem Bewußtsein aufrichten. Doch hatte er in einem Brief an Willy seine Zustimmung gegeben - unter der Bedingung, daß sie erster Klasse reiste, in einem guten Hotel wohnte, daß ihre deutsche Missionsfreundin dafür sorgte, daß sie alle Aufregungen mied und nur ihre gewohnten fünf Gran Morphium intravenös vor dem Einschlafen nahm. All dies wurde versprochen, und Julia reiste in die Ferien. Am Donnerstag hatte Ayres eine Ansichtskarte vom Westsee bekommen, auf deren Rückseite in ihrer vertrauten heftigen Handschrift stand: »Lieber Doktor, Grüße aus dem Land der Seen. Wundervoll, leuchtend! Und eine Überraschung! Ich bin hier von allen Tier-Schmerzen ganz geheilt! Julia Paradise.« Nun, zwei Tage später, saß sie am Steuer des Automobils ihres Gatten. Ayres und Julia fuhren die unbefestigte Straße, die vom Bahnhof weg führte. Sie war voller Schlaglöcher und hatte tiefe Fahrspuren; es ging nur langsam voran. Sie kamen durch eine Gegend kleiner Bauerndörfer. Die Landschaft war von ungeheurer Üppigkeit, die ganze Flußebene ein grüner Teppich von Feldfrüchten und Vegetation. Julia saß gelassen am Steuer von Willys kleinem Wagen. Sie schien zwar weniger verkrampft, doch war sie auf eine unnatürliche und uncharakteristische Weise gelöst, die nicht ganz überzeugend war. Er dachte, sie wolle ihn vielleicht einfach mit der Wirkung ihres Urlaubs beeindrucken. Der angespannte Gesichtsausdruck, der in der Stadt ständig da war, war verschwunden. Sie lächelte gelegentlich. Sie lachte sogar auf eine beiläufige Bemerkung Ayres' hin. Für Ayres hatte es etwas Unwirkliches, daß sie beide zusammen hier draußen waren, fern von seinem dunklen Zimmer, dem Bett und den langen stickigen Stunden, in denen Julia sprach. Er fuhr mit einem Finger an ihrem Schulterblatt entlang, das zartgeformt war wie das eines Kindes. Die ganze Zeit war in der Ferne der Fluß. Sie überquerten unzählige kleine hölzerne Brücken, die gerade weit genug für einen Ochsenkarren waren, und so niedrig und dem Wasserspiegel so nahe, daß sie über dem Geräusch des Motors noch das Brausen der sich füllenden Kanäle hörten.
Nachdem sie eine halbe Stunde lang gefahren waren, hielt Julia plötzlich an. Sie waren an einer Krümmung des Flusses angelangt, wo das Tal enger wurde und wo die Sonne große weiße Felsen beschien. Der Uferkies fiel steil zum trüben Ebbwasser ab. Sie streckte die Hand nach dem Türgriff aus; sie glitt aus dem Wagen, und dann ging sie halb, rutschte sie halb über den Kies des steilen Ufers hinunter. Ayres folgte ihr; unter seinen Schuhen zerstreuten sich die kleinen Steine. Etwa siebzig Meter entfernt war eine kleine Gruppe von Leuten auf den Felsen bei der Arbeit. Einige fischten mit langen Bambusruten, während andere in das Wasser hinausgewatet waren und ihre Netze auslegten. Obwohl Ayres aus dieser Entfernung die Netze selbst nicht sehen konnte, waren sie doch nahe genug, daß er erkennen konnte, was sie taten. Ayres und Julia betrachteten lange die Fischer und das sich vor ihnen ausdehnende Wasser. Sie sagte: »Weißt du, hier gibt es Dinge, die ich endlos anschauen könnte. Ich sehe eine Schönheit, wie ich sie nie für möglich gehalten hätte. Ich komme aus einem so häßlichen Land.« Sie brach ab und starrte zornig auf ihre Schuhe, offenbar voll Ungeduld über die Anstrengung, die es sie kostete, ihre Gedanken in Worte zu zwingen. Dann verwandelte sie sich wieder und fuhr mit fröhlicher Stimme fort: »Siehst du den Mann dort drüben bei den Fischern - auf dem ersten Felsen? Mit dem Hut? Das ist Willy.« Ayres sagte, er sei überrascht. »Er kommt samstags immer hierher, um mit ihnen zu fischen. Die anderen Männer sind unsere Hausboys und Gärtner. Jeden Samstag kommt er, ohne Ausnahme. Er gibt ihnen den halben Tag frei, als wären es Engländer...« Ihre Augen funkelten. »Er zahlt dem Koch das Doppelte, damit er heute nachmittag arbeitet. Die Boys werden dasselbe wollen. Willy verzieht sie. Er kriecht vor ihnen auf Händen und Füßen, um sie gnädig zu stimmen, wie ein Insekt. Wie sie ihn auslachen müssen! Er behandelt sie - ich weiß nicht - , als wären sie unseresgleichen. Schlimmer. Ich glaube, er versucht, zu sein wie sie!« Ayres sagte: »Ihr wohnt dann wohl nicht weit von hier.« Sie tastete suchend in der Tasche ihrer Strickjacke und holte eine Schachtel English Players hervor. Sie zündete sich eine an und sagte:
»Nein. Gar nicht weit.« Sie sah immer noch auf den Fluß, dann fuhr sie ruhiger fort: »Er kommt oft erst nach dem Abendessen heim. Er ißt Reis mit ihren Familien im Dorf.« »Wohnen keine von ihnen auf der Mission?« Sie lachte. »Es sind letzte Woche, als ich in Hang-tschou war, ein paar Soldaten gekommen. Da hatten sie alle Angst und sind davon. Nun müssen auch noch die Mädchen nach Hause. Die verdammten Kuomintangsoldaten schlafen jetzt im Schulhaus.« »Warum beschwert sich dein Mann nicht? Er muß doch Verbindungen haben. Ich kenne selbst den ersten Sekretär an der Botschaft.« »Willy sagt, daß wir hier sind, um uns die Liebe der Menschen zu verdienen. Nicht ihnen zu befehlen, uns zu lieben. Du solltest ihn hören! Man würde meinen, daß er selbst zur Kuomintang gehört.« Ihr Gesicht hatte sich während dieses Ausbruchs vollständig verändert. Ein Ausdruck tiefsten Elends lag nun darauf. Ihre Augen waren feucht, die Lippen dünn und in einer Art verächtlichem Lächeln von den Zähnen zurückgezogen, die Hand mit der Zigarette zitterte. Sie sagte, bitter wie zuvor: »Ich habe noch nie einen Mann gesehen, der die Chinesen so liebt wie er. Armer Willy. Wie er an das glaubt, was er tut.« Ayres sah wieder zu der fernen Gestalt hinüber, ununterscheidbar von den anderen, die sie umgaben. Die Sonne lag auf der Flußoberfläche. Es lag ein Friede auf der Szenerie, der zwanzig Meilen entfernt in der Stadt unvorstellbar war, in der Stadt mit ihren Streiks, den plötzlichen Stimmungsumschwüngen auf der Bund, wenn der Kopf eines Demonstrationsmarsches am Straßenende auftauchte. Man hörte den Lärm, ehe man sie sah, dann füllte sich die Bund langsam mit Tausenden und Abertausenden von streikenden Chinesen. Die Schüsse, die makabren Entdeckungen im Morgengrauen, daß Männer an Laternenpfählen baumelten, die Tage unruhiger Waffenruhe, wenn es schien, daß der Streik gebrochen werden könnte, dann die britischen und amerikanischen Kanonenboote vor Anker im Sutschoufluß, die Flottillen, die den Jangtse hinauf und hinunter kreuzten - all dies schien sehr viel weiter entfernt als zwanzig Meilen, in diesem Augenblick des Sonnenlichts auf dem Wasser, an diesem
Samstagnachmittag, als Ayres auf dem Weg zu der kleinen Missionsschule für Mädchen war.
Von außen machte die Mission den Eindruck eines frohen, sonnigen Ortes für die Jugendjahre der Mädchen aus chinesischen Mittelstandsfamilien, ganz anders als das düstere Gefängnis von Public School in Edinburgh, wo Ayres, ein dicker Junge, eine elende Zeit verbracht hatte. Ayres sah keinen von den Soldaten: Sie kamen erst abends zum Schlafen zurück. Die kleine Missionsschule mit ihren verputzten Holzgebäuden, ihren über weite gepflegte Gärten verstreuten Bungalows, ihren Baumgruppen und säuberlich parallelen Rosenrabatten war englischer, als Ayres' Schule es gewesen war, und als er mit Willy durch den Rosengarten ging, kam Ayres wieder der Gedanke, daß er eine ganze Welt von den Streiks und Aufmärschen in Schanghai entfernt zu sein schien. Willy Paradises Arbeitszimmer sah eher wie das Präparationslabor eines Naturkundemuseums aus als wie der Ort, wo ein Missionsgeistlicher seine Sonntagspredigten schrieb. An drei Wänden standen Regale mit wissenschaftlicher Literatur, die er als Schiffsgepäck aus Australien mitgebracht hatte. Inmitten des Raumes stand ein großer Holztisch, auf welchem er die Paraphernalia seiner wissenschaftlichen Forschungen ausgebreitet hatte. Reverend Willy Paradise freute sich, dem Arzt - der zumindest nominell sein Genösse in den Wissenschaften war - sein kostbares deutsches Mikroskop zu zeigen, seine Schubfächer mit sorgfältig etikettierten Schmetterlingen und Insekten, wie auch seine großen ledergebundenen Folianten mit Vogeldarstellungen, jedes Exemplar mit unendlicher Genauigkeit auf dem teuren, handgeschöpften Papier aquarelliert, das er von einem Handwerker in der Stadt kaufte. Er zeigte Ayres die Schubfächer voller Gesteinsproben aus der Gegend und die zerfledderten Anfänge des Manuskripts, das er zu Hause später einmal im Selbstverlag veröffentlichen wollte: eine eindrucksvolle, gewichtige Monographie über die Bildung pazifischer Korallenriffe. Ayres war entschlossen, dem Mann einige der Fragen zu stellen, die sich im Lauf der Wochen in seine Gedanken eingeschlichen hatten
wie Julias Schlangen. Er begann mit der Frage, wo Willy und Julia sich zuerst begegnet waren. Dies schien den Reverend zu überraschen. Er lächelte, zögerte, führte das feuchte Mundstück der Pfeife an die Lippen. »In Brisbane, bei einer Tanzveranstaltung«, sagte er. »Übrigens, ich hoffe doch, daß wir ihren kleinen Urlaub als Erfolg betrachten dürfen. Sie sieht jedenfalls viel besser aus.« »So scheint es.« »Wirklich, sie...« Sein Satz brach ab, er nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete sie prüfend. Dann sah er seinen Gast mit blaßblauen Augen stetig an. »Ich muß sagen, Ayres, ich habe mir einen ungünstigen Zeitpunkt für eine Feier ausgesucht. Bei allem, was hier geschieht. Wie lange wird es dauern, was glauben Sie?« »Das werden Sie besser wissen als ich.« »Aber der Streik, Ayres! Der Kampf des Volkes. Sie leben in der Stadt. Was sagt man in Ihrem Klub?« »Was sie dort immer sagen, nehme ich an. Die übliche Mischung von Untergangspropheten und Säbelrasslern. Sie haben wahrscheinlich gehört, daß der Konsul alle Missionare, die britische Untertanen sind, aus dem Landesinneren zurückruft?« »Ich habe es gehört.« »Anscheinend weigern sich manche, in die Häfen zu kommen.« »Wir sind nahe genug an Schanghai, um uns keine allzugroßen Sorgen zu machen.« »Ja, aber die anderen. Für deren Chancen gebe ich keinen Penny. Es wird genau wieder wie bei den Boxern. Das sagt man im Klub. Wenn ich auch natürlich nur geringes Interesse an den ganzen politischen Torheiten habe.« »Natürlich.« Sie saßen eine kurze Zeit schweigend da, dann sprach Ayres weiter: »Diese deutsche Dame, die mit Ihrer Frau nach Hangtschou gegangen ist. Unterrichtet sie hier ebenfalls?« »Miss Platz? Ja natürlich.« »Ist Ihnen aufgefallen, ob sie, wenn sie allein zusammen sind, Deutsch oder Englisch sprechen?«
» Englisch selbstverständlich. Miss Platz spricht besseres Englisch als ich oder Sie, wenn ich das sagen darf. Sie hat in England studiert. Am Somerville College in Oxford.« »Ja, aber ich meine - Julias Vater war doch Deutscher?« »Aber sie kann kein Deutsch! Ihre Mutter war Engländerin. Englisch ist die Sprache, die wir in Australien sprechen! Sie dürfen nicht darauf achten, was sie in ihrem Wahn daherredet.« »Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, die ausschließlich mit ihrer Krankheit zusammenhängt. Ihre Antwort könnte zu einer vollständigen Genesung beitragen. Doch ist es eine persönliche Frage, die nicht zu beantworten Sie vielleicht vorziehen würden.« Auch Ayres hatte sich seine Pfeife gestopft. Als er sie nun anzündete und den schweren süßduftenden Tabakrauch in seine Lunge sog, spürte er, wie sein Herz rasch schlug. Er redete gleich weiter, damit die Frage auf den Tisch kam. »Als Sie geheiratet haben, war Ihre Frau da Jungfrau?« Willy Paradise blickte zur Seite. Er ließ das Auge über die Glasplatten voll Insekten schweifen, die trockenen Hülsen ihrer Leiber, die mit feinen Nadeln auf den Brettchen steckten, dann zur vierten Wand des Zimmers, wo die verschiedensten bunten ausgestopften Vögel hingen: Tukane, Sittiche, Regenbogenvögel, Lerchen, Meisen, Trupiale und Honigfresser in den weißnackigen und gestreiften Varietäten. Er starrte die Vögel eine Weile an, als hätte er nicht ganz verstanden und sie könnten ihm helfen. Schließlich sagte er: »Die methodistische Kirche besteht im Gegensatz zur anglikanischen und zum Katholizismus nicht auf dem Vollzug der Ehe.« »Verzeihung. Ich verstehe nicht ganz - « »Sie ist Jungfrau, Ayres. Sie war es und ist es. Wir waren niemals zusammen in unserer Ehe. Nicht ein einziges Mal.« Willy Paradise nahm die Pfeife aus dem Mund und sah Ayres blinzelnd und würdevoll an. Ayres sagte: »Erzählen Sie mir von ihrem Vater. Sie haben ihn kennengelernt?« »Ich kannte ihn gut.« ^
»Was für eine Art Mensch war er?« »Ein Mann von makellosem Charakter.« »Lebt er noch?« »Soweit ich weiß. Die Kohls sind eine langlebige Familie.« »Kohl, sagen Sie?« »Julias Geburtsname. Ihr Vater heißt Johannes Kohl.« »Nicht Joachim?« »Natürlich nicht. Wer ist Joachim?« »Und er ist Farmer? In North Queensland? Aber gleichzeitig ist er auch - wie soll ich sagen - ein Mann der Wissenschaft?« »Ein Mann der Wissenschaft? Nein. Nun, vielleicht in gewisser Weise. Er ist Zahnarzt, Ayres. Bitte, sehen Sie es mir nach, wenn ich auf all diese Fragen etwas verwundert reagiere.« Ayres ignorierte das und fuhr fort, als hätte die Frage keinen Zusammenhang. »Können Sie mir sagen, wo in Australien ich den Entenfluß finde?« »Ich fürchte nein. Falls dieser existiert, muß er sehr klein sein. Ich darf wohl sagen, daß ich meinen Stolz darein setze, ein ausgesprochener Kenner der Geographie meines Heimatlandes zu sein.« »Noch haben Sie je von einer Hafenstadt namens Mem gehört? Ist das richtig?« »Vollkommen richtig.« Willy Paradise nickte gemessen. »Aber vielleicht sollten Sie mir nun erklären, was all diese Fragen zu bedeuten haben.« Ayres zuckte die Achseln. Er fühlte sich plötzlich überaus müde. Es gab nur noch eine Frage, die zu stellen war. Er tat den Mund auf und hörte seine eigene körperlose Stimme. »Mr. Paradise, interessieren Sie sich für Astronomie?« Der Geistliche schien durch die Frage erleichtert. Er lächelte strahlend, und seine rosa Stirne glänzte. »In der Tat. Aber woher wissen Sie das? Meine Frau muß es wohl erwähnt haben. Wir haben uns sogar hinten im Garten ein recht brauchbares kleines Observatorium gebaut. Wir versuchen, in unseren Schülerinnen ein
Interesse für die Naturwissenschaften zu wecken. Es ist nur ein sechszölliges Teleskop, aber es ist ein Kometensucher. Kometensucher sind immer klein; man braucht eine große Ratio zwischen Linsendurchmesser und Brennweite. Das kommt daher, daß Kometen diffus sind und eine geringe Oberflächenhelligkeit besitzen. Es ist ein deutsches Teleskop, wenn auch die Äquatormontierung in Amerika hergestellt worden ist. Ach, die Nächte, die ich da draußen verbracht habe, die Himmel durchforschend und meine Karten absuchend! Und ich darf Ihnen verraten, daß ein, zwei meiner Beobachtungsmitteilungen in den wissenschaftlichen Zeitschriften gedruckt worden sind, hier und im Ausland. Allerdings kein ParadiseKomet. Noch nicht jedenfalls. Vielleicht eines Tages... Ich bin wirklich ausgesprochen stolz auf unser kleines Observatorium. Ich freue mich darauf, es Ihnen nachher zu zeigen.«
Es wurde langsam dunkel, der Mond war aufgegangen. Ayres stand am Fenster seines Zimmers. Von diesem Punkt im Obergeschoß konnte er über die Gärten der Mission hinweg auf das üppiggrüne Tal sehen, auf die Kanäle, die schiefen Steinhäuschen eines Dorfes. In der Ferne, das letzte rote Licht der Nachmittagssonne spiegelnd, lag etwas, das aussah wie der Rand eines Sees, tatsächlich aber das diesseitige Flußufer war. Unter Ay res erstreckte sich englischer Rasen, standen englische Bäume, und ein Rosengarten schloß auf der einen Seite die Auffahrt ab; ein einsamer Gärtner war dort noch an der Arbeit. Im Mittelpunkt der sich verzweigenden Gartenwege stand ein kleiner Steinbrunnen, der halb verfallen war. Der Gärtner ging an den Rosensträuchern entlang, bückte sich, beschnitt hier, sägte dort etwas ab, und selbst bei der Entfernung zwischen seinem Fenster und dem Rosengarten und im fast geschwundenen Licht konnte Ayres sehen, daß der Gärtner eine Frau war. Sie war barfuß. Sie trug Männerhosen und hatte mit einem Gürtel einen Jutesack wie eine Schürze umgeschnallt; dazu trug sie eine Weste und ein kragenloses gestreiftes Hemd, dessen Ärmel bis zum Bizeps aufgerollt waren. Nun, da sie direkt unter ihm am Brunnen stand und Wasser pumpte, sah er die sehnigen Muskelwölbungen ihrer Arme und Schultern. Sie trug die wassergefüllten Blecheimer an die Stelle zurück, wo sie gearbeitet
hatte, gelegentlich anhaltend, um den einen oder anderen Rosenstrauch zu begießen. Ayres trat vom Fenster weg und ließ den Voilevorhang fallen. In dieser Bewegung sah er sein Bild im Spiegel der Frisierkommode. Sein Gesicht war düster, und sein Ausdruck blieb ihm selbst verborgen. Er ging zu dem großen Koffer, der auf der kleineren Kommode lag, und nahm aus der Arzttasche daneben eine kleine Phiole aus leuchtendblauem Glas, die in einem der Fächer in Watte eingeschlagen geruht hatte. Er zog den Korken, hob sie an die Nase, als wäre es ein zu genießendes Parfüm, nahm einen kleinen Schluck, korkte sie wieder zu, legte sie ins Fach zurück, verschloß die Tasche und tat den Schlüssel wieder in sein Westentäschchen. Er setzte sich auf den Rand des schmalen Bettes und starrte zum Fenster. Er dachte an Julia Paradise und an das Netz, das sie mit so beiläufiger Zielsicherheit auf seinem Lebenswege ausgeworfen hatte: die Andeutungen, das Seidengespinst ihrer Geschichte, um ihn zu verwirren, eine ganze in der Luft hängende Kindheit. In Hemdsärmeln auf dem Bett liegend, war Ayres ein Traum, Julias Geschichte war ein Traum: nichts als eine andere Form des Opiums.
Später, als es ganz dunkel geworden war, versammelten sich die vier Europäer auf der Veranda, um die Raketen zu sehen. Leute aus dem Dorf hielten sich respektvoll am Rand des Rasens, obwohl die kühneren kleinen Jungen auf die Bäume kletterten, um bessere Sicht zu haben. Beim ersten Geräusch des Feuerwerks kam eine Gruppe von Soldaten in den stumpfgrünen Uniformen der Kuomintangarmee aus dem Schulhaus hinter der Mission. Sie trugen keine Mützen, und die Uniformjacken waren aufgeknöpft. Sie hatten Reiswein getrunken und schienen von dem, was vor ihnen geschah, verwirrt und betäubt. Zwei gingen zurück, um ihre Gewehre zu holen, als befürchteten sie einen Artillerieangriff. Als sie sich versichert hatten, daß alles harmlos genug war, machten sie mit, schrien, lachten und feuerten ein paar Salven in die Luft. Als aber der Union Jack aufglühte und seine leuchtenden Farben schienen und zischten, schlug ihre Stimmung um. Wutgeschrei und
zornige Gesten; dann begannen zwei von ihnen methodisch, mit den Gewehrkolben die Fensterscheiben des Schulhauses einzuschlagen. Reverend Paradise sah einen Augenblick lang aus, als wollte er hinuntergehen und mit ihnen sprechen, aber Julia umklammerte seinen Arm und hielt ihn fest und führte alle ins Innere des Hauses. Die steigenden und sinkenden Seufzer der Raketen waren im Eßzimmer noch immer vernehmbar. Es war ein kleiner Raum, den Tisch und Stühle beinahe ausfüllten, und eine Lampe warf ein scharfes gelbes Licht auf ihre Gesichter, so daß alle leicht kränklich aussahen. Ayres fand sich der Frau gegenüber, die er vorher im Garten beobachtet hatte. Miss Platz sah vollkommen wie eine Schullehrerin aus: eine großgewachsene Frau in dunklen und altmodischen Kleidern, die ihre Schultern äußerst geradehielt. Sie hatte eine lange Patriziernase, und ihre Augen glänzten mit einem absoluten Vertrauen in die eigene Weltanschauung. Wegen dieses Strahlens, wegen seiner Reizlosigkeit, selbst wegen ihres Topfhaarschnitts erinnerte ihr Gesicht ihn an Jeanne d'Arc. Eine Suppenterrine erschien, der Boy verschwand wieder, und Willy begann das Tischgebet. Ayres neigte den Kopf, ohne jedoch die Augen zu schließen. Er beobachtete Julia am Kopf der Tafel in ihrer schäbigen alten Strickjacke. Sie hatte sich keine Mühe gemacht, sich dem Anlaß entsprechend zu kleiden, trug kein Rouge auf Wangen oder Lippen, ihr Haar war ungekämmt, und ihr Gesicht wirkte hager und müde. Willy trug wie immer seinen Priesterkragen, und Ayres kam sich in seinem Smoking mit schwarzer Schleife etwas merkwürdig vor. Während des Essens war Julia durchaus freundlich, wenn auch unsicher, zögernd. Als ihr Gatte sie fragte, ob ihr das Feuerwerk gefallen habe, lächelte sie, auf ihre Hände hinabsehend, und nickte rasch. Sie war erregt und angespannt, und als sie den Kopf drehte, sah Ayres die Sehnen ihres Halses hervortreten. Willy half ihr, das Geschenkpapier von Ayres' saffianledergebundenem Photoalbum abzureißen; dann von seinem eigenen Geschenk, einer hübschen Colendge-Ausgabe. Sie blätterte rasch das schmale Bändchen durch, bis sie die Seite gefunden hatte, die sie
suchte, dann schlug sie es zu, als fürchtete sie sich, ihre Freude zu zeigen. Nur Miss Platz hatte anscheinend kein Geschenk mitgebracht. Ayres sprach wenig. Er murmelte ein, zwei Worte als Antwort auf eine Frage oder ein »Hmmm« oder »Mmmm«, das Willy ermutigen sollte, fortzufahren. Ayres schien am gelassensten von allen, den Ellbogen auf den Tisch gestützt, mit hochgerutschter Manschette, eine bärtige Wange in die Hand gelehnt. Wenn Willy oder Miss Platz etwas sagten, hielt er den Blick auf sie gerichtet, mit dem Kopf nickend zum Zeichen, daß er ihren Sätzen folgte. Er sah zu, wie Julia merklich unruhiger wurde. Ihr nervöses Muskelzucken war wieder da. Gelegentlich sog sie ihren Speichel ein oder schniefte laut. Sie aß wenig und zündete sich eine Players an, ehe die anderen die Mahlzeit beendet hatten. Das Dessert wurde aufgetragen, und Ayres, der einen Hang zum Süßen hatte, zeigte Interesse. Es war Trifle, üppig süß und mit viel Wein, für einen Methodistenhaushalt etwas seltsam, dachte Ayres. Wein selbst wurde bei Tisch nicht gereicht. Die dicken Puddingschichten wechselten mit Bisquit, eingelegten Früchten, Mandeln und Sahne, und das ganze schwamm in einer Sauce aus Portwein und einem Sirup, einer klaren Karamellflüssigkeit, die sich zu keinem besonderen Bestandteil zurückverfolgen ließ und sich von selbst (auf alchemistischem Wege? Ayres wußte auch keine andere Erklärung) bei einem wirklich guten Trifle bildet. Es war hervorragend, und Ayres ließ sich gerne eine zweite Portion geben. Ein Kuchen mit einunddreißig brennenden Kerzen wurde hereingetragen. Nach dem Geburtstagsgesang wollte Willy mit moussierendem Ginger Ale einen Trinkspruch auf den König ausbringen; sein Buttermesser klingelte ans Kristallglas, und drei von ihnen erhoben sich. Miss Platz blieb stur sitzen. »Wir dürfen doch sicherlich ein klein wenig patriotisch sein?« schalt Willy sie gutmütig. »Ich weiß, wohin der Patriotismus führt«, sagte sie. Man hörte ihr das Oxford-Studium an, was zusammen mit ihrem winzigen deutschen Akzent stets ein wenig geringschätzig wirkte. Nach dem Trinkspruch blieben Julia und Miss Platz sitzen, da es weder Brandy noch Port gab, um die sich die konventionelle Herrenrunde hätte bilden können, und Ayres bot Willy eine Zigarre an.
Willy schwenkte tadelnd den Finger und sagte zu Miss Platz: »Aber Sie sind selbst eine Patriotin, meine Liebe. Sie haben sich im Krieg gegen Ihre Landsleute gestellt.« Sein Tonfall war spöttisch-freundlich, und sein Gestikulieren mit der langen Havanna verstärkte den Eindruck des Großsprecherischen. Ayres gefiel der Mann als Gastgeber weit weniger denn als Opfer. »Ich habe mich gegen den Krieg gestellt«, sagte sie ruhig. »Wäre Christus wirklich in unseren Herzen, würde er aus uns allen Internationalisten machen.« Reverend Paradise sah gekränkt drein. »Der Herr macht aus allen Menschen Brüder.« »Und Sie zeigen trotzdem die Fahne des Empire bei Ihrem Feuerwerk im Garten! Wäre es nicht wegen Ihres Union Jack, dann hätte unser Schulhaus noch seine Fenster!« Ayres sah interessiert von Willy, der den Mund aufgemacht hatte und die Stirn runzelte, als wüßte er nicht genau, was sie sagen wollte, zu der Frau. Ihr stand der Ärger noch im Gesicht geschrieben; sie spürte ihren Vorteil, war sich aber nicht sicher, ob sie ihn ausnutzen sollte. Ayres dachte sich, daß dies wohl nicht das erste Mal war, daß es zu einer Auseinandersetzung zwischen den Missionaren gekommen war. »Dann sind Sie ganz einfach eine andere Art von Patriotin«, sagte Willy. Listig fragte er: »Sie unterstützen die Ziele der Kuomintang, nicht wahr?« »Was zum gegenwärtigen Zeitpunkt notwendig ist, ist ein starker chinesischer Nationalismus.« Sie schien diesen Gedanken ausführen zu wollen, sich dann jedoch anders zu besinnen, und lehnte sich zurück. Julia beobachtete sie mit wilder Konzentration. Ihr kleiner Kopf schnellte von ihrem Gatten zu der Frau hinüber, dann wieder zurück. »Lassen Sie mich Ihnen etwas über Patriotismus erzählen«, sagte Miss Platz freundlich zu Willy. »Ich habe meinen patriotischen Eifer in Oxford im Jahre 1916 verloren, als ich ohne Abschluß von der Universität verwiesen wurde.«
Die anderen drei warteten darauf, daß sie fortfuhr. »Oxford war während des Krieges sehr ruhig. Sie sprechen von Patriotismus - all die jungen Männer hatten sich gemeldet. Intelligente Jungen, geniale Jungen, achtzehn, neunzehn, sie waren noch Kinder. Aber ich war kein Kind mehr. Ich war dreiundzwanzig. Die Colleges waren fast leer. In der Stadt gab es Truppenbaracken und Krankenhäuser. Ich tat, was ich für den Krieg tun konnte. Es war nicht so, daß ich versuchte, neutral zu bleiben. Ich tat freiwillig Dienst als Schwester an einem der Krankenhäuser. Eines Nachts, als ich heim zu meinem College ging, wurde ich überfallen. Ein paar Jungs hatten getrunken. Sie hielten mich fest. Es fielen die vorherzusehenden Beschimpfungen. Ich war eine Boche, eine Hunnin, ein Feind. Einer der Jungen goß mir etwas ins Haar, das er mitgebracht hatte. Wissen Sie, was Schweden teer ist? Wissen Sie, wie das riecht? Ich erstattete Anzeige. Man untersuchte den Fall. Mein College entschied, daß ich diejenige wäre, die zu gehen hatte.« Ein plötzlicher Zweifel, beinahe etwas wie Angst, erschien auf ihrem Gesicht, als sie sah, daß Ayres sie beobachtete. Sie hatte mehr gesagt, als nötig gewesen wäre. Ayres ließ sich in seinen Stuhl zurücksinken und sagte ruhig: »Das muß für Sie eine sehr schwere Zeit gewesen sein, MISS Platz. Es kann nicht leicht sein, davon zu erzählen.« Sie lächelte, und Ayres sah, daß die Ecke eines ihrer Vorderzähne abgesprungen war. »Durchaus nicht, Doktor.« Sie sprach seinen Titel deutsch aus, ironisch, so daß er sich beunruhigt und auf eine unklare Art überlistet fühlte. Teilweise hing dies damit zusammen, daß sie Deutsche war. Es kam ihm der vage Gedanke, daß es gar nicht dumm wäre, sie nach dem Namen ihres Vaters zu fragen. »Mein Held«, sagte Willy Paradise zu ihm, »ist Timothy Richard. Haben Sie von ihm gehört?« Ayres gestand, daß dies nicht der Fall war. »Ein hochberühmter Missionar. Die Chinesen nannten ihn Li-TiMo-Tai. Er hatte in Gelehrtenkreisen einen außergewöhnlichen Ruf. Nicht jeder war natürlich mit seinen Methoden einverstanden, vor allem nicht unsere orthodoxen Kollegen. Timothy Richard träumte davon, daß sich China selbst reformieren sollte, nicht von einem mit
westlichen Kirchen übersäten Land. Er versuchte, in seinem Unterricht das Wesentliche der chinesischen Kultur in den Mittelpunkt zu stellen. Er hat damals viele junge Chinesen inspiriert, sich der Revolutionsbewegung anzuschließen. Aber es war seine Überzeugung, daß China die westliche Wissenschaft brauchte. Er lebte in bitterer Armut und ernährte sich von Reis und Gemüse, damit er Teleskope und Mikroskope für seine Studenten kaufen konnte. Und wir sitzen hier und haben Schweinebraten gegessen!« Er sah Ayres an, als wäre dies die Schuld seines Gastes. »Ein ausgezeichnetes Essen«, sagte Ayres. »Sie haben diesen Timothy Richard kennengelernt?« »Bedauerlicherweise hatte ich niemals die Gelegenheit. Er starb 1919. Aber er hat seine Spuren hinterlassen. Ja, das kann man wohl sagen. Jetzt haben wir die Neuen Missionare und ihr Programm der nationalen Errettung durch Reform. Das ist Timothys Erbe. Das soziale Evangelium, wie man nun sagt.« »Diese Soldaten draußen wissen es anscheinend nicht zu schätzen«, sagte Ayres. Julia sagte laut: »Natürlich schätzen sie es. Haben Sie nicht gesehen, mit welchem Vergnügen sie unsere Fenster eingeschlagen haben?« Dann, ruhiger: »Sie haben sich eben chinesisch aufgeführt.« Willy wandte sich an Ayres. »Sie müssen verstehen, daß Missionare hierzulande traditionell Ziel nationalistischer Angriffe waren. Wir hier haben außerordentliches Glück gehabt. Eine Handvoll Soldaten, für ein paar Tage einquartiert. In einer Woche oder so kommen die Schülerinnen zurück. Ein paar zerbrochene Fensterscheiben! Es würde Ihnen den Magen umdrehen, wenn Sie hören würden, was manchen von unseren Leuten in der Vergangenheit schon geschehen ist.« Julia sagte: »Unsere Mädchen kommen zurück, wenn Johnny Yang sie läßt.« »Wer ist das?« fragte Ayres. Willy sagte: »Einer von den Polizisten der Präfektur. Einer von denen, die, wie Sie sagen, uns anscheinend nicht zu schätzen wissen. Kleine Schikanen. Gelegentlich will eine Familie ihre Tochter zurück. Sie unterzeichnen eine Vereinbarung, und zwei oder drei Monate später wird Druck auf sie ausgeübt, oder sie beschließen, daß sie jetzt
keine Christen mehr sind, und wollen sie wiederhaben. Manchmal schicken sie einfach ein paar Muskelprotze vorbei, um das Mädchen abzuholen. Für uns eine entsetzliche Situation. Sie könnten, soweit wir wissen, das Mädchen auch einfach entführen. Einem ist das letztes Jahr auch tatsächlich geschehen. Ein anderes Mal schicken sie dann Captain Yang, daß er sie holt. Eine Pflicht, welcher sich Captain Yang, wie ich gleich hinzufüge, mit Entzücken entledigt.« Willy Paradise hielt einen Augenblick inne, als überlegte er, ob er fortfahren solle. »Er haßt uns. Verabscheut uns mit reinem glühendem Haß. Er hält es für seine heilige Pflicht, alle Christen aus China zu vertreiben.« »Aber warum wird die Polizei geschickt? Warum holen die Eltern die Mädchen nicht einfach selber ab?« Willy Paradise zuckte die Achseln. »Feigheit, nehme ich an.« Julia sagte scharf: »Sie haben Angst, daß Willy es ihnen ausreden könnte. Willy hat große - Überzeugungskraft. « Endlich stand man vom Tisch auf, und Ayres schleppte sich nach oben in sein Zimmer. Er zog die Schuhe und das Jackett aus, zündete sich die Pfeife an und legte sich aufs Bett.
Ein schriller, kreischender Schrei durchschnitt die Nacht. Ayres schüttelte sich wach und erinnerte sich, wo er war. Der Schrei verklang, und nun hörte er das erregte rasche Reden von Chinesen draußen im Garten. Und ein anderes eindeutiges Geräusch: das Knistern von Flammen. Das kleine hölzerne Schulhaus stand, als Ayres ankam, schon ganz in Flammen. Das Feuer warf helle schwankende Schatten durch den Garten. Balkenstücke qualmten im Gras, und er hörte das Krachen und Zischen, als das Blechdach zusammenbrach. Flammen zuckten auf und ergriffen die überhängenden Zweige. Die Soldaten taten nichts, um das Feuer einzudämmen. Sie schauten interessiert zu, auf dem Stapel ihrer Tornister, Schlafsäcke und Gewehre hockend. Willy Paradise rannte zur Pumpe und füllte einen der dort stehengebliebenen Blecheimer, aber die Hitze des Feuers war so gewaltig, daß er nicht nahe genug herankommen konnte, um das Wasser in die Flammen zu werfen.
»Ist niemand mehr drinnen?« schrie Ayres zu ihm hinüber. Willy schien verwirrt, dann begriff er, drehte sich um und rief den Soldaten auf Chinesisch etwas zu. Sie verstanden Willys Mandarin offenbar nicht. Sie sahen einander an, dann wieder Willy, und lächelten. Einer der jungen Soldaten, der sich die Anfänge eines struppigen Schnurrbarts hatte wachsen lassen, hob eine Flasche Reisschnaps an die Lippen und trank; dann reichte er sie, ins Feuer starrend, an den neben ihm Stehenden weiter. Etwas ließ Ayres aufsehen. Julia stand an einem der Dachfenster. Sie sah über ihn hinweg auf das brennende Schulhaus; im Feuerschein war ihr Gesicht triumphierend. Eine halbe Stunde später war das Gebäude ein Skelett geschwärzter Balken, die glosten und rauchten, doch nicht einstürzen wollten. Die Soldaten hatten sich mit ihrer Ausrüstung in die Gartenschuppen zurückgezogen, die am hinteren Zaun grob zusammengenagelt worden waren. Als sie gingen, zerrte einer - es war der junge Mann mit dem Schnurrbart - seinen Tornister und seinen Schlafsack zu Willy hinüber, der alleine dastand, nahm etwas aus dem Tornister hervor und reichte es Willy mit einer entschuldigenden Geste. Ayres sah, daß es ein Mikroskop war.
Willy hatte, als Ayres wieder ins Haus gegangen war, sich noch nicht von der Stelle gerührt. Er blieb, ohne Ayres' Gutenacht zu beachten, vor der qualmenden Ruine seiner einstigen Schule stehen. Am nächsten Morgen fand ihn Ayres immer noch im Garten. Er hob den Kopf, sagte aber nichts. Anscheinend war er die ganze Nacht dageblieben; seine Hände, sein Gesicht und sein Priesterkragen waren voll Ruß und Asche. Das Haus war nur noch kalter schwarzer Schutt. Ein Teil des verkohlten Gerüsts war im Laufe der Nacht eingestürzt, und Dachbalken hingen gefährlich von dem, was noch übrig war, herunter. Blechstücke lagen hier und dort auf dem Rasen, und Ayres besah sich die geschwärzten Gegenstände, die Willy gerettet hatte - den Metallrahmen eines Pultes, ein zerbrochenes Waschbecken, verbrannte Bücher, die sich aus einem teilweise verbrannten Schrank verstreuten. Wie Ayres umherging, stäubte Asche unter seinen Füßen auf.
Ayres sagte: »Haben die Soldaten irgend etwas gesagt?« »Sie sind am frühen Morgen abgezogen. Haben Sie nicht den Laster ankommen hören?« »Nein.« »Es ist mit Vorsatz geschehen. Es gibt keinen Zweifel. Schauen Sie dort!« Er nickte zu dem Schutt hinüber. Ayres konnte zuerst nicht erkennen, was er meinte, dann sah er einen rußgeschwärzten Benzinkanister, dessen schwaches rotes Markenzeichen eben noch zu erkennen war. »Das ist ungeheuerlich«, sagte Ayres. »Sie müssen sofort dem Konsul telegraphieren. Sie dürfen keine Zeit verlieren. Wir werden sie ihren vorgesetzten Offizieren melden.« Willy Paradise machte sich nicht die Mühe, zu antworten. Er schien in tiefe Verzweiflung versunken. Ayres hatte die starke Empfindung, daß der Mann ihn haßte. Dann erzählte ihm der Geistliche eine Geschichte, die ihm in der Nacht von einigen jungen Männern berichtet worden war: Nicht lange vor Aus Bruch des Feuers war eine Frau von der Mission zum Kanal hinunter gegangen, wo sie von einem kleinen Landungssteg ein Holzboot losgemacht hatte. Es war eine milde Nacht, und ein paar von den Bauernjungen, die wegen des Feuerwerks gekommen waren, hatten an jener Stelle, wo der Kanal wegen eines Schleusentors zu einem breiten tiefen Teich wird, Rast gemacht. Am Ufer wuchsen ein paar Weiden, und von einem dieser Bäume hing ein Seil, an welchem sich an heißen Sommernachmittagen nach der Ernte eben jene jungen Männer über den Kanal hinausschwangen, um sich ms Wasser fallen zu lassen. Das Wasser floß rasch in jener Nacht, da der Schleusenwärter den Schieber geöffnet hatte. Aus Gründen, die nur der Bürokratie in Schanghai bekannt waren, öffnete er die Schleuse nachts, um die Kanäle zu fluten. Die Jungen sahen zu, wie die Frau schneller und schneller den Kanal hinabfuhr, ohne daß ihr die mächtige Strömung Schwierigkeiten zu bereiten schien. Sie ruderte rhythmisch und geschickt (am Somerville College war sie im Damenachter gewesen, erläuterte Willy), als ob sie bloß einen kleinen Sonntagsausflug in einem jener Boote machen würde, die man neben dem englischen
Teehaus im Rennklub von Schanghai mieten kann. Ein paar Minuten später schössen die Flammen in den Himmel hinter den Weiden, und das Geschrei von der Mission zerriß die Luft. Keiner dachte mehr an die Frau. Draußen, mitten auf dem Kanal, trug sie die Strömung rasch ins Dunkel, fort vom Licht des Feuers. »Haben Sie Julia gesehen?« fragte Ayres ihn leise. Sein Gesicht sagte ihm, daß dem so war. »Ist sie... schläft sie?« »Jetzt schläft sie.« Wie er dies sagte, war irgendwie furchtbar. »Was soll das heißen?« fragte Ayres scharf. »Ich bin bis in den frühen Morgen bei ihr gewesen. Ich wollte Sie zuerst wecken, aber - ich bin es gewohnt, ihr selbst die Injektionen zu geben.« »Sie meinen, sie hat wieder halluziniert?« »O ja. Entsetzlich. Sie sagte wieder und wieder, daß jemand in dem Feuer verbrannt sei. Ich habe die ganze Nacht bei ihr gesessen und versucht, es in ihren armen Kopf hineinzubringen, was wirklich geschehen ist. Eigentlich weiß ich es selbst nicht wirklich. Keiner von uns weiß es. Ich habe ihr mit der einfachsten Logik Schritt für Schritt wie einem Kinde erklärt, daß keines der Mädchen mit dem Schulhaus zusammen verbrannt ist, daß keines verbrannt sein kann. Sie sagte, daß sie das Haus brennen sah, daß dichte Rauchwolken aus dem oberen Fenster kamen. Daß sie Flammen dort oben sah, selbst das Geräusch von zerbrechendem Glas hörte. Und den Angstschrei eines Mädchens - vielleicht hat sie in ihrer Panik das Geschrei der Soldaten...« Willy Paradise sah Ayres an, und Erschöpfung und Schrecken zeichneten sich endlich auf seinem Gesicht ab. »Und dann hat sie behauptet und immer wieder behauptet, daß sie ein Mädchen im Nachthemd gesehen hat, das aus dem brennenden Fenster oben auf den Rasen hinuntersprang.«
Es war keine Dienerschaft zu sehen, und Ayres mußte sich selbst das Frühstück machen: Eier, Toast mit Butter und Tee, den er sich selbst aufbrühte. Die gestapelten Teller und Schüsseln standen ungespült in der kalten kleinen Küchenkammer. Im Eßzimmer war der Tisch noch ganz genauso, wie sie ihn verlassen hatten, mit dem
halbgegessenen Geburtstagskuchen und den Zigarrenstummeln. Sobald er mit dem Frühstück fertig war, holte er seine Pfeife heraus, lehnte sich zurück und ließ den dichten, duftenden Rauch sich über der Unordnung kräuseln. Er ging ins Wohnzimmer und begann, in einer South China Daily News zu blättern, die schon eine Woche alt war; er las die abgestandenen Meldungen von den großen Streiks in Schanghai. Das Geräusch vorfahrender Autos ließ Ayres sich erheben, doch als er sich schließlich zum Wohnzimmerfenster gewuchtet hatte, war nur noch eine Staubwolke zu sehen, die träge im morgendlichen Sonnenlicht aufstieg. Er fand Julia im Garten auf der um einen Pfefferbaum gebauten Holzbank; sie war in ein ernsthaftes Gespräch mit einem Polizisten vertieft. Ein sehr gut gekleideter junger chinesischer Polizist zwar - er trug eine europäische Krawatte, eine Weste und ein sauberes weißes Hemd und balancierte eine Melone auf dem Knie -, aber unzweifelhaft ein Polizist. Sein Jackett lag säuberlich gefaltet auf dem Beifahrersitz seines Automobils, eines neuen amerikanischen Wagens. Im Fahrerhaus des grünen Lastwagens dahinter saßen mürrisch und gelangweilt zwei weitere Polizisten links und rechts von Willy Paradise. Dieser trug immer noch seinen verdreckten Priesterkragen und hatte sich nicht das Gesicht gewaschen. Reglos saß er da; das geschwärzte Gesicht, dazu der Lastwagen ließen Ay-res an einen Bergmann denken. Es vergingen einige Augenblicke, bis Julia Ayres' Gegenwart bemerkte; dann wandte sie ihm ihr Gesicht zu. Ihr schwarzes Haar glänzte in der Sonne. »Sie haben Willy verhaftet«, sagte sie. Ayres blieb unerschütterlich stehen und sah den gutgekleideten Polizisten an. Julia stellte sie einander vor, und der Chinese bestand auf dem Händedruck. Er hieß Johnny Yang, und er sprach gutes Englisch mit amerikanischem Akzent. »Wessen wird er beschuldigt?« fragte Ayres milde. »Es bedarf keiner formellen Beschuldigung. Vielleicht haben Sie es noch nicht gehört? Das Oberkommando der Nationalen Volkspartei hat das Kriegsrecht verhängt.«
Ayres war plötzlich voller Wut. Er sprach mit scharfer Stimme, die seinen Ekel nicht verbarg. »Von der Internationalen Zone abgesehen.« Der Chinese sah ihn freundlich an. »Von der Internationalen Zone selbstverständlich abgesehen.« Er machte das Zugeständnis mit einer Verbeugung und fuhr geläufig fort. »Andererseits befindet sich die Präfektur von Sungtschiang augenblicklich nicht unter der Jurisdiktion der Internationalen Zone. Reverend Paradise wurde im Zusammenhang mit einem Brand sistiert, der sich vergangene Nacht auf chinesischem Grund und Boden ereignet hat.« Der Polizist lächelte. »Wollen Sie im Ernst den Vorwurf erheben, daß Mr. Paradise seine eigene Missionsschule niederbrennen wollte?« »Würde er seine eigene Missionsschule niederbrennen, wäre uns dies gleichgültig. Doch diese Mission hier ist nun chinesisches Eigentum, nachdem alle anderen Rechte durch den Erlaß des Kommandierenden Generals Tschiang Kai-scheck verwirkt sind, daß alle ausländischen Missionsschulen chinesische Vorsteher haben müssen. « Ayres schwieg. Er sah den Polizisten an und fragte dann: »Wann wird er wieder auf freien Fuß gesetzt?« »Wenn schließlich alle Tatsachen ans Licht gekommen sind.« Julia sagte leise: »Willy wird ein paar Tage bleiben, glaube ich.« Sie stand töricht lächelnd da, in ihrem Sonntagskleid. Dann senkte sie den Blick und zupfte an den Fingern ihres Handschuhs. Johnny Yang wandte sich wieder an Ayres. »Sind Sie in irgendeiner offiziellen Funktion hier, Doktor?« Ayres sagte langsam und seine Wut möglichst verbergend: »Ich bin hier als Gast von Reverend Paradise und seiner Gattin.« Der Polizist schien es zufrieden. »Nun denn.« Er drehte sich zum Wagen. »Jetzt sind Sie hier als Gast des chinesischen Volkes. Ich bin sicher, Sie werden alles tun, um chinesisches Eigentum vor weiterem Schaden zu bewahren. Vor irgendwelchen Schädigungen von unbekannter Seite.« Er setzte seine Melone auf und öffnete den Wagenschlag. Julia kam herbei und berührte den glänzendgrünen Kotflügel.
»Fährt es schnell?« fragte sie schmeichelnd und streichelte das Metall. »Sehr schnell«, bestätigte der Mann, nahm den Hut wieder ab und betrachtete ihr Gesicht genau. »Doch ich bin ein langsamer und vorsichtiger Fahrer.« Er lächelte und machte eine recht prätentiöse halbe Verneigung, vielleicht als Spott auf die europäischen Vorstellungen von asiatischer Höflichkeit. »Es war ein Geschenk meines Vaters. Ein Hochzeitsgeschenk«, fügte er mit einer kleinen Grimasse hinzu, bei der er gerade weiße Zähne zeigte. »Ihr Vater muß sehr wohlhabend sein, um seine Kinder mit solchen Geschenken zu überschütten.« »Ein Geschenk. Von Überschütten kann kaum die Rede sein.« Er sah zu Ayres hinüber, der Julia beobachtete. Ihr Gesicht hatte sich gerötet, und ihr kleiner Fräulein-Lehrerin-Mund war fest geschlossen. Sie starrte Johnny Yang direkt ins Gesicht. Kein Wunder, daß er etwas verlegen war. Er konnte einen so intensiven Blick kaum auf höfliche Weise erwidern. Sie prüfte ihn tatsächlich, als wäre er eine Seltenheit, eine Kuriosität: seine glatte, trockene, fahle Haut mit der platten Nase, ein Gesicht von scheinbar falten- und linienloser Glätte, darüber das dichte, schwarze, säuberlich mit Brillantine gekämmte Haar. Julia sagte endlich: »Er hat nichts Schlechtes getan, wissen Sie. Er hat keine Vorstellung von Politik.« Der Polizist begriff. Er sagte beim Einsteigen in den Wagen: »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Wir werden uns wieder melden. Morgen vielleicht.« »Kommen Sie zum Tee«, sagte Julia lakonisch, als er den Motor anließ. Dann bewegte sich das Automobil davon, in einer gewissen Entfernung gefolgt von dem Lastwagen, in welchem Willy Paradise, ein williger Märtyrer, in seinem geschwärzten Kragen immer noch in würdigem Schweigen gerade aufgerichtet dasaß. Als sie um die Kurve der Auffahrt bogen, sah Ayres, wie Gerthilde Platz in ihren Hosen und mit einem breitkrempigen Männerhut auf dem Kopf sich aufrichtete. Sie sah dem Zweisitzer und dem Lastwagen nach, bis sie verschwunden waren, und wandte sich dann wieder dem Beschneiden der Rosen zu.
Julia hatte wieder die alte Strickjacke angezogen und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Ayres hörte von irgendwoher im Haus - im ersten Stock, dachte er - den Klang eines Grammophons, das dieselbe amerikanische Jazzmelodie immer wieder spielte. Er hielt es für äußerst unwahrscheinlich, daß Gerthilde Platz diese Art Musik spielen ließ. Julias Gesicht war, während sie sprach, verbissen. Sie schien die Musik nicht bemerkt zu haben. Sie sprach mit der alten Intensität von ihrer Kindheit. Die Worte, die anfingen, undeutlich ineinander überzugehen, wurden in giftigen kleinen Ausbrüchen hervorgestoßen, wenn sie mitten im Satz nach Atem rang. Gelegentlich mußte sie haltmachen und ein schlaffes saugendes Geräusch von sich geben, da sich in ihrem Mund der Speichel angesammelt hatte. »Am ersten Abend, als Willy ins Hotel Continental kam, war er auch bloß ein Mann in einem Anzug, der gekommen war, um gegen Bezahlung seine überschüssigen Flüssigkeiten loszuwerden.« Sie sah plötzlich sehr viel älter aus als ihre einunddreißig Jahre. Ihre Augen waren rot und feucht. Nach einer Pause sprach sie weiter, mit häßlicher Stimme. »Später in dieser Nacht sah ich, wie ein Mann draußen auf dem Balkon dem Mädchen nachjagte. Sie war voller Angst. Ich lief zur Tür, aber sie war schon am Ende des Balkons, der Mann fast bei ihr. Und dann drehte sie sich um und sprang. Als ich über das Geländer sah, konnte ich ihr weißes Nachthemd unten auf der Straße ausgebreitet sehen.« Kleine Falten hatten sich nun verstohlen um ihren Mund gekrallt, den sie seit dem Nachmittag mit einem schockierenden Rouge bemalt hatte. »Tina Terrina legte ihre großen Arme um mich und wollte mich nicht hinuntergehen lassen, um nachzusehen. Wir weinten die ganze Nacht zusammen in ihrem Bett. Ich spüre jetzt noch das Beben ihrer großen Brüste unter ihrem Nachthemd.« Visionen ihrer Vergangenheit entströmten Julia. Alles weigerte sich störrisch, boshaft, das psychoanalytische Skelett des »Falles«, das Ayres in seinen Notizen konstruiert hatte, mit Fleisch zu umhüllen.
Wie bei ihren Dienstagnachmittagen ließ sie keine Unterbrechungen für Fragen oder Klärungen zu. An einem Punkt wandte sie sich plötzlich in ihrem Sessel um, schaltete die Stehlampe an, nahm eine flache Pappschachtel vom Boden auf und öffnete den Deckel. Immer noch ständig redend, fing sie an, die Dutzende von Photographien in der Schachtel zu durchwühlen. Ayres sah ihr mit der unangenehmen Vorahnung zu,
daß er nun ihre »Nachtbilder« gezeigt bekommen würde. Es war dunkel draußen, und Ayres wäre gerne aufgebrochen. Sie war nicht in der Lage, das Auto zu lenken, und selbst wenn sie es bis zur Bahnstation geschafft hätte, war es nicht sicher, daß die Züge nicht Verspätung hatten oder ganz ausfielen. Er fühlte sich in der Falle. Er wollte die Frau zum Schweigen bringen, weil sie ihm Dinge erzählte, die er nicht hören wollte, aber es saß ein Teil von ihm im Zimmer, der bei ihm war und doch, so schien es, ihm nicht angehörte, jener kalte grausame Teil seines Bewußtseins, der immer noch fortfuhr, hinter seinen lauten Herzschlägen zu lauschen. So erregt war dieser wissenschaftliche Teil seiner selbst, daß er nichts sagte, sitzenblieb und ihre Hand betrachtete, die beim Anzünden der nächsten Zigarette zitterte. Auf dem Tisch neben seinem Stuhl stand offen die flache Pappschachtel mit den Photographien. Es waren in der Tat ihre Nachtbilder aus dem Chinesen viertel von Schanghai: ein Bettler ohne Beine, der auf dem Gehweg vor dem Portal einer Bank saß; Kulis, die große Warenballen an beiden Enden der über ihren Rücken gekrümmten Bambusstäbe trugen; die kleinen Prostituierten, kaum zwölf oder dreizehn, die ihre Röcke hoben, um sich zu entblößen, die hungrigen Augen in groteskem Kontrast zu ihren Püppchenfiguren; ein Mann mit einer Gasmaske und hinter ihm ein offener Lastwagen, mit Leichen beladen. Es gab Photos, die in den frühmorgendlichen Teehäusern und um die Märkte herum aufgenommen worden waren, und keines davon wäre im Bericht eines Gerichtsmediziners auffällig gewesen. Doch die Photographie, welche er nun anstarrte, zeigte jemand sehr lebendigen: eine der Kinderhuren, das glänzende Haar hoch auf dem Kopf aufgetürmt, die Bluse offen, um die unentwickelten Brüste zu zeigen, das Gesicht mit dem frühreifen Make-up der Kamera entgegengestreckt, als erkenne sie irgendein
Bild in der Linse, oder dahinter. Es war das Mädchen namens Lucy, das Morgan McCaffrey einige Male als Modell gemietet und das Ayres selbst gelegentlich benutzt hatte. Nun sprach Julia mit drängender Stimme, und es schien Ayres deutlich, daß sie ihm alles anvertraute, weil sie spürte, ihre Zeit könnte ablaufen. Sie war voller Geschichten an diesem Nachmittag, bestimmt vorgetragener Geschichten voller Details, die sie erzählte, als hätten sie sich tatsächlich ereignet, ein Opfer ihrer eigenen Fiktionen. »Ich erkannte zuerst nicht, daß es Lucy war, weil ihr Gesicht geschminkt war. Ich hatte sie nur in ihrer blauen Schuluniform gesehen. Das war sechs Monate her. Ihre Familie glaubte, sie sei tot. Ich habe dieses Mädchen geliebt. Sie war meine besondere Schülerin gewesen, sie war anders als die anderen. Ich weiß noch, wie sie zum erstenmal zu mir kam und auswendig aufsagte: In Xanadu ließ Kubla Khan Sich wölben einen Lust-Palast...« Plötzlich sah Julia zu ihm auf. »Du hast sie getötet, Ayres.«
Das Gesicht des Kindes schaute ihn aus der Photographie an. Die Tür öffnet sich, und Morgan, der Maler, bleibt an seiner Staffelei stehen. Hinter seiner linken Schulter kann Ayres das Mädchen sehen. Beim Geräusch der sich schließenden Tür dreht sie sich um und sieht ihn mit einer solchen stummen Kraft an, daß ihr Kopf sich vorreckt und ihr nackter Körper seine Balance zu verlieren scheint. Morgan, bärtig, mit wirrem Haar, kaum mehr europäisch aussehend in seiner blauen Kuli-Steppjacke, rührt sich nicht, als Ayres hereinkommt. Er steht da, den Pinsel in klassischer, beinahe koketter Pose in der Luft. Sein Blick ist streng, Bart und Schnurrbart bedecken seinen Mund und jegliches Zeichen irgendeines Gefühls, das dieser hätte verraten können. Nur die Augen sind klar, blau, offen, beinahe durchsichtig, was ihm etwas vom durchdringenden Blick der Blinden gibt. Als er endlich redet, ist seine Stimme spielerisch, amüsiert, paßt nicht zu dem groben Bartgestrüpp. Er sagt mit seiner langsamen, amüsierten Stimme: »Nun, da schau her. Da haben wir den Doktorfreund der kleinen Lucy. Was kann er nur wollen?« »Ich will, daß Sie mir das Bild zeigen«, antwortet Ayres.
Lucys dunkle Augen sehen zu Ayres hin, dann wandern sie durch den Raum, sie wollen seinem Blick nicht begegnen. Es ist ein großer weißgekalkter Raum mit einem Steinfußboden. Er ist barbarisch kahl: keine Matten, keine Teppiche, kein wärmender Ofen, und das Modell zittert. Nur die Wände sind mit Morgans Bildern bedeckt, manche auf Papier, andere auf Pappe, Sperrholz, den Seiten einer Holzkiste. Mitten im Zimmer sind da, wo er jetzt steht, die zusammengenagelte Staffelei und ein kleiner Arbeitstisch aufgestellt, sonst nichts. Ayres betrachtet die zehn, zwölf an den Wänden aufgehängten Werke Teehausszenen, Seenlandschaften, Boote auf einem Kanal, seltsam große braunhäutige Eingeborenenfrauen mit eiförmigen Brüsten beim Bad. Der Maler beobachtet ihn, die blauen Augen lächeln immer noch. »Nun, Fräulein«, sagt er. »Nun, kleine Lucy. Wir finden jetzt am besten heraus, was der Doktor, der Freund der kleinen Lucy, will. Du willst doch sicher wissen, was er will, nicht wahr, Fräulein?« Sie wimmert und starrt Morgan an: konzentriert, den zarten Körper halb fortgedreht, die dunklen Augen glänzend, ein kleines Waldtier, das aus dem Gebüsch hervorfliehen könnte. Er lacht mitfühlend und faßt Ayres an der Schulter. »Kommen Sie, Freund der kleinen Lucy! Kommen Sie ins Warme. Wir möchten doch nicht, daß Sie sich die großen, bösen Bärenpfoten verkühlen!« Er öffnet die Tür zum angrenzenden Zimmer. Das Mädchen zögert, dann schlüpft es rasch unter seinem Arm hindurch. Er schließt die Tür des eisigen Ateliers leise hinter ihnen. Sie befinden sich in einem kleineren Zimmer, beinahe ebenso kahl, doch lassen die Wärme des niedrigen Porzellanofens in der Ecke und die zusammengerollte Schlafmatte es nicht ganz so nackt erscheinen. Ein kleines Fenster hoch oben läßt das kühle Nordlicht in den Raum und erhellt so das große Bild, das an einer Wand lehnt. Dies hier ist auf Leinwand gemalt, die noch auf den Keilrahmen gespannt ist: ein Aktbild des zwölfjährigen Mädchens. Ayres ist auf diesen kalten Realismus nicht vorbereitet - die flachen Brüste des Mädchens mit den kaum ausgeformten Brustwarzen, das kindische Bäuchlein, ebensowenig auf die Überraschung ihres Schamhaars. Den trägen, matten Linien ihres Körpers ist eine klare Botschaft einbeschrieben und ebenso dem strähnigen blauschwarzen Haar, das wie schweißdurchfeuchtet
herabhängt, dem zerwühlten Lager auf der Matte im Hintergrund (derselben, die nun aufgerollt an der Wand steht): Morgan hat hier die Traurigkeit des verklingenden Begehrens eines Mannes dargestellt, eines nicht vollkommen befriedigten Begehrens, und im Gesicht des Mädchens die Verzweiflung über die sich wiederholende Gewalttat. Ayres beobachtet, wartet auf die Reaktion der kleinen Lucy, welche ausbleibt. Dann lassen die Plötzlichkeit und Kraft seiner Bewegungen sie aufschreien, wie er sie vorbeugt und gegen die Wand schiebt. Während er an seinen Hosenknöpfen fingert, steigt ihm die Traurigkeit, die Erbarmungswürdigkeit des Ganzen in die Kehle.
In
einem anderen Land, und außerdem ist das Dirnchen tot, dachte er. Was macht es für einen Unterschied, ob die Gebärmutter gerissen oder der Anus perforiert ist, wenn ein Mädchen auf der Straße stirbt. Der Mann von den Stadtwerken mit der Gasmaske und dem offenen Lastwagen würde nicht anhalten, um es herauszufinden. Oder vielleicht war sie aus der Gosse von einer Frau aufgelesen worden, die in einem alten Regenmantel und einem Kopftuch die Straßen durchstreifte, mit einer Kamera, und war in ein Missionskrankenhaus gebracht worden, um dort ihr Sterben unter einem Kreuz zu erledigen? Nun, in Julias Wohnzimmer, wo die Last der Minuten durch seine Nerven tickte, konnte er nur warten, bis Julia es ihm sagen würde.
Lange Zeit durchlebte er immer wieder, was sie in dem Zimmer der Mission sagte. Er rief sich ins Gedächtnis, wie ihre Stimme immer kehliger wurde und wie ihr Kopf von der Anstrengung des Erzählens auf eine Seite zu hängen begann, und wie Julia, als er sich das zweite Mal zwang, die Photographie des toten Kindes anzusehen, aufgeschaut und gesagt hatte: »An dem ersten Dienstag, als ich in dein Bett kam, wollte ich wissen, was für ein Mann so etwas tun konnte.«
W illy Paradise war ein kleiner Fisch, der an einer gefährlichen Stelle des Ozeans umherschwamm, wie der Erste Sekretär, Gerald Cole, Ayres in der Bar auseinandersetzte. Er würde sehen, was sich
machen ließ, aber was brachte denn am Ende eine diplomatische Demarche, abgesehen davon, daß sich irgendein Chines' gut amüsierte, wenn es jeden nur abkömmlichen britischen und amerikanischen Marinesoldaten brauchte, um die nationalistischen Truppen aus der Zone draußen zu halten? So verschwand Willy Paradise einfach. Einige Monate später besuchte Ayres jenes Gebäude am Rande von Schanghai, wo die nationalistische Geheimpolizei ihr Hauptquartier gehabt hatte. Es war ein nunmehr verödetes, düsteres Haus mit einem wuchernden Garten hinter einer hohen Steinmauer. Er spähte durch die leeren Türen und Fenster. Es gab ganz einfach nichts zu sehen; sicherlich nicht Willys Geist, selbst wenn man Willy hierhergebracht haben sollte. Es gab ein paar kleine Räume im Keller, aber kein Blut, keine menschlichen Fäzes, keinen Hinweis, welchem Zweck sie gedient hatten. Er stieg die wackligen Treppen bis auf den Boden hinauf, dessen Fenster auf den Garten hinter dem Haus sah, der ebenfalls voll Unkraut stand. Er sah die Ziegelmauer mit den drei weißlichen Stellen, wo Ziegel und Mörtel weggesplittert waren. Er ging die Treppe hinunter und in den Sonnenschein hinaus, um genauer nachzusehen. Die weißen Stellen waren durch Gewehrkugeln entstanden. Er konnte erkennen, wo die Gefangenen gestanden haben mußten, drei auf einmal, Gesicht zur Mauer. Dann die Gewehrsalve. Die Löcher in der Mauer waren tief: der Vorgang hatte sich Hunderte von Malen wiederholt. Er schritt die Strecke ab bis zu dem Punkt, wo das Hinrichtungskommando gestanden haben mußte. Hunderte von Patronenkapseln lagen unter dem Unkraut auf dem Boden verstreut. Das Messing funkelte in der Sonne. Ayres blickte um sich. Hinter der Mauer standen Telegraphenstangen, sah man einen gewöhnlichen strohgedeckten Bambusgartenzaun, die Dächer von Häusern. Die Geräusche des Morgens drangen in den öden Garten, die alltäglichen, fröhlichen Nachbarschaftsgeräusche von Stimmen, Wagen, Hähnen. Die vollkommene Gewöhnlichkeit des Morgens auf der anderen Seite dieser Gartenmauer verletzte ihn. Es wurde ihm klar, daß er China fast ebensosehr haßte wie das Leben. Schanghai war am Ende nichts als ein Abstecher, den er nie geplant hatte. Seit Jahren saß er nun in
diesem schäbigen Loch. Sein Zuhause war noch immer ein Hotel. Er fühlte, daß er nahezu fünfunddreißig Jahre auf dieser Welt verbracht und nichts begriffen hatte. Und noch etwas. Er fühlte, daß es ihm nicht gelungen war, die Bedeutung von Julia Paradises Gabe an ihn zu begreifen. Sie war wie ein in leuchtenden Farben bemaltes Puzzle, auseinandergenommen und verstreut in seinem Bewußtsein ausgelegt. Seine Gedanken bewohnten noch immer kleine Abschnitte ihres Lebens - oder dessen, was er mehr und mehr bei sich »ihre Leben« nannte. Er sprach laut mit ihr, bat sie, diesen oder jenen Punkt zu erklären, den scheinbaren Widerspruch zwischen dem und jenem zu erläutern, um der brutalen Pantomime, die er immer wieder spielte, einen Sinn zu geben. Kurz, er war nachgerade davon besessen. Selbst beim Meister fand er nur Entmutigendes. Freud selbst hatte geschrieben: »Es kommt mir immer noch seltsam vor, daß die Fallgeschichten, die ich aufzeichne, wie Romane wirken...« Und aus seinen eigenen Vorlesungsaufzeichnungen des Jahres 1919: »Die Psychoanalyse ist ihrem Wesen nach Heilung durch Liebe.« Ayres dachte an seine eigene Unfähigkeit zu lieben. Konnte er keinen anderen Ehrgeiz haben als den, mit dem hilflosen Blick des Voyeurs in das üppige Innere von Frauen zu dringen? Er hatte das Gefühl, daß seine Ausbildung, seine wissenschaftliche Methode ihn im Stich gelassen hatten. Er schien ewig hungrig zu sein, selbst nach einer umfangreichen Mahlzeit; doch sein Hunger war eine Ruhelosigkeit, die in seinen Nerven wütete, so daß er abends ausgehen und durch die Straßen laufen mußte, und seine Schritte führten ihn immer in dieselbe Richtung... Es mußte so sein, daß er in den dünnen, gespenstischen Gestalten der Mädchen sie verfolgte - der Mädchen, die sich ihm entweder mit aufgemaltem Lächeln zuwandten oder vor ihm durch die unbeleuchteten Straßen flohen. Er erschauerte, als er sich an bestimmte Strecken ihres »Erzählens« erinnerte, und er spürte das plötzliche wilde Begehren, über die Straße des Sprudelnden Brunnens zu gehen, um eine zu finden, die ihn wieder in die Mysterien einweihen würde, mit dem Wellenschlag des Flusses, dem Gekreisch der Papageien und dem überwältigenden Geruch des Eukalyptus.
Doch wie oft er auch ihre kleinen Körper nahm, er blieb ausgeschlossen aus der Welt am Entenfluß. Er zog den australischen Auslandskorrespondenten an der langen Bar ins Gespräch. »Duck River, sagen Sie -?« Der Mann sah Ayres scharf an, dann schüttelte er den Kopf. »Tut mir leid, alter Junge.«
Dann, aus heiterem Himmel, rief sie ihn im folgenden Jahr im Astor House Hotel an. Könnte sie ihn sprechen? Am Nachmittag? Vo r dem Postamt in der Szetschuanstraße um fünf? Ayres verließ das Hotel frühzeitig, noch vor vier. Draußen war ein heller Sommernachmittag mit einer köstlich weichen Meeresbrise. Mehrere leere Rikschas rollten die Szetschuanstraße hinauf, aber er beschloß, zu Fuß zu gehen. Die Aussicht, Julia wiederzusehen, erregte ihn. Ein plötzliches Glücksgefühl erfüllte ihn, und es wurde ihm klar, wie planmäßig er versucht hatte, sich der Gedanken an sie zu entwöhnen. Er kam genau zu dem Zeitpunkt an, als die Uhr des Postamts fünf schlug. Julia wartete bereits. Er erkannte sie kaum. Sie sah viel besser aus. Ihre Augen hatten immer noch den äußerst ermüdeten Blick dessen, der regelmäßig Narkotika gebraucht, doch nun hatte sie, wie er im Sonnenschein sah, diesen Effekt durch Mascara und Kohl verstärkt. Sie hatte Rouge auf die Lippen getan, und ihre Wangen sahen gesund aus, blühend. Ayres erkannte gleich, daß sie nicht mehr so stark vom Morphium abhängig war. Doch sie trug ihren schweren Mantel an diesem klaren, heißen Tag und hatte dasselbe seidene Kopftuch um ihr Haar geknotet. »Keine Nachricht von Willy?« fragte Ayres sie sogleich. Sie sah ihn beinahe verständnislos an. Er rief ein Taxi und nahm sie mit zu Delmonico, um dort mit ihr zu essen. Als sie im Restaurant angelangt waren, legte Julia Mantel und Kopftuch ab. Er war überrascht von ihrem modischen Kleid. Der Rock endete ganz kurz unterhalb des Knies, und das ärmellose Mieder war über dem Hüftband wie eine tief ausgeschnittene Bluse gebauscht. Sie trug eine lange Perlenkette. Und ihr Haar war vor kurzem erst geschnitten worden, eine Pagenfrisur nach der neuen amerikanischen
Mode, was die Europäer an den anderen Tischen sich umdrehen und hersehen ließ. »Ich brauche Geld«, sagte sie, unmittelbar nachdem er bestellt hatte.
»Es hat mich überrascht, daß du mich nicht früher darum gebeten hast.« Sie sah weg. »Wieviel?« fragte er. »Eine Menge.« »Wieviel ist eine Menge? Zehn Pfund? Zwanzig?« »Ich brauche hundertfünfundsechzig Englische Pfund«, sagte sie ernst. »Ich kann nicht von heute auf morgen einen solchen Betrag abheben.« »Du hast das Geld nicht?« Es lag ein spöttischer Ton in ihrer Stimme, die Ironie und Selbstverachtung des Erpressers. »Ich habe es natürlich. Es braucht lediglich ein paar Tage, bis ich es ausgehändigt bekommen kann. Ich muß eine Bankanweisung ausschreiben.« Ayres wußte, daß er am nächsten Morgen um zehn in seine Bank gehen und sich die Geldscheine holen konnte, doch er wollte Zeit, um entscheiden zu können, ob sie es wirklich nötig hatte. Und ob er es nötig hatte, ihr das Geld zu geben. Er sagte: »Du bist doch nicht schwanger?« »Nicht schwanger.« »Etwas Politisches?« Sie schüttelte den Kopf. »Wo wohnst du?« »In der amerikanischen Zone. Ich gebe dir nachher die Adresse.« »Bei Freunden?« »Nein«, sagte sie leise. »In einer Pension.« Er sah die müden, schwarzumrandeten Augen an, und ein plötzlicher Gedanke kam ihm. »Woher beziehst du dein Morphium?«
»Ich komme zurecht.« Nach einem Augenblick fügte sie hinzu: »Danke.« »Diese Pension - ist das ein Haus, das ich aufsuchen würde?« Das Wasser trat ihr in die Augen, und ihre Wangen röteten sich so plötzlich, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen. Sie gab keine Antwort, so daß er fragte: »Weshalb benötigst du das Geld?« Sie fing an zu sprechen, holte dann noch einmal Atem und sagte mit ruhiger, würdevoller Stimme: »Wir reisen ins Ausland. Wir werden in Deutschland leben.« »Wir? Ein Mann?« Sie schüttelte den Kopf und sagte leise: »Ich werde nicht länger in diesem Land leben. Ein Mann hat die Passage auf einem Dampfer für uns besorgt, der Ende des Monats ausläuft. Aber ich muß hundertfünfundsechzig Pfund finden, um ihn zu bezahlen.« Sie hatte all dies mit auf den Tisch gesenktem Blick gesagt und die Untertasse, die Teekanne, den halbgegessenen Kuchen auf dem Teller vor ihr berührt. Sie sah auf und sagte schnell: »Kann ich eine Zigarette haben?« Der einfache Wunsch rührte ihn, und er hob die Hand, um den Kellner zu rufen. Er wußte jetzt, daß er ihr das Geld geben würde. Sie sagte: »Um ein Letztes muß ich dich noch bitten. Ich möchte, daß du Gertie besuchst...«
Die
Adresse, die sie ihm gegeben hatte, stellte sich als abgewohntes zweistöckiges Haus im amerikanischen Distrikt heraus. Es lag sogar in der Szetschuanstraße, direkt dem Postamt gegenüber, wo er am Nachmittag zuvor Julia getroffen hatte. Ihre Zimmer lagen im oberen Stock, über einem Bordell. Der kleine Vorgarten war ungepflegt, die meisten Mosaikfliesen im Eingang waren abgesplittert. Die Eingangstür stand offen, und als er den Korridor hinunterging, öffnete sich links eine Tür, und ein Mann sah ihn an, ein lächelnder Chinese Ende Vierzig, mit Brillantinehaar und einem schmutzigen gelben Hemd, ohne Kragen und aufgeknöpft. Ihre Zimmer waren überraschend geräumig. Ein Fenster sah über den Sutschoufluß. Gerthilde Platz empfing ihn allein. Die Tür zum
Schlafzimmer war geschlossen; er fragte sich, ob Julia wohl dort drinnen war. Sein erster Eindruck von der Deutschen wurde durch die Kleider verstärkt, die sie nun trug: dasselbe dunkle, formlose Wollkostüm, obwohl er bemerkte, daß die silbernen Kreuze fehlten. Er sah, daß ihr Haar kurz wie das Julias geschnitten war. Sie lächelte und schüttelte ihm die Hand. Am Fenster war ein niedriger Tisch aufgestellt, wo auf einem Damasttischtuch ihre Bücher, Notizhefte und Schreibsachen lagen; zwei Korbstühle mit weichen Kissen standen daneben. Auf dem Fensterbrett wuchsen einige kleine Topfpflanzen dem Licht entgegen. Das Zimmer hatte die Strenge einer Klosterzelle; an die Wand hatte sie billige lithographierte Plakate ihrer drei Heiligen geheftet: Marx, Engels und Lenin. Sie sagte mit ihrem sonoren, tönenden Akzent: »Ich fürchte, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Tatsache ist, daß wir Ihnen gegenüber nicht völlig aufrichtig gewesen sind.« Er saß in einem der Korbstühle und zog den braunen Umschlag mit den hundertfünfundsechzig Pfund aus der Jackentasche und legte ihn vor sie auf den Tisch. Sie blickte darauf hinunter, ohne irgendeine Zufriedenheit, die sie empfinden mochte, erkennen zu lassen. Dann öffnete sie den Umschlag, den er nicht versiegelt hatte, und fing an, das Bündel Zehn- und Fünfpfundnoten auf den Tisch zu zählen. »Verzeihen Sie«, sagte sie. »Es ist wichtig. Ich glaube, Sie haben kein so behütetes Leben geführt, daß Sie nicht wüßten, was man hier mit Kommunisten macht.« Er betrachtete die Titel der wenigen Bücher und Broschüren, die unaufgeschlagen auf ihrem Tisch lagen. Materialismus und Empiriokritizismus, Sozialreform oder Revolution, Die Krise der Sozialdemokratie, Ein Schritt Vorwärts, zwei Schritte zurück, eine zerlesene deutsche Ausgabe des Kapital. Er sah hinab auf die Seite ihres aufgeklappten Tagebuchs, die halb mit ihrer feinen schwarzen Handschrift gefüllt war. Er fragte sich, was aus Willys Manuskript über die Fortpflanzung pazifischer Korallen geworden sein mochte... »Sie kennen das Wort Heizer?« fragte er sie. Sie schaute von den zur Hälfte gezählten Banknoten auf; ihr Gesicht zeigte Erschrecken. »Das hat Julia Ihnen erzählt?« Er nickte.
Zum erstenmal, seit Ayres sie kannte, sah sie verlegen drein. »Ein privater Ausdruck. Wie soll ich es formulieren - ›Einer, der das Feuer schürt‹?« Mit einem kurzen Schwung des Handrückens deutete sie auf ihren Unterleib. »Ich dachte, Sie wüßten von Julia und mir. Ich dachte, Sie wüßten von uns, schon ehe wir nach Hang-tschou gingen. Ja, Hangtschou«, sie lächelte. »Die Berge, der See. Aber wir sind nicht dorthin gefahren, um die Luft zu genießen. Wir wollten Michail Borodin bei einem Treffen von Genossen reden hören.« »Und das andere Feuer?« Sie sah ihn einen Moment an, als verstünde sie nicht. »Sie hatten Ihre Instruktio nen?« bedrängte Ayres sie. »Diese Soldaten waren immerhin unterwegs, um den Generalstreik zu zerschlagen.« Sie sagte leise: »Nein, ich hatte es nicht geplant, wenn Sie das meinen. Ich kann Ihnen nicht sagen, weshalb ich es tat.« »Spontane Erhitzung«, sagte Ayres höhnisch. »Spontan. Ihr Psychoanalytiker habt sogar noch größere Schwierigkeiten mit diesem Wort als wir selbst. Nennen wir es einfach eine infantile Störung. Eine Kinderkrankheit... Kennen Sie Lenin?« »Nein«, sagte er. »Schade. Sie sollten ihn lesen.« Sie fuhr heiterer fort: »Sie sollten übrigens wohl auch wissen, daß sie Paradise alles erzählt hat. Nicht nur von uns. Von Ihnen.« »In der Nacht des Feuers.« Die Frau nickte knapp. »Sie hätte sich einen besseren Zeitpunkt aussuchen können!« »Sie wollte ihm so wenig weh tun wie möglich. Doch Sie sind nicht hierhergekommen, um mit mir Vorwürfe zu tauschen. Ich habe Sie hergebeten, weil ich Ihre Hilfe möchte.« »Wenn Sie noch mehr Geld wollen - « Die Frau hob die Hand. »Nein, nein. Ich möchte Ihren Rat in einer medizinischen Frage.« »Eine Untersuchung.«
»So ist es.« Sie lächelte grimmig und nickte und fuhr fort, vor sich hin zu nicken, während sie schon nicht mehr sprach, als wollte sie den Augenblick ihrer nächsten Handlung aufschieben. Dann erhob sie sich und begann ihr Hemd aufzuknöpfen. Die Male ihrer Hautkrankheit traten im Lichte des Fensters deutlich hervor. Die Haut war von der Stelle unterhalb der linken Brust und der Achselhöhle bis hinab an die Seite des Bauches verfärbt. Fleckenweise war sie tiefbraun, anderswo von der gelblichen oder gelbbraunen Farbe der Löwenhaut. In der Nähe der Achselhöhle erschienen Höcker und Verdickungen des Gewebes. »Die Hansensche Krankheit«, sagte Ayres. »Lepra.« Sie nickte ihm mit demselben ironischen Lächeln zu. Ayres sagte: »Waren Sie in Behandlung? Die Hansensche Krankheit kann schwach ansteckend sein.« »Wie verläuft die Behandlung?« »Isolation. Es gibt zu diesem Zweck Leprosarien.« » Medikamente? « »Chaulmoogra-Öl ist in der Vergangenheit als Aussatzsalbe verwendet worden. Heutzutage wird sein Wert vielerorts in Frage gestellt.« »Lebenserwartung?« fragte sie unnachgiebig. »Zehn Jahre. Vielleicht länger, wenn es zu keinen sekundären Infektionen kommt.«
»Kann Julia sich anstecken?« Er betrachtete sie einen Augenblick lang wachsam. »Das könnte sie.« »Dann bedeutet das Isolation«, sagte sie nickend. Sie knöpfte ihr Hemd zu und setzte sich wieder. »Meine politische Arbeit in Deutschland wird warten müssen.« Sie saß da und schaute eine Weile aus dem Fenster auf die Hunderte von Sampans, die enggedrängt, alle möglichen Winkel bildend, auf dem hellen strohgelben Wasser des Sutschouflusses lagen. »Gibt es Leprosarien in Australien?« fragte sie. »Meine Beste, ich weiß nicht einmal, wo Australien ist.« Sie lächelte ihn an.
»Ach ja!« sagte sie. »Julia möchte, daß Sie die hier bekommen.« Sie griff unter den Tisch und hob die Pappschachtel mit den Photographien vom Boden auf, um sie ihm zu geben. »Julia geht es wirklich sehr viel besser. Das Morphiumproblem ist noch da, doch ich hoffe, sie langsam zu entwöhnen. Als sie zu Ihnen kam, war sie ganz und gar gebrochen. Jetzt ist sie stark, wirklich stark. Ihr Wille ist stark.« Wieder zeigte sie dasselbe wissende Lächeln. Ayres sah ihr ins Gesicht, und später schien es ihm stets, als hätte er in das Gesicht der Zukunft gesehen, das Gesicht des Zwanzigsten Jahrhunderts.
Ayres
sah dieses selbstgewisse Gesicht oft während der nächsten zwanzig Jahre in China. Er begegnete ihr in den Gesichtern der Bauern, der Arbeiter und Soldaten, die den Kampf aufnahmen. Im Alter, an ruhigen Morgen in seiner Wohnung in der Princes Street in Edinburgh, dachte er immer wieder an dieses Gesicht zurück und schrieb ihm alles zu, was geschehen war, alles, was er sah, als er den Frontverläufen des Krieges im Norden und Süden mit seinem Feldlazarett folgte, dem alten Lastwagen, den er zu einer Ambulanz umgebaut hatte.
All dies geschah natürlich nicht von einem Tag auf den anderen. Er blieb im Verlauf jenes Jahres ebenso distanziert von der Welt wie je, während Tschiang Kai-schecks Säuberungsaktionen gegen die Kommunisten von Schanghai auf andere Regionen unter konservativen Kommandeuren übergriffen und Borodin und die anderen russisehen Berater nach Moskau abgeschoben wurden. Er konnte sich immer noch heraushalten aus den Geschichten, die er in den South China Daily News las, von chinesischen Kommunisten, die gehetzt und ergriffen und dann hingerichtet wurden, in gewöhnlichen Gärten in gewöhnlichen Städten mit Telegraphenstangen und Hühnerställen und dem Gekreisch spielender Kinder und mit abgesplitterten Mauersteinen... Er nahm nun mehr Opium, manchmal sechs, sieben Pfeifen in einer Nacht. Doch die Erleichterung, die sie brachten, führte nicht zu
beruhigenden Träumen, sondern zu einer Kraft und Klarheit des Vorstellungsvermögens, die es ihm gestatteten, wieder Julias Paradies zu bewohnen. Und keine Dosis konnte das erregte, unangenehme Schlagen seines Herzens mildern. Noch änderte sich etwas im nächsten Jahr, als die nationalistische Armee nach Norden vordrang und den Volksaufstand gegen die christlichen Kirchen und Hospitäler und Schulen schürte, als die Propagandaplakate an den Wänden von Schanghai hingen, bizarr wie ein Stück aus Julias »Kindheit«: Hier verehren die fremden Teufel das Schwein. Verprügeln der fremden Teufel und Verbrennen ihrer Bücher. Die Anhänger des Schweinegrunzens entfernen den Fötus. Die schreckliche Strafe für Christus, das leibhaftige Schwein. Erst wenn sie die Sägen schneiden sehen, die Mörser knirschen, die Kessel kochen und die Schleifsteine mahlen in den achtzehn Stockwerken der finsteren Hölle, werden die fremden Teufel zur Erkenntnis kommen. Ihr, die ihr in dieser Welt tausendmal zehntausend Verbrechen begangen habt, die ihr die Knaben kastriert habt, den Fötus aus schwangeren Frauen herausgeschnitten, Menschen die Augen ausgedrückt und Frauen die Brustwarzen abgeschnitten habt... Nachdem wir den Leib des Schweins mit zehntausend Pfeilen durchbohrt haben, wird das Ungeheuer es wagen, noch einmal zu grunzen?* Noch bewegten Ayres zunächst das Attentat von Mukden, die japanische Invasion der Mandschurei oder die Berichte von den Greueln dort. All dies war nur dazu da, die Spalten der South China Daily News und der Shan-hai Evening Post zu füllen, wo Ayres auch auf die kleine Meldung stieß, daß Generalissimus Tschiang Kaischeck, mittlerweile mit einer der Schwestern Sung verheiratet, sich zum Methodismus bekehrte hatte. Im Schanghaiklub in der Internationalen Zone ging das Leben mehr oder weniger genauso wie früher weiter. Die Geschäftsleute waren vielleicht in etwas stärkerem Maße irritiert wegen der Weltwirtschaftskrise; die Gattinnen von Engländern sehnten sich weiterhin erschöpft nach der Heimat; ihre Töchter wählten sich Heiratsziele in * Das chinesische Zeichen für »Schwein« ist gleichlautend mit »Herr(gott)«.
der Kolonialverwaltung, und wenn die begehrenswertesten nicht abzuschießen waren, wurden sie kurzfristig hysterisch oder verfielen in eine tiefe malaise. Für Ayres gingen die Geschäfte, sofern überhaupt eine Veränderung eintrat, eher besser als gewöhnlich. Immer noch »belauschte« er eifrig die intimen Welten der Frauen. Vielleicht würde ein Satz, ein Wort in der Hypnose seine Vorstellungskraft auf die alte Weise erregen... aber es kam nichts. Er wurde grober und ironischer im Umgang mit seinen Patientinnen. Er hatte den Glauben an seinen Beruf, an den wissenschaftlichen Charakter der Psychoanalyse überhaupt verloren. Immer noch stellte er sich täglich am frühen Nachmittag an der Bar ein und zog sich nach dem Essen nach oben zurück, um im Lesezimmer zu rauchen, in jenem wunderbaren Kokon stiller Zufriedenheit in einer Stadt überreizter Nerven. Dort erschienen »Boys« in weißen Jacketts mit Messingknöpfen wie durch Inspiration, wenn es Zeit für den nächsten Brandy war, dort standen tiefe Ledersessel und Leselampen mit grünen Schirmen, und die Luft war weich und würzig vom Zigarrenrauch, und man durfte erwarten, dort Männern mit komfortablen Ansichten zu begegnen. Dort war es, daß Ayres, in dem stillen Zwielicht des durch die Fensterläden gefilterten Tageslichtes tief in seinem Sessel versunken, einen britischen Fregattenkapitän (der kürzlich aus der Mandschurei zurückgekehrt war) zu einem anderen Mann sagen hörte: »Der Krieg ist schon eine böse Sache.« Ayres unterdrückte ein Gähnen und wandte sich wieder der Zeitung zu. »Eine Sache vor allem... die Japaner haben in einem Dorf alle chinesischen Kinder zusammengetrieben und ihnen systematisch die Trommelfelle durchstochen...« Ayres hörte, wie die Worte gesprochen wurden, genau wie irgendwelche ändern Worte eines grauenhaften Jahrhunderts. Der Augenblick ging vorüber, der Fregattenkapitän ging. Bald würde es Zeit sein, nach Hause zu gehen. Doch der schlichte Schrecken des Gesagten blieb Ayres, und im Taxi auf dem Heimweg zum Astor House konnte er immer noch die Uniformen und die japanischen Offiziersmützen vor sich sehen, die aufgepflanzten Bajonette und das kleine Bündel dünner Bambusspieße
- und plötzlich waren seine Wangen naß, und er rang nach Atem. Er zog sein Taschentuch hervor und bedeckte damit sein Gesicht, wischte sich die Transpiration von den Barträndern, sah sich um. Der Fahrer hatte nichts bemerkt. In seinen Räumen im Astor House holte er an diesem Abend die Schachtel mit Julias Photographien aus dem Schrank, wo sie all die Zeit gelegen hatte. Er ging die Bilder durch, bis er zu einem bestimmten Gesicht kam. Die Augen sahen ihn unverhohlen, sogar neugierig, doch ohne Anklage an. Er erkannte die Straße, wo die Aufnahme gemacht worden war. Sie war noch wie damals. Er ging dort manchmal umher. Immer noch streiften dort die kleinen Fräulein, ebenso Teil von Schanghai wie die Sampans im Fluß, die Kräne, die gegen den Himmel standen, weiter draußen die vor Anker liegenden Schiffe. Er erinnerte sich an den ersten Morgen, als er 1922 an Land gegangen war und sich in der Stadt aufgelöst hatte, anonym, frei. Nun blickte diese Photographie durch die Geschichte herüber und erkannte ihn. Später in diesem Monat, im Februar 1932, bombardierten die Japaner das Chinesenviertel von Schanghai, und an den Straßenecken wurden Stacheldrahtbarrikaden errichtet. Im März unterzeichnete man ein Abkommen, das die Feindseligkeiten rund um Schanghai beenden sollte, doch Ayres' Entschluß stand bereits fest. Er hatte die Medizin schon früher als Flucht benützt, warum nicht wieder? Noch denselben Monat ordnete er seine Angelegenheiten und gab seine Zimmer im Astor House auf. Er nahm den Zug nach Peking, in einem DritterKlasse-Abteil ohne Decken zusammengekauert, für einen Europäer unerhört.
Er mietete die Dienerschaftsquartiere eines chinesischen Hauses am Rande der alten Tatarenstadt, und dort, im Lärm der kreischenden Kinder, schreienden Esel und der Familienstreitigkeiten, fing er an, seine Praxis einzurichten. Er machte Betten aus aufgelesenen Matratzen; sein Operationstisch kam aus der Küche. Pharmazeutische Präparate und anderes medizinisches Material konnte er sich mit der Hilfe des Bischofs sichern und der einer Engländerin, deren kleines Hilfswerk Verbindung mit dem Internationalen Rotkreuzkomitee in
Schanghai hatte. Er arbeitete mit dem, was er gerade hatte, doch stets gab es Opium. Er nahm Geld nur von denen, die es sich leisten konnten; in seiner Bank in Schanghai lag das kleine Erbteil von seinem Vater; irgendwie schaffte er es. An Sonntagen packte er den Inhalt seiner Arzttasche in einen Rucksack und machte lange Wanderungen um die Stadtmauern, folgte Kanälen zu den Bergstädten, hielt unterwegs an, wo man ihn brauchte. Er wurde tiefer und tiefer ins Land hineingezogen. Kamele waren damals in jenem Viertel Pekings noch häufig, und er kam auf die Idee, mit dem Kamel ins Landesinnere zu reisen; mit der Hilfe des Bischofs kam er statt dessen an einen alten Lastwagen, den er zu einer Ambulanz mit Sperrholzwänden umbaute. Er brauchte mehrere Wochen, bis er ihn steuern konnte - er hatte bis dahin nicht einmal einen Personenwagen fahren können - , und er war die Ursache großer Heiterkeit und nicht geringer Beunruhigung, wenn er übte und mit knirschenden Gängen hupend rückwärts die staubigen Straßen vor der Stadt hinauffuhr, auf dem Beifahrersitz der durchgerüttelte kleine englische Bischof, der ihm gut zuredete. So begannen seine langsamen, labyrinthischen Fahrten, die ihn durch so viele Regionen Nordchinas führten, wo er hinten in seinem Wagen Kranke versorgte oder in dem Hospitalzelt, das manchmal wochenlang in einer der abgelegeneren Städte aufgeschlagen stand. Die Chinesen sagen, daß ein Teufel in gerade Linie gehen muß, doch Ayres' Routen kreuzten und gabelten sich und führten in sich selbst zurück, so daß sie, auf einer Karte aufgezeichnet, wie ein Schnittmusterbogen über Nordchina gelegen hätten. Er sah nur auf die Karte, um die Entfernungen zu den nächsten Städten abzuschätzen, wo er Petroleum kaufen konnte, und alle paar Monate kehrte er nach Peking zurück, um Medikamente zu holen, seine fünfzehn Treibstoffkanister zu füllen und Essensvorräte und Tabak einzuladen. Meistens jedoch reiste er ohne Karten und verließ sich auf mündliche Nachrichten, die ihm sagten, wo er gebraucht wurde. Er wurde in weiten Teilen des Nordens bekannt, doch nicht mit einer Reihe von Silben wie andere von den Chinesen verehrte Ausländer - Li-T i-Mo-Tai oder Ma-Li-Sun. Er war einfach als Ayres bekannt - »Es«, wie sie es aussprachen. »Ayres wird nächste Woche
hier sein«, oder: »Sie sagen, Ayres ist in Honan, dort sind die Pocken.« Manchmal fuhr er im Konvoi mit anderen Freiw illigen; manchmal, mit einer gebrochenen Achse am Straßenrand oder durch eine Überschwemmung abgeschnitten, war er so allein, daß er sich mit der Spinne sprechen hörte, die ihr Netz in einer Ecke der Windschutzscheibe hatte. Sein Bart wurde früh grau. Er gewöhnte sich an, eine schmale Brille mit Drahtgestell zu tragen, einen ledernen Pilotenhelm mit Ohrenklappen gegen die Kälte, eine wattierte blaue Kulijacke... nach und nach fand sich seine Zunge in die Dialekte. Die Kommunisten vollendeten den Langen Marsch ins nördliche Schensi; Ayres war eine Zeitlang dort. Er durchreiste die japanisch besetzten Gebiete der Mandschurei, und 1937, als der Krieg wirklich ausbrach, folgte er den Fronten nach Norden und Süden, mittlerweile mit dem offiziellen Rot-Kreuz-Zeichen an den Seiten und auf dem Dach seines Lastwagens. Verschiedentlich wurde er von japanischen Flugzeugen beschossen; die Kugeln fetzten durch das Sperrholz. Nach der Einnahme von Schanghai rückten die japanischen Streitkräfte auf dem Fluß, zu Lande und in der Luft nach Westen vor. Ayres sah Kolonnen von aneinandergebundenen Zivilisten, die von den Japanern als Sport mit Maschinengewehren niedergemacht wurden. Er wurde Zeuge entsetzlicher Vergehen an Frauen. Nahmen die Japaner eine Stadt ein, entkamen nicht einmal die sehr Jungen oder sehr Alten der Vergewaltigung; dann wurden sie auf die Bajonette gespießt. Seltsamerweise zeigten die Japaner kein Interesse an Ayres. In einer Stadt saß er auf einer Mauer und rauchte, während um ihn die Granaten explodierten; er wandelte in sehr realem Sinne unter den Toten. Bei seinen wahnsinnigen Abenteuern suchte er den Tod, den er so begierig wünschte, doch war es Ayres' Problem in jenen Jahren, zum Leben verurteilt zu sein. Mit seiner bunt zusammengewürfelten Rot-Kreuz-Einheit folgte er den Schlachten im Siangtal, nördlich vom Jangtse, in Schensi (westlich vom Gelben Fluß), in den Bergen des westlichen Hunan.
In dem dauernden Krieg, der in jenen Jahren China ausmachte, sah er Gerties Gesicht in Pestilenz, Hunger und Dreck, in den offenen Gräbern mit Hunderten von Leichen, wo selbst Ayres eine Gasmaske benutzen mußte; in den belagerten Städten, wo man kleine Mädchen verschlang; in dem Aufruhr beim Eintreffen der Reislieferungen, wenn Menschen zu Tode getrampelt wurden. In Hsutschou, während des Bürgerkriegs, kam er einmal zu einem Krankenhaus, wo alle Patienten tot waren. Sie waren in den Betten geblieben und verhungert, als das Personal den Rückzug angetreten hatte. Das Gebäude war vollkommen kalt und still, und auch in diesem Moment dachte er an ihr Gesicht. Am Ende hieß er den Sieg der Roten Armee willkommen, wenn aus keinem anderen Grund, dann deshalb, weil er dem Leid ein Ende machen würde; so war es ihr Gesicht, nicht ihr politischer Standpunkt, dem er die Schuld gab. Der Krieg nahm Ayres das Interesse am Essen, und er fand sich schließlich sogar damit ab, den scharfen einheimischen Tabak in seiner Pfeife zu rauchen. In den kurzen Zeiten seiner Rückkehr nach Schanghai sammelte er Luxus - Dosen mit Gallaher's Honeydew bei britischen Diplomaten. Er blieb all diese Zeit enthaltsam, wenn es auch eine christliche Krankenschwester gab, eine Chinesin, mit der er eine Zeitlang zusammenarbeitete, die unwahrscheinlicherweise Florence hieß und die er insgeheim liebte. Er reiste '49, im Monat der kurzen Ruhe, auf dem holländischen Luxusdampfer Boissevain aus und drängte sich in der Zollbaracke zusammen mit den reichen Chinesen, den Juden, den weißen Russen, den Zuhältern, Gangstern und den Filipino-Tanzorchestern. Schließlich kehrte er an seinen Geburtsort zurück und lebte zurückgezogen in seiner Wohnung in der Princes Street. Julia Paradise ging irgendwo unter all dem verloren. Er erhielt mehrere Briefe von ihr, die ihn immer wieder bei der Rückkehr nach Schanghai erreichten. Vielleicht werden immer noch irgendwo in China Briefe vom Astor House Hotel aus nachgesandt. Ihre Briefe waren herzlich und beschrieben ihr eintöniges Leben als Lehrerin in einer australischen Landgemeinde. Ayres hatte im Grunde keine Ahnung, warum sie schrieb, da sie ihm nichts zu sagen hatte, oder falls doch, es in keinem ihrer Briefe zur Sprache brachte. Es waren die
gleichen Briefe, die man einem entfernt lebenden reichen Onkel schreibt; nicht überzeugend. Sie standen in keiner Beziehung zu jener fernen Zeit, als sie mit Joachim durch das rauhe Geschrei der Flußvögel trieb, als Farne Augen hatten und sich bewegten. Er aber fuhr fort, in diesem Boot dahinzufahren, eingeschlossen im Gefängnis ihrer Erfahrung. Es gab, nachdem er einmal in dieses bösartige zooptische Universum eingeweiht war, kein Entkommen für Ayres. Er glaubte störrisch daran, daß er in jenen langweiligen Briefen, könnte er nur tief genug zwischen den Zeilen lesen, diese mythischen Tiere immer noch irgendwo auf der Lauer finden würde. Im wesentlichen war er nie über jenen Dienstag hinausgekommen, als sie ihn initiiert hatte. Der Dschungel hatte sich über ihm ausgebreitet, den Himmel verdeckt, die dicken grünen Äste und Schlingpflanzen streiften das Boot, auf dem Wasserspiegel des Entenflusses leuchtete der grüne Schleim des pflanzlichen Zerfalls. War es so überraschend, daß er ihre gegenwärtige Welt recht irreal fand? Julias magische Neurose blieb ein Geheimnis. Seine eigenen Worte fielen ihm ein. »Asien... am Ende war die Kur ganz einfach - eine Schiffskarte nach Haus.« Und wie im Leben blieben die Geheimnisse, wurden unterirdisch und ließen sich nur in seinen Träumen vermessen. Ayres hörte nie wieder etwas von Morgan McCaffrey. Gelegentlich hatte er den müßigen Traum, nach Australien auszuwandern, doch verwies er dies in den Bereich des Imaginären, des Mythischen. Er wußte, es würde ihn nur enttäuschen, das wahre Mem zu finden, falls es existierte. Er überprüfte allerdings in der Universitätsbibliothek von Edinburgh die Landkarten; ohne Erfolg. Langsam verblaßte selbst China, obwohl die Worte »Duck River« die kaugummikauende Krankenschwester verblüfften, die ihn im Jahre 1950 dies mit seinem letzten Atem murmeln hörte. Ehe er starb, hatte Ayres begonnen, von Waldbränden zu träumen, von Mädchen in weißen Nachthemden, die aus brennenden Fenstern sprangen. Es war nicht Dantes Hölle, die er träumte. Er war in einem trockenen lehmfarbenen Land, übersät mit Eukalyptusbäumen. Julia war da. Und Gertie. Die großen Bäume wurden einer nach dem anderen brennende Fackeln, ihr Seufzen stieg und sank, Leuchtfeuer in der Nacht. S & L Zentaur 03·09·14
Verlagsgemeinschaft Ernst Klett Verlag — J. G.Cotta'sche Buchhandlung Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Julia Paradise« bei McPhee Gribble Publishers Pty Ltd © 1986 Rod Jones © für die deutsche Ausgabe Ernst Klett Verlag für Wissen und Bildung GmbH, Stuttgart 1990 Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages Printed in Germany Schutzumschlag: Klett-Cotta-Design Aus der 12 Punkt Cheltenham gesetzt Auf säure - und holzfreiem Werkdruckpapier gedruckt Gesamtherstellung: Wilhelm Rock, Weinsberg Publication assisted by the Australia Council, the Federal Government's arts funding and advisory body.
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Jones, Rod: Julias Paradies: Roman/Rod Jones. Aus d. Engl. übers, von Joachim Kalka. Stuttgart: Klett-Cotta, 1990 Einheitssacht.: Julia Paradise (dt.) ISBN 3-608-95681-6