Rolands Entritterung von Ekkehart Reinke scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
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Rolands Entritterung von Ekkehart Reinke scanned by : horseman kleser: Larentia Version 1.0
Freiwillig meldete sich Funkenmann, der Gaukler, für die erste Nachtwache. Volker vom Hohentwiel sah ihm fest in die unsteten Augen und sagte mahnend: »Dies ist wildes Land. Mensch und Tier sind uns feindlich. Sperre also die Ohren auf, und halte die Augen offen! Geh nicht in den Schein des Lagerfeuers! Bleib im Dunkel! Und nach zwei Stunden wecke Louis, der dich ablösen wird!« Funkenmann versprach alles, aber der Gaukler war ein leichtsinniger Kerl. Er wartete nur ab, bis Volker, die Knappen Louis und Pierre und sein Kumpan
Schiebermann fest eingeschlafen waren. Dann streckte er sich am Boden aus, zog die Decke über die Ohren und schloß die Augen. Bald schlief auch er. Und niemand sah oder hörte die finsteren Gestalten, die sich mit Mordgedanken heranschlichen.
Sie wurden von Trumm angeführt. Der grauhaarige Riese besaß gewaltige Körperkraft. Seine unerschöpfliche Ausdauer war allen Strapazen spielend gewachsen. Tagelang schon folgte seine Horde den Spuren Volkers und seiner Gefährten. In dieser Nacht wollten sie den Gejagten endgültig den Untergang bereiten. Trumm verpflichtete sie, beim Anschleichen nicht das leiseste Wörtchen zu flüstern. »Wer sein Maul aufmacht«, warnte er, »dem stopfe ich es persönlich - und für immer!« Als einzige Waffen nahmen sie kurze, scharfgeschliffene Messer mit. Kein Stahlgeklirr sollte ihre Annäherung verraten. Mit drei Schritten Abstand nach links und rechts glitten Trumms Männer über den hartgefrorenen Waldboden. Schneelöcher umgingen sie. Jeder Baum, ob Fichte, ob Buche, bot willkommene Deckung. Und zu keiner Zeit ließen sie das niedrige Lagerfeuer aus den Augen. Nach einer Stunde gebot Trumm Halt. Sie waren kaum hundert Klafter von den Feinden entfernt, die sich offenbar zur Ruhe niedergelegt hatten. Dann schickte der Anführer den kleinsten und leichtesten Mann als Späher los. Unhörbar entfernte sich der Auserwählte. Geduldig harrten die anderen. Während sie auf der steinharten Erde lagen, kroch die Kälte in ihre Körper, und mancher mußte die Zähne aufeinanderbeißen, damit sie nicht laut zu klappern begannen. Klamme Hände krallten sich um gerillte und gekerbte Messergriffe. Zäh tropfte die Zeit. Dann war der Späher plötzlich mitten unter ihnen. Ungehört und ungesehen war er zurückgekommen und raunte in Trumms Ohr seinen Bericht: »Sie schlafen alle - fest. Nicht mal eine Wache haben sie ausgestellt. Sie fühlten sich wohl allzu sicher. Es ist eine Kleinigkeit, sie zu überrumpeln.« Trumm hörte es voller Genugtuung. Dann befahl er den Angriff. Nacheinander kroch jeder zum Nebenmann und gab ihm durch Armauflegen den Befehl bekannt. Noch langsamer und vorsichtiger bewegte sich die Kette der
Angreifer auf das Lagerfeuer zu. Sie hatten die Schuhe mit Lappen umwickelt. So wurden sie lautlos wie Katzen. Ab und zu nur knackte ein Zweig. Zweimal brach ein aufgestörtes Stück Wild durchs Unterholz. Dann erstarrten sie alle mitten in der Bewegung und rührten sich lange Zeit nicht mehr. Das lauteste Geräusch, das sie von sich gaben, war das Atmen - ein Hauch, den kein Schläfer wahrnehmen konnte. Zum letzten Mal verharrten sie an der Lichtgrenze des Feuers. Tiefgeduckt führten sie die Messerhand zum Mund und klemmten den Griff der Klinge zwischen die Zähne. Denn von hier aus wollten sie auf allen vieren, dem Boden angeschmiegt, weiterkriechen. Schon konnten sie die Gestalten der Schläfer im zuckenden Licht der Flammen ausmachen. Jeder nahm sich einen zum Ziel. Vielleicht noch hundert Atemzüge waren denen vergönnt. Dann würden sie dem Ritter, den Knappen und den beiden Gauklern schwer auf der Brust hocken. Und im Augenblick des Erwachens würden die Überfallenen mit dem Messer in der Kehle auch schon wieder entschlummern - für immer ... * Den tiefsten Schlaf hatte Louis. Sein wechselvolles Abenteuerleben hatte ihn gelehrt, in kürzester Frist aus dem Wachsein in traumlosen Schlaf zu gleiten. Und doch hatte Louis, der einstige waldgewohnte Räuber, auch den leisesten Schlaf. Seine Instinkte waren schärfer als die des scheuen Rehs. Es war, als wachte, während sein übriger Körper erschöpft und hingegeben ausruhte, ein winziger Teil seines Bewußtseins hellhörig weiter. So kam es, daß der Überfall um ein Haar mißglückt wäre. Denn als Trumms Männer sich endlich in den Feuerschein wagten, fühlten sie sich schon allzu sicher. Ihre Opfer nämlich schnarchten! Sie kamen näher, immer näher. Noch fünf Schritte war Trumm von Volker entfernt. Von Volker, dem Sänger, aus dessen Kehle jetzt
sehr unmusikalische Töne drangen. Und vier Schritte war der Mann rechts von Trumm vor Pierre. Da riß es Louis aus dem Schlaf! Von einem Augenblick zum anderen tauchte sein Bewußtsein aus dem tiefsten Grund an die Oberfläche. Von einem Augenblick zum anderen war er hellwach. Eine Eule strich mit schwerem Flügelschlag über das Halbdunkel des Lagerplatzes, als Louis die Augen aufriß. Drei Schritte vor ihm kauerte der Feind, der soeben das Messer aus dem Mund nahm, um sich auf ihn zu stürzen und ihm die Kehle aufzuschneiden. Und während seine Kameraden nichtsahnend, todgeweiht selig träumten, schrie Louis mit verzweifelter Stimme schrie er, daß die Vögel im Umkreis aus den Nestern aufflatterten, daß die Flamme über den verkohlenden Scheiten flackerte, daß Schnee von niedrig hängenden Ästen stob ... Louis schrie mit einer Stimme, die so schrill und nackt wie erster Frost war: »Alaaaarm! Alaarm!« Die Schläfer fuhren hoch und starrten mit blinden Augen ins Leere. Ehe sie in die Wirklichkeit zurückfanden, wurden sie vom Ansprung der Angreifer wieder niedergerissen, zu Boden gedrückt und festgehalten. Funken rieselten wie kleine Sternschnuppen aus dem Flammenspitzen und spiegelten sich in den Messerklingen, die über den Köpfen der Überfallenen schwebten ... Ein wenig abseits von den Kameraden war Funkenmann durch Louis' wilden Schreckensschrei hochgerissen worden. Kein Mann der Horde Trumms bedrohte ihn in diesem Augenblick. Schwer aber fiel ihm die Erkenntnis aufs Herz, daß er die Freunde dem Tod preisgegeben hatte - aus Trägheit nur! Weil er zu faul gewesen war zu wachen. Weil er geglaubt hatte, ein Nickerchen für zwei Stunden machen zu können. Ja, Funkenmann war ein leichtsinniger Hund, wie man ihn selbst unter Gauklern so schnell nicht ein zweites Mal fand. Aber er war auch ein Kerl, der im Augenblick brennender Gefahr Tod und Teufel nicht fürchtete.
Mit beiden Händen griff Funkenmann ins lodernde Lagerfeuer, packte drei glühende Äste, riß den Schlund - wie ihm schien meilenweit auf und schluckte, wie er es von seinem Vater und Großvater schon als Kind gelernt hatte, das Feuer. Es war der lebensgefährlichste Akt, den die Gauklerzunft kannte. Denn er hatte nicht den Regeln entsprechend Mund, Zunge, Gaumen und Rachen vorher mit hitzeabstoßenden ölen gesalbt. Ohne Vorbereitung schluckte er den glühheißen Brand. Tausend sengende Nadeln stachen in seine Mundhöhle. Ein Gluthauch verbrannte ihm den Rachen und stieß mit spitzen, verdorrenden Pfeilen in seine Lufthöhle. Einen Augenblick lang glaubte Funkenmann, er müsse wie eine Fackel verlodern. Der Schmerz war unerträglich. Ein Schattenband legte sich über seine Augen. Es waren Tränen, die ihm die Sicht nahmen. Doch selbst als die Todesangst ihn mit unerbittlichen Klammern packte, vergaß Funkenmann nicht einen Augenblick die Regeln der Gauklerzunft. Der Schmerz wurde unerträglich. Die Sinne drohten ihm zu vergehen. Da stieß Funkenmann vom Zwerchfell her den Atem aus! Und dieser feurige Atem wehte über den Banditen, der Volker erledigen wollte. Der Kerl schrie auf wie ein geblendeter Stier, ließ das Messer fallen und floh ins Dickicht, soweit ihn seine Füße trugen. Funkenmann richtete den Feuerstrahl auf den nächsten Angreifer. Es war Trumm. Der Riese brüllte auf. Rot glühten seine Wangen! Jeder Mut war ihm vergangen. Zwar hielt er sein Messer fest, doch auch er wandte sich zu schneller Flucht. Er floh über Busch und Stein, über Eis und Bach. Und er achtete nicht einmal des Weges. Und wiederum waberte Funkenmanns Lohe über den Lagerplatz. Diesmal traf er den Späher. Der wich entsetzt zurück und folgte Trumm auf regelloser Flucht. Nun drehte Funkenmann sich im Halbkreis. Ununterbrochen schoß der Feuerstrahl aus seinem Mund.
Da wendeten sich auch die letzten aus Trumms Horde und verschwanden im Wald. Die Freunde waren gerettet. Gauklerkunst hatte sie vor einem grauenhaften Schicksal bewahrt. Als Trumm lange Stunden später seine Männer wieder beisammen hatte, weigerten sie sich einstimmig, die Verfolgung fortzusetzen. Sie meinten, ein Drache habe den Feinden geholfen, und abergläubische Furcht beherrschte sie. * Volker und seine Männer setzten ihren Weg fort. Sie waren dem Leben wiedergeschenkt, aber sie schienen keine Freude darüber zu empfinden. Funkenmann, dem Retter, wurde kaum Dank zuteil. Langsam ritten sie mit gesenkten Köpfen über Land. Je näher sie Schloß Camelot kamen, um so langsamer ließen sie die Pferde gehen. Denn es war eine traurige Rückkehr. Und Volker graute es vor dem Augenblick, da er vor König Artus treten und ihm mitteilen mußte: Roland, der Ritter mit dem Löwenherzen, ist tot! Nur zwei Wochen waren vergangen, seit der König den tapferen Roland mit der schwersten Aufgabe seiner bisherigen Laufbahn betraut hatte. Er sollte ihm Haggan bringen - Haggan, den Gräßlichen, dem es gelungen war, aus dem Verlies des Schlosses Camelot auszubrechen! Haggan war ein bärenstarker Ritter, der von früher Jugend an mit einer Bande zügelloser Gesellen überall im Land gebrandschatzt und geplündert hatte. Er ermordete seinen älteren Bruder, vergewaltigte dessen Verlobte Griseldis und schwor, er werde Artus die Krone samt Kopf von den Schultern reißen, um sich an seiner Statt zum Herrn des Landes zu machen. Roland hatte ihn nach fürchterlichen Abenteuern in der Burg des Atz von Atzerath aufgespürt und zum Duell gefordert. Haggan nahm die Herausforderung unbedenklich an, denn er fürchtete niemanden auf der Welt und glaubte felsenfest, daß er unüberwindlich sei. Vor
den Augen der Freunde hatte Roland ihn jedoch nach stundenlangem Kampf an den Rand der Niederlage gebracht. In diesem Höhepunkt des Kampfes hatten sich die Gegner aus dem Gesichtskreis Volkers und seiner Freunde entfernt. Als sie dort eintrafen, fanden sie zu ihrem Entsetzen nur Haggan vor. Einen Haggan, der blutüberströmt, bis auf die Knochen durchnäßt, aber auch im Bewußtsein seines entscheidenden Sieges wie ein Übermensch wirkte, dem niemand widerstehen konnte. Rolands Leiche wurde nie gefunden. Haggan deutete auf ein frisches Loch in dem eisbedeckten Bach, an dessen Ufer die letzten Streiche dieses unvergleichlichen Duells geführt worden waren. »Da hinein versank er, als ich ihm den Todesschlag versetzte«, sagte Haggan. »Die Strömung trug ihn von dannen. Schneller, als ein Roß seinen Reiter trägt. Und würdet Ihr fünf Pferde zuschanden reiten«, sagte er zu Volker, »Rolands Leiche wäre dennoch viele Tage vor Euch im Meer!« Haggan wankte. Der Blutverlust setzte ihm arg zu. Sein Gesicht war blaß wie Marmor. Dennoch wirkte er wie ein unüberwindlicher Gegner. »Geht!« gebot er mit einer Stimme, die einem Furcht einjagte. »Bestellt Eurem König, daß ich seinen besten Vasallen in den Tod schickte! Sagt ihm, daß seine Tage auf dem Thron gezählt sind! Roland war sein bester Mann. Seht auf mein Schwert! Es ist rot von Rolands Blut.« Er tauchte die Klinge in den Bach und zog sie heraus. Er hob die gesäuberte Klinge in den Abendhimmel. »Wenn sie zum nächsten Mal rot ist«, prophezeite er mit klirrender, schrecklicher Stimme, »dann vom Blut des Königs Artus!« Wie betäubt ritten die Freunde davon. Tagelang suchten sie am Unterlauf des Baches. Dann folgten sie dem Fluß, in den er mündete, ehe sie endlich, völlig mutlos geworden, die Suche aufgaben. Nun blieb ihnen nur eins. Die traurige Pflicht, dem König Artus Niederlage und Tod seines treuesten und besten Ritters zu melden. Ein Kind konnte sehen, daß schwere Zeiten über Schloß Camelot heraufzogen.
* Und doch war Roland nicht tot. Er hatte den heimtückischen Angriff des hünenhaften Trumm, der Haggans Vertrauter war, überlebt. Tag und Nacht wachte an seinem Lager tief unter der Erde die blonde Heide, die ihn liebte. Sie pflegte die Schwertwunde an seinem Kopf. Sie bereitete ihm kräftige Nahrung zu. Sie beschützte seinen totenähnlichen Schlaf. Und sie rief ihn mit behutsamer Zärtlichkeit langsam ins Leben zurück. Eines Morgens erwachte Roland und fühlte sich wie frischgeboren. Zwar schwindelte ihn noch, als er sich zum ersten Mal vom Krankenlager erhob. Aber die Schwäche ging schnell vorüber. Kräftig wie früher kreiste bald das Blut durch seinen Körper. »Wo bin ich?« fragte er fast munter. »In Haggans Gewalt«, sagte Heide. »Erinnerst du dich nicht, süßer Roland? Du hattest den Gräßlichen besiegt. Du zogst ihn mit deiner siegreichen Hand aus dem eisigen Bach, der sonst zu seinem Grab geworden wäre. Da erschien Trumm und drohte, mich zu töten. Ich war ja in seiner Gewalt. Du ließest im Vertrauen auf freies Geleit die Waffe fallen, und der niederträchtige Trumm streckte dich mit einem gemeinen Schwertstreich nieder.« Die wenigen Worte Heides zogen ganze Reihen ,von Schleiern von Rolands Gedächtnis fort. Szene für Szene erstand klar vor seinem inneren Auge. Doch die Erinnerung hielt den Ritter nicht lange im Bann. Er war so geartet, daß er Vergangenem nicht lange nachhing. Er war der Gegenwart zugewandt. Sein Auge umfaßte Heides schöne Gestalt, ihr helles, strahlendes, kühnes Gesicht - und er streckte die Arme nach ihr aus. Willig sank sie an seine Brust. Ihre Lippen fanden sich zu einem langen Kuß. Heiß pulste Erregung durch ihre Körper. Noch nie war Roland so verliebt gewesen. Er hatte schon einige Frauen kennengelernt. Meist waren sie erfahrener gewesen als er. Sie hatten ihn gereizt, ihn erobert, ihn benutzt und manchmal verraten.
Heide war anders als sie alle. Mit Rührung erinnerte er sich der Tage, da sie, als Mann verkleidet, ihm als Knappe gefolgt war. Sie wollte dem heimlich Geliebten nah sein, und wenn es unter den gefährlichsten Umständen geschah. Lange hatte er sich täuschen lassen. Der Augenblick, da er sie als Frau erkannte, besiegelte seine Niederlage gegen Haggan und Trumm - und doch wollte er ihn nicht missen. Denn Heide bedeutete dem Ritter mehr als aller Heldenruhm der Welt. Lange standen die Liebenden eng umschlungen. Ihre Küsse wurden heißer und heißer. Ihre Leiber schienen ineinander zu verschmelzen, so. sehr drängte jeder zum anderen. Und aus der unmittelbaren Zärtlichkeit erwuchs grenzenlose Leidenschaft. Roland hob Heide hoch. Wie eine Feder war sie in seinen wiedererstarkten Armen. Er trug sie zur Lagerstätte. Ihre Augenpaare brannten ineinander. Ihr Atem ging fliegend. Er nestelte an ihrem Rock. Seine Hände bebten. Es konnte ihm nicht schnell genug gehen. Heides geschmeidige Finger lösten die Knöpfe an seiner Kleidung. Beider Atem ging heiß. Wieder und wieder verschmolzen ihre Lippen. Da hörten sie Geräusche. Leichte Schritte näherten sich. Heide und Roland fuhren auseinander. Die Tür flog auf. Ein dunkelhaariger, kleinwüchsiger Junge von höchstens 17 Jahren wirbelte ins Zimmer. Sie hatten ihn noch nie gesehen. Dem Aussehen nach stammte er aus dem Morgenland. Das verriet auch seine fremdartige Aussprache. In höchster Aufregung rief er Roland zu: »Jetzt keine Zeit für Liebe, stolzer Ritter! Jetzt Zeit für Kämpfen.« »Wer bist du?« »Ich sein Omar.« »Und was tust du hier?« »Ich was tun? Ich tun alles! Ich sein Sohn von Haggan. Und Freund von Haggan, Berater von Haggan, Freund von Freunde von Haggan und Beschützer von Haggan!«
Während die Liebenden den quecksilbrigen Morgenländer noch entgeistert anstarrten, griff er in seine Pluderhosen, zog einen maurischen Krummdolch hervor und reichte ihn Roland. »Horch!« Schwere Schritte klangen draußen auf. »Dein Feind kommen! Feind sehr stark. Feind dich totmachen. Du jetzt kämpfen!« Heide brach in Tränen aus. Was war mit dieser Welt geschehen, daß es in ihr so wenig Zeit zur Liebe gab? Und soviel, so entsetzlich viel Zeit zum Kämpfen?! * Sobald sich Haggan von den Wunden erholt hatte, die er im Duell mit Roland erlitten, schmiedete er neue Pläne gegen König Artus. Haggan war ein Mann, der über großen Einfallsreichtum verfügte. Hätte der König nur im mindesten gewußt, was sein Todfeind diesmal im Schilde führte, es wäre ihm eisig kalt geworden auf seinem Thron. Haggans Plan, wie er Artus überlisten, entmachten und töten konnte, war von einer abgrundtiefen Bosheit und Gemeinheit, gleichzeitig jedoch unerhört scharfsinnig und kühn. In Haggans Überlegungen platzte Trumm. Schon sein erster Anblick schockierte den Gräßlichen. Trumms Gesicht war versengt. Die Haltung des erfolgverwöhnten Riesen sprach von unerhörten Strapazen. Der Mann, der unzählige Abenteuer im Dienste Haggans bestanden hatte, schwankte und war kaum Herr seiner Sprache. »Sind Volker und seine Kumpane tot?« fragte Haggan. »Nein!« rief ihm Trumm entgegen. Der Hüne wankte. Aber er hielt sich aufrecht. »Nein! Volker ist mit dem Teufel im Bunde! Wir hatten ihn zur Nachtzeit überfallen. Er war so gut wie tot. Er und seine Spießgesellen. Da geschah etwas Unglaubliches. Er hatte ein Tier bei sich, das Flammen sprühte. Eine feurige Lohe schoß uns entgegen. Seht, wie verbrannt mein Gesicht ist! Meinen Gefährten erging es noch schlimmer. Einer verbrannte wie eine Fackel. Ein anderer wurde erstochen. Der dritte wimmerte: >Mit mir ist es
vorbei.<« In Wirklichkeit waren Trumms Leute ihm nach dem feurigen Angriff Funkenmanns davongelaufen. Haggan, der keine menschlichen Bande kannte, faßte einen schnellen Entschluß. Mit jener Stimme, die auch dem abgebrühtesten Strauchräuber Angst einjagte, sagte er zu Trumm: »Wenn du Volker nicht töten konntest, dann töte Roland!« Trumm, dessen hartes, faltendurchwirktes Gesicht vom Staub der Straßen überpudert war, antwortete mit schwankender Stimme: »Haggan, was tut Dir mir an? Ich tötete Roland am Rand jenes Baches, als ich Heide im Arm hielt.« »Du irrst«, entgegnete ihm Haggan, und er grinste höhnisch, weil es ihn freute, seinen langjährigen Gefährten zerknirscht zu seinen Füßen zu sehen. »Roland überlebte deinen allzu gelinden Schlag.« Voller Hohn fügte er hinzu: »Kann es sein, daß das Alter deinen Schwung lahmte?« Trumm machte eine abwehrende Handbewegung. »Nun gut«, sagte Haggan schneidend. »Ich gebe dir die Gelegenheit, dich für dein Versagen bei Minnesänger Volker zu revanchieren. Bringe mir Rolands Kopf, und du wirst mein Bruder sein!« Doch im selben Augenblick gab Haggan dem jungen Morgenländer Omar ein Zeichen, das der - und nur er - zu deuten wußte. Vor zehn Jahren war Omar im Zelt seines Vaters, eines reichen Kaufmanns aus dem Morgenland, durch diese Gegend gezogen, als Haggans Bande unter Verletzung aller Handelsabkommen die östliche Schar überfiel. Es wurde ein Gemetzel. Von den Überfallenen überlebte nur der damals siebenjährige Omar. Eine Laune Haggans des Gräßlichen rettete ihm das Leben. Mit der Zeit wurde Omar zu Haggans engstem Vertrauten. Der elternlose Junge hing dem schwarzen Ritter mit einer abgrundtiefen Liebe an. Er wurde zu seinem besten Verbündeten. Denn im Gegensatz zu dem schwerfälligen Trumm wußte er den leichtesten
Wink seines Auges zu deuten. Ein geringes Heben der Augenbrauen verriet Omar mehr als tausend Worte. So kam es, daß Roland wenigstens einen krummen Dolch in der Hand hatte, als der riesige Trumm in sein Liebesidyll einbrach, um ihm den Garaus zu machen. Roland erwartete ihn hinter der Tür und stellte ihm ein Bein. Aber das Manöver mißlang. Trumms Beine waren zu lang und ihr Schritt zu hoch, als daß er diesem Trick zum Opfer gefallen wäre. Also war Trumm mit seinem Langschwert zunächst Beherrscher des achteckigen Geheimraums unter der Erde. Omar hatte Heide mit sanfter Gewalt aus dem Bereich der tödlichen Klingen gebracht. Einen Augenblick lang verspürte Roland das Verlangen, seinem Gegner, der an ihm vorbei hereingeschossen war, den Krummdolch in den Rücken zu stoßen. Doch mitten im erhobenen Schwung hielt Roland inne. Er konnte niemanden von hinten töten. Er wartete, bis der Hüne sich zu ihm umgewendet hatte. Er wollte einen Kampf, in dem beide Gegner die gleichen Chancen hatten. Dabei übersah Roland völlig, daß Trumms Waffen den seinen weit überlegen waren. Roland sah in die Augen eines finster entschlossenen Mannes. Trumms Blick war nahezu lähmend. Und wie gelähmt sah Roland zu, als der Hüne mit dem Langschwert zum tödlichen Schlag gegen ihn ausholte. Die Klinge sauste auf ihn nieder. Roland wartete bis zum letzten Augenblick. Dann bog er seinen jungen Körper schmiegsam zur Seite und entging dem mörderischen Schlag haarfein. Doch wenn er geglaubt hätte, dadurch einen entscheidenden Vorteil herauszuholen, so sah er sich wenige Augenblicke später furchtbar enttäuscht. Denn schon schwebte zum zweiten Mal Trumms schier unentrinnbares Langschwert über seinem schutzlosen Haupt. Wiederum zuckte es wie ein gleißender Blitz aus der Gewitterwolke
auf ihn nieder. Diesmal war Rolands Entkommen noch knapper. Die Klinge streifte ihn. Sie schnitt ihm ein Büschel blonder Haare ab und ritzte seine Hüfte, die teuflisch zu brennen begann. Trumm stieß einen unartikulierten Schrei aus. Darin entlud sich seine angestaute Erregung. Noch ehe der Schrei verhallt war, prallte das Schwert mit aller Kraft, die er ihm verliehen hatte, auf den steinernen Fußboden. Und dann geschah etwas, das für beide Männer überraschend kam und sie verblüffte. Mit einem klirrenden Laut zersprang das Eisen nicht weit unter dem Griff! Plötzlich hatte Trumm nur noch eine lächerlich kurze Klinge von knapp drei Handspannen Länge in der Faust. Der andere, weit längere Teil des Schwertes war abgebrochen und schwirrte, vom Boden abspringend, wie ein Geschoß durch den Raum. Zwei Augenpaare hatten Mühe, dem Verlauf des fliegenden Eisenstücks zu folgen. Die abgebrochene Klinge schmetterte gegen die Wand. Aber sie fiel nicht herab, sondern wurde wie von einer gespannten Sehne zurückgeschleudert. In Kopfhöhe schoß sie durch das Gemach. Dabei drehte sie sich wie ein Kreisel. Roland ließ sich fallen. Das tödlich scharfe, an der Bruchstelle schartig gezackte Eisen rotierte haarscharf über ihn hinweg. Zu spät erkannte Trumm, daß es nun genau auf ihn zuflog. Der muskelbepackte, sehnige Hüne war wohl auch nicht mehr beweglich genug, um so schnell zu reagieren wie der viel jüngere, in ritterlichen Spielen geübte Roland. Am Boden wälzte sich der Artus-Ritter herum. Und er sah voll Entsetzen, wie die Klinge, als hätte sie ein Eigenleben, Trumm in den Hals flog und ihm glatt den Kopf abschnitt. Noch einmal klirrte es, als die blutige Klinge sich senkte und über den Fußboden glitt, ehe sie endlich wie erschöpft liegenblieb. Gleich darauf sackte der riesenhafte Körper des Geköpften in sich zusammen. Roland lag eine Weile wie erstarrt. Dann raffte er sich auf. Von
Grauen geschüttelt, schleifte er den Toten zur Seite. Er bettete ihn vor der Badewanne unter dem natürlichen Wasserfall. Vorsichtig hob er dann an der stumpfen Seite das abgebrochene Schwert auf und legte es zu dem Toten. Ein Geräusch ließ ihn herumfahren. Omar stand hinter ihm. Er hatte den Schluß des Kampfes heimlich beobachtet. Omars dunkle Augen leuchteten vor Begeisterung. »Ritter, du prima, fabelhaft, großartig! Du töten Trumm! Du zaubern! Ich kaum glauben, was du getan, aber meine Augen sehen, wie du zaubern Schwert in Trumms Hals, ohne Anfassen. Du wirklich prima, extraprima! Ich sehr froh. Dieser Trumm immer böse gewesen auf Omar. Warum? Weil eifersüchtig! Weil ich sein Sohn von Haggan, Freund von Haggan, Berater von Haggan, Freund von Freunde von Haggan und Beschützer von Haggan!« Plötzlich verschwamm Omars braunes Gesicht vor Rolands Augen. Das achteckige Gemach begann sich zu drehen. Roland schwankte. Das Blut wich aus seinem Gesicht. Die Erregung und Anspannung des kurzen, aber heißen Kampfes waren für seinen eben erst genesenen Körper zuviel gewesen. Der Krummdolch glitt ihm aus der Hand. »Vorsicht!« rief Omar. »Du fallen!« Schwer sank Roland auf den Diwan. Er lehnte sich zurück. Augenblicklich wurde ihm ein wenig wohler. Aber seine Augen blieben trüb. Es fiel ihm schwer, Umrisse zu erkennen. Alles tanzte vor seinem Blick auf und nieder. »Ruhig sitzen!« mahnte ihn Omar. »Kleine Geduld! Gleich Omar dir bringen Heiltrunk. Den du trinken, und alles wieder gut, bestimmt extraprima gut!« Wirklich verschwand Omar, ohne daß Roland sah, wohin. Nach kurzer Zeit war der Junge aus dem Morgenland wieder da und setzte einen Kelch mit goldgelbem Wein vor dem Ritter nieder. Besorgt betrachtete er Roland. »Du jetzt trinken! Dann ganz schnell wieder munter und stark wie Löwe!«
Mit einem Seufzer griff Roland nach dem Kelch. In seinem Kopf herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er hatte bereits vergessen, wer Omar war und daß er ihn vor dem rasenden Trumm gewarnt hatte. Ja, selbst an den mörderischen Kampf konnte er sich kaum noch erinnern. Ein Name tauchte immer wieder in seinen wirren Gedanken auf: Heide ... Aber Roland war nicht imstande, die Bedeutung des Namens zu erfassen. Nur undeutlich war ihm bewußt, daß er etwas unerhört Schönes bezeichnete, daß er das Symbol alles Glücks dieser Erde war. Mit diesen unklaren Gefühlen setzte Roland den Kelch an die Lippen und nahm einen tiefen Schluck. Das Getränk rann wie öl über seine Zunge. Die Kehle wurde ihm heiß, und in seinem Magen verbreitete sich angenehme Wärme. Er fühlte sich, als könne er wieder Bäume ausreißen. Omar beobachtete ihn gespannt. Roland nahm einen zweiten langen Schluck, und diesmal wurden ihm die Augenlider schwer. Sein Geist erschien ihm von herrlicher Klarsichtigkeit. Er glaubte, am Eingang einer wundervollen Erkenntnis zu stehen ... Doch da klappten ihm die Lider zu. Er zuckte noch einmal mit den Armen, dann fiel er seitwärts auf den Diwan. Omar lächelte undurchdringlich. In seiner leisen, fast schleichenden Art trat er an den Ritter heran und beugte sich über ihn. Befriedigt vernahm er die ruhigen, gleichmäßigen Atemzüge. Sein Lächeln vertiefte sich. Unhörbar formten seine Lippen ein Wort. Seine Hände packten Rolands Schultern. * Als Roland aus den Tiefen des Schlafs wieder sich seine Umgebung verändert. Er befand sich achteckigen, unterirdischen Geheimraum, zu Auserwählte den Zugang kannten. Man hatte
emportauchte, hatte nicht mehr in dem dem nur wenige ihn in die Burg
hinaufgeschafft. Er öffnete die Lider - und sah in Heides lachende Augen! Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte ihn. In einem weißen, fließenden Gewand saß sie auf dem Rand des Bettes, in dem er ruhte. Er wollte etwas sagen... Doch da legte sie sich schon neben ihn und versiegelte ihm den Mund mit ihren weichen, vollen Lippen. Und diesmal sollte sie kein frecher, unerbittlicher Überfall beim Liebesspiel stören! Behutsam streifte ihr Roland das lose Gewand von den Schultern und labte seine Augen an der Pracht ihres straffen, jungen Körpers mit dem zärtlich blickenden Gesicht. Er strich ihr mit bebender Hand die langen hellen Haare von den festen, runden Brüsten und fühlte, wie Heide erschauerte. Er bewunderte die schmale Taille, die reizende Rundung ihrer Hüften. Seine Hände glitten, wie von unwiderstehlichen Magneten gezogen, über ihren flachen Bauch zu dem goldschimmernden Haardreieck über dem Ansatz der Schenkel. Es war Roland klargeworden, daß Omar ihm einen Schlaftrunk in den Wein gemischt hatte. Im Schlaf mußte man ihn in die Burg geschafft haben. »Wie lange schlief ich?« fragte er flüsternd Heide, während seine Hand das schimmernde Gelock über der Scham erreichte. Sie zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich bin nur kurze Zeit vor dir erwacht.« Und sie schmiegte sich enger an ihn. Also hatte Omar auch sie betäubt... So begann ein herrlicher Tag für das Paar. Sie vergaßen die Rätsel, die sie doch nicht lösen konnten, und probten alle Spiele aus, die Liebenden einfallen und sie in den Himmel der Lust versetzen. Heide war noch unerfahren. Aber ihr glühendheißes Temperament, einmal geweckt, machte sie zu einer Partnerin, die Roland von einem Taumel des Entzückens in den nächsten stürzte. Zwischen den zuckenden Ekstasen ihrer Vereinigungen lagen sie ruhig und entspannt da, hielten sich an den Händen, streichelten einander und unterhielten sich leise, während hochfliegende Gefühle sie durchdrangen. Immer wieder wollte Heide die Beteuerung seiner
Liebe hören, und immer wieder tat der Ritter ihr aus vollem Herzen diesen Gefallen. »Ich liebe dich mehr als alles andere in der Welt«, sagte Roland ernst. »Bisher war der Gedanke an eine Aufnahme in die Tafelrunde des Königs Artus das Höchste, was es zu erreichen galt. Aber jetzt weiß ich, daß sie zwar ein erstrebenswertes Ziel ist, um das ich mit aller Kraft kämpfen werde. Doch sollte je ein Auftrag des Königs meiner Liebe zu dir zuwiderlaufen, würde ich auf ihn verzichten. Ich würde ihn nicht erfüllen. Sag, Heide, wirst denn du mir ewig treu sein?« Da sagte sie nach kurzem Besinnen: »Zweifel nicht, Roland! Zweifle niemals an mir! Ich bin dir so treu wie die Sterne dem Nachthimmel, so treu wie die Blüte der suchenden Biene, so treu wie das geduldige Moos dem Tau. Aber du, Roland, wie steht es mit deiner Treue?« Er sah sie lange an, und ihm war, als schmelze seine Seele vor Glück. »Wenn ich dir je untreu werde, meine Liebste, dann soll die Sonne am hellen Tag vom Himmel verschwinden und mitternächtliche Finsternis den heiteren Mittag ersetzen!« Heide lachte froh. »Das wird nie geschehen, solange die Erde steht und der Himmel sich über uns wölbt. Also kann ich deiner Treue sicher sein!« Es dauerte nicht lange, und das Blut begann, wieder schneller in den Adern der Liebenden zu kreisen. Heißer wurde ihr Atem, heißer als der Atem der Wüste. Die Hände zuckten über den Körper des anderen. Die Blicke wurden fordernd und verhüllten nichts. Und von neuem begannen sie, die unerschöpflichen Melodien der körperlichen Liebe zu spielen ... * Haggan saß auf dem Sessel, den einst der von Jong ermordete Atz von Atzerath einzunehmen pflegte. Über seinen Knien lag ein Schwert. In der Hand hielt er, die Spitze nach oben gekehrt, eine
Turnierlanze. Ihr Schaft ruhte auf dem Boden neben seinem rechten Fuß. Fünf Klafter entfernt stand Roland in trotziger Haltung vor ihm. Sonst war die Halle leer. Nicht einmal der allgegenwärtige kleine Omar befand sich in der Nähe. Es war das erste Mal, daß sich die beiden Gegner des großen Duells auf den Bachauen vor der Burg Atzerath wiedersahen. Beide hatten schwere Verwundungen überstanden. Haggan jene, die Roland ihm im ehrlichen Kampf zugefügt hatte, Roland den heimtückischen, niederträchtigen Schwerthieb Trumms, mit dem der damalige Kumpan des Gräßlichen Roland hinterrücks überfallen hatte, als das Duell schon zugunsten des Artus-Ritters entschieden schien. Lange hielten beide ein vorsichtiges Schweigen ein. Endlich ergriff Haggan das Wort. Er sprach in freundlichem Ton, der deutlich von seiner üblichen düsteren Stimmung abwich: »Was wollt Ihr von mir, Roland? Was fordert Ihr, edler Ritter? Die Heimkehr nach Schloß Camelot? Wünscht Ihr Eure Waffen und Euer Pferd Samum zurück? Verlangt Ihr freies Geleit für Euch und die schöne Heide, um die jeder Mann Euch beneiden dürfte?« »Ja«, antwortete Roland mit klingender Stimme. »Die Antwort auf jede Eurer Fragen lautet: ja!« »Fürchtet nichts!« erwiderte Haggan leutselig. »Ich bin bereit, Euch dies alles zu gewähren. Ich hörte davon, wie übel Euch mein einstiger Diener Trumm mitspielte, und bin glücklich, daß Ihr den Anschlag lebend überstandet und ihn in die Hölle schicktet!« »Ein Junge aus dem Morgenland warnte mich.« »Ich selber schickte Omar zu Euch. Daraus mögt Ihr ersehen, wie sehr mir Euer Wohl am Herzen liegt. Sagt, wann Ihr reiten wollt Samum und der Graue des Mädchens werden pünktlich gesattelt im Burghof bereitstehen. Doch will ich Euch nicht zur Abreise drängen, Roland. Viel lieber wäre es mir, Ihr würdet mir noch eine Weile Gesellschaft leisten. Nur selten hat man das Glück, einem so edlen Ritter wie Euch zu begegnen.« Roland trat drei Schritte näher an Haggan heran und richtete sich
stolz auf. »Ich fürchte«, sagte er mit Nachdruck, »Ihr werdet in jedem Fall noch einige Tage in meiner Gesellschaft verbringen müssen.« »Nichts käme mir erwünschter!« Rolands Blick bohrte sich in Haggans bartumgebenem Quadratschädel. »In meiner Gesellschaft, Haggan - aber anders, als Ihr denkt! Nicht als mein Gastgeber, sondern als mein Gefangener!« Roland schwieg, und die Wände der fast leeren Halle warfen das letzte Wort »Gefangener« als ein drohendes Echo zurück. Ungehalten schüttelte Haggan die Lanze. »Das müßt Ihr mir näher erklären, mein Freund«, sagte er dann mit erzwungener Ruhe. »Nennt mich nicht Freund!« donnerte Roland. »Ich bin nicht Euer Freund und werde es niemals sein. Ihr seid ein Flüchtling aus dem Verlies des Schlosses Camelot, in das Ihr rechtmäßig wegen Eurer himmelschreienden Untaten gesperrt wart. Daraufhin beauftragte mich König Artus, dessen weises Wort in diesem Land Gesetz ist, Euch wieder einzufangen und ihm zurückzubringen, tot oder lebendig! Und genau das werde ich tun!« Ein verächtliches Lächeln zeigte sich auf Haggans Lippen. Er hob das Schwert ein wenig an und berührte damit die Lanze. Es klang wie ein Gong. »Ich bin neugierig, wie Ihr das anstellen wollt, Roland. Bei aller Hochachtung vor Eurem Mut und Eurer Ritterkunst - Ihr seid in meiner Gewalt und nicht ich in Eurer. Ihr seid waffenlos. Omars Krummdolch ließ ich Euch wieder wegnehmen, als Ihr schlieft. Dagegen bin ich bis an die Zähne bewaffnet. Ihr habt niemanden an Eurer Seite außer dem Mädchen Heide, das eine Zeitlang täuschend die Rolle Eures Knappen spielte. Auf einen Wink von mir würden 20 - oder wenn ich wollte - doppelt so viele Krieger hereinstürmen und Euch niedermetzeln. Kein Entkommen gäbe es für Euch vor ihren Lanzen, Schwertern, Keulen und Pfeilen. Bedenkt das, Roland, und gebt zu, daß Ihr den Mund zu voll nahmt!« Mit wenigen langen Sätzen glitt Roland zur Tür, die ins Innere der Burg führte. Der Schlüssel steckte im Schloß. Roland drehte ihn
zweimal herum. Dann zog er ihn ab und barg ihn im Wams. Ebenso rasch begab er sich zum Außenportal. Dort wandte er sich zu Haggan um. »Ruft nur nach Euren Kumpanen, Gefangener des Königs! Den ersten, der durch diese Tür hereinstürzt, bringe ich zu Fall und nehme ihm die Waffe ab. Dann schließe ich auch dieses Portal - und wir können ein neues Duell beginnen!« Zum ersten Mal wirkte Haggan leicht beunruhigt. Roland fuhr fort: »Einmal, als ich in den Händen jener verkommenen Bauern war, habt Ihr mir das Leben gerettet. Damals kannten wir einander noch nicht. Einmal rettete ich Euch das Leben, als ich Euch, den Schwerverwundeten, schon Besiegten, aus dem eisbedeckten Bach zog. Wir sind quitt. Von jetzt an werde ich keine Rücksicht mehr üben. König Artus wird höchst zufrieden sein, wenn ich mit Eurer Leiche vor mir auf dem Pferderücken nach Camelot zurückkehre. Ihm kommt es nur darauf an, Euch ein für allemal unschädlich zu machen. Die Methode überließ er mir!« Haggan lächelte wieder. Unbeeindruckt saß er da und hob leicht die Lanze. »Ihr vergeßt, daß Ihr im Augenblick noch unbewaffnet seid, Roland!« »Täuscht Euch nicht!« entgegnete der. »Ich habe vorgesorgt, um Euren Ränken zu begegnen. In meinen Kleidern gibt es verborgene Taschen, und ich bin ein Meister mit dem Wurfmesser.« Unwillkürlich zog Haggan den Kopf ein, als wäre schon ein solches tödliches Werkzeug im Anflug. In Wirklichkeit bluffte Roland nur. Weder besaß seine Kleidung Geheimtaschen, noch hatte er irgendwo das kleinste Stück Eisen am Körper verborgen. Als Haggan wieder sprach, war sein Ton genauso freundlich wie zu Beginn des Gesprächs. »Erregt Euch nicht, edler Roland! Fern lag es mir, Euch zu drohen. Laßt mich statt dessen etwas sagen, das Euch bestimmt überraschen wird! Ich bin gern bereit, Euch zum Schloß Camelot und vor König Artus' Thron zu folgen. Sogar als Euer Gefangener, wenn Ihr darauf besteht! Lieber wäre mir allerdings, ich ritte als Freund an Eurer Seite!«
Roland erhob abwehrend die Hand. »Als Freund?« wiederholte er verachtungsvoll. »Eher wünschte ich mir den Teufel zum Freund! Wie könnt Ihr Euch unterfangen ...?« Er brach ab. Die Empörung schnürte ihm die Kehle zu. »Gemach, gemach!« mahnte Haggan, nun jeder Zoll von maßvoller Würde. »Ehe wir weiterstreiten, verratet mir lieber, wessen mich der König, den ich nicht weniger achte und verehre als Ihr, denn eigentlich beschuldigt!« »Als ob Ihr das nicht wüßtet!« rief Roland ärgerlich. »Nun wohl, ich will es Euch dennoch wiederholen. Es sind neben Eurem wüsten, unritterlichen Lebenswandel, mit dem Ihr unseren Stand befleckt, drei Hauptanklagepunkte. Punkt eins: Ihr habt Euren Bruder Jorn ermordet und seine Burg dem Erdboden gleichgemacht!« Heftig schüttelte Haggan den Kopf. »Punkt zwei«, fuhr Roland mit erhobener Stimme fort: »Ihr habt Griseldis, die Gattin Eures Bruders und Verwandte der Königin, mit Gewalt genommen und versucht, auch sie umzubringen. Nur wie durch ein Wunder entkam sie dem Tode!« Zornig stampfte Haggan den Schaft der Lanze auf dem Boden auf. Roland kümmerte sich gar nicht darum, sondern schloß: »Punkt drei: Ihr plant Hochverrat, wollt Artus vom Thron stoßen, ihn ermorden und statt seiner König werden.« Haggan lachte laut auf, doch sein Lachen hatte einen bitteren Klang. »Nun begreife ich Euren Zorn, Roland«, sagte er nach einer Weile, und seine Stimme klang traurig. »Wäre es so, wie Ihr sagtet, so verdiente ich allerdings strengstes Gericht, lebenslangen Kerker bei Wasser und Brot und täglicher Prügelstrafe, oder gar peinlichen Tod.« Roland horcht auf. »Wollt Ihr die Vorwürde etwa leugnen?« »Man hat mich verleumdet«, sagte Haggan in bitterem Ton. »Es gibt einen alten Mann am Königshof, dem jeder aufstrebende, geistvolle, lebensglühende Ritter ein Dorn im Auge ist. Ihr kennt ihn auch. Und es würde mich nicht wundern, wenn er Euch nicht ebenfalls schon so manchen Knüppel zwischen die Beine geworfen
hätte.« So eindringlich und aufrichtig klangen Haggans Worte im fast leeren Saal, daß Roland verwundert aufschaute. Haggan erhob die rauhe Stimme zu äußerster Nachdrücklichkeit. »Ich meine Wilhelmus, den weißhaarigen Schurken, den langbärtigen Intriganten, den schönrednerischen Ränkeschmied! Er will, koste es was es wolle, einen aus seiner verfluchten HeißblutSippe in die Tafelrunde hineinbringen! Erst sollte es Percy sein. Nach dessen Tod jetzt Douglas Heißblut. Mich sah er früh als Rivalen an. Darum streute er diese Lügen über meinen angeblich schändlichen Lebenswandel, die blutrünstigen Fantastereien über meine angeblichen Verbrechen unter die Leute!« Mit gemischten Gefühlen lauschte Roland den Vorwürfen Haggans. Mancher seiner Sätze schien Schleier von bisher nie verstandenen Ereignissen zu reißen. Andere wieder erschienen ihm als schiere Lüge. Sein Treuegefühl wehrte sich dagegen, in der Nähe des Königs Artus böse Machenschaften zu vermuten. Erwartungsvoll blickte Haggan den blonden jungen Ritter an. Schließlich antwortete Roland: »Eure Worte, Haggan, mögen Kinder und Narren betören, doch kein Ohr, das aus des Königs eigenem Mund das wahre Geschehen erfuhr. Sprecht weiter! Drechselt Eure Sätze, gebt ihnen Politur und Glanz, sprecht bis zum Abend! Sprecht, bis Euch die Zunge den Dienst versagt! Mich werdet Ihr nicht überzeugen. Ich weiß, daß Ihr ein Unhold seid, von dem dieses Land befreit werden muß. Und ich werde es sein, der Euch zurück ins Verlies stürzt oder - wenn Ihr Euch wehrt - ins Grab!« Mit großer Überwindung gelang es Haggan, ein mildes Lächeln auf seine harten Züge zu zaubern. »Seid Ihr dessen so sicher, verblendeter Ritter? Nun denn, so will ich Euch einen Zeugen vorführen, an dessen Aussage kein Intrigant, kein ehrlicher Mann, kein Schuft, kein Ritter und kein König drehen und deuteln kann ...« Mehr denn je war Roland von Haggans Schuld überzeugt. Trotzdem hörte er ihm gebannt zu. Der Bursche verstand es wirklich
zu fesseln! »Ritter Lutz hat es auf meinen Wunsch übernommen, diesen Zeugen hierher nach Atzerath zu bringen«, sagte Haggan fast so feierlich, wie der Zeremonienmeister am Hof von Camelot einen Ehrengast anzukündigen pflegte. Gegen seinen Willen platzte Roland mit der Frage heraus: »Und wer sollte dieser Zeuge sein?« Haggan warf ihm einen durchbohrenden Blick zu und sagte nach einer genau berechneten Pause: »Es ist die Frau, der ich den Ehemann, die Burg und die weibliche Ehre genommen haben soll ... Es ist Griseldis!« * Noch ein volles Jahr nach den schrecklichen Schicksalsschlägen, die ihr Leben aus der Bahn geworfen hatten, lebte Griseldis wie betäubt dahin. Sie lehnte alle Einladungen von Verwandten und Freunden ab, bei ihnen zu wohnen. Nicht einmal Königin Ginevra konnte sie dazu überreden, zu ihr zu kommen. Griseldis wollte niemanden sehen. Sie verkroch sich. Sie zog sich in ein Bürgerhaus der Stadt Rivage zurück. Keiner der Stadtbewohner kannte sie oder hatte von ihr gehört. Niemand wußte von ihrem tragischen Geschick. Sie ließ sich auch kaum in der Stadt blicken. Griseldis war eine schöne Frau von hoheitsvollem Auftreten. Aber seit einem Jahr hatte die Witwe kaum in einen Spiegel geblickt. Sie vergrub sich in ihren Kummer und vernachlässigte ihr Äußeres. Ihr herrliches kastanienbraunes Haar wurde strähnig und glanzlos. Ihre Augen trübten sich. Ihre Haut nahm durch das ständige Stubenhocken eine ungesunde, bleiche Färbung an. Sie aß nur wenig und mit Widerwillen. An manchen Tagen rührte sie überhaupt keine Nahrung an. So kam es, daß ihr Körper mager wurde und nur wenige Spuren der früheren bezaubernden Schönheit behielt. Griseldis sann auf Rache.
Sie entwarf Plan um Plan. Doch nur, um immer bald zu erkennen, daß keiner ausführbar war. Wie wollte sie, ein schwaches Weib, Haggan den Gräßlichen in ihre Gewalt bekommen? Es war aussichtslos. Mit fremder Hilfe rechnete sie nicht, wollte auch keine haben. Es war ihr Schicksal, ihre Trauer, ihr Verhängnis - und ihre Rache, die sie mit keinem teilen wollte! Sie wurde nicht müde, sich immer aufs neue auszumalen, wie sie Haggan überwältigen und grausam zu Tode bringen würde. Es waren Streiche, die ihr die überhitzte Fantasie spielte. Selten sah sie einen Menschen. Nur ihre Zofe Velma duldete sie um sich. Ihr vertraute sie wie einer Schwester. Velma hielt die Verbindung zur Außenwelt. Sie verwaltete auch die Dukaten, die Königin Ginevra ihr von Zeit zu Zeit schickte, damit sie keine Not zu leiden brauchte. So wie ihre Herrin bei dieser Lebensart früh alterte, verfiel und immer unansehnlicher wurde, so blühte die Zofe auf. Velma war von Natur aus ein wohlgestaltetes Mädchen. Die Zeit auf der Burg des Ritters Jorn hatte sie vieles gelehrt. Sie hatte Griseldis und all den begehrten Damen des Adels, die dort verkehrten, eine Menge abgeschaut. Die Manieren, die höfische Sprache, die Kunst, sich nach der geltenden Mode verführerisch zu kleiden, die Handgriffe und Tricks der Körperpflege und die vornehme Haltung. Wenn Velma jetzt durch die Straßen von Rivage schritt, um irgendwelche Besorgungen zu erledigen, sah sie mit ihrer gepflegten dunkelbraunen Haartracht, dem stolzen Gang, dem hochgewachsenen, schöngeformten Körper und den feinen Kleidern selber wie eine vornehme Dame aus. Da Griseldis keinerlei Wünsche äußerte und ihr die Verwaltung des Hauses völlig überließ, war Velma allmählich ein begütertes Fräulein geworden, deren Gedanken von Tag zu Tag ehrgeiziger und begehrlicher wurden. Zwei Seelen wohnten in ihrem Herzen. Die kalte, berechnende, die
nach Gold strebte. Und die sinnlich heiße, die in der Umarmung kräftiger Männer das Glück suchte. Sie verstand es, beide Seelen zu befriedigen. Sie begann und beendete manch Liebesverhältnis. Der Bewerber mußte von angenehmem Äußeren sein, zu den besseren Ständen gehören und verschwiegen sein. Denn sie legte Wert darauf, daß ihr Ruf untadlig blieb. So traf sie ihre Rendezvous mit größter Heimlichkeit und reizte die Sinne ihrer Anbeter durch hinhaltendes Zögern, schwierig einzuhaltende Verabredungen und allerlei Listen aufs äußerste. Noch bevor sie sich einem hingab, bat sie um Geschenke. Heiratsanträge überging sie mit Stillschweigen. War sie eines Liebhabers überdrüssig, was meist nach kurzer Zeit eintraf, verabschiedete sie ihn mit einer Kälte, daß er meinte, die Erinnerung an heiße Nächte sei pure Einbildung gewesen, er hätte sie in Wirklichkeit nie besessen. * Eines Nachmittags stieg Velma an einem abgelegenen Platz am Flußufer vor der Stadt, das Weiden und Pappeln säumten, in eine vornehme Kutsche, die nicht aus Rivage stammte. Der Wohlgeruch von ölen und Kreszenzen, die sie benutzte, erfüllte betörend das Innere des Wagens. Der Mann, der sie erwartet hatte, gab dem Kutscher Befehl zur Abfahrt. Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie mit herrischer Bewegung an sich. Velma versuchte nicht, sich zu wehren. Das war kein Mann wie die üblichen Verehrer aus der Stadt. Sein Griff war entschlossen, sein Gesicht hart, seine Sprache gebieterisch. Velma spürte, wie ihr Inneres zerfloß. Es war ihre dritte Begegnung, und sie wußte, daß sie sich ihm diesmal hingeben würde. Selbst wenn er ihre gewohnten Bedingungen der Heimlichkeiten mißachtete und ihr kein Geschenk anbot!
Gegen die Stärke dieses Mannes vermochte auch ihre angeborene berechnende Kälte nicht standzuhalten. Doch es kam alles anders, als sie es sich erträumt hatte. Der Mann flüsterte ihr keine Liebesbeteuerungen ins Ohr, wie sie es gewöhnt war. Der Mann sagte mit einer Stimme, die Widerspruch ausschloß: »Du bist Griseldis, die Witwe Jorns?« »Nur ihre Freundin«, sagte sie, erstaunt über ihre eigene Zaghaftigkeit. »Ich heiße ...« »Griseldis!« unterbrach der Mann heftig. »Das wirst du von jetzt an gegenüber jedermann behaupten.« »Aber...« Fünf Finger quetschten schmerzhaft ihren Oberarm. Sie schrie auf. »Gegen jedermann! Verstanden?« »Ja«, wimmerte sie kläglich. Der Druck ließ nach. Der Schmerz aber hielt vorerst an. »Gut, Griseldis. Du weißt, was geschehen ist. Trauerst du noch um Jorn, um seine Burg und um die Schande, die man deinem Leib angetan hat?« Er machte eine winzige Pause, ehe er in verändertem Ton fortfuhr: »Sag jetzt nicht ja, sonst vernichte ich dich, verdammte Hure!« Ein köstliches Erschrecken durchrieselte Velma. Sie fühlte, daß sie an der entscheidenden Wende ihre Lebens stand. Schmerz ließ sich ertragen, aber nicht ewig der Mief der Kleinstadt Rivage. So hätte dort keiner mit ihr zu sprechen gewagt! Sie wurde klein unter dem herrischen Griff dieses Mannes. Gleichzeitig aber fühlte sie sich auf unbegreifliche Weise über die Nichtigkeiten ihres bisherigen Lebens erhoben. Die geborene Abenteuerin spürte, wie das große Abenteuer sie in den Fängen hielt. »Nein«, sagte sie froh, und dabei log sie nicht einmal. »Ich haßte Jorn, den sturen Langweiler. Ich mochte die Burg nicht, in der es so streng und gleichförmig zuging. Und von einer Schande, die Griseldis zugestoßen sein soll, weiß ich nichts.« »Gut so«, sagte der Mann zufrieden. »Du lernst schnell. Du wirst
es weit bringen.« Er packte ihre Hand, und sie fühlte den kalten Druck harten Metalls in ihrer Handfläche. »Das sind 20 Dukaten«, sagte er gleichgültig, als sei die Summe ein Dreck. »Du wirst noch zehnmal soviel erhalten, wenn du alles tust, was ich dir jetzt sage.« Lutz von Lutzerath, dem jetzt nach dem Tod seinen Bruders auch das viel mächtigere Atzerath gehörte, besaß eine Menge Bargeld. Als Haggan noch auf dem Schmerzenslager fieberte, hatte er mit dessen Höllenhunden eine Karawane von Kaufleuten überfallen. Der Angriff wäre um ein Haar fatal ausgegangen, weil die Kaufleute eine starke Bedeckung bei sich hatten. Viele Höllensöhne bissen ins Gras. Aber Lutz kam mit Glück und dem größten Teil der Kasse davon. Den Rest seines Haufens speiste er mit wenigen Dukaten ab. Dann kehrte er nach Atzerath zurück, übergab Haggan die Hälfte des geraubten Goldes und beriet sich lange mit ihm. Die Kühnheit und Schläue von Haggans Plan setzten ihn in Verzückung. Mit großer Begeisterung machte er sich auf den Weg nach Rivage und hatte wenig Mühe, Velma ausfindig zu machen und zu umgarnen. Während die Kutsche den langen Weg nach Atzerath einschlug, entwickelte Lutz der entführten Velma in beschwörenden Worten, was sie in den nächsten Tagen zu tun habe. Nicht einmal stellte sie unbequeme Fragen. Nicht einmal erhob sie Einwendungen. Verlangte er, daß sie einen Teil der Einflüsterungen wiederhole, dann tat sie es ohne Fehler. Sie war die gelehrigste Schülerin, die man sich denken konnte. Sie übernachteten in guten Gasthöfen, wo sie getrennte Zimmer bezogen. Überall trat Velma mit untadliger Vornehmheit auf. Sie bestand jede Probe. Klopfte er nachts an ihr Zimmer, so antwortete sie spröde: »Es ist verschlossen und verriegelt. Ich bitte Euch, bewahrt Eure und meine Ehre, Herr Ritter!«
Grinsend zog sich Lutz dann in sein Gemach zurück. Sprach er sie tagsüber unversehens mit dem Namen Velma an, so reagierte sie, als habe sie den Namen nie gehört, geschweige denn selber getragen. Sagte er Griseldis, so antwortete sie selbstverständlich: »Was beliebt, Herr Ritter?« Nur einmal - und das war wenige Stunden vor der Ankunft auf Atzerath – fiel Velma Griseldis aus der Rolle. Das war, als sie in einer Anwandlung lang unterdrückter Lüsternheit fragte: »Ist es eigentlich erlaubt, diesen Roland, von dem Dir mir erzähltet, zu verführen?« Lutz lachte. »Das steht Euch frei! Nur fürchte ich, Ihr müßtet vorher ein Weib namens Heide vergiften!« * Roland erklärte sich einverstanden, noch fünf Tage auf Lutz und die Zeugin Griseldis zu warten. Den ersten Tag sattelte er Samum und preschte mit ihm stundenlang über verschneite Äcker und Wiesen, über Saumpfade und Hügelkämme, durch Hohlwege und Gehölze. Den zweiten Tag übte er sich im Bogenschießen, wobei er ständig das Ziel verkleinerte und die Entfernung vergrößerte. Den dritten Tag sah er seine Waffen und Rüstung durch, schärfte und putzte, bastelte und schmirgelte, bis alles blitzte wie Silber. Die Nächte verbrachte er mit Heide. Den vierten Tag ging er auf die Jagd. Er hatte bei seinem Streifzug weit im Südwesten den Schimmer eines ausgedehnten hügeligen Waldlands entdeckt. Dort, meinte er, müsse es allerhand jagdbares Getier geben. Heide schlummerte noch tief, als er sie am frühen Morgen verließ. Einen Augenblick zögerte er, von Rührung bei dem Anblick ihres feingemeißelten Köpfchens übermannt. Dann schrieb er auf ein Blatt ein paar Zeilen, die ihm das Gefühl eingab. O Nacht der Nächte!
Ja, keine brächte Mir immerzu Ein Glück wie du! Er hoffte, sie werde es beim Aufwachen finden und sich darüber freuen. Im Wegreiten dachte er, daß wohl wirklich am hellen Tag die Sonne vom Himmel verschwinden und tiefe Dunkelheit die Erde umfangen halten müsse, ehe er ihr untreu werden würde. Nach zwei Stunden scharfen Rittes war der Waldsaum erreicht. Spuren fand Roland viele im dichten Schnee. Aber da er keine Hunde bei sich führte, war es nicht einfach, die flüchtigen Tiere zu erjagen. Fast den ganzen Tag tummelte er den unermüdlichen Samum im Galopp durch die Wälder. Aber oft genug mußte Roland eine lange Hatz abbrechen, wenn der verfolgte Keiler, der schnaufende Hirsch oder das flinke Reh in dichtes Unterholz flüchteten, wo für Pferd und Reiter kein Durchkommen war. Als die Nacht hereinbrach, hatte er sich verirrt. Der Himmel war bezogen. Kein Stern wies die Richtung. Aufs Geratewohl ließ er Samum traben. Ihn fror im dünnen Jägeranzug. Einmal schimmerte ein Licht. Oder narrte ihn das überreizte Auge? Er hielt darauf zu. Immer wieder entschwand es hinter Baumstämmen und Bodensenken. Doch endlich war es nah. Er hatte sich nicht getäuscht. Er kam auf einen breiten Weg, wie ihn Holzfäller oder Händler gern benutzten, und das Lichtlein wurde zur Stallaterne, die an einem rostigen Gittertor hing. Eine Blockhütte kauerte tief im Schnee. Die Läden waren geschlossen. Und doch konnte Roland im Schein der Lampe die eingekerbte Schrift entziffern: Herberge zur guten Ruh. Nach langem Rufen und Klopfen öffnete sich die Tür, und ein krummgewachsener Mann in mittlerem Alter mit hellem, dünnem Haar trat heraus. Er war mürrisch und abweisend, wurde aber anderen Sinnes, als Roland ihm für ein Nachtquartier die Hälfte seiner erlegten Beute anbot. Das bedeutete zwei Fasanen, einen Hasen und einen Hirsch. Der Mann wurde zunehmend freundlicher, führte Samum in einen geräumigen Anbau, in dem es angenehm nach Futter roch, und ließ
dann Roland über die Schwelle ins Haus. Beim Eintreten sah der Ritter sieben tiefe Kerben an der vom Alter geschwärzten Tür. Roland verschwendete keinen Gedanken an die mögliche Bedeutung der Kerben. Er hätte sie auch nie erraten. Und der Wirt hätte eine Frage danach höchstens mit einer Lüge erwidert. Der Wirt, der sich Hellmer nannte, wohnte seit einem guten Dutzend Jahren an dieser abgelegenen Stelle im Wald. Weil sich nur selten Gäste zu ihm verirrten, hatte er vor einigen Monaten begonnen, einzelne Reisende des Nachts, wenn sie im tiefsten Schlaf lagen, zu ermorden. Später vergrub er sie an abgelegener Stelle und behielt ihre mitgeführten Habseligkeiten, deren Wert oft beträchtlich war. Jede Kerbe bedeutete einen ermordeten Gast! Roland ahnte nicht, was sein Wirt beschlossen hatte. Er sollte in dieser Nacht das achte Opfer werden! Nachdem Hellmer diesen Entschluß gefaßt hatte, taute er rasch auf und behandelte seinen Gast mit großer Fürsorge. Er tischte ihm auf, was Küche und Keller hielten - und das war nicht wenig. Beim Schmausen leistete Hellmer dem Ritter Gesellschaft. Er langte auch ab und zu selber nach einem schmackhaften Bissen. Und er nötigte den Ritter zu herzhaftem Zechen. Nun war Roland nach dem hitzigen Jagdtag durstig genug und ließ sich nicht zweimal bitten. Die Unterhaltung blieb einsilbig, da Hellmer wortkarg war und Roland nicht wußte, worüber er sich mit dem einfältigen Menschen unterhalten sollte. So kam es, daß er schließlich dem Weinkrug nicht allein aus Durst, sondern auch aus Langeweile kräftig zusprach. Hellmer nahm nur selten einen Schluck zu sich. Beim Schein des flackernden Kaminfeuers hatte er eine schwere Axt zur Hand genommen und begann, sie sorgfältig an der Schneide zu schärfen. Plötzlich bemerkte er Rolands Blick und ließ sich dazu herbei, seine Beschäftigung mit den Worten zu erklären: »Ich muß morgen einige Bäume fällen.« Flüchtig fragte sich Roland: Wozu? Denn draußen und drinnen
waren riesige Mengen von Brennholz gestapelt. Ein leichter Argwohn kroch in ihm hoch, verflüchtigte sich aber völlig, als er den nächsten Becher leerte. Hellmer schenkte ihm fleißig nach und fuhr fort, seine Axt zu schärfen. Mit Behagen leerte Roland noch drei Becher. Dann wurde er plötzlich sehr müde. Die Augen fielen ihm zu. Als er nach wenigen Augenblicken aufschreckte, sah er, daß Hellmer sich erhoben hatte und ihn aufmerksam beobachtete. Roland gähnte und stand auf. »Zeig mir mein Zimmer, Wirt!« sagte er. »Die Mahlzeit war köstlich. Ich gedenke, einen tiefen Schlaf zu tun.« Dabei fiel ihm der Name des Hauses ein, den er bei der Ankunft draußen gelesen hatte: Herberge zur guten Ruh . .. Wie doppelsinnig dieser Name war, hatten die sieben Opfer Hellmers nie erfahren. Hellmer geleitete ihn über einen dunklen Gang und stieß eine windschiefe Tür auf. Die Lagerstätte bestand aus einem Holzgestell, auf dem ein Strohsack und eine uralte Pferdedecke lagen. Licht gab es nicht. Aber Hellmer hatte das Fenster aufgestoßen. Der Himmel hatte sich ein wenig aufgeklärt. Schon funkelten einige Sterne, und schwaches Mondlicht kam herein. »Gute Nacht!« wünschte der Mörderwirt. Er hatte die Axt nicht losgelassen. Als er hinausging, strich er mit dem Daumen zufrieden über die messerscharfe Schneide. Roland antwortete nicht. Er war zu müde. Kaum hatte er die Stiefel von den Füßen gezogen, da fiel er auf den Strohsack und war nach wenigen Atemzügen eingeschlafen. So bemerkte er auch nicht, daß Hellmer beim Hinausgehen die Tür nicht ins Schloß fallen, sondern einen Spaltbreit offenließ. Hellmer schlurfte in die Küche zurück und setzte sich, die Axt im Arm, geduldig an den Tisch. Er wollte noch ein, zwei Stunden warten, bis sein argloser Gast im Tiefschlaf lag. Dann würde er in seine Kammer gehen und ihm den Garaus machen. Er war überzeugt,
daß der Fremde nicht wenige Golddukaten bei sich führte. Das Pferd würde er fürs erste behalten. So saß er beim matten Schein eines Öllämpchens und trank ab und zu einen Schluck Wasser. Nach vollbrachter Tat würde er sich einen Rausch antrinken. Jetzt aber brauchte er eine sichere Hand. * Indessen wanderte der Mond weiter und schien schließlich hell in Rolands Kammer hinein. War er es, der den Ritter weckte? Oder erwachte er, weil ihm die gewohnte Wärme von Heides lieblichem Körper fehlte? Oder ließ ihn jener sechste Sinn nicht zur Ruhe kommen, der Waldläufer, Jäger und Kämpfer auszeichnet? Jedenfalls richtete er sich nach kaum einer Stunde auf - und war plötzlich hellwach! Sein erster Gedanke ging zu Heide. Wahrscheinlich wartete sie zu dieser Zeit noch auf seine Rückkehr. Wie sie ihm fehlte! Er nahm sich vor, morgen früh beim ersten Licht zur Burg zurückzureiten. Schon wollte er sich gähnend wieder aufs Lager fallen lassen, als sein Blick auf einige Sterne fiel. Gleichzeitig erinnerte er sich an sein Versprechen, das er Heide vor zwei Nächten unter Lachen und Scherzen gegeben hatte. Vom Fenster aus, das nach Süden lag, hatten sie den winterlichen Sternenhimmel betrachtet, Hand in Hand, Wange an Wange, Schulter an Schulter. Er zeigte ihr die Sterne, die das Bild des Orion ausmachten. Heide kannte das prächtige Nachtgestirn. Sie hatte es schon oft bewundert. Roland fiel ein, was sein Lehrer, der Einsiedler Klaus, ihm darüber berichtet hatte. »Orion war ein berühmter Jäger des Altertums. Den wilden Jäger nannten ihn die Griechen, und er war der Geliebte der Eos, der Morgenröte.« Er streichelte Heides Arm und flüsterte ihr ins Ohr: »Eos - das bist du für mich.« »Und du wilder Jäger«, flüsterte sie zurück, »bist mein Orion!« Sie lachten herzlich, küßten sich viel und wurden schließlich ernst.
»So wollen wir uns geloben«, sagte Heide nach langem Schweigen, »daß wir, wenn wir getrennt und fern sind, des Nachts den Orion anschauen und dann aneinander denken!« Daran erinnerte sich Roland jetzt in der Waldwüste, in der elenden Kammer der finsteren Herberge »Zur guten Ruh«, die noch besser »Herberge zur ewigen Ruh« geheißen hätte. Er stand von seinem Strohsack auf und schlich in Strümpfen an das schmale Fenster. Lange stand er dort, schaute den Orion an, den leuchtenden Schulterstern, die Gürtelsterne, das Schwertgehänge und den schwachschimmernden Nebel. Und ihm wurde wohl ums Herz, weil er sicher war, daß Heides Blicke jetzt ebenfalls in dieser Himmelsgegend weilten und ihre Gedanken sich dort im Unendlichen zärtlich begegneten. Sein Kopf fuhr herum. Ein ganz schwaches Geräusch hatte sein Ohr erreicht. Wie der vorsichtige Schritt eines Menschen! Roland zog sich lautlos vom Fenster zurück, um nicht gegen den helleren Himmel als Schattenriß erkennbar zu sein. Seine Augen hatten sich inzwischen an das Dunkel in der niedrigen Kammer gewöhnt. So sah er, wie sich die Tür leise öffnete und Hellmer hereinschlich. Es waren nur fünf kurze Schritte von der Tür bis zum Kopfende des Lagers, aber der Wirt ließ sich lange Zeit. Zwischen jedem Schritt verstrichen Ewigkeiten. Roland atmete ganz flach, um sich nicht zu verraten. Als der Wirt den fünften Schritt tat, erkannte Roland auch, daß er die Axt bei sich hatte. Ein kalter Schauer zog Rolands Kopfhaut zusammen. Und dann geschah es in Blitzesschnelle. Hellmer hob die Arme und schwang die Axt. Dann ließ er sie dorthin niedersausen, wo er Rolands Kopf auf dem Lager vermutete. Er führte drei fürchterliche Schläge. Dann hielt er inne, und Roland hörte ihn mit schwerer Zunge sagen: »Das reicht für dich, Fremder! Du warst der achte! Ich darf morgen die Kerbe nicht vergessen ...« Er murmelte noch einiges, was unverständlich blieb. Dann ging er
mit lauten Schritten hinaus, vermutlich, um das Öllämpchen zu holen. Roland zog sich noch tiefer in den Schatten der Wand zurück und wartete auf seine Wiederkehr. Wie erwartet kam der Wirt bald zurück. Die Axt hatte er mit dem Lämpchen vertauscht. Rasch trat er ans Lager und leuchtete. Hellmer traute seinen Augen nicht. Tiefer und tiefer beugte er sich über den Strohsack, strich mit den Händen fahrig darüber hin und murmelte in abgerissenen Tönen verzweifelt: »Das kann nicht sein ... Das ist Trug der Sinne ... Ich traf ihn dreimal... Er schlief wie ein Stein ... Wo ... Wo ... ist er!« »Hier!« sagte Roland scharf, sprang ihn an und packte ihn an beiden Armen. Überraschend schnell faßte sich Hellmer, der doch mit diesem Angriff überhaupt nicht gerechnet hatte. Die Berührung schien ungeheure Kräfte auszulösen. Vielleicht hatte ihn Roland auch nicht kräftig genug angefaßt. Jedenfalls schleuderte der Mörderwirt den Ritter mit einer heftigen Bewegung seines Oberkörpers von sich. Dabei ließ er das Öllämpchen los. Es fiel auf den Strohsack. Hellmer wirbelte herum. »Da ist er!« schrie er, und seine Haare sträubten sich. Er glaubte, Roland sei mit finsteren Mächten im Bunde. Anders konnte sich der einfältige Waldmensch dessen Überleben nicht erklären. Aber der Aberglaube lahmte ihn nicht, sondern verdoppelte eher seine Kräfte. Als sie miteinander rangen, bekam Roland es zu spüren. Der Griff des Mörders war wie ein Schraubstock. Die Luft wurde ihm knapp. Vor seinen Augen tanzten bunte Flecken. Roland röchelte. Er angelte nach Hellmers Beinen, bekam einen Fußknöchel in die Hände und riß ihn scharf nach vorn. Hellmer grunzte wütend und stürzte nach hinten. Mit dem Kopf schlug er gegen die Bettkante und war für den Augenblick betäubt. Sein Griff lockerte sich. Roland nutzte diesen Glücksfall sofort aus und setzte dem Gegner das Knie auf die Brust.
Bei Hellmers Sturz war das Öllämpchen umgefallen. Die kleine Flamme entzündete den trockenen, dünnen Überzug der Bettauflage und das festgepackte, ausgedörrte Stroh. Als Roland sich mit dem Oberkörper über den Gegner warf, schoß ihm eine heiße Stichflamme entgegen. Aufschreiend prallte Roland zurück. Schon stand das Bett in hellen Flammen, die bis an das niedere Dach loderten. Sie griffen in Windeseile auf einen Stapel Reisig über, der neben dem Bett aufgehäuft war. Rot, grellgelb, purpurn und orange waberte es stechend, beißend, brennend vor Rolands Gesicht. Wenige Herzschläge noch, und die ganze Herberge würde ein Feuermeer sein! Nur wie einen dunklen Schemen nahm Roland noch die Gestalt des hingestreckten Mörderwirts in dem züngelnden Schwall des Feuers wahr. Die Hitze brannte ihm ins Gesicht, wollte ihm in die Augen stechen. Er kniff die Augen zu, bückte sich und griff nach Hellmers Beinen. Ein prasselnder Krach! Das Dach kam herunter. Klafterhoch schossen die Flammen wie Fackeln beim Osterfeuer. Roland mußte loslassen. Er schlug die Arme vors Gesicht und wandte sich um. Die Wand bekam einen Riß. Wieder glaubte er, keine Luft mehr zu bekommen - wie vorhin unter dem eisernen Zugriff des Mörders. Ringsum krachte, knallte und prasselte es. Die Flammen züngelten nach Rolands Körper. Halb erstickt floh er durch den Riß der Wand. Balken, Feuerstöße und zerbrochene Dachsparren flogen hinter ihm her. Manche trafen seinen Rücken wie Huftritte. Hinter sich hörte er einen gräßlichen Schrei. Wie von selbst trugen ihn seine Füße über zerbrechenden Fußboden, durch Flammen und Schutt ins Freie. Ein Blick zurück belehrte ihn, daß es für Hellmer, den Waldmörder, keine Rettung mehr gab. Er verbrannte an der Stätte seiner bisher ungesühnten Untaten. Die kalte Nachtluft war belebend. Aber Roland gönnte sich keinen
Augenblick der Ruhe und des Atemholens. Er rannte zum angrenzenden Stall. Samum! Würde auch der edle Araber den Feuertod erleiden? Das Herz krampfte sich Roland bei diesem Gedanken zusammen. Dann fiel ihm ein, daß er ihm vorhin den Sattel abgenommen und ihn nicht angeleint hatte. Im gleichen Augenblick, da er die Stalltür von außen öffnete, schlug Samum von innen mit den Vorderhufen dagegen. Das erschrockene Tier stand hoch aufgerichtet über Roland. Der machte einen schnellen Satz zur Seite, als Samums Vorderbeine herunterkamen. Ein Huf streifte seine Schulter. Dann schoß Samum wie ein Pfeil aus dem Stall. Er floh meilenweit, und Roland stolperte die halbe Nacht durch den Wald, ehe er das furchtgepeinigte Tier wiederfand. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Flammen ihr grausiges Werk schon lange vollbracht. Nur eine dünne Rauchsäule kündete noch von dem Geschehen. Langsam stieg sie im Süden aus den Baumwipfeln empor und mischte sich mit dem grauen Morgennebel. Zitternd und schnaubend empfing Samum seinen Herrn. Unruhig tänzelten die Hufe auf der Stelle. Die Nüstern blähten sich. Roland legte seine Wange an den schöngeformten Kopf des Rappschimmels, klopfte ihm den schlanken Hals und sprach beruhigend auf ihn ein. Unendliche Zärtlichkeit erfüllte sein Herz. Heide hatte auch aus der Ferne schützend die Hand über ihn gehalten! * Zwei Tage waren seit Rolands Begegnung mit dem Mörder und seiner knapp gelungenen Flucht vor dem Brand vergangen, als er die Zeugin Haggans kennenlernte. Sie empfing ihn vor dem Kamin der Burg Atzerath. Außer bei Königin Ginevra hatte der junge Ritter noch nie so kostbare Frauenkleidung, so prächtige Haarfrisur und so würdevolle Haltung erblickt. Kaum wollte ihm ein Wort der Begrüßung über die
Lippen, als Ritter Lutz ihn der schönen Dame vorstellte. Sie reichte ihm eine ringgeschmückte, kühle, schlanke Hand, die er ehrfürchtig an die Lippen führte. »Ich lasse Euch jetzt allein«, hörte er wie in weiter Ferne Lutz sagen. Dann sank er in den Sessel, auf den die Dame deutete. Seine Augen hingen an diesem großflächigen, stolzen Gesicht, dem schlanken weißen Hals und dem Ansatz des schwellenden Busens, den ihr Mieder freiließ. Sie waren allein. Sie sagte, und ihre Stimme war volltönend wie Musik einer Geige: »Ich bin Griseldis, die Witwe. Oh, Ritter Roland, vergebt es einer unglücklichen, zutiefst leidenden Frau, daß sie Euch aufsucht! Ich habe oft Eure Taten rühmen hören. Man schilderte mir Eure Erscheinung. Und ich erfuhr von dem Auftrag, den unser gnädiger König Euch erteilte. Da hielt es mich nicht mehr in meiner Kemenate. Ich ließ nach Euch forschen. Und als ich von Ritter Lutz vernahm, daß Ihr auf Atzerath weilt, bat ich ihn inständig, mich zu Euch zu führen.« Roland errötete, denn er bemerkte, daß sie ihn von Kopf bis Füßen aufmerksam musterte. Ein wollüstiger Schauer rann durch seine Adern. Verlegen fuhr er sich mit der Hand über das Kinn. Und verlegen sagte er: »Haggan behauptete ...»Heftig unterbrach ihn die Frau, die sich als Griseldis vorgestellt hatte und in Wirklichkeit deren Zofe Velma war: »Sprecht mir nicht von Haggan. Mit diesem bösen Mann begann all mein Unglück!« Erstaunt blickte Roland sie an. Seltsame Worte aus dem Mund einer Frau, die Haggan als Entlastungszeugin aufgeboten hatte! Um so gespannter lauschte er dem, was sie zu sagen hatte. Sie lächelte jetzt. Ein bittersüßes, ein schmerzlich tapferes Lächeln, wie es Roland schien. »Verzeiht einer Frau, daß sie nur aus dem Gefühl heraus urteilt! Vielleicht tue ich Haggan unrecht. Aber diese dunklen, bärtigen Typen mit den stechenden Augen und den rauhen Stimmen waren mir schon als Kind unsympathisch. Vielleicht lasse ich mich allzusehr vom Äußeren blenden. Aber wovon sprach ich?«
»Daß mit diesem bösen Mann all Euer Unglück begann«, half ihr Roland. »Ja, richtig. Er erwies sich als Unheilsbringer. Durch ihn lernte ich seinen Bruder Jorn kennen. Ihr müßt wissen, dieser Jorn war Haggans Abgott. Er himmelte ihn an. Jorn hier, Jorn da. Jorn der Edle, Jorn der Kluge, Jorn der Schöne, Jorn das Idol. Er schwärmte von ihm wie von einem Halbgott.« Rolands Augen hingen an ihren vollen, sinnlichen Lippen. »Kein Wunder«, fuhr sie fort und senkte die langen, seidigen Wimpern, »daß ich unerfahrenes Mädchen mich unsterblich in Jorn verliebte, als ich ihm endlich begegnete. Er war blond - wie Ihr, Roland. Und ich sah ihn mit Haggans Augen, der ja von seinem Bruder verblendet war. All das Edle, Kluge, Schöne, von dem Haggan mir erzählt hatte, meinte ich in Jorn zu finden. Ehe ich mich versah, war ich seine Frau.« Sie schlug die Augen auf und sah ihn voll an. Wieder errötete der Ritter. »Schon nach wenigen Wochen fand ich zu meinem Leidwesen heraus, daß er ein elender Blender war. Er hatte mich, Haggan und alle Welt getäuscht. Ein Mann, dessen Stimme und Rede wie Honig waren, doch seine Gedanken waren Gift. Ein Schauspieler, der seinen schlechten Charakter hinter einer Maske zu verbergen wußte. Wißt Ihr, warum er mich überhaupt zum Weibe nahm?« »Das ist nicht schwer zu erraten, Griseldis«, platzte Roland heraus. »Es gibt im ganzen Land schwerlich ein schöneres Weib, als Ihr es seid.« Sie schlug scherzhaft mit ihrem Fächer nach ihm. »Roland, Schmeichelei steht Euch schlecht zu Gesicht. Die Wahrheit ist, daß Jorn sich aus Frauen kaum etwas machte. Er verbrachte die Nächte lieber mit seinen Knappen. Ihr versteht, was ich meine?« Roland nickte. Das waren ja unerhörte Neuigkeiten! Sie klangen fast unglaublich. Doch da Jorns Frau es selber sagte, so mußte es wahr sein. »Er hatte mich geheiratet, weil... Das Wort will mir schwer über
die Lippen. Ich habe auch seit seinem Tod mit niemandem darüber gesprochen. Aber vor Euch will ich kein Geheimnis haben. Jorn heiratete mich aus Habgier!« Roland schüttelte den Kopf. »Wie das, Griseldis?« »Er hatte erfahren, daß sein Vater Greif ein Testament geschrieben hatte. In aller Heimlichkeit suchte Jorn danach, fand es und las es. So erfuhr er, daß Greif seine Burg dem seiner beiden Söhne vererbte, der als erster heiratete! Dies hat mir Jorn selber gestanden, Roland! Und daß er es gerade auf mich abgesehen hatte, hatte seinen Grund darin: Ich bin die Lieblingsnichte der Königin Ginevra. Davon erhoffte er sich als mein Ehemann weitere Vorteile. Als Mensch, als Frau, als Charakter, als Wesen, als Seele war ich ihm gleichgültiger als der letzte seiner Jagdhunde. Ich war ihm nur das Werkzeug, das ihm zu Besitz und Vermögen verhelfen sollte!« Unwillkürlich ballte Roland die Fäuste. Welch ein fluchwürdiger Mann war dieser Jorn gewesen! Und welch ein Unglück für Griseldis, daß sie ihr Schicksal mit dem seinen vereinte! Doch noch so vieles blieb unklar ... »Sprecht weiter! Als sein Vater starb ...« »Oh, welch ein unheilvoller Tag! Dieser gütige, freundliche Mann, dessen wohlmeinende Absichten so ins Gegenteil verkehrt wurden!« »War Greif lange krank, bevor der Tod ihn erlöste?« fragte Roland. Griseldis schlug die Hände vors Gesicht. »Krank? O ja, er war krank! Er siechte dahin! Es war schrecklich mitanzusehen, wie er täglich mehr von Schmerzen geplagt wurde, wie er abmagerte und jede Farbe verlor. Aus dem lebensprühenden Alten wurde ein bleiches Gespenst.« »Und die Natur seiner Krankheit?« »Ich kenne sie sehr wohl. Einer von Jorns Knappen gestand mir, woran Greif litt. Leider viel zu spät, als er schon Wochen im Grab lag. Jorn hatte den Knappen bestochen, dem Alten Gift ins Essen zu mischen. Gift, Roland! Der Sohn dem Vater! Gift, mit dem sie Ratten töten! Ich warf mich schreiend zu Boden, als ich es erfuhr. Ich wollte Jorn nie wiedersehen. Ich
verschloß ihm mein Gemach. Nun, er hatte sowieso wenig Sehnsucht nach mir. Ihr wißt ja, er zog die Körper seiner Knappen den zärtlichen Armen seiner Gattin vor.« Roland starrte sie entgeistert an. Er war wie vor den Kopf geschlagen. Was hatte diese Frau durchgemacht! An der Seite einer solchen Bestie zu leben! »Doch das Schrecklichste ...« Griseldis stockte. »Das Schrecklichste?« fragte Roland. Die Schultern der schönen Frau ihm gegenüber begannen zu zucken. Ein erstickter Laut wurde hörbar. Unschlüssig schaute Roland zu ihr hin. Noch immer verdeckte sie mit den Händen das Gesicht. Ihr ganzer Körper wurde wie von einem Krampf geschüttelt. Sie schluchzte laut. Roland sprang auf, eilte zu ihr hinüber, kniete neben ihr nieder und strich ihr schüchtern über das reiche Haar. »Beruhigt Euch, Griseldis! Es ist ja alles längst vergangen ...« Er wußte nicht, wie lange Zeit verstrich, ehe Griseldis sich faßte. Und er bemerkte auch nicht, daß sich in dieser Zeit die Tür leise, öffnete. Heide war es, die auf der Suche nach Roland zufällig hierhergeraten war. Wie versteinert blieb sie bei dem Anblick auf der Schwelle stehen. Ihr Geliebter kniete vor der fremden Frau und strich ihr zärtlich übers Haar! Und jetzt nahm die Frau Rolands Hand in die ihre und zog sie an ihren Busen! Heides Augen verdunkelten sich. Das Zimmer begann, um sie zu kreisen. Eine eiskalte Hand umklammerte ihr Herz. Furchtbare Angst erfaßte sie, sie könne ohnmächtig werden. Nur das nicht! Mit letzter Kraft unterdrückte sie den Schrei, der ihr auf den Lippen lag, zog sich lautlos zurück, lehnte von außen die Tür an und floh in ihr Zimmer, wo sie sich, von lautlosem Weinen geschüttelt, aufs Bett warf. Die beiden Menschen im Zimmer hatten nichts von alldem bemerkt. Griseldis streichelte Rolands Hand und sagte gefaßt: »Es tut so wohl, einem Mann zu begegnen, der nicht nur ein tapferer
Kämpfer ist, sondern auch Mitgefühl mit den Leiden einer schwachen Frau hat. Ach, Roland, Ihr wißt gar nicht, wie Ihr mir helft!« Plötzlich wurde es Roland bewußt, daß sie sich in einer verfänglichen Situation befanden. Er kniete wie ein Liebhaber vor der Frau und spürte ihr Herz klopfen, denn seine Hand lag auf ihrer Brust! Wenn sie jemand so überraschte! Lutz, Haggan, ein Diener! Oder gar Heide! Niemand würde ihm glauben, daß alles ganz harmlos war. Und doch hatte reines Mitgefühl ihn getrieben, ihre Hand zu ergreifen. Und nur die natürliche Hoffnung auf Beistand in tiefem Unglück bewog Griseldis - dessen glaubte er sicher zu sein -, ihn zu streicheln und ihr vornehm schönes Gesicht dem seinen so zu nähern, daß sich ihre Lippen beinahe berührten. Sanft löste sich Roland von ihr. Er sah ihren Blick, in dem er Trauer, aber auch Vertrauen las und den er dennoch nicht ganz zu deuten wußte. Dann nahm er in sicherem Abstand auf dem Sessel Platz, den sie ihm zu Beginn der Unterredung angeboten hatte. »Was geschah weiter?« fragte er eifrig. Sie seufzte tief. Als sie wieder sprach, überschlugen sich ihre Worte. »Ich stellte Jorn zur Rede. Er gab den Mord an seinem Vater nicht zu, leugnete ihn aber auch nicht ausdrücklich ab. Er hohnlachte mir ins Gesicht. Nach einer Weile aber wurde er zornig und befahl mir, mich aus allen Männerangelegenheiten, wie er es nannte, herauszuhalten. Die gingen mich nichts an. Er drohte mir auch: >Noch ein Wort, und es wird dir übel ergehen!< Dabei glänzten seine Augen hinterhältig. Nach diesem Gespräch war jede gemeinsame Tafel für mich eine Qual. Ich wagte kaum, einen Bissen zu mir zu nehmen. Mit tiefem Mißtrauen betrachtete ich die Knappen, die in der Halle mit uns zu Tische saßen. Argwöhnisch folgte ich den Handreichungen der Diener. Wer unter ihnen würde mir Gift ins Essen mischen?« Sie schwieg, wie überwältigt von der Last so schauerlicher Erinnerungen. »Einige Tage später kam Haggan. Irgendwo in der
Fremde hatte ihn die Nachricht vom Tod seines Vaters erreicht. Er schien tief bestürzt. Viele Stunden verweilte er am Grab. Sein Schmerz um den alten Greif war groß und echt. Dennoch betrachtete ich ihn mit Abscheu. Ich sah in ihm den Urheber allen Unglücks. Sicherlich tat ich ihm unrecht. Aber ohne seine Schwärmerei für Jorn wäre ich doch niemals dessen Frau geworden!« Roland räusperte sich. »Zürnte Haggan dem Bruder, daß er die Burg allein geerbt hatte? War er neidisch?« »Nein, gar nicht«, war die rasche Antwort. »Über diese Güterverteilung schien Haggan eher erfreut zu sein. Ein seßhaftes Leben als Burgherr wäre wohl seiner abenteuerlichen Veranlagung zuwider. Ihn lockten nur die Weite, die Ferne, das Unbekannte. So war er froh, ungebunden und frei zu sein.« Roland nickte. Das konnte er sich gut vorstellen. Auch ihn trieben Fernweh und die Sehnsucht nach spannenden Erlebnissen durch die Welt. »Wie verlief es weiter?« fragte er. Sie schaute auf ihre Hände, die jetzt im Schoß lagen. »Ich kam auf einen unglückseligen Gedanken. Als ich mit Haggan allein war, erzählte ich ihm alles, was ich erfahren hatte. Die Wirkung war niederschlagend für mich. Meine Worte erregten seinen Grimm. Er schalt mich eine gemeine Lügnerin. So finster war sein Gesicht, daß ich mich vor ihm fürchtete. Ich merkte, wie es ihm in den Händen zuckte, mich zu schlagen. Doch 'er beherrschte sich, sprach aber während seines Aufenthalts kein Wort mehr mit mir. Er blickte durch mich hindurch, als sei ich nicht verbanden.« Sie zog ihr Spitzentaschentuch und betupfte die Augen. »Oh, ich weinte viel in jenen Tagen ...« »Ihr Ärmste!« »Ich hätte es besser wissen müssen! Haggan vergötterte doch Jorn! Jeder, der schlecht über seinen Bruder sprach, war sein Feind!« »Damit mußtet Ihr allerdings rechnen.« »Es kam noch schlimmer. Jorn erfuhr, daß ich ihn angeklagt hatte. Sobald Haggan abgereist war, sagte er es mir auf den Kopf zu. Er hatte wohl erkannt, daß ich ihm fortan gefährlich werden konnte.
Andererseits brauchte er mich noch für seine hochfliegenden Pläne, die er mir nach und nach enthüllte. Ich sollte ihm dabei helfen, das Vertrauen der Königin zu erringen. Weil ich ihre Lieblingsnichte bin, wollte Jorn ihr bevorzugter Ritter werden. Doch damit nicht genug! Ihr wißt, daß Artus oft monatelang unterwegs auf der Suche nach dem heiligen Gral ist. Eine solche Abwesenheit wollte Jorn ausnutzen, um die Krone an sich zu reißen und den rechtmäßigen König bei seiner Rückkehr ermorden zu lassen.« »Nein«, entfuhr es Roland, »das kann nicht sein!« Wieder schluchzte Griseldis tieftraurig auf, aber es klang gedämpfter. Dann gab sie sich einen Ruck. »Doch, Roland», so war es. Er selber prahlte vor mir mit diesem abscheulichen Vorhaben. Wie ein Pfau stolzierte er dabei auf und ab und brüstete sich mit seiner Schlauheit, der niemand im Königreich gewachsen sei. Es war unerträglich! Als er mich verließ, schloß er mich sorgfältig in meiner Kemenate ein. Ich fürchtete mich unsagbar ...« Roland beugte sich vor. »Man sagt, zu diesem Zeitpunkt sei Haggan nochmals zurückgekehrt, habe Euch allein angetroffen und verzeiht, daß ich den Punkt erwähne! - habe Euch mit Gewalt zur Liebe gezwungen. Danach ...« Griseldis hob die Hand, und Roland verstummte. »Ich habe keinen Anlaß, Haggans Partei zu ergreifen«, sagte sie in völliger Ruhe. »Ich mag ihn und seine Art heute noch weniger als zu Beginn unserer Bekanntschaft. Aber als ich vor kurzem erfuhr, daß man ihn solcher Verbrechen bezichtigt, faßte ich den Entschluß, ihn von den absurden Vorwürfen zu reinigen. Haggan mag alles mögliche sein - ein Leichtfuß, ein Draufgänger, ein häßlicher Kerl. Aber eins ist er bestimmt nicht: ein Verbrecher. Trotz aller Vorurteile, die ich gegen ihn hege, muß ich gestehen, daß er sich stets ritterlich benahm. Und das werde ich jederzeit freimütig bezeugen: Haggan ist ein Ritter vom Scheitel bis zur Sohle!« Die ruhigen Worte einer Frau, die nach eigenem Eingeständnis keinerlei Sympathien für den Gegenstand ihres Gesprächs verspürte, verfehlten ihren Eindruck auf Roland nicht. Dennoch beharrte er
darauf, ihr weitere Fragen zu stellen. »Wie erklärt Ihr dann den Mord an Eurem Gatten Jorn und der Zerstörung seiner Burg? Beides legte man bisher Haggan zur Last.« »Das ist leicht zu beantworten, Roland. Zwei von Jorns Knappen hatten seine Gunst in jeder Hinsicht besonders genossen. Auf einmal zog er seine Hand von ihnen ab und wandte sich einem dritten zu. Die beiden muckten eifersüchtig auf. Da entließ er sie aus seinem Dienst. In seiner Habgier ließ er den beiden ehemaligen Lieblingen nicht einmal Pferd und Rüstung und verweigerte ihnen den aufgelaufenen Sold. Sie zogen murrend von dannen, trafen sich insgeheim und verschworen sich zu gemeinsamer Rachetat. Als Jorn unbewaffnet im Wald nahe der Burg einherwandelte und über seinen Plänen grübelte, überfielen sie ihn und erschlugen ihn wie einen tollen Hund. In der darauffolgenden Nacht legten sie Feuer an die Burg, ehe sie für immer verschwanden. Das ist die ganze Geschichte. »Und wie«, wollte Roland wissen, »entkamt Ihr dem zerstörenden Brand?« »Ich war schon einen Tag zuvor aus meinem Gefängnis entwichen, Ritter Roland. Auf die einfachste Weise der Welt! Ich besaß, was Jorn wohl vergessen hatte, ein zweites Bund aller wichtigen Schlüssel!« Roland sprang erregt auf. Mit langen Schritten kreuzte er mehrmals das Gemach. Er glaubte der falschen Griseldis jedes Wort. Und so wurde er zum ersten Mal an seinem Auftrag irre. Schließlich blieb er vor der schönen Betrügerin stehen und sagte ernst: »Hier liegt offenbar ein großes Mißverständnis vor. Am Hofe des Königs hält man Haggan für einen Schwerverbrecher und gemeingefährlichen Hochverräter. Ich habe deshalb den Auftrag erhalten, ihn tot oder lebendig nach Camelot zu bringen, wo es ihm gelang, dem Verlies zu entfliehen. Und nun erfahre ich, daß er ein Ehrenmann ist!« Griseldis neigte würdevoll das Haupt - eine Bewegung, die ihre ganze Schönheit zum Ausdruck brachte. »Irgendwie spürte ich es seit langem«, gestand Roland. »Bei
mehreren Gelegenheiten erwies sich Haggan, den man mir als Inbegriff aller Schlechtigkeit geschildert hat, als fairer Gegner, so daß mein Herz ihm keine ruchlose Tat zutrauen wollte ...« »So kehrt nach Camelot zurück, und berichtet dem König, daß er im Irrtum befangen ist!« rief die Frau leidenschaftlich. »Vertraut Eurem Herzen und ...« Leise schloß sie: »... Und mir!« »Aber wer wird mir dort glauben?« sagte Roland traurig. »Weiterhin spricht der Schein gegen Haggan. Von Camelot aus sehen Dinge und Menschen anders aus als auf Atzerath. Er hat doch mächtige Feinde ...« »Der alte Wilhelmus«, sagte Griseldis dumpf. »Auch das wißt Ihr?« Sie nickte - und wieder betörte die schöne Würde dieser einfachen Kopfbewegung Rolands Auge, so daß er nie an einem Wort von ihr zweifeln würde. Plötzlich kam ihm ein rettender Gedanke. »Kommt mit mir nach Camelot! Und sagt dann vor dem versammelten Hof oder vor der Tafelrunde aus, was Ihr mir eben anvertrautet!« »Nein.« Sie schüttelte leicht den Kopf. »Erlaßt es mir, ein zweites Mal all das Schreckliche, das mir widerfuhr, aufzurühren! Und dann gleich vor so vielen Personen! Es triebe mir die Schamröte ins Gesicht, mein Geschick allen darzulegen. Bei Euch war es etwas anderes.« Sie ergriff seine Hand. Ein paar heuchlerische Tränen hingen an den langen Wimpern. »Ihr seid so gut. Ihr seid so stark. Ihr seid ein Mann, dem eine Frau bedingungslos vertrauen kann.« »Aber«, wandte Roland ein, »wie soll dann Haggan seine Unschuld beweisen?« »Ich schrieb einen Brief an meine Tante, die Königin. Mit ihm als Unterpfand kann er sich beruhigt nach Schloß Camelot wagen. Sie wird nicht zweifeln an dem Wort ihrer Lieblingsnichte.« Roland seufzte erleichtert auf. Eine Zentnerlast war ihm von der Seele genommen. Morgen würden sie reiten ... Auf dem Weg in sein Quartier begegnete ihm Omar, der Junge aus
dem Morgenland. »Oh, Ritter Roland!« Der schwarzhaarige Kleine stürzte auf ihn zu. »Unglück! Extraprima Unglück! Deine Braut...»Roland stockte das Herz. Er packte den Jungen bei den schmalen Schultern. »Sprich, was ist mit Heide?« * Als Heide das Gemach verließ, in dem sie unbemerkt Roland und die schöne fremde Frau überrascht hatte, war sie einer Ohnmacht nahe. Sie wankte durch den Gang und mußte sich mehrmals an der Wand abstützen. Ihr Körper war wie Eis. Dauerte es eine Viertelstunde? Waren es nur ein paar Augenblicke? Sie wußte nicht mehr, wie sie in ihr Zimmer zurückgefunden hatte. Sie lehnte am hohen, schmalen Fenster, und ihre Augen waren blind vor Tränen. Ihr war, als müsse sie sterben. Wie schmählich hatte der junge Ritter ihre Liebe verraten! Wie niederträchtig hatte er sie getäuscht! Es drückte ihr das Herz ab. Nur langsam wichen die Schleier vor ihren Augen. Draußen prangte der kurze Wintertag in gleißender Helligkeit. Die Sonne verwandelte das Eis des Baches, den Schnee auf Wiesen und Wald in gleißendes Silber. Im Außenhof übten einige Knappen ihre Fechtkünste. Am Waldrand stand witternd ein Rudel Rehe. Wie- schön war die Welt - und wie schwer zu ertragen! Heide setzte sich an das schmale Pult vor dem Fenster und stützte den Kopf mit den langen hellen Haaren in die Hände. Ihre Gedanken waren eine Kette von Entschlüssen, die sie in größter Schnelligkeit faßte und nach kurzem Besinnen wieder verwarf. So verging einige Zeit, in der ihr schönes, feines Gesicht allmählich einen trotzigen Zug bekam. Sie stand auf, trat vor die Tür und bat einen Pagen um Schreibzeug. Als sie später den Federkiel in die Tinte tauchte, brauchte sie nicht mehr zu überlegen. Ihr Mädchenstolz hatte die Oberhand über
Schmerz und Kränkung gewonnen. »Lieber Roland« schrieb sie oben auf das Blatt, während sie ein letztes Schluchzen niederkämpfte, das ihr in die Kehle stieg ... * »Was ist mit Heide?« fragte Roland ungeduldig. Omar wand sich in seinem heftigen Griff. »Du tun mir weh! Loslassen!« Mühsam beherrschte Roland seine Aufregung. Sein Griff lockerte sich. »Dann sprich!« »Heide weg aus Burg! Heimlich!« »Wann?« stieß Roland hervor. »Eine Stunde vergangen.« Eine Stunde! Vor einer Stunde war er bei Griseldis gewesen. Und nichts hatte ihn gewarnt. Nicht das kleinste Zucken seines Herzens ... »Woher weißt du es?« »Ich nichts sehen. Reitknecht sagen: >Sie holen Pferd, steigen auf, dann weg!<« Roland zwang sich zur Ruhe. Das bedeutete gar nichts. Sicherlich unternahm sie nur einen Spazierritt. Er wollte ihr nach. Eine Handbewegung Omars hielt ihn auf. »Warten, Roland! Erst dies lesen!« Und er übergab ihm einen Brief. »Reitknecht bekommen von deiner Braut. Für dich.« Roland riß den Umschlag auf und las, während Omar sich taktvoll entfernte, erbleichend die wenigen Zeilen. »Lieber Roland, es war doch nicht die große Liebe! Für mich warst du ein Sinnenreiz, der nur wenige Tage anhielt. Verzeih mir oder verzeih mir nicht... Mir gilt es gleich. Mein Herz ist nun mal ein flatterhaftes Ding. Such nicht nach mir! Ich bin auf der Reise zu einem anderen Mann, für den ich mehr Leidenschaft empfinde als für Dich. Vergiß mich, wie ich Dich schon hinter der nächsten Wegkreuzung vergessen haben werde. Deine leichtfertige Heide.«
Roland hatte das Verlangen, seinen Schmerz und seine Enttäuschung laut hinauszubrüllen. War je einem Liebenden ein so gemeines Leid angetan worden, solange die Erde bestand? Doch dann entrang sich seiner Kehle nur ein qualvolles Stöhnen. Er entsann sich des schönsten, des ersten Tages ihrer Liebe. Er hatte noch Heides klare Stimme im Ohr, mit der sie ihm schwur: »Zweifle nicht, Roland! Zweifle niemals an mir! Ich bin dir so treu wie die Sterne dem Nachthimmel, so treu wie Blüte der suchenden Biene, so treu wie das geduldige Moos dem Tau...« Und das alles sollte Lüge sein? Die Lüge eines leichtfertigen, flatterhaften Mädchens? War der Schwur falsch? Wurden die Sterne dem Nachthimmel untreu - oder die Blüten der suchenden Biene oder das geduldige Moos dem Tau? Roland ballte die Fäuste und biß die Zähne so fest aufeinander, daß es knirschte, Er begriff es nicht. Wie konnte soviel Treulosigkeit hinter einer so reinen Stirn wohnen? Wie konnten so zärtliche Lippen so unmenschliche Lügen sprechen? Wie konnte er sich durch den Schein ehrlich blickender Lippen so gründlich hinters Licht führen lassen? Unwillkürlich hatte Roland das Blatt in seiner Hand zerknüllt. Als es ihm bewußt wurde, öffnete er mit plötzlichem Entschluß die geballte Faust, nahm das Papierknäuel heraus, glättete es, faltete es säuberlich zusammen und verwahrte es in der Brusttasche seines Wamses. Dann verbannte er für immer - so glaubte er - jede Erinnerung an Heide aus seinen Gedanken. * In einem anderen Teil der Burg empfing Ritter Lutz die falsche Griseldis, die in Wirklichkeit die Zofe Velma war. Wort für Wort berichtete sie ihm vom Ergebnis ihrer Unterredung mit Roland. »Dieser junge Tölpel schlürfte meine Sätze wie göttliche Verkündungen«, sagte sie lachend. »Ich hätte ihm auch erzählen können, daß sein Vater ein Strauchdieb und seine Mutter eine Hure
gewesen sei. Ich glaube, sogar das hätte diese heilige Einfalt für bare Münze genommen, und fortan hätte er seine Eltern wie billiges Geschmeiß verflucht.« »Da kannst du recht haben«, sagte Lutz lachend. »Nun, und hast du deinen Vorsatz wahrgemacht, Roland zu verführen?« »Das wäre mir nicht schwergefallen, glaubt es mir, Ritter! Solche jungen Springer wickle ich um den Finger. Aber ich mochte es nicht. Etwas an ihm stieß mich ab. Der Bursche hat keine Zukunft. Um ihn ist eine Atmosphäre ... Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll... Die Atmosphäre des Todes. Ja, das ist es. Er ist ein Kerl, der über kurz oder lang in den Tod stolpern wird. Solche Männer schrecken mich ab. Ich halte mich fern von ihnen. Mir gefallen Männer mit Zukunft besser.« »Denkst du an einen bestimmten Mann mit Zukunft?« fragte Lutz und sah sie lauernd an. Genau wie bei ihrer ersten Begegnung fühlte Velma, daß sie in seiner Gegenwart zu Wachs wurde. »Und an wen?« fragte er weiter. »Sag es!« Sie verschoß auf ihn jenen Blick, der in der Kleinstadt Rivage die Männer reihenweise zum Erliegen brachte. Sie sagte: »Könnt Ihr einen ...?« »Ach, halts Maul!« unterbrach er sie rauh. »Ich will's gar nicht wissen.« Er stapelte einen Haufen Münzen auf den Eichentisch. »Hier ist dein versprochener Lohn. Zähl nach!« Ihre gierige Hand war schon auf dem Weg zuzugreifen. Aber im letzten Augenblick besann sie sich anders. Mit spitzen Fingern schnippte sie die Münzen auseinander. »Das soll mein Lohn sein? Das ist mir zuwenig!« »So war es ausgemacht!« polterte er. Nach den lauten Worten wurde es still im Gemach. Aufmerksam betrachtete Lutz die Frau, mit deren Hilfe Haggan und er den Ritter Roland in ein namenloses Unglück stürzen wollten. Hinter dem hoheitsvollen Äußeren, das die vornehme Dame vorspiegelte, hatte er schon gleich die sinnenlustige und gewöhnliche Dirne gespürt,
und diese Mischung gefiel ihm und schmeichelte seinen Sinnen. »Nimm das Gold, oder laß es bleiben!« sagte er schließlich. Aber jetzt war seine Stimme nur gemacht gleichgültig. Plötzlich riß er Velma in seine Arme. Während sie ihren verführerischen Körper in schnell wachsender Sinnengier an seinen drängte, wußte sie, daß sie ihrem Ziel, Herrin auf Burg Atzerath zu werden, ein großes Stück näher gekommen war. Gleich darauf taumelten sie ineinanderverschlungen aufs Bett, und außer schnellen Atemzügen und gelegentlichen Seufzern war nichts mehr zu hören. In Velmas Schoß begründete Lutz die Zukunft der verruchten Burg Atzerath. * Es war ein heiterer Tag, an dem Roland den Ritt in das fürchterlichste Schicksal antrat, das je einen Ritter erwartet hatte. Und er war zuversichtlich gestimmt, weil Haggan ihm das heilige Ritter-Ehrenwort gegeben hatte, auf dem Weg nach Camelot keinen Fluchtversuch zu machen. »Ich betrachte mich als Euer Gefangener«, sagte er. »Aber ich folge Euch ohne Furcht vor des Königs strengem Antlitz. Das ausführliche Schreiben, das mir Griseldis mitgab, wird mich von jeder Schuld entlasten. Und danach hoffe ich, daß wir beide noch manches Abenteuer gemeinsam bestehen werden - aber von nun an als Freunde.« »So sei es«, sagte Roland ernst. Omar begleitete sie, und Roland bemerkte mit Freude, wie väterlich und gütig Haggan den kleinen Morgenländer behandelte. Ein Knappe von Lutz vervollständigte den kleinen Trupp. Dieser Knappe, der Konrad hieß, kannte sich von früheren Ausflügen hervorragend in der Gegend aus. Mal ritt er an der Spitze, mal tat es Haggan, der ebenfalls gut Bescheid wußte. Die beiden hielten im allgemeinen eine nordwestliche Richtung ein und hofften, am dritten Tag die Waldburg zu erreichen, wo man ausgezeichnet rasten konnte.
Unterwegs dachte Roland oft an Heide. Wenn sich ihr süßes Gesicht vor sein inneres Auge drängte, gab es ihm immer einen feinen Stich im Herzen. Aber er wußte ja nun, daß sie einer großen, dauerhaften Liebe nicht fähig war. Er mußte sie vergessen. Es gefiel ihm, daß Haggan und Omar sie mit keinem Wort erwähnten. Zuweilen, wenn der Weg recht deutlich vor ihnen lag, ließ Roland seinen Rappschimmel nach Herzenslust laufen. Dann blieben die Gefährten weit hinter ihm zurück. Als er wieder einmal so allein über die leicht gewellte Ebene dahinjagte, hörte er vor sich lautes Geschrei. Es klang nach einem heftigen Streit. Unverzüglich ritt er auf die Stelle zu. Bald sah er die streitende Gruppe nahe einem großen zugefrorenen Teich. Ein vierschrötiger Ritter mit rotem Zottelhaar führte das große Wort. Umringt von einigen Begleitern schalt er in lauten Tönen drei abgerissene arme Bauern, die schlotternd vor dem zornigen Mann standen. Auf einen Wink des rothaarigen Ritters ergriffen seine Begleiter die Bauern und fesselten sie an drei Pappeln. Der Ritter zog seine Reitgerte und versetzte dem ersten einen Schlag über den Kopf. Mannhaft verbiß sich der Bauer den Schmerz. Kein Laut kam über seine Lippen. Das vermehrte die Wut des aufgebrachten Ritters. Er warf die Reitgerte weg und zog sein Schwert, um mit der flachen Seite auf den Gefesselten einzuprügeln. Schon beim ersten Schlag wurde das Opfer ohnmächtig. In diesem Augenblick erreichten Roland und Samum den Schauplatz. »Was geht hier vor?« rief der Neuankömmling. Der rothaarige Ritter fuhr herum. Seine Begleiter scharten sich enger um ihn. Die beiden Bauern, die noch bei Bewußtsein waren und mehr tot als lebendig in ihren Fesseln hingen, schöpften Hoffnung und flehten Roland um Beistand an. Der Ritter war nur einen Augenblick verblüfft. Dann fuhr er Roland in derben Tönen an, wie der sie auch bei Kämpfen auf Tod und Leben noch nie aus dem Mund eines Ritters vernommen hatte.
»Scher dich weg, krummbeiniger Scheißer!« brüllte der rothaarige Zottelkopf. »Niemand hat dich Schafsnase gebeten, diesen Grund und Boden mit deiner dämlichen Erscheinung zu verpesten. Solche Arschlöcher wie du pflege ich von den Mägden meiner Frau auf die Wäscheleine hängen zu lassen, damit sie trocken hinter den Ohren werden. Aber wenn du zugucken willst, wie hier Recht geübt wird, dann halte dein ungewaschenes Dreckmaul, und zahl erst mal 20 Dukaten Eintritt!« Und ohne Roland weiter zu beachten, trat er auf den zweiten Bauern zu und holte mit dem Schwert aus. Mit einem Riesensatz war Roland aus dem Sattel und riß den Rotkopf an der Schulter herum. »Mensch, schämt Ihr Euch nicht, Wehrlose halb totzuschlagen? Ist das ritterlich?« »Du verlauster Affe!« schäumte der andere. »Hier geschieht, was ich bestimme. Mach, daß du Land gewinnst, du Wildschwein!« Allmählich wurde auch Roland von Zorn ergriffen. Er wollte seinem Gegner die Faust zu spüren geben. Aber da sprangen dessen Begleiter zwischen ihn und ihren Herrn und baten, Frieden zu halten. Der Älteste, der auch am ehesten vertrauenerweckend aussah, sprach Roland an: »Wer Ihr auch seid, Ihr müßt wissen, daß Ihr auf dem Land dieses Ritters steht.« Er wies auf den Rotkopf, der sich in die Brust warf und ein bärbeißiges Gesicht zog. »Ritter Gottlieb von der Waldburg ist ein gerechter Mann.« »Ja«, sagte Roland verächtlich. »Er prügelt Wehrlose und belegt Fremde mit unflätigen Schimpfwörtern.« Der ältere Mann lachte. »Das dürft Ihr nicht so schwer nehmen. Für seine derbe Ausdrucksweise ist Ritter Gottlieb im ganzen Land berühmt und geachtet. Habt Ihr noch nie vom Groben Gottlieb gehört? Das ist er. Er beschimpft Gott und die Welt, und alle mögen es gern, weil es besser klingt als die heuchlerischen Phrasen der Höflinge.« »Ich liebe es aber gar nicht, von ihm Arschloch genannt zu werden«, verwahrte sich Roland. »Seid doch nicht so empfindlich! Uns hat er schon hundertmal
schlimmere Namen gegeben, und wir nahmen es ihm nicht übel. Das ist so seine kernige, erdverbundene Natur. Der Grobe Gottlieb ist ein Mann von altem Schrot und Korn, wie das Volk es gern hat. Ihr solltet einmal hören, wenn er seine Frau beschimpft. >Du hergelaufene dumme Kuh, du schweißfüßige Vettel, du hirnverbranntes Luder!< So traktiert er sie Tag für Tag. Und sie ... Sie läßt sich's gern gefallen und liebt den Groben Gottlieb um so mehr, je gröber er sie beschimpft.« Bei der Vorstellung, eine Rittersfrau fühle sich durch unflätige Beleidigungen ihres Gatten geschmeichelt und liebe ihn nur um so inniger, mußte Roland unwillkürlich lächeln. Doch nach einem Blick auf die aschfahlen Gesichter der Bauern verging ihm der kurze Anflug von Fröhlichkeit. »Bindet die armen Kerle los!« rief er. Der Grobe Gottheb verwünschte ihn: »Stopft denn keiner diesem streunenden Drecksköter das Maul?« fragte er und schaute sich gekränkt unter seinen Begleitern um. Wieder legte sich der ältere Mann ins Zeug. Er setzte Roland in ruhigen Worten den Fall auseinander. Danach also waren die drei Bauern ergriffen worden, als sie Löcher in den zugefrorenen Teich hackten, um nach Fischen zu angeln. Erwartungsvoll sah der Mann nach dieser Erklärung Roland an. Aber der begriff nicht. »Und worin besteht ihr Vergehen?« wollte er wissen. Das Gesicht des Groben Gottlieb wurde so rot wie sein Zottelhaar, als er herausbrüllte: »Dieser beschissene Teich gehört mir, und die stinkenden Fische darin rührt mir keiner an, dem ich nicht den verdammten Auftrag dazu gab!« »Das ist gelogen«, verwahrte sich einer der Bauern. »Der Teich gehört Ritter Friedland, und er ermächtigte uns, jederzeit darin zu fischen.« »So - und du widerliches Stück Mist meinst also, ich lüge?« rief Gottlieb mit finsterem Gesicht und näherte sich drohend dem Sprecher, der verzweifelte Blicke auf Roland warf.
Der ältere Mann setzte nun Roland und den Bauern auseinander, warum sich die Besitzverhältnisse geändert hatten. »Gestern nacht gewann der Grobe Gottlieb im Kartenspiel dem Ritter Friedland 60 Dukaten und obendrein den Teich ab«, schloß er. »Demnach konnten diese drei Männer hier noch gar nichts davon wissen«, sagte Roland. »Unkenntnis schützt vor Strafe nicht«, meinte der ältere Mann gemessen. »Jedenfalls dulde ich nicht, daß die Leute geschlagen werden!« »Das duldest du nicht, du großmäuliger Hosenmatz und Scheißer?« ereiferte sich Gottlieb und wandte sein hochrotes Gesicht Roland zu. »Dann bezahl du mir doch den Schaden!« »Soweit ich sehe, ist Euch kein Schaden entstanden.« »Und die Löcher im Eis? Ich bin der Besitzer, und ich sage dir Hundsfott, daß jedes Loch zwölf Dukaten kostet!« Roland hatte bisher alle Beleidigungen in guter Haltung ertragen, aber sein Inneres bebte vor Wut. Er hatte seine Fäuste kaum noch in der Gewalt. Wenn er länger in das gemeine Gesicht des Groben Gottliebs starrte, würde er ihm bestimmt mitten hineinschlagen. Die Ankunft Haggans und der beiden Knappen bot ihm eine erwünschte Ablenkung. Er nutzte sie aus, schnitt den Bauern die Fesseln durch und sagte: »Geht rasch davon! Ihr seid frei!« Sie nahmen sich nicht einmal die Zeit, ihm zu danken, sondern machten, daß sie davonkamen. Sogar der dritte, der eben erst aus seiner Ohnmacht erwacht war, rannte über das verschneite Feld und hielt fast mit den beiden anderen Schritt. * Eine Stunde später befand sich die ganze Gesellschaft in Gottliebs niedriger, düsterer und ziemlich verwahrlosten Waldburg. Es schien, daß der Hausherr sich aus Respekt vor dem ihm gutbekannten Haggan jetzt gegenüber Roland zurückhielt. Bei einem Begrüßungstrunk hatte er sogar so etwas wie eine Entschuldigung
zustande gebracht. Sie lautete: »Ihr sollt verdammt sein und vom Teufel frikassiert werden, Ritter Roland, wenn Ihr mir meine derben Bemerkungen von vorhin übelnehmt. Ich habe zwar ein loses Mundwerk, aus dem nicht sehr viel Honig kommt, aber ich meine es gut mit Euch. Ihr seid ein richtig nettes Arschl... - und ich will Euer Kamerad sein. Habt Dir Lust zu einem ritterlichen Kraftspiel?« Roland nahm noch einen kräftigen Zug Branntwein, um seinen Zorn zu besänftigen. Dann sagte er: »Zu einem ehrlichen Kräftemessen stehe ich Euch und jedermann immer zur Verfügung.« Die Männer begaben sich in den Burghof. Die Branntweinkrüge wurden ihnen von Knechten nachgetragen. Gottlieb deutete auf einen fast halbmannshohen Findling, der in einer Ecke des Hofes stand. In sein oberes Ende war ein eiserner Griff eingemauert. Unbemerkt von Roland, warf der Grobe Gottlieb Haggan einen verschwörerischen Blick zu und sagte: »Ich fordere Euch heraus, junger Mann! Wer von uns beiden diesen Stein höher hebt, dem muß der andere sein Pferd geben.« Denn er hatte inzwischen mit Kennermiene den Wert von Samum abgeschätzt. Roland hatte sich zwar noch nie an einem so schweren Findling versucht, aber bei manchem Wettkampf im Steinstoßen auf den Burgen sehr gut abgeschnitten. Außerdem hoffte er, auf diese Weise dem Grobian eine gebührende Lektion zu erteilen. Also stimmte er sofort zu. Es wurde ausgemacht, daß jeder drei Versuche habe. Haggan und der ältere Mann sollten Schiedsrichter sein. Als Gast durfte Roland anfangen. Noch einmal reichte ihm ein Knecht einen Branntwein. Das Zeug fuhr durch die Knochen wie ein glühender Blitz. Er spürte es bis in den Magen. Nach diesem Trunk fühlte sich Roland stark wie Samson. Voll Zuversicht trat er an den Stein, packte den Eisenring und zog daran. Offenbar hatte er das Gewicht doch unterschätzt, denn den Stein rückte und rührte sich nicht. Er verdoppelte seine Anstrengung, doch das Ergebnis blieb das gleiche. Er ächzte, und seine Armmuskeln
wölbten sich wie Seilstränge durch die Haut, aber der Stein hob er nicht mal so hoch, daß man eine Feder hätte darunterschieben können. Verwirrt ließ Roland los und trat zurück. »Nicht schlecht für einen Rotzjungen«, sagte Gottlieb mit spöttischer Anerkennung. »Aber nun will ich Euch mal zeigen, wie ein Erwachsener mit diesem Kieselsteinchen umgeht!« Er fuhr sich mit den Händen durch das rote Zottelhaar und schritt selbstbewußt auf den Findling zu. Der ältere Mann stieß Roland sacht mit dem Ellbogen in die Seite und sagte: »Vom Groben Gottlieb könnt Ihr was lernen!« Roland konnte sich kaum vorstellen, daß sein Gegner mehr Glück haben sollte. Und er irrte sich nicht. Auch Gottlieb konnte den Stein nicht heben. Doch der Rotkopf grinste nur, ließ sich Branntwein reichen und rief: »Bin abgerutscht - glaubt es mir! Nun seid Ihr wieder dran ...« Er murmelte noch ein paar Silben. Roland glaubte, mit feinem Gehör zu vernehmen: »... Elender Schlappschwanz!« und es schüttelte ihn innerlich vor Wut. Doch diesmal nicht wegen Gottliebs losem Maul, sondern wegen seines eigenen Versagens. Vor dem zweiten Versuch konzentrierte sich Roland sorgfältig. Jetzt packte er mit beiden Händen zu, ertastete den besten Griff am Eisenring, schloß die Hände, ging ein wenig in die Kniebeuge, atmete ruhig, stellte sich in Gedanken nochmals den Bewegungsablauf vor - und drückte ruckartig die Knie durch! Es riß ihm fast die Arme ab. Aber auch diesmal blieb der unregelmäßig gerundete Feldstein wie angewurzelt auf dem Boden ruhen, so sehr sich Roland auch mühte. Die Finger rieben sich wund. Die Handgelenke knackten bedenklich. Die Armmuskeln schwollen, als wollten sie platzen. Nichts half. In seinem Rücken hörte Roland ein hämisches Gelächter. Laut stieß er die angehaltene Luft aus den Lungen und ließ die steinerne Kugel los. Als er sich zu den Lachern umwandte, stritten Ärger und Beschämung in ihm und verschleierten seinen Blick, so daß er die
Gesichter nur wie durch einen wallenden Nebel sah. Da stampfte Gottlieb schon dicht an ihm vorbei. Er streifte ihn hart mit der Schulter - Zufall oder Absicht? Rolands Blick wurde klar. Scharf beobachtete er, wie Gottlieb sich an die Aufgabe machte. Bevor der zottelhaarige Burgherr in den Eisengriff faßte, lehnte er sich mit beiden Händen für kurze Zeit gegen den Stein. Dann trat er zurück und spuckte sich in die Handflächen. Nun straffte er sich ... Gleich darauf ging ein Raunen durch die Zuschauer. Die Knechte klatschten in die Hände. Der ältere Mann aus Gottliebs Begleitung rief: »Bravo! Wundervoll! Das ist der Sieg! Das macht Euch niemand nach!« Roland schaute, daß ihm fast die Augen aus dem Kopf fielen. Großmaul Gottlieb hatte das Kunststück vollbracht! Gut einen Drittel Klafter hatte er den Stein vom Boden hochgestemmt. Sein sowieso schon gerötetes Gesicht war purpurn wie der Kamm eines Hahnes. Man sah ihm an, daß er das letzte Quentchen Kraft einsetzte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe er den Stein herunterließ. Auch er stieß die Luft pfeifend aus. Völlig erschöpft lehnte er sich dann gegen den Findling, als würde er ohne diesen Halt umsinken. Doch der Augenblick der Schwäche ging rasch vorbei. Schon wandte er sich um und ließ sich von seinen Knechten und Begleitern feiern. Dann streckte er mit höhnisch einladender Gebärde die Hand zu Roland aus: »Nun zeigt uns noch einmal, daß Ihr statt Mark nur ranzigen Talg in den Knochen habt, Schlappschwanz von einem Vagabundenritter! Auf meinen dritten Versuch verzichte ich jetzt schon. Euer Pferd gehört mir, Bastard! Dröhnendes Gelächter belohnte diesen Beweis vom Humor des berühmten Groben Gottlieb. Rolands Blick traf auf Haggan, der etwas abseits stand. Haggan lachte nicht. Er zuckte die Achseln. Es war nicht unbedingt eine Geste, die Roland Mut machte. Aber alles war besser als dieses höhnische Lachen. Roland dachte an Samum, seinen Wetteinsatz. Der Hengst war für ihn so gut wie verloren ... Sein Herz krampfte sich zusammen. Der Gedanke schien ihm unerträglich. Aber doch gab er die Hoffnung nicht auf. Ihm war etwas an Gottliebs
Hebetechnik aufgefallen, das ihn stutzig machte. Soviel stärker als er konnte das Großmaul doch nicht sein! Mit unverhohlener Schadenfreude blickten Gottliebs Männer auf den jungen blonden Artus-Ritter, der sich nun zum dritten Mal dem widerspenstigen, rauhen Stein näherte. Dann hörte er deutlich die Stimme des Zottelkopfes heraus: »Seht euch das muskellose Waschweib nur an! Der sollte erst mal mit Sandkörnern üben, der beschissene Vagabund!« Wie vorher sein Gegner stützte sich jetzt auch Roland bedächtig mit den Händen gegen den Stein. Dann versuchte er, ihn zu drehen. Nach rechts. Nein, das ging nicht. Nach links? Sein Herz tat einen freudigen Sprung. Der Stein folgte gehorsam dem Druck seiner Hände. Ganz leicht ließ er sich drehen - nach links! Nun war Roland der Mechanismus klar. Gottlieb hatte ein falsches Spiel getrieben. Der Wettkampf war nicht fair. Er hatte den Gegner mit Tücke reingelegt. Der Stein war an einem im Hofboden eingelassenen Eisendorn verankert. In dieser Stellung war er selbst vom stärksten Mann der Welt nicht zu heben. Aber durch eine geringe Linksdrehung kam er von dem Dorn frei! Nun packte Roland den oberen Ring, ging in die Beuge und streckte abermals die Knie! Da endlich hob sich die ungefüge Steinkugel vom Boden. Höher und höher stieg sie. Und Roland lachte, so leicht erschien ihm plötzlich ihr Gewicht, an dem er doch vorher fast verzweifelt wäre. Zuletzt stemmte er sie mit weit ausgestreckten Armen über den Kopf. Eine dünne, fremdartige Stimme rief: »Roland Sieger!« Es war der kleine Omar aus dem Morgenland, und aus seinem Ruf klangen unverfälschte Freude und Begeisterung. Dagegen erschollen nun aus Gottliebs Mund die abscheulichsten Flüche und Schimpfwörter. In hemmungslosem Wortschwall verdächtigte er seine Begleiter: »Welcher Teufel hat ihm den Trick
verraten? Wenn ich den verruchten Satan finde, werfe ich ihn lebendig in die Jauchegrube! Am liebsten täte ich es auf der Stelle mit euch allen!« Und lauter und lauter verwünschte er den Kerl, von dem er meinte, er habe ihn um den Gewinn von Rolands wertvollem Araberhengst gebracht. Roland aber ließ den Stein langsam bis in Hüfthöhe hinab und begann, sich auf der Stelle zu drehen. Schreckensrufe ertönten! Schon wandten sich die ersten, die die Drohung erkannten, zur Flucht. Vornweg rannte niemand anderer als das rothaarige Großmaul. Die anderen folgten ihm auf den Fersen. Es sah aus, als rannten sie um die Wette. Und Rolands lange aufgestauter Zorn über das gemeine und hinterlistige Verhalten des Groben Gottlieb entlud sich in dem Augenblick, als er den mächtigen Stein aus schneller Drehung heraus hinter der fliehenden Bande herschleuderte! Krachend schlug er auf dem gepflasterten Hofboden auf. Funken sprühten. Und der Stein rollte weiter wie eine Granitlawine. Mit einem mächtigen Satz rettete sich Gottlieb vor dem fürchterlichen Geschoß. Ja, der kleine Omar hatte wahr gesprochen. Roland war Sieger im Wettkampf! Aber er hatte sich auch einen Todfeind geschaffen... * Mit betretenem Gesicht erschien Haggan am nächsten Morgen vor Roland. »Es tut mir unendlich leid«, stammelte er. »Ich habe entsetzliches Pech gehabt. Aber ich gebe Euch mein Ehrenwort...« An Haggans schwarzem Haarschopf vorbei sah Roland über den schmutziggrauen Burghof in die graue Wolkendekke, die sich während der Nacht über den Himmel gelegt hatte. Er überdachte die Geschichte, in die Haggan sich verstrickt hatte. Der zerknirschte Mann hatte sie ihm eben gebeichtet. So war es am vergangenen Abend weiter geschehen: Nach seiner
Niederlage geriet der Grobe Gottlieb in eine tierische Wut. Mehrmals äußerte er die Absicht, unter Bruch des heiligen Gastrechts in das Roland zugewiesene Gemach einzudringen, den Ritter dank der Übermacht seiner Männer zu überwältigen und mit dem Kopf voran in den Burghof zu werfen. Die Lage sah bedenklich aus. Da machte der ältere Mann, der wohl als einziger einigen Einfluß auf Gottlieb besaß, einen Vorschlag, der dessen Gefallen fand. Er schlug dem Rasenden ein Kartenspiel vor! Sie spielten die ganze Nacht. Und Haggan verlor 400 Dukaten! Nur 200 konnte er bezahlen. Nun wollte Gottlieb ihn nicht eher davonlassen, bis der Rest beglichen war. »Ich werde ihm anbieten, das Pferd, das ich von ihm gewann, als Pfand zurückzugeben«, meinte Roland nach kurzer Überlegung. »Er will es nicht haben!« rief Haggan. »Er will die 200 Goldmäuse und nichts anderes!« Roland machte seinem Gefangenen keine Vorwürfe. Es gab zu dieser Zeit wohl keinen Ritter, der nicht der Spielleidenschaft verfallen gewesen wäre. Wie viele hatten schon ganze Burgen, ihr gesamtes Hab und Gut, ihre Dienerschaft, ja, ihre Geliebten oder Ehefrauen im Rausch der Karten und Würfel verloren und standen am Ende einer heißen Spielschlacht vor dem Nichts! Spiele und Wetten - in der Ritterschaft des Landes verging fast kein Tag ohne sie. Hatte nicht Roland gestern selber durch eine unbedachte gefährliche Wette fast seinen herrlichen Araber Samum verloren? Und trug er nicht auf dem Schild die Erinnerung an ein Spiel - den Würfel mit dem einen Auge? Dennoch hatte ihn Haggans Spielverlust in eine vertrackte Lage gebracht. Denn Roland konnte und wollte keinen Augenblick länger in der Waldburg bleiben. Hier war er seines Lebens nicht sicher. Der unberechenbare Gottlieb verfolgte ihn mit seinem Haß. In aller Frühe hatte er ihm durch den älteren Mann förmlich das Gastrecht aufgekündigt. Das kam der Übergabe eines Fehdehandschuhs gleich. Roland
mußte das Weite suchen. Sonst lief er Gefahr, wie ein toller Hund von der Übermacht erschlagen zu werden. Andererseits konnte er Haggan nicht zwingen, ihn sofort zu begleiten, auch wenn er sein freiwilliger Gefangener war. Die Umstände hatten sich geändert. Spielschulden waren Ehrenschulden - und zu keiner Zeit wurde dieser Grundsatz ernster genommen als unter den Rittern des Mittelalters. Wenn der Grobe Gottlieb verlangte, Haggan müsse bis zu seiner Auslösung auf seiner Burg bleiben, so war er nach landläufiger Ansicht unbestreitbar im Recht. Und leider besaß Roland selber so gut wie gar kein Geld. Er hatte noch ganze zwölf Dukaten bei sich. Natürlich würde ihm kein Bewohner der Waldburg etwas leihen oder abkaufen. Sonst hätte er sich - außer von Samum - von allem getrennt. In Gedanken überschlug er, wie lange Omar von der Waldburg nach Atzerath und zurück brauchen würde. Wenn alles gutging, vier Tage. Vielleicht fünf. Im ungünstigsten Fall eine Woche. Dann würde er auf jeden Fall mit dem Geld zurück sein. Er sah in Haggans tiefliegende Augen, die seinen Blick ruhig erwiderten. Roland spürte eine leichte Beunruhigung, die jedoch wich, als er jetzt seine Entscheidung traf. »Haggan«, sagte er streng, »in drei Tagen werde ich auf Camelot sein und dort verkünden, daß ich Euch gefangengenommen habe. Spätestens in zehn Tagen, von heute an gerechnet, müßt Ihr dort eintreffen. Spätestens in zehn Tagen werdet Ihr Euch der Gerichtsbarkeit des Königs stellen. Bis dahin bürge ich für Euch.« »Es wird keine zehn Tage dauern«, versprach Haggan mit Nachdruck. »Es gibt keinen zuverlässigeren und flinkeren Boten als meinen Omar.« »Um so besser.« Ein Sonnenstrahl brach durch die Wolkendecke und tanzte über Haggans Gesicht. »Haggan, vergeßt es keinen Augenblick: Ich bürge für Euch mit Leib und Leben!« Haggan ergriff mit beiden Händen Rolands Rechte und drückte sie beinahe schmerzhaft. »Ihr seid ein wahrer Freund, Roland. Einem Mann wie Euch bin ich noch nie begegnet.« Er blinzelte. »Nun seid
aber unbesorgt! Ich werde rechtzeitig zur Stelle sein. Darauf gebe ich euch mein großes Ritter-Ehrenwort!« Wieder blinzelte Haggan, als er mit dem großen Ritter-Ehrenwort ein Versprechen gab, das noch weit bindender war als ein Eid oder ein feierliches Gelübde. War es die Sonne, die blendete? Roland aber war zufrieden. Konnte er mehr verlangen? Es war die beste Lösung! Er schüttelte Haggans harte Hände und sagte bewegt: »Auf bald!« Dann wandte er sich um und schritt zu Samum und dem von Gottlieb gewonnenen Fuchs. Wenig später ritt er, den Fuchs an der Leine hinter sich, durchs Burgtor und folgte dem festgestampften, breiten Weg nach Norden. Haggan verfolgte ihn mit den Augen, bis eine Bodenwelle ihn seinem Blick entzog. Sein Gesicht war so ausdruckslos wie aus stumpfem Stein gehauen. Er blinzelte auch nicht mehr, obwohl ihm die Sonne jetzt voll ins Gesicht schien. * »Halt, Ritter, keinen Schritt weiter!« Roland parierte sein Pferd. Er hatte, tief in Gedanken versunken, kaum auf die Umgebung geachtet. Der Reiter, der plötzlich mit gefällter Lanze vor ihm aufgetaucht war, überraschte ihn völlig. Dann erkannte er ihn. Es war der ältere Mann, der stets vermittelnd eingegriffen hatte, wenn Gottliebs wildes Temperament ihn zu rascher Gewalttat hinreißen wollte. »Was wollt ihr?« fragte Roland. »Euch warnen! Keine zwei Meilen von hier liegt der Grobe Gottlieb mit acht Gewappneten im Hinterhalt.« Leichtes Mißtrauen kroch in Roland hoch. »Was kümmert es Euch, alter Mann?« »Ich will vermeiden, daß Ihr zu Schaden kommt. Nicht, weil Ihr mir ans Herz gewachsen wärt. Es ist Gottlieb, den ich eigentlich schütze. Ich kenne ihn seit vielen Jahren. Ihr habt ihn gereizt wie noch selten jemand. Er ist außer sich. Er glüht vor Haß wie im
Fieber. Er wird Euch beim Überfall töten - oder zumindest einige Knochen brechen. Ein paar Stunden danach, wenn er seinen Zorn ausgetobt hat und wieder zur Besinnung kommt, wird ihm die böse Tat leid tun. Ich höre ihn schon, wie er seine Freunde anklagt, weil sie ihm nicht in den Arm gefallen sind! So ist es immer mit ihm.« Er holte tief Atem und sprach vertraulich zu Roland weiter: »Ja, so ist es immer mit ihm. Aber wie soll ich alter Mann ihm in den Arm fallen? Wißt Ihr: Gottlieb ist nicht wirklich schlecht, aber durch und durch grob und unbeherrscht. Ich bin so etwas wie sein guter Geist. Darum versuche ich immer, ihn vor Unbesonnenheiten zu schützen.« Es war nahezu rührend, wie der Alte mit seinen verträumten, leicht melancholischen braunen Augen Roland, um Verständnis bittend, anschaute. Der zweifelte nicht an seiner Aufrichtigkeit. Zu oft schon hatte der alte Mann seit gestern ausgleichend und Frieden stiftend gewirkt. »Nun gut«, sagte Roland. »Was schlagt Ihr vor? Umkehren werde ich nicht.« »Ich führe Euch auf sicherem Weg um den Hinterhalt herum. Der Weg ist ein wenig mühseliger, aber gefahrlos.« »Dann laßt uns nicht länger säumen!« Die Pferde setzten sich, auf Schenkeldruck gehorchend, in Bewegung. Der ältere Mann wich nach rechts vom Weg ab. Zwischen halb im Schnee begrabenen Büschen und kahlen Bäumen mit starren schwarzen Ästen ging es in einen ausgedehnten und unübersichtlichen Schneekessel, in dem verstreut Felsen von einfacher bis zehnfacher Mannshöhe aus dem Schnee ragten. Die kahlen dunklen Äste erinnerten an Grabkreuze, an Tod. Bedrückt ritt Roland neben dem älteren Mann her. Seine Augen spähten unter dem Helm nach allen Seiten. Der Schnee blendete. Manchmal glaubte er, eine Bewegung zwischen den Büschen wahrzunehmen. Doch bei näherem Hinsehen erwies es sich jedesmal als Täuschung. Außer ihnen schien es nichts Lebendes hier zu geben. Und doch sah man im Schnee die Spuren von Hirsch, Hase, und Fuchs. Aber kein Mensch hatte einen Fußabdruck hinterlassen.
Roland fuhr zusammen, als halbrechts hinter ihm die ruhige Stimme seines Begleiters erklang. »Ihr habt ein wundervoll gearbeitetes Schwert.« »O ja, ein berühmter Schmied fertigte es für meinen damaligen Ritter Sigurd, der es mir sterbend vermachte. Es ist hart wie ein Fels, geschmeidig wie die Bogensehne und scharf wie ein Rasiermesser.« »Ich bewundere vor allem die künstlerischen Ziselierungen am Griff. Erlaubt, daß ich sie näher betrachte?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zog der ältere Mann Roland das Schwert aus der Scheide und legte es vorsichtig auf die Kruppe seines eigenen Pferdes. »Sollten wir nicht leiser sprechen?« fragte Roland. »Keine Sorge! Wir haben Gottliebs Hinterhalt weit umgangen. Niemand, kann unsere Stimmen hören. Noch eine Viertelstunde, und wir werden schon in seinem Rücken sein. Oh, wie kunstvoll das alles ist! Welche herrlichen Ornamente!« Während er Rolands Schwert mit beglückten Augen betrachtete, blieb der ältere Mann ein wenig zurück. Roland behielt, soweit Boden und Vegetation es erlaubten, die von ihm eingeschlagene Richtung bei. Als Richtpunkt wählte er einen durch seine rötliche Färbung auffallenden Felsblock. Er war noch zehn Pferdelängen entfernt, als über dem rötlichen Felsblock wie eine Erscheinung der Oberkörper eines grüngekleideten Mannes auftauchte. Ungehalten krächzend flogen zwei Raben vorüber. Der Mann im grünen Wams spannte einen Bogen und richtete den Pfeil auf Roland. Er oder ich! dachte der Ritter. Schon riß er den rechten Arm in die Höhe, setzte die Bewegung kraftvoll nach vorn fort, und die Lanze mit dem rotgelben Wimpel flog mit Urgewalt gegen den Bogenschützen. Als ihre Spitze noch einen Klafter zu durchmessen hatte, schwirrte die Sehne, und der Pfeil schoß auf Roland zu. Er oder ich, dachte der Ritter abermals ... Da war die Frage schon entschieden. Der Mann im grünen Wams warf die Arme in die Luft, ließ den Bogen fallen und stürzte
hintenüber, die Lanze in der Brust. Im selben Augenblick beugte sich Roland fast waagrecht nach links. Ein Luftzug streifte sein Gesicht, und der Pfeil flog drei Handbreiten entfernt gefahrlos an ihm vorbei. Samum war indessen unbeeindruckt weitergetrabt. Über dem rötlichen Felsblock erschien ein zweiter Bogenschütze, der ein gelbes Wams trug. Roland tastete unwillkürlich nach seinem Schwert. Doch die Scheide war leer. Nun besaß er keine Waffe mehr. In seinem Rücken vernahm er einen zornigen Ruf. Ohne darüber nachzudenken, riß Roland sein Pferd herum. Es hatte keinen Zweck, wehrlos in einen tödlichen Pfeil zu rasen. Samum erschrak und stieg mit den Vorderbeinen hoch in die Luft. Nun deckte der Pferdekörper Roland ab. Einen Augenblick lang war der Ritter außer Gefahr. Doch er bangte um Samum! Wenn der Bogenschütze schnell spannte und sofort abschoß ... Da hörte er hinter sich die erregte Stimme des älteren Mannes: »Nicht auf den Araber schießen! Den will ich lebend zur Beute! Zum Teufel, wer das Pferd verwundet, dem gerbe ich die wertlose Haut! Der Ritter ist's, dem ihr den Arsch aufreißen sollt!« Samum tänzelte noch auf den Hinterbeinen vorwärts. So näherte er sich dem Felsblock, hinter dem der Mann im gelben Wams unschlüssig den Bogen sinken ließ. Mächtig keilte der Hengst mit den Vorderhufen aus ... Da, ein lauter Schmerzensschrei! Samum hatte den Mann in Gelb mit dem Huf am Schädel getroffen! Nun stand der Rappschimmel wieder auf allen vieren und drehte auf der Stelle. Sie waren bereits an dem Felsblock vorbei. Nebeneinander hingestreckt lagen dort der Mann im gelben und der im grünen Wams. Drei andere Bogenschützen in brauner Kleidung, die hier gelauert hatten, sprangen auf und rannten wie aufgescheuchte Hühner davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Samum hielt mit bebenden Flanken. Er schnaubte leise. Roland erkannte, daß er sein Vertrauen einem Unwürdigen
geschenkt hatte. Statt ihn um Gottliebs angeblichen Hinterhalt herumzuführen, wie er versprochen, hatte ihn der ältere Mann in eine selber gestellte Falle gelockt. Einen schnellen Blick warf Roland hinter sich. In 30 Klaftern Entfernung hielt der ältere Mann, schwenkte die bewaffneten Arme und brüllte: »Rennt doch nicht weg, ihr Feiglinge! Schnappt euch den Ritter! Er kann sich nicht wehren. Seine Lanze warf er weg, und sein Schwert habe ich ihm abgenommen. Bleibt stehen, ihr Saftsäcke, und holt ihn vom Pferd! Macht ihn fertig! Ich verspreche euch ein großes Siegesfest mit 20 geilen Weibern!« Roland knirschte mit den Zähnen. Er schalt sich einen Esel. Er hatte sich wie ein Kind hinters Licht führen lassen. Ein ruhiges Gehabe, heuchlerische Schönrednerei und ein Paar verträumter brauner Augen hatten ihn genarrt. Der alte Mann, dem er vertraut hatte, war ja zehnmal so gefährlich wie der Grobe Gottlieb, der einen wenigstens keinen Augenblick lang über seine unfreundlichen Absichten im Zweifel ließ! Zu Rolands Bestürzung hatten die Fliehenden nun wirklich haltgemacht und pirschten sich, die Bogen gespannt, vorsichtig heran. Es war nur ein Glück, daß sie nach Art ängstlicher Leute eng beieinander blieben, statt sich im Gelände zu verteilen und von mehreren Seiten heranzurücken. So blieben Roland rechts und links noch zwei Fluchtwege offen. Wenn er Gottliebs Fuchs im Stich ließ, würde niemand Samum folgen können, auch nicht der schnellste Pfeil. Aber Roland dachte nicht an Flucht. Der alte Mann, der die Bogenschützen befehligte, ließ ihm auch keine Gelegenheit dazu. Bis an die Zähne bewaffnet führte er seinen Überraschungsangriff. Fast hätte er Roland wirklich überrumpelt. Zuerst warf der Alte die Lanze. Doch viel zu früh! »Verdammte Scheiße!« hörte Roland hinter sich. Er drehte sich um und sah, wie sich die Lanze einen Klafter hinter Samum in die schneebedeckte Erde bohrte. Und der alte Mann kam nun genau auf ihn zugaloppiert! Er lag mit dem Oberkörper auf dem Hals seines Pferdes. Das eigene
Schwert schwang er in der Rechten zum Schlag erhoben. Rolands Schwert hielt er mit der Linken. Die Spitze ragte weit über die Pferdenase hinaus. Als Stichwaffe wollte er das durch eine List erbeutete Schwert einsetzen. Roland wendete Samum und ließ ihn tänzeln, so daß er kein sicheres Ziel bot. Im letzten Augenblick wollte er an der linken Seite des Gegners vorbeipreschen, um beiden Waffen zu entgehen. Da erhielt er einen heftigen Stoß in den Rücken! Ein Pfeil hatte gesessen! Nur die Rüstung bewahrte Roland vor einer gefährlichen Wunde. Aber der harte Aufprall nahm ihm für Augenblicke die Luft. Er wagte nicht, sich umzublicken. Waffenlos stand er zwischen den Angreifern. Aus größerer Nähe abgeschossen, würde ein Pfeil leicht die im Rücken dünnere Rüstung durchbohren. Also vorwärts! Roland gab dem Rapphengst die Sporen. Gehorsam galoppierte Samum raumgreifend an. Roland lenkte ihn auf die Seite, die er ausgewählt hatte. Der ältere Mann war bis auf wenige Klafter heran. Wie der Kerl schrie! Man verstand nichts. Der Schrei sollte dem Gegner wohl Angst einjagen. Und jetzt wechselte der Alte die Auslage. Nun wurde das Schwert in der Rechten zur Stichwaffe, und das geraubte Schwert in der Linken wurde zum Schlag erhoben. Der Mann steckte voller Listen. Er war also Linkshänder! Samum befand sich bereits in vollem Galopp. Es war zu spät, die Richtung zu wechseln. Roland würde von beiden Schwertern getroffen werden! Oder konnte er eins mit dem Schild, der ihm verblieben war, abwehren? Doch darauf wollte er sich lieber nicht verlassen. Wer konnte sagen, ob der Schild standhielt? Roland kannte die Schärfe seines Schwertes. Sie waren noch zwei Galoppsprünge auseinander... Blitzschnell ließ sich Roland in verzweifeltem Entschluß zur Seite aus dem Sattel fallen. Verdutzt schaute der alte Mann auf den
plötzlich reiterlosen Samum. Dann stieß er einen Siegesruf aus und zügelte sein Pferd. Er meinte nichts anderes, als daß ein Pfeil seiner drei Bogenschützen Roland aus dem Sattel geschossen hätte. Indessen sprang Roland federnd auf die Füße, streifte den nun nutzlosen Schild vom Arm, nahm Anlauf und sprang mit gewaltigem Schwung auf das Pferd des Gegners. Er kam genau hinter den alten Mann zu sitzen. Unter dem unerwarteten doppelten Gewicht knickte dessen Pferd etwas ein. Der Alte war völlig verwirrt. Er wußte nicht mehr, wie ihm geschah. Roland packte ihn am linken Arm und entriß ihm das gestohlene Schwert, ehe der andere überhaupt mitkriegte, was vorging. Dann bohrte er dem Pferd die Sporen in die Weichen. Aufs äußerte gereizt und verängstigt brach das Tier zur Seite weg und rannte einen der Bogenschützen, der sich am weitesten vorgewagt hatte, über den Haufen. Die beiden anderen warfen sich der Länge nach in den Schnee, als könnten sie sich so verstecken. Das Letzte, was sie außer dem Mißgeschick ihres Kameraden sahen, war die Niederlage ihres Anführers. Denn Roland hatte seinen Vorteil geschickt ausgenutzt. Er packte den Alten unter den Achseln, trat mit den Füßen gegen seine Beine und hob ihn aus dem Sattel. Vor Schreck ließ der Alte auch gleich sein eigenes Schwert fallen. Dann stürzte er kopfüber zu Boden. Ächzend blieb der alte Mann liegen. Doch schon nach kurzer Zeit erhob er den Kopf und überhäufte seine Bogner mit Schmähworten. Die hörten ihn wohl in ihren Verstecken. Aber zu Hilfe kamen sie ihm nicht. Roland sah schadenfroh, wie sie eilig davonkrochen. Sobald sie die erste Bodenwelle überwunden hatten, sprangen sie auf und rannten weg, diesmal aber endgültig. Roland hatte Mühe, das aufgeregte Pferd des alten Mannes zu bändigen. Doch als er die Oberschenkel zusammenpreßte, wurde das ungebärdige Tier bald sanfter und trabte, wie Roland es wollte, zu seinem Herrn, der noch im Schnee saß und unentwegt fluchte.
Roland stieg ab und fragte: »Seid Ihr verletzt?« »Ich hab' mir das Bein gebrochen, verdammter Bockmist!« heulte der Alte. »Hätte ich mich doch nie auf einen Kampf mit Euch eingelassen! Aber wie konnte ich denn ahnen, daß Ihr mich hier überfallt?« Roland wollte ihm heftig auf diesen erlogenen Vorwurf entgegnen. Doch da bemerkte er, daß dem tückischen Alten beim Sturz der Helm vom Kopf gerollt war. Auch er hatte rotes Zottelhaar - wie Gottlieb! Eine Ahnung stieg in ihm auf. »Seid Ihr etwa Gottliebs Vater, alter Mann?« fragte er. »Wer denn sonst? Der Scheißkerl hat das Fluchen und Betrügen doch von mir geerbt!« »Ich hoffe, dies wird Euch eine Lehre sein«, sagte Roland. Er griff nach dem Schwert des Besiegten und zerbrach es über dem Knie. Das gleiche tat er mit seiner Lanze. Inzwischen kamen Samum und der Fuchs im Schritt heran und warteten geduldig auf das, was nun folgen sollte. »So helft mir doch, Dreckschwein!« stöhnte der Alte. »Wollt Ihr mich etwa mit gebrochenem Bein liegenlassen?« »Warum nicht?« fragte Roland ungerührt. »Ihr wolltet mich ja sogar umbringen - und beinahe wäre es Euch gelungen. Verlangt nicht, daß ich mich um Euch kümmere! Ich bin Eure Beleidigungen und Tücken leid. Ihr seid nicht Gottliebs guter, sondern sein böser Geist.« Da änderte der Alte sein Benehmen. »Verzeiht mir, Roland. Ich bitte Euch tausendmal um Verzeihung! Ich habe gesündigt. Ich war verblendet. Man hat mich zu dem Überfall angestiftet...« »Spart Euch Eure Lügen!« versetzte Roland, der indessen seine eigene Lanze geborgen hatte. Er bestieg Samum und nahm den Fuchs am Zügel. »Früher oder später werden Eure Männer Euch finden. Ich aber möchte Euch nie wiedersehen. Darum hütet Euch, mir je wieder unter die Augen zu treten!« Wenige Augenblicke später schlug er den Pfad zwischen den Felsblöcken ein. Als letzten Gruß des alten Mannes hörte er dessen
wutentbranntes Gekrächze: »Du gemeine Wildsau, du verrückter Bastard ...!« Wie Roland vorausgesehen hatte, wurde der Verletzte einige Stunden später geborgen. Einer der geflohenen Bogenschützen hatte auf der Waldburg von dem mißglückten Scharmützel berichtet. Der Grobe Gottlieb belegte seinen Vater mit allen Schimpfwörtern, die der ihn einst gelehrt hatte, und erfand bei dieser Gelegenheit noch einige neue, deren Saftigkeit und Verworfenheit alle seine früheren Schöpfungen auf diesem Gebiet weit übertrafen. Gottliebs Vater wurde auch von Haggan streng ins Gebet genommen. »Wie konntet Ihr versuchen, ihn umzubringen?« schimpfte der Gräßliche und sah in seiner Wut zum Fürchten aus. »Ich habe alles so eingefädelt, daß Roland den gräßlichsten Tod erleiden wird, den es für einen Ritter gibt. Und das noch dazu auf Camelot - von der Hand der eigenen Freunde!« * Freude herrschte im Schloß. Der Totgeglaubte war gesund zurückgekehrt! Volker ließ Jubelhymnen erklingen. Die Knappen liefen mit strahlenden Gesichtern umher. Während Rolands Abwesenheit hatte Pierre Dienst in der Küche genommen, wie es seiner Natur entsprach. Louis dagegen erteilte jungen Rittern Fechtunterricht, denn darin hatte er es fast zur Meisterschaft gebracht. Heide hörte die Kunde und wurde vom Übermaß der widerstreitenden Gefühle geschüttelt. Mal drängte es sie, zu Roland zu eilen, sich an seine Brust zu werfen, ihn zu umarmen und nie wieder loszulassen. Mal beschloß sie mit verhärtetem Gesicht, so zu tun, als gäbe es ihn nicht, ihn zu meiden, solange er im Schloß war. Er war und blieb ein Verräter an ihrer Liebe. Oder täuschte sie sich? Hatte sie die Szene mit Griseldis falsch gedeutet? So schwankte die arme Heide und durchlief in einer Stunde die ganze Skala menschlicher Gefühle von innigster Sehnsucht bis zu
abweisendem Starrsinn. Bei alldem verrichtete sie mit großer Selbstbeherrschung weiter ihren Dienst als Hoffräulein der Königin. Stundenlang erzählte Roland vor dem König und der Tafelrunde von seinen Abenteuern, und der Jubel wurde unermeßlich, als er ankündigte, er habe Haggan gefangengenommen ... »Wo ist er?« fragten sie durcheinander. Die Ritter waren aufgesprungen und umstanden Roland dicht. Selbst König Artus war ungeduldig. »Wo habt Ihr ihn verborgen?« Es kostete Roland einige Anstrengung, die Wahrheit zu sagen, die jetzt in seinen eigenen Ohren wie ein unerhörter Fehltritt klang. »Ich ließ ihn in der Waldburg zurück«, gab er schließlich fast tonlos zu. »Er gab mir sein Ehrenwort, später selber nach Camelot zu folgen. Zehn Tage Frist gab ich ihm. Er hatte Spielschulden, die er begleichen mußte.« Ein Raunen erhob sich. Die Ritter prallten zurück. Verwunderte Blicke trafen Roland. Der König legte die Hand vor die Augen. Stimmengewirr erhob sich. Roland kam sich wie ein Verfemter vor. Und bald war er es auch. Er verschlimmerte seine Lage noch, als er von seiner Überzeugung sprach, Haggan der Gräßliche sei unschuldig. Als er Griseldis und ihre Aussagen erwähnte, ging Zorngeschrei durch den Saal der Tafelrunde. Denn Griseldis war zu der Zeit, als Roland sie auf Atzerath gesehen haben wollte, verwahrlost und halb verhungert in ihrem Haus in Rivage tot aufgefunden worden. Unverzüglich schickte man Boten zur Waldburg, die wenige Tage später mit der Meldung wiederkamen: »Roland hat dort übernachtet und sich ungebührlich benommen, so daß sie ihm das Tor wiesen. Ein Haggan wurde dort nie gesehen!« Und die zehn Tage, die er Haggan auf Ehrenwort gewährt hatte, waren längst vergangen. 14 Tage, 20 Tage ... Nun sah auch Roland ein, daß er sich hatte betrügen lassen. Er schalt sich einen Leichtfuß, einen Dümmling, einen Narr. Doch die Ritter, an der Spitze König Artus, nannten ihn anders. Für sie war er ein Verräter, der den gefährlichsten Feind, den das
Land je gehabt, unterstützte! Roland kam in Haft. Die Ereignisse überstürzten sich. Eines Tages wurde er vor das heilige Geheimgericht gebracht. Nie klangen die Anklagen, die der greise Wilhelmus vorbrachte, bezwingender in seinen Ohren. Nie erschien ihm seine eigene Verteidigungsrede schwächer, unglaubwürdiger und verächtlicher! Mit Demut vernahm er den Spruch des Gerichts. Entritterung! Nur unklar war ihm, was das bedeutete. Volker vom Hohentwiel, der ihn tags darauf im Haftzimmer besuchte, klärte ihn auf. Entritterung war die schwerste Strafe, die einen Ritter treffen konnte. Er verlor seinen gesamten Besitz, Rüstung, Waffen und Pferde. Er verlor seine Ehre und seinen Stand. Er wurde verflucht. Wenn all dies überstanden war, gab es zwei Möglichkeiten. Entweder wurde er vor allem Volk hingerichtet, oder er wurde auf Lebenszeit aus dem Land verbannt. Das heißt: Er war vogelfrei. Jedermann hatte das Recht - ja, die Pflicht ihn wie einen tollen Hund zu töten ... Vernichtet blieb Roland zurück. Zwar hatte ihm sein Freund einen Befreiungsplan auseinandergesetzt, der geringe Möglichkeiten des Gelingens aufwies. Aber Roland wollte davon nichts wissen. Das Gefühl des eigenen Versagens saß zu tief in ihm. Lieber wollte er die schwerste Strafe auf sich nehmen, als andere Menschen, seine Freunde, in den Strudel seines Untergangs mit hineinzureißen. Die Tage vergingen in der Qual der erzwungenen Untätigkeit, der Haft auf engem Raum. Die Nächte brachten Selbstvorwürfe, Angstzustände und dann wieder wahnwitzige Hoffnungen auf ein erlösendes Ereignis. Einmal besuchte ihn die Königin. Sie kam nicht in seine Zelle, sondern sprach ungesehen aus einer Nische hinter dem Gitter zu ihm. Sie überbrachte ihm einen Vorschlag, den sie aus Mitleid für ihn ersonnen hatte. Artus hatte sein Einverständnis gegeben. »Es gibt noch einen Weg, Euch zu retten«, sprach sie. »Ihr müßt
von Euren bisherigen Träumen und Zielen ablassen. Ihr müßt schwören, Euch ewig verborgen zu halten und nie wieder einem Menschen unter die Augen zu treten. Dann läßt Euch der König bei Nacht und Nebel in ein fernes kleines Kloster bringen, dessen strenge Gesetze gefürchtet sind. Dort werdet Ihr als Mönch in karger Zelle bei 18 Stunden Arbeit und Gebet am Tag Euer Leben verbringen.« Hochfahrend lehnte Roland den Vorschlag ab. »Für ein solches Leben bin ich nicht gemacht! Ich würde verkümmern. Verlassen Sie mich, Königin! Sie quälen mich nur ...« Enttäuscht schritt sie hinweg. Ihr Herz blutete für den Jüngling. Und dann kam die Nachricht, daß die Entritterung auf den Donnerstag der nächsten Woche festgesetzt worden sei. Volker gab keine Ruhe. Zusammen mit dem Knappen Louis ritt er zwei Tagesreisen weit, fast ständig im Galopp, bis sie ins Gebirge kamen und nach längerem Suchen Rolands alten Lehrer, den frommen Einsiedler Klaus, auf seinem hohen Felsen fanden. Ihm trugen sie alles vor. Der Alte lauschte, ohne seine Gefühle zu verraten. Aber ein Blick in das verwitterte, vom Frost gegerbte Gesicht zeigte, wie sehr er unter den Nachrichten litt. Als Volkers Bericht beendet war, dachte der Einsiedler lange nach. Mehrmals schien er eine Idee zu haben. Er setzte bereits zum Sprechen an, um sie den beiden Ratsuchenden mitzuteilen. Aber dann kam immer eine resignierende Handbewegung, und die Idee blieb unausgesprochen. Er hatte sie verworfen. Klaus holte unter Moos und Reisig ein in Schweinsleder gebundenes altes Buch hervor und blätterte darin. Stunden verstrichen. Geduldig wartete Volker. Aber Louis hielt es nicht aus. Er schweifte inzwischen umher und erlegte zwei Fasane, die er dem Alten zu Füßen legte. In diesem Augenblick hatte Klaus offenbar seinen Entschluß gefaßt. Er schloß das schweinslederne Buch, auf dessen Seiten es von Zeichen und Zeichnungen wimmelte, barg es wieder unter Moos und Reisig und sprach mit großer Ruhe und Bestimmtheit. Er gab seinen Rat, der aber in den Ohren der beiden mehr als verwunderlich, ja,
unbegreiflich klang. Dennoch bedankten sie sich und überbrachten Roland den Rat seines alten Lehrers, verbunden mit tiefen Glückwünschen. »Klaus«, berichtete Volker, »glaubt nicht eine Stunde, daß du dich an den Gesetzen des Rittertums vergangen hast.« Auch Roland fand Klaus' Rat seltsam. Doch als die Stunde kam, als ihn der Herold nach seinem letzten Wunsch fragte, antwortete er mit den Worten des weisen Einsiedlers: »Ich möchte, daß die Entritterung um einen Tag auf Mittwoch vorverlegt wird!« Und so wurde es angeordnet... * Frage niemand, ob Roland in dieser Nacht Schlaf fand! Als die Büttel um sechs Uhr morgens kamen, um ihn mit groben Worten zu wecken, war er jedenfalls schon wach und erwartete sie stehend. Die Suppe - Hirse mit Rindfleisch - war heiß. Roland aß langsam und mit Bedacht. Der Koch, eine gute Seele, hatte sich Mühe gegeben. »Warum soll ein zum Tode Verurteilter schlechter essen als ein König?« hatte er gesagt. »Wäre es nicht wunderbar, wenn er in seinen letzten Augenblicken noch voll Dankbarkeit an mich und meine gute Suppe denkt?« Roland genoß jeden Bissen, jeden Schluck der Mahlzeit, die seine letzte sein sollte. Eine Stunde später ritten von den entgegengesetzten Schmalseiten des Turnierfelds zwei gerüstete Reiter aufeinander los. Dämmerung lag noch über dem vom Schnee geräumten graugelben Gras. Im Osten schob sich gerade der oberste Rand der blutroten Sonnenscheibe über den flachen Horizont. Stumpf 'schimmerte das Metall der Rüstungen. Weit griffen die Pferde aus. Immer schneller wurde ihr Galopp. Drei Trompeter schmetterten eine anfeuernde Melodie in den kalten Winterhimmel. Unter einem farbenprächtigen Baldachin, den
kunstvolle Wappen, Figuren und Malereien zierten, saß König Artus mit blassem, starrem Gesicht, umgeben von den Rittern der Tafelrunde. »Das Gottesurteil!« sagte der alte Wilhelmus in das lastende Schweigen. Das Gottesurteil! Volker vom Hohentwiel hatte es überraschend am gestrigen Tag angerufen. Im Kampf mit einem vom König bestimmten Ritter wollte er seines Freundes Roland Unschuld beweisen. Denn in jenen Tagen glaubte man fest daran, daß Gott in strittigen Fragen durch das Ergebnis eines Ritterkampfes den Menschen die Wahrheit enthüllte. Wenn Volker siegte, mußte Roland freigelassen werden! Aber sein Gegner war ein Mann, der im Jahr zuvor nicht weniger als vier Turniere glänzend gewonnen hatte. Douglas Heißsporn, der jüngere Bruder des erschlagenen Percy. Sein Blut war so feurig wie sein loderndes rotgoldenes Haar, das ihm gleich einer Flammenkrone ums Haupt lag. Sein Auge war falkenscharf. Die Lanze führte Douglas mit traumhafter Sicherheit. Man sagte ihm nach, daß er oft des Nachts bei völliger Dunkelheit unter mondlosem Himmel zu Pferde saß und an einem Gerüst mit drehbarer Scheibe den Lanzenstoß übte. Angeblich traf er in der Finsternis so sicher wie am hellen Tag. Die Hufe der beiden Pferde donnerten über den steinhart gefrorenen Boden. Durch die Augenschlitze des geschlossenen Visiers sah Volker den Gegner schnell größer werden, so rasend näherte er sich ihm. Nur noch ein Atemzug - und da waren sie schon auf Lanzennähe! Volker zielte gut. Er traf Douglas an der Schulter. Aber die Lanzenspitze schrammte über die Rüstung, wurde abgelenkt und rutschte über Douglas Heißbluts Schulter hinweg ins Leere. Dessen Lanzenstoß erschütterte Volker schwer. Ein furchtbarer Ruck ließ seinen Körper beben. Ihm war, als wäre aus mächtiger Höhe ein Felsblock auf seine Brust gefallen. Glühender Schmerz breitete sich unter seinen Rippen aus. Er wollte Luft holen - und
konnte nur stöhnen vor Qual. Mit dem Rücken war er heftig gegen die erhöhte Sattelstütze geprallt. Nur sie bewahrte ihn vor einem Sturz, der die sofortige Niederlage bedeutet hätte. Was man sich über Douglas Heißsporn erzählte, schien also zu stimmen! Der leidenschaftliche, ungebärdige Junge war ein noch größerer Kämpfer als einst sein Bruder. Volker ließ sein Pferd betont langsam bis ans Ende des Turnierfeldes traben, wo das weiße Schneeband begann. Er brauchte Zeit, um sich von dem Lanzenstoß zu erholen. Ungeduldig wartete auf der anderen Seite Douglas, der kurz gewendet hatte. Der schmerzende Ring um Volkers Oberkörper lockerte sich allmählich. Nun wendete auch er sein Pferd. Der zweite Turniergang begann. Und wieder galoppierten sie aufeinander zu! Wieder sah Volker den Gegner wachsen und immer größer, immer drohender aufragen. Da veränderte Douglas Heißblut ein wenig die Richtung seines Rittes, und Volker schaute genau in den Sonnenball, der jetzt eine Handbreit über dem Horizont schwamm und nicht mehr rot und kalt erschien, sondern gelb und glühheiß. Im nächsten Augenblick tanzten goldene und orangefarbene Flecken vor Volkers Augen, und die Gestalt des gegnerischen Ritters verschwand in dem glühenden Farbenwirbel. Ziellos stocherte die Lanze des geblendeten Minnesängers in der Luft. Den Gegner berührte sie nie. Aber Douglas' Lanze hob Volker mit Urgewalt aus dem Sattel. Da halfen nicht mehr der feste Griff am Zügel, der sichere Stand in den besonders starken Steigbügeln und die erhöhte Sattellehne. Von seines Pferdes Rücken stürzte Volker, jeden Halts beraubt, in seiner schweren Rüstung auf den steinhart gefrorenen Boden. Der helmgeschützte Kopf schlug zuerst auf, und es war der Helm, der den Sänger vor einem Schädelbruch bewahrte. Aber er verlor die Besinnung und blieb den ganzen Tag über ohne Bewußtsein und
konnte sich, als er tags darauf erwachte, nicht mehr an den Kampf erinnern, und die Erinnerung sollte auch nie wiederkehren. Erschüttert sagte der König mit erloschener Stimme: »Gott hat sein Urteil gesprochen! Roland ist schuldig. Das Urteil ist gerecht, das wir gesprochen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte mit einer Stimme, die kaum die Nächststehenden verstanden: »Die Entritterung soll beginnen!« In den alten Augen des Ritters Wilhelmus blitzte es von jugendlicher Rachsucht. Nie hatten seine Hände seinen langen weißen Bart mit so zufriedenem Behagen gestrichen wie heute. Die drei Trompeter hoben ihre Instrumente der Sonne entgegen, die einen strahlendhellen Tag versprach, und bliesen eine triumphierende Melodie. Douglas Heißblut ritt vor den Baldachin des Königs und grüßte mit formeller Geste. Nun war auch dem Dümmsten klar, daß Roland verdammt war, in die Erde zu fahren, und die Zukunft dem Jüngling mit dem Flammenhaar gehörte! * Roland betete. Das Gebet war kurz. Er betete nur um die Kraft, würdig in den Tod zu gehen. Er glaubte nichts anderes, als daß er auf einer Anhöhe vor der Burg durch einen raschen Schwertstreich enthauptet werden würde. Aber seiner wartete die fürchterlichste Zeremonie, die ein Menschenhirn sich erdenken konnte, um einen Mitmenschen nicht nur vom Leben zum Tode zu bringen, sondern ihn vorher noch auf alle erdenkliche Arten zu quälen und zu demütigen. Zu seinem Erstaunen brachte man ihm seine vollständige Rüstung, und er mußte alles anlegen. Helm, Harnisch, Brünne, Beinschienen und Eisenschuhe. Nur eine Waffe gab man ihm nicht. Zuletzt drückte man ihm noch seinen Schild in den Arm, der mit dem Würfel und dem einen Auge darauf - Erinnerungen an eigene Narrheit.
Die Sonne stand schon zwei Handspannen über dem Horizont, als sie ihn ins Freie führten. Aber wie sehr hatte sich das Bild verändert! Tausende füllten jetzt den Turnierplatz, in dessen Mitte ein Galgen errichtet war. Roland erschauerte, als er ihn sah. So sollte er denn eines unwürdigen Todes sterben - wie ein gemeiner Mörder und Räuber! Wie eine Statue saß König Artus unbeweglich unter dem Baldachin, umgeben von den Rittern der Tafelrunde. Von nah und fern war das Volk herbeigeströmt, um den Tod eines seiner Lieblinge mitzuerleben. Es herrschte eine merkwürdig geteilte Stimmung. Viele gab es, die sich darauf freuten, einen stolzen jungen Mann, der so lange vom Glück begünstigt schien, erniedrigt, gedemütigt und schließlich hingerichtet zu sehen. Es waren die ewig Zukurzgekommenen, die Neider, die Mißgünstigen. Weit größer aber war die Schar derer, die Roland aus tiefstem Herzen bedauerten. Viele Augen füllten sich mit Tränen, als sie ihn erblickten. Frauen wehklagten laut. Männer gaben ihrem Mitleid für den Helden beredten Ausdruck. Noch jetzt wirkte der Ritter mit dem Löwenherzen strahlend im vollen Glanz seiner Rüstung, in der sich die Sonnenstrahlen spiegelten. War er nicht das vollendete Abbild edler Jugend, freien Mutes und guter Sitten? Hatte er nicht immer, wie sein Rittereid es ihm auferlegte, die Armen und Schwachen, die Hilflosen und Unglücklichen beschützt, die Lasterhaften bekämpft und die Feinde des Volkes vernichtet? So führten sie ihn zum Schafott. Rufe des Mitleids drangen an sein Ohr, Schluchzen und Wehklagen ergriffen sein Herz. Flüchtig dachte Roland daran, daß er noch 24 Stunden hätte leben können, wenn er dem Rat des alten Klaus nicht gefolgt wäre und nicht als letzten Wunsch die Vorverlegung der Entritterung um einen Tag erbeten hätte. Aber der alte Klaus hatte in geheimnisvollen Andeutungen von Rettungshoffnungen gesprochen, wenn er sich für den Mittwoch entschied.
Roland wußte nun, daß jede Hoffnung unnütz war. Und gerade jetzt lockte ihn das Leben wie nie zuvor. Die kalte, klare Luft brachte schon die Verheißung des Frühlings mit sich. Jeder Blick in die Runde zeigte ihm, wie schön die Welt war, wie herrlich der Schnee, wie unergründlich der blaßblaue Himmel! Und er war doch noch so jung! Er hatte sein Leben kaum begonnen. Und er mußte sterben, weil er allzu treuherzig einem besiegten Feind aufs Ehrenwort geglaubt hatte. Aber nun erkannte er auch, daß das Urteil gerecht war. Durch seine Schuld blieb Haggan weiterhin eine große Gefahr für alles Land und Volk. Schmählich hatte er König Artus' väterliche Mahnungen in den Wind geschlagen und seinen Auftrag gleichsam verraten. Hinter dem Galgen saßen zwölf ernste Mönche in schwarzen Kutten wie ebenso viele düstere Raben. Als Roland ihnen näher kam, sah er ihre Augen trauernd, aber auch streng auf sich gerichtet. Mehr war von den Gesichtern nicht zu erkennen. Auf ein Wort der Büttel blieb Roland stehen. Sie banden ihn mit Stricken, verschnürten sie unter den Armen und zogen ihn daran am Galgen in die Höhe. Den Schild nahmen sie ihm weg und hängten ihn verkehrt herum an einen niedrigeren Mast neben dem Galgen. Die Mönche begannen zu singen. Es war eine todtraurige Melodie, in der alles Elend und aller Jammer der Welt beschlossen schienen. Die getragenen Töne versetzten Roland in tiefe Niedergeschlagenheit, obwohl er kaum die Worte verstand. Nur dann und wann hörte er etwas heraus, das so klang wie ... Aber nein, das war nicht möglich! Er zwang sich, schärfer hinzuhören. Doch da brach der Gesang ab. Die Büttel traten an ihn heran und rissen ihm roh den Helm vom Kopf. Wieder sangen die Mönche. Nach der zweiten Strophe nahmen die Büttel ihm mit harten Händen den Brustharnisch weg. Wieder Mönchsgesang. Und jetzt unterschied Roland ganz deutlich ein nur allzu bekanntes Wort. Was immer die anderen sangen, ein Mönch wiederholte im
Rahmen der Melodie immer wieder das Wort »extraprima«! Es war verrückt - aber das konnte niemand anderer als der morgenländische Junge Omar sein. Er war wohl seinem Herrn Haggan entlaufen und nach Camelot geflohen. Wie kam Omar unter die Mönche? * Die Mönche waren am späten Abend des vorherigen Tages nach langem, ermüdendem Fußmarsch hungrig und durstig auf Camelot eingetroffen. Man hatte ein Mahl für sie vorbereitet, das sie in einiger Eile einnehmen mußten. Denn nach Mitternacht durften sie weder Speise noch Trank genießen und kein Wort mehr sprechen. So lauteten die strengen Bräuche. Das Mahl war reichhaltig und wohlschmeckend wie alles, was der königliche Koch zubereitete. Zu denen, die es in der Gesindestube auftrugen, gehörte Pierre. Er hatte drei Mönche zu bedienen, und allen dreien erging es sonderbar. Auf dem Weg von der Küche in die Stube nämlich mischte ihnen Pierre ein geriebenes Pülverchen von starken Eigenschaften in das Essen. Doch den Geschmack veränderte es nicht. Ja, eine Stunde lang machte es sich kaum bemerkbar. Doch als die Mönche sich kurz vor Mitternacht aufs bescheidene Strohlager legten, und die letzten Sätze vor dem Beginn des Sprechverbots austauschten, machte sich bei den drei Mönchen ein Grummeln im Magen bemerkbar. Aus dem harmlosen Grummeln wurden ein Rumpeln und Pumpeln, ein Zerren, Ziehen und Kneifen. Es war schon eine arge Pein. Die drei Unglücklichen meinten, sie hätten sich überfressen, und schämten sich ihres Unmaßes. Darum verbargen sie auch sorgsam ihren Zustand vor ihren Brüdern. Doch es wurde immer schlimmer. Es kollerte in ihren Därmen, als triebe der Teufel da sein Unwesen. Es zwickte und zwackte. Es hämmerte und stach. Es würgte und schnitt. Es schmerzte, daß ihnen
der Schweiß ausbrach und die Tränen über die faltigen Wangen liefen. Verstohlen preßten sie die Hände gegen den Leib, zitterten und zuckten und wälzten sich. Doch Linderung fanden sie nicht. Sie hätten gern ihrem Schmerz durch Gebrüll Luft gemacht. Aber das wagten sie nicht. Es hätte ja geheißen, gegen die Bräuche zu verstoßen! Mittlerweile war den drei armen Seelen zumute, als zerreiße es ihnen die Eingeweide. Während ihre Brüder schon schlummerten, spürten sie große Not und mußten sich unbedingt erleichtern. Aber sie kannten sich im Schloß nicht aus und standen unschlüssig, vor Weh und Ach von einem Fuß auf den anderen tretend, in der Stube, wo noch eine einzelne Fackel blakte. Wo konnten sie den inneren Drang entladen? Da erschien Pierre, der Retter in der Not. Die drei Märtyrer liefen auf ihn zu und gaben ihm durch Gesten zu verstehen, wonach ihr Leib verlangte. Pierre ließ sich Zeit. Mit grausamer Schadenfreude tat er zunächst so, als begreife er ihr Anliegen nicht. Da griffen sie zu gröberen Hilfsmitteln, hockten sich hin und machten mit dem Mund platzende Geräusche. Erst jetzt faßte Pierre sich an die Stirn und sagte roh: »So ist das, ihr Racker! Dir habt euch überfressen und müßt dringend abprotzen!« Die drei Mönchlein nickten eifrig. Dazu machten sie fragende Gebärden und zeigten mit den Fingern in alle Himmelsrichtungen. »Ach, Ihr wißt nicht, wo der Abtritt ist?« meinte Pierre gelassen. »Na, dann folgt mir! Ich werd' Euch das stille Örtchen zeigen. Da könnt Dir Euch nach Herzenslust stundenlang erleichtern.« Langsam machte er sich auf den Weg, und die drei Mönche folgten ihm, während neue Hoffnung ihnen die Qual zu ertragen half. Sie hielten sich krumm und schief und führten alle möglichen Verrenkungen aus, über die sich Pierre innerlich verlustierte. Denn es war keine Kleinigkeit, wacker auszuschreiten, Treppen hinabzugehen und dabei, doch die Gesäßbacken eisern zusammenzukneifen, damit
ja nicht vorzeitig etwas in die Hose ging! Endlich standen sie vor einer festen Tür tief unten im Schloß. Dahinter lag der älteste, halbvergessene und kaum noch benutzte Abtritt. Doch würde er seinen Zweck trefflich erfüllen. Umständlich schloß Pierre auf, während die Mönche ihn gestenreich zur Eile mahnten. Bevor er sie einließ, sagte er mit gutgespielter Besorgnis: »Seid vorsichtig, fromme Brüder! Ich rate Euch gut. Legt um Himmels willen eure Kutten ab! Ich sehe, Ihr habt sie zur Feier des Tages frisch gewaschen. Legt sie ab - ich halte sie, während Ihr fahrenlaßt, was euer Körper nicht bei sich halten kann. Sonst mögt Ihr Euch im Drang Eurer Geschäfte noch übel beschmutzen und morgen vor dem König und allem Volk ein elendes Schauspiel geben und obendrein stinken.« In diesem Augenblick hätte er alles von den Ärmsten verlangen können. Geschwind legten sie die Kutten ab, und Pierre nahm die Gewänder in Empfang. Dann trat er beiseite, ließ sie in das dunkle Gemach mit der tiefen Grube hinter einem nicht sehr bequemen, aber breiten Balken eintreten und schloß die Tür. Er verweilte noch eine Weile draußen und lauschte mit herzlichem Vergnügen den urwelthaften Lauten, die vom Abtritt herausschallten, und er konnte nicht umhin, ihre Vielfalt zu bewundern. Es furzte und knurzte. Es hallte und knallte. Es krachte, donnerte und strömte. Es riß und schiß. Es war ein gewaltiges Gewitter, das dieses unscheinbare Pulver aus Rhabarberwurzel und Sennesblättern da zuwege brachte, und Pierre war ein wenig stolz darauf, daß er den Männern, denen er zunächst übel mitgespielt hatte, nun so herrliche Erleichterung zuteil werden ließ. Dann aber fiel ihm mitten bei heimlichem Gekicher der Ernst der Stunde ein. Sorgfältig schloß er die eiserne Tür ab und begab sich mit den Kutten zu den wartenden Louis und Omar. Kurz berichtete er das Vorgefallene, ohne jedoch Einzelheiten zu erwähnen. Die Zeit drängte. Sie kleideten sich in die Kutten, schnürten die Hanfstricke
um den Leib und schlichen in den Schlafraum der Mönche. Niemand nahm Notiz von ihnen, als sie sich neben ihnen auf die Matratzen legten. Rundum sägte beruhigendes Schnarchen. Aber die beiden Knappen und der Junge aus dem Morgenlande, der um Rolands Willen seinen Herrn Haggan verlassen hatte, taten vor Aufregung kein Auge zu. Mit klopfendem Herzen dachten sie an ihr Vorhaben. Und wenn sie sich den Ablauf ihres Plans vorstellten, wurde ihnen von Mal zu Mal klarer, daß ihr tollkühnes Unternehmen kaum Aussicht auf Erfolg hatte. Pierre, der eben noch so lustig gestimmt war, schob sich zitternd die Faust in den Mund, weil er meinte, er würde sonst vor erbärmlicher Angst laut aufschluchzen. Noch im Dunkeln wurden die Mönche von Schloßbediensteten geweckt und trotteten einer hinter dem anderen den langen Weg zum Galgen. Noch immer galt das Sprechverbot, und so bestand wenigstens jetzt keine Gefahr, daß jemand die Eindringlinge an ihren jugendlichen Stimmen erkannte. Von ihren Gesichtern waren sowieso nur die Augen zu sehen. Und in der Dämmerung fielen noch nicht einmal die schwarzen Glitzeraugen Louis' und die tiefbraunen Mandelaugen Omars auf. Nun wurden sie aufgefordert, zum Galgen zu wandern und hinter ihm Platz zu nehmen. Abergläubische Furcht preßte Louis das Herz zusammen. Verzagt blickte Pierre zu Boden und wagte nicht einmal, die Lider zu heben. Kein Wunder, daß die beiden Knappen den Galgen nur mit Entsetzen wahrgenommen hatten. Vor gar nicht langer Zeit hatten ihnen aufgebrachte Bürger selber einmal den Strick um den Hals gelegt. Damals hatte Ritter Roland sie im letzten Augenblick gerettet, als sie sich schon im Jenseits wähnten. Heute mußten sie ihm das Leben retten. Aber sie glaubten nicht mehr daran, daß sie es schaffen würden. Die Übermacht war erdrückend. Wie sollte inmitten von vielen 100 Bewaffneten und Tausenden von Zuschauern dieser tolle Handstreich gelingen?
Nein, es war unmöglich. Sie würden mit Roland zusammen untergehen. Nur Omar war ruhig. Zuversichtlich umkrampfte seine kleine, zähe braune Hand unter der schwarzen Kutte den scharfen Krummdolch. * Der Morgen schritt voran. Unter einer Wintersonne, deren ergreifend schöne Klarheit Wald, Feld und Schloß märchenhaft verzauberte, vollzog sich das düster tragische Schicksal des Ritters Roland, der einmal, nur einmal, vom rechten Wege abgeirrt war. Nach jeder Strophe im eintönigen, unendlich traurigen Gesang der Mönche traten die Büttel zu Roland und rissen ihm mit heftigen, absichtlich wilden Bewegungen einen Teil der Rüstung nach der anderen ab. Nun waren sie bei den Beinschienen. Das letzte würden die spitzen Panzerschuhe sein. Danach würden sie seinen Schild vom Mast holen und ihn zerschmettern. Und dann ... In diesem Augenblick tauchten vier Henker in roten Gewändern mit Kapuzen auf. Gemessenen Schrittes näherten sie sich der Richtstätte. Ein Raunen des Erschreckens ging durch die Volksmenge. Viele Frauen schrien laut und ließen dann ihren Tränen freien Lauf. Männer bissen sich auf die Lippen oder knirschten in ohnmächtigem Zorn mit den Zähnen. Andere ballten heimlich die Fäuste oder wandten die Blicke ab. Die vier Henker trugen einen schwarzen Eichensarg. Sie stellten ihn wenige Schritte vor dem Mann ab, der wehrlos, seiner Waffen und Rüstung beraubt, geschändet, vor aller Augen entehrt, am Galgen hing, mit starken Stricken unter den Armen festgeschnürt. Die Henker bückten sich erneut und klappten den Deckel auf. Und mit brennenden Augen starrte Roland in den offenen Sarg. Seinen Sarg! Der Anblick ließ ihn frieren. Mit einem Schlag begriff er die ganze Schrecklichkeit des Todes. Eines Todes, den er in der Blüte seiner Jugendkraft erleiden sollte. Und warum? Eines
einzigen Irrtums wegen! Es schien, als hegten die Menschen rund um die Richtstätte ähnliche Gedanken. Denn ihre Unruhe, wurde immer größer. Die Menschen der damaligen Zeit waren öffentliche Hinrichtungen gewöhnt. Ohne Mitleid, ja, mit einer gewissen Befriedigung sahen sie zu, wenn Verbrecher vom Leben zum Tode gebracht wurden. Aber Roland war alles andere ein Verbrecher. Er war bereits ein glänzendes Vorbild der Jugend geworden! Gewaltsam wendete Roland den Blick von seinem eichenen Sarg ab, aber das Frieren blieb. Es war, als sei es plötzlich kälter geworden. Kälter und auch ein wenig dunkler, obwohl keine Wolke den Himmel trübte und die Sonne sich noch in aufsteigender Bahn befand. Irgend etwas Unheimliches lag in der Luft! * Der kleine Graue schnaufte erwartungsvoll, als Heide den Stall betrat. Aber er wurde enttäuscht. Seine Herrin würdigte ihn keines Blicks und ging eilig an ihm vorbei. In langen Reihen standen die Pferde des königlichen Schlosses an den Längswänden. Es gab viele edle Tiere darunter. Aber alle überstrahlte der herrliche Araber, der Rappschimmel Samum, das Pferd Rolands. Erkannte er Heide? Wohl kaum. Doch wühlte er zutraulich die Nüstern in ihre hochgereckte Hand, als sie bei ihm stehenblieb. Wahrscheinlich hätte er jeden so begrüßt, der ihn nach tagelangem Herumstehen Aussicht auf einen herzhaften, langen Galopp, ein Austoben im Freien verhieß. Denn der ebenso schnelle wie ausdauernde Hengst fühlte sich vernachlässigt. Nur selten erschien der königliche Marschall, der als einziger Erlaubnis hatte, ihn zu reiten. Der Herr war schon ein wenig ältlich geworden, und wenn Samum unter ihm weit ausgriff, wurde es dem Reiter mulmig. Samums Erwartungen stiegen, als Heide ihm den Sattel auflegte.
Sie band ihn los und führte ihn ins Freie. Dort saß sie auf, hielt ihn aber mit Schenkeldruck und Zügelführung zunächst im Schritt. So kamen sie zur Wache. Drei Männer vertraten ihnen den Weg. »Das ist Samum«, rief der erste, »das Pferd des Verräters. Nur der Marschall darf ihn ausreiten. Zurück mit euch, Fräulein! Sonst müssen wir Gewalt anwenden. Zur Bestrafung melden werden wir Euch sowieso!« Ein wenig nur entspannte Heide die Muskeln der Oberschenkel. Kaum merkbar lockerte sie die Zügel. Und wirklich, nur mit der Sporenspitze kitzelte sie die Weichen Samums. Der aber rannte los, als wäre ein Rudel hungriger Wölfe hinter ihm her. Die Wächter wurden völlig überrumpelt. Einen stieß der Hengst mit der Schulter zur Seite, daß der der Länge nach hinfiel. Den beiden anderen blieb nichts weiter übrig, als dem davongaloppierenden Pferd mit der schönen Reiterin offenen Mundes nachzuschauen. In Windeseile hatten sie den Waldrand erreicht. Der erste Wächter erhob sich vom Boden. »Am besten, wir tun, als wäre nichts geschehen«, sagte er. »Sonst kriegt uns nur der Burgvogt am Arsch, streicht uns den Sold und läßt uns die Latrinen säubern.« »Ganz meine Meinung«, bestätigte der zweite. »Es ist ja auch nichts geschehen«, sagte der dritte. »Ich habe jedenfalls nichts bemerkt.« Sie waren sich wieder mal einig. Heide verhielt vor den kahlen Birken und weißüberzuckerten Fichten. Unter ihr lag in der Ferne der Richtplatz. Sie biß sich auf die Unterlippe, als sie Roland einsam vor seinem Sarg sah. Auch für sie war er ein Verräter gewesen. Ihre Liebe hatte er verraten. Noch hatte sie seinen Schwur im Ohr. Wenn ich dir je untreu werde, meine Liebste, dann soll die Sonne am hellen Tag verschwinden und mitternächtliche Finsternis den heiteren Mittag ersetzen. Und dann hatte er sich Griseldis an den Busen geworfen! Ja, sie haßte ihn deshalb. Aber sie liebte ihn auch noch. Und er
durfte nicht sterben! Heide war von den Knappen in deren Plan eingeweiht worden und hatte sich sofort bereit erklärt, eine Rolle zu übernehmen. Sie würde am Waldrand mit Samum warten, wenn die drei Jungen den Ritter befreit hatten. Er brauchte nur zu Fuß ihren Warteplatz zu erreichen. Dann konnte er Samum besteigen und mit ihm die Flucht fortsetzen. Aber als sie jetzt auf den weiten Platz sah, sank ihr das Herz. Selbst wenn es den Knappen und Omar gelang, ihn von den Stricken zu befreien, würde er nach wenigen Schritten von den zahlreichen Bütteln, von den Rittern oder von Zuschauern eingeholt und überwältigt werden. »Roland«, flüsterte Heide. Und im Angesicht seines sicheren Todes und dem Ende aller ihrer Hoffnungen vergab sie ihm. Ihr Haß schwand, und ihre Liebe zu dem Todgeweihten wurde so übermächtig in ihr, daß ihr die Sinne schwanden und sie ohnmächtig vom Pferde sank. Ihre letzte Empfindung war, daß eine ungeheure Kälte durch die Luft schnitt und die Sonne alle Kraft verlor ... * In der Waldburg hob Haggan einen goldenen Pokal, der wohl zwei Liter Wein faßte, und lachte dröhnend. Die Ritter Lutz und Gottlieb tranken aus viel kleineren Pokalen. »Was ist der Grund Eurer Fröhlichkeit?« fragten sie. Denn seit dem Verschwinden seines Lieblings Omar hatte Haggan nur kalte Verdrossenheit zur Schau getragen. »Gleich sollt Ihr es erfahren«, antwortete Haggan. »Erlaubt, daß ich erst diesen Humpen leere.« »Etwa auf einen Zug?« meinte Gottlieb listig. »Guter Gedanke!« lobte Haggan. »Ich erhielt soeben eine Nachricht, die einen starken Trunk verdient.« Er setzte das Gefäß an die Lippen. »Bei meinem und deinem Arsch, das schaffst du nie!« kreischte
der Grobe Gottlieb. »Ich wette zehn Dukaten dagegen!« »Die Wette gilt!« erwiderte Haggan, und seine finsteren Augen waren scharf und stechend wie zwei Messer. Schon hob er den Stiel des Glases und begann zu schlucken. Nun war die Reihe an Gottlieb, unmäßig zu lachen. Der leidenschaftliche Wetter meinte, noch nie so schnell zehn Dukaten gewonnen zu haben. Doch bald verging ihm das Lachen. Denn Haggan soff und soff und fand kein Ende. Bedenklich ging der Wein im Pokal zur Neige. »Hör auf!« schrie Gottlieb. »Setz ab! Du ruinierst dich! Soviel Wein auf einen Schlag macht krank!« Ihm bangte es nämlich um seinen Einsatz. Aber Haggan schluckte unbeirrt weiter, bis nur noch Luft im Glas war. Dann setzte er das Gefäß ab und drehte es um. Kein Tropfen fiel zu Boden. Er hatte es wirklich leergesoffen. Haggan holte tief Luft, warf den Pokal gegen die Wand, daß er zerschellte, und hielt die Hand offen hin. Mißlaunig zählte ihm der Grobe Gottlieb zehn Goldmünzen in die Handfläche. Haggan strich sie ein und klopfte dem Verlierer munter auf die Schulter: »Nun zieh nicht so ein langes Gesicht, alter Zottelbär! Was ich euch jetzt berichte, muß jeden echten Glücksritter und ArtusFeind fröhlich stimmen. .So hört denn: In dieser Stunde erleidet Roland den Tod durch Entritterung!« Ein paar Augenblicke lang sahen Lutz und Gottlieb den Sprecher überrascht an. Dann fielen sie sich glückstrahlend in die Arme und tanzten bärenhaft miteinander. »Mehr Wein her!« schrie Haggan, und die Knappen spritzten eilfertig herbei. »Mein schlauer Plan gelang. Der einzige Mann, der uns die Eroberung Camelots hätte vereiteln können, wird von seinen eigenen Leuten umgebracht! Ich habe den Naseweis getäuscht! Ich habe den senilen Kopfwackler Artus reingelegt! Ich habe der Tafelrunde einen Kandidaten weggenommen, der binnen kurzem aller Ruhm in den Schatten gestellt hätte.« Die drei Männer ließen sich neue Pokale reichen, taten einander
Bescheid und tranken in herzhaften Schlucken. Lutz zählte die Ritter auf, die er auf seine Seite gebracht hatte. Der Grobe Gottlieb nannte seine Lehensmänner, die bisher als Raubritter durch die Lande gezogen waren. Und Haggan verwies auf seine Höllensöhne, die es vor Kampfbegier kaum noch in der Burg litt. »In drei Tagen«, kündigte er an, »reiten wir gen Camelot und holen die Krone, die mir gebührt!« Johlend fielen die beiden anderen in sein Triumphgeheul ein. Sie schlugen sich auf die Schenkel. Sie soffen und prahlten. Sie schmiedeten Pläne und trieben ihren Spott über die verblendeten Ritter von Camelot und ihren unfähigen König... Trotz seiner Trunkenheit bemerkte Haggan als erster, wie unruhig die Knappen umherliefen, wie sie mit bleichen Gesichtern heimlich untereinander flüsterten. »He, ihr Leute«, rief er mit rauher Stimme, »was schleicht ihr mit Geistergesichtern an den Wänden entlang? Was schreckt euch? Los, gebt Antwort!« Ein Knappe trat zitternd vor, deutete zur Tür und sagte mit angstvoll verzogenen Lippen: »Herr, Unheil bahnt sich an. Die Sonne ... Die Sonne ... Es ist keine Wolke am Himmel... Aber die Sonne ... Sie wird immer kleiner und dunkler!« * Es war nicht mehr lange bis Mittag, als endlich ein Page die verzweifelten Schreie und die Klopfgeräusche der drei im tiefsten Abtritt eingesperrten Mönche hörte. Er benachrichtigte den Stellvertreter des Burgvogts. Der stieg selber nach unten und schloß mit eigener Hand die Tür auf. Gestank schlug ihm entgegen. Er rümpfte die Nase. »Wer schrie da?« Mehr tot als lebendig, übernächtigt und blaß torkelten ihm in ihren härenen Unterkleidern die drei Mönche entgegen, denen Pierre in der vergangenen Nacht so übel mitgespielt hatte. Sie sprachen alle durcheinander, fielen sich gegenseitig dauernd ins Wort und
verhaspelten sich vor Aufregung. So dauerte es geraume Zeit, bis der Stellvertreter des Burgvogts aus ihren wirren Reden schlau wurde. Am liebsten hätte er den Kerlen ja noch einen Tritt in den Hintern versetzt. Aber nun hieß es sich sputen. Wer weiß, was das hinterhältige Manöver des Pagen Pierre zu bedeuten hatte? War er nicht als Knappe mit Roland geritten? Plante er etwa in der Vermummung eines Mönches eine Verzweiflungstat unter dem Galgen? Der Stellvertreter war ein energischer Mann. Er hieß eine Rotte von Knappen sich bewaffnen und stürmte mit ihnen in den Wintertag, der ihm nicht mehr ganz so hell erschien wie zuvor, obwohl der Himmel in makellosem, zartem Blau schwamm. Irgend etwas war mit der Sonne ... Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Gefolgt von den Knappen erreichte er den Baldachin, unter dem die Edlen saßen. Er unterrichtete den Burgvogt, der ihm sogleich den Befehl erteilte, die frechen Kuttenräuber unter dem Mönchschor herauszusuchen und abzuführen, ehe sie Unheil stiften konnten. Pierre sah die Vorgänge und deutete sie sofort richtig. Das Herz schlug ihm, als wolle es die Brust zersprengen. Die Angst lag wie ein schwerer Klumpen auf seinen Schultern. Er wußte, sie waren entdeckt, ihr Anschlag verraten. Wie gehetzt schaute er um sich. Er sprang auf. »Louis, sie holen uns!« schrie er mit sich überschlagender Stimme. Wild stieß er den Mönch, der vor ihm saß, zur Seite und suchte sein Heil in eiliger Flucht. Aber der dicke Knappe kam nicht weit. Sternförmig kam die Schar der Häscher auf ihn zu. Er versuchte noch, Haken zu schlagen, aber schon beim zweiten rutschte er aus und fiel hin. Schon saß ihm ein Häscher im Nacken, versetzte ihm gleich ein paar Püffe, verdrehte ihm die Arme und zerrte ihm die Kutte von den Schultern. Pierre vergingen vor Angst fast die Sinne, als er eine wütende Stimme hörte: »Du nachgemachter Mönch kannst dir gratulieren! Dir geht's jetzt dreckig! Ich sorge dafür, daß du deines
Lebens nicht mehr froh wirst, so wahr ich der Stellvertreter des Burgvogts bin!« Auch Louis war aufgesprungen. Doch er dachte nicht an Flucht. Seine Hand tastete unter der Kutte zum Griff des verborgenen Kurzschwerts. Unschlüssig blieben die übrigen Häscher vor der Gruppe der Mönche stehen, die einer dem anderen zum Verwechseln glichen. Sie hatten aufgehört zu singen und erhoben sich in großer Verwirrung. Zugleich breitete sich eine seltsame Düsternis über dem Gelände aus, als bräche die Nacht herein ... Und es war doch erst kurz vor Mittag! Plötzlich streckte einer der Mönche den Arm aus, deutete auf Louis und schrie: »Das ist der zweite! Ergreifen! Ergreift die Lumpenhunde.»Noch ehe Louis das Schwert heben konnte, hingen zwei Häscher an seinen Armen, und zwei andere entwanden ihm mit Gewalt die Waffe. Omar aber duckte sich wieder unter die anderen Mönche. Er hatte Louis geopfert, um selber unentdeckt zu bleiben. Sein Krummdolch hatte Roland schon einmal gute Dienste geleistet, als er ihn ihm im Geheimgemach von Atzerath zum Schutz vor dem tobenden Trumm zuspielte ... Roland hatte von dem Zwischenspiel überhaupt nichts bemerkt. Seine Augen brannten vor Scham, als er zusehen mußte, wie sie seinen Schild zerbrachen, während der Wappenherold sein Todesurteil verlas. Rundum lagen im Gras verstreut die gezackten Stücke des erprobten Schilds. Rolands Ohren dröhnten, als die Trompeten schmetterten und König Artus mit weithin schallender Stimme zu reden begann: »Ich enthebe hiermit Roland dem heiligen Ritterstand. Seine schmachvollen Sünden wider die Gesetze der Ritter sind übergroß und durch nichts zu sühnen.« Noch einmal meldete sich der Wappenherold. »Nicht allein Roland sei für alle Zeiten verflucht, sondern die sündigen Eltern, die ihn geboren, und alle seine Verwandten, Kinder und Kindeskinder. Wer auch nur einen Tropfen vom verfluchten Blut dieses Verräters in den Adern hat, ist unedel und gemein, für alle Zeiten unwürdig zum Waffentragen und zur Teilnahme oder zum Besuch ...«
Der Herold stockte mitten im Satz und richtete mit einem Ausdruck fassungslosen Staunens den Blick zum Himmel, der jetzt nicht mehr in freundlichem Blau strahlte, sondern schwarz wie der Nachthimmel erschien. Und wie der Herold, so taten es alle. Die Mönche, die Büttel, die Häscher, die Henker, die Tafelrunde, die schluchzenden Frauen, die Männer des Volks. Noch einmal ermannte sich der Herold und fuhr mit belegter Stimme fort: »Oder zum Besuch von Turnieren, königlichen Hofhaltungen und Versammlungen. Bei Verstoß werden sie zur Strafe nackt ausgezogen und als niedere Gemeinlinge öffentlich mit Zuchtruten geschlagen werden!« Aber niemand auf dem weiten Feld lauschte noch den furchtbaren Worten. Entsetzen breitete sich unter den Menschen aus. Schreie der Angst und Verzweiflung gellten von allen Seiten. Dunkler und dunkler wurde es. Es war, als werde die Sonne von teuflischer Schwärze aufgesogen, als verlösche sie... Wer rief es zuerst, das Schreckenswort? Ein Bauer, eine Frau, ein Ritter? Genug. Jetzt riefen es in panischer Verwirrung hunderte: »Der Jüngste Tag ist angebrochen!« Während sich dieser Ruf wie ein Lauffeuer fortpflanzte, erhob sich an anderer Stelle ein Ruf, der äußerste Verzweiflung kundtat. »Wir sind alle verloren! Die Welt geht unter!« Niemanden hielt es mehr an seinem Platz. Obwohl alle überzeugt waren, daß Rettung ausgeschlossen war, daß sie alle von der großen Dunkelheit, der großen Kälte, dem großen Nichts wie von einem Riesendämon verschlungen werden würden, rannten sie nach allen Seiten auseinander, als könne man doch irgendwie entkommen, wenn man nur die richtige Himmelsrichtung fand. Es war ein Chaos ohnegleichen. In der Düsternis, in der man kaum die Hand vor Augen sah, stießen sich die Menschen gegenseitig nieder, gerieten in unerbittliche Prügeleien, schlugen, traten, kratzten, heulten, schrien wie Ver-
dammte und kannten kein Erbarmen gegen den Mitmenschen. Es war, als habe ihnen das Verschwinden der Sonne allen gleichzeitig den Verstand geraubt und lange überwundene Urängste geweckt. Auch Omar war ein einziges zitterndes Bündel Angst. Aber seine rechte Hand ließ den Griff des gefährlichen, messerscharfen Krummdolches nicht los, den er zu dem vorgesehenen Anschlag unter der geraubten Mönchskutte verborgen trug. Und diese seine rechte Hand war klüger als sein Verstand, der sich verwirrt hatte. Die rechte Hand und das Gefühl des Waffengriffs erinnerten ihn daran, daß er geschworen hatte, Roland zu befreien, bevor sie ihn am Halse hängten. Aber wo war Roland? In dem Durcheinander und der fast nächtlichen Finsternis hatte er jede Orientierung verloren. Er wußte nicht, wie oft ihn Fremde angestoßen, niedergeschlagen, herumgewirbelt hatten. Seine Augen waren tränennaß. Seine Ohren gellten von den Schreien der verschreckten Menschen. Da sah er nicht weit ein Feuer aufflammen. Es kam aus dem lederartigen Schlund Funkenmanns, des Feuergauklers. Zusammen mit seinem Kameraden Schiebermann hatte er seit dem frühen Morgen einzelne Gruppen in der Menge mit den gewohnten Kunststücken unterhalten. Ihre Taschen waren schwer von kleinen Kupfermünzen, die man ihnen gespendet hatte. Ja, sie hatten einen einträglichen Vormittag hinter sich. Als einzige fast erlebten sie das unbegreifliche Ereignis mit Gelassenheit. Sie glaubten weder an den Jüngsten Tag noch an Weltuntergang oder daran, daß sie alle verloren seien. Ihrer Natur und ihrer Arbeit gemäß hielten sie den plötzlichen Eintritt der Nacht am hellen Tag für ein lustiges und bewundernswertes Gauklerstückchen des lieben Gottes, dem sie fachmännischen Beifall zollten. Noch dreimal stob Feuer aus Funkenmanns Mund. In dem Licht, das er jeweils für einige Augenblicke verbreitete, gewann Omar die Übersicht wieder.
Er sah, daß es nur ein paar Schritte bis zu dem Galgen waren. Er erblickte auch Schiebermann und schloß sich den beiden Gauklern an, die jetzt rasch die kleine Anhöhe zum Schafott hinaufstiegen. Roland war ganz allein. Seine Bewacher und Henker waren Hals über Kopf geflohen. Mut strömte in Rolands Herz. Der Himmel selber hatte den Fortgang der Entritterung verhindert! Also war er doch nicht schuldig, sondern böse List hatte ihn als Schuldigen erscheinen lassen. Er war gerettet! Nun galt es nur noch, die Stricke zu zerreißen, die ihn an den elenden Galgen fesselten. Mit seiner Riesenkraft zerrte er daran und spürte auch schon, daß das etwas nachlässig geschlungene Flechtwerk an seinem rechten Arm nachgab. Roland teilte nicht die abergläubische Furcht des Volkes vor der unbegreiflichen Himmelserscheinung. Dafür hatte er bei dem weisen Einsiedler Klaus eine zu gute und gründliche Erziehung genossen. Er wußte sofort, daß es sich um eine Sonnenfinsternis handelte, die seit Anbeginn der Welt in unregelmäßigen, aber stets langen Abständen stundenweise auftrat, weil der Lauf der Gestirne es so wollte. Sie mochte unwissende Geister verwirren, war aber im übrigen so ungefährlich wie das allnächtliche Dunkel. Man konnte sie sogar, wenn man die Kenntnisse des Eremiten besaß, vorher auf den Tag genau berechnen! Nun verstand Roland den Ratschlag seines alten Lehrers Klaus, er solle als letzten Wunsch verlangen, den Tag der Entritterung um 24 Stunden vorzuverlegen. Klaus kannte den Termin der Finsternis lange voraus und hoffte, daß Roland, da alle anderen Rettungsversuche unsinnig waren, in der allgemeinen Verwirrung entkommen würde. Heiße Dankbarkeit erfüllte Roland. Und mit verstärkter Kraftentfaltung zerrte er an den lästigen Stricken. Dann sah auch er die Gaukler.
Fast hatte er den rechten Arm frei, als drei Schatten vor ihm auftauchten. Eine zitternde Stimme flüsterte verzagt: »Gleich du frei, Roland. Hier Dolch, ich schneiden, alles extraprima!« »Omar!« Und von Angst geschüttelt ermannte sich der Junge aus dem Morgenland dazu, die Hand mit dem Krummdolch zu heben und die letzten Stricke zu zerschneiden. Roland fühlte festen Boden unter sich. Arme und Beine waren frei! Zwar schmerzten sie nach der langen Fesselung und ließen sich nur mit Mühe langsam und schwerfällig bewegen. Aber das würde sich bald ändern. Funkenmann klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sagte in seiner mitteilsamen Art, als handle es sich um einen vergnüglichen Scherz: »Am westlichen Waldrand unter den Birken und Fichten wartet Heide Euer und mit ihr Euer gutes Pferd Samum.« Roland fühlte überströmende Freude. Er wollte Omar und Funkenmann umarmen und ihnen jubelnd für ihre Hilfe danken. Doch da schob sich der dritte Schatten vor die beiden. Schiebermann! Der Schwertschlucker faßte sich ins Gehege der Zähne, aus denen der Griff einer Waffe ragte, die er heute schon an die dutzendmal zum Erstaunen seines Publikums tief in seinen Körper gestoßen hatte. Jetzt zog er sie mit einer einzigen unnachahmlichen, in langen Jahren erlernten kunstvollen Bewegung heraus und drückte sie Roland in die Hand. Roland spürte, daß er mit dieser Übergabe der leichten Waffe 1000 gute Wünsche verband, obwohl Schiebermann, seiner Gewohnheit gemäß, stumm blieb. »Und nun«, ließ sich Funkenmann vernehmen, »zeig' ich Euch die Richtung, Ritter!« Noch einmal riß er das an lodernde Hitze gewöhnte Maul weit auf und blies mit aller Lungenkraft. Doch der Feuerstrom war versiegt. »Tut mir leid«, sagte er. »Hab' mein ganzes Feuer schon vergeudet.« Zum ersten Mal seit Wochen mußte Roland lächeln, so komisch erschien ihm dieses Mißgeschick des erfahrenen Gauklers.
»Keine Sorge«, beruhigte er den zerknirschten Funkenmann. »Ich kenne die Richtung. Ich finde Heide unfehlbar!« Und das war die Wahrheit. Denn niemand hatte Roland angestoßen, niedergeschlagen und herumgewirbelt. Er wußte die Himmelsrichtungen genau. »Lebt wohl, Freunde!« rief er, und seine Stimme hatte wieder den warmen, kräftigen Klang, den sie von ihm kannten. »Ich komme wieder.« Schiebermanns Schwert schwingend machte er sich auf den Weg. Nur die ersten 20 Schritte fielen ihm schwer. Dann begann sein junges Blut wieder in gewohnter Weise durch die so lange abgeschnürten Adern zu kreisen. Sein Schritt wurde länger. Bald lief Roland, leichtfüßig wie eh und je, mit ausholenden Sätzen über das Gras, und trotz der nachtdunklen Umgebung hielt er die Richtung unwandelbar ein. So kam er Heide und Samum rasch näher, und sein Herz schlug in heller Vorfreude. * Heide erwachte aus ihrer Ohnmacht, weil die Kälte ihr schneidend ins Fleisch fuhr. Sie schlug die Augen auf und sah nichts. Es war stockdunkel! Verwirrt richtete sie sich auf. Ein leises Schnaufen erreichte ihr Ohr. Samum! War es schon Nacht? Unmöglich. Sie konnte nicht so viele Stunden im Schnee gelegen haben, ohne zu erfrieren. Irgend etwas Ungewöhnliches war im Gange. Sie sah zum Himmel auf, der schwarz wie zur tiefsten Nachtzeit war, aber nicht den kleinsten Stern aufwies. Doch in halber Höhe des Zenits sah sie einen glühenden Ring. Es mußte die Sonne sein. Irgend etwas aber verdeckte ihre Scheibe. Nur aus den Rändern schossen, schwache Strahlen hervor. »Hei - de! Hei - de!«
Die Stimme drang wie durch eine Watteschicht, aber sie war unverkennbar. Roland rief nach ihr! »Hier bin ich! Hierher!« Sie hörte ihn lange, bevor sie ihn sah. Er mußte schnell gelaufen sein, so hastig ging sein Atem. Keuchend überwand er den letzten Anstieg. Dann lag sie in seinen Armen. »Wie kalt du bist«, sagte er voll Mitleid. »Wie heiß du bist«, antwortete sie. Ihre Lippen verbissen sich ineinander. Erst jetzt sah sie ihn, so finster war es noch. Von unten herauf drang Geschrei von 1000 tobenden, entfesselten, geängstigten Menschen. Sie aber fühlten sich unbedroht, frei, gerettet! Endlich trennten sich ihre Lippen. Sie rangen nach Atem. Dann stieß er hervor: »Wir müssen fort! Wir sind nur sicher, solange diese Finsternis dauert. Danach ... Wo ist Samum? Man sagte mir ...« »Hier ist er, mein Liebster!« Der Hengst drängte sich an seinen Herrn. Roland streichelte beglückt seine Flanken. Er fühlte, ob der Sattel richtig saß. Er prüfte den Sitz des Steigbügels und des Halfters. Dann saß er auf. Er spürte, wie Samum zu trippeln begann. Ungeduld erfaßte das edle Tier. Es wollte laufen, rennen, im Galopp über die Erde fliegen ... Roland beugte sich hinab und streckte die Arme nach Heide aus, um sie vor sich auf Samums Bücken zu heben. Er spürte sie in beiden Händen. Doch plötzlich ging ein Ruck durch ihre schlanke Gestalt, die er so verzehrend liebte, und er hörte sie rufen: »Mit dir reite ich nie mehr! Du hast mich betrogen. Weißt du noch, wie du mir Treue schworst?« »Und ob ich es weiß! Nie werde ich es vergessen! Es kam aus dem tiefsten Grund meines Herzens.« »Lügner! Sieh, selbst die Sonne verfinstert sich am hellichten Tag! Unerhörtes geschah, weil du es herausfordertest! Dies ist der Beweis, daß du mich mit Griseldis betrogst! Laß mich los!« Nur fester schlossen sich seine Arme um ihre verlockenden
Hüften. Er hob sie an. Sie strampelte. Aber seiner Kraft war sie nicht gewachsen. Noch ein Ruck, und sie würde vor ihm auf Samums Rücken sitzen... Da fiel ihm ein, was er ihr in Atzerath geschworen: Wenn ich dir je untreu werde, meine Liebste, dann soll die Sonne am hellen Tag vom Himmel verschwinden und mitternächtliche Finsternis den heiteren Mittag ersetzen! Wie gut er ihr Zappeln, ihr Strampeln, ihren herben Widerstand begriff! Der Wortlaut dieses Schwurs schien zu bezeugen, daß er sie mit einem anderen Weib, mit Griseldis betrogen hatte. Aber es schien nur so! Die Worte der Menschen sagten nicht immer aus, was wahrhaftig geschah in der Welt. Worte von Herolden und Worte aus Königsmund hatten ihn verdammt, obwohl nie ein Falsch in seinem Herzen gewesen war! Er zog Heide vollends hinauf und legte seine Arme beschützend um sie. Ihm schien, als leiste sie keinen Widerstand mehr. Sie lehnte sich an seine Brust. Und das Naturwunder, das die Menschen von Camelot so unerwartet überfallen hatte, wendete sich zum Gegenteil. Die Schwärze gerann zum lichten Grau. Schatten lösten sich zu erkennbaren Umrissen auf. Der lichte Ring am Himmel verstärkte sich an einer Seite. Die Sonne hatte bereits den Umriß eines Viertelmonds. Der Schnee war nicht mehr schwarz. Er schimmerte dunkelgrün. Roland griff mit der freien Hand in Samums Zügel. Sein Griff um Heide wurde stärker. »Halte dich fest, Liebste, jetzt geht es über Stock und Stein!« Er gab Samum mit den Fersen das Zeichen zum Angaloppieren. Aber der Rappe rührte sich nicht von der Stelle. Eine wohlbekannte Stimme rief flackernd: »Halt, Verräter! Keinen Schritt weiter. Du stürzt in mein Schwert!« Die Welt wurde heller. Vor ihnen stand ein Mann mit edlen Gesichtszügen, rot leuchtendem Haar und kraftvollem Körper. Auch er trug keine Rüstung, und auch er hielt nur den leichten Fechtdegen
wie Roland. Es war Douglas Heißblut, der im Gottesurteil-Kampf Volker vom Hohentwiel überwunden hatte. »Roland«, sagte er, und die wiederauferstandene Sonne ließ sein Haupthaar lodern. »Jetzt hab' ich dich! Jetzt stirbst du!« Schon wurde es lichter. Die Schatten wichen. »Flieh, Roland, flieh!« rief Heide angstvoll. Doch dafür war es sowieso zu spät. Douglas war schon nahe heran. Als einziger hatte er rechtzeitig die Verfolgung Rolands aufgenommen. Was scherte ihn die abergläubische Angst des Volkes! In seinem feurigen Überschwang kannte er kein Zagen, kein Zittern. Roland glitt vom Pferd und stand nun Douglas gegenüber. Noch ein wenig im Halbdunkel, aber deutlich hoben sich die Umrisse des Gegners ab. Und dann klang es schon hell wie Vogelruf oder Instrumentensang. Sie kreuzten die Degen. Sie führten die ersten Schläge. Es war Douglas' zweites Duell an diesem Tag, und sicherlich war er zu Pferd mit der Lanze ein gefährlicherer Gegner als zu Fuß mit dem Degen. Roland drängte ihn schnell in die Verteidigung. Dicht über Douglas‘ Haupt tanzte Rolands Degen, und mehrmals konnte der Rotkopf erst im allerletzten Augenblick durch eine verzweifelte Parade schwere Verwundungen vermeiden. Und doch mußte er Schritt um Schritt zurückweichen. Ein Ausfall Rolands, der Douglas Heißblut überraschte, schien den Kampf endgültig zu entscheiden. Aber da trat Roland mit dem vorderen Fuß in ein Kaninchenloch und stürzte - fast in den vorgestreckten Degen des Gegners. Douglas stieß einen Jubelruf aus und warf sich auf den Gefallenen. Roland empfing ihn mit Fußtritten. So hielt er ihn sich vom Leib, bis er wieder auf beiden Beinen stand. Beim nächsten Angriff vermied er das tückische Loch im Boden. Sein Schlag von schräg oben fegte Douglas' Degen zur Seite. So viel Kraft saß dahinter, daß der heißblütige Jüngling die Hand öffnen und
seinen Degen fahrenlassen mußte. Den Tod vor Augen schwankte Douglas nur ganz kurz. Er war tollkühn und furchtlos, aber er war nicht verrückt. Und nur ein Verrückter hätte jetzt weitergekämpft. Douglas wußte, wann er verloren hatte. Und daß es dumm war, als Verlierer den Platz zu behaupten. Also wendete er sich zur Flucht. Jetzt galt es nur noch, das Leben zu bewahren. Denn sterben wollte Douglas nicht. Nicht für König Artus, nicht für seinen Onkel Wilhelmus, nicht für Camelot. Er wollte am Leben bleiben und sich mit der Waffe Ehre und Schätze erwerben. Douglas floh wie ein Hase, der in der Ackerfurche aufgescheucht wurde. In Kürze verschwand er in den Büschen. Roland folgte ihm nicht. Auch er war ein Mann auf der Flucht. Je mehr Meilen er zwischen sich und Camelot legte, um so besser für ihn. Von fern hörte er Douglas’ herausfordernde Stimme: »Dich treff’ ich wieder, Verräter! Nie sollst du Ruhe vor mir haben. Und solltest du an den Rand der Welt fliehen, ich erwische dich doch!« Roland zuckte die Achseln. Als er sich in den Sattel schwang, umarmte Heide ihn und küßte ihn glücklich, weil er unverletzt geblieben war. »Halt dich fest!« rief Roland. »Wir haben einen weiten Ritt vor uns. Wir reiten Haggan entgegen - zum Ort der Abrechnung!« Als Samum angaloppierte, strahlte die Sonne friedlich und heiter wie vor einer Stunde, und nichts erinnerte mehr an die erschreckende Finsternis.
Ende des zweiten Teil der Trilogie
Liebe Ritter-Roland-Freunde, in 14 Tagen kommt mit dem Band 30 der letzte Teil der Trilogie von Ekkehart Reinke auf den Markt. Die Spannung ist groß. Wird Roland seine Ritterwürde zurückerhalten? Mit Band 30 beenden wir auch vorzeitig die Ritter-RolandReihe. Wir müssen diesen Schritt wählen, weil die Leserschaft nicht groß genug war. - Allen Ritter-RolandStammlesern möchte ich an dieser Stelle für ihre Treue danken. »Steigen« Sie nächste Woche ein in:
Die Schlacht um Camelot Der Posten am niedergebrannten Wachfeuer spähte angestrengt in den Morgennebel. Er weckte seine schlafenden Kumpane. »Da kommen zwei!« warnte er. Die Männer sprangen auf, griffen zu ihren Spießen und starrten in die weißen Schwaden, aus denen sich zwei Gestalten auf derben Bauernpferden lösten. Der größere Reiter hatte struppiges braunes Haar. Von seinem Gesicht war nichts zu erkennen. Es wurde von einer schwarzen Maske verdeckt. Als sie auf 20 Schritte heranwaren, schrie der Posten: »Halt! Wer da?« Die beiden Reiter ließen sich nicht beirren. Sie kamen immer näher. Der kleinere, der schmächtig in den Schultern, aber mächtig in der Leibesmitte war, zog sein Schwert und stach es steil in die Luft. Einige Strahlen, die in diesem Augenblick als Vorhut der Sonne durch den Nebel schossen, ließen die Spitze der Klinge rot erglühen. »Platz für den schwarzen Ritter!« schrie der Dicke. »Wer den Weg nicht freigibt, der stirbt!«