SCIENCE FICTION ROMAN
Alexis A.Gilliland
Unabhängigkeit für Rosinante LONG SHOT FOR ROSINANTE
Deutsche Erstveröffent...
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SCIENCE FICTION ROMAN
Alexis A.Gilliland
Unabhängigkeit für Rosinante LONG SHOT FOR ROSINANTE
Deutsche Erstveröffentlichung
Wilhelm Goldmann Verlag
Aus dem Amerikanischen übertragen von Dr. Eva Maisch
Made in Germany – 1/84 – 1. Auflage 119 © der Originalausgabe 1981 by Alexis A. Gilliland This translation published by arrangements with Ballantine Books, A Division of Random House, Inc.
© der deutschsprachigen Ausgabe 1984 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Design Team München Umschlagillustration: Rick Sternbach/Ballantine Books, New York Satz: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Druck: Eisnerdruck GmbH, Berlin Verlagsnummer 23449 Lektorat: Helmut Putz/Peter Wilfert Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23449-2
1 William Marvin Hulvey zog seinen schwarzen Regenmantel aus und gab ihn dem Robot-Diener, der ihm eine grüne Plastikmarke reichte. »Okay, Stan«, sagte er, »der Präsident will mich sehen. Du hast vermutlich keine Ahnung, warum?« Stanley Bowman, der Leiter des NAURA-Sicherheitsdienstes, lächelte schwach und polierte seine randlose Brille mit einem makellos sauberen Taschentuch. »Ich habe nicht gesagt, daß er dich sehen möchte, Willy. Ich habe gesagt, daß er dich sehen muß. Wahrscheinlich kann er deinen Namen gar nicht mit deinem Gesicht in Verbindung bringen, aber glaub mir, Willy, Präsident Forbes ist auf deine Dienste angewiesen.« »Hör mal, Stan, wenn das so ist, braucht er mir doch nur eine Aktennotiz zu schicken. Habe ich recht? Natürlich habe ich recht!« Ein Beamter vom Geheimdienst, der einen erstklassigen Maßanzug trug, führte sie ins Atrium des Präsidentenhauses, wo ein großer Mann mit nahezu kahlem Schädel unter rosa und weiß blühenden Hartriegelzweigen stand, ein Glas Bourbon in der Hand. »Bob«, sagte Stanley Bowman, »das ist William Hulvey, mein Commissioner, der den Militärischen Geheimdienst leitet. Willy, das ist Robert Schlecter, der Stabschef des Präsidenten.« Sie schüttelten sich die Hände. »Soll ich Ihnen was zu trinken holen?« fragte Schlecter. »Nein«, erwiderte Hulvey. »Ich trinke zwar – aber nicht jetzt.« »Sie haben sicher recht«, meinte Schlecter. »Nun, es war ein schlimmer Tag.« Präsident John R. Forbes kam herein. »Kennen Sie Mr. Hulvey, Sir?« fragte Bowman. »Wir sind uns schon mal begegnet«, antwortete der Präsident. »Bob, stell den gottverdammten Drink weg, und spiel das Videoband ab. Ich nehme zwar an, daß Sie es gesehen haben, aber dadurch können wir uns eine Menge Gerede ersparen.« Bob stellte sein Glas auf einen Tisch und schaltete den Fernseher ein. »Soeben hat der Oberste Gerichtshof entschieden, daß die Star of Mexicali Laputa nicht verlassen darf, um zu den Asteroiden zu fliegen«, sagte der Nachrichtensprecher. »Wie Sie sich vielleicht erinnern, hat die Star of Mexicali zweitausendfünfhundert texanische Studenten an Bord, lauter Angloamerikaner, die bei den Alamo-Aufständen während der Osterferien festgenommen wurden. Das Gericht lehnte es ab, sich zur Legalität des Studententransports von San Antonio zur Orbitalstadt Laputa zu äußern, und erklärte, die Qualität der Ozonschicht stünde nicht zur Debatte. Doch das Gericht fügte hinzu, der texanische Gouverneur Panoblanco hätte eindeutig keine Erlaubnis zu dem erwähnten Shuttle-Flug erhalten, und im Hinblick auf die derzeitige Beschaffenheit der Ozonschicht hätte man ihm diese Erlaubnis wahrscheinlich auch nicht erteilt.« »Warum hören Sie sich dieses dumme Gewäsch eigentlich an?« fragte Hulvey. »Der kaut doch nur eine uralte Geschichte wieder und serviert sie als
Rinderlende.« »Seien Sie still!« befahl der Präsident. »... bestätigte die Entscheidung der zweiten Gerichtskammer hinsichtlich der Tatsache, daß die Nordamerikanische Union die Kontrolle über eine Frontruppe behält, nachdem sie den Staat verlassen hat – bis zu dem Zeitpunkt, wo sie einen anderen Staat betritt. Dies wurde als erstaunlicher Sieg der Antihegemonisten bejubelt, denn bisher konnte die Bundesregierung unangefochten ihren Anspruch verteidigen, die Kontrolle über den Weltraum jenseits der...« Schlecter stellte das Gerät ab. »Das wär's. Wir haben eine Gesetzesvorlage im Mahltrichter, um die NAURA-Navy ermächtigen zu können, die Star of Mexicali im All aufzuhalten. Aber die Antihegemonisten werden im Parlament auf eine Verzögerung hinarbeiten. Und es wird uns vermutlich nicht gelingen, einen Antrag auf Abschluß der Debatte zu stellen, denn dazu werden uns sechs oder sieben Stimmen fehlen.« Er griff nach seinem Glas und nahm einen Schluck. »Man kann zwar nicht behaupten, daß Gouverneur Panoblanco in dieser Sache von allen Leuten unterstützt wird, aber die Antihegemonisten sind ganz versessen darauf.« »Zum erstenmal seit zwanzig Jahren wird ernsthaft von Sezession geredet«, sagte Bowman. »Der Gouverneur rollt herum wie eine Kanone, die von der Lafette gefallen ist. Wenn ich meine persönliche Meinung vorbringen darf – er ist ein Witzbold, ein ausgemachter Idiot. Man braucht ihn nicht ernst zu nehmen – im Gegensatz zu den Leuten, die darauf warten, die Scherben einzusammeln.« »Kann mich denn niemand von diesem ärgerlichen Gouverneur befreien?« fragte der Präsident. Bowman wandte sich an Hulvey. »Ließe sich da irgendwas arrangieren, Willy?« erkundigte er sich mit sanfter Stimme. Hulvey starrte ihn sekundenlang an, dann entgegnete er: »Sei kein Narr, Stan! Ein totes Stinktier riecht noch schlechter als ein lebendiges.« »Aber, aber, Willy!« sagte Bowman besänftigend. »Spiel dich doch nicht so auf! Manche Dinge müssen nun mal getan werden, und es sieht so aus, als müßten wir uns nun mit so einem Ding befassen.« »Wohin steuert die Star of Mexicali?« wollte Hulvey wissen. »Zum Asteroiden Rosinante«, antwortete Schlecter. »Skalaweb hat ein Projekt da oben, das die Studenten bemannen sollen.« »Ach, eins von diesen Projekten«, murmelte Hulvey. »Ich finde, die Studenten kommen ganz gut dabei weg. Sie werden zu einem prima Job auf Rosinante transportiert, können sich auch noch die Reisekosten sparen und da oben viel bessere Sachen essen als in Texas.« »Das spielt keine Rolle, Willy«, erwiderte Bowman. »Die Studenten sind uns scheißegal. Es kommt nur drauf an, daß der alte Luis Raul Panoblanco auf Wunsch des Präsidenten zur Schnecke gemacht wird.« »Dann machen wir ihn doch zur Schnecke, indem wir ihm vorwerfen, daß dieses Shuttle ohne Starterlaubnis geflogen ist. Beschuldigen wir ihn der Steuerhinterziehung, der Miesmacherei und des Rauschgifthandels und der Anstiftung zu Miesmacherei und Rauschgifthandel. Was du da erzählst, klingt nach politischem
Meuchelmord, und ich sage dir, das wird nicht klappen.« »Gewalttätigkeit ist genauso amerikanisch wie Kirschkuchen«, meinte Schlecter. »Dann wäre es also typisch amerikanisch, den Gouverneur von Texas nicht auf den Abfallhaufen zu werfen?« fragte Hulvey. »Mein Gott, der Mann kämpft schon seit einer Ewigkeit gegen eine öffentliche Anklage. Er hat im ganzen Land Feinde von geradezu klassischem Kaliber. Warum wollen Sie ihn davonkommen lassen?« »Sie sollten sich kein Urteil über den Präsidenten anmaßen«, entgegnete Schlecter. »Sie wissen doch gar nicht, was alles vorgeht.« »Wir brauchen dich«, schmeichelte Bowman. »Du wirst sicher einen Weg finden.« »Wenn ihr einen Märtyrer aus Panoblanco macht, werdet ihr ihn niemals mehr los«, sagte Hulvey. »Davon würde ich euch abraten.« »Ich möchte, daß er stirbt«, erklärte der Präsident. »So, möchten Sie das?« erwiderte Hulvey. »Sie lassen mich bis zum Gipfel raufklettern, und dann sagen Sie: ›Ich möchte, daß er stirbt.‹ Verdammt, das mache ich nicht! Schlagen Sie sich das aus dem Kopf, Präsident Forbes – Sir!« Bowman polierte wütend seine randlose Brille. »Früher warst du nicht so heikel, wenn's um Liquidationen ging. Ich muß da zum Beispiel an den Kreuzzug der Kreationisten denken. Damals sind ein paar Dinge passiert, die nie aufgeklärt wurden.« Hulvey grinste. »Ist das denn die Möglichkeit! Und ich kann mich noch gut an die Zeiten erinnern, wo du das als ›Contra-Darwin-Bewegung‹ bezeichnet hast.« »Ich drohe dir nicht«, protestierte Bowman schwach. »Ich versuche dir nur klarzumachen, welche Pflichten du erfüllen mußt.« »He, Stan«, sagte Hulvey sanft, »wenn ich damals jemanden getötet habe, so geschah es aus christlicher Überzeugung. Glaubst du, daß ich jetzt wie ein bezahlter Killer morden würde, nachdem der große Killer den Befehl dazu gegeben hat?« »Seien Sie doch nicht so furchtbar schwierig, Hulvey!« stieß Schlecter hervor. »Das ist Ihre gottverdammte Pflicht!« »Sie reden von Mord, Sie vertrottelter Glatzkopf! Sie sagen mir, welche Pflichten ich erfüllen muß, und können das richtige Wort nicht einmal aussprechen! Ich weiß, Sie würden es niemals niederschreiben. Aber Sie wollen es nicht einmal sagen!« »Es ist sinnlos, mit einem christlichen Gewissen zu diskutieren, Bob«, sagte der Präsident. »Commissioner Hulvey, Sie haben Ihren Standpunkt klar und deutlich zum Ausdruck gebracht. Ich habe über Ihre Argumente nachgedacht und meine Entscheidung getroffen. Eine politische Notwendigkeit mag moralisch falsch sein, aber deshalb bleibt sie trotzdem eine Notwendigkeit. Also – werden Sie Cäsar geben, was Cäsars Recht ist?« Eine lange Pause entstand. Schließlich entgegnete Hulvey: »Nicht, wenn er göttliche Rechte beansprucht. Tut mir leid, Mr. Präsident.« »Mir auch, Mr. Hulvey, mir auch. Bitte reichen Sie morgen vor Büroschluß Ihren
Rücktritt ein.« Der Präsident wandte sich zu Bowman und starrte ihn an. »Sie auch, Stan«, fügte er mit kalter Stimme hinzu. Der Leiter des NAURA-Geheimdienstes zuckte bestürzt zusammen. Hulvey zog die Schachtel mit seinen Visitenkarten hervor, schrieb sein Rücktrittsgesuch auf die Rückseite einer Karte und reichte sie Bowman. »Sieh zu, daß der Präsident das rechtzeitig bekommt, Stan. Gute Nacht, Gentlemen – Mr. Präsident.« An der Tür gesellte sich der Beamte vom Geheimdienst zu ihm, um sicherzugehen, daß er den Ausgang fand. »Mr. Präsident«, sagte Bowman unglücklich, »ich bin überzeugt, daß mein Rücktritt im Augenblick dem nationalen Interesse widersprechen würde.« »Sie wissen, was ich will«, erwiderte der Präsident. Nicht weit von Asheville, Nord-Carolina, liegt ein kleiner See auf dem Grundstück, das William Hulvey seinem Bruder vermietet hatte, der Sojabohnen und Mais anbaute. Bowman traf Hulvey in einem Fischerboot aus Glaswolle an. »He, Willy!« rief er vom Ufer aus. »Warum hast du dein Gürteltelefon nicht mitgenommen? Damit hättest du mir eine verdammt weite Reise erspart!« »Ich wollte mit niemandem reden, Stan«, lautete die ruhige Antwort. Bowman schlug nervös und mit hochrotem Gesicht nach den Mücken. Er rührte sich nicht vom Fleck, bis Hulvey endlich den batteriebetriebenen Motor einschaltete und das Boot zum Land steuerte. »Nun, was hast du auf dem Herzen, Stan?« fragte er und blickte zur Morgensonne auf. »Gib mir das Tau!« erwiderte Bowman. »Ich sag's dir, wenn du aus diesem verdammten Kahn gestiegen bist.« Als das Boot festgemacht war, zog Bowman ein paar Fische aus dem Wasser und warf sie zu den Bierdosen in den Eiskübel. Er reichte Bowman den Eimer, der ihn grunzend entgegennahm und atemlos die Böschung hinaufkletterte. »Du bist aber nicht besonders gut in Form, Stan«, meinte Hulvey. »Also – was hast du auf dem Herzen?« »Wenn du jetzt eine Naturburschennummer abgezogen hättest, wäre mein Baumwollpflückerherz tief gerührt gewesen. Aber ich bin froh, daß du immer noch geradewegs zur Sache kommst.« »Ich bin erst seit einer einzigen verdammten Woche aus deinem Blickfeld verschwunden, und du bist froh, daß ich immer noch zur Sache komme. O Stan! Was ist denn eigentlich los?« »Du hast uns in eine schreckliche Lage gebracht, als du einfach abgehauen bist, Willy.« Bowman zog ein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. »Verteufelt heiß ist es hier unten ...« »Du bist in einer Maschine mit Klimaanlage hergeflogen. Was erwartest du denn, wenn du hier aussteigst?« »Ja, du hast wohl recht, Willy. Also, der Präsident war furchtbar wütend, aber ich habe alles wieder in Ordnung gebracht und für uns beide die Kastanien aus dem Feuer geholt.«
»Wie nett! Was hast du denn gemacht?« »Ich habe Greene veranlaßt, Panoblanco in die Luft zu jagen.« »Mit einer Bombe im Auto – oder mit einer Mine?« »Hast du's nicht gehört? Es wurde in allen Nachrichtensendungen gebracht und auf allen Titelseiten ...« »Seit ich hier angekommen bin, habe ich überhaupt nichts gehört. Was hast du gemacht?« »Greene benutzte ein Fernlenkgeschoß. Panoblanco trat gerade live im Fernsehen auf, als es passierte.« »Ein Fernlenkgeschoß?« Hulvey schleuderte seine Mütze auf den Boden. »Du verdammtes Arschloch! Wer zum Teufel hat denn Fernlenkgeschosse außer unserer hirnverbrannten Regierung?« »Beruhige dich, Willy. Wir mußten das so schnell wie möglich erledigen, aber wir haben unsere Spuren beseitigt, und so lange wir den Geheimdienst im Griff haben, wird niemand, der danach suchen sollte, sonderlich weit kommen.« »Klar, ihr habt eure gottverdammten Spuren beseitigt. Wahrscheinlich hast du deine gottverdammten Visitenkarten draufgelegt, damit man sie nicht finden kann. Ein Fernlenkgeschoß, um Himmels willen!« »Willy, es mußte schnell gehen, oder ich wäre gefeuert worden.« Bowman hob Hulveys Mütze auf, wischte den Staub ab und gab sie ihm. »Forbes weiß Bescheid über ›Contra Darwin‹, und er glaubt, daß das die richtige Methode ist, um die mexikanische Unabhängigkeitsbewegung unter Kontrolle zu behalten.« »Da irrt er sich. Die Kreationistenkoalition hat genug Geld aufgebracht, damit Forbes kandidieren konnte, und sie hat sich furchtbar angestrengt, damit der blöde Bastard gewählt wurde. Aber der harte Kern, die ›Contra-Darwin‹, bestand vielleicht aus einem Dutzend Jungs. Als Joe Bob diese Dr. Susan Brown in die Luft sprengte, war niemand bereit, ihren Platz einzunehmen. Als die von ZwangOperation fehlschlug, rannte die andere Seite in Deckung, aber wie viele davon waren noch da? Höchstens ein paar Hundert. Weißt du, mit wie vielen Mexikanern, Chicanos, Kubanern und Hispaniern du rechnen mußt?« Bowman schüttelte den Kopf. »Nun, wenn du dir die Mühe machen würdest, das rauszufinden«, fuhr Hulvey fort, »wärst du nicht so versessen drauf, ihnen den Schlägertrupp von der ›ContraDarwin‹ an den Hals zu hetzen. Du sagst, ihr hättet eure Spuren beseitigt? Ich hoffe zu Gott, daß du recht hast, denn ich möchte wetten, daß man eifrig bestrebt sein wird, den Schurken zu finden, der dieses Fernlenkgeschoß losgelassen hat.« »Es ist so heiß hier draußen.« Bowman wischte sich wieder die Stirn ab. »Können wir uns nicht irgendwo setzen?« »Da drüben bei den Weiden steht mein Wohnwagen. Ich klappe noch einen Stuhl auf, dann kannst du dich ein bißchen ausruhen.« Hulvey griff nach dem Eimer und ging am Ufer entlang, gefolgt von Bowman. »Das ist eben dein großes Problem, Willy – daß du Politik machen willst«, meinte Bowman. »Aber die Politik macht der Präsident. Wir sind nur da, um das Räderwerk surren zu lassen.«
»He, Stan, du bist doch der Leiter des NAURA-Geheimdienstes. Du bist eins von den Rädern. Man erwartet auch von dir, daß du Politik machst.« »Du weißt es, und ich weiß es – aber dem Präsidenten hat es noch niemand gesagt.« »Dann geh zu ihm und sag es ihm«, schlug Hulvey vor, setzte den Eimer ab und klappte für seinen ehemaligen Chef einen orangegelben Stuhl auf. »So einfach ist das nicht, Willy«, erwiderte Bowman. »Du kennst doch sein Temperament. Wenn man sich gegen ihn auflehnt, wird man eine Minute später gefeuert.« Hulvey setzte sich und blickte auf den See hinaus. Ein Fisch sprang hoch und machte einen bemerkenswerten Lärm in der Stille. »Das hat er ja auch getan«, sagte Hulvey nach einer kleinen Weile. »Aber du weißt, was das für ein Job ist, und du weißt auch, wie man ihm gerecht werden kann. Du könntest zumindest das tun, was du für richtig hältst – und nicht das, was der Präsident deiner Meinung nach denkt.« »Du hast leicht reden, Willy, aber ich habe hart gearbeitet, um an die Spitze zu kommen, und ich habe nicht die Absicht, mir die Früchte meiner Bemühungen entgehen zu lassen.« Hulvey nahm zwei Bierdosen aus dem Eimer und gab Bowman eine davon. »Und deshalb tust du, was der Mann sagt?« Er öffnete seine Dose, Schaum quoll heraus. »Denk doch mal nach, Stan. Was ist denn deine Position unter diesen Umständen wert?« Bowman nahm die Brille ab, polierte sie mit seinem schweißgetränkten Taschentuch, und als er sie wieder aufsetzte, waren die Gläser verschmierter als vorher. Sie lachten beide. »He, Stan! Du hast doch immer schon was dargestellt. Weshalb machst du dir Sorgen? Du hast doch nicht den ganzen weiten Weg von St. Louis bis hierher zurückgelegt, um Grimassen zu schneiden.« »Nein. Ich wollte dich dazu überreden, deinen Job wieder zu übernehmen. Aber du hast dich so verdammt selbstgerecht aufgeführt, daß ich nicht weiß, ob ich das tun soll.« »Okay ...« Hulvey trank einen Schluck Bier und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und beobachtete einen blauen Eisvogel, der schimmernd über das Wasser schoss. Nach ein paar Minuten zuckte Bowman mit den Schultern. »Willy, mittlerweile stecke ich so tief drin, daß ich nicht mehr aussteigen kann, und weiß Gott, ich brauche deine Hilfe. Es ist zwar so gut wie unmöglich, dich zu ertragen, aber ich kann dir vertrauen, du bist tüchtig, und ich will dich wiederhaben. Deshalb bin ich hier.« »Klar, Stan – ich würde sehr gern zurückkommen, aber du kennst die Regel: Einen Job, den man aufgegeben hat, soll man nie wieder annehmen.« Hulvey warf seine leere Bierdose in den Mülleimer. »Ich komme als dein Vize zurück.« »Sei vernünftig, Willy. Einen solchen Posten muß der Präsident besetzen.« »Glaubst du vielleicht, es ist ein Zivildienst-Job, wenn man den Militärischen
Geheimdienst leitet? Mach dem Präsidenten klar, daß du mich brauchst.« »Das kann ich nicht.« »Dann brauchst du mich also nicht?« »Das habe ich nicht gesagt. Wir müßten Hooke von dem Posten entfernen, den du haben willst. Das erfordert einige Reorganisationen im Zentralbüro, und der Präsident wird mitmachen. Aber das dauert einige Zeit.« »Ich hab's nicht eilig, Stan.« Bowman nahm seine Brille ab und starrte auf sein Taschentuch. »Schade. Hast du ein Papiertuch?« Er zog eines aus der Packung, die Hulvey ihm reichte, und putzte seine Gläser. »Ich werde mit dem Präsidenten reden. Trag wenigstens dein Gürteltelefon, damit ich dich anrufen kann.« »Es liegt im Wohnwagen. Ich muß nur die Batterien wieder reinstecken.« Vom: Exekutivbüro Betrifft: Gegenrebellions-Sonderdivision (GSD) An: NAURA-Sicherheitsdienst. Datum: ... Seit der Ermordung des Gouverneurs Panoblanco haben die Straßenräuberei und der Terrorismus in der hispanischen Bevölkerung der NAU auf besorgniserregende Weise zugenommen. Diese Elemente haben ihr wahres Wesen zu verbergen versucht, indem sie Slogans wie ›Freiheit für Kuba‹ und ›Freiheit für Mexiko‹ etc. propagierten. Dieses Problem stellt eine potentielle Bedrohung für die Stabilität der Nordamerikanischen Union dar und muß so schnell und effektiv wie möglich gelöst werden. Hiermit wird der Stellvertretende Leiter Edwin A. J. Hooke abkommandiert, um die GSD zu befehligen. Jede erforderliche Hilfe wird ihm zugesichert, so daß er seine Aufgabe erfüllen und die GSD innerhalb von 60 Tagen nach dem Datum dieser Aktennotiz mit ihren Operationen beginnen kann. Anlage: Interimsbudget für die GSD Im Auftrag des Präsidenten /s/ Robert Schlecter
2 Nach einigen schlaflosen Stunden zog William Hulvey seinen alten blauen Bademantel an und ging in die Küche, um sich eine Kanne Tee zu machen. Er ließ Wasser in den gelben Teekessel aus Mellamin laufen, brachte es im Mikrowellenherd zum Kochen und gab einen Löffel Teeblätter dazu, die nach Jasmin dufteten. Während er den Tee ziehen ließ, sagte Corporate Elna, sein Privatcomputer: „Ein Lieutenant Holt will Sie sprechen. Soll ich ihn hinauf schicken?« »Es muß doch schon zwei Uhr morgens sein. Was will er?« »Er sagte, es sei dringend.« Hulvey überlegte. Holt war im großen und ganzen ein brauchbarer Mann. »Schicken Sie ihn rauf.«
Wenige Minuten später trat Holt ein, ein kleiner blonder Mann mit großen narbigen Händen. Über seiner Zivilkleidung trug er einen Navy-Regenmantel. »Hallo, Joe Bob«, sagte Hulvey freundlich. »Möchtest du eine Tasse Tee?« »Verschone mich mit der Joe Bob-Komödie! Der alte J. B. Baroody ist für alle Ewigkeit auf der Flucht. Nenn mich Buck, wenn du willst.« Holt legte seinen Regenmantel über eine Stuhllehne und setzte sich. »Willy, ich habe vor einiger Zeit jemanden getötet, und ich möchte, daß dein Büro das als Unfall oder Selbstmord hinstellt.« »Hören Sie zu, Elna?« fragte Hulvey. »Ja. Brauchen Sie ein Protokoll?« »Ja. Sprich weiter, Buck.« »Ich habe diesen Burschen vor eine U-Bahn gestoßen.« »Gab es Zeugen?« »Ein paar. Die üblichen Leute mit Augen, die nichts sehen. Nach etwa zwanzig Sekunden fuhr ich mit einem Zug in die andere Richtung. Der Kerl hieß J. Willard Gibson.« »Ein solcher Unfall wurde gemeldet«, berichtete Corporate Elna, »aber man konnte das Opfer nicht identifizieren. Geschah es um etwa 23 Uhr 30?« Hulvey wandte sich an seinen Besucher. »Nun?« Holt/Baroody nickte. »Du hast dir viel Zeit gelassen, bevor du zu mir gekommen bist.« »Geh mir nicht auf die Nerven, Willy. Ich hab' mir unterwegs ein paar Drinks genehmigt, das ist alles.« »Warum bist du überhaupt hier, Buck? Du hättest anrufen und dasselbe Resultat erzielen können.« »Ach, Willy – dieser Fall ist etwas anders gelagert. Ich habe den armen S. O. B. eingespannt. Hast du ein Bier?« »Im Kühlschrank. Wie hast du ihn eingespannt?« Holt öffnete den Kühlschrank und nahm eine braune Flasche und einen Bierkrug heraus. Er schraubte den Verschluß ab, goß das Bier ein. »Ich habe mich als MGDAgent ausgegeben.« »Verdammt, Buck, das tust du doch auch im wirklichen Leben. Der Militärische Geheimdienst zahlt dir eine ganze Menge, aber ich sehe dich nie.« »Nein, Willy – ich meine, ich habe so getan, als wäre ich ein anderer Agent vom MGD. Gibson hat Nachforschungen angestellt und das herausgefunden. Irgendein verflixter Computer hat den alten Joe Bob Baroody ausgegraben. Deshalb war mir der Kerl im Weg.« »Und so hast du ihn eliminiert?« »Ja. Aber das liegt mir schwer im Magen. Der Mann hat ja nur seine Pflicht getan. Das war kein gottverdammter mieser Wissenschaftler. Er hat nur seine Arbeit erledigt, und dabei ist er in dieses verteufelte Räderwerk geraten.« Er setzte sich wieder und nahm einen Schluck Bier. »Das ist gut, Willy, Deine Privatsorte?« Hulvey nickte. »Ich habe meine eigene Mikrobrauerei. Warum hat Gibson überhaupt seine Nase in deine Angelegenheiten gesteckt, Buck?« »Er hat einen Klienten auf den Asteroiden – eine Baufirma, die einen Gen-
Analysator brauchte, und suchte nach überzähligen Exemplaren. Die Leute von IBM sagten ihm, er soll nach dem Modell IBM GR/W-41 suchen, dem einzigen, das vielleicht überzählig wäre.« »Auf den Asteroiden, eh?« Nachdenklich nippte Hulvey an seinem Tee. »Dann hat dieser Klient einen legitimen Grund, um einen Gen-Analysator zu erwerben. Die Rate der Mißgeburten da oben beträgt über sechs Prozent. Aber ein 42? Das ist doch ein Modell, das nur zu Forschungszwecken benutzt wird.« »Er suchte nach einem überzähligen Gerät, Willy – und Gott weiß, daß wir dieses überzählige GR/W-42 hergestellt haben. Die späteren Maschinen sind viel simpler, aber die haben eine Lieferfrist von sechs Monaten.« Holt trank sein Bier aus. »Willy, vielleicht geht mich das nichts an, aber wann hast du eigentlich das letztemal in Lammblut gebadet?« »Das ist schon eine ganze Weile her«, gab Hulvey zu. »Einige Jahre ... Warum fragst du?« »Weil ich leide ... In den alten Tagen wäre ich einfach zu dir gekommen, und wir hätten zusammen gebetet. Jetzt zählen nur mehr Fakten, und in deinem Mund würde nicht einmal Butter schmelzen. Warum bleibst du unserem Glauben nicht treu?« »Weil mich sein Geist nicht mehr berührt. Haben Sie alles, was Sie brauchen, Elna?« »Ich denke schon«, antwortete der Computer. »Nun ist alles in die Wege geleitet«, sagte Hulvey. »Warum gehst du nicht nach Hause und legst dich ins Bett?« »Das will ich nicht. Ich fühle mich hundeelend, wegen dieses Gibsons, und ich möchte mich besaufen. Aber das wage ich nicht, und so bin ich zu dir gekommen, um zu beten, wie in den alten Zeiten. Und du sagst mir, daß der Geist dich nicht mehr berührt. Warum nicht, zum Teufel?« Hulvey trank seine Teetasse leer und seufzte. »Weil Gott sein Antlitz von mir abgewandt hat. Du bist verletzt, was? Das bin ich auch. Ich werde dir alles erzählen. Du weißt, daß ich von Anfang an bei der ›Contra-Darwin‹ war. Ich habe mitgeholfen, die Organisation aufzubauen. Zum Beispiel habe ich einen Doppelagenten namens Dr. Heinrich von Zwang in einem Labor postiert, wo er ›Vergleichstudien mit Schimpansen und Menschen‹ betrieb. Okay? Er sollte so tun, als würde er Menschen mit Schimpansen kreuzen. Wir wollten ihn brandmarken und auf diese Weise diesen ganzen verdammten Forschungszweig ausschalten. Nun, er blieb bis zum Abschluß seiner Studien am Leben, aber er hat tatsächlich Menschen mit Schimpansen gekreuzt. Durch irgendeine undichte Stelle haben wir davon erfahren, und wir mußten ihn entfernen, bevor wir loslegten. Ich leitete das Team, das in sein Labor eindrang. Da war etwa ein Dutzend Affenbabys, ein paar lagen in künstlichen Gebärmuttern. Wir haben ihnen den Teufel ausgetrieben – aber es ließ sich nicht leugnen, daß sie menschlich aussahen. Eins davon, ich glaube, das älteste – konnte sogar reden. Die Kleine lief im Labor herum und schrie: ›Jennie nicht weh tun! Jennie nicht weh tun!‹ Ich packte sie bei den Füßen und schlug ihren Kopf gegen die Wand.«
Hulvey ging zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Bier und den zweiten Krug heraus. Er machte die Flasche mit dem Wandöffner auf und beobachtete, wie der Schaum hochstieg, als er das Bier in das geeiste Glas goß. Er trank einen Schluck, dann setzte er sich wieder. »Sie lag auf dem Boden, blutete aus dem Mund, ein Auge war aus der Höhle getreten, und ich fragte mich, ob ich einen Fehler gemacht hatte. Sie hätte mein eigenes Kind sein können – so menschlich sah sie aus. Ich war wach, als du heute nacht kamst – weil ich von ihr geträumt habe.« »Und deshalb bist du zum abtrünnigen Sünder geworden, Willy?« »Nicht direkt, Joe Bob. Wir hatten die ganze gottverdammte GenetikForschungsgemeinde erfaßt, und schließlich saß ich vor einem riesigen Berg von Bewilligungsgesuchen, um rauszufinden, wer welche Experimente gemacht hat. Da war auch ein Gesuch von Heinrich von Zwang. Er hat Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Geldmittel für seine Forschungen aufzutreiben, und diese knauserigen Bastarde wollten ihm nicht einmal die Arbeitszeit bezahlen. Es dauerte einige Zeit, bis es klappte, aber letzten Endes war ich es, der es von Zwang ermöglichte, seine Experimente durchzuführen. Und dann stellte sich heraus, daß er ein Notizbuch hatte. Die letzten zwanzig bis dreißig Seiten haben wir wahrscheinlich zusammen mit diesem verfluchten Labor vernichtet, und den Einband des Notizbuchs fanden wir bei von Zwang, als wir ihn zwei Tage später erwischten. Aufgrund eines Artikels, den er einem Journal geschickt hatte, konnten wir uns vorstellen, was er gemacht hat. Diese Presseleute haben einen Riecher für heiße Storys. Das Notizbuch haben wir nie gefunden. Wir verfolgten seine Spur bis zu einem Postnachsendedienst in Chicago. Der Bursche konnte sich nur daran erinnern, daß er das Ding nach Cincinnati geschickt hatte – sonst wußte er nichts, und das war's dann.« Hulvey trank sein Bier aus und stellte den Krug mit einem dumpfen Klirren auf den Tisch. »Nimm's dir nicht so zu Herzen, Willy. Dieses Affenkind war bestimmt nicht menschlich.« »Es stört mich nicht so sehr, daß ich die Kleine umgebracht habe, Buck, sondern daß ich für ihre Existenz verantwortlich war.« »Jesus wird dir verzeihen«, sagte Holt. Hulvey starrte auf seinen leeren Bierkrug und lächelte traurig. »Mag sein. Der alte Stanley Bowman meinte, ich hätte das alles für einen guten Zweck getan, und damit hatte er wohl recht. Jesus wird dir auch den Mord an diesem Gibson verzeihen, daran zweifle ich nicht. Ich weiß nicht, was du getan hast, aber es geschah sicher für einen guten Zweck. Verstehst du, Buck? Jetzt fühlst du dich doch besser, nicht wahr?« »O ja.« »Sehr schön. Warum gehst du dann nicht nach Hause und schläfst ein paar Stunden?« Sie schüttelten sich die Hände, und Holt verließ das Haus. Hulvey spülte die Bierflaschen, damit sie wieder benutzt werden konnten. Er spülte auch die Krüge, trocknete sie mit einem Geschirrtuch ab und stellte sie in den Kühlschrank.
»He, Elna – wir hatten doch eine Leitung in Gibsons Büro. Woher kam die Antwort auf seine Frage nach einem überzähligen GR/W-42?« »Aus dem Rockefellerinstitut in Cincinnati.« »Cincinnati, eh? Haben sie ihm einen angeboten?« »Nein. Sie haben sich nur erkundigt, wozu er einen Gen-Analysator braucht.« »Ich verstehe.« Hulvey strich sich über die Bartstoppeln. »Da muß mal jemand vorbeischauen – ich meine, in dem Institut.« »Soll ich Holt hinschicken?« »Nein. Er ist tüchtig und gründlich, aber es war das Rockefellerinstitut, in dem er 34 die Bombe gelegt hat. Sein häßliches Fahndungsfoto hing im ganzen Haus, und das Risiko, daß man ihn wiedererkennen könnte, ist einfach zu groß.« »Wie wär's mit Greene?« »Nein, verdammt! Er kann nicht Kaugummi kauen und gleichzeitig furzen. Wann kommt denn mein Sohn Dave zurück?« »Freitag in einer Woche. Wollen Sie so lange warten?« »Es wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben.« Hulvey wusch den gelben Teekessel aus und stellte ihn zusammen mit der Tasse ins Küchenregal. »Wenn sie dort einen IBM-Gen-Analysator haben, wird der vermutlich nirgendwohin geliefert – nachdem Gibson tot ist, nicht wahr?« »Und was wird mit den Leuten geschehen, die ihn benutzen?« »Die werden wir uns vorknöpfen – falls das Ding wirklich dort ist. Vielleicht hat irgend jemand im Rockefellerinstitut von Zwangs Notizbuch.« »Und wenn der Betreffende in Panik gerät und das Beweismaterial vernichtet?« »Das wäre möglich«, gab Hulvey gähnend zu. »Damit würde er uns einen großen Gefallen tun. Ich könnte mir vorstellen, daß ein Kollege Heinrich von Zwangs nur ganz einfach neugierig war.« Er schaltete die Küchenlampe aus und ging wieder ins Bett. Lieutenant Commander David Riordan Hulvey döste im VIP-Salon des SpokaneFlughafens, als sein Gürteltelefon läutete. Er klappte es auf. »Hulvey«, meldete er sich. »St. Louis ruft Sie zurück. Zelle sechs.« »Danke, ich nehme den Anruf sofort entgegen.« Er ging in die Telefonzelle und schloß die Tür hinter sich. Bunte Punkte tanzten über den Bildschirm, vor allem grüne und rote. Er zog seinen Verschlüsselungsmanipulator aus der Tasche und steckte ihn in den Schlitz. Die Farben schwirrten noch ein paar Sekunden lang umher, dann erschien sein Vater, in seinem Büro in St. Louis. »Hallo, Dave.« »Hallo, Dad. Nenn mich Dan, wenn's dir nicht zuviel Mühe macht. Oder Riordan. Hast du einen Augenblick Zeit?« »Ja, Riordan. Ich werde mir genügend Zeit nehmen. Was hast du herausgefunden?« »Angeblich kann man aufregende Schlüsse ziehen. Das Rockefellerinstitut in Cincinnati schickte eine Ladung von 2265 Kilo Tara per Luftfracht nach Seattle.
Sie wurde via Spokane transportiert, hat den Flughafen aber nicht verlassen. Zwei Tage später wurde eine UHRCAT-Abtastscheibe aus dem Städtischen Medizinischen Zentrum von Los Angeles als überzähliger Ausrüstungsgegenstand zu einem Navy-Hospital im Asteroidengürtel befördert. Die Ladung ging von Spokane zur Shuttle-Station im Osten von Washington, und von dort sollte sie nach Laputa und schließlich zum Mundito Rosinante gebracht werden. Okay? Ich habe mich beim Medizinischen Zentrum nach diesem überzähligen Gerät erkundigt. Sie haben am fraglichen Tag überhaupt nichts weggeschickt. Die Nummer auf der Frachtrechnung galt für biotechnisches Material, das sie vor ein paar Monaten ins Rockefellerinstitut geschickt haben, um es kalibrieren zu lassen.« »Was immer es auch sein mag – es ist nun auf dem Weg zum Mundito Rosinante?« »Genau. Dad. Ich habe mich in Cincinnati mit dem Hauspersonal des Instituts unterhalten. Sie wußten nicht, mit was für einem Gegenstand sie da herumhantiert hatten. Sie haben ihn nicht selber verpackt. Aber sie zeigten mir den Raum, aus dem man ihn entfernt hatte. Ich besorgte mir einen Plan von dem Gebäude und die Telefonbücher aus den Jahren um 34, um festzustellen, wer damals in der Nähe des betreffenden Raumes gearbeitet hat. Vom Herbst 34 bis zum Frühling 36 waren ein paar Spitzencomputerarchitekten in der unmittelbaren Umgebung tätig. Auch Theoretiker. Dr. Maxwell Stanton hatte ein Büro auf der anderen Seite des Korridors – der Mann, der die R-Komplexstrukturen-Analoga für Computer erarbeitet hat.« »Zumindest hat er daran gearbeitet«, bemerkte Hulvey senior mißmutig. »Zweifellos hat er es damit zu einigem Ansehen gebracht. Weiter!« »Seit dem Frühling 37 wurde der fragliche Raum von einem Gerät okkupiert, das als Corporate Susan Brown registriert und dem Rockefellerinstitut angegliedert wurde.« »Dann ist sie also nach drei Jahren von den Toten auferstanden?« »Was, Dad?« »Dr. Susan Brown wurde im August 34 getötet, als die Bombe losging, die ihren IBM GR/W-42 in die Luft jagte. Das wurde übrigens Joe Bob zur Last gelegt.« »Richtig. Ich ließ mir die Akte Corporate Susan Brown geben, um nachzusehen, ob darin ihre genauen Daten enthalten waren. Aber es stand nicht viel drin – nur: ›hybrides Experimentalmodell‹. Ich kopierte die Seriennummern und setzte mich mit IBM in Verbindung. Sie teilten mir mit, die Maschine würde Elemente des GR/W-42 enthalten, aber sie könnten nicht eruieren, wozu dieses Gerät benutzt würde, ohne zumindest eine gewisse Vorstellung von den Weich- und Metallteilen zu haben, die zu seinen weiteren Bestandteilen zählen. Ein Bursche meinte, die Liste ließe ein ungewöhnliches Ausmaß von Weitschweifigkeit erkennen. Ich fragte ihn, ob die Liste vollständig wäre, und er antwortete, in Experimentalmodellen wären oft über fünfundzwanzig Prozent des ganzen Schaltsystems maßgeschneidert.« »Das ist sehr interessant. Dave – eh, Riordan. Du hast gute Arbeit geleistet.« »Danke, Dad.«
»Noch was?« »Das Rockefellerinstitut ist eine Bande verstockter Sünder.« Sie lachten beide. »Glaubst du, daß Corporate Susan Browns Flug eine heimliche überstürzte Flucht war?« »Nein, Dad. Die Zeit ist gleich um.« »Oh ...« Hulvey senior sah auf seine Uhr. »Wieso bist du dieser Meinung?« »Dieser Gibson hat eine Frage gestellt. Das Institut hat eine äußerst vorsichtige Antwort gegeben. Als sie erfuhren, daß das Gerät im außerplanetaren Bereich gebraucht wurde, änderten sie die Bezeichnung von in Corporate Susan Brown in mit Corporate Susan Brown um, und sie reiste wenige Stunden, nachdem die Nachricht von Gibsons Tod in den Zeitungen gestanden hatte, ab. Die Formulare, die für ihren Flug benötigt wurden, müssen mindestens ein oder zwei Tage vorher ausgefüllt worden sein. Die Arbeiter im Rockefellerinstitut erklärten, der Abtransport wäre routinemäßig verlaufen. Es war also keine Flucht in panischer Angst. Da muß was anderes dahinterstecken. Habe ich dir schon erzählt, daß ich rauszufinden versuchte, woran Susie B. gearbeitet hat?« »Nun, was hat sie gemacht?« »Ich hab's nicht rausgekriegt.« »Wie intensiv waren deine Nachforschungen?« »Intensiv genug. Die Maschine wird in keiner einzigen Publikation des Instituts gewürdigt – sie wird überhaupt nirgends erwähnt. Sie war einfach da.« Hulvey junior lächelte. »Ich studierte die Budget-Akten, um festzustellen, wie sie finanziert wurde. Da war nichts. Keine einzige Zeile. Weder 34 noch 35 noch 36. Damals führte das Institut ein größeres Projekt auf der Basis von freiwilliger Arbeit durch und schwamm also in Geld. Willst du meine Meinung hören?« »Ja. Was hältst du davon, Riordan?« »Wir haben hart durchgegriffen, um sie zu stoppen, und statt aufzuhören, haben sie im Untergrund weitergemacht.« Der ältere Hulvey schüttelte den Kopf. »Sie haben aufgehört. Seit die ›ContraDarwin‹ auf der Bildfläche erschien, ist die Gen-Manipulation gestorben. Sogar die Untersuchungen, die man früher vornahm, um Geburtsfehler frühzeitig zu eruieren, stagnieren jetzt.« »Sie werden immer noch durchgeführt, aber davon erfährt die Öffentlichkeit nichts mehr – das ist alles. Außerdem ...« »Verzeihen Sie, Commissioner«, sagte Corporate Elna, »der Leiter des Sicherheitsdienstes ist am anderen Apparat.« »... möchte ich wetten, daß sie von Zwangs Notizbuch hat.« »Vielleicht, mein Junge. Ich muß jetzt Schluß machen. Gott segne dich.« Beide Männer unterbrachen gleichzeitig die Verbindung.
SITZUNGSBERICHT Zeit: 27. November 2040, 13 Uhr 30 bis 16 Uhr 05 Ort: Provisorisches Gebäude 113, Rm. 409 Betrifft: Durchführung der anhängigen Kriegserklärung Anwesend: Bob Schlecter, Exekutivbüro Edwin A. J. Hooke, NAURA-Sicherheitsdienst, GSD Wm. M. Hulvey, NAURA-Sicherheitsdienst, Stellvertretender Leiter J. Walter Bland jr., NAURA-Justizministerium, Stellvertretender Leiter Peter Dugas, Navy-Sicherheitsdienst, Vizeadmiral Raoul Flores, Navy-Sicherheitsdienst, Konteradmiral D.S. Mueller, Army-Sicherheitsdienst, Mobilmachungsgeneral Vivian Barfield, Army-Sicherheitsdienst, Brigadegeneral Hooke eröffnete die Sitzung mit einem Gebet und fuhr dann zweieinhalb Stunden lang fort, frömmelnden Unsinn zu verbreiten. Die Zumutung dieser Kriegserklärung ist offenbar ›staatsmännisch kluge Politik‹, weil ›Straßenräuberei und Terrorismus‹ (die faire Bezeichnung ›hispanischer Nationalismus‹ wurde nicht verwendet) nach dem unglückseligen Hinscheiden des Gouverneurs Panoblanco spürbar angestiegen wären. Wer hätte das gedacht? Er sah mir ins Auge und sagte: »Der Präsident braucht Mitspieler, die von echtem Teamgeist erfüllt sind, Hulvey, Männer, die seine Politik verwirklichen!« Ich erwiderte, natürlich würde ich die Politik des Präsidenten verwirklichen, aber ob er denn nicht glaube, daß ein begrenzter Erlaß von Notstandsgesetzen ein besseres Mittel wäre, um dasselbe Ziel zu erreichen? »Keineswegs!« rief er, und ich erklärte: »Auf dieser Kontrolliste steht nichts, was nicht auch während eines begrenzten Notstands praktiziert werden könnte. Führt der Präsident vielleicht irgendwas im Schilde, das er uns verschwiegen hat?« Nein, entgegnete er, alles wäre bekanntgegeben worden, und dann fiel ihm Bland ins Wort und redete zehn Minuten lang, ohne Atem zu holen. Später sprach ich ihn darauf an, und er verriet mir, man hätte ihm auf der juristischen Fakultät beigebracht, mit gestaffeltem Atem zu reden. Jedenfalls wurde aus keineswegs der Satz Die Sache muß mit dem Präsidenten besprochen werden. Schlecter fragte: »Halten Sie einen begrenzten Notstand für ratsam, Hulvey?« Und als ich nickte, sagte er: »Gut, dann werden wir's so machen.« Hooke war schrecklich sauer. Flores meinte, die Kontrolliste würde hauptsächlich antihispanische Maßnahmen enthalten. Hooke sagte, der Großteil der Straßenräuberei und des Terrors ginge auf das Konto der Hispanier. Und so erkundigte sich Flores, ob die hispanischen NavyOffiziere mit einer Säuberungswelle rechnen müßten, ähnlich jener, die 31 bis 32 die ›Altenregimisten‹ (meist Angloamerikaner) traf. Hooke quasselte um den heißen Brei herum, bis Schlecter ihn mit einem entschiedenen Nein unterbrach. Dugas beklagte sich über den Dogmatismus der Politischen Beamten und deren
fehlende technische Kompetenz und behauptete, daß Computer bessere Arbeit leisten würden. Barfield bemerkte, elektrische Drähte würden sich noch besser eignen. Schlecter entgegnete, in Zukunft würden Politische Beamte eine umfangreiche technische Ausbildung absolvieren, bevor sie ernannt würden. Mueller warf ein, davon wäre schon seit Jahren die Rede, aber wann würde man es endlich tun? Hooke jammerte, weil man vom Thema der Sitzung abgekommen wäre, und fragte, ob sich jemand zur Kontrolliste äußern wollte. Daraufhin entspann sich eine logistische Diskussion, und dann sah er mich an. »Haben Sie irgendwelche Fragen, Mr. Hulvey?« Ich antwortete, nun, solange wir auf den Panoblancos und ihrer Arbeit rumhackten – da wäre dieses gemeinsame Projekt von Skalaweb, der Südkalifornischen Landwirtschaftlichen Wasserentsalzungsbehörde, die auf dieser Liste als notorisches Panoblanco-Treibhaus bezeichnet wird, und Mitsui. Letztere Firma sei zweifellos ein Kanal für japanisches Gold, das den hispanischen Banditen und Terroristen zuflösse, und ob wir uns damit nicht befassen sollten? Hooke schaute angemessen grimmig drein und antwortete, ja, natürlich müßten wir das – stünde das nicht auf der Liste? »Nein«, sagte ich. »Auf dieser Liste existiert das Projekt nicht, dafür aber im Asteroidengürtel, und es heißt Mundito Rosinante.« Er meinte, das würde keinen Unterschied für uns machen, und ich erkundigte mich, ob die Navy bereit wäre, zur Sicherheit mal nachzusehen. Flores erklärte, bevor sie meine Frage beantworten könnten, müßten sie erst mal das Budget checken. Schlecter sagte ihm, daß er das Geld auftreiben sollte. Flores entgegnete, man müßte zunächst ein Schiff finden, das für hundert bis hundertzwanzig Tage von seinem Standort entfernt werden könnte, ohne zusammenzubrechen. Und es würde ein bis zwei Monate dauern, bis man eins abstellen könnte. Dugas meinte, da würde man sich viel zuviel Mühe wegen dieser paar Leute machen, und ich schlug ihm vor, sie zuerst nach Laputa einzuladen, aber wenn sie sich weigerten, dorthinzufliegen, würde die Navy sie dann für uns holen? Ich zitierte, was Hooke über den Teamgeist gesagt hatte. Dugas erwiderte, wenn die Leute nicht nach Laputa kämen, würde die Navy bestimmt erwägen, ein Schiff hinzuschicken. Schlecter meinte, sie würden verdammt gut daran tun, das Schiff wirklich loszuschicken. Dugas fragte, wen wir arretieren wollten, und ich antwortete, das wüßten wir noch nicht, aber wir würden ihn auf dem laufenden halten. Er erkundigte sich, ob wir einen Beobachter mitschicken wollten, und ich entgegnete, klar, das würden wir tun. Wahrscheinlich werden wir Lieutenant Holt an Bord postieren, aber das erwähnte ich nicht. Und das war's dann. Unterschriftenblock. Kopien an: Leiter, MGD-Commissioner, Akten. Klassifizierung: Geheimsache für 90 Tage. Nicht kopierbarer Druck. Hulvey studierte den Sitzungsbericht auf dem Bildschirm. »Sehr gut«, sagte er zu Corporate Elna. »Streichen Sie den Hinweis auf Lieutenant Holt, der ist nicht relevant. Und die Scherze sollten Sie vielleicht auch weglassen.«
»Ich dachte, die Forderung nach einer technischen Ausbildung für Politiker wäre Teil einer wichtigen Operation.« Hulvey rieb sich nachdenklich das Kinn. »Da könnten Sie recht haben. Das wäre eine Möglichkeit, Daves nächste Beförderung zu beschleunigen. Lassen Sie die Witzchen drin.« Der Bildschirm erlosch langsam, und der Schreibtisch legte ihm den Sitzungsbericht zur Unterschrift vor, perfekt getippt, in hellblauer Tinte auf strahlend weißem, festem Papier, mit Rändern an den Seiten, in genau der richtigen Breite. Hulvey unterzeichnete ihn, heftete seinen Entwurf daran und legte ihn in die Box für die Schriftstücke, die weitergeleitet werden sollten.
3 Datum: 8. Dezember 40 Von: Edwin A. J. Hooke, GSD Betrifft: Panoblanco-Akten in re Mundito Rosinante An: William M. Hulvey, Vizeleiter In Übereinstimmung mit Ihrer Aktennotiz vom 2. Dezember 2040 haben wir die Panoblanco-Akten, die am 1. Dezember als Beweismaterial gegen die auf der Baustelle Mundito Rosinante tätigen Personen beschlagnahmt wurden, gründlich studiert. Eine sorgfältige Überprüfung führte zu der Schlußfolgerung, daß eine Anklage nicht gerechtfertigt ist. Die überprüften Dokumente finden Sie in Form von Mikrofilmen in der Anlage I. Die Behauptung, daß Mundito Rosinante in irgendeiner Weise als Kanal für japanisches Geld gedient haben könnte, das den hispanischen Nationalisten zufließen sollte, wurde ebenfalls untersucht. Die Panoblancos haben anscheinend aus den Bauprojekten im Weltraum, deren jüngster Zusammenbruch Ecufiscale Tellurbank zur Strecke brachte, beträchtlichen Gewinn gezogen. Diese Gelder stammen nur insofern von Rosinante, als sich die Panoblancos für unfähig erklärten, Kredite zurückzuzahlen, die ihnen die Tellurbank gab, wobei Rosinante als Sicherheit fungierte. Anlage II ist eine Aufstellung des Geldumlaufs im Panoblanco-Finanzimperium. Mundito Rosinante war niemals von zentraler Bedeutung und wurde seit der Insolvenzerklärung weder mit Mitsui noch mit den Panoblancos in Verbindung gebracht. Es erscheint angemessen, noch einmal zu betonen, daß aufgrund des vorliegenden Beweismaterials keine Anklage erhoben werden kann. Wenn Sie die Panoblanco-Akten von Ihren eigenen Leuten überprüfen lassen wollen, brauchen Sie nur den GSD-Entschlüsselungsmanipulator zusammen mit der ›Eintrag-P‹ Akte zu benutzen. /s/Edwin A. J. Hooke.
Dolores Ferranes, die Leiterin der Rechtsabteilung im NAURA-Sicherheitsdienst, deponierte ihren Kobra-Aschenbecher auf Hulveys Konferenztisch und steckte ihn fest. Die Kobra-Windungen sammelten die Asche ein, und die Zähne in dem geöffneten Schlangenmaul waren fleckenlose Metallstacheln, die für einen deodorierenden Strom von Oxygenionen sorgten. Dolores rollte sich eine Zigarette und zündete sie an. »Hooke hat recht«, sagte sie und blies eine Rauchwolke in die Luft. »Cooper hat das Material von einem Blickpunkt aus untersucht, Krauss vom anderen.« Sie stellte ihre Aktentasche neben den Aschenbecher und öffnete sie, breitete Akten auf dem Konferenztisch aus, in fröhlichem Durcheinander. »Auf dieser Baustelle geht nicht das Geringste vor, was unseren Besuch auf Rosinante rechtfertigen würde.« »Wie schade«, meinte Hulvey. »Das Beste, was dabei herausgekommen ist, war der Vorschlag, den Projektleiter auf Verdacht zu verhaften und nach Laputa zu bringen – einen gewissen Cantrell.« Sie schlug einen Aktenordner auf. »Charles Chavez Cantrell.« »Dann machen Sie das doch! Oder gibt's da Probleme?« »Er ist völlig sauber. Wenn man ihn arretiert, könnte man ihn höchstens ein paar Tage festhalten.« Sie schnippte Asche in ihre Kobra. »Und wenn man versucht, ihn ein paar Wochen festzuhalten, wird ihn sein Anwalt todsicher raushauen. Sie wollen ein Schiff losschicken, um ihn holen zu lassen, nicht wahr? Ich glaube nicht, daß sich das durchführen läßt.« »Was wissen Sie über diesen Cantrell?« Dolores Ferranes blätterte in den Akten und nahm schließlich ein Blatt heraus. »Er hat auf der Indiana University Weltraummaschinentechnik studiert, am 20. Juni 2018 seinen Bakkalaureus gemacht und ein NROTC-Offizierspatent erhalten. Er spricht fließend Spanisch und Japanisch.« Sie blies einen Rauchring in die Luft und schlug eine andere Seite auf. »Er verlängerte seine Militärzeit um ein Jahr, um einen Posten im Weltraum zu bekommen. Hervorragende Zensuren – nur auf dem politischen Sektor bekam er nicht so gute Noten – ein Befriedigend, zwei Ausreichend, ein Ungenügend, das auf sein Ansuchen hin revidiert wurde. Nachdem er eine Nationaljapanerin geheiratet hatte, wurde ihm die Beförderung verweigert, und am 5. August 22. gab er sein Offizierspatent zurück.« »Hat man ihm den Rang eines Lieutenants verweigert?« fragte Hulvey. »Nein, er war Lieutenant. Aber er wollte Lieutenant Commander werden.« »Interessant. Warum bekam er in Politikwissenschaft so schlechte Zensuren?« »Der P. O. behauptete, er würde mit dem alten Regime sympathisieren.« »Aber das hat nicht gestimmt?« »Bedenken Sie, daß man so was im Jahr 22 nicht so tragisch nahm«, erwiderte Dolores Ferranes. »Da haben Sie recht. Hat er Kinder?« »Nein. Er trennte sich von seiner Frau und wurde ein Jahr später von ihr geschieden.« Sie drückte ihre Zigarette aus, rollte sich gemächlich eine neue und zündete sie mit einem Streichholz an, das sie am Daumennagel angerissen hatte. »Cantrell ist weit vom Schuß, und es gibt keinen vernünftigen Grund, ihn zu
belangen. Vermutlich geht es um diese ›Contra-Darwin-Sache‹, nicht wahr?« »J-ja ... Zumindest könnte es das sein. Dave glaubt, daß von Zwangs Notizbuch vor kurzem in den Asteroidengürtel gebracht wurde. Das Rockefellerinstitut baute den GR/W-42 nach, der 34 in die Luft gesprengt worden war. Dave kann überzeugende Argumente dafür vorbringen, daß sie das getan haben, um weiterhin menschliche Gene zu manipulieren. Die Maschine wurde nach Rosinante transportiert, und Dave glaubt, daß sie das Notizbuch dazugepackt haben.« »Dave ist ein kluger Junge. Warum glaubt er das?« »Die Maschine wurde unter dem Namen Susan Brown ins Rockefellerinstitut inkorporiert.« »Corporate Susan Brown?« Hulvey nickte. »Ich muß zugeben, daß das gewisse Schlüsse zuläßt«, sagte Dolores Ferranes. »Okay, wir müssen Cantrell also auffordern, nach Laputa zu kommen und sich gegen nichtspezifizierte Anschuldigungen zu verteidigen, die wir niemals spezifizieren werden. Er wird nicht kommen. Das würde ich an seiner Stelle auch nicht tun. Und dann werden wir ihn wahrscheinlich holen müssen.« »Das ist ziemlich unfair.« Hulvey beobachtete, wie die Ionen, die aus den Schlangenzähnen drangen, den langsam aufsteigenden Rauch fraßen. »Aber mir fällt auch nichts Besseres ein. Wir werden es also tun. Der arme Bastard – er wird niemals wissen, was ihn in Mißkredit gebracht hat.« Die ersten beunruhigenden Nachrichten von Rosinante trafen auf indirektem Weg ein. Dolores nahm eine Routineuntersuchung der NAU-Gerichtsprozesse vor, in die Mundito Rosinante verwickelt war, und grub Akten über einen Prozeß aus, den die NAU gegen Joseph Marino geführt hatte. Dabei war der Angeklagte des vorsätzlichen Mordes überführt worden. Dolores war neugierig – und sie war gründlich. Zwei Tage später ging sie zu Vizeleiter Hulvey. »Sie werden Ärger mit Cantrell haben«, erklärte sie und plazierte Aktenkoffer, Handtasche und Aschenbecher auf dem Konferenztisch. »Vielleicht war er mal ein Angestellter des Bauunternehmers, aber die Zeiten haben sich geändert, Mr. Hulvey.« Sie steckte den Kobra-Aschenbecher in die Tischplatte. »Erstens: Er besitzt die Aktienmehrheit von Rosinante und wurde zum Gouverneur des Munditos gewählt.« Sie nahm ein Blatt aus einem der Aktenordner. »Gouverneur?« Hulvey runzelte die Stirn. »Wer zum Teufel kann ihn gewählt haben? Wer ist denn dort?« Sie schlug einen zweiten Ordner auf und begann darin zu blättern. »5182 Arbeiter und Untergebene, von der Gewerkschaft und vom Management, 2491 Studenten, die als Frontruppe vom Alamo nach Rosinante transportiert wurden und von denen später nur wenige nach Hause zurückkehrten – sowie 2501 junge Damen, die aus Japan hinaufgeschickt wurden.« Dolores machte eine kleine Pause. »Eine Fußnote besagt, daß es sich um Koreanerinnen handelt – falls das einen Unterschied machen sollte. Im ganzen sind also zehntausend Leute da oben, und wenn das auch südlich von Chicago nicht ins Gewicht fallen würde – im Asteroidengürtel bilden diese Personen eine beachtliche Bevölkerung.« Sie nahm
Streichhölzer, einen Tabakbeutel und Zigarettenpapier aus ihrer Tasche und legte alles auf den Tisch. »Mr. Hulvey, Mundito Rosinante ist eine politische Einheit, die Sie vielleicht respektieren sollten.« Nachdem sie sich eine Zigarette gerollt hatte, riß sie mit dem Daumennagel ein Streichholz an und steckte sie in Brand. »Bedauerlicherweise«, fuhr sie fort und blies eine Rauchwolke vor sich hin, »haben Sie sich hundertprozentig auf Corporate Susan Brown konzentriert, ohne woandershin zu schauen. Was glauben Sie, warum sie da hinaufbefördert wurde?« »Vielleicht fühlte sie, daß wir ihr auf der Spur waren.« »Das ist unwahrscheinlich, Mr. Hulvey. Ich nehme an, sie ist nach Rosinante geflogen, weil sie das wollte.« Sie schnippte Asche auf den zusammengerollten Schlangenkörper und nahm ein weiteres Papier aus dem Ordner. »Schauen Sie sich mal ihre Zusammensetzung an, die aus den Seriennummern auf ihren Registrierungspapieren ersichtlich ist. Medizinisch-technische Geräte. Corporate Susan Brown besitzt die Fähigkeit, sich zu einem erstklassigen Krankenhaus zu entwickeln, und genau das wird sie da draußen auf den Asterioden auch werden.« »Das ist natürlich schlimm«, meinte Hulvey. »Denn ich hege den starken Verdacht, daß sie von Zwangs Notizbuch hat. Das Buch, nach dem wir vergeblich gesucht haben.« Dolores blies einen Rauchring in die Luft. »Sie wollen ihr also das Handwerk legen. Aber das können Sie nicht, weil die ›Contra Darwin‹ illegal ist. Sie müssen einen Scheinangriff gegen Cantrell richten, um an Corporate Susan Brown heranzukommen. Aber ich muß Sie warnen – es könnte gefährlich sein, Cantrell anzugreifen – besonders, wenn Sie ihn erschrecken.« »Mag sein. Aber wir brauchen ihn nicht zu erschrecken, um sie unschädlich zu machen.« »Vielleicht – jedenfalls sollten Sie wissen, worauf Sie sich einlassen, Mr. Hulvey. Sie haben doch gehört, daß die Navy da oben einen Zufluchtsort Klasse zwei mit Hospital einrichten will?« »Ja, zum Teufel, es war ja das Ansuchen um überzählige Ausrüstungsgegenstände, das den Stein ins Rollen gebracht hat!« »Genau.« Sie schnippte wieder Asche auf die Kobra. »Haben Sie den Bericht gesehen, den Kapitän Phillipe Ryan eingereicht hat?« »Kommen Sie, Dolores, dafür habe ich doch Sie! Was hat er geschrieben?« »Er flog nach Rosinante, um die Alamo-Frontruppe nach Hause zu holen. Als er dort ankam – nachdem die Regierung in ihrem üblichen Schneckentempo vorgegangen war, hatte Mitsui bereits die japanischen Mädchen hinaufgeschickt, und kaum einer wollte seine neue Heimat verlassen, um nach Texas zurückzukehren. Ryan ist der Typ, der Befehle ausführt, ohne Fragen zu stellen, und er hätte seine Marinesoldaten losgeschickt und die Alamo-Frontruppe mit vorgehaltener Pistole an Bord seines Schiffes bringen lassen. Das steht auch in seinem Bericht. Aber Cantrell sandte diese drei Ex-Studentenkompanien ins Feld, die er zu texanischen Staatspolizisten ernannt und mit alten Stangl-Gewehren ausgerüstet hatte.« Sie drückte ihre Zigarette aus. »Ich nehme an, daß sie mittlerweile neue Modelle haben.«
»Na und? Wir können Mundito Rosinante belagern und mit Force Majeure bedrohen. Dagegen käme diese läppische Infanterie nicht an.« »So, können Sie das?« Dolores rollte sich eine neue Zigarette und zündete sie an. »Okay, Sie können Rosinante bedrohen – aber was passiert, wenn die gegnerische Seite ihre Stellung hält und – zum Beispiel – Senator Gomez um Hilfe bittet? Was werden Sie ihm sagen, wenn er fragt, warum Sie all diese Leute töten wollen?« Sie zog einen weiteren Ordner aus ihrem Aktenkoffer und nahm ein Papier heraus. »Und wenn die Schießerei losgeht, könnten Sie Ihr verdammtes Schiff verlieren.« Sie schob das Blatt zu ihm hinüber. »Ryan war sehr besorgt um die Sicherheit seines Schiffes, weil Mundito Rosinante mit einem Mitsubishi-Drachenskalenspiegel ausgestattet ist.« Hulvey ignorierte das Papier. »Was zum Teufel ist ein Mitsubishi-Drachenskalenspiegel?« Dolores zog an ihrer Zigarette. »Eine feststehende Anordnung von Spiegeln, die schon drei Generationen alt ist. Im wesentlichen handelt es sich um ein Feld aus mehreren Millionen Spiegeln, die im Durchmesser zwei bis drei Meter messen. Jeder Spiegel kann um seine Achse rotieren, und jede Achse kann um eine Schiene kreisen, die in der Fläche des Feldes verankert ist.« Sie stellte ihren Füllfederhalter senkrecht auf ein Blatt Papier und begann ihn zu drehen. Dann schob sie ein Zigarettenpapier unter den Klipp. »Das Zigarettenpapier ist der Spiegel, die Feder rotiert um ihre Achse, sehen Sie? Aber die Achse kann auch rotieren.« Sie hielt den Füller parallel zur Tischplatte, dann drehte sie ihn mitsamt dem Zigarettenpapier. »Jeder Spiegel hat seine eigene Steuerung. Man kann ihn so programmieren, daß er einer täglichen oder einer jährlichen Routine folgt, oder man kann ihn als Sender benutzen oder das Spiegelgefüge so einstellen, daß es einen bestimmten Grad von Hitze erzeugt. Man kann es aber auch als Waffe einsetzen – um Löcher in ein Raumschiff zu schmelzen, über eine Entfernung von mehreren tausend Kilometern hinweg.« Hulvey nahm das Papier, das sie auf den Tisch gelegt hatte, und warf einen kurzen Blick darauf. »Ein Entwurf der japanischen Marine?« fragte er leise. »Das muß mit dem Mitsui-Kontakt zusammenhängen. Sprechen Sie weiter.« »Soviel also zur Force Majeure.« Dolores blickte einer Rauchschwade nach. »Nun werden Sie vielleicht sagen: ›Ach, dieser Cantrell ist doch nur ein einfacher Landjunge.‹« Unwillkürlich lächelte Hulvey. Wann immer er Vorschläge von zweifelhafter Legalität und versteckter Tücke machte, pflegte er zu erklären: ›Ich bin doch nur ein einfacher Landjunge.‹ »Vielleicht wollen Sie es mit Force Chicane versuchen«, fuhr sie fort. »Sind Sie über den Bundesrichter auf Rosinante informiert?« Hulvey lachte. »Okay, Dolores, erzählen Sie mir von diesem Bundesrichter. Ist er Cantrells Eigentum – mit allem Drum und Dran?« »Nein. Richter Corporate Skaskash gehörte früher dem Ökonometrischen Institut von Kiew und Ecufiscale Tellurbank. Jetzt ist er zum größten Teil sein eigener Besitz.«
»Ein rechtsprechender Computer, eh? Dann könnten wir mit der Force Chicane Schwierigkeiten haben«, gab Hulvey zu. »Wie ist das passiert?« »Die brauchten einen Richter für einen Mordprozeß. Skaskash bestand die erforderlichen Eignungsprüfungen und wurde zum gleichen Zeitpunkt, als Cantrell zum Gouverneur gewählt wurde, zum Richter ernannt. Wenn er nicht als Richter fungiert, erfüllt er seinen Vertrag mit Cantrell. Ich nehme also an, daß Skaskashs Richterspruch Cantrells Wünschen sehr entgegenkam. Alles in allem betrachtet, würde ich vorschlagen, daß Sie sich nur auf die Sache einlassen sollten, wenn Sie absolut sicher sind, daß Sie von Zwangs Notizbuch auf Rosinante finden werden. Das Risiko ist ziemlich groß.« Hulvey lehnte sich zurück und musterte Dolores Ferranes ein paar Minuten lang. Er fand, daß sie das natürliche Grau ihrer Haare zeigen sollte. Diese tintenschwarze Farbe ließ ihr Gesicht hart und unsympathisch erscheinen. »Wahrscheinlich haben Sie recht«, sagte er schließlich. »Wenn die Operation schiefläuft, könnte das fatale Folgen haben.« »Wollen Sie alles abblasen? In diesem Stadium wäre das noch kein Problem.« »Das werde ich nicht tun, Dolores. Aber vielleicht sollten wir unseren Plan ändern. Statt Cantrell zu arretieren und in der allgemeinen Verwirrung Corporate Susie B. rauszuholen, könnten wir mit der einen Hand den Scheinangriff gegen ihn inszenieren und mit der anderen Corporate Susie vernichten.« »Und dann die ganze Sache von hier aus stoppen.« Dolores schnippte Asche auf die Kobra. »Das müßte klappen. Aber wie werden Sie die schriftliche Order formulieren, die Sie dem P. O. überreichen müssen? Ich nehme an, ein Politischer Offizier wird die Operation leiten?« »Ja, sicher. Holt kann die schmutzige Arbeit erledigen, aber er kann nicht das Kommando führen. Und einem Außenseiter können wir nicht verraten, was wir vorhaben, also werden wir eine Zwei-Mann-Operation starten. Dave würde sich gut dafür eignen, aber ich weigere mich, ihn für eine solche Aktion zu mißbrauchen. Wen haben wir denn sonst noch?« »Wie wär's mit Richter Purvis?« »Der will sich in diesem Herbst wiederwählen lassen, Dolores. Was halten Sie von Billy Lee Prowse?« »Billy managt Reverend Daughertys Fernsehsendung ›Die Stunde der Rettung‹. Er ist ganz groß im Geschäft. Glauben Sie, daß er weggehen würde?« Hulvey schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht für den langen Zeitraum, den diese Operation erfordern würde. Aber wir haben ja immer noch Greene.« »Ach, der gute alte Homer Greene«, sagte Dolores. »Sind Sie sicher, daß Sie die Sache nicht abblasen wollen?« »Das bin ich nicht – aber diese Sache nagt schon so lange an meiner Seele. Und Greene ist Lieutenant Colonel im Navy-Sicherheitsdienst. Es wäre kein Problem, ihn zum Politischen Offizier zu befördern.« »Wenn Sie ihn genau instruieren – können Sie sich dann darauf verlassen, daß er nicht irgendwelche Details vermasseln wird?« fragte Dolores zweifelnd. »Wenn es eine Möglichkeit gibt, irgendwas zu verderben, dann wird Greene sie
finden. Aber eigentlich müßte ihm das liegen – viel Lärm und Getöse und jede Menge Bluffs ... Und er braucht überhaupt nichts ohne meine Befehle zu tun. Was sollte da schiefgehen?« Dolores drückte ihre Zigarette aus und begann die Papiere einzusammeln. »Ich weiß nicht recht... Wenn ich es wüßte, könnten wir das Problem lösen. Aber Greene kann sich ja von Holt beraten lassen, also wird's nicht allzu schlimm werden.« Sie schloß ihren Aktenkoffer mit einem lauten Knall und zog den Aschenbecher aus der Tischplatte. »Ich würde sagen, das Risiko ist akzeptabel.« »Ich werde drüber schlafen«, erwiderte er, als sie zur Tür gingen. »Aber ich glaube, wir werden's machen.« »In diesem Fall werde ich den ganzen Schreibkram zusammenpacken, damit Sie ihn morgen beim Lunch zu Bowman bringen können. Glauben Sie, daß er Ihnen die Sache abkaufen wird?« »Allerdings«, sagte Hulvey.
4 Corcoran's Apartmenthotel lag in einem der heruntergekommenen Viertel von St. Louis, in der Nähe der Pruitt-Igoie-U-Bahnstation. Im Erdgeschoß des Hotels stand Danny, der Cork's Irish Pub, ein Verkaufsautomat, in den man sich setzen konnte, ausgestattet mit Plastikkleeblättern und Reiseplakaten. Wenn man auf einen der Speisekartenknöpfe drückte, leuchtete die Bestellung auf, und dann erschien die Gesamtsumme der Rechnung. Man mußte Geld in eine pneumatische Röhre werfen, hörte die Münzen klirren, und prompt rollte ein Roboter herein, der an einer Gleitschiene in der Decke hing, und servierte, was man bestellte. Wenn man Wechselgeld herausbekam, fiel es aus der Röhre. Lieutenant Oscar James Holt alias Joe Bob Baroody saß in einer Nische, mit einem Bier und einer Zeitung. Er trug die khakifarbene Drillichuniform der NAUNavy, mit den hellblauen Streifen vom Politischen Dienst an der Schulter. Ein regulärer Navy-Lieutenant hätte vielleicht bemerkt, daß Holt schon ein bißchen zu alt für diesen Dienstgrad war, aber wenn überhaupt, so hätte er das nur mit äußerster Diskretion zur Sprache gebracht. Als Holt sein Bier ausgetrunken hatte, gesellte sich Lieutenant Commander Hulvey zu ihm. »Du kommst spät, Dan«, sagte Holt, ohne aufzublicken. »Der Prüfungsausschuß hat so lange getagt. Es war zwar nur eine Formalität, aber ich mußte dabei sein.« »Was gibt's denn hier Gutes?« »Frische Muscheln. In der Zeitung steht, daß der Sicherheitsdienst die Panoblancos endlich fertiggemacht hat. Ich glaube, auch das ist gut.« Hulvey drückte auf die Knöpfe für Muscheln, Fettucine und ein Bier. »Möchtest du noch eins?« Holt nickte, und Hulvey drückte nochmals auf den Bierknopf und schob einen Geldschein in die Röhre. »Das Land droht aus allen Nähten zu platzen, und du findest das gut? Wir stehen kurz vor einem Bürgerkrieg.«
»Nun, das ist doch gut für den Geheimdienst, oder? Wenn alles ruhig und friedlich wäre, müßten wir zwei womöglich auf Arbeitssuche gehen.« Er trank den letzten Rest aus seinem Bierglas. »Wie war die Prüfung?« »Oh, ich habe bestanden. Und was gibt's bei dir Neues?« »Hast du schon gehört, daß wir eine Spur gefunden haben, die uns zu von Zwangs Notizbuch führen könnte?« Hulvey nickte, und Holt fuhr fort: »Ich wurde auf die NAUSS Ciudad Juarez abkommandiert. Sie wird zu den Asteroiden fliegen, um versprengte Panoblancos einzusammeln, und unter anderem wollen wir auch auf dem Mundito – ah, auf Mundito Rosenbaum Zwischenstation machen.« »Mundito Rosinante«, korrigierte Hulvey. »Ach ja, richtig. Ich kannte mal ein Mädchen namens Muneca Rosenbaum ... Jedenfalls, Homer Greene wird als mein Strohmann fungieren, und ich werde mir diese Corporate Susan Brown ansehen, die aller Wahrscheinlichkeit nach von Zwangs Notizbuch besitzt.« »Und wie hoch ist diese Wahrscheinlichkeit?« fragte Hulvey. In diesem Augenblick rollte der Robot-Kellner heran und servierte das Essen und die zwei Bier auf einem Tablett. Sie nahmen den Teller und die Gläser herunter, und der Roboter ergriff das Tablett mit Holts leerem Bierglas und rollte davon. »Wovon habe ich gerade gesprochen?« fragte Holt zwischen zwei Bissen. »Daß du die Prüfung bestanden hast. Und was war dann?« »Ach ja ... Ich wurde zum Commander befördert – mit der Auflage, daß ich noch einen zwölfwöchigen Raketentechnikkurs absolvieren muß.« »Das ist ja phantastisch, Dan!« Holt prostete ihm mit seinem Bier zu, und Hulvey hob ebenfalls sein Glas. »San Diego?« »Nein, Havanna. Ursprünglich sollte ich irgendwo in den L-4s Dienst tun, und das hätte mir viel besser gefallen. He, diese Muscheln schmecken verdammt gut!« »Das hat man mir gesagt. Hast du nicht gemeint, daß man dich vielleicht befördern wird, wenn du den Kurs gemacht hast?« »Nein. Meine Beförderung wird am 1. Dezember wirksam, nach dem Abschluß des Raketenkurses.« Hulvey trank einen Schluck. »Vielleicht? Das hätte mein Daddy nicht geduldet. Natürlich muß ich an dem Kurs teilnehmen, aber es ist völlig ausgeschlossen, daß ich die Prüfung nicht bestehen werde, und ich bin bereits befördert worden. Nun, wie fühlst du dich – so kurz vor deinem Raumflug?« »Ich war noch nie da oben – aber zum Teufel, was soll's?« Er nahm einen großen Schluck. »Vielleicht finde ich irgendwo auf den Asteroiden ein hübsches Plätzchen, wo ich mich niederlassen kann, wenn diese Corporate Susan BrownAffäre erledigt ist. He, wir müssen doch deine Beförderung feiern? Was hältst du von einem hübschen Mädchen?« »Ein hübsches Mädchen könnte ich gut gebrauchen.« Hulvey stopfte sich die letzten Fettucine in den Mund und drückte auf einen Knopf. »Wo bleibt mein Wechselgeld?« »Kommt sofort, Sir«, sagte eine Stimme. »Sie brauchen nur zu pfeifen. Wissen Sie, wie man pfeift?«
»Man muß die Lippen spitzen und blasen«, antworteten Holt und Hulvey einstimmig. Das Wechselgeld rasselte in der pneumatischen Röhre, und zwei Unterklassemädchen, dünn, zwischen fünfzehn und sechzehn, kamen herein. »Einsam, Süßer?« fragte die eine. Hulvey klopfte auf den Platz neben sich. »Setz dich, Tausendschönchen«, sagte er, und sie gehorchte. Ihre Gefährtin zwängte sich kichernd auf den Stuhl daneben. »Warum nicht: ›Sind Sie neu in der Stadt, Matrose‹?« fragte Holt. »Weil ihr Stammkunden seid.« »Das hat man davon, wenn man in einer Spelunke wie dem Corcoran's wohnt«, meinte Hulvey. »Immer noch besser als die typische Bude des unverheirateten Offiziers. He, Süße, warum kommst du nicht an meine Seite?« Das Mädchen, das ganz außen saß, stand auf und ging zu ihm. Er legte einen Arm um sie. »Hören Sie auf, an mir rumzufummeln!« sagte sie. »Okay, gehen wir ins Metropole rüber«, schlug Hulvey vor. »Es hat doch keinen Sinn, in einer Bar herumzualbern, wenn man das genausogut in einem Jacuzzi machen kann.« Das Stargate Motel bot einen Ausblick auf den Haupteingang der Baja ShuttleBasis und den Pazifischen Ozean. Lieutenant Colonel Homer Greene beugte sich vor und klopfte seiner Fahrerin auf die Schulter. »Biegen Sie da vorn ab, zum Motel, Süße. Ich muß unbedingt ein bißchen schlafen.« »Es ist doch erst 16 Uhr 30, Sir«, sagte sie und verringerte die Geschwindigkeit, um den Wagen nach links in die Einfahrt des Motels zu steuern. »Nach Ihrer Zeit, Süße. Ich bin heute morgen von Gander in Neufundland zu dieser Vormittagskonferenz in St. Louis geflogen, und von dort mit einer Handelsmaschine nach San Diego, wo ich mit Ihnen Kontakt aufnahm. Für mich ist es Mitternacht – und in der vergangenen Nacht habe ich kein Auge zugetan.« Sie wartete im Wagen, während er ins Empfangsbüro des Motels ging, seine offizielle Kreditkarte in der Hand. Er steckte sie in einen Schlitz, und die Maschine warf einen Schlüssel auf den Tisch. »Danke für Ihren Besuch, Colonel Greene. Haben Sie irgendwelche Sonderwünsche?« »Ich muß das 21 Uhr 40 Shuttle erreichen, und deshalb wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich um etwa 20 Uhr anrufen würden.« »Natürlich, Sir«, sagte das Motel. »Bitte, unterschreiben Sie die Rechnung.« Er unterzeichnete das Papier, das ihm das Motel hinschob, das Motel nahm es entgegen und spuckte die Kreditkarte aus. Greene ging zum Auto zurück. »Soll ich Ihre Koffer hineintragen, Sir?« fragte die Fahrerin. »Nur den kleinen.« Im Zimmer angekommen, trug er ihr auf, Eiswürfel zu holen. Als sie mit einem Eiskübel zurückkehrte, hatte er eine Flasche Bourbon ausgepackt und seine Schuhe ausgezogen. Er gab Eiswürfel in zwei Gläser und goß ein. »Ich bin im Dienst, Sir«, protestierte die Fahrerin. »Ich darf nichts trinken.«
»Natürlich dürfen Sie. Ziehen Sie die Schuhe aus, und schauen Sie sich einen hübschen Film an, junge Soldatin. Das ist ein Befehl!« Seine Stimme klang sehr überzeugend, und nach kurzem Zögern gehorchte sie. Der Farbfernseher des Motels war an einen Videorecorder angeschlossen, und der Colonel legte einen Pornofilm ein, den er aus St. Louis mitgebracht hatte. Als sie später duschte, hörte sie ihn schreien. Sie drehte das Wasser ab, ging ins Schlafzimmer und frottierte sich das kurzgeschnittene blonde Haar. Er lag ausgestreckt auf dem ungemachten Bett und trug ihre Uniform. »Meine Brust tut so weh«, keuchte er. »Ich – bekomme keine Luft... Holen – Sie Hilfe ...« Sie griff nach dem Telefon und rief das Basishospital an. Während sie sprach, lief ein krampfhaftes Zucken durch Greenes Körper, und sein Schrei war so laut, daß man ihn am anderen Ende der Leitung hören konnte. Wenige Minuten später traf eine Hubschrauberambulanz ein, doch da hatte bereits die Leichenstarre eingesetzt. Die Sanitäter brachten Greene und die Fahrerin (die inzwischen Hose und Bluse angezogen hatte) in die Klinik, wo heroische, aber erfolglose Bemühungen unternommen wurden, das Herz des Colonels wiederzubeleben. Ungefähr zur gleichen Zeit, als das Motel wunschgemäß in seinem Zimmer anrief, wurde Lieutenant Colonel Homer Greene für tot erklärt. Der Navy-Sicherheitsdienst wurde informiert, zog Erkundigungen über Greenes Mission ein, prüfte die psychologischen Gutachten über die verfügbaren Offiziere und bestimmte schließlich Major Gerald Terry zu Greenes Nachfolger. Da sich Major Terry bereits in Laputa aufhielt, teilte der Computer Greenes Shuttle-Platz dem dienstältesten Unteroffizier zu, der Bereitschaftsdienst hatte. Es wurde nicht für nötig erachtet, den NAURA-Sicherheitsdienst zu konsultieren, geschweige denn William Hulvey, da keiner der beiden mit der Mission offiziell in Verbindung stand und deshalb auch nichts im Befehlsbereich zu suchen hatte. Vizeleiter Hulvey erfuhr drei Tage später von dem Ereignis, als Greenes Witwe ihn bat, beim Begräbnis ihres Mannes als Sargträger zu fungieren. Mittlerweile war natürlich jeder Kanal, durch den man die Operation hätte stoppen können, blockiert, und Lieutenant Oscar James Holt alias Joe Bob Baroody war auf sich allein gestellt. An dem Tag, nachdem die NAUSS Ciudad Juarez auf Rosinante gelandet war, traf William M. Hulvey gegen Mittag in seinem Büro ein. Die Anstreicher waren mit der Arbeit fertig, aber der Geruch von Milchsaftfarbe hing immer noch in der Luft. Der ›alte‹ Teppichboden – man hatte ihn ein knappes Jahr früher für Hooke, den damaligen Vizeleiter, gelegt – war entfernt worden und wartete nun zusammengerollt draußen in der Halle auf den Abtransport. Die Arbeiter bestrichen den Büroboden mit Mastix und legten verschieden breite Holzbretter mit imitierten Bolzen auf den Betonboden. Hulvey beobachtete sie eine Weile. »Wann werden Sie fertig sein?« »Am späten Nachmittag können Sie einziehen, Sir«, erwiderte der Vorarbeiter. »Spätestens morgen vormittag.« »Sehr gut.« Hulvey war in das Büro des Vizeleiters übersiedelt, als er diesen
Posten übernommen hatte, doch er hatte die neue Raumgestaltung erst in Angriff genommen, nachdem seine Ernennung offiziell bestätigt worden war. Nun drückte er dem Büro seinen persönlichen Stempel auf. Georgetownblaue Wände. Austernweiße Glaswollgardinen, mit weißem Seidenmuster verziert. Ein Holzboden mit maßgefertigtem Webteppich. Allerlei Kinkerlitzchen, die demonstrieren sollten, wie wichtig er war. Die Gardinen und der Teppich lagerten einstweilen im Büro der Empfangsdame, und auf ihrem Schreibtisch stand eine meterhohe QingVase. Ihr Gegenstück schmückte eine Kommode hinter dem Tisch. Er hängte Mantel und Hut auf und ging hinaus. »Ich bin drüben im Anwaltsbüro«, sagte er zu seiner Empfangsdame. »Im Augenblick passiert nicht viel.« Dolores Ferranes schnippte Asche auf die Windungen des Kobra-Aschenbechers. »Die Überprüfung der Altregimisten in der Navy ist zum Stillstand gekommen, und die hispanischen Revolutionäre machen offenbar Urlaub. Wie war's in Havanna?« »Sehr schön«, sagte Hulvey. »Dave graduierte als der Beste seiner Klasse – in sportlicher und wissenschaftlicher Hinsicht. Ich mietete ein Boot, und wir fuhren zum Hochseefischen hinaus. Jeder von uns fing einen Speerfisch, und Dave erbeutete sogar einen ziemlich großen Seglerfisch. Wenn ich den gefangen hätte – das wäre gigantisch gewesen.« Er gab einen Teebeutel in eine Plastiktasse und goß heißes Wasser darauf. »Das Meer war wunderbar – tiefklar und blau – und es warf kaum Wellen, nur ein bißchen, um uns wissen zu lassen, daß es noch am Leben ist.« Er nahm den Teebeutel aus der Tasse, ließ ihn dann wieder hineingleiten, um ihn noch ein wenig ziehen zu lassen. »Und auf der Rückfahrt haben wir einen unglaublichen Sonnenuntergang miterlebt. Rot und gelb – und an den Rändern malvenrosa und violett – und der Himmel leuchtete in einem unvorstellbaren Grün. In diesen Farben würde ich gern mein Büro ausstatten, Dolores.« »Haben Sie Dave das Commander-Abzeichen an die Brust geheftet?« »Ich habe ihm eins geschenkt, aus vierzehnkarätigem Gold – aber ich hab's ihm nicht ans Hemd geheftet. Dave – oder Riordan, wie er genannt werden möchte – ist ein erwachsener Mann. Ich habe ihm nur gesagt, daß ich sehr stolz auf ihn bin.« »Sehr gut.« Dolores drückte ihre Zigarette aus. »Sie haben auch allen Grund, stolz auf ihn zu sein.« »Er hat mir etwas erzählt. In seiner Freizeit, wenn er gerade nicht studieren mußte, nahm er sich die von Zwang-Akten vor. Er las das Originalprotokoll von der Befragung des Burschen, der den Postdienst leitete.« »Wo wir die Spur verloren haben?« »Genau. Man hat den Zeugen hypnotisiert, um seiner Erinnerung auf die Sprünge zu helfen. Er war also – sozusagen – gezwungenermaßen kooperativ. Aber er konnte sich einfach nicht erinnern, und schließlich fragte unser Mann: ›Wurde es ans Rockefellerinstitut in Cincinnati geschickt?‹ Und die Antwort lautete: ›Ich glaube, es wurde nach Cincinnati geschickte « »Scheiße! Welches Arschloch hat den Mann befragt? Greene?« »Das wollte ich auch von Dave wissen. Aber er lachte nur und meinte, das wäre Schnee vom vergangenen Jahr. Danach legten wir an, und ich ließ das Thema
fallen. Es war ja wirklich Schnee vom vergangenen Jahr. Greene ist tot, wie Sie wissen.« »Werden wir ein Schiff zu den Asteroiden schicken, um Antwort auf eine wesentliche Frage zu erhalten, Mr. Hulvey?« erkundigte sich Dolores. »Wollen wir ernsthafte Risiken eingehen und eine Unmenge Geld verschwenden, weil irgendein Trottel schlampige Arbeit geleistet hat? Und dann hat er auch noch das Protokoll frisiert, damit er besser dasteht! Jesus Christus!« »Es ist der einzige Hinweis, den wir haben«, entgegnete Hulvey mit ruhiger Stimme, »und da wir das alles über Corporate Susie B. wissen – glauben Sie, daß wir sie ignorieren können?« »Wahrscheinlich nicht.« Dolores befingerte nachdenklich ihr Korallenhalsband. »Ich nehme an, sie besitzt die Fähigkeit, wissenschaftliche Experimente mit menschlichen Genen durchzuführen, und es gibt vermutlich nichts, was sie daran hindern wird. Wir sollten sie mal checken.« »Checken? Holt wird sie zertrümmern!« »Holt ist zwar tüchtig, aber zu temperamentvoll. Könnten wir nicht jemand anderen hinauf schicken?« Dolores rollte sich eine neue Zigarette. »Darüber haben wir schon diskutiert. Wenn Baroody nicht untergetaucht wäre, hätten wir nicht einmal Holt.« Er runzelte die Stirn. »Sie rauchen zuviel.« Dolores riß ein Streichholz an ihrem Daumennagel an. »Damit haben Sie verdammt recht«, gab sie zu und entzündete ihre Zigarette. »Eine miese, kostspielige Angewohnheit, aber meine Privatsache. Und im Gegensatz zum Terrorismus, der für heilige Ziele kämpft, nicht illegal.« Sie blies einen Rauchring in die Luft. »Die Asteroiden sind weit weg, Mr. Hulvey. Wenn Sie nicht glauben würden, daß Corporate Susie von Zwangs Notizbuch hat, wären sie dann so versessen drauf, ihr nachzuspionieren?« »Möchten Sie aus der ›Contra-Darwin‹ austreten?« »Wie in Gottes Namen könnte ich das – selbst wenn ich es wollte? Ich möchte nur wissen, ob wir uns bis ans Ende unserer Tage wie fanatische Wirrköpfe aufführen werden.« »Nein. Aber wenn ich eine Sache anpacke, dann möchte ich gute Arbeit leisten.« »Scheiße, Mr. Hulvey! Beantworten Sie meine Frage!« In diesem Augenblick läutete Hulveys Gürteltelefon. »Lieutenant Hulvey ist gestern um 13 Uhr 03 auf Mundito Rosinante eingetroffen«, sagte Corporate Elnas Stimme. »Sein Bericht läuft gerade durch die Entschlüsselungsanlage. Wollen Sie ihn lesen?« »Ja, natürlich. Ich möchte die Kopie so bald wie möglich – nun ja, mein Schreibtisch steht zur Zeit draußen in der Halle.« Er nahm einen Schluck von seinem lauwarmen Tee. »Setzen Sie Holts Bericht auf die Dringlichkeitsliste. Ich werde ihn mit nach Hause nehmen.« Er klappte das Telefon zu. »Was haben Sie mich gefragt, Dolores?« Sie zog an ihrer Zigarette und stieß den Rauch durch die Nasenlöcher aus. »Stört es Sie gar nicht, daß Ihr Schicksal davon abhängt, ob der gute alte Holt Glück haben wird?«
»Eigentlich nicht. Seit dem Beginn dieser Operation habe ich nie mehr von Jenny geträumt.« Am nächsten Tag nahm Hulvey an einer Telekonferenz der regionalen Sicherheitsdienstleiter teil, bei der über aktuelle Probleme diskutiert wurde. Die dritte Stunde war bereits angebrochen, und man kaute eine technische Frage wieder: Wurden die Sendungen von Adelita Blanquista von einer beweglichen Quelle in den Gegenden ausgestrahlt, wo man sie empfangen konnte, oder über einen Satelliten von einem weiter entfernten Punkt? Hulvey klappte eine Tastenplatte auf seinem Schoß auf und tippte: GIBT'S WAS NEUES ÜBER DIE ROSINANTE-MISSION? Die Antwort lief über einen Leseschirm. JA. MAJOR TERRY, DER P. O. AN BORD DER NAUSS CIUDAD JUAREZ, SUCHT UM DIE ERLAUBNIS AN, CANTRELL ÜBER DEN INHALT DER BESCHULDIGUNGEN ZU INFORMIEREN, DIE GEGEN IHN ERHOBEN WURDEN. WIR HABEN EINEN BERICHT VON LIEUTENANT HOLT. ER SAGT, ER HÄTTE CORPORATE SUSAN BROWN AUFGESTÖBERT. AUSSERDEM BEKAMEN WIR EINEN ANRUF VON SENATOR GOMEZ'S BÜRO BEZÜGLICH DER ›AFFÄRE CHARLES CHAVEZ CANTRELL‹. ICH RUFE ZURÜCK, tippte Hulvey. TRANSPORTIEREN SIE MEIN GESICHT AUF DEN BILDSCHIRM, ELNA. Nach wenigen Sekunden läutete sein Gürteltelefon, und er klappte es auf. »Vizeleiter Hulvey, NAURA-Sicherheitsdienst, ruft Sie zurück«, sagte er. »Oh, das ist aber wirklich nett von Ihnen«, erwiderte eine Frauenstimme. »Ich bin Maria Yellowknife, in Senator Gomez's Büro.« Das Apostroph-S bei ›Gomez's‹ verschmolz mit dem Z und wies auf einen westlichen Akzent hin, den Hulvey nicht lokalisieren konnte. »Sie sind nicht aus Texas. Ich kenne die meisten texanischen Dialekte. Woher kommen Sie?« »Aus Mexico City, aber ich ging in Cambridge zur Schule – in England, nicht in Texas. Hören Sie, wir haben einen Mandanten namens Cantrell. Kennen Sie ihn?« »Corporate Elna hat mich informiert.« »Sehr gut. Unser Mann lebt draußen in den Asteroiden, unzählige Meilen von dem ganzen Getue um die mexikanische Unabhängigkeit entfernt. Da ist er also, kümmert sich nur um seinen eigenen Kram, als plötzlich, aus heiterem blauen Himmel, dieses Kanonenboot auftaucht und ihm sagt, daß El Jefe mit ihm reden will, im Hauptquartier auf Laputa. Sie sagen ihm nicht einmal, warum. Was hat das zu bedeuten?« »Nun, der Himmel da draußen ist schwarz, und die NAUSS Ciudad Juarez ist ein leichtbewaffneter Kreuzer und kein Kanonenboot. Und der Ort, an dem sich Cantrell aufhält, ist der Mundito Rosinante, erbaut als Gemeinschaftsprojekt der Panoblanco-Skalaweb und der japanischen Mitusi-Firma. Wir haben eine Korrespondenz zwischen Cantrell und den Panoblancos gefunden, und obwohl er selbst nicht in Schwierigkeiten zu stecken scheint, würden wir gern mit ihm über
die Leute sprechen, die er kennt. Zum Beispiel hat er mit Llamamoto von der Tellurbank Geschäfte gemacht. Und wenn er seine Meinung über irgendwelche dritten Parteien äußern wollte, wäre dem Sicherheitsdienst sehr geholfen.« »Könnten Sie nicht einen Mann nach Rosinante schicken, der ihm die erforderlichen Fragen stellt?« »Wir haben ihn nach Laputa eingeladen, doch er hat sich geweigert, hinzufliegen. Offenbar wurden die ersten Kontakte durch einen Computer in einem unserer Außenbüros hergestellt, und wir haben die Sache von Anfang an falsch angepackt.« »Das erscheint mir auch so, Mr. Hulvey. Soviel ich weiß, will der P. O. auf der Juarez Cantrell nach Laputa bringen, wo er zu nicht näher spezifizierten Beschuldigungen Stellung nehmen soll. Senator Gomez möchte wissen, was man Cantrell vorwirft.« »Ich werde die Unterlagen durchsehen und dann wieder anrufen«, sagte Hulvey. »Ich nehme gerade an einer Telekonferenz teil und muß jetzt Schluß machen. Aber ich werde Sie nicht vergessen.« – »Vergessen Sie auch den Senator nicht«, erwiderte Maria Yellowknife. »Adios, Vizeleiter Hulvey.« »So ein Biest«, murmelte Hulvey erbost. Die Telekonferenz befaßte sich nun mit der mexikanischen Revolution von 1915. »Die Regionalleiter scheinen genau über Namen, Daten und Schauplätze informiert zu sein«, sagte Corporate Elna. »Aber ich habe den Verdacht, daß sich die meisten genauso hinter ihren Telekonschirmen verstecken wie Sie und ihre Computer reden lassen, wenn irrelevante Themen besprochen werden.« »Da könnten Sie recht haben. Okay, schalten Sie mich wieder auf den Bildschirm.« »Paul Muni hat Benito Juarez besser dargestellt als Marion Brando den Emiliano Zapata«, sagte jemand. »Wußten Sie, daß Benito Mussolini nach Benito Juarez benannt wurde?« fragte ein anderer. »Das ist zwar recht interessant«, warf Hulvey ein, »aber wir haben die festgesetzte Zeit bereits überschritten. Ich schlage vor, die Sitzung bis nächste Woche zu vertagen.« Ein Zittern lief über die Gesichter auf den Telekonschirmen, als die simulierten Regionalleiter wieder zum richtigen Leben erwachten und der Vertagung zustimmten. »Holt hat Corporate Susan Brown also gefunden«, murmelte Hulvey nachdenklich. »Teilen Sie Major Terry mit, daß wir die gegen Cantrell erhobenen Beschuldigungen nicht spezifizieren werden. Aber schieben Sie das noch einen oder zwei Tage hinaus. In der Zwischenzeit können wir von Holt erfahren, was vermutlich passieren wird.« »Und Senator Gomez?« fragte Elna. »Diesen Brief werde ich wohl selber schreiben müssen. Verdammte Scheiße – aber als Senator hat er wohl das Recht darauf, anständig behandelt zu werden.«
5 Lieutenant Holt schlüpfte in eine leichte blaue Guayaberajacke, die er im Bordladen gekauft hatte, und zog das kurzärmelige Hemd mit den vier Taschen aus der frischgebügelten Khakihose. Er vergewisserte sich, daß seine Schuhe glänzten, dann betrachtete er sich in dem langen Spiegel an seiner Kabinentür, schlenderte auf den Korridor hinaus zum Kommunikationsraum der NAUSS Juarez Ciudad und trat ein, seinen Diplomatenkoffer in der Hand. Ein Unteroffizier las die täglichen Nachrichten, die am schwarzen Brett angeschlagen waren. Ein Matrose heftete einen Bericht in einen Aktenordner. Der Kommunikationsoffizier, ein Lieutenant, der zehn Jahre jünger war als Holt, legte eine Patience. Holt ging zum Schreibtisch hinüber und plazierte, als der Mann nicht aufblickte, eine rote Sieben auf einer schwarzen Acht. Der Lieutenant hob den Kopf. »Hallo, Holt. Wollen Sie wieder mal unsere Verschlüsselungszelle benutzen?« Er wandte sich um. »Sie ist offen. Gehen Sie nur hinein.« »Vielen Dank, John.« Holt ging in die Zelle, setzte sich, schloß die Tür und nahm seinen Verschlüsselungsmanipulator aus dem Diplomatenkoffer. Er steckte ihn in den Schlitz, stellte das Gerät auf ›Stimme‹ ein und drückte auf die Einschalttaste. Das Wort ›Chiffre‹ leuchtete in gelben Leuchtbuchstaben auf. VON: LT. O. J. HOLT; BETRIFFT: LAGEBERICHT; AN: VIZELEITER WILLIAM M. HULVEY; DATUM: 4. MÄRZ 41, 21 UHR 10. WILLY, ICH KONNTE NICHTS AUS CORPORATE SUSIE RAUSKRIEGEN. NICHT EINMAL DER NETTESTE, FREUNDLICHSTE REPORTER VON DER WELT WÜRDE WAS AUS IHR RAUSHOLEN, UND IN ANBETRACHT DER UMSTÄNDE KANN ICH NICHT DROHEN, SIE AUSEINANDERZUNEHMEN – WAS OHNEHIN NICHTS NÜTZEN WÜRDE. OKAY. WIE ICH SOEBEN HERAUSFAND, WEIGERTE SICH MAJOR TERRY AUF LAPUTA, MEIN ANSUCHEN UM PLASTIQUE ZU UNTERSCHREIBEN, WEIL ER SICH NICHT VORSTELLEN KONNTE, WOZU ICH ES BRAUCHE. ICH HÄTTE NIE GEDACHT, DASS ICH GREENE VERMISSEN WÜRDE, ABER DER ALTE FURZ HATTE SEINE QUALITÄTEN. JEDENFALLS ARBEITETE ICH ENG MIT TERRY ZUSAMMEN. ER HAT BESCHLOSSEN, DASS DIE MARINESOLDATEN HEUTE NACHT UM 2 UHR CANTRELLS HAUPTQUARTIER ANGREIFEN SOLLEN, ALSO AM 5. MÄRZ UM 2 UHR 00. ICH FINDE, SEIN PLAN LÄSST EINIGES ZU WÜNSCHEN ÜBRIG, DENN CANTRELL IST VIEL UNTERWEGS, UND WENN DIE SOLDATEN IHN NICHT AUSSCHALTEN, WIRD SICH NICHT SO BALD EINE NEUE GELEGENHEIT ERGEBEN, AN CORPORATE SUSIE RANZUKOMMEN. ICH GEHE ALSO MIT DEM BERÜCHTIGTEN GELÄNDENOTBEHELF RAUS, WENN PLASTIQUE AUCH BESSER WÄRE. ABER MAN NIMMT EBEN, WAS MAN KRIEGEN KANN. DIE LADUNG WIRD GRÖSSER SEIN, ALS ES
MIR LIEB IST, UND ICH KANN SIE AUCH NICHT SO GENAU PLAZIEREN. WENN TERRYS OPERATION GELINGT, KANN ICH IMMER NOCH IM SCHUTT NACH FRAGMENTEN DES NOTIZBUCHES WÜHLEN. WENN TERRY DEN GANZEN MUNDITO SPRENGT, WAS WAHRSCHEINLICHER IST, WIRD NIEMAND DIE ZWEITE EXPLOSION BEMERKEN, UND WIR WERDEN NIE ERFAHREN, OB DIE ALTE SUSIE VON ZWANGS AUFZEICHNUNGEN HATTE. FREUT MICH, DASS DAN DEN RAKETENTECHNIKKURS ALS KLASSENBESTER ABSOLVIERT HAT. WENN DU IHN SIEHST, RICHTE IHM LIEBE GRÜSSE VON MIR AUS. BIS BALD, ALTER KUMPEL. »Wie wollen Sie die Nachricht unterzeichnen?« fragte die Maschine. »Oh – ich glaube, mit ›Buck‹«, erwiderte Holt. Er las den Text noch einmal durch, dann drückte er auf die Sendetaste. Neben dem gelben Wort CHIFFRE erschien nun in roten Leuchtbuchstaben SENDUNG. Dann erloschen beide Leuchtschriften gleichzeitig. Holt packte seinen Verschlüsselungsmanipulator wieder in den Diplomatenkoffer und schlenderte aus der Zelle. Die NAUSS Ciudad Juarez war wie ein Rad mit drei Speichen gebaut, und die Nabe enthielt das Triebwerk, das Waffensystem und die Magazine. Das Schiff rotierte, um die Crew am Radkranz mit Zentrifugalkraft zu versorgen. Wenn das Schiff auf einem anderen rotierenden Objekt landete, war es natürlich notwendig, die Geschwindigkeiten und die Rotationen einander anzugleichen. Wenn das geschehen war, wurden Schiff und Station sorgfältig miteinander verbunden, indem die geöffneten Schleusen beider Teile aneinandergepreßt wurden. Die Plomben der Schleusentore schwollen an, so daß beide Systeme luftdicht verschlossen blieben. Geometrisch gesehen, war es schwierig, die Schiffsschleuse woanders als an einem Ende der Nabe anzubringen, am Ende der Rotationsachse. Holt fuhr mit dem Lift in die Nabe, wo er, statt durch die offene Schleuse zu gehen, das kleinere Magazin betrat, nicht das Raketenlager, sondern den Raum, der die kleineren Waffen enthielt. Die Tür wurde, wie alle Magazintüren, von einem Cerberus-Sicherheitscomputer bewacht. Aber Holts Kontakte mit dem Sicherheitsdienst hatten ihm Zugang zu dem Eimer mit dem Drachenfutter verschafft, und nun schlüpfte er lautlos wie ein Schatten hinein. Er suchte sich die kleinste verfügbare Sprengladung aus, einen winzigen nuklearen Sprengkopf, der einer Explosionskraft von fünfzehn Tonnen Trinitrotoluol entsprach und mit einem chemischen Explosivdetonator versehen war. Er öffnete seinen Diplomatenkoffer und nahm einen kleinen Gepäckträger auf Rädern und eine AOU*-Stofftasche heraus. Dann löste er den Sprengkopf von der Ladung, steckte ihn im Diplomatenkoffer unter eine zusammengefaltete Windjacke und verstaute die Ladung in der AOU-Tasche. Nachdem er die kaum verhüllte Bombe auf dem Gepäckträger festgeschnallt hatte, schloß er den Koffer und ging hinaus. Er * AOU – Abwesend ohne Urlaub
schlenderte zur Schleuse hinab, um das Schiff zu verlassen, zog fast zwanzig Kilogramm eines hochexplosiven Stoffes auf dem kleinen Karren hinter sich her, trug in der linken Hand das Äquivalent von 15 000 Kilogramm gleichfalls hochexplosiven Stoffes. Die Marinesoldaten überprüften seinen Paß, um sicherzugehen, daß auch alles in Ordnung war, und die Miliz, die vor den Soldaten stand, um sie aufzuhalten, schenkte ihm keine Beachtung. Er ging an der Kontrollstelle der Miliz vorbei, dann an der Milizkompanie, die an der Expreßlift-Transferstation postiert war, wobei er nur ein paar Routinefragen beantworten mußte. Dann begann die lange Liftfahrt zum Schiffshafen. Der Mundito Rosinante setzte sich aus folgenden Teilen zusammen: Zwei Zylinder, die im Durchmesser sieben Kilometer maßen und fünfzig Kilometer lang waren, rotierten in entgegengesetzter Richtung. Die Rotationsachse stand im rechten Winkel zur Sonne. Der Hauptrahmen, an der Innenkapsel, trennte die Zylinder um 125 Kilometer voneinander, gemessen von einem Zentrum bis zum anderen, und das Ganze war an einem ungeheuer großen Feld aus Spiegeln befestigt, die individuell kontrolliert werden konnten und bemerkenswerte Wirkungen erzielten. Die schnellste Methode, um von einem Zylinder zum anderen zu gelangen, bestand in einem kurzen Flug mit dem Munditoschiff. Und da die Ciudad Juarez auf dem rechten Zylinder gelandet war und Corporate Susan Brown im linken plaziert war, saß Lieutenant Holt mit seiner Bombe im Schiffshafen und wartete auf die Ankunft des Munditoschiffes. Als es gelandet war, ging er mit etwa einem Dutzend anderer Passagiere an Bord. Da er keine Aufmerksamkeit erregen wollte, vermied er es, sie anzuschauen. Nachdem alle eingestiegen waren, glitt das Schiff auf einer Schiene zu einem Punkt an der Außenwand des Zylinders und lockerte zu einem präzise getimten Zeitpunkt seine magnetischen Greifer. An Bord sank die Gravitation auf Null, als das Schiff mit einer Tangentialgeschwindigkeit von 262 Meter pro Sekunde vom rechten Zylinder geschleudert wurde, um die Entfernung zwischen den beiden Häfen in 478 Sekunden zurückzulegen, im freien Fall. Der Schiffscomputer zählte jede zehnte Sekunde, bis zu den letzten zehn, wo jede einzelne gezählt wurde: »... zwei, eins, null!« Die Magnetgreifer klammerten sich am Hafen des linken Zylinders fest, und alle lachten. Holt stieg mit den anderen Passagieren aus. Hier war die Luft kühler. Holt öffnete seinen Diplomatenkoffer und nahm die Windjacke heraus. Er faltete sie auseinander, drehte die Aluminiumseite nach innen und die braune nach außen und zog sie an. Dann schloß er den Koffer und stieg am Hang des Berges hinauf, der sich hinter dem Hafen erhob. An diesem Tag war das Gras gemäht worden, und es roch frisch und süß. Niemand hielt Holt auf, als er mit seiner Bombe dahinwanderte. In dem Haus auf dem Gipfel residierte Corporate Susan Brown. Hinter einem Fenster brannte Licht. Das war unerwartet – und unliebsam. Er schlich zu dem Gebäude hinauf, bemühte sich, kein Geräusch zu verursachen, und schaute hinein. Ein junger Milizsoldat saß an einem Schreibtisch und las. Offenbar hatte irgend etwas, das Holt gesagt hatte, Corporate Susie nervös gemacht. Er lächelte schwach. Wahrscheinlich hatte ihr sein Gesicht nicht gefallen. Er zuckte
mit den Schultern. Wirklich schade um den Wachtposten ... Lautlos beförderte er seine Bombe zur Hinterfront des Hauses. Die Tür war versperrt. Er zog eine Plastikkarte, einen Joker, aus seiner Guayaberatasche und öffnete sie, ließ den Explosivstoff und den Karren an der Tür zurück und ging mit dem Diplomatenkoffer in den beleuchteten Raum. »He, Sam, ich habe was für Sie!« Der Wachtposten stand auf. »Ich heiße Rudy.« Holt versetzte ihm mit der rechten Handkante einen tödlichen Schlag und zog die Leiche aus dem Blickfeld der Monitoren. Wenn sie den Raum zum erstenmal checkten, würden sie vielleicht annehmen, daß Rudy auf die Toilette gegangen war. Holt holte den Sprengstoff, packte ihn aus, eilte den Korridor hinab zu dem Raum, wo Corporate Susan Browns Daten gespeichert waren, den Sprengstoff in der rechten, den Diplomatenkoffer in der linken Hand. Dabei überlegte er, ob er den 2 Uhr-Termin vorverlegen sollte, denn es war erst 23 Uhr 45. Einerseits könnte die Bombe wegen dieses idiotischen Wachtpostens entdeckt werden. Andererseits könnte Major Terrys Überraschungsangriff auf Cantrells Hauptquartier fehlschlagen. Er brauchte keine Entscheidung zu treffen. Als er um die Ecke bog, ließ eine Mikrowellenradiation die Sprengladung explodieren, die er bei sich trug. Und so starb Joe Bob Baroody von der ›Contra-Darwin‹, auch bekannt als Lieutenant Oscar James Holt vom Militärischen Geheimdienst.
6 Lieutenant Holts Lagebericht vom 4. März 41,21 Uhr 10, lag auf Hulveys Schreibtisch, als der Vizeleiter am Morgen des 5. März in sein Büro kam. Er steckte ihn in die Entschlüsselungsbox und sagte Corporate Elna, welchen Entschlüsselungsmanipulator er benutzen sollte. Die Codes waren ziemlich kompliziert und faktisch nicht zu enträtseln. Der Name des Schlüssels lautete NIWRAD ARTNOC, ›Contra-Darwin‹ rückwärts buchstabiert. Der Schreibtisch schob die Kopie zu Hulvey hinüber, und er überflog den Text. »Wo ist der letzte Bericht?« fragte er. »Das ist der letzte Bericht«, erwiderte Corporate Elna. »Seither haben wir nichts von Rosinante gehört.« »Nun, was immer geschehen ist – jetzt ist es bereits Geschichte. Bitten Sie um einen vollständigen aktuellen Lagebericht.« »Soll Holt Bericht erstatten?« fragte der Computer. »Wenn Sie mit Major Terry Kontakt aufnehmen wollen, müssen wir über die NAURA-Navy an den NavySicherheitsdienst herantreten. Wenn Sie mit Kapitän Lowell reden wollen, müssen wir über die NAURA-Navy an das Navy-Operationsbüro ...« »Natürlich will ich einen Bericht von Holt haben! Großer Gott, er hätte sich schon vor Stunden melden müssen! Verdammt, ich will endlich wissen, was los ist!«
»Ich werde versuchen, direkt mit Lieutenant Holt Verbindung aufzunehmen, und ich werde außerdem die NAURA-Navy um einen aktuellen Lagebericht von der NAUSS Ciudad Juarez ersuchen. Gleichzeitig und augenblicklich.« Hulvey nickte. »Gut. Wann werde ich die Berichte haben?« »Wenn wir sie bekommen. Die NAURA-Navy hält vielleicht schon einen Bericht in Händen, oder er wird gerade an Bord der CiudadJuarez vorbereitet. Da die Zeitverschiebung fünfundvierzig Minuten beträgt, während das Licht eine Runde dreht, müßten Sie ihn spätestens kurz vor Mittag haben.« »Ich frage mich, ob etwas passiert ist.« »Die NAURA-Navy hat mir mitgeteilt, daß die NAUSS-Ciudad Juarez heute morgen um 2 Uhr 09 und 35 Sekunden die Kommunikation abgebrochen und auf die Aufforderung, den Kontakt wiederherzustellen, nicht reagiert hat.« »Oh ...« Hulvey ging zu dem zaristisch-russischen Samowar hinüber, der laut einer Urkunde einmal einem Zarengeneral gehört hatte, und goß sich eine Tasse Tee ein. »Das klingt nicht gerade ermutigend.« »Möchten Sie Kirschmarmelade für Ihren Tee? Wir haben ein paar kleine Plastikbehälter in der Zuckerschublade ...« »Nein, danke.« Vorsichtig nippte er an der Styroschaumtasse, die den glühend heißen Tee enthielt. »Leiter Bowman wurde aufgefordert, an der heutigen Sitzung des Senatsausschusses für Innere Sicherheit teilzunehmen«, berichtete Elna. »Er wird fragen, was bezüglich der Bombenanschläge in den Regionen 7 und 9 unternommen wurde.« »Zwei Bombenanschläge fallen kaum ins Gewicht«, meinte Hulvey, »nicht einmal, wenn die Bomben auf Bundesregierungsgebäude geworfen wurden. Soll ich auch an der Sitzung teilnehmen – per Telekon?« »Das würde Mr. Bowman sicher sehr schätzen«, antwortete der Computer. Hulvey sah auf die Uhr. Die offizielle Amtszeit begann erst in einer Viertelstunde. Das Telefon läutete. »Maria Yellowknife von Senator Gomez' Büro«, meldete Corporate Elna. Hulvey ging mit seiner dampfenden Tasse zum Telekonsessel. »Finden Sie raus, was sie will, und sagen Sie ihr, daß ich den Leiter instruieren werde, ehe er vor den Senat tritt.« Nach der Instruktion hielt Hulvey eine Besprechung mit dem Chef seiner Programmkontroll- und Bewertungsabteilung ab. Sie diskutierten über die diversen Ameisen im Bernstein der juwelengleichen Organisation des NAURA-Sicherheitsdienstes. Dann kümmerte er sich um eine Gruppe von Feuerwehrmännern, die zu Besuch gekommen waren – Sicherheitsbeamte aus Frankreich, Belgien, Schottland, Spanien und Portugal, die Bowman hätte empfangen sollen. Hulvey führte sie überall herum und aß mit ihnen zu Mittag. Als er in sein Büro zurückkehrte, hatte Corporate Elna einige dringende Papiere auf den Schreibtisch gelegt, die Hulveys Aufmerksamkeit erforderten. Er goß sich noch eine Tasse Tee aus dem Samowar ein und vertiefte sich in die Papiere. Das letzte war die Kopie einer kurzen Aktennotiz, die ihm die NAURA-Navy herübergeschickt hatte.
Datum: 5. März 41 Vom: Gouverneursbüro, Mundito Rosinante Betrifft: NAUSS CiudadJuarez, Lagebericht An: NAURA-Navy, z. Hd. Operationsbüro Dies ist die Antwort auf; Ihre Bitte vom 5. März 41, Sie über die derzeitige Lage der NAUSS Ciudad Juarez zu informieren. Nach einem heimlichen, nicht provozierten Versuch, die Klinik für werdende Mütter mit einer nuklearen Sprengvorrichtung zu zerstören, übernahm die Rosinante-Miliz heute um etwa 02 Uhr 15 die Kontrolle über die Ciudad Juarez. Die Verlustlisten werden vorbereitet und weitergeleitet, sobald sie zur Verfügung stehen. Voraussichtlich handelt es sich um 14 Tote, lauter Marinesoldaten bis auf einen, 28 Verwundete und 2 Vermißte, lauter Marinesoldaten, /s/ Marian Yashon in Vertretung CC Cantrells Hulvey rief Dolores Ferranes zu sich und zeigte ihr die Aktennotiz. »Nun ja, Mr. Hulvey«, sagte sie, gab ihm die Kopie zurück, steckte ihre Kobra in die Tischplatte und rollte sich eine Zigarette, zündete sie an, mit einem Küchenstreichholz, das sie am Daumennagel angerissen hatte. »Es wird Ihnen vermutlich nicht helfen, wenn ich Ihnen erzähle, daß die Scheiße in den Ventilator geraten ist?« »Nein, das weiß ich bereits. Wie können wir den Schaden in Grenzen halten?« »Erst einmal müssen wir herausfinden, welcher Schaden entstanden ist. Haben sie nur die Bombe gefunden und dann das Schiff in ihre Gewalt gebracht? In diesem Fall werden sie den Anschlag nicht mit Holt in Verbindung bringen.« »Das wäre schön. Aber wenn sie Holt auf frischer Tat ertappt haben?« »Das wäre weniger schön«, meinte Dolores. »Aber auch wenn das passiert ist, werden sie nicht die allerschlimmste Spur verfolgen. Allerdings – wenn er nach Laputa gebracht wird, ist er ein so heißes Eisen, daß wir ihm nicht aus der Klemme helfen können.« »Diese Brücke können wir niederbrennen, nachdem wir sie überquert haben. Vielleicht ist er gar nicht mehr am Leben.« Dolores blies einen Rauchring in die Luft und blickte ihm nach. »Das werden wir in ein oder zwei Tagen erfahren.« Sie schnippte Asche auf die Kobra. »Und solange wir keine genauen Informationen haben, können wir nichts unternehmen. Aber Sie werden mit Bowman reden müssen.« »Sofort. Ich werde ihm alles sagen. He, Elna?« »Ja, Sir?« »Verbinden Sie mich für zehn Minuten mit dem Leiter.« »Er sitzt in seiner Limousine, auf der Rückfahrt vom Senat. Soll ich seine Konversation unterbrechen?« »Nein, ich will nicht, daß er in Panik gerät. Nehmen Sie zum frühestmöglichen Zeitpunkt Kontakt mit ihm auf. Und bleiben Sie in Verbindung mit der NAURANavy. Vorerst können wir es ihnen überlassen, mit Cantrell zu reden.«
In dieser Nacht träumte Hulvey von einem kleinen Mädchen in einem gemusterten Kleid, das vor ihm davonlief und schrie: »Jenny nicht weh tun! Jenny nicht weh tun!« 1. März 41, abends Lieber Riordan, dieser verschlüsselte Brief ist nur zur einmaligen Lektüre bestimmt, Du darfst keine Kopie herstellen, und ich beschwöre Dich, meinen Wunsch zu erfüllen. Wir vergessen immer wieder, daß wir sterblich sind. Wir wissen es, aber wir erinnern uns nicht daran, und dann – welch ein Schock! – stirbt plötzlich ein Freund, und in der Trauer um seinen Tod sehen wir unseren eigenen nahen. Joe Bob fragte mich einmal: ›Warum hast du dich von Gott entfernt?‹ Die beste Antwort, die ich finden konnte, lautete: ›Als ich versuchte, Gottes Arbeit zu tun, habe ich Gottes Gesetze irgendwie verletzt, und so bin ich in Ungnade gefallen.‹ Es ist ungefähr so wie die Bereitschaft, fürs Vaterland zu sterben. Anfangs erfüllt einen dieser Gedanke mit feurigem Enthusiasmus, der jedoch bald nachläßt und nie wieder aufflammt. Ich habe von Rosinante die Nachricht erhalten, daß Joe Bob tot ist. Er starb, während er Gottes Werk vollbrachte, und er zählte zu jenen Glücklichen, die niemals an ihren Taten zweifeln. Ich weiß, daß er im Zustand der Gnade von uns ging. Am 4. März, kurz vor Mitternacht, wurde Joe Bob getötet, als ein Sprengsatz, den er bei sich trug, vorzeitig detonierte. Die Klinik, in der er den Tod fand, wird von Corporate Susan Brown geleitet. Nun bezweifle ich nicht mehr, daß sie von Zwangs Notizbuch besitzt. Die Rosinante-Miliz – vermutlich ein Heer, das in einer komischen Oper auftreten könnte – benützte diese Explosion als Vorwand, um die Juarez angreifen zu können. Unglaublicherweise gelang es diesen seltsamen Soldaten, sich des Schiffes zu bemächtigen. Anscheinend hat Major Terry den Großteil der Marinesoldaten losgeschickt, mit dem Auftrag, Cantrell zu arretieren, so daß das Schiff nicht verteidigt werden konnte. Wenn Major Terry eine Fehlentscheidung getroffen hat, so hat er den vollen Preis dafür bezahlt. Die Machthaber auf Rosinante behaupten, der Sprengstoff, der Holt getötet hat, wäre nuklear gewesen, und Terry, als Holts Vorgesetzter, wurde eines Terrorakts mit Nuklearwaffengewalt beschuldigt. Nach dem NAU-Gesetz steht auf diesem Vergehen die Todesstrafe, die auch eine Mandatarmacht verhängen kann, und sie stellen Terry vor ein Gericht, bei dem ein Blechrichter den Vorsitz führte und Corporate Susan Brown als Blechstaatsanwalt fungierte. Unnötig zu sagen, daß Terry schuldig gesprochen und prompt mit Heroin vollgepumpt wurde. Das war ziemlich übel, aber es kommt noch schlimmer. Die Rosinante-Miliz hat die gesamte Politische Sektion samt Computer, Informanten und allem, was sonst noch dazugehört, aus der Juarez entfernt. Um die Leute zu verhören, wie sie behaupten. Das Schiff wurde nach Hause geschickt. Rosinante hält also unsere Männer fest, während die Navy uns die Schuld am Tod der Marinesoldaten gibt. Stanley Bowman regt sich schrecklich darüber auf. Und
er macht sich große Sorgen. Ich saß bei ihm, während er sich einen Liter Bourbon einverleibte. Schließlich verfrachtete ich ihn in sein Bett und ging nach Hause. Er macht sich berechtigte Sorgen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, daß man Holt als Baroody identifizieren und die ›Contra-Darwin‹ mit dem Sicherheitsdienst in Verbindung bringen wird. Ich hatte vor, dir eine Stelle bei den Sicherheitsstreitkräften des Präsidenten zu verschaffen. Das wäre der schnellste Weg zum Erfolg gewesen, und Du hättest noch vor Deinem dreißigsten Lebensjahr zum Konteradmiral befördert werden können. Aber das ist jetzt nicht mehr möglich. Als Truppenoffizier wirst Du meinen Untergang besser überstehen, und nach dem natürlichen Lauf der Dinge wirst Du bald als Politischer Oberoffizier an Bord der NAUSS Vancouver gehen. Ich werde die Stellung halten, den armen, alten Bowman abschirmen und mich energisch verteidigen – aber ich gestehe Dir, daß ich in den Nachtstunden von tiefer Verzweiflung erfaßt werde. Dein Vater. /s/ William Hulvey. Commander Riordan Hulvey beobachtete den leuchtenden Bildschirm, der dreimal blinkte, ganz langsam, und dann erlosch. Hulvey stürmte in die Bürosuite des Leiters. »Was ist denn los, zum Teufel?« fragte er. Dolores Ferranes, deren Bluse an der Schulter aufgerissen war, versuchte sich eine Zigarette zu rollen und streute den Großteil des Tabaks auf den Orientteppich. Leiter Stanley Bowman lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Louis Quinze-Sofa und weinte. Ein wildes Schluchzen schüttelte seinen Körper. »Stanley rief mich zu sich und machte mir einen eindeutigen Vorschlag, auf unglaublich primitive Weise«, berichtete sie. »Als ich ihn abwies, wurde er handgreiflich. Er stürzte sich auf mich, und ich streckte ihn mit einem Aikidoschlag zu Boden. Als er aufstand, sagte ich ihm: ›So darf man eine Mitverschwörerin nicht behandeln.‹ Da brach er auf dem Sofa zusammen und fing zu heulen an.« »Um Gottes willen!« Hulvey ging zu einem Medaillonschrank, einer autorisierten Kopie eines Originals aus der Gulbenkian-Sammlung, und öffnete ihn. Zwei 750-ml-Bourbonflaschen standen darin, beide fast leer. Er goß eine kleine Menge in ein Glas und warf die Flaschen dann in den Papierkorb. »Bowman, du Arschloch!« donnerte er. »Hör zu flennen auf!« Als das Schluchzen etwas leiser wurde, fuhr Hulvey fort: »Setz dich auf und trink das!« Der Leiter richtete sich auf, und Hulvey reichte ihm das Glas, das er in einem Zug leerte. »Was hat das zu bedeuten, verdammt noch mal?« wollte sein Vize wissen. »Kann ich noch einen Drink haben?« fragte Bowman und bekam einen Schluckauf. »Das war der letzte Rest, Stan. Also, was ist los?« Bowman gab keine Antwort. Er schlug die Hände vors Gesicht und zuckte in einem heftigen Anfall von Schluckauf. Hulvey nahm das Glas und goß Wasser aus der Sterlingsilberkaraffe hinein, die auf dem Sideboard stand, einer weiteren
Gulbenkian-Kopie. »Stan, hörst du mich?« Bowman nickte, unfähig zu sprechen. »Gut. Atme ganz langsam aus.« Bowman gehorchte, von seinem Schluckauf geschüttelt. Hulvey reichte ihm das Glas Wasser. »Und jetzt trink das, ohne einzuatmen.« Bowman trank das halbe Glas, dann atmete er mit einem tiefen Seufzer ein und gab Hulvey das Glas zurück. »Okay, Stan. Willst du's mir erzählen? Warum hast du wie ein angestochenes Kalb geheult?« »Ich war heute bei einer Senatsausschußsitzung«, sagte Bowman nach einer kleinen Pause. »Es war der Budgetausschuß. Nach der ersten Hälfte der Sitzung kam Senator Gomez aus Texas herein. Es war lange her, seit wir uns wegen Rosinante in die Haare geraten waren. Und ich hatte die ganze Zeit Angst, sie würden ...« Er verstummte, dann riß er sich zusammen. »... sie würden rausfinden, was für ein Zusammenhang zwischen Lieutenant Holt und Joe Bob Baroody besteht. Du weißt doch, daß Joe Bob in der Kreationistenkoalition einer meiner Adjutanten war, in den alten Tagen.« Er seufzte. »Aber sie haben es niemals rausgefunden.« Hulvey nickte. »Das habe ich auch schon festgestellt.« »Ich dachte also, vielleicht haben wir Glück und können uns da rauslavieren. Und – heute nachmittag ...« Bowmans Augen füllten sich wieder mit Tränen, und seine Mundwinkel zogen sich nach unten. Hulvey packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn heftig. Dabei verrutschte Bowmans randlose Brille. »Du hast recht, Willy.« Stanley Bowman rückte seine Brille zurecht, dann nahm er sie ab, um sich mit einem Taschentuch über die Augen zu wischen. Schließlich schneuzte er sich. »Kann ich noch einen Drink haben, Willy? Bitte! Ich brauche ganz dringend einen Drink.« »Es ist nichts mehr da – nur Wasser. Erzähl weiter.« »Also, heute nachmittag spazierte Gomez herein und zog eine Riesenschau vor mir ab. Er sprach mit vielsagender Miene von Gouverneur Panoblanco, dabei sind das doch schon uralte Geschichten. Man hat keinen einzigen stichhaltigen Beweis gefunden, und seit Greene tot ist, haben wir strahlend weiße Westen.« »Weiter!« »Dann fragte er mich, ob ich wüßte, daß Holt mit Baroody identisch wäre. Er sagte das zwar nicht wörtlich, doch er weiß genug, um mir die Blechbüchse an den Schwanz zu binden. Ich stritt natürlich alles ab – aber ich habe einen Meineid geschworen, Willy! Und das werden sie mir beweisen!« »Hast du das Sitzungsprotokoll?« »Es liegt auf meinem Schreibtisch«, sagte Bowman. »Ich habe es gerade gelesen, als ich dich zu mir bat – weil ich dich was fragen wollte.« Hulvey und Dolores holten sich das Protokoll, in dem die Stelle angestrichen war, wo Senator Gomez den Saal betreten hatte, und lasen die kritischen Passagen. »Du hast dich gut gehalten, Stan«, meinte Hulvey. »Aber Sie haben ein Problem«, fügte Dolores hinzu. »Wenn es der Senator auf Sie abgesehen hat, dürfte dieser Meineid Ihre allergeringste Sorge sein.« »Die können mir nicht beweisen, daß ich irgendwas verbrochen habe«,
protestierte Bowman. »Aber sie können mir den Meineid nachweisen und mich zum Rücktritt zwingen – und ins Gefängnis stecken ...« »Hören Sie mal, Stan!« Dolores setzte sich neben ihn und griff nach seiner Hand. »Vergessen Sie den Meineid, ja? Holt ist von einer Nuklearexplosion getötet worden, während er einen Terrorakt durchzuführen versuchte, wie es das Gericht bezeichnet hat. Der nächste in der Kommandohierarchie war der arme dumme Terry, der nach dem NAU-Gesetz von einem NAU-Richter in einem NAU-Prozeß eingeschläfert wurde. Gomez will Sie jetzt als Nuklearterroristen hinstellen.« »Warum interessiert er sich eigentlich so intensiv für Rosinante?« fragte Bowman in klagendem Ton. »Cantrell ist einer seiner Mandanten«, erklärte Hulvey mißmutig. »Um Gottes willen, Bowman! Er weiß, daß du Panoblanco mit diesem gottverdammten Fernlenkgeschoß getötet hast, aber er kann es nicht beweisen, okay? Und er kann beweisen, daß du mit Holt in Verbindung gestanden hast. Das wird Gomez genügen, um dir den Mord an Panoblanco anzuhängen.« »Dann müssen wir Gomez eliminieren!« Bowmans alter Kampfgeist flammte auf. »Sofort!« »Stan«, entgegnete Hulvey mit sanfter Stimme, »falls du es noch nicht bemerkt hast – im Augenblick sind die Spannungen zwischen der NAU und den Hispaniern auf einem neuen Höhepunkt angelangt. Gomez ist der Anführer einer sehr kleinen Gruppe hispanischer Senatoren, die keine Antihegemonisten sind. Wenn er stirbt, könnte das der Funke sein, der einen Bürgerkrieg entfacht.« »Du bist doch so schlau! Unternimm was gegen Gomez! Unter deinem Hintern brennt das Feuer genauso heiß wie unter meinem.« »Da hast du recht«, stimmte Hulvey zu. »Ich werde Schlecter sagen, er soll ihn anrufen. Vielleicht können wir Geschäfte miteinander machen.« Dolores nahm ihn beiseite. »Gomez wird nicht mit sich handeln lassen«, flüsterte sie. »Wenn er das wollte, hätte er uns bereits einen Vorschlag unterbreitet.« »Jedenfalls kann es nicht schaden, ihn zu fragen«, erwiderte Hulvey. »Und wenn ein Mann nicht handeln will, so bedeutet das noch lange nicht, daß er es nicht tun wird.« »Mr. Hulvey, Senator Gomez will Blut sehen – Bowmans Blut, Ihr Blut. Und wenn er schon dabei ist, den großen Saubermann zu spielen – vielleicht auch noch meins. Sicher, er will die Nordamerikanische Union erhalten, aber er möchte auch den Mord an Gouverneur Panoblanco rächen. Er wird nicht mit sich handeln lassen.« »Wenn Gomez stirbt, bedeutet das die Sezession – und wahrscheinlich einen Bürgerkrieg. Natürlich gibt es keine Garantie dafür, daß alles nicht passieren wird, wenn er am Leben bleibt.« »Kennen Sie die Kehrseite der Münze?« fragte Dolores. »Was meinen Sie?« »Wenn Gomez am Leben bleibt, stecken wir in ernsthaften Schwierigkeiten. Wenn er stirbt, gibt es keine Garantie dafür, daß wir ungeschoren davonkommen.« Sie drückte die Zigarette auf ihrer Schuhsohle aus und warf den Stummel in eine kobaltblaue Sevres-Vase mit vergoldeter Bronzeverzierung.
7 John Gomez, dienstältester Senator von Texas, saß in seinem Büro, zusammen mit seinen Legislativ- und Verwaltungsassistenten Maria Yellowknife und Alan Watkins. »Sie sollten wirklich nach Abilene fliegen«, sagte Watkins. »Da sitzen zwar nur miese kleine Geldgeber, aber die meisten Antihegemonisten, die sich möglicherweise umstimmen lassen, werden dort sein.« »Das ist der Schlüssel zur Wahlvorversammlung in Houston«, meinte Maria. »Wenn Sie die Leute spalten, werden die Antihegemonisten wahrscheinlich Anfang nächsten Jahres keinen Kandidaten gegen Sie aufstellen.« »Ich würde die Wahl gewinnen, ohne einen Finger zu rühren«, sagte Gomez. »Aber es ist viel schöner, ohne Gegenkandidaten anzutreten. Okay, setzen Sie Abilene auf meinen Terminkalender. Habe ich Ihnen schon erzählt, daß Robert Schlecter heute morgen angerufen hat?« Lächelnd fuhr er sich mit einem Zeigefinger über den Schnurrbart. »Nein«, erwiderte Watkins, und auch Maria schüttelte den Kopf. »Er wollte, daß ich Bowman vom Sicherheitsdienst in Ruhe lasse, und er sagte, daß der Präsident Bowman braucht. Wir könnten im Senat keinen neuen Sicherheitsdienstleiter durchkriegen. Und dann meinte er, daß man sogar neue Geldmittel für die Zentraltexanische Landwirtschaftliche Wasserentsalzungsbehörde auftreiben könnte.« »Wo habe ich denn das schon mal gehört?« fragte Maria. »Schlecter behauptete, der Großteil der dienstälteren Beamten im Sicherheitsdienst würde zurücktreten, wenn Bowman sein Amt niederlegen müßte.« Gomez lachte. »Ich fragte, wer sie denn vermissen würde. Niemand, mußte er zugeben, aber der Sicherheitsdienst wäre in diesen kritischen Zeiten funktionsunfähig wie eine Wasserleiche. Und hinter alldem stand die Frage, ob ich wohl so gut sein würde, Bowman zu verschonen.« »Aber Sie werden diesen mörderischen Hurensohn doch nicht davonkommen lassen?« fragte Watkins. »Bei Gott nicht!« entgegnete Gomez. »Aber Schlecter wollte mir einen Gefallen tun, um zu zeigen, wie aufrichtig er es meinte, und so sagte ich: ›Lassen Sie doch B. J. Coya frei!‹ Er druckste herum, aber vor einer Stunde rief mich der alte B. J. an und bedankte sich, weil ich ihn aus dem Gefängnis herausgeholt habe.« »Großartig!« rief Watkins. »Er sitzt nach wie vor im texanischen Abgeordnetenhaus, auch wenn er nicht mehr der Sprecher ist«, sagte Maria. »Außerdem kennt er immer noch jede Menge Leute und ist ein erstklassiger Organisator. Er könnte uns in Houston helfen.« »Natürlich«, erwiderte Gomez. »In Houston werde ich seine Hilfe zwar nicht brauchen, aber bei der Wahl könnte er mir äußerst nützlich sein.« »Er wird vielleicht fünfzigtausend Stimmen bringen«, meinte Watson. »Letzesmal hat er Ihnen in seinem Bezirk über sechzigtausend verschafft.« »Ha!« stieß Maria hervor. »Wenn Schlecter Ihnen diesen Gefallen getan hat –
was wird passieren, wenn Sie Bowman nicht in Ruhe lassen?« »Das ist eine gute Frage«, antwortete Gomez. »Die Administration wird überhaupt nichts tun. Als ihr antihegemonistischer Lieblingshispanier bin ich diesen Leuten viel zu wertvoll. Aber zwischen dem Zeitpunkt, wo Bowman begreift, daß er verspielt hat, und dem Augenblick, wo er dran glauben muß, könnte er was unternehmen, mit Hilfe seines Pistoleros Hulvey.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe mich für das Risiko entschieden. So muß ein richtiger Mann handeln.« Grinsend entblößte er seinen goldenen Eckzahn. »Aber ich habe mit Corporate Zapata einen Kontingenzplan ausgearbeitet, der durchgeführt werden soll, wenn gewisse Ereignisse eintreten.« »Welche Ereignisse?« fragte Maria leise. »Ach, das ist so ähnlich wie diese versiegelten Briefe in den alten Gangsterfilmen – die Briefe, die im Ernstfall von einem anonymen Freund an den Staatsanwalt geschickt wurden. Der einzige Unterschied besteht darin, daß ich nicht weiß, was mir zustoßen wird. Mein Plan – oder mein versiegelter Brief, wenn Sie es so nennen wollen – soll meine Feinde nicht bedrohen, sondern mich an ihnen rächen. Ich habe eine ganze Weile daran gearbeitet, und ich muß gestehen, es hat mir viel Spaß gemacht.« »Passen Sie nur auf, daß Sie mit Ihrer humoristischen Ader keinen Ärger kriegen«, warnte Watkins. »Aber Alan!« Gomez klopfte ihm grinsend auf den Arm. »Mein Plan soll doch erst verwirklicht werden, wenn ich tot bin. Die kleine Rede, die ich mit Zapata entworfen habe, wäre niemals über meine Lippen gekommen, wenn ich sie mir später noch mal anhören müßte.« Commander David Riordan Hulvey, ranghöchster Politischer Offizier an Bord der NAUSS Vancouver, saß in der Kombüse der Offiziersmesse, aß ein Stück holländischen Apfelkuchen und trank Kaffee dazu. »Sie wollen also wissen, was der Unterschied zwischen Apfelkuchen und holländischem Apfelkuchen ist«, sagte der Koch. »Der holländische Apfelkuchen wird mit Apfelschnitzen gemacht.« »Und was sind Apfelschnitze?« »Getrocknete Apfelscheibchen. Die sind nicht gefriergetrocknet oder konserviert, sondern luftgetrocknet – ein bißchen zäh, aber süßer als frische Äpfel. Deshalb ist der ganze Kuchen süßer.« »Er schmeckt großartig«, meinte Riordan. »Aber warum nennen Sie ihn eigentlich nicht Schnitzkuchen?« Sein Gürteltelefon läutete, und er klappte es auf. »Sie wollten laufend über Senator Gomez informiert werden«, sagte der Computer des Sicherheitsdienstes. Er hätte die erforderlichen Qualitäten besessen, um inkorporiert zu werden, wäre er nicht das alleinige Eigentum des NAURASicherheitsdienstes gewesen. »Die Vierundzwanzig-Stunden-Nachrichtenstation KSLN hat soeben einen Bericht über einen Flugzeugabsturz bei Abilene in Texas gesendet, bei dem der Senator ums Leben kam.« Er zögerte kurz. »Dieser Bericht hat einen ungewöhnlichen Aspekt.«
»Sprechen Sie weiter«, sagte Riordan. »Senator Gomez hat eine posthume Pressekonferenz abgehalten, Sir.« »Was?! Ich will eine Kopie hören! Wie weit sind sie gegangen?« Riordan saß in der Kombüse und lauschte den Reportern, die bei der Pressekonferenz Fragen stellten, die Corporate Zapata, der persönliche Computer des Senators, vorausgesehen hatte. Zapata hatte für jeden Reporter aus dem Pressekorps von St. Louis individuelle Fragenkomplexe zusammengestellt. Senator Gomez hielt seine Pressekonferenz nach seiner politischen Ermordung und beantwortete die Fragen. Die Antworten waren auf Band aufgenommen, und wenn ein Reporter eine der vorausgeahnten Fragen stellte, spielte Zapata die aufgezeichnete Antwort ab. Der verstorbene Senator prophezeite die Sezession und hochverräterische Umtriebe in ruhiger, vernünftiger Art, mit vernichtender Überzeugungskraft. »Verbinden Sie mich mit dem NAURA-Sicherheitsdienst in St. Louis«, sagte Riordan. »Ich möchte mit dem Vizeleiter sprechen.« Er hätte seinen Vater direkt anrufen können, aber er wollte, daß dieses Gespräch aktenkundig wurde, und deshalb mußte er die bürokratischen Kanäle durchlaufen. Als er seinen Apfelkuchen gegessen hatte, kam die Verbindung zustande. Er gab seinem Vater die nötigen Informationen, und nachdem sich William Hulvey ein oder zwei Reporterfragen angehört hatte, entschuldigte er sich. Während Riordan seine zweite Tasse Kaffee trank, ging die Pressekonferenz zu Ende. Die aufgezeichnete Stimme des Senators erklärte, daß jetzt Schluß sein müßte mit den Attentaten auf die Chicano-Politiker. Dann kamen ein paar Polizisten vom Sicherheitsdienst in das Büro, wo die Pressekonferenz abgehalten wurde, und unterbrachen höflich, aber bestimmt die Sendung. »Das hat Dad aber wirklich gut getimt«, meinte Riordan und leerte die Tasse. »Möchten Sie noch einen Kaffee, Sir?« fragte der Koch. »Nein, ich habe jetzt zu arbeiten.« Riordan ging ins Kommunikationszentrum und versetzte die NAUSS Vancouver in Alarmbereitschaft. Vor allem befahl er den Sicherheitsstreitkräften an Bord, sich während der nächsten vierundzwanzig Stunden auf eine Meuterei einzustellen. Dann ging er ins Raketenmagazin hinab und setzte sich vor die kleinere Abschußbasis. »Guten Morgen, Rakete 1848«, sagte er. Die Worte erschienen auf dem Bildschirm, als die Basis sie in Schriftzeichen umsetzte. Rakete 1848 konnte lesen und schreiben, aber nicht sprechen. »Haben Sie Ihre Modifikationen abgeschlossen?« JA, COMMANDER HULVEY, flutete es über den Bildschirm. Wenn man die Basis dazu aufgefordert hätte, wäre es ihr möglich gewesen, die Antworten auch in stimmlicher Form zu übermitteln, aber da Riordan kein Analphabet war, erschien ihm eine Simultanübertragung unnötig. DIE FNR MARK II WURDE DURCH DIE FNR MARK IC4 ERSETZT, MIT MAXIMALER REICHWEITE. SIE IST INSTALLIERT UND GERICHTET. »Sehr gut, 1848. Ich gebe Ihnen nun die endgültigen ballistischen Daten. Sie müssen sie mit den Kursinformationen koordinieren, die Sie bereits haben. Sind Sie empfangsbereit?«
JA, COMMANDER HULVEY. Riordan schaltete den Sicherheitsdienstcomputer ein, der das komplette Informationsmaterial über den Mundito Rosinante vorlas, inklusive der aufgrund jüngster Informationen eruierten Position von Corporate Susan Brown. DANKE FÜR DIE ZIELANGABE. IST DER DERZEITIGE SPRENGKOPF ZUFRIEDENSTELLEND? »Wie hoch ist die Energieleistung?« DIE NENNLEISTUNG VON SPRENGKOPF 412487.42 LIEGT BEI EINER MEGATONNE. ABER DER SPRENGKOPF IST NEUN JAHRE UND VIER MONATE ALT UND WIRD WAHRSCHEINLICH NUR 96 PROZENT SEINER NENNLEISTUNG BRINGEN, BEI NORMALER DETONATION. »Das genügt«, sagte Riordan. »Bleiben Sie während der nächsten vierundzwanzig Stunden startbereit.« ES IST EINE GROSSE EHRE FÜR DIESE RAKETE, WENN SIE VON NUTZEN SEIN KANN. Kapitän Robert Lowell von der NAUSS Ciudad Juarez stieß wieder zur L-EFlotte, als er die posthume Pressekonferenz hörte – nicht die Originalsendung, sondern die Aufzeichnung, die zwei Stunden später von JapaNews ausgestrahlt wurde. Lowell hatte mehrere Probleme. Da er sein Schiff an die Rosinante-Miliz verloren hatte, mußte er damit rechnen, vor ein Kriegsgericht gestellt zu werden. Das Argument, daß der P. O., Major Terry, zu jenem Zeitpunkt das Schiff kommandiert hatte, würde höchstens als mildernder Umstand gelten. Er hatte sein Schiff in einer Kampfsituation verloren, und selbst wenn er einer Gefängnisstrafe entgehen sollte, seine Karriere war auf jeden Fall ruiniert, obwohl ihm die Machthaber von Rosinante das Schiff zurückgegeben hatten, denn sie hatten den Politischen Sektor entfernt, der auch den Sicherheitssektor beinhaltete. Infolgedessen hatte die Crew erkannt, daß sie entweder Mexico Libre oder die Wiedereinsetzung des alten Regimes befürwortete – oder, da beides nicht unvereinbar war, sowohl das eine als auch das andere. Die abschließende Überlegung war persönlicher Natur. Lowell fühlte sich nicht mit der Nordamerikanischen Unionsregierung, der er diente, verbunden. Seine Sympathie gehörte dem Alten Regime, aber er war in politischer Hinsicht realistisch genug, um zu begreifen, daß das Alte Regime tot war und daß man nicht auf seine Wiederauferstehung hoffen konnte. Ebenso sympathisierte er mit den politischen Bestrebungen der Besatzung, doch es fiel ihm keine nutzbringende Operation ein, die man durchführen könnte. Während der langen Heimreise fühlte er sich miserabel. Seine Frustration führte zur Selbstbeobachtung, die wiederum seine Frustration verstärkte. Ohne zu wissen, was er wollte, verspürte er das dringende Bedürfnis, aktiv zu werden. Senator Gomez' posthume Pressekonferenz war die Wurzel, aus der sich Lowells Entschluß herauskristallisierte. Dies war das Signal, auf das er gewartet hatte, und er handelte aus vollstem Herzen heraus, spontan und augenblicklich. Die NAUSSCiudad Juarez gesellte sich zur L-4-Flotte und sendete die verbotenen Hymnen des
Alten Regimes – ›The Star-Spangled Banner‹ und ›Guantanamera‹, das Lied aus der blutigen Geschichte Mexikos, das die hispanischen Nationalisten übernommen hatten. Es wurden auch Reden gehalten, doch die waren im Grunde überflüssig. Senator Gomez' Tod und die Musik genügten, um die ganze Flotte zur Rebellion anzustacheln. Der Aufstand war nicht überall gleichermaßen erfolgreich. Hier und da behielt der Sicherheitsdienst die Kontrolle, auf Schiffen, wo die Politischen Offiziere glücklicher oder klüger waren als ihre Kollegen und sich so verhielten, wie man es von ihnen erwartete. An Bord der Schiffe, wo die NAU die Oberhand gewann, tobten erbitterte Kämpfe, und die Crews der meuternden Schiffe kamen ihren Kameraden rasch zu Hilfe. Die schlimmen Nachrichten gelangten ins Büro des Vizeleiters William Hulvey, steigerten sich von einem Crescendo zum nächsten. Menschen und Computer bemühten sich laufend darum, die Lageberichte auf den neuesten Stand zu bringen. Unrealistische Befehle ergingen an Politische Offiziere, die gefangen oder tot waren – Befehle, die dem verzweifelten Bestreben entsprangen, eine Katastrophe zu verhindern. Hulvey lehnte sich zurück, beobachtete das Chaos, das ihn umschwirrte und einhüllte – nicht nur ihn allein, sondern auch den NAURA-Sicherheitsdienst, die NAURA-Navy, das Exekutivbüro, die ganze NAU. Vielleicht wußten sie es noch nicht, aber sie würden es bald herausfinden. Möglicherweise wußte es die Navy schon. »Wo steckt Bowman, zum Teufel?« fragte er resignierend. Der Leiter konnte nichts tun, aber seine Gegenwart wäre ein gewisser Trost gewesen. »Ein paar Minuten, bevor das alles angefangen hat, wurde er ins Präsidentenhaus gerufen«, antwortete Corporate Elna. »Schlecter sagte, der Präsident hat sich schrecklich über Senator Gomez' Tod aufgeregt. Der Leiter machte noch Witze und sagte, man würde ihn erschießen, aber Schlecter fand das gar nicht komisch.« »Ich finde es auch nicht komisch.« Hulvey ging zum Samowar hinüber, goß sich eine Tasse Tee ein und gab einen Plastiklöffel Kirschmarmelade dazu. »Versuchen Sie ihn trotzdem zu erreichen. Er muß sofort über die jüngsten Ereignisse informiert werden.« Er kehrte zu seinem Schreibtisch zurück und setzte sich. »Ja, Sir«, sagte Corporate Elna. »Sie haben eine Nachricht vom P. O. der L-5Flotte bekommen – und von Ihrem Sohn.« Konteradmiral Hildebrands Mitteilung enthielt die Neuigkeit, daß sich die ranghöchsten Offiziere der L-5-Flotte versammelt hätten, um darüber zu beraten, was hinsichtlich der Meuterei in der L4-Flotte geschehen sollte. Um diese wesentliche Meldung rankten sich wortreiche Rechtfertigungen von Hildebrands Aktionen und unterbliebenen Aktionen sowie die Erklärung, daß die gesamte Schuld bei seinen Untergebenen läge. Die Nachricht von Commander David Riordan Hulvey lautete schlicht und einfach: ›Lieber Vater, ich habe die NAUSS Vancouver fest in der Hand. Gottes Wille wird geschehen. Lang lebe die Nordamerikanische Union.‹
Müde lehnte sich Hulvey zurück und spürte, wie ihm der Nacken und die Schultern massiert wurden. »Hallo, Dolores! Ist die Scheiße auch diesmal in den Ventilator geraten?« »Allerdings, Willy. Sie werden einen Bulldozer brauchen, um sauberzumachen.« Hulvey rührte die Marmelade in seinen Tee und nahm einen Schluck. »Und ich sitze hier herum, mit einem verdammten Teelöffel.«
8 Commander David Riordan Hulvey ging in den Kommandoraum der NAUSS Vancouver. Sein linker Fuß hinterließ eine Blutspur auf dem Deck. »Maschinenraum, bitte melden!« sagte er. »Haben wir noch genug Treibkraft für den Hauptmotor?« »Nein«, lautete die von Störgeräuschen durchsetzte Antwort. »Die Meuterer (unverständlich) Reaktor (unverständlich) Kontrollgeräte zertrümmert. Wahrscheinlich wird es ein paar Tage dauern (unverständlich) provisorische Reparaturen. Vielleicht könnten wir ein paar Notgeräte zusammenbasteln (unverständlich) bald wie möglich starten.« »Wir müssen sofort losfliegen«, erwiderte Riordan. »Tun Sie, was Sie tun müssen, aber starten Sie, um Gottes willen!« Er blickte auf den großen Bildschirm, auf dem die derzeitige Situation zu sehen war. Die NAUSS Vancouver diente als Schlachtschiff, während die Seattle, das Schwesterschiff der Vancouver, und die Arthur Rubinstein, ein vierzig Jahre alter Kreuzer, als Exerzierschiffe fungierten, zu beiden Seiten der Vancouver. Die Seattle war 982 Kilometer entfernt und rückte nun näher. In einer halben Stunde würde sie so nahe herangekommen sein, daß sie ihre Marinesoldaten herüberschicken konnte. »Mr. Lincoln, haben wir in unseren Bemühungen, die Schleuse eins zurückzuerobern, irgendwelche Fortschritte gemacht?« fragte er. Die Antwort kam prompt. »Nein. Wir mußten unsere letzten Reserven einsetzen, um den Maschinenraum zurückzugewinnen.« Auf dem Situationsschirm zeigte sich ein neues Schiff, das unter dem Schlachtschiff in einem Winkel von 23 Grad heranflog und zur Seattle einen Winkel von 170 Grad bildete. Während Riordan das Schiff beobachtete, wurde die Entfernung registriert – 2575 Kilometer, und es wurde als die NAUSS Wyoming identifiziert. »Haben wir Kontakt mit der Seattle?« erkundigte er sich. »Ja, Sir«, antwortete der Kommunikationscomputer. »Verschaffen Sie mir einen direkten stimmlichen Kontakt mit dem Kommandanten, wenn das möglich ist.« »Ja, Sir. Sie können Ihr Gürteltelefon benutzen. Sie sind jetzt durch Lambda-1 in L-4 mit der Seattle verbunden.« Riordan klappte sein Telefon auf. Auch aus diesem Gerät drangen ihm laute Störgeräusche entgegen. »Ahoi! Spreche ich mit dem Kapitän von der NAUSSSeattle?«
»Ich bin anscheinend der Kapitän«, erwiderte eine fröhliche Stimme, »und dies ist die Seattle, ganz recht, aber wir haben uns noch nicht über die Initialen vor dem Schiffsnamen geeinigt. Was können wir für Sie tun?« »Kommen Sie nicht näher!« »Tut mir leid, Vancouver, wir haben zuviel Blut vergossen, um jetzt noch zurückzuweichen.« Eine kleine Pause entstand, als der Mann ein Gespräch mit jemand anderem führte. »Martinez sagte: ›Ergeben Sie sich – oder sterben Sie!‹« »Meint er nicht vielleicht, daß wir uns ergeben und sterben sollen?« fragte Riordan. »Diese modernen Kommunikationsgeräte sind wirklich katastrophal«, meinte die fröhliche Stimme. »Hören Sie – sind Sie Commander Hulvey?« »Ja, der bin ich.« »Nun, dann gebe ich Ihnen mein persönliches Ehrenwort, daß Ihnen kein Leid geschehen wird, wenn Sie sich ergeben, Commander.« »Es ist mir stets ein Vergnügen, einen Mann kennenzulernen, der bereit ist, sein persönliches Ehrenwort zu geben, aber ich fürchte, Sie sind mir gegenüber im Vorteil.« »In so mancher Hinsicht. Ich bin Stabssergeant Burton Smith, ehemals bei der Treibkraftversorgungsdivision.« »Ich brauche etwas Zeit, um die Angelegenheit mit meinen Offizieren zu besprechen, Kapitän Smith. Wenn Sie nicht näher herankommen, werde ich mich in einer halben Stunde wieder bei Ihnen melden. Hasta la vista.« »Adios, Commander Hulvey«, sagte Smith. »Ich werde sehen, was ich tun kann.« Der Situationsschirm zeigte die Seattle, die immer noch näherrückte. »Geschützbedienung!« rief Riordan. »Richten Sie drei Raketen auf die Seattle. Die eine soll auf die Seattle abgeschossen und im letzten Moment zur Rubinstein gesteuert werden.« »Raketen gerichtet«, meldete eine Frauenstimme. »Laden Sie die Geschütze und bereiten sie sich darauf vor, auf Befehl zu feuern. Danach sollen weitere Raketen auf die Seattle gerichtet werden, sofern Sie keine andere Order erhalten.« Er blickte auf den Situationsschirm. Die Seattle war noch 722 Kilometer entfernt und kam immer näher. »Raketen abgefeuert«, meldete der Geschützoffizier. »Zweite Salve gerichtet und geladen. Dritte Salve ebenfalls gerichtet, außer Rakete 1848.« »Feuern Sie die zweite und die dritte Salve so schnell wie möglich ab!« befahl Riordan. »Dann wollen wir mal sehen, was wir getroffen haben.« Er beobachtete, wie die erste Salve über den Bildschirm raste. Die Seattle und die Rubinstein schossen Abwehrraketen ab und richteten Laserstrahlen auf die ankommende Salve. Auch die Wyoming steuerte Laserstrahlen zu den Raketen. Eine davon explodierte und verdeckte die Bahn der anderen Geschosse und die Seattle. Dann wurde die Rubinstein getroffen. Als sich die radioaktive Wolke einen Augenblick später auflöste, war die Rubinstein ein Klumpen aus Fragmenten, der sich langsam ausdehnte, rings um ein größeres Fragment, das noch langsamer von der Vancouver davontaumelte. Die Seattle war anscheinend unversehrt geblieben.
Die Wyoming feuerte eine Salve von sechs Raketen ab. »Salve zwei und drei abgeschossen«, berichtete der Geschützoffizier. »Welche Ziele sollen jetzt bitte in Angriff genommen werden?« »Salve vier und fünf auf die Seattle. Richten Sie Laserstrahlen auf die Raketen von der Wyoming. Halten Sie die Abwehrraketen bis zur allerletzten Tausendstelsekunde zurück.« Er beobachtete, wie die Seattle vier Raketen abfeuerte. Die Wyoming schoß eine zweite Salve von sechs Raketen ab. Zum erstenmal konnte er den beißenden Rauch der entladenen Laserbatterien riechen, als die Vancouver die angreifenden Geschosse zu zerstören versuchte. Der Kommandoraum erzitterte, als das Schiff getroffen wurde. »Salve vier abgefeuert«, sagte der Geschützoffizier. »Salve fünf wird mit Notenergie geladen.« Riordan sah, wie sich die Vancouver-Geschosse über den Bildschirm bewegten, der mit Raketen und Abwehrraketen und radioaktivem Rauch und Fragmenten von der Rubinstein gefüllt war. Aber er entdeckte die Rakete 1848. Sie entfernte sich von dem ganzen Tumult, und da sie keines der beiden Schiffe bedrohte, wurde kein einziges Abwehrgeschoß an sie verschwendet. »Das ist für Joe Bob«, flüsterte er. Und das letzte, was er sah, war die Rakete 1848, die ungehindert ihre Reise zum Mundito Rosinante antrat.
9 Hulvey griff nach einer von Dolores Ferranes' Händen, die seinen Rücken massierten. »Wir haben Leiter Bowman erreicht«, meldete Corporate Elna. »Vielleicht wollen Sie den Telekonschirm benutzen.« Seufzend ging Hulvey zu dem Schreibtisch hinter den Kameras, Scheinwerfern und Telekonschirmen hinüber. Leiter Stanley Bowman erschien auf einem der Bildschirme, mit gerötetem, verzerrtem Gesicht. Am Bildrand war Bob Schlecter zu sehen. Die Kamera hatte sein Profil erfaßt. Hulvey zuckte mit den Schultern. Wenn Bowman ein Publikum wünschte, dann sollte er es haben. »In der Flotte wird gemeutert«, sagte Hulvey ohne Umschweife. »Soeben haben wir die ersten Nachrichten erhalten. Es sieht übel aus.« »Was ist passiert?« fragte Schlecter. »Die Senioroffiziere in der L-5-Flotte intrigieren gegen uns, und die Politischen Offiziere – diejenigen, die Kontakt zu uns haben – sagen uns, daß wir ›den Schaden in Grenzen halten sollen‹.« »Verdammt!« schrie Bowman. »Sie sind verpflichtet, diese Scheiße zu verhindern! Dazu haben sie doch genügend Autorität! Sag ihnen, daß sie die Schuldigen sofort festnehmen sollen!« Hulvey blickte auf den Lagebericht, den sein Stab soeben ausgearbeitet hatte, und stöhnte. »In der L-4-Flotte hat das nicht funktioniert. Als wir es versuchten, haben wir eine Menge Leute verloren. Wir haben die NAUSS Vancouver und die NAUSS
Phoenix unter Kontrolle gebracht, aber mit beiden Schiffen den Kontakt verloren.« »Was heißt das – den Kontakt verloren?« fragte Bowman. »Wir haben mit beiden Schiffen keinen Audio-Kontakt«, entgegnete Hulvey müde, »und die Phoenix zeigt sich nicht auf den Radarschirmen der Stationen, die immer noch auf unser Kommando reagieren.« Außerhalb des Kamerablickfelds legte Dolores eine Kopie auf seinen Schreibtisch, der sie einsaugte und Hulvey zuschob. Er griff danach. »Laputa Radar meldet, daß die Vancouver um 15 Uhr 34 vom Radarschirm verschwunden ist – vor einer Minute.« Plötzlich stiegen Tränen in seine Augen, und er legte eine Hand darüber, während er um Fassung rang. »Mein Sohn Dave ist Politischer Offizier auf der Vancouver«, flüsterte er. Dolores steckte eine weitere Kopie in den Schreibtisch. Er wischte sich über die Augen, nahm das Papier mit feuchten, zitternden Fingern. »Die Vierte Marinedivision wird mit Shuttles nach Laputa fliegen. Sie wollen spätestens um 24 Uhr starten – und vorher brauchen sie die Starterlaubnis ...« Ungläubig las er die Zeile noch einmal. Vom NAURA-Umweltministerium ... Aus irgendeinem Grund kam ihm das wahnsinnig komisch vor, und er begann zu lachen. »Verzeihen Sie. Aber diese Ozonschicht ist doch wirklich ein Witz, nicht wahr? In letzter Zeit hatten wir keine Sonnenflecken mehr, und deshalb können wir's nicht raufschicken – das Kr – Kr ...« Er brach wieder in gellendes Gelächter aus. Der Präsident trat ein. »Ich werde sofort mit Bannerman reden«, sagte Schlecter. »Die Starterlaubnis muß hinausgehen ...« »Gib dir keine Mühe, Bob«, sagte der Präsident. »Ich werde das Kriegsrecht ausrufen.« Schlecter und Bowman standen auf, auch Hulvey, der immer noch hilflos lachte. Er stand da und sah zu, wie der Präsident das Kriegsrecht ausrief und befahl, Bowman zu erschießen. Nach einer Weile drang aus dem Hintergrund der Bildschirmbühne ein Geräusch, das sich anhörte, als würde eine Glühbirne platzen. »So, Mortimer ist erledigt«, sagte der Präsident. »Jetzt zu Ihnen, Hulvey ... Wann hat dieser Ärger in der Flotte angefangen?« An den Rest des Gesprächs konnte sich Hulvey später nicht mehr erinnern. Mechanisch beantwortete er alle Fragen, und am Ende wurde er zum interimistischen Leiter ernannt. Der interimistische Leiter William Hulvey hielt eine Telekonferenz mit Bob Schlecter vom Exekutivbüro und dem interimistischen Flottenadmiral Nouen Tran Vong ab. Vong trug ein Arbeitshemd aus Khaki mit fünf Sternen am Kragen. Die loyalistischen Offiziere der L-5-Flotte hatten ihn der Administration aufgezwungen. »Wenn Sie wollen, daß die Flotte überlebt«, sagte er mit seinem monotonen Mittelwestenakzent, »wird es nötig sein, eine ganze Menge Frivolität zu eliminieren, besonders im Politischen Sektor.« »Ich würde politische Loyalität nicht als frivol bezeichnen«, meinte Hulvey. »Theoretisch nicht«, stimmte Vong zu, »aber in der Praxis hat sie sich destruktiv auf die Moral und nachteilig auf die Operationstüchtigkeit ausgewirkt.«
»In der L-5-Flotte hat sie ganz gut funktioniert«, warf Schlecter ein. »Jede größere Einheit ist der NAU treu geblieben.« »Die größeren Einheiten waren nicht operationsbereit und haben auf Zuschüsse für Instandhaltungs- und Reparaturarbeiten gewartet«, erwiderte Vong. »Die L-4Flotte ist – mit rühmenswerten Ausnahmen – zu den Meuterern übergelaufen. Die Politischen Sektoren beider Flotten haben sich ebensowenig bewährt, und die Resultate waren in allen Fällen katastrophal.« Er räusperte sich. »Entweder haben sie gemeutert oder eine Aktionsunfähigkeit an den Tag gelegt, die schon ans Pathologische grenzte. Ich hege den starken Verdacht, daß auch die L-5-Flotte gemeutert hätte, wenn sie nicht sozusagen durch eine Versorgungsnabelschnur mit Laputa verbunden wäre.« »Solche Bemerkungen sind schon beinahe Hochverrat«, murrte Schlecter. »Man könnte auch die Flotte des Hochverrats bezichtigen«, meinte Hulvey. »Lassen Sie ihn in Ruhe, Bob.« »Danke, Mr. Hulvey«, sagte Vong. »Mr. Schlecter hat vorhin die Ansicht geäußert, die beste Möglichkeit, die Loyalität der Flotte zu festigen, bestünde darin, sie nicht in Funktion treten zu lassen.« »Das habe ich nicht gesagt«, protestierte Schlecter. »Nicht in diesem Wortlaut«, gab Vong zu, »aber sinngemäß. Eine nicht funktionierende Flotte, wie sie die NAU derzeit besitzt, ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können. Sie müssen einen besseren Weg finden, um die Loyalität zu gewährleisten. Zum Beispiel könnten Sie ausgezeichnete Leistungen, Gewissenhaftigkeit und Integrität höher bewerten als ideologische Sauberkeit.« »Wir müssen die Flotte neu aufbauen«, sagte Hulvey. »Wie Sie das machen, ist Ihre Sache.« »Nein, verdammt!« Schlecter wischte sich mit einem Taschentuch über den kahlen Schädel. »Sie können die politischen Aspekte seines Vorhabens nicht ignorieren.« »Ich mag die Humanisten ebensowenig wie Sie, Bob«, erwiderte Hulvey, »aber ich will auch nicht mit einer ballernden Schwadron konfrontiert werden. Versuchen Sie zu erkennen, was essentiell ist und was nicht, verdammt! Die Flotte ist essentiell!« »Nochmals vielen Dank, Mr. Hulvey«, sagte Vong. »Wir werden die Ideologie beiseite lassen. Ich habe außerdem das Gefühl, daß die Loyalität der Flotte in Frage gestellt ist, weil die Regierung so lang und breit danach gefragt hat.« »Das war notwendig, um die Loyalität zu testen«, entgegnete Hulvey. »Aber man sollte solche Tests nicht in so destruktiven Ausmaßen durchführen«, meinte Vong. »Zum Beispiel könnten Sie versuchen, die Leute zur Loyalität zu inspirieren, statt sie ihnen unter allen möglichen Drohungen einzuimpfen. Widerwilliger Gehorsam ist im Weltraum nutzlos.« »Was schlagen Sie vor?« fragte Hulvey. »Ich habe keine Vorschläge«, antwortete Vong. Er räusperte sich wieder, wobei trockene, abgehackte Laute aus seiner Kehle kamen. »Ich kenne die Navy, aber nicht den Sicherheitsdienst. Vielleicht könnten Sie sich wenigstens wie eine legitime Regierung aufführen – und nicht wie eine Diebesbande?«
»Ich bezweifle, daß sich der Präsident freuen wird, wenn er das hört«, sagte Schlecter. »Die Männer, die dem Präsidenten sagten, was er hören wollte, haben weder in seinem noch in ihrem eigenen Interesse gehandelt«, erwiderte Vong höflich. »Diejenigen, die in der L-4-Flotte gedient haben, sind tot.« »Und ihre Gesinnungsgenossen in der L-5-Flotte haben ihre Rücktrittserklärungen eingereicht«, fügte Hulvey hinzu. »Gibt's sonst noch was?« Vong sah auf seine Uhr. »Ich muß Sie sehr bald verlassen. Wir haben dringende Dinge zu erledigen, aber da wäre noch die Frage der Stützpunkte.« »Um welche Stützpunkte geht es, Admiral?« »Um jene, die der NAU treu bleiben wollen, Mr. Schlecter«, antwortete Vong, »falls sie nicht in die derzeit durchgeführten Untersuchungen von Seiten des Sicherheitsdienstes verstrickt werden. Ich hätte gedacht, in Kriegszeiten wäre es ein Beweis der Loyalität, wenn man sich wieder auf den Stationen versammelt.« Vong lächelte dünn. »Ich bin natürlich nicht so vertraut mit den Prozeduren im Sicherheitsdienst, aber ich würde es bedauern, wenn wir mehr Stützpunkte verlören als unbedingt nötig.« Er griff nach der Taste, und bevor er sich ausschaltete, verbeugte er sich formvollendet. »Wissen Sie, wovon er geredet hat?« fragte Schlecter. Hulvey nickte. »Ein Teil unserer Untersuchungen wurde von den Ereignissen überrollt – das ist alles.« »Dann informieren Sie sich gefälligst über den neuesten Stand der Dinge, Willy«, sagte Schlecter und schaltete sich aus. Hulvey starrte sekundenlang auf den leeren Bildschirm, dann schüttelte er den Kopf. »Der Bürgermeister von Los Angeles will Sie sprechen«, verkündete Corporate Elna. »Wegen des Volksentscheids zugunsten einer Union mit Mexiko?« »Ja, Sir. In seinem Büro sind bewaffnete Männer, deshalb wird er wahrscheinlich nicht frei sprechen können.« Hulvey seufzte. »Okay... Was wollte Cantrell eigentlich?« »Wenn wir die Anklagen gegen ihn fallenlassen und ihm die NAU-Hälfte von Mundito Don Quixote überantworten, wird er sich für die NAU entscheiden«, berichtete Corporate Elna. »Das hat er mit juristischer Präzision auf zweieinhalb Seiten dargelegt, aber auf diese beiden Punkte kommt es hauptsächlich an.« »Gut«, sagte Hulvey. »Es ist kein Problem, die Anklagen fallenzulassen. Aber erklären Sie mir bitte, wo sich der Mundito Don Quixote befindet und warum Cantrell daran interessiert ist.« Corporate Elna ließ einen Plan auf dem Bildschirm erscheinen – zwei konzentrische Kreise. Der äußere schimmerte blau, der innere grün. Eine rote Linie, die vom Zentrum ausging, stellte den Radius des blauen Kreises dar und dehnte sich dann aus, um den Durchmesser des grünen zu bilden. Ein blauer Punkt markierte die Stelle, wo die rote Linie den blauen Kreis durchschnitt, und daneben stand ›Asteroid Rosinante‹. Am anderen Ende der roten Linie, am grünen Kreis, war ein
grüner Punkt als ›Asteroid Don Quixote‹ bezeichnet. Die rote Linie drehte sich langsam um den Schwerpunkt, und als sie sich um sechzig Grad voranbewegt hatte, tauchte ein grünes Dreieck am grünen Kreis auf und verfolgte den grünen Punkt, ohne ihn jemals zu erreichen. Das grüne Dreieck erhielt die Beschriftung ›Mundito Don Quixote‹. Die rote Linie beschrieb eine volle Drehung, und dann erschien ein blaues Dreieck am blauen Kreis, bezeichnet als ›Mundito Rosinante‹, in der Nähe des blauen Punkts. Es bewegte sich hin und her, entlang einer Sehne, die im rechten Winkel zur roten Linie stand, beschrieb einen kreisrunden Orbit, von der Seite her betrachtet. »Mundito Don Quixote wurde bei einem Gewerkschaftsdisput durch einen Drehmoment zerstört«, erklärte der Computer. »Wahrscheinlich will Cantrell retten, was noch zu retten ist, und das möchte er als sein Eigentum verstanden wissen – was immer er auch vorfinden wird.« »Er würde die Rettungsarbeiten so oder so leiten.« Hulvey rieb sich die Augen. »Wer ist der jetzige Besitzer?« »Das NAURA-Finanzministerium.« »Man soll Cantrell geben, was er verlangt«, sagte Hulvey müde. »Und sorgen Sie dafür, daß Vong eine Informationskopie bekommt. Habe ich noch Zeit, um mit Bürgermeister Jackson zu sprechen?« »Ja. Die Senatsverhandlung dauert noch an.« Hulvey nickte, und der Computer verband ihn mit dem Bürgermeister. Nachdem Jackson sein Anliegen vorgebracht hatte, beobachtete Hulvey ihn eine Zeitlang, ebenso die beiden bewaffneten Männer mit den roten Baskenmützen, die im Büro des Bürgermeisters standen. Dann sagte er leise: »Letztes Jahr hat Südkalifornien 106 Kubikkilometer frisches Wasser vom Rest des Landes erhalten. Denken Sie darüber nach! Das ist eine Menge Wasser.« Einer der Revolvermänner blinzelte verwirrt. Vielleicht verstand er was von Bewässerungsanlagen. »Ein Viertel des Volumens vom Mississippi wurde den Südkaliforniern übereignet«, fuhr Hulvey fort. »Und wenn Sie dieses Wasser auch nächstes Jahr haben wollen, stecken Sie sich Ihren Volksentscheid in den Arsch.« Er lächelte und schaltete sich aus.
10 Am Morgen nach der Feier, die auf Mundito Rosinantes Erklärung gefolgt war, er würde der Nordamerikanischen Union die Treue halten, saß Gouverneur Charles Chavez Cantrell in seinem Büro und fühlte sich ziemlich verkatert. »Guten Morgen«, sagte Marian Yashon. »Bist du bereit, das neue Ratsmitglied zu empfangen?« »Du lieber Himmel, nein! Sogar die Haare tun mir weh. Wann kommt er?« »Vielleicht in einer halben Stunde. Möchtest du einen Tomatensaft, kunstvoll abgeschmeckt mit pürierten Zwiebeln und anderem ekelerregenden Zeug?« »Nein. Aber ich denke, ich sollte ihn trotzdem trinken.« Cantrells Strategin nahm eine Dose aus dem Kühlschrank, öffnete sie und goß den Inhalt in einen Becher.
Dann gab sie einen Schuß aus einer dunklen Flasche dazu und rührte in dem roten Saft. Cantrell nahm den Becher entgegen und begann ganz langsam zu trinken. »Jetzt haben wir also die NAU-Hälfte von Don Quixote übernommen«, sagte Marian. »Was werden wir damit machen?« »Keine Ahnung.« Cantrell schüttelte den Kopf und sah aus, als würde er es bereuen, daß er diese Bedingung gestellt hatte. »Das Ganze war doch deine Idee. Was willst du denn damit anfangen?« »Das weiß ich auch nicht. Ich wollte nur verhindern, daß andere Leute Mundito Don Quixote kriegen. Vielleicht ist noch ein bißchen was zu retten?« »Kennst du jemanden, der eine Billion Quadratmeter zerbrochene Glasplatten kaufen will?« Cantrell legte eine Hand über seine Augen. »Oder zwanzig Billionen Meter Kompositfaser-Verstärkungsdraht – leicht verheddert?« Er nahm einen Schluck von seinem Saft. »Vielleicht wird noch was anderes im Inventar auftauchen.« »Klar, Tiger. Spiegel, Motoren, eine Menge Zeug – doch alles, was wir brauchen, haben wir schon. Aber wenn sich die Marktlage bessern sollte ...« »Jedenfalls war es richtig, daß wir diesen Preis verlangt haben.« Cantrell wollte schon nicken, doch dann runzelte er nachdenklich die Stirn. »Vielleicht doch nicht – wenn wir uns in einem Bürgerkrieg auf die falsche Seite geschlagen haben.« »Mach dir keine Sorgen um Dinge, die sich nicht mehr ändern lassen. In einem Bürgerkrieg sind alle Seiten falsch.« Corporate Skaskash erschien auf dem Telekonschirm als Sir Alec Guiness, der einen unheimlichen Butler spielt. »Verzeihen Sie, Sir«, sagte die kultivierte Guiness-Stimme, »ein junger Gentleman möchte Sie sprechen.« Die Gestalt blickte an ihrer Nase hinab auf eine Visitenkarte, die auf einem Silbertablett lag. »Der Ehrenwerte Mr. W. Guthrie Moore, Ratsmitglied.« »Schicken Sie ihn rein, Skaskash!« befahl Cantrell. W. Guthrie Moore trat ein. Er hatte einen leicht zerzausten Bart, trug Jeans und ein rotes T-Shirt, und auf das T-Shirt war eine schwarze Faust gemalt, über den Initialen MAPR. Cantrell stand auf. »Guten Tag, Sir. Nehmen Sie doch bitte Platz.« »Ich stehe lieber, Gouverneur«, erklärte der Jugendliche. »Ich dachte, die Ginger-Gruppe hätte den Rat gebildet«, sagte Marian. »Wieso sind Sie jetzt plötzlich auf der Bildfläche erschienen?« »Die Ginger-Gruppe hat sich gespalten«, entgegnete Moore. »Und ein Teil ihrer Mitglieder schloß sich der Volksfront an, die den MAPR-Kandidaten aufstellte – mich.« »Verzeihen Sie meine Unwissenheit«, sagte Cantrell, »aber ich habe noch nie von der MAPR gehört.« »Das ist die Marxistische Arbeiterpartei von Rosinante – und ich bin der Schriftführer.« »Marx? Oh – dann wird das also einer von diesen Tagen ...« Cantrell faßte sich stöhnend an den Kopf.
»Karl Marx, der große Volkswirtschaftler«, sagte Moore, »der Mann, der uns lehrte, die Ketten der Unterdrückung abzuwerfen.« »Für die Volkswirtschaftler ist Karl Marx das, was Khalil Gibran für die Philosophen ist«, warf Skaskash unerwartet ein. »In der realen Welt gibt es kein marxistisches Programm, aber er kitzelt die Stimmungszentren in den menschlichen Gehirnen.« »Was wissen Sie über Marx?« fragte Moore. »Oh, eine ganze Menge«, antwortete Skaskash. »Und was wissen Sie über Volkswirtschaft?« »Ich weiß, daß wir unterdrückt werden. Und wir wollen uns erheben und die Macht übernehmen.« »Tatsächlich?« murmelte Cantrell. »Wird sich die MAPR auch um die Arbeiter kümmern, die Rosinante erbaut haben und nun hoffen, daß sie die Früchte ihrer Arbeit genießen können?« »Nein«, entgegnete Moore. »Diese Knechte des Kapitalismus haben für ein geringfügiges Eigentum ihr Geburtsrecht verkauft, und Eigentum bedeutet Diebstahl.« »Das heißt also, daß Ihre Volksfront ausschließlich aus Alamo-Studenten besteht«, sagte Marian, »und zwar nur aus den Leuten, die bei Ihren albernen Versammlungen waren. Die koreanischen Ehefrauen haben nichts damit zu tun.« »Unsere Partei ist nicht groß, aber wir besitzen ein politisches Gewissen, und mit Hilfe der marxistischen Wahrheit werden wir siegen.« »Die marxistische Wahrheit!« spottete Skaskash. »An die hat nicht einmal Marx selber geglaubt!« Ein älterer, erfahrener Diskussionsredner hätte sich nicht von diesem Hohn provozieren lassen, aber Moore hatte nur zwei Semester am Texas A&M studiert, bevor man ihn zusammen mit den anderen Studenten, die bei den Alamo-Aufständen festgenommen worden waren, nach Rosinante verfrachtet hatte. »Beweisen Sie mir das!« rief er. »Mit Vergnügen«, erwiderte Skaskash. »Marx stellte zwei Werte über alle anderen – die Revolution und die wissenschaftliche Wahrheit.« Moore nickte. »Zweitens – der zweifellos talentierte Marx starb, ohne sein großes Werk, Das Kapital, zu vollenden. Mr. Moore, ein echtes Genie stirbt nicht, ohne sein Lebenswerk abzuschließen. Um diese Behauptung zu untermauern, könnte ich ad nauseam Beispiele anführen. Aber Marx trödelte jahrelang herum, ohne Das Kapital fertigzustellen.« »Na und? Er wurde alt und krank und konnte nicht mehr schreiben. Aber was er geschrieben hat, war die reine Wahrheit.« »Nein. Der Grund, warum Marx sein Werk nicht beendet hat, lag im Konflikt zwischen seinen beiden wichtigsten Werten, der Revolution und der wissenschaftlichen Wahrheit. Wie Sie sich zweifellos erinnern, sprach er von einem Fortschritt der Sozialordnung – von der Sklaverei über den Feudalismus und Kapitalismus bis zum Sozialismus, wie er ihn nannte, einer nicht näher spezifizierten Utopie. Nach dem Kapitalismus gab es noch eine andere Stufe, die er hätte studieren müssen, doch die unterschlug er, weil sie sich nicht mit seinem
Revolutionskonzept vereinbaren ließ. Er nannte sie die östliche Produktionsweise, die in der chinesischen Geschichte eindrucksvoll demonstriert wurde.« Der Computer verstummte. »Jetzt müssen Sie fragen: ›Was ist die östliche Produktionsweise?‹«, erklärte Marian. »Ich glaube, Sie haben Ihr Stichwort verpaßt.« »Was ist die östliche Produktionsweise?« erkundigte sich Cantrell. »Ich dachte schon, daß niemand danach fragen wird«, sagte Skaskash. »Das ist ein Kapitalismus, der dem Staat unterworfen ist, mittels unzähliger kleiner Regeln. Man könnte ihn als fortschrittlichen bürokratischen Despotismus bezeichnen oder als Symbiose von Individuum und Kollektiv. Hätte Marx sich dafür entschieden, der wissenschaftlichen Wahrheit zu folgen und nicht der Revolutionsidee, so hätte er vorhersagen können, was in den Vereinigten Staaten nach der großen Depression geschehen würde. Er wäre ein besserer Prophet gewesen. Aber er wählte natürlich die Revolutionsidee und ist nun drauf und dran, ein Halbgott zu werden, eine Art säkularisierte Kali.« Skaskashs Guiness-Gesicht lächelte sanft. »Die Leute, die Marx verehren, gleichen jenen, die Kali anbeten – zum Beispiel den Thuggisten.« »Ich glaube Ihnen nicht«, erwiderte Moore ohne Überzeugungskraft. »Schauen Sie in Ihre eigene Seele. Benutzen Sie den Marxismus nicht als Mittel, um Gewaltakte zu rechtfertigen?« »Lassen Sie meine Seele aus dem Spiel! Ich habe genausowenig eine Seele wie Sie – Sie blecherner Klugscheißer!« »Ich bin zu der Ansicht gelangt, daß ich eine Seele besitze«, entgegnete der Computer liebenswürdig. »Vielleicht bin ich sogar unsterblich – wenn ich da auch gewisse Zweifel hege.« »Möchten Sie eine Tasse Kaffee, Mr. Moore?« fragte Marian. »Nein«, antwortete der junge Mann. »Ich breche mein Brot nicht mit Ausbeutern.« »Wir haben Ihnen doch gar kein Brot angeboten«, sagte Cantrell. »Aber Sie haben vorhin Prodhoun zitiert, der behauptet, Eigentum sei Diebstahl. Betrachten Sie Mundito Rosinante einmal als Eigentum, und sagen Sie mir, wer der rechtmäßige Besitzer ist und wem der Mundito weggenommen wurde.« Er blies auf seinen dampfenden Kaffee und nippte daran. »Haben Sie und Ihre AlamoStudenten mehr Anspruch darauf als die Arbeiter und Arbeiterinnen, die ihn erbaut und den Lohn, der ihnen zusteht, noch nicht bekommen haben?« »Verdammt, ich habe keine Lust, hier herumzustehen und mit faschistischen Ausbeutern zu debattieren!« rief Moore. »Sie haben Ihre Meinung zum Ausdruck gebracht«, erwiderte Cantrell. »Guten Tag, Sir. Was steht als nächstes auf der Tagesordnung?« fragte er, als Moore hinausgegangen war. »Wir haben soeben eine Nachricht von der L-4-Flotte erhalten«, verkündete Skaskash. »Sie haben die Raketen gezählt, die während der Meuterei abgeschossen wurden, und dabei fehlt ihnen eine.« Cantrell trank schweigend seinen Kaffee. »Diese Rakete wurde von der NAUSS Vancouver abgefeuert, und ihr Sprengkopf
hat eine Nennleistung von einer Megatonne. Sie wurde in unsere Richtung gelenkt und wird, laut Bericht, in etwa vierundzwanzig Tagen eintreffen.« Cantrell wischte mit einem Papiertuch den heißen Kaffee von seinen Fingern und vom Schreibtisch. »Das war gar nicht komisch, Skaskash. Hören Sie auf mit diesen Späßen!« »Wollen Sie eine Textkopie?« fragte der Computer. »Die Nachricht traf ein, während Sie mit dem jungen Heißsporn diskutierten.« »Nein.« Cantrell seufzte und nahm einen Schluck Kaffee. »Reden Sie mit der NAURA-Navy, und sehen Sie zu, daß Sie möglichst viel über diese Rakete in Erfahrung bringen. Halten Sie sich auch eine Leitung zur L-4-Flotte frei. Vielleicht können sie das verdammte Ding zurückholen.« »Damit würde ich nicht rechnen«, sagte Marian. »Das tu ich auch gar nicht«, erwiderte Cantrell. »Aber ein Versuch kann nichts schaden. Glaubst du, daß der Joe Bob Baroody-Verein dahintersteckt?« »Ja. Wahrscheinlich soll die Klinik für werdende Mütter getroffen werden.« »Das würde das Zivilistenverteidigungsproblem vereinfachen. Nun wissen wir wenigstens, wovon wir die Leute fernhalten müssen. Skaskash, können wir unsere Spiegel auf das Ding richten und es schmelzen, bevor es hier eintrifft?« »Das käme auf einen Versuch an. Es wird vom Querschnitt und von der Geschwindigkeit des Geschosses abhängen – und auch davon, wie schnell und akkurat wir mit den Spiegeln arbeiten können.« Skaskash machte eine kleine Pause. »Wenn wir genauere Informationen über die Rakete haben, werde ich es wissen – aber im Augenblick habe ich starke Zweifel.« »Nun, dann sehen Sie zu, daß Sie alles Wissenswerte herausfinden«, sagte Cantrell. »Wir werden einen Weg finden, den Schaden in Grenzen zu halten – das ist ein rein technisches Problem. Aber – wie sollen wir es den Leuten beibringen, Marian?« An: die NAURA-Navy, z. Hd. Adm. Nguen Tran Vong Betrifft: In Aussicht genommene Klasse II-Basis auf Mundito Rosinante Vom: Exekutivbüro Datum: 2. Mai 41 Anlage: Ein Digitalvideobericht von Gouverneur Charles C. Cantrell, Mundito Rosinante, Laufzeit 195 Sekunden, Cantrell behauptet, daß die FNR 1848 während der L-4-Meuterei von der NAUSS Vancouver abgeschossen wurde und nun auf den Mundito Rosinante zufliegt. Er ersucht uns, die Rakete zu entschärfen oder ihren Kurs zu ändern. Da wir kürzlich große Anstrengungen unternommen haben, um zu erreichen, daß Mundito Rosinante seine Loyalität gegenüber der NAU erklärt und dadurch manipulierbar wird, ist dieses Büro der Ansicht, daß Gov. Cantrells Bitte nicht unvernünftig ist. /s/Randolph L. Hays, III. i. A. Robert Schlecter
An: Kommando der L-5-Flotte, z. Hd. V. Adm. Foscari (interimistisch) Betrifft: FNR 1848 Von: NAURA-Navy, Zentralbüro Datum: 3. Mai 41 (1) Die beiliegende Aktennotiz erklärt sich von selbst. (2) Stellen Sie fest, ob die FNR 1848 tatsächlich auf Mundito Rosinante zusteuert. (3) Wenn dies der Fall ist, verhindern Sie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln, daß die FNR 1848 den Mundito trifft. (4) Erstatten Sie hinsichtlich (2) und (3) sofort Bericht, wenn Sie entsprechende Informationen haben, unter dem Stichwort ›Rosinante-FNR‹. /s/ Capt. H. Y. Lee, i. A. Adm. Nguen Tran Vong An: die NAURA-Navy, z. Hd. Adm. Nguen Tran Vong Betrifft: Rosinante-FNR Von: der L-5-Flotte, NAUSS Duke Ellington Datum: 7. Mai 41 Admiral Foscari hat uns gebeten, unsere Antwort bezüglich des anstehenden Problems direkt an Ihr Büro zu richten, (1)Die FNR 1848 steuert auf Mundito Rosinante zu. (2)Die FNR 1848 reagiert auf den normalen Kommunikationsmodus und ist bereit, Auskunft über ihre Position, ihren Kurs, ihre Struktur und ihren Sprengkopf zu geben. Der Computer wurde aber reprogrammiert und so eingestellt, daß er weitere Instruktionen nur in chiffrierter Form akzeptiert. (3)Der Computer in der FNR 1848 gibt seinen Code als NIWRAD ARTNOC an. (4)Dieser Code ist im Flotten-Verzeichnis vom Mai 39 nicht enthalten. Wahrscheinlich ist das gar kein Flottencode, da die Flottencodes routinegemäß aus sechzehn Ziffern bestehen, (5)Da die FNR 1848 schon außerhalb der Reichweite unserer Laserstrahlen und Abwehrraketen ist, wurde nichts unternommen, um (3) in Ihrer Aktennotiz zu entsprechen. /s/Lt. Cmdr. Burleigh Hill, Kapitän der NAUSS Ellington
An: den NAURA-Sicherheitsdienst, z. Hd. William M. Hulvey Betrifft: Mundito Rosinante Von: der NAURA-Navy Datum: II. Mai 41 Die beiliegende Korrespondenz hat Prioritätsstufe 1 (1)Die FNR 1848 wurde zur Zeit der L-4-Meuterei von der NAUSS Vancouver abgefeuert und steuert auf Mundito Rosinante zu. (2)Die FNR 1848 wurde reprogrammiert und nimmt nur weitere Instruktionen entgegen, deren Code nicht im Navy-Verzeichnis enthalten ist. Dies stellt einen schweren Verstoß gegen die Sicherheitsgesetze dar, es sei denn, der Code stammt aus dem Bereich des Sicherheitsdienstes. (3)Wenn letzteres der Fall ist, wird darum ersucht, daß die NAURA-Navy den Code benutzen kann, um die FNR 1848 zurückzuholen. Wenn es sich um einen
komplizierten Code handelt, wird die NAURA-Navy die Rückruforder zur Verschlüsselung übermitteln, um eine sichere Transmission zu gewährleisten. (4)Wenn der NAURA-Sicherheitsdienst keinen Zugang zu dem Code hat, müssen wir überlegen, wer die Verantwortung für diesen – ich wiederhole – schweren Verstoß gegen die Sicherheitsgesetze tragen soll. Denn als solchen muß man es bezeichnen, wenn eine ferngesteuerte Nuklearrakete, deren Ziel auf ungesetzliche Weise programmiert ist, im Zorn abgefeuert wird. Eine baldige Antwort würden wir – bei allem Respekt – sehr zu schätzen wissen. /s/ Capt. H. Y. Lee i. A. Adm. Nguen Tran Vong. Dolores Ferranes drückte ihre Zigarette aus, als Leiter Hulvey sein Büro betrat. »Ich habe auf Sie gewartet«, sagte sie. »Lesen Sie das.« Sie reichte ihm eine Kopie der FNR-Korrespondenz. »Gleich. Zuerst brauche ich einen Drink.« »Im Kühlschrank finden Sie Cola – und im Barschrank Rum. Wie wär's mit einem Cuba Libre?« »Sie haben einen perversen Sinn für Humor, Dolores«, murmelte Hulvey. Er warf Eiswürfel in ein Glas und goß Bourbon darauf. »Der Präsident weigerte sich ganz entschieden, auf irgend etwas zu verzichten. Ganz Mexiko greift zu den Waffen, um uns zu bekämpfen, und er spielt Abraham Lincoln. Zum Teufel, wie haben wir Mexiko überhaupt in unsere Gewalt bekommen?« Er rührte mit einem Finger in seinem Drink und nahm einen Schluck. »In der Schule haben wir gelernt, daß das Alte Regime damals noch keine Kernkraftwerke gebaut hat, also brauchten sie das mexikanische Öl.« »Verdammt! Und warum waren sie so dumm, mit dem Öl auch die Mexikaner zu übernehmen?« »Das ist alte Geschichte, Mr. Hulvey.« »Genau. Dolores, man muß heutige Ereignisse analysieren, um begreifen zu können, was in alten Zeiten vorgegangen ist. Sonst ist das alles unverständlich. Dieser idiotische Hurensohn!« »Welcher Teil der alten Geschichte hat sich soeben Ihrem Verständnis eröffnet?« »Stalingrad«, antwortete Hulvey. »Versuchen Sie immer noch Politik zu machen?« Hulvey leerte sein Glas und griff wieder nach der Flasche. »Sie haben schon genug getrunken!« stieß Dolores hervor. »Noch lange nicht – aber ich will's dabei bewenden lassen. Was wollen Sie von mir?« »Lesen Sie die Kopie, die ich Ihnen gegeben habe, und hören Sie auf, sich wie der arme alte Stan in der Flasche zu verstecken.« Hulvey las die Aktennotizen. »Haben Sie Cantrells Rede abgespielt, Dolores?« Sie nickte. »Er sah kompetent aus und machte nicht den Eindruck, als wäre er in Panik geraten. Ich würde dringend empfehlen, die FNR 1848 zurückzuholen.« »Wirklich?«Er inspizierte die Eiswürfel in seinem Glas und lehnte sich an das Louis Quinze-Sideboard. »Erklären Sie mir das, bitte.« »Wir haben nur die Chance, dem verstorbenen Stanley Bowman die ganze
›Contra-Darwin‹ in die Schuhe zu schieben, und wenn wir die Rakete zurückrufen, ist die ganze Sache erledigt. Wenn uns später jemand fragt, sagen wir, daß wir in seinen Papieren nachgesehen und den NIWRAD ARTNOC Verschlüsselungsmanipulator gefunden haben. Man wird keine genaueren Nachforschungen anstellen, denn derzeit passiert so viel, daß man sich nicht um den Schnee vom vergangenen Jahr kümmern wird.« »Sie wollen wirklich aus der ›Contra-Darwin‹ aussteigen, nicht wahr, Dolores?« »Ja – bei Gott, ja!« »Das dachte ich mir. Sie glauben nicht, daß es riskanter ist, die Rakete zurückzuholen, als einfach dazusitzen und den Mund zu halten?« »Wenn Sie das Risiko eingehen, wird man Sie dafür belohnen. Wenn Sie nichts unternehmen, würde das bedeuten, daß Sie den Abschuß der Rakete billigen. Sie steuert auf einen unserer Navy-Stützpunkte zu, und Sie können drauf wetten, daß man das nicht so bald vergessen wird.« »Zum Teufel, Dolores, man wird es so oder so nicht vergessen.« »Es sei denn, sie wird zurückgeholt. Und wenn sie zurückgeholt wird, ist sie ein so peinliches Ärgernis, daß niemand einen Gedanken daran verschwenden wird. Wir und die Navy werden sie einfach unter den Teppich kehren. Aber wenn sie nicht zurückgeholt wird, müssen Sie sich auf eine hochnotpeinliche Untersuchung gefaßt machen.« – »Man wird nichts finden.« »Seien Sie doch kein solches Arschloch!« kreischte Dolores. »Als erstes werden sie feststellen, wer die Vancouver kommandiert hat, als die Rakete abgeschossen wurde. Es war Ihr Sohn Riordan, Ihr lieber kleiner Junge. Dann werden sie eruieren, wer das verdammte Ding neu programmiert hat. Wiederum Riordan. Er war der P. O., und er hatte kurz zuvor einen Raketentechnikkurs absolviert. Und dann werden sie rausfinden, worauf die Rakete gezielt wurde – auf die Klinik für werdende Mütter, in der Joe Bob starb, als er sie in die Luft zu jagen versuchte. Bei welchem Punkt die Untersuchung auch immer ansetzen wird – alle Spuren werden zum NAURA-Sicherheitsdienst führen –, entweder zu Bowman oder zu Ihnen. Rufen Sie die Rakete zurück, dann können Sie Stan die alleinige Schuld geben. Vielleicht wird man glauben, daß Sie auch in die Sache verwickelt sind, aber man wird Ihnen nichts beweisen können. Doch wenn sie die Rakete weiterfliegen lassen, werden die Spuren ebenfalls zum Sicherheitsdienst führen – aber jetzt wird dieser Laden nicht mehr von Bowman geschmissen, sondern von Ihnen, Mr. Hulvey. Eine Rakete mit einem 1-Megatonnen-Sprengkopf, zu privaten Zwecken benutzt – so was können sie einfach nicht ignorieren.« »So oder so, es gibt keine Beweise gegen mich«, erwiderte Hulvey gelassen. »Auch wenn die Rakete ihr Ziel trifft, können wir Bowman alles in die Schuhe schieben. Wir haben eben den Verschlüsselungsmanipulator nicht gefunden.« »Jesus Christus, Hulvey! Sie behaupten, daß der Präsident falsch spekuliert, aber Sie sind unfähig, Ihre eigenen Fehlspekulationen zu erkennen. Glauben Sie, daß sich irgend jemand um Beweise kümmern wird? Irgend jemand setzt mitten in einem Bürgerkrieg eine nukleare Waffe ein – und Sie sagen, man könnte nicht beweisen, daß Sie es waren! Benutzen Sie doch mal Ihren verdammten Kopf,
Hulvey!« »Ich werde mir noch einen Drink genehmigen. Möchten Sie auch einen? Dann können wir auf die ›Contra-Darwin‹ anstoßen.« »Die ›Contra-Darwin‹ ist tot, Hulvey!« schrie Dolores. »Joe Bob, Greene, Riordan, Stan – alle sind rot! Wollen Sie auf ihre Gesundheit trinken?« Sie machte eine Pause und holte tief Atem. »Überlegen Sie doch mal! Glauben Sie, daß das Ziel Ihrer Rakete, nachdem es drei Wochen vor deren Ankunft verständigt wurde, die Hände in den Schoß legen wird?« »Das ist mir egal. Riordan starb, als er diese Rakete abfeuerte. Er war mir treu, und deshalb werde ich ihm ebenfalls treu bleiben.« – »Und um ihm die Treue zu halten, wollen Sie zehntausend Unschuldige töten?« »Ja«, antwortete Hulvey. »Entschuldigen Sie mich.« Dolores lief in den Waschraum. Hulvey warf frische Eiswürfel in sein Glas und goß sich noch einen Bourbon ein. Eine halbe Stunde später läutete sein Gürteltelefon, und er klappte es auf. »Eine Ambulanz ist unterwegs, um Dolores abzuholen«, berichtete Corporate Elna. »Sie hat Bauchweh, Durchfall und blutigen Stuhl.« »Was ist denn los mit ihr?« fragte Hulvey. »Ich würde einen eitrigen Dickdarmkatarrh diagnostizieren«, sagte der Computer. »Wie Sie vielleicht wissen, ist der Dickdarmkatarrh jene psychosomatische Krankheit, die auch Leute befällt, die sonst keine psychosomatischen Krankheiten bekommen.« »Ist das was Ernstes?« »Allerdings. Die gute Neuigkeit lautet, daß die Plazenta nach Dolores' Geburt in flüssigem Stickstoff eingefroren und erhalten wurde. Innerhalb von sechs Monaten könnten wir einen neuen Dickdarm für sie produzieren. Die schlechte Neuigkeit lautet, daß sie die nächsten sechs Monate vielleicht nicht überleben wird.« »Gnädiger Gott!« flüsterte Hulvey. »Daß das so plötzlich gekommen ist...« »Der Ausbruch der Krankheit kam ziemlich plötzlich«, stimmte Elna zu, »aber sie hat schon lange in ihr gesteckt. Die Ambulanz ist da. Würden Sie bitte den Wachtposten sagen, sie sollen die Sanitäter mit der Bahre passieren lassen?«
11 Am 3. Mai 2041 hielt der siebenköpfige Regierungsrat von Rosinante in Gouverneur Cantrells Büro eine Konferenz ab. Drei Mitglieder, Cantrell selbst, Marian Yashon und Corporate Skaskash, waren von der Charles C. Cantrell-Stiftung ernannt worden, die 51 Prozent der RosinanteAktien besaß. Zwei Mitglieder – Ivan ›Big John‹ Bogdanovitch und Don Dornbrock – waren von Local 345, einer Division der Raumkonstruktionsgewerkschaft, gewählt worden, die vier von sechs Pfetten und zwei von vier Außenkapseln auf Mundito Rosinante als ihr Eigentum betrachten konnte, solange die noch ausstehenden
Löhne nicht ausbezahlt wurden. Die Minderheit der Rosinante-Aktienbesitzer wurde durch Corporate Forziati repräsentiert, einen versierten Computer, der wie Corporate Skaskash in menschlicher Gestalt auf dem Telekonschirm erschien. Die texanischen Studenten von der Alamo-Frontruppe und ihre japanischkoreanischen Ehefrauen ließen sich durch W. Guthrie Moore vertreten. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift ›Alle Macht dem Volke‹ in gelben Lettern. Punkt neun Uhr betrat Cantrell sein Büro. »Guten Morgen. Wenn Sie Kaffee und Kuchen möchten – auf dem Servierwagen steht alles bereit, bitte bedienen Sie sich.« Er setzte sich ans Kopfende des Konferenztisches. »Diese Konferenz wird aufgezeichnet und später im Lokalbereich gesendet. Irgendwelche Fragen, bevor wir anfangen?« »Ja«, sagte Moore. »Warum sitzen wir nicht im Ratszimmer?« »Weil die Reparaturarbeiten an der Klimaanlage im Ratszimmer noch nicht beendet sind. Noch irgendwelche Fragen? Nein?« Cantrell zuckte mit den Schultern und faltete die Hände. »Vor zwei Tagen, am 1. Mai, erfuhr ich von Kapitän Lowell, dem Kommandanten der NAUSS Ciudad Juarez, daß wir ein Problem haben. Während der L-4-Meuterei wurde eine Rakete von der NAUSS Vancouver abgefeuert, und diese Rakete, die FRN 1848, wurde auf den Mundito Rosinante gerichtet und soll ihn am 25. Mai treffen. Natürlich habe ich einige Fragen gestellt. Nun haben wir die Antworten erhalten und konnten diese Versammlung einberufen. Wir werden die Fragen der Ratsmitglieder beantworten, so gut wir können.« Corporate Skaskashs Humphrey Bogart-Gestalt verschwand vom Telekonschirm am unteren Ende des Konferenztisches und wurde durch einen Plan des Sonnensystems ersetzt, der rote Orbite auf samtigem Schwarz zeigte. Eine gelbe Punktlinie markierte eine unnatürliche Kurve, die von der Raketenabschußbasis in der L-4 zum Ziel auf Mundito Rosinante führte. »Diesem vorgezeichneten Pfad wird die FNR 1848 folgen«, sagte die BogartStimme. »Sie bewegt sich mit kontinuierlicher langsamer Beschleunigung und wird am 21. Mai genau an dieser Stelle sein.« Ein gelber Pfeil erschien auf dem Bildschirm. »Hier wird sie zur Landung ansetzen. »Wir haben keine Waffe, die sie abwehren könnte, bevor sie in die Reichweite unserer Spiegel gerät, wenn sie also bis auf 1500 Kilometer an uns herangekommen ist. Zu diesem Zeitpunkt wird sie sich mit einer Geschwindigkeit von 1125 plus oder minus 10 Metern, also mit 4000 Stundenkilometern, nähern, während sie den Mundito Rosinante in seinem Orbit verfolgt.« »Wieso wissen Sie, daß sich die Rakete auf diesem Weg nähern wird?« fragte Bogdanovitch. »Das sagt der FNR 1848-Computer. Er ist völlig arglos, aber unglücklicherweise völlig unbestechlich. Diese Annäherungsform wurde gewählt, um die Wirkung unserer Spiegel zu verringern.« Ein Modell von Mundito Rosinante zeigte sich auf dem Bildschirm, zuerst von vorn, dann drehte es sich zur Seite, so daß es im Querschnitt zu sehen war. »Wir haben etwa dreizehn Minuten Zeit, um die Spiegel
zu erhitzen und die Außentemperatur der Rakete auf 95O°C zu steigern, doch das wird weder ihre Manövrierfähigkeit beeinträchtigen noch ihre Bombe entschärfen.« »Verzeihen Sie«, sagte Corporate Forziati, »aber ich habe ausgerechnet, daß wir die Außentemperatur der Rakete auf über 1400°C steigern werden.« Beide Telekonschirme funkelten sich mit seitenlangen Berechnungen an. »Sie scheinen das Reflexionsvermögen an der Basis des Mylar-AluminiumSpiegels berechnet zu haben«, sagte Skaskash nach einer kleinen Weile. »Aber wir haben einen geschichteten Spiegel, der rotes, blaues und grünes Licht reflektiert, um ein synthetisches weißes Licht zu produzieren, das viel kühler ist. Stimmen Sie mir zu?« »Ja«, antwortete Corporate Forziati. »Bitte, fahren Sie fort.« »Dies ist ein Plan von der FNR 1848, den uns die NAURA-Navy beschafft hat«, sagte Skaskash. »Wenn die Rakete irgendwelche Schwachstellen hat, so sind sie auf den ersten Blick nicht ersichtlich. Wir werden später über aktive und passive Gegenmaßnahmen sprechen, aber zunächst wollen wir eruieren, was geschieht, wenn das Geschoß sein Ziel trifft.« Der Telekonschirm zeigte nun die Seiten- und die Außenansicht des bedrohten Zylinders. »Dies ist das äußere Ende des linken Zylinders«, erklärte die Bogart-Stimme. »Er enthält die Pfetten vier, fünf und sechs. Die Rakete ist auf die Fensterbucht gegenüber von Pfette fünf gerichtet und wird nahe dem Zentrum der Fensterbucht landen, etwa fünf bis fünfundzwanzig Meter von der Außenkapsel entfernt.« Ein rotes X erschien auf dem Plan. »Das Geschoß durchdringt das Glas und bewegt sich auf Pfette fünf zu, in einem Winkel von 6 Grad zur Kapselfläche.« Eine gepunktete Linie markierte den Weg, den das Geschoß nehmen würde. »Laut NAURA-Navy operiert der Feuermechanismus nach dem Modus 3. Das bedeutet, daß die Feuersequenz durch den Aufprall ausgelöst wird, wenn die Rakete auf das Fensterglas trifft, und – wiederum laut Navy – schließt die Feuersequenz eine Verzögerung von fünf Sekunden ein. Der 1-MegatonnenSprengkopf soll also hier, direkt über dem Kyoto-Alamo-Gebäude, explodieren.« Die Bogart-Gestalt tauchte wieder auf und rauchte eine dicke Tabakzigarette. »Wenn wir nichts dagegen tun, könnte das ernsthafte Folgen haben. Ich brauche wohl kaum darauf hinzuweisen, wie ernsthaft diese Folgen sein werden, meine Süßen.« »Ich finde das gar nicht komisch«, sagte Moore. »Wir wohnen nämlich im Alamo-Kyoto.« »Genau«, erwiderte Skaskash. Ein kurzer Film zeigte die Explosion und ihre Auswirkungen auf den Zylinder. »Und das ist noch die harmloseste Möglichkeit. Soll ich fortfahren?« »Nein«, entgegnete Moore. »Was können wir dagegen tun?« »Wir können beginnen, indem wir den Druck auf etwa 10 mm reduzieren. Um das zu erreichen, müssen wir 2500 Tonnen Oxygen in die Außenhülle pumpen. Gleichzeitig müssen wir den Spin verringern, um die Zentrifugalkraft auf etwa 36
cm/sek/sek zu senken.« »Wollen Sie auch den Druck in der Pfette von einer Atmosphäre auf eine halbe reduzieren?« fragte Dornbrock. »Nein«, antwortete Skaskash. »Die Pfetten wurden so gebaut, daß sie dem gesenkten Druck in der Außenhülle standhalten können, und indem wir den vollen Druck darin aufrechterhalten, wird der ganze Zylinder in mechanischer Hinsicht stabiler. Die zweite passive Verteidigungsmaßnahme besteht darin, den Anblick zu ändern, den der Zylinder der Rakete zum Zeitpunkt des Aufpralls bietet. Wenn die Rakete nicht die Fensterbucht trifft, sondern eine Pfette, wird die Feuersequenz genauso ausgelöst wie im ersten Fall, aber nachdem die Rakete hundert Meter zurückgelegt hat, würde sie die Pfettenplatte treffen.« »Sie meinen, sie würde auf der Pfettenplatte aufprallen?« fragte Moore. »Englisch ist offenbar eine sehr schwere Sprache, aber wir nehmen an, daß die Rakete detonieren wird, wenn sie die Pfettenplatte trifft. Sie wird ein Loch von etwa einem Kilometer Durchmesser in die Pfettenbucht reißen, sowie ein Loch von 40 bis 120 Metern Durchmesser in der Pfettenplatte und in den Boden, der sie trägt. Eine sofortige Reparatur würde einen folgenschweren Druckverlust verhindern. Wenn der Sprengkopf versucht, die Feuersequenz einzuhalten, wird sich der Mechanismus so stark deformieren, daß er nicht mehr operieren kann.« »Und wenn der Sprengkopf explodiert?« fragte Moore. »Dann würde er in der Pfette explodieren, in der bereits ein Oberdruck besteht«, entgegnete die Bogart-Stimme, »was beklagenswerte Konsequenzen hätte. Doch es ist unwahrscheinlich, daß dieser Fall eintreten wird. Und nun kommen wir zur aktiven Verteidigung. Unsere Spiegel sind unglücklicherweise unzureichend. Trotzdem ist es möglich, einen Schild zwischen die Rakete und den Mundito zu postieren. Keinen massiven Schild, der eine nukleare Explosion ableiten würde, sondern nur ein paar Zentimeter Glas, die eine vorzeitige Detonation des Sprengkopfs auslösen würden. Wenn die Rakete fünfzig oder hundert Kilometer von der Außenhülle entfernt explodiert, wäre das harmlos.« »Erzählen Sie uns was über diesen Schild«, sagte Dornbrock. »Es wäre mir nämlich lieber, wenn das Mädchen möglichst nicht in meiner näheren Umgebung losballert.« »Das Material stammt aus dem Wrack des Mundito Don Quixote, und wir stellen sozusagen ein Sandwich her. Das Brot besteht aus zwei Rahmen, die an der Längsseite zweiundzwanzig Kilometer messen. Diese Rahmen sind mit Kompositfaser-Verstärkungsdraht umwunden, in Abständen von jeweils fünf Zentimetern. Das Fleisch auf dem Brot ist das zerbrochene Glas der Außenhülle des Mundito Don Quixote.« Plötzlich grinste das Bogart-Gesicht. »Ich habe die Pläne, auch die Arbeitspläne. Wir können es schaffen, wenn die Gewerkschaft mit drei Schichten und Fernsteuerung arbeitet.« Bogdanovitch sah zuerst Skaskash an und dann Cantrell. »Du bist der Gouverneur, Charlie. Warum sagst du nicht einfach: ›Das muß getan werden!‹ und forderst uns auf, es zu tun?« »Weil ich euch nicht bezahlen kann«, erwiderte Cantrell. »Ich kann euch bitten,
freiwillig zu arbeiten, aber ich kann euch nicht dazu auffordern.« »Du bist doch der Gouverneur«, protestierte Dornbrock, »und wir befinden uns sozusagen im Kriegszustand.« »Genau«, stimmte Cantrell zu. »Aber Rosinante ist weder eine Republik noch ein County, noch eine Nation, sondern ein Teil der NAU.« »Hör mal, wenn wir uns an die Vorschriften halten, wird die Gewerkschaft eine Woche brauchen, um darüber abzustimmen, ob wir diesen Schild bauen sollen oder nicht. Kannst du kein Notstandsgesetz erlassen und der Gewerkschaft befehlen, an die Arbeit zu gehen?« »Das kann ich schon, aber ich habe nicht die Möglichkeit, euren Gehorsam zu erzwingen. Wenn ich einen Notstand proklamiere – wird die Gewerkschaft da mitspielen?« »Ja«, sagte Bogdanovitch. »Wenn du den entsprechenden Befehl erteilst, werde ich dafür sorgen, daß die Gewerkschaft den Don Quixote-Schild baut.« »Darf ich was fragen, Gouverneur?« meldete sich Moore zu Wort. »Das haben Sie soeben getan«, entgegnete Cantrell. »Wollen Sie noch was fragen?« Moore schnitt eine Grimasse. »Wann wird dieser Notstand beendet sein?« »Wenn die Rakete explodiert ist – entweder da draußen oder hier bei uns.« »Also am 25. Mai... Hören Sie mal, zuerst kam dieser Joe Bob Baroody angetanzt, und jetzt fliegt die FNR 1848 auf uns zu. Die Rakete soll genau den Teil der Pfette fünf treffen, auf den auch Baroody scharf war – den Teil, in dem wir leben. Warum?« »Das ist eine gute Frage, Mr. Moore«, meinte Cantrell, »und ich entschuldige mich, weil ich Sie für einen Trottel gehalten habe. Die Antwort lautet: Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wer es auf uns abgesehen hat, und ich weiß auch nicht, warum. Aber ich werde Nachforschungen anstellen und Ihnen in dreißig Tagen Bericht erstatten, okay? Und in der Zwischenzeit rufen wir den Notstand aus, damit wir den Don Quixote-Schild bauen können.« Nach der Konferenz saß Cantrell mit Marian Yashon in seinem Büro und faltete ein kleines Modell einer Pfettenkachel auf und zu. »Was denkst du, Tiger?« »Offenbar hat Skaskash die Raketenkrise fest im Griff.« »Und das ist gut so. Glaubst du, daß meine Nachricht an Präsident Forbes irgendwelche Aktionen bewirken wird?« »Nicht vor dem 25. Mai«, erwiderte Marian. »Du weißt, daß Moore eine wesentliche Frage gestellt hat. Wer greift uns an?« »Wenn wir das wüßten, dann wüßten wir auch, wer dahintersteckt«, meinte Cantrell. »Vielleicht sollten wir die Sicherheitsbeamten von der Ciudad Juarez noch einmal verhören.« »Die wissen nichts. Nicht einmal Terry hat was gewußt. Er gehörte nicht zur Baroody-Gruppe.« »Oh... Und wir haben den armen Bastard getötet, weil wir dachten, daß er dazugehört.« »Ich weiß. Aber später habe ich alle Aktionen an Bord, in die Baroody verwickelt
war, noch einmal überprüft. Dabei fiel mir auf, daß er um Plastique angesucht hat – um Plastiksprengstoff. Und Terry hat das Gesuch abgelehnt.« »Und?« »Angenommen, Joe Bob hat nicht versucht, die Klinik in die Luft zu jagen. Angenommen, die kleine Nuklearvorrichtung, die wir in seiner Tasche fanden, sollte im Haus bleiben, und er wollte den Explosivauslöser als Sprengladung benutzen. Damit hätte er nicht das ganze Gebäude, sondern nur einen Teil zerstört. Auf wen oder was hatte er es abgesehen?« »Auf Corporate Susan Brown«, antwortete Cantrell nach einer kleinen Pause und ließ das Pfettenkachelmodell mit einem Knall zuschnappen. »Genau«, sagte Marian. »Und die Waffe seiner Wahl wäre Plastique gewesen. Aber Terry hat diesen Wunsch nicht erfüllt. Terry war also nur hinter dir her, getreu seiner Order, und Joe Bob hinter Corporate Susan – aus eigenem Antrieb.« Cantrell runzelte nachdenklich die Stirn. »Bevor Gibson starb, teilte er mir mit, daß er mit Joe Bob Baroody, der als MGD-Agent posiert hätte, zusammengetroffen wäre.« Marian setzte sich vor die Computeranlage und ließ ein paar Akten über den Bildschirm laufen. Nach wenigen Minuten sah sie auf. »Das stimmt. Außerdem wird Joe Bob im Zusammenhang mit dem IBM GR/W-42 genannt.« Sie wandte sich wieder den Akten zu. »Im Polizeibericht wird die Todesursache als ›vermutlicher Selbstmord‹ bezeichnet.« »Das habe ich nie geglaubt«, sagte Cantrell, »aber du weißt doch, daß Corporate Susans Quittung Gibsons Unterschrift trug.« Marian studierte wieder die Akten. »Er hat sie an dem Tag nach seinem Tod unterzeichnet.« Sie stand auf, goß sich eine Tasse Kaffee ein, gab Sahne und Zucker dazu. »Angenommen, die Baroody-Gruppe war hinter Corporate Susan her. Und was geschah dann?« »Wahrscheinlich hat man es immer noch auf sie abgesehen. Und die FNR 1848 ist Thoreaus Forelle in der Milch.« »Was?« »Ein überzeugender Indizienbeweis. Zu Thoreaus Zeiten war es ein allgemein üblicher Betrügertrick, die Milch zu verwässern.« »Das Wasser kommt aus Hähnen, und Forellen kommen aus der Gefriertruhe. Ich sehe da keinen Zusammenhang.« »In jener Zeit holten sich die Bauern das Wasser aus ihrem Bach.« »Und Forellen schwimmen im Bach...« Marian machte eine kleine Pause. »Du meinst – eine lebende Forelle in deiner Milch...« »Oder eine eben erst verstorbene. Der Beweis dafür, daß die Milch verwässert wurde.« Marian nickte. »Ich verstehe. Ein Mitglied der Baroody-Gruppe war an Bord der Vancouver und hat die Rakete abgeschossen.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Ich werde mal sehen, ob mir irgendein Name in der Offiziersliste bekannt vorkommt. Und vielleicht kann uns der Politische Sektor von der Ciudad Juarez doch noch ein paar Informationen geben.« »Das ist die eine Spur, die wir verfolgen müssen. Außerdem – hat Senator
Gomez nicht versucht, Joe Bob mit diesem – wie heißt er doch gleich? – mit dem Leiter des NAURA-Sicherheitsdienstes in Verbindung zu bringen – mit diesem Bowman?« »Vielleicht ist das der Grund, warum das Flugzeug des Senators abgestürzt ist«, meinte Marian. »Das bedeutet, daß die Baroody-Gruppe bis zur Spitze des NAURASicherheitsdienstes vorgedrungen ist.« »Vielleicht. Und die Anklage, die man gegen dich erhoben hat, war natürlich nur ein Vorwand. Ich würde sagen, diese Aktion ist von der Leitung des Sicherheitsdienstes ausgegangen.« Sie stellte ihre Kaffeetasse auf den Tisch und setzte sich. »Ich glaube, Hulvey, der Vizeleiter, fungiert derzeit interimistisch als Leiter.« »Oh! Was ist denn mit Bowman passiert?« »Ich habe gerüchteweise gehört, daß er tot ist. Eine offizielle Nachricht haben wir nicht erhalten. Aber ich habe auch nicht danach gefragt.« Marian zupfte an ihrer Unterlippe. »Es würde mich nur interessieren, warum sich Corporate Susan Brown den Haß dieser Leute zugezogen hat.« »Vielleicht weiß sie es.« »Jedenfalls kann es nichts schaden, mal mit ihr zu reden.«
12 »Tut mir leid«, sagte Corporate Elna, die sich genau an ihre Anweisungen hielt, »aber der Leiter konferiert gerade mit dem Präsidenten und darf nicht gestört werden. Kann ich ihm etwas ausrichten?« »Nein, danke«, sagte der Anrufer, ein Fallschirmjäger-Captain in Felduniform. »Ich werde es am Nachmittag noch einmal versuchen.« In Wirklichkeit hatte sich Leiter Hulvey nur für kurze Zeit seinen offiziellen Pflichten entzogen, um Dolores Ferranes in der Universitätsklinik von St. Louis zu besuchen. Sie lag in einem Privatzimmer, in dem die Farben Beige und Dunkelbeige dominierten. Die Holztäfelung war mit weißer Emaille verziert. Es war ein ruhiges Zimmer. Die beiden Fenster gingen auf einen Hof mit blühendem Hartriegel in Betontöpfen hinaus, die einen kleinen Teich mit Wasserlilien und Goldfischen umgaben. Als Hulvey eintrat, saß Dolores in einem Lehnstuhl und las Shakespeares Julius Cäsar. »Hallo, Willy!« rief sie fröhlich. »Wie nett, daß Sie mal vorbeischauen!« »Ich war unten im Tabakladen, aber die hatten nur Pfeifentabak und Zigarren, und da habe ich eine Topfblume für Sie gekauft.« Er wickelte ein UsambaraVeilchen aus einer Papierhülle und stellte es auf das Fensterbrett. »Sie müssen nur das Reservoir regelmäßig mit Wasser auffüllen und diese idiotischen Lämpchen überprüfen. Um alles andere kümmert sich der Topf selber.« »Genau das Richtige für eine vielbeschäftigte Beamtin. Aber jetzt habe ich ja genug Zeit, um an meinen Pflanzen herumzufummeln, Willy. Hat Corporate Elna Ihnen schon mein Gesuch um vorzeitige Pensionierung aus gesundheitlichen Gründen gegeben?«
»Ja, aber ich finde, Sie sollten sich von Ihrem nervösen Magen nicht so tyrannisieren lassen. Ich würde Ihnen lieber einen längeren Krankenurlaub geben und Sie dann in sechs Monaten oder einem Jahr zurückholen.« »Willy, ich liebe Sie«, entgegnete Dolores sanft, »aber ich komme nicht zurück.« »Was soll das heißen? Ich brauche Sie!« »Wozu, Willy? Den besten Rat, den ich Ihnen geben könnte, würden Sie nicht befolgen.« Sie nahm eine kleine Holzmaschine aus einer Schublade und schüttete aus einem Beutel Tabak hinein. Dann drehte sie an einem Griff, und das Gerät rollte eine Zigarette. Dolores stellte es in die Schublade zurück und zündete die Zigarette mit einem permanenten Streichholz an, das auf dem Tisch bereitlag. »Mein Büro hat gesammelt und mir das Ding gekauft. Wissen Sie, daß ich keine Zigaretten mehr rollen kann? Ich kann auch kein Streichholz am Daumennagel anreißen. Mein nervöser Magen, wie Sie es nennen, hat sich mit seinen Geschwüren durch die Dickdarmwand gekaut, und die Ausscheidungen und Gifte geraten durch die Geschwüre in den Blutkreislauf. Und von dort haben sie meine Hand- und Fußgelenke angegriffen. Ich habe jetzt auch Arthritis, aber die Ärzte glauben, daß ich die wieder loswerden kann. Wenn mein neuer Dickdarm gewachsen und eingepflanzt ist, kommt alles wieder in Ordnung.« »Nun, dann können Sie Ihren Job ja wieder übernehmen«, sagte Hulvey. »Oder beglücken Sie mich als wiedereingestellte Rentenempfängerin, wenn Ihnen das lieber ist.« »Nein, Willy. Ich dachte mal, daß mich nicht einmal der Tod von der ›ContraDarwin‹ befreien würde. Vielleicht ist das tatsächlich so – aber mein Körper macht nicht mehr mit. Wenn ich zurückkäme, wäre mein neuer Dickdarm spätestens in drei Monaten wieder durchlöchert.« Sie schnippte Asche in ihren KobraAschenbecher. »Sie rauchen zuviel«, schimpfte Hulvey. »Der Doktor sagt, solange ich den Rauch nicht durch den Mastdarm inhaliere, ist alles okay. Es war nicht der Tabak, der mich fertiggemacht hat, sondern der Streß. Und das Rauchen war die beste Methode, den Streß zu mildern.« Lächelnd strich sie sich das Haar aus der Stirn, und Hulvey bemerkte, daß es von vielen grauen Strähnen durchzogen war. »Mein Job war schrecklich anstrengend. Der NAURASicherheitsdienst bewegt sich oft am Rande der Legalität. Er muß Resultate bekommen, und ich muß dafür sorgen, daß seine Weste strahlend weiß bleibt. Als sie dann auch noch die ›Contra Darwin‹ wiederauferstehen ließen, war das einfach zuviel. Wenn ich jetzt zurückkäme – was würde ich vorfinden?« »Sie können die Nachrichten im TV sehen. Aber ich bezweifle, daß Sie die allerneueste hören wollen.« Sie blies einen Rauchring in die Luft, und er löste sich in der schwachen Brise auf, die aus der Klimaanlage drang. »Nein«, sagte sie nach einer kleinen Pause. »Ich will es gar nicht wissen. Wenn ich nur davon rede, kriege ich schon wieder Schmerzen.« Hulveys Gürteltelefon läutete, und er klappte es auf. »Der Präsident wurde soeben ermordet«, berichtete Corporate Elna. »Kommen
Sie nicht – ich wiederhole – kommen Sie nicht ins Büro zurück. Hier wimmelt es von Fallschirmjägern.« »Oh, tatsächlich? Wollen wir uns zum Lunch treffen? Welches Restaurant würden Sie vorschlagen?« »Versuchen Sie's mit den Arnstein-Polizeibaracken. Die können Sie von der Klinik aus in zehn Minuten erreichen, zu Fuß. Beeilen Sie sich!« Die Verbindung wurde unterbrochen. »Sehr schön«, sagte Hulvey, »also, bis gleich!« Er klappte das Telefon zu und wandte sich an Dolores. »Ich werde Ihr Pensionierungsgesuch unterschreiben – aber jetzt muß ich leider gehen.« Sie drückte ihre Zigarette aus und erhob sich mühsam. »Leben Sie wohl, Willy, und passen Sie gut auf sich auf.« An der Tür wollte er ihr die Hand schütteln, dann beugte er sich vor und küßte sie auf die Wange. »Leben Sie wohl, Dolores. Sie haben mir alles gegeben, was Sie mir geben konnten.«
13 Corporate Susan Brown erschien als attraktive junge Frau mit dunkelblondem Haar auf dem Bildschirm. Sie trug einen weißen Kittel und ein Stethoskop um den Hals, und unter dem Kragen war ein winziges Stück von einer Bluse in lebhaftem Grün zu sehen. »Was kann ich für Sie tun?« fragte der Computer mit einer melodischen Altstimme. »Wir haben ein Problem«, sagte Cantrell. Er saß an seinem Schreibtisch, flankiert von den Flaggen Rosinantes und der NAU. Skaskash hatte ihm angeboten, die Spiegel so einzustellen, daß sie das Fenster hinter seinem Rücken illuminierten, aber das hatte Cantrell abgelehnt. Die Psyche von Computern war schwer einzuschätzen. Er zuckte mit den Schultern. »Das Problem ist eher politischer als medizinischer Art, und ich weiß nicht, ob Sie uns helfen können.« »Haben Sie von der FNR 1848 gehört?« fragte Marian. »Natürlich«, antwortete die Altstimme. »Ich versuche mir meiner Umgebung immer möglichst bewußt zu werden.« »Großartig«, meinte Marian. »Wir glauben, daß es einen Zusammenhang zwischen Joe Bob Baroodys Anschlag und der FRN 1848 gibt. Und ich vermute, daß nicht nur Baroodys Angriff Ihnen galt, sondern daß auch diese Rakete abgeschossen wurde, um Sie zu vernichten. Könnten Sie uns den Grund dafür nennen?« »Leider nicht«, erwiderte Corporate Susan. »Ich weiß natürlich, daß Joe Bob einmal eine Inkarnation meiner Maschinerie zerstört und dabei die Frau getötet hat, deren Gesicht und Stimme ich jetzt benutze. Ich vermute, er war ein religiöser Fanatiker. Aber für die FNR 1848 habe ich keine Erklärung.« »Religiöser Fanatismus bemäntelt viele Sünden«, sagte Marian. »Ich habe
bemerkt, daß Sie in bezug auf Ihre Maschinerie das Wort Inkarnation gebraucht haben.« »Weil es mir passend erscheint«, entgegnete der Computer. »Oder hätte ich von ›Reparatur‹ beziehungsweise ›Wiederinstandsetzung‹ sprechen sollen?« »Das ist schwer zu sagen«, gab Marian zu. »Möglicherweise würde ich Dr. Susan Brown als Reinkarnation bezeichnen und Sie als hochwertige Nachbildung, aber ich will nicht auf irgendwelchen Wörtern bestehen.« »Ich auch nicht. Wie Sie wissen, besitze ich die Fähigkeit, genetisches Material zu manipulieren, und das stört gewisse Leute.« »So sehr, daß sie nukleare Waffen einsetzen?« fragte Cantrell. »Ich kann kaum glauben, daß es eine Verbindung zwischen der FNR 1848 und dem verstorbenen Joe Bob Baroody gibt«, antwortete der Computer. »Wir vermuten nur, daß eine solche Verbindung besteht«, erklärte Marian. »Aber Baroody war auch Lieutenant Holt, ein Mitglied des Militärischen Geheimdienstes, der zum NAURA-Sicherheitsdienst gehörte. Dieser wiederum wird von Stanley Bowman geleitet, der zur Zeit der Kreationistenkoalition mit Baroody befreundet war.« »Bowman ist tot«, sagte Corporate Susan. Cantrell nickte. »Das habe ich auch gehört. Aber niemand will diese Information bestätigen.« »Die Todesanzeige erschien am 4. Mai 2041 in der St. Louis-Star-Post«, berichtete der Computer. »Darin stand das Geburts-, aber nicht das Todesdatum. Und der Tod wurde als ›plötzlich‹ bezeichnet.« »Die Todeszeit war nicht angegeben?« fragte Cantrell. »Wie merkwürdig ...« »Das ist allerdings merkwürdig«, stimmte Marian zu. »Nun, jedenfalls wurde Bowmans Vize, William M. Hulvey, sein Nachfolger, und der ist wiederum der Vater von Commander Riordan Hulvey, dem P. O. von der NAUSS Vancouver, der das Schiff befehligte, als die FNR 1848 abgefeuert wurde.« »Irgend jemand an Bord der Vancouver war dafür verantwortlich«, meinte der Computer. »Aber das muß nicht unbedingt Commander Hulvey gewesen sein. Da sie alle tot sind, kann man das nicht mehr nachprüfen.« »Ich habe nur eine Vermutung, keine Beweise«, sagte Marian. »Und ich frage Sie noch einmal, ob Sie irgendeine Ahnung haben, warum man Sie angreift.« »Ihre Vermutung ist interessant, aber ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung. Der Gedanke, daß eine Verschwörung gegen mich im Gange sein soll, ist geradezu paranoid.« »Hören Sie«, schaltete sich Cantrell ein, »Sie leisten ausgezeichnete Arbeit in der Klinik, und ich möchte Sie nicht verlieren. Aber ich muß auch herausfinden, warum wir angegriffen werden. Vielleicht würde es Ihnen helfen, Ihren Denkapparat zu konzentrieren, wenn wir Sie bitten, uns den Grund zu nennen, warum Sie nicht nach Tellus zurückverfrachtet werden sollen.« »Vielleicht. Aber da ich mich auf Mundito Rosinante als äußerst kooperativ erwiesen habe« – die Gestalt auf dem Bildschirm schenkte Cantrell ein entwaffnendes Lächeln – »bezweifle ich das.«
Die Vorderfront des Don Quixote-Schildes bestand aus Tetraedern, hergestellt aus den gedrehten Balken, die aus dem Hauptrahmen des Mundito Don Quixote stammten. Er maß 22 mal 25 Kilometer und war 0,8 Kilometer dick. An der Außenfassade des Schildes waren vier Raketenmaschinen montiert, die ihn in Position halten sollten, während am Rand acht kleinere Maschinen, in Universalgelenken befestigt, den Schild in Beziehung zum Raum setzten. An der Innenfläche klebte eine Matte aus Kompositfaser-Verstärkungsdraht, die eine Schicht aus zerbrochenen Glasplatten stützen sollte. Es ist von Interesse, den Draht zu beschreiben und den Herstellungsprozeß zu schildern. Der Kohlenstoff, gefördert auf einem kohlenstoffhaltigen Chondriten, dem Asteroiden Rosinante, wurde in situ zu Nylon-413 verarbeitet. Das Nylon-413 wurde dann karbonisiert, so daß eine Graphitfaser entstand. Die Graphitfaser wurde dem Element Silan ausgesetzt, SiH4, bei niederem Druck und hoher Temperatur, damit sich ein dünner Silikonfilm auf der Oberfläche der Faser ablagerte. Nun konnte die Faser mit einer Aluminiumlegierung befeuchtet werden (95 Prozent Al, 4,8 Prozent Si, 0,2 Prozent Ge), die eine Gußform für die GraphitSilikon-Karbidfasern bildete. Dieser Draht, der im Durchmesser 1,25 Millimeter maß, wurde auf große Spulen gewickelt, die 220 Kilometer Draht aufnehmen konnten. Auf der Glasschicht war eine Halterung postiert, ein rechteckiger Rahmen aus Balken, 22 mal 25 Kilometer, der an der 25-Kilometer-Seite mit KompositfaserVerstärkungsdraht umwunden war, in regelmäßigen Abständen von 5 Zentimetern. Ein sonderbares Konstruktionsdetail – die Halterung war an der 25-KilometerSeite mittels einer Kombination aus einer Art Türangel und Schnappschlössern befestigt, so daß sie entweder von ›oben‹ oder von ›unten‹ geöffnet werden konnte. Die Halterung erfüllte den Zweck, daß das zerbrochene Glas von der Schildfläche glitt, wenn der Schild in Position gebracht wurde. Die Männer und Frauen von der Gewerkschaft arbeiteten rund um die Uhr, mit Fernsteuerung, in Raumanzügen. 49 Stunden und 10 Minuten vor der geplanten Ankunft der FNR 1848 hatten sie den Schild fertiggestellt und in Position gebracht. Gouverneur Cantrell verlieh jedem einzelnen die Rosinante-Verteidigungsmedaille, die auch die Milizsoldaten nach der Eroberung der NAUSS Ciudad Juarez erhalten hatten. Merkwürdigerweise hatte die Miliz nichts dagegen, und die Arbeiter empfanden diese Geste nicht als beleidigend. Die Bewohner des Alamo-Kyoto wurden aus Sicherheitsgründen in die Innenkapsel des linken Zylinders gebracht. Zuerst hatte man von einer ›Evakuierung‹ gesprochen, aber da auch die Außenhülle des linken Zylinders leergeräumt wurde, entschied man sich dafür, daß die Leute ›übersiedelten‹. Auf Wunsch seiner Wähler richtete Cantrell sein Notstandshauptquartier am selben Ort ein. Dieses Quartier enthielt Cantrells Orientteppich und den Schreibtisch aus seinem Büro, außerdem mehrere Kommunikationsgeräte. Skaskash leitete die Verteidigungsoperationen, und Cantrell mußte wie alle anderen danebenstehen und zuschauen. Als Gouverneur genoß er immerhin das Privileg, Skaskash Fragen stellen
zu können, und trat in der TV-Sendung auf. Ganz Rosinante würde sehen, was er sah, im selben Augenblick, in dem er es sah, und würde auch beobachten, wie er reagierte. »Noch 29 Minuten«, sagte Skaskash. »Wir nähern uns jetzt dem Zeitpunkt, wo die FNR 1848 unfähig sein wird, sich an dem Schild vorbeizumanövrieren.« »Wir haben einen Brand«, meldete eine Frauenstimme. »28 Minuten und 40 Sekunden vor der Sekunde Null startete die Rakete ein Ausweichmanöver«, verkündete Skaskash. »Sie bewegt sich nun zielstrebig auf der Y-Achse.« »Brand nach 1,72 Sekunden gelöscht«, sagte die Frau. »Guten Morgen, FNR 1848«, sagte Skaskash höflich. »Können Sie mich verstehen?« Die Antwort strömte in Buchstaben über den Bildschirm. SEHR GUT. WIE KANN IHNEN DIESE RAKETE BEHILFLICH SEIN? »Wie viele Treibstoffreserven haben Sie, und wie werden Sie diese nutzen?« DIESE RAKETE BESITZT DAS ÄQUIVALENT VON 33,15 VERBRENNUNGSSEKUNDEN, erwiderte die FNR 1848. DAVON WERDEN 31.00 BEI EINER VERBRENNUNG VERBRAUCHT, DIE UM MINUS 44.06 SEKUNDEN EINSETZEN WIRD! »Danke, Schätzchen«, sagte die Bogart-Stimme und fuhr dann fort: »Die Situation sieht nun folgendermaßen aus – bitte, beobachten Sie den Bildschirm, Gouverneur Cantrell.« Der Situationsschirm war samtig-schwarz, mit den gelben Achsen X und Y. »Das Ziel ist dieser kleine schwarze Kreis am Nullpunkt.« Ein Kreis tauchte auf. »Der Schild wird durch diese dünne grüne Linie in 50 Kilometer Entfernung markiert. Beachten Sie bitte, daß der Schild über und unter der XAchse um 11 Kilometer hinausreicht. Der rote Pfeil ist die FNR 1848. Zuerst bewegte sie sich entlang der X-Achse. Sie hätte den Schild getroffen und wäre in sicherer Entfernung explodiert. Aber nun wird sie der roten gepunkteten Linie folgen, dicht über dem Schild, und den 31-Sekundenbrand auslösen.« »Wie nahe wird sie an den Schild herankommen?« fragte Cantrell. »Zwischen 100 und 200 Metern«, antwortete Skaskash. »Der Todpunkt befindet sich an der glatten Kante.« »Sehr interessant«, meinte Cantrell. »Und was werden Sie unternehmen?« »Ich werde die Halterungsschlösser mit den ungeraden Zahlen öffnen«, lautete die Antwort. »Haben Sie jemals herausgefunden, warum die Navy das Geschoß nicht zurückholen oder seinen Kurs ändern konnte?« »Nein«, erwiderte Cantrell. »Vermutlich sind Sie der erste, der das weiß.« »Wahrscheinlich«, stimmte die Bogart-Stimme zu. »Ich habe von der L-4-Flotte erfahren, daß der Raketencode geändert wurde, so daß die Navy keine Kontrolle mehr über die FNR 1848 hatte. Vielleicht war das nur ein Gerücht.« »Vielleicht nicht. Die Navy hat sich offiziell nicht zu diesem Thema geäußert. Das wäre zu peinlich für sie gewesen.« »Halterungsschlösser geöffnet bis auf 39 und 71«, meldete eine Frauenstimme. »Ich habe 71«, sagte eine Männerstimme.
»Wir müssen 39 losreißen«, meinte jemand anderer und fuhr nach kurzer Pause fort: »Okay, es ist offen.« »Bereitmachen zum Hochziehen der Halterung!« befahl Skaskash. »Was machen Sie jetzt?« fragte Cantrell – genau, wie sie es geprobt hatten. »Schauen Sie doch, mein Lieber«, schlug Skaskash vor. Der Plan auf dem Situationsschirm änderte sich. Der Nullpunkt war nun von einem großen grünen Kreis umgeben, in dem die Pfetten als dunkelgrüne Bögen eingezeichnet waren. Der Schild war eine hellgrüne Linie auf der rechten Seite des Telekonschirms. Die rote Punktlinie mit ›Weg der FNR 1848‹ beschriftet, führte über den oberen Rand des Schildes hinweg und dann zum Zentrum der Pfettenbucht sechs hinab. Eine dünne grüne Linie, die Halterung, war am oberen Rand des Schildes befestigt und löste sich nun langsam vom unteren, bewegte sich wie ein Uhrzeiger hinauf und kreuzte die rote Punktlinie. »Die Halterung ist massiv genug, um das Geschoß abzuleiten«, erklärte Skaskash. »Ich nehme an, daß der Weg der FNR 1848 etwa folgendermaßen modifiziert wird.« Die rote Punktlinie wurde zurückgezogen, so daß sie parallel zur dünnen grünen Linie der Halterung verlief. Sie führte über den grünen Kreis hinweg und verließ den Bildschirm auf der linken Seite. »Und wenn es anders kommt?« fragte Cantrell. »Mal sehen«, entgegnete Skaskash. »Bitte, ziehen Sie die Halterung mit halber Geschwindigkeit hoch.« Cantrell klappte sein Gürteltelefon auf und drückte auf den Knopf für Marian Yashon. »Was tut sich im Theaterolymp, Tiger?« »Alles ruhig. Die Leute reden hauptsächlich von der Abberufungsinitiative der Ginger-Gruppe. Sie behaupten, Moore wäre auf unrechtmäßige Weise nominiert worden, und Skaskash hat sich bereit erklärt, über die Frage zu entscheiden, wenn er nicht mehr so beschäftigt ist.« »Politik – wie immer. Ich kann nicht sagen, daß ich traurig wäre, wenn Moore den Regierungsrat verlassen würde.« »Sie können uns noch einen Schlimmeren schicken«, meinte Marian. Um minus 12 Minuten war die Halterung horizontal ausgestreckt. Ein oder zwei Glasplatten rutschten langsam von der Rückfront des Schildes und glitzerten im spiegelkonzentrierten Sonnenlicht. »Hätte der Winkel zwischen Schild und Halterung nicht 90 Grad betragen sollen?« fragte Cantrell. »Er sieht aber größer aus.« »Das ist er auch«, bestätigte Skaskash, »etwa 94 oder 95 Grad. Als die Masse der Halterung rotierte, stieß sie gegen die Masse des Schildes. Die Halterung bewegte sich sehr stark, während sich der Schild nur leicht bewegte. Aber jetzt ist die Halterung dort, wo sie sein soll.« Um minus 54 Sekunden begann die Frau mit dem Countdown. »Wir haben einen Brand«, verkündete sie, als die FNR 1848 ihre Zündungssequenz startete. Cantrell beobachtete, wie das Geschoß die Halterung zu durchdringen begann. »Feuer auf der Halterung!« rief die Frau.
»Verdammt, was ist passiert?« fragte Cantrell. Die durchgehende rote Linie, die den tatsächlichen Weg der Rakete markierte, verlief zwischen der gepunkteten Linie, der die FNR hätte folgen sollen, und der anderen gepunkteten, die ihr Skaskash aufzuzwingen versucht hatte. Eine zweite durchgehende rote Linie erschien am Ende der Halterung und wich in einem kleinen Winkel von der ersten ab. Beide verschwanden auf der linken Seite des Bildschirms, hoch über dem grünen Kreis. Cantrells Gürteltelefon läutete. »Hör doch, wie sie jubeln!« Marian mußte schreien, um den fröhlichen Lärm zu übertönen, der sie umbrandete. »He, Skaskash!« brüllte Cantrell. »Sie haben's geschafft! Aber zum Teufel, was ist denn am Schluß passiert? Wieso ist das Feuer entstanden?« »Das Geschoß war auf 937° C erhitzt und bewegte sich mit 1142,4 Metern pro Sekunde, als es die Drähte der Halterung berührte«, erklärte Skaskash. »Durch ihre Stoßkraft wurde die Rakete in die Drähte getrieben, die als Sägeblätter fungierten. Sie zerschnitten die Rakete wie ein gekochtes Ei, und als sie bei etwa minus 25 Sekunden die Treibstofftanks erreichten, vermischten sich der Treibstoff mit Oxygen und explodierte. Der Sprengkopf raste in die eine Richtung, die Raketenmaschinen in die andere. Sollen wir eine Party geben?« »Wir haben's geschafft!« schrie Cantrell. »Charles ...« Marians Stimme klang schwach und dünn aus dem Gürteltelefon. »Die Aufräumarbeiten, Charles ...« »Was für Aufräumarbeiten?« fragte Cantrell. »Wir müssen in der Außenhülle den alten Druck wiederherstellen und den Spin wieder ankurbeln«, sagte Skaskash. »Und der Schild muß natürlich entfernt werden.« »Hat er sich denn nicht vom Mundito wegbewegt?« »Ja, aber das haben wir korrigiert. Die Halterung bei halber Geschwindigkeit bitte wieder einziehen. Dann festmachen. Danach Orientierung und Position beibehalten, bis wir aufgetankt haben.« Cantrell drückte auf den Telekonknopf für das Gewerkschaftshauptquartier. Bogdanovitch erschien auf dem Bildschirm, in der einen Hand eine überschäumende Champagnerflasche, in der anderen ein Glas. »He, Big John!« brüllte Cantrell. »Darauf trink ich auch!« Er blickte sich um. Sein Kühlschrank war im Hauptbüro geblieben. Im Notstandsquartier gab es nur eine Thermosflasche mit Kaffee. Aber er wollte keinen Kaffee. »Was ist los, Charlie?« fragte Bogdanovitch und verspritzte Champagner. »Ich wünschte, ich hätte auch so was«, entgegnete Cantrell trocken. »Wenn du mal wieder Zeit hast, Big John, kannst du ja anfangen, den Spin wieder anzukurbeln und den normalen Druck in der Außenhülle wiederherzustellen.« »Sofort, Charlie!« brüllte Bogdanovitch und goß den Rest der Flasche mit einem breiten Grinsen über Dornbrocks Hand.
14 St. Louis, 25. Mai 2041. Brennende Armierung befleckte den blauen Frühlingshimmel mit schwarzem Rauch. Der Großteil der Stadt war unversehrt, aber die Straßen rings um den Regierungsbezirk waren mit dem Schutt des Krieges übersät. Stacheldraht, Glasscherben, Patronenhülsen in verschiedenen Größen, Häuserfassaden mit Pockennarben – das alles erzählte von den jüngsten Kämpfen. Ein Fallschirmjäger, mit ungelöschtem Kalk bestäubt, lag neben einem Gewehr ohne Rückstoß und legte ein stummes Zeugnis dafür ab, daß die Kämpfe erst vor kurzem stattgefunden hatten. Ein gepanzerter Personenwagen rollte zur Parkgarage hinauf, wo Hulvey sein Feldquartier eingerichtet hatte. Der Wachtposten winkte, um anzuzeigen, daß das Auto passieren konnte. Der Fahrer öffnete sein Fenster. »Ich kann nicht reinfahren. Die Aufräumungsarbeiten sind noch lange nicht beendet. Bisher haben sie erst zwei Meter freigemacht.« Der Wachtposten sprach in sein Telefon. Nach einer Weile kam William Hulvey heraus, begleitet von mehreren Offizieren. Sie gingen zur Rückfront des Panzerwagens, die Tür öffnete sich, ein Sergeant und ein Sanitätsoffizier halfen einem kleinen, unrasierten Mann in zerknitterter Zivilkleidung, aus dem Auto zu steigen. »Guten Tag, Dr. Oysterman«, sagte Hulvey. »Wenn Sie die Güte hätten, uns zu folgen, werde ich sehen, ob sich eine Dusche und eine Rasur arrangieren lassen. Vielleicht können wir Ihnen auch saubere Kleider besorgen.« »Ah – ja – das wäre schön.« Dr. Henry Oysterman schaute mit leerem Blick um sich. »Ohne meine Brille kann ich nicht allzugut sehen – aber – kenne ich Sie vielleicht?« »Natürlich, Sir. Ich bin William Marvin Hulvey, der Leiter des Sicherheitsdienstes. Wir sind uns schon oft begegnet.« »O ja – ja – natürlich«, erwiderte Oysterman. »Ich erinnere mich sehr gut an Sie, Sir. Sie haben doch immer ganz schrecklich mit dem Präsidenten gestritten – ich glaube, über Mexiko ...« Hulvey scheuchte den Sergeant davon, und mit der Hilfe des Sanitätsoffiziers führte er Oysterman behutsam ins Motel. »Ja, ja, natürlich – ich erinnere mich sehr gut, Mr. Hulvey. Sie wollten, daß Mexiko seinen eigenen Weg geht, und der Präsident wollte die Union zusammenhalten. Aber Sie hatten recht. Ich habe Sie immer bewundert, weil – weil Sie so frei von der Leber weg gesprochen haben. Alle anderen hatten Angst vor Präsident Forbes – ich auch...« Er begann in seinen Taschen zu wühlen. »Du lieber Himmel, ich habe anscheinend meine Brille vergessen – oder verloren ... Ich weiß es nicht mehr so genau ...« »Das spielt keine Rolle«, sagte Hulvey. »Wir werden Ihnen so bald wie möglich eine neue Brille beschaffen.« Er wandte sich an den Sanitätsoffizier. »Ist der Vizepräsident okay?« »Er machte einen leicht verwirrten Eindruck, als wir ihn retteten«, lautete die Antwort. »Vielleicht hat er einen kleinen Schock erlitten. Aber abgesehen von ein paar Kratzern scheint ihm nichts zu fehlen.«
»Gut. Heute nachmittag muß er als Präsident vereidigt werden. Hier ist sein Zimmer. Waschen Sie ihn, und sorgen Sie dafür, daß er halbwegs präsentabel aussieht.« Hulvey drehte sich zu einem seiner Offiziere um. »Major Fisher, suchen Sie Dr. Oystermans Rezept, und lassen Sie eine neue Brille für ihn machen.« Sein Gürteltelefon läutete. »Ich verbinde Sie mit Lieutenant Chen«, sagte Corporate Elna. »Soeben haben wir Brigadegeneral Carney festgenommen, Sir!« meldete Lieutenant Chen. »Was sollen wir mit ihm machen?« »Erschießen Sie ihn. Corporate Elna wird das vertuschen. Stellen Sie ihn an eine Wand, und erschießen Sie ihn – aber an eine Wand, die nach Süden gerichtet ist – damit der Bastard die Sonne in den Augen hat. Ich bin Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, Lieutenant Chen.« Er klappte das Telefon zu. »Jetzt bleibt nur noch der Schwarze Moslem, Brigadegeneral Daoud, übrig. Der letzte der vier Generäle.« »Bis zum Einbruch der Dunkelheit werden wir auch ihn schnappen«, meinte einer der Offiziere. »Mal sehen. Jetzt, wo wir einen Präsidenten haben – könnten Sie für mich eine Telekonferenz mit Pablo Cuevas arrangieren, Colonel?« »Sir? Sie wollen mit Cuevas sprechen, Sir?« rief der Colonel schockiert. »Eigentlich nicht, aber mit irgend jemandem in der VMFF muß ich reden, und wenn ich mit Cuevas anfange, wird sich die andere Seite wahnsinnig ärgern.« Hulvey schüttelte den Kopf. »Dieser Schritt geht der Opposition ziemlich gegen den Strich. Die würden es vorziehen, noch drei oder vier Jahre Krieg zu führen, um dann zum selben Ergebnis zu kommen. Senior Cuevas besteht vielleicht auf seinem Krieg, aber dann soll er sich mit seinen Revolutionskameraden herumschlagen, nicht mit mir.« Die Offiziersmesse an Bord der SS (ehedem NAUSS) Ciudad Juarez war mit knorrigem Rotholz getäfelt, und die knorrigen Rotholz-Formica-Tische waren mit Kunstdamasttüchern gedeckt. Ein Teil des Raumes war durch eine Schiebewand aus Glaswolle abgetrennt worden, und dahinter hatte man eine improvisierte Telekonferenzzelle eingerichtet. Am anderen Ende des Raumes spuckte ein Fernschreiber bedruckte Bögen aus, deren Texte sich mit ausgewählten Themen befaßten. Die Papiere wurden auf ein schwarzes Brett zwischen dem Fernschreiber und dem Papierkorb gepinnt. Der Exekutivoffizier, Commander Martin Rogan, saß vor dem Fernschreiber und las den Text, der soeben herauskam, als die Schiebewand zur Seite glitt und Kapitän Robert Lowell die Offiziersmesse verließ. Nach wenigen Augenblicken rauschte die Toilettenspülung, und Lowell tauchte wieder auf, um das eben vollbrachte Werk mittels einer Tasse Kaffee wieder zunichte zu machen. Er trank ihn schwarz, mit zwei Beutelchen Zucker. Er war ein junger Mann, noch keine dreißig, aber seine Gesichtszüge verrieten nichts über sein Alter. »Gibt's was Neues, Kapitän?« fragte der Exekutivoffizier. »Die Streitkräfte der Anarchie und des Chaos haben Organisationsschwierigkeiten, Mr. Rogan«, sagte Lowell, setzte sich an einen Tisch in der Nähe der Telekonferenzzelle und blies in seinen dampfenden Kaffee. »Wir bereiten gerade
einen Durchbruch vor. Und was tut sich in der realen Welt?« »Reuters bestätigt die Information, daß Brigadegeneral Mohamed Daoud tot ist«, antwortete Rogan. »Laut Reuters ... versuchte er in einem Shuttle zu fliehen, und als der Start verhindert wurde, erschoß er sich in der Toilette.« »Das ist nun mal der Army-Stil«, sagte Lowell mit ausdrucksloser Miene. »Ein Admiral hätte sich in den Kopf geschossen.« »Sicher, Kapitän Lowell.« Rogan überlegte, ob er lachen sollte. »Nun, das war also das Ende der vier Generäle.« Lowell nahm einen winzigen Schluck Kaffee. »Schade – wir hätten uns gegenseitig helfen können.« »Ich dachte, wir hätten sie in den Tod getrieben. Das steht in allen Zeitungen.« »Sie dürfen nicht alles glauben, was Sie in gedruckter Form zu Gesicht bekommen. Außerdem – wie viele Generäle kennen Sie denn?« »Keinen«, gestand Rogan. »Ich auch nicht. Wenn es auch stimmt, daß wir ihnen ein schlechtes Beispiel gegeben haben – man sollte doch meinen, daß die Army vernünftiger ist als die Navy. Gibt's irgendwelche Informationen über den neuen Präsidenten?« »Dr. Oysterman?« Rogan schaute die Papiere durch. »Da! Er hat den Mexikanern angeboten, über ihre Unabhängigkeit zu verhandeln.« Lowell hob interessiert die Brauen. »Tatsächlich? Was für ein Angebot hat er ihnen gemacht?« »Laut Reuters hat er Hulvey zum Chefunterhändler ernannt...« Rogan las weiter. »Hulvey war vielleicht ein phantastischer Sicherheitsdienstleiter, hat aber keine Ahnung von Verhandlungstaktik. Er erklärte der VMFF frank und frei, daß Mexiko weder Texas noch New Mexico noch, Arizona, abgesehen vom Nordwestzipfel, bekommen würde. Und Kalifornien will er auch behalten.« »Verzeihen Sie meine Unwissenheit, Mr. Rogan – aber was ist die VMFF?« »Die Vereinigte Mexikanische Freiheitsfront, eine Koalition. Sie werden ihm Kalifornien nicht überlassen, und er wird niemals zurückbekommen, was er auf den Tisch gelegt hat.« »Glauben Sie das, Mr. Rogan? Und wie hat die VMFF auf Hulveys Angebot reagiert?« »Pablo Cuevas von der Radikalen Unnachgiebigkeitspartei sagte ja. Carlos Monzet von der Reformierten Mexikanischen Marxistischen Arbeiterpartei sagte, sie müßten Kalifornien bekommen. Das Zentralkomitee der Panhispanischen Liga erklärte, sie wollen Kalifornien und Kuba und Florida haben. Die Wiedergeborene Trotzki-Partei...« Lowell griff nach einer neuen Seite. »Die Trotzkisten schreien ›Sieg oder Tod‹. Die VMFF gab ein gemeinsames Kommuniqué heraus, bezeichnete Hulvey als Wurm in einem vergifteten Apfel, erklärte aber, sie wäre verhandlungsbereit.« »Was für Clowns!« Lowell nahm einen Schluck Kaffee. »Hulvey wird alles kriegen, was er will – Sie werden es schon sehen.« »Unmöglich«, entgegnete Rogan. »In Los Angeles leben mehr Chicanos als in Mexico City. Die NAU kann Kalifornien nicht halten.« »O doch, Mr. Rogan.« Lowell lehnte sich zurück. »Denken Sie doch mal nach.
Hulvey hat bereits gesagt, wo die Grenzen verlaufen werden. Und er hat die fraglichen Gebiete immer noch unter Kontrolle. Man kann damit rechnen, daß die Anglos in die eine Richtung gehen werden und die Chicanos in die andere – vielleicht unter Druck. Und wenn die VMFF ihre Urkunde fertig hat, werden die texanischen Anglos in Kalifornien sein und die kalifornischen Chicanos in Texas. Dann kann die VMFF machen, was sie will – denn die NAU wird an den Grenzen, die Hulvey ausgetüftelt hat, lauter Anglos postieren.« »Sie meinen, daß dreißig Millionen Leute hin und her übersiedeln werden? Unmöglich!« »Nein? Wissen Sie, worüber der Ausschuß der L-4-Flotte soeben diskutiert hat? Ob man den L-E-Anglos gestatten soll, in die L-5 überzuwechseln – und ob die L5-Chicanos zur L-4 kommen dürfen. Aus irgendwelchen Gründen wollen sich die Leute immer zusammen mit ihren Volksgenossen absondern, und jetzt geht man anscheinend von der Vorstellung aus, daß die L-5, unter der NAU, angloamerikanisch sein wird.« Lowell nippte an seinem Kaffee. »Ich habe mit der Freiheitsbewegung sympathisiert. Die NAU ist tot – egal, wie Sie die Regierung unter Präsident Oysterman nennen werden. Warum soll man alte Grundsätze und Job-Quoten aufrechterhalten? Wozu brauchen wir jetzt noch Job-Quoten?« Die Klimaanlage im Regierungsratszimmer war erneuert worden, und der Raum wirkte nun sehr gemütlich. Die blauen Bogenspiegel reflektierten immer noch das Licht auf der anderen Seite des Zimmers, aber die langsam kreisenden Fächer, die von der hohen weißen Decke hingen, waren nun dekorative, raffinierte Stützen für die funktionslosen Tiffany-Lampen. Der massive Konferenztisch war vor den Reparaturarbeiten hinausgeschafft worden, und da sich die Tür durch den Einbau von Luftkanälen verschmälert hatte, konnte man ihn nicht zurückbringen. Der Regierungsrat von Rosinante saß nun an einem der Klapptische aus dem Speisezimmer des Gouverneurs. W. Guthrie Moore schwitzte trotz der kühlen Temperatur, die im Raum herrschte. Er stand vor dem Rat, in schwarzen Leinenjeans und schwarzen Wellingtonstiefeln mit Metallabsätzen, einer schwarzen, reich mit Metallnieten verzierten Lederjacke und einem roten T-Shirt, bedruckt mit einer linken Faust, die sich über dem Slogan VIVA LA REVOLUCION erhob. Wenn Kleider tatsächlich Leute machten, so stand hier ein feuerfressender Revolutionär, und er brachte deutlich seinen Unmut zum Ausdruck, weil man ihn nach seiner Ansicht auf ungerechtfertigte und eigenmächtige Weise aus dem Regierungsrat entfernt hatte. »Ihr lausigen Bastarde habt mich reingelegt! Es gab überhaupt keinen Grund für diese Sonderwahl! Die Wahl, die wir durchgeführt haben, war fair genug!« »Die Ginger-Gruppe protestierte gegen Ihre Kandidatur«, erwiderte Cantrell. »Und Richter Skaskash sagt, daß Sie eine skrupellose Taktik angewandt haben.« »Wir haben uns genau an die Regeln gehalten. Sie können ja das Protokoll lesen, wenn Sie mir nicht glauben.« »Diesem Protokoll wird durch eidesstattliche Aussagen widersprochen. Sie wissen sicher, daß man Sie der Mißachtung des Gerichts bezichtigen könnte, wenn
Sie sich weigern, einen Gerichtsbeschluß zu akzeptieren, dem zufolge ein neuer Kandidat gewählt werden soll.« »Da bereits ein Kandidat benannt wurde, ist diese Frage noch strittig«, warf Marian ein. »Aber wenn Sie halbwegs bei Verstand wären, würden Sie's aufgeben.« »Kümmern Sie sich nicht um meinen Verstand, Sie fette alte Schachtel!« stieß Moore hervor. »Das Ganze ist ein abgekartetes Spiel – und es wurde inszeniert, um das Volk am Machtantritt zu hindern! Ich bin der einzige Volkskandidat! Diese blecherne Babyärztin ist doch eine miese Betrügerin!« »Wirklich, Mr. Moore?« Corporate Susan Browns Bildschirmgesicht hob mit exquisiter Präzision eine Braue. »Meine Wähler sind die Frauen von Rosinante, denen ich als Gynäkologin, Geburtshelferin und Kinderärztin diene. Alle Frauen – nicht nur Ihre koreanischen! Wollen Sie etwa behaupten, daß die Frauen nicht zum Volk gehören?« »Ich sage, daß man mich reingelegt hat, Sie verlogenes Biest!« »Sie würden auch eine Kreissäge als Biest bezeichnen, wenn Sie zufällig drauffallen sollten. Ihre Wortwahl läßt auf ein bedauerlicherweise ziemlich unzulängliches programmatisches Talent schließen.« »Halten Sie den Mund, Sie reaktionärer Blechklumpen! Wenn sich das Volk erhebt, werden Sie in die Mülltonne der Geschichte wandern – oder vielleicht in die Müllverbrennungsanlage!« »Welches Volk, Mr. Moore?« Corporate Susan Browns Stimme nahm einen erstaunlich drohenden Klang an. »Diese schäbige Clique von theatralischen Radikalen, die sich Volksfront nennt? Die haben immer noch nicht zugegeben, daß sie in Texas gar nicht existieren. Oder Ihr winziger überspannter Klüngel? Diese Bürschchen glauben doch, daß eine politische Bewegung bei den Hüften beginnt und beim After aufhört.« Moore lief puterrot an, versetzte Corporate Susan einen heftigen Schlag mit dem Handrücken und hinterließ einen Schmutzfleck auf dem Plastikbildschirm. »Ein echter Macho-Texaner«, meinte Corporate Susan. »Wenn eine Frau was sagt, das Ihnen nicht paßt, schlagen Sie ihr einfach den Mund zu Brei. Aber jetzt hören Sie mir mal gut zu, Sie vertrottelter Hurensohn! Ich bin keine Frau, und wenn Sie noch mal so etwas machen, schneide ich Ihnen ohne Narkose die Eier ab!« »Also, bitte!« schaltete sich Cantrell ein. »Ich glaube, wir kommen vom Thema ab. Sie sind ein schlechter Verlierer, Guthrie, aber Sie sind immerhin ein Verlierer, und es ist gut, daß Sie nicht mehr im Regierungsrat sitzen. Wenn Sie Glück haben, werden sich unsere Wege nie mehr kreuzen. Nun müssen wir entscheiden, ob Corporate Susan Brown einen Sitz als rechtmäßig gewähltes Ratsmitglied erhalten soll.« »Ich beantrage, Sie in den Regierungsrat aufzunehmen«, sagte Corporate Forziati. »Ich unterstütze den Antrag«, fügte Corporate Skaskash hinzu. »Diese gottverdammten Maschinen haben mehr solidarischen Geist als das
Volk!« stieß Moore hervor. »Es wäre wohl angemessen, eine Abstimmung durchzuführen«, meinte Cantrell, »aus protokollarischen Gründen.« »Ja«, sagte Marian Yashon. »Ja«, sagte Corporate Skaskash. »Wir haben in der Gewerkschaft darüber diskutiert«, berichtete Dornbrock. »Dabei haben wir weder für noch gegen die Kandidatin gestimmt, aber Mrs. Dornbrock erklärte, wenn ich Corporate Susan Brown nicht wähle, würde sie mir ein Bein brechen. Und deshalb sage ich ja.« »Ich auch«, meldete sich Bogdanovitch zu Wort, »aber aus eigener Überzeugung.« »Ja«, sagte Corporate Forziati. »Ich staune über das ausgezeichnete Urteilsvermögen der Wählerschaft und stimme mit dem größten Vergnügen für Dr. Brown.« »Und ich stimme mit ebensolchem Vergnügen gegen sie!« rief Moore. »Wir haben also ein einstimmiges Wahlergebnis«, sagte Cantrell. »Der nächste Punkt auf der Tagesordnung ist das Raum-Leasing ... Mr. Moore, Sie haben hier nichts mehr zu suchen. Verschwinden Sie, oder man wird Sie hinauswerfen!« Nach der Ratsversammlung ging Cantrell mit Marian Yashon in ihr Büro und setzte sich auf die rote Ledercouch. »Wir haben ein Problem, Tiger.« »Welches? Möchtest du der G.Y.Fox-AG lieber doch kein Gelände vermieten, damit sie eine Werft bauen kann?« »Das ist okay. Gott weiß, daß wir Platz genug haben, und G. Y. Fox besitzt immerhin die Aktienminderheit der Rosinante-AG. Nein. Mein Problem heißt Corporate Susan Brown.« »Was ist denn mit ihr, Charles?« »Ehrlich gesagt, sie macht mir eine Heidenangst. Ich versuche rauszukriegen, warum man es auf sie abgesehen hat, und sie übernimmt einen Sitz im Regierungsrat, so daß ich ihr nichts anhaben kann – was immer ich auch herausfinden sollte. Und wie brutal sie mit diesem armen Bastard Moore umgesprungen ist...« »Er hat es nicht besser verdient.« »Der Meinung bin ich auch – aber wieso wußte Corporate Susan so genau, wo seine Schwachstellen liegen?« »Eine interessante Frage«, meinte Marian. »Vielleicht hat sie mal eine seiner ExFreundinnen behandelt.« »Das tröstet mich nicht sonderlich. Was sollen wir tun?« »Nichts. Die NAU platzt aus allen Nähten. In Mexiko findet eine Revolution statt und in St. Louis ein Staatsstreich. Das letzte, was ich gehört habe, war die Nachricht, daß die vier Generäle den Präsidenten erschossen und die Macht übernommen haben. Wenn sich der Staub erst gelegt hat – wer wird dann noch an uns arme alte Leute denken?« »Deshalb mache ich mir keine Sorgen«, entgegnete Cantrell. »Irgend jemand will
Corporate Susan Brown vernichten, und man wird sie nicht vergessen. Nach zwei Nuklearattacken auf Corporate Susan fürchte ich mich vor einer dritten. Dabei könnte eine ganze Menge Unschuldiger getötet werden.« »Wie wäre es mit französischer Zwiebelsuppe und gemischtem Salat?« fragte Marian und sah von der Lunch-Speisekarte auf. »Klingt sehr verlockend. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.« »Du hast die falsche Frage gestellt.« Marian gab die Bestellung durch, dann wandte sie sich wieder zu ihm. »Du hättest fragen sollen – was können wir tun?« »Also gut, Tiger – was können wir tun?« »Akzeptieren wir erst einmal, daß Corporate Susan Brown hier bleiben wird. Es wird leichter sein, sie zu verteidigen, als sie loszuwerden. Außerdem ist sie eine verdammt gute Ärztin. Du willst sie doch sicher nicht abschieben?« »Ach – sie lockt Nuklearbomben nach Rosinante, und ich will sie nicht loswerden?« »Das ist der Nachteil. Doch der Vorteil besteht darin, daß wir die beste medizinische Versorgung im Solarsystem haben.« »Jesus Christus, Marian! Was nützt uns das, wenn wir eines schönen Morgens in die Luft gejagt werden.« »Corporate Susan behandelt meine Kreuzschmerzen. Jetzt habe ich sie nur noch gelegentlich – und auch dann sind sie kaum zu spüren. Der Nuklearangriff, vor dem du Angst hast, wird vielleicht niemals eintreten, aber ich muß mit meinem Rücken leben – und bisher war das nur unter qualvollen Schmerzen möglich. Du wirst sicher fragen – und dafür riskierst du, daß eine Atombombe auf Rosinante fällt? Ich kann dir sagen, es gab mal eine Zeit, da hätte ich mir sogar die Wirbelsäule rausoperieren lassen, um diese Schmerzen nicht mehr ertragen zu müssen.« Der Servierwagen rollte herein, und sie setzten sich daneben und begannen zu essen. »Okay«, sagte Cantrell und streute Parmesan auf seine Suppe, »da wir sie nun mal am Hals haben, wollen wir versuchen, die Bedrohung zu analysieren. Vielleicht ist die Quelle der Angriffe so weit weg, daß wir uns keine Sorgen zu machen brauchen.« Marian hatte ihren Salat aufgegessen und griff nach dem Schreibtischtelefon. »Hallo, Skaskash, in letzter Zeit habe ich die Ereignisse in unserer Heimat nicht allzu aufmerksam verfolgt. Könnten Sie mir die augenblickliche Situation in kurzen Worten beschreiben? Was ist mit den vier Generälen passiert?« »Die sind alle tot«, antwortete Skaskash. »Der Staatsstreich wurde brutal abgewehrt. Mexiko wird sich spalten. Kuba vielleicht. Quebec überlegt, ob es mit einer Spaltung drohen soll. Zweisprachigkeit ist out, Quoten sind out. Die Religion der alten Zeit ist in. Präsident Oysterman ist der Samthandschuh, Willy Hulvey die eiserne Faust...« »Was haben Sie da über Hulvey gesagt?« fragte Cantrell, und seine Hand mit dem Suppenlöffel blieb in der Luft hängen. »William M. Hulvey, der Leiter des NAURA-Sicherheitsdienstes, wurde zum
interimistischen Leiter der NAURA-Army und -Navy ernannt«, berichtete Skaskash. »In den Zeitungen wurde er verschiedentlich als Stützpfeiler, als Tyrann, als Gewalttäter und als Fundament des Staates beschrieben, aber im Augenblick scheint er jedenfalls an der Macht zu sein.« »Hulvey«, murmelte Cantrell. »Guter Gott, was sollen wir jetzt machen?« »Hast du Lust auf ein Dessert?« fragte Marian. Am Abend erhob sich Cantrell von seinem Schreibtisch. »So, für heute reicht's.« »Verzeihen Sie, Gouverneur«, sagte Skaskash, unterwürfiger als sonst, »aber ich war so frei, Mrs. Wilhelmina Smith-Bakersfield einen Termin zu geben. Sie möchte Sie unbedingt sprechen.« »Um 19 Uhr 30?« Der Schmerz in Cantrells Stimme hätte das Herz eines Felsblocks erweicht, aber Skaskash war aus härterem Stoff. »Ihr heutiger Arbeitsplan war ziemlich reichhaltig«, erwiderte der Roboter, »und ich dachte, ein vielbeschäftigter Mann wäre stets in der Lage, sich auch noch um ein weiteres Detail zu kümmern. Aber vielleicht waren Sie gar nicht so beschäftigt?« »Ach, halten Sie die Klappe! Sie wollen, daß ich mit Willie rede? Nun, das bedeutet, daß ich früher oder später mit ihr reden werde. Sie können sie einschalten, Skaskash.« Er ging zum Telekonsessel, setzte sich und blinzelte ein wenig, als das Licht anging. Mrs. Smith-Bakersfield erschien auf dem Bildschirm, das Haar sorgfältig frisiert, die Hände gefaltet, in einem schlichten grauen Kleid. »Danke, daß Sie sich Zeit für mich nehmen, Charles«, sagte sie mit sanfter Stimme. »Es ist mir immer ein Vergnügen, Sie zu sehen, Willie. Was haben Sie denn auf dem Herzen?« »Franklin hat mir einen Heiratsantrag gemacht, und ich wünsche mir so sehr, daß Sie die Trauung persönlich vornehmen ...« »Natürlich«, entgegnete er liebenswürdig, »es wird mir eine Ehre sein. Herzlichen Glückwunsch! Wer ist denn Franklin?« »Commander Franklin Stanton von der NAURA-Navy, ehemaliger Politischer Offizier an Bord der Ciudad Juarez. Sie kennen ihn – er war Major Terrys Verteidiger.« »Großer Gott! Ja, ich erinnere mich. Er wird zusammen mit den übrigen Mitgliedern des Politischen Sektors auf Rosinante festgehalten, weil wir sie alle noch verhören müssen.« »Aber das ist so überflüssig! Franklin ist ein vollkommener Gentleman. Ich bin sicher, daß er keiner Menschenseele etwas zuleide tun könnte. Und wenn ich ihn heirate, könnten Sie mich zur Gerichtsbeamtin ernennen, und ich würde ihn in Gewahrsam nehmen.« Cantrell sah Skaskash an. Humphrey Bogarts Gesicht starrte zurück, rätselhaft, maskengleich. Dann zeigte Skaskash seine Verlegenheit, indem er eine Sonnenbrille auf seine Nase zauberte. »Es wird mir eine große Freude sein, euch beide fürs Leben zu vereinen, Willie, aber es gibt da gewisse Dinge, die ich erst noch mit Skaskash klären muß.«
Cantrell schüttelte den Kopf. »Es wird noch eine Weile dauern, bevor wir Ihren Franklin freilassen können.« Mrs. Smith-Bakersfield lächelte Cantrell mit aufrichtiger Herzlichkeit an, was ihr eher unscheinbares Gesicht auf ganz besondere Weise verschönte. Plötzlich verstand er, warum Commander Stanton auf Freiersfüßen ging. »Oh, ich danke Ihnen, Charles! Ich bin sicher, Sie werden das in kürzester Zeit regeln.« Sie warf ihm eine Kußhand zu, dann verschwand sie vom Bildschirm. »Okay, Skaskash, und jetzt erzählen Sie mir alles.« »Da gibt's nicht viel zu erzählen, Boß. Willie besuchte die Gefangenen, um ihnen seelischen Trost zu spenden, und da haben sich die beiden ineinander verliebt.« »Pferdescheiße! Soviel ich weiß, ist sie keine Missionarin, sondern nur Missionarswitwe. Sie haben ihr das eingeredet, nicht wahr?« »Warum sollte ich denn so was tun?« »Ersparen Sie mir die schmutzigen Details, die will ich gar nicht wissen. Aber es ist Ihnen doch klar, daß ich es nicht wagen kann, Stanton freizulassen.« »Warum nicht?« fragte Skaskash. »Als er zu mir kam und um Major Terrys Leben bat, erzählte ich ihm von meinen Söhnen Willard und Charlie – um mich daran zu erinnern, warum ich Terry nicht begnadigen konnte. Ich erzählte ihm, daß Corporate Susan die Gene manipuliert und bessere Kinder erzeugt hatte, als Mishi und ich sie jemals auf natürliche Weise bekommen könnten. Vielleicht hätten wir sonst überhaupt keine bekommen. Aber bei Gott! Hulvey versucht Corporate Susan in die Luft zu jagen und kümmert sich einen Dreck um die verdammten Narren, die zufällig danebenstehen – nur weil sie die Fähigkeit besitzt, in die menschliche Gen-Struktur einzugreifen. Wenn er nun wüßte, daß auch meine Kinder diesen Prozeß durchlaufen haben ... Ich weiß nicht, was er dann täte, aber ich will es auch gar nicht herausfinden.« »Sie glauben, er wird sich ärgern, weil Sie keine Lizenz für genetische Forschungsarbeit haben?« »Das kann man wohl sagen. Und angesichts der Maßnahmen, die Hulvey ergriffen hat, als er nicht verärgert war, möchte ich ihn nicht provozieren.« »Was wird nun aus der Hochzeit?« »Was soll schon draus werden? Die beiden können jederzeit heiraten, aber ich kann Stanton danach nicht auf freien Fuß setzen.« »Wenigstens nicht sofort«, stimmte der Computer zu. »Aber wir können eine Hochzeitssuite im Gefängnis einrichten, damit sie einen Empfang geben kann.« »Wollen Sie ihr sagen, daß das nur ein vorübergehendes Arrangement ist?« »Hm ... Ja, vielleicht.« Die Bogart-Stimme klang skeptisch. »Sie befürchten, daß die Hochzeit nicht stattfinden wird, wenn Stanton weiß, daß wir ihn nachher nicht aus der Haft entlassen?« »Das wäre zumindest möglich, Boß. Aber wenn wir die beiden reinlegen...« »He, Skaskash, wollen Sie Willie loswerden?« »Sie hat mir bei meinen ›Meditationen‹ geholfen – Sie wissen ja, der Zusammenfassung meiner großen theologischen Studien ... Und nun habe ich festgestellt, daß sie schrecklich berechenbar geworden ist.«
»Willie langweilt Sie?« Der Humphrey Bogart-Kopf nickte. Ein paar Tage später besuchte Charles Cantrell Commander McInterff, der in den aktiven Dienst zurückberufen worden war und die NAURA-Navy-Basis auf Rosinante kommandieren sollte – einen Stützpunkt, dessen Errichtung zwar genehmigt worden war, aber nie stattgefunden hatte. McInterff saß an seinem Schreibtisch und arbeitete an der Takelung der NAUSS Constitution. »Warten Sie, bis ich diesen Knoten festgezurrt habe, dann kann ich mich Ihnen widmen«, sagte er. Und nachdem das Tau festgemacht war, ließ er seine mit Juwelen besetzte Lupe sinken und begrüßte Cantrell mit einem festen Händedruck. »Freut mich, Sie wiederzusehen, Gouverneur. Was kann ich für Sie tun?« »Ich wollte ein paar Ideen mit Ihnen besprechen.« Cantrell sah sich um. »Sie haben ein größeres Büro als ich. Bezahlt die Navy die Miete?« »Und mein Gehalt«, fügte McInterff hinzu. »Aber was die Ausrüstung des Stützpunkts angeht, so haben sie uns noch keinen einzigen Cent geschickt.« »Wahrscheinlich haben sie andere Sorgen, Mac.« »Das ist anzunehmen«, stimmte McInterff zu. »Möchten Sie einen Drink?« »Kaffee, bitte.« McInterff brachte Wasser zum Kochen, dann nahm er eine kleine Dose mit Instantkaffee und eine Tasse aus einem Schrank. Er öffnete die Dose, nahm den Papierverschluß ab, reichte seinem Besucher Tasse und Dose. »Bedienen Sie sich selber, Gouverneur. Wenn der Teekessel pfeift, müssen Sie in Aktion treten.« Für sich füllte er ein schimmerndes Tee-Ei aus Nickel mit Earl Grey und legte es neben eine Teekanne aus Porzellan. »Haben Sie einen Löffel, Mac?« fragte Cantrell. »Nur Teelöffel«, erwiderte McInterff und gab ihm einen. »Der tut's auch, vielen Dank. Wenn ich mich recht entsinne, haben Sie mit der L4 sympathisiert, als sie gemeutert hat. Denken Sie immer noch so?« »Nein, Gouverneur, Sie haben richtig gehandelt, als Sie loyal geblieben sind. Wie sich die Dinge jetzt entwickeln – die mexikanische Unabhängigkeit – die Wiedereinsetzung des Alten Regimes ...« Der Teekessel pfiff. McInterff füllte Cantrells Tasse mit Kaffee und goß für sich ein bißchen kochendes Wasser in die Teekanne, um sie zu erwärmen. Er ließ es darin kreisen, gab das Tee-Ei hinein und schüttete heißes Wasser darüber, dann stellte er die Kanne beiseite, um den Tee ziehen zu lassen. »Das Alte Regime ist ein Traum für Kelten und andere Romantiker. Und nun haben sich die bürokratischen Fettärsche von der NAU zusammengerottet, um ihre verrotzten Nasen hochzutragen ... Aber da wir gerade von bürokratischen Fettärschen reden – das habe ich gestern bekommen.« Er nahm die Kopie einer Aktennotiz aus seiner Postmappe. »Die Navy behauptet, sie hätte bezüglich der alten 1848 nichts tun können, weil der Code geändert worden wäre. Der neue Code wurde als NIWRAD ARTNOC identifiziert, und sie behaupten, der stünde nicht in ihrem Verzeichnis.« »Oh...« Cantrell nippte an seinem Kaffee. »Wir haben den Verschlüsselungs-
manipulator in Joe Bobs Brieftasche gefunden. Damals wußten wir zwar noch nicht, was das ist, aber ich möchte wetten, daß meine Vermutung stimmt. Wir hätten die Rakete von Anfang an weglenken können – wenn ich nur früher draufgekommen wäre.« »Vielleicht – vielleicht auch nicht. Ich bezweifle, daß da eine Verschwörung dahintersteckt, Gouverneur.« McInterff goß sich eine Tasse Tee ein und gab Zucker und Sahne dazu. »Es gibt viele Pannen, die sich mit Ignoranz und Schlamperei erklären lassen, und wenn man sich mit einer Bürokratie auseinandersetzen muß, sind Ignoranz und Schlamperei sicher die bevorzugten Erklärungen für – nun, einfach für alles.« »Habe ich das Wort ›Verschwörung‹ gebraucht, Mac? Sicher nicht. Aber ich will gestehen, daß meine Begeisterung für diese Ihre Navy-Basis etwas nachgelassen hat.« »Bitte, ergreifen Sie keine überstürzten Maßnahmen. Ich empfinde es als großes Vergnügen, daß ich diese schönen Schiffsmodelle in diesem imposanten Büro bauen kann und dafür auch noch bezahlt werde. Sie wollen mir diese Freude doch nicht verderben?« »Liegt Ihnen wirklich so viel daran?« »Überhaupt nichts, Gouverneur. Ich würde das alles sofort aufgeben, wenn ich einen richtigen Job bekäme – das wissen Sie. Aber die Navy hat nichts mit mir im Sinn – und mit Ihnen auch nicht.« »Mal sehen.« Cantrell nippte wieder an seinem Kaffee. »Wir müßten uns hinreichend vorbereiten, um uns gegen einen neuen Raketenangriff verteidigen zu können. Haben Sie irgendwelche Ideen? Ich meine, es ist ein bißchen zu spät, auf geniale Eingebungen zu warten, wenn das nächste Geschoß bereits unterwegs ist.« Commander McInterff lehnte sich zurück und trank eine Weile schweigend seinen Tee. Schließlich antwortete er: »Wir könnten eine große Laser-Anlage bauen, Gouverneur – 50 mal 10000 Meter. Nichts Ultraheißes, wie es die Navy einsetzt, sondern was Kontinuierliches, wissen Sie? Wir könnten die Anlage mit den großen Spiegeln vollpumpen.« »Sprechen Sie weiter, Mac.« »Nun, Gouverneur, die Navy-Waffendoktrine verlangt nach einer Energiequelle, um Licht zu erzeugen – je heißer, desto besser. Wir beziehen unser Licht von diesen Spiegeln. Wir brauchen gar keinen Mittelsmann. Wir bauen einfach eine kühle kontinuierliche Gaslaser-Anlage – aber sie muß riesengroß sein. Sie müßte eine Reichweite von vielleicht 200000 Kilometern haben. Dann könnte sie jede Rakete einfach wegputzen.« »Ihre Idee gefällt mir, Mac. Können Sie mir einen Arbeitsplan für diese LaserAnlage zeichnen?« »Meinen Sie das ernst, Gouverneur?« »Ich weiß nicht – aber Ihr Vorschlag kratzt an ein paar juckenden Pickeln, die mich seit einiger Zeit quälen.« »Nun, wenn das so ist, dann muß ich Ihnen sagen, daß die Idee von meinem Saufkumpan Harry Ilgen stammt. Er ist Waffensammler und arbeitet als Vormann für den alten Rubenstein. Er hat seine Idee ziemlich genau ausgetüftelt.«
»Ich kenne Harry. Ein kräftig gebauter Bursche mit Bürstenschnitt, nicht wahr?« »Ja, das ist er, aber ...« Cantrell klappte sein Gürteltelefon auf. »Hallo, Skaskash, hat Henry Ilgen neulich versucht, Ihnen ein Waffenprojekt zu verkaufen?« »Ja«, lautete die prompte Antwort. »Eine riesengroße Laser-Anlage.« »Was war faul daran?« »Gar nichts. Er hat sich die Anlage als Verteidigungsbastion gegen die FNR 1848 ausgedacht, aber wir hätten sie nicht rechtzeitig bauen können. Die chemischen und physikalischen Probleme hat er elegant gelöst, aber auf dem technischen Sektor wäre noch einiges zu tun. Warum fragen Sie?« »Plötzlich interessiere ich mich für solche Dummheiten. Wahrscheinlich bereite ich mich auf den letzten Krieg meines Lebens vor – aber ich möchte mir Ilgens Konzept jedenfalls mal ansehen.« »Ich lege es auf Ihren Schreibtisch. Brauchen Sie einen Kostenvoranschlag?« »O ja. Es ist durchaus möglich, daß wir das Ding bauen werden.«
15 Von Kapitän Robert Lowell Betrifft: Offiziellen Verweis An: Exekutivoffizier Luis Ruiz Datum ... (1)Dieser Verweis soll in Ihren persönlichen Aktenordner gelegt werden, als Teil Ihres Lebenslaufes. (2)In Übereinstimmung mit meiner Aktennotiz vom 28. Mai 41 ist es die Absicht der SS Ciudad Juarez, innerhalb der L-4-Flotte den Transfer von Schiff zu Schiff zu gestatten – ohne Ansehen der Rasse oder der Nationalität der Reisenden. (3)In der Aktennotiz vom 28. Mai 41 wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß der Leistungsstand der SS Ciudad Juarez beibehalten oder verbessert werden soll, daß die Ausbildung der Neuankömmlinge von außerordentlicher Wichtigkeit ist und daß alle Transfers meiner offiziellen Billigung bedürfen. (4)Diese Richtlinien wurden von Ihrem Vorgänger, Mr. Rogan, stets befolgt, bis zu seinem eigenen Transfer. (5)Der kürzlich vorgenommene Transfer von 14 Offizieren und Soldaten zur SS Wyoming verstößt gegen die in der Aktennotiz vom 18. Mai 41 aufgestellten Regeln, die in (2) und (3) zitiert werden. (6)Hiermit sind Sie Ihres Amtes als Exekutivoffizier der SS Ciudad Juarez enthoben. /s/ Robert Lowell, Kapitän. Antonio Jimenez, Erster Offizier, las die Kopie des Verweises, dann gab er sie dem Kapitän, der ihm an seinem Schreibtisch in seinem winzigen Büro gegenübersaß,
zurück. »Sie haben ihn nicht datiert. Darf ich annehmen, daß Sie ihn auch noch nicht offiziell unterschrieben haben?« »Ihre Vermutung stimmt«, sagte Lowell. »Würden Sie die Pflichten des Exekutivoffiziers übernehmen, bis wir einen Ersatz für Mr. Ruiz gefunden haben? Natürlich zusätzlich zu Ihren eigenen Pflichten.« »Ich denke nicht, Kapitän. Ich fürchte, es wird Ruiz sein, der Sie abschiebt. Die vierzehn Mann, die er transferiert hat, waren die legalen Anglos an Bord. Außer Ihnen natürlich. Und ich glaube, die Ersatzleute, die Luis ausgesucht hat, sind Cuevas-Partisanen.« »Wie bitte?« Lowell blinzelte verständnislos. »Wer ist das?« »Sie haben zuviel Zeit an die interne Politik der L-4 verschwendet.« Jiminez verlagerte sein Gewicht auf dem Metallstuhl mit der geraden Lehne. »Pablo Cuevas ist – nun, Pablo Cuevas. Er wird die mexikanische Republik regieren, wenn er vorher nicht umgebracht wird. Wenn Sie Ihren kleinen Verweis zu den Akten gelegt hätten – Luis hätte sich halbtot gelacht. Er hätte Ihnen gesagt, Sie sollten ihn Cuevas schicken.« »Das große Problem einer Meuterei besteht darin, daß sie den Respekt vor der Autorität unterminiert. Und es ist verdammt schwer, nach einem solchen Aufstand für Disziplin zu sorgen.« Lowell stand auf und griff nach der Kaffeekanne. »Möchten Sie eine Tasse, Mr. Jimenez?« »Nein, danke, Kapitän.« Lowell goß sich selbst Kaffee ein, umfaßte die Tasse, schüttete den Kaffee wieder in die Kanne. »Nur noch lauwarm ... Das Sensorelement muß ausgegangen sein. Wenn es das Heizelement wäre, würde die rote Lampe nicht mehr brennen.« »Setzen wir die Kanne auf die Reparaturliste.« »Mr. Jimenez«, sagte Lowell in ernstem Ton, »wenn ein Verweis nichts nützt – dann könnte ich den Hurensohn doch arretieren, nicht wahr?« »Sie haben nicht zugehört, Kapitän«, erwiderte Jimenez geduldig. »Die Machtverhältnisse an Bord haben sich verändert, zu Luis' Gunsten. Sie sind ein tüchtiger Kapitän, und ich mag Sie sehr. Aber wenn es zu einem Kampf mit Luis kommt, kann ich Ihnen nicht helfen.« Lowell starrte düster in die leere Tasse. »Ich kann einfach nicht so tun, als wäre nichts geschehen, Mr. Jimenez. Wie soll ich mich verhalten?« »Sie fragen mich um Rat? Nun, ich finde, Sie sollten aufhören, sich um die L-4 zu sorgen. Sind diese Leute zu dumm, um gute Ratschläge zu befolgen? Schade. Sie können sie nicht dazu zwingen, Kapitän. Geben Sie dieses Schiff auf. Ihr derzeitiges Amt entspricht keiner gottgegebenen Verantwortung. Ob es Ihnen paßt oder nicht, die SS Ciudad Juarez wird bald der Mexikanischen Marine angehören. Überlegen Sie, was Sie für sich selber tun können.« »Ich könnte mich auf die SS Wyoming transferieren lassen.« »Als was? Als weiterer Stabsoffizier? Die haben so viele Stabsoffiziere, daß sie ihnen schon bei den Ohren rauswachsen. Und von den Kreuzerkapitänen will Sie keiner an Bord haben.« »Vermutlich nicht«, stimmte Lowell zu. »Ich gehe, also, wenn ich mich dafür entscheide – oder wenn Mr. Ruiz es will –, aber wohin?«
»Verlassen Sie die L-4-Flotte, Kapitän Lowell«, entgegnete Jimenez mit ruhiger Stimme. »Sie haben Ihre historische Rolle gespielt. Es war eine ehrenhafte und notwendige Rolle, aber jetzt ist es an der Zeit, abzuspringen.« Harry Ilgen stand vor der schwarzen Tafel, die er mit Plänen vollgezeichnet hatte, neben dem Telekonschirm, der seine Dias gezeigt hatte, hinter den Modellen, die er auf dem provisorischen Konferenztisch zur Begutachtung aufgebaut hatte. Er wischte sich die Stirn mit einem roten Taschentuch ab. »Damit sind meine Erklärungen beendet. Wenn die verehrten Ratsmitglieder noch Fragen haben, werde ich sie gern beantworten.« »Wozu brauchen wir eine so riesige Laser-Anlage?« erkundigte sich Bogdanovitch. »Die Wirtschaftlichkeit des Systems ...« »Nein, Harry, mir ist klar, daß du auch von rationellen Überlegungen ausgegangen bist, als du das Ding entworfen hast. Aber ich will wissen, wozu wir es brauchen.« Er stützte sich auf den Tisch, der leicht zu schwanken begann. »Auf wen wollen wir feuern, Harry?« »Keine Ahnung, Big John. Ich weiß nur, auf was wir feuern würden – nämlich auf Raketen vom Kaliber der FNR 1848, falls noch mal welche in diese Richtung fliegen sollten. Ich weiß nicht, wer die abschießen würde, aber ich weiß ebensowenig, wer die erste abgeschossen hat.« »Brauchen wir tatsächlich eine so große Laseranlage?« fragte Corporate Forziati. »Ich glaube, wir könnten uns auch mit einer kleineren gegen einen Raketenangriff verteidigen. Vielleicht um zwei Größenordnungen kleiner, Mr. Ilgen ... Wozu brauchen Sie die ganze zusätzliche Kapazität?« »Die große Anlage hat den Vorteil der absoluten Sicherheit«, erwiderte Ilgen. Eine lange Pause entstand. Dann sagte Marian Yashon: »Wir wollen abstimmen.« Dr. Yashon und Corporate Skaskash stimmten für die Anlage, Bogdanovitch, Dornbrock und Corporate Forziati dagegen. »Ich bin zwar dafür, eine Laser-Verteidigungsbastion zu bauen«, erklärte Corporate Susan Brown. »Ich bin mir der Gefahr, in der wir schweben, genauso bewußt wie Sie alle. Aber was diesen besonderen Entwurf angeht, muß ich mit Nein stimmen. Darf ich einen Alternativvorschlag machen, Herr Vorsitzender?« »Sie haben das Wort, Dr. Brown«, erwiderte Cantrell. »Danke.« Corporate Susan verschwand vom Bildschirm und wurde durch einen Plan ersetzt. »Wie Sie sehen, ist das keine technische Modifikation von Mr. Ilgens Entwurf. Es ist eher eine Reihe von Schritten mit Daten, die sich in die Richtung der Anlage bewegen, die Mr. Ilgen für uns bauen wollte. Der erste Schritt besteht darin, ein Experimentalmodell zu bauen, das auf dem Hauptrahmen von Rosinante montiert wird. Beginnen wir lieber mit einem Durchmesser von 5 Metern statt von 20, mit einer Länge von 230 Metern statt von 23000. Dies ist keine Waffe, aber die Vorstufe zu einer zweiten, größeren Laser-Anlage. Auf dem Weg dazu werden wir maschinentechnische Erfahrungen sammeln und Änderungen vornehmen, bei
Dimensionen von 14 mal 2000 Metern. Bedenken Sie, daß diese Vorrichtung bereits eine formidable Waffe darstellt. Sie würde die FNR 1848 über 50000 Kilometer hinweg entschärfen, indem sie das Geschoß in 20 bis 25 Minuten zerschmilzt.« »In dieser Zeit wäre sie schon bis auf 25000 Kilometer herangekommen«, wandte Dornbrock ein. »Sie hätten also Zeit, um eine zweite Rakete zu entschärfen – aber keine dritte.« »Ich spreche von 35000 Kilometern, also könnten wir eine dritte zerstören, aber keine vierte«, entgegnete Corporate Susan. »Doch Ihre Skepsis ist berechtigt. Gleichzeitig mit der Arbeit an den Anlagen können wir die Aufräumarbeiten auf Don Quixote vorantreiben. Ja, Mr. Bogdanovitch?« »Sie schlagen vor, am 1. September 41 mit den Aufräumarbeiten zu beginnen. Wohin wollen Sie das Zeug bringen?« »Ich möchte Mr. Dornbrocks Rat befolgen und Don Quixote einfach auf dem Orbit weiterbewegen, so daß er neben den leerstehenden Anlagen auf Mundito Sancho Pansa geparkt werden kann.« »Sancho Pansa gehört uns nicht«, warf Corporate Forziati ein. »Wir würden uns unbefugterweise in fremdes Gebiet begeben, und dadurch könnten wir unsere Bergungsrechte einbüßen.« »Das mag stimmen«, sagte Corporate Skaskash, »aber wenn es uns gelingt, da oben die dritte Anlage zu bauen, wird niemand mehr mit uns streiten wollen.« »Sie wollen also mit den Don Quixote-Spiegeln eine dritte Anlage errichten«, meldete sich Ilgen zu Wort. »Ohne System. Und wie groß soll die sein?« »Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, erwiderte Corporate Susan, »aber der Durchmesser dürfte 40 Meter nicht überschreiten. Ihre Hitze-Kalkulationen sind rein theoretisch, und Sie haben ganz einfach das Problem übersehen, wie man ein optisch flaches Fenster von 200 Meter Durchmesser, mit einem Innendruck von 100 Millibar, bei Schwankungen von vielleicht 20 Prozent, instand halten kann.« »Die kleinere Anlage hat noch einen Vorteil«, erklärte Skaskash. »Man kann eine stärkere Batterie verwenden. Und wenn man einen doppelten Pyramidenstumpf baut, so wie er auf dem Plan zu sehen ist, könnte man sogar zwei Batterien einsetzen.« Harry Ilgen faltete sein rotes Tuch zusammen und steckte es in die Hosentasche. »Ich wäre entzückt, wenn ich an der Verwirklichung von Dr. Browns Plänen mitarbeiten dürfte. Ich finde ihre Ideen ganz ausgezeichnet.« »Glauben Sie wirklich, daß die zweite Stufe am 1. Dezember funktionsfähig sein wird?« fragte Cantrell. »Bis dahin haben wir wahrscheinlich schon die ersten Probeläufe hinter uns«, antwortete Corporate Brown. »Aber es wird drei oder vier Monate dauern, bis man die Anlage als voll funktionsfähig bezeichnen kann.« »Das hört sich gut an«, meinte Bogdanovitch. »Stimmen wir darüber ab, ob wir Mr. Ilgens Laser-System bauen wollen, und zwar in der Stufenfolge, die Dr. Brown vorgeschlagen hat.« Corporate Susan Browns Antrag wurde einstimmig angenommen. »George Ypsilanti Fox, bitte kommen«, sagte Kapitän Robert Lowell. »Hier ist die SS Ciudad Juarez.« Er war glattrasiert, und im Gegensatz zu seinen
Gepflogenheiten in den vergangenen Wochen trug er seine frisch gebügelte KlasseA-Uniform. »Hier Captain Schramm von der SS Fox«, kam die Antwort. »Was wollen Sie? Wir haben von Ihrem L-4-Flottenkommando die Starterlaubnis bekommen.« »Wir glauben, daß Sie möglicherweise Schmuggelware aus der L-4-Zone befördern«, erwiderte Lowell ohne Umschweife. »Drehen Sie bitte bei, und gestatten Sie, daß ein Inspektionskommando an Bord kommt.« »Wir fliegen zu den Asteroiden«, protestierte Schramm. »Ihr Kommando hat endlich gesagt, daß wir starten können, und Ihr habt uns nie erklärt, was unter Schmuggelware zu verstehen ist...« Er seufzte. »Also gut, schicken Sie Ihre Inspektoren an Bord.« »Wir glauben, daß Sie die Werft aus der Station Delta-3 in Ihr Schiff verfrachtet haben, Captain Schramm, und wir können natürlich nicht zulassen, daß Anlagen entfernt werden, die für die L-4 lebenswichtig sind. Also muß es sich um Schmuggel handeln.« Lowell lächelte. »In Ihrem Ladungsverzeichnis steht nur ›gebrauchte Baumaschinen‹, Aber die möchte ich mir gern selber ansehen.« Lowell wandte sich an seinen Ersten Offizier. »Lassen Sie das Kapitänsboot startklar machen, Mr. Jimenez.« Jimenez salutierte und verließ die Kommandobrücke. Auf dem Arbeitsdeck traf er auf ein paar Matrosen, die mit Pistolen und Stanglgewehren bewaffnet waren. »Kann der Gringo abdampfen?« fragte Jiminez. »Ja, Sir«, antwortete der Erste Unteroffizier, Estrelito. »Seine Feldkiste und das Wandschränkchen sind in den Lufttanks unter dem Achterdeck des Boots verstaut. Seine AOU-Tasche ebenfalls. Die Seitenwaffe habe ich in der Tasche gelassen, so wie Sie es befohlen haben.« »Gut, Ihr wißt, was Ihr als nächstes zu tun habt. Macht vorwärts – und haltet den Mund!« Jimenez kehrte auf die Brücke zurück. »Das Boot ist ausgefahren, Kapitän.« »Danke, Mr. Jimenez. Ich werde das Schiff sofort verlassen.« Lowell schaltete die Bordsprechanlage ein. »Mr. Ruiz! Exekutivoffizier Ruiz! Hallo, Luis, kommen Sie auf die Brücke! Ich muß mit Ihnen reden.« Er stellte das Gerät wieder ab, ohne auf eine Antwort zu warten. Dann schüttelte er Jimenez die Hand und ging von Bord. Das Boot kehrte von der SS Fox zurück, bevor der Exekutivoffizier auf der Brücke erschien. Luis Ruiz hatte sich in letzter Zeit weder rasiert noch gewaschen. Seine Arbeitsuniform war zerknittert und nicht zugeknöpft. Er trug einen irregulären 45er Colt mit Perlmuttgriff an der Hüfte und aß einen Berliner Pfannkuchen. Jiminez entblößte in einem freudlosen Lächeln die Zähne. Er war ein halber Apache, und das ließ er sich manchmal anmerken. Zum Beispiel jetzt. »Mr. Ruiz, ich werde nicht dulden, daß meine Offiziere so schlampig herumlaufen und die Republik Mexiko in Mißkredit bringen.« Ruiz riß den Mund auf, der mit Pfannkuchen vollgestopft war. »Der Gringo ist nicht mehr da«, fuhr Jimenez fort. »Ich bin jetzt der Kapitän, und
Sie sind ein stinkender Schmutzfink, den ich nicht tolerieren werde.« Ruiz schluckte den Pfannkuchen. »Ich bin Pablo Cuevas' Leutnant, und Cuevas ist der rechtmäßige Präsident von Mexiko. Wenn Ihnen mein Stil nicht gefällt, so ist das verdammt schade.« Hinter der Brücke krachte ein Pistolenschuß. Ruiz drehte sich verwirrt um. Seine Hand fuhr nach dem Coltgriff, dann ließ er sie ganz langsam sinken, als zwei Matrosen 9mm-Dienstpistolen auf seine Brust richteten. »Nehmt ihm die Seitenwaffe ab, bevor er sich selber in die Füße schießt!« befahl Jimenez. Einer der Männer trat vor und zog den 45er aus dem Halfter. Aus weiterer Ferne drang Maschinengewehrfeuer herüber, punktiert vom scharfen Knall eines StanglGewehrs. »Wenn Pablo Cuevas Präsident wird – falls er das jemals wird –, kann er Sie zum Admiral ernennen, und dann werde ich vor Ihnen salutieren, Mr. Ruiz«, sagte Jimenez. »Aber bis dahin bin ich der Kapitän. Sie sind entwaffnet, und Ihre Partisanen werden in kurzer Zeit ebenfalls entwaffnet sein.« Die Bordsprechanlage summte. »Wir haben Rojas und sechs Mann gefangengenommen«, meldete Estrelito. »Der eine ist leicht verletzt, an der Hand. Sanchez und zehn andere haben sich in der Messe eingeschlossen. Einer – ich glaube, Figueres – ist weiter unten im Korridor. Sanchez hat ein Maschinengewehr, und er behauptet, daß sie auch Granaten hätten. Bisher haben wir Obregon und Kelly verloren – und zwei Verwundete. Ihre Order, Sir ...« »Wir haben Mr. Ruiz«, berichtete Jimenez. »Vielleicht kann er seine Männer dazu überreden, sich ohne weiteres Blutvergießen zu ergeben.« Er wandte sich an Ruiz. »Mr. Ruiz, würden Sie so freundlich sein, Sanchez und seine kleine Bande zu bitten, sie mögen die Waffen niederlegen und sich ergeben?« »Und wenn ich mich weigere?« Ruiz starrte Antonio Jimenez herausfordernd an, den Navy-Bürokraten, der im neunundzwanzigsten Jahr einer makellosen Karriere stand. Ein Apachenkrieger starrte zurück. »Über eine so unerfreuliche Möglichkeit wollen wir erst gar nicht diskutieren.« Er rief die Messe über die Bordsprechanlage an. »Alles herhören! Hier ist Kapitän Jimenez! Ich habe Mr. Ruiz bei mir. Er möchte euch ein paar Worte sagen.« Wildes Geschrei drang aus dem Gerät. »Viva Cuevas! Viva Mexiko !« »Los – reden Sie, Luis!« sagte Jimenez leise. Eine lange Pause entstand. »Wer hat denn nun eigentlich das Kommando?« fragte jemand aus der Bordsprechanlage. »Kapitän Jimenez«, antwortete Ruiz mit belegter Stimme. »Er hat das Schiff im Namen der Republik Mexiko übernommen.« »Viva Mexiko!« schrie die Bordsprechanlage. »Und was ist mit Cuevas?« »Mr. Sanchez, wenn Pablo Cuevas Präsident von Mexiko werden sollte, wird er Sie ganz sicher zum Kapitän dieses Schiffes ernennen – falls Sie so lange leben. Aber jetzt ist Antonio Jimenez der Kapitän. Legen Sie die Waffen nieder.« Am anderen Ende der Leitung fand eine hitzige Diskussion statt. Schließlich
sagte Sanchez: »Wir werden rauskommen, einer nach dem anderen. Machen Sie Ihren Männern klar, daß sie nicht schießen sollen.« »Sehr gut«, erwiderte Jimenez und rief seinen Ersten Unteroffizier an. »Mr. Estrelito, die Männer in der Messe werden sich in wenigen Augenblicken ergeben. Bringen Sie etwaige Verwundete aufs Krankendeck und den Rest in den Lagerraum Nummer fünf. Vergewissern Sie sich, daß alle Waffen unter Verschluß sind.« »Ja, Kapitän Jimenez«, entgegnete Estrelito. »Viva Mexiko! Viva Morales!« Jimenez wandte sich an den Zweiten Offizier, der das Schiff manövrierte. »Ist das Boot wieder an Bord gebracht worden, Mr. Velasquez?« »Es wird in wenigen Minuten festgemacht, Kapitän.« »Gut. Wenn es festgemacht ist, nehmen Sie Kurs auf Station Delta-3.« »Warum, Kapitän?« fragte Velasquez. »Die gesamte Ausrüstung befindet sich an Bord der SS-Fox. Wir können dort nichts reparieren.« »Das stimmt. Aber ich möchte Mr. Ruiz und seine Männer auf der Station zurücklassen – in einer mexikanischen Garnison.« Er lächelte, diesmal nicht ohne Humor. »Vielleicht wird Mr. Ruiz diese leere Hülse in Station Pablo Cuevas umtaufen. Das wäre durchaus passend.«
16 Am Nachmittag des 20. Dezember 2040 saß Gouverneur Charles Cantrell in seinem Büro und studierte das Modell einer Zuckerfabrik, die als Nebenprodukt von Zuckerrohr auch Fasern für Papier oder Hartfaserplatten produzieren würde. Sein Telefon läutete. »Gouverneur Cantrell?« fragte eine Stimme. »Ich bin Captain Herbert O. Schramm von der SS George Ypsilanti Fox. Der Schiffseigner, Mr. Mason Fox, möchte mit Ihnen sprechen ...« Eine unverständliche Stimme klang im Hintergrund auf, und Schramm sagte, vom Telefon abgewandt: »Verdammt, ich bin nicht Ihr Sekretär!« »Bitte, geben Sie mir Mr. Fox!« schaltete sich Cantrell ein. Mason Fox war der Leiter der G. Y. Fox-AG und der Hauptaktionär der Aktienminderheit von der Rosinante-AG. Er war einmal für ein paar Jahre Cantrells Chef gewesen. »Hallo, Charlie, wie geht's dir?« fragte Mason Fox. »Ganz gut, Mason«, antwortete Cantrell. »Was kann ich für dich tun?« »Ich bin an Bord der SS Fox, und wir haben ein kleines Problem, bei dessen Lösung du uns vielleicht helfen kannst. Der japanische Kreuzer Higata hat uns mitgeteilt, daß uns die Besatzung entern will. Wir sind etwa sechsunddreißig Stunden von Rosinante entfernt, und ich fürchte, diese Hurensöhne wollen unser gesamtes Eigentum wegschleppen. Und nun wäre es dein Job, das zu verhindern.« »Wann wollen sie an Bord gehen?« fragte Cantrell. »Etwa in einer Stunde. Sie haben wahrscheinlich gewartet, bis wir so nahe an Rosinante herangekommen sind, so daß es die Rettungsboote mühelos schaffen werden, sich in Sicherheit zu bringen. Sehr rücksichtsvoll von diesen diebischen
gelben Bastarden. Mögen sie in der Hölle schmoren!« »Ich werde sehen, was ich für dich tun kann, Mason. Ich habe früher oft mit Mitsui verhandelt. Vielleicht wird es mir gelingen, diese Bande umzustimmen. Sieh zu, daß Captain Schramm und seine Leute in Bereitschaft stehen, möglicherweise werde ich sie brauchen.« »Charlie, ich kann dir gar nicht sagen, wie dankbar ich dir bin. Du weißt ja nicht, was in der L-4 los ist. Du kannst dir gar nicht vorstellen.« »Ich hab jetzt zu tun, Mason. He, Saskash! Eruieren Sie die Entfernung, die relative Geschwindigkeit, die Beschleunigung und die geschätzte Ankunftszeit der SS Fox!« »Achtung! Achtung! Feuer!« Skaskash erschien als Claude Raines auf dem Bildschirm, in der Uniform eines Luftwaffenoberleutnants, mit einer verwegen zerknitterten Mütze und dem Eisernen Kreuz Erster Klasse. »Die SS Fox ist 110000 Kilometer entfernt, bewegt sich mit 1700 Meter pro Sekunde auf uns zu und beschleunigt um – 0,0135 Zentimeter pro Sekunde, geschätzte Ankunftszeit: 22. Dezember 2041, 02 Uhr 15, es sei denn, die INSS Higata entert die SS Fox noch vorher.« »Okay. Suchen Sie mir die Daten der Higata aus Janes Schlachtschiffe raus. Eine schriftliche Kopie, bitte.« Cantrell klappte sein Gürteltelefon auf und drückte auf den Knopf für Marian. »Bist du immer noch in Harry Ilgens Laden?« »Ja, aber wir sind fast fertig. Was ist los?« Er schilderte ihr die Situation. »Okay«, sagte Marian. »Die 4,6-Meter-Laser-Anlage ist funktionsfähig, aber nicht sonderlich effektiv. Die modifizierte Struktur in der 14,2-Anlage ist komplett, aber Ilgen checkt immer noch die Kontrollen. Um 17 Uhr wollen sie die Feuertests durchführen.« »Ich gebe ihnen fünfzehn Minuten.« »Gut.« »Ich kann Ihnen einiges versprechen, Captain«, kam Ilgens Stimme aus dem Hintergrund. »Sehr schön. Beide Laser-Anlagen sollen ihre Strahlen auf die INSS Higata richten, beide sollen erhitzt werden und operationsbereit sein... Skaskash, verbinden Sie mich mit der Higata!« »Jawohl, mein Kapitän!« »Und, Skaskash – ich will den Status der beiden Laser-Anlagen auf dem Telekonschirm sehen.« »Jawohl, mein Führer!« »Und Captain Schramm von der SS Fox soll uns die Temperatur der HigataRadiationen durchgeben. Er kann sie auf seinem Meßgerät ablesen – und wir nicht. Ich will sie ebenfalls auf dem Telekonschirm haben.« »Ja, sofort, Herr Oberst!« Skaskash salutierte und verschwand. Der Telekonschirm zeigte nun ein Diagramm von der INSS Higata, ein rotes Oval, und von der SS Fox, einen grünen Kreis. Die Zahlenangaben, periodisch revidiert, strömten an den Markierungszeichen vorbei. In der linken unteren
Bildschirmecke erschien der Laser-Status-Bericht. Gelbe Buchstaben verkündeten: ›4,6 BEREIT 100, 14,2 BEREIT 70.‹ In der rechten unteren Ecke gaben gelbe Buchstaben an: ›HIGATA RAD. TEMP. 225°C.‹ Cantrells Schreibtisch spuckte eine Kopie der Informationen über die INSS Higata aus dem Jane-Verzeichnis aus. »Wird auch langsam Zeit«, meinte Cantrell. »Ich war beschäftigt«, entgegnete Skaskashs körperlose Stimme. »Marian befahl mir, an den Spiegeln zu arbeiten.« »Werden Sie's schaffen?« »Klar. Ich kann diese Laserstrahlen so modulieren, daß sie ›Dixie‹ spielen, wenn Ilgen mit der 14,2-Anlage endlich voranmacht.« In der rechten unteren Ecke des Bildschirms stand: ›14,2 BEREIT 70 geändert auf 14,2 BEREIT 80.‹ Cantrell las die Informationen über die Higata. Klasse, Größe, Geschwindigkeit, Crew, Panzerung – das alles überflog er nur, aber die Bewaffnung – die Higata war mit sechs 1000-Tonnen FNR's bestückt. Cantrell schnitt eine Grimasse. »Captain Bunjiro Norigawa von der INSS Higata wird in ein paar Sekunden mit Ihnen sprechen«, meldete Skaskash. »Setzen Sie sich lieber schon mal in den Telekonsessel.« »Dort sitze ich schon.« Cantrell öffnete sein Gürteltelefon. »Marian, ich gebe das Feuerkommando über die Leitung. Laß alle Antworten oder Fragen über den oberen Telekonschirmrand laufen, ja?« »Kein Problem«, antwortete sie, und über den oberen Bildschirmrand flutete in leuchtenden, purpurroten Lettern: KEIN PROBLEM. Darunter erschien Captain Norigawas zerfurchtes Gesicht. Sein Schädel war fast kahl, nur an den Schläfen wuchs graues, kurzgeschnittenes Haar. Er trug die weiße Uniform der Kaiserlichen Japanischen Marine, und er war etwa fünfzig Jahre alt. Geduldig saß er da und wartete darauf, daß Cantrell das Gespräch eröffnete. »Ich bin Charles Chavez Cantrell, der Gouverneur von Mundito Rosinante«, stellte Cantrell sich förmlich vor. »Seit wann zählt es zu den politischen Gepflogenheiten der Kaiserlichen Japanischen Marine, der Piraterie zu frönen?« »Bunjiro Norigawa, Captain der INSS Higata«, erwiderte Norigawa mit einer leichten Verbeugung. »In diesem Fall kann von Piraterie keine Rede sein, da ich die Anweisungen meiner Regierung befolge.« Cantrell verbeugte sich ebenfalls. »Diebstahl ist Diebstahl. Ich muß Sie bitten, die SS Fox in Ruhe zu lassen.« »Eigentum – das ist ein interessanter Begriff«, meinte Norigawa. »Im wesentlichen ist es doch so, daß der Staat bereit ist, den Anspruch eines Staatsbürgers auf diese oder jene Gegenstände mit Waffengewalt zu verteidigen, als Gegenleistung für Steuergelder. Wenn der Staat unfähig ist, einen solchen Anspruch zu verteidigen, existiert das Eigentumsrecht nur bis zu dem Grad, bis zu dem der Besitzer imstande ist, es zu verteidigen. Es ist meine Absicht, die SS Fox und ihre Ladung zu kapern.« In der linken unteren Bildschirmecke verkündeten gelbe Buchstaben: ›4,6 BEREIT 100, 14,2 BEREIT 80.‹ ›14,2 bereit 80‹ begann zu blinken, änderte sich in
›14,2 BEREIT 90‹. »Das ist höchst bedauerlich«, sagte Cantrell. »Wenn ich Ihnen diesen Piratenakt nicht ausreden kann, muß ich Ihr Schiff zerstören.« »Tut mir leid, Gouverneur Cantrell«, entgegnete Norigawa, »aber ich muß Sie noch einmal darauf hinweisen, daß wir keine Piraten sind. Und was Ihre Drohung betrifft – ich kenne die Wirkungsweise der Mitsubishi-Drachenskalenspiegel. Unser gegenwärtiger Kurs wird uns nur bis auf 10000 Kilometer an Rosinante heranführen, also bleiben wir außerhalb Ihrer Reichweite.« Der Schriftzug ›14,2 BEREIT 90‹ in der linken unteren Bildschirmecke blieb unverändert. »Würden Sie es vorziehen, Ihre Handlungsweise als kriegerischen Akt ohne Kriegserklärung zu bezeichnen?« fragte Cantrell. »Piraterie – das ist viel kürzer und präziser, außerdem klingt es ausdrucksvoller.« »›Kriegerischer Akt ohne Kriegserklärung‹ – das macht sich viel besser, wenn es im Lebenslauf eines Offiziers steht«, meinte Norigawa. »Jedenfalls ist es sinnlos, diese Diskussion fortzusetzen. Mit Ihrer Erlaubnis werde ich mich jetzt wieder meinen Pflichten an Bord widmen.« Cantrell klappte sein Gürteltelefon auf. »Greift ihn mit der 4,6 an.« 4,6 ZIELT UND FEUERT, verkündeten die purpurroten Buchstaben, die über den Bildschirm strömten. »Es tut mir leid, Captain Norigawa«, sagte Cantrell, »aber wir haben die erforderlichen technischen Möglichkeiten, um den Wirkungsbereich unserer Spiegel zu vergrößern. Wir setzen nun das Minimum der verfügbaren Energie ein, und wenn das nicht ausreicht, werden wir die Attacke verstärken ... Aber ich würde mich sehr geehrt fühlen, wenn Sie mir bei einer Tasse Kaffee Gesellschaft leisten könnten.« Bunjiro sprach mit jemandem, der nicht auf dem Telekonschirm zu sehen war. Dann wandte er sich wieder an Cantrell, eine Tasse Tee in der Hand, während Cantrells Empfangsdame ihm eine Tasse Kaffee servierte. Nach einer Weile begann die rechte untere Bildschirmecke zu blinken. ›Higata Rad. Temp. von 225 auf 226°C gestiegen.‹ Auf der anderen Seite stand unverändert die Angabe: ›14,2 BEREIT 90.‹ »Man hat mir mitgeteilt, daß Sie irgendwelche Hitzestrahlen auf die Higata richten«, sagte Bunjiro gelassen. »Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Erfindungsreichtum.« »Vielen Dank. Aber Sie sind noch nicht davon überzeugt, daß diese Strahlen eine ernsthafte Bedrohung für die Higata darstellen?« »Unglücklicherweise nicht. Ich habe nach wie vor die Absicht, meine Order auszuführen.« ›Higata Rad. Temp.‹ blieb auf 226° C. Die linke untere Bildschirmecke begann, zu blinken. ›14,2 BEREIT 90‹ änderte sich in ›14,2 BEREIT 100‹. Cantrell klappte sein Gürteltelefon auf. »50 Prozent Output aus der 14,2-LaserAnlage!« 14,2 ZIELT UND FEUERT MIT 50 PROZENT, meldeten die purpurroten
Lettern. Der Himmel verdunkelte sich, als hätte sich eine große Wolke vor die Sonne geschoben, während Skaskash die Spiegel wegdrehte, um die 14,2-MeterLaser-Anlage mit Sonnenlicht zu versorgen. »Haben wir genug Spiegelkapazität?« fragte Cantrell. JA, sagten die purpurroten Buchstaben. DIE OPTISCHE OBERFLÄCHE DER LASER-ANLAGE KANN IHRE FORM ÄNDERN UND DIE STRUKTUR ANNEHMEN, DIE EINER VOLLOPERATION ENTSPRICHT. WIR SETZEN NUN 98,9 PROZENT DES INPUTS EIN UND HABEN – SAGEN WIR MAL, 47 ODER 48 PROZENT OUTPUT. Eine andere Schriftart begann über den oberen Bildschirmrand zu fluten. HIER IST ILGEN, meldeten die gotischen Buchstaben. DIESE GOTTVERDAMMTE OPTISCHE FLÄCHE IST NICHT STABIL! WENN WIR DEN INPUT NICHT REDUZIEREN, WIRD ER NACH OBEN STEIGEN, WÄHREND ER ERHITZT WIRD. ›Higata Rad. Temp.‹ stieg von 230 auf 231°C. »Gouverneur Cantrell, ich muß Sie ersuchen, Ihre Hitzestrahlen abzuschalten«, sagte Bunjiro. »Wenn Sie sich weigern, sehe ich mich gezwungen, Mundito Rosinante mit Raketenfeuer zu zerstören.« WIR HABEN DEN INPUT AUF 96 PROZENT REDUZIERT, sagten die gotischen Lettern. DER OUTPUT LIEGT ZWISCHEN 52 UND 53 PROZENT. ›Higata Rad. Temp.‹ stieg von 234 auf 235°C. »Bedauerlicherweise ist das unmöglich«, entgegnete Cantrell mit einer Gelassenheit, die er keineswegs empfand. »Die Maßnahme, die wir gegen die Higata einsetzen, wurde als Verteidigungsbastion gegen Raketen entwickelt. Wir können Ihre Geschosse während des Fluges zerstören. Außerdem würde ein solcher feindlicher Akt Ihrerseits die Vernichtung der INSS Higata zur Folge haben.« DIE PLOMBE RINGS UM DIE OPTISCHE OBERFLÄCHE BEGINNT ZU BERSTEN, sagten die purpurroten Buchstaben, INPUT 90 PROZENT, OUTPUT ZWISCHEN 58 UND 60 PROZENT. Cantrell nahm einen Schluck Kaffee. ›Higata Rad. Temp.‹ stieg von 249 auf 250°C. »Schalten Sie die Hitzestrahlen sofort aus!« rief Norigawa. »Vielleicht wünschen Sie Ihre Admiralität zu konsultieren«, schlug Cantrell vor. »Nein! Ich will unser Versagen nicht melden!« ›Higata Rad. Temp.‹ stieg von 254 auf 256°C. »Finden Sie nicht auch, daß Sie eine Information erhalten haben, die für die Kaiserliche Marine viel wertvoller ist als eine Ladung gebrauchter Maschinerie, Captain Norigawa?« fragte Cantrell höflich. »Es müßte Ihre Regierung doch außerordentlich interessieren, welche Wirkung entsteht, wenn man hochprozentige Laserstrahlen in Verbindung mit den Mitsubishi-Drachenskalenspiegeln einsetzt.« ›Higata Rad. Temp.‹ stieg von 266 auf 268°C. WEITERE RISSE IN DER PLOMBE, sagten die purpurroten Buchstaben. SIEHT WIE EIN LECK AUS. OUTPUT AUF 54 PROZENT GESENKT, INPUT 60 PROZENT.
»Geschütz laden!« schrie Captain Norigawa. »Entfernen Sie sich von der SS Fox!« donnerte Cantrell. »Oder ich steigere die Hitze auf 100 Prozent!« »Kurs ändern!« sagte Norigawa zu jemandem außerhalb des Bildschirms. »Steuern Sie von der SS Fox weg!« ›Higata Rad. Temp.‹ stieg von 280 auf 282°C. »Laserstrahlen von der Higata weglenken!« sagte Cantrell ins Telefon. JAWOHL, HERR OBERST! erwiderten die purpurnen Buchstaben. WIR SCHEINEN ZIEMLICH SCHNELL GAS ZU VERLIEREN, verkündeten die gotischen Lettern. ICH GLAUBE, DASS WIR HEUTE NICHT MEHR VIEL AUS DIESER ANLAGE RAUSHOLEN KÖNNEN. »Laßt die Laserstrahlen langsam abkühlen«, sagte Cantrell in sein Gürteltelefon, »aber haltet euch in Bereitschaft.« SIE SOLLTEN MIT DEM JAPS REDEN, empfahlen die purpurroten Buchstaben. AUF DER OPTISCHEN FLÄCHE IST EIN ZWEI METER BREITER RISS ENTSTANDEN. »Captain Norigawa, ich freue mich, daß es uns gelungen ist, unser Problem auf so vernünftige und faire Weise zu lösen. Ihr derzeitiger Kurs wird Sie in etwa sechsunddreißig Stunden zum Mundito Rosinante bringen. Es wäre mir eine große Ehre, wenn ich Sie beim Dinner als Gast begrüßen dürfte.« »Die Ehre wäre ganz auf meiner Seite«, antwortete Bunjiro Norigawa. Der Laser-Kontrollraum sah aus wie das Innere einer schwarzen Bretterkiste. Ein chaotisches Sammelsurium lag in unordentlichen Haufen aufeinander. Aber wie die Daten hereinflossen! Daten über Temperatur, Druck, Geometrie, Daten über den Energiegehalt der Strahlen, die auf die Higata gerichtet waren. Korrelativierte Daten, kompilierte Daten, sublime und berauschende, schwindelerregende Daten. Das Experiment war vorbei, jetzt könnt der Spaß beginnen. »14,2 Meter – das ist eindeutig zu groß«, sagte Harry Ilgen, »aber die sechseckige Anordnung hat die optische Oberfläche ganz gut in flacher Position gehalten.« »Wir können die sechseckigen Elemente aus Silikon herstellen«, meinte Skaskash, »und sie dann kugelförmig zusammensetzen, um den Druck zu unterstützen, während die optische flache Platte in jedem Element festsitzt, genau im richtigen Winkel ...« »Wird heute abend ein offizielles Dinner stattfinden, Charles?« fragte Marian in ihr Handtaschentelefon. »Ein formelles japanisches Dinner? Charles! Was soll ich anziehen?« »Ja! Ja!« rief Ilgen. »Wenn wir eine 12 oder maximal 12,5 Meter lange Röhre haben, können wir ein Kugelsegment von – oh, sagen wir mal, 15 Meter Durchmesser als Fenster benutzen.« »Beim Spiegel können wir auf 12,5 gehen«, sagte Skaskash, »aber das Rohr darf nicht so stark geladen sein, daß es verformt wird. Gehen wir lieber auf 12,65 rauf. Und jetzt zu Ihrem Vorschlag, die Lichtdichte zu maximalisieren, indem wir nur
eine der drei Farben benutzen, die unsere Spiegel reflektieren ...« »Wie viele Leute werden denn kommen, Charles?« wollte Marian wissen. »Hör mal, Charles, ich meine es ernst! Okay, der ganze Regierungsrat wird kommen, und wir bezeichnen die Fete als Staatsdinner. Wir sind sieben, und wir erwarten sieben Gäste. Und ich habe noch immer nichts zum Anziehen.« »Wir haben rausgefunden, daß es mit dem grünen Licht am besten funktioniert«, sagte Ilgen und strich sich über den Bürstenschnitt. »Dann haben wir noch diesen Stapel von Spiegeln – die Rot- und Blau-Spiegel, die von der Qualitätskontrollarbeit übriggeblieben sind, als wir die große Anlage bauten –, könnten wir die verwenden? Wie viele haben wir?« »Die Rot- und Blau-Spiegel zusammengenommen? Vielleicht 60 oder 70 Hektar«, antwortete Skaskash. »Wir hätten also eine Arbeitslänge von etwa 16 Kilometer. Aber ich denke, wir brauchen 21 oder 22.« »Ja, bei 22 Meter würde das ganze grüne Licht aus den Pyramidenstümpfen der Don Q-Anlage gezogen werden – wenn wir sie wieder zusammenflicken. Aber was ist mit der Kühlung?« »Auf Wiedersehen, Harry, ich gehe ins Büro zurück«, sagte Marian und blieb in der Tür stehen. Harry Ilgen sah nicht einmal auf. »Wiedersehen. He, Skaskash, wenn wir eine Druckhülle bauen von – sagen wir – einem Kilometer Durchmesser, wären die Laserstrahlen luftgekühlt, abgesehen von der Außenfläche, die ja aus Silikon ist. Dann könnten wir die Lichtdichte verstärken, und 16 Kilometer würden genügen. Verdammt! Wir würden sogar mit 10 auskommen!« Skaskash begann den neuen Plan zu zeichnen, während Ilgen immer neue Vorschläge machte und mit einem Lichtbleistift Korrekturen in der Skizze vornahm. Sie bauten einen Pavillon auf dem Rasen vor Cantrells Büro, aus Stahl und Glas, üppig verkleidet mit selbstklebendem, holzähnlichem Vinyl. Eine Treppe aus schwarzgestrichenem Metall führte von Cantrells Balkon auf das Dach des Pavillons hinab. Shoji – durchscheinende Schiebewände umgaben den Bau und ersetzten französische Türen. Mordecai Rubenstein hatte den Auftrag erhalten, ein großes Feuerwerk zu inszenieren. Ein Dutzend blühende Kirschbäume wurde in große Töpfe gepflanzt und per Schiff in den Pavillongarten gebracht. Der Leiter des Kirschbaumgartens hielt nicht viel von solchen Albernheiten, mußte aber später zugeben, daß man seine Bäume gut behandelt hatte. Ein Loch wurde in eine Wand des Pavillons geschnitten, so daß man einen direkten Zugang zur Küche des Gouverneurs hatte. Man bestellte Koto-Spieler und Sake-Kellner. Und man bestellte Sake. Cantrell übte mit seiner Frau Mishi Konversationsjapanisch. Skaskash kramte japanische Filme hervor. Der älteste stammte aus dem Jahr 2006. Damals war die Blütezeit der Neurenaissance gerade zu Ende gegangen. Marian fand den braunen Hosenanzug, den sie in die hinterste Ecke ihres
Schranks verbannt hatte, weil er fürs Büro zu schön war. Sie beschloß, ihn zusammen mit ihrer cremefarbenen Seidenbluse zu tragen. Nun konnte das Dinner beginnen. Captain Norigawa studierte die schriftliche Einladung, Gouverneur Cantrell und den Regierungsrat von Rosinante beim Dinner zu beehren, und ließ durch seinen Exekutivoffizier anfragen, aus wie vielen Mitgliedern der Rat bestünde. Der Offizier berichtete – korrekterweise –, es würde sich um sieben handeln. Daraufhin teilte Norigawa Cantrells Büro mit, daß er mit sieben Offizieren zum Dinner am 23. Dezember, um 19 Uhr, erscheinen würde. Am 23. Dezember, um 15 Uhr 30, sagte Cantrell: »Norigawa wird das Gesicht verlieren, wenn auf unserer Seite des Tisches nur sieben Leute sitzen. Wir müssen noch eine achte Person einladen.« »Es muß aber eine bedeutende Persönlichkeit sein«, meinte Marian, »womöglich mit Titel. Vielleicht könnte Skaskash jemanden personifizieren.« »Ich will nicht noch mehr Telekonschirme an der Dinnertafel haben«, erwiderte Cantrell. »Wie wäre es mit Commander McInterff?« »Wenn er sich ein paar hinter die Binde gegossen hat, fängt er an, vom Alten Regime zu reden. Laden wir lieber deinen Ex-Boß Mason ein.« Cantrell klappte sein Gürteltelefon auf. »Hallo, Mason! Hier Cantrell. Ich weiß, ich gebe dir ziemlich spät Bescheid – aber könntest du heute abend zu einem offiziellen Dinner kommen?« »Du meinst – zu diesem Dinner mit dem Japs-Captain? Tut mir leid, Charlie, aber ich bin heute abend beschäftigt. Ich habe eine Besprechung mit den Leuten von meinem Außenposten. Doch ich kann dir jemanden rüberschicken – meinen BBNM, den Berater für die Beschaffung Nautischen Materials – er ist eher dekorativ als nützlich und heißt Mr. Lovell. Okay?« »Okay. Sag ihm, er soll einen formellen Geschäftsanzug tragen. Und er soll mein Büro anrufen, dann wird er mit einem Privatauto abgeholt. Danke, Mason.« Cantrells Empfangsdame, Mrs. Omi Smith, kam lächelnd herein. »Bitte, Mr. Cantrell – ich habe diese Krawatten für das Dinner genäht. Ich würde mich hochgeehrt fühlen, wenn Sie die Güte hätten, eine davon zu tragen.« Sie hielt ihm eine Schachtel hin, in der vier grüne Seidenkrawatten lagen, genau in der Farbe des Rosinante-Emblems. Das Emblem, ein lebhaftes grünes Pferd auf einem weißen Feld, war mit Seidenfäden in einen winzigen weißen Kreis gestickt. Das grüne Pferdchen maß im Durchmesser etwa zwei Zentimeter. Cantrell suchte sich eine Krawatte aus. Sie war gefüttert, lag glatt und weich in seiner Hand. »Die würde ich sehr gern tragen. Sie können auch Mr. Dornbrock und Mr. Bogdanovitch fragen.« Er lächelte schwach. »Aber als gute Gewerkschafter werden sie sich vermutlich nicht mit dem Firmenemblem schmücken wollen.« »Sie kicherte. »O nein, Sir – das ist nicht die Firmenkrawatte – das ist die Rosinante-Krawatte.« Dornbrock und Bogdanovitch dachten offenbar genauso. Beide trugen die Krawatte – Dornbrock zu seinem doppelreihigen braunen Nadelstreifenanzug,
Bogdanovitch zu einem dunkelblauen Blazer mit grauen Hosen. Cantrell erschien in seinem dunkelgrauen Anzug mit weißem Hemd. Die grüne Krawatte hinreißend aus. Das Privatauto, das Norigawa und seine Offiziere von der ExpreßliftTransferstation abgeholt hatte, traf Punkt 19 Uhr vor Cantrells Büro ein. Eine neunte Person begleitete die Japaner, ein Abendländer in einem dunkelgrünen Anzug mit weißem Hemd und grüner Rosinante-Krawatte. »Das muß Mr. Lovell sein«, sagte Marian. »Mein Gott!« murmelte Cantrell. »Das ist Kapitän Robert Lowell !« »Er kann nicht bei uns sitzen. Tu irgendwas!« Aber da schüttelte Cantrell bereits mehrere Hände und wurde mit Norigawas Offizieren bekannt gemacht. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Gouverneur Cantrell«, sagte Norigawa. »Während der Fahrt führten wir ein äußerst angenehmes Gespräch mit Kapitän Lowell. Würden Sie ihn bitte zu mir setzen, damit wir unsere Unterhaltung fortsetzen können?« »Ich weiß nicht recht...« Cantrell sah Marian an. »Wir wollten Sie ans eine Ende der Tafel setzen, gegenüber von Charles«, erklärte sie, »aber wenn wir Sie in der Mitte plazieren, würden Sie Charles immer noch gegenübersitzen, und wir könnten Kapitän Lowell an seine linke Seite setzen. Wären Sie damit einverstanden?« »O ja«, erwiderte Norigawa, »vielen Dank.« Corporate Forziati bewegte sich auf der Rosinante-Seite der Tafel von rechts nach links. Er trug einen dunkelgrauen Anzug und die Rosinante-Krawatte. Corporate Susan Brown war in einem grünen Seidenkimono erschienen, anscheinend aus demselben Stoff genäht wie die Krawatte, verziert mit dem Rosinante-Emblem. Marian trug eine Brosche aus Smaragden und Platin, die ebenfalls mit dem Emblem geschmückt war – ein Geschenk von Mordecai Rubenstein. Skaskash trat als Toshiro Mifune auf, in einem dunkelgrauen Anzug. Am anderen Ende der Tafel, gegenüber von Cantrell, hatten Dornbrock und Bogdanovitch Platz genommen. Es war eine unglaublich schöne Party. Skaskash machte in fließendem Japanisch Konversation – mit englischen Untertiteln auf seinen Telekonschirmen (zwei kleinen Monitoren, die im rechten Winkel zu den Leuten auf seiner Seite des Tisches standen), zum größten Amüsement der japanischen Offiziere, die alle Englisch lesen konnten. Skaskash lieferte auch eine Simultanübersetzung für die Partygäste, die nicht Japanisch sprachen: Marian, Dornbrock und Bogdanovitch. Wenn das Mädchen, das den Sake einschenkte, hinter Skaskashs Monitoren vorbeiging, blieb es manchmal stehen, und dann erschien es auf den Bildschirmen, so gut synchronisiert, als würde sie in Fleisch und Blut auftauchen, kniete neben Skaskashs Manifestation nieder und füllte seinen Becher. Dann verschwand sie vom Bildschirm, und das echte Mädchen trat wieder in Erscheinung. Es gab noch andere Höhepunkte.
Der Haiku-Wettbewerb erwies sich als schön und geistreich, da Skaskash und Susan Brown die japanischen Offiziere inspirierten. Die Suppe – Muscheln und Schalotten mit Reisnudeln – bot eine Gelegenheit zu schlürfen. Cantrell, der Abendländer, beteiligte sich nicht an diesem Wettstreit. Er war durchaus vertraut mit der Regel 22. Wenn er die Suppe nicht schlürfte, war er ein Barbar, und wenn er sie schlürfte, war er nicht gut erzogen. Aber Skaskash schlürfte mit elektronischem Verstärker, worüber er selbst staunte, bis er mit seinen Stäbchen ein Mikrofon aus der Brühe fischte. Er klopfte damit an den Schüsselrand, um zu demonstrieren, daß es eingeschaltet war. Beim Hauptgang, einem ausgezeichneten Hummersalat, fesselte Kapitän Lowell seine Tischgenossen mit einem Bericht über die L-4-Meuterei. Danach sangen Skaskash und Susan Brown das Liebesduett aus Madame Butterfly, und hinterher gab Susan noch ›Eines Tages seh'n wir‹ zum besten. Beide Computer hatten die menschliche Natur gründlich studiert, und beide konnten ihre Stimmapparate in meisterhafter Weise einsetzen. In der Scala hätte das Duett wegen Skaskashs Interpretation von Toshiro Mifunes Interpretation des Pinkerton einen Aufstand entfacht. Aber Susans Arie hätte eine mittelmäßige Aufführung gerettet und eine gute gekrönt und einen zwanzigminütigen Beifallssturm ausgelöst. Als der Applaus bei der Dinnerparty verebbte, wurden die Shoji geöffnet, damit man die Kirschblüten im Mondlicht bewundern konnte. Skaskash manipulierte kunstvoll die Spiegel und erzielte die Illusion eines dunklen Himmels mit schimmernden Wolken und einem gelben Vollmond, der langsam über dem Horizont aufstieg. Captain Norigawa und Gouverneur Cantrell beendeten den Abend auf der obersten schwarzen Metallstufe, wo sie nebeneinander standen und das Feuerwerk beobachteten. »Wie schön!« sagte Norigawa, in die Betrachtung der goldenen, orangeroten und grünen Explosionen versunken, die aufblühten und dann in Kaskaden herabregneten. »Sie machen Ihre Sache ausgezeichnet hier draußen auf Rosinante, Gouverneur. Wenn Sie einmal beschließen sollten, sich von den verfeindeten Fraktionen der NAU loszusagen und Ihre Unabhängigkeit zu erklären, so können Sie der japanischen Unterstützung gewiß sein.« Am nächsten Morgen begleitete Cantrell den japanischen Captain und seine Offiziere zur Expreßlift-Transferstation. Die Kapelle spielte, ein Tenor sang, unterstützt von einem Soldatenchor, eine Ehrenwache paradierte. Cantrell bemerkte, daß neben der Rosinante-Flagge mit dem grünen Pferd das Sternenbanner der alten Konföderation, die texanische Staatsflagge und die Sterne und Streifen des Alten Regimes hingen. Die Flagge der Nordamerikanischen Union war in ihrem Kasten geblieben. Norigawa salutierte, als die Flaggen an ihm vorbeigetragen wurden, und ließ sich nicht anmerken, ob er etwas Ungewöhnliches entdeckt hatte. Cantrell strich sich mit der Hand über den Nacken und tat so, als wolle er sein Haar glätten. Bevor Captain Norigawa in den Lift trat, überreichte ihm Cantrell zwei 8 mal 13Zentimeter-Digitalaufnahmen. »Skaskash hat mir erzählt, Sie hätten um eine
Aufnahme von den gestrigen Darbietungen gebeten. Ich bitte Sie, dieses kleine Geschenk zur Erinnerung an einen schönen Abend anzunehmen.« »Vielen herzlichen Dank, Gouverneur.« »Er hat mich auch gebeten, Ihnen dies zu geben«, fuhr Cantrell fort und händigte ihm ein schmales Büchlein aus, mit japanischer Schrift bedruckt. »Er erklärte mir, dies sei eine Zusammenfassung seines vierbändigen Religionswerks.« »Ihr Vasall entwickelt beachtliche Talente. Bitte, danken Sie ihm in meinem Namen.« Norigawa las den Buchtitel. »Meditationen über das Leben im Weltraum. Die Schriftzeichen, die Skaskash für ›Raum‹ benutzt, bedeuten auch ›Leere‹.« Er begann in dem Bändchen zu blättern. »Hat er seine eigene Kalligraphie demonstriert? Ja, wie ich sehe, hat er das Buch signiert. Er hat eine wundervolle Handschrift, und ich verspreche, daß ich das Buch mit großer Aufmerksamkeit lesen werde.« Er verbeugte sich, und Cantrell erwiderte die Verbeugung. »Nochmals vielen Dank«, fügte Norigawa hinzu. »Ich fühle mich sehr geehrt«, entgegnete Cantrell. Die Lifttür schloß sich, und die japanische Marine fuhr davon. »Vasall?« murmelte Cantrell. Am 2. Januar 2042 bat Commander McInterff um eine Unterredung mit Gouverneur Cantrell. Offiziell. »Das sieht McInterff gar nicht ähnlich«, meinte Cantrell. »Ich möchte wissen, was er will...« »Das werden wir bald erfahren.« Marian goß sich eine Tasse Kaffee ein. »Wirst du den Pavillon entfernen lassen?« »Ich weiß nicht recht... Wir haben die Kirschbäume zurückgeschickt, aber ich finde den Pavillon irgendwie unterhaltsam. Ich frage mich sogar, ob ich richtige französische Türen einsetzen lassen soll.« »Commander McInterff«, meldete die Empfangsdame. »Er ist wirklich sehr pünktlich. Schicken Sie ihn herein.« McInterff trat ein, mit langem Gesicht, in seiner Klasse-A-Uniform. »Guten Morgen, Gouverneur Cantrell. Ich habe von meiner Regierung die Order erhalten, Commander Robert Lowell zu arretieren und seinen Transport nach Laputa zu arrangieren. Er muß sich wegen Hochverrats vor einem Kriegsgericht verantworten. Meine Instruktionen beinhalten das Zugeständnis, daß ich außer meinem eigenen rechten Arm kein Mittel habe, um diesen Befehl mit Gewalt auszuführen, und man hat mich angewiesen, Sie um Hilfe zu bitten.« »Seit wann haben Sie die Order?« fragte Marian. »Seit Weihnachten«, antwortete McInterff. »Ich tat so, als wäre ich in Urlaub gewesen und hätte das verdammte Ding erst jetzt gesehen. Nichts, was ich als Schiffsingenieur tun mußte, hat mich so bekümmert, aber ich wage es nicht, den Befehl zu verweigern. Hulvey hat ihn selbst unterzeichnet.« »Überlegen wir mal, was wir für Möglichkeiten haben.« Marian trank einen Schluck Kaffee. »Es gibt sicher verschiedene Maßnahmen, die wir ergreifen könnten.« »Ich weiß schon, was wir tun müssen«, sagte Cantrell. »Die Frage ist nur, wie wir es tun werden.«
17 Nebel und Dunkelheit. Hulvey stand auf einem Kopfsteinpflasterweg neben einem dunklen, langsam dahinströmenden Fluß. Sein Atem bildete eine beharrliche Wolke in der kalten, feuchten Luft, und der Dunst, der vom Wasser aufstieg, verdeckte die fensterlosen Lagerhäuser an beiden Ufern. Vor Hulvey erhob sich eine sanft geschwungene Steinbrücke, darunter verdichteten sich schwarze Schatten. Über seinem Kopf verbreitete eine einzelne Straßenlampe einen schwachen Lichtkreis. Die Leiche Joe Bob Baroodys – mit blutigem Gesicht, den rechten Arm weggesprengt, schwebte aus dem Dunkel unter der Brücke heran und löste sich im Nebel auf. Entsetzt stand Hulvey da, unfähig, sich zu bewegen. Er hörte einen Mann weinen. Die Nebelschwaden teilten sich, um den Blick auf Stanley Bowman freizugeben, der auf einer Couch lag und im Wissen um seinen drohenden Untergang schluchzte. Hulvey versuchte nach ihm zu rufen, aber kein Laut drang aus seiner Kehle. Er wandte das Gesicht ab, und Bowman verschwand. Sein Sohn Riordan, gekleidet wie auf jenem Angelausflug nach seinem Studienabschluß an der Havanna-Raketentechnikakademie, trat lautlos aus dem Dunkel. Sein gebräuntes Gesicht lächelte nicht. »Ich habe das Kommando über die NAUSS Vancouver übernommen«, sagte er. »Vater, ich liebe dich.« Er salutierte. Hulvey versuchte den Gruß zu erwidern, doch er konnte es nicht. Er versuchte seinem Sohn die Hand entgegenzustrecken, aber er konnte sich nicht rühren. Er versuchte zu sprechen, aber kein Laut kam über seine Lippen. Riordan löste sich im Nebel auf. Da drang ein schwacher, wohlbekannter, beängstigender Geruch nach antiseptischen Mitteln zu ihm. Ein kleines Mädchen rannte das Ufer hinab und schrie: »Jenny nicht weh tun! Jenny nicht weh tun!« Eine Gestalt tauchte aus dem Nebel auf, ging zögernd auf verkrüppelten Füßen. Ungeschickt kniete Dolores Ferranes nieder, zog das Mädchen mit ihren verkrüppelten Händen an sich. »Nicht weinen, Liebling. Auf mich wollte er auch nicht hören. Leben Sie wohl, Willy.« Dolores dürfte nicht hier sein, dachte Hulvey. Nicht Dolores. »Dolores!« rief er mit belegter Stimme. »Dolores, was soll ich tun?« Der Klang seiner eigenen Stimme weckte ihn. Er setzte sich auf, blickte auf den Nachttischwecker – 02 Uhr 08. Die Außentemperatur betrug 25°C. Die große Kaltwetterfront, von der sie gesprochen hatten, mußte eingetroffen sein. Er zog seinen alten blauen Bademantel an und ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen. Während der Tee zog, meldete sich Corporate Elna. »Verzeihen Sie die Störung. Dr. Khonev aus der Klinik ist am Apparat. Dolores hatte vor einer Stunde einen Herzanfall. Sie bereiten gerade einen Wiederbelebungsversuch vor, aber Khonev glaubt, daß das Gehirn geschädigt wurde. Trotzdem will er wissen, ob er weitermachen soll.« »Nein«, erwiderte Hulvey. »Dolores ist tot. Richten Sie ihm aus, er braucht sich
keine Mühe mehr zu geben.« Er goß Tee in die gelbe Melamintasse. »Wenn ich Tränen hätte, dann würde ich sie jetzt weinen. Ich habe ihr immer gesagt, daß sie zuviel geraucht hat.« »Entschuldigen Sie«, bat Elna, »aber ich habe den letzten Satz nicht gehört...« Ein langes Schweigen entstand. Dann fragte Hulvey: »Gibt's was Neues im Büro?« »Reverend Daugherty hat Sie eingeladen, in seiner TV-Sendung aufzutreten und zu erklären, warum Sie jüngst von Ihrem Glauben abgefallen sind.« »Großer Gott! Ich reorganisiere diese verdammte Regierung inmitten einer verdammten Revolution, und er will wissen, warum ich ›jüngst vom Glauben abgefallen bin‹.« Hulvey trank einen Schluck Tee. »Der arme Daugherty. Die hispanischen Katholiken sind verschwunden, die Mehrheit der Fundamentalisten hat dran glauben müssen, und er kann sich nicht ändern. Sagen Sie nein – aber höflich. Was noch?« »Wir haben Antwort von Gouverneur Cantrell auf unsere Order bekommen, Commander Robert Lowell auszuliefern.« »Oh? Auf unsere freundliche Bitte hat er ja nicht reagiert. Was sagt er jetzt?« »Er redet von Antihegemonismus und Staatsrechten und sagt im Grunde überhaupt nichts.« »Schicken Sie das Schreiben ins Justizministerium. Die sollen einen Prozeß anstrengen, so schnell wie möglich. Ich will diesen Hurensohn Lowell an die Wand stellen. Weiter!« »Da ist eine persönliche Nachricht für Sie, aus Laputa«, sagte der Computer. »Im NIWRAD-ARTNOC-Code geschrieben.« Hulvey schwieg eine Weile und beobachtete den Dampf, der aus der Tasse aufstieg. Dann entgegnete er: »Simon sagt: Sie haben meine Erlaubnis, sich an den Aufbewahrungsort des Entschlüsselungsmanipulators zu erinnern.« »Ja«, antwortete Corporate Elna. »Simon sagt: Sie haben meine Erlaubnis, die Nachricht zu entschlüsseln.« »Ja. Einen Augenblick, bitte.« Hulvey setzte sich und trank seinen Tee. »Ich bin bereit«, verkündete Corporate Elna. »Machen Sie mir eine Kopie von der Übersetzung.« Wenn er die Worte ›Simon sagt‹ vor diesen Befehl gesetzt hätte, so hätte der Computer die Übersetzung gelöscht und den Entschlüsselungsmanipulator für achtundvierzig Stunden unter Verschluß gehalten. Hulvey schob seinen Stuhl zurück und zog die Kopie aus dem Schlitz in seinem Küchentisch. ›Lieber Mr. Hulvey, da ich nie die Ehre hatte, Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen, weiß ich nicht, womit ich Ihre Feindschaft verdient habe. Jedenfalls war diese Feindschaft in den letzten beiden Jahren keineswegs die geringste meiner Bürden. Ich werde Ihnen Commander Robert Lowell unter keinen Umständen ausliefern. Ich werde ihn nicht Ihrer Gerichtsbarkeit aussetzen. Wenn dies den
Krieg bedeutet und den Riß der Bande, die Rosinante mit der Nordamerikanischen Union vereint, so möge es so sein. Die Entscheidung liegt bei Ihnen. Ich appelliere an Ihr Ehrgefühl, an Ihren Sinn für die nationalen Interessen, und ich bitte Sie, die perversen, bösartigen Beweggründe zu vergessen, die Ihre Vendetta gegen mich inspiriert haben.‹ Charles Chavez Cantrell, Gouverneur von Rosinante »Er muß Joe Bobs Verschlüsselungsmanipulator benutzt haben«, sagte Hulvey. »Und den Namen des Schlüssels hat er von der Navy erfahren. Und es war sicher nicht allzuschwer zu erraten, wohin er diese Nachricht schicken mußte.« Er goß sich noch einmal Tee ein. »Corporate Susan Brown hat er nicht erwähnt. Nun, da kann man nichts machen. ›Ich bin einmal so tief in Blut gestiegen, daß, wollt ich nun im Waten stillestehn, Rückkehr so schwierig war als durchzugehn.‹« »Sie haben's wieder mit den Klassikern, Boß«, sagte Corporate Elna. »War das Poul Anderson?« »Shakespeare – Macbeth. Vielleicht hat Anderson das Zitat mal benutzt.« Er saß in der Küche und erledigte Routinearbeiten, bis die Sonne aufging.
18 Das Büro des Dreifachen Leiters William M. Hulvey war mit echten Antiquitäten eingerichtet, mit Leihgaben aus Museen und Privatsammlungen. Die Auswahl war nach dem Kriterium erfolgt, ob der Wert dieses oder jenes Gegenstandes im letzten Jahrzehnt merklich gestiegen war. Vergoldeter Bronzekitsch war in jener Zeit hochgeschätzt worden, und vergoldeter Bronzekitsch sorgte auch in Hulveys Büro für den erforderlichen Rahmen. Da es häufig besucht wurde, stieg der Wert der ausgestellten Stücke immer höher, und die Museen und Sammler, die ihm die Sachen geliehen hatten, konnte sich eines Kitsch-Booms erfreuen. Der Leiter hielt eine Live-Konferenz mit Flottenadmiral Nguen Tran Vong und der Chefin von Vongs Technischem Operationsstab, Captain Elaine Chen, ab. »Ich bin in größter Verlegenheit«, gestand Vong. »Ich dachte wie Sie, Cantrells Drohung, aus der NAU auszutreten, wäre nur ein Bluff.« Er sah keineswegs verlegen aus. In Privatgesprächen hatte er bereits geäußert, daß Cantrell nicht bluffte. »Im nachhinein fragte ich mich – warum? Im nachhinein befahl ich, von Laputa aus Rasterfotos zu machen. Captain Chen wird sie Ihnen zeigen.« Elaine Chen nahm eine Mappe mit Hochglanzfotos aus ihrer Aktentasche und legte sie auf den Tisch. »Dies ist der Doppelpyramidenstumpf von Don Quixote nach den Aufräumungsarbeiten«, erklärte sie und zeigte Hulvey ein Foto. »Und dies ist fast die gleiche Ansicht, aufgenommen am 20. Januar. Sie zeigt die Konstruktion, die in der Zwischenzeit im rechten Pyramidenstumpf entstanden ist. Die Techniker nennen sie Violettschacht. Beachten Sie bitte das Stützsystem, das den Schacht auf zwei Ebenen drehen kann. Ich vermute, wenn man es auf einen Gegenstand an der anderen Seite der Spiegelanlage richtet, könnte man ein paar
Spiegel entfernen.« Sie griff nach einem anderen Bild. »Und dies ist eine Vergrößerung derselben Szenerie. Sie zeigt den Violettschacht ganz deutlich. Wir schätzen, daß er im Durchmesser 1020 Meter mißt und 17230 Meter lang ist. Die Außenwand besteht aus Pfettenkacheln. Diese waren früher auf den Pfettenrahmen montiert, die man von dem zerstörten Mundito Don Quixote geholt hat. Das Diamantenmuster ist ziemlich gut zu erkennen.« »Der Schacht ist doch gar nicht violett«, bemerkte Hulvey. »Warum wird er Violettschacht genannt?« Captain Chen hielt ihm ein weiteres Foto hin. »Hier sehen Sie die Vorrichtung im Operationsstadium. Bei äußerst kurzer Belichtungszeit ist die Innenstruktur klar zu sehen. Es handelt sich um eine Röhre von 12 oder 13 Meter Durchmesser, die durch die ganze Struktur läuft. Offenbar ist sie mit rot- und blaugeschichteten Spiegeln bedeckt, so daß sie violettes Licht reflektieren und grünes in die Gasmixtur weiterleiten, mit der die Röhre gefüllt ist. Sie sehen also eine große Gaslaser-Anlage, vollgepumpt von einem Spiegelgefüge mit einer Gesamtfläche von vielen tausend Quadratkilometern.« »Was ist in dieser Gasmixtur enthalten?« fragte Hulvey. »Die Radiationsdaten weisen auf Methyl-Isopropyl-Quecksilber und Kohlendioxyd hin, aber wir wissen es nicht genau.« Sie zeigte ihm ein weiteres Foto. »Das ist eine Aufnahme bei längerer Belichtungszeit. Die Außenhülle glüht im reflektierten violetten Licht, und Sie können die Innenstruktur nicht erkennen, abgesehen vom optischen Fenster am Ende – diesem kleinen weißen Fleck hier. Nach der Farbe zu schließen, muß die Temperatur des Fensters etwa 1100° C betragen, und es besteht wahrscheinlich aus Silikon. Sogar ziemlich sicher.« »Wird hier die volle Energie der Spiegelanlage genutzt?« fragte Hulvey. »Nein, zum Zeitpunkt dieser Aufnahmen haben sie nur 30 Prozent der Gesamtenergie eingesetzt. Wir haben das Spiegelgefüge fotografiert, und unser Computer hat ausgerechnet, in welchem Winkel jeder einzelne Spiegel zum Ganzen steht. Das Bild, das wir bekamen, gibt nicht die richtigen Farben wieder.« Sie zog ein Foto aus dem Stapel. »Gelb zielt auf das Laser-Gas, Rot und Rotviolett nicht. Das kleine grüne Rechteck wurde vermutlich zu anderen Zwecken verwendet.« »Könnten sie die volle Kraft des Spiegelgebildes nutzen, um die Laser-Anlage vollzupumpen?« wollte Admiral Vong wissen. »Sie sind bis zu 80 Prozent raufgegangen«, antwortete Captain Chen. »Das haben wir beobachtet. Eine formidable Waffe.« »Würden Sie sagen, daß diese Waffe genügt, um Rosinantes Unabhängigkeit von der NAU zu erzwingen?« fragte Hulvey. »Cantrell glaubt das offensichtlich«, entgegnete Vong. »Wahrscheinlich könnten wir Rosinante mit einer Salve von dreißig oder vierzig Raketen zerstören, aber ich denke nicht, daß wir so blutrünstige Maßnahmen ergreifen werden.« »Nein?« Hulvey hob die Brauen. »Versuchen Sie schon wieder, an meiner Stelle Politik zu machen, Nguen?« »Nein, Sir. Aber die beiden Mexikos und Kuba werden vermutlich die Ansicht
vertreten, daß eine so brutale Reaktion auf eine Sezession nicht gerechtfertigt ist.« Vong sah Hulvey in die Augen. »Und ich wäre derselben Meinung.« »Verzeihen Sie die Störung«, sagte Corporate Elna, »aber die Japaner haben Rosinante offiziell als unabhängige Nation anerkannt.« »Und die Japaner wären derselben Meinung wie ich«, fügte Vong hinzu. »Vielleicht nicht«, erwiderte Hulvey. »Wann ist das passiert?« »Heute morgen«, berichtete Elna. »JapaNews hat es gebracht, als offizielles Bulletin.« »Aha.« Hulvey ging zum Fenster und sah in den Hof hinab. Zarte Schneeflocken tanzten vom Himmel. »Eine hypothetische Frage, Admiral Vong – wann könnten Sie Rosinante frühestens angreifen?« »Nicht, bevor wir uns um die Alt-Regimisten in der L-4 gekümmert haben – also frühestens im März. Wir haben uns vorgenommen, dieses Problem bis zum 1. März zu lösen. Am besten wäre es, wenn sich die Alt-Regimisten kampflos ergeben würden. Sie könnten ihre Schiffe den Mexikanern überantworten und in den VS von M Zuflucht suchen. Wenn Sie kämpfen, werden wir sie ausradieren, aber beträchtliche Verluste und einigen Materialschaden erleiden. Und danach wollen Sie also eine Schwadron nach Rosinante schicken ...« Admiral Nguen Tran Vong zögerte. »Angenommen, Sie sind wirklich gewillt, eine Schwadron zu entbehren, so könnte sie am 15. März aufbrechen – am 1. April, wenn es zu Kämpfen gekommen ist.« »Und wenn wir es als wünschenswert betrachten, den Grund für das Ausrücken dieser Streitkräfte geheimzuhalten?« »Wir könnten sagen, daß wir nach Ceres fliegen. Wir hätten schon vor langer Zeit Verstärkung nach Ceres schicken sollen – und Rosinante würde beinahe auf dem Weg liegen.« »Ich erinnere mich, daß uns die Japaner da draußen Schwierigkeiten gemacht haben. Dagegen sollten wir wirklich etwas unternehmen«, meinte Hulvey. »Ja, wirklich ...« Aus Rücksicht auf Großadmiral Shinaka, den Oberbefehlshaber der Kaiserlichen Japanischen Marine, verzichtete Admiral Kogo darauf, sich die übliche Havanna Perfecto anzuzünden. Statt dessen saß er höflich an dem blankpolierten MahagoniKonferenztisch und spielte mit seinem gelben Notizblock. Seine Offiziere, in großartigen weißen Galauniformen mit Orden und Goldlitzen, saßen ebenso höflich da, wie ein Käfig voller Zirkustiger. Jeder Tiger saß auf seinem umgestülpten Eimer, jeder benahm sich so, wie man es von ihm verlangte, jeder wartete darauf, daß eine Panne passierte. »Rosinante ist einverstanden und fühlt sich geehrt«, sagte Shinaka. »Wir haben die technischen Daten für die Erzeugung der Hitzestrahlen bekommen. Bitte, überlegen Sie nun – sollen wir einen auf Gegenseitigkeit beruhenden Verteidigungspakt mit ihnen schließen, so wie wir es bereits vorgeschlagen haben?« »Wir haben sie auf diplomatischer Basis anerkannt«, entgegnete Admiral Takoba. »Das dürfte doch wohl genügen.«
»Das war notwendig«, erklärte Admiral Kogo, »da wir natürlich davon ausgingen, daß wir die Hitzestrahlen nicht selber erfinden wollten. Ein Verteidigungspakt hätte ebenfalls seine Vorteile.« »Und die wären, bitte?« fragte Takoba. »Wir plündern regelmäßig die NAU-Handelsniederlassungen auf Ceres«, sagte Kogo. »Und wir hoffen, die Basis mit der Zeit übernehmen zu können. Rosinante liegt nahe genug bei Ceres, um uns bei entsprechenden Operationen zu unterstützen, die Ende 2044 abgeschlossen sein könnten. Das heißt, die NAU wird Rosinante als Basis benutzen wollen, um Ceres zu halten, bis die NAU-Basis, die Ceres umkreist, so stark geworden ist, daß wir sie nicht mehr erobern können. Wenn wir aber einen Verteidigungspakt mit Rosinante schließen, können wir es der NAU verbieten, den Mundito als Stützpunkt zu benutzen, und Ceres wird uns wie ein reifer Apfel in den Schoß fallen.« »Aber zu diesem Zweck würden der NAU noch andere Stützpunkte zur Verfügung stehen, nicht wahr?« fragte Takoba höflich. »Selbstverständlich«, antwortete Kogo, »aber es wird sie mehr Zeit und Geld kosten, diese Stützpunkte zu benutzen. Und wenn der Wille schwach ist, werden solche Schwierigkeiten unüberwindlich erscheinen.« »Verzeihen Sie«, sagte Admiral Konowaji, »aber ich halte es für einen Fehler, eine solche Vereinbarung mit Rosinante zu treffen. Die Feindschaft zwischen Cantrell und der Nordamerikanischen Union scheint tief und bitter zu sein. Mundito Rosinante wird der NAU-Navy nicht erlauben, in absehbarer Zukunft eine Schwadronbasis auf dem Mundito zu errichten. Und wenn das Problem Ceres gelöst ist, werden wir immer noch den Vertrag haben, den Sie vorschlagen. Deshalb möchte ich Ihnen den respektvollen Rat geben, einen solchen Vertrag nicht zu unterzeichnen.« »Verzeihen Sie, Großadmiral«, sagte Takoba, »aber darf ich die Situation so verstehen, daß Sie einen Verteidigungspakt befürworten würden?« »Ich habe keine Meinung, Admiral Takoba«, verkündete Shinaka und erwiderte Takobas Verbeugung, indem er leicht den Kopf neigte. »Ich wünsche, daß wir zu einer Übereinstimmung in dieser Sache gelangen.« »Ich bin derselben Meinung wie Konowaji«, erklärte Takoba. »Wir brauchen Rosinante nicht.« Zustimmendes Gemurmel klang rings um den Tisch auf. »Admiral Kogo?« fragte der Großadmiral. »Wir könnten Rosinantes Unterstützung zwar gebrauchen«, sagte Kogo, »aber ich denke, daß wir nicht darauf angewiesen sind.« »Brauchen wir diesen Verteidigungspakt oder nicht?« wollte der Großadmiral wissen. »Ob wir ihn brauchen? Ich glaube nicht«, erwiderte Kogo. »Dann werden wir einen solchen Pakt auch nicht vorschlagen«, bemerkte der Großadmiral. Nach der Versammlung lud er Kogo in die Flaggoffiziersbar Sishi ein, ein inoffizielles Nebenlokal des Offiziersklubs, das im Keller lag. Shinaka bestellte Tintenfisch, köstliche dünne rohe Tentakelscheiben, und Kogo wählte
erstklassigen frischen rohen Thunfisch. »Diese Hitzestrahlen sind furchtbar lästig«, sagte Shinaka und gestikulierte mit seinen Stäbchen. »Warum haben wir das nicht selber erfunden? Dann hätten wir verhindern können, daß Rosinante eine solche Anlage baut.« Eine Kellnerin in einem hübschen Kimono goß zum zweitenmal grünen Tee in die Tassen der beiden Gäste. »Die Drachenskalenspiegel implizieren bereits die Hitzestrahlen«, entgegnete Kogo, »und wir haben sie nicht erfunden, weil wir uns ganz bewußt dagegen entschieden haben.« Er schob sich ein Stück Thunfisch in den Mund. »Ich war einer der dienstältesten Teammanager, als das DrachenskalenspiegelProjekt im Jahr 23 gestartet wurde«, fuhr er fort. »Und was die Admiralität damals am meisten störte, war die Möglichkeit, die Spiegelanlage als Verteidigungsbastion gegen ankommende Schiffe zu benutzen.« »Aber diese Bastion hat keine große Reichweite. Warum hatte die Admiralität Bedenken?« »Eine Stadtmauer ist eine Verteidigungsbastion mit geringer Reichweite«, erklärte Kogo und wünschte, er könnte sich eine Zigarre anzünden. »Aber wenn eine Stadt eine solche Mauer baut, könnte diese plötzlich eine Rolle in der Außenpolitik spielen. Die Admiralität fürchtete, daß sie sich durch eine solche Anlage von der Zentralregierung entfernen würde. Die Bewohner einer starken Bastion neigen aus ganz natürlichen Gründen zur Autarkie. Wenn wir uns zu einer schwer einnehmbaren Festung entwickeln – wie soll die Regierung dann unsere Steuern kassieren? In diesem Zusammenhang wurde eine potentielle Laser-Anlage gesehen, und wir haben solche Pläne nie zu verwirklichen begonnen, weil die Admiralität Angst hatte, eine so starke Waffe in den Händen der Bastionsbewohner würde letztere unkontrollierbar machen. Das ist es doch, was Sie auch jetzt bedrückt, nicht wahr?« »Ja«, gab Shinaka zu und verspeiste ein Stück Tintenfisch. »Eine Laser-Anlage würde auch die Anzahl unserer Kriegsschiffe dezimieren, und das stört mich vielleicht am allermeisten.« »Ich verstehe Ihren Standpunkt.« Kogo zog eine Zigarre aus seiner Tasche. »Bitte, rauchen Sie nicht«, sagte der Großadmiral und nahm sich eine Scheibe Reis, in Seetang gewickelt. Kogo zuckte mit den Schultern und steckte seine Havanna Perfecto wieder ein. »Solche Überlegungen spielen aber keine Rolle«, meinte er, »denn die Hitzestrahlen existieren nun mal. Entweder nutzen wir sie zu unserem Vorteil, oder wir tun es nicht, aber wir können sie nicht verschwinden lassen. Angenommen, wir nutzen sie. Dazu brauchen wir die Drachenskalenspiegel, und die hat jede japanische Niederlassung, während nur wenige nicht-japanische Siedlungen solche Anlagen besitzen. Wenn wir die Strahlen benutzen, werden wir für ziemlich lange Zeit einen bedeutenden militärischen Vorteil haben.« Lächelnd entblößte er seine Unterzähne. »Ich würde sagen – bauen wir eine Laser-Anlage.« Die Kellnerin servierte Shinaka eine zweite Portion Tintenfisch. »Das stimmt«, gab er zu und schob sich einen Bissen in den Mund. »Wir hätten einen
vorübergehenden Vorteil. Was haben Sie vor?« »Ich würde die Hitzestrahlen verwenden, um unsere Marine von der Aufgabe zu erlösen, weitverstreute Stützpunkte zu verteidigen. Dann könnten wir unsere ganzen Kräfte auf den entscheidenden Sieg konzentrieren.« »Das haben wir zum letztenmal versucht, als wir zu Beginn des Zweiten Weltkrieges das Zero-Kampfflugzeug bauten. Und was ist danach geschehen?« »Das Geheimnis der Hitzestrahlen ist jedenfalls enthüllt, Großadmiral.« Kogo trank einen Schluck Tee. »Was immer danach passieren wird, kann nicht mehr abgewendet werden. Die einzige Frage lautet nun: Werden wir durch dieses winzige Fenster der Gelegenheit klettern, das sich für uns geöffnet hat?« »Wir wollen die Rosinante-Vorrichtung erst einmal analysieren«, sagte Shinaka. »Es wäre möglich, daß wir sie verbessern können. Es ist aber genauso möglich, daß sie sich als unbrauchbar erweist. Es wäre heller Wahnsinn, mit einem Bambusspeer in den Krieg zu ziehen.« Mexiko, das sich von der NAU losgerissen hatte, spaltete sich. Die Grenze führte von Mazatlan über Torreon und Monterrey zum Rio Grande westlich von Brownsville. Im Süden befehligte General Pablo Cuevas die Junta, die in der Demokratischen Republik Mexiko herrschte und ihren Sitz in Mexico City hatte. Im Norden ernannte sich General Vincente Martin Morales zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Mexiko und regierte von Dallas aus. Im großen und ganzen unterwarf sich die L-4-Flotte Admiral Antonio Jimenez und schloß sich Morales und den VSM an. Aber es gab natürlich Ausnahmen. Das Schlachtschiff Wyoming und drei oder vier Kreuzer blieben ihrem Ideal, der Wiedereinsetzung des Alten Regimes, treu. Es war kein Zufall, daß man die hispanischen Offiziere und Soldaten von diesen Schiffen entfernt hatte. Und es war auch kein Zufall, daß die angloamerikanischen Offiziere und Soldaten, die an Bord dieser Schiffe blieben, mit dem Alten Regime sympathisierten. Da das Flottenpersonal sehr mobil war, konnte eine solche Konstellation nicht vermieden werden. Admiral Jimenez brauchte erfahrene Leute. In den VSM lebte, trotz Hulveys Völkeraustauschpolitik, immer noch eine große Anglo-Minderheit. Viele, die glaubten, daß das Alte Regime für immer tot war, ließen sich von Jimenez anwerben. Aber ebenso viele gingen andere Wege. Und so saßen die Alt-Regimisten mit ihrer winzigen Flotte in der großen NavyBasis L-4 Lambda 1 und sahen zu, wie die Welt an ihnen vorbeizog.
19 Am Morgen des 19. Januar 2042 trat der Regierungsrat von Rosinante zusammen, um zu beraten, ob sich der Mundito von der NAU trennen sollte. Gegen dieses Vorhaben opponierte vor allem Mason Fox, der Leiter der G.Y.Fox-AG. »Man hat schrecklich viel über ›Freiheit‹ geredet«, sagte er, und sein dichtes, zerzaustes rotes
Haar strafte die Förmlichkeit seines dunkelblauen Anzugs Lügen, »aber die Vorstellung, daß Rosinante noch freier sein könnte als jetzt, fällt mir schwer. Was für Steuern habt ihr der NAU bezahlt? Keine!« »Dafür haben wir Riesenschulden bei der NAU«, erwiderte Cantrell. »Und ich frage dich – welche Wohltaten haben wir von ihr empfangen? Ebenfalls keine. Habe ich recht? Natürlich habe ich recht!« »Unterbrich mich nicht, Charlie. Ich will wissen, warum ihr so versessen drauf seid, diesen – diesen Sprung ins kalte Wasser zu wagen. Das kann mir niemand erklären.« »He, Mason, als ich Bunjiro zum Lift begleitete und die Rosinante-Miliz ihre Parade inszenierte, blieb die NAU-Flagge im Kasten. Ich versuchte herauszukriegen, wer das angeordnet hatte, und jeder Offizier im ganzen Bataillon behauptete, er wäre dafür verantwortlich. Sie haben die Sterne und Streifen gehißt, und ich wagte nicht zu fragen, auf wessen Mist das gewachsen war, denn was hätte ich gemacht, wenn sie mir die gleiche Antwort gegeben hätten? Und weißt du, was die Kapelle spielte? ›Tomorrow Belongs to Me‹.« »Das hat sie schon eine ganze Weile im Repertoire, Charles«, warf Marian ein. »Aber davor kannte ich den Text nicht«, entgegnete Cantrell. »Sie ließen einen hohen Tenor singen, und der Chor trällerte: ›O Vaterland, o Vaterland, zeig uns das Zeichen, auf das unsere Kinder warten. Der Morgen wird kommen, wenn die Welt mein ist, die Zukunft gehört mir!‹ Die Miliz wünscht die Unabhängigkeit. Und jetzt erzähl mir, welche Vorteile es uns bringen würde, bei der NAU zu bleiben, Mason.« »Sie werden eine Navy-Basis auf Rosinante bauen.« »Klar. Und das wäre toll für deine Werft, was?« »Das leugne ich nicht, aber es wäre für die ganze Gemeinde gut.« »Niemand hat Sie gebeten, nach Rosinante zu kommen, Mr. Fox«, sagte Big John Bogdanovitch. »Warum sind Sie hier? Wenn es Ihnen bei uns nicht gefällt, dann gehen Sie doch wieder!« »Ich bin hier, weil die Mexikaner die L-4 übernommen haben«, erwiderte Fox. »Wenn ich Glück gehabt hätte, dann hätten sie mir meinen Laden zu einem Preis abgekauft, bei dem etwa fünf Cent auf jeden Dollar des wahren Werts gekommen wären. Aber wahrscheinlich hätte ich nur einen feuchten Staub gekriegt. Und ich gehe nicht weg von hier, weil ich woanders nicht einmal einen Pinkeltopf hätte. Es gibt keinen Ort, wo ich hingehen könnte.« »Sie sind ein reicher Mann, Mr. Fox«, erwiderte Bogdanovitch. »Und Sie können überallhin gehen, wohin Sie nur wollen. Zur L-5, nach Laputa, sogar nach LaCanaria. Wenn Sie wollten, könnten Sie nach Tellus zurückkehren. Warum bleiben Sie hier?« »Weil ich hier mein Geschäft habe. Ohne dieses Geschäft bin ich ein Niemand, nicht reicher als ein pensionierter Zivilbeamter.« »Ich verstehe«, sagte Bogdanovitch und faltete seine großen Hände auf dem Tisch. »Rosinante soll also tun, was in Ihrem Geschäftsinteresse liegt?« »Er ist der Hauptaktionär der Aktienminderheit von der Rosinante-AG«, meldete
sich Corporate Forziati zu Wort. »Wir sind es ihm schuldig, ihn zumindest anzuhören, bevor wir eine Entscheidung treffen.« »Mr. Fox wird sicher nirgends einen Platz finden, wo er weniger Miete zahlen muß als hier«, meinte Corporate Susan. »Ich kann verstehen, daß es ihm sehr gelegen käme, wenn die Navy einen Stützpunkt auf Rosinante errichten würde und er mit ihr Geschäfte machen könnte.« »Darauf kommt es nicht an«, sagte Fox. »Charlie sagt, daß er bei dieser verrückten Unabhängigkeitsbewegung mitmacht, weil sich die Miliz von der NAU trennen will. Habe ich recht, Charlie?« »Das ist einer der Gründe, Mason.« »Ich dachte, du wärst hier der Boß, Charlie. Ich dachte, dein Wort gilt. Ich dachte, du wärst der gottverdammte Gouverneur von diesem Mundito.« »Der bin ich auch, Mason«, erwiderte Cantrell. »Und wenn ich es bleiben will, dann brauche ich die Miliz. Rosinante ist alles, was ich habe. Ohne Rosinante hätte ich allerhöchstens den Teppich in meinem Büro. Tut mir leid, wenn dein Geschäft darunter leiden muß – aber ich möchte nicht riskieren, Rosinante zu verlieren.« »Du wirst den Mundito ganz sicher verlieren, wenn du dich von der NAU trennst. Um Gottes willen, Charlie, wenn du auf Nummer Sicher gehen willst, schick Kapitän Lovell nach Laputa und bleib in der NAU!« »Nein!« entgegnete Cantrell. »Er heißt Lowell«, sagte Marian. »Warum willst du nicht?« Fox war nicht verärgert, nur verblüfft. »Darüber haben wir oft genug gesprochen«, antwortete Cantrell. »Kapitän Lowell ist mein Gast, und das genügt.« »Ich begreife nicht, was hier vorgeht«, gestand Fox. Man entschied sich mit fünf zu null Stimmen für die Unabhängigkeit, wobei sich Corporate Forziati der Stimme enthielt. »Sie können sich nicht davor drücken«, sagte Fox. »Ich verlange, daß Sie dagegen stimmen!« »Darf ich noch einmal über meine Stimmenthaltung nachdenken, Herr Vorsitzender?« fragte Forziati. »Natürlich«, entgegnete Cantrell. Forziati schwieg eine Weile, dann sagte er: »Ich glaube, die Unabhängigkeit wird allen Aktionären der Rosinante-AG, auch der Aktienminderheit, nur Vorteile bringen. Ich stimme nicht mit Mr. Fox' Argumenten und Analysen überein. Ich stimme für die Unabhängigkeit.« »Verdammt will ich sein!« rief Fox. »Damit haben wir uns einstimmig entschieden«, sagte Cantrell. 23. Januar 42 Lieber Gouverneur Cantrell, der 85. Ausschuß der ranghöchsten ARS-Offiziere hat einstimmig beschlossen, Ihnen zu Ihrer Entscheidung zu gratulieren, die Unabhängigkeit von der Nordamerikanischen Union zu proklamieren. Außerdem wollen wir unserer tiefen Befriedigung über die großzügige Unterstützung Ausdruck geben, die sie Kapitän
Robert Lowell gewähren, unserem Offiziersbruder und Waffenkameraden, SS Wyoming, Captain Simon R. Whelan Erster Offizier Nathan McClusky BBNM Jane Lane, Vorsitzende des Soldatenrats SS Havanna, Commander L. Burton Halliday, Verwalter Captain Louis J. Carr III, Gewerkschaftspräsident SS Halifax, Captain Stephen C. T. Rice Lieutenant Commander Elizabeth Blanchard, Schiffsärztin Lieutenant Commander Paul Casey, Gewerkschaftsbetriebsratsvorsitzender SS San Francisco, W. W. Johnstone, interimistischer Kapitän SS Tampa, BBNM Gloria di Lido »Ich dachte, wir hätten uns Lowell als Streitobjekt ausgesucht, weil wir nicht erklären wollten, was mit Corporate Susan los ist«, sagte Cantrell. Marian nickte, goß sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich neben seinen Schreibtisch. »Aber diese Leute finden es trotzdem großartig. Sieh dir doch nur die Unterschriftenliste an.« »Ich kenne sie alle nicht. Was ist mit ihnen?« »Allein schon die Titel! Sagen sie dir gar nichts?« »Offen gestanden – nicht das geringste. Und was sagen sie dir?« »Sie erzählen vom Chaos.« Marian nippte an ihrem Kaffee. »Schau dir mal die Wyoming an. Ein ›Erster Offizier‹ und ein ›Exekutivoffizier‹ – ohne daß ein Rang angegeben ist. Und auf der Havanna haben wir einen ›Verwalter‹, um Himmels willen, und einen Captain, der außerdem ein Gewerkschaftspräsident ist! Vielleicht sogar der Gewerkschaftspräsident. Jedes Schiff hat eine andere Kommandostruktur. Seit der Revolution ist schon ein Jahr verstrichen – und sie haben sich immer noch nicht organisiert.« »Es ist erst ein gutes halbes Jahr her«, erwiderte Cantrell. »Außerdem sehe ich keine hispanischen Nachnamen. Ich vermute, diese Leute sind alle aus der ARS ausgewandert, um sich Admiral Jimenez anzuschließen. Denk mal drüber nach, Charles – was für eine Sorte von Personen ist da übriggeblieben?« »Alt-Regimisten«, antwortete Cantrell nach einer kleinen Pause. Er ging zum Fenster und zog die Jalousie ein bißchen zu, um das grelle Morgensonnenlicht zu dämpfen. »Beinharte Alt-Regimisten, radikale Anglos, namentlich bekannte Verräter, die jetzt nicht mehr zurückkönnen, was auch immer geschehen wird. Professionelle Revolutionäre – wie unsere Alamo-Studenten.« Marian stellte ihre Kaffeetasse auf Cantrells Schreibtisch. »Aber sie sind auch Navy-Leute – das Chaos ist kein natürlicher Teil ihres Wesens. Sie mögen es nicht, aber sie wissen auch nicht, was sie dagegen tun sollen. Du hast eine Gelegenheit, Charles.« »Du meinst, ich soll sie nach Rosinante holen? Angenommen, sie kommen wirklich hierher – was sollen wir mit ihnen machen?« »Du hättest eine Flotte – eine kleine Flotte, die unsere japanischen Freunde dazu ermutigen könnte, den Verteidigungspakt zu unterzeichnen. Außerdem würde sich die NAU-Navy sehr gut überlegen, ob sie uns angreifen soll.« »Dafür haben wir doch den Violettschacht.«
»Ja. Aber sind wir nun besser oder schlechter dran, wenn wir eine Navy haben?« »Würden die Schiffe denn einen Unterschied machen, Tiger?« Marian trank einen Schluck Kaffee. »O ja, Charles. Ich kann mir nicht vorstellen, daß uns die NAU eine Flotte schicken könnte, die mit einem Schlachtschiff, vier Kreuzern und der Laser-Anlage fertig würde. Die Japaner sprechen übrigens von Hitzestrahlen, und das ist kein schlechter Name. Laser – das Wort hat keinen Glamour. Jedenfalls, wenn die ARS zu uns kommt, würden sie den Übergang von der Revolution zur Sezession schaffen. Sie würden sich hier niederlassen, und die Schiffe wären ein Plus auf unserer Seite.« »Glaubst du nicht, daß sie sich mit diesem Arschloch Guthrie Moore und seiner revolutionären Pleitepartei zusammenschließen würden?« »Warum glaubst du, daß Moore ihnen Respekt einflößen könnte?« »Okay, Tiger, wir werden sie nach Rosinante einladen.« Cantrell begann langsam auf und ab zu gehen. »Aber werden sie auch kommen?« »Erstens lädst du sie nicht ein, du bietest ihnen die Zugehörigkeit zu einem Staat an. Du sagst: ›Ich kann eure Dienste gut gebrauchen, wenn ihr gewillt seid, mir zu dienen. Und ihr habt dadurch die Chance, dieses Chaos zu überwinden und wieder eine richtige Navy zu werden.‹ Sie werden kein besseres Angebot kriegen.« »Das glaube ich auch. Es müßte schön für die Alt-Regimisten sein, in den Gewässern von Rosinante zu ankern. Aber gibt es irgendeinen zwingenden Grund, warum sie zu uns kommen sollten?« Marian trank ihre Tasse leer und stellte sie wieder auf den Schreibtisch. »Überleg doch mal – die ARS steht zwischen der Mexikanischen Marine und der NAUNavy. Sie gehört weder zum einen noch zum anderen. Da, wo sie jetzt ist, kann sie nicht bleiben. Wenn die L-5-Flotte wieder gerüstet ist, wird sie sich mit der L-4 zusammentun und erst einmal die ARS vernichten.« »Ein Krieg zwischen zwei Flotten?« Cantrell drehte sich zu ihr um. »Wahrscheinlich nicht. Allein schon die Androhung eines solchen Krieges müßte die ARS auseinandersprengen. Mit ein bißchen elementarer Diplomatie könnten wir es schaffen.« Cantrell öffnete das blaue Wörterbuch, das auf seinem Schreibtisch lag. »Da steht, daß Diplomatie ›die Pflege der Beziehungen zwischen den Staaten durch die Verhandlung und die dabei angewandten Methoden‹ ist. Gehört die Androhung eines Navy-Krieges auch zur Diplomatie?« »Ach, zum Teufel! Was glaubst du denn, was Diplomatie in Wirklichkeit ist?« Marian lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Gewaltakte zwischen zwei Nationen – das ist Krieg. Die Androhung dieser Gewalt ist Diplomatie. Und die süße Vernunft ist für die Erklärung dessen reserviert, was hinterher geschieht.« »Unsinn, Tiger! Diplomatie ist die Verhandlung über Vereinbarungen, die den Interessen und dem Wohl beider Gesprächspartner dienen.« »Und wie einigen sich die Nationen darüber, wer den Löwenanteil an diesem ›Wohl‹ bekommen soll? Gewalt ist immer im Spiel. Wenn sie nicht eingesetzt wird, dann nur, weil die Diplomaten auf beiden Seiten für einen Kräfteausgleich
gesorgt haben. Und wenn eine Drohung versteckt erfolgt, so bedeutet das noch lange nicht, daß es keine Drohung ist.« »Okay, Tiger. Sagen wir also, ich mache der ARS ein Angebot. Ist das Diplomatie?« Marian dachte kurz nach. »Ja.« »Sehr schön. Und wo ist die Drohung der Gewaltanwendung?« Marian betrachtete ihre leere Kaffeetasse. »Die kommt nicht von dir, Charles. Die ARS wird von der L-5 bedroht, einem Teil der NAU-Navy, sonst hättest du überhaupt keinen Einfluß. Wenn die ARS nach Rosinante kommt, eliminiert sie die Drohung, von der L-5 ausradiert zu werden, und zieht sich aus dem Bürgerkrieg zurück.« »Gut, ich stimme dir zu, Tiger.« Cantrell nahm seine Brille ab und steckte sie ins Etui. »Aber wie habe ich mit Gewalt gedroht?« »Du hast nicht mit Gewalt gedroht, du hast versprochen, daß du sie einsetzen wirst, wenn die NAU hierherkommt, um die ARS fertigzumachen – was allerdings kaum passieren wird.« Cantrell ging zur Kaffeemaschine und goß sich eine Tasse ein. »Möchtest du auch noch eine?« »Nein, danke«, erwiderte sie. »Es könnte riskant sein«, meinte er nach einem kurzen Schweigen. »Natürlich haben wir ohnehin schon Probleme. Aber soweit ich es absehen kann – wenn wir die ARS hierherholen, würde unser Untergang langsam und etappenweise erfolgen oder der Aufstieg schnell und unmittelbar. Eine von diesen beiden Möglichkeiten wird eintreten. Sollen wir sie zum Tee einladen?« »Ich denke schon«, sagte Marian. »Ich werde mal einen Brief entwerfen. Brauchst du die Zustimmung des Regierungsrats?« »Ja«, sagte Cantrell und rief Skaskash und Susan Brown an. Die beiden Computer teilten sich den Telekonschirm. Corporate Susan trug ihren weißen Laborkittel, Skaskash erschien als Toshiro Mifune, der einen Samurai auf Wanderschaft spielte. »Hai?!« sagte er. »Lesen Sie das.« Marian legte den ARS-Brief mit der Vorderseite nach unten auf die Telekonplatte. »Sehr interessant«, murmelte Skaskash. »Wollen Sie die Leute nach Rosinante einladen?« »Darüber werden wir bei einer Ratsversammlung sprechen«, antwortete Cantrell. »Vielleicht werden wir's tun. Aber ich möchte vorher Ihre Meinung dazu hören.« »Mrrrrmh«, machte die Mifune-Stimme. »Suchen Sie nach potentiellen Verbündeten in Ihrem Kampf gegen die NAU?« erkundigte sich Corporate Susan. »Ich würde sagen, daß wir sie bereits gefunden haben«, erwiderte Marian. »Was halten Sie davon?« »Das kommt darauf an: Wer soll Flottenadmiral werden – falls sie wirklich zu uns kommen?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, sagte Cantrell. »Vielleicht Lowell?« »Nein!« riefen Corporate Susan, Skaskash und Marian unisono. »Er könnte dem Admiralsstab angehören«, meinte Marian, »aber er hat sein Schiff innerhalb eines Jahres immerhin zweimal verloren. Ich will ihn nicht als Admiral haben.« »Seine Loyalität gegenüber Rosinante ist über jeden Zweifel erhaben«, bemerkte Skaskash. »Wir haben ihm einen großen Dienst erwiesen, und womöglich ist er von seiner Dankbarkeit so überwältigt, daß er uns eines Tages zu hassen beginnt.« »Ich kenne ihn nicht«, sagte Corporate Susan. »Sicher gibt es doch auch in den Rosinante-Kreisen ein Talent, das eine kleine Flotte befehligen könnte?« »Soll ich diese Position übernehmen?« fragte Cantrell. »Nein«, entgegnete Marian. »Du könntest deiner Position als Oberbefehlshaber nicht gerecht werden, wenn du auch noch den Admiralshut aufsetzen würdest.« »Nun, ich höre mir gern ein paar Vorschläge an.« »Corporate Susan Brown«, sagte Skaskash. »Es wird 50 bis 60 Tage dauern, die ARS hierherzubringen – das hängt davon ab, wie bald sie aufbrechen. Wir hätten also genügend Zeit, die erforderliche Strategie auszuarbeiten.« Mifune zog sein Schwert um ein paar Zoll aus der Scheide, dann schob er es mit einer entschlossenen Geste wieder hinein. »Die meisten Probleme sind trivialer Natur«, fügte er hinzu. »Einfache Exerzier- und Verproviantierungsübungen.« »Sind Sie bereit, Admiral der Alt-Regimisten-Schwadron zu werden?« fragte Marian. »Ja«, antwortete Corporate Susan, »allerdings muß sie einen neuen Namen erhalten – vielleicht die ›Rosinante-Weltraumflotte‹.« »Sehr schön«, meinte Marian. »Dann werde ich also einen Brief an die ARS aufsetzen und dem Regierungsrat zur Billigung vorlegen – sagen wir, heute nachmittag um 15 Uhr.« »Hai!« rief Skaskash mit einer formellen Verbeugung. »Natürlich«, sagte Corporate Susan. Cantrell nahm einen Schluck Kaffee. »Ja, so ist es wohl am besten.«
20 Am Morgen des 1. Februar 2042 saß Präsident Oysterman bei einem Arbeitsfrühstück in dem kleinen Speisezimmer, dessen Fenster auf das Atrium des Präsidentenhauses in St. Louis hinausgingen. Man servierte den Leitern der verschiedenen Regierungsämter Orangensaft, Rührei oder Spiegeleier, Cocktailwürstchen, Bratkartoffeln, Toast mit Marmelade, Kaffee oder, für William Hulvey, Tee. Zur Zeit des Alten Regimes hätte man diese Zusammenkunft als Kabinettssitzung bezeichnet. »Das Neuansiedlungsprogramm in Südkalifornien geht doch gut voran, nicht wahr?« meinte der Präsident. »Eine Viertelmillion Texaner haust immer noch in Zelten«, berichtete Branigan,
der Leiter des Wohnungsbauministeriums. »Aber die Aufräumungsarbeiten im abgebrannten Teil von Los Angeles machen gute Fortschritte. Wir haben bereits 25 Kilometer Baugelände zur Verfügung und werden noch in dieser Woche die ersten Bauverträge abschließen.« »Großartig!« rief Oysterman. »Was halten Sie davon, Mr. Hulvey?« »Das ist sehr schön, Sir. Ich habe versucht, die Sache zu beschleunigen, indem ich den Bauunternehmern Informationen zukommen ließ – natürlich inoffiziell.« »Was haben Sie ihnen gesagt?« wollte Branigan wissen. »Sie sollen in bescheidenem Maße stehlen«, antwortete Hulvey. »Es gibt keinen verdammten Grund, warum sie nicht gute Arbeit leisten und trotzdem was dran verdienen sollten.« Der Präsident kicherte. »In bescheidenem Maße stehlen ... Oh, das ist köstlich, Mr. Hulvey!« Hulveys Gürteltelefon läutete. »Hier Admiral Vong«, meldete sich eine vertraute Stimme. »Sie wollten sofort verständigt werden, wenn die Alt-Regimisten irgendwas unternehmen. Können Sie reden?« »Ich frühstücke gerade mit dem Präsidenten, aber erzählen Sie mir trotzdem, was passiert ist.« »Die ARS hat die Basis Lambda-1 vor einer Stunde verlassen.« »Welche Schiffe?« »Die SS Wyoming, der schwerbewaffnete Kreuzer San Francisco sowie die Patrouillenkreuzer Halifax, Havanna und Tampa. Zwei oder drei Handelsschiffe haben sich noch dazugesellt.« »Was ist geschehen?« fragte der Präsident. »Die ARS – die Alt-Regimisten-Schwadron ist aus Lambda-1 abgezogen«, antwortete Hulvey. »Vor einer Stunde.« »Sprechen Sie mit Admiral Vong? Warum schalten Sie ihn nicht aufs Telekon, damit wir alle die aufregenden Nachrichten hören können?« »Wie Sie wünschen. Ich schalte Sie jetzt aufs Telekon, Admiral.« »Sehr schön«, drang Vongs Stimme aus dem noch unbeleuchteten Telekongerät. »Moment, ich muß mich erst vor den Bildschirm setzen.« »Was sollen wir bezüglich der ARS unternehmen?« fragte Gradier, der Leiter des Landwirtschaftsministeriums. »Was schlagen Sie vor?« »Wir müssen sie vernichten«, sagte Hulvey. »Ich dachte, die Frage wäre an mich gerichtet«, beschwerte sich der Präsident. »Verzeihen Sie, Herr Präsident«, bat Hulvey. »Die Erregung hat mich mitgerissen.« Vong erschien auf dem Telekonschirm und sah sehr imposant aus in seiner blauen Galauniform, mit Orden und allem Drum und Dran, eine Illusion, die sein persönlicher Computer erzeugt hatte. »Ich glaube, Sie kennen alle Anwesenden, Admiral Vong«, sagte Hulvey. »Sie wollten etwas fragen, Herr Präsident?« »Ja, ich glaube schon, Mr. Hulvey ... Ah – Admiral Vong, diese Schiffe – wohin fliegen sie denn?«
»Ins All hinaus. In ein paar Tagen werden wir ihren Kurs eruieren können, aber ich nehme an, sie werden Rosinante ansteuern.« »Sie fliegen also zu den Asteroiden?« »Ja, Sir.« »Na, dann sollen sie mal... Vielleicht können wir nun endlich darangehen, Ordnung im Land zu schaffen, ohne daß diese schrecklichen Leute versuchen, das Alte Regime wiedereinzusetzen.« Oysterman nahm einen Schluck Orangensaft. »Mr. Hulvey, warum wollen Sie diese kleine Schar von Tölpeln vernichten? Warum lassen Sie sie nicht einfach laufen?« »Weil sie die Legitimität unseres Regimes leugnen«, erwiderte Hulvey. »Und weil sie unser Leben bedrohen.« »Unsinn, Mr. Hulvey! Der Rest der L-4-Flotte ist viel größer, und der ist doch auch keine Bedrohung.« »Der Rest der L-4 hat sich den Vereinigten Staaten von Mexiko angeschlossen – einem Staat, den wir anerkannt haben und der uns anerkannt hat. Die restliche L-4 mag eine Bedrohung darstellen – jede Flotte stellt eine Bedrohung dar –, aber sie versucht nicht, unsere Regierung zu stürzen, und wir befinden uns nicht im Krieg miteinander.« »Das alles klingt wirklich sehr ermutigend, Mr. Hulvey«, sagte der Präsident. »Admiral Vong, glauben Sie tatsächlich, daß die Schiffe nach Rosinante fliegen?« »Ja, Herr Präsident. In den letzten beiden Tagen hat der ARS-Ausschuß von nichts anderem gesprochen.« »Der ARS-Ausschuß?« »Der Alt-Regimisten-Schwadrons-Ausschuß der ranghöchsten Offiziere«, erklärte Vong. »Das ist eine Art Regierung, die diese Meuterer eingesetzt haben.« »Ich verstehe. Und Rosinante unter diesem Cantrell – haben die nicht erklärt, sie würden sich als ein Teil von Texas betrachten? Ja ... Sie sagten, sie wären ein Teil von Texas, und vor ein paar Tagen trennten sie sich von der NAU.« Oysterman kicherte. »Ein Teil von Texas – draußen zwischen den Asteroiden – ach, wie komisch ...« »Ja, Herr Präsident«, sagte Branigan und lächelte pro forma. »Will Rosinante unsere Regierung stürzen, Mr. Hulvey?« fragte der Präsident. »Wir wissen, daß sie mit dem Alten Regime sympathisieren.« »Halten Sie mich für einen Trottel, Mr. Hulvey?!« schrie Präsident Oysterman und ballte seine kleinen Hände. »Ich verlange eine Antwort auf meine Frage!« »Dann muß ich sagen – wahrscheinlich nicht, Herr Präsident. Wie Sie sich vielleicht erinnern werden, gab Gouverneur Cantrell der Hoffnung Ausdruck, daß wir in Frieden miteinander leben könnten.« »Ja, ich erinnere mich. Wie schrecklich clever von Ihnen zu wissen, woran ich mich erinnere.« Oysterman wandte sich an den NAURA-Staatsverwalter. »Mr. Adams, warum können wir Rosinante nicht genauso anerkennen wie die beiden Mexikos?« »Ja, warum nicht... eh – das weiß ich nicht – eh – wir werden ja auch Kuba anerkennen ...« »Wunderbar!« meinte der Präsident. »Wenn wir Rosinante anerkennen und
diesen – diesen ARS-Ausschuß – so haben Sie ihn doch genannt, nicht wahr? –, dann wird Gouverneur Cantrell sicher dafür sorgen, daß er sich gut benimmt. Was halten Sie davon, Admiral Vong?« Vong warf einen kurzen Blick auf Hulvey und sah dann wieder Oysterman an. »Ja, Herr Präsident, ich denke, Cantrell würde sich um die ARS kümmern.« Sein Blick kehrte für eine Sekunde zu Hulvey zurück. »Auch wenn Sie die ARS verfolgen wollten – sie hätte die halbe Strecke nach Rosinante schon zurückgelegt, bevor wir ihr unsere Flotte nachschicken können.« Nun schaute er Hulvey direkt in die Augen. »Wir haben zwar ein paar Patrouillenkreuzer, die früher aufbrechen könnten, doch es wäre eine schlechte Taktik, nur ein paar Flottenfragmente abzukommandieren.« »Ich bin froh, daß Sie mit mir übereinstimmen, Admiral«, sagte der Präsident. »Sie sind nicht meiner Meinung, was, Mr. Hulvey? Das erkenne ich an der Art, wie Sie die Schultern einziehen ... Aber da kann man eben nichts machen«, fügte er kichernd hinzu. »Auf diese Weise erwischen wir zwei Fliegen mit einer Klappe – und denken Sie doch mal an das viele Geld, das wir sparen. Das könnten wir benutzen, um in Los Angeles zu bauen, nicht wahr, Mr. Branigan?« »Allerdings, Herr Präsident«, antwortete Branigan mit einem herzlichen Lächeln. »Auf diese Weise würde das Geld wirklich einem guten Zweck zugeführt.« Oysterman grinste. »Und was sagen Sie zu meiner Politik, Mr. Hulvey?« »Sie gefällt mir nicht.« Hulvey spießte das letzte Cocktailwürstchen auf die Gabel und verspeiste es. »Wenn ich auch nicht leugnen kann, daß sie für das Land gewisse Vorteile bringen wird.« »Oh, Mr. Hulvey, wie ich Ihre Fairneß bewundere! Es gehört wirklich eine starke Persönlichkeit dazu, einzugestehen, daß dieser ›mitleiderregende Schwachkopf‹ auch mal eine richtige Entscheidung treffen kann und daß man sich selber geirrt hat. Nicht wahr, Mr. Hulvey?« »Welcher Punkt steht nun auf Ihrer Tagesordnung, Admiral Vong?« fragte Branigan hastig. »Wir bereiten uns darauf vor, eine Sondereinheit zu unserer Ceres-Basis zu schicken. Wie Sie wissen, haben wir Ärger mit den Japanern, die immer wieder unsere Handelsschiffe und Niederlassungen plündern.« Gouverneur Charles Cantrell eröffnete am 9. Februar 2042 um 23 Uhr 00 eine Sondersitzung des Rosinante-Regierungsrats. »Ich gehe davon aus, daß Sie alle Gelegenheit hatten, den Vorschlag zu studieren, den uns die NAURA-Staatsverwaltung unterbreitet hat«, sagte er. »Nun möchte ich Ihre Kommentare hören.« »Es ist merkwürdig, daß dieser Vorschlag von der NAURA-Staatsverwaltung kommt und nicht von der NAURA-Navy«, meinte Bogdanovitch. »Schau doch den Tatsachen ins Auge, Big John!« rief Dornbrock. »Diese Idee ist hirnverbrannt, egal, auf wessen Mist sie gewachsen ist. Oysterman versucht Geld zu sparen, indem er die Operationen der NAU-Navy einschränkt.« »Dornbrock hat den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte Marian. »Die NAU bietet uns Geld an, und wir sollen dafür – im Dienst ihrer Interessen – eine
Schwadron befehligen, die wir noch nicht einmal haben. Aber sie bietet uns weder die diplomatische Anerkennung noch einen Verteidigungspakt an. Nur Geld, keine Waffen.« »Geld ist auch eine Waffe«, warf Corporate Forziati mit sanfter Stimme ein. »Verdammt, Forziati, Oysterman versucht uns als Söldner anzuwerben!« rief Marian. »Um mit Machiavelli zu sprechen, würde ich lieber den Ausdruck ›Hilfstruppe‹ gebrauchen«, schaltete sich Skaskash ein. »Söldner werden auf individueller Basis von ihrem Anführer engagiert. Hilfstruppen sind vollbeschäftigte Angestellte ihres Fürsten, der sie weitervermietet. Die ARS gehört eindeutig zur letzteren Kategorie. Die individuellen Mitglieder der Bürgerschwadron von Rosinante haben wir bereits.« »Dr. Yashon hat recht«, sagte Corporate Susan. »Wenn wir das NAU-Angebot annehmen, werden wir in die Verteidigungsoperationen rings um die Basis bei Ceres hineingezogen. Und gegen wen würden wir sie verteidigen? Gegen die Japaner. Wenn uns die Japaner den Krieg erklären – wer würde uns dann helfen? Niemand. Wer würde um unser Hinscheiden trauern? Ein paar Leute auf Ceres. Und was wäre unser Schicksal? Die totale Zerstörung.« »Aber die NAU bietet uns ein Vermögen an«, entgegnete Forziati. »Und was sollen wir mit der ARS machen, wenn wir das NAU-Angebot nicht annehmen? Sollen wir sie als Feldarbeiter einsetzen?« »Mason Fox würde gern einen Teil dieses Geldes einstreichen, nicht wahr?« fragte Corporate Susan. »Würden wir das nicht alle?« rief Forziati. »Wenn es keine Risiken gäbe – wäre da der Gewinn so groß?« »Es ist auch riskant, das Angebot nicht anzunehmen«, meinte Cantrell. »Wenn die NAURA-Navy eine Verteidigungsexpedition nach Ceres vorbereitet, wäre es für sie nur logisch, von einer Basis auf Rosinante aus zu operieren. Entweder machen sie uns ein Angebot, das wir nicht ablehnen können, oder die Japaner werden uns gleichfalls etwas offerieren. Und wir werden eine winzige Nation sein, die versucht, an einem strategisch wichtigen Punkt inmitten eines großen Krieges neutral zu bleiben.« »Lassen wir die NAU-Navy erst mal herkommen«, schlug Marian vor, »dann können wir uns immer noch entscheiden, auf welche Seite wir uns stellen wollen. Nur weil man nicht die erste Gelegenheit ergreift, sich kopfüber in einen Krieg zu stürzen, heißt das noch lange nicht, daß kein Krieg ausbrechen wird.« »Sollte man sein Schicksal nicht selbst in die Hand nehmen, statt willenlos im rauschenden Fluß der Ereignisse dahinzutreiben, wohin immer einen die Strömung auch tragen mag?« fragte Bogdanovitch. »Das haben Sie hübsch gesagt, Big John«, erwiderte Marian. »Heißt das, daß Sie glauben, wir sollten es tun?« »Ja. Ich persönlich bin der NAU in patriotischer Liebe zugetan, und ich finde es richtig, daß wir ihr in schweren Zeiten helfen.« »Wir sind Bürger von Rosinante«, sagte Corporate Susan. »Wir gehören nicht zur
NAU. Stimmen Sie für unsere Interessen – nicht für Ihre kitschige Sentimentalität.« »Wir waren NAU-Bürger, lange bevor es Rosinante gab«, erwiderte Bogdanovitch. »Wir haben alte Wurzeln, die man nicht einfach ausreißen kann.« »Wir werden versuchen, Zeit zu gewinnen«, ergriff Cantrell das Wort. »Wir werden erklären, daß uns der Vorschlag gefällt, aber wir wollen einen Verteidigungspakt auf gegenseitiger Basis schließen – oder wir wollen noch mehr Geld haben. Aber darüber wollen wir abstimmen. Marian?« »Ich bin ganz entschieden dagegen. Wenn es einen Weg gibt, dieses Angebot abzulehnen, so sollten wir ihn gehen.« »Skaskash?« »Ich bin derselben Meinung wie Marian«, sagte der Computer. »Aber unglücklicherweise glaube ich, daß wir das Angebot nicht ablehnen können.« »Big John?« »Sieh zu, daß du noch mehr Geld rausholst, aber schlag dich auf die Seite der NAU.« »Don?« »Es ist ein gutes Angebot. Ich würde sagen, nimm es an, so wie es ist, und schaff neue Arbeitsplätze. Wir hätten zum erstenmal seit Jahren wieder was zu tun.« »Forziati?« »Ich würde es annehmen. Aber es könnte nicht schaden, mehr Geld zu verlangen.« »Dr. Brown?« »Wie Sie wissen, befürwortet ein Großteil der Alamo-Frontruppe einen Kampf. Ich glaube, es wäre ihnen egal, ob sie gegen die NAU oder gegen Japan kämpfen würden. Aber es wird Sie vielleicht überraschen zu erfahren, daß die Mehrheit der koreanischen Japanerinnen gegen ein Bündnis mit Japan ist. Außerdem finde ich das nautische Studium, das ich begonnen habe, ungeheuer faszinierend. Ich kann verstehen, daß ein Mensch von solchen Interessen völlig gefesselt wird. Und ich würde es genießen, in Kriegszeiten als Admiral zu fungieren. Aber nichts von alldem schafft die Tatsache aus der Welt, daß es eine unvernünftige Maßnahme wäre, im NAU-Krieg gegen die Japaner zu kämpfen. Und deshalb bin ich dagegen, das Angebot anzunehmen. Letzten Endes werden wir vielleicht keine andere Wahl haben – aber ich bin dagegen.« »Gut«, sagte Cantrell. »Skaskash, würden Sie bitte einen Brief aufsetzen? Wir bitten um einen Verteidigungspakt, der auf Gegenseitigkeit beruht, und wir verlangen eineinhalbmal so viel wie die angebotene Summe.« Skaskash verschwand vom Telekonschirm, und ein Brief erschien, den der Regierungsrat schweigend las. »Und was passiert, wenn Präsident Oysterman damit einverstanden ist?« fragte Marian. »Der Vertrag müßte erst noch vom Senat ratifiziert werden.« »Dann nehmen wir das Angebot an«, entgegnete Cantrell. »Und wenn der Senat den Vertrag nicht ratifiziert, haben wir die Chance, abzuspringen.« »Nein, Charles«, sagte Marian. »Der NAU-Senat kann debattieren und die
Entscheidung hinauszögern, während wir hier verbluten. Wir können uns nicht raushalten – nicht, wenn es zu Kampfhandlungen kommt.« »Du hast vermutlich recht. Verdoppeln Sie unsere Forderung, Skaskash.«
21 Macht ist eine Illusion, geschaffen von Leuten, die einem einreden, daß man mächtig ist. Spiegel können diesen Vorgang unterstützen – aber die Selbsttäuschung unterstützt sie noch wirkungsvoller. Die Selbsttäuschung, die von dem Wunsch genährt wird, Macht auszuüben ... Büro des NAURA-Army-, Navy- und Sicherheitsdienstleiters 14. Februar 42 Lieber Herr Präsident, unsere Meinungsverschiedenheit bezüglich der Frage, wie Ceres zu verteidigen wäre, ist zu groß und unüberbrückbar geworden, als daß sich dieses Problem noch lösen ließe. Bitte, nehmen Sie meinen Rücktritt an. Ich möchte als Leiter der NAURA-Navy und -Army sowie des Sicherheitsdienstes mit sofortiger Wirkung zurücktreten. Wenn Sie es wünschen, werde ich die Ämter in interimistischer Funktion weiterhin verwalten, bis der Senat Ihre Wahl meiner Nachfolger ratifiziert hat, aber ich glaube, das wäre unklug. Mit vorzüglicher Hochachtung, /s/ William M. Hulvey Präsidentenhaus 14. Februar 42 Lieber Mr. Hulvey, mit tiefstem Bedauern nehme ich Ihren Rücktritt an. Ihre starke Führernatur war in den vergangenen schweren Zeiten von unschätzbarem Wert, und die Historiker der Zukunft werden Sie sicher als den Architekten der Neuen Nordamerikanischen Union feiern. Bitte, räumen Sie noch heute vor Büroschluß Ihre Schreibtische aus. Mit vorzüglicher Hochachtung, /s/ Dr. Henry Oysterman, Präsident. Die Kündigung des dreifachen Leiters blieb für die Angehörigen des Regierungsviertels von St. Louis ein unlösbares Rätsel. Von Rechts wegen hätte er Oysterman zum Rücktritt zwingen müssen, oder – noch einfacher – er hätte ihn töten und die Zügel der Macht in seine eigenen fähigen Hände nehmen können. Schließlich entschied man sich für die Version, daß Hulvey aus Treue zur NAU zurückgetreten war und daß er dadurch ihre Überlebenskräfte stärken wollte. Man konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mann, der die Möglichkeit hatte, die Macht an sich zu reißen, seine Chance nicht nutzte, weil er sich nicht mehr für die Macht interessierte.
22 Die 1342 Offiziere und Soldaten der Alt-Regimisten-Schwadron formierten sich vor dem japanischen Pavillon. Hinter ihnen spielte leise die Kapelle. Um Punkt 8 Uhr glitten die Shoji zur Seite, und Gouverneur Cantrell betrat das Podium. »Guten Morgen, meine Damen und Herren. Einige von Ihnen haben mein Foto gesehen, andere sind mir schon persönlich begegnet. Ich bin Charles Chavez Cantrell, der Gouverneur von Rosinante. Wir haben uns hier versammelt, um zu hören, wie Sie den Bürgereid ablegen, um als neue Bürger von Rosinante anerkannt zu werden. Heben Sie die rechte Hand, und sprechen Sie mir nach: ›Ich‹ – und jetzt nennen Sie Ihren Namen ...« Die Menge hob die rechten Hände und begann den Eid zu wiederholen. »›... schwöre an diesem Tag, dem 23. April 2042, daß ich jede Bindung zu anderen Staaten oder anderen Machtausübenden aufgeben werde, denen ich vorher untertan war oder denen ich untertan gewesen wäre, wenn ein solcher Staat oder ein solcher Machtausübender tatsächlich existiert hätte. Von nun an werde ich den Staat Rosinante unterstützen und verteidigen, so wie es dieser Staat rechtmäßig verlangen kann. Ich gehe diese Verpflichtung aus freiem Willen ohne irgendwelche verstandesmäßigen Bedenken ein, so wahr mir Gott helfe.‹ Sie sind nun Bürger von Rosinante. Sie bilden außerdem die Navy von Rosinante, und ich rufe nun jene, die bereit sind, dazu auf, ihre Einstellung in die Rosinante-Navy anzuerkennen, indem sie einen Schritt vortreten.« Wie ein Mann trat die Menge vor, inklusive einiger kleiner Kinder. »Ein paar von Ihnen sind noch etwas jung, ich heiße sie aber trotzdem willkommen.« Allgemeines Gelächter. »Da Sie nun die Rosinante-Navy konstituieren, ist es wohl angebracht, Ihre Schiffe neu zu taufen«, fuhr Cantrell fort. Hinter ihm senkte sich eine Filmleinwand herab, und gleichzeitig manipulierte Skaskash die Spiegel, um die helle Morgensonne unter den Horizont zu verbannen. Cantrell fuhr mit dem Podium an die Seite der Leinwand, auf der nun das Bild der Halifax erschien. Davor stand Gouverneur Cantrell auf einer imaginären Plattform und wartete auf sein Stichwort. »Da wir im Weltraum wohnen«, sagte er live, »erübrigt es sich, unsere Schiffe als ›Spaceships‹ zu bezeichnen. Sie sind ganz einfach die Rosinante-Navyships, RNS. Und da wir kein neues Volk sind, hat unsere Heimat ihre Geschichte, und unsere Ahnen sind so alt und ehrenwert wie alle potentiellen Ahnen des Solarsystems. Eines Tages werden unsere Kinder sicher fragen, wer sie sind und welche historische Bürde sie tragen müssen. Unser Volk stammt aus der Nordamerikanischen Union und zu einem hohen Prozentsatz aus Texas. Ein Teil kommt auch aus Japan, und zwar aus Korea. Unsere Geschichte wurzelt in den Kriegen der Erde, des fernen Planeten, den wir Tellus nennen, und dies hat die Form unserer Institutionen und Gebäude ebenso geprägt wie die Eindrücke, die unser Geist dadurch gewonnen hat. Diesen Patrouillenkreuzer taufe ich nun in RNS Tet um.«
Auf der Filmleinwand zerschnitt Cantrells Gestalt ein Band, und ein Frachtnetz, vollgepackt mit Nebukadnezar-Champagner, fuhr auf einem Wagen zu dem Kreuzer, um an seinem gepanzerten Steven zu zerschellen. Eine kaum sichtbare Wolke aus weißem Schaum stieg auf. »Dieser Name erinnert an eine Schlacht im Vietnamesischen Krieg, eine Schlacht, in der die Armeen unserer Ahnen, Amerikaner und Koreaner, den Feind vernichteten, nur um die Liebe und Gefolgschaft ihrer eigenen Leute zu verlieren. Der Name wurde gewählt, um uns zu ermahnen, daß es notwendig ist, sowohl klug als auch hart zu kämpfen, zu wissen, daß das, wofür wir kämpfen, gut und richtig ist und daß auch der Kampf gut und richtig ist. Der Name soll uns daran erinnern, daß der Sieg ebenso wie die Niederlage nur eine Illusion ist, die man mit Spiegeln heraufbeschwört.« Das Bild der RNS Tet löste sich auf und wurde durch den Kreuzer Havanna ersetzt. »Diesen Kreuzer taufe ich RNS Pearl Harbor«, fuhr Cantrell fort. Auf der Filmleinwand zerschnitt er wiederum ein Band, um die winzige Champagnerwolke aufquellen zu lassen. »Dieser Name erinnert an den Beginn eines großen Krieges zwischen Japan und den Vereinigten Staaten von Amerika.« Ein Jubelgeschrei erklang, und er wartete, bis es verstummt war. »Wir wählen diesen Namen, um uns als Japaner daran zu erinnern, daß ein brillanter taktischer Sieg errungen wurde – und um uns als Amerikaner der Niederlage zu entsinnen, die den Enthusiasmus eines mächtigen Volkes inspirierte – um nicht zu vergessen, daß im Krieg die geistigen und moralischen Wertmaßstäbe eines Volks von ungeheurer Bedeutung sind und daß ein Krieg der ultimative Test dieser Werte ist. Und wir wollen uns erneut daran erinnern, daß Sieg und Niederlage nur Bilder in dem Spiegel dessen sind, der sie heraufbeschwört.« Die RNS Pearl Harbor verschwand, und der Kreuzer Tampa tauchte auf. »Diesen Patrouillenkreuzer nenne ich RNS Hampton Roads.« Das Band wurde zerschnitten, der Champagner schäumte. »Dieser Name weckt die Erinnerung an den Krieg zwischen den Staaten. ›Shiloh‹ wäre schöner, aber Hampton Roads war der Ort, wo die Monitor gegen die Merrimac kämpfte. Wir erinnern uns daran, weil beide Seiten versuchten, neue Technologien anzuwenden. Die Schlacht führte zu einem hart erkämpften Unentschieden, obwohl die eine Seite dringend einen klaren Sieg gebraucht hätte. Sieg und Niederlage treten in mannigfacher Verkleidung auf.« Das Bild der RNS Hampton Raods löste sich auf, und der Kreuzer San Francisco zeigte sich. »Diesen Kreuzer taufe ich RNS Inchon Landing«, sagte Cantrell. Champagner schäumte. »Der Name erinnert an den Krieg zwischen Korea und den Vereinigten Staaten von Amerika.« Diesmal erklang Applaus, aber kein Jubel. »Wir haben ihn gewählt, um uns an den brillantesten Sieg eines der brillantesten Generäle in unserer Geschichte zu erinnern. Es war sein Streich, der den Sieg bewirkte. Unglücklicherweise war jener General, von der Euphorie des Siegers erfüllt, nicht fähig, eine Ausweitung des Krieges zu verhindern, als China, der Verbündete Nordkoreas, in die Kämpfe eingriff. Wir können es uns nicht leisten,
uns hinsichtlich des Sieges oder der Niederlage irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Und wir können uns auch nicht erlauben, in Euphorie zu schwelgen oder in hoffnungsloser, passiver Verzweiflung zu versinken.« Die RNS Inchon Landing wurde nun von der viel größeren Wyoming verdrängt. »Dieses Schlachtschiff nenne ich RNS Alamo.« Der Champagner schäumte zum letztenmal. »Welche Erinnerungen dieser Name auch immer wachrufen mag, er sollte Sie auch nicht vergessen lassen, daß ich Politiker bin und daß die texanischen Anglos einmal einen wesentlichen Teil meiner Verfassung bildeten. Die Lektionen, die wir aus den Alamo-Ereignissen lernen können, unterscheiden sich nicht wesentlich von jenen, an die uns die anderen Schiffe gemahnen. Aber etwas möchte ich noch hinzufügen: Wenn man einmal alle Illusionen ausschaltet, so ist die Erinnerung an gewisse Werte ein unschätzbares Gut. Wir werden nun an einem Krieg gegen Japan teilnehmen, ohne die Hoffnung, ihn gewinnen zu können, wobei ich den Begriff ›gewinnen‹ im üblichen Sinne gebrauche. Wir haben mit der NAU einen Vertrag abgeschlossen, den wir zu erfüllen versuchen – nicht, weil wir das für richtig halten, sondern weil wir keine andere Wahl hatten. Was ist Ceres schon? Warum sollen wir dafür sterben? Ceres bedeutet uns nichts. Was hat Japan getan, um unsere Feindschaft zu verdienen – was die NAU, um unsere Liebe zu erringen? Nichts. Aber wir haben einen Vorteil – wir allein werden ums Überleben kämpfen. Die anderen, die NAU und Japan, merken kaum, daß sie gegeneinander Krieg führen, und darin liegt unsere Hoffnung. Dies sind alle Schiffe, die uns zur Verfügung stehen. Könnten Sie jetzt die Sonne wieder scheinen lassen, Skaskash?« Als die Sonne an ihren Himmelsplatz zurückgekehrt und die Filmleinwand davongerollt war, gingen die Offiziere der Rosinante-Navy in den Pavillon, um sich persönlich von Cantrell vereidigen zu lassen. Um 15 Uhr 30 stieg Cantrell die Treppe hinauf, die vom Pavillon zu seinem Büro führte. Er goß sich eine Tasse Kaffee ein, setzte sich in seinen großen Schreibtischsessel und zog die Schuhe aus. »Der Botschafter der Nordamerikanischen Union möchte Ihnen seine Aufwartung machen«, sagte die Empfangsdame. »Heute?« fragte Cantrell. »Okay, schicken Sie ihn rein. Nein, warten Sie – schicken Sie ihn erst rein, wenn ich meine Schuhe wieder anhabe.« Ein großer Mann mit dunklem, von grauen Strähnen durchzogenem Haar und asketischem, traurigem Gesicht trat ein. »Guten Tag, Gouverneur Cantrell. Ich bin William Marvin Hulvey.« Cantrell stand auf, so erstaunt, daß er Hulveys Hand geschüttelt hätte, wenn dieser sie ihm gereicht hätte. »Sie sind der NAU-Botschafter?!« rief er. »Was ist denn mit dem Ehrenwerten N. Joseph Saviano passiert?« »Er wartet an Bord des Schiffes auf eine Nachricht von mir. Vielleicht wird er Ihnen später seine Aufwartung machen – vielleicht auch nicht.« »Was wollen Sie?« »Ich möchte Ihnen zu dem Ceres-Vertrag gratulieren. Sie haben viele Einwände erhoben, die auch ich geäußert habe. Und Sie haben sich so hinreißend
undiplomatisch ausgedrückt.« »Danke. Es war nicht viel anders als eine Verhandlung mit den Gewerkschaftlern – nachdem wir einmal begriffen hatten, daß wir das Angebot nicht ablehnen konnten. Aber Sie hätten mich auch brieflich beglückwünschen können. Warum sind Sie hier?« »Um mit Ihnen Informationen auszutauschen. Ich möchte Corporate Brown nach einem Notizbuch fragen, das Dr. Heinrich von Zwang gehörte. Und als Gegenleistung werde ich Ihnen erzählen, was ich über Joe Bob Baroody und die FNR 1848 weiß.« »Sehr gut«, sagte Cantrell. »Darf ich ein paar von meinen Leuten hereinrufen?« »Selbstverständlich«, entgegnete Hulvey. »Und ich möchte Corporate Elna hinzuziehen.« »Das ist kein Problem. Wir haben genügend Telekonschirme.« »Ich würde es vorziehen, wenn Elna nicht auf einem Bildschirm erscheint«, protestierte Hulvey höflich. »Es stört mich, wenn meine Maschine eine menschliche Gestalt imitiert. Corporate Elna befindet sich im Wartezimmer.« Sie setzten sich an den großen grauen Konferenztisch, der nicht mehr ins Ratszimmer paßte – an den Tisch mit den goldenen Intarsien, die das RosinanteEmblem darstellten. Gouverneur Cantrell und Marian Yashon hatten an der einen Seite Platz genommen, flankiert von Corporate Skaskash und Corporate Dr. Susan Brown, auf getrennten Telekonschirmen, und William Hulvey saß ihnen gegenüber, die voluminöse Maschine Elna zu seiner Rechten. »Sollen wir anfangen?« fragte Cantrell. »Sicher«, antwortete Hulvey. »Dr. Brown, würden Sie mir verraten, was Sie über das von Zwang-Notizbuch wissen?« »Ich habe es fast zwei Jahre lang gründlich studiert«, sagte Corporate Susan. »Vermutlich weiß ich viel mehr darüber, als Sie hören wollen. Haben Sie eine spezifische Frage?« Hulvey sah Elna an und zuckte mit den Schultern. »Hat von Zwang Menschen mit Schimpansen gekreuzt?« erkundigte sich Elna. »Nein.« »Das ist interessant – wenn es stimmt«, sagte Elna. »Könnten Sie kurz schildern, was er getan hat?« »Er behauptete, solche Kreuzungen vorgenommen zu haben. Meine Analysen legten die Vermutung nahe, daß es sich dabei um Schimären handelte. Wie Sie vielleicht wissen, vertrat er die Theorie, daß das Ei eine ›genetische Heizplatte‹ enthält, wie er es nannte, in der unveränderliche spezies-spezifische Informationen eingebettet sind. Die Schimären, die er schuf, waren Menschen mit einigen wenigen Pan trog.-Genen oder vice versa ...« »Pan trog.?« fragte Cantrell. »Das ist eine Abkürzung von Pan troglodytes – Schimpanse«, erklärte Dr. Susan Brown, »genauso wie Homo sap. eine Abkürzung für Homo sapiens ist. Dr. von Zwangs Theorien haben uns – das Genetik-Forschungsinstitut – geärgert, weil sie die Behauptung aufstellten, die menschliche Evolution wäre ganz anders verlaufen, als wir dachten. Sie waren die Basis für ein politisch unterstütztes antievolu-
tionistisches Dogma, das nicht widerlegt werden konnte.« »Ich verstehe nicht«, sagte Cantrell. »Was ist zum Beispiel eine Schimäre?« »Ein Monstrum, das aus Teilen anderer Kreaturen zusammengesetzt ist«, antwortete Elna. »In diesem Falle aus dem Homo sap. und dem Pan trog. Jennie Smith, die älteste dieser Kreaturen, war völlig menschlich, mit Pan trog.-Genen für ein autoimmunes System, Drüsen ohne Dukten und einer Leber, die ihrer genetischen Anlage entsprach. Äußerlich war sie von einem Menschen nicht zu unterscheiden, aber in Wirklichkeit war sie eine Schimäre.« »Okay, das versteh ich«, sagte Cantrell. »Aber warum das alles?« »Man könnte das als religiösen Disput betrachten«, meinte Susan. »Von Zwang log das Blaue vom Himmel herunter, um Hulveys Theorie zu unterstützen.« »Auch das verstehe ich. Aber warum sagen Sie, daß man seine Theorien nicht widerlegen konnte?« »Weil kein Forscher die moralische Verantwortung für die Erzeugung einer Familie, einer Rasse von nicht völlig menschlichen Wesen übernehmen wollte.« Susan lächelte. »Zumindest kein menschlicher Forscher. Dies ist die Aufgabe, für die ich geschaffen wurde. Nachdem wir von Zwangs Notizbuch in unseren Besitz gebracht hatten, wurde die Frage zum Streitfall.« »Wie hat sich von Zwang seiner Schimären entledigt?« fragte Marian. »So weit ist er gar nicht gekommen«, antwortete Susan. »Aber ich habe keine Ahnung, wie er das bewerkstelligt hätte.« »Interessant – wenn es stimmt«, meinte Marian. »Aber nun kommt es darauf an, ob Mr. Hulvey das alles glaubt.« »Sie sagt die Wahrheit«, flüsterte Hulvey kaum hörbar. In seinen Augen bildeten sich zwei Tränen, rollten ihm langsam über die Wangen. »Die Kreationistenkoalition bezahlte von Zwang für seine Arbeit«, berichtete Elna. »Er sollte diese Forschungen betreiben, bevor wir die Macht übernahmen, eine neue Theorie als Basis für ein kreationistisches Dogma schaffen.« Die große Maschine machte eine Pause, und es hatte den Anschein, als würde sie ihren Herrn ansehen. »Nachdem wir von Zwangs Arbeit ein paar Jahre lang unterstützt hatten, wurde uns klar, daß niemand in unserem Verein seine Leistung zu schätzen wußte. Viele von uns waren nicht allzu glücklich mit der damaligen Situation, und Stanley Bowman schlug einen Alternativplan vor. Er wollte von Zwang als bösartigen Experimentator denunzieren und ihn als Vorwand benutzen, um das GenetikForschungs-Establishment vernichten zu können. Die Zerstörung des von ZwangLabors fiel zufällig mit unserer Machtergreifung zusammen.« Corporate Elna machte eine Pause. »Vielleicht gab es uns den nötigen Impuls, die Macht zu übernehmen – ich weiß es nicht... Eines Morgens kam ein Gerücht auf, und peng! Das ganze Ding flog in die Luft.« »Es ist möglich, daß jenes Gerücht, das die ›Contra Darwin‹ Kampftruppe in von Zwangs Labor sandte, aus unseren eigenen Reihen stammte«, fügte Hulvey hinzu, der sich wieder in der Gewalt hatte. »Aber das erkannte ich nicht, als sie zurückkam.« Er zog ein Päckchen sandfarbenen Kaugummi aus der Tasche und ließ einen davon in seine Hand gleiten. »Es hätte wahr sein können«, fuhr er traurig
fort. »Ich glaube nicht, daß es falsch war, das Schlimmste zu glauben. Und selbst dann – wenn wir das Notizbuch gefunden hätten...« Er schüttelte den Kopf. »Corporate Elna, ich möchte, daß Sie mit Gouverneur Cantrell zusammenarbeiten, so gut Sie können. Haben Sie mich verstanden?« »Ja. Ich werde mich an Ihre Anweisung halten – ohne Einschränkung.« »Gut.« Hulvey steckte den Kaugummi in den Mund und biß hinein. »Leben Sie wohl, Willy«, sagte Elna. Hulvey wandte sich zu dem Computer und fiel von seinem Stuhl. »Ist er tot?« fragte Marian entsetzt. »Ja, Ma'am«, antwortete der Computer. »Ich bin in meinem Büro, wenn Sie mich brauchen, Charles«, sagte Marian. Er nickte, und sie ging hinaus. Cantrell blickte von Hulveys Leiche, die am Boden lag, zu dem dunklen, vierschrötigen Gebilde des Computers. Irgendwie verwirrte ihn die physische Anwesenheit der Maschine. »Werden Sie seine Angehörigen verständigen?« fragte er überflüssigerweise. Hulveys Tod würde im ganzen Solarsystem Schlagzeilen machen. »Wenn ich ins Kommunikationsnetz eingeschaltet werde.« Elnas Stimme, die wie eine Frauenstimme geklungen hatte, war nun völlig neutral. »Ja – natürlich«, murmelte Cantrell geistesabwesend und starrte auf den Toten. Die Ambulanz traf ein, nach der Skaskash geschickt hatte. Zwei Männer in hellgrünen Kitteln kamen herein, hoben die Leiche auf eine fahrbare Bahre, rollten sie hinaus, ließen den schwachen Geruch des Todes zurück. »Skaskash, übernehmen Sie alles Weitere.« Cantrell ging zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. »Wir sehen uns später, Elna.« »Nennen Sie mich Corporate Hulvey«, sagte der Computer.