Anton P. Tschechow
Rotschilds Geige
Tschechow gilt heute als ein früher Meister der Kurzgeschichte, deren Entwicklung ...
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Anton P. Tschechow
Rotschilds Geige
Tschechow gilt heute als ein früher Meister der Kurzgeschichte, deren Entwicklung er durch seine subtilen Stimmungs- und Milieudarstellungen maßgeblich beeinflusste. Mit Sinn für Humor, einer teils heiteren, teils melancholischen Ironie, die auch die tragischen Aspekte menschlichen Zusammen- und Alleinseins zur Geltung bringt, sind seine Schilderungen der zeitgenössischen russischen Gesellschaft, des sich auflösenden Gutsadels, des neu entstandenen Kleinbürgertums und der »Intelligenzija«, die liebevolle, aber unbestechliche Analyse menschlichen Verhaltens und sozialer Missstände.
© Verlag Herder KG Freiburg im Breisgau 1960
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HERDER–BÜCHEREI DM 2, 20 Fr. 2, 55 S 15.- $ -, 75
ROMANE - ERZÄHLUNGEN 6 7 17 23 25 27 29 33 36 39 44 46 48 50 52 54 63 66 70 78
August Strindberg • Die Leute auf Hemsö, Roman Reinhold Schneider • Die Rose des Königs, Erzählungen Sigrid Undset • Frau Hjelde, Roman * G. K. Chesterton - Skandal um Pater Brown Joseph Roth - Hiob, Roman Johannes Urzidil • Die verlor ene Geliebte Peter Dörfler • Die Lampe der törichten Jungfrau, Roman Lothar Schreyer • Agnes und die Söhne der Wölfin, Roman Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers Evelyn Waugh • Helena, Roman Gunnar Gunnarsson • Die Leute auf Borg, Roman Josef Leitgeb • Kinderlegende, Roman Georg Bernanos • Die begnadete Angst Bruce Marshall • Die rote Donau, Roman C. S. Lewis • Perelandra oder Der Sündenfall findet nicht statt, Roman Ernst Heimeran • Der Haushalt als eine schöne Kunst betrachtet G. K. Chesterton • Der Mann, der zuviel wußte K. H. Waggerl • Das Jahr des Herrn, Roman Reinhold Schneider • Die dunkle Nacht, Erzählungen Anton P. Tschechow • Rotschilds Geige, Erzählungen
UND ANDERE TASCHENBÜCHER 1 2 3 5 11 14 15 16 18 19 20 21 24 26 28 31 32 35 37
Douglas Hyde • Anders als ich glaubte Romo. no Guardini • Vom Geist der Liturgie Edith Stein - eine große Frau unseres Jahrhunderts Thomas Urban • Herders Kleine Weltgeschichte Karl Schütte • Die Weltraumfahrt hat begonnen Karl Färber • Heilige sind anders Werner Bergengruen • Römisches Erinnerungsbuch Herders Kleines philosophisches Wörterbuch Max Picard • Die Flucht vor Gott C, S. Lewis • Dienstanweisung für einen Unterteufel J. Pieper - H. Raskop • Christenfibel Joachim Bodamer • Der Mensch ohne Ich Dr. med. Georg Volk • Arznei für Leib und Seele Wladimir Solowjew - Übermensch und Antichrist Karl Rahner • Von der Not und dem Segen des Gebetes Graham Greene • Vom Paradox des Christentums E. J. Flanagan • Verstehe ich meinen Jungen und erziehe ich ihn richtig? R. N. Carew Hunt • Wörterbuch des kommunistischen Jargons Helmut Berve • Griechische Frühzeit
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Werner Pank • Der Hunger in der Welt Alfred Döblin • Der unsterbliche Mensch Reinhold Schneider • Verhüllter Tag Josef Reding • Friedland Karlheinz Schmidthüs, Hrsg. • Lob der Schöpfung und Ärgernis der Zeit G. K. Chesterton • Der heilige Franziskus von Assisi C. S. Lewis • Christentum schlechthin Hubert Jedin - Kleine Konzitiengeschtchte Friedrich Dessauer • Streit um die Technik Friedrich Wilhelm Foerster • Die jüdische Frage Helmut Berve • Blütezeit des Griechentums Friedrich Heer • Sprung über den Schatten Stefan Andres • Der Reporter Gottes Charles Reinert, Hrsg. • Wir vom Film Andre Frossard • Mönche und Jesuiten A. Barthelmeß • Gefährliche Dosis? Erbgesundheit im techn. Zeitalter J. M. Bochenski • Wege zum philosophischen Denken l. F. Görres • Das große Spiel der Maria Ward René Voillcume • Mitten in der Welt Oswald v. Neli-Breuning • Kapitalismus und gerechter Lohn Douglas Hyde • Wem werden sie glauben? Helmut Berve • Spätzeit des Griechentums Alois Dempf • Meister Eckhart Das Kleine Buch vom Sport E. Ringenkuh!, Hrsg. • 666 Anekdoten Hellmut Holthaus • Nach Diktat verreist G. K. Chesterton • Der stumme Ochse. Über Thomas von Aquin Wilhelm Hausenstein • Das Land der Griechen Joachim Bodamer - Schule der Ehe
Demnächst erscheinen: 79 80
Walter Nigg • Von Heiligen und Gottesnarren Robert Hugh Benson • Der Herr der Welt, Roman
DIE DÜNNDRUCKAUSGABEN DER H E R D E R - B Ü CH E R E l Flexibler Kunststoffeinband • Taschenbuchpreis D 1 Volks-Schott 272 Seilen. Enthält alle Messen für Sonn- und Feiertage in Deutsch und einen Gebetsanhang D 2 Neues Testament 340 Seiten. 4. Auflage D 3 Nachfolge Christi von Thomas von Kempen, 288 Seiten, in der Übersetzung von Bischof Joh. Michael Sailer, neubearbeitet von Hubert Schiel D 4 Gott unser Heil nach dem Zeugnis der Bibel. Altes Testament 228 Seiten. Die Darstellung des Ablaufs der Hetlsgeschichte im Alten Bund
HER D ER
F R E IB UR G • B AS E L • W IE N
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HERDER-BÜCHEREI BAND 78
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Es ist faszinierend, wie Anton P. Tschechow in seinen Kurzgeschichten, die zu einem großen Teil der Weltliteratur angehören, uns das Wesen und das Leben des russischen Menschen vor Augen stellt. Tschechow, einer der scharfsichtigsten Dichter Europas und Meister der genialen Charakterisierung, war Mediziner. So kann man sagen, daß neben die Diagnosen seiner ärztlichen Praxis in seinen Erzählungen die Diagnose seiner Zeit getreten ist. Tschechow ist Realist. Er sieht das bunte Leben, wie es tatsächlich ist: das Tiefe neben dem Oberflächlichen, das Große neben dem Erbärmlichen, das Tragische neben dem Lächerlichen. Die Menschen zu seinen Meistergeschichten, wie sie auch in diesem Band auftreten, findet er in allen Schichten des Volkes. Der einfache Hirt und der Bischof, der Student, der Gelehrte, der Kaufmann und der Sargschreiner: jeder ein lebendiger Mosaikstein in dem verwirrenden Bild vom versinkenden Zarenreich, in einem Bild, dem noch der blasse Goldton der Ikonen anhaftet, in dem aber schon die rote Glut der drohenden Revolution durchleuchtet. Aber der Arzt im Dichter Tschechow will nicht nur die Diagnose stellen. Er will auch heilen. Deshalb stellt er in diesen Erzählungen das Erbarmen stets über die Erbärmlichkeit. So weisen seine Gestalten über sich selbst hinaus; sie tragen eine tiefe Hoffnung in sich, denn „die Natur hat in den russischen Menschen eine ungewöhnliche Fähigkeit zum Glauben gelegt".
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ROTSCHILDS GEIGE Erzählungen
AUS DEM RUSSISCHEN ÜBERSETZT UND HERAUSGEGEBEN VON REINHOLD VON WALTER
HERDER-BÜCHEREI -7-
Veröffentlicht als Herder-Taschenbuch Umschlagzeichnung: Walter Grieder, Basel
Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Herder KG Freiburg im Breisgau 1960 HERDER FREI BURG. BASEL- WIEN Herder Druck Freiburg im Breisgau 1960
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INHALT
Rotschilds Geige 10 In der heiligen Osternacht 24 Der Bischof 40 Der Student 62 Der schwarze Mönch 67 Die Schalmei 110 Alpdruck 121 Im Tobel 140
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ROTSCHILDS GEIGE
Die
Stadt war klein, schlimmer als ein Dorf, und in ihr lebten fast nur alte Leute, die so selten starben, daß es wirklich ärgerlich war! Das Krankenhaus und das Gefängnis forderten sehr wenig Särge an. Mit einem Wort, die Geschäfte gingen miserabel. Wäre Jakow Iwanow Sargmacher in einer Gouvernementstadt gewesen, so hätte er gewiß sein eigenes Haus gehabt, und man hätte ihn Jakow Matweitsch genannt; hier in diesem Städtchen aber hieß er einfach „Jakow", sein Zuname aber war aus irgendeinem Grunde - Bronze; er lebte ärmlich, wie ein einfacher Bauer in einer kleinen alten Hütte, die nur ein Zimmer enthielt, und in diesem Zimmer waren untergebracht: er selber, Marfa, der Ofen, ein zweischläfriges Bett, Särge, die Hobelbank und aller Hausrat. Jakow fertigte gute, solide Särge an. Für Bauern und Kleinbürger pflegte er dazu sein eigenes Längenmaß zu nehmen, und er hatte sich noch nie im Leben geirrt, da es nirgendwo Leute gegeben hätte, die größer und fester gebaut gewesen wären als er, obwohl er schon 70 Jahre zählte. Für Adelige und für Frauen fertigte er Särge nach Maß an, wobei er sich einer Elle aus Eisen bediente. Bestellungen auf Kindersärge nahm er sehr ungern an und zimmerte sie ohne jedes Maß, voller Verachtung, und pflegte stets, wenn er das Geld für die Arbeit einstrich, zu sagen: „Ich muß gestehen, ich habe es nicht gern, mich mit solch einem Unsinn abzugeben" Außer seinem Handwerk brachte ihm noch sein Geigenspiel eine kleine Nebeneinnahme ein, und in der Stadt pflegte bei Hochzeiten gewöhnlich ein jüdisches Orchester zu spielen; dessen Dirigent war der Verzinner Moissej Iljitsch Schachkeß, der mehr als die Hälfte der Einnahme für sich selber behielt. Da aber Jakow trefflich Geige spielte, besonders die russischen Lieder, so kam es, daß Schachkeß ihn - 10 -
bisweilen ins Orchester lud, wofür er ihm 50 Kopeken pro Tag zahlte, die Geschenke der Gäste nicht mitgerechnet. Wenn Bronze im Orchester saß, so schwitzte ganz zuerst sein Gesicht und wurde puterrot; es war heiß; es roch betäubend nach Knoblauch; die Geige kreischte; am rechten Ohr knarrte der Konterbaß; am linken schluchzte die Flöte, die von einem rothaarigen, schmächtigen Juden geblasen wurde, dessen Gesicht mit Krösus Rotschild. Und dieser verdammte Jude brachte es fertig, selbst die lustigste Weise wehklagend zu spielen. Ohne jeden ersichtlichen Grund hatte nach und nach ein Haßgefühl und eine Verachtung zu den Juden, besonders aber zu Rotschild, Jakows Gemüt erfüllt; er begann zu nörgeln; er beschimpfte ihn mit schlimmen Worten, und einmal hatte er ihn sogar schlagen wollen, so daß Rotschild gekränkt war, ihn wütend anblickte und sagte: „Würde ich Sie nicht Ihres Talentes wegen achten, so wären Sie bei mir längst schon zum Fenster 'rausgeflogen.“ Dann fing er an zu weinen. Aus diesem Grunde wurde Bronze nicht oft ins Orchester geladen, nur in äußerst dringenden Fallen, wenn tatsächlich Not am Mann war. Jakow war niemals gut gelaunt, da er unentwegt fürchterliche Verluste zu erdulden hatte. So war es beispielsweise eine Sünde, am Sonntag und an Feiertagen zu arbeiten; der Montag war immer ein schwerer Tag; und so kam es, daß man im Jahr an 200 Tagen, ohne es recht zu wollen, müßig mit in den Schoß gelegten Händen dasaß, und das war ein ungeheurer Verlust! Wenn irgendwer in der Stadt Hochzeit ohne Musik feierte oder wenn Schachkeß den Jakow nicht einlud, so war das auch ein Verlust. Der Polizeiaufseher hatte zwei Jahre lang krank gelegen und nahm zusehends ab; voller Ungeduld wartete Jakow auf seinen Tod, aber der Polizeiaufseher reiste zur Kur in die nächstgelegene Gouvernementstadt und hatte es vorgezogen, eben dort zu sterben. Das war also ein Verlust von mindestens zehn Rubeln, da man einen teuren, mit Brokat bezogenen Sarg hätte anfertigen müssen. Der Gedanke an diese Verluste quälte - 11 -
Jakow besonders in den Nächten; er legte seine Geige neben sich ins Bett, und wenn ihm allerhand Unsinn durch den Kopf ging, dann rührte er an die Saiten, und die Geige gab in der Dunkelheit einen Ton von sich, und dann wurde ihm leichter ums Herz. Am sechsten Mai des vergangenen Jahres war Marfa plötzlich erkrankt. Die Alte atmete schwer, trank viel Wasser und taumelte beim Gehen, dennoch hatte sie selber noch am Morgen den Ofen geheizt und war sogar nach Wasser gegangen. Aber gegen Abend hatte sie sich hinlegen müssen. Jakow hatte den ganzen Tag Geige gespielt; als es aber ganz dunkel geworden war, nahm er sein Kontobuch zur Hand, in dem er täglich seine Verluste einzutragen pflegte, und vor lauter Langeweile zog er nun die Jahresbilanz. Dabei stellte sich ein Defizit von über tausend Rubeln heraus. Das erschütterte ihn so, daß er das Rechenbrett auf den Fußboden schmetterte und mit den Füßen trampelte. Dann hob er das Rechenbrett auf und klapperte wieder lange Zeit darauf herum und seufzte dabei tief und angestrengt. Sein Gesicht wurde puterrot und triefte vor Schweiß. Er überlegte bei sich, wenn er diese verlorengegangenen tausend Rubel auf die Bank ge tragen hätte, so würde er im Laufe des Jahres mindestens vierzig Rubel Zinsen eingespart haben. Folglich waren auch diese vierzig Rubel ein Verlust. Mit einem Wort, er mochte sich kehren und wenden, wie er wollte, immer gab es nur Verluste und Verluste, und nichts als das. „Jakow!“ rief Marfa plötzlich. „Ich sterbe!“ Er warf einen Blick auf die Frau. Ihr Gesicht war rosig angehaucht, weil sie Fieber hatte, und es schien ungewöhnlich klar und frohgemut zu sein. Bronze, der es nicht anders kannte, als immer nur ein bleiches, schüchternes und unglückseliges Angesicht vor sich zu haben, geriet jetzt doch in Verwirrung. Es sah so aus, als läge sie tatsächlich im Sterben und als sei sie darüber froh daß sie endlich für ewige Zeiten aus dieser Hütte, - 12 -
von diesen Särgen, von Jakow fortginge... Und so starrte sie die Zimmerdecke an und bewegte die Lippen; und der Ausdruck ihres Gesichtes war glückselig, gleichsam als sähe sie den Tod ihren Befreier, und als flüsterte sie mit ihm. Schon setzte die Morgendämmerung ein; durch das Fenster konnte man sehen, wie das Morgenrot aufflammte. Jakow blickte die Alte an und mußte aus irgendeinem Grunde daran denken daß er sie wohl kein einziges Mal in seinem ganzen Leben zärtlich an sich gezogen habe oder auch nur ein wenig Teilnahme für sie gezeigt hätte, daß er noch nie auf den Gedanken gekommen war, ihr ein Kopftüchlein zu kaufen oder ihr von einer der Hochzeiten irgendeine Leckerei mitzubringen, vielmehr hatte er sie nur angeschrien, sie wegen der Verluste geschimpft, war mit den Fäusten gegen sie angegangen; allerdings, niemals hatte er sie geschlagen, aber er hatte ihr doch Angst gemacht, und jedesmal war sie wie erstarrt vor Schrecken. Ja er erlaubte ihr nicht, Tee zu trinken, weil die Auslagen ohnehin groß genug wären, und sie trank nur heißes Wasser. Jetzt verstand er, warum sie nun ein so absonderliches, frohlockendes Antlitz hatte, und es wurde ihm unheimlich zumute. Er wartete den Morgen ab, dann holte er des Nachbars Pferd und brachte Marfa ins Krankenhaus. Hier gab es nun nicht viele Kranke, und so kam es, daß er nicht lange zu warten brauchte vielleicht drei Stunden. Zu seiner großen Befriedigung war es nicht der Arzt, der dieses Mal wegen der Aufnahme der Kranken entschied, da er selber erkrankt war, sondern der Sanitäter Maxim Nikolaitsch, ein uralter Mann, von dem es überall in der Stadt hieß, er sei zwar ein Trunkenbold und schlüge auch drauflos, doch verstünde er mehr als der Doktor. „Einen guten Tag wünschen wir“, sagte Jakow, als er seine Alte in das Empfangszimmer brachte. „Sie entschuldigen bitte, daß wir Sie, Maxim Nikolaitsch, immer wieder mit unsern Kleinigkeiten in Anspruch nehmen. Bitte wollen Sie doch gefälligst zur Kenntnis nehmen, hier — mein Gegenstand ist - 13 -
erkrankt. Meine Lebensgefährtin, wie man wohl zu sagen pflegt, Sie entschuldigen den Ausdruck...“ Der Sanitäter runzelte die ergrauten Brauen, strich sich den Backenbart und machte sich daran, die Alte zu untersuchen; gebückt und jämmerlich hockte sie auf einem Schemel; ihre Nase war spitz, der Mund war geöffnet, und im Profi! glich sie einem Vogel, der trinken wollte. „Hm - ja - a... so, so...“, machte der Sanitäter gedehnt und stieß einen Seufzer aus. „Eine Influenza. Vielleicht aber auch ein hitziges Fieber. Neuerdings haben wir viel Typhus in der Stadt. Na ja! Das Mütterchen hat lange gelebt, Gott sei Dank... Wie all ist sie denn?“ „Ja, nach einem Jahr wird sie siebenzig, Maxim Nikolaitsch.“ „Ja - a... so, so! Das alte Frauchen hat ja was zusammen gelebt. Jetzt wird es an der Zeit, auch mal, ade' zu sagen.“ „Es ist gewiß, Maxim Nikolaitsch, es ist natürlich völlig richtig, was Sie da sagen“, bemerkte Jakow und lächelte anstandshalber. „Wir danken Ihnen gar sehr und mit Empfindung für Ihr angenehmes Wohlwollen, aber Sie gestatten mir, zum Ausdruck zu bringen, ein jedes Insekt will halt leben.“ „Was man nicht alles will!“ erwiderte der Sanitäter in einem Tonfall, als hinge es lediglich von ihm ab, ob die alte Frau leben oder sterben würde. „Na also, mein Bester, du wirst ihr kalte Kompressen auf den Kopf tun, und alsdann gibst du ihr zweimal am Tage von diesem Pülverchen. Und damit - auf Wiedersehen, bonjour!“ Jakow hatte es ihm vom Gesicht abgelesen, daß die Dinge schlecht standen und daß man mit keinem Pülverchen was ausrichten könne; ihm war es jetzt vo llkommen klar, daß Marfa sehr bald, wenn nicht heute, dann morgen sterben würde. Ganz sachte gab er dem Sanitäter einen kleinen Schups in die Rippen, zwinkerte mit einem Auge und sagte halblaut: „Ein Schröpfkopf täte gewiß gut, Maxim Nikolaitsch.“ - 14 -
„Keine Zeit! Keine Zeit, mein Bester! Nimm deine Alte und mach dich auf den Weg. Auf Wiedersehen!“ „Erweisen Sie uns doch die Gnade“, flehte Jakow. „Sie wissen es doch selber, wenn sie, sagen wir mal, Bauchgrimmen hätte oder irgend so eine Innerlichkeit, na - dann tun es Pülverchen und Tropfen; aber sie hat es doch mit einer Erkältung! Bei einer Erkältung, Maxim Nikolaitsch, ist es das erste — Blutlassen.“ Der Sanitäter aber hatte schon den nächsten Kranken aufgerufen, und ein Weib mit einem Jungen betrat das Empfangszimmer. „Geh nur, geh!“ sagte er zu Jakow und machte ein finsteres Gesicht. „Spiel dich nicht auf!“ „In dem Fall könntet Ihr doch wenigstens Blutegel ansetzen! Immerdar werden wir für Euch beten!“ Der Sanitäter brauste auf und schrie: „Sage mir nur noch ein Wort, Krüppel, der du einer bist...“ Auch Jakow ging hoch und wurde puterrot, doch sagte er kein Wort, sondern nahm Marfa am Arm und führte sie aus dem Empfangszimmer hinaus. Erst als sie sich schon in die Tjelega* setzten, blickte er spöttisch und wütend nach dem Krankenhaus und sagte: „Das sind mir rechte Artisten, die man hierher verpflanzte! Einem Reichen hätte er sicherlich einen Schröpfkopf gesetzt; geht es aber um einen Armen, dann ist ihm auch ein Blutegel noch zu schade. So ein Blutsauger! So 'n Herodes!“ Zu Hause angelangt, begab sich Marfa in die Hütte und stand da, sich am Ofen haltend, wohl an zehn Minuten. Ihr schien, wenn sie sich hinlegte, so würde Jakow von seinen Verlusten reden, und er würde schelten, daß sie immerzu liegen müsse und nicht arbeiten wolle. Jakow aber blickte sie gramerfüllt an und dachte daran, daß morgen das Fest Johannes' des Theologen * Russischer Bauernwagen. ohne Federn
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übermorgen das des Wundertäters Nikolaus sei, und dann käme der Sonntag, und dann der Montag - ein schwerer Tag. An vier Tagen wird man nicht arbeiten dürfen; für gewiß aber wird Marfa an irgendeinem dieser Tage sterben; somit müsse der Sarg heute schon in Angriff genommen werden. Er nahm seine eiserne Elle, trat auf die Alte zu und nahm ihr Maß. Alsdann legte sie sich hin, er aber bekreuzigte sich und gab sich daran, den Sarg zu zimmern. Als er mit der Arbeit fertig war, setzte er sich die Brille auf und trug in sein Buch ein: „Ein Sarg für Marfa Iwanowna — 2 Rbl. 40 Kop.“ Er seufzte auf. Die Alte hatte die ganze Zeit über schweigend, mit geschlossenen Augen dagelegen. Aber als es Abend wurde, als es dunkel geworden war, rief sie plötzlich nach dem Alten. „Du erinnerst dich, Jakow?“ fragte sie, ihn froh anblickend. „Du erinnerst dich, fünfzig Jahre sind es her, da schenkte uns der Herrgo tt ein Kindchen mit flachsblondem Haar? Wir saßen damals mit dir oft am Bach und sangen Lieder. Unter der Weide.“ Und mit einem bitteren Lächeln fügte sie hinzu; „Das Mädelchen ist gestorben.“ Jakow strengte sein Gedächtnis an, aber er konnte sich weder an das Kindchen noch an die Weide erinnern. „Ach, das träumst du ja nur“, sagte er.. Der Priester kam, gab ihr die heilige Kommunion und erteilte ihr die letzte heilige Ölung. Dann lallte Marfa unverständliche Worte, und gegen Morgen war sie verschieden. Alte Weiber aus der Nachbarschaft wuschen sie, kleideten sie an und legten sie in den Sarg. Damit er dem Mesner nichts zu zahlen brauchte, las Jakow selber die Psalmen, und für das Grab wurde ohnehin nichts von ihm verlangt, weil der Friedhofswächter sein Gevatter war. Vier Bauern trugen den Sarg zum Friedhof; aber sie taten es nicht um Geld, sondern aus Hochachtung. Dem Sarge folgten alte Weiber, Bettler, zwei Gottesnarren; und das Volk, das man unterwegs antraf, - 16 -
bekreuzigte sich andächtig... Jakow war sehr zufrieden, daß alles so ehrsam, so wohlanständig und so billig vonstatten ging und daß keiner dabei gekränkt worden war. Als er zum letztenmal von Marfa Abschied nahm, berührte er den Sarg mit der Hand und dachte bei sich: ,Gute Arbeit!' Aber als er vom Friedhof heimkehrte, überkam ihn doch eine schwere Traurigkeit. Er fühlte sich gar nicht wohl: sein Atem ging heiß und schwer; die Beine taten es nicht mehr; er hatte Durst und wollte immerzu trinken. Dazu kamen dann allerhand Gedanken gekrochen. Wieder mußte er daran denken, daß er sein ganzes Leben lang kein einziges Mal Teilnahme für Marfa gezeigt hatte oder zärtlich zu ihr gewesen war. Die zweiundfünfzig Jahre, die sie in der alten Hütte zusammen gelebt hatten, zogen sich lange, lange hin, aber es kam irgendwie darauf heraus, daß er in dieser ganzen Zeit kein einziges Mal an sie gedacht hatte, keinmal auf sie achtgehabt hatte, als wäre sie eine Katze oder ein Hund. Nun hatte sie ja aber doch tagaus, tagein den Ofen geheizt, gekocht und gebacken, war nach Wasser gegangen, hatte Holz gehackt; er hatte mit ihr in einem Bett geschlafen, wenn er aber von den Hochzeiten betrunken nach Hause kam, so hatte sie jedesmal voller Ehrfurcht seine Geige an die Wand gehängt und hatte ihn zu Bett gebracht. Und alles das schweigend, mit einem schüchternen, besorgten Ausdruck im Gesicht. Da kam dem Jakow, grinsend und grüßend, Rotschild entgegen. „Ich bin grade auf der Suche nach Euch, Ohm!“ sagte er. „Moissej Iljitsch lassen vielmals grüßen und trugen auf, Ihr möchtet sofort zu ihm hinüberkommen.“ Das war Jakow gar nicht nach dem Sinn. Weinen wollte er. „Hau ab!“ sagte er und ging weiter. „Aber wie kann man dann!“ regte sich Rotschild auf und lief immerzu ein paar Schritte vor ihm her. „Moissej Iljitsch wird sein gekränkt. Ihr möchtet sofort zu ihm kommen!“ - 17 -
Jakow widerte es an, daß der Jud' außer Atem war, mit den Augen zwinkerte und daß er so viele rötliche Sommersprossen hatte. Auch war es widerlich, seine grüne Joppe mit den dunkeln Flicken zu sehen; und dann diese ganze zerbrechliche, sozusagen delikate Gestalt! „Was klebst du so an mir, Knoblauch!“ schrie Jakow. „Hau ab, habe ich gesagt...“ Der Jude bekam es mit der Wut und schrie ebenfalls: „Aber Sie wollen - bitte - bei mir stiller sein; sonst flattern Sie bei mirrr übern Zaun 'rüber!“ „Fort, aus den Augen! Marsch!“ brüllte Jakow und stürzte mit den Fäusten auf ihn los. „Verdammtes Lausepack! Ist das ein Leben!“ Rotschild erstarb vor Angst, hockte nieder und fuchtelte mit den Armen über dem Kopf, als schütze er sich vor den Schlägen. Dann sprang er auf und rannte davon, was ihn die Beine trugen. Im Laufen hüpfte er dazwischen auf, schlug die Hände über dem Kopf zusammen; auch war zu sehen, wie sein langer, hagerer Rücken wie im Krampf zuckte. Die Straßenjungen, hoch erfreut ob der Gelegenheit, stürzten mit Geschrei hinter ihm her: „A Jid! A Jid!“ Auch die Hunde jagten bellend hinter ihm her. Irgendwer stieß ein rohes Gelächter aus; dann pfiff er, und die Hunde bellten unisono noch lauter. Dann muß es wohl so gewesen sein, daß ein Hund Rotschild gebissen hatte, denn man hörte einen verzweifelten, schmerzhaften Aufschrei. Jakow erging sich auf der Gemeindewiese; dann wanderte er am Rande der Stadt entlang, aufs Geratewohl, und die Bengel schrien hinter ihm her: „Bronze kommt! Bronze kommt!“, und dann war der Fluß da. Hier schwirrten mit piependem Pfeifen Schnepfen einher; die Enten schnatterten. Die Sonne brannte heiß, und das Wasser spiegelte in so maßlosem Glanz, daß es weh tat, hinzusehen. Jakow ging auf einem kleinen Fußpfad den Ufersaum entlang und sah, wie eine füllige, rotwangige Dame aus dem Badehaus am Fluß gegangen kam, und er dachte, wie es - 18 -
ihm gerade durch den Kopf fuhr: ,Hast du mir nicht gesehen - so eine Otter!' Unweit vom Badehaus waren Jungen gerade dabei, mit Fleischködern zu krebsen; als sie ihn erblickten, schrien sie aus Bosheit: „Bronze, Bronze!“ Da stand ja die breitästige alte Weide mit einer gewaltigen Höhlung im Stamm, und oben in der Krone waren Rabennester... und dann tauchte in der Erinnerung Jakows, so als lebte es, das kleine Kindchen auf mit dem flachsblonden Haar, und die Weide, von der Marfa gesprochen hatte. Ja freilich, das war sie ja, dieselbe Weide, grün, still, voller Trauer. Wie alt sie geworden war, die Arme! Er setzte sich unter den Baum und gab sich seinen Erinnerungen hin. Am jenseitigen Ufer, wo jetzt die Flußwiese war, hatte damals ein ansehnlicher Birkenhain gestanden, dort aber auf jenem kahlen Hügel, der am Horizont auftauchte, hatte damals ein uralter Kiefernwald bläulich geschimmert. Den Fluß entlang waren Lastkähne gefahren. Nun war alles eben und glatt; dort drüben aber, an jenem Ufer, steht jetzt eine einzige Birke, jung und schlank, wie ein Fräulein, auf dem Fluß aber sieht man außer Enten und Gänsen gar nichts mehr, und es sieht auch gar nicht danach aus, als wären hier irgendwann einmal Kähne gefahren. Scheinbar gab es jetzt, im Vergleich zu früher, auch weniger Gänse. Jakow schloß die Augen, und in seiner Phantasie kamen ihm riesige Scharen weißer Gänse entgegengeflogen. Er konnte es nicht begreifen, wie das so war, daß er in den letzten vierzig oder fünfzig Jahren seines Lebens kein einziges Mal am Fluß gewesen war; wenn er aber doch dort gewesen sein sollte, so hatte er jedenfalls nicht weiter darauf geachtet. Es war ja ein richtiger Strom, nicht irgendein lächerlicher Bach; schier hätte man recht wohl einen Fischfang einrichten können; den Fisch hätte man an die Kaufleute, Beamten und an den Büffetier auf der Station verkaufen können, und das Geld hätte man auf die Bank gebracht; man hätte von einem Gut zum andern im Boot fahren und Geige spielen können, und das Volk, allerhand Standes, hätte Geld gegeben; man könnte jetzt versuchen, - 19 -
wieder Lastkähne auf den Weg zu bringen — das wäre besser, als immerzu Särge zu machen; endlich hätte man auch eine Gänsezucht anlegen können; die hätte man geschlachtet und im Winter nach Moskau geschickt; schon allein an Flaumfedern hätte man im Jahr für gut zehn Rubel sammeln können. Doch da hatte er wohl die Gelegenheit verpaßt, und nichts davo n war geschehen, welche Verluste! Ach, diese Riesenverluste! Und nahm man alles zusammen - den Fischfang und das Spiel auf der Geige, die Lastkähne, und die geschlachteten Gänse nicht zu vergessen, was wäre das für ein Kapital gewesen! Aber nichts von alledem geschah, nicht einmal im Traum; nutzlos war das Leben vertan, ohne jede rechte Freude und ohne jeden rechten Nutzen, alles war umsonst gewesen, nicht einmal für eine Prise Tabak wäre etwas übriggeblieben; dachte man weiter voraus, so war radikal nichts übriggeblieben; blickte man aber zurück, so war dort auch nichts außer Verlusten, und zwar so fürchterlichen Verlusten, daß man richtig Schüttelfrost davon bekam. Ja, warum konnte denn der Mensch nicht so leben, daß es nicht zu solchen Ausfällen und Verlusten kam? Es fragte sich, warum war der Birkenhain und der Föhrenwald abgeholzt worden? Warum kommt das Vieh umsonst auf die Wiese? Warum tun wohl die Menschen immer das, was sie nicht tun sollten? Warum hatte Jakow sein ganzes Leben lang geschimpft, gebrüllt, mit den Fäusten gedroht, seine Frau gekränkt? Und er fragte sich, warum er denn eigentlich vorhin dem Juden solch einen Sehrecken eingejagt und ihn beleidigt hatte. Ja, warum war das so, daß die Menschen einander im Leben stören? Davon rühren ja all die Verluste her! Und die entsetzlichen Verluste; gäbe es weder Haß noch Bosheit, ja, da hätten die Menschen voneinander einen gewaltigen Nutzen. Am Abend und in der Nacht schwebte ihm immer wieder das Kindchen vor, die Weide, der Fischfang, die geschlachteten Gänse und Marfa, die im Profil an einen Vogel erinnerte, der Durst hatte und trinken wollte, und dann endlich - Rotschilds bleiches, jämmerliches Gesicht, und von allen Seiten kamen sie - 20 -
angerückt, nie gesehene Schnauzen, und stammelten und redeten von Verlusten. Er warf sich von einer Seite auf die andere und war wohl an fünfmal in der Nacht aufgestanden, um auf seiner Geige zu spielen. Nur mit der größten Mühe brachte er es am Morgen fertig, sich zu erheben, und er begab sich in das Krankenhaus. Da war der nämliche Maxim Nikolaitsch, und der verordnete ihm kalte Kompressen auf den Kopf, gab ihm Pülverchen, und an seinem Gesichtsausdruck wie auch am Ton der Stimme verstand Jakow, daß es schlimm um ihn stünde und daß man ihm mit all diesen Pülverchen nicht mehr würde helfen können. Als er dann nach Hause ging, überlegte er, daß der Tod letzten Endes nur Nutzen bringen könne: dann nämlich brauchte man weder zu essen noch zu trinken, weder Steuern zu zahlen noch andere Menschen zu kränken, und da ein Mensch nun im Grabe nicht ein Jahr, sondern Hunderte, ja Tausende von Jahren im Grabe liegt, so würde sich daraus, wenn man das alles summierte, ein ganz gewaltiges Plus ergeben; aus dem Leben erwachsen dem Menschen die Verluste; aus dem Tode - nur Nutzen. Diese Überlegung wäre an sich natürlich gerechtfertigt, und doch bleibt es kränkend und bitter - warum denn eigentlich in der Welt so eine seltsame Ordnung herrschen müsse, daß das Leben, das dem Menschen nur einmal gegeben wird, nutzlos dahinschwindet? Um das Sterben war es ihm nicht leid, doch kaum hatte er bei sich zu Hause die Geige erblickt, da zog sich ihm das Herz zusammen, und es tat ihm so leid. Die Geige konnte man nicht mit sich ins Grab nehmen, und jetzt würde sie verwaist dahängen, und es wird ihr ge nau dasselbe widerfahren wie dem Birkenhain und dem Kiefernwald. Alles in dieser Welt war vergänglich und wird vergänglich bleiben! Jakow trat aus der Hütte heraus und setzte sich an der Schwelle nieder, die Geige an die Brust gedrückt. Indem er so an das verlorene, verlustreiche Leben dachte, begann er zu spielen, ohne zu wissen, was er spielte, aber es kam so wehklagend und rührend - 21 -
heraus, und die Tränen strömten ihm nur so über die Wangen. Und je bestimmter seine Gedanken wurden, desto trauriger sang die Geige. Da knarrte die Klinke am Gatter einmal und wieder einmal, und - Rotschild zeigte sich. Die Hälfte des Hofes hatte er kühn durchschritten, aber nun, da er den Jakow dort sitzen sah, blieb er plötzlich stehen, krümmte sich wie ein Igel, der sich zusammenrollt, und dann machte er, wahrscheinlich vor lauter Angst, mit den Händen Zeichen, -als wolle er an den Fingern zeigen, wie spät es jetzt wäre. „Komm her, ich tue dir nichts“, sagte Jakow ganz weich und freundlich und winkte ihn zu sich heran. „Komm nur her!“ Mißtrauisch und als wenn ihm die Angst aus den Augen starrte, begann Rotschild auf ihn zuzugehen und blieb dann in der Entfernung eines Klafters etwa vor ihm stehen. „Sie erweisen mir bitte die Freindlichkeit, Sie werden mich nicht schlagen!“ sagte er zusammenknickend. „Moissej lljitsch hat mich geschickt abermals. Fürchte dich nicht, hat er gesagt, geh wieder zu Jakow hin und richte ihm aus, hat er gesagt, daß es ohne ihn geht ganz und gar nicht. Am Mittwoch ist Hochscheit, jawohl! Herr Schapowalow verheiratet seine Tochter mit eine gute Mens... und die Hochscheit wird ganz reich sein, u - u!“ setzte der Jude noch hinzu und zwinkerte mit einem Auge. „Ich kann nicht...“, sagte Jakow schwer atmend. „Krank bin ich geworden!“ Wieder fing er an zu spielen, und die Tränen flössen ihm aus den Augen auf die Geige. Aufmerksam hörte Rotschild zu; er hatte sich seitwärts vor ihm hingestellt und hielt die Arme über der Brust gekreuzt. Der Ausdruck des Schreckens, des Nichtverstehenkönnens in seinem Gesicht machte allgemach einem leiderfüllten und kummerbeseelten Ausdruck Platz; seine Augäpfel rollten aufwärts, als empfände er eine qualvolle Beseligung, und er sagte: „Wach - eh - ch!“, und langsam rollten - 22 -
ihm die Tränen die Wangen hinunter und tropften auf seinen grünen Rock. Und dann hatte Jakow den ganzen Tag dagelegen und Trauer empfunden. Als der Priester am Abend seine Beichte hörte, fragte er ihn, ob er nicht sich irgendeiner besonderen Sünde erinnerte, da hat er sein schwächer werdendes Gedächtnis angespannt und mußte wieder an Marfas unglückseliges Gesicht denken und an des Juden verzweifelten Aufschrei, als ihn der Hund gebissen hatte, und er sagte, kaum hörbar: „Die Geige geben Sie Rotschild.“ „Es ist gut“, hatte der Priester erwidert. Und nun fragen alle in der Stadt: Woher hat der Rotschild eine so gute Geige? Ob er sie gekauft hat? Oder hat er sie gestohlen, oder sie ist vielleicht als Pfandstück bei ihm hängengeblieben? Schon längst hat er die Flöte beiseite gelegt; er spielt nunmehr nur Geige. Wenn er den Bogen führt, so ergießen sich Töne, so voller Wehmut, wie ehedem, wenn er die Flöte blies, wenn er aber sich bemüht zu wiederholen, was Jakow gespielt hat, als er auf der Schwelle saß, dann kommt bei ihm etwas so unsagbar Leidvolles und Wehmütiges heraus, daß die Zuhörer weinen und er selbst zuletzt die Augen rollt, daß die Augäpfel fast verschwinden, und dann sagt er: „Wach - ch - ch'....“ Und dieses neue Lied hatte in der Stadt so gefallen, daß Rotschild von den Kaufleuten und von den Beamten um die Wette eingeladen wird, und er muß dann dieses Lied wohl an zehnmal hintereinander spielen.
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IN DER HEILIGEN OSTERNACHT
Ich stand am Ufer der Goltwa und wartete auf die Fähre von drüben. Für gewöhnlich ist die Goltwa ein mittelgroßes Flüßchen - schweigsam, in sich versunken, hie und da bescheiden hinter dichtem Röhricht aufblitzend; nun aber war sie zu einem richtigen See geworden, der sich da vor mir breitete. Das Frühlingswasser hatte sich weit über beide Ufer ergossen und hatte das ganze Flußgelände, Gemüseäcker, Holzschläge und Sümpfe überschwemmt, so daß man oft über der Wasserfläche einsam aufragende Pappeln und Sträucher gewahrte, die man jetzt im Dunkeln für rauhe Felsmassen halten konnte. Das Wetter schien mir wunderbar. Es war dunkel, dennoch sah ich Bäume, Wasser, Menschen. Die Erde bekam ihr Licht von den Sternen, die das ganze Hirnmeisgewölbe völlig bedeckten. Ich konnte mich nicht erinnern, je so viele Sterne beisammen gesehen zu haben. Da war kein Platz mehr, daß man den Finger hätte hineinstecken können. Da waren Sterne, so große wie ein Gänseei und so kleine wie ein Hanfkorn. Wie zu einer festlichen Heerschau waren sie alle, vom größten bis zum kleinsten, aufgeputzt, gewaschen frohlockend am Himmel aufgezogen; und sie alle, bis zum letzten, bewegten leise ihre Strahlen. Der Himmel spiegelte sich im Wasser; die Sterne badeten in der dunklen Tiefe und bebten samt dem leichten Wellengekräusel. Die Luft war warm und still. Weit weg am anderen Ufer, ganz im Finstern, sah man einige zerstreute lohend rote Flämmchen. Einige Schritte von mir entfernt gewahrte ich die dunkle Silhouette eines Bauern; er hatte einen hohen Hut; er stützte sich auf einen dicken Aststock. „Das dauert aber lange mit der Fähre!“ sagte ich. „Müßte schon da sein“, gab die Silhouette zur Antwort. - 24 -
„Du wartest auch auf die Fähre?“ „Nein, ich bin nur so hier...“, gähnte der Bauer. „Ich warte auf die Lumination. Ich täte hinfahren, aber, daß ich's nur sage, mir fehlt der Fünfer zur Überfahrt.“ „Den Fünfer könnte ich geben.“ „Nein, wir danken gehorsamst... Für den Fünfer magst du drüben im Kloster eine Kerze für mich opfern. So wird es besser sein; derweilen stehe ich hier. Sag einer an, die Fähre kommt immer noch nicht! Als wäre sie vom Wasser verschluckt!“ Der Bauer trat dicht ans Wasser, packte mit der Hand das Seil und schrie hinüber: „Ieronim! Ieron—i—i- im!—“ * Gleichsam als Antwort auf dieses Rufen ertönte von drüben das langhallende Läuten einer großen Glocke. Der Ton war voll und dicht und tief, als rührte man an die dickste Saite des Kontrabasses; die Finsternis selber schien heiser aufzuheulen. Sogleich ließ sich dann ein Böllerschuß vernehmen. Er rollte durch die Dunkelheit und verhallte irgendwo hinter mir in der Ferne. Der Bauer nahm den Hut ab und bekreuzigte sich. „Christ ist erstanden!“ sagte er. Die Tonwellen des ersten Glockenschlages waren noch nicht verhallt, als man schon einen zweiten, dann einen dritten vernahm, und die Finsternis ward gefüllt von einem ununterbrochenen, dröhnenden, dumpfen Beben. Neben den roten Feuern flammten andere Feuer auf, und sie alle zusammen gerieten in Bewegung und flimmerten unruhig hin und her. „Ieron- i-i- im!“ ließ sich ein dumpf hallendes Hufen vernehmen. „Man ruft vom anderen Ufer“, sagte der Bauer. „Also auch drüben ist die Fähre nicht! Ieronim ist eingeschlafen.“ Die Flämmchen und das samtartige Glockenläuten lockten hinüber. Schon war ich nahe daran, die Geduld zu verlieren und mich aufzuregen; aber indem ich schärfer in die dunkle Ferne * Hieronym us.
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spähte gewahrte ich endlich die Silhouette von einem Etwas, das einem Galgen ähnlich sah. Das war die lang erwartete Fähre. Sie bewegte sich so langsam vorwärts, daß man hätte meinen sollen, sie läge auf einem Fleck oder bewegte sich nach dem anderen Ufer zu. Indessen traten die Umrisse der Fähre deutlicher hervor. „Mach zu, Ieronim!“ rief der Bauer. „Ein Herr wartet.“ Die Fähre kam ans Ufer herangekrochen, schwankte und fuhr knirschend am Ufer auf. Ein hochgewachsener Mensch im Mönchsgewand stand auf ihr; er trug einen kurzen, kegelartigen Hut auf dem Kopf. „Warum dauerte es so lange?“ fragte ich und sprang auf die Fähre. „Um Christi willen, verzeiht!“ gab Ieronim zur Antwort. „Ist sonst wer da?“ „Nein, niemand.“ Ieronim griff mit beiden Händen nach dem Seil, bog sich zu einem Fragezeichen und räusperte sich. Die Fähre knirschte und schwankte leicht. Die Silhouette des Bauern mit dem hohen Hut begann sich langsam von mir zu entfernen; die Fähre befand sich also in Fahrt. Ieronim hatte sich inzwischen aufgerichtet und arbeitete nunmehr nur mit der einen Hand. Wir schwiegen beide und blickten nach dem anderen Ufer, auf das wir zuhielten. Drüben hatte die Lumination, auf die der Bauer gewartet hatte, schon begonnen. Dicht am Wasser flammten Teerfässer in gewaltigen Feuersäulen, deren blutrote Spiegelung gleich dem aufgehenden Mond uns in langen, breiten Bahnen entgegenglitt. Die flammenden Teerfässer beleuchteten ihren eignen Rauch und die langen Schatten der Menschen, die sich in nächster Nähe zu schaffen machten; weiter abseits jedoch und hinter ihnen, woher das samtene Geläute wogte, herrschte immer noch dasselbe undurchdringliche schwarze Dunkel. Plötzlich wurde dieses Dunkel zerrissen und eine Rakete schoß wie ein goldenes Band gen Himmel; sie beschrieb einen Bogen und zerplatzte in tausend Funken, als wäre sie am Himmel - 26 -
geborsten. Vom Ufer ließ sich Stimmengewirr vernehmen; es klang nach einem fernen Hurra. „Wie schön!“ sagte ich „Es ist gar nicht mit Worten zu sagen, wie schön es ist!“ seufzte Ieronim. „Das ist so eine Nacht, Herr! Zu anderer Zeit, wer mag da schon Raketen beachten! Doch heute freut man sich an jedem Treiben. Und woher kommt ihr?“ Ich sagte ihm. woher ich kam. „So, so... ein Freudentag heute“, fuhr Ieronim mit schwachem, aufseufzendem Tenor fort, so etwa, wie Rekonvaleszenten zu sprechen pflegen. „Der Himmel frohlockt und die Erde und die Unterwelt. Alle Kreatur feiert den Tag. Sagt mir nur, lieber Herr, warum ist das so, daß der Mensch auch bei der größten Freude seinen Kummer nicht zu vergessen vermag?“ Mich deuchte, diese überraschende Frage wäre der Auftakt zu einem jener „länglichen“, das Seelenheil betreffenden Gespräche, die von müßigen Mönchen, die sich langweilen, bevorzugt werden. Ich war nicht aufgelegt, viel zu sprechen, und fragte nur: „Was habt ihr denn für ein Leid, Batjuschka?“ * „Ach, wie es halt alle Menschen gewöhnlich haben, werter Herr, bester Herr! Aber am heutigen Tage haben wir im Kloster einen besonderen Kummer gehabt; gerade beim Hochamt, während der Schriftlesung, ist der Hierodiakonus Nikolai verstorben.“ „Nun ja, so war es eben Gottes Wille!“ entgegnete ich in Anpassung an die Tonart der Mönche. „Wir müssen alle sterben. Ich meine, ihr solltet euch eigentlich freuen... Man sagt, wer um die Osterzeit oder zu Ostern stirbt, wird gewiß ins Himmelreich eingehen.“ * Wörtlich übersetzt: Väterchen. Die Wendung ist so ausgesprochen russisch und unübersetzbar; es empfiehlt sich, das russische Wort beizubehalten.
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„Das ist richtig.“ Wir schwiegen. Die Silhouette des Bauern mit dem hohen Hut war mit den Konturen des Ufers verschmolzen. Die Teerfässer flammten immer mächtiger auf. „Auch die Heilige Schrift weist auf die Eitelkeit des Kummers hin“, unterbrach Ieronim das Schweigen, „aber da kommt einem diese Überlegung: Wie ist es denn, daß die Seele Kummer hat und nicht auf die Vernunft hört? Wie kommt es, daß man bitterlich weinen möchte?“ Ieronim zuckte mit den Schultern, wandte sich mit einer raschen Bewegung mir zu und begann nun in eiliger Rede: „Stürbe ich oder wer anders, so ginge das vielleicht unbemerkt hin; aber nun ist Nikolai gestorben! Kein anderer als Nikolai! Es hält schwer, zu glauben, daß er nicht mehr auf Erden weile! Da stehe ich hier auf der Fähre, und immer will mir scheinen, ich müßte gleich vom Ufer her seine Stimme hören. Damit ich auf der Fähre keine Angst habe, pflegte er immer ans Ufer zu kommen und mich zu rufen. Eigens darum stand er in der Nacht von seinem Lager auf. Eine gute Seele! O Gott, was war er doch gut und voller Mitleiden! Da gibt es so manchen, der nicht einmal eine Mutter hatte, so wie dieser Nikolai es mir war! Gott sei seiner Seele gnädig!“ Ieronim packte das Seil, wandte sich aber alsbald wieder mir zu. „Euer Hochwohlgeboren! Und wie klar war erst sein Verstand!“ sprach er in singendem Tonfall. „Welch wohltönende, süße Sprache! Ganz so, wie man jetzt alsbald zur Matutin singen wird: Oh, ob deiner lieblichen, oh, ob deiner süßesten Stimme! Außer verschiedenen mannigfachen menschlichen Eigenschaften verfügte er noch über eine ganz außerordentliche Gabe!“ „Was denn für eine?“ fragte ich.
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Der Mönch maß mich mit seinen Blicken, und so, als habe er sich nun davon überzeugt, daß man mir ein Geheimnis anvertrauen dürfe, lachte er fröhlich auf. „Er hatte die Gabe, Kathismen zu verfassen!“ sagte er. „Ganz wunderbar, Herr! Sie werden staunen, wenn ich Ihnen das erkläre. Unser Vater Archimandrit kommt aus der Moskauer Schule. Der Vater Vikar hat die Akademie in Kasan absolviert. Wir haben auch noch andere sehr kluge Mönche und Altväter in unserem Kloster. Aber nun seht, es ist keiner unter ihnen, der solche Texte verfassen könnte! Nikolai jedoch, ein schlichter Mönch und Hierodiakonus, der nirgends studiert hat, der ganz unscheinbar aussah - er konnte sie verfassen! Ein Wunder! Wahrhaftig - ein Wunder!“ Der Mönch schlug die Hände zusammen; er hatte sein Seil ganz vergessen und fuhr begeistert fort: „Der Vater Vikar hat beispielsweise viel Mühe mit seinen Predigten! Als er die Geschichte unseres Klosters schrieb, mußte die ganze Brüderschaft daran glauben, und wohl ein dutzendmal ist er dieserhalb zur Stadt gefahren. Nikolai aber, der konnte Kathismen verfassen! Kathismen! Das ist ganz was anderes als eine Predigt oder als die Geschichte eines Klosters!“ „Ja, ist es denn so schwer, Kathismen zu schreiben?“ fragte ich. „Ganz überaus schwer!“ und Ieronim nickte mit dem Kopf. „Mit aller Gelehrtheit und Heiligkeit kommt man hier keinen Schritt vom Fleck, wenn einem Gott der Herr nicht die Gabe verleiht. Die Mönche, die davon keine Ahnung haben, meinen, es genügt, wenn man das Leben des Heiligen zu Hilfe nimmt, dem das Kathisma gilt, und es dann außerdem ändern Kathismen nachbildet... Aber so ist das nicht, Herr! Selbstredend, wenn einer ein Kathisma verfaßt, muß er das Leben des betreffenden Heiligen sehr genau kennen; alles muß er wissen bis aufs letzte Tüpfelchen über dem i. Freilich müssen auch die ändern Kathismen zu Rate gezogen werden, wenn man wissen will, wie man anfangen soll und worüber man schreibt. - 29 -
So beginnt zum Beispiel das erste Kathisma überall mit dem Wort: ,Erwählter' oder ,Auserwählter'... Ein anderes Gesangsstück, der Oikos, beginnt regelmäßig mit dem Engeldes-Herrn. Im Kathisma ,An den süßesten Jesus' lautet der Anfang folgendermaßen: ,Der die Engel erschuf und die Mächte des Herrn'... Im Kathisma an die allerseligste Jungfrau heißt es: ,Der Engel, der vor dem Angesichte Gottes stehet, ward vom Himmel gesandt'; zum Heiligen Nikolaus dem Wundertäter: ,Einen Engel als wie in der Gestalt eine s irdischen Wesens' und so fort. Immer fängt man mit dem Engel an. Gewiß, es ist unerläßlich, zu vergleichen und nachzubilden, doch die Hauptsache ist nicht Kenntnis des Heiligenlebens, auch nicht Übereinstimmung mit den anderen, sondern es geht um die Schönheit und Süßigkeit. Es ist nötig, daß alles kurz und dennoch in aller Ausführlichkeit in schönster Ordnung gesagt sei. Es muß so sein, daß man aus jeder Zeile Weisheit und Zartheit und Sanftmut heraushört. Kein grobes Wort darf da sein, nichts Hartes oder Unpassendes! Man muß so schreiben können, daß sich der Betende in seinem Herzen erfreut und Tränen vergießt; sein Geist aber muß erschüttert sein und gar in Wallung geraten. Im Gottesmutter-Kathisma kommen die Worte vor: ,Freue dich, du Himmelshohe, die du mit menschlichen Gedanken nicht zu messen bist! Freue dich, unmeßbare und auch mit den Augen von Engeln nicht ergründbare Tiefe.' An einer anderen Stelle desselben Kathisma heißt es: ,Freue dich, du Baum mit den klaren Früchten, denn von ihnen werden die Gläubigen essen; freue dich, du schöner schattenspendender Baum, denn vielen bist du eine Zuflucht.'* Ieronim schien vor etwas zu erschrecken. Oder ob er sich vielleicht schämte? Jedenfalls bedeckte er das Gesicht mit beiden Händen und nickte mit dem Kopf. „Lichte Früchte tragender Baum... Segenschatten spendender Laubbaum...“, murmelte er. „Hat er doch diese Worte gefunden! Gott der Herr hat ihm das eingegeben! Der Kürze halber faßt er viele Worte und Gedanken in ein Wort zusammen; und wie - 30 -
getragen und den Umständen angemessen, steht es dann da: ,Lichtspendender Leuchter' - so heißt es in dem Kathisma an den süßesten Jesus. ,Licht spenden!' Solch ein Wort kommt in der Umgangssprache selten vor, auch in Büchern nur selten. Er hat es also erdacht, mit seinem Geist hat er es gefunden. Außer der Getragenheit und der Beredtheit, Herr, wird auch noch gefordert, daß jedes Zeilchen auf alle erdenkliche Weise ausgeschmückt werde, daß dort Blumen vorkommen, Blitz und Wind, Sonne und alle Dinge der sichtbaren Welt. Jede Anrufung muß aber so abgefaßt sein, daß es dem Ohr gut und erfreulich eingehet... ,Freue dich, o Lilie, du paradiesisches Gewächs!' So klingt es dem Ohr glatter und angenehmer. Und so eben hat Nikolai geschrieben. Genau so! Und ich vermöchte es gar nic ht zum Ausdruck zu bringen, wie schön er geschrieben hat!“ „Dann ist es allerdings wirklich schade darum, daß er gestorben ist“, sagte ich. „Wir wollen aber voranmachen, Batjuschka, sonst kommen wir zu spät.“ Ieronim faßte sich und hastete an das Seil. Am Ufer hatte inzwischen das große, allgemeine Glockenläuten begonnen. Wahrscheinlich war die Prozession um das Kloster schon im Gange, denn der ganze, in Dunkelheit getauchte Raum hinter den Teerfässern war wie übersät von wimmelnden Kerzenflämmchen. „Ob Nikolai seine Kathismen gedruckt hat?“ fragte ich. „Wie sollte er sie wohl drucken!“ seufzte er tief. „Auch wäre es seltsam gewesen, sie zu drucken. Warum auch! Bei uns im Kloster fragt keine Seele danach. Man hat so etwas nicht gern. Man wußte zwar, daß Nikolai schrieb, achtete aber nicht weiter darauf. Heutzutage, Herr, werden Texte nirgends geachtet.“ „Wohl aus Voreingenommenheit?“ „Ja freilich; wäre Nikolai ein Altvater gewesen, dann hätte sich die Brüderschaft vielleicht dafür interessiert. Nun war er aber noch keine vierzig alt. Da waren auch welche unter den - 31 -
Mönchen, die sich über ihn lustig machten, ja seine Schreiberei für sündhaft hielten.“ „Warum schrieb er denn wohl?“ „Er tat es, weil es ihm selber Freude machte. Von der ganzen Klosterbrüderschaft war ich der einzige, der seine Kathismen las. Behutsam bin ich zu ihm geschlichen, damit mich die anderen nicht sähen. Er aber hatte seine Freude daran, daß ich mich dafür interessierte. Dann umarmte er mich, streichelte mir den Kopf, gab mir zärtliche Worte; wie zu einem Kinde sprach er mit mir. Die Zellentür wurde geschlossen; ich mußte mich neben ihn setzen, und dann begann das Lesen.“ Ieronim ließ das Seil ruhen und trat an mich heran. „Wir waren gut freund miteinander, wenn man so sagen darf“, flüsterte er und sah mich mit seinen glänzenden Augen an. „Wohin er ging, dahin ging auch ich! War ich nicht da, so grämte er sich. Er liebte mich am meisten von allen, das alles aber nur darum, weil ich doch weinen mußte, wenn er seine Kathismen las. Ganz rührend, wenn ich so zurückdenke! Nun bin ich gleichsam verwaist oder wie eine Witwe! Wissen Sie, das Volk in unserm Kloster ist allerwege brav, fromm und gutmütig. Aber keiner ist da, der weich veranlagt wäre und zartfühlend; es ist, als wären es allesamt Leute niederen Standes. Alle reden laut daher; wenn sie gehen, stampfen sie mit den Füßen; sie lärmen und husten; Nikolai aber, der hatte die Gewohnheit, immer leise und zärtlich zu sprechen. Wenn er merkte, daß einer schlief oder sein Gebet verrichtete, ging er lautlos an ihm vorüber; er huschte vorüber wie ein Mücklein, wie eine Fliege! Er hatte so ein zärtliches, so ein mitfühlendes Antlitz!“ Ieronim seufzte tief und griff wieder nach dem Seil. Schon näherten wir uns dem anderen Ufer. Allgemach trieben wir hin aus den Dunkelheiten und aus der Stille des Flusses in ein Zauberreich, das erfüllt war von Rauch, der einem den Atem verschlug, von knisterndem Feuerschein und von Getöse. Schon - 32 -
konnte man deutlich in der Nähe der Teerfässer Menschen sich hin und her bewegen sehen. Das Flackern der Flammen verlieh ihren Gesichtern und Gestalten etwas Seltsames, ja Phantastisches. Bisweilen sah man zwischen den Köpfen und Gesichtern Pferdemäuler auftauchen, völlig regungslos, wie aus rotem Kupfer gegossen. „Gleich wird der Osterkanon angestimmt“, sagte Ieronim. „Nikolai ist aber nicht da; wer wird sich darin vertiefen!... Keine süßeren Worte gab es für ihn als diesen Kanon! Bisweilen konnte es scheinen, als vermöchte er in jedwedes Wort einzudringen. Sie werden nun dort drüben sein, Herr, und werden in das Gesungene eindringen und merken, wie es an die Seele greift!“ „Und Sie selber? Werden Sie nicht in der Kirche sein?“ „Das darf ich nicht. Ich habe für die Überfahrten zu sorgen.“ „Kann Sie niemand ablösen?“ „Das weiß ich nicht... Ich sollte schon um die neunte Stunde abgelöst werden; aber Sie sehen ja, niemand ist gekommen. Wenn ich's aber recht bedenke - ich ginge schon gern zur Kirche.“ „Sie sind Mönch?“ „Ja... das heißt, ich bin im Noviziat.“ Der Prahm stieß ans Ufer, und nun lag er fest. Ich steckte Ieronim für die Überfahrt ein Fünfkopekenstück zu und sprang ans Ufer. Gleich darauf fuhr ein knarrender Bauernwagen mit einem Knaben und einem schlafenden Weibe auf die Fähre, Ieronim, vom Feuerschein in zarte Farben getauc ht, stemmte sich gegen das Seil, warf sich zurück, und der Prahm kam in Bewegung. Ich machte ein paar Schritte durch den Uferschlamm, gelangte dann aber bald auf einen weichen, frisch eingetretenen Pfad. Dieser Pfad führte zum dunklen Klostertor, das an eine Höhle erinnerte, mitten durch Rauchwolken hindurch, durch die - 33 -
ungeordnet umherstehenden Menschenscharen, ausgespannte Pferde, Bauernwagen, Kaleschen... Alles das knarrte, schnaufte, lachte, und über allem webte ein purpurnes Leuchten, und Rauchschwaden trieben wie Wellen darüber hin... Wahrhaftig, ein Chaos! Und in all dem Gedränge hatte man noch Platz gefunden, eine kleine Kanone zu laden. Und Lebkuchen wurden auch verkauft! Jenseits der Mauer, in der Klosterumfriedung, herrschte ebenfalls mächtiges Gedränge, doch war das Betragen der Leute dort gesitteter, und es wurde besser Ordnung gehalten. Hier roch es nach Wacholder und frisch gefallenem Tau wie nach Weihrauch. Zwar wurde laut gesprochen, aber kein Gelächter, kein Gewieher war zu hören. An den Grabsteinen und Kreuzen drängte sich viel Volk mit weißen Osterbroten und anderen Weihegaben. Allem Anschein nach waren viele von ihnen von weither gekommen, um ihr Osterbrot weihen zu lassen, und nun waren sie müde. Vom Tor bis zur Kirchentür führte ein mit gußeisernen Platten belegter Weg; junge Novizen liefen eiligst, mit ihren Schuhen klappernd, hin und her. Auch droben auf dem Glockenturm tat sich was; man hörte von dort lautes Schreien und Rufen. Wie unruhig ist die Nacht! dachte ich bei mir. Wie schön das ist! Und wie gern nahm man diese Unruhe, diese schlaflose Wachheit in der ganzen Natur wahr, angefangen mit der nächtlichen Finsternis bis hin zu den Eisenplatten, Grabkreuzen und Bäumen, zwischen denen sich die Leute drängten. Aber nirgends war die Unruhe und Erregung stärker zu spüren als in der Kirche. Am Eingang ein immerwährender Kampf, ein Kommen und Gehen, Ebbe und Flut vergleichbar. Die einen wollten 'raus, die ändern 'rein und bald wieder 'raus, um nur ein wenig dabeizusein und sich dann wieder in Bewegung zu setzen. Die Menschen drängten von einem Platz zum ändern. Eine Weile treiben sie sich da herum, scheinen nach irgend etwas zu suchen. Die Welle setzt sich fort und flutet vom Eingang her - 34 -
durch die ganze Kirche bis hinein in die vordersten Reihen, wo die Soliden und Wohlbeleibten ihren Standort haben. Von einem innigen, zusammengehörenden organischen Wesen kann überhaupt keine Rede sein; auch von Gebeten ist nichts zu hören. Man spürt nur so etwas wie eine kindliche Freude, die alle erfaßt zu haben scheint und die nach einem Vorwand sucht, um sich Luft zu machen und in einer Bewegung zum Ausdruck zu kommen, sei es auch nur in einem unbarmherzigen Drängen und Stoßen. Dieselbe Beweglichkeit fällt einem auch bei den gottesdienstlichen Verrichtungen auf. Vor jedem Altar steht die Zarenpforte weit offen; durch die Luft geistert und webt um die Kronleuchter dichtes Weihrauchgewölk, man mag hinblicken, wohin man will: überall Flammen, Glanz, Kerzenknistern. Liturgische Lesungen fallen ganz weg. Ein drängendes, frohlockendes Singen wogt durch den Raum. Nach jedem Kanonlied wechselt die Geistlichkeit die Gewänder und kommt aus dem Altarraum, um Weihrauch zu spenden, was sich fast alle zehn Minuten wiederholt. Ich hatte kaum Platz gefunden, als eine von vorne rückflutende Welle mich weit zurückwarf. Ein hochgewachsener, stattlicher Diakon, der eine große rote Kerze trug, ging an mir vorbei; eilig folgte ihm ein silberhaariger Archimandrit mit dem Weihrauchfaß; er hatte eine goldene Mitra auf dem Kopf. Als aber diese den Blicken entschwanden, drängte mich die Menge wieder auf meinen alten Platz zurück. Doch währte es keine zehn Minuten, als schon eine neue Welle einsetzte und der Diakon abermals erschien, diesmal vom Vater Vikar gefolgt, dem nämlichen, der nach den Worten Ieronims die Geschichte des Klosters schrieb. Ich, der ich hier mit der Menge verschmolz und von der allgemeinen freudigen Erregung angesteckt war, empfand einen unsagbaren Schmerz beim Gedanken an Ieronim. Warum wurde er nicht abgelöst? War es nicht möglich, daß ein weniger
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sensibel Empfindender, ein weniger Empfänglicher die Fähre bediente? Nun sang der Chor: „Lasse deine Augen umherschweifen und siehe, o Zion, ein gotterfülltes Leuchten nahet dir vom Westen und vom Norden, vom Meere her und vom Osten deiner Kinder.“ Ich betrachtete die Gesichter der Umstehenden. Auf allen war der Ausdruck lebendiger Teilnahme an der Feierlichkeit zu lesen, aber es hörte keiner auf die Worte hin oder versuchte auch nur einzudringen in das, was da gesungen wurde; auch war kein einziger da, dem es „den Atem verschlagen hätte“. Warum man wohl Ieronim nicht ablöste? Ich hätte ihn mir vorstellen können, diesen Ieronim, wie er hier demütig, tiefgebeugt irgendwo an der Wand steht und die Schönheit der heiligen Worte begierig in sich aufnimmt. Alles, was jetzt an den Ohren der Umstehenden vorüberrauschte, er hätte es erschüttert in seine Seele getrunken und hätte bis zur Beseeligung davon gekostet, so daß es ihm den Atem verschlagen hätte, und im ganzen Gotteshause hätte es keinen Menschen gegeben so glücklich wie ihn. Nun aber steuerte er über den Fluß hin und wieder zurück und trauerte um seinen entschlafenen Bruder und Freund. Von hinten rollte wieder eine Welle an. Ein ziemlich beleibter Mönch, lächelnd an seinem Rosenkranz spielend und zurückblickend, drängte seitwärts an mir vorüber, um irgendeiner Dame in Hut und Samtpelz den Weg zu bahnen. Der Dame folgte eilig ein kleiner Klosterdiener. Er trug einen Stuhl, den er über unsern Köpfen balancierte. Ich verließ die Kirche. Ich wollte noch einen Blick auf den gestorbenen Nicolai werfen, den unbekannten, den Verfasser der Kathismen. Ich ging ein Stück an der Klostermauer entlang, dort nämlich waren, an die Mauer gelehnt, eine Reihe von Mönchsklausen. Ich spähte bald hie r, bald da durch die Fenster ins Innere, sah aber nichts und kehrte wieder um. Ich bedaure - 36 -
jetzt nicht mehr, den Toten nicht gesehen zu haben. Weiß Gott, ich hätte, gar wenn ich ihn gesehen hätte, das Bild von ihm nicht behalten, wie es mir nun leibhaftig vor Augen stand. Ich stelle mir diesen sympathischen, poetisch veranlagten Menschen, der in den Nächten hinausging, um mit Ieronim über den Fluß weg Rufe zu tauschen, der seine Kathismen mit Blumen, mit Sternen, mit Sonnenstrahlen überschüttete, der unverstanden und einsam geblieben war, ich stelle ihn mir als einen schüchternen, bleichen Menschen mit weichen, melancholischen, sanften Gesichtszügen vor. Nicht nur Verstand mußte aus seinen Augen leuchten, sondern auch Zartheit und diese kaum einzudämmende kindliche Beseeligung, wie ich sie aus der Stimme Ieronims herauszuhören glaubte, als er mir Zitate aus jenen Kathismen anführte. Als wir nach dem nächtlichen Amt das Gotteshaus verließen, war die Nacht schon um. Es begann zu dämmern. Die Sterne waren erloschen, und der Himmel stellte sich graublau und düster den Blicken dar. Die gußeisernen Platten, die Grabmäler und die Knospen an den Bäumen waren mit Tau bedeckt. Die Luft war schneidend und kühl. Jenseits der Umfriedung war nichts von der Bewegung zu merken, die ich dort in der Nacht wahrgenommen hatte. Pferde und Menschen schienen übermüdet und schläfrig; sie regten sich kaum. Von den Teerfässern waren nur kleine schwarze Aschenhäuflein übriggeblieben. Wenn der Mensch ermattet ist und es ihn nach Schlaf ve rlangt, so mag ihm scheinen, daß auch die Natur denselben Zustand durchlebt. Das junge Gras und die Bäume — alles schien zu schlafen. Selbst die Glocken schienen nicht so laut und froh ihr Geläute über das Land zu senden wie vorhin in der Nacht. Alle Unruhe war gewichen; von der Erregung war nichts geblieben als eine wohltuende Mattigkeit, als das Verlangen nach Schlaf und Wärme. Nun konnte ich den Fluß mit seinen beiden Ufern sehen. Über ihm wogten, bald hier bald dort, leichte Nebelschwaden. Vom Wasser stieg eine empfindliche Kühle auf. Als ich auf den - 37 -
Prahm sprang, war da schon irgend jemandes Kalesche; auch ein oder zwei Dutzend Weiber und Männer waren da. Das Seil war feucht; selbst dieses schien mir schläfrig zu sein, wie es da weit über den Fluß hinhing und stückweise im weißen Nebel verschwand. „Christ ist erstanden! Außer euch keiner da?“ fragte eine leise Stimme. Ich erkannte Ieronims Stimme. Nun hinderte mich die nächtliche Dunkelheit nicht mehr daran, ihn genauer zu betrachten: ein großer Mensch von etwa fünfunddreißig Jahren, schmal in den Schultern, mit großen, rundlichen Gesichtszügen, mit halbgeschlossenen, träge dreinblickenden Augen und einem ungepflegten rötlichen Bärtchen. Er sah zum Erbarmen aus: betrübt und ermattet. „Noch immer nicht abgelöst?“ staunte ich. „Ich?“ gab er zurück, kehrte mir sein taubedecktes, frierendes Gesicht zu und lächelte. „Es ist niemand da, der mich bis an den Morgen ablösen könnte. Jetzt gleich werden alle zum Vater Archimandrit gehen, um nach den strengen Fasten die Ostermahlzeit zu sich zu nehmen.“ Er und noch ein Bäuerlein mit einer rotbraunen Fellmütze auf dem Kopf, die aussah, als wäre sie aus Lindenbast gemacht, fast an ein Gefäß erinnernd, in dem Honig verkauft wird, griffen feste in das Tau, räusperten sich, wie sich's gehört, und schon löste sich der Prahm vom Ufer. So fuhren wir dahin und brachten unterwegs Unruhe in den träge steigenden Nebel. Alles schwieg. Ieronim arbeitete schweigend mit einer Hand. Lange schaute er bald den einen, bald den ändern von uns mit seinen matt blickenden, sanften Augen an: dann blieb sein Blick am rosigen Gesicht einer ganz jungen Kaufmannsfrau haften; sie stand neben mir auf der Prahm, und schweigend kuschelte sie sich ein, weil der Nebel um sie her wogte... Im Verlauf der ga nzen Fahrt löste er seinen Blick nicht von ihrem Antlitz.
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Dieser anhaltende Blick war wenig männlich. Mir wollte scheinen, Ieronim suchte im Gesicht der Frau die weichen und zarten Züge seines entschlafenen Freundes.
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DER BISCHOF I
Am Vorabend des Palmsonntags wurde im Staro-Petrowschen Kloster das Abendamt zelebriert. Als man die Palmen verteilte, ging es schon bald auf zehn; die Lichter brannten dunkler, der Blakansatz der Dochte war verkrustet; alles war wie im Nebel. Im Dämmer der Kirche schwankte die Volksmenge wie ein Meer, und dem hochwürdigsten Pjotr, der sich schon seit drei Tagen nicht wohl fühlte, wollte scheinen, daß die Gesichter aller, die alten und die jungen, die der Männer und der Frauen, einander gleich sahen; alle, die da nahten, um die Palmen zu empfangen, hatten denselben Augenausdruck. Wegen des Brodems war die Tür nicht zu sehen; die Volksmenge war dauernd in Bewegung, und es sah so aus, daß sie kein Ende habe und nie ein Ende haben werde. Der Frauenchor sang; der Kanon wurde von einer Nonne verlesen. Wie dumpf war es, wie heiß! Und wie lange dauerte doch das Abendamt! Der hochwürdigste Pjotr war müde geworden. Sein Atem ging schwer, häufig, trocken, die Schultern taten weh vor Müdigkeit, die Beine zitierten. Auch regte es ihn unangenehm auf, daß bisweilen oben im Chor ein Gottesnarr Schreie ausstieß. Da wollte ihm plötzlich scheinen, als träumte oder als phantasierte er, ihm, dem Hochwürdigsten, wäre mit der Menge seine eigene Mutter, Marja Timofejewna, genaht, die er schon neun Jahre lang nicht gesehen hatte, oder jedenfalls eine alte Frau, die der Mutter ähnlich sah, und nachdem sie von ihm die Palme empfangen hatte, trat sie zurück und blickte unentwegt auf ihn — heiter, mit einem gütigen, fröhlichen Lächeln, bis sie in der Menge untertauchte. Und aus irgendeinem Grunde fühlte er sein Gesicht von Tränen naß werden. Sein Herz war ruhig, alles war ja gut, aber unentwegt blickte er nach der rechten Chorseite hinüber, wo die heiligen Texte gelesen wurden, wo - 40 -
man wegen der Abenddunkelung bereits keinen einzigen Menschen erkennen konnte; und — er weinte. Die Tränen glänzten auf seinem Gesicht, in seinem Bart, und dort — ganz nah — war noch einer, der weinte; dann weiter - noch irgendein anderer; dann noch — und noch; und ganz allmählich war die Kirche von leisem Weinen erfüllt. Dann aber, nach einer Weile, vielleicht fünf Minuten später, sang der Klosterchor, und dann wurde nicht mehr geweint. Und alles war wie früher Bald darauf war das Amt aus. Als der Bischof in seinem geschlossenen Wagen Platz nahm, um nach Hause zu fahren, dröhnte über dem ganzen, vom Mondlicht beschienenen Garten das frohe, schöne Geläut der kostbaren, schweren Kirchenglocken. Die weißen Mauern, die weißen Kreuze auf den Gräbern, die weißen Birken, die schwarzen Schatten, der ferne Mond am Himmel, der gerade über dem Kloster stand, das alles schien jetzt ein besonderes, aber dem Menschen dennoch nahes, unbegreifliches Eigenleben zu führen. Es war Anfang April. Und nach einem warmen Frühlingstag war es nun kühl geworden; ein leichter Frost machte sich bemerkbar, und man spürte den Atem des Frühlings durch die weiche, kühle Luft wehen. Der Weg vom Kloster bis zur Stadt war sandig; es mußte Schritt gefahren werden. Zu beiden Seiten des Wagens schleppten sich im grellen und ruhigen Mondeslicht die Andächtigen durch den Sand. Und alle schwiegen, in Gedanken versunken. Alles ringsum war anmutend, frisch und so nahe, alles - die Bäume, der Himmel, selbst der Mond, und man hätte glauben mögen, so würde es immer sein. Endlich fuhr der Wagen in die Stadt ein und rollte die Hauptstraße entlang. Die Geschäfte waren schon geschlossen, und nur beim Kaufmann Jerakin. einem Millionär, wurde an der elektrischen Beleuchtung gearbeitet; sie flimmerte stark, und das Volk drängte heran. Dann kamen die breiten, dunklen Straßen, eine um die andere, menschenleer: dann, schon hinter der Stadt, die Semstwo-Chaussee, Felder, der Geruch von Tannen. Und - 41 -
plötzlich stieg vor dem Auge eine weiße, zinnenbekrönte Mauer auf, dahinter aber, lichtübergossen, der hohe Glockenturm und neben ihm fünf große, vergoldete, glänzende Kuppelhäupter, es war das Pankratiuskloster, in dem der hochwürdigste Herr wohnte. Und auch hier ebenso hoch über dem Kloster der stille, nachdenkliche Mond. Der Wagen passierte das Tor, der Sand knirschte unter den Rädern; hier und da huschten im Mondeslicht schwarze Mönchsgestalten, und man hörte Schritte auf den Steinfliesen. „Hierselbst, hochwürdigster Herr, ist Ihr Mütterlein in Ihrer Abwesenheit eingetroffen“, meldete der Diener des Bischofs, als der Hochwürdigste seine Wohnräume betrat. „Das Mütterchen? Wann ist es denn gekommen?“ „Vor der Abendmesse. Sie hat sich gleich zu Beginn erkundigt, wo Ihr wäret, und ist dann in das Frauenkloster gefahren.“ „Das heißt also, ich habe sie vorhin in der Kirche gesehen! O Gott!“ Der Hochwürdigste lachte vor Freude. „Sie ließ sagen, hochwürdigster Herr“, fuhr der Mönchsdiener fort, „sie würde morgen kommen. Sie hat ein Mädchen bei sich, wahrscheinlich ein Enkelkind. Sie ist bei Owsjannikov, im Gasthof, abgestiegen“ „Wie spät ist es?“ „Vor kurzem hat es elf geschlagen.“ „Das ist aber ärgerlich!“ Der Hochwürdigste setzte sich für einen Augenblick im Salon nieder; er überlegte, und es war, als glaubte er nicht recht, daß es schon so spät sei. Er verspürte ein Reißen in den Armen und Beinen, auch hatte er Nackenschmerzen. Es war heiß, und alles war unbequem. Nachdem er sich ein wenig erholt hatte, begab er sich in sein Schlafzimmer und saß auch dort eine Weile, in Gedanken mit der Mutter beschäftigt. Man konnte hören, wie - 42 -
der Diener sich entfernte und wie Pater Ssissoj, ein Priestermönch, hinter der Wand hüstelte. Die Klosteruhr schlug ein Viertel nach elf. Der Hochwürdigste kleidete sich um und begann dann die Abendgebete zu lesen. Aufmerksam las er diese alten, längst bekannten Gebete und dachte gleichzeitig an seine Mutter. Neun Kinder hatte sie gehabt und gegen vierzig Enkelkinder. Vor langer Zeit hatte sie mit ihrem Mann, einem Diakon, in einem armseligen Dorf gelebt, und sie hatte dort sehr lange gelebt, von ihrem siebzehnten bis zum sechzigsten Lebensjahr. Der Hochwürdigste erinnerte sich noch an seine früheste Kindheit; er mochte damals drei Jahre alt gewesen sein, und wie sehr hatte er sie geliebt! Die liebe, die unvergeßliche, teure Kinderzeit! Warum ist sie, diese auf ewig entschwundene, unwiederbringliche Zeit, warum ist sie lichter, festtäglicher und reicher, als sie es in Wirklichkeit war? Wenn er in der Kindheit oder in seiner Jugend erkrankte, wie zartfühlend, wie feinempfindend war dann seine Mutter gewesen! Und jetzt vermengten sich die Gebete mit seinen Erinnerungen, die immer lebhafter aufstiegen, wie eine Flamme. Und die Gebete hinderten ihn nicht daran, an seine Mutter zu denken. Als er zu Ende gebetet hatte, kleidete er sich aus und ging zu Bett, und dann nachdem es rings dunkel geworden war, mußte er alsbald an seinen verstorbenen Vater, an seine Mutter, an das Heimatdorf Ljessopolje denken: Räderknarren, der Schafe Blöken, das Läuten der Glocken am klaren Sommermorgen, Zigeuner vor den Fenstern - oh, wie süß war es, daran zu denken! Jetzt erinnerte er sich auch an den Priester von Ljessopolje, das war der Vater Simeon, ein sanfter, stiller, gutmütiger Mensch; er war hager, klein von Wuchs, während sein Sohn, der Seminarist, ein Riese von Statur, in unermeßlich gewaltigem Baß redete Dieser Popensohn hatte einmal einen Zorn auf die Köchin gehabt, und er hatte sie beschimpft: „Ach, du Eselin Jekuthiels!“ Und Vater Simeon, der das hörte, hatte kein Wort dazu gesagt, und er schämte sich nur. da er sich beim besten Willen nicht erinnerte, wo in der Heiligen Schrift eine - 43 -
solche Eselin Erwähnung fände. Ihm war als Priester in Ljessopolje Vater Demjan gefolgt, der einen starken Trunk liebte und sich bisweilen so betrank, daß er die „grüne Schlange“ zu sehen glaubte; so hatte er denn auch den Beinamen bekommen „Demjan. der Schlangensichter“. In Ljessopolje war Matwej Nikolaijewitsch, ein ehemaliger Seminarist, Volksschullehrer, ein guter, durchaus nicht dummer Mensch, doch ebenfalls dem Trunke ergeben. Nie kam es vor, daß er die Schüler züchtigte, aber aus irgendeinem Grunde hing bei ihm immer eine Birkenrute an der Wand und darunter in lateinischer Schrift, vollkommen sinnlos, die Worte „betula kinderbalsamica secuta“. Er hatte einen schwarzen, zottigen Köter, der auf den Namen „Syntax“ hörte. Da mußte der Hochwürdigste lachen. Und acht Werst hinter Ljessopolje war das Dorf Opnino mit einem Gnadenbild. Im Sommer wurde die Ikone in feierlicher Prozession durch die benachbarten Dörfer getragen, und dann läuteten den ganzen Tag über die Kirchenglocken, bald in einem, bald in dem anderen Dorf. Dem Hochwürdigsten hatte damals geschienen, daß die Freude in der Luft zittere, und er (den man damals noch „Pawluscha“ nannte) war der Ikone barhäuptig und barfuß gefolgt, im naiven Kinderglauben, mit einem naiven Lächeln, unendlich glückselig. Jetzt mußte er daran denken, daß in Opnino immer viel Volks war, und der dortige Priester, Vater Alexei, hatte, um mit der „Proskomidie“* voranzukommen, seinen tauben Neffen. Hilarion mit Namen, angestellt, die Zettel und Eintragungen für die Weihbrote, also die Bitten „um Gesundheit“ und „für die Seelenruhe“ Verstorbener, zu verlesen; Hilarion las, und dann und wann bekam er fünf Kopeken oder einen Zehner für die Messe; aber als sein Leben schon dem Ende entgegenging, da findet er plötzlich folgende Worte auf einem Zettelchen: „Was bist du doch für ein
* Anfang der Liturgie, ein Rüstakt, der vom Priester und Diakon vollzogen wird.
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Dummkopf, Hilarion!“ Mindestens bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr, das wenigstens, war Pawluscha unentwickelt, und er lernte schlecht, so daß man ihn sogar aus der geistlichen Lehranstalt wegnehmen und ihn zu einem kleinen Händler in die Lehre geben wollte. Als er einmal nach Opnino auf die Post gegangen war um dort Briefe abzuholen, blickte er lange Zeit die Beamten an und fragte: „Dürfte ich wohl um Auskunft bitten, wie bekommen Sie Ihr Gehalt ausgezahlt: monatlich oder täglich?“ Der Hochwürdigste bekreuzigte sich und legte sich auf die andere Seite, um nicht mehr zu denken, sondern zu schlafen. „Meine Mutter ist gekommen...“, erinnerte er sich und lachte. Der Mond schaute durchs Fenster, der Fußboden lag im Licht, und Schatten breiteten sich hie und da aus. Ein Heimchen zirpte. Im Nebenzimmer hinter der Wand schnarchte Vater Ssissoj, und man glaubte, so etwas Einsames, Verwaistes, ja sogar Vagantenhaftes aus diesem greisen Schnarchen herauszuhören. Ssissoj war irgendwann einmal Ökonom des Bischofs der Eparchie gewesen, nun nannte man ihn nur den „früheren Vater Ökonom“. Er war siebzig Jahre alt, er lebte im Kloster, sechzehn Werst von der Stadt entfernt, wohnte aber auch in der Stadt, wie es sich gerade traf. Vor drei Tagen war er in das Pankratiuskloster gekommen, und der hochwürdigste Herr hatte ihn dabehalten, um mit ihm irgendwann, wenn die Zeit es erlaubte, von geschäftlichen Dingen und von der ortsüblichen Ordnung zu sprechen. Um halb zwei wurde zur Matutin geläutet. Man konnte hören, wie Vater Ssissoj hustete, wie er dann mit unzufriedener Stimme irgend etwas knurrte, dann aufstand und barfuß durch die Zimmer ging. „Vater — Ssissoj!“ rief der Hochwürdigste. Ssissoj kehrte in sein Zimmer zurück und erschien ein wenig später, nun geschuht, mit einer Kerze in der Hand. Über der Unterwäsche trug er die Soutane und auf dem Kopf eine alte, verblichene Mönchskappe. - 45 -
„Ich finde keinen Schlaf“, sagte der Hochwürdigste und richtete sich auf. „Ich glaube, ich bin krank. Und ich weiß nicht, was es ist... Fieber!“ „Euer Gnaden werden sich erkältet haben. Man müßte Euer Gnaden mit Kerzentalg einreiben.“ Ssissoj stand eine Weile da, dann seufzte er: „O Herr, sei mir Sünder gnädig!“ „Bei Jerakin hat man heute die Elektrizität angebracht“, sagte er. „Gefällt mir nicht!“ Vater Ssissoj war alt, hager, gebeugt, immer mit irgend etwas unzufrieden, und seine vorstehenden Augen blickten böse drein, wie bei einem Krebs. „Gefällt mir nicht“, wiederholte er im Fortgehen. „Gefällt mir nicht. - Gott mit ihm... überhaupt! Und so...“ II Am darauffolgenden Tage, am Palmsonntag, zelebrierte der Hochwürdigste das Hochamt in der Stadtkathedrale; alsdann war er beim Eparchialbischof, machte einen Besuch bei einer alten, schwerkranken Generalin, und schließlich war er dann wieder nach Hause gefahren. Zum Mittagessen, zwischen eins und zwei, hatte er sehr lieben Besuch: seine greise Mutter und seine Nichte Katja, ein achtjähriges Mädchen. Während des Essens schaute die lichte Frühlingssonne immerzu von draußen durch die Fenster und breitete heiteren Glanz über das weiße Tischlinnen und über Katjas rotes Haar. Durch die Doppelfenster konnte man hören, wie die Saatkrähe n rumorten und die Stare ihre Lieder schmetterten. „Neun Jahre - seit wir uns zuletzt sahen!“ sagte die Alte. „Doch als ich Sie gestern abend im Kloster anschaute, du großer Gott, Sie haben sich ja überhaupt nicht verändert; vielleicht daß Sie ein wenig schmaler geworden sind, und das Bärtchen mag etwas länger geworden sein. O du Himmelskönigin, Mutter Gottes! Und gestern abend, während des späten Amtes, da war - 46 -
es unmöglich, an sich zu halten, alle haben geweint! Auch ich... ich mußte, als ich Sie anschaute, weinen, warum aber, das weiß ich selber nicht! Es ist Sein heiliger Wille!“ Trotz aller Zärtlichkeit, mit der sie das sagte, wußte sie in ihrer Verlegenheit nicht recht, ob sie ihn nun mit „du“ oder mit „Sie“ anreden, ob sie lachen oder nicht lachen sollte, und es war gleichsam so, als fühlte sie sich hier nicht als seine Mutter, sondern als Gattin des Diakons. Katja aber blickte unentwegt und ohne zu blinzeln ihren Ohm, den Hochwürdigsten, an, als käme es ihr darauf an. herauszubekommen, was das für ein Mensch sei. Ihr Haar bauschte sich hinter dem Kämmchen und Sammetbändchen; wie ein Schein stand es um ihren Kopf; sie hatte eine Stupsnase und schlaue Augen. Ehe man zu Tisch ging, hatte sie ein Glas zerschlagen; nun rückte die Großmutter beim Sprechen bald das große Glas, bald das kleine Weinglas von ihr ab. Der Hochwürdigste hörte seiner Mutter zu; er mußte daran denken, wie sie irgendwann, vor vielen, vielen Jahren, mit ihm und den Brüdern und Schwestern zu den Anverwandten fuhr, die sie für reich hielt; damals waren es die eigenen Kinder gewesen, mit denen sie sich kleine Erleichterungen zu schaffen hoffte, nun waren es die Enkelkinder, und da hatte sie eben Katja mitgenommen... „Ihre Schwester Warenjka“, erzählte sie, hat vier Kinder. „Das hier ist Katja, die älteste; und Gott mag wissen, was die Ursache war, daß der Schwiegersohn, Vater Iwan, erkrankte und drei Tage vor Maria Verkündigung starb. Da kann nun meine Warenjka zusehen, wo sie bleibt; sie muß betteln gehn!“ „Und wie steht es mit Nikanor?“ erkundigte sich der Hochwürdigste nach seinem ältesten Bruder. „Es geht, Gott sei Dank! Wenn's auch gerade geht, so muß man doch Gott danken, man kommt durch. Da wäre nur eines zu sagen: sein Sohn Nikolascha, mein Enkel, wollte nicht in die geistliche Laufbahn; er ist zur Universität gegangen, will Arzt
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werden. Er denkt, es ist besser so, aber wer kann es wissen! Sein heiliger Wille geschehe!“ „Nikolascha schneidet an Leichen herum“, sagte Katja und vergoß Wasser über ihre Knie. „Sitz doch ruhig. Kindchen“, bemerkte die Großmutter gelassen und nahm das Glas aus ihren Händen. „Wenn du ißt, mußt du beten.“ „So lange haben wir uns nicht gesehen“, sagte der Hochwürdigste und streichelte mit sanfter Hand der Mutter Schulter und Arm. „Mütterchen, ich habe, als ich im Auslande war, nach euch Sehnsucht gehabt, wirklich Sehnsucht.“ „Wir danken sehr!“ „Da sitzt man so des Abends am offenen Fenster, mutterseelenallein, draußen ist Musik, und plötzlich befällt einen solch ein Heimweh, man glaubt, man würde alles drum hingeben, wenn man nur nach Hause könnte, dich wiedersehen...“ „Wir danken Ihnen.“ Dann schlug seine Stimmung gleichsam urplötzlich um. Er sah die Mutter an und konnte nicht verstehen, woher sie diesen schüchternen, ehrerbietigen Ausdruck im Gesicht, aber auch in der Stimme haben mochte, woher das kam, und er erkannte sie nicht wieder. Plötzlich war alles traurig, unwirklich. Dazu kam noch das Kopfweh wie gestern auch, ein schmerzhaftes Ziehen in den Beinen; der Fisch schien ihm fade zu sein, er schmeckte ihm nicht; immerzu wollte er trinken... Nach dem Essen kam wieder Besuch; zwei reiche Damen, Gutsbesitzerinnen, die saßen etwa anderthalb Stunden schweigsam da mit langgezogenen Gesichtern. Der Archimandrit erschien in einer geschäftlichen Angelegenheit, auch er schweigsam und schwerhörig. Alsdann wurde zur Abendmesse geläutet; die Sonne verschwand hinter dem Walde, und der Tag war um. Nach seiner Rückkehr aus der Kirche - 48 -
verrichtete der Hochwürdigste eilig sein Gebet, legte sich zu Bett und deckte sich recht warm zu. Unangenehm war die Erinnerung an den Fisch, den es zu Mittag gegeben hatte. Der Mondschein beunruhigte ihn, und dann war eine Unterhaltung zu hören. Im Nachbarzimmer, vermutlich im Empfangszimmer, sprach Vater Ssissoj über Politik. „Die Japaner haben jetzt Krieg. Sie kämpfen. Die Japaner, müßt ihr wissen, Mütterchen, sind genau dasselbe wie die Montenegriner, eines Stammes mit ihnen. Beide waren unter türkischem Joch.“ Alsdann ließ sich Maria Timofejewnas Stimme vernehmen: „Nachdem wir also zu Gott gebetet hatten, auch Tee getrunken hatten, sind wir, heißt das, zu Vater Jegor nach Nowochwatnoje gefahren... dieses...“ Und das kam immer wieder vor: „Tee getrunken hatten“ oder „Tee genommen habend“, und es sah fast so aus, als wäre es das einzige in ihrem Leben, worum sie wußte, daß sie nämlich Tee getrunken hatte. Der Hochwürdigste tauchte geruhsam und träge ins Meer der Erinnerungen an das Seminar, dann an die Akademie unter. Drei Jahre lang hatte er im Seminar Griechisch unterrichtet, ohne Brille konnte er schon damals kein Buch lesen; dann hatte er die Tonsur bekommen, war Mönch geworden und wurde zum Inspektor ernannt. Alsdann hatte er seine Dissertation zu verteidigen. Mit zweiunddreißig Jahren wurde er zum Rektor des Seminars ernannt; er erhielt die Weihen und wurde Archimandrit, und da war das Leben so leicht, so angenehm, so lange- lang schien es zu sein, kein Ende abzusehen! Dann fing er an zu kränkeln; er war sehr abgemagert, war nahe am Erblinden, und auf Anraten der Ärzte sollte er alles stehen und liegen lassen und ins Ausland reisen. „Und was dann?“ fragte Ssissoj aus dem Nebenzimmer. „Aber dann haben wir Tee getrunken...“, erwiderte Marja Timofejewna. - 49 -
„Ihr Bart ist grün, Batjuschka!“ platzte unvermittelt Katja sehr erstaunt in die Unterhaltung und lachte auf. Dem Hochwürdigsten fiel es ein, daß der Bart des ergrauten Vaters Ssissoj tatsächlich grünlich schimmerte, und er mußte lachen. „Herr, du mein Gott! Dieses Mädel ist doch wirklich ein Ausbund!“ sagte Ssissoj erbost mit lauter Stimme. „Verwöhntes Ding! Sitz du ruhig!“ Der Hochwürdigste mußte an die neuerrichtete weiße Kirche denken, in der er während seines Aufenthaltes im Auslande zelebriert hatte. Dann fiel ihm das Rauschen des warmen Meeres ein. Er hatte eine Fünfzimmerwohnung gehabt, lauter hohe und helle Räume, im Arbeitszimmer einen neuen Schreibtisch, eine Bibliothek. Er hatte viel gelesen, viel geschrieben. Und er dachte daran, wie er immer Heimweh hatte, wie tagaus, tagein eine blinde Bettlerin unter seinem Fenster von der Liebe sang und sich selber dazu auf der Gitarre begleitete, und wenn er sich das so anhörte, hatte er immer an die vergangenen Zeiten denken müssen. Darüber waren aber acht Jahre vergangen, und er wurde nach Rußland zurückgeholt. Und nun ist er bereits vikariierender Bischof, und alles Vergangene liegt in weiter Ferne, im Nebel versunken, als habe er alles nur geträumt. Vater Ssissoj erschien im Schlafzimmer mit einer Kerze. „Das ist doch...“, staunte er. „Schon hingelegt, hochwürdigster Herr!“ - „Was gibt es denn?“ „Aber es ist noch früh am Tage, zehn Uhr, vielleicht auch weniger. Ich habe heute eine Kerze gekauft; ich wollte Sie mit Talg einreiben.“ „Ich habe Fieber“, sagte der Hochwürdigste und setzte sich auf. „Da müßte man wirklich irgend etwas tun. Mit dem Kopf stimmt es auch nicht.“ Ssissoj zog ihm das Hemd aus und rieb ihm Brust und Rücken mit Talg ein. - 50 -
„So recht, so ist es gut“ redete er drauflos. „Herr Jesus Christus! So - recht. Heute war ich in der Stadt, war bei dem wie heißt er gleich - beim Erzpriester Ssidonskij. Habe Tee bei ihm getrunken. Gefällt mir nicht. Herr Jesus Christus! So ~ recht. Gefällt mir nicht!“ III Der Bischof der Eparchie, ein alter, sehr korpulenter Herr, litt an Rheuma oder Podagra, und nun war er schon einen runden Monat bettlägerig. Der hochwürdigste Pjotr besuchte ihn fast täglich und fertigte für ihn die Bittsteller ab. Und jetzt, da er sich so elend fühlte, fiel es ihm auf, wie nichtssagend und* geringfügig alles das war, worum gebeten wurde, worüber man wehklagte. Er ärgerte sich über die mangelnde Entwicklung und über die Schüchternheit. All dieses Geringfügige und Unnütze lahmte ihn durch die Masse; und es wollte ihm scheinen, daß er nunmehr den Eparchialbischof verstehen konnte, der irgendwann in seinen jungen Jahren eine „Lehre vom freien Willen“ geschrieben hatte, jetzt aber, so schien es, ganz in Kleinigkeiten aufging, alles vergessen hatte und nicht mehr an Gott dachte. Im Auslande mochte der Hochwürdigste allem Anschein nach sich dem Leben in Rußland entfremdet haben; dieses Leben fiel ihm nicht leicht. Das Volk, so sah er es, war grob. Die Weiber, die als Bittstellerinnen kamen, waren langweilig und dumm; die Seminaristen und ihre Lehrer ungebildet, gelegentlich verwildert. Die ein- und auslaufenden Schriftstücke aber zählten nach Zehntausenden. Und was für Schriftstücke! Die geistlichen Oberen erteilten in der ganzen Eparchie den Priestern, den jungen und den alten, ja sogar ihren Frauen und Kindern, Noten fürs Betragen; da gab es Fünfer und Vierer, mitunter auch Dreier*, und über solche Dinge mußte verhandelt werden, ernsthafte Gutachten gelesen und geschrieben werden. Und es gab tatsächlich keinen einzigen * Als beste Note galt in Rußland 5. dann 4 usw.
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freien Augenblick. Den ganzen geschlagenen Gottestag war die Seele in Vibration, und der hochwürdigste Pjotr kam erst zur Ruhe, wenn er sich in der Kirche befand. Auch brachte er es nicht fertig, sich an die Scheu zu gewöhnen, die er, ohne es zu wollen, in den Menschen trotz seiner stillen, bescheidenen Haltung auslöste. Alle Menschen in dem Gouvernement schienen ihm, wenn er sie so ansah, klein, erschrocken, schuldbewußt zu sein, In seiner Anwesenheit duckten sich alle, selbst die greisen Oberpriester; sie alle sanken vor ihm nieder, und jüngst war es noch gewesen, daß eine Bittstellerin, eine alte Popenfrau aus dem Dorf, vor lauter Angst kein einziges Wort hervorzubringen vermochte, und so war sie wieder gegangen, ohne etwas erreicht zu haben. Und er, der sich niemals dazu entschließen konnte, in seinen Predigten schlecht von den Menschen zu sprechen, der nie einen Vorwur f machte, da sie ihm so leid taten — er konnte in Anwesenheit der Bittsteller außer sich geraten, er wurde wütend, er warf die Gesuche auf den Fußboden. Die ganze Zeit über, die er hier gewesen war. hatte kein einziger Mensch aufrichtig, schlicht und einfach von Mensch zu Mensch mit ihm zu sprechen gewagt; ja selbst seine alte Mutter schien nicht mehr dieselbe zu sein, sie war eine ganz andere geworden. Und wie kam es denn, das war eben die Frage, daß sie mit Ssissoj ununterbrochen drauflos redete und viel lachte, mit ihm aber, mit ihrem Sohn, immer so ernst tat, für gewöhnlich schwieg und verlegen war, was so gar nicht zu ihr paßte. Der einzige Mensch, der sich in seiner Anwesenheit ungezwungen gab und alles sagte, was ihm gerade auf die Zunge kam, war der alte Ssissoj, der sein Leben lang den Bischöfen zugeteilt war und deren elf überlebt hatte. Und darum fühlte er sich in dessen Gegenwart so leicht, obwohl jener ohne Zweifel ein schwieriger alter Mensch war. Am Dienstag war der Hochwürdigste nach dem Hocha mt im bischöflichen Hause und empfing dort die Bittsteller; er regte sich auf, er ärgerte sich und fuhr dann nach Hause. Nach wie vor fühlte er sich gar nicht wohl; am liebsten hätte er sich zu Bett - 52 -
gelegt; aber er war noch keine Minute daheim, als bereits gemeldet wurde - Jerakin, ein junger Kaufmann und Spender, wäre in einer sehr wichtigen Angelegenheit gekommen. Er mußte also empfangen werden. Jerakin blieb gut eine Stunde; er sprach sehr laut, ja er schrie geradezu, und es war schwer zu verstehen, was er eigentlich wollte. „Gott gebe, daß...“, sagte er im Fortgehen. „Allervordringlichst! Aus bestimmten Gründen, hochwürdigster Herr! Ich wünsche, daß...“ Nach ihm kam die Äbtissin eines weit entfernten Klosters. Als sie gegangen war, wurde schon zur Abendmesse geläutet, man mußte also zur Kirche. Am Abend sangen die Mönche wundervoll, beseelt. Ein schwarzbärtiger junger Priestermönch zelebrierte. Der Hochwürdigste vernahm das Evangelium vom Bräutigam, der um Mitternacht naht, und vom geschmückten Haus, aber er empfand keine Reue ob seiner Sünden, auch grämte er sich nicht, vielmehr war seine Seele von Ruhe und Stille erfüllt, und seine Gedanken trugen ihn weit fort in die fernste Vergangenheit, in seine Kindheit, in die Jugendjahre, als ebenfalls vom Bräutigam und dem geschmückten Hause gesungen wurde, und nun stellte sich ihm diese Vergangenheit voller Leben und Herrlichkeit, voller Wonne vor, wie sie vermutlich niemals gewesen war. Und so werden wir vielleicht in jener Welt, im künftigen Leben, uns an die ferne Vergangenheit zurückdenken und uns mit den gleichen Empfindungen unseres Lebens hier erinnern. Wer mag es wissen! Der Hochwürdigste saß im Altarraum; hier war es dunkel. Tränen netzten sein Gesicht. Er dachte daran, wie er alles das erreicht hatte, was einem Menschen in seiner Stellung, in seiner Lage erreichbar war. Er war gläubig, und dennoch war noch nicht alles restlos klar; irgend etwas schien noch zu fehlen; noch wollte er nicht sterben. Und immer noch wollte ihm scheinen, es - 53 -
fehle ihm irgend etwas Allerwichtigstes, wonach er sich irgendwann einmal dunkel gesehnt hatte, und auch in der Gegenwart war da immer noch die Hoffnung auf das Künftige, genauso wie in seinen Kinderjahren, wie in der Akademie und wie es im Ausland gewesen war. „Wie herrlich sie heute singen!“ mußte er denken, indem er auf den Gesang lauschte. „Wundervoll!“ IV Am Donnerstag zelebrierte er das Hochamt in der Kathedrale; die Fußwaschung fand statt. Als das Volk nach Schluß des feierlichen Amtes heimwärts strebte, war es sonnig und warm. Welche Wonne draußen! In den Gräben das plätschernde Wasser; aber draußen, vor der Stadt, das immerwährende Jubilieren der Lerchen über den Feldern. So zart war es und überaus zum Ruhen einladend! Schon waren die Bäume erwacht und lächelten voll Anmut, und über ihnen wölbte sich, Gott allein weiß wohin, der unergründliche, der unermeßliche blaue Himmel. Zu Hause angelangt, trank sich der hochwürdigste Pjotr an Tee satt; dann kleidete er sich um, legte sich hin und gebot dem Novizendiener, die Fensterläden zu schließen. Nun wurde es im Schlafzimmer schummerig. Aber woher doch nur diese unsagbare Müdigkeit kam, dieses Ziehen in den Beinen und im Rücken, ein schwerer, kalter Schmerz, das Sausen in den Ohren? Er hatte lange nicht geschlafen, so schien es ihm jetzt, sehr lange nicht, und es war irgendeine lächerliche Kleinigkeit, die ihn daran hinderte, einzuschlafen, ein Nichts, das in seinem Hirn flimmerte, sobald er nun die Augen schloß. Genau wie gestern hörte man aus den Nachbarzimmern durch die Wand hindurch Stimmen, Gläserklirren und das Klappern von Löffeln. Recht schelmisch erzählte Marja Timofejewna dem Vater Ssissoj irgendeine Geschichte; er aber war mürrisch und antwortete mit unzufriedener Stimme: „Soll sie doch dieser und jener... Was soll denn das überhaupt? Wohin damit?“ Wieder - 54 -
kam den Hochwürdigsten der Ärger darüber an. und er empfand es als kränkend, daß die Alte mit Fremden ein natürliches, schlichtes Benehmen an den Tag legte, wenn sie aber mit ihm, mit ihrem eigenen Sohn, sprach, dann war sie verlegen, sprach nur wenig und sagte nicht das, was sie sagen wollte, ja es wollte ihm sogar alle die Tage hindurch scheinen, daß sie in seiner Gegenwart immer nach einem Vorwand suchte, um aufzustehen, da sie sich genierte zu sitzen. Und der Vater? Der hätte vermutlich, wenn er noch am Leben wäre, kein einziges Wort in seiner Anwesenheit zu sagen gewagt. Im Nebenzimmer fiel irgend etwas hin und ging in Scherben; wahrscheinlich hatte Katja eine Tasse oder eine Untertasse fallen lassen, denn Vater Ssissoj spie urplötzlich aus und sagte grimmig: „Ein wahres Kreuz mit diesem Mädchen! Herr, sei mir Sünder gnädig! Sie kann sich nicht zusammennehmen!“ Dann wurde es still, nur vom Hof her ließen sich Geräusche vernehmen. Als der Hochwürdigste dann die Augen aufschlug, sah er Katia in seinem Zimmer stehn; ohne sich zu rühren, stand sie da und schaute ihn an. Wie gewöhnlich, war ihr Haar hinter dem Kamm wie ein Schein aufgerichtet. „Bist du es, Katja?“ fragte er. „Wer macht denn da unten immer wieder die Tür auf und zu?“ „Ich höre nichts“, antwortete Katja und horchte auf. „Jetzt ist eben jemand durchgegangen.“ „Das ist so bei Ihnen im Bauch, Onkelchen!“ Er mußte lachen und streichelte ihren Kopf. „Du sagst also, daß dein Bruder Nikolascha Leichname schneidet?“ fragte er nach einigem Schweigen. „Ja. Er studiert.“ „Und ist er auch gut?“ „Ja, ganz gut! Er trinkt nur Schnaps, arg viel.“ - 55 -
„Und an was für einer Krankheit ist dein Vater gestorben?“ „Papachen war schwach und sehr mager, richtig ausgemergelt, und plötzlich hatte er es mit dem Halse. Auch ich wurde damals krank und mein Bruder Fedja, alle mit dem Halse! Papachen ist gestorben, Onkelchen; wir aber wurden gesund.“ Ihre untere Kinnlade zitterte, und Tränen traten ihr in die Augen und rieselten die Wangen hinab. „Hochwürdigster Herr“, sagte sie mit dünnem Stimmchen, jetzt schon bitterlich weinend, „Onkelchen, wir sind mit Mütterchen sehr im Unglück. Geben Sie uns ein wenig Geld. Seien Sie bitte so sehr gütig, liebes Herzensonkelchen!“ Auch er mußte weinen und vermochte vor Erregung kein Wort hervorzubringen; dann streichelte er ihren Kopf, rührte ihre Schulter an und sagte: „Schon recht, schon recht, Mädelchen! Wenn jetzt das lichte heilige Auferstehungsfest kommt, dann wollen wir darüber reden. Ich werde helfen. Ich helfe.“ Die Mutter kam still und schüchtern ins Zimmer; sie bekreuzigte sich vor den Heiligenbildern. Da sie ihn nicht schlafend fand, sagte sie: „Wollen Sie nicht ein Süppchen essen?“ „Nein, danke“, erwiderte er. „Ich mag nicht recht.“ „Es sieht fast aus, als ginge es Ihnen nicht gut, wenn ich Euch so ansehe! Wenn Sie nur nicht krank werden! Den ganzen Tag auf den Beinen, tagaus, tagein. Ja, mein Gott, es wird einem ganz schwer ums Herz, wenn man Sie so ansieht. Nun, die heilige Osterzeit ist nicht über den Bergen; darin können Sie sich erholen, so Gott will; dann wollen wir weiterreden, aber jetzt mag ich Sie nicht länger mit meinen Gesprächen beunruhigen. Komm, Katenjka, Seine Gnaden mögen jetzt ruhen.“ Und er mußte daran denken, wie sie früher, irgendwann einmal, aber es lag schon sehr weit zurück, genauso wie jetzt in - 56 -
diesem etwas scherzhaft-ehrfürchtigen Ton mit einem hochwürdigsten Herrn gesprochen hatte... Nur an ihren ungemein gütigen Augen, an dem schüchternen, besorgten Blick, mit dem sie zwischendurch nach ihm blickte, als sie das Zimmer verließ, hätte man wahrnehmen können, daß sie die Mutter war. Er schloß die Augen, und es sah aus, als wenn er schliefe, doch hörte er noch zweimal die Uhr schlagen, hörte, wie Vater Ssissoj im Zimmer nebenan sich räusperte und hüstelte. Und noch einmal kam dann die Mutter gegangen und schaute ihn eine Weile schüchtern an. Draußen kam ein Wagen vorgefahren; es hörte sich so an, als wäre es ein geschlossener Wagen oder eine Viktoria. Dann plötzlich ein Klopfen, die Tür tat sich auf; der Novizendiener trat herein. „Hochwürdigster Herr!“ rief er. „Was gibt es?“ „Der Wagen wartet. Es ist an der Zeit... das Passionsamt.“ „Wie spät?“ „Ein Viertel nach sieben.“ Er zog sich an und fuhr in die Kathedrale. Im Verlauf der gesamten zwölf Evangelien mußte er, ohne sich zu bewegen, mitten in der Kirche stehen. Das erste Evangelium, das längste und schönste, hatte er selber zu lesen. Eine gute, gesunde Stimmung überkam ihn. Dieses erste Evangelium: „Nun hat sich verherrlicht des Menschen Sohn“ kannte er auswendig; indem er nun las, hob er bisweilen die Augen und sah dann zu beiden Seiten ein ganzes Meer von Flammen, hörte das Knistern der Kerzen; aber die Menschen waren nicht zu sehen, und so war es auch in den vergangenen Jahren gewesen, und man konnte glauben, es wären immer die gleichen Menschen, die auch damals da waren, in der Kindheit, in den Jugendjahren, und so werden es auch späterhin immer dieselben sein, Jahr um Jahr. Bis zu welcher Zeitenwende — das wußte allein Gott. Sein Vater war Diakon gewesen, sein Großvater Priester, der Urgroßvater Diakon. Sein ganzes Geschlecht, vielleicht seit der Zeit, da das Volk in Rußland getauft wurde, hatte dem - 57 -
geistlichen Stande angehört, und seine Liebe für die Gottesdienste in der Kirche, für den geistlichen Stand, für das Glockengeläute war ihm eingeboren, war tief eingewurzelt in ihm und unausrottbar. In der Kirche fühlte er sich, besonders wenn er selber amtierte, tätig, rüstig, glücklich. So war es auch jetzt. Nun erst, als bereits das achte Evangelium verlesen wurde, fühlte er, daß seine Stimme nachließ, nicht einmal sein Husten war zu hören, der Kopf tat entsetzlich weh, und die Angst überkam ihn, er könne in jedem Augenblick zusammenbrechen. Und tatsächlich, die Beine waren völlig abgestorben, so daß er sie nach und nach gar nicht mehr fühlte, und er konnte es nicht fassen, wie und worauf er eigentlich stand, warum er nicht hinfiel... Als das Amt beendet war, zeigte die Uhr ein Viertel vor zwölf. Zu Hause angelangt, kleidete der Hochwürdigste sich sofort aus und legte sich nieder; nicht einmal zu einem Gebet nahm er sich die Zeit. Er konnte nicht mehr sprechen, und wie ihm schien, hätte er auch nicht mehr stehen können. Als er sich zudeckte mit der Bettdecke, überkam hin plötzlich die Lust, die brennende Lust, im Auslande zu sein! Er hätte wohl sein Leben dahingegeben, nur um diese jämmerlichen, billigen Fensterläden, diese niedrigen Zimmerdecken nicht mehr sehen zu müssen, diesen schweren Klostergeruch nicht mehr einzuatmen. Wäre wenigstens nur ein einziger Mensch dagewesen, mit dem er sich hätte aussprechen, seine Seele erleichtern können! Lange Zeit waren irgend jemandes Schritte im Nebenzimmer zu vernehmen, und er konnte sich gar nicht darauf besinnen, wer das sein konnte. Endlich tat sich die Tür auf, Ssissoj kam herein mit einer Kerze und einer Tasse Tee in den Händen. „Sie haben sich schon hingelegt, hochwürdigster Herr?“ fragte er. „Ich bin nämlich gekommen, um Sie mit Essig und Alkohol einzureiben. Wenn man sich damit gründ lich einreibt, so nützt es ganz außerordentlich. Herr Jesus Christus! So... so... Und ich war eben in unserem Kloster. Gefällt mir nicht! Morgen schon - 58 -
gehe ich weg von hier. Euer Gnaden, ich hab' es satt! Herr Jesus Christus! So...“ Ssissoj konnte nicht la nge an einem Ort bleiben, und ihm wollte scheinen, er habe schon länger als ein Jahr im Pankratiuskloster gelebt. Vor allem aber, wenn man ihn so reden hörte, war es schwer, zu verstehen, wo sein Haus war, ob er überhaupt irgendwen oder irgendwas liebte, ob er an Gott glaubte... Ihm selber war es unbegreiflich, warum er Mönch war; doch dachte er hierüber auch nicht weiter nach, und schon längst hatte sich in seiner Erinnerung die Zeit verwischt, da man ihm die Mönchstonsur gegeben hatte. Man hätte meinen mö gen, er wäre schon als Mönch zur Welt gekommen. „Morgen gehe ich. Gott mit Ihnen, mit allem überhaupt...“ „Ich hätte noch einiges mit Ihnen zu besprechen, ich komme nur nicht dazu“, sagte der Hochwürdigste leise, denn auch diese paar Worte gingen über seine Kraft. „Ich kenne doch hier keine Menschenseele und weiß von nichts.“ „Bis zum Sonntag, weil Sie es wünschen, werde ich noch bleiben, aber länger auf keinen Fall. Hol Sie dieser und jener.“ „Was bin ich schon für ein Bischof?“ fuhr der Hochwürdigste ebenso leise fort. „Dorfpriester hätte ich sein müssen, Mesner, oder einfacher Mönch. Das alles drückt mich - es drückt.“ „Was? Herr Jesus Christus! So... ! Nun schlafen Sie gut, hochwürdigster Herr! Was ist da schon viel! Wohin damit! Geruhsame Nacht!“ Der Hochwürdigste tat in der Nacht kein Auge zu. Und am Morgen um acht begannen Darmblutungen. Der Mönchsdiener bekam einen Schrecken. Erst lief er zum Archimandrit, dann zu Iwan Andreitsch, dem Klosterarzt, der in der Stadt wohnte. Der Doktor, ein recht korpulenter Greis mit langem grauem Bart, untersuchte den Hochwürdigsten lange und gründlich; immerzu schüttelte er den Kopf und runzelte die Stirn; dann sagte er: „Wissen Sie, hochwürdigster Herr, Sie haben Typhus.“ - 59 -
Infolge der Blutungen war der Hochwürdigste im Verlauf einer knappen Stunde sehr elend geworden; ganz blaß, das Gesicht eingefallen, die Augen sehr groß, und er schien bedeutend gealtert. Man hätte glauben können, er sei kleiner geworden. Und ihm selber schien, er wäre schlechter und schwächer und unbedeutender als alle ändern. Aber alles, was da war, wäre in weiteste Fernen entschwunden, und es könne sich nie mehr wiederholen, würde sich auch nicht fortsetzen. „Das ist aber gut!“ dachte er. „Das ist gut!“ Die alte Mutter kam. Als sie sein zerfurchtes Gesicht sah und die großen Augen, bekam sie es mit der Angst, sank vor dem Bett in die Knie und küßte sein Gesicht, die Schultern, die Hände. Auch ihr wollte aus irgendeinem Grunde scheinen, er wäre schmächtiger, schwächer und unbedeutender als alle ändern, und sie faßte es nicht mehr, daß er Bischof war, und sie küßte ihn wie ein Kind, wie einen ganz nahen, allernächsten Menschen. „Pawluscha! Mein Herzchen du!“ redete sie. „Du mein ein und alles. Liebes Söhnlein! Wie kommt es, daß du so aussiehst? Wie bist du so geworden? Pawluscha, antworte mir doch!“ Katja stand blaß und herb daneben, und sie konnte nicht begreifen, was dem Onkel fehle, warum soviel Leid im Gesicht der Großmutter zu lesen stand, warum sie denn so rührende, so traurige Worte sagte. Er aber, er vermochte kein Wort mehr hervorzubringen; er nahm nichts mehr auf, und es wollte ihm scheinen, er wäre nun ein schlichter, gewöhnlicher Mensch, der über das Feld ging, raschen Schrittes und heiter dahinging und mit dem Stöckchen bei jedem Schritt klopfend und über ihm der weite Himmel, von Sonne überflutet und er selber jetzt ein Freier, frei wie ein Vogel; er kann gehen, wohin er will. „Söhnlein, Pawluscha, antworte mir doch!“ sagte die Alte. „Was ist dir bloß widerfahren? Du mein Einziger, Guter!“
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„Beunruhigen Sie Seine Gnaden nicht“, sagte Ssissoj grimmig, als er durch das Zimmer ging. „Soll er doch schlafen! Da gibt es nichts! Was ist da schon!“ Drei Ärzte kamen gefahren; sie beratschlagten und fuhren dann wieder davon. Der Tag war lang, unglaublich lang, dann kam die Nacht, und es war eine lange, unsagbar lange Nacht, aber gegen Morgen trat der Mönchsdiener auf die Alte zu, die im Gastzimmer auf dem Sofa lag, und bat sie, in das Schlafzimmer zu kommen: der Hochwürdigste war tot. Und am darauffolgenden Tage war Ostern. In der Stadt waren zweiundvierzig Kirchen und sechs Klöster; ein frohlockendes Gedröhn der Glocken vom Morgen bis an den Abend über der Stadt. Ohne aufzuhören, brachte es die Frühlingsluft in Wallung; die Vögel sangen; heller Sonnensche in! Auf dem großen Marktplatz herrschte ein lärmendes Durcheinander; die Schaukeln sausten durch die Lüfte, Drehorgeln leierten, die Harmonika tat das Ihre, und betrunkene Stimmen gröhlten. Auf der Hauptstraße stieg am Nachmittag das Traberrennen. Mit einem Wort: es war eine Lust, zu leben, man war guter Dinge, und alles stand zum besten, genauso, wie es auch im Vorjahr gewesen war und wie es wahrscheinlich auch im nächsten Jahr wieder sein würde. Einen Monat hernach wurde ein neuer Bischof-Vikar ernannt, und kein Mensch dachte mehr an den Hochwürdigsten Pjotr. Und später vergaß man ihn überhaupt ganz und gar. Nur die Alte, des Verstorbenen Mutter, die jetzt bei ihrem Schwiegersohn, dem Diakon, in einem öden Provinznest wohnte, pflegte, wenn sie so gegen Abend hinausging, um ihre Kuh hereinzuholen, sich mit ändern Frauen auf der Stadtwiese zu treffen, und dann begann sie wohl zu erzählen von ihren Kindern und Enkeln und von ihrem Sohn, dem Bischof. Und das sagte sie immer schüchtern, fürchtete sie doch, man könnte ihr nicht glauben. Und so war es auch wirklich: nicht alle glaubten ihr. - 61 -
DER STUDENT
Zunächst war das Wetter klar und still. Die Drosseln sangen. Im benachbarten Sumpf hörte man was Lebendiges kläglich heulen, als bliese wer in eine leere Flasche. Eine Schnepfe strich vorüber; gleich darauf hallte ein Schuß durch die Frühlingsluft und weckte ein fröhliches Echo. Dann aber wurde es im Walde dunkel. Sehr ungelegen kam jetzt von Osten her ein kalter, scharfer Wind auf, und alles verstummte. Auf den Pfützen bildeten sich Eisnadeln; im Walde wurde es ungemütlich, dumpf, unwirtlich. Man roch den Winter. Iwan Welikopolskij, Student der geistlichen Akademie, Sohn eines Mesners, kehrte von der Jagd heim; er schritt auf einem schmalen Pfade dahin, der sich durch eine überschwemmte Wiese schlängelte. Seine Finger waren klamm geworden; das Gesicht glühte im scharfen Winde. Man hätte meinen können, die plötzlich aufspringende Kälte habe alle Ordnung und Harmonie gestört, ja die Natur selber fühle sich ungemütlich, und die Abendschatten hätten sich geschwinder als erforderlich verdichtet. Ringsum - alles öde und, wenn man so will, besonders düster. Nur drüben am Fluß, auf dem Witwenacker, glühte ein Feuer; weiterhin aber, dort, wo das Dorf lag, an vier Kilometer entfernt, versank alles im kalten abendlichen Dunkel. Der Student mußte daran denken, daß seine Mutter, als er vom Hause ging, barfuß im Flur auf dem nackten Fußboden hockte und den Samowar putzte, während der Vater auf dem Ofen lag und hustete. Dieweil Karfreitag war, wurde im Hause nicht gekocht; so kam es, daß ihn der Hunger arg plagte. Der Student schauerte vor Kälte und mußte nun daran denken, daß genau der gleiche Wind zu Rjuriks Zeiten geweht hatte, dann auch zu den Zeiten des grimmen Iwan, auch unter dem Zaren Peter, und daß unter diesen Fürsten genau das gleiche Elend und der Hunger herrschten; auch damals - dieselben durchlöcherten Strohdächer, Unbildung, dumpfer Kummer; dieselbe Öde ringsum, die - 62 -
gleiche Finsternis; das Gefühl, unter einem ewigen Druck dahinzuleben — alle diese fürchterlichen Dinge waren, sind und werden sein, und wenn auch tausend Jahre darüber vergehen, das Leben wird nie besser werden! Er hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Man nannte die Gemüsefelder „Witwenäcker“, weil sie zwei Witwen, Mutter und Tochter, gehörten. Das Feldfeuer brannte lichterloh und knatterte; es beleuchtete im weiten Umkreise die aufgepflügte Erde, Die Witwe Wassilissa, eine stattliche, wohlbeleibte ältere Frau, stand im Bauernhalbpelz am Feuer und blickte nachdenklich in die Glut; ihre Tochter, Lukerja, eine kleine, sommersprossige Person, mit blödem Gesichtsausdruck, hockte auf der Erde und scheuerte den Kessel und die Löffel. Sie waren offenbar eben erst mit dem Abendessen fertig geworden. Man hörte Männerstimmen, Tagelöhner vom Ort, die ihre Pferde am Fluß tränkten. „Da haben wir nun wieder Winter", sagte der Student und trat an das Feuer. „Guten Abend beisammen!“ Wassilissa fuhr zusammen, erkannte ihn aber sogleich und lächelte freundlich. „Hab' dich nicht erkannt, Gott mit dir“, sagte sie. „Du wirst reich werden.“ Man kam ins Gespräch. Wassilissa hatte so mancherlei in ihrem Leben erlebt, war früher einmal in einem herrschaftlichen Hause Amme gewesen und hernach Kinderfrau; sie redete immer höflich, und um ihre Lippen spielte ein gleichbleibend sanftes, stilles Lächeln. Ihre Tochter Lukerja aber war ein rechtes Bauernweib, eingeschüchtert von den vielen Prügeln ihres Mannes; sie blinzelte den Studenten nur an und schwieg; ihr Gesichtsausdruck war eigenartig, wie bei einer Taubstummen. „Genauso hat sich der Apostel Petrus in einer kalten Nacht am Feuer gewärmt“, sagte der Student und hielt die Hände ans Feuer. „Also auch damals war es kalt. Ach, was war das doch für eine furchtbare Nacht, Großmutter, eine überaus drückende, lange Nacht.“ - 63 -
Er ließ seine Blicke durch die Dunkelheit schweifen, schüttelte krampfhaft den Kopf und fragte: „Du warst doch zu den zwölf Evangelien in der Kirche?“ - „Ja, freilich“, antwortete Wassilissa. „Weißt du noch, wie Petrus während des Mahles am Abend zu Jesus sagte: ,Ich bin bereit, mit dir in Gefängnis und Tod zu gehen?' Aber der Herr hatte darauf geantwortet: ,Ich sage dir, Petrus, noch ehe der Hahn heute kräht, wirst du dreimal verrufen, daß du mich kennst.' Nach dem letzten Abendmahl befiel Jesus Todesjammer im Garten, und er betete. Der arme Petrus aber war müde und schwach geworden; seine Augen wurden schwer; er konnte nicht gegen den Schlaf ankommen. Er schlief ein... Alsdann, du hast es ja doch gehört, hat Judas in jener Nacht Jesus geküßt und ihn an seine Peiniger verraten. Man hat ihn gebunden vor den Hohenpriester geführt und ihn geschlagen; Petrus aber, ganz ermattet, von Kummer und Aufregung zerquält - versteh doch, nicht ausgeschlafen wie er war -, er ahnte, daß sich etwas Furchtbares auf der Erde ereignen würde, und er folgte ihm... Er liebte Jesus leidenschaftlich, besinnungslos. Und nun sah er von ferne, wie man ihn schlug...“ Lukerja legte die Löffel hin und bildete den Studenten an. „Sie kamen zum Hohenpriester“, fuhr er fort. „Jesus wurde verhört; aber die Knechte hatten inzwischen im Hof ein Feuer angemacht, weil es doch kalt war, und sie wärmten sich. Neben ihnen stand Petrus am Feuer. Und auch er wärmte sich, wie ich es jetzt hier tue. Da eine Frau ihn sah, sagte sie: ,Auch dieser war mit Jesus.' Das sollte heißen, man müsse auch ihn zum Verhör führen. Und alle Knechte, die am Feuer waren, mögen ihn wohl voller Mißtrauen und feindselig angeblickt haben, denn er wurde verwirrt und sagte: ,Ich kenne ihn nicht.' Ein wenig später wurde er wieder von irgendeinem ändern erkannt; der sagte, er sei ein Jünger Jesu, und sprach: ,Auch du bist einer von jenen!' Er aber verleugnete ihn abermals. Und ein drittes Mal wandte sich ein anderer an ihn: ,Bist du es nicht gewesen, den ich heute im Garten mit ihm sah?' Da hat er ihn zum dritten Male verleugnet. Und gleich darauf krähte der Hahn, und Petrus, der Jesum von ferne stehen sah, gedachte der - 64 -
Worte, die er ihm am Abend gesagt hatte. Er dachte daran, kam zur Besinnung, ging zum Hof hinaus und weinte bitterlich. Es heißt im Evangelium: ,... und ging hinaus und weinte bitterlich.' Ich stelle mir das so vor: ein ganz stiller, sehr dunkler Garten, und in dieser Stille hört man, kaum vernehmlich, ein dumpfes Schluchzen...“ Der Student seufzte und dachte nach. Immer noch lächelnd, schluchzte Wassilissa plötzlich auf. Große Tränen rollten ihr über die Wangen, und sie bedeckte ihr Gesicht mit dem Ärmel vor dem Feuerschein, als schämte sie sich ihrer Tränen. Lukerja aber blickte den Studenten starr an; sie war rot geworden; ihr Gesicht nahm einen schweren, gespannten Ausdruck an, wie ein Mensch ihn haben mag, der gegen einen starken Schmerz ankämpft. Die Feldarbeiter kehrten vom Fluß zurück; einer von ihnen ritt und war schon nahe herangekommen; der Feuerschein flackerte über ihn hin. Der Student wünschte den beiden Witwen eine gute Nacht und machte sich auf den Heimweg. Und wieder war es dunkel um ihn her. Seine Hände froren. Ein eisiger Wind wehte. Tatsächlich, es war wieder Winter geworden. Es sah gar nicht danach aus, daß übermorgen schon Ostern sein würde. Der Student mußte an Wassilissa denken; wenn sie weinte, so bedeutete das, daß alles, was sich in jener schrecklichen Nacht mit Petrus zugetragen hatte, in irgendeiner Beziehung zu ihr stand... Er schaute zurück. Das einsame Feuer flackerte still in der Finsternis, und da waren keine Menschen mehr zu sehen. Der Student dachte wieder: wenn Wassilissa weinte und ihre Tochter verlegen wurde, so geschah es offenbar, weil das, was er oben erzählt hatte, das, was sich vor tausendneunhundert Jahren ereignete, eine Beziehung zur Gegenwart hatte, zu den beiden Frauen und wahrscheinlich auch zu diesem öden Dorf, zu ihm selber, zu allen Menschen. Wenn die Alte weinte, so geschah es nicht darum, weil er es verstand, rührend zu erzählen, sondern darum, weil ihr Petrus nahe war und weil sie mit ihrem ganzen Wesen miterlebte, was in der Seele des Petrus vorging. - 65 -
Und plötzlich wogte Freude in seinem Herzen auf; ja er blieb sogar für einen Augenblick stehe n, um Atem zu schöpfen. Das Vergangene, so dachte er, ist mit der Gegenwart durch eine ununterbrochene Kette von Ereignissen, die allesamt eines aus dem ändern folgen, verknüpft. Und ihm schien, daß er soeben beide Enden dieser Kette gesehen habe: er hatte an das eine Ende gerührt, und da erbebte das andere... Als er mit der Fähre über den Fluß setzte und dann später bergan ging, blickte er auf sein heimatliches Dorf und gen Westen, wo in schmalem Streifen ein kaltes, purpurrotes Abendrot glühte; da dachte er daran, daß die Wahrheit und die Schönheit, die das Menschenleben dort in jenem Garten und im Hof des Hohenpriesters geleitet hatten, ununterbrochen bis auf diesen Tag fortwirken und scheinbar immer die Hauptsache im Menschenleben und überhaupt auf Erden gewesen sind. Und das Gefühl der Jugend, der Gesundheit und Kraft - er war erst zweiundzwanzig Jahre alt — und eine unbeschreiblich süße Erwartung des Glücks, des unbekannten, geheimnisvollen Glücks, nahm allgemach Besitz von ihm; und das Leben schien ihm herrlich, wundervoll und tief sinnerfüllt zu sein.
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DER SCHWARZE MÖNCH I
Der
Magister* Wassilij Kowrin hatte sich überarbeitet, und seine Nerven waren durcheinander. Zwar ließ er sich nicht behandeln, aber nebenher unterhielt er sich bei einer Flasche Wein mit einem befreundeten Arzt, und dieser hatte geraten, Frühjahr und Sommer auf dem Lande zu verbringen. Sehr gelegen traf ein langer Brief von Tanja Pessozkaja ein, die ihn nach Borissowka einlud, wo er, solange er wollte, Gast sein konnte. Er beschloß, die Fahrt dorthin unbedingt zu machen. Zuvor - es war im April - fuhr er auf sein eigenes Landgut und verbrachte in Kowrinka - so hieß sein Stammgut - drei Wochen in ländlicher Einsamkeit. Dann wartete er nach der Schneeschmelze bessere Wegeverhältnisse ab und fuhr im Wagen zu seinem ehemaligen Vormund und Erzieher Pessozkij, einem in Rußland überall bekannten Fachmann für Gartenkulturen. Von Kowrinka bis Borissowka, wo die Pessozkijs lebten, waren siebzig Werst, und es war wirklich ein Genuß, im ruhig federnden Wagen auf den weichen Frühlingswegen dahinzufahren. Das Pessozkijsche Haus war riesengroß, mit Säulen und Löwen vor der Anfahrt, von denen der Stuck hier und da abbröckelte, und einem befrackten Diener auf der Rampe. Ein altertümlicher Park, in englischem Stil, zog sich finster und streng wohl eine Werst lang vom Hause bis an den Fluß hin; am steil abfallenden lehmigen Uferhang wuchsen Föhren, deren Wurzelwerk entblößt überhing; sie glichen moosbewachsenen Tatzen. Unten blitzte unheimlich das von Menschen gemiedene Wasser, über welches * Der Grad eines Magisters entsprach dem hiesigen Dr. phil. habil. Die Erlangung dieses Grades war die Voraussetzung für die Universitätslaufbahn.
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mit klagendem Piepen Schnepfen hin und her strichen; und immer war die Stimmung hier so, daß man sich am liebsten hingesetzt hätte, um eine Ballade zu schreiben. Ganz anders war es um das Herrenhaus herum und im Obstgarten, ein Gelände, das samt den Baumschulen an dreißig Djessjatinen fassen mochte - hier herrschte reges, frohes Leben selbst bei schlechtem Wetter. So wundervolle Rosen, Lilien, Kamelien, solche Tulpen in allen erdenklichen Farben, beginnend mit strahlendem Weiß bis zu rußfarbenem Schwarz, und überhaupt, einen solchen Reichtum an Blumen wie bei Pessozkij hatte Kowrin sonst nirgends zu sehen bekommen. Der Frühling hatte eben erst begonnen, und die eigentliche Blumenpracht der Beete war noch in den Treibhäusern verborgen; aber schon das allein, was entlang den Alleen, aber auch hier und da in den Beeten in Blüte stand, genügte vollauf, um im Garten lustwandelnd in einem Reich zartester Farben zu sein, besonders in den frühen Morgenstunden, wenn noch auf jedem Blättlein Tautropfen blitzten. Das, was den dekorativen Teil des Gartens ausmachte und was Pessozkij selber verächtlich als Kinderei bezeichnete, hatte auf Kowrin irgendwann, als er noch ein kleiner Junge war, einen geradezu märchenhaften Eindruck gemacht. Was gab es da nicht alles an Absonderlichkeiten, an ausgesuchten Kuriositäten und an Entstellungen der Natur! Hier waren auf Spalier gezogene Obstbäume, Birnen in der Form von Pyramidenpappeln gestutzt, Eichen und Linden in Kugelform, ein Apfelbaum in Gestalt eines Schirmes, Bogen, Monogramme, Kandelaber und sogar die Ziffer 1862 aus Pflaumenbäumen, also das Jahr, in dem Pessozkij begonnen hatte, sich mit Gartenbau zu befassen. Dann waren da schöne, schlanke Bäumchen mit kerzengeraden Stämmen, stark wie Palmen. Sah man aber genauer hin, so konnte man an diesen Bäumchen wahrnehmen, daß es so gezogene Stachelbeer- und Johannisbeersträucher waren. Was aber am meisten in diesem Garten fröhlich stimmte und was ihm das eigentliche Leben gab, war die unaufhörlich dort herrschende Bewegung. Vom frühen Morgen bis an den späten Abend machten sich an Bäumen und - 68 -
Sträuchern, an den Alleen und Blumenbeeten Arbeiter zu schaffen mit ihren Schubkarren, Gießkannen, Hacken und sonstigem Gerät. Das wimmelte nur so wie in einem Ameisenhaufen. Kowrin war am Abend bei Pessozkijs nach neun angekommen. Er traf sowohl Tanja wie ihren Vater, Jegor Ssemjonitsch, in großer Erregung an: der klare Sternenhimmel und das Thermometer prophezeiten Frost für die frühen Morgenstunden; inzwischen war der Obergärtner Iwan Karlowitsch in die Stadt gefahren, und es war niemand da, auf den man sich hätte verlassen können. Beim Abendessen war von nichts anderem als vom Frühfrost die Rede, und man beschloß, Tanja sollte nicht schlafen gehen, sondern in der Nacht zwischen eins und zwei einen Gang durch den Garten machen, um zu prüfen, ob alles in Ordnung sei; Jegor Ssemjonitsch wollte dann um drei, womöglich noch früher, aufstehen. Kowrin verbrachte den ganzen Abend mit Tanja und machte dann mit ihr gleich nach Mitternacht einen Rundgang durch den Garten. Draußen roch es schon stark nach Rauch. Im großen Obstgarten, der Ssemjon Jegorowitsch jährlich etliche Tausend brutto einbrachte, wogte über der Erde dichter, schwarzer, beizender Rauch, der die Bäume einhüllte und auf diese Weise vor dem Frost bewahrte. Die Bäume waren hier schachbrettartig gepflanzt und standen in geraden, regelmäßigen Reihen da, wie Soldaten ausgerichtet. Und weil diese Bäume alle gleich groß waren und vollkommen gleiche Kronen und Stämme hatten, wirkte diese pedantische Ausrichtung im Gesamtbilde gleichmäßig, ja geradezu langweilig. Kowrin und Tanja gingen durch die Baumreihen, wo Herdfeuer aus Mist, Stroh und allerhand Abfällen schwelten; hie und da begegneten sie Arbeitern, die wie Schatten durch den Rauch gingen. Kirschbäume standen schon in Blüte, auch Zwetschgen und bestimmte Apfelsorten, aber der ganze Garten verschwand im Rauch, und Kowrin vermochte erst in der Nähe der Treibhäuser wieder aus freier Brust zu atmen. - 69 -
„Schon in meiner Kindheit habe ich hier wegen des Rauches niesen müssen“, sagte er, die Schulter hochziehend, „ich kann aber bis heute nicht verstehen, wieso der Rauch vor dem Frost schützen soll.“ „Der Rauch hat die gleiche Wirkung wie die Wolken, wenn sie nicht da sind“, gab Tanja zur Antwort. „Und was sollen die Wolken?“ „An trüben Tagen, bei bewölktem Himmel gibt es keine Morgenfröste.“ „So, das ist es also!“ Er lachte und faßte sie am Arm. Ihr breites, sehr ernstes, frierendes Gesicht mit den schmalen, schwarzen Brauen, der hochgeschlagene Mantelkragen, der sie daran hinderte, den Kopf frei zu bewegen, und sie, ganz so wie sie war, schmächtig und schlank, in ihrem wegen des Taus gerafften Kleide, rührte ihn irgendwie. „O Gott, sie ist schon erwachsen!“ sagte er. „Als ich zum letztenmal vor fünf Jahren von euch fortfuhr, da waren Sie noch ganz ein Kind. So mager, so langbeinig, mit Ihrem glatten Haar, im kurzen Kleidchen, und ich neckte Sie immer und nannte Sie, Kranich'... Was die Zeit doch alles vermag!“ „Ja“, seufzte Tanja, „fünf ganze Jahre. Seither ist viel Wasser ins Meer geflossen. Sagen Sie bitte ganz aufrichtig, Andrjuscha“, sagte sie rasch dahin und blickte ihm in die Augen, „Sie sind nicht mehr derselbe, Sie haben sich von uns abgewandt? Aber wozu die Frage? Sie sind ein Mann, Sie leben nun Ihr eigenes, interessantes Leben, Sie gehören zur Prominenz. Eine Entfremdung wäre mehr als natürlich! Aber wie dem auch sei, Andrjuscha, ich wollte so sehr, daß Sie uns zu den Ihren zählten. Wir haben ein Anrecht darauf.“ „So tue ich auch, Tanja, ich rechne Sie zu den Meinen.“ „Ihr Ehrenwort?“ „Ja, mein Wort darauf.“ - 70 -
„Sie schienen heute überrascht zu sein, daß wir so viele Fotos von Ihnen haben. Sie wissen doch, wie Sie von meinem Vater geradezu abgöttisch verehrt werden. Mitunter will mir scheinen, er liebte Sie mehr als mich. Er ist stolz auf Sie! Sie sind ein Gelehrter, ein außergewöhnlicher Mensch, Sie machen eine glänzende Karriere, und er ist der festen Überzeugung, daß Sie darum so geworden sind, weil er Sie erzogen hat. Ich lasse ihn in diesem Glauben. Mag er doch.“ Schon begann es leise zu dämmern, was besonders daran zu merken war, wie sich in der Luft die Rauchschwaden deutlich abzeichneten und die Kuppen der Bäume sichtbar wurden. Nachtigallen schlugen, und von den Feldern her hörte man Wachteln schlagen. „Nun wird es aber allmählich Zeit, schlafen zu gehen“, sagte Tanja. „Auch ist es kalt.“ Sie hakte sich bei ihm ein. „Dank, Andrjuscha, daß Sie gekommen sind. Unsere Bekannten hier sind nicht gerade interessant, und selbst deren gibt es nicht viele. Bei uns heißt es nur - der Garten, der Garten und abermals der Garten, und sonst nichts auf der Welt. Hochstamm, Halbstämme, Reinetten, Oporte, Winteräpfel, Okulieren, Kopulieren... Unser ganzes Leben ist im Garten aufge gangen, und wenn ich träume, so träume ich nur von Äpfeln und Birnen. Das ist natürlich gut und nützlich, doch verlangt mich der Abwechslung halber auch mal nach was anderem. Ich weiß noch, wenn Sie in den Ferien oder einfach so zu uns kamen, immer kam dann ein frischer Luftzug ins Haus; es wurde heller, als hätte man von den Kronleuchtern und von den Möbeln die Überzüge fortgenommen. Damals war ich noch ein Mädel, aber dennoch erfaßte ich es.“ Aus irgendeinem Grunde ging es ihm plötzlich durch den Kopf, er könnte sich im Lauf des Sommers an dieses kleine schwache Geschöpfchen, das soviel redete, gewöhnen, eine Neigung fassen, sich verlieben - das wäre ja in ihrer beiden Lage so gut möglich und so natürlich gewesen! Dieser Gedanke rührte ihn, kam ihm spaßig vor; er neigte sich zu dem lieben, besorgten Gesichtchen und sang leise: - 71 -
„Onegin, hör's um jeden Preis: Ich lieb' Tatjana glühend heiß.“ Als sie dann nach Hause kamen, war Jegor Ssemjonitsch schon aufgestanden. Kowrin hatte kein Verlangen, zu schlafen; er kam mit dem alten Herrn ins Gespräch und begab sich mit ihm abermals in den Garten. Jegor Ssemjonitsch war von stattlichem Wüchse, breitschultrig, großbäuchig, und er kam immer an Atem zu kurz, weil er immer so rasch ging, daß man Mühe hatte, mit ihm gleichen Schritt zu halten. Er blickte äußerst besorgt drein, hatte es immer sehr dringend, irgendwohin zu kommen, und zwar mit einem Ausdruck im Gesicht, als ginge alles zugrunde, wenn er nur eine Minute zu spät käme. „Schau, mein Lieber, das ist so eine Sache“, begann er und blieb stehen, um Atem zu schöpfen. „Jetzt haben wir Bodenfrost, wie du siehst, wenn du aber ein Thermometer an einer Stange etwa zwei Klafter hoch hebst, so wirst du sehn - es ist über der Erde warm. Wie kommt das?“ „Wahrhaftig, ich weiß es nicht“, sagte Kowrin und lachte. „Hm... Alles kann man natürlich nicht wissen. Wäre der Verstand noch so umfassend, es ließe sich dennoch nicht alles in ihm unterbringen. Du hast es ja wohl in der Hauptsache mit der Philosophie?“ „Allerdings. Ich halte Vorlesungen über Psychologie, befasse mich aber im allgemeinen mit Philosophie.“ „Und langweilst dich nicht dabei?“ „Ganz im Gegenteil, ich lebe ja nur davon.“ „Gott gebe es“, sagte Jegor Ssemjonitsch vor sich hin und strich sich nachdenklich den Bart. „Gott geb's! Das freut mich sehr für dich, es freut mich wirklich, Bruderherz.“ Aber da horchte er plötzlich auf, und sein Gesicht verzerrte sich, er rannte zur Seite und war bald hinter den Bäumen in den Rauchwolken verschwunden. „Wer hat das Pferd an den Apfelbaum gebunden?“ ließ sich sein verzweifeltes, herzzerreißendes Schreien vernehmen. - 72 -
„Welcher Schuft hat es gewagt, das Pferd an den Apfelbaum zu binden? Wer ist die Kanaille? O Gott, o Gott! Alles verdorben, alles veraast, versaut, beschissen! Der Garten ist hin! Mit dem Garten ist es aus! O Gott, o Gott!“ Als er sich dann wieder Kowrin zuwandte, sah er völlig erledigt und tief beleidigt aus. „Was macht man mit diesem gottverdammten Volk!“ heulte er schluchzend und fuhr mit den Händen durch die Luft. „Stjopka hat in der Nacht Mist gefahren und das Pferd an den Apfelbaum gebunden! Dabei hat er den Zügel so fest angezogen, daß die Baumrinde an drei Stellen angescheuert ist. Wie findest du das! Ich sagte es ihm, er stand aber da wie ein Ölgötze und glotzte mich stur an! Er gehört aufgehängt!“ Nachdem er sich beruhigt hatte, umarmte er Kowrin und küßte ihn auf die Wange. „Nun, Gott geb' es... Gott geh' es...“, brummelte er. „Ich freue mich sehr, daß du gekommen bist. Ich freue mich über die Maßen! Ich danke dir!“ Dann eilte er immer raschen Schritts und mit besorgtem Gesicht durch den ganzen Garten und zeigte seinem Zögling von ehedem alle Treibhäuser, alle Gewächshäuser, alle Winterschuppen und seine beiden Bienenstände, die er als das Wunder unseres Jahrhunderts bezeichnete. Während sie so hinhasteten, war auch die Sonne aufgegangen und überflutete den Garten mit ihrem Glanz. Es wurde warm. Man ahnte einen schönen, langen, heiteren Tag, und Kowrin mußte daran denken, daß der Mai eben erst begonnen hatte, der ganze Sommer aber noch bevorstand, der nicht weniger klar und heiter und lang währen würde, und plötzlich regte es sich in seiner Brust so unbeschreiblich jugendfroh, wie er es in seiner Kindheit empfunden hatte, wenn er durch diesen selben Garten gerannt war. Und auch er umarmte den Alten und küßte ihn zärtlich. Beide kehrten gerührt ins Haus zurück und tranken Tee mit Rahm aus altem Porzellan und aßen dazu Butterteigbrezeln. - 73 -
Und abermals erinnerten ihn diese Kleinigkeiten an seine Kindheit, an seine Jugendjahre. Die wundervolle Gegenwart und die wieder erwachenden Eindrücke vergangener Zeiten verschmolzen in eins; er fühlte sich unaussprechlich wohl, als müßte ihm die Brust springen. Er wartete, bis Tanja aufgestanden war, trank mit ihr den Morgenkaffee, machte einen kleinen Spaziergang, begab sich dann in sein Zimmer und setzte sich an seine Arbeit. Er studierte aufmerksam in einem Buch, machte sich Notizen und hob dann und wann die Augen, um einen Blick durch das geöffnete Fenster zu werfen oder auf die frischen, vom Morgentau noch feuchten Blumen, die in Vasen auf dem Tische standen, um alsdann sich wieder in seine Lektüre zu versenken, und ihm wollte scheinen, daß jedes Äderchen, jeder Nerv vor Wohlbehagen vibrierte. II Auf dem Lande setzte er das nämliche nervöse, unruhige Leben fort wie in der Stadt. Er las viel und schrieb; er lernte Italienisch, und wenn er spazierenging, dachte er voller Freude daran, daß er sich alsbald wieder an seine Arbeit machen könne. Er schlief so wenig, daß alle darob staunten; schlief er zufällig am Tage für ein halbes Stündchen ein, so war es gewiß, daß er in der Nacht kein Auge zugetan hatte, sich aber dennoch nach der schlaflosen Nacht wohl und beisammen fühlte. Er redete viel, trank Wein und rauchte teure Zigaretten. Beina he täglich pflegten zwei junge Damen aus der Nachbarschaft zu Pessozkijs zu kommen, um mit Tanja zu musizieren. Bisweilen war auch ein junger Mann dabei, ebenfalls aus der Nachbarschaft, der gut Geige spielte. Kowrin lauschte begierig der Musik, dem Gesang und fühlte sich innerlichst angefaßt; letzteres zeigte sich daran, daß er seinen Kopf zur Seite neigte und die Augen schloß. Einmal saß er nach dem Tee am Abend auf dem Balkon und las. Im Salon nebenan wurde eine bekannte Serenade von Brag einstudiert; Ta nja sang Sopran, eine der jungen Damen hatte die - 74 -
Altpartie, und der junge Mensch spielte die Geige. Kowrin horchte auf die gesungenen Worte; sie waren russisch, aber ihren Sinn konnte er nicht verstehen. Schließlich legte er sein Buch beiseite und horchte aufmerksam hin; jetzt verstand er: ein junges Mädchen, gemütskrank, glaubt in der Nacht geheimnisvolle, vom Garten herkommende Töne zu vernehmen; sie waren so wunderschön und absonderlich, daß das Mädchen eine heilige Harmonie zu erkennen glaubte, es konnte nicht anders sein, es war eine Harmonie, die uns Sterblichen unfaßbar war und die darum in den Himmel zurückkehren mußte; Kowrin schloß die Augen. Er erhob sich und ging gleichsam entrückt durch den Salon, dann durch den Saal. Als der Gesang beendet war, nahm er Tanja am Arm und begab sich mit ihr auf den Balkon. „Heute, vom frühen Morgen an, beschäftigt mich eine Legende“, sagte er. „Ich kann mich nicht erinnern, ob ich sie irgendwie gelesen oder gehört habe, jedenfalls ist die Legende so eigenartig, daß sie keiner anderen gleichzusetzen ist. Um damit zu beginnen - sie zeichnet sich nicht durch Klarheit aus. Vor tausend Jahren wandert irgendein Mönch, ganz in Schwarz, durch die Wüste, etwa in Syrien oder in Arabien... Einige Meilen von der Stelle entfernt, wo er wanderte, erblickten Fischer einen anderen schwarzen Mönch, der sich langsam über dem Spiegel eines Sees hinbewegte. Dieser zweite Mönch war eine Luftspiegelung des ersten. Vergessen Sie nun alle optischen Gesetze, die von der Legende scheinbar nicht erkannt werden, und hören Sie, wie es weitergeht. Die eine Spiegelung erzeugte eine andere; diese eine dritte, so daß die Gestalt des schwarzen Mönches ohne Ende von einer atmosphärischen Schicht an die andere weitergegeben wurde. Bald sah man ihn in Afrika, bald in Spanien, dann in Indien, dann wieder im höchsten Norden. Schließlich verließ er die räumlichen Gegebenheiten unserer Atmosphäre, und nun irrt er durch das Weltall, ohne je jene Bedingungen vorzufinden, die ihn hätten erlöschen lassen. Vielleicht erblickt man ihn jetzt irgendwo auf dem Mars oder auf irgendeinem Stern des Südkreuzes. Doch wäre, meine Liebe, der - 75 -
eigentliche Sinn, der Clou der Legende darin zu erblicken, daß genau nach tausend Jahren, da der Mönch die Wüste durchpilgerte, die Spie gelung wiederum in die irdische Atmosphäre eintritt und den Menschen sichtbar wird. Und nun ist es so, daß diese tausend Jahre bereits zur Neige gehen. Dem Sinn der Legende zufolge hätten wir den schwarzen Mönch, wenn nicht heute, so morgen zu erwarten.“ „Was für eine seltsame Fata morgana“, sagte Tanja, der die Legende nicht gefallen wollte. „Am erstaunlichsten ist es aber“ - und Kowrin lachte auf -, „daß ich mich absolut nicht mehr darauf besinnen kann, woher ich diese Legende habe. Habe ich sie irgendwo gelesen? Oder gehört? Oder sollte ich den schwarzen Mönch im Traum gesehen haben? Ich schwöre bei Gott, ich weiß es nicht mehr. Aber die Legende beschäftigt mich. Heute habe ich den ganzen Tag an sie denken müssen.“ Dann ließ er Tanja wieder zu den Gästen gehen, ging zum Hause hinaus und wanderte nachdenklich um die Blumenbeete. Die Sonne war schon am Untergehen. Die Blumen waren kurz vorher gegossen worden und strömten einen feuchten, erregenden Duft aus. Im Hause wurde wieder gesungen, und von ferne hörte sich die Geige ganz wie eine Menschenstimme an. Kowrin strengte seine Gedanken an, um sich zu besinnen, wo er die Legende gelesen oder gehört habe; ohne Übereilung begab er sich in den Park und gelangte unversehens an den Fluß. Er stieg den Fußpfad, der den Steilhang hinablief, am entblößten Wurzelgeflecht abwärts, bis er am Wasser stand, wo die Schnepfen beunruhigt wurden und zwei Enten aufflogen. Über den finstern Föhren schimmerten noch hier und da die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, aber auf der Oberfläche des Flusses war es schon richtig Abend geworden. Kowrin schritt über die Steine im Fluß ans andere Ufer. Vor ihm breitete sich jetzt ein weites Roggenfeld, das noch im Blühen war. Keine menschliche Behausung, keine Menschenseele, so - 76 -
weit das Auge reichte, und es schien so, als führte der Pfad, wenn man ihn immer weiter hätte gehen wollen, an jene geheimnisvolle Stelle, wo die Sonne eben erst verschwunden war und das Abendrot so breit und majestätisch flammte. „Wie unermeßlich weit ist es hier, so frei und so still!“ dachte Kowrin, auf dem Pfad weitergehend. „Und es scheint, als blicke die ganze Welt auf mich, still hat sie sich gesammelt und wartet nun, daß ich sie verstehe.“ Doch siehe, da lief eine Welle über das Kornfeld, und ein leichter Abendhauch rührte zärtlich an sein unbedecktes Haupt. Und wieder - nach wenigen Augenblicken - ein Windstoß, diesmal stärker - aber das Korn rauschte auf, und weiter hinten war das dumpfe Rauschen der Föhren zu vernehmen. Betroffen blieb Kowrin stehen. Am Horizont erhob sich gleichsam ein Wirbelwind, oder war es eine Windsäule, von der Erde bis an den Himmel reichend, hoch und schwarz. Die Umrisse waren nicht klar zu erkennen, aber im selben Augenblick ahnte man auch das Gebilde bewegte sich, es stand nicht auf dem Fleck, nein, es bewegte sich mit einer furchtbaren Geschwindigkeit - eben hierher, genau auf Kowrin zu, und je näher es anrückte, desto kleiner und deutlicher wurde es. Kowrin sprang zur Seite ins Kornfeld, um den Weg freizugeben, und kaum war das geschehen... Der Mönch im schwarzen Gewande, mit grauem Haupt und schwarzen Brauen, die Arme über der Brust gekreuzt, wallte an ihm vorüber. Seine bloßen Füße rührten nicht an den Boden. Schon war er klafterweit entfernt, da wandte er sich nach Kowrin um, nickte mit dem Kopf und lächelte ihn freundlich, zugleich aber auch listig an. Aber wie blaß, wie furchtbar blaß war dieses hagere Antlitz! Und abermals begann er zu wachsen, flog über den Fluß hinweg, schlug lautlos am Lehmufer drüben an und verschwand in dem Föhrengehölz, als wäre ein Rauchschwaden hindurchgeweht.
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„Da sieht man es..“, flüsterte Kowrin. „Also hat die Legende doch recht behalten.“ Ohne nach einer Erklärung für die seltsame Erscheinung zu suchen, zufrieden damit, daß es ihm geglückt war, so nah und so deutlich nicht nur das schwarze Gewand, sondern sogar das Angesicht und die Augen des Mönchs zu sehen, kehrte er in angenehmer Erregung wieder nach Hause zurück. Im Park und im Garten wandelten Menschen gelassen hin und her, im Hause wurde musiziert; also hatte er ganz allein den Mönch zu Gesicht bekommen. Er hatte die größte Lust, alles Tanja und Jegor Ssemjonitsch zu erzählen; aber er überlegte, man würde seine Worte für pure Phantasien halten, und sie würden es mit der Angst kriegen; dann also besser schweigen. Er lachte laut, er sang, er tanzte eine Mazurka, er war ausgelassen, und alle Gäste, auch Tanja, fanden, sein Gesichtsausdruck wäre heute irgendwie besonders, strahlend, begeistert, und er sei überhaupt sehr „interessant“. III Als die Besucher nach dem Mittagessen fortgefahren waren, begab er sich auf sein Zimmer und streckte sich auf dem Diwan hin: er wollte an den Mönch denken. Doch nach wenigen Augenblicken kam Tanja herein. „Ach, Andrjuscha, bitte lesen Sie hier diese Artikel von Vater“, sagte sie und reichte ihm einen Packen Broschüren und Abschriften. „Es sind ganz ausgezeichnete Arbeiten; er schreibt wirklich vorzüglich!“ „Na ja doch, das hat sich mit dem, ausgezeichnet'!“ sagte Jegor Ssemjonitsch, der gleich hinter ihr herkam, und lachte gezwungen; es war ihm peinlich. „Hör gar nicht hin, was sie sagt; du brauchst das Zeug nicht zu lesen! Übrigens, wenn du schlafen willst, dann lies es nur bitte: ein vorzügliches Schlafmittel!“ „Meiner Meinung nach sind diese Arbeiten ausgezeichnet“, sagte Tanja, im Innersten überzeugt. „Lesen Sie sie bitte, und - 78 -
überzeugen Sie den Vater davon, daß er mehr schreiben soll! Er könnte ein vollständiges Handbuch über den Gartenbau herausbringen.“ Jegor Ssemjonitsch lachte krankhaft auf, errötete und machte schöne Phrasen der Art, wie Autoren sie machen, wenn sie sich genieren. Schließlich gab er klein bei. „In dem Fall lies bitte erst den Aufsatz von Gosche und dann hier die russischen Artikel“, stotterte er und blätterte mit zitternden Händen in den Broschüren. „Sonst könntest du es nämlich nicht verstehen. Ehe du keine Entgegnungen liest, mußt du doch wissen, wogegen ich polemisiere. Übrigens ist ja doch alles Unsinn, langweilig bis dorthinaus. Auch ist es wohl an der Zeit, schlafen zu gehen.“ Tanja ging hinaus, Jegor Ssemjonitsch setzte sich zu Kowrin auf den Diwan und seufzte tief auf. „Ja, mein lieber Freund“, begann er nach einigem Stillschweigen. „Jawohl, mein sehr verehrter Herr Magister, so ist es! Da schreibe ich nun Artikel und beteilige mich an Ausstellungen und werde mit Medaillen dekoriert, Pessozkij, so heißt es, züchtet Äpfel, die sind groß wie ein Kopf; und Pessozkij, sagt man, hat sich mit seinem Garten ein ganzes Vermögen erworben. Mit einem Wort, er ist reich und berühmt wie Kotschubej. Es fragt sich nur, wozu das alles! Sein Garten in der Tat - ist wunderbar, eine Musteranlage. Das ist kein Obstgarten, sondern ein richtiges Institut von staatswissenschaftlicher Bedeutung, denn das ist sozusagen eine Stufe, die eine neue Ära der russischen Wirtschaft und der russischen Industrie einleitet. Aber wozu das alles? Was soll das? Was ist das Ziel?“ „Die Sache spricht für sich selber.“ „Ich meine es nicht in diesem Sinne! Ich möchte nur fragen: Was wird aus dem Garten, wenn ich einmal sterbe? So wie du ihn jetzt siehst, würde er sich keinen Monat halten. Das ganze Geheimnis des Erfolges ist nicht darin zu erblicken, daß die - 79 -
ganze Anlage groß ist und daß ich viele Arbeiter beschäftige, sondern darin, daß ich mein Werk liebe — verstehst du mich? Ich liebe es, vielleicht mehr als mich selbst. Sieh mich an! Ich bin es, der alles schafft. Ich arbeite vom Morgen bis in die Nacht Alle Pfropfungen nehme ich allein vor; ich schneide zurück; ich pflanze ein; alles — ich selber! Will man mir helfen, so werde ich eifersüchtig und so gereizt, daß ich richtig grob werden kann. Das ganze Geheimnis ist meine Passion für die Sache. Ich will damit sagen, alles liegt am scharfen Blick des Leiters, an den Händen des Leiters und in dem Empfinden dafür, daß man, wenn man etwa irgendwohin für ein Stündchen zu Besuch fährt, dort sitzt und sitzt, aber man spürt es, das Herz ist nicht mehr auf dem rechten Fleck, man ist nicht recht bei der Sache, man fürchtet, im Garten könne irgend etwas verbockt sein. Sterbe ich aber, wer wird dann zum Rechten sehen? Wer wird dann arbeiten? Der Gärtner? Die Arbeiter? Ja, dann will ich dir nur sagen, mein bester Freund: Feind Nr. l bei unserem Werk ist nicht etwa der Hase, nicht der Maikäfer und nicht der Frost, sondern der werkfremde Mensch!“ „Aber Tanja?“ fragte Kowrin lächelnd... „Es ist doch nicht anzunehmen, daß sie schädlicher sei als ein Hase! Sie liebt diese Arbeit, und sie kennt sich darin aus.“ „Ja, das ist freilich richtig, sie hat Liebe zur Sache, und sie kennt sich aus. Wenn sie nach meinem Tode den Garten erbt und Inhaberin sein wird, so könnte man sich natürlich nichts Besseres wünschen. Wie aber, wenn sie - da sei Gott vor! - heiraten sollte?“ flüsterte Jegor Ssemjouitsch und blickte erschrocken auf Kowrin. „Das ist es ja eben, wenn sie heiratet, wenn das Kinderkriegen losgeht, dann ist es aus mit dem Garten. Das, was ich am meisten befürchte: sie könnte irgendeinen prächtigen Burschen heiraten, und der Kerl wäre ein Geizkragen und verpachtete den ganzen Garten er verpachtete alles an Markttreiber! Dann ist natürlich gleich im ersten Jahre alles beim Teufel! Bei so einem Werk wie dem unsern sind Weiber wahrhaft eine Gottesgeißel!“ - 80 -
Jegor Ssemjonitsch stieß einen Seufzer aus, schwieg ein Weilchen: „Vielleicht ist das alles Egoismus. Aber ich sage dir ganz offen, ich will nicht, daß Tanja heiratet; ich fürchte mich! Da kommt hier irgendein junger Fant mit seiner Geige angefahren und klimpert darauf herum; ich weiß, Tanja wird ihn nicht heiraten, das weiß ich gewiß, und doch ist mir sein Anblick zuwider! Und überhaupt, Bruderherz, ich bin schon wirklich ein großer Sonderling. Das muß ich bekennen.“ Jegor Ssemjonitsch erhob sich und ging erregt im Zimmer auf und ab; es war ihm anzumerken, daß er etwas sehr Wichtiges sagen wollte, aber sich nicht entschließen konnte. „Ich liebe dich sehr und will ganz aufrichtig mit dir sprechen“, raffte er sich endlich auf und schob die Hände in die Hosentaschen. „Es gibt einige kitzlige Fragen, die ich einfach anpacke und unverblümt heraussage, was ich denke; ich kann diese sogenannten geheimen Gedanken nicht leiden! Ich sage geradeheraus, du bist der einzige Mensch, bei dem ich mir nicht bangte, ihm die Hand meiner Tochter zu geben. Du bist klug, hast das Herz auf dem rechten Fleck, und mein Lebenswerk - du würdest es nicht verkommen lassen! Und der eigentliche Grund: ich liebe dich, als wärest du mein Sohn. Ich bin stolz auf dich. Wenn also zwischen dir und Tanja sich so etwas wie ein Roman anspielen sollte, nun, was denn! Ich würde mich wahrhaftig darüber freuen, ja ich wäre sogar glücklich! Ich sage es dir geradeheraus, ohne mich zu genieren, als ehrlicher Mann.“ Kowrin lachte. Jegor Ssemjonitsch öffnete die Tür, um zu gehen, blieb aber auf der Schwelle stehen. „Hättet ihr beide, du und Tanja, einen Sohn, so wollte ich aus ihm einen Gartenbauern machen“, sagte er nach einigem Nachdenken. „Aber das ist übrigens eine leere Phantasie. Gute Nacht dann!“ Korwin streckte sich bequemer aus, nachdem er allein geblieben war, und blätterte in den Broschüren und Artikeln. Der eine war betitelt: „Überbrückungskulturen“, ein anderer: „Einige - 81 -
Bemerkungen zu Herrn Z. s Notiz über, Umlagerung der Bodenfladen bei neuen Gartenanlagen“, ein anderer wieder: „Noch einige Worte über das Okulieren“, und so ging es weiter. Aber wie unruhig, wie ungleichmäßig war der Ton dieser Arbeiten, wie nervös, ja geradezu krankhaft der Impetus des Verfassers! Da war ein Artikel, der scheinbar einen Titel trug, der auf einen indifferenten Inhalt schließen ließ: es handelte vom russischen „Antoniusapfel“. Jegor Ssemjonitseh aber beginnt diesen Aufsatz mit den Worten: „Audiatur et altera pars“ und schließt mit den Worten: „Sapienti sat“ — zwischen diesen beiden Aussprüchen aber eine Kaskade von allerhand giftigen Ergüssen an die Adresse „der gelehrten Unwissenheit unserer patentierten Herren Gartenbauer“, welche „die Natur von der hohen Warte ihres Katheders beobachten“, oder „Herrn Gosche betreffend“, dessen „Erfolg von Laien und Dilettanten hochgetrieben wurde“, und gleich daneben, durchaus unangebracht, „Ausdruck des Bedauerns“ in lang hingezogener und wenig aufrichtiger Form, daß man Bauern, die Obst stehlen und bei der Gelegenheit Äste von den Bäumen brechen, nicht mehr mit Ruten züchtigen dürfe. Alles schön und gut, dachte Kowrin bei sich selber, die Sache mag noch so sympathisch und kerngesund sein, aber auch hier spielen die Leidenschaften und der Krieg herein. Es muß wohl so sein, daß die Geistesmenschen überall und auf allen Gebieten nervös sind und sich durch bemerkenswerte Empfindlic hkeit auszeichnen. Vermutlich geht es nun einmal nicht anders! Er mußte an Tanja denken, der Jegor Ssemjonitschs Artikel so ausnehmend gefallen hatten. Sie war klein von Wuchs, blaß, hager, so daß man ihre Schulterblätter sehen konnte; die Augen weit geöffnet, dunkel, ein kluger Blick, immer aufmerksam und gleichsam nach etwas suchend, auf Dinge gerichtet; der Gang ganz wie der des Vaters, kleine hastige Schritte. Sie spricht viel, liebt es zu disputieren und begleitet dabei jeden - auch einen unbedeutenden Satz - mit einem ausdrucksvollen Mienenspiel - 82 -
und entsprechenden Gesten. Wahrscheinlich war sie auch im höchsten Grade nervös. Kowrin las weiter, konnte aber nichts verstehen und gab es auf. Das angenehm erregte Gefühl, das ihn beseelte, als er vorhin Mazurka tanzte und sich die Musik anhörte, empfand er nun als einen Druck, und eine Fülle von Gedanken jagten durch seinen Kopf. Er erhob sich und begann im Zimmer auf und ab zu gehen, und immer war es der schwarze Mönch, an den er denken mußte. Er ging ihm durch den Sinn, wenn er allein diesen seltsamen übernatürlichen Mönch gesehen hatte, so bedeutete das, daß er krank wäre und an Halluzinationen litte. Diese Vermutung erschreckte ihn, aber nicht für lange. „Es geht mir doch gut; ich tue auch keinem Menschen was Böses, somit ist nichts Schlimmes an meinen Halluzinationen“, so dachte er, und nun wurde ihm wieder leichter ums Herz. Er setzte sich auf den Diwan, den Kopf in die offenen Handflächen gestützt; die unfaßbare Freudigkeit, die sein ganzes Inneres erfüllte, dämmte er mit Gewalt zurück, dann ging er wieder im Zimmer auf und ab und machte sieh an die Arbeit. Aber die Gedanken, die er in einem Buch fand, befriedigten ihn nicht; ihn verlangte nach etwas Gigantischem, Unermeßlichem, Erschütterndem. Erst gegen Morgen kleidete er sich aus und ging widerwillig zu Bett; schließlich mußte er ja auch schlafen. Als Kowrin Jegor Ssemjonitschs Schritte hörte, der in den Garten hinausging, schellte er und trug dem Diener auf, ihm Wein zu bringen. Mit Behagen trank er einige Glas Lafite, zog sich die Decke über den Kopf, sein Bewußtsein war wie im Nebel, und er schlief ein. IV Jegor Ssemjonitsch und Tanja gerieten oft aneinander. Dann sagten sie unangenehme Dinge. Eines Morgens hatte es wieder Krach gegeben. Tanja mußte weinen und flüchtete in ihr Zimmer. Sie erschien weder zum - 83 -
Mittagessen noch zum Tee. Erst ging Jegor Ssemjonitsch mit wichtiger Miene und geplagt einher, als wolle er zu verstehen geben, daß ihm Gerechtigkeit und Ordnung über alles in der Welt gingen. Doch brachte er es nicht fertig, durchzuhalten, und wurde niedergeschlagen. Vergrämt irrte er durch den Park und seufzte immerzu: „Ach Gott, ach Gott!“, und beim Mittagessen nahm er keinen Bissen in den Mund. Schuldbewußt und von Gewissensqualen gepeinigt, klopfte er schließlich an die geschlossene Tür und rief schüchtern: „Tanja! Tanja!“ Als Antwort ließ sich eine schwache, tränenerstickte und doch entschlossene Stimme vernehmen: „Lassen Sie mich, ich bitte Sie!“ Die Spannung der Herrschaft gab sich am ganzen Haus zu erkennen, ja selbst an den Menschen, die im Garten arbeiteten. Kowrin war ganz vertieft in seine interessante Arbeit; aber schließlich wurde es auch ihm langweilig, und er empfand den Zustand als peinlich. Um die üble Stimmung zu überwinden, beschloß er, einzugreifen, und so klopfte er gegen Abend bei Tanja an. Er durfte eintreten. „O weh, o weh — so eine Schmach und Schande!“ begann er halb scherzend und blickte erstaunt in Tanjas verweintes, mit roten Flecken bedecktes, gram erfülltes Gesicht. „Ist es denn wirklich so schlimm? O weh, o weh!“ „Aber wenn Sie nur wüßten, wie er mich quält!“ sagte sie, und heiße Tränen flössen in Strömen aus ihren großen Augen. „Er hat mich zu Tode gequält!“ fuhr sie hingegen fort. „Ich habe ihm gar nichts gesagt, überhaupt nichts, ich habe nur gesagt, daß es nicht nötig sei, überzählige Arbeiter einzustellen, wenn man.. wenn man doch nach Belieben Tagelöhner haben kann. Die Arbeiter tun ja doch die geschlagene Woche nichts, und - und ich hatte das kaum gesagt, da brüllte er und hat mir viele Beleidigungen, viel furchtbar Kränkendes gesagt. Wofür denn eigentlich?“ - 84 -
„Ach, beruhigen Sie sich doch“, sagte Kowrin und glättete ihre Frisur. „Nun ja, Sie haben sich in Haaren gehabt, Sie haben Tränen vergossen, jetzt ist es aber genug damit. Man soll sich nicht lange ärgern, das ist schon darum nicht gut, weil er Sie unendlich liebt.“ „Er hat mir mein ganzes Leben zerstört“, fuhr Tanja schluchzend fort. „Es ist das einzige, was ich höre - immer wieder Beleidigungen und Kränkungen. Er hält mich für überflüssig in seinem Hause. Nun ja doch! Er hat recht. Morgen will ich fort aus dem Hause und eine Stelle als Telegraphin suchen. So soll es sein.“ „Na, na, na, nicht mehr weinen, Tanja! Lassen Sie doch, Liebe. Sie sind beide aufbrausende Naturen, leicht reizbar, und beide trifft die Schuld. Kommen Sie, ich will Sie miteinander versöhnen.“ Kowrin sprach sehr freundlich und überzeugend; sie aber weinte immer noch, vom Schluchzen zuckten ihre Schultern; sie rang die Hände, als wäre sie in der Tat von einem furchtbaren Unheil getroffen worden. Er mußte sie um so mehr bedauern, als ihr Leid gar nicht ernst zu nehmen war, während sie tatsächlich tief darunter litt. Wie lächerlich wenig war dazu nötig, um dieses Geschöpf für einen geschlagenen Ta g, ja vielleicht fürs ganze Leben unglücklich zu machen! Während Kowrin Tanja tröstete, mußte er daran denken, daß man auf der ganzen Welt, und wollte man bei hellem Tage mit der Laterne suchen, außer diesem Mädchen und ihrem Vater solche Menschen hätte finden können, die ihn als zu ihnen selber gehörig, als ihren Anverwandten liebhatten. Wären diese beiden Menschen nicht gewesen, so hätte er vielleicht, der in früher Kindheit Vater und Mutter verloren hatte, bis an sein Lebensende nicht erfahren, was aufrichtige Zärtlichkeit ist und was es mit der naiven, nicht lange überlegenden Liebe für eine Bewandtnis habe, die man nur für sehr nahestehende verwandte Menschen empfinden kann. Und er empfand, daß seinen kranken überreizten Nerven die Nerven dieses weinenden, vor Schluchzen aufzuckenden Mädchens so - 85 -
entsprachen, wie etwa das Eisen vom Magnet angezogen wird. Niemals hätte er eine gesunde, feste, rotwangige Frau liebhaben können, aber diese blasse, schwache, unglückliche Tanja - gerade die gefiel ihm. Und wie gern streichelte er ihr Haar und ihre Schultern, und er drückte ihre Hände und trocknete ihre Tränen. Endlich hörte sie auf zu weinen. Noch lange klagte sie über ihren Vater und über ihr unerträglich schweres Leben in diesem Hause, wobei sie Kowrin anflehte, er möge sich doch in ihre Lage hereinversetzen. Dann fing sie allmählich an zu lächeln und darüber zu lamentieren, daß ihr Gott einen so unleidlichen Charakter gegeben habe; aber zu guter Letzt mußte sie selber laut auflachen, sagte von sich, sie wäre ein dummes Frauenzimmer, und lief davon. Als dann Kowrin nach einem Weilchen in den Garten ging, kamen ihm Jegor Ssemjonitsch und Tanja entgegen, die einen kleinen Spaziergang durch die Alleen machten; sie aßen beide Roggenbrot mit Salz, da sie Hunger hatten. V Kowrin war zufrieden, daß ihm die Rolle des Friedensstifters geglückt war, und begab sich in den Park. Er setzte sich auf eine Bank und meditierte; da hörte er Wagenrollen und Frauenlachen, also war Besuch gekommen. Als sich die Abendschatten über den Garten breiteten, ließen sich undeutlich Geigentöne vernehmen und Gesang, und das brachte ihm den schwarzen Mönch in Erinnerung. Irgendwo, doch in welchem Lande oder auf welchem Planeten mochte nun dieses optische Mirakel sein Wesen treiben? Kaum war ihm die Legende eingefallen und kaum hatte er in seiner Phantasie die dunkle Erscheinung nachgezeichnet, wie er sie im Roggenfeld erblickte, als schon hinter einer Föhre, ihm gegenüber, unhörbar, ohne das geringste Geräusch zu machen, ein Mensch von mittelgroßem Wuchs, unbedeckten Hauptes, grauhaarig, ganz in Schwarz, an einen Bettler erinnernd, vortrat. - 86 -
In seinem blassen, gleichsam totengleichen Gesicht zeichneten sich seine schwarzen Augenbrauen deutlich ab. Freundlich mit dem Kopf nickend, kam dieser Bettler oder Pilger lautlos auf die Bank zu und setzte sich; alsbald hatte Kowrin in ihm den schwarzen Mönch erkannt. Eine Weile blickten sie einander an, Kowrin voller Staunen, der Mönch freundlich und genau wie das erstemal ein wenig listig, so, als ließe er sich von keinem gern dreinreden. „Aber du bist doch nur eine Sinnestäuschung!“ sagte Kowrin. „Warum sitzt du hier und rührst dich nicht vom Fleck? Das paßt nicht zur Legende.“ „Das ist ganz gleich“, erwiderte der Mönch nach einer kleinen Pause mit leiser Stimme und wandte ihm sein Angesicht zu. „Die Legende, die Luftspiegelung und ich - das alles stellt das Produkt deiner erregten Einbildung dar. Ich bin ein Gespenst.“ „Also existierst du nicht?“ fragte Kowrin. „Denke es, wie du magst“, erwiderte der Mönch und lächelte ein wenig. „Ich existiere in deiner Einbildung, aber es ist ein Stück der Natur, folglich existiere ich in der Natur.“ „Du hast ein sehr altes, kluges und höchst ausdrucksvolles Gesicht, so, als habest du mehr als tausend Jahre gelebt“, sagte Kowrin. „Ich habe es nicht gewußt, daß meine Einbildung befähigt sei, derartige Phänomene zu bewirken. Warum blickst du mich aber so begeistert an? Gefalle ich dir?“ „Ja, du bist einer der ganz wenigen, die in Wahrheit die Erwählten Gottes genannt werden. Du dienst der ewigen Wahrheit. Deine Gedanken, deine Absichten, deine wunderbare Wissenschaft und dein ganzes Leben tragen das göttliche, himmlische Siegel, da sie dem Vernünftigen und Schönen, also jenem geweiht sind, was ewig ist.“ „Du sagtest: der ewigen Wahrheit. Aber inwiefern bedürften die Menschen der ewigen Wahrheit, und wie wäre sie ihnen zugänglich, wenn es doch kein ewiges Leben gibt?“ „Es gibt ein ewiges Leben“, sagte der Mönch. - 87 -
„Glaubst du an die Unsterblichkeit der Menschen?“ „Ja, natürlich. Eine große, glanzvolle Zukunft erwartet euch Menschen. Und je mehr es auf Erden solche Wesen gibt wie dich, desto schneller wird diese Zukunft zur Wirklichkeit werden. Ohne euch Diener des höchsten Prinzips, die ihr bewußt und frei lebt, wäre die Menschheit nichtig; würde sie sich auf natürliche Weise weiterentwickeln, so könnte sie noch lange auf das Ende ihrer irdischen Geschichte warten. Ihr aber werdet sie um etliche Jahrtausende früher in das Reich der ewigen Wahrheit einführen und das ist euer hohes Verdienst. Ihr verkörpert in euch den Segen Gottes, der auf den Menschen ruht.“ „Und das wäre das Ziel des ewigen Lebens?“ fragte Kowrin. „Genauso wie das Ziel eines jeden Lebens: der Genuß! Wahrer Genuß ist in der Erkenntnis enthalten, das ewige Leben aber wird unzählige unerschöpfliche Quellen der Erkenntnis bieten, und in diesem Sinne ist es gemeint: In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.“ „Wüßtest du, wie angenehm es ist, dir zuzuhören!“ sagte Kowrin und rieb sich vor Freude die Hände. „Das freut mich sehr.“ „Ich weiß aber, wenn du fortgehst, wird mich die Frage nach deiner Wesenheit beunruhigen. Du bist ein Gespenst, eine Halluzination. Somit wäre ich geisteskrank, nicht normal?“ „Und wenn es so wäre, warum beunruhigt dich das? Du bist krank, weil du dich überarbeitet hast, und nun bist du müde, das heißt, du hast deine Gesundheit der Idee zum Opfer gebracht, und die Zeit ist nahe, da du ihr auch dein eigenes Leben zum Opfer bringen wirst. Was könnte es Besseres geben? Es ist das, wonach alle überhaupt begabten, noblen Naturen verlangen!“ „Wenn ich doch weiß, daß ich geisteskrank bin, wie sollte ich mir selber glauben?“ „Und woher willst du wissen, daß die genialen Menschen, denen die ganze Welt glaubte, keine Gespenster gesehen haben - 88 -
sollten? Die Wissenschaftler sagen es doch heute, daß Genie und Wahnsinn einander nahe verwandt sind. Mein lieber Freund, gesund und normal sind nur die Durchschnittsmenschen, ist nur die Herde. Kombinationen über unser nervöses Zeitalter, Überarbeitung, Degeneration und derart mehr vermöchte nur jene ernsthaft zu beunruhigen, die das Lebensziel in der Gegenwart erblicken, d. h. also die Herdennaturen.“ „Die Römer pflegten zu sagen: mens sana in corpore sano.“ „Nicht alles ist wahr, was die Römer oder die Griechen sagten. Überhöhte Stimmungen, Erregung, Ekstasen, kurz alles das, was Propheten, Dichter, Märtyrer für eine Idee von den gewöhnlichen Menschen unterscheidet, ist der animalischen Seite des Menschen zuwider, d. h. seiner physiologischen Gesundheit. Ich wiederhole, willst du gesund und normal sein, so begib dich zur Herde.“ „Wie seltsam, du wiederholst jetzt das, was mir selber oft durch den Kopf ging“, sagte Kowrin. „Es sieht so aus, als habest du meine geheimsten Gedanken belauert und behorcht. Laß uns aber nicht von mir reden! Was verstehst du unter ewiger Wahrheit?“ Der Mönch antwortete. Kowrin blickte ihn an, vermochte aber das Gesicht nicht zu erkennen: die Gesichtszüge zerflossen im Nebel und verschwammen. Alsdann verschwanden nach und nach der Kopf und die Arme des Mönchs; sein Leib schien in der Bank, in Abenddunkel hinzuschwinden, und er verschwand schließlich ganz. „Die Halluzination ist nun aus“, sagte Kowrin und lachte. „Und doch — wie schade!“ „Froh und glücklich ging er heim. Das wenige, was ihm der schwarze Mönch gesagt hatte, schmeichelte nicht seiner Eigenliebe, sondern seiner Seele, seinem ganzen Wesen. Zu den Erwählten gehören, der ewigen Wahrheit dienen, denen zuzugehören, die um etliche Jahrtausende früher die Menschheit des Reiches Gottes wert machen würden, d. h. die der Menschheit etliche Jahrtausende an Kampf, Sünden und Leiden sparen würden, die um der Idee willen alles aufopfern: Jugend, Kraft, - 89 -
Gesundheit; bereit, um des allgemeinen Wohles willen zu sterben - welch erhabenes, glückseliges Los! Im Fluge ging seine Vergangenheit an ihm vorüber — so rein, keusch, arbeitsreich wie sie war; er dachte daran, was er selber gelernt und auch andere gelehrt hatte, und er schloß aus allem: des Mönches Worte waren nicht übertrieben. Auf dem Rückwege durch den Park kam ihm Tanja entgegen. Sie hatte jetzt ein anderes Kleid. „Sie - hier?“ sagte sie. „Und wir haben Sie gesucht und gesucht. Aber was ist Ihnen widerfahren?“ staunte sie in sein beseligtes, strahlendes Antlitz, und in seine Augen blickend, die voller Tränen waren: „Was sind Sie merkwürdig, Andrjuscha!“ „Ich bin zufrieden, Tanja“, sagte Kowrin, seine Hände auf ihre Schultern legend. „Ich bin mehr als zufrieden, ich bin glücklich! Tanja, liebe Tanja, Sie sind ein ausnehmend sympathisches Wesen. Liebe Tanja, ich bin so froh, so froh!“ Er drückte heiße Küsse auf ihre beiden Hände und fuhr fort: „Ich habe eben lichte, wundersame, unirdisch schöne Augenblicke durchkostet. Aber ich kann Ihnen nicht alles erzählen, weil Sie sagen werden, ich sei verrückt, oder Sie werden mir nicht glauben. Wollen wir von Ihnen sprechen. Liebste, wundervolle Tanja! Ich liebe Sie und habe mich schon daran gewöhnt, Sie zu lieben. Ihre Nähe, unsere Begegnungen, die vielleicht ein dutzendmal am Tage stattfinden, sind für meine Seele ein Erfordernis geworden. Ich weiß nicht, wie ich ohne Sie leben sollte, wenn ich wieder fortgehe.“ „Ach was!“ lachte Tanja. „Keine zwei Tage werden vergehen, und Sie haben uns vergessen! Wir sind kleine Leute, Sie aber sind ein großer Mensch!“ „Nein, lassen Sie uns ernsthaft reden!“ sagte er. „Ich werde Sie mir nehmen, Tanja. Ja, werden Sie mit mir kommen? Wollen Sie mit mir sein?“
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„Aber“, rief Tanja und wollte wieder lachen, aber aus dem Lachen wurde nichts, und rote Flecken flammten in ihrem Gesicht auf. Sie atmete schwer, und sie beschleunigte ihren Schritt, doch nicht in der Richtung nach dem Hause, sondern nach dem Park. „Ich habe nie daran gedacht“, sagte sie und rang wie verzweifelt die Hände. Aber Kowrin folgte ihr und sagte immer mit dem nämlichen strahlenden, begeisterten Gesicht: „Mich verlangt nach Liebe, die mich ganz und gar erfüllt, und nur Sie allein, Tanja, können sie mir geben. Ich bin glücklich!“ Sie war erschüttert, sie beugte sich wie unter einer Last, sie krümmte sich und schien plötzlich um zehn Jahre gealtert; er aber fand sie wundervoll und gab laut seiner Begeisterung Ausdruck: „Wie schön sie ist!“ VI Als Jegor Ssemjonitsch von Kowrin davon in Kenntnis gesetzt wurde, daß nicht nur der Roman ins Lot gekommen sei, sondern daß bald die Hochzeit stattfinden würde, mußte er lange im Zimmer auf und nieder gehen im Bemühen, seiner Aufregung Herr zu werden. Seine Hände zitterten. Der Hals schwoll an und wurde puterrot; er ließ seinen Jagdwagen anspannen und fuhr irgendwohin fort. Tanja sah, wie er dem Pferd die Peitsche gab und wie er seine Mütze tief ins Gesicht, fast über die Ohren gezogen hatte; sie konnte seine Stimmung sehr gut verstehen; sie schloß sich in ihrem Zimmer ein und weinte den ganzen Tag. In den Treibhäusern waren Pfirsiche und Pflaumen schon gereift; die Verpackung und der Versand dieser zarten, empfindlichen Ware nach Moskau erforderte sehr viel Aufmerksamkeit, Mühe und Geschäftigkeit. Da der Sommer sehr heiß und trocken war, mußte jeder Baum gegossen werden; darauf mußte viel Zeit und Arbeitskraft verwandt werden. - 91 -
Außerdem gab es eine Unmenge von Raupen, die die Arbeiter, ja sogar Jegor Ssemjonitsch und Tanja mit den Fingern zerdrückten, was Kowrin anekelte. Zu alledem waren die Aufträge für den Herbst zu registrieren, sie betrafen den Obstversand und die Bäume; und hierüber mußte ein umfangreicher Briefwechsel geführt werden. In der heißesten Arbeitszeit, da doch scheinbar keiner auch nur einen freien Augenblick hatte, setzten die Feldarbeiten ein, die vom Garten mehr als die Hälfte der verfügbaren Arbeitskräfte abzogen; Jegor Ssemjonitsch, ganz braun gebrannt, gemartert, wütend, rannte bald in den Garten, bald aufs Feld und brüllte, er würde in Stücke gerissen, und er würde sich eine Kugel durch den Kopf jagen. Dazu kam dann noch all das Drum und Dran mit der Aussteuer, der die Pessotzkijs keine geringe Bedeutung beimaßen; das Klappern der Scheren, das Rattern der Nähmaschinen, der Kohlendunst, der von den Bügeleisen aufstieg, und die eigensinnigen Launen der Modistin, einer nervösen, sehr reizbaren Dame - das alles zusammen bewirkte ein Durcheinander im Hause. Und als hätte es so sein müssen, kamen alltäglich Besucher, die unterhalten sein wollten, für deren leibliches Wohl gesorgt werden mußte und deren manche sogar über Nacht blieben. Aber diese ganze Tretmühle spielte sich gleichsam unvermerkt, wie im Nebel ab. Tanja hatte das Empfinden, als wäre sie von der Liebe und von ihrem Glück völlig überrascht worden, obwohl sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr aus irgendeinem Grunde fest davon überzeugt gewesen war, daß Kowrin keine andere als sie heiraten würde. Sie staunte, sie konnte es nicht fassen, sie traute sich selber nicht. Bald war es so, daß eine solche Freude in ihr hochkam, als müßte sie bis an die Wolken hinfliegen und dort zu Gott beten; bald kam es ihr wieder zum Bewußtsein, daß sie sich im August vom elterlichen Hause würde trennen und den Vater verlassen müssen; oder es kam ihr der Gedanke, sie wäre viel zu unbedeutend, zu gering und nicht wert, einen so großen Menschen wie Kowrin zum Gatten zu haben, und dann ging sie in ihr Zimmer, riegelte - 92 -
ab und konnte stundenlang bitterlich weinen. War Besuch da, so schien ihr plötzlich, Kowrin wäre außergewöhnlich schön und alle Frauen wären in ihn verliebt und beneideten sie; und ihre Seele war erfüllt von Stolz und Begeisterung, als habe sie die ganze Welt bezwungen. Aber es genügte, daß er irgendeiner jungen Dame zulächelte, und schon zitterte sie vor Eifersucht, begab sich in ihr Zimmer, und wieder mußte sie weinen und weinen. Diese neuen Empfindungen hatten ganz und gar von ihr Besitz genommen; mechanisch half sie ihrem Vater bei den Arbeiten und bemerkte weder die Pfirsiche noch die Raupen, noch die Arbeiter und auch nicht, wie geschwind diese Zeit verging. Dasselbe vollzog sich auch mit Jegor Ssemjonitsch. Er arbeitete vom frühen Morgen bis in die Nacht; immer hatte er es eilig, irgendwohin zu kommen, geriet außer sich, war gereizt, aber auch das geschah wie in einem halben Zauberschlaf. Es war, als hätte er zwei Menschen in sich: der eine war der echte Jegor Ssemjonitsch, der die Berichte seines Gärtners Iwan Karlowitsch über allerhand Unordnungen entgegennahm, sich entrüstete und sich verzweifelt an den Kopf griff; aber der andere war der nicht wirkliche, gleichsam ein Halbberauschter, der unvermittelt im Satz ein Geschäftsgespräch unterbrechen konnte, den Gärtner an der Schulter faßte und murmelte: „Man kann sagen, was man will, aber das Blut hat eine große Bedeutung. Seine Mutter war eine wunderbare, wirklich eine unvergleichlich kluge Frau. Es war ein Genuß, in ihr gutes, klares, reines Antlitz, das Antlitz eines Engels, zu blicken. Sie zeichnete wundervoll; sie dichtete, sie beherrschte fünf Sprachen, sie sang. Die Ärmste, Gott sei ihrer Seele gnädig, ist an Schwindsucht gestorben.“ Der nichtwirkliche Jegor Ssemjonitsch seufzte tief auf und fuhr nach einigem Stillschweigen fort: „Als er noch Knabe war und bei mir aufwuchs, hatte auch er dieses engelhaft klare und gute Antlitz. Auch seine Art zu - 93 -
blicken, seine Bewegungen und seine Unterhaltungen sind voll Zartgefühl und elegant, ganz wie bei der Mutter. Und sein Verstand gar! Wir kamen aus dem Staunen nicht heraus. Um es nur zu sagen, ich weiß sehr wohl, warum er Magister geworden ist! Wirklich nicht umsonst! Und was wird erst nach zehn Jahren aus ihm geworden sein, Iwan Karlowitsch! Da reicht unsereins nicht heran!“ Aber der wirkliche Jegor Ssemjonitsch hatte sich inzwischen gefaßt, machte ein grimmiges Gesicht, griff sich an den Kopf und brüllte: „Dieses Teufelspack! Alles wird veraast, versaut - die gemeinen Schurken! Der Garten ist hin! Der Garten wird einfach zugrunde gerichtet!“ Kowrin aber arbeitete mit demselben Eifer wie früher und bemerkte das Durcheinander nicht. Die Liebe hatte nur erst recht Öl in das Feuer gegossen. Nach jeder Begegnung mit Tanja ging er glückselig und begeistert auf sein Zimmer, und mit derselben Leidenschaft, mit der er sie eben noch geküßt und von seiner Liebe zu ihr gesprochen hatte, griff er nun nach seinem Buch oder nach dem Manuskript. Das, was der schwarze Mönch von den Erwählten Gottes, von der ewigen Wahrheit, von der glänzenden Zukunft der Menschheit und dergleichen mehr gesagt hatte, verlieh seiner Arbeit eine besondere, außergewöhnliche Bedeutung und erfüllte seine Seele mit frohe m Stolz, mit dem Bewußtsein für die eigene Größe! Ein- oder zweimal in der Woche hatte er, im Park oder im Hause, Begegnungen mit dem schwarzen Mönch, und er redete lange mit ihm; aber das erschreckte ihn nicht. Im Gegenteil, es begeisterte ihn, da er bereits fest davon überzeugt war, daß solche Erscheinungen nur den Erwählten, den Erlesenen zuteil würden, die sich dem Dienst der Idee geweiht hatten. Einmal erschien der Mönch während des Mittagessens und setzte sich im Speisezimmer an ein Fenster. Kowrin freute sich und verstand es sehr geschickt, eine Unterhaltung mit Jegor - 94 -
Ssemjonitsch und mit Tanja über Dinge zu führen, die den Mönch hätten interessieren können; der schwarze Gast holte zu und nickte freundlich mit dem Kopf. Jegor Ssemjonitsch und Tanja aber hörten ebenfalls zu und lächelten heiter, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß Kowrin nicht mit ihnen, sondern mit einer Halluzination redete. Unvermerkt nahte das Fasten vor Maria Himmelfahrt, und bald darauf folgte auch der Hochzeitstag. Auf Jegor Ssemjonitschs dringlichen Wunsch sollte die Hochzeit mit allem Pomp gefeiert werden, das heißt mit einem unsinnigen Gelage, das zwei Tage in Anspruch nahm. Für dreitausend Rubel wurde gegessen und getrunken. Aber infolge der schlechten Musik, die man engagiert hatte, der banalen Reden und des Hinundhergerenns der Dienerschaft, kurz vor lauter Lärm und Gedränge kam man gar nicht auf den Geschmack all der kostbaren Weine und der märchenhaften kulinarischen Genüsse, die aus Moskau herbeigeschafft waren. VII Einmal geschah es in einer der langen Winternächte, daß Kowrin im Bette lag und einen französischen Roman las. Die arme Tanja, die abends immer Kopfweh hatte, weil sie das Leben in der Stadt nicht gewohnt war, schlief schon lange, und im Traum stieß sie dann und wann unzusammenhängende Worte aus. Es schlug drei. Kowrin löschte die Kerze und legte sich hin; lange lag er so mit geschlossenen Augen da, aber er vermochte nicht einzuschlafen, weil es im Schlafzimmer, wie ihm schien, sehr heiß war und weil Tanja im Traum redete. Um halbfünf steckte er wieder die Kerze an, und genau um dieselbe Zeit erblickte er den schwarzen Mönch, der im Sessel neben dem Bett saß. „Sei gegrüßt“, sagte der Mönch, und nach einem kurzen Schweigen fragte er: „Was denkst du jetzt?“ - 95 -
„An den Ruhm“, erwiderte Kowrin. „In dem französischen Roman, den ich gerade gelesen habe, wird ein junger Gelehrter geschildert, der allerhand Dummheiten begeht und vor Sehnsucht nach dem Ruhm hinwelkt. Diese Sehnsucht ist mir unverständlich.“ „Weil du klug bist! Dir ist der Ruhm gleichgültig wie irgendein Spielzeug, an dem du kein Gefallen hast.“ „Ja, so ist es, wirklich wahr!“ „Berühmtheit reizt dich nicht. Was wäre daran schon begehrenswert oder amüsant oder lehrreich, wenn dein Name auf deinem Grabstein prangt und alsdann die Zeit die Schrift mitsamt der Vergoldung weglöschen wird. Und zum Glück sind euer so viele! Wie sollte da das schwache Gedächtnis der Menschen alle eure Namen behalten!“ „Sehr begreiflich“, stimmte Kowrin bei. „Und wozu auch behalten? Aber laß uns von was anderem reden. Zum Beispie! vom Glück. Was ist eigentlich Glück?“ Als die Uhr fünf schlug, saß er im Bett aufrecht; die bloßen Füße hatte er auf den Teppich gesetzt. Er sagte, zum Mönch gewandt: „Im Altertum hatte dereinst ein glücklicher Mensch Angst vor seinem Glück bekommen, so unermeßlich schien es ihm: und um die Götter zu versöhnen, hat er einen ihm besonders teuren Ring geopfert. Kennst du die Geschichte? Und so geht es auch mir. Es ist so, daß mich mein Glück etwas zu beunruhigen beginnt wie dereinst den Polykrates. Es scheint mir so merkwürdig zu sein, daß ich vom frühen Morgen bis in die späte Nacht nichts als Freude empfinde; sie erfüllt mich ganz und gar und übertönt alle ändern Gefühle. Ich weiß nicht, was Schwermut ist; ich kenne weder Trauer noch Langeweile. Es ist wahr, ich kann nicht schlafen; ich leide an Schlaflosigkeit, aber ich langweile mich nicht. Ich rede im Ernst: allmählich erschreckt mich das.“ „Warum denn nur?“ staunte der Mönch. „Wäre Freude etwa ein übernatürliches Empfinden? Sollte sie nicht des Menschen - 96 -
natürlicher Zustand sein? Je höher der Mensch in seiner geistigen und sittlichen Entwicklung steht, je freier er ist, einen desto größeren Genuß bietet ihm sein Leben. Sokrates, Diogenes und Marc Aurel haben Freude empfunden, keine Trauer. Auch sagt der Apostel: Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermal sage ich, freuet euch. So freue dich denn und sei glücklich!“ „Und wenn mir die Götter plötzlich zürnen?“ begann Kowrin zu scherzen und lachte. „Wenn sie mir allen Lebenskomfort nehmen und mich zwingen, Hunger zu leiden und zu frieren, das könnte mir wahrhaftig nicht behagen.“ Tanja war inzwischen aufgewacht und blickte bestürzt und voller Grauen auf ihren Mann. Er sprach zum Sessel gewandt, gestikulierte und lachte; seine Augen blitzten, und aus seinem Lachen klang etwas Seltsames. „Andrjuscha, mit wem redest du da?“ fragte sie und faßte ihn an der Hand, die er nach dem Mönch ausstreckte. „Andrjuscha! Mit wem?“ „Wie sagtest du? Mit wem?“ erwiderte Kowrin verwirrt. „Nun, mit ihm. Da sitzt er ja“, sagte er und zeigte auf den schwarzen Mönch. „Da ist niemand... niemand! Andrjuscha, du bist krank!“ Tanja umarmte ihren Mann und schmiegte sich an ihn, als wolle sie ihn vor seinen Erscheinungen schützen, und drückte ihre Hand auf seine Augen. „Du bist krank!“ schluchzte sie auf, am ganzen Leibe bebend. „Verzeih mir, mein Lieber, mein Teurer, ich habe es aber schon längst gemerkt, daß du irgendwie gestört bist. Du bist geisteskrank, Andrjuscha.“ Ihr Beben teilte sich ihm mit. Er warf noch einen Blick nach dem Sessel, der bereits leer stand, verspürte plötzlich eine Schwäche in Armen und Beinen, erschrak und begann sich anzukleiden.
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„Es ist nichts, Tanja, gar nichts“, stammelte er zitternd. „Tatsächlich, mir ist nicht ga nz wohl, ich muß es schon gestehen.“ „Ich habe es schon längst bemerkt. Und Papa hat es auch gemerkt“, sagte sie, bemüht, ihr Schluchzen zu unterdrücken. „Du sprichst mit dir selber, du lächelst so merkwürdig. Du schläfst nicht. O mein Gott, mein Gott, rette uns, bewahre uns!“ wimmerte sie, von Grauen geschüttelt. „Aber du brauchst keine Angst zu haben, Andrjuscha, habe nur keine Angst! Um Gottes willen, habe keine Angst!“ Auch sie kleidete sich an. Erst jetzt, da Kowrin sie anblickte, faßte er die ganze Gefährlichkeit seiner Lage; er begriff, was dieser schwarze Mönch und die Unterhaltung mit ihm zu bedeuten hatten. Nun war ihm klar geworden, er war irrsinnig. Ohne zu wissen warum, gingen die beiden, nachdem sie sich angekleidet hatten, in den Salon: sie ging voran, er folgte ihr. Von ihrem Schluchzen geweckt, stand bereits Jegor Ssemjonitsch, der gerade zu Besuch bei ihnen war, im Schlafrock da, mit einer Kerze in der Hand. „Du solltest dich nicht fürchten, Andrjuscha“, sagte Tanja und zitterte, als habe sie einen Schüttelfrost, „fürchte dich nicht es wird gewiß alles gut, Papa. Es vergeht schon wieder!“ Kowrin versuchte vor Erregung zu sprechen. Er wollte seinem Schwiegervater in scherzendem Ton sagen: „Nun, Sie können mir gratulieren, ich habe allem Ansche in nach den Verstand verloren“, aber nur seine Lippen bewegten sich und ein bitteres Lächeln umspielte sie. Um neun Uhr morgens zog man ihm den Mantel und Pelz an, ein Schal wurde ihm um den Hals gewickelt, und man brachte ihn im geschlossenen Wagen zum Arzt. Damit begann die Behandlung.
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VIII Und wieder war es Sommer geworden; der Doktor hatte gewünscht, der Kranke solle aufs Land gehen. Kowrin befand sich bereits auf dem Wege der Besserung. Er sah den schwarzen Mönch nicht mehr, und nun kam es nur noch darauf an, daß er wieder physisch zu Kräften käme. Er lebte bei seinem Schwiegervater auf dem Gut; er trank viel Milch, arbeitete täglich höchstens zwei Stunden, trank keinen Wein und rauchte nicht. Die Vigil zum Eliasfest wurde im Hause selbst abgehalten. Als der Subdiakon dem Priester das Weihrauchfaß hinreichte, roch es in dem alten Riesensaal so wie auf dem Friedhof, und Kowrin fand es langweilig. Er begab sich in den Garten. Ohne einen Blick für die Blumen zu haben, spazierte er im Garten herum, saß auf der Bank, lustwandelte dann wieder im Park. Als er an den Fluß kam, stieg er das Ufer hinab, stand im Nachdenken versunken da und blickte auf das Wasser. Die finstern Föhren mit dem zottigen Wurzelwerk, die ihn im vergangenen Jahr an der gleichen Allee so jugendlich, so froh und lebendig gesehen hatten, hatten jetzt einander nichts zuzuflüstern, sie standen reglos und stumm da, als erkannten sie ihn nicht. Und in der Tat, sein Haupthaar war jetzt kurz geschnitten, das lange schöne Haar war weg, sein Gang war matt, sein Gesicht hatte im Vergleich zum vorigen Sommer an Fülle zugenommen und war blaß. Ei schritt über die Steine im Fluß ans andere Ufer. Dort, wo im vergangenen Jahr das Roggenfeld gewesen war, lag jetzt in Reihen gemähter Hafer. Die Sonne war schon untergegangen; ein unendlich weites Abendrot flammte am Horizont und kündete für morgen windiges Wetter. Es war still. In die Richtung schauend, wo ihm im vorigen Jahr zum erstenmal der schwarze Mönch erschienen war, stand Kowrin wohl an zwanzig Minuten, bis das Abendrot zu verglühen begann. Als er dann schlapp und unbefriedigt heimkehrte, war der Abendgottesdienst schon zu Ende. Jegor Ssemjonitsch und Tanja saßen auf den Terrassenstufen und tranken Tee. Sie unterhielten - 99 -
sich über irgend etwas, verstummten aber plötzlich, als sie Kowrin kommen sahen. Er schloß aus dem Ausdruck ihrer Gesichter, daß man über ihn gesprochen hatte. „Ich glaube, es ist an der Zeit, daß du deine Milch trinkst“, sagte Tanja zu ihm. „Nein, es ist nicht an der Zeit“, antwortete er, sich auf der untersten Stufe niederlassend. „Trink sie selber! Ich mag nicht!“ Tanja wechselte mit ihrem Vater aufgeregte Blicke und sagte schuldbewußt: „Du weißt doch, daß dir die Milch gut bekommt.“ „Ja freilich, sehr gut!“ lachte Kowrin auf. „Ich gratuliere dir: Seit Freitag habe ich wieder ein Pfund zugenommen.“ Er preßte die Hände um den Kopf und sagte voller Wehmut: „Warum, warum mußte ich mich in Behandlung begeben? Diese Brompräparate, der Müßiggang, die warmen Bäder, die Aufsicht, diese kleinmütige Angst wegen jedes Schluckes, wegen jedes Schrittes - das alles macht mich noch zu guter Letzt zum kompletten Idioten! Ich hatte den Verstand verloren, ich litt an Größenwahn, aber dafür war ich heiter und froh, ja sogar glücklich; ich war interessant und originell. Nun aber bin ich vernünftiger und solider geworden; dafür bin ich auch genauso geworden, wie alle ändern es sind: ich bin die Mittelmäßigkeit in Person, es langweilt mich, so zu leben. Oh, was seid ihr doch grausam gewesen! Freilich hatte ich Halluzinationen, aber konnte das stören? Ich frage, wen hätte das stören sollen?“ „Weiß Gott, was du da redest!“ seufzte Jegor Ssemjonitsch. „Wie langweilig ist es, das anhören zu müssen.“ „Dann hören Sie eben nicht hin.“ Die Anwesenheit anderer, insbesondere Jegor Ssemjonitschs, reizte Kowrin neuerdings; er gab ihm trockene, kühle, ja sogar grobe Antworten, und er sah ihn überhaupt nicht anders als spöttisch und voller Haß an, während Jegor Ssemjonitsch verlegen wurde und schuldbewußt hüstelte, obwohl er sic h keiner Schuld bewußt war. Tanja konnte es nicht verstehen, warum sich - 100 -
ihre guten und lieben Beziehungen von Tag zu Tag zum Schlechteren änderten, daß der Vater in der letzten Zeit auffallend gealtert war, während ihr Mann reizbar und eigensinnig wurde; an allem mäkelte er herum, sie konnte nicht mehr lachen und singen, bei Tisch aß sie nichts; nächtelang tat sie kein Auge zu, denn sie erwartete unentwegt irgend etwas Furchtbares. Kurz, sie war so von Kräften gekommen, daß sie einmal vom Mittag bis an den Abend ohnmächtig dagelegen hatte. Während der gottesdienstlichen Zeremonien schien es ihr, daß der Vater weinte, und jetzt, da sie zu dritt auf der Terrasse saßen, mußte sie sich sehr zusammennehmen, um nicht daran zu denken. „Wie glücklich waren Buddha und Mohammed oder Shakespeare, daß sie von ihren lieben Anverwandten und Ärzten nicht von ihren Ekstasen und Eingebungen kuriert wurden“, sagte Kowrin. „Hätte Mohammed wegen seiner Nerven Bromkali geschluckt, nur zwei Stunden am Tage gearbeitet und Milch getrunken, wäre von diesen hochbedeutenden Menschen ebensowenig auf die Nachwelt gekommen wie von seinem Hunde! Die Ärzte und die lieben Anverwandten werden es schließlich dahin bringen, daß die Menschheit in Stumpfsinn versinkt, daß man die Mittelmäßigkeit für Genie halten wird, und die Kulturen und Zivilisation werden zugrunde gehen. Wenn sie nur wüßten“, sagte Kowrin voller Bitterkeit, „wie sehr ich ihnen zu Dank verpflichtet bin!“ Eine starke Verstimmung hatte sich seiner bemächtigt, und um nicht mehr zu sagen, als er verantworten konnte, stand er eilig auf und begab sich ins Haus. Es war still, und durch das offene Fenster wurde der Duft der Tabakblüte und der Jalappenwinde hereingetragen. Im riesigen, düsteren Saal spiegelte sich auf dem Parkett und auf dem Flügel der Mondenschein in grünlichen Lichtern. Kowrin mußte an sein Entzücken im vergangenen Sommer denken, als es auch so stark nach Jalappawinde roch und der Mond durch die Fenster schien. Um die Stimmung des vorigen Jahres wieder zu erwecken, begab er sich eiligst in sein - 101 -
Arbeitszimmer, steckte sich eine schwere Zigarre an und befahl dem Diener, ihm Wein zu bringen. Aber die Zigarre hatte einen bittren, ihm widerlich erscheinenden Geschmack; auch der Wein wollte ihm nicht so munden wie im vorigen Jahr. Ja, das Abgewöhnen! Von der Zigarre und von zwei Schluck Wein schwindelte ihm der Kopf, und das Herz begann so zu klopfen, daß er Bromkali schlucken mußte. Ehe sie zur Ruhe gingen, sagte Tanja: „Der Vater blickt zu dir auf, er vergöttert dich, und irgend etwas an ihm ärgert dich; darüber ist er untröstlich. Schau doch nur hin: er altert zusehends, mit jedem Tag... ich flehe dich an, Andrjuscha, um Gottes willen, um deines verstorbenen Vaters willen, um meiner Seelenruhe willen, sei doch freundlich zu ihm!“ „Will ich nicht und kann ich nicht.“ „Aber warum denn?“ fragte Tanja, am ganzen Leibe zitternd, „erkläre mir, warum denn?“ „Darum, weil er mir unsympathisch ist, und das ist alles“, sagte Kowrin nachlässig und zuckte mit den Achseln. „Aber reden wir nicht davon, er ist dein Vater.“ „Das kann ich nicht verstehen! Kann es nicht verstehen!“ stieß Tanja hervor, preßte sich die Schläfen mit den Händen und fixierte irgendeinen Punkt. „Etwas Unfaßbares, etwas Fürchterliches ereignet sich hier in unserem Haus. Du hast dich verändert, du gleichst dir selber nicht mehr... du, ein so kluger, außergewöhnlicher Mensch, regst dich wegen jeder Kleinigkeit auf, kümmerst dich um jedes leere Gerede... Mitunter regst du dich über solche Kleinigkeiten auf, daß man manches Mal den eigenen Ohren nicht traut, ob du es selber bist. Nein, nein, ärgere dich nicht, bitte ärgere dich nicht“, fuhr sie fort, denn sie erschrak vor ihren eigenen Worten, und nun küßte sie seine Hände: „Du bist so klug, so gut, so edel! Du wirst dem Vater Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er ist so gut!“ - 102 -
„Nicht gut ist er, sondern gutmütig. Die guten Onkel in den Lustspielen etwa in der Art deines Vaters, mit feisten, gutmütigen Gesichtern, diese unendlich gastfreien, kuriosen Sonderlinge, die haben mich irgendwann einmal in Erzählungen und in Schauspielen und im Leben gerührt und mich zum Lachen gereizt; aber jetzt sind sie mir widerlich! Sie sind Egoisten bis ins Mark der Knochen. Am widerlichsten ist mir ihre Sattheit und diese Verfressenheit und dieser stiermäßige oder säuische Optimismus.“ Tanja setzte sich aufrecht hin im Bett, den Kopf ans Kissen gelehnt. „Ich bin hier wie auf der Folter“, sagte sie, und an ihrer Stimme war zu merken, daß sie schon äußerst erschöpft war und daß ihr das Sprechen schwerfiel. Seit dem Winter kein einziger ruhiger Augenblick. „Das ist furchtbar! O Gott! Wie ich leide!“ „Na ja, ich bin halt ein Herodes, und du und dein Väterchen, ihr seid die unschuldigen Kinder. Natürlich!“ Sein Gesicht schien Tanja häßlich und unangenehm zu sein. Der Haß und der spöttische Ausdruck standen ihm schlecht zu Gesicht. Aber auch früher schon hatte sie bemerkt, daß da in seinem Gesicht etwas war, was auf einen Mangel schließen ließ, so als habe sich sein Mienenspiel verändert, seit er sich das Haar hatte schneiden lassen. Sie wollte ihm irgend etwas Kränkendes sagen, aber sie hielt sogleich inne, bekämpfte erschreckt das feindselige Gefühl und ging aus dem Schlafzimmer. IX Kowrin war Inhaber eines selbständigen Universitätskatheders geworden. Die Antrittsvorlesung war auf den 2. Dezember angesetzt, und schon war ein diesbezüglicher Anschlag am Schwarzen Brett ausgehängt. Aber am festgesetzten Tage telegraphierte er dem Studenteninspektor, er könne krankheitshalber die Vorlesung nicht halten. - 103 -
Er hatte einen Blutsturz. Er spuckte Blut; vielleicht zweimal im Monate verlor er so viel Blut, daß er sehr geschwächt war und in einen Zustand von unüberwindbarer Müdigkeit verfiel. Diese Erkrankung erschreckte ihn nicht sonderlich, da ihm bekannt war, daß seine verstorbene Mutter, an der gleichen Krankheit leidend, zehn Jahre, ja länger noch gelebt hatte. Die Ärzte versicherten, es sei nicht weiter gefährlich, und sie rieten ihm, er solle sich vor allen Dingen nicht aufregen, ein regelmäßiges Leben führen und weniger sprechen. Die Vorlesung kam auch im Januar aus demselben Grunde nicht zustande. Im Februar aber war es schon zu spät, mit der Semesterarbeit zu beginnen. Alles mußte auf das nächste Jahr verschoben werden. Er lebte nicht mehr mit Tanja zusammen, sondern mit einer anderen Frau, die zwei Jahre älter war als er und ihn wie ein Kind pflegte. Seine Stimmung war friedfertig und ergeben: er fügte sich gerne, und als Warwara Nikolajewna, so hieß seine Freundin, Anstalten traf, mit ihm in die Krim zu reisen, war er damit einverstanden, obschon er ahnte, daß bei dieser Reise nichts Gutes für ihn herauskommen könne. Sie trafen am Abend in Sewastopol ein und waren in einem Hotel abgestiegen, um sich zu erholen und tags darauf nach Jalta weiterzureisen. Die lange Reise hatte sie beide ermüdet. Warwara Nikolajewna stillte ihren Durst mit Tee, legte sich zu Bett und schlief sehr bald ein. Aber Kowrin legte sich nicht hin. Noch zu Hause, eine Stunde vor der Abfahrt auf dem Bahnhof, hatte er von Tanja einen Brief bekommen und sich nicht entschließen können, ihn zu öffnen; jetzt steckte der Brief in einer Seitentasche, und der Gedanke daran erregte ihn in fataler Weise. Im tiefsten Innern seiner Seele hielt er seine Verheiratung mit Tanja jetzt für einen Fehler; er war froh, daß er mit ihr endgültig auseinander war, und die Erinnerung an diese Frau, die zu guter Letzt wie eine lebende Mumie dahinvegetierte und an der scheinbar alles schon abgestorben war außer den großen, aufmerksam dreinschauenden, klugen Augen, die Erinnerung an - 104 -
sie erweckte in ihm nur Bedauern und Verdruß über sich selber. Die Handschrift auf dem Briefumschlag erinnerte ihn daran, wie er vor etwa zwei Jahren ungerecht und hartherzig gewesen war, wie er seine geistige Leere, seine Melancholie, seine Einsamkeit und seine Unzufriedenheit mit dem Leben an völlig schuldlosen Menschen rächte. Er dachte daran, wie er einmal seine Dissertation und alle Aufsätze, die er während seiner Krankheit geschrieben hatte, in kleine Fetzen gerissen hatte und wie diese Fetzen zum Fenster hinausflogen und so, vom Winde getragen, in den Bäumen und an den Blumen hängenblieben. Aus jeder Zeile glaubte er merkwürdige, völlig unbegründete Prätentionen herauszulesen, einen leichtfertigen Überschwang, unangebrachte Dreistigkeit, Größenwahn, und das machte auf ihn einen solchen Eindruck, als läse er eine Beschreibung seiner Untugenden; als dann das letzte Heft, in Fetzen gerissen, zum Fenster hinausflog, war ihm plötzlich schwer und bitter ums Herz geworden; er war zu seiner Frau gega ngen und hatte ihr viele unangenehme Dinge gesagt. O Gott, wie sehr hatte er sie doch zugrunde gerichtet. Als er ihr einmal besonders wehtun wollte, hatte er ihr gesagt, ihr Vater habe in ihrem eigenen Liebesroman eine wenig anziehende Rolle gespielt, da er — der Vater — ihn gebeten habe, sie zu heiraten; ein Zufall wollte es, daß Jegor Ssemjonitsch diese Worte aufgefangen hatte; er kam in das Zimmer gelaufen, und vor lauter Verzweiflung konnte er kein einziges Wort herausbringen; und er drehte sich immer auf einem Fleck und stöhnte so merkwürdig, als wäre seine Zunge gelähmt. Tanja aber hatte beim Anblick ihres Vaters gellend aufgeschrien und war in Ohnmacht gefallen. Das war scheußlich! Dieses alles kam ihm nun wieder in den Sinn bei einem Blick auf die bekannte Handschrift. Kowrin trat auf den Balkon hinaus; draußen war es still und warm, und es roch nach dem Meer. Die wunderbare Bucht spiegelte den Mond und die Signalfeuer. Und sie hatte eine Färbung angenommen, die sich kaum mit Worten beschreiben ließ: es war das eine sanfteste und weiche Verbindung von Blau und Grün; stellenweise glich das Wasser in - 105 -
der Farbe blauem Kupfervitriol, wieder an anderen Stellen hatte sich der Mondschein so verdichtet, daß er statt des Wassers die ganze Bucht zu erfüllen schien; im ganzen aber — welche Übereinstimmung der Farbe, welch friedfertige, ruhige und erhabene Stimmung! In der unteren Etage, unterhalb des Balkons, waren die Fenster wahrscheinlich offen, denn man konnte deutlich Frauenstimmen und Lachen vernehmen. Allem Anschein nach war dort ein geselliges Beisammensein. Kowrin gab sich einen Ruck, er öffnete den Brief, begab sich wieder in sein Zimmer und las: „Eben ist mein Vater gestorben. Das verdanke ich dir, da du ihn umgebracht hast. Unser Garten ist ruiniert. Fremde wirtschaften darin, das heißt, so hat sich genau das ereignet, was mein armer Vater so sehr befürchtete. Auch das verdanke ich dir. Ich hasse dich mit der ganzen Kraft meiner Seele und wünschte, daß du möglichst bald zugrunde gingest. Oh, wie ich leide! Ein unerträglicher Schmerz brennt in meiner Seele. Sei verflucht. Ich habe dich für einen ungewöhnlichen Menschen, für ein Genie gehalten, ich habe dich geliebt, und es stellte sich heraus, daß du wahnsinnig bist.“ Kowrin war außerstande, weiterzulesen, er zerriß den Brief und warf ihn weg. Es bemächtigte sich seiner eine Unruhe, die an Angst erinnerte. Aus der unteren Etage hörte man Frauenstimmen und Gelächter; ihn aber überkam das Gefühl, als wäre in dem ganzen Hotel außer ihm allein keine einzige lebende Seele. Weil ihm die unglückliche, vom Gram niedergeworfene Tanja in ihrem Brief fluchte und seinen Untergang wünschte, überkam ihn ein unheimliches Gefühl, und er blickte scheu nach der Tür, als fürchtete er, es könne in das Hotelzimmer jene unbekannte Macht eindringen und über ihn verfügen, dieselbe Macht, die so viel Verwüstungen in seinem Leben und im Leben ihm nahestehender Menschen im Verlauf von knappen zwei Jahren angerichtet hatte.
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Er wußte schon aus Erfahrung, daß das beste Mittel gegen Nervenüberreizung Arbeit sei. Man setzt sich an den Tisch, und man zwingt sich um jeden Preis, sich auf irgendeinen Gedanken zu konzentrieren. Er holte aus seiner roten Aktentasche ein Heft hervor, in das er das Konzept einer kleinen Kompilationsarbeit eingetragen hatte, die er für den Fall, daß es in der Krim ohne Arbeit langweilig sein sollte, skizziert hatte. Er setzte sich an den Tisch und beschäftigte sich mit diesem Konzept; es wollte ihm scheinen, seine friedliche, ergebene, indifferente Stimmung fände sieh wieder ein. Diese kleine Arbeit brachte ihn auf Gedanken über das Treiben der Welt. Er dachte daran wieviel das Leben für jene nichtigen oder höchst gewöhnlichen Güter, die es dem Menschen vermitteln kann, zurückverlangt. Um beispielsweise mit etwa vierzig Jahren einen Universitätskatheder zu erhalten, ein gewöhnlicher Professor zu sein, träge und gelangweilt, in schwerer Sprache ganz gewöhnliche und von anderen Menschen ausgesprochene Gedanken darzulegen, mit einem Wort, um in die Daseinsberechtigung eines mittelmäßigen Gelehrten einzudringen, habe er, Kowrin, fünfzehn Jahre lang Tag und Nacht angestrengt lernen und arbeiten müssen, eine schwere psychische Erkrankung, eine verunglückte Ehe nicht eingerechnet, und zu allem Überfluß habe er eine ganze Reihe von Dummheiten und Ungerechtigkeiten in Szene gesetzt, an die er lieber nicht erinnert sein wollte. Kowrin erkannte jetzt klar und deutlich, daß er eine Mittelmäßigkeit darstelle, und er fand sich bereitwilligst damit ab, da seiner Meinung nach jeder Mensch damit zufrieden zu sein habe, was er ist. Sein Konzept hatte ihn tatsächlich beruhigt; so weit war er gekommen, aber dort auf dem Fußboden lagen die Fetzen des zerrissenen Briefes, und die störten ihn daran, sich zu konzentrieren. Er stand auf vom Tisch, sammelte die Fetzen des Briefes und warf sie zum Fenster hinaus; aber vom Meer herüber kam ein leichter Wind auf, und diese Brieffetzen flatterten auf die Fensterbank. Wieder überkam ihn jene Unruhe, die so sehr an Angst erinnerte, und es schien ihm, daß außer ihm selber keine - 107 -
einzige Menschenseele im Hotel sei. Er trat auf den Balkon hinaus, die Bucht blickte ihn an, als lebte sie in unzähligen blauen, türkisblauen und flammenden Augen und lockte ihn. In der Tat, es war heiß und drückend, ein Bad hätte ihm so wohl getan. Plötzlich ließ sich in der unteren Etage, unterhalb des Balkons, eine Geige vernehmen; zugleich ertönten zwei zarte Frauenstimmen. Das kam ihm so bekannt vor! In der Romanze, die man unten sang, war die Rede von einem Mädchen, deren Seelenleben zerrüttet war, die nachts im Garten geheimnisvolle Töne vernahm und zu dem Schluß kam, das sei eine heilige Harmonie, uns Sterblichen unfaßlich. Kowrin verschlug es den Atem, und sein Herz krampfte sich in der Brust zusammen, und eine wundersame, süße Freude, längst schon von ihm vergessen, erzitterte abermals in seiner Brust. Eine hohe schwarze Säule gleich einer Sturmwolke oder einem Sturmwirbel zeigte sich am gegenüberliegenden Ufer der Bucht. Mit furchtbarer Geschwindigkeit bewegte sie sich über die Bucht hinweg in der Richtung auf das Hotel, wurde immer kleiner und dunkler, und Kowrin hatte kaum Zeit, sich zur Seite zu werfen, um den Weg freizugeben. Der Mönch, grauhaarig und barhaupt, mit schwarzen Brauen, die Arme über der Brust gekreuzt, barfuß, brauste an ihm vorüber und machte mitten im Zimmer halt. „Warum hast du mir nicht geglaubt?“ fragte er vorwurfsvoll, Kowrin zärtlich anblickend. „Hättest du mir damals geglaubt, daß du ein Genie bist, so hättest du diese zwei Jahre nicht so leidvoll und jämmerlich dahingelebt.“ Schon glaubte Kowrin daran, daß er ein Erwählter Gottes und ein Genius wäre, auf das lebhafteste vergegenwärtigte er sich alle seine früheren Gespräche mit dem schwarzen Mönch, und er wollte sprechen, aber Blut quoll ihm aus dem Halse, floß über seine Brust, und da er nicht wußte, was tun, strich er mit den Händen über die Brust, und seine Manschetten wurden feucht vom Blut. Er wollte Warwara Nikolajewna rufen, die hinter dem - 108 -
Schirm schlief. Er machte eine Anstrengung und konnte nur hervorbringen: „Tanja.“ Er stürzte hin, und sich auf die Hände stützend, rief er noch einmal: „Tanja!“ Er rief nach Tanja, er rief nach dem großen Garten mit den wundervollen Blumen, von Tau gefeuchtet, er rief den Park, die Föhren mit dem zottigen Wurze lwerk, das Kornfeld, seine herrliche Wissenschaft, seine Jugend, seine Kühnheit, seine Freude, er rief nach dem Leben, das so herrlich war! Er sah auf dem Fußboden neben seinem Gesicht eine große Blutpfütze, und so geschwächt wie er war, konnte er kein Wort mehr hervorbringen; aber ein unbeschreibliches, ein grenzenloses Glück erfüllte sein ganzes Wesen. Unterhalb des Balkons spielte man die Serenade; und der schwarze Mönch — er flüsterte ihm zu, er sei ein Genius, und nur darum stürbe er, weil sein schwacher Menschenleib das Gleichgewicht verloren habe und nicht mehr einem Genius zur Hülle dienen könne. Als Warwara Nikolajewna aufwachte und hinter dem Schirm hervorkam, war Kowrin schon tot, und ein seliges Lächeln lag auf seinem Angesicht.
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DIE SCHALMEI
Erschöpft von der
im Tannendickicht brütenden Schwüle, von Spinnweben und Nadeln über und über bedeckt, kämpfte sich Meliton Schischkin, ein Gutsangestellter im Flecken Dementjewo, mit seiner Flinte an den Rand des Waldes durch. Hinter ihrem Herrn schleppte sich seine „Damka“, eine Mischung von Köter und Setter, Haut und Knochen, dazu trächtig, die feuchte Rute eingezogen und auf alle erdenkliche Art darauf bedacht, sich die Nase nicht zu zerstechen. Der Morgen war unfreundlich, der Himmel bedeckt. Von den Bäumen, die in leichten Nebel gehüllt waren, und vom Farnkraut fielen immer wieder große Tropfen nieder; die Waldfeuchtigkeit hatte einen penetranten Geruch nach Fäulnis. Weiter vorn, wo das Tannendickicht aufhörte, waren Birken, und zwischen deren Stämmen und dem Gezweig blickte man in nebelhafte Fernen, aber da war jemand hinter den Birken, der auf einer selbstverfertigten Hirtenschalmei flötete. Der Spielende hatte nicht mehr als fünf oder sechs Töne zur Verfügung; er zog sie hin, ohne jedes Bemühen, sie zu einem Motiv zu sammeln; dennoch tönte aus seinem Piepen etwas Finsteres und Melancholisches heraus. Als das Dickicht sich endlich lichtete und junge Birken sich unter die Tannen mischten, erblickte Meliton die Herde. An den Beinen gefesselte Pferde, Kühe und Schafe zwängten sich durch die Büsche, so daß die Äste knackten; die Tiere schnupperten an den Gräsern des Waldes. An eine feuchte kleine Birke in der Lichtung gelehnt, stand da ein alter Hirt; er war überaus hager, trug einen stark mitgenommenen Bauernrock und war barhaupt. Er schaute zu Boden, er schien an irgend etwas zu denken und spielte allem Anschein nach ganz mechanisch auf seiner Schalmei. - 110 -
„'n Tag, Großvater! Gott helfe dir!“ begrüßte ihn Meliton mit seinem dünnen, heiseren Stimmchen, das so gar nicht zu seinem gewaltigen Körper und dem großen, fleischigen Gesicht paßte. „Du bläst aber fein auf deiner Schalmei! Wessen Herde hütest du denn?“ „Die Artamonowsche“, gab der Hirt widerwillig zur Antwort und steckte die Schalmei in den Brustlatz. „Dann wird wohl auch der Wald den Artamonows gehören?“ fragte Meliton und warf einen Blick in die Runde. „Tatsächlich, er gehört den Artamonows; das ist doch wirklich toll... Ich bin richtig in die Irre gelaufen! Die ganze Schnauze habe ich mir im Gestrüpp zerkratzt.“ Er setzte sich auf die feuchte Erde und drehte eine Zigarette aus Zeitungspapier. Alles an diesem Menschen war gleich dem dünnen Stimmchen klein und schien seinem Wuchs und dem fleischigen Gesicht nicht zu entsprechen: sein Lächeln, die kleinen Augen, die Knöpfchen und das Mützchen, das scheinbar keinen Halt auf dem festen, kurzgeschorenen Schädel hatte. Wenn er sprach oder lachte, so glaubte man an seinem glattrasierten, aufgeschwemmten Gesicht und an der ganzen Gestalt etwas Weibisches, Schüchternes, ja Demütiges wahrzunehmen. „Das ist aber ein Wetter! Gott steh uns bei!“ sagte er und drehte den Kopf bald hierher, bald dorthin. „Die Leute haben den Hafer noch nicht eingebracht, und da regnet es, daß Gott erbarm'!“ Der Hirt schaute zum Himmel auf - nichts als rieselnder Regen! Dann blickte er nach dem Walde hin, dann auf des Gutsangestellten durchnäßte Kleidung, überlegte ein Weilchen und sagte nichts. „Der ganze Sommer war so...“, seufzte Meliton. „Den Bauern geht es dreckig, aber auch für die Herren gibt es nichts zu lachen.“ - 111 -
Noch einmal schaute der Hirt zum Himmel auf, dachte nach und sagte bedächtig, als zerkaute er jedes Wort: „Es läuft doch alles auf eines hinaus... Man hat nichts Gutes zu erwarten!“ „Wie steht es denn hier?“ forschte Meliton und steckte sich die Zigarette an. „Sahst du vielleicht junge Birkhähne im Artamonowschen Holz?“ Der Hirt antwortete nicht sogleich. Wieder schaute er zum Himmel auf, warf dann einen Blick in die Runde, überlegte eine Weile und zwinkerte mit den Augen. Allem Anschein nach maß er seinen eigenen Worten keine geringe Bedeutung bei, denn er war bemüht, sie um ihren Wert zu heben, gedehnt, mit einer gewissen Feierlichkeit zu sprechen. Der Ausdruck seines Gesichtes war greisenhaft, spitz und gelassen; weil der Nasensattel querüber eingedrückt und die Nasenlöcher nach oben gerichtet waren, wirkte es listig und neckisch. „Nee“, erwiderte er, „hab' ich nicht gesehen. Unser Jäger Jeromka erzählte wohl, er habe am Eliastage beim Einödbauern ein Nest voll Junge gesehen, aber der schwätzt wohl nur so. Es gibt heuer nur wenig Vögel.“ „Freilich, Bruder, wenig genug. Überall ganz wenig! Die Jagd ist ein kostspielig Ding, wenn man es vernünftig überlegt; jämmerlich und gar nicht lohnend. Wild gibt es überhaupt nicht mehr; was aber noch übrigblieb, da lohnt es gar nicht, sich die Hände damit zu bedrecken; es ist auch noch gar nicht herangewachsen! Alles lauter Winzigkeiten, daß man sich schämt, hinzuschauen.“ Meliton lachte auf und machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand. „Was heute auf dieser unserer Welt geschieht, ist einfach zum Lachen - ja so ist es! Und das Wildgeflügel ist heuer auch in Unordnung geraten, die Brutzeit beginnt spät, und es gibt auch Vögel, die noch nicht mal an Sankt Peter mit dem Brüten fertig waren - so ist's, bei Gott!“ - 112 -
„Alles kommt auf eins hinaus“, sagte der Hirt, das Gesicht gen Himmel hebend. „Im vergangenen Jahr gab es wenig Wild, in diesem Jahr - noch weniger, und wenn so ein Jahrfünft um ist, dann, mein' ich, wird es überhaupt nichts mehr geben. Ich hab's gemerkt, bald wird es nicht nur kein Wild, sondern überhaupt keine Vögel mehr geben.“ „Ja“, bestätigte Meliton nachdenklich. „Das stimmt.“ Der Hirt lachte bitter auf und schüttelte den Kopf. „Zum Staunen“, sagte er, „und wo ist das alles geblieben? Vor etwa zwanzig Jahren, ich weiß gut, gab es Gänse und Kraniche und Enten und Birkhähne - Schwarm um Schwarm - wie Wolken flog das dahin! Es kam vor, daß die Herrschaften zur Jagd gefahren kamen: da hörte man es bullern: Pu-pu-pu -! Pupu-pu -! Sumpfschnepfen, Bekassinen und Kronschnepfen ohne Zahl und Ende; und erst das kleine Kroppzeug - die Krickenten, die Waldschnepfen - wie die Stare kamen sie angebraust oder wie Spatzen - unendlich! Und wo ist das alles hin? Auch kein Raubzeug ist mehr zu sehe n. Aus ist es mit den Adlern, und mit den Falken und mit den Uhus... Auch mit den Raubtieren steht es nicht viel anders. Ein Wolf, Bruder, oder ein Fuchs, das ist schon eine Seltenheit, vom Bären, vom Nerz ganz zu schweigen. Dabei gab es hier auch Elche! Vierzig Jahre beobachtete ich jahraus, jahrein an den Werken Gottes, daß alles dem Einen zugeht!“ „Und das wäre?“ „Dem Schlimmen zu, Mann! Dem Untergang zu, soll man meinen... Nahe ist die Zeit für den Untergang der Gotteswelt.“ Der Alte stülpte sich die Mütze auf den Kopf und schaute immerzu gen Himmel. „Schade drum!“ seufzte er nach einigem Schweigen. „Ja, du lieber Gott, es ist schade drum. Es ist gewiß so Gottes Wille; nicht wir haben die Welt erschaffen; und dennoch, Bruderherz, es ist schade drum! Wenn ein Baum verdorrt oder, sagen wir mal, eine Kuh krepiert, selbst dann haben wir Mitleid; aber was - 113 -
wird dann erst sein, lieber Mensch, wenn wir sehen, daß die ganze Welt zugrunde geht? Herr Jesus, all das Gut! Die Sonne und der Himmel, Wälder und Flüsse und die Kreatur - das alles ist ja doch erschaffen worden, ist angepaßt, ist zueinander gefügt. Ein jedes ist so bedacht, daß es zum Wirken kommt, auch kennt es seinen Platz! Das alles muß zugrunde gehen!“ Ein trübes Lächeln huschte über das Gesicht des Hirten, und seine Lider zuckten. „Du sagst also, es naht der Untergang...“, sagte Meliton grübelnd. „Kann sein, daß die Welt bald ihrem Ende entgegengeht; aber das kann man nicht nur an den Vögeln beobachten. Kaum anzunehmen, daß das mit den Vögeln eben dieses bedeuten sollte.“ „Nicht die Vögel allein“, sagte der Hirt. „Auch die Tiere, auch die Rinder, auch die Bienen und die Fische... Wenn du mir nicht glaubst, so frage nur bei den Alten; jedermann wird dir sagen, daß es mit den Fischen heuer gar nicht mehr so bestellt ist, wie es früher war. Sowohl in den Meeren wie auch in den Seen und in den Flüssen nehmen die Fische von Jahr zu Jahr ab. In unserem Bach, ich kann mich noch gut erinnern, fingen wir Hechte, die maßen eine Elle, und Trüschen gab es auch, Karpfen und Brachsen, und ein jeder Fisch hatte seine ansehnliche Gestalt, heute aber, wenn du so einen kleinen Hecht gefangen hast oder einen Flußbarsch von einer Viertelelle, dann kannst du Gott danken. Nicht einmal richtige Kaulbarsche gibt es mehr. Von Jahr zu Jahr wird es schlimmer — aber warte du nur ein wenig, alsdann wird es überhaupt keine Fische mehr geben. Und nehmen wir jetzt die Flüsse! Die Flüsse, ja, siehst du wohl, sie trocknen ein!“ „Ja, das ist es eben. Mit jedem Jahr werden sie flacher und flacher, und jetzt gibt es schon nimmer die Wasserpfuhle, wie sie früher waren. Und sieh dir mal das Gebüsch dort an!“ sagte der Alte, nach der Seite blickend, mit leiser Stimme. „Dahinter - 114 -
war das alte Flußbett, Sawodina genannt (etwa: Kleinbucht). Zu meines Vaters Lebzeiten hatte da noch die Pestschanka ihr Flußbett; und wohin haben es die unsauberen Geister verlagert? Der Flußlauf hat gewechselt, und schau nur an, so lange wird er wechseln, bis alles versiegt ist. Hinter dem Kurgassow-Sumpf gab es Deiche, und wo sind die hin? Und wo sind alle Bäche hin? In eben diesem Walde hat es noch zu unseren Lebzeiten einen Bach gegeben, und das war dir ein Bach, so einer, daß die Bauern dort Reusen auslegten und Hechte darin fingen; die Wildente überwinterte in nächster Nähe von ihm; aber heute?! Selbst wenn die Frühlingswasser steigen, kommt man noch lange nicht mit einem Kahn durch. Ja freilich, Bruderherz, schau hin, wohin du magst, überall ist es trocken! Überall!“ Alles schwieg. Meliton grübelte vor sich hin und starrte auf einen Punkt. Er wollte nur einen Flecken in der Gotteswelt finden, der von dem allesumfassenden Untergang nicht berührt wäre. Über die Nebelwand und die schrägen Regenflächen huschten hellere Flecken hin wie über Mattglas, erloschen aber sogleich; das war die aufgehende Sonne, die sich Mühe gab, die Wolken zu durchbrechen und einen Blick auf die Erde zu werfen. „Und mit den Wäldern ist es auch so...“, murmelte Meliton. „Und mit den Wäldern ist es auch so...“, wiederholte der Hirt. „Alles wird abgeho lzt; Waldbrände flammen auf; die Bäume verdorren; nichts Neues kommt hoch. Was aber aufkommt, das wird gleich abgehauen; ist es heute aufgewachsen, morgen schon haben es die Menschen - hast du nicht gesehn? - weggehauen; und so geht das fort, grenzenlos, so lange, bis nichts mehr. da ist. Ich selber hüte hier aus freien Stücken die Gemeindeherde, mein lieber Mann; vor der Bauernbefreiung habe ich auch bei Herrschaften als Hirt, und zwar genau an dem gleichen Platz hier, die Herde gehütet; und solange ich lebe, erinnere ich mich keines Sommertages, an dem ich nicht hier gewesen wäre. Und allweil achte ich auf Gottes Werke. Da habe ich, Bruder, mein Lebtag geschaut und habe es jetzt so erfaßt, daß jegliches Wachstum der Pflanzen im - 115 -
Rückgange ist! Ob wir an das Korn denken, an den Hafer oder an irgendein Blümchen — immer dasselbe!“ „Dafür ist aber das Volk besser geworden“, bemerkte der Gutsangestellte. - „Was heißt da schon - besser!“ - „Klüger.“ „Klüger ist es schon, freilich ist es klüger, das stimmt, Junge! Aber was hat das für einen Sinn? Was zum Kuckuck brauchen die Leute Verstand, wenn es dem Untergang zugeht? Untergehen kann man auch ohne Verstand. Was braucht der Jäger viel Verstand, wenn es kein Wild gibt? Ich bin der Meinung, Gott gab den Menschen zwar den Verstand, aber die Kraft hat er ihnen genommen. Das Volk ist schwach geworden, ganz ungeheuer schwach, nehmt doch nur mich zum Beispiel einen Groschen bin ich wert! Im ganzen Dorf bin ich der letzte Bauer, und dennoch, Junge, Kraft habe ich noch! Da schau nur her, es geht bei mir auf die Achtzig los, ich aber hüte tagaus, tagein die Herde und tue es auch noch in der Nacht für einen Zwanziger, und ich schlafe überhaupt nicht, und frieren tue ich auch nicht; mein Sohn ist zwar klüger als ich — stelle ihn aber statt meiner her, so wird er morgen eine Zulage fordern, oder er meldet sich krank. So ist das! Außer meinem Brot brauche ich nichts, denn es heißt: unser tägliches Brot gib uns heute; mein Vater aber hat außer Brot nichts gegessen, so auch der Großvater; aber der Bauer von heute will seinen Tee haben, und Schnaps will er haben, und Weißbrot will er haben, und schlafen muß er von einer Dämmerung zur anderen, und sich kurieren muß er auch; und allerhand Verwöhnung - das will er! Und warum? Schwach is t er geworden, kein Mark hat er in den Knochen, um durchzuhalten. Er wäre schon froh, wenn er nicht zu schlafen brauchte; aber die Augen fallen ihm zu, da ist halt nichts zu machen.“ „Das stimmt“, pflichtete Meliton bei. „Der Bauer ist heute nichts wert.“ „Und es hat keinen Zweck, die Sünde zu verheimlichen, schlimmer wird es mit uns von Jahr zu Jahr. Was nun aber dasselbe in Hinsicht auf die Herrschaft betrifft, so ist sie noch ärger daran und schwächer als der Bauersmann. Der - 116 -
Herr von heute, der hat alles übertroffen! Er weiß dir Dinge, die zu wissen überhaupt nicht nötig sind; und was hat das für einen Sinn? Schaut man auf ihn hin: man kann es wahrhaftig mit dem Mitleid kriegen. So ein schmächtiges, so ein gehirniges Wesen wie ein Ungar etwa oder wie so 'n Franzmann; nichts mehr von würdigem Auftreten, kein Ansehen, nur eben, daß er sich Herr nennt und vom Stande ist! Er, dieser Herzliebe, ist weder in Stellung, noch hat er etwas zu tun, und man kriegt es nicht heraus, was er eigentlich will. Ob er nun mit der Angel dasitzt und das Fischlein fängt, ob er mit dem Bauch nach oben daliegt und ein Buch liest, ob er sich bei den Bauern herumtreibt und allerhand Worte von sich gibt. Wird er aber vom Hunger getrieben, dann läßt er sich als Schreiber einstellen.“ „Sie sind halt verarmt“, sagte Meliton. „Sie sind aber verarmt, weil Gott ihnen die Kraft genommen hat. Gegen Gott kann keiner an!“ Meliton stierte auf einen Punkt. Nachdem er sich alles überlegt hatte, seufzte er, wie eben gesetzte, vernünftige Leute zu seufzen pflegen, schüttelte den Kopf und sagte: „Und woher kommt das alles? Wir sündigen viel, haben Gott vergessen... Und das ist, weil die Zeit gekommen ist, allem das Ende zu bereiten. Auch das ist zu sagen, eine Ewigkeit kann man nicht leben, schließlich muß man auch Anstand wahren.“ Der Hirt seufzte schwer auf, trat, als wolle er das unangenehme Gespräch abbrechen, von der Birke zurück und schickte sich an, mit den Augen die Kühe zu zählen. „Hähähä!“ schrie er. „Hähähä! Daß euch dieser und jener! Kein Verlaß ist auf euch! Hat euch der Satan ins Gestrüpp gejagt? Tju- lju-tju- lju!“ Er machte ein böses Gesicht und ging auf die Büsche zu, um die Herde zu sammeln. Meliton erhob sich und ging still den Waldrand entlang. Er schaute vor sich hin und dachte und grübelte; immer wollte er noch irgend etwas ausfindig machen, irgendwas, nur irgendwas, woran der Tod nicht gerührt hätte. Abermals sah man lichte Flächen über die - 117 -
schräge Regenwand hingleiten, auf die Wipfel der Bäume im Walde überspringen und im nassen La ub erlöschen. Damka hatte unter einem Busch einen Igel gestellt; sie wollte des Herrn Aufmerksamkeit erregen und stieß ein Geheul aus, ein heulendes Bellen. „Hat es bei euch eine Finsternis gegeben oder nicht?“ rief der Hirt aus den Büschen herüber „Ja freilich, die gab es!“ antwortete Meliton. „Soso... Überall jammert das Volk, daß eine Finsternis war. Also ist auch am Himmel, Bruderherz, die Ordnung gestört! Um nichts und wieder nichts ist das nicht. Hähähä! Hähä!“ Nachdem er die Herde am Waldrand zusammengetrieben hatte, lehnte sich der Hirt an die Birke, schaute auf gen Himmel, zog ohne Eile die Flöte aus dem Brustlatz und begann darauf zu spielen. Wie vorhin spielte er mechanisch und brachte es nicht über fünf oder sechs Töne; als hielte er seine Schalmei zum erstenmal in den Händen, so klangen diese Töne unentschlossen, ungeordnet, ohne zu einem Motiv zusammenzufinden. Aber Meliton, der jetzt an den Weltuntergang dachte, schien das Spiel arg melancholisch und geradezu widerwärtig zu sein, so daß er es lieber gar nicht gehört hätte. Die höchsten, quietschenden Töne, die durch die Luft zitterten und plötzlich abrissen, klangen nach unaufhörlichem Schluchzen, als wäre die Schalmei krank und erschrocken; die tiefen Töne aber erinnerten, weiß Gott warum, an schweifenden Nebel, an traurige Bäume, an den grauen Himmel. Diese Musik schien gut zum Wetter zu passen, auch zu dem Alten und zu seinen Reden. Meliton überkam das Verlangen zu wehklagen. Er trat auf den Alten zu und murmelte, dessen trauriges, lächerliches Gesicht und die Schalmei anblickend: „Auch das Leben ist schlechter geworden, Großvater. So schwer ist es, daß man es gar nicht mehr leben kann. Mißernten, - 118 -
Bettelarmut, das Vieh geht ein; Krankheiten unaufhörlich; die Not hat uns übermannt.“ Das geschwollene Gesicht des Gutsangestellten wurde puterrot und nahm einen wehleidigen, weibischen Ausdruck an. Er bewegte die Finger hin und her, als suchte er nach Worten, um seine unbestimmten Empfindungen wiederzugeben, und fuhr fort: „Acht Stücker Kinder - die Frau - und die Mutter noch am Leben; mein Gehalt - alles in allem im Monat zehn Rubel bei eigener Beköstigung. Vor lauter Armseligkeit hat der Satan die Frau besessen. Ich selber habe es mit dem Saufen; ich, ein vernünftiger, gesetzter Mann, habe auch Bildung. Ich müßte zu Hause sitzen, Ruhe müßte ich haben; aber da gehe ich tagaus, tagein, wie ein Hund, mit der Flinte auf dem Buckel, weil ich überhaupt keine Möglichkeit mehr sehe: Zuwider geworden ist mir mein Haus!“ Da der Gutsangestellte fühlte, daß seine Zunge nicht das hervorbrachte, was er hatte sagen wollen, machte er eine wegwerfende Bewegung mit der Hand und sagte dann bitter: „Wenn die Welt untergehen muß, dann sollte es möglichst bald sein! Das Hinziehen hat gar keinen Zweck, und keinen Zweck hat es, die Leute um nichts und wieder nichts zu quälen...“ Der Alte setzte die Schalmei ab und blickte, mit dem einen Auge blinzelnd, durch das kleine Bohrloch seines Instruments, Sein Gesicht war voller Schwermut und von großen Regenspritzern bedeckt, als hingen Tränen daran. Er lächelte: „Da jammert's einen, Bruderherz! Ja freilich, o Gott, wie jammert's einen! Die Erde, der Wald, der Himmel, jedwede Kreatur: dieses alles ist ja erschaffen, ist angepaßt, es ist Vernünftigkeit in alledem. Geht es zugrunde, ist alles nichts mehr wert. Am meisten leid tut es einem aber um die Menschen!“
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Durch den Wald rauschte, der Lichtung näherkommend, ein starker Regenfall. Meliton schaute sich nach dem Geräusch um, knöpfte sich bis oben zu und sagte: „Ich gehe nach dem Dorf. Leb wohl, Alter. Wie nennst du dich?“ - „Luka, der Arme.“ „Leb denn wohl, Luka! Ich danke dir für deine guten Reden. Damka ici!“ Nachdem Meliton vom Hirten Abschied genommen, schleppte er sich den Waldrand entlang, dann weiter auf abfallendem Wiesengelände, das allmählich in Sumpf überging. Das Wasser gluckste unter seinen Füßen, und das rostige Riedgras, immer noch grün und voller Saft, neigte sich zur Erde, als fürchtete es, zertrampelt zu werden. Jenseits des Sumpfes waren am Ufer der Pestschanka, von der der Großvater gesprochen hatte, Weidenbäume, und hinter den Weiden blaute im Nebel eine herrschaftliche Riege. Man spürte die Nähe jener unheilvollen, durch nichts abzuwendenden Zeit, da die Felder dunkeln, die Erde schmutzig und kalt wird, da die Trauerweide noch trauriger zu weben scheint und an ihrem Stamm Tränen niederrieseln und nur die Kraniche allein dem allgemeinen Unheil entgehen. Aber auch sie, so als fürchteten sie, die Melancholie der Natur durch Darstellung ihrer eigenen Glückseligkeit zu beleidigen, erfüllen das Himmelsgewölbe mit ihren klagenden, wehmütigen Liedern. Meliton schleppte sich hin, dem Fluß zu. Er hörte, wie hinter ihm die Töne der Schalmei allgemach erstarben. Immer wollte er noch wehklagen... Bekümmert spähte er nach beiden Seiten aus, und unsagbar bang wurde ihm um den Himmel, um die Erde, um die Sonne, um den Wald und um seine Damka; als dann aber der höchste Ton der Schalmei gedehnt in die Luft emporstieg und erzitterte, wie eines weinenden Menschen Stimme, da wurde ihm unaussprechlich bitter ums Herz, und es überkam ihn wie eine Kränkung ob der Unordnung, die in der Natur wahrnehmbar geworden. Der hohe Ton bebte, brach ab, die Schalmei verstummte... - 120 -
ALPDRUCK
Als
Kunin, ein junger Mann von etwa dreißig Jahren, ordentliches Mitglied der Behörde für Bauernangelegenheiten, aus St. Petersburg auf sein Landgut Borissowo zurückkehrte, beauftragte er zuvor einen reitenden Boten, den Priester von Ssinkino, Vater Jakow Smirnow, vorzuladen. Nach etwa fünf Stunden erschien Vater Jakow. „Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen!“ Mit diesen Worten begrüßte ihn Kunin im Vorzimmer. „Schon ein rundes Jahr, daß ich hier wohne und meinem Dienst nachgehe; höchste Zeit, sollte man meinen, daß wir einander kennenlernen. Bitte, treten Sie ein! Aber was sind Sie doch jung!“ staunte Kunin. „Wie alt sind Sie denn?“ „Achtundzwanzig“, erwiderte Vater Jakow, mit schwachem Händedruck die ihm entgegengestreckte Hand ergreifend. Und aus unerfindlichen Gründen errötete er. Kunin führte den Besucher in sein Arbeitszimmer und betrachtete ihn nunmehr genauer. Was für ein verschwommenes Weibergesicht, mußte er denken. Und in der Tat, Vater Jakows Gesicht wies viel Weibisches auf: eine aufgestülpte Nase, lebhaftes Wangenrot und große, graublaue Augen mit spärlichen, kaum sichtbaren Augenbrauen. Sein langes rötliches Haar war trocken und glatt und lag gewissermaßen in Stäbchen auf seinem Rücken*. Der Schnurrbart begann erst jetzt sich zu einem rechten Männerschnurrbart auszuwachsen, während sein Bärtchen zu der Sorte völlig untauglicher Barte gehörte, die von den Seminaristen, den jungen Priesterzöglingen, irgendwarum „Skoktanje“ genannt werden: ein spärliches, stark durchscheinendes Bärtchen; dieses zu glätten und mit einem * Es ist Vorschrift, daß die orthodoxen Priester Kopf- und Barthaar ungeschoren tragen.
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Kamm zu strählen - unmöglich; das einzige, was man damit machen kann, daran herumzupfen. Dieses ganz karge Wachstum war ungleichmäßig, auf Büschel verteilt, so gleichsam, als habe sich Vater Jakow als Priester theatermäßig herrichten wollen, sei dann aber beim Ankleben des Bartes nach halb getaner Arbeit unterbrochen worden. Er trug ein Soutänchen, dünnzichorienfarben, mit großen aufgenähten Flicken an den Ellenbogen. Ein seltsames Subjekt, dachte Kunin und warf einen Blick auf den schmutzbespritzten Saum der Soutane. Zum erstenmal kommt er mir ins Haus und bringt es nicht fertig, sich ordentlich anzukleiden. „Nehmen Sie bitte Platz, Batjuschka“, begann er, eher bequem- herablassend als verbindlich, und rückte einen Sessel an den Tisch. „Also, bitte, setzen Sie sich.“ Vater Jakow hustete in die Faust, ließ sich linkisch auf dem Rand des Sessels nieder und legte seine Handflächen auf die Knie. Klein von Wuchs, engbrüstig wie er war, mit dem verschwitzten und geröteten Gesicht, hatte er gleich von Anfang an einen höchst unangenehmen Eindruck auf Kunin gemacht. Niemals hätte Kunin vor dieser Bekanntschaft sich denken können, daß es im heiligen Rußland so wenig solide und auf den ersten Blick geradezu jämmerliche Priester geben könne; aus der Pose Vater Jakows aber, aus dieser Art, die Handteller auf die Knie zu legen und am äußersten Rande zu sitzen, glaubte er auf Mangel an Würde, ja sogar auf eine Art herausfordernde Dreistigkeit schließen zu sollen. „Ich habe Sie, Batjuschka, in einer ganz bestimmten Angelegenheit hergebeten...“, begann Kunin und machte sich's im Sessel bequem. „Ich habe die angenehme Pflicht auf mich nehmen dürfen, Ihnen in einem Ihnen nutzbringenden Unternehmen beizustehen. Der Sachverhalt ist folgender: Als ich aus Petersburg zurückkehrte, fand ich auf meinem Schreibtisch einen Brief des Adelsmarschalls vor. Jegor - 122 -
Dimitrijewitsch macht mir den Vorschlag, die Gemeindeschule, die in Ssinkino bei Ihnen eröffnet werden soll, als Kurator zu übernehmen. Das freut mich sehr, ja von ganzem Herzen, Batjuschka! Und mehr als das: Mit Begeisterung nehme ich den Vorschlag an!“ Kunin erhob sich und ging in seinem Arbeitszimmer auf und ab. „Es ist natürlich sowohl Jegor Dimitrijewitsch wie vermutlich auch Ihnen bekannt, daß ich nicht über große Mittel verfüge. Mein Landgut ist mit Hypotheken belastet, und ich lebe ausschließlich von meinem Gehalt als ordentliches Mitglied. Folglich werden Sie nicht auf eine ausgedehnte Hilfe meinerseits rechnen dürfen, aber was in meinen Kräften liegt, so will ich alles tun. Und wann gedenken Sie, Batjuschka, die Schule zu eröffnen?“ „Wenn ich das Geld haben werde“, erwiderte Vater Jakow „Und verfügen Sie jetzt über irgendwelche Mittel?“ „So gut wie über keine. Die Bauern haben auf einer Versammlung beschlossen, jährlich je dreißig Kopeken von jeder ,Mannesseele' zu erheben, aber das sind ja nur Versprechungen! Für die ersten notwendigsten Anschaffungen würde man mindestens an zweihundert Rubel brauchen.“ „Hm... ja... zu meinem Bedauern verfüge ich zur Zeit über diese Summe nicht“, seufzte Kunin. „Auf meiner Fahrt habe ich all mein Bargeld verausgabt und habe sogar... Schulden machen müssen. Lassen Sie uns gemeinsam überlegen, was wir da am besten tun.“ Kunin überlegte nun laut; er setzte seine Meinungen auseinander und beobachtete dabei das Gesicht des Vaters Jakow, um darin dessen Billigung oder Zustimmung zu lesen. Doch war dieses Gesicht leidenschaftslos, ohne Bewegung, und es brachte auch nichts zum Ausdruck außer schüchterner Verlegenheit und Unruhe. Blickte man ihn so an, hätte man meinen können, Kunin spräche über komplizierte - 123 -
Angelegenheiten, die für Vater Jakow so hoch seien, daß dieser nur aus Höflichkeit zuhörte und zudem die Befürchtung hegte, man könne ihm vielleicht mangelndes Verständnis vorwerfen. Der Bursche gehört allem Anschein nach nicht gerade zu den klügsten, dachte Kunin. Er ist über die Maßen schüchtern. Vater Jakow lebte um einiges auf und lächelte sogar, aber erst dann, als ein Diener den Arbeitsraum betrat und auf einem Tablett zwei Gläser Tee und eine Schale mit Bretzeln reichte. Er nahm sein Glas und begann sogleich zu trinken. „Oder sollten wir vielleicht am besten an den Hochwürdigsten Herrn Bischof schreiben?“ fuhr Kunin in seinen Überlegungen fort. „Eigentlich haben ja nicht wir als Landschaft, sondern die höchsten geistlichen Stellen die Frage nach kirchlichen Gemeindeschulen aufgeworfen. Sie müßten demnach auch die Mittel nachweisen können. Ich glaube gelesen zu haben, daß hierzu auch eine bestimmte Summe ausgeworfen worden wäre. Ist Ihnen nichts darüber bekannt?“ Vater Jakow hatte sich so sehr in das Teetrinken vertieft, daß er nicht sogleich auf die Frage antwortete. Er erhob zu Kunin seine graublauen Augen, dachte nach und schüttelte dann, so als wäre ihm jetzt erst die gestellte Frage eingefallen, verneinend den Kopf. Sein ganzes Gesicht drückte von Ohr zu Ohr das unverkennbare Behagen eines höchst alltäglichen, prosaischen Appetits aus. Er trank und er schmeckte jeden Schluck schlürfend in sich. Nachdem er alles bis auf den letzten Tropfen geleert hatte, setzte er sein Glas auf den Tisch, nahm alsdann das Glas wieder auf, betrachtete den Boden genau und setzte es dann wieder ab. Der Ausdruck des Behagens verschwand von seinem Gesicht. Ferner gewahrte Kunin, wie sein Besucher aus der Schale eine Bretzel nahm, ein Stückchen davon abbiß, sie alsdann in den Händen hin und her drehte, um sie alsbald schnell in seiner Tasche verschwinden zu lassen. Na, so was! Das ist aber gar nicht priesterlich gehandelt! dachte Kunin bei sich und zuckte angeekelt die Achseln. - 124 -
Er ließ seinen Besucher dann noch ein Glas Tee trinken, und nachdem er ihn in das Vorzimmer hinausgeleitet hatte, streckte er sich auf dem Sofa aus und gab sich dem wirklich peinlichen Gefühl hin, das dieser Besuch des Vaters Jakow bei ihm ausgelöst hatte. Was für ein seltsamer, verwilderter Mensch! dachte er. Schmutzig, unordentlich, grob, dumm und wahrscheinlich auch ein Säufer. Herr, du mein Gott, und das will ein Priester, ein geistlicher Führer sein! Das - ein Lehrer des Volkes! Ich kann es mir gut vorstellen, mit welcher Ironie der Diakon bei jedem Hochamt die Aufforderung an ihn richten mag: Segne, o Herr! Ein schöner Herr das! Ein Herr, der keine Spur von Würde in sich trägt, der unerzogen ist, der den Zwieback in der Tasche verschwinden läßt wie ein Schüler. Pfui! Herr, du mein Gott, wo hatte der Bischof nur seine Augen, als er diesem Menschen die Weihen gab? Wofür mögen sie das Volk halten, wenn man ihnen solche Führer gibt? Hier brauchte man Leute, die... Und Kunin überlegte weiter bei sich, welcher Art die russischen Prie ster sein müßten. Wäre ich beispielsweise Pope! Ein gebildeter Pope, der seine Sache liebt, kann viel tun; ich hätte schon längst eine Schule eröffnet. Und die Predigt? Wenn der Pope aufrichtig und von begeisterter Liebe zu seinem Werk erfüllt ist - welch wunderbare, zündende Predigten könnte er dann halten! Kunin schloß die Augen und versuchte, in Gedanken eine Predigt zusammenzustellen. Nach einer Weile setzte er sich an seinen Tisch und machte schnell einige Notizen. Ich will das dem Rothaarigen zugehen lassen; mag er es in der Kirche verlesen, dachte er. Am nächsten Sonntag, am Morgen, fuhr Kunin nach Ssinkino, um die Schulfrage definitiv zu regeln und gleich bei der Gelegenheit die Kirche kennenzulernen, zu deren Gemeinde er selber gehörte. Trotz der überschwemmten Wege war der Morgen ganz wundervoll. Die Sonne leuchtete mit Macht und - 125 -
zersetzte mit ihren Strahlen hie und da weiß schimmernde Schneelagen, die noch liegengeblieben waren. Der Schnee funkelte beim Abschied von der Erde in tausend Diamanten, so daß die Augen weh taten; um den Schnee herum aber konnte es die Wintersaat nicht eilig genug haben, grün emporzuschießen. Sehr solide flogen Krähen über die Erde hin. Fliegt da so eine Krähe, läßt sich nieder und hüpft, ehe sie fest auf den Füßen steht, ein paarmal auf. Die Holzkirche, zu der Kunin jetzt gefahren kam, war alt und verwittert; von den kleinen Säulen, den einst weiß bemalten, war die Farbe jetzt ganz abgesprungen, und so erinnerten sie an zwei garstige Deichselstangen. Die Ikone über der Tür war nicht viel mehr als ein einziger dunkler Fleck. Aber diese Dürftigkeit rührte, ja ergriff Kunin. Demütig, gesenkten Blickes betrat er die Kirche und blieb an der Tür stehen. Die feierliche Handlung hatte eben erst begonnen. Ein vor Alter gebeugter Subdiakon las in dumpfem, unverständlichem Tenor die Hören. Vater Jakow, der ohne Diakon amtierte, ging in der Kirche hin und her und inzensierte. Wäre die Demut nicht gewesen, der sich Kunin beim Betreten der bettelarmen Kirche hingab, so hätte er sicherlich bei einem Blick auf Vater Jakow lächeln müssen. Der kleine Priester trug ein verknülltes und überlanges Meßgewand aus verschlissenem gelbem Stoff. Der untere Saum des Gewandes schleppte hintennach. Die Kirche war nicht voll. Ein merkwürdiger Umstand erregte zunächst Kunins Aufmerksamkeit beim Anblick der Gemeinde: er sah nur alte Leute und Kinder. Wo blieben aber die schaffenden Leute, das arbeitskräftige Alter? Wo die Jugend, die Männer? Aber nachdem Kunin eine Weile dagestanden und diese alten Gesichter genauer studiert hatte, gewahrte er, daß er die Jungen für Greise gehalten hatte. Übrigens maß er dieser kleinen optischen Täuschung weiter keine besondere Bedeutung bei. Die Kirche war im Inneren ebenso alt und grau wie von außen. An der Ikonostasis, der Bilderwand, und an den verwitterten - 126 -
Wänden gab es kein einziges Fleckchen, das nicht rauchgeschwärzt oder von der Zeit angekratzt gewesen wäre. Zwar gab es viele Fenster, doch war die allgemeine Färbung grau, und darum herrschte auch in der Kirche eine Art Dämmerung. Wer reinen Herzens ist, mag hier gut beten können, dachte Kunin. Wie man in Rom, in San Pietro, von der Majestät überwältigt wird, so rührt einen hier diese namenlose Demut und Einfachheit. Aber diese andächtige Stimmung verflog wie Rauch, als Vater Jakow den Altarraum betrat und das Hochamt begann. Vater Jakow hatte sich infolge seiner jungen Jahre und da er direkt von der Seminarbank weg zum Priester geweiht worden war, noch keine bestimmte eigene liturgische Haltung zulegen können. Wenn er las, so schien er zu wählen, welche Tonart er einhalten müsse, ob hohen Tenor oder einen spärlichen Baß; seine Verbeugungen waren unbeholfen, er ging raschen Schrittes hin und her, die Königspforte öffnete und schloß er, indem er sie aufriß oder zustieß. Der alte Subdiakon, der offensichtlich krank und schwerhörig war, verstand seine Rufe nicht, daher ging es auch nicht ohne kleine Mißverständnisse ab. Noch war Vater Jakow mit seinem Text nicht fertig, als schon der Subdiakon respondierte; oder Vater Jakow war schon längst am Ende, während der Alte ganz Ohr nach dem Altar hinhorcht und schweigt, bis jemand ihn an einer Falte des Gewandes zupft. Der Alte hatte eine dumpfe, kränkliche Stimme, der Atem war kurz, er lispelte, und die Worte kamen zitternd heraus. Um die Unzulänglichkeit des liturgischen Gehabens voll zu machen, sekundierte dem Subdiakon ein sehr kleiner Knabe, dessen Kopf kaum über die Schranken des Chors emporragte. Der Knabe sang in einem hohen kreischenden Diskant, und es hatte den Anschein, als bemühte er sich geradezu, falsch zu intonieren. Kunin stand eine Weile da, hörte sich alles an und ging dann hinaus, um etwas zu rauchen. Er war schon enttäuscht und blickte jetzt mit Antipathie auf diese verwitterte Kirche. - 127 -
Da klagt man, das religiöse Empfinden im Volk sei im Abflauen, seufzte er. Und ob! Man soll nur noch mehr solcher Popen wie diesen hier einstellen! Noch ein paarmal begab sich Kunin in die Kirche, aber jedesmal zog es ihn mit aller Macht hinaus an die frische Luft. Nach Schluß des Hochamtes begab er sich zu Vater Jakow. Das Haus des Priesters unterschied sich in nichts von den Bauernhäusern, nur daß das Stroh auf dem Dach regelmäßiger geschichtet war und vor den Fenstern weiße Gardinchen hingen. Vater Jakow führte Kunin in ein kleines, helles Zimmer mit Lehmboden und mit Wänden, die mit einer billigen Tapete beklebt waren; trotz einiger Anläufe eine Art von Luxus zu entfalten etwa in Gestalt von gerahmten Fotos oder einer Uhr, an deren Gewicht eine Schere hing, war die Dürftigkeit der ganzen Einrichtung nur zu augenfällig. Betrachtete man das Mobiliar, so hätte man denken mögen, Vater Jakow wäre von Hof zu Hof gezogen und habe ein Teil ums andere zusammengebettelt: da hatte ihm der eine einen runden Tisch auf drei Beinen gestiftet, ein anderer einen Hocker, ein dritter einen Stuhl mit stark zurückgebogener Lehne, ein vierter einen Stuhl mit einer geradeaus gerichteten Lehne, aber mit eingedrücktem Sitz, ein fünfter war besonders großmütig gewesen und hatte so etwas Diwanartiges gestiftet mit flach anliegender Rückenlehne und einem Strohgeflecht als Sitz. Das alles war dann dunkelrot angestrichen und roch stark nach Farbe. Kunin wollte sich erst auf einen der Stühle setzen, überlegte dann aber und wählte den Hocker. „Sie waren heute wohl zum erstenmal in unserem Gotteshaus?“ erkundigte sich Vater Jakow und hing seinen Hut an einen großen, krummen Nagel. „Ja, zum erstenmal. Eines nur, Batjuschka, ehe wir auf die Geschäfte kommen: Lassen Sie mir etwas Tee geben; meine ganze Seele ist wie ausgedorrt.“
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Vater Jakow blinzelte mit den Augen, hüstelte und begab sich hinter die Scherwand. Man hörte dort flüstern. Da spricht er wohl mit seiner Frau, der Popadja, dachte Kunin. Es wäre doch interessant, zu sehen, was dieser Rothaarige für ein Popenweib haben mag. Nach einer kurzen Weile kam Vater Jakow wieder hinter der Scherwand hervor; er war rot und beschwitzt; er bemühte sich zu lächeln und nahm Kunin gegenüber Platz. „Gleich wird der Samowar gerichtet“, sagte er, ohne seinen Gast anzublicken. Mein Gott, nicht einmal der Samowar ist fertig! entsetzte sich Kunin im stillen. Jetzt hat man das Vergnügen zu warten. „Ich habe Ihnen“, sagte er „hier den Entwurf eines Briefes mitgebracht, den ich dem Bischof geschrieben habe. Ich werde Ihnen den Brief nach dem Tee vorlesen. Vielleicht finden Sie dann noch Ergänzungen, die wünschenswert wären.“ „Sehr wohl.“ Man schwieg. Vater Jakow schielte ängstlich nach der Scherwand, strich sein Haar zurecht und schneuzte sich. „Ein wundervolles Wetter heute“, sagte er. „Ja. Ich habe übrigens gestern etwas Interessantes gelesen. Die Landschaft Woljsk hat beschlossen, alle ihre Schulen der Geistlichkeit zu übergeben. Das ist bezeichnend.“ Kunin erhob sich, ging auf dem Lehmfußboden auf und ab und teilte seine Ansichten mit. „Das wäre alles halb so schlimm“, sagte er, „wenn nur die Geistlichkeit auf der Höhe ihres Berufs stünde und ihre Aufgaben klar erkennen wollte. Zu meinem Unglück kenne ich Priester, die in ihrer Entwicklung und ihren sittlichen Eigenschaften zufolge nicht einmal für die Schreibstuben beim Militär passen würden, geschweige denn, daß sie zu Priestern geweiht werden. Sie werden selber zugeben: ein schlechter - 129 -
Lehrer wird der Schule weniger Schaden zufügen als ein schlechter Priester.“ Kunin warf einen Blick auf Vater Jakow. Dieser saß in gebückter Haltung da und dachte angespannt über etwas nach. Scheinbar hatte er die Äußerung des Gastes überhört. „Jascha, komm mal her!“ ließ sich eine Frauenstimme jenseits der Scherwand vernehmen. Vater Jakow fuhr auf und begab sich hinter die Scherwand. Und wieder ging das Geflüster los. Kunin hatte das größte Verlangen nach seinem Tee. Auf die Uhr blickend, dachte er: Auf diesen Tee dürfte ich ja lange warten! Scheint auch, daß ich hier durchaus kein willkommener Gast bin. Der Hausherr geruhte kein einziges Wort mit mir zu sprechen, er sitzt da und klappt mit den Augen. Kunin griff nach seinem Hut, wartete, bis Vater Jakow erschien, und verabschiedete sich. Den ganzen Morgen um nichts vertan! knurrte er während der Heimfahrt. Ein Holzscheit! Ein Strunk! Die Schule interessierte ihn nicht mehr und nicht weniger als mich der vorjährige Schnee. Nein. Mit dem finde ich nicht zusammen! Wir löffeln nicht aus demselben Napf! Nichts wird bei uns herauskommen! Wüßte der Adelsmarschall, was das für ein Pope ist, so würde er es nicht so eilig haben mit der Schule. Das erste, was not täte, wäre, für einen tüchtigen Popen zu sorgen und dann erst für die Schule! Kunin hatte jetzt geradezu einen Haß auf Vater Jakow. Dieser jämmerliche Mensch, eine Karikatur von einem Menschen, im langen, verknüllten Meßgewand, sein Weibergesicht, seine Art zu zelebrieren, seine Lebensführung und seine schreiberhafte, devote Schüchternheit beleidigten das wenige an religiösem Empfinden, das sich Kunin noch erhalten hatte und das samt der Märchenwelt der Kinderfrauen sein Herz erwärmte. Die Kühle aber und die mangelnde Aufmerksamkeit, mit der jener der - 130 -
aufrichtigen, sehr warmen Teilnahme Kunins in eigenster Angelegenheit begegnete, das zu ertragen fiel schwer. Am Abend desselben Tages wandelte Kunin lange durch seine Zimmerflucht und überlegte; dann setzte er sich entschlossen an den Tisch und schrieb an den Bischof einen Brief. Nachdem er um Geld für die Schule und um den bischöflichen Segen gebeten hatte, legte er - unter anderem - in aller Aufrichtigkeit, wie ein Sohn, seine Meinung über den Priester von Ssinkino dar. „Er ist jung“, schrieb er, „unzureichend entwickelt, wahrscheinlich führt er ein nicht nüchternes Leben und genügt überhaupt jenen Forderungen nicht, die das russische Volk seit Jahrhunderten an seine Hirten stellt.“ Nachdem er diesen Brief verfaßt hatte, atmete er erleichtert auf und ging im Bewußtsein, ein gutes Werk getan zu haben, zu Bett. Am Montagmorgen, als er noch nicht aufgestanden war, wurde ihm Vater Jakow gemeldet. Er mochte nicht aufstehen und ließ sagen, er wäre nicht zu Hause. Am Dienstag mußte er auswärts an einer Tagung teilnehmen, und am Samstag heimgekehrt, erfuhr er vom Dienstpersonal, Vater Jakow wäre in seiner Abwesenheit täglich dagewesen. Meine Bretzeln müssen ihm aber ganz besonders gemundet haben, dachte Kunin. Am Sonntag erschien Vater Jakow, noch ehe es Abend wurde. Diesmal war nicht nur der Saum seines Priestergewandes, sondern auch sein Hut mit Dreck bespritzt. Wie gelegentlich seines ersten Besuches, war er auch jetzt wieder rot im Gesicht und verschwitzt. Er setzte sich wie damals auf den Rand des Sessels. Kunin beschloß, das Gespräch wegen der Schule nicht mehr aufzunehmen, was sollte er auch Perlen vor die Säue werfen! „Pawel Michailowitsch, ich habe Ihnen ein kleines Verzeichnis der erforderlichen Lehrmittel mitgebracht“, begann Vater Jakow. „Besten Dank!“ - 131 -
Allem war jedoch zu entnehmen, daß Vater Jakow nicht wegen des kleinen Verzeichnisses gekommen war. Sein ganzes Gehaben deutete auf hochgradige Verlegenheit, aber zu gleicher Zeit brachte sein Gesicht eine Entschlossenheit zum Ausdruck, wie sie ein Mensch haben mag, den plötzlich eine Idee erleuchtet. Es drängte ihn, etwas Wichtiges zu sagen, etwas dringend Notwendiges, und nun war er sichtlich bemüht, seiner Schüchternheit Herr zu werden. Warum schweigt er denn? grollte Kunin. Da hat er sich nun hingepflanzt! Ich habe wirklich keine Zeit, mich mit ihm ewig auseinanderzusetzen. Um nur halbwegs das Peinliche seines Schweigens auszumerzen und den Kampf, der in seinem Innern vorging, zu verbergen, begann der Priester gezwungen zu lächeln, und dieses langwährende Lächeln, dem Schweiß und immerwährendem Erröten abgerungen, das so gar nicht zu dem unbewegten Blick der graublauen Augen passen mochte, veranlaßte Kunin dazu, sich abzuwenden. Es ekelte ihn. „Sie verzeihen, Batjuschka, ich habe eine Fahrt vor“, sagte er. Vater Jakow riß sieh zusammen wie ein schlaftrunkener Mensch, dem man einen Schlag versetzt hat, und nun begann er, unentwegt lächelnd, in seiner Verwirrung sein Priestergewand auf und zu zu schlagen. Bei allem Ekel, den Kunin diesem Menschen gegenüber empfand, tat er ihm plötzlich leid, und er wollte jetzt seine Härte mildern. „Ich bitte Sie, Batjuschka, ein andermal zu kommen“, sagte er. „Zum Abschied habe ich noch eine Bitte an Sie. Wissen Sie, ich hatte so etwas wie eine Eingebung und habe da zwei Predigten verfaßt. Darf ich sie Ihnen zur Begutachtung geben? Sollten keine Einwände bestehen, tragen Sie sie vielleicht vor.“ „Recht wohl“, erwiderte Vater Jakow und bedeckte Kunins auf dem Tisch liegende Predigten mit der Hand. „Ich nehme sie mit.“ Dann stand er eine Weile da, immer noch an seinem Gewände sich zu schaffen machend, drückte lange herum, hörte dann - 132 -
plötzlich auf, gezwungen zu lächeln, und hob den Kopf mit entschiedenem Ruck. „Pawel Michailowitsch“, sagte er, sichtlich bemüht, laut und vernehmlich zu reden. „Sie wünschen?“ „Man sagte mir, Sie hätten für nötig befunden, Ihren Schreiber zu entlassen, und Sie suc hten jetzt nach einem anderen.“ „Ja... wollen Sie mir irgendwen empfehlen?“ „Ich, sehen Sie... ich... vielleicht könnten Sie diese Beschäftigung... mir... anvertrauen?“ „Ja, wollen Sie denn Ihr Priestertum aufgeben?“ staunte Kunin. „Nein doch, nein“, redete Vater Jakow schnell drauflos; er war ganz bleich geworden und zitterte am ganzen Leibe. „Gott bewahre mich davor. Wenn Sie Zweifel hätten, so ist es nicht nötig, gewiß nicht nötig. Ich hätte das so zwischendurch... um mein Einkommen etwas zu heben... aber es ist nicht nötig, beunruhigen Sie sich nicht!“ „Hm... das Einkommen... aber ich gebe meinem Schreiber doch nur zwanzig Rubel monatlich.“ „O Gott, ich wäre ja auch mit zehn zufrieden!“ flüsterte Vater Jakow, um sich blickend. „Ach, zehn würden genügen! Sie... staunen, und alle wundern sich, ein geiziger, ein unersättlicher Pope, wohin will er mit all dem Geld. Ich finde das ja selbst, diese Gier... und ich mache mir deswegen Vorwürfe, ich verurteile mich... ich wage es nicht, den Menschen in die Augen zu blicken. Ich sage es Ihnen, Pawel Michailowitsch, ganz ehrlich, ich rufe den wahrhaftigen Gott zum Zeugen an.“ Vater Jakow war an Atem zu kurz gekommen und fuhr dann fort: „Unterwegs habe ich mir eine ganze Beichte zurechtgelegt für Sie, aber... jetzt habe ich alles vergessen, ich finde die Worte nimmer. Ich bekomme jährlich von der Gemeinde hundertfünfzig Rubel, und alle staunen darüber, was ich mit diesem Gelde anfange; doch will ich es Ihnen ganz genau sagen: - 133 -
vierzig Rubel muß ich jährlich für meinen Bruder Peter an die geistliche Schule abführen. Dort hat er Kost und Logis frei, aber für Papier und Federn muß ich sorgen.“ „Ach, ich glaub's! Nun, und was soll das alles?“ Und Kunin fuchtelte mit der Hand, denn diese Aufrichtigkeit seines Besuchers empfand er als eine furchtbare Last, und er wußte nicht, wohin mit sich vor dem tränenfeuchten Blick dieser Augen. „Dann weiter: ich habe dem Konsistorium für meine Stelle noch nicht alles abgezahlt. Man hat mir auferlegt, zweihundert Rubel zu zahlen, zehn Rubel monatlich soll ich aufbringen... Überlegen Sie selbst, was bleibt mir dann übrig? Außerdem aber muß ich noch dem Vater Awraamij mindestens und sei's auch nur drei Rubel monatlich zahlen!“ „Was ist das für ein Vater Awraamij ?“ „Ja nun, dem Vater Awraamij, der vor mir in Ssinkino Priester war. Man hat ihn wegen einer Schwäche suspendiert: aber ei lebt ja doch auch jetzt noch in Ssinkino! Wohin soll er denn? Wer wird ihn beköstigen? Wenn er auch alt ist, so braucht er doch einen Winkel für sich und Brot, und gekleidet muß er auch werden! Ich kann es nicht dulden, daß er in seiner amtliehen Stellung auf Almosen angewiesen ist! Diese Sünde käme ja über mich, wenn etwa... Er... ist überall verschuldet, und es ist ja doch meine Sünde, daß ich nicht für ihn zahle.“ Vater Jakow riß es hoch, und stier auf den Boden blickend, begann er im Zimmer hin und her zu gehen. „O Gott! O Gott!“ murmelte er, die Arme bald hebend, bald senkend. „Erlöse uns, Herr, und erbarme dich unser! Und warum war es nötig, das heilige Amt auf dich zu nehmen. Wenn du so kleingläubig bist und dir die Kräfte fehlen? Meine Verzweiflung kennt keine Grenzen! Errette mich, Himmelskönigin!“ „Beruhigen Sie sich, Batjuschka!“ sagte Kunin. - 134 -
„Der Hunger quält mich so, Pawel Michailowitsch!“ fuhr Vater Jakow fort. „Verzeihen Sie großmütigst, aber ich habe keine Kraft mehr, ich weiß, täte ich bitten, täte ich meinen Bückling machen, so würde mir jeder helfen, aber... das kann ich nicht! Das bringe ich nicht über mich! Wie soll ich denn bei den Bauern betteln? Sie sind hier im öffentlichen Dienst und sehen es ja doch selber. Wo ist die Hand, die sich heben würde, um bei einem Bettler um ein Almosen zu bitten? Und bei den Reichen, bei den Gutsbesitzern bitten, das bringe ich nicht über mich! Das ist der Stolz! Das geht gegen mein Gewissen.“ Vater Jakow machte mit der Hand eine fahrige Bewegung und fuhr sich dann mit allen Fingern durch das Haar. „Wie ich mich schäme! Gott, wie mich das peinigt! Ich ertrage es nicht, ich, der Stolze, daß die Leute meine Armut sehe n! Als Sie mich besuchten, da war ja gar kein Tee im Hause, Pawel Michailowitsch, kein einziges Stäubchen! Aber der Stolz hinderte mich daran, es Ihnen zu offenbaren. Ich schäme mich ob meiner Kleidung, ob dieser Lumpen, ich schäme mich ob meines Meßgewandes, ob des Hungers. Aber steht denn einem Priester solcher Stolz an?“ Vater Jakow blieb mitten im Arbeitszimmer stehen, und nun begann er so, als merkte er Kunins Anwesenheit gar nicht, mit sich selber zu reden. „Nun gut, nehmen wir an, ich ertrage Hunger und Schmach, aber ich habe ja, o Gott, noch meine Frau, die Popadja! Sie kommt ja aus einem guten Hause! Sie ist ein Weißhändchen und ist doch zart; sie ist an Tee gewöhnt und an Weißbrot; auch an Bettlaken... Sie hat im Hause ihrer Eltern Klavier gespielt, sie ist jung, noch keine zwanzig Jahre alt; gewiß möchte sie sich schön kleiden und auch mal zu Besuch ausfahren. Aber sie hat es ja doch bei mir schlimmer noch als jede Köchin, sie muß sich schämen, sich auf der Straße zu zeigen. O Gott! O Gott! Die einzige Tröstung für sie, daß ich ihr bisweilen, wenn ich wo zu Besuch war, ein Äpfelchen mitbringe.“ - 135 -
Vater Jakow fuhr sich wieder mit den Fingern durchs Haar. „So kommt es, daß bei uns keine Liebe ist, sondern ein einziges Elend. Ohne Mitleid vermag ich sie nicht anzusehen! Und, o Gott, wie kann sich denn das in der Welt so tun! Da geschehen ja Dinge, daß, wenn man sie in der Zeitung brächte, die Menschen sie nicht glauben würden. Und wann wird das alles ein Ende haben?“ „Aber lassen Sie doch, Batjuschka!“ rief Kunin fast schreiend, weil ihn sein Ton erschreckte. „Warum blicken Sie nur so finster auf das Leben?“ „Verzeihen Sie großmütigst, Pawel Michailowitsch...“, murmelte Vater Jakow wie ein Betrunkener. „Verzeihen Sie mir, das alles... ist leeres Gewäsch... ach, wie bin ich darauf... nur eben, daß ich mich anklage und anklagen werde... ja, ich werde, ja, ich werde!“ Vater Jakow blickte umher und flüsterte: „Geh ich da eines Morgens in aller Frühe aus Ssinkino nach Lutschkowo; ich sehe, am Ufer steht eine Frau und macht sich da zu schaffen. Ich komme also näher heran und traue meinen Augen nicht: entsetzlich! Da sitzt die Doktorsfrau, Iwan Ssergeitschs Gattin, und spült die Wäsche. Die Doktorin hat ein Institut absolviert. Um von den Menschen nicht gesehen zu werden, ist sie in aller Herrgottsfrühe aufgestanden und ist aus dem Dorf eine Werst weit fortgegangen aus unüberwindlichem Stolz! Als sie sah, daß ich neben ihr stand und ihre Armut gewahrte, wurde sie über und über rot. Ich fuhr zusammen, erschrak, lief auf sie zu, wollte ihr helfen, aber sie, sie versteckt vor mir ihre Wäsche, sie fürchtet, ich könnte ihre zerrissenen Hemden sehen.“ „Das alles ist ja geradezu unglaublich“, sagte Kunin, wieder Platz nehmend und fast entsetzt in Vater Jakows Gesicht starrend. „Das ist es, unglaublich! Es ist unerhört, Pawel Michailowitsch, und nie ist es so gewesen, daß eine Doktorin - 136 -
am Fluß ihre Wäsche waschen mußte! In keinem Lande der Welt ist es so! Ich, als Pfarrer und geistlicher Vater, dürfte es nicht dazu kommen lassen. Aber was kann ich da tun, was? Muß ich doch selber zusehen, daß ich von ihrem Mann umsonst behandelt werde! Sie haben ganz richtig bemerkt, daß dieses alles unglaublich ist! Man möchte seinen Augen nicht trauen! Wenn man so während des Hochamtes, wissen Sie, vom Altar aus einen Blick auf die Gemeinde wirft und dann dieses Publikum sieht, den hungrigen Awraamij und die Popadja, und wenn man dann an die Doktorsfrau denkt, an ihre vom kalten Wasser blau gewordenen Hände — wollen Sie mir glauben, daß man dann alles um sich her vergißt und wie ein Narr dasteht, völlig ohnmächtig, bis einen der Glöckner anruft... Grauenhaft!“ Vater Jakow begann wieder auf und ab zu gehen. „O Herr Jesus!“ und er fuchtelte mit den Armen. „Ihr heiligen Märtyrer! Und ich kann ja nicht einmal zelebrieren. Sie sprechen mir da von der Schule, und ich stehe wie ein Ölgötze da, begreife nichts und denke nur und nur an das Essen... Selbst vor dem Altar... übrigens... Was habe ich getan?“ faßte sich Vater Jakow. „Sie müssen ja weg!! Verzeihen Sie bitte, ich habe es ja nur so... verzeihen Sie!...“ Schweigend drückte Kunin Vater Jakows Hand, gab ihm ins Vorzimmer das Geleit, kehrte dann in sein Arbeitszimmer zurück und blieb am Fenster stehen. Er sah, wie Vater Jakow das Haus verließ, den breitrandigen, rostbraunen Hut irgendwie in die Stirn gedrückt, und wie er still, gesenkten Hauptes, als schämte er sich seiner Aufrichtigkeit, des Weges ging. Wo mag denn nur sein Pferd sein? dachte Kunin. Kunin fürchtete sich, zu denken, der Priester wäre alle die Tage zu Fuß zu ihm hinausgepilgert: Bis Ssinkino sind es sieben bis acht Werst, und man versank im Dreck. Weiter sah Kunin noch, wie der Kutscher Andrej und der Junge Paramon, über die Pfützen springend und Vater Jakow mit Schmutz bespritzend, zu ihm gelaufen kamen, um seinen Segen zu empfangen. Vater Jakow nahm den Hut ab und segnete langsam den Andrej, alsdann - 137 -
segnete er noch den Knaben und streichelte dessen Kopf. Kunin fuhr sich mit der Hand über die Augen, und ihm schien, die Hand wäre davon feucht geworden. Er trat vom Fenster zurück und blickte mit getrübten Augen im Zimmer umher, in welchem er noch die schüchterne, erstickte Stimme zu hören glaubte... Er blickte auf den Tisch... zum Glück hatte Vater Jakow in der Eile vergessen, seine Predigten mitzunehmen... Kunin griff schnell danach, riß sie in Fetzen und schleuderte sie voller Widerwillen unter den Tisch. Und ich wußte das nicht! stöhnte er, auf das Sofa fallend. Ich, der ich schon über ein Jahr als ordentliches Mitglied, als Ehrenfriedensrichter, als Mitglied des Schulrates fungiere! wie eine blinde Puppe! So schnell als möglich muß Hilfe gebracht werden! So schnell als möglich! Gequält warf er sich hin und her, preßte sich die Schläfen und strengte seinen Kopf an. Am 20. bekomme ich me in Gehalt - zweihundert Rubel. Unter irgendeinem schicklichen Vorwand werde ich ihm und der Frau des Doktors irgendwas zuschanzen... Bei ihm will ich eine Messe bestellen, und was den Arzt betrifft, bei ihm will ich eine Krankheit heucheln... Auf diese Weise werde ich ihren Stolz nicht verletzen. Und Awraamij will ich auch helfen! An den Fingern zählte er sein Geld ab und fürchtete sich vor dem Eingeständnis, daß er selber mit diesen zweihundert Rubeln knapp auskommen würde, wenn er dem Verwalter, dem Dienstpersonal, dem Bauern, der das Fleisch anzufahren pflegte, alles gezahlt haben würde... Unwillkürlich mußte er an jene noch nicht ferne Vergangenheit denken, da er unvernünftig das väterliche Gut durchbrachte und als zwanzigjähriger junger Dachs Prostituie rten kostspielige Fächer schenkte, dem Kutscher Kusma zehn Rubel täglich gab, aus lauter Ehrgeiz und Ruhmsucht den Schauspielerinnen Geschenke machte. Ach ja, wie sehr wären ihm jetzt diese in alle Winde gestreuten Rubel, die Drei-Rubel-Scheine, die Zehn-Rubel-Scheine zurecht gekommen!! - 138 -
Vater Awraamij braucht für seine Kost im Monat nicht mehr als drei Rubel, dachte Kunin. Die Popadja könnte sich für einen Rubel ein Hemd nähen und die Frau des Doktors eine Waschfrau einstellen. Aber helfen will ich doch! Unbedingt ich helfe! Hier mußte Kunin plötzlich an seine Anzeige denken, die er dem Bischof geschickt hatte, und er krümmte sich geradezu vor Schmerz, als wäre eine Kältewelle über ihn hingegangen. Diese Erinnerung erfüllte seine ganze Seele mit qualvoller Scham angesichts der unsichtbaren Wahrheit und Gerechtigkeit. Also begann und erfüllte sich der aufrichtige Aufbruch zu einem nützlichen Wirken eines der zwar wohlgesinnten, doch gar zu satten und nicht zur Genüge überlegenden Menschen.
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IM TOBEL I
Das Kirchdorf Uklejewo war in einem Tobel gelegen, so daß man von der Chaussee und vom Bahnhof aus nur den Kirchturm und die Schornsteine der Kattunfabrik sehen konnte. Fragten Passanten aber nach dem Kirchdorf, so sagte man: „Das ist jenes selbige Dorf, in dem der Mesner beim Leichenschmaus den ganzen Kaviar weggefressen hat.“ Als nämlich der Fabrikbesitzer Kostjukow gestorben war, hatte der alte Mesner beim Leichenschmaus auf der Imbißtafel vollkörnigen Kaviar erspäht, über den er sich begierig hermachte; man zupfte ihn am Ärmel, man puffte ihn, aber er war förmlich weg vom seltenen Genuß... er merkte nichts, er fühlte nichts, und er aß und aß, bis der ganze Kaviar weggeputzt war; die Büchse hatte aber an die vier Pfund gefaßt. Darüber war schon eine lange Zeit vergangen; längst war der Mesner tot, aber den Kaviar hatte man nicht vergessen. Mochte nun das Leben hier am Ort so dürftig sein oder brachten es die Leute nicht fertig, etwas Wichtigeres als gerade dieses gleichgültige Vorkommnis, das zehn Jahre zurücklag, zu beachten, jedenfalls wurde vom Kirchdorf Uklejewo nichts anderes berichtet als eben das. Immer litten die Leute dort an Fieber; die Wege waren morastig, besonders an den Zäunen, über welche alte Weiden ihr breit Schattendes Laubdach neigten. Es roch hier immer nach Abfallprodukten der Fabrik und nach Essigsäure, die für die Herstellung der großblumigen Kattune benötigt wurde. Die Fabriken, drei Kattun- und eine Lederfabrik, waren nicht im Dorfe selbst, sondern lagen weiter abseits am Rande. Es waren kleine Fabriken, die alles in allem vielleicht vierhundert Arbeiter beschäftigten, nicht mehr. Die Lederfabrik verpestete oft das Wasser im Bach, die Abfallprodukte schadeten der Wiese; das - 140 -
Vieh der Bauern litt an der sibirischen Pest, und der Befehl war gekommen, die Fabrik müsse geschlossen werden. Sie galt auch als geschlossen, arbeitete aber heimlich weiter mit Wissen des Landkommissars und des Kreisarztes, denen der Fabrikherr dafür je zehn Rubel monatlich zahlte. Im ganzen Kirchdorf gab es nur zwei ordentliche Steinhäuser, die mit Eisenblech gedeckt waren; in dem einen Haus befand sich die Bezirksverwaltung, und im anderen, einem zweistöckigen Gebäude, der Kirche gegenüber, wohnte Grigorij Petrowitsch Zybukin, Bürger aus Epifanjewa. Grigorij war Inhaber eines Lebensmittelgeschäfts; aber das war nur Fassade, während er in Wirklichkeit Schnaps, Vieh, Felle, Korn, Schweine, kurz alles handelte, was gerade unterlief, und wenn beispielsweise im Ausland für Damenhüte Elstern benötigt wurden, so verdiente er an jedem Paar dreißig Kopeken. Er kaufte auch Wald, wenn es auf Kahlschlag ankam, verlieh Geld gegen Zinsen und war überhaupt ein gerissener alter Herr. Er hatte zwei Söhne. Der ältere, Anissim mit Namen, war bei der Polizei in der Detektivabteilung angestellt; er pflegte nur selten nach Hause zu kommen. Der jüngere hieß Stepan; dieser befaßte sich mit kaufmännischen Angelegenheiten und half dem Vater; aber eine richtige Hilfe war von ihm nicht zu erwarten, da er kränkelte und taub war. Seine Frau Aksinja, ein schönes, gutgewachsenes Weib, setzte an Feiertagen ihren Hut auf und trug einen Schirm; früh stand sie auf, spät ging sie zu Bett, und den ganzen Tag werkte und schuftete sie mit aufgerafften Röcken, schlüsselklirrend war sie bald in der Scheune, bald im Keller, bald im Laden; und der alte Zybukin sah vergnügt zu, wie sie herumhantierte, seine Augen flammten auf, und dann bedauerte er es, daß sie nicht den älteren, sondern den jüngeren Sohn geheiratet hatte, der ja taub war und offensichtlich nicht gerade sehr viel von Weiberschönheit verstand. Immer hatte der Alte eine Vorliebe fürs Familienleben gehabt, und er liebte seine Familie über alles, besonders den älteren - 141 -
Sohn, den Detektiv, und seine Schwiegertochter. Kaum hatte Aksinja den Harthörigen geheiratet, als sie bereits eine ungemeine Geschäftstüchtigkeit entfaltete; im Handumdrehen wußte sie, wem man Kredit geben könne und wem nicht; sie führte die Schlüssel, die sie nicht einmal ihrem Mann anvertraute; sie klapperte auf dem Rechenbrett, guckte den Pferden ins Maul wie ein richtiger Bauer, und immerzu lachte sie oder hatte kleine Ausrufe parat. Was sie auch tun oder reden mochte, der Alte schmunzelte alleweil und murmelte: „Das ist dir eine Schwiegertochter! Ein schönes Weib, ein liebes.“ Er war Witwer, aber ein Jahr nach der Hochzeit des Sohnes hatte er nicht ausgehalten und heiratete zum zweitenmal. Man hatte für ihn ein Mädchen mit Namen Warwara Nikolajewna ausfindig gemacht; sie war aus einem Dorf gebürtig, das dreißig Werst von Uklejewo ablag, und stammte aus guter Familie; sie war schon in reiferen Jahren, war aber schön und stattlich. Kaum hatte sie sich in ihrer Stube im oberen Stockwerk eingerichtet, als sich alles im Hause auflichtete, als habe man in alle Fenster neue Scheiben gesetzt. Die Ampeln vor den Heiligenbildern brannten wieder, die Tische waren mit schneeweißen Tischtüchern gedeckt; auf den Fensterbrettern und im Vorgarten blühten schöne, rote Blumen, und bei Tisch wurde nicht mehr aus einer Schüssel gelöffelt, sondern jeder hatte seinen Teller vor sich stehen. Warwara Nikolajewna lächelte freundlich und zärtlich, und es schien, als lächelte dann alles im Hause. Und das, was früher nie der Fall gewesen war, ereignete sich nun: Auf dem Hof kehrten immer wieder Bettler ein, Pilger, fromme Betschwestern; an den Fenstern ließen sich die weinerlichen, lamentierenden Stimmen der Weiber aus Uklejewo und das schuldbewußte Hüsteln der schwachen, ausgemergelten Bauern vernehmen, die man wegen Trunksucht von der Fabrik gejagt hatte. Warwara half mit Geld, mit Brot, mit alter Kleidung, und nachdem sie sich eingelebt hatte, holte sie wohl auch das eine und das andere aus dem Geschäft. - 142 -
Einmal hatte der Harthörige gesehen, wie sie zwei Achtelpäckchen Tee hatte mitgehen heißen, und das hatte ihn verwirrt. „Mamachen haben schier zwei Achtelchen Tee genommen“, teilte er hernach dem Vater mit. „Wie soll ich das eintragen?“ Der Alte sagte nichts, stand eine Weile da, überlegte, zog die Brauen hoch und begab sich dann nach oben zu seiner Frau. „Warwaruschka“, sagte er zärtlich, „wenn du etwas aus dem Laden brauchen solltest, Frauchen, so nimm es nur. Nimm es zur Gesundheit; habe ja keine Bedenken!“ Und tags darauf rief ihr der Harthörige zu, als er gerade über den Hof gelaufen kam: „Wenn Sie, Mamachen, irgendwas brauchen sollten, dann nehmen Sie nur.“ Daß sie Almosen gab, war was Neues, war froh und leicht, geradeso wie mit den Ampeln und den roten Blümchen. Wenn am letzten Vorfastentage oder zu einem hohen Kirchenfest, das drei Tage weilte, den Bauern verdorbenes Salzfleisch verkauft wurde, das einen so schweren Geruch ausströmte, daß man Mühe hatte, am Faß durchzuhalten, und wenn man von den Betrunkenen als Pfand deren Sensen und Mützen oder die Kopftücher der Weiber gepfändet hatte, wenn die Fabrikarbeiter, die vom schlechten Schnaps um ihre Besinnung gebracht, sich im Dreck wälzten und die Sünde sich verdichtet hatte, daß sie wie ein Nebel in der Luft hing, dann wurde einem doch leichter bei dem Gedanken, daß dort im Hause eine stille, ordentliche Frau zum Rechten sah, die gar nichts mit dem Salzfleisch und dem Schnaps zu schaffen hatte. Ihre Almosen wirkten an diesen drückenden, umnebelten Tagen wie ein Sicherheitsventil an der Maschine. Im Hause Zybukins lief tagsüber alles auf Tour. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und schon hörte man Aksinja prusten, wenn sie sich im Flur wusch. Der Samowar brodelte - 143 -
und summte in der Küche und schien Unheil zu verkünden. Der alte Grigorij Petrowitsch ging in langem schwarzem Rock und in Beinkleidern von Kattun mit hohen, blitzblanken Schaftstiefeln, so adrett und klein von Statur wie er war, durch die Zimmer und klapperte mit den Absätzen genauso wie Batjuschka (Schwiegervater in dem bekannten Volkslied). Das Geschäft wurde geöffnet. Wenn es tagte, kam die Reitdroschke vorgefahren, und der Alte schwang sich flott in den Reitsitz, die große Mütze bis an die Ohren gezogen, und wenn man ihn so sah, hätte nie wer gesagt, daß er schon Sechsundfünfzig zählte. Seine Frau und die Schwiegertochter gaben ihm das Geleit; hatte er dann seinen guten, sauberen Rock an und war der mächtige Rapphengst vorgespannt, der dreihundert Rubel gekostet hatte, dann, dann mochte es der Alte nicht leiden, wenn ihm die Bauern mit ihren Anliegen und Beschwerden kamen; er haßte die Bauern; sie widerten ihn an, und wenn er sah, daß irgendein Bauer draußen am Tor auf ihn wartete, dann brüllte er zornig: „Was stehst du da? Mach, daß du fortkommst!“ Oder er schrie, wenn es sich um einen Bettler handelte: „Gott wird dir helfen!“ Er war in Geschäften unterwegs; seine Frau trug ein schwarzes Kleid, hatte eine Schürze vorgebunden und räumte derweil die Zimmer auf, oder sie half in der Küche. Aksinja verkaufte im Geschäft, und man konnte es auf dem Hof hören, wie die Flaschen klirrten und das Geld klapperte, wie sie lachte oder schrie oder wie sich die Käufer ereiferten, die von ihr übervorteilt worden waren; und gleichzeitig war recht wohl zu merken, daß im Geschäft heimlich Schnaps gehandelt wurde. Auch der Taube machte sich im Geschäft zu tun, oder er ging barhaupt, die Hände in den Taschen, auf der Straße umher und blickte zerstreut bald auf die Hütten, bald nach dem Himmel. Im Hause wurde tagsüber sechsmal Tee getrunken und durchschnittlich viermal gespeist. Abends wurde die Einnahme gezählt und eingetragen; dann wurde fest geschlafen. - 144 -
In Uklejewo waren alle drei Kattunfabriken und die Wohnungen der Fabrikherren Chrymin sen., Chrymin jun. und Kostjukow telefonisch miteinander verbunden. Man hatte auch die Bezirksverwaltung angeschlossen, aber der Anschluß dort tat es bald nicht mehr, da sich in dem Apparat Schaben und Wanzen eingenistet hatten. Der Bezirksvorsteher war im Lesen und Schreiben nicht gerade firm und pflegte jedes Wort mit großen Anfangsbuchstaben zu schreiben. II Der älteste Sohn Anissim erschien sehr selten zu Hause, nur an den großen Festen; dafür schickte er oft mit Landsleuten Paketchen und Briefe, die immer wunderbar, aber mit fremder Handschrift geschrieben waren, und zwar auf einem Blatt Schreibpapier in Form eines Gesuchs. Diese Briefe strotzten von Ausdrücken, die Anissim im Gespräch sonst nicht zu gebrauchen pflegte: „Geliebtes Papachen und Mamachen! Ich sende Ihnen anbei ein Pfund Blütentee zwecks Befriedigung Ihres physischen Bedürfnisses.“ Unter jeden Brief war dann, gleichsam wie mit einer verdorbenen Feder, hingekritzelt: „Anissim Zybukin.“ Und darunter war dann wieder in wunderbarer Schrift zu lesen: „Agent.“ Die Briefe wurden etliche Male laut vorgelesen, und der Alte, gerührt, rot vor Erregung, sagte dann wohl: „Er hat nicht zu Hause bleiben mögen; die gelehrte Laufbahn hat er eingeschlagen; soll er nur... jeder hat seinen Beruf.“ Einmal setzte kurz vor der „Butterwoche“* starker Regen mit Schneegraupeln ein; der Alte und Warwara standen am Fenster und schauten auf die Straße hinaus, und - sieh einer an! * So wird die letzte Woche vor der großen Fastenzeit genannt — der russische Karneval.
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Anissim kommt gefahren, im Schlitten, direkt vom Bahnhof! Er kam ganz unerwartet; unruhig und irgendwie aufgeregt betrat er das Zimmer, und so zeigte er sich auch hernach die ganze Zeit über; er gab sich gewissermaßen jovial. Er hatte es nicht eilig mit der Abreise, und es hatte den Anschein, er wäre entlassen worden. Warwara freute sich über sein Kommen: sie blickte ihn mitunter so schelmisch an, seufzte auf und nickte bedeutsam mit dem Kopf. „Wie ist das nur, Herr, du mein Gott!“ sagte sie dann, „je, je, je, ist der junge Mann schon im Achtundzwanzigsten, aber spaziert noch ledig herum, je, je, je, och je!...“ Auch im Nebenzimmer hörte sich ihr ruhiges, gleichmäßiges Reden genauso an: „Och je, och je!“... Dann flüsterte sie heimlich mit dem Alten und mit Aksinja; und auch deren Gesichter hatten dann einen listigen, geheimnisvollen Ausdruck, als wären sie allesamt Verschwörer. Sie beschlossen, Anissim zu verheiraten. „Och, je, je, den jüngeren Bruder haben wir längst unter dem Pantoffel“, sagte dann Warwara, „aber dich noch immer nicht im Paar; bist wie ein Hahn auf dem Basar. Was soll denn das je, je! Wenn du mal beweibt bist, dann magst du tun, was du willst, dann fahr auf deine Dienststelle, und die Frau, die bleibt dann eben zu Hause, als Hilfe. Du lebst halt ohne Ordnung dahin, Junge, und hast dir alle Ordnung aus dem Sinn geschlagen. Och, je, je, mit euch Städtern kommt man nie ins reine!“ Wurde bei Zybukins gehochzeitet, so wählte man für sie als für reiche Leute die schönsten Bräute. Auch für Anissim hätte man ein schönes Mädel ausfindig gemacht. Er selber war allerdings wenig ansehnlich und hatte ein unauffälliges Äußeres; seine Konstitution war schwächlich; auch kränkelte er; er war nicht gerade groß von Wuchs und hatte volle, gedunsene Backen, so als bliese er sie auf; seine Augen waren starr; sie hatten etwas Stechendes. Ein rötliches, spärliches Bärtchen - 146 -
nahm er allemal, wenn er am Überlegen war, in den Mund und biß darauf. Zu alledem trank er auch recht oft, was an seinem Gesicht und an seinem Gang zu merken war. Als man ihm aber mitteilte, man habe für ihn eine Braut, und zwar eine sehr schöne, da sagte er: „Na, ich bin ja auch nicht gerade schief gewachsen. Wir Zybukins, muß man schon sagen, sehen alle gut aus!“ In nächster Nachbarschaft von der Stadt war das Kirchdorf Torgujewo. Die eine Hälfte war vor kurzem umgemeindet worden, die andere Kirchdorf geblieben. In der ersteren wohnte in ihrem Häuschen eine Witwe, die hatte eine Schwester, die bettelarm war und als Tagelöhnerin arbeitete; diese Schwester nun hatte eine Tochter namens Lipa, ein Mädel, das auch als Tagelöhnerin auf Arbeit ging. In Torgujewo war es schon längst bekannt, daß Lipa schön war, aber nur ihre entsetzliche Armut wurde von aller Welt als Hindernis empfunden; man überlegte so, sie würde von einem älteren Mann oder von einem Witwer trotz ihrer Armut geheiratet werden, oder er würde sie einfach so zu sich nehmen, und dann würde eben auch die Mutter mit ihr zusammen satt zu essen haben. Warwara hatte von der schönen jungen Lipa gehört, und so begab sie sich nach Torgujewo. Im Hause der Tante wurde, wie es der Brauch ist, eine Brautschau veranstaltet mit einem Imbiß und mit Wein, und Lipa erschien in einem neuen rosa Kleid, das eigens für diese Brautschau genä ht worden war, und ein hochrotes Bändchen leuchtete dazu wie eine Flamme in ihrem Haar; sie war schmächtig, schwach, blaß im Gesicht, mit feinen, zarten Zügen, von der Arbeit an der Luft gebräunt. Ein melancholisches, schüchternes Lächeln umspielte immer ihr Gesicht, und die Augen schauten kindlich drein vertrauensselig und voller Neugierde. Sie war noch jung, ein Mädel mit kaum angedeutetem Busenansatz, aber verheiraten konnte man sie schon, da sie bereits in den Jahren war. Sie war in der Tat hübsch, und nur - 147 -
eines an ihr mochte nicht gefallen, das waren ihre großen Männerhände, die jetzt müßig wie zwei große Zangen herabhingen. „Keine Mitgift, da achten wir nicht weiter drauf“, sagte der Alte zur Tante. „Auch für unseren Sohn Stepan haben wir eine Frau aus armer Familie genommen. Jetzt aber haben wir für sie nicht genug Worte des Lobes. Ob im Hause oder im Geschäft, ihre Hände sind Goldes wert.“ Lipa stand an der Tür, und es war, als wollte sie sagen: „Tut mit mir, was ihr wollt! Ich traue euch.“ Ihre Mutter Prasskowja aber, die Tagelöhnerin, hielt sich in der Küche versteckt und wäre bald vor Schüchternheit gestorben. Irgendwann in ihren jungen Jahren hatte ein Kaufmann, bei dem sie die Fußböden aufnahm, im Zorn mit den Füßen getrampelt, und sie hatte sich so erschrocken, war ganz entsetzt, und in ihrer Seele war die Angst für ihr ganzes Leben eingezogen. Vor lauter Angst aber flogen ihre Hände und Füße, auch ihre Backen waren immer am Zittern. Nun saß sie da in der Küche und versuchte zu horchen, was die Gäste miteinander redeten; immerzu bekreuzigte sie sich, indem sie die Finger an die Stirn drückte und das Heiligenbild ansah. Anissim war leicht angesäuselt, er öffnete die Küchentür und sagte verbindlich: „Was sitzen Sie denn da, liebwerte Mamascha? Wir haben Langeweile ohne Sie.“ Prasskowja aber verlor alle Fassung, preßte die Hände gegen ihre magere, ausgemergelte Brust und erwiderte: „Aber wo denken Sie hin! Wir sind ohnehin sehr zufrieden.“ Nach der Brautschau wurde der Hochzeitstag festgelegt. Da ging Anissim zu Hause immer von einem Zimmer ins andere und pfiff vor sich hin, oder es fiel ihm plötzlich irgendwas ein, und er versank in Nachdenken und stierte den Fußboden an mit seinem durchdringenden Blick, so, als wollte er tief in die Erde eindringen. Er gab weder seiner Zufriedenheit darüber, daß er nun heiraten, und zwar sehr bald auf dem „Roten Hügel“ - 148 -
heiraten würde, noch sonst dem Wunsche Ausdruck, seine Braut zu sehen, sondern er pfiff nur so vor sich hin. Und es lag klar am Tage, daß er nur darum heiratete, weil der Vater und die Stiefmutter es wünschten und weil das eben so im Dorfe der Brauch war: der Sohn heiratet, damit man zu Hause eine Arbeitskraft habe. Mit der Abfahrt hatte er es nicht eilig, und er verhielt sich überhaupt anders als bei seinen früheren Besuchen. Er war irgendwie besonders kulant und redete nicht das, was gesagt werden mußte. III Im Dorfe Schikalowo lebten zwei ledige Schneiderinnen; man hatte bei ihnen neue Kleider zur Hochzeit bestellt, und sie kamen oft zur Anprobe heraus, und das Teetrinken nahm kein Ende. Für Warwara wurde ein braunes Kleid mit Pailletten und schwarzem Spitzenbesatz genäht und für Aksinja ein hellgrünes mit gelbem Brusteinsatz und einer Schleppe. Nachdem die Schneiderinnen fertig waren, zahlten ihnen die Zybukins nicht in barem Gelde, sondern mit Waren aus dem Geschäft; alsdann gingen sie traurig von dannen mitsamt ihren Paketchen, in denen Stearinkerzen und Sardinen verpackt waren, mit denen sie gar nichts anfangen konnten. Als sie aus dem Dorf hinausgega ngen waren, setzten sie sich im Felde auf einen Erdhügel und weinten. Anissim fand sich drei Tage vor der Hochzeit, vom Kopf bis zum Fuß neu eingekleidet, ein. Er trug glänzende Gummigaloschen und hatte statt einer Krawatte eine rote Seidenschnur mit Pompons umgebunden; den Mantel hatte er über die Schultern hängen, und auch dieser Mantel war neu. Nachdem er sein Gebet vor dem Heiligenbild würdevoll verrichtet hatte, begrüßte er den Vater und gab ihm zehn Silberrubel und zehn Fünfzigkopekenstücke; dasselbe bekam auch Warwara, und für Aksinja waren zwanzig Viertelsrubel vorgesehen, Die Pracht dieses Geschenkes bestand darin, daß alle Münzen funkelnagelneu waren und in der Sonne blitzten. Er - 149 -
gab sich Mühe, würdig und ernst zu erscheinen, zog das Gesicht in Falten und blies die Backen auf; er roch nach Schnaps; wahrscheinlich hatte er auf jeder Station im Speisesaal getrunken. Außerdem war da wieder dieses merkwürdig Verbindliche und dann auch etwas Überflüssiges an diesem... Hierauf tranken Anissim und der Alte Tee und frühstückten dazu, und Warwara klimperte mit den funkelnagelneuen Rubeln und erkundigte sich nach den Landsleuten, die in der Stadt lebten. „Ha, Gott sei Dank, die leben alle gut“, sagte Anissim. „Nur eben ist beim Iwan Jegorow ein Vorkommnis im Familienleben: seine Alte, Ssofja Nikiforowna, ist an der Schwindsucht gestorben. Der Leichenschmaus war beim Konditor bestellt. Er hat zweieinhalb Rubel pro Person genommen. Auch richtigen Traubenwein hat's gegeben. Einige Bauern, unsere Landsleute, waren da; auch für deren Verzehr wurden je zweieinhalb Rubel gerechnet. Sie haben nichts gegessen. Wie soll auch ein Bauer was von den Saucen verstehen!“ „Zweieinhalb Rubel!“ meinte der Alte kopfschüttelnd. „Ja, wie denn anders! Dort ist eben nicht das Dorf. Man geht in ein Restaurant, um eine Kleinigkeit zu essen, man fragt nach dem einen, nach dem anderen, schon ist eine Gesellschaft beisammen; man tut einen Schluck, und im Handumdrehen wird es draußen hell, und dann hat man das Vergnügen, pro Kopf drei oder vier Rubel zu zahlen. Was aber Ssamorodow betrifft, so hat er es gern, nach all dem Kaffee einen Kognak zu kippen; Kognak wird aber mit sechzig Kopeken für das Spitzglas gerechnet.“ „Und alles ist gelogen“, meinte der Alte begeistert. „Alles gelogen.“ „Ich bin jetzt immer mit Ssamorodow zusammen. Es ist derselbe Ssamorodow, der euch meine Briefe schreibt. Er schreibt ausgezeichnet, und wenn ich euch erzählen wollte, Mamascha“, fuhr Anissim heiter, zu Warwara gewandt, fort, - 150 -
„was für ein Mensch dieser selbige Ssamorodow ist, so werden Sie es nicht glauben. Wir alle nennen ihn Muchtar, da er ganz wie ein Armenier aussieht, pechschwarz. Ich kann durch ihn hindurchsehen, alle seine Geschäfte kenne ich wie meine fünf Finger, Mamascha, und das spürt er freilich, und immer ist er hinter mir her, unentwegt, und jetzt würde uns kein Wasser auseinanderbringen. Das scheint ihm etwas unheimlich zu sein; aber ohne mich kann er nicht leben. Wohin ich gehe, dahin auch er! Ich habe einen zuverlässigen, sichern Blick, Mamascha. Da seh ich beispielsweise, wie ein Bauer auf dem Trödelmarkt ein Hemd verkauft. Halt, das Hemd ist gestohlen! Und wirklich, es stellt sich heraus, das Hemd ist gestohlen.“ „Woher weißt du denn das?“ fragt Warwara. „Von nirgend her, ich habe eben so ein Auge. Ich weiß gar nicht, was das für ein Hemd ist, aber aus irgendeinem Grunde zieht es mich zu ihm hin. Gestohlen ist es, und das ist alles. Daher sagt man auch bei uns in der Detektivabteilung: Na, der Anissim, der ist wieder mal auf Waldschnepfenjagd befindlich! Stehlen kann ein jeder. Aber wie verwahrt man es? - Das ist es! Groß ist die Erde, aber gestohlenes Gut zu verbergen ist nirgendwo möglich.“ „In unserem Dorf hat man den Guntorjows einen Hammel und zwei junge Schafe weggetrieben“, sagte Warwara und seufzte. „Da ist niemand, der sie suchen könnte... Och, je, je.“ „Ja was denn! Suchen, das könnte man schon, da ist weiter nichts dabei, das könnte man.“ Der Hochzeitstag rückte heran. Es war ein kühler, aber klarer, heiterer Tag im April. Vom frühen Morgen an brausten durch Uklejewo schellenbimmelnde Troiken und mit zwei Pferden bespannte Wagen, mit bunten Bändern am Krummholz und in den Mähnen. In den Weiden krakeelten die Krähen; die Fahrerei regte sie auf. Die Stare pfiffen unaufhörlich ihr Lied, als freuten sie sich, daß bei Zybukins Hochzeit sei.
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Im Hause gab es auf den Tischen lange Fische, Schinken und farciertes Geflügel, Sprotten in Dosen, verschiedene Marinaden und Geselchtes und dann eine Unmenge von Schnaps- und Weinflaschen; es roch nach geräucherter Wurst und sauer gewordenen Hummern. Und um die Tische wanderte der alte Herr, mit den Absätzlein klappernd, Messer an Messer wetzend. Immer wieder hörte man nach Warwara rufen, alle wollten irgend etwas von ihr. Schwer atmend und verstört, jagte sie in die Küche, wo seit dem Frühesten der Koch aus dem Hause Kostjukow und eine weißgekleidete Köchin aus dem Hause der Chrymin jun. an der Arbeit waren. Aksinja hatte sich Locken gebrannt; ihr Kleid hatte sie noch nicht an; im Korsett, mit neuen knarrenden Halbschuhen, fegte sie wie ein Sturmwind über den Hof, daß ihre nackten Knie und die Brust nur so flitzten. Es ging laut her, Schimpfworte und Flüche flogen durch die Luft. Die Passanten machten vor dem sperrangelweit offenen Tor halt, und man spürte es an allem, daß was ganz Außerordentliches bevorstünde. „Jetzt ist man nach der Braut gefahren!“ Das Schellengeklingel ergoß sich durch die Luft und verhallte irgendwo in weiter Ferne. Es war gegen drei; da kam Bewegung in die Volksmassen, wieder Schellenge läute: die Braut wurde gebracht! Die Kirche war gesteckt voll; die Kronleuchter strahlten in vollem Lichterglanz. Der Chor sang; wie der alte Zybukin ausdrücklich gewünscht hatte, nach Noten. Die Fülle von Licht und die lebhaften Farben der Kleider blendeten Lipa. Ihr deuchte, daß ihr die Sänger mit ihren lauten Stimmen auf dem Kopf herumhämmerten. Das Korsett, das sie zum ersten Male in ihrem Leben trug, und die Schuhe drückten sie, und ihr Gesichtsausdruck war so, als wäre sie eben erst aus einer schweren Ohnmacht erwacht, als schaute sie umher und könne noch nichts begreifen. Anissim trug einen schwarzen Gehrock, und statt der Krawatte hatte er sich seine rote Seidenschnur vorgebunden; er war in Gedanken versunken, stierte immer nach einem Punkt, und wenn die Sänger laut aufschrien, dann - 152 -
bekreuzigte er sich. Er spürte eine Rührung in seinem Herzen, und am liebsten hätte er geweint. Diese Kirche kannte er von seiner frühesten Kindheit an; seine verstorbene Mutter hatte ihn hierher zur Kommunion getragen; dereinst hatte er hier im Knabenchor mitgesungen; jedes Eckchen, jedes Heiligenbild war ihm vertraut. Da wird er nun getraut; der Ordnung halber muß er heiraten, aber daran dachte er nicht mehr; er erinnerte sich nicht mehr, er hatte es vergessen, daß Hochze it war. Die Tränen hinderten ihn daran, die Heiligenbilder zu sehen; er spürte einen Druck auf dem Herzen; er bat und flehte zu Gott, er möge das unvermeidliche Unheil, das über ihm, wenn nicht heute, dann morgen, zusammenbrechen mußte, abwenden, ihn irgendwie verschonen, wie etwa bei großer Dürre Gewitterwolken rund um ein Dorf herumziehen, aber es fällt kein Tropfen Regen. So viele Sünden sind in der Vergangenheit aufgehäuft, so viele Sünden, daß man nichts mehr herausfindet; es ist überhaupt nichts wiedergutzumachen, und ja, es scheint gerade widersinnig zu sein, um Vergebung zu bitten. Aber er bat auch um Vergebung; und einmal schluchzte er sogar laut auf, aber niemand hatte es beachtet, denn man meinte, er wäre betrunken. Dann hörte man aufgeregtes Kinderschluchzen: „Liebe Mamascha, bring mich fort, mein Liebes!“ „Ruhe da!“ rief der Priester. Als man aus der Kirche den Heimweg antrat, strömte das ganze Volk hinterher; vor dem Geschäft, vor dem Tor und unter den Fenstern, überall drängten sich die Leute; die Weiber erschienen, um den Jungvermählten die üblichen Ehren zu erweisen. Kaum hatte das junge Paar die Schwelle überschritten, als auch schon der Sängerchor mit aller Macht loslegte, denn sie hatten bereits im Flur mit ihren Noten nur auf diesen Augenb lick gewartet; Musik dröhnte, man hatte sie eigens aus der Stadt kommen lassen. Schon wurde Schaumwein vom Don in Champagnerkelchen herumgereicht, und der Schreiner und - 153 -
Baumeister Jelisarow, ein stattlicher, hagerer Greis, mit so dichten Augenbrauen, daß die Augen fast nicht zu sehen waren, sagte, zu den Jungen gewandt: „Anissim und du, Kindchen, habt einander lieb! Führt ein gottesfürchtiges Leben, Kinderchen, und es wird euch die Königin nie verlassen.“ Nun ließ er den Kopf auf die Schulter des Alten sinken und weinte auf: „Grigorij Petrowitsch, wollen wir schluchzen. Laß uns schluchzen vor Freude!“ sprach er mit hoher Stimme, und dann lachte er plötzlich auf und fuhr fort im Baß: „Ho, ho, ho, und da hast du abermals eine schöne Schwiegertochter! Alles ist somit am rechten Fleck an ihr, alles glatt, und da wird nichts einstürzen; die ganze, Mehanissme' ist in Ordnung, viele Schrauben sind daran.“ Er war aus dem Kreise Jegorjewo gebürtig, hatte aber von Jugend auf in Uklejewo auf den Fabriken, auch sonst im Kreise gearbeitet und hatte sich hier eingelebt. Schon längst galt er als bejahrt, so hager und lang wie er war, und längst schon nannte man ihn „Krücke“. Vielleicht weil er schon über vierzig Jahre auf Fabriken nur mit Reparaturen beschäftigt war, beurteilte er jedes Ding im Hinblick auf die Haltbarkeit und ob da nicht eine Reparatur erforderlich wäre; und ehe er am Tisch Platz nahm, probierte er einige Stühle durch, ob sie gut hielten; sogar den Bläuling betastete er mit den Fingern. Nach dem Schaumwein begannen alle am Tisch Platz zu nehmen. Die Gäste unterhielten sich; Stühle wurden gerückt. Im Flur sang der Chor, spielte die Musik, und sogleich waren da die Weiber auf dem Hof, die dem jungen Paar, wie es sein mußte, die „Ehre“ bezeugten, und auc h diese Stimmen flössen alle zusammen, und es war ein wildes, furchtbares Durcheinander von Tönen, daß einem der Kopf rundging. Die Krücke juckerte auf dem Stuhle hin und her und stieß die Nachbarn mit den Ellenbogen, behinderte sie am Reden, und bald weinte, bald lachte er laut: „Kinderchen, Kinderchen, Kinderchen“, murmelte er. - 154 -
„Matuschka*, Aksinjuschka, Warwaruschka, laßt uns alle in Eintracht und Frieden miteinander leben, ihr vielgeliebten Beilchen!“ Er trank wenig und war jetzt schon von einem winzigen Gläschen Englisch-Bitter betrunken. Dieses abscheuliche „Englisch- Bitter“, unbekannt, woraus hergestellt, hatte allen den Kopf verdreht, sichtlich zufrieden, daß es soviel zu essen gab und daß es so reich zuging, da konnte keiner meckern! Die Sonne war untergegangen, aber das Mittagessen nahm seinen Fortgang; schon wußte man nicht mehr, was man aß, was man trank, man konnte nicht mehr unterscheiden, was gesprochen wurde, und nur mitunter, wenn die Musik verstummte, ließ sich hier und da die Stimme eines Weibes auf dem Hofe vernehmen: „Ihr Blutsauger, ihr Kinder des Herodes, unser Blut habt ihr ausgesaugt, jedes Unheil über euer Haupt!“ Am Abend wurde zur Musik getanzt. Die Familie Chrymin jun. erschien und brachte ihren eigenen Wein mit. Als die Quadrille stieg, hielt einer von ihnen je eine Flasche in den Händen und ein Spitzglas mit dem Munde, was allgemein belacht wurde. Mitten in der Quadrille tanzte man plötzlich den „Russischen“! Die grünschillernde Aksinja flitzte nur so umher, und ein richtiger Wirbel erhob sich, wenn sie mit ihrer Schleppe vorüberwehte. Irgendwer hatte ihr auf den Kleidersaum getreten, und Krücke schrie: „He du! Man hat dir den Perlbesatz abgetreten, Kindchen.“ Aksinja hatte graue, naive Augen, mit denen sie nur selten zwinkerte; und immer und immer spielte ein naives Lächeln um ihre Lippen. Es war in diesen unbewegten Augen und in diesem kleinen Kopf auf langem Halse, an ihrer Schlankheit etwas ausgesprochen Schlangenhaftes: grün, mit gelber Brust, unentwegt lächelnd blickte sie, wie wohl etwa im Frühling aus dem jungen aufsprießenden Korn eine Viper den * „Mütterchen", aber als Kosename nicht übersetzbar.
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Vorübergehenden ansehen mag, hoch aufgereckt, mit gehobenem Kopf. Die Chrymins gingen sehr frei mit ihr um, und es war durchaus zu merken, daß sie schon längst mit dem älteren in intimer Beziehung stand... Der Taube begriff aber nichts von alldem und schaute auch gar nicht nach ihr hin; er saß da, ein Bein über das andere geschlagen, knackte Nüsse, und er tat es so laut, daß man hätte meinen können, er schösse aus einer Pistole. Nun trat aber der alte Zybukin selber vor und winkte mit seinem Taschentuch das Zeichen dafür, daß auch er nun den Russentanz tanzen wollte, und durch das ganze Haus und in der Volksmenge auf dem Hof ging es raunend und billigend: „Er selber ist vorgetreten! Er selber!“ Warwara tanzte, aber der Alte winkte nur mit dem Taschentuch und deutete die Tanzbewegungen mit seinen Absätzchen an, jene aber, die draußen auf dem Hof wie Trauben aneinanderhingen und durch die Fenster spähten, waren begeistert, und für einen Augenblick verziehen sie ihm alles, seinen Reichtum und alle Kränkungen. „Das ist ein Prachtskcrl, der Grigorij Petrowitsch“, hörte man in der Menge reden. „So ist es recht, gib dir nur Mühe! Du kannst dich also noch regen! Kannst dich noch beschäftigen ha, ha, ha!“ So dauerte das alles bis spät in die Nacht hinein, bis in die zweite Stunde. Sehwankenden Schrittes machte Anissini die Abschiedsrunde bei den Sängern und Musikanten, und jedem schenkte er je einen neuen halben Silberrubel. Auch der Alte gab den Gästen das Geleit, ohne zu taumeln, aber gleichsam so, als trete er nur auf einem Bein auf, und sagte einem jeden: „Zweitausend hat die Hochzeit gekostet.“ Als man auseinanderging, hatte irgendwer beim Gastwirt von Schikalowo ein gutes Wams gegen ein schlechtes getauscht, und da fuhr Anissim plötzlich auf und brüllte: - 156 -
„Halt! Gleich habe ich den Kerl! Ich weiß, wer der Dieb ist, halt!“ Er lief auf die Straße hinaus und rannte hinter jemandem her; man fing ihn ein, führte ihn an den Armen nach Hause und schob ihn, betrunken wie er war, rot vor Wut, durchnäßt in das Zimmer, wo die Tante schon damit beschäftigt war. Lipa auszukleiden, und sperrte ihn ein. IV Fünf Tage waren vergangen. Anissim war im Aufbruch und begab sich nach oben zu Warwara, um Abschied zu nehmen. Alle ihre Ampeln brannten; es roch nach Weihrauch, sie saß aber am Fenster und strickte einen Strumpf roter Wolle. „Du hast wenig mit uns gelebt“, sagte sie. „Du wirst dich wohl langweilen? Och, je, je... Wir leben gut, wir sind mit allem gut versorgt, und deine Hochzeit haben wir, wie es sich schickt, ausgerichtet. Alles, wie es sein muß. Der Alte hat gesagt: Zweitausend wären draufgegangen. Mit einem Wort, wir leben so, wie Kaufleute leben; es ist aber doch langweilig bei uns. Wir übervorteilen das Volk gar zu sehr; das Herz tut mir weh, mein Freund, wie wir allen Unrecht tun, Herr, sei mein Gott! Ob wir ein Pferd tauschen, ob wir einkaufen oder einen Arbeiter einstellen - überall wird betrogen. Betrug und wieder Betrug in allem! Das Fastenöl im Laden ist bitter und ranzig; der Teer, den die Leute haben, ist besser! Ja, sage mir doch um Gottes Barmherzigkeit - kann man wirklich kein gutes Öl in den Handel geben?“ „Es ist ein jeder dazu berufen, Mamascha.“ „Aber wir werden doch sterben! Je, je, wahr haftig, du solltest mal mit dem Vater reden...“ „Sie können ja selber mit ihm sprechen.“ „Je nun, ich sage ihm, was ich sagen will; er aber sagt mir Wort für Wort das, was du eben gesagt hast... Es ist ein jeder dazu berufen. Drüben, in jener Welt, wird ma n sich schon mit - 157 -
dir befassen, wie du dazu berufen bist. Gottes Gericht ist gerecht!“ „Ach, es denkt ja keiner daran, sich mit einem zu befassen!“ sagte Anissim und seufzte. „Es gibt doch ohnehin keinen Gott, Mamascha, was heißt da schon befassen?“ Warwara blickte ihn staunend an, lachte auf und schlug die Hände zusammen. Weil sie über seine Worte so aufrichtig staunte und ihn wie einen Sonderling betrachtete, geriet er in Verwirrung. „Vielleicht gibt es auch einen Gott, aber der Glaube fehlt mir“, sagte er, „als man mich traute, da war mir nicht wohl zumute. Wie man beispielsweise ein Ei unter dem Huhn wegnimmt, und dann piept das Küken, so hat in mir das Gewissen plötzlich gepiept, und während ich getraut wurde, habe ich immerzu denken müssen: Es gibt eine n Gott! Als ich aber zur Kirche hinaus bin, war es wieder nichts. Woher soll ich auch wissen, ob es einen Gott gibt oder nicht? Wir sind von klein auf nicht recht gelehrt worden, auch der Säugling saugt ja noch an der Mutter, und man bringt ihm auch nur das eine bei: Wozu ein jeder berufen ist. Papachen glaubt ja auch nicht an Gott. Sie haben irgendwann gesagt, man habe dem Guntorjow Hammel weggetrieben... Ich habe sie wieder! Ein Bauer war's aus Schikalowo, der sie gestohlen hat; er hat sie gestohlen, aber die Felle hingen bei Papachen... Da haben Sie den Glauben!“ Anissim kniff das eine Auge zu und schüttelte den Kopf. „Der Amtsälteste glaubt auch nicht an Gott“, fuhr er fort, „ebenso der Schreiber, und so der Mesner. Wenn sie aber zur Kirche gehen und die Fasten einhalten, so tun sie es nur, damit nicht schlecht von ihnen geredet wird und für den Fall, daß es vielleicht wirklich ein Jüngstes Gericht gebe. Jetzt wird so dahergeredet, als wäre das Ende der Welt nahe, weil das Volk schwach geworden ist; die Eltern werden nicht mehr geachtet usw. Alles Firlefanz! Ich verstehe es so, Mamascha: das ganze Leid kommt daher, daß die Leute zuwenig Gewissen haben. Ich - 158 -
kann alles durch und durch sehen, Mamascha, und ich kenne mich aus; wenn irgendwer ein gestohlenes Hemd hat, so sehe ich es. Da sitzt ein Mensch in der Wirtschaft, und Sie mögen glauben, er tränke seinen Tee und mehr nicht; ich aber - Tee hin, Tee her - sehe noch außerdem, daß kein Gewissen in ihm ist; so geht man den ganzen Tag daher, und da ist kein einziger Mensch mit einem Gewissen. Die Ursache dessen aber ist, daß die Leute nicht wissen, ob es einen Gott gibt oder nicht. Also, Mamascha, gehaben Sie sich wohl, bleiben Sie schön gesund, und denken Sie nicht schlecht von mir.“ Anissim verbeugte sich tie f vor Warwara. „Wir danken Ihnen für alles, Mamascha“, sagte er. „Unsere Familie hat von Ihnen einen großen Nutzen. Eine sehr ordentliche Frau sind Sie, und ich bin sehr zufrieden mit Ihnen.“ Anissim ging gerührt hinaus, kehrte dann aber wieder und sagte noch: „Ich bin durch Ssamorodow in eine Affäre verwickelt; entweder werde ich reich, oder ich gehe zugrunde. Sollte mir etwas widerfahren, dann wollen Sie, bitte, Mamascha, meinen Herrn Vater trösten.“ „Na, was wird es da schon geben! Och, je, je, Gott ist gnädig! Weißt du, Anissim, du solltest mal deine Frau was liebkosen! Was seht ihr denn einander alleweil so gekränkt an? Würdet ihr doch wenigstens lächeln, wahrhaftig!“ „Ja, sie ist aber so merkwürdig“, erwiderte Anissim und seufzte. „Sie versteht nichts; immer schweigt sie nur. Sie ist sehr jung; sie muß noch heranwachsen.“ Draußen vor der Tür hielt der große, gutgefütterte Schimmelhengst; er war vor den Korbwagen gespannt. Der alte Zybukin nahm einen Anlauf, setzte sich flott zurecht und ergriff die Züge l. Anissim küßte Warwara, Aksinja und seinen Bruder. Auf dem Vorflur stand auch Lipa; sie stand steif da und blickte zur Seite, als wäre sie nicht gekommen, um ihrem Mann das Geleit zu geben, sondern einfach so, unbekannt - 159 -
warum. Anissim trat auf sie zu und berührte leichthin, kaum wahrnehmbar, ihre Wangen mit den Lippen. „Leb wohl“, sagte er. Und ohne ihm einen Blick zu geben, lächelte sie seltsam; ihr Gesicht erzitterte, und aus irgendeinem Grunde hatten alle Mitleid mit ihr. Auch Anissim sprang mit einem Anlauf in den Wagen und nahm eine flotte Pose an, da er sich selber für einen schönen jungen Mann hielt. Als sie, aus dem Tobel kommend, oben angelangt waren, kehrte sich Anissim immer wieder nach dem Dorfe um; es war ein warmer, klarer Tag. Zum ersten Male hatte man das Vieh auf die Weide getrieben, und neben der Herde gingen feiertäglich gekleidete Mädchen und Weiber. Froh ob seiner Freiheit, brüllte der dunkelbraune Stier und wühlte mit den Vorderfüßen die Erde auf. Allüberall, hoch oben und unten, jubilierten die Lerchen. Anissim warf einen Blick auf die Kirche; so schlank und so weiß stand sie da; man hatte sie erst vor kurzem getüncht, und er mußte daran denken, wie er vor fünf Tagen dort gebetet hatte. Er warf auch einen Blick auf die Schule mit dem grünen Dach, auf den Bach, in dem er als Junge gebadet und geangelt hatte; und eine Freude hallte in seinem Herzen auf, und er hätte gewollt, daß nun plötzlich aus der Erde eine Mauer emporwüchse, so daß er nicht hätte weiterfahren können, und alsdann wäre er mit seiner Vergangenheit allein geblieben. Auf der Station gingen sie in den Speiseraum und tranken jeder ein Glas Xeres. Der Alte griff in seine Tasche, um zu zahlen. „Ich zahle“, sagte Anissim. Gerührt klopfte der Alte ihm auf die Schulter und zwinkerte dem Wirt zu: „Siehst du, was ich für einen Sohn habe!“ „Wärst du doch im Hause geblieben, Anissim, im Geschäft“, sagte er. „Mit Gold tät' ich dich aufwiegen! Von Kopf bis zu Fuß wollte ich dich vergolden, mein Söhnchen!“ „Es ist ganz unmöglich, Papachen.“ - 160 -
Der Xeres schmeckte säuerlich; er roch nach Siegellack; indessen tranken sie noch ein Gläschen. Als der Alte vom Bahnhof heimkehrte, glaubte er im ersten Augenblick, seine jüngste Schwiegertochter nicht wiederzuerkennen. Kaum war der Mann vom Hofe fort, als Lipa wie ausgewechselt war; plötzlich war sie voller Freude. Barfuß, in einem alten, abgetragenen Rock, die Ärmel bis an die Schultern aufgekrempelt, scheuerte sie im Flur die Treppe und sang mit ihrem feinen Silberstimmchen. Als sie dann die große Blechwanne mit dem Küchenkehricht hinaustrug und mit ihrem kindlichen Lächeln zur Sonne aufblickte, da hätte man meinen können, auch sie wäre eine Lerche. Der alte Knecht, der gerade am Flur vorbeiging, schüttelte den Kopf und räusperte sich. „Du hast aber Schwiegertöchter, Grigorij Petrowitsch!“ sagte er. „Gott selber hat sie dir geschickt! Das sind keine Weiber, das ist richtig ein Schatz!“ V Am achten Juli - es war ein Feiertag - kehrten Jelisarow, „Krücke“ genannt, und Lipa aus dem Dorfe Kasanskoje, wohin sie aus Anlaß des Kirchweihfestes zu Ehren der Mutter Gottes von Kasan eine Wallfahrt unternommen hatten, wieder heim. Weiter hinter ihnen ging Lipas Mutter, Prasskowja, die immer zurückblieb, da sie krank war und an Atem zu kurz kam. Der Abend war nicht mehr fern. „Ach, ha, ha, ha!“ staunte Krücke, indem er Lipa zuhörte. „Ach, ha, ha - nun, und weiter?“ „Ich bin, Ilja Makarytsch, wie versessen auf Marmelade“, redete Lipa. „Da sitze ich bei mir in meinem Eckchen und trinke immerzu Tee mit Marmelade. Oder wir trinken zusammen mit Warwara Nikolajewna, und sie erzählt dann was Empfindsames dazu. Sie hat viel Marmelade, ganze vier Gläser voll. Dann sagt sie: „Iß nur! Iß nur viel Marmelade, Lipa, und trinke Tee dazu.“ - 161 -
„Ah - ha, ha, vier Gläser!“ „Reich leben sie ! Tee mit Weißbrot; und Fleisch, soviel man mag. Reich leben sie, aber grausig ist es bei ihnen, Ilja Makarjtsch! Oh, oh, wie grausig!“ „Was ist denn da grausig, Kindchen?“ fragte Krücke und warf einen Blick zurück, um zu sehen, ob Prasskowja sehr weit zurückgeblieben wäre. „Das ist erstens, nachdem die Hochzeit war, hatte ich so Angst vor Anissim Grigorytsch. Er hat mir nichts getan, er hat mich nicht beleidigt; nur wenn er mir naht, dann überläuft es mich eiskalt bis in jedes Knöchlein. Und keine einzige Nacht habe ich schlafen können; immer habe ich am ganzen Leib gezittert und zu Gott gefleht. Jetzt aber fürchte ich mich vor Aksinja, Ilja Makarytsch. Sie tut mir ja nichts; immerzu lächelt sie, aber wenn sie dann so zum Fenster hinausguckt, dann macht sie böse Augen. Die Augen brennen grün, wie im Schafstall bei den Schafen. Chrymins, die Jüngeren, machen sie irre. Euer Alter, so sagen sie, hat ein Stücklein Land in Butjokino, an vierzig Djessjatinen. Dieses Land, sagen sie, ist sandig, und Wasser ist auch da; dann kannst du — so sagen sie —, Aksjuscha, von dir aus eine Ziegelei bauen, wir werden uns daran beteiligen. Man zahlt jetzt für tausend Ziegel zwanzig Rubel. Eine gute Sache. Da sagt gestern beim Mittagessen Aksinja zum Alten, ich will, sagt sie, in Butjokino eine Ziegelei bauen, ich will selber Kaufmannsfrau sein! So sagt sie und lacht. Grigorij Petrowitsch aber bekommt ein ganz dunkles Gesicht; das hat ihm nicht gefallen mögen. ,Solange ich am Leben bin', sagt er, ,kann man nicht getrennt arbeiten; alle müssen zusammenhalten.' Da wirft sie so einen Blick auf ihn, und da knirscht sie mit den Zähnen... Dann gab es Löffelkuchen, aber er hat nichts gegessen.“ „Ah - ha, ha“, staunte Krücke, „hat nichts gegessen.“ „Und sage mir, um Gottes willen, wann schläft sie denn?“ fuhr Lipa fort. „Da schläft sie ein halbes Stündlein, dann springt sie auf, und immerzu geht sie und geht und späht überall herum, ob - 162 -
die Bauern nicht irgendwo Feuer anlegen, ob sie nicht was stehlen kommen. Grausig ist es mit ihr, Ilja Makarytsch! Chrymins, die Jüngeren, aber haben sich auch nach der Hochzeit gar nicht erst schlafen gelegt, sondern sind geradenwegs in die Stadt, zum Gericht, gefahren; im Volk geht die Rede, das wäre alles wegen der Aksinja. Zwei Brüder haben ihr versprochen, die Fabrik zu bauen, der dritte aber, er fühlt sich übergangen; und die Fabrik hat einen Monat stillgelegen, und dann hat mein Ohm, der Procher, ohne Arbeit auf den Höfen um Brotrinden gebettelt. Du solltest dich, habe ich ihm gesagt, Onkelchen, einstweilen ans Pflügen machen oder Holz sägen, statt Schande auf dich zu bringen! ,Was die Christenarbeit betrifft', sagte er, ,so habe ich mich ihrer entschlagen; denn', sagt er, ,ich kann ja gar nichts, Lipotschka!'„ An einer jungen Espenschonung machten sie ha lt, um sich etwas zu erholen. Dort warteten sie auf Prasskowja. Jelisazow war lang schon selber Unternehmer, aber er hielt sich kein Pferd, sondern machte alle Gänge zu Fuß, mit einem Beutel auf dem Rücken; darin hatte er Brot und Zwiebeln, und er machte weite Schritte und schwang weitausholend die Arme. Mit ihm Schritt zu halten, war nicht leicht. Am Waldeingang befand sich ein Grenzpfahl. Jelisazow befühlte ihn, ob er auch fest stand. Nun kam auch Prasskowja außer Atem an; ihr runzliges, immer erschrockenes Gesicht strahlte vor Glück; sie war heute in der Kirche gewesen wie die anderen Menschen, war dann auf den Jahrmarkt gegangen, hatte dort Birnenmost getrunken. Das widerfuhr ihr selten, und ihr wollte sogar scheinen, sie habe heute zum ersten Male in ihrem Leben zu ihrem Vergnügen einfach so dahin gelebt. Nachdem sie sich erholt hatte, gingen sie weiter. Die Sonne war schon am Untergehen, und die Strahlen fielen schräg auf die Waldung und beleuchteten die Stämme. Weiter vorn hörte man laute, helle Stimmen; die Mädchen von Uklejewo waren schon längst vorangegangen, hatten sich aber hier im Wäldchen beim Pilzsuchen aufgehalten. - 163 -
„He, Mädchen“, rief Jelisazow, „he, ihr Schönen!“ Statt jeder Antwort ertönte lautes Gelächter. „Krücke kommt, Krücke — der alte Rettig!“ Und das Echo gab das Lachen wieder. Nun hatten sie auch das Wäldchen hinter sich. Schon sah man die Fabrikschornsteine aufragen, und das Kreuz auf der Glockenstube blitzte auf; das war das Dorf, eben jenes, „in dem der Mesner beim Leichenschmaus den ganzen Kaviar weggefressen hatte“. Nun waren sie fast schon daheim. Nur der Abstieg in den großen Tobel stand noch bevor. Lipa und Prasskowja, beide barfuß, setzten sich ins Gras, um Schuhe und Strümpfe anzuziehen; auch Krücke nahm neben ihnen Platz. Blickte man von oben hinunter, so mochte Uklejewo mit seinen Weiden, mit der weißen Kirche und dem Bach hübsch und still erscheinen, und nur die Fabrikdächer hatte man als störend empfunden, weil man sie aus Gründen der Sparsamkeit dunkel und wild angestrichen hatte. Jenseits sah man am Hang Korn in Haufen, aber auch hie und da in. Garben, als hätte sie der Sturm durcheinandergeweht, und eben erst gemähtes Korn in Reihen. Auch der Hafer war schon gereift und schillerte in der Sonne gleichsam wie Perlmutter. Es war die schwerste Arbeitszeit des Sommers. Heute war Feiertag; morgen, am Samstag, mußte das Korn fortgeschafft und das Heu eingefahren werden; dann kam der Sonntag, wieder ein Feiertag. Tagein, tagaus donnerte es irgendwo in weiter Ferne; es war schwül, und man konnte meinen, es würde bald regnen. Blickte man auf das Feld, so dachte ein jeder, Gott möge es fügen, daß man rechtzeitig das Korn einbrächte, und es war einem froh, wonnevoll, aber auch unruhig ums Herz. „Die Schnitter verlangen jetzt hohe Löhne“, sagte Prasskowja, „einen Rubel vierzig nehmen sie für den Tag!“ Vom Jahrmarkt in Kasanskoje wälzte sich das Volk heran immerzu, immerzu; Weiber und Fabrikarbeiter mit neuen Mützen, Bettler, Kinder. Bald wurde man von einem - 164 -
Bauernwagen überholt, der Staub aufwirbelte, und hinterher lief ein nicht verkauftes Pferd, und man hätte meinen mögen, es freute sich darüber, daß man es nicht verkauft hatte. Dann wurde eine störrische Kuh an den Hörnern geführt; bald kam da wieder ein Bauernwagen mit betrunkenen Ba uern, die ihre Beine herausbaumeln ließen. Ein altes Mütterchen führte einen Jungen an der Hand; er hatte eine große Mütze auf dem Kopf und viel zu große Stiefel. Der Junge war wegen der Hitze von Kräften gekommen, aber auch wegen der schweren, hohen Stiefel, in denen er die Beine nicht im Knie biegen konnte, aber trotzdem blies er unaufhörlich und mit Macht auf einer Kindertrompete. Schon war man unten angelangt und bog in die Straße ab, aber das Trompetchen war immer noch zu hören. „Unsere Fabrikanten sind außer Rand und Band“, sagte Jelisarow. „Es ist schauerlich! Kostjukow hat eine Wut auf mich. ,Zuviel Bretter', sagte er, ,sind auf die Gesimse draufgegangen.' Und was heißt schon zuviel — soviel als nötig, Wassilij Danilytsch; genausoviel, sage ich, sind eben draufgegangen. Ich löffele die Bretter ja nicht zu meinem Brei. ,Was wagst du es', sagt er, ,mir mit solchen Worten zu kommen? Alberner Patron, du, dieser und jener! Vergiß nicht, wer du bist! Ich', schreit er, ,habe dich zum Unternehmer gemacht.' Ha, sage ich, hat man so was gehört! Als ich, sage ich, noch nicht Unternehmer war, habe ich schon täglich meinen Tee getrunken. ,Ihr alle', sagt er ,seid Schurken!' Ich schwieg still. Wir sind Schurken in dieser Welt, dachte ich bei mir, ihr werdet es in jener sein - ho, ho, ho! Tags darauf gab er schon klein bei. ,Du mußt dich über mich nicht ärgern, Makarytsch, von wegen meiner Worte; wenn ich', sagte er, ,ein überzählig Wort sagte, dann ist das so zu verstehen, daß ich Kaufmann erster Gilde bin; ich stehe über dir, und du hast dich vor mir still zu halten.' - Ihr, sage ich, seid Kaufmann erster Gilde, ich aber bin Zimmermann; das ist richtig. Auch der heilige Josef, sage ich, war Zimmermann. Unser Handwerk ist rechtschaffen und Gott wohlgefällig. Wenn ihr aber, sage ich, höher zu stehen glaubt, so - 165 -
tut mir nur den Gefallen, Wassilij Danilytsch! Und dann, nach diesem Gespräch, denke ich bei mir im stillen, wer steht denn nur höher: ein Kaufmann erster Gilde oder ein Zimmermann? Somit doch wohl der Zimmermann. Kinderchen.“ Krücke überlegte und fügte noch hinzu: „So ist es, Kinderchen, wer da arbeitet, wer duldet, der steht auch höher.“ Die Sonne war schon untergegangen, und über dem Fluß, innerhalb der Einfriedung der Kirche und von den Wiesen vor den Fabriken stieg dichter Nebel auf, weiß wie Milch. Jetzt, da die Dunkelheit schnell hereinbrach, flimmerten unten Lichter auf, und so schien es, als ob der ganze bodenlose Abgrund vom Nebel zugedeckt würde, mochten es auch Lipa und ihre Mutter, die als Bettler geboren und bereit waren, bis an ihr Ende so weiterzuleben, alles den anderen abzugeben außer ihren erschrockenen, sanftmütigen Seelen vielleicht für einen Augenblick scheinen, daß auch sie in dieser gewaltigen, geheimnisvollen Welt, inmitten einer unendlichen Reihe von Leben, eine Kraft darstellten und höher stünden als irgendwer anders. Wie gut war es. hier oben zu sitzen! Sie lächelten glückselig und hatten vergessen, daß man dennoch nach unten zurückkehren mußte! Endlich waren sie daheim. Am Tor und vor dem Laden hockten Schnitter auf dem Boden. Für gewöhnlich pflegten die eigenen Leute von Uklejewo nicht bei Zybukin zu arbeiten, und es mußten fremde Arbeiter geworben werden, und jetzt hatte es in der einfallenden Dämmerung den Anschein, als säßen dort Leute mit langen schwarzen Bärten. Der Laden war auf, und man konnte durch die Tür sehen, wie der Taube mit dem Knaben Dame spielte. Die Schnitter sangen leise, kaum hörbar vor sich hin, oder sie baten laut, man möge ihnen den Lohn für die Arbeit von gestern auszahlen. Indessen gab man ihnen kein Geld, damit sie nicht vor morgen fortgingen. Der alte Zybukin saß ohne Rock, nur mit der Weste beschickt, mit Aksinja am - 166 -
Hauseingang, unter einer Birke, und sie tranken dort Tee; auf dem Tisch brannte eine Lampe. „Großva ter!“ rief einer der Schnitter vor dem Tor, als wollte er ihn foppen. „Gib wenigstens die Hälfte - he, Großvater!“ Daraufhin ertönte gleich Gelächter, und dann wurde wieder leise gesungen. Auch Krücke nahm Platz, um Tee zu trinken. „Wir waren also auf dem Jahrmarkt“, begann er zu erzählen, „da haben wir gefeiert. Kinderchen, prächtig haben wir da gefeiert, Gott sei's gedankt. Da war so ein Vorkommnis, kein gutes... Ssaschka, der Schmied, hatte Tabak gekauft und zahlte dafür dem Kaufmann einen halben Rubel. Der halbe Rubel war aber falsch“, fuhr Krücke fort und warf einen Blick zurück; er wollte flüsternd weitererzählen, sprach aber mit erstickter, heiserer Stimme, und alle konnten es hören. „Die fünfzig Kopeken waren also falsch.“ Man fragte ihn: „Wo hast du es her?“ Er aber sagte: „Das hat mir Anissim Zybukin gegeben, als wir dort bei ihm Hochzeit hatten.“ Man rief den Wachtmeister von der Landpolizei und führte ihn ab. „Sieh zu, Petrowitsch, daß da nichts Schlimmes dabei herauskommt und kein Gerede entsteht.“ „Großvater!“ neckte immer noch dieselbe Stimme jenseits des Tores, „Großvater, he!“ Dann - Schweigen. „Ach, ihr Kinderlein, Kinderlein, Kinderlein!“ murmelte Krücke rasch hintereinander und erhob sich; Müdigkeit überkam ihn. „Na, ich danke für den Tee, für den Zucker, Kinderlein. Es ist Zeit zum Schlafengehen. Ich bin so müde! Das Gebälk in mir ist morsch geworden, ho, ho, ho!“ Und im Abgehen sagte er noch: „Es wird an der Zeit sein zu sterben.“ Und er schluchzte auf. Der alte Zybukin trank seinen Tee nicht zu Ende, saß aber noch ein Weilchen da und überlegte, und der Ausdruck seines Gesichts war so, als horchte er auf Krückes Schritte, der schon weit weg auf der Straße war. - 167 -
„Ssaschka, der Schmied, wird gelogen haben“, sagte Aksinja. seine Gedanken erratend. Er begab sich ins Haus und kehrte nach einer Weile mit einer Rolle zurück; er wickelte sie auf, und funkelnagelneue Rubel blitzten ihm entgegen. Er nahm einen auf, biß mit dem Zahn darauf und warf das Geldstück auf ein Teebrett; dann noch einen... „Die Rubel sind wahrhaft gefälscht“, sagte er und blickte Aksinja an, als verstünde er nicht recht. „Das sind die..., Anissim hat sie damals gebracht, sein Geschenk. Hör mal, Tochter, nimm sie an dich“, flüsterte er und steckte ihr die Rolle zu. „Nimm sie, und wirf sie in den Brunnen; soll sie dieser und jener holen, und schau zu, daß kein Gerede entsteht, daß nur nichts dabei herauskommt... Trag den Samowar weg; lösch das Licht...“ Lipa und Prasskowja, die in der Scheune saßen, sahen, wie ein Licht nach dem anderen erlosch; oben bei Warwara leuchteten blaue und rote Ampeln, und von dort her wehte Ruhe, Zufriedenheit, Ahnungslosigkeit. Prasskowja konnte sich nicht recht daran gewöhnen, daß ihre Tochter an einen Reichen verheiratet war, und wenn sie kam, so drückte sie sich schüchtern im Flur herum, lächelte wie eine Bittstellerin, und man schickte ihr Tee und Zucker hinaus. Auch Lipa konnte sich nicht gewöhnen, und nachdem ihr Mann abgereist war, schlief sie nicht in ihrem Bett, sondern wie es sich gerade traf - in der Küche oder in der Scheune, und tagaus, tagein scheuerte sie die Fußböden, oder sie wusch Wäsche, und so schien es ihr selber, als wäre sie im Tagelohn eingestellt. Auch jetzt, da sie von der Wallfahrt heimkamen, tranken sie ihren Tee in der Küche mit der Köchin, begaben sich dann in die Scheune und legten sich auf den Fußboden nieder zwischen Wand und Schlitten. Hier war es dunkel, und es roch nach Kumten. Die Lichter neben dem Haus erloschen; dann konnte man hören, wie der Taube den Laden schloß, wie die Schnitter sich auf den Hof zur Ruhe legten. Weiter ab wurde bei Chrymins, den Jüngeren, auf einem - 168 -
teuren Schifferklavier gespielt... Prasskowja und Lipa waren am Einschlafen. Als sie durch jemandes Schritte erwachten, war es schon mondhell. Am Scheuneneingang stand Aksinja; sie trug ihr Bett in den Armen. „Hier wird es vielleicht kühler sein“, sagte sie, trat ein und legte sich dann fast an der Schwelle nieder, so daß sie ganz vom Mondlicht beschienen wurde. Sie schlief nicht und atmete schwer; weil es so heiß war, hatte sie fast alles abgeworfen, und jetzt im zauberhaften Licht des Mondes, was war sie da für ein schönes, stolzes Tier! Es verging nur eine kurze Zeit - dann ließen sich abermals Schritte vernehmen. In der Tür zeigte sich der Alte; er war ganz weiß. „Aksinja“, rief er, „bist du vielleicht da!“ „Na, und..,“ gab sie böse zurück. „Ich sagte dir vorhin, du solltest das Geld in den Brunnen werfen; hast du es getan?“ „Das fehlte auch noch - das Gut ins Wasser zu werfen! Ich gab's den Schnittern! “ „Herr, du mein Gott“, murmelte der Alte bestürzt und erschrocken. „Du bist ein freches Weibsbild! Herr, du mein Gott!“ Er schlug die Hände überm Kopf zusammen und ging fort; indem er so dahinging, murmelte er immer vor sich hin. Und abermals nach einer kleinen Weile setzte sich Aksinja auf und tat einen schweren Seufzer vor lauter Angst; dann erhob sie sich, nahm ihr Bettzeug unter den Arm und ging hinaus. „Warum hast du mich nur hierher fortgegeben, Mamachen?“ sagte Lipa. „Geheiratet muß doch werden, Tochter! Es ist so unser Los.“ Und das Gefühl eines tröstlichen Kummers war nahe dran, über ihr zusammenzuschlagen. Doch wollte ihnen scheinen, als wenn jemand von der Höhe des Himmels, aus dem - 169 -
Himmelsblau dort oben, wo die Sterne sind, alles sieht, was in Uklejewo geschieht, und er wacht darüber. Und mag das Böse noch so groß sein, dennoch ist die Nacht still und wundervoll, und dennoch gibt es eine Gerechtigkeit in der Gotteswelt, und die wird es auch weiter geben, ebenso still und wundervoll, und alles auf der Erde wartet nur auf den Augenblick, in dem Gerechtigkeit und Wahrheit zusammenfließen, wie das Mondlicht mit der Nacht zusammenfließt. Und so beruhigt, schliefen die beiden, eng aneinandergeschmiegt, ein. VI Schon längst war die Nachricht eingetroffen, daß Anissim wegen Falschmünzerei und wegen Absatz gefälschten Geldes ins Gefängnis gekommen war. Monate waren darüber hingegangen, mehr schon als ein halbes Jahr, der lange Winter war vorüber, es war Frühling geworden, und man hatte sich im Hause und auch im Dorfe daran gewöhnt, daß Anissim im Gefängnis saß. Wenn irgendwer in der Nacht am Hause oder an dem Geschäft vorüberging, so fiel es ihm ein, daß Anissim im Gefängnis saß. Wurde in der Kirche geläutet, auch dann mußte man irgendwarum daran denken, daß er im Gefängnis saß und auf das Urteil wartete. Es schien, als läge ein Schatten auf dem Hof. Das Haus war dunkler geworden, das Dach verrostet, die Tür zum Laden, sie war schwer, mit Eisen beschlagen, grün gestrichen, war blind geworden, oder wie der Taube sagte, eingeschrumpft, und der alte Zybukin selber schien nachgedunkelt zu sein. Schon lange hatte er es aufgegeben, sich Haupt- und Barthaar schneiden zu lassen; er war richtig bewachsen, und wenn er sich in den Wagen setzte, so tat er es ohne flotten Anlauf, auch rief er den Bettlern nicht mehr zu: „Gott helfe dir!“ Seine Kraft nahm sichtlich ab, und das war an allem zu merken. Auch die Leute fürchteten ihn nicht mehr so wie früher, und der Landpolizist hatte im Laden ein Protokoll aufgesetzt, obschon er ganz wie - 170 -
früher das bekam, was ihm zustand; und dreimal war der Alte schon wegen heimlichen Branntweinhandels in die Stadt zitiert worden, aber die Sache wurde wegen Nichterscheinens der Zeugen immer noch hinausgeschoben, und der Alte hatte sich halb zu Tode gequält. Er fuhr oft zu seinem Sohn; er suchte irgendwen für die Sache zu gewinnen, reichte irgendwo Gesuche ein, spendete irgendwohin eine Kirchenfahne. Dem Aufseher im Gefängnis, in dem Anissim saß, überreichte er einen Teeglasbecher aus Silber mit einer Beschriftung im Email: „Die Seele kennt ihr Maß“, und dazu noch ein langes Löffelchen. „Es ist keiner da, der sich so recht verwendet, der sich verwendet“, sagte Warwara. „Och, je, je, man müßte wen von den Herren bitten, damit sie an die Hauptvorgesetzten schreiben. Man würde ihn dann vor der Verhandlung freilassen. Was soll der arme Kerl sich noch quälen!“ Auch sie war bekümmert, war aber doch fülliger geworden, weißer, und wie sonst immer brannten ihre Ampeln, und sie achtete darauf, daß alles im Hause sauber war, und sie bewirtete die Gäste mit Marmelade und mit Apfelpaste. Der Taube und Aksinja besorgten den Handel im Geschäft. Ein neues Unternehmen war im Entstehen: die Ziegelei in Butjokino, und fast täglich fuhr Aksinja im Wagen hinaus; sie kut schierte selbst und traf sie unterwegs Bekannte, so reckte sie ihren Hals hoch auf wie eine Schlange im jungen Korn und lächelte naiv und rätselhaft. Lipa aber spielte immer mit ihrem Kinde, das sie vor der Fastenzeit geboren hatte. Es war das ein kleines Knäbchen sehr mager, ganz jämmerlich, und es war so eigenartig, daß es schrie, daß es dreinschaute und daß man es für einen Menschen hielt, ja es sogar Nikophor nannte. Er lag in einer Wiege, Lipa aber trat zur Türe zurück, verneigte sich und sagte: „Guten Tag, Nikiphor Anissimytsch!“ Und dann rannte sie auf ihn zu und küßte ihn ab. Alsdann trat sie wieder zur Türe zurück, verbeugte sich, und abermals - 171 -
„Guten Tag, Nikiphor Anissimytsch!“ Er aber hob seine kleinen Beinchen hoch, und sein Weinen mischte sich mit dem Lachen wie beim Zimmermann Jelisazow. Endlich war der Tag der Verhandlung angesetzt. Etwa fünf Tage vorher war der Alte hingefahren; dann waren, wie man erzählte, Bauern aus dem Kirchdorf als Zeugen geladen worden; auch der alte Arbeiter hatte eine Vorladung bekommen und war hingefahren. Die Gerichtsverhandlung fand an einem Donnerstag statt. Aber der Sonntag war schon gewesen, und der Alte war noch immer nicht zurück, und auch sonst kamen keine Nachrichten. Am Dienstag saß Warwara vor Einbruch der Dunkelheit am offenen Fenster und horchte hinaus, ob der Alte nicht käme. Im Nachbarzimmer spielte Lipa mit ihrem Kindchen. Sie warf es empor mit ihren Armen und sagte dann beseligt: „Du wirst heranwachsen und groß werden, so grooooß! Du wirst Bauer werden, und wir beide werden dann auf Tagelohn gehen! Auf Tagelohn werden wir gehen!“ „Na, na, na“, tat Warwara gekränkt. „Was hast du dir da ausgedacht - Tagelohn! Dummes Kind! Kaufmann wird er!“ Lipa begann leise zu singen; aber nach einer kleinen Weile ging's dann wieder los, als hätte sie alles vergessen. „Heranwachsen, groß werden, so grooooß, wirst ein Bauer werden; wir werden zusammen auf Tagelohn gehen.“ „Na, na, das ist aber doch wirklich...“ Lipa blieb mit Nikiphor auf den Armen in der Tür stehen und fragte: „Mamachen, warum hab' ich ihn bloß so lieb? Warum tut er mir so leid“, fuhr sie mit bebender Stimme fort, und Tränen blitzten in ihren Augen auf. „Was ist er denn, was stellt er dar? Er ist leicht wie ein Federchen, wie ein Krümlein, und doch habe ich ihn lieb, ich habe ihn so lieb, wie einen wirklichen Menschen. Nun kann er aber noch nichts, kann nicht sprechen,
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aber ich verstehe doch alles, was er mit seinen Äuglein wünscht.“ Warwara horchte hinaus... Draußen hörte man den Abendzug rollen, ob wohl der Alte dabei war? Sie hörte nicht mehr und faßte auch nicht auf, was Lipa sagte; sie erinnerte sich nicht, wie die Zeit verging, aber sie bebte am ganzen Leibe; nicht vor Bangigkeit, sondern vor großer Neugierde. Sie sah eine Teljiga, mit Bauern beladen, donnernd vorüberfahren. Das waren die Zeugen, die jetzt vom Bahnhof heimkehrten. Als der Wagen am Geschäft vorüberfuhr, sprang der alte Arbeiter im Fahren ab und begab sich auf den Hof. Man konnte hören, wie er auf dem Hof begrüßt und ausgefragt wurde... „Verlust aller Rechte und des ganzen Vermögens“, sagte er laut und dann: „Sibirien - Zwangsarbeit auf mindestens sechs Jahre.“ Man konnte sehen, wie Aksinja durch eine Hintertür des Ladens hinausging; eben noch hatte sie Petroleum verkauft; sie hielt in der einen Hand eine Flasche, in der anderen die Petroleumkanne, und im Munde hatte sie Silbergeld. „Wo ist denn Papachen?“ fragte sie lispelnd. „Auf dem Bahnhof“, gab der Arbeiter zur Antwort. „Wenn es dunkler geworden ist, hat er gesagt, will er kommen.“ Als es im Hof bekannt geworden war, daß Anissim zu Zwangsarbeit verurteilt sei, da begann die Köchin in der Küche laut zu lamentieren, so als wäre jemand im Hause gestorben; sie mochte bei sich denken, daß sich das schickte. „Und warum hast du uns denn verlassen, Anissim Grigorytsch, du lichter Falke...“ Die Hunde bellten aufgeregt. Warwara rannte ans Fenster, vor Kummer wußte sie nicht ein und aus und schrie die Köchin an, ihre eigene Stimme über die Maßen anstrengend: „Laß das doch sein, Stepanida! Laß das sein! Quäl mich nicht so, um Christi willen.“ - 173 -
Man hatte vergessen, die Teemaschine bereitzuhalten, offensichtlich würde an nichts mehr gedacht. Nur Lipa konnte ganz und gar nicht fassen, worum es eigentlich ging, und fuhr fort, unentwegt mit ihrem Kinde zu tändeln. Als dann der Alte vom Bahnhof gefahren kam, da wurde er nicht mehr ausgefragt. Er begrüßte sie, dann machte er schweigend einen Gang durch alle Zimmer; er aß nicht zu Abend. „Jemand müßte sich einsetzen...“, begann Warwara, als sie allein geblieben waren. „Ich sagte schon, man müsse wen von den Herren bitten; man hat aber damals nicht hören wollen... man hätte ein Gesuch...“ „Ich habe mich doch bemüht“, sagte der Alte und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand „Als Anissim verurteilt wurde, bin ich zu dem Herrn hin, der ihn verurteilt hat. ,Nichts kann man jetzt machen', sagte er, ,gar nichts, es ist zu spät.' Anissim selber sagte auch, es ist zu spät. Aber als ich vom Gericht fort bin, habe ich doch einen Advokaten herumgekriegt, einen Vorschuß habe ich ihm gegeben. Jetzt warten wir noch ein Weilchen; vielleicht eine Woche, und dann will ich wieder hinfahren. Wie Gott will!“ Abermals ging der Alte schweigend durch alle Zimmer, und als er zu Warwara zurückkehrte, sagte er: „Es scheint, daß ich krank bin; im Kopf geht mir alles umeinander. Die Gedanken verwirren sich.“ Er schloß die Tür, damit Lipa ihn nicht hören könne, und fuhr leise fort: „Mit dem Geld steht es nicht gut bei mir. Weißt du noch, Anissim hatte vor der Hochzeit in der Thomaswoche mir neue Rubelstücke und Halbrubelstücke gebracht. Eine Rolle habe ich damals versteckt, aber alles andere habe ich mit meinem eigenen Gelde vermengt... und dann war es so, daß früher einmal mein Onkel Dimitrij Filatytsch, als er noch am Leben war - Gott gebe ihm die ewige Ruhe -, immer wieder zum Wareneinkauf bald nach Moskau, bald auf die Krim reiste. Er hatte eine Frau, und - 174 -
eben diese Frau hatte sich, während er in Handelsgeschäften unterwegs war, mit einem anderen eingelassen. Sechs Kinder waren da. Dann pflegte Onkelchen, wenn er eins hinter die Binde gegossen hatte, zu spaßen: ,Da finde ich mich gar nicht mehr zurecht; wo sind jetzt meine Kinder, wo die fremden.' Also mag er wohl leicht von Charakter gewesen sein. So kann auch ich jetzt nicht mehr herausfinden, was von meinem Gelde echt und was falsch ist; und es sieht so aus, als wäre alles gefälscht!“ „Da sei Gott für!“ „Wenn ich auf dem Bahnhof eine Fahrkarte löse und drei Rubel gebe, dann muß ich daran denken, das Geld ist vielleicht falsch, und Angst befällt mich.“ „Was ist da noch zu sagen - wir sind alle in Gottes Hand - och, je, je“, sagte Warwara und bewegte den Kopf hin und her. „Man muß aber darüber nachdenken, Petrowitsch - es kann doch so sein, daß etwas passiert, du bist nicht mehr der Jüngste; ehe du stirbst, sieh du zu, daß man dem Nikiphor kein Unrecht tut. Ja freilieh! Der Vater, das muß man doch sagen, kommt nicht in Frage, die Mutter aber ist jung und dumm... Du solltest auf den Namen des Kindes wenigstens das Land verschreiben - ich meine Butjokino. Wirklich, tu das, Petrowitsch, überlege es dir, Petrowitsch“, redete ihm Warwara zu. „Es ist so ein netter Junge! Es wäre schade um ihn! Fahr doch morgen hin und sehreibe die Urkunde; warum soll man noch warten!“ „Ach ja, das Enkelkind habe ich vergessen“, sagte Zybukin. „Ich muß es noch begrüßen. Du sagst also, der Knabe wäre gar lieb? Nun ja, soll er doch heranwachsen, gebe Gott!“ Er öffnete die Tür und winkte mit gekrümmtem Finger Lipa zu sich heran. Mit dem Kinde auf dem Arm, trat sie auf ihn zu. „Lipinjka, wenn du was brauchst, dann frage nur getrost“, sagte er. „Und was du nur magst, iß es. Es ist uns nicht leid darum, wenn du nur gesund bleibst.“ Er machte das Kreuzeszeichen über dem Kinde. „Und hüte du das Enkelkind fein. Ist der Sohn nicht da, so ist doch das Enkelkind geblieben.“ - 175 -
Die Tränen rollten ihm über beide Wangen. Er schluchzte auf und ging weg. Nach einer kurzen Weile legte er sich zur Ruhe, und nach sieben schlaflosen Nächten schlief er fest ein. VII Der Alte war für eine kurze Zeit in die Stadt gefahren. Man hatte Aksinja erzählt, er wäre zum Notar, um ein Testament aufzusetzen, und er habe Butjokino, eben jenes Grundstück, wo die Ziegel gebrannt wurden, seinem Enkel Nikiphor vermacht. Dieses hatte man ihr am Morgen mitgeteilt, als der Alte und Warwara unter der Birke am Hauseingang saßen und Tee tranken. Sie schloß den Laden von der Straßen- und von der Hofseite ab, suchte alle Schlüssel zusammen, die sie hatte, und warf sie dem Alten vor die Füße. „Ich mag nicht länger für euch arbeiten“, schrie sie laut und schluchzte plötzlich auf. „Es kommt also darauf heraus, daß ich nicht eure Schwiegertochter, sondern eine Angestellte bin! Das ganze Volk lacht darüber. ,Schau einer an', so heißt es, ,was die Zybukins für eine Arbeiterin gefunden haben!' Ich habe mich euch nicht verdingt; ich bin kein Bettelweib, bin nicht irgendeine Kreatur; ich habe Vater und Mutter.“ Ohne sich die Tränen zu trocknen, richtete sie ihre weinenden Augen wütend und vor Zorn schielend auf den Alten; ihr Gesicht und ihr Hals waren rot und gespannt, weil sie aus voller Kehle schrie: „Ich mag nicht länger bei euch dienen!“ fuhr sie fort. „Ich habe mich tot gequält! Geht es um die Arbeit und darum, daß ich tagaus, tagein im Geschäft sitze, nachts aber heimlich den Schnaps hole, so ist das gerade gut für mich; geht es aber darum, Land zu verschenken, so bekommt das die Zuchthäuslerin mit ihrem Satansbengel. Sie ist hier Herrin des Hauses, die gnädige Frau, ich aber bin ihre Magd! Gebt ihr nur alles, der Zuchthäuslerin, möge sie daran ersticken! Ich gehe jetzt nach
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Hause; ihr könnt euch eine andere Närrin suchen, verdammtes Pack ihr!“ Der Alte hatte nie in seinem Leben seine Kinder gescholten oder sie bestraft, und er hätte den Gedanken gar nicht aufkommen lassen, daß ihm jemand aus der Familie grob kommen oder sich unehrerbietig benehmen könnte; jetzt hatte er sich arg erschrocken, lief in sein Haus und versteckte sich dort hinter dem Schrank. Warwara aber war so verschüchtert, daß sie sich nicht von ihrem Platz zu erheben vermochte; sie winkte nur mit beiden Händen ab, als wolle sie eine Biene verscheuchen. „Och, was ist denn das nur, Herr, du meine Güte!“ murmelte sie voller Entsetzen. „Was schreit sie da bloß, och, je, je... man wird das draußen hören! Wäre sie doch leiser... Ach, wenn sie nur leise redete!“ „Ihr habt der Zuchthäuslerin Butjokino gegeben“, fuhr Aksinja fort zu schreien, „so gebt ihr jetzt auch alles andere, ich mag nichts mehr von euch haben; möget ihr alle zugrunde gehen! Ihr alle seid hier eine einzige Bande! Ich habe genug gesehen; mir genügt es! Jeden, der des Weges kam, und jeden, der vorüberfuhr, habt ihr Banditen beraubt... Alt und jung habt ihr übers Ohr gehauen; und wer war es denn, der den Schnaps ohne Patent verkaufte? Und wie war es mit dem Falschgeld? Eure Truhen habt ihr mit falschem Geld bis an den Rand vollgestopft, und jetzt, jetzt braucht ihr mich nicht mehr!“ An dem weitgeöftneten Tor hatte sich schon eine Menge geschart und glotzte in den Hof. „Soll das Volk nur sehen“, schrie Aksinja, „vor allen Leuten will ich eure Schande heraussagen! Vor Scham sollt ihr lichterloh brennen! Ihr werdet euch mir zu Füßen winden! He, Stepan“, rief sie ihren Tauben herbei. „Komm, wir fahren gleich nach Hause zu mir! Wir fahren zu meinem Vater und zu meiner Mutter. Ich mag nicht mit Verbrechern zusammenleben!“ Auf Wäscheleinen war im Hof Wäsche aufgehängt; sie riß ihre Röcke und Blusen ab, die noch feucht waren, und warf sie dem - 177 -
Tauben über die Arme. Dann rannte sie wie eine Rasende durch den Hof, machte sich bei der Wäsche zu schaffen, riß sie ab, und was nicht ihr gehörte, warf sie auf die Erde. „O du meine Güte! Man sollte sie doch beruhigen“, stöhnte Warwara. „Was hat sie bloß? Gebt ihr Butjokino, um Jesu Christi willen, gebt es ihr doch!“ „Das ist aber ein Weib!“ wurden Stimmen am Tor laut. „Das ist aber ein Weib! Die geht aufs Ganze - das muß man sagen!“ Aksinja lief in die Küche, wo gerade zu dieser Zeit gewaschen wurde. Lipa wusch die Wäsche allein; die Köchin war an den Fluß gegangen, um Wäsche zu spülen. Aus dem Holzkübel und dem Kessel am Herd stieg heißer Dampf auf, und in der Küche verschlug es einem den Atem vom Dampf. Auf dem Fußboden lag noch ein Haufen ungewaschener Wäsche und daneben, auf einer Bank, lag Nikiphor und strampelte mit seinen roten Beinchen, so daß er, wenn er gefallen wäre, sich nicht hätte weh tun können. Gerade in dem Augenblick, als Aksinja hereinkam, hatte Lipa aus dem Haufen deren Hemd herausgeholt und es in den Kübel getan, und nun streckte sie schon die Hand nach dem Schöpfgefäß voll kochendem Wasser aus, das auf dem Tisch stand... „Gib her!“ rief Aksinja, sie haßerfüllt anblickend, und riß ihr Hemd aus dem Bottich heraus. „Nicht deine Sache ist es, meine Wäsche anzufassen! Du bist eine Zuchthäuslerin und mußt wissen, wohin du gehörst und was du für eine bist!“ Lipa blickte sie entsetzt an und konnte nichts begreifen; aber plötzlich fing sie einen Blick auf, den jene auf das Kind warf, und mit einemmal verstand sie... „Mein Land hast du mir genommen, und das hast du jetzt dafür!“ Indem Aksinja das sagte, griff sie nach dem Schöpfgefäß mit siedendem Wasser und schüttete es über Nikiphor. Alsdann ließ sich ein Schrei vernehmen, wie man ihn noch nie zuvor in Uklejewo gehört hatte, und es schien unglaublich, daß - 178 -
so ein zartes, schwaches Wesen wie Lipa so hatte schreien können. Und auf dem Hof wurde es plötzlich totenstill. Aksinja ging dann in das Haus hinüber, schweigend, mit ihrem gewohnten naiven Lächeln. Der Taube ging immerzu im Hof hin und her; den Arm hatte er voll Wäsche, und jetzt fing er wieder an, sie schweigend, ohne Beeilung, auszuhängen. Und solange die Köchin noch am Fluß war, wagte es niemand, die Küche zu betreten, um zu sehen, was sich dort ereignet hatte. VIII Nikiphor wurde in das Landkrankenhaus gebracht, wo er gegen Abend starb. Lipa wartete nicht erst, daß man sie im Wagen von dort abgeholt hätte, sondern wickelte den Leichnam in ein Deckchen und trug ihn nach Hause. Das Krankenhaus war neu, erst vor kurzem errichtet; es hatte große Fenster und befand sich hoch oben auf dem Berge; die untergehende Sonne blitzte in den Scheiben, und es sah so aus, als wäre im Hause Feuer ausgebrochen. Unten war die Siedlung. Lipa ging nun bergab, aber noch ehe sie in das Dorf abbog, setzte sie sich an einem kleinen Weiher nieder. Irgendeine Frau führte ihr Pferd zur Tränke, aber das Pferd wollte nicht trinken. „Was willst du denn noch?“ sagte die Frau leise, als verstünde sie nicht recht. „Was willst du denn?“ Ein Knabe saß dicht am Wasser, im roten Hemd, und wusch dort seines Vaters Stiefel. Sonst war keine Menschenseele weder im Dorf noch auf dem Berge zu sehen. „Es trinkt nicht“, sagte Lipa, auf das Pferd blickend. Aber nun waren die Frau und der Knabe mit den Stiefeln gegangen, und es war niemand mehr zu sehen. Die Sonne hatte sich schlafen gelegt, und mit sonnengoldenem Damast hatte sie sich zugedeckt; und geschweifte Wolken, rot und lilafarbene, zogen den Himmel lang und bewachten ihren Schlaf. Irgendwo, weit in der Ferne, wer mochte wissen wo, muhte eine Rohrdommel, ein Laut, der sich so anhörte, als brüllte ein - 179 -
Ochse, dumpf, im Stall eingesperrt, klagend, langgezogen. Den Ruf dieses geheimnisvollen Vogels hörte man Frühjahr um Frühjahr, aber man wußte nicht, was für ein Vogel das war und wo er nistete. Oben im Krankenhaus, dicht an den Büschen am Teich, jenseits der Siedlung und ringsum im Felde schlugen die Nachtigallen. Ein Kuckuck zählte jemandes Lebensjahre, kam immer wieder aus der Reihe und fing dann wieder neu an. Im Teich hörte man das böse, gleichsam aufschluchzende Quaken der Frösche, und man konnte sogar die Worte heraushören: „Auch du so, auch du so!“ Welch ein Getöse! Es hatte den Anschein, daß alle diese Kreaturen absichtlich schrien und sangen und riefen, damit nur ja niemand an diesem Frühlingsabend einschliefe, damit alle, selbst die bösen Unken, jeden Augenblick für kostbar hielten und ihn bis zuletzt auskosteten... Das Leben — ja nur einmal ist es gegeben! Am Himmel leuchtete der silberne Halbmond; viele Sterne waren schon da. Lipa konnte sich nicht erinnern, wie lange sie am Teich gesessen hatte, aber als sie dann aufstand und weiterging, schlief schon alles im Dorf, und kein Licht war mehr da. Bis nach Hause hätte sie noch etwa zwölf Werst gehen müssen, aber hierfür langten ihre Kräfte nicht; auch hä tte sie nicht gewußt, wie sie gehen sollte; der Mond schien bald von vorn, bald wieder von rechts, und immer wieder so; auch derselbe Kuckuck rief immer noch, jetzt schon mit heiserer Stimme, von Lachen untermischt, als wollte er sie necken: Schau, schau, du kommst vom Wege ab! Lipa ging rasch; sie hatte ihr Kopftuch verloren... Sie blickte zum Himmel auf und dachte, wo jetzt wohl die Seele ihres Kindes sei: ob sie ihren Spuren folgte oder dort oben einherzöge, neben den Sternen, und bereits nicht mehr an ihre Mutter dachte. Oh, wie einsam ist es im Felde bei Nacht, wenn alles ringsum ein einziger Gesang ist und man selber nicht singen kann, inmitten all der ununterbrochenen frohgelaunten Rufe, wenn man selber nicht froh sein kann, wenn vom Himmel der Mond niederschaut, auch einsam; und es ist ihm - 180 -
gleichgültig, ob jetzt Frühling oder Winter ist, ob die Menschen leben oder tot sind. Wenn Kummer die Seele erfüllt, ist es schwer, ohne Menschen zu sein. Wäre doch ihre Mutter da, Prasskowja oder Krücke oder die Köchin oder irgendein Bauer! Bu-u-u! brüllte die Rohrdommel, bu-u- u!, und plötzlich ließ sieh deutlich eine Menschenstimme vernehmen: „Wawila, spann an!“ Weiter vorn, dicht am Wege, brannte ein Herdfeuer; die Flamme war zwar nicht mehr zu sehen, nur die roten Kohlen glimmten noch. Man hörte, wie die Pferde kauten. In der Dunkelheit konnte man zwei Gefährte sehen, das eine mit einem Faß beladen, das andere, niedrigere, mit Säcken, dazu zwei Menschen, von denen einer das Pferd führte, um es anzuspannen, während der andere regungslos mit auf den Rücken gelegten Händen am Herdfeuer stand. Ein Hund knurrte neben einem der Wagen. „Da scheint wer auf dem Wege zu gehen.“ „Scharik still!“ rief der andere dem Hund zu. An der Stimme konnte man erkennen, daß dieser andere ein alter Mann war. Lipa blieb stehen und sagte: „Gott helfe euch!“ Der Alte trat auf sie zu, antwortete aber nicht sogleich: „Laß es dir gut gehen!“ „Wird mich euer Hündlein nicht beißen, Großvater?“ „Er tut nichts, komm nur!“ „Ich war im Krankenhaus“, sagte Lipa nach einigem Schweigen, „mein Söhnchen ist dort gestorben, jetzt bring’ ich es nach Hause.“ Das zu hören mochte dem Alten unangenehm sein, denn er trat zur Seite und sagte eilig: „Das macht nichts, Liebe! Es ist Gottes Wille. Was machst du da so lange, Junge?“ sagte er zu seinem Gefährten. - 181 -
„Dein Krummholz ist nicht da“, sagte der Junge. „Ich sehe es nicht.“ — „Stell dich nicht so dumm, Wawila.“ Der Alte nahm eine kleine Kohle auf, blies sie an; aber nur seine Augen und die Nase bekamen etwas Licht; als sie dann das Krummholz gefunden hatten, trat er mit dem Feuer auf Lipa zu und warf einen Blick auf sie; dieser Blick brachte Mitleid und Zärtlichkeit zum Ausdruck. „Du bist eine Mutter“, sagte er. „Jeder Mutter ist es leid um ihr Kind.“ Dabei seufzte er tief und schüttelte den Kopf. Wawila warf irgendwas ins Feuer, trat es in die Glut, und im selben Augenblick wurde es sehr dunkel; alles war verschwunden, und wie zuvor war da das Feld; der Himmel hing voller Sterne, und die Vögel rumorten und störten einander beim Einschlafen. Und die Ralle schrie, und zwar schien es genau an der gleichen Stelle, wo das Herdfeuer gebrannt hatte. Aber dann, nach einer kleinen Weile, waren die Wagen wieder zu sehen, auch der Alte und der Knabe Wawila. Die Wagen fuhren knarrend auf den Weg hinaus. „Seid ihr Heilige?“ fragte Lipa den Alten. „Nein, wir kommen aus Firssanowo.“ „Du blicktest vorhin auf mich, und da wurde mein Herz weicher. Auch der Junge ist so still. Da mußte ich denken: Das sind wohl Heilige.“ „Hast du no ch weit?“ „Nach Uklejewo.“ „Setz dich, wir bringen dich bis nach Kusjmionki. Von dort mußt du geradeaus weiter; wir biegen nach links ab.“ Wawila setzte sich in den Wagen mit dem Faß, der Alte und Lipa in den anderen. Sie fuhren im Schritt, Wawila vorne. „Mein Söhnchen hat sich den ganzen Tag gequält“, sagte Lipa. „Er sieht mich mit seinen Äuglein an und schweigt; und er möchte was sagen, aber er kann noch nicht. Herr Gott im - 182 -
Himmel, heilige Himmelskönigin! Vor lauter Kummer bin ich immer wieder auf den Boden gefallen. Da stehe ich und stürze neben dem Bett hin. Sage doch, Großvater, warum mußte der Kleine sich vor dem Tode so quälen? Wenn sich ein großer Mensch quält, ob Mann, ob Frau, so werden ihm die Sünden verziehen, aber warum denn so ein Kleiner, wenn er noch gar keine Sünden hat, warum?“ „Wer mag das wissen?“ erwiderte der Alte. Etwa eine halbe Stunde fuhren sie schweigend weiter. „Alles kann man nicht wissen, warum und wie es sieh so verhält“, sagte der Alte. „Dem Vogel sind nicht vier Flügel, sondern zwei gegeben, weil es auch mit zweien möglich ist zu fliegen; so ist es auch dem Menschen gegeben, nicht alles, sondern nur die Hälfte oder ein Viertel zu wissen. Wieviel er wissen muß, um zu leben, soviel weiß er auch.“ „Es ist mir leichter, Großvater, wenn ich zu Fuß gehe. Aber jetzt schüttert mein ganzes Herz.“ „Macht nichts, bleib sitzen!“ Der Alte gähnte und bekreuzigte seinen Mund. „Macht nichts“, erwiderte er. „Dein Leid ist ein halbes Leid. Das Leben ist lang; es wird auch noch Gutes und Arges kommen; alles wird noch kommen. Groß ist aber Mütterchen Rußland!“ sagte er, nach beiden Seiten blickend. „Ich bin durch ganz Rußland gekommen und habe alles darin gesehen, und du magst meinen Worten glauben, du Liebe. Gutes wird sein, und Schlechtes wird auc h sein. Als Pilger bin ich durch Sibirien gezogen; am Amur bin ich gewesen und auf dem Altai, und ich habe in Sibirien gesiedelt, habe dort die Erde gepflügt, habe dann Sehnsucht bekommen nach dem Mütterchen Rußland und bin heimgekehrt in mein Dorf. Zu Fuß sind wir nach Rußland gewandert, und ich weiß noch gut, wir stehen da auf einer Fähre, und ich war damals ganz, ganz schmächtig, in lauter Lumpen, barfuß, durchfroren; ich kaue an einer Brotrinde, und da ist auch irgendein Herr mit auf der Fähre, und wenn er - 183 -
gestorben ist, so möge ihm das Himmelreich beschieden sein; er sieht mich wehmütig an, Tränen fließen ihm über die Wangen, und er sagt: ,Dein Brot ist schwarz, deine Tage sind schwarz.' Und wie ich nach Hause kam, da hatte ich weder Haus noch Hof. Mein Weib habe ich in Sibirien gelassen, dort begraben; ich lebe also als Tagelöhner, nun ja doch! Ich will dir sagen, es kam dann Böses, es kam auch Gutes, und sterben möchte man auch nicht, du Liebe. Noch so der Jährchen zwanzig hätte ich gern gelebt; folglich gab's des Guten mehr. Und Mütterchen Rußland ist gewaltig groß“, sagte er und warf wieder einen Blick seitwärts und schaute zurück. „Wie ist das, Großvater“, fragte Lipa, „wenn ein Mensch stirbt, wieviel Tage ist dann wohl seine Seele noch auf der Erde?“ „Wer mag das wissen! Wir wollen Wawila fragen, er hat die Schule besucht; jetzt wird da alles gelehrt. Wawila!“ rief der Alte. „Ja!“ „Wawila, wenn der Mensch gestorben ist, wieviel Tage wandelt da seine Seele noch auf Erden?“ Wawila hielt das Pferd an. dann erst erfolgte die Antwort: „Neun Tage; mein Onkel Kirill starb, da hat seine Seele hernach noch dreizehn Tage in unserer Hütte gelebt.“ „Woher weißt du das?“ „Dreizehn Tage hat es im Herd geklopft.“ „Na, schon recht, fahr an“, sagte der Alte, und man konnte merken, daß er das alles nicht glaubte. Bei Kusjmionki bogen die Wagen auf die Chaussee ab, während Lipa zu Fuß weiterging. Es dämmerte. Als sie in den Tobel hinabstieg, verbargen sich die Hütten von Uklejewo und die Kirche im Nebel. Es war kalt, und ihr wollte scheinen, als riefe immer noch derselbe Kuckuck.
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Als Lipa nach Hause kam, war das Vieh noch nicht auf die Weide getrieben; alle schliefen. Sie setzte sich auf das Treppchen vor dem Flur und wartete. Als erster war der Alte auf, gleich beim ersten Blick hatte er verstanden, was geschehen war, und lange konnte er kein Wort herausbringen, und er schmatzte nur mit den Lippen. „Ach, Lipa“, sagte er dann, „hast das Enkelchen nicht gehütet.“ Man weckte Warwara. Sie schlug die Hände zusammen, und sie schluchzte, und dann gab sie sieh gleich daran, den kleinen Leichnam zu richten. „Und was war das für ein hübsches Kindchen!“ sagte sie dazu. „Och, je, je... Ein Jungchen hast du gehabt und hast es nicht behütet, du Dummchen!“ Am Morgen und am Abend wurden Totenämter gehalten. Tags darauf fand das Begräbnis statt. Nach dem Begräbnis haben die Gäste und was von der Klerisei da war viel gegessen, und so gierig haben sie gegessen, als hätten sie lange, lange hungern müssen. Lipa bediente bei Tisch, und der Batjuschka, also der Priester, hob die Gabel, auf der er einen gesalzenen Reizker gespiest hatte, und sagte ihr: „Gräm dich nicht um das Kindlein! Solcher ist das Himmelreich!“ Und erst als alle auseinandergegangen waren, begriff Lipa recht, daß Nikiphor nicht mehr da war und auch nicht mehr da sein würde. Sie begriff es und schluchzte; aber sie wußte nicht, in welches Zimmer sie gehen sollte, um zu schluchzen, da sie fühlte, daß für sie nach dem Tode des Knaben in diesem Hause kein Platz mehr war, daß sie hier nichts zu suchen habe, daß sie eine Überzählige war; und auch die anderen fühlten das ebenfalls. „He, du! Was soll das Wehklagen!“ schrie Aksinja plötzlich und stand groß in der Tür; aus Anlaß des Begräbnisses war sie von Kopf bis zum Fuß neu gekleidet; auch hatte sie sich gepudert. „Sei jetzt still!“ - 185 -
Lipa wollte aufhören, aber sie konnte nicht, und sie schluchzte nur noch lauter. „Hast du gehört“, schrie Aksinja sie an und stampfte vor Wut mit dem Fuß. „Zu wem rede ich denn? Mach, daß du 'raus kommst vo m Hof! Und daß du deinen Fuß nicht wieder hersetzt, du Zuchthäuslerin! Hinaus mit dir!“ „Na, na, na“, machte sich der Alte bemerkbar. „Nimm dich etwas zusammen, Aksinja, Mütterlein! Daß sie so weint, kann jeder verstehen, das Kind ist ihr gestorben...“ „Jeder verstehn!“ äffte ihn Aksinja nach. „Mag sie noch über Nacht bleiben, aber daß morgen auch nicht ein Schatten von ihr hier zu sehen ist! Jeder verstehn... !“ äffte sie ihn noch einmal nach und begab sich laut auflachend in den Laden. Tags darauf, am frühen Morgen, begab sich Lipa nach Torgujewo zur Mutter. IX Jetzt, schon zu unserer Zeit, ist das Dach des Ladens und die Tür frisch gestrichen; alles glänzt wie neu, an den Fenstern blühen wie früher putzige Geranien, und das, was sich vor drei Jahren im Hause und auf dem Hof Zybukins abgespielt hatte, ist schon fast in Vergessenheit geraten. Als Inhaber des Ganzen gilt genauso wie damals der alte Grigorij Petrowitsch; aber in Wirklichkeit ist alles in die Hände Aksinjas übergegangen; sie verkauft, und sie kauft ein, und ohne ihre Zustimmung kann überhaupt nichts geschehen. Die Ziegelei arbeitet gut, weil Ziegel für die Eisenbahn gebraucht werden. Der Preis ist auf vierundzwanzig Rubel fürs Mille gestiegen; Weiber und Mädchen fahren die Ziegel auf die Station und laden sie um in Güterwagen, wofür sie am Tage mit fünfundzwanzig Kopeken bezahlt werden. Aksinja ist Teilhaberin der Chrymins geworden, und ihre Fabrik heißt jetzt „Chrymin jun. & Co.“ Am Bahnhof ist eine - 186 -
Schenke eröffnet, und auf dem teuren Schifferklavier wird nicht mehr in der Fabrik, sondern in dieser Schenke gespielt; auch der Vorsteher der Postabteilung pflegt hier oft zu erscheinen, er hat ebenfalls irgendeinen Handel begonnen und so auch der Stationsvorsteher. Dem tauben Stepan haben die Chrymins jun. eine goldene Uhr geschenkt; diese pflegt er immer wieder aus der Tasche zu ziehen und sie ans Ohr zu halten. Im Kirchdorf wird von Aksinja gesagt, sie habe nun eine große Macht in Händen; und in der Tat, wenn sie am Morgen mit ihrem naiven Lächeln, schön und glücklich, in ihre Fabrik fährt und wenn sie dann in der Fabrik ihre Anordnungen trifft, so spürt man gleich, daß eine große Kraft von ihr ausgeht. Zu Hause und im Kirchdorf und auch in der Fabrik wird sie von allen gefürchtet. Kommt sie auf die Post, so springt der Vorsteher der Postabteilung auf und sagt: „Ich bitte ergebenst, Ksenja Abramowna, wollen Sie sich nicht setzen?“ Ein Gutsbesitzer, ein Geck, der ein Wams aus feinem Tuch und hohe Lackstiefel trug, schon ein älterer Mann, ließ sich einmal, als er ihr ein Pferd verkaufte, im Gespräch mit ihr so hinreißen, daß er den Preis zurücksetzte, wie sie es wollte. Lange hielt er ihre Hand; und indem er in ihre vergnügten, listigen und naiven Augen blickte, sagte er: „Für eine solche Frau, wie Sie es sind, Aksinja Abramowna, bin ich bereit, alles zu tun, was in meinen Kräften steht. Sagen Sie bitte, wann können wir uns sehen, so daß wir von niemand gestört werden?“ „Ja, wann immer Sie wollen.“ Seither pflegt der bejahrte Geck fast täglich beim Geschäft vorzufahren, um dort ein Glas Bier zu trinken. Das Bier ist schauerlich, bitter wie Wermut. Der Gutsbesitzer schüttelt zwar den Kopf, aber er trinkt. Der alte Zybukin kümmert sich nicht mehr um die Geschäfte. Er selber pflegt kein Geld bei sich zu haben, weil er echtes Geld - 187 -
von falschem nicht unterscheiden kann; aber er schweigt und spricht zu keinem Menschen von dieser seiner Schwäche. Er ist recht vergeßlich geworden, und gibt man ihm nichts zu essen, so wird er nicht darum bitten, man ha tte sich schon daran gewöhnt, ohne ihn zu Mittag zu speisen, und Warwara sagte des öfteren: „Gestern ist er wieder ungegessen zu Bett gegangen.“ Sie sagt es gleichgültig, weil sie sich daran gewöhnt hat. Aus irgendeinem Grunde geht er Sommer und Winter im Pelz umher, und nur an sehr heißen Tagen pflegt er nicht auszugehen, sondern zu Hause zu bleiben. Gewöhnlich hat er den Pelz, mit aufgeschlagenem Kragen, zugeknöpft; dann spaziert er durch das Dorf, geht dann auf der Straße weiter, die zum Bahnhof führt, oder er sitzt vom Morgen bis zum Abend auf einem Bänkchen vor dem Kirchentor. Er sitzt da und rührt sich nicht. Die Vorübergehenden grüßen ihn, aber er antwortet nicht, da er wie früher die Bauern nicht leiden mag. Fragt man ihn nach irgend etwas, so gibt er durchaus vernünftige und höfliche, aber kurze Antworten. Im Kirchdorf wird erzählt, seine Schwiegertochter habe ihn aus dem eigenen Hause hinausgejagt und gäbe ihm nichts zu essen, und er lebe angeblich von milden Gaben. Darüber freuen sich die einen, während ihn die anderen bemitleiden. Warwara ist noch üppiger und weißer geworden: wie früher ist sie auch jetzt wohltätig, und Aksinja legt ihr in dieser Hinsicht nichts in den Weg. Sie hat jetzt so viel Marmelade, daß es bis zur nächsten Beerenernte immer noch reicht, doch verzuckert die Marmelade, und Warwara ist nahe am Weinen, weil sie nicht weiß, wohin damit. Anissim ist allmählich in Vergessenheit geraten. Einmal kam ein Brief von ihm, in Versen geschrieben, auf einem großen Bogen Papier, in Form eines Gesuchs und immer noch dieselbe prachtvolle Handschrift. Offensichtlich mußte sein Freund Ssamorodow mit ihm zusammen die Strafe absitzen. Unter den Versen fand sich in kaum leserlicher
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Handschrift eine Zeile „Ich bin immer krank, ich habe es so schwer! Helft um Christi willen!“ An einem klaren Herbsttag saß einmal der alte Zybukin vor Anbruch des Abends an der Kirchenpforte mit aufgeschlagenem Pelzkragen, aus dem nur seine Nasenspitze und der Mützenschirm hervorschaute. Am anderen Ende der langen Bank saß der alte Unternehmer Jelisazow und an seiner Seite der Schuldiener Jakow, ein zahnloser Greis von siebzig Jahren. Krücke und der Pedell unterhielten sich. „Die Kinder haben die Pflicht, die Alten zu beköstigen. Vater und Mutter sollen geehrt werden“, sagte Jakow gereizt. „Sie aber, die Schwiegertochter, hat den Schwiegervater aus dem eigenen Hause gejagt. Der Alte hat nichts zu essen, nichts zu trinken. Wohin soll er gehen? Schon drei Tage ist das so.“ „Drei Tage schon?“ staunte Krücke. „Da sitzt er nun da und schweigt und schweigt. Er ist von Kräften gekommen. Warum schweigen? Man sollte es vor Gericht bringen. Das Gericht würde sie nicht gerade dafür loben.“ „Wer ist im Gericht gelobt worden?“ fragte Krücke, der nicht richtig gehört hatte. „Was?“ „Das Weib ist nicht übel! Sie gibt sich Mühe, sie tut was. Ohne das geht es eben nicht in ihrem Geschäft... Das heißt ohne Sünde.“ „Aus dem eigenen Hause gejagt!“ fuhr Jakow gereizt fort. „Das Haus sollte sie sich erst verdienen, dann mag sie ihn hinaussetzen. Da hat sich eine gefunden! So ein Aas!“ Zybukin hörte zu, ohne sich zu rühren. „Ob das eigene Haus oder ein fremdes, bleibt sich gleich, wenn es nur warm hält und wenn die Weiber nicht schimpfen“, sagte Krücke und lachte. „Als ich noch jung war, tat mir meine Anastasia immer leid. Ein stilles Weibchen war sie, und dann - 189 -
kam sie mir immer wieder: ,Kauf doch ein Haus, Makarytsch! Kaufe doch ein Haus, Makarytsch! Kauf doch ein Pferd, Makarytsch!' Und noch im Sterben sagte sie immerzu: ,Kauf dir doch eine Brettdroschke, Makarytsch, daß du nicht zu Fuß zu gehen brauchst!' Ich habe ihr aber nur Lebkuchen gekauft, sonst nichts.“ „Ihr Mann ist taub und dumm“, fuhr Jakow fort, ohne darauf zu achten was Krücke sagte „So ein Narr bleibt halt ein Narr dumm wie eine Gans! Als könnte der was verstehen! Hau der Gans eine mit dem Stock über den Kopf, und sie wird es auch nicht verstehen.“ Krücke erhob sich, um nach Hause zu gehen. Auch Jakow war aufgestanden, und beide setzten unterwegs die Unterhaltung fort. Nachdem sie etwa fünfzig Schritt weit gegangen waren, erhob sich auch Zybukin und schleppte sich hinter ihnen her; seine Füße taten es nicht mehr, er ging unsicher, als wäre Glatteis auf der Straße. Das Kirchdorf versank schon in abendlichem Dunkel, und die Sonne glänzte oben auf dem Wege, der sich den Abhang hinaufschlängelte. Alte Weiber kehrten aus dem Walde heim und junge Leute mit ihnen; sie trugen Körbe mit Reizkern und Pfifferlingen. Die Weiber und die Mädel kamen in Scharen vom Bahnhof gegangen, wo sie Ziegel geladen hatten, und Nasen und Wangen waren unterhalb ihrer Augen mit rotem Ziegelstaub bedeckt. Sie sangen. Vor ihnen her schritt Lipa, und sie sang mit ihrer feinen Stimme und jubilierte, gen Himmel aufblickend, als triumphierte und frohlockte sie, daß dieser Tag, Gott Lob und Dank, ein Ende gefunden hatte und man nun ruhen durfte. In der Schar war auch ihre Mutter, die Tagelöhnerin Prasskowja, die mit einem Bündel in der Hand einherging und, wie einst, schwer atmete. „Guten Abend, Makarytsch!“ sagte Lipa, als sie Krücke gewahrte, „guten Abend, guter Freund.“ „Guten Abend, Lipotschka!“ freute sich Krücke. „Weiblein und Mägdelein, habt den reichen Zimmermann lieb! Ho, ho. - 190 -
Kindlein mein, Kindelein!“ (Krücke schluchzte auf.) „Ihr meine geliebten Beilchen!“ Krücke und Jakow gingen ihres Weges, und man konnte hören, wie sie sich unterhielten. Dann kam hinter ihnen her der alte Zybukin geschlichen; da wurde es plötzlich still, mäuschenstill. Lipa und Prasskowja blieben ein wenig zurück, und als der Alte an ihnen vorbeiging, verneigte sich Lipa tief vor ihm und sagte: „Schönen guten Abend, Gregorij Petrowitsch!“ Und auch die Mutter verneigte sich. Der Alte blieb stehen und blickte beide an, ohne ein Wort zu sagen; seine Lippen bebten, und die Augen standen voll Tränen. Lipa holte aus dem Bündel der Mutter ein Stück Grützekuchen und gab es ihm. Er nahm es und begann zu essen. Die Sonne war schon ganz untergegangen, ihr Glanz war auch oben auf dem Wege erloschen. Es wurde dunkel und kühl. Lipa und Prasskowja gingen weiter, und noch lange hernach bekreuzigten sie sich.
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Die zwei Brüder und das Gold und 19 andere Volkserzählungen Übertragen von Dr. Leo v. Witte 1. Auflage, 300 Seiten, Leinwand 9. 80 DM „Diese Erzählungen bedürfen keiner Erklärung. Sie sind die Übertragung des Evangeliums in das Leben des russischen Volkes. Was diese Menschen demütig glauben, was sie ertragen, das vollbringen sie niemals für sich allein, sondern immer für das Ganze, für das in der Dorfgemeinde gegenwärtige Volk, für die Menschheit im Volke. " So schreibt Reinhold Schneider in der Einführung auch für diesen Band. Tolstoi beherrscht hier lale Register der Wortkunst: das schalkhafte, das fröhliche, das ausgelassene so gut wie das schwermütige, ernsthafte und erhebende.
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ANTON P. TSCHECHOW, am 29. Januar 1860 in Taganrog geboren, war, ehe er sich der Schriftstellerei widmete, Arzt. Er gilt als Meister der schwermütigironischen Erzählung. Tschechow begann zunächst mit humoristischen Skizzen, doch wich der Humor bald einer untendenziösen, sachlich kühlen und unerbittlich wahrhaftigen Darstellungskunst. In seinen Kurzgeschichten schildert er die im Alltag verborgene und im Menschen selbst verwurzelte Tragik des Daseins. Sein literarisches Schaffen, das von einer tiefen humanistischen Gesinnung geprägt ist, ist von zeitloser Gültigkeit. Seine Novellen werden von der Kritik neben die E. A. Poes gestellt. Als Bühnendichter wurde Tschechow Begründer des russischen impressionistischen Dramas. Er starb 1904 in Badenweiler.
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