Thomas Palzer
Ruin
Roman
Blumenbar Verlag
© by Blumenbar Verlag, München 2005 1. Auflage 2005 Alle Rechte vorbehalten
Coverdesign: Chrish Klose Lektorat: Wolfgang Farkas Korrektorat: Dr. Wolfgang Lasinger Typographie und Satz: Frese, München Druck und Bindung: Aalexx, Großburgwedel Printed in Germany ISBN 3-936738-17-3 Kontakt:
[email protected] www.blumenbar.de
Auf der Beerdigung seines Vaters, eines Kunsthändlers, kommt Viggen mit einer Frau ins Gespräch. Irgendein Geheimnis umgibt diese Person. Drei Tage nach der Trauerfeier verabredet er sich mit ihr. Viggen, der mit Filmrechten handelt und dessen fast fünfzigjähriges Leben grau und routiniert geworden ist, sieht durch Dora alles in neuen, kräftigen Farben. Er ist von dieser Frau fasziniert, die ihm so nah, so vertraut ist. Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich verstanden. Auch Dora, die gleichfalls in einer Existenzkrise steckt, fällt es zunehmend schwerer, sich Viggen zu entziehen. Was sie hindert, ist etwas, das nur sie allein weiß. Ruin – eine Liebesgeschichte, gewiß. Auch ein Gesellschaftsroman. Und ein Buch über die Mysterien von Verlust und Neubeginn. Thomas Palzer, geboren 1956, Studium Philosophie und Neuere deutsche Literatur in München und Wien. Hörfunk- und Fernsehautor, lebt in München. Journalistische, essayistische und literarische Veröffentlichungen, darunter Pony (1994), Ab hier FKK erlaubt (1996), Nachmittag eines Fauns (1996, Chansons), Camping. Rituale des Diversen (2003). Ruin ist seine erste Veröffentlichung bei Blumenbar. »Palzer injiziert seiner Prosa die schillernde Vielschichtigkeit des Lebens, erweitert das Papier zum dreidimensionalen Raum.« Helmut Krausser
Für Julia
Tadle nichts Menschliches! Alles ist gut, nur nicht überall, nur nicht immer, nur nicht für alle. NOVALIS
1 KAPUTT
KURZ NACH MITTAG, die Sonne ein glühender Ball, der leise knisternd vom Himmel brannte. Deutlich traten die Ausläufer des Gebirges hervor, während die tiefen Schluchten, die die Küste Amalfis zerfurchen, im Dunkel verschwammen. An den Tischen saßen nur vereinzelt Gäste. Viggen schob seine Sonnenbrille hoch und gabelte sich einen Bissen. Er kaute, langsam, bedächtig, als befolge er den Ratschlag von Ärzten, und ließ zu, daß vollendete Zutraulichkeit seine Mundwinkel umspielte. Sein Blick schweifte von der Bar Grotta Azzurra hinüber zur Anlegestelle in der Bucht Marina Grande und von dort zu den in prahlerischem Weiß lackierten Stretch-Limousinen – Mietwagen, die grüppchenweise Touristen schluckten, begleitet vom fortgesetzten Geräusch zuschlagender Kofferraumdeckel und Türen. Er ließ sich einlullen: von Touristen und Taschendieben, Händlern und Hoteliers und den unvermeidlichen Mandolinenspielern, die bis zum Nachmittag als Cicerones arbeiteten. Doch lange vermochte das Gewusel seine Aufmerksamkeit nicht zu fesseln. Das kannte er gut. Und es schlug ihm auf die Stimmung. Viggens heitere Gleichgültigkeit schwand dahin. Er sah Engländer, Deutsche, Italiener, und es schien unvermeidlich, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich waren: einfältig und aufgeblasen. Eine Population von Schnäppchenjägern und Erlebnishungrigen wankte an ihm vorbei, schlaffbrüstig und krummbeinig. In T-Shirts, deren Aufdrucke sich über prallen
Bäuchen spannten. Beschirmt von Sonnenhüten oder albernen Frisuren. An den fetten Hüften den Tresorgürtel. Zwischen Mißmut und Trübsinn schwankend, rettete er sich zu Hohn und Spott, wozu er eine gefährliche Neigung besaß. Eben noch in einem Kokon nachlässigen Selbstgenusses gefangen, richtete er sich plötzlich in seinem Stuhl auf – und ging zu sich selbst auf Distanz. Er war nun wieder, wie so oft: reserviert, vornehm, abschätzig. Mit gespieltem Interesse ließ er seinen Blick die Kolonne der Preise auf der Karte herabwandern. Seit der Einführung des Euro war ganz Europa ein Hochpreisland geworden. Jedenfalls stöhnte jeder. Die gefühlte Inflationsrate lag vermutlich um das zwanzigfache höher als die von Statistiken verbreitete. Daß aber der Touristikmarkt eingebrochen war, wie von der Branche behauptet – davon war nichts zu spüren! Er nahm die Sonnenbrille von der Stirn, legte sie auf den Tisch, fuhr sich mit der Hand über den mit Lichtschutzfaktor 24 eingesprayten Schädel. Unwillkürlich zuckte er mit den Achseln und stellte sein Glas ab. Nachdem ihn heute morgen ein Schiff von Positano hierher nach Capri gebracht hatte, war er zunächst einer privaten Einladung zum Besuch der Casa Malaparte an der schroffen Südseite der Insel gefolgt. Gleich an der Anlagestelle war er mit Pappschild, auf dem sein Name mit giftgrünem Filzer gemalt war, empfangen worden – in die Luft gehalten von einem jungen Mann mit römischem Haar, schmalem MenjouBärtchen und Seidenschal, der auf einer zitronengelben Vespa saß und sich als Luigi vorstellte. Es war sein persönlicher Cicerone. Nach einer knatternden halben Stunde auf dem Sozius – der Via Tragara und Via Pizzolongo folgend, vorbei an Zypressen- und Pinienwäldern, bis zur ins Meer vorspringenden Felsenklippe Capo Massullo – und nach einem schweigsamen zwanzigminütigen Anstieg, der
noch einmal von dreihundertsiebenundneunzig Stufen gekrönt wurde (wobei von Karl Lagerfeld, der die Casa in den neunziger Jahren besucht hatte, eine Stufe weniger gezählt worden war), standen Luigi und er, schwitzend und abgekämpft, vor der trapezförmigen Freitreppe, unter der sich das pompejanisch rote Haus verbarg. Vor Viggens geistigem Auge erschien die Szene aus Le Mepris, in der die Bardot im Frotteemantel die Treppe herabsteigt… Deutlich schöner als der berühmte Akt von Duchamp. Recherchen zu einem vorzeitig gescheiterten Projekt –einem Remake eben jenes Klassikers von Godard: Die Verachtung – hatten ihn in telefonischen Kontakt mit dem jetzigen Hausbewohner gebracht, einem feinnervigen, aus Oskarshamn in Schweden stammenden Kunstschriftsteller. Axel, aufrecht, hölzern, und ein wenig mürrisch in der offenen Tür stehend, erinnerte Viggen an den Schauspieler Curd Jürgens, dem er einmal als junger Student in Grasse beim Betreten einer Bäckerei in die Arme gelaufen war – an eine etwas abgemagerte Version, wie er mit stiller Sympathie feststellte. Als erahnte der Mann die Gedanken, die Viggen durch den Kopf gingen, hellten sich seine Züge mit einmal auf. Nun wechselten die Begrüßungsformeln, und Viggen, der feststellen mußte, daß sein lange nicht mehr erprobtes Schwedisch spürbar eingerostet war, wurde ohne weitere Umstände durch die Räumlichkeiten geführt. Axel war braungebrannt, trug beige Shorts und schwarze Sandalen, und über seiner mächtigen Brust wölbte sich ein einfaches schwarzes Polohemd. Die Begeisterung, die er in seine Stimme legte, wenn er Viggen auf dieses oder jenes Detail aufmerksam machte, war aufrichtig und übertrug sich schnell auf seinen Gast. Viggen war voller Bewunderung für den Kamin, in dessen Stirn ein Relief mit zwei gekreuzten Pfeilen und einer geschlossenen Wappenkrone darüber
eingelassen war; für das Marmorbad; die Bodenkacheln mit der eingebrannten Lyra; die präzise geschnittenen Fenster und das Panorama, das sie boten; für die auf niedrigen Säulen ruhenden Holzbänke. Doch als seinen Lippen die Bezeichnung Villa entfloß, wurde er von seinem Gastgeber darüber belehrt, daß Malaparte jeden mit Verachtung gestraft hatte, der unachtsam genug gewesen war, die Casa wider ihren Charakter so zu titulieren. Ein Lächeln des Einverständnisses flog über beider Gesicht: Man bedauerte, in Zeiten zu leben, die für Feinheiten der aristokratischen Sorte keinen Sinn mehr aufbrachten – und saß wenig später auf der legendären geländerlosen Terrasse, inmitten eines durchsichtigen, glücksversprechenden und von steilen Klippen durchbrochenen Azurs. Herrlich! Ein Ausblick, der die Gedanken in die Ferne lenkte! Eine von der Brandung hörbar gemachte Stille! Die Brise so sanft, als wenn einem zugefächelt würde! Die Möwen! Der Duft der – Natur! Viggen schloß hinter den getönten Gläsern seiner Brille die Augen – und als er sie wieder öffnete, sah er sich bald mit Axel angeregt über dieses und jenes plaudern und dazu körnig geeisten granita di caffe aus schlanken, hohen Gläsern löffeln. Zum Abschluß bekam Viggen ein Album mit Fotografien gezeigt, auf denen über die Jahre und Jahrzehnte die Besucher festgehalten waren. Eine bemerkenswerte Galerie: Alberto Moravia, Elsa Morante, Albert Camus… sogar – tatsächlich! Kein Irrtum! – Erwin Rommel. Axel begegnete dem fragenden Blick seines Gastes mit einem wissenden Lächeln. Und erzählte die kleine Anekdote, wie Rommel Malaparte fragte, ob dieser das Haus selbst gebaut habe. Darauf Malaparte: »Nein, nur die Landschaft drum herum und den Golf von Neapel.« Axel ergänzte: Tatsächlich habe der Schriftsteller Malaparte, der eigentlich Kurt Suckert geheißen habe, den Plan des
Architekten Adalberto Libero mehrfach umgeworfen! Bei seiner Casa come me sei er von einer Kirchentreppe inspiriert worden, die er auf der Insel Lipari studiert habe – jener bekannten Strafkolonie für politische Häftlinge, wohin er von Mussolini wegen seiner prophetischen Kritik an Hitler für fünf Jahre verbannt worden sei. Die Abgeschiedenheit habe es begünstigt, daß Malaparte einen Roman über den Untergang Alteuropas schreiben konnte, der 1951 unter dem Titel Kaputt in deutscher Sprache erschienen sei und schnell weitere Auflagen erlebt habe. Viggen äußerte Verständnis für Malapartes planerische Eigenmächtigkeit; reichte seinem Gastgeber die Hand und bedankte sich. Schließlich lud er ihn ein, sich bei ihm zu melden, wenn er einmal in München Station machen sollte – und begab sich auf den Weg. Die Vespa und der Caprese warteten unten bereits auf ihn. Jetzt saß er im Restaurant – nicht mehr halb so gut gelaunt wie zuvor auf der Klippe. Er fuhr sich mit der Serviette über die Mundwinkel. Eines der Schiffe am Hafen blökte. Viggen sah kurz auf und schlug sich eine fette Fliege aus dem Nacken. Wenige Meter von ihm entfernt: ein blau-grau lackierter Smart, dessen Türen weit offenstanden und in dem zwei italienische Polizisten mit dunkel getönten Sonnenbrillen saßen und sich unterhielten. Der Anblick der Carabinieri wirkte nur noch rührend. Wie die Erinnerung an eine längst vergangene Welt, die er einst – als stoppelhaariger Junge, im Schlafanzug vor dem Fernseher liegend –für jene gehalten hatte, die ihn einmal erwarten würde. Von den Polizisten angeregt, sein Gedächtnis nach Filmen zu durchsuchen, fiel ihm Es begann in Neapel mit Clark Gable und Sophia Loren ein – eine amerikanische Schmonzette, die Italien als Land der kittelbeschürzten Frauen und der Wäscheleinen vorführte.
Ein mattes Schmunzeln legte sich auf seine Lippen, als er sich vergegenwärtigte, die Loren mit genau zwei Bildern abgespeichert zu haben, keines davon unverdächtig: das eine zeigte nichts als ihren beeindruckenden Hintern; beim anderen stand sie vor dem schwarzen Oval einer offenen Bordtür, eingehüllt in Pelz, sich noch einmal den Kameras auf dem Rollfeld zudrehend, um ihren Fans in aller Welt zuzuwinken. Viggen angelte sich eine seiner ovalen Finas aus der Tasche. Tatsächlich war es die Loren, die ihn im Alter von 14 oder 15 entdecken ließ, was Lust bedeutete. Er legte sich die Zigarette zwischen die Lippen und war gerade im Begriff, sie anzuzünden, als sein Handy klingelte. Es war eines jener gebieterischen Geräusche, die ihn daran erinnerten, daß er für sein Seelenheil nichts anderes tun konnte, als die strenge Linie der Gegenwart zu akzeptieren. Eine sirrende, summende, schnarrende Linie – vor der man wie ein Rekrut stramm anzutreten hatte. Er ärgerte sich, daß er vergessen hatte, sein Handy im Hotel zu lassen oder wenigstens auszuschalten. Er war doch im Urlaub. Zu spät. War es die Keyser, die anrief, um ihm mit unterwürfiger Stimme eine weitere Schreckensnachricht zu übermitteln? Tatjana Keyser, seine Sekretärin, war eine aus Dresden stammende Frau in den Fünfzigern, in deren Vornamen und egalitärer Moral noch die Sowjets weiterlebten, auch wenn ihr meisterlicher Umgang mit Excel-Tabellen sie zur überzeugten Kapitalistin gemacht hatte. Er sah sie vor sich: im ewig gleichen dunkelblauen Kostüm, mit Gold behängt, die Brille an einer Kette vor der imposanten Brust, das glatte, rotbraun gefärbte Haar auf praktische Kinnlänge gestutzt. Eine patente und herzliche Person, verwitwet und in steter Sorge um ihren Sohn, der von Drogen nicht loskam. Kein Musical und keine Operette, die am Gärtnerplatz oder am Deutschen Theater aufgeführt wurden,
verpaßte die Keyser – war sie es, die ihn sprechen wollte? An einem Samstag? Kaum vorstellbar. Es sei denn – Im Moment gab es kleine und größere Schwierigkeiten. Das Geschäft ging schlecht. Er richtete den Blick auf die Anlegestelle, wo gerade ein neues Schiff Klumpen drängelnder Menschen erbrach – und hatte das Gefühl, daß sich alles um ihn herum in Schacher, Spekulation und Betrug verwandelte. Doch er, das wußte Viggen, gehörte dazu. Und verdiente daran. Verdiente? Neben seinem Handel mit Filmrechten war er mit einem halben Prozent bei einer Firma beteiligt, die sich vor zwei Jahren den Irrsinn einer UMTS-Lizenz geleistet hatte. Seitdem schwand das großelterliche Erbe, das er an der Börse investiert hatte, rapide dahin. Es war nur noch ein paar Cent wert, ob in Euro oder Dollar, war dabei inzwischen vollkommen egal. Eine Zeitlang hatte er jeden Morgen herzklopfend im Internet den Verfall seines Depots beobachtet. Es war die erste Krise gewesen –das Ende heißgelaufener Hoffnungen, die in die boomende IT-Branche gesetzt worden waren. Jetzt war ihr eine zweite gefolgt, die der ersten zum Teil widersprach, weil sie gerade vom Gegenteil, nämlich vom Erfolg des Internets, genährt wurde. Es war eine Krise, in der sich ausdrückte, daß sich ein Teil der Materie allmählich auflöste. Möbel, Kühlschränke, Autos, Bücher, CDs – das alles verlagerte sich ins Netz, wo man weder Lager noch Lageristen brauchte. Die Verunsicherung traf zuerst die Werbewirtschaft – und damit die Medien. Für Experimente war kein Platz mehr. Und es galt nahezu alles als – Experiment. Rückblicke hatten Konjunktur, Wunder aus den Fünfzigern. Wer noch Geld hatte, investierte in Filmfonds, die anstatt des europäischen Films Hollywood finanzierten, Blockbuster. Die Sender in
Deutschland gaben das Geld praktisch nur noch für Sportrechte aus. Und das Publikum mied ohnehin das Kino, kaufte Festplattenrekorder und beschreibbare CDs. Bald würden Filme auch auf Handys überspielt werden können. Das herrische Klingeln kehrte in Viggens Bewußtsein zurück. Auf dem Display sah er, daß sein Akku fast leer war. Schnell erkannte er seine Mutter am anderen Ende, aber die Verbindung war schlecht. Die Sätze kamen nur bruchstückhaft bei ihm an; in kleinen, beschädigten digitalen Paketen. Trotzdem verstand er. Es war nicht schwer, aus dem Schluchzen herauszuhören, was vorgefallen war. Die Nachricht traf Viggen unvorbereitet, wiewohl er seit ein paar Monaten – seit Vaters erstem Gehirnschlag kurz vor Weihnachten – davon ausgehen mußte. Die Ärzte hatten es angekündigt. Aber unter dieser Sonne rechnete man nicht mit dem Tod. Jedenfalls nicht sofort. Instinktiv drückte er das Telefon fester ans Ohr. Ihm war, als hätte sich zwischen seine Person und die Welt um ihn herum Watte geschoben. Nun war dieses Universum, wie er noch kaum begriff, unwiderruflich erloschen. Erloschen: daß ihn die große Hand seines Vaters über alpine Bergkämme führte; ihn, der voller kindlicher Angst war, wenn es neben ihm steil hinabging. Daß er seinen Vater stolz sagen hörte: mein Sohn. Daß er sich ihm, dem Kunsthändler, anvertraute (aber nur an jenen von Wein geschwängerten Abenden, wo er nicht mehr weiterwußte, wo er hilflos und sentimental gewesen war). Erloschen: seine qualvolle monotheistische Vergangenheit. Viggen spürte Trauer und Entsetzen in sich aufsteigen. Nervös rückte er auf dem Stuhl hin und her, als könnte er dem ausweichen, was auf ihn einstürzte. Eine seiner Sandalen glitt zu Boden. Er versuchte, den lärmenden, sonnenüberfluteten, in einem teilnahmslosen Glück existierenden Raum zurückzuerobern, in dem er sich eben noch befunden hatte: das
Straßencafe am Hafen von Capri. Es gelang ihm nicht. Mit einem Mal war er von allem unendlich weit weg: von Italien, von seinem Büro, den Vorhaben, Verhandlungen, Papieren, war herausgefallen aus der Leinwand, auf der sein routiniertes Leben sonst vor ihm abflimmerte. In seinem Kopf brauste ein seltsamer Lärm, der von innen kam und dessen einziger Zweck darin zu bestehen schien, ihn aus seiner Umgebung zu lösen. Er dachte an etwas, was sich nur schwer beschreiben läßt – wenn Denken das richtige Wort dafür ist. Sätze fielen ihm ein, kluge und dumme, Szenen, lächerliche Streitereien mit den Eltern, alles wild durcheinander. Dann, aus unermeßlicher Ferne, drangen wieder die von Schmerz erschöpften Worte an sein Ohr. Irgend etwas oder irgendwer in ihm – der lauernde, an den Platz seines Vaters getretene Sohn – reagierte sehr klar, sehr konzentriert, sehr nüchtern. Er suchte seine Mutter zu beruhigen und fand doch nur magere Vokabeln des Trostes, verstummte, hob von neuem an, versprach, sofort nach München zurückzufliegen. Gleich morgen früh. Den nächsten Flug jedenfalls, den er in Neapel bekommen würde. Wie er das seiner Mutter gegenüber äußerte, fiel ihm ein, daß das Boot erst am späten Nachmittag zurück nach Amalfi ging und er frühestens gegen Abend in seinem Hotel San Michele in Castroglione sein würde. Zu spät, um noch irgend etwas in Gang setzen zu können, jedenfalls in Italien. Zudem war Samstag. Aber da war sein Akku schon zusammengebrochen. Viggen faßte die Silhouette eines Schiffes ins Auge, das am Horizont vorbeizog. Am Himmel ein zerfaserter Winkel von Zugvögeln. Er sah unter den Tisch und suchte die verlorene Sandale. Dann griff er die Scheine und die Rechnung aus dem Blechteller für das Wechselgeld. Abends, vom Hotel aus, würde er sie noch einmal anrufen.
Er schob sich die Sonnenbrille vor die Augen und stand auf. Ziellos ging er die Hafenstraße weiter hinunter in Richtung ihres erkennbaren Endes, warf einen Blick in den Reiseführer, den er in der Beintasche seiner kurios auf Falte gebügelten Zip-off-Hose mit sich führte. Er bog nach rechts ab, kämpfte sich die endlos ansteigende Treppe nach Anacapri hinauf, die er schließlich ausfindig gemacht hatte, tausend Stufen, schwitzte, blieb stehen, um Luft zu schöpfen, ging weiter. Er unterquerte die breite Betonpiste, die hochbeinig den Berg bezwang und auf der die Busse und Taxis im unentwegten Fluß hinauf- und hinabströmten. Er weinte, aber er merkte es gar nicht. Die Tränen liefen über seine Wangen und mischten sich mit Tropfen aus Schweiß und Sonnenschutzmittel, die ihm von der Kopfhaut über Schläfen und Stirn rannen. Anacapri, ein in ein melancholisches Licht getauchtes Städtchen. Weiße, schlichte Häuser. Auf den Dächern Antennenwälder und Tanks für den Wasserdruck. Kleine, von niedrigen Mäuerchen umlaufene Gärten, mit Eisengittern abgezirkelt. Wie betäubt lief er durch die engen, labyrinthischen Gassen und Straßen, die gekachelt und sauber waren, vorbei an den Souvenirshops voller Postkarten, Zierfische und Limoncello-Karaffen, den Eisdielen in Hellblau oder Hellrosa, den Keramikläden mit stapelweise bemaltem Geschirr. An einer Ecke kaufte er sich eine Uhr, deren eckige Form und schwarzes Ziffernblatt unter gewölbtem BubbleGlas ihm gefielen, löste die alte Junghans, die er zur Kommunion bekommen hatte, draußen vor dem Geschäft vom Handgelenk und steckte sie in die Tasche. Er spürte das Futter, den dünnen seidigen Stoff, die Tabakkrümel, die sich darin verbargen, spürte die Verlorenheit, die ihn plötzlich umgab, spürte, daß er noch ein Stück einsamer, verlassener geworden war, spürte, daß er seinen Vater vermissen würde – so sehr, wie er es nie für möglich gehalten hatte. In einer kleinen,
laubenartigen, von zwei Frauen um die fünfzig geführten Trattoria aß er gebackenen Fisch und trank eine Karaffe Rose.
Auf dem Boot, im Anblick des Meeres und des schäumenden Kielwassers, und später, am darauffolgenden Nachmittag in der Boeing, wo er aus dem Bullauge die Alpen betrachtete, die wie zerknittertes Silberpapier tief unter ihm lagen, dachte er an die seltsamen Metamorphosen des Lebens, an dessen Verhexung durch beständige Transformation und Veränderung. An sich selbst übte es fortgesetzt Verrat aus. Er dachte an seine eigenen Wandlungen und an die jener Menschen, die er kannte und die ihm gerade einfielen – und daran, daß vermutlich alles schon einmal gewesen war, alles nur Faltenwürfe ein- und desselben Stoffs: die Schlafzimmer, die er betreten hatte, die Umstände, unter denen seine Mutter und sein Vater sich kennengelernt hatten, die farbenprächtigen Schmetterlinge, die in Brasilien zu Hunderten seine Schulter bedeckt hatten, als er aus dem klaren Wasser eines Baches getaucht war, das unvergeßliche abendliche Licht am Hafen von Marseille. All das, er selbst, sein Vater, Vergangenheit und Zukunft, Niederlage und Triumph, Aufstieg und Verfall, alles eins.
2 NOMADEN
DORA SAH SICH UM. Auf Zehenspitzen verstaute sie das Gepäck. Dann ließ sie sich in den Sitz fallen. Velours in drei schmutzigen Farben. Die Trikolore des modernen Nomaden. Dreimal die Woche nimmt der Bus die Route von Riga über Wilna, Warschau, Lodz, Wroclaw und Berlin nach München. Die Beengtheit wird von den Passagieren demütig hingenommen. In Mitteleuropa sind Busse preiswerter und zuverlässiger als Züge. Die Laderäume stets randvoll. Mit Koffern und Taschen und Tüten. Koffer aus Kunstleder oder echtem Leder, Stoffkoffer, Hartschalenkoffer, Koffer in den unbeschreiblichsten Farben. Taschen in allen erdenklichen Ausführungen. Tüten, mit Paketband verklebt. Jeder Reisende hat dazu Gepäck, das nicht mehr in den Laderaum paßt. Kisten, Käfige, Schachteln. Ein Chaos an Habseligkeiten; eine Art provisorischer Lorbeer, der die Leiber der Insassen umkränzt. Auf den Knien pralle Plastiktüten, deren Aufschrift zum Teil weggeplatzt ist. Auf der Höhe hochgeklappter Armlehnen kleine, abgewetzte Koffer aus Pappe, deren nach außen gebeulte Deckel mit Aufklebern übersät sind und goldene Verschlüsse tragen. Manchmal auch verschnürte Pakete mit Henkeln aus Draht und Holz. Auf ihnen ruht dann der linke Arm des rechts Sitzenden und der rechte Arm des am Fenster Sitzenden. In der linken Reihe. In der rechten genau umgekehrt. In den Gepäcknetzen, im Gang und unter den Sitzen: große, schuh-schachtelförmige, blauweißrot-karierte
Plastiktaschen mit reißfesten Nähten, die gut zu stapeln sind, in China hergestellt werden und mittlerweile die Habseligkeiten der halben Welt transportieren. Es riecht nach Schweiß, Staub und feuchter Pappe. Slawische Gesichter, die nichts ausdrücken, weder Langeweile noch Ungeduld noch Ärger. Nichts als große Müdigkeit. Ein Treck in Richtung Westen, ein unablässiger Strom aus Migranten, den es aus kleinen Dörfern mit schlammigen Wegen in Städte zieht, wo es genug Baustellen gibt, die Arbeit und Geld verheißen. Dieser Treck wird bei seinem Rückfluß alles verändert haben, die Städte im Westen und die Dörfer im Osten und die Landschaft dazwischen. Es sind gewöhnliche Menschen, die im Bus sitzen, und es sind immer die gleichen: ehemalige Bürgermilizionäre mit plebejischen Schenkeln, die für den Umbau des Berliner Olympiastadions angeheuert wurden und das eine Bein weit in den Gang hinein spreizen, im trüben Schein des Deckenstrahlers das Programm einer deutschen Fernsehzeitschrift studierend. Junge Polinnen, die sich im Westen als Putzfrauen verdingen und unentwegt SMS schreiben oder auf ihrem Schoß Apfelsinen schälen. Familienväter in Jacketts aus grober, gefärbter Wolle, die unter der Woche als Kellner jobben (sie schälen Äpfel mit einem Fahrtenmesser oder holen aus knisterndem Pergament dick belegte Brote). Stämmige Ukrainer, die mit ihren Armbanduhren protzen und Audis oder 7er BMWs nach Weißrußland oder Zentralasien verschieben (und manchmal die Papiere von Minsk oder Nowgorod an die Eigentümer in Franken oder im Bodenseegebiet zurückschicken, damit diese die Autos als gestohlen melden und den Versicherungsbetrug perfekt machen können). Dazu weibliche Glücksritter: aufgedonnerte Blondinen oder blasse Jungfern mit altmodischen Frisuren und rosa Kunstperlen um den Hals (oder
Medaillons, die fromme Motive in Silber oder Gold fassen), von Heiratsagenturen in den Westen gelockt. Abwechselnd verschwinden sie in der winzigen Toilette des Busses und tauchen erst eine Viertelstunde später wieder auf: frisch geschminkt und den Duft von billigem Eau de Toilette verströmend. Sie lesen Lehrwerke der deutschen Sprache, Bücher mit Titeln wie Paßwort: Deutsch oder Moment mal! Ihr Ziel ist Zwickau oder Regensburg, wo ihre künftigen Liebhaber wohnen – beleibte Hersteller von Aluminiumfenstern oder Inhaber von Videoverleihketten. Sind Lehrerinnen unter den Reisenden, geht es bis zum Endbahnhof in München, entweder für ein Wochenende – Gewinn eines Preisausschreibens – oder für mehrere Tage: dann steckt womöglich ein Fortbildungskurs der Bayerischen Staatsbibliothek oder des Sparkassenverbands dahinter. Dora drückte sich ins Polster und starrte aus dem Seitenfenster in die Nacht. Laut Plan dauerte die Fahrt dreizehn Stunden. Wenn alles glatt ging, würde sie um elf Uhr vormittags in München sein. München! Was war das für eine Stadt? Eine, die leuchtete? Eine schöne? Jedenfalls eine reiche Stadt. Das gefiel ihr, auch wenn sie selbst alles andere als reich war. Wenn man schon sonst nichts hat, sollte man wenigstens Geld haben. Sie war überhaupt noch nie in den alten Bundesländern gewesen. Lichter huschten über die Scheibe, und dahinter, für einen Moment angestrahlt, schälten sich großformatige blaue Tafeln aus dem Dunkel und gaben ihre dürren Botschaften preis: Städtenamen, Kilometerangaben. A10. E55. A9. Dora fühlte sich schläfrig, hatte aber Mühe, noch eine Sitzposition zu finden, in der ihr Körper verharren mochte. Die Ohrhörer ihres Walkmans riegelten sie von der Umgebung hermetisch ab. Sie schloß die Augen, lauschte den Nocturnes Chopins. Auf der Rückseite ihrer Lider zogen Erinnerungen herauf. Sie hatte den
Eindruck, nicht in einem Bus, sondern dreiunddreißig Tausend Fuß höher am Bullauge eines Airbusses zu sitzen (wiewohl sie bislang nur mit schlecht gewarteten Antonow-Maschinen geflogen war). Interessiert betrachtete sie die Wolkenfetzen, die sich bald in einen See von Farbe verwandelten, aus dem wie im Traum Figuren stiegen – Figuren aus ihrem wirklichen Leben.
Sie sah ihn vor sich: seine zähe Gestalt. Das dunkle, wollige Haar, das sich am Hinterkopf lichtete und an den Schläfen ergraut war. Das schlichte, an den Ärmeln aufgekrempelte, hellblaue Hemd, die UPS-braune Hose, die derben, immer auf Hochglanz polierten schwarzen Schuhe. Jacek hatte schnell Doras Zuneigung gewonnen. Sie trafen sich, gingen ins Kino oder in ein Restaurant, und als die ersten frühlingshaften Tage kamen, gondelten sie mit seinem alten Motorrad in die Oderauen – Dora im Beiwagen, um den Kopf ein Tuch. Sie spazierten durch das Gelände oder hockten in der Uferböschung und beobachteten die Lastkähne, die sich von Schleuse zu Schleuse schleppten. Bei den Bauern im Umland versorgten sie sich mit Eiern und Wurst. Einmal lenkte Jacek das Gefährt auf die Schnellstraße, die in Richtung Berlin führt, bis linker Hand die Wellblechhallen von IKEA auftauchten. Dora war auf der Suche nach einem Besenschrank, der hinter ihre Küchentür paßte.
Sie verstanden sich. Nach einem halben Jahr gingen sie zusammen ins Bett. Allerdings weigerte Dora sich, das Verhältnis, das mit Jacek einzugehen sie im Begriff stand, auch als solches zu bezeichnen. Und Jacek, der Doras Unbehagen spürte, paßte
sein Verhalten dem ihren an. So kam es, daß sie einfach nicht darüber redeten – oder kaum. Sie lebten so weiter, als sei nichts geschehen, jeder bei der Mutter (jeder sich beim anderen darüber beklagend, daß diese immer noch an ihnen herumerzog). Man könnte sagen, daß einer den anderen auf Distanz hielt. Über sich zu reden wie über ein gemeinsames Haus in der Zukunft, dafür hegte keiner von beiden große Sympathie. Selbst Jacek nicht, der emotional von Dora abhängiger war als umgekehrt. Sie zogen es beide vor, keine gemeinsamen Pläne zu haben. Solange es gut ging, ging es eben gut. Und es ging ja auch eine Weile gut – selbst nach einigen größeren Krisen. Weil Jacek nur sehr schlecht Deutsch sprach, unterhielten sie sich auf Polnisch. Die ganzen sieben Jahre, in denen sie sich mehr oder minder regelmäßig trafen, blieben sie beim Sie – bei Pan und Pani. Als Dora und Jacek sich kennenlernten, war sie dreißig und er zweiundfünfzig – im März 1990, zu einem Zeitpunkt, der ziemlich genau zwischen den ersten demokratischen Wahlen in Polen und der Auflösung des Warschauer Pakts lag. Dora hatte ihr Studium der Slawistik mit einem Diplom beendet und war gerade mit ihrer Mutter von Leipzig nach Wroclaw gezogen. Die gemeinsame Haushaltsführung erwies sich jetzt deutlich schwieriger, und das nicht nur wegen unausgepackter Kisten, Anmeldeformularen, schmutzigem Geschirr und unaufschiebbaren Amtsgängen. Der Grund lag vielmehr darin, daß ihre Mutter scheinbar längst begrabene Ansprüche wiederentdeckte. War die Mutter nicht hier, in diesem Viertel, aufgewachsen? Und zwar als Tochter eines reichen, schlesischen Kunstsammlers, Inhaber des legendären Kunstsalons Franke! Sie war doch die unglückliche Erbin – nämlich eben dieser weit über die damaligen Landesgrenzen hinaus bekannten Sammlung, aus der ihre Familie 1950 gut zwei Dutzend Bilder nach Leipzig hatte retten können! Nun
war die Geschichte vorbei – jedenfalls diese Geschichte mit Vertreibung und Eisernem Vorhang und dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe – dem unseligen Pendant zur EWG! Und damit auch diese andere, demütigende Geschichte – als die Steuerfahndung der DDR eines Tages, es muß Mitte der siebziger Jahre gewesen sein, vor dem Haus stand, mit gezogenen Waffen, und unter fadenscheinigen Gründen die Wohnräume durchsuchte. Natürlich fand man die übriggebliebenen und gut versteckten Bilder und beschlagnahmte sie. Man hatte Wind bekommen, daß die Frankes heimlich und seit den fünfziger Jahren das eine oder andere Gemälde an westdeutsche Sammler verkauften. Welche Barbaren! Man mußte doch leben! In Wroclaw begann Doras Mutter, die alten Fotoalben zu durchstöbern. Die Nähe, die das neue Domizil zu der Adresse ihrer Kindheit herstellte (die imposante Stadtvilla selbst freilich gab es nicht mehr, da das Gebiet um den Tauentzienplatz nach der Belagerung Breslaus durch die Rote Armee und aufgrund der deutschen Durchhalteparolen fast vollständig zerstört worden war), das Licht auf dem kleinen Südostbalkon, von dem sie sich einbildete, es sei das gleiche wie jenes, das sie schon als junges Mädchen vom Familienfrühstück auf der Terrasse kannte, die starken Aromen, die von der Kürschnerei unten im Haus aufstiegen und die sie an ihre Reitstunden und die alten, dunkelgrünen Lederfauteuils in der Diele erinnerten, in die sie erschöpft und lachend geplumpst war, um sich von der Küchenhilfe Käthe die Reitstiefel ausziehen zu lassen – all das war für Doras Mutter Anlaß genug, um eine Welt heraufzubeschwören, die sechzig Jahre zurücklag und aus reichlich Personal, silbernen Serviettenringen, Geschirr mit vergoldetem Rand und Opernbesuchen bestand. Absurderweise versuchte sie, nahtlos daran anzuschließen.
Es war eine Art umgekehrter Verpuppung – Verpuppung in eine frühere Existenz – die mit Doras Mutter vor sich ging, und zwar in rasantem Tempo. Das machte Dora aggressiv, besonders, weil sie ahnte, daß auch in ihr, die ja dieses märchenhafte Leben nie selbst kennengelernt hatte und nur aus Erzählungen ihrer Mutter und ihres Großvaters kannte, daß auch in ihr ein unabweisbares Echo davon nachklang. Von früh auf, so wußte Dora, hatte sie sich als etwas Besonderes empfunden. Anfangs konnte das als übliche Schwärmerei junger Mädchen für sich selbst entschuldigt werden. Stundenlanges Haarekämmen vor dem Spiegel! Doch auch später wahrte sie eine feine, unüberbrückbare Distanz zu ihrer Umgebung – zu ihrer Schulklasse, ihren Lehrern, den Freundinnen, den Vorgesetzten. Sie konnte sich einfach nicht dazu durchringen, mit der Welt vertraulichen Umgang zu pflegen. Die Welt war soviel gröber als sie! Meist sah man sie mit einem Ausdruck der Verachtung durch Leipzig eilen. Verstärkt wurde dieses Gefühl des Hervorgehobenseins noch davon, daß sie den materiellen Härten der DDR weniger ausgesetzt gewesen war als andere. Von irgendwoher nahm ihre Mutter immer Westgeld, wenn es nötig war – und nötig war es, wenn eine Reparatur am Auto oder im Bad anstand, wenn eine funktionierende Waschmaschine gebraucht, eine Stereoanlage ersehnt wurde. Erst in den letzten Jahren hatte sich Dora gefragt, wie ihre Mutter eigentlich an Westgeld herangekommen war. Eine Antwort darauf war sie schuldig geblieben. Einmal, nach einem heftigen Streit um die Zimmeraufteilung in der neuen Wohnung in Wroclaw (ihre Mutter bestand plötzlich auf einem Ankleidezimmer), verließ Dora türenknallend die Wohnung und rannte auf die Straße – einem Mann direkt in die Arme, der sich über ihre Aufgebrachtheit sichtlich amüsiert zeigte. Dieser Mann war Jacek – Dozent für
polnische Geschichte, der, wie er ihr später auf der Sandinsel ausführte, an einer Geschichte der Odra schrieb. Nebenbei war er im Nationalmuseum tätig, von der polnischen Regierung beauftragt, deutsche Kulturgüter zu polonisieren. Er nahm sie am Arm und zog sie einfach mit sich fort. Dora, die zwar ein impulsives Temperament besaß, vom Charakter her aber eher distanziert war, faßte zu der ruhigen, warmen Stimme, die da zu ihr sprach, ungewöhnlich rasch Vertrauen. Aus rebellischem Trotz hatte sie sich von dieser Zufallsbekanntschaft mitschleifen lassen, doch auf der Insel, wo ihre Wut zusehends verflog, mußte sie feststellen, daß sie mit großem Wohlwollen den Mann betrachtete, den sie gerade kennengelernt hatte und der jetzt neben ihr auf der Bank saß, im Rücken die Martini-Kirche, die Cordmütze zwischen den Händen drehend, den Blick auf einen Kahn am jenseitigen Ufer der Oder geschweißt. Im Stillen hegte sie die Vermutung, daß er sich von ihr angezogen fühlte, weil sie für ihn so etwas wie Frische und Ungestümheit verkörperte. Später wurde ihr klar, daß das so nicht zutraf, auch wenn er es sichtlich genoß, daß sie die Blicke der Männer einsammelte. Das Argument ihrer Jugend war zu naheliegend. Die Dinge lagen komplizierter. Wie sich schnell herausstellte, lebte auch Jacek mit seiner inzwischen sehr alt gewordenen Mutter zusammen (der er wie aus dem Gesicht geschnitten schien) – hinter der Tadeusza Kosciuszki, dem vormaligen Tauentzienplatz, also weniger als sieben Minuten von der Ecke entfernt, wo Dora und ihre Mutter wohnten –, in einem ehemals stattlichen, nun heruntergekommenen Mietshaus mit klapprigem Aufzug und barocker Fassade, hinter der sich allerdings streng genormte Arbeiterwohnungen verbargen. Früher war im Parterre eine Zweigstelle der Partei gewesen, jetzt hatte dort ein Internetcafe eröffnet.
Sie mochte die Art, wie er sprach, sich bewegte, die Krawatte glättete. Er war höflich, gebildet, hatte schöne Hände mit polierten Nägeln und besaß eine elastische Intelligenz, die es verstand, auf überraschende Art die Dinge zu verdrehen – was zum Lachen verführte. Was sie, wie sie im Lauf der Zeit feststellte, weniger an ihm mochte, war die unglaubliche Sturheit, die ihm gelegentlich zu eigen war. Er steckte in alles seine Nase, prüfte jede Rechnung zweimal, verbohrte sich – Dora war eingeschlafen. Als sie erwachte, lagen noch etwa zwei Stunden bis München vor ihnen. Sie wickelte die Ohrhörer um Mittel- und Zeigefinger und verstaute Kabel und Walkman, dessen Batterien inzwischen leer waren, in der Außentasche des Rucksacks. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war kurz nach neun Uhr morgens. Sie rief bei ihrer Mutter an, um ihr mitzuteilen, daß ihre Reise ohne Probleme verlief, daß der Himmel zwar bedeckt, es aber trocken war, und daß sie bald ankommen werde.
Aus dem Schacht des Reisebusses ließ sie sich den Trolley reichen, befestige den Rucksack an der ausziehbaren Stehhilfe und marschierte über Straße und Vorplatz geradewegs zum Taxistand. Für Ende Mai war es mäßig warm, die Sonne warf helle Flecken auf den Asphalt. Sie hielt auf zwei Reihen eierschalenfarbener Karossen zu. Aus heruntergekurbelten Fenstern schallte Musik, in die sich Stimmen aus dem Radio mischten. Im Außenspiegel des vordersten Wagens entdeckte sie das Augenpaar eines Fahrers, der sie fixierte. Der Fahrer stieg aus und kam auf sie zu, um ihr mit dem Gepäck behilflich zu sein. Den Rucksack nahm sie mit in den Fond. Im Innenspiegel begegnete ihr Blick kurz den Augen des Fahrers, der schräg vor ihr am Steuer saß, ungerührt die
Angabe eines Fahrtziels erwartete und den Anlasser betätigte. Sie zog den Reißverschluß des Rucksacks auf, kramte darin, fand aber das Notizbuch nicht. Dann, nachdem sie den gesamten Inhalt aus- und wieder eingepackt hatte, hielt sie es in der Hand. Flink blätterte sie die Seiten durch. Dem Fahrer nannte sie die beiden Adressen, die sie nacheinander ansteuern wollte. Das Taxi rollte aus dem Schatten des Bahnhofsvordachs heraus in die Helle des Tages. Sie überlegte kurz, woher der Mann vorne, dessen Gesicht sie zum wiederholten Mal verstohlen fixierte, kommen mochte, aus Albanien vielleicht; verwarf den Gedanken aber wieder, als sie ihn mit der Funkzentrale sprechen hörte. Vielleicht eher ein Türke oder Ägypter. Mit Orientalen hatte sie keine Erfahrung, aus Leipzig kannte sie nur Vietnamesen oder Schwarze, die aus Angola oder Mosambik stammten. Der Fahrer besaß die Angewohnheit, sich beim Schalten ein Stück vorzubeugen. Sein hellblaues Hemd war am Rücken dunkel vor Schweiß. Ihr Blick fiel aus dem Seitenfenster auf eine Bretterwand. Eine schier endlose Folge identischer flammend roter Plakate, die ihr Sehfeld einnahm (und andere Plakatschichten überdeckte) – Ankündigungen eines Rock-Konzerts –, unterbrochen von Passanten, die Einkaufstüten trugen oder schicke, geflochtene Taschen mit farbenfrohen Riemen. Eine Szenerie, wie sie inzwischen auch Wroclaw bot. Sie war überrascht, wie stark die Innenstadt bevölkert war. Von Wirtschaftsflaute, Depression und Kaufzurückhaltung, wie deutsche Zeitungen schrieben – keine Spur. Sie schüttelte den Kopf. Sieben Jahre war sie mit Jacek befreundet gewesen. Es war keine leidenschaftliche Beziehung, weder von ihrer noch von seiner Seite (wenn er das vielleicht auch anfangs erhofft hatte), es gab – jedenfalls bei ihr – Affären nebenher. Es war eher
eine Beziehung, die auf Gewohnheit und einer bestimmten Form der Nachlässigkeit beruhte. Von dem Unverständnis, das er ihr mit treuem Erstaunen entgegenbrachte, war sie gerührt. Mußte alles, was man tat oder wofür man sich entschied, vor ein Tribunal gezerrt werden? Vor ein Gremium aus Therapeuten? Um geprüft, genehmigt und abgestempelt zu werden? Nein. Die Laune war Königin. Ihr zu gehorchen, war Pflicht. Erst recht, seit die Zeiten so rüde waren. Anonym und antiaristokratisch! Als die Wiedervereinigung bevorstand, verspürte Dora, die damals neunundzwanzig war, wenig Lust, sich der Abwicklung ihres Landes, wie sie voller Hohn sagte, und der damit verbundenen Demütigung durch die Westdeutschen zu fügen. In Leipzig geboren, wo es ihre Mutter nach der Aussiedlung 1950 hinverschlagen hatte, aufgewachsen ohne Vater, in einer stattlichen Gründerzeitvilla, die damals drei komplette Familien zu beherbergen hatte. Als Kind himmelte sie ihren Großvater an. Der wiederum entstammte einer reichen, schlesischen Sammlerfamilie, belegte in der Villa das ehemalige Raucherzimmer und führte bis zu seinem Tod 1990 einen kleinen Antiquitätenladen zwischen Markt und Stenzlers Hof, wo auch seine Tochter, Doras Mutter also, gelegentlich aushalf. Es gelang ihr, die Mutter, die zum Zeitpunkt des Anschlusses schon in den Sechzigern war, zu einem Umzug zurück in deren Geburtsstadt zu bewegen – ins vormalige Breslau, jene Stadt also, welche ihr infolge der Erzählungen der Mutter und des Großvaters ohnehin zum Mythos geworden war; zum Ort einer seltsamen Sehnsucht. Gern erinnerte sie sich an die Geschichten, die ihr der Großvater erzählt hatte, besonders an die von dem jungen Breslauer Maler August Kopisch, der im August 1826 auf Capri die blaue Grotte entdeckt hatte – die gut fünfzig Jahre
später von halb Europa und auch von Friedrich Nietzsche aufgesucht wurde. In dem kleinen Antiquitätenladen gab es ein Bild des Malers – sie erinnerte sich genau. Capri! Was für ein Name! Einer, der das für die damaligen Verhältnisse ungeheuerliche Aroma von Zitronen verströmte und Sehnsüchte nach Sonne, Meer und Palmen der vom DDRAlltag malträtierten Seele in sich trug. Zur selben Zeit versuchten die Hippies im Westen den Zwängen und Verpflichtungen des Alltags im marokkanischen Essaouira zu entfliehen – nicht auf der Suche nach Zitronen, sondern nach einer anderen, süßeren Frucht: dem eigenen Körper. Wenn sie als ehemalige Ostlerin in der Berliner Republik ein Mensch zweiter Klasse war, dann wollte sie nach Polen gehen, wo sie als Slawistin Ansehen genoß.
Mit Jacek verband Dora auch die gemeinsame Liebe zum Wort, die Begabung zur Vernunft und zum intellektuellen Austausch, den speziell Dora vermißte. In ihrer Umgebung gab es das selten. Es war also alles in allem eine gutmütige, ungefährliche Beziehung (dachte sie), eine, die ab und an ins Körperliche abglitt, dann durchaus stürmisch, die grundsätzlich aber bestimmt wurde von Wohlwollen und Fürsorge. Jacek begriff viel zu spät, daß Dora von Verrat mehr als von Treue fasziniert war. Für Jaceks Buch, das sie übersetzt hatte, rechnete sie sich gute Chancen aus. In den Krimi war ein wenig bekanntes Kapitel der DDR eingearbeitet – ein Kapitel, das sie selbst oder jedenfalls ihre Familie betraf. Jacek war darauf im Zuge seiner von oben angeordneten Recherchen gestoßen. Deutschen Kulturgütern sollte er eine polnische Geschichte verpassen.
Ein obskures Unternehmen mit dem Namen Kunst und Antiquitäten GmbH, die wiederum dem Bereich Kommerzielle Koordinierung und damit Alexander Schalck-Golodkowski unterstand, war nicht davor zurückgeschreckt, das eigene Land zu plündern. Mit dem fadenscheinigen Vorwurf der Steuerhinterziehung war man gegen Kunsthändler und Sammler, die ihr Geschäft in der DDR offiziell betreiben durften, vorgegangen, um an deren Schätze heranzukommen und diese gegen harte Devisen ins Ausland zu exportieren. Staatlich sanktionierter Raub! Inzwischen lebte SchalckGolodkowski in Rottach-Egern am Tegernsee, was sich gut traf, und Dora hegte insgeheim den Wunsch, dem kranken Mann während ihres Aufenthaltes in München zu begegnen. Nicht, um Vergeltung zu üben. Sie wollte ihm nur gegenübersitzen, wollte ihn nur sehen, direkt vor sich: das Zittern der Hände; die mißtrauischen Blicke; die Bewegungen, die die Ausflüchte vorwegnahmen, die er sich zurechtgelegt haben würde. Indes: Schalck-Golodkowski und der Verlag in München waren nur ein Vorwand. Es gab dahinter noch einen anderen, für sie triftigeren Grund. Dieser Grund lag sechs Jahre zurück. Sie entsann sich. Seit den Tagen der Oder-Flut, den Tagen der Menschenketten, der Sandsäcke, des Brackwassers in den Straßen (und eines Bundeskanzlers in Gummistiefeln); seit jenem verregneten und verschwörerischen Nachmittag, den Jacek und sie bei Tee auf dem afghanischen Teppich vor seinem Bett verbracht hatten; seit jener Stunde, die auf den an Tragik reichen Sommer 1997 gefolgt war, seit jenem Moment, wo er angefangen hatte, herumzudrucksen, sich gewunden, ihr Insistieren provoziert und diesem schließlich nachgegeben, seine Vermutungen planmäßig dargelegt hatte. Er behauptete, ihren wahren Vater zu kennen.
Dora war in dem Glauben aufgewachsen, daß ihr Vater kurz nach ihrer Geburt bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam. So hatte es die Mutter erzählt. Und nun stellte Jacek ihre nie bezweifelte Geschichte in Frage. Er behauptete, daß ihr wirklicher Vater lebte – als Kunsthändler in München. Damals war er angeblich in Geschäfte mit ihrer Mutter verwickelt. Akten aus der Nachkriegszeit sollten das Jacek zufolge belegen. Auf sie war er eher zufällig gestoßen, beim Studium der verschiedensten Lokalgeschichten. Kunstsalon Franke war in Breslau ein Begriff. Über An- und Verkauf der Bilder gab es Aufzeichnungen, Listen. Und auch darüber, daß das eine oder andere Bild nach dem Krieg in Leipzig aufgetaucht war. Es gab Spuren, die zur Kunst- und Antiquitäten GmbH führten. Und Spuren, die nach München führten. Dieses Wissen beschäftigte Dora seit jenem Nachmittag. Sie schmeckte die Erinnerung, den Wortwechsel, ihre sinnlose Abwehr und Wut, befühlte mit der Zunge die qualvollen Sekunden, die ihr wieder gegenwärtig wurden. Sie griff nach dem Rucksack, zog erneut den Reißverschluß auf und fingerte nach dem Buch – Jaceks Buch –, holte es heraus und besah es sich. Es war abgegriffen und zerlesen, die Seitenränder übersät mit Bleistiftnotizen. Sie mochte solche Bücher, in denen es vor Unterstreichungen und Randbemerkungen wimmelte. Sie las den Titel, als hätte sie ihn noch nie gelesen, betrachtete den Umschlag, als hätte sie das nicht schon zig Mal getan. Als sie das Buch zwischen beide Hände nahm und es ein paarmal durchbog, knackte der lackierte Umschlag. Sie mochte das Geräusch. Es war jedoch nicht so, daß sich für sie die Geschichte, die Jacek in dem Krimi erzählte und in der sie ihre Geschichte wiedererkennen konnte, zu einem Trauma ausgewachsen hatte. Dafür bedeuteten ihr Konventionen zu wenig. Im Gegenteil:
Sie fühlte sich sogar geschmeichelt. Ihr Leben bekam dadurch etwas Besonderes. Um ganz ehrlich zu sein: Die Vergangenheit, die der Text nahelegte, die er in Bildern heraufbeschwor, die sie wie bunte Schmetterlinge umschwirrten, wie ein aus farbigen Glassplittern zusammengesetzter Wahn, faszinierte sie. Es faszinierte sie, daß der Text vielleicht ihre Vergangenheit schilderte oder zumindest einen Teil davon. Und irgendwo in der Zeit ihrer Beschäftigung mit dem Krimi lag der Moment, wo sie anfing, diese bisher nur vorgestellte Vergangenheit als die eigene zu akzeptieren.
Der Krimi stellte das kapriziöse Echo auf das dar, was Jacek an jenem Nachmittag im Sommer 1997 geäußert hatte. Auch damals war sie über seine Ausführungen nicht bestürzt, war anfangs sogar amüsiert gewesen. Was unterstellte er da alles? Sie die Frucht einer verleugneten Affäre? Und wenn schon. Tochter eines Mannes, der aus dem damals feindlichen Westen kam? Tochter eines Agenten der Konterrevolution? Ach, die Revolution war schon lange vorbei. Sie sah noch, wie sie in Lachen ausbrach. Dann hakte sie nach, stellte Fragen. Vielleicht war das der Moment, wo die Situation kippte. Was sie aufregte, war Jaceks Sturheit, sein Beharren darauf, über sie mehr zu wissen als sie selbst. Das paßte ihr nicht. Ganz und gar nicht. Da fing einer an, sich ihrer zu bemächtigen. Sich als allwissend aufzuspielen! Und als Jacek dann mit dem Eifer eines Menschen, der sich überlegen wähnt, triviale Kaffeehaus-Psychologie in Anwendung brachte und dazu überging, seinerseits nachzubohren, kam es schließlich zum Streit. Was bildete sich dieser Kerl eigentlich ein?
Sie verbat sich seine unverschämten Schnüffeleien, sprach ihm jedes Recht ab, sich in ihre Angelegenheiten einzumischen und hochmütig moralische Urteile zu fällen. Schließlich warf sie ihm Gemeinheiten an den Kopf. Im Rausch der Entrüstung packte sie ihre Sachen und leistete sich einen theatralischen Abgang. Von nun an verachtete sie ihn. Sie verachtete ihn für seine Indiskretion, seine Selbstgerechtigkeit, dafür, daß er nach Erklärungen suchte, wo es nichts zu erklären gab. Sie wußte noch, daß sie kaum zu Hause angekommen war und sich schon erleichtert fühlte. Eine Last war von ihr genommen. Sie lachte. Sie begriff, daß sie Jacek zwar nicht hatte loswerden, aber auch nicht hatte behalten wollen. Äußerlich kehrte schnell wieder Ruhe ein, auch wenn sie Jacek gegenüber unversöhnlich blieb. Sie telefonierten noch ein paarmal miteinander, aber sie weigerte sich, ihn wiederzusehen. Sie sagte, daß es zwischen ihnen aus sei. Einfach so. »Nein, nicht deswegen. Ich habe nur keine Lust mehr. Sie sind mir lästig.« Sie legte auf – und nach ein paar weiteren erfolglosen Versuchen stellte Jacek wütend seine Anrufe ein. Ihrer Mutter erzählte sie nichts, nur, daß sie sich von ihm getrennt hatte. Ansonsten schien alles zu bleiben, wie es war. Sie übersetzte, gab Unterricht, traf sich mit Freunden. Und dennoch vollzog sich eine Wandlung in ihr. Eine wachsame Nüchternheit ergriff in den folgenden Monaten von ihr Besitz, eine Nüchternheit, unter der sich eine beharrliche, dabei fast gutmütige Frage verbarg, die bis zum Erscheinen des Krimis in ihr arbeitete – still, hartnäckig und zäh. Sie las das Buch, gieriger, als sie es wahrhaben wollte. Der Roman schilderte, wie zwei Menschen, die der Handel mit Kunst über den Eisernen Vorhang hinweg zusammengeführt hatte, in den späten Fünfzigern, Anfang der sechziger Jahre eine Affäre begannen. Aus Protest. Aus Protest
gegen die Dummheit und Beschränktheit einer Welt, die, wiewohl sie den gleichen Göttern huldigte, zweigeteilt war und deren Hälften sich bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden, den Atomblitz und das Ende von allem vor Augen. Also betranken sie sich an jenem Abend. Und mit jedem Schluck, den sie nahmen, wuchsen in ihnen der Trotz und der Wille, es der Welt heimzuzahlen, sich für die Possen und erlittenen Demütigungen zu rächen. Um zu zeigen, wie das plausibel während der Kubakrise hatte passieren können, flocht Jacek in die Geschichte eine Reihe von realen Vorkommnissen ein; auch den Fall, den ihre Mutter stets gern erzählte, den sie benutzte, um regelrecht damit zu prahlen. Das Buch: Ein deutsch-deutscher Politkrimi – und die Geschichte einer geheimen, nie preisgegebenen Liebe, einer Liebe, die aus der Revolte geboren war und deren Frucht eben sie – Dora – sein sollte. Der Krimi zog eine Unzahl von Überlegungen nach sich. Irgendwann stand ihr Entschluß fest: Sie würde ihn übersetzen – ohne Auftrag, und ohne Jacek davon zu unterrichten. Das wollte sie erst nachholen, wenn ein Verlag zugesagt hatte, die deutsche Übersetzung herauszubringen. Zur Hälfte umrundeten sie einen Platz, auf dem ein meterhoher, rostroter Metallring stand, zweigten ab, fuhren an einem Park entlang, in den gleichzeitig ein Mann mit einem schwarzen Hund und eine Frau mit einem bunten Kinderwagen einbogen. Das Taxi folgte einer langen, geraden Straße, passierte Alte und Neue Pinakothek, die Dora von Fotos kannte, und hielt schließlich vor der Bürgervilla mit dem schmiedeeisernen Tor, wo der Verlag seinen Sitz hatte. Ein Verlag, der neben dem belletristischen Programm auf die Skandale deutscher Nachkriegspolitik und ihrer politischen
Klasse spezialisiert war. Und trotz aller gelegentlichen Vollmundigkeit war er seriös. Das Manuskript schien hier in den richtigen Händen zu sein. Fünf Minuten später hatte Dora das Päckchen abgegeben und die Adresse hinterlassen, wo sie zu erreichen war, und saß wieder im Wagen, der prompt anfuhr und die Ludwigstraße hinunter in Richtung Glockenbach-viertel schnurrte. Da, so hatte es ihr der Stadtplan verraten, lag die Wohnung, die ihr von der Mitwohnzentrale vermittelt worden war. Sie faßte den Fahrer ins Auge. »Sie sind keine Deutsche«, hörte sie ihn plötzlich sagen. Sie suchte sein Gesicht und bemerkte, wie er sie fragend im Innenspiegel anblickte. »Ich liebe dieses Land. Alle Schlüssel drehen sich in der gleichen Richtung. Wer in diesem Land lebt, hat nur eine Möglichkeit, herauszukommen.« Er machte mit der Hand eine drehende Bewegung, die an ein Gefängnis denken ließ, lachte und zeigte Dora seine Zähne. Sie verzog den Mund und lehnte sich wieder zurück. Ein seltsames Hochgefühl überschwemmte ihr Blut. Sie dachte an ihre unmittelbare Zukunft, an die Tage, die folgen würden, an Abenteuer. Immer, so dachte sie nun, hatte sie alles selbst entscheiden wollen – und jetzt, hier in München, waren die Möglichkeiten dafür um ein unvermutet großes Stück gewachsen. Sie fragte, ob sie rauchen könne, kurbelte, nachdem der Fahrer genickt und das Schiebedach einen Spalt geöffnet hatte, das Seitenfenster zu einem Drittel herab und zündete sich eine Zigarette an. Warme Frühlingsluft strömte in das Fahrzeug und umfloß ihr Gesicht. Auf ihrer Seite: ein breiter, begrünter Mittelstreifen. Ihr Blick traf auf ein paar Obdachlose mit Schlafsäcken, die ein kreisrundes, in die Erde eingelassenes Gitter umlagerten. Sie wunderte sich, reckte den Hals, sah genauer hin. Wieso gerade
hier, an diesem unmöglichen, ständig dem Verkehr ausgesetzten Ort? Die Antwort kam unaufgefordert, vom Fahrer, der mitbekommen hatte, was seinen Gast beschäftigte. Aus dem Gitter, wurde Dora aufgeklärt, würde die warme Abluft der umliegenden Bürotürme ins Freie geleitet. Darum seien diese Plätze vor allem im Winter begehrt, und damit keine anderen Gruppen diesen Ort in Beschlag nehmen konnten, hielt man ihn einfach auch den Rest des Jahres über besetzt. Mit einem knappen Lächeln bedankte sich Dora für die Auskunft. Das Taxi hielt. Der Fahrer zeigte auf ein hellgelbes Mietshaus. Dora nickte, warf die Zigarette aus dem geöffneten Fenster und stieg aus. Sie spürte, daß sie aufgeregt war. Sie übernahm den Trolley, den der Taxifahrer aus dem Kofferraum des alten Peugeot hob und ihr vor die Füße stellte. Als sie mit dem rollenden Anhängsel aus grauem Nylon und Plastik die Straße überquerte, spürte sie die Blicke des Fahrers im Rücken und erfühlte darin den wiederauferstandenen Blick Jaceks, erfühlte den Blick so, als wäre sie zurückgekehrt in den Körper einer dreißigjährigen Frau, die aus dem Beiwagen des Motorrads steigt und, von einem dunklen, flackernden und unergründlichen Augenpaar gefolgt, im Gewühl eines Wrociawer Jahrmarkts verschwindet. Unter seinem – Jaceks – geduldigen, wohlwollenden und stolzen Blick war sie jahrelang gediehen. Das begriff sie jetzt. Vor dem Mietshaus blieb sie für einen Moment stehen, suchte die Toreinfahrt, entdeckte daneben ein kleines Programmkino, dann den von Fahrrädern und Mülltonnen flankierten Eingang im Hinterhof. Sie vernahm das Knattern eines Hubschraubers, der irgendwo hinter den Dächern über das Viertel flog. Langsam stieg sie durch das kahle und stille Treppenhaus in den fünften Stock, den Trolley von Stufe zu
Stufe hievend. Aus dem Rucksack kramte sie den Schlüssel hervor. Per Einschreiben war er ihr von der Mitwohnzentrale zugeschickt worden. Sie lauschte, sperrte auf, betrat die Wohnung. Im Flur verharrte sie, als wollte sie den Räumlichkeiten Zeit geben, sich an die neue Bewohnerin zu gewöhnen; sah sich um, legte den Rucksack ab. Auf dem Holzboden im Flur ein schräg liegender Kelim. Drei Zimmer, Küche, Bad. Wenige Möbel, in der Spüle gebrauchtes, verkrustetes Geschirr, der Boden stumpf, die Wände ohne Tapete und fleckig. Die Räume wirkten, als seien sie hastig verlassen worden. Das Arbeitszimmer dagegen war aufgeräumt. Der lässigen Anordnung der Dinge auf dem Schreibtisch sah man die Absicht an (aber kannte sie eine Wohnung, der man nicht irgendeine Absicht ansah?). Das Zimmer nebenan fast leer bis auf ein schmuckloses Sideboard und einen hohen Spiegel, der an der Wand lehnte und dessen Glasfläche milchige Streifen aufwies. Sie dachte an die Wohnungen in Wroclaw und Leipzig, an das große, mit alten Möbeln ausgestattete Wohnzimmer, in dem auch der Eßtisch stand, an das Zimmer ihrer Mutter, ihr eigenes; daran, daß sie sich früher, als heranwachsende Frau, noch unter dem Kommunismus, oft gewünscht hatte, einen Mann da zu haben, jemanden, der sie ablenkte, dessen zentrifugale oder zupackende Art sie aus allem herausreißen, von sich selbst erlösen würde – von der Enge, von ihren unerfüllten Träumen, von der unbestimmten Sehnsucht nach Freiheit. Sie hatte sich nach männlicher, nicht unbedingt sexueller Nähe gesehnt, nach etwas Unvorhergesehenem, Überraschendem, Anderem, danach, daß es an der Wohnungstür klingelte, einfach so, ohne Voranmeldung. Aber ohne Voranmeldung war nie jemand gekommen. Nicht in Leipzig. Nur Jacek war so gekommen. Später, in Wroclaw.
Und noch einmal, viel später, als sie sich gänzlich aus den Augen verloren hatten, war er ihr unversehens begegnet: in der Bar im ehemaligen Grandhotel Monopol. Leise Musik, dunkler Holzboden, gedämpftes Licht. Wenige Gäste. Ein Mann mittleren Alters am Tresen, das Mobiltelefon seit gewiß einer halben Stunde am Ohr; im Eck ein tuschelndes Pärchen. Noch eine knappe Stunde bis Mitternacht. Sie beargwöhnte alles um sich herum. Sich selbst vor allem beargwöhnte sie – vielleicht, weil sie in dieser Nacht vierzig wurde, für jede Frau ein Datum der Krise, ein Datum, das an das Kommende erinnerte: an die unwiderruflich letzte Menstruation. Dora war noch einige Jahre davon entfernt. Und dennoch hatte sie beschlossen, ihren Geburtstag hier zu feiern – allein, in einem alten, seit vielen Jahren nicht mehr renovierten Kasten mit zerklüfteter Fassade, dessen rissige Lederfauteuils das Aroma der über hundertjährigen Hotelgeschichte verbreiteten. Ein idealer Ort und ein guter Zeitpunkt, um ihrem Überdruß und ihrer Mattheit ein Ende zu setzen. Sie hoffte auf Osmose. Immerhin hatten im Monopol schon Picasso und Marlene Dietrich übernachtet. Das wußte sie von dem Mann, der in der Bar als Kellner jobbte – einem verheirateten Musiklehrer Ende vierzig, mit dem sie vor Jahren eine Affäre gehabt hatte. Plötzlich war er ihr eingefallen. Marek: die zarten Bisse, die Liebkosungen, die perversen Phantasien. Im Monopol hatten sie sich regelmäßig getroffen – in einem Zimmer, das nach Mottenkugeln und Kosmetik roch. Sobald Marek die Tür hinter sich geschlossen hatte, befleißigte er sich einer besonderen Sprache. Das hatte ihr gefallen. Ihr unruhiger Lidschlag verriet, daß sie die Erinnerung beiseite wischte. Sie war nicht hierher gekommen, um eine alte, verblichene Begierde Wiederaufleben zu lassen – sie war gekommen, um in zwei auf sie gerichteten Augen noch einmal
den alten männlichen Besitzanspruch flackern zu sehen. Vielleicht verlangte sie im voraus Genugtuung dafür, daß die Männer eines Tages abtrünnig wurden. Vielleicht wollte sie die Dinge auch nur verkomplizieren. Doras lauernder Aufmerksamkeit entging das ersehnte Lodern nicht. Sie erspürte es – Sekunden, bevor sie sich seiner vergewissern konnte. Und anders, als sie erwartet hatte, entdeckte sie es nicht in den Augen von Marek, der sich trotz weniger Besucher kaum Zeit für sie nahm, sondern in Jaceks Augen, der kurz nach Mitternacht plötzlich da war – ein Gespenst aus der Vergangenheit. Er kam einfach so herein – in einem goldbraunen, dreiviertellangen Staubmantel, auf dem Kopf die unvermeidliche Cordmütze, unter dem Arm ein in Geschenkpapier eingeschlagenes Päckchen. Zu wenig Zeit war seit der Trennung vergangen, als daß er sie nicht sofort erkannte. Allerdings kam er ihr ein bißchen schwerer vor, runder, vielleicht auch reifer und geduldiger. Er mußte jetzt über sechzig sein. Das sah man ihm nicht an. Ohne Umwege kam er zu ihr an den Tisch, lächelte, fragte, ob er sich setzen dürfe, nahm die Mütze ab. Seine Augen strahlten. Er zog den Mantel aus und legte ihn sorgsam gefaltet über die Lehne des Stuhls. »Sie sind überrascht?« »Woher wissen Sie…?« »Von Ihrer Mutter. Ich habe sie angerufen. Da waren Sie schon weg.« Einen Moment lang sahen sie sich über die Salzstangen, den vollen Aschenbecher und den Serviettenhalter hinweg an. Doras Gedanken waren verschwommen. Sie wußte nichts zu sagen. Sie klaubte sich eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Mit einem kaum wahrnehmbaren Geräusch blies sie den Rauch über den Tisch. Dann, aus Verlegenheit
oder Unentschiedenheit, musterte sie das Gesicht Jaceks. Es gab darin nichts zu lesen – außer Spuren von Belustigung und undurchschaubarer List. Er hob die Hand, um den Kellner herbeizuwinken. Dabei sah er sich um. »Wenig los«, murmelte er. Nach einem Schielen auf Doras Whiskyglas und kurzem Zögern bestellte er sich Sherry. Der Kellner nickte, machte aber keine Anstalten, sich zu entfernen. Jacek sah fragend an ihm hoch. Da bemerkte er, wie Marek mit Dora einen kurzen, heimlichtuerischen Blick tauschte. Der davon ausgelöste Schmerz war kaum real, er glich eher der Erinnerung an Schmerz. An die zahlreichen Enttäuschungen, die sie ihm während ihres Zusammenseins bereitet hatte. An ihre Art, sich seinem Besitzanspruch immer wieder zu entwinden. Er sagte nichts. Mit ausgestellter Langmut besah er sich die Flaschen, die hinter Dora im Regal aufgereiht waren, den Staub an den Flaschenhälsen, die prahlerischen Etiketten mit Lettern in geschwungenem Gold. Endlich sah er sie an. Sein Ausdruck war ernst. »Ich habe ein Geschenk für Sie.« Mit einer Geste, in der etwas merkwürdig Zurückgenommenes lag – fast eine Entschuldigung –, schob er ihr das Päckchen über den Tisch. Dora sah es ratlos an. Schließlich nahm sie es in die Hand, befühlte es, legte es zurück auf den Tisch. »Ein Buch?« »Es wird nächste Woche erscheinen.« In seiner Stimme lag unverhohlener Stolz. Nach einer Pause fügte er hinzu: »Es wird Sie vielleicht interessieren. Die Geschichte, die ich darin erzähle, ist unsere Geschichte. Oder besser: Es ist die Geschichte, die Sie und mich auseinandergetrieben hat. Eine deutsch-deutsche und eine deutsch-polnische Geschichte. Das
hat mich selbst erstaunt, als es mir klar wurde.« Für einen Moment schien sein Blick in sie dringen zu wollen. Dann senkte er die Lider und sah auf seine Hände, die vor dem Bauch in der Luft schwebten. »Keine Sorge, das Buch ist nirgends indiskret. An keiner Stelle. Es werden keine Namen genannt, außer dem Schalck-Golodkowskis, serviler Diener der DDR. Es geht um vier Personen: das Schicksal zweier Menschen in den sechziger Jahren und um das zweier Menschen in den neunziger Jahren. Um Raub und um den vergeblichen Versuch, das Geraubte zurückzuholen. Zunächst ohne das zu ahnen. Ein Krimi, wie gesagt.« Er lachte. Dora murmelte: »Ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen.« Jacek machte eine ungeduldige, wegwischende Handbewegung. »Der Raub pflanzt sich fort. Aber nicht nur er. Alles. Wie eine Welle. Wie ein geheimer Faden. Eine kleine Schlinge im Gewebe, Ursache endloser Metamorphosen, Strudel, Interferenzen.« Er legte die Finger ineinander und drückte die Hände nach außen, bis es knackste. »Das Ende« – er hob den Blick und zeigte unverstellte Freude – »habe ich mir natürlich ausgedacht. Wie einiges andere auch.« »Darum also sind Sie gekommen – um Rache zu üben!« Dora beugte sich vor zum Tisch, angelte eine weitere Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. »Nein, nicht aus Rache habe ich Ihnen das Buch mitgebracht. Sondern aus Liebe.« »So ein Unsinn.« Ihre Stimme klang barsch, abweisend. In dem kurzen Blick, den er ihr sandte, glaubte sie wieder das Lauernde zu erkennen, das sie von Anfang an abgestoßen hatte. Als sie keine weitere Reaktion zeigte, fuhr er ungerührt fort:
»Es ist albern, daß ich Ihnen das Buch mitgebracht habe. Aber ich hätte mich zwingen müssen, es Ihnen nicht mitzubringen. Das wäre noch alberner gewesen.« Eine kleine Pause entstand. »Sie wissen, daß ich Sie liebe. Nach wie vor. Aber ich liebe Sie nicht aus Gründen, aus denen normalerweise ein Mann eine Frau liebt. Weil er sie begehrt. Weil sie ihn fasziniert. Weil er eine Familie gründen will. All das.« Er suchte ihre Augen und zwang sie, seinem Blick standzuhalten. »Ich begehre Sie. Sie faszinieren mich. Aber das ist es nicht. Darin haben Sie mich nie verstanden. Ich liebe nicht Sie. Das wäre ja immer eine andere, die ich liebte – und ergäbe einen Reigen fortgesetzter Untreue. Ich liebe den ganzen Fächer Ihrer Erscheinungen: all die Personen, die Sie gewesen sind, und all die, die Sie noch sein werden. Und natürlich die, die Sie im Moment abgeben.« »Was lieben Sie?« Über Doras Gesicht huschte ein Lächeln. »Ich liebe Sie für die Art, wie Sie es fertigbringen, Bedeutungen zu verwischen. Dafür, daß Sie mir Ihr ewiges und unergründliches Lächeln im Halbdunkel geschenkt haben, für die Erinnerung daran. Seit dem Augenblick, wo ich Sie das erste Mal gesehen habe, wußte ich, daß es niemanden gibt, mit dem Sie Zusammensein können. Auf Dauer können Sie mit niemandem Zusammensein – außer mit mir.«
Der dritte Raum, den sich Dora in der neuen Wohnung besah, lag den anderen beiden gegenüber: das Schlafzimmer. Ein schmales Eisenbett unter dem Fenster, ein Schrank und ein alter mit rehbraunem Leder bezogener Stuhl. Die Frau, die hier lebte, war präsent durch die Dinge auf den Regalen und Ablagen, die seit Tagen oder Wochen sich selbst überlassen waren. Das spürte Dora, und es bereitete ihr Unbehagen. Sie beschloß, die Wohnung zu putzen.
Eine Stunde später, erschöpft, bezog sie die Matratze. Die saubere Wäsche für Kissen und Decke lag am Fußende des Betts und war korrekt gefaltet wie in einem Kaufhaus. Ein seltsamer Kontrast zum Rest der Wohnung. Sie packte den Koffer aus, hing ihre Sachen in den Schrank. Zwei Regalflächen und die Hälfte der Kleiderstange waren für sie reserviert. Sie zwang sich, die Pullover, Kleider, Hosen, Kostüme, die im Schrank hingen, nicht zu beachten. Die Konkurrenz einer unsichtbaren anderen Frau bedrängte sie. Im Bad verteilte sie ihre Utensilien. Sie ging in die Küche, setzte sich an den hellen, leergeräumten Tisch und sah nach draußen. Auf die Rückseite der Mietshäuser, auf die Unzulänglichkeiten des Lebens dahinter und das eng bemessene Glück der kleinen Balkone, von denen aus man in den Hof blickte. In den grün lackierten Hängeschränken suchte sie nach einem Aschenbecher, setzte sich wieder an den Tisch und zündete sich eine Zigarette an. Durch die offene Tür entdeckte sie das Telefon im Flur. Der Apparat ruhte wie eine stille Mahnung in der Ladestation. Sie stand auf, nahm den Hörer ab und lauschte nach dem Freizeichen. Dann – beruhigt – beschloß sie, die Nummer zu wählen, die sie auf einem sorgsam gefalteten Zettel bei sich trug. Nein, nicht jetzt, ein bißchen später würde sie anrufen. Sie war müde und entschied, eine halbe Stunde zu schlafen. Es war erst kurz nach Mittag, halb zwei. Bis auf den Slip entkleidete sie sich, legte Jeans und hellgrünen Pullover sorgfältig auf den Lederstuhl, ging auf Zehenspitzen zum Bett, weil sie den Boden – wiewohl gewischt – noch immer der Schmuddeligkeit verdächtigte, und schlüpfte unter die dünne Bettdecke.
3 EIN SCHLAFZIMMER WIRD BEROCHEN
VIGGEN SPÜRTE EINE HAND auf der Schulter und öffnete die Augen. Die Stewardeß machte ihn lächelnd darauf aufmerksam, daß man inzwischen gelandet war. Er erhob sich und sah, daß gerade der letzte Passagier der am Eingang stehenden Besatzung zunickte und das Flugzeug verließ. Mit wenigen Griffen raffte er das Gepäck zusammen und lief die Gangway nach vorn. Ungeduldig wartete er mit den anderen Passagieren darauf, daß die Koffer, Taschen und Rucksäcke aus dem Gepäcktunnel gespuckt würden. Seine Ohren waren noch zu, und mittels verschiedener Grimassen versuchte er, den lästigen Druck loszuwerden. Zwei Polizisten, deren Schirmmützen ihm zu klein vorkamen, das Schnellfeuergewehr über der Schulter, durchquerten die Halle. Er mußte ein Stück zurückweichen, weil sich vor seine Brust unnachgiebig der runde Hut eines Rabbi schob. Unverschämter Kerl! Einen grauen Halbschalenkoffer hatte der Drängler schon vom Band geangelt, aber offenbar erwartete er noch mehr. Wie bei den meisten ringsum wurde ein Areal im Gehirn aktiviert, das auf blankes Überleben trainiert war. Dementsprechend rücksichtslos verhielt man sich. Aber vielleicht konnte man darin auch einfach nur eine natürliche Reaktion auf die Tatsache sehen, daß im Flugzeug wie bei einem Viehtransport der Mensch für Stunden eingepfercht und sein Körper zur Bewegungslosigkeit verdammt ist. Statt seiner Verärgerung Luft zu machen, schwieg Viggen. Der Airport war der ideale Ort, um die Menschen verwaisen
und die Sitten verrohen zu lassen, wie man hier an den Gepäckbändern oder draußen an den Taxiständen leicht feststellen konnte. Plötzlich schwand sein Groll gegen den Rabbi dahin. Er schwand nicht nur dahin, er schlug sogar in das getreue Gegenteil um – als sich nämlich dieser, als hätten ihn dunkle Ahnungen beschlichen, unvermutet umdrehte. Viggen sah in ein weiches, von einem gestutzten rötlichen Backenbart umrahmtes Gesicht – und am Grund der Gläser in zwei lebhafte Augen, die ihn spöttisch musterten. Ein kurzer Moment gegenseitigen Maßnehmens; dann löste der Rabbi die Angespanntheit, indem er Viggen als dem Nächststehenden mit entwaffnendem Charme zulächelte – und mit einer knappen Geste und einem ebenso knappen Schritt vor dem Laufband Platz machte. Viggen gab sich einigermaßen kühl, um sein schlechtes Gewissen zu verbergen. Er wußte, daß sein Verhalten die Vorurteile nur bestätigte, die alle Welt gegen Deutschland hegte – rüpelhaft, wenig gastfreundlich und ein Land von Barbaren zu sein. Von Nazis. Dabei war Deutschland hauptsächlich ein Land von Rasern und Dränglern. Von Menschen, die manisch den Müll trennten, Gut von Böse schieden. Wie auch immer, in diesem Augenblick war er unfähig, sein Verhalten zu kontrollieren. Vielleicht hatte er auch einfach keine Lust, Vorurteile zu widerlegen. Der Rabbi zerrte jetzt einen Cellokoffer vom Band. Das schwarze Ungetüm am Henkel, den grauen Halbschalenkoffer hinter sich herziehend, zog er von dannen. Fast lag Bedauern in dem Blick, den Viggen ihm hinterherschickte. Und während er der rasch sich entfernenden Gestalt weiter nachsah, fiel ihm erneut sein Vater ein. Der nämlich hatte in jenem treuherzigen Ton, in dem seine Generation üblicherweise ihre Gedankenlosigkeit während der
Nazi-Zeit entschuldigte, erzählt, wie groß das Entsetzen gewesen war, das ihn gepackt habe, als er 1942 mit dem Zug auf dem Weg nach Rußland am Warschauer Ghetto vorbeigerollt war. Im Anblick der ausgemergelten und zerlumpten Gestalten sei ihm erstmals zu Bewußtsein gestiegen, wie verbrecherisch das Regime war, dem er diente. Wie kaputt Europa. Gegen den Terror unternommen habe er nichts – was hätte er schon tun sollen? Er saß ja mittendrin, in der Patsche, im Zug, auf dem Weg zur Front. Wie einen Hund hätte man ihn abgeknallt, wäre seinen Lippen nur die kleinste Bemerkung entfleucht. Er höre noch das Gekläff des Obergruppenführers durch die offenen Abteile hallen. So sein Vater, der solche, eher spärliche Auslassungen über den Krieg mit der Bemerkung zu ergänzen pflegte, daß Du Scheißjudd in dem kleinen, kaum hundert Köpfe zählenden rheinhessischen Dorf, wo er herangewachsen war, schon Jahre vor der Machtübernahme durch die Nazis eine gängige Beschimpfung unter Jugendlichen gewesen sei. »Hi!« Vor Viggen schlüpfte ein Mann mit glattem, öligem Haar und lässig über die Schulter geworfenem Jackett in den Fond einer Limousine – Joe, Nachbar Viggens und Manager bei Microsoft. »Fährst du nachhause?« hörte er Joe rufen. »Nein, zu meiner Mutter. Mein Vater ist gestorben.« »Oh – sorry!« Joe verlieh seinem Gesicht den Ausdruck des Bedauerns. »Kann ich helfen?« Viggen schüttelte den Kopf. Joe hob die Hand. »Ich muß auch los. Die Zeit rennt – und sie wartet auf niemanden.« Er zuckte bedauernd die Achseln und zog die Wagentür ins Schloß.
Im Flughafenbus (der im Turnus von zwanzig Minuten die aus allen Weltteilen eintreffenden Passagiere vom Hallberger Moos in die City transportiert), bestellte Viggen beim Fahrer, während ihm das Ticket ausgehändigt wurde, ein Taxi – das ihn jetzt, eine gute halbe Stunde später, von der Haltestellenbucht in unmittelbarer Nähe des Nordfriedhofs über den Mittleren Ring nach Bogenhausen brachte – zum elterlichen Haus in der Donaustraße. Er saß hinten, den Rücken halb gegen die Armstütze in der Tür gelehnt, den Ellenbogen auf der Hutablage. Im Rückfenster verschwand rasch der Büroturm aus Glas und Aluminium, der hier einsam wie eine hochkant in den Rasen gerammte Schachtel den vierspurigen Ring tangierte, an dieser Ecke, wo die A9 in Schwabing einmündet, eine Prophezeiung – eine Vorwarnung darauf, daß München eine Angestelltenstadt ist, geprägt von Lächeldiplomatie und dem einzigen, was diese Kaste wirklich interessierte: in einem tabellarischen System Wochenendzuschläge zu berechnen, Überbrückungstage vorherzusagen oder – als eine Art höheren Schiffeversenkens – Posten, Positionen und Rentenansprüche über Planquadrate zu schieben. Viggen teilte das Ressentiment, das sein Vater gegen den deutschen Gefälligkeitsstaat gehegt hatte. Dem Bürger, sofern er sich brav verhielt, gefällig zu sein – das stammte, noch bevor die Parteien der Bundesrepublik den Opportunismus zum Leitsatz erklärt und damit die Politik eskamotiert hatten, aus dem Nationalsozialismus. Unter Hitler waren die Urlaubstage verdoppelt, die Rentner automatisch krankenversichert und die Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit von der Steuer befreit worden. Zwar wurde im Moment all das massiv wieder abgebaut – weil es der Wirtschaft gelungen war, eine Drohkulisse zu errichten, hinter der sich ungestört maximierte Gewinne einstreichen ließen.
Doch der Gefälligkeitsstaat war geblieben. Aus dem Absolutismus kommend, von Hegel geheiligt, hatte er sich nur ein anderes, aufpoliertes Aussehen gegeben – etwa das einer ganz normalen Rundfunkanstalt, wo Service zum Zauberwort geworden war und alles getan wurde, um den Zuschauer an den Eheschließungen dänischer oder britischer Prinzen mit adretten Fernsehansagerinnen teilnehmen zu lassen. Ein Blick auf die Uhr, es war kurz vor eins. Viggen stellte sich vor, wie in diesem Moment überall die Türen der Büros aufsprangen und sich die Flure füllten, in denen es nach Kopierpapier, Toner und lauwarmem Filterkaffee roch. Westeuropa, das Tablett vor der Brust, machte sich auf in Richtung Kantine. Das Taxi tauchte in einen Tunnel ab. Viggen griff in die Innentasche seines Jacketts und holte Handy und Palm hervor. Das Mobiltelefon hatte erfunden werden müssen, um den Kopf von den vielen Telefonnummern zu entlasten, die man früher im Gedächtnis haben mußte. Jetzt war Platz geschaffen, um sich die steigende Zahl an PIN-Nummern merken zu können, deren Kenntnis unabdingbar war, um ein zeitgemäßes Dasein zu führen. Zunächst kündigte er bei seiner Mutter sein baldiges Eintreffen an. Dann öffnete er den digitalen Assistenten und tippte mit dem Stift auf die Kalenderfunktion. Als er das letzte Mal vom Flughafenbus ins Taxi umgestiegen war, hatte sein Vater noch gelebt. Das war – er zählte penibel mit dem Stift – drei Reihen quadratischer und numerierter Kästchen her. Sonntag vor gut drei Wochen. Sein Vater; der erschütternde Anblick eines Greises, der hilflos wie ein Baby im Bett lag, den Mund aufsperrte, und blöd vor Glück einen weiteren Löffel Schokoladenpudding aus der fürsorglichen Hand seiner Frau empfing. Was für ein skandalöses Ende!
Er ließ Handy und Taschencomputer zurück in sein Jackett gleiten und rückte sich gerade. Sein Arm sank in das Polster. Dabei spürte er, daß seine Finger auf einen Gegenstand trafen. Er wandte den Kopf. In dem dunklen Winkel, wo Sitz- und Rückenpolster aneinanderstießen, lag ein Armreif. Neugierig betrachtete er ihn, ohne allerdings Anstalten zu machen, den Schmuck in die Hand zu nehmen – als sei ihm nach den Strapazen des Fluges jede noch so kleine Bewegung zuviel. Nur wenig später jedoch hätte man ihn den Reif im Licht des Rückfensters studieren sehen können. Er war aus Gold oder aus einem goldfarbenen Metall und mit großen, rundgeschliffenen und rosafarbenen Steinen besetzt. Der Verschluß war kaputt. Der Wagen bog in die Donaustraße ein. Viggen öffnete einen Spalt das Seitenfenster. Jetzt sagte der Fahrer: »Überall auf der Welt lassen sich mit Fenstern genau zwei Dinge tun: Man kann sie öffnen oder schließen. Nur in Deutschland gibt es noch eine dritte Möglichkeit: Hier kann man sie kippen!« Vor der langen, weiß gestrichenen Mauer, die das elterliche Grundstück umlief und deren Farbe hier und da abblätterte, stieg er aus. Das Gepäck holte er selbst aus dem Kofferraum. Er ließ den Deckel ins Schloß fallen – und im gleichen Augenblick setzte sich das Taxi in Bewegung, als hätte es eben einen freundlichen Klaps auf den Hintern bekommen. Hinter der Mauer: Ein schlichter, zweistöckiger gelb getünchter Kubus, der vornehm etwas zurückgesetzt war. Jetzt wurde die Stille in den Räumen nur noch von seiner Mutter durchgeistert. Der Bau stammte aus den dreißiger Jahren und gehörte zu einem Viertel, das von jüdischen Händlern geprägt war, ehe der Architekt Wilhelm Schuhwerk Ende 1933 damit begann, ein paar Hausnummern weiter unter dem reformerischen Titel Das Deutsche Garteneigenheim einen Vierspänner in Form eines Hakenkreuzes zu bauen.
Aus dem Garten beugte die vertraute Birke ihre Krone über Trottoir und Straße. Viggen wußte noch, wie sein Vater den Baum gepflanzt hatte. Das war keine großspurige Geste im Geiste Luthers gewesen, sondern eher ihre Verkehrung. Er, sein Vater – vom rheinhessischen Gemüt durchaus beseelt – hatte den Karneval gemocht; allerdings nicht den im Fernsehen, sondern den, der in den Dingen selbst lag und darin, wie man sie gewöhnlich betrachtete. Er konnte sich genau entsinnen und hörte wieder das schalkhafte Lachen, das er ausgestoßen hatte, als das Wurzelwerk des im Baumarkt erstandenen Bäumchens in das Loch gesenkt war, das er mit jener verrosteten Kinderschaufel gegraben hatte, deren Grün inzwischen stumpf geworden war und die einmal seiner Schwester Geli gehört hatte. Der Duft erblühten Flieders stieg ihm in die Nase und hellte sein Gemüt auf. Ringsum zwitscherten die Vögel so unschuldig wie in einem der Heimatfilme, deren Rechte er irgendwann für wenig Geld gekauft hatte und die er manchmal noch losschlagen konnte. Der Himmel war blau, durchzogen nur von zwei parallelen Kondensstreifen. Er freute sich auf den nahenden Sommer. Ob dieser Verheißung schien die Stadt wie eine schnurrende Katze dazuliegen. Er sah die Straße hinunter, als hegte er den Verdacht, daß es an ihrem Ende eine Veränderung festzustellen gäbe (aber da war nichts, noch immer endete der Blick an den silberfarbenen Röhren der Hypo-Vereinsbank und der von ihr empfohlenen und jetzt ins bodenlose gefallenen Kurse), ergriff sein Gepäck und ging auf das Gartentürchen zu. Mit dem Knie stieß er es auf und trat in den Vorgarten. Vor den drei Treppenstufen, die zur Haustür führten, stellte er den Koffer ab, nahm, als seine Mutter vor ihm in der Haustür erschien – blaß, mit umschatteten Augen, die hinter der Brille unnatürlich groß wirkten –, ihre Hand und schloß sie ohne viel Worte in seine
Arme. Er spürte ihr klopfendes Herz, ihre Zerbrechlichkeit und die Mühe, die es sie kostete, die Fassung zu bewahren. Auch ihm traten Tränen in die Augen. Nach einer Weile fragte er sie, wie es ihr gehe. Sie zuckte die Achseln und sah ihn mit einem traurigen, verschwommenen Blick an. »Komm rein.« Sie machte Platz, um ihn eintreten zu lassen. Er stellte den Koffer im Flur ab und hing den Mantel an die Garderobe. Einen kurzen Moment stand er da und lauschte in die Stille, die über allem lag – den Räumen, Möbeln, Teppichen –, nur unterbrochen von den Schritten der Mutter und dem leisen Ticken der Wanduhr. Das Haus machte den Eindruck, als schliefe es, als hätte es sich von seinen Bewohnern und ihrer Wirklichkeit in einen unerreichbaren Traum zurückgezogen. Als erstes stieg er die hellen Marmorstufen hinauf. Es zog ihn nach oben – als hätte er dort etwas Wichtiges vergessen. Er wollte das Zimmer sehen, das zuerst das Schlafzimmer und dann das Sterbezimmer seines Vaters gewesen war (seine Eltern hatten seit langem getrennt geschlafen – eine Errungenschaft der Emanzipation sich zunutze machend). Die hellbraun gemaserte Tür war verschlossen, der Schlüssel steckte. Er zögerte, trat dann aber ein. Da stand das eiserne Krankenbett, das vom Pflegedienst gebracht worden war (das alte, durchgelegene Ehebett, das sein Vater hartnäckig benutzt hatte, war längst entsorgt). Die mit hellblauem Frottee bezogene Schaumstoffmatratze war noch bedeckt mit der aufblasbaren Decke aus Plastik, die das Wundliegen verhindern sollte. Daneben, wo einmal der Nachttisch aus Rauchglas mit dem Radiowecker und den Kunstzeitschriften gestanden hatte, war ein dunkler Fleck auf dem Teppich.
Viggen trat an das große, breite Fenster und sah hinaus auf Terrasse und Garten. Nach einer Weile beugte er den Rumpf bis zur Brüstung und blickte knapp über den Fensterrahmen hinweg ins Freie: Das war die Perspektive gewesen, aus der sich seinem Vater die Welt zuletzt gezeigt hatte – eine Welt, die auf die Ausmaße eines Gartens geschrumpft war. Als er sich umdrehte, entdeckte er im hinteren, dunklen Eck des Zimmers den Gehstuhl, der zur Wand hin gedreht war, und neben der Badezimmertür aus hellem, gemasertem Holz den stummen Diener, über dem noch immer die Sachen hingen, die sein Vater zuletzt getragen hatte und jetzt nutzlos geworden waren: eine dicke, dunkelblaue Wollhose, ein dunkelblaues Sweatshirt, dicke Socken im Norweger-Muster und der braune, unpassende Ledergürtel, der das ausgeleierte Gummiband ersetzte. Das klägliche Rudiment einer biederen, die Bequemlichkeit der Repräsentation vorziehenden Garderobe. Er verließ das Zimmer, ging die Treppe hinunter und trat durch die Tür mit Rundbogen und Buntglasscheiben ins Wohnzimmer. Dort saß seine Schwester und rauchte. Ihre Augen wanderten in seine Richtung. Als Viggen zu ihr kam und sie mit einem Kuß auf die Wange begrüßte, flog ein schwaches Lächeln über ihre Lippen. Ihr Blick ging an ihm vorbei in eine unsichtbare Ferne. Mit der Hand berührte er sie an der Schulter und ließ sich in einen der beiden Sessel gleiten, die die Couch am oberen und unteren Ende flankierten. Seine Mutter kam mit einer Kanne und einer Tasse aus der Küche. Sie bot Roibusch-Tee an, doch er lehnte ab. Es wurde nicht viel gesprochen. Aus lähmender Hilflosigkeit – und, weil das Vertrauen in die Sprache erschüttert war, in ihre klärende Kraft. Immer wieder gab es längere Pausen, in denen man aus dem großen Panoramafenster sah und schwieg. Viggen war noch von der Anreise erschöpft, seine Mutter und seine Schwester von dem psychischen Streß und dem halben
Jahr Pflege, das hinter ihnen lag. Obwohl Geli jeden Morgen in die Gärtnerei mußte, in der sie halbtags arbeitete, und den Nachmittag manchmal damit zubrachte, auf die Kinder ihrer beiden karrierebewußten Mitbewohnerinnen aufzupassen, hatte sie es sich nicht nehmen lassen, Tag für Tag die fast hundert Kilometer vom Staffelsee, wo sie die oberste Etage eines halb verfallenen Hauses bewohnte, auf sich zu nehmen (und kurz nach zwanzig Uhr, wenn der letzte Zug ging, dieselbe Strecke zurück). Sie hatte ihrer Mutter geholfen, wo es ging. Und natürlich: Auch er selbst hatte ihr beigestanden, hatte, wenn es seine Zeit erlaubte, die Nachtwache übernommen, Besorgungen gemacht, seinen Vater gefüttert oder sie für die dringend erforderliche Mittagsruhe am Bett abgelöst. Er hatte sich nicht gedrückt – aber er konnte auch nicht bestreiten, sich erleichtert gefühlt zu haben, wenn irgendwelche Termine ihn verhindert hatten. Plötzlich gewann die Unterhaltung an Schwung. Dennoch blieb sie merkwürdig nüchtern. Es ging um den Text für die Todesanzeige, um den Sarg, um das Arrangement der Blumen und den Ablauf der Trauerfeier. Das Zeremoniell wurde noch einmal detailliert durchgegangen. Man war froh, sich mit den Einzelheiten der Beerdigung und ihrer Organisation beschäftigen zu können. Nach einer Stunde verabschiedete sich Viggen mit dem Hinweis, daß er am Abend wiederkommen würde. Bald darauf stand er in seiner Küche – noch im Mantel – und setzte Wasser für den Kaffee auf. Da hörte er in seinem Arbeitszimmer am anderen Ende der Diele das Telefon klingeln. Für einen Moment überlegte er, ob er an den Apparat gehen sollte. Dann hastete er durch den Flur, in dem noch sein unausgepackter Koffer stand, und erreichte mit wenigen Schritten den Schreibtisch. Während er ein knappes, fragendes Hallo nuschelte, erkannte er an dem rot blinkenden Lämpchen,
daß während seiner Abwesenheit eine Reihe von Anrufen eingegangen war. Am anderen Ende seine Mutter. Ihre Stimme klang dünn und schwach. Sie sagte, sie habe vergessen, ihm etwas mitzuteilen. Während sie sprach, sah er auf die Uhr. Es war kurz nach vier. Sein ruheloser Blick überflog den Schreibtisch nach einer Nachricht, die vielleicht die Keyser hinterlassen hatte. Aber er entdeckte nur das übliche Orakel – den mehrseitigen, wie ein Leporello gefalteten Computerausdruck –, dessen dürftige Zahlen belegten, daß die Quoten der vergangenen Woche mau gewesen waren, egal für welches Format. Ob er eine Dora oder Nora kenne? Er verneinte, eine Dora oder Nora sei ihm unbekannt, warum sie frage. Vorhin habe eine Frau angerufen, die, nachdem sie über die familiäre Situation aufgeklärt worden sei, in tiefes Schweigen verfallen sei (ein Schweigen, das ihr jetzt komisch vorkomme) – um dann, völlig unerwartet, sie zu bitten, ihre Nummer zu notieren und dem Sohn mitzuteilen. Den Grund ihres Anrufs und den Namen habe die Frau nicht genannt. Ob er die Nummer haben wolle? Eine Frau? Seltsam, sagte er. Er stand da, reglos, schweigend, wie jemand, der versonnen dem Klang seiner eigenen Antwort nachlauscht.
4 ABSENCEN
SIE KNIETE AUF DEN HÖLZERNEN BOHLEN, nahezu nackt, um die Hüften ein bali-blaues Baumwolltuch, das unterhalb ihres Bauches verknotet war. Ihr Nabel wurde von einem kleinen, silbernen Ring geschmückt. Den hatte sie sich einsetzen lassen vor mehr als fünf Jahren – aus Protest gegen einen Mann, der auf sein angestammtes Vorrecht der Allgegenwart gepocht, es sich hartnäckig zu erkämpfen versucht hatte – und der auf den Namen Jacek hörte. Es war ihr Andenken – Mal der von ihr selbst vollzogenen Trennung; der Einwilligung in den Wahn, daß ihr ein anderes, weniger berechenbares, vornehmeres Leben zustünde. Um sie herum, im Halbkreis, brannten Teelichter. Der hintere Teil des Raums versank im Dämmer. In dem flackernden Lichtkreis schaukelte sie ihren Körper in sanften Bewegungen hin und her, saugte an der Zigarette, schüttelte sich immer wieder das glatte, auf die Schultern reichende, strähnige Haar ins Gesicht. Hinter ihr, im Eck, ein schlichtes Sideboard aus Kiefernholz, darauf eine Terrakotta-Vase, in der ein langer Ast mit kahlen Seitentrieben steckte. An der gegenüberliegenden Wand ein Spiegel, in dem ihr Blick, von sich selbst überrascht, die eigenen Trugbilder auffing. Vor ihr, auf dem Boden, standen eine leere Flasche Rotwein, ein halbvolles Glas und eine Schale mit Reisgebäck. Außer den paar Gegenständen und der verhaltenen Musik, die zusammen mit ihren Gedanken den Raum zwischen den Wänden füllte, war das Zimmer leer. Hin und wieder glitt ihre Hand unter das Tuch, berührte die Innenseiten ihrer Schenkel, streichelte ihr
Geschlecht. Um das Glück zu provozieren, schob sie ihre Finger vor. Sie kniete da, dunkelblond, schlank und fühlte sich auf eine komplizierte Art glücklich – glücklich, aber auch schutzlos und durchschaut. In der Beuge des Knies fühlte sie, wie ihr Herz schlug. Deutlich, hart, gleichmäßig. Um sich herum hatte sie ein feuchtes und warmes Klima geschaffen, eines, in dem Hoffnungen gediehen. Sie war aufgeladen von allem, was sie umgab, voller Zuversicht und ohne jeglichen Widerstand. Der Wein erhitzte sie, holte eine männliche Stimme ins Zimmer – eine Stimme, die unhörbar zu ihr sprach und dabei der Worte, die sie gebrauchte, entkleidet war. Gleich einer Spur durch die Zeit, phosphoreszierend und doch aus nichts anderem bestehend als aus Modulation. Sie schloß die Lider und versuchte, in sich hineinzuhören – auf ihr Blut, ihren Unterleib, auf die Stimme, die zu ihr sprach, aber nicht die ihre war. Sie versuchte, ihr Zentrum zu finden, herauszubekommen, was genau in ihr vorging. Es gelang nicht. Die Spannung, unter der sie stand, erzwang einen merkwürdigen Zwitterzustand, halb sexuell, halb luzid. Immer wieder verlor sie den Faden und gab dem Sog des brüchigen, vom Rauch einer Zigarette verdunkelten Klangs nach, in dem sich zu Schlieren und Nebeln auflöste, was von ihrem Gehirn schon zig mal wiederholt und zu verstehbaren Sätzen verarbeitet worden war – was von ihren übersteuerten Synapsen immer wieder verwandelt wurde zu einer dunklen, undeutbaren Empfindung, die von ihr jedoch dann, wenn sie für Augenblicke aus der Hingabe tauchte, wenn sie umkippte und in eine schrille Wachsamkeit zurückfand, argwöhnisch und ängstlich belauscht wurde. Der Mann, von dem es hieß, daß er ihr Vater war, lebte nicht mehr. Sie würde ihn nie mehr kennenlernen. Dafür seinen Sohn. Sie war also nicht so allein,
wie sie immer dachte – und immer auch sein wollte. Konnte das wahr sein? In ihrer Ohrmuschel, oder weiter hinten, in ihrem Gedächtnis, trafen sich launische, wechselhafte, zweideutige Gefühle mit lang gehegten Erwartungen, mit Zweifeln und Vorurteilen, verbanden sich mit all dem zu etwas, was ihre Gedanken hilflos und hartnäckig umkreisten. Was sie jetzt, in diesem Moment, in Beschlag nahm, war eine oder eineinhalb Stunden her und immer noch präsent. Es glühte förmlich in ihr nach. Oder: Sie war es, die glühte. Sie leerte das Glas, das sie in der Hand behalten hatte, stellte es zurück auf den Boden. Gleich darauf wurde sie von einer Welle der Empfindlichkeit überrollt. Tränen traten ihr in die Augen; Tränen eines vagen Glücks. Erneut suchte sie über ihre Gedanken und Gefühle Klarheit zu gewinnen. Was sie sich zurück ins Bewußtsein holte – vom Alkohol, von ihrer Nacktheit und dem Geruch brennenden Wachses euphorisiert –, war eine Stimme, die geeignet war, daß sich an sie Vermutungen hefteten, eine ruhige, männliche Stimme, zu der es aber keinen Körper gab. Zumindest gelang es ihr nicht, sich einen Körper vorzustellen, der zur Stimme paßte, vielleicht, weil diese nur aus dem Echo eines Telefonats am Nachmittag bestand. Oder auch, weil die Stimme einen Raum erschuf, in dem nichts Platz hatte außer diese selbst. Sie zündete sich eine weitere Zigarette an, inhalierte den Rauch und ließ diesem gewissermaßen ihre Aufmerksamkeit folgen. Sie fing an, langsam mit den Hüften zu kreisen – so, als gäbe das, was sie in ihrem Inneren vernahm, den Takt an. Die gedämpfte Musik, die vom Nebenraum herüberdrang – aus der kleinen, schmutzigen Küche, wo es ein Radio mit CD-Spieler gab –, und der Nachhall des nur als akustische Erinnerung vorhandenen Mannes verschmolzen nun miteinander, wurden eins. Davon ließ sie sich tragen.
Zum wiederholten Mal liefen ihre Gedanken die Zeitspanne zurück bis zum Nachmittag – bis zu dem grauen, trüben Licht, zu dem sich der frühlingshafte Tag abrupt verdichtet, das die Fenster und die dahinterliegenden Räume erfüllt hatte. Sie sah sich unter der Dusche stehen, sah, wie sie aufmerkte, als sie hinter dem milchigen Vorhang und dem wohltuenden Prasseln des warmen Wassers plötzlich das Klingeln hörte – ohne zu wissen, wie lange es schon andauerte. Sie sah, wie sie hastig aus der Dusche sprang, sich ein Handtuch griff, sah, wie sie in den Flur stürzte und ihr nasses, tropfendes Haar hinter das Ohr strich. Es war komisch, sich so, von außen, noch einmal zu sehen. Zuerst gehörte die Stimme, mit der sie am Telefon sprach, zu niemandem, zu einem namenlosen, anonymen Anrufer, doch dann fing sie an, mit dieser Stimme zu sprechen. Es war seine Stimme. Die Stimme ihres möglichen Halbbruders. Sie hatte es gewußt. Die Stimme klang fremd, was sie überraschte. Irgendwie hatte sie gedacht, sie müßte die Stimme kennen, zumindest irgend etwas Vertrautes in ihr entdecken, einen Ton oder eine Färbung, die auf eine geheime Verbundenheit hätte schließen lassen. Aber sie fand nichts, was ihr, ihrem Ohr oder ihrer von einer langen Reihe Männer befleckten Vergangenheit vertraut vorkam. Statt dessen fühlte sie, wie sachte eine ungreifbare Hoffnung in ihr zu keimen begann, die Hoffnung, daß sie nun etwas hatte, zu dem sie zurückkehren konnte (obwohl sie lange Zeit gar nicht gewußt hatte, daß das noch etwas anderes sein könnte als ihre Kindheit). Alles, was die Stimme sagte, der Klang, das Timbre, hatte ihre Entscheidung gutgeheißen – jene Entscheidung, die inzwischen Jahre zurücklag.
Für einen Moment fühlte sie sich besänftigt. Doch dann kreisten ihre Gedanken wieder zuverlässig um den Sprecher und das mit ihm verbundene Mysterium. Es war ein simples Mysterium, trivial, und es bestand darin, daß ihr Teil der Welt nicht die ganze Welt war. Was von dieser zu erfahren war, hatte sie zu wissen geglaubt, doch nun wußte sie, daß es noch mehr gab.
Sie fuhr fort, ihre Hüften zu bewegen. Sie forcierte das Glück, absichtslos, einfach so, selbstvergessen oder vielleicht auch nur, um müde zu werden, und dabei versuchte sie, vor ihrem inneren Auge diesen Moment wiederzubeleben, der vergangen und nicht vergangen war. Doch es war ihr einfach nicht möglich, um die Stimme herum einen Körper zu erfinden, ein Gesicht, sosehr sie sich auch mühte. Sie erinnerte sich, daß sie, nachdem sie aufgelegt hatte, zunächst wie betäubt gewesen war, wie berauscht, vielleicht auch bloß: zerstreut. Ein einziger Satz hatte ihren Kopf gefüllt: Es hatte geklappt! Jener Plan, der ihr selbst verborgen gewesen war bis zu dem Augenblick, wo sie begriff, daß hinter dem, was sie tat, ein Plan stand. Ein Kalkül. Oder war alles nur eine Halluzination, eine Einbildung, ein Wunschtraum?
Kurz darauf – nun unter der laxen Regie lautlosen Übermuts – hatte sie sich angezogen und war auf die Straße gelaufen, hatte einfach Bewegung gesucht, hatte dem unausweichlichen Drang nachgeben müssen, ihrem noch namenlosen Hochgefühl Gestalt zu verleihen (die Gestalt einer Gehenden), Schritt vor
Schritt zu setzen, ziellos, mechanisch, ohne in Wörtern, Begriffen oder Bildern zu denken. Jetzt trug sie ein Kapuzenshirt mit schrägen Taschen, in die sie ihre Hände bohren konnte. Ihren kaum zu bändigenden Tatendrang. Darüber einen leichten Regenmantel. Sie lief an grauen, rosafarbenen und tropfnassen Fassaden vorbei, an Toreinfahrten, die von riesigen Pfützen versperrt wurden, an vollgerümpelten Geschäften, an Kinoaushängen hinter zersplittertem Glas, an Schaufenstern, über denen quer giftgrüne Plakate mit der Aufschrift Räumungsverkauf klebten und in denen dicke, bleifarbene Tropfen und Wolken hingen und jenes Stück Sonne, das für einen Moment wieder hervorgekommen war; sie passierte Coffee Shops mit zwei oder drei Gästen, die alle Zeitung lasen, durchgerostete Abflußrohre, die an Hauswänden hochliefen, kleine Restaurants, deren Tische bereits für den Abend gedeckt wurden, überquerte kleine und große Plätze, leere und befahrene Straßen, schenkte Trödelläden und Boutiquen eine gespielte Aufmerksamkeit, lief eine für den Autoverkehr gesperrte Straße entlang, die an der Oper und einem Platz mit pompösen Gebäuden anfing, dann begleitet wurde von Nobelläden, Konditoreien, einer Kirche und einem kleinen Park. Passanten begegneten ihr kaum – oder sie nahm sie in ihrer stummen Euphorie nicht wahr. Sie stand vor dem Hofgarten, unschlüssig, ob sie umkehren oder noch ein Stück laufen sollte. Ihr Blick fiel auf die barocke Theatinerkirche, streifte das Palais des Grafen Moy, dessen noch erahnbarer herrschaftlicher Anspruch Bilder weckte, die vom Show Room einer Autofirma im Parterre wieder ausgelöscht wurden; überquerte die Brienner Straße; stieß sich an einer Litfaßsäule; entdeckte das Siegestor, und dann – dann diese Bar mit dem nur vorgestellten dünnen schwarzen Schriftzug Schumann’s. Sie entsann sich, irgendwo gelesen zu
haben, daß genau dort diese berühmte Bar war, wo nichts auf sie hinwies. Den Eingang suchend, trat sie durch die Glastür, schob den schweren, bordeauxroten Stoff des Windfangs beiseite, stand im Lokal, den langen Tresen mit den beiden weißbeschürzten Obern vor Augen, die hohe Marmortafel und die Galerie der Campari-Flaschen auf dem obersten Regal, die besetzten und unbesetzten Tische, den Platz, auf den sie zusteuerte. »Einen Latte macchiato, bitte.« Der Ober sah sie verständnislos an. Dann gab er sich den Anschein, als suchte er die Nähe ihres Gesichts, und sagte: »Gnädige Frau, es gibt drei Gründe, warum die Gäste in diese Bar kommen. Erstens: Weil es kein Weißbier gibt. Zweitens: Weil es keinen Prosecco gibt. Und drittens: Einen Latte macchiato haben wir auch nicht.« Dora lächelte, konnte es aber nicht vermeiden, daß sie sich provinziell vorkam. Der alte Graben in ihr riß wieder auf, die unerbittliche Konkurrenz zwischen Ost und West. Wieder spürte sie: Demütigung. Das sollte ihr, der Whiskyliebhaberin und Verächterin von allem, was sich als light ausgab (sie rauchte filterlose Zigaretten und war katholisch erzogen), eine Lehre sein. Warum war ihr ein solches Getränk überhaupt in den Sinn gekommen? Wegen – München? Das wäre nur das zuverlässige Vorurteil. Latte macchiato: Ein Getränk, in dem außer Milchschaum und Kakaostreusel nichts weiter schwamm als die behauptete Liebe der Deutschen zu Italien. Sie dachte: Noch ein Erbe ihrer Herkunft. Erbe der DDR. Sie zuckte die Achseln. Und wenn schon!
Dora spürte Zorn in sich aufschießen. Doch der doppelte raucharme Scotch, den der Ober ihr hinstellte und von dem sie sofort einen kräftigen Schluck nahm, besänftigte sie. Und nach einem weiteren Schluck hatte sie begriffen. (Sie hatte begriffen, daß sie eine instinktive Abneigung gegen alles besaß, was nach Macht roch, was sich an ihr berauschte, um einzuschüchtern; und daß die manichäische Teilung der Welt, ihre Spaltung in Gewinner und Verlierer, Ost und West, Kellner und Gast überwindbar sein müßte – und damit auch ihr Zorn, ihre lächerliche Angst, nicht ernstgenommen zu werden). Sie rauchte noch eine Zigarette und machte sich, müde geworden, auf den Nachhauseweg. Ein paar Straßen von ihrem neuen Domizil entfernt, traf sie auf einen erleuchteten Supermarkt. Den Einkaufswagen durch die an diesem Samstagabend kurz vor zwanzig Uhr bis auf die üblichen rastlosen Gestalten fast leeren Gänge schiebend, nahm sie zwei Flaschen Rotwein, Gebäck und – aus einer Laune heraus – eine Schachtel mit Teelichtern mit. Diesen und anderen, weiter vorausliegenden Bildern hing sie nach, sprunghaft, detailversessen, mißtrauisch und forschend, in dem steten Bedürfnis, im Kopf Ordnung zu schaffen. Um endlich Ruhe zu finden, zwang sie sich, mit einer weiteren Flasche Rotwein und weiteren Zigaretten das Gefühl der kaum faßbaren Verwirrung, der untergründigen Verstörung, das in ihr zirkulierte, ihr Blut beschleunigte, zu dämpfen. Später blies sie die Teelichter aus und verließ den Raum. Sie betrat das Nebenzimmer. Und während sie dieses in Richtung Bett durchquerte, löste sie das Baumwolltuch von ihren Hüften und ließ es einfach auf den Boden sinken. Das Kissen kühlte ihre Wange, und dabei merkte sie, daß sie sich nicht mehr sicher war, ob sie seine Stimme heute wirklich gehört oder sich alles nur eingebildet hatte. Sie merkte, daß sie das auch nicht
mehr wirklich interessierte. Sie wußte ohnehin, was sie zu tun hatte. Schnell schlief sie ein. Als sie erwachte und das schmale Eisenbett erkannte, in dem sie lag, sickerten durch die geschlossenen Vorhänge Licht und Lärm von der Straße. Lärm – am Sonntagmorgen? Empört und zugleich neugierig trat sie ans Fenster, nackt, und sah unter sich regennassen Asphalt und Marathonläufer in bunten Trikots, die hechelnd vorbeizogen; sah Regenschirme, unter denen sich Passanten verbargen, die mit rhythmischem Klatschen, mit Pfiffen und Bravorufen die Körper anfeuerten, die da in aller Herrgottsfrühe sich mit hartnäckigem Eifer schindeten – offenbar überzeugt davon, ihre Jugend zurückerobern zu können.
5 INTIME BEZIEHUNGEN
AUCH WENN ER VON SEINEN ELTERN eine Menge mit sich herumtrug – Vorlieben, Leidenschaften, Empfindlichkeiten –, sah sich Viggen nicht als deren Metamorphose, als gemendelte Verlängerung ihrer beider Leben. Zugleich wußte er, daß er dem Zitat unterstand, das Jacques Monod einmal geprägt hat: Was für das Bakterium Escherichia coli zutrifft, trifft auch für den Elefanten zu. Was für Viggens Eltern (und wiederum deren Eltern) galt oder gegolten hatte, galt auch für ihn selbst – ob ihm das paßte oder nicht. Es paßte ihm nicht. Äußerlich kam er seiner Mutter näher als seinem Vater. Das nahm er als Erbe gerne an – ebenso wie ihre Vitalität: die über Jahrzehnte angesparten Kräfte an der Seite eines Mannes, dessen Lebensenergie aufgezehrt worden war von Routine, und der auf dem Sterbebett diesen Satz gesagt hatte: »Man wird um das Leben betrogen.« Viggen, der Sohn, saß im Westfenster seines Arbeitszimmers, rauchte und erinnerte sich. Zunächst war er joggen gewesen. Das war ihm wie der ganzen Zeit, in der er lebte, zum unaufschiebbaren Bedürfnis geworden. Er joggte – nicht mit ausholenden Schritten, sondern mit kleinen, tippelnden Bewegungen, viel zu vornehm, aber er fühlte sich wohl. Er fühlte sich wohl, weil er merkte, daß der Tag, an dem er im Spiegel erschrocken entdeckt hatte, daß die Knopfleiste seines Hemdes unterhalb des Nabels ein langgezogenes O machte, immer weiter zurücklag. Er erinnerte sich an das Leben mit seinen Eltern: die gemeinsamen Spaziergänge im Tölzer Land und um den
Staffelsee, die Brotzeiten auf Almhütten, an die gelegentlich in der Ferne aufheulenden Motorsägen und an die bellenden Hunde, wenn sie früh morgens am Chiemsee Schrebergartenkolonien passierten. Er dachte an die Autos, die seine Eltern gefahren hatten, die beigen, roten und dunkelblauen BMWs seines Vaters, die Käfer seiner Mutter, an sein erstes eigenes Auto, einen blaugrünen Citroen Ami Super. Die Urlaube im holländischen Noordwijk fielen ihm ein, das einfache, weiß gestrichene Hotel, sein kindlicher Kampf mit den Wellen, die abendlichen Spaziergänge an der Uferpromenade, wenn seine sechs- oder siebenjährige Schwester um eine Tüte Pommes frites mit Ketchup bettelte; dann der August 1968 und jener Morgen in den Dünen, wo sein Vater noch im Hotel war und seine Mutter zusammen mit Strandkorbnachbarn aufgeregt dem Radio lauschte, weil die Sowjets in Prag einmarschiert waren und der Ära Dubcek ein Ende machten. Er sah seinen Vater, die verschiedenen Gesichter, die er an ihm kennengelernt, die Stationen des Alters, die er durchlebt hatte, dachte an dessen aus den Aufbaujahren der Bundesrepublik stammenden Sparzwang und daran, daß er seine Mutter oft hatte sagen hören: »Ich kann das Wort sparen nicht mehr hören.« In ihm logierte wie in seiner Mutter ein Hang zur Verschwendung, zur Ausschweifung – eine weitere Eigenschaft, die zu der elterlichen Aussteuer zählte, mit der er in die Welt getreten war. Seine Mutter hatte bis in die späten Achtziger als Dolmetscherin gearbeitet und zuletzt einen Band mit Erzählungen von Truman Capote übersetzt. Damit sah sie ihren beruflichen Höhepunkt erreicht. Nun, beschäftigungslos, fing sie an, mit Viggens Vater, der sieben Jahre älter war und zur gleichen Zeit seinen Kunstsalon aufgegeben hatte, ausgedehnte Reisen zu unternehmen (und das nahende Alter
noch ein Stück hinauszuschieben): Kreuzfahrten durch das Mittelmeer und den Atlantik, Flugreisen nach Südamerika, Ägypten, zum Himalaja und in den Oman, nach Südafrika, Grönland und nach Stalingrad (wo der jüngere Bruder seines Vaters, den man seit Februar ‘45 vermißte, allem Anschein nach gefallen war). Es war ein vollkommen neuer Lebensabschnitt, ausgefüllt mit dem typischen Rentnerprogramm, das von den prosperierenden Volkswirtschaften in den USA, Japan und Europa ermöglicht wurde. Viggen sah in der mobilen Gerontokratie, die über Reisebüros, Flughäfen und klimatisierte Buslinien herrschte, den Reflex auf eine vom Krieg gestohlene Jugend und die Enttäuschungen über das Leben daheim. Aber nun, ein paar Jahre später, sah die Lage ohnehin anders aus. Neben dem Umstand, daß die Bevölkerungspyramide demnächst auf dem Kopf stehen würde, bereitete vor allem die desolate ökonomische Lage Sorge. Wenn nicht alles unaufhörlich wuchs, kam es gleich zu Problemen. Wachstum – zu einem einzigen mageren Wort war die letzte Utopie, über die die Menschheit verfügte, zusammengefallen. Als sein Vater die achtzig erreichte, mußten die Reisen eingeschränkt werden, was seiner Mutter, die nach wie vor rüstig und voller Elan war, zu akzeptieren schwer fiel. Ihrem biologischen Alter gegenüber unbeugsam, ließ sie sich jedoch nichts oder nicht viel anmerken und fügte sich in ihr Schicksal. Von nun an ging es nur noch zu Freunden – nach Hamburg, in die Toskana, nach Spanien – oder zu den Festspielen nach Salzburg. Eines Tages verließ Viggen mit seinen Eltern das argentinische Restaurant, in dem sie zum Essen verabredet gewesen waren, um sie zu seinem Auto zu bringen und nach Hause zu fahren. Da bemerkte er, daß die Schritte seines Vaters klein und schwach geworden waren.
Zwar hatte er von früh auf seinen Vater immer Tropfen irgendeiner Medizin abzählen sehen, doch war es nie zu einer Situation gekommen, wo er ihm hatte unter die Arme greifen müssen, um ihm aufzuhelfen – auch nicht im hohen Alter. Nie hatten seine Beine die Last des Körpers nicht mehr tragen können, nie war er von einer Krankheit ernsthaft beeinträchtigt worden – bis zum Dezember vergangenen Jahres. Plötzlich hatte er nicht mehr aus dem Sessel im Kaminzimmer aufstehen können, hatte – still und ohne jeden Übergang – die Hand in die Luft gestreckt und verzweifelt nach Dingen gegriffen, die nur er allein sah und nicht zu fassen vermochte. Ein Bündel Nervenzellen war im Gehirn verglüht. Lautlos. Offenbar hatte die Demenz, die im Kopf des Vaters lauerte und sich von Zeit zu Zeit schon mit demütigenden Sprachstörungen bemerkbar gemacht hatte, ein neues Stadium erreicht. Statt im Stadium der Latenz weiterzuschlummern, löste sie urplötzlich neue Schübe aus. Von nun an sollte es im Schuß bergab gehen. Stumm vor Schreck hockte die Familie da und versuchte das Unbegreifliche zu begreifen. Jedem wurde bewußt, daß es keine Hoffnung gab – niemanden, der den Vater und Ehemann noch vor den extraterrestrischen Gefilden, in die er abdriftete, retten konnte. Der Gehirnschlag im Kaminzimmer war der erste von einer Reihe mittlerer und schwerer Infarkte gewesen, die sein Vater von nun an zu erleiden hatte. Daß Viggen damals zugegen gewesen war – ebenso wie seine Schwester, die ein deutlich engeres Verhältnis zu den Eltern hatte –, war dem Zufall zu verdanken. So konnten sie das panische Entsetzen, das ihre Mutter im Anblick des lautlosen Zusammenbruchs ergriff, mildern. Gemeinsam führten sie ihren Vater ins Bett, schafften es trotz seiner Unruhe irgendwie, daß er einschlief. Doch die Katastrophe hatte bereits ihren Lauf genommen: In der Nacht stürzte er aus dem Bett – und zerschmetterte dabei den
gläsernen Nachttisch. Viggens Mutter gelang es nicht, ihrem verwirrten und blutüberströmten Mann aufzuhelfen und war gezwungen, den Notarzt zu rufen, der ihn in eine Klinik abtransportieren ließ. Als die Diagnose feststand und die Ärzte mitteilten, nichts mehr ausrichten zu können, wurde sein Vater wieder nachhause gebracht. Nun folgten die endlosen Wochen, wo seine Mutter bis zur völligen Erschöpfung am Bett ihres Mannes hockte, der in der Nacht – an das Krankenbett festgeschnallt – die Namen seiner eigenen Eltern rief; folgten die endlosen Nachmittage, wo sie ihm die Hand hielt, die endlosen Nächte, wo sie Trost spendete und die Angst zu nehmen suchte. Sie überwachte die Arbeit der Pflegerinnen, sie flößte ihm aus einer Schnabeltasse Tee ein – manchmal aus nervlicher Überlastung die Geduld verlierend. Schier endlos die Tage, als die Welt, die sein Vater war, zu Ende ging. Viggen schnippte die Asche der Zigarette durch den Spalt des gekippten Fensters, zu dem er sich vom Schreibtisch hinbewegt hatte. Sein glasiger Blick streifte planlos und müde über die mit Efeu überwachsene Anfahrt einer herrschaftlichen Villa am Fuß der Tivoli-Brücke, die von einer Versicherungsagentur okkupiert war. Es war Sonntag, Ende Mai, noch keine sieben Uhr. Irgendein übelwollender Traum hatte ihm den Schlaf geraubt. Seitdem war er wach. Er betrachtete den grau-weiß gesprenkelten Kies der Anfahrt und die Hecke und das Gittertor, die das Grundstück vom Trottoir abgrenzten. Menschenleer lagen Straße und Brücke unter ihm, in einem schönen, klaren und von den ringsum sachte erblühten Pappeln, Buchen, Linden und Ulmen orange eingefärbten Licht. Das helle und strahlende Grün und die weißen Baumblüten schienen dem, was ihn in ein paar Stunden erwartete, Hohn zu sprechen. Heute um sechzehn Uhr war die Trauerfeier anberaumt. Das letzte Geleit für seinen Vater.
Er sog am Ende seiner fast heruntergerauchten Zigarette. Trauer übermannte ihn, dunkle, tiefe Trauer, die sich abwechselte mit Wehmut und dem Gefühl des Verlassenseins. Er fragte sich, wer er selbst eigentlich war, wie es dazu gekommen war, daß aus ihm wurde, was er darzustellen inzwischen gezwungen war. Irgendwann nach dem vierzigsten Lebensjahr war ihm aufgefallen, daß sein Vater anfing, sich in ihm prägnanter als früher bemerkbar zu machen – nicht äußerlich, da blieb er weitgehend in der Spur, die die Gene seiner Mutter gelegt hatten, sondern eher in Nebensächlichkeiten. In der Art, wie er gähnte, wie er morgens nur schwer in die Koordination seiner Bewegungen fand – oder in anderen Details. Er bemerkte, daß tief in seinem Körper Fragmente seines Vaters steckten; Fragmente, die so perfekt bestimmte Gesten, Gebärden, Gewohnheiten imitierten, daß man denken konnte, man habe sie dem Sohn implantiert, um diesen der telepathischen Obhut seines Vaters zu unterstellen. Er entsann sich an ein Essen, das Freunde gegeben hatten, bei dem ihm plötzlich der unbehagliche Gedanke gekommen war, daß er nicht viel anders wirkte, als sein Vater auf dessen Freunde und Bekannte gewirkt haben mußte. Er sah sich selbst, seine unbeholfenen Bewegungen, seine Anstrengung, geistreich zu wirken, hörte die Worte, die er verschluckte, und die mühsam, hastig formulierten Sätze, die er nicht beendete oder denen ganze Worte fehlten. Er hörte sich sprechen, wie er zeitlebens seinen Vater hatte sprechen hören: eine verhaspelte, verschluckte, demolierte Sprache. Überhaupt wurde ihm deutlicher denn je, wie miserabel die Anteile der Eltern und Großeltern (und von wem sonst noch immer) in ihm zusammenpaßten, wie flickschusterhaft genäht sich die Gestalt, die er abgab, für ihn anfühlte. Er war ein Fragment, bestand aus zahllosen Widersprüchen, aus
Impulsen, die sich bekriegten, verstärkten oder schlicht ignorierten. Oft genug fühlte er sich von Teilen in sich verraten, vom Echo seines Vaters, dem seiner Mutter. Sie – an einsamen Nachmittagen Gesicht und Gedanken dem Garten oder Buchseiten zuwendend – hatte sich auf die Beschäftigung mit der Sprache zurückgezogen, um der Roheit der Welt zu entgehen; dem feisten, ungehobelten Nachkriegsdeutschland mit seinen bunten Abenden, an denen tausend Arme unter Gejohle und Kreischen nach Gratistütchen angelten, die von der Bühne ins Publikum geworfen wurden; den cholerischen Wutausbrüchen ihres Mannes; dem frühen Krebstod der eigenen Schwester. Das Gespür für Musikalität hatte er von ihr, das Gespür für Rhythmus und Kontrapunkt. Aber er nutzte es nicht für die Kunst, sondern für seine Geschäfte. Von seinem Vater stammte ein gewisser pragmatischer Verstand, der dem mütterlichen Schöngeist in ihm Grenzen setzte – das und eine sezierende Sichtweise, wie sie den Kunsthistoriker auszeichnet, verbunden mit der Gabe, die Fälschungen des Lebens unerbittlich aufzuspüren, solcher Zeitgenossen müde, die dumm genug waren, den Versprechungen der Werbeblöcke und Hochglanzprospekte Glauben zu schenken. Zudem hatte ihn sein Vater mit einer Melancholie beerbt, die von der Menge fernhält. Trotz Pragmatik und Geschäftstüchtigkeit war sein Vater aber bei allem, was er tat, von einem unantastbaren Idealismus geleitet, von der Treue zur Kunst, zur Tradition. Das, gestand Viggen sich ein, fehlte ihm immer mehr. Was ihn selbst mittlerweile leitete, war die Bilanz (und ein ihr höriger Opportunismus) – alles andere hatte dahinter zurückzustehen. Er drückte die Zigarette aus. Sein Kopf war schwer und noch benebelt von den drei Flaschen Rotwein, die er gestern Abend geleert hatte – zusammen mit seiner Schwester und seiner
Mutter. Sie allerdings – alte und zig mal erzählte Anekdoten ein erneutes Mal aufwärmend – hatte sich mit zwei halbvollen Gläsern begnügt, dafür aber eine Menge Tränen vergossen, wie um ihre Abstinenz wettzumachen. Er war froh, daß er in seiner Wohnung war, daß er das Angebot seiner Schwester, mit zu ihr an den Staffelsee zu kommen, ebenso ausgeschlagen hatte wie das flehentliche Bitten seiner Mutter, welches ihn lediglich in sein früheres Zimmer verbannt und dazu verurteilt hätte, wieder Sohn zu werden. Der Gedanke an die unvermeidliche Nähe, die seine Mutter suchte, an die Konfrontation mit einem Leben, das zu eng geworden war, rief Unbehagen in ihm hervor. Nein, er war froh, allein zu sein, zwischen den ihm vertrauten Wänden, in einer von ihm gemachten Welt. Unentschieden und ratlos stand er da, in Hose und T-Shirt, der Gürtel offen, vom Schlaf im Stich gelassen, unfähig, vor sich selbst und der Trostlosigkeit dessen, was ihn an diesem Tag erwartete, in Bewußtlosigkeit zu flüchten. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch (zwei aneinandergeschobene Ahornplatten, auf deren einen Seite sonst Viggen und auf deren anderer die Keyser saß), auf die Fotos, die er hervorgekramt hatte, auf die akkurat gestapelten Papiere, auf die Bücherwand und die mit Filmkassetten gefüllten Regale. Das Foto, das ihm in die Hand fiel, schwarz-weiß, zeigte eine Küche. Seinen Vater, eine Frau und einen Mann. Das Ambiente verriet die DDR, Anfang oder Mitte der Sechziger. Eckbank, Wachstuchdecke, drei Schnapsgläser; dazu drei Kaffeetassen, eine Kanne mit zarten Blumenornamenten, auf der ein Filter aus dickem Porzellan hockte, Milchkännchen und Zuckerdose, alles aus einer Serie. An der Wand ein Kalender mit Traktoren. Vor seinem Vater – in einem gestreiften Anzug, der noch auf der Schwarz-Weiß-Fotografie großspurig und unmöglich aussah – war ein hagerer und blasser Mittdreißiger zu erkennen, im Halbprofil, der Ausdruck griesgrämig,
bekleidet mit einer hellen, abgetragen wirkenden Kombination – und endlich, an der gegenüberliegenden Ecke, eine vornehm in die Kamera blickende Frau, jung, hübsch, irgendwo in den Dreißigern, blondes, vielleicht aufgehelltes Haar, das in einen dicken Knoten am Hinterkopf mündete; helles Kostüm mit kurzer, nur bis zur Taille reichender Jacke, den Arm im rechten Winkel zu sich auf dem Tisch. Viggen wußte noch, aus welchem Anlaß es geknipst worden war. Sein Vater hatte die Geschichte öfter erzählt. Bis in die Mitte der siebziger Jahre hinein waren von ihm geschäftliche Kontakte zu privaten ostdeutschen Antiquitätenhändlern gepflegt wurden, von denen es in Ostdeutschland zu jener Zeit noch rund sechzig gab – in Ostberlin, Dresden, Leipzig und anderswo. Hierzulande war man damals scharf auf billige Ware aus dem Osten. An der Seite eines vom Staatlichen Kunsthandel der DDR verordneten Reisebegleiters traf man sich mit den Antiquitätenhändlern (oder, wie auf dem Foto, Händlerinnen) und machte einen Preis aus, der allerdings stets alle anwesenden Parteien zu berücksichtigen hatte. Den durchweg bestechlichen Reisebegleitern brachte Viggens Vater etwa eine Lederjacke mit oder Werkzeug, dem Vertragspartner Kaffee oder Jeans für die Kinder. Kleinere Summen Westmark in bar wechselten natürlich auch den Besitzer. Das Gemälde wurde ihm dafür um ein paar Hunderter unter Wert verkauft. Der ausgehandelte Kaufpreis kam der DDR als Devisen zugute, die gleiche Summe wurde dem Osthändler in DDR-Währung auf dessen Konto gutgeschrieben – plus ein paar Prozent Prämie. Das war für diesen natürlich uninteressant. Aber dank der kleinen Gefälligkeiten aus dem Westen kamen alle Beteiligten auf ihre Kosten. In dem Fall, den das Foto, welches Viggen in der Hand hielt, dokumentiert, war dem Reisebegleiter eine Kleinbildkamera mitgebracht worden. Im Überschwang der Freude hatte dieser
sie gleich einer auf dem Bild unsichtbaren Person in die Hand gedrückt, um ein Foto knipsen zu lassen – von sich, von der Antiquitätenhändlerin mit dem aristokratischen Ausdruck, von dem westdeutschen Kunsthändler. Wochen später wird Viggens Vater einen Abzug in einem an ihn adressierten Brief in seiner Post finden – ohne Absender, wie sich versteht. Dieser Abzug ist es, den Viggen jetzt in das flache Kästchen vor ihm zurücklegte. Mit schrecklicher Deutlichkeit wurde ihm bewußt, daß die Vergänglichkeit vor nichts haltmachte, daß alles, was man tat, umsonst war – und als ihm das bewußt wurde, spürte er zugleich, wie sich Gegenkräfte formierten, wie der Wille in ihm hochschoß, aus seinem Leben noch mehr herauszuholen, noch entschiedener gegen den Tod und das Nichts anzugehen. Er wußte mit einmal, daß er durch seinen Vater, durch ihn und gegen ihn, all das geworden war, was er zweifellos darstellte. In Gedanken kehrte er zu jenem Januarmorgen zurück, wo er an seinem Krankenbett gesessen hatte – jenem Bett, das jetzt, Ende Mai, zu seinem Sterbebett geworden war – wanderte zurück zur neurologischen Abteilung einer Münchner Klinik, zu dem hellen und schmucklosen Zimmer, das erfüllt war von dem Geruch nach Kamillentee und Fieber, zu dem Bett und dem Stuhl. Die Farce des herannahenden Todes und die Mutlosigkeit, die diesem vorausging, hatte stumm zwischen ihnen gewacht. Das Leben, ein langsames, unaufhaltsames Sterben, daran änderten auch die vielen Namen nichts, die man diesem gab. Sie fügten – nach den Worten eines uruguayischen Schriftstellers, dessen erfundene Stadt Santa Maria er immer mal hatte in Bilder übersetzen wollen –, fügten dem stattlichen Vermögen an Krankheiten und Toden, das die Menschheit hortete, nur neues hinzu.
Viggen öffnete die Fensterflügel, stützte die Hände auf das steinerne Fensterbrett, lehnte sich hinaus und sah in den bewölkten Himmel. Er sah, wie er den schweren und zugleich entsetzlich gebrechlichen Körper seines Vaters anhob, fühlte die trockene, faltige Haut des Nackens, sah, wie er das Kissen in seinem Rücken zurechtklopfte; wie dieser unter der Decke das Knie anzog, um zu verhindern, daß die Zeitung, die er ihm unnützer Weise mitgebracht hatte, zu Boden rutschte; sah, wie er die rauhe Hand seines Vaters nahm und einfach nur in der seinen hielt, sie drückte – die letzte hilflose Geste, die einem blieb. Ihm brach das Herz, als er sich vergegenwärtigte, wie sein Vater – in einem winzigen Moment der Klarsicht und unter dem Aufgebot all seiner Kräfte – die Zeitung nahm, sie unendlich langsam entfaltete und vor Augen hielt – verkehrt herum; als ob er damit aller Welt beteuern wollte, daß es aufwärts ging, daß er auf dem Weg der Besserung war, als wenn er sich mit dieser Geste selbst Mut machen wollte. Doch gleich darauf ließ er erschöpft und entmutigt wieder Arme und Zeitung sinken, schloß die Augen und fiel zurück in den Dämmer. Wieder hatte er den halb offenen Mund vor sich, aus dem mit Medikamenten angereicherter Speichel troff, die abgemagerten und mit Altersflecken übersäten Hände, hörte den schweren, plötzlich rasselnden, dann wieder schweren Atem. Er saß an seinem Bett, willenlos, untätig, ergeben sich in die endlose Serie der Söhne reihend, die ein weiteres und ein letztes Mal versagen – einmal, weil sie noch immer die Achtung ihres Vaters erringen wollen, ein andermal, weil dieser noch immer nur ihre Fehler sieht. Viggen stieß sich vom Fensterbrett ab, ging zur Garderobe in die Diele und angelte sich aus der Jackentasche das Päckchen Zigaretten. Dann kehrte er zurück und setzte sich in einen der
beiden Stühle, die vor je einer Seite des Schreibtischs standen, rückte vor das offene Fenster, blies den Rauch ins Freie. Er sah sich an dem weißlackierten Metallbett sitzen, auf dem einfachen, honiggelben Holzstuhl mit Aluminiumrahmen, zwischen den weit gespreizten Knien die Hände fromm gefaltet, den stummen Blick starr auf den erschlafften Körper gerichtet, von dem er glaubte – vorschnell, wie sich zeigen sollte –, er sei aus dem Leben geschieden. Er sah, wie er sich erhob und reflexhaft seinem Vater die Augen schloß, auch, um die eigene Panik zu unterdrücken, und er dachte jetzt, daß er das gemacht hatte, weil er von Fernsehbildern wußte, daß man Toten die Augen zudrückt. Er erinnerte sich, wie er sich gewundert hatte, daß sich die dünne Haut der Lider weich und warm anfühlte, die Augäpfel fest. Er war hier, weil sein Vater plötzlich angefangen hatte, das Essen zu verweigern, weil seine Mutter keine andere Lösung gewußt hatte, als ihn zurück in die Klinik bringen zu lassen; er war hier, um sie abzulösen. Er hatte frische Wäsche, Obst und Eau de Cologne mitgebracht. Er hatte nicht damit gerechnet, daß an diesem Morgen vorschnell das Ende kommen würde. Er hatte erlebt, wie sein Vater das Ende mit einem lauten und vernehmbaren Furz ankündigte. Jedenfalls sah es für ihn, Viggen, so aus, als hätte er das Ende vorhergesehen. Ein Irrtum. Er war nur schnell nach draußen gegangen, um dem Geruch von Ammoniak und Krankheit zu entgehen und eine neue Flasche Mineralwasser aus dem Metallschrank zu holen, war ans Bett zurückgekehrt, hatte sein Glas und die Schnabeltasse seines Vaters gefüllt, dessen Finger um das Plastik der Tasse gelegt, die Hand an die Lippen geführt, mitverfolgt, wie dieser mit einem Blick, der nach innen gekehrt war, verschleiert, ins Leere ging – was ihm einen Stich versetzte –, einen winzigen, kaum nennenswerten Schluck nahm. Er hatte die Plastiktasse aus der Hand des Kranken
gelöst, sie abgestellt, bemerkt, wie sein Vater die Augen schloß, als müßte er erst wieder neue Kräfte sammeln. Er hörte die unverständlichen, wirren Worte, die er hervorbrachte, ihr Echo. Und erst jetzt, Minuten oder nur Augenblicke später, als er sich aufraffte, um irgend etwas zu sagen, etwas Tröstendes, Heiteres, Verbindendes, etwas, was das eingetrübte Bewußtsein seines Vater zu fesseln vermochte; was vielleicht ablenkte und sie beide, Vater und Sohn, aus der Verlorenheit holte. Erst da bemerkte er, daß der Kranke keine Reaktion mehr zeigte, weder auf Worte noch auf Berührungen. Sekundenlang stand er wie eingeschüchtert vor dem Bett, unfähig, etwas zu tun; unfähig, Hilfe zu holen. Dann, immer noch unschlüssig, überrumpelt, ließ er sich wieder auf den Stuhl nieder, fühlte die Erschöpfung, die sich schlagartig in ihm breitmachte, die Erleichterung darüber, daß es so schnell gegangen war. Er war erstaunt über die Tatsache, daß der Tod einfach so gekommen war, ohne großes Tamtam. Blitzschnell breitete sich im Zimmer und seinen Gedärmen der Entschluß aus, die folgenden Minuten allein mit seinem Vater und dem Tod zu teilen. In diesem stillen und luziden Moment einer eingebildeten Totenwache sah er noch einmal die Szenen vor sich, die sich in den vergangenen Wochen ereignet hatten: Vater, der von ihm ein paar Schritte durch das Schlafzimmer geführt wird und plötzlich die Schranktür öffnet, weil er sie für die Haustür hält. Der seine Frau und seine Kinder ignoriert, der seine Tochter verdoppelt und zu ihr sagt, sie, Geli, sähe aus wie Geli, und der Sekunden später weiß, daß er sie nicht wiedererkannt hat und darüber in Tränen ausbricht. Er hört seinen Vater, hört, daß dessen Sprache verwirrt ist. Er hört ihn davon sprechen, daß er Eier und Salatblätter auf dem Kopf habe. Er sieht ihn, wie er im Gehwagen steht und das eine Bein nicht mehr vor das andere setzen kann. Er muß Windeln tragen, weil er von
rabiaten Durchfällen und Blasenschwäche geplagt wird. Er sieht den rasanten, gnadenlosen Verfall. Blitze im Kopf kappen in immer schnellerer Folge die Verbindung zum Körper und zur äußeren Wirklichkeit. Er sieht die stille Verzweiflung seiner Mutter, ihre Angst vor dem Tod, dem ihres Mannes und dem eigenen, der schlagartig ins Bewußtsein rückt. Er sieht die eigene hilflose Geschäftigkeit und die seiner Schwester. Er sieht die Krankheitsschübe, hört die bösartigen, wölfischen Verdächtigungen, die sein Vater oder das, was von ihm übriggeblieben ist, ausspricht, sieht seine Nahrungsverweigerung, erinnert sich, wie seine Mutter auf sein Drängen und das der Schwester endlich den Entschluß faßt, ihren Mann noch einmal ins Krankenhaus zu bringen. All diese Bilder überfallen Viggen, als er am Bett seines vermeintlich toten Vaters sitzt und nicht weiterweiß. Schließlich, nach einer Spanne Zeit, die ihm endlos scheint, die außerhalb seines Bewußtseins aber kaum zwei Minuten währt, nach diesen zwei Minuten, in denen er nur wie gelähmt dasitzt, platzt die Stationsschwester herein und entdeckt, was vorgefallen ist. Nachdem sie mit einem knappen und pragmatischen Griff den Puls seines Vaters kontrolliert hat, entscheidet sie, daß er nicht vom Tod überrascht, sondern nur in eine komatöse Ohnmacht gefallen ist. Viggen kam sich ertappt vor. Und als er die Schwester auf den Gang hinauslaufen und den diensthabenden Arzt informieren sieht, richtet er den Blick auf den zerknitterten Hals seines Vaters und befühlt – wie im Reflex – seinen eigenen. Krankenwärter kamen und rollten seinen Vater auf die Intensivstation, aber eine unmittelbare Gefahr, sagten die Ärzte, bestünde nicht. Er sah sich an der Tür stehen und auf die Apparate und Infusionsschläuche starren, die den unsichtbar gewordenen, von weißen Kitteln umringten Leib seines Vater umgaben, die routinierten Bewegungen der Ärzte, bemerkte,
daß ihn die Stationsschwester neben ihm prüfend und mißtrauisch musterte. Hinter ihr: ein Gewirr von spanischen Wänden. Viggen, im offenen Fenster seines Arbeitszimmers sitzend, in milder Frühlingsluft, verfolgte vor dem inneren Auge noch einmal, wie er danach den Gang hinunterlief, froh, daß er das Hospital verlassen konnte, daß fürs erste alles geregelt war. Für die nächsten Stunden und die kommende Nacht konnte er nichts mehr tun. In aller Hast erledigte er ein paar Formalien, die in dem Glashäuschen am Ende des Flurs auf ihn warteten – bewacht von einer respektablen Schreibmaschine und zwei knurrenden Krankenschwestern. Dann rief er seine Schwester an und teilte ihr den Kollaps mit. Er sagte nichts, als Geli anfing zu schluchzen, weder tröstende noch unduldsame Worte; seine eigenen Augen füllten sich mit Tränen, aber er zwang sich, seinen Gefühlen nicht nachzugeben. Sein verschwommener Blick fiel auf den Kalender, der an der Rückwand des Glashäuschens hing. Er gab sich einen Ruck. Es war Zeit, zu den Geschäften zurückzukehren, den Terminen, den Verabredungen, es war Zeit, den Urlaub zu planen (hatten die Ärzte nicht gesagt, daß das mit seinem Vater noch Monate so weitergehen konnte, diese entsetzliche, stufenweise Abwärtsbewegung?) – jenen Urlaub auf Capri, der nur zwei Tage gedauert hatte und der jetzt bereits hinter ihm lag, verflogen war; entgegen aller medizinischen Prognosen unterbrochen vom Tod seines Vaters; jetzt, wo er so früh am Morgen schon wach geworden war, und wo er, um halb zehn, wie ihm ein Blick auf die Uhr verriet, fügsam, mit heidnischer Frömmigkeit, die Flügel des Fensters schloß.
Er legte die Fotos zurück in das Kästchen, klappte den Deckel zu. Mit dem Finger fuhr er über das unebene Muster aus grüner Jade und weißem Schildpatt. Er nahm die flache, rechteckige Dose in die Hand, öffnete sie noch einmal und hielt die Nase hinein. Statt nach Jasmin und Glyzinen roch es nach Klebstoff und Staub. Deckel und Unterteil waren mit rotem Filz ausgeschlagen. Es waren persönliche Dinge, die er darin aufbewahrte, vergilbte Zeugnisse, Urkunden, ein paar Fotos. Ein Mitbringsel aus Myanmar, dem Land der Juwelen, wie man es einst genannt hat, dessen Bevölkerung seit 1962 von einer Militärdiktatur um seine Schätze geprellt wird. Kurz, nachdem die Reisebestimmungen liberalisiert worden waren, hatte Viggen es mit seinem Sohn besucht. Das war Jahre her. Schon lange hatte er das Kästchen nicht mehr in der Hand gehalten. Er durchstöberte sein Gedächtnis, um herauszufinden, bei welcher Gelegenheit er es gekauft hatte. Das erste, was ihm einfiel, waren die beiden grazilen Burmesinnen, die Hendrik und ihn, ihren Tisch und ihre schüchternen Wünsche, bewacht hatten – auf der Terrasse des kleinen, sympathischen Restaurants, das sich, um Anschluß an eine Welt zu finden, die gebohnert war und sich fortschrittlich wähnte, Scenic nannte und gleich vor den Toren Pindayas lag – auf einer Anhöhe, die sanft und im Schatten vereinzelter Banyan-Bäume zum künstlich angelegten See hin abfiel. Er entsann sich noch, daß der Taxifahrer, von dem sie an diesen Ort gebracht worden waren, es abgelehnt hatte, sich von ihm zum Essen einladen zu lassen – ein fernes Echo des britischen Kastensystems, das die Kolonialherren hinterlassen hatten. Er sah wieder die Longyis – elegante Wickelröcke, die die Burmesen tragen, egal ob Mann oder Frau –, und die knöchelfreien Lederhandschuhe, die der Fahrer stolz zur Schau trug – in denen er trotz der Hitze das Lenkrad des klapprigen Toyota umklammerte – und die eine Zeit beschworen, die ihr
Besitzer und dessen Landsleute nur von billig aus Europa importierten Fernsehserien kennen konnten. Er rief sich das Städtchen Pindaya vor Augen; die Touristenbusse, die aus chinesischen Beständen stammten und unten am Berg warteten; den modernen Aufzug, der zu den Höhlen und der Tempelanlage hinaufstieg; das verzweigte Kalksteingewölbe voller Stalaktiten, Stalagmiten und mit Blattgold beklebter Buddhas. Glasierte Tafeln erinnerten an die Namen derer, die die Hunderte von Statuen aus Zement, Stein, Gips oder Holz gespendet hatten – um einer besseren Position willen in der Hierarchie der Wiedergeburten. Er sah wieder die überdachten Aufgänge, die sich den Berg hochschlängelten – beidseitig gesäumt von fliegenden Händlern und ihren Auslagen. Sofort hatte er das unentwegte und gebetsmühlenartig wiederholte You like? – What price? im Ohr, jenes aus aufgeschnapptem Englisch gebildete Mantra, mit dem versucht wurde, die Touristen zu ködern, die schwitzend die Stufen zu den Pindaya-Höhlen erklommen. Hendrik, der noch mit den Unwägbarkeiten einer erst halb überstandenen Pubertät zu kämpfen hatte, war fasziniert von einem reich verzierten Bambusköcher, dessen Abschlüsse aus gehämmertem Silber bestanden – und nur, um nicht das Gefühl zu haben, von dem Bethelnuß kauenden Händler übers Ohr gehauen zu werden, hatte Viggen für den veranschlagten Preis zusätzlich die Kiste verlangt. Beinahe andächtig hielt er sie jetzt in den Händen. Am Abend, dem vorletzten Tag, war er, wie er sich gut erinnerte, den Strand entlanggelaufen. Unter seinen Schritten knirschten die Krebse. Die Sonne schien genau auf seiner Höhe ins Meer zu sinken. Er entsann sich wieder der beklemmenden Gegenwart des ewig in sich hin- und herrollenden Meeres. Von ihm wurde der Mensch nur geduldet, das hatte Hendrik am Morgen erfahren
müssen. Als er vor den Bungalow getreten war, wurde gerade die Leiche eines jungen Mannes in Plastikplanen eingeschlagen und abtransportiert. Der Tote, ein Student aus Thailand, wie sie beim Frühstück vom Hotelpersonal in Erfahrung brachten, war gemeinsam mit einem Engländer zu weit ins offene Meer hinausgeschwommen. Irgendwann hatte er kehrtgemacht. Ein Rudel Hunde jagte wie toll über den Strand. Er dachte an die Theorie des Big Bang, des jeden Sinns beraubten großen Knalls, und sah wieder die Muster, die die Strandkrabben über Kilometer in den Sand gezeichnet hatten: dramatische Fächer, fein linierte Sonnen- und Pfauenräder. Noch immer im Schlafanzug, kniete er auf dem marokkanischen Läufer im Flur, vor sich das Highboard, dessen unterste Schublade weit offenstand. Nach den unantastbaren Regeln seiner polnischen Putzfrau war das der Ort, wo das Kästchen aufbewahrt wurde. Er stellte es hinein und drückte die ruckende Schublade zu. Dann ging er ins Bad und musterte sich im Spiegel. Er fragte sich, ob in seinen eigenen Zügen die seines Vaters hervortraten. Das Zufällige, das Notwendige, Hoffnungen und Leiden – inmitten von all dem saß er: eine Laune des Augenblicks, eine Metamorphose des Geistes. Eigentlich hätte er dringend zum Friseur gemußt. Unter dem Kinn begann die Haut zu erschlaffen. Er senkte den Kopf und betrachtete mißmutig seine Halbglatze.
6 EDEN
DIE TRAUERFEIER WAR FÜR sechzehn Uhr angesetzt. Einäscherung und Beerdigung sollten zwei Tage darauf stattfinden. Viggen schritt den breiten, von bepflanzten Gräbern gesäumten Weg entlang, der den Besucher vom Tor des Bogenhausener Friedhofs zum Portal der Kirche führte. Rechts davon traf der Blick auf die Aussegnungshalle – einen quadratischen Bau in Rosa und mit einem halbplastischen Portikus sowie einem luftigen Glockentürmchen auf dem Dach. Eine sonntägliche Ruhe lag über dem Viertel, doch wenn man ihr genauer nachsann, setzte sie sich aus lauter kleinen Einzelgeräuschen zusammen: hellen Kinderstimmen, Seufzern schwergängiger Garagentore, dem Öffnen und Schließen eines Fensters. Entfernt kreischte eine Tram in den Schienen. Der ehemals schlichte Dorffriedhof war 1957 – zwei Jahre nach Viggens Geburt, und zwei Monate nachdem die EWG gegründet worden war – nach Norden hin erweitert worden. Bald wurde er berühmt für Münchner Prominenz. Oskar Maria Graf, Erich Kästner, Joachim Fernau und Rainer Werner Fassbinder liegen hier begraben, Schauspieler wie der 1990 von einem Stricherjungen erschlagene Walter Sedlmayr, oder der durch die Süddeutsche Zeitung bekannt gewordene Karikaturist Hürlimann. Juristen, Kaufleute, Professoren – sie alle warten zwischen störrischen Sträuchern, Tannen und jungen Lärchen geduldig und fromm auf die versprochene Auferstehung.
Niemand ist je auferstanden. (Viggen ist nicht besonders religiös, aber wie die meisten heutigen Menschen besitzt er seine eigene Idiosynkrasie und hält vieles für möglich, sogar die Auferstehung. Er rechnet es sich hoch an, nicht aus der katholischen Kirche ausgetreten zu sein. Viele derer, die ausgetreten sind und die er kennt, beschäftigen sich inzwischen mit Numerologie oder richten die Möbel danach aus, daß böse Geister auf einem möglichst ungehinderten Weg die Wohnung verlassen können. Zu diesen Dummköpfen – Apostaten Europas, die durch das Wunder weltanschaulicher Fermentierung zu Apologeten des Fernen Ostens gewandelt sind – will er nicht zählen.) Natürlich konnte er nicht ahnen, daß er seinem Vater schon bei der Beerdigung wieder begegnen würde; noch dazu an dessen eigenem Grab. Und natürlich kehrte sein Vater nicht als er selbst zurück, sondern als eine Frau Anfang vierzig mit halblangem blonden Haar: attraktiv, unzugänglich und ausgestattet mit unergründlichem Humor und einem Päckchen filterloser Zigaretten (das ihre Hand fest umschlossen hielt). In der Luft war noch die Wärme des Mittags gespeichert. Es roch nach umgegrabener Erde und Hyazinthen. Ein hoher und metallischer Aprilhimmel beschirmte die Stadt; die goldgerahmte Sonnenbrille auf Viggens Nase filterte das Licht, dessen gleißende Helle den Sommer ankündigte. Hinter den erst zart begrünten Baumwipfeln schimmerten die silbrigen Türme der Hypo-Bank durch. Viggen hatte seine rechte Hand im Futter der Jackentasche vergraben. Seine Finger spielten mit den beiden Batterien, die ihm von seiner Mutter mitgegeben worden waren (für die Fernbedienung des Fernsehers), um auf dem Rückweg an der Tankstelle die richtigen zu kaufen; befühlten den glatten Mantel, die Unebenheit des Falzes.
Der Gedanke schoß ihm durch den Kopf, daß heute vielleicht der Tag war, der sein Leben in eine glückliche Vergangenheit und eine kummervolle Zukunft teilte. Ohne es richtig zu merken, dachte er sich mit jedem Schritt ein anderes, zu seinem eigenen in Konkurrenz stehendes Leben aus – ein optimistisches, ein pessimistisches, ein durchschnittliches und eines, das mit Selbstmord oder gar Mord endete. Doch jedes dieser möglichen Leben, jede dieser angebrochenen Existenzen stimmte mit den anderen darin überein, daß sie auf einen phantastischen Ruin hinarbeiteten – wie der ungedeckte Scheck eines Magnaten, dem man eben noch vertraute. Seine Gedanken zeigten eine seltsame Unschärfe: Einerseits das Gefühl, den Faden verloren zu haben, andererseits der Verdacht, daß genau das eine Illusion war, ein Trick, der darüber hinwegtäuschen sollte, daß alles längst aufgeschrieben war, feststand – irgendwo; daß es sinnlos war, dagegen anzugehen. Er nahm die Sonnenbrille ab und ließ sie in die Tasche gleiten. Mit vorgeschobener Sportlichkeit, die nicht recht zum Anlaß paßte, nahm er die paar Stufen und zog den rechten Flügel der Glastür auf. Für einen Moment wurde ihm das von Holzstreben dreigeteilte Abbild seiner Gestalt entgegengeworfen. Schweiß lief ihm am Rücken herab. Vor ihm öffneten sich zwei große, fast leere Säle mit niedrigen Decken, ausgelegt mit hellen Fliesen, die Wände weiß und schmucklos. Im ersten Raum, in den er jetzt eintrat, hing an der Seite ein dürres Kreuz mit Jesusfigur, dem universellen Bruder im Scheitern; darunter ein trostloses Blumenpodest ohne Blumen, das von zwei hohen, kegelförmigen Buchsbäumen im Plastiktopf flankiert wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite bemerkte er ein kleines, in die Wand eingelassenes, kreisrundes Fenster. Es war das einzige Fenster, das er sah, aber die Räume waren hell; das
Licht mußte woanders herkommen. Weiter hinten, in dem Saal, der sich direkt anschloß, ein paar verloren wirkende Stühle, sorgfältig aufgereiht, unbesetzt. Die gekommen waren, standen und nahmen Viggen die Sicht auf den Sarg und die breite Tür, hinter die der Tote im Anschluß gerollt werden würde. Zu erkennen war, daß auch hier wie Orgelpfeifen sich links und rechts je fünf Buchsbäume staffelten. Dazwischen, auf dünnen Metallstangen, brennende Kerzen, die den Saal mit dem schwachen Duft von Wachs füllten. Die Aussegnungshalle. Die konfessionelle Nüchternheit der Sechziger. Gefaßt, wissend, der Letzte zu sein, trat er an den offenen Sarg, in dem sein Vater lag, bleich, ausdruckslos, die Hände fromm über dem frischen Hemd gefaltet, die Augen für immer abgewandt. Bereit, der hartnäckig schweigenden Erde zurückgegeben zu werden. Er betrachtete das Gesicht, die gebogene, scharfkantige Nase, die schmalen, blutleeren Lippen, die zusammengenäht waren, um den Mund verschlossen zu halten. Sein Vater – ein nun wächsernes Rätsel, das wie jedes zu Ende gegangene Leben ungelöst geblieben war. Er war überrascht, daß ihm der Anblick nicht so nahe ging, wie er geglaubt hatte. Dem Ritual folgend, postierte er sich neben seine in schlichtes Schwarz gekleidete Mutter – noch immer eine Erscheinung, die die Blicke auf sich zog; die weit davon entfernt war, daß man ihr die sechsundsiebzig Jahre ansah. Untergehakt bei ihr hatte sich auf der anderen Seite die Tochter; auch sie, Geli, wie es sich gehörte, in Trauer. Mit geheucheltem Interesse, ohne Verlangen, das Dasein begreifen zu wollen, ohne einen Sinn zu erwarten oder eine billige, von der Kanzel herabgleitende Lösung, lauschte er den spärlichen Worten des Pfarrers, der eine fromme und unbeholfene Rede hielt – eine Rede, die ihn darin unterrichtete, daß jeder Tod
von Anfang an festgelegt und, da nur vorläufig, gar nicht tödlich war, nur Anlaß für unberechtigte Ängste. Er faßte die Anwesenden rundum ins Auge: Zuerst Hendrik, seinen Sohn, der verstohlene Blicke zu ihm herüberwarf und aus St. Gallen angereist war. Neben ihm seine Exfrau Maja, die Mutter, gebürtige Schwedin und formale Noch-Ehefrau, die seit der Trennung vor über zehn Jahren in Starnberg lebte. Sie gönnte sich einen Auftritt wie ein skandinavischer Filmstar: langer, dunkler und bis unter das Kinn geschlossener Mantel, eine große dunkle Sonnenbrille, die mildtätig die Spuren vergangener Niederlagen verdeckte, um die Haare ein weites schwarzes Tuch. Dann der armselige und ausgedünnte Haufen von ebenfalls dem Tod längst Nahestehenden. Nach dem Wunsch des Verstorbenen war es ein Zeremoniell im engeren Kreis, ohne Vertreter aus Bankgewerbe und Politik, ohne jenes Personal aus List und Verstellung, das ihm und der Familie – der Frau, der Tochter, dem Sohn – ein solides Leben gewährleistet hatte. Unvermeidlich folgte das Vaterunser, vorneweg gesprochen vom Pfarrer, stramm, die Backen gebläht. Hintennach, mit fast unmerklicher Verzögerung, der Chor der Anwesenden, dünn, schwankend, ungeübt, voller echter und gespielter Aussetzer. Als daraufhin die Orgel erklang und es daran ging, dem Toten die letzte Ehre zu erweisen; als seine Mutter sich aus dem Kreis löste und an den Sarg trat, den Strauß roter Rosen niederlegte, sich bekreuzigte; als nach Maßgabe einer unumstößlichen, uralten und lächerlichen Hierarchie die Reihe an ihm war, dem Sohn; als er zu Füßen des Toten stand, vor den Kränzen und Schleifen und Blumen, als er den Duft der Rosen roch, da brach er in Schluchzen aus – unentrinnbar, überwältigt vom Schmerz; von der Unbegreiflichkeit; vom unaufhebbaren Ende einer zärtlichen Liebe.
Später, im letzten Licht der versinkenden Sonne, auf dem Kies des Vorplatzes, wieder beruhigt, mit einer Miene, die verbarg, daß er gelöst war, geradezu ermutigt, beinahe fröhlich; später also, gezwungen, Trauer darzustellen, empfing er die Beileidsbekundungen, die demütigen Blicke und die warmen Hände, die die seinen schwach drückten. Er empfing Maja, ihr aufrichtiges Mitgefühl und den wehmütigen Blick, den er hinter den dunklen Gläsern erspürte – ihn und die Schwermut über die verlorene Liebe, die gescheiterte Ehe, die Entfremdung. In einem letzten sentimentalen Anflug wurde ihm bei Maja und all den anderen Gesichtern, die vorbeizogen, dem erloschenen Feuer darin, in Anbetracht der Menschen, die alt waren, faltig und halbblind, nur noch ein verwackelter Schatten ihrer selbst – wurde ihm, aus einer geheimen Ecke des Gehirns kommend, klar, wie lang die Tage des eigenen Lebens waren und wie kurz die der Gattung, des kosmischen Geschehens. Die Menschen glichen Insekten, Fischschwärmen, trampelnden Herden. Es gab keinen Fortschritt; was es gab, war Evolution, war der blinde Gang über die Erde, die Korruption mit den Jahren; und das einzige, was wirklich zählte, waren die Träume; war die Sehnsucht; das Alleinsein; die auf der Leinwand oder dem Papier oder die im Fieber erzählten Geschichten und Romane. Sie nur waren imstande, eine ständig von Verfall und Auflösung bedrohte Welt für Augenblicke glucksender Seligkeit zu binden. Den Staub Hunderter gelebter und vergessener Leben unter den Sohlen, umringt von Menschen, die über das Ende seines Vaters und das bevorstehende eigene trauerten, dämmerte ihm, daß zwischen Geburt und Tod nicht mehr als ein Provisorium zu errichten war, und daß nur zählte, dieses Provisorium für sich anzuerkennen, geduldig und frei von Widerstand und
Illusionen. Wichtig waren nicht die errichteten Imperien, die allseits belobigten Ideale und ewigen Schwüre, die nur die Niedertracht der Welt zementierten, in beharrlichen Beton gossen – es waren die nutzlosen Dinge: die in den Wind gesprochenen Gebete, die in der Nacht verhallende Musik, der vergängliche Moment zweier sich liebender Körper. Auf dem Kies stehend, den Sohn beobachtend, der Maja ein Taschentuch reichte, fiel ihm wieder der Urlaub mit Hendrik in Burma ein – die Tausende in den Sand gezeichneten Fächer und Sonnenräder – Verzierungen oder stumme Gebete, die auf ganzer Länge die burmesische Bucht, der sie beide gefolgt waren – dicht am Wasser, am Saum der Wellen entlang –, begleitet hatten. Winzige Erdhügel, aufgeworfen von unsichtbaren, sandfarbenen Strandkrabben, ausgelöscht ein paar Stunden später von der nächsten schäumenden Flut. Dazwischen fanden Schicksal und das ganze Weltall statt. In der traurigen Kette, die Glied um Glied an ihm vorbeirückte, die Hand reichte, Mitgefühl ausdrückte, Trost spendete, nach Maja, Hendrik und ein paar anderen, befand sich auch jemand, den er nicht einordnen konnte, der in keinen Zusammenhang paßte – eine Frau mit dunkelblonden, kompliziert hochgekämmten Haaren, die ihm die Hand hinhielt und stumm, mit einem nur angedeuteten Niederschlagen der Lider, kondolierte. Er kannte diese Frau nicht, und nichts von dem, was sie im Moment des Kondolierens tat oder sagte, veranlaßte ihn, sein Gedächtnis zu befragen, wer sie eigentlich war. Zunächst realisierte er sie gar nicht. Erst, als er sie ein zweites Mal entdeckte, eine halbe Stunde später, im Hintergrund, jenseits der Grüppchen, die sich nach den Gesetzen von Sympathie und Ablehnung gebildet hatten, kurz, nachdem er Maja und Hendrik verabschiedet hatte (die es beide entrüstet ablehnten, zum Leichenschmaus mitzukommen), dämmerte ihm, daß er die Unbekannte vom
ersten Moment an wahrgenommen hatte, schon in der Halle; schon, als er vor dem Sarg stand und zwischen den gesenkten Köpfen der Trauernden ihrem versiegelten Blick begegnet war. Er begriff auch, warum sie nur ihm kondoliert hatte, ihm allein, seiner Mutter und Geli aber ausgewichen war. Jetzt sah er sie wieder, zwischen zwei Bäumen, sah, daß sie einen dunklen Rock trug, eine kurze, dunkle Jacke, die ihre Taille betonte, darunter ein dunkles T-Shirt oder einen dünnen Pullover, um den Hals ein silbernes Medaillon; ihr Kopf leicht zur Seite hin geneigt, die Arme vor der Brust gekreuzt, in der Hand eine brennende Zigarette. Er schätzte, daß es weniger als zehn Meter und weniger als zehn Jahre waren, die ihn und sie voneinander trennten. Obwohl ihm gefiel, wie sie dastand, wie sie rauchte, wie sie ihn musterte, neugierig, unverhohlen, auffordernd, schien es ihm der falsche Zeitpunkt, um ihr mehr als beiläufige Beachtung zu schenken. Aber er war irritiert. Immer wieder blickte er zu ihr hin, mußte er prüfen, ob sie noch da war, ob sie Anstalten machte, zu gehen. Rasch wurde ihm während dieser bewußten und unbewußten Manöver klar, daß die Unbekannte das Gesicht immer ihm zugewandt hatte; daß sie ohne Scheu, ohne Skrupel den Kopf immer dahin drehte, wo er sich hinverpflanzte, wo er redete, gestikulierte, rauchte, zuhörte; diese Offenheit verblüffte ihn – und sie versetzte ihn in eine kaum merkliche Unruhe. Wer war die Frau? Kannte sie ihn? Kannte er sie? Er verengte die Augen zu einem Schlitz und versuchte, die Gestalt deutlicher zu fixieren. Für einen Moment kam es ihm so vor, als hätten er und sie sich schon irgendwo gesehen, als gäbe es schemenhafte Erinnerungen, die sie miteinander teilten, und wenn er näher darüber nachdachte, kam es ihm ferner so vor, als sei das in einer Zeit geschehen, die außerhalb ihrer leiblichen Existenz lag.
Es war nicht seine Absicht, aber es entspräche der Wahrheit, wenn der eine oder andere, später darauf angesprochen, behaupten würde, daß Viggen sich unauffällig und nahezu geräuschlos aus der Gruppe, bei der er stand, löste; daß er seine Beine in Gang setzte, die Arme bewegte und plötzlich und unerwartet auf die Frau zuging, steif, erwartungsvoll, in dem eigenartigen Bewußtsein, von einem Viereck hoher Mauern im Garten Eden eingeschlossen zu sein. »Ich habe Sie schon erwartet.« Sie sah ihn mit einem warmen, frischen Blick an, mit Ironie in den zarten Fältchen um die Mundwinkel. Weil sie nicht sofort eine Antwort bekam, legte sie für einen flüchtigen Moment die Nasenwurzel in Falten, auf belustigende Weise, aus Verunsicherung. »Sie fragen sich sicher, wer ich bin.« Viggen lächelte. »Sie haben mich gestern angerufen – erinnern Sie sich?« Er machte ein Gesicht, das ausdrücken sollte, daß er nicht verstand. Aber er verstand. Er erinnerte sich. »Es war ein sehr kurzes Gespräch, das gebe ich zu. Ich habe Sie abgewimmelt. Ich mußte weg.« Ihre kleine, perfekte Lüge erfüllte sie mit Stolz. »Ich kannte Ihren Vater. Ich hatte es Ihnen am Telefon gesagt.« Viggen zog die Augenbrauen zusammen. Wem stand er da gegenüber? Wer war diese Frau? Eine Geliebte seines Vaters? Mysteriöses Zentrum einer um Jahre zurückliegenden Affäre? Seiner Mutter, ihm, Geli verheimlicht? Möglichkeiten hatte es genug gegeben. In Zürich, wo er häufig hingereist war, und in anderen Städten: Budapest, Berlin, Leipzig. Er sah es vor sich: Sie, siebzehn, begeisterungsfähig, biegsam, in Jeans und einer frischen, mit Blumen bedruckten Bluse; er, sein Vater, Mitte fünfzig, besessen von der Idee, seine verwelkte Jugend an ihrem Fleisch nähren zu können. Wie ein Blitz zuckte dieser
Gedanke jäh in ihm hoch – eine Vermutung, die ihn zugleich, weil sie oft genug Stoff von Filmen und Büchern war, irgendwie belustigte. Wie bei Bunuel. Wie in einem Remake. Aus dem Nichts kam ihm jene Rotlicht-Bar mit der schwarzen Katze auf den Streichholzheftchen in den Sinn, in die ihn sein Vater eines Tages geschleppt hatte, übermütig, vom eigenen Vorhaben erkühnt. Da war er selbst achtzehn oder neunzehn. Während sie am Tresen hockten und jeder sein Bier in sich hineinschluckte, dabei die betagte Bedienung in Netzstrümpfen taxierend, tauschten sie spärliche und hilflose Bemerkungen aus. Dann, nachdem ihnen die Worte ausgegangen waren, schielten sie zu den Monitoren über den Regalen mit den Flaschen, wo Pornofilme gezeigt wurden, auf jedem ein anderer, aber alle mit abgestelltem Ton: schlampige Nahaufnahmen; Kühlschränke, aus denen Bier geholt wurde; Ejakulationen. Alles mit deutlichem Rotstich. Der Abend endete damit, daß sein Vater schließlich aufstand und sagte: »Bitte zahlen.« Noch genau erinnerte er sich an das undurchdringliche Schweigen, das sie auf dem Nachhauseweg im Auto begleitet hatte. »Sie kannten meinen Vater?« wiederholte er, mehr zu sich selbst denn zum Gegenüber. Irgend etwas kreuzte seine Gedanken, doch bevor er es fassen, sich ins Bewußtsein holen konnte, war es wieder verschwunden. Nachdenklich sah er zu Boden, auf schlichte schwarze Schuhe mit niedrigem Absatz und abgerundeten Kappen. »Ja«, antwortete die Frau. Ohne es zu merken, versank er in die Betrachtung ihrer blassen Haut, der vollen Lippen, des hellen und zarten Flaums ihrer Brauen und des Bogens, den diese beschrieben. Er entdeckte, daß ihre Augen in einem bestimmten hellen Blau schwammen, das ihn an einen Malkasten mit Wasserfarben erinnerte. Dann lenkte ihn eine Bewegung im Hintergrund ab.
Er sah an dem Gespenst vorbei, sah, daß seine Mutter das Zeichen zum Aufbruch gab. In der Hundskugl, dem ältesten Lokal Münchens – jetzt in den Händen eines schwulen Herrenschneiders, zu dem die Fernsehprominenz pilgerte –, war ein Tisch gemietet für den obligatorischen Leichenschmaus. Die Frau bemerkte, daß die Grüppchen um sie herum in Bewegung gerieten. »Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Ich bin Dora.« Sie streckte ihm die Hand entgegen, unvermittelt, impulsiv. »Aber ich sehe« – und sie drehte wie zur Beglaubigung den Kopf in beide Richtungen – »Sie müssen weg. Wenn Sie wollen, erkläre ich Ihnen alles. Lassen Sie uns einfach in den nächsten Tagen verabreden.« Er sah sie davongehen, leicht, beschwingt, mit hoher Taille. Er war berührt, war wie benommen von dem unerklärlichen Gefühl, ein Geheimnis gestreift zu haben. Er stand da und blickte ihr nach. Doch da hatten sich von hinten schon seine Mutter und Geli genähert, faßten ihn am Arm und zogen ihn zum Ausgang. Zum Montgelas-Berg, zur Isar, zum Taxistand. Sie stiegen in das Fahrzeug, seine Mutter vorn, Geli und er nahmen auf der Rückbank Platz. Noch bevor sie losfuhren, drehte seine Mutter den Kopf und sah zwischen den Kopfstützen nach hinten: »Hast du die Batterien besorgt?« In ihrem Ton lag eine schwer erträgliche Schärfe. Viggen schüttelte den Kopf. Schnaubend, beleidigt, drehte sie sich zurück, wandte sich dem Fahrer zu und schärfte ihm ein, sich zu beeilen, weil sie unter keinen Umständen nach den Gästen im Restaurant ankommen dürften, vorher aber eben noch Batterien besorgt werden müßten; an einer Tankstelle, die möglichst auf dem Weg lag. Sie erklärte das alles umständlich, in viel zu vielen Worten.
»Gibt es da irgendwo eine Tankstelle?« Ihre Frage klang nervös, gehetzt. Erschöpft sank seine Mutter in den Sitz zurück, sank zurück in eine völlig andere Welt. Umgeben von Bildern, die außer ihr niemand sah, hörte sie eine Stimme, die außer ihr niemand hörte, die Stimme eines Toten, die Stimme eines Mannes, der eben noch dagewesen war, bei ihr, an ihrer Seite. Sie hörte diese charakteristische Stimme, und sie hörte sie so klar, so deutlich, diese Stimme, unmöglich, daß sie einem Toten gehörte… Und doch. Als das Taxi an einer Tankstelle vorfuhr, sprang Viggen aus dem Wagen und holte die Batterien für die Fernbedienung. Seine Mutter hatte Panik, daß sie in der Nacht nicht würde schlafen können. In der Nacht, wenn die Geister kamen, und mit ihnen die Stimme.
7 EINE FRAU UNTER EINFLUSS
AM ENDE BEZEUGTEN die eineinhalb Meter, die der Lichtstreifen auf dem Teppich zurückgelegt hatte, daß der Mittag in den Nachmittag übergegangen war. Sie hatten Platten gehört, zuletzt das Stück Careful With That Axe, Eugene, zwei oder drei Mal. Er legte den Fotoband Ansichten der Oder von der Jahrhundertwende bis heute beiseite. Sie wußte jetzt, daß er zu denen gehörte, die es vermieden, über Arbeit, Fortschritte, Probleme oder überhaupt von sich zu reden. Ansonsten wußten beide nicht viel voneinander, denn die neue Wohnung und die Suche nach Arbeit nahmen Doras Zeit in Anspruch, und seine Dozentur sowie die Anstellung im Nationalmuseum fraßen regelmäßig sehr viel mehr Stunden, als ein Arbeitstag zur Verfügung hatte (den Museen kam nach Auffassung des Ministeriums für Kunst und Kultur bei der Polonisierung der lokalen Stadtgeschichte eine tragende Rolle zu). Er stützte die Hände auf die breiten, eckigen Lehnen des Sessels, hievte sich und die Gedanken, die er zu einer möglichen Geschichte der Odra imaginierte, aus dem niedrigen Möbel und trat an die Kommode, die in dem Raum wie ein Fremdkörper wirkte – eine programmierte Schreinerarbeit stumpfer Maschinen, die aus Teppichworld oder Dooyoo oder Outlet Center stammte, einem der Wohnmärkte, die neuerdings im wiesenreichen Umland von Wroclaw aus dem Boden sprossen. Das helle, von Astlöchern gemaserte, nackte, etwas klemmende Möbel hatte er nur gekauft, um eine Abstellmöglichkeit für den Plattenspieler zu
haben. Es war ein geliehenes, provisorisches Leben, das er in dem absurd genormten Zimmer zwischen altem, abgewohntem Mobiliar vorangegangener Generationen führen mußte. Das Geld war knapp, denn seine Mutter bezog als Rente nur ein paar Zloty. Mit dem Zeigefinger hob Jacek den Tonabnehmer aus der Rille und setzte ihn wieder zurück. Es dauerte eine Weile, bis das Knistern in den Lautsprechern von den düsteren, aus dem Nichts steigenden Klängen einer Hammondorgel geschluckt wurde. Der Regen hatte fast aufgehört, war in ein feines Sprühen übergegangen, und obwohl der Oktober seine Mitte schon um ein paar Tage überschritten hatte, waren die Nächte noch warm. Dora schwang die Beine vom Bett und richtete sich auf. Sie hatte, wenig begeistert, in der polnischen Übersetzung von Luise Rinsers Mitte des Lebens geblättert. Es hatte aufgeschlagen auf den Dielen neben dem Bett gelegen. Jacek besaß eine unausrottbare Neigung zu Büchern, deren Verfasser an Reformismus oder pädagogischem Eifer litten. Barfuß saß sie da, in Jeans und Bluse, und stützte mit durchgedrückten Armen ihren Oberkörper ab. Ohne einen Wunsch oder ein wahrnehmbares Ziel in den Augen, sah sie Jacek dabei zu, wie er das Cover nahm, das neben dem Plattenspieler aufrecht an der Wand lehnte, und seine Vorderund Rückseite zum x-ten Mal studierte. Er hatte die Platte, die 1969 erschienen und im sozialistischen Polen nicht erhältlich war, erst kürzlich entdeckt. Auf Flohmärkten tauchte jetzt, nach dem Staatsbankrott, vieles auf. Ummagumma. Sie mußte ihm den Titel mehrfach vorsagen. Sie sagte ihn auf Englisch, Ammagamma, und auf Deutsch, Ummagumma. Mit polnischem Akzent sprach er es nach. Das löste bei beiden Gelächter aus. Jacek konnte kein Englisch.
Dafür Russisch. Für ihn, so erzählte er, bewahrte das Wort eine Menge Erinnerungen; es war ein Wort, das zu ihm sprach, schon als er es das erste Mal gehört hatte; ein Wort, das gefüllt war mit Ansichten von London, mit psychedelischen Farben, mit Mädchen in orange flammenden Miniröcken, mit Protest. Mode, Konsum, Sex, das war es, woran ihn sein Klang erinnerte – an alles eben, was in den sechziger und siebziger Jahren für ihn unerreichbar war, für ihn und die Clique, der er sich zurechnete (einer Gruppe Studenten, die an Wochenenden im ehemaligen Cafe Torwache halblegale Tanzveranstaltungen organisierte). Da zählte er einunddreißig oder auch ein paar Jahre mehr, war Dozent, ohne Geld und Freundin und voller Tagträume. Mode, Konsum, Sex – alles drei, meinte Dora, sei nur ein je anderes Wort für Freiheit gewesen, nach der allein man in Leipzig, in der DDR, im Ostblock Schlange gestanden habe. Sie hob den Blick zum Fenster in ihrem Münchner Quartier. Mit der Art, wie sie die Augen stellte, wie sie Dinge in einer angenommen Ferne fokussierte, demonstrierte sie, daß Erinnerungsfetzen an ihr vorbeizogen, vom Frühjahr, vom Aufbruch, von den Unruhen, dem Jubel in den Straßen; von der beunruhigenden Erfahrung des Endes, auch des Endes der eigenen Illusionen; von der Übersiedlung nach Wroclaw, geboren aus der Einsicht, daß die alte Welt verworfen war, es aber keine neue gab, die diese ersetzen konnte. Auch nicht der verheißungsvolle Westen, der sich mit Bananen aus Südamerika, unfaßbarer Arroganz und dem nötigen Kleingeld anbiederte. Es muß demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Handhaben. Wenn sie an diesen Satz, der von Walter Ulbricht stammte und in dem sich früh schon das Unglück angekündigt hatte, das über den Osten Deutschlands kommen sollte, wenn sie an diesen Satz dachte, wenn sie ihn im Ohr hatte, dann
bezog sie den Zynismus, der ihn verbog, auf die Gegenwart, auf den Anschluß, die Wirtschafts- und Währungsunion, auf diese in den vergangenen Monaten stattgehabte Parodie der Erlösung. Plötzlich, nach kurzer Pause, in der sie zu sich zurückfand – zu dem Zimmer, dem wunderbar vergeudeten Nachmittag, zu Jacek –, meinte sie, daß die Musik von Ummagumma schwülstig wäre. Schund. Vorweggenommene Nostalgie einer lebensmüden Generation. Sie sagte das mit der Keckheit einer Dreißigjährigen, mit aufrührerischem Unterton, und zeigte dabei lachend ihre beiden makellosen Zahnreihen. Mit Spannung und Neugier verfolgte sie, welche Wirkung ihre Bemerkung hinterließ; wie Jacek reagierte; wie er als Antwort auf ihren Einwand sich umwandte und sie ansah; wie seine Miene gelinde Überraschung ausdrückte, den raschen Wechsel zwischen Verblüffung und gespielter Entrüstung deklinierte. Es war ein feines, unentzifferbares Lächeln, in dem sein Mienenspiel endete, aufgesetzt, um ihrem herausfordernden Blick zu begegnen. Ein sanftmütiges Lächeln fast, mit dem er ihren Einwand quittierte, doch sanftmütig nicht allein; es besaß noch eine andere, versteckte Qualität. Weil es den Bruchteil einer Sekunde zu lange dauerte, kam Dora der Verdacht, es könnte grenzenlose Herablassung darin verborgen sein. Und dann wußte sie, daß genau das – der Verdacht und der Schluß, den sie daraus zog – von Jacek vorausberechnet worden war. Sie hatte ihn verletzt – und wie um das Gesagte wieder gutzumachen, neigte sie mädchenhaft den Kopf, berührte mit der Wange die Schulter, sanft, artig, barmherzig. In dem Blick, den sie ihm zuwarf, lag Unschuld; lag das Wissen um ihre Geste, die Demut signalisierte – und das Wissen darum, daß ihr diese Geste nur beinahe geglückt war. Sie drehte den Kopf zur Seite und unterdrückte ein Gähnen.
Jacek betrachtete das kleine Schauspiel, das Dora ihm bot, und ohne es sich bewußt zu machen, erkannte er darin das erste, zarte Anzeichen für eine grundlegend veränderte Situation. Sie, Schläfrigkeit vorschützend, erriet wiederum, daß jetzt, wo Jaceks Beine in Bewegung gerieten – langsam, wie in Zeitlupe –, wo seine nicht sehr große, drahtige Gestalt auf sie zukam, scheinbar absichtslos, eine Veränderung in ihm vorgegangen war, noch vor dem ersten, zögernden Schritt, den er getan hatte. Und wie in einem animierten Film verwandelte er sich weiter, mit jeder zusätzlichen Bewegung, durchlief alle Phasen der Ontogenese; eine Überblendung von Jacek nach Jacek, von Jacek, dem Freund, nach Jacek, dem Mann, dem Liebhaber. Sie realisierte das so instinktsicher wie ein Tier; sie phantasierte es; redete es sich ein; sie sprach es sogar aus, spöttisch, neckend, provozierend. Und vielleicht war es das – die Provokation, die erzwungene Prophezeiung, in denen Zurückweisung und Aufforderung um Geltung konkurrierten – vielleicht das zusammen mit ihrer Koketterie, die ihn dazu bewogen, es sich anders zu überlegen – und die Entscheidung, die sie beide für den Abend getroffen hatten, zu verwerfen. All das in einer Zeitspanne, die nicht größer war als die, die Daumen und Zeigefinger voneinander trennen. Zwischen Daumen und Zeigefinger den verkorkten Hals der Flasche, verdichtete sich der Nachmittag zu einer einzigen Sekunde. In diese eine Sekunde paßten die Monate vergeblichen Werbens, die stille Trauer, seine Reife, die ihm den Ratschlag gab, an andere Dinge als an Frauen zu denken; die in trostlosen Hotelbars versoffenen Nächte und die unbezwingbare Hoffnung, die nach dem vierten oder fünften Glas keimte, regelmäßig, sie vor allem. Statt Dora aufzufordern, sich langsam für den Vortrag in der Leopoldina über Literatur und Grenzüberschreitung herzurichten, hatte er
auf dem Weg zum Bett einen Schlenker gemacht und die zu einem Drittel leere Wodkaflasche aus dem in den verrosteten Angeln quietschenden Glasschrank geholt. In jeder Hand ein fingerbreit gefülltes Senfglas, setzte er sich neben sie, überreichte den Wodka, stieß mit ihr an und leerte sein Glas auf einen Zug. Dora wußte, was nun geschehen würde, sie hatte es über ein halbes Jahr hinausgezögert, hatte so getan, als verstünde sie nicht – seinen traurigen Blick, die wiederholten, stillschweigenden Offerten, die Wärme, die seine Fingerkuppen aussandten, wenn sie für einen Moment auf ihrem Handrücken ruhten. Jedem noch so zarten Annäherungsversuch – über die Monate seltener geworden –, war sie mit einem Ausweichmanöver begegnet, mehr oder weniger geschickt, mehr oder weniger charmant. Aber jetzt wußte Jacek, daß er kurz vor dem Ziel war. Sie, der Liebe ohnehin abtrünnig (was man Liebe nannte, hielt sie für ein Komplott der Hormone), hatte wenig Lust, sich zu binden (sie hatte sogar wenig Lust auf Liebe), und sie ahnte, daß Jacek, wenn sie sich auf ihn einließ, hohe Bindungskräfte entwickeln konnte. Im Stillen befürchtete sie, daß er auf ein Alter zuging, wo man nach allem griff, was das echte oder vermeintliche Potential einer Partnerschaft in sich trug, wo man so schnell nicht mehr losließ. Von klein auf hatte sie keinen Mann gewollt, keine Kinder, keine Familie. Sie war ohne das geringste Bedürfnis, den Personenstand zu ändern, wie das im Amtsdeutsch hieß, ob nun mit oder ohne institutionellen Segen. Zu irgend etwas, egal was, verpflichtet zu sein – zu Treue, zu Ausreden, zu falschen Versprechen, zu Kompromissen – dieser Gedanke war ihr unerträglich. Am besten, man ließ die Finger davon. Dora wollte, daß alles so blieb, wie es war; betrachtete sich selbst als Ausnahmezustand.
Schon während des Studiums hatte sie sich ihre Liebhaber selbst gesucht, hatte verstanden, sie auf Distanz zu halten, die Regeln vorzugeben. Sie – nur sie – hatte den Takt bestimmt, in dem man sich sah; den Ort ausgesucht, wo man sich begegnete (niemals bei ihr). Doch heute, an diesem Nachmittag, war alles anders. Vielleicht, weil sie dachte, daß nun genug Zeit verstrichen war, um Jacek begreifen zu lassen; vielleicht auch nur, weil sie sich zuvor an den Frühling erinnert hatte, an das Zwitschern der Vögel und daran, daß die Tage unbeirrbar fortschritten. Vielleicht, weil eine Laune sie trieb, die Zukunft neu zu verteilen, ihre und die von Jacek. In einem Zustand des Gleichmuts, der Zufriedenheit, hatte sie eingewilligt in einen Pakt, der von der psychedelischen Musik, von den Farben des Herbstes und vom Wodka geschlossen worden war. So wehrte sie sich nicht. Sie ließ es geschehen, daß Jacek die Knopfleiste ihrer Jeans öffnete, seine Hand sanft auf ihren Bauch drückte, die weiche, warme Haut befühlte. Fügsam hob sie das Becken, damit er die Jeans abstreifen konnte, den rebellischen Slip, der sich einrollte. Sie hob die Arme, um sich das T-Shirt über den Kopf ziehen zu lassen, verharrte, damit die nestelnden Finger den Büstenhalter öffnen, die Träger über die Schultern streifen konnten. Noch einmal erhob sich Jacek, ging an die Tür, drehte den Schlüssel im Schloß, um sicherzugehen, daß seine Mutter, die drüben im Wohnzimmer fernsah, nicht unversehens hereinplatzte; kam zurück, zog sich aus. Dora, unter die Decke gekrochen, nackt, sah ihm dabei zu. Dann hob sie die Decke, um ihn zu sich ins Bett zu lassen. Was sie erregte, waren seine kräftigen, behaarten Arme, der Geruch seiner Haut, der Geruch des Schweißes, dessen Witterung sie vorhin schon aufgenommen hatte, als er dicht vor ihr gewesen war, um in ihrem Rücken den BH zu lösen; ein Geruch, der nur dazu da war, um mit geschlossenen Augen
wahrgenommen zu werden; was sie erregte, war sein gegen das Fenster gerichteter Blick, der blind und in sich gekehrt war, scheinbar ohne Anteilnahme an dem, was unterhalb von ihm passierte; waren seine harten, säbelnden Stöße. Jede der Bewegungen, Griffe, Aufforderungen, die er sich einfallen ließ, seine Abwesenheit – all das verriet ihr, daß sie für ihn Anlaß war, um dem Leben ein letztes Mal wirkliche Neugier entgegenzubringen. Jetzt hatte er erreicht, was er wollte, aber natürlich wollte er sich die Blöße nicht eingestehen, wollte, daß sie ihn als ebenbürtig wahrnahm: als ebenso gelassen, ebenso gleichgültig, ebenso abtrünnig. Dieser Eindruck war es, der in das seltsame Dreieck, welches Dora preisgab – ein Dreieck aus halb geschlossenen Augen und halb geöffnetem Mund – ein Lächeln mischte. Er, Jacek, bekam davon nichts mit. Ungestüm, keuchend, blind, ohne Anspruch auf Wiederholung, auf Regelmäßigkeit, Gewöhnung, verstärkte er den Druck, den Rhythmus der Stöße. Es dauerte nicht allzu lange; und als sie gekommen war, dann er, als sie später aus dem Schlaf, der kein wirklicher war, erwachte, dunkelte es draußen schon.
Danach, so entsann sich Dora – einen weiteren prüfenden Blick in den Spiegel werfend – hatten sie zusammen mit Jaceks Mutter in der Küche zu Abend gegessen. Die alte Dame, irgendwo zwischen siebzig und achtzig, war eine eigenwillige und lustige Person, die kaum die Wohnung verließ und immer die Fernsehzeitung mit sich herumschleppte, die sie als eine Art Kalender benutzte. An den Rand des betreffenden Tags kritzelte sie ihre Notizen. Wer sich umsah, bekam viel altes, rissiges Geschirr in offenen Schränken zu Gesicht, Oberflächen aus Resopal, Töpfe und Pfannen und ein Kofferradio mit verbogener
Antenne. Dora wußte noch, daß sie Jacek im Anschluß an ihre Inspektion, die diesem nicht entgangen war, vorgeschlagen hatte, statt einer Geschichte der Oder eine Geschichte der Küche zu schreiben – der Küche im Sozialismus. Die Küche – das war der wichtigste Ort während der ganzen Sowjetzeit gewesen: Heimat der Intellektuellen, Treffpunkt der Dissidenz, heruntergewirtschaftetes Erbe des literarischen Salons, wie er im 19. Jahrhundert existiert und Dora schon in der lektüresüchtigen Pubertät als Konzept begeistert hatte. Noch gut stand ihr vor Augen, daß in Leipzig ihr Großvater und später ihre Mutter mit Fremden, die sich für die eine oder andere Antiquität oder für ein Bild interessierten, nicht im Laden verhandelt hatten – in der mickrigen Fortsetzung des Kunstsalons Franke –, sondern zuhause in der Küche. Ein sicherer Ort. Sie sah wieder den sorgfältig zusammengeschnürten Stapel alter Postkarten, den er später, als sie in sein Zimmer zurückgekehrt waren, aus der untersten Schublade des Schreibtischs kramte. Auch eine Errungenschaft vom Flohmarkt. Nacheinander reichte er ihr die Karten: alte, zum Teil von Silberplatten abgezogene Ansichten von Lwow, seiner Geburtsstadt. Nach dem Krieg wurde Breslau auf Beschluß der Siegermächte Polen zugeschlagen. Die verbliebene deutsche Bevölkerung wurde vertrieben – Richtung Westen –, und durch mehr als eine Million Polen ersetzt, denen die Alliierten aufgetragen hatten, den Osten ihrer Heimat zu verlassen. Der nämlich sollte an die Sowjetunion fallen. Polen rückte, um es anders zu sagen, im Mittel 250 Kilometer nach Westen auf – so, wie auch die Grenzen Deutschlands nach Westen verschoben wurden. Noch als Jacek 1957 sein Studium der polnischen Geschichte an der Universität Wroclaw aufnimmt,
kommen die meisten dort lehrenden Dozenten und Professoren von der Universität Lwow. Jacek erzählte. Er war Halbjude. Sein Vater, unter der deutschen Besatzung (und mithilfe ukrainischer Kollaborateure) als bolschewistischer Agent verdächtigt, war nach Treblinka ins KZ verschickt worden, wo er, wie man später erfuhr, in der Todeskammer ums Leben kam. Im Dezember 1945 gelangten er, der Siebenjährige, seine Mutter und ein alter Lederkoffer von Lwow nach Wroclaw – zu Fuß und inmitten von einem versprengten Haufen demobilisierter Soldaten, entlaufener Sträflinge, heimkehrender Zwangsarbeiter (die zum Teil am Ärmel noch das deutsche P aufgenäht hatten), Verwundeter und befreiter Häftlinge aus Kriegsgefangenenlagern und KZs. Ein winziger Ausschnitt all der Menschenströme, die mit geringen Rationen Brot und Kartoffeln im Gepäck den europäischen Kontinent überzogen. Seht, wie ihr weiterkommt! Vereinzelt sah man Pferdefuhrwerke oder Viehwagen, von denen manche einen bizarren Anblick boten: Sie transportierten die Altäre ihrer Heimatpfarreien. Kriegsverbrecher waren unter den Umsiedlern, in Zivil, um abtauchen zu können, Frauen und Kinder aus Wolhynien, Podolien, Zamosc, sogar aus dem weit entfernten Gebiet um Wilna. Ihre einzige Habe war oft ein schmutziges Bündel, das sie unter dem Arm oder auf dem Rücken trugen. Ein erbarmungswürdiger, widersprüchlicher Treck, herrschaftslos, zeitweise ohne Orientierung, jeder auf sich selbst zurückgeworfen – eine kleine Völkerwanderung, die nur zusammengehalten wurde vom Hunger, vom Staub der Straße und von der Angst vor sowjetischer Miliz. Wer nicht durchhielt, wer in der Kälte erfror, landete im Straßengraben. Rotarmisten begleiteten die Umsiedler mit aufgepflanztem Bajonett bis zur neuen Grenze.
In dem restlos zerstörten Wroclaw lebten er und seine Mutter geraume Zeit, wie man sagte, auf Kojfern – unter einer Glocke schmerzhafter Melancholie und zwischen dem Donnern explodierender Minen, dem Geknatter von Schießereien und den Rufen der Spatzen und Schwalben oder den nächtlichen Gesängen der Nachtigallen. Deutlich sah er noch die Leiche eines Mannes vor sich, der in deutscher Eisenbahneruniform mitten auf der Straße lag, das Gesicht von einer dunkelrot verfärbten Gardine verhüllt. Niemand räumte den Toten weg; man war damit beschäftigt, die Fahrbahn von Artilleriegeschossen zu säubern und in die Hausruinen links und rechts zu werfen. Manchmal ging dann doch noch etwas hoch. Für viele war das großteils zerstörte und zurückgelassene Wroclaw ein Kulturschock, denn die meisten kamen vom Lande oder aus Kleinstädten. Straßenbahnen, Telefone, warmes Wasser, das aus den Hähnen sprudelte – das alles war ihnen unbekannt. Zunächst tauchten daher in den Parks und den Höfen der Mietshäuser Kühe, Schweine und Ziegen auf. Es war der Zusammenprall zweier Zivilisationen. Dora spürte, daß Jacek Mühe hatte, die Erlebnisse und Eindrücke, die sein Gedächtnis überschwemmten, zurückzuhalten. Er erzählte vom trostlosen Elend der tausendfüßigen Parade, die mit gespenstischer Lautlosigkeit den harten Lehm der Straße trat, dem Versprechen entgegen, irgendwo die Luft dazu ernannter Heimaterde zu atmen; von der unvorstellbaren Odyssee, die jene hinter sich hatten, die aus Städten und Dörfern geflohen waren, welche SSKavallerie, längst auf dem Rückzug, dem Erdboden gleichgemacht hatte, Überlebende aus Zapieszocze, Dworzec, Pohost, Stepece, Ozierany, Siemuradze, Choczen (und einer schier endlosen Galerie weiterer Namen).
Er erzählte von marodierenden Soldaten, denen sie begegneten; von einer Deutschen mit schrundigem, vernarbtem Gesicht, die, gleichgültig gegen ihr Schicksal, sich dem traurigen Zug angeschlossen hatte, trotz des Hasses zwischen Polen und Deutschen und trotz der Tatsache, daß es polnische Zivilisten gewesen waren, die sie ausgepeitscht, beraubt und vergewaltigt hatten (Fremdarbeit, Fremdarbeit hatten sie dabei lachend auf Deutsch gerufen). Und er erzählte von einem Gymnasiallehrer, der gleichfalls aus Lwow kam und dem er sein Leben verdankte, weil dieser ihn, wenn er erschöpft, hungrig, durstig gewesen war, stille Tränen vergießend, immer wieder auf die Schulter genommen hatte. Wieslaw Chiczewski – ein Name, den er nie mehr vergessen werde. Auch dieser Mann, freundlich und ruhig, hatte sein Schicksal: In Warschau bei einer von Deutschen so genannten Fangaktion aus der Straßenbahn heraus verhaftet, war er nach Deutschland verschleppt worden. Nach mehreren Jahren Zwangsarbeit in einer Werft hatte er gerade wieder angefangen, in Lwow zu leben, zu Verleben… Doch bevor der endlose, abgemagerte und desillusionierte Treck, der sich durch die frostbedeckte Landschaft schlängelte, Wroclaw erreichte, wurde er von der Roten Armee, die der polnischen Umsiedlungsaktion massiv und brutal nachhalf, festgehalten, der Sabotage und der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt und, weil der Sowjetunion Arbeitskräfte fehlten, nach Sibirien deportiert. Der Glanz in Jaceks Augen – durch eine Verhärtung der Züge fast unsichtbar gemacht –, verriet Dora, die den Packen Karten behutsam auf den Schreibtisch zurücklegte, daß es Zeit war, den Wodka und die beiden Senfgläser zu holen, die immer noch am Bett standen, und in diese jeweils einen kräftigen Schuß zu geben. Am folgenden Morgen erwachte sie von dem Licht, das ins Zimmer flutete, ihr die Nase kitzelte, nachdem die Vorhänge
aufgezogen waren. Sie blinzelte, murmelte etwas, aber Jacek war schon in die Küche verschwunden. Sie sprang unter die Dusche und stand wenig später in der Küche – neben Jacek, der früh aufgestanden war und seine Mutter wegen verschiedener Rezepte zu einem Arzt in der Nähe gebracht hatte. Es war bereits die zweite Tasse Kaffee, die er im Stehen hinunterstürzte. Er schien mürrisch, ohne Bedürfnis, das Schweigen, das zwischen ihnen stand, zu brechen. Sie tat es ihm nach, betrachtete, während sie den Kaffee trank, die Spatzen auf dem Balkongeländer, packte ihre Sachen, rief aus dem Flur ein Czes! in die Wohnung – und hatte die Tür bereits hinter sich ins Schloß gezogen. Sie klapperte die Stockwerke hinunter und war gleich darauf bei ihrem Rad, das sie im Hof abgestellt hatte. Als sie die Wohnung in der ulitza Twerskaja aufschloß, rechnete sie nicht damit, ihre Mutter anzutreffen. Normalerweise war sie um diese Zeit mit der Straßenbahn in die Stadt gefahren, holte Sachen aus der Reinigung, machte Besorgungen, plauderte mit Kassiererinnen, ging zur Post oder zum Friseur. Doch nachdem Dora den Mantel aufgehängt hatte und aus den Schuhen geschlüpft war, erspähte sie durch die halboffene Wohnzimmertür ihre Mutter. Sie saß an ihrem Sekretär – jenem rehbraunen, mit Intarsien verzierten Pult voller Schubladen und geheimer Fächer, Zeugnis einer glorreichen Breslauer Vergangenheit, das mit nur wenigen Schrammen und Schraubenverlusten Leipzig und die DDR überstanden hatte und nun wieder zurückgekehrt war, in die angestammte Heimat, die inzwischen Sprache, Nationalität und Währung gewechselt hatte. »Was für eine Überraschung! Erst gestern abend habe ich mit Jacek über die Funktion der Küche im realen Sozialismus gesprochen.«
Dora stand dicht hinter ihrer Mutter, die zum ungezählten Mal ein altes Familienalbum durchging. Sie legte die Hand auf den schwarzen Karton, um ihre Mutter am Umblättern zu hindern, beugte sich herab und betrachtete das Foto genauer. Es war schwarz-weiß und zeigte offenbar eine Küche. Die Küche in Leipzig. »Da warst du noch ein Baby.« Ihrer Mutter schien es ein bißchen peinlich zu sein, daß die Tochter das Bild sah. Dora war belustigt. Und irritiert. Was war bloß an dem Foto? Sie verengte die Augen. Auf Fotos war das Gestern immer abgemagert. Auf der einen Seite der Eckbank erkannte sie eine attraktive Frau im hellen Kostüm, die damals so alt wie sie jetzt gewesen sein mußte, ihre Mutter. Dann gab es noch zwei Männer. Der eine, hager und vielleicht Mitte dreißig, saß mit geöffnetem Jackett und gelockerter Krawatte auf einem Stuhl vor dem Tisch; der andere, vielleicht zehn Jahre älter, fülliger, besetzte den Platz unter dem Fenster, an der anderen Ecke der Bank. Irgend etwas, so schien es Dora, war an diesem Mann auffallend: der korrekt sitzende Anzug, das pomadisierte Haar, das sich bereits lichtete, die große, dünne, scharf nach unten gebogene Nase. Sie sah ein zweites Mal hin. »Kam der aus dem Westen?« Mit dem ausgestreckten Finger deutete sie auf die Figur, die nur aus Licht und Schatten bestand, in Plastik geschweißt. Ihre Mutter sah überrascht an ihrer Tochter hinauf, reagierte aber zunächst nicht; dann, zögernd: »Ja, ich glaube.« »Ist ja auch egal.« Sie betrachtete die gepflegten Hände, die den Karton des Albums niederhielten, und fing an, sich ihre Mutter als eine unbekannte Frau vorzustellen, als jemanden, deren Gebärden und Reaktionen erahnt, erschlossen, erraten werden mußten.
Als einsame, mißverstandene Frau, umgeben von einem undurchdringlichen Geheimnis. Das Telefon hatte geklingelt. Dora war bereits am Apparat. Am anderen Ende Jacek, der sich mit ihr für den Abend verabreden wollte. Lange hatte er es nicht ausgehalten. Jeder Diskussion und jedem längeren Gespräch aus dem Weg gehend, sagte sie ohne groß nachzudenken zu. Pünktlich um halb eins aß sie mit ihrer Mutter an dem großen, runden und mit einer weißen gestickten Decke drapierten Wohnzimmertisch zu Mittag. Jeder mit sich und seinen Gedanken beschäftigt, schaufelten sie das Essen in sich hinein. Ab und an wechselte zwischen ihnen ein stummer Blick. Außer dem Verkehr von der Straße unten war nur das Geklapper des Bestecks zu hören. Nach einer Weile erhob sich Dora, ging an den Schrank, drehte das Radio auf, setzte sich zurück an den Tisch, tat so, als lausche sie den Nachrichten. Irgendwo auf der Welt wurde ein Massaker gemeldet (im indischen Guyarat hatte ein muslimischer Mob zwei Züge überfallen und die hinduistischen Passagiere bei lebendigem Leib verbrannt). Während sie zuhörte, dachte sie an das Küchenfoto. Tief in ihrem Innern glaubte sie an eine Art Fügung, daran, daß nichts auf der Welt umsonst geschah; daß es eine versteckte Ordnung gab, ein kompliziertes Gitter aus Präferenzen und Abneigungen, an dem sich alles ausrichtete. Und wiewohl ihr nicht recht klar war, daß es eine Art Vorbestimmung war, der sie ihr Vertrauen schenkte, bestand für sie kein Zweifel daran, daß es zwischen dem gestrigen Gespräch und dem Foto heute eine Verbindung gab. Welcher Art diese Verbindung war, wußte sie nicht anzugeben, doch bevor sie darüber ins Grübeln geriet, hatten sich ihre Gedanken wieder auf das Radio gerichtet, auf die Sprecherin, auf das, was die Stimme sorgsam und routiniert verkündete. Im Kopf versuchte sie, aus den
vorgestanzten Wortketten, die durch das Wohnzimmer zogen, sich in der Luft ausbreiteten, in den Blumen am Fenster, Bilder zu extrahieren, Vorstellungen zu entwickeln. Eine Parade von Worthülsen; das Leid, von dem sie berichteten, ausblendend. Nachrichten. Die schlimmste Phrase dieses Jahrhunderts. Schließlich machte Dora den Mund auf; überraschend, ohne warnendes Räuspern, unter Begleitung der Musik, die jetzt aus dem Radio kam. Sie fing damit an, daß sie erzählte, Arbeit gefunden zu haben. An der Volkshochschule, dreimal die Woche konnte sie Kurse geben. Gedacht waren die Kurse für Polen, die mit Deutschland, und für Deutsche, die mit Polen ins Geschäft kommen wollten. Für den irgendwann zu erwartenden Beitritt des Landes zur EU. Für die phantastische Zukunft, die Polen prophezeit war. Für den Anfang, sagte sie, besser als nichts. Ihre Mutter nickte. Sie fuhr fort zu erzählen, vom Ärger mit der Hausverwaltung, von den Schwierigkeiten mit der Bürokratie, von diesem und jenem, gab den Klatsch weiter, den sie irgendwo aufgeschnappt hatte, in den Wartesälen, der Straßenbahn, vor Bankschaltern oder auf Linoleumfluren. Trotzig und ohne zu wissen, warum, übernahm sie die Rolle der fürsorglichen Tochter, verteidigte das Alter gegen das Leben, die Unzulänglichkeit gegen die Achtlosigkeit; verzieh Starrsinn, Habsucht, Anmaßung; fand Verständnis für das Desinteresse, das Eltern am Leben ihrer erwachsenen Kinder zeigen. Sie wußte, daß sie mit den Geschichten ihrer Mutter Proviant lieferte, Gedankennahrung für die langen einsamen Abende vor dem Fernseher; Balsam, um die Grausamkeiten des fortschreitenden Alterns zu lindern. Dann, nach einer Reihe von mit goldbraunem Whisky gefüllten Gläsern, kam der Abend, der Moment, wo sie ihre Mutter verließ, ihr von der Treppe aus noch einmal zuwinkte,
warmherzig und in dem Bewußtsein, mehr als nötig getan zu haben. Im Hof schwang sie sich auf ihr Rad und rollte auf die Straße. Und als sie den Bordstein entlangfuhr, betäubt vom Gleichmaß des Tretens, gebaren ihre Eingeweide eine Regung, die sie aufwühlte; eine Vision, die ihr den unabweisbaren, gleichwohl unbeweisbaren Eindruck vermittelte, auf einen fernen, hellen Punkt zuzusteuern. Und selbst, als sich dieser Punkt wie zum Hohn als das aggressiv erleuchtete Schaufenster eines Video-Verleihs entpuppte, irgendwo in der Ladenzeile, die das ehemalige Kaufhaus Wertheim umlief, verschwand diese rauschhafte Regung nicht aus ihrer Brust. Sie radelte nicht zu Jacek. Sie hatte keine Lust. Sie ging ins Kino. Die Idylle zwischen Dora und Jacek blieb auf ein paar Wochen beschränkt. Danach kam es für Monate zu keinem Sex mehr zwischen ihnen. Einmal sagte Jacek: »Liebste Dora – kommen Sie, lassen Sie uns glücklich sein.« Dora entwand sich. Sie antwortete: »Glücklich? Was für ein Blödsinn!« Solche Szenen trugen nicht zu ihrer Verständigung bei. Das Soll und Haben der Gefühle verlagerte sich entschieden zu Jaceks Ungunsten. Er aber tat sich schwer, seine Niederlage hinzunehmen. Suchte nach Ausflüchten, nach Tröstungen, nach einer Schuld, die er auf sich geladen haben könnte. Er fand keine Erklärung. Für eine gewisse Zeit wurde er aggressiv, launisch, ungenießbar. Dann stellte sich zwischen ihnen ein neues Gleichgewicht ein – eine Balance, die Nähe, Zärtlichkeit und gelegentliche erotische Handreichungen mit einschloß. Auslöser dafür war Doras Gerührtheit, als sie eines Tages von Jacek ein Geschenk in Empfang nahm – just aus dem verboten
teuren Geschäft, für dessen Schmuck sie schwärmte. Ein mit Rosenquarzkugeln besetzter Armreif. Wahrscheinlich war schon das Frühjahr angebrochen, als es zu einem Zwischenfall kam, der Jacek vor ein weiteres Rätsel stellte; ein Rätsel, das womöglich das alte nur erneuerte und von dem er heute behauptet, es gelöst zu haben – in seinem Krimi. Nebeneinander auf dem Bett liegend, albern, müßig, ohne rechte Vorstellung, was sie anfangen wollten, war es zu Zärtlichkeiten gekommen, zu jenem allmählich als solchem erkannten Ritual, das darin bestand, daß Dora ihn mit der Hand massierte – von ihrem Instinkt damit vertraut gemacht, seine Seelenzustände anhand der Gerüche, die er verströmte, zu unterscheiden. Über seinen Schoß gebeugt, befreite sie ihn mit Lippen und Mund von der Begierde, während seine Hand ihren Hintern betatschte. Dann hatte sie, den Regeln der Gewohnheit und denen ihrer Lust gehorchend, ihre Schenkel seiner Hand und seiner gierigen Zunge ausgeliefert. Anschließend fragte Jacek sie, noch auf dem Bett: »Haben Sie nie einen Vater vermißt?« Es ist schwer zu sagen, was dieser Satz in Dora auslöste. Jedenfalls war sie von Wut und von dem Haß, der jäh in ihr hochstieg, selbst überrascht. Sie spuckte in die hohle Hand, streckte ihm diese hin, zischte: »Hier haben Sie es wieder! Ich brauche weder einen Vater noch einen Freund, der vielleicht Vater werden will, und erst recht brauche ich keinen väterlichen Freund.« Zu vermuten ist, daß die Empörung, die Dora packte, ihre Ursache in der Wende hatte, darin, daß sie sich um ihre Zukunft gebracht sah, an der sie einen rechtmäßigen Anteil zu besitzen glaubte. Man zollte ihrer Biographie keinen Respekt; ihrem ganz an der Literatur orientierten Dasein.
Die ostdeutsche, die polnische, die sowjetische, die ganze Literatur des ehemaligen Ostblocks wurde abgewickelt, auch die der Dissidenten – jenseits der Vorgaben des Verlagsrats der Staaten des Warschauer Paktes. Über Nacht war alles Makulatur geworden. Ohne Chance auf Arbeit, auf ein Auskommen – wer in den neuen oder alten Ländern verlangte jetzt noch nach Übersetzungen vom Polnischen ins Deutsche oder umgekehrt – hatte man sie gleichsam einkassiert – und sie gratulierte sich, Mut genug besessen zu haben, um kurzerhand Leipzig zu verlassen und mit ihrer Mutter nach Wroclaw zu ziehen. Sie war ohne Vater aufgewachsen, und jetzt wurde sie von einer Institution, die sich frech an dessen Stelle setzte, gedemütigt. Irgendwann darauf fand sie Sätze, die Thomas Brasch über den von ihr verehrten Wladimir Majakowski geschrieben und die sie sich notierte hatte: »Das Pathos, mit dem er den alten Staat einreißen und einem neuen auf die Sprünge helfen will, wirkt heute oft unverhältnismäßig. Das liegt aber eher daran, daß der Staat sich heute nicht mehr unverhüllt nackt in Tod und Geburt dem Auge deutlich macht, sondern sich versteckt in der Annahme, wir hätten ihn längst vergessen; und daran, daß wir gelähmt von den vergangenen stillen Zeiten und dem kommenden endlosen Alptraum die Arme nicht mehr hochbekommen, das einzig Nötige zu tun: jede staatliche Ordnung mit all ihren Wurzeln aus unserem Leben, unserem Beruf und unserem Herzen zu reißen.« All das war lange her, war zu Anfang ihrer Beziehung passiert. So oder ungefähr so. Später beruhigte sich vieles. Bis, wie gesagt, zu dem Tag im Sommer 1997, wo Jacek plötzlich wieder anfing. Davon. Bis zu der Stunde, wo er forsch erklärte, auf Dokumente gestoßen zu sein, die eindeutig belegten, daß ihre Mutter mit einem Deutschen eine Affäre hatte, von der
anzunehmen sei, daß sie, Dora, deren verzeihliches Ergebnis darstelle.
Einen letzten Blick in den Spiegel werfend, verließ Dora die Wohnung, das Mietshaus, trat auf die Straße. Sie wartete, bis ein Taxi vorbeikam, gab ein Handzeichen – und ließ sich zur Tabacco Bar bringen.
8 TABACCO ROAD
IN DER POST, die er am Morgen durchgegangen war, hatte sich auch der Katalog eines Möbeldiscounters befunden, den er nun, säuberlich aus der Einschweißfolie gelöst, auf dem Highboard im Flur vorfand. Vermutlich hatte die Keyser ihn dort hinverschleppt. Wenn sie in die Küche unterwegs war, um Teewasser aufzusetzen, war nichts vor ihrer unersättlichen Neugier sicher – insbesondere bei Nestbau und artverwandten Themen. Kurz nach eins hatte sie das Büro verlassen und war nach Hause gegangen. Er griff sich den Katalog und verschwand im Bad. Der über dem schwarz gekachelten Boden schwebende Porzellanstuhl war für Viggen ein klösterlicher Ort, eines der letzten brauchbaren Refugien. Auf dem fast quadratischen Cover: bunte Gläser, Strohhalme, Kerzen, Blumen, Teller, Geschirrtücher, Besteck. Eine Draufsicht auf ein Arrangement aus Retromoderne und Ethno. Unser Heim und unser Leben, hieß es im Vorwort. Folklore, dachte er. Und was nicht Folklore war, glich einem internationalen Hotel. Dazwischen gab es nichts. Gegen Überversorgung und zuviel Ehrgeiz, fuhr der Text fort, für Schlichtheit, Funktionalität und klassischen Stil – der natürlich, er blätterte weiter, seinerseits eine Modeerscheinung darstellte. Seltsam, daß sich mittlerweile selbst ein Möbelkatalog wie das Programm einer politischen Partei las. Der erste und letzte Hort des Menschen, das stand fest, waren gewöhnlich die Kissen eines Krankenhausbetts. Es war das
letzte Möbel, das noch aus einem Universum der Dauerhaftigkeit stammte. Zerstreut blätterte Viggen in den Seiten: Abfallbehälter, Audio- und Videomöbel, Badaccessoires, Beistelltische, Duschvorhänge, Hängelampen, Kissen, Klappstühle, Kochtöpfe, Körbe, Leuchten, Matratzen… War es das, woraus ein Heim bestand? Aus dem verbauten Beton, den Raten für die Wohnlandschaft, den Lackschichten? War es das, was zu Begeisterung und Gelingen beitrug? Was dazu befähigte, einen Nachmittag lang die eigene Seele zu erkunden? Er entsann sich, als Kind Stunden intensiver Träume in den hellen, warmen Flecken verlebt zu haben, welche die Sonne auf den Wohnzimmerteppich warf – fern von vorab erteilten Ermahnungen und gemeinsamen Tischgebeten. Der Überfluß an Zeit, diese ins Endlose gedehnten Stunden auf dem langsam sich verschiebenden Parallelogramm eines besonnten Teppichs – das war sein Heim gewesen. Ein Heim – für seinen Vater hatte das am Ende Abstieg bedeutet, Abstieg in die Kindheit, in die vergessene Unschuld. Das verstand er jetzt besser. Er hörte wieder die herzerweichenden Rufe in den letzten Wochen – schon im Dämmer, schon herabgestiegen in dieses immerwährende Halbdunkel, das nur noch schwach erhellt wurde von gewissen, frühen Eindrücken: vom Kartoffelgeruch der mütterlichen Schürze, die ihm vor einer unbegreiflichen, mit Ungeheuern drohenden Welt Schutz bot, vom morgendlichen Geklapper der Melkkübel, von Kastanien und den Wellen, die der Wind malte, wenn er über die Weizenfelder lief. Erhellt und verdunkelt zugleich vom Kirchturm, in dessen Obhut er herangewachsen war. Im Kreis der Familie hatte man sich über die Frömmelei seines Vaters manchmal lustig gemacht – und dann war die
innere Abgeschiedenheit spürbar geworden, in der er lebte. Man bekam das Gefühl, daß er irgend etwas auf dem Kerbholz hatte; daß er im Innern mit sich rang. Die zur Schau gestellte Gottesfurcht hatte bei Viggen den Verdacht genährt, sie diene seinem Vater als Fluchtburg, als willkommene Möglichkeit, um Vergeltung zu üben; um das eigene Selbst zu lästern, zu verschleiern – und mit ihm eine unverdaute Vergangenheit. Er erhob sich. Nach den ersten, schweren Krisen hatte sein Vater Gott angerufen, erbost, theatralisch, anmaßend; hatte mit ihm gestritten, ihn um Verzeihung gebeten, um Erlösung angefleht; später hatte er Gott, den Pfarrern und den salbungsvollen Worten, die sie über ihn ergossen, den Rücken zugekehrt. Gott, der christliche, der römisch-katholische, hatte ihn lebenslang begleitet, hatte für ihn (und die Familie) eine nur schwer ergründbare Rolle gespielt. Gott, die alte Vogelscheuche! Viggen riß ein Stück Papier von der Rolle und wischte sich die Feuchtigkeit aus den Augen. Dann kippte er das Fenster, verließ das Bad, schloß hinter sich die Tür, und ging durch den Flur ins Arbeitszimmer. Den Katalog legte er auf die Anrichte zurück. An seinem Platz sank er in sich zusammen, betrachtete teilnahmslos die Dinge, die vor ihm lagen, die Kulis und Papiere und ungeöffneten Kuverts. Den geschlossenen Deckel des leise vor sich hinsummenden Laptops. Er fühlte sich außerstande, all das, was sich inzwischen angesammelt hatte, aufzuarbeiten. Statt dessen drehte er den Kopf zum Fenster und sah hinaus. Er dachte an sein Leben und daran, daß er mutlos geworden war. Ihm fiel etwas ein, wovon er nicht wußte, wieso es ihm ausgerechnet jetzt einfiel. Als kleiner Junge, mit sechs oder sieben Jahren, hatte er sich inständig Jeans gewünscht. Bis zuletzt hatte sein Vater dieses karierte Papierchen aufgehoben,
auf dem er seinen Wunsch dem Weihnachtsmann eröffnet hatte, mit ungelenker Handschrift, als Lautmalerei: Tschiens. Von Nietenhosen, wie man damals sagte, fühlte er sich autorisiert, nichts und niemand anerkennen zu müssen. Er drehte das Handgelenk und sah auf die Uhr. Sollte er sich einen Tee machen? Oder lieber eine Siesta halten? Dafür war noch ausreichend Zeit. Ganz gleich, zu welcher Jahreszeit, und ganz egal, ob von den Fünf Höfen, vom Lenbachplatz oder ob aus Richtung Oper – wer auf den Promenadeplatz zusteuert, erkennt in der ovalen Anlage mit ihren Bäumen und gelb und blau gesprenkelten Rabatten, den gravitätischen Denkmälern und den Ruhebänken aus grün lackiertem Holz rasch einen Ort, der dazu einlädt, unter Einsatz von ein bißchen Zeit einer anderen Auffassung des Lebens zu huldigen. Und während man sich zwischen den mächtigen Stoßfängern parkender Autos hindurchzwängt – zwischen dem Heck eines Jeep Grand Cherokee und der Motorhaube eines Mitsubishi Outlander zum Beispiel, während man über Asphalt und Schienen spurtet, ehe der Fuß das sichere Eiland im Herzen Münchens erreicht, hat das Auge unter den Aufwipfelungen der Linden bereits Gestalten entdeckt, die ganz offensichtlich damit beschäftigt sind, ein Dasein abseits des eigenen zu erwägen: ein Dasein in Muße, in Vornehmheit, in Liebe; ein Dasein, das sich selbst genügt – frei von der Pflicht zum Glück, frei von guten Vorsätzen und irritierenden Warnhinweisen. Eines der Denkmäler, die in gerader und gehorsamer Linie das begrünte Oval durchqueren, stellt eine steinerne Annäherung an den Minister Maximilian Joseph Graf von Montgelas dar – den, wie es heißt, Architekten des modernen Bayern. Montgelas war ein vom französischen Rationalismus geprägter Mann, dem es vor gut zweihundert Jahren gelang, eine starrsinnige Verwaltung ebenso zu reformieren wie eine
rechthaberische Justiz; der es schaffte, die angestammten Privilegien von Kirche und Adel abzubauen, die Säkularisierung voranzutreiben, das altmodische Baiern durch ein fortschrittliches (Bayern) zu ersetzen, Maße und Gewichte zu vereinheitlichen und ausgewählte Untertanen an der politischen Willensbildung teilhaben zu lassen. Man fragt sich, ob und in welcher Zukunft ein solches Denkmal seine adäquate Fortsetzung finden könnte. Im Rücken des steinernen Grafen erhebt sich das zu ihm gehörige Gebäude, das ehemalige Palais Montgelas, frühklassizistisch mit französischer Note, Mitte des 19. Jahrhunderts auf Wunsch von König Ludwig I. erbaut. Für die zahlreicher werdenden Staatsgäste brauchte es eine angemessene Herberge, die damals nicht zur Verfügung stand. 1969 ist das Stadtpalais zur besseren Hälfte des angrenzenden Bayerischen Hofs geworden – das Hotel umgekehrt zum säkularen Erbe des Barockhauses, in dem sich heute statt gepuderter und gelangweilter Grafen und Fürsten (samt Mätressen) gepamperte und amüsiersüchtige Berühmtheiten (samt Manager) einquartieren: Jean Paul Gaultier und Michael Crichton, Kurt Russell und Bryan Ferry, Hilary Clinton, der Dalai Lama und Britney Spears. Wenn es Herbst wird, wenn sich der Himmel zu dicken Ballen Traurigkeit türmt, werden die Bänke, die in regelmäßigen Abständen die Promenade auf ihrem Weg zur Pacellistraße begleiten, von Obdachlosen besetzt, von den Wölkchen ihres stoßweise sichtbar werdenden Atems. Das heißt, eigentlich sind es nur die beiden frontal zum Hotel installierten Bänke, die auf die Betreffenden Anziehung ausüben und dazu auserkoren scheinen, den Prunk und die Ungerechtigkeit anzuhimmeln. Gewärmt von den obligatorischen Plastiktüten, die ihre ganze Habe beherbergen und die sie um sich geschart haben wie
Kinder oder Stofftiere, den bleigrauen Pfützen zu ihren Füßen ausweichend, belauern die Stadtstreicher mit geröteten Nasen und klammen Fingern die Fenster im vierten Obergeschoß (hinter denen sich die noblen Suiten verbergen) – in der bescheidenen Hoffnung, daß aus einem spontan aufgerissenen Flügel ein Papierflieger auf sie zusegelt, der Hand eines Millionenstars oder der eines Abgesandten entflohen – ein Papierflieger, der sich, noch während er in ihren Schoß trudelt, als frische, mit einem Autogramm geadelte Tausend-DollarNote entpuppt. In Frühjahr und Sommer wechselt das Personal, das die Anlage aufsucht. Man sieht Schauspieler aus der nahen Kleinen Komödie, die abends Premiere haben und in Konkurrenz zum Gezwitscher der Vögel ihren Text vor sich hin murmeln; Angestellte der umliegenden Bankhäuser, die, wenn sie weiblich sind, jede Sekunde nutzen, um ihr Gesicht in die Sonne zu halten; Rechtsanwälte, die grundsätzlich paarweise auftreten, um abseits von Telefongeklingel und Rückfragen aus dem Sekretariat eine Strategie durchzusprechen. Natürlich gibt es auch das Stammpublikum städtischer Anlagen: die Gassigeher, Baumpinkler und Frührentner. Zu ihnen gesellen sich neuerdings Hartz-IVAspiranten sowie Hartz-IV-Abonnenten; die einen melancholisch, die anderen bissig, besserwisserisch, vorlaut. Sie, die letzteren, die oft zwanzig oder dreißig Jahre ihres Lebens in der Umgebung verbracht haben, kommen mit aufgesetzt wiegendem Gang, unter dem Arm Zeitung und Thermoskanne, auf dem Hemd einen Eifleck. Unter diese mischen sich zwei Sorten Hotelgäste: Die eine – ohne Jackett, das hellblaue Hemd an den Ärmeln hochgekrempelt, die Anlage als Privatgarten betrachtend – besteht aus hochbezahlten Key-Account-Managern oder Consultern, die, mit dem unvermeidlichen Handy am Ohr,
ruhelos unter dem Blätterdach auf- und abschreiten und um Worte (wenn die notorisch vernachlässigte Ehefrau oder Freundin am Apparat ist) oder (ist es statt dessen der mißtrauische Vorstand eines zum Sparen gezwungenen Medienkartells) um Einfälle ringen. Die andere verkörpert ein energisches, erfolgsorientiertes Europa, sportiv und mit einem Siegerlächeln, hinter dem sich ein übelrednerisches, gebleichtes Gebiß verschanzt – zu sehen stets just auf einer der beiden Bänke, die im Winter die Obdach Suchenden in Beschlag nehmen und die der goldgefaßten Drehtür des Hotels direkt gegenüberliegen. Von hier aus ist die Sicht ideal, vor allem abends, wenn sich das eigene, nach Schmeicheleien süchtige Selbst in Glas und galvanisiertem Messing spiegelt oder in den mit dem Geräusch von Klimaanlagen anrauschenden Stretch-Limousinen, die Nachschub an Prominenz bringen. »War das nicht eben Christina Aguilera?« Dieses Europa, das sich anschickt, zum einzigen zu werden – zum Europa schlechthin –, besteht aus Männern und Frauen, die fest davon überzeugt sind, nicht geboren zu sein, um zu sterben, sondern um zu gewinnen. Unbarmherzig isolieren sie Menschen und Dinge, kaufen Firmen auf, um sie in ihre Einzelteile zu zerlegen und Stück für Stück zum Höchstpreis abzustoßen; sie fächeln mit der Kreditkarte Luft in den Raum, sammeln Punkte und Meilen und lassen sich am Flughafen in die Business Class upgraden und in den Leading Hotels in die oberen Stockwerke. Biographien, die der Computer ausspuckt, eingequetscht zwischen Rentabilität und Ranking. Dabei, dachte Viggen – und lenkte seinen bambusgrünen Opel Vectra Caravan zum dritten Mal um den Platz –, ging es nur um den Tod. Um ihn und die Vergeblichkeit. Was die Menschen verband, war nicht das Siegen, sondern Verlust.
Wenn er über sich nachdachte, kam Viggen das eigene Leben vor wie ein verlassenes Zimmer – nein, wie ein leeres Zimmer, wie ein Zimmer in einem Museum außerhalb der Öffnungszeiten, ohne Licht und ohne jeden persönlichen Gegenstand. Gestern war der Leichnam seines Vaters eingeäschert und die Urne in die Erde gesenkt worden. Wozu, fragte er sich, war dieses Leben gut gewesen? Es war kurz nach acht Uhr abends. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen; Straßenlaternen und Scheinwerferlichter begehrten halbherzig dagegen auf. Rings um den Promenadeplatz: Passanten, die über das Pflaster eilten, in der Hand Aktentaschen, Kofferchen, quengelnde Kinder, Tüten aus Zellophan oder Lackpapier. Ein Drittel davon trug Gummi an den Füßen – Sneakers. Bunte Autoreifen – nur eben für Menschen. Eine amorphe Ansammlung von Schatten, von Zweitexistenzen, deren Erstausgabe irgendwann zwischen fünfundzwanzig und dreißig verlorengegangen war, an der Schwelle zum Berufsleben – Schatten, die untereinander heirateten, die Kinder gebaren, Ratschläge erteilten, in Rente gingen. Streng jenem universellen Vorbild folgend, das der Menschheit auferlegt schien. Die Läden und Kaufhäuser hatten gerade dichtgemacht. Eigentlich hätte es Parkplätze geben müssen. Viggen schreckte aus seinen Gedanken auf, weil hinter ihm jemand hupte. Irgend so ein Büffel bestand auf seinem Recht und ermahnte ihn beim Vorbeifahren mit winkendem Mittelfinger, erst den Blinker zu setzen, bevor er die Spur wechselte. So bekam er keine Chance, sich nach links einzuordnen! Zu spät! Er mußte eine große Schleife um Lenbachplatz und Stachus fahren, um wieder hierher zurückzufinden.
Wie ein aufgeschreckter Haufen Sandflöhe strebten die Menschen auseinander – zur U-Bahn, zur Tram, zum Parkhaus. Man dachte an die Zukunft und überschlug mit eingebildeter Hellsicht die weiteren Chancen für die Karriere oder den Abend. Bald würde die ganze Gegend zwischen Stachus, Rathaus und Theatinerkirche – hiesige Markierungspunkte der wie überall zu reinen Konsumzwecken umfunktionierten Innenstadt – unbelebt sein. Ab und an würde man aus dem Entree des Bayerischen Hofs noch ein Paar treten sehen, das sogleich in ein Taxi stieg, um sich ins Theater oder zu dem Restaurant kutschieren zu lassen, das von der Concierge oder von dem in einer angesagten Modezeitschrift eingeklebten Special empfohlen wurde. Andere, die am Promenadeplatz vorbeikamen, spazierten zum nahegelegenen Literaturhaus, um dort ihren Abend zu verbringen – bei gekonnt ausgetauschtem Dünkel, Weißwein und gedünstetem Fisch. Und vereinzelt zweigte auch jemand in die kleine Seitenstraße ab, in welche die von der Unterhaltungsindustrie gerade in den Adelsstand erhobenen Barone und Baroninnen von ihren hochgelegenen Fenstern im Bayerischen Hof leicht blicken konnten. In dieser schmalen, unscheinbaren Straße lag linker Hand die Tabacco Bar, gleichsam im Schatten jener beiden Hauben der Frauenkirche, die das Adjektiv welsch tragen. Neben dem Schumann’s gehört die Tabacco Bar unangefochten zu denen, die die Bezeichnung Bar – von der schönen altfranzösischen Vokabel barre: Schranke, Untiefe hergeleitet – zu Recht tragen. Was eine gute Bar ausmachte, war der Umstand, daß sie dem Scheitern Prestige verlieh. Endlich, ein paar Seitenstraßen weiter, fand Viggen vor einem Geschäft für Jägerbedarf einen Parkplatz. Von draußen hörte er eine Welle des Klackerns und Klickerns heranrollen, hörte sie auslaufen und sich wiederholen. Er beugte sich nach
vorn über das Steuer, schielte nach oben und sah, daß die Markise des Ladens fortgesetzt aus- und einfuhr. Eine gespenstische Szenerie in einer menschenleeren, inzwischen mondbeschienenen Straße. Offenbar hatte eine Taube die Sensoren verdreckt, so daß sie, wie er sarkastisch dachte, desensibilisiert werden mußten. Er drückte den Wagenschlag auf und stieg aus. Wildlederschuhe, helle Baumwollhose, Wildlederjacke, darunter ein sommerlich gestreiftes Hemd, das über die Hose fiel und dessen zerknitterte Schöße wie die verblichenen Wimpel einer länger zurückliegenden Rebellion wirkten. Es war ein frühlingshaft warmer Abend, der nach Knospung schmeckte und kommenden Vergnügungen. Wozu, fragte er sich, war sein Leben überhaupt gut? Vorhin, vor dem Kleiderschrank, war er ratlos eine Zeitlang wie um sich selbst herumgestrichen. Das Licht einer Laterne fiel auf sein Haupt, als er vor seinem Wagen stand und interessiert die verrückt gewordenen Markisen betrachtete. Sorgfältig, nahezu pedantisch, arbeitete der Lärm die Ruhe, die sich ringsum einstellte, aus dem Dunkel heraus. Für einen Moment überlegte er, ob er dem Schauspiel ein Ende bereiten sollte – mit dem Regenschirm, der in seinem Kofferraum herumlag und den er noch nie benutzt hatte. Darauf, in einer seltenen Anwandlung von Nächstenliebe, steuerte er auf die Ladentür zu, beugte sich zur Scheibe, um nach dem Schildchen zu suchen, das über Namen und Telefonnummer des Inhabers Auskunft gibt. Er angelte sein Handy aus der Jacke, wählte die angegebene Nummer und wartete. Lange ließ er es läuten. Endlich wurde abgehoben. Im Hintergrund Geschirrgeklapper und eine Frau, die ihre Kinder anschrie. Eine männliche Stimme, schon im Flur, wie Viggen
sich ausmalte, brüllte »Ruhe!« nach hinten. Dann, nach kurzer Pause, nahe am Ohr, vernahm er ein trockenes: »Ja?« Er schien mitten in eines dieser Schattenleben von vorhin eingebrochen zu sein. Mit ein paar Worten unterrichtete er den Mann, der sich als Besitzer zu erkennen gab, ihm zunächst aber keinen Glauben schenkte. Schon bereute er es, angerufen zu haben. Aber das Geklirr des Eisengestänges war nicht zu überhören. Der Mann, einsichtig geworden, sonderte eine Reihe von Verwünschungen ab. »Okay«, sagte er, »ich komme.« Mit einem Ausdruck der Erlösung, in den sich Spuren der Geringschätzung mischten, beendete er das Gespräch, ließ das Telefon in der Tasche verschwinden und machte sich auf den Weg. Er hoffte, Dora nicht schon anzutreffen, wenn er die Bar betrat. Plötzlich war er sich unsicher, ob er sie erkennen würde. Besser, er konnte sich am Tresen einrichten, konnte den Gläsern und Flaschen und seinem vom Spiegel verdoppelten Gesicht Aufmerksamkeit schenken, konnte rauchen und eine angenommene Trägheit genießen, konnte an nichts denken oder so tun, als denke er an nichts – und es seiner Verabredung überlassen, den richtigen aus der Galerie Männer herauszufischen, die mit dem Rücken zum Eingang um den Winkel hockten, der die Theke darstellte; bedeckt mit Filzen, halbvollen Gläsern, kleinen Pfützen, Asche; mit einer Hand, die mit einem schmutzigen Lappen darüberwischte. Doch dahin kam es gar nicht. Einen Fuß vor den anderen setzend, entschlossen, nicht mehr an den Tod zu denken, spazierte er betont unbeschwert an dem von Fenstern, Türen und Einfahrten durchbrochenen Gemäuer entlang, besichtigte Automarken und Schilder, ordnete Städtenamen zu, Beweggründe, Schicksale – und entdeckte vorne, an der Ecke, eine Frau, die andächtig in ein erleuchtetes Schaufenster
blickte. Kein Zweifel: Es war Dora. Instinktiv begriff er das. Aus dem Nichts war sie aufgetaucht, ohne Vorwarnung, ohne jedes Geräusch – eine Vorwegnahme ohne einsichtigen Grund. Als wenn sie unter Vernachlässigung der Logik in die Realität eingeschnitten worden wäre. Er fühlte sich vollkommen überrumpelt, mit einem Schlag zurückversetzt in die jähen Temperaturwechsel der Pubertät. Alles in ihm war alarmiert. Es war ein Augenblick, in dem er zugleich erschrak. Denn ihm wurde klar, daß er sich in diese Frau verliebt hatte. In diese Silhouette da vorne, deren vollständiges Bild ihm seit drei Tagen im Kopf herumspukte. Nichts, gar nichts wußte er von diesem Wesen, und doch spürte er, daß sie irgend etwas in ihm ansprach. So absurd es klang, er wußte, daß er längst angefangen hatte, sie zu kennen. Diese neue, zusätzliche Gewißheit kam für ihn so überraschend, so überfallartig, daß er für einen Augenblick innehielt, mitten in der Bewegung, zu der seine Beine angesetzt hatten – so, als habe er eben den Sinn des Mondes erfaßt, den seiner gleichmäßigen Zu- und Abnahme, den Sinn des Glücks oder den der Farben.
Dora hörte seine Schritte und wandte den Kopf. »Wollen Sie ausbüchsen?« Freimütig sah sie ihm entgegen und ließ ein von unmerklichem Spott getragenes Lächeln über ihr Gesicht gleiten. Viggen hob die Mundwinkel, um ein lautloses Lachen anzudeuten, beschleunigte – als Antwort auf ihre Bemerkung – seinen Gang. Der Vorsicht und einem an die Oberfläche tretenden Mißtrauen gehorchend, versuchte er, ihre Gestalt im Näherkommen schärfer ins Auge zu fassen, beäugte prüfend das ihm zugedrehte Gesicht, halb vom Schaufenster beschienen, die halblangen, in die Stirn fallenden Haare, die
altmodische Handtasche, die an ihrer linken Schulter hing und unter deren Bügel sie vier Finger geschoben hatte. Zwei Meter zu früh streckte er die Hand aus. »Guten Abend.« »Dora«, entgegnete sie – knapp, kauzig, so, als hätte er ihren Namen vergessen. Die Daumen übereinander, nur die Wärme ihrer Handflächen zwischen sich, standen sie einander gegenüber und sahen sich an. Ein Radfahrer flitzte vorbei. Hinter dem Haus wurden in kurzem Abstand Autotüren zugeschlagen. Sie lösten die Hände voneinander, und Viggen wies mit dem Kopf in die Richtung, in die sie zu gehen hatten, um ihre Begegnung wie verabredet in der Tabacco Bar fortzusetzen. Schweigend, nur gelegentlich einen freundlichen oder bejahenden Blick austauschend, gingen sie durch die Nacht, gingen im Abstand von dreißig Zentimetern nebeneinander her, an den Gittern vorbei, durch die das sanfte Rauschen der Klimaanlagen nach oben stieg, überquerten die Straße, die Schienen, den Promenadeplatz; überquerten ein weiteres Mal Schienen und Straße, bogen ab und legten die letzten Meter in dem seltsamen Bewußtsein zurück, plötzlich zum Schauplatz eines eben noch nicht vorhandenen Sinns geworden zu sein, seit ein paar Minuten oder länger; zum Schauplatz einer Neugier und Erwartung; eines unausgesprochenen Schwurs, den die Nacht ausgeschwitzt hatte, der Mond, die Sterne, ein längst verschütteter Traum, und der von ihnen lange vor ihrem Erscheinen auf der Erde geleistet worden war, noch im Zustand eines Impulses, eines Phantoms, einer Laune. Als sie das Lokal betraten, war noch nicht viel los. Zwei Gestalten am Tresen; an einem der hinteren Tische ein Pärchen, das in ein Gespräch vertieft war. Wie immer der Barkeeper und der Kellner, die Viggen von seinen nicht
übermäßig häufigen Besuchen kannte; der eine zutraulich und mit Glatze, der andere, jüngere, mit pomadisiertem Haar und dem Ausdruck antrainierter Abwesenheit in den Augen; und wie immer beide in weißer, bis zum Hals geschlossener Jacke. Jeder setzte seine eingeübte Kennermiene auf, als sie ihm nacheinander zunickten. Viggen genügte ein kurzer Blick, um sich mit Dora zu verständigen. Sie wählten den Tisch in der Ecke neben dem Eingang. »Angenehm hier«, meinte Dora, die Handtasche neben sich auf die Bank stellend. Ungeniert sah sie sich um. Viggen fischte zwischen Hemd und Jacke das silberne Etui hervor, das er sich aus Protest gegen die von oben verordneten Warnungen angeschafft hatte – um nicht bei jeder Zigarette der schwarzumrandeten Warnung ansichtig zu werden (die für ihn nichts weiter war als ein Ausdruck der Doppelzüngigkeit und des Populismus und ein Zeugnis dafür, daß der Mensch für Vernunft nicht begabt war). Er legte das Etui zusammen mit Feuerzeug und Brille auf den Tisch. Dann zog er die Jacke aus, hängte sie über die Lehne und holte mit dem Fuß den Stuhl zu sich heran. Mit beiden Händen unter den Sitz greifend, hob er den Stuhl unter sein Gesäß, rückte seinen Körper gerade, legte die Unterarme auf den Tisch und, aufreizend langsam, die Finger ineinander. »So.« »So?« Mokant, mit erhobener Braue, sah Dora ihn an. Ohne auf ihr Echo einzugehen, die Verurteilung darin unterschlagend, fragte er sie, was sie trinken wolle. »Ich weiß nicht.« Mit dem Finger fuhr sie langsam am gestickten Ausschnitt ihres hellgrünen Shirts entlang, zupfte unsichtbare Flusen aus der Strickjacke, die sie darüber trug – und die, wenn sie sich aufrichtete, deutlich über den Po reichte. »Einen Whisky.«
Er nickte zustimmend, drehte den Kopf, gab dem Kellner, der bereits nahte, ein Zeichen, und bestellte zwei Single Malt, weitere Gläser und einen halben Liter Wasser. Dann ergriff er das Etui, klappte es auf, reichte es zu Dora hinüber, gab ihr und sich Feuer. »Sie haben gesagt, daß Sie meinen Vater kannten.« Dora bejahte mit einer leichten Bewegung des Kopfes, ihren Blick aus einer unbestimmten Ferne zurückholend. Sie nickte ein zweites Mal – als wollte sie sich selbst ihre Gedanken bestätigen –, führte die Hand an den Mund, neigte das Gesicht, sog – vielleicht um Zeit zu gewinnen – den Rauch der Zigarette durch ihre geschlossenen Zahnreihen. Dann sah sie ihn an, tauschte den Anblick seines Gesichts mit dem der Decke, wo sie den Blick mit irgendeinem Punkt verschweißte, als würde dort oben auf einem Monitor ihre Familiengeschichte ablaufen. »Ihr Vater war Kunsthändler, nicht.« Wortlos, durch schlichtes Senken und Heben der Lider bestätigte Viggen. »Das war mein Großvater auch. In Breslau, vor dem Krieg.« Sie machte eine Pause, die sie nutzte, um ihre nur zu einem Viertel gerauchte Zigarette im Aschenbecher auszudrücken. »Kunstsalon Franke. Schon mal gehört?« Er schüttelte den Kopf. Insgeheim begann er sich zu fragen, worauf der Abend hinauslaufen sollte. »Wollen Sie die komplette Geschichte – oder die Kurzfassung?« In ihrem Ton schwang Angriffslust mit. Dann, wie besänftigt, ergänzte sie, einer möglichen Antwort zuvorkommend. »Die Kurzfassung. Die Langfassung müßte mein Großvater erzählen – aber der ist schon tot.« Sie setzte sich schräg, um die Beine am Tisch vorbei übereinanderschlagen zu können.
Viggen deutete ein Lächeln an und versank, ohne es zu wollen, in die Betrachtung ihrer unversehrten Jugendlichkeit; in die der winzigen Fältchen um die Mundwinkel, die dem Bild, das sie abgab, nichts anhaben konnten; erörterte im Stillen die Frage, was hinter dem silbernen Türchen des Medaillons verborgen war, das vor ihrem Brustbein baumelte. »Nachdem man meinen Großvater und seine Familie umgesiedelt hatte – Sie wissen, Breslau wurde nach dem Krieg polnisch! –, landeten sie auf Umwegen in Leipzig. Hier baute er einen kleinen Antiquitätenladen auf, denn er hatte das Glück gehabt, Teile des Breslauer Salons retten zu können, Gemälde vor allem, die mit dem rumpelnden Pferdewagen leichter zu transportieren waren als Standuhren oder Porzellan. Die Tochter – also meine Mutter – hat den Laden nach seinem Tod bis in die frühen neunziger Jahre weitergeführt. Die letzten zehn Jahre gab es allerdings nur noch Ramsch zu kaufen. Alles, was wertvoll war, wurde eines Tages von der Steuerfahndung konfisziert.« »Sie kommen aus Leipzig?« »Da bin ich aufgewachsen«, entgegnete Dora, »jetzt lebe ich in Wroclaw.« Das letzte Wort hatte sie mit äußerster Entschiedenheit ausgesprochen, jeden möglichen Einspruch von vornherein ausschließend. Wroclaw. Nicht Breslau. Sie fuhr fort: »Von Anfang an gab es Kontakte zu Kunsthändlern aus dem Westen. Das hatte noch mein Großvater eingefädelt. Die Kontakte waren meistens legal, es mußte nur jemand vom Staatlichen Kunsthandel dabeisein. Und die waren sowieso alle korrupt. Wenn es, wie es damals hieß, um die Erwirtschaftung außerplanmäßiger Devisen für die DDR ging, ging vieles.« Sie lachte. »Manche Kontakte waren sicher auch nur halblegal. Das ist jedenfalls mein Eindruck gewesen. Genau weiß ich das gar nicht. Nun gut, und so habe ich Ihren Vater kennengelernt.
Über den Kunsthandel. In den Siebzigern, da war ich noch ein Kind. Er, meine Mutter und ich unternahmen manchmal zusammen Ausflüge in die Umgebung. Er hat auch bei uns übernachtet, wenn es zu spät geworden war. Wenn sich die Verhandlungen hingezogen hatten. Auf der Couch hat er übernachtet. Er hat mir jedesmal etwas mitgebracht. Kleine Geschenke, später Zigaretten, und einmal eine Lederjacke, die habe ich noch. Ende der siebziger oder Anfang der achtziger Jahre war das. Da war ich so achtzehn, neunzehn, zwanzig. So um den Dreh. Dann ist er nicht mehr gekommen. Ich kann mich nicht wahnsinnig gut an ihn erinnern, aber erinnern kann ich mich.« Viggen die offene Handfläche hinhaltend, wehrte Dora das erneut dargereichte Etui ab, fing an, in der Handtasche nach ihren eigenen Zigaretten zu kramen. »Ihre sind mir zu stark. Was sind das für Zigaretten? Sie sind so plattgedrückt. Habe ich noch nie gesehen.« »Aus Kairo. Tinas. Wegen ihrer ovalen Form liegen sie besser zwischen den Lippen.« Der Kellner, der die Bestellung brachte, gab Dora Feuer. An der Flamme und dessen hohler Hand vorbei, sandte sie ihrem Gegenüber einen aufmerksamen Blick, um die Wirkung abzuschätzen, die das bislang Gesagte bei diesem hinterlassen hatte. Nun wurde Viggen die Flasche gezeigt, der mit der Brille auf der Nase das Etikett überflog. Von dieser Marke hatte er noch nie etwas gehört. Er nickte und ließ den Kellner einschenken. Dann nahm er die Finger auseinander, ergriff sein Glas und stieß mit Dora an. Nachdem er sich zurückgelehnt hatte, sah er ihr dabei zu, wie sie mit nach innen gekehrtem Blick Tropfen Kondenswasser in das dunkle Holz einrieb. Er schob sein Gesicht vor zum Rand des Tisches, als ob er genau dabei zusehen wollte, wie sie
vorging, und spürte, wie ein Gemisch aus Belustigung und Freude von ihm Besitz ergriff. Das war eine Marotte, die ihm vertraut war, die zum Portfolio seiner eigenen Gesten gehörte. Er wunderte sich, daß es auf diesem seltsamen Planeten offenbar noch jemanden gab, der auf diesen Spleen verfallen war. »Zum Beispiel hat er mich einmal ins Krankenhaus gebracht, weil ich Zahnschmerzen hatte und meine Mutter verhindert war. Den ganzen Nachmittag hat er für mich geopfert. Als eine Ärztin kam und mich fragte, was ich hätte, und ich antwortete: ›Zahnschmerzen‹, reagierte sie ziemlich pampig mit der Bemerkung: ›Das haben hier alle‹ – und drehte sich weg. Daraufhin packte Ihr Vater die Ärztin am Arm und stellte sie zur Rede. Er war ziemlich aufgebracht. Das hat gewirkt. Wir sind ziemlich rasch ins Behandlungszimmer vorgelassen worden. Sie hat natürlich gemerkt, daß er aus dem Westen kam. Er war fast so etwas wie ein Freund der Familie.« Sie wog prüfend den Kopf und sagte: »So könnte man sagen.« »Und darum sind Sie zur Trauerfeier gekommen?« Viggens Miene verriet gelinde Zweifel. Dora legte den Kopf schief und warf ihm einen amüsierten Blick zu. »Das war mehr oder weniger Zufall. Ich bin eigentlich hier, weil ich bei einem Münchner Verlag ein Buch unterbringen will, das ich ins Deutsche übersetzt habe. Übersetzen ist mein Beruf. Ich habe Slawistik studiert. Da ich wußte, daß Ihr Vater in München lebt, dachte ich: Ich rufe ihn mal an. Zwar schon ein paar Jährchen her, daß wir uns zuletzt gesehen haben, aber ich kenne hier ja niemanden, und ich dachte, vielleicht freut er sich. Na ja, und von Ihrer Mutter habe ich dann erfahren, daß er ein paar Tage vor meiner Ankunft gestorben ist. Ich weiß
zwar, daß das Blödsinn ist, aber irgendwie habe ich es für meine Pflicht gehalten, an seinem Sarg zu erscheinen.« »Sie sind Übersetzerin?« Viggen setzte das Wasserglas an die Lippen, um sie zu befeuchten. »Zu dieser Art Mensch scheine ich eine besondere Affinität zu haben: Meine Mutter ist Dolmetscherin.« Er lehnte sich zurück. »Und wie lange gedenken Sie, in München zu bleiben?« »Das weiß ich nicht genau. Der Verlag hat mir angeboten, beim Aufbau einer polnischen Bibliothek mitzuwirken. Polen wird ja demnächst Mitglied der EU. Aber das war ein Vorschlag zwischen Tür und Angel. Ich habe noch keine Entscheidung getroffen. Vielleicht ein oder zwei Wochen, vielleicht ein paar Monate.« »Wo wohnen Sie? Im Hotel?« Viggen stützte sein Kinn auf den Arm. »Nein. In einer möblierten Mietwohnung. Aber ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, ob ich das will. Hierbleiben. Es ist noch zu früh, um darüber nachzudenken.« Sie faßte sich an den Hals, wobei sie mit gespreiztem Zeigefinger und Daumen über ihr Schlüsselbein strich; bald in sanfte, kreisende Bewegungen verfiel; endlich die dünne, helle, fast durchsichtige Haut, die sich über den Knochen spannte, betastete, erkundete, rieb. Es sah aus, als schlösse sie sich mit sich kurz, mit ihren Erinnerungen, Zukunftsplänen, dunklen Erwartungen. »Und Sie? Was machen Sie beruflich? Kunsthändler – wie Ihr Vater?« Viggen schüttelte den Kopf. »Nein. Ich handle mit Filmen. Ich kaufe Rechte und verkaufe sie wieder.« Er hüllte sein Gesicht in Rauch. »Aber«, schränkte er ein, »fürs Fernsehen, nicht fürs Kino. Ein schwieriger Markt, auf den große Veränderungen zukommen. In ein paar Jahren, denke ich, wird es meinen Job
nicht mehr geben. Alles wird übers Internet abgewickelt werden, ohne Zwischenhändler. Ohne Programmdirektoren. Wer sich auskennt, lädt sich schon jetzt auf die Festplatte, was er sehen will. Illegal.« Er richtete den Blick auf die Buntglasscheibe hinter Dora. »Mal sehen, was ich dann einmal machen werde.« Ein Reflex fing sich für einen kurzen Moment im Glas der Wasserflasche, als sich in Viggens Rücken die Tür öffnete und neue Gäste die Bar betraten. »Es gibt Programme, mit denen sich auch umgekehrt selbstproduzierte Filme übers Netz verteilen lassen – in die ganze Welt. Nach Asien, China – wohin Sie wollen. Fernsehen, so wie Sie und ich es kennen, wird es also in naher oder ferner Zukunft sicher nicht mehr geben. Auch die Gebühren nicht, die erhoben werden – statt ihrer wird womöglich eine Art Kultur-Flatrate kommen. Oder eine Erhöhung der Preise für Festplattenrekorder.« Er entfernte einen Tabakkrümel von der Lippe. »Aber, wer weiß, vielleicht wird alles auch ganz anders. In den vergangenen beiden Jahren ist für mich Indien wichtig geworden. Was Bollywood produziert, wird bei uns verstärkt nachgefragt. Auch aus Kostengründen. Filmische Märchen mit viel Liebesleid, Smaragden, Elfenbein und gezähmten Elefanten. Das wollen genug Leute sehen.« Dora schenkte in sein Glas Wasser nach. »Ich verkaufe viel in die baltischen Staaten, nach Polen, Ungarn, Tschechien, auch nach Rußland. Und natürlich an die Sender hierzulande.« Mit dem Oberkörper ging er nach vorne und legte die Arme parallel zu sich auf den Tisch. »Kurz vor meinem Urlaub bin ich in Kairo gewesen. Nile TV habe ich eine in Tschechien produzierte Mystery-Serie verkauft. Vampire, Zombies, Knoblauch und nebelverhangene
Wälder. Für Ägypter, nehme ich an, ziemlich exotisch. Die sind begeistert.« Er lächelte in sich hinein. Der Kellner kam und stellte zwei neue Gläser mit Whisky auf den Tisch. Viggen dachte nach. »Und der Roman, den Sie übersetzt haben?« »Ein Krimi.« Für einen Moment senkte sich Schweigen über den Tisch, machte den Stimmen um sie herum Platz, den hektischen Zurufen der Kellner, dem Gläserklirren und dem Geräusch beim Entkorken der Flaschen. Er veränderte die Stellung seines Stuhls, streckte großspurig die Beine aus, legte den Arm auf den Tisch; fuhr mit dem Finger am Rand des Aschenbechers entlang. Für die Dauer eines Einfalls, einer vagen Erinnerung, eines Zugs an der Zigarette, verwandelte er sich wieder in den etwas flegelhaften, respektlosen jungen Mann, der er einmal gewesen war: der nichts anerkannte als die eigenen Ideen und Wünsche. Dann, wie aus weiter Ferne, fiel ihm wieder Dora ein, und er drehte den Kopf, als fände er so zurück in die Gegenwart – in die Gleichförmigkeit seines Lebens, das zur Hälfte verbraucht war, der Illusionen beraubt, und das sich inzwischen damit zufriedengab, Vorsorge zu treffen und die wachsenden Lücken im Gedächtnis zu füllen. »Sie denken an Ihren Vater?« Mitleidig sah ihn Dora an. Er hob das Gesicht, suchte ihre Augen, suchte aus der Vergangenheit und aus den Hoffnungen, die ihm verblieben und die in der letzten halben oder dreiviertel Stunde dazugekommen waren, eine Einsicht zu formen, einen Entschluß, der von nun das Zentrum seines Daseins bilden sollte. Und Dora, als habe sie genau dies erwartet, empfing seinen Blick mit Verständnis und Wärme, hielt ihm stand, indem sie
es sich erst nach Ablauf einer halben Ewigkeit erlaubte, den Anflug eines zärtlichen Lächelns auf ihre Lippen zu legen. Später, als der Kellner den vierten Whisky und den zweiten halben Liter Mineralwasser brachte, nach einer Reihe von Erleuchtungen, festgestellten Gemeinsamkeiten, weitreichenden Erkenntnissen; nach mehrmaliger Gelegenheit, Dora dabei zu ertappen, wie sie ihrem Spleen frönte und den Tisch mit Kondenswasser salbte; nach wohligem Erschaudern über die Nähe, die er zu ihr empfand; nach schüchternen Blicken, weiteren Zigaretten und ausgetauschten Lebensdaten, bemerkte Viggen, daß ein Augenlid anfing, nachzuziehen – untrügliches Signal dafür, daß ihn die Kräfte verließen; daß er müde war und ins Bett gehörte. Früher wäre bei einer solchen Begegnung an Schlaf nicht zu denken gewesen, hätte man – ohne mit der Wimper zu zucken – bis in den Morgen weitergemacht, getrunken, geredet, gequalmt, einfach so, aus Lust, Übermut, Neugier – doch jetzt, mit zunehmendem Alter, verkraftete man das Leben nur noch portionsweise, in kleinen Häppchen, ein Vorgeschmack, wie Viggen beim Verlassen der Bar dachte, auf das Krankenhaus, auf die Schwestern in weißem Kittel, die sich einem zubeugten und Löffel für Löffel fütterten. »Soll ich Sie nach Hause bringen?« »Danke, nicht nötig. Ich nehme ein Taxi.« Ohne seine Hand zu nehmen, entfernte sie sich, drehte sich wenige Meter später um, winkte ihm zu, drehte sich wieder weg und ging zielstrebig auf den Kopf der Wagenschlange zu, die vor dem Bayerischen Hof auf Fahrgäste wartete. Später, als er trotz seines vergifteten Gehirns den Opel Richtung Bogenhausen steuerte, mögliche Alkoholkontrollen fürchtend, ging Viggen in Gedanken den Abend noch einmal durch. Er fühlte sich beglückt, berauscht, erhoben. Sein Blut war in Aufruhr. Wie lange lag es zurück, daß ihm das zuletzt
passiert war! Ewig war das her! Er empfand eine namenlose Dankbarkeit – skurriler Rest seiner katholischen Erziehung, der da unvermutet an die Oberfläche kam. Das Schiebedach war geöffnet, und die noch immer warme Luft, die hereinwehte, machte ihm Lust, jetzt, kurz nach Mitternacht, unter diesem Vollmond, ein Stück die Isar entlang zu joggen. Das würde auch helfen, die gestreckten Os zu beseitigen, die noch immer an der Knopfleiste seiner in der Taille enger geschnittenen Hemden auf Höhe des Nabels entstanden. Er schnalzte abfällig mit der Zunge, aber an der nächsten Ampel schon hatte sich der Gedanke wieder verflüchtigt. Plötzlich kommt ihm etwas anderes in den Sinn. Ein Gedanke, der ihn schon bei der Trauerfeier irritiert und sich in ihm festgebissen hatte. Wie, wenn Dora die Geliebte seines Vaters gewesen war? Er schluckte. Nein, Unsinn, er kannte seinen Vater. Tatsächlich? Kannte er ihn? Was weiß er vom Leben seines Vaters? Nichts oder fast nichts. An den Ampeln, die Viggen zum Anhalten zwangen; beim Verlassen des Tunnels, als das Haus der Kunst mit seinem erleuchteten Säulengang vor ihm auftauchte; an der verlassen daliegenden Prinzregentenbrücke, vor deren Erreichen er in die Widenmayerstraße abbog, da und auf den gepflegten Straßen dazwischen arbeitete der Gedanke in ihm weiter. Das wäre ja eine nette Entdeckung! Er mußte auflachen. Sollte sein Vater wirklich eine Affäre gehabt haben – mit Dora? Er wog den Gedanken hin und her, schmeckte ihn förmlich ab. Schließlich, kurz vor der Auffahrt zur Tivolibrücke, kam er zu dem Schluß, daß das so unmöglich nicht war. Daß es sogar eine gewisse Plausibilität dafür gab. Warum war Dora extra zur Trauerfeier gekommen?
Doch nicht wegen der Mitbringsel, die sie von seinem Vater irgendwann einmal erhalten hatte! Nein, da mußte etwas anderes dahinterstecken. Er beschloß, seiner Mutter gegenüber die Begegnung mit Dora zu verschweigen. Was gab es auch zu erzählen? Er war anscheinend verliebt; und wenn schon.
9 GUTE NACHT, MEIN ENGEL
WENN MAN ANNIMMT, daß es eine Seele gibt – und ferner, daß Persönlichkeit und Ichgefühl damit nichts zu tun haben, sondern ein nur peripheres Geschehen darstellen, eine Brechung des Lichts, Emanation der Drüsen, eine aus erinnerten, ersonnenen und erwünschten Vergangenheiten bestehende Zeichnung, die der Tarnung dient, der Anpassung, dem herrischen Ziel, bei der Suche nach Beute so animalisch und skrupellos wie möglich vorgehen zu können – was könnte das dann sein: die Seele? Viggen, in Hose, Hemd und Socken auf dem Sofa ausgebreitet, das dicke Kissen im Rücken, eine unangezündete Zigarette in der Hand, fühlte, daß der Augenblick gekommen war, der für sein Leben eine bedeutsame Veränderung bereit hielt. Welcher Art, wußte er nicht zu bestimmen; daß es aber zu einer Wende kommen würde (falls sie nicht bereits im Gange war), stand für ihn fest. Er spürte es in den Pausen zwischen den Herzschlägen. Dora. Sie war, was ihn immer noch überraschte, seinesgleichen – auch wenn er im Moment nicht angeben konnte, was er damit eigentlich meinte. In seinem inneren Jubel ging er sogar soweit, sich zu wundern, daß sie und er es solange ohne einander ausgehalten hatten – solange getrennt und in völliger Unkenntnis darüber, daß es den anderen gab. Den Kopf nach hinten gelegt, in das cognacfarbene Licht, das der zur Neige gehende Tag durch das Rechteck des Fensters schickte, rief er sich zum wiederholten Mal den vergangenen Abend zurück, die Tabacco Bar, die Holztäfelung, die
gedämpfte Beleuchtung, Dora: die Art, wie sie sich die Haare aus dem Gesicht blies, wie sie rauchte, den Schliff des Whiskyglases mit dem Finger bestrich; den Klang der Stimme; jede noch so kleine Bemerkung, die sie geäußert hatte; er gewahrte wieder ihre Fähigkeit zur Beherrschung, ihren manchmal an der Zungenspitze aufblitzenden Trotz. Er suchte nach Zeichen, versteckten Hinweisen, nach lautlos gegebenen Versprechen und heimlichen Verbindungen. Wieder und wieder rekapitulierte er die Begegnung, Szene für Szene, Wort für Wort, in der uneingestandenen Hoffnung, Allegorien zu entdecken, Symbole, Prophezeiungen, ein winziges Detail, das ihm gestern entgangen war und das ihn jetzt der Geschwisterlichkeit zwischen ihnen versicherte, inniger Solidarität – und: des nur vage und ungenau begriffenen Schicksals, in dem offenbar beschlossen lag, daß sie einander versprochen waren. Gleich darauf, ernüchtert, fuhr er mit brüsker Hand vor seine Augen, als ob er die Gedanken verscheuchen wollte, die in ihm flackerten und von denen er sich unangenehm ausgeleuchtet fühlte – sie und die Zweifel, die die Kehrseite der Gedankenspiele waren und sich ihm eindringlich zeigten – als Gespenst, dessen Umrisse mit den seinen übereinstimmten und das sich in Halluzinationen wog, das die Aufregungen einer längst verwesten Pubertät zurückzugewinnen hoffte! Wer sagte ihm eigentlich, daß Dora ähnlich wie er empfand? Um sich darüber Klarheit zu verschaffen, um – auf ein Stichwort hin, das von wer-weiß-woher erteilt wurde, von der Lampe, von dem Staubsaugergeräusch, das seine Putzfrau in einem der hinteren Zimmer erzeugte – Berichtigungen vorzunehmen, suchte er Kontakt zu seiner Umgebung und warf einen Blick in den Raum – auf die wenigen Möbel, den safrangelben Kelim, die hellblaue Digitalanzeige des Fernsehers, die ihm verriet, daß es neunzehn Uhr zwanzig war.
Unschlüssig, blind, mit zerstreuter Hand, angelte er sich die Fernbedienung und betätigte, nach langem Zögern und vorgeschobenem Nachdenken, den Einschaltknopf. Noch bevor der Bildschirm aufflammte, mit einem irritierenden Schnappgeräusch; noch bevor der typische, grelle Blitz sich wie eine Flutwelle bis an die Ränder ausbreitete; noch ehe in der Mitte ein schwarzer Fleck erschien, ein Loch, ein Schlund, der den Eindruck erweckte, die Bilder und Töne würden aus weiter Ferne angesaugt, aus dem Andromedanebel oder einer schrulligen, ersten oder zweiten Dimension – noch vor all dem meldete sich sein melancholisches Temperament, stülpte sich über ihn. Für Sekunden sah er jetzt in das Gesicht seines Vaters, in das hilflose, untröstliche Gesicht eines Sterbenden, sah die tränenerfüllten Augen, die sich des unaufschiebbaren Endes bewußt waren, von ihm entsetzt, und: entsetzlich überrascht. Verschwommen nahm er die Bilder wahr, die der Apparat ihm zeigte, in schnellem Wechsel, von Unverständnis verschleiert; wischte mit einem Taschentuch, das er aus der Hose gezogen hatte, den feuchten, salzigen Glanz aus den Augen. Was drang da alles auf ihn ein: Sterben und Tod; die Begegnung mit Dora; das merkwürdige Zusammenspiel beider Ereignisse. Und dazwischen – auch wenn es kein wirkliches Dazwischen gab – stand er, verwirrt, planlos, mit sich selbst konfrontiert, mit Wünschen, Hoffnungen, Ängsten, von denen er vergessen hatte, daß sie zäh und langlebig in ihm wohnten. Er füllte seine Lungen mit Luft, atmete aus. Boguscha, seine Putzhilfe, stand in der Tür, verabschiedete sich. »Bis nächste Woche.« Daß er ihr noch den Lohn schuldig war, sagte sie nicht.
Er schwang die Beine auf den Boden, erhob sich, holte mit der freien Hand (in der anderen noch immer die unangezündete Zigarette) aus der Hosentasche die vorbereiteten Scheine, gab sie ihr. »Danke. Bis nächste Woche.« Sein Blick folgte Boguscha bis ans Ende des Flurs, bis zu dem Moment, wo die Haustür ins Schloß fiel. Dann erst wandte er sich ab, durchquerte den Raum, setzte sich zurück aufs Sofa. Im Fernseher: Zwei magere Frauen auf einer übergroßen, nachtblauen Couch vor einer dreigeteilten Stellwand in optimistischen Farben; daneben, abgesondert in einem Sessel, die Moderatorin – frisiert, abgetupft, in einem geliehenen Kleidchen, im Gesicht das eingefrorene Lächeln einer Hotline. Er fokussierte das Gesicht einer der beiden Frauen, die auf die Couch plaziert waren – die ruhelosen Augen, den gespitzten, rosigen Mund –, verfolgte, wie auf irgendeine Frage irgendeine Antwort gegeben wurde, wie die Frau beifallheischend zur Kamera schielte; wie ihre geduckten Blicke mit dem Publikum zu kokettieren suchten, wie sie die Indiskretionen der Moderatorin ertrug. Wer öffentlich beichtete, dachte Viggen, suchte keine Lossprechung, sondern Zustimmung. Ein tausend Mal begriffenes Ritual, das es ermöglichte, daß in einem versteckten Winkel von Viggens Gehirn das absurde Verlangen keimte, aus dem Vorabendprogramm Nutzen zu ziehen – unhörbare Diagnosen anzustellen über die Fortschritte der Menschheit; über den Fortgang im wechselseitigen Dumbing down der Sender; über die Zukunft der eigenen Geschäfte und die seiner Verhandlungen mit russischen Prahlhälsen oder undurchsichtig lächelnden Koreanern (die an grölenden Karaoke-Soaps interessiert waren und an sonst nichts – was zu liefern er nicht imstande war).
Angewidert von sich, von den Überlegungen, von der Tatsache, daß sie sein Gehirn wie auf Kommando ausgespuckt hatte; angewidert von der Routine, die darin zum Vorschein kam, wandte er sich wieder Dora zu, ihrer von seiner Vorstellung entworfenen Gestalt, gütig, treu, beflissen. In Gedanken umkreiste er ihre Person, ihre Gesten und Handlungen, bestaunte ihre und seine Einhelligkeit in der Manie, Tischplatten Feuchtigkeit zu spenden; das und das Bild, auf dem er noch einmal sah, wie sie sich an den Hals langte, wenn sie erregt war; umkreiste das echte oder eingebildete Gefühl, daß er und sie Erinnerungen teilten, die angenehm waren – angenehm und grundlos, weil es nichts gab, worauf sich diese Erinnerungen hätten beziehen können, weder in seinem, und vermutlich auch nicht in ihrem Leben (Erinnerungen, die also aus nicht viel mehr bestanden als ihrer bloßen Möglichkeit). All das verband sich zu einem gierigen, alles verschlingenden Gefühl, verdichtete sich zu einem Strudel, der ihn mit sich fortriß, fortzog zu längst versunkenen oder versunken geglaubten Teilen seiner Existenz. Mit Gewalt riß sich Viggen von den Erinnerungen an den gestrigen Abend los. Er rückte sich im Sofa gerade, diesmal aufrichtig bemüht, an die Gegenwart Anschluß zu finden. Es gelang ihm nur schlecht. Er blieb abwesend, ohne jedes Interesse für das, was ihm das Gerät vorsetzte, hüpfte durch die Programme (wie er sich sonst durch die bunte Welt des Internet klickte), mechanisch, von dem Umstand genötigt, daß es keine andere Haltung dazu gab – hüpfte durch vorbeiziehende Werbefähnchen, Applaus, Fanfaren, Werbung für Klingeltöne, Verkäufergeschrei – und löschte schließlich mit einem entschlossenen Knopfdruck die Farben, Konturen und Töne, die den Raum zwischen ihm und dem Fernseher füllten und die dort – ebenso ungreifbar wie aufdringlich – zappelten und quietschten.
Ruhe. Er zwang sich, auf das Gezwitscher der Meisen zu hören, das vom Hinterhof durch die offene Balkontür drang, zusammen mit dem Duft von Salbei und Lavendel – und hielt unvermittelt inne, weil in seinem Rücken, von der Straße her, das laute Geknatter von Rotorblättern erscholl. Fast reflexhaft ging er in die Höhe, trat hinter die Couch, in den schmalen Spalt zwischen Sofarückenteil und Fensterbrett, und spähte durch den spärlichen Bewuchs der Topfpflanzen nach draußen. Was er sah: Polizeihubschrauber, die drohend über der Isar schwebten. Auf der Tivolibrücke: stehender Verkehr, die Zufahrten zum Ifflandring und in die andere Richtung zur Widenmayerstraße von querstehenden Polizeifahrzeugen versperrt. Überall auf der Fahrbahn Menschen, die unschlüssig neben ihren Autos standen und auf irgend etwas zu warten schienen; Beamte in leuchtfarbenen Jacken, die Passanten am Fußgängerübergang zurückhielten oder die Personalien kontrollierten. Eine Weile stand er da und betrachtete die Szenerie, die sich unter ihm ausbreitete. Er hob den Blick und sah vom Ende des Ifflandrings eine Kolonne Fahrzeuge heranbrausen – mehrere Limousinen mit abgedunkelten Fenstern, gefolgt von einem Krankenwagen und Polizei auf Motorrädern. Jetzt glaubte er sich zu entsinnen: Für heute war der Besuch des israelischen Staatspräsidenten angekündigt. Er steckte die Zigarette, die er immer noch unangezündet in der Hand hielt, zwischen die Lippen, suchte mit den Augen nach der Fernbedienung und widmete sich ein unwahrscheinliches zweites Mal an diesem Tag dem Fernsehapparat.
Auf der Kante des Sofas sitzend, rief er den Teletext auf und steuerte zu den Regionalnachrichten – eine aufwendige Prozedur, durch Seiten mit 23 Zeilen und 39 Anschlägen zu navigieren, bei der er sich fragte, warum er nicht an seinen Rechner ging, wo er das Gewünschte schneller und komfortabler herausfiltern konnte. Während er mühsam durch die Tafeln blätterte, einen Moment darüber nachsann, in die Zeitung zu schauen, die auf dem Küchentisch lag (wenn Boguscha sie nicht weggeräumt hatte), blieb er bei einer Meldung hängen, die ob ihrer Krudität seine Aufmerksamkeit weckte. Der Moderator Frank Elstner war von einem bayerischen Lehrer wegen vorsätzlicher sexueller Nötigung in mehreren Fällen angeklagt worden. In einem Einspieler für die Show Verstehen Sie Spaß? waren nichtsahnende Passantinnen über ein Gitter geschickt worden, in dessen Luftstrom jedesmal Marilyn Monroe hätte auferstehen sollen. Nun gut, dachte sich Viggen, kein besonders geschmackvoller Einfall, eher einer, der aus dem Dunstkreis eines polternden Stammtischs herüberwehte, aber… … aber da war es wieder – dieses anmaßende, prahlerische, despotische Ich! Lehrer galten ihm als bevorzugte Nistplätze – Lehrer und Rechtsanwälte. Despotisch und hündisch, verbesserte er sich – ein Ich, das unterdrücken mußte, wenn es nicht selbst unterdrückt wurde; das mit unglaublicher Energie daran arbeitete, Unterdrückung wieder gesellschaftsfähig zu machen – einfach, indem es die historische Unterdrückung durch wenige in eine demokratische, in eine Unterdrückung durch alle verwandelte! Es saß überall, man mußte nur die Zeitung aufschlagen – in Anwälten, die einen Hunderte Kilometer entfernten Manager verklagten, weil dieser angeblich eine zu hohe Abfindung kassiert hatte; in militanten Nichtrauchern, die aus ihren
umzäunten Denkblasen heraus – feige in der Anonymität hinter Rechnern sitzend – eine Journalistin für den möglichen Tod Tausender verantwortlich machten, weil es in der von ihr moderierten Talkshow hartnäckig gestattet blieb, zu rauchen; es war seßhaft überall dort, wo gegen zu laute Musik geklagt wurde, gegen Biergärten, Nachbarn, Hunde, Bäume. Viggen schob sein Gesäß in die Mitte des Sofas. Er drehte den Oberkörper, hob die Beine auf die Armlehnen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Gegen die Decke und den Stuck starrend, bewegte er die Lippen und ließ die Zigarette von einem Mundwinkel zum anderen rollen. Auf der langen und einsamen Reise durch das All, die zu machen man gezwungen war – in einer Kapsel namens Ich –, begegnete man manchmal einer Person, zu deren Gefühls- und Gedankenwelt die eigene in einem bestimmten, überraschenden Winkel stand. Man war hingerissen, weil sich unter dieser Konstellation Perspektiven auftaten, die man zuvor nie wahrgenommen hatte. Es war, als wäre ein Vorhang gehoben; als sei eine geheime Tür geöffnet, in der sich das Leben plötzlich in neuem Reichtum zeigte, in einer nie gesehenen Plastizität – in dem einzigen und wahren Apostolat der Liebe, das darin bestand, Vergangenheit und Zukunft in die Gegenwart zu holen. Bei einem solchen Zusammentreffen – dem zweier Lippenpaare, dem sich suchender Hände, Rümpfe, Schenkel – stiegen Bilder, Gerüche, Stimmungen hoch und füllten die Leere der Gegenwart. Dann roch es nach dem Leder einer Schreibtischunterlage (genau nach der, die dunkelgrün auf dem Sekretär von Viggens Großmutter gelegen hatte), nach frisch gemähtem Gras oder Heu (so wie das Heu in der Scheune jenes Gehöfts, auf dem Viggens Vater aufgewachsen war und das er als Kind bei Besuchen kennengelernt hatte), oder es roch nach dem intensiven Geruch, den geschnittene Lilien
verströmten, wenn es schon ein paar Tage her war, daß die Knospen aufgesprungen waren. Für einen Moment fand man das Paradies der Kindheit in der Gegenwart vor. Er senkte den Blick auf seine Brust. Das Licht, das vom Fenster her auf das Sofa fiel, hatte die Farbe gewechselt. Es war bläulich geworden. Undeutlich sah er Dora vor sich und wollte gerade wieder den zahllosen Fragen nachgehen, die ihm das Zusammentreffen mit ihr stellte, als sich seine Armbanduhr mit einem schwachen, wiederholten Summen meldete. 20 Uhr. Er mußte los. Mit einem Seufzer dehnte Viggen den Körper. Er war jetzt überzeugt davon, daß sein Schicksal eine Wendung genommen hatte – und der Gesichtsausdruck, den er auf dem Weg ins Bad aufsetzte, machte deutlich, daß er es nicht verhehlte, sich in dem zwar unbestimmten, aber wohligen Gefühl auszubreiten, welches ihm einredete, daß er seit gestern Abend ein gutes Stück auf dem Weg zu dessen Erfüllung vorangekommen war.
Für 21 Uhr war er zu einem Essen bei einem befreundeten Regisseur und Drehbuchautor eingeladen; standesgemäß in einem Loft im Münchner Westend. An seiner Seite: Jeanette, eine attraktive Aufnahmeleiterin mit langen roten Locken, fleischiger Nase und breitem badischen Slang, der einem schnell in den Ohren klingelte. Viggen hatte sie vor kurzem bei einem anderen Essen kennengelernt, wo sie seine Tischnachbarin gewesen war: aufgedreht und von vorhersehbarer Verrücktheit, aber irgendwie nett. Jetzt war er froh, sie dabei zu haben. War froh, der Rolle des Verliebten etwas von ihrer Passivität nehmen zu können; irgendwo eingeladen zu sein, statt zu Hause zu sitzen und vergeblich auf einen Anruf Doras zu warten.
Mit dem Taxi hatte er Jeanette von zu Hause abgeholt, und als der Wagen in den Hof des Fabrikgeländes rollte, vor den Bau aus roten Klinkern, wurden sie von zwei silberfarbenen Porsches empfangen, die an den Bordstein geduckt einander Nase an Nase gegenüberstanden. Seite an Seite durchmaßen sie ein riesiges Lager voller eingeschweißter und gestapelter, grüner, roter und blauer Matratzen, in dessen hellem Neonlicht Viggen die Aufmachung seiner Begleitung das erste Mal richtig würdigen konnte. Jeanette trug Camouflage: eine graugrüne, am Bein ausgestellte Hose aus dünnem Nylon, eine giftgrüne Bluse und darüber eine schwarze, bestickte Jacke mit Fellrand, wie sie angeblich in Lappland getragen wird. Ihre Füße waren in olivfarbenes, spitz zulaufendes Leder gezwängt und balancierten auf bleistiftdünnen Absätzen. Er zog die Eisentür des Lastenaufzugs ins Schloß, und ruckelnd und vom warmen Brummen des Elektromotors begleitet fuhren sie in den ersten Stock. Zwölf Personen waren an dem langen Tisch versammelt, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen war, dem emanzipatorischen Geist der Epoche entsprechend, unausgewogen. Diesmal, stellte Viggen im Stillen fest, waren es Caro (eine Bekannte aus weit zurückliegenden Tagen) und eine dünne Blonde mit dünnem, strähnigem Haar, denen die undankbare Rolle der Überzähligen zufiel. Früher hatten Caro oder die Blonde sicher gern bei Parties die Überzähligen gespielt, waren damit aufgetrumpft, zu den Freien und Ungebundenen zu gehören, zu den einzelgängerischen Diven und launischen Göttinnen, die es genossen, ebenso überraschend aufzutauchen wie plötzlich wieder zu verschwinden. Gott, bloß nicht mit einem Typen auf eine Party gehen… Doch heute, wo man begriffen hat, daß der Biologie in
einem so ungeheuerlichen Ausmaß Tribut gezollt werden muß… Beide – Caro und die dünne Blonde, die auf den Namen Claudia hörte – waren Mitte dreißig, alleinerziehend und notorisch auf Männersuche, auch wenn sie dazu kaum Gelegenheit hatten. Glücklicherweise hatten sie ihre Balge diesmal zu Hause lassen können, wo sie von der Mutter der Mutter (Caro) oder der Freundin der Mutter (Claudia), die ebenfalls alleinerziehend war, gehütet wurden. Beide hatten ihr Handy direkt vor sich auf den Tisch gelegt, und beide hatten eine nervtötende Melodie als Klingelton gewählt. Gelegentliche Anfragen, ob mit den Kleinen zu Hause alles in Ordnung war, wechselten sich ab mit gelegentlichen Anrufen, daß mit den Kleinen zu Hause alles in Ordnung war. Caro trug übrigens das gleiche floral gemusterte Kleid von H+M, wie auch die Blonde eins trug, absichtslos, wie Viggen sich sicher war, und beide sahen, wenn er es sich recht überlegte, überhaupt ein bißchen so aus wie Frauen in den vorjährigen H+M-Reklamen. Er saß am unteren Ende, rechts seine Begleitung Jeanette, links von ihm ein properer Mischling namens Samira, Ergebnis der Stationierung amerikanischer Truppen in Karlsruhe. Als Gegenüber war ihm ein schwuler Galerist (der sich mit dem französischen Namen Antoine rufen ließ) mit heller Haut und Sommersprossen zugeteilt, der unentwegt von den beiden Kindern schwärmte, die er in seinen früheren, noch unentschiedenen Jahren gezeugt hatte (und die, von einer eifersüchtigen Mutter bewacht, inzwischen in Essen lebten). Er wirkte wie ein Beau aus der Provinz, kanariengelbes, bis auf die Mitte der Brust aufgeknöpftes Hemd, um den Hals eine modisch grobgearbeitete Kette aus goldeloxiertem Metall, die vierzig deutlich hinter sich. Der Rest: Ein Autohändler, der teure Oldtimer im Internet verkaufte und durch die ganze
Bundesrepublik zu den Kunden kutschierte (mit Frau, bronzefarbenes, glattes, halblanges Haar, einfaches rosa TShirt, mit Pailletten bestickt, blaugraue Jeans), ein dürrer, blaßhäutiger Jurist im Anzug mit verwuscheltem Haar (mit Frau, pummelig, Pagenschnitt), ein Kinderarzt, der leise und bedeutsam von levitiertem Wasser und nicht raffiniertem Salz schwärmte und dessen Frau zwei Fehlgeburten hinter sich hatte (schwarzes, kinnlanges Haar, heller Hosenanzug, ein Kind – ein vierjähriges Mädchen), und der vom Bodensee stammende Gastgeber, der mit Frau und Tochter eigentlich in Los Angeles lebte (wo diese geblieben waren), aber in Deutschland in regelmäßigen Abständen Tatort-Krimis drehte. Wahrscheinlich zeichnet sich unser westliches Jahrhundert durch die Komplexität seiner Beziehungsgeflechte aus. Zwei große Strömungen lassen sich dabei unterscheiden: die eine sucht nach christlich-abendländischem Muster die Wahrheit des Menschen in der Sexualität, die andere, gegenläufige, in der Aufzucht der Brut. Daneben: kaum weitere Lebensmodelle. Was Viggen kannte: Frauen, die von Männern geschwängert worden waren, die sich kurz darauf als schwul herausgestellt hatten; Frauen, die nach Peru gefahren waren, um sich dort von Bauernjungen ihren Kinderwunsch erfüllen zu lassen (und damit der lästigen Allgegenwart eines Mannes und Vaters enthoben zu sein). Er kannte Frauen, die wie diebische Elstern die Kinder schwuler Männer hüteten, während diese im Mai nach Griechenland fuhren, um sich an einschlägigen Nacktbadestränden zu amüsieren. Über Caro, so entsann er sich, hatte er von einer Frau Kenntnis, die neun Kinder von neun verschiedenen Männern ausgetragen hatte; sie besaß wieder einen jungen Freund und war, natürlich, wieder schwanger. Dazu addierten sich all die Frauen, die es versäumt hatten, sich zu entscheiden, und die allein lebten und darüber
alt geworden waren, und die von Feng Shui schwärmten und davon, wie sie früher auf ihrem Schwabinger Balkon Lieder von Melanie gesungen und sich mit der akustischen Gitarre begleitet hatten. Besonders gern beklagten diese Frauen sich über unerkannte Wasseradern unter ihrem Bett, die ihnen Schlaf und Gesundheit raubten. Ferner gab es die bösartigen Frauen, deren Ehe nur noch auf dem Papier bestand, die sich von ihrem Mann und von den Kindern, die längst ein eigenes Leben führten, betrogen fühlten und die einem im Supermarkt den Wagen in die Fersen rammen (er dachte an seine Ex Maja und daran, daß sie auf ihrem Starnberger Balkon vielleicht gerade Frühjahrsblumen in die Töpfe setzte). Auch fiel ihm eine Frau Anfang fünfzig mit gefärbtem, blondgelocktem Haarschopf ein, mit der er vor Jahren ein ihm unvergeßliches, erbittertes Gespräch über feminine und maskuline Energie geführt hatte, über schlechte (seine) und gute (ihre) Energie. Ihr Freund, geschieden, drei Kinder, war fromm und demütig mit am Tisch gesessen, Abteilungsleiter bei Siemens, und schließlich – im Windschatten von still, aber zügig getrunkenen fünf Weißbieren – in die innere Emigration gepilgert. Entspannt lehnte er sich zurück und zündete eine Zigarette an. Partygeplauder, das an- und abschwoll und sich unter der Decke des großen, hohen Raums mit den großen, hohen Fabrikfenstern verlor. Wellen gesellschaftlichen Dünkels, die in der Luft über dem langgestreckten Tisch von Zeit zu Zeit kleine und größere Wirbel und gefährliche Strudel erzeugten. Mode, Architektur, Weine, Lebensstil: Die Themen hätten sich in einem Magazin wie House & Garden gut gemacht. Besonders dünkelhaft, gestand er sich mit einem unsichtbaren Lächeln ein, war an diesem Abend er selbst: Er trug ein cognacfarbenes Cordjackett, in dessen Brusttasche er vier billige Kugelschreiber säuberlich nebeneinander aufgereiht
hatte. Das gab ihm, wie er dachte, das Aussehen eines vielbeschäftigten Filmhändlers. Er war übermütig – und aus Übermut aggressiv und scharf darauf, sich von Anfang an von allen anderen zu distanzieren. Insgeheim lauerte er nur auf eine Gelegenheit, um mit philisterhaften Ansichten irgendein laufendes Gespräch zu sprengen und ätzend zu sein. Am liebsten hätte er Pfeife geraucht und die Gesellschaft in dichte Tabakwolken gehüllt. Was ihm Kraft verlieh, war Dora. Wie einen Trumpf führte er sie im Hinterkopf mit sich herum. Was gereicht wurde: Als erstes, zum warming up, kreisrunde Pumpernickel, die dick mit Schmalz bestrichen waren – von roten Pfefferkörnern gesprenkelt. Präsentiert auf kleinen, in Indonesien hergestellten Tabletts, die wie unabsichtlich im Raum verteilt waren. Die Gläser füllte man mit Prosecco, der an mehreren Stellen in Gruppen von Flaschen bereitstand. Harmloses, ödes Geplauder verschleierte die Luft. Jeanette hatte Viggen irgendwo stehengelassen. Er steuerte nervös und ziellos durch den Raum und betrachtete die Kunst, mit dem der Regisseur für diesen Abend noch schnell die Wände behängt hatte. Sie entstammten einer bekannten Leihgalerie am Jakobsplatz, wie ihm ein unverschämter Blick auf die sachte angehobene Rückseite der Leinwand verriet. Dann wurde Heringssalat mit Pellkartoffeln über den Tisch gereicht, in großen Schalen aus altmodisch-kostbarem Murano-Glas, deren gespreizte Dreifüße in einem Meer dekorativer Blüten endeten, welche die Tafel überschwemmten. Das bunte Kunstglas war eine Reverenz an italienische Filme des Neorealismus (die Schalen ähnelten in der Form denen in La Notte – so geschwungen wie die Lippen von Jeanne Moreau). Dazu italienischer Wein, rot oder weiß. Zuletzt: Bananen, die, bevor kandiert, vor aller Augen am Tisch geschält wurden. Überraschenderweise übernahm diese Aufgabe Claudia, die an den Gesprächen bislang kaum
teilgenommen hatte. Sie genoß es, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und ihre kultiviertschmutzige Gestik und die sexuelle Aggressivität, die im Schälen lag, auszustellen. Er vermutete, daß Claudia schon ein bißchen betrunken war. Im Anschluß an den Nachtisch, beim notorischen Espresso, meldete sich plötzlich eins der Handys auf dem Tisch. Der Anruf galt Claudia. Sie wurde umgehend nach Hause gerufen; irgend etwas war mit der Kleinen. Bedauernde Blicke ringsum. Ihr Abgang hatte zur Folge, daß jetzt das Thema wechselte. Offenbar waren die Gäste von dem Verlangen erfaßt, ins Rollenfach zu wechseln und Rollenprosa zu sprechen. Die Frage, um die sich jetzt alles drehte, lautete: Warum Kinder? Viggen witterte seine Chance. Schnell setzte sich ein Karussell prononcierter Meinungen in Bewegung. Nachdem aber klar war, wer welche Ansicht und warum vertrat, wurden die Wortwechsel schnell heftig. Kinder, so die Frau des Kinderarztes mit den zwei Fehlgeburten, seien das natürlichste auf der Welt. Sie sagte das in einem leisen, säuselnden Ton, in dem Strenge und Pflichtgefühl lagen, so daß allen am Tisch klarwurde, daß sie es vorzog, im Einklang mit der Natur zu leben. Das Vokabular, das sie verwendete, offenbarte allerdings rasch die engen Grenzen, die ihm gesetzt waren. Ungeduldig schnitt Viggen ihr die letzten Worte ab. Er pries Kultur und Intelligenz und erklärte Natursauerteig für Designerkitsch. Die Haltung, auf die er schwor, lautete: Nichts zwischen sich und seine Liebe treten lassen! Er selbst lebe seit langem von seiner Frau getrennt. Losgegangen sei die Krise prompt nach der Geburt, in ihrem Fall die eines Sohnes – mit der Verwandlung der Frau zur Mutter; mit dem Bollwerk, das die symbiotische Mutter-Kind-Beziehung bilde. Man werde nicht als Mutter geboren, man werde zur Mutter gemacht!
Und um das Gesagte zu untermauern, gab er gleich noch seine Verachtung kund für diejenigen, die dem Leben einen Zweck aufbürdeten und in Männern nur den Grenzstein sahen, jenseits dessen ein gefälliges Leben begann. Dem Autohändler schwoll die Brust. Er klopfte sich die Taschen ab, um die verschiedenen Phasen seines Erstaunens und seiner Empörung zu kaschieren. Als Vater fühlte er sich bemüßigt, der Mutter ihm gegenüber zu Hilfe zu kommen. Mit gefälschter Aufrichtigkeit formte er eine Reihe von Wörtern, die – in der richtigen Reihenfolge gelesen – besagten, daß er in Kindern Nachkommen sähe, in denen man gern weiterlebte. Und fuhr sich, von seiner Geistesleistung erschöpft, mit Daumen und Zeigefinger über die Enden des schrecklichen Schnauzers, der ihm das Gesicht verunstaltete. In den Augenwinkeln bemerkte Viggen, daß sich Antoine im Stillen gerade fragte, ob er zu denen gehörte, die ihre Invertiertheit noch nicht entdeckt hatten. Der Autohändler legte sich triumphierend einen Zigarillo zwischen die Lippen. Viggen gab ihm Feuer, lächelte, um seinen Gegner zufriedenzustellen – und gab in einem Tonfall, der hohe Einfühlsamkeit verhieß, zu Bedenken, daß sich in seiner wie in der Haltung der meisten Eltern womöglich unerträglicher Narzißmus spiegele. Jeanette neben ihm gähnte ungeniert, was der Tisch als die einzig richtige Reaktion auf solche Dummheiten deutete. Caro, der die Rolle der sanften Gewalt auf den Leib geschneidert war, bekam demonstrativ große Augen, als sie anhob, von den großen runden Augen zu schwärmen, mit denen Kinder die Welt zu betrachten pflegten. Aus Peru hatte Caro tonnenweise Fotos von Kindern mit großen runden Augen mitgebracht.
»Aberglaube! Logik der Biologie.« Ein kurzes, präzises Lächeln huschte über Viggens Gesicht. »Kinder erleiden das traurige Schicksal, als Leibeigene geboren zu werden.« Ein Murren ging um die Tafel. Er sagte: »Wißt ihr, warum ihr zeugt? Um den Tod kleinzumachen – so klein wie eure Kinder.« Er zeigte dem Raum ein von Stolz erfülltes Gesicht. Sofort spürte er, daß er mit dieser Aussage den ganzen, agnostischen Haß des Tisches auf sich zog. Caro duckte sich unter seinem unbeugsamen Blick weg, und Samira, die breit, laut und unsicher auflachte, bewarf ihn linkisch mit einer Blüte. Viggen bedauerte, daß ihn Dora jetzt nicht sehen konnte: Im Hochgefühl der Überlegenheit! An diesem Abend war er schon ein rechter Affe, aber er scherte sich nicht darum. Es ging noch einige Zeit hin und her, und noch mehrfach brachte er wortreich zum Ausdruck, daß seine Gutmütigkeit strapaziert war. Die gesamte Palette bundesrepublikanischen Neo-Schwärmertums war aufgeboten. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Es ging ihm wie an Samstagen, wenn er im Anblick der Männer, die – von ihren Frauen zum Einkaufen getrieben – vor den kleinen Kapellen der Hofpfistereien andächtig bis auf die Straße Schlange standen, in den Supermarkt flüchtete, um mit zwei Stangen Golden Toast die Philister aus seinem Herzen zu jagen. Unwillkürlich mußte er an die beiden Porsches denken, die vor dem Gebäude mit geschlossenen Augen und an den Bordstein geduckt sich wie Eskimos die Nasen aneinander rieben – und forderte Jeanette auf, die kurz vorm Einnicken oder die schon eingenickt war, den Heimweg anzutreten. Glückliche Porsches! Jetzt wollten alle aufbrechen.
Höflich und mißtrauisch gaben die Gäste dem deutlich angetrunkenen Gastgeber die Hand, bedankten sich und – machten sich aus dem Staub. Jedes Paar für sich natürlich, wie Viggen feststellte, als er auf dem Weg durch die mit Matratzen gefüllte Halle hinter sich blickte. Im Taxi wurde Jeanette wieder munter. Befreit, bester Laune, begleitete sie Viggen noch auf ein charmantes Verdauungslästern in ihre Wohnung. Sie stand in der Küche und machte Espresso, er fläzte in einem mit rotem Stoff bezogenen Zweisitzer. Sie unterhielten sich über die paar Meter Entfernung hinweg. Amüsiert ließen sie das Essen noch einmal Revue passieren, als plötzlich im Türrahmen ein kleines Mädchen auftauchte, im Schlafanzug, sich müde die – im übrigen großen – Augen reibend. »Du hast ja ein Kind«, platzte es förmlich aus Viggen heraus. Jeanette, der die Entdeckung ein bißchen peinlich war, wollte nicken, mußte aber gähnen. Das ungeteilte Leben mit einem Kind war zweifellos anstrengend. Jeanette war alleinerziehend. Das hätte er sich eigentlich denken können. In ihrem Alter! Er schlürfte den schwarzen Rest aus der Tasse, erhob sich, um sich für den netten Abend zu bedanken. »Macht nichts«, winkte Viggen ab, »ich habe auch einen Sohn.« Jeanette gab Viggen, der schon im Flur war, ein Zeichen, das ihm mitteilen sollte, noch einen Moment zu warten. Sie ging in die Hocke, drückte ihrer Tochter einen Kuß auf die Wange und sagte: »Gute Nacht, mein Engel.« »Gute Nacht, mein Engel«, echote Viggen von hinten. An der Tür gab Jeanette dann ihm einen Kuß auf die Wange. In diesem Kuß lag ihre ganze Unberührbarkeit – die Unberührbarkeit einer Existenz, die sich für eine andere opferte.
Viggen stieg die Stufen im Treppenhaus hinab und freute sich auf den Schlaf. Er wußte, daß das im Moment der einzige Ort war, wo ihn Dora vielleicht besuchen kam.
10 TROUBADOUR
ALS SIE PLATZ NAHM, warf sie ihm einen skeptischen Blick zu, was Viggen damit parierte, daß er auf seine Uhr sah, als wollte er vom Zifferblatt den Ablauf der kommenden Minuten ablesen. Er lächelte Dora zu und schloß in sein Lächeln Zutrauen und stumme Ermunterung mit ein. Die Geladenen saßen sittsam im Halbkreis auf aus allen Zimmern der Dachgeschoßwohnung herbeigeschafften Stühlen. Brav und pflichtbewußt, die Hände im Schoß – so blickte man in die Mitte des Raumes, die von einer jungen Frau mit hochgebundenem Haar in einem bodenlangen, krokodilgrünen Etuikleid eingenommen wurde. Es war Anfang Juni und ein warmer Tag; hier oben schwül und stickig, weil die Sonne von einem fast wolkenfreien Himmel direkt auf das Dachfenster schien. In den Strahlen, die auf das Eichenparkett fielen, tanzte der Staub. Das schwule Künstlerpärchen zwei Stockwerke über Viggen veranstaltete ein, wie sie es nannten, Hauskonzert. Das gab es ein oder zwei Mal im Jahr. Beide waren fanatische Anhänger der Oper (und des ewigen Zeremoniells, wenn sich um neunzehn Uhr, eine halbe Stunde vor Aufführung, die Stufen zum Theater am Max-Joseph-Platz mit Menschen in Abendgarderobe füllten und nach dem Klingeln alles zu den Plätzen im Parkett wie in den Rängen strömte und langsam das Licht abgedunkelt wurde). Die Sängerin – ein kaum dreißigjähriges Talent irgendwo aus der bayerischen Provinz –, kerzengerade im Raum aufgepflanzt, den einen Fuß leicht vorgeschoben, hob und
senkte den Brustkorb, wobei die Hände kleine Bögen in der Luft beschrieben, um das Atmen zu unterstützen – und füllte den Raum mit charismatischen Koloraturen, lang andauernden Vibratos und dramatischen Trillern. Viggen hatte sie schon des öfteren die Tonleiter auf- und absteigen gehört, wenn er im Sommer auf dem Balkon saß und die Börsennotierungen studierte. Mittelschlank, mit kräftigen Armen, vom Wesen her noch verpuppt und nicht ganz Diva, nahm die Vokalistin bei Colin Stimmunterricht und träumte davon, in die internationale Opernszene aufzusteigen. Engagements in den Staaten und Japan und auf Mallorca hatte sie schon. Sie wurde von einem Pianisten begleitet, der im Hintergrund an seinem Instrument saß – aufrecht, mit durchgedrücktem Kreuz, den Blick fest auf das Notenblatt gerichtet – und die Hände theatralisch über die Tasten stolzieren ließ. Er trug eine dickglasige Brille mit schwarzem Gestell und einen mausgrauen Anzug, hatte fette Schweißperlen auf der Stirn und die Haare reichten ihm über die Ohren. Der Bursche war etwa so alt wie sie und, wie sich später zeigte, Belgier. Die beiden, die unter dem Namen Opera House durch die Lande tingelten (sie planten bundesweite Auftritte in U-BahnStationen, hatten aber mit dem unmusischen Starrsinn der Behörden zu kämpfen), promoteten gerade ihre erste CD – mit Liedern von Schubert, Brecht, Alban Berg, MendelssohnBartholdy. So stand es auf der Einladungskarte, die Viggen vor zwei Tagen auf den Dielen im Flur gefunden hatte, als er von einem Termin mit seiner panischen Finanzberaterin zurückgekommen war – mit der vorausahnbaren Erkenntnis, daß die Welt weiter zerbröselte. Und nun saß Viggen, im hellen, grob gestrickten Cardigan, in grauem Poloshirt und cremefarbener Hose, das Kinn auf den Handballen gestützt, neben Dora und heuchelte Interesse. Er
hatte ganz andere Dinge im Kopf und fragte sich, ob es eine gute Idee gewesen war, seine frische Bekanntschaft hierher zu schleppen. Viel lieber wäre er mit ihr im Englischen Garten spazierengegangen oder in einem Straßencafe gesessen und hätte sich unterhalten. In den vergangenen beiden Tagen hatten er und Dora zweimal miteinander telefoniert – das erste Gespräch, wie er fand, ein unergiebiges und zähes Geplauder, bei dem er das Gefühl nicht losgeworden war, daß sie seinem Wunsch nach einem Treffen auswich. Um so glücklicher war er, daß sie bei seinem zweiten Anruf tags darauf für den heutigen Nachmittag zugesagt hatte. Und Horst und Colin hatten sie – mit einem verschwörerischen Seitenblick auf ihn – willkommen geheißen. Allerdings gab es Probleme mit seinem verwaisten Elternhaus. Den zugesicherten, überfälligen Besuch bei seiner Mutter mußte er absagen – was zur Folge hatte, daß die Stimme am anderen Ende des Apparats, von Tränen erstickt, abbrach und die mit einem Mal fühlbar gewordene Distanz zwischen ihr und ihrem Sohn mit einer Traurigkeit aufgeladen wurde, die sich auch nach Worten der Entschuldigung als nicht mehr überbrückbar erwies. Seit fast einer Woche leistete inzwischen Geli ihrer Mutter Gesellschaft. Sie hatte fest damit gerechnet, daß Viggen sie ablösen käme. Nun, nachdem sie den Hörer aus der Hand ihrer Mutter übernommen hatte, machte sie ihrem Bruder wüste Vorwürfe, schimpfte ihn herzlos, einen unverbesserlichen Egoisten und mißratenen Sohn, der seine Eltern nicht verdiente. Und drückte ihn wutentbrannt weg. Das verfehlte seine Wirkung nicht, und den Vormittag über erging sich Viggen in nagenden Gewissenbissen und zählebigen Skrupeln. Wie sollte er sich entscheiden? Das Treffen mit Dora fahren lassen, um seine Mutter zu trösten? Sollte er bei dem Getue, Normalität vorzutäuschen, mitmachen
– um sich dabei allmählich der Rolle eines Hinterbliebenen anzuschmiegen? Philisterhafte Worte auszuteilen – Worte, die von Trost sprachen, von der Zukunft, davon, sich nicht unterkriegen zu lassen? Er sah sich Schränke ausräumen, Mäntel, Anzüge, Hemden, sogar Manschettenknöpfe (wenn er sie nicht für sich haben wollte) in Müllsäcke stopfen, Spuren eines Lebens beseitigen, das es nun nicht mehr gab. Als stünde er in der offenen Wohnzimmertür (wie früher als Kind), sah er sich und seine Mutter, sah das traurige Ensemble von Teppich, Couch, Sessel und niedrigem Tisch; hörte die Worte, die er und sie wechselten, den immer wieder stockenden Fluß; ahnte die verzweifelte Suche nach Themen voraus, die den Tod aussparten (aber mit einmal schien es kein Thema mehr zu geben, welches ohne den Tod auskam), durchlitt das hilflose Schweigen, das sich minutenlang zwischen sie setzte, undurchdringlich, hermetisch wie meterdickes Glas. Wozu, fragte er sich, seine Gegenwart, wenn die Mutter in ihr gar nicht anwesend war; wenn sie sich zurückgezogen hatte in ihren unauslotbaren Schmerz – einen Schmerz, den niemand anderer hätte lindern können außer derjenige, dessen Tod ihn verursacht hatte und der unter den Lebenden nicht mehr auffindbar war. Warum bei ihr sein, wenn sie Erinnerungen nachhing, wiedererwachten Gefühlen; wenn sie plötzlich hinabstieg zu jenem Tag in einem unvordenklichen November, wo sie den Eid geschworen hatte, zugestimmt der Formel, daß nichts sie trennen würde, bis daß der Tod sie scheide. Jetzt hatte man sie geschieden – in jene beiden eingängigen Kategorien, die die ganze Welt gebrauchte und die vielleicht trotzdem falsch waren: tot und lebendig. An seine Mutter würde er nicht richtig herankommen. Und wäre nicht auch er selbst unerreichbar? Ohne Schuld, ohne etwas dafür zu können, absorbiert von einem komplizierten
Gemisch aus Trauer und Euphorie; der Zumutung ausgeliefert, beides zugleich zu empfinden: Verlust und Gewinn. Wie in einer Blende gingen die Gesichter von Dora und seinem Vater unentwegt ineinander über. Seine Mutter im Stich zu lassen war gemein. Natürlich war ihm das bewußt. Schmerzhaft bewußt. Aber kaum etwas trieb ihn so in die Flucht wie Familienzeremonien. Früh schon hatte er damit begonnen, das Leben, das er führte, von seiner Herkunft abzutrennen (und zwar ganz gleich, wie er es führte: ob als Junggeselle, als Familienvater oder als Melancholiker, der die Höhe des Lebens erreicht hatte). Eigentlich hatte er sich schon immer lieber zu früh als zu spät getrennt: von den Eltern; von Maja, seiner Ehefrau; von all den Frauen und Freunden, die dazwischen und die danach kamen. Vielleicht oder wahrscheinlich eine Flucht nach vorn, eine Flucht aus Angst davor, selbst der Verlassene zu sein. Er erinnerte sich der Halbrussin, mit der er ein halbes Jahr liiert gewesen war – eine dunkle und gertenschlanke Schönheit, die in einem Table-Dance-Schuppen in RottachEgern Abend für Abend ihre Hüften kreisen ließ und die Schenkel, von einem winzigen Stück Stoff getrennt, rhythmisch auf- und zuklappte. Aus Angst, daß sie den vorhersagbaren Blicken der Männer eines Tages nicht länger würde widerstehen können, hatte er sinnlos in die Länge gezogene Nächte zwischen tiefrotem, von Brandlöchern übersätem Samt und schlecht modellierten Gipsnymphen auf sich genommen, hatte aus Überdruß mit der Zunge den Grund des geeisten Wodkaglases nach jenen Erinnerungen abgetastet, die den Beginn der Affäre markierten. Dann hatte er sie verlassen. Nun war es sein Vater, der ihm zuvorgekommen war. Jeder Tod hinterließ bei denen, die zurückblieben, ein Gefühl der Kränkung. Als hielte man noch den Hörer in der Hand,
nachdem die Verbindung abgerissen war. Es hätte noch so viel zu besprechen gegeben. Die langen Jahre seit der Trennung von Maja hatten seiner Seele Möglichkeit gegeben, Raum und immer mehr Raum zu greifen und in einer Weise zu expandieren, die ihn untauglich machte für jede Art von Hierarchie, für jede Beziehung und für jedes Leben, das er mit anderen hätte teilen müssen. Und die elterliche Familie – das war in Wahrheit für ihn nur noch eine unangemessene Erinnerung, ein Echo aus Kindertagen, die durch den Tod seines Vaters noch zusätzlich ferngerückt waren. Was waren Sohn, Tochter, Kinder für Eltern anderes als eine matte Erinnerung an die Tage, als sie selbst jung gewesen waren. Ein Beweis dafür, daß die Verbindung zur eigenen Jugend abgerissen war, daß man inzwischen als anderer lebte, ohne diese Vergangenheit, an die man sich erinnerte, ohne die Geschichten, die man zwar erzählte, von denen man aber wußte, daß sie einem längst nicht mehr gehörten. Und so gehörte er längst nicht mehr seiner Mutter – und sie nicht ihm. Er liebte sie, gewiß, aber er liebte sie nicht als biologisches Gesetz, als Bedingung einer jämmerlichen Evolution voller unhaltbarer Versprechen – er liebte sie als Menschen, der seines Mitleids bedurfte; als Person; als Figur aus einem Roman, in dem er selbst mitspielte; als gewesene Möglichkeit, sich auf bestimmte Weise zum Dasein zu verhalten. An der Seite ihres Mannes Teil eines unerläßlichen Ganzen, erschien sie ihm jetzt als fremde und doch vertraute Frau, eingehüllt in das Rätsel der Existenz; eine undurchschaubare Summe aus ergriffenen, verkannten und geleugneten Möglichkeiten. An ihr, die nun gebrochen, die auf sich selbst zurückgeworfen war, zeigte sich, was die Welt so unbegreiflich machte: daß alles Erleben Sinnlosigkeit und Leere nur vergrößerte.
Sie und sein Vater verdienten Bewunderung – für die Ausdauer, mit der sie der Vergeblichkeit getrotzt, mit der beide den anderen erduldet, darin ihre unstillbare Sehnsucht genährt hatten (woran sich auch nichts änderte, falls sein Vater tatsächlich eine Zeitlang lieber mit Dora geschlafen haben sollte). Hatte er mit Dora geschlafen? Mit der Zunge rollte er den Gedanken hin und her. Er malte sich Szenen aus, verglich sie mit solchen, die er selbst erlebt hatte. Wenn er sich vorstellte, daß sein Vater mit Dora geschlafen hatte, rief das eher Stolz in ihm wach – den uralten Stolz des Clans, der Sippe, des Sohns. Wenn er Sex mir ihr gehabt hatte, hatte er einfach Geschmack bewiesen. Das war das Einzige, was zählte. Nicht Konkurrenz und Wettstreit, diese vermeintlich einzig rechtmäßige Form der Liebe, die zwischen Vater und Sohn galt. Und außerdem hatte es in Doras Leben sicher noch andere Männer gegeben. Nach rückwärts eifersüchtig zu sein, war nicht sein Stil.
Während er an jenem Vormittag vor dem Hauskonzert hinter dem Schreibtisch klemmte und die Post bearbeitete, kehrten seine Gedanken beharrlich zu seiner Mutter zurück, zu der verlorenen Gestalt, die sie abgab, jetzt, in dem leeren Haus; zu dem Rest ihres Selbst, den sie über die Jahre gerettet hatte, über Schicksalsschläge und Enttäuschungen hinweg, und der jetzt noch ein Stück kleiner geworden war. Und während er den Füller mit Tinte aufzog, mit der Todsünde der Melancholie und mit ziellosem Haß, kam ihm das Leben rätselhafter denn je vor, sinnloser, vergeblicher. Dann, als er die Rückseiten der Briefmarken beleckte, Umschläge mit Adressen von möglichen Kreditgebern versah,
reifte in ihm die Revolte; der Gedanke, durch trotziges Beharren auf dem unmöglichen Traum, der in ihm lebte, Widerstand zu bieten. Plötzlich wurde ihm klar, daß sein Leben ohne diesen Traum nicht mehr lebbar wäre, absurd, nichts anderes als grundloses Fortdauern, als Erpressung der Organe, vergleichbar dem lächerlichen Kampf um Anerkennung, der zwanghaften Rache für vor Urzeiten erlittenes Unrecht oder dem Wunsch, täglich die Zeitung zu lesen. Er war jetzt bald fünfzig – und schon jetzt erging es ihm wie seiner Mutter, die fast dreißig Jahre älter war; nahmen das Gefühl der Leere und unabweisbarer Vergeblichkeit zu – ringsum und in ihm selbst. Die Triumphe und die Affären, die er genossen hatte, die Niederlagen und Demütigungen, die er hatte einstecken müssen – all das war – verweht. Inzwischen war er – darin den Freunden gleich – eine Karikatur seiner selbst, seiner Wünsche und Hoffnungen, zynisch und mißtrauisch gegen sich; korrumpiert von der Tatsache, daß er sich mit der Wirklichkeit ausgesöhnt hatte – mit den Bedingungen, die sie ihm auferlegte. Wovon und wofür er inzwischen lebte – von den Launen des Markts und des Zwischenhandels – das stand in krassem Gegensatz zu den Träumen seiner Jugend – zum Traum, seine Talente zu nutzen, in verräucherten Bars Chansons zu singen und bis in den Nachmittag hinein zu schlafen – in der Gewißheit, daß die täglich abgelieferten acht Stunden Arbeit und die damit verbundene Auslegung der Welt falsch waren. Die Jugend hatte er mit Dagegensein vergeudet. In seinen Dreißigern mußte alles, was den Einsatz lohnte, von pfäffischem Glauben geadelt sein: dem an eine höherwertige Idee, an Gerechtigkeit, an eine gute, die Menschheit voranbringende Sache – beifällig abgenickt von der Troika
älterer, wetterbeständiger Herren und dem egalitären Hunger derjenigen, die unversöhnlich über die Glaubensartikel wachten. Da war er schon auf dem falschen Weg gewesen. Und heute verteilte er mit schlauer Hand BollywoodProduktionen über den Globus, so wie andere Autos verteilten, Blumendünger oder Zeitersparnis – von keiner anderen Vision beseelt als davon, morgen mehr als heute zu verkaufen. Das war pragmatisch, vielleicht sogar rechtschaffen, aber vor allem wirkte es daran mit, immer noch mehr nutzlose Dinge zwischen die Menschen zu schieben, zwischen sie und ihr Leben. Außer Zweifel stand: Was nicht die Dauer bestätigte, die in einem einzigen erfüllten Moment liegen konnte, war Betrug. (Er dachte an den hellgelben Band mit Erzählungen, den seine Mutter in jahrelanger Arbeit übersetzt und mit dem sie sich für die Dauer der Selbstvergessenheit unsterblich gemacht hatte. – Wo aber war das Buch? Wo hatte er es hingestellt?) Sie, die Mutter, bedurfte jetzt des Zuspruchs, aber er brachte es einfach nicht fertig, sich gegen die Verabredung am heutigen Nachmittag zu entscheiden – gegen das Wiedersehen mit Dora. Gegen die Hoffnungen, die er daran knüpfte. Das unbeirrbare Festhalten an einem Traum… Gab es noch einen? Er war in seine Arbeit verkrochen, ohne jede Beziehung; war allein, und wenn er – wie es aussah – nichts änderte, würde er das auch in Zukunft bleiben. Wollte er das noch? Er hatte nicht den Eindruck. Er wußte mit einmal, daß das Leben, das er bislang geführt hatte, vorüber war. Mochte sein, daß der Meinungsumschwung seiner Psyche geschuldet war – ein vorgeschobenes Manöver, eine durchschaubare List, provoziert vom Tod des Vaters und von der angenommenen Zukunft mit Dora, die lustvoll sich auszumalen seine Drüsen insgeheim längst begonnen hatten.
Mochte sein – aber er glaubte es nicht, hartnäckig und stur. Vielmehr spürte er – stärker als jemals zuvor –, daß ihm etwas fehlte – etwas, was mehr war als ein Traum: eine Frau; eine in einem weiblichen Leib wohnende Seele; eine seiner Berufung angemessene Liebe, unerläßlich, um die Banalität des Körpers abzustreifen und um Chaos und Verfall durch Stil zu bezwingen. Dora sollte dieser unmögliche und unerfüllbare Traum für ihn sein. Das, so wurde ihm klar, hatte er längst für sich beschlossen. Während er den Haustürschlüssel aus dem Kästchen in der Diele nahm, seine Wohnung verließ und sich zum Briefkasten aufmachte, sah er die Idole der Zeit vor sich, die Stars seiner und anderer Branchen, die ganze Galerie der Kataloggesichter, mit der die Welt tagtäglich tapeziert wurde, die reale und virtuelle. Er sah Paris Hilton, Christina Aguilera, Kate Moss, sah die Madonnen der Gegenwart, sah andere, gleichviel welches Geschlecht, welche Neigungen oder Vorlieben – wöchentlich erneuerte Ikonen der Unzerstörbarkeit, nur geschaffen, um die zu ermutigen, die an den Fortschritt glaubten, an die Verbesserung, daran, daß sich eines Tages der versprochene Sinn einstellte, das von Medizin und Wellness beglaubigte Glück, die garantierte Auferstehung. Eines Tages zeigte sich immer, daß die prächtigen Versprechen nirgends hingeführt hatten… Solche und ähnliche Gedanken begleiteten Viggen an diesem Sonntagvormittag (dem zweiten Sonntag seit dem Tod des Vaters), verstärkten seine Melancholie – und erneuerten gleichzeitig seinen latenten, uralten und offenbar nie zufriedenzustellenden Anspruch auf ein selbstermächtigtes, von jeder Vergangenheit und jeder Weissagung unabhängiges Leben.
Ruhelos streifte er nach seiner Rückkehr und bis zu der Minute, wo Dora an seiner Tür läutete, durch die Wohnung, vom Wohnzimmer ins Büro, von dort ins Bad, vom Bad in die Küche, von der Küche in die Bibliothek (die darum konkurrierte, nicht schleichend zur Videothek zu werden) oder in sein Schlafzimmer, wo er sich aufs Bett legte, die Stirn auf die geballten Fäuste – und es war zweifellos der Aussicht auf den Nachmittag und die Begegnung mit Dora zu verdanken, daß ihn das Vorrücken des Uhrzeigers nach und nach wieder herstellte. Das Konzert war nach einer dreiviertel Stunde beendet, die Melodie zur Unheilbarkeit des Lebens zwischen Liebe und Wahnsinn vorgebracht. Das zehn- oder fünfzehnköpfige Publikum klatschte artig, und die Mutter der Sängerin, die – um auch ja von allen gesehen zu werden – natürlich einen Stuhl in der ersten Reihe in Beschlag genommen hatte, schluchzte vor Rührung und Gier nach Aufmerksamkeit. Horst und Colin, die kurz aus dem Blickfeld verschwunden waren, kamen mit einem riesigen Strauß roter Rosen herein, den sie der Sängerin überreichten – und ihrer Mutter eine in einem Anflug von Weisheit dem Gebinde noch rechtzeitig entwundene einzelne Rose. Auch in Doras Augenwinkel hatte sich, wie Viggen entdeckte, Feuchtigkeit angesammelt, was ihn befremdete, aber er unterließ jede Bemerkung, um sie nicht unnützerweise in Verlegenheit zu bringen. Wovon war sie ergriffen? Doch nicht von dem Gesang! Von den der Welt schon tausend Mal vorgetragenen Liedern? Besaß sie eine Neigung zur Operette? Das paßte nicht in sein Bild von ihr. Dora hatte bei ihm einen robusten Eindruck hinterlassen, jeder aufgebauschten Emotionalität abhold. Noch eine ganze Weile beschäftigte ihn ihre Reaktion, und er gestand sich ein, daß es das auch tat, weil
er sie eines Geheimnisses verdächtigte, das sie nicht mit ihm teilte, was ihn eifersüchtig machte. Schnell verteilten sich jetzt die Gäste in der Wohnung. Man eilte zum Buffet in dem schmalen hellen Übergangszimmer und begab sich anschließend mit pikant belegtem Weißbrötchen in der einen und gefülltem Weinglas in der anderen Hand auf Erkundungstour. Flur, Küche, Arbeits- und Wohnzimmer, sogar ein Raum, der Horst als Depot für seine nicht mehr allzu gefragten Bilder diente und nur mit Regalen und zwei aneinandergeschobenen Grafikschränken aus Stahlblech ausgestattet war – freimütig stand den Anwesenden alles offen, und doch fanden sie sich nach und nach sämtlich in der Küche ein, wo sie von den beiden Gastgebern, die derweil eine weitere Platte mit Kanapees bestückt hatten, empfangen wurden. Die Rolle, die sie sich zugedacht hatten, spielten sie perfekt. Dora und Viggen hatten an der offenen Balkontür Position bezogen, wo sie rauchen und dem Juni dabei zusehen konnten, wie er Gestalt annahm. Bisher hatte es ihnen das Konzert, die Höflichkeit und die unvorhergesehene Eile verboten, groß aufeinander einzugehen. Sie war spät bei ihm aufgetaucht, so daß gerade noch Zeit geblieben war, um gemeinsam den Aufzug nach oben zu nehmen (den Viggen normalerweise mied, um mit Treppensteigen seinen Kreislauf zu trainieren) – und um in ihm und seinem fahlen Licht festzustellen, daß sie angetan war mit einer sandfarbenen Hose und einem schlichten braunen Pullover, um den Hals das silberfarbene Medaillon, das ihm schon in der Tabacco Bar aufgefallen war (den Mantel hatte er ihr an der Wohnungstür abgenommen und an die Garderobe gehängt). Jetzt aber, in gelöster Atmosphäre, frei von Verpflichtungen und Formeln, schien die Gelegenheit günstig,
um wenigstens ein paar ausgedehnte Momente lang für sich zu sein: Das Stimmengewirr ringsum schirmte sie perfekt ab. Neben ihnen unterhielt Katjas überdrehte Mutter ihre Tochter, den Pianisten und zwei männliche Opern-Aficionados in mittlerem Alter mit Anekdoten aus ihrer von Batik und Protest beseligten Jugend. Eine andere Runde, bestehend aus einem Internisten, einem Werbegrafiker und einer attraktiven Dokumentarfilmerin in den Sechzigern, die ein breites Tuch um die Stirn gebunden trug und penetrant ihren nachgeholten Widerstand gegen die NS-Zeit zur Schau stellte, hatte sich schlauerweise neben dem Tisch mit den Platten aufgebaut und plauderte angeregt über die Situation der Künste in der Gegenwart – wobei ein Schnittchen nach dem anderen in den Mündern verschwand. Auf einem ausrangierten Sofa dahinter, die lichtlose Seite der Küche flankierend, hatte sich eine Frau in eine Decke eingerollt (eine der Mütter mit drei Kindern aus dem ersten Stock), die ihr verschlossenes Gesicht einem drahtigen Mann in blütenweißem Hemd, weinroter Jeans und weißen Mokassins hinhielt, der am Küchenschrank lehnte und unbeeindruckt des mäßigen Interesses, das sie ihm entgegenbrachte, auf die erstarrte Erscheinung unter ihm einsprach. Colin tauschte mit Joes angetrauter Elevin, die ohne ihren Ehemann gekommen war (der sich in Seattle neue Instruktionen holte) den neuesten Hausklatsch aus, glücklich, in seiner Muttersprache brillieren zu können. Nur im Türstock zum Flur lehnte eine hagere, isolierte Gestalt, die durch trotziges Kauen Ratlosigkeit und Neid überspielte. Gerade, als Viggen ansetzte, Dora nach dem Stand der Verhandlungen wegen des von ihr übersetzten Krimis zu fragen, tauchte von irgendwoher Horst auf – in Sandalen, und getrieben von Neugier und Klatschsucht. Groß, athletisch, mit kantigem Schädel und nach hinten zum Zopf gebundenen
Haaren, trat er absichtlich näher an Viggen heran, als es angemessen war, besah ausführlich und ohne Eile dessen Gesicht. Jovial klopfte er ihm schließlich auf die Schulter. »Aber ihr habt eine Zigarette für mich!« Er zeigte ein breites, verständnisinniges Grinsen. Viggen, dessen Zigarette zu einem guten Drittel nur noch aus Asche bestand, klappte sein Etui auf und hielt es Horst hin. Der erkannte sofort das kleine sich anbahnende Malheur, zog aus dem Wandregal hinter sich einen Unterteller und stellte ihn demonstrativ auf die Fensterbank. »Danke.« Das hatte Dora gesagt. Viggen befleißigte sich, ein Nicken hinzuzufügen. »Wie schön, daß es noch Menschen gibt, die sich zu den Dingen rauchend verhalten! Bald wird es diese Aura der Geistigkeit, die hellblaue Rauchschwaden ja immer hergestellt haben, nicht mehr geben. Es wird eine häßliche Welt werden! Gesund, aber häßlich!« Mit einer gutmütigen Bewegung führte Horst die Zigarette an seine schmalen, blutleer wirkenden Lippen und wartete darauf, daß Viggen ihm Feuer gab – die Zeit nutzend, um Dora eingehend von der Seite zu mustern. »Wie geht es deinem Sohn? Ich habe Hendrik schon lange nicht mehr gesehen.« Schelmisch sah er von der Flamme des Zippos zu ihm auf. Viggen tauschte einen schnellen Blick mit seiner Begleitung, die aber außer ungetrübtem Wohlwollen keine weitere Reaktion zeigte, und antwortete höflich, mit einem versonnenen Lächeln – Horsts kleine, klebrige Bosheit überspielend: »Seit diesem Winter studiert er in St. Gallen. Internationale Beziehungen und Governance.« »Das klingt, als würde er auf den Zug der Zeit springen.«
Den Kopf zum Himmel geneigt, Viggen die glattrasierte Wange präsentierend, blies er den Rauch in die Luft, um den Kringeln und Wölkchen mit gespielter Nonchalance nachzusehen. Dann schielte er unter halbgeschlossenen Lidern zuerst zu Viggen, dann zu Dora hinüber, und sagte – dabei unvermittelt die Pranke ausstreckend: »Übrigens: Ich bin Horst.« »Und das«, ergänzte Viggen mit einer angedeuteten Handbewegung, »ist Dora.« Jeder möglichen Antwort zuvorgekommen, ließ er dem Gesagten seinen Blick folgen, unsicher, ob er nicht etwas forsch reagiert hatte. Dora zog ihren Mund schief, und es war ihr anzusehen, daß sie hoffte, so gliche ihre Miene einem Lächeln. »Dora ist Übersetzerin. Lebt in Polen, ist aber Deutsche. Wir haben uns selbst erst vor ein paar Tagen kennengelernt.« Einen halben Schritt zur Seite tretend, fuhr Viggen fort: »Und Horst« – er berührte dessen Arm – »ist Maler und lebt mit seinem Freund schon seit Urzeiten in diesem Haus. Stimmt doch? Seit der Zeit, als die ersten Marihuana-Wolken den Englischen Garten durchzogen.« Er runzelte die Stirn. »Was sind das für Bilder, die du machst?« »Bilder aus dick aufgetragener Ölfarbe. Grün, gelb, braun, rot. Und alle Farben dazwischen. Kühn und abstrakt. Keiner will so was mehr haben.« Horst lachte ein stoßweises, hintersinniges Lachen. »Aber«, und er näherte seinen Kopf dem Doras, »das ist vollkommen unwichtig. Interessant sind Sie! Habe ich richtig verstanden: Sie leben in Polen? Als Deutsche? Das finde ich mutig!« Der Angesprochenen aufmunternd zunickend, legte er den einen Arm in den abgewinkelten anderen, die Zigarette nun auf Höhe des Wangenbeins haltend.
»Nein!« verbesserte er sich. »Ich finde das bewundernswert.« Bewundernswert – dieses Wort hallte unhörbar zwischen den Wänden des Hinterhofs nach. Es entstand eine winzige Pause. In das kurz abgeebbte Stimmengewirr mischte sich das Flattern eines Vogels. Dann, hart, zielgenau, kam Doras Entgegnung: »Bestimmte Dinge« – und sie sagte das mit größtmöglicher Schärfe, wobei sie so tat, als erforschte sie die Wülste am Hals des Malers, die Narbe am Unterkiefer – »bestimmte Dinge muß man erlebt haben, um sie einschätzen zu können.« Sie drückte die Zigarette im Unterteller aus. Das ließ an Deutlichkeit nicht viel zu wünschen übrig. Ein angespanntes Schweigen schob sich zwischen die drei Silhouetten, die im Gegenlicht um die offene Balkontür herum standen. Statt Dora, war es jetzt Horst, mit dem Viggen einen schnellen, überraschten Blick austauschte. Und als wollte sie einem jäh auflodernden Gedanken entfliehen – der Erinnerung an eine Kränkung, an eine unvergessene Schmach –, wandte Dora sich ab und trat auf den Balkon. Vor dem Geländer stehend, vor einer Promenade weißer und rosafarbener Petunien und Kosmeen, deren Blüten ihr bis an die Brust reichten, vernehmbar Atem schöpfend, schenkte sie ihre Aufmerksamkeit dem schattigen Hinterhof und einer Schar Tauben, die eben auf die gegenüberliegende Dachrinne niederprasselten. »Seht mal!« sagte sie. Keiner antwortete. Viggen, etwas verloren, zuckte mit zu Horst gedrehtem Oberkörper die Achseln. Insgeheim imponierte ihm ihre Reaktion, zumal er daraus ablesen konnte, daß Dora eine im hohen Maße stolze und unabhängige Frau
war. Sie gehörte nicht zu denen, die die Idee eines Mannes wie einen Push-up vor sich her trugen. Horst rang noch mit seiner Verblüffung und war unschlüssig, was er unternehmen sollte. Ohne die Zigarette zu vernachlässigen, goß er sich Wein in ein bereitstehendes Glas und folgte ihr auf den Balkon. Doch ehe er eine weitere Dummheit äußern konnte, hatte sich Viggen Dora genähert und deutete mit dem ausgestreckten Arm nach unten. »Sehen Sie? Mein Balkon.« Von hier aus blickte man auf den Ostflügel des Hauses: Auf eine Reihe von Fenstern, hinter denen seine Wohnung lag. In Eßzimmer und Küche konnte man teilweise hineinsehen; sie waren ohne Stores, die er haßte. Auf dem Balkon standen in klarer Ordnung und in Vorwegnahme des Sommers Tisch und Klappstühle (auf Eigeninitiative der Keyser, die im übrigen alles, was sie tat – vermutlich auch die Liebe – mit geschäftiger und sicherer Hand besorgte) und in den Töpfen blühten Frühlingspflanzen. »Sieht aus wie eine Gartenlaube.« Dora band sich mit einem Gummi das Haar nach hinten. »Um ehrlich zu sein«, entgegnete Viggen, »habe ich den Garten meiner Schwester Geli zu verdanken.« Seine Finger schlossen sich um das Geländer. »Petunien, Lilien, Margeritten, Hibiskus, Rosen, Nicotiana, Klematis – die ganze mißachtete Heimatkunde in zwölf Metern Höhe. Auf drei mal eins fünfzig. Hat alles sie arrangiert. Im Frühjahr und Sommer kommt sie und kümmert sich um die Bepflanzung.« »Die Blumen des Bösen sind das nicht.« Dora lachte. »Was für eine Koloratur!« Horst warf das ein. Unterwürfig und dem Zwang zur Mitteilsamkeit erliegend. »Geli ist Gärtnerin«, erklärte Viggen. »Sie hat Botanik studiert, das Studium aber abgebrochen, als ihr klarwurde, daß ihr der synthetische Blick wichtiger ist als der analytische.« Er
drehte sich um und stellte sein leeres Glas auf einen rostigen Tisch unterhalb des Küchenfensters, auf dem eine alte, zusammengefaltete und vom Regen ausgewaschene Zeitung lag, und darauf eine Blumenschere. Er neigte den Kopf und las: Space Shuttle: Columbia explodiert! »Lebt sie in der Nähe?« Mit der Hüfte lehnte sich Dora an die Eisenverstrebung. »Nein, am Staffelsee, bei Murnau. Zusammen mit zwei alleinerziehenden Frauen. Beide Architektinnen. Die basteln da an so einer Art vaterlosen Gesellschaft. Mit Hanfanbau und wilden politischen Ideen.« Sie wandte das Gesicht zu Viggen und zeigte ein halb verlegenes, halb komplizenhaftes Lächeln. »Ich bin auch ohne Vater aufgewachsen.« Viggen drehte den Kopf und sah sie an. Er starrte in ihre Augen und entdeckte mit einer Gewißheit, die ihn verblüffte, am Grund dieses Sees aus blau gefärbtem, flüssigem Glas, daß da schemenhaft etwas aufstieg und sofort wieder verschwand. Als ob eine Ahnung, die ihn anwehte, von ihrer Iris reproduziert worden wäre. Der schwache Duft der Kosmeen kitzelte ihm die Nase, aber er unterdrückte ein Niesen. Viele seiner Frauen, so entsann er sich, waren ohne Vater aufgewachsen, ohne dessen manichäisches Talent zur Teilung der Welt. Sie schienen von ihm besonders angezogen. Wenn man diese Frauen fragte, zeigten sich alle von Viggens warmer, voller Stimme fasziniert. Er hatte sie von seinem Vater geerbt, war dessen Echo und Phantom.
»Habe ich da eben das Wort Komposition gehört? Sprecht ihr über die heutige Darbietung? Wie hat sie euch gefallen?«
Colin streckte seinen Kopf auf den Balkon. Hinter ihm, von den Schultern halb verdeckt, der belgische Pianist. »Das ist Georges.« Colin trat zur Seite, um Platz zu machen. »Georges kommt aus Belgien, aus einem winzigen Kaff, das niemand kennt – irgendwo zwischen Brüssel und der Nordsee. Ihr habt ihn heute ja schon erlebt. Die Virtuosität seiner Hände.« Er deutete eine Verneigung in Richtung des Pianisten und dessen Hände an, die dieser daraufhin erhob und lächelnd darbot. »Ihr müßt euch auf Englisch mit ihm unterhalten. Das einzige deutsche Wort, das er kennt, ist Oktoberfest.« Reihum bekam Georges ein freundliches Nicken zugeteilt. Colin, die Hand zur Mitte der Brust erhoben, einen Hemdknopf zwischen den Fingerkuppen, setzte eine besorgte Miene auf. »Habt ihr das übrigens auch bemerkt? Beim letztjährigen Oktoberfest? Daß so viele Leute in Tracht zu sehen waren? Überall sind sie einem begegnet. Und wißt ihr, was der Grund dafür ist? So eine Tracht ist ja teuer.« Er machte eine dramaturgische Pause, um die Wichtigkeit des Kommenden zu unterstreichen. »Der Grund ist, daß man bayerische Tracht jetzt billig in Indien schneidern läßt. In Indien! Die Asiaten werden uns noch alle zu ihren Putzfrauen machen.« Ein kurzes, zweifaches, fast gehecheltes Glucksen verließ seinen Hals. »Wenn jemand eine haben will?« Viggen sah sich um. »Ich bin öfter in Mumbai.« Das klang prahlerischer, als er es gemeint hatte, was ihm unangenehm war. Er löste sich vom Geländer und schob sich an Colin und Georges, die zur Seite wichen, vorbei. In der Tür drehte er sich nach Dora um und sagte: »Soll ich Ihnen was mitbringen? Ich hole mir noch was zu essen.«
Mit Geschick umtänzelte er die Leiber und Möbel in der Küche, bis er vor dem Tisch mit den Platten angelangt war. Ein paar kümmerliche Reste gab es noch, getoastetes Weißbrot mit Avocado oder Lachs. Ein Teller, den er von irgendwoher nahm, half ihm, die wenigen verbliebenen Kanapees einzusammeln. Gerade, als er wieder zurück auf den Balkon wollte und sich vom Tisch wegdrehte, bemerkte er, daß hinter ihm Dora wartete. »Da sind Sie ja!« Sie hatte ein bezauberndes Lächeln aufgelegt. »Seien Sie so nett: Zeigen Sie mir Ihren Balkon! Ich meine: Aus der Nähe.« Schelmisch neigte sie den Kopf. Von ihrer Offenheit überrascht, geschmeichelt, antwortete er: »Gern.« Dora wirkte verändert. Aber er machte sich keine weiteren Gedanken darüber. Als sie keinerlei Anstalten machte, sich in Bewegung zu setzen, stellte er den Teller ab und ging ihr voraus durch die Diele, an deren Wänden ein paar schwermütige Bilder von Horst hingen. An der Wohnungstür hielt er an, die Klinke in der Hand. »Kommen Sie. Wir gehen ohne großes Theater.« Horst kam von der Toilette. »Haut ihr schon ab?« »Nein, wir kommen in ein paar Minuten wieder.« Viggen wußte, daß er log – und er wußte, daß er es mit dem Einverständnis Doras tat.
Während er in der Küche den Espresso in zwei Tassen goß, stand sie auf dem Balkon und begutachtete die Pflanzen und die Aussicht, die sich von dieser Seite bot. Der Blick öffnete sich auf eine lange Staffel von Hinterhöfen mit
Kastanienbäumen und niedrigen Garagen. Er hörte, wie Colin ihr von schräg oben etwas zurief, das er nicht verstand, und sah durch das Küchenfenster, daß sie den Kopf hob und ihm kurz zuwinkte. Dann griff sie mit beiden Händen nach hinten und löste das Gummiband aus ihrem Haar. Irgend etwas war. Viggen hielt inne, um in die Wohnung zu lauschen. Die Klingel. Jemand schellte. Wer konnte das sein? Auf dem Weg durch das Eßzimmer entschuldigte er sich bei Dora, wies sie auf den fertigen Espresso nebenan in der Küche hin und lief den Flur hinunter. An dem Schatten hinter dem honigfarbenen Kathedralenglas erkannte er, daß der Störenfried bereits oben war und vor der Tür lauerte. »Was willst denn du hier?« Das war nicht unbedingt der Empfang, wie ihn Geli sich gewünscht hatte. Aufgelöst stand sie da, mit rotumrandeten Augen, die Haare strähnig, über dem Arm Mäntel und Sakkos. »Deine Mutter wünscht, daß du dir das mal ansiehst, bevor wir es wegschmeißen.« Mit vorwurfsvollem Blick musterte sie ihn, den Alkohol witternd, den er ausdünstete. Er warf einen kurzen Blick auf die Kleider, die alle noch in ihren Bügeln steckten. »Kann ich kurz reinkommen?« »Geli! Das ist gerade schlecht. Ich habe Besuch.« »Du hast was? Besuch? Etwa eine Frau?« Die Entrüstung sprühte ihr förmlich aus dem Gesicht. »Weißt du was? Du bist ein Riesenarschloch!« Sprach’s, ließ ungerührt den Arm sinken, so daß die Kleider vor die Fußmatte glitten, drehte sich auf dem Absatz um und rannte die Treppe hinunter. Ohne Glauben an seine Reue und ohne etwas hinterher zu rufen, verharrte Viggen, bis unten die Haustür zuschlug. Dann, seufzend, der Einsicht nachgebend, an einem Besuch bei der
Mutter nicht mehr vorbeizukommen, bückte er sich, packte die Sachen und trat in die Wohnung zurück. »Müssen Sie weg?« Dora, am anderen Ende des Korridors, eine Körperhälfte verdeckt im Eßzimmer, betrachtete ihn mit Interesse – mit den ausrangierten Sachen auf dem Arm sicher eine Figur grotesker Komik, wie Viggen dachte, der sich für ein paar Sekunden mit ihren Augen sah. »Nein, es ist nichts. Meine Schwester hat mir nur ein paar Sachen gebracht.« Sie machte einen Schritt beiseite und ließ ihn ins Eßzimmer. Sein Blick fiel durch die geöffnete Balkontür ins Freie, wo es allmählich zu dunkeln begann. Hilflos sah er sich nach einer Möglichkeit um, die Kleider abzulegen. Dann, sich in den Flur zurückbeugend, entschied er sich, die Sachen an die Wohnzimmertür zu hängen. Er griff unter die Bügel und hängte die beiden Mäntel und die zwei Sakkos an die Klinke. »Darf man hier rauchen?« Nach einem weiteren Espresso und nachdem Viggen Dora die Zimmer gezeigt hatte, das Büro, die Bibliothek, das Schlafund das Wohnzimmer, und nachdem sie gemeinsam beschlossen hatten, nicht mehr nach oben zu den anderen zu gehen, fanden sie sich unvermutet auf einem marokkanischen Läufer wieder: in der Diele vor dem Highboard. Die Beine von sich gestreckt, im Rücken das Möbel, das ihnen als Lehne diente, ruhte zwischen ihnen das Kästchen aus Burma, umkränzt von ein paar Fotografien. Wie der Schrein einer unbekannten oder neu erfundenen Frömmigkeit. Dora hatte darauf bestanden, daß ihr Viggen Fotos von seinem Vater zeigte. »Das hier«, erklärte er, und legte den Stapel Fotos, den er in der Hand hielt, beiseite, »ist in irgendeiner Küche aufgenommen. Die beiden anderen Personen auf dem Bild
sagen mir nichts. Wahrscheinlich Geschäftspartner. Ein Kunsthändler mit seiner Frau oder was in der Richtung.« Er reichte ihr das Foto. »Es ist ein Abzug. Ich erinnere mich, daß mir mein Vater erzählte, daß er es zugeschickt bekam.« Viggen fuhr sich durch das spärliche Haar. »Zwar nur schwarzweiß, aber ich denke, man erkennt gut, daß Möbel und Gegenstände – die Eckbank, der Kalender mit Motiven aus der Landwirtschaft, das Kaffeeservice – den Charme der alten DDR verströmen.« Dora nahm das Bild aus seiner Hand und betrachtete es. Sie betrachtete es und sonderte Schweigen ab; und er, heimlich ihr Profil prüfend, erahnte, daß es kein Schweigen aus Gleichgültigkeit war, sondern eines, mit dem sie ihre Gedanken verheimlichte – vor ihm, vor sich selbst. Er dachte an Horsts Fauxpas und hoffte, daß ihn sein unbedachter Nachsatz über die DDR nicht in dessen Fußstapfen hatte treten lassen. Er war sensibilisiert. Dora neigte den Oberkörper nach vorne und hielt das Foto ins Licht. »Das kenne ich«, sagte sie. Sie sagte es ruhig, sachlich, ohne Emotion. Nichts in ihrer Stimme beantwortete die Frage, die Viggen sich heimlich stellte: ob seine Bemerkung sie gekränkt hatte. »Meine Mutter hat das gleiche Bild.« Sie drehte den Kopf zu ihm. »Erstaunlich, nicht? Das da«, sie legte den Finger auf die Stelle, »ist sie. Meine Mutter.« »Ihre Mutter?« Viggen, der die Lesebrille an seinem Poloshirt gesäubert hatte, setzte sie zurück auf die Nase. Eindringlich beobachtete sie seine Reaktion von der Seite. Wußte oder ahnte er etwas? Hatte sein Vater der Familie die Affäre irgendwann eingestanden – vielleicht sogar aus Anlaß eben dieser Fotografie?
Ihre Anspannung löste sich. Er wußte nichts. Sie sah es. Sie sah es an der Mischung aus Unschuld und Neugier, mit der er die Person auf dem Foto betrachtete. »Und das ist Ihr Vater?« Dora zeigte mit dem Finger vom oberen Rand her auf eine Gestalt, die am Küchentisch saß. »Ich dachte, Sie kannten ihn?« Gereizt wich sie seinem forschenden Blick aus. »Ich habe Sie angelogen. Ich war zu jung, um ihn zu kennen. Aber meine Mutter hat mir von ihm erzählt. Öfters. Die Geschichte mit der Zahnklinik – das war sie, nicht ich.« Überrascht sah er sie an. Mit den Augen fuhr er die weichen Konturen ihres Gesichts nach, fixierte die blassen Nasenflügel, den Flaum auf der Oberlippe und an den Ohren, hinter die sie ihre Haare gestrichen hatte, und während er das tat, wurde ihm klar, daß es jetzt endgültig etwas gab, was sie und ihn miteinander verband, eine Intimität, bei der er sich wunderte, daß die Anhäufungen an Jahren, die sie beide mit sich herumschleppten, daß Vergangenheit und Herkunft dieser Intimität nichts hatten anhaben können. »Sind Sie böse?« Viggen winkte lachend ab. Betont elastisch, seine Jahre verbergend, ging er in die Höhe, reichte Dora die Hand – die ihn zunächst verdutzt ansah, bevor sie begriff – und zog sie zu sich nach oben. »Wollen wir uns etwas zu essen machen?« »Ja – warum nicht!« Sie wirkte erleichtert. »Mal sehen«, und er zuckte entschuldigend die Achseln, »ob ich überhaupt etwas da habe.« Gleich darauf standen sie einträchtig nebeneinander in der Küche und blickten sich um. »Ich gebe zu: Über meine Speisekammer bin ich nicht besonders gut informiert. Ich gehe meistens auswärts essen.
Und koche so gut wie nie für mich allein.« Er machte eine Geste der Resignation. »Am besten, wir sehen nach, was überhaupt da ist.« Nach dieser Vorwarnung war es keine Überraschung, daß das, was sie in geschätzten zwei Minuten zutage förderten, nicht besonders ermutigend aussah: Eier, Tomaten, marinierte Oliven, ein noch in braunes Papier eingeschlagener Feldsalat, eine rote und eine grüne Paprika, beide älteren Datums – und ein paar arg verschrumpelte Zwiebeln, die Dora zu seinem Erstaunen gleich mit spitzen Fingern in den Abfall unter der Spüle beförderte. »Ich denke«, reagierte Viggen und suchte ihren Blick, »damit haben Sie uns die Erlaubnis erteilt, um zum Du zu wechseln.« Dora schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln. »Einverstanden.« Die Finger gespreizt, zog sie einen waagrechten Bogen durch die Luft. »Unsere Auswahl ist nicht richtig groß. Was meinst du? Ich würde vorschlagen, daß ich uns ein Omelett mache. Du schneidest die Tomaten.« »Einverstanden«, echote Viggen. »Und öffne den Wein. Rot oder weiß?« »Weiß. Damit wir erkennen, daß inzwischen Juni ist und es bald noch wärmer wird.« Mit eleganter Bewegung zog er eine der Schubladen auf und suchte nach dem Korkenzieher. Bevor er ins Eßzimmer wechselte, wo hinter der Tür das Weinregal stand, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Es war ein Lächeln, das er nicht lächelte, weil Doras komfortabler Hintern in seinen Blick geraten war, sondern weil er in einer merkwürdigen gedanklichen Assoziation dachte: Wie zwei Haltegriffe. Im Türsturz noch einmal sich umwendend, sah er, daß sie Öl in die Pfanne goß und den Herd einschaltete. Als würde sie ihn schon ewige Zeiten kennen, fand sie sich problemlos in der
über die Schubladen verteilten Unordnung zurecht. Durch das Fenster vom Wohnzimmer fiel das Licht der Abendsonne bis hierher und hüllte ihre Gestalt in eine cognacfarbene Aura. Dann, als sie an dem schlichten Tisch aus Teakholz saßen, Dora mit Blick auf die immer noch offene Balkontür, Viggen mit Blick auf den Geschirrschrank und die Reproduktion eines Gemäldes, in dem sich große Ideen und gute Gefühle zu einem Gewirr aus Strichen addierten, erzählte sie von ihrer Jugend in Leipzig, von organisierten Aufmärschen und trostlosen Tanzstunden, von Entbehrungen und der unfreiwilligen Komik des DDR-Alltags; sie schilderte ihren Werdegang, schmückte ihn mit Anekdoten aus, erzählte von dem Slawistik-Studium, von ihrer doppelten Arbeit als Übersetzerin und als Kursleiterin in der Volkshochschule. Die Kurse, erläuterte sie, wären inzwischen von Geschäftsleuten hauptsächlich aus dem Westen okkupiert, die mehr über Taktik und Psychologie der Polen wissen wollten und darüber, wie man ihnen etwas verkaufte, als über Grammatik und Wortstellung. Sie erzählte von Wroclaw, was sie an der Stadt mochte und was nicht. Dann kam sie auf den kleinen Laden zwischen Markt und Stenzlers Hof (einem alten Handelshaus mit prächtiger Fassade) zu sprechen, der den Kunstsalon Franke beerbt und die Familie nicht nur ernährt, sondern ihr sogar einen gewissen Luxus ermöglicht hatte. Besonders stolz, erzählte sie, sei ihr Großvater auf Schillers Schreibtischstuhl gewesen – wobei sich natürlich nicht der echte in seinem Besitz befand, sondern eine Imitation, die gegen Ende des Krieges in den Werkstätten des KZs Buchenwald von Häftlingen hergestellt worden war – im Auftrag der Stadt Weimar, die Angst hatte, daß das kostbare Originalmobiliar den Brandbomben der Alliierten zum Opfer fallen könnte. Es sollte durch die Imitationen ersetzt und in Sicherheit gebracht werden. Auf Umwegen war der Stuhl aus
Birnbaumholz von der Requisite des Deutschen Nationaltheaters nach Leipzig – und in Großvaters Hände gelangt. An dem kuriosen Möbel, so habe dieser stets gesagt, bewahrheite sich Marxens Diktum aus Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, nämlich, daß sich im Leben alles zweimal ereigne, einmal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Dora erzählte ihr Leben, bescheiden, mit Humor und mit jener weiblichen Diskretion, die Frauen klugerweise davon abhält, über die Zahl ihrer Männer, die Ausrutscher und Irrtümer zu sprechen. »Was mich glücklich macht, ist mein Beruf. Die Übersetzung. Von einer Sprache in die andere, einer Lebenswelt in die andere, einem Kontinent zum anderen, vom Sie zum du – das ist’s«, sagte sie. »In der DDR hieß es dagegen immer: Vom Ich zum Wir. Das hat mich nie interessiert.« Und: »Schon immer wollte ich das Unmögliche, und ich wollte es tausend Mal lieber, als mich mit dem Möglichen zufriedenzugeben.« Da war es wieder – diese unheimliche Nähe, diese Verwandtschaft in den Überzeugungen! Diese Einhelligkeit! Viggen, glücklich über die Wendung, die der Nachmittag genommen hatte, über eine scheinbar gefügig gewordene Realität, stimmte in allem vorbehaltlos zu. Nach dem für diesen Tag dritten Espresso und im Anschluß an ein paar auf dem Balkon gerauchte Zigaretten, führte er sie ins Wohnzimmer. Für den unabdingbaren Whisky, sagte er. Gemeinsam nahmen sie auf dem Sofa Platz, jeder in einer anderen Ecke. Viggen, in der einen Hand die Flasche, in der
anderen zwei dickbödige Gläser, stellte alles auf den flachen, aus Korb geflochtenen Tisch; die Gläser auf je eine quadratische, handbemalte Kachel, die er vor Jahren aus Istanbul mitgebracht hatte. Bevor er sich niederließ, lüpfte er die Hosenbeine – und kam sich dabei schrecklich alt und verschroben vor. Im selben Moment aber, als er in das Polster sank, erhob sich Dora wieder und umrundete den Tisch. Sie hielt geradewegs auf die Wohnzimmertür zu. Staunend beobachtete er, wie sie die Sachen seines Vaters von der Klinke nahm und einzeln begutachtete. Gutgelaunt drehte sie sich ihm zu. Sorgsam reihte sie Mäntel und Jacketts an das Wandregal (in dem wie in einer Art überdimensioniertem Setzkasten Mitbringsel aus allen Teilen der Welt ausgestellt waren) und schritt die Galerie aus Leinen und Loden ab, nachdenklich und die Kleidungsstücke immer wieder prüfend. Sie warf ihm mädchenhafte Blicke zu und gefiel sich in der Rolle, die sie sich ausgedacht hatte. Endlich war der Entschluß gefällt. Behende schlüpfte sie in den dunkelblauen Blazer mit dem Phantasiewappen und den goldenen Knöpfen. Dann ergriff sie das Glas, das Viggen mit einem Fingerbreit Whisky gefüllt hatte, und gönnte sich einen beeindruckenden Schluck. Solchermaßen ermutigt, baute sie sich vor ihm auf – demonstrativ, im Gesicht einen trotzigen, fast kindischen Ausdruck. »Steht es mir?« Viggen war die Verblüffung anzumerken. Er saß da mit gedachtem offenen Mund. Vor ihm stand sein Vater – eins seiner Doubles, deutlich verjüngt und attraktiver. »Sieht sehr seriös aus«, lobte er. Sie ließ die Hände in die Außentaschen gleiten und wedelte albern und unbesorgt mit den Seitenteilen durch die Luft.
»Was haben wir denn da?« Sie hielt in der Bewegung inne und befühlte, worauf sie in einer der Taschen gestoßen war. »Willst du raten?« Viggen verzog das Gesicht. Er machte eine Miene, als hätte ein dämonisches Wesen einen unannehmbaren Appell an ihn gerichtet. »Komm schon! Rate!« Verdutzt stellte er fest, daß Dora nicht mehr wiederzuerkennen war. Sie erschien ihm nicht nur viel jünger und ungezwungener als es er in ihrem Alter gewesen war, sie erschien ihm geradezu – unbekannt. Fremd. Das war eine neue Erfahrung. Dahin die geschwisterliche Nähe, die unaussprechliche Einhelligkeit. Was war in sie gefahren? Er warf einen verstohlenen Blick auf die Whiskyflasche und mußte einräumen, daß es an ihr nicht liegen konnte. Die beiden Flaschen Weißwein, die sie zum Omelett getrunken hatten, mußten schuld an ihrer Veränderung sein. Was jetzt folgte, war ihm klar: Das bekannte universelle Ritual, mit dem besiegelt wurde, daß zwei Menschen ineinander verliebt waren. Zum ersten Mal verfügte er über einen greifbaren Beweis, daß Dora ähnlich für ihn empfand wie er für sie. Das versetzte sein Herz in Regung. Er fing an, den Zustand der Ausgelassenheit, der Dora mehr und mehr erfüllte, zu akzeptieren; einzuwilligen, daß er allmählich die Kontrolle verlor, über sich, diese Frau, über die von ihm eingefädelte Situation; fing an, es zu erdulden, daß die Ausgelassenheit auf ihn übergriff, daß sie die Alkoholisierung verstärkte, die Wärme, mit dem die Nacht noch immer die Wohnung füllte. Pflichtschuldig hob er den Kopf, ihrer Aufforderung nachgebend – und ließ daraufhin langsam den Körper folgen. Ein vergessenes Markstück, das in der Tasche des Jacketts den Wechsel der Zeiten, der Gelübde und Geltungen
überdauert hatte, war Auslöser, daß sich das Glück über das Parkett ausdehnte, in die Teppiche kroch, in das geputzte Messing der Art-deco-Lampen, die links und rechts vom Sofa brannten; daß es sich zum Bewußtsein einer über jeden Zweifel erhabenen Bestimmung formte.
11 HAUSSE UND BAISSE
STÜRMISCHES (und durch verschiedene Zimmer der Wohnung irrlichterndes) Klingeln des Telefons holte Viggen schon am frühen Morgen aus dem Bett. Seine Finanzberaterin war am Apparat. Sie entschuldigte sich für die Uhrzeit und verkündete mit unheilschwangerer Stimme, daß es Probleme gab, die anzugehen keinen Aufschub duldete: In einer knappen Stunde würde die Frankfurter Börse öffnen. Bis dahin mußte das weitere Vorgehen entschieden sein. Zwei der Firmen aus dem Bio-Tech-Konsortium, in dem der Gewinn des vergangenen Jahres steckte – die letzten Reserven –, hatten Insolvenz angemeldet. Eine Folge des auf Betreiben der Grünen kürzlich initiierten Bundestagsbeschlusses, der ein Gesetz in Aussicht stellte, das das Erstellen von Peptidbibliotheken untersagte – um Datenschutz zu gewährleisten und möglichen Diskriminierungen vorzubeugen. Keinem Menschen, so der Grünen-Sprecher (in parteitypischer unanfechtbarer Selbstgewißheit), keinem Menschen dürfe wegen der Kürze oder Länge seiner Aminosäureketten ein Nachteil erwachsen. Das war, gelinde gesagt, ein Schock. Immerhin galten BioTech-Firmen als renditesicher. Wie es um seine restlichen Papiere stand, wußte Viggen ohnehin. Die UMTS-Aktien waren im Keller, sein großelterliches Erbe damit praktisch verloren. Und der kaum nennenswerte Rest befand sich auf Talfahrt oder dümpelte auf niedrigem Niveau vor sich hin.
Schlaftrunken und noch ohne rechtes Verständnis für weltliche Katastrophen, murmelte er wie ein okzidentaler Muezzin das Gebet der Gegenwart: »Verkaufen. – Kaufen. – Verkaufen. – Halten. – Verkaufen.« Die Finanzberaterin akklamierte mit tonloser Stimme. Er stand vor der Pleite – jedenfalls, wenn nicht bald etwas geschah. Nur was? Kapitale Fragen zu solch früher Stunde einigermaßen schlüssig zu beantworten, entsprach nicht seinen Stärken. Noch befand sich sein Kopf zur Hälfte in jenem Teil der Welt, den er gerade erst widerstrebend verlassen hatte. Und die Koordination seiner Gliedmaßen funktionierte um diese Zeit auch nicht richtig (morgendliches Ungeschick: noch ein Erbe, das die Eltern an ihn weitergereicht hatten). Das Telefon in der Hand, schleppte er sich an den Küchentisch – und stieß dabei mit dem großen Zeh gegen das Tischbein. Einen mürrischen, unterdrückten Schrei von sich gebend, sank er entmutigt auf einen der Stühle, wild die verletzte Zehe massierend. Voller Undank starrte er auf die trüben und vor ihm einträchtig zusammengeschobenen Gläser, auf die Parodie der Frauentürme, welche von den leeren Zwillingsweißweinflaschen gebildet wurde, auf die dazugehörigen Korken, die wie halbtot auf der Tischplatte lagen. Undeutlich kam ihm zu Bewußtsein, wie sehr er den Vater jetzt nötig gehabt hätte – den unsichtbaren Schutz, den er gewährt hatte, auch und nicht zuletzt finanziell. Zwar hatte er seit Ende des Studiums keiner Finanzspritze mehr bedurft, aber ohne es zu ahnen in der zweifelhaften Sicherheit gelebt, sich notfalls eine geben lassen zu können. Die Eröffnung des Testaments würde noch Zeit beanspruchen, aber schon jetzt war klar, daß seine Mutter Alleinerbin würde –
und von ihr hatten die Kinder geldmäßig nichts zu erwarten. Dafür hatte sie zu große Angst vor den Unwägbarkeiten des Alters und – berechtigterweise – den drohenden Kosten, die damit verbunden waren; zumal auf die Sozialsysteme bei der desolaten Wirtschaftslage kein Verlaß mehr war (und eine andere, ebenso unersättliche Generation wie die ihre, die Finanzen verwaltete). Wie gedrängt die Zeiten waren!, räsonierte er: Erst der Tod des Vaters, dann die Begegnung mit Dora, und nun das drohende Ende der Firma. Mit der flachen Hand schlug er sich vor die Stirn – als wollte er die Hirngespinste vertreiben, die ihm mehr und mehr zusetzten. Es dauerte eine Weile, bis ihm der gestrige Abend wieder vor Augen stand. Und dabei fiel ihm siedend heiß ein, daß im Nebenzimmer jemand schlief. Auf dem Sofa. Er schreckte hoch – und hätte vor lauter Überstürzung beinahe den Stuhl umgeworfen. Auf Zehenspitzen schlich er zur Wohnzimmertür und lauschte. Es war nichts zu hören. Vom infernalischen Läuten der Telefone schien sie nicht geweckt worden zu sein. Er drehte das Handgelenk zu sich und sah auf die Uhr. Viertel nach acht. Bis er das Frühstück aufgedeckt hatte, würde es spät genug sein, um sie wecken zu können. Als er eine gute Viertelstunde später schließlich die Tür zum Wohnzimmer einen Spalt öffnete und hereinlugte, fand er statt Dora ein leeres Sofa, ordentlich zusammengelegt Kissen und Decken und keinerlei Nachricht vor. In aller Frühe mußte sie das Haus verlassen haben. Das war die nächste Überraschung. Allein am Frühstückstisch, jenseits von einem unnützen Gedeck, löffelte er seine allmorgendliche Kraftnahrung in sich hinein (Müsli: ungeschwefelt, ungezuckert und cholesterinarm) und hörte Radio. In der Nacht war der bekannte Münchner Herrenschneider Rudolf Moshammer mit einem Telefonkabel
erdrosselt worden – mutmaßlich von einer Zufallsbekanntschaft; die Polizei ermittelte noch. Von Daisy, der Yorkshire-Terrier-Dame, die mit dem Ermordeten ein unzertrennliches Paar gebildet und das Verbrechen unbeschadet überstanden hatte, erwarteten sich die Beamten der Soko wichtige Aufschlüsse – so der Sprecher. Die Nachricht sickerte in Viggens Gehirn, durchtränkte seine Gedanken und Absichten, ohne daß es ihm recht bewußt wurde. Der Kaffee rann heiß durch seine Kehle und stellte ganz allmählich, Schluck für Schluck, die Verbindung zur Außenwelt her, zu ihm selbst, zu jener Person, die stets Gemeinschaft und Gewinn suchte und die in diesem Moment unhörbare Entscheidungen traf – Entscheidungen, derer er sich selbst erst Stunden später bewußt wurde, am frühen Nachmittag, als er seine Mutter bereits aufgesucht hatte und in seinem Arbeitszimmer hockte, um eine Filmszene auszuarbeiten, die ihm scheinbar aus dem Nichts (aus einem Nichts, das die Möglichkeit eines winzigen Etwas in sich barg) in den Sinn gekommen war. Doch zunächst saß er in der Donaustraße im ersten Stock, in der Bibliothek seines Vaters, hinter dem alten, wuchtigen Schreibtisch aus Kirsche, den er noch aus Kindertagen kannte. Vor ihm stand ein Glas Rotwein, das er sich von unten mitgebracht hatte. Bis auf die letzten Jahre hatte sein Vater hier jeden Morgen von acht bis elf gearbeitet, umgeben von mit Büchern bedeckten Wänden, von opulenten Kunstbänden, Katalogen und Nachschlagewerken. Gelegentlich kam er auch abends hier herauf, wenn er aus dem Lehel zurückgekehrt war, wo sich die Ausstellungsräume seines nur nachmittags (zwischen vierzehn und neunzehn Uhr) geöffneten Kunsthandels befanden. In dem nicht allzu großen Zimmer gab es an der Seite zum Garten zwei Fenster, die von einer etwa achtzig Zentimeter
breiten Wand getrennt wurden, vor die der Schreibtisch gerückt war. So fiel das Licht schräg von der Seite auf die Platte mit der dunkelgrünen Schreibunterlage. Daneben stand ein kleiner Beistelltisch, auf dem seit fast einem Jahrzehnt eine schwere, von einer grauen Plastikhülle verdeckte mechanische Schreibmaschine ruhte. Gegenüber den Fortschritten der Elektronik war sein Vater stets skeptisch geblieben. An der Wand über der Schreibplatte hing ein Satyrkopf aus Elfenbein mit verkrüppeltem Hirschgeweih – eine Preziose der Staatskanzlei zum fünfundsiebzigsten Geburtstag, die ursprünglich aus dem Bayerischen Nationalmuseum stammte – ein Beweis für die Verwandlung von Gottesgaben in Staatsgeschenke, wie sein Vater im Kreis von Freunden kundzutun pflegte. Und spitzbübisch in die Runde blickend fragte er: Wo in dem einem Gewächshaus des 19. Jahrhunderts nachempfundenen Glaspalast, in den die Regierung 1993 umgezogen war (hinter den Hofgarten an den vollmundigen Franz-Josef-Strauß-Ring 1) hätte die Schnitzerei auch sonst noch einen angemessenen Platz gefunden? Viggen sah aus dem Fenster auf die inzwischen erblühte Birke im Garten. Von seiner Mutter war er gebeten worden, die Schubladen auszuräumen. Sie weigerte sich, in ihrer jetzigen Verfassung mit den persönlichen Dingen ihres Mannes konfrontiert zu werden. Unten im Wohnzimmer saß sie mit einem Buch und wartete auf ihn. Er war froh gewesen, daß sie ihn mit dieser Aufgabe betraut hatte, daß er hierher flüchten konnte – weg vom Mittagstisch, weg von ihr und der ausgestellt beleidigten Miene, die sie aufgesetzt hatte; weg von der äffischen Liebe, mit der die Eltern ihren Nachwuchs in die Zange nahmen, wieder zu Sohn und Tochter degradierten, zu Leibeigenen. Es war wie mit alten Freunden: Kaum führte einen der Zufall zusammen,
schnappte schon das Gesetz der Gewohnheit ein, dem nichts Besseres zu Gebote stand, als augenblicklich die gewohnte Hierarchie zu installieren – als wäre in der ganzen Zeit dazwischen nichts geschehen. Er senkte den Blick auf den Schreibtisch: das spät erworbene, inzwischen altertümlich wirkende Notebook; Zeitschriften, Papiere, Bücher; die unverzichtbare Lupe; Becher für Stifte und Kulis; ein zylinderförmiger Magnet für Büroklammern; eine Papierschere; das schwarze, zerfledderte Adreßbuch, das sein Vater wie einen Schatz gehütet hatte; silberne Büchsen, Dosen aus Keramik, Brillenetuis und eine Reihe von Schmuckstücken ohne praktischen Nutzen. Jetzt war das Möbel bis auf wenige Gegenstände leergefegt: die Lampe, eine hölzerne Figur mit Sockel, die einen ägyptischen Schreiber darstellte und als Briefbeschwerer diente (seit Jahren aber nur sich selbst zu beschweren hatte), sowie eine verschlossene Mappe aus weichem schwarzen Ziegenleder, auf der penibel das Etui mit dem Füller ausgerichtet war. Der Schreibtisch wirkte, als hätte der Besitzer für seine künftige Abwesenheit Vorsorge getroffen. Deutlich sah Viggen seinen Vater vor sich. Er, mit fünf oder sieben oder neun im Schlafanzug in der offenen Tür stehend, beobachtete ihn von hinten, wie er am Schreibtisch saß, mit einem Körper, der massig genug war, um den ganzen Stuhl auszufüllen; über Notizen oder einen Katalog gebeugt, die Ellenbogen abgewinkelt auf den Armlehnen, im Schein der auch am Tage brennenden Lampe Ideen ausbrütend. Viggen überlegte. Er kombinierte und zog Schlüsse und prüfte, ob er sie zu Recht zog. Dann war er bei der letzten der Fragen angelangt, die er sich stellte. Das Adreßbuch – wo war es? Mit planmäßiger Akribie, ohne Hast, zog er nacheinander die Schubladen auf: verblichene Manuskripte, Klarsichtfolien mit
Zeitungsausschnitten, Druckerpatronen, unberührte Farbbänder, Kuverts in verschiedenen Formaten, Fotos und ein Meßbuch mit Heiligenbildchen. Endlich fand er das Gesuchte – unter einem Ordner mit Bankauszügen. Er kippte mit der Lehne in eine bequemere Lage und schlug das Büchlein unter dem Buchstaben F auf. Unter F fand er nichts. Dann unter K. Ein Eintrag zu Kunstsalon Franke fehlte. Enttäuscht blätterte er noch eine Weile in den Seiten herum, aber die meisten Namen, die er zu entziffern vermochte, waren ihm unbekannt. Das Notizbuch auf Brusthöhe, hielt er es ein Stück von sich weg, betrachtete es – und ließ es kurzentschlossen in der Innentasche seines Sakkos verschwinden. Den Müllsack neben sich am Boden, begann er alles, was nach flüchtiger Sichtung für nutzlos befunden war, hineinzuwerfen: Notizen, Zeitungsausschnitte, Fotokopien, Karteikarten, Bleistiftminen für Bleistifte, die nicht mehr existierten, absurde patriotische Urkunden. Auf dem Schreibtisch stapelte er sorgfältig diejenigen Dinge, von denen er glaubte, daß sie noch Verwendung finden konnten, darunter auch das Meßbuch, auf das ihn vor Jahren einmal Maja angesprochen hatte. Seltsam, daß ihm das jetzt einfiel. Nachdem Hendrik bei ihr ausgezogen war, erlag sie zeitweilig einem esoterischen Fimmel, und von daher stammte ihr Wunsch, das Buch zu besitzen. Es war mit zahllosen Kupferstichen ausgestattet, in Regensburg gedruckt und stammte aus einer Zeit weit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, wo die uralte römische Liturgie reformiert, wenn nicht abgeschafft worden war. Inzwischen war es ein Artefakt – kurioses Überbleibsel einer Welt, die versunken war, nach der es aber eine immer weiter um sich greifende, verklärende Sehnsucht gab. Wie bei Maja. Damit würde er ihr gewiß eine Freude machen – auch heute noch.
Er nahm das in priesterliches Schwarz gebundene Werk und blätterte es ein zweites Mal durch; diesmal eingehender. Es wog schwer in der Hand, und die steife Pappe des geprägten Einbands machte es etwas unhandlich. Das Inhaltsverzeichnis las sich für ihn wie eine in Hieroglyphen abgefaßte Reminiszenz an die Kindheit: Gesänge zum Einzug, Akklamationen, Schuldbekenntnis, Kyrie, Gloria, Evangelium, Tagesgebete, Homilie, Credo, Fürbitten, Zwischengesänge, Psalme, das Halleluja, Eucharistie, Vaterunser, Sanctus, Agnus Dei, Schlußgebete. Er las – und sah sich, groß wie ein Zehnjähriger, neben seinen Eltern auf der Kirchenbank, sah sich widerwillig dem Ritus fügen, knien, aufstehen, setzen; sah, wie er die Zunge herausstreckte, um die Hostie zu empfangen (und dabei dieser Gebärde einen blasphemischen Sinn verleihen); sah, wie er die Lippen mimetisch zu dem peinlich donnernden Schlußgesang bewegte. An verschiedenen Stellen schlug er das Buch auf: zunächst an den von farbigen Lesebändchen markierten, dann wahllos. Eine Reihe von Andachtsbildchen kam zum Vorschein, und, in die tiefe Falte zwischen Schuldbekenntnis und Kyrieeleison geklemmt, eine Quittung über zwei Altarkerzen. Aus dem Jahr 1970. Dann, die Sichtung fortsetzend, entdeckte er eine Mappe, die eigentlich in ein Hängeregister gehörte. Mit grüner Tinte stand in Großbuchstaben sein Name darauf. Die Mappe war leer – bis auf einen Zettel – unscheinbar und fast durchsichtig. Zusammengefaltet klemmte er unter dem Bügel. Das Meßbuch, das noch in seinem Schoß lag, auf den Schreibtisch legend, löste er Klemmbügel und Griffhebel und hob das Papier aus der Mechanik. Neugierig faltete er es auseinander. Es handelte sich um ein offizielles Papier. Um einen Berechtigungsschein, wie er nach mehrmaligem Überfliegen herausfand. Mit ihm erhielt man Zutritt zu einer Box mit der
Kenn-Nummer B 235 im Züricher Zollfreilager Albisrieden, Freilagerstraße 47. Ausgestellt im Oktober 1990 auf – und das stellte er mit großer Verblüffung fest – seinen Namen, den Namen, den ihm die Eltern verliehen hatten, beglaubigt von einem Schweizer Notar. Datum, Stempel und zwei Unterschriften, die des Notars, und die seines Vaters. Worauf war er da gestoßen? Von der Entdeckung berührt, hob er den Kopf und sah aus dem Fenster. Vage spürte er, daß sich in irgendeinem Teil seines Gehirns eine Legende formte, die ihn aufforderte, sie zu rekonstruieren. Und um sicherzugehen, daß er keiner Täuschung erlag, daß alles, was er eben wahrgenommen hatte, von der Netzhaut gelöscht war, betonte er das Schließen und Offnen der Lider. Den Blick erneut auf den Zettel richtend, auf die Schreibmaschinenschrift, die beiden Signaturen in blauer Tinte, überzeugte er sich davon, daß es sein Name war, der da stand. Immer noch. Was er vor sich hatte, war über zehn Jahre alt. Das war die zweifellos irritierendste Überraschung an diesem Tag. Viggen hielt die Lupe über verschiedene Stellen des Zertifikats. Weitere Auskünfte waren dem Papier nicht zu entlocken. Die Lupe auf dem Meßbuch niederlegend, nahm er das Glas, lehnte sich zurück und schwenkte versonnen, ohne ans Trinken zu denken, den Rest der roten Flüssigkeit.
»Kennst du diese Person?« Eine junge blonde Frau mit Dutt, am Rand einer Eckbank sitzend, das eine Bein über das Knie des anderen geschlagen, den Arm mit der Uhr auf der Wachstuchdecke, sah sie aus dem Foto heraus an, aus einer fernen, fast unglaubwürdigen
Vergangenheit: vornehm, abschätzig, mit einer Spur Mißtrauen. Seine Mutter verneinte mit einer energischen, Ungeduld verratenden Handbewegung. »Nein. Wer soll das sein?« »Das frage ich dich.« Viggen zuckte die Achseln. Sein sechster Sinn hatte ihn vorhin, bevor er losgefahren war, veranlaßt, das Bild in ein Kuvert zu stecken und mitzubringen. »Da ist Vater.« Erneut näherte sie ihr Gesicht dem Foto. »Ein schrecklicher Anzug.« Sie plazierte den Finger auf der Fotografie. »Kann mich nicht erinnern, daß er ein solches Ding je besessen hat.« Ungläubig schüttelte sie den Kopf. »Und wie jung er noch ist.« Sie hob den Blick, der anfing, mit den Bildern zu verschwimmen, die aus ihrer Erinnerung stiegen. »Vermutlich sind die anderen da Geschäftspartner. Die Frau und der andere Mann.« Ihr hilfesuchender Blick erreichte ihn, als verfügte er über eine Zauberformel, die imstande war, seinen Vater ins Leben zurückzuholen. Ernüchtert ließ Viggen das Foto wieder in die Tasche gleiten. Von der Nachfrage hatte er sich Aufschluß versprochen – ohne indes auch nur die blasseste Vorstellung zu haben, worüber. Sie standen im Flur; er, mit dem Rücken zur Wohnzimmertür, dem Ausgang zugewandt, sie im Gang zur Küche, aus der sie gekommen war. Sein Blick fiel auf die Kränze und die in hellrosa oder hellgrünes Papier eingeschlagenen Blumen, die im Treppenhaus am Geländer lehnten oder davor aufgebaut waren. Seit der Totenfeier vergangene Woche waren noch eine Reihe Beileidsbekundungen eingetroffen – von der Hausärztin, von Privatbankiers, Rechtsanwälten, der Staatskanzlei; von Freunden, die in Spanien oder anderswo lebten und die Nachricht vom Tod erst verspätet erhalten hatten. Seine Mutter folgte seinem Blick, und als sie begriff, wohin er seine
Aufmerksamkeit lenkte, schlug sie vor, zusammen zum Friedhof zu fahren und die Blumen und Kränze am Grab des Vaters niederzulegen. Mit jener Sanftmut in den Augen, die helfen soll, unangenehme Nachrichten zu mildern, drehte Viggen sich ihr zu. Er sah sie an und verlagerte die ganze Zärtlichkeit, zu der er fähig war, in seine Fingerspitzen, drückte sie sanft an der Schulter und äußerte in versöhnlichem Ton: »Mutter, es tut mir leid, aber ich muß nach Hause. Meine Geschäfte warten. Ich muß mich dringend darum kümmern.« Traurig sah sie ihn an und hob den Arm zur Schulter. Er spürte ihre kalte, knochige Hand auf der seinen. »Schon in Ordnung. Geh nur. Helfen kann mir ohnehin keiner von euch.« Damit war Geli mitgemeint. Am Morgen war sie zum Staffelsee aufgebrochen.
Viggen schwebte eine mehrteilige Telenovela vor, ein Quotenrenner, ein Coup, der seine Firma ins Gespräch brachte, ihr aus den finanziellen Nöten half. Außen I Tag (Vormittag) München Lukaskirche. Aus der Vogelperspektive sehen wir, daß der Andrang der Schaulustigen so groß ist, daß sie sich bis auf den Vorplatz ergießt. In das Bild kommt eine Prozession. Sechs Kirchenbedienstete, die einen pompösen, mit Blumen und Kränzen geschmückten Sarg auf den Schultern tragen. Dahinter Meßdiener und das Kirchenoberhaupt. Die Menge weicht vor der Prozession wie eine Bugwelle zurück. Die Prozession zieht gemessenen Schrittes in die Kirche ein.
1. MANN: Das ist ja wie ein Staatsbegräbnis. 2. MANN: Nicht mal Franz-Josef Strauß hat mehr Leute zusammengebracht. 1. MANN: Dabei war er doch schon längst aus der Kirche ausgetreten! 2. MANN: Gotteshaus, Königshaus, Brauhaus – davon werden wir regiert! 1. MANN: Geld soll er trotzdem keins mehr gehabt haben. 2. MANN: Hat halt einiges gekostet – sein Hobby! Außen / Nacht Ein schwarzer Rolls Royce Silver Seraph fährt im Schrittempo an der Isar entlang. Überquert gemächlich eine Brücke. Fährt auf der anderen Seite des Flusses die Strecke retour. Immer im Schrittempo. Überquert neuerlich eine Brücke – das Ganze beginnt von vorn. Der Wagen fährt im Viereck. Am Steuer: Ein beleibter Mann Mitte sechzig mit schwarz gefärbtem Schnurrbart und schwarzer Perücke. Gut gekleidet: dunkler Anzug, blütenweißes Hemd, breite, giftgrüne Krawatte. Zupft nacheinander die Manschetten mit den vergoldeten Knöpfen aus den Ärmeln. Der Rolls nähert sich von hinten einem Passanten: Ein junger, sportlicher Bursche in Jeans und Jeansjacke mit kurzgeschorenem Haar. Der Mann am Steuer betätigt den elektrischen Fensterheber auf der Mittelkonsole. Das Beifahrerfenster senkt sich. MOSHAMMER:
Entschuldigend bitte, aber wissen Sie, wo in der Nähe eine Videothek ist? Ich kenn’ mich hier gar nicht aus. Das Telefon klingelte. Viggen sah von der Kladde auf, die vor ihm auf dem Deckel des Laptops lag und die er mit flüchtig
hingekritzelten Worten und Sätzen füllte. Er legte den Kuli beiseite, griff nach dem Apparat und drückte den Knopf, um die Verbindung aufzubauen. Dora war am anderen Ende. Sie entschuldigte sich, daß sie ohne Gruß und Danke verschwunden war, aber sie sei in aller Herrgottsfrühe aufgewacht und habe nicht wieder einschlafen können. Da wäre sie eben gegangen. Ob er Lust habe, mit ihr spazierenzugehen? Das Wetter sei doch umwerfend! Die Temperatur liege deutlich über dem Monatsschnitt der letzten hundertfünfzig Jahre! Man stelle sich vor: hundertfünfzig Jahre! In einer halben Stunde könne sie da sein. Während Viggen auf dem Balkon stand und darauf wartete, daß es an der Wohnungstür läutete, blies er feinsinnige Rauchwolken in die Luft. Er sah auf den Kastanienbaum im Hof, auf den gepflasterten Weg, der sich durch das Gewirr aus Mülltonnen und Garagen schlängelte, entdeckte einen alten Mann, der unten vor einem schattigen Beet mit junger Tanne stand, nahezu regungslos, und rauchte. Für einen jener Momente, die an einer schemenhaften und möglichen Zukunft teilhaben, erkannte er sich selbst in der Person unten – um Jahre gealtert und betrogen um die Hoffnung auf ein geglücktes Leben. Es gelang ihm nicht, sich eine um die gleiche Zeitspanne gealterte Dora vorzustellen, sie hinter irgendeines der Fenster zu stellen, von wo aus sie ihn, mit Töpfen oder Erinnerungen hantierend, beobachtete; er scheiterte damit, sich zusammen mit ihr als ein Paar zu sehen, das im Abendlicht auf dem Balkon saß, in glücklicher Eintracht, das Wein trank und der Welt den Rücken zukehrte. Dieses Bild von einem friedlichen Glück mißlang ihm, und wiewohl er dessen Dürftigkeit belächelte, das Idyllische und Törichte daran, versetzte die Tatsache, daß sich der erwünschte Sinn nicht einstellte, ihm einen Stich ins Herz.
Er schüttelte den Gedanken ab und warf einen raschen Blick auf den tiefblauen Ausschnitt, den die umliegenden Dächer vom Himmel preisgaben. Mit leichtem Groll drückte er die Zigarette auf dem Aluminiumsims aus und beförderte die Kippe, die auf den Boden kullerte, mit der Schuhspitze in den Hof, wo sie vor den Müllcontainern landete. Wenig später warteten sie, er und Dora, draußen im Treppenhaus auf den Aufzug. Als er mit Blick auf die Sonnenbrille im Haar seiner Begleitung merkte, daß er die eigene vergessen hatte, kehrte er noch einmal in die Wohnung zurück. Inzwischen war der Aufzug oben angekommen, aber nun nahmen sie die Treppe. Auf dem Weg nach unten kam ihnen das Paar, das über Viggen wohnte, entgegen – zuerst der Steueranwalt, dann dessen Lebensgefährtin, die Webdesignerin. Sie trugen die Nachahmung einer schwarzen Bauhaus-Liege nach oben. Allseits ein von Herablassung geprägtes Nicken – dann war man aneinander vorbei. Im Rücken spürte Viggen die Blicke, die man ihnen nachschickte – und spürte in der Brust, daß ihn das mit lächerlichem Stolz erfüllte. Seite an Seite marschierten sie über die Tivoli-Brücke. Die Gesichter hielten sie in die Sonne – jenem Gestirn entgegen, das seinen Vater mit der gleichen unerschütterlichen Indifferenz beschienen hatte wie jetzt ihn und Dora; wie alle, die vor ihnen gekommen waren und alle, die nach ihnen kommen würden; das seine Kraft wahllos im Weltraum verteilte, über die Erde und eine denkbare Anti-Erde, über Hausse und Baisse, Gelingen und Scheitern. Die Erschütterungen, mit denen der Tag für Viggen begonnen hatte – seine Katastrophen und Rätsel –, hatten ihn von Dora und der Vision, die er an sie knüpfte, weggerückt. Das wurde ihm jetzt bewußt. Doch der Sommer füllte die Öde in seinem Herzen rasch mit Wärme, taute es auf – und überwältigte ihn
mit dem knospenden Wunsch, seiner Begleiterin endlich die Zuneigung zu demonstrieren, die er für sie hegte; das Bündel Hoffnungen, das er sich machte, vor ihr auszubreiten; seine lautlose Freude darüber zu offenbaren, daß sie sich gemeldet und mit ihm zu diesem Spaziergang verabredet hatte. Ohne abschätzenden Seitenblick, blind, nahm er ihre Hand; und wurde, als Dora es wortlos geschehen ließ, von einem Schauer des Glücks durchrieselt; überrascht und bestärkt, weil er ihre Hand in die seine sich schmiegen fühlte, als hätte sie schon lange auf eine Geste der Zärtlichkeit gewartet. Scheu und noch ungeübt, wie mit der unerwarteten Offenlegung der Gefühle umzugehen sei, beschleunigten sie den Schritt – als wollten sie der eigenen Schüchternheit davonlaufen. Von der asphaltierten Straße bogen sie ab und betraten den Englischen Garten, passierten die alte Orangerie und den Chinesischen Turm und die Reihen nur vereinzelt besetzter Bänke, die ungeduldig der Biergartenzeit harrten. Wellen von Menschen schwappten ihnen entgegen, eine ganze fleischgewordene Demoskopie: weibliche Singles mit winzigen Kopfhörern in den Ohrmuscheln und Neoprenbändern am Handgelenk, an denen bunte iPods befestigt waren (und die am Handrücken verwaschene Stempelabdrucke von den Parties am Vorabend zeigten); junge Mütter in ärmellosen Blusen, die Kinderwagen und Langeweile oder Erschöpfung vor sich herschoben; Pärchen, Rentner, komplette Abteilungen der nahen Allianz; metrosexuelle Männer mit glattem Kinn und unbehaarter Brust, bis in die Gestik weibliche Attribute imitierend und die unvermeidlichen Jogger und Radler, beides unverkennbar Zielgruppen, in Froschanzügen und Schuhen, die so bunt waren, als seien ihre Besitzer in einen großen Haufen Spielzeug getreten. Es war eine vergnügte Welt, ihrer nahen oder fernen Vernichtung kaum gewahr; eine Welt, die sich in
pompejischer Sicherheit wog; die, frech und dümmlich, die wesentlichen Fragen ausklammerte. Der Ruin, dachte Viggen, gibt sich selten als solcher zu erkennen. Er bewegte schnuppernd die Nasenflügel. Die Luft war erfüllt vom Jubel der Natur. Die Vögel zwitscherten wie ein sophokleischer Chor, der das Sinnfällige deklamiert. Sie überquerten den Eisbach und erreichten den Fuß der Anhöhe, auf welcher der Monopteros thront – ein von dichtem Buschwerk umgebener antikisierender Rundtempel, der in Viggens Biographie unlösbar gekoppelt war an jene Freitagabende im elterlichen Wohnzimmer, die, beschirmt vom blauen Licht des Fernsehers, damit verbracht wurden, den Kommissar zu verfolgen. Vor allem dem damals aufgekommenen und rätselhaften Begriff des Gammlers gab die Fernsehserie ein Bild – via Thomas Fritsch, der – Viggen sah es vor sich – im Gras unterhalb des Monopteros lümmelte, Gitarre zupfte und, wie sich am Ende der Sendung herausstellte, mit Marihuana handelte. Erst vor kurzem war er dem Schauspieler zufällig über den Weg gelaufen – und stellte fest, daß Fritsch – an den Hüften und im Gesicht voller geworden – aussah, als würde er die Hälfte des Jahres in der Toskana verbringen, dem Sehnsuchtsort all derjenigen, die zu Zeiten des Kommissars zwischen zwanzig und dreißig gewesen waren und den Sommer der Liebe unter dem Brustbein trugen. Irgendwo hinter den Bäumen hörte man einen Helikopter in der Luft kreisen. Schweigend gaben er und Dora sich dem Panorama hin, welches das ganze Münchner Leben in seiner ausgestellten Harmlosigkeit auf einer großen grünen Decke vor ihnen ausbreitete – vom Schwabinger Bach und zahllosen herumtollenden Hunden durchquert. Plötzlich hob Dora das Gesicht und sah ihn an. »Warum hast du eigentlich deine Frau verlassen?«
»Weil wir uns nicht mehr verstanden haben.« »Und warum habt ihr euch nicht mehr verstanden?« Aufrichtig, mit Überzeugung sagte Viggen: »Weil es nichts mehr zu verstehen gab – außer, daß man zusammen eben älter werden würde.« Mit einem verschmitzten Blick fragte Dora: »Und deinen Sohn – hast du ihn vermißt?« »Er geht seiner Wege. Und ich die meinen. Ab und zu nehmen wir auch denselben Weg – den, der zum Italiener führt. Wir tauschen uns aus. Wie zwei alte Freunde. Und manchmal wie zwei sich fremde Männer.« Er musterte seine Fingernägel. »Hast du Kinder?« Sein forschender Blick überrumpelte sie. »Nein. Habe ich nie gewollt.« Sie hob den Kopf und gab sich den Anschein, als versenke sie sich in den Anblick der mächtigen Baumkronen. »Vielleicht liegt es einfach daran, daß ich nie den richtigen Mann kennengelernt habe. Vielleicht war es ich selbst, der es so wollte.« In großem Bogen schwenkte ihr Blick zu ihm. »Das Kinderkriegen ist mir zu altmodisch, zu eitel, zu – anstrengend.« Oder: »Für die meisten sind Kinder doch nur die säkulare Form des ewigen Lebens.« Viggen lachte. »Einfach nur die Befehle der Natur auszuführen, das macht einen nicht glücklich. Aber, das Glück ist auch nicht garantiert«, fügte er mit Ernst hinzu, »wenn man sich den Direktiven verweigert. Im Gegenteil.« Dora setzte sich in Bewegung, und Viggen ließ sie ein paar Schritte vorausgehen, bevor er sich aufmachte, ihr zu folgen. Mit Genugtuung erkannte er an ihrem Gang, daß inzwischen ausreichend Zeit verstrichen war, um ihn als vertraut wahrzunehmen.
Sie wandten sich nach rechts und steuerten auf den Kleinhesseloher See zu, wo an Tagen wie diesen das Seehaus schon die Biergartensaison eröffnete und hungrige Schwäne auf Fütterung warteten. Während sie dem breiten Weg folgten, der durch die Bäume führt, baute sich zwischen ihnen ein tiefes und uneingeschränktes Verständnis auf – als hätte sich das Einvernehmen zwischen Botanik ringsum und Witterung auf sie übertragen. Sie erreichten den See. Der beidseitig von dichtem Buschwerk und Bäumen gesäumte Weg machte eine scharfe Rechtskurve – und eröffnete, von zahllosen abgestellten Fahrrädern angekündigt, den Ausblick auf vollbesetzte Bierbänke, die senkrecht zum Seeufer bis zum Bootsverleih drüben gestaffelt waren – vielleicht hundert Meter weit. Stimmengewirr und Gläserklirren schallte ihnen entgegen. Der See war gefurcht von den Spuren, die Ruder- und Tretboote hinter sich herzogen. Rechter Hand, wo sich der Restaurantbetrieb befand, vor Ausschank und Essensausgabe: lange Schlangen. Es wirkte ein bißchen wie die überfüllte Terrasse einer Alm im Hochsommer. Ins Haar geschobene Sonnenbrillen, bunte Jacken, blasse, gerötete oder gebräunte Gesichter und solche, bei denen das unwirkliche Gleichmaß der Farbe verriet, daß sie in einem Studio oder durch eine Creme erschwindelt war. Was ins Auge sprang, waren Prallheit, gepaart mit feistem Selbstgenuß, war die Ausgelassenheit derer, die sonst mit größtem Ernst ihre Gewinnsucht befriedigten. Dora, die demgegenüber scheu und zerbrechlich wirkte, empfand diesen Ansturm aufdringlicher Gesundheit als bedrohlich und fragte sich im Stillen, ob sie ihm gewachsen war. Der Menschenstrom, der sich über den Pfad zwischen Seeufer und Biergarten zwängte, immer wieder ins Stocken geriet, wenn sich irgendwo jemand erhob und den Weg
blockierte, saugte Dora und Viggen auf und schwemmte sie mit sich mit, vorbei an Gesichtern, Leibern, Beinen und Füßen, Kindern und Hunden, an herumalberndem, flirtendem, gutmütig oder abschätzig schauendem Volk. Im Schutz der dunklen Gläser ließen sie ungeniert ihre Blicke über das Meer der Vergnügungssüchtigen schweifen. Anwesend war das bekannte Personal: Ehepaare in dünnen Lodenjacken, ältere Damen mit kleinen Hunden auf dem Arm; blonde, langhaarige Maklerinnen um die Vierzig in hautenger beiger Hosen zu blutroten Blusen, begleitet von jungen Männern mit schwarz lackiertem Haar und eleganten Dalmatinerpaaren; Männer, die wie Mailänder Broker aussahen, und Broker, die von der Mittelmeerdiät zu Hathayoga bekehrt schienen. Die Kümmernisse all derer, die hier lärmend versammelt waren, schmolzen an diesem Nachmittag zu der Frage zusammen, ob noch genug Geld für eine weitere Maß in der Tasche war. Viggen hegte die leise Befürchtung, eine unverhoffte Begegnung mit seiner Vergangenheit könnte das frische und noch zarte Glück zwischen ihm und Dora gefährden. Er dachte an vergessene Affären, die aus dem Nichts vor ihm auftauchen mochten; an nicht erfüllte Liebesschwüre, die lautstark von angetrunkenen Verflossenen gegeißelt wurden; an eine lange Reihe hoffnungsvoller Drehbuchautoren, die von ihm, wie er sich mit Unbehagen entsann, solange hingehalten worden waren, bis es ihnen der Ärger oder die Verunsicherung verboten hatte, noch ein weiteres Mal ergebnislos anzurufen. Die Vergangenheit war ein Gefängnis – einfach deshalb, weil sie nie in die Gegenwart hineinpaßte. »Hallo!« Zwischen den Menschen drängte Jeanette auf ihn zu – jene attraktive, stark schwäbelnde Frau, die Viggen zu der
Einladung bei dem befreundeten Regisseur mitgenommen hatte. Zuerst erkannte er sie nicht, aber dann fiel ihm alles Wissenswerte zu ihr wieder ein. Sie war ohne ihre Tochter unterwegs, die, wie er auf Nachfrage erfuhr, bei ihrem Vater war. Inzwischen hatte der soziale Alltag ihrer Stimme, wie er fand, das Schrille einer Kindergärtnerin verliehen. »Hallo.« In Jeanettes Gefolge befanden sich zwei weitere Frauen aus der damaligen Runde, Caro und Claudia, beide mit Kind (und beide führten es an der Leine). Das eine, Lena, ein schwarzgelockter Pummel, hatte das Hemdchen hochgeschoben, um den olivfarbenen Bauch der Sonne auszusetzen und ihn mit entrücktem Ausdruck im Gesicht zu streicheln. Das andere – in einem signalroten Overall – hörte auf den kapriziösen Namen Jella – nicht ahnend, daß man ihm daran den typischen Nachnamen aus einer bayerischen Provinz gehängt hatte. Inzwischen gab es ja auch wieder Eltern, die ihre Kinder aufs altsprachliche Gymnasium schickten. Artig stellte Viggen dem Trio Dora vor, die es gelassen über sich ergehen ließ, daß Caro und Claudia sie mißtrauisch und mit leichtem Spott beäugten. Einzig Jeanette sah ihr freundlich ins Gesicht; sie gehörte zu denen, die aus der Tatsache, daß sie alleinerziehend waren, keine Ideologie machten. Die anderen beiden dagegen wirkten auf ihn, als reichten sie im kleinen Kreis gern esoterische Bildbände herum, die angebliche Matriarchate in Lateinamerika oder Afrika in grobkörnigem Schwarz-Weiß zeigten. Jetzt erst fiel Viggens Blick auf die beiden jungen Männer, die der Frauencrew in gebührendem Abstand gefolgt waren und nun darauf lauerten, vorgestellt zu werden. Beide zählten zu Vertretern einer leichtlebigen Jeunesse doree, heutzutage Wallpaper-Generation genannt (nach Maßstäben der eigenen
Generation und denen universellen Marketings also überzeugend): fashionable und cool. Flüchtig, wie nebenbei, gab man sich nacheinander die Hand. Dann, nachdem keiner so recht weiterwußte, spaltete sich die Versammlung in zwei Gruppen auf, die gemeinsam Richtung Bootsverleih wanderten. Jeanette nahm Viggen und Dora (als wäre sie eine Freundin) am Arm und zog sie beiseite, absichtlich hinter dem Troß der anderen zurückfallend. Sie machte eine Miene, als wenn gleich ein Geheimnis ausgeplaudert würde, aber der Schalk in ihren Augen verriet, daß es kein Geheimnis war, sondern eine jener Geschichten, die von sich aus dafür sorgen, von Mund zu Mund weitergegeben zu werden: mit im voraus kalkulierter Wirkung. Viggen und Dora erfuhren, daß die beiden Mütter sich den einen der beiden Männer als Liebhaber teilten, und daß jede von ihnen eifersüchtig darüber wachte, daß die Zuteilungen an Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit, die er vornahm, ausgewogen blieben. Manchmal stritten Caro und Claudia offen darum, wer von ihnen in den Genuß kam, den jungen Mann in der Nacht bei sich zu haben. Viggen spürte, daß Dora seine Reaktionen aus den Augenwinkeln genau studierte. Jeanette beendete ihre Indiskretionen damit, daß sie Viggen am Ärmel zu sich herabzog und ihm etwas ins Ohr flüsterte – besser gesagt, tat sie so, als flüsterte sie, denn sie sprach vernehmlich genug, um Dora mit in das inszenierte Vertrauen zu ziehen. So erfuhr sie wie Viggen, daß Jeanette auf den Freund des Lovers scharf war. Den fände sie nicht so eingebildet, keinen Selbstdarsteller, eher etwas unbeholfen und den Eindruck vermittelnd, als bemühe er sich noch um eine Frau. Einfach ein Mann alter Schule, dabei aber jung! Die
Chance, schloß Jeanette, heute ohne Kind zu sein, werde sie in jedem Fall nutzen. Viggen machte ein zustimmendes, leicht gequältes Gesicht, nahm Dora und zog sie mit sich mit. Nach ein paar Metern: Lachen und großes Aufatmen! Die Sonne war fast versunken, und hier, unter den Bäumen, war es deutlich kühler. Für einen Moment hielten sie beide still – wie der Winter, der unsichtbar in den Bäumen hockte. »Ich werde demnächst nach Zürich fliegen«, sagte Viggen. »Vielleicht in einer, vielleicht in zwei Wochen. Vielleicht schon übermorgen.« Ohne rechtes Verständnis sah ihn Dora an. »Hättest du Lust mitzukommen?« fragte er.
12 NACHT
SIE DACHTE AN DEN MOMENT, als sie auf Viggens Schreibtisch völlig überrascht ihren Armreif entdeckte; an das dämmrige Licht im Flur, als sie ihm gegenübertrat, den Schmuck in der Hand, beglückt und dankbar; an die beiderseitige Maskerade und ihre gleichzeitige Verleugnung, die unweigerlich darauf hatte folgen müssen. Das nie ermüdende Spiel aus List und Täuschung. Viggen war dicht an sie herangetreten, in den magischen Kreis, hinter dem sie sich bislang verschanzt hatte – der verbotenen Zuneigung Widerstand bietend, vor dem Unmöglichen, Unumgänglichen zurückscheuend. Wieder spürte sie seine Hände, die sich an ihre Schläfen legten, seinen Atem, der ihr ein Haar aus dem Gesicht blies, seinen Blick, der sie zu bezwingen, bis auf den Grund ihrer Seele vorzudringen suchte. Nie hatte sie eine solche Möglichkeit in Erwägung gezogen – und doch war es passiert, war ihr Widerstand gebrochen. Erneut verfolgte sie vor dem inneren Auge, wie sie das Spiel aufgenommen hatte, es fortführte, wie sie ihrerseits Initiative zeigte; die Arme um seine Hüften schlang und ihren Leib an den seinen schmiegte; erinnerte sich, daß sie bestrebt gewesen war, jede noch so kleine Lücke, die zwischen ihnen klaffte, auszufüllen – mit Ausdünstung und Fleisch, mit Busen und Bauch, mit Unterleib, Schenkeln, Knochen, mit einer besonderen Form der Amnesie.
Sechzehn Tage, die vergangen waren; sechzehn Tage gegenseitiger Annäherung – alle nur dazu da, um jenen Moment, jene Berührung, jenen Kuß vorzubereiten. So, an der Brust Viggens, vom endlich zugelassenen Glück überrumpelt, wurde ihr nach und nach klar, daß sich alles auf seltsame Weise gefügt hatte – zu einem Muster, das niemand hatte vorhersehen können. Und jetzt, Stunden später, im Dunkeln und mit geöffneten Augen daliegend, neben sich ihren schlafenden Bruder, seinen nur von einem dünnen Laken bedeckten Körper, versuchte sie, dieses Muster aus der Decke, gegen die sie starrte, herauszulesen. Sie kehrte zurück zu dem Nachmittag, der Albernheit, die um sie herum eine Welt gesponnen hatte, in der alles erlaubt war: Unbekümmertheit, Spiel, Nähe. Sie sah sich und Viggen – das nächtliche Bad im Starnberger See. Auf dem Brustbein spürte sie wieder das kalte Metall des Medaillons, als sie aus dem Wasser stiegen. Sie wußte nicht, warum sie sich gerade daran erinnerte. Sie dachte an ihre Mutter, an den nie gesehenen Vater, an den Mann auf dem Foto. Sie dachte an den Osten und den Westen, daran, wie sich das Gegensätzliche verband und wieder trennte. Nachgespielt hatten sie eine Liebesnacht, die so alt war wie Dora selbst, ohne es zu wollen, ohne es auch nur zu ahnen. Das wußte sie jetzt. Sie drehte sich zur Seite, spürte den Stoff, der durchnäßt war von ihren Tränen. Still weinte sie, unhörbar; ein oder zwei Handbreit entfernt von einem Mann, der neben ihr schlief, der sie genommen hatte, dessen Brust sich gleichmäßig hob und senkte, der zufrieden ein- und ausatmete; und sie weinte nicht nur wegen des Unmöglichen, das geschehen war, nicht nur wegen der
Tatsache, daß sie die plumpe Grenze überschritten hatte, die die Welt in Erlaubtes und Nicht-Erlaubtes teilte. Sie weinte auch, weil sie mit einem Mal wußte, daß es auf der Welt nur einen Menschen gab, mit dem sie zusammenleben wollte.
13 AUFERSTEHUNG
OB SIE STÖRE, fragte sie. Viggen verneinte. Gerade noch rechtzeitig vor dem Abflug habe sie alles Nötige herausgefunden, sagte die Keyser beinahe triumphierend. Unüberhörbar, daß sie ihr Möglichstes gegeben hatte, um zur Rettung der Firma beizutragen – und um ihm das Gefühl zu vermitteln, unverzichtbar zu sein. Er war gerührt. Sie fuhr fort: Den Notar gäbe es noch. Der Berechtigungsschein, den er da gefunden hätte, sei gültig. Das Zollfreilager sei im übrigen als Umschlagsplatz heißer Ware bekannt. Es folgte eine bedeutungsschwere Pause. Da hinein bohrte Viggen eine stumme, aber spürbare Ungeduld. Viele der Gemälde, die nach dem Zusammenbruch des Ostblocks aus den Museen der DDR, aus Ungarn und anderen Staaten des Warschauer Paktes verschwunden wären, hätten über das Freilager den Weg in die Hände skrupelloser Sammler gefunden. Jetzt schmückten sie die Wände verschwiegener Villen in den USA, der Schweiz, Monaco oder Luxemburg. Viggen, das Handy am Ohr, ließ die Worte der Keyser einen Moment lang in sich nachklingen. Dann wurde ihm klar, daß er ihre Ausführungen als letzte Rettung begriff – als willkommene und natürliche Verlängerung des inbrünstigen Wunsches, daß der Tresor ein Vermächtnis des Vaters enthielt,
ein Vermächtnis, das mit einem Schlag die finanziellen Nöte bereinigen würde, in denen er bis zum Hals steckte. Nach allem, was die Keyser gerade erzählt hatte, gab es keinen Zweifel mehr: In B235 wartete die Lösung auf ihn! Eine Welle des Glücks überspülte seine Synapsen. Im Stillen überschlug er die Summe, die er benötigte. Achtzig-, hunderttausend, am besten: hundertzwanzigtausend Euro. Wieder sah er es vor sich: Die feierliche Tafel, um die sein Vater die Familie geschart hatte – anläßlich eines ersteigerten Altarbildes. Er sah seinen Vater, in der erhobenen Hand das Glas, eine Rede auf den Urheber des Bildes haltend. Dunkel erinnerte er sich: Es ging um einen Italiener aus dem Rokoko, dessen Altarbild zunächst in die Sammlung eines französischen Barons gelangt war, bevor diese Ende des 18. Jahrhunderts vom russischen Zarenhof aufgekauft wurde. Lange hatte die Eremitage in Sankt Petersburg das Altarbild ausgestellt. Dieses Bild würde die Summe erbringen. Sein Vater hatte es außerordentlich geschätzt. Es war also zweifellos der geeignete Kandidat, um einem solchen Vermächtnis die angemessene Würde zu verleihen. Viggen fühlte sich großartig. Dora war noch immer im Bad und wollte nicht gestört werden, und so hatte er sich mit dem Rasierer in die Diele begeben, wo er vor dem monströsen, fast zwei Meter hohen Garderobenspiegel stand und seine Wangen bearbeitete – breitbeinig, in Hose und offenem Hemd, das Kinn übertrieben stolz vorgereckt, selbstverliebt. Er fand, daß er ein Recht darauf hatte, sich großartig zu fühlen. In der Nacht hatten sie miteinander Sex gehabt; hatten im Rausch des Nichtmehr-Könnens Unmengen Oxytocyn
ausgetauscht und damit den Pakt besiegelt, der von der Einmütigkeit ihrer Vorlieben und Abneigungen und von der Aussicht auf eine Zukunft, die mehr war als die übliche Anerkennung von Fakten, ausgehandelt worden war. Ausgehandelt von der Vornehmheit ihrer beider Seelen. Und nun befanden sie sich im Aufbruch, nach Zürich. Gab das alles nicht Grund genug ab zur Euphorie? Wieder groß von sich denken – statt im Schraubstock von Soll und Haben nach Luft japsen. Er war fest davon überzeugt, daß dieser Tag das Ende seines resignierten Dahinlebens ankündigte; das Ende eines absurd gewordenen Dagegenseins, für das er außer Routine nie Ersatz gefunden hatte; war überzeugt, daß seine Biographie von nun an in ein Davor und Danach geteilt war. Und ebenso fest wie seine Überzeugung war seine Entschlossenheit, dieses Danach nie mehr in ein Davor münden zu lassen – jedenfalls die nächsten zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig Jahre. Was immer geschehen würde, was immer aus ihm würde – es würde mit Dora, würde in ihrer Gegenwart geschehen. Danach, konstatierte er mit einer gewissen Ernüchterung, während er sich ein störrisches Haar an der äußeren Ohrmuschel abrasierte, kam ohnehin das letzte, unentrinnbare Davor. Ohne einen Gedanken auf den Widersinn zu verschwenden, der darin bestand, daß Gewöhnung und Überdruß den gängigen Ertrag eines ans Ende gekommenen Lebens darstellten, stand er wenig später vor der Badezimmertür und teilte Dora mit, daß er schnell noch zum Automaten gehe, um Bargeld zu holen – und als von drinnen keinerlei Reaktion kam, verließ er mit einem Achselzucken die Wohnung. Nun, seine Schultergelenke rollend, wartete er vor dem Terminal auf die Auszahlung, aber der Monitor zeigte ungewöhnlich lange die Meldung an: Bitte warten Sie einen Moment. Auch vernahm er nicht das verheißungsvolle
Rumoren, das normalerweise aus dem Metallbauch drang, wenn komplizierte Programme eine komplizierte Elektronik steuerten, die wiederum schlanke Bleirollen in Bewegung setzte, um präzis abgezählte, nagelneue Geldscheine in den Auszahlungsschacht zu befördern. Hinter ihm, beinahe direkt an seinen Fersen, klemmte ein Pärchen in den Dreißigern, das voller Ungeduld darauf wartete, an die Reihe zu kommen. Absichtlich vermeidend, sich nach ihnen umzudrehen, wurde er gleichfalls von Sekunde zu Sekunde ungeduldiger. Seine Unbekümmertheit verflog. Eine düstere Ahnung bewölkte seine Stirn. Zur Zeit ist eine Auszahlung leider nicht möglich. Viggen starrte auf die grau hinterlegte, navyblaue Schrift, die ihm vom Monitor entgegenstrahlte – als würde in Leuchtbuchstaben seine Verhaftung verkündet. Das durfte doch nicht wahr sein! Ausgerechnet jetzt! Nervös fuhr er sich mit der Hand über den Schädel. Im Plexiglas des Sichtschachts spiegelten sich die beiden Gestalten hinter ihm. Ihre Schemen im Auge behaltend, überlegte er fieberhaft, was er tun konnte. Ein demütigender Moment! Und: Wo blieb seine Karte? Sein Blick irrte umher, nach der Stelle suchend, wo er das Plastik eingeführt hatte. Der Schlitz zeigte sein leeres, zahnloses Maul, die Karte war von dem gepanzerten Koloß offenbar eingezogen worden. Die Welt verweigerte ihm den Zutritt. Daß es heute nach Zürich ging, war ganz offensichtlich höchste Zeit. Die Bank hatte schon angefangen, Konten zu sperren. Und er wollte unter keinen Umständen Dora um Geld bitten – zumal sie nach allem, was er wußte, damit selbst nicht unbedingt üppig gepolstert war.
Verzweifelt beugte er sich über den Apparat, drückte die Taste Abbruch und betrommelte, während er darauf wartete, daß etwas passierte, daß der gefräßige Spalt seine Karte herauswürgte, mit den Handflächen die Flanken, als wollte er das elektronische Gehirn dahinter beschwichtigen, diese für ihn höchst unangenehme Entscheidung zurückzunehmen. Komm schon! Hilflos, fast ergeben stand er dem Automaten gegenüber – in dem Bewußtsein, von Videoaugen beobachtet zu werden, die irgendwo über seinem Kopf schwebten. Bestimmt machten sich jetzt ein paar lausige Krawattenträger in irgendeiner Zentrale über ihn lustig. Endlich richtete er den Oberkörper auf – ratlos, was er nach dieser vergeblichen Bemühung noch tun konnte. Ein Reflex in der Spiegelung verriet ihm, daß sich das Pärchen in seinem Rücken teilte. Erschrocken sah er sich um – da schob sich der Mann schon zischend an ihm vorbei: »Dürfen wir jetzt endlich?« Seine Begleitung würdigte ihn keines Blickes. Viggen schoß das Blut in den Kopf. Der geballten Feindseligkeit ausweichend, gab er jeden Widerstand auf und machte Platz, drückte sich aber noch eine Weile im Hintergrund herum, um sicherzugehen, daß seine Karte wirklich eingezogen war. Dann schlich er sich davon – durch das Foyer zum Portal, wo er von den geschlossenen Glastüren gezwungen wurde, darauf zu warten, daß die Automatik reagierte. Eingeschüchtert trat er auf die Straße. Die Geldbörse noch in der Hand, warf er einen Blick auf die Fächer für die Kreditkarten, auf die unansehnliche Lücke, die jetzt zwischen Platinum-, Gold-, First- und anderen Premium-Karten klaffte. Seine Karten! Er hatte ja noch seine Kreditkarten.
Auf der Stelle machte er kehrt (er war ein Stück den Montgelas-Berg hinaufgelaufen) und eilte, neuen Mut fassend, den Weg zur Filiale zurück. Als er die Stufe zum Portal betrat, zwang ihn die Automatik erneut zu kurzem Innehalten. Dann glitten die Türen lautlos auseinander, und das unverschämte Pärchen trat heraus. Der Mann – bunt wie Spielzeug gekleidet – zählte die Geldscheine, bevor er sie in sein Portemonnaie sortierte, während die Frau Viggen diesmal mit einem Blick maß, der nur einen einzigen Satz zuließ: du armseliger kleiner Wurm! Wut kochte in ihm hoch. Das war genau diese jämmerliche Big-Brother-Generation, die jeden Morgen vor dem Spiegel ihr Geweih auf dem blanken Arsch bewunderte – ihr Tattoo, ihre Jugendlichkeit und die glücksverheißende Straffheit ihres Fleisches. Diese selbstverliebten Idioten, bloßer Aufguß vorangegangener Generationen, die nicht merkten, daß sie nur deshalb erwachsener wirkten, als sie waren, weil die Probleme, die sie mit sich herumschleppten, schon so alt waren; die nicht kapierten, daß es sie alle nur aus einem einzigen Grund gab: damit an ihnen Geld verdient werden konnte. Er hob die Nasenspitze um ein paar deutliche Grad an. Fassungslos über die Rücksichtslosigkeit, mit welcher das Leben sein Personal ausstattete, um es über die Erde zu schicken, schritt er zum Automaten. Vier Minuten später war Viggen, die gefüllte Geldbörse in der Gesäßtasche spürend, besänftigt. Und während ihn der Aufzug nach oben trug, überlegte er, zu welcher Generation Dora eigentlich gehörte. Sie war 1960 geboren – im Jahr der Kubakrise, vielleicht gezeugt in der trotzigen Hoffnung, der atomaren Bedrohung nur mit einer Tat antworten zu können, die angemessen symbolisch und sinnlos war. Auch wenn sie ihren Vater nicht kannte, um beurteilen zu können, ob an einer solchen Theorie etwas dran war, bestand eine gewisse
Möglichkeit, daß Überlegungen dieser Art dem damaligen Geist entsprachen – also jenem, der sie geboren hatte. Er betrachtete das Bild von sich, das ihm der Spiegel an der Aufzugswand zurückwarf. Er selbst war ein paar Jahre früher gezeugt – von einem Mann, der aus der Kriegsgefangenschaft in das geisttötende Gedröhn eines Deutschlands gelangte, das sich daran machte, die Kessel anzuschmeißen; der die Korrumpierung all dessen erlebt hatte, woran er glaubte – Tradition, Kultur –, und der, in gieriger Erwartung des Lebens, nur auf Beschränktheit traf – darauf und auf den dürren Trost, der darin bestand, daß es weiterging, weil es eine andere Lösung als blindes Weitermachen nicht gab. Im Grunde waren sie beide – Dora und er – Kinder der Nachkriegsordnung und der mit ihr verbundenen Traumata; einer Welt entstammend, die damals begonnen hatte, nach außen zu kollabieren, ohne Zentrum und Halt; die, geprägt von Opportunismus und vorbehaltloser Anpassung, sich unentwegt selbst verleugnete. Was danach gekommen war – Protest und zähes Dagegensein – hatte die Selbstverleugnung nur beerbt. War nur deren dialektisch gewendete Form. Was ihn mit Dora verband, was zwischen ihnen Nähe und Einhelligkeit herstellte, war, daß es für sie beide nichts mehr gab, worauf sie sich berufen konnten – weder in der Vergangenheit noch in irgendeiner Zukunft. Was es gab, waren sie selbst, war das Versprechen, das – Scheppernd wichen die schmalen Flügel der Aufzugstür zur Seite. Mit der Hand kramte Viggen in der Tasche nach dem Schlüssel. In der Wohnung stellte er fest, daß das Bad inzwischen leer war. Dora entdeckte er nicht – sie war weder im Büro noch im Schlafzimmer oder in der Bibliothek.
Er fand sie auf dem Balkon, wo sie mit verschränkten Armen auf die Baumkronen starrte und rauchte. Sie mußte ihn gehört haben, aber ihre Position behielt sie unverdrossen bei, kehrte ihm weiter den Rücken zu – unerreichbar, abgesondert von ihm und ihrer kurzen, gemeinsamen Vergangenheit. Mit leisen Schritten, im Vorgefühl des Unglücks, trat Viggen hinter sie, legte behutsam die Hände auf ihre Schultern und fragte – die Nase ihrem Haar nähernd –, ob etwas sei. Sie machte die Schultern krumm, als wollte sie verhindern, daß seine Berührung durch die Haut diffundierte und ihren Körper mit seinen Gedanken und Gefühlen infizierte. Er spürte, daß nicht viel fehlte, und sie hätte ihn abgeschüttelt – wie einen lästigen Verfolger, einen Partygast, dessen Annäherungsversuche man nicht duldet. »Hast du etwas?« Stumm, verstockt, schüttelte sie den Kopf. Da drehte er sie mit sanftem Druck zu sich und sah an der Rötung um ihre Augen, daß sie geweint hatte. Für einen winzigen Moment kam er sich vor wie in einem Film von John Cassavetes – wie in dem Ehedrama Gesichter (das ihm, weiß der Himmel warum, gerade einfiel), einem Film über die Nutzlosigkeit menschlicher Versuche, auf der Erde so etwas wie Liebe einführen zu wollen – so sinnlos, wie zwischen Gebrauchtwagenhändlern Demut zu installieren. Es stand vor einem Rätsel: Dora schien sich komplett verändert zu haben. Irgend etwas war in ihr vorgegangen, was für den Abgrund zwischen der zurückliegenden Nacht und dem heutigen Morgen verantwortlich war, für die Differenz zwischen Süße und Bitterkeit (die es vielleicht gar nicht gab, die vielleicht nur Einbildung war, nur eine Falte ein- und desselben Stoffes). Aber was? So sehr er sein Gehirn marterte: Er fand keine Erklärung.
Hartnäckig weigerte Dora sich zu offenbaren, was los war. Sie weigerte sich sogar zu akzeptieren, daß es überhaupt etwas zu offenbaren gab. Es war unheimlich, wie verschlossen sie mit einmal war, wie einsilbig und in sich gekehrt, beinahe abweisend. Er war klug genug, nicht ständig nachzuhaken, aber im Stillen brannte er darauf, den Grund für ihr mysteriöses Verhalten in Erfahrung zu bringen. Ihr Verhalten traf ihn ins Mark. Hatte er sich eben noch nahe dem Glück gewähnt, sah er sich jetzt auf sich selbst zurückgeworfen – auf eine Existenz, die ihm ohne ihre Gegenwart, ihre Nähe und Anteilnahme armselig und stumpfsinnig vorkommen wollte. Obwohl er Dora noch nicht einmal ganze drei Wochen kannte, war sie bereits zu einem unverzichtbaren Bestandteil seiner Pläne geworden. Wenn er sich vorstellte, daß er sie verlor, vernahm er unwillkürlich das Geriesel der Jahre. Vielleicht gehörte sie zu den Frauen, die dazu verurteilt waren, in jedem Mann den Vater zu suchen? Die, weil sie ihren Erzeuger nicht kannten, ruhelos durch die Welt streiften und nach ihm fahndeten, hier und hier und hier – solange, bis sie alt und runzlig wurden und erkennen mußten, daß ihre Sehnsucht sie in die Irre geleitet hatte; daß sie das Leben verfehlt hatten und zur Strafe noch etliche Jahrzehnte nachsitzen mußten – das Unerreichbare jetzt wirklich unerreichbar vor Augen.
An der Kabinendecke leuchteten die Anschnallzeichen auf. Viggen wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Trotz der Klimaanlage hatte er den Eindruck, daß in der Kabine die Hitze stand. Für Mitte Juni war der Tag ungewöhnlich drückend.
Gleich würde die Welt tief unter ihnen liegen – würden die Menschen zur Unsichtbarkeit schrumpfen – und so klein werden, wie er sich im Moment fühlte. Vielleicht, dachte Viggen, würde sich bei der Landung die Welt – seine Welt – in einen allumfassenden Trümmerhaufen verwandelt haben. Ein Leben ohne Dora war für ihn unvorstellbar – und stellte er es sich doch vor, wußte er nicht mehr, wer er war, wen er in dieser unerfreulichen und von vornherein angegrauten Zukunft darstellen sollte – irgend etwas zwischen Pflanze und Gespenst. So fühlte er sich jedenfalls selbst gerade an. In der kleinen, nur fünfzigsitzigen Saab 2000 – der frühesten Maschine, die an diesem Tag nach Zürich ging – starrten sie jeder für sich durch das schmutzige Bullauge auf das Rollfeld und die rotierenden Schaufelblätter an den Tragflächen, während draußen die Triebwerke heulten und das Flugzeug von der Landebahn abhob. Minuten später erklang von der Kabinendecke das synthetische Geräusch, welches das Erreichen der Reiseflughöhe signalisierte – einen großen goldenen Gong imitierend, wie Viggen (bei einem unbekannten Gott Trost suchend) assoziierte. Die Anschnallzeichen erloschen. Eine Welle metallischen Gerassels schwappte durch das Flugzeug – Zeichen dafür, daß die Passagiere die Gurte lösten. Die Besatzung ging daran, den Servierwagen vom Heck der Maschine in Richtung Kanzel zu ziehen und Getränke und Sandwiches zu verteilen. Nervös kramte Dora den Schminkspiegel aus der Handtasche und überprüfte, ob ihre Wimperntusche verschmiert war. Sie spürte, daß Viggen sie von der Seite mißtrauisch beäugte. Und ihm, Viggen, der verunsichert in seinem Sitz klemmte, entging nicht, daß die Augen seiner Begleitung wieder glasig waren. Bis zu den Mundwinkeln hatten sich die Tränen hinabgeschlängelt. Der Drang in ihm, loszuplatzen, um endlich
den Grund ihrer inzwischen unübersehbar gewordenen Verzweiflung zu erfragen, wurde stärker und stärker. Er war einfach nicht in der Lage, durch Überlegung herauszubekommen, was in sie gefahren war. Als wenn Dora seine Gedanken abgehört hätte und darauf mit Empörung reagierte, stellte sie den Sitz zurück und schloß die Augen. Sie entzog sich ihm einfach. Das war es, was ihn zutiefst verletzte. Die Stewardeß beugte sich über ihn. Aus fünfzehn Zentimetern Abstand konfrontierte sie jeden einzelnen Passagier mit ihrem albernen Swissair-Lächeln. Aus Protest, vielleicht auch aus Scham wegen eines übertriebenen Leids, das sein Gesicht, wie er fürchtete, entgegen jeder Absicht zur Schau stellen könnte, orderte er einen doppelten Whisky – und erntete einen abschätzigen Blick. Es war noch Vormittag. Er empfand es als angenehm, den Alkohol in der Kehle, der Speiseröhre, dem Magen brennen zu spüren. Der Whisky ließ es zu, daß sich seine Aufgewühltheit für einen Augenblick beruhigte. Beinahe zufrieden lehnte er sich zurück und schloß die Augen; öffnete sie aber gleich wieder, weil er sich hinter den Lidern einem Ansturm konfuser Erinnerungen ausgesetzt sah – Erinnerungen, die alle nicht älter waren als siebzehn Tage. Methodisch stürzte er den Rest Flüssigkeit hinunter, beugte sich vor in die Gangway, um nach dem Servierwagen Ausschau zu halten. Er winkte. Als ihn eine der Stewardessen bemerkte, hielt er das leere Glas in die Höhe. »Sie wissen, daß Sie das zweite Getränk bezahlen müssen?« Demütig nickte Viggen und zog den Geldbeutel hervor. Der zusätzliche Whisky war dazu angetan, ihm zu dem in einer solchen Situation einzig richtigen Entschluß zu
verhelfen: Ja, er mußte sich in Nachsicht üben; mußte Dora eine Chance lassen. Mit jedem Schluck, den er nahm, versteifte er sich mehr auf den Gedanken. Und wie, um sich in der neu gewonnenen Normalität einzurichten, diese daran zu hindern, sich wieder zu verflüchtigen, nahm er das Airline-Magazin, das in der Lehne des Vordersitzes steckte, und blätterte betont gelangweilt darin herum. Nach einer Weile, und hauptsächlich, weil er sich nicht wie ein Falschspieler vorkommen wollte, zwang er sich, einen Artikel zu lesen, auf den er gestoßen war und der vage sein Interesse erregte. Er setzte alles daran, sich wieder in den Griff zu bekommen, zu vergessen, daß ihm die Kontrolle über die Stunden und das Leben entglitten war – darüber, daß er gerade begonnen hatte, seine Zukunft mit der Aussicht zu schmücken, in ein anderes Leben verwoben zu werden. Er schielte zu Dora hinüber: Sie schlief oder tat so, als schliefe sie. Er lenkte den Blick an ihr vorbei zum Bullauge. Unter den Tragflächen eine weiße, durchgehende Wolkenbank, die halb Europa mit einem Tag in drückender Schwüle und Inversion drohte. Worum drehte sich der Artikel? Hymnisch wurde ein neu errichteter Park in einem der boomenden Stadtteile Zürichs geschildert – der Turbinenplatz. Zentrale Utopie in einem ehemaligen Industrierevier. Der Verfasser schwärmte von den strengen Achsen und Geometrien und davon, daß auf den vierzehntausend Quadratmetern kein Gramm naiver Natur mehr zu finden war – dafür aber, wie Viggen vorausahnte, die Idylle einer Welt, die das Geschlecht ihrer Kinder genauso vorherbestimmen wollte wie die Verteilung von Glück und Unglück. Er hob das Gesicht und starrte direkt auf einen Metallkasten, auf dem groß Emergency prangte und der an der Pappwand
befestigt war, die die Kabine in erste und zweite Klasse unterteilte. Er dachte nach. Wenn Probleme auftauchten, pilgerte alle Welt in die Natur – egal, ob naiv oder nicht. Auch er suchte sie gern auf, wenn er mit sich uneins war – und dachte an St. Georg, die Kirche und den Friedhof, zu dem er besonders gern floh, wenn ihm alles zuviel wurde. Er dachte an seinen Vater, der jetzt dort ruhte. Vor dem Grab würde er in Zukunft Stellung beziehen, wenn es ihn nach einem Gespräch mit Bäumen, Buschwerk oder dem Wind zumute war. Er sah ihn vor sich: zuerst den Grabstein; dann den Vater – am Kopf der feierlichen Familientafel, das Glas vor sich aufnehmend, es erhebend, Worte und Sätze aussprechend, die er nicht verstand.
Da sie nur Handgepäck bei sich hatten, dauerte es nicht lange, bis sie nach der Landung im Taxi saßen und sich zum Turbinenplatz bringen ließen. Bis zum Termin mit dem Notar war noch Zeit. Dora, hungrig nach einer Zigarette, fragte den Fahrer, ob sie rauchen dürfe. Statt eine Antwort zu erhalten, öffnete sich summend das Schiebedach. »Bitte sehr.« Sie dankte mit einem Nicken und hielt Viggen wortlos ihr Päckchen hin, der es jedoch mit der Hand sanft von sich schob. »Vielleicht wollte dein Vater sich mit dem, was er dir hinterlassen hat, entschuldigen? Etwas gut machen.« Sie hatte sich entschieden, zu ihrer alten Freundlichkeit zurückzukehren. Gleichwohl entdeckte er noch einen Rest Reserviertheit in ihrem Benehmen. Sie war freundlich, legte aber besonders makellose Umgangsformen an den Tag, als wollte sie damit einen imaginären Kreis um sich ziehen, den zu überschreiten sich ihm – seiner unterstellten Ungeschliffenheit wegen – verbot. Er zog es vor, nicht darauf einzugehen. Sie
würde schon wieder auftauen. Davon war er überzeugt. Und er war ferner überzeugt, daß dies einer der seltsamsten Tage war, die er je erlebt hatte. Viggen drehte ihr das Gesicht zu. »Aber entschuldigen wofür?« Dora antwortete nicht, sah ihn jedoch unverwandt an, als erwartete sie, daß er die Antwort selbst fände. In ihrem Blick lag eine eigentümliche Mischung aus Härte und abstrakter Scham, die ihn irritierte. Unterzog sie ihn einer Prüfung? Er fühlte neues Unglück auf sich zukommen. Von unheilbaren Sehnsüchten absorbiert, schob sich dauerhaftes Schweigen zwischen sie. Ein Schweigen, das sich erst wieder löste, als sie den Turbinenplatz erreicht und den Taxifahrer vorgeschickt hatten, um ihr Gepäck im Hotel abzuliefern. Inzwischen war der Mittag leicht überschritten, und die undurchdringliche Wolkendecke gab das Licht, welches sie von der Sonne empfing, in einer Weise an die Stadt und die angrenzenden Landstriche weiter, daß es in den Augen schmerzte; und die Luft, von den Wolken daran gehindert, sich auszudehnen, kochte und schwitzte. Nebeneinander her, berührungslos, verschanzt hinter den dunklen Gläsern ihrer Sonnenbrillen, schlenderten sie über den Kies, durch ein lichtes Spalier junger Birken, die sich mühten, wie echte Bäume auszusehen. Ihr Blick wurde von einem wuchtigen Gebäude begrenzt, das dem Platz an seiner offenen Seite so etwas wie ein Haupt aus Beton und Glas verlieh. Der ehemalige Züricher Schiffbau, in dem nun eine Reihe von kleinen Theatern untergebracht war, wie sie vom Taxifahrer erfahren hatten. Das weitgehend mit Betonplatten ausgelegte Geviert wirkte wie ein undurchschaubarer Schaltplan: strenge Raster – Kiesflächen und mit Ziergräsern bepflanzte Felder –,
durchbrochen von Lichtmasten, Rabatten und über die gesamte Fläche verteilten Balken. Links und rechts: Lagerhallen, Schuppen, Verwaltungsgebäude, Industrieruinen. Ein Hotel. Der gewöhnliche Schaltplan einer zeitgenössischen Idee. Viggen, das Jackett über der Schulter, darauf bedacht, seine Geschwindigkeit der Doras anzupassen, belauerte sie aus den Augenwinkeln. Schweigend, jeder in Gedanken bei sich, zogen sie ihre doppelte Spur – wie auf zwei Gleisen, die endlos nebeneinander herliefen, ohne sich je zu kreuzen. Plötzlich ein Geräusch, als würde die Luft gepeitscht. Ein Hubschrauber erhob sich hinter dem Hotel in die Luft. Dora blieb stehen. Sie nahm die Sonnenbrille ab und sah ihn aus traurigen Augen an. Sie wartete, bis sich das Geräusch gänzlich entfernt hatte. Dann, in die Stille hinein: »Ich muß dir etwas sagen.« Das Schlimmste befürchtend, sah Viggen sie an. Sein Herz pochte. »Ich muß nach Wroclaw zurück. Ich muß Jacek persönlich davon unterrichten, daß sein Buch im Herbst auf Deutsch erscheint – und ihn fragen, ob er damit überhaupt einverstanden ist. Er weiß ja noch nichts von seinem Glück.« Sie machte eine Pause. »Aber ich werde zurückkommen.« Er wußte sofort, daß sie log. Er wußte es, und Dora wußte es. Er hatte das Gefühl, sich aufzulösen, in ein komisches, zellulares Nichts zu entweichen. Wie geblendet stand er da, unfähig, seinen nutzlos in der Luft baumelnden Händen eine Aufgabe zu erteilen, unfähig, überhaupt etwas zu tun oder zu denken. Eine halbe oder eine Sekunde verstrichen – eine Spanne, in der nichts geschah und die doch genügte, um den Tag und ihn selbst in einen anderen zu verwandeln. »Und…« Er stockte.
»Was – und?« Sie machte zwei Schritte von ihm weg. In ihrer Stimme lagen Aggression, Bosheit, stummes Kriegsgeheul. Dann schien sie zu erahnen, was Viggen hatte sagen wollen. »Was für ein Blödsinn! Es gibt kein Glück. Auch für uns nicht.« Sie sah auf den Boden. »Das gibt es nur für Kiesel.« Und dann: »Aber wenn man sie lange genug beobachtet, merkt man, daß es selbst für Kiesel kein Glück gibt.«
Auf dem Weg zum Notar wurde Viggen ganz ruhig. Seine Überlebensinstinkte griffen wieder. Es war abgemacht, daß Dora im Hotel auf ihn wartete. Der Notar residierte am Uto-Quai, in einem imposanten grauen Kalksteingebäude mit Blick auf den Zürichsee, der sich davor in tiefem Blau kräuselte. Die weitgespannten Fensterbögen, die die Fassade entlangliefen, vermittelten den Eindruck, als würden sich dahinter hochherrschaftliche Räume verbergen, riesige Zimmer mit Flügeltüren und fünf Meter hohen Decken, von denen ehrwürdige Kristalleuchter hingen; Wohnungen, vollgestellt mit kostbaren Antiquitäten in Glasschränken, vollgesogen mit einer Atmosphäre der Melancholie. Das Klingelschild verriet, daß die Kanzlei (Mark & Mark) im dritten Stock lag – und als er oben ankam, außer Atem, denn es gab keinen Aufzug, wurde er an einer schweren Eichentür empfangen – in der Mitte verziert mit einem Löwenkopf, in dessen Maul das Messing eines Türklopfers schimmerte. Die Sekretärin – ein junges Mädchen mit Kurzhaarfrisur, die ihr wie ein Helm auf dem Kopf saß – führte ihn sogleich in das Allerheiligste: ein geräumiges, fast quadratisches Zimmer mit getäfelten Wänden, einem riesigen Teppich auf den Holzdielen
und einem beeindruckenden Schreibtisch vor dem Fenster, auf dem nichts weiter vorzufinden war als ein mattschwarzes Telefon und eine elegant geschraubte Vase mit Lilien in transparentem Gelb. Die Jalousien waren heruntergelassen, und das abgedunkelte Licht, das die Konturen des Raums schärfer hervortreten ließ, schuf eine Atmosphäre der Macht. Es war der Sitz eines Menschen, der Abstand wahrte – und der diesen Abstand dazu nutzte, um mit Seriosität zu kuppeln. Der Notar – ein gutaussehender Mann, vielleicht Mitte sechzig, groß, schlank, mit vollem, zurückgekämmtem silbergrauen Haar – stand am falschen Kamin, einen Arm lässig auf dem Sims. Als Viggen den Raum betrat, legte sich ein undurchsichtiges Lächeln auf seine Lippen. Mit ausgestreckter Hand und elastischem Schritt kam er auf ihn zu und begrüßte ihn – vollendete Umgangsformen zur Schau stellend. Nach dem Austausch der unerläßlichen Floskeln und im Anschluß an die obligatorische Frage, ob er Espresso oder Capuccino wünsche, ging es an die Erledigung einiger Formalitäten. Lästig, aber unumgänglich, wie der Notar mit schiefem Grinsen anmerkte. Zuletzt bekam Viggen den Zahlencode für den Tresor ausgehändigt, den er sich in den Palm notierte, bevor er den Zettel zerriß und die Schnipsel in seiner Hosentasche versenkte. Er kippte den Rest Espresso hinunter. Dann brachen sie auf.
In einem flaschengrünen Jaguar XJ chauffierte der Notar sie durch die Stadt – nebenher telefonisch im Zollfreilager den Besuch ankündigend. Es ging zwischen den Beschriftungen des städtischen Alltags hindurch, über das nördliche Ende des Zürichsees an Finanz-, Verwaltungs- und Konsumklötzen vorbei (an dem ganzen Ensemble eines mürbe gewordenen
Universums); dann über die Badenerstraße zum Stadtteil Albisrieden und dort in ein ehemaliges Industrierevier – zur, wie ein Schild an der Toreinfahrt mitteilte, Rampe Nord. »Ist mein Vater oft hier gewesen?« »Ja. Er nutzte es für seine Geschäfte. Zuletzt war Ihr Vater vor gut einem Jahr hier. Im Mai vergangenen Jahres. Trotz seines Alters. Ich habe in meinen Aufzeichnungen nachgesehen. Ich glaube, es geschah – wenn Sie mich bitte recht verstehen wollen – unter einem gewissen finanziellen Druck. Ich weiß es aber nicht, wir haben uns nicht gesehen.« Er machte eine Pause. »Ich bedaure es sehr, daß Ihr Vater tot ist. Wir kannten uns lange und haben uns gut verstanden.« »Finanzieller Druck?« Dem Ton von Viggens Stimme war die Überraschung anzumerken. Ein langgestrecktes Fabrikgebäude aus roten Ziegeln mit Parkplätzen davor. Lagerhallen, Lastwagen, Hebebühnen, Container. Im Hintergrund ein Waggon, in den über eine Rampe sperrige Kisten aus Aluminium gerollt wurden. Ein paar Menschen in gelben Regenjacken mit silbernen Streifen und der Aufschrift – Züricher Freilager – liefen ungeordnet über den Platz. Der Jaguar parkte exakt in einer der Lücken eines auf den Asphalt in Weiß gemalten Rechens. Energisch, ungeduldig mit dem Wagenschlüssel in der Hand klimpernd, marschierte der Notar auf das Fabrikgebäude zu. Viggen folgte ihm. Über eine Rampe betraten sie das Gebäude, durchquerten eine Halle. Ein Lastenaufzug trug sie in den zweiten Stock. Oben angekommen, traten sie in einen weiß getünchten Vorraum, dessen schmucklose Wände von zwei handbreiten Stoßfängern aus Holz umlaufen wurden. An der Rückwand eine stählerne Tresortür, die einen zwei auf drei Meter großen Durchbruch verschloß. Zwei Wachmänner in blauen Uniformen, die hinter einem hellgrauen Resopaltisch und
darauf abgelegten, leise vor sich hin quäkenden WalkieTalkies saßen, nahmen sie in Empfang. Nachdem er sich ausgewiesen und weitere Formalitäten erledigt hatte, entsicherte einer der beiden Wachmänner die verschiedenen Riegel und elektronischen Schlösser und öffnete den Tresorraum. Hinter einer weiteren Sicherheitstür, einem Stahlgitter, das der Uniformierte aufsperrte und zur Seite rollte, eröffnete sich vor ihm ein langer, in aggressiv hellem Kunstlicht daliegender Korridor, von dem links und rechts in gleichmäßigem Abstand Türen abzweigten. Es sah aus wie in einer Klinik. Der Notar blieb diskret zurück. Nachdem der Wachmann Viggen eingelassen und das Stahlgitter hinter ihm wieder geschlossen hatte, lief er ihm voran durch den Gang, bis sie zu einer Tür mit der Aufschrift B 235 kamen. Neben der Tür ein Thermostat für Temperatur- und Feuchtigkeitskontrolle. Der Wachmann tippte den Code ein – und danach Viggen den seinen. Dann sprang die Tür mit einem Geräusch auf, als hätte sie Luft abgelassen. Routiniert glitt die Hand des Wachmanns hinter die Mauer und betätigte den Lichtschalter. Dann machte er einen Schritt zur Seite und senkte untertänig den Kopf – die Diskretion ausstellend, die zu seinen Qualifikationen zählte. Viggen betrat eine schmale, spürbar klimatisierte Zelle. An der hinteren Wand ein Stahlregal. Die Fächer waren leer. In der Mitte des Raums Tisch und Stuhl aus Stahlrohr. Mehr gab es nicht. Ein zweites Mal sah er sich um. In der Zelle war nichts. Dann, einer inneren Regung nachgebend, hielt er die Nase in die Luft und schnupperte. Es war seltsam: Es kam ihm vor, als könnte er seinen Vater noch riechen. Er stellte sich vor, daß die hereingeschneiten Atomteilchen sich mit denen des Vaters
mischten, mit seinen Gedanken, Rechtfertigungen, Vorhaben. Er war der letzte, der diesen Raum betreten haben mußte. Er zog den Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich. Das Metall scharrte laut auf dem Beton. Er saß da und starrte gegen die Wand. Dann beugte er den Rumpf zur Seite und sah unter die Tischplatte. Eine absurde Geste, die ihm einen kurzen, vom möglichen Wahnsinn bereits berührten Lacher entlockte. Auch unter dem Tisch war nichts. Er spürte, daß eine gewisse Aufsässigkeit in ihm hochkroch. Sie verflüchtigte sich aber schnell wieder. Wie durch eine Membran fühlte er sich mit einem Mal von der Gegenwart um ihn herum abgetrennt – als hielte sich die Zeit bei ihm länger auf als in der unmittelbaren Umgebung. Das Mehr an Zeit, über das er gegenüber dem Wachmann draußen verfügte, nutzte er. Er nutzte es, um sich in Weissagungen zu ergehen; um den Wahn anzunehmen, der sich in ihm breitmachte. Einiges wurde ihm klar: daß Dora nicht im Hotel auf ihn wartete; vielmehr abfahren würde, zurück nach München, zurück nach Wroclaw – wie ein Phantom, ein Gespenst, eine Fata Morgana. Vielleicht war sie auch an einen ganz anderen Ort gereist. Er wußte es nicht. Er wußte nicht einmal mehr, ob Dora Dora war – oder nur ein Double, eine Variante, ein Traum, der zu unglaubwürdig war, um sich noch einmal zu wiederholen. »Dora.« Laut hatte er das Wort vor sich hin gesprochen. Der Wachmann sah zur Tür herein. »Brauchen Sie etwas?« Viggen schüttelte den Kopf. Es gelang ihm, mit fast fehlerfreien Bewegungen aufzustehen und hinauszugehen. Hinter ihm verschloß der Wachmann die Zelle. Er drehte den Kopf, sah auf den vor ihm liegenden Gang; zur Decke, ins Licht der gelben Neonlampen.