Nr. 395
Schatten über Ruoryc Die Welt des kosmischen Kundschafters in Gefahr von H. G. Ewers
Nun, da Atlantis-Pthor m...
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Nr. 395
Schatten über Ruoryc Die Welt des kosmischen Kundschafters in Gefahr von H. G. Ewers
Nun, da Atlantis-Pthor mittels der neuen eripäischen Erfindung aus dem Korsallophur-Stau befreit werden konnte, kommt der »Dimensionsfahrstuhl« auf seiner vorprogrammierten Reise der Schwarzen Galaxis unaufhaltsam näher. Es gibt nichts, was die Pthorer und Atlan, ihr neuer König, tun könnten, um den fliegenden Weltenbrocken abzustoppen und daran zu hindern, die Schwarze Galaxis zu erreichen – jenen Ort also, von dem alles Unheil ausging, das Pthor im Lauf der Zeit über ungezählte Sternenvölker brachte. Wohl aber existiert die Möglichkeit, noch vor Erreichen des Zieles die gegenwärtige Situation in der Schwarzen Galaxis, die allen Pthorern unbekanntes Terrain ist, zu erkunden – und Atlan zögert nicht, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Ihm geht es darum, schwache Punkte des Gegners zu entdecken, mit dem sich die Pthorer bald werden messen müssen. Während sich die Bewohner Pthors unter des Arkoniden Führung so gut wie möglich für die kommende Auseinandersetzung zu wappnen versuchen, nähert sich neben Pthor auch das Raumschiff Algonkin-Yattas, des kosmischen Kundschafters, der Schwarzen Galaxis. Dabei gerät Algonkin-Yatta kurzfristig in die Vergangenheit und die Zukunft – und zurück auf seine eigene Welt, und er sieht die SCHATTEN ÜBER RUORYC …
Schatten über Ruoryc
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Die Hautpersonen des Romans: Algonkin-Yatta - Der kosmische Kundschafter unternimmt Zeitreisen. Anlytha - Algonkin-Yattas exotische Begleiterin. Naskapi-Tikki - Ein Mathoner aus Algonkin-Yattas Zukunft. Rossini und Chairade - Zwei seltsame Intelligenzen.
1. MYOTEX Algonkin-Yattas Nasenlöcher blähten sich, als er ein Geruchssignal auffing. Er identifizierte es augenblicklich als ein Signal des Dimensionssensors. Algonkin-Yatta erhob sich aus seinem breiten Sessel und trat vor die Anzeigen des Dimensionssensors. Das zuckende mehrfarbige Licht vieler Kontrollampen spiegelte sich auf der blauschwarz schimmernden Haut des haarlosen Schädels und der breiten muskulösen Hände. Da die Anzeigen kein klares Bild der Lage zeigten, nahm Algonkin-Yatta einige Schaltungen vor. Auf den Kontrollfeldern für die Dimension der Zeit wurde ein wirres Knäuel grell strahlender farbiger Linien sichtbar. Gerade wollte Algonkin-Yatta sich mit der Psiotronik seines Kundschafterschiffs in Verbindung setzen, als die Psiotronik sich von sich aus meldete. »Kundschafter, ich messe temporäre Aktivitäten an, die ich nicht logisch einzuordnen vermag«, teilte die Psiotronik mit. »Ich empfehle dringend, in den Dimensionskorridor zurückzukehren, aus dem wir gekommen sind.« »Ich muß nach Ruoryc!« erwiderte der Kundschafter. »Und das weißt du auch genau!« Vor seinem geistigen Auge zogen die Ereignisse noch einmal vorbei, die ihn dazu bewogen hatten, zu seiner Heimatwelt zurückzukehren. Nachdem er das Kundschafterschiff freiwillig dem Sog anvertraut hatte, der es in die Schwarze Galaxis ziehen würde, hatten Algonkin-Yatta und seine Begleiterin Anlytha die Schrecken einer gewaltsamen Beförde-
rung innerhalb eines Mediums durchlebt, dessen Naturgesetze augenscheinlich andere waren als die des normalen Universums. Algonkin-Yatta und Anlytha hatten es in Kauf genommen, weil sie hofften, in der Schwarzen Galaxis endlich den Arkoniden Atlan zu finden, auf dessen Spuren sich der Kundschafter schon seit langer Zeit befand – und den er oftmals nur um wenige Tage verfehlt hatte, wenn er irgendwo ankam, wo Atlan sich nach seinen Informationen aufhalten sollte. Doch irgendwo unterwegs waren sie in eine unsichtbare Barriere geraten, die das Kundschafterschiff in sich aufsaugte und es zwischen verschiedenen Rotationsfeldern zu Staub zermahlen hätte, wäre es Algonkin-Yatta in Zusammenarbeit mit der Psiotronik nicht gelungen, das Schiff unter Aufbietung aller Energiereserven und unter Überlastung der meisten Maschinen aus der Barriere hinaus- und in einen x-beliebigen Dimensionskorridor hineinzukatapultieren. Dort hatte eine Überprüfung des Schiffes ergeben, daß der Kampf gegen die Barriere Schäden verursacht hatte, die sich mit Bordmitteln nicht beheben ließen. Da diese Schäden vor allem die Aggregate betrafen, die das Kundschafterschiff gegen Angriffe von außen schützen sollten, entschloß sich Algonkin-Yatta schweren Herzens dazu, die Suche nach Atlan zu unterbrechen und erst einmal auf seine Heimatwelt zurückzukehren, wo MYOTEX die Schäden sicherlich in kurzer Zeit beheben lassen konnte. MYOTEX, das waren alle jene Anlagen auf dem Planeten Ruoryc, in denen das Volk der Mathoner lebte. MYOTEX, das war aber auch das robotische Hirn des Gesamtkomplexes, das technische Erbe einer ausgestorbenen Zivilisation, das sich der Vorfahren der heutigen Mathoner, Flüchtlingen, die mit
4 dem Raumschiff MATHON vor halutischen Kampfschiffen flohen, annahm. MYOTEX nahm sie in seine Anlagen auf, beschützte sie vor den extremen Umweltbedingungen Ruorycs und versorgte sie mit allem Nötigen. Innerhalb weniger Generationen wurden die Mathoner vollständig in das technische Erbe der ausgestorbenen Zivilisation integriert. Sie brauchten sich den Umweltbedingungen nicht anzupassen, sondern lebten in der von MYOTEX geschaffenen und bewahrten Geborgenheit. Aber Intelligenzen wie die Mathoner vermochten ohne zielgerichtete Arbeit nicht wirklich zu leben. Diejenigen, die sich damit abfanden, degenerierten. Sie oder ihre Nachkommen blieben kinderlos. Auf die Dauer überlebten nur diejenigen Gene, die mit dem starken Willen zu zielgerichteter Aktivität »programmiert« waren. Innerhalb von MYOTEX kam es zu Rebellionen und Ausbrüchen. Die Rebellionen liefen sich regelmäßig selbst tot, da niemand an die zentralen Steueranlagen von MYOTEX herankam. Aber von den Ausbrechern kamen alle, die nicht bald umkehrten, in den extremen Umweltbedingungen Ruorycs um. In seiner Sorge um die ihm Anvertrauten suchte MYOTEX nach Wegen, sinnlose Rebellionen und Quasi-Selbstmorde zu verhüten. Es startete schließlich ein Teilanpassungsprogramm und später ein Raumfahrtprogramm. Das Raumfahrtprogramm sollte dazu dienen, die Mathoner mit dem am stärksten ausgeprägten Drang nach Freiheit und schöpferischer Leistung zu Kosmischen Kundschaftern auszubilden, ihnen mit allen technischen Raffinessen ausgestattete Kundschafterschiffe zu geben und sie in den Kosmos zu schicken. Es war bei einer dieser Fahrten, als Algonkin-Yatta nicht nur in einem Raumschiffswrack Anlytha entdeckte und rettete, sondern auch von einem Sterbenden Informationen über Atlan erhielt, die in ihm eine so große Sympathie für den Arkoniden erzeugten, daß er seinen vorgeschriebenen
H. G. Ewers Kundschafterkurs verließ und fortan nur noch den Spuren Atlans nachjagte. »Ich muß nach Ruoryc!« wiederholte der Kundschafter. Erstaunt registrierte er in sich ein Gefühl, das er als Heimweh identifizierte – und zwar nicht nur nach seinem Volk, sondern seltsamerweise auch nach MYOTEX. Ihm wurde klar, daß MYOTEX für ihn, wenn auch bisher unbewußt, auf einer höheren Ebene Vater und Mutter zugleich gewesen war. »Ich errechne die Gefahr eines Zeitparadoxons, für den Fall, daß wir unseren Kurs beibehalten«, erklärte die Psiotronik. »Aber du fliegst doch nach Speicherdaten, die MYOTEX dir einprogrammiert hat!« regte sich der Kundschafter auf. »Wie konnten wir dann überhaupt in Gefahr geraten?« »Die Gefahr muß erst vor kurzem entstanden sein«, antwortete die Psiotronik. »Akzeptiert«, gab der Kundschafter zurück. »Wohin kommen wir, wenn wir in den Dimensionskorridor zurückkehren, aus dem wir gekommen sind?« Als die Psiotronik schwieg, sagte er: »Ich werde dich doch demnächst überholen lassen, Psiotronik. Mit deinem Schweigen beweist du nämlich, daß du Gefühle hast, die eine Psiotronik nicht haben sollte – und außerdem, daß du eigenmächtig darüber entscheidest, ob du eine Frage von mir beantwortest oder nicht.« Er dachte eine Weile darüber nach, was er tun sollte. Ein Zeitparadoxon zu riskieren, war Wahnsinn, aber es war auch Wahnsinn, eine Rückkehr in die Barriere zu riskieren, die schon einem intakten Raumschiff fast zum Verhängnis geworden war. Schließlich entschloß sich Algonkin-Yatta für die Möglichkeit, bei der wenigstens die Aussicht darauf bestand, nach Überwindung der Gefahren etwas zu gewinnen, nämlich nach Ruoryc heimzukehren. »Nach Ruoryc!« sagte er mit fester Stimme und ballte die Fäuste, ergrimmt darüber, daß er selbst gar nichts dazu beitragen konnte, die Gefahren zu meistern, die dem Kundschafterschiff, ihm und Anlytha bevorstan-
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den.
* Die Psiotronik schaltete die Interdimensionstriebwerke hoch und steuerte das Kundschafterschiff auf die Kraftfeldlinie zu, die »hinter« dem Zeitlinienknäuel vorhanden war, nicht sichtbar, aber anmeßbar für die hochempfindlichen Sensoren des Schiffes. Algonkin-Yatta beobachtete mit gespannter Aufmerksamkeit die Anzeigen, die sowohl das Knäuel als auch die Kraftfeldlinie für ihn indirekt sichtbar machten. Er wußte, daß die Kraftfeldlinie eigentlich nicht hinter dem Zeitlinienknäuel sein durfte, sondern überall dort in Fahrtrichtung des Kundschafterschiffs vorhanden sein sollte, wo das Schiff eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht hatte, eine Geschwindigkeit, die etwas über der einfachen Lichtgeschwindigkeit lag und damit nicht innerhalb des sogenannten Einstein-Kontinuums praktizierbar war. Warum es in diesem Fall anders war, vermochte sogar die Psiotronik nur zu raten. Es hatte etwas mit der »Brechung« temporärer Aktivitäten zu tun, wobei der Ausdruck »Brechung« nur der Versuch war, etwas anschaulich zu schildern, was absolut unanschaulich war. Als es schien, als käme es zur Kollision zwischen dem Kundschafterschiff und dem Zeitlinienknäuel, spielten plötzlich Geschwindigkeitsanzeige und Dimensionssensor verrückt. Unwillkürlich hielt sich Algonkin-Yatta an den Armlehnen seines Sessels fest, denn er erwartete einige heftige Erschütterungen und hoffte nur, daß sie nicht das Leistungsvermögen der Andruckabsorber überforderten. Das hätte unweigerlich seinen und Anlythas Tod bedeutet, denn bei den hohen Fliehkräften, die beim Beschleunigen, Verzögern oder Kurvenflug eines Raumschiffs wirkten, spielte es keine Rolle, ob jemand an 1,5 Gravos wie Anlytha oder an 3,0 Gravos wie der Kundschafter angepaßt war. Bei diesem Gedankengang fragte sich Al-
gonkin-Yatta, was Anlytha eigentlich so trieb. Seit mehreren Stunden befand sie sich außerhalb des kuppelförmigen Zentralraums, von dem aus alle Aktivitäten des Kundschafterschiffs gesteuert wurden. Als er im nächsten Augenblick Anlythas Stimme über die interne Kommunikationsanlage hörte, dachte er irritiert an die Möglichkeit, daß er telepathische Fähigkeiten entwickelt haben könnte. Allerdings verstand er nicht, was seine Begleiterin sagte, denn rings um die Zentrale grollte es plötzlich so laut, daß alle anderen Geräusche davon übertönt wurden. Sekunden später verstummte das Grollen. Dafür stöhnten und ächzten die Verbindungen im Schiff, als würde es jeden Augenblick auseinanderbrechen. Wenig später verstummte auch dieses bedrohliche Geräusch. Es wurde totenstill. »Wir sind hindurch und in der Spur!« stellte der Kundschafter nach einem Blick auf die Anzeigen fest. »Und alles scheint in Ordnung zu sein!« »Das glaubst aber nur du!« zeterte die helle Stimme Anlythas aus den Schallfeldern der internen Kommunikationsanlage. »Du scheinst mich vorhin nicht ernstgenommen zu haben, Algonkin-Yatta!« »Immer, wenn du meinen vollen Namen nennst, bist du böse auf mich«, erwiderte der Kundschafter. »Aber in diesem Fall bin ich mir keiner Schuld bewußt. Deine Stimme ist nämlich von dem fürchterlichen Grollen der Antriebsaggregate übertönt worden, die uns durch das Zeitlinienknäuel gestoßen haben.« »Oh!« entfuhr es Anlytha. Sie zwitscherte traurig. »Und die Zeitkapsel ist dort hängengeblieben, in diesem Zeitlinienknäuel.« »Was?« entfuhr es Algonkin-Yatta. »Aber das ist doch nicht möglich!« Tatsächlich wurde er sich erst jetzt klar darüber, daß er sich nicht mehr vorstellen konnte, jemals ohne die Zeitmaschine ausgekommen zu sein, die die rätselhaften Paths ihm geschenkt hatten. »Ich stehe schließlich in dem Hangar, in dem wir die Zeitkapsel untergebracht hat-
6 ten«, erklärte Anlytha. »Mir sträuben sich noch jetzt die Federn bei dem Gedanken, daß ich die Kapsel erst kurz vor ihrem plötzlichen Verschwinden verlassen hatte. Wenn ich noch darin gewesen wäre …« »Was hattest du in der Zeitkapsel zu suchen?« wollte der Kundschafter wissen. »Oh, ich hatte etwas darin vergessen«, antwortete Anlytha. Der Kundschafter hörte Verlegenheit aus ihrer Stimme heraus. »Etwas vergessen!« echote er ahnungsvoll. »Doch nicht etwa kostbares Geschmeide aus der Zeit des römischen Kaisers Marcus Aurelius, in der unser Freund Dorstellarain alias Dorjan verschollen ist?« »Nun, ja«, erwiderte Anlytha zögernd. »Eigentlich handelt es sich nur um einen mit goldenen Ahornblättern verzierten Silberkrug. Ein paar Kleinigkeiten haben sich zufällig darin gefangen, aber …« »Ein paar Kleinigkeiten!« entrüstete sich Algonkin-Yatta. »Ich wette, es handelt sich um Schmuck im Wert von mindestens hundert Millionen Solar. Kein Wunder, daß Abmar Vialathon nicht gesund wurde, solange er an Bord der Zeitkapsel beziehungsweise des Kundschafterschiffs war.« »Aber wohin ist die Zeitkapsel verschwunden?« rief Anlytha. »Sie kann doch nicht verzaubert worden sein!« »Nein, bestimmt nicht, mein reizender Geistervogel mit den langen Klauen«, meinte Algonkin-Yatta sarkastisch. »Vielleicht sind wir diejenigen, die verschwunden sind. Ich schlage vor, du kommst gleich in die Zentrale, Lytha. Ich rechne nämlich damit, daß wir bald vor dem Yrgarh-System ankommen.« »Ich fürchte mich«, sagte Anlytha. »Was?« rief Algonkin-Yatta verwundert. »Wovor denn, Lytha?« »Vor Millionen Lebewesen deines Schlages, Algonkin«, antwortete Anlytha. »Du verursachst mir schon Alpträume. Was soll dann erst werden, wenn eine unüberschaubare Menge blauhäutiger Zwergelefanten mir auf den Zehen herumtrampelt – und noch mehr auf den Nerven.«
H. G. Ewers »Achtung!« meldete sich die Psiotronik. »In elf Minuten verlassen wir die Interdimspur und müßten danach einunddreißig Lichttage vor der Sonne Yrgarh stehen.« »Müßten?« fragte Algonkin-Yatta. »Bist du nicht absolut sicher, Psiotronik?« »Darüber versuche ich mir selbst klarzuwerden«, erwiderte die Psiotronik. »Sobald es mir gelungen ist, melde ich mich wieder.« Als Anlytha ungefähr zwei Minuten später die Zentrale betrat, eine große und schwere Vase in den Händen, war die Zentrale in eine orgiastische Fülle bunter zuckender Lichter getaucht. Es sah aus, als würde die gleichzeitig von zehn Big Bands gespielte Musik gleichzeitig von einem Dutzend Lichtorgeln photoniert. Aber es war nur die Psiotronik, die an einem scheinbar unlösbaren Problem arbeitete und ihre hektische Arbeitsweise durch das Flackern der Kontrollen kundgab. Als das Kundschafterschiff die »Interdimspur« genannte Kraftfeldlinie, auf der es durch ein dimensional übergeordnetes Kontinuum geglitten war, verließ, hörte die photonische Kakophonie endlich auf.
* »Na, hast du dein Problem gelöst, Psiotronik?« erkundigte sich Algonkin-Yatta und forderte Anlytha mit einer Geste dazu auf, in einem Sessel neben seinem Platz zu nehmen. »Es wurde durch die Konfrontierung mit den Tatsachen als rein theoretisch erkannt«, sagte die Psiotronik. »Die Position von Yrgarh hat sich um 104,4 Lichttage zur Programmposition verschoben.« »Da Yrgarh seine Umlaufgeschwindigkeit ums galaktische Zentrum nicht plötzlich drastisch erhöht haben kann, dürfte die relative Positionsverschiebung auf einer Abweichung des Schiffes vom vorgesehenen Eintauchort beruhen«, erwiderte der Kundschafter. »Theoretisch könnte es so sein«, räumte die Psiotronik ein. »Aber eine Überprüfung
Schatten über Ruoryc der Rückkehrprogrammierung ergab keinen Hinweis auf eine Änderung.« »Überprüfe die Positionen der Sterne in der näheren Umgebung von Yrgarh!« sagte Algonkin-Yatta. »Soeben abgeschlossen«, teilte die Psiotronik mit. »Sie sind relativ zu uns im gleichen Maße wie Yrgarh verschoben, aber relativ zu Yrgarh normal, bis auf die nicht zum Umlauf des Zentrums gehörenden Positionsveränderungen.« Algonkin-Yatta schloß für einen Moment die Augen, dann sagte er leise: »Ich ahne, was geschehen ist.« »Ich auch«, warf Anlytha ein. »Wir haben uns im Dschungel der Zeiten verirrt. Kein Wunder, bei dem temporären Gehopse, das wir in all der Zeit getrieben haben, seit wir einem Phantom namens Atlan nachjagen.« »Atlan ist kein Phantom«, korrigierte Algonkin-Yatta. »Er ist Realität. – Psiotronik, berechne bitte, wieviel Zeit das Yrgarh-System dazu gebraucht hat, um die bewußten 104,4 Lichttage zurückzulegen!« »Das Yrgarh-System kreist mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 325 Kilometer pro Sekunde um das Zentrum der Galaxis«, sagte die Psiotronik. »Das wären rund 19 500 Kilometer pro Minute, 1 170 000 Kilometer pro Stunde … Die angemessene Abweichung von 104,4 Lichttagen entspricht rund 2,76 Billionen Kilometern. Geteilt durch die durchschnittliche Strecke, die Yrgarh in einem Jahr zurücklegt, ergibt sich ein Zeitraum von rund 273 Jahren.« Mit einem leisen Aufschrei ließ Anlytha die Vase fallen. Dem dumpfen Aufschlag folgte ein lautes Klirren, dann stürzte die Vase. Aus ihrem Innern quoll eine Kostprobe des kostbaren Inhalts, den sie weiterhin barg. Algonkin-Yatta erhob sich, stützte sich mit den Händen auf dem Rand des Kontrollpaneels ab und blickte gedankenverloren auf die große Bildplatte, die den Raum vor dem Kundschafterschiff zeigte. »Zweihundertdreiundfünfzig Jahre …!« flüsterte er beklommen. »Was soll ich tun?
7 Darf ich überhaupt nach Ruoryc zurückkehren und eine Zukunft kennenlernen, die niemals meine eigene Zukunft sein kann?« »Vielleicht haben deine Leute in dieser langen Zeit Kultur entwickelt, musizieren, malen und so weiter …«, sagte Anlytha träumerisch. Für einen Moment sah es so aus, als wollte der Kundschafter ihr den Hals umdrehen, doch dann lachte er und meinte: »Du denkst bei allem nur daran, deine Taschen mit Glitzerkram vollzustopfen, mein Weltraum-Vogel!« Er seufzte. »Aber Spaß beiseite, Anlytha! Ich habe höllische Angst vor dem, was uns auf Yrgarh erwartet, wenn wir nach einem Zeitsprung von zweihundertdreiundsiebzig Jahren dort ankommen. Wie wird sich die mathonische Kultur weiterentwickelt haben? Wird es überhaupt noch Mathoner geben? Oder sind sie ausgestorben oder haben sie die Ursprungswelt ihrer Vorfahren entdeckt und sind dorthin geflogen?« »Ihre Ursprungswelt war mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die Erde der lemurischen Epoche«, sagte Anlytha. »Das haben die Gespräche auf der Erde ergeben. Wären die Mathoner zur Erde zurückgekehrt, hätten wir sie bei unserem letzten Besuch dort gefunden.« Algonkin-Yatta schüttelte den Kopf. »Das ist nicht gesagt. Sie könnten auch erst in zweihundert Jahren zur Erde auswandern – von dem Zeitpunkt aus gerechnet, an dem wir eigentlich hätten hier ankommen müssen«, erklärte der Kundschafter. »Es gibt noch ein anderes Problem«, warf die Psiotronik ein. »Jedes Kundschafterschiff muß, wenn es nach Ruoryc zurückkommt, ein bestimmtes Erkennungszeichen senden – und die Erkennungszeichen wechselten nach jeweils zehn Jahren. Wenn wir also unser altes Erkennungszeichen senden, so ist es nicht das derzeit gültige, und ich habe keine Information darüber, wie MYOTEX reagiert, wenn er annehmen muß, daß jemand sich in unlauterer Absicht nähert. Immerhin hat MYOTEX in unserer Zeit und
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vorher immer großen Wert darauf gelegt, daß kein einziger Außenstehender erfuhr, wo sich das Yrgarh-System befindet.« »Dieses Risiko müssen wir auf uns nehmen«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Selbstverständlich wirst du zusammen mit unserem Erkennungszeichen eine kurze Nachricht senden, durch die MYOTEX über unseren Zeitsprung unterrichtet wird.« »Selbstverständlich, Kundschafter«, sagte die Psiotronik. »Ich soll also auf Heimatkurs gehen?« Der Kundschafter fröstelte plötzlich. »Kann eine Zeit, in die man eigentlich nicht gehört, Heimat sein, Psiotronik? Heimat ist ja nicht nur ein Planet, sondern immer auch die Zeit, aus der man kommt. Aber bei mir ist die Zeit, in die ich komme, nicht die Zeit, aus der ich stamme.« »Sei nicht so kompliziert, Algonkin!« sagte Anlytha. »Sieh mich an! Ich weiß nicht einmal, woher ich komme. Deshalb ist es mir egal, wohin ich gehe. Und darum tröstet es mich ein wenig, daß auch du einmal nicht weißt, wohin du gehörst.« Algonkin-Yatta blickte seine Gefährtin eine Weile an, dann lächelte er und sagte: »Psiotronik, nimm Kurs auf den Planeten Ruoryc!«
* »Ist das Ruoryc?« fragte Anlytha und deutete auf das Abbild eines die große Bildplatte beherrschenden Himmelskörpers. »Aber nein!« rief Algonkin-Yatta. »Das ist Lettaby, der Mond von Ruoryc! Er ist völlig tot, wie du siehst.« Im nächsten Augenblick schloß er, genau wie Anlytha, geblendet die Augen. Etwas unsäglich Grelles war auf der Oberfläche von Lettaby erschienen, so, als hätte jemand dort einen riesigen, superhellen Scheinwerfer angeschaltet. Algonkin-Yattas Nasenschleimhaut identifizierte das Geruchssignal, das die höchste Alarmstufe ankündigte, dann sagte die – im Vergleich zu normalen Zeiten erheblich lau-
tere – Stimme der Psiotronik: »Notfall Rot! Notfall Rot! Etwas hat alle Sensoren geblendet. Ich bin nicht mehr in der Lage, die Position des Schiffes zu bestimmen. Deshalb muß ich das Schiff so lange treiben lassen, bis die Sensoren wieder funktionieren.« Der Kundschafter starrte auf die große Bildplatte, die jetzt wie ein schwarzer Spiegel aussah und genausoviel zeigte. »Was war das?« fragte Anlytha furchtsam. »MYOTEX muß in den vergangenen zweihundertdreiundsiebzig Jahren das Sicherheitssystem für Ruoryc erweitert haben. Zu meiner Zeit gab es auf Lettaby keine Anlagen zur Blendung von Raumschiffen – soviel ich weiß.« »Hattest du das alte Erkennungszeichen und eine entsprechende Nachricht gesendet, Psiotronik?« fragte Anlytha. »Ja, Madam«, antwortete die Psiotronik, die ihren Sprachschatz während der Aufenthalte der Zeitkapsel auf Terra auf dem Umweg über die Zeitkapsel ebenfalls erweitert hatte. »Aber die einzige Reaktion war die Blendung aller Außen-Sensoren.« Ein heftiger Stoß traf das Kundschafterschiff. Algonkin-Yatta und Anlytha taumelten. Der Kundschafter fing sich wieder, aber Anlytha flog haltlos durch die Zentrale und prallte gegen eine Wand. »Kollision – mit was?« rief Algonkin-Yatta, während er zu Anlytha eilte und sie vorsichtig untersuchte, um herauszufinden, ob sie sich etwas gebrochen hatte. »Keine Information«, sagte die Psiotronik. »Da keine Außen-Sensoren funktionieren, habe ich nicht mehr registrieren können als du, nämlich einen schwachen Stoß.« »Einen schwachen Stoß!« rief Algonkin-Yatta empört. »Er hat Anlytha fast umgebracht! Hoffentlich ist ihr Genick nicht gebrochen. Und die Rippen …« Seine Begleiterin fuhr plötzlich hoch und kicherte laut. »Nicht doch!« zwitscherte sie. »Ich bin kitzelig, Yatta!«
Schatten über Ruoryc Der Kundschafter hörte auf damit, ihre Rippen zu betasten. Seine Augen leuchteten. »Du bist also völlig in Ordnung, Lytha!« rief er. »Innen-Sensoren melden die Anwesenheit unbekannter beweglicher Objekte, die offenbar durch die Nebenschleuse zwei eingestiegen sind«, sagte die Psiotronik. »Jemand hat uns eingefangen!« stellte Algonkin-Yatta fest. »Psiotronik, kannst du nicht genau definieren, was du unter ›unbekannten beweglichen Objekten‹ verstehst?« »Nein«, antwortete die Psiotronik. »Ich bin nicht einmal sicher, ob es sich tatsächlich um ›Objekte‹ im Sinn einer bestimmten Menge von in sich abgeschlossenen Einzelgebilden handelt. Aber ich konstatiere unmittelbare Gefahr für dich und Anlytha, Kundschafter. Das Unbekannte bewegt sich auf die Zentrale zu. Ich empfehle Flucht.« »Das kommt nicht in Frage«, erwiderte Algonkin-Yatta und stellte Anlytha wieder auf die Beine. »Ein Kundschafter verläßt sein Schiff niemals, wenn es in Gefahr ist. Anders ist es mit dir, Anlytha. Ich schlage vor, du läßt dich durch die Notröhre hinauskatapultieren. Hm, aber das geht auch nicht, weil wir nicht wissen, was außerhalb des Schiffes ist.« »Ich weiß, was ich tue«, sagte Anlytha und zwitscherte hell, während ihr kleiner weißer Federkamm sich auf ihrem Kopf unternehmungslustig aufrichtete. »Verrate bitte niemandem, daß du nicht allein an Bord bist, Yatta! Schließlich ist es die Norm, daß Kundschafter allein auf ihren Schiffen sind.« »Du willst dich verstecken«, stellte Algonkin-Yatta fest. »Wo?« »Keine Zeit!« sagte Anlytha. Sie raffte den römischen Silberkrug auf, stopfte das herausgefallene Geschmeide hinein und verließ die Zentrale durch den Notausgang. Algonkin-Yatta streifte seine Bordkombination ab, versteckte die Geheimausrüstung in seinem Unterzeug und an den dafür vorgesehenen Körperverstecken, zog die Raumkombination schnell wieder an und war ge-
9 rade fertig damit, als das Hauptschott der Zentrale sich öffnete. Der Kundschafter gehorchte nicht nur den alten Kundschaftergesetzen, sondern auch der eigenen Vernunft, als er den Waffengürtel abschnallte und wegwarf. Durch die Öffnung wallte ein in allen Farben leuchtender, unterschiedlich hell glitzernder Strom aus undefinierbarer Materie herein, einem Nebelstreif ähnelnd oder mehr noch der Miniatur-Nachbildung eines streifenförmigen Weltraum-Gasnebels. Vorsichtshalber schloß Algonkin-Yatta den leichten, normalerweise im Halswulst geborgenen Druckhelm der Bordkombination, denn obwohl er vorerst nicht an Gegenwehr dachte, wollte er den glitzernden Nebel nicht so dicht an sich herankommen lassen, daß er keine Luft mehr bekam. Es dauerte nicht lange, da hatte der Nebel die Zentrale vollständig ausgefüllt. Der Kundschafter stak mitten in dem Nebel und versuchte vergeblich zu erkennen, was dieses unglaubliche fremde Etwas in der Zentrale tat.
* Anlytha richtete einen psionischen Impulsstrahl auf die Psiotronik des Kundschafterschiffs. Das heißt, sie wollte es tun, aber sie bekam keinen Kontakt. Es schien, als gäbe es keine Psiotronik mehr. Panik erfaßte Anlytha. Sie fühlte sich plötzlich allein und hilflos dem Unbegreiflichen ausgeliefert. Nur der Gedanke an Algonkin-Yatta und die Sorge um ihn verliehen ihr die Kraft, gegen die Panik anzukämpfen und sich zu entschließen, allein gegen das Unbegreifliche zu bestehen. Das Schwierigste an der ganzen Sache war, daß Anlytha nicht einmal ahnte, worum es sich bei dem Eindringling handelte. Auch wußte sie nicht, was der Fremde wollte. Ihr war nur klar, daß es Gewalt gegen das Kundschafterschiff angewandt hatte. War es möglich, daß MYOTEX in den
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vergangenen zweihundertdreiundsiebzig Jahren seine Sicherheitssysteme in einer Weise weiterentwickelt hatte, daß jemand, der diese Zeitspanne nicht miterlebt hatte, sich die Art und Weise dieser Weiterentwicklung überhaupt nicht vorstellen konnte? Anlytha sah sich in der kugelförmigen Wohnzelle des Kundschafterschiffs um. Sie musterte die kostbaren Sammlerstücke, die von zusätzlichen Schwerefeldern in zahlreichen Nischen festgehalten wurden, nur flüchtig, ganz im Gegensatz zu sonst. Ihr Blick heftete sich auf eine der wenigen freien Nischen. Sie war groß genug, um ein nur 1,33 Meter großes Lebewesen aufzunehmen. So graziös, als besäße sie Flügel, die einen Teil ihres Körpergewichts trugen, bewegte sich Anlytha zu der Nische, stellte sich hinein und machte sich steif. Dann konzentrierte sie sich darauf, etwas Unbekanntem vorzugaukeln, sie wäre die Statuette des urzeitlichen Vogelgotts eines Eingeborenenstammes auf einem primitiven Planeten. Den römischen Krug stellte sie so hinter sich, daß man ihn nicht sah. Als der Zugang zur Wohnzelle sich öffnete, fragte sich Anlytha, ob das Fremde überhaupt ein Zentralnervensystem besaß, das sich etwas vorgaukeln ließ. Als wenig später ein in allen Farben leuchtender, unterschiedlich hell glitzernder Strom hereinwallte, vergaß Anlytha alles, was sie sich vorgenommen hatte. Das Glitzern, Gleißen und Funkeln erzeugte Assoziationen mit einem unvorstellbar großen Schatz aus herrlichstem Geschmeide, das auf einem Transportband direkt auf sie zukam. Mit verzücktem Zwitschern riß sich Anlytha aus dem Haltefeld ihrer Nische los und warf sich auf den Strom der Kostbarkeiten.
* Algonkin-Yatta stellte fest, daß die Psiotronik sich desaktiviert hatte, denn als er versuchte, mit Hilfe der Kommandoschaltung in seinem Gehirn Verbindung mit der
Psiotronik des Kundschafterschiffs zu bekommen, kam nicht einmal ein Reflexsignal herein. Oder hatte das Fremde die Psiotronik desaktiviert? Noch immer war die Zentrale bis in den letzten Winkel von dem vor bunten glitzernden Punkten strotzendem Nebel ausgefüllt. Dieser Nebel schien vor dem Klarsichthelm des Kundschafters zu tanzen. Bisher spürte Algonkin-Yatta keine physische und psychische Beeinträchtigung seiner selbst. Das befriedigte ihn andererseits überhaupt nicht, denn er hatte noch immer keine Möglichkeit herausgefunden, Kontakt mit dem Fremden aufzunehmen. Algonkin-Yatta beschloß, selbst aktiv zu werden, um zu sehen, ob das Fremde darauf irgendwie reagierte. Er bewegte sich langsam auf die Funkanlage zu, schaltete sie aber noch nicht ein, sondern blieb davor stehen. Nichts veränderte sich. Entschlossen aktivierte der Kundschafter die Funkanlage. Die Bildflächen wurden hell, aber es fehlten die Anzeigen für den Aufbau der Antennenfelder. Sollte das, was die Außen-Sensoren des Schiffes geblendet hatte, auch die Projektoren zur Erzeugung der Antennenfelder beeinträchtigt haben? Algonkin-Yatta schaltete die Außenlautsprecher seines Druckhelms ein und sagte, zuerst auf Interkosmo, dann auf AltArkonidisch und zuletzt auf Pthora: »Könnt ihr mich hören? Könnt ihr mich verstehen? Wenn ihr in der Lage seid, Kommunikation auf akustischer Basis herzustellen, dann gebt mir ein Zeichen!« Wieder erfolgte keine Reaktion. Algonkin-Yatta drehte sich um und ging zum Notausgang der Zentrale. Er wollte Anlytha suchen und sie fragen, ob sie schon festgestellt hätte, was das Fremde im Schiff wollte. Dabei fiel sein Blick zufällig auf sein Vielzweck-Armbandgerät, und er sah, daß die Kontrollfelder, die eine Aktivität der im Gerät enthaltenen Mini-Psiotronik anzeig-
Schatten über Ruoryc ten, hell leuchteten. Der Kundschafter wunderte sich sehr darüber, denn genau wie die Mini-Psiotronik der Zeitkapsel erfolgte die Kommunikation mit der des Vielzweck-Armbands über das Kommandogerät in seinem Gehirn, und deshalb hätte er jede Aktivität sofort wahrnehmen müssen. Bitte melden! dachte er beunruhigt. Er empfand durch Vermittlung seines Kommandogeräts ein Knacken, dann ein anund abschwellendes Summen und anschließend ein regelloses Durcheinander unzähliger anderer Geräusche. Melde dich sofort und gib den Sprechkode an! befahl der Kundschafter. In dem Durcheinander der Geräusche gab es einige Male ein scharfes Knacken. Das war alles. Algonkin-Yatta öffnete den Seitenverschluß seines Vielzweck-Armbands und holte die flache Energiekapsel heraus, die das Gerät mit Energie versorgte. Augenblicklich erloschen die Kontrollfelder, und das Durcheinander der Geräusch hörte auf. Die MiniPsiotronik arbeitete nicht mehr. Unterdessen hatte der Kundschafter den Notausgang passiert, ohne daß das Fremde versucht hätte, ihn daran zu hindern. Dennoch war es immer noch vorhanden. Als er die kugelförmige Wohnzelle betrat, sah er, daß das Fremde auch hier war. In einer der größeren Nischen entdeckte er den römischen Krug. Das gab ihm zu denken, denn er wußte, daß Anlytha den Krug voller kostbarer Geschmeide niemals aus den Augen gelassen hätte, wenn sich etwas Fremdes an Bord befand. Er schaltete sein Helmfunkgerät ein und rief nach Anlytha. Aber sie antwortete nicht. Ständig nach Anlytha rufend, hastete er aus der Wohnzelle, irrte durch sein Schiff und fand sich nach einiger Zeit vor dem Innenschott des Haupttors wieder. Und seltsamerweise gab es hier keine Spur von dem Fremden. Der Kundschafter entschloß sich, die Gelegenheit zu nutzen und das Schiff zu verlas-
11 sen, um festzustellen, wo es sich befand. Er aktivierte den Öffnungsmechanismus der Schleuse – und, obwohl er es sich versagt hatte, darauf zu hoffen, funktionierte er so einwandfrei wie sonst auch. Als das Außenschott sich teilte, fauchte die Luft der Schleusenkammer nach draußen. Einige Sekunden lang schwankte Algonkin-Yatta in dem Sog der ausströmenden Luft, dann gab es auch in der Kammer nur noch ein Vakuum, aber nicht das Vakuum des Weltraums. Langsam ging Algonkin-Yatta hinaus. Er ahnte bereits, wo das Schiff lag, als er den ersten Schritt in staubfeinen rotbraunen Sand tat. Der Anblick einer mit kleineren und größeren Steinbrocken übersäten Trockenwüste, die Dünen im Hintergrund und die blaßfarbenen Streifen eines halb über den Horizont ragenden Riesenplaneten verrieten ihm endgültig, daß er sich auf Lettaby befand, dem planetengroßen Mond von Yrgarh.
* Nachdenklich blieb der Kundschafter nach ungefähr fünf Schritten stehen. So weit er sehen konnte, stellte das Kundschafterschiff das einzige Erzeugnis einer wissenschaftlich-technisch fundierten Zivilisation dar. Nirgends entdeckte er Anzeichen einer Landung Fremder auf Lettaby. Natürlich war Algonkin-Yatta nicht so naiv, sich einzubilden, er könnte von seinem Standort aus alles sehen, was auf der rundum durch den Horizont begrenzten Fläche lag oder stand. Das Kundschafterschiff stellte mit 63 Metern Länge und 39 Meter Durchmesser (im Mittelteil) aus der geringen Entfernung von fünf Schritt ein gewaltiges Sichthindernis dar. Praktisch verwehrte es den Blick auf die andere Hälfte der vom Horizont begrenzten Kreisfläche. Deshalb lief der Kundschafter an seinem Schiff entlang, um den Bug herum – und prallte unwillkürlich vor Schreck zurück, als er sah, was sich auf der anderen Seite des
12 Schiffes befand. So weit das Auge reichte, erstreckte sich eine »Mauer« aus dem gleichen »Nebel« mit den zahllosen Leuchtpunkten darin, offenbar aus der gleichen Art von Materie, wie sie auch das Schiffsinnere beherrschte. Doch das war nur, so gigantisch es sich auch über Kilometer um Kilometer erstreckte, die Unter- und Rückseite eines noch gigantischer wirkenden Reflektors, dessen unheimlich grell spiegelnde – oder leuchtende? –, nach innen gewölbte Fläche von zirka dreitausend Quadratkilometern sich unablässig drehte, hob und senkte, und das alles mit einer Lautlosigkeit, die es noch unheimlicher wirken ließ. »Aber was bedeutet das alles?« fragte sich Algonkin-Yatta in verzweifelter Ratlosigkeit. »Wenn sich MYOTEX wenigstens melden und mir erklären würde, wozu das gut sein soll!« Plötzlich zuckte er zusammen, denn etwas Unsichtbares packte ihn und hob ihn mit unwiderstehlicher Gewalt in die Höhe. Erst, als ihn etwas kräftig in den Rücken stieß, merkte er, daß nicht er allein von der unsichtbaren Kraft – sicher einem FesselTransportfeld – gepackt worden war. Er warf sich herum und sah sich der grünlich schimmernden, aus kristallisierter Energie bestehenden Außenhülle seines Kundschafterschiffs gegenüber, das ebenfalls angehoben wurde. Aber er sah noch mehr. Aus Nebenschleuse zwei schlängelten sich nebelartige Streifen jener unbekannten, hell glitzernden Materie und strömten auf die gleichartige Unterseite des »Reflektors« zu, wo sie mit deren Materie verschmolzen. »Sie sind nicht an meinem Schiff interessiert!« stellte Algonkin-Yatta verwundert fest. »Erst erobern sie es …« Er stockte, denn er begriff, daß er gar nicht wußte, ob das Fremde ins Schiff eingedrungen war, um es zu erobern. Es hatte es vielleicht nur untersuchen wollen. Als aus der offenen Nebenschleuse keine fremde Materie mehr kam, arbeitete sich Al-
H. G. Ewers gonkin-Yatta mühsam bis dorthin vor, zog sich hinein und beobachtete von dort aus, wie sein Schiff über den Rand des »Reflektors« gezogen wurde und langsam zum Mittelpunkt der riesigen nach innen gewölbten Scheibe schwebte. Und er erinnerte sich daran, wie etwas unsäglich Grelles ihn, Anlytha und die AußenSensoren des Kundschafterschiffs geblendet hatte – und zwar von der Oberfläche Lettabys aus. Der Reflektor ist in Wirklichkeit ein Strahler! Ihm fiel etwas ein. Er nahm die Energiekapsel und schob sie in sein Vielzweck-Armband zurück, dann erteilte er der MiniPsiotronik über das Kommandogerät in seinem Gehirn den Befehl, sich zu melden. Tatsächlich leuchteten die Kontrollfelder, die die Aktivität der Mini-Psiotronik anzeigten, auf. Das Gerät war in Betrieb. Doch es meldete sich nicht. »Bist du defekt?« erkundigte sich der Kundschafter. Nach einem lauten Knacken summte es eine halbe Minute lang, dann folgte etwas, das dem Geplapper halbflügger Papageien ähnelte, die Algonkin-Yatta in Terrania-City einmal bei einem Züchter bewundert hatte. »Sie muß den Verstand verloren haben!« stieß Algonkin-Yatta hervor. »Hallo, Psiotronik, kannst du dich wenigstens melden?« Er meinte damit die Schiffspsiotronik. Für einen Moment packte ihn die Furcht, auch die Schiffspsiotronik könnte ihm mit dem idiotischen Geplapper antworten, mit dem die Mini-Psiotronik ihren Verlust aller Ratio- und Logikschaltkreise verraten hatte. Doch die Bordpsiotronik antwortete nicht. Algonkin-Yatta stürmte durch Gänge und Schächte in die Zentrale und schaltete an den Kontrollen für die Außen-Sensoren. Er atmete auf, als er feststellte, daß Bilderfassung und normallichtschnelle Ortung wieder funktionierten. Selbstverständlich würde er einige Zeit brauchen, um den größten Teil der Funktionen, die ehedem von der Bordpsiotronik
Schatten über Ruoryc ausgeübt worden waren, durch Manuellschaltungen halbwegs befriedigend zu erfüllen, aber er brauchte glücklicherweise keinen Flug in ferne Sonnensystem zu unternehmen, sondern konnte sich mit einem kurzen Sprung über 150 000 Kilometer begnügen. Algonkin-Yatta lächelte das Abbild Ruorycs an. Wenn er langsam genug flog, konnte er sogar den größten Teil der Strecke nach optischer Direktsicht steuern – falls ihm MYOTEX nicht noch bedeutete, daß das verboten war. MYOTEX! Abermals aktivierte der Kundschafter die Funkanlage, und abermals mußte er feststellen, daß zwar die Bildflächen hell wurden, aber die Anzeigen für den Aufbau der Antennenfelder ausblieben. Eine Kommunikation mit dem Beschützer und Mentor aller Mathoner war somit unmöglich. Damit ließ sich auch nicht erfragen oder feststellen, welche Rolle MYOTEX überhaupt in diesem Zeitalter spielte und welche radikalen Veränderungen in der gesellschaftlichen Struktur der Kuppeln von Ruoryc vorgefallen waren, mit denen sich die unheimlichen Vorfälle seit der Rückkehr von Algonkin-Yattas Kundschafterschiff erklären ließen. Während der Kundschafter grübelte, war das Schiff von unsichtbaren Kraftfeldern weiter zum Mittelpunkt des »Reflektors« bewegt worden – und als es genau über diesem Mittelpunkt und tiefstem Punkt der Schüssel schwebte, verwandelte sich der »Reflektor« schlagartig und kurzzeitig in einen schwarzen Trichter. Aber als dieser optische Eindruck von Algonkin-Yattas Netzhaut aus in seinem Gehirn ankam und bewußt aufgenommen wurde, da befanden sich das Schiff und der Kundschafter bereits auf einer anderen Welt. Unter dem dunkelblauen Glühen einer Gashülle lagen korrodierte Felswände im Spiel von Licht beziehungsweise Streulicht und Schatten, strömten und stürzten heiße Flüsse aus Gasen, kondensierten in tieferen
13 und kühleren Regionen, schossen flüssig davon und verdampften wenig später wieder, während sich anderswo ornamentale und andere Kristallgebilde formten …
* Und hinter alledem … Algonkin-Yatta streckte unwillkürlich die Arme aus, als er, im wallenden Dunst nur schemenhaft erkennbar, die sieben blaßgrauen Kuppeln sah. MYOTEX – Vater und Mutter aller Mathoner. Dort waren alle Mathoner, außer den alten natürlich, geboren, aufgezogen, behütet, gepflegt und ausgebildet worden, dort hatten sie sich in die Gemeinschaft aller Mathoner eingelebt, waren Teile dieser Gemeinschaft geworden und waren in die Wechselbeziehung Mathoner – MYOTEX hineingewachsen, in eine Symbiose zwischen Mensch und Maschine, wenn man so wollte. Aber im Grunde genommen war MYOTEX für einen Teil der Mathoner so etwas wie Gottvater und für einen anderen Teil, der seine Betrachtungsweise nüchterner nannte, der Elter. Im Gefühl jedes Mathoners war MYOTEX die Heimat – MYOTEX und nicht Ruoryc. Und wie es vernünftige Eltern tun, hielt MYOTEX seine »Kinder« nicht für alle Zeit in Abhängigkeit. Er brachte ihnen und ihren Genen bei, auch außerhalb der sieben Kuppeln zu leben, und gab ihnen Raumschiffe, damit sie die Welt über dem glühenden, dunkelblauen Baldachin des Himmels kennenlernten, Kontakt zu anderem Leben und zu bisher noch unbekannten Phänomenen fanden – und zurückkehrten, um das neugewonnene Wissen allen Mathonern (und MYOTEX) zu übermitteln. Der Kundschafter seufzte schwer. Er hatte dies alles keineswegs gedacht, sondern emotional empfunden – und das Resultat war Sehnsucht nach MYOTEX und nach anderen Mathonern. Er grübelte nicht darüber nach, wie der
14 Transport von Lettaby nach Ruoryc bewerkstelligt worden war. Das würde er erfahren, sobald er die Heimat betreten und sich an die neuen Verhältnisse, die nach dieser langen Zeit herrschten, gewöhnt hatte. Doch da war noch etwas anderes: Anlytha. Sein Blick fiel auf die Kontrollen der Funkanlage, und er sah, daß sie plötzlich die Einsatzbereitschaft der Antennenfeldprojektoren anzeigten. Doch das kümmerte ihn im Augenblick nicht so sehr. Zuerst mußte er Anlytha finden. Aber nachdem er das ganze Schiff gründlich durchsucht hatte, mußte er einsehen, daß Anlytha nicht mehr an Bord war. Sie mußte oben auf Lettaby sein, und es war absolut nicht sicher, daß sie überhaupt noch lebte. So oder so aber konnte Algonkin-Yatta nichts für sie tun, bevor er nicht Verbindung mit MYOTEX aufgenommen hatte. Er zweifelte nicht daran, daß ihm ein Start mit dem Kundschafterschiff nicht erlaubt werden würde. Wellenlänge und Modulation von MYOTEX … Algonkin-Yattas Fingerkuppen flogen über die Sensorpunkte des Funkschaltpults, bis die richtige Einstellung stand. Die richtige …? Diejenige, die vor zweihundertdreiundsiebzig Jahren die richtige Einstellung war … Selbstverständlich mußte sie heute nicht mehr gelten, aber da Algonkin-Yatta zusätzlich den automatischen Frequenzsucher aktiviert hatte, würde er bald wissen, wie er MYOTEX erreichen konnte. MYOTEX sendete ununterbrochen: Kommunikationsträgerwellen, Informations- und Lernprogramme, Unterhaltungssendungen, Funkbefehle an die Anlagen zur Trinkwasser- und Nahrungsmittelversorgung, an die Raumschiffsund Ausrüstungswerften und was der Dinge mehr waren. Gewesen waren … Algonkin-Yatta hatte das Gefühl, als würden seine Därme von einer imaginären Hand
H. G. Ewers zusammengepreßt. Er stöhnte auf. Denn der Frequenzsucher vermochte nicht eine einzige funktechnische Aktivität zu entdecken. MYOTEX war so stumm, als wäre er tot. Grauen schüttelte den Kundschafter. Er stand starr und steif da und versuchte etwas von dem, mit dem er konfrontiert wurde, zu begreifen. Auf alles Mögliche wurden Kundschafter vorbereitet, aber nicht auf die Situation, vor die sich Algonkin-Yatta gestellt sah: von allem, was ihm lieb und teuer war, getrennt zu sein durch ein unfaßbares Geschick. Aber allmählich klang der Schock ab. In gleichem Maße baute sich die Willensenergie wieder auf. Algonkin-Yatta entschloß sich, nicht aufzugeben, sich nicht mit seiner Lage abzufinden. Und er erkannte zwei Möglichkeiten des Handelns. Die erste und augenfälligste war die, auf der Kraftfeldlinie, auf der er mit seinem Schiff gekommen war, zwischen den Dimensionen in das Zeitlinienknäuel zurückzukehren, in dem es mit großer Wahrscheinlichkeit zu dem Zeitsprung von 273 Jahren gekommen war, dort zu versuchen, den Vorgang zu reversieren und dann in der »richtigen« Zeit einen anderen Weg nach Ruoryc zu finden. Das würde sehr schwierig sein, denn da die Bordpsiotronik nicht funktionierte, würde er im Kopf alle vorstellbaren Rekonstruktionsmodelle durchrechnen müssen, bis er das gefunden hatte, mit dem sich der Kurs zurückbestimmen ließ. Anschließend mußte beim Durchstoßen des Zeitlinienknäuels tatsächlich der umgekehrte Effekt eintreten – und danach mußte es ihm gelingen, einen neuen Weg nach Ruoryc zu finden. Die zweite Möglichkeit war die, sich vorerst damit abzufinden, daß er sich 273 Jahre weit in der Zukunft befand und sich den Gegebenheiten dieser Zukunft zu stellen – selbst wenn das bedeutete, daß er in den sieben Kuppeln etwas vorfand, das einen solchen Schock auslöste, daß sein Geist da-
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durch ausbrannte. Und genau das befürchtete Algonkin-Yatta. Trotz aller Schwierigkeiten wäre es, das wußte der Kundschafter, leichter, die erste Möglichkeit zu wählen. Er gestand sich aber auch ein, daß dabei der Wunsch des Unterbewußtseins mitspielte, um jeden Preis von Ruoryc wegzukommen, um nicht erfahren zu müssen, was aus der Heimat geworden war. Und wenn er die erste Möglichkeit voll realisierte, das heißt, in »seiner« Zeit herauskam und nach Ruoryc zurückkehrte, was sollte er dann MYOTEX berichten? Was konnte MYOTEX mit den wenigen Informationen, die er in der Zukunft gesammelt hatte, anfangen? Sie würden niemals ausreichen, das Schlimme, das in der Zukunft geschehen war, vorbeugend abzuwenden. Algonkin-Yatta erkannte, daß ihm nur die Entscheidung für die zweite Möglichkeit blieb, das Ausbrennen der Seele zu riskieren und zu versuchen, zu helfen, wenn das möglich war. Umsichtig stellte er seine Expeditionsausrüstung zusammen, verstaute sie in der Pfadfinderkapsel und startete. Die Kapsel hüllte sich automatisch in ein unsichtbares Energiefeld, bevor das Außenschott des Hangars sich öffnete. Langsam schwebte das ovale Fahrzeug durch das diffuse blaue Leuchten der Atmosphäre von Ruoryc auf die sieben nebelverhangenen Kuppeln zu …
* Algonkin-Yatta aktivierte den Impulsgeber und wartete darauf, daß das Tor der ersten Kuppel sich öffnete. Er wartete vergebens. Ungläubig blickte er auf die Rückkopplungsanzeige des Impulsgebers, denn es erschien ihm völlig unmöglich, daß der Kodeimpuls nicht einmal einen neutralen Reflex erzeugt haben sollte. Auch wenn der Kode nicht mehr stimmte, hätte der neutrale Reflex kommen müssen – es sei denn, der Torcomputer bekäme keine Energie mehr.
Das aber hatte es in der Zeit, in der Algonkin-Yatta auf Ruoryc gelebt hatte, nie gegeben – und, soviel er wußte, auch nicht während der Zeit davor. Er ließ die Pfadfinderkapsel ganz auf den Boden sinken, schwang sich über den Bordrand und desaktivierte dadurch den Projektor, der die Pfadfinderkapsel bisher in eine Energieblase gehüllt hatte. Als seine Füße den Boden berührten, nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Er fuhr herum und sah am Rand des Kristallwaldes gegenüber der ersten Kuppel einen Schatten, der aber schnell zwischen den bizarren, blauweiß schimmernden und sich ständig verändernden Kristallgebilden untertauchte. Ein Mathoner …? Aber warum hätte sich ein Mathoner vor einem Mathoner verbergen sollen? Algonkin-Yatta mußte sich immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen, daß das nicht seine Zeit war und daß das Verhalten der Mathoner deshalb auch nicht dem vor zweihundertdreiundsiebzig Jahren gleichen mußte. Er klappte den Druckhelm zurück und rief: »Hallo!« Sein warmer Atem kondensierte sofort, denn der Kundschafter stand im Schatten der ersten Kuppel. Auf seiner Gesichtshaut machte sich ein Prickeln bemerkbar. Es handelte sich um die Reaktion auf die starke radioaktive Eigenstrahlung Ruorycs, aber solange das Prickeln nicht zum beißen Brennen wurde, schadete es einem teilangepaßten Mathoner nicht. Niemand antwortete. Aber Algonkin-Yatta nahm es nicht länger hin, daß es auf Ruoryc kein Echo auf seine Anwesenheit gab. Er rannte auf den Kristallwald zu und schlängelte sich zwischen den Kristallgebilden hindurch. Die Kristallisationsprozesse und noch ungeklärte Vorgänge erzeugten eine Art Sphärenmusik. Es war eine gefährliche Sphärenmusik, denn wenn man sich nicht psychisch dagegen wappnete, verlor man die Orientierung
16 konnte in eine der zahlreichen tiefen Spalten einbrechen, die es in dem durchschnittlich dreißig Meter dicken Unterbau aus »Dauerkristallen« unter dem Wald gab – und bisher hatte noch kein Mathoner so etwas überlebt. Wenn die Sphärenklänge zu laut wurden oder gar den ganzen Körper zum Mitschwingen brachten, hielt Algonkin-Yatta sich die Ohren zu und atmete keuchend. Er spürte es, daß er sehr lange nicht mehr auf Ruoryc gewesen war. Von dem Unbekannten, den er verfolgte, war nichts zu sehen – und hören konnte man in einem Kristallwald außer der Sphärenmusik sowieso nichts. Der Kundschafter war froh, als er den Wald auf der anderen Seite wieder verlassen konnte. Er stand am Eingang einer Schlucht, über deren Ränder sich heiße Gasmassen ergossen, die sich im Schatten auf dem Grund der Schlucht verflüssigten und einen reißenden Strom bildeten, der, soviel Algonkin-Yatta sich erinnerte, bald in grelles Streulicht geriet, wobei er sich wieder in Gas verwandelte. Durch die Schlucht konnte der Unbekannte nicht geflohen sein, es sei denn, er hätte sich in einem geschlossenen Raumanzug treiben lassen. Aber der Schatten, den er vorher gesehen hatte, hatte zu schlank für einen Mathoner im Raumanzug gewirkt. Algonkin-Yatta schaute nach links. Eine blanke, zur Schlucht hin leicht geneigte Ebene, über die dichte Gasschwaden flossen. Hier hätte sich der Unbekannte nicht verbergen können. Algonkin-Yatta blickte nach rechts. Erodierte Felstrümmer von bis zu fünfzehn Metern Höhe ragten dicht an dicht aus dem gasüberfluteten Boden. Dort mußte es unzählige Verstecke geben, und es konnte Tage dauern, bis er sie alle gefunden hatte. Aber wenn der Unbekannte den Kristallwald tatsächlich verlassen hatte, dann konnte er sich nur dort verborgen halten. Algonkin-Yatta entschloß sich, die Suche zwischen den Felstrümmern aufzunehmen, obwohl er die bleierne Müdigkeit in den
H. G. Ewers Gliedern spürte, die jeder Umstellung des Metabolismus und vollen Einwirkung der 4,52 Gravos von Ruoryc folgten. Er wußte, daß er innerhalb der nächsten Stunde mit Sehstörungen und Halluzinationen zu kämpfen haben würde, aber auch, daß danach eine »normale Phase« von drei bis vier Stunden folgte. Danach brauchte er entweder mindestens zehn Stunden lang absolute Ruhe mit stark reduziertem Stoffwechsel oder Sauerstoffatmosphäre aus der Flasche mit der entsprechenden Umstellung des Metabolismus. Alles in allem waren die Aussichten, den Unbekannten zu finden, nicht gerade rosig. Aber, so sagte sich der Kundschafter, was blieb ihm schon anderes übrig. Er wandte sich nach rechts und drang in die Ebene der Türme ein. Nach vielleicht hundert Metern tauchten rings um ihn aus Deckungen mehrere Gestalten auf. Sie trugen derbe Monturen und urtümliche Waffen wie Armbrüste und Wurfspieße. Und sie waren nach Gestalt und Hautfarbe zweifellos Mathoner, und sie zielten mit ihren Waffen auf den Kundschafter. Algonkin-Yatta rührte seine Waffe nicht an, sondern hob die Arme schräg an und drehte die Handflächen nach vorn. »Ich komme in Frieden, meine Brüder!« sagte er. »Du bist nicht unser Bruder!« erwiderte einer der Mathoner. Seine Aussprache klang eigenartig. »Nein, du nicht, denn du schwankst unter der Schwerkraft Ruorycs, deine Lungen haben Mühe, die metabolische Anpassung zu stabilisieren. Du bist ein Spion der Aurogilts, die Lettaby erobert haben und MYOTEX verleiten wollen, vom Tode wiederaufzuerstehen und die ihn dann versklaven wollen.« »Aurogilts?« echote der Kundschafter. »Ich höre diesen Namen zum erstenmal. Sind damit diese glitzernden Nebelströme gemeint, die …« »Laßt euch niemals auf eine Diskussion mit Spionen ein!« rief ein anderer Mathoner. »MYOTEX ist gestorben, damit wir frei
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bleiben – und sein Opfer verpflichtet alle Mathoner, seinen letzten Willen getreu zu erfüllen.« »Ich heiße Algonkin-Yatta«, sagte der Kundschafter zum letzten Sprecher. »Und wie heißt du?« »Naskapi-Tikki«, antwortete der Mann und schüttelte den Kopf. »Aber du gehörst nicht zur Sippe der Algonkin, die hinter den Becerra-Hügeln lebt.« »Ich gehörte zu der Algonkin-Sippe, die in den Kuppeln von MYOTEX lebte«, erklärte Algonkin-Yatta – und merkte gleich darauf, daß er einen schweren Fehler begangen hatte. Er bekam keine Gelegenheit, ihn zu korrigieren, denn der Schlag mit einem Speerschaft auf den Hinterkopf löschte sein Bewußtsein aus.
* Als Algonkin-Yatta erwachte, war es dunkel. Erst, nachdem seine Augen sich daran gewöhnt hatten, vermochte er die schwache Helligkeit auszumachen, die durch einen Spalt in die kleine Felsenhöhle fiel, in die man ihn gesperrt hatte. Seltsamerweise war der Kundschafter nicht gefesselt. Wahrscheinlich waren die anderen Mathoner sicher, daß er noch lange bewußtlos bleiben würde. Wie hatten die Mathoner dieser Zeit ihn genannt: einen Spion der Aurogilts. ›Du bist nicht unser Bruder!‹ hatte einer von ihnen gesagt. Aber für was hielten sie ihn dann? Für einen Aurogilt, dessen Bewußtsein man in einen synthetischen Mathoner-Körper gesperrt hatte, einen Kunstkörper, der den Körpern echter Mathoner weit unterlegen war? Und was sollte das heißen, MYOTEX sei gestorben, wenn im gleichen Atemzug behauptet wurde, die Aurogilts wollten MYOTEX dazu verleiten, vom Tode aufzuerstehen, um ihn dann zu versklaven? War MYOTEX demnach nicht wirklich tot, sondern nur desaktiviert, mit geringer Erhal-
tungsspannung in den Datenspeichern, gerade genug, damit sie ihre passive Speicherfunktion erfüllen konnten und keine irgendwann gespeicherten Informationen verlorengingen? Verhielt es sich so, so war es auch völlig klar, daß kein Mathoner in den Kuppeln leben konnte. Alles, wofür MYOTEX in der Vergangenheit gesorgt hatte, gab es nicht mehr. Ohne MYOTEX liefen die prozessorgesteuerten Fabriken nicht mehr, wurde weder Trinkwasser noch Sauerstoff zur Verfügung gestellt. Darum lebten die heutigen Mathoner im Freien, in Höhlen und besaßen keine Erzeugnisse der früheren fortgeschrittenen Technik mehr. Sie mußten sich vielmehr mit der handwerklichen Herstellung primitiver Werkzeuge und Waffen begnügen. Und sie leben ständig in Umweltverhältnissen, an die sie nur teilweise angepaßt waren! Algonkin-Yatta stutzte. Ich darf die Fakten der Vergangenheit nicht einfach auf diese Gegenwart übertragen! Die Mathoner meiner Zeit waren nur teilangepaßt. Die Vertreibung aus den Kuppeln hat die betreffenden Mathoner und ihre Nachkommen zur Vollanpassung gezwungen – und wer das nicht schaffte, dessen Linie erlosch. Es können nicht viele geschafft haben. Die Gesetzmäßigkeiten von Mutation und Selektion wurden wahrscheinlich von der genetisch bereits verankerten Teilanpassung teilweise überspielt, sonst könnte kaum ein Mathoner überlebt haben. Leise richtete Algonkin-Yatta sich auf und schlich zu dem Spalt, durch die das Licht fiel. Verblüfft erstarrte er. Er hatte erwartet, eine Gasflamme zu sehen, durch die die Nebenhöhle beleuchtet würde, statt dessen sah er Leuchtröhren an der säuberlich geglätteten Höhlendecke und einen Elektroherd neben anderen Küchenmöbeln. Zwar waren die Möbel, der Herd und die Leuchtröhren grob und primitiv. Das lag of-
18 fenkundig daran, daß sie in Handarbeit hergestellt worden waren. Aber die Nachkommen der alten Mathoner hatten die Elektrizität nicht vergessen. Das ließ hoffen, daß sie auch in anderer Hinsicht nicht zu weit zurückgefallen waren. Da sich niemand in der Küche aufhielt, schlich sich der Kundschafter hinein. Er hob den Deckel von einem Topf auf dem Herd und sah eine blaßgrüne brodelnde Masse darin. Sie roch nicht unangenehm, aber er verzichtete doch lieber auf eine Kostprobe. Vollangepaßte Mathoner brauchten sicher eine chemisch anders zusammengesetzte Nahrung als er. Noch immer ließ sich niemand blicken. Ich werde fliehen! beschloß Algonkin-Yatta. Diese Leute glauben mir nicht. Ich muß versuchen, MYOTEX zu wecken! Er wollte die Waffen in seinen Gürtelhalftern überprüfen und stellte fest, daß sie verschwunden waren. Also kennen sie auch das Funktionsprinzip der alten Hochenergiewaffen! dachte der Kundschafter erleichtert. Andernfalls hätten sie nicht gewußt, daß es sich um Waffen handelt! Durch eine Öffnung gelangte er in eine aus Plastikplatten zusammengefügte Kammer mit Innen- und Außenschotten, die zwar nicht luftdicht abschlossen, aber von beachtlichem handwerklichen Geschick zeugten und zweifellos der besseren Isolierung dienten. Es gab sogar Handräder zum Öffnen und Schließen der Schotte. Sorgfältig verschloß Algonkin-Yatta das Innenschott, bevor er das Außenschott öffnete. Dahinter lag ein Felsgang, der von faustgroßen roten Kristallklumpen, die aus Wandspalten wucherten, beleuchtet wurde. Er war so leer wie die anderen Räumlichkeiten. Algonkin-Yatta kurbelte das Außenschott zu, dann eilte er den Felsgang entlang. Nach zirka fünfzig Metern kam er an breite, sorgfältig in den Fels gehauene Stufen, die nach oben führten. Auch die Treppe wurde von roten Kristallklumpen beleuchtet.
H. G. Ewers Der Kundschafter stieg die Stufen empor, die in eine kleine Höhle führten. Gegenüber war in etwa zehn Metern Entfernung eine ins Freie führende Öffnung zu sehen. In dem dunkelblauen diffusen Licht Yrgarhs war deutlich die Gestalt eines Mathoners zu sehen, der in der Höhle stand, einen Wurfspieß in den Händen hielt und den Ausgang beobachtete. Mit einem Sprung war Algonkin-Yatta bei ihm. Der Wächter fuhr herum, aber er hatte keine Chance gegen Algonkin-Yatta, der noch von MYOTEX in mehreren Kampftechniken ausgebildet worden war. Der Kundschafter nahm dem Bewußtlosen den Wurfspieß ab, dann ging er zur Öffnung und spähte ins Freie. Er sah, daß er sich noch in der Ebene der Türme befand. Am Stand der Sonne sah er, daß es früher Morgen war und daß er sich nach rechts wenden mußte, wenn er seine Pfadfinderkapsel mit der unersetzlichen Expeditionsausrüstung erreichen wollte. Er schalt sich einen Narren, daß er die Kapsel nicht gegen Unbefugte abgesichert hatte, aber das war auf Ruoryc noch nie nötig gewesen. Früher nicht! Algonkin-Yatta lehnte sich an den Fels, als sich ihm alles vor den Augen drehte. Er hatte das Gefühl, in einer außer Kontrolle geratenen Trainings-Zentrifuge zu sitzen. Seine Muskeln zitterten unkontrolliert, sein Magen drehte sich um, und ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Ungefähr eine halbe Stunde kämpfte der Kundschafter unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft gegen den Schwächeanfall an. Er wußte, daß die Anfälle in immer kürzeren Abständen wiederkehren würden, wenn er nicht bald in eine Sauerstoffatmosphäre kam – wenigstens für ein paar Stunden. Zuletzt würde er zusammenbrechen und sterben, da er die metabolische Umstellung auf die Außenweltbedingungen nicht unendlich lange durchhielt. Endlich vermochte er wieder halbwegs klar zu sehen. Er stieß sich vom Fels ab und
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wankte zwischen den erodierten Felstrümmern in die Richtung, in der er hinter einem Kristallwald seine Pfadfinderkapsel vermutete.
* Er trat zwischen den letzten Felstrümmern auf den schmalen Streifen freien Landes zwischen der Ebene der Türme und dem Kristallwald, da sah er die Pfadfinderkapsel. Besetzt mit fünf oder sechs Mathonern, bewegte sich das oben offene Oval ruckend aus dem Kristallwald heraus. Wilde Schreie begleiteten die Aktion. Sie verrieten, welchen Spaß es den Mathonern bereitete, ihre Intelligenz an dem Erzeugnis einer halbvergessenen Technik zu messen. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis sie die Kapsel fehlerlos bedienten. Die Mathoner auf der Pfadfinderkapsel erblickten ihn, riefen sich etwas zu und sprangen ab – bis auf einen, der weiterhin die Kontrollen bediente. Ohne zu überlegen, wirbelte Algonkin-Yatta herum und rannte ungefähr im rechten Winkel nach rechts zwischen die nächsten Felstrümmer. Er wollte nur fort, um nicht wieder eingefangen zu werden. Aber sehr schnell wurde ihm klar, daß er als Teilangepaßter niemals so schnell laufen würde wie die Vollangepaßten. Die Schwerkraft machte ihm zu schaffen, während seine Verfolger leichtfüßig hinterherkamen. Plötzlich geriet der Kundschafter aus der Ebene der Türme heraus und sah sich in der Nähe des Schluchtrands, über den heiße Gasmassen stürzten, um am Grunde der Schlucht abzukühlen, zu kondensieren und als reißender Strom weiterzufließen. Ein Gedanke durchzuckte den Kundschafter. Er zögerte nicht, ihn in die Tat umzusetzen, denn die Verfolger ließen ihm keine Zeit dazu. Ihre Rufe, mit denen sie sich gegenseitig anfeuerten, kamen schnell näher. Algonkin-Yatta klappte den Druckhelm nach vorn, setzte sich auf den Schluchtrand
und ließ sich von den wirbelnden Gasmassen auf den Steilhang schieben. Dort bremste er mit den Füßen gerade soviel ab, um nicht zu schnell zu werden, ohne sich zu überschlagen. Im Nu war er unten, tauchte unter die Oberfläche des Flusses, schoß wieder empor und drehte sich auf den Rücken, um sich treiben zu lassen und gleichzeitig seine Umgebung zu beobachten. Obwohl seine Lage noch immer so gut wie aussichtslos war, lachte er über die Gesten der Ratlosigkeit, mit denen seine Verfolger am oberen Rand der Schlucht die Arme bewegten. Anscheinend war trotz ihrer Vollanpassung ein Bad im Fluß schädlich oder sogar tödlich für sie. Nach einer Weile verschwanden die Verfolger aus seinem Blickfeld. Er war sicher, sie würden ihn nicht einholen, denn die Flüssigkeit schoß schneller durch die Schlucht, als ein Mathoner laufen konnte. Als sich Algonkin-Yatta an den erbeuteten Wurfspieß erinnerte, hob er die Hand, in der er ihn hielt, aus dem Wasser. Aber von dem Spieß war nichts mehr da, obwohl der Kundschafter sicher war, daß er ihn die ganze Zeit über nicht losgelassen hatte. Aggressive Chemikalien …! Argwöhnisch musterte der Kundschafter seine Kombination, die ja bei weitem nicht so extrem widerstandsfähig wie ein echter Raumanzug war, obwohl sie provisorisch seine Funktion erfüllte. Er atmete auf, als er an ihr keine Spuren von Zersetzung entdeckte. Im nächsten Moment ruderte er wild mit den Armen, denn völlig überraschend für ihn war er über die Kante der Thalamon-Senke getragen worden und stürzte zusammen mit dem Thalamon-Fall in eine Tiefe von zirka dreißig Metern. Früher hat der Fluß aus heißem Gas bestanden! überlegte er. Demnach haben sich die klimatischen Bedingungen verändert. Fast automatenhaft veränderte Algonkin-Yatta durch Arm- und Beinbewegungen seine Körperlage so, daß er mit den Füßen zuerst in das Becken unterhalb des Falls kam. War
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die Flüssigkeit darin nicht tief genug, würde er sich die Wirbelsäule zertrümmern; reichte die Tiefe aus, dann geschah ihm nichts. Unwillkürlich hielt er die Luft an, als seine Füße die Oberfläche der Flüssigkeit berührten, dann schlug die See auch schon über seinem Kopf zusammen. Der Kundschafter versuchte zu erkennen, was unter seinen Füßen war. Als er Widerstand spürte, stieß er einen Schrei aus – aber da war aus dem Sturz bereits ein langsames Sinken geworden, so daß der Aufstoß auf dem Seegrund die Bewegungsrichtung lediglich umkehrte, ohne daß dem Kundschafter ein einziger Knochen gebrochen wurde. Kurz darauf tauchten Kopf und Oberkörper aus dem See – und sanken wieder zurück. Aber in der kurzen Zeitspanne, die ihm für einen Rundblick gegönnt war, hatte Algonkin-Yatta fünf Mathoner gesehen, die über die trockene Seite der Thalamon-Senke abstiegen. Er überlegte noch, was er tun sollte, als er zum zweitenmal auftauchte. Ein lautes Klatschen und eine hoch aufspritzende Fontäne neben ihm gaben ihm die Antwort. Man schoß mit Armbrüsten auf ihn, und das konnte unangenehm werden. Algonkin-Yatta tauchte weg und schwamm unter der Oberfläche, bis er einen der Abflüsse erreichte, die zu den vielen kreisrunden Becken führten, in denen sich infolge unbekannter Einflüsse Leben gebildet hatte. Warum der Kundschafter das tat, hätte er nicht erklären können. Auf keinen Fall rechnete er mit Hilfe durch eine Lebensform, die absolut fremdartig und zudem unerforscht war. Vielleicht wollte er im Augenblick höchster Gefahr einfach nicht allein sein, und für einen Mathoner war die Gesellschaft jedes Lebewesens Gesellschaft.
* Als er die Einmündung des Kanals in eines der Becken erreichte – immer noch unter der Oberfläche schwimmend –, erblickte er
etwas, das einer riesigen Qualle ähnelte, die er nur deshalb sah, weil in ihrem völlig transparenten Körper ununterbrochen winzige funkenförmige Entladungen erfolgten. Algonkin-Yatta trat mit den Füßen, um abzubremsen. Plötzlich sah er auf dem Material seiner Handschuhe Flämmchen tanzen, dann merkte er, daß das überall an seiner Bordkombination so war. Elektrische Energie! Der Kundschafter erinnerte sich daran, daß er, wenn er solche Becken beobachtet hatte – allerdings immer von draußen –, bei Aktivitäten der darin hausenden Lebensform stets zweierlei beobachtet hatte: zuerst wölbte sich die Oberfläche des Tümpels auf, dann wechselten die ornamentalen Gebilde, die sich am Rand herauskristallisiert hatten, ihre Farben. Auf seine neuesten Erfahrungen übertragen, hieß das: Jedesmal, wenn die »elektrische Qualle« sich bewegte und dadurch die Oberfläche des Tümpels zum Aufwölben oder Aufwallen brachte, gab sie einen starken Stromstoß von sich, der den Farbwechsel der Kristallgebilde bewirkte – und der ihn, Algonkin-Yatta, zweifellos getötet hätte, wäre die Isolation der Bordkombination nicht so hervorragend gewesen. Selbstverständlich war es dem Kundschafter klar, daß es sich bei dem Lebewesen um alles andere als eine Qualle handelte. Jede Qualle wäre in dieser chemisch aggressiven Flüssigkeit in Sekundenschnelle aufgelöst worden. Dieses Ruoryc-Wesen mußte in Substanz und Körperchemie indirekt – nämlich über den langen Weg der Evolution – mit der aggressiven Flüssigkeit verwandt sein. Während Algonkin-Yatta das überlegte, waren die Flämmchen auf seiner Bordkombination erloschen. Von dem Ruoryc-Wesen war nichts mehr zu sehen. Es schien tatsächlich, als hätte es sich aufgelöst. Aber der Kundschafter war sicher, daß es noch da war. Ob es Möglichkeiten einer Verständigung zwischen Mathonern und Ruorycs gab?
Schatten über Ruoryc Möglichkeiten einer sinnvollen Kommunikation? Wir hätten uns früher darum kümmern sollen. Statt dessen haben wir uns von unserer Wißbegierde in fremde Sonnensysteme treiben lassen. Abermals leuchteten im Tümpel funkenförmige Entladungen auf, markierten die Umrisse und die innere Struktur des Ruorycs. Aber diesmal tanzten keine Flämmchen über Algonkin-Yattas Bordkombination. Er blickte auf das fremde Wesen, das doch seine Heimat mit ihm teilte. Alles, was ihm MYOTEX über die Kontaktaufnahme mit fremdartigen Intelligenzen beigebracht hatte, alle seine Erfahrungen als Kundschafter, das alles nützte ihm hier nichts. Es war außerdem nicht sicher, ob die Ruoryc-Wesen eine Stufe der Intelligenz erreicht hatten, die sie zu analythischem Denken und zur Verständigung mit abstrakten Mitteln befähigte. Er dachte eine Verwünschung, als er die Halluzination hatte, im quallenförmigen Körper des Ruorycs ein funkensprühendes Spiegelbild seiner selbst zu sehen. Ein Blick auf die Kontrollen des Überlebenssystems sagte ihm jedoch, daß seine Atemluft völlig normal sei, so daß seine Halluzination weder auf zuviel Sauerstoff noch zuviel Kohlendioxid zurückzuführen war. Erneut starrte er zu dem Wesen. Aber die Halluzination war ebenso verschwunden wie das Wesen selbst. Das heißt, das Wesen mußte noch da sein, aber es war wiederum unsichtbar für mathonische Augen geworden. »Habe ich mir das tatsächlich nur eingebildet?« fragte sich Algonkin-Yatta. »Ich glaube, ich träume.« Er erstarrte förmlich, als in dem RuorycWesen das Funkenbild eines Gehirns zu sehen war, des Gehirns eines Mathoners. Der Kundschafter in ihm übernahm die Kontrolle über seinen Verstand. Das ist ein Kontaktversuch – und zwar der Kontaktversuch einer sehr hochstehenden Intelligenz, die sogar genau weiß, wie mein Gehirn hinter den Schädelknochen
21 aussieht! Das Funkenbild des Gehirns verblaßte und verschwand ganz. Abermals fragte sich der Kundschafter, ob das alles nicht doch nur auf Einbildung beruhte, auf Vorspiegelungen seines überforderten Zentralnervensystems. Es war ja wirklich zuviel auf ihn eingestürmt in den letzten Tagen. Erneut blitzten die zahllosen Funken auf. Diesmal sammelten sie sich an der Peripherie des etwa fünf Meter durchmessenden Ruoryc-Wesens. Dadurch wurden Grund und Seitenwände des Beckens hell genug beleuchtet, um den Kundschafter sehen zu lassen, daß sie vollkommen glatt und regelmäßig gearbeitet und mit einer metallisch glänzenden Substanz beschichtet waren. Wahrscheinlich galvanisiert! Die Funken erloschen wieder, aber die letzte Demonstration hatte Algonkin-Yatta überzeugt. Und sie hatte in ihm die Ahnung aufkeimen lassen, daß das Ruoryc-Wesen in seine Gedanken schauen konnte. Eine Art Telepathie, aber leider einseitig. Der Kundschafter versuchte es mit einer Probe. Er dachte so intensiv wie möglich an sein Kundschafterschiff, stellte es sich bildlich vor und verknüpfte damit die Aufforderung, es abzubilden. Und als ein Funkenbild des ovalen Raumschiffs erschien, weinte er beinahe vor Freude. Anlytha, Atlan, MYOTEX und sein eigenes Volk waren völlig in den Hintergrund gedrängt. Im Bewußtsein des Kundschafters gab es nur noch das Ruoryc-Wesen und ihn selbst – und den unwiderstehlichen Drang, alles über die Ruorycs zu erfahren. Er merkte nicht, daß er sich dadurch selbst hypnotisierte und in einen Zustand hinüberglitt, aus dem er selbst sich nicht wieder befreien konnte …
* Schrilles Heulen, Klingeln und Rasseln weckte ihn. Als er die Augen öffnete, sah er zahllose farbige Lichter zucken – und vor diesem verwirrenden Hintergrund hob sich
22 eine kleine zierliche Gestalt mit porzellanglatter fliederfarbener Haut und einem Federkamm auf dem Kopf ab. »Anlytha!« »Ja, ich bin es!« hörte er seine Begleiterin mit bebender Stimme schreien. »Oh, Algonkin, kannst du nicht dieses Tohuwabohu abstellen!« »Wie soll ich das machen?« fragte er. »Wo kommst du überhaupt her, Lytha?« »Was?« zeterte Anlytha. »Wenn es dir nicht paßt, kann ich ja wieder gehen.« »Rede doch keinen Unsinn!« erwiderte Algonkin-Yatta und richtete sich auf. Er sah, daß er auf der Liegeschale des stationären Medosystems seines Kundschafterschiffs saß. Vor sich sah er Anlytha und das wahnsinnige Flackern. Als er den Kopf drehte, erblickte er hinter sich die Einschuböffnung des stationären Medosystems. Da er sich zwar arg verwirrt, aber nicht krank fühlte, nahm er an, daß er soeben erst nach einer Behandlung »ausgefahren« worden war. Plötzlich erinnerte er sich an die letzten Sekunden vor seinem geistigen Abtreten. »Wer hat mich aus dem Wohnbecken des Ruorycs geholt?« fragte er und sah dabei wieder Anlytha an. »Lytha, ich bin sehr froh, dich wiederzusehen, aber ich muß erst einiges klären, bevor ich dich nach deinen Abenteuern fragen kann.« Anlytha zwitscherte versöhnlich. »Ich habe dich herausgefischt, Yatta«, erklärte sie. »Die Energie für dein Atemgerät war verbraucht, den Anzeigen nach bereits eine halbe Stunde, bevor ich dich fand. Es war ein Wunder, daß das Medosystem dich ins Leben zurückholen konnte.« Sie senkte die Stimme, weil die Alarmgeräusche verstummten. Auch das Zucken der zahllosen Lichter erlosch; die Kontrollampen brannten wieder normal. »Diese Wesenheit in dem Tümpel soll ein Ureinwohner von Ruoryc sein?« »Ich nehme es an, denn es gab diese Lebensform bereits, als meine Ahnen mit der MATHON auf diesem Planeten landeten«, antwortete Algonkin-Yatta. Er runzelte die
H. G. Ewers Stirn. »Es ist ein hochintelligentes Lebewesen, und ich habe irgend etwas von ihm erfahren, was mit MYOTEX zu tun hat.« Mit einem Satz sprang er von der auf einem Antigravfeld schwebenden Liegeschale und schrie: »He, die Psiotronik arbeitet ja wieder! Warum hast du dich nicht längst zum Dienst zurückgemeldet, Psiotronik?« »Ich war beschäftigt, Kundschafter«, schallte die Stimme der Psiotronik durch die Zentrale. »Alle diese Erklärungen, Hinweise und Anweisungen, die du mir gegeben hast …« »Was habe ich dir gegeben?« fragte Algonkin-Yatta verblüfft. Er blickte auf die Navigationskontrollen. »Wir fliegen ja!« »So, wie du es befohlen hast, Kundschafter«, erklärte die Psiotronik. »Wir sind auf dem Weg zur Station der Aurogilts auf Lettaby.« Der Kundschafter faßte sich an den Kopf. »Nicht so hastig, sonst komme ich durcheinander! Aurogilt, das habe ich doch schon einmal gehört. Aber, ja! Dieser NaskapiMann nannte mich einen Spion der Aurogilts. Bin ich ein Spion der Aurogilts?« »Den Anweisungen nach, die du mir gegeben hast, bist du kein Spion der Aurogilts«, antwortete die Psiotronik. »Wir befinden uns auf dem Weg zu ihnen, um einen Teil von ihnen zu MYOTEX zu bringen.« »Die Invasoren zu MYOTEX bringen!« entrüstete sich Algonkin-Yatta. »Das dürfen wir nicht! Kehre um, Psiotronik! Ich bin doch kein Verräter.« »Ohne die Aurogilts würdest du nicht mehr leben, Yatta«, sagte Anlytha. »Sie waren es nämlich, die mich nach Ruoryc schickten, um dich aus dem Wohnbecken zu holen. Zwischen ihnen und den Ruorycs gibt es eine Kommunikation.« »Das müßtest du eigentlich noch wissen, Kundschafter«, meldete sich die Psiotronik. »Es ist eine der vielen Informationen, die du mir gegeben hast.« »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr!« sagte der Kundschafter verzweifelt.
Schatten über Ruoryc »Wieso habe ich dir Informationen … Einen Augenblick mal! Ich muß mich selbst hypnotisiert haben und befand mich wahrscheinlich noch in Hypnose, als ich ins stationäre Medosystem kam.« »Das ist richtig«, erklärte die Psiotronik. »Dann habe ich dir meine Informationen und Anweisungen im gleichen Zustand gegeben«, fuhr Algonkin-Yatta fort. »Das erklärt, warum ich mich nicht daran erinnere.« »Aber du mußt dich doch daran erinnern, daß du diese Informationen erhalten hast«, warf die Psiotronik ein. »Er hat sie unter Hypnose erhalten«, erklärte Anlytha. Der Kundschafter nickte. »Anders wäre ich nicht aufnahmebereit für die gedankliche Botschaft des Ruorycs gewesen, denn diese Wesen sind zwar Telepathen, können aber keine Gedanken auf Nichttelepathen übertragen. Der Ruoryc muß meine potenzierte Aufnahmebereitschaft dazu genutzt haben, um mir suggestiv wirkende Lichtsymbole zuzublinken, deren Informationsgehalte sich in meiner Erinnerung verankerten, ohne daß ich sie ins Bewußtsein ziehen kann. Nur in Hypnose vermag ich sie weiterzugeben.« Er schaute direkt in das rötlich glühende »Zyklopenauge« der Psiotronik, das viel mehr war als nur ein Auge. »Welche Informationen hast du von mir erhalten?« fragte er. »Der Name Aurogilt bedeutet für die, die den Namen erfanden, soviel wie ›Unsere Schuld‹«, berichtete die Psiotronik. »Vor sehr langer Zeit, als es noch keine Mathoner auf Ruoryc gab, schickte die damalige Zivilisation dieses Planeten eine Forschungsexpedition auf einen weit entfernten, neu entdeckten Planeten, um seine Eignung zur Besiedlung zu prüfen. Keiner der Expeditionsteilnehmer merkte, daß es auf diesem Planeten bereits eine hochentwickelte Zivilisation gab, denn niemand erkannte die Träger dieser Zivilisation als intelligente Lebensform. Deshalb merkte auch niemand, daß durch die Vorbereitun-
23 gen zur Kolonisation das fremde Leben gefährdet wurde. Dieses Leben war nicht aggressiv, deshalb griff es die Eindringlinge nicht an, sondern versuchte, sich mit ihnen zu verständigen und einen Vertrag zu schließen. Es kam aber zu keiner Verständigung, sondern zu einer unglückseligen Kette von Mißverständnissen. Die Expeditionsteilnehmer hielten das fremde Leben für mörderische, aber keineswegs intelligente Mikroorganismen, für Krankheitserreger oder so etwas. Sie fürchteten, diese Krankheitserreger könnten sich durch den Weltraum zu zahlreichen anderen Planeten ausbreiten und dort zu Seuchen führen. Aus diesem Grund stiegen sie wieder in ihre Raumschiffe und sterilisierten den fremden Planeten. Als sie nach Hause zurückkehrten und ihre Forschungsberichte MYOTEX zur Auswertung übergaben, kam MYOTEX dahinter, welchem tragischen Mißverständnis die Expedition verfallen war und daß das fremde Leben sowohl harmlos als auch intelligent gewesen war. Die Erkenntnis, eine ganze Zivilisation ausgelöscht zu haben, konnten die damaligen Bewohner von Ruoryc nicht verkraften. Sie zogen sich geistig in sich zurück, ließen ihre Zivilisation verfallen und dämmerten dahin. Als lange Zeit danach fremde Intelligenzen aus dem Raum auf Ruoryc notlandeten und von MYOTEX in seine Obhut genommen wurden, da entwickelte sich die Kontaktscheu der Ruorycs zum Extrem. Sie hatten Angst, wiederum Mißverständnissen zu verfallen und abermals Unheil über andere Wesen heraufzubeschwören. Dieses Trauma hielt sie auch dann von Kontaktversuchen ab, als sie die Mathoner lange genug beobachtet hatten, um sie richtig beurteilen zu können. Aber sowohl die damaligen Expeditionsteilnehmer als auch MYOTEX hatten sich geirrt, als sie dachten, die fremde Zivilisation für immer ausgelöscht zu haben. Zwar
24 war die heraufbeschworene Katastrophe verheerend gewesen, aber innerhalb von rund 60 000 Jahren hatten die wenigen Überlebenden und ihre Nachkommen sich so weit vermehrt, daß sie sich zu einer Ganzheit zusammenschließen konnten. Und sie beschlossen die alten Überlieferungen nachzuprüfen, wonach die Erste Zivilisation durch einen Irrtum fremder Raumfahrer vernichtet worden sei. Sie hatten aus den Überlieferungen rekonstruiert, daß die Besucher mit Psiotroniken arbeiteten. Deshalb schickten sie geistige Fühler aus, um eine solche Psiotronik aufzuspüren und die Koordinaten zu ermitteln. Es war nicht schwierig für sie, die Aktivitäten von MYOTEX aufzuspüren. Da sie die Nachkommen der Besucher nicht erschrecken wollten, was zu neuen Mißverständnissen hätte führen können (und die Aurogilts sannen nicht auf Rache, sondern auf Kommunikation und Erforschung fremden Lebens), richteten sie ihren Transportstrahl zuerst nach Lettaby und bildeten nach ihrer Ankunft eine Mehrzweckscheibe. Aber MYOTEX hatte die Ankunft der Fremden sofort festgestellt und durch den Vergleich mit ihrer Aktionsstrahlung und den Aufzeichnungen über die Aktionsstrahlung der Aurogilts erkannt, daß beide identisch waren. Als MYOTEX dann spürte, daß die Aurogilts so etwas wie einen Zapfstrahl auf ihn richteten, befürchtete er, die Aurogilts wollten seine Speicher abtasten, um zu erfahren, ob die darin enthaltenen Informationen etwas über die Vernichtung einer fremden Zivilisation aussagten. Als Motiv unterstellte MYOTEX den Fremden Rachsucht. Da die einzige Möglichkeit, eine Abtastung und Abrufung gespeicherter Informationen zu verhindern, ohne sich für immer zu zerstören, die völlige Desaktivierung und eine Blockierung des Reaktivierungssektors war, tat MYOTEX das. Zuvor warnte er die Mathoner vor den Aurogilts, ohne sie über deren Motivation zu unterrichten. Die Mathoner mußten MYOTEX verlas-
H. G. Ewers sen, da nichts mehr funktionierte. Sie kehrten vor einer Generation den Kuppeln den Rücken, verteilten sich in der Wildnis und schlugen sich mehr schlecht als recht durch. Viele kamen um, andere überlebten und vererbten mutierte Gene an ihre Nachkommen, von denen ungefähr fünf Prozent vollangepaßt sind. Die anderen Mathoner vegetieren unter schlimmen Verhältnissen in tiefen Höhlensystemen dahin, in denen sie durch Züchtung von Hydrokulturen die Nahrung und den Sauerstoff gewinnen, ohne die sie nicht leben könnten. Die Aurogilts waren unschlüssig geworden. Sie konnten sich das Verhalten der Mathoner nicht erklären und warteten einfach ab, weil sie sich sagten, die Scheu vor ihnen müßte sich doch irgendwann geben. Die letzten der alten Zivilisation von Ruoryc, ungefähr vierzigtausend Individuen, hatten die Mathoner längst studiert und wußten über sie Bescheid. Als MYOTEX die Mathoner vor den Aurogilts warnte, versetzte ihnen das einen Schock. Sie fürchteten, die Fremden wären gekommen, um Rache zu üben, und sie würden mit den letzten Alten auch die Mathoner vernichten. Die Ruorycs sind keine Telepathen, wie du dachtest, Kundschafter. Sie saugen Emotionen anderer Intelligenzen in sich auf – und sie können vor allem bildhafte emotionale Vorstellungen aufnehmen. Die Aurogilts wiederum können intelligentes Leben zwar orten, aber nur über einen psionischen Vermittler kontaktieren. Deshalb bemächtigten sie sich Anlythas. Ursprünglich wollten sie nur erreichen, daß Anlytha die Psiotronik des Kundschafterschiffs, also mich, aktiviert, denn ich hatte mich desaktiviert, als ich den Zugriff der Aurogilts spürte. Doch dann orteten sie ein Raumschiff der Unaussprechlichen und verbargen Anlytha in einem Nullfeld.« »Wer sind diese Unaussprechlichen?« warf Algonkin-Yatta ein. »Es sind Versprengte aus der Geisterflotte, die wahrscheinlich aus der Schwarzen Galaxis kommt«, erklärte die Psiotronik.
Schatten über Ruoryc »Wer ihren Namen kennt, ist bereits verloren, denn die Gedanken an ihn lösen hyperenergetische Impulse aus, die die Unaussprechlichen jederzeit und überall empfangen und anmessen können. Deshalb nennt man sie vorsichtshalber die Unaussprechlichen. Unterdessen flogst du, Kundschafter, mit dem Schiff nach Ruoryc. Was du erlebt hast, das weißt du besser als ich. Jedenfalls schickten die Aurogilts, nachdem das Raumschiff der Unaussprechlichen wieder verschwunden war, Anlytha ins Schiff. Anlytha aktivierte mich, beziehungsweise sie versuchte das. Da ich nur auf dich höre, gelang ihr das natürlich nicht.« »Weil du stur bist«, sagte Anlytha. »Aber glücklicherweise genügte es, den dir vorgeschalteten Dimensionswandler in Betrieb zu nehmen, um über ihn eine Kommunikation zwischen Aurogilts und Ruorycs fließen zu lassen. Glücklicherweise, weil die Aurogilts nur dadurch erfuhren, daß Algonkin in Lebensgefahr schwebte. Sie unterrichteten mich davon, und mit Hilfe einer komplizierten Methode lotsten sie mich zu dem richtigen Becken. Ich holte dich, Yatta, heraus, verfrachtete dich in das stationäre Medosystem des Kundschafterschiffs …« »… und du hast mich notaktiviert, weil du klinisch tot warst«, fiel die Psiotronik ein. »Anschließend brachtest du mich mit deinen verwickelten Informationen und Anweisungen durcheinander. Übrigens, wir landen gleich auf Lettaby.« »Da bin ich wirklich gespannt«, meinte Algonkin-Yatta. »Vor allem, weil die Aurogilts etwas über die Schwarze Galaxis zu wissen scheinen – und wer etwas über die Schwarze Galaxis weiß, der kann mir bei der Suche nach Atlan helfen.« »Atlan ist ein Gentleman«, stellte Anlytha mit eigentümlicher Betonung fest. »So wie ich«, erwiderte Algonkin-Yatta. »So, wie du aus dem Medosystem gekommen bist, kannst du gar kein Gentleman sein!« behauptete Anlytha.
25 Der Kundschafter blickte an sich herunter, sah, daß er völlig nackt war und verschwand blitzartig aus der Zentrale, um sich in seiner eigenen Kabine eine Reserve-Kombination anzuziehen.
* »Alles hängt davon ab, ob es trotz der Desaktivierung von MYOTEX eine Möglichkeit gibt, eine Art Wach- und Lauschsektion zu finden und überzeugende Argumente für eine Reaktivierung von MYOTEX vorzubringen«, sagte Algonkin-Yatta, während er das Kundschafterschiff in die dichte Atmosphäre von Ruoryc steuerte. »Dann müßte aber diese Wach- und Lauschstation befugt sein, die schwerwiegende Entscheidung über die Forderung nach Reaktivierung zu fällen«, wandte Anlytha ein. »Wir müssen …«, sagte die Psiotronik und ließ eine undefinierbare Geräuschkomposition folgen, »… abholen und mitnehmen zu MYOTEX.« »Was war das für ein Wort, das vorletzte?« erkundigte sich Anlytha. »Der in Akustik umgeformte sensovisuelle Impuls des Ruorycs, der mit den Aurogilts kommuniziert«, antwortete die Psiotronik. »Bei den Ruorycs hat ein sensovisueller Impuls eine ähnliche Bedeutung wie bei Mathonern und anderen Völkern der Name eines Individuums.« »Hm!« machte der Kundschafter. »Kannst du den senso …. den Namen wiederholen, Psiotronik?« »Selbstverständlich, Kundschafter«, erklärte die Psiotronik. Erneut erklang eine undefinierbare Geräuschkomposition. »Das hörte sich wie, äh, getrocknete Weinbeere an«, meinte Anlytha. »Mir fällt das richtige Wort nicht ein.« »Rossini«, sagte Algonkin-Yatta und schlug mit der flachen Hand gegen die Frontplatte des Dimensionswandlers. »Nennen wir ihn einfach Rossini!« »Nach einer getrockneten Weinbeere?«
26 fragte Anlytha entgeistert. »Nach einem terranischen Künstler«, korrigierte Algonkin-Yatta. »Oh!« machte seine Begleiterin. Alles, was mit Kunst zu tun hatte, nötigte ihr Ehrfurcht ab. »Einverstanden, Yatta! Er heißt ab sofort Rossini.« »Rossini ist der Ruoryc, von dem ich meine Informationen über die Aurogilts habe?« erkundigte sich Algonkin-Yatta. Die Lichtpunkte, die innerhalb der drei Meter durchmessenden durchsichtigen Kugel aus Metallplastik im Nebel schwammen, gerieten in schnelle Bewegung. »Unser Gast bestätigt es«, sagte die Psiotronik, die in direkter Verbindung mit dem Teil der Aurogilts stand, der als Delegation an Bord des Kundschafterschiffs gekommen war. »Danke!« sagte der Kundschafter. »Dann werde ich auf MANUELL umschalten, denn es ist leichter für mich, die Thalamon-Senke selbst anzusteuern, als den Kurs dorthin zu erklären.« Er nahm die notwendigen Schaltungen vor und beobachtete das Tasterbild der Oberfläche des Planeten unter dem Schiff. Wegen der dichten Wolkenschicht konnte er nur so erkennen, über welchen Geländeformationen er sich befand. Auf seine Anweisung bereitete die Psiotronik unterdessen eine Spezialzelle des Kundschafterschiffs für die Aufnahme Rossinis und seiner unmittelbaren Umwelt vor. Die Spezialzelle war dafür konstruiert, Lebewesen unterschiedlichster Art für eine begrenzte Zeit mit allen den Umweltbedingungen zu versorgen, die sie zum Überleben brauchten. Die »Delegation« kommunizierte über den Dimensionswandler des Kundschafterschiffs mit Rossini, so daß der Ruoryc vorbereitet war, als das Schiff in der Nähe seines Beckens landete. Innerhalb weniger Minuten wurde er an Bord genommen. Fasziniert beobachtete Anlytha die quallenähnlichen Konturen des riesigen Wesens auf einem Monitor.
H. G. Ewers »Woraus besteht die Haut?« überlegte sie laut. »Es gibt keine Haut«, warf die Psiotronik ein. »Nach den Messungen, die ich nach der Übernahme Rossinis vorgenommen habe, kapselt er sein Inneres mit Hilfe zahlreicher sich überlappender Magnetfelder gegen die Umwelt ab.« »Das ist phantastisch!« rief Algonkin-Yatta. »Rossini läßt dir sagen, Kundschafter, daß er es viel phantastischer findet, wenn Lebewesen trotz einer relativ dünnen und vor allem materiell angreifbaren Körperoberfläche in sauerstoffhaltigen Atmosphären überleben«, erklärte die Psiotronik. »Im übrigen sollten deine Gedanken sich mehr auf die Reaktivierung von MYOTEX richten.« »Gerade er muß das sagen!« entrüstete sich Algonkin-Yatta. »Was weiß er schon von MYOTEX?« »Sein Volk hat MYOTEX gebaut«, erinnerte die Psiotronik ihn. Der Kundschafter nickte gedankenschwer. Er wurde sich plötzlich darüber klar, daß die Mathoner auch nach einer Reaktivierung von MYOTEX nicht zu ihrer früheren Lebensart zurückkehren konnten, denn die wirklichen Eigentümer waren wieder auf die Bühne der Geschichte getreten – und MYOTEX war ihnen zumindest genauso verpflichtet wie den Mathonern.
* »Hier spricht MYOTEX!« ertönte es aus den Lautsprechern in der Zentrale des Kundschafterschiffs. »Ich habe mit speziellen Sonden alle Ereignisse innerhalb des Systems mitverfolgt, aber erst die Geschehnisse seit der Rückkehr von Algonkin-Yatta haben mich davon überzeugt, daß die Aurogilts tatsächlich nicht auf Rache sinnen, sondern friedliche Verständigung und den Austausch von Informationen anstreben.« »Weißt du denn, wer ich bin?« fragte Algonkin-Yatta verwundert. »Selbstverständlich«, antwortete MYO-
Schatten über Ruoryc TEX. »Als ich deinen Namen erfuhr habe ich sofort in den Speichern nachgesehen. Er befindet sich allerdings in den AltSpeichern, und das bedeutet, daß du zweihundertdreiundsiebzig Jahre gebraucht hast, um nach Ruoryc zurückzufinden.« »Keineswegs«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Ich habe von diesen zweihundertdreiundsiebzig Jahren keine zwei Jahre gelebt, sondern rund zweihunderteinundsiebzig Jahre übersprungen. Ein Zeitsprung, MYOTEX.« »Damit wärst du der erste Kundschafter Ruorycs, der das Phänomen der Zeitreise am eigenen Leibe erfahren hat«, meinte MYOTEX. »Du mußt mir später alles genau berichten. Inzwischen sorge ich dafür, daß die überall draußen verstreuten Mathoner rückgeführt und akklimatisiert werden.« »Aber was sagen deine Erbauer dazu?« fragte der Kundschafter. »Ihnen gehörst nicht nur du; ihnen gehört praktisch ganz Ruoryc. Werden sie noch länger zusehen, wie wir uns auf ihrer Welt ausbreiten?« »Sie werden euch dabei helfen«, erklärte MYOTEX. »Ohne euch würden sie wahrscheinlich nicht die Energie aufbringen, ihre Lethargie ein- für allemal abzuwerfen und in eine aktive Lebensphase zurückzukehren. Deshalb sind sie froh, daß es, euch gibt, und sie werden mit ihrer Begabung für Hyperelektronik und Psiotronik viel Neues schaffen, was euch helfen kann.« Algonkin-Yatta dachte darüber nach, dann sagte er: »Das freut mich, denn vielleicht bekomme ich durch sie die Möglichkeit, durch die Räume und Zeiten Atlan zu finden.« »Ohne die Zeitkapsel?« warf Anlytha skeptisch ein. »Die Zeitkapsel steht in ihrem Hangar«, erklärte die Psiotronik des Kundschafterschiffs. »Wie ist sie dort hingekommen?« fragte Algonkin-Yatta. »Unbekannt«, antwortete die Psiotronik. »In der einen Millisekunde gab es sie nicht im Hangar und in der anderen Millisekunde stand sie plötzlich da.«
27 »Wir haben sie aus der Zeit gefischt«, sagte die Psiotronik. »Du?« fragte Anlytha. »Ich sprach für die Aurogilts«, erklärte die Psiotronik. »Unsere Delegation ließ mich wissen, daß bei ihrem Volk die nonparadoxische Manipulation der Zeit als eine Kunst gilt, die höher steht als alle anderen Künste.« »Jetzt verstehe ich einiges im Zusammenhang mit den Aurogilts, was mir zuvor Rätsel aufgab«, meinte MYOTEX. »Wenn Ruorycs, Aurogilts und Mathoner zusammenarbeiten würden, wir könnten Phantastisches erreichen!« rief Algonkin-Yatta begeistert. »Wir würden viele Rätsel des Universums lösen, in die Geheimnisse bizarrster, fremdartigster Kulturen eindringen – und wir hätten eine größere Chance, Atlan zu finden!« »Und was gäbe es alles für Kunstschätze zu entdecken!« pflichtete ihm Anlytha bei. »Rossini und die Delegation lassen übermitteln, daß sie sich freuen würden, miteinander und mit den Mathonern zusammenzuarbeiten«, sagte die Psiotronik. »Und mit MYOTEX«, sagte MYOTEX. Algonkin-Yatta schloß die Augen und stellte sich vor, wie unterschiedlich die künftigen Partner waren: die Aurogilts ein nebelhaftes Plasma mit zahllosen Lichtpunkten, die Ruorycs Flüssigkörper mit intensivsten chemischen Reaktionen, die Energie erzeugten und eine Haut aus Magnetfeldern schufen, die Mathoner mit einer Körperlichkeit, die vom Standpunkt der Ruorycs und wohl auch der Aurogilts zu verletzbar fürs überleben war und die mit ihrer Wißbegier und ihrem unstillbaren Forscherdrang die treibende Kraft des Bundes sein würden – und MYOTEX als gigantischer Überlebenskomplex mit einer unvorstellbar leistungsfähigen Psiotronik. Und da war noch Anlytha, die nicht wußte, zu welchem Volk sie gehörte, woher sie kam und was sie getan hatte, bevor der Kundschafter sie aus einem havarierten Raumschiff rettete.
28 Algonkin-Yatta trat zu Anlytha, legte einen Arm um ihre Schulter und sagte: »Und gemeinsam mit Anlytha wird es uns, nachdem wir Atlan gefunden haben, auch gelingen, hinter das Geheimnis von Anlythas Herkunft zu kommen.« »Wir werden dir ein neues Kundschafterschiff geben, Algonkin-Yatta«, sagte MYOTEX. »Deines gehört einer längst veralteten Bauserie an – und sobald die Aurogilts und ich uns mit der Zeitkapsel vertraut gemacht haben, werden wir Aggregate konstruieren, mit deren Hilfe dein neues Kundschafterschiff zur Zeitreise befähigt wird. Allerdings werden wir nur dieses eine Schiff mit diesen Aggregaten ausrüsten. Zeitmanipulationen sind Balanceakte auf fadendünnem Seil. Du, Algonkin-Yatta, hast bewiesen, daß du verantwortungsvoll mit einer Zeitmaschine umgehen kannst. Ich schrecke davor zurück, einen weiteren Kundschafter daraufhin zu testen, ob er ebenfalls stets die richtigen Entscheidungen treffen kann.« »Das eröffnet ungeahnte Perspektiven!« rief Anlytha begeistert. »Unsere Kunstsammlung …« Algonkin-Yatta blickte seine Begleiterin beschwörend an. »Unsere Kunstsammlung ist unser kleines Geheimnis, MYOTEX«, sagte er. »Ich bitte darum, es im Interesse unserer psychischen Verfassung als unantastbar im Sinn unserer Privatsphäre zu betrachten.« »Wer Großes leistet, soll nicht kleinlich behandelt werden«, erwiderte MYOTEX. »Das ist der richtige Standpunkt«, sagte Anlytha. »Bevor wir Ruoryc wieder verlassen, würde ich gern alle Anlagen von MYOTEX besichtigen. Wäre das möglich?« »Ich fürchte, dazu hat MYOTEX keine Zeit«, warf der Kundschafter schnell ein. »Er muß sich um so vieles kümmern, und wenn ihm ein paar wertvoll aussehende Teile verlorengingen …« »Warum sollten mir Teile verlorengehen, Algonkin-Yatta?« fragte MYOTEX. »Ich verstehe deine Gedankengänge nicht, Kundschafter!«
H. G. Ewers »Ich auch nicht, MYOTEX«, sagte Anlytha. »Am besten wird es sein, wir hören nicht auf ihn, wenn er Unsinn redet. Wer soviel durchgemacht hat wie er, darf ruhig ein wenig Narrenfreiheit genießen.« »Sehr richtig«, sagte MYOTEX. »Bis später dann, Anlytha.« »Narrenfreiheit!« schnappte der Kundschafter. »Das ist ja unerhört! Ich versuche, MYOTEX vor Schaden zu bewahren, vor Langfingerschaden, wohlgemerkt, und als Dank dafür gestattet man mir Narrenfreiheit!« »Schade, daß MYOTEX das nicht hören konnte«, erklärte die Psiotronik. »Aber er trennte kurz vorher die Verbindung. Sonst hätte er sich wahrscheinlich genauso amüsiert wie ich.« »Amüsiert!« schrie der Kundschafter erbost. »Über mich! Und überhaupt hat eine Psiotronik keine emotionalen Regungen zu haben. Aber vielleicht verliert sie die, wenn ich eine gewisse Kleptomanin durch die Internanlagen der Psiotronik geführt habe.« »Oh, ja!« rief Anlytha. »Bedaure, aber wie ich feststellte, existiert der Kodegeber, mit dem man in meine Internanlagen gelangt, nicht mehr«, sagte die Psiotronik. »Ich weiß überhaupt nicht, wo …« Nach einer halben Sekunde Pause erscholl ein amüsiertes Lachen aus den Lautsprechern. Algonkin-Yatta blickte Anlytha an, und seine Begleiterin sah schuldbewußt zu Boden, bis sie in das Gelächter der Psiotronik einstimmte.
2. VORFELD STERNENBALLUNG Computerlogbuch RUORYC, Ort und Zeit unbekannt: Vor fünf Tagen Bordzeit starteten wir – Anlytha, eine Delegation der Aurogilts und ich – von Ruoryc, nachdem wir das neue Kundschafterschiff auf den Namen des Schicksalsplaneten dreier kosmischer Rassen getauft hatten.
Schatten über Ruoryc Unser Ziel ist es, uns erneut in den Sogbereich der Schwarzen Galaxis einzufädeln. Die unsichtbare Barriere, die das alte Kundschafterschiff beinahe vernichtet hätte, dürfte sich mit Hilfe der wesentlich besser ausgerüsteten RUORYC durchstoßen lassen. Notfalls können wir sie auch durch die Zeit umgehen, da die RUORYC dank der von mir mitgebrachten Zeitkapsel und der gemeinsamen Arbeit von MYOTEX und den Aurogilts in der Lage ist, selbst Zeitversetzungen vorzunehmen. Notgedrungen mußten wir, um im Gewirr der Dimensionskorridore abermals diejenigen zu finden, die in den Sogbereich der Schwarzen Galaxis führen, das sogenannte Zeitlinienknäuel passieren, das Anlytha und mich mit dem alten Kundschafterschiff um zweihundertdreiundsiebzig Jahre in die Zukunft geschleudert hatte. Auch in umgekehrter Richtung wirkte sich das Zeitlinienknäuel auf uns aus. Noch konnten wir keine Orts- und Zeitbestimmung vornehmen, da die RUORYC erst in zwei Stunden Bordzeit aus dem Dimensionskorridor aufsteigen wird, in den wir sie nach Überwindung des Zeitlinienknäuels steuerten. Deshalb wissen wir nicht, um wie viele Jahre, Jahrhunderte oder Jahrtausende wir auf der imaginären Zeitskala in die Vergangenheit oder Gegenwart versetzt worden sind. Wir wissen nur, daß eine Zeitversetzung stattgefunden hat, dank eines gewissen natürlichen Zeitempfindens unserer Aurogilts. – Algonkin-Yatta, Kundschafter von Ruoryc. Kaum hatte der Kundschafter das Computerlogbuch ausgeschaltet, als er Anlytha sagen hörte: »Warum hast du mit der Eintragung nicht gewartet, bis wir wissen, in welcher Zeit und an welchem Ort wir sind, Algonkin?« Langsam drehte Algonkin-Yatta sich um, blickte seine Begleiterin mit ausdruckslosem Gesicht an und sagte: »Gonah Lawllyng nisoram quetu Pthora!« »Was?« Anlytha zeterte empört, dann stutzte sie und sagte kleinlaut: »Ich habe lei-
29 der nur das letzte Wort verstanden, Yatta.« »Dachte ich es mir!« erwiderte der Kundschafter. »Wozu habe ich extra für dich ein Hypnoband mit dem Grundwortschatz des Pthora programmiert, wenn du es nicht benutzt?« »Ich hatte leider keine Zeit, Herr Lehrer«, erklärte Anlytha schnippisch. »Keine Zeit?« wiederholte Algonkin-Yatta. »Und was hast du in den fünf Stunden gemacht, die du weg warst? Sage bloß nicht, du hättest geschlafen, denn dabei hättest du bequem das Hypnoband ablaufen lassen können!« »Geschlafen!« entrüstete sich Anlytha und sträubte ihren Federkamm. »Wo doch soviel zu tun war! Ich habe unsere sämtlichen Kunstschätze sortiert und in die Nischen der Wohnzelle dieses neuen Schiffes eingeräumt.« Ihre Augen glänzten. »Stell dir vor, in der neuen Schatzkammer ist fast doppelt soviel Platz wie in der alten! Es wird höchste Zeit, daß wir in die Schwarze Galaxis kommen.« »Weshalb hat es Anlytha so eilig, wenn wir noch gar nicht wissen, in welcher Zeit wir uns befinden?« erscholl die Stimme, die die Psiotronik eigens für Mitteilungen der Aurogilt-Delegation programmiert hatte. Im Unterschied zur tiefen Baßstimme der Psiotronik war es eine hohe, halb knabenhafte und halb weibliche Stimme. »Weil sie klaut wie ein Rabe«, antwortete der Kundschafter. »Du meinst, sie raubt fremdes Eigentum?« erkundigte sich die Delegation. »Sie stiehlt es«, erklärte Algonkin-Yatta. »Und zwar so geschickt, daß es selten einmal jemand bemerkt.« »Aha!« meinte die Delegation. »Und dieser gewisse Rabe dient ihr als Vorbild?« »Ich kenne überhaupt keinen Rabe!« protestierte Anlytha. »Ich kannte bis vor kurzem auch keinen«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Erst in Terrania City zeigte mir der Barde Juan Pincenez so einen Vogel und nannte das entsprechende Sprichwort.«
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»Es handelt sich also um ein Tier«, stellte die Delegation fest. »Um ein Kamel«, sagte Anlytha und blickte bedeutungsvoll auf den Kundschafter. Doch diesmal verstand Algonkin-Yatta nicht, was gemeint war. Er unterzog die Kontrollen einer genauen Überprüfung, dann wandte er sich an seine Begleiterin und sagte: »Da wir noch fast zwei Stunden Ruhe haben, können wir ebensogut die erste Lektion Pthora für dich lernen, anstatt über Tiere und Sprichwörter zu plaudern. In der Schwarzen Galaxis werden wir diese Sprache brauchen, wenn wir uns den dort lebenden Intelligenzen verständlich machen wollen.« Anlytha seufzte ergeben. »Wenn es sein muß! Also, fang an!« Und Algonkin-Yatta bemühte sich, seine Begleiterin in die Anfangsgründe jener Sprache einzuführen, die er von dem Pthorer Dorstellarain gelernt hatte.
* »Liatos monvran Dhergai lieuge«, wiederholte Anlytha das pthorische Sprichwort, das der Kundschafter ihr vorgesprochen hatte. Anschließend blickte sie ihn fragend an. Algonkin-Yatta wollte ihr die Bedeutung des Sprichworts erklären, doch da meldete sich die Psiotronik der RUORYC und sagte: »Unser Dimensionskorridor zerfließt, Kundschafter.« Algonkin-Yatta blickte auf die Anzeigen. Er sah, daß die für normale Augen unsichtbaren Wände jenes hyperenergetischen »Tunnels«, der zwischen den Dimensionen pendelte, sie teilweise tangierte oder auch perforierte und der erst durch elektronische Tricks zu einem Bild auf den Anzeigeschirmen gemacht wurde, vor dem Kundschafterschiff flackerten und sich in größerer Entfernung verformten, wobei die Wandungen sich schlierenartig bewegten. Ein Blick auf den Zeitmesser für Bordzeit bewies Algonkin-Yatta, daß bis zum Austritt
aus dem Dimensionskorridor eigentlich noch zwanzig Minuten vergehen mußten. »Es sieht so aus, als müßten wir vorzeitig in unser Kontinuum zurückkehren, Anlytha«, erklärte er bedächtig. »Was meinst du dazu, Psiotronik?« »Wenn wir nicht gewaltige Mengen an Energie verschwenden wollen, um uns im errechenbaren, aber nicht mehr vorhandenen Verlauf des Dimensionskorridors zu halten, dann sollten wir uns nicht gegen die Abstoßung wehren, Kundschafter«, antwortete die Psiotronik. »Aber wir werden in schweren Brubaggl geraten«, warf die Delegation ein. Algonkin-Yatta horchte auf. »Was bedeutet das: Brubaggl?« »Der Begriff ist dir nicht bekannt?« fragte die Delegation. »Ich habe ihn zum erstenmal gehört«, sagte Algonkin-Yatta. »Dann wird es mir schwerfallen, seine Bedeutung so zu erklären, daß die Psiotronik sie in Mathona oder Interkosmo übersetzen kann, ohne den Sinn völlig zu entstellen«, meinte die Delegation. »Bitte, versuche es!« sagte Algonkin-Yatta. »Chairade«, sagte die Delegation. »Ich habe ›Chairade‹ verstanden, Psiotronik«, sagte der Kundschafter vorwurfsvoll. »Und ich habe übersetzt, wobei ›Chairade‹ herausgekommen ist«, erwiderte die Psiotronik mit würdevoller Herablassung. »Hm, das klingt beinahe wie Terranisch«, meinte Anlytha. Der Kundschafter schüttelte den Kopf. »Ich finde, es klang respektlos – nämlich, wie diese Psiotronik das gesagt hat! Manchmal denke ich, ich wäre besser gefahren, wenn ich meine gute alte Psiotronik behalten hätte, selbst wenn ich deswegen auf das neue Schiff hätte verzichten müssen. Sie fand zwar manche Sachen witzig oder amüsant, aber sie war ein echter Kumpel für mich.« »Danke, Kundschafter!« sagte die Psio-
Schatten über Ruoryc tronik. »Wieso bedankst du dich für etwas, das für dich kein Lob ist?« erkundigte sich Algonkin-Yatta. »Jetzt laust mich aber der Affe, wie Fangaloa Eneiki laut Anlytha zu sagen pflegte!« sagte die Psiotronik. »Wußtest du nicht, daß der Ego-Sektor der ›alten‹ Psiotronik in die neutrale Psiotronik der RUORYC eingespeist wurde?« Es krachte, als der Kundschafter sich in einen Sessel fallen ließ. »Du bist also die alte Psiotronik?« fragte er beinahe fassungslos. »Aber so respektlos war die alte …. warst du früher nicht!« »Heute bin ich auch klüger«, erklärte die Psiotronik. »Mehr Mikro-Prozessoren, dazu die neuartigen flüssigen Steuer- und Denkelemente. Es ist, als wäre dein Bewußtsein mit deinen Erinnerungen ins Gehirn eines wahrhaft intelligenten Lebewesen übertragen worden.« »Ich bin erschüttert«, sagte Algonkin-Yatta nach einigen Sekunden eisiger Stille. »Und ich hatte mir immer eingebildet, ein wahrhaft intelligentes Lebewesen zu sein.« Er zuckte überrascht zusammen, als Anlytha auf die Seitenlehne seines Sessels sprang und ihn von dort aus tröstend umarmte. Dann erkannte er ihre guten Absichten und blinzelte ihr verschwörerisch zu. »Ich stelle mich dumm«, hauchte er ihr ins Ohr. Im nächsten Augenblick hob er sie hoch und setzte sie auf dem Boden ab, dann blickte er wie gebannt auf den vorderen Bildschirm, auf dem eine Wolke blinkender Objekte aufgetaucht war, die mit unwahrscheinlicher Schnelligkeit auf die RUORYC zurasten. »Abwehr aktivieren!« rief er der Psiotronik zu. »Schon erledigt«, erwiderte die Psiotronik. »Es handelt sich bei den Objekten lediglich um kleinere Trümmerbrocken eines explodierten Raumschiffs. Dafür reicht die Vier-D-Staffelung völlig …« Das erste Trümmerstück, so klein, daß es
31 auf der vorderen Bildwand nicht zu sehen war, prallte mit den Schutzschirmen der RUORYC zusammen. Auf der vorderen Bildwand zuckte ein Blitz auf, dann wurde sie schlagartig dunkel. Algonkin-Yatta spürte die Wucht einer Erschütterung, wollte sich an seinem Sessel festhalten und wurde mit ihm in die vordere Bildwand katapultiert. »Vorsicht, Antimaterie …!« sagte die Psiotronik.
* Algonkin-Yatta wühlte sich aus einem Trümmerhaufen elektronischer Ingredienzen, wischte sich die im haarlosen Schädel festgehakten Blech- und Glassitplättchen und Drahtfasern ab und kam keuchend frei. Ein Blick auf die Anzeigen verriet ihm, daß die RUORYC kontrolliert schleuderte. Die Psiotronik versuchte auf diese Weise, weiteren Zusammenstößen mit Antimaterie zu entgehen. Ob es ihr gelingen würde, war eine andere Sache. Der nächste Brocken brauchte, selbst bei Sieben-D-Staffelung der Schutzschirme, nur dreimal soviel Masse zu haben wie der erste (dessen Masse der Kundschafter überschlägig auf ein halbes Kilogramm schätzte), dann mußte das Auftreffen eine Reaktion herbeiführen, die von der RUORYC höchstens einen erstarrten Tropfen verdampfter Materie übrigließ. Algonkin-Yattas nächster Blick galt Anlytha. Er machte sich größte Sorgen um sie, denn ihr Körper war nicht halb so widerstandsfähig wie seiner. Wenn sie gegen eine feste Wand geschmettert worden war, gab es kaum noch Hoffnung. »Das ist unmöglich!« sagte er, als seine Augen sie nicht entdeckten. »Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!« Eine zusätzliche Vibration verriet dem Kundschafter, daß die Psiotronik die schweren Waffen des Schiffes gegen die Antimateriebrocken einsetzte. Bei Treffern kam es zu Explosionen, die das Schiff gleich einem Tischtennisball herumschleuderten.
32 Ab und zu erreichte die Stoßbelastung die maximale Leistungsfähigkeit der AndruckAbsorber, dann genügte ein winziger zusätzlicher Impuls, um Algonkin-Yatta wie einen Ball zwischen den Wänden hin und her zu schleudern. Trotz seiner hohen Widerstandsfähigkeit merkte der Kundschafter, daß er allmählich zermürbt wurde. »Wo steckt Anlytha, Psiotronik?« schrie er. Zur Antwort ließ die Psiotronik lediglich ein paar Alarmlampen blinken. Algonkin-Yatta begriff, daß die Psiotronik zur gleichen Zeit keine Tausendstelsekunde für ihn übrig hatte, weil sie vom Kampf um die Erhaltung des Schiffes total beansprucht wurde. Wenig später flog Algonkin-Yatta gegen die drei Meter durchmessende Aufenthaltskugel der Delegation. »Verzeihung!« sagte er unwillkürlich, während er in der Luft einen Purzelbaum schlug … Und dabei entdeckte, daß die Aufenthaltskugel leer war … Hart krachte er mit dem Rücken gegen die Decke der Zentrale. Seine rechte Hand schnellte zur Seite, krallte sich um einen Haltegriff. Die stahlblauen Augen starrten unverwandt auf die transparente Kugel aus Spezial-Stahlplastik, in der noch vor kurzem eine Art in allen Farben leuchtendes, unterschiedlich hell glitzerndes »Plasma« aus undefinierbarer Materie gewogt hatte. Nicht ein einziges winziges Stäubchen war davon geblieben. Ein neuer Ruck ließ Algonkin-Yattas Kopf gegen die Decke prallen. Mit hartem Knall. Dann, mit einemmal, spürte der Kundschafter, wie die RUORYC in ruhigere Gewässer glitt. Er begriff, daß die Zone der Raumschifftrümmer aus Antimaterie hinter ihnen lag. Als er den Haltegriff losließ, wurde er von den 1,5 Gravos, die wegen Anlythas zarter Konstitution an Bord herrschten, sanft zu Boden gezogen. Für einen Moment gab er seiner Erschöpfung nach und entspannte
H. G. Ewers sich seufzend. »Jetzt verschlucke ich doch gleich König Nothams Krone!« zeterte die Stimme Anlythas. Algonkin-Yatta fuhr hoch, als hätte ihn eine Natter gebissen. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er auf seine Begleiterin, die völlig unversehrt neben den Trümmern eines Sessels stand. Als Anlytha den Kundschafter genauer ansah, machte sie ein betroffenes Gesicht. »Wie siehst du denn aus, Yatta?« rief sie erschrocken. »Wie soll ich schon aussehen!« brummte Algonkin-Yatta verlegen. »Genauso wie sonst, nur ein bißchen mit Glassit, Blech und Draht garniert. Aber ich frage mich, wie du unseren Tanz auf dem Vulkan völlig heil überstehen konntest. Nicht einmal dein Federkamm ist verbogen.« Anlythas Blick wurde unsicher. »Ehrlich gesagt, weiß ich auch nicht genau, wo ich eigentlich war.« Sie blickte zur Aufenthaltskugel der Delegation. Der Kundschafter folgte ihrem Blick mit den Augen – und sog im nächsten Augenblick hörbar die Luft ein. Denn die Kugel aus transparentem Stahlplastik war nicht mehr leer. In ihr wogte und wallte ein in allen Farben leuchtendes, unterschiedlich hell glitzerndes »Plasma«. »Chairade war auch dort«, erklärte Anlytha. »Aber ich weiß nicht, ob sie etwas damit zu tun gehabt hat.« »Chairade?« fragte Algonkin-Yatta. Anlytha nickte in Richtung der Aufenthaltskugel, die auf dem kompakten und total mit Panzertroplon verkleideten Versorgungssockel stand. »Unsere Aurogilt-Delegation«, antwortete sie. »Ich finde, Chairade klingt besser als ›Delegation‹. Meinst du nicht auch?« »Na, ja!« erwiderte der Kundschafter. »Aber warum ›sie‹ und nicht ›er‹?« »Es heißt doch die Delegation und nicht der Delegation«, sagte Anlytha. »Also muß auch Chairade weiblich sein.« Algonkin-Yatta wußte nicht, was er dieser
Schatten über Ruoryc Argumentation entgegensetzen sollte. »Einverstanden«, sagte er. »Wenn auch Chairade einverstanden ist.« »Für mich gibt es da kein Problem«, sagte die helle Stimme der Delegation über die Psiotronik. »Für mich auch nicht«, meinte Algonkin-Yatta. »Dafür stehe ich vor einem anscheinend unlösbaren Problem, denn wie soll ich mir erklären, wohin Anlytha vorhin verschwunden war – und wohin du verschwunden warst, Chairade! Anlytha sagte, du wärst auch dort gewesen. Aber wo war ›dort‹?« »Wenn vorher Zeit dazu gewesen wäre, hätte ich selbstverständlich alles genau mit euch besprochen«, antwortete Chairade. »Aber Anlytha war durch die Reaktion der Antimaterie aufs höchste gefährdet. Deshalb baute ich eine Zeitnische auf und ›krümmte‹ mich mit ihr hinein.« Algonkin-Yatta ließ sich das durch den Kopf gehen, dann sagte er ernst: »Ich denke, wir beide, Anlytha und ich, müssen dir sehr dankbar sein, Chairade. Wahrscheinlich hast du Anlytha das Leben gerettet. Aber, was ist eine Zeitnische?« »Bedenke, daß der Begriff ›Zeitnische‹ nicht von mir stammt, Algonkin-Yatta«, erwiderte Chairade. »Wir, die ihr Aurogilts nennt, kennen keine Sprache in eurem Sinn. Wir verständigen uns anders. ›Zeitnische‹ ist also ein Begriff, der von der Psiotronik gewählt wurde, und ich finde, er sagt genug aus, wenn man weiß, was gemeint ist.« »Hu!« machte Anlytha. Ihr Federkamm sträubte sich. »Ich bekomme nachträglich eine herrliche Gänsehaut, wenn ich mir eine Zeitnische vorstelle!« Der Kundschafter lächelte. »Genieße es, Lytha! Chairade, wenn du uns ein wenig genauer erklären könntest, wie es sich mit der Zeitnische verhielt …« »Stellt euch die Gegenwart als einen winzigen Ausschnitt im Ablauf der von Vergangenheit nach Zukunft gerichteten Zeitdimension vor«, erklärte Chairade. »Dann wäre das, was noch nicht ist, nämlich die allernächste Zukunft, euren Blicken hinter einem
33 undurchdringlichen Vorhang verborgen …« »Wie der Vorhang auf einer Bühne«, warf Anlytha ein. »Wenn der zu ist, sieht man auch nicht, was dahinter vorgeht und was man demnächst ablaufen sehen wird. Da habe ich beispielsweise in Terrania City …« »Bitte, Anlytha!« sagte der Kundschafter. »Das war anschaulich gesagt, Anlytha«, sagte Chairade. »So ungefähr ist es, nur daß der Vorhang zur Zukunft niemals aufgeht, denn er läuft ständig unmittelbar vor der Gegenwart her. Einen materiellen Vorhang kann man aufreißen, einen temporären nicht. Nun stellt euch vor, ich hätte mit Hilfe einer Dimensionsblase den Zeitvorhang eingedrückt – und zwar in Richtung Zukunft, beispielsweise um ein paar Stunden! Bei einem materiellen Vorhang wäre die Einbuchtung vielleicht sichtbar gewesen. Bei einem temporären Vorhang ist das unmöglich, da schließt sich der Vorhang sofort wieder hinter der Einbuchtung. Um es anschaulich zu sagen, die Ränder der Einbuchtung stülpen sich so nach innen, bis sie sich berühren.« »Das ist phantastisch!« rief der Kundschafter. »Von der Zeitnische aus kann man also einen Blick in die Zukunft werfen.« »Leider nicht!« erwiderte Chairade. »Wie ich erklärte, drücke ich den Zeitvorhang nur ein, ich durchlöchere ihn nicht. Deshalb befinde ich mich zwar vom Standpunkt des Beobachters der Gegenwart in der Zukunft, aber zwischen mir und der Zukunft liegt noch immer der undurchdringliche Vorhang – und zwischen mir und der Gegenwart auch.« »Dann wart ihr also im Nirgendwann«, stellte Algonkin-Yatta fest. »Verzeiht mir bitte, wenn ich euer Plauderstündchen störe!« sagte die Baßstimme der Psiotronik. »Aber wir befinden uns wieder im Sogbereich der Schwarzen Galaxis, und angesichts der Schäden, die das Schiff bei der Schleuderfahrt durch die Antimaterietrümmer erlitten hat, gebe ich zu bedenken, daß es unklug wäre, uns etwa bis in die Schwarze Galaxis ziehen zu lassen.« »Zweifellos«, erwiderte Algonkin-Yatta.
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»Deinen Worten entnehme ich, daß du dem Sog widerstehen kannst. Deshalb bitte ich um Anmessung eines Sonnensystems, das wir als Anker benutzen können, um uns gründlich umzusehen und die Schäden zu beheben.« »Ich werde es versuchen, sobald ich ein Sonnensystem orten kann«, erklärte die Psiotronik. »Zur Zeit ist nämlich nicht einmal ein Planetoid zu orten.«
* »Wahrscheinlich hätten wir wieder in der Galaxis Wolcion mit der Suche anfangen sollen«, meinte Anlytha. Algonkin-Yatta schüttelte den Kopf. »Dann hätten wir auch wieder in den Dimensionsbruch von Hranor eintauchen müssen, um in den Sog der Schwarzen Galaxis zu geraten – und du weißt, wie gefährlich so ein Dimensionsbruch ist, Anlytha.« »Er hat Loggy verschlungen«, sagte Anlytha traurig. »Und wir haben nicht einmal nach ihm gesucht.« »In einem Dimensionsbruch kann man nicht suchen; da ist man völlig hilflos«, erwiderte der Kundschafter. »Ich hoffe, wir geraten niemals wieder in einen hinein. Freiwillig tauche ich jedenfalls in keinen Dimensionsbruch mehr.« Aufmerksam musterte er die Ortungsanzeigen. »So weit die Hyperorter reichen, ist rings um uns nur leerer Weltraum – und die unsichtbare Kraft, die uns in Richtung der Schwarzen Galaxis zieht. Aber wir können nicht einmal vermuten, wie weit diese mysteriöse Galaxis noch entfernt ist.« »Vielleicht ist sie darunter«, sagte Anlytha und deutete auf die auf Teleskopie geschalteten Bildschirme für Backbord, Steuerbord und Heck. Sie zeigten die blassen Lichtflecke zahlloser Galaxien bis zu einer Entfernung von zehn Millionen Lichtjahren. Mit dem Elektronenteleskop würde man bis zu zehn Milliarden Lichtjahre weit sehen können.
»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Der Sog zieht uns ja dorthin, wo wir keine Galaxis erkennen können.« Nachdenklich fügte er hinzu: »Dennoch würde ich gern wissen, welche Galaxis in diesem Gewimmel die unsere ist. Nicht, daß ich fürchte, wir fänden nicht mehr zurück, aber ich möchte es von hier aus wissen – aus dieser Entfernung. Wenn ich nahe genug herankomme, um die charakteristische Komposition aus den verschiedensten Strahlungen aufzufangen und zu identifizieren, dann sind die kosmischen Horizonte ringsum wieder von den anderen Trilliarden Galaxien verdeckt.« Er blickte zu den Aurogilts. »Ich weiß gar nicht, aus welcher Galaxis ihr stammt. Es ist mir peinlich, daß ich so unhöflich war, euch nicht danach und nach den Verhältnissen auf eurer Heimatwelt zu fragen.« »Es ist auch sehr schwierig, das euch in Begriffen zu schildern, die ihr versteht«, erklärte Chairade. »Ich orte etwas!« warf die Psiotronik ein. Sofort schaltete der Kundschafter um. »Was ist es?« »Schwer zu definieren«, meinte die Psiotronik. »Ich empfehle, das Elektronenteleskop zu aktivieren und in die Richtung zu justieren, die ich angebe.« »Wird gemacht«, sagte Algonkin-Yatta. Er schob die Trümmer eines Sessels beiseite und wuchtete eine verbogene Panzerklappe auf. Dahinter kam der Steuer- und Sichtteil des Elektronenteleskops zum Vorschein. »Hoffentlich ist hier nichts beschädigt«, sagte der Kundschafter, bückte sich und drückte einen Sensorpunkt über dem Steuerteil. Er atmete auf, als sich Steuerteil und Sichtteil summend herausschoben, je eine schwarze, vorn angeschnittene und mit Sensoren bestückte Halbkugel von vierzig Zentimetern Radius links und rechts und dazwischen die – ebenfalls schwarze und reflexfreie – Bildplatte, hinter der in einem Kegelstumpf von einem Meter Länge ein
Schatten über Ruoryc hochwertiger Mikrocomputer saß, der für einen Astronomen früherer Jahrtausende als Nonplusultra auf seinem Gebiet gegolten hätte. »Eigentlich könntest du anfangen mit Aufräumen, Psiotronik!« sagte Algonkin-Yatta, während er unter einer Glassitplatte, die ihm von der Decke auf den Kopf gefallen war, in die Knie ging. Vorsichtig neigte er sich nach rechts, damit die Platte auf den Boden rutschte, ohne Anlytha zu treffen oder etwas zu beschädigen. »Die einzige intakt gebliebene mobile Reparatureinheit ist dabei, fünf andere Einheiten zu reparieren«, antwortete die Psiotronik. »Danach fangen sie mit den Aufräumungs- und Reparaturarbeiten an.« »Hoffentlich ist das bald, sonst leidet meine Denkfähigkeit unter den ständigen Schlägen auf den Kopf«, sagte der Kundschafter. Mit wenigen Griffen aktivierte er das Elektronenteleskop. »Jetzt die Richtung, bitte!« sagte er. Die Psiotronik erzeugte ein Geruchssignal, das schwächer wurde, je weiter Algonkin-Yatta das Teleskop vom Ziel wegschwenkte und das um so stärker war, je mehr er es dem Ziel näherte. »Ausgezeichnet!« sagte Algonkin-Yatta, als das Geruchssignal seine größte Stärke erreichte. Auf der Bildplatte tauchte das Resultat komplizierter und miteinander kombinierter elektronisch-psiotronischer Arbeitsgänge auf: das dreidimensionale Bild einer annähernd kugelförmigen Sternenballung. Die Fingerkuppen des Kundschafters »spielten« mit den Schaltsensoren des Steuerteils. Das Elektronenteleskop – beziehungsweise die in Fahrtrichtung vor das Kundschafterschiff projizierte Antenne – schwenkte nach links. Auf der Bildplatte wurde ein schwacher heller Fleck erkennbar, mehr nicht, auch nicht bei maximaler Vergrößerung. Langsam ließ Algonkin-Yatta die Antennenschale einen Kreisbogen nach rechts beschreiben, stets in die gleiche Entfernung von der zuerst entdeckten Sternen-
35 ballung gerichtet. Insgesamt neun »Nebelflecken« wurden entdeckt und registriert. Sie waren weiter vom Kundschafterschiff entfernt als die Sternenballung. Und noch eine Besonderheit zeichnete sie aus. »Die Auswertung und Extrapolierung der spärlichen Fakten deutet darauf hin, daß die georteten Nebelflecken, bei denen es sich möglicherweise um Kleingalaxien handelt, gemeinsam mit der Sternenballung Teile einer Kugelschale sind, einer Kugelschale aus Kleingalaxien, die etwas umschließen«, teilte die Psiotronik mit. »Die Schwarze Galaxis!« stieß Anlytha hervor. »Das ist eine reine Spekulation«, erwiderte die Psiotronik. »Wir können weder die gesamte Kugelschale noch das erkennen, was sie umschließt.« »Ganz abgesehen davon, daß eine Schwarze Galaxis, als eine Galaxis, die kein Licht ausstrahlt, nicht gesehen werden kann«, meinte der Kundschafter. Er verzog dabei keine Miene, denn seine Absicht war es, Widerspruch herauszufordern. Tatsächlich reagierte Anlytha ziemlich heftig. »Ha!« rief sie. »Dann haben die Dunkelmänner der Schwarzen Galaxis ihre Sonnen wohl schwarz angestrichen, was?« »Das kann nicht sein, denn die Farbe würde infolge der Sonneneruptionen immer wieder abblättern, so daß man sie ständig erneuern müßte«, erklärte die Psiotronik. Anlytha beugte sich vor und schaute in das rötlich glühende »Zyklopenauge« der Psiotronik. »Du willst mich wohl zum Narren halten, du etwas groß geratener Taschenrechner!« zeterte sie. »Ich bin nur auf deine Frage eingegangen, Sternenirrwisch«, erwiderte die Psiotronik. »Du amüsierst dich wieder einmal, wie?« fragte Algonkin-Yatta. »Aber bitte nicht auf unsere Kosten, Psiotronik. Daß wir die Schwarze Galaxis nicht sehen können, heißt noch lange nicht, daß sie aus lauter toten
36 Sternen besteht. Es sind einige andere Gründe denkbar dafür, daß ihre Strahlung nicht bei uns ankommt. Aber wir sind auch nicht auf die sichtbare Strahlung angewiesen.« »Denn wir haben den Sog«, warf Chairade ein. »Psiotronik, läßt sich aus den Daten über die Sternenballungen und den extrapolierten Sternenballungen der hypothetischen Kugelschale errechnen, wo das Zentrum, der Mittelpunkt der Hohlkugel sich befindet?« »Ja, einen Moment«, antwortete die Psiotronik. Nach wenigen Sekunden sagte sie: »Der errechnete Mittelpunkt der Hohlkugel befindet sich genau dort, wo nach unseren bisherigen Messungen der Sog seinen Ursprung hat.« »Das ist der Beweis!« rief Anlytha triumphierend. »Bald sind wir dort und können unsere Schatzkammern füllen!« »Ich empfehle, diese Konstruktionen aus Extrapolationen, Hypothesen und spärlichen Fakten nicht als einen Beweis gelten zu lassen«, erklärte die Psiotronik. »Was wir haben, ist eine Spekulation.« »Das ist mir klar«, sagte Algonkin-Yatta und blickte wieder auf das Abbild der Sternenballung. »Wenn ich mir vorstelle, daß die Herren der Schwarzen Galaxis ihr Räubernest mit einem Ring beziehungsweise einer Kugelschale aus Kleingalaxien umgeben haben …! Aber es könnte auch sein, daß diese Konstellation natürlich ist und daß die Dunkelmänner sich eben nur der natürlichen Gegebenheiten bedient haben.« Er blickte Anlytha an, dann schaute er auf das glitzernde, bunte Wogen und Wallen in der Aufenthaltskugel der Aurogilts. »Was schlagt ihr vor?« fragte er gespannt. »Ganz einfach«, meinte Anlytha. »Wir sahnen erst einmal in der nächsten Kleingalaxis ab, dann fliegen wir weiter und studieren die kunsthandwerklichen Arbeiten in der Schwarzen Galaxis.« »Köstlich!« kommentierte die Psiotronik. »Ich schlage vor, wir fliegen vorsichtig an die nächste Sternenballung heran und suchen mit den Instrumenten nach Planeten mit technischen Zivilisationen«, sagte Chai-
H. G. Ewers rade. »Habt ihr auch daran gedacht, daß der Sog der Schwarzen Galaxis immer stärker wird, je mehr wir uns ihr nähern?« erkundigte sich die Psiotronik. »Natürlich«, antwortete Algonkin-Yatta. »Na, und?« fragte die Psiotronik. »Ich denke mir, daß ich mir deswegen keine Sorgen zu machen brauche«, erklärte der Kundschafter. »Wenn wir auf dem Weg zur Sternenballung Gefahr liefen, vom Sog an der Ballung vorbeigerissen und ihm unentrinnbar ausgeliefert zu werden, hättest du uns schon davor gewarnt. Das gehört nämlich zu deinen Pflichten. Oder solltest du das vergessen haben?« »Ich vergesse nie etwas«, antwortete die Psiotronik zweideutig.
* Computerlogbuch RUORYC, Ort: zirka drei Milliarden Lichtjahre vor einer hypothetischen Kugelschale aus Kleingalaxien, die möglicherweise die Schwarze Galaxis umgeben, Zeit: noch nicht feststellbar: Wir befinden uns im Interdimensionsflug in Richtung der Sternenballung, die wir untersuchen wollen. Sogar zwischen den Dimensionen wirkt der Sog der Schwarzen Galaxis. Die Psiotronik muß alle paar Minuten Kurskorrekturen durchführen, damit wir nicht zu weit abgetrieben werden. Ich hoffe, daß wir der Sogwirkung nicht mehr unterliegen werden, wenn wir die Sternenballung genau zwischen uns und der Quelle des Soges haben. Logischerweise muß der Sog alle Sternenballungen aussparen, da sie sonst unweigerlich im Verlauf langer Zeiträume auf ein gemeinsames Zentrum stürzen und dort zusammenprallen würden. Aber zwischen den Dimensionen ist von dieser Aussparung nichts zu merken – auch wieder logischerweise, denn mehr als neunundneunzig Prozent der Materie aller Sterne und Sternenballungen gehören dem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum an. Sie
Schatten über Ruoryc werden also nicht dadurch beeinflußt, daß der Sog der Schwarzen Galaxis außerhalb ihres Kontinuums wirkt. Wir dagegen müssen uns der Ballung im Interdimensionsflug nähern, denn wie sonst sollten wir drei Milliarden Lichtjahre zurücklegen! Aber wenn wir unmittelbar vor der Sternenballung in das vierdimensionale Kontinuum zurückstürzen, müßten wir vor dem Sog sicher sein. Wir alle sind gespannt darauf, was wir in der Sternenballung vorfinden werden. Vielleicht dient sie den Mächten der Schwarzen Galaxis als Bastion im Vorfeld. Wer weiß! – Algonkin-Yatta, Kundschafter von Ruoryc. Algonkin-Yatta schaltete das Computerlogbuch aus und blickte zu den Reparaturrobotern hinüber, die das beschädigte Innenleben der vorderen Bildplatte Stück für Stück sorgfältig zusammenflickten. Immer wieder schoß grelles Licht aus der Höhlung, wenn irreparabel beschädigte Teile mittels Laser herausgeschnitten wurden. Der Kundschafter ging zu einem anderen Schaltpult, rief gespeicherte Informationen ab und aktivierte ein Suchprogramm, das noch mit dem letzten Schiff erarbeitet worden war. Erneut formten sich unsichtbar vor dem Kundschafterschiff Antennen aus projizierter Energie, in diesem Fall aus einer sechsdimensionalen Energieform, die innerhalb des Normalraums nicht vorkam. Zwischen den Dimensionen, so wußte AlgonkinYatta von MYOTEX, gab es weder drei-, noch vier- oder fünfdimensionale Energieformen. Im Schiff floß selbstverständlich auch »Normalenergie«, aber selbst dann, wenn man sie vollständig über einen Projektor nach draußen geleitet hätte, durch den »Schild« aus sechsdimensionaler Energie, würde es draußen niemals »Normalenergie« geben. Algonkin-Yatta hatte von MYOTEX erfahren, daß entsprechende Versuche den Grund dafür nicht aufgehellt hatten. Es war nicht so, daß »Normalenergie« zwischen den Dimensionen etwa verschwand oder sich auflöste, nein, es schien, als würde
37 »Normalenergie«, wenn sie den »Schild« durchdrang, niemals existent gewesen sein. Es war dem Kundschafter nichts anderes übriggeblieben, als MYOTEX' Aussage hinzunehmen. Dennoch lehnte sich etwas in ihm bei jedem Interdimensionsflug dagegen auf, sie auch anzuerkennen. Etwas, das beispielsweise vor einer Sekunde noch da war, konnte logischerweise doch nicht nach einer Sekunde niemals dagewesen sein. Dennoch war es so, ein Faktum, das sich nicht wegleugnen ließ. »Eines Tages werde ich es wissen!« flüsterte der Kundschafter. »Was wirst du wissen, Yatta?« fragte Anlytha, die an einer halbfertigen Konstruktion arbeitete, die ihrer Aussage nach ein neuartiges Computer-Spiel werden sollte. Algonkin-Yatta sagte es ihr und fügte hinzu: »Aber etwas anderes erscheint mir jetzt wichtiger, Anlytha. Wir müssen versuchen, den ›Pulsschlag von Atlantis‹ wiederzufinden.« »Den was?« fragte Anlytha verblüfft. »Die für Atlantis beziehungsweise Pthor charakteristischen sechsdimensionalen Impulse«, antwortete Algonkin-Yatta. »Wir hatten ja angenommen, daß Pthor – und damit auch Atlan – auf dem Weg in die Schwarze Galaxis ist. Folglich sollte in der Nähe der Schwarzen Galaxis etwas von ihnen aufzufangen sein.« »Nähe ist gut«, sagte Anlytha. »Wir können noch nicht einmal Signale von der Schwarzen Galaxis auffangen. Wie sollten wir dann Signale eines vergleichsweise winzigen Objekts, wie Pthor es ist, erhalten!« Der Kundschafter zuckte die Schultern. »Zufällig hätte Atlantis ja in unserer Nähe treiben können«, meinte er. »Räumlich oder zeitlich?« erkundigte sich Anlytha. Algonkin-Yatta blickte auf. »Gut, daß du mich daran erinnerst, daß wir immer noch nicht wissen, in welcher Zeit wir uns nun eigentlich befinden«, erwiderte er. »Du bist wirklich ein Schatz!«
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H. G. Ewers »Ich weiß«, sagte Anlytha.
* Kaum war das Kundschafterschiff in den sogenannten Normalraum zurückgefallen, schaltete sich auch die normaloptische Erfassung wieder ein. Auf der vorderen Bildplatte strahlten zahllose helle Sterne. Dazwischen gab es Ballungen dunkler Staubwolken und viele hell angestrahlte Wolken, die mit einiger Phantasie wie erstarrte urzeitliche Ströme aussahen. »Ein junges Sternsystem!« entfuhr es dem Kundschafter. »Wie kommst du darauf?« fragte Anlytha. »Das sieht man einfach auf den ersten Blick, wenn man meine Erfahrungen hat«, antwortete der Kundschafter. »Synthetische, mittels Hypnose aufgepfropfte Erfahrungen«, spottete Anlytha, die sich noch recht gut an das frühere Eingeständnis Algonkin-Yattas erinnerte, daß seine Erfahrungen gar nicht von ihm selbst gesammelt worden waren, sondern sich aus den Erfahrungen anderer Kundschafter zusammensetzten, die ihm von MYOTEX so »eingetrichtert« worden waren, daß sie wie persönliche Erfahrungen wirkten. Inzwischen hatte der Kundschafter zwar einige eigene Erfahrungen gesammelt und zwar eine ganze Menge, aber gemessen an seinen synthetischen waren es noch sehr wenig. »Für mich zählt nur der Wert meiner Erfahrungen, nicht, wie ich sie erworben habe«, entgegnete Algonkin-Yatta lächelnd. »Ich denke, die Psiotronik wird meine Spontan-Analyse bestätigen. Wie ist es, Psiotronik?« »Ich frage mich, wie man mit einer Emotion denken kann«, sagte die Psiotronik. »Denn deine sogenannte Spontan-Analyse entsprang nur einem Gefühl.« »Hahaha …!« machte Anlytha. »Aber sie war absolut zutreffend«, fuhr die Psiotronik fort. Anlytha verschluckte sich, hustete und
würgte und verwandelte sich aus Scham darüber in Algonkin-Yattas Vorstellung in einen glatten schwarzen Kasten. »Das ist phantastisch!« rief Chairade mit der hellen Stimme, die die Psiotronik ihr geliehen hatte. »Welche bunte Palette psionischer Phänomene!« »Hast du es gemerkt?« fragte Algonkin-Yatta. Das glitzernde »Plasma« innerhalb der Aufenthaltskugel wogte heftiger hin und her. »Es ist schöner als das Branden der Hochenergie-Gezeiten an die Steilwände der Traumbuchten«, schwärmte Chairade. »So, wie der Duft der Haguohan-Seen die Heerscharen der Alkaines aus den geborstenen Bergen lockt, so lockt ihr die Seele aus meinem sichtbaren Sein!« »Es ist wie ein Rausch, vermute ich?« fragte der Kundschafter. »Mehr als nur ein Rausch«, antwortete Chairade. »Es ist die Verschmelzung zweier Gottheiten zu einem neuen Universum.« »Anlytha, bitte höre sofort auf!« rief Algonkin-Yatta. »Ich fürchte, deine psionischen Aktivitäten wirken auf Chairade wie ein Super-Rauschgift. Sie wird sterben, wenn sie sich nicht davon lösen kann.« Anlytha wurde wieder als sie selbst sichtbar. Erschrocken eilte sie zu der Aufenthaltskugel der Aurogilts und musterte die »Plasmaschwaden«, die sich immer schneller um sich selber drehten. Von weitem sah die Plasma-Ballung innerhalb der Aufenthaltskugel aus wie der solare Jupiter. Anlytha starrte darauf, dann wirbelte sie herum und blickte hilfesuchend zu Algonkin-Yatta. »Was können wir tun, um sie zu retten?« rief sie. »Oh, ich bin schuld daran, wenn Chairade ihren Geist aufgibt!« »Du konntest nicht ahnen, daß sie sich an deiner psionischen Fähigkeit berauscht, Anlytha«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Ich fürchte, wir wissen viel zu wenig von ihr, um ihr helfen zu können. Das, was sie vorhin sagte, das verriet, daß ihre Heimatwelt weder mit Ruoryc noch mit Terra noch mit
Schatten über Ruoryc deiner Heimatwelt verglichen werden kann. Begriffe wie ›Hochenergie-Gezeiten‹, ›Duft der Haguohan-Seen‹ und ›Heerscharen der Alkaines‹, sind, obwohl Übersetzungen einer denkverwandten Psiotronik, vage Einblicke in absolut fremdartige, unverständliche und unheimliche Umweltbedingungen.« »Geborgenheit!« sagte Chairade. »Geborgenheit ist unsere wesentliche Umweltbedingung.« »Geht es dir wieder normal?« fragte Anlytha. »Der Rausch ist verflogen; die Erinnerung bleibt«, antwortete Chairade. »Weißt du, daß du eine völlig andere Ausstrahlung bekommst, wenn du psionisch aktiv bist, Anlytha?« »N … nein«, sagte Anlytha verlegen. »Aber Geborgenheit als natürliche Umweltbedingung …?« wollte der Kundschafter wissen. »Nicht als naturgegebene Umweltbedingung«, erklärte Chairade. »Wir schufen sie uns, mußten sie uns in uns und um uns schaffen, um nach der Dezimierung als Mitglieder einer intelligenten Zivilisation überleben und um eine neue, andere und offene Zivilisation aufbauen zu können.« Algonkin-Yatta merkte, wie er mit offenem Mund auf die Aufenthaltskugel starrte – genau wie Anlytha. Er war fasziniert. Aber sein analytischer Kundschafterverstand sagte ihm, daß er nicht emotional werten durfte – und in genau dieser Versuchung befand er sich. »Psiotronik!« rief er deshalb, um das Thema zu beenden. »Du hast deine Feststellung noch nicht begründet.« »Das ist richtig, denn ich schwieg während der letzten Minuten, weil mir niemand zugehört hätte, hätte ich etwas geäußert. Meine Feststellung gründet sich auf der nachprüfbaren Tatsache, daß die Sternenballung überwiegend aus Sternen der ersten und zweiten Generation besteht. Es gibt jedoch noch genügend Rohmaterial, aus dem zahlreiche Sterne der dritten und der weiteren Generationen entstehen werden, wenn die
39 Zeit reif ist.« »Sterne der ersten und der zweiten Generation!« flüsterte Algonkin-Yatta beeindruckt. »Überall sonst, wohin ich bisher in diesem Universum kam, waren die Sterne der ersten Generation sämtlich tot: Schwarze Zwerge oder Black Holes. Als erster Kundschafter von Ruoryc werde ich die Materie und die Prozesse eines lebenden Sternes der ersten Generation untersuchen!«
* Computerlogbuch RUORYC, in einer Kleingalaxis, Zeit unbekannt: Seit vierzehn Tagen kreuzt das Kundschafterschiff durch die Kleingalaxis. Die Navigation ist sehr schwierig, weil der Raum zwischen den Sternen zu einem Drittel mit relativ dichter interstellarer Materie gefüllt ist. Wir haben festgestellt, daß von den rund hunderttausend Sternen dieser Ballung etwa zehn Prozent Planeten besitzen, die die Entwicklung von uns ähnlichen oder verwandten Lebensformen ermöglichen können. Doch bisher sind wir noch keiner tierischen Lebensform begegnet. Diese Kleingalaxis ist einfach noch zu jung, um bedeutendes tierisches Leben oder gar Intelligenz hervorgebracht zu haben. Immerhin hat die Untersuchung der Sterne der ersten Generation wichtige Erkenntnisse beschert. Sie werden gespeichert, damit sie auf Ruoryc mit den Forschungsergebnissen anderer Kundschafter verglichen und ausgewertet werden können. Die Zusammenarbeit zwischen Anlytha und mir einerseits und der Chairade, wie wir die Delegation der Aurogilts genannt haben, andererseits funktioniert reibungslos und zum Nutzen unserer Mission. Morgen wollen wir einen Stern der zweiten Generation untersuchen, bei dem die Fernortungen elf Planeten festgestellt haben. Niemand von uns gibt sich der Hoffnung hin, daß wir dort eine Zivilisation intelligenten Lebens finden werden, noch glauben wir, daß es in dieser Kleingalaxis bereits Einflüsse der Herren
40 der Schwarzen Galaxis gibt. Dafür ist diese Zeit einfach noch zu früh. – Algonkin-Yatta, Kundschafter von Ruoryc. Das Kundschafterschiff beendete den Interdimensionsflug dicht über der Bahnebene der elf Planeten eines blaßgelben Sterns mittlerer Größe. Das war eine Sicherheitsmaßnahme, denn innerhalb dieser jungen, wolkenerfüllten Sternenballung war nur in relativ großer Nähe eines Sterns und seiner Planeten der Raum frei von interstellarer Materie, die einem Raumschiff gefährlich werden konnte. Der Kundschafter stand vor der vorderen Bildplatte und hatte beide Hände ausgestreckt: die eine zur Tastatur der Manuellsteuerung, die andere zur Sensorplatte der elektronischen Erkundung. Langsam ließ er die RUORYC in die Ebene der Planetenbahnen sinken. Die Defensivausrüstung des Schiffes mußte sich einige Male aktivieren, um kleinere Materiebrocken zu zerstrahlen, die sich auf Kollisionskurs mit dem Kundschafterschiff befanden. »Erster Planet: ein heißer Gesteinsklumpen, auf dessen Oberfläche es brodelt«, sagte die Psiotronik. »Zweiter Planet: ungefähr das gleiche.« »Dritter Planet?« fragte Algonkin-Yatta. »Auch nur ein heißer Stein, aber mit einer dichten Atmosphäre«, sagte die Psiotronik. »Der vierte Planet dagegen befindet sich in einem Stadium, in dem sich die ersten einzelligen Lebewesen in der Brühe entwickelt haben sollten, die seine Oberfläche lückenlos bedeckt.« »Höchst interessant!« sagte Anlytha ironisch. »Urfleischbrühe!« »Vegetarische Brühe«, korrigierte die Psiotronik. »Das eine wie das andere ist ungenießbar für uns«, meinte der Kundschafter. »Wir sind einfach zu früh. Selbst wenn es die Mächte der Schwarzen Galaxis schon gibt, werden sie sich nicht für eine Sternenballung interessieren, in der keine einzige Zivilisation existiert.«
H. G. Ewers »Das ändert sich – mit der Zeit«, warf Chairade ein. »Wir müssen die Zukunft erkunden«, erklärte Algonkin-Yatta. »Anscheinend haben wir uns sehr tief in die Vergangenheit verirrt – möglicherweise einige Milliarden Jahre oder zumindest einige hundert Millionen Jahre.« Er drehte sich um und blickte die Aufenthaltskugel an, in der die flimmernden, unterschiedlich hellen »Plasmaschleier« wogten, die nicht nur lebten, sondern nicht weniger Intelligenz besaßen als Mathoner, Arkoniden oder Menschen. »Chairade, ich schlage vor, daß ich ganz allein mit der Zeitkapsel die Zukunft absuche und entlang der zeitlichen Entwicklungslinie dieser Kleingalaxis so weit nach ›oben‹ steige, bis ich Anzeichen für Aktivitäten von Intelligenzen aus der Schwarzen Galaxis erkenne. Einverstanden?« »Ich bin nicht einverstanden, Yatta!« rief Anlytha. »Nicht damit, daß du allein gehen willst. Warum nimmst du mich nicht mit?« »Weil du praktisch zum Kundschafterkorps von Ruoryc gehörst«, antwortete Algonkin-Yatta. »Nur dir kann ich die RUORYC anvertrauen – mit allen Schätzen, die sich an Bord befinden. Das heißt nicht, daß ich Chairade mißtraue, aber du kennst dich besser aus.« »Allerdings«, sagte Anlytha und zwitscherte hell. »Nur ich bin in der Lage, genauso zu handeln wie ein echter Kundschafter von Ruoryc.« Sie reckte sich stolz und richtete ihren weißen Federkamm auf. »Ich bin mit eurem Vorgehen einverstanden«, erklärte Chairade. »Allerdings solltest du uns nachholen, sobald du gefunden hast, was du suchst, Kundschafter.« »Das habe ich sowieso vor«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Anlytha, du könntest mir bei der Zusammenstellung meiner Ausrüstung helfen.« »Das mache ich gern«, sagte Anlytha eifrig. »Vor allem brauchst du viel Platz in der Zeitkapsel, damit es nicht wieder so eng wird wie bei unserer Zeitreise aus dem alten
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Rom in die Gegenwart der Terraner.«
* Algonkin-Yatta schritt langsam auf die Wand zu, auf der die ornamentalen Muster der Zeitschaltung zu sehen waren. Der Kundschafter hatte diese Zeitschaltung schon so oft betätigt, daß es keiner allzu großen Anstrengung mehr bedurfte, die Linien zu berühren, die die geplante Zeitversetzung auslösten. Langsam fuhr Algonkin-Yattas Hand über das farbige Muster. Die Linien, die er berührt hatte, leuchteten auf. Als die Programmierung abgeschlossen war, schaltete der Kundschafter seinen Telekom ein. »Ich bin fertig, Anlytha.« »Es wird auch höchste Zeit«, erwiderte seine Begleiterin. »Bring mir etwas Schönes mit, ja?« »Mich selbst«, erklärte der Kundschafter. »Geizkragen!« zeterte Anlytha. »Wo das Universum voller Schätze ist!« Ihre Stimme wurde sanft und einschmeichelnd. »Du sollst mir ja nicht viel mitbringen, Yattalein. Bloß ein paar Kleinigkeiten für deine Lytha: beispielsweise zwei Kistchen mit Goldschmuck …« »Oder drei …«, sagte Algonkin-Yatta. »Ach, was!« sagte Anlytha. »Hauptsache, du kommst gesund zurück. Laß dich ja nicht einfangen!« »Ich werde aufpassen«, versprach der Kundschafter lächelnd. »Aber diesmal ist es anders als sonst. Diesmal kannst du mir mit dem Schiff auch durch die Zeit folgen, falls ich zu lange ausbleibe. Ich muß jetzt das Programm aktivieren, sonst wird die erste Stufe verfälscht. Auf bald, Anlytha!« »Auf bald, Yatta!« rief Anlytha. Algonkin-Yatta aktivierte das Zeitreiseprogramm. An den Innenwandungen der Kapsel blitzten goldfarbene Lichtpunkte auf. Mehrere dumpf hallende Schläge dröhnten. Die Bildschirme wurden hell und zeigten das Innere des Kapsel-Hangars. »Ausschleusung fängt an!« sagte die Psio-
tronik über ihren kleineren Ableger in der Zeitkapsel. Der Kundschafter sah auf dem vorderen Bildschirm das Hangartor auf sich zukommen, sah, wie es sich öffnete und wie die Zeitkapsel kurz darauf über dem bodenlosen Abgrund im Meer der Sterne schwebte. Im nächsten Augenblick legte sich ein Schleier um die Kapsel. Hinter ihm waren undeutliche Bewegungen zu erkennen, die schneller und schneller abliefen – vertraute Phänomene, die mit dem Gebrauch dieser Zeitkapsel verbunden waren. Algonkin-Yatta saß entspannt in seinem Sessel. Er befürchtete während der ersten Zeitreise-Etappen keine Zwischenfälle durch Dimensionsbrüche oder künstlich erzeugte Sperren, die irgendwann in ferner Zukunft erdacht und errichtet worden waren, um unwillkommene Besucher aus der Vergangenheit abzuwehren. Als die goldfarbenen Lichtpunkte erloschen, die Schleier draußen sich lichteten und schließlich auflösten, war die erste Etappe der Reise durch die Zeit beendet. Der Kundschafter nahm einige Messungen vor und erkannte, daß sich nicht allzu viel verändert hatte – abgesehen davon, daß mehrere Sterne der ersten Generation erloschen und sogar in drei Fällen explodiert waren. Die Explosionen hatten die in den betreffenden Sonnen erzeugten schwereren Elemente nach allen Richtungen des Raumes verstreut und diejenigen Wolken interstellarer Materie, aus denen sich in den nächsten Jahrmillionen Sterne bilden würden, sozusagen veredelt. Algonkin-Yatta wußte zwar immer noch nicht, in welcher Zeit – bezogen auf die Gegenwart, in der er als Kundschafter erstmals Ruoryc verlassen hatte – er sich aufhielt, aber er konnte an Hand der Veränderungen und der Zeit, die er mit der Kapsel zurückgelegt hatte, wenigstens Rückschlüsse auf das Tempo der Sternenentwicklung in der Kleingalaxis ziehen. Diese Rückschlüsse bewogen ihn, sein Programm zu ändern und die beiden näch-
42 sten Etappen in eine zu verwandeln. Dreihundert Millionen Jahre später … Zufrieden lächelnd lauschte Algonkin-Yatta den Funksignalen, die von technischen Zivilisationen intelligenter Lebewesen der Kleingalaxis ausgestrahlt, von den Antennenprojektionen der Zeitkapsel aufgefangen, um ein Mehrmillionenfaches verstärkt und in die Lautsprecher in der Kapsel geschickt worden waren. Es waren noch keine Hyperfunksignale darunter, aber die Gesetze der Evolution besagten, daß technische Zivilisationen vom Zeitpunkt der Verwendung der ersten Funkgeräte bis zur Entwicklung des Hyperfunks durchschnittlich nur dreihundert Jahre brauchten. Genauso lange dauerte es im Durchschnitt, bis solche Zivilisationen unter dem Druck katastrophaler interner Verhältnisse gezwungen wurden, an überlichtschnelle Raumschiffe zu denken und dementsprechend kostspielige Forschungen zu finanzieren. Zwei Drittel der Verzweifelten schafften die Entwicklung von Hyperantrieben. Das andere Drittel verrannte sich aus vielerlei Gründen in Sackgassen und löschte seine technischen Zivilisationen aus. Der Kundschafter entschloß sich dazu, zu dem vierten Planeten der blaßgelben Sonne zu fliegen, um nachzuprüfen, wie die dortige Zivilisation aussah. Ein Teil der Funksignale kam von dort. Wenig später steuerte er die Zeitkapsel in einen Orbit um den vierten Planeten. Die Urweltbrühe war verschwunden, hatte sieben Kontinente freigegeben, die von den Wassern eines Ozeans getrennt waren. Die Atmosphäre enthielt genug Sauerstoff, daß sogar Arkoniden oder Terraner darin atmen konnten. Weiße Wolkenfelder trieben unablässig über Meer und Land. Aber keine Spur einer Zivilisation … Allerdings wußte Algonkin-Yatta, daß auch das völlig normal war, wenn eine Zivilisation noch nicht zur Energiegewinnung in großem Maßstab aus Fusionsenergie oder später aus Materie und Antimaterie übergegangen war, daß solche Zivilisationen kaum
H. G. Ewers mehr als Horden von Halbwilden waren, die ihre fossilen Brennstoffe verbrannten, weil sie zu träge waren, um weiter als eine halbe Generation in die Zukunft zu denken. Der Kundschafter suchte den Kontinent aus, der ihm vom Klima und der Fruchtbarkeit am günstigsten für Anfänge einer technischen Zivilisation erschien und von dem auch die meisten Funksignale ausgingen. Allein dreiundzwanzig Fernsehprogramme wurden dort ausgestrahlt. Algonkin-Yatta sah sich Ausschnitte aus einigen Programmen an und staunte über die Primitivität der Sendungen. Sie erlaubten wenig schmeichelhafte Rückschlüsse auf die geistige Regsamkeit der Bevölkerung. Algonkin-Yatta suchte systematisch nach wissenschaftlichen Sendungen, hörte sich Teile einiger dieser Sendungen an und lehnte sich danach enttäuscht zurück. Hervorragende Gedanken, systematische Vorträge, aber keine schöpferische Phantasie. Behaupteten doch allein zwei der Vortragenden, offenbar bekannte Wissenschaftler, es könne niemals eine höhere Raumschiffgeschwindigkeit als die des Lichts geben, weil man keine Antriebsarten kenne, die das erreichen würden. Anscheinend hatten sie vergessen, was ihre Väter über Weltraumraketen, ihre Großväter über Fernsehen und ihre Urgroßväter über Flugzeuge gedacht und gesagt hatten … Aber immerhin, die Vitalität der dominierenden Spezies dieses Planeten, den sie Rehat nannten, war groß genug, um die kommenden Zeiten der Überbevölkerung, der Umweltvergiftung und der Rohstoffverknappung zu überstehen und – vielleicht – die einzige sinnvolle Chance zu ergreifen, die sich allen nach den Sternen strebenden Rassen bot. Algonkin-Yatta beschloß, vor allem diesen Planeten im Auge zu behalten. Seine Miene verdüsterte sich, als ihm einfiel, daß auch die Invasoren, die irgendwann in der Zukunft von der Schwarzen Galaxis kommen würden, ihr Augenmerk besonders auf
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Rehat richten würden, da er der am weitesten entwickelte Planet war. Er schleuste ein paar Sonden aus, die alle energetischen Emissionen auf Rehat auffangen und aufzeichnen würden, dann beschleunigte er die Zeitkapsel und ließ sie in die Atmosphäre eindringen. Im kilometerdicken Eis des südpolaren Kontinents brannte er sich eine geräumige Höhle, verschloß sie hinter der Zeitkapsel wieder und programmierte eine zukunftgerichtete Zeitreise von zweihundertfünfzig Jahren. Wieder blitzten die goldfarbenen Lichtpunkte an der Innenwandung auf, dröhnten dumpf hallende Schläge und legte sich ein Schleier um die Kapsel …
* Die Schleier lichteten sich … Algonkin-Yatta sah genau das, was er zu sehen erwartet hatte: das Innere seiner Eishöhle. Doch ein Blick auf die Kontrollen bewies ihm, daß außerhalb der Höhle nicht alles so war, wie er es erwartet hatte. Außerhalb der Höhle gab es immer noch Eis, aber nicht mehr mit Tausenden von Kilometern Ausdehnung und an die tausend Meter Dicke. Die Sensoren maßen eine Rundum-Dicke zwischen fünfzig und dreihundertzwanzig Metern. Danach kam bei neun Zehntel des Eisgebildes Wasser und ein Zehntel Luft. Ein riesiger Eisberg, der im Meerwasser trieb! Der Kundschafter stellte mit Hilfe der Psiotronik einige Berechnungen an. Er wollte wissen, was geschehen sein mußte, das aus der ungefähren geographischen Mitte des Südpoleises einen riesigen Eisberg herausgerissen und ins freie Meer befördert hatte. Das Ergebnis war so eindeutig, wie es nur sein konnte. Die südpolare Eiskappe war geschmolzen, jedenfalls zum größten Teil. Ihre Reste zerbrachen und schwammen als Eisberge durch das Meer.
Aber eine derartige Eisschicht schmolz nicht grundlos, nicht ohne massive Einwirkung von außen. Was war geschehen? Algonkin-Yatta schaltete die Zellschwingungstaster ein und justierte sie auf hochorganisierte Zellverbände mit hochentwickeltem Zentralnervensystem. Nach einigen Minuten lag das Ergebnis vor. Es bewies, daß sich innerhalb eines Radius von hundertvierzehn Kilometern kein intelligentes Lebewesen befand. Ein größeres Gebiet konnte der leistungsschwache Zellschwingungstaster in der Zeitkapsel nicht erfassen. Der Kundschafter richtete den Detonator der Kapsel auf die Innenwandung der Eishöhle, betätigte den Auslöser und schwenkte den Abstrahlkonus langsam, sie von dem Eisberg nur noch Trümmerstücke übrig waren. Schaukelnd stieg die Zeitkapsel an die Wasseroberfläche – nicht, weil sie leichter als Wasser gewesen wäre, sondern weil Antigravprojektoren die Schwerkraft des Planeten nach und nach neutralisierten. Als die Kapsel friedlich in der Dünung rollte, kletterte Algonkin-Yatta hinaus, setzte sich auf die Oberseite des eiförmigen Hauptkörpers der Kapsel und atmete tief die Meeresluft ein. Es störte ihn nur, daß die Sonne nicht durch die dichten Wolken kam. Dennoch war die Luft warm, irgendwie flau und gar nicht mehr so frisch, wie er sie in Erinnerung hatte. Damals bin ich auf dem Südpol-Eis herumgegangen! Dort war es natürlich kälter als hier. Diese Gedanken vermochten den Kundschafter jedoch nicht zu beruhigen. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er ja nur die Funksignale von Rehat abzuhören brauchte, um zu erfahren, wie sich die Dinge entwickelt hatten und wie weit seine Bewohner es auf dem Weg zur interstellaren Kommunikation und Raumfahrt gebracht hatten. Er eilte in den Innenraum der Kapsel zurück und schaltete das Abhörsystem ein.
44 Normalfunk-Aktivität: negativ. Hyperfunk-Aktivität: positiv. Aber diese Hyperfunk-Aktivität ging nicht von Rehat aus, sondern von einem siebzehn Lichtjahre entfernten Planeten, wie die Anzeigen verrieten. Algonkin-Yatta spürte, wie die Angst ihm die Kehle zuschnürte, die Angst um das Schicksal der Zivilisation von Rehat. Er hatte gewußt, daß von den rund vier Milliarden Rehat-Bewohnern keiner mehr leben würde, wenn er nach seiner Zeitreise aus seiner Kapsel stieg, aber das war eine Gewißheit, die auf der Kenntnis der geringen Lebensspanne dieser Intelligenzen beruhte – durchschnittlich siebzig Jahre. Aber ihre fernen Enkel mußten da sein – und sie mußten ihren Äther mit erheblich mehr Funksignalen füllen als ihre Ahnen, darunter auch mit Hyperfunksignalen, die freilich nicht im Äther verweilten. Aber, nein – nichts. Algonkin-Yatta schaute auf die Bildschirme. Das Meer sah friedlich aus. In wenigen Zentimetern Tiefe schlängelte sich der Tang. Ein Lebewesen, halb Delphin, halb Krokodil, pflügte durch die Wellen, tauchte hinab, tauchte wieder auf. Hoch oben in der Luft segelten zwei Flugsaurier. Wie elektrisiert fuhr Algonkin-Yatta hoch. Meeressaurier – Flugsaurier – Wesen, die es seit Jahrmillionen auf Rehat nicht mehr gab! Bin ich in die Vergangenheit geraten? Der Kundschafter schüttelte den Kopf. Er wußte, daß er sich nicht in der Vergangenheit befand. Er wußte es, weil es einen Beweis dafür gab: einen siebzehn Lichtjahre entfernten Planeten, der Hyperfunksignale ausstrahlte. Mit zitternden Fingern schaltete er die Startautomatik ein, ließ die Zeitkapsel auf einen Kilometer Höhe steigen und ging dann zum manuell gesteuerten Horizontalflug über. Er nahm Kurs auf den Kontinent, der bei seinem letzten Besuch am weitesten entwickelt gewesen war – technisch jedenfalls.
H. G. Ewers Als er die ehemalige Küstenlinie überflog, die er sehr deutlich erkannte, sah er dahinter das Linienmuster von Straßen, gesäumt von den Trümmern eingestürzter Häuser, die unter Schlick, Wasserpflanzen und Korallenkolonien kaum noch als ehemalige Häuser zu erkennen waren. Und alles lag unter dem Wasser des Ozeans begraben. Was da geschehen war, war nur die logische Folge der Abschmelzung des polaren Eiskappen gewesen. Eine Babyzivilisation wie diese hatte nicht die Möglichkeiten, das Abschmelzen und den Anstieg des Meeresspiegels zu verhindern. Die Kontinente waren, je nach Höhenlage ihrer Landschaften, von wenigen hundert Metern bis zu mehr als tausend Kilometern weit ins Innere hinein überflutet worden. Die neue Uferlinie war unter wuchernden Lagunenwäldern begraben, in deren feuchter Hitze Amphibien wimmelten. Algonkin-Yatta kreiste hin und wieder über einem Teil der Landschaft, um festzustellen, ob dort Vertreter der führenden Spezies von Rehat lebten – der ehemals führenden Spezies von Rehat. Er fand nichts, nicht einmal undeutliche Spuren. Tiefer im Landesinneren riß die Zone der üppigen Vegetation teilweise jäh ab. Das lag daran, daß die Wüsten, die sich dahinter gebildet hatten, nach außen wanderten und mit Millionen Tonnen von Sand die Vegetation unter sich begruben. Und in diesem Wüstenland entdeckte der Kundschafter schließlich weitere Spuren der untergegangenen technischen Zivilisation: große Bunkeranlagen, Betonklötze, die ab und zu vom Sand freigeweht und nach Tagen oder Wochen wieder von ihm begraben wurden, bröckelnde Gerippe großer Luftfahrzeuge und manchmal auch Gerippe von Individuen jener Spezies, die einst den Planeten beherrscht hatte. Algonkin-Yatta war zutiefst erschüttert. Er konnte sich ausrechnen, was geschehen war. Der Kundschafter verließ die Biosphäre des Planeten und ging in einen Orbit, wo er
Schatten über Ruoryc seine vor zweihundertfünfzig Jahren ausgesetzten Sonden auffischte und ihre Speicher mit Hilfe der Psiotronik auswertete. Seine Vermutung bestätigte sich. Die technische Zivilisation der RehatBewohner hatte durch die Zerstörung großer Vegetationsgebiete und die Verbrennung fossiler Brennstoffe den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre immer mehr erhöht. Das war anfangs so allmählich vor sich gegangen, daß es Generationen gedauert hatte, bevor Wissenschaftler die Veränderung messen konnten. Gleichzeitig war durch Schadstoffe, die in die Atmosphäre geblasen worden waren, die Ozonsphäre, der Schutzschild des Planeten gegen ultraviolette und andere kosmische Strahlen, durchlöchert worden. Anstatt den einzig möglichen Weg zu gehen, nämlich den der kontrollierten Reduzierung der Bevölkerung durch strikte Reduzierung der Geburten, war die Bevölkerungsexplosion ungehemmt fortgeschritten. Wissenschaftler, die warnten und die einzig möglichen Rezepte vorlegten, wurden niedergeschrien und manchmal sogar ermordet. Die Parole von Freiheit und Würde, die zu allen Zeiten ihre Berechtigung gehabt hatte, sie wurde zum Fluch, weil sie Reaktionen hervorrief, die in der veränderten Umwelt so falsch waren wie die Reaktionen von Sauriern in einer technisierten Welt. Mit dem laufenden Anstieg des Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre stiegen infolge des »Treibhauseffekts« die durchschnittlichen Temperaturen der Biosphäre von Jahr zu Jahr an. Die polaren Eiskappen schmolzen und lösten sich auf. Die Küstengebiete und teilweise auch Binnenlandschaften wurden überflutet. Die Bevölkerung nahm zu. Dennoch fielen weniger Niederschläge, weil die warme Luft mehr Feuchtigkeit an sich band als kühlere. Die Zivilisation brach innerhalb von anderthalb Jahrzehnten zusammen und erholte sich nie wieder. Wahrscheinlich hätten die Rehat-Bewohner um die wenigen Lebensräume, die sich mit einigem technischen
45 Aufwand retten ließen, gekämpft, aber sie konnten es nicht mehr. Zwei Drittel der Bevölkerung starb an Seuchen, an Überschwemmungen, Beben, an Hunger und Durst. Der Rest versuchte, alle Kraft zusammenzunehmen und zu retten, was zu retten war. Doch da gab es bereits keine Atomkraftwerke, keine intakten Schnellverkehrsmittel, keine Fabriken, keine Medikamente mehr. Ohne ein hohes Angebot an Energie und Energieverbrauchern aber war gegen Naturgewalten nichts auszurichten. Die Sandstürme verschütteten die letzten Anbaugebiete für Lebensmittel, die letzten Haustiere gingen ein – und mit bloßen Händen konnte niemand Brot oder Fleisch aus dem Boden stampfen. Ende einer vielversprechenden Zivilisation – beziehungsweise des Anfangs einer technischen Zivilisation. Zusammenbruch des biologischen Zusammenspiels, Tod der meisten Tierarten. Die Saurier kamen wieder, als neue Mutationen oder aus welchem Grunde immer. Die Mutationsrate war ja bei durchlöchertem Ozon-Schirm viel höher als bei intaktem. Aber draußen im Kosmos ging die Evolution weiter …
* Siebzehn Lichtjahre waren nicht viel für den Überlichtantrieb der Zeitkapsel. Algonkin-Yatta entschloß sich, den Planeten genauer zu untersuchen, von dem die Hyperfunksignale kamen. Vorher versuchte er, mit Hilfe seines Translators den Sinn der Signale zu erfassen, eine Botschaft aus ihnen herauszulesen. Es gelang ihm nicht. Alles, was er schaffte, war die Hörbarmachung der Signale. Eigentlich bestanden die Signale aus zwei miteinander kombinierten Tönen: aus einem schrillen, metallisch klingenden Kreischen, einem an- und abschwellenden Geräusch wie von hundert Kreissägen – und aus einem rhythmischen gleichbleibenden Klopfen.
46 Der Kundschafter kam zu dem Schluß, daß die Zivilisation, die diese Signale durch den Weltraum schickte, damit nur eines erreichen wollte: andere, höher entwickelte Zivilisationen auf sich aufmerksam zu machen, mit ihrer Hilfe eine gemeinsame Verständigungsbasis zu finden und von den Informationen, die man erhielt, zu profitieren. Das war so normal wie nur irgend etwas, und in den meisten Fällen blieben die Kontakte zwischen hochentwickelten Zivilisationen friedlich. Bevor Algonkin-Yatta vom Krieg zwischen Arkoniden und Maahks erfuhr, hatte MYOTEX nicht gewußt, daß hochentwickelte technische Zivilisationen sich im Weltraum bekämpften (die fast völlige Vernichtung der Aurogilts war das Ergebnis eines Mißverständnisses gewesen). Doch wenn der Kundschafter daran dachte, daß man die Signale auch in der Schwarzen Galaxis empfing und daß man dort bestimmt nicht beabsichtigte, der jungen Zivilisation, die die Signale aussandte, wertvolle Informationen zu geben, dann fühlte er sich versucht, die Intelligenzen auf dem siebzehn Lichtjahre von Rehat entfernten Planeten zu warnen. Aber dazu hatte er natürlich kein Recht, denn das wäre eine Zeitmanipulation gewesen. Immerhin wollte er mehr über die junge Zivilisation erfahren. Er programmierte einen Flug in das betreffende Sonnensystem hinein. Als er nach kurzem Interdimensionsflug am Ziel war, schwebte die Zeitkapsel dicht über der Bahnebene von vierzehn Planeten, die eine gelbe Sonne umkreisten. In dieser Position konnte der Kundschafter die normal lichtschnellen Funksendungen der Zivilisation deutlich empfangen. Sie kamen überwiegend vom vierten Planeten, aber auch auf dem dritten und dem fünften Planeten gab es Sendestationen. Anscheinend hatten die Bewohner des vierten Planeten dort ihre ersten Stützpunkte errichtet. Als Algonkin-Yatta diesmal den Translator dazwischenschaltete, wurden als erstes die Kommunikationsimpulse zwischen den
H. G. Ewers hochwertigen Computern des vierten Planeten und der beiden Nachbarplaneten verständlich. Die Bildsendungen wurden natürlich einwandfrei aufgefangen und wiedergegeben. Nur mit der Übersetzung der Lautsprache gab es Schwierigkeiten. Der Kundschafter erkannte den Grund dafür, als er die Bildsendungen genau ansah. Die Intelligenzen des vierten Planeten waren zweifellos keine Hominiden – trotz einer gewissen Menschenähnlichkeit. Sie waren nur halb so groß wie Terraner, wirkten zartgliedrig, hatten eine dunkelgelbe Hautfarbe, zwei Armpaare und einen trichterförmigen Kopf. Auf der Gesichtsfläche des Kopfes waren sechs stabförmige Augen, ein Büschel mit Sensoren und eine Öffnung zur Nahrungsaufnahme, die durch ein Lid verschlossen werden konnte. Aber ihre Sprache erzeugten sie mit harten Hautlappen zwischen ihren Fingern. Algonkin-Yatta fand heraus, daß jeder Hautlappen eine andere Schwingresonanz hatte und man ihm durch Berühren mit anderen Fingern verschiedene Töne entlocken konnte. Was dabei herauskam, hörte sich für Algonkin-Yatta wie das Raspeln und Schrillen von Riesenheuschrecken an – und die Fremden »sprachen« sehr schnell. Es bedurfte einer langwierigen Arbeit mit Hilfe der Psiotronik, um Klarheit in die Bedeutung eines Grundsignalschatzes zu bringen. Entscheidend half dabei der Vergleich zwischen dem, was die Fremden sagten, wenn sie etwas in einen ihrer Computer eingaben und den Signalen, die der Computer danach von sich gab. Das stimmte nicht immer überein, aber durch immerwährende Vergleiche und Analysen kam doch ein Übersetzungsprogramm für den Translator zustande. Algonkin-Yatta erfuhr, daß der vierte Planet Xuverloth hieß und daß die intelligenten Bewohner sich Torzaganer nannten. Es machte ihn stutzig, daß sie sich nicht Xuverlother nannten. Aus eigener Erfahrung wußte er ja, daß es im Fall seines eigenen Volkes
Schatten über Ruoryc einen gewichtigen Grund gab, daß der Planet Ruoryc hieß und sie sich Mathoner nannten. Waren die Vorfahren der Torzaganer etwa vor langer Zeit auch von einem anderen Planeten gekommen? Der Kundschafter versuchte, aus ihren Botschaften und Nachrichten sowie den Unterhaltungssendungen etwas darüber herauszufinden. Es gelang ihm nicht. Die Torzaganer schienen sich nicht für die Geschichte ihres Volkes zu interessieren. Dafür interessierten sie sich um so mehr für ihre Zukunft. Aus ihren Sendungen ging hervor, daß sie ein großes Sternenschiff bauten, das in wenigen Jahren zum benachbarten Sonnensystem fliegen sollte, um entweder Kontakt mit dort lebenden anderen Intelligenzen aufzunehmen oder einen Planeten zu finden, der sich zur Besiedlung eignete. Außerdem waren umfangreiche Arbeiten zur Schaffung einer Biosphäre auf dem fünften Planeten im Gang, die der Biosphäre von Xuverloth ähneln sollte. Mehrere interplanetarische Expeditionen befanden sich zur Zeit unterwegs, um den sechsten, siebten und achten Planeten zu erforschen und festzustellen, welche lohnenden Bodenschätze dort unter welchen Bedingungen gefördert werden konnten. Das Herz wurde dem Kundschafter schwer, als er daran dachte, daß eines Tages eine Invasionsflotte aus der Schwarzen Galaxis über dem vierten Planeten der Sonne Punark erscheinen könnte. Er mußte einfach Gewißheit erlangen, mußte wissen, wie sich die Zivilisation der Torzaganer weiterentwickelte. Vielleicht wurde alles nicht so schlimm. Algonkin-Yatta stellte mit Hilfe der Psiotronik Berechnungen an und programmierte anschließend die Zeitsteuerung der Kapsel auf eine Zeitversetzung von vierhundert Jahren. Als er die Zeitversetzung hinter sich hatte, konnte er aufatmend feststellen, daß die Torzaganer von einer feindlichen Invasion verschont geblieben waren. Ihr Fleiß hatte sich
47 bezahlt gemacht. Der fünfte Planet war dabei, sich zu einem Paradies mit zahllosen großen Seen aus stellaren Eisbrocken, Wiesen und Wäldern zu entwickeln. Rund fünfzehn Millionen Torzaganer lebten dort in modernen Siedlungen. Außerdem gab es Robotbergwerke auf dem siebten und achten Planeten, einen regen stellaren Frachtverkehr, Forschungsschiffe und Forschungsstationen – und es gab in drei anderen Sonnensystemen, in denen keine Zivilisationen gefunden worden waren, Stützpunkte, von denen aus vorerst zwei der betreffenden Planeten wie der fünfte Planet Punarks umgeformt und besiedelt werden sollten. Die Hyperfunksendungen, die der Kontaktaufnahme mit anderen Zivilisationen dienen sollten, hatte man aufgegeben, da niemals eine Antwort hereingekommen war. Der Hyperfunk diente ausschließlich dem Kontakt mit anderen Planeten – auch innerhalb des Punark-Systems. Algonkin-Yatta überlegte eine Weile, dann programmierte er eine weitere Zeitversetzung, allerdings nur um fünfzig Jahre. Aber die Zeitschaltlinien folgten diesmal nicht allen seinen Berührungen. Sie schienen ein Eigenleben zu entwickeln. Der Kundschafter aktivierte das Programm dennoch, denn er ahnte, was geschehen war. Als die Zeitversetzung abgeschlossen war, wandte er sich an die Psiotronik und sagte: »Ich nehme an, wir waren uns selbst im Weg gewesen, Psiotronik. Wie denkst du darüber?« »Wenn wir uns selbst im Weg waren, hätte ein Verstoß gegen die Regeln zur Verhütung von Zeitparadoxa erfolgt sein müssen«, erwiderte die Psiotronik. Algonkin-Yatta preßte die Lippen zusammen. Er kämpfte mit sich, denn er wußte, daß er sich eigentlich aus dieser Zeit zurückziehen sollte, um sich nicht in ein Abenteuer zu stürzen, das gegen die Regeln für Zeitreisende verstieß. Aber er brachte es nicht fer-
48 tig. Seine Sympathie für die Torzaganer war zu groß. Und wenige Stunden später fingen seine Ortungsgeräte Strukturerschütterungen auf, die von dem Wiedereintritt einer großen Anzahl Raumschiffe aus dem Hyperraum in den Normalraum zeugten. Die Positionsberechnungen ergaben, daß alle drei Strukturerschütterungen in den drei Sonnensystemen erfolgt waren, die von Xuverloth aus kolonisiert werden sollten. Das war die Invasion! Algonkin-Yatta mußte sich überwinden, um nicht zu einem der angegriffenen Kolonialsysteme zu fliegen und nachzusehen, was dort geschah. Er blieb fest, weil er ahnte, daß der Hauptschlag der Invasoren erst bevorstand. Und er behielt recht. Zwei Tage später – die Torzaganer hatten über Hyperfunk erfahren, was mit ihren Stützpunkten in den drei anderen Systemen geschehen war – wurde das Punark-System von schweren Strukturerschütterungen durchlaufen. In vier Etappen materialisierten rund zehntausend Raumschiffe. Die Fernbeobachtung holte das Bild eines dieser Schiffe heran. Es handelte sich um Raumschiffe von der Form gleichschenkeliger Dreiecke, deren Seitenlänge fünfhundert Meter betrug. An der Spitze der sechzig Meter dicken, aus einem unbekannten schwarzen Material gebauten Schiffe gab es einen kugelförmigen Aufsatz von hundert Metern Durchmesser, außerdem noch verschiedene Ausbuchtungen. Die Triebwerke lagen in einer Doppelreihe auf der dem Bug gegenüberliegenden, fünfhundert Meter langen Seite. Algonkin-Yatta hielt den Atem an, als die Schiffe im Raum eine lockere Kugelschale um Xuverloth bildeten. Doch der befürchtete Angriff blieb aus. Die Invasoren schienen den Torzaganern erst einmal ihre Flotte zu zeigen, um sie für Verhandlungen geneigt zu machen. Auf jeden Fall aber hatte der Kundschafter das Bindeglied zur Schwarzen Galaxis
H. G. Ewers gefunden. Ihm war klar, daß er sich von Atlans Lebenslinie aus noch immer tief in der Vergangenheit befand, so daß es vergeblich gewesen wäre, nach dem Arkoniden zu suchen. Aber es war sicher auch für die spätere Suche nach Pthor und Atlan nützlich, durch Beobachtungen mehr über die Strategie der Herren der Schwarzen Galaxis zu erfahren. Algonkin-Yatta beschloß, die RUORYC nachzuholen, denn das Kundschafterschiff verfügte über erheblich bessere Ortungssysteme, eine leistungsfähigere Psiotronik, einen wirksamen Ortungsschutz – und nicht zuletzt über Anlytha und Chairade, die sich unter Umständen als wertvolle Helfer erweisen konnten. Und wieder tauchte die Zeitkapsel tief in die Vergangenheit …
* »Du warst keine zehn Minuten weg, Yatta«, sagte Anlytha, als der Kundschafter die Steuerzentrale der RUORYC betrat. »Ich war viele Millionen Jahre weg – in der Zukunft. Natürlich nicht in unserer eigenen Zukunft, sondern in der Zeit, die von jetzt an gesehen die zukünftige Zeit sein wird.« »Ich nehme an, du bist den Herren der Schwarzen Galaxis begegnet, sonst wärst du noch nicht zurück«, meinte die Psiotronik. Algonkin-Yatta schüttelte den Kopf. »Erstens kann ich den Zeitpunkt meiner Rückkehr an der Zeitschaltung der Kapsel einstellen«, erklärte er. »Deshalb kam ich zehn Minuten nach meinem Abgang durch die Zeit zurück – und zweitens bin ich sicher, daß die Raumschiffe, die ich sah, nicht von den Herren der Schwarzen Galaxis bemannt waren.« »Von wem dann?« fragte Anlytha. »Haben wir es mit einer anderen Macht zu tun?« »Wahrscheinlich nicht«, antwortete der Kundschafter. »Wenn die Herren der Schwarzen Galaxis heute bereits so stark sind, wie wir annehmen, dann haben sie si-
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cher zahllose Völker ihrer eigenen Galaxis unterworfen. Es ist anzunehmen, daß sie zur Annexion fremder, von ihrem Standpunkt aus verteidigungsschwacher Planeten die unterworfenen raumfahrenden Völker einsetzen.« »Das ist logisch«, sagte die Psiotronik. »Wie können wir den Torzaganern helfen?« fragte Anlytha. »Wir dürfen ihnen nicht helfen«, erwiderte Algonkin-Yatta. »Das wäre schon an sich ein Zeitparadoxon, da wir zur Zeit der Torzaganer noch gar nicht geboren sind. Ganz zu schweigen von den anderen Paradoxa, die sich zu einer Kettenreaktion steigern könnten. Wir müssen uns leider auf passive Beobachtung beschränken.« »Und Informationen über das Hilfsvolk aus der Schwarzen Galaxis beschaffen, das seine Flotte nach Xuverloth geschickt hat«, warf Chairade ein. »Und damit indirekte Informationen über die Herren der Schwarzen Galaxis«, sagte die Psiotronik. »Wann soll ich in der Zeit aufwärts tauchen, Kundschafter?« »Sofort«, antwortete Algonkin-Yatta. »Sofort, wenn du dafür gesorgt hast, daß wir uns im Punark-System befinden – und zwar in einer Kreisbahn um den neunten Planeten.« »Warum um den neunten Planeten?« fragte Anlytha. »Ich denke, die Torzaganer le-
ben auf dem vierten Planeten?« »Willst du, daß wir mitten zwischen den Schiffen der Invasionsflotte erscheinen?« fragte der Kundschafter ironisch. »Nein, wir werden kurz die Lage peilen und dann das Kundschafterschiff auf dem neunten Planeten abstellen.« Er lächelte Anlytha zu. »Ich habe dort übrigens ein wundervolles Eisfeld entdeckt, dessen Kristalle sich ständig in Form und Farbe verändern, mein Schatz. Es sieht aus, als funkelten dort Milliarden Edelsteine – und vielleicht gibt es dort wirklich welche.« Anlythas Augen glühten förmlich auf. »Ich schätze, jemand muß auf Planet neun bleiben, um auf das Schiff aufzupassen – und da ich darin schon geübt bin …« »… könnte ich mir niemanden vorstellen, der dazu geeigneter wäre als du«, ergänzte der Kundschafter. »Chairade und ich werden uns zum vierten Planeten schleichen und dort beobachten – und nichts mehr.« »Es sei denn, zwingende Gründe änderten deine Meinung«, warf die Psiotronik ein. »Achtung, ich starte zum Punark-System und von dort aus in die Zeit der Invasion.«
ENDE
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