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Schattenboxen
WELTBILD
Lizenzausgabe für Weltbild Verlag GmbH mit Genehmigung des Autors und der AVA (Autoren- und Verlags-Agentur GmbH, Breitbrunn) Ein Mord zur rechten Zeit: Die Story wurde entnommen aus „Mitunter Mörderisch“, Kriminalstorys von -ky.
© 1976 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg Fendt hört mit: © 1994 by -ky (d. i. Horst Bosetzky) Editionsidee und Redaktion: Reinhold G. Stecher, Richard Mader Einbandgestaltung: Agentur Zero GmbH, München Titelbild: Hessischer Rundfunk; ZEFA, Frankfurt Tatort ist eine Produktion der ARD für Das Erste Gesamtherstellung: Presse-Druck, Augsburg Printed in Germany
Die Kriminalerzählung »Ein Mord zur rechten Zeit« war die Drehbuchvorlage für die 121. Tatortfolge, die am 8.2.1981 unter dem Titel »Schattenboxen« mit Lutz Moik als Hauptkommissar Bergmann ausgestrahlt wurde. Dieser Tatort war hochkarätig besetzt: Neben Günter Lamprecht spielte der erst kürzlich verstorbene Schauspieler Günter Strack. Ein vermögender Fabrikant wird entführt. Die Gangster fordern von der Ehefrau eine hohe Lösegeldsumme, die der Prokurist des Gekidnappten überbringen soll. Bergmann stößt bei der Suche nach dem Entführten auf einen Amateurboxer, der sein Lauftraining in einem Waldstück absolviert, das auf der Fahrtroute des Opfers liegt. Etwas erscheint Bergmann merkwürdig an dem Fall, zumal es kein wirkliches Lebenszeichen von dem Opfer gibt… »Fendt hört mit« führt in die Hauptstadt des Verbrechens – nach Berlin. Ein Senatsbaurat wird ermordet und die Spuren lenken den Verdacht auf eine mafiaähnliche Verbrecherorganisation, deren Kopf Ron Peccioli ist. Dieser steht im Verdacht, Polizeibeamte durch Bestechung und Erpressung für die Claninteressen einzuspannen. Der Polizist Dieter Fendt wird abkommandiert, Pecciolis Wohnung abzuhören. Sein Interesse gilt allerdings mehr der Nachbarwohnung. Mehr und mehr projiziert Fendt seine sexuellen Visionen auf Pecciolis Nachbarin, die schöne Graziella Vogelsang… »Jede Großstadt hat das Verbrechen, das sie verdient«, schreibt der in Berlin geborene -ky (Dr. Horst Bosetzky). Ebenso freizügig, schonungs- und manchmal schamlos wie Berlin ist dieser Krimi…
Ein Mord zur rechten Zeit
Unten in der Stadt mischte sich die Fanfare der Tagesschau mit den Schlägen der Turmuhr. Der E 741, planmäßige Abfahrt 19 Uhr 59, kroch in die Dämmerung. Schon schwitzend begann Moldenhauer mit seinem Gymnastikprogramm. Wie immer in der Mitte einer kleinen Lichtung; genau da, wo auf dem zerstampften Boden längst kein Gras mehr wuchs. Fast wütend ließ er den Kopf kreisen, erst links herum, dann rechts. Als er viel zu schnell das ewige Angstgefühl verspürte, plötzlich enthauptet zu sein, hörte er auf und massierte sich die Nackenwirbel, bis die Fingerspitzen schmerzten. Nachdem er die Arme einige Male wie Dreschflegel herumgeworfen hatte, lockerte er seinen Körper, schüttelte sich, hüpfte, tänzelte schließlich wie zu Beginn eines leichten Kampfes. Dann streckte er sich und wurde, mit den Fingern nach unsichtbaren Reckstangen greifend, immer länger. Die nächsten Übungen galten Rumpf und Hüfte. Er drehte sich eine Weile wie ein Diskuswerfer, tippte, mühsam nachfedernd bei schlecht durchgedrückten Knien, mit den Fingerspitzen auf den Boden und suchte anschließend, nachdem er sich mit gespreizten Beinen hingesetzt hatte, mit jeweils einer leichten Rumpfdrehung beide Hände an die Zehen des linken und dann des rechten Fußes zu schlagen. Dabei keuchte er. Noch mehr quälte er sich, als er, wacklig im nassen Sand sitzend, die Beine, mal grätschend, mal anziehend, an die sechzig Sekunden über dem Boden hielt. Schließlich sprang er fluchend auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unter den Achselhöhlen hatten sich die Ärmel seines Trainingsanzugs bereits dunkel verfärbt. Den Kaugummi ausspuckend, ließ er sich in den Liegestütz fallen. Er pumpte ein Weilchen wie ein startbereiter Käfer. Beim zwanzigsten Versuch gab er auf.
Es war ein mieser Tag für Martin Moldenhauer. Gleich am frühen Morgen hatte er sich aufregen müssen. Da hatte so ein komischer Linker Flugblätter verteilt. MACHT DIE FLIESSBÄNDER KAPUTT, EHE DIE FLIESSBÄNDER EUCH KAPUTTMACHEN! Dann ein Zitat von diesem Wallraff: Das Zermürbende am Band ist das ewig Eintönige, das Nichthaltmachenkönnen, das Ausgeliefertsein. Die Zeit vergeht quälend langsam, weil sie nicht ausgefüllt ist. Sie erscheint leer, weil nichts geschieht, was mit dem wirklichen Leben zu tun hat. KOLLEGEN, FORDERT MENSCHENWÜRDIGE PRODUKTIONSMETHODEN! Da hatte er diesen linken Spinner gepackt und angeschrien: »Hau ab, Mensch, eh ich Hackfleisch aus dir mache! Wenn ihr weiter so stänkert, machen die den Laden hier zu! Und dann? Dann sitze ich auf der Straße – und du Arschloch, du bist dann längst Beamter!« In der Mittagspause hatte ihm dann Domagalski – das war sein Kumpel – wortlos die Sportzeitung rübergegeben. Schöne Überschrift: DER DEUTSCHE BOXSPORT IST K. O. Zum Schluß hieß es dann, und das war die größte Schweinerei: Die Trainingsbedingungen unserer Amateure sind weithin so miserabel und der Vorsprung der Kämpfer aus dem Ostblock und aus Kuba ist derart uneinholbar, daß man unseren Jungens beinahe raten möchte, die Handschuhe so rechtzeitig an den Nagel zu hängen, daß sie noch etwas von ihrer Jugend haben. Am schlimmsten aber sind wohl diejenigen Geschäftemacher, die mehr oder minder mittelmäßigen Leuten – wie Martin Moldenhauer etwa – einreden, sie könnten nach ihrem Übertritt ins Profilager ein zweiter Schmeling oder Bubi Scholz werden. Moldenhauer dürfte schon bei seinem ersten Profikampf das sein, was er immer bleiben wird: Fallobst! Er hatte die Zeitung zerrissen, aber Domagalski hatte gebrummt: »Vielleicht hat der recht…?«
Das dritte Ding hatte er dann eine halbe Stunde vor Feierabend unten am Band einstecken müssen. Beim Einbau der Laugenpumpe hatte er ein Kabel herausgerissen. Und ausgerechnet in dieser Sekunde hatte ihm der Meister über die Schulter geblickt. Grund genug für ihn, gleich loszutoben. »Mensch, Moldenhauer, Sie allein machen ja mehr Ausschuß als der ganze Betrieb zusammen! Trainierense mal ‘n bißchen hier und nich dauernd am Sandsack!« »Ich hab’s satt, Tag für Tag eure Scheißlaugenpumpen in eure Scheißwaschmaschinen einzubauen!« hatte er zurückgeschrien und vor Wut seinen Schraubenschlüssel auf den Boden gefeuert. »Das is ja was für drei Irre, Mensch!« Dann hatte ihn Domagalski beruhigt: »Beeil dich, sonst haben wir wieder zehn Mark weniger auf der Kralle. Dann wird’s nischt mit unserer eignen Werkstatt, eh wir hundert sind.« Darauf der Meister: »Sehnse, Molle, hörnse nur immer schön auf Domagalski. Aber jetzt: dalli-dalli!« Darauf er: »Das is wirklich zum Kotzen hier!« Darauf der Meister: »Heb den Schraubenschlüssel auf, und laß die Fisimatenten, sonst fliegste – aber nich zum Weltmeisterschaftskampf nach New York, sondern raus! Wenn’s hier mit den Entlassungen losgeht, dann bist du garantiert bei den ersten bei – Großmaul!«
Aber er hatte nicht nur das schlucken müssen, es war noch dicker gekommen. Zu Hause hatte Lona – das war seine Frau – am Telefon gehangen und mit irgendeiner Bekannten gesprochen. So laut, daß er im Nebenzimmer mithören konnte und vielleicht auch sollte. »… ja, ja… ich hab auch die Schnauze voll, ich laß mich scheiden. Wir leben zwar noch in derselben Wohnung – so
schnell findet man ja nichts, aber – ja, ja… Das ist doch ein Schlappschwanz. Wenn der in zwei Wochen um Geld boxt – der liegt doch in der dritten Runde auf den Brettern, wetten? Nicht mal die Chance kann der nutzen. Bleiben uns die paar Mäuse, die Molle aus der Fabrik mitbringt. Aber davon kann doch kein Schwein leben. Außerdem steckt er noch bis zum Hals in Schulden. Der Idiot hat sich doch neulich besoffen ins Auto gesetzt und drei Pkw gerammt. Die Versicherung kommt nicht dafür auf, da muß er selber blechen. So ist es doch! Und wenn er abends nach Hause kommt – als hätt ich ‘n Eunuchen geheiratet. Wie sag ich immer: Bei Moldenhauer geht auch reineweg gar nichts mehr!«
Dies alles ging ihm pausenlos im Kopf herum, als er jetzt schwer atmend und so verkrampft wie Zatopek durch den Stadtwald lief, immer rechts um den Schwarzen See herum. Nach einer längeren Hitzeperiode war vor zwei Stunden ein heftiger Gewitterregen niedergegangen, und die noch immer heiße Erde schwitzte das Wasser jetzt aus. Es war feuchtschwül, und ihm war, als liefe er durch eine riesige Duschkabine. Die Sonne war längst untergegangen, außerdem zog vom Westen her ein neues Gewitter herauf. Die Sicht war schlecht, und plötzlich wurde es so bläulich-düster, daß er unwillkürlich schneller lief. Den letzten Spaziergänger hatte er vor zehn Minuten getroffen. Er spurtete, bis er einen leichten Brechreiz verspürte. Wohl oder übel mußte er ein wenig verhalten. Und dann ging alles so schnell, daß er es kaum registrieren konnte. Hinter ihm heulte der Motor eines schweren Wagens auf.
Er sprang zur Seite, gab den schmalen Fahrweg mit den beiden tief eingefurchten Spurrinnen frei, verfing sich in einer Brombeerhecke. Der Wagen dröhnte vorüber, war unheimlich schnell hinter einer leichten Biegung verschwunden. Das Motorgeräusch wurde schwächer, irgendwie dämpfte die Luftfeuchtigkeit, dann mußte der Fahrer heftig auf die Bremse getreten sein. Moldenhauer, der vor Liebespaaren im allgemeinen mehr Angst hatte als diese vor ihm, fand linker Hand einen Pfad und trabte leicht gebückt, den herabhängenden Ästen ausweichend, in eine Richtung, in der er die beiden im Wagen bestimmt nicht stören würde. Da hörte er den Schuß. Der Nachhall dröhnte ihm die ganzen Sekunden in den Ohren, in denen er wie gelähmt stehengeblieben war. Danach absolute Stille. Dann heulte ein Motor auf. Räder drehten durch. Eine Wagentür wurde aufgerissen und wieder zugeknallt. Moldenhauer jagte in die Richtung, aus der der Schuß gekommen war. »Halt! Stehenbleiben!« Das galt der Gestalt, die knapp vor ihm durch das Unterholz preschte. Er kam näher, suchte. Da bewegten sich die riesigen Farne vor ihm. Zwei Schüsse peitschten durch den Stadtwald. Die Kugeln schlugen in die Erlenstämme, grünliches Holz splitterte. Moldenhauer flüchtete. Wieder ein Schuß.
Währenddessen saß Domagalski in Moldenhauers Wohnung, Quelle-Katalog Herbst und Winter 70/71 vor sich, goß sich
sein zweites Bier ein und wartete. Seit längerer Zeit hatte er einen Schlüssel zu Moldenhauers Reihenhaus, einem schwärzlichen Backsteinbau, der ihrer Firma gehörte. Er hatte gerade ein paar Platten aufgelegt, Evergreens wie La Paloma und Tiritomba, als das Telefon schrillte. Er wartete ein paar Sekunden, hoffte, daß Lona noch auftauchen würde, nahm dann den Hörer vorsichtig ab und sagte sehr förmlich: »Hier bei Moldenhauer…« Als dann eine männliche Stimme zweimal langgezogen »Wer…?« fragte und abrupt auflegte, schnauzte er: »Idiot verdammter!« Da stand Lona in der Tür. »Für mich?« »Keine Ahnung«, antwortete Domagalski, »der Arsch hat sich nicht vorgestellt. War wohl ‘n Freier von dir, was?« »Und wenn! Du kümmer dich mal um deinen eignen Dreck. Was hängste eigentlich hier rum?« »Ich warte auf Molle.« »Der wird wieder irgendwo saufen sein.« »Na und? Darf er das vielleicht nicht?« »Meinst du, ich laß mich jede Nacht von seinem Gebrüll wachmachen?« »Dann zieh doch endlich weg.« »Hast du vielleicht ‘ne Wohnung frei für mich?« »Ja – meine. Mit Bett…« Domagalski grinste und wippte auf der Couch auf und ab. Lona lachte abfällig. »Wenn ihr abends vom Band kommt, ist doch zappenduster bei euch. Und Kohlen habt ihr auch keine.« Domagalski richtete sich auf. »Wenn wir erst unsere Werkstatt aufgemacht haben – Reparaturen, Haushaltsgeräte und so, Waschmaschinen, Wäscheschleudern, Geschirrspülautomaten… Und dann noch so paar Sachen nebenbei verkauft -Mensch, ich sag dir!« »Ihr mit euren paar Piepen!«
»Wir machen noch drei Jahre Akkord, dann haben wir’s geschafft.« »Hm – geschafft, auf’n Friedhof zu kommen.« Domagalski drehte die Musik lauter. »Red nich so viel, setz dich lieber her zu mir…« Lona schlug ihm leicht auf die Finger. »Ich hab dir schon xmal gesagt, laß meinen Plattenspieler in Ruhe!« Er drückte auf die Stopptaste. »Bitte sehr, Frau Moldenhauer.« »Ich geh jetzt…« »Wieder ‘n neuer Kunde, was?« »Halt’s Maul!« Sie warf die Tür hinter sich zu und lief nach unten. »Die sackt auch immer weiter ab«, murmelte Domagalski und legte von neuem La Paloma auf.
Kaum war die Platte abgespielt – … auf Matrosen, ohe! – da wurde die Tür aufgestoßen, und Moldenhauer stand da, umklammerte die Klinke, starrte Domagalski an, sah auf seine zerfetzten Trainingshosen herab. Domagalski ruckte kurz nach oben, fiel wieder auf die Couch zurück. »Mensch, Molle, was ist denn mit dir…? Du…« Moldenhauer war noch völlig außer Atem. »Sie ham… Sie ham auf mich geschossen…« »Geschossen…? Wer?« »Ich mach doch jeden Abend meinen Waldlauf…« »Wer hat denn geschossen?« »Hinten am Schwarzen See… Ein Mann wohl, ‘s war schon ziemlich dunkel…« »Hier, trink erst mal…« Domagalski sprang nun endlich auf, öffnete eine Bierflasche, drückte sie ihm in die Hand und schloß die Tür.
Moldenhauer schüttete das Bier hinunter. »Kann auch ‘ne Frau gewesen sein – bei dem Licht schwer zu sagen. Ich glaub aber: lange Haare und ziemlich jung…« Domagalski guckte. »Und warum hast du…? Hast du…?« »Ich hab gar nichts. Ich lauf da, plötzlich rast ein Mercedes die Schneise lang, den geschotterten Weg da. Vorn ham wohl zweie dringesessen.« »Und?« »Und! Und! Der Wagen bremst, ich lauf weiter, da ballert einer von denen los.« »Auf dich?« »Quatsch – einer der Wageninsassen auf den andern.« »Und das konnste hören?« »Die hatten wohl ‘n Fenster runtergekurbelt.« »Kann sein…« »Ich Idiot lauf jedenfalls hin; hätt ja sein können, daß… Muß man doch tun. Da springt der eine – wenn’s überhaupt ‘n Mann war – aus dem Wagen und feuert auf mich. Zweimal, aber gezielt. Ich krieg ‘n Schock und hau ab, der aber auch. Es kann aber auch ‘ne Frau in Hosen und ‘nem langen Mantel gewesen sein. Ja…« Moldenhauer setzte sich endlich. »Und da seid ihr beide weg?« Moldenhauer setzte die Bierflasche auf den Tisch. »Sag ich doch!« Domagalski überlegte. »Wenn wirklich zweie im Wagen waren, is der andere tot – oder?« Moldenhauer sprang auf. »Komm, geh mal zur Seite, ich muß die Bullen holn!« »Das wird ‘ne ganz schöne Scheiße geben. Die verhörn dich, aufs Gericht mußte auch…« »Der wollte mich umlegen.« Moldenhauer begann zu wählen. »Eins… Eins…«
Da war Domagalski bei ihm. »Halt mal!« Blitzschnell drückte er auf die Gabel. »Du bist wohl vom wilden Affen gebissen – hau ab!« Moldenhauer suchte Domagalski zur Seite zu schieben. Der wehrte sich, hatte aber, schmächtig-hager, wie er war, gegen Moldenhauers Halbschwergewicht keine Chance. Aber geschickt war er. Und das Telefon, das er gerade noch gepackt hatte, ließ er nicht mehr los. »Denk doch mal nach, du Blödmann du!« Moldenhauer sah ihn verdutzt an. »Worüber denn?« »Das war ‘n dicker Mercedes – und da liegt mit Sicherheit ‘n Toter drin?« »Ja – und…?« »Und außer dir gibt es keinen Zeugen?« »Nee… Bei dem Wetter.« »Und der, der auf dich geschossen hat, der hat die Hosen voll – hast du doch gesagt, oder?« Moldenhauer lachte. »Der hat völlig durchgedreht, der hatte mehr Angst als ich.« Domagalski blickte ihn an. »Meinst du, der läßt sich da noch mal blicken, wo er, wo er – also der muß doch ganz sicher sein, daß du sofort die Polente geholt hast – oder?« »Ja…« Moldenhauer sah ihn hilflos an. »Also…?« Domagalskis Augen leuchteten. »Was heißt hier also?« »Tu mal was für dein’n Zwirnskasten! Der Tote da hat bestimmt ‘n paar Braune oder ‘n paar Blaue in der Brieftasche. So ‘n dicker Mercedes. Der hat auch noch seine Uhr bei sich, Ringe, vielleicht auch ‘n Scheckbuch.« »Mensch, bei ‘nem Mord, da…« Er schluckte unwillkürlich. »Was wir dem da abnehmen, können wir nicht in drei Jahren zusammenkratzen. Ich sag dir, da können wir schon nächstes Jahr unsre Werkstatt aufmachen. So ‘n Glück – das bietet sich
nie wieder. Wir wär’n ja verrückt, wenn wir nich mal nachsehen, was da zu erben is.« Moldenhauer zögerte. »Ich weiß nich so recht…« Domagalski höhnte: »Ich weiß – du stehst ja gern jeden Morgen am Band. Immer die gleichen Handgriffe, immer der gleiche Gestank, immer die gleiche Hetze – klar! Und der Scheiß-REFA-Mann im Hintergrund wieder den Akkord gedrückt. Bis an dein Lebensende. Wennde Spaß dran hast – bitte!« Mit einer heftigen Bewegung drückte er auf die UKWTaste und ließ Moldenhauers die Hi-Fi-Lautsprecher aufheulen.
Keine halbe Stunde später kämpften sie sich tatsächlich durch das regenfeuchte Unterholz, gerieten, da sie die Fahr- und Gestellwege mieden, des öfteren in sumpfiges Gelände, verloren ihre Schuhe. Durchnäßt, die Gesichter von herabhängenden Zweigen zerkratzt, näherten sie sich der Stelle, die Moldenhauer im Gedächtnis hatte. Es gab kaum Geräusche, die sie erschreckten. Mal ein Käuzchen, höchstens eine Fledermaus, das war alles. Erst als über ihnen eine Sportmaschine rot-grün-blinkend dahinzog, schraken sie zusammen. »Halt die Hand vor die Taschenlampe!« fauchte Domagalski. »Oder willste das Flugzeug oben anstrahlen…?« Moldenhauer bog die Büsche zur Seite. »Mensch, hier muß es doch irgendwo gewesen sein…« »Vielleicht ist doch schon einer gekommen und hat die Karre abgeholt – mit der Leiche drin…?« Moldenhauer sah sich um. »Auf keinen Fall die Bullen – dann war hier ‘n bißchen mehr los.« »Oder du spinnst…« Domagalski sah ihn an.
»Da drüben ist der Unterstand und hier ist der Stein, wo die Jagen draufstehn… Wenn der Weg hier langgeht, dann muß es da rechts am Schwarzen See gewesen sein.« Sie gingen weiter. Wortlos. Endlich traf ihr Lichtstrahl auf etwas anderes als auf Blätter und Äste: auf Chrom. »Da ist der Schlitten ja!« rief Moldenhauer, und Domagalski drückte ein paar junge Birken zur Seite. Sie machten ein paar schnelle Schritte auf den Wagen zu, und Moldenhauer leuchtete hinein. »Tatsächlich ‘n Toter!« stieß er hervor. Domagalski stellte sich so, daß Moldenhauer nicht zurücktreten konnte. »Nu kotz bloß nicht gleich. Satter Kopfschuß. Komm, reiß dich zusammen.« »Ich hab so was noch nie… Sieht ja scheußlich aus.« »Mußt dir mal ‘n Farbfernseher zulegen. Oder mal ‘ne Weile aufm Schlachthof arbeiten, wie ich früher.« »Das ist doch ‘n Mensch hier, kein Schwein.« »Umgekehrt!« »Was quatschst du da…?« »Das ist der dicke von der Lieth.« »Wer?« »Nicht der Erfinder des Lidschattens: L-i-e-t-h – Horst von der Lieth. Mitinhaber unserer Firma, zu dreißig Prozent wenigstens. Der hat doch neulich ‘n ganzes Aktienpaket gekauft. Du mußt mal inner Werkszeitung lesen.« Domagalski steckte sich eine Zigarette an und war clever genug, das Streichholz wie später auch die Kippe nicht auf die Erde zu werfen. »Werkszeitung?« fragte Moldenhauer. »Bin ich denn bekloppt?« »Zieh erst die Handschuhe an, eh du den Wagen aufmachst!« kommandierte Domagalski.
»Ja doch!« »Den hat’s also erwischt… Der hat doch noch vor vierzehn Tagen bei uns am Band rumgestanden und dumme Sprüche geklopft.« »Da muß ich gerade beim Betriebsarzt gewesen sein«, sagte Moldenhauer. »Der hat bestimmt was bei sich, das lohnt sich.« »Wer den wohl erschossen hat?« Domagalski wurde ungeduldig. »Geht uns doch ‘n feuchten Kehricht an. Los, nu mach schon, und dann nichts wie ab.« Moldenhauer zögerte. »Ich weiß nich…« »Ach, halt den Schnabel! Das ist doch eigentlich unser Geld, was der da inner Tasche hat.« Er zog sein Hemd aus der Hose und klinkte damit die Wagentür auf. Doch dann zuckte auch er zurück, denn ganz in ihrer Nähe bellte ein Hund. »Molle, schnell, knips die Lampe aus – der Förster, dieser Arsch…!« »Wenn der uns…« »Schnauze!« Sie hielten den Atem an, rührten sich nicht. Irgendwo ein kräftiges Husten. Offenbar ein Mann. Der Wind, der plötzlich stärker wurde, ließ die Blätter rauschen. Wortfetzen drangen herüber, es klang nach such! oder suchen. Ein Mann, dem niemand antwortete. Minuten vergingen. Vom Wagen tropfte Öl auf den Boden. Alle Sekunden ein Tropfen. Mücken kamen, und sie konnten nicht nach ihnen schlagen. Langsam entfernte sich das Hundegebell. Sie bewegten sich wieder. »Gott sei Dank!« sagte Moldenhauer aufatmend. »Mach schnell«, drängte Domagalski. Moldenhauer knipste die Lampe wieder an und zog dem Toten Paß und Brieftasche aus dem Jackett. »Mal sehen…« Domagalski blätterte im Paß. »Tatsächlich – Horst von der Lieth, geboren am 10.3.1922 in Erkner bei
Berlin. Und was hat der Herr wohl in der Brieftasche?« Ein geschickter Griff: »Scheiße, alles nur kleine Scheine.« Moldenhauer zählte schnell. »Nich mal ganze tausend Mark.« »Und ‘n Scheckbuch hat er auch nich bei sich. Wenn der nich schon tot wär, hätt ich ihn jetzt ermordet.« Moldenhauer zertrat mit dem Fuß einen Steinpilz: »Nicht mal genug, daß ich meine Schulden bei dieser Versicherung bezahlen kann…« »Vernünftige Ringe hat er auch keine. Und die Uhr kriegste geschenkt, als Zugabe, wennde für ‘n Groschen Petersilie kaufst.« Moldenhauer leuchtete nach hinten. »Da aufm Rücksitz liegt noch ‘ne Aktentasche.« »Holse schon, mach se auf.« Nach einigen Verrenkungen hatte Moldenhauer das Ding erwischt. »Da ist nichts weiter drin – ‘n Tonband und ‘n paar Akten.« »Is ja zum Kotzen! Zeig mal das Band her.« Moldenhauer gab es ihm, und Domagalski las vom Aufkleber: »Horst von der Lieth… Vortrag vor der Industrieund Handelskammer am 25. Mai…« Er lachte. »Brauchste ‘n Tonband?« Moldenhauer verneinte. »Ich hab gar kein Gerät zum Abspielen.« »Ich auch nich.« Domagalski warf das Band in die Aktentasche zurück. »Komm, eh deine Taschenlampe leer is.« Moldenhauer blätterte noch in den flüchtig zusammengefügten Papieren, die zweimal geknifft im mittleren Fach der Aktentasche gesteckt hatten. Er hatte ein bißchen Ahnung von diesen Dingen, denn sieben Jahre lang war er für den PSV, den Polizeisportverein, gestartet. Gute Leute nahmen sie immer, auch wenn man kein Beamter war. Da hatten sie Bereitschaftspolizisten in der Staffel gehabt,
Streifenbeamte, Kripoleute und auch mal Zöllner. Und bei den Auslandsreisen war immer Zeit gewesen, über die interessantesten Fälle zu reden. Daher war er jetzt so schnell im Bilde. »Du, Dommi, du, ich glaube, der hat Sprit aus dem Osten geschmuggelt, als Transitgut über die Grenze und hier den Zoll beschissen. Hier siehste! Der Alkohol kommt aus Ungarn, und an der Grenze, wo’s nach Österreich reingeht, tun sie so, als wär Sonnenblumenöl in den Fässern. Unsre vom Zoll plombieren die Laster, weil sie glauben, da ist Transitgut drin nach Holland.« Domagalski lachte. »Mensch…!« »Und die hier in Deutschland tauschen dann die Fässer aus, ohne die Plomben zu beschädigen. Der Lieth kennt die Tricks, der ja. 3000 Mark für 20 Fässer.« Domagalski nahm ihm die Papiere aus der Hand. »Da kannste dir ‘n Hintern mit abwischen. Wenn der noch leben würde, ja, aber so… Erpreß du mal ‘n Toten.« »Heute läuft aber auch reineweg gar nichts!« »Du sagst es.« »Was nun?« »So schnell wie möglich abhauen. Wirf den ganzen Klumpatsch in den Wagen zurück.« »Das war vielleicht ‘ne Schnapsidee von dir«, brummte Moldenhauer. »Red nich soviel, komm!« Sie orientierten sich kurz, dann machten sie sich auf den Heimweg. Die Zweige waren wie die Drehkreuze in ihrem Fußballstadion: nur in einer Richtung zu passieren. Oder kam’s ihnen nur so vor. Sie hatten jedenfalls viel Mühe. Da blieb Moldenhauer plötzlich stehen und hielt Domagalski am Ärmel fest. Der reagierte unwirsch: »Was is denn los!? Haste vielleicht was liegengelassen?«
»Nee, aber ich hab ‘ne Idee, wie wir mit einem Schlag aus dem Schneider sind.« »Hast du schon mal ‘ne Idee gehabt?« »Hör mal, der Mord ist Gold wert für uns.« »Hab ich eben gemerkt!« »Laß mich doch mal ausreden!« Domagalski schloß die Augen. »Bitte…!« »Der Mörder hält todsicher den Mund…« »Ja – und…?« Moldenhauer sprach noch hastiger. »Wir vergraben von der Lieth, lassen den Wagen im Schwarzen See verschwinden, tun so, als hätten wir ihn entführt – und fordern – und fordern, sagen wir… 300000 Mark.« »500000. Nich so bescheiden!« »Meinetwegen. Wir haben das Band mit seiner Rede, da können wir das rausschneiden, so was wie: ICH LEBE UND BIN GESUND. ZAHLT DIE GEFORDERTE SUMME.« Domagalski spuckte gegen einen Birkenstamm. »Wir haben ja nich mal ‘n Tonbandgerät…« »Das können wir uns von dem Geld kaufen, das wir ihm eben abgenommen haben. Das heißt, wir brauchen zwei – eins noch zum Überspielen des zusammengeschnippelten Bandes…« »Hm…« Domagalski setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm. Moldenhauer schaltete seine Lampe aus, um die Batterie zu schonen. »Dann nehmen wir noch den Paß mit und seine Armbanduhr oder seine Krawatte – als Beweis, daß er in unsrer Gewalt is.« »Und wenn die die Polizei einschalten?« »Werden sie nich, denn wir haben ja die Papiere mit dem Spritschmuggel und können den ganzen Laden auffliegen lassen.«
Domagalski schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Ich bin vielleicht ein Blödmann! Klar…« Moldenhauer knipste die Lampe wieder an. »Na siehste…!« Domagalski klopfte ihm auf die Schulter. »Du, das is einfach genial. Em-We – machen wir!«
Ungefähr zur gleichen Zeit, kurz nach 22 Uhr 30, kochte sich Bernhard Brendel, seit drei Jahren Prokurist bei Horst von der Lieth – mit seinen 39 Jahren der jüngste in der langen Geschichte der Firma –, seinen letzten Kaffee an diesem Abend. Das Konzept der Rede, die von der Lieth in zwei Tagen vor dem Unternehmerverband halten sollte, hatte er auf Band gesprochen. Horst von der Lieth pflegte seine Reden nie selber zu verfassen. Noch während er das kochende Wasser in die Filtertüte laufen ließ, den Kessel in der linken Hand, tippte er mit der rechten Zahlen in seinen dunkelrot aufblinkenden Taschenrechner. Die Polen wollten Werkzeugmaschinen haben und Konserven dafür liefern, Heidelbeeren, Kirschen und anderes Obst. Die Frage war, was für ihn dabei heraussprang. Als er sich die ausgeworfene Prozentzahl notieren wollte, klopfte jemand gegen die Bürotür, drückte die Klinke herunter, merkte, daß abgeschlossen war, und begann heftig daran zu rütteln. Brendel schob unwillkürlich ein paar Papiere unter den Eingangskorb. »Wer ist denn da?« »Ich – wer denn sonst!?« Brendel lief zur Tür. »Moment.« Er schloß auf, musterte Frau von der Lieth einen kurzen Augenblick, die in dem neuen grauen Kostüm sehr vorteilhaft aussah – und ließ sie dann ins Zimmer.
»Also wirklich, Bernhard«, sagte sie, »daß du dich auch immer abends einschließen mußt.« »Im Büro nebenan haben sie vorige Woche alle Schreibtische aufgebrochen… Hier in Bahnhofsnähe…« Frau von der Lieth ließ sich Feuer geben. »Sag mal, weiß du, wo Horst steckt? Ich such schon ‘ne Stunde lang nach ihm, ich mach mir langsam Sorgen. Wir wollten um acht ins Theater – das hat er noch nie vergessen…« Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander. »Oh, das hab ich glatt verschwitzt! Ich sollt dir ausrichten, daß er mit Petrescu im Alten Krug verabredet war. Da mußte er hin, ganz dringend.« »Komisch, da hab ich doch eben von zu Hause aus angerufen – im Alten Krug ist er nicht.« »Nicht? Er hat mich kurz vor acht oben an der Kreuzung mit dem Wagen abgesetzt und ist dann zum Alten Krug gefahren. Ich sollte mir doch noch die Tankstelle ansehen, die wir übernehmen wollen. Ich hab auch mit dem Besitzer…« Sie schlug nach einer Fliege. »Aber er war überhaupt nicht im Alten Krug!« »Vielleicht steckt er bei Dr. Matzner oder bei Reichenbachs?« »Eben nicht! Da hab ich es überall schon probiert.« »Ist es denn so dringend?« fragte Brendel. »Was heißt dringend – wir haben heute vor acht Jahren geheiratet.« »Ach so… Das ist wirklich komisch… Soll ich mal…?« Sie dachte nach. »Ruf doch mal bei der Polizei an, ob es irgendwo einen Unfall… Aber die hätten sich doch schon längst bei mir gemeldet…« »Mal den Teufel nicht an die Wand! Ich mach mir schon lange Sorgen, daß da mal… Du, vielleicht ist er mit Petrescu
ins Tohuwabohu gefahren, da haben sie ja schon öfter gesessen…« »Da hab ich noch nicht angerufen, stimmt.« Sie schob Brendel das Telefon hinüber. »Ich versuch’s gleich mal…« Er bekam auch den Barbesitzer an den Apparat, der allerdings nur bedauern konnte. An der Art, wie Brendel sich bedankte, konnte Ursula von der Lieth seinen Mißerfolg erkennen. Sie sah ihn an: »Was jetzt?« »Gar nichts. Warten wir erst mal bis zehn ab.« »Warten, warten!« Das kam beinahe grob heraus. »Uns bleibt doch gar nichts weiter übrig, Ursel. Ich hol dir ‘n Cognac, das beruhigt.« »Ja, und stell bitte noch das Radio an, damit wir ‘n bißchen auf andere Gedanken kommen.« Brendel griff sich sein Kofferradio und drehte so lange, bis er was Leichtes fand. Für Moldenhauer und Domagalski war es ein hartes Stück Arbeit gewesen, die Leiche so zu vergraben, daß sie nicht gleich am nächsten Morgen vom erstbesten Schäferhund wieder ausgescharrt werden konnte. Zum Glück für sie hatten Domagalskis Eltern am Rande des Stadtwaldes eine kleine Parzelle mit einem Wochenendhäuschen drauf, aus dem sie das nötige Werkzeug holen konnten; Spaten, Harken und so weiter. Weniger mühevoll war es, den Mercedes im Schwarzen See verschwinden zu lassen, dann allerdings dauerte es Stunden, bis sie alle Spuren beseitigt hatten. So wurde es zwei Uhr nachts, bis sie Gelegenheit fanden, bei von der Lieth anzurufen. Kein Besetztzeichen, die Leitung war in Ordnung, die Nummer stimmte, doch es meldete sich niemand. Moldenhauer schlug auf die Gabel, wählte erneut und wartete wieder. Dann stellte er fest: »Bei dem ist keiner zu Hause.«
»Scheiße! Aber er selber is ja auch nich mehr in der Lage abzunehmen.« Domagalski lachte. »Der war aber verheiratet, der hatte ‘n Ehering am Finger.« »Kluges Kerlchen! Ich gieß mir erst mal ‘n Bier ein.« »Ich will angerufen haben, ehe Lona zurück is.« Moldenhauer ließ nicht locker. »Steht denn bloß eine Nummer im Telefonbuch drin? Vielleicht hamse noch irgendwo ‘n zweiten Wohnsitz, ‘n Stoßbunker oder so…?« »Nur noch das Büro«, antwortete Moldenhauer. »Du bist auch zum Scheißen zu dämlich – dann ruf doch da an. Paß aber auf, daß de nich aus Versehn deinen Namen nennst.« »Und wenn – die können uns doch gar nischt, die ham wir doch in der Hand…« Er sah in dem kleinen silbernen Notizbuch nach, das sie bei von der Lieth gefunden hatten, und wählte erneut. Diesmal mit Erfolg. »Von der Lieth KG, Brendel…« Moldenhauer verstand nicht so schnell. »Frau von der Lieth?« »Nein, Brendel! Ich bin Prokurist, aber Frau von der Lieth ist zufällig hier. Wollen Sie sie…?« »Nein, hören Sie zu. Keine Polizei, sonst fliegt ihr alle auf. Wir haben Beweise, daß ihr Sprit aus dem Osten…« »Schon gut!« rief Brendel dazwischen. »Gebense mir doch lieber seine Frau«, sagte Moldenhauer. »Frau von der Lieth?« »Ja! Aber ein bißchen dalli!« Nach einigen Sekunden meldete sich Frau von der Lieth mit einem mehr gehauchten als gesprochenen »Ja…« Moldenhauer blickte auf seinen Telefonblock, auf dem er vorher schnell etwas gekritzelt hatte. »Wir haben Ihren Mann.
Gekidnappt. Und die Papiere, die er bei sich hatte. Also keine Polizei! Ist das klar?« Frau von der Lieth schluckte: »Ja…« »Für 500000 könnse ihn wieder haben, für ‘ne halbe Million. Wir machen’s preiswert.« »Ich… woher soll ich wissen, daß Sie ihn…« Moldenhauer unterbrach sie schnell: »Wir melden uns morgen wieder bei Ihnen, morgen früh, und sagen Ihnen, wo Sie ein Lebenszeichen von ihm und ein paar Sachen von ihm finden können… Damit Sie sehen, daß wir… Also, es hängt ganz von Ihnen ab, ob er am Leben bleibt und Ihre Firma auch.« Frau von der Lieth erwiderte mit schwacher Stimme: »Gut…« »Bis morgen!« Moldenhauer legte auf. Domagalski sah ihn an. »Alles okay?« »Und ob! Die ham angebissen.« »Mensch, das müssen wir feiern!« Ehe sie sich hinlegten – Domagalski schlief auf Moldenhauers Couch –, leerten sie noch eine Flasche Sekt. Lonas Hausmarke. Im Hause von der Lieth ging, so schien es jedenfalls, alles seinen gewohnten Gang. Die Reinmachefrau, eine preiswerte Griechin, putzte gleichmäßig die unzähligen Fenster der oberen Etage; ein hochbezahlter Landschaftsgärtner war voll mit dem Anlegen eines neuen Steingartens beschäftigt. Frau von der Lieth erschien ihnen, wie allen gelegentlichen Besuchern und Lieferanten, weder weniger noch mehr arrogant zu sein als sonst, und wenn sie wirklich in einigen Situationen zerfahren und hektisch wirkte, so schrieb man das mit einer gewissen Schadenfreude der Tatsache zu, daß sie in wenigen Tagen ihren vierzigsten Geburtstag begehen würde. So bot die
weiße Villa am Hang alles in allem nicht das geringste Anzeichen eines Ausnahmezustandes. Der Fernseher lief seit Beginn des Vormittagsprogramms. Es war kurz nach zwölf, und Frau von der Lieth wartete auf Bernhard Brendel, »unser Brendel«, wie ihr Mann und sie ihn in ihrem Bekanntenkreis zu bezeichnen pflegten. Ihr Kater strich ihr um die Beine. Sie hob ihn auf den Schoß und streichelte ihn. »Komm, Maximilian, komm, mein Kleiner. Du vermißt Herrchen auch, was…? Na, bald ist er ja wieder zurück. Paß auf, dann wird alles wieder gut…« Und als der Kater endlich schnurrte, fügte sie hinzu: »Siehst du.« Doch im nächsten Augenblick, als in der Diele die Klingel schrillte, viel lauter als sonst, wie es ihr vorkam, sprang er erschreckt auf den Teppich und lief aus dem Zimmer. Frau von der Lieth ging zur Wechselsprechanlage und schaltete sie ein. »Ja, bitte…« Aus dem winzigen Lautsprecher kam leicht quakend Brendels Stimme. »Ich bin’s, Ursel. Darf ich…?« »Hast du alles?« »Ja.« »Moment…« Sie betätigte den Kontakt, der das Gartentor freigab, und erwartete Brendel oben an der Treppe. Brendel flüsterte: »Es lag alles an der Stelle, die sie uns genannt haben – an der Kronprinzenbuche, hinten am Schwarzen See.« »Was denn?« »Sein Ausweis, die Armbanduhr, hier…« Nachdem sie in die Diele getreten waren, gab er ihr beides. Ihr genügte ein kurzer Blick: »Ja, das ist seine, ohne Zweifel, der kleine Sprung hier im Glas… Und das ist sein Ausweis. Dann haben sie ihn also wirklich. Furchtbar!« »Ein Taschentuch mit seinem Monogramm hab ich auch noch.«
»Und das Tonband? Das Band mit seiner Stimme drauf?« »Hier…« Er zog die rote, kaum handtellergroße Spule aus der Seitentasche seiner Clubjacke. »Schnell, leg’s auf, ich hab das Gerät schon vorbereitet.« Nachdem Brendel die Wiedergabetaste gedrückt hatte, rauschte und knackte es ein Weilchen, schließlich hörten sie die Stimme des Mannes, der mit ihnen am Telefon verhandelt hatte.
STIMME MOLDENHAUER VOM BAND: Also los, Herr von der Lieth, sagen Sie Ihrer Frau, was sie tun soll! (Pause) Sie haben keine andere Wahl! (Pause) Ich kann auch abdrücken! (Es knackte, als würde jemand eine Pistole durchladen.) Ich zähle bis drei. Eins… zwei… STIMME VON DER LIETH VOM BAND: Ich lebe, mir geht es gut. Zahlt die geforderte Summe. Ende. STIMME MOLDENNHAUER VOM BAND: Na bitte! Also, Frau von der Lieth, beschaffen Sie das Geld: 500000. Aber dalli! Wir rufen morgen früh wieder bei Ihnen an. Wiederhören.
Brendel stoppte das Band. »Mein Gott…!« Frau von der Lieth verlor die Beherrschung. »Diese Schweine! Man sollte die ganze Brut vergasen.« Sie hatte, im Sessel sitzend, ihren Körper von Brendel weggedreht und preßte nun das Gesicht auf den rauh genoppten Stoff der Lehne. Brendel bemühte sich um sie. »Bitte, Ursel, bitte! Wir müssen froh sein, daß er noch lebt.« Er kniete sich neben ihr auf den Boden und strich ihr beruhigend über Nacken und Schulter. Sie stieß ihn weg. »Laß mich!«
»Wir dürfen jetzt nicht die Nerven verlieren.« Sie richtete sich auf, wischte sich mit dem Mittelfinger der linken Hand die Tränen von der Nasenwurzel. »Du hast ja recht… Also, wo nehmen wir die halbe Million her – ohne daß es einer merkt? Könntest du vielleicht die drei Grundstücke an der Mozartstraße verkaufen? Horst hat mal gesagt, daß die ALGO darauf scharf wäre…« »Grundstücke verkaufen? Jetzt in dieser Zeit? Das finde ich gar nicht gut.« »Dann mach einen anderen Vorschlag.« »Tja…« »Also verkauf sie. Ich brauche das Geld schließlich. Und du glaubst wirklich nicht, daß wir die Polizei…« »Auf keinen Fall. Wenn solche Typen sich in die Enge getrieben sehen…« Das Schrillen der Klingel unterbrach ihn. »Wer ist denn das?« Frau von der Lieth fuhr hoch. »Ach!« Brendel starrte auf das Foto in von der Lieths Paß, der vor ihm auf dem Tisch lag. »Sieh doch mal raus…« Sie stand auf und ging zum Fenster, die Gardine vorsichtig zur Seite ziehend. »Nanu – es ist der Doktor.« Brendel blickte auf. »Dr. Matzner – euer Rechtsanwalt?« »Ja… Soll ich ihn reinlassen?« »Mußt du wohl, der wird meinen Wagen erkannt haben.« »Na schön…« Sie ging zur Tür, um zu öffnen. Dr. Matzner kam im lässigen Schritt auf sie zu, strich sich über die gebräunt-fleckige Glatze und gab sich gekünstelt wie immer. »Guten Tag, gnädige Frau, oder um es zu präzisieren: einen recht schönen und gesegneten Mittag. Tut mir leid, daß ich störe, ich…« Weiter kam er nicht, weil sein Hund sich auf Frau von der Lieths Kater stürzen wollte. »Passen Sie auf – der Kater!« rief Frau von der Lieth.
Dr. Matzner riß seinen Hund zurück. »Bronco, wirst du wohl!« Nur mühsam gelang es ihm, das laut kläffende Tier zu bändigen. Auch Brendel griff ein. »Ab, Maximilian, in den Keller!« Dadurch entdeckte Dr. Matzner ihn. »Ah, der Herr Prokurist ist auch zugegen.« »Tag, Herr Doktor«, sagte Brendel. »Tag, mein lieber Brendel. Ich hab’s brendeleilig: In der Firma sagt man mir, daß Ihr sehr verehrter Herr und Meister noch zu Hause sein muß. Ich habe da eine dringende Angelegenheit, und da ich gerade vorbeikam…« »Herr von der Lieth?« »Eben der – oder haben Sie die Firma gewechselt?« »Nein, nein! Herr von der Lieth ist…« Ursula von der Lieth kam ihm zu Hilfe. »Mein Mann ist eben zum Flughafen gefahren, um einen Geschäftsfreund abzuholen.« Dr. Matzner war erstaunt. »Eben…?« Brendel lachte. »Daß die Juristen es auch immer so genau nehmen müssen.« »Eben – das heißt vor einer guten Stunde«, erklärte Frau von der Lieth. »Vor einer guten Stunde?« wiederholte Dr. Matzner. Frau von der Lieth nickte. »Ganz richtig.« »Merkwürdig, daß ich ihn da nicht getroffen habe… Ich komme gerade vom Flughafen, hab über eine Stunde auf meine Schwiegermutter gewartet – Verspätung in London. Da hätte ich ihn doch unbedingt sehen müssen.« Dr. Matzner blieb beharrlich. »Merkwürdig«, mußte auch Brendel zugeben. »Übrigens, ich muß machen, daß ich ins Geschäft komme. Kann ich Sie irgendwo absetzen, Herr Doktor?«
Dr. Matzner schüttelte den Kopf. »Vielen Dank. Mein Wagen steht draußen. Aber lassen Sie sich nicht aufhalten. Ich hab noch eine Kleinigkeit mit Frau von der Lieth zu bereden.« Brendel warf Ursula von der Lieth einen zögernden Blick zu. »Ja, dann…« »Ich ruf dich an«, versprach sie. Brendel nickte und verabschiedete sich. Als die Haustür zugeklappt war, wandte sich Dr. Matzner an Ursula von der Lieth. Auf einmal klang seine Stimme gar nicht mehr so gekünstelt und albern. »Was ist los? Ich glaube, Sie verschweigen mir da etwas.« Domagalski zielte sorgfältig. Sein Zeigefinger, rauh und zuverlässig, spielte lange mit dem Abzug, suchte den Druckpunkt, zuckte dann zweimal, und während Moldenhauer unwillkürlich aufschrie, stellte Domagalski erfreut fest, daß die beiden Kugeln genau ins Schwarze ihrer selbstgemalten Zielscheibe geschlagen waren. Ohne Zweifel, die Beretta, die sie im Handschuhfach des versenkten Mercedes gefunden hatten, funktionierte noch. Von der Lieth hatte offenbar etwas Wirksameres als eine Gas- oder Spielzeugpistole nötig gehabt. Domagalski gab einen schmatzenden Laut von sich. »Mensch, so ‘ne Beretta is schon ‘n Ding.« »Hoffentlich hat uns keiner gehört«, murmelte Moldenhauer. »Mach dir bloß nich in die Hosen! Is der Keller nun schalldicht oder nicht…?« »Ja, aber…« »Sind wir allein im Haus oder nich…?« »Ja, schon, nur… Du hättest das Ding gar nicht erst mitnehmen sollen«, grollte Moldenhauer. »Du bist vielleicht dußlig: Was willste denn machen, wenn der Brendel mit ‘ner Knarre inner Hand ankommt oder seine Mafia zum Treffpunkt schickt? Die Schweine sind doch mit allen Wassern gewaschen.«
»Ich weiß nich…« »Ich aber!« Domagalski machte ein paar Schritte nach vorn. »Mann, die Kugeln stecken vielleicht ‘n Stück drin! Dein schöner Sandsack.« »Komm, wir gehen lieber wieder rauf«, drängte Moldenhauer nur. Sie stiegen die Kellertreppe hinauf und kamen wieder in das kleine Wohnzimmer, in dem der Telefonapparat stand. »Da liegt ja ‘ne Zeitung!« rief Domagalski. »Lona wird hiergewesen sein«, sagte Moldenhauer. »Das Miststück!« Domagalski nahm die Zeitung in die Hand. Auch Moldenhauer war interessiert. »Sieh mal nach, ob was drinsteht, ob die nicht doch zur Polizei gegangen sind… Oder gib lieber her.« Es entbrannte ein kleiner Kampf um die Zeitung, bis Domagalski nachgab. »Da, nimmse. Steht doch nichts drin, sonst hättense’s vorhin schon bei den Nachrichten gebracht.« »Haste die gehört?« »Idiot! Würd ich’s sonst sagen?« Moldenhauer warf die Zeitung auf die Couch. »Steht tatsächlich nichts drin.« »Die warn auch schön verrückt, wennse die Bullen einschalten würden.« »Weiß man’s… Schließlich hamse jetzt meine Stimme aufm Band. Wenn die zur Polizei gehen, kannste mich bald im Radio hörn.« »Ach, halt die Schnauze und ruf Brendel an – ob der das Geld schon zusammen hat.« »Wo denn – im Büro oder bei der Alten zu Hause?« »Bei Madamm natürlich.« Moldenhauer wählte von der Lieths Privatnummer und wartete, wartete weiter. »Scheint keiner dazusein. Mensch, ich werd verrückt, die ham sich alle abgesetzt!«
»Quatsch!« »Oder die ham ‘ne Fangschaltung gebaut, um uns…« »Da wärnse schön bekloppt.« Endlich meldete sich eine männliche Stimme. »Hallo…?« »Herr Brendel…?« fragte er. »Ja, am Apparat.« »Wie stehn die Aktien?« fragte Moldenhauer. »Das Geld ist da, aber wir haben noch eine Bedingung…« »… ‘ne Bedingung…?« »Ja – wir brauchen Sicherheiten.« »Was für Sicherheiten…?« Moldenhauer biß sich Haut von der Unterlippe. »Bevor wir Herrn von der Lieth nicht sehen, bevor wir nicht genau wissen, daß er noch lebt, zahlen wir nicht.« Domagalski wurde unruhig. »Was sagt er?« »Sie wolln nich zahlen, bevor sie den Lieth nicht gesehen haben«, flüsterte Moldenhauer ihm zu, die Sprechmuschel mit der Hand abdeckend. »Gib mal her!« Domagalski riß ihm den Hörer aus der Hand. »Nun hörnse mal zu, Herr Prokurist oder meinetwegen auch Generaldirektor: Sie kriegen Herrn von der Lieth nich, bevor se zahln!« »Wie soll denn die Übergabe überhaupt vor sich gehen?« fragte Brendel. »Sie kriegn die Schlüssel von der Wohnung, wo der Lieth sich aufhält, wennse uns das Geld übergebn«, antwortete Domagalski. »Für wie dumm halten Sie uns eigentlich? Nun mal ehrlich: Würden Sie sich auf so was einlassen?« Brendel verstand was von Menschenführung. »Hm.« Domagalski mußte ihm recht geben. Brendel stieß nach. »Ich kann Ihnen höchstens einen Kompromiß anbieten…«
»Was für ‘n Kompromiß?« »Sie geben Herrn von der Lieth frei, und er zahlt Ihnen dann die 500000 Mark, wenn Sie ihm dafür die Papiere übergeben.« Da polterte Domagalski los. »Du spinnst wohl, Männeken! Inzwischen habt ihr mit euern Rechtsverdrehern dafür gesorgt, daß die Papiere nischt mehr wert sind und ihr pinkelt uns an! Aus dem Geschäft wird nischt! Eher legen wir den Fettsack hier um.« »Moment mal…« Plötzlich war Frau von der Lieth am Apparat. »Sind Sie noch da?« »Meinen Sie denn, wir hätten uns hier in Luft aufgelöst?« gab Domagalski zurück. »Ich habe einen anderen Vorschlag.« »Schießen Sie los.« »Wenn Sie meinen Mann töten, kriegen Sie keinen Pfennig. Im Gegenteil: Dann ist mir die Zukunft meiner Firma egal, und ich gehe mit dem Tonband zur Polizei. Sie können sicher sein: Innerhalb eines Jahres sitzen Sie wegen Mordes hinter Gittern – aber lebenslänglich!« »Geschenkt!« »… folgender Vorschlag: Sie bekommen 250000 Mark, wenn Sie uns die Schlüssel zur Wohnung geben, in der sich mein Mann aufhält, und dann die zweite Hälfte, wenn wir meinen Mann haben und Sie uns die Papiere übergeben.« Domagalski überlegte. »Hm…« »Na, was ist?« Domagalski wollte Zeit gewinnen. »Den Ton lassense man, den hebense sich besser für Ihre Dienstboten auf.« »Entschuldigung«, sagte sie. »300000 als erste Rate«, forderte Domagalski. »Meinetwegen.«
»Okay. Wir melden uns nachher wieder und sagen Ihnen, wo wir uns treffen.« Er legte auf. »Verdammte Scheiße! Die hat vielleicht gepokert, die Alte!« »Die is doch höchstens an die Vierzig«, sagte Moldenhauer. »Mehr als 300000 sind nich drin. Die wollense uns zahlen, wenn wir ihnen den Schlüssel geben. Den Rest erst, wenn sie den Alten haben und die Papiere.« »Die gehn doch zur Polizei, wenn sie merken, daß wir sie angeschissen haben«, sagte Moldenhauer. Domagalski kam in Fahrt. »Gehn Sie nich! Die blufft doch nur. Der Mann is zwanzig Jahre älter als sie, die is froh, wenn se den alten Knacker los is! Nee, nee, die wird sich hüten, zur Polizei zu gehen – die kommt noch früh genug zu ihr, wenn der Alte nicht wieder auftaucht. Und dann wird sie ganz schön den Mund halten. Meinste, die schlachtet die Henne, die ihr die goldenen Eier legt?« »Nee…« »Na also! Und 300000 sind auch ‘ne ganz schöne Stange Geld. Mehr is einfach nich drin.« »Tja… Auf alle Fälle müssen wir bei der Übergabe des Schlüssels maskiert sein.« »Mach mal Musik!« sagte Domagalski. Moldenhauer ging zum Plattenspieler. »Deine Scheißschlager hängen mir schon zum Halse raus!«
Kaum hatte Moldenhauer den Saphir auf die Platte gesetzt und Udo Jürgens zu singen begonnen, Anuschka, da stand Lona im Zimmer, noch in Make-up und Kleid, wie sie hinter der Bar gestanden hatte, und drückte langsam die Tür hinter sich zu. »Hallo, ihr beiden Supermänner«, sagte sie. Domagalski sagte pampig: »Ich kann mich nicht erinnern, daß wir dich gerufen ham.«
Lona lehnte sich gegen die Tür. »Ich hab ‘ne kleine Überraschung für euch.« »Ziehste endlich aus?« fragte Moldenhauer. »Nee.« »Haste bei uns in der Firma angerufen und gesagt, daß wir gar nicht krank sind, sondern blaumachen…?« wollte Domagalski wissen. »Auch nich.« »Was dann?« erkundigte sich Moldenhauer. »Ich weiß, was hier gespielt wird«, sagte Lona. Domagalski lachte. »Kunststück – is ja auch deine Platte.« »Tu nicht so, du weißt genau, was ich meine.« »Ich verstehe nur Bahnhof.« »Dann werd ich dir mal auf die Sprünge helfen«, sagte sie ruhig. »Der alte von der Lieth ist ermordet worden, und ihr habt die Leiche verbuddelt!« Moldenhauer sog hörbar die Luft ein. »Jetzt wollt ihr ‘ne halbe Million für ihn haben«, fuhr Lona fort. »Für die Leiche, was?« lachte Domagalski. Es klang aber nicht ganz echt. Sie blieb cool. »Nee, ihr tut so, als hättet ihr ihn entführt.« Domagalski stieß einen Pfiff aus. »Und was willste damit sagen?« fragte er dann lauernd. »Daß ich ein Drittel von der Beute abhaben will!« Domagalski stand auf, umständlich, ganz langsam, und ging, die Füße irgendwie nachziehend, leicht geduckt auf sie zu. Plötzlich aber, als sie zurückweichen wollte, verlor er alle Schläfrigkeit, schnellte vor, packte sie mit beiden Händen, preßte ihre Schultern zusammen und schrie ihr ins Gesicht: »Paß mal genau auf, was du abhaben kannst!« Schon glitten seine Finger zu ihrem Hals hinauf. Lona wand sich, keuchte. »Hör auf, du erwürgst mich noch!«
Moldenhauer suchte Domagalski zu packen. »Dommi, laß sie los!« Lona schrie jetzt um Hilfe. Schrill und langgezogen. »Das hört doch keiner, schrei du nur!« preßte Domagalski hervor. Moldenhauer stieß einen Sessel um, kam hinter Lona zu stehen und suchte Domagalskis Griff zu lösen. »Du bringst sie ja um! Schluß jetzt!« Domagalski tobte. »Dieses Miststück! Molle, laß mich los! Verdammt!« »Komm, beruhige dich.« Moldenhauer hatte jetzt Domagalskis Finger erwischt und bog sie auseinander wie verrostete Armierungseisen. Domagalski ließ von Lona ab und blaffte jetzt Moldenhauer an. »Du hast es nötig! Die hat dich doch betrogen, nach Strich und Faden betrogen!« »Wir können sie doch nicht einfach umbringen.« »Wir können noch ganz was anderes!« schrie Domagalski. »Bloß weil du im Keller rumballern mußtest«, sagte Moldenhauer. »Ich baller gleich mal hier rum.« Schon hatte Domagalski die Beretta herausgerissen. »Bist du verrückt, steck die Knarre weg!« Lonas Stimme überschlug sich. »Eher leg ich dich um, als daß ich dir was abgebe.« Moldenhauer sah ihn an. »Sei doch vernünftig, es geht doch nich anders.« »Klar geht es: Ich leg euch beide um und mach das Geschäft allein.« Moldenhauer wurde noch eindringlicher. »Dommi – seit zehn Jahren sind wir gute Freunde gewesen und…« »Du hast wohl Angst um dein bißchen Leben – Mensch!« höhnte Domagalski.
»Halt mal, es hat geklingelt!« Lona drehte den Kopf zur Tür. »Quatsch!« sagte Domagalski. Doch dann hörten sie es alle. »Das is ‘n Bekannter von mir«, sagte Lona. »Der will mich abholen. Wir wollen noch einen draufmachen.« »Wenn wir ihr 100000 geben, was bleibt denn da für uns?« fragte Domagalski. Moldenhauer gab die Antwort. »Das reicht noch immer für ‘ne eigne Werkstatt und ‘ne sichere Existenz.« »Hunderttausend – oder ich laß euch hochgehen!« »Woher weißte das eigentlich alles?« fragte Moldenhauer sie. »Woher ich das weiß?« Lona lachte. Sie klinkte die Tür auf und schrie über den Flur, daß sie gleich käme. »Woher ich das weiß? Ihr seid mir zwei feine Profis. Plötzlich zwei Tonbandgeräte inner Wohnung. Eins aufm Hängeboden oben, das andere im Bettkasten unter der Couch da. Und überall so Tonbandschnipsel rumliegen lassen. Da wird man doch neugierig. Darum bin ich vorgestern nacht früher nach Hause gekommen und durchs Klofenster eingestiegen. Wollte doch mal sehen, was ihr so Geheimnisvolles treibt. Und da hab ich euch quatschen hören.« Es klingelte immer stürmischer. »Na, was is nu?« fragte Lona. Moldenhauer nickte, den Kopf gesenkt. »Okay!« knurrte auch Domagalski. »Und keine Dummheiten, versteht ihr? Sonst stecke ich der Polizei, daß Molle ihn umgebracht hat. Hatter wahrscheinlich auch. Tschüß, ihr beiden Süßen!« Lona verließ das Zimmer, wenig später klappte die Haustür. Moldenhauer fiel in seinen Sessel. »Ich wünschte, ich hätte nie diesen Waldlauf gemacht.« Domagalski zog ein schmutziges Taschentuch aus der Hosentasche. »Da, heul dich aus!«
»Is doch wahr! Um ein Haar – und du hättest sie umgebracht.« »Um die war’s wirklich nich schade.« »Ich hab keine Lust auf lebenslänglich«, brummte Moldenhauer. »Haste schon mal gelesen, daß nich jeder Mord aufgeklärt wird?« »Wennde Pech hast, verlierste das Wasser aus der Kiepe.« Domagalski lachte. »Dir geht ja ganz schön der Arsch auf Grundeis. Wenn ich…« Unvermittelt brach er ab und überlegte einen Moment. »Sag mal«, kam es dann leise und drohend, »du hast doch nich etwa den alten Lieth tatsächlich umgelegt? Im Auftrag von Madamm…?« Er beutelte Moldenhauer an den Revers seiner Lederjacke. »Laß meine Jacke los!« »Die is hübsch, die Frau von der Lieth. Mit der steckst du wohl unter einer Decke?« Er lachte. »Der Bettdecke, was? Und jetzt ziehst du die ganze Schau hier ab, um das zu vertuschen.« »Deine Phantasie möcht ich haben!« »Doppelt kassieren, was?« rief Domagalski. »Das ist doch Quatsch!« knurrte Moldenhauer. »Laß dir von der Zicke doch keinen Floh ins Ohr setzen! Mensch, Dommi, die Sache läuft doch. Ich ruf jetzt Frau von der Lieth an, und wir treffen uns heute nachmittag am Schwarzen See. Wir klaun inner Stadt ‘nen Wagen und ziehen uns dann einen von Lonas Strümpfen über den Kopf.« »Hm…« »Um 18 Uhr an der Kronprinzenbuche… ich hab noch ‘nen Schlüssel von der Wohnung, wo ich 65 mal gewohnt habe. Und ‘ne passende Adresse denken wir uns noch aus.« »Meinetwegen; machen wir’s…« sagte Domagalski.
Es war 17 Uhr 15, als Frau von der Lieth Bernhard Brendel in das Wohnzimmer führte. Wortlos begrüßten sie sich. Dann klappte der Prokurist sein Managerköfferchen auf. »So – da wären die 300 000 Mark…« »Eine ganz schöne Summe«, murmelte Frau von der Lieth. »Stimmt. Aber wenn wir deinen Mann dafür heil und gesund zurückbekommen… Sag mal, hat Dr. Matzner noch irgendwelche Fragen gestellt? Das mit dem Flugplatz war ja wirklich Pech.« »Kein Wort. Und in der Firma hab ich Bescheid gesagt, daß Horst Hals über Kopf nach Amsterdam mußte. Da hat er oft zu tun; ich hab ihn manchmal begleitet.« »Na, Gott sei Dank!« Sie klappte den Aktenkoffer wieder zu. »Dann sollten wir wohl…« »Was sollten wir…?« Brendel verstand nicht. »Ach so: Die haben angerufen: Wir sollen um 18 Uhr an der Kronprinzenbuche sein.« »In einer knappen dreiviertel Stunde schon?« »Ja, sag ich doch!« »Wollen wir beide hin?« »Ich meine, ja.« »Ist das nicht zu gefährlich für dich?« fragte Brendel. »Ich hab ihnen gesagt, daß ich einen Zettel in meinen Tresor gelegt habe, worauf steht, was wir vorhaben.« »Also: Ermordung zwecklos.« Brendel versuchte zu lächeln. »Ist dir nicht gut, Bernhard? Du siehst so blaß aus, du zitterst ja, hast du Fieber?« Sie wollte ihm die Hand auf die Stirn legen, aber er wich ihr aus. »Keine Spur. Das ist bloß die Aufregung.«
Sie fuhr ihm durch die Haare. »Du bist wirklich rührend. Glaub mir, das vergesse ich dir nicht.« »Ach Unsinn.« Moldenhauer und Domagalski hatten wenig Mühe gehabt, einen geeigneten Wagen aufzubrechen, und zwar einen, der hinter dem Bahnhof in höchster Eile in eine Parklücke gequetscht worden war und auf einen Besitzer schließen ließ, der noch in letzter Minute seinen Zug erreicht hatte. Die Fahrt zur Kronprinzenbuche war ebenfalls ohne jeden Zwischenfall verlaufen, aber nun war es bereits 18 Uhr 21 – und sie warteten noch immer. Trotz des verhangenen Himmels hatte der herrliche Mischwald am Schwarzen See genügend Spaziergänger und Pilzesammler angelockt, die interessiert zu ihnen herüberblickten, wenn sie, eine kleine Gedenktafel mühsam entziffernd, um die Kronprinzenbuche herumschlenderten. So schien es Domagalski ratsamer, sich wieder in den Wagen zu setzen. Dann starrte er verbissen durch die Windschutzscheibe. »Nun stehn wir schon ‘ne halbe Stunde hier…« »… und kein Schwein kommt!« Moldenhauer trommelte mit den Fingerspitzen auf dem herausgeklappten Deckel des Handschuhfaches herum. »Die ham uns ganz schön verladen«, knurrte Domagalski. »Vielleicht war das falsch, der zu drohen, wir bringen ihren Alten um, wennse nicht blecht«, meinte Moldenhauer zögernd. »Du hast doch selbst gesagt, sie is 20 Jahre jünger als der Olle – ’ne bessere Gelegenheit, den loszukriegen, findet sie so bald nicht wieder.« »Blödsinn – schließlich haben wir ja noch die Papiere. Dann ziehen wir ihr die Daumenschrauben an.« Sie schwiegen ein Weilchen. Dann sagte Moldenhauer: »Vielleicht haben sie ‘nen Verkehrsunfall gehabt oder sind inne Stockung geraten…?«
»Vielleicht habense sich auch beide beim Popeln den Finger inner Nase abgebrochen.« Domagalski tippte sich gegen die Stirn. »Du glaubst also nicht, daß sie noch kommen?« »Nee, jetzt nich mehr.« Moldenhauer warf einen Blick auf seine Uhr. »Halb sieben…« »Wir hauen jetzt ab – mir wird’s langsam ungemütlich hier.« Moldenhauer nickte. »Soll ich dann von der nächsten Telefonzelle aus anrufen?« »Von wo denn sonst als vonner Telefonzelle aus!« Domagalski gab Gas, der Wagen schoß davon. An der nächsten Telefonzelle, schon in einem der locker besiedelten Vororte, riß Moldenhauer die Wagentür auf, noch ehe Domagalski an den Bürgersteig herangerollt war. »Die Nummer hab ich im Kopf.« »Is ja schön, daß de wenigstens etwas im Kopf drin hast«, höhnte Domagalski. Moldenhauer schlug die Tür zu, daß es weithin hallte, ging dann zur Telefonzelle, ließ die beiden bereitgehaltenen Groschen in den linken Schlitz fallen und wählte, die Ziffern dabei vor sich hin murmelnd. Die Sekunden vergingen, monoton erklang das Rufzeichen; niemand nahm ab. Zweimal rief er Hallo! und den Namen von der Lieth, dann hängte er ein. Langsam ging er zu Domagalski zurück. »Keiner da.« »Verdammte Kiste! Komm, wir lassen den Wagen hier inner Seitenstraße stehen, eh sie uns damit erwischen, und gehn dann zu dir nach Hause. Da kannste’s ja noch mal probieren.« »Okay.«
Nachdem sie den Wagen abgestellt hatten – ihrer Meinung nach ungesehen –, gingen sie zu Fuß zu Moldenhauer zurück
und nahmen sich noch je ein halbes Brathähnchen mit. Domagalski riß, kaum daß sie am Tisch saßen, den Schenkel ab und begann daran zu nagen, während Moldenhauer von seinem Hähnchen nur die knusprige Haut zog und in den Mund stopfte und noch mit fettigen Fingern Frau von der Lieths Nummer wählte. Er tat dies, nur gelegentlich von Domagalski abgelöst, bis 22 Uhr an die fünfzigmal – stets ohne Erfolg. Als er dann kurz auf die Toilette gegangen war und nach seiner Rückkehr ins Zimmer wieder zum Hörer greifen wollte, schrillte das Telefon unmittelbar unter seiner Hand. Er zog sie zurück, als hätte er einen elektrischen Schlag bekommen. Sie sahen sich an, rührten sich nicht. »Wenn das… wenn sie das nun sind?« sagte. Moldenhauer. »Quatsch!« Domagalski riß den Hörer hoch. »Hallo?« Es war Lona. »Hat’s geklappt?« fragte sie eifrig. »Nein! Und bleib gefälligst aus der Leitung.« Er schmiß den Hörer auf die Gabel. Moldenhauer trank noch einen Klaren und noch einen. Dann ließ er die Nummernscheibe wieder surren. Gegen 22 Uhr 45 nahm Frau von der Lieth endlich ab. »Ja bitte?« Moldenhauer sprudelte los. »Wo waren Sie denn vorhin? Wir haben ‘ne halbe Stunde auf Sie gewartet! Sie wolln wohl, daß wir Ihren Mann umlegen, was?« »Wir wollten ja kommen«, antwortete sie stockend. »Aber dann hatten wir einen Unfall mit dem Wagen, und bis die Polizei den Schaden aufgenommen hatte, war es zu spät. Und was Sie da eben von ›umlegen‹ gesagt haben – ich habe noch einmal genau über alles nachgedacht. Sie können ihn gar nicht umlegen…« Moldenhauer schluckte. »Wieso nich?« »Weil er in Bolivien ist«, entgegnete Frau von der Lieth. »Daß ich nich lache!« »Lachen Sie ruhig«, kam es zurück.
»Haben Sie das schwarz auf weiß?« Frau von der Lieth zögerte eine Sekunde. »Nein, aber es spricht vieles dafür. Er hat schon oft davon gesprochen, daß er nach Südamerika geht, wenn ihm der Boden hier in Deutschland zu heiß wird. Und der ist ihm anscheinend zu heiß geworden, zumal Dr. Matzner…« Moldenhauer ging dazwischen. »Das ist doch Quatsch, Ihr Mann sitzt bei uns in der Wohnung, das heißt, in der Wohnung, wo…« Domagalski drängte Moldenhauer beiseite. »Laß mich mal!« »Hallo…?« rief Frau von der Lieth. »So, nu reden wir mal Tacheles. Wenn das noch mal passiert, is Ihr Alter ‘ne hübsche Leiche«, sagte Domagalski. »Man kann keinen töten, den man nicht hat.« »Meinse denn, er hat sich von uns verabschiedet, ehe er nach Bolivien is, und hat uns seinen Ausweis, sein Taschentuch und das Tonband dagelassen? Na, Sie sind vielleicht komisch.« »Was weiß ich, wie Sie an die Sachen gekommen sind. Vielleicht haben Sie ihm ja die gefälschten Papiere besorgt, und er hat seinen alten Ausweis dagelassen.« »Und das Tonband?« »So was kann man zusammenschneiden…« »Das wird mir langsam zu blöd, Sie…!« fauchte Domagalski. »Wollen Sie Ihren Mann nun wiederhaben oder nicht?« »Natürlich will ich das… Aber ich muß einen echten Beweis haben, daß er nicht in Bolivien ist, sondern in Ihrer Gewalt.« »Ich soll ihm wohl ‘n Finger abhacken, was?« fragte Domagalski. »Mit dem Ehering dran.« »Nein, aber Sie können ihm eine Haarsträhne abschneiden, die würde ich wiedererkennen.« Er dachte nach. »Und dann sagen Sie hinterher, die könnte von sonst wem stammen.« »Na ja, sein Gebiß wäre natürlich nicht zu verkennen.«
»Sein Gebiß?« rief Domagalski. »Warum nicht…? Er hat eine herausnehmbare Brücke, ein sogenanntes Teilstück, aber das erkenne ich wieder, weil… wir haben da noch die Rechnung des Zahnarztes mit dem dazugehörigen Kostenvoranschlag und der… der Zeichnung aufgehoben.« »Und wenn wir Ihnen die beiden… Sachen liefern, dann zahlen Sie die erste Rate?« »Das verspreche ich Ihnen.« »Okay, wir melden uns wieder bei Ihnen.« Domagalski legte auf. Sie stiegen in Domagalskis alten VW und fuhren wieder zur Laube seiner Eltern, um sich die Spaten zu holen. Dabei hatten sie insofern Pech, als die Nachbarn zur Linken Geburtstag feierten und im Freien getanzt wurde. Domagalski, der sich nicht der Frage aussetzen wollte, wozu er so spät noch einen Spaten brauchte, wagte sich unter diesen Umständen nicht auf das Grundstück. So mußten sie warten, bis den Nachbarn die Bowle ausgegangen war, und es wurde drei Uhr morgens, ehe sie in den Jagen vorgedrungen waren, in dem sie Horst von der Lieth vergraben hatten. Hatten sie sich schon bei der Beschaffung der Geräte gestritten, so gerieten sie nun erst recht aneinander, als es um die genaue Bestimmung der Stelle ging, wo von der Lieth lag. Schließlich hatte keiner der beiden mit der Möglichkeit gerechnet, den Toten jemals wieder ausbuddeln zu müssen. Schließlich einigten sie sich darauf, daß nur ein längliches und irgendwie abgesenktes Stück Waldboden am Rande eines Brombeergebüschs in Frage kommen konnte. Sie gruben schweigend im Schein einer Taschenlampe, die Domagalski in eine Astgabel geklemmt hatte. Während im Osten schon das erste Licht des Morgens heraufdämmerte, häuften sie mit jedem Spatenstich höhere Hügel neben sich auf.
»Leuchte mal rein in die Grube…« sagte Domagalski. Moldenhauer nahm die Lampe aus dem Baum. »Immer noch nichts.« »Aber das ist doch die Eiche hier, wo wir ihn verbuddelt haben, verdammt noch mal!« fluchte Domagalski. »Sicher isse das – die, wo der Blitz eingeschlagen hat, siehste doch.« Moldenhauer ließ den Kegel seiner Lampe den Baum hinaufgleiten. »Und der Boden ist auch noch ganz locker.« »Aber der olle Lieth is nicht mehr da«, stellte Domagalski fest. »Versuch’s mal ‘n Stückchen weiter rechts, der kann doch nich davongeflogen sein.« »Du Komiker, du!« Domagalski grub weiter. »Da kommt ja sein Schuh raus!« schrie Moldenhauer. Sie hatten Horst von der Lieth wiedergefunden. Noch ein paar Spatenstiche, dann ließen sie sich in die entstandene Vertiefung hinabgleiten, um mit den Händen nach den Dingen zu wühlen, die Frau von der Lieth haben wollte. Da traf sie, hart wie der Knall eines Starfighters, der die Schallmauer durchbrochen hat, eine Stimme aus einem Megaphon. »Achtung, hier spricht die Polizei! Sie sind umstellt! Bleiben Sie mit erhobenen Händen stehen, wo Sie sind!« Es folgten Sekunden absoluter Stille. Dann befahl der Polizeibeamte: »Alle Scheinwerfer an!« Sie standen da, hell angestrahlt wie zwei Fighter im Boxring. »Scheiße!« fluchte Domagalski. »Jetzt hängen die uns noch den Mord an…« brachte Moldenhauer zitternd hervor. »Mich kriegen die nich, die Schweine, ich hab ja noch meine Beretta.« Domagalski setzte an zum Sprung aus der Grube. Das Brombeergebüsch war ja so nah. »Los, komm…!« Moldenhauer wollte ihn zurückhalten. »Dommi…!« Dann
fielen Schüsse, dann hörte man Schreie bis herunter zum Schwarzen See.
Martin Moldenhauer drehte seine Runden auf dem länglichen Schlackenplatz zwischen den Verwahrhäusern III und V oft im Slalom zwischen den Häftlingen hindurch, die hier Fußball spielen durften. Doch auch das Laufen entspannte ihn nicht, lenkte ihn nicht ab, sosehr er auch schwitzte und keuchte. Bilder verfolgten ihn, Bilder jagten ihn; Kurzfilme, die ihn folterten. Da war der Kommissar – überlegen, gelangweilt, korrekt, nicht unfreundlich. »Fairerweise sollte ich Ihnen noch sagen, daß Herr Brendel, der Prokurist Brendel, inzwischen ebenfalls ein volles Geständnis abgelegt hat. Er ist es gewesen, der von der Lieth im Wald ermordet hat – kaltblütig und geplant ermordet hat. Er hatte gehofft, die Witwe dann heiraten und so Mitinhaber der Firma werden zu können. Daß die lebenslustige Frau nicht darauf eingehen und eigene Pläne für ihre Zukunft haben könnte – auf die Idee ist er gar nicht gekommen. So hat er sich für die Tatzeit ein sehr geschicktes Alibi vorbereitet: Er hat eine Rede, die von der Lieth zwei Tage später halten sollte, auf Band gesprochen, dann die 20-Uhr-30-Nachrichten im Radio gehört und dabei ganz ›zufällig‹ vergessen, das Band auszuschalten. Alles zurechtgeschnitten, natürlich. Sie können sich vorstellen, wie überrascht Brendel war, als er sein schönes Alibi gar nicht mehr benötigte und plötzlich Sie und Ihr Freund mit Ihrer Forderung ankamen. Natürlich mußte er mitspielen, es blieb ihm ja nichts anderes übrig. Aber er hatte nicht vor, irgendwelchen Pseudokidnappern eine halbe Million zu zahlen – von einem Geld, das er selbst bald einzustecken hoffte. Die Übergabe vereitelte er, indem er absichtlich diesen Unfall baute. Er konnte ja nicht wissen, daß er uns eigentlich einen
großen Gefallen damit getan hatte. Er wußte nicht, daß Frau von der Lieth sich Dr. Matzner anvertraut und dieser ihr dringend geraten hatte, die Polizei hinzuzuziehen und mit keinem Menschen darüber zu reden, auch nicht mit Brendel. Damals gingen wir alle noch von der Annahme aus, daß tatsächlich ein Fall von Entführung vorlag. Jetzt konnten wir auf Frau von der Lieth einwirken, daß sie von den Kidnappern weitere Beweise verlangen sollte – zum Beispiel das Gebiß. Für uns hieß das, sie mußten zu seinem Versteck gehen und es holen – daß sie uns zu seinem Grab führten, war ein böser Schock. Tja, wie es weiter gegangen ist, wissen Sie ja selbst. Und was Sie für ein Glück gehabt haben, daß Sie nicht schließlich noch für den Mord verurteilt wurden, den Sie nicht begangen haben, brenzlig genug sah’s ja für Sie aus. Seien Sie froh, daß die attraktive Ursula von der Lieth einen Freund in Amsterdam hat, zu dem sie jetzt gehen wird. Diese Enthüllung hat Brendel den Rest gegeben, so daß er endlich gestanden hat.«
Da war Domagalskis Beisetzung. Auf dem DreieinigkeitsFriedhof. An einen Beamten gekettet, hatte er daran teilnehmen dürfen. Sonst war kein Kumpel weiter gekommen. Von Dommis Verwandten auch nur seine Eltern, denen es aber gelungen war, einen jungen Pfarrer aufzutreiben, der dann am Grab gesagt hatte: »Allen denen, die heute nicht von ihrem Freunde Abschied nehmen, rufe ich zu: Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird auch euch vergeben.«
Da war Lona mit ihrer Aussage im Gerichtssaal. »Also, das is ja wohl ‘n Ding, mir noch was anhängen zu wollen! Von wegen: ich hätte ‘n Drittel vom Lösegeld verlangt! Von so Sachen laß ich die Finger. Meine Devise ist: Ehrlich währt am längsten.« Sie hatte derb und aufrichtig geklungen, und man hatte ihr geglaubt.
Da war der Reporter, der durchs Gefängnis gegangen war und ein paar Worte mit ihm gewechselt hatte. Und was der dann in seiner Zeitung geschrieben hatte, war einen Tag später allen bekannt: »Das schafft Martin Moldenhauer nie, drei Jahre in dieser Zelle zu sitzen und fit zu bleiben. Wenn er wieder draußen ist, hat er keine Kondition mehr, die großen Kämpfe sind dann flöten, er ist weg vom Fenster. Kriminologen, Soziologen, Sozialpsychologen und alle die, die tagtäglich als kritische Beobachter in unseren Gefängnissen tätig sind, wissen, daß ein großer Teil der Insassen eine perfekte Ausbildung zum Berufsverbrecher erhält – also keine Resozialisierung zum ehrbaren Bürger, sondern eine Sozialisation zum Kriminellen. Und wenn Moldenhauer aus dem Knast kommt, dann ist er allein, sein Freund ist tot, seine Frau wird längst wieder verheiratet sein, und seine Arbeitskollegen werden sich von ihm distanzieren. Mit anderen Worten: Der Mann, an sich unheimlich talentiert, ist erledigt; man hat ihn eigentlich genauso ermordet wie diesen Herrn von der Lieth.«
Es war ein mieser Tag für Martin Moldenhauer. Nach dem Lauf kam sein Gymnastikprogramm. Schon bei den Übungen, die Schulter und Rumpf gelten sollten, keuchte er. Noch mehr quälte er sich, als er, wacklig im nassen Sand
sitzend, die Beine, mal grätschend, mal anziehend, an die sechzig Sekunden über den Boden hielt. Schließlich sprang er fluchend auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Unter den Achselhöhlen hatten sich die Ärmel seines Trainingsanzuges bereits dunkel verfärbt. Den Kaugummi ausspuckend, ließ er sich in den Liegestütz fallen. Er pumpte ein Weilchen wie ein startbereiter Käfer. Beim fünfzehnten Versuch gab er auf.
Fendt hört mit
Alles hängt mit allem zusammen.
1. SZENE S-Bahnhof Savignyplatz
Barnabas Lübz stand an der Bahnsteigkante und schnupperte süchtig das S-Bahn-Parfüm. Von den Schwellen und vom Schotter stieg es hoch. Bremsstaub mischte sich mit heißem Öl zu einer schwarzen Schmiere. Feiner Rost lag über allem, und wenn die Stromabnehmer der ein- und ausfahrenden Züge am Beginn und Ende des Bahnsteigs mit grellen Blitzen die Seiten wechselten, roch man die vielen hundert Volt. Seit sie ihn zum Senatsbaurat gemacht hatten, war viel zu selten Gelegenheit, dem Dienstwagen zu entgehen. Heute abend war es ihm gelungen. Und er war allein. Er genoß es. Den ganzen Tag über dienstlicher Tiefsinn und intellektuelles Graugansgeschnatter, da war es eine Wohltat, daß er endlich einmal nicht reden und nicht zuhören mußte. Wie ein Canyon zogen sich Gleise und Bahnhof durch die Steinwüste zwischen Kantstraße und Kurfürstendamm. In Richtung Süden hatten sie ein wenig Raum zu den Häusern hin gelassen. Den Putz der Wände zierte Reklame der dreißiger Jahre. Blaß und ausgewaschen zwar, aber noch ohne Mühe zu deuten. Deutsche Beamten-Versicherung. Die bewährte Versorgung aller Schaffenden. Putzig, wie er fand. Die Fernbahngleise waren neu verlegt, und an den für seinen Geschmack viel zu wuchtigen Masten hingen Drähte von einer solchen Stärke, daß er unwillkürlich an eine Bergbahn denken mußte, deren Kabinen Berlin-Touristen zum Europa-Center trugen, zum Mercedes-Stern hinauf. Doch vom Zoo her nahte lediglich ein Intercity, von einer dröhnenden Taiga-Trommel
gezogen. Ziemlich leer. Die Potemkinsche Hauptstadt lockte keinen mehr an. Berlin ohne Mauer war wie Winsen mit Luhe. Nur viel dreckiger. Lübz zuckte zusammen, denn über ihm ratterte der sogenannte Fallblattzugzielanzeiger. Blumenstraußbunt zogen die Liniennummern vorbei. Blau die S 3 nach Erkner. Orange die S 5 nach Straußberg. Braun die S 6 nach Königs Wusterhausen. Lila die S 7 nach Ahrensfelde. Terrakotta, jedenfalls irgendwie rötlich, die S 9 nach Schönefeld zum Flughafen. Es versetzte ihn noch immer in gelindes Erstaunen, daß die Züge allesamt durchfuhren nach Ostberlin und sogar in die DDR hinein. Irgend etwas stimmte da nicht. Der Stationsvorsteher hatte eine Reihe von Schildern aus der alten Reichsbahnzeit gesammelt. Alle schön in schlagfestem Emaille und Nazi-Fraktur. Sei nüchtern im Dienst! Das ›nüchtern‹ rot hervorgehoben und zudem noch unterstrichen. Daneben in grellem Rot und stark umrandet: Vorsicht bei Gesprächen! Feind hört mit! Lübz erinnerte sich an die grauschwarzen Plakate mit der gelben Schrift, wie sie sein Großvater als Luftschutzwart gesammelt hatte. Da hatten sie noch überdick das Pst! hinzugefügt. Er bot dem Stationsvorsteher hundert Mark für das eine der Schilder, doch der lehnte lachend ab. Lübz ging nun vollends auf die andere Seite des Bahnsteigs hinüber, um auf einen Zug in Richtung Wannsee und Erkner zu warten. Er wollte schnellstmöglich nach Hause. Viola wartete schon. Vom Savignyplatz bis Bahnhof Grunewald waren es zehn Minuten. Savignyplatz, Charlottenburg, Westkreuz, Grunewald. Zwischen Westkreuz und Grunewald war er mitunter alleine im Wagen. Der Staatsschutz hatte ihn gewarnt. Unter den Autonomen gab es welche, die nicht gerne sahen, wie Mercedes und Sony den Potsdamer Platz eroberten und ihm die Schuld an allem gaben.
Ach, Quatsch! Dennoch ging er vorsichtshalber nach vorne, um in den ersten Wagen zu steigen. Nach Norden zu, zwischen Schlüter- und Bleibtreustraße, reichten die unverputzten Mietshausgiebel bis nahe an die Schienen heran. Braunschwarzer Ruß überzog die ungleich gemauerten Ziegel. In Augenhöhe zog sich hier die Galerie des Baumpaten Ben Wargin entlang. Halbreliefs, grau-schwarz und morbide mit eingeritzten Dichterworten, sollten zeigen, daß der Tod des Baumes auch der Tod des Menschen war. DENK-MAL-BAUM GINGKO BAUMPATE WERDEN. Lübz betrachtete das alles mit ziemlicher Freude. In regelmäßigen Abständen waren ausgehängte S-Bahn-Türen, gelb und ochsenblut, zwischen den Sentenzen plaziert. Am meisten fielen jene auf, die sich wie auf Stationsschildern zeigten. WIR sind die Hautkrankheit der Erde WIR rollen sitzend in den Tod WIR trinken was WIR pinkeln werden WIR gedacht gemacht WIR Lübz las die letzten Worte immer wieder, ohne zu begreifen, was man damit meinte. Daß ein Mensch real gar nicht existierte, sondern nur der Homunkulus der Macher war, von denen gedacht… Der Zug nach Charlottenburg schlängelte sich in die Schneise zwischen Bahnsteigkante und Kunst. Die alte Baureihe 277 mit neuer Stirnfront, wie Lübz noch registrierte, Ostberliner Farbgebung, oben wie dreckiges Mehl, unten wie geronnenes Blut. Da traf ihn ein heftiger Stoß, und er flog wie beim BungeeSpringen in die Tiefe. Der Zug war heran. Ein böses Haifischgesicht. Die Scheinwerfer, zwei gierige Augen. Der Kupplungsschacht, ein aufgerissenes Maul.
Das ist der Tod. Gott. Die Bahn. Seine Mutter neben ihm. Morgens auf dem Weg zur Schule. Viola. Die hölzernen Bänke. Er schlug auf die Schienen. Die Erlösung…
2. SZENE Nicoles Zimmer
Dietmar Fendt hatte das Gefühl, zur Vorsorgeuntersuchung bei der Hautärztin zu sein, als Nicole ziemlich grob die Vorhaut von der Eichel zog und seinen Schwanz zu kneten begann. »Wa’ wieda ‘ne Nutte da, die euch bestochen hat?« fragte sie, als sich auch jetzt nichts tun wollte. »Quatsch, das is die viele Torte, die du mitgebracht hast.« »Lüg doch nicht.« Natürlich war das gelogen. Sollte er ihr die Wahrheit sagen. Daß er sie satt hatte. Schon wenn er sie keifen hörte, war ihm jede Lust vergangen, und wenn er sie dann mit ihrem magergehungerten Körper neckisch ausgestreckt auf dem Bettlaken sah, fühlte er wenig mehr als ein altgedienter Harems-Eunuch. Aber Nicole war seine Verlobte, und er hatte ihr die Ehe versprochen. Ein Mann, ein Wort. Also. Was sein muß, muß sein. Er schloß die Augen und versuchte an all die Frauen zu denken, auf die er in den letzten Tagen scharf gewesen war. Bloß da war keine. Er stellte sich vor, daß Nicole eine Nutte von der Oranienburger Straße war. Fünfzig mit der Hand, siebzig mit dem Mund, hundert für richtigen Verkehr. Halterlose Strümpfe trug sie ja, einen durchbrochenen Slip und einen wirklich geilen Gürtel, alles in schwarz und nicht einmal von C&A. Und der Typ dazu war sie immerhin. Doch auch dies mißlang. Ihr Bett war kein Rücksitz und sie roch nicht nach Sünde, Latex und dem Samen anderer Männer, sondern nach Backpulver und Sechskornbrot.
Nicole gab sich wirklich alle Mühe. Obwohl er es ihr immer wieder gesagt hatte, daß er es eigentlich pervers fände, hatte sie seinen Schwanz schon in den Mund genommen, begann zu saugen und ließ die Zunge spielen. Obwohl Fendt dagegen ankämpfte, kam die Erektion. Schon hatte sie ihn auf den Rücken gelegt und ihm einen Gummi übergestreift. »Mann, dein Körpa«, sagte sie, küßte seine Brustwarzen und strich mit den Händen die Hüften hinunter. »Deiner auch«, murmelte er und fühlte sich verpflichtet, mit der rechten Hand nach ihrer Möse zu greifen und nach dem Kitzler zu suchen. Sie war so feucht, daß es ihn ekelte. Nicole spreizte die Schenkel, setzte sich auf seine Oberschenkel, griff sich seinen Schwanz wie einen Staffelstab, steckte ihn rein und begann ihren Ritt. Fendt sah sie als Leiche in ihrer Backstube liegen. Es gab keinen anderen Weg, jemals wieder loszukommen von ihr.
3. SZENE Großer Hörsaal der FHVR
Hans-Jürgen Mannhardt wußte, daß er sich mit dieser Aktion wieder einmal viel zu weit aus dem Fenster hinauslehnen würde. Solange sich die Progressiven Polizisten still verhalten hatten, war die Polizeiführung nicht groß eingeschritten. Dieser kleine Haufen von Spinnern wurde doch nur aufgewertet, wenn man ihn zur Kenntnis nahm und zu unterdrücken suchte. Nun aber gab es die erste Abendveranstaltung der ProPos. Mannhardt selber hatte die Sache eingefädelt und den befreundeten Dekan des Fachbereichs 1 der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege, kurz FHVR, gebeten, die Sache in die Hand zu nehmen. Der Große Lauschangriff – PRO und CONTRA. Auf der Pro-Seite war das Podium mit einem FHVRProfessor und Mannhardts Chefin besetzt, der Kriminaloberrätin Karin Aurak, und die Contra-Position vertraten ein bekannter Abgeordneter der AL und er selber. Der Hörsaal war knapp zu einem Viertel gefüllt. Die Beamten-Studenten hatten pünktlich Feierabend gemacht. Gekommen waren vor allem die angehenden Kommissare des Fachbereichs 3. Dies nicht nur, weil einer ihrer Professoren an der Diskussion teilnahm, sondern vor allem auch, um die Gelegenheit zu nutzen, öffentlich für den Großen Lauschangriff zu sein, war doch genügend Presse anwesend. Der Rest der jüngeren Zuhörer und Zuhörerinnen kam aus dem Fachbereich 1, wo die ›normalen‹ Verwaltungsbeamten
studierten und wo ein vergleichsweise offener und kritischer Geist alle gestandenen Bürokraten schon seit langem ebenso verunsicherte wie verärgerte. So kam es, daß der Moderator, ein Psychologe aus eben diesem Fachbereich, auch bemüht war, Mannhardt und den ALer gebührend zur Geltung zu bringen. »Ich habe«, rief Mannhardt, »den Eid abgelegt auf unsere Verfassung und geschworen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung aktiv zu verteidigen. Aktiv! Auch die Wahrung des Artikels 13 unseres Grundgesetzes: ›Die Wohnung ist unverletzlich.‹ Und dies hat für mich ohne Wenn und Aber zu gelten.« »Auch wenn die Mafia deine eigene Ermordung beschließt?« schrie einer von unten. »Das können wir auch mit anderen Mitteln verhindern.« »Nicht doch!« »Bitte!« mahnte der Moderator. »Könnten wir uns vielleicht darauf verständigen, ein gewisses Niveau zu halten.« Mannhardt nahm einen neuen Anlauf. »My home is my castle…« »Sprich deutsch!« »›Die Würde des Menschen ist unantastbare Artikel 1 des Grundgesetzes. Aber sie wird angetastet, wenn man ihm keinen intimen Raum mehr läßt, in den er sich unbelauscht zurückziehen kann.« »Intime Räume für die Mafia-Killer. Bravo!« Der AL-Anwalt sprang Mannhardt zur Seite. »Der Große Lauschangriff ist doch dazu das gänzlich ungeeignete Mittel, meine Damen und Herren. Die OK, das sind doch hochintelligente Profis, die sofort zur akustischen Abschirmung greifen werden. Darum können unsere Mittel im Kampf gegen sie nur sein: Die Einschränkung des Bankgeheimnisses, um die Geldwäsche krimineller Profite
aufzuspüren und zu verhindern, und die Entkriminalisierung des Drogenkonsums.« »Noch mehr Drogentote, klasse!« Der Moderator sah den Rechtsprofessor an und erteilte ihm das Wort. »Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich kann Ihre Aufregung nicht so recht verstehen…« Gelangweilt sah er aus dem Fenster und wunderte sich, daß in der Nähe des SBahnhofs Savignyplatz so viele Blaulichtblitze zuckten. »Warum sollte unserer Staatsanwaltschaft und unserer Polizei eine Befugnis vorenthalten werden, die Verfassungsschutz, MAD und BND bei der Gefahrenabwehr schon längst für sich in Anspruch nehmen können.« »Richtig!« kam es von unten. »Und daß der kleine Mann auf der Straße Angst haben muß, ist doch schlichtweg falsch. Demagogie.« Der Rechtsprofessor dozierte abgehoben und gelassen. »Wir haben doch den neuen Paragraphen 100c Absatz 1 Nummer 2 StPO – und der ermächtigt doch ganz allgemein zum Abhören und Aufzeichnen des nichtöffentlich gesprochenen Worts mit technischen Mitteln‹, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht auf eine Katalogstraftat nach Paragraph 100a begründen. Und dieser Katalog umfaßt immerhin rund achtzig Tatbestände. Die Befugnisse zum Großen Lauschangriff sind doch also schon lange da.« »Das ist ja eben diese gesetzgeberische Chuzpe!« hielt ihm ein Fachkollege des Fb 1 lautstark vor. »Die Kontrollierbarkeit staatlicher Ingerenz muß doch gewahrt werden!« Pfiffe und höhnisches Gelächter waren die Folge. Der Moderator schaffte es nicht, die Begriffe erläutern zu lassen. »Nur nicht über den eigenen Tellerrand gucken!« rief Mannhardt in sein Mikrofon.
»Wir haben ja schon genug zu tun, die Suppe auszulöffeln, die Sie und Ihresgleichen uns hier einbrocken!« giftete seine Vorgesetzte. Die Aurak hatte ihm schon vor Beginn der Veranstaltung ein paar Sätze des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV zur Kenntnis gebracht: Jeder lerne nur gründlich und ganz, was er für seinen Beruf wissen muß. Das Mehr ist für seinen Lebenszweck nicht förderlich, sondern störend und hinderlich. Das Wissen über die Grenzen des Standes und des Berufes hinaus macht vorlaut, anmaßend, raisonniersüchtig. Jetzt machte sie sich mit Eifer daran, ihr Plädoyer für den Großen Lauschangriff zu halten. »Über einhunderttausend Kraftfahrzeuge werden jährlich in der Bundesrepublik entwendet. Viele Morde beweisen es: Die Mafia ist da. Nicht nur die klassische aus Italien; Russen, Jugoslawen, Südamerikaner, Polen und Deutsche dominieren die Szene bei uns. Berlin ist die größte Geldwaschanlage Europas. Der Autodiebstahl, der Rauschgifthandel, das Verschleppen von Frauen, um sie hier bei uns zur Prostitution zu zwingen, die Schutzgelderpressung, der Diebstahl und Mißbrauch von Kreditkarten – all das ist keine Horrorvision von mir, das ist Realität in Deutschland. Und das alles können wir nur wirksam bekämpfen mit der elektronischen Kommunikationsüberwachung.« Der große Hörsaal, zu zwei Dritteln mit angehenden Polizeibeamten besetzt, dankte ihr mit sitzend dargebrachten Standing ovations. Der Moderator hatte Mühe, Mannhardt die Möglichkeit zu einem Einwand zu geben. »Darf ich Sie bitten… Herr Mannhardt als ja selber Bekämpfer dieser Kriminalität.« Mannhardt räusperte sich. »Alles schön und gut, Frau Aurak, aber… Aber, was heißt das denn: elektronische Kommunikationsüberwachung?«
»Das heißt, daß ausnahmslos Staatsanwälte und Richter beschließen, Abhörcomputer, Richtmikrofone, Laserstrahlen und so weiter einzusetzen.« »Schön, aber alle diese Geräte werden doch letztendlich von Menschen bedient. Und Menschen bleiben Menschen. Sie lassen sich mißbrauchen, und sie haben ihre eigenen Ziele und Gefühle.« »Für alle meine Beamten und Beamtinnen lege ich meine Hand ins Feuer!« Der Beifall war nicht enden wollend.
4. SZENE Hermsdorf, Modellbahnschmiede Baabe
Fendt trat ans Fenster und hielt das sauber gefeilte Messingstück, das kaum größer war als ein Dominostein, prüfend gegen das Licht. Er mußte es nicht extra messen, er wußte, daß bei ihm auf ein hundertstel Millimeter alles stimmte. Beim Paßviertel der Bauart Stadtbahn gab es an der Stirnseite im Bereich der roten Lackierung acht Reihen von jeweils elf Nieten. Und die hatte er alle fein säuberlich ins Blech getrieben. Die Berliner S-Bahn war seine große Leidenschaft, und am liebsten baute er die Wagen der alten Baureihe 165 detailgetreu nach. Bis hin zu den beiden roten Oberwagenlaternen, die sie wie Käfer wirken ließen. Der alte Baabe kam nach oben geschlurft. Die Modellbahnschmiede war sein Lebenswerk. Betuchte Kunden blätterten für seine kleinen Meisterwerke stets einige Tausender hin, und er hätte sich längst zur Ruhe setzen können, doch er kam ohne seine U-, S- und Straßenbahnmodelle keine Woche aus. Seine Frau sprach von einer Macke, sein Arzt von einer Obsession. »Gut geschlafen?« fragte Baabe. Fendt schüttelte den Kopf. »Nein, nicht so richtig.« »Aber hier draußen ist es doch so herrlich still.« Baabe verstand seinen Unmut nicht. »Das ist es ja eben. Bei mir in Neukölln kommt die ganze Nacht der Lärm von der Hermannstraße rüber. Die Reifen quietschen, und irgendein Idiot fährt bei Grün an’er Ampel
immer wie ‘n Formel-Eins-Fahrer los. Ohne diese Geräusche kann ich schon gar nicht mehr schlafen.« »Sie werden sich schon eingewöhnen hier.« Baabe besah sich das Nietengesicht, an dem Fendt gearbeitet hatte. »Ausgezeichnet.« »Ich hab schließlich ‘ne Feinmechanikerlehre bei Siemens gemacht«, sagte Fendt mit ziemlichem Stolz. »Angefangen jedenfalls.« Der alte Baabe grinste und machte sich wieder auf den Weg nach unten, wo pünktlich neun Uhr der Laden aufzuschließen war. Während im Ober- und im Dachgeschoß Bausätze und Fertigmodelle entstanden, alles vom Feinsten, verkaufte er in Erdgeschoß und Keller das, was die Firmen in den Katalogen hatten. Fendt sah auf die Uhr. Es war Zeit, Nicole zu sagen, daß er schon wieder Sehnsucht nach ihr hatte. Er ging zum Telefon und wählte ihre Nummer: die Neuköllner Bäckerei. Sie war selber am Apparat. »Na, wie viele Kunden hast du heute schon gehabt?« »Sau du!« »Danke. Was gibt’s Neues?« »Ick hab ma vorhin mit Sandra verabredet, wir fahrn Sonnabend tanzen nach Mahlow raus.« Wenn Fendt etwas haßte, dann diese Discos auf dem Lande. Und überhaupt. »Schade, ich hab Dienst.« Vielleicht lernte sie einen anderen kennen, wenn sie alleine ging. »Wo steckst’n jetzt?« »Na, im Büro. Wo’n sonst.« »Jut. Ick muß wieda.« »Dann geh mal schnell, eh’s wieder ins Höschen…« »Wenn du et mir ausziehst.« »Ja, komm her.« »Tschüssi dann und Küßchen.« »Ja, bis dann.«
Fendt legte wieder auf. Wenn die Statistiken stimmten und er achtzig wurde, dann hatte er noch vor sich… über fünfzig Jahre mit dieser Nicole Kolbatzki. Resigniert sang er bruchstückhaft die Titelmelodie aus der Al-Bundy-Serie. Love and marriage go together like a horse and carriage… this I tell your brother you can’t have one without the other… love and marriage… love and marriage… it’s an institute you can disparage… and they will say it’s elementary… try, try, try to separate them it’s an illusion… Eine schrecklich nette Familie, das war es, was ihn erwartete. Unausweichlich. Keine Liebe ohne Ehe. So hatten sie’s ihm eingetrichtert. Er wandte sich wieder seinem S-Bahn-Wagen zu. Auf Höhe des Führerstandfensters waren dreizehn Nieten zu imitieren. Er nahm Stichel und Hammer und wollte sich gerade ans Werk machen, als sich vor der Villa gegenüber einiges tat. Dr. Lothar Vogelsang war gerade dabei, in seinen roten Audi 100 zu steigen. Seine Frau, noch im Morgenmantel, stand im Erkerfenster, um ihm zum Abschied zuzuwinken. Graziella, ihre Tochter, noch im Bademantel, kam auf die Straße gestürzt. »Daddy, drei Minuten noch. Du mußt mich unbedingt zur SBahn mitnehmen, ich komm’ sonst zu spät.« »Ich auch.« »Bei dir freuen sich doch alle. Bitte!« »Na schön, aber nur weil du’s bist.« Graziella eilte zurück ins Bad, und Dr. Vogelsang putzte ein wenig an seinem Wagen herum. Im Souterrain flammten die Neonlampen auf. Ron Peccioli betrieb hier unten seit einigen Wochen ein Taxi-, Kurier- und Fuhrunternehmen. Stellte man sich die nicht eben riesige Villa als Sandwich vor, so beherbergte die untere Scheibe Pecciolis Büro, dann folgte das Hochparterre mit den Wohnräumen der Familie Vogelsang, während die erste Etage mitsamt dem
Dachgeschoß wiederum an Peccioli vermietet worden war, größtenteils jedenfalls. Von außen bot die Vogelsangsche Villa ein schmuckes Bild. Mit ihrer Schinkelfassade und frisch getüncht im satten Gelb von Sanssouci und anderen Preußenschlössern wurde sie sogar in einigen Berlinführern als Hermsdorfer Kleinod erwähnt. Fendt sah, wie Peccioli seine Sekretärin Jennifer mit einem Küßchen auf die Backe begrüßte und seine männlichen Hilfskräfte mit einer leichten Umarmung. Sehr stilvoll alles. Leonardo Vogelsang kam mit dem Fahrrad aus der Garage. »Na, wieder ‘ne Klausur heute?« fragte Dr. Vogelsang. »Englisch Leistungskurs.« »Dann mal viel Glück und eine Note zwischen Eins und Sechs.« »Danke.« Fendt öffnete sein Fenster. Jeanette Vogelsang-Nisble winkte ihm zu.
5. SZENE S-Bahnhof Savignyplatz
Mannhardt war ein wenig außer Puste, als sie oben auf dem Bahnsteig standen. Petra Zechow, als Handballspielerin des PSV des Polizeisportvereins, bestens trainiert, begann sofort zu spotten. »Na, Opa, wird’s denn noch gehen?« »Hab du mal ‘n Kind, das die ganze Nacht über schreit.« »Meins würde nicht mehr schreien…« Sie zeigte auf ihre Brüste. »Marke Spreewaldamme.« Mannhardt wurde ein wenig aggressiv. »Krieg erst mal eins.« »Ick warte ja schon die ganze Zeit über auf ‘ne Samenspende. Bulle für bullige Kollegin gesucht.« »Ich hab mein Soll erfüllt.« Mannhardt winkte ab. Zwei eheliche Kinder waren erwachsen, nun das Baby. Nichtehelich, wie das von Amts wegen hieß. »Wie kann man sein Kind Sylvester nennen?« Petra Zechow hatte sich noch immer nicht abgeregt. »Weil’s nun mal Sylvester passiert ist.« »Weihnachten und Ostern wär’ noch schlimmer gewesen.« »Barnabas ist auch nicht besser.« Das war die Überleitung zum Baurat Lübz, dessen Mörder sie zu finden hatten. »Wenn eina ‘n halbet Jenie is, bringt det schon wat mit so ‘nem Namen«, sagte Petra Zechow. »Wenna aba nur ‘n kleena Beamta is, wird det jeden Tach ‘n Spießrutenlaufen für den.« »Bei meiner Erbmasse wird er schon groß rauskommen.« Sie gingen zu der Stelle, wo der Senatsbaurat Barnabas Lübz gestern abend um 20 Uhr 43 vor den Zug gestoßen worden
war. Zwar war die 15. Mordkommission schon wenig später in Aktion getreten, und Mannhardt hatten sie vom Podium weggeholt, aber nun am Morgen war vielleicht doch noch etwas zu entdecken, was gestern in der allgemeinen Hektik und der hereinbrechenden Dunkelheit übersehen worden war. WIR sind die Hautkrankheit der Erde WIR trinken was WIR pinkeln Idealisten sind immer in Gefahr… Friedrich v. Schiller Mannhardt suchte den Mörder von Barnabas Lübz mit derselben berufsmäßigen Lust, die wohl eine Prostituierte bei der dreitausendsten Nummer empfand. Was blieb ihm aber anderes übrig. Er brauchte das Geld, für das er es tat, ebenso wie sie. Und siehe Paragraph 54 des Bundesbeamtengesetzes: Der Beamte hat sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen. »Geben wir uns also hin«, murmelte er. »Wie?« fragte Petra Zechow. »Nicht in Wie’n, sondern in Berlin.« Sie machte mit der Hand eine kreisende Bewegung vor der Stirn. WIR rollen sitzend in den Tod werden WIR gedacht gemacht WIR Mannhardt stellte sich vor, wie Lübz gestern das alles auch gelesen hatte. Und jetzt? Sein von den S-Bahn-Rädern zerteilter, zerschnittener, portionierter und filetierter Körper lag in der Pathologie. Morgen war das Entsetzen vorüber, und seine Kolleginnen und Kollegen keilten sich um die frei gewordene Stelle. In einer Behörde war das Glück um so größer, je höher der Heimgerufene in der Hierarchie verortet war. Angenommen, es gab keinen Seiteneinsteiger, dann konnten gut und gerne sieben, acht Leute nach oben aufrücken.
Leute, die die Tat direkt gesehen hatten, gab es keine. Einige Augenzeugen wollten einen großen blonden Mann von knappen dreißig Jahren beobachtet haben, wie er die Treppe hinuntergelaufen war, zur Schlüterstraße hin. Das war aber auch alles. Wahrscheinlich waren unzählige Leute aus irgendwelchen Gründen zum Savignyplatz gerannt, als es Lübz erwischt hatte. Um den Bus zu kriegen, um eine Verabredung einzuhalten, um ein Mädchen einzuholen, um den ewigen Berlinfrust loszuwerden. Mannhardt sah sich die Fahrpläne an. Richtung Westen fuhren die S 9 um 20.37, die S 5 um 20.43 und die S 7 um 20.51. Wobei der Zug, der Lübz getötet hatte, schon in Charlottenburg endete, ihm also gar nichts genützt hätte, um nach Hause zu kommen, zum Bahnhof Grunewald. Da hätte er bis 20.51 warten müssen, auf den Zug von Ahrensfelde nach Potsdam Stadt. »Muß er also fast zehn Minuten zu früh hier gewesen sein«, sagte Mannhardt. »Sieht fast so aus, als ob er auf jemanden gewartet hätte.« Petra Zechow war da eher skeptisch. »Wo er sonst imma Auto jefahren is, wirta den Fahrplan nich so jenau im Kopf jehabt ham.« »Klingt logisch. Gucken wir mal auf der anderen Seite.« »Seine Frau hat doch aba jesagt, daß er nach Hause jewollt hat.« »Trotzdem.« Richtung Osten, also Innenstadt gingen die Züge um 20.45 von Potsdam zum Hauptbahnhof, 20.49 nach Ahrensfelde und 20.35 sowie 20.55 zum Flughafen Schönefeld. Mannhardt dachte laut. »Vielleicht hat er zum Flughafen gewollt – und einer hat ihn partout daran hindern wollen.« »Dann schon eher ‘n Selbstmord«, sagte Petra Zechow.
Der Stationsvorsteher, den sie anschließend befragten, schloß das aber mit allem Nachdruck aus. »Ich hab doch mit ihm gesprochen. Er war locker und hat mir unbedingt mein Schild abkaufen wollen.« »Welches Schild?« wollte Mannhardt wissen. »Na, das hier.« Vorsicht bei Gesprächen! Feind hört mit! Mannhardt dachte an die Podiumsdiskussion gestern abend und mußte unwillkürlich schmunzeln. »Ick hab schon ‘ne Menge Selbstmörda jesehn in meim Leben«, fügte der Stationsvorsteher hinzu. »Und det war keena: hundertprozentich! Aber det müßte der Kollege Triebwagenführer doch bessa wissen.« »Der hat ‘n Schock, den konnten wa noch nich…« Mannhardt ließ das Thema Selbstmord erst einmal beiseite. »Ist Ihnen denn von den Fahrgästen einer aufgefallen, der als Täter irgendwie in Frage kommen könnte?« Der Bahnbeamte überlegte einen Augenblick. »Höchstens eena von denen, die hier immer rumlungern. ›Haste ma ‘ne Mark?‹ Sie wissen schon.« Petra Zechow nahm den Faden auf. »Vielleicht hat der Lübz nischt jejebn und der Typ is böse jewordn.« Je älter der Tag wurde, desto ungebremster berlinerte sie. »Lübz als feiner Pinkel und dann nichts abgedrückt…« Mannhardt hielt das für vergleichsweise plausibel und drückte dem Mann seine amtliche Visitenkarte in die Hand. »Sind Sie doch so nett und kommen Sie im Laufe des Tages mal wegen ‘ner Phantomzeichnung bei uns vorbei.« Der Stationsvorsteher schien wenig begeistert, versprach es aber. Mannhardt sah auf die Schienen hinunter. Die weiße Chemikalie, obwohl in Unmengen ausgestreut, hatte nicht gereicht, alles Blut zu binden.
Der Zug der Linie 5 fuhr in den Bahnhof ein. Die Radkränze waren scharf wie eine Guillotine. Los, spring runter! Die Angstlust hatte Mannhardt voll gepackt.
6. SZENE Hermsdorf, Villa Vogelsang
Graziella Vogelsang liebte es, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. So hörte sie an diesem Mittag um halb eins gleichzeitig Nachrichten, las etwas über den Maler Max Slevogt, dessen Gemälde Die Aufbahrung Don Giovannis sie in einem Referat behandeln mußte, und rieb Kartoffeln, um ihre Familie mit selbstgemachten Puffern zu überraschen. Die Vorlesung über die Berliner Secession war heute ausgefallen. Sie studierte Romanistik mit demselben Eifer und Erfolg wie Kunstgeschichte. Etwas anderes wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Ihre Vorfahren mütterlicherseits waren Hugenotten, und ihr Vater fühlte sich eher als alter Römer denn als deutscher Bundesbürger. Ihr Vorname war wie ein Programm, obwohl sie mit ihren langen blonden Haaren und den hellblauen Augen eher wie eine Schwedin oder Finnin wirkte und gar nicht aussah nach La Rochelle oder Ravenna. »Wer reibt, der bleibt.« Ihre Mutter war in die Küche gekommen, um sich Orangensaft aus dem Kühlschrank zu holen. »Wenn wir nicht ab und an Kartoffelpuffer in der Pfanne haben, werden wir noch ausgewiesen wegen undeutschen Essens.« Jeanette Vogelsang-Nisble beugte sich interessiert über das Slevogt-Buch. »Macht was her. Schade, daß wir das damals nicht selber herausgebracht haben, ‘82, zum fünfzigsten Todestag von Slevogt.«
Ihr Vater war der bekannte Berliner Verleger Berthold Nisble. Zwar hatte er den Verlag kurz vor seinem Tod an eine große Mediengruppe verkaufen müssen, doch nicht nur die Villa in der Hermsdorfer Schloßstraße war seiner Familie geblieben, er hatte auch durchsetzen können, daß seine Tochter als Lektorin übernommen wurde. Jeanette Vogelsang-Nisble war von Hause aus Germanistin, verstand aber auch eine Menge von moderner Kunst, so daß sie sich durch Slevogts Bild länger als geplant von ihren Manuskripten abhielten ließ. »Ist ja unheimlich, diese Düsternis…« Und sie verfiel spöttisch in den Tonfall, mit dem gymnasiale Kunstlehrer solche Gemälde kommentierten. »Der erhöhte Standpunkt des Malers vermittelt ein sakrales Raumgefühl, das sich schaudernd auflöst in der Dunkelheit. Im Kerzenlicht zucken die bleichen, bewegten Antlitze der Trauernden und werden selbst zu fahlen Lichtern.« Graziella klatschte Beifall, bevor sie sich aus dem Korb eine letzte Kartoffelknolle griff. »Du kannst es.« »Danke. Wann gibt’s denn Essen?« »In ‘ner halben Stunde vielleicht.« »Dann muß ich wohl noch mal zurück zu meinen Hurenkindern.« »Könnt ihr nicht mal Schluß machen mit euren diskriminierenden Bezeichnungen?« »Nun…« Obwohl ihre Tochter schon weit über zwanzig Jahre sprechen konnte, wußte Jeanette-Vogelsang-Nisble noch immer nicht, wie ernst sie eine solche Frage meinte. Ob sie wirklich noch nicht mitbekommen hatte, daß in ihrer Fachsprache Hurenkinder keine Prostituierten-Bälger waren, sondern auf einer Umbruchseite zuviel gesetzte Zeilen, die eliminiert, eingebracht werden mußten, bevor das Ganze in
Druck gehen konnte. Ein wenig verunsichert kehrte sie zu ihrem Computerbildschirm zurück. Graziella lächelte. Sie liebte ihre Mutter und konnte beim besten Willen nicht verstehen, daß manche Frauen dicke Bücher über traumatische Mutter-Tochter-Konflikte schreiben konnten. Es war Zeit, daß sie sich ans Braten der Kartoffelpuffer machte. Eine halbe Stunde später saß die ganze Familie am Tisch und ließ es sich schmecken. Dr. Lothar Vogelsang war Oberstudienrat für Deutsch und Geschichte und Konrektor eines Gymnasiums im Wedding. Seine Welt war das Rom der Caesaren von Claudius bis Otho. Über letzteren hatte er nicht nur ein gerade erschienenes Buch geschrieben, Marcus Salvius Otho – Der große Abgang eines kleinen Kaisers, sondern er trug sein grau gewordenes Haar ebenso kurz geschnitten und leicht gelockt wie dieser. Leonardo, Graziellas jüngerer Bruder, ging noch auf das nahe Georg-Herwegh-Gymnasium, stand aber schon kurz vor dem Abitur und wollte Geologe werden, durch die Welt ziehen und forschen. Finanzieren wollte er das alles, die Gelder seiner Eltern reichten da nicht aus, mit dem Schreiben von Romanen. Schließlich hatte er seinen Namen von Leonardo Sciascia, dem bedeutendsten lebenden Schriftsteller Siziliens, und gerade im Bereich des Kriminalromans zeigte sich ja, wieviel Wahres dran war an der Volksweisheit ›Schreiben kann jeder‹. Sein erstes Buch hieß Im Samen des Volkes und handelte von einem besetzten Haus in der Sredzkistraße, Prenzlauer Berg, um das mit Mord und Totschlag Bordellbetreiber, Skins und Autonome kämpften. Ein großer Verlag, der voll auf neue Namen setzte, hatte schon reges Interesse bekundet. Sein Vater sah ihn an. »Mal vom Puffer zum Puff…« Er hatte längst begriffen, daß die Pädagogik bei der heutigen Jugend nur noch eine Chance hat, wenn sie die Sesamstraße oder Eine
schrecklich nette Familie als Vorbild nahm. »Du willst heute nacht in der Sredzkistraße bleiben?« »Wenn man über ein besetztes Haus schreibt, muß man wenigstens mal ‘n paar Nächte da geschlafen haben.« »Klingt logisch.« Dr. Vogelsang nickte zustimmend, obwohl er immer ein wenig Angst hatte, der Innensenator könnte wieder einmal seine bewährten Räumkommandos aussenden, um die Ordnung der Besitzenden per Gummiknüppel wiederherzustellen. »Er ist ja nicht gleich Hemingway im Spanischen Bürgerkrieg.« Jeanette Vogelsang-Nisble rückte die Relationen ein wenig zurecht. »Mach man ruhig.«
7. SZENE Polizeipräsidium
Es war die wichtigste Sitzung, die es in der DirVB, der Direktion Spezialaufgaben der Verbrechensbekämpfung, seit langem gegeben hatte. Tagungsort war ein verschwiegenes Büro im alten Tempelhofer Flughafengebäude. Man hatte ihn gewählt, damit der Richter aus Palermo, einer der berühmtesten Kämpfer gegen die Mafia, nach seiner Ankunft in Berlin gar nicht erst durch die Stadt fahren mußte. Ein paar Schritte nach Verlassen der Gangway war er schon am Ziel. Seine deutschen Gesprächspartner waren von hohem Rang. Einer kam vom BKA, der zweite war Kriminaldirektor in Berlin und der dritte vertrat die Interpol-Belange. Dazu kam aus gegebenem Anlaß noch die Kriminaloberrätin Karin Aurak. Man unterhielt sich auf Englisch. Der Wortschatz aller Beteiligten war durchaus groß genug und der Sache angemessen, und da alle dieselbe gräßliche Aussprache hatten, waren sie froh, daß der amerikanische Kollege von der Drug Enforcement Administration DEA wegen irgendeines Pilotenstreiks nicht gekommen war. Voller Spannung hörten sie dem Italiener zu. »Die zentrale Figur für uns ist ein gewisser Ron Peccioli. Und ich habe Ihnen zunächst dieses Papier hier mitgebracht. Nur ein Exemplar.« Die vier Deutschen standen auf, beugten sich über den Tisch, steckten die Köpfe zusammen und lasen erst einmal.
Ron Peccioli, geb. 14. 2.1958 in Columbus, Ohio. DeutschAmerikaner mit italienischen Vorfahren. Betreibt offiziell ein Taxi-, Kurier- und Fuhrunternehmen im Nordberliner Vorort Hermsdorf (Bezirk Reinickendorf). Gilt als Mäzen des American Football, handelt aber auch ab und an mit Eishockeyspielern aus den USA und aus Kanada. Als Soldat der ›alliierten Schutzmacht‹ (Lauschposten auf dem Teufelsberg) ist er zu den ›Berlin Adler‹ gekommen (Spitzenteam des American Football in Deutschland), hat dort zeitweise gespielt und dann nach seiner Rückkehr in den USA Karriere gemacht. Nach deren Ende ist er im Mai dieses Jahres wieder nach Berlin gezogen, seiner alten Liebe, wie er sagt. So seine Geschichte in den Boulevardzeitungen. Peccioli ist Sponsor der ›Berlin Bulls‹, einer Mannschaft, in der fast ausschließlich Polizisten spielen (!), und ein sehr interessanter Mann, der gern zu den Festen der Berliner Prominenten eingeladen wird. Er wohnt unverheiratet im grünen Norden Berlins in einer Villa, in der sich auch sein Büro befindet. Uns liegen aber Erkenntnisse vor, die es als absolut gesichert erscheinen lassen, daß Peccioli zum Caccia-Clan gehört und nach Berlin geschickt worden ist, um höhere Polizei- und Verwaltungsbeamte durch Bestechung, Drohung und Verlockung für den Clan, der sich nach Osten ausdehnen will, zu gewinnen. Mit drei großen Coups wird er in Verbindung gebracht: 1. Ein Clanmitglied (Salvatore Caccia) sitzt in Tegel ein, und es kursieren Gerüchte, daß man ihn per Hubschrauber befreien will. 2. Weiterhin ist zu befürchten, daß man mit einer Autobombe das neue Hauptquartier der Berliner Polizei am Tempelhofer Damm in die Luft sprengen könnte. 3. Man spricht von der Etablierung einer Steuerungsinstanz aller Gangs in Berlin und davon, daß Peccioli sie übernehmen soll. Auch an der Ermordung des Senatsbaurats Lübz könnte er
beteiligt gewesen sein. Lübz hat vehement gegen die Beteiligung der ›Conca d’Oro‹-Gruppe an der Bebauung des Spreebogens Stellung genommen, und diese Firmen-Holding steht im Verdacht, Gelder für den Caccia-Clan zu waschen. »Sehr schön.« Der BKA-Vertreter setzte sich wieder. »Das deckt sich voll und ganz mit unseren Erkenntnissen.« »Glücklicherweise ist ja nun der Große Lauschangriff vom Bundestag endlich abgesegnet worden und wir haben bereits geeignete Maßnahmen ergreifen können.« Der Berliner Kriminaldirektor schlug seine Mappe auf. »Wir haben unseren besten Mann ihm gegenüber einquartieren können. In einer absolut glaubwürdigen Rolle.« »Und wer ist das?« »Einer unserer besten jungen Oberkommissare. Hier haben wir einmal alles für Sie aufgelistet.« Er verteilte den Text dreimal auf Deutsch und einmal auf Italienisch. Die englische Fassung legte er in seine Mappe zurück. Es entstand noch ein kurze Pause, fast eine Schweigeminute, weil Bölzke, der Bürobote, eine Kiste mit gekühlten Getränken ins Sitzungszimmer trug und nervend langsam verteilte. »Lassen Sie nur.« Die Aurak stand auf, um ihm die Tür zu öffnen. Endlich konnten sie weitermachen, sich konzentrieren auf jenen Mann, den man für den ersten Großen Lauschangriff im Stadtstaat Berlin mit aller Sorgfalt ausgewählt hatte. Dietmar Fendt, geb. 25. 11. 1965 in Berlin (West). Wohnung: Neukölln, Rollbergstraße 28. Während der Observation von Peccioli wohnt er aber in Hermsdorf in einer kleinen Stube mit Küche über der Modellbahnschmiede Baabe. Beruflicher Werdegang: Hat eine Lehre als Feinmechaniker begonnen, ist dann aber zur Polizei gegangen. Kann bei Bernhard Baabe tatsächlich mitarbeiten, da er ja die Lehre begonnen hat und
auch von Modellbahnen einiges versteht. Da einjähriger Schulbesuch in den USA (Gardner, Massachusetts) bei einer Familie, in der Englisch und Italienisch gesprochen wurde, beherrscht er beide Sprachen, insbes. was die Ugs. (Slang) betrifft, und ist so für seine Aufgabe hervorragend geeignet. Laufbahn bei der Polizei: Nach Abgang von der Schule mit mittlerer Reife 2,5-jährige Ausbildung als Schupo mit weit überdurchschnittlichen Leistungen abgeschlossen. Ausbildung um 1/2 Jahr verkürzt. Danach 4 Jahre praktische Erfahrung auf der Dienststelle. Wegen ausgezeichneter Leistungen Umsetzung zur Kripo (MEK und KRefR). Abitur an einer Abendschule. Anschließend Studium an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege. Abschlußnote 2. Weiter Einsatz bei KRefR (Kriminalreferat Rauschgiftbekämpfung). Eltern und Geschwister: Vater: Wilfried Fendt, 54, Fahrer bei der U-Bahn, im Personalrat aktiv. Mutter: Jutta Fendt, 49, beschäftigt als Kassiererin im ›Glückskauf‹-Supermarkt. Schwester: Sandra Fendt, 21, studiert an der FHVR im Fb 1. Partnerinnen/Ehe: Feste Beziehung mit Nicole Kolbatzki, 24, Verkäuferin in einer Bäckerei in der Hermannstraße. Freunde: Dirk Ruhbaum, 27, Schupo (Funkstreife), Direktion Mitte 4. Gunnar Nawrocki, 28, Malermeister. Freizeit: Modelleisenbahn, Radtouren, Jogging, Teilnahme am BerlinMarathon 1992. Passiv: Eishockey, American Football. Lektüre: Sachbücher aller Art. Politische Einstellung: seit 1985 Mitglied der SPD. Krankheiten: Allergie: Heu, Beifuß, Schimmelpilze. Lebenswandel: Ordentlich. Keinerlei Eintragungen über Fehlverhalten in der Personalakte. Absolut gewissenhaft und zuverlässig. Hohes Bewußtsein für Recht und Ordnung. Kein auffälliger Konsum. Keine Affinität zu Alkohol und Drogen. Absolut unbestechlich. Hervorragende menschliche Eigenschaften.
»Na?« fragte der Kriminaldirektor. »Da haben Sie wirklich einen Glücksgriff getan«, sagte der Mafia-Jäger aus Palermo.
8. SZENE S-Bahnlinie 3 zwischen Ostkreuz und Köpenick
Chiricahua streifte wieder durch Berlin. Und keiner in der SBahn wußte, daß er der Urenkel des großen Geronimo war und daß die Apachen das Kriegsbeil ausgegraben hatten. Mit dem Aufstöhnen der alten Elektromotoren füllten die Stimmen sein Hirn, sprach der Große Manitou zu ihm. Töte alle Bleichgesichter, die du triffst! Wo die große Stadt jetzt steht, sollen wieder Weiden sein! Wie beim Elektroschock schrie er auf. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte die alte Dame neben ihm. »Doch, doch…« Er ging zur Tür und wechselte, als der Zug in Wuhlheide hielt, in den nächsten Wagen über. Die Therapeuten hatten ihm gesagt, daß es keinen neuen Anfall geben würde. Nun war er aus heiterem Himmel gekommen. Wenn sie davon erfuhren, behielten sie ihn wieder in der KBoN, der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik. Er hatte keine Ahnung, wie er überhaupt in diese S-Bahn gekommen war. Eigentlich hatte er von Friedrichstraße aus zur Arbeit fahren wollen. Mit Schaudern wurde ihm klar, daß dies hier ja die klassische Strecke des Berliner S-Bahn-Mörders war. Mitte 1941 wird er festgenommen. Ein Reichsbahner, ein Streckengänger und einer, der für die Laternen an den Weichen sorgte. Paul Ogorzow, geboren am 29. 9.1912 in Mundhofen/Ostpreußen, hingerichtet am 25. 7. 1941 in Berlin-Plötzensee.
Acht Morde, davon fünf in fahrenden S-Bahn-Zügen, und sechs Mordversuche dazu. Zweiunddreißig versuchte Sittlichkeitsverbrechen. Chiricahua hatte das alles im Kopf.
9. SZENE Platz der Luftbrücke
Kevin Neumann hielt mit seinem Taxi vor dem Eingang zum Flughafen Tempelhof. Ron Peccioli sah auf die Uhr. »Gut gefahren.« »Ich bin als Quarterback nach Berlin gekommen und nicht als Taxifahrer!« Um seinem Protest Nachdruck zu verleihen, drückte Kevin Neumann anhaltend auf die Hupe. Peccioli steckte das Fünfmarkstück, das er herausgezogen hatte, wieder ein. »Trinkgeld gestrichen. Sei froh, daß du den Job bei mir bekommen hast.« »Ich kann nicht Architektur studieren, Taxe fahren und dann noch den ganzen Tag über trainieren.« »Hier kannst du prima Architektur studieren. Dieses Flughafengebäude hier…« Peccioli zeigte grinsend auf das sandfarbene Ungetüm aus Nazi-Tagen. Kevin Neumann ließ sich nicht beirren. »Auch wenn ich immer wieder von vorn anfangen muß – First and ten –, ich hab das Zeug, der deutsche Joe Montana zu werden.« »Ich denke, ein zweiter Scharoun, wenn nicht gar Schinkel oder Knobelsdorff…« »Beides. Erst das eine, dann das andere.« Peccioli legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich werd noch mal mit Billy Bozeman sprechen.« »Du bist doch schließlich der Hauptsponsor der ›Berlin Bulls‹.«
»Aber das sind fast alles Polizisten – und du bist keiner. Du studierst Architektur, du bist ‘n Intellektueller. Da hätt’ ich als Trainer auch Angst, daß die anderen ‘n Aufstand machen.« Kevin Neumann maulte weiter. »Ich hab immerhin zwei Jahre bei ›Notre Dame‹ gespielt, und 1988 sind wir sogar NCAA-Meister geworden.« »College Football…« Es klang ein wenig abwertend, wie Ron. Peccioli das sagte. »Mal sehen, wo der Downmaker steht… Aber mal was anderes: Du siehst furchtbar schlecht aus. Hast du die Nacht mal wieder durchgesumpft?« »Nein.« »Drogen?« »Quatsch!« »Aber die Ringe unter den Augen?« Kevin Neumann wandte sich ab. »Ich hab bloß schlecht geschlafen.« »Du hast doch auch den Lübz gekannt, unseren Senatsbaurat?« »Flüchtig nur.« »Schade um ihn. Na, okay.« Peccioli sah erst zum alten Polizeipräsidium hinüber, dann zum riesigen Neubaukomplex der Kripo auf der anderen Seite des Tempelhofer Dammes. »Ich muß. Bis dann.« Kevin Neumann nickte ihm zu. Und Peccioli schaffte es, nur mit seinem Lächeln an den beiden Polizeiposten vorbeizukommen.
10. SZENE Justizvollzugsanstalt Tegel
Salvatore Caccia lehnte sich gegen den Torpfosten und sah in den blaßblauen märkischen Himmel hinauf. Heute erinnerte er ihn ganz besonders an den von Agrigent. Er hatte alles deutlich vor Augen. Den anmutig aufgeklappten Fächer von Häusern. Die Muretti a secco, die niedrigen Mauern aus Feldsteinen geschichtet. Ab und an ein Carrubo, ein Johannisbrotbaum. »Paß auf!« Die gegnerische Mannschaft kam über die Flügel. Der Rechtsaußen, Frenzi, war schnell, hatte die hundert Meter mal in 10,9 geschafft. Vor seiner Drogenkarriere. Eine schöne Flanke. Der Mittelstürmer war ein Lebenslänglicher, hatte in einem Vorstadtgasthof die halbe Familie mit der Axt erschlagen. Jetzt schraubte er sich hoch, um mit dem Kopf vor Salvatore an den Ball zu kommen. Beide prallten zusammen und blieben liegen. Pfiff. »Kein Blut – oder das Spiel ist aus, und wieder ab in die Zellen!« schrie der JVA-Beamte, der den Schiedsrichter machte. »Huch, Süßer.« Einer der Knackis mimte den Schwulen, der ohnmächtig wurde, wenn er so etwas sah. Salvatore Caccia kam wieder auf die Beine und blieb cool. »War doch keine Absicht bei.« »Torwart im Fünf-Meter-Raum angegriffen – Freistoß für dich.« Der JVA-Beamte legte ihm den Ball zurecht.
Salvatore Caccia trat ihn weit in die gegnerische Hälfte. Seine Mannschaft bestand ausschließlich aus Nicht-Deutschen und war dem rein deutschen Team so überlegen, daß er sich nun wieder ungestört sonnen konnte. Vom Flughafen Tegel stieg eine Maschine der Alitalia so steil auf, daß es ihn an einen Raketenstart in Cap Canaveral erinnerte. Er hatte Appetit auf ein Dolce aus Hartweizengrieß, Fleisch und Schokolade. Wann würden sie endlich so weit sein, daß der Hubschrauber hier landete und ihn heimholte nach Sizilien? Sein Strafraum bot Platz genug für eine Landung. Und die Beamten auf den Türmen, das wußte er, waren ganz sicher lausige Schützen. Ehe sie ihre Gewehre entsichert hatten, war er schon lange auf und davon. Direkt an den Komplex des Tegeler Gefängnisses grenzten Jungfernheide und Flughafensee, und dahinter kam der Tegeler See, und es mußte schon mit dem Teufel zugehen, wenn seine Leute da keinen Einfall hatten, die Verfolger auszutricksen. Ein bißchen beeilen konnten sie sich schon. Der Halbzeitpfiff. Salvatore Caccia arrangierte es so, daß er neben Frenzi zu sitzen kam und unbelauscht ein paar Worte mit ihm wechseln konnte. »Du wirst Ende nächster Woche entlassen?« »Ja.« »Ein bißchen Startkapital kannst du doch sicher gebrauchen?« »Bist du immer so ätzend?« »Ich geb dir einen kleinen Brief mit.« »An wen?« »Du gehst hin, wenn die ›Berlin Bulls‹ wieder mal spielen, und fragst nach Peccioli. Das ist alles. Dann wartest du, gibst den Brief ab und kriegst das Geld.«
11. SZENE Stadtautobahn
Mannhardt hockte auf dem Beifahrersitz und überließ Petra Zechow das Vergnügen, die Staatskarosse zu lenken. Die Oberen hatten die 15. Mordkommission mit einem Wartburg ausgestattet, der schon von Vopo und MuK reichlich benutzt worden war. Sie kamen von Norden und wollten am Rathenauplatz von der Stadtautobahn runter, um über die Koenigsallee zur Freytagstraße zu kommen. Dort hatte Barnabas Lübz eine Villenetage gemietet, direkt am Hundekehlesee. Mannhardt gähnte und kam auf eine Walter-UlbrichtVariation: »Jeder Mann an jedem Ort jede Woche einmal Mord.« »Mann, bist du krank«, stellte Petra Zechow fest. Mannhardt wurde wieder einmal voll von seiner pathologischen Assoziationssucht ergriffen. »Mann… ›Man hat Exempel, daß man den Mord liebt und den Mörder straft.‹ Wallensteins Tod.« »Det is nich mein Bier.« »Sei froh.« Sie kamen an ICC und Funkturm vorbei. An eine der Stützwände war mit pinkroter Farbe gesprüht: BERLIN IST SCHEISSE! Mannhardt hakte sich fest an Schillers Sentenz. Nicht wenige Berliner hatten bei Lübz’ Tod neben dem Entsetzen auch klammheimliche Freude verspürt. Was hatten doch die diversen Bausenatoren und ihre beamteten Knechte die
ohnehin nicht eben schöne Stadt verschandelt. Und was drohte ihr noch alles, wenn die Bonner Kleingeister erst kamen. »Weißt du eigentlich, daß Lübz voll auf der Bonner Linie war: Weg mit den alten Berliner Gebäuden und kein Wiederaufbau des Stadtschlosses, sondern moderne Gebäude.« »Meinste, deswegen hatt’n eena umjebracht?« »Nein, aber…« Auf diese Weise kamen sie auch heute wieder zu ihrem Lieblingsthema, dem Umzug nach Berlin, und es wurde hochgradig schizophren. »Wenn Regierung und Parlament endlich hier sind, dann geht’s doch erst richtig los mit Hauptstadt und Metropole, so sind wir doch nicht Fisch, nicht Fleisch.« Andererseits hatte er nur Hohn und Spott für die Bonner übrig – sollten sie doch ruhig für immer und ewig dort verbleiben –, haßte er die Bedenkenträger und verlogenen Verzögerer und hing immer auf der Palme, wenn die MatthäusMeier ihre Berlin-Abneigung herauslispelte und dieser Ehmke mit schmatzender Lippe in dieselbe Kerbe schlug. »Berlin is Berlin, allet andere kannst doch vajessen«, sagte die Zechow. »Berlin ist ein elendes Drecknest mit vergnatzten Menschen.« Am liebsten wäre er ausgewandert nach sonstwohin. Er hatte die Schnauze voll von diesem Kaff, und er beneidete Barnabas Lübz, daß der schon alles überstanden hatte. Auch von daher hätte er es besser gefunden, seinem Mörder voller Dankbarkeit die Hand zu schütteln, als ihn zu jagen. Zugleich wußte er jedoch genau, daß er woanders gar nicht leben konnte. Nur in Berlin war alles noch so unfertig, war alles Neubeginn. Ach, Scheiße! Ich bin ein Berliner… Ich will kein Berliner mehr sein! HERR, dachte Mannhardt, der von seiner Mutter oft zum Beten angehalten worden war, schick mir einen Killer, der allem schnell ein Ende macht.
Gott, nein, er war ja man gerade Vater geworden. Petra Zechow begann, wieder von der Al-Bundy-Serie zu schwärmen. »Det Schärfste war ja neulich, wie der ohm im Flugzeug sitzt und seine Schuhe auszieht… Komm’n die Sauerstoffmasken runta.« »Ach, was.« Mannhardt versuchte, den Loriot-Ton zu treffen.
12. SZENE Straßen in Hermsdorf
Fendt nutzte seine vorgezogene Mittagspause, um ein wenig durch Hermsdorf zu schlendern. Noch immer fühlte er sich als Tier in fremdem Territorium. Auch mit seiner Doppelrolle kam er nicht klar. Einfach vom Gefühl her. Es ging ihm gegen den Strich, die Leute zu betrügen. Schön, der alte Baabe war eingeweiht worden in seine Mission und hatte eine Art Eid ablegen müssen, den Mund zu halten, doch die anderen alle hielten ihn für den netten und harmlosen Feinmechaniker, der freudig ergeben die schönen Modellbahnen baute. Keiner ahnte, daß er die Dienstwaffe immer bei sich trug. Andererseits genoß er es auch, ein James Bond im Kleinen zu sein. Ach wie gut, daß niemand weiß, daß ich Rumpelstilzchen heiß! Das war schon was. Überhaupt. Nach dem stinkenden und verpißten Neukölln kam ihm Hermsdorf wie ein Urlaubsort vor. Er hatte das Große Los beim Kripoball gewonnen: Vier Wochen Villa Baabe mit Vollpension. Nun, Ron Peccioli war ein Mann, der ihn, sollte es nötig werden, bedenkenlos wie eine Kellerassel zertrat. Von vierzehn Morden ging man bei ihm aus, drei Polizisten darunter und zwei von ihm selbst begangen, die anderen bei Profikillern in Auftrag gegeben. Es war sicherlich weniger gefährlich, eine Fünf-Zentner-Bombe zu entschärfen, als das mit Ron Peccioli zu probieren.
Bei Lichte besehen war Hermsdorf also mehr ein Himmelfahrtskommando als ein Urlaubsvergnügen. Am S-Bahnhof traf er Jeanette Vogelsang-Nisble. Sie kam gerade vom Markt in der Heinsestraße und sprach ihn von sich aus an. »Ah, Sie sind der neue Gehilfe des Meisterschmieds von gegenüber?« Fendt lief rot an und kam sich wie ein Schüler vor, der von seiner Klassenlehrerin bei etwas Verbotenem erwischt worden war. Die Stärke dieser Frau, ihre Intelligenz, ihr Charme, ihr teures Parfüm ließen ihn zum Däumling schrumpfen. Wie vor einiger Zeit einmal, als man ihn abkommandiert hatte, um beim Besuch der Königin Elisabeth die Personenschützer zu verstärken. »Ich, ja… Also… Bei Baabe, da… Unsere Modelle sind wirklich klasse.« Jeanette Vogelsang-Nisble nahm sich seiner an. »Haben Sie sich denn schon einmal umgesehen bei uns im grünen Norden Berlins?« »Nein, ich komme aus Neukölln.« »Wir sind ja eigentlich Bad Hermsdorf hier.« »Wieso Bad Hermsdorf?« »Vor hundert Jahren hat es hier die Kaiserin-AugusteVictoria-Quelle gegeben, und Hermsdorf sollte wirklich ein Badeort werden. Doch die Quelle ist dann bald versiegt, nur die Solquellstraße erinnert noch daran.« »Ah, ja.« »Die Dorfkirche müssen Sie sich bald einmal ansehen und die frühere Wassermühle am Tegeler Fließ, jetzt ein Chinarestaurant.« »Mach ich mal am Wochenende…« Langsam fing sich Fendt ein wenig. »Es ist schon eine ganz schöne Umstellung für mich. Aber damals beim…« Fast wäre er damit herausgeplatzt,
daß er in seiner Zeit beim MEK, beim Mobilen Einsatzkommando, schon öfter in Vororten wie diesem zu tun gehabt hatte. Auch packte ihn der Wunsch, ihr zu imponieren, ihr zu zeigen, daß er mehr war als nur ein simpler Feinmechaniker, daß er das Abitur hatte und ausgezeichnete Sprachkenntnisse, vor allem aber Ranger-Qualitäten und so etwas wie eine Licence to kill. Und was er da im Falle Peccioli machte, war doch für Gesellschaft und Staat unendlich wichtig. Dieser Versuchung zu widerstehen, war schwer. Da war es fast ein Glück für ihn, daß Ron Peccioli aus einem Supermarkt kam und Jeanette Vogelsang-Nisble begrüßte. »Ah, Signora, es ist eine Freude, Sie auch mal auf der Straße zu sehen.« »Solange man mich nicht auf die Straße schickt…« »Das würde in diesem Gewerbe Tausende von Mädchen arbeitslos machen.« Fendt registrierte, daß sich Peccioli im Bereich der Prostitution gut auszukennen schien. Kein Wunder, war doch das der geschäftliche Schwerpunkt des Caccia-Clans. Jeanette Vogelsang-Nisble schien nicht so recht zu wissen, ob sie Pecciolis Satz wirklich als Kompliment auffassen sollte. Darum wich sie Peccioli aus und erzählte ihm, daß Fendt bei Baabe in der Modellbahnschmiede arbeitete. Fendt und Peccioli gaben sich die Hand. Fendts erstes Urteil kam mit schnellen Gefühlsimpulsen: Hart, unerbittlich, intelligent, männlich-charmant, Killer und Cowboy. Gleichzeitig aber auch ein wenig schmierig-süßlich, eben so, wie man sich italienische Geschäftsleute vorzustellen hatte. Spielte er sehr gut, diese Rolle. »Sie haben die Pizzeria da hinterm Bahnhof?« fragte Fendt, der viele Schulungsstunden hinter sich hatte.
»Nein, das Fuhrgeschäft bei Frau Vogelsang im Haus, also das Büro. Wenn Sie mal schnell ‘ne Taxe brauchen oder ‘n Laster…« »Mein einziges Laster sind die Bahnmodelle«, erwiderte Fendt und fand, daß das eine gute Antwort war. Witzig in Richtung von Jeanette Vogelsang-Nisble und naiv für Ron Peccioli. »Die Bahn…« Auf dem Damm über ihnen verließ der Zug Richtung Oranienburg den S-Bahnhof Hermsdorf. »Wie sagt man: Freie Bahn dem Tüchtigen.« Der DeutschAmerikaner gab ihm abermals die Hand. Fendt drückte sie mit ziemlicher Kraft. »Bald fährt die SBahn ja auch wieder nach Tegel.« Show down, die Erste, dachte er. Das Duell hatte begonnen.
13. SZENE Wohnung Lübz am Hundekehlesee
Mannhardt hatte eine seltsame Schwäche für starke, maskuline Frauen, eine tiefe Sehnsucht nach einer dominanten Göttin, einer Dompteuse seines Lebens, nach einem Peitschenknall, der ihn von allem Zweifeln und Schwanken erlöste. Da war der Ring of fire. Spring! Sie befahl, er sprang – und alles glückte. Die Unterwerfung löste alle Probleme. Dann warf sie ihn aufs Bett und ließ ihn schreien. Viola Lübz war eine solche Frau. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kleid, das aber so eng war, daß es Mannhardt eher an die Auftrittsrobe einer französischen Chansonsängerin erinnerte, der Greco zum Beispiel, als an das Kleid einer trauernden Witwe. Sie standen auf der Terrasse einer stattlichen Villa und sahen auf den Hundekehlesee hinunter, den Grunewald zu Füßen. Die Idylle wurde zwar ein wenig durch das ewige Rauschen der Autos auf der nahen Avus gestört, andererseits aber verstärkte das regelmäßige Plopp-Plopp, das vom Tennisplatz herüberkam, Mannhardts High-life-Gefühle. Hier war RotWeiß zu Hause, Berlins erste Adresse, und hier hatte Steffi Graf oftmals die rote Asche geheiligt. Die Etage der Lübz entsprach in ihrem Ambiente diesem äußeren Rahmen voll und ganz. Das war Jugendstil von einer solchen Pracht, daß sogar ein Fellini hier gejuchzt und auf der Stelle losgefilmt hätte. Und in der Tat, nicht ohne Stolz zählte Viola Lübz die Regisseure und Kameramänner auf, die an diesem Ort preisgekrönt gedreht hatten.
Mannhardt schloß es aus, daß jemand, der hier lebte, jemals an Selbstmord gedacht haben könnte. Er fragte Viola Lübz danach. »Nun…« Sie rupfte eine welke Geranienblüte ab. »Es ist darüber gesprochen worden. Nein, gestern abend ganz sicher nicht.« »Warum gestern abend nicht?« »Bassi war ja Architekt von Hause aus…« Sie bemerkte Petra Zechows Erstaunen und fügte hinzu, daß das sein Ruf-, Spitzsowie auch Kosename gewesen sei. »Das Barnabas war vielen zu lang, zu komisch, zu prätentiös.« »Wie issa denn eijentlich dazu jekommen?« wollte Petra Zechow wissen. »Barnabas… Nun, sein Vater war ein, wie sagt man, praktizierender Katholik und Verehrer des historischen Barnabas. Der war ja Lehrer und Prophet im alten Antiochia, neben Paulus. Und irgendwie gab es da bei Bassi auch eine Verbindung zu den Barnabiten, das ist ein Orden, der sich um die Erziehung von Jugendlichen kümmert.« »Ah, ja…« »Was war denn nun gestern abend?« Mannhardt nahm den Faden wieder auf. Viola Lübz konzentrierte sich. »Er wollte sich an die neuen Entwürfe der Superbowl-Arena machen.« »Was is’n das?« fiel Petra Zechow ein. »Die wollen hier in Berlin ein Extra-Stadion für den American Football bauen.« Mannhardt sah sie an. »Wer ist ›die‹?« »Eine Investorengruppe aus den USA. Hier in Berlin steckt wohl dieser Peccioli dahinter.« Mannhardt wußte Bescheid. »Ah, der große Sponsor der Berlin Bulls.«
»Ja, ja. Aber es hat da einigen Ärger gegeben. Weiß ich nicht genau warum, aber Bassi ist neulich ziemlich sauer auf Peccioli gewesen.« Petra Zechow schrieb sich den Namen auf. Mannhardt stellte sich vor, wie es Viola Lübz mit ihrem Mann im Bett getrieben hatte. Wahrscheinlich als strenge Domina mit Peitsche. So wie er Lübz von der Berliner Abendschau her kannte, vom Bildschirm her, war der genau der Typ dafür. »Was war denn Ihr Mann so für ein Mensch?« »Sie kennen bestimmt nicht ›Jettchen Gebert‹…« »Doch, Sie werden lachen. Nicht alle Kripoleute sind deutsche Dumpfmeier.« Mannhardt legte los. »Georg Hermann, ›Jettchen Gebert‹ und dann ›Henriette Jacoby‹. Die rührende, na, mehr traurige Love story eines schönen jüdischen Mädchens.« »Phantastisch!« Viola Lübz klatschte in die Hände. »Und da kennen Sie ja sicher auch den Onkel Jason. Groß, schlank, hager, Mitte vierzig, ein wenig angegraut, die Züge, so steht es bei Georg Hermann, wie mit dem Grabstichel gezogen. Ungemein ironisch und geistreich. Eben so wie Barnabas Lübz.« »Ah, ja…« Mannhardt war beeindruckt von ihrer Schilderung. Petra Zechow berührte das alles nicht im mindesten. Sie fragte Viola Lübz ganz direkt, wie es denn mit ihrer Ehe gestanden habe. Viola Lübz zögerte, wie Mannhardt fand, ein paar Zehntelsekunden zu lange. »Gut. Fünfzehn Jahre sind wir verheiratet gewesen.« »Und wo haben Sie ihn kennengelernt?« »Ich war seine Sekretärin, als er ein eigenes Büro hatte.«
Mannhardt wand sich ein wenig. »Sie wissen, was jetzt kommen muß, und werden es entschuldigen…« Viola Lübz lächelte. »Die Frage nach meinem Alibi gestern abend?« »Ja.« »Tut mir leid, ich habe keines. Außer, daß ich hier zu Hause war und auf ihn gewartet habe.« »Allein?« »Nein, mit meiner Freundin Annika.« »Ah, die vom ›Kotzbusser Off‹?« Mannhardt wußte Bescheid. Vor ihrer Niederkunft hatte ihn seine Lebensgefährtin durch alle Szene-Theater dieser Stadt geschleppt. »Annika Malitzki?« »Ja. Die war hier, als es passiert ist auf dem Bahnhof Savignyplatz.«
14. SZENE Hermsdorf, Modellbahnschmiede Baabe
Dietmar Fendt versah auch heute wieder seinen Dienst mit einer quasi kosmischen Selbstverständlichkeit, ebenso also, wie die Erde um die Sonne kreiste und der Mond um die Erde, ohne daß sie die Sinnfrage stellten oder daran gedacht hätten, diese Ordnung anzuzweifeln. Ronald Peccioli war ein gefährlicher Krimineller und gefährdete den Staat, also war Ronald Peccioli zu eliminieren. Wie das Gesetz es erlaubte, wie das Gesetz es befahl. Im Zimmer seines Vorgesetzten hingen zwei Zitate aus Kleists Prinz Friedrich von Homburg, die er während langweiliger Sitzungen immer wieder gelesen und voll und ganz verinnerlicht hatte: … das Gesetz will ich. Die Mutter meiner Krone, aufrecht halten, Die ein Geschlecht von Siegen mir erzeugt! (Der Kurfürst) Gleichviel! – Der Satzung soll Gehorsam sein. (Graf Hohenzollern) Seine Oberen hatten den vollen Einblick in die Dinge, und wenn sie ihm die Weisung gaben, den Deutsch-Amerikaner zu belauschen, dann war das absolut in Ordnung. Aber nicht nur vom Kopfe her, auch vom Gefühl hielt er diesen Lauschangriff für gut und richtig.
Ärzte waren dazu da, mit geeigneten Medikamenten Viren und Bakterien abzutöten, die den Körper in Gefahr brachten, und ebenso war es die Aufgabe der Polizei, Menschen unschädlich zu machen, die die Gesellschaft bedrohten. So begriff er es als höchste moralische Pflicht, Peccioli aus dem Verkehr zu ziehen, denn der trieb als Drogenhändler Tausende von jungen Menschen in Tod und Elend und trug die Verantwortung dafür, daß unzählige Mädchen aus dem Ostblock und den Drittweltländern zur Prostitution gezwungen und die Mafia-Killer nach Berlin gerufen wurden, um unliebsame Leute hinzurichten. Kurzum, dieser Ron Peccioli war ein Schwerverbrecher, ein Teufel und ein Schwein – und es war allemal eine gute Sache, ihn auszuschalten, wie auch immer. Nicht zerklatschen wie eine Mücke wollte er ihn, auch nicht sehen, wie er auf dem elektrischen Stuhl sein Leben ließ, dazu war Fendt viel zu feinfühlig und überzeugter SPDler, er wollte ihn nur hinter Gitter bringen. Seine technischen Mittel waren etwas amateurhaft, denn um High tech vom Allerfeinsten anzuschaffen, waren die landeseigenen Kassen längst nicht voll genug. Aber es reichte auch so. Sein hochempfindliches Richtmikrofon konnte man in Elektronikfachgeschäften für genau 45,74 DM als Bausatz kaufen, einschließlich eines Mini-Kopfhörers. Erheblich teurer und anspruchsvoller war da schon sein Lasergerät. Wenn er seinen Laser auf Pecciolis Fensterscheiben richtete, dann maß der, wurde in den Räumen gesprochen, die feinen Schwingungen, die beim Sprechen entstanden, und setzte diese Schwingungen wieder um in Töne und Worte. Nichts war einfacher als das, obwohl die Sprache immer ein wenig verzerrt war, wenn sie ankam bei ihm. Außerdem verfügte er über ein Gerät, das die Eigenstrahlung von Pecciolis Computer auffangen und entschlüsseln konnte. Und selbstverständlich
hatten Spezialisten Pecciolis Telefonkabel in der Nähe der Villa Vogelsang kunstvoll aufgeschnitten und seine Ader angezapft. Mit großem elektrischen Widerstand, hochohmig also, damit er keinen Verdacht schöpfen konnte. So liefen in der Modellbahnschmiede Baabe stets mehrere Aufzeichnungsgeräte oder waren auf Standby geschaltet. Nur das wenigste konnte Fendt live selber mitverfolgen, denn wenn er pausenlos mit dem übergestülpten Kopfhörer herumgelaufen wäre, hätte das seine Rolle als Modellbahnbauer in Frage gestellt. So mußten die bespielten Bänder anderswo von Kolleginnen und Kollegen abgehört werden, und sie hatten einiges an Gehirnschmalz aufwenden müssen, um den unauffälligen Abtransport der bespielten Bänder sicherzustellen. Teils nahmen sie Kollegen mit, die als Kunden in den Laden kamen, teils wurden sie in Päckchen als S-BahnBausatz an Deckadressen verschickt. Fendt war an diesem Vormittag dabei, ein antriebsloses Vitrinenmodell der S-Bahn-Bauart 1925 Oranienburg (ET/ES 168) versandfertig zu machen. Es war eine fürchterliche Fuzzelarbeit, die unzähligen kleinen Lüfter auf das graue Kunststoffdach zu kleben. Sein Rücken tat ihm weh, und er stand auf, um einige gymnastische Übungen zu machen. Zur weiteren Entspannung trat er ans Fenster und spähte mit seinem Fernglas durch den kleinen Spalt, den Rahmen und Sonnenrouleau ihm ließen, zur Villa Vogelsang hinüber. In Pecciolis Büro war wenig los. Der Deutsch-Amerikaner saß auf seinem Drehsessel, hatte die Beine auf den Schreibtisch gelegt und schlief. Daß er so wenig zu tun hatte, war für Fendt nicht weiter verwunderlich, war doch sein Taxi-, Kurier- und Fuhrunternehmen an sich nichts weiter als Geldwäsche und Tarnung.
Im Zimmer nebenan war Jennifer wieder einmal am Telefonieren. Das schien bei seiner Sekretärin zwangsneurotisch zu sein. Sie war ein kleiner kräftiger Pummel, wie man ihn des öfteren auf den Tennisplätzen sah, sogar unter den Top ten der Welt. Fendt setzte sich seinen Kopfhörer auf, legte zwei, drei Schalter um und klinkte sich ein. ›In welchem Hotel?‹ hörte er Jennifer fragen. ›Wie immer.‹ Das war eine sonore Männerstimme. ›Was soll ich anziehen?‹ ›Das kurze schwarze Kleid natürlich.‹ ›Und darunter?‹ ›Schwarze Strümpfe und den Slip… Damit ich den zur Seite schieben kann.‹ ›Schäm dich!‹ Fendt registrierte mit schneller Erektion, daß Jennifer ganz offenbar ihr Gehalt ein wenig aufbesserte, indem sie sich zu potenten Managern ins Bett legte, wenn die ihren Berlinaufenthalt zum Entsaften nutzen wollten. Jennifer mußte ihre Nebentätigkeit nun leider unterbrechen, denn einer von Pecciolis Taxifahrern kam herein und sorgte für Zoff. ›Wat solln dette!? Mir wat abziehn von meim Jeld wegen die vielen Leerkilometer.‹ Jennifer blieb cool. ›Hundertzwanzig gestern, das is doch Wahnsinn!‹ ›Hör uff, ma anzumachen damit! Weeßte denn nich, det ick in Frankfurt war, anne Oder det. Sondafahrt für’n Chef.‹ ›Verzeihung, is schon okay.‹ ›Na also!‹ Fendt horchte auf. Eine eilige Fahrt zur polnischen Grenze. Sicherlich war der Mann als Kurier unterwegs gewesen. Es lief etwas zwischen den italienischen Clans und der Mafia aus dem Osten. Er vergewisserte sich, daß das Tonband wirklich lief.
Jetzt griff Peccioli zum Telefon. Fendts Laser war einsatzbereit. Er aktivierte das Gerät. ›Hallo, Billy!‹ Fendt wußte bereits, daß das der Trainer der Berlin Balls war. Peccioli unterhielt sich mit ihm über den Einsatz und die Leistungen ganz bestimmter Spieler, und dies in einem Slang, der für einen Deutschen schwer zu verstehen war. Doch Fendt konnte beiden ganz gut folgen. ›Warum bringst du Kevin Neuman so wenig?‹ ›Komm, ich hatte ihn gestern gegen die Munich Cowboys dabei, okay, und wir hatten drei Interceptions.‹ Es folgte eine Kette von Flüchen, von denen Fendt nichts weiter als das ewige Fuck und Fucking verstand. ›Er hat Trouble am Hals.‹ ›Ich hab Trouble.‹ ›Du wirst noch mehr haben, wenn du ihn nicht spielen läßt.‹ ›Okay, ich verstehe, reg dich wieder ab!‹ Für Fendt war das alles keine Überraschung, denn natürlich benutzte Peccioli als Berliner Pate des Caccia-Clans die Berlin Bulls, um junge Polizisten an sich zu binden und endlich das zu schaffen, was langfristig unumgänglich war: die Unterwanderung der öffentlichen Verwaltung. Und Billy Bozeman war nur eine seiner Marionetten. So spannend das war, was beide da sprachen, Fendt hörte nicht mehr zu, als jetzt Graziella Vogelsang auf dem Balkon erschien. Sie trug einen schwarzen Bikini, dessen Höschen so knapp geschnitten war, daß Teile ihrer Schamhaarwolle seitwärts herausquollen. Fendt drehte an seinem Fernglas herum, bis er es ganz deutlich hatte. Graziella legte ihr weißes Badetuch auf eine immer bereitstehende Liege, setzte sich und begann, ihre goldfarbene Haut sichtbar lustvoll einzucremen.
Fendts Hände zitterten. Seit seiner Pubertät, seit er begonnen hatte, anhand von Playboy- und Hustler-Heften exzessiv zu onanieren, waren solche Bilder in seiner Psyche unauslöschbar eingebrannt als der positive Anker seines Lebens. Mochte die Arbeit bei Siemens noch so monoton gewesen sein, die Schule furchtbar ätzend und die Polizeiausbildung reinste Schinderei – der Gedanke an solche Bilder hatte ihn aufrecht gehalten. Graziellas Mutter schien in der Tür und redete mit ihr. Fendt bog das Richtmikrofon, mit dem er eben Jennifer belauscht hatte, ein wenig nach oben. ›Warum gehst du nicht mal mit Jennifer in die Disco mit?‹ Graziella schraubte die Flasche mit der Sonnenmilch wieder zu und blieb ungemein gleichmütig. ›Bitte, Mom, nicht wieder deine Erica Jong. Ich brauche keine Schmetterlinge im Bauch. Wenn ich mir Bilder von Portocarrero ansehe, hab ich mehr davon. Im Augenblick jedenfalls.‹ ›Du, so meine ich das nun wirklich nicht.‹ Jeanette Vogelsang-Nisble machte eine abwehrende Geste. ›Ich gehöre einem Manne, also bin ich… Als hätt’ ich das jemals behauptet. Identitätsfindung nur über die Kerle. Ich meine doch nur, daß du dich nicht überarbeitest. Und außerdem, mal beiseite gesprochen: Männer sind nicht nur die letzten Ärsche, frau kann Mann auch ganz schön instrumentalisieren. Was die eigenen Bedürfnisse angeht.‹ Graziella lachte. ›Keine Sorge, du, ich hab da schon ganz in der Nähe einen entdeckt, der…‹ Fendt zuckte zusammen. War er damit gemeint? Na, sicher. Eine ungeheure Erregung erfüllte ihn, die Euphorie olympischer Sieger. Reach out for the medal, reach out for the gold. Jeanette Vogelsang-Nisble ging wieder ins Wohnzimmer zurück, Graziella blieb draußen.
O Gott, jetzt lag sie auf dem Rücken, hatte die Beine leicht gespreizt und nahm den Mittelfinger ihrer rechten Hand, um die Kerbe, die sich im Stoff deutlich abzeichnete, auf und ab zu fahren. Fendt löste eine Hand vom Glas, um im selben Rhythmus wie sie über seine Eichel zu streichen. Er war im Dienst, er hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen dabei und auch keine zweite Unterhose eingepackt, doch er konnte nicht anders, als bis zur Erlösung weiterzumachen.
15. SZENE Straßenbahnlinie 68, Grünau – Alt-Schmöckwitz
Mannhardt genoß es, aus dem Fenster zu sehen, auf den Langen See hinaus, auf die Bammelecke und zu den Müggelbergen hinüber. Die Dienstfahrt nach Schmöckwitz war zum Ausflug geworden. Sein volkseigener Wartburg hatte kurz vor Grünau gekündigt und erwartete den Abschleppdienst. Bei der Armut der öffentlichen Verwaltung wäre eine Taxifahrt erst nach einer Sondersitzung des Abgeordnetenhauses möglich gewesen, die aber wollte er nicht extra auslösen. So saß er denn in der museumsreifen Tram und freute sich des Lebens. Obwohl seine Bandscheibe dieses permanente Rumpeln, Rütteln und Schütteln gar nicht liebte. Bald ein Jahrhundert lang war die Linie 86, die frühere Uferbahn, fast so etwas wie ein Mythos gewesen, zumindest ein Stück Berliner Geschichte. Bis die BVG und der unsägliche Senator Haase auf die Idee gekommen waren, aus ihr die 68 zu machen. Es gab viele kleine Gründe, warum Mannhardt die Mehrzahl seiner Politiker entweder verachtete oder aber sogar haßte. Jetzt fehlte ihm seine Kollegin, um so richtig abzuätzen. Doch Petra Zechow war heute zum AIDS-Test gegangen. Vor Jahren war sie beim Spiel gegen eine Ostblock-Mannschaft gegen den Pfosten geprallt, hatte sich das Becken gebrochen sowie irgendwie die Milz verletzt und eine Menge Blutkonserven bekommen. Es ging um die Befragung des Triebwagenführers Olaf Kollosche. Sein Zug hatte Lübz überfahren, und es bestand
immerhin die Möglichkeit, daß er den oder die Täter gesehen haben konnte. Aber der Schock und die vielen Beruhigungsmittel; erst jetzt hatten die Ärzte grünes Licht gegeben. Richtershorn. Karolinenhof. Der schönste Teil der Strecke war vorüber, und Mannhardt langweilte sich ein wenig. Sein Blick fiel auf die Reklame über den Fenstern. Ein Funkgerät und der Polizeistern mit dem Berliner Bären in der Mitte. Ein Beruf, bei dem es sofort funkt Sie wollen keinen anonymen Job, sondern die individuelle Herausforderung. Mit persönlichem Freiraum. Vielseitige Aufgaben, die persönliches Engagement verlangen. Mit Menschen und Technik arbeiten. Auf Draht sein und bleiben. In einem starken Team, an wechselnden Einsatzorten. Dort sein, wo Sie gebraucht werden. Jetzt und in Zukunft. In einer spannenden Stadt und mitten im Leben. Das ist Ihre Chance. Polizei Berlin. Mannhardt fühlte sich verarscht, und Mannhardt war zugleich von einem ganz bestimmten Stolz erfüllt. Columbo, Marlowe, Poiret, James Bond und Schimanski, das war schon was fürs Image. Andererseits aber war das meiste, was er tat, beschissenste Routine und die Polizei insgesamt ein dumpfer faschistoider Männerbund, dessen Hierarchie letztendlich nichts weiter wollte, als einen kleinzukriegen und zu halten. Und schließlich war es wirklich Sisyphos hoch drei, das Verbrechen zu bekämpfen. Scheiße, laß das Denken sein. Wer reflektiert, der stets verliert. Mannhardt wandte sich wieder seiner Lektüre zu. John Gregory Burke, Das Buch des Unrats. Zuerst erschienen 1913,
jetzt nachgedruckt. Ein Geschenk von Heike. Mit der schönen Widmung Meinem kleinen Schmutzfinken. Es gab da sehr schöne Passagen. Auf Seite 160 zum Beispiel: In Korea pissen hohe Beamte öffentlich in Bronzeschalen, die ihnen von Dienern in einer Art Netz nachgetragen und auf Verlangen gereicht werden. Er stellte sich vor, wie Barnabas Lübz kurz vor seinem Tode noch in eine solche Schale gepinkelt hatte. Sein Strahl ist mir aber schon ein wenig dünn und tröpfelnd vorgekommen, als hätte er von seinem nahenden Ende etwas geahnt. So der Triebwagenführer Kollosche laut BILD. Das Schärfste aber fand er auf der Seite 22. Bei den ApacheIndianern hocken sich die Männer beim Pissen stets nieder, während die Frauen dagegen aufrecht stehen. Mannhardt, der seinen Karl May nach Fontane über alles liebte, mußte schmunzeln. Winnetou hockte sich zum Pinkeln nieder und sah zu Old Shatterhand hoch, der in höchster Not an einen Baum getreten war. ›Mein weißer Bruder soll nicht pissen wie ein Weib!‹ Vielleicht lag hierin der Grund, warum die Mayschen Helden nie an ihren Stoffwechsel gedacht hatten. Die 68 erreichte Schmöckwitz, das alte Fischerdorf am Beginn der Wendel, wie Fontane die Landschaft zwischen Berlin und dem Spreewald einst genannt hatte. Der Meister hatte Schmöckwitz mit seinem Fischer vom Kahniswall ein Denkmal gesetzt, jenem Mann, der seine Frau zur Zeit der napoleonischen Besatzung auf eine einsame Insel im Seddinsee verbracht hatte. Mit der Begründung, die Ausländer seien nur auf die Schändung aus, in Wahrheit aber aus Eifersucht und von jener ganz konkreten Angst bewegt, die feschen Latin lover würden seiner Frau mal zeigen, was Liebe wirklich sein konnte. Auch zwei andere Tatsachen hatten Schmöckwitz buchkundig werden lassen. Auf dem Schmöckwitzer Werder
nämlich hatten sie den Michael Kohlhaas beinahe festnehmen können, und aus grauen Vorzeiten waren hier Gräber freigelegt worden, wo man die Knochen der Toten wild verstreut hatte, Beine neben dem Kopf, die Nasenwurzel am Steiß, um zu verhindern, daß sie bei einer möglichen Auferstehung irgendeine Chance hatten, die Nachfahren abermals zu nerven. Ob sie bei Barnabas Lübz dasselbe taten? Er war sich da nicht sicher. Mannhardt sah wieder aus dem Fenster. Vor dem Grundstück Adlergestell 741 stand eine sehbehinderte Frau und kam nicht über die Straße. Drüben, in den Wald gebaut, wartete eine Kaufhalle, die noch sehr DDRlich wirkte. Der südöstlichste Zipfel Berlins war von den Investoren noch nicht recht entdeckt worden. Alles schwankte arg zwischen Charme und Verfall. Alt-Schmöckwitz, Endstation. Mannhardt stieg aus zwischen wilhelminischer Schule, uralter Dorfkirche und dem gläsernmodernen Schmöckwitzer Krug. Vor einer schönen Remise standen Museumsstraßenbahnen aus dem gehabten Cöpenick. Der Denkmalpflege-Verein Nahverkehr Berlin war hier am Werke, wie Mannhardt las. Er kletterte in den offenen Führerstand der alten Bahn und spielte Kind.
16. SZENE Häuschen am Zeuthener See
Mannhardt trank mit einigem Zögern von Olaf Kollosches selbstgemachtem Erdbeerwein. Wie das Zeug schmeckte, stand zu befürchten, daß ihn der S-Bahn-Mann vorsätzlich vergiften wollte. Wasser, seinen Leichnam zu entsorgen, gab es genügend vor der Tür. Im Schoße der Dahme die letzte Ruhe zu finden, war sicherlich nicht übel. Mit den Nixen fixen. Die ersten Frühfolgen des Alkohols. Wie in der Feuerzangenbowle. Mannhardt sah auf die Grimnitz hinaus, jene sackartige Erweiterung der Dahme gleich hinter der Schmöckwitzer Brücke, wo sie überging in den Zeuthener See. Hier bewohnte Kollosche mit einer leicht verhärmten Frau ein kleines Häuschen, das mehr eine Fischerkate war. Von anderem Kaliber war da schon das halbe Schloß, das ein Stückchen weiter südwärts lag, nach Königs Wusterhausen zu, die alte Villa Herzog, ehemals das Gästehaus der DDR. Mannhardt hatte Mühe, sich auf Kollosche einzustellen. »S-Bahn-Fahrer, das ist schon immer mein Traumberuf gewesen.« Was stimmte, denn er neidete den Leuten im Triebwagen vorn die Tatsache, daß sie stets ihr Ziel erreichten, ohne daß sie andauernd nach dem richtigen Weg zu fragen hatten und immer im Zweifel waren, ob das logisch und rechtlich in Ordnung war, was sie da taten. Nur gemütlich vorne sitzen, auf den Abfahrauftrag warten, und dann los. Jede Fahrt ein Ausflug ins Grüne. Aus grauer Städte Mauern zieh’n wir hinaus aufs Feld.
Kollosche verzog das Gesicht. »Schichtdienst, jeden Tach detselbe, der Rücken. Ick weeß nich.« Mannhardt schwärmte weiter. »Ich bin ein richtiger S-BahnFetischist. Die Nietengesichter der alten Stadtbahnwagen. Oder die neue BVG-Baureihe, die 480er. Wie die Schmetterlinge kommen die doch in die Bahnhöfe rein.« »Ick weeß nich.« Kollosche, der erst auf die Fünfzig zuging, wiegte den Kopf wie ein alter Seemann hin und her. »Ick bin zwar Reichsbahna mit Leib und Seele, aba ‘n Spielzeuch is det nich. So ‘n S-Bahn-Zuch, der hat ‘ne Leistung von jut und jerne zweitausend PS und is jenauso stark wie ‘ne Jüterzuglok. Und pro Schicht mußte so an zweihundertdreißig Kilometer fahrn.« »Ganz schön.« Mehr fiel Mannhardt dazu nicht ein. »In eena Schicht mußte fast hundertmal anfahrn und wieda bremsen. Det Anfahren is keen Problem: Fahrschalterknopf drücken, und schon rollste los, aber det Bremsen. Achtzich kaem-ha haste druff – und die sollste wieda zum Stehn bringen. Dreihundertsechzich Tonnen! Und det uff ‘n Meta jenau. Wat meinste, wat det für ‘ne Kunst is. Fingaspitzenjefühl! Und et is imma anders. Ob de ‘n leeren Zuch hast oda tausendsiebenhundert Leute hinten drin. Ob de Schienen trocken oda schlüpfrich sind. Ob de Sonne vom Himmel knallt oda inne Nacht. Verantwortung haste noch und nöcher, aber ‘n Pilot oben«, er zeigte hinüber zur Anflugschneise des Flughafens Schönefeld, »‘n Pilot, der verdient zehnmal soviel wie icke.« Mannhardt war fasziniert von Kollosches Bildern, fand es aber an der Zeit, langsam zur Sache zu kommen. »Und dann die dauernde Angst, daß sich einer vorn Zug werfen könnte.« »Nee, nich so sehr. In Berlin isset ja mehr Mode, det se sich vor die U-Bahn werfen.«
Mannhardt nickte. »Vielleicht weil ‘n Tunnel depressiver macht, schon mehr wie ‘n Grab is. Wie war’n das aber nun mit Lübz?« »Ja, wie sollt’ jewesen sein…« Kollosche steckte sich eine Karo an. »Ick komm von Strausberg DR, ab 19.36. Mahlsdorf ab 20.00, Lichtenberg 20.12, Hauptbahnhof 20.22, Friedrichstraße 20.31. Allet in Ordnung, ‘n schöna Abend, hat richtig Spaß jemacht. Zoo isset denn leer jeworden. Alle die ausjestiegen, die noch in’t Kino wollten oda wat uff ‘m Kudamm alehm. Jetze nach da Wende. Damit wa ooch ‘n bißchen wat von ham. 20.41 dann weita nach Savignyplatz.« »Wann ist Ihnen Lübz denn zum ersten Mal aufgefallen, sozusagen ins Blickfeld geraten?« Kollosche schloß die Augen. »Na, eijentlich erst, alsa anjeflogen kam.« »Also am Ende des Bahnsteigs, zur Schlüterstraße hin?« »Ja. Notbremsung. Aba ick hatte ja sowieso bloß noch zehn Meta…« Kollosche griff nach dem Braunen, den er sich eingegossen hatte. Seine Hand zitterte. Als er ausgetrunken hatte, knöpfte er sich sein stahlblaues Hemd noch weiter auf. Mannhardt kam zum entscheidenden Punkt. »Ist Lübz denn nun selber gesprungen oder ist er gestoßen worden?« Kollosche zögerte keine Sekunde. »Jestoßen worn!« »Gut.« Mannhardt zog ein weißes DIN-A4-Blatt aus der Tasche und faltete es sorgsam auseinander. Es war eine Phantomzeichnung, die nach den Angaben des Stationsvorstehers angefertigt worden war. »Haben Sie diesen Mann schon mal irgendwo gesehen?« Und wieder war sich Olaf Kollosche gänzlich sicher. »Klar, det is doch der, der wegjerannt is, als et passiert war.« Mannhardt nickte. »Es soll einer von denen gewesen sein, die immer am Eingang stehen und um Kleingeld betteln.«
»Ja, so hatta ooch ausjesehn. Der wird den Lübz anjebettelt ham, und als der ihm nischt jehm wollte, hatta’n vor’n Zuch jestoßen.« »Das wäre so in etwa auch meine These.« Mannhardt stand auf. »Werd’ ick mal imma druff achten, ob ick den irjendwo treffe.« Olaf Kollosche brachte Mannhardt zur Tür. »Wenn man bloß wüßte, wie der heißt.« »Morgen wird sein Bild in allen Zeitungen sein.«
17. SZENE Unter den Linden
Chiricahua, der größte Apachenhäuptling seit Geronimo, streifte wieder durch Berlin. Sein Gesicht war bemalt, alle sollten wissen, daß er auf dem Kriegspfad war. Als er vor dem Zeughaus stand, begann das Gewitter im Kopf, und Manitous Stimme kam aus den Wolken. Töte alle Bleichgesichter, hol dir ihre Skalps! Rotte sie aus, damit am Ufer der Spree wieder die Weiden wachsen! Es wurde so schlimm, daß er die Stirn an einen kühlen Laternenpfahl preßte. »Ist Ihnen nicht gut?« »Paß auf, der hat alles voller Blut!« »Quatsch, der hat doch nur Ketchup im Gesicht.« Langsam begriff er, daß das die Stimmen von Passanten waren. Der Anfall ging vorüber. Er lief in Richtung Alexanderplatz und spuckte dabei auf ein Tempotaschentuch, um sich den Ketchup-Brei aus dem Gesicht zu wischen. Gott, nun war es doch wieder passiert. Weil er die Tabletten vergessen hatte. Jetzt jagten sie ihn wieder, um ihn einzusperren. Kam er noch mal in die KBoN, war es aus mit jeder Beförderung. Er schlüpfte schnell in eine Buchhandlung und tat so, als suchte er nichts Bestimmtes. War es Zufall, war es Fügung, er fuhr zusammen, als er Friedheim Werremeiers Haarmann auf einem der Wühltische sah. Nachruf auf einen Werwolf, Die Geschichte des
Massenmörders Friedrich Haarmann, seiner Opfer und seiner Jäger. Siebenundzwanzig männliche Namen stehen in Hannover auf dem Grabstein seiner Opfer. Dem Gedächtnis unserer lieben von September 1918 bis Juli 1924 verstorbenen Söhne. So die Inschrift. Hingerichtet wird der Massenmörder am 15. April 1925. ›Um Haarmann auszustechen und ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen, wirst du dich schon ganz schön anstrengen müssen.‹ ›Ich schaff’s schon.‹
18. SZENE Hermsdorf, Modellbahnschmiede Baabe
Fendt war seit einigen Stunden dabei, einem Viertelzug ET/EB 166 Bauart 1935 (›Olympiazug‹) den letzten Schliff zu geben, das heißt, zweiunddreißig winzige Griffe aus Messingguß mit Sekundenkleber an den Türen zu befestigen. Trotz seines zweifellos vorhandenen Geschicks mißlang ihm dies so oft, daß er seine aktive Rolle bei Baabe immer mehr zu verfluchen begann. Der Neid seiner Kollegen war völlig fehl am Platze. Die Sache hier wurde langsam zum Streß. Vielleicht lag es auch daran, daß seine Konzentration immer ein wenig litt, weil er zugleich mit übergestülpten Kopfhörern verfolgte, was gegenüber bei Ron Peccioli geschah. Der telefonierte gerade wieder einmal mit Billy Bozeman, dem Trainer der Berlin Butts. Thema waren aber diesmal nicht die harten Jungs auf dem Spielfeld, sondern die zarten Damen in den Betten. ›Gestern abend war ich mit der halben Mannschaft in diesem Kotzbusser Off-Theater‹, sagte der Trainer. Peccioli schnaubte irgendwie abwertend. ›Könnt ich mir was Besseres vorstellen.‹ ›Das ist doch das Stück, wo sie auf der Bühne andauernd rumvögeln.‹ ›Hört sich schon besser an.‹ ›Die mit der Hauptrolle, mit der möcht ich’s schon gerne mal machen. Von hinten. Annika heißt die.‹ ›Ich müßte auch mal wieder was zum Entsaften haben.‹ Billy Bozeman lachte. ›Na, du bei deinem Angebot…‹
›Komm, laß das!‹ Doch Fendt hatte schon verstanden, worauf das hinauslief, auf Mädchenhandel und Prostitution. Leider war Peccioli zu vorsichtig, um präziser zu werden. ›Ich mein doch deine Sekretärin, Jennifer.‹ ›Die doch nicht. Ich glaube, die hat noch nie einen drin gehabt.‹ Ha-ha-ha, machte Fendt. Die Verlockung war groß, schnell zum Telefonhörer zu greifen und Peccioli mitzuteilen, worin Jennys nicht angemeldete Nebentätigkeit bestand. Da schreckte er zusammen. Der Name Lübz war soeben gefallen. ›… nein, da kann ich nicht, da muß ich zu Lübz’ Beerdigung‹, wiederholte Peccioli gerade. ›Ach so, ja. Was anderes mal: Was ist eigentlich mit Bud Appalousa, soll ich den verpflichten?‹ ›Nein, dem hat jemand in den Helm gegriffen, dessen Wirbel sind…‹ Hier mußte Fendt sich ausklinken, weil der alte Baabe kam. »Sie müssen mich mal ‘ne Stunde im Laden vertreten«, sagte der Modellbahnschmied. »Ich muß zur Endlweber rüber.« Das war die bewährte Zahnärztin gleich nebenan in der Berliner Straße. Fendt glaubte das aber nicht so recht, denn Baabe hatte sich regelrecht verkleidet, trug statt Holzfällerhemd und Latzhose plötzlich seinen zumindest zweitbesten Anzug. Auch roch er nach einem brünstigen Herrenparfüm. In seinem Jackett schien eine gut gefüllte Brieftasche zu stecken. Sie stiegen nach unten in den eigentlichen Laden. Baabe gab ihm noch letzte Anweisungen, dann trat er auf die Straße hinaus und stieg in seinen Mercedes. Nur um zum Zahnarzt zu fahren? Fendt sah ihm hinterher. Hoffentlich hatten seine Vorgesetzten recht und Baabe war wirklich koscher. Für Fendt
war es doch ein Risiko, ihn in alles einzuweihen. Aber die Entscheidung war ganz weit oben gefallen, und es stand ihm nicht zu, dies zu kritisieren. Sein Vertrauen in die Polizeiführung war ungebrochen, auch hatte er von der Wiege an stets eines vermittelt bekommen: Wer oben ist, hat immer recht. Der ewige Nieselregen setzte wieder ein. Nun doch vollauf zufrieden mit sich und der Welt, besah sich Fendt Baabes ›Bankierzüge‹. Das waren S-Bahn-Züge, die man im Jahre 1935 extra gebaut hatte, um die wohlhabenden Einwohner Wannsees als Kunden zu gewinnen. Mit immerhin 120 km/h fuhren sie auf Fernbahngleisen, die mit einer Stromschiene ausgestattet worden waren, ohne Halt von Wannsee bis zum Potsdamer Bahnhof, also bis ins Herz der Stadt. Baabes Modelle waren wunderschön. Fendt fuhr zusammen. Peccioli stand in der Ladentür. Der Deutsch-Amerikaner schloß die Tür und kam auf ihn zu. »Sorry to wake you, but may I have an old Berlin bus?« »Tut mir leid, ich versteh Sie nicht.« Das war eine Reaktion, auf die sich Fendt noch Tage später einiges zugute hielt. »Entschuldigung, ja…« Peccioli faßte sich an den Kopf. Fehlt bloß noch, daß du jetzt auch testest, ob ich eventuell auf dein Italienisch anspringe, dachte Fendt. »Un bel pezzo di figliola…« Peccioli sah mit der Zunge schnalzend zu, wie Graziella Vogelsang drüben am Zaun ihr Rad bestieg. »Herr Baabe ist nicht da«, sagte Fendt. »Aber ich kann Ihnen sicher auch weiterhelfen.« »Ein Freund von mir in Massachusetts war als Soldat in Berlin und sammelt alte Busmodelle. Haben Sie so etwas da?« Peccioli sprach nun ein fast perfektes Deutsch.
Fendt ging ohne Zögern zu einer der unzähligen Vitrinen und nahm mit sicherem Griff das Passende heraus. »Das ist der NAG D2 May. In den Jahren 1927/28 wurden in Berlin hundert Stück von diesem Autobus beschafft. Die letzten Fahrzeuge dieses Typs wurden 1958 ausgemustert.«
19. SZENE Kotzbusser Off-Theater
Annika Malitzki sah durch das Loch im Vorhang. Wieder war das kleine Theater mit Menschen vollgestopft. Es war die zehnte Aufführung von Wie ein Schwanz, der in einer Frau pulsiert, das Stück, das Matthias Walther über Anaïs Nin geschrieben hatte, wie sie in Paris mit Henry Miller und einigen anderen zusammen für einen Privatsammler Erotika verfaßt, die Seite für einen Dollar. Annika war nicht nur die Nin, sondern spielte auch die Elena, die Madeleine und noch einige andere Frauen aus dem Nin-Roman Das Delta der Venus. Die Leute fanden sie phantastisch. Der Inspizient drehte schon durch, doch sie stand noch immer auf der Toilette und kotzte in das Becken, das nur noch am letzten Dübel hing. »Annika, mach!« »Ich kann nicht mehr.« »Vom ZDF ist einer da, das ist die große Chance für dich.« Sie sprang ihm ins Gesicht. »Ich will in keiner Serie enden. Und will nicht zehnmal hintereinander dieselbe Scheiße spielen! Zweimal dasselbe ist schon ‘n Horrortrip, aber doch nicht zehnmal hintereinander!« Matthias Walther nahm sie in den Arm. »Mach es. Serien sind der moderne Alchimistentraum: Aus Dreck Gold zu machen.« »Verpiß dich!« Annika haßte fertiges Leben, und wenn sie durch Kladow oder Heiligensee, Rudow oder Lichtenrade kam, hätte sie die sauberen Eigenheime am liebsten allesamt in
Brand gesteckt. In ihrem Hunger nach Neuem war sie maßlos und unersättlich. Fuhr sie mit der Bahn von Berlin nach Hamburg beispielsweise, so verfiel sie schon in Wittenberge in eine tiefe Depression, weil es ihr unmöglich war, in allen Städtchen und Dörfern, durch die der Zug eilte, eine gewisse Zeit zu leben. Eine Woche wenigstens, einen Monat. Allen wollte sie ganz nahe sein, Männern, Frauen, Kindern. Und war ihre Sehnsucht nach Nestern wie Paulinenaue oder Ludwigslust schon groß, so wurde es reinweg Gier, wenn sie an London dachte, Los Angeles, Rio oder Santa Monica. Weiter und immer weiter, zwangsneurotisch trieb es sie, und alles, was länger dauerte als maximal ein Jahr, schien ihr schon der Tod zu sein. Rettungslose Verödung, Spießigkeit, die ihr den Atem nahm. Und sie wollte alles ausprobieren, was Menschen möglich war. Aber wie sie es auch immer arrangierte, nie war sie zu sättigen, immer litt sie darunter, eigentlich bis zum Rande des Universums zu wollen, aber nicht weiter als bis nach Kreuzberg zu kommen. Wie in einem schweren Traum: Fliehen wollte sie und kam nicht von der Stelle. Der Vater hatte sie geschlagen und mißbraucht, ehe er an Leberkrebs gestorben war. Die Mutter, alleinerziehend, arbeitslos, nach einem Autounfall gehbehindert, hatte es vorgezogen, in ihrer Phantasie Popsängerin zu werden und von den Tantiemen in Saus und Braus zu leben. In der KBoN sorgten die Psychiater mit ihren Ruhigstellungsmitteln dafür, daß sie in ihrer Welt verbleiben konnte. Heime, Trebe, Drogen, Strich und SYNANON, Annika hatte alles überlebt, und sie jammerte nicht. Im Gegenteil, sie wußte, daß sie das wie ein Geschenk zu nehmen hatte. Vom Schicksal geschlagen waren nicht sie und ihresgleichen, sondern die braven Bürgerskinder aus den Eigenheimen, diese
Plastikmenschen, steril gemacht, kastriert, Hühner für die Legebatterien, Hähnchen für den Grill, Seriensehermenschen. Wenn Annika auf der Bühne stand, dann war sie von einer solchen Kraft, Evita Peron und Jeanne d’Arc in einem, daß die Theatermüden plötzlich alle wieder erwachten und in den alten Kohlenkeller strömten, in die Manteuffelstraße. U-Bahn, Hochbahn Kottbusser Tor. All die Redakteure und Lektoren, die Studienräte für Deutsch und Geschichte und die ganzen sexgierigen Macher aus den oberen Regionen des Big und Middle Business, ebenso aber die ganze Beletage des KritischFeministischen: Sozialarbeiterin, Erzieherin, Dozentin, Psychologin, Soziologin, Moderatorin, Fotografin, Regisseurin und so weiter. Berlin hatte seine Sensation, und das Kotzbusser Off-Theater bekam für kurze Zeit die Funktion eines großen Berliner Salons. Da stürmte Annika auf die Bühne hinaus und begann mit aller Verve ihren großen Monolog. »Meine Herren! Wenn Ihr Sexualleben sich von all den erregenden Erfahrungen nährte, welche die Liebe der Sinnlichkeit einzuflößen vermag, wären Sie unendlich potent. Neugier und Leidenschaft sind die Quelle aller sexuellen Potenz. Sie aber sehen zu, wie ihre Flamme den Erstickungstod stirbt. Wieviel geht Ihnen durch dieses Periskop am Ende ihres Geschlechtsteils doch verloren! Darum sollen Sie hier bei uns einen Harem voll der verschiedensten und sich nie wiederholenden Wunder erleben. Hier wird Poesie ins…« Weiter kam sie nicht. Dicht vor ihr explodierte die Bombe.
20. SZENE Wohnung Mannhardt
Mannhardt hob den Jungen aus der Badewanne, trug ihn zum Wickeltisch und hüllte ihn in das warme, weiche Tuch. Sylvester juchzte und krähte, war die reinste Lebenslust und produzierte Spuckebläschen. Mannhardt schlug das Badetuch zurück, küßte pustend den weichen Bauch seines Sohnes und freute sich solange an dessen glücklichem Gestrampel, bis das Ganze in einem ziemlichen Schluckauf endete. Heike stand in der Tür. »Dann kann er doch wieder nicht trinken.« Sie nahm Sylvester hoch und versuchte, das Gehickse zu stoppen, indem sie ihn hochwarf und wieder fing. Mannhardt grinste. »Schön, wenn die Mutter Psychologin ist und mensch sich mal so richtig fallen lassen kann.« »Psychologin werden will«, korrigierte sie, denn so richtig kam sie mit ihrem Studium auch nicht mehr voran. Das Kind, das viele Herumreisen. Sie war gelernte Journalistin, und so ganz konnte sie’s noch immer nicht lassen. Mannhardt sah zu, wie Sylvester die Brust bekam. Er hatte das Kind gewollt, aber in Augenblicken wie diesem verfluchte er sich und diesen Entschluß. Wahnsinn alles. Wenn Heike hundert Zärtlichkeitseinheiten am Tag verteilte, bekam Sylvester neunundneunzig davon. Dafür hatte Mannhardt den Spott seiner Mitmenschen in überreichlichem Maße. ›In deinem Alter noch, wo du doch schon zwei erwachsene Kinder hast.‹ ›Das ist es ja eben…‹
Beide waren ihm so fremd geworden, konnten nicht mehr in den Arm genommen werden, entzogen sich jeder Nähe. Michael lebte derzeit auf Gomera, war bis auf die Kanaren geflüchtet, und Elke hatte sich einem werdenden Bankmenschen übereignet. ›Nicht mal geschieden, und dann mit ‘ner anderen Frau zusammen ‘n Kind!‹ Lilo lebte ihr eigenes Leben, was sollte er machen, und trotz ihrer Trennung wollte er die Scheidung nicht, hielt sie irgendwie für Gotteslästerung. Bis daß der Tod euch scheidet… ›Und dann heißt das Balg auch noch Sylvester!‹ Vielleicht war es falsch gewesen, dieser Laune nachzugeben und ihn nach dem Tag zu benennen, an dem es geschehen war. Aber, mein Gott, welches Kind war schon genau in der Minute gezeugt worden, wo der Himmel voll war von sprühenden Funken und leuchtenden Garben, inmitten eines solchen Feuerwerks. Und außerdem: Sylvester oder Silvester war der Name von immerhin vier Päpsten, angefangen beim heiligen Silvester I. 314 bis 335, dem das Fest am Jahresende seinen Namen verdankte. Und Silvester II. der um das Jahre 1000 gelebt hatte, galt als der größte abendländische Gelehrte seiner Zeit. Na bitte. Und Heike meinte, im Sinne einer Self-fulfilling Prophecy sei das schon richtig so, denn Kinder mit außergewöhnlichen Namen seien prädestiniert dafür, auch außergewöhnliche Menschen zu werden und im Leben groß herauszukommen. So wie Barnabas Lübz. Mannhardt zuckte zusammen. Er haßte bürgerliche Lebensmuster, und er sehnte sich zugleich danach. Alles war furchtbar kompliziert.
Als es mit Heike begann, hatte sein Herz an einem HermannHesse-Spruch gehangen. Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne. Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben. Das Kind schrie und wollte nicht schlafen. Heike verlor die Nerven und brüllte Mannhardt an, er solle sich gefälligst auch mal um Sylvester kümmern. Mannhardt legte sich neben die Wiege seines Sohnes und sang alle Volkslieder, die er noch kannte. Nach einer guten halbe Stunde war der Sproß auch eingeschlafen. Nicht mal Mannhardt hieß er, sondern Hunholz. Nach seiner Mutter. Trotzdem: Mannhardt liebte sie und ihn und sich und das Leben. Bei der Erinnerung daran, unter welcher Ekstase sie Sylvester gezeugt hatten, überkam ihn eine wilde Lust auf Heike. Er ging ins Wohnzimmer hinüber, wo sie auf der Couch lag und in der Brigitte las. Er kniete sich vor ihr auf den Boden und küßte sich ihre Schenkel hoch, bis seine Zunge den schwarze Slip erreichte. Zärtlich biß er in die dunkle Frucht hinein. »Hör auf«, sagte sie, ohne von ihren Bildern aufzusehen. Mannhardt sprang auf und lief zum Fenster. »Wie ‘ne Drohne behandelst du mich. Fehlt bloß noch, daß ich umgebracht werde.« »War doch das einzig Passende für einen von der Mordkommission.« »Das waren noch Zeiten, wo es wenigstens noch so etwas wie eheliche Pflichten gab.« »Ja, wir Frauen als die zwangsrekrutierten Entsaftungsapparate der Männer.«
»Aber dann euer Gejammere über Prostitution und Bordelle!« »Meinetwegen geh doch hin, ich seh das nicht so eng.« Mannhardt nahm die nächstbeste Vase und schmetterte sie gegen die Wand. Im selben Augenblick wurde an der Wohnungstür geklingelt, Sturm geklingelt. Die Nachbarn? Die Polizei? Quatsch, so schnell doch nicht. »Nun mach schon auf!« herrschte sie ihn an. Draußen stand seine Tochter, stand Elke mit Mann und Kind. »Opa!« Phil sprang an ihm hoch und wollte auf den Arm. Mannhardt tat seinem Enkel den Gefallen, obwohl seine Bandscheibe gehörig protestierte. Phil war knappe drei Jahre alt und verdankte seinen Vornamen der Liebe seiner Mutter zur Gruppe Genesis und dem großen Phil Collins. Die Klingelei hatte Sylvester wach werden lassen, und sein Protestgeschrei über diese laute Welt hallte nun durchs ganze Haus. »Wo ist denn mein Brüderchen!« Elke stürzte ins Kinderzimmer. Heike und Phil hinterher. Mannhardt blieb mit seinem Schwiegersohn in der Diele zurück. Richard war in der renommierten Brandenburgischen Vereinsbank Chef der Kreditabteilung und eigentlich ein ganz passabler Mensch. Mannhardt hätte über einen solchen Schwiegersohn glücklich sein müssen, war es aber nicht. Daß seine Tochter mit diesem arroganten Lackaffen vögelte, ging ihm schon gehörig gegen den Strich. Das waren laut Heike die üblichen unterdrückten inzestuösen Wünsche. Dazu kam aber, daß er zwei Apergus zu tief verinnerlicht hatte, nämlich Proudhons Erkenntnis, daß Eigentum Diebstahl sei, und Brechts Bemerkung, daß es, wolle man anderen Leute das Geld wegnehmen, viel klüger sei, eine Bank aufzumachen
anstatt eine zu berauben. Kurzum, sein Schwiegersohn war irgendwie doch ein White-collar-Krimineller für ihn. Trotzdem kamen sie ins Gespräch miteinander. »Schön wohnt ihr hier am Tegeler Hafen.« Mannhardt wehrte ab. »Ein bißchen viel postmoderner Schnickschnack schon.« »Und was macht die Arbeit so?« »Zum Glück für uns halten sich ja in diesen herrlichen Zeiten immer mehr an Schillers Don Carlos…« Sein Schwiegersohn sah ihn fragend an. »Wieso’n das?« »Na, kennste das nicht: ›Mord ist jetzt die Lösung.‹ Das Verbrechen schafft die Arbeitsplätze, die wir dringend brauchen. Wachmänner, Polizisten, Rechts- und Staatsanwälte, Richter, Justizvollzugsbeamte. Eine Branche, die Gott sei Dank noch boomt.« Richard fand das köstlich. »Und darum sollte man die Organisierte Kriminalität fördern, wo immer es geht.« »Das tun sie doch instinktiv schon alle«, lachte Mannhardt. »Wo du hinguckst in unserem Land.« Nun wurde sein Schwiegersohn doch noch staatstragend. »Komm, du als Beamter…« »Als Beamter warte ich darauf, daß die Mafia mal mit ‘ner halben Million rüberkommt für mich. Was soll ich anders machen: Die Berlinzulage fällt weg, bei der Besoldung liegt ‘ne Nullrunde an, und das Weihnachtsgeld soll ja nun auch noch gestrichen werden.« Richard ging ins Wohnzimmer, setzte sich und kam zur Ausgangsfrage zurück. »Was gibt’s denn arbeitsmäßig?« »Lübz vor allem und das plötzliche Ende seiner hoffnungsvollen Karriere aufm Bahnhof Savignyplatz.« »Hör auf mit diesem Spott, in seiner Art war er schon fast ‘n Genie.« Richard wollte sich ein Zigarillo anzünden.
»Bitte nicht«, bat Mannhardt. »Die Kinder haben eh schon so schlechte Luft.« »Na, schön.« Sichtlich gekränkt steckte sein Schwiegersohn alles wieder ein. »Hast du denn Lübz persönlich gekannt?« fragte Mannhardt. »Nein. Außer daß wir bei Rot-Weiß zwei Jahre lang zusammen Doppel gespielt haben.« »Das is ja ‘n Ding!« rief Mannhardt. »Und?« »Was: Und?« »Hast du was, das mich weiterbringen könnte?« »Wie weit bist du denn?« Mannhardt stöhnte auf. »Noch immer bei Null. Das heißt, wir haben ‘ne Phantomzeichnung des möglichen Täters. Warte mal.« Mannhardt rannte in die Diele, um die Zeichnung zu holen, die er auch dem S-Bahnfahrer in Schmöckwitz draußen gezeigt hatte. Sein Schwiegersohn nahm sie in die Hand. »Tut mir leid, den hab ich nie bei ihm gesehen.« Mannhardt horchte auf. »Das klingt’ ja so, als ob er…« »Gott, unsere Kripo, das wißt ihr noch nicht…« »Nein.« Mannhardt zögerte, die Frage war ihm irgendwie peinlich. »War er schwul?« »Ja, da bin ich mir sicher.« »Aber er ist doch verheiratet gewesen, und seine Frau hat uns kein Wort davon gesagt.« »Das ist wohl der Pakt zwischen beiden gewesen. Ohne diese Tarnung hätte er kaum Karriere machen können.« »Na wunderbar. Freude, schöner Götterfunken.«
21. SZENE U-Bahnlinie 7
Stefan Stürzebecher betrat den Waggon auf dem Bahnhof Mehringdamm. Er hatte alles abgecheckt. Weder Hilfssheriffs in der Nähe noch Bullen. Und genau die richtige Menge an Fahrgästen. Waren es zu viele, kam er nicht durch; waren es zu wenige, lohnte sich die Sache nicht. Nach durchsumpfter Nacht war seine Haut grau genug. Rasiert hatte er sich seit Tagen nicht. Das Neonlicht verstärkte sein Elend auf wirksamste Weise. Er beugte sich nach unten wie ein Bechterew-Kranker und humpelte bis zu der kleinen Bühne, die sich am Ende des Wagens ergab, da vier, fünf jüngere Leute an den Türen standen. Die meisten schauten weg. Besonders diejenigen, die Bücher lasen oder die BZ, und die ganz ängstlichen Naturen in den Ecken. Ein paar Intellektuelle gaben sich genervt, einige RepWahler dachten, das sah er ihnen an, zumindest ans Vergasen. Der Zug fuhr an, und Stefan Stürzebecher begann gekonnt mit seiner melodramatischen Performance. »Mein Name ist Stefan, und ich bin HIV-positiv. Nach einem schweren unverschuldeten Autounfall bin ich 1986 operiert worden. Mein Mutter ist Alkoholikerin und kann sich nicht um mich kümmern, da sie sich derzeit in der Psychiatrie befindet. Mein Vater weigert sich, für meinen Unterhalt aufzukommen, und das Sozialamt gewährt mir keine Beihilfe zum Lebensunterhalt, weil zuerst mein Vater an der Reihe wäre. So bin ich gezwungen, hier um eine kleine Spende zu bitten,
damit ich mir wenigstens etwas zu essen kaufen kann. Ich möchte es auf alle Fälle vermeiden, zum Einbrecher, Taschendieb oder Stricher zu werden und als Drogenabhängiger zu enden. Herzlichen Dank für Ihre Hilfe. Aber auch sonst wünsche ich Ihnen noch einen schönen Tag.« Damit zog er ein kleines geflochtenes Körbchen aus der Tasche und ging durch die Reihen. Ein Türke gab ihm zwanzig Pfennige, eine Rentnerin holte zwei Mark aus ihrem Portemonnaie, und ein Schriftsteller mit grauem Zopf, den er von einer Lesung her kannte, hielt eine Mark für ihn bereit. Drei Mark zwanzig also, Stefan Stürzebecher war zufrieden. Bei einem Sechs-Wagen-Zug hatte er, wenn sie am Fehrbelliner Platz angekommen waren, an die zwanzig Mark zusammen. Der Tag war gelaufen. Da sah er in die BZ hinein, die die Rentnerin aufgeschlagen hielt. Und erstarrte. Das war er. Eine Phantomzeichnung. Überschrift: Ist das der Mörder von Barnabas Lübz?
22. SZENE Märkisches Viertel, Stadion Finsterwalder Straße
Graziella hatte sich seit langem auf diesen Wettkampf gefreut. Schon anderthalb Stunden vor dem ersten Startschuß hatte sie sich umgezogen und mit dem Einlaufen begonnen. Die Sonne schien, die Bahn war trocken, und wenn der Rückenwind so blieb, wie er im Augenblick wehte, dann waren gute Zeiten und Weiten auch in diesem Stadion möglich, das irgendwie kahl und deprimierend war. Hinter ihr drohten die Felsrücken des Märkischen Viertels, vor ihr dehnte sich das öde Grün schwer gepflegter Laubenkolonien. Als hätten Menschen auf dem Mars gesiedelt. Es war so warm, daß sie sich den Trainingsanzug auszog, als sie probehalber zwei Hürden überquerte. Sie genoß es, hinüberzusetzen, und dieser winzige Augenblick der Schwerelosigkeit, wenn sie am Scheitelpunkt ihres kurzen Fluges angekommen war, dieser Funken, war das Schönste und Größte für sie, ein Götterfunken. Überhaupt, den eigenen Körper zu bewundern, zu genießen, wie Arme und Schenkel goldfarben, bronzebraun im Licht der Sonne glänzten, wie er geschmeidig über alle Hindernisse glitt. Sie liebte ihren Körper mit einer Lust, die sich selbst völlig genügte. Oder? Seit Leonardo sie ins Kotzbusser Off-Theater in dieses Nin-Stück mitgenommen hatte, waren ihre einige Zweifel gekommen. Vielleicht gab es doch irgendwo einen Mann, der Tür und Schlüssel fand, der merkte, wofür Das Piano stand. Einen Film, den sie sich dreimal angesehen hatte. Bis jetzt hatte sie aber in dieser Richtung wenig Hoffnung gehabt. Nun,
Jungfrau war sie schon lange nicht mehr. Obwohl sie sich diesen Tatbestand immer wieder ins Gedächtnis rufen mußte, hatte sie doch den Deflorationsakt wie die späteren Affären kräftig verdrängt. Urban war der Name dessen, der es vollbracht hatte, ein Zahnarztsohn. Und so wie beim Zahnziehen war ihr auch zumute gewesen. Aber: Was sein mußte, das mußte halt sein. Kurz vor ihrem zwanzigsten Geburtstag. Zu sehr hatte sie darunter gelitten, es noch nicht gemacht zu haben. Urban also. Vier Monate hatten sie darüber geredet, und dann hatte er vier Kondome wegwerfen müssen, ehe es ihm gelungen war, den ersten überzustreifen. Dieser haarige Affenkörper und sein affiges Stöhnen und Schwitzen. Wirklich, wie bei einer Operation. O Gott! Wenn er wenigstens ein Ejaculatio-praecox-Typ gewesen wäre, nein, er hatte auch noch ewig gebraucht. Und auch bei den drei Männern nach ihm hatte sie sich nie anders gefühlt als eine Ratte im Labor. Sie zog sich wieder an. Den bunten, seidenglänzenden Trainingsanzug. Doch der schien ihr wie ein Neglige zu sein, löste einiges aus. Einen Fetzen von Traum… Danach… Er lag noch auf dem Bett und sah sie an. Bewundernd, hingerissen. Und sie hatte ebenso geschrien vor Lust wie diese Annika im Stück. Irgend etwas war mit ihr. Ihr Seismograph kündigte ein schweres Beben an. Als sie zu ihrem Trainer gehen wollte, der mit dem Rest der Mannschaft an der Weitsprunggrube wartete, bemerkte sie, daß auf der Tribüne jemand stand und seine Kamera in ihre Richtung hielt. Ein Mann, den sie irgendwo schon mal gesehen hatte. In Hermsdorf, bei sich in der Straße. Richtig, das war der neue Modellbahnbauer bei Baabe.
Er winkte ihr zu. Am Geländer vor der Weitsprunggrube trafen sie sich. »B 1 oder ›Sport extra‹?« fragte sie. »Nein, nein, ich mach bloß ‘n Video für Baabe. Dessen Enkel ist auch hier bei der LG Nord, Hochsprung. Ach, ja, Fendt mein Name, Dietmar Fendt. Ich arbeite bei Ihnen gegenüber.« »Schade, ich dachte, daß Sie mich filmen wollen.« »Wenn Sie das gerne hätten. Aber immer!«
23. SZENE Besetztes Haus in der Sredzkistraße
Stefan Stürzebecher saß vor einem kleinen Campingkocher und wartete, bis das Büchsengoulasch fertig war, das Leonardo Vogelsang aus Hermsdorf mitgebracht hatte. »Seit Sonntag keine warme Mahlzeit mehr.« Leonardo sah von seinem Biobuch auf. »Warum gehst’n nich zum Sozialamt?« Stefan Stürzebecher tippte sich an die Stirn. »Die schicken mich dann wieder auf ‘n Friedhof, Gräber ausheben.« »Bei deiner Intelligenz.« Das war keinesfalls spöttisch gemeint. »Die Menschheit kann sich nur retten, wenn wir die Schraube wieder rückwärts drehen. Keine Atomkraftwerke mehr, keine Autos und so weiter. Das heißt, auf geistiges Potential dieser Art verzichten. Nicht mehr wie Pindar: ›Werde der, der du sein kannst‹, sondern wie Stürzebecher: ›Verzichte darauf, so zu sein, wie du sein könntest.‹ Was die technische Intelligenz betrifft, das Know how dazu. Ich könnte mühelos DiplomIngenieur sein und bin mit voller Absicht nur Gammler, Eckensteher, Berber.« Leonardo fand das konsequent und bewunderte Leute wie Stefan Stürzebecher, die das taten, was notwendig war. Lieber Treibsand als in Siemens’ Hand! So stand es bei Stefan Stürzebecher überm Bett. Kurz vor dem Abitur hatte er die Schule verlassen, um durch die Welt zu trampen. Indien, Kanada, Neuseeland. Arbeit bei Greenpeace
und amnesty international. In der letzten Woche hatte er als Fahrradkurier ein bißchen Geld verdient. »Biste nicht mehr unterwegs?« fragte Leonardo mit Blick auf den gelben Plastiksack, der in der Ecke lag, und dessen gezackte knallrote Aufschrift ihm schmerzhaft in die Augen stach. PECCIOLI PRESTO. »Der Gestank auf den Straßen, der schafft dich echt.« »Fährste nich mit Mundschutz rum?« »Das hilft doch auch nicht viel, da brauchte man schon ‘ne Gasmaske. Aber da schwitzte zu sehr drunter.« »Aber immerhin. Ist das nicht ‘n viel schlimmeres Gefühl, die U-Bahn-Arie abzuziehen oder so am Bahnhof zu stehen und zu fragen ›Haste ma ‘ne Mark?‹« Stefan Stürzebecher fand das nicht. »Das ist auch nicht mehr Prostitution, als wenn de irgendwo jobbst. Alle verkaufen sich doch irgendwie.« Leonardo hielt sein Biobuch hoch. »Ist nun mal überall so, bei den Tieren jedenfalls: Du mußt dich auf die Suche nach was Eßbarem machen, sammeln oder jagen, arbeiten also. Von nichts kommt nichts.« »Es sei denn, die einen haben soviel Lust am Jagen, daß sie gar nicht alles auffressen können, was sie als Beute haben.« Stefan Stürzebecher freute sich diebisch über diesen Vergleich. »Und außerdem: Arbeit ist doch heutzutage ein so knappes Gut, daß man die belohnen sollte, die den anderen davon nichts wegnehmen.« »Willste das Bundesverdienstkreuz dafür?« »Nee, aber Sozialhilfe wenigstens. Na, vielleicht geh ich doch mal hin.« »Mach mal.« Leonardo stand auf. »Ich muß nach Hermsdorf, Rasen mähen.« Er verschwand, die Tür fiel zu.
Kaum war er weg, Stefan Stürzebecher wollte sich gerade ein bißchen Hasch ins Pfeifchen stecken, als jemand gegen die Wohnungstür bummerte. »Hör auf, det janze Haus stürzt ein!« Er rannte auf den Flur. Draußen stand Annika Malitzki. »Du?« »Nein, ich.« Sie stieß ihn zur Seite und stürmte in die Anderthalb-Zimmer-Höhle. »Hat sich ja nichts verändert, seit ich weg bin von hier.« »Nee, wieso’n ooch.« Das Wasser bekamen sie weiterhin über mehrere miteinander verbundener Waschmaschinenschläuche von irgendeinem Nachbarn, den Strom mit Hilfe eines brüchigen Rasenmäherkabels, das Leonardo mitgebracht hatte, direkt aus der angezapften Steigleitung im Flur. Für die Fäkalien war ein Eimer da, den ab und an mal einer in den Hof hinuntertrug und in den Gulli entleerte. »Schön«, sagte Annika, »gefällt mir immer noch.« »Woher weißt’n überhaupt, det ick hier bin?« Wenn Stefan nicht dozierte, berlinerte er beträchtlich. »Klar, daß du wieder in der alten Höhle bist. Wo sie dich jetzt jagen.« Sie warf ihm die BZ auf die Matratze. »Und wo ist da die Überraschung, bitte?« Sie packte ihn mit beiden Händen am löchrigen Shirt. »Hast du Lübz vor die Bahn gestoßen?« Er rührte sich nicht. »Nein. Ich war wirklich nur per Zufall da.« Sie zog das Hemd so eng wie eine Zwangsjacke. »Warst du mit ihm im Bett, hast du ihn erpreßt?« »Nein, ich schwör’s dir!« Sie ließ ihn wieder los und fiel auf einen Sperrmüll-Stuhl. »Und was ist mit der Rauchbombe bei mir im Theater? Die Panik hinterher. Fast hätten sich die Leute totgetreten.«
»Besser als wenn wir totgetreten werden.« »Lenk nicht ab. Wer steckt dahinter?« »Weiß ich nicht.« »Lüg doch nicht. Die Nobelkarossen, die besseren Restaurants, die teuren Läden, ihr steckt doch alles in Brand.« »Ja, diese Schmeißfliegen, raus alle, ausräuchern, abfackeln! Schluß mit dieser Schweinepest!« Stefan Stürzebecher spuckte aus. »Die machen uns alle kaputt. Neben eurem Theater, da wollte Lübz ‘n Vier-Sterne-Restaurant aufmachen, damit die Leute nach’m Theater gleich ihre Austern fressen können. So isses doch. Lübz! Das Theater war doch nur ‘n Trojanisches Pferd. Und das Restaurant hätte dann wieder den Wohnwert nebenan gesteigert. Und die Mieterhöhungen, wer soll denn da noch bleiben von uns! Das ist die Vertreibung der Kiezbevölkerung, nichts weiter ist das!« »Was soll denn der Scheiß, wir vom Off-Theater war’n doch immer auf eurer Seite.« Nun geriet auch Annika in Rage. »Auf unserer Seite!?« Stefan Stürzebecher simulierte einen Lachanfall. »Ick lach ma tot. Wer hat denn euern Schuppen gesponsert, wer hat denn alles ausjebaut: Doch dieser Arschficker von Lübz, dieser Berlinkaputtmacher, dieser Strichjunge der Banken und Konzerne.« Annika prallte zurück. »Mann, wat soll’n so ‘n Haß!?« »Da nimm dir mal ‘n Beispiel dran. Du willst doch immer exzessiv leben. Ohne Haß kein exzessives Leben!« Annika atmete tief durch. »Okay. Dann sag ich mal, wen ich hasse: Dich nämlich.« »Renn doch zu den Bullen hin!« »Die kommen schon von alleine auf dich.« Stefan Stürzebecher fiel von einer Sekunde zur anderen in eine infantile Weinerlichkeit, warf sich auf seine Matratze und schluchzte. »Bitte sei mir nicht böse. Ich war’s wirklich nicht.«
»Hör auf zu flennen! Das ist doch bloß deine Rache, daß ich dich verlassen habe und zu Viola bin. Das ist doch alles wie ‘n Kartenhaus, das wußtest du doch: Du stößt Lübz vor den Zug, und alles stürzt in sich zusammen.«
24. SZENE Radrennbahn Schöneberg
Mannhardt mochte American Football und war schon außerdienstlich des öfteren in der Schöneberger Radrennbahn gewesen, in deren Innenraum die berühmten Berlin Adler, aber auch die neu ins Geschäft gekommenen Berlin Bulls ihre Spiele absolvierten. Selber ein Mittelgewicht, sah er gerne Männer, die wie Kleiderschränke waren. Bei den Bulls kam noch hinzu, daß neunzig Prozent der Spieler Polizisten waren und ab und an auch unmittelbare Kollegen von ihm an der Scrimmage-Linie Aufstellung nahmen. Für die Karriere war es allemal gut, hier mitzutun, insbesondere für Schupo und Bepo. Wer sich in diesem Spiel bewährte, hatte bessere Chancen im Straßenkampf gegen Hausbesetzer, Anarchisten und anderes Gesockse. Als Mannhardt dieser Tatbestand so richtig bewußt geworden war, wäre er am liebsten wieder gegangen, aber er war ja vor allem dienstlich hier. Im Mordfall Barnabas Lübz war der große Erfolg bis heute ausgeblieben. Zwar wurde nach Stefan Stürzebecher fieberhaft gesucht, wie auch anders, doch bislang vergeblich. Naheliegend wäre da für ihn gewesen, sich einen schönen Sonntag zu machen und auf den Kollegen Zufall zu hoffen, doch die Aurak wollte Männer voller Eifer um sich haben. So stand er hier an der Außenlinie und erfreute sich an den Beinen, Schenkeln und Ärschen der Girls von der ChearleaderGruppe, weniger am irgendwie albernen Huddle der grünweißen Bulls, der magischen Besprechung der Spieler.
Schnell mit einem der Mädchen in der Kabine verschwinden, das wäre das Größte gewesen. Die Mannschaftsaufstellungen wurden durchgegeben. Pfiffe bei den männlichen Besuchern, aber auch Begeisterungsschreie der Mädchen, als bei den Berlin Butts statt des gewohnten farbigen US-Amerikaners als Quarterback ein Deutscher angekündigt wurde: Kevin Neumann. Anpfiff. First and ten. Die Helme krachten aufeinander. Der Snap. Dieser Kevin Neumann machte seine Sache gut. Sicher fing der den Ball, den ihm der Center zugeworfen hatte, und lief in souveräner Haltung solange rückwärts, bis ihm seine Guards und Tackles Raum genug geschaffen hatten, um sich zu entscheiden: Den kurzen Paß zu einem seiner Runningbacks, den langen Paß zum Wide Receiver, der schon nach außen sprintete, oder selbst ein Laufspiel starten. Er entschied sich für Letzteres und wurde von einem der gegnerischen Linebackers erst nach einem Raumgewinn von sieben Metern zu Boden gebracht. Das Stadion tobte. Die Munich Cowboys waren als Favoriten nach Berlin gekommen, schienen aber durchaus nicht unschlagbar zu sein. Nach zehn Minuten gelang Kevin Neumann sogar der erste Touchdown für die Berlin Butts, und da es einer seiner Mannschaftskameraden anschließend noch schaffte, den Ball durch die Torstangen zu treten, führten die Polizisten am Ende des ersten Viertels 7:0. Mannhardt machte sich auf die Suche nach Ron Peccioli, von dem er aus seinem Tagesspiegel wußte, daß er der große Sponsor der Heimmannschaft war. Er vermutete ihn in der großen Gruppe der Würdenträger in der Nähe des Kabinengangs und fragte, als er angekommen war, einen der Ordner. Aber der wußte es nicht. Dafür drückte ihm jemand von hinten einen harten Gegenstand in den Rücken. »Keine Bewegung. Sie sind endgültig festgenommen.«
Mannhardt fuhr herum. Es war Bonni Bölzke, ihr Bote im Büro, der seinen Taschenschirm wie eine Pumpgun hielt. Eigentlich hieß er Lothar, da er sich aber ab und an wegen ganz bestimmter schizophrener Schübe in der KarlBonhoeffer-Nervenklinik aufhalten mußte, der KBoN, im Volksmund Bonnies Ranch, wo sie ihn mit viel Lithium wieder auf die Reihe brachten, nannten ihn alle ganz offen nur Bonni. Er nahm es auch nicht krumm. Bonni Bölzke wußte, wo Mannhardt Ron Peccioli finden konnte. »Da oben am Lautsprecher.« Mannhardt bedankte sich und stieg die Treppe hoch. Nach ein paar Metern stoppte er abrupt. Wenn er sich nicht täuschte, stand neben Peccioli ein junger Mann, ein schmales Handtuch. Frenzi. Der Mordfall S. three years ago. Ein Dealer war ermordet worden, und Frenzi hatte als Entlastungszeuge dienen sollen, war aber dabei so ungeschickt vorgegangen, daß sie seinen Paten zu fünfzehn Jahren verknackt hatten. Worauf sich Frenzi dann selber für einige Zeit in Tegel wiedergefunden hatte. Einiges an Beschaffungskriminalität war ihm nachgewiesen worden. Nun war er also wieder draußen und sprach mit Peccioli. Vielleicht bewarb er sich um einen Posten als Wide Receiver bei den Berlin Balls. Mannhardt freute sich über diese Art der Resozialisierung und machte sich so seine Gedanken. Wieder stieß ihm jemand etwas in den Rücken, wenn auch offenbar nur einen Finger. In derselben Hundertstelsekunde, in der er zusammenzuckte, nahm er den Geruch einer halben Tonne verdorbener Melonen wahr, gelber Honigmelonen. Die Aurak, seine Chefin. Heute schien sie in ihrem Lieblingsparfüm gebadet zu haben. »Sie hier?« fragte sie. »Wenn ich mir mal meinen Ausweis ansehen darf…«
Mannhardt griff an, bevor sie zu ihrem üblichen Eröffnungszug gekommen war, eine Anspielung darauf zu machen, daß er einige Zeit in der Psychiatrie zugebracht hatte. Nachdem er einen Vorgesetzten im Affekt mit einem Ziegelstein fast erschlagen hätte. Karin Aurak überhörte seine Bemerkung. »Privat?« »Nein, dienstlich.« Und wieder schaffte er es nicht, sachlich zu bleiben. »Aber nicht nur zur dienstlichen Fortbildung.« »Sondern?« »Um mit diesem Peccioli zu sprechen.« Er zeigte nach oben. Die Aurak reagierte ungehalten. »Warum denn das?« Mannhardt erklärte es ihr. »Es geht um Barnabas Lübz. Weil uns dessen Frau erzählt hat, daß Lübz von Peccioli beauftragt worden sei, ein Superbowl-Stadion zu entwerfen, es aber irgendwie Zoff gegeben haben könnte. Jeder Spur ist nachzugehen.« »Das mit Peccioli lassen Sie mal«, sagte die Aurak. Mannhardt sah sie an, völlig verständnislos. »Warum denn das?« »Höhere kriminaltaktische Erwägungen.«
25. SZENE Waidmannslust, Buchhandlung »Leselust«
Dr. Lothar Vogelsang stand mit einigem Lampenfieber an seinem Pult und sah in den kleinen Raum, in dem sich an die fünfzig Gäste drängelten. Aus Angst, der Saal könnte leerbleiben und er sich fürchterlich blamieren, hatte er alle Nachbarn, Freunde und Kollegen mobilisiert. Nun aber konnten gar nicht alle Interessenten Einlaß finden, denn die Presse hatte seinen Otho ziemlich hochgepuscht. Dr. Vogelsang räusperte sich und nahm noch einen Schluck Selterswasser. Es kam ihm ziemlich albern vor, den Leuten das vorzulesen, was eigentlich zum Selberlesen geschaffen worden war. Vorlesen war etwas für Kinder und Blinde. Alle anderen hatten sich gefälligst ihre Bücher zu kaufen und zu Hause zu lesen. Da war er ganz der, der in eine Verlegerfamilie eingeheiratet hatte. Außerdem schienen ihm diese sogenannten Dichterlesungen fürchterlich veraltet zu sein. Die letzten Zuckungen eines sterbenden Mediums. Die Buchdruckkultur ging ihrem Ende entgegen. Lieber wäre ihm gewesen, sie hätten seinen Otho verfilmt, und Millionen hätten ihn zur Kenntnis genommen. Nun stand er hier und schwitzte, fürchterlich einsam inmitten der Menge. Niemand hätte ihm abgenommen, in welch unglaublichem Maße er sich elend fühlte. Mensch, du als Lehrer! Sicher, aber es war doch etwas völlig anderes, vor einer Klasse zu stehen und seine Stunde abzuhalten. Da war er Herr der Szene, der Dompteur, dem alle zu gehorchen hatten, der die Notenpeitsche schwingen konnte, hier aber war er den
Leuten ausgeliefert, hing sein Wohlbefinden ganz von ihrem Urteil ab. Fiel dies Urteil gar vernichtend aus, war er selbst vernichtet. Unterricht war Unterricht, da spielte er die Lehrerrolle, hier aber war er selber involviert, legte er vor anderen Intimes bloß, wurde er furchtbar verletzlich. Jeanette, hilf mir. Der Blick zu seiner Frau gab ihm wieder Mut und Kraft. Auch Leonardo und Graziella drückten ihm ostentativ die Daumen. Ganz in der Nähe dröhnte die S-Bahn vorbei. Waidmannslust war, kam man aus der Stadt, die Station vor Hermsdorf, und man konnte die Leselust vom Zug aus sehen. Die beiden Buchhändler waren sehr rührig und führten ihn mit netten Worten ein. Dr. Vogelsang registrierte mit Freude den Beifall, mit dem man ihn begrüßte, hustete noch einmal ab und nestelte die Lesebrille aus der Hülle. »Herzlichen Dank und herzlich willkommen. ›Marcus Salvius Otho – Der große Abgang eines kleinen Kaisers‹. Warum habe ich dieses Buch geschrieben? Nicht, weil Sachbücher und historische Romane derzeit gute Chancen haben, auf die Bestsellerlisten zu gelangen, sondern aus einem hohen inneren Interesse an diesem Stoff, an diesem Menschen.« Er staunte, wie gut das alles ging. Und wie dankbar es die Leute hinnahmen, daß er sie belog. Natürlich hatte er das Buch vor allem anderen in der Absicht geschrieben, einmal, wenigstens für eine gewisse Zeit, mehr zu sein als ein armseliges Deutschpaukerlein. Mit dem Nebeneffekt, auch in der Gunst seiner Frau ein wenig zu steigen, denn für sie war ein Mann nur ein Mann, wenn er ein Buch geschrieben hatte. Sicher liebte sie ihn, aber der letzte intellektuelle Kick, der schien ihr doch noch zu fehlen. Nun aber…
»… nun aber möchte ich Sie näher mit dem Mann bekannt machen, der den lebenden Politikern vielleicht als Vorbild dienen könnte. Bevor ich zum Romantext komme, ein paar historische Daten. Die Vorfahren Othos stammen aus der kleinen Stadt Ferentium, von einer alten und angesehenen Familie, die zu den Fürsten Etruriens gehörte. Sein Großvater wurde durch die Gunst der Livia Augusta zum Senator gemacht.« Er war sensibel genug, um sofort zu bemerken, wie die Aufmerksamkeit seiner Zuhörerinnen und Zuhörer schon nachzulassen begann, und machte es kurz. »Otho wird ein Freund Kaiser Neros, verführt dessen Frau Poppaea Sabina, steigt auf zum Quästor der Provinz Lusitanien und wird nach der Ermordung Galbas selber Kaiser…« Dann las er die Passagen, die er für seine besten hielt. Wie Otho schon bald begriff, daß die Caesarenwürde nichts weiter war als ein Fluch, daß die Kriege in Germanien die Sache nicht wert waren. Nach der Schlacht von Bedriacum kam der depressive Grundzug seines Charakters immer stärker zum Tragen. Es war Abend geworden, und Otho saß vor seinem Zelt, als der Bote kam, ein gemeiner Soldat, und ihm meldete, daß die Schlacht verloren sei. »Das ist nicht wahr, du lügst!« schrie einer der Offiziere. »Du verdammter Feigling du!« kam es von anderer Seite. Da riß der Bote sein Schwert heraus, durchbohrte sich damit und stürzte zu Othos Füßen nieder. Dr. Vogelsang stockte einen Augenblick, denn immer dreister, so schien es ihm, machte sich der Modellbahnbauer von gegenüber an seine Tochter heran. Graziella trug ein kurzes pfirsichfarbenes Kleid, und dieser Fendt, Jeanette hatte
den Namen erwähnt, war schon nahe dran, seine Hand auf ihre Knie zu legen. Er hatte Mühe, zum Text zurückzukehren. Otho sprang auf. »Schluß damit. Nicht länger will und darf ich das Leben tapferer und treuer Männer aufs Spiel setzen!« Er zog sich mit seinem Bruder und seinem Neffen zurück, küßte und umarmte sie. »Was hatte ich auch auf dieser langen Flöte zu blasen?« Mit diesem griechischen Sprichwort wollte er andeuten, daß er sich mit etwas zu schaffen gemacht hatte, dem er nicht gewachsen war. »Sagt Messalina, daß ich sie liebe.« Achtzehn Buchseiten weiter war alles vorbei. Am fünfundneunzigsten Tage seiner Regierung erstach sich Otho selbst mit einem Dolch. Viele der Soldaten küßten unter heißen Tränen Hände und Füße seiner auf dem Scheiterhaufen liegenden Leiche, einige töteten sich, als sie die Nachricht seines Todes vernommen hatten, aus Schmerz im gegenseitigen Zweikampf. Als Dr. Vogelsang am Ende war, dankte ihm ehrlicher Beifall. Die Fragerunde begann. »Ich bin restlos begeistert von Ihrem Buch!« rief Fendt.
26. SZENE Besetztes Haus in der Sredzkistraße
Mannhardt fuhr mit der U-Bahn bis zur Station Eberswalder Straße. Daß es auch hier im Bezirk Prenzlauer Berg, Ostberlin also, eine Hochbahn gab, war ihm als Westberliner nie so recht bewußt gewesen. Auch zu den so gänzlich anderen Zügen hatte er keinerlei Beziehung. In diesen Wagen war er nie nachts nach Hause gefahren, mit Rotwein abgefüllt und selig schwebend über der nachtbunten Stadt, hatte er nie eine Frau geküßt und bis zum Petting an sich gedrückt, war er niemals frustriert zum Dienst gefahren oder auch als Sieger heimgekehrt, hatte er keine Kinder auf dem Arm gehalten. Stand man draußen, erinnerten die gesickten Bleche an den Transsibirienexpreß, und saß man drinnen, sah es streng und ärmlich aus wie früher in den Grenzkontrollbaracken. Auch irritierte ihn, daß es hier in den Zügen der Typenreihe Gisela, GI, nur zwei Türen gab, während die westlichen Hochbahnzüge drei aufwiesen. Erst recht geriet er durcheinander, als er den Namen Eberswalder Straße las. Nie gehört. Eine Panikattacke war die Folge. Er war wieder der kleine Jürgi, drei geworden, und hatte sich verlaufen. Mutti! Unwillkürlich griff er nach Petra Zechows Hand. »Wat is’n?« »Entschuldigung!« So gebrechlich sei sie doch nun wirklich nicht, daß sie nicht mehr allein die Treppe runterkäme. »Nee, ich war bloß ‘n bißchen am Straucheln.«
Er war lange genug in der Psychiatrie gewesen, um zu wissen, daß solche Situationen nicht ganz ohne waren. Ängste, die Identität zu verlieren, nicht mehr zu wissen, wer man war und wo man war. Er konzentrierte sich mit aller Kraft auf die Frage, warum er diese Station nicht kannte. Als er Kind war, hatte es diesen Namen nicht gegeben, da war er sicher. Er fragte den Stationsvorsteher. »Janz früher Danziger Straße, dann Dimitroffstraße.« »Ah, danke.« »Det is doch nu scheißejal«, sagte Petra Zechow. »Für mich nicht.« Sie gingen die Schönhauser Allee hinunter, hatten rechter Hand die Hochbahntrasse, die allmählich zur Rampe wurde und kurz vor dem Senefelder Platz in einem Tunnelmund verschwand. Oderberger Straße, Sredzki-, Knaack- und Husemannstraße. Mannhardt, obwohl geborener Berliner und nicht mehr der Jüngste, hatte ihre Namen nie gehört. Und alles sah hier noch so aus wie in den Jahren, als er im Konfirmationsanzug durch die Stadt gelaufen war. Abgesehen mal von einigen Reklamen und neu eröffneten Copyshops und Computerläden, Versicherungsagenturen und dergleichen. Die meisten Häuserfronten so zerschossen wie eben nach dem Sieg der Roten Armee. Das Straßenpflaster arg zerschunden, pockennarbig. Die meisten Läden so, daß er instinktiv nach seiner Lebensmittelkarte suchte. »Hier möchte ich wohnen«, sagte er. Petra Zechow tippte sich an die Stirn. »Haste nich mehr alle.« Ihr Maßstab aller Dinge war das BeamtenheimstättenwerksHäuschen draußen in Rudow. »In solcher Welt bin ich aufgewachsen. Alles war Anfang, großer Aufbruch, alles war darauf ausgerichtet, besser zu werden. Das Wort Zukunft hat noch nach Glück und großer Verheißung geklungen.«
Petra Zechow zog die Phantomzeichnung mit dem Gesicht Stefan Stürzebechers heraus. »Hier mussa woh’n.« V-Leute aus der Hausbesetzerszene hatten das herausgefunden. Sie betraten den Flur, der nach feuchtem Putz, Schimmelpilz und Hundepisse roch. Das Blech der meisten Briefkästen war so zerfetzt, als hätte man kleine Handgranaten hineingeworfen. Alles war mit Aufrufen beklebt. Auch der Boden lag voller Flugblätter. Eine Wache war nicht aufgestellt. Der Bezirk war bekannt dafür, friedlich und human mit den Autonomen umzugehen. Es war nicht auszuschließen, daß Mannhardts Sohn in einem dieser Häuser wohnte. Doch wer ihnen entgegen kam, war nicht Michael, sondern eine junge Frau von einer solch militanten Schönheit, daß Mannhardt unwillkürlich stehenblieb. Hätte er das Casting eines Thrillers zu besorgen gehabt, er hätte sie als Rocklady genommen, als Domina in einem Edelpuff, als die Amazonenkönigin vom Prenzelberg. Der Jüngling an ihrer Seite sah dagegen aus, als käme er gerade von einer Geigenstunde. »Momentchen mal.« Petra Zechow verstellte beiden den Weg. »Kennen Sie diesen Herren hier?« Sie hielt ihnen die Phantomzeichnung hin. »Nein.« »Nein, tut mir leid.« Mannhardt hatte zuviel Berufserfahrung, um nicht mißtrauisch zu werden. »Kriminalpolizei.« Er zog seine Dienstmarke aus der Tasche. »Dürfen wir mal ihre Ausweise sehen.« »Bitte.« Annika Malitzki, las er, und Leonardo Vogelsang.
Da wußte er, woher er sie kannte. Das Kotzbusser OffTheater und dieses schöne Stück. Wie ein Schwanz, der in einer Frau pulsiert. Ein herrlicher Titel. Er sah ihr in die dunklen Augen. Klar, daß sie log. Erst jetzt fiel ihm ein, was ganz oben auf seiner Checkliste stand: Annika Malitzki fragen, ob das Alibi von Viola Lübz auch stimmt!!! Er tat es. »Ja, sicher bin ich bei ihr gewesen! Was soll’n der Scheiß, das anzuzweifeln!?«
27. SZENE Tegeler Forst
Graziella lief locker durch den Wald. Kiefern überwogen hier auf den sandigen Hügeln zwischen Heiligensee und Schulzendorf im Westen, Tegel im Süden sowie Hermsdorf und Frohnau im Osten, es gab auch genügend Buchen, Eichen und Birken, um das Auge zu erfreuen und die Luft angenehm frisch und feucht zu halten. Ehrenpforten-, Kloster- und Apolloberg hoben sich als deutliche Höcker aus dem bläulichen Grün, und sie brauchte schon einiges an Kondition, um beim Hochlaufen nicht zu sehr ins Schnaufen zu kommen. Die Ergebnisse vom Wochenende -6,45 Meter im Weitsprung und 13,51 Sekunden über die Hürden – waren eine gute Motivation. Sie liebte diesen Wald, und er gab ihr die Kraft zu allem, auch zum Studium, ja fast war sie ein Kind dieses Waldes, und dennoch hatte sie ein jedesmal ein wenig Angst, ihn zu betreten. Eine ungewisse, frei flutende Angst, die keinen Namen hatte. Meine Rotkäppchen-Ängste, sagte sie zuweilen zu ihrer Mutter, daß der böse Wolf mich fressen wird. ›Komm, du bist schneller als jeder Mann, der dir was tun könnte, du kannst doch jederzeit davon laufen.‹ – ›Gott, Jeannie, als wenn Angst was Rationales wäre.‹ – ›Such dir einen positiven Anker, denk dir, es käme ein Prinz.‹
Sie umrundete den kleinen, künstlich angelegten See, der den blauen Himmel einfing wie ein großes Auge. Liebermann hätte ihn malen können, nein, eher Monet. Es waren jetzt am frühen Nachmittag nur wenige Menschen im Wald. Auf vielen Quadratkilometern verteilten sich nur wenige Jogger, Hundebesitzer, Liebespaare und Jungen, die ihre Mountainbikes zu Schrott fahren wollten. Im Radio hatten sie Regen und Gewitter angesagt. Ihre Schnelligkeit… Aber was hatte sie für eine Chance, wenn jemand mit einem Feldstein nach ihr warf, ihre Ferse zerschmetterte und sich dann über sie hermachte. Keine. Sie hätte Leonardo mitnehmen sollen. Oder diesen Feinmechaniker von gegenüber, Fendt. Quatsch, in all den Jahren war nie was passiert. Dennoch orientierte sie sich etwa in Richtung Hermsdorf und Buchenberg. Da gingen immer welche spazieren. Und bergauf konnte sie noch einmal einen kleinen Sprint einlegen. Sie beschleunigte etwas, als es einen Hang hinaufging. Rechts und links des schmalen Weges standen junge Lärchen. Deren lichte Nadeln mochte sie besonders. Bäume, die heiter waren, leicht, grazil. Sie achtete nicht mehr auf den Pfad und trat in ein Loch. Eine kleine Fallgrube, mit Zweigen abgedeckt, mit Blättern, und hellem Sand darüber. Sie stolperte, der linke Fuß verdrehte sich. Der Schmerz, das jähe Wissen, daß sie auf die nächsten Starts verzichten mußte. Sie schrie auf und stürzte der Länge nach zu Boden. Nachdem sie den Fuß aus dem Loch gezogen hatte, wußte sie, daß der Knöchel zunächst hinüber war. Auftreten konnte sie nicht, und auf dem rechten Bein nach Hause humpeln war unmöglich. Panik erfaßte sie.
Wenn das Gewitter kam und sie der Blitz erschlug. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ehe ihre Familie was merkte und sich auf die Räder schwang, um sie zu suchen, konnten Stunden vergehen. Sie setzte sich auf einen umgestürzten Baum. Sollte sie um Hilfe rufen? Nein, sie fand das einfach blöd. Also warten, bis jemand vorüber kam, ganz zufällig einmal. Und wenn es nun dieser Triebtäter war, von dem der Nordberliner neulich geschrieben hatte. Unsinn, das war doch unwahrscheinlich hoch unendlich, daß der, wenn es ihn denn wirklich gab, genau an dieser Stelle nach einem neuen Opfer suchen würde, da wo der Jagen 83 auf den Jagen 82 stieß. Aber der hatte sicherlich die Witterung dafür. Hatte sie schon seit längerem beobachtet und die Fallgrube hier gebaut. Um sie wehrlos zu machen. Ringsum war dichtes Unterholz. »Hilfe!« schrie Graziella. »Hilfe!« Hinter ihr raschelte es. Sie fuhr herum und sah, von unten blickend, zwei nackte Beine und eine furchtbar schwarze Schambehaarung.
28. SZENE Neukölln, Hermannstraße
Dietmar Fendt stand auf der Brücke und sah hinunter auf die S-Bahngleise. Schon ewig bauten sie hier. Erst an der Rekonstruktion des Südrings, und nun sollte auch die UBahnlinie 8 verlängert werden, unter der S-Bahn hindurch, die sich wie ein ausgetrocknetes Flußbett vom Flughafen Tempelhof in Richtung Treptow zog. Als Kind war ihm stets verboten worden, mit der S-Bahn zu fahren. ›Die is kommunistisch, mit die fährste nich!‹ Der Boykott nach dem Mauerbau. Außerdem war sein Vater bei der Westberliner UBahn beschäftigt und durfte die BVG umsonst benutzen. Fendt löste sich vom Brückengeländer und machte sich auf den Weg zur Rollbergstraße. Seine Mutter wurde neunundvierzig, unterwegs waren noch Blumen zu kaufen. Die Hermannstraße zeigte sich hier oben von einer munteren Urbanität. Die Friedhöfe mit ihren alten Toren und Mauern St. Jacobi und St. Thomas, Luisenstädter, Jerusalem und Neue Kirche – verliehen ihr nicht nur kleinstädtischen Charme, sondern auch jene Würde und Geschichtlichkeit, die den Plattenbauten im Osten so fehlten. Und trotzdem haßte Fendt dieses Neukölln. Autolärm und Hundekacke. Abgase, Pißgestank und Arme-Leute-Läden. Alles war ihm eine Nummer zu klein. Nach zwei Wochen Hermsdorf nie wieder Neukölln. Zu groß war der Kontrast. ›Das ist doch deine Heimat hier!‹ ›Ich scheiß auf diese Heimat!‹
Raus hier, weg von hier. Seine eigene kleine Wohnung in der Rollbergstraße, dicht neben der seiner Eltern, wollte er vor dem Umzug nie wieder betreten. Schuld an allem war Graziella. Er war in einem Maße verliebt, wie er es noch nie gekannt hatte. Wie Leute Häuser besetzten, so hatte Graziella seinen Körper besetzt, seinen Kopf, seine Seele, sein Herz. Gleich einem Schizophrenen hörte er immer wieder die Stimme eines Schlagersängers. Alles wird heller – Graziella… Die Welt, die dreht sich immer schneller – Graziella, Graziella… ›Warte mal, ich muß noch Blumen kaufen für meine Mutter.‹ Ständig ging sie neben ihm her, und er sprach mit ihr. Am UBahnhof Leinestraße hatten sich die Blumenhändler vor den Friedhofstoren ausgebreitet, und er kaufte für seine Mutter neunundvierzig Nelken. Rote, weiße, gelbe, blaue – alles, was sie hatten. Er haßte Nelken und hielt sie für fürchterlich spießig, aber seine Mutter ließ keine anderen Blumen gelten. ›Du, ich kann nichts dafür.‹ Immer wieder mußte er sich bei Graziella für seine Familie entschuldigen. Wenn sie geheiratet hatten, bekamen sie ja die Etagen in der Hermsdorfer Villa, die jetzt noch an Peccioli vermietet waren. Peccioli lebenslänglich im Hochsicherheitstrakt und dafür die Firma Safety Fendt in seinen Räumen. Mit seiner Kripoerfahrung hatte er im Nu ein Unternehmen aufgebaut, das zum Marktführer wurde. SAFETY FENDT Überfall- und Einbruchsmeldeanlagen Zutrittskontrolleinrichtungen Fotografische Raumüberwachungsanlagen Video-Überwachungssysteme
Tresore jeder Größe Schloßstraße 186 13467 Berlin (Hermsdorf) Er hatte sein Firmenschild schon genau vor Augen. Alles wird heller – Graziella… Die Welt, die dreht sich immer schneller – Graziella, Graziella… Da kam jemand aus dem Bäckerladen und stieß ihn an. Nicole. Seine Verlobte, irgendwann bring ich sie um…
29. SZENE Neuköllner Mietwohnung
Fendt schaufelte seinen Nudelsalat gottergeben in sich hinein. Das Wohnzimmer seiner Eltern schien ihm mit dreiundzwanzig Gästen ebenso überfüllt zu sein wie die SBahn morgens auf dem Bahnhof Friedrichstraße, wenn die Pendler aus dem Osten zu ihren Arbeitsstellen in den Westen fuhren. Nur, daß die Luft der Raucher wegen noch um vieles schlechter war. Sie saßen an einer langen Tafel, und alle schrien durcheinander, Westler wie Ostler. - Nur achtzig Prozent von euam Lohn, det is doch ‘ne Sauerei, Mann! Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! - Und jeder haut jeden inne Pfanne. - Früha bei uns, da war det anders. Da hamse alle zusammenjehalten. Die Solidarität, wenn de vastehst, wat ick meine… - Ha, ha, ha, ick lach ma tot! Und imma eena vona Stasi dabei! - Na, jedenfalls hatten wa da noch Arbeit. - Und Spaß bei de Arbeit. - Und dann nach de Arbeit ab und Urlaub jemacht auf Bali, wa! So ging das schon, seit sie sich zum Kaffeetrinken an den Tisch gesetzt hatten. Drei Stunden lang gluckten sie da und schnatterten. Ich quatsche, also bin ich. Fendt litt gewaltig. In Gedanken war er bei Graziella.
Alles wird heller – Graziella… Die Welt, die dreht sich immer schneller – Graziella, Graziella… Er sah sich mit ihr in der S-Bahn sitzen. Auf den alten Bänken aus hell lackiertem Holz. ›Im nächsten Jahr möchte ich in Los Angeles studieren und in Santa Monica bei Carl Lewis trainieren. Kommst du mit rüber?‹ ›Klar, ich hab mich schon angemeldet für ‘n halbes Jahr Fortbildung bei der DEA, der Drug Enforcement Administration.‹ ›Dann hab ich ja meinen Bodyguard immer dabei.‹ Sie kuschelte sich eng an ihn. Das Bild verschwand abrupt, als seine Mutter mit schriller Stimme ihr Horoskop zu verlesen begann. »Ihre Geduld wird auf eine harte Probe gestellt…« Ihre Freundin Monika, auch im Glückskauf-Supermarkt an der Kasse, kreischte dazwischen. »Hat Wilfried imma noch keinen Sex mit dir gehabt?« Fendts Vater sprang auf, um ihr den Mund zuzuhalten. »Pssst! Dreimal täglich mit dir – wie soll ick’n da noch zu Hause…« Alle brüllten vor Lachen. Seine Mutter sprang auf, griff zum Tortenheber und ging seinem Vater an den Hosenschlitz. »Jetzt wird det Schwein kastriert!« Mit einem Aha-Erlebnis begriff Fendt, warum er zuerst auf Nicole hereingefallen war; sie aber nun bedrohlich haßte. Nicole hatte eine unheimliche Ähnlichkeit mit seiner Mutter. Dasselbe Muster. Und Graziella, die so ganz anders war, wurde nun die große Chance für ihn, von seiner Mutter loszukommen, endlich überzusiedeln in eine andere Welt. Wo
es stiller war. So zurückhaltend wie auf einem englischen Landsitz in Sussex. Seine Mutter las weiter. »Eine wichtige Entscheidung läßt auf sich warten.« »Fahrta nu wieda mit uns nach Bad Bevensen oda nich?« fragte Silvia, ihre andere Freundin, die Frau eines UBahnfahrer-Kollegenn. Seine Mutter ließ es offen und konzentrierte sich auf den letzten Satz ihres Geburtstagshoroskops. »Sie fühlen sich so stark, daß sie alles alleine schaffen wollten.« Das war das Signal zum großen Auftritt seines Vaters. Alle hatten schon eine Menge getrunken, und so hatte er plötzlich den Beate-Uhse-Vibrator seiner Mutter in der Hand und ließ ihn surren. »Hier, zum Alleinmachen…« Ein wahnsinniges Gekreische überall, man kämpfte um das Ding, die Stimmung hatte ihren Höhepunkt erreicht. Als seine Mutter ihren Joystick endlich wieder an sich gebracht und in der Schrankwand fest verschlossen hatte, diskutierten sie wieder wild durcheinander. - Det jab’s bei uns früha nich. - Klar, da habta beim Subotnik euan Orgasmus jekriegt. - Man wird sich ja ooch mal beherrschn könn’n. - Mann ja, Frau nich! - Kiek ma an, die Moni is ‘ne Feministin. - Hatse wieda mal Emanzipan-forte jeschluckt! Fendt guckte immer wieder auf die Uhr. Er litt unsäglich unter seiner Sippe. »Logorrhoe«, flüsterte seine Schwester ihm zu. »Was bitte?« Sandra erklärte es ihm. »Redefluß und Redseligkeit als Enthemmungserscheinung und Folge mangelnder sprachlicher Selbstkontrolle.«
»Ah, ja.« Fendt fand sie ganz passabel, zumal sie nach einigen wilden Jahren mit diversen ausländischen Liebhabern nun an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege studierte und Beamtin werden wollte. »Bei uns war neulich ‘ne interessante Diskussion über ‘n Lauschangriff. Die hatten da einen Kollegen von dir, der war mächtig dagegen. Mannhardt, kennst du den?« »Ja, einer von diesen komischen ProPos.« »Äh?« »Den Progressiven Polizisten. Für die sind die ärgsten Täter immer die ärmsten Opfer.« »Sind sie doch auch – Opfer der gesellschaftlichen Verhältnisse, Opfer von Eltern, von denen sie nicht geliebt, sondern geschlagen worden sind.« Fendt stöhnte auf. »Mann, eure Professoren da!« »Ich weiß, eure war’n da anders.« Sandra nahm es gelassen. »Was machst du’n jetzt?« Fendt zögerte einen Augenblick. »Nichts Besonderes. Ich sitze im Büro und arbeite an einem Programm gegen die Gewalt in den Schulen.« Sein Vater klopfte gegen sein Glas und erbat sich einen Augenblick Ruhe. Jetzt kam das obligatorische Gedicht. Neunundvierzig ist nun unsre Jutta, Meine liebe Frau und eure gute Mutter. Aber ich nicht und kein andrer Mann Sieht ihr dieses hohe Alter an. Im Gegenteil: Sie ist sehr jung geblieben Und versteht sich immer noch aufs Lieben. Und wenn sie sitzt an ihrer ›Glückskauf‹-Kasse, Ist sie jeden Tag auch große Klasse. Von allen, liebe Jutta, wirst du heut bewundert,
Und alle wünschen Dir viel Glück bis zum halben Hundert. Viel Beifall gab es, dann begann das andere Ritual: Hoch soll sie leben, hoch soll sie leben, dreimal hoch. Der Hausmarken-Sekt schäumte in den Gläsern, und es wurde angestoßen. Danach begann der ruhigere Teil des Abends, und auf vielfachen Wunsch zeigte sein Vater die Dias vom letzten Urlaub in Bad Bevensen. Fendt schloß die Augen und sah Graziella. Wie sie im Stadion an der Finsterwalder Straße in ihren Startblöcken kniete. Diese wunderbaren Knie und Schenkel. Schöner als bei allen Models in der Brigitte und zehnmal so erotisch wie bei den Playboy-Girls. Ihr weißes Höschen war so knapp, daß sich die Schamspalte überdeutlich abzeichnete. Seine Erektion wurde so heftig, daß es geradezu schmerzte. »Oh.« Nicole, die neben ihm saß, hatte ihre Hand in seinen Schoß gelegt. »Komm, wir gehen schnell mal ins Bad.«
30. SZENE Zahnarztpraxis
Graziella humpelte zum Tisch, um die eben gelesene Illustrierte zurückzubringen. Sie hatte keine Lust mehr zu irgendeiner Lektüre. Eine kleine Stelle am oberen Schneidezahn, nichts weiter, aber auch in einer Bestellpraxis ging es nicht ohne Wartezeiten unter einer halben Stunde ab. Sie fügte sich in ihr Schicksal. Jetzt, wo sie mit dem Training aussetzen mußte, hatte sie eh Zeit genug für solche Sachen. Sie war die letzte Patientin vor der Mittagspause und konnte sich hinlümmeln, wie sie wollte. So legte sie ihren geschwollenen Fuß auf einen der Stühle und widmete sich den Neuruppiner Bilderbogen, die fein gerahmt an den Wanden hingen. Herrlich… Das Familienleben der Königin Victoria von England. Einzug Jesu in Jerusalem. Aus dem Leben Friedrichs des Großen. Das Blatt No. 2487 zeigte zwei riesige Blumenkörbe und herrliche Aufschriften. Vertraute Liebe weichet nicht, sie hält gewiß, was sie verspricht. Unter Rosen und Narzissen fließe Dir dein Leben hin. Und dann die Gedichte. Ohne Dich, Du holdes Engelein! Werd ich traurig stets und ganz verlassen sein. In diesem Augenblick ging die Tür auf, und Peccioli trat ins Wartezimmer. Sie starrten sich an.
Graziella fuhr hoch. »Ich hab doch gar nicht um Hilfe gerufen.« Peccioli lachte. »Und ich bin gar nicht nackend heute.« »Sie konnte sich noch genau erinnern, wie er ihr die Sache geschildert hatte. Wenn mal keine Wolken am Himmel sind, dann überkommt es mich und ich kann nicht anders, als mir ‘ne versteckte Lichtung zu suchen und ‘n Weilchen ohne alles in der Sonne zu liegen. Nicht mit anderen Nackten zusammen in einem FKK-Gebiet, sondern mutterseelenallein im Wald. Da hab ich dann Ihren Schmerzensschrei und Ihr Stöhnen gehört und bin aufgesprungen, um mal nachzusehen, was da ist. Und bei Ihrem Hilferuf hab ich wirklich geglaubt, daß Sie überfallen worden sind.« »Komisch, und nun führt uns der Zufall schon wieder zusammen.« Graziella wußte, kaum hatte sie es gesagt, daß sie damit natürlich totalen Stuß geredet hatte, denn schließlich wohnte und arbeitete Peccioli bei ihnen im Haus, und sie liefen sich jeden Tag mehrmals über den Weg. »Das Schicksal scheint was mit uns vorzuhaben«, sagte Peccioli. »Ja, daß wir am selben Tag ‘ne Plombe kriegen…« »Oh, was gibt es denn noch so, was ein Mann und eine Frau am selben Tag bekommen können?« Obwohl es ein anderes Jahrhundert war, hatte Graziella das Gefühl, rot zu werden. Vielleicht waren die Neuruppiner Bilderbogen schuld daran. Die Szene im Wald war alles andere als erotisch gewesen. Für irgendwelche Gefühle dieser Art hatte sie viel zu große Angst gehabt. Und Peccioli war auch sofort wieder zurück ins Dickicht gestürzt, als er gesehen hatte, daß keinerlei Gefahr bestand. Schon um sich anzuziehen. Dann hatte sie sich ein wenig auf ihn gestützt und war mit ihm zum Hauptweg
gehumpelt, wo ihr eine Radfahrerin angeboten hatte, sich hinten auf den Gepäckständer zu setzen. Mehr war nicht passiert. Gott, was hätte Hollywood daraus gemacht. Sicherlich einen so herrlichen Film wie Harry and Sally. Statt nur ›Herzlichen Dank und: Tschüß dann‹. Aber ihr großer Traum war nun einmal, über die 100 Meter Hürden unter der magischen Grenze von dreizehn Sekunden zu bleiben, ihre 12,99 zu laufen – und nicht unter, neben, über oder auf Ron Peccioli zum Orgasmus zu kommen. ›Man kann doch beides haben… Zumindest solange dein Knöchel noch so dick ist und du eh nicht zum Training gehen kannst.‹ Und gegen ihren inneren Widerstand mußte sie an das Kotzbusser Off-Theater denken, an Annika Malitzki und die eine Szene, wo sie es gleich am Anfang als Elena wüst mit diesem Pierre getrieben hatte. Wenn nun Ron in ihr pulsierte… Nein. Sie brauchte einen Mann, der zärtlich war und reden konnte, denken, analysieren, und Peccioli kam ihr eher vor wie ein römischer Legionär aus dem Otho-Buch ihres Vaters. Nichts weiter als Eishockey, American Football, sein Fuhrgeschäft und die schnelle Nummer im Kopf. Doch dieser Ron Peccioli kniete sich vor ihr auf den Boden, streichelte ihren Knöchel und pustete auf die schlimme Stelle. »Wußten Sie nicht, daß ich Wunderheiler bin…« In diesem Augenblick kam die Sprechstundenhilfe, umGraziellaa in eines der Behandlungszimmer zu bitten. Sie stand auf, und in der Tat, der Knöchel schmerzte schon viel weniger. »Oh danke…« »›Non ragioniam di lor ma guarda e passa!‹« Peccioli lachte. »Wie schon Dante sagte: ›Kein Wort mehr darüber, sondern schau und gehe!‹«
Und wieder wurde ihr heiß. Er schien ihre Gedanken lesen zu können. Nur, um sie zu widerlegen. War der Prinz gekommen?
31. SZENE S-Bahnlinie 1 zwischen Frohnau und Wilhelmsruh
Annika Malitzki kam aus Frohnau, wo am Edelhofdamm der Autor ihres Stückes lebte. Matthias Walther war von Hause aus Sozialarbeiter und im Bezirksamt mit der Betreuung psychisch auffälliger Menschen befaßt. Bislang hatte er nur Heftromane geschrieben, Arzt- und Liebesromane, und auf die Idee, aus dem Buch der Nin ein Stück zu machen, war er nur gekommen, weil ihn eine feministische Kollegin namens Heike damit gehänselt hatte, daß er als Mann nicht in der Lage sei, das poetisch-sinnlich Element im Delta der Venus auch nur halbwegs zu erfassen. War er auch nicht, wie Annika nun wußte, denn sie hatte zweimal mit ihm geschlafen, um das herauszufinden. Viel mehr als die übliche 08/15-Nummer war nicht herausgekommen. Obwohl das Stück wirklich phantastisch war und sie sich schnell darüber einig waren, wie man daraus einen Wahnsinnsfilm entwickeln konnte. Ein Privatsender wollte ihn machen, wenn auch unter anderem Titel. Wie ein Schwanz, der in einer Frau pulsiert schien ihnen völlig ungeeignet. Dabei stand es so im Original. Klar hingegen war, daß Annika die Hauptrolle spielen sollte. Sie sah auf die Uhr. 22 Uhr 42. Der Zug war aus Oranienburg gekommen und hatte in Frohnau nur kurz gehalten. Sie war in den vollsten der sechs Wagen gestiegen, irgendwo in der Mitte.
Eine Wandergruppe, die aus der Fürstenberger Gegend kam, hatte die meisten Plätze besetzt. Völlig erschöpft dösten die Rucksackträger vor sich hin. Der erste Halt. Annika sah aus dem Fenster. Hermsdorf. 22 Uhr 43. Schon kam das barsche Zurückbleiben! Sie sah auf die bunte Netzspinne, die über ihr hing. Wenn sie zu Viola wollte, stieg sie am besten Friedrichstraße um. Oder? Sie zögerte ein wenig, denn dabei wäre sie Savignyplatz vorbeigekommen. Nein. Nicht über die Schienen hinweg, über die Stelle, wo die Räder Lübz zerschnitten hatten. Lieber den Umweg machen und mit der S1 nach Wannsee hinunter und dann zum Bahnhof Grunewald zurück, wieder nach Norden hinauf. Sie liebte Viola, und nach Lübz’ Tod konnte die Freundin nicht mehr anders schlafen als in die Höhlung ihres Körpers gekuschelt, beide in Embryohaltung. Scheiße. Matthias Walther hatte billige Kondome benutzt, vielleicht roch sie was. Egal, Viola hätte nur gelacht. Annika lehnte sich zurück und schlug ihren Stanislawskij auf, Theater, Regie und Schauspieler. Recht eigentlich studierte sie ja Theaterwissenschaft und Regie, und das Kotzbusser OffTheater war nur Acting out und Übung. Der Riesenerfolg, den sie mit dem Nin-Stück hatten, war nicht vorauszusehen gewesen, und so etwas war bestimmt nicht wiederholbar. Sie zog das Lesezeichen heraus und begann. Den Augenblick des Bekanntwerdens des Künstlers mit der Rolle kann man mit der ersten Begegnung zukünftiger Ehegatten vergleichen. Er ist unvergeßlich. Man muß bei der ersten Bekanntschaft mit der Rolle äußerst aufmerksam sein, da sie die erste Etappe des Schaffens ist. Annika hatte sich derart in den StanislawskijText vertieft, daß sie gar nicht bemerkte, wie sich auf der Station Wittenau (Nordbahn) ihr Waggon schlagartig leerte. Die Wandergruppe stieg geschlossen aus.
Der Zug fuhr weiter, gewann an Tempo, ließ linker Hand den finsteren Backsteinklotz von Bergmann-Borsig liegen, jetzt ABB. Auf ihrer Seite, sie warf immer wieder einen kurzen Blick aus dem fleckigen Fenster, dehnte sich endloses Laubengelände. Wie ein nächtliches Meer. Die Positionslichter der Fischerboote blitzten heller als Venus und Wega. Plötzlich stand er hinter ihr. Ein Mann mit einem Kabelende in der Hand. Und holte aus…
32. SZENE Arbeitszimmer Jeanette Vogelsang-Nisble
Jeanette Vogelsang-Nisble war ein ausgesprochener Nachtmensch und saß gerne bis nach Mitternacht am Schreibcomputer oder über Manuskripten. Heute abend war ein gewaltiger Stapel unbeantworteter Briefe abzuarbeiten. Die neuen Herren der Edition Nisble brüteten immer wieder Neues an. Ob nicht Leonardos Erstling doch im eigenen Hause erscheinen sollte? Offenbar hatte man in Stuttgart vernommen, daß Im Samen des Volkes mehr sein würde als ein Groschenroman. ›Nein‹, faxte sie ins Schwabenland. ›Ich bin strikt dagegen, denn das würde doch zu sehr nach Protektion aussehen. Sollte er Erfolg haben, dann machen wir lieber sein zweites Buch. Ich werde ihm vorschlagen bzw. durchzusetzen versuchen, daß in seinem Vertrag mit den Hamburgern kein Options-Passus für das nächste Buch enthalten ist.‹ Kaum hatte sie das Fax abgeschickt, war der Geschäftsführer am Apparat. Obwohl es auf 23 Uhr zuging. Öschelbrunner war wie immer reizend. »Entschuldige, Jeannie, daß ich noch anrufe. Ich hoffe, ich habe deine Lieben nicht um ihren verdienten Schlaf gebracht.« »Nein, hast Du nicht. Leonardo und Graziella sind noch gar nicht wieder zu Hause, und Lothar geht wohl mit Vitellius schwanger, das heißt, nächstens durch die Straßen.« »Vitellius – ist das euer neuer Collie?« »Nein, der Nachfolger Othos als römischer Kaiser.« »Soll er man, denn der ›Otho‹ verkauft sich ja prächtig.«
Jeanette Vogelsang-Nisble nannte ihm die Zahlen. »Und nach Vitellius kommen zumindest noch Vespasian, Titus und Domitian.« »Soll er mal lieber mit Vespasian weitermachen, von dem kennen sie doch alle das mit dem ›pecunia non olet‹.« Und als hätte sie ihr Großes Latinum nicht mit Eins gemacht, fügte er noch die Übersetzung hinzu. »Geld stinkt nicht.« Jeanette Vogelsang-Nisble verzog dennoch das Gesicht. »Ich werd’s ihm sagen, aber er ist sicher nicht wegzubringen vom Chronologischen.« »Schön.« Der Geschäftsführer hustete kurz. »Noch mal zu deinem Sohn zurück, zu deinem Fax von eben. Es gibt Überlegungen bei uns, eine eigene Krimireihe zu starten – und Leonardo wäre da ein schöner Anfang.« »Er sieht seinen Roman mehr als die Phänomenologie eines Hauses.« »Wenn das draufsteht, kauft es aber keiner.« Jeanette Vogelsang-Nisble versuchte, ihm die Sache mit der Krimireihe wieder auszureden. »Bringt es wirklich was, mit einem großen Lastwagen Sand in die Sahara zu fahren?« »Sicher, du. Was meinst du, wie sich die Medien um eine solche Story reißen. Das haben wir verkauft, ehe es gestartet ist, als Buch, als Film, als Song.« »Wo willst du so viele neue Autoren herkriegen!?« wandte sie ein. Er lachte. »Schreiben kann jeder.« »Das merkt man diesen Produkten auch nur allzu deutlich an.« »Hochverehrte Jeannie, ich weiß, du bist noch jung, aber würdest du bitte-bitte die Gesetze des Marktes dennoch begreifen. Neue Plots gibt’s in diesem Genre nicht; neue Tatorte, neue Stilrichtungen und eine gänzlich andere Krimiästhetik ebenfalls nicht. Die Leute schreien aber nach
dem Neuen. Das Neue an sich ist die Gottheit heute, die angebetet wird. Qualität und Inhalt sind doch scheißegal. Was bleibt der Branche denn da anderes übrig, als neue Namen zu bringen. Das zwanzigste Buch von – na, denk dir einen aus der alten Garde – ist immer noch um vieles besser als das erste von Chantal Hasenpusch, aber alle Journalisten stürzen sich auf das Werk von Chantal Hasenpusch, so schmalbrüstig es ist, heben es in den Himmel und puschen es hoch.« Jeanette Vogelsang-Nisble wußte, daß diese Analyse im Grunde richtig war, merkte aber dennoch Kritisches an. »Die Neuen sind die Jüngeren und können das Neue in der Gesellschaft besser auffangen als die Alten. Leonardo ist schon besser als der zwanzigste Aufguß von…« »Okay, keine Ausnahme ohne Regel. Und darum will ich ihn ja zur nächsten Buchmesse als Nisble-Autor haben. Der Enkel, der den Maßstab setzt.« »Ich werd noch mal mit ihm reden.« »Tu das bitte.« Noch ein paar Nettigkeiten, dann legte er auf. Graziella stand im Zimmer, um Gute Nacht zu sagen. Jeanette Vogelsang-Nisble schaute mit flüchtiger Routine zu ihr hin. »Hallo.« Sie stutzte. »Ist was?« »Wieso?« »Deine Augen. Das letzte Mal hab ich dich 1983 so strahlen sehen – unterm Weihnachtsbaum draußen im Garten. Als das Pferd dastand, das du dir so sehr gewünscht hattest.« »Winnetou, ja.« Graziella kam näher. »Was machst’n da für ‘n Buch?« »Was über Cyber-Sex und virtuelle Welten.« »Wieder so ‘n esoterischer Firlefanz?« »Nein, ganz konkret. Immer weniger Leute schlafen miteinander. Das ganze Ritual vorher und nachher, die Angst, sich dem anderen zu weit preisgeben zu müssen, die Angst vor
dem ganzen Beziehungsstreß, die Angst vor Aids und ungewollten Kindern. Die richtige Lust kommt nur, wenn man alleine ist und mit Hilfe von Computern, Bildschirmen und Sensoren.« Graziella sah sie spitzbübisch an. »So ganz sollte frau auf leibhaftige Männer doch nicht verzichten.« Jeanette Vogelsang-Nisble wurde noch hellhöriger. »Wer ist es denn?« »Verrate ich nicht.« »Der Modellbahnschmied von gegenüber?« »Sei doch nicht so neugierig.« »Fendt mit seiner Fantasy?« »Jeannie, bitte.« Die Haustür ging, und ihr Mann kam von seinem spätabendlichen Spaziergang zurück. Schneller als sonst war er oben bei ihnen. »Große Aufregung am Bahnhof, wieder ein S-Bahn-Mörder unterwegs. Kurz vor Wilhelmsruh is ‘ne Frau aus’m Zug gestoßen worden!«
33. SZENE Hermsdorf, Heinsestraße
Fendt kam aus der S-Bahn-Unterführung und setzte sich auf eine leere Bank. Seit sieben Uhr hatte er am Schraubstock gestanden oder Messingteile verlötet, nun war mal eine Pause fällig. Das Leben hier am Bahnhofsvorplatz war so wohlig träge wie an einem heißen Tag in Alabama. Hunde pinkelten gegen den Findling, der an Max Beckmann erinnern sollte, den Expressionisten. Flotte Seniorinnen, overdressed, als würden sie auf einem Kreuzfahrt-Schiff zum Dinner eilen, klapperten die Marktstände ab und waren emsig bemüht, hier und da einen Groschen zu sparen. Die Chinesen gegenüber warteten auf erste Esser. Fendt fragte sich, ob sie auch schon ihr Schutzgeld zahlten, an die Triaden. War auch nur rauszukriegen, wenn man den Großen Lauschangriff wählte. Oben hielt ein S-Bahn-Zug. Baureihe 480. Auf der Nordbahn zwischen Gesundbrunnen und Frohnau-Oranienburg wenig eingesetzt. Als hätte die West-BVG noch große Angst, ihr Schmuckstück in den Osten zu schicken. Im Papierkorb neben der Bank steckte eine schnell ausgelesene BILD-Zeitung. Riesig die Überschrift: NORDBAHN gleich MORDBAHN? Fendt las den Bericht. Wie sie die Schauspielerin Annika Malitzki am Fuße des Bahndamms gefunden hatten. Mit schweren Kopfverletzungen aus dem Zug geworfen. Lebensgefahr, Intensivstation. Vom angrenzenden
Aluminiumwerk aus hatten zwei Arbeiter den Täter gesehen. Einen Mann von vielleicht vierzig Jahren. Er war in Richtung Kopenhagener Straße entkommen. Fendt hatte Angst um Graziella. Immer öfter hatte er seinen Laser und seine Richtmikrofone auf die Zimmer der Vogelsangs gerichtet, und so wußte er auch, daß sie häufig mit der S-Bahn fuhr. Zum Training, zum Studium, um einzukaufen. Nicht jedes Gespräch mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem Bruder hatte er mithören können, das verstand sich von selber, aber schon das gelegentliche Einklinken hatte ihn vieles wissen lassen. Welches Parfüm sie benutzte (Lancaster), welche Pizza sie am meisten mochte (Pescatore), welchen Musiker und welchen Schauspieler sie am meisten verehrte (Phil Collins und Dustin Hofman), wann sie ihre Tage hatte (heute wohl), welche Note sie für ihr Referat über Max Slevogt bekommen hatte (eine Eins), wie sie dieses säuische Stück mit der Annika M. gefunden hatte (voll ›mit Schmetterlingen im Bauch‹) und daß sie Angst hatte, im Dunkeln zu schlafen. Von einem aktuellen Freund war nie die Rede gewesen, lediglich von einem Zahnarztsohn (›mit dem Urban, du, daß ist ja wohl ‘n einziger Flop gewesen‹). Alles wird heller – Graziella… Die Welt, die dreht sich immer schneller – Graziella, Graziella… Das Bild, das er immer noch und immer wieder vor Augen hatte, war plastisch genug: Sie hat mich besetzt wie ein leerstehendes Haus. Und nicht nur, daß sie ihm im Kopf herumging bis zum absoluten Wahnsinn, er onanierte auch, den Video-Film mit ihr auf seinem Bildschirm, so exzessiv, daß Hoden, Prostata und Eichel regelrecht schmerzten. Nach der Geburtstagsfeier in Neukölln hatte er sich sogar von Nicole zum Vögeln abschleppen lassen. Nur, um den Triebstau abzubauen. Und sich dabei vorgestellt, es mit Graziella zu tun.
Wie sein Schwanz in ihr pulsierte. Im Gespräch mit ihrer Mutter hatte sie den Titel des Nin-Stückes immer wieder erwähnt und seine Phantasie damit schlimm entzündet. Dietmar Fendt war kein Poet, und er las zumeist Sachbücher und keine Jahrhundertwende-Romane, und dennoch formulierte er den Tatbestand mit einem Wort von damals: Ich bin ihr richtiggehend verfallen. Ihre Vermählung geben bekannt GRAZIELLA VOGELSANG (Kunsthistorikerin) und DIETMAR FENDT (Kriminaloberkommissar) Seine Zukunft hieß Graziella. Er sah alles so deutlich wie im Cyberspace. Wie er mit ihr in der Hermsdorfer Villa wohnte, da wo jetzt Peccioli saß. Wie er durch den Einfluß seiner Schwiegermutter schnell aufstieg bis zum Landeskriminaldirektor. Oder doch lieber die Firma Safety Fendt? Egal, auf jeden Fall: Nie wieder den Neuköllner Mief! Hoffentlich ging der Große Lauschangriff noch lange weiter. Undenkbar, daß er wieder seinen ganz normalen Dienst versah. Ja, wie lange würde es noch gehen mit dem Abhören bei Peccioli? Er wußte ja nicht, was so alles auf den Bändern war, die er seinen Oberen tagtäglich lieferte. Hatten sie schon Beweise genug gesammelt, um den Mafia-Mann hinter Gitter zu bringen? Wollten sie solange warten, bis sie den CacciaClan weltweit zerschlagen konnten? Fest stand nur, daß Ron Peccioli der hochkarätigste Mafia-Boß war, den es außerhalb Italiens gab, und daß der Caccia-Clan, offensichtlich auch von US-amerikanischen Familien nach Kräften gesponsert, von Berlin aus alle Aktivitäten in Osteuropa steuern wollte. Fendt erwischte sich bei einem Dienstvergehen, einem gedanklichen jedenfalls. Wenn ich nun technische Defekte
vortäusche oder Bänder einfach mal verschwinden lasse, um noch länger… Da kam Graziella vorbei. Er fuhr hoch. »Das ist aber eine Überraschung: Sie hier?« »Ich geh schon seit zwanzig Jahren einkaufen hier.« Sie erschien wenig erbaut darüber, daß er ihr den Weg verstellte. Aber Fendt agierte gerne aus der Defensive heraus. Sie trug eine Plastiktüte mit der Aufschrift HERMSDORFER BUCH in der rechten Hand, und ganz spontan entfuhr ihm die Frage, ob sie sich nun endlich Das Delta der Venus von Anaïs Nin gekauft hätte. Graziella zuckte zurück und starrte ihn an. »Was’n, sind Sie Hellseher oder was!?« Fendt kriegte sich gar nicht mehr ein vor Schreck. Das ihm als erfahrenem Kriminalbeamten, wo er in unzähligen Vernehmungen ein Höchstmaß an Selbstkontrolle an den Tag gelegt hatte. Er stammelte herum. Daß er ebenfalls in dieser Buchhandlung gewesen sei. »Da so hinterm Ständer…« Sofort realisierte er den nächsten Fehler, ließ ihn die Assoziation Ständer gleich erigierter Penis rot anlaufen und furchtbar schwitzen. »Ich meine hinter dem Drehständer, hinter dem Regal…« Graziella sah ihn kopfschüttelnd an. »Ist Ihnen nicht gut heute, die Sonne? Oder haben Sie schon am Morgen ‘n bißchen zuviel getrunken.« »Nein, nein, ich bin ja im Dienst.« »Wie?« »Im Dienst an der deutschen Modelleisenbahn!« korrigierte er sich schnell. »Meine Spezialität ist die S-Bahn in Berlin. Die Bauarten ›Wannseebahn‹, ›Bankierzug‹, ›Olympiazug‹ und ›Peenemünde‹, können Sie alles haben bei mir.« Langsam fand er zu seiner Rolle zurück. »Ich bin selbst süchtig.«
»Wie: Selbstsüchtig? Gönnen Sie dem alten Baabe nichts mehr?« »Nein: Selber süchtig nach allen Bahnen.« Graziella schüttelte sich. »Hören Sie mir mit der S-Bahn auf.« »Wieso das?« »Na, nachdem, was da mit der Annika Malitzki passiert ist, zwei Stationen weiter.« Sie zeigte Richtung Süden. »Drei Stationen weiter«, korrigierte sie Fendt. »Waidmannslust, Wittenau (Nordbahn), Wilhelmsruh.« »Gott, sind Sie pingelig.« »Muß ich doch auch als…« Fast hätte er Beamter gesagt. »… als Nietenzähler.« Er erklärte ihr, daß das in der Modellbahnerwelt als ein sehr abwertender Ausdruck zu verstehen sei. Er redete und redete, nur, damit sie bei der Sache mit dem Nin-Buch nicht weiter nachhakte. Natürlich hatte er mitgehört, wie sie mit Leonardo diskutiert hatte, ob sie Das Delta der Venus nun kaufen sollte oder nicht. Graziella schien zum Glück für ihn keinen Verdacht geschöpft zu haben und blieb bei dem Überfall auf Annika Malitzki. »Die potentiellen Triebtäter, die werden offenbar heute viel zu früh wieder freigelassen.« Fendt war noch immer zu verwirrt, um auf ihren Vorwurf anders als mit einer Floskel zu reagieren. »Volkszorn ist kein Haftgrund für mich.« »Weil Sie halt keine Frau sind.« »Ich kann mich aber gut in Ihre Lage versetzen.« »Das sind die größten Machos, die in dieser Frage bis zum Abwinken schleimen.« Fendt schluckte. »Ich würde Ihnen gerne beweisen, daß Sie sich da täuschen in mir.« »Ich muß nach Hause, noch lernen.«
»Kommen Sie doch mal rüber in die Werkstatt zu mir.« Graziella nahm ihre Büchertüte, die sie auf Fendts Sitzbank abgestellt hatte, wieder in die Hand. »Ich hab zu S-Bahnen keine solche Affinität wie Sie.« Fendt versuchte, witzig zu sein. »Ich auch mehr zu Lokomotiven.« »Wieso?« »Na, Elvis Presley: ›Love me tender‹.« Da Graziella der Begriff Tenderlokomotive nicht eben vertraut war, verpuffte alles, und Fendt sah seine Chancen auf ein Date mit ihr immer weiter schwinden. »Ich meine ja auch nicht, daß Sie zum S-Bahn-Angucken, sondern zum Fernsehen rüberkommen sollten.« »Wir haben mindestens drei Fernseher zu Hause.« »Ich hab aber den Video-Film, wo Sie drauf sind. Da beim Sportfest.« Er spürte mit aufschießender Erregung, daß er sie damit an der Angel hatte. »So in Zeitlupe Ihre Hürdentechnik.«
34. SZENE Friedhof Heerstraße
Mannhardt ging an sich gerne zu einer Beisetzungsfeier. Nirgendwo war der existenzphilosophische Schauder so schön. War für den Toten da vorne im Sarg nun wirklich ein für allemal alles aus – oder schwebte sein Astralleib schon durch die Friedhofskapelle und nahm an der eigenen Trauerfeier teil? Auch war es immer wieder ein Erlebnis, einem guten Pfarrer zuzuhören. »Herr, unser Gott, ausgelöscht wurde hier ein Leben von fremder Hand – durch furchtbare Gewalt. Herr, wir sind fassungslos, können nicht begreifen, was Menschen dazu treibt, einen anderen Menschen zu töten. Nur zu rasch geht uns in einer Stunde wie dieser der Satz über die Lippen: ›Wie hat Gott diesen Mord an unserem Ehegatten, Freund und Kollegen Barnabas Lübz zulassen können?‹ Doch dabei vergessen wir nur zu schnell, daß nicht du, Herr, das Böse vollbringst, sondern wir selbst, wir Menschen es sind, die einander dieses Schreckliche antun. Herr, laß du uns gerade in solchen Augenblicken wie diesen unsere eigene Schuld vor dir erkennen, damit wir nicht maßlos werden in unserem Zorn, damit nicht der Gedanke an Rache jeden anderen Glauben in uns erstickt…« Mannhardt stand in der letzten Reihe und hatte die Trauergaste alle im Auge. Sogar der Regierende Bürgermeister war gekommen und saß in der ersten Reihe neben Viola Lübz. Ein Zeichen war zu setzen, anzugehen gegen einen feigen
politischen Mord. Die ganze Stadt jagte ja Stefan Stürzebecher, und es gab keinerlei Zweifel daran, warum man den Senatsbaurat Barnabas Lübz getötet hatte. Ein ganz bestimmtes Flugblatt klebte schließlich überall: Der Tod von Lübz kam noch zur rechten Zeit und sollte alle die abschrecken, die Berlin zur Tempelstadt der Kredithaie, der Bodenspekulanten und des Mietwuchers machen wollen. Lübz war ein Speichellecker der Konzerne. Milliarden für ihre Zentralen, keine Mark für unsere Obdachlosen. Das war sein Konzept. Paläste für die Firmen und Banken, Bänke für das Volk – Parkbänke! Aber das Verkehrsmittel des Volkes, die SBahn, hat seinem Treiben ein Ende bereitet. Mannhardt fand, daß man beides tun sollte: Billige Wohnungen bauen und Geschäfts- und Kaufhäuser. Oder umgekehrt: So wenig er die Welt mochte, in der die Millionäre herrschten, so wenig sehnte er sich nach einer Gesellschaft, in der die Stefan Stürzebechers sein Leben bestimmten. Während der Pfarrer seine Predigt langsam zu Ende brachte, sah er sich um. Die Aurak hatte ihn hergeschickt, weil sie irgendwann einmal als Mädchen in einem Krimi gelesen hatte, daß Mörder immer in der Friedhofsecke standen, wenn ihre Opfer in die Grube sanken. Das war so lächerlich, daß man gar nichts drauf erwidern konnte. Vor ihm standen Lübz’ Freunde. Sie sprachen von ihm immer nur als von unserm ›Bassi‹. Mannhardt brauchte eine Weile, um zu checken, daß das wohl von Barnabas kam. Er hatte keine rechte Vorstellung davon, aber ein erheblicher Teil der Leute schien ihm schwul zu sein. Ob Lübz selber Homosexueller war, darüber hatte er sich noch keine Gedanken gemacht. Er dachte an Viola Lübz und daß er immer
scharf war auf einen solchen Typ von Frau. Das hatte er auch bei Lübz ganz automatisch angenommen. War ja auch egal. Lübz hatte sich in seinem Testament Don ‘t cry for me, Argentina gewünscht, und sie spielten es nun überraschenderweise, während man den Sarg auf den kleinen Gummiwagen hob. Der Zug setzte sich in Bewegung. Mannhardt wurde in die Gruppe gedrängt, zu der auch etliche Macher und Spieler der Berlin Balls gehörten, und er erkannte Ron Peccioli und Kevin Neumann. Viola Lübz kam vorüber, gestützt auf ihre Mutter und den Regierenden Bürgermeister. Als sie Mannhardt erkannte, zuckte sie zusammen. Er registrierte es genau und dachte dabei an Annika Malitzki, die noch im Krankenhaus lag. War die S-Bahn der gemeinsame Nenner? Der Friedhofsgärtner trug den Namen Hünetöter und hatte einen riesengroßen Kranz geschickt. Mannhardt kam an einem Grabstein vorbei und las dessen Aufschrift wie in Trance. JEDER MENSCH IST EIN ABGRUND. Büchner
35. SZENE Justizvollzugsanstalt Tegel
Salvatore Caccia hockte auf seinem Bett und starrte auf das Poster, das an der Wand gegenüber angeklebt war. Schnee lag auf dem stumpfen Kegel des Ätna, und eine feine Rauchfahne wehte herüber nach Taormina. Links öffnete sich der Blick auf das weite Küstenrund, den Vordergrund des Bildes beherrschte das zerfallene Ziegelgemäuer des griechischen Theaters. Eine halbe Stunde saß er so, dann hielt er es nicht länger aus, öffnete seine Tür und trat auf die Galerie hinaus. Zinna kam vorbei, einer der jüngeren Vollzugsbeamten. »Geht’s Ihrem Magen besser?« fragte Salvatore Caccia. »Erst wenn ich hier raus bin.« Salvatore Caccia grinste. »Die Knackis sind zufrieden, nur die Wärter klagen.« »Für ‘n Hungerlohn die Müllkippe der Nation, Tag für Tag.« »Alles hat einmal Ende.« »Auch lebenslänglich.« Salvatore Caccia ging wieder in seine Zelle zurück und schlug die Zeitung auf. Manche Mithäftlinge bekamen sie von einer Aktion, für die Prominente hin und wieder warben. Lange betrachtete er das Bild von Barnabas Lübz. Heute, am Tage seiner Beisetzung, hatten sie ihm noch einmal eine halbe Seite gewidmet. Vor zwei Jahren um diese Zeit hatten sie in Taormina an der Piazza Nove Aprile gesessen. Lübz, Peccioli und er. Oh, lavaschwarze Einsamkeit.
36. SZENE Humboldtkrankenhaus Intensivstation
Mannhardt mußte warten, weil das Ärzteteam Annika Malitzki zu einer weiteren Untersuchung in den Computertomographen geschoben hatte. Er vertrieb sich die Zeit mit Lesen. Wann war im Dienst Gelegenheit dazu. Die lange Wartezeit ahnend, hatte er sich John Gregory Bourkes Buch des Unrats eingesteckt. Im Nu war er ganz vertieft in seine Lektüre. Dabei holte er eine Käsestulle aus der Aktentasche und begann genüßlich zu kauen. Interessant, die Aborigines in Australien glaubten, daß sie der Feind vernichten konnte, wenn er ihren Kot entdeckte und verbrannte. Sehr schön. Wo bekam er aber den Kot der Aurak her? Ungerührt aß er weiter. Nach so vielen Berufsjahren mit vollgekoteten Leichen war das nun wirklich keine Sache. Was schrieb denn der Gute über die Deutschen… Ein Ladenbesitzer in Berlin wurde vor einigen Jahren bestraft, weil er den Harn junger Mädchen in der Absicht verwandte, seinen Käse kräftiger und schmackhafter zu machen. Nun verschluckte er sich doch, brachte es aber nicht übers Herz, den Rest des Brotes wegzuwerfen. Als Kriegskind konnte er das nicht. Die Tschuktschen in Sibirien bieten ihre Frauen den Reisenden an; aber diese müssen sich einer ekelhaften Probe unterziehen, um sich ihrer würdig zu zeigen. Die Tochter oder die Frau, die die Nacht mit dem neuen Gast zubringen soll,
stellt ihm eine mit ihrem Harn gefüllte Schale hin; er muß sich damit den Mund ausspülen. Mannhardt überlegte, ob er den Harn der Viola Lübz getrunken hätte, wenn Lübz ihm zu Lebzeiten ein solches Angebot gemacht hätte. »Herr Mannhardt, Sie können jetzt zu Frau Malitzki.« Er fuhr zusammen. Wer in aller Welt war das, was hatte er mit der zu schaffen!? Die Annika, o Gott. Er sprang auf und folgte der Schwester. Wahrscheinlich hatte er zu viele Krankenhausfilme oder auch diesbezügliche Pornos gesehen: Jedenfalls dachte er, als er Schwester Karen folgte, nur an das eine. In einem leeren Krankenzimmer oder in der Besenkammer. Es mußte ja nicht immer das Delta der Venus, es konnte auch das der Karen sein. Sau du! War das seine Schuld, wenn die das Nin-Stück spielten. Als er die arme Annika sah, war ihm schlagartig alles an Spott- und Fleischeslust vergangen. Er beugte sich zu ihr hinunter, strich ihr mit den Fingerspitzen sanft über die Stirn und spitzte den Mund zu einem Freundschaftskuß. »Tut mir leid.« »Ich leb ja noch.« Mannhardt setzte sich auf den Besucherstuhl. »Etliche Kolleginnen und Kollegen waren ja schon hier, aber ich muß Sie doch noch mal…« Annika drehte sich von ihm weg. »Ich hab ihn nicht gesehen, er war maskiert… ‘ne schwarze Wollmütze mit Schlitzen, wie bei ‘nem Banküberfall.« Mannhardt verfolgte die Zacken auf dem Oszillographen. Ihm schien es, als würden die Maschinen nicht ihre Werte registrieren, sondern sie am Leben halten. »Hängt es mit Ihrem Stück zusammen, könnte es ein Eiferer gegen die Wollust
gewesen sein, was meinen Sie da? Hat es vorher schon Drohungen gegeben?« »Nein.« »Gut. Sie wissen ja, womit meine Mordkommission im Augenblick vor allem befaßt ist, dem Mordfall Lübz. Wir hatten ja schon in der Sredzkistraße kurz darüber gesprochen. Je enger die Beziehung, um so heftiger der Konflikt. Das ist eine alte kriminologische Weisheit, siehe Affekttaten, und darum ist der engste Partner auch immer der erste Verdächtige.« »Meinen Sie Viola damit?« »Ich meine es erst einmal ganz generell. Was hab ich da auf dem Friedhof gelesen: Jeder Mensch ist ein Abgrund. So ist es auch, ein potentieller Mörder.« Annika sah ihm fest in die Augen. »Ich bin zur Tatzeit bei Viola gewesen.« »Ja, ja.« Mannhardt nickte. »Aber da gibt es möglicherweise einen Menschen in der Stadt, der Sie daran hindern will, das weiterhin zu behaupten.« »Sie meinen? Nein. Das in der S-Bahn, das ist ‘n Triebtäter gewesen. Der is durch Zufall auf mich gekommen. Oder meinetwegen auch, weil er im Theater gewesen ist und ich ihn scharfgemacht hab.« Mannhardt sah auf seine Fingernägel. Die waren wieder mal zu schneiden. Heike war da sehr streng mit ihm. »Hätt ich ja auch gesagt, wenn Sie nicht auch noch diesen Stefan Stürzebecher kennen würden. Und der nun wiederum ist vom S-Bahnfahrer in der Zeit, wo man Lübz vor seinen Zug gestoßen hat, auf dem Bahnhof Savignyplatz gesehen worden.« Annika Malitzki schloß die Augen. Die wenige Haut, die vom Verband noch freigelassen wurde, hatte fast schon dessen Farbe angenommen.
Mannhardt stand auf. Er wollte sie nicht länger quälen. »Lassen wir’s. Hauptsache, Sie werden schnell wieder ganz gesund und können wieder auf der Bühne stehen.« »All the world’s a stage«, murmelte sie. »Shakespeare, ›As You Like It‹. Möcht ich auch mal spielen. Im geschlossenen Schiller-Theater.« »Im wiedereröffneten.« Mannhardt gab ihr symbolisch die Hand und wandte sich zur Tür. »Alles Gute dann.« »Moment noch.« Mannhardt blieb stehen. »Ja?« »Stefan leidet irgendwie unter Verfolgungswahn. Was die Bullen betrifft… Entschuldigung!« »Wenn er’s nicht war, dann… Unsere Richter sind doch nun wirklich milde Väter und fällen keine Terrorurteile.« »Das ist pathologisch bei ihm, und ich will nicht, daß er eines Tages durchdreht und erschossen wird.« »Ich verspreche Ihnen, daß wir’s nicht eskalieren lassen.« »Sie finden ihn sicher am Humboldthafen, am Lehrter Bahnhof da, in einem alten Kahn.«
37. SZENE Dorfkrug Ahrensfelde
Dietmar Fendt war heute mächtig am Gewinnen. Seit Jahren spielte er mit seinen engsten Freunden einmal im Monat Pool Billard. Und zwar jedesmal in einer anderen Gaststätte, so daß alle einmal Heimvorteil hatten. Heute waren sie nach Ahrensfelde rausgekommen, wo Rico wohnte, ihr Ossi. Fendt kannte ihn von mehreren gemeinsamen Razzien her. Er war PHwzA, so Polizeihauptwachtmeister zur Anstellung, von der Vopo übernommen und auf Westen umgeschult. Mit von der Partie waren an diesem Abend noch Gunnar, der Malermeister war und eigentlich gar keine Zeit hatte, weil er gerade dabei war, sich selbständig zu machen, und Falko, der im Sozialamt Kreuzberg Amtsrat war und zudem an der FHVR als nebenamtlicher Dozent Sozialhilferecht lehrte. Die Kugel, die vierzehn Punkte brachte, lag so ungünstig vor der Tasche hinten links, daß Fendt sie nur einlochen konnte, wenn er seinen weißen Stoßball mit gleich zwei Vorbanden spielte. Etwas, das sogar den englischen Snooker-Assen Mühe bereitet hätte. Doch ihm glückte es, wie ihm heute abend alles glückte. Rico, Gunnar und Falko klatschten neidvoll Beifall. »Mann, hast du ein Glück.« Rico konnte es nicht fassen. »Biste beim Arschabwischen mit dem Finger durchs Papier gekommen.« Nein, es hatte einen anderen Grund, und Fendt verriet ihn nicht.
Alles wird heller – Graziella… Die Welt, die dreht sich immer schneller – Graziella, Graziella… Sie hatte ihm versprochen, nächsten Freitag zu ihm rüberzukommen und sich den Video-Film von ihrem letzten Wettkampf anzusehen. Die Sache war gelaufen. Fendt fragte sich schon, ob er mit Freunden wie Rico und Gunnar bei den Vogelsangs auftauchen konnte, ohne sich mit ihnen zu blamieren. Falko mochte ja noch angehen. »Paß auf, die schwarze Acht!« Fiel dieser Ball aus Versehen in eines der sechs Löcher, war man ausgeschieden, mit wie vielen Punkten man auch immer vorne lag. Wieder hatte er unverschämtes Glück, denn die schwarze Acht blieb genau an der Kante des einen Loches liegen, während der Ball, der fünf Punkte brachte, geradezu aus Versehen in die Tasche gegenüber plumpste. Damit war er uneinholbar davongezogen, und die Freunde gaben auf. »Trinken wa erst mal ‘n Bier.« An ihrem Tisch wartete Sandra auf ihn, seine Schwester. Sie hatte sich am Billardtisch als total untauglich erwiesen und war schnell wieder weggeschickt worden, denn wenn sie das grüne Tuch mit ihrem Queue zerfetzte, waren viele hundert Mark für die neue Bespannung des Tisches zu zahlen. Fendt hatte den Verdacht, daß sie nur mitgekommen war, um von Falko zu erfahren, was in der Klausur rankam, im Sozialhilferecht. Die hatte er für alle Kurse entworfen. Ihr war zuzutrauen, daß sie sogar ins Bett mit ihm ging, um das herauszukriegen. Vorerst aber hatte sie nur Augen und Ohren für Rico. »Wie war das denn so nach der Wende bei euch?« Sie saß in einem studentischen Projekt über die sogenannten Verwaltungsmissionare, also die Westbeamten, die in die
Ostberliner Bezirke geschickt worden waren, um dort die öffentliche Verwaltung auf- und umzubauen. Da Rico erst sein frisches Bier probieren mußte und eh nicht so schnell Druckreifes sagen konnte, mischte Fendt sich ein. »Was soll gewesen sein: Ostberlin hatte einen großen Polizeiapparat mit einem überdimensionierten Offizierskorps – alles von der SED und der Stasi in sklavischer Abhängigkeit gehalten. Nach der Wende dann der große Autoritätszerfall. Dazu heruntergekommene Räume und eine vorsintflutliche technische Ausstattung.« »Nu…« Rico war nicht ganz einverstanden damit. »Diese Kriminalität wie heute, die hat’s bei uns früher nicht gegeben.« »Von der Stasi und den Mauerschützen mal ganz abgesehen!« höhnte Fendt. Rico ließ sich nicht beirren. »Wir haben alle zusammengehalten, das war ‘n ganz anderes Gefühl. Und plötzlich nach der Wende war’n wa für euch nur noch die Zeloten und die Dunkeldeutschen.« »Das war schon ‘n ganz schönes Crash-Programm, für alle.« Fendt war auf Versöhnung aus. Falko mischte sich ein, offenbar um Eindruck auf Sandra zu machen. Deren Signale waren wohl deutlich genug. »Du hast gut reden – Kripo, MEK, Sonderaufgaben und so –, aber die Polizisten in den Abschnitten sind doch wirklich arme Schweine. Schon allein der Zwölf-Stunden-Wechseldienst.« »Ja.« Rico meinte, daß er ihm aus der Seele sprechen würde. »Tagesdienst von 7 bis 19 Uhr, Nachtdienst von 19 bis 7 Uhr. Nach spätestens fünfzehn Jahren biste da doch kaputt.« Fendt fand schon, daß er es da wesentlich besser hatte. Dazu kam, daß die Kolleginnen und Kollegen auf den Abschnitten viel langsamer befördert wurden als die anderen und am meisten unter den bürokratischen Reglementierungen zu leiden hatten.
»Wie icke jetzt.« Gunnar erzählte, was er alles für Hürden zu überwinden hatte, bevor er sein eigenes Geschäft eröffnen konnte. Das Wort Hürden ließ Fendt reflexhaft an Graziella denken. Was sie wohl in dieser Sekunde gerade machte. Wie in einem Film sah er sie vor ihren Kunstbüchern sitzen, auf der Terrasse in der Sonne liegen, unter der Dusche stehen, bei ihm vor dem Fernseher sitzen, er küßte sie und sie sank nach hinten, seine Hand fuhr ihre Schenkel hinauf… Da stand Nicole vor ihm. Ihrem Gesicht sah er an, daß etwas passiert sein mußte. Sie kam ihm in diesem Augenblick über alle Maßen häßlich vor. »Ist ja schön, daß du hier bist.« Fendt schluckte. »Wo soll ich’n sonst sein?« »Bei der hier!« Und sie hielt ihm ein Foto vor die Nase. Graziella, wie sie sich sonnte. Ach, du Scheiße! Er hatte seine Aktentasche bei Nicole gelassen, das Foto vergessen und nie im Leben damit gerechnet, daß sie schmökern würde. Das Dumme war, daß er mit einer nachgemachten Frauenhandschrift auf die Rückseite des Fotos geschrieben hatte Für meinen heißgeliebten Dietmar. Dies aus purem Lustgewinn und im Glauben an die Magie daran, daß es dann auch wirklich so kommen würde. »Ist das deine Neue?« Nicoles inquisitorischer Ton machte ihn wütend. »Ja.« »Dann kann ich ja gehen.« »Bitte.« Nicole stürzte aus dem Restaurant.
38. SZENE Schmöckwitz/Seddinseel/Gosener Graben
Graziella stand auf der Schmöckwitzer Brücke und sah auf den Zeuthener See hinunter und hinaus. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte an seinem Ende, irgendwo im silbrigen Dunst, einstmals das Gasthaus gelegen, in dem sich Lene Nimptsch und ihr Botho heftigst geliebt hatten, die Wäscherin und der Freiherr von Rienäcker. Hier in ›Hankels Ablage‹ erlebt Lene Paradiesidylle und Vertreibung zugleich. Graziella hatte Fontanes ›Irrungen, Wirrungen‹ von ihrer büchersüchtigen Mutter zum fünfzehnten Geburtstag geschenkt bekommen und furchtbar geheult, als es zur Trennung kommt und Botho standesgemäß verheiratet wird. Sie stützte sich aufs Geländer und seufzte, hatte plötzlich feuchte Augen bekommen und sah die Welt nur noch wie durch einen Weichzeichner hindurch, schalt sich eine sentimentale alte Kuh. Fehlte nur noch die Kamera unten am Ufer, und Hollywood wäre vollkommen gewesen. Titel des Films Fallen in Love. Sobald sie das gedacht hatte, kam ihr die schreckliche Assoziation, daß es in falscher deutscher Übersetzung Fallen der Liebe heißen könnte. Ron Peccioli und sie. Was die Parallele zu Lene Nimptsch betraf, so stimmte nichts, nahm man die soziale Lage, sie war schließlich Höhere Tochter und er als mittelständischer Unternehmer ganz sicher nicht vom gesellschaftlichen Range eines Premierleutnants im Kaiser-Kürassier-Regiment. Doch zwei verschiedene Welten waren es schon, die sich da getroffen hatten. Berliner Salon
und amerikanische Football-Arena. Schöngeistige Verlegertochter und rauhbeiniger Fuhrunternehmer. Hermsdorf gegen Palermo und New York. Doch gerade das machte es so herrlich. Durch Ron war sie zum zweitenmal geboren worden. Alles war plötzlich so unglaublich intensiv. Sie flog mit der Möwe über den See. Sie selber war jeder einzelne der Passagiere, als ein Dampfer unter ihr durch die Brücke fuhr und die Leute fröhlich winkten. Sie sprang mit den Kindern auf der nahen Badewiese kreischend und spritzend ins Wasser. Alles hatte sich multipliziert. Alles wurde Liebe. Sie lief auf die andere Seite der Brücke hinüber, wo der Blick auf zwei kleine Inseln ging, aber auch auf den Seddin- und den Langen See hinaus. Gleich linker Hand unter der Brücke erstreckte sich der große Garten eines Restaurants, das seit Ewigkeiten den merkwürdigen Namen Zur Palme trug. Dort saß Ron Peccioli und verhandelte mit einigen Ex-DDRlern über Grundstücke und kleinere Betriebe, die noch zu kaufen waren. Er wollte sich hier im Südosten Berlins ein zweites Standbein schaffen. Irgendwie hatte sie auch mitbekommen, daß es um einen Hubschrauber aus alten NVA-Beständen ging. Endlich war er fertig und kam zu ihr herauf. Sie rannte ihm entgegen, warf sich in seine Arme, ließ sich auffangen und herumschleudern wie ein Kind. »Na, seid ihr handelseinig geworden?« »Ja, mehr oder minder. Aber das einzige, was ich ganz sicher schon habe, ist dieses Motorboot da unten.« Er zeigte auf einen der Stege. »Weißt du, daß ich Motorboote hasse.« »Weißt du, daß man sich auf dem Boden eines Motorbootes nicht nur hassen kann?« Er zog sie zum Ufer hinunter.
Minuten später fuhren sie den Seddinsee hinauf, Richtung Gosener Graben. Sie war aufgeregt. Bis jetzt hatten sie noch nicht miteinander geschlafen. Und sie hatte nicht nur die berühmten Schmetterlinge im Bauch, sondern auch gehörige Angst davor. Daß es alles kaputtmachte. Daß er nicht der sanfte Latin Lover war, sondern die dumpfe Koitiermaschine, wie sie vom College kam. Aber auch Ron mußte schon intensiv an das gedacht haben, was nun unaufhaltsam schien, denn als er sich an einer herausstehenden Schraube den Finger aufratschte und sie aufschreiend zurückzuckte, griff er in seinen Aktenkoffer und suchte zusammen mit dem Heftpflaster einen kleinen Schrieb heraus. »Vor Jahren bin ich mal als Eishockeyspieler an der Milz verletzt worden. Stockstich. Mit viel Blutverlust und einigen Transfusionen. Da hab ich mich jetzt auf Aids untersuchen lassen. Zum Glück nichts.« Er hielt ihr die Bestätigung hin, und sie verstand, warum er es tat. Blaugrüne Kiefern. Sie flogen dahin. Umschwirrt von Schmetterlingen. Hielten zu auf den hellen Sand der Gosener Berge. Wichen schwarzen Walen aus und weißen Haien. Das Leben ein Traum. Segelboote und Surfer, Schubschiffe und Ausflugsdampfer verwandelten sich. Ron erzählte ihr von sich. »Meine Mutter ist geborene Berlinerin. So richtig aus’m Wedding, aus der Grüntaler Straße. Erst Verkäuferin im Supermarkt, dann Filialleiterin. Attraktiv und mit dem, was ihr ‘ne Kodderschnauze nennt. In ‘ner Disco in der Dudenstraße lernt sie ‘n Air-Force-Piloten kennen. Liebe auf den ersten Blick, und als seine Zeit in Berlin vorüber ist, geht sie mit ihm nach Memphis. Keine drei Monate später sind sie geschieden, sie zieht durchs Land und
landet schließlich in Columbus, Ohio. Da lernt sie Giancarlo Peccioli kennen. Der kommt aus Sizilien, hat gerade ‘ne Pizzeria aufgemacht und sucht ‘ne Frau, die im Bett ebenso gut ist wie in der Buchführung. Als sie sich dennoch mal verrechnet, heißt das Ergebnis Ron.« »Stell dir mal vor, wir wüßten ganz genau, auf welche Art und Weise unsere Gene weitergegeben worden sind. Wie es passiert ist bei deinen Großeltern, Urgroßeltern und so weiter und so weiter, all die Jahrtausende hindurch. Mit Gewalt, mit Leidenschaft und Liebe, aus Versehen oder bewußt, um einen Erben zu haben.« Ron schmunzelte. »Und ganz wichtig vor allem: Wo und wie im Detail.« Graziella wechselte das Thema. »Und warum bist du nach Berlin gekommen?« »Man hat mich geholt.« »Wer? Der Senat?« »Nee, die Einkäufer vom BSC Preußen. Ich hab immerhin bei den New Jersey Devils gespielt, und die Berliner wollten mich als Stürmer.« Graziella staunte. »Das ist doch Eishockey. Ich denke, du kommst vom American Football?« »Das hab ich gemacht, als ich zum ersten Mal in Berlin gewesen bin, als Soldat noch, mehr so zum Spaß bei den ›Adlern‹. So den ganzen Tag nur auf dem Teufelsberg rumsitzen…« »In der Radarstation da oben, sag bloß?« »Klar. Der vorgeschobenste Lauschposten in Richtung Osten.« »Und jetzt…« Graziella legte den Kopf auf seine Schulter. »Manchmal glaube ich, daß unser Leben schon bei unserer Geburt abgelaufen ist und wir nur noch nachspielen, was lange
vor uns festgelegt worden ist. Daß du nach Hermsdorf gezogen bist zu uns und daß ich dich liebe, ist eben mein Karma.« Ron Peccioli lachte. »Da karma halt nix machen.« Sie fuhr herum und schlug ihm mit kleinen Fäusten auf die Brust. »Du Romantikverderber du.« »Na warte!« Er stellte den Motor ab und ließ das Boot dorthin treiben, wo eine Landschaft begann, die dem Spreewald ähnelte. Wiesen, Gräben, Fließe, Horste. »Nimm das andere Paddel da, und dann suchen wir uns irgendwo ein Plätzchen.« Graziella tat es, und mit schmatzenden Geräuschen glitt ihr Boot tief in den märkischen Urwald hinein. Sie dachte an den ersten Brief, den sie ihm geschrieben hatte, an die Verse, die sie sich vom Liebes-Meister Goethe ausgeliehen hatte. SO IST DER HELD, DER MIR GEFÄLLT Horch! – Flötenklang! Liebesgesang! Hoch ist sein Schritt, fest ist sein Tritt. Schwarzes Haar auf runder Stirne webet, Auf den Wangen ew’ger Frühling lebet. Schwarze Augen unter runden Bogen Sind mit zarten Falten schön umzogen. Rot ist sein Mund, der mich verwund’t… Treu ist sein Blut, stark ist sein Mut; Schutz und Stärke wohnt in seinen Armen… Selig, wer in seinen Armen ruht! Sie hatte sich immer als kühle Intellektuelle verstanden, als Feministin – und nun dies. Fast schämte sie sich. Aber sie wußte, daß nichts mehr aufzuhalten war. Sie fieberte danach, sich ohne Wenn und Aber fallenzulassen.
39. SZENE Humboldthafen
Mannhardt stand unter der Eisenbahnbrücke, die unmittelbar hinter dem Lehrter Stadtbahnhof den Humboldthafen überspannte. Nachzugehen war ja dem Hinweis von Annika Malitzki, daß der mutmaßliche Lübz-Mörder Stefan Stürzebecher hier auf einem der alten Dampfer, Schlepper oder Zillen Quartier genommen hatte. Es war später Nachmittag und wieder einmal ein total verregneter Tag. Er war allein, denn seine Kollegin Petra Zechow hatte sich beim Handballtraining den Knöchel verstaucht. Mannhardt hatte keine große Lust, das ›Dampfermuseum‹ mit seinen unzähligen Winkeln alleine nach Stefan Stürzebecher abzusuchen. Als junger Vater hatte er an zu Hause und seine Familie zu denken. Junger Vater… Wenn er Sylvester zur Vorschule brachte, würde die Erzieherin mit Sicherheit rufen: ›Schön, daß der Opa heute mitgekommen ist!‹ Opa wurde also noch gebraucht, und sein sehr verehrter Dienstherr konnte nicht von ihm verlangen, daß er sich hier im Maschinenraum eines Motorschiffs umbringen ließ. Nicht für so wenig Geld. Und außerdem: siehe Fürsorgepflicht. Also hatte er sich unter der Brücke postiert, um auf Stefan Stürzebecher zu warten. Wenn die höheren Mächte wirklich wollten, daß er den Lübz-Mörder heute erwischte, dann gelang das auch auf diese Art und Weise. Die Sache wurde alsbald fürchterlich langweilig. Der einzige Trost war, daß er für jede Minute, die er hier durchlitt, ein
wenig Geld bekam. Außerdem mußte er dringend pinkeln, die Blase drückte immer heftiger. Um sie und die Prostata nicht weiter zu gefährden, mußte er sich irgendwie Erleichterung verschaffen. Zu fragen war, warum die polizeitechnische Forschung für observierende Kommissare noch keine körpereigene Entsorgungsanlage hatte entwickeln können. So nach Art der Astronauten. Eine kleine Absauganlage im Anzug. Gab es aber nicht, also ging er zum Ufer hinunter und erhöhte den Schadstoffgehalt der Spree. Über ihm dröhnten die Stadtbahnzüge hinweg, die Wagen der S-Bahnlinien 3, 5, 6, 7 und 9. Vor ihm, jenseits des Berlin-SpandauerSchiffahrtskanals, lagen die roten Backsteinblöcke der alten Charite, rechter Hand Reichstag und Spree. Ein paar Monate noch, dann begann auch hier die große Bauerei. Berlins zentraler Bahnhof war an dieser Stelle geplant. Er erinnerte sich, daß er von hier aus ‘45/46 mit seiner Mutter zum Hamstern losgefahren war, vom alten Lehrter Bahnhof, dessen Ruine sie längst abgerissen hatten. Seine Mutter draußen auf dem Trittbrett, er drinnen im Zug, Blickkontakt durch das verdreckte Fenster. »Sie Sau, Sie!« »Exhibitionist!« Nicht eifernd, sondern im Sitcom-Stil witzig gemeint. Ein kleines Motorboot mit gläsernem Verdeck, von den Amsterdamer Grachten nach Berlin verbracht, zog vorüber. Mannhardt fuhr herum und schloß die Hose. Die Berlin-Touristen schipperten weiter Richtung Friedrichstraße und Museumsinsel. Er ging wieder zur Straße zurück. Unvorstellbar, daß das damals derselbe Mensch gewesen sein sollte, der Hans-Jürgen Mannhardt. Es bedurfte gar keiner Reinkarnation, um mehrmals zu leben. Er hatte als Hans-Jürgen Mannhardt schon viele Leben hinter sich.
Da sah er Stefan Stürzebecher aus dem Bahnhof kommen. Der Bahnsteig der S-Bahnstation führte über das Franz-LisztUfer hinweg bis unmittelbar an Hafen und Brücke heran, der Ausgang aber befand sich auf der anderen Straßenseite. Wer hinüber zum Humboldthafen wollte, zu den Schiffen, der hatte zwei Möglichkeiten: Entweder er ging die hundert Meter zur Invalidenstraße hoch und wartete auf sicheres Ampelgrün, oder er lauerte unter der Eisenbahnbrücke auf eine kleine Lücke im fließenden Verkehr. Mannhardt schätzte, daß Stefan Stürzebecher zum zweiten Typ gehören würde. Kein Zweifel, daß er es war. Die Rastalocken, das eher freundlich-weiche Gesicht. Der blaue Pullover, mehr Putzlappen als Kleidungsstück, die an den Knien durchlöcherten und zur Anthrazitfarbe ausgewaschenen Jeans. Mannhardt hatte sich geirrt, denn Stefan Stürzebecher gehörte zu einem dritten Typ von Fußgängern. Er war ebenso Autohasser wie einer, der überzeugt war von der eigenen Unsterblichkeit, und trat auf die Fahrbahn, als wäre das nichts. Fahrt mich doch tot, ihr Ärsche! Und er hatte richtig kalkuliert. Die Fahrer hupten zwar wild und blöde, bremsten aber, und leutselig grüßend wie der Papst schritt der junge Mann über die Straße. Mannhardt hielt ihm seine Marke hin. »Herr Stürzebecher, ich hätte Sie gerne mal gesprochen.« Stefan Stürzebecher warf sich herum und wollte zur S-Bahn zurück. Wieder durch die heranfliegenden Geschosse der Marken Mercedes, BMW, Opel, Ford, VW und Audi hindurch und zur S-Bahn hinauf. Was blieb Mannhardt anderes übrig, als ihm zu folgen. Da er nicht ganz so risikofreudig war, verlor er allerdings Meter für Meter. Wenn oben gerade ein Zug abfuhr, hatte er das Rennen verloren. »Zurückbleiben!« tönte es von oben.
Als Mannhardt den Bahnsteig erreichte, sah er nur noch die roten Lichter des Zuges nach Potsdam Stadt. Hatte Stefan Stürzebecher es geschafft? Nein. Mannhardt sah ihn gerade aus der Bahnhofshalle huschen. Er wollte über die Brücke und jenseits des Humboldthafens im Labyrinth der Charite verschwinden. Mannhardt mußte hinterher. Und das in seinem Alter. Scheißberuf! Er war nur noch knappe zehn Meter hinter Stefan Stürzebecher. Offensichtlich hatte der noch versucht, in die abfahrende S-Bahn zu springen, und dadurch viel von seinem Vorsprung eingebüßt. Mannhardt fand es ziemlich albern, als Erwachsener einem anderen Menschen hinterherzurennen. Aber das war ein Einkriegezeck um Leben und Tod. Bekam er Stefan Stürzebecher zu fassen, konnte das für den lebenslänglich Tegel heißen. Grund genug, Revolver oder Messer herauszureißen. Auf einem Gitterrost ging es über das graugrüne Wasser hinweg. Objektiv mochten es fünf Meter sein, Mannhardt schien es aber, als würde er hoch auf einem Drahtseil über die Niagarafälle laufen müssen. Stromschienen, Schwellen, Brückenpfeiler und im Rücken eine S-Bahn, die den Bahnhof in Richtung Osten verließ. Nicht nur in der Tiefe wartete der Tod. Wenn Stefan Stürzebecher nun die Nerven verlor und sich genau vor den Zug warf, vor den er Lübz gestoßen hatte… Mannhardt hielt an und schloß die Augen. Der Zug, anthrazit und rot, in den neuen Farben, donnerte vorbei. Ein wütendes Signal des Triebwagenfahrers. Hoffentlich nicht wieder Olaf Kollosche. Wie bei Lübz. Ein Schrei. Stefan Stürzebecher war verschwunden. Mannhardt hastete weiter… … und fiel ins Nichts.
Wie in einem Alptraum. Tauchte ins Kloakenwasser des Humboldthafens und war sich sicher, nie mehr ans Tageslicht zu kommen. Heike, Sylvester… Das war das Aus. Irgendwie erfüllte ihn aber auch eine gewisse Heiterkeit. War er also ins selbe Loch gefallen wie Stefan Stürzebecher. Es wurde dämmriger, es wurde immer heller. Und gerade als ihm die Lungen platzen wollten, schoß sein Kopf aus dem Wasser heraus. Über ihm der nächste S-Bahn-Zug, ganz in seiner Nähe Stefan Stürzebecher. »Hilfe! Ich kann nicht mehr.« Aber auch Mannhardt war ein lausiger Schwimmer, der es gerade mal für sich alleine schaffte, ans Ufer zu gelangen. Dennoch riß er sich das Jackett vom Körper, streifte sich die Schuhe von den Füßen und bewegte sich auf Stürzebecher zu. Es war nicht zu schaffen. Wegen dieses Idioten ertrank er hier. Du verdammtes Arschloch du!
40. SZENE Hermsdorf, Modellbahnschmiede Baabe
Fendt sprach mit dem alten Baabe über einen Sonderauftrag, den sie einem irren Soziologie-Professor aus Nordberlin verdankten. »Der wünscht sich einen Vollzug der Bauart 1924, ›Typ Bernau‹, ab 1942 ET/EB 169. Im Ursprungszustand, also Reichsbahngrün.« Fendt ließ sich Fotos und Konstruktionspläne geben. Das Ding sah vorsintflutlich aus. Schmales, kantiges Gesicht mit zwei eckigen Oberwagenlaternen. Kleine, einfache Schiebetüren. »Das ist ja wirklich Museum.« Baabe schmunzelte. »Aber schön. Der Halbzug damals bestand aus zwei langen schweren Drehgestellwagen, dazwischengekuppelt, aber drei kurze zweiachsige Beiwagen. Wenn man in denen gesessen hat, ist man schlimmer durchgeschüttelt worden als in ‘ner Kutsche.« »Soll das ‘n Fertigmodell aus Messing werden?« fragte Fendt. »Selbstredend. Sie werden ‘n paar Wochen dran zu tun haben.« Fendt nickte. »Hoffentlich ist mein Auftrag hier nicht früher zu Ende.« Er konnte das sagen, denn zumindest so in etwa war ja Baabe eingeweiht. »Dann lauschen Sie mal etwas langsamer.« »Es ist der erste Große Lauschangriff in Berlin, und für alle hängt viel davon ab.«
»Und für mich hängt von diesem Typ ›Bernau‹ ‘ne Menge ab.« Baabe ging wieder in der Laden hinunter. Fendt richtete eines seiner Mikrofone auf Graziellas Fenster. Nichts zu hören. Er hatte sie heute noch nicht zu Gesicht bekommen, offensichtlich hatte sie das Haus schon verlassen, bevor er zum Dienst erschienen war. Machte aber nichts, sie waren ja für heute abend verabredet. Graziella wollte rüberkommen, sich das Video mit ihrem Hürdenlauf ansehen. Auch beim Weitsprung hatte er sie aufgenommen und sich schon unzählige Male angesehen, wie sie sich streckte und in der Hocke landete. Das war schärfer, geiler, wilder als alles, was sie in den Playboy- oder lui-Heften abgebildet hatten. Er hatte seiner Göttin schon exzessive Opfer gebracht. Und heute abend Graziella live. Eine Kondompackung lag unter der Couch. Aber er wollte sie auf keinen Fall drängen, es ging ihm ja um mehr. Einer von den Vogelsangs werden. Daß Jeanette Vogelsang-Nisble durch Hermsdorf ging und sagte: ›Das hier ist mein Schwiegersohn, unser Landeskriminaldirektor.‹ Er tastete die anderen Fenster ab. Leonardo, sein Schwager, telefonierte gerade mit dieser Schauspielerin, die in der S-Bahn überfallen worden war. ›Wann wirste denn entlassen? ‹ ›Anfang nächster Woche.‹ ›Und du wohnst dann erst mal bei Viola Lübz an der Hundekehle draußen?‹ ›Ja.‹ ›Und wann spielst du wieder?‹ ›Diesen Monat nicht mehr.‹ Fendt schwenkte weiter. Vielleicht erfuhr er von seinen Schwiegereltern, wo Graziella steckte. ›Lothar, hast du das hier gelesen?‹ ›Nein.‹ ›Anne Rivers Siddons, Heimwärts.‹
›Soll doch ein ganz phantastisches Buch sein, hast du gesagt…‹ ›Ja, aber diese Stilblüten.‹ ›Lies mal vor.‹ ›Seite 87: Sie hörte das erschöpfte Zischen der todgeweihten Asche, die sich im schwedischen Kamin zur Ruhe begab…‹ ›O Gott!‹ ›Seite 122: Ihr Herz flatterte hektisch wie ein gefangener Vogel in ihrer Kehle.‹ ›Noch schöner. ‹ ›Seite 151: Und die Augen, die aus dem gelassenen, faltenlosen Gesicht leuchteten, waren frisch und jung wie grüner Salat.‹ Fendt lachte mit, fand es dann aber doch interessanter, sozusagen auf Pecciolis Sekretärin umzuschalten, der er durch ihre Fliegengaze hindurch beim Telefonieren zuschauen konnte. Vielleicht war Jennifer gerade dabei, sich mit einem ihrer Freier zu verabreden und seine speziellen Wünsche vorzumerken. Nein. Es ging um Pecciolis und nicht um ihre Geschäfte. ›… kommt darauf an, was Sie mit diesem Hubschrauber transportieren wollen?‹ Das war eine Männerstimme mit leicht sächsischer Färbung. Jennifer reagierte etwas gereizt. ›Bauteile, Masten zur Elektrifizierung von Bahnstrecken.‹ ›Ah, ja. Vielleicht können Sie morgen vormittag einmal rauskommen nach Schönefeld und sich ansehen, was wir da im Augenblick an altem NVA-Fluggerät noch zu bieten haben.‹ ›Danke, ja, ich sag’s Herrn Peccioli sofort, wenn er wieder zurück ist.‹ ›Herzlichen Dank auch.‹ ›Nein, wir haben zu danken.‹
›Die Inter-Conversion würde sich jedenfalls freuen, wenn sich ein Geschäftsabschluß ergeben würde.‹ Fendt beeilte sich, seine Vorgesetzten auf der Stelle darüber zu informieren, daß Peccioli offenbar drauf und dran war, von der Firma Inter-Conversion einen Hubschrauber zu chartern oder zu kaufen. Was das hieß, war klar: Die Befreiung Salvatore Caccias stand kurz bevor. »Klasse.« Fendt bekam eine Menge Lob zu hören. Wenig später wurde Order gegeben, sämtliche Hubschrauber der Inter-Conversion nicht mehr aus den Augen zu lassen.
41. SZENE Mordkommission
Mannhardt dachte darüber nach, inwieweit die Welt eine ganz andere gewesen wäre, wenn es so etwas gegeben hätte wie eine himmlische Videokamera, die alles aufgezeichnet hätte, was die Menschen taten. Gekoppelt mit der Speicherung aller Denk- und Gefühlsprozesse in den Herzen und Hirnen. Auch für das Jüngste Gericht wäre eine solche Einrichtung überaus hilfreich gewesen. In diesem Falle hätte er jetzt nur den Namen Stefan Stürzebecher in den großen Himmelscomputer eingeben müssen, um verbindlich zu erfahren, ob der nun wirklich den fast schon legendären Stadtbaurat Barnabas Lübz vor den Zug gestoßen hatte oder nicht. So aber war er auf seine Befragungstechnik angewiesen wie auf seine Intuition – und das war verdammt wenig. »Sie geben aber wenigstens zu, zur Tatzeit auf dem Bahnhof Savignyplatz gewesen zu sein?« »Am Bahnhof«, brummte Stefan Stürzebecher. »An ‘ner Treppe unten, die Leute fragen, ob se ma ‘ne Mark haben.« Mannhardt blieb hartnäckig. »Der Bahnhof Savignyplatz hat ja zwei Eingänge, einen an der Schlüterstraße und einen zur Bleibtreustraße und zum Savignyplatz hin. Könnte es sein, daß Sie da mal vom einen Eingang hin sind zum anderen – oben über den Bahnsteig hinweg.« »Kann sein, ja.« Mannhardt atmete tief durch. Er mochte diesen Stefan Stürzebecher. Wahrscheinlich deswegen, weil er seinem Sohn so ähnlich sah. Also fing er es andersherum an. »Ich hab nichts
gegen dich, sonst hätt ich dich ja am Humboldthafen ersaufen lassen können…« »Sie ham mich ja die Brücke langgejagt.« »Ich wußte nicht, daß da der Laufsteg kaputt gewesen ist und du hättest ja stehenbleiben können.« »Det is krankhaft bei mir.« »Wenn das Sightseeing-Schiff nicht gewendet hätte, wären wir beide ertrunken.« »Wenn die Wende nich gewesen wäre, bräuchte ich nich betteln gehn.« Mannhardt erfuhr, daß Stefan Stürzebecher als Einrichter im Narva-Glühlampenwerk gearbeitet hatte, in Ostberlin, und 1991 entlassen worden war. »Und danach hast du keinen richtigen Job mehr gefunden?« »So isses.« An dieser Stelle entstand ein kleines Break, weil die Tür aufflog und Bonni Bölzke erschien. Mit einem langgezogenen Öööööhhhh, wie es für die Berliner S-Bahn typisch war, schob er sein Wägelchen ins Zimmer. »Mann, Mann, Mann!« stöhnte er. »Hart, hart, hart ist der Beruf-uff!« Mannhardt grinste. Manchmal hatte er den Verdacht, daß Bölzke gar nicht an irgendwelchen Neurosen und Psychosen litt, sondern sie nur tüchtig verarschte. »Was bringt die S-Bahn denn heute?« »Im Triebwagen den Trieb wagen!« lachte Bölzke und hielt schwarze Slips, Strumpfhaltergürtel und BHs in die Höhe. »Welch Jammer, nur für die Asservatenkammer.« Mannhardt gab sein Bedauern zu erkennen. »Und für mich?« »Kein Akt, nur Akten und Eckig-, nee: Rundschreiben!« Bölzke lud alles ab, rief dann laut »Zurückbleiben!« und rauschte mit seinem Wagen wieder ab.
Mannhardt hatte Mühe, sich wieder auf Stürzebecher einzustellen. »Du streitest also ganz entschieden ab, was mit dem Mord an Lübz zu tun zu haben? 20 Uhr 43 auf dem Bahnhof Savignyplatz.« »So isses. Da hab ick mit Leonardo unten inna Passage am Pizzastand jestanden und wat jejessen. Hatta mir ‘ne Pizza spendiert.« »Und diesen Leonardo Vogelsang hast du in diesem besetzten Haus in der Sredzkistraße kennengelernt?« »Ja.« Mannhardt sah auf die Uhr. Petra Zechow, wieder im Dienst, war schon eine Weile unterwegs, um das zu prüfen. »Und dort hast du auch die Annika kennengelernt?« »Na logisch.« ›Voll kraß!‹ hätte Mannhardt am liebsten ausgerufen, beschränkte sich aber auf die Anmerkung, daß man damit gleich von zwei Motiven ausgehen könnte. »Weichet denn noch?« Das erste war schon erörtert worden: Stürzebecher habe Lübz um Geld angehauen, sei brüsk zurückgewiesen worden und habe ihn dann mit einem plötzlichen Aggressionsschub vor den Zug gestoßen. ›Arschloch du, alter Wichser!‹ Wie das so ging. Stefan Stürzebecher hatte das mit Entschiedenheit bestritten. Mannhardt kam zum zweiten Motiv. »Uns liegen Erkenntnisse vor, daß Viola Lübz und Annika Malitzki eine schon länger andauernde lesbische Beziehung unterhalten sollen. Da kann es doch durchaus sein, daß der gute Lübz beiden im Wege gestanden hat und sie dir Geld gegeben haben, damit du…« Stefan Stürzebecher sprang auf. »Ich bin kein Mörder!« Mannhardt drückte ihn wieder auf den Stuhl zurück. »Komm, ich glaub dir ja, aber ich muß das halt fragen.«
Stefan Stürzebecher drückte das aus, was naheliegend schien. »Wenn seine Frau mit der Annika wat hatte, denn isset doch sicha Selbstmord jewesen bei Lübz.« »Schon.« Mannhardt dachte an Kollosche in Schmöckwitz unten. »Wenn da nicht die Aussage des S-Bahn-Fahrers wäre, daß Lübz gestoßen worden ist, daß da ‘n Mann dicht hinter ihm gestanden hätte.« »Vielleicht hat der’n noch festhalten wollen?« »Dann hätta sich doch melden können.« »Und wenna nu Angst jehabt hat, daß se ihn für ‘n Mörda halten?« Mannhardt nickte. Da war was dran. Further research was needed. Petra Zechow kam zurück. »Na?« Mannhardt sah sie erwartungsvoll an. »Dieser Leonardo Vogelgestank bestätigt det voll und janz, daß se ‘ne Pizza jejessen ham.« »Bingo!« rief Stefan Stürzebecher. Klar, wie der Untersuchungsrichter bei dieser Sachlage entscheiden mußte. Stefan Stürzebecher durfte postwendend als freier Mann in den Dschungel zurück. Dafür stand wenig später die Aurak im Zimmer, um Mannhardt anzugiften. »Gratuliere! Da stehen wir doch wieder da wie die Deppen. Erst bauen Sie mir diesen Stürzebecher auf als einzig möglichen Täter – und dann nichts wie heiße Luft! Und die Medien prügeln wieder alle auf mich ein.«
42. SZENE Hermsdorf, Modellbahnschmiede Baabe
Fendt hatte dem alten Baabe mit seiner Ankündigung, für die Fertigung des S-Bahn-Zuges vom Typ Bernau gerne Überstunden machen zu wollen, eine große Freude bereitet. ›Ich seh schon kommen, daß Sie Ihren Dienst bei der Polizei aufkündigen und bei mir hier einsteigen – als mein Nachfolger und Erbe.‹ Den wahren Grund hatte er natürlich verschwiegen: Die bevorstehende Liebesnacht mit Graziella Vogelsang. Sie waren ja neulich so verblieben, daß sie ihn an diesem Freitag nach Schluß der Tagesschau besuchen wollte. Nun war es 20 Uhr 15, und er lief schon mit einer gehörigen Erektion durch seine kleine Werkstatt über dem Laden. Dies, seit er Graziella mit dem Fernglas beobachtete. Wie sie immer wieder neue Kleider und Röcke probierte, sich ausgiebig schminkte, ständig vor dem Spiegel stand, sich mit edelstem Parfüm betupfte. Sie machte sich besondere schön für ihn. Alles wird heller – Graziella… Die Welt, die dreht sich immer schneller, Graziella, Graziella… Er sang es so, daß er sich selber wie Roland Kaiser fühlte. Jetzt verließ sie ihr Zimmer. Er sah sie vor sich. Im kurzen weißen Kleid, daß sich so schnell nach oben schieben ließ. Wie sie den Vogelsangschen Teil des Hauses verließ und ins Treppenhaus kam. Gleich mußte sie in der Haustür erscheinen. Noch ein paar Schritte durch den Vorgarten, dann über die Straße hinweg. Dreißig Sekunden.
Doch sie tauchte unten nicht auf. Klar, im Souterrain brannte noch Licht, saß Jennifer noch in Pecciolis Büro und machte Überstunden. Vielleicht war sie gerade auf die Toilette gegangen und hatte Graziella getroffen. Fendt nahm sein Richtmikrofon, stülpte sich die Kopfhörer über und versuchte es am entsprechenden Fenster. Nichts, da rauschte nur die Spülung. Dann wusch sich jemand die Hände. Ob sie sich abermals den Fuß verstaucht hatte? Ob sie die Treppe runtergefallen war? Ob sie sich’s noch mal überlegt hatte und wieder… Fendt war ziemlich durcheinander. Er wußte, daß das der Augenblick war, in dem sich sein Schicksal entschied. Kleinbürgerlicher Mief bis ans Ende seiner Tage oder ein weltläufiges Leben in einer alten Verlegerfamilie. Mietwohnung oder Villa. Wo sie nur blieb? Graziella. Grazile Gazelle. »Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich.« Er flüsterte es, er sprach es wie auf der Bühne des Deutschen Theaters, er schrie es. Dann begann ein schrecklicher Traum. Er sah Graziella. Oben in der Vogelsangschen Villa. In einem der Mansardenfenster, die zu Pecciolis Dachgeschoß gehörte, erschien ihr Kopf. Ein Streichholz flammte auf, eine Kerze wurde angezündet. Wie in einem Video-Clip stand Peccioli plötzlich hinter ihr, hob ihre langen, finnisch-blonden Haare hoch und küßte ihren Nacken. Fendt versuchte aufzuwachen, aus dem Alptraum auszusteigen, mit dem Anknipsen der Nachttischlampe zurückzukehren in die Wirklichkeit, und brauchte lange, um zu
begreifen, daß dies die Wirklichkeit war. Graziella und Peccioli. Noch hoffte er, daß sie sich wehren würde, daß dies ein sexueller Übergriff war, daß sie den Mafia-Mann nur aufgesucht hatte, um irgendeine banale Sache zu klären, die Reparatur des Wasserhahns oder dergleichen. Doch sie ließ es sich gefallen, schien regelrecht zu schnurren. Fendt riß den Lauf seines Richtmikrofons nach oben. Ihr Dialog war eindeutig genug. ›Ich bin verrückt nach dir‹, hörte er Ron Peccioli keuchen. Graziella lachte. ›Hast du noch immer nicht genug vom Gosener Graben?‹ ›Von dir kann man nie genug haben. Hiervon erst recht nicht. Deiner süßen Fica, deiner Fica…‹ ›Daher kommt das also, von der Sprache her, mein ich.‹ ›Was meinst du?‹ ›Na, das.‹ ›Scopare, chiavare, fottere, mietere, paludare.‹ ›Ja. Aber ich bin so erzogen, ich bring’s nicht über die Lippen.‹ ›Laß mich alle deine Lippen küssen, alle!‹ ›Paß auf, mein Slip!‹ ›Man muß ihn zerreißen, sonst dauert es zu lange.‹ Graziella stöhnte auf. ›Ron, du…‹ ›Jetzt du bei mir.‹ ›Wie heißt denn deiner auf Italienisch?‹ ›Das ist der Cazzo. Nimm ihn in den Mund.‹ ›Du, da bin ich ziemlich verklemmt…‹ ›Mußt du auch nicht.‹ ›Laß mir noch ‘n bißchen Zeit.‹ ›Wir haben Zeit bis zum Ende der Welt.‹ ›Du bist süß.‹ ›Komm, knie dich vors Bett.‹
43. SZENE Justizvollzugsanstalt Tegel
Salvatore Caccia zog die Ärmel seines dunkelblauen Torwartpullovers weit über die Hände. Es waren kaum fünfzehn Grad. Der Sommer in Berlin war weniger wert als der Winter von Taormina oder Syrakus. Die Wolken hingen tief, und vom Tegeler See her wehten neue Regenschleier übers graue Land. Es war gräßlich in Deutschland. Per Dio! Va a ramengo! Nicht auszuhalten hier. Kein Wunder, daß sie Drogen brauchten. Kein Wunder, daß sie Nutten brauchten. Er beschaffte ihnen alles – und saß dafür im Knast. »Salvi, paß auf!« Der gegnerische Mittelstürmer war durchgebrochen. Zehn Jahre Tegel, weil er seinen Saufkumpan mit der bloßen Faust erschlagen hatte. Alle erwarteten nun, daß Salvatore Caccia alles riskierte, um ihm den Ball vom Fuß zu fischen. In genau der richtigen Sekunde nach unten tauchen. Heute nicht. Vielleicht im Krankenrevier liegen, wenn… Er ließ sich austricksen, flog zur falschen Seite. Schuß und Tor, Wutgeschrei und Jubel. Der Ausgleich, 2:2. Salvatore Caccia senkte den Kopf, holte den Ball aus dem Tor und schoß ihn zum Anstoßpunkt zurück. Der Tag war ungemein günstig, was das Wetter betraf. Hatten sie natürlich vorher nicht ahnen können. Tutti i salmi finiscono in gloria. Oder wie hatte Ron Peccioli immer gesagt, der ja fast
schon ein Deutscher war. Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe. Festgelegt hatten sie den Tag X auf den heutigen Mittwoch, weil der Teilanstaltsleiter sein 25jähriges Dienstjubiläum beging. Da war alles drauf ausgerichtet, und wer nicht gerade Anonymer Alkoholiker war, der nutzte die Chance. Salvatore Caccia sah zu einem ganz bestimmten Fenster hinauf. Rosinski war nicht nur herzkrank, sondern auch ein begnadeter Schauspieler. Wenn er schrie, daß es ihm die Brust zerreißen würde, glaubten alle an einen Herzinfarkt. Eine weite Flanke war abzufangen. Er schaffte es so sicher wie der legendäre Dino ›Nazionale‹ Zoff in seinen besten Tagen. Abwurf zum eigenen Rechtsaußen. Ein Blick auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Auf Rosinski war Verlaß. Nächsten Monat konnte seine Frau mit den beiden Kindern die neue Wohnung beziehen, raus aus dem Rattenloch in Prenzlauer Berg. Und daß die Sache mit Ron Peccioli geklappt hatte, daran war auch nicht zu zweifeln. Schon glaubte er, die Hubschrauberrotoren hinten am Flugplatz zu hören. Es funktionierte alles wie im glatt inszenierten HollywoodFilm. Rosinskis rotes T-Shirt hing am Gitter seines Fensters. Wenig später drangen seine Schmerzensschreie bis auf den Fußballplatz hinunter. Auch der hartherzigste Wärter konnte nicht zulassen, daß er in seiner Zelle krepierte. Der Skandal hinterher. Hektik also, Chaos, Panik. Das Spiel stockte. Der Halbzeitpfiff kam etwas früher. Besser konnte es nicht laufen.
In diesem Augenblick kam der Hubschrauber. Der Christophorus, der gelbe Rettungshubschrauber. Alle in der Stadt kannten ihn. Die drei Justizvollzugsbeamten, die Salvatore Caccia und die anderen Gefangenen auf dem Sportplatz bewachten, mußten nun glauben, daß die Kollegen den Hubschrauber gerufen hatten, um Rosinski ins Krankenhaus zu fliegen. Auf diesem Effekt beruhte Caccias Plan. Ob es genaue Dienstanweisungen gab, wußte er nicht. Auf alle Fälle gab es eine genügend große Konfusion. Christophorus landete im Mittelkreis des Fußballfeldes. Die Beamten scheuchten Caccia und die anderen in den Strafraum, der weit weg von der Mauer war. Okay so. Damit hatte er gerechnet. Die Rotorblätter drehten sich noch, als die Tür aufflog. Zwei weißgekleidete Männer sprangen heraus. Der eine riß eine Bahre aus der Kabine. Molto bene. Es waren gute Leute. Auf der Bahre war eine braune Decke festgeschnallt. Die beiden Männer kamen auf die Fußballspieler zugelaufen. Als sie nahe genug heran waren, knallte die Bahre auf den Boden. Unter der Decke hatten sie eine Maschinenpistole versteckt. »Alle die Hände hoch! Keine Bewegung!« Salvatore Caccia lief auf den Hubschrauber zu. Seine beiden Männer hielten ihm den Rücken frei. Die Alarmsirenen schrillten. Alla malora! Schüsse.
44. SZENE Hermsdorf, Modellbahnschmiede Baabe
Fendt hatte auch diese Nacht in Hermsdorf verbracht und war mit Baabes schottischem Whisky in ein Schwarzes Loch gestürzt. Hätte er statt seines Richtmikrofons ein Gewehr mit Zielfernrohr gehabt, wäre dieser Ron Peccioli ein toter Mann gewesen, bevor er seinen dreckigen Schwanz in Graziellas… Nun, na gut, wenn sie nur gevögelt hätten, damit wäre er vielleicht noch fertig geworden, daß sie ihn jedoch auch echt zu lieben schien und beide davon gesprochen hatten, schon Weihnachten dieses Jahres zu heiraten, das hatte ihn ausflippen lassen. Sein Leben war vertan, alles schrumpfte zur absoluten Nichtigkeit zusammen. Als er erwachte, war es 12 Uhr 23. Der alte Baabe hatte ihn schlafen lassen. Fendt hatte einen schweren Kopf, aber sein Körper war an Alkohol gewöhnt. Kein Problem, mit ein paar Tassen Kaffee wieder in die Gänge zu kommen. Er war ein Kämpfer. Er ballte die rechte Hand zur Faust und reckte den Arm nach Boris-Becker-Manier. Wer zuletzt lacht. Wer zuletzt mit ihr schläft. Ihr werdet mich noch kennenlernen! Wirre Gedanken erfüllten ihn. Man konnte Peccioli erschießen, wenn der durch die Wälder joggte. Eine geeignete Waffe bekam er von einem der vielen V-Männer, die ihm einen Gefallen schuldeten.
Man konnte Pecciolis Badewanne unter Strom setzen. In die Vogelsangsche Villa kam er ohne Mühe hinein, schließlich hatte er sich nicht umsonst jahrelang dienstlich um Einbrüche zu kümmern gehabt. Man konnte Peccioli kurz betäuben und dann auf die Bahngleise legen, um den perfekten Selbstmord zu haben. Man konnte Peccioli Gift in den Kaffee schütten. Man konnte Peccioli mit einem kurz zuvor gestohlenen Auto totfahren. Man konnte Peccioli mit einer Briefbombe eliminieren. Man konnte… Und in jedem Fall würden sich alle einig sein, daß es sich bei ihm um ein Opfer rivalisierender Mafia-Gruppen handeln würde. Bandenkriege in Berlin waren ja schon nahezu eine Selbstverständlichkeit. Fendt wußte, daß er letztendlich die besseren Karten hatte. Zwar würde er es Graziella nie so recht verzeihen, daß sie es mit diesem Mafia-Mörder trieb, getrieben hatte, denn es entehrte sie gewissermaßen, doch war es zähneknirschend hinzunehmen, wollte er seine großen Ziele erreichen. Wo sie sich jetzt ausgetobt hatte, war sie nachher um so pflegeleichter, wenn er als Landeskriminaldirektor in der Villa gegenüber residierte. Er mußte selber lächeln, als er das alles nüchtern registrierte. Es war ebenso albern wie realistisch. Da kamen doch Leute nach oben, die viel größere Ärsche waren als er. Seine größte Lebensweisheit sprach er leise vor sich hin. »Das Leben ist ein Paternoster. Und wer erst einmal einen gefunden hat und es wagt hineinzuspringen, der kommt auch ganz sicher nach oben.« Und sein Paternoster hieß Familie Vogelsang.
Schön, wenn man nicht rechtzeitig merkte, wo oben war, konnte man ganz schnell auch wieder unten sein, aber bis dahin war es eine herrliche Sache. Euphorisch sprang er aus dem Bett und drückte auf den roten Plastikknopf seines Kofferradios. Deutschland-Radio Berlin. Sie brachten Nachrichten. Er verspürte es wie einen elektrischen Schlag. Sie hatten Salvatore Caccia befreit. Nachdem der Hubschrauber in der Nähe der Ortschaft Paaren gelandet war, gelang es den drei Männern, mit einem Pkw über die Autobahn in Richtung Potsdam zu entkommen. Fendt sprang zum Fenster. Idioten die! Er hatte seine Vorgesetzten doch umgehend davon in Kenntnis gesetzt, daß Peccioli darauf aus war, einen Hubschrauber… Andererseits… Sein Herz begann zu stolpern, es nahm ihm den Atem. Dann war Peccioli womöglich schon verhaftet worden. Dann hatte er Graziella für sich. Er stürzte zum Fenster und sah hinüber. Nein, Scheiße! Peccioli stand am Schreibtisch und erzählte Jennifer von irgendeiner lustigen Begebenheit. Jedenfalls krümmten sich beide vor Lachen. Warum war dieses Schwein noch nicht verhaftet worden!? Fendt griff zum Telefon.
45. SZENE Humboldtkrankenhaus
Annika Malitzki packte ihre Sachen in eine große Reisetasche. Fast bedauerte sie, schon wieder entlassen zu werden. Trotz des Traumas und trotz aller Schmerzen hatte sie es irgendwie genossen, hier im Bett zu liegen. Man brauchte sich um nichts zu kümmern, wurde rund um die Uhr bestens versorgt, konnte sich fallenlassen und wieder Kind und Baby sein. Man wurde gefüttert und gewaschen und bekam sogar den Po gewischt. Bei jedem Pieps war ein Doktor zur Stelle, und wenn die Kolleginnen und Kollegen erschienen, die Freunde und Bekannten, dann wurde man nicht angepinkelt, sondern liebevoll geschont. Viola Lübz, die gekommen war, sie abzuholen, schenkte Schwester Karen, von der Annika die ganze Zeit über aufopferungsvoll gepflegt worden war, einen Riesenkasten Konfekt und umarmte sie, bevor sie das Krankenhaus verließen, ein wenig länger und heftiger, als es Annika für angemessen hielt. »Bist du etwa eifersüchtig?« fragte Viola Lübz, als sie im Fahrstuhl standen. Annika lachte und konterte mit einem Stückchen Shakespeare-Text, »‘s gab eine Zeit, da Du aus freien Stücken/Mir schwurst, kein Wort sein Deinem Ohr Musik,/Kein Gegenstand erfreulich Deinem Aug’,/Kein Händedruck willkommen Deiner Hand,/Wohlschmeckend Deinem Gaumen kein Gericht,/Spräch’ ich, blickt’ ich, drückt’ ich, reicht’ ich Dir’s nicht.«
»›Comedy of Errors‹«, Viola Lübz hatte es sofort erkannt. »Die Adriana.« »Hab ich mal in Nürnberg vorgesprochen damit. Leider vergeblich.« Annika seufzte anhaltend. »Denn wir sind beide Eins, und bist Du falsch,/So theil’ ich die Vergiftung Deines Fleisches/Und werde von Dir angesteckt zur Metze.« »Wenn’s nur das ist, zur Hure…« Der Fahrstuhl hielt, sie stiegen aus. Annika Malitzki sah sich, als sie am Ausgang waren, noch einmal um. »Noch leben, mein Gott, ist das schön!« »Ich war ja auch bei dir gewesen, wenn sie dich als ›Ex‹ unten rausgekarrt hätten.« »Und bitte auch darauf geachtet, daß sie mir meine Augen dringelassen und nicht durch welche aus Glas ersetzt hätten. Hast du denn bei Bassi…« Annika stockte. Sie hatte gar nicht mehr an Lübz gedacht. »Entschuldigung.« »Lübz ist Geschichte für mich.« Annika war ihr dankbar, daß sie nicht gesagt hatte ›ist abgelegt für mich‹. Zwar hatte Viola an Lübz’ Seite beträchtliches Format gewonnen, doch ließ sich manchmal nicht verhehlen, daß sie halt von Hause Sekretärin war. Andererseits wußte Annika genau, daß ihre Beziehung auf der Kopfebene vor allem so wunderbar lief, weil sie Viola in vielem überlegen war. Und was den Bauch betraf, sie wünschte sich nichts weiter auf der Welt, als hinter ihr zu liegen, eng an sie gekuschelt, ihre Wärme zu spüren und ihre Kraft. Viola beherrschte im Grunde eine viele höhere Kunst als die, singen, malen oder schauspielern zu können, nämlich die Kunst, lustvoll mit dem Leben fertig zu werden. Und ihre Zeit mit Lübz war ja auch als eine Art Kunstwerk zu werten, kunstvoll konstruiert zumindest. Welch herrliches Stück auf der Bühne des Lebens.
Annika umarmte Viola. Lübz war nicht mehr da, jetzt hatte sie die Freundin ganz für sich allein. Und an ihrer Seite konnte sie sich zu einer Schauspielerin entwickeln, wie es sie in Deutschland seit der Dietrich nicht mehr gegeben hatte. »Grüß Gott, die Damen!« Annika fuhr zusammen. Hinter einem Lieferwagen war Mannhardt aufgetaucht. Viola Lübz faßte sich als erste. »Sie wollen uns verhaften?« »Verhaftet sind Sie selbstverständlich«, Mannhardt machte eine kleine Pause, »dem abendländischen Wertsystem, wie ich auch. Trotz allem.« »Der Crash-Kurs in der Volkshochschule: Sitcom-Humor am Arbeitsplatz!« Sie merkte zu spät, wie aggressiv sie war. Mannhardt blieb zunächst gelassen. »Ich hab nur regelmäßig ›A1 Bundy‹ gesehen.« Dann aber klotzte er zurück. »Für ein Motiv reicht das allemal, was Sie eben hier… Noch bin ich auf der Suche nach dem Mann, der Barnabas Lübz vor den Zug gestoßen hat.« Jetzt gab Viola contra. »In wem von uns sehen Sie denn den Mann?« »Es sollen schon viele Frauen großen Erfolg gehabt haben mit sogenannten Hosenrollen.« Annika merkte, daß ein Mensch nicht automatisch dumm sein mußte, nur weil er sein Geld als Bulle verdiente. »Und umgekehrt Männer als Charleys Tante und so. Während ich also auf dem Bahnhof Savignyplatz stehe und den Bassi umbringe, sitzt ein Mann als Frau bekleidet bei Viola und spielt meine Rolle.« Mannhardt nickte. »Richtig.« »Und wer sollte das gewesen sein?« »Dieser Leonardo beispielsweise, Leonardo Vogelsang.« Viola Lübz klatschte sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Das ist doch absurd.«
»Die Realität ist immer absurd.« Annika stöhnte auf. »Wie in ‘ner Vorabendserie von…« Mannhardt unterbrach sie. »Lassen wir den Spaß. Ich bin nur zufällig hier, das heißt, eigentlich nicht ganz zufällig, denn gestern nacht hat der S-Bahn-Täter wieder zugeschlagen. Zwischen Schönholz und Wollankstraße. Eine junge Erzieherin. Liegt jetzt auch hier im Krankenhaus. Kopfverletzungen, Rippenbrüche.« »Dann sind Ihre Kollegen immer noch nicht weitergekommen?« »Eigentlich nicht.« »Und uneigentlich?« fragte Annika. »Trösten wir uns mit der Fußball-Bundesliga-Weisheit Nummer Siebenhundertdreiundzwanzig: Jede Serie geht einmal zu Ende.«
46. SZENE S-Bahnhof Hermsdorf
Fendt wartete auf den Zug nach Wannsee. Sein Auto war gestohlen worden. Was blieb ihm anderes übrig, als mit der SBahn zu fahren. Bis Gesundbrunnen brauchte er achtzehn Minuten, konnte dort in die U 8 umsteigen und war in einer knappen halben Stunde bei sich zu Hause in Neukölln. Es trieb ihn zurück in seine Wohnung. Nicht nur, weil die Blumen wieder mal zu gießen waren. Der wahre Grund war ein anderer. Er hatte Angst. Angst vor Ron Peccioli und dem Caccia-Clan. Dessen Einfluß reichte offenbar schon weit in die Berliner Polizei und das BKA hinein. Anders ließ sich das nicht deuten, was er von seinen Vorgesetzten erfahren hatte. ›Warum wird denn nicht endlich zugeschlagen?‹ ›Das Beweismaterial reicht uns noch nicht.‹ Wieso? Ich hab doch sogar das mit dem Hubschraubern ›Wir brauchen noch Informationen über das gesamte Netzwerk. Konzentrieren Sie sich auch auf diese Jennifer. Die geht bestimmt nicht nur wegen des Geldes mit ihren Männern ins Bett.‹ ›Wo Salvatore Caccia jetzt… Da ist es doch geradezu zwingend, Peccioli sofort… Schon der Öffentlichkeit wegen.‹ ›Es gibt da strategische Überlegungen auf höchster Ebene.‹ Fendt hatte das Gefühl, daß sie ihn opfern wollten, um Peccioli ganz sicher zu haben. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie das so lief mit den strategischen Überlegungen auf höchster Ebene. ›Alles, was wir gegen Peccioli haben, reicht vor Gericht noch immer nicht aus.‹ ›Da gibt es nur eins.‹
›Was denn?‹ ›Wir warten, bis seine Leute versuchen, unseren Mann vor Ort zu eliminieren.‹ ›Was denn: Fendt?‹ ›Ja.‹ Fendt wußte, daß das höchstwahrscheinlich Unsinn war, aber er kam nicht los davon. Sein Auto war weg. Warum wohl? Damit er mit der S-Bahn fuhr. Und warum sollte er mit der SBahn fahren? Damit sie ihn vor den Zug stoßen konnten. Und warum wollten sie ihn wohl vor den Zug stoßen? Damit er vor Gericht nicht gegen sie aussagen konnte. Tonbänder, da konnten die Anwälte immer argumentieren, daß sie geschickt manipuliert worden seien. Trat er aber als Zeuge auf, dann… So gesehen, war es schon logisch, daß er Angst haben mußte. Außerdem, Peccioli hatte sicherlich mitbekommen, wie scharf er auf Graziella war, und mußte nun verhindern, daß er womöglich mit ihr sprach und ihr die Augen öffnete. Fendt zuckte zusammen. Er sah es wie auf einem Oszillographen, daß sein Herz zwei Schläge lang außer Kontrolle geriet. Ein kurzer heißer Schmerz, wie eine elektrische Entladung. Er preßte die Hand auf die Brust und rieb ihn hinweg. Das war die Idee, die alles wendete. Klar, warum er nicht schon längst daran gedacht hatte. Es war das absolute Tabu für einen Kriminalbeamten. Kam es raus, dann wurde er gefeuert. Doch was machte das schon, wenn er Graziella dadurch rettete und für sich alleine hatte. Aber warum sollte es denn rauskommen? Sie würde sicher schweigen. Ich mach es! Er kehrte um und lief zum Ausgang zurück. Da sah er unten auf der Straße Peccioli kommen.
47. SZENE S-Bahnhof Frohnau
Mannhardt warf den x-ten Blick zur Bahnhofsuhr hinauf. 22 Uhr 35, noch fünf Minuten. Auch an diesem Abend war es wieder regnerisch und kühl, und er wünschte, in seinem Wintermantel zu stecken. Vielleicht war es doch etwas voreilig gewesen, auf jedes Auto zu verzichten. Aber Heike hatte mit grün-ökologischer Unerbittlichkeit auf der Abmeldung ihres Golfs bestanden. Sie kam aus Oranienburg, wo sie sich mit seiner ehemaligen Kollegin Yaiza Teetzmann getroffen hatte. Die beiden Powerfrauen hatten sich in seiner O-Burger Zeit kennengelernt und waren sehr schnell auf ihre Seelenverwandtschaft gestoßen. Mannhardt dachte mit Wehmut an seine Oranienburger Zeit zurück. Als ›Polizeimissionar‹ in Brandenburg. Vordergründig, um denen dort zu helfen, von der östlichen Morduntersuchungskommission (MUK) zu westlichen Organisationsformen zu finden, in Wahrheit aber von der Aurak in die Wüste geschickt. ›Für Defätisten und Anarchisten wie diesen Mannhardt ist kein Platz in meinem Bereich!‹ Seine Freunde von Gewerkschaft und Personalrat hatten ihn, als Sylvester auf die Welt gekommen war, nach Berlin zurückgeholt. ›Das Kind braucht seinen Vater.‹ Nun ja. Sylvester schlief friedlich in seinem Bettchen. Elke war zum Babysitten nach Tegel gekommen. Mannhardt hatte Mühe zu begreifen, daß seine Tochter und Sylvester Geschwister waren,
halbe jedenfalls. Bei dreißig Jahren Altersunterschied. Verrückte Welt. Er hatte es so gewollt, und trotzdem fand er es irgendwie auch falsch. Es war gegen die Ordnung, die er verinnerlicht hatte. Als Kind, als Junge. Was er getan hatte, war wider die Natur, vor allem aber wider die Gesellschaft. Sylvesters Ein- und seine eigene Aussegnung fielen womöglich auf denselben Tag… Drohend ragte der Frohnauer Casinoturm in den nachtgrauen Himmel. Irgendwann ereilte ihn ganz sicher die Strafe für sein frevelhaftes Tun, so kurz vor seiner Pensionierung noch Vater zu werden. Es hielt ihn nicht mehr auf dem Bahnsteig, er mußte sich bewegen. So sprang er noch einmal die Treppe zur Frohnauer Brücke hinauf. Seine Kondition war gut, besser als die vieler Väter, die drei Jahrzehnte jünger waren als er. Schräg gegenüber lag ein Spielzeugladen. Er stürzte zum Schaufenster, um sich die Eisenbahnen anzusehen. Bald konnte er wieder auf dem Fußboden liegen und spielen. Alles war gut, so wie es war. Er warf noch einen Blick auf das Auto seiner Tochter, für das er vor Elch-Apotheke und Alla Fontana einen Platz gefunden hatte. Der Italiener war erste Klasse, und vielleicht hatte Heike noch Lust auf frischen Fisch. Er lief wieder zum Bahnsteig hinunter. Die S 1 kam mit müdem Nietengesicht in den Bahnhof geschlichen. Die Stromabnehmer klackten, die Bremsluft zischte aus den Ventilen. Als würde er von einem unsichtbaren Kraftfeld angezogen, aber auch gestoßen werden, trieb es Mannhardt zur Bahnsteigkante hin. Es zog ihn in den Schlund hinein, der sich zwischen den ölschwarzen Schwellen und dem Drehgestell des ersten Wagens öffnete. Wie Materie in ein Schwarzes Loch. Er zuckte zurück, erschrocken über sich selber. Der Todestrieb. Das Glück, wieder zu Staub zu werden.
In derselben Sekunde registrierte er, daß in der zweiten Tür, die Griffe in der Hand, Bonni Bölzke stand, zum Aussteigen bereit. Was machte der um diese Zeit hier draußen in Frohnau? Das war nicht die Gegend, in der Büroboten wohnten. Egal. Mannhardt konzentrierte sich auf Heike. Drei, vier Leute waren ausgestiegen. Sie war nicht dabei. Der S-Bahn-Mörder. Nordbahn, Mordbahn.
48. SZENE Hermsdorf, Waldsee
Fendt hatte das Gefühl, damit ein Verbrechen zu begehen. Es war auf alle Fälle ein schwerer Normenverstoß. Aber nicht mehr zu verhindern. Sich dagegen anzustemmen, war ebenso unsinnig, als wenn er versucht hätte, sich mit ausgebreiteten Händen an den Atlantik zu stellen und eine heranjagende Woge aufzuhalten. Die Natur war stärker, auch seine Natur. Er mußte Graziella retten. Doch er traute sich noch immer nicht. Von der Modellbahnschmiede an war er ihr durch halb Hermsdorf gefolgt. Sie hatte es offenbar übernommen, mit dem Hund der Nachbarsleute, einem Collierüden namens Macbeth, die Mittagsrunde zu drehen. Sie von hinten anzusprechen, war ihm besonders peinlich, also hatte er es so eingerichtet, daß sie den kleinen See in entgegengesetzter Richtung umrundeten. Vor der Villa mit der Gedenktafel für Erich Kästner mußten sie aufeinandertreffen. Fendt hatte Angst vor dem, was er da tat, gleichzeitig aber war der Kitzel überaus lustvoll. Irgendwie das große Spiel mit dem eigenen Leben. Stärker als beim Bungeejumping oder SBahn-Surfen. Nein, das traf es nicht genau. Er brauchte Graziellas Körper wie ein Junkie den Schuß. Ohne sie konnte er sich das Leben nicht mehr denken. Sie hatte seine Seele besetzt, sich hineingefressen, ihn süchtig gemacht. Ohne sie war alles grau, jeder Tag verloren. Schon der Gedanke an sie brachte ihm Lust, und er hatte in den letzten Tagen so exzessiv onaniert, wie er es ansonsten nur von Knackis kannte.
Immer mit dem Gedanken, daß es den Sprengstoff in ihm entschärfen würde. Sein Körper war voll davon. Er hatte das Gefühl, als menschliche Bombe durch die Stadt zu laufen. Irgendwann mußte alles explodieren, wenn er Graziella nicht bekam. Mit bangem Herzen sah er über den See. Wie lange mochte es noch dauern, bis sich ihre Bahnen kreuzten. Es ließ sich schwer berechnen, denn immer wieder hielt sie an, weil der Hund schnuppern und seine Duftmarken hinterlassen mußte. O Gott, jetzt setzte sie sich auch noch auf eine der Bänke, nahm ein kleines, gelbes Buch und las. Fendt blieb nichts anderes übrig, als hinter einer dickstämmigen Weide zu warten. Es dauerte eine gute Viertelstunde, bis Graziella weiterging. Und endlich begegneten sich beide. »So ein Zufall!« rief er aus. Der Collie kläffte ihn an. »Macbeth, aus!« Graziella nahm ihn an die Leine. »Das ist ja ein richtiger Tyrann«, sagte Fendt. Graziella lachte. »Und kein Macduff in der Nähe, ihn zur Strecke zu bringen.« Fendt verstand sie nicht ganz. »Wer, bitte?« »Der schottische Edelmann, der Macbeth erschlägt.« Graziella spielte ihm die Szene vor, in dem sie ein Grasbüschel aus dem Boden riß und es hochhielt wie einen abgeschlagenen Kopf. »›Hier des Tyrannen Haupt; die Welt ist frei.‹« Fendt klatschte Beifall. Sie war herrlich anzusehen. Doch anstatt nun selber amüsant zu sein oder sonstwie attraktiv, sah er sich zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Jetzt hätte etwas Geistreiches kommen müssen, irgend etwas aus ihrer Welt, doch ihm fiel partout nichts ein, er las nicht die Feuilletons vom Tagesspiegel, FAZ und Zeit. Sie war mehr als nur eine Nummer zu groß für ihn.
In diesem Moment sah er auch, was sie gelesen hatte, das kleine Reclam-Heft in ihrer Hand: Heinrich von Kleist, Prinz von Homburg. Da wußte er Bescheid und konnte Eindruck schinden, das war die Rettung. Und so zitierte er: »Der Worte sind genug gewechselt,/Laßt mich endlich auch Taten sehn!« Graziella schüttelte die helle Löwinnenmähne. »Das ist nun leider der ›Faust‹.« Pech gehabt, welche Blamage! Doch er war ein Kämpfer, und immerhin gelang es ihm, wieder etwas aufzuholen, indem er unter Hinweis auf Macbeth betonte, schon mal in Stratfordupon-Avon gewesen zu sein, dem Geburtsort des Herrn Schüttelbirne. Sie lächelte höflich, ja regelrecht lieb und schien ihn gar nicht so übel zu finden. »Was machen die Modelle?« Fendt fightete weiter. »Ach, wissen Sie, eigentlich sind mir ja Models lieber als Modelle, aber die gibt’s ja nicht in Babelsberg, sondern eher gegenüber.« Er fand sich prächtig. »Wie?« Sie konnte ihm nicht folgen. Er registrierte es mit Freude und machte sich daran, ihr alles zu erklären. »Nicht Babelsberg, wo die DEFA war, sondern Baabe, mein Chef. Und keine S-Bahn-Modelle, sondern Models aufm Laufsteg oder die, die in der BZ annoncieren.« »Ah, ja.« Ihr Beifall blieb schwach. »Sozusagen Fendtcheltee.« Er fühlte sich ein wenig verarscht. Sollte er ihr sagen, daß er das Abitur wahrscheinlich mit einer viel besseren Note als sie bestanden hatte und sein Beruf x-mal wichtiger war als ihre Kunstgeschichte. Nein. Er überlegte krampfhaft, wie er nun zur Sache kommen sollte. Es schien keinen Einstieg zu geben. Zu irreal, zu surrealistisch war das alles, Wahnsinn. Doch er hatte Glück, sie nahm es ihm ab, den ersten Zug zu tun. »Da fällt mir ein, ich muß mich noch entschuldigen bei dir, bei Ihnen.«
»Auf die Einhaltung einer Verabredung muß man sich doch eigentlich verlassen können.« Er spürte selber, wie hölzern und beamtenhaft das klang. Ganz einfach beknackt. Warum brachte er es nicht fertig zu sagen: ›Sag ma, warum bist’n nich gekommen, das Video mit mir zu sehen?‹ Graziella nahm einen Stein vom Weg und warf ihn in weitem Bogen in den Waldsee. »Tut mir leid, aber mir ist da was dazwischengekommen.« Fendt dachte: Ja, sein Schwanz zwischen deine Schenkel. Und indem er es dachte, geriet er immer mehr ins Schwimmen, starrte nur noch auf die Kästner-Gedenktafel und stotterte herum. »Das, das hab ich auch mal gelesen, das da von, das bekannteste. ›Emil und die Detektive‹. Dadurch bin ich vielleicht…« Graziella schaltete schnell. »Zur Eisenbahn gekommen?« Er starrte sie an. »Wieso?« »Weil es doch im Zug beginnt. Wo dem Jungen das Geld geklaut wird.« Fendt flüchtete sich in ein pennälerhaftes Lachen. »Klar, ja!« Er dachte an Nicole. Mit der war das alles so einfach und selbstverständlich gewesen. Sicher, eine Mietwohnung, 2,5 Zimmer zu 841 Mark, zwei Kinder, die miefige Hermannstraße, ewig ein kleiner Beamter, Fichtelgebirge oder Mallorca. Und mit einer Mutter wie dieser würden die Kinder gerade mal die Hauptschule schaffen. Alles zwei Nummern zu klein. Graziella nahm den Collie fester an die Leine und machte Anstalten, wieder nach Hause zu gehen. »Und von der großen Bahn dann zur Modellbahnschmiede Baabe…« Jetzt war der Moment gekommen, wo sich alles entschied. »Ich bin von Hause gar nicht richtig Feinmechaniker.« Sein Herz schlug so hart und seine Brust zog sich derart schmerzhaft zusammen, daß er fürchtete, es würde ein Infarkt
daraus werden. Seine Knie wurden weich, in seiner Galle schienen Nadeln zu stecken. Graziella wich unwillkürlich zwei Schritte zurück. »Ist Ihnen nicht gut?« »Doch.« Es war wie in einem Traum, wo man dringend mußte, sich aber keine Gelegenheit fand, das Wasser abzuschlagen. Es wurde immer quälender. Bis er einfach alles laufen ließ. »In Wirklichkeit bin ich von der Kripo.« Der Collie, überaus sensibel, mußte bemerkt haben, was mit ihm war, denn er fing plötzlich fürchterlich zu kläffen an. »Macbeth, aus!« Graziella riß an der Leine und machte sich dann an die üblichen Gehorsamkeitsübungen. »Sitz! Platz!« Fendt war bis hin zum Flow-Gefühl erleichtert. Er hatte in Aus- und Fortbildung genügend Psychologie gehabt, um zu wissen, daß in seinem Körper Noradrenalin und Endorphine in ziemlicher Menge freigesetzt worden waren. Es war wie in den Minuten nach einer heftigen Ejakulation. Alles war heraus. Der Samen zu einem neuen Leben. Mit Graziella. Hoch hinaus, zu allem hin, zu seinen Träumen. Graziella hatte den Hund wieder zur Räson gebracht und sah ihn von schräg unten an. »Von der Kripo sind Sie?« »Ja.« Fendt zog seine Marke hervor. »Haben Sie sich die selber bei Baabe gefeilt?« Sie nahm ihn nicht für voll, sie hielt ihn für einen Psychopathen. Er spürte auch deutlich ihre Verachtung. Sie kam aus einer anderen Klasse als er. Sie war die Höhere Tochter und er nur der gemeine Bulle. Wie vor hundert Jahren. Jetzt hatte er nur noch einen Wunsch: Sie ins Gras zu werfen und ihr den Hochmut aus dem Leib zu vögeln. Zugleich schämte er sich aber, das gewollt zu haben, denn er liebte sie ja, er wollte zärtlich mit ihr auf der Wiese liegen, Liebes flüstern, sie still anbeten als seine große Göttin.
»So, ich muß dann wieder.« Sie wandte sich zum Bahnhof Hermsdorf hin. Er lief neben ihr her und kämpfte. Um sein Glück, wie er meinte, aber noch viel mehr um das ihre. »Du machst da den größten Fehler deines Lebens!« Plötzlich duzte er sie. In seiner Verzweiflung, wie aber auch, weil er ihr so nahe war. »Graziella, bitte!« Sie blieb noch einmal stehen und machte mit der Hand eine kreisende Bewegung auf Höhe ihrer Stirn. »Hast du nicht mehr alle!?« »Peccioli!« schrie er. »Du gerätst in die Fänge der Mafia! Der Caccia-Clan. Peccioli ist der Boß hier in Berlin. Ein vielfacher Mörder. Sie jagen ihn, und du gehst unter mit ihm, er ist dein Tod!« Graziella lachte ihn aus. »Ich riskiere meine Karriere! Deinetwegen. Weil ich dich… liebe, ja. Begreif das doch. Bitte!« Sie ließ den Hund von der Leine und rannte ihm nach. Und sie war viel schneller als Fendt.
49. SZENE Hermsdorf, Gymnasium
Leonardo Vogelsang hatte zur Überraschung aller den Leistungskurs Sport belegt. Dies zu Beginn des zwölften Schuljahres oder des ersten Semesters, wie das im Oberstudienratsjargon nun hieß. Im Geplänkel mit seinem Vater spottete er stets, daß die Oberlehrer gerne mal ein bißchen Uni spielten, um zu kompensieren, daß sie’s nicht geschafft hatten, Profs zu werden. Auch die Wahl des Faches Sport war eine kleine Provokation in Richtung seines Vaters. Sicherlich schätzte und liebte er ihn, aber ein bißchen Auflehnung mußte schon sein. Hauptsächlich aber hatte er sich für diesen Leistungskurs entschieden, um in Form zu kommen und zu bleiben. Im Abitur wurde ja in der Leichtathletik einiges verlangt, und so war er ständig gezwungen, zum Kraftund Konditionstraining zu gehen. Dies aber auch im Hinblick auf seine Pläne nach dem Abitur: Als Geologe durch die Welt zu ziehen und nach Kohle, Öl und anderem zu suchen. Und nach Material für seine großen Romane. Im Samen des Volkes war ja nur ein erster schüchterner Versuch. Bei all seinen Plänen war es schon gut, wenn man nicht gleich von jedem Windstoß umgepustet wurde. Was den theoretischen Teil und das allfällige Referat betraf, so hatte er voll auf die heimliche Liebe seines Lehrers gesetzt, den American Football. Dr. Reinicke war als Junge ein Jahr lang in Kansas City zur Schule gegangen und seitdem ein Fan der dortigen Chiefs. Und da es bei Referaten immer Sonderpunkte gab, wenn man einen ›Betroffenen‹ in die
Schule schleppte, hatte er sofort mit Ron Peccioli gesprochen, und der hatte den Kontakt zu Kevin Neumann hergestellt. So kam es, daß der Quarterback der Berlin Balls nach Hermsdorf gekommen war. Die meisten der knapp zwanzig Abiturienten waren äußerst angetan von ihm. »Den anderen Land wegnehmen, Gebiete erobern. Ist dir die an sich ja imperialistische Ideologie deines Spiels nicht irgendwie peinlich?« Das war Sven, der bei den Jusos die Flugblätter druckte. Kevin Neumann nahm die Frage ernst und amüsierte sich dennoch darüber. »Spielst du ›Mensch-ärgere-dich-nicht‹ zu Hause?« »Ja.« »Und ist dir noch nie klar geworden, daß das eigentlich jedesmal ein Mord ist, wenn du jemand rauswirfst?« Damit hatte er die Lacher voll auf seiner Seite, und Leonardo bewunderte ihn zunehmend. Diese Mischung von männlicher Kraft und intellektuellem Charme, wie er auch gleichzeitig unendlich cool und doch wieder unglaublich sensibel war. Ein Vollblut-Architekt und auch als Quarterback ein Künstler, ein Philosoph. »Spiel ist nicht das eigentliche Leben, sicher und Gott sei Dank, es ist ein Heraustreten aus dem gewöhnlichen Leben, etwas sehr Kreatives. Im Spiel vollenden wir uns, siehe Johann Huizinga und seinen ›Homo ludens‹. Kultur als Spiel. Spiel und Ernst, wie paßt das zusammen? Huizinga sagt: Der Ernst sucht Spiel auszuschließen, Spiel jedoch kann sehr wohl den Ernst in sich einbeschließen. Und so ist American Football ganz sicherlich die Spiegelung einer beinharten, aggressiven und auf Null-Summen-Spiele ausgerichteten Gesellschaft.« Leonardo hörte voller Bewunderung zu und beschloß, Kevin Neumann noch in seinen Roman hineinzunehmen, ihn dort zu
verewigen, ihm sozusagen ein Denkmal zu setzen. Ein solcher Typ hatte Im Samen des Volkes bislang noch gefehlt. Dr. Reinicke bat Kevin Neumann, den Jungen noch etwas über den Codex des Footballsports zu erzählen, was ja im Referat von Leonardo doch etwas zu kurz gekommen sei. »Vor allem eins.« Kevin Neumann schien mit seinen Gedanken schon nicht mehr ganz bei der Sache zu sein. »Der Football-Helm dient allein dem Schutz der Spieler und in keinem Fall als Waffe.« Er stülpte sich den mitgebrachten Helm über den Kopf und lief damit auf den Oberstudienrat zu. »Jetzt ein Spearing, das heißt, einen Hechtsprung in seinen Magen – und euer Unterricht fällt wochenlang aus.« Alle feuerten ihn an, es bitte doch zu tun. Dr. Reinicke sprang noch rechtzeitig zur Seite und griff Kevin Neumann in das Gitter seines Helms, wenn auch mehr zum Schein als wirklich. »Wenn ich das richtig gemacht hätte, müßte er ins Dominikus-Krankenhaus, wenn nicht gar auf’n Friedhof.« Kevin Neumann setzte den Helm wieder ab. »Ja, das ist sicherlich das gemeinste Foul, was wir kennen.« So ging es noch eine Weile weiter, aber bei Leonardo verstärkte sich von Minute zu Minute der Eindruck, daß mit Kevin Neumann irgend etwas war. Mal starrte er leer in die Runde, mal holte er tief, fast seufzend Luft, mal strich er sich, als hätte er Schmerzen, über Herz und Magen. »… was ein ›sack‹ ist, deutsch Sack geschrieben. Ja, das ist der Angriff der gegnerischen Verteidigung auf mich als Quarterback, und zwar hinter der Scrimmage-Linie, also im Rückraum der Offense, der mich zu Boden bringt. Das ist immer Mist, weil wir dadurch einen Raumverlust erleiden. Also viel schlechter, als wenn ich einen Paß nach vorne werfe und der da nicht gefangen wird.« »Wer wird denn diesmal den Titel in der NFC holen?«
»Die ›Dallas Cowboys‹ höchstwahrscheinlich wieder. Außenseiter sind die ›New York Giants‹ und die ›San Francisco 49ers‹, kennt ihr sicher, wo ja auch mal Joe Montana gespielt hat, der Größte von allen. Mein Vorbild, klar.« Es klingelte. Dr. Reinicke bedankte sich und sagte, daß sie noch nie einen solchen sympathischen und dazu noch so kompetenten Gast gehabt hätten. Dann sprangen alle auf. Kevin Neumann ging auf Leonardo zu. »Fährst du jetzt nach Hause?« »Ja…« Das Wieso? verschluckte er. »Dann komm ich gleich mit. Ich will noch zu Peccioli, einen kleinen Besuch machen bei Ron.«
50. SZENE Hermsdorf, Modellbahnschmiede Baabe
Fendt stand am Schraubstock und feilte gottergeben am Führerstandsfenster des Beiwagens EB 169 015a herum. Er hatte das Gefühl, in der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik zu stecken. Beschäftigungstherapie. Gestern am Waldsee, da war er im wahrsten Sinne des Wortes verrückt gewesen. Von der Ebene des kühl-rationalen Kriminalbeamten verrückt worden auf die Ebene des trunken-irrsinnigen Liebhabers. Graziella hieß der Sambuca, den er flaschenweise ausgetrunken hatte, unendlich süß, unheimlich scharf. Nun war er wieder gänzlich nüchtern und froh und glücklich darüber, daß es so gekommen war. Das Fieber war vorüber, der Rausch verflogen. Er hatte nie mit ihr über Peccioli gesprochen, und wenn sie das irgendwann behaupten sollte, würde er ebenso reagieren wie sie, das heißt, mit einer kreisenden Handbewegung vor der Stirn. Arme Irre du. Er war geheilt von Graziella. Um sozusagen auch nach außen hin Tabula rasa zu machen, wählte er die altvertraute 621-Nummer, die Neuköllner Bäckerei, und ließ sich mit Nicole verbinden. »Ich bin es.« »Wer?« »Na, Dietmar, Didi.« Nicole schien es nicht fassen zu können, und er hörte nur ein ungewisses Rauschen. »Du, es tut mir alles so leid«, stieß er hervor. »Dann laß et dir ma leid tun.« Fendt schluckte. »Haste schon ‘n anderen?«
»Meinste, du bist der einzije Mann uff da Welt?« Er wußte, daß er es verdient hatte, abgestraft zu werden, so gedemütigt wie noch nie in seinem Leben. So ging es allen, die aus einem Gefängnis ausgebrochen waren und wieder eingefangen wurden. »Bitte, Nicki, laß es uns noch einmal versuchen.« Fendt war zu intelligent, um nicht zu begreifen, welche Mechanismen da am Wirken waren. Von der Wiege an hatten ihn seine Eltern darauf getrimmt, einen ordentlichen Beruf zu ergreifen, eine anständige Frau heimzuführen und zwei Kinder in die Welt zu setzen, die gute Zensuren mit nach Hause brachten, um dann einen ordentlichen Beruf zu ergreifen, eine anständige Frau heimzuführen und zwei Kinder in die Welt zu setzen, die gute Zensuren mit nach Hause brachten, um dann einen ordentlichen Beruf zu ergreifen, und so weiter, und so weiter. Das war das bürgerliche Perpetuum mobile. Und dazu war er nun einmal unausweichlich verurteilt. Eine Mücken konnte kein Dinosaurier werden, eine Birke keine Eiche, ein Fendt kein Vogelsang. So einfach war das. Und innere Größe gewann er nur, wenn er lernte, es mit Anstand hinzunehmen. Nicole ließ ihn zappeln. »Ick muß wieda. Die Kunden.« »Treffen wir uns heute abend?« Da hatte sie schon aufgelegt. Fendt sah sich im Büßerhemd durch die Hermannstraße gehen, verfolgt vom Gelächter der Neuköllner. Er trat ans Fenster. Graziella stand auf ihrem Balkon und versuchte sich an einer Tuschezeichnung. Er haßte sie plötzlich. ›Hochmütige Ausländernutte du!‹ Hätte er ein Präzisionsgewehr gehabt, er hätte sie erschossen. Ein Stockwerk höher, im Mansardenfenster seiner Wohnung, war Peccioli zu sehen. Er hatte Besuch. Ein großgewachsener Mann lief, offenbar in höchster Erregung, durch das Zimmer.
»Oh…« Fendt hatte ihn erkannt. Es war Kevin Neumann, der Quarterback. Mit seinen Kameraden war er oft in der Schöneberger Radrennbahn gewesen, um die Berlin Bulls spielen zu sehen. Den Vorgesetzten, die den Corpsgeist über alles schätzten, gefiel das immer. Er nahm sein Lasermikrofon und brachte es in Stellung. Sicherlich verhandelten sie jetzt über Spielertransfers, Siegprämien und ähnliches. ›Ich kann es nicht länger mit mir rumschleppen.‹ Das war ohne Zweifel Kevin Neumann. Peccioli klang noch ziemlich locker. ›Hast du einem Gegenspieler die Eier abgebissen!‹ Kevin Neumann fauchte ihn an. ›Hör auf damit! Mir ist es furchtbar ernst mit dem, was ich dir…‹ ›Entschuldige bitte.‹ Kevin Neumann schien einen neuen Anlauf zu nehmen. ›Du weißt, ich war mit Bassi befreundet.‹ ›Barnabas Lübz.‹ ›Ja. Sehr eng sogar. Er hat mich immer Fänti genannt.‹ ›Komischer Name.‹ ›Fänti – von First and ten, vom Spiel her. Vielleicht auch, weil er ein Fan von mir war.‹ ›Wart ihr etwa ein…‹ ›Ja.‹ Fendt stieß die Luft aus den Lungen. Kevin Neumann ein Schwuler! Der Geliebte von Barnabas Lübz. Das war die Sensation des Tages. Er empfand es als ausgesprochen eklig, aber ganz unwillkürlich und gegen seinen Willen stellte er sich vor, wie sich der feine, grazile und immer irgendwie ätherisch schwebende Senatsbaurat Barnabas Lübz mit nacktem Arsch über seinen Schreibtisch beugte und der göttergleich schöne und kompakte Quarterback mit seinem Riesenschwanz hinter ihm stand und sie es stöhnend taten.
Auch Peccioli schien Mühe zu haben, das irgendwie zu checken. ›Na und, anything goes. Wenn ihr beide Spaß dran hattet.‹ ›Das auch, ja, aber begreif doch bitte, daß ich ihn geliebt habe. Über alles. Mehr als mein eigenes Leben.‹ ›Sein Tod, der… Du kommst nicht drüber weg?‹ ›Ja, aber… Er wäre sowieso bald… Er war HIV-positiv.‹ ›AIDS!‹ schrie Ron Peccioli. ›Du hast dich angesteckt!?‹ ›Nein, keine Angst, du bist dein Geld nicht los.‹ ›Quatsch! Was dann?‹ Kevin Neumann zögerte lange mit einer Antwort, und Fendt meinte schon, sein Kopfhörer sei entzwei. ›Was ist denn nun!?‹ Auch Peccioli wurde ungeduldig. ›Viel schlimmer. Oder auch nicht. Ich weiß nicht mehr, was ich… Bring mich in die Klinik, eh ich völlig durchdrehe. Ron, bitte!‹ ›Nun sag doch erst mal, was los ist!‹ ›Ich war es.‹ ›Was denn?‹ ›Um ihn zu erlösen. Kurz und schmerzlos. Mitten aus dem Leben. Ohne daß er leiden mußte. Es war eigentlich sein Wille, eine stille Vereinbarung zwischen uns. Wenn es mal soweit sein sollte, dann… Plötzlich und unvorbereitet.‹ ›Du hast ihn vor den Zug gestoßen?‹ ›Ja.‹ Fendt riß sich die Kopfhörer herunter und fiel auf seine Couch. Er war lange Jahre bei der Polizei, er hatte schon viele solcher Dramen miterlebt, doch das hier war hart und rührte ihn besonders an. Er brauchte Minuten, um es zu verdauen. Und dennoch: Es war seine Pflicht, Meldung zu erstatten. Die Kolleginnen und Kollegen suchten ja fieberhaft nach Lübz’ Mörder, hohe Kosten fielen an. Unschuldige wurden verfolgt, und die Polizei kassierte mit jedem Tag, an dem der Fall Lübz
noch ungeklärt blieb, für ihr Versagen weitere Minuspunkte. Das alles galt es zu bedenken. So griff er schließlich zum Telefon. Da er nicht genau wußte, welche der inzwischen sehr vielen Berliner Mordkommissionen zuständig war, rief er die Chefin selber an. »Wunderbar.« Karin Aurak nahm seine Informationen dankbar entgegen. Als er am Ende war, bat sie ihn, noch einen Augenblick zu warten. Offenbar telefonierte sie auf einer anderen Leitung. Es dauerte. Endlich sprach sie wieder mit ihm. »So. Die Aktion Peccioli läuft planmäßig, und Sie wären sowieso angerufen worden. Alle Richtmikrofone sofort abschalten.« Fendt wußte, was das hieß. »Peccioli drüben, wird er endlich verhaftet?« »Ja.« Fendt stand mit dem Hörer am Ohr in der Nähe des Fensters. »Dieser Kevin Neumann geht aber gerade wieder.« »Um so besser, der hätte jetzt nur gestört. Also: Herzlichen Dank noch einmal für Ihre Aufmerksamkeit und dann…« Sie legte wieder auf. Fendt tat das gleiche. Er war wieder eins mit sich und der Welt. Die Aurak war eine der mächtigsten Figuren in der Polizeiführung, und wer bei der einen Stein im Brett hatte, der konnte weit nach oben kommen, ganz weit. Es ging also auch ohne Graziella. Die stand noch immer auf dem Balkon, als sie die Villa Vogelsang einzukreisen begannen, langsam und unauffällig mit allen möglichen privaten Pkws und Lieferfahrzeugen. Erst ganz zum Schluß kamen die Uniformen und die Kollegen vom MEK, vom Mobilen Einsatzkommando.
Wie hundertmal geübt wurde die Villa gestürmt und Peccioli festgenommen. Scheinbar ohne jeden Widerstand, denn Fendt hörte keine Schüsse. Nur Graziellas Schreie, als sie ihn an ihr vorbei zum Mannschaftswagen führten.
51. SZENE Mordkommission
Mannhardt saß am Schreibtisch und beschäftigte sich mit den letzten Hinweisen, die im Mordfall Lübz eingegangen waren. Sie trugen die laufenden Nummern 91-97. Ihm gegenüber tat Petra Zechow dasselbe mit den Nummern 86-90. Verdächtigt werden (teils anonym, teils unter Nennung von Namen und Adresse): - fünf Hausbesetzer aus Mitte und Prenzlauer Berg, deren Wohnungen auf Lübz’ Veranlassung hin und mit dem Ziel der ›Luxussanierung‹ geräumt worden waren, - zwei ehemalige Angestellte seiner Verwaltung, die er wegen Unfähigkeit gefeuert hatte, - der Eigentümer eines Mauergrundstücks, dem er nicht zu seinem Recht, der Rückgabe, verholfen hatte, - ein junger Mann, der ihm vor zwei Jahren ins Auto gelaufen war und seitdem an Krücken ging, - der irakische Geheimdienst, weil Lübz einem kurdischen Freund zur Eröffnung eines Restaurants einige tausend Mark geschenkt hatte, - die Freundin seiner Frau (Annika Malitzki), weil er sie verschmäht hatte - sowie sein Gärtner, weil der ihn wegen homosexueller Beziehungen erpreßt hatte und eine Anzeige fürchtete. »Das mit dem Gärtner ist besonders originell«, stelltMannhardtdt fest. »Die Höhe der Belohnung regt die
Leute an. Das sind sicher dieselben, die sonst Krimikurzgeschichten für den Walter-Serner-Preis verfassen, SFB, Rainer K. G. Ott.« »Jetzt hab ich dich!« Petra Zechow riß die Arme hoch. Als wenn sie grad das Siegestor geworfen hätte. »Zweimal nur«, bekannte Mannhardt. »Aber nie gewonnen.« »Zuviel Praxis eben.« »Die haben sicherlich eine gewisse Vorliebe für das mit dem Gärtner.« »Ich weiß nicht.« Petra Zechow nahm die Sache ernster. »Da könnte doch was dran sein.« »Wie heißt denn der Knabe?« »Hünetöter!« Sie bog sich vor Lachen. »Ist mir doch schon mal untergekommen, der Name.« Mannhardt dachte nach. »Richtig, bei Lübz’ Beerdigung. Die Friedhofsgärtnerei.« »Du, den seh ich mir mal an.« »Mach mal.« Petra Zechow verließ das Büro. Mannhardt nutzte die Gelegenheit, sowohl in der Nase zu bohren wie auch die Verdauungsgase, die sich in seinen Därmen angesammelt hatten, mit einem schönen Knaller zu entlassen. Ausgerechnet da klopfte es, und obwohl er das Herein vermied, wurde die Tür geöffnet, und mit seinem altgewohnten Ööööhhhh kam Bonni Bölzke herein, um Mannhardts Ausgangskorb zu leeren. Er schnupperte. »Harn Sie ‘n Goldhamster hier?« »Nein, wieso?« »Weil’t so stinkt.« »Das muß von draußen kommen.« Mannhardt stand auf, um das Fenster zu schließen. Dabei fiel sein Blick auf Bölzkes
Wägelchen. Auf dem untersten Brett standen zwei Damenschuhe, ein Paar korallenroter Pumps. Sicher von einer Kollegin irgendwo vergessen oder als Beweisstück in die Asservatenkammer zu bringen, aber Mannhardt kam von einer ganz bestimmten Assoziation zwanghaft nicht mehr los, einem Bild. Als er auf dem SBahnhof Frohnau auf Heike gewartet hatte. Die Angst um sie. Der Nordbahn-Täter, der auch Annika Malitzki… Nun gut, Heike war einen Zug später wohlbehalten eingetroffen, aber was hatte Bölzke um diese Zeit in der S-Bahn zu suchen? Neulich die Dessous, jetzt die Schuhe. Das alles schien sich irgendwie zusammenzureimen. Mit seiner psychischen Erkrankung. Was tun? Der Sache war auf alle Fälle nachzugehen. Das Telefon schrillte. Er nahm ab. Die Aurak. Ach, du Scheiße! »Hallo, ich rufe an wegen Lübz. Schon weitergekommen?« »Ja. Petra ist gerade weg, da könnte was sein.« Die Aurak lachte. Höhnisch, wie Mannhardt fand. »Der Mörder ist immer der Gärtner!« »Sie haben das gelesen?« »Sicher.« »Und? Bringt es nichts?« »Nein.« Mannhardt begann zu schwitzen, und er haßte sich deswegen. »Haben Sie andere Hinweise, die uns…« »Ja. Kennen Sie Kevin?« Mannhardt fühlte sich wie beim mündlichen Abitur in Geschichte. »Den aus’m Film?« »Nein, den von den ›Berlin Bulls‹.« Er konnte aufatmen. »Den neuen Quarterback, klar, den kenn ich. Aber was hat denn der mit Barnabas Lübz zu tun?« »Das wissen Sie nicht. Ist aber schwach, was Sie da bisher ermittelt haben.«
»Entschuldigung, aber…« »Da gibt’s nichts zu entschuldigen. Kevin Neumann hat Lübz vor den Zug gestoßen.« Sie erzählte Mannhardt alles, was sie von Fendt gehört hatte, ohne aber ihre Quelle zu nennen. »Leider habe ich sein Geständnis noch nicht in gerichtsverwertbarer Form bekommen können. Das ist nun Ihre Aufgabe und Ihre Kunst, ihn dahin zu bringen, daß er uns das erzählt, was er anderen schon erzählt hat.«
52. SZENE Hermsdorf, S-Bahntrasse
Graziella hatte jeden freien Willen verloren; es geschah nur noch mit ihr. Unfaßbare Mächte lenkten sie. Sie selber sah sich als Pusteblumensamen, den der Wind durch leere Straßen blies. Die Erde verdampfte den reichlichen Regen, die S-BahnSchneise zog sich wie durch tropischen Wald. Zu Hause lag der Abschiedsbrief. Ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr. Ron ein Mafia-Killer. Meine Liebe. So groß, so einzigartig. Wahrscheinlich bin ich schwanger von ihm. Lamor che muove il sole e l’altre stelle. Liebe, die bewegt die Sonne und Sterne. Ihre Sonne war erloschen. Zerfallen die Sterne der Zukunft zu Staub. Wozu denn noch? Ron lebenslang im Knast. Ein vielfacher Mörder. Ein Geächteter. Ich will nicht als Mafia-Nutte leben. Alles war umsonst. Lieber ein Ende mit Schrecken als Tschernobyl, Lockerbee, Sarajevo, Aids, Ozonloch, Naziwiederkehr, Arbeitslosigkeit. Der Schienenstrang vor ihr zog sich als Kometenbahn weit in den Himmel hinauf. Der alte Baabe stand oben auf dem Loerkesteig. Morgen hatten ihn BILD und BZ mit einem großen Foto im Blatt.
Schöne Kunststudentin warf sich vor den Zug – Tragische Liebe zum Mafia-Boß Peccioli Wilde Assoziationen mischten sich, Gedankenfetzen und Erinnerungen. Kleist-Zeilen, Kinderbilder, Splitter ihres Lebens. Träum ich? Wach ich? Leb ich? Bin ich bei Sinnen? Lieber Gott, mach mich fromm, daß ich in den Himmel komm. Vati, Mutti… Bahn 1 Graziella Vogelsang, LG Nord. Fendt hatte recht, Fendt ist kein Spinner gewesen. Ich hätte Ronnie warnen müssen. Er wäre jetzt in Sicherheit. Meine Dummheit. Ich bin schuld an allem. Der Tod wäscht jetzt von jeder Schuld mich rein. Auf die Plätze, fertig. Vom Himmel in die tiefsten Klüfte ein milder Stern hernieder lacht… Die Aufbahrung des Don Giovanni. Im Kerzenlicht zucken die bleichen, bewegten Antlitze der Trauernden und werden selbst zu fahlen Lichtern. Verzeiht mir alle. Ich kann nicht anders. »Nach Wannsee – Zurückbleiben!« Vorne in Frohnau hallten die Lautsprecher. Die weißen Augen des S-Bahn-Tieres durchbrachen den feuchtwarmen Nebel. Komm und verschling mich. Die Schwellen wurden zur Leiter. Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!
53. SZENE Radrennbahn Schöneberg
Mannhardt hatte den Paragraphen 54 des Bundesbeamtengesetzes selbstverständlich verinnerlicht: ›Der Beamte hat sich mit voller Hingabe seinem Beruf zu widmen.‹ Also hatte er seinen Feierabend auf später verlegt und war nach Schöneberg gefahren, um Kevin Neumann beim Training zu erwischen. Die fast fünfzig Spieler der Berlin Bulls und der Trainer standen in einer dichten Traube an der Mittellinie und diskutierten. Mannhardt war sich sicher, worum es ging. Um Pecciolis Verhaftung. Der große Sponsor des Berliner Polizisten-Teams eine weltweit bekannte Mafia-Größe. Tusch! Geschichten, die das Leben schrieb. Er feixte. Schadete der Polizei gar nichts. Eine Institution, die ihn derart mißachtete, sprich: nicht aufsteigen ließ, verdiente es nicht besser. Billy Bozeman, der große Coach, suchte seine Mannen neu zu motivieren. »Jetzt erst recht! Keiner von uns hat was von gewußt! Peccioli ist der Vater der ›Berlin Bulls‹, aber was können die Kinder dafür, wenn der Vater ein Verbrecher ist? Nichts, okay!« Die Mannschaft ließ ihren Kampfruf erklingen. »Wunderbar!« schrie der Coach. »Und nun: Die Defense zum Bump and run und zum Double Coverage, üben, üben, üben, okay, und die Offense zum Sprint, okay. Die Quarterbacks zu mir. Noch einmal!«
Wieder schallte der Kampfruf durch die leere Radrennbahn. Mannhardt verzog das Gesicht. Schade für das Team, daß die nächste Katastrophe nicht mehr lange auf sich warten ließ. UHaft für den neuen Quarterback. Er schwang sich über die Brüstung, um Kevin Neumann festzunehmen. Es war gar nicht so leicht, ihn herauszupicken. Die meisten Cracks hatten schon die Helme auf, und ihre Gesichter waren kaum noch auszumachen. Er hätte fragen können, wollte aber jedes Aufsehen vermeiden. Außerdem fürchtete er, daß sie sich alle auf ihn werfen würden, damit ihr Quarterback in aller Ruhe flüchten konnte. Was tun? Er dachte nach. Vielleicht trug Kevin Neumann dieselbe Rückennummer wie der große Joe Montana bei den Kansas City Chiefs, die Neunzehn also. Wußte er aus einem Sport-BILD-Artikel? Wo war sie abgeblieben, die Neunzehn? Hinten an den Torstangen, wo die drei potentiellen Quarterbacks merkwürdige Verrenkungen machten. »Euer Bootleg ist Mist!« schrie Billy Bozeman und machte es vor. »So geht das. Die anderen denken, ihr wollt einen Lauf starten, wollt ihr aber gar nicht. So habt ihr mehr Zeit für euren Paß, und die Receiver haben mehr Zeit, sich freizulaufen.« Mannhardt begriff, daß Bootleg offenbar der Versuch war, den Ball hinterm Bein zu verstecken, um die Verteidigung des Gegners zu täuschen. Als Kevin Neumann eine kleine Pause einlegte, stand Mannhardt hinter ihm. »Ich hätt Sie gerne mal gesprochen.« Der Quarterback zog den Helm vom Kopf. »Worum geht’s denn?« Mannhardt prallte regelrecht zurück. Welch ein Gesicht! So auszusehen, davon hatte er als Junge immer geträumt. Von den Mädchen umschwärmt, von den Müttern gemocht. Ein junger
Gott. Daß Lübz diesen Mann geliebt hatte, war nur allzu verständlich. Er selber spürte auch den unverschämten Drang, Kevin zu umarmen, sich an seinen Körper zu schmiegen, mehr zu wollen. In seiner Verwirrung fand er nicht die rechten Worte. »Nicht hier, in der Kabine. Nein, nicht in der Kabine.« Kevin Neumann verstand das alles nicht. »Wollen Sie Geschäfte mit mir machen?« In seiner Not wurde Mannhardt brutal. »Nein, die Kripo.« Die Marke blitzte auf. »Kommen Sie.« Er schob den Quarterback in Richtung Tribüne. Kevin Neumann nahm seinen Helm beim Riemen und schleuderte ihn weit über den Platz. »Hat Ihnen Peccioli also alles erzählt?« Mannhardt verstand nichts, wußte von nichts, hatte nur einige Zehntelsekunden Zeit zu einer Antwort, die alles entscheiden konnte, und konnte nicht anders als dem Instinkt zu folgen. »Ja, hat er.« »Das Schwein! Dabei hat er mir geschworen, das Maul zu halten.« Mannhardt hatte von der Aurak nicht erfahren, von wem genau sie ihre Informationen erhalten hatte, und automatisch auf einen V-Mann getippt, über dessen Identität sie nichts verraten durfte oder wollte. Aber daß es Ron Peccioli gewesen sein konnte, das schien ihm von der zeitlichen Abfolge her ziemlich unwahrscheinlich zu sein, denn die Aurak hatte doch von Kevin Neumanns Tat – soweit er sich das zusammenreimen konnte – schon vor Pecciolis Festnahme gewußt. Wie auch immer, es galt das Eisen zu schmieden, solange es… »Gut. Sie geben also zu, Barnabas Lübz auf dem S-Bahnhof Savignyplatz vor den Zug gestoßen zu haben.« »Ja. Aber ich habe ihn nicht getötet, getötet hätte ihn die Krankheit, ich habe ihn gerettet.«
54. SZENE Polizeipräsidium
Es war ein stolzer Tag in der langen Geschichte der Berliner Polizei. Zur großen Pressekonferenz hatten alle in- und ausländischen Nachrichtenagenturen, Zeitungen und Sender ihre Vertreter geschickt. Vorab hatten schon der Regierende Bürgermeister, der Innensenator und die Vertreter der Regierungsparteien ihre Zufriedenheit bekundet. Berlin habe sich seiner Hauptstadtrolle würdig erwiesen. Und da man in der Nacht zuvor Salvatore Caccia in Wien wieder festgenommen hatte, war das Glück aller ungetrübt. Ein hochrangiger Polizeisprecher begann mit der offiziellen Stellungnahme. »Der erste Große Lauschangriff in Deutschland ist als voller Erfolg zu werten. Mit Ron Peccioli haben wir den gefährlichsten Mafioso nördlich der Alpen festnehmen können. Gleichzeitig ist es uns gelungen, den Tod des Senatsbaurats Barnabas Lübz restlos aufzuklären. Damit hat sich der Große Lauschangriff als ein außerordentlich effizientes und unverzichtbares Instrument der Kriminalitätsbekämpfung in unserem Lande erwiesen. Seine Kritiker sollten spätestens von jetzt ab verstummen.« Mannhardt, der sich in den Saal geschlichen hatte, sah sie alle Beifall klatschten, die Polizeiführung wie die hohen Herren des Berliner Innensenats und die herbeigeeilten Bonner Macher.
55. SZENE Klassenzimmer
Dr. Vogelsang stand an der Tafel und versuchte, der 11a2 die römischen Kaiser von Augustus (12 v.-14 n. Chr.) bis Hadrian (117-138) nahezubringen, doch er geriet immer wieder durcheinander, übersprang ohne Kommentar ein Jahrhundert nach dem anderen. »Also, Nero, ist uns ja allen bekannt. Lassen wir mal alle anderen beiseite… Die komischen Namen alle, Commodus beispielsweise, die Kommode… Pertinax, ein Abführmittel, was? Nein, ein Kaiser, 193. Oder – von 235 bis 238 – Maximus Thrax. Einen Thrax weghaben, sagt man ja heute noch.« Alles entglitt ihm. Er registrierte es, kam aber nicht dagegen an. »Carus schließlich, 282/283. Carius und Baktus.« Seine Klasse lachte nicht. Sie wußten alle, woran es lag. Sie bangten mit ihm, fürchteten den großen psychischen Crash. Dr. Vogelsang tastete sich mit flackerndem Blick von einem Gesicht zum anderen. Wo ist Graziella? Eine mechanisch kalte Stimme gab ihm die Antwort: ›Im Sarg. Vom Leichenwäscher wieder zusammengesetzt.‹ Das Signalhorn der S-Bahn ließ ihn zusammenfahren. Es schüttelte ihn wie ein Elektroschock. Er mußte sich an der Tafel festhalten. Saskia wollte ihm helfen. »Am meisten interessiert mich aber der Otho.«
Dr. Vogelsang zuckte zusammen. Otho? Otho? Mit dem war doch etwas ganz Besonderes? Was aber? »Wo Sie Ihr Buch geschrieben haben drüber.« »Selbstverständlich.« Das war der Rettungsanker. Er klinkte sich ein ins vertraute Programm. »Otho, 69 nach Christus. Der Kaiser zwischen Galba und Vitellius. Marcus Salvius Otho. Was macht ihn so interessant für uns? Die Konsequenz, die edle Art, die Seelengröße, mit der auf sein Versagen reagierte. Sein Beispiel sollte Schule machen. Wenn ich mir vorstelle, daß zum Beispiel Axel Nawrocki, CDU, der große Verlierer der Berliner Olympiabewerbung dagegen heute wieder…« Ludger von der Jungen Union hustete lauten Protest. »Wie?« Dr. Vogelsang drückte sich die Fingerspitzen beider Hände in die Schläfen, daß es schmerzte. »Ach so, ja. Bleiben wir bei Otho. Er faßte also den Entschluß, lieber zu sterben, als um den Kaiserthron auf Kosten des Reiches und mit dem Blut seiner Soldaten zu kämpfen. Nach der verlorenen Schlacht von Bedriacum stürzt sich ein Soldat vor seinen Augen ins Schwert…« Er suchte die gelb markierte Stelle in seinem Roman. Und sah das Blut auf dem Gelb. Blutrot und gelb der S-Bahn-Zug. Gelb das Reclamheft, das man bei Graziella gefunden hatte. Kleist. In seinem Kopf summte es. Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein! Er kämpfte mit aller Macht gegen diese Stimme an. Fand endlich die gesuchte Stelle im Text. »Vor dem Schlafengehen ergriff Otho zwei Dolche, prüfte deren Schärfe, steckte den einen unter sein Kopfkissen – und fiel dann in einen ruhigen und festen Schlaf…« Da war wieder dieses entsetzliche Zirpen hinter den Schläfen. So geht mir dämmernd alles Leben unter.
Der Prinz von Homburg, der Otho, beide Texte flossen ineinander. Er hatte keine Chance, es zu verhindern. »Durch stille Ätherräume schwingt mein Geist, sagt der Prinz von… Nein. Also, der Kaiser Otho wacht morgens auf- und mit einem einzigen Stoß unter der linken Brustwarze durchbohrt er sich. Worauf der Kurfürst, Unsinn: Aulus Vitellius die Macht ergreift. Darüber nun will ich…« Er wollte nichts weiter als ebenfalls sterben. Er trug die Schuld daran, daß Graziella… Er hatte Peccioli ins Haus geholt, ihm Wohnung und Büro vermietet. Er hatte ihn immer wieder eingeladen. Sein Magen krampfte sich zusammen, seine Galle sandte heiße Schmerzen aus, die Brust wurde immer enger. Er krümmte sich, er brach zusammen.
56. SZENE Mordkommission
Mannhardt saß am Schreibtisch und gab sich seinen Depressionen hin. Aber nicht nur er, die gesamte 15. Mordkommission hatte ja im Fall Lübz ziemlich versagt. »Wir sind schon Ärsche«, sagte Petra Zechow. »Hätten wa doch ooch druff kommen könn’n, detta ‘n andra Mann im Spiel jewesen is. In dem Milljöh, da…« »Komm!« Mannhardt kannte ihre Ur- wie Vorurteile. »Es ist anrührend alles. Furchtbar, aber auch wieder tröstlich, weil, Liebe ist eben…« Der Tatbestand war viel zu komplex, als daß seine Artikulationsfähigkeit ausgereicht hätte, ihn angemessen zu analysieren. Auch das deprimierte ihn. »Das ist schon tragisch alles.« Petra Zechow sah es mehr von der juristischen Seite. »Da möcht ick keen Richta sein. Mord isses nich, Totschlag ooch nich – und Totschlag auf Verlangen? Hatta ja nich jesagt, daß Lübz et valangt hat.« »Doch, aber…« Mannhardt wußte auch nicht, wie man diese Art von Sterbehilfe werten sollte. »Wir haben ja nur Kevins Behauptung, daß er allein aus diesem Motiv heraus Lübz… Wenn nun aber nicht…« »Is ja zum Glück nich unsa Bier.« Petra Zechow griff zum Sektglas. Ihre Urlaubslage. »Und damit verabschiede ick ma in Richtung Bornholm.« Wenig später war sie aus dem Zimmer. Mannhardt war allein und hatte nun Zeit, darüber nachzudenken, wie sich sein Image nach der Schlappe mit Lübz wieder etwas aufpolieren ließ. Seine beiden
Fernsehauftritte in der Berliner Abendschau und beim ORB in Täter – Opfer – Polizei hatte die Sache eher noch schlimmer gemacht, sein Gestammel dort. Aber er hatte ja partout dahin müssen. Seiner narzißtischen Unersättlichkeit wegen, wie Heike gespottet hatte. Was also tun? Bonni Bölzke fiel ihm ein. Wenn seine sehr gewagte Hypothese wirklich stimmte und ihr Bürobote derjenige war, der Annika Malitzki und eine andere junge Frau in der S-Bahn fast ermordet hätte, dann hatte er alles wieder gutgemacht. Bonni Bölzke, immer wieder in der KBoN, neurotisch auf die S-Bahn fixiert, immer irgendwie mit Damenwäsche unterwegs. Es klopfte. Bölzke kam mit seinem Wägelchen ins Zimmer gerollt und ließ die Bremsluft zischen. »Mannhardtsdorf! Rundschreiben, Gehaltsnachweis, die Akte Lübz – bitte aussteigen hier.« Er nahm die aufgeführten Dinge vom Wagen und legte sie ihm auf den Tisch. Mannhardt dankte, konnte aber keinen Dialog beginnen, weil sein Telefon klingelte. Er nahm ab. Die Aurak. »Hallo, ja. Ist der Bölzke zufällig bei Ihnen im Zimmer?« »Ja, eben eingefahren.« »Er soll alles stehen- und liegenlassen und sofort mal in den kleinen Sitzungssaal kommen.« »Ja, sag ich ihm.« Mannhardt tat es, nachdem er wieder aufgelegt hatte. »Große OK-Konferenz«, verriet ihm Bölzke. »Muß ich denen wieder was aus der Kantine holen.« Damit stürzte er nach draußen. Mannhardt sah das als einen Wink des Himmels an, als Chance, einmal nachzusehen, ob sich auf Bölzkes Wagen etwas fand, das sich gegen ihn verwenden ließ, also die SBahn-Mörder-Hypothese stützen konnte. Schnell war er aufgestanden, um alles zu durchsuchen.
Nun, schien nichts Aufregendes dabei zu sein. Gerasterte Umlaufmappen, grün und rot. Behördenpost, per Fach, und normale Briefe. Die Gehaltsnachweise für etliche Kolleginnen und Kollegen. Eine Reihe von Päckchen und Kartons. Aber diesmal keine Kleidungsstücke und auch nichts anderes, was seinen Verdacht erhärtet hätte. Vielleicht war etwas in den Pappkartons, die unten lagen. Er machte sie auf. Ein ausgebauter Telefonapparat. Ein neuer Locher. Zwei gläserne Aschenbecher. Mist! Blieb ein länglicher Karton. Wahrscheinlich eine Stabtaschenlampe oder eine neue Folie für einen Overheadprojektor. Oder das Kabelende, mit dem man auf Annika Malitzki eingeschlagen hatte. Mit erhöhtem Puls riß er den Deckel hoch. Scheiße! Es war nur ein Richtmikrofon, von den Kollegen bei irgendeiner Hausdurchsuchung mitgenommen. Kopfhörer und alles dabei. Mannhardt erinnerte sich an die erregte Diskussion über den Großen Lauschangriff in der FHVR und fand es spaßig, daß er selbst so ‘n Ding noch nie gesehen, geschweige denn benutzt hatte. Die Lust daran, es nun zu tun, riß ihn mit. Wenn Bölzke kam, konnte er ihm immer noch sagen, daß ihm der Karton mit dem Richtmikrofon vom Wagen gefallen und dabei aufgegangen sei. Und was war er dem Rechenschaft schuldig? Mit ein paar Handgriffen war alles angeschlossen, und er trat mit übergestülpten Kopfhörern ans offene Fenster, um zu sehen, ob alles funktionierte und wie das denn so war, wenn man mithören konnte. Sein Büro lag zum Innenhof hin, und so hatte er Dutzende von Möglichkeiten. Die Kolleginnen und Kollegen hatten fast alle die Fenster geschlossen, denn auch heute wieder war es kühl und regnerisch. Aber das sollte ja nichts machen.
Wie den Lauf einer Waffe richtete er das Mikrofon auf das Fenster des Kollegen Hundt. Und es klappte in der Tat. Jedes Wort war deutlich zu verstehen. ›Die Analyse der Staubeinlagerungen im Pneuriß ergibt, daß der Reifen schon vor dem Unfall defekt gewesen sein muß, da am Unfall- beziehungsweise Tatort kein staubförmiges Material mit denselben physikalischen – und chemischen Eigenschaften sichergestellt werden konnte. Punkt.‹ Ah, ja, Hundt war gerade beim Diktieren. Nicht sehr interessant. Mannhardt schwenkte weiter und kam zum Personalrat. ›Wir lassen uns das nicht mehr länger bieten. Das Maß… äh, das Faß ist voll, bis zum Überlaufen voll. Null-Runde heißt Null-Motivation, das muß man dem Innensenator mit aller Deutlichkeit sagen. Nicht mit uns!‹ Auch das war wenig erbaulich. Weiter also. Das Erste-HilfeZimmer. ›Zieh ihn raus. Hast du das Kondom?‹ ›Ja. Und wohin damit?‹ ›Hier haste ‘n Tempo, und dann ins Klo.‹ Schade, da war er zu spät gekommen. Da war auf alle Fälle die Sekretärin der Aurak aktiv gewesen. Aber wer war er, der Schwanzträger? Was seine Verwirrtheit betraf, sicherlich einer der höheren Herren. Die beiden küßten sich noch und verschwanden dann wieder Richtung Arbeitsplatz. So ging Mannhardt von einem Fenster zum anderen. Doch es war furchtbar enttäuschend. Überall nichts oder aber belanglose Dialoge. Bis er zum Kleinen Sitzungssaal kam. Da tönte zweifellos die Aurak selber. ›… ja, daß der Fall Lübz durch diesen Lauschangriff auf die Villa Vogelsang in Hermsdorf aufgeklärt worden ist, können wir sicherlich als Erfolg verbuchen, und nur das betrifft mein Sachgebiet. Alles andere ist nicht meine Sache.‹
Es gab ein Durcheinander vieler Stimmen, und Mannhardt schmerzten die Ohren. Dann sprach jemand, den er nicht kannte, in vernuscheltem Amerikanisch ein Machtwort, und eine ebenso sonore Stimme beherrschte das Feld, irgendwie machtorientiert, aber auch gehörig unsicher am heutigen Tage. ›Wie es dazu gekommen ist? Wir müssen neidlos anerkennen, daß es fast genial gewesen ist, was die CacciaFamilie da geplant und zur Ausführung gebracht hat. Angefangen von diesem Frenzi, den Salvatore Caccia in der JVA Tegel angeworben und dann zu Peccioli geschickt hat.‹ Jetzt war Mannhardt so konzentriert wie ein Pilot im Anflug auf Hongkong. Es dauerte ein Weilchen, bis der Mann vom Innensenat, vom BKA, von irgendeinem Bonner Ministerium, von der Berliner Polizei oder von wo auch immer weitersprechen konnte, denn seine Worte wurden erst einmal von allen Anwesenden spontan und wild durcheinander kommentiert. Endlich ging es weiter. ›Der Caccia-Clan hat uns klassisch ausgetrickst, wie wir ehrlicherweise zugeben müssen. Sie haben Ron Peccioli – ohne dessen Wissen, wie ich betonen möchte! – nur aufgebaut, um uns abzulenken, um uns in die Irre zu führen. Zum Beispiel mit dem Hubschrauber. Durch einen Verbindungsmann haben sie Peccioli heiß gemacht, sich bei der Inter-Conversion, einer total harmlosen Firma, nach einem billigen TransportHubschrauber für sein Unternehmen umzuhören. Dadurch haben wir uns voll auf die Inter-Conversion konzentriert – und die Caccia-Leute konnten in aller Ruhe den Rettungshubschrauber Christophorus in ihre Gewalt bringen und Salvatore Caccia aus Tegel befreien.‹ Jetzt schrie der Amerikaner dazwischen. Und soweit Mannhardt seinen Slang verstehen konnte, bedauerte er, bei der ersten Sitzung in Berlin nicht dabeigewesen zu sein. Warum man ihm die Protokolle nicht geschickt habe? Er hätte
den Deutschen und den Italienern nämlich sagen können, daß das mit Peccioli ein Irrtum gewesen sei, eine Verwechslung mit einem Sizilianer gleichen Namens. ›Ein Irrtum, ja, wie er immer wieder passieren kann‹, kam es von Regierungsseite. Der Amerikaner korrigierte sich und ihn. ›No mistake, excuse me, but the intention of the CacciaClan.‹ Wo man schlampig gearbeitet habe, wer sich ganz besonders habe reinlegen lassen, das möchte er nicht sagen, aber die Europäer allesamt sähen nicht so gut aus in dieser Sache. Ron Peccioli sei nichts weiter als ein braver Sponsor des American Football in Germany. Von deutscher Seite, offenbar dem BKA, kam die Bestätigung. ›Unser Ron Peccioli ist wirklich ein völlig harmloser Bürger. Es bleibt nichts weiter übrig, als ihn wieder aus der U-Haft zu entlassen.‹ ›Das wäre aber die absolute Katastrophe für unsere Politik!‹ rief der Senatsvertreter. Der Amerikaner wurde drastisch. ›Schade, daß ihr ihn nicht auf der Flucht erschießen könnt – wie früher.‹ ›Bitte, Mister Slade!‹ ›Laßt euch mal was einfallen. Wie sagt man auf Deutsch: Schadensbegrenzung.‹ Die Aurak hatte eine Idee. ›Was diesen Frenzi betrifft, den könnten wir bei uns hier in der Vervielfältigung beschäftigen. Dann hält er den Mund.‹ Ein Mann mit einem rheinischen Dialekt, ein Bonner wahrscheinlich, hatte die Idee für einen anderen Deal. ›Ich habe mit Ron Peccioli gesprochen. Der Tod seiner Freundin hat ihn sehr erschüttert, und er möchte Berlin auf alle Falle verlassen. Er würde schweigen. Das heißt, zuerst ein Bekenntnis ablegen, daß er Mafioso ist beziehungsweise war,
womit unser Großer Lauschangriff in der Öffentlichkeit voll gerechtfertigt wäre. Dann ermöglichen wir ihm die Flucht und bringen ihn in die USA. Dort erhält er eine neue Identität und das nötige Geld, sich eine größere Firma zu kaufen.‹ ›Und da macht er mit?‹ ›Er ist völlig am Ende, er will auf alle Fälle ein total neues Leben beginnen, nicht mehr als Ron Peccioli, sondern mit einem neuen Namen. Der Ron Peccioli, so sagt er mir, der ist Schuld am Tod Graziellas, der muß selber ausgelöscht werden.‹ ›Eine sehr brisante Sache.‹ ›Für unseren Staat steht viel auf dem Spiel, für unsere Glaubwürdigkeit, für unsere innere Sicherheit.‹ Mannhardt hielt den Atem an. Wenn Bad Kleinen nicht gewesen wäre, hätte er das alles nicht geglaubt. So aber erschien es ihm außerordentlich logisch. Er in deren Rolle hätte sicherlich ebenso gehandelt. Die berühmten übergeordneten Interessen. Die Spiele gehen weiter. All Systems must go. ›Okay‹, sagte der Amerikaner. ›Machen wir mit. Ihr seid immer noch unsere guten Verbündeten.‹ Bölzke nahte draußen auf dem Flur. Mannhardt mußte sich die Kopfhörer wieder herunterreißen und das Richtmikrofon im Karton verstauen. Was er zu tun hatte, wußte er. Heike war gelernte Journalistin und hatte noch immer gute Kontakte zu den investigativen Kolleginnen und Kollegen von Spiegel, Stern, Monitor und Zeit.
57. SZENE Verlagsleitung/Taxifahrt/Villa Vogelsang
Jeanette Vogelsang-Nisble konnte es nicht fassen. Es war das Büro, in dem sie schon als Kind gespielt hatte, unÖschelbrunnerer saß hinter demselben Schreibtisch, von dem aus ihr Vater den Verlag jahrzehntelang geführt hatte. »Das kann doch nicht dein Ernst sein!« stieß sie hervor. »Doch, leider.« Öschelbrunner faltete zuerst die Hände, verhakte dann die Finger und drückte schließlich die Handflächen mit ganzer Kraft gegeneinander. »Ich bin auch nur…« Er stöhnte auf und brach seine Übung wieder ab. »Und es ist nun einmal so, daß die von dir zuletzt betreuten Bücher allesamt ein Flop waren. Das mit deiner Tochter, das ist sicher furchtbar für dich, aber was weiß denn unsere Leserschaft davon.« »Die ›Edition Nisble‹. Es ist der Verlag, der meinen Namen trägt!« Das war ein Argument, das Öschelbrunner eher verärgerte. »Du bist eine Angestellte wie jede andere.« »Nein.« »Doch.« »Ich werde dafür sorgen, daß das in den Medien… Es wird dir gewaltig schaden.« »Dir, liebe Jeannie, noch viel mehr. Siehe dein Alkoholproblem.« »Du bist ein Schwein!« Öschelbrunner stand auf. »Danke. Das wär’s wohl dann.«
Jeanette Vogelsang-Nisble fuhr hoch, schlug ihm ihre Personalakte um die Ohren, riß das Telefon hoch und schmetterte es gegen die Wand, fegte alles, was auf dem Schreibtisch stand, auf den Teppichboden und holte schließlich ihr Feuerzeug aus der Handtasche, um alles anzuzünden. »Wenn Ihr mich feuert, dann sollt Ihr auch Feuer haben!« Ein paar Angestellte packten sie und setzten sie vor die Tür. »Die ist ja total besoffen«, hörte sie Öschelbrunner noch. War sie nicht, im Gegenteil. Sie nahm die kleine Flasche heraus. Damit ging es wieder. Sie sah eine Taxe um die Ecke biegen und winkte sie herbei. »Nach Hermsdorf bitte, Schloßstraße.« Die Fahrt dauerte keine Viertelstunde. Sie zahlte und sah auf die Uhr. »Eigentlich könnte ich ja gleich…« Lothar ging es wieder besser, und sie hatte ihm versprochen, einige lateinische Originaltexte zu besorgen, die sich mit dem Kaiser Vespasian befaßten. Darum bat sie den Fahrer, gleich zu warten, da sie sofort weiter müsse zur Karl-BonhoefferNervenklinik. »Machen wir.« Als sie ins Haus kam, traf sie Leonardo beim Packen. Stefan Stürzebecher saß neben ihm, an einen Riesenrucksack gelehnt. »Was soll denn das, wollt ihr durch die Mark Brandenburg wandern?« Leonardo sah sie an. »Nein, nach Thailand und Indien.« »Spinnst du?« »Ja, ich spinne. Aber wer soll denn das noch aushalten hier, anders als so. Ich will nicht untergehen mit euch zusammen.«
58. SZENE S-Bahnlinien 5 und 7 zwischen Westkreuz und Zoo
Chiricahua streifte weiter durch Berlin. Und keiner in der SBahn wußte, daß er der Urenkel des großen Geronimo war und daß sein Stamm das Kriegsbeil ausgegraben hatte. Mit dem Aufstöhnen der alten Elektromotoren erwachten die vertrauten Stimmen, sprach der Große Manitou zu ihm. Töte alle Bleichgesichter, die du triffst! Wo die große Stadt jetzt steht, sollen wieder Weiden sein! Wie beim Elektroschock schrie er auf. »Ist Ihnen nicht gut?« fragte der alte Herr neben ihm. »Doch, doch…« Charlottenburg stieg er aus, um sich am Zeitungskiosk umzusehen. Gestern abend hatte er sich zwischen Alexanderplatz und Hackeschem Markt den Skalp eines Eisenbahners holen wollen. Ihre Schienenstränge zerstörten das Land. Was brachten sie darüber? Auf den ersten Seiten nichts. Er war enttäuscht. Die Schlagzeilen galten alle einem ganz anderen Verbrechen. Chicago an der Spree? Sponsor der ›Berlin Bulls‹ zum Mafia-Boß gemacht Erster Großer Lauschangriff ein Riesenflop Ron Peccioli – Ein Deal zuviel Der Fall Peccioli – Wessen Köpfe werden rollen? Peccioli: »Die Behörden haben Graziella auf dem Gewissen!« Mit Mafia-Methoden zur inneren Sicherheit?
Chiricahua wandte sich ab. Er war zutiefst enttäuscht. Um ein solches Echo zu haben, hätte er einen ganzen S-Bahn-Zug in die Luft jagen müssen. Warum eigentlich nicht. Er wartete auf den nächsten Zug. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß sie überall Zivilfahnder verteilt hatten. Das freute ihn. Der nächste Zug rollte in den Bahnhof. Mit viel Luft in den Lungen ahmte er die Bremsgeräusche nach. Er stieg ein und setzte sich. Sein Bleikabel steckte im linken Ärmel seiner Regenjacke. Er war aufgeregt wie immer. Unten kribbelte es, und er rieb sich, nachdem er sich gesetzt hatte, den schnell steif gewordenen Schwanz. Ein Stückchen weiter hockte Mannhardt. Das wäre einer gewesen, der ihn so richtig in die Zeitung gebracht hätte. Der Erste Kriminalhauptkommissar HansJürgen Mannhardt. Er kannte ihn vom Fernsehen her, aus der Berliner Abendschau und vom ORB. Die hatten da eine prima Sendereihe. Täter – Opfer – Polizei. Mit Uwe Madel. Kannte er alle, kannte er alles. Er ging auf Mannhardt zu. Der kannte ihn natürlich nicht. Herrlich. Schade, daß da noch fünf andere Leute im Wagen saßen. Wäre ein schöner Skalp gewesen. Er lächelte Mannhardt an und ging zur Tür.
59. SZENE Alt-Tegel
Mannhardt beugte sich zum Kinderwagen hinunter und streichelte mit der Spitze des rechten Zeigefingers das Stupsnäschen seines Sohnes. »Tschüß, Vestie. Paß schön auf deine Mammi auf, wenn der Pappi jetzt ins Exil geht.« »Oranienburg ist nicht Sibirien«, sagte Heike. »Bist du da ganz sicher?« Mannhardt kitzelte Sylvester, bis der quietschte. »Und wenn die fremden Männer zu Mammi ins Bett wollen, dann erinnere sie bitte an Odysseus und an Telemach, wie die hinterher mit den Freiern aufgeräumt haben.« »Es sind zwanzig Minuten mit dem 125er und noch mal zwanzig Minuten mit der S-Bahn.« »Einundzwanzig!« »Pedant!« »Hör auf, mich zu beschimpfen, ich bin gestraft genug. Strafversetzt.« Die Aurak hatte es durchgedrückt, daß die Berliner ihn als ›Polizeimissionar‹ nach Oranienburg zurückschickten. Er sei da unentbehrlich, und die Vereinigung beider Bundesländer stünde ja ohnehin bevor. Mannhardt hatte gegen die erneute Abordnung heftig protestiert und auf sein kleines Kind verwiesen, war aber mit dem Argument abgeschmettert worden, von Tegel nach Oranienburg hätte er längst nicht so lange zu fahren wie innerhalb Berlins zum Beispiel nach
Schmöckwitz, Rudow oder Rahnsdorf. Er hatte noch versucht, den S-Bahn-Täter zu stellen und war auf eigene Faust in seiner Freizeit immer wieder alle Linien abgefahren, doch umsonst. Und Bölzke war es nicht. Der hatte, was Annika Malitzki betraf, ein absolut wasserdichtes Alibi. Zur Tatzeit hatte er bei der Aurak die Wohnung renoviert. Mannhardt formte die Hände, als wollte er sie erwürgen, die Aurak. »Wenn ich meinen ersten Mord begehe, dann weiß ich schon, wen…« Heike wollte ihn beruhigen. »Die Aurak kann doch gar nicht wissen, daß du mitgehört und daß du das alles ausgelöst hast.« »Nein.« Mannhardt zog ein Gummibärchen aus der Tasche und steckte es in den Mund. »Was dem einen sein Schnuller… Die Aurak, diese selten debile alte Kuh, die muß das im Gefühl gehabt haben. Und das mit Oranienburg, das ist nun ihre Rache.« »Eher hat sie sich an die Diskussion in der Fachhochschule erinnert, wo du so vehement gegen den Großen Lauschangriff Stellung genommen hast.« Heike war sich da ganz sicher. »Alle ›Progressiven Polizisten‹ schiebt man auf die Abstellgleise.« »Ich hab geschworen, die freiheitlich-demokratische Grundordnung aktiv zu verteidigen. Und weiter hab ich nichts gemacht als das. Und als Dank nun die Verbannung ins Brandenburgische.« Heike küßte ihn. »Dafür liebe ich dich.« »War mir aber lieber, du würdest mich lieben, wenn ich endlich in den höheren Dienst kommen würde und als Kriminalrat im Monat vierhundert Mark mehr hätte.« Sie nahm ihn in den Arm und kam ihm mit Camus. »Auflehnung gibt dem Leben seinen Sinn.« »Na, schön. Ich hab den Sinn, und die andern werden befördert. Am besten, ich laß mich vorzeitig pensionieren.«
»Hör auf damit! Ohne Typen wie dich könnte man doch an der deutschen Obrigkeit total verzweifeln!« »Oh, danke, Geliebte!« Er packte sie und flüsterte ihr zu, ob sie nicht schnell mit ihm ins Hotel gehen wollte. »Dein geliebter Spontanfick.« »Du bist verrückt.« »Zum Glück.«
60. SZENE Bahnhof Zoologischer Garten
Fendt trat in die Tür des D 1944, der Berlin um 22 Uhr 53 verließ und frühmorgens um 4 Uhr 52 Hamm erreichte. Dort hatte er nach Hiltrup umzusteigen. Nach Hiltrup mußte man, zur dortigen Führungsakademie der Polizei, wenn man vom gehobenen in den höheren Dienst aufsteigen wollte. Es war unheimlich schwer, einen der begehrten Plätze für den Führungskräftelehrgang zu bekommen. Die Auslese war hart. Aber Dietmar Fendt hatte es geschafft. Nicole war stolz auf ihn. Sie umarmten sich. »Wie komm’ ick denn ohne Auto nach Neukölln, jetzt, so spät noch…« Fendt sah zum anderen Bahnsteig hinüber. »Mit der S-Bahn.«