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Buch: Papa Schimmelhorn arbeitet in einer Kuckucksuhren-Fabrik, aber er hat es faustdick hinter den Ohren, denn trotz seiner achtzig Jahre ist er ein wahres Wunder sexueller Aktivität. Doch unter seinem unbedarft lüsternen Wesen schlummert ein unbewußtes Genie: Ohne je eine For mel erklären zu können, löst Papa Schimmelhorn die kompliziertesten wissenschaftlichen Probleme. Er freut sich, als ihm eine Schweizer Bankiersvereinigung den geheimen und hochbrisanten Auftrag erteilt, aus Blei Gold herzustellen, zumal die Arbeitsbedingungen – auf einer paradiesischen griechischen Insel, ver wöhnt von zwei süßen »Schmusemiezen«, – so recht seinem Geschmack entsprechen. Doch das Leben ist auch für ein Genie nicht so einfach. Er begegnet dem mißgünstigen Caspar Gansfleisch, dem bedeutendsten Alchimisten der Welt, und seinem vierhundert Jahre alten Homunkulus. Er lernt die liebestolle Philippa Theophrasta Bombasta von Hohenheim kennen – und als Höhepunkt einen äußerst kultivierten, umgänglichen Minotaurus. All das meistert Papa Schimmelhorn ohne großes Aufhebens. Erst als Mama Schimmelhorn auf der Insel auftaucht, wird die Sache für ihn brenzlig. Reginald Bretnor, geb. 1911 in Wladiwostok, lebt seit 1920 in den USA und ar beitete nach dem Studium als Schriftsteller vor allem für die US Army. Neben Sach büchern über Science Fiction schrieb er meisterliche humoristische Vignetten um die Gestalten Papa Schimmelhorn und Ferdinand Feghoot, in denen er augenzwinkernd menschliche Schwächen aufs Korn nimmt.
Von Reginald Bretnor erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: Die Schimmelhorn-Akte • 06/4408 Schimmelhorns Gold • 06/4409
REGINALD BRETNOR
SCHIMMELHORNS
GOLD
Science Fiction
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY
Band 06/4409
Titel der amerikanischen Originalausgabe
SCHIMMELHORN'S GOLD
Deutsche Übersetzung von Andreas Brandhorst
Das Umschlagbild schuf Klaus Holitzka
Die Illustrationen zeichnete Mark van Oppen
Redaktion: Irene Bonhorst
Copyright © 1986 by Reginald Bretnor
Copyright © 1987 der deutschen Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München
Printed in Germany 1987
Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München
Satz: Schaber, Wels
Druck und Bindung: Eisnerdruck, Berlin
ISBN 3-453-00418-3
Inhalt 1 – Die Gnome von Zürich.......................................................... 9
(THE GNOMES OF ZÜRICH)
2 – Papa, Mama und der Glockenturm..................................... 22
(PAPA AND MAMA AND THE STEPPLE)
3 – Meister Gansfleisch............................................................... 41
(MEISTER GANSFLEISCH)
4 – Einkaufsliste ........................................................................... 64
(SHOPPING LISTS)
5 – Die Prinzessin und der Tölpel: eine Ouvertüre................. 85
(THE PRINCESS AND THE PEASANT: OVERTURE)
6 – Aine Frage där Potänz ........................................................104
(DER LEAD IN DER PENCIL)
7 – Große Liebe .........................................................................129
(LOVE STORY)
8 – Prinz Auh-guscht.................................................................156
(PRINZ OWGOOST)
9 – Minotauruskampf ................................................................192
(MINOTAUROMACHY)
10 – Unter den Vermißten........................................................215
(AMONG THE MISSING)
11 – Aus den Augen – aber nicht aus dem Sinn ....................238
(GONE BUT NOT FORGOTTEN)
12 – Heißer Draht nach Moskau..............................................263
(HOT LINE FROM MOSCOW)
Für T. R. Fehrenbach,
der so informativ über die Gnome von Zürich schrieb,
und für Alan L. Harvie,
der als erster vorschlug, Papa Schimmelhorn
solle für sie arbeiten.
1
Die Gnome von Zürich
Bestimmt steckte keine böse Absicht dahinter, als Papa Schimmelhorn sich dazu veranlaßt sah, sein Genie auf die – mehr oder weniger – schwarzen Künste anzuwenden. Zu seiner eigenen Genugtuung und aus rein praktischen Erwägungen hatte er höchst komplexe wissenschaftliche Probleme gelöst, wie etwa die Zeitreise, die Manipulation kleiner Schwarzer Löcher, das Wechseln von einem alternativen Universum zum anderen und die Wiederherstellung der Manneskraft, die einem ganzen Planeten abhanden gekommen war, und nach den damit verbundenen Erfahrungen erschien ihm die Vorstellung, sich mit Magie zu befassen, vollkommen abwegig. Tatsächlich blieb ihm in dieser Hinsicht, zumindest während der An fangsphase, auch gar keine Wahl. Die ersten kritischen Entscheidungen wurden von einem renommierten schweizerischen Bankier und von Mama Schimmelhorn getroffen, die von renommierten schweizerischen Banken und Bankiers ebensoviel hielt wie von ihrer Kirche und Pastor Hundhammer, dem in diesem Zusammenhang ebenfalls eine – wenn auch nicht ganz so große – Bedeutung zukam. (Mama wußte damals natürlich nicht, daß Fräulein Philippa von Hohenheim, von der sie noch nie gehört hatte und die sicher auf ihre entschiedene Ablehnung gesto ßen wäre, bei dem ganzen Unternehmen eine ausgesprochen delikate Rolle spielen sollte.) Es begann alles mit Anton Fledermaus, dem Großneffen Schimmel horns, der Dr. Gottfried Rumpler eine Ladung Gold lieferte – dem Prä sidenten und Eigner von G. Rumpler & Co. der angesehensten aller schweizerischen Privatbanken, mit Sitz in der Bahnhofstraße von Zürich. Er war nicht mehr der Kleine Anton, der dickliche und picklige Junge, den seine Eltern vor einigen Jahren ins Exil schickten und dankbar der fürsorglichen Obhut der Schimmelhorns überantworteten. Inzwischen war er zu einem Mann geworden, und auf seiner Haut zeigten sich keine Unreinheiten mehr. Ein Großteil der Kultur von Eton und Oxford hatte auf ihn abgefärbt (wenn auch nur indirekt), ganz zu schweigen von dem
vornehmen Gebaren so aristokratischer Chinesen wie Horace Pêng. Sein fester und muskulöser Körper füllte den prächtig geschnittenen Anzug aus italienischer Seide auf perfekte Art und Weise aus. Er saß nun Dr. Rumpler an dessen betont bescheidenem Schreibtisch gegenüber und sonnte sich im Widerschein des Ruhmes seines Arbeitgebers, PêngPlantagenet Ltd. des größten Konsortiums der Welt. Darüber hinaus genoß er natürlich auch die eigene Selbstachtung aufgrund seiner Funk tion in eben jener Firma, in der er als Direktor der Abteilung für beson dere Aufgaben tätig war – eine Stellung, durch die ihm so verantwor tungsintensive Pflichten zukamen wie zum Beispiel der Transport von Gold im Werte von einigen Millionen Schweizer Francs von Hongkong nach Zürich. Wie alle guten Schweizer brachte der Kleine Anton Dr. Rumpler enorme Wertschätzung entgegen. Er sah einen großen und breitschultrigen Mann von gut fünfzig Jahren vor sich, der dichtes graues Haar hatte, eine geradezu adelig geschnittene Nase, eine tiefe Stimme und ein fast militärisch-diszipliniert wirkendes Auftreten. Und er gab sich alle Mühe, nicht zu deutlich seine Genugtuung angesichts des Umstandes zu zeigen, daß sich der ehrenwerte Herr Doktor offenbar ein durchaus positives Bild von ihm gemacht hatte und ihm gleichfalls mit Respekt begegnete. »Lieber Herr Fledermaus«, verkündete Dr. Rumpler, »ich möchte zum Ausdruck bringen, wie sehr ich mich darüber freue – und das gilt natür lich auch für G. Rumpler und Co. –, eine Firma wie Pêng-Plantagenet, die auf der ganzen Welt bekannt ist und überall geschätzt wird, zu mei nen Kunden zählen zu können.« Höflich neigte er den Kopf. »Ich hoffe nur, daß Sie mit unseren Dienstleistungen zufrieden sein und nichts an der Zusammenarbeit mit uns auszusetzen haben werden.« Der Kleine Anton lächelte zuvorkommend und tatsächlich sehr zufrie den, und er meinte, in diesem Punkt sei er ziemlich sicher. Er ließ seiner Antwort ein ausgesprochen passendes Zitat von Konfuzius folgen, das er extra zu diesem Zweck auswendig gelernt hatte und das seine beab sichtigte Wirkung nicht verfehlte. Dann wandte sich das Gespräch ande ren Themen zu, und nachdem ihn Dr. Rumpler nach so interessanten Dingen wie den Goldmarkt im Fernen Osten und die Jadesammlungen gefragt hatte, erkundigte er sich mit einem anzüglichen leisen Lachen, ob die Mädchen von Hongkong noch immer so hübsch und, nun, gefällig
seien wie damals, als er zum letztenmal in jener Stadt gewesen war. Der Kleine Anton gab ihm in allen Fragen bereitwillig Auskunft und lieferte ihm in mancher Hinsicht noch mehr Informationen, als der Bankier er wartet hatte. Was zur Folge hatte, daß ihre Bekanntschaft im Verlaufe einer halben Stunde zu einer aufgeschlossenen Kameradschaft heranreif te. Dr. Rumpler meinte, sie seien wahre Brüder im Geiste. Er strich zwei wichtige Termine aus seinem Tageskalender, winkte nur ab, als der Klei ne Anton – eher zögernd und kleinlaut – meinte, er habe noch zu tun, und lud seinen Gast zum Essen ein. »Ich stelle Ihnen meine liebe petite amie vor«, versprach Gottfried Rumpler. »Und außerdem bitte ich Fräulein Ekstrom, meine Sekretärin, die sicher Ihre Aufmerksamkeit gefunden hat…« »Die blonde junge Frau?« platzte es in höchstem Maße interessiert aus dem Kleinen Anton heraus. »Genau die! Wie sagt man bei Ihnen so schön? Wir hauen ordentlich auf die Pauke!« Nach einer Tour durch die Tresorkammern der Bank, in denen Dr. Rumpler seinem Besucher die Goldschätze zeigte – erst kürzlich ge münzte Staatsoberhäupter, nostalgisch anmutende amerikanische Dop peladler und glänzender Krügerrands –, machten sie sich gemeinsam mit Miß Ekstrom in dem von einem Chauffeur gefahrenen Citroen des Ban kiers auf den Weg. Sie holten Brigitte ab, die petite amie, die leise kicherte, den Herrn Doktor kitzelte und ihn zärtlich Rumpli nannte, und sie bega ben sich in die Villa Rumplers, die als Musterbeispiel für bescheidenen Luxus dienen konnte. Dort machte man den Kleinen Anton während eines ausgezeichneten und aus vielen, wirklich vielen Gängen bestehenden Abendessens mit erlesenen Weinen und Spirituosen vertraut, und er wurde nicht nur von der ihm sehr willkommenen Aufmerksamkeit Miß Ekstroms unterhalten, sondern auch von einem angeregten Gespräch, wobei es sich Gottfried Rumpler nicht nehmen ließ, eine ganze Menge sehr scharfsinniger Fragen und Bemerkungen auf betont beiläufige Art und Weise einfließen zu lassen. Obgleich der Genuß der köstlichen Liköre nicht ohne Wirkung auf den Kleinen Anton blieb, begriff er sehr wohl, was der Herr Doktor beab sichtigte, und die meisten Fragen beantwortete er ebenso höflich wie
ausweichend. Als Gottfried Rumpler daraufhin nachhakte und ihn im mer mehr unter Druck zu setzen begann, wechselte er geschickt das Thema und erzählte von seinem Großonkel. Er meinte, er sei inzwischen schon gut achtzig Jahre alt, zeichne sich jedoch nach wie vor durch ein erstaunliches Maß an Saft und Kraft aus. Er berichtete von den Erfin dungen Papa Schimmelhorns und ließ nicht unerwähnt, daß er rein vom Verstand her praktisch dumm war und als Vorarbeiter in einer Kuk kucksuhrenfabrik arbeitete; in seinem Unterbewußtsein sei er jedoch ein wissenschaftliches Genie, über das sogar der bekannte Dr. Jung einige aufschlußreiche Aufsätze verfaßt habe. »Mein Freund«, entfuhr es dem Bankier aufgeregt, »Sie wollen mich doch nicht etwa auf den Arm nehmen, oder? Soll das wirklich heißen, Ihr Großonkel, dieser Papa Schimmelhorn, habe all diese wissenschaftlichen Probleme gelöst? Und der berühmte Dr. Jung habe sich höchstpersön lich mit ihm befaßt?« Der Kleine Anton versicherte ihm, daran könne nicht der geringste Zweifel bestehen. Anschließend blieb der Gastgeber seltsamerweise eine ganze Zeitlang still, wobei es Miß Ekstrom jedoch auf sehr angenehme Weise gelang, die dadurch entstehende Lücke zu füllen. Alles in allem gesehen verbrachte der Kleine Anton einen vortrefflichen Abend, und als er Zürich am nächsten Tag in dem schreiend gelben Privatjet von Pêng-Plantagenet verließ, verabschiedete sich Miß Ekstrom mit einem herzlichen Kuß von ihm. Dr. Rumpler brauchte nicht allzulange, um zu der für ihn typischen Selbstsicherheit zurückzufinden und erneut aktiv an der Unterhaltung teilzunehmen. Doch nachdem der Kleine Anton die wissenschaftlichen Leistungen seines Großonkels Papa Schimmelhorn aufgelistet hatte, ent stand eine so verrückte Idee in dem Bankier, daß er seine ganze männli che Standhaftigkeit aufbieten mußte, um die sich in ihm regende kolossa le Aufregung zu verbergen. Die Worte seines Gastes ließen eine Vision in ihm entstehen, die gerade auf schweizerische Bankiers eine unwider stehliche Verlockung ausüben mußte. Als er zu Bett ging, drehte er sich von einer Seite auf die andere und konnte keine Ruhe finden. Seine Ge danken wirbelten dahin, und selbst nachdem es ihm endlich gelungen
war einzuschlafen, wälzte er sich unruhig hin und her und murmelte und brummte vor sich hin – bis ihn seine liebe petite amie schließlich weckte und ihm damit drohte, sofort nach Hause zurückzukehren. Sie standen bei Tagesanbruch auf, und kurz darauf ließ Gottfried Rumpler die schmollende Brigitte am Frühstückstisch zurück und ließ sich direkt zur Bank fahren. Dort wanderte er den ganzen Morgen über in seinem Büro auf und ab. Manchmal schlug er sich mit der Faust auf die flache Hand, und dann wieder blickte er mit gerunzelter Stirn auf die Bahnhofstraße hinab, ohne sie wirklich zu sehen. »Vielleicht«, hauchte er, »vielleicht ist die Idee völlig irre. Aber was, wenn der junge Mann die Wahrheit gesagt hat? Ach, was dann?« Nach ein oder zwei auf diese Weise verbrachten Stunden nahm er ent schlossen Platz und führte einige diskrete Telefongespräche mit einfluß reichen und hochangesehenen Leuten. Manche von ihnen wohnten in der Schweiz oder in anderen Staaten Europas, einige in Amerika. Dann wartete er ungeduldig auf die Reaktionen und nutzte die Zeit, um gei stesabwesend Geschäfte im Werte von einigen hunderttausend Schwei zer Francs abzuwickeln. Das Mittagessen nahm er in dem von ihm be vorzugten Restaurant ein und genoß nur die Hälfte der Delikatessen. Miß Ekstrom, die recht spät im Büro eintraf und ein wenig übernächtigt wirkte, teilte er mit, er erwarte wichtige Anrufe und wolle nicht gestört werden. Am Nachmittag schließlich klingelte das Telefon in unregelmäßigen Abständen. Die Leute, mit denen sich der Herr Doktor in Verbindung gesetzt hatte, sahen sich außerstande, alle erwähnten wissenschaftlichen Erfolge Papa Schimmelhorns zu bestätigen, doch gegen drei Uhr wußte er genug, um zu dem Schluß zu gelangen, daß der Kleine Anton tatsäch lich die Wahrheit gesagt hatte – und zu vermuten, daß seine Idee viel leicht gar nicht so verrückt war. Daraufhin traf er eine Entscheidung, nahm an seinem Schreibtisch Platz und dachte über die verschiedenen Möglichkeiten nach. Schon nach kurzer Zeit mußte er die Feststellung machen, daß der vor ihm liegende Weg mit vielen Hindernissen gepfla stert war, denn das, was ihm vorschwebte, entsprach ganz und gar nicht der normalen Geschäftsroutine konservativer schweizerischer Bankpoli tik. Er wußte, daß er Unterstützung brauchen würde, und aus diesem Grund überlegte er, wer von seinen Bekannten und Kollegen im Hin
blick auf die besonderen Neigungen Papa Schimmelhorns und die au ßerordentlich heikle Natur des Projektes die erforderlichen Qualifikatio nen aufweisen mochte. Immer wieder kam ihm ein Name in den Sinn – Fräulein von Hohen heim. Und jedesmal, wenn er ihn im stillen formulierte, schauderte er. Er focht einen erbitterten Kampf mit seinem Gewissen als Bankier aus, mit dem ganzen Züricher Kultur- und Religionserbe, doch inzwischen war er so sehr von der Idee besessen, daß daneben irgendwelche Bedenken keine Chance hatten. Er gab sich einen Ruck, rief Miß Ekstrom an und wies sie an, sich mit dem Fräulein in Verbindung zu setzen und es zu fragen, ob man sich in bezug auf eine sehr wichtige Angelegenheit tref fen könne, entweder in der Bank oder ihrem eigenen Büro – wenn mög lich noch an diesem Nachmittag. Miß Ekstrom kam der Aufforderung mit hochgezogenen Augenbrauen nach, und kurz darauf hatte sie zu vermelden, besagte Dame könne eini ge Minuten ihrer kostbaren Zeit für den Herrn Doktor erübrigen – vor ausgesetzt, es ginge wirklich um etwas Wichtiges, und auch nur dann, wenn er exakt in einer halben Stunde bei ihr eintreffe. Dr. Rumpler war ein so herablassendes Verhalten ihm gegenüber, vor allen Dingen von Frauen, nicht gewöhnt, und er knirschte mit den Zäh nen und bat Miß Ekstrom, der besagten Dame zu antworten, er habe die feste Absicht, zum verabredeten Zeitpunkt bei ihr vorzusprechen. Zwanzig Minuten vor dem Termin ließ Gottfried Rumpler Chauffeur samt Citroen kommen und sich einige hundert Meter weit die Bahnhof straße hinunterfahren, um zumindest eine gewisse Würde zu wahren, aber es breitete sich ein beträchtliches Unbehagen in ihm aus, als er das kleine Gebäude betrat, dessen neben der Tür an der Wand befestigtes Bronzeschild schlicht und einfach verkündete: SCHWEIZERISCHE FRAUENBANK, Präsidentin P. v. Hohenheim. Er schauderte, als er erneut an die arrogante feminine Invasion eines Geschäftsbereiches dachte, der zuvor eins der letzten maskulinen Refugien gewesen war, und von einer dürren und verdrießlich wirkenden Angestellten mit scharf geschnitte nem Gesicht ließ er sich in die matriarchalische Bastion führen.
Fräulein von Hohenheim saß an ihrem Schreibtisch, und sie stand nicht auf, um ihren Besucher zu begrüßen. Auf den höflichen Gruß Rumplers hin deutete sie nur auf einen Sessel. Der Bankier fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut, als er Platz nahm. Die Dame vor ihm war eigentlich eine prächtige Vertreterin ihres Geschlechts, hatte herrliche minoische Brüste, große dunkle minoische Augen und dichtes, gelocktes bronzefarbenes Haar. Wenn Araber ge schäftlich mit ihr zu tun hatten, so trugen sie bei Zusammenkünften mit ihr meistens Sonnenbrillen mit besonders dunklen Gläsern. Als Dr. Rumpler sie nun musterte, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, sie in Gedanken auszuziehen – zuerst vielleicht das aus Paris stammende Kostüm, dann, ganz sanft und behutsam, die goldene Kette an dem ent zückenden Hals, anschließend… Doch an diesem Punkt angelangt, be gegnete Fräulein von Hohenheim seinem Blick und hielt ihn fest – und Gottfried Rumpler erinnerte sich plötzlich an die eisige Tiefe eines an geblich bodenlosen Schachtes, den er bei einer Reise durch Mexiko ge sehen hatte und von dem es hieß, über viele Jahrhunderte hinweg habe der lokale Klerus Jungfrauen als menschliche Opfer in die schwarze Tie fe stürzen lassen. Er begriff auch, daß Fräulein von Hohenheim ganz genau wußte, womit seine Phantasie gerade beschäftigt gewesen war, und er errötete wie ein pubertärer Knabe. »Welchem Anlaß verdanke ich die Ehre dieses Besuches?« fragte sie ihn, und ihre Stimme war dunkel, melodisch und so kalt wie der Blick der Augen, der ihn nach wie vor durchbohrte. »Bisher haben wir uns bei unseren Geschäften auf indirekte Kontakte beschränkt.« »Das stimmt«, bestätigte Dr. Rumpler, der jetzt zu schwitzen begann. »Doch die Angelegenheit, über die ich mit Ihnen sprechen möchte, ver ehrtes Fräulein, ist so vertraulich und könnte sich als derart profitabel erweisen, daß ich es für ratsam hielt, sie mit Ihnen unter vier Augen zu erörtern. Ich glaube, Sie sind die einzige, die mir helfen kann.« Er schluckte hart. »Darüber hinaus sind Sie. nicht nur schweizerischer Ban kier wie ich, sondern auch gebildet und klug. Ich weiß zum Beispiel, daß Sie drei Doktortitel haben – einen in Volkswirtschaft und den zweiten in Betriebswirtschaft. Der dritte wurde Ihnen von einer nur wenig bekann ten Universität verliehen und betrifft nicht ganz so profane Künste. Au ßerdem – und, glauben Sie mir, das ist in diesem Zusammenhang noch
wichtiger – bin ich davon informiert, daß Ihr voller Name Philippa Theophrastus Bombastus von Hohenheim lautet und Sie von dem gro ßen Schweizer namens Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim abstammen, der Welt besser bekannt als Paracelsus. Er war ein sogenannter Wunderarzt, der Fürst aller Alchimisten, dessen Talente und Interessen Sie geerbt haben – das behaupten zumindest einige Leute.« Fräulein von Hohenheim runzelte die Stirn, und Dr. Rumpler räusperte sich unsicher und verlagerte sein Gewicht. »Mein Herr«, erwiderte die Dame hinter dem Schreibtisch, »mir scheint, Sie haben sich große Mühe gegeben, mehr über mich in Erfahrung zu bringen, als mir lieb ist.« »Haben Sie Nachsicht mit mir, verehrtes Fräulein!« bat Dr. Rumpler. »Versuchen Sie, ein wenig Geduld aufzubringen. Hören Sie mir zu, dann wird Ihnen alles klar.« »Nun gut. Fahren Sie fort!« »Ich kann doch sicher sein, daß all das, was ich Ihnen nun sage, unter uns bleibt? Ich meine…« Fräulein von Hohenheim ließ sich nicht dazu herab, ihm darauf eine Antwort zu geben. Lieber Himmel, dachte sie, was für ein chauvinistischer Mistkerl! Ohne ein Wort zu sagen, gab sie ihm zu verstehen, daß er sie mit der letzten Bemerkung zutiefst beleidigt hatte. Der Herr Doktor errötete erneut. Dann, zögernd zuerst, berichtete er ihr in allen Einzelheiten von dem Besuch des Kleinen Anton, erläuterte ihr ausführlich Papa Schimmelhorns Genie und seine Leistungen und ließ auch nicht unerwähnt, daß er in dieser Hinsicht einige Nachfor schungen angestellt hatte. Während seines Vortrags beobachtete er auf merksam das Gesicht der Dame vor ihm und suchte in ihren Zügen nach einem Hinweis darauf, wie sie auf seine Schilderungen reagierte. Ab und zu flocht er eine Entschuldigung ein, zum Beispiel: »Wissen Sie, liebes Fräulein, es fiel mir ebenfalls schwer, so etwas zu glauben, doch man versicherte mir…« Oder: »Ich weiß mit Bestimmtheit, daß dieser Papa Schimmelhorn ein wissenschaftliches Problem für Pêng-Plantagenet löste, doch Herr Fle dermaus wollte mir nicht mitteilen, worum es dabei ging.«
Und nach und nach glaubte er zu erkennen, wie sich ihre Miene locker te und nicht mehr ganz so streng wirkte. Das Funkeln in ihren Augen verriet sogar erwachendes Interesse. Der sehr rege Verstand Fräulein von Hohenheims war unterdessen damit beschäftigt, die Daten zu sortie ren, zu bewerten und auf ihrer Basis zu Schlußfolgerungen zu gelangen. Noch bevor Dr. Rumpler seinen Bericht beendete, erkannte sie ganz genau, was er beabsichtigte, und sein Plan fand ihre ungeteilte Zustim mung. Der Bankier schwieg. Zum erstenmal bedachte ihn die Dame hinter dem Schreibtisch mit einem Lächeln, bei dessen Anblick er wohlig schauderte. »Nun, Herr Doktor Rumpler«, sagte sie freundlich, »da dieser Schimmelhorn solche Wunder vollbrachte, hoffen Sie also, es könne ihm das gelingen, was mein berühmter Vorfahr nicht zu bewerkstelligen ver mochte – die Verwandlung von Blei in Gold.« »Haben… haben Sie etwa meine Gedanken gelesen?« platzte es er schrocken aus Gottfried Rumpler heraus. Das Fräulein lächelte erneut. »Ganz und gar nicht. Ich bin nur zu den auf der Hand liegenden Schlußfolgerungen gelangt. Welches andere wis senschaftliche Problem könnte das Interesse des bemerkenswertesten schweizerischen Privatbankiers erwecken? Nun, durch einen erfolgrei chen Abschluß dieses Unternehmens würden selbst die größten interna tionalen Banken im Vergleich mit uns zu unwichtigen Provinzinstituten degradiert! Und sicher wollen Sie mir noch sagen, wie glücklich sich die Welt schätzen könnte, wenn ein solches Geheimnis von der Schweiz gehütet würde – speziell von zwei so ehrenwerten und verantwortlichen Personen wie uns, nicht wahr?« Dr. Rumpler hatte tatsächlich eine solche Einschätzung zum Ausdruck bringen wollen, leugnete das jetzt jedoch. Er fügte hinzu, diese Bewer tung des Fräuleins entspräche zweifellos der Wahrheit und treffe darüber hinaus den Kern der Sache. Die liebliche Philippa lachte laut. »Nun«, verkündete sie, »es wird Sie sicher freuen zu erfahren, daß ich, Philippa Theophrastus Bombastus von Hohenheim, ganz Ihrer Meinung bin. Ich glaube ebenfalls, daß die ser Papa Schimmelhorn das Geheimnis der Alchimie für uns lösen könn te, und ich stimme Ihnen auch noch in einem weiteren Punkt zu: Es
wäre in der Tat wunderbar, wenn sich uns ein solches Wissen offenbarte. Doch bevor wir uns an die Arbeit machen, sollte ich Ihnen noch etwas mehr über mich erzählen.« Sie beugte sich vor, und einmal mehr durchbohrte sie den Herrn Dok tor mit ihrem Blick. »Ich bin nicht der direkte Nachkomme des großen Paracelsus, denn er hatte keine Kinder. Ich entstamme vielmehr einer Seitenlinie der Familie, doch in meinem Besitz befinden sich alle Auf zeichnungen meines Ahnen Philippus – Unterlagen, von denen die Welt nicht einmal weiß, daß sie überhaupt existieren – und noch viel mehr. Ich darf Ihnen versichern: Es gibt keine klare Trennungslinie zwischen Wis senschaft und Alchimie, auch nicht zwischen Alchimie und Magie. Ich habe einige seiner Experimente wiederholt. Ich weiß Bescheid. Es war sehr klug von Ihnen, zu mir zu kommen, mein Herr.« »Ich danke Ihnen.« Dr. Rumpler neigte den Kopf. »Ja, und ich bin auch deswegen zu Ihnen gekommen, weil Sie in dem Ruf stehen, sehr prak tisch veranlagt und scharfsinnig zu sein. Sie verstehen sicher, wie delikat – und auch gefährlich – dieses Projekt ist. Wenn wir es in Angriff neh men, dürfen wir natürlich nicht das Risiko eingehen, Papa Schimmelhorn seine Forschungsarbeiten zu Hause durchführen zu lassen, und auch die Schweiz kommt dafür nicht in Frage…« »Oh!« unterbrach ihn Fräulein von Hohenheim. »Sie haben also von meiner kleinen Zuflucht gehört?« »Verehrte Dame, mir kam zu Ohren, daß Ihnen eine Insel im Mittel meer zur Verfügung steht. Und ein solcher Ort wäre für unsere Zwecke geradezu ideal. Dieser Schimmelhorn könnte sich dort ganz seinen… äh… Studien widmen, ohne abgelenkt zu werden – und ohne die Ge fahr, daß man ihn ausspioniert.« »Ja«, bestätigte Philippa. »Ich besitze tatsächlich eine solche Insel. Sie liegt in der Nähe von Kreta. Wie dieses Schmuckstück hier…« – mit der einen Hand berührte sie kurz die Halskette – »… handelt es sich dabei um ein Erbe meiner Mutter, die Griechin war.« Wieder schien der Blick ihrer Augen bis ins Innerste des Bankiers zu reichen. »Sie stammte aus einer sehr alten griechischen Familie. Nun, auf jener Insel gibt es eine Art… Chateau. Dort habe ich die besten alchimistischen Laboratorien auf der ganzen Welt eingerichtet, und die Arbeiten werden von den fä
higsten zeitgenössischen Alchimisten geleitet. Darüber hinaus kann ich Schimmelhorn die Aufzeichnungen Paracelsus' zur Verfügung stellen. Sie sagten doch, er verstände zwar nicht völlig das, was er hört oder liest, aber sein Unterbewußtsein nehme alles in sich auf und übertrage Infor mationen in praktische Experimente und konkrete Forschungsergebnis se?« »Genau. Diese Auskunft war es, die Herr Fledermaus mir gab. Selbst nachdem sich ein Erfolg einstellte, kann Schimmelhorn offenbar nicht begreifen, was er vollbracht hat und wie es dazu kam. Dieses Phänomen geht so weit, daß er nach der Beendigung einer Arbeit jegliches Interesse daran verliert und aus diesem Grunde nicht dazu in der Lage ist, eine vergessene Erfindung zu rekonstruieren.« »Für unsere Zwecke, Herr Doktor, sollte das völlig genügen.« Das Lä cheln Philippas offenbarte perlweiße und regelmäßig geformte Zähne. Gottfried Rumpler schloß kurz die Augen und stellte sich vor, wie lei denschaftlich… »Ich lasse uns jetzt Cognac bringen«, unterbrach Fräulein von Hohen heim die Gedankengänge des Bankiers, »damit wir sowohl auf eine gute Zusammenarbeit als auch den Erfolg anstoßen können.« Sie betätigte eine Taste. »Zuvor jedoch sollten wir uns auf die prozentualen Anteile einigen.« Dr. Rumpler, so abrupt aus dem herrlichen Tagtraum geschreckt, ver gaß die fünfzehn Prozent, die er Philippa eigentlich hatte zugestehen wollen. Und als sie meinte, ihrer Meinung nach sei eine Aufteilung je weils zur Hälfte nur recht und billig, fand er nicht den Mut, mit ihr zu feilschen. Eine kräftig gebaute junge Frau trat mit einem Tablett ein, auf dem ei ne mit teurem Cognac gefüllte Karaffe und zwei Gläser standen. Fräulein von Hohenheim füllte sie und hob das ihre. »Auf das Gold!« sagte sie, und es gleißte jetzt in ihren Augen. »Auf unser Gold!« Eine weitere halbe Stunde lang sprachen sie über Mittel und Wege und kamen überein, unabhängig voneinander alle zugänglichen Informatio nen über Papa Schimmelhorn zu sammeln – insbesondere bezüglich seiner erstaunlichen Manneskraft –, und im Anschluß daran wollten sie entscheiden, auf welche Weise man sich am besten an ihn wandte.
In jener Nacht schlief Gottfried Rumpler allein, und er träumte davon, eine nackte Philippa von Hohenheim durch endlose Labyrinthe aus pu rem Gold zu verfolgen und sie nie zu erreichen.
2
Papa, Mama und der Glockenturm
Dr. Rumplers sorgfältig formulierter Brief traf zwei Wochen später in New Haven ein. Es war schon recht spät an einem herrlichen Nachmit tag im April, und Papa Schimmelhorn vertrieb sich fröhlich und nichts ahnend die Zeit in seiner Kellerwerkstatt. Er besprach das Projekt, mit dem er sich gerade befaßte, mit seinem alten gestreiften Kater GustavAdolf, der auf einem großen Fernseher hockte und ihn argwöhnisch beobachtete. Papa Schimmelhorn war elegant gekleidet in eine sehr enge Jeans und eine ebenfalls nicht sonderlich viel Platz bietende Jacke mit gelben Messingknöpfen. Diese Aufmachung betonte die dicken Muskeln der Beine und Schultern, die in einem seltsamen Kontrast zu dem langen weißen Bart und den scharlachroten Kakadudarstellungen standen, die sein chromgrünes Sporthemd zierten. Er war sehr zufrieden mit sich. Auf seiner Werkbank herrschte das üb liche Durcheinander, und inmitten des Plunders stand ein geöffneter Pappkarton mit der farbigen Aufschrift: ELEKTRONISCHE EXPE RIMENTIERAUSRÜSTUNG FÜR KINDER VON 9 – 12. Er hatte bereits einige darin enthaltene Komponenten hervorgeholt, und in der einen Hand hielt er eine aus japanischer Produktion stammende Digital uhr, an der er gerade einige Veränderungen vorgenommen hatte. »Ach! Sieh nur, Guschtav-Adolf!« rief er stolz aus. »Schtäll dir das ain mal vor! Noch vor ainer Woche wußte ich überhaupt nichts über MikroDingsda und klaine eläktronische Schaltkraise, und jätzt habe ich ätwas völlig Neues äntwickelt. Äs schtimmt wirklich, Guschtav-Adolf: Ich bin ain Dschänie!« In einer der vielen über der Werkbank hängenden Kuckucksuhren surrte es. Die kleine Tür klappte auf, und ein großer Kuckuck spähte daraus hervor und verkündete, daß es inzwischen schon halb fünf ge worden war. Gustav-Adolf, der alle Vögel verabscheute, die nicht warm und verdaulich waren, gab ein verächtliches Miauu von sich.
Papa Schimmelhorn lachte. »Warte nur ab – jätzt haben wir noch ätwas Bässeres.« Er blickte auf die Uhr. Direkt unter dem Display gab es ein kleines Rechteck, das er nachträglich hinzugefügt hatte. »Sieh genau zu!« rief Papa Schimmelhorn. Er betätigte eine Taste. Das Rechteck leuchtete auf und zeigte plötzlich einen prächtigen kleinen Kuckuck, der seinen winzigen Schnabel öffnete und viermal seine helle und melodische Stimme erklingen ließ. Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck! Und dann noch zwei weitere Male. »Ja!« sagte Papa Schimmelhorn. »Viermal für die volle Schrunde, und dann noch jewails ainmal für die värschtrichenen Viertelschtunden. Die ärschte Armband-Kuckucksuhr der Wält – und das ischt noch nicht al les.« Er trat an den Fernseher heran und schaltete das Gerät ein. Eine strahlend lächelnde und allem Anschein nach überglückliche Hausfrau zeigte ihren andächtig staunenden Kindern gerade einen neuen Toilet tenreiniger. Papa Schimmelhorn wich einen Schritt zurück. Er betätigte eine andere Taste. Das Abbild der Familie verschwand vom Schirm, und dafür war nun ein farbiger und enorm vergrößerter Kuckuck zu sehen, vollständig in jedem einzelnen Detail. Sein Trillern hallte aus dem Lautsprecher. Er ließ seinen Ruf viermal erklingen, dann noch zwei weitere Male und fügte ein letztes Kuckuck! hinzu. »Ha!« begeisterte sich der Erfinder. »Die volle Schrunde, die Viertelschtunde und sogar die Minuten – genauso wie die teuren schwaizerischen Präzisionsuhren, wie sie von Audemars Piguet oder Patek Philippe hergeschtällt wärden. Ach, Guschtav-Adolf, äs ischt härrlich, ain Äraignis so bedeutsam wie damals, als dieser – wie hieß är doch noch glaich? – auf dem Mond landete! Du kännscht noch nicht die klaine Clothilde aus däm Juwelierladen, die süße Tilda Blatnik – ach – sie ischt aine wirklich äntzückende Schmusemieze, und sie hat ai nen härrlichen Hintern…« Er wölbte die breiten Hände und machte deutlich, was er darunter verstand. »Ja, und rotes Haar, viellaicht überall.« Er seufzte tief und sehnsuchtsvoll. »Wie schade, daß Mama und ich übermorgen wägen der Hochzait in die Schwaiz fliegen. Aber mögli cherwaise raicht die Zait noch. Wänn Tilda diese Kuckucksuhr sieht, gerät sie sicher ganz aus däm Häuschen, fällt mir um dän Hals und…«
Er hatte seinem Kater Gustav-Adolf gerade erklären wollen, wie er nach den vergeblichen Anwendungsversuchen diverser erotischer Tech niken die geradezu jungfräulich anmutende Sittsamkeit Miß Blatniks al lein mit der Magie der Armband-Kuckucksuhr zu überwinden gedachte, doch in diesem Augenblick klingelte es oben an der Tür. Mama Schimmelhorn, so wußte er, nahm an einem Treffen des Hilfs komitees teil, das sich aus den Frauen der Kirche Pastor Hundhammers zusammensetzte: »Wahrschainlich ischt äs nur ain Schtaubsaugervärträ ter«, brummte er. »Aber wir sollten trotzdäm nachsähen.« Er beugte sich, damit Gustav-Adolf auf seine Schulter springen konn te, und gemeinsam gingen sie nach oben an die Tür. Es war der Postbote, ein großer und struppiger junger Mann mit klei nen Augen, und er wirkte völlig erschöpft. »Brief für Sie, Opa«, murmelte er. »Und warum schiebscht du ihn nicht durch den Schlitz?« erwiderte Pa pa Schimmelhorn. »Viellaicht bischt du zu müde, was! Junger Mann, wie oft soll ich dir äs dänn noch sagen? Du wirscht nie Saft und Kraft haben, wänn du nicht damit beginnscht, hübschen Schmusemiezen nachzusch tällen! Ho-ho-ho!« Der Postbote starrte ihn nur traurig an. »Es handelt sich um ein Ein schreiben«, sagte er. »Sie müssen unterschreiben, Opa.« Gustav-Adolf musterte ihn eingehend und fauchte, und Papa Schim melhorn runzelte die Stirn, unterschrieb und nahm den Brief entgegen. Er blickte auf den Absender und stellte fest, daß er in seinem Heimat land abgeschickt worden war. »Die Rumpler Bank«, brummte er und sah dem Postboten nach, der müde über den Bürgersteig davonschlurfte. »Den Namen habe ich schon ainmal gehört. Aber was will sie denn von mir? Schulde ich in der Schwaiz etwa jemandem Geld?« Doch gleich darauf hellte sich seine Stimmung wieder auf, als er an die Möglichkeit dachte, daß irgendeine Landsmännin sich liebevoll an ihn erinnern und ihn zu ihrem Erben gemacht haben könnte. Er kehrte ins Haus zurück, nahm im Wohnzimmer unter den beiden Ahnenbildern Platz, die sowohl ihn selbst zeigten als auch Mama Schimmelhorn, gekleidet in die traditionellen chinesischen Tuniken, die
sie während der transdimensionalen Reise für Pêng-Plantagenet erwor ben hatten. Er öffnete den Brief mit dem Taschenmesser. Sehr geehrter Herr Schimmelhorn, (las er) wir erfuhren kürzlich von Ihrem außerordentlichen wissenschaftlichen Genie und den überragenden Leistungen, die Sie vollbrachten – und auf die, wie ich hinzufügen darf, jeder wahre Schweizer sehr stolz ist. Wir hier bei G. Rumpler & Co. bereiten uns derzeit auf den Beginn ei nes extrem gewagten und innovativen Forschungsprojektes vor, und da Ihre Fähigkeiten wie durch ein Wunder genau den Erfordernissen des oben bereits erwähnten Unternehmens entsprechen, nahmen wir uns die Freiheit, uns zu vergewissern, daß die uns vorliegenden und ausge sprochen lobenden Berichte über Sie den Tatsachen entsprechen. Wir brauchen wohl nicht extra zu betonen, daß unsere Erwartungen dabei sogar noch übertroffen wurden. Wie Sie sicher wissen, ist die Rumpler Bank die angesehenste und eta blierteste aller schweizerischen Privatbanken, und es wäre uns eine Eh re und große Freude, wenn Sie sich dazu entschließen könnten, an un serem Projekt mitzuarbeiten. Ihr Titel wäre der des Ersten Exekutivdi rektors und Forschungsadministrators, und selbstverständlich bekämen Sie alles, was für Ihre Tätigkeit erforderlich ist. Wir stellen Ihnen einen idyllischen Ort zur Verfügung, wo Sie in aller Ruhe arbeiten können, alle notwendigen Unterlagen und Bücher und Instrumente, die fähig sten technischen Assistenten und einen freundlichen und in jeder Hin sicht attraktiven Mitarbeiterstab. Da das Projekt überaus wichtig und geheim ist und die dafür notwendigen Ressourcen nicht allgemein ver fügbar sind, läßt es sich leider nicht vermeiden, daß Sie, im Falle einer positiven Entscheidung Ihrerseits, in Übersee tätig werden, womit al lerdings nicht das Festland Europas gemeint ist, und ich möchte Sie darüber hinaus bitten, niemanden zu informieren (natürlich mit der Aus nahme Ihrer werten Gattin). Wir können auf sehr taktvolle Weise dafür sorgen, daß Sie von der Lüdesing-Kuckucksuhrenfabrik, bei der Sie ein allseits sehr geschätzter Angestellter sind, Sonderurlaub erhalten. Des weiteren versichern wir Ihnen, daß wir uns als sehr großzügig erweisen werden. Auf Ihre Zustimmung hin überweisen wir die Summe von
75000 Schweizer Francs auf Ihr Nummernkonto bei unserer Bank, und dieses Honorar gehört Ihnen, ganz gleich, ob Sie die Arbeiten erfolg reich beenden oder nicht. Wenn Sie jedoch ein konkretes Ergebnis Ih rer Bemühungen vorweisen – und davon bin ich persönlich überzeugt –, gehören Ihnen mindestens eine Million Schweizer Francs, möglicher weise sogar weitaus mehr. Darüber hinaus haben Sie in diesem Fall die Genugtuung, Ihrer Hei mat und Ihren Landsleuten einen denkwürdigen und großartigen Dienst zu erweisen. Wir möchten noch einmal betonen, daß Sie unsere höchste persönliche und akademische Wertschätzung genießen, und unserem aufrichtigen Wunsch Ausdruck verleihen, Sie bald als Mitar beiter des Projektes willkommen heißen zu können. Unterschrieben war der Brief mit einem »respektvollen und freundli chen« Gruß von Dr. Gottfried Rumpler, Präsident der G. Rumpler & Co. Papa Schimmelhorn las das Schreiben einmal durch und runzelte die Stirn. Dann versuchte er ein zweitesmal, die Mitteilungen in sich aufzu nehmen. Schließlich ließ er den Brief verächtlich sinken. »Was für ain Unsinn!« entfuhr es ihm. »Värrückte Bankjähs, sind immer glaich, sälbscht in där Schwaiz – Geschäft, Geschäft, Geschäft; Gäld, Gäld und komische Titel: Ärschter und Superduperwichtigschtär Adminischtrati onspräsident! Pah! Ich sag dir was, Guschtav-Adolf: So ätwas brauche ich gar nicht. Ich habe mainen guten Dschob bei Hainrich Lüdesing. Ich besitze ainen vortrefflichen Stänlei-Dampfwagen mit där Antikrafitation von dän Schinesen. Und außerdäm habe ich gerade diese prächtige Arm band-Kuckucksuhr äntwickelt, die auch zusammen mit däm Fernsäher funktioniert. Und die ich bald – oh-ho-ho-ho! – mainer süßen klainen Clothilde vorführen wärde!« »Miau-auu!« pflichtete Gustav-Adolf ihm begeistert bei, was in der Katzensprache soviel bedeutete wie: Zeig's ihnen, alter Knabe! Papa Schimmelhorn kratzte sich hinter dem einen Ohr. Er zerknüllte den Brief des Herrn Dr. Rumpler zu einem kleinen Ball und warf ihn zusammen mit dem Umschlag in den Papierkorb unter dem kleinen Tisch Mama Schimmelhorns. »Und jätzt«, sagte er, »probieren wir die
Uhr noch ainmal aus, bevor wir mainer klainen Tilda ainen Bäsuch abschtatten.« Leise lachend kehrte er in die Kellerwerkstatt zurück, und dort testete er die Armband-Kuckucksuhr noch einige Male, wobei sie jedesmal auf noch perfektere Art und Weise zu funktionieren schien. Dann klingelte das Telefon, und er ging wieder nach oben. »Ja?« meldete er sich. »Zum Teufel mit Ihrem verdammten Ja!« Es war sein Nachbar zur Rechten, ein Polizist im Ruhestand. »Schimmelhorn, wie, zum Henker, können Sie sich erdreisten, die Übertragung des Baseballspiels, auf die ich mich schon seit Tagen freue, mit ihrem dreimal verfluchten Kuckuck zu stören? Haben Sie etwa die Lizenz bekommen, einen Privatsender zu betreiben? Das Mistvieh ist auf allen Kanälen zu sehen. Und streiten Sie's bloß nicht ab – ich weiß ganz genau, daß Sie dahinterstecken!« Papa Schimmelhorn war ehrlich überrascht, und er murmelte eine Ent schuldigung. Er sagte, daß es ihm leid täte und er der Sache sofort auf den Grund gehen werde… Der pensionierte Polizist brummte etwas Unverständliches und legte auf. Unmittelbar darauf klingelte das Telefon erneut. Diesmal war es die Nachbarin von der anderen Seite, die dicke Mrs. Clausewitz, die nicht sonderlich viel von Papa Schimmelhorn hielt und als Kaffeeklatsch freundin Mamas galt. Auch sie war entrüstet. Niemand, so ereiferte sie sich, dürfe es sich herausnehmen, die neueste Folge der von ihr so heiß geliebten Serie Doktor Schneidegut und Schwester Schwutzel ausgerechnet bei einer aufregenden Operationsszene zu unterbrechen, schon gar nicht mit einem Kuckuck. Sie versprach, dafür zu sorgen, daß Mama Schimmel horn von diesem empörenden Vorfall erfuhr, und… Papa Schimmelhorn hörte Mrs. Clausewitz geduldig zu und unterbrach sie nicht, um die Sache nicht noch schlimmer zu machen. Er bemerkte gar nicht, daß seine werte Gattin gerade in diesem Augenblick nach Hau se zurückkehrte, und er wurde erst auf Mama Schimmelhorn aufmerk sam, als er von der Vordertür her das Geräusch ihrer selbstbewußten und energischen Schritte vernahm. Rasch verabschiedete er sich von Mrs. Clausewitz und rief: »Wie schön! Mama, du bischt schon zurück!« Er gab sich alle Mühe, seiner Stimme
einen erfreuten Tonfall zu verleihen, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Papa Schimmelhorns dunkle Ahnungen verdichteten sich, als sie keine Antwort gab. Er sah auf. Kerzengerade stand sie vor ihm. Wie üblich trug sie einen schwarzen Hut und ein gestärktes und somit recht steifes schwarzes Kostüm, und fest hielt sie den schwarzen Regenschirm in der Hand. In dieser Aufmachung wirkte sie wie eine Manifestation des Un heils, wie ein weiblicher Torquemada, der gerade einen besonders unver frorenen Häretiker musterte. Mit einem schiefen Lächeln versuchte er es erneut: »Du… du kommscht rächt früh zurück, nicht wahr?« »Ins Wohnzimmer!« befahl sie und fuchtelte mit dem Regenschirm. Papa Schimmelhorn gehorchte zögernd, und Gustav-Adolf folgte ihm. »Hinsätzen!« Er setzte sich. Sie nahm ebenfalls Platz. Gustav-Adolf ließ sein Herr chen prompt im Stich, machte es sich auf dem Schoß Mama Schimmel horns bequem und schnurrte. »So!« zischte Mama. »Und jätzt ärzählscht du mir alles über Miß Clothilde!« Papa Schimmelhorn rutschte unruhig hin und her, zwinkerte mehrmals und gab vor, gar nicht zu wissen, worum es ging. »Värsuch bloß nicht, mir ätwas vorzumachen! Du lüschterner alter Ziegenbock! Ja, Papa, Herr Blatnik hat äs däm katholischen Prieschter ärzählt, där darüber mit däm Rabbi schprach. Där wiederum berichtete sainer Frau davon, und die sagte äs im Schmuckladen Frau Hundham mer. Ach, du solltescht dich was schämen! Im Alter von mähr als achtzig Jahren…« Sie fuhr damit fort, aus der langen Liste seiner Verfehlungen und Sei tensprünge zu zitieren, wobei sie jedoch nur die spektakuläreren Fälle erwähnte, zum Beispiel die nackten Tanzmädchen bei der Ausstellung von 1915 in San Francisco, ein weibliches Streicherquartett aus Wien und noch ein Dutzend andere Affären. Schließlich gab sie ein aufgebrachtes Schnaufen von sich. »Viellaicht habe ich auf Bethaigäuse Neun ainen schwären Fähler gemacht – ich
hätte dich doch zum Väterinär schicken sollen. Und schnipp!« Mit Zeigeund Mittelfinger der einen Hand deutete sie das Schneiden einer Schere an. »Wie können wir uns dänn jätzt noch in der Schwaiz bai der Hoch zait mainer Großnichte Minna Schwägelhaimer sähen lassen, die ainen so nätten jungen Mann heiratet? Bai där Zäremonie ischt die ganze Familie anwäsend, und ich muß mich für ainen so lüschternen alten Ziegenbock wie dich schämen!« Papa Schimmelhorn senkte demütig den Kopf. »Viellaicht… viellaicht wäre äs bässer, wänn ich hier in Nu Häffen bliebe und mich um Gusch tav-Adolf kümmerte«, schlug er zögernd vor. »Ha!« machte Mama Schimmelhorn. »Damit du bis schpät in där Nacht aufblaiben, hübschen Schmusemiezen nachschtällen und vor allen Din gen das arme Fräulain Blatnik beläschtigen kannscht? Kommt gar nicht in Frage!« Sie kniff die Augen zusammen. »Ains värsichere ich dir – diesmal schiebe ich där ganzen Sache ändgültig ainen Riegel vor.« Und wie der Zufall es wollte, warf sie einen Blick in den Papierkorb. »Was ischt das dänn? Ain Umschlag mit ainer Briefmarke aus där Schwaiz? Hat dir ätwa ains dainer nackten Mädchen geschrieben?« Nicht sonderlich überzeugend behauptete Papa Schimmelhorn, es handele sich nur um Reklame. Mama Schimmelhorn bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. Mit dem Griff des Regenschirms zog sie den Papierkorb heran. Dann holte sie den Umschlag hervor und starrte ihn groß an. »Die Rumpler Bank!« entfuhr es ihr ehrfürchtig. Sie nahm das Schreiben zur Hand, glättete es und las es, zuerst leise und nur für sich, dann noch einmal laut und auch für ihren Mann. Schließlich lächelte sie hintergründig und sah zu ihm auf. »Nur Räkla me, wie? Nun, diesmal hat sich dain Dschänie selbscht überlischtet. Man bittet dich um Hilfe, und du hascht die Arbait hiermit angenommen! Ans Tälefon, Dummkopf! Wir rufen Herrn Doktor Rumpler auf där Schtälle an.« »Aber Mama!« wandte Papa Schimmelhorn klagend ein. »Ich habe doch schon ainen guten Dschob bei Hainrich, und wir brauchen kain Gäld. Ich muß mich um maine Ärfindungen kümmern, und…«
»Sai schtill!« befahl Mama Schimmelhorn streng, und in ihren Augen blitzte es. »Du magscht genug Gäld haben, doch wir nicht. Die Frauen vom Hilfskomitee überlägen dauernd, wie sie gänug Gäld für dän neuen Glockenturm där Kirche zusammenbringen können. Zuärscht hält Paschtor Hundhammer immer aine Anschprache und erinnert uns daran, daß alle anderen Kirchen – abgesähen viellaicht von der Sünagoge – prächtige Glockentürme aufwaisen, und das beschämt uns alle sähr. Du wirscht also für die berühmte Rumpler Bank arbaiten und dabei hoffent lich ätwas Nützlichäres schaffen als Zaitmaschinen, und mit dem Gäld, was du värdienscht, bezahlen wir ainen Glockenturm, där noch hoher und schöner ischt als där där Presbyterianer und Methodischten. Die Sache ischt äntschieden.« Drohend richtete sie die Spitze des schwarzen Regenschirms auf Papa. »Ans Tälefon, wann du kaine Tracht Prügel be kommen willscht! Wir führen ain R-Geschpräch mit däm ährenwärten Doktor Rumpler. Und kaine Tricks! Ich höre am anderen Apparat mit.« Papa Schimmelhorn, einerseits erpreßt wegen des Skandals im Hinblick auf die kleine Clothilde und sich andererseits durchaus der Bedrohung durch den Schirm bewußt, ließ die Schultern hängen, seufzte tief und innig und trat an das Telefon im Flur heran. Seine Frau sah ihm finster nach und, pflichtbewußt gefolgt von Gustav-Adolf, begab sie sich in ihr Nähzimmer, in dem der zweite Apparat stand. Die Hoffnung Papas, seine Gattin doch noch hereinlegen zu können, indem er sie darauf hin wies, daß es in Zürich bereits recht spät war, wurde sofort darauf zunich te gemacht, als Mama Schimmelhorn ihn daran erinnerte, daß in dem Brief Dr. Rumplers auch die private Telefonnummer angegeben war und nicht nur die des Büros. Papa Schimmelhorn meldete ein R-Gespräch nach Übersee an und vernahm das zustimmende Murmeln seiner Frau. Kurz darauf hörte er das rhythmische Piepen, das besagte, daß das Telefon in Zürich klingelte. Neben seiner petite amie erwachte Dr. Rumpler aus einem unruhigen Schlaf. Als die Vermittlungsstelle ihm mitteilte, Papa Schimmelhorn wünsche ihn zu sprechen, war er von einem Augenblick zum anderen hellwach, bedeutete seiner Bettgefährtin, keinen Laut von sich zu geben, und nahm den zu Lasten seines Kontos gehenden Anruf so bereitwillig entgegen, als stamme er von einem reichen Ölscheich aus einem Land an der Golfküste. Er war geradezu entzückt, daß sich Papa Schimmelhorn
mit ihm in Verbindung setzte. Nein, ganz gewiß sei es nicht zu spät; er habe gerade mit einem Kollegen Probleme der globalen Finanzpolitik erörtert. Gehorsam informierte ihn Papa Schimmelhorn von seiner Bereitschaft, das überaus großzügige Angebot anzunehmen, und er versprach, sich große Mühe zu geben, den Erwartungen seines neuen Arbeitgebers ge recht zu werden. Und worum, so fragte er, ginge es eigentlich bei dem Projekt? Dr. Rumpler antwortete, aufgrund der bedauerlichen Notwendigkeit, das Unternehmen streng geheim zu halten, sähe er sich leider außerstan de, über nähere Einzelheiten zu diskutieren, über die man jedoch unmit telbar nach seiner Ankunft sprechen könne. Er versicherte ihm noch einmal, daß man ihm in bezug auf Arbeitsbedingungen und Mitarbeiter alle Wünsche erfüllen werde. »Wirklich alle!« fügte er mit leisem Lachen hinzu. An dieser Stelle hustete Mama Schimmelhorn. Es war ein recht schril les und gleichzeitig kratziges Keuchen, das sowohl entrüstet als auch unheilvoll klang, und ihr Mann beeilte sich, diesen Laut zu erklären. Es sei seine Frau gewesen, meinte er; sie habe viel über die berühmte Rump ler Bank und den Herrn Doktor gehört, und es würde sie sehr freuen, ihn kennenzulernen, wenn auch nur per Telefon. Natürlich hatte sich Gottfried Rumpler auch über Mama Schimmel horn informiert, und er war nur für einen Sekundenbruchteil überrascht. Er gratulierte ihr zu einem Gatten, der ein solches Genie war, ignorierte ihr gemurmeltes »Ach, där alte Ziegenbock!« und betonte die außeror dentliche Befähigung des Mitarbeiterstabes und die teuren Forschungs einrichtungen, die er Papa Schimmelhorn zur Verfügung zu stellen ge denke. Er seufzte. Es sei wirklich schade, so fügte er hinzu, daß ihm die umfangreichen und komplexen Arbeiten sicher überhaupt keine Zeit für Entspannung ließen, und er gab seiner festen Absicht Ausdruck, dafür zu sorgen, daß Papa Schimmelhorn genug Schlaf bekam und angemessen ernährt wurde. Das beruhigte Mama Schimmelhorn. Sie fragte, wie lange ihr Mann abwesend sein werde, und sie erfuhr, das ließe sich derzeit noch nicht genau absehen. Nach seinen Leistungen jedoch könne man davon aus
gehen, daß ihn dieser Auftrag nicht länger als einige Wochen in An spruch nähme. Und wann sei es dem Herrn Doktor genehm, ihn zu empfangen? »Mein Privatjet wird ihn übermorgen abholen, ganz früh morgens. Sind Sie damit einverstanden, Frau Schimmelhorn?« Sie meinte, sie habe nichts dagegen, und fügte hinzu, für jenen Tag ha be sie ebenfalls ihre Abreise in die Schweiz vorgesehen, wo sie an der so wichtigen Hochzeit Minna Schwegelheimers teilzunehmen beabsichtige. Da sie nicht nur eine Möglichkeit sah, einige Dollar zu sparen, sondern die Überwachung ihres Mannes zumindest noch eine Zeitlang fortzuset zen, erkundigte sie sich, ob eine Möglichkeit bestände, Papa zu begleiten. Dr. Rumpler zögerte, wenn auch nur für einen Augenblick. Sicher, so überlegte er, war es den Umweg in die Schweiz wert, wenn damit das Wohlwollen Mama Schimmelhorns gewährleistet werden konnte. Papa Schimmelhorn stöhnte leise, stimmte aber ebenfalls zu. Als somit alles geklärt war, beendeten sie das Gespräch mit wiederholten Versicherun gen gegenseitigen Respekts. »Wunderbar!« rief Mama Schimmelhorn triumphierend, als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte. »Dieses aine Mal kann ich fort, ohne mir dauernd über nackte Mädchen Sorgen machen zu müssen! Mit ainem berühmten schwaizerischen Bankjäh wie däm freundlichen Herrn Dok tor blaibt dir sicher kaine Zait für irgendwelche Dummhaiten – besch timmt gäht äs nur ums Geschäft und nichts anderes.« Sie kicherte gut gelaunt und setzte sich. Gustav-Adolf gab ein kehliges Miauu-muu von sich und sprang wieder auf ihren Schoß. Sie streichelte ihn. »Ach, du bischt ain guter Kater, Guschtav-Adolf«, sagte sie. »Dän ganzen Tag über arbaitescht du schwer, sogar in där Nacht; Mäuse jagscht du, und du bischt nicht so wie gewisse Leute, die wir nur zu gut kännen…« Plötzlich richtete sie sich auf. »Maine Güte! Fascht hätte ich äs värgässen! Ich habe ja ain Geschänk für dich, ain nät tes Geschänk von Frau Laubenschnaider.« Sie griff in ihre schwarze, mit Glasperlen verzierte Handtasche. »Sie ischt das, was man aine Pännsyl vanisch-Deutsche nännt, und sie waiß alles über Häxen und Zaubersch prüche und Magie. Ja, und sie hat für mainen lieben Guschtav-Adolf ain Halsband gefärtigt, das die Flöhe färnhalten soll.«
»Ain Halsband?« spottete Papa Schimmelhorn. »Für Guschtav-Adolf? Niemals! Das wird är nie tragen.« »Unsinn!« Mama Schimmelhorn holte besagtes Halsband hervor. Es glänzte mehrfarbig und schien aus ineinanderverflochtener Seide, Pfer dehaar und ganz feinem Silberdraht zu bestehen. Es wies mindestens ein halbes Dutzend Hexenzeichen auf. »Ach, Guschtav-Adolf, siehscht du die vielen klainen Sümbole, mit dänen Frau Laubenschnaider das Band geschmückt hat? Sie halten nicht nur die Flöhe von dir färn, sondern auch die Fantome und Gaischter.« Wie einen besonderen Leckerbissen hielt sie dem Kater das Halsband entgegen. Gustav-Adolf beschnupperte es, zunächst recht argwöhnisch, dann jedoch mit größerem Interesse. Plötzlich gab er ein begeistertes Miau-au-u! von sich, schob den Kopf durch das Rund und ließ es schnur rend mit sich geschehen, daß Mama Schimmelhorn das Band an seinem Hals festzurrte. »Siehscht du, wie schtolz är ischt?« sagte sie selbstgefällig. »Är waiß, daß äs sich dabai um aine Mädallje für saine harte Arbait und das Jagen där vielen Mäuse handelt.« Klugerweise, doch mit großem Bedauern, verschob Papa Schimmelhorn seine Pläne für die Verführung Miß Blatniks und entschied, die Arm band-Kuckucksuhr für eine geeignetere Gelegenheit aufzusparen. Den nächsten Tag verbrachte er damit, sich auf die bevorstehende Reise vor zubereiten, und er hörte sich Mama Schimmelhorns Predigten über lü sterne alte Ziegenböcke an, die nicht davon ablassen wollten, nackten Mädchen nachzustellen, obgleich es doch viel besser und angebrachter gewesen wäre sicherzustellen, nach dem Tode ins Paradies zu kommen und nicht etwa im Höllenfeuer zu braten. Nur zweimal wandte sie sich von diesem ihrem Lieblingsthema ab. Das erstemal schalt sie ihn dafür, die ELEKTRONISCHE EXPERIMENTIERAUSRÜSTUNG FÜR KINDER VON 9 – 12 stibitzt zu haben, die als Geburtstagsgeschenk für einen jungen Verwandten namens Willy Fledermaus hatte dienen sollen. Das zweitemal teilte sie ihm mit, wie närrisch es von ihm sei, auch nur die Möglichkeit zu erwägen, Gustav-Adolf mitzunehmen. Der Kater, so erklärte sie, bliebe zu Hause, jage Mäuse und werde von Frau Clause
witz gefüttert. Besagte Frau Clausewitz jedoch machte dieses Vorhaben auf sehr wirkungsvolle Weise zunichte, indem sie anrief und Papa Schimmelhorn vorwarf, ihr Fernsehprogramm mit Kuckucksübertragun gen zu sabotieren. Als Mama Schimmelhorn nicht begriff, worum es eigentlich ging, warf die Nachbarin zur Linken ihr hysterisch vor, sie stecke hinter der ganzen Verschwörung. So packte Papa Schimmelhorn drei frische Mäuse aus Katzenminze in den Koffer und verstaute das magische Floh-Halsband in der Jackenta sche, während seine Frau damit beschäftigt war, einige Spielzeuge und besondere Leckerbissen in ein großes Einkaufsnetz zu legen. Diese Din ge, so verkündete sie, seien für Gustav-Adolf gedacht, damit ihm der Flug nicht zu langweilig werde. Früh am nächsten Morgen gingen sie an Bord einer schnittigen de-Havilland-Maschine, die trotz des fauchenden Protestes des Katers sofort startete. Papa Schimmelhorn reiste mit dem britischen Paß, mit dem ihn vor einer Weile Pêng-Plantagenet ausgestat tet hatte. Nach einer Weile beruhigte sich Gustav-Adolf, machte es sich auf ei nem der üppig gepolsterten und luxuriösen Sessel bequem und konzen trierte sich ganz darauf, eine der Katzenminzemäuse zu zerfetzen. Immer wieder rollte er sich darauf herum und schnurrte in ekstatischer Begeiste rung. Mama Schimmelhorn kramte in einer kleinen Reisetasche herum und holte ihr Strickzeug hervor. Das rhythmische Klacken der Nadeln machte ihre unerschütterlichen moralischen Standpunkte deutlich. Papa Schimmelhorn gelang es unterdessen, seine Enttäuschung dar über zu verbergen, daß sich an Bord nicht etwa zwei oder drei hübsche Schmusemiezen um ihn kümmerten, sondern nur ein dicklicher, rotge sichtiger und sehr elegant gekleideter Steward. Eine Zeitlang versuchte er sich zu trösten, indem er die Wolken beobachtete und in Erinnerungen an angenehmere Reisen schwelgte; er dachte unter anderem an den Flug nach Hongkong, während dessen er die überaus angenehme Gesellschaft zweier entzückender junger Damen namens Kittikool und MacTavish hatte genießen können. Dann und wann seufzte er tief. Anschließend spielte er gedankenversunken an der Armband-Kuckucksuhr herum – bis ihm auffiel, daß seine Frau nicht mehr strickte und ihn mißtrauisch beobachtete.
»Aha!« machte sie, bedachte ihn mit einem eisigen Blick und griff dro hend nach dem Regenschirm. »Die arme Frau Clausewitz war also gar nicht so värrückt, wie? Oh, warte nur ab…« Unmittelbar darauf kam der Copilot zu ihnen und klagte, irgendein elektronisches Gerät störe die Navigationsinstrumente. Langes und bedrückendes Schweigen folgte. Der Steward servierte das Mittagessen. Die Zeit verstrich nur langsam. Der Steward brachte den Nachmittagskaffee. Die Zeit verging noch langsamer. Gelangweilt spielte Gustav-Adolf mit den Bällen und Stoffknoten, stieß sie vom Sitz und miaute. Woraufhin sich der Steward daranmachte, im Mittelgang zwi schen den Sesseln Ordnung zu schaffen. Dann erklang die Stimme des Piloten aus dem Lautsprecher und teilte seinen Passagieren auf französisch mit, in zehn Minuten lande das Flug zeug in Luzern. »Luzärn!« entfuhr es Mama Schimmelhorn. »Minna wohnt ganz in där Nähe. Ach, das hat där gute Herr Doktor so arrangschiert, wail är ain Dschäntelmän ischt und nicht so ain Lotterbursche wie du.« Sie stand auf, packte ihre Sachen zusammen und erinnerte ihren Mann noch einmal daran, er müsse alles tun, was der Herr Doktor ihm sage. »Ha!« fügte sie nach kurzem Nachdenken hinzu. »Wänn är värnünftig ischt, schpärrt är dich nachts in sainen Träsor!« Der Steward half ihnen beim Anlegen der Sicherheitsgurte. Das Flug zeug landete. Die Ausstiegsluke schwang auf. Die Teleskoptreppe wurde zu Boden gelassen. Nur wenige Sekunden später kam ein pedantisch wirkender kleiner Mann an Bord. Er hatte eine schmale und spitz zulau fende Nase, trug eine dickgläsrige Brille und war so adrett, wie man es von dem Privatsekretär eines schweizerischen Bankiers erwartete. Er stellte sich als Herr Grundtli vor, verbeugte sich vor Mama Schimmel horn, die enorm beeindruckt war, und gab bekannt, es stände bereits eine Limousine bereit, die sie direkt zum Haus Minna Schwegelheimers fah ren würde. Anschließend bestand er darauf, ihr die Koffer und Taschen abzunehmen. Papa Schimmelhorn senkte kummervoll den Kopf, als seine Gattin die Stirn runzelte und ihm einen letzten warnenden Blick zuwarf. Sie strei chelte Gustav-Adolf zum Abschied und trat durch die Tür, begleitet von
Herrn Grundtli und dichtauf gefolgt von dem Steward. Durch das Fen ster beobachtete Papa Schimmelhorn, wie sie in die Luxuslimousine stieg, und er sah zu, wie sich der lange und breite Wagen in Bewegung setzte und fortfuhr. »Und was jätzt?« fragte er in höchstem Maße nieder geschlagen. »Ach, Guschtav-Adolf, viellaicht hat sie rächt. Viellaicht schpärrt uns Härr Grundtli nachts wirklich in dän Träsor ain.« Bei dieser Vorstellung begann es in seinen hellblauen Augen feucht zu glitzern, und er hatte noch immer Mitleid mit sich selbst, als Herr Grundtli zurück kehrte und sich höflich räusperte. Papa Schimmelhorn sah auf. Und riß die Augen auf. Die Kinnlade klappte ihm herunter. Herr Grundtli machte plötzlich einen wesentlich menschlicheren Eindruck als zuvor. Und außerdem war er nicht allein. Hinter ihm standen zwei der hübschesten Schmusemiezen, die Papa Schimmelhorn jemals gesehen hatte. Stolz stellte Herr Grundtli die beiden jungen Damen als Emmy Hoo gendijk aus Amsterdam und Niki Aramanlis aus Istanbul vor. Miß Hoo gendijks Wangen glühten rosafarben, und ihr Körper war genau dort vortrefflich gerundet, wo es Papa Schimmelhorn erwartet. Miß Araman lis war größer, und ihr langes und dichtes Haar glänzte schwarz. Auch ihre Figur konnte man nur als wunderbar bezeichnen. Von einem Augenblick zum anderen begannen die Lebenssäfte in Papa Schimmelhorn zu schäumen. Seine buschigen Augenbrauen kamen ruck artig in die Höhe. Die Spitzen des Backenbartes zitterten. Seine vorheri gen Besorgnisse lösten sich in Luft auf. Er sprang auf, verbeugte sich höflich vor den beiden Damen und stellte dabei sicher, daß die eng sit zende Jeans die Muskeln seiner Oberschenkel auf angemessene Weise offenbarte. Die hübschen Schmusemiezen musterten ihn erstaunt, und er legte sich sofort ins Zeug, um ihr Wohlwollen zu gewinnen. »Ach!« rief er aus. »Ich habe eure Gedanken geläsen! Sicher habt ihr damit gerächnet, ainem alten Knacker ohne Saft und Kraft zu begägnen, was? Ho-ho-ho!« Er zog zwei Schokoladenriegel aus der Jackentasche, die aufgrund der Hitze seiner Empfindungen weich geworden waren, und er bot sie den beiden Damen an. »Emmy und Niki – beschtimmt värbringt ihr aine angenäh mere Zait mit mir, als ihr dachtet!«
Emmy und Niki machten noch immer einen etwas verwirrten Ein druck, und sie nahmen die Riegel entgegen, die Papa Schimmelhorn hilfsbereit vom Papier befreit hatte. Mit kleinen und ebenmäßig geform ten weißen Zähnen knabberten sie an der Schokolade. Papa Schimmel horn legte die Arme um sie. »Unser Arbeitgeber«, teilte ihm Herr Grundtli in verschwörerischem Ton mit, »hat dafür gesorgt, daß die beiden Damen hier auf Sie warteten. Er möchte sicherstellen, daß Ihre Reise so angenehm und… äh… ent spannend wie nur möglich ist.« Dann verließ er das Flugzeug wieder. Nach nur fünf Minuten hatten die beiden hübschen Schmusemiezen jede Scheu verloren, saßen auf dem Schoß Papa Schimmelhorns, schmiegten sich an ihn, zupften zärtlich an seinem langen Bart, streichel ten Gustav-Adolf und gaben sich alle Mühe, das Versprechen Herrn Grundtlis zu halten. Papa unterhielt sie, indem er ihnen die ArmbandKuckucksuhr zeigte und sie seine mächtigen Muskeln betasten ließ. Er bemerkte nicht einmal, wie Herr Grundtli an Bord zurückkehrte, diesmal in Begleitung Gottfried Rumplers, der in einem unauffälligen Fiat an die Privatmaschine herangefahren war. Herr Grundtli hüstelte, und sofort standen die beiden netten Damen auf, lächelten respektvoll und begaben sich rasch in die rückwärtige Ka bine. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Herr Grundtli, als er die Enttäu schung Papa Schimmelhorns bemerkte. »Sie können sich erneut an ihrer Gesellschaft erfreuen, sobald Herr Doktor Rumpler…« – er verneigte sich vor seinem Arbeitgeber –, »… Ihnen mitgeteilt hat, worin Ihre Auf gabe besteht.« Papa Schimmelhorn stand auf. Er musterte den kräftig gebauten Gott fried Rumpler eingehend. Und er lächelte zufrieden und erklärte, er hätte nicht gedacht, daß er sich so sehr irren könnte. Er meinte, er habe sich alle Bankiers als humorlose und vertrocknete alte Knaben vorgestellt, die nur in Bilanzbegriffen und Soll und Haben dachten! Er fügte hinzu, er könne ganz deutlich erkennen, daß der werte Herr Doktor ebenso wie er selbst voller Saft und Kraft stecke, daß er verstehe, was einen Mann selbst im hohen Alter jung erhalte. Er deutete in Richtung der rückwärti gen Kabine und zwinkerte.
Dr. Rumpler zwinkerte ebenfalls. »Herr Schimmelhorn«, sagte er und lachte leise, »das schweizerische Bankwesen hat mehr Aspekte, als viele Leute glauben.« Sie nahmen Platz, und Herr Grundtli folgte dem Beispiel Emmys und Nikis und ließ sie allein. Nachdem Dr. Rumpler zum Ausdruck gebracht hatte, wie glücklich er sei, auf die Hilfe eines so berühmten Genies zurückgreifen zu können, und er Papa Schimmelhorn einmal mehr ins Gedächtnis zurückgerufen hatte, wie wichtig es sei, strengste Geheimhaltung zu wahren, fügte er mit leiser und verschwörerisch klingender Stimme hinzu: »Wir möchten, daß Sie für uns herausfinden, wie man Blei in Gold verwandelt. Das ist alles.« Papa Schimmelhorn lachte laut. Vielleicht, so erwiderte er, sei das gar nicht so schwer. Möglicherweise nicht einmal annähernd so schwierig wie die Lösung der Probleme der Gravitation und der Zeitreisen. In sei nem Unterbewußtsein begann es bereits vielversprechend zu rumoren. Und außerdem, so meinte er, sei es doch ein prächtiger Scherz, nicht wahr? Man müsse in diesem Zusammenhang nur einmal an all die Röh ren aus Blei denken, an die Senkkörper in der Fischerei, all die vielen Kugeln für Pistolen und Gewehre! Freundlich klopfte er dem Herrn Doktor aufs Knie, und Gottfried Rumpler stimmte in das Lachen Papa Schimmelhorns mit ein, wenn seins auch ein wenig unsicher klang. »Fräulein von Hohenheim, meine Partnerin bei diesem Projekt«, sagte der Bankier, »besitzt eine kleine und wunderschöne Insel unweit von Kreta, und dort hat sie bereits einige alchimistische Laboratorien einge richtet, die von Meister Gansfleisch geleitet werden, der größten leben den Autorität auf diesem Gebiet. Er wird eng mit Ihnen zusammenarbei ten und Ihnen assistieren. Wenn Sie etwas brauchen, so fragen Sie ein fach danach. Da sowohl meine Partnerin als auch ich selbst im Blick punkt der Öffentlichkeit stehen, werden Sie sicher verstehen, daß ich mich nicht direkt mit Ihnen in Verbindung setzen kann. Wenn meine Teilhaberin jedoch abkömmlich ist, wird sie zu Ihnen fliegen und nach dem rechten sehen, so etwa alle zwei Wochen.«
Papa Schimmelhorn fragte ein wenig besorgt, ob Miß Hoogendijk und Miß Aramanlis ihn begleiten würden, und Dr. Rumpler versicherte ihm, das sei der Fall. Dann lächelte der Herr Doktor gutmütig und stand auf. »Ich muß jetzt gehen«, sagte er. Papa Schimmelhorn sprang auf die Beine, schlang die Arme um Gott fried Rumpler und drückte ihn fest an sich. »Ach, machen Sie sich nur kaine Gedanken!« donnerte er auf englisch. »Härr Bankjäh, Sie wärden Ihr Gold bekommen!« »Heute nacht bleiben Sie in Luzern«, sagte Dr. Rumpler. »Morgen flie gen Sie nach Athen weiter und von dort aus nach Kreta, wo man Sie abholt und zu der Insel bringt. Ich bin sicher, Ihre Forschungsarbeiten führen zum Erfolg!« In gelöster Stimmung verabschiedeten sie sich voneinander, und kurz darauf fuhr eine andere Limousine an das Flugzeug heran. In jener Nacht im Luzerner Hilton schlief Papa Schimmelhorn wohlig und glück lich zwischen seinen beiden hübschen Schmusemiezen, auf angenehme Weise erschöpft von den erotischen Anstrengungen. Und während er träumte, glaubte er, das zufriedene Schnurren nicht nur Gustav-Adolfs zu hören, der sich auf dem Fußende des Bettes zusammengerollt hatte, sondern auch das von Miß Emmy und Miß Niki.
3
Meister Gansfleisch
Ausmaß und Schwierigkeit des Problems beunruhigten Papa Schimmel horn nicht im geringsten. Er dachte nicht an die vielen tausend hervorra genden und entschlossenen Köpfe, die im Verlaufe der Jahrhunderte ohne Erfolg versucht hatten, des Rätsels Lösung zu finden. Er überließ es allein seinem genialen Unterbewußtsein, sich mit den Fragen des Pro jektes zu befassen, und auf diese Weise bekam er die Möglichkeit, sich ganz seinem Hobby zu widmen. Als das Flugzeug am nächsten Morgen startete, achtete er überhaupt nicht darauf. Als sie in Athen in eine klei nere Maschine umstiegen, war er nur bestrebt sicherzustellen, daß Miß Emmy und Miß Niki nicht den Anschluß verpaßten. Und als sie schließ lich auf einem kleinen Flughafen auf Kreta landeten, fragte er nicht ein mal danach, wo sie sich befanden. Ein hochgewachsener Grieche in mittleren Jahren und einem schmalen Gesicht mit hervorstechenden Wangenknochen erwartete sie. Er begrüß te Herrn Grundtli, drehte das eine Ende des langen und beeindrucken den Schnurrbarts und musterte die beiden hübschen Schmusemiezen mit dunklen Augen, in denen es nachgerade bedrohlich aufblitzte. Kurz dar auf machten sie die Bekanntschaft der Zöllner, die sie ohne Verzögerung passieren ließen und sich weder die Mühe machten, die große Reiseta sche Papa Schimmelhorns zu kontrollieren, noch zu fragen, ob GustavAdolf gegen Tollwut geimpft sei. Im warmen Schein der Mittelmeersonne wartete draußen ein ziemlich altes Taxi auf sie. Der Grieche öffnete die Tür, und Herr Grundtli verab schiedete sich von ihnen und meinte, er müsse aufgrund dringender Ge schäfte in die Schweiz zurückkehren. »Sie sind jedoch in guten Händen«, sagte er. »Herr Mavronides ist der Majordomus Fräulein von Hohen heims. Er wird dafür sorgen, daß Sie alles bekommen, was Sie möchten.« »Härr wie?« fragte Papa Schimmelhorn. »Mavronides«, erwiderte der Grieche. »Sarpedon Mavronides.«
Papa Schimmelhorn streckte den Arm aus und schüttelte ihm kräftig die Hand. »Ho-ho-ho!« machte er. »Ich nänne Sie Zorba – das läßt sich viel laichter märken.« Herr Mavronides lächelte. »Es freut mich, daß Sie Englisch beherr schen«, erklärte er, »denn wir benutzen keine andere Sprache auf der… auf ihrer Insel. Meine Pflicht besteht darin, Sie dorthin zu bringen, Ihnen alles zu zeigen und Meister Gansfleisch vorzustellen, mit dem Sie…« – er zögerte kurz, und einige Augenblicke lang wirkte er sehr skeptisch – »… zusammenarbeiten werden. Was den Namen Zorba angeht – er ist mir recht. Ich habe den Film ebenfalls gesehen.« Er wartete bis seine Gäste eingestiegen waren, dann nahm er auf dem Beifahrersitz Platz. Das offenbar in den letzten Zügen liegende Getriebe gab ein protestierendes Kreischen von sich, und los ging's. Papa Schim melhorn hatte den einen Arm um die rundliche Emmy geschlungen, den anderen um die schlanke Taille Nikis, die auf seinem Schoß saß; er blick te aus dem offenen Fenster und sog die Luft, die seinen Bart zerzauste, tief in die Lungen. »Riech nur die härrliche Luft, Guschtav-Adolf!« platz te er begeistert heraus. »Ziegen und Hühner und Knoblauch und vär mutlich auch ainige Orangschenblüten – wie romantisch!« Gustav-Adolf hockte auf der Hutablage und miaute zustimmend. »Echt nicht schlecht«, antwortete er auf katz. »Die Mäuse in dieser Ecke sind bestimmt besonders lecker.« Herr Mavronides sah über die Schulter zurück. »Meister Gansfleisch«, verkündete er zögernd, »wird sicher nicht erfreut sein zu erfahren, daß Sie eine Katze mitgebracht haben.« »Und wieso nicht?« fragte Papa Schimmelhorn. »Gehört är ätwa zum Vogelschutzbund? Guschtav-Adolf macht nur ab und zu Jagd auf Schpatzen und Bachschtälzen, denn er muß immer husten, wann ihm die Fädern im Maul schtäckenblaiben.« »Er ist ein sehr lieber Kater!« bekam er von Niki Rückendeckung, und Emmy tat mit einem heftigen Nicken ihre Zustimmung kund. Die bei den Frauen verhielten sich ganz so, wie man es von den Mitgliedern des örtlichen Papa-Schimmelhorn-Fanclubs erwartet hätte. Sie fuhren durch die Außenbezirke der Stadt und folgten kurz darauf dem Verlauf der Küstenlinie einer Bucht. Papa Schimmelhorn bewun
derte lautstark und wortreich sowohl das optische als auch das akustische und geruchsmäßige Panorama, und nur dann und wann schenkte er den vorsichtigen Hinweisen Mavronides' Beachtung. »Der Grund, warum wir nur englisch sprechen sollten«, informierte ihn der Grieche, »ist folgender: Alle Bediensteten stammen entweder von Griechen ab, die Miß von Hohenheim vor Türken rettete, oder von Tür ken, die sie vor den Griechen bewahrte. Außerdem gibt es noch einige wie mich, die praktisch schon immer für ihre Familie tätig waren. Ver stehen Sie? Deshalb sind alle Leute so treu und zuverlässig und dazu bereit, sie mit ihrem Leben zu schützen. Und auch ihre Insel, zu der wir jetzt unterwegs sind: Klein Paläon. Dort wird türkisch und griechisch gesprochen, und außerdem hat Miß von Hohenheim einigen Leuten Deutsch beigebracht. Ich aber bin der einzige, der Englisch kann. Und da Ihre Arbeit geheim ist, sollten wir uns nur in dieser Sprache unterhal ten.« Papa Schimmelhorn, abgelenkt von der erotischen Gymnastik zweier Esel abseits der Straße, bat Mavronides darum, seine letzten Erläuterun gen noch einmal zu wiederholen, eine Bitte, der der Grieche sehr gedul dig nachkam. »Sie bekommen Ihre eigenen Zimmer«, fügte er dann hinzu, »Sie und Ihre charmanten Freundinnen.« Einmal mehr blitzte es in den dunklen Augen Mavronides' auf, und wieder drehte er die Enden seines langen Schnurrbartes. Papa Schimmelhorn begann zu vermuten, daß sich hinter dem disziplinierten Gehabe des Majordomus' ein Mann ganz nach sei nem Geschmack verbarg. »Dort bekommen Sie Ihre Mahlzeiten, es sei denn, die Prin… äh… Miß von Hohenheim ist zugegen. Dann lädt sie Sie vielleicht dazu ein, mit ihr zusammen zu speisen. Keinesfalls…« – der Grieche schauderte sichtlich – »… sollten Sie die Mahlzeiten zusammen mit Meister Gansfleisch einnehmen.« Papa Schimmelhorn runzelte die Stirn. »Ach, Härr Zorba«, meinte er, »dieser Maischter Gansflaisch ischt wohl kain sähr angenähmer Zaitge nosse, wie?« »Ich habe schon zuviel gesagt«, hielt ihm Mavronides entgegen. »Las sen wir es dabei bewenden. Bald lernen Sie ihn selbst kennen. Doch wie dem auch sei: Sie sind nur bei der Arbeit zusammen. Zu anderen Zeiten
hält er nichts von der Gesellschaft menschlicher Wesen und beschränkt sich allein auf die Präsenz seines Vertrauten, dessen Name…« – er be kreuzigte sich hastig – »… übersetzt Zuckgalgen lautet.« »Ooh, wie aufregend!« rief Niki. »Das ist ja genau wie in Der Exorzist!« »Worum handelt äs sich dänn bai däm Värtrauten?« fragte Papa Schimmelhorn. »Ainen Gaischt viellaicht? Oder ainen Kobold?« »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Sie werden es selbst sehen.« Papa Schimmelhorn zuckte mit den Schultern. Nun gut, dachte er. Was äs auch für ain Geschöpf sain mag – Guschtav-Adolf und ich haben kaine Angscht. Und daraufhin wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Landschaft zu. Das Taxi fuhr jetzt über eine kopfsteingepflasterte Straße, die an den Steinen eines Deichs vorbeiführte, und kurz darauf hielt es vor einer kleinen Mole, an der eine funkelnagelneue Motoryacht vor Anker lag. Sie gingen an Bord, wurden von dem Kapitän Fräulein von Hohenheims – einem Mann mit wettergegerbtem Gesicht – freundlich auf türkisch be grüßt und legten dann ab. Die Yacht fuhr an einer Landzunge vorbei, die weit in die blauen Fluten der Ägäis hineinreichte, und anschließend sa hen sie die Insel namens Klein Paläon, von der sie noch etwa drei oder vier Seemeilen entfernt waren. Papa Schimmelhorn vergaß alles über Meister Gansfleisch und seinen Vertrauten; er konzentrierte seine Auf merksamkeit auf die Möwen, die über der Yacht dahinsegelten und die ihm wie alte Bekannte erschienen, und er beobachtete auch eine Gruppe von Tümmlern, die ihnen steuerbords folgte. Zärtlich kitzelte er Niki, und liebevoll zwickte er Emmy in den herrlich runden und, wie er wußte, ebenfalls rosafarbenen Po. Er versprach ihnen beiden, am kommenden Abend mit ihnen in ›diesem härrlichen Wasser‹ zu schwimmen, und er fügte hinzu, da niemand zusähe, könnten sie auf Bikinis und Badehose verzichten. Die Yacht passierte einen kleinen Leuchtturm, der am Ende eines aus Stein bestehenden Wellenbrechers stand, und lief dann in die geschützte Bucht ein, in der einige dümpelnde Fischerboote vor Anker lagen. Wei tere waren auf den Strand gezogen worden, auf dem Segel und Netze trockneten. Einige Fischer mit von der Sonne tief gebräunter Haut und Frauen mit gebeugtem Rücken gingen ohne besondere Hast ihren Arbei
ten nach. Der Kapitän steuerte die Yacht an ein Pier heran, und an schließend gingen sie von Bord. Mavronides brachte ihr Gepäck in ei nem roten, aus japanischer Produktion stammenden Kombi unter, hinter dessen Steuer ein enorm dicker Levantiner saß, ließ sie einsteigen und nahm selbst auf dem Beifahrersitz Platz. Dann fuhren sie über die einzi ge kopfsteingepflasterte Straße des kleinen Fischerdorfes. »Diese Person«, sagte Mavronides und deutete auf den Fahrer, »heißt Ismail. Miß Hohenheim erhielt sie von einem Araber, mit dem sie Ge schäfte tätigte. Der betreffende Scheich machte die arme Seele zu einem Haremsangestellten, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Papa Schimmelhorn stöhnte mitleidig und gab damit zu erkennen, daß er sehr gut verstand, was jene Worte bedeuteten. Seine beiden hübschen Schmusemiezen quiekten leise. Ismail lächelte sie nur stumm an und offenbarte dabei erstaunlich weiße Zähne. »Aber er ist keineswegs unglücklich«, fügte Mavronides hinzu. Als das Dorf bereits ein ganzes Stück hinter ihnen lag, kamen sie durch einige Olivenhaine, und hier und dort fiel der Blick Papa Schimmelhorns auf grüne Wiesen, auf denen fette Schafe und Ziegen grasten und sich weitere liebestolle sportlich betätigten. Klein Paläon war tatsächlich keine besonders große Insel, doch einige niedrige Hügel am einen Ende schirmten die Residenz Fräulein von Hohenheims ab, und sie sahen sie erst, als sie die Kuppe einer der Anhöhen erreichten. Ganz plötzlich of fenbarte sie sich in all ihrer seltsamen und düsteren Erhabenheit. »Herrlich, nicht wahr?« fragte Mavronides und breitete die Arme aus, so als wolle er seinen Besuchern das ganze Anwesen zum Geschenk ma chen. Und tatsächlich: Zwar hätte ein Baumeister Schwierigkeiten gehabt, alle Epochen, architektonischen Stile und Kulturen zu bestimmen, die wäh rend der vergangen Jahrhunderte einen Beitrag zur Konstruktion gelei stet hatten, doch die Residenz zeichnete sich durch einen eigenen Cha rakter und eine ganz besondere Art von Schönheit aus. Eine nähere Un tersuchung hätte ergeben, daß die Fundamente auf altem Kalkstein und Marmor ruhten, es sich bei einem nicht geringen Teil – wenigstens bei zwei Mauern und zwei finster wirkenden Türmen – um Reste einer
einstigen Kreuzfahrerfestung handelte und das übrige von verschiedenen Generationen nobler Renaissance-Gelehrter und einigen Virtuosi des achtzehnten Jahrhunderts hinzugefügt worden war. Weiterer Marmor schmückte die reichhaltig verzierten Fassaden. Und beim Bau des im italienischen Stil errichteten hohen Glockenturms war ebenfalls Marmor und auch Porphyr verwendet worden. Durch ein großes Tor fuhren sie auf einen mit Steinplatten ausgelegten Hof und hielten vor einer breiten Marmortreppe, die zu einer majestätischen Doppeltür emporführte, de ren Flügel aus massiver Bronze bestanden und die kunstvolle Bildnisse aufwiesen, die offenbar Szenen aus dem Leben der griechischen Götter und Göttinnen darstellten und sofort das Interesse Papa Schimmelhorns erweckten. Bedienstete begrüßten sie mit tiefen Verbeugungen, und Mavronides führte seine Begleiter in einen hell erleuchteten holzgetäfelten Saal. Dort hielten alte Rüstungen stumm Wache. Die Wände waren mit Ahnenpor träts, Schwertern und Streitäxten verziert. Alte Banner hingen in den von den hohen, mit Mittelpfosten versehenen Fenstern hervorgerufenen Mu stern aus Licht und Schatten. Und dort wartete Meister Gansfleisch auf sie. Er entfaltete sich, als sie eintraten. Er war extrem groß und dürr. Er hatte graue und haarige Haut, und irgendwie schien er mit zu vielen Armen und Beinen ausgestattet zu sein – so als habe irgendeiner seiner Vorfahren mehr als nur indirekten Kontakt mit Spinnenwesen unterhalten. Seine Kleidung sah aus, als stamme sie aus der Produktion eines in einer kleinen deutschen Provinz stadt ansässigen dilettantischen Amateurschneiders, der sich besser ei nem anderen Beruf zugewandt hätte. Mavronides stellte sie vor. Meister Gansfleisch musterte Papa Schim melhorn und seine beiden Begleiterinnen mit kleinen runden Augen, in denen es sonderbar irrlichterte. Betont höflich verneigte er sich. Dann lächelte er, und seine Zähne erinnerten Papa Schimmelhorn an die eines Opossums, das er einmal kennengelernt hatte. Gustav-Adolf, der auf der breiten Schimmelhorn-Schulter hockte, be dachte den Meister mit einem abschätzenden Blick und fauchte voller Abscheu.
Papa Schimmelhorn beruhigte seinen Kater und sagte ihm, er dürfe den netten Mann nicht anknurren, mit dem er in der nächsten Zeit zu sammenarbeiten werde. »So ätwas gehört sich nicht«, erklärte er. »Für sain Aussähen kann är schließlich nichts.« Er fügte hinzu, er sei sicher, Meister Gansfleisch und er kämen gut miteinander zurecht. Das Lächeln Gansfleischs verflüchtigte sich. Die Brauen zogen sich zusammen und verharrten dicht über den glänzenden Augen. Mit hoher, trockener und kratziger Stimme verkündete er, er hieße Papa Schimmel horn willkommen, von dem Fräulein von Hohenheim ihm mitgeteilt habe, er verfüge über besondere Talente. Er gab seiner großen Hoffnung auf eine wahrhaft gute Zusammenarbeit Ausdruck. Herr Mavronides, so meinte er, würde ihnen ihr Quartier zeigen, und sie sollten sich ganz wie zu Hause fühlen. Er bat den hochgeschätzten Herrn Schimmelhorn dar um, sofort nach dem Frühstück ins Laboratorium zu kommen. »Einvärschtanden«, erwiderte Papa Schimmelhorn. »Ich möchte mich so rasch wie möglich an die Arbeit machen. Aber…« – er lachte leise – »… muß ich Sie dänn die ganze Zait mit ›Maischter Gansflaisch‹ ansch prächen? Viellaicht ischt äs ainfacher, ich nänne Sie Gansi.« »Ich bin der kompetenteste Alchimist Europas und der ganzen Welt!« bemerkte Meister Gansfleisch recht kühl. »Ich würde es daher schätzen, wenn Sie mich mit meinem Namen und Titel ansprechen.« »Na schön«, entgegnete Papa Schimmelhorn. »Ich habe allerdings nichts dagägen, wänn Sie mich Papa nännen.« Meister Gansfleisch ging nicht auf dieses Angebot ein. »Wo haben Sie Alchimie studiert?« fragte er. »Ich habe gar nicht schtudiert«, erklärte Papa Schimmelhorn und fügte bescheiden hinzu: »Ich bin nur ain Dschänie.« Meister Gansfleisch gab einen seltsamen trockenen, wiehernden Laut von sich, und Gustav-Adolf fauchte erneut. Ein langes und bedrückendes Schweigen folgte. »Nun, wir werden se hen«, sagte Meister Gansfleisch nach einer Weile. »Aber…« – er richtete seinen starren Blick auf Gustav-Adolf und rieb sich aufgeregt die Hände – »… diese Katze da soll mir nicht noch einmal unter die Augen kom men. Für mich ist es unmöglich, die magischen Künste in der Gesell
schaft von Katzen zu praktizieren. Sie müssen sicherstellen, daß das… Tier im Zimmer bleibt und nicht frei herumläuft. Haben Sie verstan den?« Papa Schimmelhorn zuckte mit den Schultern. »Wie Sie mainen«, ant wortete er. »Doch ich glaube, das wird dän armen Guschtav-Adolf gar nicht freuen.« Meister Gansfleisch drehte sich ruckartig um und ging, ohne ein weite res Wort zu verlieren. Als er davonstakte, gab Niki ein erschrockenes Quieken von sich. »Seht nur!« flüsterte sie. »In seiner Jackentasche!« Sie blickten in die entsprechende Richtung. Ein Kopf ragte aus besag ter Tasche hervor, ein Kopf mit kleinen funkelnden roten Augen – der Kopf einer großen schwarzen Ratte. »Lieber Himmel!« schnaufte Papa Schimmelhorn. »Was ischt das dänn?« »Das«, erklärte Mavronides, »ist Zuckgalgen, sein… sein Vertrauter.« Erneut bekreuzigte sich der Grieche. »Und, mein Herr, es handelt sich dabei um ein Geschöpf, das man besser nicht ärgern sollte.« »Main Gott! Ratten in där Jackentasche! Kain Wunder, daß GuschtavAdolf knurrt. Ich sag euch was: Mit Maischter Gansi schtimmt was nicht. Man muß ihn sich bloß ainmal ansähen! Er hat Emmy und Niki nicht die geringschte Beachtung geschänkt! Oh, er ischt ohne Saft und Kraft. Viel laicht hat är in sainem ganzen Läben niemals hübschen Schmusemiezen nachgeschtällt! Das schtälle man sich ainmal vor! Är hockt immer nur mit sainer Ratte härum und schpielt möglicherwaise mit sich sälbscht.« Traurig schüttelte er den Kopf. »Am besten, Sie achten gar nicht auf ihn«, sagte Mavronides in einem entschuldigenden Tonfall. »Ich versichere Ihnen, er gab sich die größte Mühe, Ihnen gegenüber freundlich zu sein. Wie Ihnen sicher auffiel, neigt er zu Verbitterung. Es widerspricht seiner Natur, höflich zu sein.« Wieder zuckte Papa Schimmelhorn mit den Schultern. »Nun, wie däm auch sai: Angesichts von Ratten in Jackentaschen sollte ich GuschtavAdolf wohl bässer sofort das Halsband gägen Flöhe anlägen.« Er holte es hervor, und gutmütig erlaubte der Kater der lieben Niki, es ihm über den Kopf zu streifen.
In der Beurteilung von Meister Gansfleisch hatte Papa Schimmelhorn dem Alchimisten eigentlich unrecht getan. Der Mann war ein wahrer Asket. Seit mehr als zwanzig Jahren widmete er sich ganz dem Studium der magischen Künste und thaumaturgischen Wissenschaften – und das während eines durch und durch materialistischen Zeitalters, in dem man nur sehr schwer Förderer finden konnte. Ein früherer Radscha hatte ihm einige Jahre lang recht dürftige Mittel zukommen lassen – und als er dann feststellen mußte, daß keine Fortschritte in Hinsicht auf eine Ver größerung seines Reichtums erzielt worden waren und auch keine Hoff nung darauf bestand, mit Hilfe alchimistischer Errungenschaften sowohl die frühere Macht als auch die damit einhergehenden Privilegien zurück zugewinnen, hatte jener Radscha den Meister den Regierungsbehörden ausgeliefert und ihn des Betruges bezichtigt. Anschließend trieb sich Herr Gansfleisch einfach nur so herum und verweilte mal an diesem Ort und dann an jenem. Einmal fiel er so tief, Aphrodisiaka für einen in Él Paso praktizierenden syrischen Arzt zusammenzubrauen. Vor fünf Jah ren dann war er in die Dienste Fräulein von Hohenheims getreten – in die er sich auf der Stelle ebenso leidenschaftlich wie hoffnungslos ver liebt hatte. Seine diesbezüglichen Gefühle gingen so weit, daß er insge heim an der Herstellung eines Elixiers arbeitete, mit dem er sich, wenn schon nicht in einen strahlenden Prinzen, so doch wenigstens einen vor Kraft strotzenden und dynamischen Mann verwandeln konnte, der bes sere Aussichten darauf haben mochte, das erotische Interesse des Fräu leins zu erwecken. Nach einigen Mißerfolgen auf diesem Gebiet wandte er sich dann resigniert wieder seinen normalen alchimistischen For schungen zu, wobei er geradezu verbissen bemüht war, einen wichtigen Durchbruch zu erzielen, einen gewaltigen Erfolg, auf den seine Arbeit geberin zwar nicht mit Liebe reagieren mochte, aber doch wenigstens mit Dankbarkeit. Meister Gansfleisch hielt sich nun in seiner privaten Zimmerflucht im südlichen Turm der alten Kreuzfahrerfestung auf, und in der gewohnten Einsamkeit nahm er dort das Essen ein. Er schenkte den Speisen nur sporadische Beachtung, und dann und wann sprach er mit Zuckgalgen, der dicht neben des Meisters rechter Hand auf dem Tisch hockte und mit wesentlich größerem Appetit ein Steak verschlang.
Zuckgalgen verkörperte einen der wenigen Triumphe Gansfleischs. Er hatte ihn mit Hilfe einiger dunkler Rituale beschworen, die in einem mit telalterlichen Geheimbuch beschrieben waren, das er aus einer rumäni schen Bibliothek stahl. Mit gräßlichen Zauberformeln hatte er sich der Dienste seines Vertrauten versichert. Damals war ihm rasch klargewor den, daß er nicht etwa einen besonders hochrangigen und ungeheuer mächtigen Dämonen zu sich gerufen hatte – tatsächlich nahm Zuckgal gen in der Hierarchie der Finsternis nur die Stellung eines einfachen Handlangers ein –, doch er erwies sich trotzdem als recht nützlich. Nicht nur bot er Meister Gansfleisch während dessen schwermütigen und de pressiven Phasen Trost durch seine Gesellschaft; er fungierte darüber hinaus als Wächter im Hinblick auf die Schätze seines Herrn, hielt die Bediensteten – insbesondere die weiblichen – davon ab, den Meister zu belästigen, und stellte eine große Hilfe in bezug auf kleinere magische Unterfangen dar. Was seine Konversationsfähigkeiten angingen – die unterlagen aufgrund des Rattenkörpers natürlich gewissen Beschränkun gen. Andererseits jedoch war er dadurch ein guter Zuhörer. Das Quartier Meister Gansfleischs zeichnete sich durch klösterlich anmutende Kargheit aus. Nur zwei Bilder hingen an den dunklen Wän den. Das eine zeigte Paracelsus, das andere einen namenlosen arabischen Zauberer mit brennenden Augen. Auf der einen Seite gab es einen rie senhaften Kamin mit einem Destillierkolben darin. In einigen Regalen standen uralte Bücher, eingebunden in alaungegerbtes Schweins- und Kalbsleder. Hier und dort lagen Rollen aus dünnem Velinpapier. Ein oder zwei der Bände (einst hatten sie zur Sammlung Elizabeth Bathorys gehört) wiesen sogar Umschläge aus menschlicher Haut auf. Weitere Bücher stapelten sich auf dem Kaminsims, den Stühlen und einem ho hen Schrank. Am Fenster wartete ein großes, aus Messing bestehendes Teleskop, durch das Meister Gansfleisch manchmal die Sterne betrachte te. Zwei stählerne Kassetten enthielten die kostbarsten Dinge seiner Ha be: Manuskripte, die aus dem Goldenen Zeitalter der Alchimie und den Dunklen Epochen stammten, die ihm vorausgegangen waren; einen Bronzeschlüssel (von dem nicht einmal das Fräulein wußte, daß er ihn gestohlen hatte), der eine der schrecklichsten Türen auf der ganzen Insel öffnen konnte; und – der Schatz der Schätze! – einen echten Homunku lus namens Humphrey, der von einem gewissen Doktor John Dee wäh
rend der Herrschaft der ersten Königin Elizabeth geschaffen und wäh rend der inzwischen vergangenen Jahrhunderte von einem Alchimisten an den nächsten vererbt worden war. Es hieß, er verdanke seine Entste hung einer Formel, die der große Paracelsus höchstpersönlich entwickelt hatte*, und das Glas, in dem er gefangen war, bewahrte Meister Gans fleisch sicherheitshalber im größeren der beiden Stahlkästen auf. Der Homunkulus stellte ein Geheimnis dar, in das der Meister Fräulein von Hohenheim nicht eingeweiht hatte, denn er argwöhnte, daß Humphrey noch immer um viele Dinge Bescheid wußte, die ihm nach wie vor ein Rätsel waren. Vielleicht konnte er ihm eines Tages mitteilen, wie sich das universelle Lösungsmittel herstellen ließ. Möglicherweise hütete Hum phrey das Wissen um den Stein der Weisen oder ein Rezept für ewige Jugend – und Meister Gansfleisch gab sich der verzweifelten Hoffnung * HOMUNKULI »Menschen können auch ohne natürliche Eltern auf die Welt kommen. Das heißt, solche Geschöpfe wachsen heran, ohne sich in einem weiblichen Organismus zu entwickeln und von ihm geboren zu werden – durch die Kunst eines erfahrenen Spagirikers (Alchimisten).« – De Natura Rerum; Band I »Der generatio homunculi stellt bisher ein wohlgehütetes Geheimnis dar, und es wurde nur so wenig über ihn geschrieben, daß die alten Philosophen die Möglichkeit seiner Existenz bezweifelten. Ich weiß jedoch, daß sich solche Wesen durch von natürlichen Prozessen unterstützte spagirische Künste schaffen lassen. Wenn das Sperma, untergebracht in einem hermetisch verschlossenen Glas, etwa vierzig Tage lang in Pferdedung gesteckt hat und auf die angebrachte Art und Weise ›magnetisiert‹ wird, so beginnt es zu leben und sich zu bewegen. Nach der oben erwähnten Zeit nimmt es die Gestalt menschlicher Wesen an, doch es ist transparent und hat keinen Korpus. Anschließend wird es künstlich ernährt mit dem arcanum sanguinis hominis, bis es etwa vierzig Wochen alt geworden ist, und wenn es die ganze Zeit über bei ständig konstanter Temperatur in dem Pferdedung verbleibt, reift es zu einem menschlichen Kinde heran, das sich in seinem Aussehen nicht von anderen, von Frauen geborenen Kindern unterscheidet. Mit einer Ausnahme: Es wird wesentlich kleiner sein. Ein solches Geschöpf nennen wir Homunkulus, und man kann es wie ein ganz normales Kind aufwachsen lassen und erziehen, bis es schließlich, mit den Jahren, Geist und Vernunft entwickelt…« Zitiert aus Das Leben von Philippus Theophrastus Bombastes von Hohenheim, Franz Hartmann, Dr. med, London n. d. Seite 256.
hin, mit solchen Dingen (oder nur einem davon) nicht nur das Wohlwol len des Fräuleins zu gewinnen, sondern eventuell auch seine Zuneigung. Der Meister schob den Teller fort und starrte auf das noch immer ge füllte Glas Wein. »Was sollen wir nur machen, Zuckgalgen?« stöhnte er und strich sich mit beiden Händen über die blasse Stirn. »Was können wir unternehmen? Die Prinzessin ist entschlossen. Sie hält diesen komischen Schimmelhorn für ein echtes Genie, und… und ich fürchte, sie hat viel leicht recht! Der Mann ist einfach unschuldig! Er strebt nicht nach Macht. Er sehnt sich nicht nach Reichtümern. Er weiß nichts von Haß, Eifer sucht und Neid. Und deshalb ist er gefährlich. Außerdem…« – er schau derte – »… hat er eine Katze.« Die Augen Zuckgalgens leuchteten wie glühende Kohlen. Er zeigte seine gelben Zähne. »Ach, mach dir keine Sorgen, Boß«, quiekte er. »Die Katze, die ich nicht das Fürchten lehre, muß erst noch geboren werden. Gib mir nur ein Zeichen – dann verpasse ich der Mieze eine ordentliche Abreibung!« »Nein, nein! Davon würde die Prinzessin nichts halten – jedenfalls jetzt noch nicht.« Meister Gansfleisch begann unruhig und geistesabwesend auf und ab zu schreiten. »Denk nur daran – sie gebietet über gräßliche Mächte! Seit Jahrhunderten hütet ihre Familie magische Rituale und thaumaturgische Mysterien, mit denen nicht einmal ich mich zu befassen wage. Nein, ich muß das Unerträgliche ertragen. Es bleibt mir keine an dere Wahl, als ihm all die Unterstützung zu gewähren, die er von mir verlangt.« »Könntest du nicht nur vorgeben, ihm zu helfen?« schlug Zuckgalgen hilfsbereit vor. »Das klappt bestimmt nicht – sie würde sofort Bescheid wissen.« »Nun, Boß, es wäre auch möglich, mich gegen jemanden einzutau schen, der weitaus mächtiger ist. Ich habe es dir ja schon gesagt, als du mich riefst – du brauchst nur den Vertrag zu unterschreiben.« Es war dem Meister Gansfleisch sehr wohl klar, daß er, um die Dienste eines höherrangigen Dämonen in Anspruch nehmen zu können, seine Seele verkaufen mußte – wie sein in dieser Hinsicht unvorsichtigerer Kollege Faust. »Sprich nie wieder davon!« erwiderte er scharf. »Dieses Thema ist tabu.«
»Na gut«, quiekte Zuckgalgen. »Es geht ja um deinen Kopf. Mach nur weiter. Laß ihm all die Unterstützung zukommen, die du ihm geben kannst – wenn du ihm überhaupt zu helfen vermagst. Aber vergiß deine Bücher nicht. Steck die Nase in die Bände; vielleicht findest du irgendwo einen Hinweis, mit dem du ihn fertigmachen kannst. Und noch etwas: Wie wäre es, wenn du Humphrey aus dem Glas ließest und ihn um Rat fragtest? Es hat schließlich keinen Sinn, eine Homunkulus zu besitzen, ohne ihn zu benutzen.« Meister Gansfleisch stöhnte. »Humphrey ist sehr alt und schwach. Darüber hinaus müßte ich ihm erklären, worum es geht, und das wäre mir gar nicht recht, weil er mich so sehr haßt. Ich habe ihn nur mit der Drohung in der Gewalt, ihm die Nahrung zu entziehen. Wenn er zu dem Schluß käme, meinen Ruin bewirken zu können, so nähme er mögli cherweise den eigenen Tod in Kauf. Nein, wenn ich Humphrey dazu bringen soll, mir zu helfen, so muß ich sehr geschickt vorgehen und es mit einem Trick versuchen. Dabei kannst du mir helfen. Ich weiß, wel ches Vergnügen es dir bereitet, den kleinen Humphrey zu ärgern, wenn du ihn bewachst, aber damit mußt du jetzt aufhören. Statt dessen solltest du ihm dann und wann zuflüstern, daß ich es nur gut mit ihm meine und… und schreckliche Gewissensbisse habe, weil ich ihn bisher so schlecht behandelte.« »Nun, ein Versuch könnte nicht schaden«, erwiderte Zuckgalgen skep tisch. Noch eine ganze Weile, ein oder zwei Stunden lang, wanderte der Al chimist auf und ab und blieb nur selten stehen, um die Hände zu ringen oder voller Hoffnung in einem der Bücher nachzuschlagen. Während er auf diese Weise beschäftigt war, sprach er einen Monolog, der manchmal an ihn selbst gerichtet war, gelegentlich an seinen Vertrauten und einige Male, voller Sehnsucht, an das abwesende Fräulein. Schließlich verharrte er, traf eine Entscheidung und rief die Prinzessin in ihrer Züricher Villa an. »Was ist denn, Kaspar?« fragte Fräulein von Hohenheim. »Mavronides hat mir bereits mitgeteilt, daß Schimmelhorn und seine Freundinnen gesund und munter bei Ihnen eingetroffen sind, und ich habe derzeit zu tun.«
Kaspar Gansfleisch entschuldigte sich wortreich. Niemals, so behaup tete er, hätte er sie angerufen, wäre er auf den Gedanken gekommen, daß er sie störte. Ihr sei doch sicher klar, daß das Bestreben, ganz zu ihrer Zufriedenheit zu handeln, den ersten Platz auf seiner Prioritätenliste einnehme? Und sei er nicht immer ihr treuer Diener gewesen? Aber… aber er vertrete die Meinung, sie müsse informiert werden. Schimmel horn, so entrüstete er sich, sei mit einer Katze gekommen. »Na und?« Die Stimme seiner Arbeitgeberin klang eisig. »Es… es ist unmöglich, spagirische Experimente und Forschungen durchzuführen, wenn eine Katze in der Nähe weilt. Das… das wissen Sie doch bestimmt.« Die Antwort bestand aus tödlichem Schweigen. »A-außerdem«, fügte Meister Gansfleisch kleinlaut hinzu, »bin ich al lergisch gegen Katzen.« »Benehmen Sie sich nicht wie ein Narr! Sie werden gar nicht auf die Katze achten und keine Versuche unternehmen, ihr irgend etwas zuleide zu tun. Falls nötig, nehmen Sie sie auf den Schoß und streicheln sie. Auf diese Weise verhalten Sie sich, bis ich bei Ihnen eintreffe, was in einigen Tagen der Fall sein dürfte, klar?« Noch bevor Meister Gansfleisch dem Fräulein erwidern konnte, er werde sich wörtlich an diese Anweisungen halten, hatte seine Arbeitge berin bereits aufgelegt. Die Sonne war inzwischen längst untergegangen, und ein perlmutten glänzender Halbmond hing am Himmel. Meister Gansfleisch wankte zum Fenster und blickte aufs Meer. Einige Sekunden lang blieb er neben dem Teleskop stehen, und dann kam ihm die Idee, daß das Betrachten irgendeines Nebels, irgendeiner fernen Galaxis, ihm Trost spenden mochte. Er beugte sich vor und sah durch das Okular. Doch was sich seinen Blicken darbot, war nicht etwa die eherne Pracht der Gestirne. Das Teleskop war vielmehr auf den vom Mondschein erhellten Strand gerichtet, auf die warme und glitzernde Brandung. Und dort, im Rund der optischen Erfassung, sah er Papa Schimmel horn – wie der Gott Neptun, der gerade aus dem Ozean kam, nur be kleidet mit Bart und Muskeln und der anderen Zierde, mit der ihn die
Natur ausgestattet hatte. Glücklich schlang er die Arme um die beiden Nymphen in seiner Begleitung, und es konnte nicht der geringste Zweifel daran bestehen, daß er das Leben in vollen Zügen genoß. Meister Gansfleisch wandte sich mit einem heiseren Schluchzen von dem Instrument ab, und in jener Nacht, zum erstenmal seit vielen Jah ren, nahm er einen starken Schlaftrunk nach eigenem Rezept ein, bevor er sich zu Bett legte. Papa Schimmelhorn erwachte bei Tagesanbruch, herrlich erfrischt von den diversen sportlichen Übungen des vergangenen Abends. Wohlig rekelte er sich in dem breiten und vier Personen Platz bietenden Bett. Zärtlich strich er über das dunkelhaarige Haupt auf der einen und die zarte und rosafarbene Haut der hübschen Schmusemieze auf der ande ren Seite. Sein Quartier befand sich zwar im zweiten Turm der ehemali gen Feste, doch die Einrichtung war nicht annähernd so schlicht wie die der Kammern Meister Gansfleischs. Das Dekor stammte von einem Vorfahren Fräulein von Hohenheims, einem Ahnen aus dem achtzehn ten Jahrhundert, der ganz offensichtlich zu leben verstanden und die Gemächer mit einzigartigen Erotika gefüllt hatte. An den holzgetäfelten Wänden hingen üppig bestickte Tapisserien und vortreffliche italienische Spiegel. Überall standen Boule-Tischchen und Kommoden, mit herrli chen Rundungen und Schnitzereien. Kleine Capo-di-Monte- und Mei ssen-Statuetten lächelten aus zierlichen Vitrinen, und wenn man genau Ausschau hielt, konnte man hier und dort Geheimfächer erkennen. Das luxuriöse und moderne Badezimmer enthielt nicht nur die üblichen Ein richtungen, sondern auch ein antikes Sitzbad aus Porzellan, das ge schmückt war mit Nymphen und Satyrn und das Mavronides dem Kater Gustav-Adolf als Ruheplatz zur Verfügung gestellt hatte. An einem Eh renplatz schließlich stand der kleine Farbfernseher, den Papa Schimmel horn in seiner riesigen Reisetasche mitgenommen hatte, um sicherzustel len, die Leistungsfähigkeit der Armband-Kuckucksuhr auf angemessene Art und Weise demonstrieren zu können. Er strahlte im hellen Sonnenschein, als er seinen beiden Freundinnen beim Duschen half. Anerkennend sah er zu, wie sie sich ankleideten. Gemeinsam nahmen sie ein herzhaftes Frühstück ein, das von zwei ki
chernden Hausmädchen serviert wurde. Dann traf Mavronides ein, um Papa Schimmelhorn in das Laboratorium zu führen, in dem er mit Mei ster Gansfleisch zusammenarbeiten sollte. Er küßte seine beiden hübschen Schmusemiezen und bat sie darum, sich um Gustav-Adolf zu kümmern. Dann folgte er dem Griechen. Wäh rend sie durch den Flur wanderten, an dessen Wänden Dutzende von Ahnenbildern hingen, und eine breite Treppe hinunterschritten, sang die Armband-Kuckucksuhr die Zeit, erst die Stunde und anschließend die Viertelstunden und Minuten. Das Laboratorium war in einer Räumlichkeit untergebracht, die eben falls zur alten Feste gehörte, jedoch unterhalb des Turmniveaus lag. Ma vronides schwieg, bis sie eine große, eicherne und mit eisernen Beschlä gen verstärkte Tür erreichten. Dort blieb er stehen. »Bitte machen Sie sich nichts daraus, wenn Meister Gansfleisch Sie beleidigen sollte«, sagte der Grieche mit dumpfer und gepreßt klingender Stimme. »Es sind nur Worte, weiter nichts. Und noch etwas: In gewissem Sinne ist Fräulein von Hohenheim eine Prinzessin. Sie kennt viele alte Geheimnisse. Mei ster Gansfleisch wird ihren Anweisungen in jedem Fall gehorchen – et was anderes würde er gar nicht wagen. Und das Fräulein hat ihm eindeu tige und unmißverständliche Befehle gegeben. Später erkläre ich Ihnen mehr.« »Machen Sie sich kaine Sorgen, Härr Zorba!« Papa Schimmelhorn klopfte ihm fröhlich auf den Rücken. »Wänn är sich nicht richtig be nimmt, hätze ich viellaicht mainen guten alten Guschtav-Adolf auf ihn. Ho-ho-ho!« Mavronides klopfte dreimal laut an die Tür. Sie warteten. Nach einer Weile hörten sie, wie auf der anderen Seite Riegel zurückgeschoben wur den, und ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Langsam schwang die mas sive Tür auf. Meister Gansfleisch stand vor ihnen und sah noch schlimmer aus als einen Tag zuvor. Anstatt in seinen besten Anzug war er nun in einen fleckigen schwarzen Kittel gekleidet, der seltsame Muster aufwies und an dem noch sonderbarere Objekte befestigt waren. Aus blutunterlaufenen Augen starrte er die Besucher an und gab keine Antwort, als Papa Schimmelhorn ausrief: »Guten Morgen, Maischter Gansi. Haben Sie
nicht gut geschlafen? Nun, ains värschpräche ich Ihnen: Nachdäm wir aine Zaitlang zusammengearbaitet haben, värfügen Sie beschtimmt über mähr Saft und Kraft als jätzt!« Meister Gansfleisch wich zurück, als Papa Schimmelhorn in den Raum trat, und kaum hatte sich Mavronides von ihnen verabschiedet, beeilte er sich, die Tür zu schließen und drei dicke Riegel vorzuschieben. Einige Sekunden lang standen die beiden Männer voreinander und mu sterten sich gegenseitig, wobei Papa Schimmelhorn traurig den Kopf schüttelte. Dann gab sich der Alchimist einen sichtlichen Ruck und be gann mit der Einweisung. »Es ist meine Pflicht, Herr Schimmelhorn«, erklärte er, »Ihnen alles… alles in diesem Laboratorium zu zeigen. Bestimmt wissen Sie, daß diese Zimmer eine lange und sehr interessante Geschichte haben…« »Viellaicht sollte ich mich bässer sätzen«, sagte Papa Schimmelhorn und schob eine bauchige und mit trüber grüner Flüssigkeit gefüllte Fla sche beiseite, um auf einem alten Tisch Platz zu schaffen. »Ganz wie Sie wünschen«, sagte Meister Gansfleisch und runzelte die Stirn. »Ich stehe lieber. Nun, dieses Laboratorium wurde vor mehr als dreihundert Jahren von einem direkten Vorfahren Fräulein von Hohen heims eingerichtet, einem Ahnen, der selbst ein fähiger Alchimist und Thaumaturge war. Ich meine damit einen Vorfahren mütterlicherseits, und in jener Linie stammt sie von einer Paleogulus ab, aus der Familie der Kaiser von Byzanz. Ihr alchimistisches Erbe geht also auf beide El ternteile und deren Ahnen zurück. Ihr Vater, Professor Ulrich Bomba stus von Hohenheim, erhielt als Vermächtnis alle Bücher und Manu skripte – sogar die Laborausrüstung – von seinem berühmten Verwand ten, von dem vielleicht selbst Sie schon einmal gehört haben.« »Ja«, bestätigte Papa Schimmelhorn. »Das schtimmt. Ich habe in sainen Büchern geläsen, als ich für Päng-Plantagenet und die Schinesen arbaite te. Saine Aufzaichnungen ergäben kainen Sinn.« »Sie ergeben keinen Sinn?« entfuhr es Meister Gansfleisch entrüstet. »Begreifen Sie eigentlich, wem diese Ihre Kritik gilt? Paracelsus, dem Ge nie von tausend unvergleichlichen Entdeckungen in der Alchimie und der Medizin, dem ersten Mann, der Quecksilber für die Behandlung Sy philiskranker verschrieb!«
Papa Schimmelhorn kicherte. »Viellaicht hatte ich nur Glück. Dänken Sie nur – in mainem ganzen langen Läben habe ich mich nicht angesch täckt!« Er zuckte mit den Schultern. »Sie müssen Geduld mit mir haben, Maischter Gansi. Als ich sagte, die Bücher däs Para-wie-är-auch-haißen mag ergäben kainen Sinn, so mainte ich damit, sie saien für mich un verschtändlich. Wissen Sie, äs ischt so, wie mir där Harr Doktor Jung sagte: Main Dschänie beschränkt sich aufs Unterbewußtsain. Ich habe kainen besonders hohen Aiku.« Es gelang dem Alchimisten, sich zu beherrschen. »Na schön«, sagte er. »Ich werde Ihnen all die Dinge zeigen, mit denen wir arbeiten. Und ich verspreche Ihnen, mir Mühe zu geben, die Objekte mit möglichst einfa chen Worten zu beschreiben. Kommen wir zunächst auf die Schmelz öfen zu sprechen…« Papa Schimmelhorn bemühte sich sehr, aufmerksam zuzuhören. Schließlich, so erinnerte er sich, ischt das, alles für Mama und dän Glockenturm. Und wann ich hier nicht arbaite, dann kann ich das Läben genießen. Soll där Härr Gansi also ruhig räden. Während main Unterbewußtsain damit beschäftigt ischt herauszufinden, wie man Blai in Gold verwandeln kann, dänke ich an maine hüb schen Schmusemiezen. Unterdessen wanderte Meister Gansfleisch vor ihm auf und ab und bewegte die haarigen Arme wie Scheren, als er auf Schmelzöfen, Zangen, Blasebälge und Schürhaken deutete. Er zeigte ihm Barren aus unbekann tem Metall, große Glaskolben und Flaschen, die geheimnisvolle und si cher sehr wirksame Lösungen enthielten, Krüge mit einzigartigen duf tenden Salben. Er erläuterte seinem Zuhörer die kabbalistischen Symbole auf Mörsern und Stößeln, beschrieb Titel und Inhalt von Büchern und dicken Einbänden, die von Paracelsus und seinen Nachfahren stammten. Schließlich dann, zögernd und mit einem gewissen Maß an Mißbilligung, machte er Papa Schimmelhorn mit einigen moderneren Ausrüstungstei len vertraut, die vom Fräulein der übernommenen Laboratoriumsausstat tung hinzugefügt worden waren. Er begann mit den Neonlampen an der Decke und beendete seinen diesbezüglichen Vortrag mit der Demonstra tion eines Gerätes, das Papa Schimmelhorn, der sich bei dieser Gelegen heit an seine Zeit als Hausmeister im Genfer Institut für Höhere Physik erinnerte, als ein Elektronenmikroskop zu erkennen glaubte.
Die Erläuterungen Meister Gansfleischs nahmen den ganzen Morgen in Anspruch; unterbrochen wurden sie nur dann, wenn Papa Schimmel horn der Versuchung nicht widerstehen konnte, seine ArmbandKuckucksuhr nach der Zeit zu fragen. Wenn das geschah, schob Zuck galgen seinen häßlichen Kopf aus der Jackentasche des Alchimisten, bleckte die gelben Zähne und starrte den Eindringling im Reiche des Herrn zornig an. Papa Schimmelhorn reagierte darauf, indem er sich, wenn Meister Gansfleisch ihm den Rücken zuwandte, einen Spaß daraus machte, Grimassen zu schneiden und einen Gesichtsausdruck zur Schau zu tragen, von dem er hoffte, daß er dem Gustav-Adolfs ähnelte. Gegen Mittag klopfte Mavronides an die Tür und meinte, das Essen stünde bereit, und daraufhin kehrte Papa Schimmelhorn dankbar in sein Quartier zurück, um sich verdientermaßen zwei Stunden lang auszuru hen und neue Kräfte zu schöpfen – hundertzwanzig Minuten, die er auf die beste denkbare Weise nutzte. Anschließend verbrachte er den Rest des Nachmittags im Laboratorium, wo er sich Mühe gab, seinem Mentor so wenig Beachtung wie möglich zu schenken. Er amüsierte sich statt dessen mit seiner Armband-Kuckucksuhr, und er fand immer mehr Spaß daran, Zuckgalgen zu ärgern. Dann und wann stellte er Fragen, auf die sein Unterbewußtsein Antworten verlangte. Einige davon ignorierte Mei ster Gansfleisch, und auf andere reagierte er nur mit verächtlichen Wor ten, die nicht mehr als eine Silbe hatten. Manche allerdings schienen ihn so sehr zu überraschen, daß er einige Sekunden lang schockiert war, so als brächen die Erkundigungen Papa Schimmelhorns alchimistische Ta bus oder gefährdeten zumindest die thaumaturgische Sicherheit. Am Ende dieses Arbeitstages war Meister Gansfleisch völlig erschöpft. Als Papa Schimmelhorn ihm dankte und ihm versicherte, er habe ver gnügliche Stunden im Laboratorium verbracht und freue sich bereits auf die Vorträge des nächsten Tages, erwiderte der Alchimist, er sei sich gar nicht so sicher, ob es eine Fortsetzung geben könne. Das Bemühen, ei nem Laien die Grundlagen seiner Künste verständlich zu machen, sei ausgesprochen anstrengend und drohe, ihn zu überfordern. Er habe Kopfschmerzen, fügte er hinzu, und außerdem müsse er sich um einige dringende Experimente kümmern… Papa Schimmelhorn sagte, er solle sich nur keine Sorgen machen. Er zwinkerte und meinte, es gäbe da das eine oder andere Experiment, an
dem ihm ebenfalls sehr gelegen und für dessen Durchführung die Hilfe seiner beiden hübschen Schmusemiezen unerläßlich sei. »Viellaicht«, so schlug er vor, »genügt äs, wänn ich jäden zwaiten Tag zu Ihnen komme.« Meister Gansfleisch geleitete ihn rasch an die Tür, an der Mavronides wartete, und hinter Papa Schimmelhorn verriegelte er sie sofort wieder. Dann wankte er zurück und nahm nach Atem ringend an der Werkbank Platz. Einige Minuten lang blieb er einfach nur still sitzen und schnappte nach Luft. Nach einer Weile holte er eine bestimmte Flasche aus einem verschlossenen Schrankfach hervor, schenkte sich einen besonders gro ßen Becher voll und trank. Er rollte mit den Augen. Er schauderte. Er holt tief Luft, richtete sich auf und starrte auf Zuckgalgen, der auf seiner Schulter hockte. »Bin ich der größte Alchimist Europas oder nicht?« fragte er rheto risch. »Na also! Und sag mir bitte eins: Bin ich ein Wissenschaftler oder ein verdammter Hanswurst?« »Das ist eine gute Frage, Boß«, quiekte Zuckgalgen und knirschte mit den Zähnen. »Aber warte, bis du gehört hast, wie sich der alte Mistkerl mir gegenüber verhalten hat.« »Was soll er dir schon angetan haben?« »Immer dann, wenn du ihm den Rücken zukehrtest, hat er mich ange sehen und Katzengrimassen geschnitten. Boß, ist es denn nicht schon schlimm genug, daß wir den Gestank des blöden Katers inzwischen im ganzen verdammten Schloß riechen können? Müssen wir denn tatenlos zusehen, wie er mich so behandelt, als sei ich irgendeine dahergelaufene Ratte? Na schön, du warst es, der die entscheidende Frage stellte: Bist du ein Wissenschaftler oder ein Hanswurst?« »Kehr sofort in die Jackentasche zurück!« befahl Meister Gansfleisch scharf. »Aber, Boß…« »Keine Widerrede! Ich gebe mir alle Mühe, mit ihm fertigzuwerden.« Der Alchimist stand auf und genehmigte sich einen zweiten Becher mit dem Muntermacher. Durch einen Geheimgang verließ er das Laborato rium und begab sich in sein Quartier. Es dauerte nicht allzulange, bis er – nicht zuletzt mit Hilfe der im Becher schwappenden Flüssigkeit – den
Mut aufbrachte, sich ein zweitesmal mit Zürich in Verbindung zu setzen und seiner Arbeitgeberin von den Ereignissen dieses Tages zu berichten. Fräulein von Hohenheim unterbrach ihn zwar nicht, doch Meister Gansfleisch hatte das Gefühl, daß es während seines Vortrags immer kälter wurde. Er ließ sich aber nicht davon abhalten, die Ansprache mit dem Hinweis zu beenden, Papa Schimmelhorn stelle seiner Meinung nach (die, wie sie sicher wisse, die eines Experten war) eine Gefahr dar, nicht nur für ihn selbst, sondern für die gesamte Wissenschaft der Al chimie, darüber hinaus auch für das Projekt der verehrten Dame von Hohenheim, ihr Schloß, ihre Bediensteten, die Reputation ihrer Familie und alles, was ihr lieb und teuer sei. Des weiteren zeichne sich besagter Herr durch eine übermäßige Faulheit aus, die insbesondere in seinem Wunsch Ausdruck finde, nur noch jeden zweiten Tag zu arbeiten. Mei ster Gansfleisch bat seine Arbeitgeberin – er flehte sie geradezu an –, Herrn Schimmelhorn unverzüglich nach Amerika zurückzuschicken. »Ist das alles?« fragte das Fräulein. Diese Frage bestätigte der Alchimist. »Dann«, fügte die Dame aus Zürich mit einer Stimme hinzu, die den armen Meister an das Zischen einer angriffslustigen Kobra erinnerte, »werden Sie sich weiterhin ganz genau an meine Anordnungen halten, lieber Kaspar. Wenn Schimmelhorn nicht jeden Tag arbeiten möchte, so sind Sie ihm zu Diensten, wenn er es wünscht. Er sagt Ihnen, was er wissen möchte, und Sie geben ihm Auskunft. Darüber hinaus werden Sie sehr höflich zu ihm sein. Hören Sie mir gut zu, lieber Kaspar: Wenn ich bei meinem nächsten Abstecher nach Klein Paläon feststelle, daß Sie sich nicht buchstabengetreu an meine Anweisungen gehalten haben, so sorge ich dafür, daß man Sie zusammen mit Ihrer scheußlichen Ratte ins Labyrinth bringt und dort Ihrem Schicksal überläßt. Sie dürften beide wissen, welche Konse quenzen das hätte. Wagen Sie es bloß nicht, mich noch einmal zu stö ren!« Ein deutlich vernehmbares Klicken besagte, daß Fräulein von Hohen heim aufgelegt hatte, doch Meister Gansfleisch blieb noch eine Weile wie erstarrt sitzen und blickte auf den Hörer in seiner Hand. »Zuckgalgen«, hauchte er, »unsere Frage wurde soeben beantwortet. Soweit es sie betrifft, bin ich ein Hanswurst.«
»Und ich ebenfalls«, quiekte Zuckgalgen betroffen. »Aber… he, Boß, was hältst du davon, wenn ich mich mit einigen der höherrangigen Ty pen dort unten in Verbindung setzte? In der Hölle treibt sich eine ganze Menge von den Burschen herum, die es sicher mit dem aufnehmen könnte, was die Züricher Lutsche in ihrem verfluchten Labyrinth hat.« Meister Gansfleisch gab der Ratte keine Antwort darauf. Er legte den Hörer auf die Gabel, kehrte durch den Geheimgang ins Laboratorium zurück und verbrachte die nächsten Stunden damit, die Flasche aus dem abschließbaren Schrankfach zu lehren. Die Verzweiflung verflüchtigte sich dadurch nicht, ließ sich jedoch in einen entfernten Winkel seines Bewußtseins zurückdrängen. Und Zuckgalgen, der seinen Herren beo bachtete und ihm aufmerksam zuhörte, stellte zufrieden fest, daß Furcht, Zorn und Abscheu endlich zum Nährboden finsterer Pläne und dunkler Verschwörungen wurden. Während jenes Abends sah der Alchimist nicht ein einziges Mal durch sein aus Messing bestehendes Teleskop – und das war auch ganz gut so, weil er sonst mit großer Wahrscheinlichkeit Zeuge eines interessanten Experiments geworden wäre, das Papa Schimmelhorn und Niki hinter einem vom Mond beschienenen Hügel am Strand durchführten. Die liebe Emmy assistierte ihnen dabei, indem sie ihnen Abkühlung ver schaffte, mit einem mit elfenbeinfarbenen Mustern bemalten Fächer, den sie sich extra zu diesem Zweck aus der Sammlung des lebenslustigen Vorfahren Fräulein von Hohenheims ausgeliehen hatte.
4 Einkaufsliste Während sich diese Ereignisse zutrugen, erfreute sich Mama Schimmel horn, die nun nicht mehr die Verantwortung zu tragen hatte, über die Moral ihres lotterlichen Gatten zu wachen, an den Feierlichkeiten der Hochzeit ihrer Großnichte. Sie war überaus zufrieden, als sie feststellte, daß von den Verwandten ihres Mannes nur sein respektabler Vetter Alois – bekannt für sein künstlerisches Geschick im Umgang mit dem Fagott – eingeladen worden war. Noch glücklicher stimmte es sie, daß man sie offenbar als die Kapazität überhaupt erachtete, wenn es um Ehen und insbesondere die Behandlung von Männern ging – wofür vermutlich ihre langen und oftmals bitteren Erfahrungen auf diesem Gebiet verantwortlich waren. Mit großem Entzücken schüttelte sie nur den Kopf und hielt sich den Zeigefinger an die Lippen, wenn jemand sie danach fragte, was Papa Schimmelhorn derzeit denn so anstelle. Sie hielt ihr Wort, nichts zu verraten, ließ es sich jedoch nicht nehmen, diskret darauf hinzuweisen, es gehe bei dem Geheimnis um Dinge von großer Bedeutung, und es gefiel ihr, die Neugier der anderen unbefriedigt zu lassen. Mehr als eine Woche verging, bevor sie nur widerwillig, den wer ten Herrn Doktor Rumpler anrief und ihn bat, die nötigen Vorbereitun gen für ihren Rückflug nach Hause zu treffen. Diesem Wunsche entsprach er umgehend. Fräulein von Hohenheim hielt ihn zwar über die Fortschritte auf dem laufenden, die Papa Schim melhorn bei seinen Arbeiten machte, unterwarf alle Berichte über die Besorgnisse Meister Gansfleischs jedoch einer sorgfältigen Zensur – nicht etwa deswegen, weil sie beabsichtigte, ihrem Partner nicht die gan ze Wahrheit zu sagen und ihm etwas vorzumachen, sondern weil sie die Meinung vertrat, dies ginge ihn als Mann nichts an. Und in der Tat: Trotz der beiden nachgerade hysterischen Mitteilungen des Alchimisten hatte Philippa nicht die geringsten Bedenken. Selbst ohne Gebrauch zu machen von den Mächten und Künsten, die zu ihrem Erbe gehörten, war es ihr bisher noch immer gelungen, mit jedem Mann auf recht wir kungsvolle Art und Weise fertigzuwerden, und daher fürchtete sie nicht,
daß die Ereignisse in eine andere Richtung führen könnten als die von ihr verordnete. Wie gewohnt führte sie in Zürich die lukrativen Geschäf te der Schweizerischen Frauenbank weiter, lächelte bei der Vorstellung, wie es ihr gelungen war, das bis dahin maskuline Bollwerk des schweize rischen Bankwesens zu durchbrechen, und widmete ihre Zeit dann und wann diskreten Anfragen in Hinsicht auf günstige Angebote an Blei. Für Papa Schimmelhorn verstrich die Zeit auf sehr angenehme Weise. Während er mit Meister Gansfleisch zusammen war und ihn reden ließ, freute er sich auf den nächsten freien Tag, an dem er sich nach Herzens lust auf die Art vergnügen konnte, die ihm besonders gefiel, ohne daß ihn dabei das Stirnrunzeln des Mentors oder das empörte Quieken der Ratte gestört hätte. Das bedeutete jedoch nicht, daß er nicht mehr an seine Verpflichtung Dr. Rumpler und Mama gegenüber dachte, und auch den Glockenturm Pastor Hundhammers hatte er nicht vergessen. Ganz im Gegenteil: Am Morgen seiner freien Tage lag er wohlig im Bett, spiel te geistesabwesend mit seinen beiden Schmusemiezen und büffelte in Gedanken das durch, was er in den aus seiner großen Reisetasche stam menden Büchern gelesen hatte. Einige von ihnen hatten zuvor einen Platz in der Sammlung von Pêng-Plantagenet eingenommen. Andere waren von seinem Unterbewußtsein kurz vor der Abreise hastig aus der Öffentlichen Bibliothek von New Haven ausgewählt worden: zwei prächtige Bände der 11. Auflage der Britannica, die Bedienungsanleitung der eigentlich für Willy Fledermaus vorgesehenen ELEKTRONI SCHEN EXPERIMENTIERAUSRÜSTUNG FÜR KINDER VON 9 – 12, verschiedene Werke von Niels Bohr und Erwin Schrödinger, die er rein verstandesgemäß überhaupt nicht begriffen hatte, eine Biographie von Nikola Tesla, in der es um jambische Pentameter ging, eine Ausgabe von Asimovs Shakespeare-Führer und noch einige weitere Bücher, die Zah lentheorien erläuterten, die Chemie des alten China beschrieben und Ufos für die zunehmende Luftverschmutzung verantwortlich machten. Als er sich damit beschäftigte, entstand ein Gefühl der Zufriedenheit und des Wohlbehagens in ihm, und daraus folgerte er, daß sein Unterbewußt sein genau die Nahrung bekam, die es sich wünschte. Nach einem jeden solchen Morgen des intensiven Studiums brachte Mavronides auf das Geheiß Papa Schimmelhorns hin einen großzügig ausgestatteten Picknickkorb und begleitete sie bei Ausflügen über Klein
Paläon. Er zeigte Papa und seinen beiden Freundinnen die einheimische Flora, die frühlingstrunkene Fauna und die alten Ruinen. Nur ein Gebiet schien dabei eine Art Tabu darzustellen: ein großer Erdhügel am einen Ende der Insel, der von einigen Gehölzen gesäumt wurde und auf des sen Kuppe sich weitere Ruinen zeigten, die Mavronides mied wie die Pest – und an denen Papa Schimmelhorn nicht im geringsten interessiert war. Die Bewohner der Insel begegneten Papa Schimmelhorn zunächst mit ausgesprochenem Argwohn, drückten ihn dann jedoch ans gemein schaftliche Herz, nachdem er mit allen Kindern Freundschaft geschlos sen hatte, ihnen seine Armband-Kuckucksuhr zeigte, wundervolle, von Niki und Mavronides übersetzte Geschichten über seine Abenteuer in Zeit und Raum erzählte und sich auf recht fröhliche Weise zwei junge Männer über die Schulter warf, die glaubten, es in einem freundschaftli chen Ringkampf mit ihm aufnehmen zu können. Selbst die anfängliche Mißbilligung im Hinblick auf das abendliche Nacktbaden mit seinen Schmusemiezen löste sich in Luft auf, nachdem er einen unvorsichtigen Enkel Mavronides' vor dem Ertrinken bewahrte und – um sicherzustel len, daß der Knabe seine Lektion gelernt hatte – ihm vor aller Augen mehrmals auf den nassen Po klopfte. Darüber hinaus stellten sie bald fest, daß Meister Gansfleisch sowohl von ihm selbst als auch seinem besonderen Verhalten nichts hielt. Und allein das genügte schon, um ihn bei den jungen Damen zu einer persona grata zu machen. Was den Alchimisten anging: Der fand jeden Tag mit seinem neuen Arbeiter noch frustrierender und erschöpfender als den vorherigen. Papa Schimmelhorn hörte seinen Ausführungen und Erklärungen zu – und stellte dann Fragen, die völlig bedeutungslos waren, oder saß einfach da und spielte mit seiner Armband-Kuckucksuhr. Schließlich dann, als sei das noch nicht genug, bat er den lieben Meister Gansi darum, ihm einige der kostbaren Bücher auszuleihen, von denen manche in griechischer und andere in arabischer Sprache abgefaßt waren. Einige wenige enthiel ten auch Erläuterungen in altertümlichen Formen modernerer Sprachen. Zuerst vertröstete ihn Meister Gansfleisch und wechselte hastig das Thema, wobei er sich alle Mühe gab, nicht zu deutlich seinen Verdruß zu zeigen. Doch Papa Schimmelhorn erwies sich in dieser Beziehung als
recht beharrlich, und schließlich schnappte Kaspar: »Es hätte überhaupt keinen Sinn! Sie können weder Griechisch noch Arabisch!« Fröhlich gestand Papa Schimmelhorn seine diesbezügliche Ignoranz ein. »Nain, ich kann tatsächlich kain Griechisch läsen«, sagte er und schloß verträumt die Augen. »Aber Miß Niki – und sie wird mir im Bätt vorläsen. Sie ischt ja so lieb! Und was die arabischen Bücher angäht – ich lasse Ismail kommen.« »I-i-ismail?« stotterte der Alchimist. »Meinen Sie den… den Eunuchen? Der kann doch gar nicht lesen!« »Doch, doch! Är hat äs sich sälbscht baigebracht. Schtällen Sie sich das ainmal vor – wie soll är sich ohne was in der Hose dann sonscht die Zait värtraiben? Ach, beschtimmt ischt äs bai ihm genauso wie mit Duglas Faläntino und däm Kalifen von Bagdad.« Er fuhr damit fort zu schildern, wie er sich die Freuden eines Harem lebens vorstellte, und er fügte hinzu, wie traurig gerade in diesem Zu sammenhang das Schicksal sei, das Ismail ereilt hatte. Dann berichtete er ausführlich und in allen Einzelheiten davon, wie Mama und er von ei nem Raumschiff entführt worden waren, das ein Planet ausgeschickt hatte, der von Frauen beherrscht wurde, und besondere Betonung legte er auf die Erläuterungen, wie es ihm gelungen war, der sehr herunterge kommenen und armseligen maskulinen Bevölkerung ihre abhanden ge kommene Manneskraft zurückzugeben. Leider, so meinte er, sehe er sich aufgrund der speziellen Funktionsweise seines Genies außerstande, dem unglücklichen Ismail einen ähnlichen Dienst zu erweisen. Bei diesem Punkt angelangt, fiel Papa Schimmelhorn auf, daß seine Bemerkungen dem armen Alchimisten offenbar ziemlich zusetzten, denn Meister Gansfleisch knirschte mit den Zähnen und ballte immer wieder die kno chigen Hände zu Fäusten, und deshalb hielt er es für angebracht, rasch das Thema zu wechseln. Er finde, so versicherte er, immer größeres In teresse an der Alchimie, über die Meister Gansi so gut Bescheid wisse, und er könne es kaum noch abwarten, sich mit den persönlichen Unter lagen des Herrn Paracelsus zu befassen. »Sollen wir heute damit beginnen?« fragte er enthusiastisch. »Wänn die alte Schprache so schwierig ischt, dann Sätzen wir uns am bäschten ge
mütlich hin, und Sie läsen mir dann vor und erklären mir alles, so daß ich äs värschtähe.« »Die Unterlagen des großen Paracelsus?« kreischte Meister Gansfleisch hy sterisch. »Niemals! Ich… ich meine… äh… dazu ist es noch zu früh. Sie sind noch nicht soweit, Herr Schimmelhorn! Es… es wäre zu gefährlich. Statt dessen gebe… gebe ich Ihnen einige der anderen Bücher, um die Sie mich vorhin gebeten haben. Ja, ja…« Er begann damit, diverse Einbände aus den Regalen zu ziehen und sie den wartenden Armen Papa Schimmelhorns anzuvertrauen. Unterdessen spähte Zuckgalgen aus der Jackentasche des Meisters und bedachte den Novizen mit einem unheilvollen Blick aus glühenden Augen. »Sie müssen sie mit größter Vorsicht behandeln«, wies Meister Gans fleisch seinen Schüler an, und seine Stimme war dumpf und düster. »Ich gebe Ihnen sogar eins der auf arabisch geschriebenen Bücher, und ich höchstpersönlich sage Ismail Bescheid, wie er damit umgehen soll. Es han delt sich um ein sehr seltenes Buch der Macht – und die darin enthalte nen Informationen erschrecken sogar mich! Bevor Sie sich damit befas sen, während Sie es lesen und auch danach müssen bestimmte Zeremo nien und Rituale durchgeführt werden. Ich erkläre Ismail alles.« »Machen Sie sich kaine Sorgen«, versicherte ihm Papa Schimmelhorn. »Besondere Ainwaisungen sind nicht nötig. Main Unterbewußtsain sagt mir immer, worauf äs ankommt. Ich gäbe acht, ebenso wie bai dän Bü chern aus der Bibliothek von Nu Häffen. Ja, ich verbiete mainem Gusch tav-Adolf sogar, sich auf sie zu lägen. Und wie däm auch sai: Ich beginne bald mit däm Bau der Maschine, viellaicht nach dem Schtudium där Pa piere Paracelsus'.« »Der Maschine?« heulte Meister Gansfleisch. »Natürlich. Ich maine die Maschine, mit där ich Blai in Gold verwand le.« »Aber… aber Sie… Sie Ignoramus! Mit einer Maschine läßt sich kein Gold herstellen. Sehen Sie nur, sehen Sie sich um!« Aufgebracht drehte sich der werte Meister im Kreis und deutete mit wedelnden Armen auf die Labo ratoriumsausstattung: »Damit verwandeln wir Blei in Gold. Wir brauchen den Stein der Weisen, das Arcanum, die… die…«
»Nein«, widersprach ihm Papa Schimmelhorn freundlich. »Main Un terbewußtsain plant die Maschine beraits. Sie värschtähen das nicht – äs ischt zu hoch für Sie. Aber Sie wärden bald Augen machen!« Meister Gansfleisch stöhnte, packte noch einige weitere Bücher auf den Stapel in den Armen Papa Schimmelhorns und ließ dabei den einen und anderen Einband fallen. In einer unbekannten, aber deutlich schmä hend klingenden Sprache brummte er vor sich hin und geleitete seinen unwillkommenen Schüler in aller Hast an die Tür. Es sei schon spät, erklärte er, zu spät, um die Arbeit an diesem Tag fortzusetzen. »Auf Wiedersehen«, sagte Papa Schimmelhorn und schnitt eine Kat zengrimasse in Richtung Zuckgalgen, als sich die Tür schloß. Munter und glücklich marschierte er mit seiner Last davon. Auf der anderen Seite der massiven Tür wanderte der Alchimist einige Minuten lang nervös auf und ab. Er brauchte den Trost der wiederaufge füllten Flasche aus dem Schließfach. Er setzte sich, trank und eilte erneut um die Werkbänke und Destilliertische. Er stöhnte und fluchte. »Eine Maschine!« wiederholte er immer wieder. »Eine Maschine! Der Kerl ist völlig übergeschnappt! Ein Irrer, jawohl! Gold kann man nicht mit einer Maschine herstellen! Warum begreift die Prinzessin denn nicht die Gefahr, in der wir alle schweben? Zuckgalgen, ach, Zuckgalgen, wie, um Himmels willen, sollen wir ihn aufhalten?« Zuckgalgen hatte sein Jackentaschenrefugium sofort verlassen, als Papa Schimmelhorn in sein Quartier zurückgekehrt war, und er kletterte auf die Schulter des Meisters und flüsterte ihm ins Ohr. »Du hast mich aufgefordert, dir den einzigen wirklich guten Rat nicht zu geben«, quiekte er leise. »Also beschränke ich mich darauf, dich zu erin nern: Du bist Zauberer. Warum zeigst du es dem verdammten Katzenfreund nicht auf die Art und Weise der Araber und machst ihn zu einem Brüderchen Ismails, na? He, Mann, das würde seinem Unterbewußtsein einen echt schweren Schlag versetzen!« Zuckgalgen kicherte schrill. »Oh, da bin ich ganz sicher.« Meister Gansfleisch blieb abrupt stehen. Ein Schimmer von Hoffnung glänzte in seinen so schwermutstrüben Augen. »Ich… ich glaube, das ließe sich wirklich bewerkstelligen«, sagte er. »Nun, vielleicht nicht auf chirurgischem Wege, aber das Ergebnis wäre gleich.«
Dann verblaßte das Glänzen in seinen Pupillen ebenso jäh, wie es ent standen war. »Nein, nein«, seufzte er niedergeschlagen. »Es geht nicht. Die… die Prinzessin würde es niemals zulassen…« Zuckgalgen machte eine so abfällige und intime Bemerkung über die Prinzessin, daß Meister Gansfleisch sich genötigt sah, der Ratte die so fortige Rückkehr in seine Jackentasche zu befehlen. Trotz seiner tiefen Depression und ohne es bewußt zu wollen, machte sich der Alchimist daran, die in den Regalen stehenden Krüge und Flaschen, Kannen und Glaskolben zu prüfen, wobei er nach einem ganz besonders tückischen Destillat Ausschau hielt, irgendeiner subtilen Essenz, die auf seinen Kon trahenten die gewünschte Wirkung erzielen mochte. Eigentlich hatte Papa Schimmelhorn eine grobe Vereinfachung vorge nommen, als er das Instrument, das sein Unterbewußtsein plante, als simple Maschine bezeichnete. Er wußte, daß gewisse mechanische Ele mente dabei eine nicht unerhebliche Rolle spielten – Zahnräder aus Mes sing und Stahl, die er aus alten Waschmaschinen und Uhren gewinnen wollte. Seltsam geformte Exzenter würden Verwendung finden, montiert auf noch sonderbarer anmutenden kristallinen Strukturen. Darüber hin aus konnte die Konstruktion nicht auf einige grobe und flache und spannbare Federn verzichten, ebensowenig wie auf ein oder zwei Pum pen und Drucktanks, deren Zweck ihm unklar blieb. Außerdem brauchte er im höchsten Maße komplizierte Komponenten aus der elektronischen Experimentierausrüstung von Willy Fledermaus – und nur schwer zu beschreibende Elemente, die ihren Ursprung nicht in Europa hatten, sondern vielmehr der chinesischen Alchimie und Thaumaturgie ent stammten. Die Vorträge Kaspar Gansfleisch hatten in dieser Hinsicht ihre Wir kung nicht verfehlt – ebensowenig wie die weitaus angenehmeren und körperlich anstrengenderen Stunden mit Niki und Emmy. Später an je nem Tag, als Papa Schimmelhorn wohlig in dem breiten weichen Bett lag, den Kopf auf dem herrlich bequemen Schoß Emmys, hörte er Ismail zu, der ihm aus dem arabischen Buch vorlas und dessen Worte Miß Niki freundlicherweise in annehmbares Englisch übersetzte, und er gratulierte
sich dazu, daß sein Unterbewußtsein gerade auf diese Art und keine an dere funktionierte. Das muß man sich ainmal vorschtällen! dachte er zufrieden. Ich brauche über haupt nicht zu arbaiten. Äs ischt wie in dän Arabischen Nächten mit dem Dschinn in der Flasche! Eine Zeitlang spielte er mit dem Gedanken, sein Unterbewußtsein zu beauftragen, sich mit dem Problem von in Flaschen gefangenen Geistern zu befassen. Es wäre sicher nicht übel, so überlegte er, einen Dschinn zu haben, der einem jederzeit die hübschesten Schmusemiezen bringen konnte, ohne daß dafür die Benutzung etwa einer Zeitmaschine notwen dig gewesen wäre… Ismail grinste breit und las die Formeln und Beschwörungen in einer hohen, klaren und angenehm klingenden Stimme vor. Dann und wann kicherte er und übersetzte sie in modernes Griechisch. Niki hörte auf merksam zu. Gelegentlich errötete sie. Des öfteren schauderte sie oder machte »Oh!« und »Ah!« und »Uh!«, wenn es um bestimmte Ingredienzi en und magische Rituale ging. Dennoch gab sie nicht auf, und obgleich ihre englische Übersetzung in bezug auf Genauigkeit sicher einiges zu wünschen übrigließ, war Papa Schimmelhorn sehr zufrieden; er vertraute darauf, daß es seinem Unterbewußtsein gelang, eventuelle Fehler auszu sortieren und Lücken zu schließen. »Grmpf!« Niki schauderte einmal mehr. »Ich begreife einfach nicht, wie es möglich sein soll, mit schimmeligen Kröten, die im Schädel eines Sklaven zusammen mit verdorbenem Haschisch und Rattenhirnen und… und all den anderen Dingen gebraten werden, die Leiche eines Ungläubigen zum Leben zu erwecken – oder aus welchem Grund je mandem daran gelegen sein sollte.« »Das värschtähe ich äbenfalls nicht«, gestand Papa Schimmelhorn ein und strich ihr tröstend über den Oberschenkel. »Aber Maischter Gans flaisch mainte, das Läsen dieser Bücher könne mir bai mainem Dschob hälfen. Heute abend gähen wir schwimmen und värgässen das alles.« Er ließ Ismail noch eine weitere Stunde lang fortfahren. Dann verkün dete er, sein Unterbewußtsein habe für diesen Tag sicher genug zu tun. Eine Zeitlang saßen sie einfach nur da und lauschten den exotischen Geschichten Ismails, der erzählte, wie es in dem fast-fürstlichen Harem
zuging, in dem er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, und Papa Schimmelhorn ließ es sich anschließend nicht nehmen, von seinen Aben teuern zu berichten, sowohl den wissenschaftlichen als auch außereheli chen. Der arme Ismail war insbesondere verwirrt zu hören, wie mutierte Katzenminze der gesamten maskulinen Bevölkerung eines Planeten die verlorene Manneskraft zurückgegeben hatte. »Effendi«, fragte er interessiert, »glauben… glauben Sie, dieses magi sche Kraut könnte auch mir helfen, wenn es mir gelänge, es irgendwo zu finden?« Woraufhin Papa Schimmelhorn erwiderte, daran habe er nicht den ge ringsten Zweifel – obgleich die Genesung aufgrund der speziellen Natur der Behinderung Ismails sicher länger dauere als gewöhnlich. »Aber mach dir nur kaine Sorgen, Ismy. Wänn ich nach Nu Häffen zu rückkähre, schicke ich dir ätwas von däm Kraut. Ho-ho-ho! Ich sag dir was: Maine Katzenminze würde sälbscht ainer Schlange Aier so groß wie die aines Schtiers wachsen lassen!« Ismail verzog das Gesicht. Er warf einen besorgten Blick über die Schulter und versicherte seinem zukünftigen Wohltäter, er gebe sich auch mit einer wesentlich bescheideneren Ausstattung zufrieden. Dann verneigte er sich, flüsterte Papa Schimmelhorn noch rasch zu, wenn es ihm gelänge, den angerichteten Schaden tatsächlich zu beheben, so sei er bereit, ihm für den Rest seines Lebens als Sklave zu dienen – und an schließend verließ der Eunuch hastig das Zimmer. »Wie sältsam!« grübelte Papa Schimmelhorn. »Warum war är nur so ärschrocken, als ich von ainem Schtier schprach? Bai där nächschten Gelegenhait frage ich Härrn Zorba. Där waiß sicher Beschaid.« Und beim Abendessen richtete er tatsächlich eine entsprechende Frage an Mavronides – woraufhin der Grieche zum Erstaunen Papa Schim melhorns auf ähnliche Weise reagierte. Mavronides stotterte und entgeg nete nervös, vielleicht sei Ismail als kleiner Junge einmal von einem Stier angegriffen worden, ein Erlebnis, das zu einem Traum wurde. Mögli cherweise habe er das Versprechen Papa Schimmelhorns auch wortwört lich verstanden und fürchte sich vor der Vorstellung, seine verlorenen Organe durch etwas derart Auffallendes zu ersetzen – welchen Mann würde so etwas nicht bedrücken? Dann wechselte er hastig das Thema
und brummte, es gebe wirklich wichtigere Dinge, die es zu erörtern gelte. Ob Herrn Schimmelhorn und den beiden jungen Damen in seiner Be gleitung die hiesige Küche gefiele? Ob sie es bequem hätten? Und erwies sich Meister Gansfleisch nun endlich kooperativer und aufgeschlossener? Papa Schimmelhorn beharrte nicht auf einer zufriedenstellenderen Auskunft in bezug auf seine vorherige Frage, doch seine Neugier war geweckt. Während des nächsten Arbeitstages mit dem Alchimisten kam er deshalb auf diesen Punkt zu sprechen – auf eine, wie er glaubte, sehr diskrete Art und Weise. »Maischter Gansi«, sagte er, »warum haben hier alle Leute anschainend solche Angscht vor Schtieren? Ich habe Ismail doch nur…« Weiter kam er nicht. Es war, als habe er direkt vor den Füßen des wer ten Meisters eine Bombe platzen lassen und ihm gleichzeitig auch noch eine Nadel in den Allerwertesten gerammt. Der Alchimist sprang wie von einer Tarantel gestochen auf. Sein dün nes Haar wehte, und er riß die Augen auf, in denen es plötzlich hell irr lichterte. Er achtete gar nicht auf das aufgeregte Quieken des in seiner Jackentasche steckenden Zuckgalgens, stand zitternd und bebend vor Papa Schimmelhorn und zielte mit einem knöchernen Zeigefinger auf ihn, so als handele es sich dabei um eine tödliche Waffe. »Niemals!« kreischte er. »Niemals! Sprechen Sie in meiner Gegenwart niemals wieder von Stieren! Dies ist das Schloß der Prinzessin, der Prie sterin! Ich bin ihr Diener! Sie… Sie Tolpatsch! Sie Einfaltspinsel! Hier würde es außer Ihnen niemand wagen, so leichtfertig über Stiere zu re den!« Meister Gansfleisch schwitzte, merkte, wie erschöpft er war, und ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken. Papa Schimmelhorn hielt es für klü ger, ihm in diesem Zusammenhang keine weiteren Fragen zu stellen. Ach, dachte er, viellaicht ischt das där Grund, warum är wäder Saft noch Kraft hat! Viellaicht hat ihm jemand das Edelschte saines Körpers abgeschnitten, so wie bai däm armen Ismail, und däshalb ischt är aifersüchtig auf Schtiere. Allerdings… – er runzelte verwirrt die Stirn – … trifft das sicher nicht auf mainen Freund Zorba zu. Nun, möglicherwaise schpielt das alles kaine Rolle…
Tatsächlich gründete sich die Nervosität Mavronides nicht nur auf die Frage Papa Schimmelhorns nach Stieren. Seit einigen Tagen machte er sich immer mehr Sorgen um Meister Gansfleisch. Einige weibliche Hausangestellte hatten berichtet, daß der Alchimist des öfteren auf den alten Wehrgängen des Schlosses auf und ab marschierte, dabei ausladen de Gesten der Verzweiflung, Wut und Niedergeschlagenheit vollführte und mit sich selbst redete, manchmal in einem weinerlichen und flehen den Tonfall, dann mit geradezu unheilvollem Zorn, wobei er immer eine Sprache benutzte, die außer ihm und vielleicht noch Zuckgalgen nie mand verstand. Man hatte ihn auch dabei beobachtet, wie er in einer Schießschartenleibung seines Turms stand und drohend die Faust in Richtung der anderen Zinnen schüttelte, hinter deren Gestein Papa Schimmelhorn und seine beiden Freundinnen wohnten. Sarpedon Mavronides war in einer unangenehmen Lage. Natürlich fühlte er sich dem Fräulein verpflichtet. Und er hatte auch Freundschaft mit Papa Schimmelhorn geschlossen – ganz abgesehen von dem Um stand, daß er seinen Enkel gerettet hatte, wofür ihm sein ganzer Dank gebührte. Das Verhalten Meister Gansfleischs hatte sich schon immer durch eine besonders exzentrische Qualität ausgezeichnet, und jetzt ging nach Meinung des Griechen eine konkrete Gefahr davon aus. Einen weiteren Tag lang zerbrach er sich den Kopf über dieses Problem und suchte nach einer Lösung. Dann rief er Fräulein von Hohenheim in Zü rich an, gab ihr eine kurze, doch detaillierte Zusammenfassung der jüng sten Ereignisse und gestand ein, er wisse nicht, welche Entscheidung er treffen solle. Er bat das verehrte Fräulein darum, möglichst bald nach Klein Paläon zu kommen. Philippa war sehr ungehalten, denn sie hatte gehofft, in der Schweiz bleiben zu können, wo derzeit dringende Geschäfte ihre Aufmerksam keit beanspruchten. Andererseits jedoch stand Mavronides schon seit vielen, vielen Jahren in ihren Diensten, und sie wußte, daß sie sich für gewöhnlich auf seine Einschätzungen verlassen konnte. Deshalb ver sprach sie ihm, früh am nächsten Morgen einzutreffen, und sie fügte hinzu, sie sei dazu entschlossen, einem Unsinn, den Meister Gansfleisch planen mochte, ein sofortiges Ende zu setzen.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Sarpedon«, befahl sie. »Dieser ver dammte Kaspar braucht einen Tritt in den Hintern, und zwar einen kräf tigen. Ganz offensichtlich ist er auf Herrn Schimmelhorn eifersüchtig – und ich glaube, aus mehr als nur einem Grund. Nun, ich werde ihm sa gen, daß er noch eine Chance hat – nur eine. Und sonst – das Labyrinth.« Der Tonfall, in dem sie diese letzten Worte aussprach, ließ Mavronides erschauern. »Ja, Mylady«, sagte er unterwürfig. »Vielen Dank, Mylady.« Fräulein von Hohenheim legte auf. Sie rief Gottfried Rumpler an, teilte ihm mit, für den nächsten Morgen sei die erste SchimmelhornInspektion geplant, und forderte seinen Jet für den Flug nach Athen. Diesem mit Nachdruck vorgetragenen Wunsch kam der Herr Doktor natürlich nach, und er gab höflich seiner Hoffnung Ausdruck, die For schungsarbeiten machten zufriedenstellende Fortschritte. Als sie ihm noch einen guten Abend wünschte, gab Gottfried Rumpler sich einem süßen Tagtraum hin, in dem er sich mit dem entzückenden Fräulein in der Art von besonders ausgelassenen Nymphen und Schäfern in der blauen Ägäis amüsierte… Als Philippa am nächsten Tag auf Kreta eintraf, wurde sie bereits von Mavronides und Ismail erwartet. Papa Schimmelhorn, so erklärten sie, läge noch im Bett und studiere mit… nun, mit seinen jungen Freundin nen. Als sie das Schloß erreichten, waren alle Fragen Philippas beantwor tet, und sie verfügte über ausreichend Informationen, um sich ein klares Bild zu machen, das Meister Gansfleisch in keinem günstigen Licht er scheinen ließ. Papa Schimmelhorn, so teilten ihr Mavronides und Ismail mit, sei ein enorm fröhlicher und immer freundlicher älterer Herr, der allen Leuten mit ausgesuchter Höflichkeit begegne und insbesondere nett zu Kindern und gut zu Katzen war. Sie beschrieben ihn als stark wie einen Ochsen, und sein einziger Fehler sei das leidenschaftliche und er staunlich aktive Interesse an Miß Niki und Miß Emmy. Im Schloß wurde Philippa von Hohenheim in einer feierlichen Zere monie von ihrem Gefolge begrüßt. Sie bedachte die Hausangestellten mit einem Lächeln, winkte ihre beiden Kammerzofen zu sich, überließ ihr Handgepäck der Verantwortung Ismails und begab sich in ihre privaten Gemächer.
»Ich sollte mich jetzt auf angemessenere Art und Weise kleiden«, ver kündete sie, als sie sich auf den Weg machte. »Anschließend nehme ich das Essen ein. Danach, Sarpedon, werde ich per Telefon einige Geschäf te abwickeln. Bringen Sie Gansfleisch um vier Uhr in den Großen Saal.« »Soll ich den Thron vorbereiten?« fragte Mavronides. »Das ist sicher keine schlechte Idee«, erklärte Philippa. »Und sorgen Sie dafür, daß er von zwei besonders kräftigen Männern flankiert wird. Und… oh, ja, sie sollen Sie begleiten, wenn Sie ihn abholen. Weisen Sie sie an, den Alchimisten finster anzustarren und alle seine Fragen zu igno rieren.« »Ja, Hoheit«, hauchte Mavronides und verneigte sich tief. Der Grieche hielt sich ganz genau an die Anweisungen, und pünktlich um vier Uhr, begleitet von zwei großen und stämmigen Lakaien, führte er Meister Gansfleisch vor den Thron, der – ein Prachtstück aus Gold und Marmor und kunstvollen Verzierungen und Ausschmückungen, versehen mit einem goldfarbenen und vortrefflich bestickten Baldachin – auf einem Podium am einen Ende des Großen Saales stand. Dort ließ ihn die Prinzessin zwanzig Minuten lang warten, eine dem Alchimisten wie eine Ewigkeit erscheinende Zeitspanne, in der er leise und mit brü chiger Stimme vor sich hinmurmelte, mit den Füßen scharrte und sich nervös die knochigen Hände knetete. Schließlich hatte Philippa ihren großen Auftritt. Sie schwebte geradezu herein. Und tatsächlich war sie auf sehr angemessene Weise gekleidet. Ihr kobaltblaues Gewand war mit Perlen und feiner goldener Spitze ge schmückt, entstammte dem Produktionsgeschick eines der besten und berühmtesten und teuersten italienischen Coutouriers und entsprach dem Stile des sechzehnten Jahrhunderts. Ebensogut hätte es von Lucre zia Borgia getragen werden können. Es wies ein beeindruckendes und atemberaubendes Dekollete auf und gestattete ihren wunderschönen minoischen Brüsten ein gefährliches Maß an Freiheit. Die mit einem schmalen Samtgürtel versehene Taille betonte die runde Üppigkeit der Hüften. An dem herrlich geformten Hals Philippas glänzte die goldene Kette, die gewisse Sehnsüchte Dr. Rumplers geweckt hatte, und auf dem Haupt, auf den dichten dunklen minoischen Locken, funkelte eine prächtige Tiara aus Smaragden, Diamanten, Perlen und Platin.
Alle Anwesenden hielten bei diesem Anblick unwillkürlich den Atem an, und graziös und elegant, mit anmutiger Erhabenheit, nahm Philippa auf dem Thron Platz. Mit einer erhobenen Hand gebot sie Stille, und sie runzelte die Stirn, als sie auf den armen Alchimisten hinabblickte. Lucre zia hätte es nicht besser machen können. »Sprechen Sie«, sagte sie. Die Lippen Meister Gansfleischs zitterten, und er starrte furchtsam und verlangend zu Philippa auf. »P-prinzessin«, krächzte er. »W-wer hat mich denunziert?« Fräulein von Hohenheim gab keine Antwort, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich nicht. »Prinzessin!« kreischte Kaspar Gansfleisch. »Ich stehe schon seit eini gen Jahren in Ihren Diensten. Niemals, niemals habe ich Ihnen irgendei nen Grund gegeben, an meiner Loyalität Ihnen gegenüber zu zweifeln. Oder? Oder?« Sie bedachte ihn nur mit einem verächtlichen Blick. »Prinzessin! Prinzessin!« Verzweiflung vibrierte in der Stimme des Al chimisten. »Ich habe mich über alle Maßen bemüht, diesen… diesen Schimmelhorn in die geheimsten Geheimnisse der Alchimie einzuwei hen. Es ist unmöglich! Er ist ein verdammter Idiot! Er… er glaubt, er kann Gold mit einer Maschine herstellen. Sehen Sie! Sehen Sie nur!« Er zog ein Papier aus der Tasche und wedelte es wild hin und her. »Dies hat er mir gegeben – eine Einkaufsliste! Er will, daß ich, Meister Kaspar Gansfleisch, für ihn einkaufen gehe! Er verlangt von mir, solchen… solchen Plunder zu besorgen! Es ist unglaublich! Hören Sie: die Zahnräder von einem siebengängigen französischen Fahrrad, ein kleines Röntgengerät von der Art, wie sie einst in Schuhgeschäften Verwendung fand, acht Quadrat meter Maschendraht aus Kupfer (so dünn wie möglich), eine schwedi sche Nähmaschine mit Elektromotor (auch gebraucht), drei Quecksil berdampf-Lampen (können ruhig ebenfalls gebraucht sein), und… und…« Meister Gansfleischs Stimme versagte, und das Fräulein redete jetzt: »Sie brauchen nicht weiterzulesen«, verordnete Philippa. »Gehen Sie los und kaufen Sie ihm die Sachen, die er wünscht. Ich bin sicher, er weiß genau, wozu er sie benötigt.«
»Aber, Prinzessin!« heulte der Alchimist. »Das ist noch nicht alles. Sie verstehen nicht. Er… er ist ein Monstrum, jawohl, ein… ein vom Sex be sessener Wahnsinniger. Er verbringt seine ganze Zeit damit, jene armen Mädchen zu verführen und mit ihnen herumzuspielen, nicht nur des Nachts im Bett, sondern auch abends in den Büschen und am Strand! Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, durch mein Teleskop…« Einer der Lakaien kicherte leise. »Und das im Alter von über achtzig Jahren! Es ist schlichtweg empö rend. Und noch mehr: Er ist teuflisch! Ihr ehrenwerter Ahne, der große Paracelsus, betonte deutlich, sexuelles Übermaß beeinträchtige die Erfol ge in der Alchimie! Nun, machen Sie, was Sie wollen. Aber ich muß Sie warnen. Wenn Sie darauf bestehen, Schimmelhorn für Sie… arbeiten zu lassen, so sollten Sie das mit ihm machen, was die Araber mit Ismail an stellten. Denn sonst könnten seine Wollust und Ignoranz Auslöser für großes Unheil sein. Sie, Prinzessin, stammen von den großen Kaisern und Königen des Altertums ab, von Priestern und Priesterinnen, die über Jahrhunderte hinweg schreckliche Geheimnisse hüteten und Ihnen ver machten – Geheimnisse, die zu bewahren Sie geschworen haben!« Mei ster Gansfleisch wimmerte nun, und der in seiner Jackentasche steckende Zuckgalgen quiekte aufgeregt. »Sie sind ebenfalls eine Priesterin! S-sie müssen sich entscheiden! Entweder…« Philippa hob die Hand und brachte den Alchimisten damit zum Schweigen. »Hören Sie, Kaspar«, sagte sie, und ihre Stimme war so scharf wie das Beil eines Henkers, »Sie haben durchaus recht. Ich bin Prinzessin und Priesterin. Aber…« – sie zögerte, beugte sich vor und richtete den durchdringenden Blick eben jener Augen auf ihn, die auf Dr. Rumpler einen so nachhaltigen Eindruck gemacht hatten, – »… aber das ist nur ein Aspekt meines Wesens. Von der Seite meines Vaters bin ich Schweizerin – eine Schweizerin, die auch den berühmten Paracelsus zu ihren Vorfahren zählen kann. Ja, in erster Linie bin ich das, eine Schwei zerin – und vor allen Dingen ein schweizerischer Bankier. Vergessen Sie das nie. Haben Sie verstanden?« Meister Gansfleisch gab ein krächzendes Schluchzen von sich. »Und als schweizerischer Bankier bezweifle ich sehr, ob Sie dazu in der Lage sind, aus Blei Gold zu machen. Als schweizerischer Bankier habe
ich allen Grund zu der Annahme, daß Schimmelhorn sehr wohl dazu in der Lage ist. Und somit gebe ich Ihnen als schweizerischer Bankier noch eine letzte Chance, mit ihm zusammenzuarbeiten, ohne Schwierigkeiten zu machen, die Einkäufe für ihn zu tätigen und ihm in jeder nur erdenk lichen Hinsicht zu assistieren. Wenn nicht…« – sie machte eine kurze Pau se, damit der Alchimist Gelegenheit hatte, die Bedeutung dieser Worte in sich aufzunehmen –, »… wenn nicht, werde ich mich daran entsinnen, auch Prinzessin und Priesterin zu sein, und das bedeutet, Sie enden im Labyrinth.« Philippa deutete auf Mavronides. »Bringen Sie ihn fort.« Sie wartete, bis der schluchzende Meister Gansfleisch den Saal verlas sen hatte. Dann: »Führt diesen Schimmelhorn zu mir!« befahl sie. »Und vielleicht sollte ich auch die Bekanntschaft seiner beiden Freundinnen machen.« Mavronides zögerte. »Hoheit«, antwortete er entschuldigend, »mögli cherweise ist es nicht möglich, ihn sofort zu Ihnen zu bringen. Er… er könnte gerade mit den von ihm so geschätzten… äh… sportlichen Übungen beschäftigt sein. Und in diesem Falle, äh, müßte er sich erst ankleiden.« Fräulein von Hohenheim lächelte. »Nun gut. Führen Sie sie in genau einer halben Stunde in mein Gemach.« Wie sich herausstellte, hatte Mavronides hinsichtlich seiner Einschätzung der derzeitigen Aktivitäten Papa Schimmelhorns den Nagel auf den Kopf getroffen. Taktvoll klopfte er an die Tür, wartete, bis sie einen Spaltbreit von der kichernden Emmy geöffnet wurde, verkündete, die Prinzessin wünsche sie zu sehen, und teilte mit, er würde sie abholen. Als er nach einer Weile zum zweiten Mal an die Tür pochte, waren die Gaste bereit. Niki und Emmy waren diskret in ihre besten Pariser Ge wänder gekleidet, und Papa Schimmelhorn trug seine enge Lieblings jeans, ein zinnoberrotes, mit den Darstellungen von Kakteen, Packeseln und Siesta haltenden Mexikanern geschmücktes Hemd und hatte sich die Armband-Kuckucksuhr ums Handgelenk geschlungen. Auf seiner Schul ter hockte Gustav-Adolf, dessen Aufenthalt bei dieser besonderen Gele genheit nicht länger auf das Zimmer beschränkt war. Des weiteren nahm Papa Schimmelhorn in einer braunen Papiertüte eine seiner ganz speziel
len Kuckucksuhren mit, die, wie soviele andere Dinge, in der großen Reisetasche in die Ägäis gelangt war. Sie verfügte sogar über drei Kuk kucke, die nicht nur »Kuckuck! Kuckuck!« riefen, sondern vor einem dem Matterhorn nachempfundenen Hintergrund die jeweilige Zeit jodel ten. »Ach, Guschtav-Adolf«, erklärte er, »das ischt beschtimmt ain schö nes Geschänk für das Fräulain Prinzessin. Sie kann där Melodie lau schen, während sie im Sässel sitzt und näht und im Färnsähen ain Kfiz anguckt, oder während sie wie Mama Haimatromane liest.« Aus irgendeinem Grund hatte es Papa Schimmelhorn versäumt, nach einer Beschreibung Fräulein von Hohenheims zu fragen, und da er wuß te, daß es sich bei Philippa um eine Person mit großem Einfluß handelte, stellte er sie sich als eine reife Dame vor, die vielleicht etwas jünger als Mama sein mochte, möglicherweise nicht ganz so entschieden und ener gisch in ihrem Auftreten, sicher aber mit einer ähnlichen Einstellung Männern und damit zusammenhängenden Dingen gegenüber. Als er, in Begleitung Nikis und Emmys, Mavronides durch mehrere Flure und breite Treppen folgte, legte er sich die Worte zurecht, die er an die Prin zessin zu richten gedachte. Wie sein Großvater, der viele gekrönte Häup ter durch die Herrlichkeit der Alpen geführt hatte, würde er sich zu nächst verbeugen – elegant zwar, aber nicht zu tief, wie es sich für einen unabhängigen Schweizer geziemte – woraufhin er einen Gruß murmeln wollte: Küß die Hand, Euer Durchlaucht. Und wenn ihm die Prinzessin dar aufhin tatsächlich die Hand reichte, würde er sein Versprechen wahrma chen, so aristokratisch wie ein geborener Erzherzog. Unglücklicherweise waren all diese guten Vorsätze umsonst. Sie gelang ten in einen Bereich des Schlosses, der einen besonders prächtigen Ein druck erweckte, wie ein venezianischer Palazzo mit einem Hauch von Neuschwanstein. Sie wanderten durch einen letzten Korridor, an dessen Wänden Ahnenbüsten auf marmornen Sockeln standen, nackte Statuet ten klassischer Schönheiten starr geradeaus blickten und dicke bunte Tapisserien das Mauerwerk bedeckten. Vor einer großen glänzenden Tür blieben sie stehen, und Mavronides klopfte leise. Das Tor öffnete sich sofort, und er bedeutete seinen Begleitern einzutreten. »Die Prinzessin Philippa Theophrastus Paleologus Bombastus von Hohenheim!« verkündete er.
Papa Schimmelhorns Blick fiel in einen Salon, der so aussah, als sei er für Lola Montez von dem in sie vernarrten König eingerichtet und aus gestattet worden. Doch seine Aufmerksamkeit galt gar nicht dieser erle senen Qualität. Vor ihm, im durch die hohen Fenster fallenden hellen Licht, auf einer kaiserlichen Couch sitzend, gekleidet noch immer in das so vortreffliche und gleichzeitig gewagte Throngewand, das die Brüste so sehr zur Geltung brachte, saß das Fräulein. Papa Schimmelhorn blieb wie angenagelt stehen. Einige Sekunden lang verschlug es ihm die Sprache. »Herr im Himmel!« brachte er dann her vor, Worte, die eher ihm selbst als seinen Begleitern galten. »Was für aine wunderschöne Schmusemieze!« Er spürte gar nicht, daß Mavronides ihn ans Schienbein trat, und er vernahm auch nicht das überraschte Seufzen seiner beiden Freundinnen. Er stand einfach nur da, starrte die Prinzessin aus weit aufgerissenen Augen an und grinste einfältig, als sich das Fräulein erhob und auf ihn zuschwebte. »Ja, ja«, murmelte er und gab sich alle Mühe, mit einem Röntgenblick durch ihre Kleidung zu sehen. »Härr Doktor Rumpler hatte ja so rächt! Das schwaizerische Bankwäsen hat mähr Aspekte, als viele Leute glau ben.« Philippa gab sich den Anschein, diese Worte nicht gehört zu haben. Sie richtete den Blick auf Gustav-Adolf. »Sie haben da einen wirklich präch tigen Kater, Herr Schimmelhorn«, sagte sie. »Aber ich glaube, er weiß es nicht zu schätzen, wenn Sie ihn als wunderschön bezeichnen oder Schmusemieze nennen.« Sie streckte den Arm aus und kraulte GustavAdolf unter dem Kinn, worauf der mit einem begeisterten Miau-rau rea gierte, das die Gefühle seines Herrchens perfekt zum Ausdruck brachte. »Kommen Sie! Sie und Ihre Freundinnen müssen sich zu mir setzen, und dann unterhalten wir uns, nachdem wir uns vorgestellt worden sind.« Papa Schimmelhorn gab keine Antwort. Mavronides trat ihm erneut ans Schienbein. Man führte sie ins Zimmer, und sie nahmen auf drei kaiserlichen Stühlen Platz. Das Fräulein war nun ganz Prinzessin und fragte sie, ob sie es denn auch bequem und die Hausbediensteten ihnen alle Wünsche erfüllt hätten? Wie ihnen das Klima von Klein Paläon ge fiele, ob es nicht geradezu wundervoll sei? Niki und Emmy bestätigten
das begeistert und bedankten sich für die Gastfreundschaft. Papa Schimmelhorn war noch immer sehr verwirrt und versuchte, sich so freundlich zu geben, wie es möglich war, wenn man sich nur auf Nicken, leises Lachen und unverständlich gebrummte Bemerkungen beschränkte. Als Philippa schließlich nach der anfänglichen Plauderei auf seine Arbeit zu sprechen kam, spürte Papa Schimmelhorn den flehentlichen Blick Mavronides auf sich ruhen, und es gelang ihm, sich zusammenzureißen und zu antworten, es liefe alles bestens. Ja, er arbeite mit Meister Gansi zusammen, der jedoch keine große Hilfe sei und die Luft im Laboratori um ständig verpeste, indem er stinkende Brühen in Töpfen brodeln ließe und komische Kräuter im Feuer verbrenne. Doch darüber mache er sich keine Sorgen, denn immerhin sei er im Unterbewußtsein ein Genie. Im mer noch nicht ganz der alte, demonstrierte er der Prinzessin seine Arm band-Kuckucksuhr, bemerkte, dies sei das einzige Gerät seiner Art auf der ganzen Welt, und präsentiere ihr dann die Jodeluhr mit den drei Kuckucken. »Euer Durchlaucht, ich habe sie ekstra für Sie gebaut«, log er. »Viel laicht läßt sich dafür ain Plätzchen über der Badewanne finden, so daß die klainen Kuckucke alles sähen können…« Er brach ab, kicherte leise und errötete sogar bei der entsprechenden Vorstellung. Das Fräulein winkte eine Kammerzofe herbei und überantwortete ihr die Uhr. Sie dankte Papa Schimmelhorn für dessen Aufmerksamkeit und lobte ihn für eine derart geschickte und wohldurchdachte Konstruktion. Sie bat seine beiden Freundinnen darum, gut auf ihn achtzugeben, denn immerhin sei er ein Genie. Dann griff Mavronides Papa Schimmelhorn am Ellbogen und drehte ihn herum. »Auf Wiedersehen, Herr Schimmelhorn«, sagte Philippa. »Auf Wiedersähen, Euer Durchlaucht!« rief Papa. Philippa Theophraschtus Bombaschtus von soundso, dachte er, als Mavronides ihn durch die Tür schob. Viellaicht, wänn wir uns ain wänig bässer kännengelärnt haben, nänne ich dich ainfach Philli. Auf dem Rückweg erklärte ihm Mavronides, er habe die Prinzessin noch nie zuvor so elegant und zuvorkommend erlebt, so freundlich. Noch niemals, so betonte er, sei sie Beleidigungen gegenüber so immun gewesen. Tatsächlich habe sie Papa Schimmelhorn eine große Ehre er
wiesen, auf die er wirklich stolz sein könne. Eigentlich jedoch, so fügte er hinzu, sei ihm ein derartiges Verhalten ihrerseits ein Rätsel, und er warn te Papa davor zu versuchen, die Großmut der Prinzessin auszunutzen. Er dürfe auf keinen Fall impertinent sein. Papa Schimmelhorn klopfte ihm gutgelaunt auf den Rücken. »Härr Zorba«, erwiderte er, »sie ischt däshalb nätt zu mir, wail ich ain Dschänie bin.« Doch bei diesen Worten ging ihm noch eine ganz andere Erklärung durch den Sinn. Viellaicht, so überlegte er, ischt sie däshalb so freundlich, wail sie wie andere Frauen ischt und sieht, daß ich voller Saft und Kraft schtäcke… Unterdessen wandte sich die Prinzessin von der Tür ab und ihrer Zofe zu. »Bei den alten Göttern der Griechen!« entfuhr es ihr. »Bei allen Sa tyrn! Sogar beim Minotaurus!« Sie lachte schallend. »Niobe, ich dachte bisher, Gottfried Rumpler sei das Musterbeispiel für einen chauvinisti schen Mistkerl! Doch im Vergleich mit jenem alten Ziegenbock kann man ihn nur als harmlos und unschuldig bezeichnen. Dieser Schimmel horn ist unglaublich – ein chauvinistischer Hyperultramistkerl! Ach, Niobe, du kannst von Glück sagen, daß er seine beiden Freundinnen hat – sonst würde er vermutlich ganz Klein Paläon unsicher machen! Ist dir aufgefal len, wie lüstern er dich anstarrte, als er hier im Zimmer war?« »Mich, Mylady? Er liebäugelte doch nicht mit mir.« Die Prinzessin runzelte die Stirn, und ihr Lachen verklang. »Eine ande re Erklärung gibt es nicht«, sagte sie. »Er ist ein Tölpel. Er hätte es nie mals gewagt, mich auf diese Weise anzusehen!« Sie nahm wieder auf dem kaiserlichen Sofa Platz. »Niobe, bring mir ei ne Karaffe mit gutem Cognac und ein Glas.« Sie wartete, bis die Zofe ihr eingeschenkt hatte. Dann lächelte das Fräulein, als es auf den Cognacschwenker hinabblickte – ein Lächeln, das wie die Ankündigung der nächsten Eiszeit war. »Soll er ruhig seine Spielchen treiben!« murmelte sie. »Sogar mit Niobe, wenn ihm der Sinn und noch mehr danach steht. Was spielt das denn alles für eine Rolle, wenn er tatsächlich Blei in Gold verwandeln kann?«
5
Die Prinzessin und der Tölpel:
eine Ouvertüre
Es dauerte nicht lange, bis Niki und Emmy feststellten, daß Papa Schimmelhorn nicht mehr in jeder Beziehung so überschwenglich war wie sonst. Wenn er nicht mehr oder weniger nachdrücklich daran erin nert wurde, ignorierte er sowohl die Gegenwart seiner beiden Freundin nen als auch die Präsenz Mavronides'. Auf dem Rückweg zu ihrem Quartier war er so sehr in Gedanken versunken, daß ihn der Grieche wie einen Blinden um mehrere Ecken führen mußte. Dann und wann schloß er die Augen, lächelte verträumt und leckte sich die Lippen. Selbst Gu stav-Adolf machte sich Sorgen, ließ sein Schnurrhaar mehr als nur ein mal übers Ohr seines Herrchens streichen und gab ein verdrießliches und fragendes Miauu-au von sich. Mavronides hingegen hatte keine Be denken. Zunächst hatte er mit profundem Unbehagen auf die erste Schimmelhornreaktion im Hinblick auf die Begegnung mit dem Fräulein reagiert, doch später kam er – wie Philippa selbst – zu dem Schluß, daß eine solche Frechheit unvorstellbar war und die Keimdrüsen Papas beim Anblick Niobes – die ganz zweifellos als wirklich hübsche Schmusemie ze bezeichnet werden konnte – zu neuer Aktivität angeregt worden wa ren. Er tröstete Niki und Emmy. Papa Schimmelhorn, so sagte er ihnen, sei schließlich ein leicht zu beeindruckender älterer Herr. Und sobald sich seine derzeitige innere Aufwallung gelegt habe, werde er wieder ganz der alte. Außerdem, so fügte er hinzu, sei Niobe doch nur ein einfaches Dienstmädchen, nichts weiter als eine zeitweilige Ablenkung, über die sie sich bestimmt keine Gedanken zu machen brauchten. Niki und Emmy waren erleichtert. Als die seltsame Stimmung Papa Schimmelhorns an dauerte, als er während des Essens nur auf seinen Teller starrte, mal den Kopf hob und sehnsuchtsvoll in die Ferne blickte, als ihre Bemühungen, sich mit ihm zu unterhalten, nur undeutliches Brummen seinerseits zur Folge hatte, gaben sie auf. Sie versicherten sich gegenseitig, nach ein oder zwei Stunden des fortgesetzten Grübelns erinnere er sich gewiß an sein leidenschaftliches Selbst, und sie teilten ihm mit, sie wollten einen Spa
ziergang am Strand machen, vielleicht ein wenig schwimmen und einige Muscheln sammeln. Sie überließen ihn seiner Träumerei, nicht ahnend, was in Papa Schimmelhorn vor sich ging. Für eine Weile versuchte er mit aller Sorg falt, seinem talentierten Unterbewußtsein vollen Bewegungsspielraum zu geben, denn er wußte, daß es sich selbst zu jener Zeit große Mühe gab, die komplizierte Maschine zu entwickeln, die, daran konnte nicht der geringste Zweifel bestehen, tatsächlich Blei in Gold verwandeln würde. Er war gerade damit befaßt, Form und Umfang einer sehr wichtigen Struktur zu bestimmen, die für die Fertigung kleine und aus Draht be stehender Kleiderbügel verlangte, die als Basis für das Wachstum eines enorm komplexen Kristalls dienten. Mit einem grünen Filzstift trachtete Papa Schimmelhorn danach, die komplizierten Muster auf einem Zettel aus braunem Packpapier festzuhalten. Doch immer wieder störten ihn die in seinem Innern flüsternden Stimmen. Die eine, leise und auf Vor sicht bedacht, machte ihn mit einem Nein-nein immer wieder darauf auf merksam, daß eine Fräulein-Prinzessin nicht für ihn in Frage kam und er sich mit den beiden netten Schmusemiezen begnügen sollte, deren Ge sellschaft ihn das Schicksal genießen ließ. Das einzige Problem bestand darin, daß diese Stimme ganz so wie die Mama Schimmelhorns klang. Es haftete ihr etwas Bitteres und Sarkastisches an, während die andere zwei fellos seine eigene war, mit glandulärer Beharrlichkeit sprach und ihn davon zu überzeugen versuchte, daß alle Frauen, ungeachtet ihres jewei ligen gesellschaftlichen Standes, gleich waren. Sie erinnerte ihn an eine belgische Baronin, mit der er einst zwei ebenso hektische wie entzücken de Wochen verbracht hatte, und sie rief ihm auch eine hübsche dunkel haarige Dame und ihre Behauptung ins Gedächtnis zurück, ihr brasiliani scher Vater sei ein Adliger namens Don Pedro oder so ähnlich. Darauf hin flüsterte die erste Stimme, er solle sich was schämen – ach, was sai är doch für ain lüschterner alter Ziegenbock! –, worauf die zweite schlicht antwortete, es verhielte sich genau so, wie es der Dichter ›Radjard Twäin (oder hieß är viellaicht Mark Klemens?)‹ klugerweise beschrieben habe: Das Dienstmädchen und die werte Frau Oberst sahen ohne Schlüpfer genau gleich aus. Nachdem Papa Schimmelhorn schließlich einige Stunden lang einen derartigen moralischen Kampf mit sich selbst ausgefochten hatte, seufzte
er und kam zu dem Schluß, ein Spaziergang am Strand mitsamt einem Sprung ins Meer könne ihn nicht nur erfrischen, sondern möglicherweise auch seine Probleme lösen. In nichts anderes gekleidet als eine knielange, mit grünem, rosafarbenem und gelbem Punktmuster versehene Unterho se und einen aus Frottier bestehenden Bademantel, machte er sich auf den Weg, wobei er seine Schritte aus einem unfehlbaren Instinkt heraus in die Richtung der Gemächer des hübschen Fräuleins lenkte. Immerhin konnte es nicht schaden, so dachte er, nur an ihrer Tür vorbeizugehen… Als er sich ihr näherte, stellte er fest, daß sich sein Pulsschlag be schleunigte, er rascher und tiefer atmete und die Enden seines langen Bartes zitterten. Er blieb vor der besagten Tür stehen. Sie stand einen Spaltbreit offen. Genau auf die Art und Weise, wie eine verliebte Dame ihre Tür offen ließ, um dem Liebhaber zu gestatten, in ihr Schlafzimmer zu eilen – eine Erfahrung, die Papa Schimmelhorn während seines langen und ereignis reichen Lebens wiederholt gemacht hatte. Die zur Vorsicht mahnende Stimme in seinem Innern gab sich vergeb liche Mühe, ihn zur Ordnung zu rufen. Er schwang die Tür ein wenig weiter auf. Er klopfte ganz behutsam an. Niemand antwortete. Es herrschte völlige Stille. Er trat ein. Das Zimmer war leer, aber auf der anderen Seite, mehr als ein Dutzend Meter entfernt, stand eine zweite Tür wie einladend einige Zentimeter weit offen. Auf Zehenspitzen schlich Papa Schimmelhorn über den kostbaren Perserteppich und späh te in den zweiten Raum. Die Prinzessin saß vor einem geschwungenen und vergoldeten Frisier tisch im florentinischen Stil und wandte ihm den Rücken zu. Sie kämmte ihre herrliche offene Haarfülle. Und wie Papa Schimmelhorn voller Be wunderung feststellte, war sie von Kopf bis Fuß atemberaubend nackt. Er holte tief Luft und klopfte, ganz sanft, an die Tür. »Komm herein, Niobe!« rief die Prinzessin über die bloße Schulter hinweg. »Komm schon, Mädchen – steh da nicht einfach nur so herum!« Und Papa Schimmelhorn gluckste ein schüchternes: »Guckguck – ich sä he dich!«
Die Prinzessin wirbelte zu ihm herum. Sie strich sich das Haar zur Sei te und stand auf… Und Papa Schimmelhorn starrte sie an. Einige Sekunden lang rührte er sich nicht von der Stelle und schnaufte wie ein Fisch auf dem Trocke nen. Niemals, niemals zuvor in seinem Leben hatte sich ihm ein so vor trefflicher Anblick dargeboten. Die vorsichtige Stimme in seinem Innern keuchte und verklang endgültig. »Ach, Euer Durchlaucht! Ach, du hübsches Schmusekätzchen! Ach, klaine Philli… maine Güte, wie schön du doch bischt!« Er breitete die Arme weit aus, so als wolle er sich die ganze Welt ans warme Herz drük ken. Der Bademantel öffnete sich und enthüllte nicht nur seine braune muskulöse Brust und die farbenprächtig gemusterte Unterhose, sondern auch das erstaunliche Ausmaß, in dem er von dem Fräulein beeindruckt war. »Ja, wunderschön! Waischt du, klaine Durchlaucht, draußen ischt Frühling, und all die nätten Schtärne funkeln am Himmel, und wir könn ten am Schtrand Fangen schpielen und uns… ho-ho-ho!… manchmal ärwischen, und dann schwimmen wir mit dän Tümmlern und…« Ganz langsam kam die Prinzessin auf ihn zu. Zum erstenmal wandte Papa Schimmelhorn den Blick von den ihn so sehr faszinierenden Run dungen ihres Körpers ab und sah in ihr Gesicht. Zweifellos trug Fräulein von Hohenheim nicht die Miene zur Schau, die man von einer Person erwartete, die die romantischen Gefühle Papas teilte. Die dichten schwarzen Brauen der Prinzessin bildeten zwei buschige Wirbel über den blitzenden Augen und verwandelten ihr Antlitz somit in eine furchtein flößende mederische Maske. Die Wangen waren leichenblaß. Die vollen Lippen zitterten und formulierten Worte in einer Sprache, die Papa Schimmelhorn nicht verstand. Heiser klangen die Laute, rauh und kratzig und gleichzeitig so scharf wie die Klinge einer Langsäge, und dem Ton fall entnahm Papa, daß es sich nicht um verbale Zärtlichkeiten handelte. Unbehaglich scharrte er mit den Füßen. Unsicher schloß er den Bade mantel. Die Prinzessin näherte sich ihm weiter. Nervös zog sich Papa Schim melhorn erst einen Schritt zurück und dann noch einen. »A-aber, Euer Durchlaucht«, stotterte er. »Habe ich ätwa viellaicht möglicherwaise ai
nen Fähler gemacht, ja? Ach, äs war doch nur, wail ich, wail du… wail Ssie…« Die sonderbaren Worte, die die Prinzessin formulierte, übertönten nun die Papas, und daraufhin schwieg er. Das Fräulein von Hohenheim blieb stehen. Mit dem Zeigefinger deutete sie energisch auf die Tür. Und Papa Schimmelhorn sah ihr in die Augen. Die Reaktion auf den eisigen Blick Philippas ließ sich mit der Dr. Rumplers in Zürich vergleichen, doch das Schaudern Papas war noch weitaus intensiver und erfaßte seinen ganzen Leib. Er murmelte, es täte ihm leid, bat sie um Verzeihung und wandte sich der Tür zu. »Na schön«, sagte er. »Ich märke äs, wänn ich nicht er wünscht bin! Ich gähe. Ach, ich bin doch nur gekommen, wail ich so voller Saft und Kraft schtäcke… ha-ha! Jätzt wärde ich hart arbaiten und viellaicht das Blai in Gold verwandeln.« Irgendwo im Hintergrund verkündeten die Kuckucke der Jodeluhr mit fröhlichem Gesang die Zeit. Einen Augenblick später war Papa Schimmelhorn auf dem Flur, und hinter ihm fiel die Tür wuchtig ins Schloß. Noch immer zutiefst erschüt tert, setzte er sich in Bewegung und stakte davon – doch Papa Schim melhorns unverwüstliche Natur ließ sich natürlich nicht so einfach ins Bockshorn jagen. Als er die nächste Korridorecke erreichte, begann er in bezug auf das Fräulein bereits so etwas wie Mitleid zu empfinden. Phil ippa tat ihm leid, weil sie ja gar nicht wußte, was ihr entging. Wie traurig! dachte er. Viellaicht ischt äs so, wie Härr Doktor Freud sagte – ätwas mit dem Unterbewußtsain. Viellaicht hat sie jemand erschräckt, als sie noch ain Maines Mädchen war, möglicherwaise mit ainer Schlange. Diese Vorstellung erheiterte ihn. Viellaicht ischt sie morgen nicht mähr böse auf mich. Trotzdäm – aine Schande, ja. Wie schade – sie ischt doch aine so hübsche klaine Schmusemieze, obglaich sie Prinzessin sain muß. Er zuckte mit den Schultern. Wie däm auch sai – ich habe ja noch mähr Aisen im Feuer. Fünfzehn Minuten später spielte Papa Schimmelhorn zusammen mit Niki und Emmy fröhlich Fangen am Strand, wobei sie sich gelegentlich erwischten, und sie ließen es sich auch nicht nehmen, mit den Tümmlern zu schwimmen. Als er sich schließlich zwischen seinen beiden Schmu semiezen zu Bett legte, hatte er die geistige Akte über die enttäuschende
Episode mit der Prinzessin in dem Fach seines Gedächtnisses abgelegt, das für die vielen verpaßten und vergeudeten Gelegenheiten eines langen und überaus aktiven Lebens reserviert war. Es muß an dieser Stelle sicher nicht extra betont werden, daß Philippa von Hohenheim den Vorfall keineswegs zu vergessen bereit war. Eine Zeitlang wanderte sie erzürnt in ihrem Schlafzimmer auf und ab, fluchte in der seltsamen Sprache und versicherte sich, Papa Schimmelhorn für seine empörende Unverschämtheit bitter büßen zu lassen. Sie rief sich ausreichend grausame Grausamkeiten in Erinnerung zurück, dachte in diesem Zusammenhang insbesondere an die Methoden, die im Verlaufe diverser Jahrhunderte von einfallsreichen Türken entwickelt worden waren, auch an die von den Römern und Karthagern und anderen eher unfreundlich gesinnten Leuten praktizierten Folterkünste. Anschließend stellte sie Überlegungen im Hinblick auf das entsprechende Geschick ihrer Vorfahren an. Nichts erschien ihr passend – bis ihr die letzte Be gegnung mit Meister Gansfleisch einfiel. Sie blieb stehen. Von einer Se kunde zur anderen wurde sie ganz ruhig. Kühl und sachlich prüfte sie jeden Aspekt der Situation, denn immerhin ging es um mehr als nur Ver geltung. Sie rief Niobe zu sich, die eher zögernd und besorgt eintrat und spürte, daß etwas Drastisches geschehen war. Philippa ließ sich von der Zofe das Haar ordnen, und dann streifte sie sich einen schwarzen und goldenen Morgenrock über. »Und nun«, befahl sie, »bring Meister Gansfleisch zu mir.« Sie begab sich in den Salon, nahm wieder auf dem kaiserlichen Sofa Platz, schloß die Augen und malte sich das Schicksal Papa Schimmel horns aus. Unterdessen machte sich Niobe auf den Weg zu einem der beiden Türme der Feste – recht widerstrebend, denn sie fürchtete sich vor dem Alchimisten. Zurückhaltend klopfte sie an die dunkle Tür. »Verschwinde!« ertönte die dumpfe und kratzige Stimme Meister Gansfleischs. »Wer auch immer es sein mag – hebe dich hinfort!« Niobe klopfte erneut, noch etwas nervöser. »A-aber Meister Gans fleisch«, sagte sie schüchtern. »Die… die Prinzessin hat mich geschickt. Sie wünscht Sie zu sprechen. Sie müssen sofort zu ihr kommen!«
Es schloß sich eine Stille an, in der nur ein leises Brummen und kurz darauf ein entrüstetes Quieken zu hören waren. »Na schön«, antwortete Kaspar. »Wenn sie es befohlen hat, so bleibt mir nichts anderes übrig. Aber ich brauche einige Minuten, um mich fertig zu machen. Warte auf mich.« Niobe geduldete sich und vernahm weiteres Quieken und Rascheln und Brummen. Sie ahnte es nicht, doch sie war zu einem recht kritischen Zeitpunkt eingetroffen. Nach dem letzten Gespräch mit seiner Arbeitge berin hatte sich der Alchimist, überwältigt von tiefer Verzweiflung und Verzagtheit, schließlich dazu bereit erklärt, das Angebot Zuckgalgens anzunehmen. Wenn sein Vertrauter sich für ihn mit den betreffenden Autoritäten der Hölle in Verbindung setzen könne, so wolle er dem Bei spiel Fausts folgen. Zuckgalgen war entzückt, denn er wußte natürlich, daß diese Transaktion eine Beförderung für ihn bedeutete, und er darauf hoffen konnte, in Zukunft einen Rang einzunehmen, der ihn nicht mehr dazu zwang, an den Körper eines so niederen Geschöpfes wie ausge rechnet einer Ratte gebunden zu sein. Vielleicht, so dachte er, bekam er sogar einen Posten im Rekrutierungsstab. Glücklich sprang er umher, während sein Herr nach den richtigen Büchern und Einbänden fahndete, nach schwarzen Kerzen suchte und anderen seltsam anmutenden Utensi lien Ausschau hielt. Es galt, die angemessenen Worte der Macht zu for mulieren und geeignete Zaubersprüche zu intonieren. Er ärgerte sich über die Unfähigkeit seines Vertrauten, der ihm aufgrund seiner Ratten gestalt nicht dabei helfen konnte, das komplexe Pentagramm zu zeich nen, das die Beschwörungszeremonie erforderte – und dann, als die Vorbereitungen praktisch abgeschlossen waren, klopfte Niobe an die Tür. Zuckgalgen forderte Meister Gansfleisch weiterhin dazu auf, sich jetzt nur nicht stören zu lassen, als der Alchimist aufräumte, sich die Hände wusch und eine Masse entfernte, die aus Eidechsenaugen, Leichenteilen erhängter Verbrecher und anderen eher trivialen Werkzeugen der Zaube rei bestand. Er wagte es sogar, ihm nicht zu gehorchen, als Kaspar ihn dazu aufforderte, gefälligst sein verdammtes Rattenmaul zu halten. Als der Alchimist die Tür öffnete und zu Niobe auf den Flur trat, quiekte Zuckgalgen: »Das wird dir noch leid tun, Dummkopf! Warte nur ab…!« Dann hockte er sich neben das Glas, in dem der arme Homunku
lus gefangen war, drohte ihm mit gefletschten gelben Zähnen und ver sprach, ihm während der nächsten längeren Abwesenheit Meister Gans fleischs das Leben besonders sauer zu machen. Unterdessen konnte sich Meister Gansfleisch des Gefühls nicht erweh ren, daß ihm zumindest ein zeitweiser Hinrichtungsaufschub gewährt worden war. Es lag ihm eigentlich fern, seine Seele zu verpfänden, und nur die Versicherung Zuckgalgens, in einem solchen Fall sei der Teufel sicher ebenso dazu bereit, ihm die Prinzessin zu geben, wie er die schöne Helena von Troja dem verliebten Faust überantwortet hatte, war der Grund für die entsprechende Bereitschaftserklärung seinerseits. Unruhig folgte er Niobe, fragte sich, aus welchem Grund ihn das Fräulein zu sich bestellte, und hoffte, obgleich er eigentlich gar nicht zu hoffen wagte. Die Prinzessin wartete im Salon auf ihn. Sie nickte ihm kühl zu, als er eintrat. Mit einem Wink schickte sie die Zofe fort. Dann bedeutete sie dem Alchimisten, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Gehorsam setzte sich Meister Gansfleisch. »Kaspar«, begann Fräulein von Hohenheim und richtete ihren durch dringenden Blick auf ihn, »Sie haben mir des öfteren Ihre Meinung mit geteilt, insbesondere dann, wenn ich keinen Wert darauf legte. Gelegent lich grenzte Ihr Verhalten nicht mehr nur an Subordination. Und nicht selten war das, was Sie mir zu sagen hatten, völlig absurd. Aus diesem Grund sollten Sie mir zutiefst dankbar sein für die Worte, die ich nun an Sie zu richten gedenke.« Sie beugte sich vor, und die langen und knochigen Finger des Meisters fochten in seinem Schoß gegen sich selbst. »Kaspar, was diesen Mistkerl namens Schimmelhorn angeht, hatten Sie völlig recht.« Kaspar Gansfleisch hielt unwillkürlich den Atem an. »Ich habe die Situation mit aller Sorgfalt geprüft«, fuhr die Prinzessin fort, und er beobachtete, wie beim Sprechen die Lippen des Fräuleins zitterten und es andeutungsweise die herrlich weißen Zähne bleckte. »Schimmelhorns sexuelle Neigungen und Aktivitäten sind nachgerade schamlos. Inzwischen konnte ich mich auch mit… mit gewissen sehr zuverlässigen Berichten vertraut machen. Sie bestätigen das, was Sie mir
bereits zu denken gaben, und sie entsprechen auch dem Rat meines be rühmten Vorfahren: Ein derartiges Gebaren gefährdet in der Tat Erfolge bei den alchimistischen Forschungsarbeiten und Experimenten, mit de nen Sie sich befassen. Deshalb habe ich entschieden, es müssen einige bestimmte Maßnahmen ergriffen werden…« Sie zögerte kurz. »Erinnern Sie sich daran, daß Sie mir gegenüber das erwähnten, was die Araber mit Ismail machten?« Meister Gansfleisch rutschte aufgeregt auf dem Stuhl hin und her. Er wagte es, zu lächeln. Er befeuchtete sich die Lippen. »Oh, ja, natürlich, selbstverständlich, Prinzessin!« erwiderte er. »Oh, ich entsinne mich sehr gut daran. Und ob! Und ich habe ein herrlich scharfes Messer, Euer Durchlaucht – die ganze Sache wäre in Null Komma nichts geschehen, das kann ich Ihnen versichern!« Erneut leckte er sich die Lippen. »Viel leicht könnten wir auch Zuckgalgen bitten, ihn an einer gewissen Stelle zu beißen und…« Mit einer jähen Geste brachte ihn die Prinzessin zum Schweigen. »Ge ben Sie sich nicht noch als größerer Narr, als Sie bereits sind!« schnappte sie. »Ich kann es nicht zulassen, daß ihm irgendwie Gewalt angetan wird. Oh, wir streben das gleiche Ergebnis an, aber auf völlig legale und sehr subtile Art und Weise. Unter den vielen Formeln meines verehrten Ah nen – in den Unterlagen, die ich bisher noch niemandem gezeigt habe –, befindet sich eine, die sich bestens für unsere Zwecke eignet. Zuerst muß ich mich um einige nötige Arrangements kümmern, doch ich wün sche, daß in Ihrem Laboratorium alles bereit ist. Kehren Sie in exakt einer halben Stunde zu mir zurück. Ich gebe Ihnen dann genaue Anwei sungen. Und selbst wenn Sie die ganze Nacht durch alle Hände voll zu tun haben werden – ich möchte, daß das, was ich brauche, fertig ist, wenn ich morgen früh erwache. Haben Sie mich verstanden?« Meister Gansfleisch rieb sich entzückt die Hände. Er antwortete, es könne seinerseits nicht den geringsten Zweifel an der Richtigkeit ihres Vorhabens geben. Er versicherte dem Fräulein, es könne auf ihn zählen und es sei ihm ein Vergnügen, ihr in dieser Hinsicht zu helfen. Der Alchimist zog sich zurück, wobei er sich wiederholt tief verneigte, und anschließend sauste er durch den Korridor und lachte und gluckste glücklich vor sich hin.
Fräulein von Hohenheim wartete, bis der Meister außer Hörweite war. Dann griff sie zum Telefon und rief Herrn Doktor Rumpler an. Es ging ihr entschieden gegen den Strich, sich mit ihm in Verbindung zu setzen, doch ihr gesunder Menschenverstand als schweizerischer Bankier veran laßte sie dazu. Immerhin waren sie beide Partner bei diesem Unterneh men, und außerdem ging es um so viel, daß man durchaus die eine oder andere schwere Bürde auf sich nehmen konnte. »Gottfried…« sagte sie, und sie bemühte sich, ihre Stimme dabei so sanft und zärtlich und feminin wie möglich klingen zu lassen. »Sie… Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Gottfried nenne, oder?« Es war das erstemal, daß sie ihn mit seinem Vornamen ansprach, und obgleich einige tausend Kilometer sie trennten, konnte sie deutlich spü ren, wie er am anderen Ende der Leitung voller Sehnsucht erschauerte. Wie erwartet versicherte er ihr hastig, das sei ihm nur recht. »Gottfried, mein Freund, ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Sie betreffen diesen Schimmelhorn.« »Ist ihm etwas zugestoßen?« fragte Dr. Rumpler besorgt, und vor seinem inneren Auge lösten sich ganze Berge aus Gold in Luft auf. Das Fräulein teilte ihm mit, Papa Schimmelhorn gehe es prächtig, doch seine außerberuflichen Aktivitäten nähmen inzwischen alarmierende Ausmaße an. Er sei nicht mehr bereit, sich mit Emmy und Niki zufrie denzugeben. Er belästige alle hübschen Frauen Klein Paläons, und die einheimischen jungen Männer wetzten bereits ihre Messer und Dolche. Lebhaft behauptete Gottfried Rumpler, er habe das größte Vertrauen in das Fräulein und sei sicher, es fiele ihm bestimmt nicht weiter schwer, Papa Schimmelhorn im allgemeinen auf die Pfade alchimistischer Tu gend zurückzugeleiten und ihn im besonderen vor der Mordlust der maskulinen Inselbewohner zu schützen. »Ach, Gottfried!« erwiderte Fräulein von Hohenheim. »Sie verstehen nicht ganz. Paracelsus höchstpersönlich betonte mit allem Nachdruck, sexuelle Exzesse stellten eine große Gefahr für alchimistische Forschun gen dar.« »Ach, mein liebes Fräulein…« – sein Tonfall machte deutlich, welchen Respekt er vor den fraglichen Aktivitäten Papa Schimmelhorns hatte –
»… Schimmelhorns, äh, Exzesse haben sein Unterbewußtsein noch nie davon abgehalten, geniale Leistungen zu vollbringen. Sein Großneffe Anton Fledermaus – ein in höchstem Maße fähiger und zuverlässiger junger Mann – vertritt sogar die Ansicht, daß sie für die Erfolge seines Großonkels unabdingbar sind.« Philippa von Hohenheim senkte die Stimme. Auf Klein Paläon habe sich die Lage verändert, bemerkte sie heiser und bedeutungsvoll. Papa Schimmelhorn kümmere sich praktisch überhaupt nicht mehr um seine alchimistischen Aufgaben. Selbst Meister Gansfleisch, ein sehr gutmüti ger und sanfter und geduldiger Mann, sei ganz niedergeschlagen und verzweifelt. Es ließe sich nicht umgehen, drastische Maßnahmen zu er greifen. »Hm… äh… nun…« machte Dr. Rumpler. »Was für Maßnahmen schlagen Sie angesichts einer derartigen Krisensituation denn vor, liebes Fräulein? Wissen Sie, ich könnte Ihnen natürlich jederzeit… äh… Ver stärkung schicken. Damit meine ich weitere…« Das Fräulein gab ein zwar arglistiges, aber recht überzeugend klingen des leises Schluchzen von sich. »Ich… ich hatte gehofft, Gottfried, daß Ihnen, da Sie ja ein Mann sind, eine praktische Möglichkeit einfiele. Wenn Sie noch weitere junge Frauen hierher schickten, würde sich die Lage nur noch zuspitzen.« »Was, beim Henker, sollen wir denn machen?« »Gottfried, lieber Freund«, entgegnete Fräulein von Hohenheim. »Ich fürchte, es gibt nur eine Lösung für das Problem. Wenn es schon nicht möglich ist, Schimmelhorn von seinen Gelüsten zu befreien, so sollten wir ihm zumindest die Fähigkeit nehmen, sich in rein physischer Hin sicht entsprechend ablenken zu lassen.« Sie hörte, wie ihr Geschäftspartner ein entsetztes Keuchen von sich gab. »Aber… aber das geht doch nicht! Es… es wäre gegen das Gesetz! Und überaus grausam noch dazu! Höchst verehrtes Fräulein…« »Ach, Gottfried, Gottfried!« unterbrach sie ihn. »Gerade Sie brauchen mich doch nicht Fräulein zu nennen – für Sie bin ich Philippa.« Sie schluchzte erneut. Sie versprach ihm, Papa Schimmelhorn geschähe kein
Leid. Sie berichtete ihm von der Formel Paracelsus', die eine je nach Be darf nachhaltige oder vorübergehende Wirkung erziele, denn immerhin gebe es ein überaus effizientes Gegenmittel. »Lieber Gottfried, Sie müs sen Frau Schimmelhorn anrufen. Sie wird uns sicher verstehen und uns ihre Erlaubnis erteilen.« Die Veränderung im Verhalten der werten Philippa, ihr offensichtli cher Wunsch, hinter seiner starken Männlichkeit Schutz zu suchen – das waren durchaus beeindruckende Argumente. Dennoch zögerte der Herr Doktor Rumpler. »Oh, bitte!« flehte Fräulein von Hohenheim ins Telefon. »Versuchen Sie, mich zu verstehen. Gottfried, er hat nicht einmal davor zurückgeschreckt, mich zu belästigen!« Von einem Augenblick zum anderen sah Dr. Rumpler Papa Schim melhorn in einem anderen Licht. »Das ist ja empörend!« ereiferte er sich. »Schlichtweg unfaßbar! Dieser Mann ist ein Tier! Liebe Philippa! Teuerste! Auf der Stelle rufe ich Frau Schimmelhorn an! Anschließend melde ich mich wieder bei Ihnen.« Er unterbrach die Verbindung, und Fräulein von Hohenheim legte den Hörer auf. Dummkopf! dachte sie, als sie sich die Aufregung Dr. Rumplers vorstellte. Was für ein Glück, daß du so ein blöder Macho bist! Wenn nicht, wäre mein kleiner Trick sicher nicht annähernd so erfolgreich gewesen. Sie kicherte leise vor sich hin. Nun, nachdem die Formel auf Papa Schimmelhorn die gewünschte Wirkung erzielt hat, muß ich dich wahrscheinlich ebenfalls damit behandeln. Ach, mein lieber Gottfried, ich kann es gar nicht erwarten. Diese erfreulichen Aussichten veranlaßten Philippa zu einem zufriede nen Lächeln, und sie ließ sich wieder in die weichen Polster der kaiserli chen Liege sinken und wartete auf den Rückruf Dr. Rumplers. Sie brauchte sich nur kurze Zeit zu gedulden. Mama Schimmelhorn war zu Hause und strickte gerade ein wollenes Halstuch für Pastor Hundhammer. Sie sei überrascht, so antwortete sie dem Herrn Doktor, nicht etwa aufgrund der Lasterhaftigkeit Papa Schimmelhorns, sondern vielmehr wegen des Umstandes, daß es ihrem Mann gelungen sei, unter den gestrengen Augen ehrenwerter schweizerischer Bankiers sein Unwe sen zu treiben, ohne daß ihm jemand die Leviten gelesen hatte. Und jetzt
setze er alles aufs Spiel, so daß die Kirche vielleicht keinen neuen Glok kenturm bekam? Daraufhin erwiderte Dr. Rumpler ernst, es entspräche seinem aufrich tigen Wunsch, daß der Kirche der neue Glockenturm nicht verlustig ginge. Gleichzeitig betonte er jedoch, er mache sich große Sorgen – und Frau Schimmelhorn verstünde doch sicher, daß die Rumpler Bank und ihre Geschäftspartner im Hinblick auf die erfolgten Investitionen einen bescheidenen Profit erwarteten? Dem stimmte Mama Schimmelhorn aus vollem Herzen zu und fragte, ob der Herr Doktor wünsche, daß sie so fort nach Zürich fliege, um ihren Gatten zu maßregeln? Hastig versicherte ihr Gottfried Rumpler, dies sei gewiß nicht nötig, und er fügte hinzu, es gäbe eine einfachere Methode, ihren Mann zur Ordnung zu rufen. Es sei nicht erforderlich, daß sie sich die Mühe ma che, ihm die Ohren langzuziehen und die Spitze des schwarzen Regen schirms in die Rippen zu stoßen. Anschließend beschrieb er den Vor schlag des Fräuleins. Die ungefährliche Substanz, die bei diesem Unter fangen Verwendung finde, sei vom berühmtesten aller Schweizer Ärzte entwickelt worden. Man habe sie umfangreichen Tests unterzogen, und es könne kein Zweifel daran bestehen, daß sich die Wirkung jederzeit mit einem Gegenmittel aufheben ließe. »Äs wird Papa also nicht wäh tun?« fragte Mama Schimmelhorn. »Äs entlädt nur dän Schtrom aus dän Batterien der Potänz? Und dann ischt er wie där alte Hainrich Lüdesing und kann kainen nackten Mädchen mähr nachschtällen? Nun, viellaicht ischt ihm das aine Lähre!« Dann dankte sie dem Herrn Doktor für seinen Scharfsinn und gab ihm die formelle Erlaubnis für die entsprechende Desaktivierung Papa Schimmelhorns. Er wünschte ihr einen guten Abend, und selbst nach dem er aufgelegt hatte, glaubte er noch das schadenfrohe Kichern Mama Schimmelhorns zu hören. »Haben Sie das Gespräch aufgezeichnet, Gottfried?« »Natürlich, liebe Philippa!« »Ach, Gottfried«, hauchte das Fräulein, »Sie sind ja so geschickt! Ich weiß gar nicht, wie ich ohne Ihre Hilfe zurechtkäme…«
Meister Kaspar Gansfleisch kehrte in gehobener Stimmung in seinen Turm zurück. Eilig trat er ein, wirbelte einige Male triumphierend um die eigene Achse, ignorierte Zuckgalgen, summte eine zwar disharmonische, nichtsdestoweniger aber sehr ausgelassene und glückliche Melodie und machte sich sofort daran, den steinernen Boden von den Resten des Pentagramms zu befreien, mit dem er fast die Essenz seiner Seele ver kauft hätte. Zuckgalgen sah dadurch seine Befürchtung bestätigt, die Hoffnung auf eine rasche Beförderung aufgeben zu müssen. Er gab sich alle Mühe, vor Wut nicht mit den gelben Zähnen zu knirschen, und er bat den Alchimi sten, sich die ganze Sache noch einmal gut zu überlegen. »Meister«, quiekte er und versuchte, so demütig wie möglich zu klin gen, »wie kannst du mir nur so was antun, he? Na gut, ich bin nur ein kleiner und unwichtiger Dämon, nicht so 'n hoher Typ wie Mephisto und all die anderen Lamettaträger in der Hölle. Aber ich habe doch wohl 'n paar Rechte, oder? Ich habe mich doch immer an deine Anweisungen gehalten, genau so, wie es der Vertrag zwischen uns beiden vorsah. Stimmt doch, oder?« Meister Gansfleisch achtete gar nicht auf ihn. Er entfernte die letzten Reste der magischen Kreide vom Boden und brachte sowohl die schwar zen Kerzen als auch die anderen Dinge fort, die er für die Zeremonie vorbereitet hatte. »He, hör mir doch mal zu, Meister – ich bin's, dein treuer Diener«, quiekte Zuckgalgen und verlieh seiner Stimme ein weinerliches Vibrie ren. »Behaupte nachher bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Jetzt hat dich diese komische Prinzessin am Schlawittchen…« »Schweig, du Ratte!« donnerte Meister Gansfleisch. Zuckgalgen kam der Aufforderung sofort nach, doch insgeheim dachte er: Warte nur ab, Meister Klugscheißer. Du glaubst, du hast mich ebenso an die Kandarre gelegt wie jene Lutsche dich. Ha! Aber es gibt keinen Vertrag, in dessen Kleingedrucktem sich nicht die eine oder andere Fujiangel verbirgt. Warte nur ab… Der Alchimist beendete die Aufräumarbeiten und kleidete sich an schließend in seine besseren Sachen. Dann verließ er das Laboratorium und verriegelte die Tür hinter sich.
Genau nach einer halben Stunde klopfte er an die Tür der Prinzessin.
Niobe gewährte ihm Einlaß.
Er trat vor und verneigte sich unterwürfig. Fräulein von Hohenheim
bedachte ihn mit einem herablassenden Nicken. Sie saß erneut auf dem kaiserlichen Sofa, und auf ihrem Schoß lag ein altes Buch, das mit einem Einband aus Schweinsleder und metallenen Schließen versehen war. Philippa schlug es auf und bedeutete dem Alchimisten mit einem Wink, näher heranzukommen. »Hier steht die Formel, die ich vorhin erwähnte«, sagte sie. »Niedergeschrieben in der Handschrift des großen Paracelsus. Setzen Sie sich zu mir an den Tisch, und schreiben Sie die Formel ab. Anschließend prüfe ich, ob Ihre Kopie wirklich fehlerlos ist. Danach folgt die gleiche Prozedur mit der zweiten Formel, die die Wir kung der ersten aufhebt. Sie wenden mir nicht den Rücken zu, und Sie werden auch keinen Versuch machen, sich andere Passagen des Manu skriptes anzusehen. Haben Sie das alles verstanden?« Meister Gansfleisch wäre auf der Stelle dazu bereit gewesen, sein See lenheil, das gerade nur knapp einem folgenschweren Verkauf an die Für sten der Finsternis entgangen war, zu verpfänden – wenn sich ihm da durch eine Möglichkeit dargeboten hätte, besagtes Buch vom Anfang bis zum Ende zu lesen. Dennoch rang er sich eilig ein zustimmendes Nicken ab. »Nun gut«, sagte die Prinzessin. »Also los.« Während der wachsame Blick des Fräuleins an ihm festklebte, machte sich Meister Gansfleisch mit zitternder Hand daran, das schnörkelige Latein des Manuskriptes zu kopieren. Es gelang ihm nur unvollständig, seine Aufregung zu verbergen, und nach einer Weile las er der Prinzessin das vor, was er sich notiert hatte. Der Vorgang wiederholte sich mit der zweiten Formel. Dann klappte Philippa von Hohenheim das Buch zu. »Und jetzt«, ver kündete sie, »kehren Sie in Ihr Laboratorium zurück und machen sich sofort an die Arbeit, um eine ausreichende Menge von beiden Mitteln herzustellen. Sie dürften darüber informiert sein, daß meine Kenntnisse über die Geheimwissenschaften ausreichen, um zu wissen, daß Sie über alle notwendigen Substanzen verfügen und die Mischung nicht länger als zwei oder drei Stunden in Anspruch nimmt. Wenn Sie fertig sind, brin
gen Sie mir sofort das Ergebnis Ihrer Bemühungen, ganz gleich, wie spät es dann sein mag.« »Natürlich, Euer Durchlaucht, selbstverständlich!« juchzte der Alchi mist. »Oh, ich kann es gar nicht abwarten zu erleben, was der alte Bock für ein Gesicht macht, wenn… wenn er…« »Ich bin sicher«, unterbrach ihn die Prinzessin und deutete ein Lächeln an, »Sie kommen auf Ihre Kosten. Aber…« – ihre Züge verhärteten sich – »… Sie werden sich nur sehr leise ins Fäustchen lachen und Ihre hämi sche Freude in aller Zurückgezogenheit genießen. Lassen Sie Schimmel horn auf keinen Fall wissen, daß wir für die… Veränderung verantwort lich sind, mit der er sich bald wird auseinandersetzen müssen. Sie begeg nen ihm mit ausgesuchter Höflichkeit und befolgen alle seine Anweisun gen, was die Arbeit betrifft. Ich muß einige wichtige geschäftliche Ter mine in Zürich einhalten, und ich bleibe hier nur noch so lange, bis ich mich vergewissert habe, daß die Behandlung auch wirklich erfolgreich verlaufen ist. Anschließend bin ich mindestens eine Woche lang fort. Und wenn Ihnen Herr Schimmelhorn während dieser Zeit eine Ein kaufsliste gibt, so werden Sie sich sofort auf den Weg nach Athen ma chen und die Dinge besorgen, die er braucht.« Meister Gansfleisch setzte zu einem Protest an, doch die Prinzessin kam ihm zuvor. »Schweigen Sie!« befahl sie. »Derzeit müssen Sie sich mit dem zufriedengeben, was Sie Herrn Schimmelhorn mit Ihren Mittelchen antun. Später… Nun, wir werden sehen.« Sie entließ den Alchimisten mit einem Wink. Kaspar Gansfleisch ent hielt sich klugerweise weiterer Einwände, verneigte sich und zog sich zurück. »Ich… ich braue die… die Medizin zusammen, jaja, he-he, darauf kön nen Sie sich verlassen, Prinzessin! Oh, und zwar mit all meinem Ge schick und so rasch wie möglich.« Er malte sich aus, was für eine Miene Papa Schimmelhorn ziehen mochte, wenn er begriff, was mit ihm ge schehen war. »Ja, ja, Euer Durchlaucht! Und Sie können sich darauf ver lassen, daß die… Arznei – he-he – noch in dieser Nacht fertiggestellt wird! Und…«
Das Fräulein deutete energisch auf die Tür. Meister Gansfleisch drück te den Zettel mit den abgeschriebenen Formeln an sich und hastete auf den Flur. Niobe schloß die Tür. »Was für eine abscheuliche und widerwärtige Person!« bemerkte die Prinzessin. »Niobe, bring Mavronides zu mir. Es wird sicher angenehm sein, mit einem so einfachen und ehrlichen und mir treu ergebenen Mann zu sprechen.« Während Fräulein von Hohenheim wartete, blätterte sie, wie schon so oft zuvor, durch das Manuskript Paracelsus' und machte sich gedankliche Notizen hinsichtlich der Bemerkungen und Ausführungen und Instruk tionen ihres berühmten Vorfahren, die sich für sie entweder in ihrer Ei genschaft als Prinzessin-Priesterin oder ihrem Wesensaspekt als schwei zerischer Bankier als nützlich erweisen mochten. Als Niobe mit Mavro nides zurückkehrte, legte sie das Buch fast widerstrebend beiseite. »Sarpedon«, sagte sie und bedachte den Griechen mit einem majestäti schen Lächeln, »setzen Sie sich, und hören Sie mir gut zu.« Sie nahm kein Blatt vor den Mund, als sie ihm von dem berichtete, wozu sich Papa Schimmelhorn ihr gegenüber erdreistet hatte und worin die Konsequenzen für ein derart unverschämtes Verhalten bestehen würden. »Meister Gansfleisch«, so informierte sie Mavronides, »wird mir noch heute nacht das bringen, was er auf der Grundlage der Formeln in sei nem Laboratorium herstellt. Ich möchte, daß Sie aufbleiben und warten, bis Niobe Ihnen die für Schimmelhorn vorgesehene Arznei bringt. Es muß dafür gesorgt werden, daß er sie beim Frühstück einnimmt, und es darf zu keinem Fehler kommen. Diese Aufgabe vertraue ich Ihnen an. Geben Sie ihm das Mittel mit der Mahlzeit, die nur für ihn vorgesehen ist, und servieren Sie ihm den entsprechenden Teller höchstpersönlich. Ist das klar?« Während Fräulein von Hohenheim sprach, brachte das Gesicht des Griechen zunächst Fassungslosigkeit angesichts der geradezu unglaubli chen Impertinenz Papa Schimmelhorns zum Ausdruck und zeigte dann die Ergebenheit der Prinzessin gegenüber, die sich auf jahrelange Treue gründete.
»Ich habe verstanden«, bestätigte er. »Mylady, Schimmelhorn wird die Dosis morgen früh bekommen, darauf können Sie sich verlassen.«
6
Aine Frage där Potänz
Als am nächsten Morgen die jungen – und hübschen – Bediensteten kamen, um Papa Schimmelhorn und seinen beiden Schmusemiezen das Frühstück zu servieren, wurden sie von einem sich betont fröhlich ge benden Mavronides begleitet, der die Vorbereitung des Tisches höchst persönlich überwachte und auch selbst die dampfenden Teller plazierte. Den letzten – er war besonders groß und gefüllt mit Rühreiern, Würst chen, Schinken und herrlich braunen Bratkartoffeln, ganz so, wie Papa Schimmelhorn es mochte – stellte er vor sein Opfer. »Sind Sie unglücklich, Härr Zorba?« donnerte Papa Schimmelhorn und machte sich mit großem Appetit daran, die Mahlzeit zu verschlingen. »Schtimmt viellaicht irgend ätwas nicht? Sätzen Sie sich, und trinken Sie ainen Kaffee mit uns, und dann sage ich Ihnen, wie äs mir gelungen ischt, Saft und Kraft bis ins hohe Alter zu bewahren!« Widerstrebend nahm Mavronides Platz. Zögernd nippte er an dem Kaffee, den Niki ihm einschenkte. Er versicherte Papa Schimmelhorn, es sei alles in bester Ordnung. Er bedaure nur, sich bald wieder an die Ar beit machen zu müssen, und es gäbe so viel zu tun, so viele Probleme zu lösen. Er seufzte, und Papa Schimmelhorn, der zu diesem Zeitpunkt argwöhnte, sein kleiner Abstecher in die Gemächer des Fräuleins – ein Besuch, der bei der Prinzessin, gelinde gesagt, nur wenig Begeisterung hervorgerufen hatte – könne unangenehme Folgen für den netten Grie chen gehabt haben. Er nahm sich vor, Mavronides einige entsprechende Fragen zu stellen, wenn sie allein und ungestört waren. Als er sich schließlich verabschiedete und ging, versuchte Papa Schimmelhorn nicht, ihn aufzuhalten. »Armer Zorba!« meinte er, als er seinen Teller leergeputzt und von Miß Emmy eine Extrawurst stibitzt hatte. »Muß ja solche Värantwortung tragen! Är braucht Urlaub, jawoll. Ich wärde ihm raten, in die Schwaiz zu raisen und viellaicht ain bißchen in dän Alpen härumzuklättern.« Er legte
die Serviette auf den Tisch und stand auf. »Nun, wir sähen uns schpäter. Maischter Gansi ärwartet mich zur Arbait.« Er war nicht nur darüber erstaunt gewesen, daß Mavronides ihm an diesem Morgen beim Frühstück Gesellschaft geleistet hatte, sondern auch von dem Ernst des Griechen. Im Laboratorium erwartete ihn eine zweite große Überraschung. Meister Gansfleisch war nicht länger der unfreundliche und barsche Alchimist, der jede Minute, die er in der Ge sellschaft Schimmelhorns verbringen mußte, als ein Martyrium erachtete. Statt dessen lächelte er freundlich, klopfte seinem Kollegen fröhlich auf die Schulter, erkundigte sich mehrmals eifrig, wie er sich denn fühle und ob es ihm auch wirklich prächtig ergehe, und betonte einige Male, wie vortrefflich er aussehe, daß er vor Kraft geradezu strotze. Darüber hin aus gab er sich diesmal alle Mühe, ihm wirklich zu assistieren, anstatt seine Bemühungen zu behindern. Was ischt dänn nur los mit ihm? fragte sich Papa Schimmelhorn. Ganz plötzlich platzt Maischter Gansi ja geradezu vor Freude. Na, wänigschtens macht das die Arbait mit ihm laichter, also was soll's… Den ganzen Tag über herrschte zwischen ihnen bestes Einvernehmen. Papa Schimmelhorn konstruierte das Gitter aus kleinen Kleiderbügeln, auf dem der komplizierte Kristall wachsen sollte, in einem gläsernen Gefäß, das auch nur anzurühren ihm der Alchimist bisher strengstens verboten hatte. Er füllte es mit giftigen Flüssigkeiten, die er selbst zu sammenbraute und die aus Substanzen bestand, die Meister Gansfleisch ihm ohne zu murren zur Verfügung stellte. Er fügte der bereits recht langen Einkaufsliste noch einige weitere Gegenstände hinzu, ohne daß das die Fröhlichkeit Kaspars beeinträchtigte: Batterien, einen Generator und eine Vielzahl exotisch anmutender elektronischer Bausteine. Jedes einzelne Objekt wurde mit aller Sorgfalt in die besagte Liste aufgenom men, und die wenigen Fragen, die der Alchimist stellte, dienten ganz offensichtlich nur dem Zweck, diverse Verständnisprobleme zu lösen. Zuckgalgen fiel durch Abwesenheit auf. Papa Schimmelhorn arbeitete bis spät in den Nachmittag, und schließ lich verkündete er, für heute habe er genug geleistet und müsse sich nun beeilen, um sich vor dem Abendessen noch den von ihm so geliebten
sportlichen Übungen – ho-ho-ho! – widmen zu können, die ihn trotz seines hohen Alters so jung und agil erhielten. Zu seinem Erstaunen schien Meister Gansfleisch nicht nur Verständnis dafür aufzubringen, sondern sich mit ihm zu freuen. Fast im wahrsten Sinne des Wortes hüpfte er von einem Bein aufs andere, als er seinen Feind zur Tür begleitete und kicherte, wie sehr er ihn doch beneide. Er wünschte ihm all das Vergnügen, das die Gesellschaft zweier so hüb scher Schmusemiezen verheiße. Erst nachdem er die Tür geschlossen und verriegelt hatte, änderte sich sein Gesichtsausdruck. Von einem Au genblick zum anderen wurde seine Miene zu einer Fratze hämischer Bosheit. Dreimal drehte er sich dem Uhrzeigersinn entgegengesetzt um die eigene Achse. Er klatschte in die Hände. Er griff nach der Flasche mit seinem Lieblingsmutmacher und bevorzugten Tröster und nahm einen mächtigen Schluck zur Feier der Entschärfung Papa Schimmel horns. Darm, so schnell es ihm möglich war, kehrte er in sein Turmquar tier zurück, um im Verlaufe der nächsten Stunde mit Hilfe seines Tele skops festzustellen, ob es irgendwelche dramatischen Hinweise auf das gab, was er in der vergangenen Nacht in die Wege geleitet hatte. Papa Schimmelhorn ahnte nach wie vor nichts Böses. Auch er begab sich in seine Unterkunft, und auf dem Weg dorthin stellte er sich vor, mit welcher Begeisterung ihn die beiden Schmusekätzchen in Empfang nehmen würden. Sie erwarteten ihn in der Art von Kleidung – wenn man überhaupt davon sprechen konnte –, die für sportliche Übungen, die er im Sinn hatte, vorzüglich geeignet war, und scheu und schüchtern verbargen sie sich hinter der Tür des Schlafzimmers. Sie küßten ihn bei de, als er eintrat. Dann kicherte Niki, führte ihn in Richtung Bett, drück te ihn verspielt aufs Polster und nahm sich seine Hemdknöpfe vor, wäh rend Emmy größeres Interesse am Reißverschluß der Hose an den Tag legte. Nach einigen Minuten der Neckereien und fröhlichen Spielchen war Papa Schimmelhorn nur noch mit dem haarigen Pelz auf seiner Brust bekleidet. Und nichts geschah. Die beiden Schmusemiezen verstärkten ihre Bemühungen, und Papa Schimmelhorn begann sich erste Sorgen zu machen. »Wie sältsam!«
brummte er. »Sait mainem achten Geburtstag ischt mir das nicht mähr passiert…« Während der nächsten halben Stunde wandten Emmy und Niki, die in dieser Hinsicht sehr talentiert waren, ihr ganzes Geschick auf, versuchten mit allen Tricks und Kniffen, ein gewisses Körperteil Papas dazu zu ver anlassen, die ihm gebührende Form anzunehmen – vergeblich. Zum erstenmal in seinem Leben versteifte er sich nicht. Zum erstenmal in seinem Leben ließen ihn Saft und Kraft im Stich. Schließlich richtete er sich auf und hockte sich schockiert auf die Bettkante. Eine Träne rollte ihm über die Wange und verschwand in seinem dichten Bart. »Ach, äs hat kainen Sinn!« stöhnte er. »Jätzt bin ich nichts waiter mähr als ain armer alter Mann, genau wie Hainrich Lüdesing. Ja, ich bin wie Ismail, nur daß äs bai mir nicht schnipp! gemacht hat.« »Vielleicht bist du nur müde und erschöpft«, tröstete ihn die liebe Emmy. »Du hast dich doch nicht etwa mit den Inselmädchen vergnügt, oder?« fragte Niki, die ein wenig praktischer dachte als ihre Kollegin. »Nain«, seufzte er. »Dän ganzen Tag über bin ich brav gewäsen, sait dän ärschten Übungen vor dem Frühstück. Ich habe nur mit Maischter Gansi gearbaitet, ja, ganz beschtimmt.« Langsam schüttelte er den Kopf; und er erweckte ganz den Anschein, als sei für ihn das Ende der Welt gekommen. »Nain, der Grund ischt, daß ich jätzt ain alter Mann und zu nichts mähr zu gebrauchen bin.« Plötzlich stellte er sich selbst vor, ver bannt in ein Altersheim von New Haven; er sah sich mit einem Krück stock dahinzittern, als ein Häufchen Elend in einem Rollstuhl, beobach tete sich, wie er mit anderen impotenten Greisen schwatzte und Besuch empfing von den fürsorglichen Damen aus der Kirche Pastor Hund hammers, die ihm kleine Trostgeschenke mitbrachten – und auch from me Lektüre, damit er sich die Zeit vertreiben konnte. Er stöhnte schwermütig. Niki und Emmy waren in ihrem professionellen Stolz verletzt, und sie verdoppelten ihre Anstrengungen. Doch wieder stellte sich nicht der erhoffte Erfolg ein. Die Stimmung Papa Schimmelhorns verdüsterte sich weiter. Die Bemerkungen, mit denen er sein Schicksal umschrieb, wur den immer verzweifelter. Schließlich gaben es die beiden jungen Damen
auf, versuchten jedoch weiterhin, ihm Mut zu machen. Wahrscheinlich sei er bis zum nächsten Morgen wieder ganz der alte. Vielleicht habe er nur sein Unterbewußtsein überanstrengt. Möglicherweise brauche er nur einen stärkenden Trunk… »Nain, nain«, erwiderte er niedergeschlagen. »Ich fühle äs direkt in mainen Knochen. Noch ain oder zwai Jahre, und dann – zack! – kain Papa Schimmelhorn mähr. Jätzt tauge ich nur noch für die Arbait mit Maischter Gansi, und viellaicht kann ich noch die aine oder andere Kuk kucksuhr bauen, wänn ich wieder zu Hause bin. Aber ihr said zwai hüb sche Schmusemiezen voller Saft und Kraft. Ihr solltet eure Zait nicht mit ainem armen alten Mann värschwänden, wo die Insel doch voller junger Kärle ischt.« Er schluchzte herzergreifend, und Gustav-Adolf sprang ihm auf den Schoß und gab ein besorgtes Schnurren von sich. »Ich muß jätzt brav sain und mainen lieben Guschtav-Adolf schtraicheln anstatt klaine Schmusekätzchen, und wänn ich allain bin, värgässe ich viellaicht, daß die Batterien mainer Potänz ohne Schtrom sind. Ach, ja, jätzt bin ich nur noch ain Dschänie. Tja, Niki und Emmy, am bäschten, ihr macht ainen nätten Schpaziergang am Schtrand, so wie früher mit mir zusam men. Ihr lauscht däm Rauschen där Wällen und schwimmt ain bißchen mit dän Tümmlern, und wänn ihr dann zum Abendässen zurückkommt, gäht äs mir möglicherwaise ain wänig bässer.« Sie küßten ihn. Sie streichelten ihn zärtlich. Sie halfen ihm beim Anzie hen. Dann kamen sie gehorsam der Bitte Papa Schimmelhorns nach – und Meister Gansfleisch, der sie durch sein Teleskop beobachtete, juchz te triumphierend und machte sich sofort auf den Weg, um der Prinzessin mitzuteilen, als wie erfolgreich sich die Anwendung der Formel erwiesen hatte. Die nächsten Tage hielten schmerzliche Erfahrungen für Papa Schim melhorn bereit. Er mußte nicht nur die Bürde seiner in höchstem Maße beeinträchtigten körperlichen Leistungsfähigkeit tragen, sondern auch beobachten, wie die zuvor so freundliche Bevölkerung Klein Paläons seine Nähe zu meiden begann. Bei einigen Gelegenheiten glaubte er so gar zu erkennen, wie die Kinder, die ihn mit hängenden Schultern über den Strand wanken sahen, sich bekreuzigten, um dämonisches Unheil zu
bannen. Nur Ismail gab ihm heimlich und aus sicherer Entfernung zu verstehen, daß er Mitleid für ihn empfand und in Papa jetzt offenbar eine Art Leidensgenossen erkannte. Voller Verzweiflung verfaßte er ein an Mama Schimmelhorn adressiertes Funktelegramm, in dem er sie, mit nicht sonderlich ausgefeilten Formulierungen, darum bat, ihm so rasch wie möglich einen kleinen Vorrat an mutierter Katzenminze zu schicken, die »für einen Freund« bestimmt sei, und er bestach einen Fischer dazu, es von Kreta aus abzuschicken. Er bekam jedoch keine Antwort. Mama las das Telegramm, kicherte ein »Das gäschieht dir nur rächt, du lüsch tärner alter Ziegenbock!« und warf es anschließend in den Papierkorb. Papa Schimmelhorns Arbeiten allerdings machten recht gute Fort schritte. Der in eine eigentümliche blubbernde und dampfende Flüssig keit getauchte sonderbare Kristall begann auch ohne die Elektrizität zu wachsen, der er später ausgesetzt sein sollte. Dennoch schien nichts ganz richtig zu laufen. Meister Gansfleisch erkundigte sich immer in den un passendsten Momenten nach seinem Wohlergehen, was in Papa Schim melhorn überaus farbige und lebhafte Tagträume hervorrief, in denen es ausschließlich um die hübschesten Schmusemiezen und insbesondere die vortrefflichen Leistungen ging, zu denen seine Manneskraft zuvor in der Lage gewesen war. Niki und Emmy, gemäß ihren Verpflichtungen gegenüber der Rumpler Bank, gaben sich die größte Mühe, ihn zu trösten und ihm Mut zu ma chen. Während seiner freien Zeit versuchten sie, ihn dazu zu bringen, mit ihnen am Strand Fangen zu spielen, im Meer zu schwimmen oder zumindest ein wenig Interesse für die Ruinen der Insel aufzubringen, die einheimische Fauna oder die vielen Legenden, die sie von den Bewoh nern gehört hatten. Nachts schmiegten sie sich in dem breiten Bett an ihn, trachteten danach, ihn zu beruhigen, und erzählten ihm erotische Geschichten, wenn er erneut schwermütig zu seufzen begann. Es blieb alles vergebens. Unschuldige Spiele am Strand erinnerten ihn nur bitter lich an weitaus aufregenderen Zeitvertreib. Die Ruinen riefen ihm nur seine eigene Gebrechlichkeit ins Gedächtnis zurück. Die Fauna schien ausschließlich darauf konzentriert zu sein, sich zu reproduzieren. Und in den Legenden ging es grausamerweise fast immer um irgendwelche olympischen Helden mit einem nachgerade erstaunlichen Leistungsver mögen. Immer öfter schickte er die beiden jungen Frauen allein los und
nutzte die Einsamkeit entweder dazu, sich der Arbeit zu widmen oder apathisch der Verzweiflung hinzugeben. Nur Gustav-Adolf leistete ihm dabei Gesellschaft. Schließlich klammerte er sich an den letzten Strohhalm und wandte sich an Sarpedon Mavronides, der ihm während der letzten Zeit aus dem Weg gegangen war, und er vertraute sich dem Griechen an. Mavronides hörte ihm aufmerksam zu und runzelte unheilvoll die Stirn. »Ach, maine Güte!« beendete Papa Schimmelhorn seinen kummervol len Vortrag. »Ich värschtähe das ainfach nicht, Härr Zorba! Ganz plötz lich – ainfach so! Das ischt mir noch nie zuvor in mainem Läben pas siert, nain, noch nie! Was ischt dänn nur los?« Einige Sekunden lang starrte ihn Mavronides aus seinen dunklen Au gen durchdringend und stumm an. Dann warf er einen Blick über die Schulter und erwiderte mit gesenkter und besorgt klingender Stimme: »Die Götter haben Sie bestraft. Sie wurden gewarnt – das Fräulein von Ho henheim ist Prinzessin und Priesterin! Sie hütet die Heiligen Mysterien! Sie… sie selbst ist heilig. Und Sie… Sie haben es gewagt, sich ihr auf eine empörende Art und Weise zu nähern! Wundert es Sie also, daß sich die Götter deswegen an Ihnen rächen und Ihnen die Manneskraft genom men haben? Sie können von Glück sagen, daß sie Sie nicht auf der Stelle mit einem Blitz vernichtet haben, daß sie nicht befahl, Sie sofort ins… ins Labyrinth zu bringen!« Ohne ein weiteres Wort wandte sich Mavronides um und ging, und Papa Schimmelhorn blieb noch mutloser zurück als zuvor. Die nächsten Stunden und Tage brachten keine Besserung der Lage. Immer öfter dachte Papa Schimmelhorn wehmütig an sein Zuhause und Mama, stellte sich vor, wie sein tiefer und dröhnender Baß die anderen Stimmen des Chors Pastor Hundhammers übertönte. Er malte sich aus, wie er in der Fabrik Heinrich Lüdesings und in seiner Kellerwerkstatt arbeitete, doch diese nostalgischen Reminiszenzen weckten unvermeid lich andere Erinnerungen – an Miß Kittikool und Miß MacTavish, die sich während des Flugs nach Hongkong an ihn schmiegten, an die Strumpfhosen von Dora Großapfel, die man so leicht herunterziehen
konnte… Papa Schimmelhorn empfand den Kummer fast als unerträg lich. Doch die Arbeit ging weiter, und am fünften Tag nach der Abreise des Fräuleins wurde es Zeit für Meister Gansfleisch, nach Athen zu fliegen, um dort einzukaufen. Der Alchimist hatte sich im Verlaufe der vergangenen Tage außerordent lich vergnügt. Dann und wann, wenn er Papa Schimmelhorn dabei beo bachtete, wie er schwermütig und grübelnd durchs Laboratorium wank te, fiel es ihm sehr schwer, nicht lauthals loszulachen. Tatsächlich genoß er seinen Triumph so sehr, daß er es kaum bedauer te, die Anweisung der Prinzessin zu befolgen und für Schimmelhorn einkaufen zu gehen. Jeden Tag, wenn er sich in sein abgelegenes Turmquartier zurückzog, gab er Zuckgalgen gegenüber wortgewaltig und gestenreich seiner hämi schen Freude Ausdruck, rühmte sowohl seine Klugheit als auch seinen ausgeprägten Scharfsinn und ließ keinen Zweifel daran, daß ein wirklich kompetenter und fähiger Thaumaturge die Mächte der Finsternis nicht brauchte und erst recht keine Dämonen nötig hatte, die in der höllischen Hackordnung einen so niedrigen Rang einnahmen wie sein Vertrauter. Zuckgalgen, dessen Pläne sowohl für die Zukunft Meister Gansfleischs als auch seine eigene zunichte gemacht worden waren, beobachtete ihn wütend aus seinen Augen, die wie Kohlen glühten, beschränkte seine Erwiderungen auf ein gelegentliches Rattenpiepsen und prüfte in Ge danken den Vertrag, der ihn dem Willen des Alchimisten unterwarf. Er dachte über die Befehle nach, an die er sich halten mußte, und gleichzei tig erwog er Möglichkeiten, sie zu umgehen und irgendeine Gelegenheit zu finden, seine Rachegelüste auf angemessene Weise zu befriedigen. Ich bin nett zu dem blöden Homunkulus, wenn ich ihn aus dem Glas lasse, damit er was zu Beißen bekommt, dachte er. Und ich will auch höflich sein zu dem verdammten Kater – aber hat mir vielleicht jemand verboten, mich zu verteidigen, wenn ich ange griffen werde, na? Eben! Ja, wenn die Mistmieze da durchs Fenster kommt und… He, das ist noch besser! Ich behaupte einfach, der Scheißkater schlich sich herein und wollte Humphrey fressen! Ja, genau das sage ich dem alten Blödmann, wenn er zu rückkommt. Denkt sich, er käme ohne mich und die Hölle zurecht, wie? Na, wir
verpassen ihm einen ordentlichen Denkzettel, darauf kann er sich verlassen. Und die Jungs unten werden sich bestimmt ins Fäustchen lachen, wenn ich ihnen davon erzäh le! Meister Gansfleisch strich sich den Stoff des schlecht sitzenden An zugs zurecht. Mit einem schmutzigen Lappen versuchte er, sich die abge tragenen gelben Schuhe sauberzuwischen. Er vergewisserte sich, daß alle besonders geheimen Dinge sicher verschlossen und die Fenster verriegelt waren. »Ich bleibe mindestens zwei Tage lang fort«, informierte er Zuck galgen. »Kommt darauf an, wie lange es dauert, den Plunder aufzutrei ben, den ich für diesen Narren namens Schimmelhorn besorgen soll. Du gibst Humphrey einmal am Tag etwas zu essen, klar? Und sorg dafür, daß er sich nicht mehr als einen halben Meter von seinem Glas entfernt. Du bist verantwortlich für ihn, und denk daran…« Er kicherte fröhlich. »Wenn du Mist machst, beschwere ich mich bei deinen Vorgesetzten.« Meister Gansfleisch griff nach einem alten Bastkoffer, stülpte sich ei nen noch älteren und formlosen Hut auf den Kopf und verließ sein Quartier, wobei er es nicht versäumte, zweimal hinter sich abzuschließen. Zuckgalgen hatte die ganze Zeit über neben dem Glas gehockt, in dem Humphrey gefangen war, und als er sicher sein konnte, endlich allein zu sein, begab er sich an das Fenster, das in seinem mentalen Monolog eine Rolle gespielt hatte. Es befand sich in einer Ecke des Turms, in der Nähe des alten Wehrganges, und es war hoch und schmal und bestand aus drei einzelnen mit Blei eingefaßten Teilen, die sich getrennt aufschwingen ließen. Zuckgalgen hatte bereits einige vorbereitende Experimente durchgeführt und wußte daher, daß er den kleinen Riegel mit seinen ge schickten Rattenpfoten zurückschieben konnte. Darüber hinaus war er davon informiert, daß es unter dem Fenster, nicht weiter als einen guten Katzensprung entfernt, eine bleierne Regenrinne gab, die man auch von den Zinnen her erreichen konnte, wo, obgleich abgeschirmt vom Rest des Schlosses, Gustav-Adolf in der Sonne ruhte, umhersprang und schnuppernd nach Mäusen fahndete. Außerdem war Zuckgalgen sicher, daß jener verdammte Kater ganz genau wußte, wo er sich befand, denn er hatte des öfteren gehört, wie die Katze von den Zinnen auf die Regen rinne und von dort aus auf den Fenstersims gesprungen war, die Ratten witterung aufnahm, kehlig fauchte und dann enttäuscht und aufgebracht
wieder verschwand, nachdem sie feststellte, daß ihr der weitere Weg ver sperrt war. Meister Gansfleisch hatte immer sehr darauf geachtet, keine ungesunde frische Luft in sein Quartier zu lassen, doch andererseits waren von ihm in diesem Zusammenhang auch keine Anweisungen erteilt worden, und somit fühlte sich Zuckgalgen durchaus dazu berechtigt, das Fenster zu öffnen. Ich halte so lange Ausschau, bis ich den Mistkater hierher kommen sehe, überlegte er. Ich muß sehr aufpassen, jawoll. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er bis zum späten Nachmittag nichts unternehmen. Doch ich darf kein Risiko eingehen. Er kroch an das Fenster heran, von dem aus man einen direkten Blick auf die Brustwehr hatte. Von hier aus war Meister Gansfleisch darauf bedacht gewesen, den Turm Papa Schimmelhorns zu beobachten und irgendwelche Hinweise auf ein diskriminierendes Gebaren zu entdecken. Dort hockte sich Zuckgalgen nieder und wartete. Gustav-Adolf ließ sich während dieses Tages zwei- oder dreimal blik ken. Einmal benutzte er diskret die Katzenbox, und anschließend machte er ein zweistündiges Nickerchen in der warmen Nachmittagssonne. Nach einer Weile dann kam er erneut heraus, streckte sich ausgiebig und richtete auf katz einige tröstende Worte an Papa Schimmelhorn, der, von der Bürde der Verzagtheit nahezu zu Boden geschmettert, aus trüben Augen aufs Meer starrte. Dann ließ sich der Kater dazu herab, sich in aller Ruhe über den Rand der Brustwehr her der Falle zu nähern. Als ein Dämon im Körper einer Ratte war es Zuckgalgen – wie er sich seinem Herrn Meister Gansfleisch gegenüber gerühmt hatte – noch nie schwergefallen, eine Katze ins Jenseits zu schicken. Er quiekte und ver suchte dabei, ganz so wie eine Ratte zu klingen, die Todesängste litt, und er jubilierte innerlich, als er sah, wie Gustav-Adolf die Ohren anlegte und sich sein Rückenfell zu einem Kamm aufrichtete. Rasch eilte er zu dem Homunkulus zurück. »Na schön, Hump«, schnappte er. »Dann wollen wir dich doch mal rauslassen!« Soweit er es vermochte, half er Humphrey dabei, aus dem Glas zu klet tern – der Homunkulus stellte sich nach Meinung Zuckgalgens dabei besonders ungeschickt an –, und wies ihn dann an, auf dem kleinen Stuhl daneben Platz zu nehmen. »Du bleibst hier sitzen, Miesling«, sagte er. »Ich zeige dir jetzt was – was echt Tolles!«
Sein Plan war ganz einfach. Er wollte das Fenster offen lassen, sich da hinter verstecken und abwarten, bis Gustav-Adolf hereingekommen war. Dann beabsichtigte er, das Fenster zu schließen und es zu verriegeln, bevor sein Opfer noch Gelegenheit dazu hatte herauszufinden, daß er, Zuckgalgen, keine normale Ratte war, sondern vielmehr ein Dämon in entsprechender Gestalt. Bestimmt, so überlegte der Vertraute Kaspars, würde der Kater dann in Panik geraten und zu fliehen versuchen. Er verzog die Rattenschnauze zu einem hämischen Grinsen, hastete ans Fenster und machte sich bereit. Gustav-Adolf ahnte von all dem nichts und näherte sich ihm so kampfentschlossen, wie er sich damals, während seiner Katzenjugend als Bordkater eines skandinavischen Frachters, an die Dockratten von Port Said und Marseille herangeschlichen hatte, ihre heruntergekommenen Verwandten von Singapur und all die Vettern von Rio bis New Orleans. Katzen sind sehr geduldige Wesen, und es machte Spaß, eine Ratte zu jagen, selbst dann, wenn man genau wußte, nicht an sie herankommen zu können. Gustav-Adolf begab sich auf die Regenrinne, hob den Kopf… und zu seinem großen Erstaunen und Entzücken sah er, daß das Fenster weit geöffnet war. »He, soll man es denn fassen?« knurrte er – und sprang erneut. Er landete genau auf dem Fenstersims, halb drinnen, halb draußen. Ei nige Sekunden lang verharrte er, während sich seine Augen an das im Quartier Meister Gansfleischs herrschende Zwielicht gewöhnten. Das nach innen aufgeschwungene Fenster versperrte ihm den Weg nach links, und deshalb wandte er sich nach rechts, um die Ratte zu suchen. Er duckte sich, und voller Vorfreude zuckte der buschige Schwanz von einer Seite zur anderen. Mit einem jähen Ruck ließ Zuckgalgen das Fenster zufallen. GustavAdolf wirbelte herum – doch er war nicht schnell genug: Die Riegelarre tierung, die er mit seinen Pfoten nicht zu manipulieren vermochte, war zugeschnappt. Ratte und Kater starrten sich an. Gustav-Adolf sah in die rötlichen Augen Zuckgalgens, erblickte lange gelbe Zähne. Er hatte es mit einer überraschend großen Ratte zu tun.
»He, Mieze«, zischte Zuckgalgen und spannte die Muskeln zum Sprung, »du wirst jetzt sterben, sterben, sterben!« Er befeuchtete sich die Lippen und glaubte bereits, Katzenblut zu schmecken. Gustav-Adolf beobachtete ihn unerschrocken. »Du willst mich wohl auf 'n Arm nehmen, was, Stinker!« knurrte er. »Selbst mit drei auf dem Rücken festgebundenen Pfoten könnte ich noch zwei lausigen Ratten wie dir die Augen auskratzen, ohne mich dabei zu überanstrengen!« Zuckgalgen kicherte boshaft. »Du glaubst wohl, ich sei nur eine einfa che Ratte, wie? Ich bin ein Dämon aus der Hölle! Kapiert, Blödmann? Und du hast nicht die geringste Chance gegen…« In diesem Augenblick wurde der Vertraute Meister Gansfleischs auf die magischen Zeichen aufmerksam, mit denen Frau Laubenschneider das Halsband Gustav-Adolfs geschmückt hatte. Er stellte fest, daß es sich um sehr mächtige Runen handelte, um Zeichen, die auch weitaus höherrangige Unholde aus der Finsternis auf Distanz gehalten hätten. »Eine verdammte Ratte ist und bleibt für mich eine verdammte Ratte!« rief Gustav-Adolf, und der bauschige Schwanz zuckte noch energischer von einer Seite zur anderen. Zuckgalgen gab ein sehr authentisches Rattenquieken von sich und sprang. Seine Füße hatten noch nicht einmal den Boden berührt, als Gu stav-Adolf – ihn schon packte. Die scharfen Zähne des Katers bohrten sich ihm in den Hals. Sie erreichten das Rückgrat. Sie zermalmten Kno chen, und es knirschte. Gustav-Adolf schüttelte seinen Gegner einige Male kräftig, bis sich der Rattenleib in seinem Maul nicht mehr rührte und erschlaffte. Der Dämon namens Zuckgalgen verweilte nur noch für eine Sekunde im Diesseits. Dann spürte er, wie er in einen thaumaturgi schen Sog geriet, dem er sich nicht zu widersetzen vermochte und der ihn dorthin zurückzerrte, woher er gekommen war. Er wußte, was ihm nun bevorstand – wenn nicht ein allgemeines höllisches Gerichtsverfah ren, so doch zumindest strenge Bestrafung. Er verschwand und ließ nur einen schwefligen Gestank zurück, der den in dieser Hinsicht recht sen siblen Gustav-Adolf dazu veranlaßte, die Nase zu rümpfen. Wär doch auch gelacht gewesen! dachte der Kater. Die Ratte, mit der ich nicht fertigwerden kann, muß erst noch geboren werden!
»Ich habe eine Ratte getötet – eine große, schmutzige und stinkende Ratte!« rühmte er sich laut, so wie es für Katzen typisch ist, die der Welt eine so heldenhafte Tat verkünden wollen. »Das Mistvieh behauptete, ein Dämon aus der Hölle zu sein, ja, das sagte es von sich…« Etwa zu diesem Zeitpunkt merkte er, daß er nicht allein war. Auf der anderen Seite des Zimmers, von dem dort stehenden Tisch her, ertönte eine leise, dünne helle Stimme: »Oh, gut gemacht, tapfere Katze! Ja, du warst wirklich sehr mutig! Du hast die gemeine Ratte des Magiers umge bracht, seinen boshaften und durchtriebenen Vertrauten! Oh, möge dich Gott dafür segnen!« Gustav-Adolf machte große Augen. Noch niemals zuvor in seinem Leben hatte er eine so kleine Person gesehen. Er durchquerte das Zim mer, sprang auf den Tisch und beschnüffelte den Betreffenden. Er roch ganz nach der Gattung Mensch und schien ihm darüber hinaus durch wegs freundlich gesinnt zu sein. Mit einer winzigen Hand kraulte er Gu stav-Adolf hinter den Ohren. Der Kater schnurrte. Dann entschied er, daß er Papa Schimmelhorn – obgleich er sich dazu außerstande sah, ihm seine Beute zu bringen – von seinem grandiosen Sieg in Kenntnis setzen sollte, und abwechselnd vom Fenster und der Tür aus stimmte er erneut seinen triumphierenden Ge sang an. Das Volumen seiner Stimme vermochte sich durchaus mit dem des entsprechenden Organs seines Herrchens zu messen, und er miaute, fauchte und zischte mit betonter Hingabe. »Ich habe eine Ratte getötet! Den Vater der größten und scheußlich sten aller Ratten! Ich habe…« Er trug den Kadaver an die Tür und setzte seinen Gesang fort. Papa Schimmelhorn war so sehr in Gedanken versunken, daß einige Mi nuten verstrichen, bevor er die Aufregung seines Katers bemerkte. Er wußte, daß Gustav-Adolf einen Ausflug auf der Brustwehr machte und es ihm normalerweise verwehrt war, von dort aus in andere Bereiche der alten Feste zu gelangen. Dennoch klang seine Stimme seltsam dumpf und schien aus der Ferne zu kommen.
Daraufhin begab sich Papa Schimmelhorn selbst auf den Wehrgang, und dort konnte er das Fauchen seines Katers deutlicher hören. Er ge wann den Eindruck, als habe es seinen Ursprung im Gansfleisch-Turm. Er runzelte die Stirn. Sicher hat är aine Maus gefangen, dachte er. Oder aine Ratte, aber wie…? Abrupt unterbrach er diesen Gedankengang. Er wußte nur von einer sich in der Nähe aufhaltenden Ratte, und dabei handelte es sich um den Vertrauten des Alchimisten – und Zuckgalgen war alles andere als eine normale Ratte. »Main Gott!« rief er. »Was ischt nur geschä hen? Viellaicht ischt Guschtav-Adolf värlätzt worden! Viellaicht sitzt är im Kwartier von Maischter Gansi in där Falle!« Er eilte zu dem anderen Turm, doch wie er feststellte, waren alle Fen ster fest verschlossen. Jetzt jedoch konnte es nicht mehr den geringsten Zweifel daran geben, daß sich Gustav-Adolf in dem Zimmer befand. Papa Schimmelhorn vergaß seine eigene mißliche Lage und traf eine Entscheidung. »Ach«, brummte er, »sälbscht auf die Gefahr hin, daß ich noch mähr Schwierigkaiten bekomme – ich muß ihn rätten! Was für ain Glück, daß main alter Onkel Schorsch Schlosser war und mir baibrachte, wie man Värriegelungen knackt.« Rasch kehrte er in seine eigene Unter kunft zurück, öffnete die große Reisetasche, holte ein Bund mit einigen Dutzend alter Schlüssel hervor, brachte die breite Treppe hinter sich, die zum Korridor unter den Zinnen führte, und sprang die Stufen am ande ren Ende des Ganges empor. »Hab nur ain wänig Gäduld, Guschtav-Adolf!« rief er. »Laß dich nicht von där Ratte baißen! Äs dauert nur noch ain paar Säkunden, bis ich dich rausgeholt habe!« Die Schlösser der Tür waren alt und massiv, und Papa Schimmelhorn machte sich sofort an die Arbeit. Er hoffte, daß man weder ihn noch Gustav-Adolf hörte, und er erinnerte sich daran, daß die Schloßbedien steten für gewöhnlich eine möglichst große Distanz zu Meister Gans fleisch und seinem Vertrauten hielten. Das erste Schloß bereitete ihm überhaupt keine Schwierigkeiten; er hatte es nach wenigen Augenblicken entriegelt. Das zweite jedoch nahm etwas mehr Zeit in Anspruch. Aku stisch untermalt wurden seine Bemühungen von dem lautstarken Fau chen und Zischen und Miauen, das seinen Ursprung auf der anderen Seite der Tür hatte, und dann und wann forderte Papa Schimmelhorn
Gustav-Adolf dazu auf, ain guter Kater zu sain und sich noch ain wänig zu gädulden! Gelegentlich glaubte er, außer der knurrenden Melodie der Katze auch noch eine zweite, dünne helle Stimme zu vernehmen, aber er war zu sehr beschäftigt, um darauf zu achten. Endlich widersetzte sich das zweite Schloß nicht länger seinem Ge schick, und Papa Schimmelhorn stieß die Tür auf. Er sah sich um. »Puh, was schtinkt das hier!« entfuhr es ihm. »Sind Maischter Gansi und saine Ratte ätwa nicht schtubenrain?« Er spähte in das Zimmer und hielt nach Zuckgalgen Ausschau, der in irgendeiner dunklen Ecke lauern mochte. Gustav-Adolf wanderte hoch erhobenen Hauptes auf und ab, schnurr te und gab sich alle Mühe, die Aufmerksamkeit seines Herrchens auf das Opfer zu richten. »Donnerwätter!« platzte es aus Papa Schimmelhorn heraus, als er zu Bo den blickte und den Kadaver sah. »Du hascht die Ratte getötet!« »Darauf kannst du dich verlassen!« erwiderte Gustav-Adolf auf katz. »Sie ist mausetot!« »Ach, du bischt wirklich ain kluger und tapferer Kater…« – ernst schüttelte Papa Schimmelhorn den Kopf – »… aber ich glaube, Maisch ter Gansi wird däswägen sähr böse auf uns baide sain, und viellaicht auch die Prinzässin. Es wäre sicher bässer, wänn wir dän Kadaver sofort värschwinden lassen, so daß niemand erfährt, daß wir dahinterschtäk ken.« Er hob Zuckgalgen an dem nackten Schwanz in die Höhe. »Beailen wir uns!« Und plötzlich erklang hinter ihm eine dünne leise Stimme: »Werter Herr«, sagte sie, »ich bitte Euch in aller Höflichkeit, Euren mutigen Ka ter nicht über Gebühr zu schelten. Er ist ein sehr tapferes Wesen. Ganz allein erledigte er den gräßlichen Dämon, der dem teuflischen Kaspar Gansfleisch diente und sich einen Spaß daraus machte, mich all die Jahre über zu quälen.« Papa Schimmelhorn ließ die Ratte fallen und drehte sich um. In einem kleinen Sessel auf dem Tisch saß ein gut zwanzig Zentimeter großes Ge schöpf, das verblichene und abgenutzte elisabethanische Kleidung trug, ein kleines Wams samt Hose und Halskrause. In dem winzigen Gesicht
zeigte sich ein Bart, der dem William Shakespeares ähnelte, und das wei ße Haar und die blassen, eingefallenen Wangen deuteten auf ein sehr hohes Alter hin. »Aber… aber ich habe noch niemals zuvor jemanden gesähen, där so klain ischt!« »Daran zweifle ich nicht im geringsten!« erwiderte der kleine Mann. »In der gegenwärtigen Gestalt lautet mein Name Humphrey, und ich bin das, was Thaumaturgen und Nekromanten als Homunkulus bezeichnen. Einst war ich ein freier Geist, und magische Beschwörungen banden mich an diesen winzigen Körper, der auf künstlichem Wege von dem berühmten Dr. Dee geschaffen wurde, der vor vierhundert Jahren lebte. Bitte setzt Euch, wenn Ihr meine Geschichte hören wollt…« Voller Unbehagen zog sich Papa Schimmelhorn einen Stuhl heran, und Gustav-Adolf sprang auf seinen Schoß. Er hörte aufmerksam zu, als sein neuer kleiner Bekannter berichtete, wie man ihn ins Leben gerufen hatte. Papa unterbrach ihn nur zweimal. Beim erstenmal bemerkte er, so etwas höre sich gar nicht sonderlich lustig an und mache sicher nicht annä hernd soviel Spaß wie das Zeugen von Kindern auf die althergebrachte Art und Weise. Beim zweitenmal fragte er ungläubig, ob Humphrey denn tatsächlich alle vierhundert Jahre seines langen Leben im Glas zuge bracht habe. »Und ganz allain?« fügte er hinzu. »Ohne auch nur ain ainziges Mal die Gesällschaft aines süßen Hom-onkel-lus-Mädchens zu genießen?« Humphrey nickte traurig. Er beschrieb die vielen Monate und Jahre in der Flüssigkeit, die das Glas enthielt und ohne die er nur wenige Stunden überleben konnte. Er erklärte, glücklicherweise mache sie ihn sehr schläfrig, so daß er nicht vier Jahrhunderte lang über sein Schicksal hatte grübeln müssen, und er erläuterte auch, in der Regel fiele es ihm außer ordentlich schwer, sich aus diesem Zustand der Benommenheit zu be freien. Eigentlich käme er nur dann richtig zu sich, wenn er aus dem Glas geholt werde, um Nahrung zu empfangen – oder den Leuten, die ihn im Verlaufe der vielen Jahre als Besitz und Eigentum erachtet hatten, magische Dienste zu erweisen. Er sprach von Dr. Dee, der ihn eigentlich immer recht höflich und zuvorkommend behandelt habe. Er ließ sich über die Habgier und den Egoismus von Alchimisten und Prinzen aus,
über Verrat und Verschwörungen, die von heimtückischen Männern und Frauen hohen Standes geplant worden waren, über die Grausamkeiten, die seiner winzigen Person von boshaften Scharlatanen und noch durch triebeneren Praktikanten der Schwarzen Künste angetan worden seien. »Doch der schlimmste und mit Abstand gemeinste Unhold von allen«, fügte Humphrey hinzu, »ist dieser Gansfleisch. Ach, werter Herr, wenn ich Euch auch nur ein Beispiel der Qualen nennen würde, die ich durch seine Schuld erdulden mußte, so weckte ich damit sicher Euer tränenrei ches und sehr geschätztes Mitleid. Doch Euer einzigartiger und heroi scher Kater hat mich nun endlich von dem Rattendämonen erlöst – sehr zu meinem Erstaunen, denn mehr als einmal habe ich gesehen, wie Zuckgalgen gewöhnlichere Katzen umbrachte! Und, werter Herr, ich möchte Euch untertänigst darum bitten, mich mitzunehmen, wenn Ihr geht, und somit auch vor meinem Herrn zu retten.« Papa Schimmelhorn hatte tatsächlich großes Mitleid mit dem armen Humphrey. Plötzlich erinnerte er sich an das von den Vorfahren des Fräuleins konstruierte Geheimfach hinter dem verzierten Marmor am Kamin. Er hatte weder Niki noch Emmy etwas davon erzählt, und er war sich ziemlich sicher, daß es genug Platz für Humphrey und sein Glas bot. Warum nicht? dachte er. Wir lassen die tote Ratte värschwinden, und ich schließe hier alles wieder ab. Dann sieht äs so aus, als sai überhaupt niemand hierge wäsen. Und der klaine Härr Hamfri ischt sicher in sainem Glas. Wann Maischter Gansi von där Ainkaufsraise zurückkährt, glaubt är viellaicht, där Teufel – oder wär auch immer die Hölle värwaltet – habe sich Zuckgalgen zurückgeholt, viellaicht däswägen, wail är saine Rechnungen nicht bezahlt hat, und dän lieben Hamfri gesch tohlen. »Guschtav-Adolf ischt ain guter Kater«, bestätigte er Humphrey, »aber ich glaube, är konnte die Ratte nur däshalb färtigmachen, wail är das gägen Flöhe gedachte Halsband Frau Laubenschnaiders trägt. Na gut: Wir nähmen dich mit, und dann kannscht du mir manchmal Geschichten über Magier ärzählen. Und ich berichte dir von hübschen Schmusemie zen und meinem Dschänie.« Humphrey machte große Augen und horchte entzückt, als Papa Schimmelhorn seine Armband-Kuckucksuhr konsultierte, um festzustel len, wieviel Zeit ihm noch bis zur Rückkehr Emmys und Nikis zum Abendessen verblieb. Er stellte fest, daß es noch mindestens zwei Stun
den dauern würde, und daraufhin begann er, die Hinweise zu entfernen, die auf den heroischen Kampf Gustav-Adolfs hindeuteten. Den Kadaver der Ratte brachte er in einer alten Plastiktüte unter. Auf Humphreys Bit te hin hob er ihn mitsamt dem Sessel an und ließ ihn vorsichtig ins Glas zurück. Die Flüssigkeit darin duftete schwach, und es überraschte Papa Schimmelhorn, als er bemerkte, daß die Substanz einerseits zwar ganz eindeutig flüssig war, doch weder den Leib Humphreys noch seine eige nen Hände befeuchtete. Nachdem Gustav-Adolf auf seine Schulter ge sprungen war, trug er das Glas auf den Flur, stellte es ab und verriegelte die Tür, wobei er noch einmal Gebrauch von den Schlosser-Utensilien machte. Dann nahm er sowohl das Glas als auch die Tüte mit der toten Ratte zur Hand – und nach einigen wenigen Minuten befanden sie sich in ihrem Quartier, ohne daß sie unterwegs jemand gesehen hätte. Dort angelangt, holte Papa Schimmelhorn den kleinen Humphrey wie der aus dem Glas hervor, setzte ihn auf den Tisch in der Nähe des Ka mins und nahm neben ihm Platz. »Ihr seid in der Tat ein freundlicher und mächtiger Magier!« freute sich Humphrey, und der Blick seiner win zigen Augen richtete sich auf die Armband-Kuckucksuhr. »Und ich bin Euch überaus dankbar, daß Ihr mir bei Euch Zuflucht gewährt. Doch sagt mir bitte eins, werter Herr: Was verlangt Ihr als Gegenleistung von mir? Wir Homunkuli sind sehr schwache Geschöpfe, selbst während unserer Jugend, und ich, wie Ihr wißt, bin sehr alt und müde. Gäbe es nicht die Nährlösung, die ich am Tage höchstens für rund eine Stunde zu verlas sen wage, so hätte ich vermutlich längst das Zeitliche gesegnet. Ich bitte Euch also darum, keine Dienste von mir zu fordern, die mich zu sehr anstrengen würden.« »Aber Herr Hom-onkel-lus«, erwiderte Papa Schimmelhorn verwirrt. »Ich värlange doch überhaupt nichts von dir.« »Wie bitte?« Humphrey berührte ihn mit einer winzigen Hand. »Eure Güte ist geradezu unglaublich! Alle Magier wollen irgend etwas von Ge schöpfen wie mir.« »Ich bin kain Magier«, sagte Papa Schimmelhorn. »Nur ain Dschänie, das Kuckucksuhren herschtällt und sich manchmal auch mit Problämen der Antikrafitation und mit Zaitraisen befaßt.«
»Dann möchte ich Euch etwas anbieten, ohne daß Ihr mich bittet. Wohltätiges Genie – wenn das Euer Titel sein mag –, ich habe Meister Gansfleisch und seinem Vertrauten zugehört und dabei in Erfahrung gebracht, was man Euch antat. Laßt Euch nicht beirren! Der Grund für Eure plötzliche Impotenz ist keineswegs ein Schicksalsschlag. Nein, alles andere als das! Tatsächlich handelt es sich dabei um das Werk boshafter Heimtücke. Gansfleisch selbst war es, der der Prinzessin vorschlug, sich auf diese Weise an Euch zu rächen, und in jener Nacht hat er höchstper sönlich die Arznei zusammengebraut, deren Rezept sie ihm gab – das Mittel, das man Euch am nächsten Morgen verabreichte. Oh, ich wurde Zeuge, wie er sich dem Rattendämon gegenüber dieser Tat rühmte. Er sagte, er habe auch das Gegenmittel hergestellt, das sich nun im Besitz der Prinzessin befindet und das sie Euch mit aller Entschlossenheit ver weigern will!« Papa Schimmelhorn stöhnte gequält. Das Wissen, daß es zwar ein Ge genmittel gab, eine Substanz, mit der sich seine volle Manneskraft wie derherstellen ließ, mit all den damit zusammenhängenden erfreulichen Aspekten, er jedoch teuflischerweise wahrscheinlich nie in den Genuß jenes Mittels kommen würde, machte seine traurige Lage irgendwie noch trauriger. »Aber… aber Härr Hamfri, kännscht du viellaicht das Rezäpt däs Gä genmittels, mit däm ich die Batterien mainer Potänz wieder aufladen kann?« fragte er niedergeschlagen. Der Homunkulus berührte ihn erneut an der Hand. »Nein, Meister Schimmelhorn, leider nicht. Doch ich glaube, ich kann Euch einen noch besseren Dienst erweisen. Ich vermag Euch in das Geheimnis des wir kungsvollsten Liebestrunks der ganzen Welt einzuweihen, das jenes Eli xiers, das der Graf von Cagliostro für August den Starken schuf, den Kurfürsten von Sachsen und König von Polen. Ich meine damit genau den Trunk, der ihn in die Lage versetzte, die Herzen der Mütter seiner anerkanntermaßen dreihundertundzweiundfünfzig unehelichen Kinder zu gewinnen. Er läßt sich ganz leicht herstellen, und ich habe keinen Zweifel daran, daß sich die Ingredienzien unter den entsprechenden Vorräten Meister Gansfleischs finden lassen. Ja, sehr einfach läßt sich dieser Trunk zusammenbrauen, und er entfaltet eine ebenso überwälti gende wie nachhaltige Wirkung. Man braucht ihn nicht zu schlucken,
und es ist auch nicht nötig, ihn dem Essen oder dem Wein beizugeben. Er hat keinen Geruch. Man sprüht ein wenig davon unter die Nase des erwählten Liebhabers oder der erwünschten Mätresse – das genügt. Das Mittel verflüchtigt sich sofort. Ich flüstere Euch das Rezept ins Ohr. Ein einziger Atemzug, und die Prinzessin ist Euch verfallen. Dann wird sie nur noch Augen für Euch haben und sonst keinen anderen Mann auf der Welt! Und heimgesucht von Gewissensbissen, erfüllt von Liebe, bringt sie Euch anschließend gewiß das Gegenmittel. O ja, ich versichere es Euch, sie wird Eure Julia, und Ihr könnt dann Romeofreuden genießen.« »Ach, ich waiß nur wänig von dän griechischen Traditionen«, wandte Papa Schimmelhorn argwöhnisch ein. »Ich habe das im übertragenen Sinne gemeint«, erklärte Humphrey. »Ich spielte dabei auf ein Werk Meister Shakespeares an. Doch jetzt – ich bin erschöpft. Beugt Euch bitte zu mir vor, damit ich Euch zuflüstern kann, wie sich der Trunk herstellen läßt…« Papa Schimmelhorn kam der Aufforderung bereitwillig nach, und Humphrey erhob sich auf die Zehenspitzen, um das Ohr zu erreichen. Er flüsterte ihm die Formel zu. Dreimal wiederholte er sie. »Denkt dar an«, ermahnte er Papa Schimmelhorn. »Die Wirkung ist unberechenbar. Die letzte Zutat darf erst hinzugefügt werden, kurz bevor Ihr die Flasche fest verschließt. Und hütet Euch davor, ebenfalls etwas davon einzuat men. Benutzt das Mittel, wenn Ihr mit der Prinzessin allein seid oder sie Euch zumindest direkt ansieht, denn sonst könnte es passieren, daß sich ihre Leidenschaft nicht auf Euch, sondern auf jemand anders fixiert.« Papa Schimmelhorn versprach, größte Sorgfalt walten zu lassen, dankte ihm aus tiefstem Herzen, brachte den Homunkulus mit aller Vorsicht in sein Glas zurück und stellte das bescheidene Heim Humphreys ins Ge heimfach. Dann eilte er ins Laboratorium und machte sich umgehend ans Werk. Hoffnung wallte in ihm empor, doch er beherrschte sich. Zuerst stellte er sicher, daß der gewesene Zuckgalgen im heißesten der verschiedenen Schmelzöfen Meister Gansfleischs vollständig zu Asche zerfiel, die er anschließend in der Toilette hinunterspülte. Mit noch größerem Eifer durchstöberte er dann die Regale und Schränke des Alchimisten, auf der Suche nach den von Humphrey benannten Substanzen. Schon nach eini
gen Minuten hatte er gefunden, was er brauchte. Aufgeregt wog und maß und mischte er sie. Einige der Ingredienzien waren organischer Natur und dubiosen Ursprungs. Bei anderen handelte es sich um Minerale. Einige dampften und zischten, als sie miteinander in Kontakt kamen. Schließlich enthielt die Phiole Papa Schimmelhorns etwa einen Meßbe cher einer Flüssigkeit, die enttäuschend schleimig und graugrün aussah. Er erinnerte sich an die Warnung Humphreys, die besagte, daß er von der letzten Zutat – einer dünnen purpurnen Flüssigkeit, die sich in einer Pipette befand, – nur einen einzigen Tropfen hinzufügen durfte, um den Liebestrunk zu vervollständigen. Einige Sekunden lang dachte er nach und hielt die Pipette mit der rech ten Hand über die Phiole, deren Korken er in der Linken fühlte. Härr Hamfri mainte also, ain Tropfen raiche aus, ging es ihm durch den Sinn. Viel laicht hat är rächt. Aber är ischt so klain, und möglicherwaise dankt är, ain Tropfen sai für Hom-onkel-li angemässen. Nun, die Prinzässin mag nicht so groß sain wie Mama, aber beschtimmt kann man sie nicht als ainen Winzling bezaichnen… Er entschied, es sei besser, kein Risiko einzugehen, und er hielt den Atem an und fügte dem Inhalt der Phiole so rasch wie möglich drei Tropfen der purpurnen Flüssigkeit hinzu. Anschließend drückte er sofort den Stöpsel auf das Glasröhrchen. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, daß der Trunk nun nicht mehr schleimig und graugrün aussah, sondern kristallklar war. Er starrte auf die Phiole, und sein unfehlbares Unterbe wußtsein meldete sich. »Papa«, erklärte es, »mit däm Zeug ischt alles in Ordnung! Schon bald – ho-ho-ho! -sind die Battärien där Potänz wieder voller Schtrom, und dann ischt äs wie in dän alten Zaiten.« Diese Vorstellung regte ihn so sehr an, daß er bis zum Abendessen im Laboratorium blieb und an verschiedenen Teilen und Komponenten der Maschine arbeitete, deren Aufgabe darin bestehen würde, Blei in Gold zu verwandeln. Dabei ließ er seinen romantischen Erinnerungen freien Lauf und dachte nun nicht mehr schwermütig, sondern voller Glück an all die hübschen Schmusemiezen, deren Bekanntschaft er in seinem lan gen Leben gemacht hatte. Er ließ es sich natürlich auch nicht nehmen, sich die vielen süßen Streichelkätzchen vorzustellen, mit denen er sich in den noch vor ihm liegenden Jahren vergnügen konnte. Und das eine oder andere Mal wagte er es sogar, an die Prinzessin zu denken.
Beim Abendessen gab sich Papa Schimmelhorn so fröhlich, daß Niki und Emmy zunächst annahmen, er habe seine Krise durch ein plötzli ches Wunder überstanden, und sie versuchten, ihn ins Bett zu locken. Dadurch sah sich Papa dazu gezwungen, seinen beiden Freundinnen die Mitteilung zu machen, manchmal müsse man Wundern erst ein wenig nachhelfen, bevor sie sich manifestierten. Er gab ihnen den Rat, den beabsichtigten Spaziergang durchs Dorf zu machen, so daß einige der einheimischen jungen Kerle – an dieser Stelle seufzte Papa Schimmel horn theatralisch – sie mit einem noch malerischeren Bild der vom Mondlicht beschienenen Ruinen Klein Paläons vertraut machen konn ten. Er gab ihre Abschiedsküsse zurück. Er drückte sie beide in einer groß väterlichen Umarmung an seine breite Brust. Er ermahnte sie, nichts zu unternehmen, was er nicht ebenfalls machen würde. Und kaum waren sie gegangen, nahm er das Glas Humphreys aus dem Geheimfach und holte den Homunkulus vorsichtig heraus. »Ah, Meister Schimmelhorn«, sagte Humphrey, als er wieder vollkom men wach war, »habt Ihr es geschafft, den Trank herzustellen?« Papa Schimmelhorn zeigte ihm die Phiole. »Und das Röhrchen ist auch bestimmt fest verschlossen?« »Ja, natürlich.« »Und Ihr seid ganz sicher, daß Ihr nicht mehr von der letzten Ingre dienz hinzugefügt habt, als ich Euch sagte?« Papa Schimmelhorn log, es sei nur ein einziger Tropfen der purpurnen Flüssigkeit gewesen. »Aber äs gibt da noch ain Probläm«, fuhr er fort. »Die Prinzässin haßt mich. Wie soll ich äs bewärkschtälligen, daß ich mit ihr allain bin? Oder ihr so nahe, daß sie nur mich ansieht, wann sie das Mittel ainatmet?« Humphrey runzelte nachdenklich die winzige Stirn. »Habt Ihr denn keine Freunde im Schloß?« erkundigte er sich. »Ich hörte, wie Gans fleisch von einem Griechen namens Mavronides sprach, den er nicht ausstehen kann und der angeblich großen Einfluß auf die Prinzessin hat.«
»Ja, das ischt Herr Sarpedon Mafronides, der Majordomus, den ich Zorba nenne. Er war main Freund, bis ich mich in das Gemach däs Fräulains schlich. Saitdäm ischt är ziemlich böse auf mich und schpricht nicht mähr mit mir. Und dann gibt äs da noch dän armen Ismail, däm die Araber was weggeschnitten haben, als är noch ain klainer Junge war, so daß är im Harem arbaiten konnte.« Humphrey nickte. »Und wie kommen Eure Forschungen voran? Seid Ihr bereits soweit, daß Ihr einen kleinen Splitter wertlosen Bleis in herr lich strahlendes und kostbares Gold verwandeln könnt? Nach meinen Erfahrungen wäre Euch ein derartiger Erfolg gewiß weitaus nützlicher als das Bitten um Gnade oder ein Appell an den gesunden Menschen verstand, der oftmals gar nicht so gesund ist. Ja, mit Gold läßt sich recht schnell und nachhaltig die Meinung von Prinzen und Prinzessinnen än dern. An Eurer Stelle, Meister Schimmelhorn, würde ich mich auf der Stelle an diesen Sarpedon wenden und ihn davon informieren, die Erfül lung der Wünsche Philippa von Hohenheims stünde kurz bevor. Dem fügt Ihr hinzu, Ihr hättet ein überaus schlechtes Gewissen und wärt enorm beschämt aufgrund Eurer Impertinenz gegenüber einer Person von adliger Herkunft…« – er sah auf und zwinkerte mit den kleinen Au gen –, »… Ihr sagt ihm, Euer einziger Wunsch bestünde darin, die Prin zessin untertänigst und demütigst um ihre erlauchte Vergebung zu bit ten.« »Aine wirklich gute Idee! Härr Hamfri, du bischt ain sähr schlauer und geschalter Hom-onkel-luss. Ich värsuche äs. Zwar nicht mähr heute abend, aber morgen, wänn Härr Zorba sich auf dän Wäg macht, um die Inschpäktionen durchzuführen. Irgendwie kriegen wir das schon hin.« Anschließend unterhielten sie sich noch etwa eine Stunde lang. Papa Schimmelhorn erfuhr, daß Humphrey abgesehen von der Nährlösung im Glas – sie mußte nur einmal alle hundert Jahre ausgetauscht werden – pro Tag nicht mehr als einen Fingerhutvoll guten Brandy und ein wenig Honig brauchte, und Papa versprach ihm, sich so rasch wie möglich dar um zu kümmern. Darüber hinaus brachte er in Erfahrung, daß Hum phrey seine derzeitige Existenzform inzwischen satt hatte und sich da nach sehnte, wieder das zu werden, was er zuvor gewesen war – ein frei er Geist. Doch er sei mit starker Magie an den künstlichen Körper ge bunden, wie in einem Kerker in ihm gefangen. Die entsprechende
Thaumaturgie war offenbar so mächtig, daß selbst der Tod keinen Aus weg bedeutete. Der Leib, so betonte Humphrey, müsse vollständig zer stört werden. Das sei auch der Grund, warum diverse Nekromanten und Zauberer fast unbegrenzte Macht über ihn gehabt hätten. Nur auf eine andere Art und Weise konnte er wieder die erhoffte Freiheit erringen – indem er den Anziehungsbereich der Erde verließ und den interplaneta ren Weltraum erreichte, der seine frühere Heimat gewesen war. Papa Schimmelhorn hörte seinen Ausführungen aufmerksam und mit größtem Interesse zu und gab dann und wann ein mitleidiges Murmeln von sich. »Ach«, brummte er, »äs ischt ja zu schade, daß die großen Frauen von Betaigäuse nicht hier sind, dänn sie würden dich beschtimmt in ihren Raumschiffen mitnähmen. Aber mach dir kaine Sorgen. Überlaß die ganze Sache Papa Schimmelhorn. Ich bin dumm, was dän Aiku an geht, doch main Unterbewußtsain ischt ain Dschänie. Irgendwie bringe ich das schon in Ordnung.« Bis Humphrey so müde geworden war, daß er in sein Glas zurückkeh ren mußte, erzählte Papa Schimmelhorn davon, wie er zusammen mit Mama und Gustav-Adolf entführt worden war, von einem Volk großer raumfahrender Chauvinistinnen, die auf dem neunten Planeten einer Sonne lebten, der Mama den Namen Betaigäuse gegeben hatte. In allen Einzelheiten schilderte er ihre Abenteuer und berichtete, wie sie zu der betreffenden Welt und wieder zurück gelangt seien. Er beschrieb auch einige der außergewöhnlichen Bewohner anderer Planeten, deren Be kanntschaft die großen Frauen während ihrer Exkursionen gemacht hat ten. Ohne falsche Bescheidenheit erläuterte er insbesondere, wie er alle Betaigäusianer davor bewahrt hatte, zu einer aussterbenden Spezies zu werden. Und Humphrey, als er Papa eine gute Nacht wünschte, verhehlte nicht sein Erstaunen und meinte anerkennend, die Reisen des Meisters Schimmelhorn seien ganz offensichtlich noch weitaus bemerkenswerter gewesen als die von Sir John Mandeville.
7
Große Liebe
Den ganzen nächsten Tag über arbeitete Papa Schimmelhorn fröhlich und hoffnungsvoll im Laboratorium, erfreute sich im allgemeinen an den netten Aspekten, die das veränderliche Situationsmuster aufzuweisen begann, und im besonderen an der fortgesetzten Abwesenheit Meister Gansfleischs. Als erstes machte er sich daran (wobei er sorgfältig darauf achtete, die Luft anzuhalten), eine kleine Plastikampulle mit dem Liebes elixier vorzubereiten, eine, die er ganz unauffällig in der einen Hand zer brechen konnte, wenn der entscheidende Zeitpunkt kam. Dann, mit erneuertem Enthusiasmus, vervollständigte er die Konstruktion des komplexen Gerüstes, auf dem der Kristall ruhen sollte. Anschließend begann er mit der Vorbereitung der anderen Komponenten, die er inzwi schen angesammelt hatte. Jetzt wußte er ganz genau, wozu er die Dinge brauchte, die Meister Gansfleisch in Athen besorgte, woher die Maschine die Betriebsenergie beziehen würde und – diese Vorstellung war etwas vager und weniger spezifisch ausgeprägt – wie sich die von der Appara tur erzeugten gewaltigen Kräfte auswirken mochten. Er arbeitete ohne Pause und kicherte manchmal vor sich hin, wenn ihm sein geniales Unterbewußtsein mentale Bilder der zu erwartenden Phänomene zeigte – und als Reaktion darauf den Gesichtsausdruck des Alchimisten. »Ho-ho-ho!« lachte Papa Schimmelhorn. »Warten wir nur ab, bis Maischter Gansi die purpurnen Schtrahlen sieht und das Schtöh nen värnimmt…« Eine Zeitlang machte er sich einen Spaß daraus, ent sprechende Geräusche nachzuahmen. »Wänn är das Knirschen där Zahnräder hört und in där Luft die Äläktrizität fühlt. Viellaicht dänkt är dann, där Teufel sai höchstpersönlich gekommen, wail äs doch kainen Zuckgalgen mähr gibt.« Am Nachmittag machte er Schluß, nachdem er alles erledigt hatte, was vor dem Eintreffen der neuen Ausrüstung erledigt werden konnte. Er kehrte in sein Quartier zurück. Dort freute er sich festzustellen, daß Niki und Emmy seiner Bitte entsprochen und ihm aus dem Dorf eine kleine
Flasche mit Brandy und ein Honigglas mitgebracht und beides zusam men mit zwei Brötchen, die lecker mit Schinken und Käse belegt waren, seiner Obhut überlassen hatten. Er holte Humphrey aus dem Refugium des Geheimfachs, und gemeinsam nahmen sie fröhlich eine Stärkung zu sich, wobei sie sich in ausgelassener Stimmung unterhielten. Humphrey versicherte ihm, seit dem achtzehnten Jahrhundert, als er einige nette Monate mit dem berühmten Grafen de St. Germain – dem Erfinder des Liebeselixiers – verbracht hatte, habe er nicht mehr eine so angenehme und interessante Gesellschaft genossen. »Und nun, Härr Hamfri«, erklärte Papa Schimmelhorn und brachte den Homunkulus vorsichtig wieder in seinem Glas unter, »wärde ich dainen Rat befolgen und zu Härrn Zorba gähen. Ich sage ihm, ich käme mir wie ain Schwain vor und frage ihn, ob ich nicht viellaicht die Füße där Prin zässin küssen, mich bai ihr äntschuldigen und ihr verschprächen könnte, niemals wieder so unartig und garschtig zu sain.« Er nahm die kleine Ampulle aus der Jackentasche. »Und wann sie mich empfängt, kann ich ihr möglicherwaise auch zaigen, wie ich Blai in Gold värwandle.« »Und dann«, fügte Humphrey heiter hinzu, »zerbrecht Ihr das Glas un ter ihrer hübschen Nase, und… und… Oh, wie gerne würde ich das doch erleben! Ach, fürwahr – und was gäbe ich nicht dafür zu sehen, was der gemeine Gansfleisch für ein Gesicht macht, wenn er herausfindet, daß sich die Prinzessin in Euch verliebt hat!« Papa Schimmelhorn versprach, ihm später alles detailliert zu berichten, und dann machte er sich auf den Weg, um Mavronides zu suchen, der, wie sich herausstellte, gerade dabei war, einige Gärtner bei ihrer Arbeit zu beaufsichtigen. Mavronides musterte ihn traurig und mißbilligend, und als Papa Schimmelhorn ihn zunächst in aller Demut fragte, ob er ihn unter vier Augen sprechen könne, gab er keine Antwort. Als er diese Bitte jedoch höflich wiederholte, nickte der Grieche knapp und bedeutete seinem einstigen Freund mit einem Wink, ihm zu folgen. In den Schatten einer Kolonnade blieben sie stehen. »Herr Schimmelhorn«, sagte Mavronides, »Sie waren mein Freund, und ich stehe noch immer in Ihrer Schuld, weil Sie meinen Enkel vor dem Ertrinken gerettet haben. Aber Ihr Verhalten war überaus empörend. Glauben Sie mir, eher würde ich den Kampf
gegen den Mino…« Er unterbrach sich jäh. »Nun, wie dem auch sei: Es genügt vielleicht, wenn ich sage, ich würde eher sterben, als mich zu et was hinreißen zu lassen, das so impertinent ist wie das, was Sie machten.« Papa Schimmelhorn senkte beschämt den Kopf. Er scharrte mit den Füßen, auf eine Weise, die, wie er annahm, größte Verlegenheit zum Ausdruck brachte. Aufgeregt berichtete er dann, sein Gewissen habe ihm die ganze Zeit über keinen Frieden gegönnt, und er beschrieb die gräßli chen Alpträume seiner unruhigen Nächte, die Visionen, in denen er sich schwerste Vorwürfe machte und die Strafe der Götter nur als angemes sen empfand. Leidenschaftlicher schwor er, er habe seine Niedertracht nunmehr in ihrem ganzen Ausmaß begriffen und wisse, sie sei im Grun de genommen unentschuldbar. Selbst all das Gold, das er bald aus einfa chem Blei herzustellen in der Lage sei, könne nicht die von ihm began gene Untat wiedergutmachen. Sein einziger Wunsch bestünde darin, die Prinzessin zu sehen, vor ihr auf die Knie zu fallen und sie untertänigst und in aller Aufrichtigkeit um Vergebung anzuflehen. Sarpedon Mavronides runzelte die Stirn. »Sie sind jetzt also sicher, daß Sie Blei in Gold verwandeln können?« fragte er. Papa Schimmelhorn bestätigte das und fügte hinzu, vermutlich werde die Konstruktion der Maschine bis zum nächsten Morgen beendet sein. Danach sei es nur noch eine Frage der Zeit – genauer: von wenigen Stunden – bis zur Herstellung des ersten Goldes. Einige Sekunden lang schwieg der Grieche nachdenklich. Dann: »Viel leicht weckt das das Wohlwollen der Prinzessin«, entgegnete er. »Wahr scheinlich wird sie Ihnen niemals verzeihen, doch sie ist sehr großzügig – möglicherweise läßt sie sich dazu herab, zumindest Ihre Entschuldigung entgegenzunehmen. Wie dem auch sei: Wenn sie zurückkehrt, lege ich bei ihr ein gutes Wort für Sie ein.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sich Mavronides wieder den Gärtnern zu, und Papa Schimmelhorn kehrte in seine Unterkunft zurück, um Humphrey Bericht zu erstatten. Etwa gegen Mitternacht des folgenden Tages traf Meister Gansfleisch wieder im Schloß ein. Gefolgt von Ismail und einem anderen Bedienste ten, die die Koffer und Taschen trugen, in denen sich die Gegenstände
befanden, die Papa Schimmelhorn in seiner Einkaufsliste aufgeführt hat te, begab sich der Alchimist umgehend in sein Laboratorium. Er befahl seinen Begleitern, das Gepäck vor der Tür abzustellen, und er wartete, bis sie gegangen waren, bevor er sich daranmachte, die Ausrüstung über die Schwelle zu schleppen. Nervös blickte er sich um und stellte fest, daß Papa Schimmelhorn während seiner Abwesenheit tatsächlich hart gear beitet hatte. Er kicherte leise bei der Vorstellung, daß der Grund für die se Aktivität die Unfähigkeit war, anderen und weniger produktiven Tä tigkeiten nachzugehen, und anschließend eilte er so rasch, wie ihn seine Beine trugen, ins Turmquartier. Meister Gansfleisch entriegelte die Tür. Er betrat das Zimmer und schaltete das Licht ein. Alles schien in bester Ordnung zu sein, doch unmittelbar darauf stellte er fest, daß irgend etwas nicht stimmte. Etwas fehlte. Voller Unbehagen runzelte der Alchimist die Stirn. Erneut sah er sich um. Seine Besorgnis nahm zu – und plötzlich wurde ihm klar, was sein Unbehagen weckte. Der sonst immerzu allgegenwärtige Zuckgalgen glänzte durch Abwe senheit. Meister Gansfleisch stampfte mit einem Fuß auf. »Zeig dich sofort, Ratten-Dämon!« befahl er. Es ertönte weder ein antwortendes Quieken noch irgendein Rascheln. Es herrschte Stille. »Zeig dich, verdammt!« schrillte der Alchimist. »Komm aus deinem Ver steck hervor! Bei allen Mächten der Finsternis…« – er nannte einige der angeseheneren und bekannteren beim Namen –, »… ich beschwöre dich! Zeig dich auf der Stelle!« Und als die Stille weiterhin andauerte, sah sich der Meister zum drit tenmal, noch etwas aufmerksamer um und machte dabei die Feststellung, daß nicht nur Zuckgalgen verschwunden war, sondern auch Humphrey der Homunkulus – samt seinem Glas. Der Alchimist tobte. Er sauste durch die verschiedenen Räume seines Quartiers und überprüfte jedes Fenster, jede Tür. Alles bot sich ihm ge nauso dar, wie er es zurückgelassen hatte. Er suchte die Ecken und Win kel ab, spähte in alle Schränke und Kommoden. Er zog Dutzende von Büchern aus den Regalen und blickte sogar unters Bett. Eine halbe
Stunde lang war er damit beschäftigt, das Unterste zuoberst zu kehren, und schließlich mußte er sich mit der Tatsache abfinden, daß nichts ver steckt war und sich alles an seinem gewohnten Platze befand. Niemand hatte seine Schätze angerührt: weder die uralten Einbände noch den bronzenen Schlüssel, der ins Schloß einer der sieben verbotenen Türen des Labyrinths paßte. Die Gedanken Meister Gansfleischs wirbelten im Kreis und ließen die wildesten Vermutungen in ihm entstehen. Er stellte sich vor, wie Papa Schimmelhorn mitsamt dem Kater in sein Zimmer einbrach, sowohl Zuckgalgen als auch Humphrey entführte und sich dann aus dem Staub machte. Aber dieses Bild vor dem inneren Auge des Alchimisten war schlichtweg lächerlich: Sein dämonischer Vertrauter hatte schon aus weitaus größeren Katzen Hackfleisch gemacht. Andere Alternativen kamen ihm in den Sinn. Vielleicht hatte die Prinzessin be fohlen, die Ratte und den Homunkulus fortzubringen, um auf diese Wei se die Macht des Thaumaturgen zu beschneiden. Oder war Zuckgalgen etwa zum Feind übergelaufen? Nein, nein – der Vertraute war mittels eines Höllenvertrages an ihn gebunden. Dann kam Kaspar eine andere Idee, eine, der auch Papa Schimmelhorn eine gewisse Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er setzte sich und dachte an die teuflischen Mächte, die er durch die Beschwörung des Vertrauten herausgefordert hatte. Er erinnerte sich an seine herablassende Bemerkung, jeder fähige und kompetente Thauma turge käme auch ohne dämonische Hilfe zurecht. Und schließlich rief er sich auch ins Gedächtnis zurück, daß er im letzten Augenblick davon abgesehen hatte, sein Seelenheil an Luzifer und die anderen Fürsten der Finsternis zu verpfänden. Ja, das mußte der Grund sein. Zuckgalgen war schlicht und einfach in die Hölle zurückgerufen worden, und Humphrey mochte von den sie benhundertsiebenundsiebzig Teufeln entführt worden sein, um den Mann zu strafen, der es gewagt hatte, die Hölle um eine verdorbene See le zu betrügen. Und bei diesem Gedankengang bemerkte der Alchimist auch einen inzwischen halb verflogenen Schwefelgeruch in der Luft. Es handelte sich um eine gleichzeitig erschreckende und sonderbar zufrie denstellende Überlegung. Ganz offensichtlich bedeutete das alles, daß die Vorgesetzten Zuckgalgens ihn, Meister Gansfleisch, nicht unter schätzten. Und was den Verlust des Homunkulus anging: Humphrey war
ihm zu keinem Zeitpunkt eine große Hilfe gewesen, denn er hatte deut lich gemacht, daß er den meisten Projekten des Meisters mit ausgepräg tem Abscheu begegnete. Noch immer erschüttert, doch mit wiederhergestellter Selbstsicherheit, bereitete sich Kaspar Gansfleisch darauf vor, zu Bett zu gehen, wobei er zunächst große Sorgfalt darauf verwendete, einige mächtige magische Diagramme zu zeichnen und verschiedene wirksame Schutzformeln aus zusprechen, die die Kollegen Zuckgalgens auf Distanz halten mochten, die derweil vielleicht einen Besuch erwogen. Dann zog er sich die Decke bis zum Kinn hoch, und während er einschlief, überlegte er, was er un ternehmen sollte, wenn Papa Schimmelhorn entgegen aller Wahrschein lichkeit tatsächlich Erfolg mit seinen Bemühungen haben sollte. Er dach te darüber nach, wie er das daraus resultierende Wohlwollen der Prinzes sin auf sich selbst lenken und den unwillkommenen Kollegen für immer loswerden konnte. Er lächelte im Schlaf und träumte… Er war ein Frosch und saß auf einem großen Seerosenblatt, und eine herrliche Mär chenfee schwebte herbei und berührte ihn mit ihrem Zauberstab – und von einem Augenblick zum anderen war er ein edler Prinz. Das Fräulein Prinzessin-Priesterin schritt auf ihn zu, die Arme weit ausgebreitet, die Lippen zum Kuß geöffnet… Papa Schimmelhorn hatte den größten Teil des Tages in wohliger Muße verbracht. Nur einmal begab er sich ins Laboratorium, um nach dem Rechten zu sehen und einige letzte Vorbereitungen zu treffen. Mit Gu stav-Adolf spielte er Verstecken auf der Brustwehr, und nach dem Essen führte er mit Humphrey ein ebenso unterhaltsames wie informatives Gespräch, in dem er weitere Einzelheiten über die im großen und ganzen ziemlich düstere Vergangenheit Meister Gansfleischs erfuhr. Er ver sprach Humphrey, dem Alchimisten unter gar keinen Umständen zu vertrauen, angemessene Vorsichtsmaßnahmen im Hinblick auf Zauber formeln und diverse Gifte zu ergreifen und insbesondere auf der Hut zu sein, nachdem er der Prinzessin das Liebeselixier verabreicht hatte. »Denn wißt Ihr, Meister Schimmelhorn«, erklärte der Homunkulus, »der gemeine und niederträchtige Gansfleisch ist verrückt nach ihr. Wenn er erfährt, daß sie sich in Euch verliebt hat – und das, so versichere ich Euch, wird zweifellos bald der Fall sein –, wird ihn nichts daran hindern
zu versuchen, Euch den Garaus zu machen. Ja, und der Prinzessin eben falls. Er dürfte nicht einmal davor zurückschrecken, die ganze Welt dem Untergang preiszugeben, um sich zu rächen!« Die Vorstellung, daß in der schmalen Brust Kaspar Gansfleischs eine derartige Leidenschaft wohnte, erschien Papa Schimmelhorn recht ko misch, und das sagte er auch, wobei er verwundert den Kopf schüttelte. Tatsächlich begann er inzwischen fast so etwas wie Mitleid dem Alchimi sten gegenüber zu empfinden – eine Regung, auf die Humphrey sofort aufmerksam wurde. Nachdem Papa von dem Homunkulus davor ge warnt worden war, einem so noblen Gefühl nachzugeben, spielte er eine Partie Schach mit ihm, die mit einem freundschaftlichen Patt endete. Nach dem Abendessen ließ es sich Papa Schimmelhorn nicht nehmen, mit seinen beiden Schmusemiezen zu schwimmen, die so nett waren ihm zu sagen, trotz seines gegenwärtigen und sie recht traurig stimmenden Zustandes zögen sie seine Gesellschaft der der jungen Männer Klein Paläons vor. Schon recht früh ging er zu Bett und schlief geräuschvoll. In der Nacht erwachte er einige Male und fragte sich, ob das Liebeseli xier tatsächlich die erhoffte Wirkung hervorrufen mochte, ob er dazu in der Lage sei, es der Prinzessin auf die notwendige Art und Weise zu ve rabreichen und – das war der wichtigste Punkt! – es das Fräulein so nachhaltig beeinflussen würde, daß es sich dazu bereitfand, ihm den Ge nuß des Gegenmittels zu erlauben. Dann überlegte er, ob er auch wirk lich genug von der letzten Ingredienz hinzugefügt hatte, grübelte eine Weile und schlief wieder ein. Hätte er das Telefongespräch hören können, das Sarpedon Mavronides an jenem Abend mit dem Fräulein von Hohenheim führte, so wäre er vermutlich besorgter gewesen. Der Grieche informierte Philippa von den so überaus intensiven Gewissensbissen Papa Schimmelhorns und berich tete ihr, das ersehnte Umwandlungsverfahren, mit dem aus Blei Gold gemacht werden sollte, stünde kurz vor der konkreten Vervollständi gung. Die werte Prinzessin ließ daraufhin keinen Zweifel daran, daß sie zwar zurückkehren werde, um Zeugin des erhofften Triumphes der al chimistischen Wissenschaft zu werden und sich die untertänigen Ent schuldigungen Schimmelhorns anzuhören, sie jedoch auf keinen Fall die Absicht habe, ihm sein schändliches Verhalten zu verzeihen. Er bekommt das Gegenmittel, überlegte Philippa, aber erst dann, wenn er weit – und damit
meine ich wirklich weit – von Klein Paläon entfernt ist. Und außerdem – sie lächel te bei dieser Vorstellung – vertraue ich es seiner Frau an. Papa Schimmelhorn ahnte von all dem nichts, und sofort nach dem Frühstück eilte er ins Laboratorium. Dort stellte er fest, daß Meister Gansfleisch, der noch mitgenommener aussah als sonst, bereits einge troffen war. Ho-ho! Maischter Gansi! dachte er. Du bischt also während där Nacht zurückgekährt und hascht das mit Zuckgalgen und däm Hom-onkel-lus hä rausgefunden! Und viellaicht wird sich irgendwann herausschtällen, daß du glaubscht, där Teufel habe sie geholt. Na, solange du Guschtav-Adolf kaine Schuld gibscht, ischt alles in Ordnung. Fröhlich begrüßte er seinen Kollegen, klopfte ihm kräftig auf den ge beugten Rücken und machte Witze über die hübschen Schmusemiezen in Athen. Der Alchimist gab sich größte Mühe zu versichern, es sei alles bestens gelaufen. Er rang sich das eine oder andere dünne Lächeln ab, versuchte das nervöse Zucken seiner Hände unter Kontrolle zu halten und bestand darauf, die Einkaufsliste Herrn Schimmelhorns anhand der erstandenen Objekte und Ausrüstungsteile zu kontrollieren. Papa Schimmelhorn teilte dem Alchimisten mit, er habe nichts verges sen, und alsdann machte er sich sofort ans Werk. Er installierte Batteri en, Generatoren und Umwandlerspulen. Er leitete immer mehr Strom in die nunmehr brodelnde Flüssigkeit, die den Kristall umspülte. Er brachte ineinandergreifende Zahnräder an, die für das unwissende Auge über haupt keinen Zweck zu erfüllen schienen. Innerhalb recht kurzer Zeit entstand auf diese Weise ein Gerät, das den Eindruck erweckte, als sei es schöpferischen Visionen Dalis und Picassos entsprungen, kreativen Vor stellungen, bei denen auch Enrico Fermi, Eli Whitney und Thomas Alva Edison nicht ohne einen gewissen Einfluß geblieben waren. Gegen zwei Uhr nachmittags verkündete Papa Schimmelhorn, der Kristall habe nun das vorgesehene Reifestadium erreicht, und mit der zögernden Hilfe Meister Gansfleischs hob er ihn aus dem Tank, trocknete ihn und setzte ihn an seinen Platz inmitten des Gewirrs aus Zahnrädern und Drähten und Kabeln. Er wies Dutzende von glitzernden Facetten auf, war multi korpuskular und ähnelte einem Prisma im Delirium tremens. Der Um stand, daß er weiterhin vibrierte, ein leises Stöhnen von sich gab und in einem pulsierenden blauen Licht erstrahlte, war nicht gerade dazu ange tan, die arg belasteten Nerven Kaspar Gansfleischs zu beruhigen.
Papa Schimmelhorn lötete den aus einem Schuhgeschäft stammenden alten Röntgenapparat fest, stellte einige zusätzliche Verbindungen her – es ging dabei einerseits darum, diverse Drähte miteinander zu verknoten, und andererseits erachtete es sein Unterbewußtsein für erforderlich, ein Kabel an der einen Flanke der Maschine festzuschweißen – und meinte schließlich, damit sei das Gerät fertig. Es wies eine von 0 bis 100 rei chende Skala auf, deren Zeiger zur Zeit auf den Wert 12,5 wies. Papa Schimmelhorn betätigte eine Taste, für die er ein auffälliges Rot gewählt hatte. Motoren heulten. Zahnräder knirschten und ächzten bedrohlich. Und über den Wandlerspulen irrlichterte elektrisches Feuer. Das blaue Glühen des Kristalls verdichtete sich innerhalb eines Sekundenbruchteils zu einem rund fünf Zentimeter. dicken und gebündelten Strahl, verfärbte sich zu einem dunklen Purpur und richtete sich auf die ein wenig über stehende Keramikfläche unter dem Kristall, wobei ein grollendes Klagen laut wurde. »Ach!« rief Papa Schimmelhorn. »Wunderschön! Ischt äs viellaicht ein Läser? Ich wünschte, ich würde das alles värschtähen!« Er betätigte eine andere Taste und schaltete die Maschine damit aus. Der Alchimist, erfüllt von Furcht und Aufregung, wanderte unruhig umher. »Herr Schimmelhorn! Herr Schimmelhorn!« kreischte er. »Ist es denn möglich? Wird es wirklich klappen? Glauben Sie, diesem… diesem Ding da gelingt es tatsächlich, Blei in Gold zu verwandeln?« »Natürlich«, erwiderte Papa Schimmelhorn. »Maischter Gansi, wie oft soll ich äs Ihnen dänn noch sagen? Ich bin ain Dschänie.« »Na gut, versuchen wir es also«, krächzte Meister Gansfleisch. »Auf der Stelle! Sofort! Wir müssen ganz sicher sein, bevor wir das… das Gerät der Prinzessin vorführen! Stellen Sie sich nur vor, wie enttäuscht sie wä re, wenn…« Unter den beiden zum Ein- und Ausschalten der Maschine dienenden Tasten gab es eine kleine Öffnung, in der ein Schlüssel steckte. Den drehte Papa Schimmelhorn nun herum und zog ihn heraus. »Ain Tescht ischt nicht nötig«, sagte er. »Ich waiß doch, daß die Maschine funktionie ren wird.« Er verstaute den Schlüssel in seiner Jackentasche. »Und jätzt habe ich die Zündung abgeschaltet, so daß niemand das Gerät aktivieren
und sich viellaicht värlätzen kann. Wir warten, bis die Prinzässin kommt.« Die pyrotechnischen Effekte der Maschine ließen allmählich nach. Das Stöhnen und Ächzen verklang. Der dicke, konzentrierte purpurne Strahl verblaßte und gewann wieder eine bläuliche Tönung. Nur der Kristall schien nach wie vor aktiv zu sein. Meister Gansfleisch hatte die Absicht gehabt, nach der Rückkehr Papa Schimmelhorns in sein Quartier im Laboratorium zu verbleiben und das Gerät auf eigene Faust auszuprobieren, und er fühlte sich enttarnt und betrogen. Insgeheim schwor er Rache, ließ sich äußerlich aber nichts anmerken. Er gestattete es seinen auf den Rücken gelegten Händen, mit sich selbst zu ringen, knirschte ebenso beeindruckend wie Zuckgalgen mit den Zähnen und versuchte, seine heftige Reaktion hinter einem schiefen Grinsen zu verbergen. Er verabschiedete Papa Schimmelhorn und begnügte sich damit, ihm mit finsterer Boshaftigkeit nachzublicken. Im Anschluß daran machte er sich eiligst auf den Weg zu Mavronides, um dem Griechen die teuflische Maschine auf betont erschreckende Weise zu beschreiben. Er fügte hinzu, er hoffe natürlich von ganzem Herzen, daß sich das Gerät tatsächlich für die Umwandlung von Blei in Gold eigne, doch er verhehlte nicht seine Befürchtung, daß man es mit ebensolcher Vorsicht handhaben müsse wie ein Atomkraftwerk. Und er schilderte in bewegten Worten seinen Schauder bei der Grauensvision einer immensen Gefahr für die Ökologie und die herrlich frische Luft Klein Paläons. Mavronides rief daraufhin natürlich sofort das Fräulein in Zürich an, gab ihr eine kurze Zusammenfassung des Berichtes Kaspars, pflichtete ihrer Einschätzung bei, es handele sich dabei gewiß um Warnungen, die auf nichts Konkreterem basierten als Neid und Mißgunst, und nahm die Nachricht entgegen, daß Euer Durchlaucht am nächsten Tag auf der Insel eintreffe. Beim Abendessen informierte er höchstpersönlich Papa Schimmelhorn von der bevorstehenden Ankunft der Prinzessin, gab ihm den Rat, sich bei der Begegnung so zerknirscht wie möglich zu zeigen und sich in sei nen Sonntagsstaat zu kleiden, und dann wünschte er ihm ziemlich ver drossen alles Gute.
»Mögen Ihnen die Götter beistehen und dafür sorgen, daß die Maschi ne funktioniert«, sagte der Grieche. »Denn dann gelingt es Ihnen viel leicht, ohne… nun, ohne Strafe davonzukommen. Ich bete für Sie.« »Schtrafe? Wieso dänn aine Schtrafe? Das Fräulain ischt zwar aine Prinzässin, glaichzaitig jedoch ain schwaizärischer Bankjäh und damit zivilisiert.« Mavronides lachte düster und humorlos. »In der Schweiz mag sie als Bankier tätig sein. Doch erinnern Sie sich daran: Hier auf Klein Paläon ist sie Prinzessin und Priesterin, und sie gebietet über Leben und Tod. Nicht einmal die Behörden auf Kreta wagen es einzuschreiten.« Später, bei der ersten sich ihm bietenden Gelegenheit, besprach Papa Schimmelhorn die Angelegenheit mit Humphrey, der ihm die Auskunft gab, er habe dann und wann von einigen Geheimnissen der Insel gehört, und es deute alles darauf hin, daß sie uralt seien, finster und grausam und oftmals recht blutig. Er gab seinem Freund den guten Rat, sich jeden seiner Schritte sorgfältig zu überlegen, keine unnötigen Risiken einzuge hen – insbesondere wenn es um sein Betragen ging – und sicherzustel len, das Liebeselixier genau den Instruktionen gemäß zu verwenden. Papa Schimmelhorn erflehte zwar nicht den Beistand der Götter, so wie es ihm Mavronides nahegelegt hatte, doch er dankte seinem Unterbe wußtsein und der Vorsehung dafür, so umsichtig gewesen zu sein, den magischen Trunk mit gleich drei Tropfen der letzten Zutat zu verstärken. Das Fräulein-Prinzessin-Priesterin Philippa Theophrastus Paleologus Bombastus von Hohenheim traf kurz nach Mittag des folgenden Tages in ihrem kleinen Reich ein, und sie wurde von Sarpedon Mavronides, einem unterwürfigen Meister Gansfleisch und einem Gefolge diensteifri ger Hausangestellter in ihre Gemächer begleitet. Mit Hilfe ihrer Kam merzofen kleidete sie sich in das prächtigste und teuerste ihrer Gewän der, um ihre Untertanen in angemessener Aufmachung im Thronsaal zu begrüßen. Es handelte sich dabei um eine Zeremonie, zu der weder Papa Schimmelhorn noch seine beiden Freundinnen eingeladen wurden. Als sie vorüber war, erhob sich die Prinzessin elegant und majestätisch. Ihr langes offenes Haar glänzte unter den funkelnden Juwelen der Tiara, und der perlenbesetzte kobaltblaue Stoff betonte die Rundungen ihrer Ge stalt.
»Bringt den Mann namens Schimmelhorn ins Laboratorium!« befahl sie kühl. »Dort werden wir dann sehen, ob er die ihm gestellte Aufgabe er folgreich bewältigt hat oder nicht.« Sie ignorierte den Einwand Meister Gansfleischs, der behauptete, die Gegenwart des Erfinders der Maschine sei doch überhaupt nicht nötig und er könne das Gerät ebensogut bedienen, wenn man Schimmelhorn dazu zwinge, ihm den Schlüssel auszuhändigen. Zwei Lakaien bekamen die Anweisung, das Genie abzuholen. Das Fräulein hatte keine Eile. Es ließ sich sogar eine Menge Zeit, denn es wollte, daß Schimmelhorn ausreichend Gelegenheit hatte, sich auf die Begegnung mit ihm vorzubereiten. Schließlich dann, nur begleitet von Mavronides und dem an ihrer Seite katzbuckelnden Alchimisten, begab es sich ins Laboratorium. Am Ende des Korridors angelangt, wich es zur Seite, so daß Meister Gansfleisch die Tür öffnen konnte. Es schickte die Lakaien fort und trat ein. Papa Schimmelhorn stand neben seiner Maschine. Als er die Prinzessin erblickte, ließ er sich aufs eine Knie sinken, verneigte sich tief und hauchte: »Euer Durchlaucht, Euer Durchlaucht!« Es klang überaus kummervoll. »Sagen Sie dem Mann, er soll sich aufrichten«, verordnete Philippa. »Stehen Sie auf, Herr Schimmelhorn«, sagte Mavronides. Papa Schimmelhorn erhob sich wieder, und Meister Gansfleisch eilte von hinten kommend heran, stieß ihn zur Seite und griff in die Tasche seiner Robe. »Sehen Sie nur, Hoheit! Sehen Sie, was ich für Sie habe!« Eifrig hob er eine kleine Statue mit großen Brüsten, breiten Hüften und einem von Schlangen umringten Haupt in die Höhe. »Ein uraltes Kunstwerk aus Blei, Hoheit. Das Bildnis Ihrer Schlangengöttin! Ich habe es extra für diese Demonstration ausgewählt! Es ist ein Symbol!« Philippa winkte barsch. »Ich schätze, die Statuette ist so gut wie ir gendein anderer Gegenstand«, sagte sie und deutete auf Schimmelhorn. »Geben Sie sie ihm!« Verärgert leckte sich Meister Gansfleisch mit der trockenen Zunge über die zitternden Lippen und kam der Aufforderung nach.
Papa Schimmelhorn nahm die winzige Statuette entgegen und stellte sie in die Mitte der Keramikplatte. Die Prinzessin sah Mavronides an. »Die Maschine soll eingeschaltet werden«, sagte sie. Papa Schimmelhorn betätigte die rote Taste. Motoren heulten. Zahn räder mahlten knirschend und ächzend übereinander. Elektrisches Blit zen und Knistern erfüllte die Luft. Das blaue Glühen wurde dunkler, nahm eine purpurne Tönung an und hüllte die bleierne Statuette in einen düster wirkenden Schein, wobei ein gräßliches Stöhnen zu vernehmen war. Mavronides trat rasch einen Schritt zurück und bekreuzigte sich. Mei ster Gansfleisch duckte sich in der Erwartung einer Explosion. Nur Papa Schimmelhorn und die Prinzessin rührten sich überhaupt nicht von der Stelle. Volle fünf Minuten lang blieb Papa stehen und sah die ganze Zeit über auf seine Armband-Kuckucksuhr, während die Maschine ungestört da mit fortfuhr, einen chaotisch anmutenden Lärm zu verursachen. Nie mand vernahm das Singen des kleinen Kuckucks, als die Frist verstrichen war. Papa Schimmelhorn schaltete das Gerät ab. Nach und nach verblaß te der purpurne Strahl. Das Heulen verklang, und die letzten elektrischen Entladungen verpufften ihre Energie. Die Statuette stand nach wie vor auf der Keramikplatte. Sie hatte sich nicht bewegt. Doch sie bestand nun nicht mehr aus grauem Blei. Sie glänzte hell. Und es konnte nicht den geringsten Zweifel daran geben, daß es sich bei dem Metall nunmehr um reines und kostbares Gold han delte. Papa Schimmelhorn griff nach ihr. Er hielt sie in beiden gewölbten Händen, so wie eine demütige Gabe, und er wandte sich der Prinzessin zu, die kaum einen Meter von ihm entfernt stand. Mit großer Mühe – der tiefe Ausschnitt ihres Gewandes hatte auf seine Augen die Wirkung eines Magneten – hob er den Blick und sah sie an. »Euer Durchlaucht«, flüsterte er ergeben, »das Gold gehört Ihnen!« Und gleichzeitig zerdrückte sein rechter Daumen die kleine Ampulle. Einige Sekunden lang hielt er den Atem an…
Plötzlich weiteten sich die Pupillen der großen Augen Philippas. Plötz lich zeigte sich in ihrer ernsten Miene eine tiefgreifende Veränderung. Plötzlich wirkte sie gar nicht mehr so ernst und unnahbar wie noch kurz zuvor. Doch sie starrte nicht etwa die Statuette an. Ihr erstaunter Blick war vielmehr auf Papa Schimmelhorn gerichtet. Sie nahm das goldene Objekt entgegen, ohne irgendein Interesse daran zu zeigen. Als sie sprach, klang ihre Stimme dumpf und sehr freundlich und wundervoll melodisch. »Sie haben gute Arbeit geleistet«, hauchte sie. »Sehr gute Arbeit…« »Ja, ja, das haben wir wirklich!« rief Meister Gansfleisch. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie hart ich in der letzten Zeit arbeitete. Sie…« Philippa würdigte ihn keines Blickes. »Sarpedon«, sagte sie, »fordern Sie dieses… dieses Geschöpf auf zu verschwinden. Es kann später hierher zurückkehren, um seine stinkenden Tinkturen zusammenzubrauen.« Sie wartete, bis Mavronides Meister Gansfleisch auf den Korridor ge bracht hatte, wobei er nicht besonders sanft mit dem Alchimisten um ging. »Und jetzt«, fügte die Prinzessin hinzu, »ziehe ich mich in meine Ge mächer zurück. Ich möchte in aller Ruhe über… gewisse Dinge nach denken. Und in einer Stunde wünsche ich Herrn Schimmelhorn zu se hen.« Die Veränderung, mit der sich Fräulein von Hohenheim nun konfron tiert sah, war so abrupt erfolgt, hatte eine so nachhaltige und umfassende Wirkung entfaltet, daß sie sich kaum mehr an ihren vorherigen Geistes zustand zu erinnern vermochte. Vor ihr stand Papa Schimmelhorn, und von einem Augenblick zum anderen begriff sie, daß sie ihn bisher noch nie richtig gesehen hatte. Als sie ihn daraufhin eingehend musterte, machte sie sich klar, daß sie sich bis zu diesem kritischen Zeitpunkt selbst verleugnet hatte. Wie war es ihr nur möglich gewesen, sich wäh rend ihres ganzen Lebens als Erwachsene einzureden, sie bringe den Vertretern des männlichen Geschlechts nur Verachtung und Haß entge gen, obgleich ihr jetzt klar wurde, daß sie doch eigentlich nur die lächer
liche Unzulänglichkeit all derjenigen Männer verabscheute, deren Be kanntschaft sie bisher gemacht hatte? Ausgerechnet sie, schweizerischer Bankier, Prinzessin-Priesterin, geweihte Bewahrerin nicht nur einiger weniger heiliger Geheimnisse, zeitweise Herrscherin über diese alte Insel, geistige Mutter der einheimischen Bevölkerung! Eine Frau von solcher Macht und derartigen Leistungen – eine Frau, die darüber hinaus auch noch geradezu göttlich schön war – konnte sich nicht mit einem norma len Mann einlassen. Wonach sich ihre Seele insgeheim sehnte, was ihrem innigsten Wunsche entsprach, war ein Held – ein Held nach klassischem Muster. Und dort stand er nun vor ihr, bärtig wie Zeus, groß wie Titan, kräftig wie Herkules, so alt wie Priamos, doch noch immer mit der Ener gie der Jugend versehen, mit der so noblen Schlichtheit seiner homeri schen Leidenschaften! Bei den Göttern! dachte Philippa. Was habe ich nur gemacht? Was habe ich ihm angetan? Sie wandte sich an Mavronides, gab ihm einige Anweisun gen, verließ das Laboratorium – wobei sie sich alle Mühe gab, das zu verbergen, was sie innerlich so sehr erschütterte – und kehrte eilig in ihre Gemächer zurück. Dort rief sie Niobe zu sich, entledigte sich des Prachtgewandes, streifte sich einen einfachen Morgenmantel aus golde nem Lame über und kämmte sich das lange offene Haar. Sie strich die Bettvorhänge beiseite, kniete sich neben den weichen Samtpolstern nie der und küßte Kissen und Decken. Dann eilte sie in den Salon zurück, wo Niobe sie aus großen Augen verwundert musterte. »Starr mich nicht so an, mein Kind!« rief Philippa. »Hol mir guten Weißwein, den besten, den du auftreiben kannst, und schön kühl muß er sein! Bring mir zwei hohe Gläser aus dem kostbar sten Kristall. Dann gib Ismail Bescheid. Ich stelle das Menü für ein Ban kett zusammen – oh, es wird ein wahres Fest werden! –, und Ismail soll uns hier bedienen. Er weiß, wie man sich bei solchen Gelegenheiten be nimmt. Sorg dafür, daß der Tisch für zwei Personen gedeckt ist. Oh, natürlich, ich habe es dir ja noch gar nicht gesagt! Heute, Niobe, wurden mir die Augen geöffnet. Die Götter haben mich erleuchtet. Zum ersten mal sah ich Herrn Schimmelhorn als das, was er ist – als einen Olympier! Und ich dachte, solche Männer seien seit Tausenden von Jahren ausge storben. Beeil dich, los, los, geschwind, geschwind!«
Philippa machte sich rasch und begeistert ans Werk und bereitete den kleinen Tisch neben dem kaiserlichen Sofa vor. Sie versah ihn mit zwei Kristallkelchen, zwei zarten Damastservietten und legte schließlich – mit zitternden Händen – die kleine Phiole mit dem von Meister Gansfleisch hergestellten Gegenmittel dazu. Ismail traf ein und lächelte und verneigte sich immer wieder, da Niobe ihn in die erstaunliche Veränderung einge weiht hatte, die der Prinzessin widerfahren war. Er nahm die Liste in Empfang, auf der die einzelnen Gänge des Banketts beschrieben waren, und er leitete sie sofort an den Chefkoch weiter. Als alle Vorbereitungen getroffen waren, versuchte Philippa, sich zu beruhigen und mit der einer Prinzessin entsprechenden Würde zu war ten. Sie sah sich außerstande dazu. Unruhig wanderte sie auf und ab, eilte ins Badezimmer, um dort in den Spiegel zu sehen, und strich lächelnd und mit zärtlichen Händen die Bettlaken glatt. Pünktlich nach Verstreichen der einen Stunde vernahm sie das diskrete Klopfen Mavronides' an der Tür. Als Niobe sie öffnete, flüsterte der Grieche Papa Schimmelhorn ins Ohr: »Jetzt werden Sie gleich wissen, welches Schicksal Ihnen bevor steht! Ich glaube nicht, daß die Prinzessin noch sehr böse ist, aber trotz dem sollten Sie großen Wert darauf legen, ihr Schuldbewußtsein zu zei gen und sich betont demütig zu verhalten.« »Die Prinzessin wünscht, daß Sie allein zu ihr kommen, Herr Schim melhorn«, sagte Niobe. Sie begleitete den Griechen hinaus, nachdem sich Mavronides verneigt hatte, und sie gab Papa Schimmelhorn noch einen sanften Stoß, bevor sie die Tür schloß. Papa Schimmelhorn trat zögernd ins Zimmer, hielt den Blick gesenkt und machte, dem Rat des Griechen entsprechend, ein sehr reumütiges Gesicht. Er war so sehr darauf konzentriert, sich zerknirscht zu geben und zu zeigen, wie enorm seine Gewissensbisse waren, daß er die beson dere Mimik der Prinzessin nicht bemerkte. Langsam näherte er sich ihr. Dicht vor ihr kniete er sich recht ungelenk nieder. »Küß die Hand, Euer Durchlaucht«, setzte er an. »Ach, ich möchte mich bai Ihnen äntschuldi gen, ich maine…« Er brach ab. Die vor ihm stehende Philippa streckte ihm beide Hände entgegen.
»Nicht Sie müssen sich bei mir entschuldigen, mein Herr!« gurrte sie leidenschaftlich. »Sondern ich bei Ihnen! Wenn ich daran denke, was ich Ihnen angetan habe…! Doch kommen Sie nur, nehmen Sie meine Hän de! Leisten Sie mir Gesellschaft. Ich versichere Ihnen, ich habe jetzt ein gesehen, welche Schuld ich auf mich lud…« Ein wenig zögernd und noch immer besorgt griff Papa Schimmelhorn nach den ihm dargebotenen Händen. »Bis vor kurzem wußte ich überhaupt nicht, wer und was Sie eigentlich sind. Mein ganzes Leben lang habe ich, die Prinzessin des Minotaurus, auf einen Helden gewartet – einen Achilles, einen Odysseus, vielleicht einen Theseus! Dann kamen Sie – und ich erkannte Sie nicht. Ich habe Ihnen großes Unrecht angetan. Das ist unverzeihlich. Aber glücklicher weise – ja, das ist wirklich ein Glück! – läßt sich der angerichtete Schaden beheben. Wir trinken Wein zusammen, und schon nach wenigen Minu ten werden Sie wieder so gesund und munter sein wie zuvor!« Papa Schimmelhorn stand auf und sah auf Philippa herab, in ihre Au gen. Es handelte sich dabei nicht mehr um eisige Schlünde, die vor allen Dingen maskuline Opfer verschlangen. Statt dessen glänzte es nun warm und liebevoll in den Juwelen der Pupillen, und der Blick des Fräuleins war jetzt dazu imstande, in jedem Mann – und insbesondere in Papa Schimmelhorn – das Feuer der Leidenschaft zu entfachen. Sanft drückte sie ihn auf einen der beiden Stühle am Tisch. Eigenhän dig schenkte sie den Wein ein, und als sie das Gegenmittel hinzufügte, gab sie Papa Schimmelhorn einen Kuß. Dann nahm sie neben ihm Platz und hob ihr Glas. »Mein Prinz!« flüsterte sie. »Liebling! So lange habe ich auf dich gewar tet…« Sie prosteten sich zu, sahen sich tief in die Augen und tranken erneut. Und Papa Schimmelhorn, der ein Wunder nach dem anderen erlebt und erst jetzt begriff, als wie wirksam sich das Liebeselixier Humphreys er wiesen hatte, war fast sprachlos. Kurz darauf fühlte er ein vertrautes Prickeln in sich und spürte, wie sich die ›Battärien sainer Potänz mit neu em Schtrom‹ aufluden. Bewundernd musterte er die Prinzessin. »Ach, Gott!« entfuhr es ihm. »Wie schön du doch bischt!« Dann: »Runter damit!« rief und leerte sein Glas.
Angesichts seiner Unkompliziertheit gab Philippa ein leises und mäd chenhaftes Kichern von sich. Sie nahm ihn an der Hand. Sie führte ihn ins Schlafzimmer, wo er sich auf die Bettkante hockte. Ganz langsam drehte sich Philippa vor Papa Schimmelhorn im Kreis. Dann kam sie auf ihn zu. »Und nun, mein Prinz«, schnurrte sie, »entkleide mich!« Und Papa Schimmelhorn erhob sich nicht nur in einem Sinne. Wenn man den schrecklichen Schock des jähen Verlustes der Mannes kraft bedenkt, das Elend, in dieser Hinsicht an einer fortgesetzten Schwäche zu leiden, und das überwältigende Entzücken, sich praktisch von einem Augenblick zum anderen vollständig zu erholen, so mag es nicht überraschen, daß Papa Schimmelhorn einen überaus fröhlichen und aktiven Nachmittag verbrachte. Und wenn man darüber hinaus be rücksichtigt, daß die Prinzessin weder jemals die Quellen ihrer Leiden schaft anzapfte noch ein maskulines Objekt fand, das entsprechende Bemühungen wert gewesen wäre, kann man es nur als erstaunlich be zeichnen, mit welcher leidenschaftlichen Hingabe sie sich nicht nur an der agilen Gesellschaft Papa Schimmelhorns erfreute, sondern auch an ihrem neuen Selbst. In seinem langen Leben hatte sich Papa Schimmelhorn mit einer nicht geringen Anzahl an Schmusemiezen vergnügt, wobei er keinerlei Vorzü ge hegte in Hinsicht auf Größe, Hautfarbe, Temperament und persönli che Neigungen. Manche der betreffenden Damen waren scheu und schüchtern und zurückhaltend gewesen, andere offen und direkt und so erfahren wie Callgirls der Luxusklasse. Philippa Theophrastus Paleologus Bombastus von Hohenheim paßte in keine dieser Kategorien, und wäre er dazu in der Lage gewesen, einen klaren – und vor allen Dingen kühlen – Gedanken zu fassen, so hätte er vermutlich begriffen, daß er, symbo lisch gesehen, nicht mit einer süßen Mieze im Bett lag, sondern einem weitaus größeren und keineswegs zahmen Exemplar der Gattung Katze. Die Prinzessin war, gelinde gesagt, eine Tigerin – zwar lieblich und ent zückend und leidenschaftlich und hingebungsvoll, aber nichtsdestoweni ger eine Tigerin. Und außerdem hatte sie eine Überdosis des Mittels er halten, bei dem es sich ohne Zweifel um das wirkungsvollste Liebeseli
xier der Welt handelte. In seiner naiven Unschuld nahm Papa Schimmel horn jedoch nur an, es mit einer Superschmusemieze zu tun zu haben, gratulierte sich zu seinem Glück und nutzte die gute Gelegenheit nach Kräften aus. Die Unterhaltung an diesem Nachmittag beschränkte sich auf wenige Worte, manchmal sogar nur Silben. Atemlos gaben sie in aller Kürze ihrem Verlangen nacheinander Ausdruck, bezeichneten sich als geschla gen und rühmten sich gleichzeitig als Sieger in einem Wettkampf, der kein Ende nahm und den niemand von ihnen rasch beenden wollte. Als die Zeit zum Abendessen näherrückte, nahmen sie auf den Vor schlag Philippas hin ein gemeinsames und herrliches Bad. Inzwischen glühten die Wangen der Prinzessin, und nachdem sie sich abgetrocknet hatte, streifte sie sich wieder den goldenen Morgenmantel über und gab Papa Schimmelhorn ein vortreffliches Brokatgewand, das vor anderthalb Jahrhunderten für einen in der ganzen Welt berühmten Vorfahren des Fräuleins hergestellt worden war und von dem es behauptete, es betone noch sein majestätisches Erscheinungsbild und die heroische Statur, durch die er sich auszeichne. Philippa rief Niobe herbei, die ihnen eine zweite Flasche kühlen Weißweins brachte, und während sie ihn genos sen, unterhielten sie sich angeregt, führten die Gespräche, wie sie für ein junges Liebespaar typisch sind, formulierten Worte, die eigentlich keinen rationalen Sinn ergaben, dafür aber überaus bedeutsame emotionale Bot schaften übermittelten. Papa Schimmelhorn war recht benommen und schenkte den Ausfüh rungen Philippas nur beiläufige Beachtung. Sie sprach von Geheimnissen in den dunklen Tiefen der Erde, Mysterien, die sie ihm bald zu offenba ren gedenke. Sie erzählte von uralten magischen Ritualen und Zeremoni en, an denen nur ihre loyalsten Untertanen auf Klein Paläon teilnehmen durften, von Schlangengöttinnen und Priesterinnen, von jungen Män nern und Mädchen, die lachend gefährliche Tänze vollführten. Sie mach te sich über die Archäologen lustig, die das auf der Hauptinsel gelegene Knossos ausgegraben hatten und doch nur so wenig von der Geschichte und den Mythen Kretas wußten. Sie sang ihm jedoch auch Liebeslieder vor und beugte sich ab und zu zu ihm heran, um ihm ihr Weinglas anzu bieten oder einen zärtlichen Kuß zu geben.
Dann plötzlich seufzte sie. »Ach, Liebling, Liebling!« hauchte sie. »Ich bin verzaubert worden und einfach hingerissen und entzückt! Aber ich darf nicht vergessen – du mußt mich gegebenenfalls daran erinnern, hörst du? –, daß ich Pflichten habe! Bevor wir uns an das Bankett ma chen, möchte ich noch mit Sarpedon sprechen und ihm einige Anwei sungen hinsichtlich der Führung des Haushaltes geben. Er ist der treue ste meiner Diener und wäre sicher betroffen, wenn ich meine Aufgaben vernachlässigte. Außerdem…« – sie gab Papa Schimmelhorn einen wei teren Kuß –, »… muß ich ihm von uns erzählen, so daß er sich mit uns freuen und Vorbereitungen für die Feier treffen kann. Und jetzt zieh dich bitte an, Schatz, denn auch dich erwarten Pflichten.« »Na gut«, erwiderte Papa Schimmelhorn bedauernd. »Ich muß zurück und mainen Guschtav-Adolf füttern. Är ischt ain braver Kater. Kainer anderen Katze wäre äs gelungen, Zuckgalgen zu töten.« Ganz kurz regte sich ein Zweifel in ihm: Hätte er diesen Vorfall nicht besser verschweigen sollen? Doch Philippa lachte nur fröhlich. »Er hat Zuckgalgen erledigt?« platzte es aus ihr heraus. »Kein Wunder, daß Kas par Gansfleisch heute einen so verdrießlichen Eindruck machte, als du das Gold für mich herstelltest. Geh jetzt! Füttere deine Katze und komm sofort zu mir zurück, damit du mir in allen Einzelheiten davon berichten kannst, auf welche Weise wir die abscheuliche Ratte endlich losgeworden sind!« »Ich schpute mich, Euer Durchlaucht…« Fräulein von Hohenheim unterbrach ihn sofort und berührte mit dem Zeigefinger die Lippen Papa Schimmelhorns. »Wie kannst du mich denn so nennen? Ich habe es dir doch gesagt – du bist mein Prinz. Für dich bin und bleibe ich Philippa, oder ›Liebling‹ oder ›Schatz‹. Oh, nenn mich wie du willst, solange ich nur dein bin!« »Na schön, Süße«, sagte Papa Schimmelhorn und zog sich die Hose an. »Ich beaile mich, füttere Guschtav-Adolf und wechsle viellaicht auch dän Sand där Katzenbocks, und ich sage mainen Schmusemiezen, daß ich ihnen heute nacht kaine Gesällschaft laiste.« Für einen Sekundenbruchteil kniff Fräulein von Hohenheim die Augen zusammen. Dann kicherte sie leise, und es war die Art von Lachen, die Hera von sich gegeben haben mochte, als sie von den extraolympischen
Eskapaden ihres Gemahls Zeus erfuhr. Sie machte sich eine gedankliche Notiz und nahm sich vor, der Liste von Anweisungen, die sie Sarpedon Mavronides geben wollte, noch einen weiteren Punkt hinzuzufügen. Sie küßten sich noch einmal, und dann eilte Papa Schimmelhorn in seine Unterkunft zurück. Glücklicherweise waren Niki und Emmy nicht anwesend. Nur Gustav-Adolf begrüßte ihn, allerdings ohne großen En thusiasmus. »Wo biste denn gewesen, alter Knabe?« knurrte er auf katz. »Nein, besser, du sagst es mir nich'.« Er schnüffelte. »Ich weiß auch so Bescheid, jawoll! Und ich bin hier ganz allein und kann nich' mal mit 'ner Schildpattkatze spielen. Hach! Wenn das der Dank ist, kannste deine Ratten demnächst selbst totbeißen!« Papa Schimmelhorn gab sich alle Mühe, den Kater zu trösten. Er sagte ihm, was er doch für ein prächtiger Held sei, und er meinte, die Prinzes sin höchstpersönlich werde es sich vermutlich nicht nehmen lassen, ihn zu streicheln und zu loben. Anschließend fütterte er ihn mit einer enor men Portion roher Leber, wechselte den Sand der Katzenbox und holte Humphrey aus dem Geheimfach. Der Homunkulus war ganz aus dem Häuschen, als er hörte, auf welche Weise das Liebeselixier gewirkt hatte. Interessiert beugte er sich auf sei nem kleinen Stuhl vor, und sein großer Freund gab ihm einen ziemlich detaillierten Bericht, bei dem er nur die Einzelheiten wegließ, die dem moralischen Empfinden Humphreys einen schweren Schlag hätten ver setzen können. Der winzige alte Mann klatschte freudig in die Hände, als er hörte, mit welcher Enttäuschung Meister Gansfleisch reagiert hatte, als es Papa Schimmelhorn wirklich gelang, das Blei der Statuette in Gold zu verwandeln, und er sprang auf, als Papa ihm beschrieb, wie er die Ampulle unter der Nase der Prinzessin zerbrochen hatte. Doch als der Ort der Geschehnisse vom Laboratorium in den Salon wechselte, von dort aus ins Schlafzimmer und dann ins Bett, offenbarte Humphrey An zeichen immer ausgeprägter werdender Unruhe. Papa Schimmelhorn erläuterte die Leidenschaft, mit der die Prinzessin und er sich geliebt hatten, und als er eine Pause einlegte, um zu seufzen und tief Luft zu holen, machte der Homunkulus ein besorgtes Gesicht.
»Verzeiht mir bitte, Meister Schimmelhorn«, sagte er, »aber würdet Ihr mir vielleicht sagen, wie viele Tropfen von der letzten Ingredienz Ihr dem Elixier hinzugefügt habt?« »Nun, drai«, erwiderte Papa Schimmelhorn fröhlich. »Da die Prinzässin kain Hom-onkel-luss-Mädchen ischt, dachte ich, äs sai bässer, die Dosis ain wänig zu ärhöhen.« »Himmel!« entfuhr es Humphrey. »Werter Herr, es grenzt an ein Wun der, daß sie das überlebt hat! Meine Güte, diese Menge würde genügen, um die arme alte Kleopatra auferstehen zu lassen! Bitte gebt gut acht, denn nun kann niemand mehr voraussagen, was sie tun wird. Ich flehe Euch an, größte Vorsicht walten zu lassen! Mir graut schon bei der Vor stellung, was jetzt alles passieren könnte. Und bei Gott und allen Heili gen: Sagt niemandem etwas von mir, nicht einmal ihr – oh, gerade ihr nicht! Denken Sie immer daran: Sie ist eine heidnische Priesterin!« »Mach dir nur kaine Sorgen!« lachte Papa Schimmelhorn. »Ich habe ja värschprochen, niemandem ätwas zu värraten, und däshalb blaibt das Gehaimnis auf uns baide beschränkt. Aber die Prinzässin ischt ain nättes Mädchen. Viellaicht hat sie zuviel Saft und Kraft, doch im Bätt ischt das ganz in Ordnung so. Wie däm auch sai: Äs wird schon nichts Furchtba res geschähen – värtrau nur däm guten alten Papa Schimmelhorn. Schließlich bin ich ain Dschänie.« »Das, so wage ich hinzuzufügen, war auch der berühmte Doktor Faust, über den Kit – Christopher – Marlowe schrieb«, warf Humphrey mit kummervoller Miene ein. Papa Schimmelhorn gab ihm einen Fingerhutvoll des guten Brandys, um die Stimmung des Homunkulus' ein wenig zu lockern. Er versicherte ihm erneut, er brauche sich keine Sorgen zu machen, setzte ihn behut sam in sein Glas zurück und machte sich rasch wieder auf den Weg zur Prinzessin. Als er bei ihr eintraf, verließ Sarpedon Mavronides gerade ihre Gemä cher. Der Grieche wich respektvoll zur Seite, so daß Papa Schimmelhorn eintreten konnte, und er verneigte sich vor ihnen beiden. »Hoheit«, sagte er. »Ich rufe Herrn Doktor Rumpler an, so wie Sie mir befohlen haben, und ich informiere ihn davon, daß die Maschine zur Produktion von Gold fertig ist und bestens funktioniert. Ich sage ihm auch, daß Sie drei
Tage lang indisponiert sind und er nicht versuchen soll, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Anschließend mache ich mich umgehend an die Ausführung der anderen Aufträge, die Sie mir zu erteilen geruhten.« Er verbeugte sich erneut, und als er auf den Flur trat, murmelte er ergeben: »Angenehme Nacht, Hoheit.« Dann schloß er die Tür. Die Prinzessin nutzte die Gelegenheit sofort, um ihren Geliebten zu umarmen, seinen Kopf zu sich herabzuziehen und ihm die Lippen auf den Mund zu pressen. Es dauerte eine Weile, bis Papa Schimmelhorn wieder eine Möglichkeit bekam, nach Luft zu schnappen. »Maine Güte! Philli, Schätzchen, Liebling, hascht du gehört, wie mich Härr Zorba nannte? Genauso wie dich – aine Hohait. Was soll dänn das? Königliche Hohait Schimmelhorn der Ärschte?« Er lachte schallend und dröhnend. »Dänk nur! Aine Hohait, die Kuckucksuhren härschtällt und ainen Stänlei-Dampfwagen mit Antikrafitation hat!« Fräulein von Hohenheim lachte ebenfalls und führte ihren Geliebten an den Tisch, wo bereits der erste Gang des Menüs – aufgetragen von Ismail – auf sie wartete. Sanft drückte sie ihn auf den Stuhl. Und erneut schenkte sie Weißwein ein. »Liebling!« hauchte sie. »Teuerster Schatz! Natürlich nannte dich Sar pedon Hoheit, denn jetzt bist du mein Prinz. Doch du kannst nie den Titel Schimmelhorn der Erste tragen, das wäre nicht richtig. So wie ich die Prinzessin Philippa bin, mußt du unter deinem Vornamen bekannt werden. Ach, sag ihn mir doch bitte.« Wieder lachte sie. »Du kannst doch schließlich nicht der Prinz Papa werden, und es wäre doch auch nicht ganz angebracht, würde ich dich im Bett Papa nennen.« Papa Schimmelhorn errötete. Und seine Füße unter dem Tisch scharr ten verlegen über den Boden. »Ich… ich habe ihn nicht mähr benutzt, sait ich ain klainer Junge war«, gab er zögernd zur Antwort. »Als junger Mann mainten all die süßen Schmusemiezen, är klänge so, als gehöre är jemand andärs. Und ich… ich möchte ihn nicht ausschprächen.« Philippa beugte sich ein wenig vor und offenbarte dabei den vortreffli chen Ausschnitt, den er inzwischen so gut kannte und schätzte. »Willst du ihn nicht einmal mir verraten?« flüsterte sie. Die Wangen Papa Schimmelhorns wurden noch dunkler. »Für dich, Schätzchen… für dich… äh… schraibe ich ihn auf.«
In der Nähe lag ein Notizblock, den Philippa benutzt hatte, um Ma vronides die Anweisungen schriftlich zu geben. Sie reichte ihn Papa. Der nahm ihn entgegen und kritzelte widerstrebend einige Buchstaben aufs Papier. Voller Unbehagen gab er den Block dann zurück. Fräulein von Hohenheim blickte auf das eine Wort. »Där Name wird ›Auh-guscht‹ ausgesprochen«, erklärte Papa Schim melhorn unnötigerweise. »August!« rief Philippa bewundernd. »Ein Name, der zu dir paßt, Lieb ling. Ja, er hat einen majestätischen Klang. Prinz August der Erste! Das ist perfekt! Aber wenn du ihn nicht magst, wenn es dir geradezu Schmer zen bereitet, ihn zu hören, so sprechen wir ihn nur während der feier lichsten Zeremonien aus, wenn er de rigueur ist.« An dieser Stelle mußte Papa Schimmelhorn daran denken, daß Mama, wenn sie von der ganzen Sache erfuhr, sicher nicht viel von seiner plötz lichen Erhebung in den Adelsstand hielt, erst recht nichts von den Gründen dafür, doch irgendeine warnende Stimme teilte ihm mit, es sei nicht sonderlich klug, der Prinzessin von diesen Überlegungen zu berich ten. In der Vergangenheit war es ihm immer auf mehr oder wenig ele gante Weise gelungen, solche Hürden zu nehmen, wenn er mit ihnen konfrontiert wurde, und außerdem empfand er es derzeit als viel leichter und angenehmer, sich einfach nur zu entspannen und die besonderen Privilegien seines neuen Standes zu genießen. Sie nahmen ein deliziöses Festmahl ein. Sie tranken den besten aller Weine. Bedient wurden sie von einem überaus fröhlichen Ismail und einer Niobe, die die Freude selbst zu sein schien. Sie liebten sich mit den Blicken, mit den Fingerspitzen, streichelten sich mit zärtlich gemurmel ten Silben. Papa Schimmelhorn beschrieb mit recht dramatischen Wor ten, auf welche Weise Zuckgalgen ums Leben gekommen war. Er mein te, sicher habe Gansfleisch eins der Fenster in der Absicht geöffnet, Gu stav-Adolf in die Falle zu locken, und er schilderte, wie die magischen Zeichen Frau Laubenschneiders den Kater in die Lage versetzt hatten, es der Ratte zu zeigen. Er erzählte, wie er die Schlösser der Tür geöffnet hatte und sowohl die Hinweise auf den Kampf als auch das Opfer von ihm beseitigt worden waren, und zum besonderen Entzücken der werten Philippa fügte er hinzu, seiner Meinung nach führe Meister Gansi sicher
alles auf den Besuch des Teufels höchstpersönlich zurück. Er hielt je doch sein Versprechen und ließ den Homunkulus unerwähnt. »Nun, wir brauchen Meister Gansfleisch jetzt nicht mehr«, verkündete Philippa. »Mit dem Gold, das du herstellst, können wir die ganze Welt kaufen! Ich hege gegen den Alchimisten schon seit einer ganzen Weile tiefe Abscheu, und nun endlich bietet sich uns eine Gelegenheit, ihn loszuwerden.« Liebevoll berührte sie die Wange Papa Schimmelhorns. »So, und jetzt können wir uns wieder angenehmeren Dingen widmen, die wir – was ich als so überaus bedauerlich empfand! – heute morgen un terbrechen mußten, weil uns die Pflicht rief.« Sie genehmigten sich einen Likör, während Niobe den Tisch abräumte und Ismail diensteifrig alles forttrug. Dann, mit einem Jubelruf, nahm der Prinz die Prinzessin in die starken Arme und trug sie, sehr zu ihrem Entzücken, zu Bett. Am nächsten Morgen, nachdem sie das Frühstück als eine weitere un willkommene Unterbrechung erduldet hatten, schlossen sie sich ein und beschäftigten sich bis fast zum Mittag mit neuerlichen sportlichen Übun gen. Dann badeten sie und kleideten sich an. Sie speisten allein, nur in der Gegenwart Niobes und Ismails, die gleichermaßen geschäftig und diskret hin und her eilten. Im Anschluß an die Mahlzeit stand die erste Audienz dieses Tages an. Sie empfingen Sarpedon Mavronides, der ihnen fröhlich mitteilte, alle Bediensteten im Schloß und auch die Bewohner Klein Paläons freuten sich nachgerade ekstatisch darüber, daß die Prin zessin endlich ihren Helden gefunden habe. Es gebe niemanden, so fügte er hinzu, der nicht bestrebt sei, von ihm empfangen zu werden. Sie seien bereits eifrig dabei, Geschenke vorzubereiten, und darüber hinaus beton te er die Bereitschaft der Untertanen Philippas, zum entscheidenden Augenblick Opfer darzubringen. Die letzte Bemerkung verwirrte Papa Schimmelhorn ein wenig, doch da die Prinzessin einen sehr zufriedenen Eindruck erweckte, gelangte er zu dem Schluß, daß sich die betreffenden Worte des Griechen nur auf eine harmlose Tradition der Einheimischen bezogen, und deshalb stellte er keine Fragen.
Mavronides berichtete auch von dem Telefongespräch mit Herrn Dr. Rumpler, der, so führte er aus, infolge der Neuigkeiten zunächst enorm aufgeregt gewesen war, dann anbot, auf der Stelle nach Klein Paläon zu fliegen und sich schließlich, mit offensichtlichem Widerstreben, der Ver ordnung des Fräuleins gefügt hatte, es drei Tage lang nicht zu stören. »Was Ihre anderen Anweisungen angeht, Hoheit«, fuhr er fort, »so kann ich Ihnen mitteilen, daß sie alle Ihrem Wunsche gemäß ausgeführt wurden. Ich habe Meister Gansfleisch mitgeteilt, daß Sie ihn aufgrund seiner schlechten Manieren während der Vorführung der Maschine bis auf weiteres aus dem Laboratorium verbannten, und obgleich ich seinem Blick entnehmen konnte, wie sehr er mich haßte, glaube ich nicht, daß er es wagt, diesen Befehl zu mißachten. Schließlich habe ich den beiden jungen Damen das ihnen zustehende Honorar samt einem großzügigen Bonus gezahlt, und sie sind nun auf der Heimreise, nach Amsterdam, glaube ich.« Papa Schimmelhorn riß die Augen auf. »Die baiden jungen Damen?« brachte er schnaufend hervor. »Mainen Sie damit maine süßen Schmu semiezen?« »Ja, Liebster, Teuerster mein«, gurrte die Prinzessin. »Du bist doch sicher ebenfalls der Meinung, daß wir ihre Dienste jetzt nicht mehr benötigen.« Tröstend strich sie mit der einen Hand über den Oberschenkel Papa Schimmelhorns. »Und nun«, fügte sie hinzu, »stellen wir Gold her.«
8
Prinz Auh-guscht
Die zwei großen stämmigen Lakaien, die Meister Gansfleisch vor einiger Zeit abgeholt hatten, um ihn mit den Zurechtweisungen durch die Prin zessin zu konfrontieren, standen jetzt Wache vor der Tür des Laborato riums, die mit diversen Zeichen und Symbolen – sie ähnelten denen, die Frau Laubenschneider verwendet hatte, um Gustav-Adolf vor bösen Geistern und Phantomen zu schützen – in eine nahezu undurchdringli che Barriere verwandelt worden war. Sie verneigten sich respektvoll, als der Prinz und die Prinzessin an sie herantraten, die Tür öffneten und sich in die sich daran anschließende Räumlichkeit begaben, wobei sie die Auskunft einholten, daß niemand auch nur den Versuch unternommen hatte, sich unrechtmäßigen Zutritt zu verschaffen. Alles sei in bester Ordnung, versicherten die beiden Wächter, und sie beeilten sich zu ver sprechen, dieser Zustand würde weiterhin andauern. Im Verlaufe der nächsten drei Stunden stellten Papa Schimmelhorn und Fräulein von Hohenheim Gold her. Nur dann und wann legten sie kurze Pausen ein, um sich mit neckischen Liebesspielchen zu erfrischen. Philippa zeigte sich keineswegs erschrocken durch das gräßliche Stöhnen des Apparates, das Knirschen und Ächzen der Zahnräder und das apo kalyptische Irrlichtern elektrischer Entladungen. Statt dessen klatschte sie überglücklich in die Hände, als sie sah, wie prächtig das Gerät funktio nierte und jeweils innerhalb weniger Minuten massives Blei in ebenso massives Gold verwandelte. »Aber warum«, fragte sie nach einer Weile, »hast du einen so niedrigen Skalenwert gewählt? Wenn du die Maschine auf fünfzig oder vielleicht sogar hundert einstellen würdest, so könnten wir doch wesentlich mehr Gold produzieren, nicht wahr?« »Ach«, erwiderte Papa Schimmelhorn, »wänn ich das mache, värbraitert sich där Schtrahl, und… und…« Es überforderte ihn, komplexe asym ptotische Kurven zu beschreiben. »Viellaicht wird är dann ainen ganzen Kilomäter brait, möglicherwaise auch zwai. Außerdäm värändert sich
dadurch saine Ainwirkungsqualität, und das könnte gefährlich sain. Schpäter nähme ich ainige Värbässerungen vor. Bis dahin müssen wir uns mit nur ain wänig Gold begnügen.« Er verarbeitete zunächst einen Sack voll feinen Bleischrot, den er in seinem Turm gefunden hatte, und er fügte vier kleine Rohre aus Blei hinzu, die er sich von Sarpedon Mavronides auslieh. Anschließend wan delte er drei Stößel um, die aus dem sechzehnten Jahrhundert stammten und mit sonderbaren Zeichen versehen waren. Sie gehörten zum Besitz Meister Gansfleischs, der ihnen magische Attribute hinzugefügt hatte. Dann kamen ein bleierner Löffel und diverse kleine Behältnisse aus dem gleichen Material an die Reihe, Gefäße, mit deren Zweck Papa Schim melhorn nicht vertraut war, die der Alchimist jedoch besonders gehütet hatte. Erst als sich die Prinzessin davon überzeugt hatte, daß jede im Laboratorium vorrätige Unze Blei in Gold transformiert worden war, erklärte sie sich damit einverstanden, die Arbeit zu beenden. »Mein Prinz, mein König!« rief sie. »Du hast die Frau in mir mit deiner Kraft verzaubert, mit deiner Leidenschaft! Und mit Hilfe deines Genies ist es dir nunmehr gelungen, auch den Rest meines Wesens zu erobern – die Prinzessin, die Priesterin des Minotaurus – ja, auch den schweizerischen Bankier! Fürwahr: Liebe und Gold sind wie ein Stein der Weisen, wie ein universelles Lösungsmittel. Und gemeinsam werden wir noch mehr da von herstellen, ja, viel mehr! Doch sag mir: Büßt der Tag nicht langsam seine Jugend ein? Ist es nicht schon recht spät geworden, so daß wir uns wieder um unsere Pflichten kümmern müssen?« »Ja«, bestätigte Papa Schimmelhorn. Und auf sein Geheiß hin sang die Armband-Kuckucksuhr auf die Sekunde genau die Zeit. Die Prinzessin küßte das Kunstwerk. »Oh, laß das Vögelchen für uns jubilieren!« freute sie sich. »Solange es in der Nacht taktvolles Schweigen wahrt und uns nicht stört während unserer herrlichen Stunden hinge bungsvoller Liebe! Aber nun – Sarpedon erwartet neue Anweisungen von mir. Begleitest du mich, mein Prinz?« »Ach, äs wäre mir aine Ähre!« Bedauernd schüttelte Papa Schimmel horn den Kopf. »Doch, klaine Philli, ich muß gähen, mainen lieben Guschtav-Adolf füttern, das Bad bänutzen und mähr Blei für morgen bäsorgen.«
Philippa antwortete, er solle sich über den Nachschub keine Gedanken machen und meinte, Mavronides würde ihm alles beschaffen, was er brauche. Nachdem sie einen der beiden Lakaien damit beauftragt hatte, das hergestellte Gold in eine der hölzernen Kisten Meister Gansfleischs zu tragen, geleitete Papa Schimmelhorn Fräulein von Hohenheim zu ihrem Quartier zurück. An der Tür dort angelangt, blieb Philippa stehen und schlang die Arme um ihren Prinzen. Sie küßten sich. Und kurz dar auf kehrte Papa Schimmelhorn in seine eigene Unterkunft zurück, in der nun nicht mehr die beiden hübschen Schmusemiezen auf ihn warteten. Wie er feststellte, waren alle Hinweise auf die Anwesenheit Nikis und Emmys verschwunden, und man hätte meinen können, sie wären nie zugegen gewesen. Er dachte daran, welchen Spaß sie drei miteinander gehabt hatten. Mit einem traurigen Seufzen wandte er sich dem Kater zu, der ihn groß anstarrte. »Sie haben dich also ganz allain gelassen, was, Guschtav-Adolf?« mein te er mitfühlend. »Ach, mach dir nichts draus. Ich bin jätzt ain Prinz, und bald wird alles in Ordnung kommen. Dann kannscht du raus, mit ande ren Katzen raufen und hübschen Schildpattmiezen nachschtällen. Doch solange wir nicht ganz sicher sind, daß dir von Maischter Gansi kaine Gefahr droht, muscht du hier drinnen blaiben.« Gustav-Adolf wich von ihm zurück. Er knurrte und fauchte. »Ich pfei fe auf deine guten Ratschläge, Opa!« zischte er. »Wie würde es dir wohl gefallen, den ganzen Tag in diesem blöden Zimmer eingesperrt zu sein, hm? Stell dir nur mal vor, du wärst die Katze und könntest hier nur her umschnurren. Gefiele dir nich' sonderlich, was? Wirf nur mal 'nen Blick in Richtung Tür dort.« Der Kater drehte sich um. Besagte Tür war von irgend jemand fest verschlossen worden. »Alterchen, gefiele es dir viel leicht, nich' mal auf'n Balken zu können, he?« Papa Schimmelhorn sprach natürlich kein Katz, ahnte jedoch, worauf sein Kater hinauswollte. Er entschuldigte sich bei seinem Freund und öffnete rasch die entsprechende Tür. Gustav-Adolf verlor keine Zeit, und während sein Herrchen die Toilette benutzte, machte er eifrigen Gebrauch von der draußen stehenden Katzenbox, wobei er darauf achte te, möglichst viel Sand zu verstreuen, so daß eine umfangreiche Reini gungsaktion notwendig werden würde. Dann kehrte er mit betont zur
Schau gestellter Katzenwürde zurück und fauchte: »Na, alter Knabe? Wo bleibt denn mein Essen?« Ein halbpfündiges Steak später hatte sich die Entrüstung GustavAdolfs zum größten Teil gelegt, und er nahm seinen Lieblingsplatz ein, indem er auf die Schulter Papa Schimmelhorns sprang. Aber der alte Blöd mann soll bloß nicht glauben, daß ich für ihn schnurre, dachte er. Eine Zeitlang bleibe ich einfach stumm, ha! Das wird ihm eine Lehre sein! Unterdessen hatte Papa Schimmelhorn Humphrey aus dem Geheim fach hervorgeholt, um ihm seine Ration an mit Honig gesüßtem Brandy zu gönnen, und der Homunkulus zeigte reges Interesse am Stand der Dinge. »Nun, werter Herr Schimmelhorn«, sagte Humphrey besorgt, »für den Augenblick scheint es Euch und – wenn Ihr mir diesen Ausdruck ver zeihen wollt – Eurer Geliebten erfolgreich zu gelingen, den gemeinen Gansfleisch in Schach zu halten. Aber seid auf der Hut! Immerhin sind nicht einmal zwei Wochen verstrichen, seit er den ersten Versuch unter nahm, seine Seele dem Satan zu verkaufen, um dadurch die Hilfe des Teufels zu bekommen und das Fräulein von Hohenheim auf diese Weise ins Bett zu locken. Nur deswegen, weil Philippa wütend auf Euch war und sich dem Alchimisten zuzuwenden schien, wischte er das Penta gramm vom Boden, das er schon vorbereitet hatte. Er dachte, er könne seine Ziele auf wesentlich einfacherem Wege erreichen – wie Ihr unter großem Kummer erfahren mußtet. Nehmt meine Warnung ernst, guter und wohlmeinender Freund!« Papa Schimmelhorn versprach ihm, er werde nicht zulassen, daß Mei ster Gansfleisch Gelegenheit zu einer neuen Teufelei bekam. Lachend erklärte er, er sei nun ein Prinz, und vielleicht brauche er bald nur noch mit den Fingern zu schnippen und zu sagen: »Runter mit der Rübe!« »Oh, Herr, steh uns bei!« platzte Humphrey heraus. »Ehrenwerter Herr, wißt Ihr denn nicht, was es bedeuten könnte, der Prinz einer so heidnischen Insel zu sein? Habt Ihr denn keine Ahnung, daß die Prinzes sin möglicherweise Eure Teilnahme an unheilvollen Ritualen fordert?« »Nun, ich habe ainmal von ainem Prinzen gehört, där sich an ätwas är freuen konnte, was man wohl das ›Rächt auf die ärschte Nacht‹ mit all
dän hübschen Schmusemiezen nannte.« Er kicherte erneut. »Aber davon hält maine klaine Prinzässin viellaicht nichts, oder?« »Jus primae noctis – ach, wenn es nur darum ginge!« Der kleine Hum phrey sank auf die Knie. »Ich bitte Euch, ich flehe Euch an – laßt nie mals auch nur für eine Sekunde in Eurer Wachsamkeit nach! Ihr habt die Prinzessin doch noch nicht geheiratet, oder?« »Geheiratet?« lachte Papa Schimmelhorn. »Das gäht doch gar nicht. Wägen Mama. Wir sind schon sait mähr als sächzig Jahren Ähemann und Ähefrau. Sie wäre beschtimmt nicht damit ainvärschtanden.« Derzeit verspürte Papa Schimmelhorn nicht den Wunsch, sich aus der für ihn sehr angenehmen Situation herauszuwinden, was ihn jedoch nicht daran hinderte zu überlegen, daß er die Tatsache, mit Mama verheiratet zu sein, sehr gut dazu nutzen konnte, eventuell auftauchende Probleme zu lösen. Immerhin geschähe das nicht zum erstenmal. Er gab sich große Mühe, die Befürchtungen Humphreys auszuräumen, ihn zu besänftigen und davon zu überzeugen, er habe nicht den geringsten Grund, sich ir gendwelche Sorgen machen zu müssen. Als Trost spendierte er ihm ei nen zusätzlichen Fingerhutvoll Brandy. Er spielte eine Partie Schach mit ihm, die er ihn gewinnen ließ. Als Humphrey schließlich seiner Sorge in Hinsicht auf den Rest des Liebeselixiers Ausdruck gab, versprach Papa Schimmelhorn, ihn in einer zweiten Ampulle unterzubringen, die er im Geheimfach verstauen wolle, so daß der Homunkulus selbst das Mittel bewachen konnte. Das schien Humphrey zu beruhigen. Er verabschiede te sich bis zum nächsten Morgen von Papa und meinte, er wolle weiter hin darum beten, daß ihm nichts geschehe. Dann brachte Papa Hum phrey mitsamt seinem Glas wieder in dem verborgenen Fach unter, be leidigte Gustav-Adolf, indem er ihn ermahnte, ein braver Kater zu sein, und kehrte eiligst zu seiner Prinzessin zurück. Auf halbem Wege zu den Gemächern Philippas kam ihm zu seinem Erstaunen Ismail entgegen. »Höchst respektabler Effendi! Nobelste Durchlaucht und Potenter Prinz!« begann der Eunuch; er flüsterte, warf dann und wann einen besorgten Blick über die Schulter, verneigte sich wiederholt und entschuldigte sich mehrmals. »Sie haben von einer Sub stanz gesprochen, von der Sie glauben, sie könne mir die Manneskraft zurückgeben. Effendi, dürfte ich Sie vielleicht darum bitten, sie mir so
rasch wie möglich zur Verfügung zu stellen, bevor… Nun, ich meine, Allah ist zwar gnädig, doch leider sind die Menschen nicht unsterblich, und wer weiß schon, was die Zukunft bringen mag? Wenn Ihnen etwas zustieße, so daß Sie mich nicht mehr mit der Gabe besagten Heilmittels segnen können… Verstehen Sie, Effendi?« Papa Schimmelhorn erinnerte sich an das erste an Mama adressierte Funktelegramm, in dem er sie um eine Lieferung von mutierter Katzen minze gebeten hatte und auf das keine Reaktion erfolgt war, und er ent schied, es noch einmal auf einem anderen Wege zu versuchen. Er bat um Papier und Bleistift, Gegenstände, die Ismail sofort aus einer Tasche seines Umhanges hervorholte. »Ich schicke ain zwaites Tälegramm ab«, sagte Papa Schimmelhorn, »diesmal an mainen Großnäffen, dän Klainen Anton in Hongkong. Äs ischt bäschtimmt bässer, är bittet Mama um die Katzenminze.« Er formulierte die Nachricht, bat den Kleinen Anton darum, Mama möglichst diskret und unverdächtig um die Katzenminze zu bitten und sie direkt an Ismail zu adressieren. Außerdem teilte er dem Eunuchen mit, aufgrund der vielen Erfahrungen, die der Kleine Anton auf dem Gebiet des Schmuggels gesammelt habe, brauche er sich keine Gedanken um Zollvorschriften und ähnliche Dinge zu machen. Er gab Ismail genug Geld für das Funktelegramm, riet ihm, es besser nicht von Klein Paläon aus abzuschicken, und setzte dann seinen Weg fort, wobei jedoch eine seltsame Unruhe in ihm entstand. Warum, so fragte er sich, war der arme Ismail nur so besorgt gewesen, ihm, Papa, könne etwas zustoßen, bevor er in der Lage sei, dem Eunuchen zu hel fen? Und aus welchem Grund hatten Meister Gansfleisch und Mavroni des mit solcher Nervosität reagiert, als er auf Stiere zu sprechen gekom men war? Darüber hinaus: Was meinte seine kleine Philli, wenn sie Op fer erwähnte? Der letzte Gedanke jedoch beschäftigte Papa Schimmel horn nur wenige Sekunden und wich dann der Euphorie, die sich auf seine Freude gründete, die Privilegien als Prinz voll auskosten zu kön nen. Und so fuhren der Prinz und die Prinzessin im Verlaufe der nächsten Tage damit fort, sich zu lieben und Gold im Überfluß herzustellen. Sie achteten nicht auf Meister Gansfleisch, dem sie gelegentlich auf dem Flur begegneten und der noch hohlwangiger und finsterer aussah als jemals zuvor. Fräulein von Hohenheim hatte ihm inzwischen die Er
laubnis erteilt, wieder das Laboratorium benutzen zu können, nur mor gens, und unter den gestrengen und wachsamen Blicken der beiden La kaien. Papa Schimmelhorn ließ es sich prächtig ergehen, war immer wie der darauf bedacht, die Sorgen Humphreys auszuräumen, besänftigte die Verärgerung Gustav-Adolfs, indem er ihn mit einer kleinen weißen Kat ze vertraut machte, die Mavronides ihm besorgte, und verschwendete keine Überlegungen daran, was die anderen Akteure des Dramas unter dessen unternehmen mochten. Und die anderen Akteure waren überaus versessen darauf, wieder zu Protagonisten zu werden. Die Neuigkeit von der Affäre der Prinzessin hatte innerhalb weniger Minuten die Runde im Schloß gemacht, und bis alle anderen Bewohner Klein Paläons Bescheid wußten, verstrichen nur Stunden. Meister Gansfleisch jedoch – und das mag als Maßstab für sei ne Unbeliebtheit gelten – ahnte in dieser Beziehung zwei Tage lang überhaupt nichts. Er verbrachte diese Zeit, indem er in seinem Quartier wütend auf und ab wanderte, zuviel von dem Tröster und Mutmacher genoß, den er selbst zusammenbraute, und so sehr an den Fingernägeln knabberte, daß kaum etwas von ihnen übrigblieb. Er fragte sich, was in aller Welt er verbrochen haben mochte, um sich so plötzlich und umfas send den Unwillen der Prinzessin zuzuziehen. Am Morgen des dritten Tages dann, als er Mavronides aufsuchen wollte, um sich bei ihm über sein Frühstück zu beschweren, belauschte er unterwegs zwei kichernde Dienstmädchen, die zwar nicht über die eigentliche Affäre sprachen, wohl aber die erstaunliche Leistungsfähigkeit des Prinzen erörterten. Auf der Stelle blieb Kaspar Gansfleisch stehen, und in seiner schmalen Brust regte sich nicht nur Verblüffung, sondern auch Zorn. Das Herz pochte so wild und laut wie ein Preßlufthammer, und mit sich überschlagender und gräßlich klingender Stimme rief er: »Frauenluder, ist das alles wahr?« Die jungen Dienstmädchen, die hinterher schworen, der Alchimist ha be sie nicht nur mit Flüchen bedroht, sondern auch mit lebenden Schlangen, nickten stumm, japsten erschrocken und flohen. Meister Gansfleisch war außer sich, nahm die Beine in die Hand, stürmte durch die Korridore der alten Feste und stellte Mavronides zur Rede.
Sarpedon Mavronides bedachte ihn mit einem Blick kühler Verach tung, meinte, die ganze Sache ginge ihn überhaupt nichts an, und gab ihm den Rat, er solle sich lieber um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und sich weiterhin die Zeit damit vertreiben, mit Ratten zu spielen und in stinkenden Tinkturen zu rühren. »Kehren Sie in Ihren Muffturm zurück!« befahl er dem Alchimisten. »Und wagen Sie es bloß nicht, sich in die Dinge einzumischen, die nur Ihre Vorgesetzten betref fen. Die Prinzessin hat ganz recht. Herr Schimmelhorn ist aus dem Holz geschnitzt wie die Männer, die vor vielen tausend Jahren Kreta groß machten. Hinfort mit Ihnen!« Kaspar Gansfleisch wirbelte um die eigene Achse und machte sich von dannen. Als er sich wieder in seiner Unterkunft befand, benötigte er nur einige wenige Sekunden, um eine Entscheidung zu treffen, die er für unumgänglich hielt. Er brauchte Verbündete – und er wußte genau, wo er sie finden konnte. Jetzt, so dachte er, war der Zeitpunkt gekommen, die Übereinkunft zu treffen, von der er sich vorher hatte abhalten lassen. Er setzte sich an seinen Tisch. Er berechnete eine besonders günstige Stunde. Dann holte er all die magischen Dinge hervor, die er schon ein mal vorbereitet hatte: die schwarzen Kerzen, das umgedrehte Kreuz, die Schädel und anderen Relikte von Selbstmördern und hingerichteten Verbrechern, die Augen ersäufter Katzen, auch die widerlich stinkenden und fauligen Substanzen, von denen es hieß, daß sie bei Zeremonien wie der geplanten eine starke Wirkung entfalteten. Er nahm ein uraltes Ma nuskript zur Hand, dem ein solches Unheil anhaftete, daß er es des Nachts hinter Schloß und Riegel hielt. Mit großer Sorgfalt zeichnete er das Pentagramm auf den Boden. Mit tollkühner Entschlossenheit schrieb er die Worte der Macht, darunter die finsteren Namen der Höllenfürsten. Dann versuchte er, sich zu beherrschen und in Geduld zu fassen, und er setzte sich und wartete. Sein Abendessen kam. Das Dienstmädchen klopfte an, ließ es vor der Tür stehen und verschwand rasch. Meister Gansfleisch nahm das Tablett und stocherte lustlos in der Mahlzeit her um. Die Nacht brach an. Er entzündete eine der schwarzen Kerzen, und in ihrem Lichtschein ließ er sich noch einmal alle Einzelheiten des Be schwörungsrituals durch den Kopf gehen. Es war fast Mitternacht, als er glaubte, alle Vorbereitungen abgeschlossen zu haben. Daraufhin steckte er auch die anderen Kerzen an. Inzwischen trug der Alchimist den Um
hang mit den notwendigen Zeichen und Symbolen, und mit großen Au gen und düsterer Stimme rief er die Mächte der Dunkelheit an, nannte die Namen, die eigentlich unaussprechbar waren, formulierte Worte der Macht, vor denen selbst er sich fürchtete. Immer schriller wurde seine Stimme, immer befehlender, und mit langen Schritten marschierte er um das Pentagramm herum. Fünf Minuten wartete er, dann zehn, zwanzig, fünfundzwanzig… Und nichts geschah. Es heulten keine Dämonen. Es wimmerten und klagten auch keine ver lorenen Seelen. Keine grauenvolle Erscheinung manifestierte sich im Innern des Pentagramms. Nicht einmal ein schwefliger Dunst deutete darauf hin, daß die Mächte, mit denen er sich in Verbindung setzen woll te, in irgendeiner Weise auf seine Bemühungen reagierten. Und die schwarzen Kerzen brannten ruhig und gleichmäßig und zischten nicht etwa, wie es eigentlich der Fall hätte sein sollen. Meister Gansfleisch wurde immer furchtsamer, zorniger und hysteri scher, und für eine weitere Viertelstunde setzte er seine Bestrebungen fort. Das einzige Ergebnis – und er war sich nicht einmal sicher, ob das auf seine Beschwörungen zurückgeführt werden konnte – bestand darin, daß er ein leises und rhythmisches Piepen vernahm, das an das Besetzt zeichen eines Telefons erinnerte. Ganz offensichtlich hatte keiner der Höllenfürsten Interesse daran, mit ihm zu sprechen. Eine Zeitlang machte er seiner Wut Luft und gab für alles Zuckgalgen die Schuld. Er verdammte sich selbst dafür, einen bereits halb ausgehan delten Vertrag für nichtig erklärt zu haben. Dann dachte er über andere Möglichkeiten nach, sich an Papa Schimmelhorn und auch an der Frau zu rächen, die, ob Prinzessin oder nicht, es gewagt hatte, den größten Alchimisten Europas zu hintergehen. Der Einsatz von Magie, so wußte Kaspar Gansfleisch, würde sich in diesem Fall aller Wahrscheinlichkeit nach als sinnlos erweisen, denn Philippa Theophrastus Paleologus Bom bastus von Hohenheim kannte schließlich nicht nur alle Geheimnisse des berühmten Paracelsus, sondern war auch eine erfahrene Thaumaturgin und leider ausgesprochen intelligent. Auch die Verwendung von Gift kam nicht in Frage – nicht einmal gegen ein so unbedeutendes Geschöpf
wie Gustav-Adolf –, denn die Macht der Prinzessin auf Klein Paläon war ausgesprochen real; ohne die massive Unterstützung durch die bereits erwähnten Mächte der Finsternis wagte es Meister Gansfleisch nicht, gegen die dunklen Rituale Philippas vorzugehen. Außerdem erinnerte er sich in diesem Zusammenhang an das Labyrinth und das, was dort lauer te, und deshalb hielt er es für angeraten, von solchen Überlegungen Ab stand zu nehmen. Bis zum nächsten Morgen befaßte sich der Alchimist mit dieser Pro blematik – und schließlich kamen ihm zwei Ideen. Die erste war ganz schlicht und einfach. Unter dem Vorwand, notwendige Ausrüstungsteile für ein neues und sehr aussichtsreiches Projekt einkaufen zu wollen – Meister Gansfleisch war davon überzeugt, daß er sich in dieser Hinsicht jederzeit etwas einfallen lassen konnte, sollte ihn jemand danach fragen – , wollte er sich nach Kreta begeben, von einem dortigen sicheren Tele fon aus Herrn Doktor Rumpler anrufen, ihm von der kataklysmischen Liebesaffäre des Fräuleins berichten und dabei besonders betonen, wel che Gefahren daraus den finanziellen Interessen der Rumpler Bank er wachsen könnten. Danach reichte es sicher aus, den Dingen ihren natür lichen Lauf zu lassen – in erster Linie denjenigen, die mit dem schweize rischen Bankwesen zu tun hatten. Die zweite Idee erforderte komplexere und subtilere Maßnahmen. Meister Gansfleisch war äußerst zufrieden mit sich selbst, als er darüber nachdachte, und es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre in seinem Quar tier umherstolziert, als er sich mit den entsprechenden Planungen be schäftigte. Satan wollte also seine Seele nicht kaufen – oder durch sein fortgesetztes Schweigen besonders günstige Vertragskonditionen erwir ken… Nun, es gab noch andere Mächte, mit denen sich der Alchimist in Verbindung setzen konnte und die sich ihm gegenüber als weitaus groß zügiger erweisen mochten – ohne daß er mit ihnen eine ähnliche Über einkunft erzielen mußte. Er rief sich alle erforderlichen Dinge ins Ge dächtnis zurück, erinnerte sich an die Erfahrungen eines langen Lebens und bereitete mit aller Gewissenhaftigkeit die anderen Telefongespräche vor, die er von Kreta aus zu führen gedachte.
In der Zwischenzeit blieb Gottfried Rumpler nicht müßig. Als Fräulein von Hohenheim ihn zu seinem großen Erstaunen auf die liebevollste Weise um Mithilfe bei der hormonellen Desaktivierung Papa Schimmel horns bat, als sie ihm sogar anbot, sie mit dem Vornamen anzusprechen – einen Vorschlag, den er dahingehend interpretierte, daß ihre Beziehung nun einen Qualitätsaufschwung erfuhr und sich nicht mehr auf eine Bankier-Bankier-Basis gründete, sondern auf die von Mann und Frau –, wußte der Herr Doktor zwar, daß es ihm noch nicht gelungen war, in den Siebten Himmel einzugehen, doch er glaubte, zumindest vor dem entsprechenden Tor zu stehen und einen Blick auf diesen herrlichen Ort werfen zu können. Von jenem Zeitpunkt an ließ er seiner Phantasie freie Bahn – bis Mavronides ihn anrief (und nicht das Fräulein) und ihm mit teilte, Papa Schimmelhorns wissenschaftliche Bemühungen hätten zu einem Erfolg geführt und während der nächsten drei Tage solle er keinen Versuch unternehmen, sich mit Philippa in Verbindung zu setzen. Wenn Dr. Rumpler abends zu Bett ging, sah er sich außerstande, seiner petite amie die von ihr gewünschte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, denn seine Drüsen erinnerten ihn immerzu an die Hohenheim-Augen, die Hohenheim-Brüste und all die anderen Wunder der HohenheimAnatomie. Wenn er schließlich einschlief, träumte er wie zuvor davon, daß er der vortrefflichen Philippa durch ein endloses Labyrinth aus pu rem Gold folgte – mit dem einen Unterschied nur, daß es ihm diesmal gelang, sie zu fangen. Seine Visionen und diesbezügliche Zerstreutheit nahmen schließlich ein solches Ausmaß an, daß die schmollende und zutiefst beleidigte Brigitte ihm den Rat gab, umgehend einen Psychiater zu konsultieren. Doch dann zerstörte Mavronides mit einigen wenigen beiläufigen Worten alle Hoffnungen Gottfrieds. Während Meister Gansfleisch in seinem Turm zürnte und wütete und noch keine Ahnung von den aktuellen Geschehnissen hatte, erlitt Herr Dr. Rumpler, der ebensowenig Bescheid wußte wie der Alchimist, ähnli che Qualen, die weniger dramatisch sein mochten, jedoch ebenso schmerzten. Irgend etwas stimmte nicht, davon war er überzeugt. Er versuchte sich einzureden, Philippa wolle nur warten, bis der erste Erfolg durch weitere bestätigt worden war, um ihn dann höchstpersönlich anzu rufen und ihm äußerst freundlich und mit aller Zuvorkommenheit mit zuteilen, er solle nach Klein Paläon kommen, um sich zusammen mit ihr
zu freuen. Doch es gelang ihm nicht, auf diese Weise Ruhe zu finden. Die ganze Angelegenheit lenkte ihn so sehr ab, daß ihm sogar bei einer geschäftlichen Transaktion ein Fehler unterlief, was ihm noch nie zuvor passiert war, und nach und nach regte sich die Befürchtung in ihm, daß das Fräulein nun, da es mit der Maschine dazu in der Lage war, beliebig viel Blei in Gold zu verwandeln, die Absicht verfolgte, alles für sich allein zu beanspruchen. Und mit dieser Vorstellung war die Toleranzgrenze seiner nervlichen Belastbarkeit nahezu erreicht. Am dritten Tag dann, noch bevor der Herr Doktor eine Gelegenheit hatte, sich mit Klein Paläon in Verbindung zu setzen, rief ihn Kaspar Gansfleisch an. Miß Ekstrom, die sich unterdessen immer mehr Sorgen um die geistige Verfassung ihres Arbeitgebers machte, nahm den Anruf entgegen. Nein, sie sei sich nicht sicher, ob der Herr Doktor zu sprechen sei. Sie wolle nachfragen. Wer ihn denn zu sprechen wünsche? Sie lauschte einige Sekunden lang. »Es handelt sich um jemanden na mens Kaspar Soundso«, teilte sie Dr. Rumpler mit. »Er hört sich recht sonderbar an und scheint ziemlich aufgeregt zu sein. Er sagt, er rufe von Kreta aus an.« Sie verzog das Gesicht und blickte auf den Hörer herab, der, gedämpft von ihrer Hand, noch immer unartikulierte Geräusche von sich gab. »Möchten Sie, daß ich ihm antworte, Sie hielten sich in Stock holm oder irgendwo sonst auf?« »Nein, nein!« entfuhr es dem Bankier. »Ich spreche mit ihm. Geben Sie mir nur einige Sekunden Zeit, damit ich mich… fassen kann!« Miß Ekstrom hob den Hörer wieder, unterbrach die Ausführungen Meister Gansfleischs, mit denen er ihr zu erklären versuchte, daß er der größte und berühmteste Alchimist Europas sei und man ihn auf sehr grausame und empörende Art und Weise vor den Kopf gestoßen habe, und sie meinte, der Herr Doktor sei zwar sehr beschäftigt, wolle seinen Anruf jedoch gleich entgegennehmen. Dr. Rumpler, inzwischen sicher, daß es auf Klein Paläon zu irgendeiner Katastrophe gekommen war, zwang sich dazu, sich in seinem Sessel zu rückzulehnen und die gebieterische Würde zu zeigen, die seinem Stande angemessen war. Er bedeutete Miß Ekstrom, den Anruf an ihn weiterzu leiten.
»Ja«, sagte er. »Hier spricht Dr. Rumpler. Sie möchten mich sprechen?« Am anderen Ende der Leitung gab Meister Gansfleisch einen seltsa men Laut von sich, der so klang, als handele es sich dabei um eine Mi schung eines schrillen Schreis mit einem halb unterdrückten Schluchzen. »Herr Doktor, Herr Doktor!« rief der Alchimist. »Sie machen sich keine Vorstellung, was hier passiert ist. Ich werde es Ihnen sagen – ich, der größte Alchimist Europas und der ganzen Welt! Es geht um diesen dreimal verfluchten Schimmelhorn, der es wagte, Gold auf eine völlig unorthodoxe Art und Weise herzustellen!« »Aber spielt das denn eine Rolle, wenn es ihm tatsächlich gelungen ist, Blei in Gold umzuwandeln?« warf der Bankier ein. »Eine Rolle?« ereiferte sich Gansfleisch. »Ob das eine Rolle spielt? Bei al len Teufeln, Geistern, Phantomen und Dämonen – natürlich. Er hat be reits unsere Prinzessin verführt, unsere Priesterin, unsere Gebieterin. Fräulein von Hohenheim, die von dem Wunderarzt abstammt, dem be rühmten Paracelsus. Schon seit drei Tagen turnt er mit ihr im Bett herum und schmust nicht nur mit ihr. Und jetzt bezeichnet sie ihn als ihren Prinzen, ihren Helden! Was ist mit dem Gold, das er produziert hat – bestimmt ist es nicht viel, und gewiß gründen sich diese seine Bemühun gen auf nichts weiter als nur Arglist und Durchtriebenheit! Was, glauben Sie, wird durch diese ganze Sache aus Ihren finanziellen Interessen, Herr Doktor Bankier Rumpler?« Kaspar Gansfleisch stimmte ein unheilvolles Kichern an. »Was wird aus Ihnen, wenn sie ihn an ihrer Seite zum Herr scher über Klein Paläon macht, na? Wenn sie ihn gemäß ihren finsteren heidnischen Ritualen heiratet?« Dr. Rumpler umklammerte den Telefonhörer so fest, als sähe er darin einen Gegner vor sich, der sich hin und her wand und jederzeit zum Angriff übergehen konnte. »Nein, nein!« krächzte er. »Sie will ihn heira ten? Das ist ausgeschlossen! Es… es wäre nicht rechtens! Schimmelhorn ist bereits verheiratet! Ich habe seine Frau kennengelernt! Sie würde es niemals zulassen – niemals!« »Nicht rechtens?« Gansfleischs Kommentar bestand aus einem schril len Lachen. »Und seine Frau würde es nicht zulassen? Herr Doktor, sol che Dinge haben auf Klein Paläon keine Bedeutung. Unsere Prinzessin
herrscht so absolut auf der Insel wie einstmals Cäsar. Und sie gebietet nicht nur über Leben und Tod, sondern auch über die Moral.« »Aber… aber wie ist es ihm denn gelungen, sie zu verführen? Meister Gansfleisch, Sie erinnern sich doch gewiß daran, daß wir ihn völlig impo tent machten, nicht wahr? Sie selbst waren es, der das entsprechende Mittel herstellte.« »Ja«, bestätigte der Alchimist bitter. »Ja, das stimmt. Doch auf die An weisung der Prinzessin hin bereitete ich auch das Gegenmittel vor, das augenblicklich wirkt und das sie in ihre Obhut nahm. Und dann… und dann…« Die Stimme des Alchimisten vibrierte. »Fräulein von Hohen heim muß den Verstand verloren haben, Herr Doktor. Ja, bestimmt ist sie völlig übergeschnappt! Nur diese Erklärung kann es geben. Offenbar geschah es, als sie zum erstenmal das Gold sah, das dieses… dieses Monstrum produzierte. Sie ist verrückt! Sie sieht in ihm einen Olympier, einen Halbgott! Erst recht, nachdem sie ihm das Gegenmittel gab. Und derzeit ist Mavronides damit beschäftigt, diverse Zeremonien vorzube reiten, während denen er offiziell allen Untertanen der Prinzessin vorge stellt werden soll! Was wollen Sie jetzt unternehmen, Herr Doktor! Na, wie wollen Sie diese Frage beantworten?« Dr. Rumpler hatte es die Sprache verschlagen. Er schnappte nach Luft. Die Augen traten ihm bedrohlich weit aus den Höhlen. Vor seiner inne ren Pupille formten sich immer neue Visionen, die ihm Papa Schimmel horn und seine Philippa zeigten, wie sie fröhlich dabei waren, ein gewis ses Werk namens Kamasutra durchzuarbeiten und sich in aller Sorgfalt und sportlicher Konzentration mit den einzelnen Kapiteln zu befassen; er sah zu, wie es dem Pärchen irgendwie gelang, die Rumpler Bank um den ihr zustehenden Anteil zu betrügen und den Goldmarkt der ganzen Welt unter Kontrolle zu bringen. Und gerade die Unsicherheit der Lage war es, die dem armen Gottfried so sehr zusetzte. »Was soll ich bloß machen!« entfuhr es ihm, und er sprang auf. »Ich sage Ihnen was, Gansfleisch! Ich, Gottfried Rumpler, bin nicht nur Bankier! Ich bin darüber hinaus Oberst in der schweizerischen Heimwehr, jawohl! Ich brauche einige Tage, um Pläne zu entwickeln – drei oder vier etwa –, und danach werde ich umgehend etwas unternehmen. Höchstpersönlich statte ich Klein Paläon einen Besuch ab. Ich bringe meinen Adjutanten
mit, Herrn Grundtli. Und außerdem wird sich der berühmteste und fä higste aller schweizerischen Psychiater in meiner Begleitung befinden, denn es ist – wie Sie bereits ausführten – offensichtlich, daß Fräulein von Hohenheim den Verstand verloren hat, sie an einer ernsten Geistes krankheit leidet. Seien Sie gewiß, Meister Gansfleisch, daß alles in… äh… Ordnung kommen wird. Ja, darauf können Sie sich verlassen. Ich verspreche es Ihnen!« Meister Gansfleisch lachte hohl und dumpf und legte auf, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren. Dr. Rumpler blieb einige Augenblicke lang wie erstarrt stehen, zutiefst erschüttert und in höchstem Maße ent setzt. Dann wanderte er unruhig in seinem Büro auf und ab. Irgend et was sagte ihm, daß Meister Gansfleisch – er zweifelte nicht daran, daß der Alchimist ebenfalls dringend die kompetente Hilfe eines Psychiaters brauchte – ihm nichts anderes als die Wahrheit und nur die reine Wahr heit mitgeteilt hatte. Er bat Miß Ekstrom darum, ihm ein großzügig mit gutem Cognac gefülltes Glas zu bringen und dann das Zimmer zu verlas sen. Anschließend nahm er wieder an seinem Schreibtisch Platz und wählte die Privatnummer des Fräuleins. Niobe nahm ab, und ihre Stim me klang sehr kühl. Ja, sie wolle nachfragen, ob die Prinzessin dazu be reit sei, seinen Anruf entgegenzunehmen. Gottfried Rumpler wartete. Irgendwo im Hintergrund vernahm er dröhnendes maskulines Lachen, und auf der Stirn des Bankiers bildeten sich tiefe Unmutsfalten. Er muß te sich eine ganze Zeitlang gedulden, und als sich Fräulein von Hohen heim schließlich meldete, schwitzte der Herr Doktor. »Guten Tag, liebe Philippa«, sagte er überaus freundlich, bemüht, ge nau den Tonfall zu treffen, durch den sich ihr letztes – und weitaus er freulicheres – Gespräch ausgezeichnet hatte. »Sie baten mich darum, Sie drei Tage lang nicht zu stören, und diesem Wunsche habe ich entspro chen. Ich nehme an, inzwischen ist es Ihnen gelungen, eine Bestätigung für den wissenschaftlichen Erfolg Herrn Schimmelhorns zu bekommen, oder?« »Oh, Herr Doktor!« erwiderte Philippa. »Sie sind es. Nein, es war gar nicht nötig, irgend etwas zu bestätigen, aber wir haben uns in der letzten Zeit enorm amüsiert. Jeden Tag stellten wir Gold her, von dem ich Ih nen bald etwas schicken werde, und außerdem, mein guter Finanzfreund, haben wir uns – ach! – geliebt!«
»Ge… geliebt!« Der arme Gottfried hielt unwillkürlich den Atem an, und es war, als sei er nicht ausreichend vorgewarnt worden. »Ja, mein Herr, es war über alle Maßen idyllisch. Tag und Nacht! Seit den Zeiten Homers, seit der Blüte des alten Kreta, hat es kein Paar mehr gegeben, das sich auf so wunderbare und leidenschaftliche Art und Wei se liebte!« Fräulein von Hohenheim ließ dieser Bemerkung ein perlendes Lachen folgen, und sie schien mehr als nur zufrieden zu sein mit den diversen Leistungen Schimmelhorns. »Aber, meine liebe Philippa!« entfuhr es dem Herrn Doktor entrüstet, des sen moralischem Empfinden ein schwerer Schlag versetzt worden war. »Ich bin nicht Ihre Philippa«, erwiderte die Prinzessin kühl und he rablassend. »Unsere Beziehung ist rein geschäftlich, mein Herr. Ich bin seine Philippa, und er ist mein Prinz. Bald wird er als mein Gemahl mit mir zusammen über Klein Paläon herrschen, und ich mache ihn auch zu meinem Priestergefährten in Hinsicht auf die uralten Riten und Zeremo nien, die mir von meinen Vorfahren überliefert wurden und die ich hüte. Sie, Herr Rumpler, sollten sich um Ihre Buchhaltung kümmern und Ihre Nase nicht in meine Privatangelegenheiten stecken, verstanden? Als Trost bekommen Sie mehr Gold, als Sie sich jemals erträumt haben, das verspreche ich Ihnen!« »A-a-aber Sie sind doch ebenfalls ein schweizerischer Bankier, genau wie ich!« »Das stimmt«, bestätigte Philippa. »Doch an erster Stelle bin ich eine Frau, und dann, wie Sie sehr wohl wissen, Prinzessin und Priesterin. Vor einer Weile dachte ich, der schweizerische Bankier in meinem Wesen sei dominierend, doch jetzt…« – ihr Lachen verklang abrupt, und der arme Gottfried vernahm das Geräusch eines leidenschaftlichen Kusses – »… ist das nicht mehr der Fall! Mir sind die Augen geöffnet worden, Kolle ge!« Im Anschluß an diese Worte unterbrach sie die Verbindung, und eine ganze Minute lang starrte Dr. Rumpler nur stumm auf den Hörer in sei ner Hand. Dann setzte er seine unruhige Wanderung durchs Büro fort. Ganz offensichtlich hatte der Alchimist recht. Das Fräulein war wirklich übergeschnappt. Eine (diskrete) Freundschaft mit einer petite amie zu pflegen und (noch diskreter) mit der einen oder anderen hübschen
Schmusemieze zu spielen – das war eine Sache. Aber Heirat… Die Ehe war ebenso hochheilig – zumindest fast so – wie ein Nummernkonto bei der Rumpler Bank. Außerdem hatte sich Philippa nicht nur in einen Mann mit ausgesprochen niedrigem Intelligenzquotienten verliebt (ganz gleich, wie genial das Unterbewußtsein Papa Schimmelhorns auch sein mochte), nicht nur in einen Greis (und in diesem Zusammenhang moch te er noch so sehr behaupten, voller Saft und Kraft zu stecken), sondern auch in jemanden, der – und zu diesem Schluß mußte jeder kommen, der die ganze Sache völlig vorurteilsfrei beurteilte – ihm, Gottfried Rumpler, unterlegen war. Demzufolge brauchte sie die beste psychiatrische Be handlung, die es für Geld gab. Andererseits jedoch – und an dieser Stelle seiner Überlegungen angelangt, nahm sich Gottfried Rumpler einige Sekunden Zeit, um Miß Ekstrom um die Cognac-Flasche zu bitten – mochte es sich als problematisch erweisen, das Fräulein dazu zu bewe gen, sich freiwillig der notwendigen Behandlung zu unterziehen. Und der Umstand, daß es bei der ganzen Angelegenheit auch um eine Maschine ging, die Blei in Gold verwandelte, ließ einige der konventionelleren Ver fahren in diesem Zusammenhang als nicht sonderlich angeraten erschei nen. Zwei Stunden lang rangen die Gedanken Dr. Rumplers mit verschie denen Visionen, erträumten ein tollkühnes Szenario nach dem anderen, um sie dann alle zu verwerfen. Er überlegte, an welche Personen er sich wenden und wen er um Hilfe bitten konnte, und traf schließlich die eine auf der Hand liegende Entscheidung, die den größtmöglichen Erfolg versprach. Nach einer Weile gab er den mentalen Kampf auf und rief Mama Schimmelhorn an. Als das Telefon klingelte, nahm Mama Schimmelhorn gerade an einem Tisch Platz, auf dem die Speisen eines mit aller Sorgfalt vorbereiteten Essens standen – ein Menü, das mit einer Fleischbrühe beginnen sollte, der dann ein Salat aus Meeresfrüchten folgte, Spinat mit Kartoffelbrei und eine mit Artischocken, Pilzen und Nüssen gefüllte gebratene Gans. Ihre beiden Gäste Frau Hundhammer und Frau Laubenschneider hatten bereits Platz genommen, und Mama freute sich darauf, sich mit den letz ten Neuigkeiten des lokalen Klatsches vertraut zu machen – obgleich er seit der Abreise ihres Gatten nicht mehr ganz so interessant war.
»Blödes Tälefon!« brummte Mama Schimmelhorn. »Klingelt immer dann, wänn man äs sich gerade gemütlich machen will! Und värmutlich will nur jämand ainen Schtaubsauger värkaufen oder mir aine Läbensvär sichärung andrähen. Das muß man sich ainmal vorschtällen – in mainem Alter!« Sie griff zum Hörer und nahm ihn von der Gabel, entschlossen, der Stimme am anderen Ende der Leitung gehörig die Meinung zu sagen. »Ja«, sagte sie scharf, »ich bin Mama Schimmelhorn, und ich will kainen Schtaub…« Abrupt unterbrach sie sich und lauschte einige Sekunden lang. Dann, in einem völlig veränderten Tonfall, sagte sie: »Ach, Herr Doktor! Äs ischt ja so nätt, daß Sie mich anrufen und mir viellaicht be richten wollen, wie äs mainem alten Ziegenbock ärgäht und wie är sich…« sie lachte leise und verschmitzt – »… benimmt, jätzt da die Bat tärien sainer Potänz ohne Schtrom sind.« Am Tisch im Eßzimmer spitzten Frau Hundhammer und Frau Lau benschneider die Ohren, und Mama Schimmelhorn, die so etwas ahnte, stieß mit einem Fuß die Flurtür zu. Es erstaunte sie, das Stöhnen Dr. Rumplers zu vernehmen. »Was ischt dann?« fragte sie. »Haben Sie sich ätwa dän Magen värdor ben?« Dr. Rumpler stöhnte erneut und bemühte sich, die richtigen Worte zu finden. »Werte Dame«, sagte er, »meine liebe Frau Schimmelhorn. Ach, wenn es doch nur ein verdorbener Magen wäre! Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß… daß sich große Probleme ergeben haben. Ihr Mann hat te Erfolg. Er hat Blei in Gold verwandelt…« »Na wunderbar!« antwortete Mama Schimmelhorn. »Dann bekommt die Kirche ja bald dän neuen Glockenturm, und viellaicht wird är noch höher als där där Mäthodischten.« »Ja, ja, machen Sie sich in diesem Punkt nur keine Sorgen!« versicherte ihr Gottfried Rumpler hastig. »Doch das Problem mit Ihrem Mann… äh, ist nicht nur ein Problem mit ihrem Mann. Es geht dabei auch…« »Ätwa schon wieder um nackte Mädchen?« zischte Mama Schimmel horn. »Das ischt doch unmöglich! Wie dänn, ohne dän Schtrom in där Batterie…?«
Zum großen Kummer Dr. Rumplers bildete sich vor seinem inneren Auge ein scharfes, kontrastreiches und farbiges Bild einer ganz bestimm ten nackten jungen Frau. Er stöhnte erneut und ließ diesem Laut einen tiefen Seufzer folgen. »Höchst verehrte Frau Schimmelhorn!« rief er aus. »Ich möchte Sie warnen: Diese Affäre ist sehr ernst. Wissen Sie, es geht nicht um irgendwelche einheimischen Mädchen von der Insel, sondern vielmehr – und das ist ja so schändlich! – um einen Bekannten von mir, einen Bankierskollegen, den Partner bei meinen derzeitigen geschäftli chen Unternehmungen.« Mama Schimmelhorn war außer sich. »So ain Unsinn!« entfuhr es ihr. »Sain ganzes Läben lang hat Papa nackten Mädchen nachgeschtällt, aber Jungen? Ich sage Ihnen: niemals! Und noch dazu ainem schwaizerischen Bankjäh! Das kann ich nicht glauben!« »Liebe Frau Schimmelhorn«, stöhnte Dr. Rumpler, »Sie verstehen nicht ganz – mein Partner ist eine Partnerin, eine Frau!« »Ain waiblicher schwaizerischer Bankjäh?« erwiderte Mama Schimmel horn skeptisch. »Schwaizerische Bankjähs sind doch immer nur Männer.« »Ach, leider nicht mehr! Seit dem Beginn der Frauenrechtsbewegung haben sich viele Dinge geändert. Die Dame, die ich meine, ist ein sehr fähiger und höchst erfolgreicher schweizerischer Bankier.« »Und main alter Ziegenbock schtällt ihr nun nach, was? Aber wie, da saine Battärien doch ohne Schtrom sind?« »Ach, Frau Schimmelhorn, man kann eigentlich nicht in dem Sinne be haupten, er würde ihr nachstellen. Sie ist es, die sich in einem Anfall von Wahn in ihn verliebt hat. Und sie war es auch, die ihm das Gegenmittel gab. Sie können sich gar nicht vorstellen, mit welch schrecklicher Situati on wir es zu tun haben. Das Problem muß so rasch wie möglich gelöst werden. Wir dürfen nicht zögern, sowohl meine Geschäftspartnerin als auch Ihren Mann zu retten!« »Ihn rätten!« schnaubte Mama Schimmelhorn. »Är kann was ärläben, wänn ich ihm mit mainem Rägenschirm gägänüberträte!« »Dann wären Sie also dazu bereit, hierher zu kommen und mir zu hel fen? Sie können die Reise sofort antreten? Ach, liebe Frau Schimmelhorn, mein Flugzeug holt Sie morgen früh ab…«
»Sofort?« erwiderte sie. »Das gäht nicht. Ich kann nicht wäg von hier, bis där Klaine Anton aingetroffen ischt. In zwai Tagen värläßt är Hong kong, und ich habe ihm värschprochen, ihn hier zu ärwarten. Doch viel laicht beglaitet er mich in die Schwaiz. Papa mag ihn, und möglicherwai se kann är uns bai unsären Bemühungen unterschtützen.« Gottfried Rumpler erinnerte sich sehr gut an den Kleinen Anton. Bei nahe hätte er laut jubiliert. Er war sicher, dem Großneffen Papa Schim melhorns vertrauen zu können, da Pêng-Plantagenet jetzt zu den Kun den der Rumpler Bank gehörte – und er vermutete, es würde weitaus einfacher werden, ihm das ganze Ausmaß des Problems zu schildern. »Ich danke Ihnen sehr, werte Frau Schimmelhorn«, sagte er betont freundlich und blickte auf seine ungeheuer gestylte und raffinierte Arm banduhr, um in Erfahrung zu bringen, wie spät es derzeit in Hongkong war. »Das ist ein ausgezeichneter Vorschlag. Ich war sehr beeindruckt von dem jungen Mann, und ich rufe ihn heute abend an, um ihm von unse ren Sorgen zu berichten. Anschließend gebe ich Ihnen Bescheid, und dann können Sie mit ihm darüber sprechen, während Sie hierher nach Europa fliegen.« Er betonte noch einmal, wie sehr er ihr zu Dank verpflichtet sei, ver sprach ihr, in ihrem Namen ein Drohtelegramm an Papa Schimmelhorn zu adressieren, und verabschiedete sich dann von ihr. Die nächsten Stunden – er entschloß sich dazu, bis um dreiundzwanzig Uhr zu warten, da er vermutete, diese Zeit eigne sich für einen Anruf in Hongkong – verbrachte er damit, sich immer größere Sorgen zu machen, zu grübeln und sich Dutzende von Szenen vorzustellen, die ihm das Fräulein und ihren Geliebten zeigten. Im Anschluß daran hatte er glücklicherweise keine Schwierigkeiten, eine Verbindung mit dem Kleinen Anton herzu stellen, und es nahm nur sehr kurze Zeit in Anspruch, ihm klarzuma chen, worum es ging. Zwar kicherte der Großneffe Papa Schimmel horns, als er von den ›Potänzbattärien‹ und dem fehlenden ›Schtrom‹ hörte, pfiff leise, als Rumpler ihm ausreichend detailliert das Fräulein beschrieb, und zeigte auch großes Interesse an der Geschichte, den Al tertümern und den Gebräuchen Klein Paläons, doch er versprach nichts und meinte nur, er werde versuchen zu kommen, vorausgesetzt, die ge schäftlichen Angelegenheiten von Pêng-Plantagenet legten ihm keine Steine in den Weg. Als er sich von Dr. Rumpler verabschiedete und auf
legte, war der Kleine Anton sehr nachdenklich geworden. »Prinz Papa?« sagte er einige Male und lauschte dem Klang dieser Worte. »Na, wer hät te das gedacht? Is' ja wirklich 'nen dickes Ding!« Und was Mama Schimmelhorn anging: Sie hatte den Telefonhörer mit der Entschlossenheit auf die Gabel gedonnert, die sie bei solchen Ereig nissen an den Tag zu legen pflegte. Und ihrem finsteren Gesichtsaus druck entnahmen Frau Hundhammer und Frau Laubenschneider, daß es besser war, ihr keine Fragen zu stellen. Mama zog den Stuhl zurück. Sie setzte sich. Energisch rückte sie sich die Serviette zurecht. »Nun«, sagte sie. »Schon wieder das übliche. Aine waitere nackte Frau. Und där Klaine Anton und ich müssen in die Schwaiz raisen. Ach, Papa – warte nur ab!« Sie lächelte grimmig. »Und jätzt, Frau Laubenschnaider, erzählen Sie mir doch bitte von Dora Großapfel und ihrem roten Bikini…« Unterdessen machte sich Meister Gansfleisch an die Ausführung der Pläne, die er in der Nacht zuvor entwickelt hatte. Unmittelbar nach dem Telefongespräch mit Dr. Rumpler wählte er eine andere Nummer und rief einen früheren Kollegen an, einen Transilvanier, der als Junge vor dem Krieg in den Verdacht des Vampirismus geraten war und den man als Kollaborateur gefürchtet hatte. Als sein Heimatland der Isolation hinter dem Eisernen Vorhang anheimfiel, gelang es ihm auf sehr kluge und geschickte Art und Weise, die Leiter der Macht zu erklimmen und zum Direktor einer staatlichen psychiatrischen Institution zu werden. Diesmal dauerte es wesentlich länger, bis am anderen Ende der Leitung das Telefon klingelte, und bei dem folgenden Gespräch mußten Um schreibungen gewählt werden, die es den verschiedenen neugierig zuhö renden Geheimpolizisten unmöglich machten herauszufinden, worum es eigentlich ging. Um sich bei seinen neuen Vorgesetzten einzuschmei cheln, hatte der Transilvanier glücklicherweise eine Dissertation ge schrieben, in der die Alchimie mit Hilfe von Begriffen des Dialektischen Materialismus grundweg verdammt wurde. Indem Meister Gansfleisch einige direkte Anspielungen darauf machte, konnte er seinem ehemaligen Kollegen – ohne zu sehr ins Detail gehen zu müssen – mitteilen, es stünden große Entdeckungen bevor, und er höchstpersönlich (aufgrund seiner großen Liebe für den Sozialismus und die Diktatur des Proletariats – und natürlich gegen eine angemessene Entlohnung) wolle dafür sor
gen, daß nicht etwa der kapitalistische Imperialismus von ihnen profitie ren werde. An diesem Punkt verkomplizierten sich die Dinge weiter. Der Transil vanier entschuldigte sich, um an einem anderen Apparat seinerseits ein Telefongespräch zu führen, und Meister Gansfleisch wartete nervös. Kurz darauf wandte sich der frühere Kollege erneut an Kaspar und teilte ihm mit, er sei natürlich ebenfalls der Meinung, es handele sich um nichts weiter als abergläubischen Unfug, und er solle sich von der Vor stellung befreien, mit solchen Methoden irgendwelche konkreten Ergeb nisse zu erzielen. Vielleicht, so fügte er hinzu, habe sein alter Freund zu hart gearbeitet, zuviel von den giftigen Dämpfen seiner Schmelzöfen und Tinkturen eingeatmet. Ja, es sei doch gewiß eine hervorragende Idee, wenn er einen oder zwei Tage ausspanne, möglicherweise in Athen, wo er sich von einer ihm bekannten Fremdenführerin – einem ganz bezau bernden Mädchen! – die Akropolis und den Parthenon zeigen lassen könne. Meister Gansfleisch fragte, wo er mit der betreffenden jungen Frau zu sammentreffen solle. Der Transilvanier lachte leise. »Machen Sie sich da nur keine Sorgen, alter Freund. Seien Sie morgen an Bord der Maschine. Die Fremdenfüh rerin holt Sie am Flughafen ab. Ich nehme an, Sie tragen noch immer die gleiche Kleidung? Gut, ausgezeichnet. Ich beschreibe Sie ihr. Und es wird ihr gewiß nicht schwerfallen, Sie zu erkennen. Seien Sie unbesorgt. Der kleine Ausflug wird Ihnen bestimmt guttun. Sie werden ihn nicht bereuen, das versichere ich Ihnen.« Meister Gansfleisch hoffte, daß er die Botschaft so verstanden hatte, wie sie gemeint gewesen war, und er kehrte nach Klein Paläon und ins Schloß zurück. Dort begab er sich zu Sarpedon Mavronides, erklärte ihm, er sei sehr bestrebt, das Wohlwollen der Prinzessin zurückzugewin nen, indem er eine Entdeckung machen wolle, die sie bestimmt entzük ke. Er fügte hinzu, es sei notwendig, in diesem Zusammenhang nach Athen zu reisen, sich dort zwei Tage lang aufzuhalten und die seltenen und schwer aufzutreibenden Substanzen zu erstehen, die er für seine Arbeit unbedingt brauche.
Mavronides zeigte sich nicht an dem Vorhaben des Alchimisten inter essiert, erwiderte hochmütig, man werde seine Abwesenheit ebensowe nig beachten wie seine Gegenwart, warnte ihn davor, zuviel Geld aus zugeben, und meinte, er brauche sich mit der Rückkehr nicht zu beeilen. Kaspar Gansfleisch kochte innerlich angesichts dieser herablassenden Bemerkungen und freute sich darüber, daß sich alles seinen Wünschen gemäß entwickelte. Er traf seine einfachen Vorbereitungen. Er arbeitete bis spät in die Nacht, und sorgfältig fixierte er eine schriftliche und mög lichst genaue Beschreibung der Transformationsmaschine Papa Schim melhorns. Er führte alle Einzelteile auf, wobei er die Notizen zu Rate zog, die er sich zuvor auf der Grundlage der Einkaufsanweisungen ge macht hatte. Darüber hinaus berücksichtigte er auch all die Phänomene, die die Arbeitsweise des Gerätes begleiteten. Anschließend holte er ein kleines Senkblei hervor, das er zuvor versteckt und das Papa Schimmel horn nach der erfolgreichen Umwandlung in Blei achtlos liegengelassen hatte. Dann stellte er, um den Anschein zu wahren, seine angebliche Einkaufsliste zusammen, packte den schäbigen Koffer, staubte die gel ben Schuhe ab und ging zu Bett, um von seiner Rache zu träumen. In seinen nächtlichen Visionen begegnete er dem Satan, der ihm die in ein bezauberndes Evakostüm gekleidete Prinzessin anbot, deren helle Haut einen auffälligen Kontrast zu der dunkleren Papa Schimmelhorns abgab. In aller Frühe stand Kaspar Gansfleisch auf, ließ sich von Ismail an die Mole fahren und überredete einen mürrischen Fischer dazu, ihn nach Kreta zu bringen, wo er gerade rechtzeitig eintraf, um die erste Maschine nach Athen zu nehmen. Auf dem dortigen Flughafen blickte er sich su chend um. Doch keine der anwesenden Frauen entsprach der Beschrei bung des Alchimisten durch den transilvanischen Freund. Allerdings fiel ihm auf, daß ihn eine sehr große Dame unbestimmbaren Alters aufmerk sam beobachtete. Sie hatte haarige Beine und zeichnete sich auch sonst durch ein eher maskulines Erscheinungsbild aus, und sie wirkte gar nicht wie eine nette Fremdenführerin. Statt dessen verband Meister Gans fleisch ihren Anblick mit der Assoziation von dunklen Kerkerzellen und Folterkammern. Es dauerte nicht lange, und die betreffende Dame kniff die Augen zusammen, und sie gab zwei stämmigen und mit ausdruckslo sen Mienen versehenen Männern, die ganz den Anschein von Geheim polizisten auf Urlaub erweckten, ein fast unmerkliches Zeichen. Dann
näherte sich die Frau dem Alchimisten. Sie lächelte – es sah eher so aus, als blecke sie drohend die Zähne – und sagte: »Sie sind ein Tourist, nicht wahr? Ja? Vielleicht möchten Sie den Parthenon sehen, auch die Akropo lis und jene Orte, wohin die griechischen Herren ihre Jungen bringen?« Nur eine Sekunde später fügte sie aus dem Mundwinkel flüsternd hin zu: »Meister Kaspar Gansfleisch, ja?« »In der Tat«, bestätigte der und nannte den Namen seines transilvani schen Freundes. »Bestimmt wäre Ihnen eine Erfrischungsmöglichkeit genehm, nicht wahr?« meinte die maskuline Dame. »Mein Name spielt keine Rolle. Nennen Sie mich einfach Hulda. Wir besuchen ein nettes Restaurant, wo wir uns in aller Ruhe und ohne gestört zu werden unterhalten können. Sie brauchen nicht einmal zu bezahlen. Alles geht auf die Rechnung des Hauses – ha-ha!« Mit gekrümmtem Zeigefinger beorderte sie die beiden auffällig unauffälligen Geheimpolizisten herbei und griff nach dem Arm Meister Gansfleischs. »Und jetzt kommen Sie mit mir und essen und trinken, jaja.« Der Alchimist hatte eigentlich überhaupt keinen Appetit, kam jedoch zu dem Schluß, das gehöre zum allgemeinen Protokoll – und außerdem blieb ihm ohnehin nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Er setzte sich in Bewegung. Vor dem Flughafen wartete ein Taxi auf sie. Sie stiegen ein. Hinter ihnen nahm ein zweites Taxi die beiden athletisch gebauten Männer auf. Hulda legte dem Alchimisten aufgeräumt die Hand aufs Knie. »Schon bald«, versprach sie ihm, »ist Ihr Magen voller Delikates sen, ebenso wie meiner.« Der Fahrer fragte nicht nach dem Ziel. Er steuerte den Wagen durch schmale Gassen, raste über breite Boulevards, und nach einer Weile er reichten sie einen Teil der Stadt, der den Eindruck erweckte, als habe er während der Antike sowohl spartanische Spione als auch trojanische Terroristen beherbergt. Das Taxi hielt vor einem besonders düster wir kenden Etablissement, über dessen schmutzige Fenster Fliegen krochen. Ein schiefes und verblichenes Schild an der Tür verkündete, daß man es hier wagte, Speisen und Getränke zu servieren. »Wir setzen uns gemütlich zusammen, jaja«, verkündete Hulda und zerrte ihn aus dem Wagen.
Sie traten in eine Welt der Schatten, in der es nicht nur nach ranzigem Öl roch, sondern auch anderen ebensowenig appetitanregenden Dingen. Irgendwo nahmen sie Platz. Kellner eilten herbei und offerierten Meister Gansfleisch Hammelfleisch und Pilaw, Weinblätter und sauren Wein und andere Nahrungsmittel, die er kaum als solche erkannte. Hulda versuchte ihn aufzumuntern, indem sie einige große Teller von dem Zeug ver schlang und darauf bestand, er solle ihrem Beispiel folgen – bis er schließlich glaubte, platzen zu müssen. Voller Unbehagen rülpste er. Genau zu diesem Zeitpunkt, wie auf ein geheimes Zeichen hin, betra ten zwei weitere Männer das Restaurant. Der eine war groß und leichen blaß; er hatte helle, stumpf blickende Augen, und unter seiner Jacke spannten sich dicke Muskeln. Der andere war kahlköpfig und hielt jedem Vergleich mit einem Film-Androiden stand. Sie setzten sich an den Tisch. Sie starrten Meister Gansfleisch an. Der größere von ihnen beugte sich vor. »Erzählen Sie«, sagte er. »Al les.« Und Meister Gansfleisch, gefüllt wie eine Straßburger Gans, noch im mer völlig benommen, kam der Aufforderung nach. Die Alchimie er wähnte er nur am Rande und bezeichnete sie als ein Hobby des Fräu leins. Nachdrücklich und entgegen der Wahrheit betonte er, er sei durch und durch ein moderner Forscher, der sich allein der Wissenschaft ver schrieben habe, und er gab zu bedenken, daß das Unterbewußtsein Papa Schimmelhorns zwar tatsächlich genial sein mochte, er jedoch unmöglich einen Erfolg hätte erzielen können, wären nicht das solide Know-how und die enormen Erfahrungen Gansfleischs gewesen. Was die sonderba ren Gebräuche auf Klein Paläon und insbesondere die Priesterrolle des Fräuleins anging, so bezeichnete er sie verächtlich als reinen Aberglau ben – der sich jedoch als recht nützlich erweisen mochte. Während seines Vortrags unterbrach ihn der große Mann dann und wann mit einer kurzen Frage, und sein androidenartiger Begleiter be schränkte sich darauf, alles mit einem Minirecorder aufzuzeichnen. Erst als Meister Gansfleisch das goldene Senkblei hervorholte und es seinen Begleitern zur Prüfung reichte, zeigte er so etwas wie Interesse. Er bat um eine vollständige Liste aller Komponenten der Maschine Papa Schimmelhorns. Er erkundigte sich fachmännisch nach dem Wachsen
des Kristalls, der bei der Funktionsweise der Apparatur offenbar eine zentrale Rolle spielte, der Stärke der elektrischen Ströme, den elektroni schen Bauteilen und mechanischen Vorrichtungen, auch nach den Phä nomenen, zu denen es während des Betriebs des Gerätes kam. Kaspar Gansfleisch erklärte stammelnd, seine Rolle bei der Konstruk tion der Maschine sei zwar von erheblicher Bedeutung gewesen, doch Papa Schimmelhorn habe sich große Mühe gegeben, viele Details der Apparatur vor ihm geheimzuhalten. Der große Mann richtete einen durchdringenden Blick auf ihn. »Nun, das spielt derzeit keine Rolle«, meinte er. »Was ich als wichtiger erachte: Wie groß ist die Maschine? Und können Sie sie bedienen?« Der Alchimist antwortete, die ganze Vorrichtung stünde auf einer iso lierenden Unterlage aus Kunststoff, die etwa hundertzwanzig mal zwei hundertzehn Zentimeter groß sei. Er fuhr fort, an keiner Stelle sei die Maschine höher als anderthalb Meter, und er rühmte sich darüber hinaus als den Experten überhaupt, was die Inbetriebnahme des Gerätes betref fe. Papa Schimmelhorn, so erläuterte er, habe ihn eingewiesen und ihm gestattet, Zeuge des Umwandlungsprozesses zu werden. Er schloß mit der Lüge, die Apparatur sei während der Abwesenheit des Entwicklers von ihm ausprobiert worden. Sie besprachen diese Dinge gleich mehrmals – bis der große Mann schließlich zufriedengestellt war. Er gab seinem Kollegen ein Zeichen, der Meister Gansfleisch daraufhin einen kleinen Wecker reichte. »Es handelt sich dabei nicht um eine Uhr«, bemerkte der Androidentyp, »sondern um ein höchst geheimes und leistungsfähiges Kommunikati onsinstrument, das einen Kontakt zwischen uns erlaubt. Sie müssen war ten, bis alle anderen Bewohner des Schlosses fort sind. Es sollte während der Nacht geschehen, zu einer Zeit, zu der Sie sicher sind, mindestens drei Stunden lang allein zu sein. Dann justieren Sie das Gerät auf die von Ihnen gewünschte Art und Weise, auf die Zeit, zu der Sie geweckt wer den möchten. Sie erfahren auf der Stelle, ob alles bereit ist. Verstanden?« Meister Gansfleisch rieb sich triumphierend die Hände. »Alles klar, Genosse!« verkündete er. »Ich habe verstanden – und ich kenne auch den geeigneten Zeitpunkt. Es geht dabei um die einzelnen Mondphasen und die Frage, wann die wichtigsten Zeremonien der so schrecklichen
heidnischen Gebräuche durchgeführt werden. Bestimmt ergeben sich Gelegenheiten, zu denen ich ganz allein im Schloß bin. Manchmal su chen die anderen das eine Ende der Insel auf, den Ort, wo sich der große Hügel erhebt, über dem… Labyrinth, ich meine die Stelle mit den vielen Ruinen. Ja, dann und wann unternehmen sie Wallfahrten dorthin und bringen Opfer dar. Oh, bestimmt bekommen wir unsere Chance, Ge nossen, ja, ganz gewiß! Und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, gebe ich vor, mich schlecht zu fühlen, und dann erwarte ich Sie.« Wie Zuckgalgen fletschte er die Zähne. »Ach, ich kann es kaum erwarten!« »Sie werden sehr geduldig sein«, verordnete der große Mann. »Und ich rate Ihnen, niemandem zu zeigen, daß Sie warten. Versuchen Sie, erneut das Wohlwollen dieses Schimmelhorns zu erringen, auch das der schwei zerischen Kapitalistin. Das wär's. Jetzt macht Hulda Sie mit den Sehens würdigkeiten Athens vertraut, und Sie werden sich auffallend bemühen, Ihre Einkäufe zu tätigen, so daß niemand Verdacht schöpft.« Die beiden Männer verließen das Restaurant durch eine Hintertür, und Hulda eskortierte Meister Gansfleisch zurück auf die Straße. Den ganzen Tag über zerrte sie ihn von einer berühmten Ruine zur anderen, von einem Laden in den nächsten. Und zum Abendessen führte sie den Al chimisten in ein Restaurant, das noch schlimmer war als das, das er mit tags kennengelernt hatte – sofern es in dieser Hinsicht überhaupt noch eine Steigerung geben konnte. Schließlich begaben sie sich in ein Hotel, wo Kaspar keinen Gebrauch von dem freundlichen Angebot der masku linen Fremdenführerin machte; sein Bett mit ihm zu teilen. Als er am nächsten Morgen aufstand, war Hulda verschwunden. Einige weitere Stunden lang beschäftigte er sich damit, angeblich überaus wich tige Einkäufe zu erledigen, und dann nahm er die Nachmittagsmaschine nach Kreta. Ach! freute er sich während des Fluges. Was war es doch für ein Glück, daß die Hölle kein Interesse an meiner Seele zeigte! Oh, meine Rache wird besonders süß sein. Und bestimmt kann ich mit einer großzügigen Belohnung von den Genossen rechnen. Vermutlich behängen sie mich mit Medaillen und machen mich zum Aka demiker. Ich werde weltberühmt! Natürlich bin ich dann der Direktor eines eigenen Laboratoriums. Wahrscheinlich…
Am Flughafen holte ihn ein fröhlicher Ismail ab. Herr Mavronides, so sagte der Eunuch, habe ihn geschickt, weil die Prinzessin angeordnet hatte, nach dem Abendessen sollten sich alle Bewohner der Insel auf dem Schloßhof einfinden, wo ihnen Seine Hoheit Prinz Auh-guscht offi ziell vorgestellt werde und die Untertanen Gelegenheit bekämen, Ihre Geschenke und Gaben zu präsentieren. »Seine Hoheit wie?« brummte Meister Gansfleisch verwirrt. Ismail grinste breit. »Seine Hoheit der Effendi«, entgegnete er. »Der große Effendi Schimmelhorn, der versprochen hat, mich wieder zu ei nem richtigen Mann mit viel Saft und Kraft zu machen. Kommen Sie, draußen wartet ein Taxi. Wir müssen uns beeilen!« Die Zeremonie, während der Prinz Auh-guscht seinen begeisterten Un tertanen vorgestellt werden sollte, war unter der Aufsicht Sarpedon Ma vronides sehr sorgfältig und liebevoll von den Schloßbediensteten vorbe reitet worden. Vor dem großen Tor stand auf einem Podium der Thron der Prinzessin. Ein dicht daneben befindliches und nur geringfügig nied rigeres Podest diente als Standort für einen zweiten Prunksessel, den man für diese besondere Gelegenheit aus dem Speicher geholt hatte. Er wies ähnliche Verzierungen auf und war ein wenig größer. Zu beiden Seiten hingen Tapisserien und Banner und Standarten, und ein purpur ner Teppich erstreckte sich von den Plätzen aus bis auf den Hof, auf dem sich das gemeine Volk versammeln sollte. Der Prinz und die Prinzessin genossen ein Festmahl und tranken Wein aus den goldenen Bechern, die der Prinz an jenem Morgen hergestellt hatte. Sie küßten sich. Sie flüsterten sich Zärtlichkeiten zu. Schließlich brach der Abend an. »Und nun, mein Held«, sagte das Fräulein, »müssen wir uns für kurze Zeit trennen, denn mein Volk erwartet von uns, auf die althergebrachte Weise gekleidet zu sein. Ismail hat sich bereits in deinen Turm begeben, um dir beim Anziehen zu helfen.« Mit der Fingerspitze berührte Philippa die Lippen ihres Geliebten, um seiner Frage zuvorzukommen. »Nein, mach dir keine Gedanken – du wirst prächtig aussehen in dem Gewand, das einst mein Ururgroßvater trug, und ich versichere dir, es wird dir so
gut passen, als sei es extra für dich angefertigt worden. Und jetzt geh!« Mit einem letzten Kuß schickte sie ihn los. Ismail hielt sich tatsächlich in besagtem Turm auf und wartete mit dem Gewand. Zu Papa Schimmelhorns Überraschung bestand es aus (a) ei nem wunderschön verzierten und vergoldeten Bronzehelm samt Nasen schutz, (b) einem aus dem gleichen Metall bestehenden Küraß und Bein schienen, (c) einem schweren und breiten Bronzeschwert, das in einer silbernen Scheide steckte und zu dem auch ein entsprechender Gürtel gehörte, (d) einem Paar mit silbernen Beschlägen versehene Sandalen aus Ziegenleder und (e) einem sonderbar anmutenden kleinen Rock aus dem gleichen Stoff. Diese Aufmachung wirkte zwar sehr antik, schien aber dem Handwerk der Renaissance zu entstammen. Skeptisch betrachtete Papa Schimmelhorn die einzelnen Dinge. »Und wo ischt die Untärwäsche?« fragte er. Ismail verneigte sich. »Hoheit«, erwiderte er respektvoll, »in minoi schen Zeiten, während der Blüte des antiken Kreta, trug man keine Un terwäsche. Wenn Sie auf dem Thron neben Ihrer Hoheit sitzen, so müs sen Ihre Untertanen die Gelegenheit bekommen zu sehen, daß Sie ein wirklicher Mann sind!« Zwar murrte er, als Ismail höflich darauf bestand, daß er auch die mit einem Pünktchenmuster versehene knielange Unterhose ablegte, doch der Hinweis darauf, daß die Prinzessin sicher ungehalten wäre, wenn er sich nicht an die lokale Tradition hielt, setzte sich gegenüber seinen mo ralischen Bedenken durch. Kurz darauf trat er in der Prachtausstattung vor den Spiegel und betrachtete sich. Er erinnerte sich an griechische Amphoren, die er einmal gesehen hatte, an die darauf dargestellten he roischen Krieger einer ruhmreichen Vergangenheit, und in aller Beschei denheit kam er zu dem Schluß, daß sie ihm nicht das Wasser reichen konnten – eine Meinung, die Ismail ganz offensichtlich teilte. Nur Gu stav-Adolf wollte sich nicht beeindruckt zeigen. »Da soll mich doch die Große Maus holen!« knurrte er seinem weißen Kätzchen zu. »Hat man jemals etwas Lächerlicheres als das gesehen?« Und damit kehrte er sei nem Herrchen den gestreiften Rücken zu und weigerte sich hartnäckig, auf die Schimmelhornschulter zu springen.
Ismail stieß die Tür weit auf. Er hob einen großen metallenen Gong und einen überdimensionierten gepolsterten Hammer. Er reichte Papa Schimmelhorn einen langen Speer mit bronzener Spitze, und dann führte er den Prinzen die breite Turmtreppe hinunter, wobei er es sich nicht nehmen ließ, immer wieder und betont kräftig auf den Gong einzuschla gen. »Gebt acht! Gebt acht!« rief der Eunuch. »Gebt acht auf Seine Hohe Mächtigkeit, den königlichen Geliebten unserer Prinzessin, den zukünfti gen Gemahl unserer geliebten Gebieterin!« Drei weitere Male hieb er den Hammer gegen den Gong. »Gebt acht! Gebt acht!« Und Papa Schimmelhorn, der langsam Gefallen an dem Spektakel fand, folgte Ismail mit langen und, wie er meinte, besonders majestätisch wirkenden Schritten, ließ bei jedem Bonnng! den Schaft des Speeres auf den Stein des Flurbodens pochen und starrte finster auf die Ahnenpor träts an den Wänden. Nach einer Weile – inzwischen hatte sich ihnen ein Gefolge aus klei nen Jungen angeschlossen, die Papa Schimmelhorn mit großen Augen bewunderten – erreichten sie den Schloßhof, auf dem inzwischen einige hundert Inselbewohner warteten und der erhellt wurde vom Schein un zähliger Fackeln. Ismail setzte den Weg mit großem Enthusiasmus fort, hämmerte an den Gong und rief mit außerordentlich dramatisch klin gender Stimme: »Gebt acht!« Papa Schimmelhorn folgte ihm und gab sich dabei alle Mühe, seiner Rolle als antiker Held zu genügen. Die Menge belohnte ihn mit einem anerkennenden Oh! und Ah! Die Prinzessin, die bereits auf ihrem Thron Platz genommen hatte, stand auf und kam auf ihn zu. Wie Papa Schimmelhorn bemerkte – und dabei entstand ein gewisses Unbehagen in ihm, da er sich daran erinner te, nur einen kurzen Rock aus Ziegenleder zu tragen –, war Fräulein von Hohenheim ebenfalls ganz nach minoischer Art gekleidet. Auf dem stol zen Haupt glänzten die herrlichen Locken ihres vortrefflichen Haars, und das offene Leibchen verbarg nicht die volle Pracht ihrer Brüste. Ma vronides trat vor, um Papa Schimmelhorn den Speer abzunehmen, und die Prinzessin streckte ihm die Hand entgegen. Sie führte ihn zu dem zweiten Thron, ließ ihn mit einem Kuß darauf Platz nehmen und kehrte dann zu ihrem eigenen zurück. Unmittelbar im Anschluß daran ertönte Musik. Der silbrige Klang von Becken wehte einem Hauch gleich über
den Schloßhof, und kräftige junge Stimmen jubilierten in einem Päan des Entzückens. Kurz darauf hob die Prinzessin eine Hand, und von einem Augenblick zum anderen herrschte Stille. »Und nun«, rief Philippa triumphierend, »meine Untertanen, präsentie re ich euch meinen wahren Prinzen, der mit mir zusammen über diese Insel herrschen wird. Ich stelle euch meine Liebe vor, meinen Helden – Prinz August den Ersten, den Vater meiner zukünftigen Söhne!« Da sie griechisch sprach, machte sich Papa Schimmelhorn erst dann die ganze Bedeutung ihrer Worte klar, als Mavronides flüsternd für ihn übersetzte. Er schluckte. Das Zeugen von Söhnen widersprach ganz entschieden seiner erklärten Absicht. Dann jedoch warf er einen Blick auf das offene Leibchen der Prinzessin und verdrängte die in ihm em porquellende Panik. Sicherlich, so dachte er, gehörten diese Bemerkun gen zum allgemeinen Ritual und waren bestimmt nicht in dem Sinne ernst gemeint. Die Menge jubelte nun, und Sarpedon Mavronides und seine Gehilfen führten die ersten Gäste in Richtung des Podiums mit den beiden Thro nen. Es handelte sich um dörfliche Würdenträger und ihre Gemahlinnen. Ihnen folgten einfache Fischer und ihre Frauen, Kinder, Großväter und Großmütter. Sie alle brachten Geschenke und Gaben: Körbe mit köstli chen Weintrauben, große Flaschen mit süßem Wein, Schafe und Ziegen, Kälber, einzigartige Artefakte des örtlichen Handwerks, komplexe Mosa iken, die die Prinzessin und den Prinzen zeigten und die extra für diese Gelegenheit angefertigt worden waren. Mit feierlichem Ernst traten die Untertanen an die beiden Throne her an. Die Männer und Frauen knieten vor der Prinzessin. Sie verneigten sich auch vor dem Prinzen und küßten ergeben seine ausgestreckte Hand. Die jungen Mädchen spähten unter den kurzen Rock aus Ziegen leder, kicherten leise, stießen sich mit dem Ellbogen an und bewunderten offenbar das, was sich ihren Blicken darbot. Die jungen Männer standen gerade und hoch erhobenen Hauptes und spannten die Muskeln an, um die Hoheiten mit ihrer Stärke und Kraft zu beeindrucken. Papa Schimmelhorn verhielt sich auf eine wahrhaft majestätische und würdevolle Art und Weise. Er murmelte Worte des Dankes und des Lo
bes, und er bedachte die Gäste mit anerkennenden und gutmütigen Blik ken. Unterdessen kümmerten sich die Gehilfen Mavronides' um alle Ge schenke, und die Prinzessin beugte sich vor und flüsterte, alle Gaben – bis auf die mosaikenen Bilder und die Handwerksobjekte – dienten als Opfer während der Festlichkeiten der kommenden Tage. Nach und nach wanderten die Untertanen an den beiden Thronen vorbei, und der Prinz und die Prinzessin kamen ihren majestätischen Pflichten nach. Zur großen Überraschung Papa Schimmelhorns trat als letzter Meister Gansfleisch vor das Podium, und er wirkte äußerst zer knirscht und reumütig. Er ließ sich auf die Knie sinken, und mit einem fleckigen Taschentuch wischte er sich Tränen aus den geröteten Augen. »Erhabener Prinz«, sagte er, »wenn Sie gestatten, möchte ich ein Be kenntnis ablegen. Schon seit mehreren Jahren diene ich der Prinzessin treu und ergeben, doch ich bin auch schwach und fehlbar. Als ich den Eindruck gewann, daß Sie mit Ihrer Maschine das schaffen, wovon wir Alchimisten seit Jahrhunderten träumten, vergiftete sich mein Denken mit Neid und Eifersucht. Ich ließ mich sogar dazu hinreißen, Sie bei Ihrer Hoheit zu denunzieren. Und während noch mein Vertrauter bei mir weilte, trachtete ich danach, mich mit den Mächten der Finsternis gegen Sie zu verschwören, da ich nicht begriff, daß Sie der größte aller Alchimisten sind. Jetzt flehe ich Sie und die höchst verehrte Prinzessin an, mir zu vergeben und zu erlauben, Ihnen untertänigst zu dienen.« Papa Schimmelhorn zog rasch die rechte Hand zurück, als Meister Gansfleisch Anstalten machte, sie zu ergreifen und zu küssen, und wohlwollend klopfte er ihm auf die Schulter. »Na schön, ich värgäbe Ihnen, Maischter Gansi«, entgegnete er. »Und wänn Sie lieb und brav sind und fleißig arbaiten, bitte ich mainen Guschtav-Adolf viellaicht dar um, Ihnen irgendwann aine andere Ratte zu fangen, da, wie Sie sagen, Zuckgalgen fort ischt.« Die Prinzessin erwies sich als nicht ganz so großmütig, murmelte ir gendeine Drohung, bei der es um das Labyrinth ging, und schickte den Alchimisten mit einem barschen Wink fort. Meister Gansfleisch verneig te sich wiederholt und eilte davon, und an seine Stelle trat ein alter grie chisch-orthodoxer Priester, der hinter den Thronen hervorkam und erst das königliche Paar und dann auch die Menge segnete. Wieder beugte sich Fräulein von Hohenheim vor und flüsterte ihrem Geliebten zu:
»Achte gar nicht auf ihn, Liebling! Er ist nur hier, damit der Anschein gewahrt wird. In Wirklichkeit gehört er zu uns.« Sarpedon Mavronides hob die Hand. Erneut klang Musik über den Schloßhof. Gehorsam machten sich die Untertanen auf den Rückweg ins Dorf. Die Prinzessin wartete, bis alle gegangen waren. Dann stand sie auf, und Papa Schimmelhorn folgte ihrem Beispiel. Mavronides gab ihm den Speer zurück. »Und nun«, sagte Philippa, »begebe ich mich in meine Gemächer, wo Niobe mich für die Nacht vorbereiten wird – und für dich, mein Gelieb ter! Eile also in deinen Turm, entledige dich deiner Zeremonientracht und komm geschwind zu mir. Heute nacht will ich dich viele Dinge leh ren, von denen du unbedingt erfahren mußt. Oh, ja, es geht dabei um Geheimnisse, die ich nur mit dir teilen kann!« »Ich schpute mich«, versprach Papa Schimmelhorn. »Äs dauert nicht lange, bis ich mich umgäzogen habe, doch ich muß noch mainen Gusch tav-Adolf und saine klaine Mieze füttern – ach, sie sind ain wirklich nät tes Paar! –, und dann will ich mir auch noch die Hand waschen, mit där ich Maischter Gansi berührt habe.« Die Prinzessin rümpfte ihre entzückende kleine Nase. »Wasch sie sehr sorgfältig«, lachte sie. »Denn schließlich wollen wir im Bett nicht an ihn erinnert werden.« Ismail eilte mit Gong und Hammer herbei. »Gebt acht! Gebt acht!« rief er. Sie stolzierten durch die Flure und Korridore zurück, und an der Tür seines Quartiers angelangt, schickte Papa Schimmelhorn den Eunuchen fort. Wie versprochen beeilte er sich, sowohl die Rüstung als auch den kurzen Ziegeniederrock abzulegen. Er duschte und zog sich seine enge Jeans an. Gustav-Adolf ließ sich nach wie vor nicht dazu herab, in seiner Gegenwart auch nur ein leises Fauchen von sich zu geben, doch das kleine weiße Kätzchen schnurrte und rieb sich den Rücken an den Wa den Papas. Anschließend machten sie sich beide über den Lammbraten her, den ihr Herrchen ihnen anbot. Etwas später holte Papa Schimmel horn Humphrey aus dem Geheimfach, weckte ihn mit Honig und Bran dy und berichtete ihm in allen Einzelheiten von den Geschehnissen des Abends.
Traurig schüttelte der Homunkulus den winzigen Kopf. »Die Sache ge fällt mir überhaupt nicht, Meister Schimmelhorn«, sagte er. »Die heidni schen Riten sind voller Unheil – voller Gefahren, die, obgleich Ihr jetzt Prinz seid, nicht nur Eurem Körper drohen, sondern auch Eurer un sterblichen Seele! Oh, und vertraut weder den zungenfertigen Behaup tungen und Versicherungen Kaspar Gansfleischs noch seiner angebli chen Reue. Er ist gemein und durch und durch schlecht und voller Nie dertracht, und bestimmt plant er weiteres Verderben, ja, daran zweifle ich nicht.« Besorgt blickte er Papa Schimmelhorn an. »Mehr kann ich jetzt nicht sagen. Aber seid auf der Hut! Wenn Ihr glaubt, es ziehe eine Gefahr herauf, wenn Ihr, aufgrund einer neuerlichen Verschwörung oder eines Mißgeschicks, nicht mehr wißt, wie Ihr Euch verhalten sollt, so trefft – ich bitte Euch inständig! – keine Entscheidung, bevor Ihr nicht meinen Rat eingeholt habt. Ich bin zwar klein und schwach, habe jedoch ein vierhundertjähriges Leben hinter mir.« Er seufzte. »Ach, ich mußte so meine Erfahrungen machen mit dieser Welt des Kummers, diesem Jammertal.« Papa Schimmelhorn stellte sich unterdessen, von Leidenschaft erfüllt, das offene Leibchen der Prinzessin vor, das seine Philippa inzwischen sicher abgelegt hatte, und er verdrängte seine vagen Befürchtungen, ver sprach Humphrey, sich an ihn zu wenden, bevor er irgendwelche über hastete Entscheidungen traf, setzte den Homunkulus ins Glas zurück, das er daraufhin wieder im Geheimfach unterbrachte, und machte sich alsdann, so rasch ihn seine Beine trugen, auf den Weg zu dem wartenden Fräulein. Wortlos gab Philippa ihm einen Kuß. Wortlos entledigte sie ihn seiner Jeans und der pünktchengemusterten Unterhose. Wortlos zog sie ihn aufs Bett. Wortlos liebten sie sich dort, was Prinz Auh-guscht zum Anlaß nahm, sich von seinen letzten Zweifeln zu trennen. Er fühlte sich stark, voller Saft und Kraft und unbesiegbar – was ganz den Empfindungen eines wahren Prinzen und Helden entsprach. Philippa streichelte ihn zärtlich. »Liebling«, gurrte sie, »es ist nunmehr der Zeitpunkt gekommen, mein größtes und bedeutendstes und heilig stes Geheimnis mit dir zu teilen. Hast du schon einmal von dem Mino taurus gehört?«
»Na klar!« donnerte Papa Schimmelhorn fröhlich. »Ich waiß alles dar über. Är war doch ain armer Kärl ohne Saft und Kraft, däm saine Frau Hörner aufsätzte, nicht wahr?« Philippa lachte melodisch. »Schatz«, sagte sie, »es spricht für deinen tollkühnen Mut, daß du in dieser Hinsicht Scherze machst – doch unser Minotaurus ist keine witzige Angelegenheit. Bei unserem Minotaurus handelt es sich nicht nur um einen Mythos, nicht um ein altes Fresko auf dem verwitterten Stein einer Mauer, so wie in Knossos. Unser Minotau rus existiert, hier auf Klein Paläon, lauert im Labyrinth! Und alle Bewoh ner der Insel fürchten ihn und leben in Angst und Schrecken!«
9 Minotauruskampf Papa Schimmelhorn hatte nur eine sehr vage Vorstellung davon, was ein Minotaurus sein mochte, und – um die Wahrheit zu sagen – derzeit be anspruchten solche Geschöpfe, ob lebendig oder nicht, keinen Platz im Bereich seines aktiven Interesses, das sich allein auf das Bett und seine reizende Begleiterin beschränkte. Er kam jedoch zu dem Schluß, es ent spräche nicht seinem neuen Prinzenstatus, einfach das Thema zu wech seln und sich wieder mit weitaus faszinierenderen Dingen zu befassen. »Süßer Schatz und Liebling«, sagte er, »wänn dieser Minotaurus doch immer in däm – wie hieß äs doch noch? – Labürinth schtäckt, wieso macht ihr euch dann überhaupt Sorgen um ihn?« Philippa zog ihn an sich, und sie antwortete mit gesenkter Stimme, so als fürchte sie, jemand könne sie belauschen. »Weil er über eine schreck liche Macht gebietet. Er ist ein Halbgott. Seine Mutter war Königin, und ihr Vater ein Gott. Sie ließ sich mit einem prächtigen weißen Stier ein, der wundersamerweise aus dem Meer kam…« »Ach so!« meinte Papa Schimmelhorn. »Jätzt värschtähe ich auch, war um Ismail und Zärr Horba so närvös reagierten, als ich auf Schtiere zu schprächen kam. Viellaicht befürchteten sie, där waiße Bulle könne er neut aus däm Meer schteigen und diesmal Luscht auf sie bekommen.« »Die Mutter des Minotaurus ließ sich auf etwas Schreckliches ein. Und er wurde mit dem Körper eines Menschen geboren, doch mit dem Kopf eines Stiers – ja, und in einer anderen Hinsicht, die du dir sicher gut vor stellen kannst, ähnelt er ebenfalls einem Bullen. Er hat lange und hornige Finger anstelle von Hufen, und wie ein Mensch geht er aufrecht. Er ist mehr als drei Meter groß. Die Könige von Knossos behaupteten, er be fände sich in ihrem angeblichen Labyrinth. Auf diese Weise zwangen sie die Athener dazu, ihnen einen jährlichen Tribut an jungen Männern und Frauen als Opfer für ihn zu schicken, aber in Wahrheit bekam der Mino taurus sie überhaupt nicht. Statt dessen benutzten die Könige die betref fenden Personen zu ihrem eigenen Vergnügen. Er hielt sich immer hier
auf Klein Paläon auf, im wahren Labyrinth, und er setzte seine gräßliche Macht viel subtiler und heimtückischer ein: Denjenigen, die sich in den Irrgarten wagten, raubte er den Verstand, und jene, die sich mit der Ab sicht trugen, über Klein Paläon zu herrschen, vertrieb er, indem er sie vor Furcht am ganzen Leib erbeben ließ. Selbst die Nazis, die während des Krieges auf Kreta weilten, setzten niemals einen Fuß auf diese Insel. Und so verehren wir ihn und versuchen, seinen Zorn zu besänftigen, indem wir ihm Opfer darbringen, Stiertänze veranstalteten und heilige und weihevolle Feste feiern, in einer nunmehr bereits mehr als viertau send Jahre alten Tradition. Als unser Prinz bist du auch unser Priester, und deshalb mußt du über diese Dinge Bescheid wissen. Morgen beginnt der erste von insgesamt vier Tagen, während denen unsere bedeutend sten und freudigsten Rituale stattfinden. Den Anfang macht morgen nachmittag der Stiertanz hier auf dem Schloßhof, und daran, mein Schatz, schließt sich ein prächtiges Fest an; wir tanzen und trinken und sind ganz ausgelassen. Am zweiten Tag unternehmen unsere Frauen eine Wallfahrt zum Eingang des Labyrinths – zu dem großen Hügel am einen Ende der Insel, jenem Ort, von dem Fremde glauben, er berge nichts weiter als alte und verfallene Ruinen unter sich – und dort beten sie zu ihm und flehen ihn an, er möge sie fruchtbar machen. Am dritten Tage machen sich die Männer der Insel auf den Weg, um ihn um Virilität und gesunde Nachkommen zu bitten. An jenem Abend finden Feste statt. Und du, mein Heldenprinz, wirst uns während all dieser Feiern anführen, gekleidet in deine Prachtausstattung. Und mach dir keine Sorgen: Ich zeige dir, wie du dich verhalten mußt.« »Mainscht du ätwa«, warf Papa Schimmelhorn verwirrt ein, »ich muß mit Schtieren tanzen?« Fräulein von Hohenheim lachte leise und zärtlich und gab ihm mehre re leidenschaftliche Küsse. »Natürlich nicht, Liebling«, erwiderte Philip pa. »Du brauchst auch keine Schlangen zu streicheln, wenn die Schlan gengöttin verehrt wird. Diese Dinge betreffen nur das gemeine Volk. Die Männer und Frauen vergnügen sich prächtig dabei, und sie wissen auch, auf was es dabei ankommt – andernfalls währte ihre Freude auch nicht lange, denn immerhin ist die ganze Sache nicht ungefährlich. Nun, am vierten Tage dann… Nein, das sage ich dir noch nicht, denn jene Zere monie ist die wichtigste überhaupt. Es handelt sich um den Tag, an dem
wir versuchen, den Minotaurus mit Gesang und Musik zu beschwichti gen, ihn mit den Opfern zu besänftigen. Des weiteren ist es der Tag, an dem du dich beweisen kannst. Doch genug damit! Heute nacht gibt es interessantere Dinge für uns als Gespräche. Löschen wir das Licht…« Sie wurden von leiser Musik geweckt, und kurz darauf brachten ihnen Dienstmädchen ein opulentes Frühstück. Sie liebten sich. Sie nahmen sich knapp zwei Stunden Zeit, um weiteres Gold herzustellen, und trans formierten unter anderem eine Statuette des Minotaurus – das bleierne Geschenk eines der lokalen Künstler. Nach dem Mittagessen kehrte Pa pa Schimmelhorn in seinen Turm zurück, um sich in die kriegerische Prachtausstattung zu kleiden und von Gustav-Adolf ignoriert zu werden. Als er sich wieder zu der Prinzessin gesellte, stellte er mit Freuden fest, daß sie ihr minotaurisches Dekollete trug, und würdevoll begaben sie sich auf den Schloßhof. Die beiden Throne standen nun auf einem Po dest hoch über dem Boden, und im Verlaufe der Nacht hatte man eine große überdachte Tribüne errichtet, die denen ähnelte, wie sie von Rei sezirkussen verwendet wurden. Ein mit viel Sand ausgestatteter runder Bereich in der Mitte des Hofes war von einem Zaun umgeben, dessen Tür dem großen Tor zugewandt war. Becken klirrten laut. Tritonshörner und Fanfaren erklangen dröhnend. Gongs donnerten. Die versammelte Menge jubelte. Sarpedon Mavroni des hob seinen Tambourstock. Und aus einer Kammer unter der Tribü ne eilten zehn Mädchen und zehn junge Männer hervor. So geschmeidig wie Panther waren sie, wunderschön und so nackt, wie die Natur sie geschaffen hatte. Die Augen der Prinzessin begannen vor Aufregung zu glühen. »Da sind sie!« rief sie und preßte mit der einen Hand das Knie des Prinzen. »Die Stiertänzer! Ach, wie gern würde ich doch zu ihnen gehören! Wäre es nicht herrlich, wenn wir beide ebenfalls den Stieren gegenübertreten würden?« Philippa seufzte melancholisch. »Doch solche Vergnügen sind nichts für uns – das ist der Preis, den wir für die Macht und unsere Privi legien zahlen müssen.«
Papa Schimmelhorn hielt diesen Preis für nicht besonders hoch und entrichtete ihn gern, doch klugerweise machte er keine entsprechende Bemerkung. Die Stiertänzer sprangen elegant umher, lächelten und hielten sich an den Händen. Vor den Thronen verharrten sie, hoben grüßend die Arme und huldigten dem königlichen Paar. Dann bezogen sie zu beiden Seiten der offenen Arenatür Aufstellung. »Sieh nur! Sieh nur!« Die Prinzessin erhob sich mit einem Ruck, als sich das große Schloßhoftor öffnete. »Da kommen die Stiere!« Es waren insgesamt sechs, und sie sahen nicht nur besonders wild aus; es handelte sich darüber hinaus mit Abstand um die größten Stiere, die Papa Schimmelhorn jemals gesehen hatte. Schwarz waren sie, ausgespro chen kräftig und muskulös gebaut, und in ihren roten Augen funkelte es zornig und kampflüstern. Die geschwungenen Hörner schienen extra zugespitzt worden zu sein. Sie stürmten auf den Hof, angetrieben von weiteren Männern mit Ruten und Stöcken. Die Tänzer hasteten umher, sprangen hoch in die Luft, drehten Pirouetten und lockten die Stiere noch weiter auf den Platz. Die Arenatür schloß sich. Abgesehen von kleinen Pausen, in denen Musik erklang oder man sich erfrischen konnte, wurde Papa Schimmelhorn im Verlaufe der nächsten zwei Stunden Zeuge einer einzigartigen Demonstration priesterlicher Athletik. Die Tänzer warteten, bis die Stiere sich zum Angriff ent schlossen und auf sie zugaloppierten. Sie schwangen sich auf die Rücken der Bullen. Sie vollführten Saltos, wenn die spitzen Hörner herankamen. Sie bedeckten die Stiere mit Blumen und Blüten in allen Farben. Sie formten menschliche Pyramiden als lebende Ziele – und stoben in einem Sekundenbruchteil auseinander. Nur zwei von ihnen wurden verletzt, und einer nicht besonders schwer. Anschließend wurden die Schloßhoftore wieder geöffnet, und man jag te die Stiere fort, die nun zwar noch immer zornig wirkten, inzwischen jedoch weitaus weniger aggressiv. Dann traten die Tänzer erneut an das Podest mit den Thronen heran. »Sie kommen zu uns, um belohnt zu werden«, flüsterte die Prinzessin. »Die jungen Männer wenden sich an mich, die Mädchen an dich. Sieh mir zu und verhalte dich genauso wie ich. Du solltest jedoch darauf ach
ten…« – Philippa lächelte und warf einen bedeutungsvollen Blick auf den vorderen Bereich seines kurzen Ziegeniederrockes – »… keine der jungen Frauen zu sehr zu loben.« Sie stand auf. Prinz Auh-guscht erhob sich ebenfalls. Der erste junge Mann trat an die Prinzessin heran. Sie legte ihm beide Hände auf die Schultern und gab ihm einen Kuß auf die Lippen. »Du hast eine gute Leistung vollbracht«, sagte das Fräulein von Hohenheim. »Dein Tanz war wundervoll und sehr mutig.« Der junge Mann errötete, verneigte sich tief und eilte fort. Unterdessen folgte Papa Schimmelhorn dem Beispiel Philippas in Hin sicht auf das erste an ihn herantretende Mädchen, und er richtete ähnli che Worte an die entzückende junge Frau. Als alle Tänzer die ihnen zustehenden Akkoladen erhalten hatten, war Papa Schimmelhorn zu dem Schluß gelangt, daß die Gegenwart durchaus von den alten minoischen Sitten und Gebräuchen lernen konnte, und das sagte er der Prinzessin auch, als sie – nachdem die Zeremonie vor über war und die Gäste und Zuschauer bei der Demontage der Tribüne und dem Aufstellen der langen Tische und Sitzbänke geholfen hatten – zusammen in die Gemächer Philippas zurückkehrten, um dort kühlen Wein zu genießen und sich die Zeit auf höchst angenehme Weise mit neckischen Liebesspielchen zu vertreiben. Später nahm Papa Schimmelhorn mit Begeisterung an dem Festmahl teil, das auf dem Schloßhof serviert wurde. Große Weinfässer wurden angestochen. Die Tische bogen sich unter den Lasten aus Fleisch und Fisch und allen Arten von Geflügel – Delikatessen, die man, entweder geröstet und gebraten oder auf noch schmackhaftere Art und Weise zu bereitet, aus der großen Schloßküche herbeitrug. Musik und fröhliches Gelächter erklangen, und der Prinz errang besondere Beliebtheit bei sei nen Untertanen, als er sich an seinem Ende des Banketts erhob, mit dröhnendem Baß jodelte und den Staunenden anschließend seine Arm band-Kuckucksuhr demonstrierte, wofür er mit tumultartigem Applaus belohnt wurde. In der folgenden Nacht verbrachte er so wenig Zeit wie möglich mit Humphrey, der, wie er inzwischen argwöhnte, die allgemeine Lage im mer pessimistischer zu beurteilen schien.
Am nächsten Tag führten Prinz und Prinzessin die Wallfahrt der Frau en an, die den Hügel des Labyrinths zum Ziel hatte. Sie fuhren in einer mit Gold und Elfenbein geschmückten und von sechs milchweißen Ochsen gezogenen Kutsche. Für diese Tiere, so vermutete Papa Schim melhorn, hatte man sich bestimmt zu Ehren des Vaters des Minotaurus entschieden, und auf ihren Rücken ritten die hübschesten der Tänzer vom Vortage. Da alle jüngeren Frauen in der Prozession ebenso wie die Prinzessin minoische Leibchen trugen, fand der Prinz die ganze Sache nicht annähernd so langweilig, wie er zuvor befürchtet hatte, und wäh rend des abendlichen Banketts wuchs er über sich selbst hinaus. Am dritten Tag führte die königliche Kutsche eine weitere Prozession zu dem Hügel. Da sie diesmal jedoch aus männlichen Wallfahrern be stand, erweckte sie weitaus weniger Interesse von Seiten Papa Schim melhorns. Dennoch beobachtete er vergnügt die athletischen Wettkämp fe, forderte einige der besonders kräftig gebauten jungen Männer zum Freistilringen heraus, tröstete sie großmütig, nachdem sie von ihm in den Staub geworfen worden waren, und offenbarte königliche Würde, als Philippa auf traditionelle Art Lob verteilte. Nach dem sich daran an schließenden Festmahl sang er Lieder auf deutsch, französisch, englisch und in schlechtem Italienisch. Seine Untertanen zeigten sich sehr angetan von diesen Vorführungen, und insbesondere Sarpedon Mavronides schien sehr beeindruckt zu sein. »Ihre Hoheit hat recht«, meinte er Frau Mavronides gegenüber. »Er ist ein wahrer Halbgott. Ich bin sicher, es war Zeus höchstpersönlich, der ihn hierher nach Klein Paläon schickte, damit er uns mit seinem wohlmeinenden Rat beistehen und über uns gebieten kann.« Er schüttelte den Kopf, noch unheilvoller, als es Hum phrey jemals gelungen war. »Beten wir dafür, daß er überlebt.« Papa Schimmelhorn stattete Gustav-Adolf und dem Homunkulus ei nen kurzen Besuch ab, verärgerte ersten, indem er ihm das Rückenfell zerzauste, und besorgte letzteren, indem er ihm mitteilte, er vergnüge sich vortrefflich, und alle Befürchtungen Humphreys seien völlig unbe gründet. Dann eilte er zu seiner Prinzessin zurück, wobei er sich nicht einmal die Zeit nahm, die schimmernde Rüstung abzulegen. Das nahm Philippa in die Hand. Sie versicherte ihm einmal mehr, wie sehr sie ihn liebte und wie stolz sie auf seine prächtige Erscheinung und
insbesondere die Leistungen sei, die er zu vollbringen vermochte. Sie streckten sich im Bett aus, und Niobe brachte ihnen Wein. »Dieses Fest, mein Held und Liebling, war das schönste von allen, und das ist vor allen Dingen dein Verdienst. Und morgen erreichen die Fei ern ihren Höhepunkt, denn morgen kommt der Tag der Opfer.« »Du mainscht die Tiere? Die Schafe und Ziegen und klainen Küken?« Sie streichelte ihn zärtlich und liebevoll. »Ach, Schatz, ich weiß, was in dir vor sich geht. Du befürchtest, man könne von dir verlangen, sie zu töten, nicht wahr? Ich weiß, daß du dafür viel zu gutmütig bist, viel zu wohlmeinend, um auf diese Weise Blut zu vergießen. Mach dir keine Sorgen. Wir haben längst damit aufgehört, öffentliche Schlachtungen vorzunehmen, damals, als wir auch von dem Darbringen menschlicher Opfer Abstand nahmen. Es ist bereits alles vorbereitet; die Köche küm mern sich darum. Morgen, spät am Nachmittag, begeben wir uns mit ihnen an eine bestimmte Tür, die ins Labyrinth führt, und im Verlaufe einer angemessenen Zeremonie lassen wir sie in der Kammer. Übermor gen sind sie dann verschwunden – im Magen des Minotaurus. Und dann… ja, dann beginnt das wichtigste aller Rituale.« Die geschickten Hände Philippas lenkten Papa Schimmelhorn ab und entspannten ihn – abgesehen von einer bestimmten Körperstelle. »Morgen abend weihe ich dich in das letzte der Geheimnisse ein.« »Ach, ich kann warten!« kicherte Prinz Auh-guscht und zog das Fräu lein an sich. Für Gottfried Rumpler waren die Tage auf nicht annähernd so ange nehme Weise verstrichen wie für Papa Schimmelhorn. Seine Unruhe nahm weiter zu, als er besorgte Anrufe von den Angestellten der Schwei zerischen Frauenbank bekam, die sich bei ihm nach dem Verbleib ihrer Arbeitgeberin erkundigten. Hielt sie sich tatsächlich auf ihrer Insel im Mittelmeer auf? Und wenn das der Fall war – warum weigerte sie sich dann, ans Telefon zu kommen, obgleich doch überaus wichtige geschäft liche Entscheidungen anstanden? Die Vorstellung von einem schweizeri schen Bankier – ganz gleich, ob nun männlichen oder weiblichen Ge schlechts –, der solche Dinge vernachlässigte, war geradezu absurd, und gewöhnliche Liebe konnte gewiß nicht als Erklärung ausreichen. Nein,
schloß Herr Doktor Rumpler, es bestand jetzt kein Zweifel mehr daran, daß Fräulein von Hohenheim den Verstand verloren hatte und an einer ernsten geistigen Erkrankung litt. Außerdem: Ihr Wahn mochte nicht nur zum Ruin ihres gemeinsamen Unternehmens führen, sondern dar über hinaus der Rumpler Bank großen finanziellen Schaden zufügen und den Herrn Doktor bei seinen ehrenwerten Kollegen unmöglich machen. Es ging nun darum, ob Gottfried und seine Verbündeten rechtzeitig effektive Pläne entwickeln, entsprechende Vorbereitungen treffen und nach Klein Paläon gelangen konnten, um die Situation in den Griff zu bekommen und das arme und irre Fräulein vor sich selbst zu retten. Unaufhörlich wanderte Dr. Rumpler auf und ab, sowohl in seinem Bü ro als auch zu Hause. Immer wieder fuhr er Miß Ekstrom an, und er behandelte die petite amie so barsch, daß sie in Tränen ausbrach, ein Taxi nahm und in ihre Wohnung zurückkehrte. Er belästigte Mama Schim melhorn mit weiteren Anrufen und flehte sie unnötigerweise an, sich zu vergewissern, ob der Kleine Anton wirklich auf dem Weg von Hong kong zu ihr war. Er sorgte dafür, daß sein Privatjet jederzeit startbereit war, und zusammen mit Herrn Grundtli und den Piloten ging er wieder und immer wieder die Flugpläne durch. Begleitet von dem teuersten Psychiater Zürichs, von dem er das Versprechen eingeholt hatte, streng ste Geheimhaltung zu wahren, wollte er direkt nach New Haven fliegen, um dort zwei Passagiere an Bord zu nehmen. Anschließend sollte es weitergehen nach Lissabon, wo bereits eine Hotelsuite angemietet wor den war. Von dort aus würde es am nächsten Tag weitergehen nach Kre ta, wo bereits ein gecharterter Helikopter auf sie wartete. Herr Grundtli und er würden mit automatischen Pistolen der Marke Sig-Neuhausen ausgerüstet sein. Gottfried Rumpler wußte zwar nicht genau, wozu diese Waffen verwendet werden sollten, doch er war entschlossen, nicht das geringste Risiko einzugehen. Es gibt besondere Zeiten, die die Seelen von Männern in Versuchung führen, und selbst die Seelen schweizerischer Bankiers sind in dieser Hinsicht nicht immun. Das Warten quälte den Herrn Doktor. Der Klei ne Anton traf einen Tag später als erwartet in New Haven ein, rief den armen Gottfried an und machte ihm die traurige Mitteilung, aufgrund dringender Geschäfte Pêng-Plantagenets könne er seine Großtante nicht begleiten. Er habe jedoch die Absicht, mit Mama Schimmelhorn die La
ge sehr ausführlich zu besprechen, so daß sie (wie er sich ausdrückte) sich nicht unnötig aufregte, wenn sie Papa und die Prinzessin sah. »Wie schon der alte Konfuzius sagte: Wenn jemand auf hundert rotiert, ist nicht gut Kirschenessen mit ihm, und kommt Ruhe, kommt Rat, nich' wahr?« erklärte der Kleine Anton. Dr. Rumpler war sehr enttäuscht an gesichts des Umstandes, auf einen wertvollen Verbündeten verzichten zu müssen, und traurig pflichtete er dem Großneffen Papa Schimmelhorns bei und meinte, es könne sicher nicht schaden, Mama Schimmelhorn zumindest ein wenig zu besänftigen. Dann berichtete einer der Piloten, es müsse eine mehrstündige Reparatur der einen Turbine des Flugzeuges durchgeführt werden. Etwas später wurde der Psychiater dringend gebe ten, den besonders spektakulären Nervenzusammenbruch einer interna tionalen Berühmtheit zu behandeln, die gerade eine Rundreise durch die Schweiz machte und erst dabei festgestellt hatte, gegen den Anblick ho her Berge allergisch zu sein. Keine der neuerlichen Verzögerungen war sonderlich lang, doch als sie schließlich starteten, hatte Gottfried Rump ler keine Ähnlichkeit mehr mit dem einfallsreichen und selbstbewußten Bankier, der er für gewöhnlich war. Er ließ sich von Herrn Grundtli so gar im letzten Augenblick dazu überreden, sich von seiner Waffe zu trennen. Zu dem Zeitpunkt, als sie Mama Schimmelhorn abholten, führten Prinz Auh-guscht und seine Prinzessin auf Klein Paläon gerade die Pro zession der Männer zum Hügel des Labyrinths. Und Mama Schimmel horn machte sich sofort daran, sich ein Bild von der Situation zu ver schaffen. Sie befragte Herrn Rumpler eingehend nach dem persönlichen Hintergrund des Fräuleins, nach den Vorfahren Philippas und ihren ge schäftlichen Qualifikationen. Sie erkundigte sich auch danach, in welcher Beziehung der Herr Doktor zu ihr stand und warum es für Papa Schim melhorn unbedingt erforderlich gewesen sei, auf einer kleinen Insel im Mittelmeer zu arbeiten. Laut wunderte sie sich darüber, was eine so un gewöhnliche Frau wie Philippa dazu veranlaßt haben könnte, sich in einen alten und lüsternen Ziegenbock zu verlieben, der es nicht lassen könne, dauernd hübschen Schmusemiezen nachzustellen. Dr. Rumpler gab sich größte Mühe, alle diese Fragen zu beantworten, schwitzte ausgiebig und versuchte, sich mit Brandy und Soda zu trösten – obgleich Mama Schimmelhorn ihn darauf hinwies, das sei keineswegs
gesund, schade nicht nur seiner Leber, sondern hebe auch den Choleste rinspiegel des Blutes, was zu Verstopfungen in den Venen und Arterien führe. Manchmal führte Gottfried aus, er habe bereits alles mit dem Kleinen Anton besprochen, der ihr die Sache eigentlich hatte erklären sollen, und daraufhin entgegnete Mama Schimmelhorn schlicht, das ma che nichts, und er solle seine Erläuterungen ihr gegenüber einfach wie derholen. Hinzu kam zu allem Überfluß, daß der Psychiater, ein gewisser Doktor Nymphenburg, mit sehr fachmännisch klingenden Bemerkungen erste Diagnosen versuchte und damit alles noch komplizierter machte, als es ohnehin schon war. Fast ohne Unterbrechung setzte Mama Schimmelhorn das Verhör während des Fluges über den Atlantik fort, und als sie Lissabon erreichten, wußte sie fast ebensoviel über Klein Pa läon und die Prinzessin wie Dr. Rumpler. Sie war davon informiert, daß man auf der Insel irgendeine heidnische Religion praktizierte, daß man dort von fremden Besuchern nicht viel hielt und Fräulein von Hohen heim, bevor sie mit Papa Schimmelhorn zusammengetroffen war, in dem Ruf gestanden hatte, alle Männer zu hassen. Mama erachtete die ganze Angelegenheit daraufhin als ausgesprochen sonderbar. Vor allen Dingen entsprach nichts davon ihren Vorstellungen von dem schweizerischen Bankwesen, und sie verhehlte nicht ihre Verwunderung. Gottfried Rumpler pflichtete ihr bei. Er meinte, er bewundere ihren Scharfsinn, fügte jedoch höflich hinzu, auch die Umwandlung von Blei und Gold passe nicht ganz in dieses Schema, und außergewöhnliche Wagnisse verlangten eben außergewöhnliche Maßnahmen. Mama Schimmelhorn schnaubte. Sie habe Verdacht geschöpft, erwi derte sie, und er könne wirklich von Glück sagen, sie abgeholt und mit genommen zu haben, denn jedesmal, wenn sie Lunte gerochen hatte, sei es ihr gelungen, alles schnell unter Kontrolle zu bringen. Aggressiv hob sie den schwarzen Regenschirm und hielt ihn wie eine gefährliche Lanze. »Machen Sie sich kaine Sorgen!« erklärte sie. »Der alte Ziegenbock kann was ärläben. Windelwaich haue ich ihn, jawoll!« Am nächsten Tag in Lissabon kam es zu einer weiteren Verzögerung. Das Fahrgestell des Flugzeuges klemme an einigen Stellen, meinte der Pilot, und sie dürften den Start erst dann wagen, wenn alle notwendigen Kontrollen durchgeführt seien.
Auch auf Kreta verloren sie Zeit, da der gecharterte Helikopter auf sich warten ließ. Gottfried Rumpler, der gehofft hatte, am frühen Nachmittag des Tages, an dem die Opfer dargebracht werden sollten (wovon er na türlich nichts ahnte), den Schloßhof betreten zu können, sah sich ein weiteres Mal enttäuscht. Erst gegen neun Uhr abends erreichten sie die alte Feste. In dem hellen Schein des Mondes war das Anwesen schon von weitem zu erkennen, doch seltsamerweise schien sich in der Domä ne Fräulein von Hohenheims überhaupt nichts zu rühren, und nur hinter zwei Fenstern zeigte sich Licht. Der Pilot des Hubschraubers fragte, ob er denn wirklich landen und seine Passagiere absetzen solle, und Dr. Rumpler erwiderte verdrießlich: »Na klar! Und zwar sofort!« Sanft setzten sie auf. Der Pilot schaltete das Triebwerk ab. Sie stiegen aus, wobei Mama Schimmelhorn stolz sowohl die Hilfe des Piloten als auch die des Bankiers ablehnte. Niemand kam, um sie zu begrüßen. Sie warteten. Nach einigen Minu ten sahen sie einen einzelnen hochgewachsenen Mann, der ihnen über den Schloßhof entgegenkam. Er blieb stehen, starrte sie mißbilligend an und teilte ihnen auf griechisch mit, sie seien widerrechtlich gelandet. Der Pilot des Helikopters übersetzte. »Widerrechtlich?« rief Gottfried Rumpler in dem Tonfall, den er für ge wöhnlich in seiner Funktion als Oberst der schweizerischen Heimwehr benutzte. »Ich bin der Geschäftspartner Fräulein von Hohenheims. Ich bin ebenfalls der Arbeitgeber Schimmelhorns, und bei der Dame in mei ner Begleitung handelt es sich um Frau Schimmelhorn. Haben Sie ver standen, Herr Mavronides – ich nehme doch an, Sie sind Herr Mavroni des, oder? Wir kamen hierher, um nach dem Rechten zu sehen. Ich ver lange, sofort das Fräulein sprechen zu können!« »Die Prinzessin ist nicht hier. Sie kümmert sich anderenorts um Dinge von größter Bedeutung. Sie hat jetzt keine Zeit für Sie.« »Dann führen Sie uns zu Herrn Schimmelhorn!« »Das ist ebenfalls unmöglich.« Sarpedon Mavronides' dumpfe und un heilvolle Stimme wurde um eine ganze Oktave tiefer. »Seine Durch laucht, Prinz August, ist verschwunden. Seit dem Abendessen wird er
vermißt, seit dem Ende der Opferzeremonie vor drei Stunden. Ihre Ho heit ist außer sich. Sie sucht nach ihm, und alle Bewohner der Insel hel fen ihr dabei. Bisher jedoch konnten wir noch keine Spur von ihm fin den. Wir machen uns die allergrößten Sorgen um ihn!« »Viellaicht hat är sich davongeschlichen, um wieder nackten Frauen nachzuschtällen!« brummte Mama Schimmelhorn verächtlich. Und Sar pedon Mavronides, obzwar er sie so ansah, als habe sie sich gerade einer Majestätsbeleidigung schuldig gemacht, schätzte ihr Potential sehr genau ein und sah von einer Zurechtweisung ab. Niemand von ihnen erblickte die zweite Gestalt, die kleiner und schmaler war als Mavronides, jene Person, die gerade durch das Schloß tor in Richtung des Helikopters eilte, dann jedoch innehielt und hastig in die Schatten zurückwich. Meister Kaspar Gansfleischs war nicht auf der Suche nach dem ver mißten Prinz. Und er hatte auch nicht mit der Ankunft eines Hub schraubers gerechnet, der nicht nur den Herrn Doktor Rumpler brachte, sondern auch Mama Schimmelhorn. Kaum war von der Prinzessin der Befehl erteilt worden, alle Bewohner Klein Paläons sollten nach Papa Schimmelhorn fahnden, hatte er seinen Wecker-Kommunikator aktiviert. Und eifrig erwartete der Alchimist Gäste von ganz anderer Art. Der Opfertag verstrich für Papa Schimmelhorn auf recht amüsante Wei se. Seine Prinzessin und er liebten sich und vergnügten sich mit der Her stellung von Gold. Während des Morgens und frühen Nachmittags gab es keine Zeremonien, die sie hätten ablenken können. Und als er schließ lich wieder die Rüstung anlegen mußte, um in der Kutsche die Opfer prozession anzuführen, war er fröhlich und machte sich nicht die gering sten Sorgen. Vor ihm stolzierten würdevoll die sechs milchweißen Och sen – symbolischerweise ritten nun Schloßbedienstete auf ihnen, die in der Küche arbeiteten –, und die silbernen Glocken an ihren Hälsen läu teten leise und hell. Hinter der Kutsche mit dem königlichen Paar folgte Ismail. Er fuhr den Kombi und zog einen gewaltigen mit Opfergaben gefüllten Tiefladeanhänger. Dann kam ein Lieferwagen mit einem weite ren Anhänger, woran sich einige auf ähnliche Weise beladene Karren mit Eselsgespannen anschlossen. Papa Schimmelhorn, der zumindest mit
geschlachteten Tieren und deren blutigen Kadavern gerechnet hatte, war enorm erleichtert festzustellen, daß alle Opfer fein säuberlich verpackt waren – ganz auf die Art und Weise wie die Steaks, die Mama Schim melhorn aus der von ihr bevorzugten Metzgerei holte. »Bist du überrascht, Liebling?« fragte die Prinzessin und lachte zärtlich. »Es besteht kein Grund dazu. Nach den Legenden wurden damals die Opfer direkt vor der Tür des Minotaurus geschlachtet und dann in die Kammer geschleppt, in der wir unsere Gaben zurücklassen. Oh, er nahm sie entgegen, war jedoch immer furchtbar zornig. Nach einer Weile warf er sowohl die Häute als auch all die anderen Dinge nach draußen, die er nicht brauchte, und dann fürchteten wir uns stundenlang aufgrund der gräßlichen Geräusche, die er machte. Ja, ganz Paläon bebte dann aus Angst vor seiner Wut. Teile von menschlichen Opfern behielt er nie, und daraus schloß man, daß er ihren Geschmack nicht mochte. Daraufhin änderte man das Menü. Und wir machten es uns zur Angewohnheit, alle Dinge einzuwickeln, an denen er Gefallen fand. Das erschien uns als vernünftig.« Die Prozession bewegte sich recht langsam, und die Teilnehmer stimmten fröhliche Lieder an. Nach einer Weile erreichten sie ein Kalk steinportal, das aus dem Hügel herausragte, und der Blick Papa Schim melhorns fiel auf ein altes, bronzenes und mit grüner Patina überzogenes Tor. Dort wartete Kaspar Gansfleisch zusammen mit einigen der Schloßbediensteten auf sie. Unterwürfig kniete er sich nieder, als die Kutsche heranrollte und vor ihm anhielt. Er bot der Prinzessin seinen Rücken als Stufenersatz an. Und er gab einen dumpfen bewundernden Schrei von sich, als Papa Schimmelhorn seine Philippa in die Arme nahm und mit ihr aus der Kutsche sprang. Fräulein von Hohenheim bedachte den Alchimisten mit einem he rablassenden Nicken. Sie trat an das Tor heran, schloß es mit einem gro ßen bronzenen Schlüssel auf und öffnete es weit, woraufhin die versam melten Bewohner der Insel ehrfurchtsvoll seufzten. Mit heller und klarer Stimme richtete Philippa einige Worte an den Minotaurus. Sie pries ihn auf altgriechisch, rühmte seine Macht und Würde. Sie bat ihn darum, das Vieh Klein Paläons mit Fruchtbarkeit zu segnen, das Getreide hoch wachsen zu lassen und den Familien viele Söhne und Töchter zu ermög lichen, sie vor Zank und Hader zu bewahren, vor Krankheit und Elend.
Sie ersuchte ihn, die wenigen und mit aller Demut dargebrachten Opfer anzunehmen. Und Sarpedon Mavronides flüsterte eine Simultanüberset zung in des Prinzen Ohr. Der Prinz spähte in die Kammer. Sie war groß; und während der Bo den aus Fliesen bestand, formten sich die Wände aus kaltem Kalkstein. Er erblickte dunkle Korridore und Gänge, die tiefer in das Innere des Hügels führten. Unter der Aufsicht Mavronides' begannen die Bewohner der Insel damit, die Opfergaben in der Kammer unterzubringen, und mit aller Sorgfalt wurden sie an den Wänden aufgestapelt. Als diese Arbeit beendet war, erhob erneut die Prinzessin ihre Stimme und wiederholte all das, was sie schon zuvor gesagt hatte. Im Anschluß daran schwang sie das Tor zu und verriegelte es, und als sie in Richtung Kutsche zurückging, verneigte sie sich mehrmals. Ein freudiger Ruf wurde laut, als Papa Schimmelhorn sie zum zweitenmal mit seinen star ken Armen in die Höhe hob, und dann kehrte die Prozession in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war. Es war fast Abend, und ein sanfter warmer Wind wehte. Die Prinzessin rückte näher an ihren Prinzen heran. Mit der einen Hand zupfte sie spie lerisch am Saum des kurzen Ziegeniederrocks. »Und nun, mein Held«, sagte Philippa sanft, »begeben wir uns wieder in unsere Gemächer. Noch einmal werden wir uns lieben. Dann speisen wir zusammen, und ich er kläre dir die Rolle, die du übernehmen mußt, die größte, bedeutendste und ehrenvollste Rolle überhaupt – heute nacht, wenn der Vollmond aufgegangen ist.« »Ach!« seufzte Papa Schimmelhorn, und Saft und Kraft in ihm began nen zu brodeln, als er daran dachte, wie viele Rollen er bereits gespielt hatte. »Ich kann äs kaum ärwarten!« Sie kehrten ins Schloß zurück. Sie liebten sich, und Papa Schimmel horn gewann dabei den Eindruck, daß Philippa sich mit einer selbst nach ihren gehobenen Maßstäben nachgerade erstaunlichen Leidenschaft an ihn schmiegte. In ihren herrlichen Augen glühte Hingabe, und auf ihren wundervollen Lippen brannte das Feuer des Verlangens. Anschließend bestand Fräulein von Hohenheim darauf, daß er sich er neut die Rüstung überstreifte – wobei er natürlich auf den Helm verzich ten konnte –, bevor sie zusammen dinierten. Nach einer ganzen Weile
sah ihm Philippa liebevoll in die Augen und meinte: »Ach, Schatz, mein Held, die Zeit ist nahezu gekommen! Um Mitternacht beginnt der vierte Tag, und alle Zeichen und Omen sind günstig. Jetzt kann ich dir endlich sagen, was von dir erwartet wird, wie du die größte aller Heldentaten in der langen Geschichte Klein Paläons vollbringen sollst!« Papa Schimmelhorn war verwirrt und bedachte seine hübsche Schmu seprinzessin mit einem fragenden Blick. Sie ergriff seine Hände. Sie stand auf und zog ihn ebenfalls in die Hö he. »Um Mitternacht«, sprach Philippa feierlich, »kehren wir zu der Op ferpforte zurück, nur du und ich und Sarpedon Mavronides, und dann werde ich das Tor erneut aufschließen und öffnen. Und dann, mein Prinz und Held, mein Liebling und Schatz… dann wirst du, mutig und tapfer und tollkühn, wie du bist, als der Halbgott, als den wir dich alle kennen, in das Labyrinth schreiten und den gräßlichen Minotaurus zu einem Kampf auf Leben und Tod herausfordern!« Papa Schimmelhorn starrte sie groß an. Die Kinnlade klappte ihm her unter. Er schluckte und gab einen krächzenden Entsetzenslaut von sich. Fräulein von Hohenheim umarmte ihn glücklich. »Seit tausend Jahren«, erklärte sie triumphierend, »hat es kein Mensch mehr gewagt, sich dem Unhold zu stellen! Du aber wirst gegen ihn kämpfen – ihn besiegen und töten! Ach, und ich zweifle nicht an deinem Erfolg! Aber wenn die Göt ter ein anderes Schicksal für dich bestimmt haben – ich halte das jedoch für sehr unwahrscheinlich –, so bringen wir zu deinem Gedenken viele Opfer dar, und dein Name wird hier auf Klein Paläon niemals in Verges senheit geraten.« »Schätzchen«, keuchte Papa Schimmelhorn und schnappte nach Luft, »das… das soll doch wohl ain Schärz sain, nicht wahr?« Philippa sah ihn an, und sie wirkte sowohl ein wenig erstaunt als auch verletzt. »Es dürfte wohl eher so sein, daß du zu scherzen beliebst, oder?« hielt sie ihm entgegen. »Wenn du nicht den Minotaurus zum Kampf herausforderst und besiegst, wie könnte ich dir dann erlauben, zum Va ter meiner Söhne zu werden?« Papa Schimmelhorn scharrte verlegen mit den Füßen. »Ja, ja«, brachte er unsicher hervor, »das hatte ich ganz värgässen. Und… und äs muß
unbedingt heute nacht sain?« Er rang sich ein schiefes Lächeln ab. »Be vor wir uns erneut lieben können?« »Heute nacht!« bekräftigte die Prinzessin. »Denn heute nacht ist Voll mond! In knapp einer Stunde geht's los!« Sie reichte ihm den Helm. »Hier, setz ihn dir auf dein nobles Haupt und nimm auch den Speer.« Nach und nach kam Papa Schimmelhorn zu dem ihn sehr beunruhi genden Schluß, daß es Philippa vollkommen ernst meinte, daß er in einer knappen Stunde auf ihr Geheiß hin den Kampf gegen ein schreckliches Ungeheuer aufnehmen sollte, das mehr als drei Meter groß war, viertau send Jahre Zeit hatte, um sich alle möglichen Tricks einfallen zu lassen, überflüssigerweise auch noch über spitze Hörner und Klauenfinger ver fügte und… Er war kein Feigling. Mit der Zeitmaschine, die er für seinen alten Freund General Pollard gebaut hatte, war er in die Vergangenheit gereist, um zu beobachten, wie die barbarischen Mongolen über die abendländi sche Zivilisation des Westens herfielen, und auch den blutigen Schlacht feldern Waterloos hatte er einen Besuch abgestattet. Zusammen mit Mama und Gustav-Adolf hatte er die Entführung durch die großen Raumfahrerinnen überlebt, die von einer Welt stammten, die von seiner Frau Betaigäuse Neun genannt wurde, war nur um Haaresbreite dem grausamen Schicksal einer Kastration entgangen. Doch der Grund für all diese Abenteuer war keineswegs eine freie Entscheidung seinerseits ge wesen. Papa Schimmelhorn sah sich als Liebhaber und ganz entschieden nicht als Krieger. Er verspürte überhaupt nicht den Wunsch, sich auf einen Kampf mit dem Minotaurus einzulassen. Er schluckte erneut und sprach den ersten Gedanken aus, den sein Un terbewußtsein ihm nahelegte. »Aber, Schätzchen, maine klaine Philli, zuärscht muß ich in mainen Turm zurück und dän lieben GuschtavAdolf füttern. Är ischt ja so ain guter Kater. Dänk nur daran, wie är Zuckgalgen ärlädigte. Und… und…« Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Und wann die Götter, wie du vorhin sagtescht, viellaicht dän Minotaurus gäwinnen lassen, dann möchte ich mainem GuschtavAdolf noch unbedingt sagen, wie gärn ich ihn mag!« Philippa musterte ihn bewundernd. »Ach!« entfuhr es ihr anerkennend. »Obgleich du bald ausziehst, um für mich und unsere Söhne dein Leben
zu riskieren, denkst du doch noch an deinen armen Kater. Wie nobel von dir! Wie ehrenvoll! Das paßt zu dir, Liebling. Nun, so geh denn – während ich mich angemessen kleide. Doch kehre rasch zu mir zurück, denn erinnere dich: Es bleibt uns kaum mehr eine Stunde!« Papa Schimmelhorn küßte sie mit all der Leidenschaft, die er jetzt noch aufzubringen vermochte und die sich nicht annähernd mit der verglei chen ließ, durch die er sich für gewöhnlich auszeichnete. Er trat in den Flur und schritt rascher aus, um innerhalb kurzer Zeit eine möglichst große Entfernung zwischen sich und die Prinzessin zu bringen. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wohin er fliehen sollte. Von nur einem Wun sche beseelt, offerierten ihm seine Gedanken alternative Vorstellungsbil der und Ideen. Sollte er an den Strand rennen, sich in die Meeresfluten werfen und nach Kreta schwimmen, wo er als ausländischer Prinz viel leicht politisches Asyl bekam? Oder war es besser, irgendein Versteck im Schloß zu suchen, einen Schlupfwinkel, in dem ihn nicht einmal die Prinzessin finden würde? Möglicherweise, so überlegte er, konnte er sich auch im Wald verbergen? Oder unter das Stroh im Stall eines armen Bauern kriechen? Keiner dieser Einfälle erschien ihm besonders prakti kabel, und als er zunächst durch einen Flur stürmte und dann einen an deren, fiel ihm plötzlich die Bitte Humphreys ein. Warum auch nicht? dachte er. Där Hom-onkel-lus ischt sähr alt und geschah. Viellaicht waiß är Rat. Er eilte in den obersten Stock, lief durch den Korridor, schlidderte um die Ecke – und wäre fast auf Meister Gansfleisch geprallt, der gerade die Tür seines eigenen Turmquartiers schloß. Während Papa Schimmelhorn noch bremste, wich der Alchimist zu rück und verneigte sich tief. »Großer Prinz!« winselte er, und seine Stimme brachte aufrichtige Sorge zum Ausdruck. »Was führt Sie hierher? Meine Güte, Sie sehen ja aus, als sei Ihnen der Teufel höchstpersönlich begegnet! Sie sind ganz blaß! Gibt es irgend etwas, das ich, Ihr untertä nigster Diener, Ihr ergebenster Lakei, für Sie tun könnte?« Papa Schimmelhorn musterte ihn. Seit seinem öffentlichen Reuebe kenntnis war Meister Gansfleisch betont zuvorkommend und höflich gewesen. Er hatte sich die größte Mühe gegeben, selbst die einfachsten und unwichtigsten Arbeiten mit enormer Sorgfalt zu erledigen und allen königlichen Wünschen zu entsprechen. Plötzlich sah er ihn nicht mehr
als einen einstigen Todfeind, sondern, zumindest zeitweise, einen poten tiellen Verbündeten. Er gab die Absicht auf, Humphrey um Rat zu fra gen. Er versuchte, wieder einigermaßen zu Atem zu kommen, und er erzählte das, was ihn so sehr bewegte. Meister Gansfleisch hörte ihm in ungläubigem Erstaunen zu, und es gelang ihm nur sehr schwer, sich sein Entzücken und seine Aufregung nicht anmerken zu lassen. »Und däshalb«, schloß Papa Schimmelhorn, »värsuche ich zu fliehen! Äs liegt mir gar nichts daran, dän armen Minotaurus zu töten, und ich will auch nicht von ihm umgebracht wärden! Aber… aber wo soll ich mich nur värbärgen? Auf där ganzen Insel gibt äs kain Värschtäck für mich! Maine klaine Philli würde mich überall finden…« »Bitte, bitte, Euer Hoheit, Euer Hochwohlgeborene Durchlaucht!« Meister Gansfleisch streckte die Hand aus, um ihn am Arm zu berühren, und Papa Schimmelhorn wich nicht einmal zurück. »Ich kann ja so gut verste hen, wie Sie sich fühlen! Der Minotaurus würde Sie in Stücke reißen.« Hinterlistig kniff er die Augen zusammen. »Nun, Hoheit, Sie sind sehr freundlich zu mir gewesen. Sie haben mir sowohl den Neid als auch die Eifersucht verziehen. Ich kann Ihnen ein Versteck zeigen. Immerhin müssen Sie sich ja nur einige wenige Stunden verbergen.« »Und dann?« fragte Papa Schimmelhorn kummervoll. »Was soll ich nur machen, wänn die Prinzässin dahinterkommt?« »Ach, das spielt dann keine Rolle mehr. Sie dürfte bestimmt recht un gehalten sein – daran zweifle ich nicht. Aber denken Sie daran, daß sie an Ihnen hängt, daß sie bis über beide Ohren in Sie verliebt ist! Sie wird Ihnen bestimmt vergeben. Und dann muß sie sich bis zum nächsten Vollmond gedulden, um Ihnen erneut einen Kampf gegen den Minotau rus vorzuschlagen. Und in der Zwischenzeit schaffen Sie es vielleicht, sie davon zu überzeugen, daß den Göttern nichts an einer solchen Konfron tation gelegen ist. Ja, das wäre doch ein vortreffliches Argument, nicht wahr? Sie verschwinden, und wenn Sie nach einer Weile zu der Prinzes sin zurückkehren – wenn Ihnen keine Gefahr mehr droht –, behaupten Sie, von den Göttern selbst entführt und… ja, auf den Olymp gebracht worden zu sein, wo sie Ihnen den Rat gaben, den Minotaurus in Ruhe zu
lassen. Und die Gebieterin wird es bestimmt nicht wagen, sich einer gött lichen Verordnung zu widersetzen!« »Aber wo?« fragte Papa Schimmelhorn flehend. »Pscht!« Meister Gansfleisch hielt sich einen knöchernen grauen Zeige finger vor die Lippen, und auf recht eindrucksvolle Art und Weise warf er vorsichtige Blicke in diese und jene Richtung. »Ich kenne ein geeigne tes Versteck – einen Ort, an dem man Sie bestimmt nicht suchen wird.« Er senkte die Stimme. »Er befindet sich am Hügel des Labyrinthes, auf der anderen Seite, nicht sehr weit entfernt. Und Sie können dorthin ge langen, ohne gesehen zu werden, in dem Sie über den Strand eilen und sich dabei im Schatten der Klippen halten, und dann folgen Sie dem Ver lauf des Pfades, der an den Büschen vorbeiführt. Nur ich habe den Schlüssel und lasse Sie ein.« Er zögerte, und als er weitersprach, ließ er seine Stimme noch sorgenvoller klingen. »Aber wenn ich Ihnen helfe, Hoheit, so müssen Sie mir versprechen, niemandem etwas davon zu sagen. Und könnten Sie bei ihr ein gutes Wort für mich einlegen, nach dem Sie zurückgekehrt sind und sie nicht mehr böse ist? So daß ich mein Laboratorium wieder voll nutzen kann? Wollen Sie Ihrem untertänigen Diener diesen kleinen Gefallen erweisen, Erlauchte Hoheit?« Ihre Hoheit, der Prinz, der derzeit alles versprochen hätte, um sich in ei nem sicheren Versteck verbergen zu können, versprach dem Alchimisten eifrig, diesen Wünschen überaus wohlmeinend zu entsprechen. »Gut, warten Sie eine Sekunde, nur einen Augenblick!« Meister Gans fleisch war kaum mehr dazu in der Lage, seinen Triumph angesichts der Entwicklung der Dinge nicht offen zu zeigen; er hastete die Treppe in seinen Turm hoch, holte den bronzenen Schlüssel aus dem Sicherheits fach, nahm sich nur einen Sekundenbruchteil Zeit, um hämisch zu ki chern, und eilte sofort zu Papa Schimmelhorn zurück, der mit einem erleichterten und dankbaren Seufzen auf die Bemühungen des Alchimi sten reagierte. »Ja, ja! Bestimmt erreichen Sie das Ziel, ohne gesehen zu werden! Zwar ist inzwischen der Mond aufgegangen, aber die Nacht hält dennoch ge nügend Schatten bereit, in denen man sich verbergen kann. Hoheit, su chen Sie umgehend den Strand auf. Sie wissen doch, welche Richtung Sie einschlagen müssen?«
Das wußte Papa Schimmelhorn in der Tat, denn mehr als nur einmal hatte er jenen Weg zusammen mit Niki und Emmy beschriften. »Natür lich!« antwortete er. »Ich ärinnäre mich gut daran. Und nachts hält sich dort niemand auf.« »Und kennen Sie auch den an den Büschen vorbeiführenden Pfad?« »Ja.« »Nun, wenn Sie ganz oben angelangt sind, müssen Sie sich nach links wenden. Gehen Sie durch das Dickicht, und dann sehen Sie die Tür nach wenigen Schritten direkt vor sich. Schließen Sie sie auf. Lassen Sie sie hinter Ihnen zuschwingen. Es dürfte dunkel sein – bei der Räumlichkeit handelt es sich um eine ehemalige Eremitenkapelle –, aber für einige wenige Stunden macht Ihnen das bestimmt nichts aus. Morgen früh dann, bei Tagesanbruch, dürfte genügend Licht hereinfiltern, so daß Sie sich orientieren und wieder zurückkehren können.« Meister Gansfleisch reichte den Schlüssel Papa Schimmelhorn, der ihn mit Tränen in den Augen entgegennahm und daran denken mußte, daß sich Humphrey gewiß irrte – daß der Alchimist nicht ganz so heimtük kisch und durchtrieben und gemein sein konnte, wie der Homunkulus behauptete –, und er nahm sich vor, ihm das bei der nächsten Gelegen heit zu sagen. Zwei Minuten später schlich er durch die Hintertür des Schlosses nach draußen und machte sich auf den Weg. Es dauerte rund eine Dreiviertelstunde, bis er sein Ziel erreichte. Zweioder dreimal mußte er sich im Schatten verbergen. Einmal, weil er auf ein Liebespaar stieß, das jedoch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um seine Anwesenheit zu bemerken, und ein anderesmal, um be trunkenen Fischern auszuweichen, die grölend auf dem Heimweg waren. So flink und geschwind wie möglich kletterte er am Hange des Hügels in die Höhe, dort, wo er den schmalen Pfad ausmachte. Oben angelangt, wandte er sich nach links und schob sich vorsichtig durch das Dickicht. Kurz darauf stieß er, wie von Meister Gansfleisch versprochen, auf die Tür, die im hellen Schein des Mondes deutlich zu erkennen war. Sie be stand aus Metall, aus Messing oder Bronze, war zur großen Erleichterung Papa Schimmelhorns jedoch kleiner und schmaler als die Opferpforte. Er schob den Schlüssel ins Loch. Er drehte ihn. Er trat ein. Hinter sich
ließ er das Tor zuschwingen und hörte, wie das Schloß klickend zu schnappte. Dann gab er sich einen Ruck und machte zwei Schritte in die Finsternis… Ohne irgendeine Vorwarnung rutschten die Beine unter ihm weg, und von einem Augenblick zum anderen glitt er über einen sehr abschüssigen und glatten steinernen Untergrund in die Tiefe. Aus einem Reflex heraus versuchte er, sich irgendwo festzuhalten und den Sturz abzubremsen, doch seine Hände tasteten nur über wie poliert wirkenden Fels. Dann, ebenfalls ganz plötzlich, veränderte sich die Bodenneigung wieder in die Waagerechte. Papa Schimmelhorn rutschte noch einige Meter weit und stieß gegen eine Wand, die er in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Er hörte, wie ihm der Speer durch den Schacht folgte, und er traf ihn am Allerwertesten, dicht unterhalb des Ziegeniederrockes – glücklicherweise mit dem stumpfen Ende. Eine Zeitlang rührte er sich nicht von der Stelle, saß einfach nur still da und wartete darauf, daß sich seine Augen an die Finsternis gewöhnten. Nach einer Weile machte er die Feststellung, daß die Schwärze um ihn herum keineswegs absolut war. Vor sich nahm er ein diffuses Glühen wahr, vage und verschwommen. Es schien seinen Ursprung in der Kalk steindecke des Tunnels zu haben, in dem er sich befand, und in nicht all zuweiter Ferne konnte er die gähnenden Zugänge weiterer Korridore er kennen, dunkel und unheimlich. Langsam stand er auf. Irgendwo in dem grauschwarzen Zwielicht erklangen unheilverkündende Geräusche, ein leises Stöhnen, ein dumpfes Kratzen und Schaben – so als vergnügten sich Zuckgalgen und alle seine großen und kleinen Rattenfreunde zusammen mit der unkonventionellsten aller derzeitigen Punkrock-Gruppen, um in aller Deutlichkeit zu zeigen, was wirkliche Disharmonie war. Papa Schimmelhorn lauschte. Noch immer wie benommen beobachte te er seine Umgebung. Vorsichtig näherte er sich dem ersten schwarzen Tunnelzugang, blickte hinein und stellte fest, daß weitere Gänge von ihm abzweigten. Und dann plötzlich begriff er, daß man ihn betrogen hatte – auf eine besonders hinterhältige und gefährliche Art und Weise. »Maine Güte!« krächzte er mit einer Stimme, die einer klassischen griechischen Tragödie mehr als angemessen war. »Ich bäfinde mich im Labyrinth!«
Sein Blick huschte hierhin und dorthin und suchte nach einem mögli chen Fluchtweg. Es gab keinen. Und in der Ferne, trotz der Kakophonie des Stöhnens und Kratzens, vernahm er noch weitaus unheilverkündendere Laute, Geräusche von viel erschreckenderer Qualität: das dumpfe Pochen schwerer Schritte, die sich ihm näherten, immer mehr näherten und hohl von den Wänden widerhallten, während klauenartige Zehen über den Stein des Bodens schabten – und unmittelbar darauf hörte der arme Papa Schimmelhorn ein donnerndes Gebrüll, das sich anhörte, als werde es von einer Mi schung aus einem zornigen Löwen und einer Kettensäge erzeugt. Er drehte sich um. Er lief ein Dutzend Schritte weit, bevor er sich klarmachte, wie wenig Sinn ein Fluchtversuch hatte. Das Geräusch der wuchtigen Schritte und das kehlige Röhren wurden lauter und immer lauter, bis schließlich das gesamte Labyrinth in diesem apokalyptischen Takt zu vibrieren schien. Papa Schimmelhorn erstarrte. Seine aus den Höhlen tretenden Augen starrten in den Kalksteintunnel. Die Konturen der Gestalt des Minotaurus' schälten sich aus der Dun kelheit. Zuerst war er nur ein riesenhafter Schatten inmitten der Sche men. Dann sah Papa Schimmelhorn deutlich, daß das Ungeheuer tat sächlich mehr als drei Meter groß war, nicht nur spitze Hörner hatte, sondern auch gräßliche Klauen, daß das Monstrum die Arme ausstreckte, um mit den langen Krallen ein Opfer zu packen und in Stücke zu reißen. Es trug ein mit kostbaren Edelsteinen verziertes Kreuzbandelier und sonst nichts, und die offensichtliche Männlichkeit des Wesens war sehr beeindruckend in ihren Ausmaßen. Papa Schimmelhorn schluchzte und rief sich die schweizerischen Pi kenträger ins Gedächtnis zurück, die vor langer Zeit die hochmütigen Ritter Österreichs und Spaniens das Fürchten gelehrt hatten. Er bereitete sich darauf vor, sein Leben so teuer wie möglich zu verkaufen, und er versuchte sich daran zu erinnern, wie die damaligen Helden ihre Speere gehalten hatten. Brüllend kam der Minotaurus heran. Papa Schimmelhorn starrte ihn groß an – und ließ den Speer fallen.
10
Unter den Vermißten
Mama Schimmelhorn wußte nur wenig von Labyrinthen und Minotau ren, kannte dafür aber ihren Mann sehr gut und war weder überrascht noch besorgt über die Nachricht seines Verschwindens. Sarpedon Ma vronides bewährte einen kühlen Kopf und leitete sofort die nötigen Schritte in die Wege, um Mama daran zu hindern, sich mit der Prinzessin auf eine Auseinandersetzung einzulassen oder sich über die tatsächlichen Risiken klarzuwerden, denen sich ihr Mann ausgesetzt sah. Er wandte sich ihr zu und verneigte sich tief. »Höchst verehrte Dame«, sagte er, »diese Insel ist voller Gefahren. Die Klippen sind hoch und steil, und im Meer gibt es viele Strudel. Der Prinz… äh… ich meine, Ihr werter Gatte, fand des öfteren Gefallen daran, allein Spaziergänge im Mondschein zu unternehmen…« Mama Schimmelhorn gab ein abfälliges Schnauben von sich. »… oder in der Brandung zu schwimmen. Und obgleich er ein sehr kräftiger Mann ist, haben wir uns natürlich Sorgen um ihn gemacht. Diesmal jedoch gibt es nichts, was Sie tun könnten, um ihm oder denen zu helfen, die nach ihm suchen. Erlauben Sie mir, Sie in seinen Turm zu geleiten, in das Quartier, das er bisher bewohnte, wo Sie sich nach der sicher recht anstrengenden Reise etwas erfrischen können? Wenn Sie möchten, schicke ich Ihnen ein Dienstmädchen, das Ihnen Tee und Kekse bringt. Ruhen Sie sich einfach aus, bis wir wissen, was aus Ihrem Mann geworden ist.« »Ich bin nicht müde«, erwiderte Mama Schimmelhorn. »Aber meine liebe Frau Schimmelhorn«, warf Doktor Nymphenburg ein und schloß zu ihr auf, »wäre das nicht doch eine gute Idee? Wenn die Leute Ihren werten Gatten gefunden haben, so wissen sie, wohin sie ihn bringen müssen.« Sie musterte den Psychiater mit einem verächtlichen Blick und haßte es zuzugeben, daß er in diesem Punkt möglicherweise recht hatte. Sie
schloß die rechte Hand fester um den schwarzen Regenschirm und zö gerte. »Ja«, sagte Mavronides, »und wenn er zurückkehrt, können Sie ihn trö sten, vor allen Dingen dann, wenn er sich verletzt haben sollte. Außer dem machen wir uns gerade deshalb solche Sorgen um ihn, weil er heute seinen Kater noch nicht gefüttert hat, und das versäumte er noch nie.« »Sie mainen, Guschtav-Adolf befindet sich in däm Turm?« fragte sie. »Ja, Madame.« Sie ließ die metallene Spitze des Regenschirms zum Ausdruck der Ent schlossenheit auf den Stein pochen. »Dieser alte Ziegenbock!« schnappte sie. »Das muß man sich ainmal vorschtällen! Füttert nicht ainmal dän armen Guschtav-Adolf. Empörend ischt das, jawoll! Nun gut, dann gähe ich äben hoch und warte dort auf ihn, und auch aine Tasse Tee wäre nicht schlächt, viellaicht mit ainem Schuß Grappa. Und Guschtav-Adolf würde sich beschtimmt über ain großes Schtück rohe Läber freuen.« »Ich zeige Ihnen den Weg«, bot sich Mavronides diensteifrig an. Er wandte sich an Dr. Rumpler, der die ganze Zeit über wütend vor sich hingebrummt hatte. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Doktor. Ich komme sofort zurück. Was halten Sie davon, wenn Sie und Ihre Assistenten der Prinzessin den Gefallen erwiesen, mit ihrem prächtigen Helikopter bei der Suche zu helfen?« Dr. Rumpler runzelte die Stirn. Er meinte, er würde sich natürlich freuen, die Fahndungsaktion auf diese Weise unterstützen zu können. Er gab Mavronides die Anweisung, sich zu beeilen. »Vielleicht wäre es auch angebracht«, fügte der Grieche hinzu, »zu nächst zu versuchen, die Prinzessin zu finden, so daß Sie mit ihr spre chen können.« Mama Schimmelhorn schnaubte erneut, doch als sich Mavronides vor ihr verbeugte und sie höflich darum bat, ihm zu folgen, kam sie seiner Aufforderung ohne zu murren nach. Kaum waren sie im Turm angelangt, setzte sich der Grieche mit der Küche in Verbindung, sprach mit einem Dienstmädchen, das noch nicht Feierabend gemacht hatte, und forderte sowohl Tee und Kekse als auch Grappa und rohe Leber an. Unterdessen streichelte Mama Schimmel
horn ihren lieben Gustav-Adolf und ließ sich von ihm auf katz mitteilen, auf welche schändliche Weise man ihn mit seinem kleinen weißen Kätz chen allein gelassen hatte. Er betonte, Papa Schimmelhorn hätte sich nicht einmal von ihm verabschiedet. Die nächsten Minuten widmete Mama sowohl den beiden Katzen als auch einer eingehenden Inspektion des Turmquartiers, wobei sie insbesondere nach Hinweisen auf eine weibliche Präsenz Ausschau hielt. Im Schloßhof dröhnten die Rotormo toren des Helikopters, als der Hubschrauber erneut startete. Kurz darauf kam der Tee, und Mama wies das Dienstmädchen an, das Tablett auf dem kleinen Tisch abzustellen, auf dem Papa Schimmelhorn für gewöhnlich seine Gespräche mit dem Homunkulus geführt hatte. Sie nippte an dem Tee, knabberte an den Keksen, fütterte Gustav-Adolf und seine schnurrende Freundin und ließ sich in aller Ausführlichkeit über die zahllosen Verfehlungen ihres Mannes aus. Sie war so sehr damit beschäftigt, daß einige Zeit verging, bevor sie ei ne dünne, schwache Stimme bemerkte. »Was ischt dänn das?« fragte Mama Schimmelhorn und runzelte die Stirn. »Hat Papa viellaicht irgändwo ain Radio oder ainen Färnsäher ain geschaltet gelassen?« Sie horchte. Es handelte sich tatsächlich um eine Stimme, eine leise, recht hohe und fast schrill klingende Stimme, die ganz deutlich rief: »Hil fe. Hilfe! Hilfe.« »Wo bischt du?« fragte Mama. Es hörte sich ganz so an, als habe die Stimme ihren Ursprung irgend wo hinter dem Kamin, und Mama holte das Hörrohr aus ihrer schwar zen Handtasche – ein Instrument, das sie nur gelegentlich benutzte, in erster Linie dazu, ihren Mann durch eine geschlossene Tür oder den Boden zu belauschen. Sie hielt es an den Marmor. »Ich flehe Euch an, werte Dame, helft mir!« bat die schwache Stimme. »Im Namen Gottes, ich beschwöre Euch! Ich dürste und verhungere, und mir schwinden bereits die Sinne. Der Prinz, der mich weiland immer sehr gut und mit großer Zuvorkommenheit behandelte, ist nun geflohen und hat mich allein hier zurückgelassen!«
»Ach so!« brummte Mama Schimmelhorn. »Als ob äs nicht schon schlimm gänug wäre, das är värgässen hat, die baiden Katzen zu füttern. Jätzt finden wir auch noch jemand anders!« »Mein Name ist Humphrey, werte Dame«, erklang die helle, dünne Stimme erneut, »und ich bin hier hinter dem Kamin gefangen, wo er mich zurückließ.« »Na schön«, entgegnete Mama Schimmelhorn. »Ich wärde glaich värsu chen, dich da rauszuholen. Viellaicht sollte ich dän Härrn Mafronidäs bitten, mit Hammer und Maißel zu kommen, damit wir ain Loch in die Wand hauen können.« »Das wird nicht nötig sein, Gott sei Dank!« antwortete die Stimme. »Ich befinde mich hier in einem Geheimfach. Wenn Ihr so gütig sein wollt, zwei Finger auf zwei bestimmte Stellen des Marmors rechts von Euch zu pressen, so müßte die Tür aufschwingen und mein Refugium offenbaren.« Nach kurzer Suche fand Mama Schimmelhorn die beiden Stellen, die die Stimme erwähnt hatte; sie waren deutlich auf der Marmorfläche zu sehen. Kurz darauf erblickte sie Humphrey. Der arme Homunkulus stand auf seinem winzigen Stuhl und war krampfhaft bemüht, sich am Rande seines Glases festzuhalten. »Was ischt dänn das?« entfuhr es Mama Schimmelhorn. »Ain klainer Mann! Noch winziger sogar als die von Betaigäuse Neun! Was soll man dänn davon halten?« »Bitte laßt mich raus!« flehte Humphrey. »Die Flüssigkeit in diesem Glas wird Euch nicht auf der Haut brennen und auch nicht Eure Hände benetzen. Oh, ich bitte Euch inständig, befreit mich aus dem Glas und laßt mich auf meinem Stuhl Platz nehmen, denn ich habe Euch viel zu erzählen!« »Na gut«, sagte Mama Schimmelhorn. »Mach dir kaine Sorgen – värlaß dich ganz auf Mama.« Sie zog das Glas aus dem Geheimfach. Sie stellte es auf den Tisch. Sie griff in die Nährflüssigkeit, die sie nicht einmal fühl te, und sie holte erst Humphrey daraus hervor und dann auch seinen Stuhl. Anschließend ließ sie den Homukulus Platz nehmen.
Humphrey beugte sich vor. Ganz vorsichtig und sanft berührte er mit seinen winzigen Händen die Finger Mama Schimmelhorns. »Bevor wir uns unterhalten… Ich bitte Euch, verliert keine Zeit und schließt und verriegelt so rasch wie möglich die Tür! Hier, in dieser heidnischen Feste, in der die Schwarzen Künste praktiziert werden und sie herrscht, darf niemand von mir erfahren. Sonst käme ich in tödliche Gefahr!« »Ich habe beraits abgeschlossen«, erwiderte Mama. »Das mache ich im Ausland immer.« Humphrey seufzte erleichtert. »Es war Euer gütiger und wohlmeinen der Gatte, der mich bisher beschützte«, erklärte der Homunkulus. »Und Eurem tapferen Kater habe ich die Rettung vor dem gräßlichen Ratten dämon Zuckgalgen zu verdanken…« »Ainen Augenblick; immer mit där Ruhe!« warf Mama ein. »Fang am bäschten mit däm Anfang an. Noch niemals zuvor habe ich ainen so klainen Mann gesähen. Wo wurdest du geboren?« Wieder seufzte Humphrey. »Ach!« antwortete er. »Werte Dame, ich kam ohne Geburt auf die Welt. Dieser alte und schwache Körper wurde vor vierhundert Jahren durch magische Beschwörungen geschaffen und diente als Falle für meine Seele, und ich möchte Eure zarten Gefühle nicht verletzen und keinen Abscheu in Euch wecken, indem ich Euch in allen Einzelheiten schildere, wie das bewerkstelligt wurde. Ich bin das, was Nekromanten und Thaumaturgen einen Homunkulus nennen…« Und im Anschluß daran erzählte er seine Geschichte, ganz auf die Weise, wie er schon Papa Schimmelhorn mit seiner Vergangenheit ver traut gemacht hatte. Mama Schimmelhorn war fasziniert von Humphrey, von seinem ver blichenen Wams, der abgetragenen und an mehreren Stellen geflickten Hose, der vergilbten Halskrause, dem winzigen Bart. Zunächst konnte sie kaum glauben, was er ihr berichtete, doch die offensichtliche Aufrich tigkeit – und die unleugbare Tatsache der Existenz – des Homunkulus' überzeugten sie. Als er ihr mitteilte, er ernähre sich nur von mit Honig gesüßtem Brandy, suchte Mama Schimmelhorn rasch die Cognacflasche samt dem Honigglas und schenkte ihm den Fingerhut gleich zweimal voll.
»Maine Güte!« entfuhr es ihr. »So ain langes Läben. Und wie interäs sant äs gewäsen sain muß! Wänn wir nach Hause zurückkähren, kommscht du viellaicht mit uns und schprichscht mit dän Frauen von där Kirche, ja? Äs würde sie beschtimmt freuen, daine Bekanntschaft zu machen.« Humphrey erwiderte, er sei Mama Schimmelhorn sehr dankbar für die ses sicher sehr wohlmeinende Angebot, doch sein einziger Wunsch be stünde entweder darin, nach England zurückzukehren, wo man ihn ins Leben rief, oder irgendwie in den interplanetaren Raum zu gelangen, wo er den Kerker des unerwünschten Körpers endlich verlassen könne. »Jetzt jedoch«, fügte er hinzu, »gibt es weitaus wichtigere Dinge, die Eu ren Gatten betreffen, den Meister Schimmelhorn – und auch mein schlechtes Gewissen. Immerhin ist es meine Schuld und nicht die seini ge, daß sich die Prinzessin Philippa, wie sie genannt wird, in ihn verlieb te…« Vom Schloßhof her vernahmen sie das Dröhnen eines Rotormotors. Der Hubschrauber setzte wieder zur Landung an, und kurz darauf war nur noch ein gedämpftes Summen zu hören. Humphrey brach verwirrt ab und lauschte. »Kaine Angscht!« sagte Mama Schimmelhorn. »Wänn sie hierhär kommen, värschtäcke ich dich auf där Schtälle. Ich mache mir kaine Sor gen um Papa. Är ischt schon so oft von zu Hause ausgerissen, und änt wäder habe ich ihn ärwischt, oder är kam fraiwillig zurück. Laß dich nicht aus där Ruhe bringen, und berichte mir auch dän Räscht.« Humphrey, der nun wieder zu Kräften gekommen zu sein schien, je doch noch immer recht unruhig war, setzte die Erzählung fort. Er be schrieb den ruhmvollen Triumph Gustav-Adolfs. Er schilderte die Ver zagtheit des armen Papa Schimmelhorns aufgrund des Verlustes seiner Manneskraft – und daß er, Humphrey, ihm aus Dankbarkeit das Rezept des Liebeselixiers verraten hatte. Er erläuterte auch die kataklysmischen Auswirkungen des Mittels auf das Fräulein-Prinzessin-Priesterin. »Und jetzt«, schloß er, »quält mich Tag und Nacht mein Gewissen, und bestimmt werde ich erst wieder zur Ruhe kommen, wenn man ihn ge funden hat. Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen, werte Frau Schimmelhorn, die besagen, daß auf dieser Insel ein Ungeheuer lebt, halb
Mensch, halb Tier – und so alt wie die Sünde. Wenn Ihrem Gatten etwas zugestoßen sein sollte, so werde ich es mir nie – nie – verzeihen. Ja, dann gebe ich mich für den Rest meiner Tage dem Kummer und der Ver zweiflung hin.« Mama Schimmelhorn kommentierte mögliche Gefahren, die ihrem Mann drohen mochten, mit einem Achselzucken. »Wann man ihn heute nacht nicht findet«, meinte sie, »dann mache ich mich morgen mit Guschtav-Adolf auf die Suche. Är ischt ain kluger Kater, und besch timmt gelingt äs ihm, Witterung aufzunähmen. Er wird Papa finden. So, und jätzt ärzähl mir noch mähr von däm Liebesäliksier und wieso äs so schnäll und nachhaltig wirkt.« Humphrey kam der Aufforderung nach. Er berichtete ihr, daß der Graf Cagliostro das Elixier für August den Starken zusammengebraut hatte, betonte die sofortige Wirkung und meinte, es reiche sogar aus, nur einen Atemzug davon zu nehmen. Er fügte hinzu, sicherlich hätte es weniger Schwierigkeiten und Verwicklungen gegeben, wäre von Papa Schimmel horn nur ein Tropfen – und nicht gleich drei! – der letzten Ingredienz hinzugefügt worden… »Ha!« machte Mama Schimmelhorn. »Där lüschterne alte Bock! Äs wundert mich, daß är sich nicht glaich für sächs Tropfen entschieden hat! Und was ischt mit däm Äliksier passiert? Wurde äs ganz aufge braucht?« »Oh, nein«, entgegnete Humphrey. »Meister Schimmelhorn benutzte kaum die Hälfte. Den Rest versiegelte er in einer kleinen Ampulle – von der Art, die man zwischen zwei Fingern zerbrechen kann.« »Wie interässant! Viellaicht will är das Wundermittel schpäter noch ainmal benutzen. Möglicherwaise zu Hause. Är sollte sich was schämen! Wo befindet äs sich jätzt?« »Ich hüte es in dem Geheimfach, das zu meiner neuen Zuflucht wur de.« »Viellaicht ischt äs bässer, ich nähme äs an mich und bewahre äs in mainer Handtasche auf…« – Mama lächelte – »… wo äs gewiß noch sichärer aufgehoben ischt.« Rasch griff sie nach der Ampulle, und in ih ren Augen funkelte es berechnend. »Wirkt das Äliksier nur auf Frauen?« erkundigte sie sich.
»Ach, es beeinflußt das emotionale Gleichgewicht aller menschlichen Wesen«, versicherte ihr Humphrey. »Und vermutlich würde sich sogar der Teufel in einen Engel verlieben, dränge ihm auch nur ein Hauch davon in die Nüstern. Es kommt nur darauf an, daß die Person, deren Liebe man erwecken will, einen ansieht. Niemals zuvor wurde ein magi sches Mittel hergestellt, das sich auf eine gleichzeitig so nachhaltige und subtile Weise auswirkt, das so mächtig und gräßlich ist.« Genau das, was mir där Arzt värschrieben hat, dachte Mama Schimmelhorn. Vorsichtig hüllte sie die Ampulle in ihr Taschentuch. Behutsam verstaute sie sie in einem ledernen Fach der Handtasche. »Liebe und werte Dame«, begann Humphrey alarmiert, »ich hoffe, Ihr habt nicht die Absicht, dieses schreckliche Mittel Eurem Gatten zu vera breichen? Er ist ein so gutmütiger und wohlmeinender Herr…« Mama schnaubte. »Papa? Das fiel mir überhaupt nicht ain! Ischt auch gar nicht nötig. Är liebt mich sait inzwischen mähr als sächzig Jahren. Das ainzige Probläm beschtäht nur darin, daß är, wie ich vorhin schon sagte, ain lüschterner alter Ziegenbock ischt. Wie däm auch sai: Bald machen wir däm ganzen Unfug mit däm Fräulain-Prinzässin-Soundso ain Ände, und ich ziehe Papa die Ohren lang und bringe ihn nach Nu Häffen zurück, wo ich ihn in sainer Källerwärkschtatt ainschließe und är am Sonntag in där Kirche singen muß.« Sie schenkte sich eine zweite Tasse Tee ein, würzte ihn mit einem Schuß Grappa und gönnte Humphrey einen dritten Fingerhutvoll mit Honig gesüßtem Brandy. Dann lehnte sie sich im Sessel zurück. »Und jätzt«, sagte sie, »könntescht du mir noch mähr von dainem Läben ärzäh len, von dän Orten, an dänen du gewäsen bischt, von dän Leuten, die du kännengelärnt hascht.« Und während Gustav-Adolf und seine Freundin es sich auf ihrem Schoß gemütlich machten und schnurrten, verstanden sich Mama und Humphrey immer besser. Sie berichtete ihm von Frau Laubenschneider und davon, wie sie Gustav-Adolf mit dem Halsband vor Geistern und Phantomen geschützt hatte. Sie schilderte ihm die vielen Verfehlungen Papa Schimmelhorns, und sie hörte aufmerksam zu, als Humphrey ihr von Königen und Kardinälen erzählte, von Erzbischöfen und Alchimi sten, deren Bekanntschaft er während seines langen Lebens gemacht
hatte. Er betonte, ihnen allen sei nur daran gelegen gewesen, sein Wissen zu nutzen, um sowohl ihre Habgier als auch ihren Ehrgeiz zu befriedi gen. In vielen Punkten vertraten Frau Schimmelhorn und Herr Hum phrey recht ähnliche Meinungen, und sie waren so sehr auf ihr Gespräch konzentriert, daß sie gar nicht bemerkten, wie der auf dem Schloßhof gelandete Helikopter lärmend zum zweitenmal startete. Es dauerte nicht lange, bis sowohl Mama Schimmelhorn als auch der Homunkulus leicht beschwipst waren, und Humphrey meinte, er habe sich nicht mehr so amüsiert, seit er von Dr. Dee in einem Hinterzimmer einer Taverne namens Schwan einem gewissen Ben Jonson vorgestellt worden sei. Er seufzte nostalgisch, und mit hoher, dünner Stimme sang er ihr traurig »Greensleeves« vor, worauf er das eine oder andere melan cholische Lied Thomas Campions folgen ließ. Ehrenwerterweise ließ es sich Humphrey nicht nehmen, Papa Schim melhorn als einen wahren Freund zu loben, einen Mann von geradezu erstaunlicher Güte, und mehrmals gab er seiner innigen Hoffnung Aus druck, es möge ihm nichts zugestoßen sein. Jedesmal antwortete Mama Schimmelhorn, er solle sich nur keine Sorgen machen. Nach einer weite ren guten Stunde bot Mama dem Homunkulus einen vierten Fingerhutvoll honigsüßen Brandy an, und als Humphrey protestierte und meinte, er würde sich noch vergiften, lachte sie leise und erwiderte: »Kaine Angscht, Härr Hamfri – schließlich brauchscht du dich nicht mähr ans Schteuer zu sätzen.« Kurz darauf war wieder Rotorhämmern zu vernehmen, als der Hub schrauber auf dem Schloßhof landete. Diesmal wurde das Pochen und Dröhnen nicht nur leiser, sondern verklang ganz. Stille schloß sich an. »Nun«, sagte Mama Schimmelhorn, »ob sie ihn wohl gefunden haben?« Humphrey gähnte. Zwei oder drei Minuten verstrichen. Und plötzlich klopfte es an der Tür. »Was ischt dänn?« fragte Mama, wünschte dem Homunkulus flüsternd eine gute Nacht und setzte ihn samt Stuhl eilig ins Glas zurück. »Frau Schimmelhorn«, ertönte die Stimme Mavronides'. »Wir haben Ih re Hoheit noch nicht gefunden… äh… ich meine Herrn Schimmelhorn. Jeder Winkel Klein Paläons wurde von uns abgesucht. Man könnte fast meinen, er hätte sich in Luft aufgelöst! Aber Ihre Hoheit, die Prinzessin
Philippa, weilt inzwischen wieder unter uns, und sie hat mir aufgetragen, Sie zu ihr zu bringen.« Rasch schob Mama Schimmelhorn das Glas mit Humphrey ins Ge heimfach zurück und schloß die getarnte Tür. »Na schön«, antwortete sie. »Ich bin schon unterwägs.« Sie entriegelte die Tür und öffnete sie. »Sie erwartet Sie unten im Hof«, sagte Mavronides. Prinzessin Philippa war nicht zu übersehen, und sie schien völlig außer sich zu sein. Sie stand einige Meter abseits einer kleinen Gruppe von Männern, die sich alle die größte Mühe gaben, sich hinter dem heroi schen Dr. Rumpler zu verstecken. Ihre Augen blitzten. Ihre Lippen wa ren geöffnet, und es sah aus, als blecke sie die wohlgeformten und perlweißen Zähne. Finster starrte sie Mama Schimmelhorn an, als sie heran kam. »Das mußten Sie mir also unbedingt bringen – eine alte Vogelscheu che!« schrie Fräulein von Hohenheim mit sich fast überschlagender Stimme. »Wagen Sie äs bloß nicht, so mit mir zu schprächen!« erwiderte Mama Schimmelhorn und trat auf die Prinzessin zu. »Sonscht macht nämlich Ihr Bauchnabel unliebsame Bekanntschaft mit mainem Rägenschirm!« Sarpedon Mavronides gab ein entsetztes Keuchen von sich. Und der ehrenwerte Dr. Nymphenburg hätte sich vor Schreck fast verschluckt. Fräulein von Hohenheim drehte sich wütend und abrupt um die eigene Achse und richtete den durchdringenden Blick der funkelnden Pupillen auf ihren Geschäftspartner. »Wie konnten Sie es nur wagen, Gottfried Rumpler? Ausgerechnet in der Nacht, in der mein Prinz, mein göttlicher Held, verschwunden ist? Was erdreisten Sie sich, diese… diese Kreatur in mein Schloß zu bringen, auf meine Insel?« Ganz dicht stand sie vor ihm, kaum einen halben Meter von ihm ent fernt, und ihr Blick brannte sich in ihn hinein. Und Mama Schimmelhorn verlor keine Worte mehr, trat mit zwei schnellen Schritten an die beiden Kontrahenten heran, hielt den Atem an und zerbrach mit der rechten Hand die Ampulle, direkt unter den Nasen der Prinzessin und des Herrn Doktor.
Das Fräulein erschauerte. Für eine endlose Sekunde stand es einfach nur da und schwankte. Dann preßte sich Philippa die Hände an die Stirn und wankte einige Augenblicke lang heftig vor und zurück. »Oh, was ist nur geschehen?« fragte sie seufzend. »Habe ich etwa geträumt? Haben Spinnen ein magisches Netz vor meinen Augen gewoben? Ich muß ver zaubert gewesen sein! In irgendeinen Bann geschlagen! Ach, Gottfried! Oh, herzallerliebster Gottfried! Es war ein Alptraum, jawohl! Ich hatte den Verstand verloren, fiel dem Wahn anheim! Was habe ich nur getan?« Dr. Rumpler riß verblüfft die Augen auf. Und es war, als sähe er das Fräulein Philippa nun zum erstenmal. »Meine Philippa!« entfuhr es ihm, und er streckte die Arme nach ihr aus. Schluchzend schmiegte sie sich an ihn. »Philippa! Meine liebe, liebe Philippa! Was immer du auch getan haben magst – es spielt nun keine Rolle mehr! Nichts ist jetzt mehr wichtig – nur noch die Tatsache, daß wir endlich zueinander gefunden haben!« »Dahinter… steckt bestimmt dieser lausige Kaspar Gansfleisch!« brachte Fräulein von Hohenheim unter Tränen hervor. »Dieser Wurm! Und der arme alte Mann namens Schimmelhorn… er ist verschwunden! Verschwunden! Gewiß wird man mich dafür verantwortlich machen.« »Är ischt gar nicht arm«, warf Mama Schimmelhorn finster ein. »Är hat ainen guten Dschob in där Kuckucksuhrenfabrik Hainrich Lüdesings, und wir haben auch ätwas auf die hohe Kante gelägt.« Das Fräulein wandte sich zu ihr um, und in seinen Augen schimmerte es feucht. »Liebe Frau Schimmelhorn, ich muß mich bei Ihnen für die Worte entschuldigen, die ich in meinem Wahn an Sie richtete. Bitte ver stehen Sie: Ich war nicht ich selbst, hatte ganz mein schweizerisches We sen vergessen. Ich… ich bin sicher, schuld daran war Magie.« »Ischt schon in Ordnung, Schätzchen«, antwortete Mama Schimmel horn. »Ich värzaihe Ihnen. Sie konnten nichts dafür.« Und sie dachte: Ach, das Äliksier wirkt! Där klaine Hamfri wird zufrieden sain. Sie kicherte lautlos. Ich hätte ain wänig für Papa aufschparen sollen. Viel laicht braucht är äs, wänn är zurückkährt und festschtällt, daß är nicht mähr där Prinz ischt.
Sarpedon Mavronides starrte Fräulein von Hohenheim groß an und sagte sich, das Verhalfen von Prinzessinnen und Priesterinnen sei von Natur aus unvorhersehbar und ließe sich von gewöhnlichen Menschen nicht ergründen. Er unterbrach seine Überlegungen, als Philippa ihn zu sich rief. »Sarpedon«, befahl sie, »inzwischen sollten einige der Lakaien zurück gekehrt sein. Nehmen Sie drei oder vier von ihnen und bringen Sie Kas par Gansfleisch hierher zu mir. Oh, für das, was er getan hat, wird er büßen müssen! Legen Sie ihn in Ketten, wenn Sie welche finden, und schaffen Sie ihn auf der Stelle hierher. Ich befinde dann über sein Schicksal und entscheide, ob wir ihn den Haien vorwerfen oder ihn durch die Opferpforte stoßen und dem Minotaurus zum Fraß anbieten!« »Philippa!« platzte es entsetzt aus Gottfried Rumpler heraus. »So etwas können wir doch nicht machen! Wir Schweizer sind schließlich zivilisiert!« »Das ischt die richtige Ainschtällung!« pflichtete Mama Schimmelhorn ihm bei. Fräulein von Hohenheim umarmte ihren Geliebten. »Von jetzt an, Gottfried, sollst du mein Gewissen sein. Als meine einzige und wahre Liebe will ich solche Dinge fortan deiner Beurteilung anvertrauen!« Sie drehte sich wieder zu Mavronides um. »Bringen Sie ihn trotzdem zu mir«, sagte sie. »Ich lasse mir eine zivilisierte Strafe für ihn einfallen!« Mavronides gab einigen Bediensteten ein Zeichen, die gerade auf den Schloßhof traten, und zusammen mit ihnen eilte er davon. Philippa trat an Mama Schimmelhorn heran. »Ach, ich bin ja so froh, daß Sie verstehen!« erklärte sie. »Sie haben mir vergeben – und jetzt las sen Sie uns bitte Freundschaft schließen!« Sie streckte beide Hände aus, und Mama Schimmelhorn ergriff eine davon und schüttelte sie mit allem Nachdruck. »Natürlich«, erwiderte sie. »Wir Frauen müssen schließlich zusammenhalten. Morgen können wir gemainsam Tee trinken, und dann ärzähle ich Ihnen viellaicht, was für ain lüschtärner alter Ziegenbock Papa ischt.« Das Fräulein war so taktvoll, zu erröten. »Wollen wir nur hoffen, daß wir ihn morgen finden und ihm nichts zugestoßen ist«, entgegnete Phil ippa. »Inzwischen ist es bereits zu spät, um die Suche nach ihm fortzu
setzen, doch morgen früh bei Tagesanbruch setzen wir unsere Bemü hungen fort. Wenn… wenn es notwendig sein sollte, halten wir sogar im Labyrinth nach ihm Ausschau, obgleich… Ach, mehr wage ich jetzt nicht zu sagen!« »Pah!« machte Mama Schimmelhorn. »Sorgen Sie sich nicht. Wänn Sie Papa äbensogut kännen würden wie ich – ha! Jädesmal, wänn är värschwindet, gäht äs um irgendwälche nackten Frauen…« Sie fuhr damit fort, Fräulein von Hohenheim mit den Hintergründen einiger entsprechender Ausflüge ihres Mannes vertraut zu machen, schil derte in allen Einzelheiten seine verwerflichen außerehelichen Abenteuer und betonte, bisher sei er immer wieder an den heimischen Herd zu rückgekehrt, obgleich er seine Versprechen auf Besserung nicht ein ein ziges Mal eingehalten hatte. Philippa hörte ihr voller Mitgefühl zu. Unterdessen ergriff Dr. Nymphenburg, der die ganze Zeit über nervös von einem Bein aufs andere getreten war und an seinem sorgfältig ge stutzten Bart gezupft hatte, den Ellbogen Gottfried Rumplers und zog ihn taktvoll beiseite. »Herr Doktor!« flüsterte er besorgt. »Ich muß Sie warnen! Lassen Sie sich nicht – auf keinen Fall! – mit dieser Frau ein, dieser Prinzessin oder welchen Titel sie sich infolge ihrer geistigen Verwirrung auch gegeben haben mag. Sie ist ein klassischer Fall – akute Schizoparanoia! Sie stellt eine Gefahr für Sie und sich selbst dar! Ich sage Ihnen was: Sie braucht dringend eine Behandlung und gehört in eine Gummizelle!« Gottfried Rumpler starrte den Psychiater verwirrt an. »Was behaupten Sie da?« zischte er, ergriff den schweizerischen Spezialisten an den Schul tern und schüttelte ihn heftig. Dann erinnerte er sich daran, daß sich seine Philippa in Hörweite befand, und er senkte die Stimme und fuhr gepreßt fort: »Es stimmt also!« zischte er. »Psychiater sind noch verrück ter als ihre Patienten. Wie können Sie nur solchen Unsinn von sich ge ben!« Er wirbelte um die eigene Achse und rief Herrn Grundtli zu sich. »Herr Grundtli«, fauchte er, »wir brauchen die Hilfe Dr. Nymphenburgs nicht mehr. Er fühlt sich nicht wohl. Der Helikopter soll ihn sofort nach Kreta zurückbringen. Buchen Sie für ihn einen Platz an Bord der ersten Linienmaschine, die von Athen nach Zürich fliegt. Außerdem beauftrage
ich Sie damit, ihm sein Honorar samt einem kleinen Bonus für seine Diskretion zu zahlen.« Dr. Nymphenburg hob entrüstet den Kopf, legte eine möglichst große Distanz zwischen sich und Gottfried Rumpler und murmelte verärgert etwas von der Ethik eines Arztes, der allgemeinen Schweigepflicht und seiner beruflichen Reputation. Niemand schenkte ihm Beachtung. Und bevor sich Gottfried Rumpler wieder seiner Philippa zuwandte, flüsterte er Herrn Grundtli noch eine weitere Anweisung ins Ohr. »Hören Sie aufmerksam zu!« sagte er. »Diese Sache ist von größter Bedeutung. Setzen Sie sich sofort mit Brigitte in Verbindung. Teilen Sie ihr mit, ich… äh… sei nicht mehr in der Lage, sie zu besuchen. Machen Sie sich nichts draus, wenn sie weint. Sagen Sie ihr einfach, wenn sie nach Brüssel zurückkehrt, werde ihr die Summe bezahlt, auf die wir uns vor einer Weile einigten – und außerdem eine großzügige Zulage. Haben Sie verstanden?« Herr Grundtli, dessen Einstellung gegenüber den hochrangigen Reprä sentanten des schweizerischen Bankwesens sich mit der Loyalität verglei chen ließ, die Sarpedon Mavronides der Prinzessin entgegenbrachte, antwortete, er habe nicht die geringsten Fragen und der Herr Doktor könne sich darauf verlassen, es werde alles zu seiner Zufriedenheit erle digt. Er half Dr. Nymphenburg mit fürsorglichem Nachdruck in den Hub schrauber, und anschließend stiegen auch die Piloten ein. Gottfried Rumpler gesellte sich daraufhin wieder zu seiner Philippa und Mama Schimmelhorn entfernte sich mit ihnen zusammen von dem Helikopter. Die Maschine startete mit einem lauten Dröhnen und Ro torhämmern, und sie flog gerade in dem Augenblick über die Mauern der alten Feste hinweg, als Mavronides mit den Lakaien zurückkehrte. Sie liefen über den Schloßhof, dichtauf gefolgt von einem Dienstmäd chen. Fräulein von Hohenheim musterte sie finster. »Wo ist er?« fragte sie scharf. »Warum befindet sich Gansfleisch nicht in Ihrer Begleitung?« Mavronides blieb vor ihr stehen, verneigte sich entschuldigend, war blaß und schnappte keuchend nach Luft. Es hätte nicht viel gefehlt, und
die Lakaien neben ihm wären auf die Knie gefallen, um dann um Gnade zu winseln. Das Dienstmädchen machte einen ehrerbietigen Knicks. »Euer Hoheit, ich konnte ihn nicht finden. Er ist ebenfalls verschwun den!« »Also suchen Sie ihn!« »Wir haben es versucht, Euer Hoheit! Wir nahmen uns seine Zimmer vor, stießen dort jedoch nur auf große Unordnung. Wir hielten auch auf den Wehrgängen Ausschau – vergeblich. Wir begaben uns in sein Labo ratorium, und dort… dort…« Der Grieche zögerte. »Hoheit, ich weiß nicht, wie ich es Ihnen sagen soll. Die… die Maschine zur Herstellung von Gold ist nicht mehr da!« »Was?« entfuhr es Fräulein von Hohenheim. »Sie befindet sich nicht mehr im Laboratorium«, erklärte Mavronides, »und wir sahen Spuren auf den Fliesen und auf dem Boden des Flurs. Sie sehen so aus, als stammten sie von einem Gabelstapler.« »Wollen Sie damit sagen«, warf Gottfried Rumpler ein, »dieser Gans fleisch hat die Maschine gestohlen? Das ist doch unglaublich! Wohin sollte er sie denn bringen? Auf welche Weise sollte es ihm möglich sein, sie von hier fortzuschaffen?« »Irgend jemand hat sie gestohlen, das steht fest, Euer Exzellenz. Aber es kann nicht Meister Gansfleisch allein gewesen sein. Dieses Dienst mädchen hier – Sophia – war allein im Schloß, als wir anderen nach dem Prin… nach Herrn Schimmelhorn suchten. Sie arbeitete in der Küche. Sie meint, sie habe während unserer Abwesenheit einen Helikopter auf dem Schloßhof landen gehört. Das Motorengeräusch erschien ihr zwar lauter, aber sie dachte, es sei unser Hubschrauber gewesen, und deshalb machte sie sich weiter keine Gedanken. Sie erzählte mir, die Maschine habe eine ganze Weile mit leerlaufendem Triebwerk verweilt – da sie nicht darauf achtete, kann sie nicht genau sagen, wieviel Zeit verstrich. Anschließend startete der Helikopter wieder.« »Aber wer mag das gewesen sein?« Das Gesicht Fräulein von Hohen heims war eine Maske des Zorns. »Wer könnte es gewesen sein?« »Ach, Liebling«, antwortete Herr Rumpler im Tonfall der Verzweif lung, »bestimmt handelte es sich um jemanden, mit dem sich der heim
tückische Gansfleisch zum Zwecke einer neuen Verschwörung verbün dete – die Regierung eines anderen Staates, Terroristen, vielleicht sogar amerikanische Gangster im Auftrage Ronald Reagans. Es kommt nur auf einen Punkt an: Die Maschine ist weg. Und Gansfleisch und seine Kom plizen sind entwischt. Wir können dieses Verbrechen wohl kaum zur Anzeige bringen, denn sonst erführe innerhalb kurzer Zeit die ganze Welt von unserem Geheimnis! Bestimmt erfahren wir recht bald, wer die Täter waren – wenn sie damit beginnen, die Ökonomie weltweit zu zer stören. Mit der Apparatur sind sie dazu in der Lage. Ach, Schatz, jetzt ist alles verloren!« Philippa sah ihn an, und langsam glätteten sich ihre Züge wieder. Sie trat auf ihn zu und strich ihm mit den Fingerkuppen über die Wangen. »Nein, herzallerliebster Gottfried!« erklärte sie leidenschaftlich. »Alles ist nicht verloren – so etwas dürfen wir nie sagen! Wir haben uns. Wir sind beide schweizerische Bankiers! Keine Sorge. Wie die Amerikaner so schön sagen: Irgendwo kommen wir schon durch. Außerdem: Vielleicht finden wir morgen den Herrn Schimmelhorn. Und wie du weißt, ist er ein Genie. Vielleicht fällt ihm etwas ein.« Bei den letzten Worten erhellte sich die Miene Gottfried Rumplers ein wenig. Er gab seiner Philippa einen zärtlichen Kuß. »Du hast recht: Wir geben niemals auf!« sagte er. »Wir vereinen unsere Banken! Ja, wir wer den zur größten Privatbank der ganzen Schweiz!« »Und du wirst der Vater meiner Söhne!« verhieß ihm das Fräulein. »Sie treten in unsere Fußstapfen und machen sich ebenfalls als schweizerische Bankiers einen Namen!« »Nun…« – Mama Schimmelhorn gähnte – »… äs wird jätzt Zait, ins Bätt zu gähen, und Sie sollten sich kaine waiteren Gedanken über die Gold-Maschine machen. Morgen begäben wir uns mit Guschtav-Adolf auf die Suche nach Papa.« »Geleiten Sie Frau Schimmelhorn in ihr Zimmer, Sophia«, wandte sich Fräulein von Hohenheim an das Dienstmädchen. »Sorgen Sie dafür, daß sie alles bekommt, was sie braucht.« Nachdem sie ihrer neuen Freundin eine gute Nacht gewünscht hatte, sah sie Mavronides an. »Sarpedon«, sagte Philippa, »veranlassen Sie bitte, daß das Gepäck Seiner Exzellenz in meine Gemächer gebracht wird, und kümmern Sie sich darum, daß man
uns morgen nicht zu früh weckt. Ich bin sicher, die Suche kann auch ohne uns beginnen. Und, Sarpedon: Wenn Sie Herrn Schimmelhorn finden, so erklären Sie ihm bitte alles. Gehen Sie behutsam und sehr taktvoll dabei zu Werke, verstanden? Machen Sie ihn langsam und vor sichtig mit den Veränderungen vertraut, zu denen es seit… seit meiner Genesung gekommen ist.« Gottfried Rumpler musterte seine Philippa, und – zumindest zeitweise – vergaß er den Umstand, daß sie und er gerade das Instrument verloren hatten, mit dem es ihnen leichtgefallen wäre, die Wirtschaft der ganzen Welt auf den Kopf zu stellen. Was Mama Schimmelhorn anging: Sie bat das Dienstmädchen noch um ein wenig Tee, wobei sie auch nicht den Grappa vergaß, und Sophia beeilte sich, ihren Wünschen zu entsprechen. Als sie anschließend fest stellte, daß sie noch immer nicht die nötige Bettschwere hatte, versuchte sie zuerst, Humphrey zu wecken, um ihm von den aufregenden Neuig keiten zu berichten. Als sie jedoch sah und hörte, wie tief und geräusch voll der kleine Homunkulus schlief, erzählte sie Gustav-Adolf die ganze Geschichte und informierte den Kater davon, daß ihm am nächsten Morgen die verantwortungsvolle Aufgabe zukäme, Papa zu finden. »Der alte Bock!« sagte sie. »Ich sag dir was, Guschtav-Adolf: Die Sache mit där Prinzässin habe ich beraits in Ordnung gebracht. Und wänn ich ihn morgen mit ainer anderen nackten Frau ärwische, dann kann är was ärläben!« Sie blickte sich um. Plötzlich sah sie, daß während ihrer Abwesenheit jemand die Sachen Papa Schimmelhorns gebracht und aufs Bett gelegt hatte: sowohl die Jeans als auch die pünktchengemusterte knielange Un terhose, Socken und Schuhe. Mama Schimmelhorn runzelte die Stirn. Sie inspizierte die Kleiderschränke und Kommoden. »Wie sältsam!« sagte sie. »Alle saine Sachen sind hier. Womit är wohl angezogen sain mag?« Als sie sich im Bett ausstreckte, machte sie sich nicht etwa Sorgen um das Schicksal Papa Schimmelhorns, sondern darüber, was er »mit nichts an«, wie sie gedanklich formulierte, anstellen mochte. Mama Schimmelhorn hatte eine weite Reise hinter sich und war müde. Sie schnarchte bis nach acht Uhr des nächsten Morgens, und sie erwach
te erst, als Gustav-Adolf sie weckte und schnurrend darum bat, nach draußen gelassen zu werden, um die Katzenbox benutzen zu können. Sie öffnete die Tür für ihn, holte Humphrey aus dem Geheimfach, um sich zu vergewissern, daß es ihm gut erging, und nahm dann ein ausgiebiges und erfrischendes Bad. Anschließend entdeckte sie einen Klingelknopf neben dem Bett und betätigte ihn. Kurz darauf kam ein Dienstmädchen herein, und Mama bestellte ein Frühstück: Schinken, zwei weichgekochte Eier, Brötchen, Tee und Fruchtsaft. Als das Dienstmädchen nicht viel später mit dem Gewünschten zurückkehrte, brachte sie auch eine Nach richt Fräulein von Hohenheims, die bereits in der vergangenen Nacht schriftlich fixiert worden war. Darin bat die Prinzessin Frau Schimmel horn, sich keine unnötigen Sorgen zu machen. Es werde alles unter nommen, um ihren Mann zu finden. Sie und Seine Exzellenz, Herr Dok tor Rumpler, würden sich freuen, wenn sie ihnen beim Mittagessen um eins Gesellschaft leistete. Wenn danach noch immer keine Spur von Herrn Schimmelhorn entdeckt sei, könne man sich gemeinsam auf die Suche machen. Mama Schimmelhorn entspannte sich und machte es sich bequem. Nach dem Frühstück kleidete sie sich an, und dann holte sie Humphrey aus seinem Refugium hervor, weckte ihn mit einem Fingerhutvoll honig süßem Brandy und berichtete ihm vom derzeitigen Stand der Dinge. Wie sie erwartet hatte, war er entzückt. »Fürwahr«, sagte er fröhlich, »somit wäre ein Problem gelöst. Vielleicht gelingt es dem Schweizer – ich weiß nämlich, daß die meisten von ihnen Männer mit gesundem Men schenverstand sind –, das Fräulein Philippa von den heidnischen Irrwe gen auf den rechten Pfad zurückzuführen. Ach, werte und freundliche Dame, laßt uns darauf anstoßen. Ja, und auch darauf, daß Euer Gatte froh und munter zu uns zurückkehrt!« Er hob den Fingerhut, und Mama Schimmelhorn folgte mit ihrer Tasse dem Beispiel des Homunkulus'. Sie tranken. »Und nun«, meinte Humphrey, »setzt mich bitte in mein Glas zurück, auf daß ich mich auszuruhen vermag und mir heute abend, wenn Ihr vielleicht mit Meister Schimmelhorn zurückkehrt, nicht vor Schwäche die Sinne schwinden. Oh, ich würde mich so gern mit Euch zusammen freuen und in Erfahrung bringen, welche Abenteuer Euer werter Gatte
bestand, wobei wir nur hoffen wollen, daß es wirklich Abenteuer und keine Mißgeschicke waren.« Widerstrebend kam Mama Schimmelhorn dem Wunsche Humphreys nach. Dann vertrieb sie sich die Zeit, indem sie Postkarten an Frau Hundhammer, Frau Laubenschneider und verschiedene andere Freun dinnen schrieb; sie teilte ihnen mit, Papa Schimmelhorn sei wieder ein mal sehr ungezogen gewesen, und sie wolle ihnen nach ihrer Rückkehr alles ganz ausführlich erzählen. An die Adresse Frau Laubenschneiders gerichtet fügte sie einen Nachtrag hinzu, in dem sie die Wirkung des Halsbandes beschrieb, das Gustav-Adolf in die Lage versetzt habe, ei nem gräßlichen Rattenteufel den Garaus zu machen, ohne verletzt zu werden. Nach einer Weile kam Niobe, um sie abzuholen, und sie wanderten durch die Flure und Korridore des Schlosses. Die Kammerzofe der Prin zessin musterte Mama Schimmelhorn neugierig, wagte es aber nicht, irgendwelche Fragen zu stellen. Fräulein von Hohenheim und seine Exzellenz erwarteten sie bereits. Besser gesagt: Sie befanden sich zumindest in den Gemächern, saßen auf dem kaiserlichen Sofa, hielten sich an den Händen und waren ganz auf sich selbst konzentriert. Ach, wie romantisch! dachte Mama Schimmelhorn und kicherte lautlos, als Niobe ihre Anwesenheit verkündete. Wahre Liebe! Unzärtrännlich sind sie – wie süß! Während des in aller Gemütlichkeit stattfindenden Mittagessens ließ es sich Mama Schimmelhorn nicht nehmen, von ihren Reisen und außeror dentlich exotisch anmutenden Erfahrungen mit Papa zu berichten, wobei sie durchaus bemerkte, daß die Prinzessin und Seine Exzellenz viel zu sehr damit beschäftigt waren, sich unter dem Tisch zu necken und ihrer gegenseitigen Liebe zu versichern, um ihren Worten mehr als nur beiläu fige Beachtung zu schenken. Schließlich wurde das Dessert aufgetragen und verspeist. Danach kam der Kaffee. Mama Schimmelhorn nippte an ihrer Tasse und lehnte sich zurück. »Haben Sie noch nichts von diesem Kaschpar Gansflaisch gehört?« er kundigte sie sich.
Für einen Augenblick machten Philippa und Gottfried Rumpler betre tene Gesichter, um unmittelbar darauf die Frage Mamas zu verneinen. »Und Papa wurde noch nicht gefunden?« Sie sahen sich an. Und mit betontem Bedauern schüttelten sie den Kopf. Mama Schimmelhorn stand auf. »Na gut«, sagte sie. »Äs ischt bäsch timmt nicht schwär, Papa zu finden. Ich hole Guschtav-Adolf, und dann machen wir uns zusammen auf den Wäg.« »Liebe Frau Schimmelhorn«, erwiderte Fräulein von Hohenheim zö gernd, »es gibt nur einen Ort auf der ganzen Insel, an dem wir nicht ge sucht haben – ich meine das Labyrinth mit dem Minotaurus. Und uns ist niemand bekannt, der es betrat und… und überlebte, oder zumindest nicht dem Wahnsinn anheimfiel. Wenn Herr Schimmelhorn tatsächlich irgendwie in das Labyrinth gelangte – oh, es zerreißt mir das Herz, Ihnen so etwas sagen zu müssen! –, so gibt es keine Hoffnung, daß wir ihn lebend wiedersehen. Nicht die geringste!« »Sie kännen Papa nicht so gut wie ich«, hielt Mama Schimmelhorn ihr entgegen. »Ich hole Guschtav-Adolf. Är wird schnäll fästschtällen, ob sich Papa in däm Irrgarten befindet.« Die Prinzessin und ihr Geliebter tauschten einen bedeutungsvollen Blick aus. Und sie gelangten beide zu dem Schluß, es sei besser, sich Mama zu fügen. »Wie Sie wollen«, antwortete das Fräulein. »Ich beauftrage Ismail, den Kombi heranzufahren.« Philippa griff zum Telefon und gab ihre Anwei sungen. »Doktor Rumpler wird Sie in Ihren Turm bringen und zurück führen.« Einige Minuten später, begleitet von Sarpedon Mavronides, fuhren sie zu dem Hügel, der das Labyrinth barg, und zwar zu der großen Opfer pforte. Hätte Papa Schimmelhorn sie sehen können, so wäre er gewiß zu dem Schluß gelangt, daß die Prozessionen, die er zusammen mit der Prinzessin in der mit Gold und Elfenbein verzierten Kutsche geleitet hatte, weitaus malerischer gewesen waren.
Vor dem bronzenen Tor stiegen sie aus. Mama Schimmelhorn setzte Gustav-Adolf auf den Boden. »Du bischt ain braver und kluger Kater«, lobte sie ihn. »Und jätzt muscht du Papa finden.« Gustav-Adolf sah zu ihr auf. »Such ihn doch selbst!« erwiderte er knur rend auf katz. »Der alte Blödmann is' jetzt schon seit zwei Tagen fort. Von mir aus kann er verschwunden bleiben!« »Schnüffel an där Tür!« befahl Mama Schimmelhorn. »Schtäh hier nicht ainfach so härum und mach ›Miau!‹« Gustav-Adolf zuckte mit den Schultern. »Meine Güte!« zischte er leise. »Na, ich kann's ja mal versuchen.« Mit großer Sorgfalt beschnüffelte er die Kanten der Tür. Ganz plötz lich richtete sich sein Nackenfell auf, und er drehte sich um. »Miau-au!« »Ha!« machte Mama Schimmelhorn. »Papa ischt da drin! Öffnen Sie die Tür, damit wir ihn rausholen können.« Niemand schien besonders versessen darauf zu sein. »Haben Sie ätwa Angscht vor däm komischen Minotaurus?« schnaubte Mama Schimmelhorn, nahm ihren schwarzen Regenschirm fester in die Hand und hielt ihn wie eine gefährliche Waffe. »Na, dann gähe ich äben allain!« Gottfried Rumpler sah seine männliche Tapferkeit herausgefordert und trat vor. »Frau Schimmelhorn«, erklärte er, »wir alle nehmen das große Wagnis auf uns.« »Mein Gottfried!« hauchte Fräulein von Hohenheim. »Du bist ein wahrer Held, ein Arnold von Winkelried, ein Wilhelm Tell! Ich bin ja so stolz auf dich. Sarpedon, den Schlüssel bitte!« Sarpedon Mavronides holte besagtes Objekt hervor. Ohne rechte Be geisterung entriegelte er das Tor und schwang es auf. Mama Schimmelhorn marschierte hoch erhobenen Hauptes in die Kammer. »Nun«, meinte sie, »hier drin ischt äs rächt kühl, und äs schaint alles in Ordnung zu sain.« Ihre Begleiter gesellten sich ihr hinzu. Fräulein von Hohenheim rief ei nige Worte auf altgriechisch, flehte den Minotraurus an, ihre Bitten zu
erhören, zum Vorschein zu kommen und den armen alten Mann frei zugeben, der in aller Unschuld in sein Refugium geplatzt war. Es erfolgte keine Antwort. Und nach einigen Minuten entschied Mama Schimmelhorn, es bliebe ihnen wohl nichts anderes übrig, als tiefer in das Labyrinth vorzudringen. »Wir brauchen nur Guschtav-Adolf zu fol gen«, sagte sie. »Är kännt dän Wäg beschtimmt.« »A-ber, Frau Schimmelhorn«, warf Seine Exzellenz ein, »wie sollen wir anschließend denn zurückfinden?« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Für ainen geschaiten Bankjäh, Härr Rumpler, sind Sie ziemlich dumm. Ich habe aine Fadenrolle mitge bracht.« Sie reichte sie ihm. »Sie binden das aine Ände hier fäscht, und wänn wir nachhär zurückkähren wollen, ischt das überhaupt kain Pro bläm.« Das Fräulein erinnerte sich an Theseus und Ariadne, errötete und schwieg. Vorsichtig schritten sie ins Labyrinth und spähten in die abzweigenden Tunnel und Gänge. Plötzlich blieb Mama Schimmelhorn stehen. »Hört nur!« flüsterte sie. Ihre Begleiter verharrten ebenfalls und lauschten. Aus den Tiefen des Labyrinthes vernahmen sie die disharmonische Musik, die so oft das gemeine Volk Klein Paläons entsetzt hatte. Sie hall te in der Finsternis wider und wurde lauter. Und sie vernahmen auch das Geräusch wuchtiger und schwerer Schrit te, die sich ihnen bedrohlich rasch näherten. Mama Schimmelhorn war wie ein Bollwerk, hinter dem ihre Begleiter Schutz suchten. Es ließ sich unmöglich feststellen, aus welcher Richtung die Schritte kamen. Doch sie näherten sich ihnen weiter… Von einem Augenblick zum anderen gab Fräulein von Hohenheim ei nen gedämpften Schrei von sich. »Seht nur, seht nur!« brachte sie hervor. Die Blicke ihrer Gefährten wandten sich in die Richtung, in die der aus gestreckte Arm der Prinzessin deutete. In einem der nahen Tunnelzu gänge zeichneten sich die Konturen einer riesenhaften Gestalt ab. »Da ist er! Der Minotaurus! Er… er hat den armen Herrn Schimmelhorn! Er hat ihn in seinen Klauen!«
11
Aus den Augen – aber nicht aus dem Sinn
Als Papa Schimmelhorn beim ersten Anblick des Minotaurus' den Speer fallen ließ, so geschah dies keineswegs aus Angst. Vielmehr war Verblüf fung der Grund dafür, denn er begriff augenblicklich, daß er den Mino taurus schon einmal gesehen hatte, entweder ihn selbst oder seinen Zwil lingsbruder – und zwar während der Gefangenschaft auf Betaigäuse Neun. Er hatte damals ein farbiges und sehr deutliches Bild von ihm gesehen, in einem Buch, das für kleine Männer und geistig zurückgeblie bene Kinder geschrieben worden war und den Titel trug: Seltsame Wesen aus anderen Sonnensystemen. Er erinnerte sich nun auch an die Beschreibung unter der Illustration: Mehr als drei Meter groß, unglaublich langlebig, von ent setzlichem Erscheinungsbild, jedoch einzig und allein interessiert an ästhetischen Idea len und den Schönen Künsten. »Aber… aber du bischt ja gar kain Minotaurus!« platzte es in der Spra che der Bethaigäusianer und in einem Tonfall außerordentlicher Erleich terung aus ihm heraus. »Du bischt ain Jäkämsyg!« Die laut gerufenen Worte hallten in den Tunneln und Gängen des La byrinthes wider, und der Minotaurus stellte sofort sein Brüllen und Röh ren ein. Er ließ die enormen Pranken sinken. Und er starrte seinen un eingeladenen Besucher groß an. »Was? Wie bitte?« grollte er in der glei chen Sprache. »Das ist ja unglaublich! Sie sprechen eine zivilisierte – nun, eine fast zivilisierte – Sprache, diejenige, die auf dem Planeten der großen Frauen gebräuchlich ist!« »Ja«, bestätigte Papa Schimmelhorn. »Mama und ich und GuschtavAdolf wurden von dän großen Frauen äntführt. Ich will dir gärne in allen Ainzelhaiten davon berichten…« »Oh, das müssen Sie, das müssen Sie!« Der Minotaurus war ganz auf geregt. »Ach, ich freue mich ja so. Meine Güte, diese Sprache habe ich schon seit… Augenblick, seit viertausendfünfhundert der hier üblichen Jahre nicht mehr gehört.«
»Willscht du damit sagen, du bischt schon so lange hier?« Papa Schim melhorn konnte es kaum fassen. »Und ganz allain? Was für ain trauriges Schicksal! Du konntescht dir nicht ainmal mit ainer klainen hübschen Jäkämsyg-Schmusemieze die Zait värtraiben!« Der Gesichtsausdruck des Minotaurus' veränderte sich. Seine Züge er innerten tatsächlich an die eines Stiers, aber eigentlich konnte jeder auf den ersten Blick feststellen, es mit einem Geschöpf zu tun zu haben, das einer anderen Evolution entstammte und nicht der Liebesaffäre einer Prinzessin und eines Bullen, die beide an ausgeprägten hormonellen Stö rungen litten. Das große Wesen lächelte nun und offenbarte dabei spitze Reißzähne. »Mein lieber Freund«, knurrte es, »ich bin ganz und gar nicht allein ge wesen. Meine Frau hält sich ebenfalls hier auf. Ich habe den Einheimi schen nur nichts von ihrer Anwesenheit verraten. Wissen Sie… Übri gens: Sie tragen die Kleidung, die bei unserer Ankunft üblich war, doch ich hoffe, Sie gehören nicht zu diesen unfreundlichen Leuten, oder?« »Nain«, erwiderte Papa Schimmelhorn. »Ich bin Schwaizer, läbe jätzt aber in dän Värainigten Schtaaten. Die sind sähr wait von hier entfärnt.« »Nun…« Der Minotaurus schüttelte den Kopf. »Die Leute sind ja so schrecklich primitiv und ungebildet. Zunächst versuchte ich, eine Ver ständigung mit ihnen herbeizuführen, doch darauf reagierten sie, indem sie schreiend die Flucht ergriffen und mir später Menschenopfer dar brachten. Das muß man sich einmal vorstellen! Sie brauchten Jahrhun derte, um zu begreifen, daß wir Jekemsyg keine anderen intelligenten Wesen essen und sie nicht einmal dann kosten, wenn ihre Intelligenz nicht sonderlich ausgeprägt ist. Sie hielten mich für eine Art Gott, und aufgrund ihrer Verhaltensweise schloß ich, daß sie in mir so etwas wie einen Fruchtbarkeitsbringer sahen. Ach, meine Frau wäre sehr verlegen gewesen. Das ist auch der Grund, warum sie sich nicht blicken ließ.« Der Minotaurus blickte kurz auf sein überaus beeindruckendes Organ, das sein männliches Geschlecht auf unübersehbare Weise bewies. »Für ge wöhnlich laufe ich nicht in dieser Aufmachung herum«, fügte er hinzu, »und meine Frau hält nicht viel davon; doch andererseits bleibt das nicht ohne Wirkung auf die Eingeborenen, und immerhin haben sie uns wäh rend all der vielen Jahre dauernd mit Proviant versorgt.«
»Götter aus däm Wältraum!« entfuhr es Papa Schimmelhorn begeistert. »Ach, wänn das där Härr von Dänikän wüßte!« »Man sollte eigentlich meinen, daß die Leute nach fast fünftausend Jah ren endlich begriffen hätten, daß wir ganz gewöhnliche vernunftbegabte Wesen sind und keine erhabenen Geschöpfe mit übernatürlichen Kräf ten, nicht wahr? Doch ich fürchte, wir haben es in dieser Hinsicht mit einem hoffnungslosen Fall zu tun. Nachdem wir landeten und sie das Labyrinth zu bauen begannen, um uns darin gefangenzuhalten – wir wa ren glücklich darüber, glauben Sie mir!« Der Minotaurus seufzte. »Ich nehme an, Sie haben schon gegessen, nicht wahr?« Papa Schimmelhorn nickte. »Nun, wenn Sie es nicht eilig haben, so könnten wir doch ins Schiff gehen. Ich bedecke meine Blößen, und Sie haben Gelegenheit, meine Frau kennenzulernen. Dann trinken wir ein wenig von dem hiesigen Wein – gestern bekam ich einen neuen Vorrat –, und Sie erzählen mir alles von sich und sind vielleicht so freundlich, mir die eine oder andere Frage bezüglich dieser barbarischen Welt zu beantworten. Möglicherwei se haben Sie auch Interesse an meiner Geschichte.« Papa Schimmelhorn dachte an seine inzwischen sicher höchst ungehal tene Prinzessin, und er erklärte, er habe viel Zeit, eine ganze Menge, und er würde sich freuen zu erfahren, was dem Minotaurus und seiner werten Gemahlin in viereinhalbtausend Jahren widerfahren sei. »Was führte euch hierhär?« fragte er. »Und wieso said ihr nicht schon längscht wieder abgeraist?« »Wir kamen hierher, weil ich die Einsamkeit suchte – weil ich mich nach einer neuen Umgebung sehnte, nach Inspiration, nach dem, was ich für die unverdorbene Unschuld einer primitiven Gesellschaft hielt.« Er neut seufzte der Minotaurus. »Statt dessen wurde ich mit einer grausa men Barbarei konfrontiert. Was mich aber nicht von der Arbeit abgehal ten hat, nein, das nicht! Erlauben Sie mir, mich Ihnen vorzustellen: Ich bin Zongtur, und meine Frau heißt Xorxan.« »Ich bin Papa Schimmelhorn. Aber du kannscht mich ainfach Papa nännen.« »Es ist mir eine Ehre.« Der Minotaurus verneigte sich. »Ja, meine Ar beit hier kam gut voran«, fuhr er fort. »Ich habe zweitausendneunzehn
Symphonien komponiert, fast dreißigtausend Konzerte und kürzere Stücke, auch eine große Anzahl von Opern und Tragödien und Melo dramen. Darüber hinaus kann ich inzwischen auf ein umfangreiches Re pertoire an Liedern zurückgreifen. Meine letzte und größte Symphonie wurde gerade gespielt, als Sie eintraten, mit einem Synthesizer natürlich. Sie dauert insgesamt sieben Jahre, wobei ich natürlich auch daran dachte, einige Pausen zu berücksichtigen. Möchten Sie sie hören?« »Vielleicht ein anderes Mal«, erwiderte Papa Schimmelhorn höflich. »Warum bischt du so lang geblieben?« »Das lag nicht in meiner Absicht«, erklärte der Minotaurus. »Aber nach der Landung kam es an Bord unseres Raumschiffes zu irgendeinem De fekt. Als wir nach einer Weile zu starten versuchten, versagten die Triebwerke. Alle anderen Anlagen funktionieren. Wir haben Licht, und an der Arbeitsweise der meisten Geräte sowie der Sicherheitssysteme gibt es nichts auszusetzen. Daraus läßt sich schließen, daß mit dem bord eigenen Kraftwerk alles in Ordnung ist. Doch wenn ich die Zündung einschalte, erfolgt keine Reaktion. Das Triebwerk gibt nicht einmal ein leises Summen von sich. Ach, die ganze Sache ist wirklich ziemlich ärger lich – immerhin handelte es sich um das neueste und ein sehr teures Modell, noch immer unter Garantie.« »Du hascht äs nicht räpariert?« »Mein lieber… äh… Papa…« – der Minotaurus blickte überaus er staunt auf ihn herab – »… ich bin Künstler, Komponist! Kein Wissen schaftler oder Ingenieur. Mir steht nur die normale Betriebsanleitung zur Verfügung, und selbst die verstehe ich kaum. Ach, der Himmel mag wis sen, wann wir von diesem Planeten fortkommen!« »Viellaicht kann ich die Sache in Ordnung bringen«, bot Papa Schim melhorn an. »Sind Sie etwa Triebwerksingenieur? Nein, unmöglich! Auf diesem Pla neten gibt es keinen solchen Spezialisten!« »Nain«, entgegnete Papa Schimmelhorn, »ain Indschäniör bin ich nicht, nur ain schlichtes Dschänie. Wänn wir in dain Raumschiff gähen, ärzähle ich dir von mainen Ärfindungen.«
Unterwegs unterhielt er sich angeregt mit dem Minotaurus, und nach einer Weile erreichten sie schließlich etwas, das aussah wie eine Tür aus rostfreiem Stahl, die sich hinter einer der weißen Kalksteinwände zeigte. Papas neuer Freund öffnete sie und trat mit einer Verbeugung beiseite. Wie Papa Schimmelhorn kurz darauf feststellte, war die Kammer recht gemütlich eingerichtet. Im Hintergrund standen einige sonderbar anmu tende Musikinstrumente, und hier und dort leuchteten holografische Porträts einer Jekemsyg-Familie. »Das hier ist meine Frau Xorxan«, verkündete der Minotaurus stolz, als die betreffende Dame eintrat. »Liebling, dieser freundliche Herr kommt aus der Schweiz, einem Planeten, der sehr weit von hier entfernt ist, und er beherrscht die Sprache der großen Frauen! Es ist erstaunlich. Er heißt Papa Schimmelhorn, doch er möchte, daß man ihn nur einfach Papa nennt.« Verglichen mit ihrem Mann konnte man Xorxan geradezu als winzig bezeichnen. Sie war nur knapp zweihundertfünfzig Zentimeter groß. Anstelle von langen geschwungenen Hörnern hatte sie nur zwei kleine Stummel. Papa Schimmelhorn war insbesondere erleichtert, daß ihr Leib nicht mehr als zwei Brüste aufwies, die sich zudem an genau den richti gen Stellen befanden. Sie trug ein lavendel- und silberfarben glitzerndes Gewand, das im Schnitt den eleganten Nachthemden ähnelte, wie sie von Vamps in den Filmen der zwanziger Jahre bevorzugt worden waren. »Ich bin ja so froh, Ihre Bekanntschaft machen zu können«, sagte Xor xan und reichte Papa die eine Hand, deren Klauen sorgfältig manikürt waren. »Schon seit vielen Jahren hatten wir keinen Besucher mehr. Legen Sie den Helm ab und machen Sie es sich gemütlich.« Sie deutete auf ei nen Sessel, den Papa Schimmelhorn erst erklimmen mußte, und sie hängte den Helm an einen Wandhaken. »Ich hole uns Wein. Er stammt von einer hiesigen Rebe, hatte aber einige Jahre Zeit für die Reife und ist daher einigermaßen bekömmlich. Unterhalten wir uns, während Zongtur sich anzieht.« Mit gelinder Mißbilligung sah sie auf den kurzen Ziegenie derrock Papa Schimmelhorns. »Nun«, sagte sie, »andere Länder, andere Sitten, nicht wahr?«
»In där Tat«, pflichtete Papa Schimmelhorn ihr bei, »und wie äs so schön haißt: Untärschiedliche Gebräuche machen das Läben interässan ter.« Sie plauderten miteinander, verglichen die verschiedenen Klimata der Erde und Jekems miteinander und warteten auf die Rückkehr Zongturs, der nun schicklich gekleidet war in eine vortrefflich geschnittene, elegan te Kombination, über der er das mit Edelsteinen verzierte Bandelier trug. Er nahm von seiner Gattin ein Glas Wein entgegen. »Auf Ihre Ge sundheit!« prostete er und trank. »Und nun erzählen Sie uns bitte von sich. Ich bin ja so gespannt…« Und so machte Papa Schimmelhorn Zongtur und Xorxan mit seinen Erlebnissen und Leistungen vertraut. Er berichtete ihnen von dem Genie seines Unterbewußtseins und der Erfindung der Gnurrpfeife, deren Klang Gnurrs aus dem Holz hervorkommen ließ. Er beschrieb die Zeitmaschi ne, die wie ein Schaukelpferd ausgesehen hatte. Er sprach von dem mit Dampfkraft betriebenen Gerät, das in seinem Innern ein kleines Schwar zes Loch barg und mit dessen Hilfe er dazu in der Lage gewesen war, einen Zugang in ein Paralleluniversum zu schaffen. Auf dem Höhepunkt seiner Ausführungen demonstrierte er seinen beiden neuen Freunden die Armband-Kuckucksuhr und meinte, sie beinhalte höchst komplizierte elektronische Komponenten, die er, ihr Erfinder, rein rational nicht zu verstehen vermöge. Xorxan klatschte entzückt in die Hände, und es klang so, als schlüge ein glücklicher Delphin mit seiner breiten Schwanzflosse aufs Wasser. Ihr Mann erklärte erstaunt, Papa Schimmelhorns Geist arbeite in der gleichen Art und Weise wie der seinige. »Lieber und freundlicher Herr«, sagte er, »Sie sind, wie ich, ein wahrer Künstler! Obgleich ich hohe aka demische Grade in Musikologie habe und viele Jahrhunderte lang an den berühmtesten unserer Lehrinstitute studierte, hätte ich es niemals ge schafft, meine größten Werke zu komponieren, wäre nicht mein Unter bewußtsein gewesen.« »Ach, ich finde das einfach herrlich!« freute sich Xorxan. »Fahren Sie bitte fort.« Papa Schimmelhorn erzählte ihnen in allen Einzelheiten von der Ent führung und berichtete, wie er den kleinen Männern von Betaigäuse
Neun nicht nur ihre verlorene Virilität zurückgegeben, sondern auch die Männerrechtsbewegung begründet hatte. Seine beiden Zuhörer nickten zustimmend und pflichteten ihm bei: Der weibliche Chauvinismus, den sie während ihres Aufenthaltes auf jener Welt hatten erleben können, sei mindestens ebenso schlimm wie die maskuline Entsprechung. »Doch sagen Sie uns bitte eins«, meinte Zongtur und schenkte die Glä ser wieder voll. »Was führte Sie nach all diesen Abenteuern ausgerechnet hierher?« Papa Schimmelhorn kam zu dem Schluß, es sei nicht besonders takt voll, mit der ganzen Wahrheit darauf zu antworten, insbesondere den Details im Hinblick auf Niki und Emmy und sein leidenschaftliches Rin gen mit der Prinzessin, und anstelle eines vollen Schuldbekenntnisses entschied er sich aus diesem Grund für die Version, die sich mit dem Titel »Allgemeine Übersicht« umschreiben ließ. Er meinte schließlich, die Prinzessin habe ihn als Belohnung für die Konstruktion der GoldMaschine ehrenhalber zum Prinzen ernannt, doch der diesbezügliche Erfolg sei ihr offensichtlich zu Kopf gestiegen, denn sie habe von ihm verlangt, den Minotaurus zum Zweikampf auf Leben und Tod herauszu fordern – eine Vorstellung, die seinem zivilisierten Wesen ganz und gar nicht behagte. Er beschrieb auch, wie er in dem Bemühen, ein sicheres Versteck zu finden, ausgerechnet in das Labyrinth gestolpert war, das er auf keinen Fall hatte betreten wollen. »Nun«, bemerkte Zongtur, »was für ein Glück, daß Sie nicht durch die Vordertür hereinkamen. In dem Fall hätte ich das Schutzfeld einschalten müssen, das die Geziefer von uns fernhält, und so etwas hätte auch Ih rerseits zu einer recht unangenehmen Erfahrung geführt.« »Das Gäziefer?« fragte Papa Schimmelhorn. Xorxan schauderte. »Das Labyrinth steckt voll davon! Manche Gezie fer sind lang und glitschig. Andere fliegen summend und brummend umher oder kriechen auf allen Arten von entsetzlichen Beinen. Und sie alle stechen oder beißen.« »Doch innerhalb des Feldes sind wir vor ihnen geschützt«, fügte Zong tur hinzu. »Außerdem wirkt es auch ziemlich erfolgreich auf die Einge borenen, fast so prächtig wie meine Musik. Ich brauche nur eine ausrei chend hohe Frequenz zu wählen, und keiner von ihnen, und damit mei
ne ich insbesondere diejenigen, die nicht auf dieser Insel wohnen, wagt sich auch nur in die Nähe des Hügels. Vor langer Zeit ist einige Male der Versuch unternommen worden, ins Labyrinth vorzudringen, doch es gelang mir immer, die armen Geschöpfe in den Irrsinn zu treiben. Des öfteren kam es auch vor, daß ich ihnen half, wenn sie sich von Angrei fern bedroht sahen. Tja, bestimmt ist das ein weiterer Grund dafür, war um sie mir Opfer darbringen. Glaubst du nicht auch, Xorxan?« »Damit hast du zweifellos recht«, bestätigte sie. »Dem Himmel sei Dank, daß nur das Triebwerk ausgefallen ist und das Schutzfeld funktio niert. Außerdem: Ich weiß gar nicht, was wir ohne Elektrizität, warmes Wasser und den Kühlschrank gemacht hätten.« »Nun«, knurrte Zongtur, »die Eingeborenen brauchten ziemlich lange, um zu begreifen, daß wir nichts davon hielten, wenn sie uns ihre Opfer haarig und mit durchschnittenen Kehlen in die erste Kammer warfen. Erst nach einigen Jahrhunderten war es nicht mehr nötig, dort sauber zumachen, die Ziegen und Schafe zu enthäuten und zu schlachten, in kleine Stücke zu schneiden und für die Gefriertruhe vorzubereiten. Das muß man sich einmal vorstellen: Ich, ein Künstler, war dazu gezwungen, mich auf das Niveau eines Metzgers herabzubegeben! Wir machten den Einheimischen unsere Wünsche klar, indem wir immer dann die Laut stärke der Musik verringerten und die Frequenz des Schutzfeldes herab setzten, wenn sie uns ihre Opfer fein säuberlich vorbereitet und einge wickelt brachten.« Anschließend unterhielten sie sich über die Probleme, die das Leben an Bord eines Raumschiffes mit sich brachte, das sich im Zentrum des La byrinthes von Klein Paläon befand. Dann erzählten die beiden neuen Freunde Papa Schimmelhorns von Jekem, ihrem Heimatplaneten, wo die durchschnittliche Lebenserwartung der Bewohner sich auf siebzig- bis hunderttausend irdische Jahre belief und die Aristokratie aus Künstlern und Philosophen bestand. Wie Papa Schimmelhorn erfuhr, betrieben die Jekemsyg schon so lange Raumfahrt, daß selbst die einfachen Bürger weite Reisen von Stern zu Stern machen konnten. Darüber hinaus hörte er, daß das Volk, dem Zongtur und Xorxan angehörten, ausgesprochen defensiv eingestellt war, sich niemals auf Kämpfe oder gar Kriege einließ, sich jedoch, wenn es die Umstände erforderten, durchaus zu schützen wußte. Er bekam viele Informationen über die Künste der Jekemsyg,
ihre Universitäten, ihre Philosophien und Theologien. Xorxan teilte ihm mit, männliche und weibliche Jekemsyg seien völlig gleichgestellt, und beide Geschlechter seien am öffentlichen Leben gleichberechtigt betei ligt. Sie selbst sei Schauspielerin und deshalb angesichts des andauernden Aufenthaltes auf der Erde weitaus betrübter als ihr Gatte. Sie erklärte außerdem, es gebe auch Haustiere auf Jekem, zum größten Teil Katzen, die von der Welt der großen Frauen importiert wurden. »Und inzwischen haben wir großes Heimweh«, fügte Xorxan hinzu, »insbesondere dann, wenn wir daran denken, daß uns die Rückkehr in die Heimat vielleicht für immer verwehrt bleibt. Bevor wir uns darüber klarwurden, daß sich die Menschen mit ziemlicher Sicherheit selbst um bringen werden, hofften wir eine Zeitlang, die Kultur dieses Planeten könne sich rasch genug entwickeln, um dem hier beheimateten Volk bald die interstellare Raumfahrt zu ermöglichen. Dann wäre eine Reparatur unseres Triebwerks denkbar gewesen – oder zumindest die Weiterleitung einer Nachricht an die JGSR…« »Die JGSR? Was ischt dänn das?« »Die Jekem-Gesellschaft für Raumfahrt. Sie bietet einen ausgezeichne ten Rettungsdienst an, doch derzeit gibt es nicht die geringste Möglich keit für uns, eine Verbindung mit ihr herzustellen, nicht von der Ober fläche eines Planeten aus, und auch nicht aus dieser Entfernung.« »Papa glaubt, er könne vielleicht den Antrieb reparieren«, meinte Zongtur ein wenig skeptisch. »Nun, das wäre durchaus möglich, denn immerhin ist er ja ein Genie – und noch dazu Künstler. Zongtur, führe ihn am besten in den Maschi nenraum und zeig ihm alles. Ich begleite euch und bringe den Wein mit.« »Zuerst möchte ich ihn mit der Zentrale vertraut machen«, entgegnete Zongtur. »Vielleicht bekommt er dort eine Vorstellung davon, wie die Aggregate des Schiffes funktionieren. Und außerdem müssen wir in je dem Fall dorthin, um die Betriebsanleitung zu holen.« Das Raumschiff verfügte über viele einzelne Räumlichkeiten, und sie passierten mehrere Schotts, die den Wohnbereich unterteilten, bevor sie in die Zentrale gelangten. Sie war beeindruckend in ihrer Schlichtheit. Papa Schimmelhorns interessierter Blick fiel auf zwei große Sessel vor einer Instrumententafel mit diversen Schaltern, Anzeigen und Monito
ren. Er entdeckte einige Geräte, die überhaupt keinen Sinn zu ergeben schienen. Nirgends blinkten Lichter. Und die Indikatoren der Anzeigen rührten sich nicht. »Heutzutage ist alles automatisch«, erklärte Zongtur. »Die meisten Schalter werden überhaupt nie gebraucht, und wenn das doch einmal der Fall sein sollte, gibt uns der Computer entsprechende Anweisungen. Das Raumschiff fliegt eigentlich ganz von allein – das heißt, wenn es fliegt. Man bittet den Bordrechner um den gewünschten Sternenkartenaus schnitt und entscheidet sich für eins der Sonnensysteme, und dann fliegt der Autopilot das Ziel an. Wenn man einen Planeten erreicht, sagt uns der Computer, ob eine sichere Landung möglich ist oder nicht. Er in formiert uns nicht nur darüber, ob er eine atembare Atmosphäre auf weist, sondern auch über alle anderen Dinge, die in diesem Zusammen hang eine Rolle spielen. Insbesondere weist er darauf hin, ob einheimi sche Lebensformen weit genug entwickelt sind, um eine echte Gefahr darzustellen.« Zongtur griff nach der Betriebsanleitung und blätterte darin herum. »Zum Glück wird hier alles auf recht einfache Weise beschrieben«, wandte er sich an Papa Schimmelhorn. »Ich müßte also dazu in der Lage sein, die einzelnen Abschnitte für Sie zu übersetzen – auch wenn ich sie nicht verstehe. Ich hoffe, daß ich die Fachausdrücke nicht durcheinan derbringe.« Schließlich gelangten sie in den Maschinenraum, und hier wurde sofort deutlich, daß in dem Schiff – ob mit funktionierendem Antrieb oder nicht – rege technische Aktivität herrschte. »Es gibt hier eine Art Kraftwerk – vermutlich nuklearer Natur, nehme ich an –, das alles mit Energie versorgt.« Zongtur deutete auf vier gewal tige und eiförmige Gebilde, die vom Boden bis zur Decke reichten. »Ja, es ist nur der Antrieb, der den Geist aufgegeben hat.« Das Triebwerk befand sich in der Mitte des Saales, und es zeichnete sich nicht durch das ernste und schmucklose Design aus, das für die anderen Apparaturen charakteristisch war. Tatsächlich erweckte es ganz den Eindruck, als sei es von Papa Schimmelhorn konstruiert worden. Es war doppelt so groß wie die Maschine zur Umwandlung von Blei in Gold, wies eine geheimnisvolle Mechanik auf und ebenso mysteriöse
kristallartige transparente Komponenten, hinter denen sich außerordent lich kompliziert wirkende Bestandteile von offenbar elektronischer Natur zeigten. Darüber hinaus gehörten zu dem Gerät auch noch große Spulen, die allem Anschein nach aus keramischem Draht bestanden. Papa Schimmelhorn betrachtete das Triebwerk begeistert, und sein Un terbewußtsein nahm mit ausgesprochenem Enthusiasmus eine erste ge niale Einschätzung vor, rieb sich die Hände und flüsterte: Ach, alter Kna be, das hier sind kleine Fische! An den Wänden standen Bänke, und Papa Schimmelhorn kletterte auf eine davon, nahm Platz, ließ die Beine baumeln und vergaß ganz, daß er nur einen kurzen Ziegeniederrock trug. Er bedeutete Zongtur und seiner Frau, sich zu ihm zu gesellen. »Wunderschön!« jubelte er. »Noch niemals zuvor habe ich ainen Appa rat gesähen, där nicht von mir ärfunden wurde und dännoch so… wie sagt man bai euch?« »Ästhetisch befriedigend?« schlug Zongtur vor. »Ja! Und main Unterbewußtsain sagt mir, äs wird kain Probläm sain, dän Schaden zu behäben, wänn kaine Taile fählen. Ach, ich bin ja so froh, daß ich hierhär kam! Wo sind die Wärkzeuge?« »Werkzeuge? Nun, eigentlich müßte sich hier irgendwo eine solche Ausrüstung befinden, obgleich der Verkäufer des Raumschiffes meinte, wir würden sie gewiß nie brauchen…« Zongtur kramte in einigen Kisten und Wandfächern herum, und schließlich fand er die Tasche mit den Werkzeugen. Sie lag in einem Schrank, der offenbar irgendwelche Ersatzteile enthielt. »Sind das die Dinge, die Sie brauchen?« fragte er. Papa Schimmelhorn öffnete die Tasche, und augenblicklich teilte ihm sein Unterbewußtsein mit, es handele sich genau um die Werkzeuge, die seine Arbeit erfordere. »In Ordnung, Herr Zongtur«, sagte er fröhlich. »Am haschten, du liescht mir aus däm Buch vor, so daß ich viellaicht värschtähe, und dann mache ich mich daran, dän Antrieb ausainanderzunähmen.« »Sie wollen ihn auseinandernehmen? Aber… aber können Sie ihn auch wieder zusammensetzen?«
Papa Schimmelhorn versicherte ihm, das sei kein Problem. Und während Zongtur und Xorxan übersetzten, machte sich Papa Schimmelhorn vergnügt daran, im Verlaufe der nächsten Stunden den Konverter für kosmische Strahlen zu demontieren, das SchwarzlochSimulacrum in seine Einzelteile zu zerlegen und den Boden in der Nähe des Triebwerks mit den erstaunlichsten Dingen zu zieren. Gelegentlich gab er ein zufriedenes Brummen von sich, wenn sich ihm irgendeine unerwartete Funktionsweise von Bestandteilen des Antriebs offenbarte. Manchmal lobte er fröhlich besonders kluge und umsichtige Konstruktionsdetails, hielt die eine oder andere Komponente hoch und meinte, nicht einmal er hätte sie besser planen und gestalten können. Während Papa Schimmelhorn auf diese Weise beschäftigt war, ließen die Befürchtungen Zongturs und Xorxans langsam nach, denn sie kamen zu dem Schluß, daß er, zumindest was das Auseinanderbauen des Trieb werks anbelangte, sehr geschickt und fachmännisch vorging. Nach einer Weile begann Xorxan, mit melodischer Stimme aus einigen von ihrem Gatten komponierten Unterhaltungsliedern zu zitieren – sie meinte, es würde einige Jahre dauern, sie ganz vorzusingen –, und etwa gegen drei Uhr morgens bereitete sie einen Imbiß zu, der aus Ziegen milchkäse, den allerbesten Würstchen ganz Klein Paläons und frischem Obst und Wein bestand. Außerhalb des Labyrinthes dämmerte bereits der Morgen, als Papa Schimmelhorn ein triumphierendes »Ha!« ausstieß und den beiden Je kemsyg ein mit Draht umwickeltes Objekt aus Metall und Keramik zeig te. »Säht nur!« rief er. »Ho-ho-ho! Ain klainer Draht hat sich gelöst. Viel laicht hat jemand, als är die Schpule ainsätzte, nicht richtig achtgegäben, wail är an saine hübsche Jäkämsyg-Schmusemieze dachte.« »Können Sie sie reparieren?« fragte Zongtur hoffnungsvoll. »Nain«, lachte Papa Schimmelhorn. »Ich repariere sie nicht. Wir schmaißen sie ainfach wäg und schpannen ainen anderen Draht um dän Komponäntensockel.« »Sie wollen die Spule wegwerfen?«
»Was dieses Tail angäht, war där geschaite Konschtruktör nicht ganz so geschalt. Ohne die Schpule fliegt das Schiff nämlich zähnmal so schnäll.« »Beim göttlichen Himmel!« Xorxan war angemessen beeindruckt. »Das würde bedeuten, wir könnten mit der siebzigfachen Lichtgeschwindigkeit durchs All reisen. Auf diese Weise kämen wir viel eher nach Hause zu rück.« »Und Sie sind sicher, es wird klappen?« fragte Zongtur. »Na klar! Aber wänn du möchtescht, bringe ich die Schpule nach däm Frühschtück in Ordnung und wärfe sie nicht wäg. Dann kannscht du sie jäderzait wieder ainsätzen, falls du dir Sorgen machen solltescht.« Während Zongtur das Frühstück vorbereitete, befestigte Papa Schim melhorn einen Draht an dem Komponentensockel und reparierte dann auch die defekte Spule. Anschließend zeigte er Zongtur ganz genau, wie er sie in die Halterung setzen mußte. »Aber«, fügte er hinzu, »ich glaube, das wird nicht nötig wärden. Frag dän Computer. Där waiß sicher Be schaid.« Vergnügt nahmen sie das Frühstück ein, wobei Papa Schimmelhorn mit gesundem Appetit zugriff und die beiden Jekemsyg angesichts der Vorstellung, möglicherweise Klein Paläon bald verlassen und nach Hau se zurückkehren zu können, vor Aufregung zitterten. Später machte Pa pa Schimmelhorn ein kurzes Nickerchen und meinte, er sei eigentlich nicht sonderlich müde, und den Rest des Vormittags verbrachte er da mit, den Antrieb wieder zusammenzusetzen. »Und jätzt machen wir ainen Täscht«, verkündete er. Sie kehrten in die Zentrale zurück. Zongtur nahm in einem der beiden Sessel Platz. Er schaltete den Computer ein. In seiner Muttersprache teilte er ihm seine Wünsche mit. Der Bordrechner antwortete ihm eben falls mit Worten, die nur die beiden Jekemsyg verstanden. »Was sagt är dänn?« fragte Papa Schimmelhorn. »Er meint: Alle Systeme grün!« erwiderte Zongtur. Er formulierte eine Anweisung. Von einem Augenblick zum anderen erbebte der Boden unter ihren Füßen. Die Hülle begann zu vibrieren, als sich das Raumschiff gegen die Felsen und die Erde des Hügels stemmte.
Ganz plötzlich ließ das Zittern wieder nach, und der Computer sprach erneut eine Meldung. »Ich… ich kann es kaum fassen! Der Bordrechner meint, unser… un ser Antrieb sei nun zehnmal so leistungsfähig wie zuvor!« »Natürlich«, sagte Papa Schimmelhorn. »Oh, wie können wir Ihnen dafür nur danken?« Xorxan beugte sich her ab und gab ihm einen Kuß auf die Nasenspitze. »Endlich haben wir die Möglichkeit, nach Hause zurückzukehren! Und endlich kann mein lieber Zongtur damit rechnen, für seine großartige Arbeit die verdiente Aner kennung zu bekommen! Ach, ich kenne schon jetzt den Wortlaut der Kritiken!« Sie strahlte. »Warum kommen Sie nicht mit uns? Bleiben Sie dreißig oder vierzig Jahre bei uns, und anschließend bringen wir Sie zu rück.« »Äs tut mir laid«, erwiderte Papa Schimmelhorn. »Sähr gärn würde ich Ihre Haimat kännenlärnen, doch Mama ärwartet mich in Kürze – wänn die Prinzässin nicht zu böse ischt und mich gähen läßt. Aber ich habe da ainen Freund, där nur etwa so groß ischt…« Mit knappen Worten be richtete er den beiden Jekemsyg von Humphrey und seinem Schicksal. »Är sähnt sich so danach, in dän Wältraum zu gelangen, damit sich saine Seele aus däm Körper befraien kann. Viellaicht könntet ihr ihn mitnäh men.« »Selbstverständlich«, antwortete Xorxan mitfühlend. »Bringen Sie ihn einfach zu uns, bevor wir starten. Und nun… Sie bleiben doch sicher zum Mittagessen, oder? Nach all dem, was Sie für uns getan haben, kön nen wir Sie doch nicht so einfach gehen lassen.« »Ja, zum Ässen blaibe ich gärn. Du bischt aine gute Köchin, genau wie Mama. Und viellaicht komme ich aines Tages nach Jäkäm und besuche euch.« Xorxan eilte ins Eßzimmer zurück. »Wir müssen ein richtiges Fest ver anstalten! Ich öffne eine Flasche Jekem-Wein – es dürfte so ziemlich die letzte sein, die uns noch geblieben ist.« Alsdann machte sie sich daran, in der nahen Küche ein Festmahl vorzubereiten, und Papa Schimmelhorn nutzte die Gelegenheit, Zongtur seine Bedenken und Befürchtungen hinsichtlich der Rückkehr zur Prinzessin anzuvertrauen.
»Ich glaube«, sagte Zongtur, »in diesem Punkt brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Wenn sie in Sie verliebt ist und sie erfährt, wer wir wirklich sind und sie zudem unser Raumschiff starten sieht… nun, aus irgendeinem Grund bin ich davon überzeugt, daß Sie in dieser Beziehung dann keine Schwierigkeiten mehr haben werden.« »Schtarten?« Papa Schimmelhorn zeigte sich sehr besorgt. »Aber wie… wie wollt ihr dänn schtarten, bevor där ganze Hügel über dem Raum schiff abgetragen worden ischt?« »Kein Problem«, meinte Zongtur. »Das Schiff schiebt den ganzen Kram einfach beiseite.« Beim Essen unterhielten sie sich über ihre beiden Heimatplaneten, die Welt der großen Frauen und auch andere eher kuriose Orte, die die Je kemsyg besucht hatten. Sie genossen gebratenes Lammfleisch und been deten die Mahlzeit mit einem leckeren Dessert, das Xorxan nach einem eigenen Rezept zubereitet hatte. Sie tranken den berühmten Jekem-Wein, den Papa Schimmelhorn insgeheim jedoch für nicht ganz so köstlich hielt wie seine beiden Gastgeber. Dann, gerade als sie fertig waren, schrillte eine Alarmsirene, und an der Wand leuchteten mehrere Sensoren rot auf. »Na!« machte Zongtur. »Die Haupttür wurde geöffnet, das Tor, das die Eingeborenen Opferpforte nennen. Was die Leute wohl wollen?« »Ich habe da so aine Värmutung!« meinte Papa Schimmelhorn voller Unbehagen. »Beschtimmt ischt die Prinzässin auf där Suche nach mir, um mir die Ohren langzuziehen!« Zongtur klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken und reichte ihm den Helm. »Kommen Sie ruhigen Gewissens mit uns. Wir gehen den Eindringlingen entgegen und erklären ihnen alles… Liebling«, wandte er sich an Xorxan, »programmiere den Synthesizer auf meine Symphonie, auf eine der besonders dramatischen Passagen. Dreh die Lautstärke aber nicht zu hoch – zumindest jetzt noch nicht.« In dem wohlgeordneten Leben ehrenwerter schweizerischer Bankiers war eigentlich kein Platz für Minotauren oder Wesen, die ihnen auch nur ähnelten. Deshalb mag es als ein deutlicher Hinweis auf die Wirksamkeit
des Liebeselixiers Humphreys gelten, daß Gottfried Rumpler beim An blick Zongturs nur an die Sicherheit seiner lieben Philippa dachte – und sie an die seine. Er wünschte sich, seine Sig-Neuhausen mitgenommen zu haben, und er versuchte, die Prinzessin mit seinem Körper abzu schirmen, während sie ihrerseits danach trachtete, ihn zu schützen. Diese Bemühungen hatten nichts anderes zum Ergebnis, als daß sie sie beide dem vermeintlichen Minotaurus näher brachten. Sarpedon Mavronides, der sein ganzes Leben lang von der Existenz des Ungeheuers überzeugt gewesen war, es jedoch noch nie gesehen hatte, konnte sich vor Entset zen nicht von der Stelle rühren. Nur Mama Schimmelhorn bewahrte einen kühlen Kopf. Genau wie ihr Mann erkannte sie auf den ersten Blick, mit wem sie es zu tun hatte. »Was für ain Unfug!« rief sie. »Das ischt kain Minotaurus, sondern ain Jäkämsyg von ainem anderen Schtärn. Solche Wäsen sind sähr zivilisiert, und viellaicht habe ich auf Betaigäuse Neun saine Vär wandten kännengelärnt. Außerdäm hat är Papa nicht in den Klauen.« In diesem Punkt irrte sie sich natürlich nicht, denn Zongtur hatte sei nem guten Bekannten nur kameradschaftlich den einen Arm um die Schultern gelegt. Das erste Überraschungsmoment verstrich rasch, und Mama Schim melhorn kniff die Augen zusammen, als ihr einige Einzelheiten auffielen. »Aber är hat kaine Hose an!« stellte sie mit deutlicher Mißbilligung fest. »Ischt är viellaicht ain lüschterner alter Ziegenbock-Jäkämsyg?« Dann bemerkte sie auch die eher sonderbare Aufmachung ihres Mannes. »Und was soll das? Papa sieht ja aus wie ain griechischer Klaun! Und nicht ainmal Unterwäsche trägt är, nur ainen kurzen Rock!« Sie nahm den Re genschirm fest in die Hand und trat entschlossen auf ihren Gatten zu. »Där Jäkämsyg ohne Hose und du ohne Unterwäsche! Komm sofort här. Ich laihe dir mainen Schal, damit du dich nicht schämen muscht. Warte bloß ab, bis wir wieder zu Hause sind! Diesmal kannscht du was ärlä ben…« Papa Schimmelhorn brauchte nur einige wenige Sekunden, um sich von dem Schock angesichts dieser unerwarteten Begegnung zu erholen, und dann erfaßte er die Lage mit einem Blick. Er beobachtete seine Frau – in ihrem gestärkten schwarzen Kleid, bewaffnet wie üblich mit dem
ebenfalls schwarzen Regenschirm. Sein Mut sank, als er die Prinzessin erblickte, die sich nun an Gottfried Rumpler schmiegte und jenen auf eine Weise anstarrte, die ihm nur zu vertraut war. Er begriff, daß er nicht länger Prinz mit entsprechenden Privilegien war, und er gelangte sofort zu dem Schluß, daß Mama Schimmelhorn die Bekanntschaft Humphreys gemacht, das restliche Liebeselixier beschlagnahmt und es auf sehr wir kungsvolle Art benutzt hatte. Na schön, dachte er und versuchte, nicht ganz und gar Opfer des Schwermuts zu werden. Viellaicht ischt äs bässer so. Wär waiß, was sonscht geschähen würde; immerhin habe ich nur dän kurzen Rock an, und die Anwäsenhait Mamas… Er erschauerte bei dieser Vorstellung. Und wie däm auch sai: Jätzt hat mich die Prinzässin nicht mähr am Schlafittchen. Gehorsam und mit einem reumütigen Lächeln trat er auf Mama Schimmelhorn zu, nahm den Schal entgegen und gab sich damit alle Mühe, seine Blöße schamvoll zu bedecken. Doch bevor er ein Wort sagen konnte, ließ Zongtur seine grollende Stimme erklingen. »Madame«, brummte er auf betaigäusisch, »ich bin Zongtur, der Komponist. Wie Sie wissen, stamme ich von Jekem, und vor nunmehr fast fünftausend Jahren verschlug mich ein unheilvolles Schicksal auf diese elende Welt.« »Nun«, erwiderte Mama Schimmelhorn, »wänigschtens hättescht du dir aine Hose anziehen sollen. Auf Jäkäm laufen die Leute nicht so nackig härum. Daine Frau würde dir bäschtimmt die Lefiten läsen.« Zongtur gestand ein, daß Mama Schimmelhorn in diesem Punkt durchaus recht hatte und seine werte Gemahlin einen festen moralischen Standpunkt einnahm. Dann erklärte er, nur gegen seinen Willen habe er sich auf eine Art und Weise verhalten, die die Eingeborenen offenbar von ihm erwarteten, die sie irgendwie anmache. Mama Schimmelhorn beäugte ihren Mann, und sie bedachte auch den Herrn Doktor Rumpler und das Fräulein mit einem durchdringenden Blick. »Ich bin ärscht ainen Tag hier«, sagte sie, »aber ich värschtähe be raits. Laider habe ich kainen zwaiten Schal, den ich dir laihen könnte. Viellaicht raicht äs aus, wenn du dän Rägenschirm aufmachscht und ihn vor daine untere Körperhälfte hältscht.« Sie reichte ihm ihre Waffe, und Zongtur nahm sie entgegen.
»Und wänn du jätzt ain wänig Geduld hascht, übersätze ich daine Wor te, so daß auch die anderen wissen, um was äs gäht.« Rasch schilderte sie ihren Begleitern, was sie über die Jekemsyg in Er fahrung gebracht hatte. Zongtur grollte. Und Mama Schimmelhorn sag te: »Är maint, äs würde euch sicher ärmüden, ainfach so hier härum zuschtähen. Är lädt uns in sain Haim ain – in das Raumschiff –, und dort könnten wir ain Glas Wain trinken und saine Frau kännenlärnen.« Fräulein von Hohenheim und ihr Geliebter starrten Zongtur noch immer groß an und zögerten. »Glauben… glauben Sie, uns droht keine Gefahr?« fragte Dr. Rumpler. »Selbst… selbst wenn der Minotaurus gar kein Minotaurus ist, sondern ein Wesen von einem anderen Planeten, und er auch noch seine Frau mitgebracht hat, und überhaupt… Haben Sie seine Zähne gesehen?« Mama Schimmelhorn gab einen spöttischen Laut von sich. »Papa ischt schon sait gäschtern hier«, sagte sie nur. »Ja«, bestätigte Papa Schimmelhorn, »und Frau Ksorksan ischt aine gu te Köchin und war sähr nätt zu mir. Die Jäkämsyg sind gute Leute, genau wie wir Schwaizer.« Wieder knurrte Zongtur. »Är maint«, übersetzte Mama Schimmelhorn, »Papa habe inzwischen das Triebwärk räpariert. Är und saine Frau wollten viellaicht heute abend oder morgen früh schtarten, um nach Jäkäm zurückzukähren, und sie würden sich freuen, wänn wir sie vorhär noch bäsuchen würden. Sie wollen uns bäwirten und euch damit für die Gaschtfreundschaft und die vielen Opfergaben danken.« Fräulein von Hohenheim sah zu dem Herrn Doktor auf. »Ach, mein lieber Gottfried!« entfuhr es ihr. »Meine einzige und wahre Liebe! Mein herzallerliebster Schatz! Dies ist meine Pflicht als Prinzessin – und auch deine als Prinz. Wenn sich Frau Schimmelhorn für sie einsetzt, so bin ich ihrer friedfertigen Natur gewiß. Und wenn doch etwas geschähe – nun, dann geschähe es uns beiden. In einem solchen Fall stürben wir gemein sam!« Sie wandte sich an Mama Schimmelhorn. »Bitte antworten Sie ihm, es sei uns eine Ehre«, erklärte sie entschlossen.
Sie gab Sarpedon Mavronides den Befehl, zurückzubleiben und die Tür zu bewachen, und anschließend setzte sich die Prinzessin tapfer in Be wegung, wobei es sich der Herr Doktor Rumpler nicht nehmen ließ, schützend ihre Hand zu halten. Die kleine Prozession kehrte den Weg zurück, den Papa Schimmelhorn zuvor zusammen mit Zongtur gekommen war. Erneut eilte Xorxan nach einer Weile herbei, um den Gästen vorgestellt zu werden. Erneut wurde die gräßliche Musik ganz abgestellt. Und nachdem Zongtur Mama Schimmelhorn ihren Regenschirm zurückgegeben hatte, streifte er sich erneut die elegante Kombination über. Sie plauderten miteinander. Nach und nach entspannten sie sich. Gottfried Rumpler begann die Möglich keit eines profitablen Handels zwischen der Erde und Jekem zu erwägen. Und das ebenfalls nicht auf den Kopf gefallene Fräulein überlegte, was für Folgen die plötzliche Abreise des Minotaurus' für Klein Paläon ha ben mochte und wie es am besten damit fertigwerden konnte. Ob es nicht möglich wäre, fragte Philippa, daß die Bewohner der Insel Zeuge des Raumschiffstarts werden könnten? Man würde eine prächtige Zeremonie durchführen. Und sicher sei das alles der Anfang einer ganz neuen Tradition. Zongtur erwiderte, er hätte nicht die geringsten Einwände, meinte je doch, es dürfe dadurch zu keinen weiteren Verzögerungen kommen. »Eigentlich«, vertraute er Papa Schimmelhorn an, »weiß ich gar nicht, wie irgendeiner der Eingeborenen den Start unseres Schiffs übersehen könn te – immerhin dürfte es wirklich sehr spektakulär zugehen, wenn wir den Hügel durchstoßen.« Mama Schimmelhorn war fleißig mit Übersetzungsarbeiten beschäftigt. Wenn ihr Mann versuchte, ihr zu helfen, verbesserte sie ihn dauernd, und nach einer Weile gab es Papa auf und wechselte nur einige wenige zusätzliche Worte mit Zongtur und Xorxan. Alles in allem gesehen kamen sie recht gut miteinander zurecht, ob gleich der Herr Doktor einmal seine Enttäuschung nicht verhehlte, als Zongtur ihm so taktvoll wie möglich mitteilte, während der nächsten paar Jahrtausende seien ein Handelsaustausch und kultureller Kontakt zwischen der Erde und Jekem nicht sonderlich ratsam, weil die irdische Bevölkerung – Anwesende natürlich ausgeschlossen – zu… äh… zu
rückständig sei. Zum Abschied machte Zongtur Dr. Rumpler eine kom plette Aufzeichnung seiner neuesten Symphonie zum Geschenk (die auf keinem irdischen Instrument abgespielt werden konnte) und gab Fräu lein von Hohenheim ein tragbares Gerät, das, wie er ihr versicherte, die Art von Anti-Geziefer-Feld erzeugen konnte, das Klein Paläon während all der Jahre geschützt hatte. Er zeigte ihr ganz genau, wie man es bedie nen mußte. Xorxan reichte Papa Schimmelhorn ein holografisches Bild, das ihn zusammen mit den beiden Jekemsyg zeigte und in der vergange nen Nacht aufgenommen worden war. Sonderbarerweise lenkte es die Aufmerksamkeit des Betrachters in erster Linie auf den recht kurzen Ziegenlederrock, und Mama Schimmelhorn hielt es aus moralischen Gründen für angebracht, den Schnappschuß nach dem Antritt der Rück reise umgehend zu konfiszieren. Dann führten die beiden Jekemsyg ihre Gäste zu der Opferpforte zurück, wodurch der dort wartende Mavroni des erneut einen Mordsschrecken bekam, da er im Labyrinth nicht mit der Anwesenheit von mehr als einem Minotaurus gerechnet hatte. Am Tor angelangt, erinnerte sich Papa Schimmelhorn glücklicherweise an Humphrey. »Fascht hätte ich äs värgässen«, sagte er an die Adresse Zongturs gerichtet. »Main klainer Freund…« »Bringen Sie ihn in einer Stunde hierher«, antwortete Zongtur. »Es ist uns eine Freude, ihm einen Dienst erweisen zu können. Sie finden mich hier an der Pforte.« Sie sagten sich Lebewohl. Sie schlossen das Tor hinter sich. Und als sie in den Kombi stiegen – sehr zur Erleichterung des armen Ismail –, blieb Fräulein von Hohenheim zurück, um einige rasche Worte mit Mavroni des zu wechseln. »Hören Sie mir gut zu, Sarpedon!« flüsterte sie. »Ein großes Ereignis steht Klein Paläon bevor. Unser Minotaurus, der Halb gott, der uns all die vielen Jahre lang beschützte, wird in Kürze in seine eigene Domäne zurückkehren. Von dort aus will er weiterhin über uns wachen. Gewisse Anpassungen in Hinsicht auf die Opferungen sind unumgänglich, doch unsere Rituale und Zeremonien werden unverän dert fortgesetzt. Allerdings wird Klein Paläon in Zukunft nicht mehr in dem Ausmaße wie bisher von der Außenwelt abgeschirmt sein. Wir müs sen sorgfältig ausgewählten Besuchern den Zutritt erlauben. Und noch etwas, Sarpedon: Teilen Sie meinen Untertanen mit, der Minotaurus ha be in seiner unendlichen Weisheit entschieden, nicht nur unseren Prin
zen August mitzunehmen, sondern auch die alte Frau, eine Verwandte von ihm. Haben Sie verstanden?« »Ja, Hoheit«, erwiderte Mavronides ergeben. »Nach Einbruch der Dunkelheit sollen sich die Leute am Hügel des Labyrinthes einfinden, um zu wachen, bis er uns verläßt. Sagen sie ihnen, es würde gesungen und getanzt, und es gäbe zu essen und zu trinken. Er wolle nicht, daß wir seine Abreise bedauern. Er freue sich statt dessen über ein Fest zu seinen Ehren. Alles klar?« »Klar, Hoheit. Ich kümmere mich um alles.« Daraufhin stieg Fräulein von Hohenheim zu den anderen in den Kombi. »Frau Schimmelhorn«, sagte sie leise, »wenn wir die Feste errei chen, würde ich Sie gern unter vier Augen sprechen, bevor Sie sich erfri schen.« Nicht viel später rollte der Kombi auf den Schloßhof, und nachdem er angehalten hatte und die Insassen ausgestiegen waren, gab Mama Schimmelhorn ihrem Mann den Befehl, unverzüglich sein Turmquartier aufzusuchen, sich eine Hose anzuziehen und dann zurückzukehren, so daß sie ihn im Auge behalten konnte. Dann folgte sie dem Fräulein in einen privaten Salon, wo man ihr freundlich anbot, auf einem Sofa im Stile des Sonnenkönigs Platz zu nehmen. Philippa von Hohenheim setzte sich neben sie. Behutsam berührte sie den gestärkten Stoff des schwarzen Kleides. Vorsichtig griff sie nach der Hand Mama Schimmelhorns. »Frau Schimmelhorn«, sagte sie, »Sie sind eine kluge und erfahrene Frau. Ich habe nichts vor Ihnen zu verbergen versucht, und Sie waren sehr freundlich und haben mir verziehen. Doch es gibt da noch einen anderen Gefallen, um den ich Sie bitten muß.« Sie errötete. »Sie verstehen sicher, daß sich mein Volk hier auf Klein Paläon unter den… äh… gegebenen Umständen fragen wird, was aus dem Prin zen wurde. Ich habe Sarpedon Mavronides angewiesen, den Leuten mit zuteilen, er verließe uns zusammen mit dem Minotaurus, und man bringe ihn als Lohn für seinen Heroismus in die Domäne der Götter.« Mama Schimmelhorn legte ihre Hand auf die des Fräuleins. »Machen Sie sich kaine Sorgen, Prinzässin Philippa«, erwiderte sie. »Wir Frauen wissen schließlich, was geschpielt wird, wie ich immer sage. Ich känne Sie als ain geschaites schwaizerisches Mädchen. Sofort nach däm Ässen
machen Papa, Guschtav-Adolf und ich uns mit däm Hälikopter auf dän Wäg. Aber warten Sie nur, bis wir wieder in Nu Häffen sind! Ha!« Fräulein von Hohenheim dankte ihr und versprach, ihr eines Tages ei nen Besuch abzustatten. Einige Minuten lang tauschten sie Höflichkeiten aus. Dann kehrten sie auf den Schloßhof zurück, gerade in dem Augen blick, als Papa Schimmelhorn eintraf, der nun seine beste Jeans trug. Gottfried Rumpler wartete auf sie, und er erweckte den Eindruck, als habe ihn fast der Schlag getroffen. »Gottfried! Mein Held und Geliebter!« Besorgt eilte Philippa auf ihn zu. »Was ist denn geschehen?« Der Herr Doktor wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wortlos reichte er der Prinzessin einen Zettel. Sie warf einen Blick darauf. »Ein Funktelegramm!« hauchte sie. »Von… von Moskau! Aber… aber dort kennen wir doch niemanden.« »Lies es, liebste Philippa«, brachte Dr. Rumpler mit brüchiger Stimme hervor. »Es ist an dich adressiert.« ICH HABE TRIUMPHALEN EINZUG GEHALTEN! (las Philip pa laut). MEINE TREUEN FREUNDE HABEN MICH HEUTE MORGEN HIERHER GEBRACHT. ENDLICH GENIESSEN ICH UND MEINE GROSSARTIGE ERFINDUNG ANGEMES SENE ANERKENNUNG. SIE MACHEN MICH BESTIMMT ZU EINEM AKADEMIKER! ICH BEKOMME MEDAILLEN UND EINE LIMOUSINE! NIEDER MIT DEM SCHWEIZERISCHEN IMPERIALISMUS! LANG LEBE DIE REVOLUTION! Unterzeichnet war die Mitteilung mit KASPAR GANSFLEISCH. Das Fräulein ließ den Zettel sinken. Einige Sekunden lang blitzte es in ihren Augen, deren Blick unstet hin und her huschte, so als hoffe sie darauf, noch irgendeinen Ausweg entdecken zu können. »Begreifst du, was das bedeutet?« stöhnte sie. »Und ob – nur zu gut!« erwiderte der Herr Doktor.
»Was ischt dänn?« fragte Papa Schimmelhorn und trat an die beiden heran. »Ischt Maischter Gansi ätwas zugäschtoßen?« »Gestern abend, als die Leute auf der Suche nach Ihnen waren«, erklär te Gottfried Rumpler, »landete hier ein Hubschrauber. Das Dienstmäd chen, das ihn hörte, meinte, er sei eine ganze Weile geblieben. Auch wir nahmen an der Suche teil, in unserem eigenen Helikopter, und angesichts des Motoren- und Rotorenlärms hörten wir die andere Maschine nicht. Als wir zurückkehrten, war Kaspar Gansfleisch verschwunden. Und mit ihm Ihre Gold-Maschine.« Er griff nach dem Funktelegramm und reich te es Papa Schimmelhorn. »Lesen Sie!« Papa Schimmelhorn las es gleich zweimal, wobei sich seine Lippen be wegten und stumm die Worte formulierten. Nach einer Weile gab er den Zettel zurück und lachte schallend. »Ach, ach!« grölte er. »Maischter Gansi konnte saine Seele nicht an dän Teufel värkaufen, und däshalb wandte är sich an die Sovjets. Ho-ho-ho-ho-ho!« Er vergnügte sich so sehr, daß er sich den Bauch halten mußte, und sein Gesicht lief rot an. »Ach, schon rächt bald wird är nicht ätwa über irgendainem Feuer schmoren, sondern im Froscht zittern!« Gottfried Rumpler packte ihn bei den Schultern und versuchte, ihn zu schütteln. »Meine Güte, Herr Schimmelhorn! Sind Sie denn überge schnappt? Wissen Sie denn nicht, was das bedeutet? Ihre Maschine funktio niert. Sie verwandelt Blei in Gold!« »Verstehen Sie denn nicht?« platzte es fast hysterisch aus dem Fräulein heraus. »Er hat ihnen die Macht gegeben, die ganze Welt zu kaufen und die Ökonomie weltweit aus den Fugen geraten zu lassen! Versuchen Sie, sich das klarzumachen! Wir sind dem Untergang preisgegeben!« »Nain, nain!« hielt Papa Schimmelhorn ihr entgegen und gab sich alle Mühe, nicht mehr zu lachen und sich wieder zu beruhigen. »Ich habe äs dir doch ainmal ärklärt, klaine Philli… äh… ich maine, ärinnern Sie sich nicht mähr, Fräulain Prinzässin? Ich habe ainen Schkalenwärt von zwölf gewählt. Und warum? Wail ich an där Maschine noch ain oder zwai Vär bässerungen vornähmen mußte. Ich waiß nicht, wie ich äs ärklären soll, doch wann man aine zu große Ainschtällung wählt, wird där Schtrahl braiter – zuerscht nur ain bißchen, dann noch ain wänig und schließlich aine ganze Mänge. Bai fünfzig kann man gar kain Gold mähr härschtäl
len, und dabai, glaube ich, dürfte där Schtrahl zwai- oder draihundert Mäter brait sain. Wänn man auf achtzig gäht, durchmißt är mähr als ai nen Kilomäter – und dann arbaitet die Maschine auf aine ganz andere Art und Waise. Dann…« – wieder lachte er dröhnend – »… värwandelt sie Gold in Blai! Und schpäter… schpäter läßt sie alles schmälzen! Ich glaube, Maischter Gansi und die Sovjets sind so gierig, daß ihnen ainige unliebsame Überraschungen bevorschtähen.« »Lassen Sie uns zu den Schutzheiligen des schweizerischen Bankwe sens und der Weltwirtschaft beten, daß Sie recht haben!« seufzte Gott fried Rumpler. »Ach, machen Sie sich kaine Sorgen«, erwiderte Papa Schimmelhorn. »Wie däm auch sai«, warf Mama Schimmelhorn ein, »die GoldMaschine ischt für immer wäg. Und damit haben wir das Gäld für dän neuen Glockenturm värloren!« »Keineswegs«, widersprach Fräulein von Hohenheim. »Herr Schim melhorn konstruierte das Gerät, und es funktionierte. Man kann nicht ihn dafür verantwortlich machen, daß es uns nicht gelang, es angemessen zu schützen. Gottfried und ich wären keine ehrenwerten schweizerischen Bankiers, wenn wir uns nicht an unsere Zusagen hielten. Das verspro chene Honorar wird Ihnen selbstverständlich überwiesen.« Sie wandte sich an Dr. Rumpler. »Lieber Gottfried, ich habe den Eindruck, die Wor te Herrn Schimmelhorns treffen den Nagel auf den Kopf – der Verräter Gansfleisch und seine russischen Komplizen werden nicht von dieser Verschwörung profitieren! Und wir sind schweizerische Bankiers – wir können alles in Gold verwandeln! Außerdem haben wir noch Klein Palä on – und nach der Abreise des Minotaurus' sollten wir uns einige Ge danken über den Tourismus machen.«
12
Heißer Draht nach Moskau
Mit dem Hinweis auf die Verabschiedungszeremonie, für die es noch etliche Vorbereitungen zu treffen gelte, entschuldigte sich Fräulein von Hohenheim bei Mama Schimmelhorn dafür, sie nicht zum Abendessen einzuladen. Mama klopfte ihr auf die Hand und meinte, sie solle sich nur keine Gedanken machen, denn sie verstehe die ganze Sache. Sie versi cherten sich ihrer gegenseitigen Wertschätzung, während man Papa Schimmelhorn nicht die geringste Beachtung schenkte – wobei Dr. Rumpler eine Ausnahme machte, der irgendwie verlegen den Kopf schüttelte, ihn für den wissenschaftlichen Durchbruch auf dem Gebiet der Alchimie lobte und meinte, er würde sich über ein Foto des fertigen Glockenturms freuen. Dann kehrten die Schimmelhorns in das Turm quartier zurück, um ihre Sachen zu packen und Humphrey ausführlich von den Ereignissen dieses Tages zu berichten. Papa Schimmelhorn holte den Homunkulus aus dem Geheimfach her vor und setzte ihn auf seinen kleinen Stuhl. Er war ganz und gar nicht überrascht, als Mama Schimmelhorn Humphrey mit Namen ansprach. Die kleine Gestalt wirkte recht müde und besorgt, und er gab ihr einen Fingerhutvoll honiggesüßten Brandy, um ihn ein wenig aufzuheitern. Dann schilderte er ihm die Geschehnisse des vergangenen Tages, wobei ihn Mama Schimmelhorn des öfteren unterbrach und verbesserte. Humphrey hörte mit wachsendem Erstaunen zu, und dann und wann gab er ein erstauntes »Oh!« und »Ah!« von sich und meinte, nicht einmal Ariel oder der gemeine Kaliban hätten ihm derart verblüffende Dinge erzählen können. »Ach, nur Ihr, wohlmeinender Meister Schimmelhorn, konntet das Feuer der Hoffnung in mir derart schüren!« entfuhr es ihm schließlich. »Oh, bitte, befriedigt meine Neugier! Der Minotaurus, der Jekemsyg, der als Schiffbrüchiger in diesem Jammertal strandete und dem Ihr als Retter in der Not erschient – hat er tatsächlich vor, erneut ins Empyreum zu segeln? Will er wirklich in den Sphären zwischen den Sternen kreuzen? In jenen Domänen, in denen ich zu Hause war, bevor der heimtückische Gansfleisch meine Seele fing?«
»Ja! Heute abend schtartet är, und däshalb bringe ich dich in dainem Glas zu däm Hügel, dann air mainte, är sai berait, dich mitzunähmen.« Aufgeregt bat ihn der arme Humphrey darum, ihm zu versichern, das alles entspreche tatsächlich der Wahrheit. Und als das bestätigt wurde, war er so bewegt, daß es ihm eine Zeitlang die Sprache verschlug und er nur glücklich schluchzen konnte. Mama Schimmelhorn klopfte ihm vor sichtig auf den kleinen Kopf und tröstete ihn. »Bald bischt du an Bord däs Raumschiffs«, versprach sie ihm. »Aber nicht Papa bringt dich dorthin. Papa…« – sie bedachte ihren Mann mit einem finsteren Blick – »… blaibt brav hier im Turm, wo äs kaine nack ten Frauen gibt, und är packt die Sachen zusammen. Ich trage dich zu dän Jäkämsyg.« »Ach, werte Dame, seid bitte nicht zu streng mit ihm!« setzte sich Humphrey für seinen Wohltäter ein. »Er steht eben mit beiden Beinen fest im Leben, und er ist so gutmütig und hilfsbereit!« Mit einem winzi gen zarten Taschentuch wischte er sich die Tränen aus den Augen und putzte sich die Nase. »Andererseits jedoch spielt es keine Rolle, wer mich dorthin bringt. Es ist ja so herrlich, daß ich bald darauf hoffen darf, die sen fleischlichen Kerker, diese so empfindsame und gebrechliche Hülle, diesen künstlichen Körper verlassen zu können, in dem ich vier Jahr hunderte lang gräßliche Qualen erleiden mußte! Ach, in den frischen Winden des Weltraums wird er verschrumpeln, in der Kälte zwischen den Sternen erstarren, von den Böen der Strahlenorkane zerrissen. Ja, platzen werden die fleischlichen Mauern meines Verlieses, und dann kann meine Seele wieder erblühen, zart und schön wie eine Rose, präch tig wie eine Orchidee, glücklich wie ein Schmetterling in einer warmen Sommerbrise! Guter Meister Schimmelhorn, all das verdanke ich Euch! Wie soll ich Euch dafür nur belohnen?« Papa Schimmelhorn war versucht, den Homunkulus darum zu bitten, ihm noch einmal das Rezept des Liebeselixiers zuzuflüstern, doch gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich an die Präsenz seiner Frau. Als er ihr einen vorsichtigen Blick zuwarf, runzelte Mama Schimmelhorn die Stirn und machte Anstalten, zu ihrem Regenschirm zu greifen. »Du hascht beraits genug für mich getan, klainer Härr Hamfri. Wänn du nicht gewä
sen wärscht…« Er spürte die moralische Entrüstung Mamas und brach rasch ab. »Mach dir kaine Gedanken. Äs ischt alles in Ordnung so.« Während Humphrey und Papa sich voneinander verabschiedeten und dabei viele Worte des Bedauerns, der Sympathie und des gegenseitigen Respekts wechselten, griff Mama Schimmelhorn zum Telefon, rief das Fräulein an und teilte Philippa mit, sie habe noch ein Geschenk für Je kemsyg. Sie bat die Prinzessin darum, sich Ismail und den Kombi für die Fahrt zum Hügel ausleihen zu dürfen. Dann verabschiedete sich Hum phrey auch von ihr und Gustav-Adolf, der sich zärtlich den Rücken an ihm rieb und laut schnurrte. »Und nun, liebe Freunde«, sagte der Ho munkulus, »könnt Ihr mich wieder in mein Glas zurücksetzen, dem ich nun keine Abscheu mehr entgegenbringe. Lebt wohl, für immer!« Mama Schimmelhorn kam seiner Bitte sofort nach. Sie vergewisserte sich, daß der Stöpsel fest genug saß. Und zusammen mit der Flasche honiggesüßtem Brandy verstaute sie das Glas in der großen Reisetasche Papa Schimmelhorns. »So, und du packscht die räschtlichen Sachen zu sammen, zack-zack!« befahl sie. »Ich bin bald wieder zurück.« Sie griff nach der Tasche, und wenige Augenblicke später fiel die Tür hinter ihr ins Schloß. Papa Schimmelhorn war recht niedergeschlagen. Er hatte das Gefühl, einen Freund und Verbündeten verloren zu haben. Gustav-Adolf sah ihn schief an und gab ein verdrießliches Knurren von sich. Die Stimmung Papas hob sich auch dann nicht, als Sarpedon Mavronides hereinkam, um sich von ihm zu verabschieden, ihm alles Gute zu wünschen und zur Erinnerung an seine kurze Herrschaft über Klein Paläon eins der Tri tonshörner zu schenken, die bei seiner feierlichen Amtseinführung und den verschiedenen anderen Zeremonien erklungen waren, an denen er teilgenommen hatte. »Man muß es lernen, den Widrigkeiten des Lebens mit philosophi schem Gleichmut zu begegnen«, riet der Grieche. »Während der ganzen menschlichen Geschichte ist es immer wieder geschehen, daß Männer innerhalb kurzer Zeit die steilen Hänge und Grate zur Macht erklom men, nur um unmittelbar darauf auf der anderen Seite des Gipfels in eine tiefe Schlucht zu stürzen.« Papa Schimmelhorn nickte traurig, obgleich er in diesem Zusammenhang nicht so sehr an einen hohen Berg
dachte, sondern eher das Gefühl hatte, aus einem weichen Bett gefallen zu sein. »Sie dürfen Ihrer Hoheit nicht böse sein, denn die Prinzessin ist unfehlbar und damit jenseits aller Schuld.« »Ich bin auch gar nicht böse auf sie, Härr Zorba«, sagte Papa Schim melhorn. »Äs war nicht ihre Schuld.« Schwermütig dachte er an die herr lichen Nächte, die er im Schlafzimmer des Fräuleins verbracht hatte. »Außerdäm hatte ich ausraichend Gelegenhait, mich zu amüsieren.« Nachdem Mavronides ihm versprochen hatte, ihn in New Haven zu besuchen, wenn ihm der zu erwartende Tourismusboom die dafür nötige Zeit ließe, ging er wieder. Papa Schimmelhorn machte sich daran, gemäß der Anordnung Mamas die Sachen zu packen, und er war gerade damit fertig, als sie zurückkehrte – rechtzeitig zum Essen. Die Dienstmädchen brachten das Tablett herein, deckten den Tisch und bedienten sie schweigend und mit aller Höflichkeit. Die Mahlzeit war mit großem Geschick zubereitet worden, und Mama Schimmelhorn belohnte die beiden Mädchen, indem sie jedem großzügigerweise einen Schweizer Franken schenkte. Doch die ganze Zeit über gab sie nicht einen einzigen Laut von sich, und Papa Schimmelhorn war ziemlich er leichtert, als er nach dem Essen den Helikopter auf dem Schloßhof lan den hörte. Die Rückreise nach New Haven verlief für Papa Schimmelhorn nicht unbedingt auf sehr angenehme Art und Weise. Während des ganzen Flu ges mit dem Privatjet Gottfried Rumplers – er hatte auf Kreta auf sie gewartet, und an Bord befand sich auch Herr Grundtli – wagte er es nicht, die hübsche Schmusemieze anzusprechen, die sich als Stewardeß um sie kümmerte. In der Nacht zogen sich Mama Schimmelhorn und Gustav-Adolf in eine eigene Kabine zurück. Am nächsten Tag saßen sie auf der anderen Seite des Mittelganges, und Mama Schimmelhorn nutzte die gute Gelegenheit, um Herrn Grundtli von den vielen Sünden und Verfehlungen Papas zu berichten. Deshalb atmete er auf, als sie schließlich in New Haven landeten und das Flughafentaxi sie nach Hause brachte. Er holte das Gepäck aus dem Kofferraum, ging damit die Verandatreppe hoch und trug die Koffer und Taschen ins Wohnzimmer – wo zu seiner großen Überraschung der
Kleine Anton auf sie wartete. Es erstaunte weder ihn noch Mama Schimmelhorn, daß es seinem Großneffen trotz verriegelter Tür gelun gen war, sich Zutritt ins Haus zu verschaffen, denn sie wußten um seine besonderen Befähigungen, die ihm, unter anderem, zu einer beeindruk kenden Karriere als Schmuggler verholfen hatten. Mama Schimmelhorn verbarg ihr Entzücken nicht. Sie war enttäuscht gewesen, daß der Kleine Anton sie nicht nach Europa hatte begleiten können, und da sie ihn irr tümlicherweise für einen braven jungen Mann mit religiösen Neigungen hielt, freute sie sich bereits auf seine Gesellschaft als aufmerksamer Zu hörer. Sie bestand darauf, er müsse wenigstens ein oder zwei Tage lang ihr Gast sein. Der Kleine Anton meinte, er wolle gern zum Essen bleiben – er be stand darauf, es von einem nahen chinesischen Restaurant kommen zu lassen –, fügte jedoch hinzu, ein längerer Aufenthalt im Heim der Schimmelhorns müsse bis auf seine Rückkehr aus Montreal verschoben werden, wo er gerade an diesem Abend einen wichtigen Auftrag für Pêng-Plantagenet zu erledigen habe. Er versprach, möglichst rasch zu rückzukommen. »Na schön«, entgegnete Mama bedauernd, »ruf du also die Schinäsen an, und nachhär sage ich Frau Hundhammer, däm Paschtor und Frau Laubenschnaider Beschaid, um sie mit dän erfreulichen Neuigkaiten vär traut zu machen.« Sie bedachte Papa Schimmelhorn mit einem durch dringenden Blick. »Pack die Sachen wäg!« wies sie ihn an. »Und mach dich zur Abwächslung ainmal nützlich. Däck dän Tisch, damit sich där Klaine Anton an die Tafel sätzen kann.« Gehorsam kam er der Aufforderung nach. Es wurden einige Telefon gespräche geführt. Das chinesische Essen traf ein – und aufgrund des Sachverstandes des Kleinen Anton und seiner guten chinesischen Bezie hungen war es sehr schmackhaft. Sie speisten, und während der ganzen Mahlzeit lauschte der Kleine An ton einem höchst parteiischen Bericht über die Ereignisse auf Klein Pa läon. Da er seinen Großonkel kannte, vermochte er zwischen den Zeilen zu lesen, und gelegentlich konnte er ein aufgeregtes »Uii-iiih-uuh!« nicht unterdrücken. Wenn er sich unbeobachtet fühlte, zwinkerte er Papa Schimmelhorn aufmunternd zu.
Nach dem Essen trafen die Hundhammers und Frau Laubenschneider ein, um von den Lippen Mama Schimmelhorns die frohe Botschaft zu vernehmen, und Papa Schimmelhorn wurde unterdessen in seine Kel lerwerkstatt verbannt. Als der Kleine Anton den Versuch unternahm, sich zu seinem Großonkel zu gesellen, stampfte Mama mit dem einen Fuß auf, und so mußte er sich gedulden, bis es für ihn Zeit wurde aufzu brechen, um nicht die Linienmaschine nach Montreal zu verpassen. Ei nige Stunden lang blieb ihm nichts anderes übrig, als sich fromme Er güsse anzuhören und in den demütigenden Jubel über einen Glocken turm einzustimmen, der der höchste von ganz New Haven werden soll te. Erst drei Tage später, nach seiner Rückkehr, ergab sich für den Kleinen Anton die Möglichkeit, sich mit dem wesentlich detaillierteren und dra matischeren Bericht Papa Schimmelhorns vertraut zu machen. Während dieser drei Tage lockerte Mama Schimmelhorn ihre strengen Diszipli narmaßnahmen nur ein einziges Mal. In Anerkennung der Tatsache, daß es ihm tatsächlich gelungen war, Blei in Gold zu verwandeln und er da durch eine Menge Geld verdient hatte, erlaubte sie ihm, am Sonntag den Gottesdienst zu besuchen. In Pastor Hundhammers enthusiastischer Predigt ging es vor allen Dingen um die Tugend, die, von hohen Glok kentürmen symbolisiert, selbst im kargsten Boden keimen konnte, und er betonte, wie sogar die sündhaftesten Sünder das – wenn auch nur selten bewußte – Bestreben entwickeln mochten, der Menschheit einen wert vollen Dienst zu erweisen. Die versammelten Gemeindemitglieder kann ten Papa Schimmelhorn sehr gut – schließlich hatten sie mehr als nur einmal ihre Frauen und Töchter, ihre Schwestern, Cousinen und Tanten vor ihm schützen müssen –, und deshalb beantworteten sie die Ausfüh rungen des Herrn Pastors mit einem wirklich aufrichtigen und von Her zen kommenden Amen. Der tiefe Baß Papa Schimmelhorns, der ein be geistertes Hallelujah! rief, übertönte dabei alle anderen Stimmen. Abgesehen davon dauerte sein Hausarrest an, und er verbrachte den größten Teil seiner Zeit in der Kellerwerkstatt, wo er sich mit seiner Uh rensammlung und auch dem melodischen Klang der prächtigen Arm band-Kuckucksuhr tröstete. Er dachte an die Prinzessin, seufzte gele gentlich und erinnerte sich an den philosophischen Rat Sarpedon Ma vronides'. Er dachte auch an Miß Niki und Miß Emmy, und vor seinem
inneren Auge sah er, wie sie sich zusammen im Meer vergnügt hatten. Und er machte sich Sorgen bezüglich seiner Gold-Maschine und fragte sich, was Meister Gansfleisch und die Russen wohl damit angestellt ha ben mochten. Er wartete auf die Rückkehr des Kleinen Anton, und in aller Heimlichkeit bereitete er ein Paket mit mutierter Katzenminze vor, das sein Großneffe irgendwie an Mama Schimmelhorn vorbeischmug geln und dem armen Ismail schicken sollte. Schließlich dann traf der Kleine Anton ein, und Mama Schimmelhorn begrüßte ihn erfreut. »Ach«, wandte sie sich an ihn, »ich habe jätzt so viel zu tun. Paschtor Hundhammer hat mich zur Vorsitzänden däs Kirchenkomitees für den neuen Glockenturm ärnannt, und so bin ich dauernd unterwägs. Ich wärde die maischte Zait über fort sain, und viellaicht kannscht du Papa im Auge behalten, so daß är kainen Unsinn mit nackten Frauen ansch tällt.« Der Kleine Anton versprach ihr, sie könne sich ganz auf ihn verlassen. Er wolle gut auf Papa achtgeben, und taktvoll fügte er hinzu, möglicher weise gelinge es ihm, ihn auf den Pfad der Tugend zurückzuführen. Kaum hatte Mama Schimmelhorn das Haus verlassen, befreite der Klei ne Anton seinen Großonkel aus dem Keller und holte eine Flasche chi nesischen Reisschnaps hervor. »Heraus mit der Sprache, Papa«, sagte er und machte es sich gemütlich. »Erzähl mir alles.« Dieser Aufforderung kam Papa Schimmelhorn mit Freuden nach. In zwischen gehörte seine Niedergeschlagenheit größtenteils der Vergan genheit an, denn an diesem Morgen hatte ihm Gustav-Adolf nicht nur eine frisch gefangene Maus gebracht, sondern sogar für ihn geschnurrt. Mit ebenso einfachen wie dramatischen Worten schilderte er seine Er lebnisse und ließ dabei keins der wichtigen Details aus. Zum erstenmal vernahm der Kleine Anton die ganze Wahrheit über Niki und Emmy, Meister Gansfleisch und Zuckgalgen, auch über das schreckliche Zau bermittel, das den ›Potänzbattärien dän Schtrom‹ genommen hatte. Papa Schimmelhorn erwähnte Humphrey, das Liebeselixier, die Prinzessin – (»Lieber Himmel!« entfuhr es dem ehemaligen Prinzen bedauernd. »Niemals zuvor habe ich aine solche Frau kännengelärnt!«) –, seine feier
liche Amtseinführung als ihr Gemahl. Er erwähnte darüber hinaus die heidnischen Riten Klein Paläons, die Aufforderung der Prinzessin, den Minotaurus zu einem Kampf auf Leben und Tod herauszufordern, und er schloß, indem er beschrieb, wie er den gräßlichen Halbgott sofort als einen Jekemsyg erkannt hatte. Der Kleine Anton war beeindruckt. »Nun«, meinte er, »abgesehen von der Reaktion meiner Großtante hast du die ganze Sache ja gut überstan den – und dich dabei auch noch bestens amüsiert. Es ist allerdings wirk lich schade, daß du nicht dazu in der Lage bist, eine deiner Erfindungen zu wiederholen, um von den entsprechenden Geräten Duplikate herzu stellen. Pêng-Plantagenet geriete durch deine Gold-Maschine bestimmt ganz aus dem Häuschen und würde dich zu einem Millionär machen.« Papa Schimmelhorn machte ein betretenes Gesicht. »Das ischt ainer där Gründe, warum ich so besorgt bin, Klainer Anton«, vertraute er sei nem Großneffen an und hob das Glas, auf daß es neu gefüllt werde. »Viellaicht ischt Maischter Gansi gärissener, als ich dachte. Auf Klain Paläon war ich sicher, är würde dän Apparat auf ainen viel höheren Schkalenwärt ainschtällen und dadurch alles ruinieren – doch was ischt, wann ich mich irre? Wänn die Sovjets viel Gold härschtällen und ich die Maschine nicht noch ainmal ärfinden kann, so gibt man viellaicht mir die Schuld.« Einige Sekunden lang runzelte der Kleine Anton die Stirn und überleg te konzentriert. Plötzlich hätte er fast sein Glas fallenlassen und sprang auf. »Meine Güte!« entfuhr es ihm. »Warum habe ich denn nicht zwei und zwei zusammengezählt? Auf dem Flug nach New Haven habe ich einen Artikel in der Zeitung gelesen. Warte einen Augenblick, ich hole sie – sie befindet sich in meinem Zimmer!« Er eilte davon, und kurz darauf kam er mit dem in Montreal erschei nenden Star zurück. »Ich glaube, dein Problem ist gar keins mehr. Hör zu! Es steht unter der Rubrik Heißer Draht nach Moskau.« Offizielle Sprecher der sowjetischen Regierung – so las der Kleine Anton laut vor – haben heute verlautbaren lassen, infolge der Wachsamkeit des KGB sei ei ne vom Westen ausgehende kapitalistisch-imperialistische Verschwörung gegen das künstlerische und kulturelle Erbe Rußlands vereitelt worden, indem ein Geheim
agent des CIA gefaßt wurde, bevor er seinen infamen Auftrag durchführen konn te. Der Agent, so hieß es weiter, gab sich als fähiger Wissenschaftler und Ingenieur der Freien Welt aus. Mit aller Entschiedenheit werden Meldungen dementiert, die besagen, es sei dem Agenten vor seiner Verhaftung gelungen, in den Kreml vorzu dringen, dort zahllose Kunstobjekte aus Gold zu zerstören und einen wichtigen Anbau niederzubrennen, dem große historische Bedeutung zukam und der aus der Zeit Iwan des Schrecklichen stammte. »Ich habe so das Gefühl«, bemerkte der Kleine Anton und lächelte, »daß wir nun über den Aufenthaltsort Meister Gansfleischs Bescheid wissen und eine gewisse Vorstellung davon haben, was aus ihm gewor den ist.« Papa Schimmelhorn seufzte tief und erleichtert. »Ich bin ja so froh«, sagte er. »Jätzt brauche ich mir in dieser Hinsicht kaine Sorgen mähr zu machen. Sonscht hätte ich mich für dän ganzen Räscht maines Läbens schuldig gefühlt.« Er lehnte sich zurück. »Ach«, fuhr er fort, »Klainer Anton, äs schtimmt laider: Ich kann maine Ärfindungen immer nur ainmal machen und nicht wiederholen. Doch was das Liebesäliksier angäht…« Geistesabwesend blickte er in sein Glas. »Das habe ich noch gar nicht ärfunden, und wänn ich ainen äntschprächenden Värsuch unternähme…« Er leckte sich die Lippen und hob das Glas. »Laß uns ainen Toascht ausbringen!« donnerte er fröhlich. »Wir trinken auf… Oh, du kennscht sie nicht, hascht maine klaine Tilda Blatnik noch nie gesähen? Ach, Klainer Anton – sie ischt ja aine so hübsche Schmusemieze!«