Melanie Stadermann SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen
Melanie Stadermann
SchülerInnen ...
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Melanie Stadermann SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen
Melanie Stadermann
SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen Zwischen Wissensmanagement und sozialen Aushandlungsprozessen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation, Technische Universität Dortmund, 2010 Disputation am 18.06.2010 1. Gutachterin: Prof'in Renate Schulz-Zander 2. Gutachterin: Prof'in Sigrid Metz-Göckel
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch | Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17909-4
Danksagung
„Kommunikation ist die Antwort auf Komplexität“ Markus Miller (*1973) Die vorliegende Arbeit zum gemeinschaftlichen Wissensmanagement von SchülerInnen im mediengestützten schulischen Unterricht ist das Produkt eines mehrjährigen Forschungsprozesses, dessen Erstellung durch die im folgenden genannten Personen maßgeblich begleitet wurde: Meiner Doktormutter Prof’in Renate Schulz-Zander danke ich herzlich für ihre wissenschaftliche Betreuung, für viele konstruktive Anregungen und ihre Geduld. Dank gebührt auch Prof’in Sigrid Metz-Göckel, die sich gerade in der Endphase meiner Arbeit deutlich mehr engagierte als dies für eine Zweitgutachterin üblich ist und die durch ihre Sicht als Soziologin diese Arbeit bereicherte. Meiner Kollegin Dr. Birgit Eickelmann danke ich sehr für ihr fachliches Feedback während unserer universitären Besprechungen. Ein herzliches Dankeschön auch an meine Arbeitsgruppe „AQUA“ („Arbeitsgruppe mit qualitativem Ansatz“) von der Netzwerkstatt der FU-Berlin für die sowohl methodisch als auch menschlich wertvolle interdisziplinäre Zusammenarbeit. Vor allem Dr. Cornelia Stadlbauer, die für mich über eine Kollegin hinaus zu einer wertvollen Freundin geworden ist, danke ich für inspirierende Gespräche. Außerdem danke ich besonders Katrin Albert, mit der ich im anregenden wechselseitigen Austausch den Verschriftlichungsprozess unserer Dissertationen reflektierte. Das Promotionsstipendium der Hans-Böckler Stiftung erleichterte mir durch die wichtige materielle Förderung die sorgenfreie und durch ihr breites Seminarangebot die wissenschaftlich fundierte Bearbeitung dieser Dissertation. Meinen Eltern, meinem Bruder, meinen Freundinnen und Freunden danke ich für ihren Glauben an mich. Insbesondere erwähnen möchte ich Markus James für die Bereitstellung seiner technischen Ressourcen und die Unterstützung bei der Digitalisierung und Komprimierung meines videobasierten Datenmaterials. Markus Nixdorf danke ich für die orthografische Durchsicht einiger Teile meiner Arbeit.
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Danksagung
Ein besonderer Dank gilt meinem Mann Dr. Jan Robert Stadermann für seine endlose Geduld, für sein offenes Ohr und die enorme sowohl emotionale als auch inhaltliche Unterstützung während der Promotionsphase. Meinen Kindern Tom Erik und Lenja Marie danke ich dafür, dass sie mich die Welt wieder aus Kinderaugen sehen lassen. Sie machen mir regelmäßig deulich, wie bereichernd es ist, auch Alltägliches und selbstverständlich Gewordenes immer wieder neu zu hinterfragen und dass Kinder eigentlich die wahren Forscher sind. Melanie Stadermann
Inhaltsverzeichnis
Einleitung.................................................................................................. 13 1.1 Forschungsanlass ................................................................................ 13 1.2 Aufbau der Arbeit............................................................................... 16 2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse..................................... 19 2.1 Wandel der Lernkultur in der Wissensgesellschaft............................. 20 2.2 Lern- und Interaktionsprozesse........................................................... 23 2.2.1 Konstruktivistische Lerntheorie ................................................ 24 2.2.2 Gestaltung der Lernumgebung .................................................. 29 2.2.3 Lehrpersonen als Facilitatoren .................................................. 35 2.2.4 Selbst gesteuertes Lernen.......................................................... 40 2.2.5 Kooperation und Kollaboration ................................................ 45 2.2.6 Grounding als gemeinsamer Aushandlungsprozess................... 53 2.3 Wissensmanagement........................................................................... 56 2.3.1 Zum Begriff des Wissensmanagements..................................... 56 2.3.2 Das Münchner Modell des Wissensmanagements .................... 58 2.3.3 Communities als Keimzelle....................................................... 65 2.3.4 Lerngemeinschaften .................................................................. 67 2.3.5 Forschungs- und Produktionsgemeinschaften ........................... 70 2.4 Digitale Medien und ihr Potenzial zur Interaktivität .......................... 72 2.4.1 Definition digitale Medien ........................................................ 72 2.4.2 Computer als evokatorisches Objekt......................................... 74 2.4.3 Computerunterstütztes Lehren und Lernen ............................... 80 2.4.4 Medienkompetenz und Gefahren der Mediennutzung .............. 91 2.4.5 Gender und digitale Medien...................................................... 92 2.4.6 Forschungsbefunde: Lehren und Lernen mit digitalen Medien . 96 3 Forschungsdesign.................................................................................... 109 3.1 Entwicklung der Fragestellung ......................................................... 109 3.2 Sampling und Datenerhebung........................................................... 112 3.2.1 Interviews................................................................................ 112 3.2.2 Videos ..................................................................................... 113 3.2.3 Methodentriangulation:Videodaten und Interviewdaten ..........117 1
8
Inhaltsverzeichnis
3.3 Falldarstellungen .............................................................................. 118 3.3.1 Freier Einsatz digitaler Medien............................................... 119 3.3.2 Märchenprojekt....................................................................... 121 3.3.3 Einsatz von Lernprogrammen ................................................. 123 3.3.4 Klassische und Neue Medien .................................................. 125 3.3.5 Wirtschaft und Schule ............................................................. 127 3.3.6 Computergestütztes Stationenlernen ....................................... 128 3.3.7 Gegenüberstellung der Fälle ................................................... 129 3.4 Datenauswertung anhand der Grounded Theory............................... 132 3.4.1 Der Prozess der Codierung ..................................................... 134 3.4.2 Wechselspiel zwischen Deduktion, Induktion und Abduktion 140 3.5 Das Rahmenmodell der Gruppeninteraktionsforschung ................... 141 4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement........ 145 4.1 Kontext: Merkmale der Lernumgebung............................................ 147 4.1.1 Integration digitaler Medien.................................................... 147 4.1.2 Aufgabenstellung/ Didaktik .................................................... 158 4.2 Intervenierende Variable: Genderfokus............................................ 173 4.2.1 Männlich geprägte Computerkultur ........................................ 173 4.2.2 Unterschiedliche Medienzugänge bei Jungen und Mädchen?. 175 4.2.3 Zuschreibungen von Mädchen und Jungen ............................. 177 4.2.4 (Un)Doing Gender von Lehrpersonen..................................... 180 4.3 Interaktionsmuster: Der Computer als Arbeitspartner ...................... 186 4.3.1 Computer als emotionslose Maschine ..................................... 187 4.3.2 Computer als undurchschaubares Objekt ................................ 188 4.3.3 Computer als Subjekt mit eigenem Willen.............................. 192 4.3.4 Computer als Gegenspieler ..................................................... 194 4.3.5 Computer als „allwissende Hoheit“......................................... 196 4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften .......................................... 198 4.4.1 Lehrende als Wissensvermittler/ SchülerInnen als Lernende.. 199 4.4.2 Lehrer als Mit-Lernende und Schüler als Experten................. 201 4.4.3 Facilitatoren und selbst gesteuert Lernende ............................ 211 4.4.4 Lehrerinterventionen als Störvariable ..................................... 239 4.4.5 Kooperatives Tutoring unter SchülerInnen ............................. 250 4.4.6 Fehlgeschlagenes Tutoring...................................................... 268 4.4.7 Experteninszenierungen .......................................................... 271 4.4.8 „Bedürfnisorientierten Hilfe“ versus „Experteninszenierung“ 280 4.4.9 Funktion digitaler Medien in Lehr-/Lernkontexten ..................282
Inhaltsverzeichnis
9
4.5 Interaktionsmuster: Forschungs- und Produktionsgemeinschaften ... 284 4.5.1 Arbeitsteilung.......................................................................... 287 4.5.2 Wissens- und Verhaltensdominanz ......................................... 295 4.5.3 Verantwortungsdiffusion, Trittbrettfahrer und Mitläufer ........ 300 4.5.4 Konkurrenz-, Macht- und Revierkämpfe................................. 306 4.5.5 Konsensbildung und Groundingprozesse ................................ 314 4.5.6 Computer in Forschungs- und Produktionsgemeinschaften .... 325 4.6 Konsequenzen: Erwerb von Schlüsselqualifikationen ...................... 327 4.6.1 Sozialkompetenzen ................................................................. 327 4.6.2 Selbstlernkompetenzen ........................................................... 332 4.6.3 Medienkompetenzen ............................................................... 334 5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse................................. 339 5.1 Axiale Dimensionalisierung der Interaktionsmuster ......................... 339 5.2 Förderliche und hinderliche Aspekte des Wissensmanagements ...... 348 5.2.1 Rolle der Interaktionsmuster ................................................... 348 5.2.2 Rolle der digitalen Medien...................................................... 356 6 Fazit ........................................................................................................ 363 6.1 Zusammenfassung ............................................................................ 363 6.2 Konsequenzen und Ausblick ............................................................ 370 6.2.1 Reflexion des methodischen Vorgehens ................................. 370 6.2.2 Konsequenzen für Unterrichtspraxis und Lehrerfortbildung... 372 6.2.3 Ausblick .................................................................................. 373 Literatur .......................................................................................................... 375
Anhang A Kategorientabellen für das paradigmatische Modell B Belegstellen für das dreidimensionale Achsenmodell Belege für die Interaktionsmuster Belege zur Rolle der digitalen Medien
Der Anhang mit den beispielhaften Belegen ist über das OnlinePlus-Angebot des VS Verlags www.vs-verlag.de/buch/978-3-531-17909-4 einzusehen.
Abbildungsverzeichnis Abb. 2.1: Traditionelles und konstruktivistisches Paradigma (Gaiser, 2002) ... 26 Abb. 2.2: Konstruktivistische Lernumgebungen (Reinmann & Mandl, 2006).. 31 Abb. 2.3: Das Drei-Schichtenmodell (Boekaerts, 1999)................................... 41 Abb. 2.4: Kooperation und Kollaboration (vgl. Hinze, 2004) .......................... 45 Abb. 2.5: Koordination, Kooperation und Kommunikation (Bürger, 1999)..... 53 Abb. 2.6: Prozess des Groundings (nach Straub, 2001).................................... 54 Abb. 2.7: Bausteine des Wissensmanagements (Probst et al., 1999) ................ 57 Abb. 2.8: Wasseranalogie (Reinmann-Rothmeier, 2001) ................................. 59 Abb. 2.9: Forschungs und Produktionsgemeinschaften .................................... 70 Abb. 2.10: Stufenmodell Technologie-Integration (vgl. Hooper/Rieber, 1995)90 Abb. 2.11: Unterrichtsformen mit digitalen Medien (Schulz-Zander, 2005) .. 108 Abb. 3.1: Zirkulärer Analyseprozess .............................................................. 135 Abb. 3.2: Paradigmatisches Modell (vgl. Strauss, Corbin, 1996) ................... 137 Abb. 3.3: Modell der Gruppeninteraktionsforschung (Becker-Beck, 1997) .. 142 Abb. 3.4: Gliederung der empirischen Phänomene......................................... 144 Abb. 4.1: Paradigmatisches Modell gemeinsamen Wissensmanagements...... 146 Abb. 4.2: Der Computer als Interaktionspartner ............................................. 186 Abb. 4.3: Bilden von Lerngemeinschaften...................................................... 199 Abb. 4.4: SchülerInnen als Experten und Lehrpersonen als Novizen ............. 201 Abb. 4.5: Facilitatoren und SchülerInnen als selbst gesteuerte Lerner ........... 214 Abb. 4.6: Interaktionsmuster kooperatives Tutoring unter SchülerInnen ....... 251 Abb. 4.7: Wissensweitergabe im Schneeballsystem ....................................... 258 Abb. 4.8: Hilfe ohne Wissensweitergabe ........................................................ 277 Abb. 4.9: „Weitergabe von Wissen“ versus „Experteninszenierung“ ............. 281 Abb. 4.10: Forschungs- und Produktionsgemeinschaften ............................... 286 Abb. 4.11: Schlüsselqualifikationen ............................................................... 327 Abb. 5.1: Dimensionen gemeinsamen Wissensmanagements ......................... 343 Abb. 5.2: Wechselspiel: Interaktionsmuster und Groundingprozesse............. 353 Abb. 5.3: Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement 356
Tabellenverzeichnis
Tab. 2.1: Erwarteter Wandel der Lernkultur (Pelgrum & Anderson, 1999) ..... 21 Tab. 2.2: Well- and ill-structured problems (vgl. Jonassen, 2004). .................. 32 Tab. 2.3: Ausprägungsgrade von Kooperationen (Konrad, 1999) .................... 47 Tab. 2.4: Wissensmanagementprozesse (vgl. Reinmann-Rothmeier, 2001) ..... 60 Tab. 2.5: Technologien zur Wissenskonstruktion (vgl. Jonassen, 2003) .......... 86 Tab. 3.1: Fallauswahl...................................................................................... 118 Tab. 3.2: Merkmale der einzelnen Fälle ......................................................... 130 Tab. 3.3: Lehrer- und Schüleraktivitäten der einzelnen Fälle ......................... 131 Tab. 4.1: Lehrer als Facilitatoren und Schüler als selbst gesteuerte Lerner .... 215 Tab. 5.1: Förderliche und hinderliche Ausprägungen der Interaktionsmuster 352 Tab. 5.2: Einfluss der digitalen Medien auf Wissensmanagementprozesse .... 361
Abkürzungsverzeichnis
L Lin S Sin I
= = = = =
Lehrer Lehrerin Schüler Schülerin InterviewerIn
1 Einleitung
„Die wichtigste Voraussetzung für Wissen ist immer Neugier“ Erich Rutemöller (*1945) 1.1 Forschungsanlass In der heutigen Wissensgesellschaft1 nehmen digitale Medien eine zentrale Rolle ein. Da Wissensbestände besonders aufgrund des Internets täglich wachsen, tritt Verfügungswissen im Vergleich zur kritischen Auseinandersetzung und Selektion von Wissen in den Hintergrund. Außerdem ermöglichen digitale Medien z. B. via E-Mail eine zeit- und raumübergreifende Kommunikation und bieten z. B. über Präsentationssoftware und Web-Tools vielfältige Optionen Wissen aufzubereiten, darzustellen und zu verbreiten. Um SchülerInnen optimal auf ein Leben in der heutigen Wissensgesellschaft vorzubereiten, gewinnt selbst gesteuertes, kreatives und kooperatives Lernen - insbesondere unter Nutzung digitaler Medien - an Bedeutung. Es ist daher eine wichtige Forschungsaufgabe, den Einsatz von digitalen Medien im Schulunterricht zu untersuchen. Im Fokus dieser Arbeit stehen die Prozesse der Rollen- und Wissensaushandlungen von SchülerInnen2 (und Lehrpersonen) im schulischen Unterricht unter Nutzung digitaler Medien. Motiviert wurde diese Arbeit durch SITES M2 (Second Information Technology in Education Study Module 2), einer inter1
„Erstens soll mit dem Begriff (Wissensgesellschaft) (...) auf die Bedeutung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien und ihrer betrieblichen Nutzung hingewiesen werden. Zweitens geht es um neue Formen der Wissensproduktion; Wissen wird als wichtige Ursache wirtschaftlichen Wachstums – neben den klassischen Faktoren Kapital und Arbeit – eingeführt. Eine zentrale Bedeutung wird zum einen der Produktion forschungsintensiver Produkte und zum anderen wissensbasierten Dienstleistungen beigemessen. Drittens wird auf die zunehmende Bedeutung schulischer Aus- und Weiterbildungsprozesse und viertens auf die zunehmende Bedeutung wissensund kommunikationsintensiver Dienstleistungen („Wissensarbeit“) hingewiesen (...). Es geht also um Veränderungen im technologischen und wirtschaftlichen Bereich (..), im Bereich der Bildungsplanung und im Bereich von Organisation (Wissensmanagement) und Arbeit (Wissensarbeit)“ (Heidenreich, 2002, S.1). 2 Es wird bewusst der Begriff „SchülerInnen“ verwendet, um im Sinne einer Gleichberechtigung beide Geschlechter zu berücksichtigen. Wenngleich dieser Begriff etwas gekünstelt ist, rückt er das ansonsten in der sprachlichen Form meist benachteiligte weibliche Geschlecht ins Bewußtsein.
M. Stadermann, SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen, DOI 10.1007/978-3-531-93178-4_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Einleitung
nationalen Studie der IEA (International Association for the Evaluation of Educational Achievement), die in Deutschland unter der Leitung von Renate Schulz-Zander am IFS (Institut für Schulentwicklungsforschung) durchgeführt wurde. Es handelt sich um eine qualitative Untersuchung mit Fallstudien in der Primarstufe sowie der Sekundarstufe I und II zur Identifikation, Analyse und Dokumentation innovativer pädagogischer Unterrichtspraxis unter Nutzung digitaler Medien. In den untersuchten Unterrichtspraktiken sind digitale Medien zur Verbesserung des Lehrens und Lernens integriert, nicht im Sinne eines Unterrichtsersatzes, sondern als Bereicherung der Unterrichtspraxis. So sollten sich u. a. positive Veränderungen der Schüler- und Lehreraktivitäten abzeichnen. Die Ergebnisse von SITES M2 beruhen auf Interviews mit SchülerInnen, Lehrpersonen, Schulleitungen, Technischen KoordinatorInnen und Eltern. Diese liefern vielfältigste Informationen, vom beruflichen Hintergrund der Lehrpersonen über die unterrichtliche Computernutzung bis hin zur schulischen Ausstattung mit digitalen Medien. Für die vorliegende Untersuchung sind Interviewpassagen relevant, die Aufschluss über Lehrer- und Schüleraktivitäten, deren Handlungsabsichten und gegenseitigen Rollenerwartungen geben. Die Befunde von SITES M2 zeigen, dass sich der Schwerpunkt des Lernens von der Vermittlung zur Aneignung und zu einem verstärkt selbst gesteuerten und zugleich kooperativen und kollaborativen Lernen unter Nutzung digitaler Medien verlagert. Lehrpersonen erlebten sich u. a. verstärkt als Berater und Moderatoren, während sich SchülerInnen unter Nutzung digitaler Medien und im Austausch mit anderen selbst Wissen aneigneten, nutzten und generierten. Die Interviews mit den Lehrpersonen und SchülerInnen geben Einblicke in das subjektive Erleben des Unterrichts unter Nutzung der digitalen Medien. Offen bleibt die Frage, inwieweit sich dieses Erleben auch auf der Ebene des tatsächlichen Verhaltens wieder findet. Hier gibt die Ebene des direkt zu beobachtenden Unterrichtsverhalten Einblick. In der deutschen SITE-Studie wurden zu Dokumentationszwecken optional Videoaufnahmen verschiedener Unterrichtssituationen, in denen digitale Medien integriert wurden, durchgeführt, aber nicht detailliert ausgewertet. In der vorliegenden Arbeit sollen diese Videoaufnahmen im Sinne einer Datentriangulation herangezogen werden, um die Selbst- und Fremdsicht der Lehrpersonen und SchülerInnen mit dem beobachteten Verhalten in den aufgenommenen Unterrichtstunden zu ergänzen. Auf diese Art und Weise sollen umfassende Informationen darüber gewonnen werden, inwieweit der digitale Medieneinsatz das soziale Geschehen sowie die Lernprozesse im Unterricht beeinflusst. Besonders anhand der Videodaten können Wissens- und Rollenaushandlungsprozesse analysiert werden.
1.2 Aufbau der Arbeit
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Die Interaktionsanalyse soll sich nicht nur auf einen sozialen, zwischenmenschlichen Aspekt beziehen, sondern, weil die Austauschprozesse zwischen SchülerInnen (und Lehrpersonen) idealtypisch auf ein produktives Lernen zielen, auch kognitive Prozesse berücksichtigen. Die SchülerInnen erwerben nicht nur Wissen, sondern geben es auch aktiv an andere weiter, sie generieren im Austausch mit anderen neues Wissen, das schließlich oft mithilfe der digitalen Medien aufbereitet und anderen präsentiert wird. Entsprechend zielt das Handeln der Akteure - neben dem Verfolgen sozialer Motive - nicht nur auf einen Lernprozess, sondern darüber hinaus auf ein Lenken, Teilen und Produzieren von Wissen, daher auf ein Wissensmanagement. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es Aspekte zu identifizieren, die das gemeinsame Wissensmanagement, insbesondere die Ko-Konstruktion von Wissen, fördern bzw. behindern. Als Rahmenbedingung wird vor allem der Einluss der Integration digitaler Medien auf die Lern- und Aushandlungsprozesse der SchülerInnen in offenen Unterrichtsformen3 untersucht. Durch die Analyse des Interaktionsgeschehens, unter besonderer Berücksichtigung der Funktion der digitalen Medien in Lehr- und Lernprozessen, wird ein wichtiger Beitrag zur medienpädagogischen Theoriebildung geleistet. Bisher fehlen Forschungsstudien die gezielt den Einsatz digitaler Medien in den Unterricht auf einer interaktiven Ebene des Wissensmanagements untersuchen und durch die Kombination von Interview- und Videodaten sowohl das subjektive Erleben als auch die Unterrichtshandlungen der involvierten Lehrpersonen und SchülerInnen fokussieren. Eine derartige Untersuchung des Zusammenspiels zwischen Interaktion, digitalen Medien und Wissensmanagement schließt diese Forschungslücke und ermöglicht eine differenzierte Analyse und Bewertung unterrichtlicher Interaktionen unter Nutzung digitaler Medien. Zentrales Ergebnis dieser Arbeit ist die Entwicklung eines dreidimensionalen Achsenmodells, das das Wechselspiel zwischen den ermittelten Interaktionsmustern und Wissensmanagementprozessen in mediengestützten Lernumgebungen verdeutlicht, um so förderliche und hinderliche Aspekte eines kollaborativen Wissensmanagements unter Nutzung digitaler Medien zu identifizieren und langfristig Unterrichtsprozesse zu verbessern.
3 Unter dem Schlagwort "Offene Unterrichtsformen" wird hier ein Sammelbegriff für verschiedene Reformansätze verstanden. Der Unterricht kann z.B. dahingehend geöffnet werden, dass Lerninhalte und –methoden an den Interessen der SchülerInnen ausgerichtet werden, um diesen eine möglichst selbstständige Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand zu ermöglichen.
16
1 Einleitung
1.2 Aufbau der Arbeit Nach der Darstellung des Forschungsanlasses (Abschnitt 1.1) werden in Kapitel 1 Lern- und Austauschprozesse in mediengestützten Lernumgebungen thematisiert. Zunächst wird in Abschnitt 2.1 der Wandel der Lernkultur in der Wissensgesellschaft thematisiert. In Abschnitt 2.2 werden Lern- und Interaktionsprozesse aus einer konstruktivistischen Perspektive näher skizziert. Es werden Gestaltungsprinzipien (gemäßigt) konstruktivistischer Lernumgebungen vorgestellt sowie die Rolle der Lehrenden in diesen Umgebungen thematisiert. Die wichtigsten Leitlinien der Lernkultur, nämlich Selbststeuerung, Kooperation und Kollaboration werden anhand grundlegender Theorien und Forschungsbefunde dargestellt. Es werden zudem Groundingprozesse thematisiert, wie InteraktionsPartner über eine dialogische Auseinandersetzung ihrer (unterschiedlichen) Sichtweisen zu einer gemeinsam geteilten Wissenskonstruktion gelangen. In Kapitel 2.3 wird auf das Konstrukt des Wissensmanagements eingegangen, insbesondere auf das Münchener Modell (von Reinmann-Rothmeier & Mandl), das soziale Prozesse der Wissensaneignung, -nutzung, -kommunikation und -generierung fokussiert. Es wird der Begriff „Community“ definiert und zentrale Merkmale von Lern-, Forschungs- und Produktionsgemeinschaften herausgearbeitet. In Kapitel 2.4 werden digitale Medien und deren Potenzial zu Interaktivität vorgestellt. Hierzu wird zunächst eine Begriffsbestimmung der digitalen Medien vorgenommen, Potenziale und Gefahren einer Mediennutzung analysiert sowie ihr Einfluss als evokatorisches Objekt thematisiert. Geschlechtsspezifische Aspekte im Umgang mit digitalen Medien werden differenziert und der Frage nachgegangen, warum digitalen Medien in der Entwicklung konstruktivistischer Lernumgebungen eine herausragende Rolle beigemessen wird. Inwieweit eine Umsetzung in der Unterrichtspraxis bereits erfolgt, wird anhand des aktuellen Forschungsstandes dargestellt. Hierbei wird insbesondere die dieser Arbeit zugrunde liegende SITE-Studie herangezogen. Nach der Darstellung des theoretischen Rahmens folgt in Kapitel 3 der empirische Teil. Hier wird das Forschungsdesign, die Entwicklung der Fragestellung, das Sampling, eine Kurzdarstellung der untersuchten Fälle sowie die Forschungsmethode der Grounded Theory skizziert. Das dort beschriebene paradigmatische Modell bildet, neben dem Rahmenmodell der Gruppeninteraktionsforschung (nach Becker-Beck) die Grundlage zur Strukturierung der sich in Kapitel 4 anschießenden Analyse der Daten.
1.2 Aufbau der Arbeit
17
In Kapitel 4 wird das in dieser Arbeit entwickelte paradigmatische Modell zum gemeinsamen Wissensmanagement in mediengestützten Lernumgebungen vorgestellt und anhand exemplarischer Belegstellen aus den Interviews mit Lehrpersonen und SchülerInnen sowie den transkribieren Videosequenzen untermauert. Abschnitt 4.1 beschreibt als Kontextbedingung die Merkmale der jeweiligen Lernumgebungen. Neben didaktischen Merkmalen, z. B. der Projektorientierung und Schülerzentrierung, spielt in den untersuchten Fällen die Integration von digitalen Medien eine zentrale Rolle. In der Vorstellung der Lernumgebungen wird u. a. ein Bezug zwischen dem Medieneinsatz und den verschiedenen Phasen des Wissensmanagements herausgearbeitet. Als eine wichtige intervenierende Variable werden dann in Kapitel 4.2 geschlechtsspezifische Befunde im Hinblick auf die Nutzung des Computers vorgestellt. In den Kapiteln 4.3 bis 4.5 findet eine Typenbildung verschiedener Interaktionsmuster statt: In Kapitel 4.3- wird der Computer als Interaktionspartner behandelt und somit besonders auf die Personifizierung des Computers eingegangen. Kapitel 4.4 behandelt die Interaktionsmuster der Wissenskommunikation, nämlich wie Lehrpersonen, die nach wie vor zeitweise als Wissensvermittler agieren, selbst zu Lernenden werden, indem SchülerInnen als ExpertInnen auftreten. Ein anderes wichtiges Interaktionsmuster ist die Darstellung, wie Lehrpersonen als Facilitatoren agieren und wie SchülerInnen hierdurch die Rolle von selbst gesteuerten Lernenden zuteil wird. Es wird zudem kritisch hinterfragt, inwieweit Lehrerinterventionen als Störvariable auf das Lernen der SchülerInnen wirken. In einem weiteren Schritt wird dargestellt, wie sich die SchülerInnen untereinander im kooperativen Tutoring unterstützen, aber auch wie sich einige, im Sinne einer egozentrischen Selbstdarstellung, als ExpertInnen inszenieren. Kapitel 4.5 fokussiert Interaktionsmuster, die neben der Wissenskommunikation vor allem der Wissensgenerierung und/ oder –repräsentation dienen. Es wird thematisiert, wie SchülerInnen Forschungs- und Produktionsgemeinschaften bilden, deren unterschiedliche Qualitäten und Ausprägungen differenziert dargestellt werden. So wird die ressourcen- und mengenorientierte Arbeitsteilung, die Thematik der Wissens- und Verhaltensdominanz, die Phänomene der Verantwortungsdiffusion, des Trittbrett- und Mitläuferdaseins sowie Macht- und Revierkämpfe thematisiert. Zudem wird näher auf die zwischen den SchülerInnen (und Lehrpersonen) stattfindenden Prozesse der Konsensfindung und des Groundings eingegangen.
18
1 Einleitung
Als Konsequenz der Aushandlungsprozesse wird in Kapitel 4.6 auf den „Erwerb von Schlüsselqualifikationen“, wie Sozial-, Selbstlern- und Medienkompetenzen eingegangen und somit wieder eine Brücke zum Thema Lernen geschlagen. In Kapitel 5 werden die aus den Daten extrahierten Interaktionsmuster sowie die Rolle der digitalen Medien als Kernkategorien dieser Arbeit, im Sinne eines axialen Codierens der Grounded Theory, näher analysiert. Ergebnis ist schließlich die Entwicklung eines dreidimensionalen Modells, das förderliche und hinderliche Aspekte für ein gemeinsames, konstruktives Wissensmanagement in mediengestützten Lernumgebungen abbildet. Die Arbeit endet in Kapitel 6 mit einer Zusammenfassung der zentralen Ergebnisse, einem Ausblick auf neue Aufgaben für die Förderung von konstruktiven Austauschprozessen in mediengestützten Lernumgebungen und noch offen gebliebenen Forschungsfragen.
2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
„Wir müssen lernen, die (...) Wunder der Technologie mit den spirituellen Bedürfnissen unser menschlichen Natur in Einklang zu bringen.“ John Naisbitt (*1930) In diesem Kapitel wird vorgestellt, welche Erwartungen mit einem Wandel der Lernkultur von der Industrie- zur Wissensgesellschaft verbunden sind. Dann werden die wichtigsten Grundlagen des Lernens in der „neuen“ Lernkultur dargelegt: Der Konstruktivismus wird in Abgrenzung zu anderen Lerntheorien, wie dem Behaviorismus und Kognitivismus vorgestellt und Gestaltungsprinzipien einer (gemäßigt) konstruktivistischen Lernumgebung behandelt. Es wird auf die „neue“ Rolle der Lehrpersonen als Facilitatoren eingegangen. Da in der vorliegenden Arbeit insbesondere die interaktionistische Sicht auf das Lernen verfolgt wird, liegt der Fokus neben dem selbst gesteuerten vor allem auf dem kooperativen und kollaborativen Lernen. Als zentrales Element von Kollaborationen werden Groundingprozesse, die Ko-Konstruktion von Wissen, dargestellt. In einem weiteren Schritt wird der Begriff des Wissensmanagements hinzugezogen und das Münchner Modell skizziert, dessen heuristischer Charakter in die Entwicklung des axialen Modells dieser Untersuchung einfließt. Außerdem werden der Begriff der Community und Grundlagen von Lern-, Forschungs- und Produktionsgemeinschaften vorgestellt. Dann wird die Rolle der digitalen Medien für Lern- und Aushandlungsprozesse thematisiert: Zunächst werden wichtige Begriffsbestimmungen vorgenommen und auf die Rolle des Computers als evokatorisches Objekt eingegangen. Abschließend wird der Ansatz des computergestützten kollaborativen Lernens vorgestellt und anhand bisheriger Forschungsbefunde verankert.
M. Stadermann, SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen, DOI 10.1007/978-3-531-93178-4_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
20
2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
2.1 Wandel der Lernkultur in der Wissensgesellschaft Der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft geht mit der Forderung nach der Entwicklung einer neuen Lernkultur einher. In Zeiten des Internets steht nicht mehr der Erwerb von Verfügungswissen im Vordergrund, sondern es bedarf der kritischen Auseinandersetzung und Selektion von Wissen, um sich in der ständig wachsenden und teilweise unübersichtlichen Informationsflut orientieren zu können (vgl. Schulz-Zander, 1997). Außerdem ermöglichen digitale Medien über eine weltweite Vernetzung eine zeit- und raumübergreifende Informationsrecherche, Wissensaustausch und Wissensverbreitung. Medienkompetenz wird zur Schlüsselqualifikation, wobei diese soziale, kommunikative und kreative Fähigkeiten einschließt. Die Leitlinien der neuen Lernkultur sind Individualisierung, Eigenaktivität, Kommunikation sowie Kooperation und zwar unter Nutzung digitaler Medien. Der Begriff des Lernens unterliegt immer mehr einer konstruktivistisch orientierten Auffassung. Lernen wird als aktive Auseinandersetzung im sozialen Austausch mit anderen verstanden. Erst die Kommunikation und der Austausch mit anderen ermöglicht verschiedene Perspektiven auf den Lerngegenstand. Wissen wird durch Diskussion erzeugt, die Metapher des Wissenstransports durch die der Wissenskonstruktion abgelöst (ebd.). Pelgrum (2001, S. 165) betont, dass ein enormer Entwicklungsbedarf für Lehr-und Lernformen besteht, die SchülerInnen auf ein lebenslanges Lernen in der Wissensgesellschaft vorbereiten sollen: „There is, as yet, little consensus in societies about what these new pedagogical models should encompass. There are notions that students should be trained to learn more autonomously and to get access to and digest information more independently than has been in the case so far. However, what this means for the educational process is rather unclear.“
Im Übergang von der Industriegesellschaft zur Wissensgesellschaft werden folgende Veränderungen der Lehrer- und Schüleraktivitäten erwartet (Pelgrum & Anderson, 1999, S.6):
2.1 Wandel der Lernkultur in der Wissensgesellschaft
21
Actor
Education in the Industrial Society
Education in the Information Society
School
Isolated from society
Integrated in Society
Most information on school functioning confidential
Information openly available
Iniator of instruction
Helps students find appropriate instructional path
Whole class teaching
Guides students’ independent learning
Evaluates student
Helps student to evaluate own progress
Places low emphasis on communication skills
Places high emphasis on communication skills
Mostly passive
More active
Learns mostly at school
Learns at school and outside school
Hardly any teamwork
Much teamwork
Takes questions from books or teachers
Asks questions
Learns answers to questions
Finds answers to questions
Low interest in learning
High interest in learning
Teacher
Student
Tabelle 2.1: Erwarteter Wandel der Lernkultur (Pelgrum & Anderson, 1999, S.6) Es steht nicht mehr die Übernahme vorgegebener Kenntnisse, sondern die aktive Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand im Mittelpunkt des Interesses. Da sich die Halbwertzeit von Wissen in der Wissensgesellschaft beschleunigt, wird der Erwerb von Schlüsselqualifikationen zur persönlichen Weiterbildung und zum lebenslangen Wissenserwerb wichtiger als die pure Aneignung von Faktenwissen, das schnell veraltet ist (Deutschmann/ Koubek/ Laister, 2003). „Unter einer Schlüsselqualifikation versteht man im Allgemeinen ein dekontextualisiertes, entspezialisiertes, funktional-autonomes Wissen und Können“ (Krapp/Weidenmann, 2006, S.644).
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
Hierzu zählen die Fähigkeiten selbst gesteuert und anwendungsorientiert zu lernen, der sichere Umgang mit Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Teamfähigkeit und Flexibilität (Deutschmann/ Koubek/ Laister, 2003). Selbststeuerung und kooperatives Lernen sowie eine effektive Nutzung digitaler Medien können zugleich eine Voraussetzung, Methodik und Ziel des Lernens sein (Reinmann & Mandl, 2006, S.645). Nach konstruktivistischer Auffassung entsteht Wissen dynamisch und in sozial ausgehandelten Lern- und Arbeitsprozessen. Beim Lernen liegt der Fokus weniger in einer Produkt- als vielmehr in einer Prozessorientierung. Bei Lerngemeinschaften rückt die wechselseitige Interaktion der SchülerInnen mehr und mehr in den Vordergrund. Hierbei gewinnt insbesondere soziales Lernen an Bedeutung. Digitale Medien können hierbei eine wichtige unterstützende Funktion einnehmen: So bieten diese das Potenzial zur selbst gesteuerten Informationsrecherche (z. B. das Internet), zur Lernkontrolle (z. B. Lernprogramme), zur multimedialen Wissensaufbereitung (z. B. Präsentations-, Bild- und Ton-verarbeitungsprogramme) und zur raum- und zeitunabhängigen Kommunikation und Kooperation (z. B. via E-Mail)1.
1 In Abschnitt 2.4 wird detailliert auf digitale Medien und deren Potenzial zur Interaktivität eingegangen.
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
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2.2 Lern- und Interaktionsprozesse Lernen wird in der Lernpsychologie (z. B. Steiner, 2001) definiert als ein nicht unmittelbar beobachtbarer Vorgang, der aufgrund von Erfahrung, die das Individuum in Interaktion mit seiner Umwelt sammelt, langfristige Veränderungen kognitiver, affektiver, psychomotorischer oder sozialer Art und damit einen Zuwachs an Wissen bewirkt. Die Theorie der Strukturgenese (Seiler, 2001) betont, dass Lernen keine schrittweise Abbildung der Wirklichkeit darstellt, sondern dass jedes Individuum sein Wissen aufgrund seiner Erfahrungen selbst konstruiert. Die folgenden drei Aspekte umgrenzen zusammenfassend den Begriff der Strukturgenese (Reinmann, 2005a): a. b.
c.
Der Subjektbezug betont, dass jedes Wissen aus personalem Wissen resultiert und nur durch die Erkenntnistätigkeit von Individuen reaktiviert werden kann. Kognitive Strukturen bilden die Grundlage für menschliches Erkennen, Verstehen und Wissen. Die dynamische kognitive Auseinandersetzung des Individuums mit seiner Umwelt (Wahrnehmen, Denken, Problemlösen) ist untrennbar mit Motivationen, Gefühlen und Werten verbunden. Der Begriff der Genese betont die Entstehung, Dynamik, Flexibilität und Veränderbarkeit der kognitiven Strukturen. Kognitive Strukturen bilden zugleich den Ausgangspunkt, das Mittel und das Ergebnis konstruktiver Prozesse. Zum einen werden vorhandene Erfahrungsinhalte an neue Gegenstände herangetragen (Assimilation), zum anderen erneuern sich kognitive Strukturen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt (Akkommodation). Beide Prozesse bedingen sich gegenseitig (vgl. Piaget, 1968).
Mit dem Hinzuziehen des Begriffs der Interaktion soll der Fokus verstärkt auf gemeinschaftliche Lern- und Aushandlungsprozesse gerichtet werden: Interaktion wird hierbei definiert als „Wechselwirkung, Wechselbeziehung (als) soziologischer Grundbegriff für den Sachverhalt, dass sich Individuen oder Gruppen durch ihr aufeinander bezogenes Handeln gegenseitig beeinflussen“ (Reinhold 1997, S. 305).
Besonders der Konstruktivismus betont die Bedeutung interaktiver Aushandlungsprozesse für das Lernen.
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
2.2.1 Konstruktivistische Lerntheorie Im Folgenden wird der Konstruktivismus vor dem Hintergrund des Behaviorismus und Kognitivismus erläutert: Die behavioristische Sicht geht davon aus, dass Lernen eine beobachtbare und messbare Verhaltensänderung darstellt. Lernen wird dann als erfolgreich angesehen, wenn Individuen auf einen Reiz (Stimulus) richtig reagieren (Response). Der Lernprozess selbst bleibt als „black box“ unbeachtet. Wissen wird, da es als objektives und transportables Gut angesehen wird, nach dem Prinzip des Nürnberger Trichters von außen „eingeflößt“. Entsprechend wird für die Unterrichtsform der direkten Instruktion plädiert. Lernprozesse werden über die Manipulation von Verhaltenskonsequenzen, wie Belohnung (Verstärkung) erwünschten Verhaltens und Ignorieren/ Bestrafen zur Abschwächung und Löschung unerwünschter Verhaltensweisen (negative Verstärkung) von außen gesteuert. Dem Lernenden selbst wird hierbei eine rezeptive und passive Rolle zugeteilt (vgl. u.a. Weinert, 1996). Die Kritik am Behaviorismus, dass Lernen nicht ausschließlich durch Umwelteinflüsse steuerbar sei und insbesondere innere kognitive Prozesse mehr Berücksichtigung finden sollten, führte schließlich zur „kognitiven Wende“. Auch der Kognitivismus geht von einem objektiv existierenden Wissen aus, betont aber das Lernen als Folge einer aktiven Auseinandersetzung des Lernenden mit seiner Umwelt. Interne Denk- und Verstehensprozesse werden als Aufnahme- und Verarbeitungszentrum für Informationen angesehen. Die Umwelt wird in Form symbolischer Repräsentationen aufgenommen und zu kognitiven Wissensstrukturen verarbeitet. Neue Inhalte werden in bereits aufgebaute Wissensstrukturen integriert und so ständig erweitert. Dem Lernenden werden Fähigkeiten zur Problemanalyse und Abstraktion zugeschrieben (ebd.). Lernen ist entsprechend das Ergebnis gedanklicher Einsicht. Es ist in der kognitiven Sicht dann am erfolgreichsten, wenn eine optimale Passung zwischen den internen kognitiven Strukturen und dem externen Wissensangebot hergestellt werden kann. Das didaktische Ziel ist eine optimale Aufbereitung von Wissen, um einen stringenten Transfer zu den Lernenden herzustellen (ebd.). Die konstruktivistische Sichtweise kritisiert an der traditionellen Lehre vor allem die rezeptive und oft passive Rolle der Lernenden. Es wird betont, dass Lernen ein aktiver Prozess der Wissenskonstruktion ist. Neu aufgenommene Informationen werden (wie auch im Kognitivismus) durch eine kognitive Umstrukturierung mit bereits vorhandenen kognitiven Schemata verbunden. Wissen wird hierbei allerdings nicht als objektives Gut angesehen, sondern erhält seinen Wert erst durch die subjektive Bedeutungszuschreibung von Individuen.
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
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Einen Extrempol konstruktivistischer Sichtweisen nimmt der radikale Konstruktivismus ein, dessen Begründer Glasersfeld ist: „Dem radikalen Konstruktivismus zufolge beruht alles, was der Mensch wahrnimmt, auf Konstruktion und Interpretation. Wirklichkeit ist demnach immer ein kognitiv konstruiertes Phänomen, welches für einzelne Individuen insofern verbindlich wird, als andere mit ihnen die gleiche Wirklichkeitsauffassung teilen.“ (Reinmann & Mandl, 2006, S.626).
Reinmann (2005b) fasst die zentralen Grundlagen des so genannten radikalen Konstruktivismus wie folgt zusammen: „Wahrnehmen, Denken, Problemlösen und andere kognitive Aktivitäten beruhen immer und notwendig auf den Konstruktionen eines Beobachters, es gibt daher keine punktuelle Übereinstimmung menschlicher Wahrnehmung mit der externen Realität2. (...) Eine weitere damit zusammenhängende Kernthese des Konstruktivismus besteht darin, dass Menschen selbstreferenzielle, operational geschlossene Systeme und damit autonom sind. Erkenntnis wird damit zu einem biografisch bedingten, individuellen, einmaligen Prozess“ (ebd., S.156).
Lernende werden daher in der Rolle von aktiven Wissenskonstrukteuren gesehen. Wissen kann in dieser Sichtweise nicht von Lehrenden zu Lernenden „transportiert“ werden. Lehrende können aber Lernprozesse unterstützen, indem sie Lernumgebungen (vgl. Abbildung 2.2) bereitstellen und als Berater und Coach der SchülerInnen fungieren. Abbildung 2.1 stellt den zentralen Wandel der Begrifflichkeiten des traditionellen und des konstruktivistischen Paradigmas einander gegenüber (Gaiser, 2002, S.55):
2 Dies bedeutet aber nicht, dass das Dasein einer externen Realität geleugnet wird, vielmehr rückt die Individualität des Wahrnehmens und Erkennens ins Zentrum, durch die (zusätzlich) eine individuelle Realität entsteht, die handlungsleitend wirkt.
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
Traditionelles Paradigma
Konstruktivistisches Paradigma
Lehrsystem
Lernumgebung
Instruktion
Autonomes Lernen
Lernkontrolle
Unterstützung, Coaching
Lehrer als Meister
Lehrer als Coach, Berater
Schüler als Zögling
Schüler als aktives Subjekt
Abbildung 2.1: Traditionelles und konstruktivistisches Paradigma (Gaiser, 2002, S.55) Insgesamt fällt die Ähnlichkeit zu den von Pelgrum & Anderson (1999) erwarteten Veränderungen der Lernkultur in der Wissensgesellschaft auf (vgl. Tabelle 2.1). Das jahrzehntelang herrschende Paradigma des Instruktivismus, das die lernzielorientierte Unterrichtspraxis betont, wird allmählich durch das konstruktivistische Paradigma abgelöst, das das Arrangement von Lernumgebungen betont (Schulmeister, 2007, S.160). Konstruktivisten, für die „Wissen kein Abbild der externen Realität (ist), sondern eine Funktion des Erkenntnisprozesses“ kritisieren am Instruktivismus, dass Lernziele gewissermaßen als objektiv gegebene Wahrheiten präsentiert werden (ebd., S. 161). Befürworter des Instruktivismus hingegen kritisieren am Konstruktivismus das Fehlen an Kontrolle und Lenkung, die zu einer Überforderung der Lernenden führen kann. Konstruktivisten begreifen aber das Vertrauen in die Eigenverantwortung und Selbststeuerung der Lernenden als zentrales Element und erkennen Lernende als autopoetische Wesen an. Außerdem werden im Konstruktivismus Lernende nicht allein gelassen, sondern durchaus von Lehr-personen und MitschülerInnen unterstützt – nur weniger durch instruktionale Vorgaben, als vielmehr durch sozialen Austausch und Beratung. Um Transferleistungen zu fördern, setzt der Instruktivismus auf Abstraktion und Generalisierung, während Konstruktivisten davon ausgehen, dass nur ein lebensnaher konkreter Erfahrungsbezug den späteren Transfer auf andere Bereiche erleichtert (ebd., S.161 ff.). Schulmeister beruft sich auf die Kernaussage von Maturana und Varela:
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
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„Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun“ (ebd., S.69).
Er betont zusätzlich, dass „Erkennen nicht nur in einem Kontext statt(findet), sondern mit Elementen des Kontextes“.
Sprache und Kognition sind kontextuell situiert. Sprachliche Äußerungen wie z. B. „Ich, Du, Wir“ können nur vom Interaktionspartner, der im selben Kontext steht, verstehend interpretiert werden und würden aus dem Kontext herausgerissen ihre klare Bedeutung verlieren (ebd., S.70). Diese Aspekte konstruktivistischer Erkenntnistheorie werden auch als „Situated Cognition“ bezeichnet. Schulmeister betont unter Rückgriff auf Maturana und Varela, dass alles Wissen konstruiert ist (ebd., S.70). Daher gibt es keine objektive Sicht auf die Dinge, folglich sollten multiple Perspektiven auf den Lerngegenstand eingenommen werden. Zugleich wird auf die soziale Eingebundenheit von Individuen verwiesen, die ihr Wissen im Austausch mit der Umwelt durch symbolische Interaktionen gewinnen. Daher plädiert er für soziale, kontextbezogene, kooperative und kommunikative Lernsituationen (ebd., S.72). Hinze (2004) betont: „Der Konstruktivismus stellt keine abgeschlossene und konsistente Theorie, sondern ein Konglomerat verschiedener Ansätze zur Erklärung von Lehr- und Lernprozessen dar.“ (Ebd., S.28)
Der Konstruktivismus-Begriff wird vielschichtig verwendet. So dient er als sogenannter „radikaler Konstruktivismus“ (nach Glasersfeld, Matura & Varela) als Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, die besagt, „dass alle Denk- und Lernvoraussetzungen in subjektiver Weise diskutiert werden“ (Dubs, 1995, S.894).
Entsprechend plädieren radikale Konstruktivisten für ein ausschließlich selbst gesteuertes und kollektives Lernen, während so genannte gemäßigte Konstruktivisten befürworten, dass „das selbst gesteuerte Lernen durch den von der Lehrkraft unterstützten Dialog in der Gesamtklasse ergänzt (wird), und den Lernenden (...) häufig fertige Demonstrationen der Lehrkraft als Modell - beides im Sinne objektiven Wissens - zur Verfügung (stehen), die im weiteren Dialog oder im selbst gesteuerten Lernen verarbeitet werden“ (ebd., S. 894).
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
In dieser Arbeit wird die von Dubs verwendete Formulierung der LehrerDemonstrationen als objektives Wissen nicht geteilt. Vielmehr wird gemäß der konstruktivistischen Sicht davon ausgegangen, dass Instruktionen als Wissensrepräsentationen nur subjektive Wissenskonstruktionen (die letztendlich auch aus kollektiven Austauschprozessen resultieren) widerspiegeln und durch den Empfänger wiederum in subjektiver Weise aufbereitet werden können3. Auch Instruktionen können aus dieser Perspektive heraus als ein Element kollektiven Lernens begriffen werden. Entscheidend ist, dass diese Wissensrepräsentationen nicht als objektiv gegebenes Wissen begriffen werden, das im Sinne des „Nürnberger Trichters“ von einer Person zur anderen „transportiert“ werden kann. So können und sollen Wissensrepräsentationen, wenn sie als Anlass zur diskursiven und reflexiven Auseinandersetzung begriffen werden, selbst gesteuerte und kollektive Lernprozesse anregen. Auch bei der Instruktion müssen die SchülerInnen letztlich ihr Wissen selbst (ko-)konstruieren. Reinmann-Rothmeier und Mandl (1996) betonen: „Instruktion und Konstruktion sind allenfalls in ideologischen Auseinandersetzungen ein Gegensatz, in der Praxis dagegen eine sinnvolle Ergänzung“ (ebd., S.41). So lassen sich „Instruktion und Konstruktion (...) nicht nach einem Allesoder-Nichts-Prinzip realisieren. Lernen erfordert zum einen immer Motivation, Interesse und Eigenaktivität seitens der Lernenden, und der Unterricht hat die Aufgabe, ihre Konstruktionsleistungen anzuregen und zu ermöglichen. Lernen erfordert zum anderen aber auch Orientierung, Anleitung und Hilfe. Ziel muss folglich sein, eine Balance zwischen expliziter Instruktion durch den Lehrenden und konstruktiver Aktivität des Lernenden zu finden“ (Linn, 1990, zitiert nach Reinmann & Mandl, 2006, S.639).
Diese pragmatische Position wird auch als gemäßigter bzw. didaktischer Konstruktivismus bezeichnet. Ableitungen darüber, wie eine an dem gemäßigten Konstruktivismus orientierte Lernumgebung gestaltet sein sollte, werden im nächsten Abschnitt referiert.
3 Der dieser Arbeit zugrundeliegende Wissensbegriff wird in Abschnitt 2.3 detailllierter skiziert.
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
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2.2.2 Gestaltung der Lernumgebung „Der Begriff der Lernumgebung bringt zum Ausdruck, dass Lernen von ganz verschiedenen Kontextfaktoren abhängig ist, die in unterschiedlichem Ausmaß planvoll gestaltet werden können. Eine durch Unterricht hergestellte Lernumgebung besteht aus einem Arrangement von Unterrichtsmethoden, Unterrichtstechniken, Lernmaterialien (und) Medien“ (Reinmann & Mandl, 2006, S. 602).
Die jeweiligen Methoden und Techniken werden je nach pädagogischer Grundorientierung zur Erreichung gesellschaftlich und historisch bedingter Erziehungsstile eingesetzt (Terhart, 1999). Theoretische Grundlagen des Konstruktivismus wurden in Abschnitt 2.2.1 erläutert. Die wichtigsten Prinzipien der praxisorientierten konstruktivistischen Perspektive lauten (vgl. Reinmann & Mandl, 2006, S. 638): Lernen ist ein aktiver Prozess: Wissen soll persönliche Interessen und Ziele berühren, um durch eine intrinsische Motivation eine aktive Beteiligung der Lernenden herzustellen. Lernen ist ein selbst gesteuerter Prozess: Da die konstruktivistische Sicht die aktive Rolle der Lernenden betont, sollte die Lernumgebung viele Möglichkeiten zur Selbststeuerung bieten. Lernen ist ein konstruktiver Prozess: Bereits erworbene Fertigkeiten und Kenntnisse, in die neues Wissen integriert und aufgebaut wird, bilden die Basis jeden Lernens. Die eigenen Aufbauleistungen sind hierbei zentral. Lernen ist ein emotionaler Prozess: Sowohl leistungsbezogene als auch soziale Emotionen beeinflussen das Lerngeschehen. Lernen ist situativ und hat einen starken Handlungs- und Problemlösebezug: Lernen erfolgt immer in speziellen Situationskontexten (situated cognition), die den Erfahrungshorizont erweitern oder begrenzen. Nicht die Reproduktion von Wissen, sondern das aktive Lösen von Problemen unter multiplen Perspektiven sowie die Möglichkeit verschiedene alternative Strategien und Vorgehensweisen anwenden zu können, sollte im Zentrum stehen. Authentische Aufgabenstellungen sollen der Entstehung trägen Wissens entgegenwirken (vgl. auch Renkl, 2004). Lernen ist ein sozialer Prozess: Lernen wird durch soziale Komponenten, wie zwischenmenschliche, aber auch kulturelle und geschichtliche Einflüsse beeinflusst und findet vor allem im interaktiven Austausch statt.
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Entsprechend den dargestellten Prinzipien lassen sich (Reinmann & Mandl, 2006, S.640f) folgende Leitlinien für die Gestaltung eines problemorientierten Unterrichtes entwickeln: Authentizität und Situiertheit: Durch die Auseinandersetzung mit realistischen und authentischen Situationen wird ein hoher Anwendungsbezug beim Lernen hergestellt. Multiple Kontexte: Damit Wissen nicht auf einen bestimmten Kontext fixiert bleibt, sondern auf unterschiedliche Probleme übertragen werden kann, sollten die selben Inhalte in unterschiedlichen Anwendungskontexten erworben werden. Multiple Perspektiven: Das Einnehmen verschiedener Sichtweisen und Standpunkte sichert einen flexiblen und kritischen Wissenserwerb. Instruktionale Unterstützung: Auch wenn ein selbst gesteuertes Lernen im Vordergrund steht, sollen Lehrende ihren SchülerInnen, um Überforderungen zu vermeiden, beratend zur Seite stehen sowie bei der Gestaltung der Lernumgebung darauf achten, dass das erforderliche Wissen verfügbar ist. Sozialer Kontext: Kooperatives Lernen und das Bearbeiten gemeinsamer situierter Problem- und Aufgabenstellungen fördern den Austausch unter Lernenden, zwischen Lernenden und Lehrenden sowie zwischen internen und externen Experten. Viele Merkmale der in dieser Arbeit untersuchten Unterrichtssituationen folgen dieser Philosophie, die einer pragmatischen Position bzw. der Sichtweise des gemäßigten Konstruktivismus des Lehrens und Lernens entsprechen: Durch ein Wechselspiel zwischen Instruktion und Konstruktion sollen aktiv-kreative, selbst gesteuerte, situative, emotionale und soziale Lernprozesse angeregt werden, ohne auf Anleitung, Unterstützung und Beratung seitens der Lehrenden zu verzichten (Reinmann & Mandl 2006, S.638 f.). Abbildung 2.2 veranschaulicht das beschriebene Wechselspiel zwischen Instruktion und Konstruktion, das eng mit der Gestaltung einer problemorientierten Lernumgebung verwoben ist. Während in konstruktivistischen Lernumgebungen (in Klammern dargestellt) Lehrende eine rein reaktive und Lernende eine durchgängig aktive Rolle einnehmen, wird im gemäßigten Konstruktivismus eben dieser situative Wechsel zwischen Instruktion und Konstruktion betont, in dem SchülerInnen vorrangig aktiv und selbst gesteuert lernen, aber dennoch phasenweise eine rezeptive Rolle und Lehrende einen aktiven Part einnehmen.
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
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Instruktion Unterrichten im Sinne von Unterstützen, Anregen, Beraten sowie Anleiten, Darbieten, Erklären (Reaktive Rolle des Lehrenden) Situativer Wechsel zwischen aktiver und reaktiver Rolle des Lehrenden
(Gestaltung situierter, offener Lernumgebungen)
Gestaltung integrierter, z.B. problemorientierter Lernumgebungen
Konstruktion Lernen als aktiver, selbst gesteuerter, konstruktiver und sozialer Prozess (Aktive Rolle des Lernenden) Wechsel zwischen vorrangig aktiver und zeitweise rezeptiver Rolle des Lernenden
Abbildung 2.2: Konstruktivistische Lernumgebungen (Reinmann & Mandl, 2006, S.626 f.) Die meisten konstruktivistischen Instruktionsansätze plädieren für die Bereitstellung von bedeutungshaltigen und authentischen Problemen, deren Bearbeitung auf die situative Anwendung von Wissen zielt. Durch die situative Lernumgebung soll die Entstehung trägen Wissens4 vermieden werden. Jonassen (2004) definiert den Begriff des Problems: „First a problem is an unknown entity in some context (...). Second, finding or solving for the unknown must have some social, cultural, or intellectual value” (ebd., S.3).
4 Hierunter wird Wissen verstanden, das nicht auf unterschiedliche Situationskontexte angewandt werden kann. Ein nach sachlogischen Kriterien „künstlich“ geordnetes Wissen kann oftmals nicht auf Alltagssituationen übertragen werden (vgl Renkl, 2004).
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
Jonassen differenziert, wie Tabelle 2.2 zeigt, zwischen einer Vielfalt an Problemen, die im Hinblick auf Strukturiertheit (Structuredness), Komplexität (Complexity), Dynamik (Dynamicity) sowie Domänen-/Kontextabhängigkeit (Domain/ Context- Specificity) variieren können (ebd., S.3 ff.). Die Bereitstellung sogenannter „ill-structured Problems“, für die Jonassen (ebd.) plädiert, entsprechen am ehesten der Philosophie konstruktivistischer Lernumgebungen, die sich durch Interdisziplinarität, eine hohe Komplexität und Dynamik sowie durch die Anwendung in verschiedenen Kontexten auszeichnen.
Structuredness
Complexity Dynamicity Domain/ Specificity
Well-structured Problems “require the application of a limited and known numbers of concepts, rules and principles being studied within a restructured domain (…), present all elements of the problem to the learners and they have knowable, comprehensible solutions” “are composed of few variables (…) tend to be less complex”
Ill-structured Problems “are more often encountered in every day and professional practice. (...) (They) are also interdisciplinary (...) (and) often possess aspects that are unknown (…) and (..allow) multiple solutions”
“include many factors or variables that may interact in unpredictable ways.” “tend to be fairly stable” “tend to be dynamic; that is the task environment and its factors change over time” “are domain and context specific” “are situated in (…) different domains or contexts”
Tabelle 2.2: Well- and ill-structured problems (vgl. Jonassen, 2004, S.3ff.). Als konstruktivistischer Lehr- und Lernansatz ist insbesondere der AnchoredInstruction-Ansatz bekannt, dessen zentrales Merkmal ein sogenannter „narrativer Anker“ ist, Erzählungen und/ oder Beschreibungen von authentischen Problemstellungen. In der Cognitive-Flexibility-Theory werden durch die Einnahme multipler Perspektiven „Übervereinfachungen“ vermieden, damit Themen auch in ihrer Komplexität und Irregularität erfasst werden können. Zudem ist noch der Cognitive-Apprenticeship-Ansatz zu nennen, der sich an die traditionelle Handwerkslehre anlehnt und in der, durch die Einbindung der Lernenden in eine „Expertenkultur“, der praxisnahe Wissenserwerb ins Zentrum rückt (vgl. Reinmann & Mandl, 2006, S.629ff.). Eine wichtige Bedingung für konstruktivistisches Lernen sind situierte bzw. „offene“ Lernumgebungen, die den Lernenden u. a. Wahlmöglichkeiten bei der
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Auswahl von Inhalten, Lernstrategien und –zielen einräumen. Insbesondere die Situated-Cognition-Bewegung verbindet den Kontextbezug beim Lernen und die „soziale Partizipation an realen Situationen“ (ebd., S.627). Sie ist nicht eindeutig definiert, aber über ihre Grundannahmen existiert ein Konsens: „Das Wissen in einer Gesellschaft stellt immer geteiltes Wissen dar, (...es wird) von Individuen im Rahmen sozialer Transaktionen gemeinsam entwickelt und ausgetauscht (...). Das konkrete Denken und Handeln eines Individuums lässt sich jeweils nur auf dem Hintergrund eines konkreten (sozialen) Kontextes verstehen. Lernen ist stets situiert, d. h., es ist an die inhaltlichen und sozialen Erfahrungen der Lernsituation gebunden. Wissen wird nicht passiv erworben, sondern aktiv konstruiert“ (ebd., S.627).
Das deutsche PISA–Konsortium (2002) bestätigt, dass in der Schule aufgrund einer traditionellen Didaktik, die von einer „abstrakten“, praxislosgelösten Wissensvermittlung dominiert wird, nur träges Wissen, das nicht auf unterschiedliche Anwendungskontexte übertragen werden kann, erworben wird. Es wird betont, dass Lernprozesse als aktive Wissenskonstruktionen immer in bestimmten sozialen und situationalen Kontexten, die mit Überzeugungen und Bedeutungen verbunden sind, stattfinden. Entsprechend wird auch hier für kooperative und komplexe realitätsnahe Lernarrangements plädiert (vgl. u. a. Konrad & Traub, 2001). Gerstenmaier und Mandl (1995, S. 879) betonen, dass der Erfolg konstruktivistischer Lernumgebungen an bestimmte Rahmenbedingungen geknüpft ist: So soll den Lernenden die Chance geboten werden, eigene Erfahrungen zu sammeln, eigene Interpretationen vorzunehmen und selbst Wissen zu konstruieren. Um derartige Freiheitsgrade zu ermöglichen, sollten neue Inhalte nicht als abgeschlossene Systeme präsentiert werden. Für das Erleben dieser Freiheitsgrade ist die subjektive Sicht des Lernenden und nicht die des Lehrenden bzw. Gestalters der Lernumgebung relevant. Nur wenn die Lernenden den Handlungsspielraum wahrnehmen, können sie diesen auch nutzen. Schließlich ist Lernen im konstruktivistischen Sinne nur dann möglich, wenn die Lernenden durch die Nutzung der gebotenen Handlungsspielräume selbst aktiv neues Wissen konstruieren. Entscheidend ist daher nicht die Perspektive der Lehrenden, sondern die der Lernenden. Bei der praktischen Umsetzung der wichtigsten Prinzipien des gemäßigten Konstruktivismus sticht die Ähnlichkeit zu reformpädagogischen Ansätzen ins Auge. So betont u. a. Dubs, dass viele der Postulate des Konstruktivismus
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse „schon seit Jahren ohne Bezug auf seine theoretischen Handlungsempfehlungen für den alltäglichen Unterricht weitergegeben (werden). Die Stichworte dafür sind: schülerzentriertes Lernen anstelle von lehrerzentriertem Unterricht, selbst gesteuertes, kollektives Lernen anstatt darbietendem Unterricht, Projekt- und Werkstattunterricht anstelle von fachwissenschaftlich-systematischem Unterricht und die Lehrperson als Lernberater anstelle herkömmlicher Lehrtätigkeit“ 5 (Dubs, 1995, S.889f.).
Es wird der enge Zusammenhang reformpädagogischer und konstruktivistischer Ansätze auf der Handlungsebene deutlich. Ein wesentlicher Unterschied liegt in ihrer unterschiedlichen Lernzielorientierung. Die Reformpädagogik zielt darauf, die SchülerInnen zu mündigen, emanzipierten und selbstständigen Menschen zu erziehen, während im (didaktischen) Konstruktivismus der Erwerb von brauchbarem Wissen für die Lebenswelt des Kindes im Zentrum steht (vgl. Schaumburg, 2003, S.36). Zudem wird die Bedeutung der Wissenskonstruktion betont: Wissen wird nicht als objektives Gut begriffen, sondern das Einnehmen multipler Perspektiven auf den Lerngegenstand im wechselseitigen Austausch mit anderen betont6. „Neu“ ist im Vergleich zur „traditionellen“ Reformpädagogik neben der lern- und erkenntnistheoretischen Fundierung zudem, dass den digitalen Medien in der Umsetzung dieser Lernformen eine Katalysator-Funktion zugeschrieben wird: Der Einsatz von Computern bietet optimale Möglichkeiten zur Gestaltung von konstruktivistischen Lernumgebungen. Es können reichhaltige Lernarrangements sowie komplexe Problemstellungen geschaffen werden, die auf ein selbst gesteuertes Lernen zielen und zugleich eine Interaktion und Kommunikation zwischen Lernenden fördern (Weidenmann, 2006, 463). Auch Schulz-Zander et al. (2002, vgl. auch Schulz-Zander, 2005) verweisen auf die positiven Effekte der Integration digitaler Medien auf die Gestaltung problemorientierter Lernumgebungen und auf das kooperative Lernen der SchülerInnen. Auf die Rolle der digitalen Medien zur Gestaltung derartiger Lernumgebungen wird in Kapitel 2.4 detailliert eingegangen.
5 Die empirische Forschung, wie die PISA und TIMS-Studie (PISA, 2003; Klieme, 2002), zeigt jedoch in der derzeitigen Unterichtspraxis ein anderes Bild, der nach wie vor starken Dominanz der Lehrersteuerung. 6 Die in dieser Arbeit untersuchten Unterrichtsprojekte verfolgen meist nicht gezielt den Anspruch multiple Perspektiven auf den Lerngegenstand zu generieren und entsprechen daher eher dem Konzept der Reformpädagogik im Sinne einer Betonung von schülerzentriertem und kooperativem Lernen.
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
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2.2.3 Lehrpersonen als Facilitatoren In diesem Abschnitt wird das Lehrerhandeln in (gemäßigt) konstruktivistischen Lernumgebungen thematisiert. Hierbei wird auf Rogers (1984) zurückgegriffen, der den reformpädagogischen Ansatz des „Lernens vom Kinde aus“ mitträgt, dieses aber im konstruktivistischen Sinne damit begründet, dass sich jeder Mensch seine eigene (subjektive) Lebensumgebung schafft und entsprechend viele Perspektiven und Zugänge auf den Lerngegenstand resultieren. Rogers verweist in seinem Buch „Lernen in Freiheit“ (1984) auf die Rolle des Lehrers als sogenannter „Facilitator“ im Sinne von „Förderer des Lernens“. Begründet wurde der Begriff des Facilitators von dem lateinamerikanischen Reformpädagogen Freire. Der Ursprung des Wortes “Facilitator“ stammt aus dem Englischen „to facilitate“ und bedeutet "Ermöglichen", "Erleichtern" – jedoch nicht im Sinne von Vereinfachen, sondern von Leichtermachen. In der vorliegenden Arbeit werden diese Wortbedeutungen als bereichernd empfunden: Denn Lehrpersonen ermöglichen auf der einen Seite durch die Gestaltung einer (gemäßigt) konstruktivistischen Lernumgebung unter Integration der digitalen Medien7 den SchülerInnen selbst gesteuertes und kooperatives Lernen und auf der anderen Seite, indem sie als Lernberater fungieren, erleichtern sie den Erwerb von Schlüsselqualifikationen (vgl. Abbildung 4.5.). Rogers (ebd., S.107ff.) sieht als zentrales Merkmal einer Förderung des Lernens die Beziehung zwischen Erziehenden (Lehrperson) und Lernenden an: Der Facilitator sollte authentisch sein. Es soll eine direkte, persönliche und vor allem echte Beziehung zwischen Lehrpersonen und Lehrenden bestehen. Die Lehrperson soll nicht als starrer Rollenträger agieren, sondern ihre Gefühle (auch negative) anerkennen und auch gegenüber SchülerInnen thematisieren. Rogers (ebd., S.108) betont, dass die Lehrperson als „Mensch und nicht als gesichtslose Verkörperung einer curricularen Pflicht“ handeln soll. Hierzu gehört es u. a. auch, zu eigenen Schwächen zu stehen, anstatt diese vertuschen zu wollen. Lehrpersonen als Facilitatoren sollen „sich um den Lernenden kümmern, ohne dabei Besitz von ihm zu ergreifen“ (ebd., S.110), daher sollen ihre Interventionen an den Bedürfnissen der Lernenden ausgerichtet werden. Ein positives Menschenbild der SchülerInnen ist die zentrale Grundlage dessen, was in dieser Arbeit unter dem Aspekt der Schülerzentrierung behandelt 7 Wie Abschnitt 2.4 zeigt können die Potenziale digitaler Medien die Gestaltung einer entsprechenden Lernumgebung unterstützen.
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wird. Die Wertschätzung und Anerkennung des Lernenden spiegelt das Vertrauen der Lehrenden in die Selbstentfaltungskräfte des Lernenden wider: „Ein derartiger Lehrer kann die gelegentliche Apathie oder die sprunghaften Wünsche des Lernenden ebenso anerkennen, wie seine disziplinierten Bemühungen, höhere Ziele zu erreichen“ (ebd., S.119). Zu dieser Schülerorientierung gehört ein einfühlendes Verständnis, der Versuch „die Welt mit den Augen des Lernenden (zu) sehen“. In einer Atmosphäre gegenseitiger Anerkennung kann der Facilitator zu einem Mitlernenden werden (vgl. Kapitel 4.4.1) und zu einem Gruppenmitglied, dessen Standpunkt als einer von vielen zum Ausdruck kommt (ebd., S.164). Die Lehrperson als Facilitator vermittelt nicht aktiv Wissen und Lösungsmöglichkeiten, es steht nicht mehr die Vermittlung von deklarativem Wissen („Wissen, das ...“) im Vordergrund, sondern vielmehr der Erwerb von prozeduralem Wissen („Wissen, wie ...“). Das Ziel von Bildung und Erziehung soll „ein aufregendes Erforschen und Suchen und kein Anhäufen von Fakten, die bald veraltet und vergessen sind (sein).“ (Rogers, 1984, S.225).
Nicht das Lernprodukt, sondern vielmehr der Lernprozess rückt in den Mittelpunkt. Die SchülerInnen sollen lernen, ihre Wissensaneignung selbst zu steuern. Die Lehrpersonen stehen den SchülerInnen beim Lernen beratend zur Seite und werden zu Prozessbegleitern, sie erleichtern den Schülerinnen das Lernen lernen. Inwieweit agieren Lehrpersonen in der bisherigen Unterrichtspraxis als Facilitatoren? Die “Third International Mathematics and Science Study“ (TIMSS), die sich auf Videoaufnahmen stützt, zeigt eine relative Gleichförmigkeit des unterrichtlichen Handelns von Lehrpersonen: Die Unterrichtsstunden zeigen einen starren, immer wiederkehrenden Kreislauf von Wiederholung, Besprechung der Hausaufgaben, Einführung ins neue Thema, Aufgabenbearbeitung und der Vergabe von Hausaufgaben. In den untersuchten Unterrichtsstunden dominiert eine starke Lenkung seitens der Lehrpersonen, so werden komplexe Fragestellungen von diesen in Teilaufgaben mit geringer Komplexität zergliedert und mit dem implizitem Ziel der Routinisierung an die Schülerinnen gestellt (vgl. Baumert et al, 1997). Die untersuchten Lehrpersonen agierten demnach keineswegs als Facilitatoren. Dann, Diegritz und Rosenbusch (1999) untersuchen Gruppenunterricht sowohl aus der Außenperspektive des Beobachters, als auch die Innensicht der Lehrkräfte. Als Fokus kristallisiert sich der Konflikt zwischen dem Eingreifen und
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Nicht- Eingreifen der Lehrpersonen heraus. Der bewussten Förderung einer Selbständigkeit der SchülerInnen stehen oftmals tief einsozialisierte KontrollImperative gegenüber, die zu Unsicherheiten und Entscheidungsdilemmata führen. Die Analyse zeigt, dass Lehrpersonen umso besseren Gruppenunterricht praktizieren, je weniger sie sich durch diesen Konflikt verunsichern lassen. Anhand der Daten werden drei Repräsentationstypen von Gruppenunterricht gebildet (ebd., S.334): 1. 2.
3.
Der erste Typ agiert als wissende Autorität, die stark lenkt, Ziele vorgibt und laufend die Arbeitsprozesse der SchülerInnen kontrolliert. Dieser Typ bewertet vor allem die Leistung. Der zweite Typ legt einen Rahmen für Ziele fest und löst sich etwas von der Rolle als Wissensvermittler. Obwohl sich die Lehrperson zeitweise zurückzieht, interveniert sie bei Unruhe und hilft bei Sachproblemen und Fragen. Gruppenprozesse werden vor allem im Hinblick auf Leistungsziele bewertet. Der dritte Typ agiert prozessorientiert, er ist bereit, den abgesteckten Zielrahmen bei einer Eigendynamik durch die SchülerInnen zu verändern. Er zieht sich bei den Gruppenprozessen stark zurück und verweigert Hilfe, wenn er davon ausgeht, dass die SchülerInnen ihre Probleme selbst gesteuert bewältigen können. Auch Unruhe und Konflikte werden zunächst beobachtet, er greift nur bei starken Schwierigkeiten ein. Gruppenprozesse werden gemeinsam mit den SchülerInnen, auch unabhängig von Leistungszielen, reflektiert.
Dann, Diegritz und Rosenbusch (ebd.) betonen, dass Typ zwei mit Tendenz in Richtung Typ drei den erfolgreichsten und Typ eins den am wenigsten erfolgreichen Gruppenunterricht praktiziert. Gerade „invasive“ Lehrerinterventionen, wie Eingriffe ohne vorangegangene Meldung der SchülerInnen, können in signifikanter Art und Weise eine Verschlechterung der Aufgabenorientierung sowie eine ungünstigere Umgangsqualität zwischen den SchülerInnen bewirken (ebd., S.336). Es kann gezeigt werden, dass schon ein Näherkommen der Lehrpersonen die Gruppenarbeitsprozesse schlagartig verändert. Außerdem wirken sich häufige Lehrerinterventionen negativ auf die Arbeitsergebnisse der Gruppe aus (ebd., S.346). Es resultieren folgende didaktische Empfehlungen für optimalen Gruppenunterricht: Der Konflikt zwischen Eingreifen und Nicht-Eingreifen sollte tendenziell eher zugunsten des Nicht-Eingreifens entschieden werden. Außerdem sollte Gruppenunterricht als Erweiterung des Lehrplanes und der strukturellen
38
2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
Bedingungen von Schule (Typ2) oder gar als Aufhebung dieser Strukturen verstanden werden (Typ 3). Die Lehrperson sollte insgesamt auf ein möglichst vielfältiges didaktisches Wissenssystem zurückgreifen (ebd.). Blömeke et al. (2006) identifizierten, anhand von Videoaufnahmen über 20 Unterrichtsstunden hinweg, Handlungsmuster von Lehrpersonen beim Einsatz digitaler Medien in den Unterricht. Als Ergebnis dimensionalisieren sie die unterschiedlichen Muster des Lehrerhandelns auf einer Skala mit den Polen „instruktional“, als traditionell-lehrerzentriertes Handeln versus „konstruktivistisch“, als innovativ-schülerorientiertes Lehrerhandeln. Auf diese Weise identifizierten sie drei unterschiedliche Handlungsmuster (ebd., S.640): Lehrerzentrierung: Digitale Medien werden „in ein fragend-entwickelndes, lehrergelenktes Unterrichtsgespräch eingebaut.“ Die Mediennutzung wird hauptsächlich von der Lehrperson gesteuert, es dominieren Aufgaben mit einer geringen Komplexität und die Lehrer-SchülerInnen-Interaktion nimmt hierarchische Züge an. Dieses Handlungsmuster geht mit der geringsten Unterrichtsqualität einher. Schüleraktivierung: Digitale Medien werden „zur Unterstützung von schüler- und problemzentriertem Unterricht mit kognitiv aktivierenden Aufgaben eingesetzt.“ Sie zeichnet sich durch eine hohe Unterrichtsqualität aus: So werden Aufgaben mit einem hohem kognitiven Anregungspotenzial bearbeitet und die SchülerInnen arbeiten selbst gesteuert mit den digitalen Medien. Mischtyp: Digitale Medien werden „sowohl lehrerzentriert als auch schüleraktivierend eingesetzt und vorrangig als Werkzeug zu Präsentationszwecken verwendet.“ Es werden nur selten Aufgaben mit hoher Komplexität bearbeitet und die Unterrichtsqualität liegt unter dem Durchschnitt. Diese Form macht mit ca. zwei Dritteln den Großteil der identifizierten Handlungsmuster aus. Die vorgestellten Befunde (siehe hierzu auch 2.4.6) zeigen, dass es keineswegs selbstverständlich ist, dass Lehrpersonen als Facilitatoren agieren und dass auch die Integration der digitalen Medien, wenngleich diese (wie Kapitel 2.4 zeigen wird) durchaus Potenzial besitzt eine derartige Rolle des Lehrers zu forcieren, nicht automatisch eine Veränderung des Lehrerhandelns bewirkt. Wie können Lehrpersonen nun darin bestärkt und unterstützt werden, in der Unterrichtspraxis als Facilitatoren zu agieren? Untersuchungen von Haas (2005) zeigen, dass Lehrpersonen ihr im Rahmen der Ausbildung erworbenes Wissen nur selten in der Unterrichtspraxis umsetzen,
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
39
eine Wissensnutzung findet nicht statt: Das Wissen ist zwar vorhanden, wird aber nicht in Handeln umgesetzt und bleibt träge. Dieses Theorie-Praxis-Problem wird in der Rezeption konstruktivistischer Ansätze als „Inert Knowledge“ (Whitehead, 1929), als eingeschlossenes Wissen thematisiert (Renkl, 1994). Im Konstrukt der subjektiven Theorien (Groeben, 1988) stehen komplexe Transfer- und Übersetzungsprogramme zwischen Wissen und Handeln im Mittelpunkt. Es wird davon ausgegangen, dass handlungssteuernde Wissensbestände in Form typischer Problemstellungen („Situationstypen“), denen jeweils bestimmte typische (bewährte) Problemlösungen („Reaktionstypen“) gegenübergestellt werden, organisiert sind (Konrad, 2005, S. 48). Derartige Alltagstheorien können zu einem professionellen Handeln werden, indem metakognitive Prozesse vor allem im Hinblick auf wissenschaftlich fundierte didaktische Theorien stärker reflektiert werden. Buchholtz und Blömeke (2007) stellen 3 Prozesselemente einer Fortbildung zur nachhaltigen Implementation innovativer Unterrichtskonzepte im Hinblick auf die Handlungsmuster der Lehrpersonen vor: 1. 2. 3.
Erwerb von Wissen zu neuen Unterrichtskonzepten Anwendung der Handlungsmuster in der Lerngruppe Reflexion der Handlungsmuster
Es geht hierbei darum, dass Lehrpersonen, um die Entstehung einer Kluft zwischen Wissen und Handeln zu vermeiden, theoretisches und methodisches Wissen zur Gestaltung medialer Lernumgebungen erwerben, die einen unmittelbaren Praxistransfer einschließen. Eine interessante Methodik wäre in diesem Zusammenhang sicherlich der Einsatz des „lauten Denkens“ (vgl. u. a. Weidle & Wagner, 1994), in der z. B. Lehrpersonen ihr eigenes Handeln auf der Grundlage von Videoaufnahmen in kleinen Schritten verbal dokumentieren, ihre jeweiligen Handlungsabsichten und deren Rahmenbedingungen rekonstruieren sowie in einem weiteren Schritt reflektieren und hinterfragen. Diese Methode könnte forschungsmethodisch zur Analyse und Bewusstmachung von negativen Rahmenbedingungen und Handlungsursachen und zugleich im Rahmen der Lehrerfortbildung zur Überwindung der Entstehung einer Kluft zwischen Theorie und Praxis fruchtbar genutzt werden. Es könnte geklärt werden, wodurch die Kluft zwischen dem Wissen und Handeln der Lehrpersonen mit bedingt wird, um Lehrpersonen für diese Aspekte zu sensibilisieren. Außerdem erscheint es sinnvoll, als eine weitere wichtige Perspektive, ein Feedback von den SchülerInnen einzuholen. Auch das Tandem-
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
Prinzip, eine andere Lehrperson als BeobachterIn mit in den Gruppenunterricht zu integrieren, kann als wichtige Feedbackmaßnahme wirken. Ein Grund, weshalb Lehrpersonen als Facilitatoren agieren sollten, ist, dass sie durch diese Rolle ein selbst gesteuertes Lernen der SchülerInnen fördern können. Das Konzept des selbst gesteuerten Lernens wird im nächsten Abschnitt vorgestellt. 2.2.4 Selbst gesteuertes Lernen Im Konzept des selbst gesteuerten Lernens verlagert sich der Schwerpunkt weg von der Vermittlungs- hin zur Aneignungsperspektive (Deutschmann 2003, S.92). Zum selbst gesteuerten Lernen gehört es u. a., sich selbst zu motivieren, den eigenen Lernprozess im Sinne einer hohen Selbstwirksamkeit aktiv zu steuern sowie sich Methoden des Lernen Lernens anzueignen. Selbst gesteuertes Lernen zielt u. a. auf eine Methodenkompetenz: Es gilt zu erkennen, wann und woher welche Informationen beschafft werden können, diese aufzunehmen, zu verarbeiten, umzusetzen und weiter zu entwickeln (Deutschmann, 2003). Die Lernumgebung sollte zur Förderung selbst gesteuerten Lernens derart gestaltet sein, dass sie Lernenden Spielraum für eigene Entscheidungen bietet. Die Selbststeuerung kann sich auf das Lerntempo, die Sequenzierung und Gewichtung der Lerninhalte, eine eigenständige Auswahl der Lernmaterialien sowie auf eine eigene Festsetzung der Zielformulierungen beziehen (Mandl & Reinmann, 2006, S.647). Boekaerts (1999, S.449) hat ein Drei-Schichten-Modell des selbst gesteuerten Lernens entwickelt; dieses wird in Abbildung 2.3 veranschaulicht.
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
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regulations of self regulation of the learning process regulation of processing modes
Self-regulated learning choice of cognitive strategies use of metacognitive knowlegde and skills to direct one‘s learning choice of goals and resources
Abbildung 2.3: Das Drei-Schichtenmodell (Boekaerts, 1999, S.449) Das dargestellte Modell besteht aus drei Regulationsschichten. Die äußerste Schicht stellt die Ebene der Motivation dar und bezieht sich auf die Person des Lerners. Es geht darum, Ziele zu setzen und notwendige Ressourcen zu bestimmen, damit eine Regulation des Selbst stattfinden kann. Die mittlere Schicht zielt auf die Regulation des Lernprozesses. Es gilt diesen mithilfe von metakognitiven Strategien zu planen und zu überwachen. In der innersten Modellschicht geht es um die Regulation der Informationsverarbeitung, um die Wahl von Lernstilen und –strategien. Eine breite, häufig verwendete Definition für selbst gesteuertes Lernen stammt von Knowles (1975, S.18, Übersetzung durch Straka et al., 2001): „Selbst gesteuertes Lernen ist ein Prozess, in dem Individuen die Initiative ergreifen, um, mit oder ohne Hilfe anderer, ihren Lernbedarf festzustellen, Lernziele zu formulieren, Lernressourcen zu identifizieren, Lernstrategien auszuwählen und einzusetzen und ihre Lernergebnisse zu bewerten.“
Aus dieser Definition lassen sich fünf Merkmale extrahieren:
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
1.
„Initiative der Lernenden“: Die Lernenden müssen selbst aktiv werden, sie werden nicht mehr nur durch andere geführt und angeleitet. Die Lernmotivation, d. h. die Bereitschaft, selbst gesteuert lernen zu wollen, fungiert hierbei als wichtiger Antriebsfaktor. „Mit oder ohne Hilfe anderer“: Die Lernenden sind nicht unbedingt vollständig auf sich allein gestellt. In einzelnen Phasen des Lernprozesses benötigen sie die Unterstützung und Beratung durch andere. Dies können Lehrpersonen, aber auch MitschülerInnen sein. Lehrpersonen werden beim selbst gesteuerten Lernen nicht überflüssig, sondern agieren verstärkt als Lernberater. „Lernbedarf feststellen, Lernziele formulieren und Lernressourcen ermitteln“: Diese typischen und klassischen Lehrfunktionen sollen schrittweise in Eigenverantwortung von den Lernenden selbst übernommen werden. „Lernstrategien auswählen und einsetzen“: Um selbst gesteuert lernen zu können, müssen die Lernenden auf ein Repertoire von Lernstrategien zurückgreifen. Dieses Repertoire sollte Strategien zur Vorbereitung, Organisation, Planung und Kontrolle des eigenen Lernprozesses umfassen. „Lernergebnisse bewerten“: Die Lernenden übernehmen selbst die Kontrolle über ihren Lernerfolg und lernen sich selbst (und ggf. auch andere) besser einzuschätzen.
2.
3. 4.
5.
Anhand dieser Definition lassen sich implizit Rückschlüsse über das optimale Lernarrangement ziehen, durch das selbst gesteuertes Lernen gefördert werden kann. So sollen Lernumgebungen derart gestaltet sein, dass sie dem Lernenden ermöglichen, Entscheidungen über die eigenen Lernziele und die Lernressourcen, auf die er zurückgreifen will, zu treffen. Das Lernarrangement sollte dementsprechend alternative Vorgehensweisen zeitlicher, organisatorischer und inhaltlicher Art zulassen. Nenninger (1996) konnte in empirischen Untersuchungen die Wichtigkeit der motivationalen Komponente beim selbst gesteuerten Lernen belegen. Durch eine Schülerzentrierung wird die intrinsische Motivation der SchülerInnen gefördert. Lernende sind insbesondere dann intrinsisch motiviert, wenn die Ziele des selbst gesteuerten Lernens ihre individuellen Interessen berühren (Krapp, 1999, S. 632). Die Bereitstellung von Wahlmöglichkeiten sowie die Möglichkeit selbst etwas zu bewirken, sind wichtige Voraussetzungen zum selbst gesteuerten Lernen (Reinmann & Mandl, 2006, S.645).
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
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Eine Bedingung für ein selbst gesteuertes Lernen ist, dass die SchülerInnen ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit besitzen und erwerben. Unter Selbstwirksamkeit wird die Überzeugung verstanden, „dass man in einer bestimmten Situation die angemessene Leistung erbringen kann. Dieses Gefühl einer Person bezüglich ihrer Fähigkeit beeinflusst ihre Wahrnehmung, ihre Motivation und ihre Leistung auf vielerlei Weise“ (Zimbardo, 1995, S.498). Es ist nicht erstrebenswert, ein Maximum an Selbststeuerungsmöglichkeiten zu bieten, da bei einem zu großen Gestaltungsspielraum die Gefahr der Überforderung besteht. Eine zu geringe Anleitung und Unterstützung der Lernenden kann in der Praxis zu Desorientierung und Überforderung führen (Gräsel & Mandl, 1993; Mandl & Reinmann, 2006). Forschungsbefunde belegen, dass Lernende mit niedrigen Lernvoraussetzungen eher von hochstrukturierten Lernumgebungen profitieren, während Lernende mit hohen Lernvoraussetzungen eher niedrig strukturierte Lernumgebungen bevorzugen (Aptitude-Treatment-Interaction-Effect, Springer, Stanne & Donovan, 1999). Das Anforderungsniveau der Lernumgebung sollte daher entsprechend den Lernvoraussetzungen der SchülerInnen angepasst werden (Reinmann & Mandl, 2006). Hilfreich können hierbei die sogenannten SMART-Kriterien sein, so soll ein Ziel, folgenden Kriterien entsprechen (vgl. z. B. Meyerhoff & Brühl, 2004):
Es soll präzise und eindeutig formuliert sein („Spezifisch“). Die Zielerreichung muss überprüfbar sein („Messbar“). Das Ziel soll Ansatzpunkte für positive Veränderungen aufweisen, weder zu einer Unter- noch Überforderung führen („Attraktiv“). Es soll mit den vorhandenen Ressourcen umsetzbar sein („Realistisch“). Ein Ziel sollte aus klaren Zwischenschritten bestehen und an einem definierten Endzeitpunkt erreicht sein („Terminierbar“). Folgende Aspekte können zu einem Misslingen von selbst gesteuertem Lernen führen (Reinmann & Mandl 2006, S.651ff.): Durch eine fehlende systematische Einführung in selbst gesteuerte Lernformen fehlen die Grundvoraussetzungen, um dieses selbst gesteuert aktiv aufzubauen. So ist selbst gesteuertes Lernen nicht nur eine Konsequenz von Aneignungsprozessen, sondern zugleich eine Voraussetzung. Zum selbst gesteuerten Lernen gehört die eigenständige Festlegung von Zielen, die Entwicklung persönlicher Interessen sowie die Verantwortungsübernahme für den Erwerb neuen Wissens.
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
Viele Lehrende orientieren sich an traditionellen Unterrichtsformen. Organisatorische Rahmenbedingungen, wie eine große Stofffülle, rigide Unterrichtsvorgaben und Prüfungsbedingungen sowie eine mangelnde Unterstützung der Schulleitung können die Umsetzung eines offenen Unterrichts zusätzlich erschweren. Selbst gesteuertes Lernen wird so durch die SchülerInnen kaum erfahrbar und erlernbar. SchülerInnen sind durch die in der Schule meist vorherrschende lehrerzentrierte Unterrichtspraxis rezeptive und passive Lernhaltungen gewohnt (vgl. u. a. Klieme, 2002, PISA, 2003) 8. Eine derartige Konsumentenhaltung kann zu mangelndem Interesse an anspruchsvolleren Denk- und Lernstrategien führen. Da die schulische Prüfungspraxis häufig nur auf eine Wissensreproduktion zielt, wird eine Tendenz zur minimalistischen Wissensaufnahme gefördert, die mit einer im Vergleich zum selbst gesteuerten Lernen erforderlichen geringen Anstrengung verbunden ist. Entscheidend für selbst gesteuertes Lernen ist die Ursachenzuschreibung für Erfolg und Misserfolg. Ein hohes Maß an Selbstwirksamkeit wirkt sich positiv aus. Auch Teams und Gruppen können selbst gesteuert -ohne Anleitung durch Lehrende– lernen.Kooperative Lernformen können selbst gesteuertes Lernen durch soziale und kognitive Prozesse erleichtern. Verantwortlichkeiten können aufgeteilt oder durch wechselseitigen Austausch individuelle Fragen und Unsicherheiten geklärt werden.
8 In der "Third International Mathematics and Science Study" (TIMSS) kristallisierte sich heraus, dass im deutschen Mathematikunterricht ein sehr enger fragend-entwickelnder Unterrichtsstil dominiert, der von einer starken Lehrersteuerung geprägt ist und es den SchülerInnen kaum ermöglicht eigene Problemlösungen zu entwickeln (Klieme, 2002). Auf der Grundlage eines internationalen Vergleichs der TIMSS-Daten werden drei Grunddimensionen der Unterrichtsqualität gefunden (ebd.) Guter Unterricht zeichnet sich demnach durch eine klare und strukturierte Unterrichts- und Klassenführung, durch eine hohe Schülerzentrierung sowie ein großes Ausmass an kognitiver Aktivierung aus, die sich u.a. in einem genetisch-sokratischem Vorgehen zeigt.
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
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2.2.5 Kooperation und Kollaboration In der konstruktivistischen Lerntheorie wird der sozialen Dimension des Lernens eine große Bedeutung beigemessen. Nach Slavin (1995) wird unter Teamwork ein breites Spektrum von Lehrmethoden und Gruppensituationen verstanden, in denen zwei oder mehr Personen gemeinsam Aufgaben bewältigen. Um gemeinschaftliches Lernen im Sinne von Zusammenarbeit zu analysieren, erscheint es sinnvoll, zwischen Kooperation und Kollaboration zu differenzieren. Im deutschsprachigen Raum wird diese Unterscheidung kaum vorgenommen bzw. beide Begriffe werden oftmals synonym verwendet. Die Begriffsdifferenzierung resultiert vielmehr aus dem Englischen „cooperative“ und „collaborative learning“ (vgl. Reinmann-Rothmeier & Mandl, 2002, S.45). Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen den beiden Begriffen liegt im Grad der Arbeitsteilung und in der Aushandlung von Zielen. Während kooperatives Lernen überwiegend durch eine individuelle Bearbeitung unterschiedlicher Teilaspekte von einzelnen Gruppenmitgliedern gekennzeichnet ist, deren Ergebnisse schließlich additiv zusammengeführt werden, dominiert beim kollaborativen Lernen ein überwiegend selbst gesteuerter interaktiver Austauschprozess zwischen den Gruppenmitgliedern (vgl. Reinmann-Rothmeier & Mandl, 1999). Eine separate Aufgabenteilung findet nur in geringem Ausmaß statt, vielmehr steht die soziale Wissenskonstruktion im Zentrum (Resnick, 1991). Abbildung 2.4 (vgl. Hinze, 2004, S. 23) verdeutlicht diese Unterscheidung. Kollaboration Kooperation 1
2
3
1 4
2
3 4 1
Ergebnis
Ergebnis
Abbildung 2.4: Kooperation und Kollaboration (vgl. Hinze, 2004)
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Dem kollaborativen Lernen liegt ein sozialkonstruktivistisches Verständnis zugrunde: „collaborative learning is based on the idea that learning is a naturally social act in which the participants talk among themselve. It is through the talk that learning occurs” (Gerlach 1994).
Sozialer Austausch ist eine notwendige Vorraussetzung, um Wissen internalisieren zu können. Kollaborative Lernprozesse zielen auf eine gemeinsame Aufgabenbearbeitung, Problemlösung oder die Erstellung neuer Produkte (Deutschmann, 2003). Littleton und Häkkinen (1999, 20f.) betonen: „Collaboration involves the construction of meaning through interaction with others and can be characterised by a joint commitment to a shared goal“. Sie betonen weiter, “that collaborative activity involves the construction of a solution that otherwise could not be produced”.
Im Zentrum steht daher die Ko-Konstruktion von Wissen, die mehr beinhaltet, als die Addition von Einzelleistungen. Wie derartige Ko-Konstruktionsprozesse ablaufen, wird in Abschnitt 2.2.6 dargelegt. Laut Reinmann-Rothmeier und Mandl (1999) können kollaborative Situationen vor allem durch folgende Merkmale umrissen werden: Kontextmerkmale: Hierunter fallen unter anderem organisatorische Rahmenbedingungen, wie die Lernkultur, die zeitliche Dimension (ob es sich um eine Ad-hoc-Gruppe oder um ein länger eingespieltes Team handelt), Anreizsysteme (z. B. Benotung des Sozialverhaltens) sowie zentrale Zielsetzungen. Gruppenmerkmale: Kollaborative Situationen zeichnen sich durch eine gleichberechtigte Partizipation der Gruppenmitglieder an den jeweiligen Aktivitäten aus. Auf der Handlungsebene wird Symmetrie angestrebt. Auf der Wissensebene hingegen wird eine leichte Asymmetrie als förderlich für die gemeinsame Zusammenarbeit angesehen. Wichtig scheint zudem eine gemeinsam generierte Zielsetzung, die zur sozialen Gruppenidentität beiträgt. Aufgabenmerkmale: Eine wichtige Bedingung für das Gelingen kollaborativer Situationen ist eine angemessene Aufgabenstellung. Diese sollte derart gestaltet sein, dass sie auf eine Integration unterschiedlicher Wissensressourcen der Beteiligten zielt. Eine intrinsische Motivation lösen alltags-
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
47
nahe/ authentische Aufgabenstellungen aus, deren Merkmale eine hohe Komplexität und Dimensionalität sind. Individuelle Merkmale: Auch der Einzelne als Individuum bildet mit seinen kognitiven und sozialen Ressourcen, wie Motivation, Vorwissen und soziale Einstellung, eine wichtige Analyseeinheit innerhalb der Kollaborationssituation. Trotz der Differenzierung zwischen Kooperation und Kollaboration sind die Übergänge zwischen diesen beiden „Konstrukten“ in der Praxis durch unterschiedliche Abstufungen des Grades der Arbeitsteilung und der Interaktionsdichte fließend. Jede Kooperation beinhaltet zwangsläufig auch kollaborative Momente. Daher wehren sich Konrad und Traub (2001, S.5) gegen die beschriebene Differenzierung und verwenden den Oberbegriff des kooperativen Lernens als „eine Interaktionsform, bei der die beteiligten Personen gemeinsam und im wechselseitigen Austausch Kenntnisse und Fertigkeiten erwerben“. Allerdings stuft Konrad (1999, 67f), wie -Tabelle 2.3- zeigt, entlang der Dimensionen „Rolle“, „Interaktionsstrukturen“ und „Aufgabe“ verschiedene Ausprägungsgrade von Kooperationen ab, die ein sozialkonstruktivistisches Kontinuum darstellen. Das Peer-Tutoring (geringste Ausprägung) kann als eine ExpertenNovizen-Beziehung durch eine einseitige Informationsübertragung von einer Person zur anderen begriffen werden. Die Beziehung beim kooperativen Lernen (mittlere Ausprägung) ist durch ein hohes Maß an Gleichberechtigung gekennzeichnet: Jeder dient als potenzielle Wissensquelle und Phasen der Gruppenarbeit werden durch Einzelarbeitsphasen ergänzt. Bei der Peer-Kollaboration (höchste Ausprägung) sind hingegen keine Einzelarbeitsphasen vorgesehen, der wechselseitige Austauschprozess zwischen den Gruppenmitgliedern im Sinne einer KoKonstruktion von Wissen rückt ins Zentrum der Zusammenarbeit.
Rolle Interaktionsstrukturen Aufgabe
Peer-Tutoring Gleichberechtigung gering
Kooperatives Lernen Gleichberechtigung hoch
Peer-Kollaboration Gleichberechtigung hoch
Interaktion gering
Interaktion mittel bis hoch Multiple Beiträge zu einer Aufgabe
Interaktion hoch
Unabhängigkeit
Wechselseitige Bearbeitung Aufgabe
Tabelle 2.3: Ausprägungsgrade von Kooperationen (Konrad, 1999, S.67)
der
48
2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
In dieser Arbeit werden die Begrifflichkeiten der Kooperation und Kollaboration wie folgt verwendet: Der Begriff der Kooperation bezieht sich (wie bei Konrad, ebd.) als Oberbegriff auf alle Ausprägungsgrade von Zusammenarbeit, während der Begriff der Kollaboration im besonderen eine Zusammenarbeit beschreibt, deren Ziel die Ko-Konstruktion von Wissen ist. Es folgen Ausführungen zum Stand der Forschung über Kooperationen zwischen SchülerInnen: Naujork (2002) hat in einer qualitativen Studie zur Beschaffenheit unterrichtlicher Interaktionen von SchülerInnen ähnliche Dimensionen wie Konrad (s. o.) herausgearbeitet, so unterscheidet sie zwischen den drei Kooperationstypen des „Nebeneinander-Arbeitens“, des Helfens im Sinne von „Peer-Tutoring“ und dem Kollaborieren. Insgesamt konnte sie herausfinden, dass sich SchülerInnen immer wieder in einem Grunddilemma zwischen dem Kooperations- und dem Konkurrenzprinzip befinden. So wollen die SchülerInnen einerseits im Sinne der Kooperation gemeinsam, zügig und fehlerfrei Aufgaben bewältigen, zugleich aber auch ihre eigenen, mitunter egozentrischen, persönlichen Bedürfnisse befriedigen. Auch Krappmann und Oswald (1992) befassen sich in ihren qualitativen Studien mit den Sozialbeziehungen von Grundschulkindern. Im Hinblick auf das im Unterricht stattfindende „Geben von Hilfe“ und „Kooperieren“ resümieren sie, dass ein einseitiges Geben und Nehmen problematisch werden kann: „Kinder streben in ihren Beziehungen zu Gleichaltrigen nach Symmetrie, nach Gleichheit, sie wollen nicht, dass einzelne sich überheben. (...) Die Situation der Hilfsbedürftigkeit schafft aber notwendigerweise ein asymmetrisches Verhältnis, weil die eine Seite etwas braucht, was die andere Seite gewähren oder verweigern kann. Dieser strukturell asymmetrischen Situation können viele Kinder in vielen Situationen nicht widerstehen, sie nützen sie aus, um sich zu erhöhen oder das Hilfe suchende Kind zu erniedrigen“ (ebd.; S.98).
Zudem unterscheiden Krappmann & Oswald (ebd.) zwischen der Zuarbeit, die sich durch ein einseitiges Geben und Nehmen auszeichnet und der Zusammenarbeit, in der beide Seiten gleichberechtigt an dem Ergebnis beteiligt sind. Sie finden zahlreiche Beispiele, in denen sich SchülerInnen prosozial verhalten und empfehlen als Konsequenz, SchülerInnen Eigenverantwortung zu übertragen und Partner- und Gruppenarbeit zu fördern. Ein besonderer Vorteil der Zusammenarbeit von SchülerInnen im Vergleich zur Lehrer-Schüler-Interaktion liegt darin, dass die Arbeitsstruktur potenziell viel Symmetrie und Gleichberechtigung ermöglicht. So zeichnet sich die
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
49
„Zusammenarbeit mit Gleichen dadurch (aus), dass gemeinsam konstruiert wird, dass beide Seiten Vorschläge einbringen, Unbrauchbares verwerfen, Versuche auf das Für und Wider hin gemeinsam abwägen. Das Ergebnis ist dann beider Besitz“ (ebd.; S.101).
Eine derart produktive Zusammenarbeit scheint besonders unter guten SchülerInnen zu funktionieren, während schlechte SchülerInnen den Befunden zufolge von Partner- und Gruppenarbeitsprozessen nicht so sehr profitieren (ebd., S.102). Außerdem wirkt es sich positiv auf die Kooperation aus, wenn die beteiligten SchülerInnen untereinander befreundet sind. Krappmann und Oswald betonen zudem, dass die Lehrperson den SchülerInnen zwar nicht das „kooperierende Selbst“ einflössen, aber durch die Herstellung förderlicher Bedingungen gemeinschaftliche Konstruktionsprozesse der SchülerInnen unterstützen kann. Empirische Befunde (z. B. Cohen, 1994) belegen, dass Partner- und Gruppenarbeit im Unterricht systematisch begleitet werden sollte. Hierbei gilt es, das richtige Maß an Strukturierung zu finden. Eine zu starke Strukturierung behindert die Kreativität und Produktivität der Gruppe, während eine zu geringe Strukturierung zu ineffektivem Lernen führen kann (ebd.). Webb & Palinscar (1996) zeigen, dass sich die Gruppenarbeit positiv auf die Leistung der Lernenden, die Produktivität, das psychische Wohlbefinden, die Selbstwertschätzung sowie auf die Einstellung zum Lernen auswirken. Je länger die Gruppen zusammenarbeiten, desto positiver entwickeln sich die beschriebenen Effekte. In diesem Kontext wird immer wieder das „Lernen durch Lehren“ (Renkl, 2006) genannt. Das Konzept der kognitiven Elaboration (vgl. z. B. Slavin, 1995) zielt auf die gründliche Erarbeitung von Problemlösestrategien, auf die intensive Auseinandersetzung mit erworbenem Wissen und dessen sprachliche Darstellung. Um anderen in kooperativen Lernarrangements eigenes Wissen zu vermitteln, muss dieses strukturiert und abstrahiert werden und verfestigt sich hierdurch. Lehren wird als die effektivste Form des Lernens angesehen. Über den Austausch von individuellem Spezialwissen der einzelnen GruppenteilnehmerInnen (distributed knowledge) hinaus, kann durch wechselseitige Interaktion und Diskussion „neues“ sozial geteiltes gemeinsames Wissen kokonstruiert werden. Dieser Prozess der Konstruktion gemeinsamen Wissens wird auch als Grounding bezeichnet (vgl. Abschnitt 2.2.6). Angenommen wird, dass Lernende durch den intensiven Austausch mit anderen stärker in das Lerngeschehen eingebunden und entsprechend stärker motiviert sind sowie bessere Lernleistungen erzielen als in rezeptiven Lernformen.
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
In kollaborativen Lernsituationen kann zudem durch einen Austausch unterschiedlicher - auch stark voneinander abweichenden - Sichtweisen auf den Lernstoff der Wissenshorizont erweitert sowie soziale Rücksichtsnahme und Argumentationsfertigkeiten geschult werden. Durch das soziale Lernen kann das Einnehmen multipler Perspektiven geschult werden. Die SchülerInnen können durch das wechselseitige Aufeinandereingehen zudem Sozialkompetenz erwerben: „Sozialkompetenz erfasst (...) die Fähigkeiten zur effektiven Umsetzung von Zielen und Absichten in sozialer Interaktion. Typische Kennzeichen sozialer Kompetenz sind Selbstreflexionsvermögen, Einfühlungsvermögen bzw. Empathie, Kooperationsbereitschaft und Konfliktfähigkeit“ (Hinze, 2004, S.37).
Hierbei sollen Wünsche und Ziele so eingebracht werden, „dass sowohl die eigenen Bedürfnisse als auch die der anderen sowie die Normen der Gesellschaft Berücksichtigung finden“ (Wild, Hofer, Pekrun, 2006, S.255). Trotz der aufgezählten Vorteile existieren auch einige Nachteile, die bei der Zusammenarbeit auftreten können: Der französische Wissenschaftler Ringelmann belegt u. a. anhand von Modellversuchen zum Tauziehen, dass die Leistung von Individuen in Gruppen geringer sein kann, als die Addition separater Einzelleistungen (vgl. Kravitz & Martin, 1986). Gruppenmitglieder sind teilweise aufgrund einer geringen Identifikation mit der Gruppe sowie der Schwierigkeit, dass sich individuelle Beiträge schwer aus dem Gruppenergebnis extrahieren lassen, wenig motiviert selbst Verantwortung zu übernehmen und verlassen sich auf die anderen. Dieser Aspekt ist auch als Ringelmann-Effekt bzw. als Problem der Verantwortungsdiffusion bekannt. Vermutlich ist er das Resultat von Koordinationsschwierigkeiten, dass Aufgaben doppelt oder im Vertrauen darauf „ein anderer macht’s schon“ gar nicht gelöst werden. Sogenannte „Trittbrettfahrer“ tragen selbst sehr wenig zur Gruppenarbeit bei und verlassen sich darauf, dass die leistungsfähigeren und motivierteren Teammitglieder die Aufgabe bewältigen. In engem Zusammenhang zu dem „Trittbrettfahrerphänomen“ steht der „Sucker-Effekt“, zunächst engagierte Gruppenmitglieder übernehmen den Hauptanteil der Arbeit, fühlen sich dann aber ausgenutzt und demotiviert (vgl. Hinze, 2004, S.39ff., Konrad & Traub 2001, 43ff). Als „Schereneffekt“ bekannt ist das Phänomen, dass gerade stark motivierte SchülerInnen und Lernende mit besseren kognitiven Voraussetzungen den Hauptanteil der Arbeit bewältigen. Hierdurch schulen und entwickeln sie ihre Fertigkeiten und Kompetenzen ständig weiter, sodass die Schere zu schwachen und zurückhaltenden Gruppenmitgliedern immer größer wird.
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Dann, Diegritz und Rosenbusch (1999, S.345) bestätigen in ihren Studien, dass autoritäre GruppenführerInnen einen negativen Einfluss auf Gruppenprozesse ausüben. Auch ein freundlich- bestimmender Führungstyp, der die anderen Gruppenmitglieder stark lenkt und dazu neigt, Gruppenaufgaben vor allem selbst zu bewältigen, drängt die anderen in die Rolle von Statisten und Trittbrettfahrern (ebd., S.344). Ein sozio-emotionaler Führungsstil, der sich durch eine geringe Lenkung und eine positive Beziehungsqualität auszeichnet, führt zu dem besten Sozialklima und auch zu den besten Gruppenergebnissen (ebd., S.344). Wenn die Organisation der Gruppenstrukturen durch lange Metadiskussionen zulasten der Aufgabenbewältigung geht, empfehlen Dann, Diegritz und Rosenbusch (1999, S.344) die Einführung von turnusmäßigen und ritualisierten Wechseln der wichtigsten Gruppenfunktionen (wie Tipper, Diktierer, Moderator, Protokollführer...). Die SchülerInnen sollten sich daher bereits zu Beginn der Gruppenarbeit über die Verteilung wichtiger Funktionsrollen einigen und einen solchen Wechsel praktizieren oder eine (langfristigere) ressourcenorientierte Arbeitsteilung aushandeln. Eine weitere Gefahr der Zusammenarbeit besteht im Mittelmaß bzw. „Groupthink“, dass sich die Gruppe auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt oder aufgrund eines Zeitmangels den Weg des geringsten Widerstandes sucht. Das Streben nach einem Konsens in der Gruppe kann so dominant werden, dass keine unterschiedlichen Meinungen diskutiert werden bzw. keine kritischen Auseinandersetzungen mit abweichenden Positionen stattfinden. In diesen Kontext fällt auch der „Pseudogruppeneffekt“: Ein/e SpezialistIn der Gruppe schlägt eine Aufgabenlösung vor, die von den anderen Gruppenmitgliedern unreflektiert übernommen wird. Um den genannten potenziellen Problemen entgegenzuwirken und gemeinschaftliche Austauschprozesse zu fördern, können folgende Rahmenbedingungen erfolgreich sein (Konrad/ Traub, 2001 S.6/7; vgl. auch Schnebel, S.133/134): Positive Interdependenz: Die SchülerInnen sollen im positiven Sinne voneinander abhängig sein, indem das gemeinsame Ziel nur durch gegenseitige Hilfe und Ermutigung und/oder das Einbringen unterschiedlicher individueller Wissensressourcen erreicht werden kann. Individuelle Verantwortung: Es wirkt sich positiv auf die Motivation der SchülerInnen aus, wenn die individuelle Leistung und Verantwortungsübernahme jedes einzelnen Gruppenmitgliedes benötigt wird und sich in dem Gruppenergebnis niederschlägt. Gleiche Beteiligung und gleichzeitige Aktivität: Wenngleich die SchülerInnen unterschiedliche Aufgaben übernehmen können, z. B.
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
erklären, zuhören, strukturieren, organisieren etc., sollen möglichst alle Gruppenmitglieder aktiv in das Lerngeschehen involviert sein. Hilfreiche Face-to-Face-Interaktion: Auch wenn teilweise eine Aufgabenteilung sinnvoll sein kann, sollen sich die Gruppenmitglieder gegenseitig ermutigen und sich bei Problemstellungen, die ein Zusammenwirken aller Mitglieder erfordern, im wechselseitigen Austausch zu Begründungen und Schlussfolgerungen anregen. Soziale Fähigkeiten: Kommunikative und soziale Fertigkeiten, wie Kompromissbereitschaft, Durchsetzungskompetenz, die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel u. a. sind zugleich Voraussetzung und Folge kollaborativer Lernformen. Reflexion der Gruppenprozesse: Es wirkt sich förderlich auf Gruppenprozesse aus, wenn die Mitglieder gemeinsame Ziele entwickeln, regelmäßig ihre Gruppenprozesse reflektieren und selbst Strategien zur effektiven Zusammenarbeit entwerfen und umsetzen. Fischer (2002) geht davon aus, dass Kommunikationsprozessen das Potenzial innewohnt, geteilte Repräsentationen und Ko-Konstruktionen9 hervorzubringen, deren Qualität unter günstigen Umständen das maximale Ergebnis aller Einzelbeiträge übersteigt. Sozialkonstruktivistische Theorien (Schnurer, Mandl, 2004) stützen diese These durch das Phänomen, das Lernende in Gruppen, im Vergleich zu Einzelarbeiten, höhere kognitive Aktivitäten durchführen: Individuen streben prinzipiell nach einem kognitiven Gleichgewicht (Equilibrium), das in Gruppenprozessen durch das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Meinungen und Annahmen gestört werden kann (Pertubation, Piaget, 1983). Ein derartiger sozialer Konflikt kann durch eine Konsensbildung behoben werden und eine KoKonstruktion von Wissen bewirken (Chan, 2001). Eine soziale Unerwünschtheit derartiger Konflikte kann eine Ko-Konstruktion von Wissen behindern, indem nachgegeben wird, um die Gruppenharmonie nicht zu gefährden.
9 Vgl. hierzu auch Kapitel 2.2.6.
2.2 Lern- und Interaktionsprozesse
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2.2.6 Grounding als gemeinsamer Aushandlungsprozess Zentrum des kollaborativen Lernens bilden die in der Gruppe stattfindenden Aushandlungsprozesse. Die Interaktion in der Gruppenarbeit kann anhand der Dimensionen Koordination, Kooperation und Kommunikation klassifiziert werden. Diese Aspekte bedingen sich gegenseitig, wie Abbildung 2.5 zeigt. Kommunikation kann zum einen verstärkt die Koordinationsebene (die Aushandlung organisatorischer Probleme sowie die Aufteilung von Arbeitsrollen) und zum anderen die Sachebene (die inhaltliche Aushandlung zur Aufgabenbewältigung) betreffen. Kommunikation bildet somit die Grundlage zur Koordination und Kooperation (Bürger, 1999).
Koordination
ermöglicht
Koordinationsebene
Kooperation
Sachebene
Kommunikation
Abbildung 2.5: Koordination, Kooperation und Kommunikation (Bürger, 1999, S.25) Wichtig für eine gut funktionierende Kollaboration ist eine gemeinsam generierte Zielsetzung, die zur sozialen Gruppenidentität beiträgt. Entscheidend ist, dass Ziele nicht aufgrund von Statusgründen oder Durchsetzungsfähigkeit erreicht werden, sondern aufgrund einer argumentativen Aushandlung. Ein besonderes Merkmal kollaborativer Interaktionen liegt in dem Anspruch, dass die Interaktionspartner über eine dialogische Auseinandersetzung ihrer (unterschiedlichen) Sichtweisen zu einer gemeinsam geteilten Wissenskonstruktion, auch Grounding genannt, gelangen: „Unter Grounding versteht man einen Prozess, bei dem Gruppenmitglieder eine gemeinsame Sprache und soziale Verständigungsbasis entwickeln sowie einen sozial geteilten, inhaltlichen und kulturellen Hintergrund mit dem Ziel (ko-)konstruieren, eine Aufgabe kollaborativ bearbeiten zu können“ (Reinmann-Rothmeier & Mandl, 1999, S.16, siehe auch Clark & Brennan, 1991).
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
Grounding kann sowohl auf pragmatischer, als auch auf semantischer Ebene stattfinden: Die pragmatische Ebene zielt auf Aspekte der Koordination, beispielsweise wenn die Interaktionspartner kommunikative Absichten austauschen, um eine problemlose Interaktion z. B. bei der Aufgabenbearbeitung herzustellen. Die semantische Ebene zielt auf das gemeinsame Verstehen von Bedeutung, die den Kern kollaborativen Lernens bildet. Indem mehrere Personen ihr individuelles Wissen in die Gruppe einbringen (Verteiltes Wissen), kann über einen interaktiven Aushandlungsprozess (Grounding) „neues“ sozial geteiltes Wissen entstehen. Abbildung 2.6 (nach Straub, 2001) verdeutlicht diesen Prozess:
Verteiltes Wissen
Grounding
Geteiltes Wissen
Abbildung 2.6: Prozess des Groundings (nach Straub, 2001, S.13) Mithilfe des Groundings können schließlich kognitive und soziale Prozesse initiiert werden, die als Voraussetzung für domänenspezifische Lernprozesse in kollaborativen Interaktionen dienen. Auf der Ebene des individuellen Lernens gilt hierbei der von Piaget (1976) entwickelte sozio-kognitive Konflikt, der auf unterschiedliche Einstellungen, Perspektiven und Lösungsansätze der Interaktionspartner zurückzuführen ist. Durch den Austausch der unterschiedlichen Einstellungen werden eigene Ideen neu reflektiert und ggf. verändert. Auf der Ebene des Gruppenlernens kann der Einzelne seine individuellen Wissenselemente in den gemeinsamen Wissenspool der Arbeitsgruppe hineingeben, wodurch eine Teilung vormals ungeteilten Wissens möglich wird. Es wird idealerweise innerhalb der Gruppe eine gemeinsame Wissensbasis generiert. Eine arbeitsteilige Wissensspezialisierung kann stattfinden, Metawissen über die Wissensverteilung in der Gruppe und soziale Fertigkeiten zur Optimierung der Gruppen- und Arbeitsprozesse können erworben werden. Die dargestellten Prozesse des Groundings werden von der sozialen Identität der Gruppe mitbedingt (vgl. Lea & Spears, 1991). Eine Identität eignen sich Individuen durch die Übernahme einer Rolle (deren inhaltliche und soziale Ausgestaltung sie aber auch teilweise aktiv mit bedingen können) an, die ihnen zumeist von der Kultur oder sozialen Gruppen zugewiesen wird. Motiviert wird diese Rollenübernahme durch den Wunsch innerhalb einer bestimmten Kultur verstanden zu werden und diese zu verstehen.
2.3 Wissensmanagement
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Da im konstruktivistischen Paradigma die Wissenskonstruktion im Zentrum steht, wird der enge Zusammenhang zu dem Konzept des kollaborativen Lernens deutlich. Reinmann (2005b) betont, dass „dieser Prozess (der Wissenskonstruktion) immer auch eingebettet (ist) in soziale Kontexte: Menschen konstruieren ihre Wirklichkeit gemeinsam mit anderen und in ihrer sozialen Umgebung. Der kognitive Konstruktivismus ist also ein sozialer Konstruktivismus“ (ebd., S.156).
Durch die Betonung der sozialen Komponente ist der Fokus der Ko-Konstruktion von Wissen auch als Sozio-Konstruktivismus bekannt. Es wird von einem engen Wechselspiel zwischen den sozialen Interaktionsprozessen und den stattfindenden internen kognitiven Prozessen ausgegangen. Dubs (1995) betont die zentrale Rolle eines kollektiven Lernens im konstruktivistischen Unterricht, „denn erst die Diskussion der individuellen Interpretation, entworfener Hypothesen oder möglicher Lösungen trägt dazu bei, die eigene Interpretation und Sinngebung zu überdenken oder gewonnene Erkenntnisse anders zu strukturieren“ (ebd.; S.890).
Krummheuer verweist mit seiner Theorie über die soziale Konstitution schulischen Lernens (1997) darauf, Lernen als einen sozialen Prozess zu begreifen und daher, wie in der vorliegenden Arbeit, unterrichtliche Interaktionen mikrosoziologisch zu untersuchen. Er setzt damit den Fokus auf interaktionale Austauschprozesse, weg von einem einseitig individualisierten Lernbegriff und verbindet damit die Perspektive des Symbolischen Interaktionismus mit dem Ansatz des gemäßigten Konstruktivismus. Auch Terhart (1999, S.632) betont, dass Konstruktionen nicht nur individuell erfolgen, sondern als Ko-Konstruktionen in sozialen Kontexten stattfinden, in denen sie sich bewähren. Das „in sozialen Kontexten stattfindende Konstruieren und Umkonstruieren von inneren Welten“ ist nur zu einem geringen Teil von außen steuerbar: „Die Verantwortung für das Lernen liegt deshalb beim Lernenden“ (ebd., S.632). Terhart schlussfolgert weiter, dass es die zentrale Aufgabe von Lehrenden wird, „Lernumwelten aufzubauen bzw. zu inszenieren, in denen Lernen als in sozialen und situativen Kontexten stattfindendes Ko-Konstruieren und Rekonstruieren wahrscheinlich wird.“(ebd.; S.632).
Wie eine derartige Lernumgebung beschaffen sein sollte und welche Rollen Lernende und Lehrende hierbei einnehmen, behandeln Abschnitt 2.2.2. und 2.2.3.
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
2.3 Wissensmanagement 2.3.1 Zum Begriff des Wissensmanagements Wissen und Lernen sind eng miteinander verbunden. Wissen ist das Ergebnis eines Lernprozesses, bildet andererseits aber auch die Grundlage für weitere Lernprozesse, indem das Wissen im Austausch mit der Umwelt verändert und weiterentwickelt wird. Besonders kollaborative Austauschprozesse zielen, über die Aneignung von Wissen hinaus, auch auf ein wechselseitiges Handeln der Akteure. Die Einführung des Managementbegriffes soll dazu beitragen, eine handlungsorientierte Sichtweise auf Wissen und Lernen einzunehmen, die wachsenden Anforderungen in medialen Arbeits- und Lernumgebungen gerecht wird (Reinmann, 2007). Der Begriff des Wissensmanagements ist seit Mitte der neunziger Jahre weit verbreitet. Der Managementbegriff stammt aus betriebswirtschaftlichen Zusammenhängen und umfasst alle Tätigkeiten zum Leiten und Lenken einer Organisation. Das englische Verb „to manage“ beinhaltet neben geschäftlichem und führungsbezogenem Handeln auch die Bewältigung einer Aufgabe, inklusive der erfolgreichen Handhabung von (vor allem technischen) Werkzeugen. Es geht beim Wissensmanagement sowohl um das Leiten und Lenken des eigenen Wissens als auch um dessen optimale Nutzung, Weitergabe und Teilung zur Bewältigung gemeinsamer (organisatorischer) Aufgaben (ebd.). Probst, Raub und Romhardt (1999, 54 f.) umreißen den Wissensmanagement-Begriff mit 6 zentralen Bausteinen, die auf folgende Fragen zielen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Wissensidentifikation: Wie kann Wissen intern und extern transparent werden? Wissenserwerb: Wie können Fertigkeiten erworben werden? Wissensentwicklung. Wie kann neues Wissen aufgebaut werden? Wissens(ver)teilung: Wie kann Wissen an die richtige Stelle gelangen? Wissensnutzung. Wie kann Wissen richtig angewendet und genutzt werden? Wissensbewahrung. Wie kann Wissen vor Verlusten geschützt werden?
Neben diesen 6 Bausteinen, die den inneren Regelkreis bilden, wirken die Bestimmung von Wissenszielen (Wie können Lernziele angemessen gesteuert werden?) sowie die Wissensbewertung (Wie kann ein Wissenserfolg evaluiert und bewertet werden?) als äußerer Regelkreis des Wissensmanagements.
2.3 Wissensmanagement
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Abbildung 2.7 veranschaulicht das Wechselspiel zwischen den einzelnen beschriebenen Bausteinen.
Wissensziele
Wissensidentifikation
Wissenserwerb
Wissensentwicklung
Feedback
Wissensbewertung
Wissensbewahrung
Wissensnutzung
Wissens(ver)teilung
Abbildung 2.7: Bausteine des Wissensmanagements (Probst et al., 1999, S.58) Die untersuchten SchülerInnen managenWissen, indem sie durch selbst gesteuertes Lernen Wissensressourcen identifizieren und sich aneignen, es auf die jeweiligen Problem- und Aufgabenstellungen anwenden (nutzen), ihr Wissen durch Hilfestellungen und Erklärungen mit anderen teilen, es durch Veröffentlichungen und/oder Präsentationen bewahren, im Austausch mit anderen (neues) Wissen entwickeln sowie teilweise eigene Wissensziele definieren und evaluieren, indem sie z. B. in die Notengebung eingebunden werden.
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
2.3.2 Das Münchner Modell des Wissensmanagements Seiler und Reinmann (2004) betonen in ihrer strukturgenetischen Sichtweise10 die enge Verknüpfung von Denken, Handeln und Fühlen. Neben rationalen sollen vor allem emotionale Aspekte berücksichtigt werden, sie plädieren entsprechend für ein humanes Wissensmanagement. Das „Münchener Modell des Wissensmanagements“ wurde von Mandl und Reinmann-Rothmeier (2001) anhand empirischer Arbeiten zum individuellen, sozialen und organisatorischen Lernen (mit digitalen Medien) mit dem Ziel entwickelt, insbesondere die psychologischen Voraussetzungen, Folgen und Begleitphänomene des Wissensmanagements transparenter zu machen. Da auch in dieser Arbeit eine soziale Sicht auf die Wissensmanagementprozesse eingenommen wird, soll das Modell im Folgenden genauer beschrieben werden. 2.3.2.1 Informations- und Handlungswissen Im Münchener Modell wird bei der Definition des Wissensbegriffes zwischen zwei Wissensformen differenziert, nämlich zwischen Informations- und Handlungswissen. Die Vorstellung von Wissen als eine Art Ding, das besessen werden kann, wird abgelöst von der Vorstellung, Wissen als eine Bewegung zu begreifen. Eine Differenzierung, wie sie die Verwendung der englischen Begriffe „Knowing“ als prozesshaftes, schwer greifbares Wissen und das bewegungslose „Knowledge“ verdeutlicht (Reinmann-Rothmeier, 2001, Reinmann-Rothmeier & Seiler, 2004). Wissen als Substantiv bezeichnet materialisiertes Wissen (z. B. als Buch, Internetauftritt, Bild), während Wissen als Prozess im direkten menschlichen Austausch entsteht. Es kann nicht mehr losgelöst von der jeweiligen Situation und dem Wissensträger gesehen werden und ist schwer „greifbar“. Reinmann-Rothmeier (2001) bezeichnet ersteres Wissen als Informationswissen und letzteres als Handlungswissen. Im Münchner Modell des Wissensmanagements stehen diese beiden Wissensarten, zwischen denen sich ein Feld vieler Wissensvarianten aufspannt, im Zentrum. Der Rückgriff auf eine Analogie (die des Wassers) soll den Wissensbegriff im Münchner Modell veranschaulichen: So existiert Wasser in den drei Aggregatzuständen flüssig (Wasser), gefroren/ fest (Eis) und gasförmig (Wasserdampf). Auch Wissen ist wie Wasser ständig in Bewegung, mal nähert es sich dem Pol des „gefrorenen/ festen“ Informationswissens, das gut greifbar und handhabbar 10 Eine Definition zur Strukturgenese findet sich Abschnitt 2.2.
2.3 Wissensmanagement
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ist, mal dem Pol des „gasförmigen“ Handlungswissens, das schwer greifbar und kaum zu steuern ist. Abbildung 2.8 veranschaulicht die Wasseranalogie (vgl. ReinmannRothmeier, 2001, S.16).
Eis fest
Wasser flüssig
Information
Dampf gasförmig
„Wissensalltag“
Informationswissen
Handeln
Handlungswissen
Abbildung 2.8: Wasseranalogie (Reinmann-Rothmeier, 2001, S.16) Diese Perspektive auf Wissen ermöglicht eine Differenzierung zwischen dem Informationsmanagement -eine objektorientierte Sicht, die auf den technikbasierten Umgang mit Informationswissen zielt und dem Kompetenzmanagement, eine prozessorientierte Sicht, die auf den Personalaspekt im Umgang mit Handlungswissen zielt (vgl. Schütt, 2000, Reinmann-Rothmeier, 2001). Wissensmanagement soll also technische und personale Ressourcen einer Organisation miteinander verbinden. Es soll sich eine neue Wissens- und Lernkultur etablieren, deren Schwerpunkt in einer gemeinsamen Wissensteilung und –schaffung sowie Entfaltung von Kreativität zum Zwecke eines lebenslangen Lernens liegt. Wissensmanagement zielt auf eine Förderung der individuellen und organisatorischen Lernfähigkeit. Wissen wird als individuelles, soziales und kollektives Gut verstanden, das von den Wissensträgern und Netzwerken genutzt, geteilt und weiterentwickelt wird (Reinmann-Rothmeier, 2001, Reinmann-Rothmeier & Seiler, 2004). Grundlage ist demnach ein konstruktivistisch orientierter Wissensbegriff, in dem, wie bereits in Abschnitt 2.2.1 ausführlich dargelegt, Wissen als eine individuelle und soziale Konstruktion verstanden wird (ebd.).
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
2.3.2.2 Vier Wissensprozesse im Wissensmanagement Zentrum des Münchner Modells bilden vier Prozessbereiche, die mögliche Wissensbewegungen zwischen den vorgestellten Polen des Informations- und Handlungswissens darstellen. Tabelle 2.4 veranschaulicht diese in Anlehnung an Reinmann-Rothmeier (2001).anhand der jeweiligen Bedeutung für die Organisation, sowie der benötigten Kompetenzen und Hindernisse. Wissensrepräsentation Wasseranalogie Wissensbewegung Bedeutung für die Organisation
Benötigte Fertigkeiten und Eigenschaften Hindernisse
Wissensnutzung
Eis/ konservieren Dampf/ in alle Nischen kriechen lassen Wissen o Wissen o Information Handeln Optimierung des Praxisnahe und Wissenszugriffes, zielsichere Anwendung von Strukturierung und Visualisier- Wissen ung von Wissen, Wissenstransparenz Kompetenzen der Wissensselektion, Bewertung und Aufbereitung, Metawissen über eigene Kompetenzen Ängste vor Macht- und Kompetenzverlust durch „Preisgabe“ von Wissen
Überwindung der Trägheit des Wissens, Fach und Methoden kompetenz, Transfer, Medienkompetenz Fehlende Kompetenz, Motivation und Wille
Tabelle 2.4: Wissensmanagementprozesse (vgl. Reinmann-Rothmeier, 2001, S.22ff.)
Wissenskommunikation
Wissensgenerierung
Fluss/ in Bewegung bringen „Wissensbewegung pur“ Verteilen und Teilen von Wissen
Quelle/ Erzeugen/ am Leben halten
Teamfähigkeit sowie Kompetenzen der Wissensrepräsentation und nutzung Fehlender persönlicher Nutzen, Hindernisse der Wissensrepräsentation und -nutzung
Information o Wissen Aus Erfahrung Neues schaffen, zukunftsorientierte Weiterentwicklung , neue Informationen aus Wissensbeständen gewinnen Neugier, Kreativität, Wissen in Frage stellen, Routinen aufbrechen Fehlende „Reibung“ zwischen verschiedenen Perspektiven, Barrieren der Wissensrepräsentation und – kommunikation
2.3 Wissensmanagement
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Bereits ein Blick auf die Tabelle zeigt, dass ein Problem des Modells in seiner geringen Trennschärfe liegt. So sind einzelne Wissensprozesse in der Praxis kaum auseinander zu halten: Im Prozess der Wissensrepräsentation kann z. B. durch die Strukturierung und Aufbereitung von Wissen bereits neues Wissen entstehen. Es kann also zeitgleich zur Wissenrepräsentation eine Wissensgenerierung stattfinden. Das Gleiche gilt für die Wissenskommunikation und nutzung. Alle Prozesse können miteinander verschmelzen. Dennoch macht es aus theoretischer Sicht Sinn, diese Prozesse separat voneinander zu beleuchten, um eine neue Perspektive, insbesondere auf soziale (Austausch-) Prozesse, zu gewinnen. Die vier Prozesse des Wissensmanagements werden nun im Einzelnen vorgestellt und sowohl auf der Schulebene als auch auf der Ebene des Unterrichts mit digitalen Medien beleuchtet. 1. Prozesse der Wissensrepräsentation: Der Prozess der Wissensrepräsentation dient dazu, Wissen transparent, greifbar und zugänglich zu machen. Hierzu wird Wissen in einen Zustand versetzt, der durch Technik handhabbar und „transportierbar“ wird. Wissen muss ausfindig gemacht, festgehalten und aufbereitet (repräsentiert) werden, wobei insbesondere die Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien unterstützend wirkt. Durch eine Optimierung des Wissenszugriffs kann Wissen schneller und leichter gefunden, verteilt und genutzt werden. Das Informationsmanagement von Organisationen steht also im Zentrum. In Anlehnung an die Wasser-Analogie zielen Repräsentationsprozesse darauf, Wissen einzufrieren und zu konservieren, um bei Bedarf aufgetaut zu werden. Wissen bewegt sich in Richtung Information. Auf Schulebene kann dies z. B. durch die Einrichtung eines internen Schulnetzwerkes praktiziert werden, auf dem unterschiedliche von Lehrpersonen entwickelte Unterrichtsmaterialien und Schülerprodukte abgespeichert werden, auf die später andere zugreifen können. Die psychologischen Aspekte der Wissensrepräsentation liegen darin, dass Menschen bereit sein müssen, ihr Wissen weiterzugeben. Ängste vor Macht- und Kompetenzverlust durch eine mögliche Austauschbarkeit sind hierbei hinderlich (Dick & Hainke, 1999). Neben der Motivation, Wissen nach „außen“ bzw. in die Organisation „hinein“ zu tragen, ist auch die Fähigkeit, Wissen aufzubereiten und so für andere leichter zugänglich zu machen, gefragt. Förderlich hierbei ist Metawissen über eigene Wissensbestände sowie Fertigkeiten zur Verbalisierung,
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
Visualisierung, Strukturierung und Präsentation von Wissen. Technische Werkzeuge bilden eine förderliche Rahmenbedingung. In den untersuchten Fällen werden digitale Medien oft in den Unterricht integriert, um z. B. durch eine angestrebte Veröffentlichung von Ergebnissen anhand von PowerPoint-Folien oder durch eine Homepageerstellung Wissen zu repräsentieren. Auch im Austausch via E-Mail mit externen Partnern wird Wissen aufbereitetet. 2. Prozesse der Wissensnutzung: Im Prozess der Wissensnutzung wird Wissen in Handeln umgesetzt. Da dem Wissen Entscheidungen und Maßnahmen folgen, lässt es sich kaum von den Wissensträgern und dem Situationskontext lösen. Es werden greifbare Ergebnisse erzeugt, die letztendlich die Zukunftschancen einer Organisation bedingen. Das alleinige Horten und (Ver-)teilen von Wissen bewirkt noch keine sichtbaren Veränderungen, wenn es nicht angewandt wird. Im Zentrum der Organisation steht der Personalbereich und das Kompetenzmanagement. Die Aufgabe der Institution Schule ist es, SchülerInnen optimal auf ein Leben in der Gesellschaft vorzubereiten. Lebensnahe Aufgaben sind oftmals so konzipiert, dass sie auf die Nutzung unterschiedlicher fächerübergreifender Wissensressourcen zielen. Durch die Anwendung von Wissen in konkreten Situationen wird die Entstehung von trägem Wissen vermieden (Renkl, 2004). Gerade in der Wissensgesellschaft spielt auch das Erlernen einer Medien-kompetenz eine große Rolle, das durch eine gezielte Integration digitaler Medien in den Unterricht gefördert wird. Daher ist es z. B. auf Schulebene wichtig, regelmäßige Fortbildungen für Lehrpersonen anzubieten, um ihnen die gezielte Integration digitaler Medien in den Unterricht zu erleichtern. Hierbei ist darauf zu achten, dass nicht nur der technische Umgang mit digitalen Medien gelernt wird, sondern beispielsweise, über Berichte aus der Praxis, auch auf konkrete Potenziale der Medien für den schulischen Unterricht eingegangen wird. Im Bild der Wasser-Analogie steigt Wissen auf, kriecht raumfüllend in alle Nischen, wobei es sowohl als gasförmiger Dampf Energien erzeugen, als auch wieder kondensieren kann. Um Wissen nutzen zu können, muss die potenzielle Trägheit von Wissen, sowie eingeschliffene Routinen und Gewohnheiten überwunden werden (Renkl, 1996). Handlungsspielräume, die Tätigkeits-, Entscheidungs- und Kontrollbefugnisse ermöglichen sind förderlich, diese sind allerdings in vielen Organisationen eingeschränkt (Rosenstiel, 1992).
2.3 Wissensmanagement
63
In den untersuchten Unterrichtsfällen wird den SchülerInnen insbesondere durch die offenen Unterrichtsformen und eine verstärkte Schülerzentrierung mehr Einflussnahme und Handlungsspielraum ermöglicht. Bisherige Routinen müssen überwunden werden, so sind die SchülerInnen z. B. nicht gewohnt, selbst gesteuert zu lernen und Lehrpersonen müssen es lernen, ihre „neue“ Rolle als Lernbegleiter auch in der unterrichtlichen Praxis umzusetzen. Psychologische Bedingungen der Wissensnutzung sind Wahrnehmung, Kompetenz, Motivation und Wille, die bei fehlender Beachtung oftmals zu Hindernissen werden (Heckhausen, Gollwitzer & Weinert, 1987). Der Forschungsansatz der Situated Cognition-Bewegung11 (Gerstenmeier & Mandl, 1995) betont die Bedeutsamkeit, beim Wissenserwerb multiple Perspektiven einzunehmen und Wissen in unterschiedlichen Kontexten anzuwenden. Um die Entstehung trägen Wissens zu vermeiden, soll es immer wieder in konkreten Situationen angewandt werden. In vielen der untersuchten Fälle wird aus diesem Grund eine Lernumgebung geschaffen, in der authentische Problemstellungen und Aufgaben bewältigt werden sollen. 3. Prozesse der Wissenskommunikation Im Zentrum der Wissenskommunikation steht das (Ver-)Teilen und Vernetzen von Wissen. Es handelt sich um „Wissensbewegungen pur“, mit und ohne technische Unterstützung. Im Bild der Wasser-Analogie wird Wissen durch Kommunikation zum Fließen gebracht, es bewegt sich fort und breitet sich aus. So sollte ein reger Informationsaustausch zwischen SchülerInnen und Lehrpersonen, aber auch schulübergreifend mit Partnerschulen sowie mit externen Personen, z. B. aus der Wirtschaft, bestehen. Durch den interaktiven Austausch, besonders von Handlungswissen, unterschiedlichen Perspektiven und Denkstilen können organisatorische Innovationen motiviert werden. Damit sich eine positive Kommunikationskultur etablieren kann, sollte ein Austausch aus wechselseitigem Geben und Nehmen bestehen, eine Win-Win-Situation, aus der alle Involvierten persönlichen Nutzen ziehen können. Psychologische Voraussetzungen der Wissensrepräsentation und -nutzung wirken auch hier. Defizitäre soziale Fähigkeiten, Antipathien und Kontakt11 Eine Definition zur Situated Cognition findet sich in Abschnitt 2.2.1.
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
schwellen behindern Kommunikationsprozesse (vgl. Burrow, 1999, Malik, 1999), während Teamgeist und Vertrauen förderliche Bedingungen sind. In den untersuchten Fällen werden zur Stärkung der Schülerkommunikation Sozialformen, wie Gruppen- und Partnerarbeit eingesetzt. In vielen der Unterrichtsfälle wird das gegenseitige Helfen durch die Einführung eines Schneeballsystems gestützt. Durch das Geben von Erklärungen können elaborative und metakognitive Prozesse ausgelöst werden (Renkl, 2006). Eine zur Aufgabenbewältigung erforderliche Interdependenz der SchülerInnen kann das wechselseitige Geben von Hilfe und interaktive Austauschprozesse fördern. 4. Prozesse der Wissensgenerierung Im Prozess der Wissensgenerierung wird aus dem Rohstoff „Information“ allein oder gemeinsam mit anderen „neues“ Wissen konstruiert bzw. innovative Ideen erzeugt. Die Wissensgenerierung ist zugleich Treiber und Basis jeder Wissensbewegung. Im Bild der Wasser-Analogie wird die Quelle des (Wissens-)Flusses aufrecht gehalten und vor Versiegen geschützt. Erst durch die Schaffung neuen Wissens kann sich eine Organisation bedarfs- und zukunftsorientiert weiterentwickeln. Wissensgenerierung bringt Innovationen hervor, wenn zugleich Prozesse der Wissensnutzung und – kommunikation des „neuen“ Wissens wirksam sind. Ein innovationsfreundliches Schulklima kann geschafft werden, indem z. B. die Schulleitung innovative Ideen mitträgt und eine fächer- sowie schulübergreifende Kommunikation (auch mit Schulexternen) besteht. Auf schulpolitischer Ebene können Innovationen z. B. durch die Vergabe von Preisgeldern unterstützt werden. Psychologische Voraussetzungen der Wissensgenerierung liegen darin, dass Menschen fähig sind, zu lernen sowie basierend auf Erfahrung, Neugier und Kreativität neuartige Gedanken zu entwickeln und auszubauen. Der organisatorische Rahmen muss ein Ausleben der Neugier und Kreativität ermöglichen, indem bereits bestehende Wissensbestände auch infrage gestellt werden dürfen. Menschen müssen entsprechend fähig sein, ihr Wissen zu kommunizieren, mit anderen zu teilen und durch entstehende Synergieeffekte neues Wissen auf- oder Bestehendes umzubauen. Hier spielt der in Abschnitt -2.2.6- vorgestellte Prozess des Groundings eine wichtige Rolle. Um Innovationen hervorzubringen, müssen neben den psychologischen Barrieren der Wissensrepräsentation und -kommunikation vorhandene Potenziale
2.3 Wissensmanagement
65
der unterschiedlichen Teammitglieder entdeckt und mobilisiert sowie durch produktive „Reibungen“ unterschiedlicher Perspektiven, Fachwelten und Denkansätze neue Ideen hervorbracht werden. In den untersuchten Unterrichtsfällen steht durch die Sozialform der Partnerund Gruppenarbeit und durch die Entwicklung gemeinsamer Arbeitsprodukte (teilweise auch im Austausch mit externen Partnern) oft die Ko-Konstruktion von Wissen im Zentrum. 2.3.3 Communities als Keimzelle Im Münchener Wissensmanagement Modell wird angenommen, dass sogenannte Communities als Keimzelle die dargestellten Wissensprozesse vorantreiben und fördern. Unter Communities werden sich weitgehend selbst organisierende Gemeinschaften verstanden, die Interessen teilen und/oder gemeinsame Problemstellungen bearbeiten. So können sich z. B. Lehrpersonen eigenverantwortlich zusammenschließen und eine professionelle Lerngemeinschaft bilden, um innovative Unterrichtskonzepte zu entwickeln. Kommunikation, Kooperation, Erfahrungsaustausch, Wissensschaffung und wechselseitiges Lernen wirken als zentrale Prozesse. Eine gemeinsame Gruppenidentität, Eigenverantwortung, Selbststeuerung und geteilte Ressourcen werden als entscheidende Merkmale einer Community beschrieben (Reinmann-Rothmeier, 2000, 2001, Winkler & Mandl, 2003). Auch im schulischen Unterricht können sich unterschiedliche Arten von Communities entwickeln. SchülerInnen können gerade im projektorientierten Unterricht wichtige Zielsetzungen, Arbeitsschritte und die Übernahme personaler Verantwortlichkeiten gemeinsam aushandeln. In der Entwicklung des Community-Ansatzes, dessen Ursprung vor allem auf ethnologische Studien von Lave und Wenger (1991) zur Enkulturation von praktisch tätigen Gemeinschaften zurückzuführen ist, haben sich zwei Richtungen herausgebildet: So wird in wirtschaftlichen Kontexten der Schwerpunkt meist auf den Innovationsaspekt gelegt (Wenger, 1999), während in Bildungszusammenhängen der Fokus in der Kommunikation liegt (Bielaczyc & Collins, 1999). Unter einer Learning Community wird eine Lerngemeinschaft verstanden, „in der Personen zusammengeschlossen sind, die sich gemeinsam mit einem bestimmten Thema intensiv auseinandersetzen wollen, gemeinsam lernen, schon vorhandenes Wissen austauschen und gemeinsam an Problemstellungen arbeiten“ (Seufert 2004, S.30).
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
In Abgrenzung zu Communities of Practice werden Learning Communities mit dem formalen Lernen in Bildungseinrichtungen assoziiert und sind entsprechend in institutionelle Rahmenbedingungen eingebettet. Oft wird die Anfangsphase instruktional durch die Lehrperson einleitet und begleitet, doch nach und nach wird diese zu einem Coach und zieht sich immer weiter zurück, um ein selbst gesteuertes und kooperatives Miteinander in der Gruppe zu ermöglichen (ebd.). Sowohl innovationsorientierte Communities, in der die Schaffung neuen Wissens angestrebt wird, als auch kommunikationsorientierte Communities, in denen gemeinsame Lernprozesse und die Wissensteilung im Vordergrund stehen werden im Münchener Modell tangiert. In der Praxis finden sich meist Mischformen, denn: „Es gibt kaum Innovation ohne Kommunikation und umgekehrt hat Kommunikation immer auch Innovationspotenzial“ (Reinmann-Rothmeier, 2001, S.29).
Mit Communities sind positive Erwartungen nach Verbundenheit, wechselseitiger Unterstützung anstelle von Isoliertheit, Teilung von Rechten und Pflichten verbunden. Machthierarchien sollen durch Vertrauen und wechselseitige Verständigungsprozesse abgelöst werden, um die Entstehung einer sozialen positiv konnotierten Gruppenidentität zu unterstützen (Reinmann-Rothmeier, 2000). Neben diesen emotionalen Wünschen lassen sich im Hinblick auf einen optimierten Umgang mit Wissen wichtige handfeste organisatorische Funktionen von Communities ableiten (Reinmann-Rothmeier, 2001). So können Communities (ebd.) ... durch unbürokratische Wissensweitergabe als Knotenpunkt für eine optimierte Kommunikation fungieren. durch den Austausch von schwer artikulierbarem kontextbezogenem Handlungs- und Erfahrungswissens als Forum wechselseitigen Lernens dienen. durch die Entstehung von Synergieeffekten im Austausch von unterschiedlichen Perspektiven, Fachrichtungen und Lösungsansätzen zum Innovationstreiber sowie durch die Entstehung einer neuen Lernkultur zum Kulturveränderer werden. durch ein enges Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe identitätsstiftend wirken.
2.3 Wissensmanagement
67
Reinmann-Rothmeier (2001) vergleicht das theoretische Ideal einer Community mit dem Bild einer Wildblume, die zufällig irgendwo gedeiht, entsprechend der zufälligen Rahmenbedingungen erblüht und nach Ablauf einer bestimmten Zeit auch wieder vergeht. So entstehen auch Communities von „unten“ aus dem Interesse und der Eigeninitiative einzelner Organisationsmitglieder als treibende Kraft. Nachteil ist, das sich ein derartiger Prozess aktiver organisatorischer Steuerung weitgehend entzieht. Das Bild einer Kulturpflanze, deren Wachstum teilweise von außen beeinflussbar ist, wäre eine mögliche andere Analogie. Letztendlich gilt es als eine zentrale Herausforderung des Wissensmanagements einen Kompromiss zwischen Selbst- und Fremdsteuerung zu finden. Im Unterricht kann dieser Gratwanderung durch die Schaffung einer Lernumgebung begegnet werden, die durch die Integration technischer Tools in offene Unterrichtsformen, beratende Lehrertätigkeiten und einer verstärkten Schülerzentrierung gekennzeichnet ist. Auf diese Weise kann ein optimaler Nährboden für die Entstehung von Communities entstehen. Die Aufgaben von Communities können unterschiedliche Wissensmanagementphasen tangieren, so kann zwischen Lern- und Forschungsgemeinschaften unterschieden werden, die in den folgenden Abschnitten -2.3.4- und 2.3.5 näher beschrieben werden. 2.3.4 Lerngemeinschaften In Lerngemeinschaften steht der Austausch und die Aneignung von Wissen im Zentrum. Ein Bestandteil ist das Verteilen von Wissen. Hierbei versucht ein Wissensträger seine Ressourcen einem oder mehreren Interaktionspartnern zu vermitteln, bzw. andere durch unterstützende Strategien bei der Lösung von Problemen anzuleiten. Da in derartigen Situationen der Wissensträger einen Wissensvorsprung gegenüber den Hilfeempfängern besitzt, herrscht eine asymmetrische Beziehung. Die Wissensbewegung fließt nur in eine Richtung. Der Sender in seiner Rolle als Lehrender versucht seine Wissensbestände durch sprachliche Verständigung einem Empfänger in seiner Rolle als Lernender weiterzugeben. Der Empfänger wiederum muss die Wissensbotschaft entschlüsseln, um sie verstehen und verinnerlichen zu können. Um dem Empfänger die Entschlüsselung ihres versprachlichten Wissens zu erleichtern, müssen es die lehrenden Wissensträger didaktisch aufbereiten. Auf der individuellen Ebene des Lehrenden findet eine Rekonstruktion von bereits bestehenden Wissensstrukturen statt.
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
Oftmals geht die Rolle des Wissensträgers mit der eines Experten und die des Hilfe-Empfängers mit der eines Novizen einher: Unter dem Begriff Experte werden hier Personen verstanden, die gegenüber anderen in der aktuellen Situation einen Wissensvorsprung besitzen und/ oder auf der sozialen Ebene diese Rolle behaupten. Er wird daher etwas anders verwendet als in der verbreiteten Definition des Experten als jemand, der „auf einem bestimmten Gebiet dauerhaft, also nicht zufällig (...) herausragende Leistung erbringt.“ (Gruber, 2006, S.175).
Unter dem Begriff „Novizen“ werden Personen verstanden, die gegenüber anderen in der aktuellen Situation über weniger Wissen und/ oder über noch keine spezifischen Erfahrungen verfügen. Ein Novize ist jemand, der „aufgrund geringer Begabung oder aufgrund fehlender Übung, fehlender Lernerfahrung und fehlender Praxis“ noch keine hohe Leistungsstärke erreicht hat bzw. erreichen kann (ebd., S.176).
In dem Kontext dieser Arbeit bezieht sich die fehlende Lernerfahrung auf einzelne sehr unterschiedliche Spezialbereiche, wie z. B. den Umgang mit dem Computer. Ein Novize in einem Spezialgebiet kann in einem anderen Experte sein. In Lerngemeinschaften findet daher ein wechselseitiger Wissensaustausch statt. Dass die Verständigungsprozesse gelingen und der Hilfe-Empfänger/ Novize wirklich einen Wissenszuwachs erfährt, kann aufgrund seines Handelns (z. B. verbale Zustimmung) oder ein Anwenden konstruktiver, didaktischer Aufbereitungsstrategien des Senders nur vermutet werden. Inwieweit dieses Wissen vom Empfänger wirklich verinnerlicht und verstanden wird sowie eine Transferleistung auf andere Situationskontexte vorgenommen werden kann, ist durch eine Außensicht schwer zu beurteilen und könnte nur (zumindest annährend) durch eine anschließende Leistungsabfrage überprüft werden. Ein Scheitern der Wissenskommunikation z. B. durch Missverständnisse ist leichter zu erkennen. Eine Analyse der Gründe, warum eine Wissenskommunikation scheitert, erscheint besonders dahin gehend interessant, wie sich diese ggf. frühzeitig erkennen und ausschalten lassen. Welche Aspekte fördern bzw. behindern eine (Weiter)-Gabe von Informationen? Prosoziale Menschen sind am ehesten bereit ihr Wissen an andere weiterzugeben, während Individualisten ihr Wissen wohl nur dann weitergeben, wenn sie sich selbst langfristige Vorteile hiervon versprechen, z. B. indem sie
2.3 Wissensmanagement
69
durch ihre Wissensweitergabe selbst von anderen Wissen erhalten können, wettbewerbsorientierte Menschen werden ihr Wissen am ehesten für sich behalten (Schütz &Schröder, 2004). Wissen wird nicht weitergegeben, um eine eigene Position der Stärke zu behaupten. Es wird von individuellen Vorteilen bei einer Geheimhaltung von Wissen ausgegangen (Bullinger, Wörner & Prieto, 1997; von Below, 1999). Grundlage für das Handeln ist eine Konkurrenzorientierung. Aber auch eine eigene Sichtweise der Position der Schwäche kann dazu führen, dass Wissen nicht weitergegeben wird, da es für unbedeutend gehalten wird, die Kompetenzen der anderen überschätzt werden und/ oder eine Angst vor Fehlern zu einem Vermeidungsverhalten führt (Herrmann, Kienle & Reiband, 2003). Grundlage für das (Nicht-)Handeln ist die Angst vor Blamage und ein Selbstwertschutz. Auf der anderen Seite ist es auch nicht selbstverständlich, das Hilfe von anderen angenommen wird. Die Hilfestellung durch andere kann z. B. als Angriff auf die eigene Kompetenz erlebt werden. Auch eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung, die Informationen nicht angemessen aufnehmen und weiterverarbeiten zu können, kann eine Wissensaufnahme im Vorfeld behindern (Schütz & Schröder, 2004). Das Annehmen von Hilfe ist mit einem Dilemma zwischen dem Nutzen, daher dem Empfangen von Informationen und den Kosten, nämlich dem Eingeständnis eines Wissensmangels, verbunden (Nadler, 1997). Die Hilfe annehmende Person fühlt sich unter Umständen dem Hilfe Gebenden generell unterlegen. Entsprechend negativ wird übertriebene Hilfe empfunden, die den Hilfeempfänger besonders inkompetent wirken lässt (Klauer, 2000). Eine Angst davor, durch das Hilfegesuch als unfähig zu erscheinen, behindert das Bitten um Hilfe (Newman & Goldin, 1990). Eine hohe Selbstwertbedrohung wird dann erlebt, wenn die Hilfebedürftigkeit der eigenen Person zugeschrieben wird, wenn keine Gegenleistung möglich ist oder die Hilfe gebende Person einen sozial niedrigeren Status besitzt (vgl. Nadler, 1997). Förderlich für einen gut funktionierenden Wissensaustausch sind Arbeitsgruppen, in der sowohl Spezialisten für bestimmte Gebiete, als auch Personen mit einem Gesamtüberblick zusammentreffen, um relevante Informationen austauschen zu können (Schütz & Schröder, 2004).
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
2.3.5 Forschungs- und Produktionsgemeinschaften Neben dem Lernen kann in Communities das Forschen und/ oder Produzieren im Zentrum stehen. Es handelt sich um zwei getrennte Wissensmanagementprozesse- das Forschen zielt auf eine Wissensgenerierung und das Produzieren vor allem auf eine Wissensrepräsentation. Um das Zusammenspiel einer größeren Community auf der interaktionalen Ebene zu verdeutlichen, macht es dennoch Sinn eine Meta-Sicht einzunehmen und die verschiedenen Wissensmanagementprozesse, die sich oftmals aufeinander beziehen, miteinander zu verbinden. Abbildung 2.9 zeigt, wie die Arbeitsteilung in Forschungs- und Produktionsgemeinschaften auf der Meta-Ebene aussehen kann.
Verhaltensdominanz
Forschungs- und Produktionsgemeinschaften (Ressourcenorientierte Arbeitsteilung)
S2
Sozial- und Organisationskompetenz
Wissenskommunikation
Wissensgenerierung Wissensdominanz
S1
„koordinieren“
S3 Sachkompetenz
C z.B. Internetrecherche „Forschen“
Wissensrepräsentation
S4
S5
Gestaltungskompetenz
Handling mit dem Computer
C z.B. Präsentationstools „Produzieren“
Abbildung 2.9: Forschungs und Produktionsgemeinschaften
2.4 Digitale Medien und ihr Potenzial zur Interaktivität
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Es handelt sich um ein typisches Beispiel für eine Interaktionsstruktur von Forschungs- und Produktionsgemeinschaften, in der die Arbeitsteilung vorwiegend ressourcenorientiert- in Abhängigkeit der Kompetenzen und Interessen, erfolgt. EinE SchülerIn (S1) koordiniert als GruppenführerIn im Sinne einer Verhaltensdominanz das Projekt. Die Aufgabe der Projektkoordination zielt auf eine Sozial- und Organisationskompetenz. Die gebildeten Arbeitspaare erarbeiten separat voneinander unterschiedliche Projektinhalte, zugleich wird regelmäßig zwischen den SchülerInnen Wissen (wie z. B. Zwischenergebnisse) kommuniziert. Die Arbeit der jeweiligen Expertengruppen kann hierbei auf unterschiedliche Prozesse des Wissensmanagements zielen. So können SchülerInnen z. B. (S2/S3) ihre Sach- und Fachkompetenz in die Gruppe einbringen (Wissenskommunikation), mithilfe der digitalen Medien (z. B. Internet) oder im Austausch mit anderen (z. B. via E-Mail auch mit Externen) neue Informationen gewinnen, diese mit ihren bereits bestehenden Wissensbeständen verknüpfen und so neues Wissen generieren. Im Austausch mit anderen können gerade Groundingprozesse eine neue gemeinsame Wissensbasis hervorbringen. Dieses Wissen könnte dann an ein anderes (projektinternes) Schülerpaar (S4/S5) weitergegeben werden, das sich z. B. schwerpunktmäßig mit der gestalterischen Aufbereitung (Wissensrepräsentation) der Gruppenergebnisse, die prägnant zusammengefasst und ansprechend aufbereitet werden müssen, befasst. Auch hierbei spielen die digitalen Medien, wie z. B. Präsentationstools als Werkzeug eine entscheidende Rolle. Während GruppenführerInnen Arbeitsprozesse vor allem auf der Verhaltensebene steuern (Verhaltensdominanz), übernehmen die einzelnen Expertengruppen für jeweils einen Arbeitsbereich die inhaltliche Generierung und Ausgestaltung, in der sich ihre Wissensdominanz niederschlägt. In der Praxis können einige SchülerInnen sowohl die Verhaltens- als auch die Wissensdominanz behaupten. In vielen Situationen vermischen sich beide Aspekte, z. B. wenn es darum geht innerhalb der Gruppe die eigene (inhaltliche Sichtweise) gegenüber anderen durchzusetzen. Die dargestellten Arbeitsrollen sind nicht statisch, sondern können einem Wechsel unterliegen. In der Darstellung der Forschungs- und Produktionsgemeinschaften wird bereits die wichtige Rolle der digitalen Medien beim Wissensmanagement deutlich. Im nächsten Abschnitt wird detailliert auf die Rolle der digitalen Medien eingegangen.
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2.4 Digitale Medien und ihr Potenzial zur Interaktivität In der vorliegenden Arbeit werden gezielt Wissensmanagement- und Interaktionsprozesse in schulischen Lernumgebungen unter der Integration digitaler Medien untersucht. Daher erscheint es sinnvoll, den medienpädagogischen Rahmen gemeinschaftlicher Wissensmanagementprozesse näher zu beleuchten sowie begriffliche Bestimmungen vorzunehmen. Außerdem werden Theorien und Forschungsbefunde zum Lehren und Lernen mit digitalen Medien vorgestellt. 2.4.1 Definition digitale Medien Tulodziecki und Herzig (2004) betonen aufgrund einer vielfältigen alltäglichen, teilweise unspezifischen Verwendung des Medienbegriffes die Wichtigkeit der Präzisierung für die (Medien-)Pädagogik. Sie definieren Medien als „Mittler (...), durch die in kommunikativen Zusammenhängen potenzielle Zeichen mit technischer Unterstützung übertragen, gespeichert, wiedergegeben, angeordnet und in abbildhafter und/ oder symbolischer Form präsentiert werden“ (ebd., S.13).
Diese „potenziellen Zeichen“, die zunächst nur in materieller, physikalischer Form vorliegen erhalten ihre Bedeutung erst durch die Entschlüsselung von Individuen. Die Medien können durch ihre Wirkung als Mittler die direkte reale Erfahrung in der Wirklichkeit teilweise ersetzen. Im erzieherischen Alltag werden unter Medien Lehr- und Lernmittel verstanden. Weidenmann (2006, S.426) differenziert zur näheren Bestimmung von Medien zwischen den folgenden fünf Aspekten: 1. 2. 3. 4. 5.
Die Hardware, die Physikalität eines Mittlers, z. B. der Videorekorder Die Software, das übermittelte „Programm“, z. B. das Lernprogramm Das Symbolsystem, der Code: z. B. Text/ Bild Die Sinnesmodalität, wie Sehen, Hören, Fühlen Die im Symbolsystem vermittelte Botschaft, z. B. Kühe sind Säugetiere.
Während dieser Medienbegriff vielfältige Medien, wie z. B. Buch, Tafel und Fernseher mit einschließt, wird in den analysierten Unterrichtsfällen die Integration von Informations- und Kommunikationstechnologien, so genannten digitalen Medien fokussiert. Es geht um alle Arten von Computern, deren
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Vernetzung in Inter- oder Intranets sowie alle Formen von Peripheriegeräten und verschiedenen Anwendungsprogrammen. Im Kontext von digitalen Medien wird oft der Begriff Multimedia verwendet. Dieser ist alltagssprachlich nicht klar umrissen und kann sich auf die Kombination verschiedener Geräte (z. B. Computer plus Videokamera und Lautsprecher) und/ oder die Vielfalt verschiedener Codes und Modalitäten beziehen. Weidenmann (2006, S.427) differenziert zur besseren Spezifizierung zwischen den beiden zuletzt genannten Dimensionen: Kodalität meint das verwendete Symbolsystem (z. B. Kombination von gesprochener Sprache und Musik), während sich Modalität auf die angesprochenen Sinnesorgane (wie z. B. die Kombination von Ton und Bild) bezieht. Hüther (2005) ist der Frage nachgegangen, was eigentlich das „Neue“12 an den digitalen Medien ist: „Neu ist die zumindest teilweise Substituierung zwischenmenschlicher durch mediale Kommunikation in so wichtigen Tätigkeitsbereichen, wie Arbeiten, Lernen, Informieren und Spielen und damit auch die weitere Verdrängung aktiver Freizeitbeschäftigung. Neu sind die Veränderungen der Strukturen von Unterhaltung und Vergnügen, indem heutzutage nahezu jede Form des Amüsements entweder als mediale Darbietung genießbar oder als gespeichertes Programm abrufbar ist. Neu sind die enormen Möglichkeiten zur Rationalisierung von Arbeitsvollzügen und eine Veränderung der Struktur von Arbeit, indem menschliches Wissen und Gestalten in vielen Bereichen durch mikroelektronisch-maschinelles ersetzt wird. Auf diese Weise findet eine Automatisierung geistiger Arbeit statt. Neu sind die Veränderungen im Bereich der Bildung, indem sich digitale Medien die Speicherung und Verarbeitung von Wissen aneignen und es u. a. in Form von Lernprogrammen und über Datenbanken anbieten und kommerzialisieren. Neu ist der Einfluss auf die Konstruktion von Wirklichkeit, indem digitale Medien die Nutzer in immaterielle, virtuelle Welten mit eigenen Realitätsqualitäten führen, Neu sind nicht nur die Rezeptionsformen, sondern auch die Möglichkeiten der kreativen Gestaltung eigener Aussagen sowie deren technischer Umsetzung und öffentliche Verbreitung.“ (ebd., S.350).
12 Der Begriff „neu“ impliziert eine Zeitabhängigkeit, daher dass etwas erst seit kurzer Zeit besteht, bei den „neuen“ Medien im allgemeinen ist das nicht mehr so, dennoch befinden sich diese nach wie vor in einem ständigen Fortschritt an technischen Möglichkeiten.
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2.4.2 Computer als evokatorisches Objekt In der Interaktion mit dem Computer kann dieser zu einem evokatorischen Objekt werden. „Evokatorisch“ (Syn. „Evokativ“) bedeutet Gefühle, Bilder und Vorstellungen erweckend (vgl. u. a. Wahrig-Burfeind, 2007, S. 287). Der Begriff geht auf Turkle (1980, 1984) zurück, die anhand von Beobachtungen und Interviews zum Umgang mit dem Computer herausfand, dass neben der Sicht auf den Computer als rationale Maschine die Idee vom Computer als Medium des Wunsches existiert: „Der Computer ist ein neuer Spiegel, er ist die erste psychologische Maschine. Hinter seinem Wesen als analytische Maschine verbirgt sich seine zweite Natur als evokatorisches Objekt“ (Turkle 1984, S.379).
Er wird zur Projektionsfläche für unterschiedliche Deutungen und Bilder, die entsprechend verschiedene Umgangsstile mit den digitalen Medien bedingen. Schelhowe (2006, S.48ff) setzt sich mit dem Aspekt der Interaktivität näher auseinander: Dass der Computer als Medium verstanden wird, liegt nicht zuletzt an den Benutzeroberflächen, auch Interfaces genannt (Schelhowe, 2007, S.48). Während früher vielmehr die Handhabung der Maschine selbst im Vordergrund stand, wird mithilfe der „direkten Manipulation“ durch die Interfaces der Eindruck erweckt, unmittelbar Aufgaben zu bearbeiten: „Der Computer stellt sich im Bewusstsein der BenutzerInnen nicht mehr zwischen sie und das Material“ (ebd., S.49).
Maus und Tastatur werden als Werkzeuge benutzt, der Bildschirm wird zum Ausgabegerät. Die hinter den Funktionen stehenden maschinellen Operationen werden nicht mehr bewusst wahrgenommen (ebd., S.49). Schelhowe betont den doppelten, paradoxen Charakter von Computern: “Der Computer ist auf der einen Seite die letztendliche Verkörperung des Abstrakten und Formalen, die Reduzierung von Objekten und Prozessen auf ein abstraktes Modell und seine Darstellung im Binärcode. Auf der anderen Seite aber erlauben digitale Medien heute- und dies gilt eben nicht nur für den Umgang mit dem Gerät, sondern auch für den Zugang zu den dort repräsentierten Inhalten- einen höchst konkreten Umgang mit der Abstraktion“ (ebd., S.54).
Schelhowe verweist zudem darauf, dass
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„im Fall der Mensch-Maschine-Interaktion (...) das Computerprogramm selbst zum Interaktionspartner (wird).“(ebd., S.67).
Wenngleich der Computer kein verstehender und verständnisvoller Interaktionspartner ist, können die stattfindenden Signalprozesse vom menschlichen Partner als Interaktion und Kommunikation erlebt werden. Der Computer kommuniziert gewissermaßen über seine Ausgabeschnittstellen (ebd., S.68). Ein gutes Interactivity-Design soll hierbei den NutzerInnen keine Lösungen vorgeben, sondern ihnen Wahlmöglichkeiten bieten und sie zur eigenen Lösungsfindung anregen (ebd., S.69). Der Computer soll daher nicht nur als einfaches Produkt genutzt werden: „Computernutzung ist immer auch Mitgestaltung, Beteiligung an einem Prozess. Software ist nicht ‚fertig’, Software ist Potenzialität, Möglichkeit und Aufforderung“ (ebd., S.71).
Schelhowe betont, dass Computer daher mehr sind als einfache Werkzeuge, denn sie stellen Prozesse dar, „die in deren Nutzung erst entwickelt werden müssen13.“ (ebd.; S.73).)
So können die Potenziale von Computerprogrammen am besten genutzt werden, „wenn die menschlichen Akteure der Aufforderung zur Interaktion nachkommen, wenn sie ihre kreativen Ideen einbringen und sich nicht-maschinenhaft verhalten“ (ebd., S.73).
Die regelgeleiteten Aktionen der Maschine Computer sollen im Wechselspiel mit den impliziten und kreativen Handlungen des Menschen zur optimalen Aufgabenbewältigung beitragen. Es ist hierbei wichtig, nicht aus den Augen zu verlieren, dass der Mensch die Maschine beherrschen und im Problemfall kontrollieren kann. Für die Bildung bedeutet dies, dass unbedingt ein Grundverständnis über Funktions- und Umgangsweisen mit dem Computer erworben werden sollte (ebd., S.73). Schelhowe (ebd., S.74) betont zudem, dass die Interaktion mit dem digitalen Medium auch die Menschen verändert,
13 Als Beispiel nennt Schelhowe die individuelle nutzerabhängige Gestaltung des Deskops sowie die Verwendung des Internets, die ebenfalls von der Eingabe der Suchbegriffe durch die NutzerInnen bestimmt wird (ebd., S.72).
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse „ihre Wirkprinzipien beeinflussen, wie wir denken, handeln und fühlen“ (ebd. , S.74).
Über die Funktion eines vermittelnden und speichernden Mediums heraus werden durch die Entwicklung von Software zugleich eigene Medieninhalte produziert (ebd., S.45). Das Besondere ist, dass das Computermedium als „handelndes“ selbsttätiges Objekt selbst an der Herstellung dieser Inhalte beteiligt sein kann: „Auch wenn es sich bei der Datenverarbeitung von Computerprogrammen „nur“ um Signalverarbeitung handelt, die letztendlich keinerlei Bedeutung kennt, so kann doch im Zusammenspiel zwischen Abstraktion, die sich im Programm ausdrückt, einerseits und Interpretation der Verarbeitungsprozesse durch Menschen, im Rahmen ihrer Interaktion mit der Maschine andererseits, neuer Sinn entstehen, der nicht nur durch die menschlichen Denkprozesse selbst und direkt hervorgerufen ist, sondern auch durch das Prozessieren in der Maschine. Hier, in der MenschComputer-Interaktion, entsteht der Computer als evokatives Objekt“ (ebd., S.47).
Auch Turkle (1984) verweist auf die identitätsstiftende Wirkung des Computers als „evokatorisches“ Objekt: „Die chamäleonhafte Qualität des Computers, die Tatsache, dass er zur eigenen Kreatur wird, wenn man ihn programmiert, macht ihn zu einem wirkungsvollen Medium für die Erschaffung persönlicher Welten und dadurch zu einem Medium für die Selbsterforschung“ (ebd., S. 12).
Typische evokative Handlungen sind auch Personifizierungen des Computers. Es handelt sich hierbei um ein Bündel an Vorstellungen und Bildern, die in der Auseinandersetzung mit dem Computer entstehen. Diese befinden sich zwischen den Polen einer Eigenständigkeit und Determination und zwischen lebendig und unbelebt. Turkle (1980, S.15) verweist darauf, dass sich „die Trennungslinie zwischen Person und Maschine (...) scheinbar aufzulösen beginnt.“
Im Rahmen des Forschungsprojektes „Wirklichkeitserfahrung im Umgang mit dem Computer“ werden verschiedene Facetten der Personifizierung des Computers aufgefächert (Tiedel, 2005): Es gab Vorstellungen und Bilder „über eine gewisse Eigen- bzw. Selbstständigkeit des Computers (1). Indem man sich selbst mit dem Computer in einen Konkurrenz- oder Rivalitätskampf
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verwickelt, erlebt man diesen als Partner und als Konkurrent, als Mit- und als Gegenspieler (2). Dahinter kommt die Sorge zum Vorschein, der Mensch könnte in der Konkurrenz der Maschine unterliegen, der Computer könnte den Menschen überholen und überflüssig machen“ (ebd., S.66).
Durch das aktive Reagieren bzw. nicht Reagieren auf die Eingabebefehle wird der Computer teilweise als intentional erlebt, ihm wird ein Wille oder Gefühle zugeschrieben. Dies tritt besonders dann ein, wenn der Computer anders reagiert als dies vom Benutzer indentiert war. (ebd., S.76). Der Computer kann zugleich als Mit- und Gegenspieler erlebt werden, je nachdem ob er als kompatibel zu den eignen Wünschen und Bedürfnissen erlebt wird. Zentral sind vor allem Fragen des Machterlebens, des „Beherrschens des Computers“ und nicht umgekehrt. Ergebnisse von Metz-Göckel et al. (1992) zeigen, dass sowohl Mädchen als auch Jungen eine ambivalente Haltung zum Computer einnehmen, indem sie seine Möglichkeiten entweder über- oder unterschätzen. Bei Schwierigkeiten wird oftmals nicht das eigene Verhalten als Ursache gesehen, die Kinder reagierten häufig emotional, um Frustrationen abzubauen. In der vorliegenden Arbeit wird noch ein weiterer Blickwinkel auf die Personifizierungen des PCs eingenommen. Unter Rückgriff auf das Konstrukt der Kausalattribution soll verdeutlicht werden, inwieweit die unterschiedlichen Personifizierungen des Computers, aber zugleich auch das Erleben der eigenen Fertigkeiten und Kompetenzen im Umgang mit den digitalen Medien nicht nur mit einem (Ohn-) Machterleben, sondern zugleich auch eng mit einem Erleben von Selbstwirksamkeit verbunden sind: Als Kausalattribution wird der Prozess bezeichnet, durch den Menschen Schlussfolgerungen über die Ursachen von Ereignissen, eigenen Handlungen und den Handlungen anderer Menschen vornehmen (Heider, 1958). Die Attributionstheorie befasst sich in Abgrenzung zu den tatsächlichen Ursachen, mit den wahrgenommenen Ursachen von Ereignissen und Handlungen. Der Begriff attribuere stammt aus dem Lateinischen und bedeutet übersetzt „Zuschreibung“ von Ursachen. Heider (1958) und später andere Autoren (wie z. B. Weiner, 1986) haben zur Strukturierung potenzieller Ursachenüberzeugungen, einige grundlegende Merkmale und Dimensionen sowie deren mögliche Konsequenzen auf das Erleben und Handeln identifiziert und in Gruppen zusammengefasst.
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Die vier Basisdimensionen setzten sich aus den Elementen Personabhängigkeit, Stabilität über die Zeit, Kontrollierbarkeit und Globalität zusammen14: Personabhängigkeit (internal vs. external): Diese Dimension beschreibt, ob eine Person die Ursache eines bestimmten Phänomens auf ihr eigenes Handeln, Denken sowie ihre Personeneigenschaften (Persönlichkeit, Begabung) zurückführt oder ob die Ursache in Umweltfaktoren gesucht wird, z. B. wenn der Computer als Verursacher eines Problems angesehen wird. Ursachen, die „innerhalb“ der attribuierenden Person gesucht werden, werden als internale Elemente bezeichnet, Ursachen die „außerhalb“ ihrer Person liegen als „externale“. Stabilität über die Zeit (stabil vs. variabel): Hier steht im Zentrum, inwieweit die Eigenschaft der Ursache zeitlich stabil oder variabel ist. So wird die Begabung und der Schwierigkeitsgrad einer Aufgabe von den meisten Personen als zeitlich stabil empfunden, während die Ursachenzuschreibungen „Anstrengung“ und „Zufall“ als zeitlich variabel gelten. SchülerInnen, die glauben, dass Mädchen prinzipiell nicht für den Umgang mit Computern geeignet sind, werden aufgrund dieser internal stabilen Zuschreibung eher eine geringe Motivation aufweisen, sich aktiv mit Computern zu beschäftigen und zu einem Vermeidungsverhalten neigen (vgl. Kapitel 4.2.4.). SchülerInnen, die hingegen davon ausgehen, dass sie, auch wenn sie noch keine großen Computerfertigkeiten besitzen, sich diese durch Learning by Doing aneignen können, werden eine hohe Lernbereitschaft und Anstrengungsverhalten zeigen und sich Kompetenzen im Umgang mit den digitalen Medien aneignen. Ihr Selbstwirksamkeitserleben wird so gestärkt. SchülerInnen und Lehrpersonen, die ihre eigenen Computerkompetenzen als schlecht einschätzen, sollten darin bestärkt werden, sich derartige Kompetenzen durch Übung anzueignen, indem verstärkt intrinsisch stabile Kausalattribuierungsstile hinterfragt („Ich brauche mich nicht anstrengen, da ich eh zu dumm bin“) und durch intrinsisch variable ersetzt werden („Wenn ich mich richtig anstrenge und mit digitalen Medien auseinandersetze, werde ich im Umgang mit diesen Technologien sicherer werden“). Angst vor Versagen kann zu Vermeidungsstrategien führen, die den Erwerb neuer Fertigkeiten behindern und gerade in der Interaktion mit (vermeintlich besseren) Interaktionspartnern zu einer (selbst geschaffenen) unterlegenen Position führen. 14 Die ersten drei Dimensionen stammen von Heider (1958) und wurden später von Weiner (1986) wieder aufgegriffen. Die zuletzt genannte Dimension, der Globalität wurde von Abramson, Seligman und Teasdale (1978) ergänzt.
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Kontrollierbarkeit (kontrollierbar vs. unkontrollierbar): Das Ausmaß, inwieweit eine Ursache durch das willentliche Handeln der attribuierenden Person kontrollierbar ist, kann variieren. Wenn der Computer als Verursacher eines Problems erlebt wird, bzw. sich im Erleben des Benutzers den Eingabebefehlen „widersetzt“ wird dieser als Kontrahent erlebt. Dem Computer wird eine Macht zugeschrieben, die zugleich mit einem geringerem Selbstwirksamkeitserleben einhergeht und so zur „Ohnmacht“, zu einem Gefühl des Ausgeliefertseins führt. Im Zusammenhang mit digitalen Medien gibt es auch Probleme, die sich einer Kontrolle durch die SchülerInnen und Lehrpersonen weitgehend entziehen, wie z. B. technische Ausfälle. So können die SchülerInnen das Ereignis „Bildschirmschoner geht an“ sehr leicht durch z. B. einen Mausklick aktiv bewältigen. Lange Ladezeiten oder fehlerhafte Seiten im Netz können sie hingegen kaum durch ihr eigenes Handeln beeinflussen. Derartigen kaum beeinflussbaren Problemen sind die SchülerInnen (und Lehrpersonen) relativ ausgeliefert. In diesen Fällen können sie, soweit sie sich ihrer geringen Einflussmöglichkeiten bewusst sind, nur noch auf Vermeidungs- oder Frustbewältigungsstrategien zurückgreifen. Globalität (global vs. spezifisch): Eine Ursache kann einer Vielzahl unterschiedlicher Situationen zugeschrieben werden (globale Ursache) oder nur einzelnen ähnlich beschaffenen Situationen (spezifische Ursache). So wird mangelnde Intelligenz zu einer globalen Ursache, aus der in vielfältigen Situationen negative Handlungskonsequenzen resultieren. Demgegenüber wird mangelnde technische Begabung als eine spezifische Ursache angesehen, die speziell in Situationen, in denen es um die Bewältigung technischer Aufgaben geht, zu negativen Handlungsergebnissen führt. Die eigene zugeschriebene Inkompetenz fühlt zu einem Gefühl des Ausgeliefertseins, der Computer wird zugleich zum „Beherrscher“. Löchel (1995) differenziert in ihrer Analyse des "übermächtigen Verlangens, den PC zu beherrschen" vor allem drei Aspekte der Beherrschung: „die technische Meisterung, die sich auf den konkreten Gebrauch des PCs bezieht; die Frage der Kontrolle, die aus den sozialen Beziehungen, innerhalb derer der Technikgebrauch stattfindet, aber auch aus der Interaktion mit dem PC resultiert; die Zügelung der eigenen Verführbarkeit gegenüber Herausforderungen und Sogwirkungen, die sich aus der spezifischen Interaktion mit dem PC ergeben."
Der Computer kann also zu einem evokatorischen Objekt werden, in dessen Interaktion vor allem das eigene Machterleben zentral ist.
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2.4.3 Computerunterstütztes Lehren und Lernen In diesem Abschnitt wird die Rolle der digitalen Medien in Lehr- und Lernprozessen fokussiert. Die Mediendidaktik als ein Teilgebiet der Medienpädagogik, beschäftigt sich vor allem mit Fragen zur Mediengestaltung und –auswahl, sie zielt auf unterschiedliche didaktische Funktionen, die Medien in Lehr- und Lernprozessen einnehmen können (Tulodziecki & Herzig, S.112). Der Begriff des E-Learning („Electronic Learning“) umfasst alle Formen von Lernen mit digitalen Medien, hierzu zählt sowohl das Nutzen lokal installierter Software als auch das Internet. In den letzten Jahren hat sich besonders das „Blended Learning“ als eine Unterform des E-Learning etabliert und verweist auf eine Kombination von Präsenz- und E-Learning-Elementen (Reinmann, 2007, S.182). Strittmatter und Niegemann (2001, S.123ff.) schlagen zur Skizzierung computerunterstützten Lehrens und Lernens folgendes Kategorienschema vor: Übernahme von Lehrfunktionen: Digitale Medien sollten zur Informationsvermittlung und/ oder Übung und Behaltenssicherung beitragen. Interaktivität: Sie bezieht sich auf den Grad der möglichen Einflussnahme und Steuerbarkeit des Programms bis hin zur Selbstgestaltung eines Programms. Adaptivität, daher der Grad der Anpassung eines Programms an die spezifischen Bedürfnisse und Anforderungen des Lerners Ausmaß der möglichen Selbstkontrolle der Lernenden Vom System verwendete Modalitäten und Codes, die sich aus den Kategorien Sehen, Hören, Tun bzw. Text, (bewegtes) Bild, Ton zusammensetzen können. Entscheidend ist die Art und Weise der pädagogischen Einbettung digitaler Medien. Tulodziecki und Herzig (2004, S.112 ff.) unterscheiden zwischen folgenden mediendidaktischen Konzepten: Lehrmittelkonzept: Die Medien dienen als Werkzeug des Lehrenden (z. B. Tafel und Kreide, Wandkarte). Die Lernenden befinden sich in einer rezeptiven und reaktiven Rolle. Arbeitsmittelkonzept: Die Medien dienen als Lernmittel für die Lernenden (z. B. Arbeitsblatt), die Lehrenden strukturieren das Lernumfeld über die
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Aufgabenstellung. Innerhalb des Rahmens der festgelegten Aufgaben übernehmen die SchülerInnen eine aktive und selbsttätige Rolle. Bausteinkonzept: Die Medien übernehmen in Phasen des Unterrichts die Lehrfunktion (z. B. Videofilm), die Lehrpersonen übernehmen Verantwortung für die sinnvolle Integration dieser Medien. Die Lernenden sind rezeptiv und reaktiv können aber in Vor- und Nachbereitungsphasen dialogisch und selbsttätig lernen. Systemkonzept: Die Medien bestimmen durch die Bereitstellung eines komplexen Lehrsystems (z. B. Telekolleg) fast vollständig den Unterricht, der von Lehrenden oftmals zentral und extern vorbereitet wird. Diese übernehmen die Auswahl der Systemkompetenten und die Begleitung im Hintergrund. Die SchülerInnen lernen vorwiegend rezeptiv und reaktiv, aber auch selbsttätig. Lernumgebungskonzept: Mediale Angebote (z. B. Internet) dienen als Elemente einer Lernumgebung, die die Lernenden in einem aktiven und selbst gesteuerten Lernen unterstützen soll. Die Lehrpersonen agieren als Berater und fördern durch die Bereitstellung entsprechender Aufgabenstellungen die Auseinandersetzung mit komplexen Problemstellungen und Themen. Die Auflistung dieser Konzepte zeigt den engen Zusammenhang zwischen der Funktion und Integration der Medien und den jeweiligen Rollen der Lehrenden und Lernenden. Die in dieser Arbeit untersuchten Fälle zielen vorwiegend auf das zuletzt genannte Lernumgebungskonzept. Gerade dieses kann kooperative Lernformen unterstützen, da komplexe Problemstellungen auf eine Interdependenz zielen. Für die vorliegende Arbeit erscheint die von Wessner und Pfister (2001, S.40) entwickelte Definition von Computer Supported Cooperative Learning (CSCL) als „die Kombination von Computersystemen und pädagogisch-didaktischen Methoden, die die Vorteile kooperativen Lernens spezifisch realisieren (hilfreich):“ (ebd.; S.40). CSCL wird als Lernform bezeichnet, „in der mehrere Personen (mindestens zwei) unter (nicht unbedingt ausschließlicher) Nutzung von Computern ein Lernziel verfolgen, indem sie über den Lerninhalt kommunizieren und neues Wissen kooperativ aufbauen.“
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Während hier das gemeinsame Lernen im Zentrum steht, geht es in dem Ansatz des „Computer Supported Cooperative Work“ darum in der Sozialform der Partner- und Gruppenarbeit ein gemeinsames Ergebnis (Produkt- oder Dienstleistung) zu erreichen. Beide Ansätze sind in der Praxis, wie auch die in dieser Arbeit untersuchten Unterrichtsfälle zeigen, eng miteinander verbunden. Eine mediale Lernumgebung beinhaltet „ein bewusst gestaltetes Arrangement technischer Medien und Hilfsmittel als Teil einer sozialen und materiellen Umgebung, die Lernangebote und Dienstleitungen bereit hält, und in der das mediengestützte Lernen im Vordergrund steht.“ (Kerres, 2001, S.16).
Die wichtigsten Charakteristika multimedialer Lernarrangements sind (vgl. ebd., S.16f): die Bereitstellung unterschiedlicher Medienarten (Einzel- oder Multimedia) und Hilfsmittel als Werkzeug und/ oder Medium. die Anregung und Förderung von Lernprozessen die Aktivierung der Selbststeuerung der Lernenden (meist) die Einbettung in eine bewusst gestaltete physikalisch-soziale Umwelt die direkte oder indirekte Betreuung der Lernenden. Auch Reinmann (2007, S.192f.) sieht das zentrale Verbindungselement zwischen E-Learning und Wissensmanagement in der didaktischen Gestaltung von Wissens- und Lernumgebungen. Der Grad der Didaktisierung kann auf einem Kontinuum mit den Polen der vollständig sichtbaren Lenkung und Anleitung von außen und einer unsichtbaren Didaktisierung mit einem hohen Maß an Selbststeuerung seitens der Lernenden abgebildet werden. Ein Instruktionsdesign geht mit einer starken Fremdorganisation einher, während ein Kontextdesign eine große Selbstorganisation erfordert. Lernende sollten für verschiedene didaktische Wissens- und Lernangebote offen bleiben und Lehrende sowie Führungskräfte sollten mehrere Wissens- und Lernangebote flexibel anbieten (ebd.). Digitale Medien sollten hierbei zentral in den Unterricht integriert werden, so bieten diese einen didaktischen Mehrwert, da sie (vgl. Tulodziecki/ Herzig, 2004, 21 ff.):
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zur Veranschaulichung von Sachverhalten und Prozessen aus dem Mikround Makrobereich (z. B. Zeitraffer) dienen können. indirekte und vermittelte Erfahrungen, die im direktem Erleben zu zeitaufwendig, umständlich oder gefährlich wären, ermöglichen. verschiedene Formen zum sozialen Austausch bieten, gerade dann wenn ein persönlicher Kontakt sonst aus räumlichen, organisatorischen oder ökonomischen Gründen nicht oder nur schwer möglich ist (z. B. Chat, EMail-Verkehr). den Umgang mit unterschiedlichen Repräsentationsformen (Ton, Bild, Text) von Lernobjekten ermöglichen und das sowohl zur Informationsrecherche als auch zur Aufbereitung bzw. zum Erstellen eigener Produktionen. Lehrfunktionen übernehmen (z. B. Wissensvermittlung, Geben von Feedback) und so die Lehrperson entlasten. im Sinne einer inneren Differenzierung, eines selbst gesteuerten, aber auch kooperativen und kollaborativen Lernens flexible und wirkungsvolle Lernerfahrungen ermöglichen. indem digitale Medien selbst zum Lerngegenstand werden eine kritische Analyse und Beurteilung von Medienprodukten im Sinne einer Medienkompetenz schulen. Je nach zugrunde liegendem didaktischem Konzept können unterschiedliche Softwaretypen zum Einsatz kommen. Die folgende Taxonomie zeigt die gebräuchlichste Einteilung. Sie ist allerdings nicht trennscharf, so kann eine Software durchaus Merkmale von unterschiedlichen Typen besitzen (vgl. u. a. Tulodziecki/ Herzig, 2004, Weidenmann, 2006): Drill-and-Practice-Programme (z. B. Vokabeltrainer) dienen zur Übung, Wiederholung und zum Auswendiglernen bereits bekannter Prozeduren. Im behavioristischen Sinne werden erwünschte Verhaltensweisen mittels unmittelbarer Bekräftigung verstärkt. Sie zielen oftmals auf ein selbst gesteuertes und individualisiertes Arbeiten, da die SchülerInnen im Rahmen einer Binnendifferenzierung das Arbeitstempo sowie die Auswahl der Aufgaben mit beeinflussen können. (Intelligente) Tutorielle Programme (wie z. B. Grammatiklernprogramme) dienen der Einführung in Wissensgebiete, die vorwiegend neue, einfache und eindeutig definierbare Fertigkeiten umfassen. Intelligente Tutorials sind in der Lage sich verstärkt auf den Lernenden einzustellen, in dem sie auf individuelle Lerntypen eingehen und z. B. wahlweise verschiedene Sinne ansprechen oder den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben dem jeweiligen
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Lernstand anpassen. Ähnlich wie bei den Drill-and-Practice-Programmen zielen sie auf ein individualisiertes Lernen. Edutainment-Programme und Lernspiele (z. B. „Peter Lustigs Verkehrsschule“) kombinieren Lernen mit einem Unterhaltungs- und Spielfaktor, wodurch besonders die intrinsische Motivation der Lernenden gesteigert werden soll. Hypertext und Hypermedia (z. B. Internet, die Kindersuchmaschine „Blinde Kuh“: www.blinde-kuh.de) dienen vor allem der Informationsrecherche. Sie sind meist netzwerkartig strukturiert und bestehen aus Informationseinheiten, sogenannten Knoten und aus Verbindungen, sogenannten Links zwischen diesen Knoten. Im Gegensatz zum Hypertext, einer schriftlichen Darstellung von Wissensinhalten, erhält eine multimediale Datenbank auch andere Darstellungsformen, wie Film, Ton und/ oder Video. Da diese Datenbanken keinen Lernpfad vorgeben, sondern die SchülerInnen weitgehend frei und selbstständig navigieren können, zielen sie auf ein individualisiertes und selbsttätiges Lernen. Je nach Aufgabenstellung kann zudem ein problemorientiertes sowie kooperatives und kollaboratives Lernen gefördert werden. Erwartungen, dass das freie Navigieren ein multiperspektivisches Denken fördere und zum Erwerb einer besonders elaborierten Wissensstruktur beitrage, konnten bisher noch nicht empirisch bestätigt werden. Anwendungssoftware (Werkzeuge) (z. B. Tabellenkalkulation/ Präsentationsprogramme) kann für vielfältige inhaltliche Kontexte eingesetzt werden und ist inhaltsneutral. Bei ihr verlagert sich der Fokus weg vom Lehren hin zur selbst gesteuerten Wissensnutzung und –darstellung. Peschel (2003) betont, dass digitale Medien als Werkzeuge verstanden werden sollten, die eine konstruktivistische Didaktik stützen: „Der Computer (wandelt sich) vom Lehrerersatz zum Werkzeug des Schülers. (...) Werkzeuge sind dabei möglichst einfache Hilfsmittel, die sinnvoll und gezielt für eine bestimmte Arbeit bzw. ein Lernvorhaben eingesetzt werden können. (...) Sie enthalten von sich aus keinen Lehrgang, sondern passen sich dem Lernweg des Kindes an.“ (ebd.; S. 11ff.).
Er plädiert entsprechend für den Einsatz von Anwendungssoftware und die Nutzung von Hypertext und Hypermedia. Peschel (ebd., S.14) kritisiert den Einsatz des Computers als Lehrgangsfunktion, in dem dieser als
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„Arbeitsblattersatz zum vorstrukturierten und vorstrukturierenden Hauptarbeitsmittel wird“ und letztendlich nur „die Palette der bunten Arbeitsblätterflut um eine noch verführerischere Form spielerischen Lernkonsums erweitert.“
Der Computereinsatz wird durch derartige Einsatzformen in seinem didaktischen Potenzial nicht nur unterschätzt, sondern zudem in eine didaktische Richtung gedrängt, die denen des Konstruktivismus widersprechen. Auch Jonassen (ebd.) plädiert dafür nicht von den Technologien zu lernen, denn wenn diese nur als Lehrerersatz dienen, bleiben die Schülerinnen in einer passiven Rolle und werden nicht aktiv Wissen konstruieren. Vielmehr soll mit digitalen Medien gelernt werden, um ein „meaningful learning“ zu fördern, was sich durch die folgenden Aspekte auszeichnet (vgl. Jonassen, 2003, S.7f.): Active (manipulative/ observant): “Meaningful learning requieres learners who are actively engaged in a meaningsful task (…) in which they manipulate objects and parameters of the environment they are working in and observing the results of theier manipulations”. Constructive (articulative/ reflective): “Learners integrate their new experiences with theier prior knowledge about the world, or they establish goals for what they need to learn in order to make sense out of what they observe”. Intentional (reflective/regulalatory): “When learners are actively and willfully trying to achieve a cognitive goal, they think and learn more because they are fullfilling an intention”. Authentic (complex/contextualized): “Learning tasks that are situated in some meaningsful real-world task or simulated in some case-based or problem-based learning environment are not only better understood, but also are more consistently transferred to new situations” Cooperative (collaborative/conversational): ”Learners working in groups must socially negotiate a common understanding of the task and the methods they will use to accomplish it.” Ein Vergleich dieser Attribute mit den bereits in Kapitel 2.2.2 vorgestellten Prinzipien zeigt den der engen Bezug zum konstruktivistischen Lernen. Tabelle 2.5 stellt dar, wie die digitalen Medien eine Wissenskonstruktion unterstützen können (vgl. Jonassen, 2003, S.12).
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Roles for Technologies
Functions
Tools to support knowlewdge For representing learners’ ideas, construction understandings, and beliefs For producing organized, multimedia knowledge bases by learners Information vehicle for exploring For accessing needed information knowledge to support learning by For comparing perspectives, beliefs, worrdviews constructing
and
Context to support learning by For representing and simulating meaningful doing real-world problems, situations, and contexts For representing beliefs, perspectives, arguments, and stories of others For defining a safe, contrallable problem space for student thinking Social medium to support learning For collaborating with others by conversing For discussing, arguing, and building consensus among members of a community For supporting discourse among knowledgebuilding communities Intellectual partner to support For helping learners to articulate and represent learning by reflecting what they know For reflecting on what they have learned and how they came to know it For supporting learners’ internal negotiations and meaning making For constructing personal representations of meaning For supporting mindful thinking
Tabelle 2.5: Technologien zur Wissenskonstruktion (vgl. Jonassen, 2003, S.12) Es zeigen sich die vielfältigen interaktiven Nutzungs- und Einsatzmöglichkeiten der digitalen Medien von der Wissensaufbereitung über ein Kommunikationsmedium bis hin zum Computer als „intelligenten Partner“. Wenn Multimedia-Programme als Mindtools verwendet werden, können sie zu neuen Erkenntnissen führen: „Mindtools are computer-based tools and learning environments that have been adapted or develeped to function as intelectual partners with the learning in order to engage and facilitate critical thinking and higher order learning” (Jonassen, 2003 S.9).
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Jonassen (2000, S.15ff.) differenziert zwischen Produktivitätstools und Mindtools: „Although producitivity tools significantly enhance the ability to produce ideas, they do not provide alternative ways of thinking“ (ebd., S.17).
Datenbanken und Tabellenkalkulation sind für Jonassen Mindtools, so geht er davon aus, dass derartige Programme die Entstehung neuer alternativer Denkweisen fördern, während er in seiner Sichtweise Text- und Grafikprogramme sowie das Internet ausschließt (ebd., S.16f.). In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass nicht die Medienform allein bedingt, ob ein Produktivitätstool zum Mindtool wird und neue Erkenntnisse hervorbringt, sondern vielmehr die Art und Weise, wie die Lernenden es nutzen. So können z. B. Text- und Bildverarbeitungsprogramme zum einen nur zur Reproduktion von bereits Existierendem genutzt werden, anderseits aber, wenn eigene bisherige Erkenntnisse z. B. durch die Option des Anzeigens einer Grobübersicht (Inhaltsverzeichnis) neu strukturiert werden, durchaus neue Erkenntnisse bewirken. Auch das Internet/ WWW dient zwar per se nur der Informationsrecherche und recherchierte Informationen können einfach unreflektiert kopiert werden, aber indem die recherchierten Inhalte neu strukturiert und/oder mit bisherigem Wissen verknüpft und so neu aufbereitet werden (hier wirkt sicherlich die zusätzliche Verwendung von Produktivitätstools mit ein) auch als Ausgangspunkt für eine (neue) Wissenskonstruktion dienen. Jonassen ist aber in dem Punkt zuzustimmen, dass das Internet sowie Textverarbeitungsprogramme insgesamt wenig geeignet sind, neues Wissen zu generieren. Zudem beinhalten die digitalen Medien in derartigen Nutzungsformen kaum neue Potenziale, so müssten dann auch Bücher sowie Papier und Stift als Mindtools zählen. Sowohl Bücher als auch das Internet dienen wohl vor allem der Informationsrecherche und weniger als Mindtool, können aber dennoch zu einem werden. Auf der anderen Seite kann zwar die Verwendung von Datenbanken und Tabellenkalkulation neue Erkenntnisse hervorbringen, dies aber nicht zwangsläufig. Indem derartige Programme z. B. als simple Datenablage genutzt werden (z. B. Ablage von Adressen) dienen sie nur der Informationsrecherche und werden daher nicht als Mindtool verwendet. So kann prinzipiell je nach Anwendung durch den Nutzer jede Medienform als Mindtool fungieren, wenngleich natürlich bestimmte Programme, wie die von Jonassen (ebd.) aufgeführten eher Prozesse einer Wissenskonstruktion beflügeln. Neben den Eigenschaften der technischen Tools wird so in der vorliegenden
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Arbeit dafür plädiert, die Aufmerksamkeit auf die Aktivitäten der Lernenden zu richten, denn nur durch deren Interaktion mit den Programmen und deren spezifische Nutzungsweisen können diese zu Mindtools werden. Um die Position dieser Arbeit zu verankern, wird noch einmal kurz auf Schelhowe (2006, vgl. Abschnitt 2.4.2) zurückgegriffen. Über ein einfaches Werkzeug und Medium hinaus können digitale Medien nur dann ihr volles Potenzial entfalten, wenn ihre Nutzung als Interaktion zwischen Mensch und Maschine begriffen wird, in der zumindest in einer metaphorischen Sicht, wechselseitiges Handeln stattfindet. Der Computer als evokatorisches Objekt bietet Möglichkeiten über sich selbst und die Umwelt zu reflektieren. Schulz-Zander & Tulodziecki (2006, 2009) sehen das Potenzial von digitalen Medien für Lernen und Lehren in deren Merkmalen zur Multimedialität, Vernetzung und Interaktivität: Multimedialität zeigt sich in der zeitunabhängigen und zeitabhängigen Präsentation von unterschiedlichen Medien, wie Texten, Bildern, Videosequenzen und Ton (ebd.). Eine Vernetzung ermöglicht über global verbundene Systeme die Bereitstellung und Verwendung verteilter Datenbestände sowie neue Formen der Kooperation, Kommunikation, Betreuung und Unterstützung (ebd.). Interaktivität wird definiert als „ein umfassender Begriff für solche Eigenschaften eines Computersystems, die dem Benutzer Eingriffs- und Steuermöglichkeiten eröffnen, im Idealfall auch die wechselseitige Dialoginitiative von Mensch und Computer sowie über ein Computernetz mit anderen Menschen“ (Issing & Klimsa, 2002, S.555). Weidenmann (2006) verweist auf die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten: Über die Nutzung von E-Mail-Programmen und via Internet fungiert als globales Instrument zur zeit- und raumübergreifenden Wissenskommunikation, -generierung und repräsentation: Botschaften können gesendet und empfangen werden, Informationen können gesucht und im Internet über das Netz weltweit verbreitet werden. Im Gegensatz zu einer Face-to-Face Interaktion erfolgt die Kommunikation nicht zwingend synchron (zeitgleich), sondern kann auch asynchron (zeitversetzt) erfolgen (ebd.). Über eine Veröffentlichung (z. B. Homepageerstellung, PowerPoint-Präsentation) erfolgt die Kommunikation unidirektional oder (z. B. via E-Mail) mit Rückkoppelung (ebd.).
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Hypertext und Multimedia ermöglichen über die vielen nicht linearen Verknüpfungen eine individuelle Gestaltung und Aufbereitung des Lernstoffes mit eigenständiger Schwerpunktsetzung. Hierbei steht vor allem die Wissensbeschaffung und -aufbereitung im Zentrum. Produktivitätstools (z. B. Word/ PowerPoint etc.), aber auch Multimedia (Ton-/Bildverarbeitung) zielen auf eine Wissensrepräsentation. Wissen wird aufbereitet und zu Informationen verarbeitet. Tutorielle Programme ermöglichen eine individuelle Aneignung von Lernstoffen und eine eigenständige Kontrolle über den Lernerfolg. Hier steht vor allem die Wissensnutzung und –überprüfung im Zentrum. Durch diese Potenziale können digitale Medien entscheidend eine problemorientierte bzw. konstruktivistische Lernumgebung stützen. Der alleinige Medieneinsatz bewirkt allerdings noch keine problemorientierte Lernumgebung, sondern muss in eine entsprechende Didaktik eingebunden sein: „Die didaktische Qualität oder Wertigkeit eines Mediums lässt sich nicht an den Merkmalen des Mediums selbst (seien sie inhaltlicher, konzeptioneller oder gestalterischer Art etc.) feststellen, sondern nur in dem kommunikativen Zusammenhang, in dem das Medium Verwendung findet“ (Kerres, 2001, S.23).
Wichtige didaktische Prinzipien zur Gestaltung einer gemäßigt konstruktivistischen Lernumgebung wurden in Abschnitt 2.2 vorgestellt. Schaumburg betont (2002, 344) zu Recht, dass „die erfolgreiche Integration des Computers in den Unterricht weit mehr erfordert als die Bereitstellung der Technik und die Weiterbildung von Lehrerpersonen. Schulen, die Computer zu einem voll integrierten Unterrichtsmedium machen und von der Katalysatorfunktion des Computers für eine neue didaktische Praxis profitieren wollen, steht eine umfangreiche organisatorische und curriculare Entwicklungsaufgabe bevor.“ Wie sich eine derartige Lehr- und Lehrkultur entwickeln kann, wird in dem Stufenmodell der Technologie-Integration (vgl. Hooper und Rieber, 1995, S.154ff.) thematisiert. Die folgende Abbildung zeigt das Modell:
Integration bis zur 5. Stufe
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Integration jenseits der 3. Stufe nicht möglich
Computer als Wissensvermittler Denkwerkzeug
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5. „Evolution“
Die Computerintegration wird zum festen Bestandteil einer fortwährenden Weiterentwicklung von Unterricht und Schule
4. „Reorientation“
Instruktionsorientierter Unterricht wird immer mehr vom schülerorientiertem Unterricht abgelöst
3. „Integration“
Der Computers wird als unverzichtbares Werkzeug in den Unterricht integriert
2. „Utilization“
Verschiedene Einsatzmöglichkeiten des Computers werden im Unterricht ausprobiert
1. „Familiarization“
Es findet eine erste Einführung/ Kontakt mit dem Computer statt.
Abbildung 2.10: Stufenmodell Technologie-Integration (vgl. Hooper und Rieber, 1995, S.154ff.) Dieses Modell veranschaulicht sehr gut, dass eine alleinige Integration digitaler Medien ohne eine entsprechende pädagogische Didaktik nicht zur Entfaltung ihres vielfältigen Potenzials führen kann. Erst ab Stufe 4, wenn Lehrpersonen eine didaktische Neuorganisation des Unterrichts vornehmen, können digitale Medien im konstruktivistischen Sinne unterstützend wirken. Auf der anderen Seite können digitale Medien gerade diesen Wandel weg vom instruktions- hin zum schülerzentriertem Lernen fördern. Die Gestaltung einer problemorientierten Lernumgebung, wie sie bereits in Abbildung 2.2 vorgestellt wurde, ist hierbei von zentraler Bedeutung. Dennoch macht eine langsame und schrittweise Einführung des Computers in den Unterricht Sinn, um SchülerInnen und auch Lehrpersonen nicht zu überfordern.
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2.4.4 Medienkompetenz und Gefahren der Mediennutzung Das Lehren und Lernen mit digitalen Medien zielt u. a. auf den Erwerb von Medienkompetenz, die soziale, kommunikative und kreative Fähigkeiten einschließt. Es geht um die Wahrnehmung und Reflexion soziokultureller Veränderungen in unserer Gesellschaft und der Einflüsse von Medien auf die Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Schulz-Zander, 1997). Die Artikulation über Medien ist eine wichtige Voraussetzung zur aktiven Beteiligung an gesellschaftlichen Prozessen. Angesichts der Manipulationsmöglichkeiten digitaler Medien tritt der Aspekt der Konstruktion von Wirklichkeit deutlicher hervor als je zuvor. SchülerInnen sollen als zukünftige BürgerInnen Kompetenzen erwerben, damit sie die Wissensgesellschaft sozial verantwortlich, kreativ und selbstbestimmt mitgestalten können (ebd.). Medienkompetenz zielt auf eine neue Kulturtechnik und eine veränderte Kommunikationskultur. Sie beschränkt sich nicht auf instrumentelle, technische Fähigkeiten; sie umfasst Fähigkeiten zur Nutzung, Auswahl, Gestaltung, Analyse und Bewertung von Medien. Nach Kübler (1999, S.26) umfasst Medienkompetenz Kognitive Kompetenzen über Strukturen und Funktionsweisen der Medien Analytische und evaluative Fähigkeiten, daher den Inhalt der Medien kritisch zu beurteilen. Sozial-reflexive Fähigkeiten, daher sich individuellen Nutzungsweisen, Gewohnheiten und Verlockungen bei sich und anderen bewusst zu werden und diese ggf. zu korrigieren. Handlungsorientierte Fähigkeiten über eine effektive und reflexive Nutzung der Medien. Schulz-Zander & Tulodziecki (2009, S.44) betonen, dass sich Medienkompetenz auf zwei Handlungszusammenhänge beziehen sollte. So geht es zum einen um die reflektive Nutzung vorhandener Medienangebote zur Informationsgewinnung, „für Unterhaltung und Spiel, für Problemlösung und Entscheidungsfindung“ sowie zur Kooperation und Kommunikation. Zudem steht die Gestaltung eigener medialer Botschaften (z. B. über die Erstellung einer Homepage) im Zentrum. Es bedarf einer neuen Lese- und Schreibfähigkeit mit erweiterten wahrnehmenden, analytischen, interpretativen, bewertenden und gestalterischen Fähigkeiten (Schulz-Zander 1997). So ist es wichtig, auch auf Ängste und Warnungen vor Gefahren der Mediennutzung hinzuweisen:
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Die im Internet gebotene Informationsflut und die komplexen Verbindungsoptionen bergen auch Nachteile, wie z. B. das Risiko des Fokusverlustes. Dieses Phänomen der Orientierungslosigkeit ist als „Lost in Hyperspace“Phänomen bekannt (Weidemann, 2006, 469). Im Internet finden sich neben nützlichen, informativen und unterhaltsamen Angeboten auch fragwürdige jugendgefährdende, gewaltverherrlichende, rechtsextreme und pornografische Inhalte (Arnemann et al., 2008). Außerdem sind, da prinzipiell jeder etwas ins Netz stellen kann, die Quellen teilweise unsicher und die inhaltliche Qualität manchmal entsprechend schlecht. Eine sorglose und naive Darstellung und Weitergabe persönlicher Informationen kann zu Belästigungen und schlimmstenfalls zur Kontaktaufnahme mit Pädakriminellen führen. Außerdem besteht ein Risiko in der leichtgläubigen Nutzung von vermeintlich kostenlosen Internetangeboten, die sich hinterher als sehr kostspielig zeigen. Eine weitere Gefahr besteht in kriminellen Handlungen, wie der Verbreitung von schädlichen Computerviren, die z. B. durch das unüberlegte Öffnen von Dateianhängen installiert werden und das Computersystem schädigen oder dem „Phishing“, bei dem Kriminelle versuchen durch Spyware (eine ungewollt installierte Schadsoftware) oder Eingabeformulare auf gefälschten Internetseiten, Passwörter und/oder wichtige Zugangsdaten auszuspähen (ebd.). Die Online-Nutzung ist zudem von Eltern-, Erzieher- und Lehrerseite schwer eingrenzbar und kontrollierbar. Damit SchülerInnen Gefahren und Nachteile der Computernutzung selbst einschätzen und bewältigen können, ist daher der Erwerb von Medienkompetenz im Sinne eines kritischen und souveränen Umgangs mit digitalen Medien ein zentrales Lernziel. 2.4.5 Gender und digitale Medien Es ist wichtig, im Zusammenhang mit digitalen Medien die Dimension Gender zu beachten. Stoller führte 1968 die Differenzierung zwischen „Sex“ und „Gender“ ein, um den soziologischen Zugriff auf das Phänomen „Geschlecht“ in biologische und soziale Kategorien aufzusplitten. Unter „Sex“ werden alle biologischen Merkmale, wie Physiologie, Anatomie, Morphologie und Hormone zusammengefasst. „Gender“ hingegen bezeichnet die im Sozialisationsprozess angeeigneten sozial und kulturell gefärbten „Geschlechtscharaktere“. Während das biologische Geschlecht angeboren ist, wird das psychologische Geschlecht im
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Laufe der Sozialisation durch die Entwicklung einer Geschlechtsrollenidentität „erlernt“ (vgl. Kessels, 2002). In der Mikrotheorie der Geschlechtersoziologie gilt Gender demnach als soziale Konstruktion, „als etwas, das gesellschaftlich gemacht“ und „individuell nachvollzogen bzw. mitgemacht wird“ (Treibel, 2006, S.133).
Das biologische Geschlecht als unabhängige Variable zu behandeln ermöglicht es, gezielt Benachteiligungen von Geschlechtern, wie hier beim Einsatz digitaler Medien im Unterricht, zu identifizieren und entsprechende Fördermaßnahmen zur Herstellung einer Gleichberechtigung abzuleiten. Auf der anderen Seite wird durch eine derartige Herangehensweise die Differenz der Geschlechter hervorgehoben, wodurch sich geschlechtliche Stereotypisierungen weiter verfestigen. Lorber (1991) beschreibt diesen Sachverhalt treffend als „paradox of feminist politics that politically women must act as a group in order to defuse gender as a discrimative factor.“ (ebd.; S.355).
Es ist wichtig, diesen Widerspruch bei Untersuchungen, in denen der GenderBlick eingenommen wird, transparent zu machen und im Auge zu behalten. So betonen u. a. Metz-Göckel und Kreienbaum (1992), dass Stereotype, wie z. B. dass Jungen meist eine Technikkompetenz und den Mädchen eher eine Sozialkompetenz zugeschrieben wird, dazu betragen können, dass das weibliche Geschlecht im Bereich der Informationstechnologien auf „Distanz“ gehalten wird. Mit dem aktionsorientierten Ansatz des „Doing Gender“ befasst sich die sozialwissenschaftliche Geschlechterforschung seit den 70er Jahren (West/ Zimmermann, 1987) Durch den Begriff „Doing“ (engl.: machen, herstellen) rücken kulturelle Inszenierungspraktiken ins Zentrum; es geht darum, wie „gender“ als kulturelles Geschlecht in Interaktionen (re-)produziert wird. Unter Undoing-Gender wird hingegen eine Neutralisierung von Geschlechterdifferenzen verstanden, nämlich das „Ruhen lassen“ von stereotypen Geschlechterunterscheidungen ohne in das andere Extrem zu verfallen, nämlich die „soziale Konstruktion von Unmännlichkeit/Unweiblichkeit (Mannsfrau) als das exakte Gegenteil zur Nicht-Konstruktion von Männlichkeit/Weiblichkeit“ (Hirschauer, 1994, S.678).
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Befunde von Schulz-Zander (2002) zeigen, das weibliche Personen sensibler auf das Thema einer Geschlechtergleichberechtigung reagieren. So gaben Lehrerinnen im Vergleich zu männlichen Kollegen signifikant häufiger an, dass der Einsatz von Computern und Internet zur Herstellung von Chancengleichheit beitragen kann. Außerdem ist ihnen das Ziel eine gleiche Beteiligung von Jungen und Mädchen am Computer zu erreichen, deutlich wichtiger als männlichen Kollegen. Schulz-Zander (2002) betont die Bedeutsamkeit von weiblichen Vorbildern, um einem männlich konnotierten informationstechnischen Bereich entgegen zu wirken. Aufschluss darüber, wie Kinder und Jugendliche den Computer im Alltag nutzen, gibt die seit 1999 durchgeführte repräsentative Studie „Kinder und Medien“ (KIM, vgl. mpfs, 1999-2008) sowie die seit 1998 durchgeführte „Jugend, Information und (Multi-) Media (JIM)-Studie“ (vgl. mpfs, 1998-2009): Die Ergebnisse der KIM-Studie (ebd., 2008), in der 6-13-jährige Kinder zu ihrem Mediennutzungsverhalten befragt wurden, zeigen, dass Jungen (J) im Vergleich zu Mädchen (M) insgesamt mehr an Computerspielen (M 16%, J 42%) und mehr an Computern, sowie deren Zubehör interessiert sind (M 11% , J 28% ). Während Jungen lieber Spielsoftware nutzen (M 50%, J 72%), verwenden Mädchen etwas häufiger Lernprogramme (M 47%, J 38%). Laut Befunden der KIM-Studie besitzen die Jungen im Vergleich zu Mädchen eher einen eigenen Computer und verfügen entsprechend über mehr Erfahrung im Umgang mit diesem. Die JIM-Studie (ebd., 2009), in der 12-19jährige Jugendliche befragt werden zeigt ebenfalls, dass Jungen etwas häufiger als Mädchen an dem Computer sitzen. Insgesamt läßt sich aber feststellen, dass sich die Differenz zwischen den Geschlechtern im Laufe der Jahre immer mehr verringert (Computerbesitz 2008: M 72%, J 77%, zum Vergleich 2006: M 51%, J 69%) und insgesamt der Computerbesitz deutlich angestiegen ist. Diverse Studien belegen geschlechtsspezifische Unterschiede auch im Hinblick auf das Interesse und computerbezogene Selbstkonzept (vgl. u. a. Lang/ Schulz-Zander, 1994, Janssen Reinern/ Plomp, 1997; Hunneshagen/ SchulzZander/ Weinreich, 2000; Schulz-Zander, 2002; Wirth/ Klieme, 2002; Preussler/ Schulz-Zander, 2004; Rösner/ Bräuer/ Riegas-Staackmann, 2004): Eine Aufschlüsselung der PISA15-Ergebnisse nach Geschlecht zeigt, dass Mädchen (in Deutschland) in Vergleich zu Jungen über weniger Computerkompetenzen verfügen, sich weniger für den Computer interessieren und eine geringe Selbstwirksamkeit im Umgang mit ihm zeigen. Im Vergleich zu der 15 Programme for International Student Asessment: Es handelt sich um eine internationale Schulleistungsuntersuchung 15jähriger SchülerInnen der OECD.
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Erhebung von 2003 haben sich diese Differenzen allerdings ebenfalls deutlich verringert (PISA 2006, Prenzel et al., 2007). Mädchen trauen sich selbst insgesamt im Umgang mit Computern weniger zu als den Jungen, die sie für kompetenter halten. Die Jungen hingegen bestätigen in ihren Einschätzungen das Selbstbild der Mädchen, auch sie trauen diesen weniger und sich selbst mehr zu. Die Jungen behaupten von sich selbst auch dann Kompetenz, wenn diese kaum vorhanden ist, während sich Mädchen in ihrer Selbsteinschätzung eher als inkompetent einschätzen, auch wenn sie durchaus Kompetenzen besitzen. Jungen geben zudem signifikant häufiger als ihre Mitschülerinnen an, anderen Schüler(innen) und Lehrpersonen bei Computerproblemen helfen zu können (vgl. Preussler, Schulz-Zander, 2004). Ältere Befunde von Metz-Göckel et al. (1992) zeigen anhand einer vergleichenden Analyse von geschlechtshetero- und homogenen außerschulischen Lerngruppen am Computer, dass Jungen dazu tendieren, ihren ggf. vorhandenen Wissensvorsprung auszunutzen, indem sie eine dominante Rolle einnehmen und andere nicht an ihrem Wissen teilhaben lassen, was zu einem blockierenden Lernklima führt. Die Forschergruppe konnte entlarven, dass viele Jungen als sogenannte Pseudo-Experten agieren, sie daher in gemischtgeschlechtlichen Gruppen eine Verhaltensdominanz ausüben, ohne einen echten Wissensvorsprung zu besitzen. In den geschlechtsheterogenen Arbeitspaaren übernehmen nach ihren Befunden meist die Jungen die Regie, während die Mädchen in eine Assistentenrolle schlüpfen. Die Anwesenheit von Jungen scheint Mädchen in ihrem Verhaltensrepertoire eher einzuschränken, Mädchen halten ihre Assistentenrolle aufrecht, indem sie sich kaum durchsetzen und sich zugunsten der Dominanz der Jungen zurückziehen. Jungen wiederum wenden Taktiken wie die Geheimhaltung von Wissen an, um ihre Experten- und Chefrolle aufrecht zu halten. Beide Geschlechter scheinen zu dieser ungleichen Rollenverteilung durch ihr Handeln aktiv beizutragen (ebd.). Außerdem demonstriert die Studie von Metz-Göckel et. al. (ebd.), dass Mädchen in koedukativen Lerngruppen besonders still und anpassungsbereit agieren, während sie in reinen Mädchengruppen ein breiteres Verhaltensrepertoire zeigen. Interessante Befunde liefert auch ein Vergleich von mono- und koedukativen „co-action“ Situationen, in denen sich Junge und Mädchen mit je eigenem Bildschirm und Tastatur gegenübersitzen, mit „collaboration“-Situationen, in denen Jungen und Mädchen gemeinsam ein Problem lösen (Light et al., 2000, S.491ff): Mädchen zeigen unter der ersten Rahmenbedingung, wenn sie einem Jungen gegenübersitzen, weniger Problemlösekompetenzen, als wenn sie mit einem Jungen unter „collaborativen“ Bedingungen kooperieren. Vermutlich
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können sich in unter derartigen Bedingungen geschlechtsspezifische Vorurteile auflösen, die sich sonst ggf. negativ auf das Verhaltensrepertoire der Mädchen auswirken. Um Mädchen in der informationstechnologischen Bildung zu fördern, kann der in der Bundesrepublik am Landesinstitut für Schule und Weiterbildung (LSW, 1993) entworfene Leitfaden „Mädchen und neue Technologien“ für Lehrpersonen handlungsleitend wirken. Auch das IPN entwickelte gemeinsam mit Expertinnen in einer Curriculum-Konferenz „Informationstechnische Bildung für Mädchen“ Strategien, um einer Benachteiligung von Schülerinnen entgegen zu wirken (Schulz-Zander, 1992). Zusammenfassend wird Folgendes empfohlen: „Materialien und Unterrichtsbeispiele zu wählen, die an der Erfahrungswelt von Mädchen anknüpfen und deren Interessen berücksichtigen, die Zugangsmöglichkeiten zu den schulischen Computern für die Mädchen zu erhöhen, traditionelle Rollenzuschreibungen zu überwinden und eine Veränderung von Selbstkonzepten bei den Geschlechtern zu unterstützen, eine Sensibilisierung von Lehrerinnen und Lehrern zu erzielen und ggf. zeitlich begrenzte geschlechtshomogene Gruppen einzurichten“ (Schulz-Zander, 1992, zitiert nach Schulz-Zander, 2002).
2.4.6 Forschungsbefunde: Lehren und Lernen mit digitalen Medien Computerbezogene Kompetenzen werden seit einigen Jahren neben Lesen, Schreiben und Rechnen im Sinne einer „Computer Literacy“ in postindustriellen Kulturen als vierte basale Qualifikation begriffen. Aus diesem Grund wurden auch im Rahmen der PISA-Studie (2003, 2006, Baumert et al, 2001) Befunde zur Computernutzung erhoben. Seit PISA 2003 hat die häusliche Computernutzung sowohl international als auch in Deutschland zugenommen. In Deutschland werden seit 2003 Computer mehr und mehr als Lernwerkzeug in den Unterricht integriert. Dennoch zeigen die Ergebnisse (PISA 2006, Prenzel et al., 2007), dass Deutschland im Vergleich zu den anderen 25 untersuchten OECD- Staaten im Hinblick auf die Häufigkeit schulischer Computernutzung das Schlusslicht bildet (36 % im Vergleich zu durchschnittlichen 56 %). Im Kontrast hierzu steht die im internationalen Vergleich überdurchschnittlich häufige außerschulische Computernutzung, so nutzen ca. 90 % (OECD-Durchschnitt 86 %) der deutschen SchülerInnen den Computer regelmäßig zuhause. Der Computer wird dort aber hauptsächlich zum Versenden von E-Mails, zum Spielen und Musikkonsum genutzt und kaum Programmoptionen, die im Besonderen für das Ausbildungs- und Berufsleben qualifizieren.
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Fuchs und Wößmann (2005) gehen in multivariaten Analysen der PISA-Studie der Frage nach, inwieweit sich die schulische und außerschulische Computerverfügbarkeit und –nutzung auf kognitive Basiskompetenzen der SchülerInnen in Mathematik, Naturwissenschaften und Lesen auswirkt. Sie korrigieren hierbei bisher veröffentlichte PISA-Ergebnisse (z. B. OECD, 2001, S.118), die zu dem Schluss kamen, dass SchülerInnen mit häufiger Computernutzung besser im PISA-Test abgeschnitten hätten. Diese beruhten auf bivariaten Analysen, die entscheidende Rahmenbedingungen, wie die soziale Herkunft der SchülerInnen nicht herausrechneten, obwohl die häusliche Verfügbarkeit von Computern stark vom Bildungsniveau der Eltern abhängt. Gut ausgebildete Eltern besitzen meist häufiger Computer und achten zugleich mehr auf die Ausbildung ihrer Kinder, sodass sich alleine durch diese Kreuzbedingungen die positiven Lerneffekte erklären lassen. Fuchs et al (ebd.) kommen in ihren multivariaten Analysen der PISA-Daten, in der diese Rahmenbedingungen berücksichtigt und Leistungen von SchülerInnen aus ähnlichen sozialen Herkünften miteinander verglichen werden, hingegen zu dem Schluss, dass sich eine häufige Computernutzung negativ auf die Schulleistung auswirken kann: Die Ursache wird darin gesehen, dass Computer zu Hause vor allem für lernfremde Zwecke genutzt werden und so ein großes Ablenkungspotenzial besitzen. Allerdings können sie in Schätzanalysen auch umgekehrt einen leicht positiven Effekt der Nutzung von Computern für die Internetrecherche, die E-Mail-Kommunikation und die Nutzung von Lernsoftware zeigen (ebd.). Nicht die Häufigkeit der Computernutzung scheint entscheidend zu sein, sondern vielmehr die Art und Weise der Nutzung. Es ist es bisher noch nicht gelungen, empirisch einen unmittelbaren Lern- und Erfolgszuwachs durch den Einsatz digitaler Medien nachzuweisen (Hagedorn, 2007): Pädagogisch –psychologische Erwartungen, dass durch Hypertext bewegliches und multiperspektivisches Denken gefördert werden kann, konnten bisher nicht ausreichend empirisch belegt werden (Weidenmann, 2006). Voraussetzungen für ein erfolgreiches Lernen mit Hypertext scheinen eine klare Zielorientierung, Interesse, sowie gute metakognitive Fertigkeiten der Lernenden zu sein (z. B. Gerades, 1997). Lernende, die nicht über diese Attribute verfügen, profitieren nach aktuellem Forschungsstand eher von stark strukturierten Lernumgebungen, wie Tutorials (Weidemann, 2006, S.469). Hagedorn (2007) kommt anhand seines Resümees empirischer Studien zu dem Schluss, dass digitale Medien nicht nur Kompetenzen vermitteln, sondern vor allem auch welche voraussetzen. So wird der Lernerfolg vor allem von „Selbststeuerungs-
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kompetenzen“, wie Disziplin, eigenständige Lernorganisation und Steuerung des Lernprozesses, mitbedingt (ebd.). Außerdem seien viele Pädagogen mit der Rasanz und Vielfalt technischer Entwicklungen überfordert und vielerorts wird aufgrund finanzieller, organisatorischer und didaktischer Hindernisse immer noch keine systematische Integration des Online-Lernens umgesetzt (ebd.). Diverse Studien (z. B. Scholl & Prasse, 2001; Schaumburg, 2003) belegen, dass die unterrichtliche Integration von digitalen Medien trotz Förderprogramme wie die Initiative „Schulen ans Netz“ meist nur in geringem Ausmaß und zögernd erfolgt. Als hinderliche Faktoren wirken besonders innovationshemmende SchulleiterInnen, eine mangelnde technische Ausstattung und ablehnende Einstellungen, Unsicherheiten sowie mangelnde Kenntnisse von Lehrpersonen. So geben ca. 60 % der Befragten an, sowohl im Bereich der Nutzung digitaler Medien als auch im Hinblick auf deren didaktische Einbindung Weiterbildungsbedarf zu haben. Schulz-Zander und Riegas-Staackmann (2004) konnten ebenfalls zeigen, dass auch bei zunehmend häufiger vorhandener Soft- und Hardware eine regelmäßige unterrichtliche Nutzung digitaler Medien noch nicht zum Schulalltag gehört. Herzig und Grafe (2007) sind der Frage nachgegangen, welche Nutzungsformen – und Szenarien beim Einsatz digitaler Medien in der Schule vorherrschen und inwieweit sich Erwartungen an die Entwicklung einer neuen Lernkultur erfüllen: Sowohl bei SchülerInnen als auch bei den Lehrpersonen dominiert insgesamt eine positive Einstellung zu den digitalen Medien, die in ihrer Sicht besonders selbstständiges, individuelles und projektorientiertes Lernen unterstützen und zu einer Förderung der Motivation beitragen. Kooperatives Arbeiten und die Entwicklung sozialer Fertigkeiten werden im Zusammenhang mit dem Medieneinsatz eher skeptisch beurteilt. Offensichtlich fehlen den Lehrpersonen in diesen Bereichen noch Erfahrungen und didaktische Anregungen (ebd., S.33). Dies spiegelt sich auch in den Wünschen der Lehrpersonen wider, die weniger in Richtung besserer Computerausstattung als vielmehr in Richtung Fortbildung gehen (ebd., S. 48). Inhaltlich wollen sich die meisten Lehrpersonen zunächst im technischen und dann im methodischdidaktischen Bereich weiter qualifizieren. Eine hinreichende Berücksichtigung medienpädagogischer Inhalte in der Lehrerausbildung scheint bisher nach wie vor Mangelware zu sein, wenngleich bereits an einigen Hochschulen großer Wert auf mediendidaktische (Zusatz-) Angebote gelegt wird (ebd., S.110)16. 16 So wird z.B. an der Universität Dortmund der Zusatzstudiengang „Medien- und Informationstechnologien in Erziehung, Unterricht und Bildung“ angeboten.
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Insgesamt scheint die Nutzung der innovativen Potenziale digitaler Medien – wie bereits die in Abschnitt 2.2.3 vorgestellten Befunde von Blömeke et al. (2006) zeigen, keinesfalls selbstverständlich zu sein. So verdeutlicht auch eine Untersuchung von Schaumburg (2003), die unterrichtliche Veränderungen durch den Einsatz von Laptops fokussiert, dass durch den Einsatz dieser Medien keine grundlegende Veränderung des Unterrichtshandelns im Vergleich zu personalem Unterricht beobachtet werden kann. Nicht repräsentative Befunde von Schmotz (2009, S 165f.) zeigen, dass viele Lehrpersonen digitale Medien oftmals lediglich als „add on“ in ihre bisherigen Unterichtskonzepte integrieren. Lehrpersonen, die eher konstruktivistische Lehransätze bevorzugen, schreiben digitalen Medien hingegen durchaus die Rolle eines „Change Agenten“ zu. Die internationalen Daten aus SITES 2006 (Voogt, 2010), die sich auf Befragungen von 8834 Lehrpersonen stützen (und an der Deutschland nicht teilnahm), zeigen, dass Lehrpersonen weltweit in ihrem Unterricht -auch unter Nutzung digitaler Medien- eher traditionelle Ziele anstreben, wie z. B. SchülerInnen auf Prüfungen vorzubereiten und weniger Kompetenzen, die auf ein lebenslanges Lernen zielen, wie z. B. eine eigenständige Evaluation der SchülerInnen oder die Betonung kollaborativer Lernformen. Die Lehrpersonen, die regelmäßig und häufig digitale Medien in ihren Unterricht integrierten,legten mehr Wert auf das Lernen Lernens als ihre Kollegen. Die von Eickelmann und Schulz-Zander (2010) in Deutschland durchgeführte, nicht repräsentative Folgeuntersuchung zur SITES M2 zeigt ebenfalls, dass die sogenannten „Vielnutzer (VN)“, d.h. Lehrpersonen, die digitale Medien mindestens wöchentlich in ihrem Unterricht integrieren (N=47), diesen im Vergleich zu den sogenannten, in der Anzahl deutlich überwiegenden, „Gelegenheitsnutzern“ (GN, N=70) häufiger positive Effekte auf die Unterrichtsqualität zuschreiben. Insbesondere im Hinblick auf eine Förderung der Kommunikationsfähigkeit (VN 31%, GN 5%) sowie der Kooperations- und Teamfähigkeit (VN 60%, GN 20%) fand sich eine große Kluft zwischen den beiden Lehrertypen. Ein Vergleich dieser Befunde mit den Ergebnissen der internationalen SITES 200617 zeigt, dass Deutschland insgesamt in der positiven Einschätzung der Kooperations- und Teamfähigkeit mit 36% im Mittelfeld liegt, aber in der Einschätzung einer Förderung der Kommunikationsfähigkeit mit 15% (im Vergleich zu ca. der Hälfte aller in SITES 2006 befragten Lehrpersonen) weit abgeschlagen ist. Dafür wird in Deutschland den digitalen Medien besonders 17 Die Gegenüberstellung dieser beiden Studien sollte vorsichtig erfolgen, da in der internationalen SITES 2006 nur Lehrpersonen der Mathematik- und Naturwissenschaften und in der Studie in Deutschland Lehrpersonen über alle Fächer hinweg interviewt wurden.
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häufig (73% im Vergleich zu ca. 65%) eine Förderung des selbstgesteuerten Lernens zugeschrieben (ebd.). Demnach reicht eine technische Ausstattung mit digitalen Medien an Schulen alleine nicht aus, um unterrichtliche Veränderungen zu bewirken. Insbesondere die Einstellung der Lehrpersonen zu den digitalen Medien und deren Potenziale ist ein Schlüsselfaktor für eine qualitative Verbesserung des Unterrichts unter Nutzung digitaler Medien. Mediendidaktische Fortbildungen von Lehrpersonen sollten zu einem zentralen Element werden, um das Innovationspotenzial digitaler Medien für einen konstruktivistischen Unterricht voll wahrnehmen und ausschöpfen zu können. Wie derartige Fortbildungen aussehen könnten, wurde bereits in Abschnitt 2.2.3 thematisiert. Auch Beispiele sogenannter „good practice“ können für Lehrpersonen unterstützend wirken. Obwohl in einigen Publikationen Praxisberichte zur innovativen Integration digitaler Medien in eine konstruktivistische Lernumgebung existieren18, gibt es doch relativ wenig empirische Befunde. Ausnahme bilden einige Förderprogramme und empirische Studien, die sich beispielhaft mit einer Mediendidaktik, die konstruktivistischen Ansprüchen gerecht wird, auseinandersetzen. Zu nennen sind hier das Programm „Systematische Einbeziehung von Medien, Informations- und Kommunikationstechnologien in Lehr-Lern-prozesse“ (SEMIK), mit dem Ziel einer breiten Implementation digitaler Medien in alle Schulfächer und -stufen unter Eingliederung in innovative und problemorientierte Lehr- und Unterrichtsformen (vgl. u. a. Mandl, Hense, Kruppa, 2003), die Evaluation des Laptop-Projektes der Bertelsmann-Stiftung (vgl. Schaumburg & Issing 2002) sowie die Studie SITES M2 („Second Information Technology in Education Studies, Modul 2), auf die später ausführlich eingegangen wird. Die Studien belegen, dass SchülerInnen in Unterrichtssituationen, in denen digitale Medien integriert sind, stärker eigenaktiv sind und mit anderen kooperieren, während Lehrpersonen weniger als Wissensvermittler, sondern vielmehr als Lernberater agieren (vgl. u. a. Pelgrum & Anderson, 1999, Büchter/ Dalmer & Schulz-Zander, 2002, Schulz-Zander & Riegas-Staackmann, 2004, Schulz-Zander, 2005, Herzig & Grafe, 2007). Viele dieser Befunde betonen aber, dass lehrergesteuerte Unterrichtsphasen nach wie vor wichtig sind und besonders von schwächeren SchülerInnen eingefordert werden (vgl. Schulz-Zander, 2005). Lehrpersonen schreiben digitalen Medien positive Effekte im Hinblick auf eine stärkere Motivierung, Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit der SchülerInnen sowie eine große didaktische Unterstützungsfunktion zu (vgl. ebd., 126). Potenziale der digitalen Medien werden zudem in einer klareren 18 Praxisberichte finden sich z.B. in der Zeitschrift „Computer und Unterricht“.
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Darstellung von Ergebnissen und Lösungsschritten, besseren Möglichkeiten zur Strukturierung von Informationen sowie in der leichteren Bearbeitung komplexer Problem- und Aufgabenstellungen gesehen (ebd.). Mohr (2003) vergleicht in einer Langzeitbeobachtung das Lernverhalten von SchülerInnen im geöffneten Unterricht einer Grundschule mit und ohne Computerintegration. Die Ergebnisse zeigen, dass der Computereinsatz eine Partnerund Gruppenarbeit fördern kann. So arbeiten SchülerInnen am Computer mit erhöhter Kommunikationsdichte und produktiver als ohne Computereinsatz. Am besten geeignet scheint die Zusammenarbeit von 2er und 3er Gruppen. Es kann trotz gelegentlichem Dominanzverhalten einzelner- insgesamt ein durchgängig kooperatives Verhalten beobachtet werden (ebd., S.195 f.). Herzig und Grafe (2007) sehen die Potenziale des Medieneinsatzes im Bereich „des selbstständigen und selbst gesteuerten Lernens, der Kooperation und der Medienkompetenz, allerdings in der Regel eingeschränkt auf den kompetenten Umgang mit dem Computer und die Fähigkeit, z. B. mit dem Internet zu arbeiten. (...) Eine gewinnbringende Integration gelingt am ehesten den Lehrpersonen, die mit ihrem Unterrichtsstil der Wechselwirkung von Inhalt, Medium, Lernvoraussetzungen und Sozialformen Rechnung tragen“ (ebd., S.92f).
2.4.6.1 Befunde aus SITES M2 Die vorliegende Arbeit stützt sich auf die am Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS) der Universität Dortmund für Deutschland unter der wissenschaftlichen Leitung von Renate Schulz-Zander19 durchgeführten internationalen „Second Information Technology in Education Study – Modul 2“ (SITES-M2) der IEA20, die den innovativen Einsatz digitaler Medien in den schulischen Unterricht fokussiert. Details zur internationalen SITE-Studie, an der 28 Länder aus Europa, Asien, Afrika, Australien, Nord- und Südamerika partizipierten, finden sich in Kozma und MCGhee (2003). Die in SITES ausgewählten IPPUTs („Innovative Pedagogical Practice Under Use of Information Technology“) sollten folgende Auswahlkriterien erfüllen, wobei die ersten beiden Kriterien Muss-Bedingungen sind und die anderen nach
19 Professorin Schulz-Zander war National Research Coordinator der SITES M2 20 IEA: International Association for the Evaluation of Educational Achievement
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
Möglichkeit erfüllt werden sollten (Schulz-Zander, 2005; Schulz-Zander & Eickelmann, 2008): „Evidenz für Veränderungen der Schüler- und Lehrerrollen, der Ziele des Curriculums, der Leistungsbewertungen und/ oder des Unterrichtsmaterials oder der Infrastruktur, Substanzielle Rolle der IKT im Unterricht, und zwar im Sinne einer Bereicherung der Unterrichtspraxis, nicht als Unterrichtsersatz, Positive Wirkungen auf Schülerergebnisse, Nachhaltigkeit der Innovation innerhalb der Schule und Übertragbarkeit auf andere Schulen.“ (ebd.; S.12). In Deutschland wurden folgende Merkmale der Unterrichtspraxis als „innovativ“ eingestuft, die sich möglichst zahlreich in den untersuchten Fällen finden sollten (Schulz-Zander et al., 2003): Die SchülerInnen sollten aktiv Verantwortung für ihr eigenes Lernen übernehmen, indem sie ihre eigenen Lernziele setzen, ihre eigenen Lernaktivitäten bestimmen sowie ihre und die Aktivitäten der MitschülerInnen bewerten. Die SchülerInnen sollten technologische und methodische Kompetenzen zur Informationsrecherche, -analyse und –aufbereitung erwerben. Sie sollten dazu befähigt werden, digitale Medien zur Kommunikation und Präsentation zu nutzen. In Deutschland war die Förderung von Medienkompetenz ein zentrales Kriterium. Die zu bearbeitenden Probleme und Projekte sollten möglichst authentisch und vielschichtig geschaffen sein und von den SchülerInnen kooperativ bearbeitet werden. Eine Binnendifferenzierung sollte derart stattfinden, dass SchülerInnen entsprechend ihrer jeweiligen Bedürfnisse, ihrer unterschiedlichen Zugangsarten und Interessen individuell gefördert werden. Die Herstellung einer Chancengleichheit derjenigen SchülerInnen, die aufgrund von geografischen oder sozioökonomischen Gegebenheiten (Geschlecht/ Ethnien/ soziale Gruppen) bezüglich ihrer Zugangsmöglichkeiten zu digitalen Medien benachteiligt sind, sollte angestrebt werden. Der Unterricht sollte geöffnet sein, z. B. durch eine Veränderung der Klassenorganisation, durch zeitliche Aufbrüche der Unterrichtsstruktur und/ oder durch die Einbindung externer Akteure (z. B. Eltern, WissenschaftlerInnen oder ExpertenInnen aus der Wirtschaft).
2.4 Digitale Medien und ihr Potenzial zur Interaktivität
103
Durch die Interaktion und Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und sozialen Gruppen sollten Vorurteile abgebaut und das Verständnis füreinander gestärkt werden. Obwohl die Kriterien dessen, was „innovative Unterrichtspraxis“ ausmacht, national definiert wurden, ließen sich einige länderübergreifende Gemeinsamkeiten finden. Im Allgemeinen wurden Fälle ausgewählt, in denen Lehrpersonen die Rolle von Lernberatern einnehmen, während die Schülerinnen mehr Verantwortung für ihre eigenen Lernprozesse übernehmen und mit MitschülerInnen kollaborieren. Besonders das Internet und Produktivitätstools wurden genutzt, um Informationen zu recherchieren, um mit anderen zu kommunizieren und um Produkte zu kreieren (Kozma, & McGhee, 2003, S.77). Grundlage der Datenerhebung21 in SITES M2 bilden Interviewleitfäden (für die Schulleitung, an der Innovation beteiligte und unbeteiligte Lehrpersonen, Technische KoordinatorInnen, SchülerInnen, Eltern sowie Personen aus der Schulverwaltung) und Fragebögen für die KlassenlehrerInnen und technischen KoordinatorInnen. Die nationalen Befunde zeigen (vgl. Schulz-Zander et al., 2003, S.25 ff.): dass innovative Unterrichtspraxis mit digitalen Medien vor allem im projektorientierten und offenen Unterricht oder in problemorientierten Lernumgebungen stattfindet. dass SchülerInnen –ergänzt durch instruktionale Phasen seitens der Lehrpersonen– überwiegendend selbst gesteuert lernen. dass sich Lehrpersonen verstärkt in der Rolle von Beratern und Lernbegleitern sehen. dass einige SchülerInnen hinsichtlich der Nutzung der digitalen Medien partiell eine Experten- und Tutorenrolle gegenüber ihren MitschülerInnen und teilweise auch gegenüber ihren Lehrpersonen einnehmen. dass die digitalen Medien ein selbst gesteuertes Lernen unterstützen, indem sie eine selbstständige Informationsrecherche sowie die Entwicklung und mediale Aufbereitung von Ergebnissen und deren Veröffentlichung ermöglichen. dass Kooperationen nicht nur klassenintern, sondern auch klassenübergreifend, schulintern und schulextern, oft über eine E-Mail-Kommunikation, mit außerschulischen Partnern stattfinden.
21 Details zur Datenerhebung finden sich in Schulz-Zander et al. (2003).
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
dass die Projekte durch die Einbindung externer Partner an Ernsthaftigkeit gewinnen und die SchülerInnen mit einem höheren Leistungsanspruch arbeiten. Die Ergebnisse der internationalen SITES M2 Untersuchung stützen sich auf insgesamt 174 Fallstudien über innovative pädagogische Praxis unter Integration digitaler Medien aus 28 Ländern. Im Hinblick auf das Innovationspotenzial betonen die Autoren Kozma und McGhee (2003, S. 79): „In the large majority of cases, teachers use ordinatory technology to do innovative things. It was not the tools that were innovative but the pedagocigal practices. However, certain patterns of ICT use corresponded with certain patterns of innovative teacher and students practices”.
Es werden 7 Cluster innovativer Unterrichtspraxis unter Nutzung digitaler Medien identifiziert (ebd., S.52ff., vgl. auch Schulz-Zander, 2005; Schulz-Zander & Riegas-Stackmann, 2004, S.15f.): „Tool use Cluster“ (Werkzeug-Gebrauch): Fälle, die diesem Cluster zugeordnet werden, zeichnen sich durch eine starke Technikzentrierung aus. Die SchülerInnen nutzten eine Vielfalt an unterschiedlichen Produktivitätswerkzeugen, wie Textverarbeitung, Präsentationssoftware und Tabellenkalkulation sowie den E-Mail- Verkehr, aber weniger Webressourcen und Multimedia. Die SchülerInnen kollaborieren in hohem Ausmaß. Es lässt sich hier kein spezifisches Lehrerhandeln feststellen. „Student Collaboration Research Cluster“ (forschende Schülerlerngemeinschaften): Die SchülerInnen arbeiten eng zusammen, sie agieren als Forscher, indem sie Daten erheben und analysieren und gemeinsam Probleme lösten. Gerade in diesem Cluster übernehmen Lehrpersonen eine strukturierende und beratende Funktion. „Information Management Cluster“ (Informationsmanagement): Fälle in diesem Cluster zeichnen sich durch ein enges Wechselspiel der Lehrer- und Schüleraktivitäten sowie einen vielfältigen Medieneinsatz aus. Lehrpersonen nutzen die digitalen Medien verstärkt zur Planung und Organisation sowie für Instruktionen an die SchülerInnen. Sie kollaborieren mit den SchülerInnen und nehmen curriculare Veränderungen vor. Den SchülerInnen wird z. B. ein Mitspracherecht bei der Bewertung ihrer Arbeiten eingeräumt. „Teacher Collaboration-Cluster“ (Lehrerzusammenarbeit): Diese Fälle zeichnen sich durch ein hohes Maß an Kollaboration zwischen Lehrpersonen, aber auch zwischen Lehrern und SchülerInnen aus. Lehrpersonen
2.4 Digitale Medien und ihr Potenzial zur Interaktivität
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entwickeln verstärkt eigene Arbeitsmaterialien. Die SchülerInnen können gemäß offener Arbeitsformen flexibel auf Computerarbeitsplätze zugreifen, wenngleich dies oft an räumlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen scheitert. „Outside Communication Cluster“ (Kommunikation mit Externen): Es findet eine enge Zusammenarbeit mit schulin- und externen PartnerInnen statt. E-Mail-Programme und das Internet erleichtern und ermöglichen den raum- und zeitübergreifenden Austausch. Oft steht das Kennenlernen und Verstehen anderer Kulturen und Lebensumstände im Zentrum. „Product-Creation-Cluster“(Produktgestaltung): In den Fällen, die diesem Cluster angehören, werden die digitalen Medien zum Erstellen und Präsentieren von Arbeitsprodukten genutzt. Die SchülerInnen können eigenverantwortlich ihr erarbeitetes Wissen aufbereiten und medial vermitteln. Die Lehrpersonen agieren als Mentoren und begleiten die Arbeitsprozesse der SchülerInnen. „Tutorial-Cluster“ (Lernsoftware): In diesen Fällen nutzen die SchülerInnen sogenannte Tutorenprogramme, die eine selbstständige Aneignung, Nutzung und Überprüfung von Wissen ermöglichen. Die SchülerInnen können sehr individuell gefördert werden und selbst gesteuert lernen, da sie den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben und ihr Lerntempo selbst mitbestimmten können. Die Darstellung der 7 Cluster zeigt teilweise eine sehr geringe Trennschärfe und eignet sich durch die hohe Clusteranzahl nur wenig für eine Übertragung auf unterrichtliche Zwecke (z. B. im Rahmen von Lehrerfortbildungen). Um die Cluster auf 4 zentrale Modelle zu reduzieren, wurde daher in einem weiteren Schritt nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen diesen gesucht, wenngleich sie sich ebenfalls teilweise überschneiden (ebd.; S.72 ff.): Im Student Collaboration Modell werden das Student Collaborative Research Cluster, das Information Management Cluster, das Teacher Collaboration Cluster sowie das Outside-Collaboration Cluster zusammen gefasst: In all diesen Clustern übernehmen die Lehrpersonen eine beratende, strukturierende und überwachende sowie den Lernprozess der SchülerInnen begleitende Funktion. Es werden vor allem E-Mail-Programme und Produktivitätstools verwendet. Die digitalen Medien werden zur Informationsrecherche und zur Kommunikation mit anderen genutzt. Viele dieser Aktivitäten finden sich auch in den anderen Clustern, ausgenommen das Tutorial Cluster. Allerdings wird in den anderen Clustern weniger berichtet,
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse
dass Lehrpersonen eine strukturierende und beratende Rolle einnehmen, sodass diese hier trotz vieler Ähnlichkeiten nicht vollständig passen. Im Student Research Modell werden das Student Collaborative Research und das Information Management Cluster zusammengefasst. In diesen Fällen werden SchülerInnen zu Forschern und lösen Probleme. Lehrpersonen erstellen oftmals selbst Materialien. Wie im Collaboration Modell nutzen die SchülerInnen E-Mail-Programme, Produktivitätstools und Multimedia zur Informationsrecherche. Netzwerke und Web-Ressourcen werden zur Arbeitsplanung und Produkterstellung genutzt. Auch im Tool Use, Teacher Collaboration und Produkt Creation Cluster wird Multimedia zur Produkterstellung genutzt, sodass auch diese hier teilweise subsumiert werden können. Im Product Modell wird das Information Management Cluster und das Teacher Collaboration Cluster zusammengefasst, da in diesen im Vergleich zu den anderen Clustern häufiger Produkte erstellt und veröffentlicht bzw. präsentiert werden. Lehrpersonen erstellen ebenfalls häufig Materialien und kollaborieren mit den SchülerInnen. Über eine Informationsrecherche hinaus werden die digitalen Medien zum Erstellen von Arbeitsprodukten genutzt. Das Outside-Management Cluster und das Product Creation Cluster werden nur am Rande genannt, obwohl in ihnen ebenfalls die Erstellung von Arbeitsprodukten im Vordergrund steht. Grund ist, dass in diesen Clustern Lehrpersonen nicht so sehr mit ihren SchülerInnen kollaborieren und auch keine Arbeitsmaterialien erstellen. Im Tuturial Cluster erstellen sie zwar Materialien, aber die SchülerInnen nicht, sodass diese Cluster nicht vollständig in das Modell passen. Im Outside-Collaboration Modell wird das Teacher Collaboration Cluster und das Outside Collaboration Cluster zusammengefasst. In diesen Clustern wird häufig mit schulexternen PartnerInnen kooperiert. Die Schüleraktivitäten sind wie im Student Collaboration und im Product Modell, Kollaborationen finden sowohl klassenintern als auch schulextern statt. Lehrpersonen kollaborieren häufig mit ihren SchülerInnen. Schulz-Zander (2005; Schulz-Zander & Tulodziecki, 2009) hat ausgehend von den vorgestellten internationalen Befunden der SITE-Studie ein entsprechendes Modell der Unterrichtsformen mit digitalen Medien erstellt. Ziel ist die Lieferung einer Orientierungshilfe zur Planung und Analyse des Unterrichts. In der Praxis lassen sich diese Unterrichtsformen allerdings nicht immer trennscharf voneinander unterscheiden. Folgende 4 Unterrichtsformen, die jeweils andere didaktische Konzepte fokussieren, kristallisieren sich heraus (ebd.):
2.4 Digitale Medien und ihr Potenzial zur Interaktivität
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Individualisiertes Lernen: Besonders durch den Einsatz von Lernsoftware, z. B. Übungsprogrammen und tutoriellen Programmen, können heterogene Lerngruppen optimal und individuell im Sinne einer inneren Differenzierung gefördert werden. Im Zentrum steht die individuelle Wissenskonstruktion. Die SchülerInnen können selbst gesteuert lernen und über die Einbindung instruktionaler Elemente in offenen Unterrichtsformen (wie Wochenplan, Freiarbeit) je nach Leistungsniveau gezielt gefördert und unterstützt werden. Über die offenen Unterrichtsformen können Kooperationen zwischen den SchülerInnen, wie gegenseitige Hilfe und Unterstützung gefördert werden. Forschendes Lernen: Digitale Medien können, z. B. durch die Informationsrecherche im Internet (bzw. auf Datenträgern) oder die Bereitstellung fachspezifischer Experimentierumgebungen das ressourcenbasierte eigenständige Forschen in großem Ausmaß unterstützen. SchülerInnen können wissenschaftliche Strategien zur Wissensgewinnung kennenlernen und erwerben. Der Austausch zwischen den SchülerInnen trägt entscheidend zur gemeinsamen Wissensgenerierung bei, kollaborative Lernformen spielen beim forschenden Lernen eine wichtige Rolle. Wie die SITE-Fallstudien zeigen, nehmen Lehrpersonen gerade beim forschenden Lernen eine stark strukturierende Rolle ein, indem sie Inhalte präsentieren, Lernfortschritte überwachen und als Berater fungieren. Kollaboratives Lernen mit außerschulischen Partnern: Digitale Medien nehmen bei der Kommunikation mit externen Partnern eine tragende Rolle ein. So ermöglichen diese, z. B. über die E-Mail Kommunikation und das Web die Herstellung von Kontakten, die Organisation größerer Unterrichtsprojekte, eine schulexterne- und zeitübergreifende Kooperation, die Generierung einer gemeinsamen Wissensbasis und Konstruktion geteilten Wissens sowie die Entwicklung und den Austausch gemeinsamer (kollaborativer) Produkte. Im Zentrum der entsprechenden Fälle steht meist das Kennenlernen und Verstehen anderer Kulturen und Lebensumstände. Der Austausch mit externen PartnerInnen bewirkt bei den SchülerInnen oft eine größere Anstrengungsbereitschaft. Zudem übernehmen einige SchülerInnen phasenweise die Expertenrolle und die Lehrpersonen werden partiell selbst zu Lernenden und erleben eine Erweiterung ihrer pädagogischen und fachlichen Kompetenzen. Das kollaborative Lernen mit externen Partnern geht zudem oft mit zeitlichen und organisatorischen Veränderungen in der Lernorganisation einher. Produktorientiertes Lernen: Digitale Medien unterstützen die Entwicklung von (multimedialen) Arbeitsprodukten. Dies gelingt besonders durch die Nutzung von Produktivitätstools (wie Text, Bild/Video und Tonverarbei-
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2 Computergestützte Lern- und Austauschprozesse tung), aber auch durch die Möglichkeit der Veröffentlichung von Ergebnissen und Produkten im Web. Derartige Arbeitsprodukte können zu unterschiedlichen Zwecken entwickelt werden, z. B. als Selbstzweck für ausschließlich unterrichtlichen Zielsetzungen, für schulische Lehr- und Unterrichtszwecke im Sinne eines schulinternen Austausches und/ oder für bzw. im Auftrag schulexterner Partner. Hierdurch können SchülerInnen aktiv in wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse involviert werden.
Abbildung 2.11 (Schulz-Zander, 2005, S.8) zeigt die Unterrichtsformen, die eigenaktiv-konstruierendes und kooperatives Lernen fördern:
Individualisiertes Lernen
Forschendes Lernen
Didaktisches Prinzip: Eigenaktiv-konstruierendes und kooperatives Lernen Produktorientiertes Lernen
Kollaboratives Lernen mit externen Partnern
Abbildung 2.11: Unterrichtsformen mit digitalen Medien (Schulz-Zander, 2005, S.8)
3 Forschungsdesign
„Jede Wissenschaft ist, unter anderem, ein Ordnen, ein Vereinfachen, ein Verdaulichmachen des Unverständlichen für den Geist.” Hermann Hesse (1877-1962) Nachdem in den vorhergehenden Kapiteln die wichtigsten theoretischen Grundlagen dieser Arbeit vorgestellt wurden, wird in diesem Kapitel das Forschungsdesign näher dargelegt. Zunächst werden die dieser Studie zugrunde liegenden Fragestellungen skizziert. Anschließend werden die Kriterien für die Fallauswahl und die Datenerhebung, die sich aus Interviews mit Lehrpersonen und SchülerInnen sowie aus Videoaufnahmen der Unterrichtspraktiken unter Nutzung digitaler Medien zusammensetzen, beschrieben. Hier findet sich zudem eine Kurzdarstellung der einzelnen untersuchten Unterrichtsfälle. Nach der Vorstellung der Forschungsstrategie der Grounded Theory, wird auch das Rahmenmodell der Gruppeninteraktionsforschung nach Becker-Beck (1997) skizziert. Beide Modelle dienen als heuristische Gerüste für die Strukturierung der empirischen Ergebnisse in Kapitel 1. 3.1 Entwicklung der Fragestellung In Kapitel 2.4.6 wurde u. a. die SITE-Studie vorgestellt, die innovative pädagogische Unterrichtspraktiken von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II unter Nutzung digitaler Medien dokumentiert und untersucht. Die dort vorgestellten Ergebnisse stützen sich auf Interviews mit SchülerInnen und Lehrpersonen, die Einblick in das subjektive Erleben der involvierten Personen geben. Inwieweit sich dieses Erleben auch in ihrem tatsächlichen Unterrichtsverhalten widerspiegelt, bleibt offen. In der deutschen SITES M2 wurden zu Dokumentationszwecken Videoaufnahmen der Unterrichtspraktiken unter Nutzung digitaler Medien erhoben, aber nicht detailliert ausgewertet. Diese Videoaufnahmen geben Aufschluss über die zwischen SchülerInnen und Lehrpersonen stattfindenden Wissens- und Rollenaushandlungsprozesse. Über eine Analyse derartiger Inter-
M. Stadermann, SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen, DOI 10.1007/978-3-531-93178-4_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Forschungsdesign
aktionsprozesse können förderliche und hinderliche Aspekte eines gemeinsamen computergestützten Lernens identifiziert werden. Insgesamt mangelt es in der Unterrichtsforschung an Videostudien, insbesondere an solchen, die neben der Beobachtungsperspektive zusätzlich anhand von Interviewdaten die subjektive Sicht der beteiligten Akteure berücksichtigt. Zudem fokussieren viele Unterrichtsstudien wie PISA (Deutsches PISAKonsortium, 2002, Prenzel et al., 2003/ 2007) und/oder TIMSS (Petko et al., 2003) verstärkt die Leistungsebene und/ oder die Handlungen der Lehrpersonen und kaum die interaktiven Lernprozesse, die zwischen SchülerInnen stattfinden. Das Wechselspiel zwischen Wissensmanagement, Rollenaushandlungen von SchülerInnen und Lehrpersonen sowie dem Einsatz digitaler Medien im Unterricht wurde bisher wenig untersucht. Die vorliegende Arbeit setzt sich mit dieser Forschungslücke auseinander. Das in SITES vorliegende Material bietet gerade im Hinblick auf eine Datentriangulation das Potenzial die Rollen- und Wissensaushandlungen der SchülerInnen und Lehrpersonen detailliert zu untersuchen. Die in SITES mit SchülerInnen und Lehrpersonen durchgeführten Interviews werden zur Analyse herangezogen, vor allem die Passagen, die Aufschluss über deren Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie über wechselseitige Rollenerwartungen geben. Diese Interviewdaten können mit dem zu beobachteten Unterrichtsverhalten ergänzt und verglichen und somit eine mehrperspektivische Sicht auf die stattfindenden Interaktionsprozesse gewonnen werden. Aushandlungsprozesse zielen jeweils auf (mindestens) zwei aufeinander bezogene Rollen, die ein bestimmtes Interaktionsmuster ergeben. Diese Interaktionsmuster haben sich als zentrale Kategorien zur Strukturierung der Untersuchung herausgebildet. Um den Prozesscharakter von Interaktionen trotz des statischen Musterbegriffes zu berücksichtigen, werden den einzelnen Interaktionsmustern Phänomene zugeordnet, die die Entstehung eines bestimmten Musters mit bedingen oder dieses auch behindern. Zu Letzterem zählen z. B. Gründe, aus denen sich Lehrpersonen oder SchülerInnen gegen bestimmte Rollenzuschreibungen wehren. Interaktionen sind immer in bestimmte Kontexte eingebunden, die das Handeln mit bedingen. Daher muss die Lernumgebung als Kontextbedingung bei der Analyse der Interaktionen berücksichtigt werden. In den untersuchten Unterrichtsituationen finden sich als besonderer didaktischer Kontext kooperative Arbeitsformen, offener Unterricht und die Integration digitaler Medien. Es resultiert folgende Ausgangsfragestellung: Wie interagieren SchülerInnen und Lehrpersonen in offenen Lernumgebungen unter Einsatz digitaler Medien? Welche Interaktionsmuster lassen sich im Hinblick auf die sozialen und inhaltlichen Aushandlungsprozesse identifizieren?
3.2 Sampling und Datenerhebung
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In den untersuchten Unterrichtsstunden finden unterschiedliche Wissensmanagementprozesse statt, die je nach Fall variieren. Die SchülerInnen und Lehrpersonen recherchieren u. a. mithilfe der digitalen Medien nach Informationen, nutzen ihr Wissen, um Aufgaben zu bewältigen, kommunizieren ihr Wissen, generieren gemeinsam neues Wissen und bereiten dieses in einigen Fällen z. B. in Form von Präsentationen auf. Um hinderliche und förderliche Aspekte für eine kooperative und konstruktive Rollen- und Wissensaushandlung herauszuarbeiten, wurde die Ausgangsfragestellung erweitert: Welches Wechselspiel besteht zwischen den von den SchülerInnen (und Lehrpersonen) eingesetzten interaktionalen Strategien, den sich hieraus ergebenden Interaktionsmustern und dem Prozess des Wissensmanagements?
Da Bedingungen für die (Ko-) Konstruktion von Wissen identifiziert werden sollen, kann die Forschungsfrage in zwei Aspekten weiter spezifiziert werden: a) Wie wirken sich die interaktionalen Strategien von SchülerInnen (und Lehrpersonen) auf die Aneignung, den Austausch und die (Ko-)Konstruktion von Wissen aus?
Den digitalen Medien wird eine herausragende Bedeutung zur Gestaltung problemorientierter Lernumgebungen zugeschrieben. Es wird daher als ein weiterer Fokus untersucht, welchen Einfluss die digitalen Medien als Rahmenbedingung auf die Interaktion zwischen SchülerInnen und Lehrpersonen sowie auf das Wissensmanagement ausüben: b) Wie bedingt der Medieneinsatz die sozialen Aushandlungsprozesse und fördert/ bzw. behindert ein erfolgreiches Wissensmanagement?
Um diese Fragen zu beantworten, wird anhand der qualitativen Methodik der Grounded Theory (vgl. Kap. 3.4) zunächst ein paradigmatisches Modell entwickelt, das die jeweiligen Rahmenbedingungen, die interaktionalen Strategien und die Konsequenzen der Rollen- und Wissensaushandlungsprozesse der SchülerInnen veranschaulicht (vgl. Abbildung 4.1). In einem weiteren Schritt (vgl. Abbildung 5.3) wird ein dreidimensionales Achsenmodell entwickelt, anhand dessen sich förderliche und hinderliche Aspekte eines gemeinsamen Wissensmanagements in mediengestützten Lernumgebungen ableiten lassen.
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3 Forschungsdesign
3.2 Sampling und Datenerhebung Die dieser Arbeit zugrunde liegenden Daten stammen aus der bereits in Kapitel -2.4.6- ausführlich vorgestellten SITE-Studie (M2). An dieser Stelle wird differenziert dargestellt, welche SITES-Daten aus welchen Gründen für die vorliegende Untersuchung herangezogen und welche als irrelevant für die Fragestellung verworfen werden. 3.2.1 Interviews Es wurden in SITES M2, wie bereits in Kapitel 2.4.6 dargelegt, jeweils leitfadengestützte Interviews mit der Schulleitung, den technischen KoordinatorInnen mit den beteiligten aber auch den nicht involvierten Lehrpersonen, mit den SchülerInnen sowie mit den Eltern durchgeführt. Da in dieser Arbeit die Interaktionen zwischen den SchülerInnen beim gemeinsamen Arbeiten am Computer im Zentrum der Untersuchung stehen, stützt sich die Analyse nur auf die Interviews mit SchülerInnen und Lehrpersonen. Die beteiligten Lehrpersonen wurden in Form von Einzel- und/oder Gruppeninterviews und pro Fall wurden ca. 4-8 SchülerInnen –vorwiegend in Gruppeninterviews- befragt. Die Interviewleitfäden enthalten eine Vielzahl von Oberthemen, wie z. B. die Fallbeschreibung, die Ausstattung technischer Ressourcen, curriculare Angaben, Beschreibungen der Lehrer- und Schüleraktivitäten usw.. Es werden im Sinne einer Sekundäranalyse nur Interviewpassagen näher untersucht, die im Hinblick auf die Fragestellung dieser Arbeit (vgl. Abschnitt 3.1) als relevant erscheinen. So wurden z. B. Aspekte, die die Organisation der Schulleitung oder die Finanzierung technischer Ressourcen betreffen, bewusst ausgeklammert. In den Lehrer- und SchülerInneninterviews werden vor allem diejenigen Passagen analysiert, in denen wechselseitige Rollenerwartungen, Selbst- und Fremdwahrnehmungen sowie deren Unterrichtspraktiken thematisiert werden.
3.2 Sampling und Datenerhebung
113
3.2.2 Videos Neben den Interviews liegen in 7 Fallschulen des IFS zusätzlich Videoaufnahmen der innovativen Unterrichtspraktiken vor. Ein „Videofall“ wird in der vorliegenden Untersuchung nicht berücksichtigt, da hier nicht die Unterrichtspraktiken aufgezeichnet wurden, sondern nur eine Präsentation der SchülerInnen, sodass insgesamt 6 Fallstudien in die Analyse einbezogen werden. Im Weiteren wird kurz skizziert, wie die Videoaufnahmen der innovativen Unterrichtspraktiken erhoben wurden: Der Einsatz von zwei Kameras ermöglichte es, sowohl die Interaktionen zwischen den SchülerInnen, als auch die Lehreraktivitäten festzuhalten: Eine feststehende Kamera fing möglichst alle Unterrichtsaktivitäten in der Totalen ein. Da es aufgrund der Klassenraumsituation nicht immer möglich war, den ganzen Raum zu filmen, wurde diese Kamera vereinzelt geschwenkt, um Aktivitäten der Lehrperson festzuhalten. Der Ton der Lehrperson wurde über ein Funkmikrofon, das fest an ihrem Körper installiert war, durchgehend festgehalten. Eine Aufzeichnung der Interaktionen der SchülerInnen vor dem Computer erfolgte zusätzlich mithilfe einer Handkamera. So wurden gezielt einzelne Arbeitspaare und -gruppen gefilmt und nach nicht festgelegter Zeitspanne (oftmals aber nach Bearbeitung einer Aufgabensequenz) zu einem anderen Schülerpaar gewechselt. Auf diese Weise können gerade die für diese Arbeit wichtigen Interaktions- und Handlungsprozesse herausgelöst analysiert werden. In der vorliegenden Arbeit steht die Analyse der SchülerInneninteraktion im Vordergrund, sodass nur das Datenmaterial der Handkamera untersucht wird, denn in der Totalperspektive stehen meist die Lehreraktivitäten im Zentrum. Pro Fall wurden jeweils ca. 120 Minuten Unterricht aufgezeichnet. Aus dem vorliegenden Videomaterial werden diejenigen Passagen ausgesucht, in denen offener Unterricht sowie Partner- und/oder Gruppenarbeit praktiziert wurde. Phasen des Unterrichts, in denen mit der ganzen Klasse eine Einführung ins Thema und/oder eine Ergebniszusammenführung stattfand, werden ausgeklammert. Außerdem werden Videosequenzen aufgrund technischer Mängel oder aufgrund einer ungünstigen Kameraführung verworfen. Im Zentrum der vorliegenden Studie stehen natürliche Lernsituationen, also der Unterrichtsalltag der beobachteten SchülerInnen. Es kann jedoch an einigen Stellen beobachtet werden, dass der Einsatz der Videokamera das Verhalten der SchülerInnen und Lehrpersonen beeinflusst. So scheint der Kameraeinsatz bei einigen SchülerInnen eine Zurückhaltung zu bewirken, bei anderen hingegen konnten Episoden beobachtet werden, die ein spielerisches –fast schon selbstdarstellerisches Verhalten zeigen. Es lassen sich aber auch viele Situationen
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3 Forschungsdesign
finden, in denen den SchülerInnen anscheinend nicht bewusst war, dass ihr Verhalten aufgezeichnet wird, sie gingen ungezwungen miteinander um und besaßen z. B. auch keine Scham, sich offen miteinander zu streiten. Höchstwahrscheinlich kann in diesem Zusammenhang von einem Gewöhnungseffekt an den Kameraeinsatz ausgegangen werden. In der vorliegenden Arbeit wird gezielt eine nicht standardisierte, offene qualitative Beobachtung durchgeführt. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass nicht bereits im Vorfeld Hypothesen formuliert, bzw. Kategorien gebildet werden, sondern dass diese erst im Forschungsprozess entstehen (Lamnek, 1995, 250). So liegt ein Vorteil von Videodaten im Vergleich zu Interviewdaten und Fragebögen darin, dass sie wenig vorstrukturiert sind, da die analytischen Fragen nicht unbedingt vor der Erhebung festgelegt werden müssen und so eine mehrfache Analyse unter unterschiedlichen Fragestellungen und Perspektiven erlauben (Petko et al., 2003, S. 265). Offen ist die Untersuchung auch daher, weil es den beobachteten Personen transparent gemacht wurde, dass ihre Handlungen aufgezeichnet werden. Außerdem handelt es sich um eine Beobachtung im Feld, also um „echte“ Unterrichtssituationen und nicht um eine künstlich hergestellte Laborsituation. Durch diese Rahmenbedingungen sollten die beobachteten SchülerInnen und Lehrpersonen möglichst ohne Irritation ihren alltäglichen Unterrichtshandlungen nachgehen. Welche weiteren Vor- und Nachteile bietet die Methode der videogestützten Unterrichtsbeobachtung? Ein wichtiger Vorteil ist, dass die Daten so festgehalten sind, dass sie den Forschenden auch wiederholt zugänglich sind und auf diese Weise voreilige Deutungen vermieden, bzw. auch routinierte Deutungsmuster hinterfragt und überprüft werden können. Außerdem bietet das Prinzip der Wiederholbarkeit die Möglichkeit eines Fokuswechsels. In der direkten Beobachtung, die zwangsläufig unter starkem Zeitdruck stattfindet, kann ein Interpretationsdruck entstehen, zudem ist es schwierig, alle Interaktionsdetails zeitgleich zu erfassen. Gerade die Videografie ermöglicht es, z. B. Schlüsselszenen im Detail zu analysieren. Außerdem erlaubt sie –wie auch in dieser Arbeit umgesetzt- die Anfertigung von Transkriptionsprotokollen wichtiger Szenen (vgl. Voigt, 1997, Lamnek, 1995, S.239ff.). Ein Nachteil der Durchführung von Videobeobachtungen des Schulunterrichts liegt in dem relativ hohem Zeitaufwand der technischen Anfertigung. Außerdem müssen verschiedene institutionelle Genehmigungen eingeholt werden (wie z. B. von der Schulbehörde, Schulleitung; Lehrpersonen, SchülerInnen und Eltern).
3.2 Sampling und Datenerhebung
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Im Hinblick auf die Qualität des Datenmaterials kann zudem nicht ausgeschlossen werden, dass sich das Verhalten der untersuchten Personen durch das Bewusstsein beobachtet zu werden, deutlich ändert. Allerdings betrifft dieser Nachteil nicht nur im speziellen die Videografie, sondern auch andere Erhebungsmethoden, wie z. B. Interviews, in denen sich die Befragten unter Umständen verstellen. Petko et al. (S. 279) empfehlen als Strategien zur Vermeidung von Invasität ein zurückhaltendes Verhalten des Kameramanns / der Kamerafrau. Er/ Sie soll sich so weit wie möglich nicht auf Interaktionen mit den SchülerInnen einlassen und sich insgesamt möglichst unaufdringlich verhalten. Außerdem plädieren sie für die Untersuchung im normalen gewohnten Klassenzimmer. Wenngleich Lehrpersonen aufgrund der bewussten Beobachtung wohl versuchen werden, eine aus ihrer Sicht „gute“ Unterrichtslektion zu gestalten, ist dennoch kein spontaner Umlernprozess bei den Lehrpersonen zu erwarten (ebd., S. 271). Im Hinblick auf die spätere Auswertung des Datenmaterials ist es ein entscheidender Nachteil, dass die Kameraführung sowie die Platzierung des Mikrofons die Interpretation mit bedingt. Es kann unmöglich eine vollständige Interaktion aufgezeichnet werden, so wird immer nur ein Ausschnitt (auf Kosten anderer Informationen) festgehalten. Andererseits ist es pragmatisch, nicht mehr Informationen als nötig, festzuhalten. Entscheidend für die Fokussierung des Videoausschnittes ist die jeweilige Fragestellung (ebd. S.270). In dieser Arbeit wurden Transkriptionen der Videoaufnahmen angefertigt. Diese ermöglichen „eine analytische Verlangsamung des Geschehens bei gleichzeitiger Beibehaltung der Linearität. Durch die Verschriftlichung wird den Ereignissen ihre Flüchtigkeit genommen“ (ebd., S.271). Transkriptionen sind aber immer zwangsläufig selektiv und es ist praktisch unmöglich, sämtliche Informationen aus Ton und Bild in der Transkription festzuhalten. Daher wird die Transkription in Abhängigkeit von der Fragestellung vorgenommen und irrelevante Informationen ausgeblendet. Zugleich wird bei den Analysen phasenweise auf das Original-Video zurückgegriffen, um z. B. nonverbale Reaktionen wie Mimik und Gestik im Blick zu halten, deren Verschriftlichung zu aufwendig wäre. Hilfreich bei der Untersuchung von Videodaten ist deren Digitalisierung und die Nutzung spezieller Software (Petko et al, 2003, S.271f.). Auch in der vorliegenden Untersuchung werden die sehr speicherintensiven OriginalVideodaten im Mpeg-1 Format komprimiert und schließlich in die Auswertungssoftware CatMovie (Wild, 2003) integriert. In einem ersten Analyseschritt werden sogenannte Events festgelegt. Hierdurch kann die Transkription anstatt nach festen stabilen Zeitfenstern, wie im sogenannten Time-Sampling, situations-
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3 Forschungsdesign
abhängig in unterschiedlich große Zeitabschnitte segmentiert werden. Um die Unterrichtsstunden in entsprechende Events zu segmentieren, werden präzise Zeit- und Endpunkte der Interaktionen festgelegt. Als neues Event wird eine Interaktionssequenz immer dann behandelt, wenn eine Aufgabe beendet wird und/oder sich die Arbeitsgruppe aus anderen Gründen auflöst, bzw. ein Kameraschwenk zu einer anderen Gruppe vorgenommen wurde. Auch längere Lehrerinterventionen in die Gruppenarbeit werden separat analysiert. Um die eventbasierte Analyse und einen späteren schnellen Rückgriff auf die entsprechende Stelle im Video zu erleichtern, blendet das Programm (ebd.) automatisch die jeweilige Zeitangabe im Video ein. Durch die Funktionen des Stop und Repeat, bzw. des Abspielens eines vorher manuell festgelegten Zeitfensters in einer Endlosschleife wird die Erstellung der Transkription stark vereinfacht. Da CatMovie allerdings nur für eine quantitative Analyse mit vorher festgelegten Auswertungskategorien genutzt werden kann, in dieser Arbeit jedoch im Sinne der Grounded Theory die Daten offen und qualitativ analysiert werden, findet die Datenanalyse mithilfe der Auswertungssoftware Altas.ti statt. Dieses Programm ermöglicht die flexible Erstellung, Zusammenfassung und Strukturierung von Kategorien während der Analyse. Zugleich erlaubt es den Zugriff auf unterschiedliche Daten, wie Text, Audio, Bilder und Video (vgl. u. a. Petko et al, S. 273). Eine Besonderheit der vorliegenden Untersuchung ist, dass die Fragestellung erst im Nachhinein, nachdem bereits ein (anderes) Forscherteam die Daten erhoben hat- entwickelt wurde. Dies beinhaltet ebenfalls Vor- und Nachteile. Ein Vorteil – neben dem Zeitgewinn nicht mehr selbst ins Feld gehen zu müssen - ist es, dass der Gefahr gezielt „herausragende“ Interaktionen aufzuzeichnen, vorgebeugt werden kann. Ein Nachteil in der vorliegenden Untersuchung ist die Kameraführung, so wurden einzelne SchülerInnen teilweise angezoomt, was zwar eine Detailanalyse ihrer Mimik ermöglicht, andererseits aber teilweise zu Kosten wichtiger Hintergrundinformationen (z. B. was macht der Interaktionspartner in der Zeit) geschieht. Außerdem ist der Bildschirm in den Videoaufnahmen nicht vollständig sichtbar, was die Rekonstruktion der Schüleraktivitäten erschwert. Für die Analyse der Unterrichtssituation gehen durch die vorliegende Kameraführung so sehr wichtige Informationen verloren. Die Erhebung von Videos bietet neben der Analyse für Forschungszwecke das Potenzial, dass diese über die Auseinandersetzung beteiligter Lehrpersonen mit ihrer Außensicht eine kritische Selbstreflexion des Unterrichtshandelns ermöglichen. So können gerade Videodaten aufgrund ihrer Anschaulichkeit gute (aber auch schlechte) Unterrichtspraxis illustrieren. Über die Aufbereitung vorbildlicher Unterrichtspraxis, sogenannter „good practice“, können z. B. für die
3.3 Falldarstellungen
117
Lehrerfortbildung Lektionen bereitgestellt werden und zur Generierung eigner Ideen für eine (neue) Unterrichtsgestaltung dienen. Eine Möglichkeit hierzu ist z. B. die Bereitstellung von internetbasierten Tools, in denen Videosequenzen in eine erweiterte mediale Lernumgebung eingebettet werden und so als Lern- und Reflexionsfläche genutzt werden können (vgl. Petko et al., S.279). Am IFS wurde aus den Gründen auch eine gemeinsame webbasierte Dokumentation über die SITE-Studie und die OECD-Studie „ICT and the Quality of Learning“ erstellt. Außerdem wird derzeit vom IFS anhand der SITES-Daten eine hypermediale Lernumgebung gestaltet und im Rahmen der universitären Ausbildung erprobt1. Auf diese Art und Weise können Videodaten über Forschungszwecke hinaus für Dokumentations-, Informations- sowie Aus- und Weiterbildungszwecke genutzt werden (vgl. Petko, S.270). 3.2.3 Methodentriangulation:Videodaten und Interviewdaten Da in dieser Untersuchung Interview- und Videodaten trianguliert werden, wird im Folgenden kurz auf die unterschiedliche Beschaffenheit dieser Datengrundlagen eingegangen. Bei den Interviews liegt im Vergleich zu den Videoaufnahmen ein anderes Abstraktionsniveau vor. So zeigen die Videotranskriptionen detaillierte Interaktionsausschnitte, während Interviewpassagen eher eine Gesamtsicht auf den Unterricht bieten, wenngleich vereinzelt einige herausgehobene von den Probanden erlebte Interaktionssequenzen detailliert beschrieben werden. Zudem spiegeln die Interviews die Innensicht bzw. die subjektiven Theorien der involvierten Personen wieder, während die Videoaufnahmen eine „Außensicht“ auf deren Handeln ermöglichen. Durch die Triangulation der Video- und Interviewdaten können die verschiedenen Perspektiven der SchülerInnen und Lehrpersonen rekonstruiert und mit den in den Videosequenzen beobachteten Verhaltensweisen verglichen werden.
1 Die webbsierte Dokumentation befindet sich unter www.ikarus.uni-dortmund.de/ipso und die erwähnte Lernumgebung unter http://www.eteachingplus.de/.
118
3 Forschungsdesign
3.3 Falldarstellungen Die Untersuchungsergebnisse im empirischen Teil werden Fall übergreifend dargestellt und ausgewertet. Um dennoch einen Einblick in die Besonderheiten der einzelnen Unterrichtsfälle und einen Verweis von den im empirischen Teil analysierten Zitat- und Transkriptionsquellen auf die jeweiligen Fälle zu ermöglichen, werden sie hier kurz skizziert. Nach den in Abschnitt 2.4.6 dargestellten Kriterien für die Fallauswahl werden folgende Unterrichtsfälle untersucht, die in Tabelle 3.1 nach Schulformen und Bundesland dargestellt sind. Die Klammern verweisen auf die im empirischen Teil verwendeten Abkürzungen für die einzelnen Fälle. Ausgiebigere Fallberichte finden sich in dem Abschlussbericht zu SITES-M2 (Schulz-Zander et al., 2003). Art der Innovation 1. Freier Einsatz digitaler Medien: Erwerb von Medienkompetenz durch fächerübergreifende Internetrecherche und Informationsverarbeitung (Freier Medieneinsatz) 2. Märchenprojekt: „Durch das Internet zum Lesen verlocken“: Austausch mit europäischen Schulen (Märchenprojekt) 3. Einsatz von Lernprogrammen: Individualisiertes und selbst gesteuertes Lernen in der Freiarbeit (Lernprogramme) 4.Klassische und Neue Medien: Persönlichkeitsbildung durch Medienarbeit an authentischen Fragestellungen (Medienprojekt) 5.Wirtschaft und Schule: Erwerb wirtschaftlicher Grundkenntnisse durch Zusammenarbeit mit Unternehmen (Wirtschaftsprojekt) 6.Computergestützes Stationenlernen: Selbst gesteuertes Lernen im Mathematikunterricht: (SelMa)
Schulform Grundschul e
Bundesland Berlin
Grundschul e
Bayern
Grundschul e
Hessen
Hauptschule NRW (Sek.I) Gymnasium Rheinland(Sek.II) Pfalz Gesamtschu NRW le (Sek.II)
Tabelle 3.1: Fallauswahl Nach den Fallbeschreibungen folgt eine tabellarische Gegenüberstellung, die einen Überblick der didaktischen Besonderheiten, der jeweils stattfindenden Lehrer- und Schüleraktivitäten sowie der Rolle der digitalen Medien gibt.
3.3 Falldarstellungen
119
3.3.1 Freier Einsatz digitaler Medien Erwerb von Medienkompetenz durch fächerübergreifende Internetrecherche und Informationsverarbeitung („Freier Medieneinsatz“) Der unterrichtliche Computereinsatz an der Grundschule verknüpfte methodische (Medienkompetenz) und inhaltliche Ziele miteinander: Computer und Internet dienten als universelle Arbeitswerkzeuge zum Schreiben, Malen, Gestalten und zur Informationsrecherche. Hierbei lernten SchülerInnen Informationen zu finden, zu bewerten und zu selektieren. Der Computer diente so vor allem der Wissensgenerierung und –repräsentation. Die Internetrecherche und Text/bzw. Bildproduktion wurde in den zwei beobachteten Klassen wie folgt praktiziert: Eine vierte Klasse setzte sich mit dem Thema „Meerschweinchen“ auseinander. Die Kinder sammelten Informationen aus dem Internet oder aus bereit gestellten Fachbüchern. Ihre Aufgabe bestand darin, Antworten zu einem vom Lehrer erstellten Fragebogen zu finden und schließlich anhand der gewonnenen Inhalte selbst einen Text am Computer zu schreiben und zu gestalten. Eine fünfte Klasse beschäftigte sich mit dem Thema „Euro-Einführung“. Auch hier sollten die SchülerInnen per Internetrecherche vorgegebene Fragen beantworten. Allerdings wurden ihnen, anders als bei der vierten Klasse, die Internetseiten nicht vorgegeben, sondern sie sollten mithilfe von Suchmaschinen selbst relevante Internetseiten heraussuchen. Als Lernziele im Sinne einer Medienkompetenz gewannen die „Auswahl von Informationsquellen“ sowie die „Prüfung von Glaubwürdigkeit und Relevanz der Quellen“ an Bedeutung. Zusätzlich –sozusagen nebenbei- wurde der Umgang mit Rechnern und Standardsoftware (z. B. Bildbearbeitungsprogramme und Textverarbeitungsprogramme) geübt. Die Internetrecherche motivierte die SchülerInnen, sich konzentriert und eingehend mit dem Thema auseinander zu setzen. Teilweise waren sie jedoch mit der Informationsfülle und -komplexität überfordert. Das Schreiben und Gestalten der Texte am Rechner bereitete den SchülerInnen Spaß, insbesondere Schwächere können mithilfe der Rechtschreibkontrolle leicht ein vorzeigbares und fehlerfreies Produkt herstellen. Problematisch war nur, dass einige dem optischen Eindruck des Textes den Vorrang gegenüber dem Inhalt geben. Durch offene Unterrichtsformen, wie Wochenplan, Freiarbeit, Binnendifferenzierung und Projektunterricht wurde den SchülerInnen ein selbstständiges und individuelles Lernen ermöglicht. Die Lehrpersonen bezogen sich stark auf die Lebenswelt der Kinder und betonten in ihrem Unterrichtsstil das „entdeckende Lernen“.
120
3 Forschungsdesign
Die Lehrpersonen führten die SchülerInnen zu Unterrichtsbeginn kurz in das Thema ein und teilten sie danach paarweise ein, um sukzessive am Computer zu arbeiten. Außerdem strukturierte die Lehrperson die Arbeitsphasen, indem sie ca. 10 Minuten vor Ende der Unterrichtstunde auf ein rechtzeitiges Abspeichern der Ergebnisse und Herunterfahren der Rechner hinwies. Während der Partnerarbeit nahmen die Lehrpersonen die Rolle von Beratern ein und halfen zunächst vor allem bei technischen Problemen (z. B. Start/ Passwort-Probleme, Systemabstürze und nicht-funktionierende Links). Diese Rolle erforderte aufgrund des phasenweise zeitgleichen Hilfebedarfs mehrerer SchülerInnen eine hohe Flexibilität, sich schnell auf unterschiedliche Problemlagen einstellen zu können. Außerdem gaben die Lehrpersonen, nachdem die technischen Fragen geklärt waren, individuelle Hilfestellungen, z. B. zur Navigation im Internet, und konnten sich so vor allem auf schwächere Schülerinnen konzentrieren. Bei der Unterstützung schwächerer Schülerinnen fiel die Hilfe teilweise auch sehr instruierend aus, sodass teilweise einzelne Handlungsschritte angeleitet wurden. Ansonsten gestaltete sich die Interaktion zwischen Lehrer und SchülerInnen vor allem beim Aufrufen neuer Internetseiten symmetrisch, sodass u. a. auch SchülerInnen den Lehrer auf interessante Links hinwiesen. Die Lehrpersonen hielten sich während der Internetrecherche mit der Informationsvermittlung eher zurück und motivierten die Schüler zur Eigenaktivität. Die SchülerInnen wurden individuell betreut. Schwächere erhielten teilweise auch instruierende Unterstützung. Da der Inhalt einiger Webseiten sowohl für die SchülerInnen als auch für die Lehrpersonen neu war, begriffen die Lehrer sich zeitweise als Mitlernende. Die Rolle als Mitlernende erlebten sie aber auch in Unterrichtsformen ohne den Einsatz digitaler Medien. Die eingesetzten Computer und Laptops waren mit Lautsprechern und Kopfhörern ausgestattet, sodass die Schülerinnen auch mit Audiodaten arbeiten können. Um Texte zu gestalten, konnten SchülerInnen das Programm „AppleWorks“ nutzen. Außerdem stand zur Gestaltung von Multimedia-Geschichten das Freeware-Programm „Kidsstudio“ zur Verfügung, eine Software, mit deren Hilfe Text, Bild- und Tondateien erzeugt und miteinander verknüpft werden können. Außerdem konnte auf einen Scanner sowie auf einen Drucker zurückgegriffen werden. Von den Lehrpersonen wurde teilweise die wenig leistungsfähige Internet-Verbindung bemängelt. Es wurde fächerübergreifendes Lernen gefördert, da Themengebiete aus den Bereichen Sachkunde, Deutsch und Kunst miteinander verbunden wurden. Authentisch war das Lernen in dem Sinne, dass die SchülerInnen in dem Meer-
3.3 Falldarstellungen
121
schweinprojekt oft selbst an der Anschaffung eines Haustieres interessiert waren2 und dass das Europrojekt ebenfalls stark die Erfahrungswelt der SchülerInnen berührte, da zu dem Zeitpunkt der Untersuchung der Euro neu eingeführt wurde. Die Schüleraktivitäten lagen in der selbst gesteuerten Recherche sowie der Aufbereitung ihrer gesammelten Informationen. Kooperationen fanden klassenintern statt: Während der Aufgabenbearbeitung unterstützen sich die SchülerInnen gegenseitig, sie arbeiten paarweise, traten in kurzen Kontakt zu anderen Arbeitsgruppen oder zu anderen, die alleine arbeiteten. Es kam vor, dass SchülerInnen nicht nur untereinander die Rolle von „Experten“ einnahmen, sondern auch gegenüber dem Lehrer. 3.3.2 Märchenprojekt „Durch das Internet zum Lesen verlocken“- Austausch mit europäischen Schulen („Märchenprojekt“) Im Folgenden wird das von der Europäischen Union (EU) geförderte Literaturprojekt (Comeniusprojekt) beschrieben, das an einer Grundschule Bayerns im Austausch mit vier weiteren Schulen aus Tschechien, Schweden, Ungarn und einer weiteren deutschen Schule stattfand. Insbesondere die Klassenlehrerin der dritten Klasse engagierte sich innerhalb des Projektes. Auf ihr Engagement hin waren noch zwei weitere Klassenlehrerinnen einer ersten und vierten Klasse sowie eine Förderlehrerin und eine Fachlehrerin für textiles Gestalten zu dem Projekt gestoßen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung wurde im fächerübergreifenden Unterricht das Thema „Märchen und Sagen“ bearbeitet. Es wurden die Fächer Deutsch, Sachunterricht, textiles Gestalten und Werken sowie Kunst und Musik in das Projekt integriert. Die Förderlehrerin übte mit den Kindern ein Märchen als Theaterspiel, während die Fachlehrerin in ihrem Unterricht einen Einband für das Märchenbuch erstellte. Die Märchen wurden jeden Tag z. B. durch gemeinsames Lesen als morgendliches Ritual in den Unterricht eingebunden, außerdem beschäftigten sich die SchülerInnen zwei- bis dreimal die Woche im projektorientierten Unterricht mit dem Thema.
2 Die Lehrperson brachte u.a. in der einführenden Unterichtstunde ein lebendiges Meerschweinchen mit, um das intrinsische Intersse der SchülerInnen zu wecken.
122
3 Forschungsdesign
Die Lehrerin erstellte im Vorfeld Unterrichtsmaterialien, eine umfangreiche Märchenkartei, aus der sich die SchülerInnen unterschiedliche Aufgaben wählen durften. Sie konnten auf diese Weise selbst den Schwierigkeitsgrad der Aufgaben bestimmen. Zu diesen Aufgaben gehörte es u. a. ein neues Märchen zu schreiben, bestehende Geschichten zu verfremden, ein Märchen als Hörspiel oder als Comic zu gestalten, Märchengedichte zu schreiben oder Märchenkostüme zu schneidern. Die SchülerInnen sollten sich ihr eigenes Arbeitskonzept erstellen und durften auch die Arbeitsmittel frei wählen, ob sie z. B. ihren Text lieber am PC tippen oder handschriftlich verfassen mochten. Sie nutzten Textverarbeitungssoftware und E-Mail-Programme. Die digitalen Medien dienten somit vor allem als Schreibwerkzeug und Kommunikationsmedium. Neben den Computern standen der Klasse noch ein Scanner und ein Drucker zur Verfügung. Die digitalen Medien stehen gleichberechtigt neben anderen Arbeitswerkzeugen, wie dem Schulbuch oder Arbeitsheft. Für den Erfahrungsaustausch mit den internationalen Partnerschulen, der vor allem via E-Mail aber auch per Briefverkehr stattfand, sind sie sehr hilfreich, ebenso für den Kontakt mit einer beteiligten Kinderbuchautorin, deren angefangenes Märchen die Kinder fortsetzten. Der Computer konnte von den SchülerInnen in Anspruch genommen werden, seine Nutzung war aber nicht verpflichtend. Die Ergebnisse der internationalen Zusammenarbeit wurden in einem großen gemeinsamen Werk und auf den schulinternen Homepages veröffentlicht. Das Lernen in der authentischen Situation, wie die Zusammenarbeit mit der Kinderbuchautorin und den Partnerschulen sowie das gemeinsame Arbeiten an einem großen Produkt und der spielerische Charakter der Computernutzung wirkten sich positiv auf die Motivation und die Lernprozesse der SchülerInnen aus. Sie arbeiteten sehr konzentriert und sorgfältig. Durch das Projekt sollte bei ihnen die Freude am Lesen, eine kreative Auseinandersetzung mit Texten und der Umgang mit dem PC gefördert werden. Der Austausch und die Zusammenarbeit mit anderen Ländern und Kulturen sollte die Erfahrungswelt der Kinder erweitern und mögliche Vorurteile abbauen. Die SchülerInnen bearbeiteten die Aufgaben weitgehend in Gruppen, wodurch das soziale und kooperative Lernen gefördert wurde. Durch den Einsatz offener Unterrichtsformen (Gruppenarbeit, Freiarbeit, Wochenplan projektorientiertes Arbeiten) veränderte sich die Lehrerrolle. So bestand die Rolle der Lehrerin darin, den SchülerInnen Hilfestellung zu geben und sie zu beraten. Da sie bezüglich der Computernutzung teilweise Mitlernende war, war ihre Rolle die einer Beraterin und nicht die einer Expertin. Für die Lehrerin ist es wichtig, während des Unterrichtes offen für aktuelle Entwicklungen, wie Anregungen durch SchülerInnen zu bleiben.
3.3 Falldarstellungen
123
Neben den offenen Unterrichtsformen fanden meist zu Beginn und am Ende des Unterrichts Phasen des Frontalunterrichts statt, um klare Arbeitsanweisungen zu geben, oder gemeinsam Arbeitsergebnisse zu besprechen. Während der Freiarbeitsphase dominierten die Interaktionen der SchülerInnen untereinander. Als eine der wichtigsten Aufgaben einer Grundschule sieht die Schulleitung „Lernen lernen“ an, daher den SchülerInnen Methoden zum Selbstlernen an die Hand zu geben. Die Gemeinschaftsarbeiten der SchülerInnen flossen mit in die Benotung ein, wobei nicht der Arbeitsprozess, sondern das Arbeitsergebnis zensiert wird. Da die Aufgabenstellungen sehr unterschiedlich waren, wurden die Bewertungskriterien (z. B. sprachlicher Ausdruck, Wortschatz, künstlerische Gestaltung) vor Beginn der Arbeit festgelegt. 3.3.3 Einsatz von Lernprogrammen Individualisiertes und („Lernprogramme“)
selbst
gesteuertes
Lernen
in
der
Freiarbeit
Im Zentrum der Untersuchung stand der Wochenplanunterricht einer vierten Klasse. Der Wochenplan enthielt Lerninhalte aus den Fächern Deutsch, Mathematik, Englisch und Sachkunde. Die darin enthaltenen Aufgaben wurden unter Angabe der Lernmaterialien für jeweils eine Woche aufgestellt. Die SchülerInnen arbeiteten jeden Tag mindestens eine Stunde an den vorgegebenen Aufgaben, sie durften sich die Reihenfolge der Bearbeitung selbst einteilen. Auf diese Weise sollten sie selbst organisiertes Arbeiten lernen. Die Aufgaben des Wochenplans wurden für jede/n SchülerIn individuell aufgestellt, sodass jeder entsprechend seiner Leistungsstärke gefördert werden konnte. Einige der zu bearbeiteten Aufgaben waren: Geschichten schreiben (z. B. über die Erlebnisse während des Wochenendes oder Hobbys), Übungen zur Rechtschreibung (z. B. Schreiben eines Diktates oder das Einsortieren von „Wortkarteikarten“ in ein „ABC-Register“) oder die Beantwortung eines Fragebogens über die Stadtgeschichte der Heimat. Als zusätzliche Aufgabe wurden Lernprogramme („Buddenberg“, „Matheblaster“) eingesetzt, um z. B. englische Vokabeln zu trainieren. Punktuell wurde das Internet zur Informationsrecherche genutzt. Die Arbeit am Computer war für die SchülerInnen sehr motivierend, dennoch stellte sie innerhalb des Wochenplans nur ein Angebot dar, das gleichberechtigt neben anderen stand.
124
3 Forschungsdesign
Viele Aufgaben sollten zu zweit gelöst werden, sodass das soziale Lernen gefördert wurde. Die SchülerInnen durften selbst bestimmen, wann sie welche Aufgaben bearbeiteten und mit wem. Innerhalb des Wochenplans gab es Zusatzaufgaben, die nicht verpflichtend zu bewältigen waren. Hierzu gehörte auch die Arbeit mit den Lernprogrammen. Die Lehrerin achtete darauf, dass jedes Kind am Computer drankam. Nach ca. 20 Minuten durfte jeweils ein neues Arbeitspaar am PC arbeiten. Den SchülerInnen standen in dem Klassenraum zwei Einzelrechner sowie ein Drucker zur Verfügung. Sie arbeiteten im Wochenplan vor allem mit einem Englischlernprogramm. Die Lehrerin bemängelte die Leistungsstärke der Computer, so hätten bessere multimediale Funktionen z. B. über ein Training der Aussprache via Tonausgabe zu einem größeren Lerneffekt führen können. Die digitalen Medien wurden im Rahmen des Wochenplans als ein zusätzliches Lernangebot neben anderen verstanden. SchülerInnen und Lehrpersonen schrieben dem Computereinsatz eine große motivierende Wirkung zu. Aufgrund der begrenzten Computermöglichkeiten, es existierten nur zwei Klassenraumrechner und ein Drucker, erwoben die SchülerInnen Fähigkeiten wie „Nachsicht und Rücksichtsnahme“. Sie unterstützten sich während ihrer Arbeit gegenseitig, so eigneten sie sich ihre Computerkenntnisse im „Schneeballsystem“ an (Kinder, die über die Lehrerin oder privat PC-Kenntnisse erworben haben, teilen diese MitschülerInnen mit, die ihr Wissen wiederum an andere weitergaben). Bei technischen Problemen wurden einige Kinder auch zeitweise zu „Helfern“ der Lehrerin. Die Arbeit mit dem PC wurde im Zeugnis unter dem Abschnitt „Arbeitsund Sozialverhalten“ vermerkt, floss jedoch nicht mit in die jeweilige Fachnote ein. Zu Beginn des Unterrichts erläuterte die Lehrerin den SchülerInnen die Arbeitsaufgaben und besprach den weiteren Tagesablauf. Die darauf folgende Freiarbeitsphase organisierte die Lehrerin durch einen Zettel an der Tafel, der die Rubriken „Hilfe“ und „Zeigen“ enthielt. Die SchülerInnen konnten sich hierauf eintragen, wenn sie 1) die Hilfestellung der Lehrerin benötigen oder sie 2) eine Aufgabe des Wochenplans abgeschlossen haben und die Lehrerin diese als „erledigt“ abhaken soll. Die Lehrerin erlebte während des offenen Unterrichts eine Rollenveränderung vom „Wissensvermittler“ zum „Lernbegleiter“. Als „Lernbegleiter“ half sie den SchülerInnen ihren eigenen Lernweg zu finden. Dadurch, dass die SchülerInnen am PC weitgehend eigenständig arbeiten konnten, z. B. übernahmen Lernprogramme das Feedback für den Lernerfolg, hatte die Lehrerin Kapazitäten frei, um Schwächere zu fördern.
3.3 Falldarstellungen
125
Es war nach Ansicht der Lehrerin wichtig, dass über die weitgehend eigenständigen Arbeitsphasen hinaus gemeinsame Klassengespräche über die Lerninhalte und –Ergebnisse geführt wurden. Diese fanden meist zu Anfang und gegen Ende der Freiarbeitsphasen statt. Eine Lehrerin schildert, dass sich durch die Integration von Computern in den Unterricht die Chancengleichheit zwischen Mädchen und Jungen sowie zwischen SchülerInnen mit und ohne heimischen PC verbessert habe. Anfängliche Hemmschwellen wurden im Laufe der Zeit abgebaut. 3.3.4 Klassische und Neue Medien Persönlichkeitsbildung durch Medienarbeit an authentischen Fragestellungen („Medienprojekt“) In dem Projekt der Montessori Hauptschule in NRW wurde die Nutzung traditioneller (Zeitung, Radio, Video) und „neuer“ digitaler Medien (Computer, Internet) miteinander verknüpft. Es handelte sich um einen zweistündigen Wahlpflichtkurs „Medienwerkstatt“ (10.Klasse), der durch eine freiwillige Medien-AG außerhalb der regulären Unterrichtszeit erweitert wurde. Die beteiligten SchülerInnen nahmen weitgehend an beiden Veranstaltungen teil, die Teilnahme an der Medien-AG stand ansonsten auch anderen SchülerInnen offen. Die Medienkompetenzen wurden innerhalb des Wahlpflichtkurses benotet und die Beteiligung an der Medien-AG auf dem Zeugnis qualifiziert vermerkt. Bei der Bewertung durften die SchülerInnen mitdiskutieren. Zu den Aufgaben der AG gehörte die Produktion von Radiobeiträgen, Videofilmen und Internetangeboten. Bisher durchgeführte Projekte beinhalteten z. B. die Herausgabe von Schülerzeitungen, Sendebeiträge für das Lokalradio der Stadt und die Herstellung von Videofilmen, wie journalistische Dokumentationen, Spielfilme oder die Koproduktion von Schullehrfilmen. Die SchülerInnen lernten hierbei technische (Umgang mit Rechnern, Kameras, Mini-Disc-Geräten, Schnittplätzen) und organisatorische Grundlagen (z. B. Interviewplanung und – durchführung) der Medienarbeit. Indem erfahrene SchülerInnen Jüngere an die Medienarbeit heranführten, wurde für qualifizierten Nachwuchs gesorgt. Die Themeninhalte berührten die Erfahrungswelt der SchülerInnen in starkem Ausmaß, so wurden auftretende Probleme bei der Computerausstattung der Schule sowie Selbsthilfeprojekte behandelt. Durch authentische Inhalte sollte das Eigeninteresse geweckt werden, zudem sollte durch die projektorientierte
126
3 Forschungsdesign
Medienarbeit eine Brücke zwischen inner- und außerschulischem Geschehen geschlagen werden. Ihre Aktivitäten dokumentierte die Medien-AG auf einer eigenen Homepage, hier konnten auch fertiggestellte Arbeitsprodukte der AG, wie Interviewauszüge und Filme angeschaut und herunter geladen werden. Diese Homepage wurde 1999 und 2000 mit dem „Cross-over-Media-Preis" ausgezeichnet und viele gelungene Interviews mit teilweise hochrangigen öffentlichen Persönlichkeiten (z. B. Bildungsministerin, Ministerpräsident¸ Finanzamtsleiter) trugen darüber hinaus zur überregionalen Bekanntmachung der Medien-AG bei. Alle an dem Projekt Beteiligten engagierten sich größtenteils freiwillig in starkem Ausmaß. Als Örtlichkeit stand der AG an der Schule ein eigener kleiner Medienraum zur Verfügung. Zusätzlich wurde der Unterricht auf einen benachbarten Fachraum (ohne PC-Ausstattung) sowie auf den Klassenraum des leitenden Lehrers, in dem sich zehn internetfähige Rechner befanden, ausgedehnt. Die Teilnehmer der AG hatten zu den üblichen Schulöffnungszeiten Zugang zum Medienraum, deren Ausstattung die Medien-AG weitgehend durch gewonnene Preise und Werbemaßnahmen selbst finanziert hat. Die SchülerInnen konnten auf eine Radioschnittkarte, eine Kamera, Mikrofone, Mini-Disc Geräte sowie auf einen Beamer, der für Filmvorführungen genutzt wurde, zurückgreifen. Geleitet wurde die AG durch einen Lehrer und einen ehemaligen Schüler. Dieser war als IT-Spezialist selbstständig und engagierte sich größtenteils unentgeltlich in der Schule für den Ausbau der PC-Einrichtungen. Weitere Unterstützung bzgl. technischer Ressourcen erhielt die AG durch die Zusammenarbeit mit einem Vertreter des örtlichen Medienzentrums. Der Lehrer nahm zu Anfang des Unterrichts eine strukturierende Rolle ein, indem er anstehende Aufgaben mit den SchülerInnen besprach und gegen Ende, indem er die Ergebnisse reflektierte. Während der Aufgabenbearbeitung fungierte der Lehrer bei spezifischen Fragen als Berater. Sonst versuchte er nach Maria Montessoris Devise „den SchülerInnen helfen, es selbst zu tun“, das eigenständige Lernen zu fördern. Individuelle Zuständigkeiten der SchülerInnen verteilen diese je nach Interessenschwerpunkt und Kompetenzen selbst. Die Beziehung zwischen dem Lehrer und seinen SchülerInnen war von gegenseitiger Akzeptanz und Vertrauen geprägt, so trauten sie sich während Diskussionen mit dem Lehrer auch klar und deutlich ihre Meinung zu vertreten und nahmen im technischen Bereich, wo sie teilweise einen Wissensvorsprung besaßen, selbstbewusst die Rolle von Experten ein.
3.3 Falldarstellungen
127
3.3.5 Wirtschaft und Schule Erwerb wirtschaftlicher Grundkenntnisse in Zusammenarbeit mit Unternehmen („Wirtschaftsprojekt“) In dem zehnmonatigen Wirtschaftsprojekt, das in der Oberstufe eines Gymnasiums durchgeführt wurde, untersuchten 30 SchülerInnen der Jahrgangsstufe 12 (das entspricht etwa der Hälfte des Jahrgangs) zunächst ein Großunternehmen, darauf folgend ein regionales Kleinunternehmen und entwickelten abschließend ein eigenes Unternehmenskonzept. Die notwendigen Informationen zur Unternehmensanalyse besorgten sich die SchülerInnen per Internet aus Geschäfts- und Presseberichten. In der zweiten Phase besuchten die Arbeitsgruppen die Betriebe, führten Interviews und analysierten Dokumente. Die abschließende Entwicklung ihrer eigenen Geschäftsidee wurde mit Marktund Standortuntersuchungen sowie mit Finanzierungs- und Personaleinsatzplänen untermauert. Die SchülerInnen nutzten für das Projekt schulinterne mit Computern ausgestattete Arbeitsräume sowie das örtliche Medienzentrum. Einige Arbeitsgruppen verwendeten darüber hinaus auch private Computer und Laptops. Für die Durchführung des Projekts waren die Computer zwingend notwendig. So wurden die Informationen über die Großunternehmen in Phase eins sowie für die Markt- und Standortrecherchen in Phase zwei und drei aus dem Internet gewonnen und wären über andere Medien wie Telefon, Geschäftsberichte oder Bücher deutlich schwieriger zu beschaffen gewesen. Die SchülerInnen nutzten zur Wissensaufbereitung vor allem die Programme PowerPoint und Excel. Ihre Ergebnisse präsentierten sie auf öffentlichen Veranstaltungen anhand von PowerPoint-Vorträgen schulexternen Wirtschaftsfachleuten. Eine Unternehmensberatung organisierte einen Qualitätswettbewerb zwischen den Arbeitsgruppen und vergab Preise. Auf diese Weise erhielt die Projektarbeit für die SchülerInnen eine hohe Verbindlichkeit und das Anspruchsniveau war erhöht. Die Untersuchung des Großunternehmens war in das Unterrichtsfach Gemeinschaftskunde eingebunden, dementsprechend erhielten die SchülerInnen auch eine Note. Die weiteren Projektsitzungen fanden außerhalb des Unterrichts statt, diese Mitarbeit floss als „zusätzliche Lernleistung“ mit in die Abiturnote ein. Durch offene Gruppendiskussionen und anonymisierte Fragebogen konnten die SchülerInnen ihre Leistungen anhand der vorgegebenen Bewertungskriterien (inhaltliche Leistung 60 %, Qualität der Präsentation sowie Sozialverhalten jeweils 20 %) selbst evaluieren.
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3 Forschungsdesign
Die sechs verschiedenen Arbeitsgruppen bestanden aus sechs bis zehn SchülerInnen, die jeweils von einer Lehrperson betreut wurden. Diese achteten darauf, dass alle Arbeitsschritte berücksichtigt wurden, koordinierten Besprechungstermine, behielten den Zeitablauf im Auge und moderierten Arbeitsbesprechungen. Inhaltliche und organisatorische Absprachen sowohl zwischen Lehrpersonen und SchülerInnen als auch zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern fanden auch häufig via E-Mail statt. Teilweise führten die betreuenden Lehrer bei der Akquisition von Betrieben Vorgespräche mit den Unternehmensleitungen. Die Verteilung der einzelnen Arbeitsaufgaben übernahmen die SchülerInnen in der Regel selbst und richten sich hier nach ihren Interessen und Fähigkeiten. Das Projekt vermittelte neben praxisorientierten Einblicken in betriebswirtschaftliche Zusammenhänge auch den Umgang mit digitalen Medien. 3.3.6 Computergestütztes Stationenlernen Selbst gesteuertes Lernen im Mathematikunterricht: („SelMa“) Der beschriebene Unterricht fand in den Klassen 11 und 12 einer ganztägigen Gesamtschule in NRW statt. Im Mittelpunkt stand die Förderung von selbstständigem Lernen im Fach Mathematik. Während des Schuljahres waren Phasen des Selbstlernens an Stationen eingebaut. Diese Lernstationen waren in eine HTML-Umgebung programmiert und mithilfe eines Browsers (NetscapeNavigator) abrufbar. Für das Stationenlernen nutzten die SchülerInnen zwei vernetzte Computerräume mit jeweils 15 Arbeitsplätzen. Der PC diente vorrangig zum Lesen der Aufgaben. Die SchülerInnen gaben an, dass sie diesen als attraktiver als die Papierstationen erleben. Ein weiterer Vorteil ist, dass dadurch dass jede Aufgabe an jedem Computer abgerufen werden konnte, keine unnötigen Wartezeiten entstanden. Die enthaltenen Übungsaufgaben bildeten Alltagsprobleme ab und erforderten komplexe Rechenoperationen. Um diese lösen zu können, wurde ein grafik- und programmierfähiger Taschenrechner, der TI 89, eingesetzt. Dieser ließ sich an ein Overheaddisplay anschließen, das Ausgabefenster konnte dann der gesamten Klasse gezeigt werden. Mithilfe der Speicher- und Programmoptionen des TI konnten auch komplizierte Aufgaben schneller als mit herkömmlichen Taschenrechnern gelöst werden. So konnten auch geometrische Figuren am Rechner dargestellt und modifiziert werden. Neben Berechnungen nutzten die SchülerInnen das Display um mit ihren MitschülerInnen und der
3.3 Falldarstellungen
129
Lehrperson Lösungen abzugleichen. Leider waren die Bedienungsanleitung und die Fehlermeldungen des Taschenrechners schwer verständlich. Die SchülerInnen reflektierten ihre Lernprozesse in einem Lerntagebuch. Sie hielten Fortschritte und Schwierigkeiten fest, notierten Arbeitsschritte und offene Fragen. Das Führen des Tagebuchs war im ersten Halbjahr der Klasse 11 verpflichtend und danach freiwillig. Gerade Mädchen machten hiervon mehr Gebrauch als Jungen. Das Tagebuch wurde von den Lehrern nicht korrigiert, aber kommentiert. Sowohl aus Lehrer- als auch aus Schülersicht wurde ihm eine positive Wirkung auf den Leistungsstand und das Verständnis für mathematische Probleme zugeschrieben. Das Stationenlernen wurde anhand eines „Laufzettels“ strukturiert. In diesem waren die Aufgaben stichwortartig beschrieben und Angaben enthalten, ob es sich um eine Pflichtaufgabe handelte, ob sie in Einzel- oder Partnerarbeit gelöst werden sollte und ob ihre Bearbeitung die Lösung einer vorherigen Stationen voraussetzte. Mit Ausnahme einiger weniger Pflichtstationen konnten die SchülerInnen selbst wählen, wann sie welche Aufgabe bearbeiten mochten. Dieser Auswahlprozess fördert nach Ansicht des Lehrers das vernetzte Denken. Während der Selbstlernphasen sahen sich die Lehrer als individuelle Betreuer. Sie wollten sich weitgehend zurücknehmen, um ein selbstständiges Arbeiten der SchülerInnen zu fördern. Viele fanden es schwierig, die richtige Balance zwischen Gewährenlassen und Intervention zu finden. 3.3.7 Gegenüberstellung der Fälle Die folgenden Tabellen dienen dazu, noch einmal überblicksartig einen detaillierten Einblick in die Rolle der digitalen Medien sowie die jeweiligen Lehrer- und Schüleraktivitäten in den einzelnen Fällen zu geben. Sie orientieren sich an die in SITES M2 erstellten CoverSheets.
130
3 Forschungsdesign
Fall
Freier MedienEinsatz
Stufe
Fächerübergreifend?
Märchenprojekt
Lernpro- Medien gramme AG
Wirtschaft
SelMa
Primarstufe Primarstufe
Primarstufe
Sek. I
Sek. II
Sek. II
Ja: SozialJa: kunde, Sachkunde, Deutsch, Deutsch, Kunst, Kunst Musik
Ja: Mathe, Deutsch, Englisch
Ja: SachNein, kunde, nur Deutsch, WirtSozialschaft kunde
Nein, nur Mathe
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x
x
x
x
x
x
Kooperationen Klassenintern
x
Schulintern
x
x
Schulübergreifend
x
x
Schulextern
x
x
Medieneinsatz Informationsrecherche
x
Lernsoftware Produkterstellung/ Präsentation
x
x
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x
x
x
x x
x
Bewertung/ Kontrolle Kommunikationstools
x
x x
x
Unterrichtsplanung/ organisation
Tabelle 3.2: Merkmale der einzelnen Fälle
x x
3.3 Falldarstellungen
131
Freier Medien Einsatz
Märchenprojekt
Lernpro- Medien gramme AG
Wirtschaft
SelMa
Beraten/ Lenken
x
x
x
x
x
x
Strukturieren
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x
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Vorbereitung Unterrichtsmaterialien
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Überprüfen/ Bewerten der Leistungen
x
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Fall Lehreraktivitäten
x
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Zusammenarbeit mit SchülerInnen
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x
Schüleraktivitäten Übungsaufgaben lösen Forschungsprojekte Informationsrecherche
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Problemlösung
x
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Interpretation von Tabellen/ Grafiken Präsentation/ x Veröffentlichung Produktgestaltung x Bewerten (sich/ andere)
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x
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x
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Eigene Aufgabenwahl
x
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x
Tabelle 3.3: Lehrer- und Schüleraktivitäten der einzelnen Fälle
132
3 Forschungsdesign
3.4 Datenauswertung anhand der Grounded Theory „Eine ‚Grounded Theory’ ist eine qualitative Forschungsmethode bzw. Methodologie, die eine systematische Reihe von Verfahren benutzt, um eine induktiv abgeleitete, gegenstandsverankerte Theorie über ein Phänomen zu entwickeln“ (Strauss/ Corbin, 1996, S.7).
Die Wahl für die Forschungsstrategie der Grounded Theory wird getroffen, weil es sich um eine Methodologie empirisch begründeter Theoriebildung handelt, die durch das Postulat der Gegenstandsverankerung dem Anspruch gerecht wird, den Daten offen zu begegnen. Besonders bei der Untersuchung komplexer sozialer Phänomene, wie hier von Interaktionsprozessen, ist dies wichtig. Durch die Methodik der Grounded Theory wird es möglich, einen „reinen großen Teil der Variation ein(zufangen), durch die die im Mittelpunkt des Projektes stehenden Phänomene charakterisiert sind“ (Strauss, 1994, S.31).
Zum anderen bietet sie wissenschaftlich fundierte Forschungsstrategien an, die eine systematische Strukturierung der Codierprozesse erleichtern. Forschende sollen angemessene Fragen zu dem Untersuchungsgegenstand stellen, um tiefere Einblicke in ihn zu gewinnen und schließlich durch die Anwendung systematischer Techniken eine gegenstandsverankerte Theorie entwickeln. Als qualitative Herangehensweise wurde die Grounded Theory von den Soziologen Glaser und Strauss in den 1960er Jahren im Rahmen einer Feldstudie zum Umgang von Klinikpersonal mit sterbenden Patienten entwickelt (Strauss, 1994, S.30). Vor dem Hintergrund der Chicagoer Schule, deren Umfeld Strauss zuzurechnen ist, wurde sie durch den Amerikanischen Pragmatismus (z.B. Dewey und Peirce), insbesondere durch den symbolischen Interaktionismus (Mead und Blumer) entscheidend beeinflusst (Strauss/ Corbin, 1996, S.10).3 In der Weiterentwicklung der Grounded Theory trennten sich Glaser und Strauss, der sich mit Corbin zusammenschloss, sodass zwei unterschiedliche Verfahren entstanden. So schlagen Strauss und Corbin zur besseren Strukturierung des Forschungsprozesses die Anwendung eines Codierparadigmas (vgl. Abbildung 3.2) vor, während Glaser mit seinem Begriff des „theoretischen Codierens“ nur „Ad-hoc-Codierungen auf der Basis von implizitem theoretischem Hintergrundwissen“ für angemessen hält (Kelle, 1998, S.340). 3 Glaser hingegen wurde von der Columbia Forschungstradition geprägt, insbesondere von seinem Lehrer Lazarsfeld, der als Erneuerer quantitativer Methoden galt. Strauss und Glaser verfolgten den gemeinsamen Anspruch, Forschung sowohl für ein Fachpublikum als auch für Laien zugänglich zu machen (Strauss/ Corbin, 1996, S.10).
3.4 Datenauswertung anhand der Grounded Theory
133
Es wird in der vorliegenden Arbeit angenommen, dass durch gute Strukturierungsmaßnahmen wie der Anwendung des paradigmatischen Modells der Gefahr vorgebeugt werden kann, in den Daten zu „ertrinken“. Aus diesem Grund wird die Vorgehensweise nach Strauss/ Corbin (1996) angewandt. So weist u. a. Kelle (1998, S. 304) auf das Problem der deskriptiven Unerschöpflichkeit und das Induktionsproblem, nämlich das theoretisch Alles mit Allem verglichen werden kann, hin. In der Grounded Theory ist die Ausgangsfragestellung offen angelegt, grenzt aber dennoch den Untersuchungsbereich ein. Wichtig ist nach Strauss und Corbin (1996, vgl. S.23), dass die Fragestellung eine Handlungs- und Prozessorientierung mit einschließt. So lautet die Ausgangsfragestellung dieser Untersuchung (vgl. 3.1): „Wie interagieren SchülerInnen (und Lehrpersonen) in computerunterstützten Lernumgebungen?“ Erst im weiteren Forschungsverlauf wird die Fragestellung ausdifferenziert und spezialisiert. Um eine gegenstandsverankerte, konzeptionell hochwertige Theorie bilden zu können, bedarf es theoretischer Sensibilität, d. h. der Fähigkeit, Wichtiges in den Daten zu erkennen und diesem Sinn zu verleihen. Diese kann sich durch entsprechende Literaturrecherche, durch berufliche und persönliche Erfahrung, vor allem aber durch den analytischen Prozess in der Auseinandersetzung mit dem zugrunde liegenden Datenmaterial entwickeln: „Theoretische Sensibilität bedeutet die Verfügbarkeit brauchbarer heuristischer Konzepte, die die Identifizierung theoretisch relevanter Kategorien im Datenmaterial und die Herstellung von Zusammenhängen zwischen diesen Kategorien, d.h. Hypothesen, ermöglicht (Kelle, 1998, S.312).
Um während des Forschungsprozesses kreativ sein zu können und zugleich wissenschaftlichen Kriterien nach Validität und Reliabilität zu genügen, empfehlen Strauss und Corbin (1996, vgl. S.30) den Beobachtungsprozess zu reflektieren und eine skeptische Haltung gegenüber allen gebildeten Kategorien und Hypothesen einzunehmen. Die eigene Subjektivität, die den Forschungsprozess stark formt, soll kritisch reflektiert werden, um eine logische Stimmigkeit der Ergebnisse zu erzielen. Aus diesem Grund wurden einzelne Forschungsschritte dieser Arbeit in der Online-Arbeitsgruppe „AQUA“ (Arbeitsgruppe mit Qualitativen Ansatz) vorgestellt, die sich an dem Konzept der „Projektwerkstatt qualitativen Arbeitens (PW)“ (Mruck & Mey, 1998) orientiert.4 4 Der Austausch innerhalb der überregionalen Forschungsgemeinschaft fand per „Mailingliste“ sowie in fast wöchentlich stattfinden Chats statt, in denen Forschungsfragen und Codierprozesse diskutiert wurden. Zudem fanden ca. halbjährlich Offline-Treffen statt, in denen der jeweilige
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3 Forschungsdesign
3.4.1 Der Prozess der Codierung Während des Analyseprozesses müssen Daten aufgebrochen, konzeptualisiert und neu strukturiert werden. Dieser Prozess wird als theoretisches Codieren, dem das Konzept-Indikator-Modell zugrunde liegt, bezeichnet. In dem KonzeptIndikator-Modell werden Ausschnitte des Datenmaterials, wie Textstellen oder Videosequenzen als Indikatoren für zugrunde liegende Phänomene des untersuchten Wirklichkeitsbereichs begriffen. Aus dem Datenmaterial werden also theoretische Konzepte abgeleitet. Der theoretische Codierprozess setzt sich aus drei Stufen zusammen: dem offenen, axialen und selektiven Codieren. Strauss und Corbin (1996) betonen, dass die Unterscheidung zwischen diesen Haupttypen der Codierung künstlich ist. Zur besseren Nachvollziehbarkeit werden in Abbildung 3.1 das Vorgehen und die jeweils angewandten Arbeitstechniken veranschaulicht.
Forschungsstand besprochen wurde. Auf diese Weise konnten Arbeitsprozesse und Ergebnisse weitgehend konsensuell validiert werden. Die Zusammenarbeit in der Arbeitsgruppe war durch die Möglichkeit der Perspektiventriangulation sowie durch das Nutzen der Gruppe als Reflexionsflächeneben der emotionalen Bereicherung- sehr hilfreich.
Abbildung 3.1: Zirkulärer Analyseprozess
Hinzuziehen theoretischer Konzepte anhand Vorwissen und Literaturrecherche
Bilden von Hypothesen
Anwendung des paradigmatischen Modells
Ausarbeitung und Validierung der Ergebnisse des axialen Kodierens
Bestimmen einer oder mehrerer Kernkategorien
Systematisches In-Beziehung Setzen der Kernkategorie mit anderen Kategorien
Suche/ Bestimmung von Eigenschaften und Dimensionen der Kernkategorie
Selektives Kodieren
Suche nach Achsenkategorien
Auffüllung und Überprüfung der Konzepte durch Rückgang in den Prozess des offenen Kodierens
Bestimmung zentraler Phänomene
Bilden von Kodierfamilien
Ausarbeitung von Relationen und Zusammenhängen
Methode der Komparation
Einbindung datengegründeter Kodes
Formulieren von Memos
Aufbrechung der Texte durch Stellen von W-Fragen
Geben von invivo-Kodes
Bilden datengegründeter Kodes
Offenes Kodieren
Axiales Kodieren
Zirkulärer Analyseprozess: Wechselspiel zwischen Induktion, Deduktion und Abduktion
Entwicklung einer Theorie mittlerer Reichweite
3.4 Datenauswertung anhand der Grounded Theory 135
136
3 Forschungsdesign
3.4.1.1 Offenes Codieren Der erste Schritt der Datenanalyse ist das Bilden datengegründeter Codes. Die Daten werden hierzu „aufgebrochen“, d. h. in Beobachtungsabschnitte, Sätze oder Wörter unterteilt und darin enthaltene Ereignisse mit einem Namen versehen. Hierzu werden zu jedem Abschnitt Fragen gestellt und einzelne Abschnitte miteinander verglichen, ob sich ggf. ein sehr ähnliches Phänomen zeigt, sodass dieselbe Bezeichnung vergeben werden kann. Aber auch nach Unterschieden wird gezielt gesucht. Es werden beim offenen Codieren zwei analytische Verfahren angewandt: zum einen das oben beschriebene Anstellen von Vergleichen, zum anderen das Stellen von Fragen (z. B. Warum mischt sich der Schüler ungefragt in die Partnerarbeit der Nachbargruppe ein?). Anhand der Antworten werden schließlich Memos zu einzelnen Textstellen in Form von Kurznotizen erstellt. Durch diese Methoden sollen die aus den Daten gegründeten Konzepte präzisiert und spezifiziert werden. Beim offenen Codieren geht es also um die Benennung von Phänomenen. Wenn beispielsweise beobachtet wird, dass eine Schülerin einem Schüler zeigt, wie er ein bestimmtes Programm im Windows Explorer öffnen kann, könnte dieses Phänomen als „Programmbedienung demonstrieren“ bezeichnet werden. Nach der Identifizierung einzelner Phänomene in den Daten, werden Konzepte um sie herum gruppiert, und mit einer abstrakteren Bezeichnung als die Phänomene betitelt. So könnten beispielsweise die beobachteten Phänomene „Programmbedienung demonstrieren“ und „Erklären, wie eine Suchmaschine funktioniert“ unter dem Konzept bzw. der Codierfamilie „Geben von Hilfestellung“ zusammengefasst werden. Dieser Prozess wird auch Kategorisieren genannt. Wie erhalten Kategorien ihren Namen? Einige entstehen aufgrund der Auseinandersetzung mit der Fachliteratur. Diese haben allerdings den Nachteil, dass sie meist sehr eng definiert sind. Eine andere Art der Namensgebung sind so genannte „In-vivo-Codes“, d. h. Worte/Äußerungen, die von den befragten oder beobachteten Personen übernommen werden5. Eine Kategorie wird hinsichtlich ihrer charakteristischen Eigenschaften entwickelt. Jede Eigenschaft kann auf einem Kontinuum angeordnet bzw. dimensionalisiert werden (vgl. Abbildung 5.1.). Schließlich können Beziehungen zwischen Kategorien und Subkategorien hergestellt werden.
5 Ein Beispiel ist der in dieser Arbeit verwendete Code der „Lehrperson als Zeigefingerschwinger“, der aus einem Lehrerinterview extrahiert wurde.
3.4 Datenauswertung anhand der Grounded Theory
137
3.4.1.2 Axiales Codieren Im Zentrum des axialen Codierens steht die Ausarbeitung von Relationen und Zusammenhängen. Es werden Verbindungen zwischen einer Kategorie und ihren Subkategorien hergestellt. Beim axialen Codieren besteht die Hauptaufgabe darin, Phänomene systematisch zueinander in Beziehung zu setzen und deren Rahmenbedingungen zu analysieren. Es werden zentrale Phänomene herausgefiltert und durch Dimensionalisierung deren Achsenkategorien und Ausprägungen bestimmt (z. B. kann das Phänomen „Hilfe geben“ differenziert werden in „erbetene“ und „aufgedrängte Hilfe“). Um Eigenschaften und Dimensionen einer Kategorie näher zu bestimmen, wird u. a. die Methode der Komparation angewandt (z. B. Textstellen, die Hilfestellungen thematisieren, werden miteinander verglichen). Auch wenn offenes und axiales Codieren getrennte analytische Vorgangsweisen sind, wechselt der Forscher in der Praxis oftmals zwischen diesen beiden Ansätzen hin und her. Um die Subkategorien mit der jeweils zugehörigen Kategorie zu verbinden, kann beim axialen Codieren das paradigmatische Modell, das in Abbildung 3.2 veranschaulicht ist, herangezogen werden (vgl. Strauss, Corbin, 1996, S.78).
A) Ursächliche Bedingungen C) Kontext
F) Konsequenzen
B) Phänomen
D) Intervenierende Bedingungen E) Interaktionale Strategien
Abbildung 3.2: Paradigmatisches Modell (vgl. Strauss, Corbin, 1996, S.78)
138
3 Forschungsdesign
Unter den ursächlichen Bedingungen (A) wird hierbei der Auslöser für das Phänomen (B), d. h. das zentrale Ereignis / bzw. Phänomen, das in einen Kontext (C) eingebunden ist und von intervenierenden Bedingungen (D) begleitet wird, verstanden. Das Phänomen wird in Abhängigkeit vom Kontext und den intervenierenden Bedingungen durch Handlungs- und interaktionale Strategien (E) bewältigt, die wiederum bestimmte Konsequenzen (F) hervor rufen. Wie werden die Bestandteile des paradigmatischen Modells herauskristallisiert? A) Um die ursächliche Bedingung für das Phänomen herauszufinden, hilft folgende Frage: Wodurch wurde das Phänomen ausgelöst? B) Um das Phänomen, d. h. das zentrale Ereignis, zu identifizieren hilft die Frage, worum es in der Interaktion/Handlung eigentlich geht. C) Um den Kontext zu isolieren, helfen Fragen nach dem wann? Wie? Wie lange? D) Um intervenierende Bedingungen heraus zu kristallisieren helfen Fragen nach dem Wo? Wer? Wann? E) Um Handlungs- und Interaktionsstrategien zu erkennen und zu bewerten helfen folgende Fragen: Was machen die beteiligten Personen? Mit welchem Ziel und Zweck handeln sie? Gäbe es andere Möglichkeiten zu handeln? Warum bleibt eine erwartete Handlung/ Interaktion aus? F) Um Konsequenzen herauszufiltern, helfen diese Fragen: Was wird durch die Handlung ausgelöst? Welche Folgen resultieren aus ihr? Im Folgenden ein Beispiel zum Phänomen „Hilflosigkeit durch Wissensmangel“: A) Der Computer stürzt ab. B) Die Schüler wissen nicht, wie sie das Problem bewältigen können. C) Der Computer ist nicht mehr funktionsfähig. Die Schüler wissen nicht, wie der Fehler behoben werden kann, daher können sie erst einmal nicht weiterarbeiten, die Intensität ihrer Hilflosigkeit ist entsprechend hoch. D) Die Schüler haben Angst, den Computer kaputt zu machen. Die Lehrperson ist mit einer anderen Arbeitsgruppe beschäftigt, nebenan sitzt ein computerbegeisteter Mitschüler. E) Die Schüler bitten den entsprechenden Mitschüler um Hilfe. F) Der Mitschüler fährt den Rechner neu hoch, das Problem „Computerabsturz“ ist behoben, da er den hilflosen Schülern aber nicht die Vorgangsweise erklärt hat, werden diese wahrscheinlich auch beim nächsten Absturzproblem auf Hilfe angewiesen sein. Das Phänomen „Hilflosigkeit durch Wissensmangel“ wird daher nicht langfristig bewältigt.
3.4 Datenauswertung anhand der Grounded Theory
139
Die Konsequenz dieser Interaktion, nämlich dass die Schüler durch das Eingreifen ihres Mitschülers zwar das Computerproblem, aber nicht ihre Wissensdefizite behoben haben, kann wiederum zu einem Teil der Bedingungen einer späteren Interaktion werden. Als eine Hypothese kann aus dem Modell geschlossen werden, dass die Hilfestellung von SchülerInnen qualitativ sehr unterschiedlich sein kann, so wird die beschriebene Hilfestellung zu keinem Lernzuwachs bei den Hilfesuchenden führen. Als Kategorien verknüpfende Frage kann demnach die Folgende gestellt werden: „Welche Strategien wenden SchülerInnen an, um sich gegenseitig bei Computerproblemen zu helfen?“ Zur Beantwortung können ergänzend theoretische Konzepte hinzugezogen werden. Als nächste Aufgabe müsste die oben aufgestellte Hypothese verifiziert werden, indem andere Zitat- und Transkriptionsausschnitte im Datenmaterial herangezogen werden. Bei dem Versuch der Verifizierung wird aber zugleich auch nach Gegenbeispielen gesucht, beispielsweise könnten SchülerInnen beobachtet werden, die die Hilfefunktion des Computers verwenden oder SchülerInnen, die versuchen, ihre Hilfestellung durch Erklärungen zu untermauern. Durch solches Suchen nach Gegenbeispielen wird ein tieferer Einblick in den Untersuchungsgegenstand gewonnen und Variationen aufgedeckt, ggf. ist hierbei ein Rückgang auf die Ebene des offenen Codierens notwendig, um entwickelte Konzepte zu überprüfen und empirisch aufzufüllen. Das in dieser Arbeit entwickelte paradigmatische Modell findet sich in Abbildung 4.1. 3.4.1.3 Selektives Codieren Nachdem die Ergebnisse des axialen Codierens ausgearbeitet und validiert sind, beginnt die Aufgabe, die gefundenen Kategorien auf einer abstrakten Ebene zu einer gegenstandsverankerten Theorie mittlerer Reichweite zu integrieren, in dessen Zentrum ein oder mehrere Kernkategorien stehen können. Strauss und Corbin (1996, vgl. S.95) empfehlen hierzu einen „Roten Faden“ zu suchen, bzw. eine „Geschichte“ zu erzählen, die alle Phänomene einschließt und miteinander verbindet. Es gilt, das „zentrale Phänomen“ zu finden, das möglichst in Beziehung zu allen gefundenen Kategorien steht. Dieses wird auch als Kernkategorie bezeichnet, da es möglichst alle gefundenen Kategorien integrieren soll (hier: „Interaktionsmuster in mediengestützten Lernumgebungen“). Bei der Analyse werden die gefundenen Kategorien auf einer Meta-Ebene in Bezug auf das Paradigma an- und untergeordnet bzw. durch die Bildung zentraler Achsenkategorien dimensionalisiert. Es geht hierbei darum, wiederkehrende Muster zu erkennen (vgl. Abbildung 5.3).
140
3 Forschungsdesign
3.4.2 Wechselspiel zwischen Deduktion, Induktion und Abduktion Der Analyseprozess beschreibt ein Wechselspiel zwischen Induktion, Deduktion und Abduktion: Als Induktion (lat.: inductio Hereinführung) wird eine Vorgehensweise bezeichnet nach der vom Speziellen auf das Allgemeine geschlossen wird. Lamnek (1995, S.267) beschreibt sie als ein „Auswertungsverfahren für qualitative Daten, (in dem...) eine universelle Beziehung etabliert wird“.
Die Induktion wird in der Grounded Theory angewandt, wenn z. B. in unterschiedlichen Textstellen dasselbe Phänomen identifiziert wird (z. B. „Programmfunktionen erläutern“ und „Überprüfen der Rechtschreibung“ wird unter „Geben von Hilfestellung“ zusammengefasst) oder Codefamilien gebildet werden. Bei der Deduktion (lat. deducere = herabführen) werden hingegen von einem allgemeinen Satz ausgehend Einzelaussagen abgeleitet (vgl. ebd., S. 263), sie stellt daher eine Schlussfolgerung vom Allgemeinen auf das Besondere dar. Die Deduktion wird in der Grounded Theory angewandt, wenn z. B. verschiedene Dimensionen oder Achsenkategorien („das Besondere“) für ein bestimmtes Phänomen („das Allgemeine“) gebildet werden (z. B. „Hilfe“ wird unterteilt in „erbetene und aufgedrängte Hilfe“). Abduktion (lat. abductio = das Wegführen; engl. abduction = Entführung) bedeutet die „Bildung eines neuen Types‘“ als „kreativer Schluss, der eine neue Idee in die Welt bringt“ (Reichertz 2000, S. 280f).
Die Abduktion wird in der Grounded Theory angewandt, wenn einzelne Phänomene zueinander in Beziehung gesetzt und diese Beziehungen unter einem selbst gebildeten abstrakteren Begriff geformt werden. Das Hin- und Herpendeln zwischen den aus dem Datenmaterial gebildeten Codes und aus der Literatur hinzugezogenen Theorien bringt durch intuitives Strukturieren und Abstrahieren etwas Neues hervor, was mehr beinhaltet als reine Induktion oder Deduktion. Nach Kelle (1994, S.166) ist die abduktive Vorgehensweise „die grundlegende logische Operation einer qualitativen Sozialforschung, deren Ziel (...) in der Formierung neuen Wissens über soziale Lebensformen besteht“.6 6 Ein Beispiel in dieser Arbeit ist der Code der „Lehrperson als Facilitator“, der im Wechselspiel zwischen theoretischen Hintergrundwissen aus der Literatur (vgl. 2.2.3) und der Auseinandersetzung mit den empirischen Daten „Neues“ hervorgebracht hat (Vgl. Abbildung 4.5).
3.5 Das Rahmenmodell der Gruppeninteraktionsforschung
141
3.5 Das Rahmenmodell der Gruppeninteraktionsforschung Bei der Entwicklung des paradigmatischen Modells dieser Arbeit wird neben dem vorgestellten paradigmatischen Modell von Strauss und Corbin (Abbildung 3.2) das Rahmenmodell der Gruppeninteraktionsforschung (nach Becker-Beck, 1997) herangezogen. Es erscheint besonders geeignet, weil es für die detaillierte Analyse von Kleingruppenprozessen entwickelt wurde und zugleich auch das „Behaviour Setting“, daher die Aufgaben und Umweltaspekte, in denen die Interaktion stattfindet, berücksichtigt.Zudem bietet es viele Anknüpfungspunkte an das vorgestellte paradigmatische Modell der Grounded Theory. In den 80er Jahren entwickelten McGrath (1984) und Capella (1988) ein Rahmenkonzept für die Kleingruppenforschung. Im Zentrum des Konzeptes steht die „Acting Group“, der Gruppeninteraktionsprozess. Dieser wird definiert als „die Gesamtheit des Verhaltens aller Mitglieder einer agierenden Gruppe in Beziehung zueinander sowie in Beziehung zu Aufgaben-/Umweltaspekten des Settings, während sich die Gruppe in Aktion befindet“ (McGrath, 1984, S.139, Übersetzung von Becker-Beck, 1997, S.15).
Es findet eine Wechselwirkung zwischen den Gruppeninteraktionsprozessen und einer Reihe von Rahmenbedingungen statt. So spielen die individuellen Merkmale der Gruppenmitglieder, wie deren Eigenschaften, Einstellungen, Gewohnheiten etc. eine wichtige Rolle. Die Zusammensetzung der einzelnen Gruppenmitglieder beeinflusst die Gruppenstruktur, d.h. die Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern. Zudem wird die Interaktion von „Umweltfaktoren“ beeinflusst, nämlich von der physikalischen, soziokulturellen und technologischen Umgebung sowie von der Beschaffenheit der Aufgabe und Situation. Die Summe der oben dargestellten Rahmenbedingungen bildet schließlich das „Behaviour Setting“. Neben den genannten Input-Variablen wird der Interaktionsprozess durch inhärente Kräfte beeinflusst. Der Schwerpunkt in dem Modell von McGrath liegt auf die den Gruppenprozess beeinflussenden Input-Faktoren. Capella (1988) setzt sich vor allem mit den Ebenen, durch die der Gruppeninteraktionsprozess selbst analysiert werden kann, auseinander. Die Verhaltensmuster der Gruppenmitglieder können nach Capella auf den folgenden 4 Ebenen analysiert werden: 1) 2) 3) 4)
die kommunikativen Verhaltensweisen. die Prozesse bei Sender und Empfänger die Interaktionsmuster sowie die Zusammenhänge zwischen Interaktionsmustern und Input-Variablen.
142
3 Forschungsdesign
Becker-Beck (1997, S.16) ordnet diese 4 Analyseebenen in das Modell von McGrath ein: Die Ebenen 1 bis 3 befassen sich direkt mit der Gestalt des Interaktionsprozesses, während auf der vierten Ebene eine Verbindung zu den Input-Variablen hergestellt wird. Das von Becker-Beck kombinierte Rahmenmodell der Gruppeninteraktionsforschung, das die Aspekte von McGrath (1984) und Capella (1988) integriert, ist in Abbildung 3.3 dargestellt. Merkmale des Individuums (biologisch, sozial, psychologisch)
Gruppeninteraktionsprozess (Verhalten der Gruppenmitglieder) 4 Analyseebenen: Gruppenstruktur (Beziehungsmuster zwischen den Gruppenmitgliedern)
1)
kommunikative Verhaltensweisen
2)
Prozesse bei Sender, Empfänger
3)
Interaktionsmuster (Analyse, Beschreibung, Typisierung, Veranschaulichung)
4)
Analyse von Interaktionsprozessen in Abhängigkeit von variierten Randbedingungen
„Behaviour Setting“
Aufgabe/ Situation
Merkmale der Umgebung (physikalisch, soziokulturell, technologisch)
Abbildung 3.3: Modell der Gruppeninteraktionsforschung (Becker-Beck, 1997, S.16)
3.5 Das Rahmenmodell der Gruppeninteraktionsforschung
143
In der Darstellung des Modells wird bereits der enge Bezug zu dem paradigmatischen Modell der Grounded Theory (vgl. auch -Abbildung 3.4) deutlich: So können die „Merkmale des Individuums“ in der Sprache des paradigmatischen Modells als intervenierende Bedingung begriffen werden, in der vorliegenden Arbeit wird hier besonders die Kategorie „Gender“ fokussiert. Die „Gruppenstruktur“ sowie die Analyseebenen des Gruppeninteraktionsprozesses können in der Sprache der Grounded Theory mit den interaktionalen Strategien verglichen werden. In der vorliegenden Arbeit werden diese Aspekte unter dem Begriff des Interaktionsmusters näher analysiert. Das „Behaviour Setting“ wäre in der Sprache des paradigmatischen Modells der Kontext. In dieser Arbeit ist das als Analysekategorie die Lernumgebung, deren besonderes Merkmal u. a. die Einbettung der digitalen Medien in den Unterricht darstellt. Im Gegensatz zum Modell der Grounded Theory wird im Rahmenmodell der Gruppeninteraktionsforschung nicht separat nach Konsequenzen und ursprünglichen Bedingungen/ Auslösern des Gruppeninteraktionsprozesses gefragt. Dies kann besonders darin begründet sein, dass Interaktionen streng genommen nicht als einfache eindimensionale Aktions-Reaktions-Sequenzen verstanden werden können. So stellt nahezu jede Aktion bereits die Reaktion auf vorherige Ereignisse dar und jede Reaktion ist zugleich eine Aktion, auf die der Interaktionspartner wieder reagiert. In der vorliegenden Arbeit wird dennoch, allerdings auf einer anderen Ebene, auch nach Konsequenzen gefragt, so sind die untersuchten Interaktionen eng mit dem Ziel verbunden, sogenannte Schlüsselqualifikationen, wie z. B. soziale, methodische und mediale Kompetenzen zu erwerben. Wenngleich diese, da sie als übergreifende Lernziele verstanden werden, als Konsequenz dargestellt werden, sind sie zugleich Voraussetzung und werden nicht nach, sondern in den Interaktions- und Lernprozessen erworben.
144
3 Forschungsdesign
Intervenierende Bedingung/ Merkmale des Individuums:
Genderfokus: Computernutzung und -sozialisation
Kontext/ „Behaviour Setting“:
Problemorientierte Lernumgebung unter Integration digitaler Medien
Interaktionale Strategien/ Gruppeninteraktionsprozess:
Interaktionsmuster der SchülerInnen (und Lehrpersonen) beim gemeinsamen Wissensmanagement
Konsequenz:
Erwerb von Schlüsselqualifikationen Abbildung 3.4: Gliederung der empirischen Phänomene
4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
„Die Aufgabe der Umgebung ist nicht, das Kind zu formen, sondern ihm zu erlauben, sich zu offenbaren.“ Maria Montessori (1870-1952) In diesem Kapitel wird das anhand der Analyse von Interviews mit Lehrpersonen und SchülerInnen sowie von Videosequenzen des mediengestützten Unterrichts entwickelte Modell zum gemeinsamen Wissensmanagement in mediengestützten Lernumgebungen vorgestellt. Dieses dargestellte Modell bildet den roten Faden für die Darstellung der empirischen Ergebnisse. Zunächst wird in Abschnitt 4.1 als Kontext bzw. Behaviour Setting des Wissensmanagements im Unterricht auf die Merkmale der jeweiligen Lernumgebungen eingegangen. Hierbei werden die Nutzungsweisen der digitalen Medien sowie die zentralen didaktischen Merkmale der jeweiligen Lernumgebungen vorgestellt. In Abschnitt 4.2 wird als intervenierende Variable des Wissensmanagements der Genderfokus eingenommen. Kernkategorien des Wissensmanagements bilden die jeweiligen Interaktionsmuster beim gemeinsamen Lernen am Computer. In Abschnitt 4.3 wird der Computer als Interaktionspartner fokussiert. In Abschnitt 4.4 werden die Interaktionsmuster der Wissenskommunikation unter SchülerInnen, aber auch zwischen SchülerInnen und Lehrpersonen thematisiert. Es werden die unterschiedlichen interaktionalen Strategien, die in Lerngemeinschaften angewandt werden aufgezeigt. In Abschnitt 4.5 folgt die Darstellung der interaktionalen Strategien in Forschungs- und Produktionsgemeinschaften, daher die verschiedenen Formen der Arbeitsteilung, Wissensgenerierung und -repräsentation. In Abschnitt 4.6 wird als Konsequenz eines erfolgreichen Wissensmanagements in mediengestützten Lernumgebungen beschrieben, welche Schlüsselqualifikationen die SchülerInnen erwerben. Hierzu zählen soziale Fertigkeiten, Medienkompetenz sowie die Fähigkeit zum selbst gesteuerten Lernen. In der Vorstellung der einzelnen Phänomene und Kategorien steht vor allem die Analyse der Daten im Vordergrund. Weitere exemplarische Belegstellen zu den jeweiligen Kategorien finden sich in Anhang A. M. Stadermann, SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen, DOI 10.1007/978-3-531-93178-4_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Kontext: Lernumgebung
Sozial- und Kommunikationskompetenz Medienkompetenz Selbstlernkompetenz
Konsequenz: Erwerb von Schlüsselqualifikationen
Männlich geprägte Computerkultur Geschlechtsspezifische Medienzugänge Computerbezogene Selbst- und Fremdbilder Lehrpersonen und (Un-) Doing Gender
Intervenierende Bedingung: Genderfokus
c) Forschungs- und Produktionsgemeinschaften Ressourcen- und mengenorientierte Arbeitsteilung Wissens- und Verhaltensdominanz: Leit- und Ko-Handelnde Verantwortungsdiffusion, Mitläufer/Trittbrettfahrer Macht- und Revierkämpfe Konsensbildung und Groundingprozesse
b) Lerngemeinschaften Lehrer als Wissensvermittler und SchülerInnen als Lernende SchülerInnen als Experten (und Lehrer als Lernende ) Lehrer als Facilitatoren/ SchülerInnen als selbstgesteuerte Lerner Lehrerinterventionen als Störvariable Kooperatives Tutoring unter SchülerInnen Experteninszenierungen
a) Der Computer als Interaktionspartner Der Computer als emotionslose Maschine Der Computer als undurchschaubares Objekt Personifizierung des Computers Der Computer als „allwissende Hoheit“
Interaktionale Strategien und Interaktionsmuster
b) Aufgabenstellung/Didaktik . Selbst gesteuertes/ schülerzentriertes Lernen Authentisches/ fächerübergreifendes Lernen Freiarbeit mit instruktionalen Anteilen Klasseninterne bis schulexterne Kooperationen Produkt- und Zielorientierung
Gemeinsames Wissensmanagement in mediengestützten Lernumgebungen
a) Integration digitaler Medien ..als Kommunikationsmedium ...zur Informationsrecherche ...als kreatives Werkzeug ...als Mindtool ...als Tutor
146 4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Abbildung 4.1: Paradigmatisches Modell gemeinsamen Wissensmanagements
4.1 Kontext: Merkmale der Lernumgebung
147
4.1 Kontext: Merkmale der Lernumgebung Im Folgenden werden die zentralen Merkmale der Lernumgebungen der untersuchten Unterrichtsfälle, wie die Integration der digitalen Medien sowie die didaktischen Merkmale der Unterrichtsgestaltung vorgestellt, die als Rahmenbedingungen auf die untersuchten Interaktionen einwirken. 4.1.1 Integration digitaler Medien Wie die Technologien in den einzelnen Projekten genutzt werden, zeigt 3.2-. In den folgenden Abschnitten wird gezeigt, wie die digitalen Medien als zeit- und raumübergreifendes Kommunikationsmedium wirken, indem z. B. via E-Mail Wissen ausgetauscht und gemeinsam generiert wird und wie sie als Werkzeug zur Informationsrecherche (z. B. via Internet) genutzt werden. Sie können zudem (z. B. über die Nutzung von Lernprogrammen) als Tutor wirken und ein selbst gesteuertes Lernen sowie eine innere Differenzierung fördern. Außerdem wird gezeigt, wie digitale Medien als kreatives Werkzeug (z. B. Präsentationssoftware) zur Wissensgenerierung und –repräsentation sowie als Mindtools genutzt werden. 4.1.1.1 Computer als zeit-/raumübergreifendes Kommunikationsmedium In den untersuchten Fällen werden die digitalen Medien mit unterschiedlichen Zielen in den Unterricht integriert und zielen entsprechend auf unterschiedliche Phasen des Wissensmanagements ab. Der Computer kann so z. B. als zeit- und raumübergreifendes Kommunikationsmedium wirken. Im Märchen- und Wirtschaftsprojekt wird durch die Kommunikation via E-Mail insbesondere der Austausch mit Externen und die Bearbeitung schulübergreifender Projekte unterstützt. Im Märchenprojekt kommunizieren und generieren die SchülerInnen via E-Mail gemeinsam mit externen Partnern wie mit einer in das Projekt involvierten Kinderbuchautorin sowie mit PartnerschülerInnen aus anderen Ländern Wissen (vgl. Videotranskript 4.24). Die Möglichkeit sich per E-Mail mit Externen auszutauschen oder dass diese das von ihnen Erarbeitete noch weiterführen, motiviert die SchülerInnen sehr. Zudem erhalten ihre Arbeitsprodukte durch die Weiternutzung undverarbeitung durch Externe eine echte authentische Funktion und damit eine besondere Wertschätzung.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement „Ich denke, dass auch die Weitergabe der erarbeiteten Sachen ganz wichtig ist. Sonst ist ein Thema abgeschlossen und es kriegen vielleicht gerade noch die Eltern mit, aber durch das E-Mail haben sie die Möglichkeit es weiter zu geben, zu hören, dass andere mit ihren vorbereiteten Sachen auch noch weiter arbeiten. (..) Das ist für sie das Größte.“ Zitat 4.1: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Im Wirtschaftsprojekt tauschen sich die SchülerInnen über das Netz mit Partnern aus der Wirtschaft aus, auch intern wird zwischen den Gruppenmitgliedern per EMail Wissen verteilt und Arbeitsprozesse organisiert. Die SchülerInnen können hierdurch unabhängig von Raum und Zeit an ihren Produkten weiterarbeiten, was ihnen Freiräume für selbst organisiertes Lernen bietet. Zugleich beschreiben sie, dass ihre Arbeit durch die neben den Präsenzlernphasen zusätzliche asynchrone Wissenskommunikation erleichtert wird: „Man kann über E-Mail auch mit den Beratern von Boston korrespondieren. Man kann Fragen stellen und um Antwort bitten. Was ich dieses Mal zum ersten Mal initiiert habe, ist die Kommunikation der Gruppe untereinander über das Netz. (...) Einzelne arbeiten zu Hause und dann schicken wir uns gegenseitig die Arbeit zu. Die Kommunikation läuft über das Treffen hinaus sehr intensiv. Es ist faszinierend, wie gut man da noch zusammen an den Produkten arbeiten kann. Das beschleunigt und macht die Arbeit viel effektiver.“ Zitat 4.2: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Auf diese Weise ermöglichen die digitalen Medien eine Öffnung der Schule. Die Besonderheit der E-Mail-Kommunikation ist, dass die Wissensrepräsentation durch das Verschriftlichen (Verfestigen von Wissen), anders als bei einer Faceto-Face Kommunikation im Austauschprozess zwischengeschaltet ist. Durch die angestrebte Rückkopplung – auch wenn diese asynchron erfolgt – findet eine gemeinsame Wissensgenerierung statt. Ein Beispiel für ein Endprodukt, das auf eine unidirektionale Kommunikation zielt, ist die gemeinsame Veröffentlichung eines Buches, wie im untersuchten Märchenprojekt. Die Medien-AG hingegen strebt mit ihren Arbeitsprodukten, wie die Erstellung von Filmen, die als Diskussionsanregung z. B. anderen Klassen präsentiert werden, auf einen Wissensaustausch mit Rückkoppelung. Die Wissensrepräsentationen der SchülerInnen des Wirtschaftsprojekts werden auch von anderen Klassen genutzt. Indem diese ihr Wissen im Internet veröffentlichen kann es von anderen weiter genutzt und ggf. ausgebaut werden. Auch wenn die SchülerInnen die Schule verlassen ist ihr Wissensschatz, solange er auf
4.1 Kontext: Merkmale der Lernumgebung
149
der Homepage abrufbar ist, gesichert. Durch die Veröffentlichung ist eine Weitergabe nicht mehr personengebunden, sondern für die Allgemeinheit zugänglich. Eine potenzielle Weiterentwicklung der Arbeitsprodukte durch andere ermöglicht, dass die Wissensbewegung noch nicht abgeschlossen ist. Indem Lehrpersonen in anderen Unterrichtsstunden oder bei nachfolgenden Schuljahrgängen auf diese Wissensdokumentation verweisen, kann eine Weiterverarbeitung des Wissens der SchülerInnen in anderen Lerngruppen zusätzlich unterstützt werden. „Ein Schüler hat die bisherigen Ergebnisse unter wirtschaftsprojekt.de ins Netz gestellt. Ich konnte gestern in meiner Gruppe sagen, dass die Schüler da mal hinschauen sollen. Es ging um die GbR – da kann man das ja nutzen. Man kann da auf den über Jahre erarbeiteten Wissensschatz zurückgreifen.“ Zitat 4.3: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Beim Erstellen/ und Veröffentlichen einer Webseite kann auch ein potenzielles „Publikum“ zu einem Bestandteil der Interaktion werden, in dem deren Bedürfnisse bei der Wissensgenerierung antizipiert werden. Im Unterschied zu dem wechselseitigen Austausch mit externen PartnerInnen, in dem gemeinsam Wissen generiert werden kann, ist hier jedoch die Kommunikationsrichtung einseitig. Bei der Nutzung von Produktivitätstools, z. B. Präsentationssoftware oder der Edition einer Homepage, zielt der Aushandlungsprozess der SchülerInnen auf eine Wissensrepräsentation. Sie haben mit der Verschriftlichung bzw. Visualisierung das „Endprodukt“ ihrer Wissensteilung erstellt. Für die Allgemeinheit ist das Wissen z. B. per Internetrecherche abrufbar und kann somit wieder „verflüssigt“ und von anderen weiterverarbeitet werden. Die Wissensrepräsentationen der SchülerInnen erhalten so eine echte authentische Wertigkeit und werden nicht nur als Medium zum Lernen oder zum Notenerwerb erstellt.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.1.1.2 Digitale Medien als Werkzeug zur Informations- und Ressourcenbeschaffung Im Folgenden wird auf den Prozess der Informationsbeschaffung mithilfe digitaler Medien eingegangen sowie Vor- und Nachteile dieser Form der Ressourcengewinnung beleuchtet. Im Fall SelMa beschaffen sich die SchülerInnen über die mit HTML erstellte Lernumgebung Ressourcen, die ihnen die Bearbeitung der Rechenaufgaben erleichtern, wie grafische Animationen bis hin zur konkreten Aufgabenlösung (vgl. Videotranskript 4.45). Im Fall „Freier Medieneinsatz“ sowie im Medien- und Wirtschaftsprojekt werden Browser (Internet/ Datenträger) zur gezielten Informationsrecherche genutzt. Anders als bei der E-Mail-Kommunikation ist hier die Wissensbewegung unidirektional: Informationen werden zu Wissen verarbeitet. Bei der Nutzung derartiger Programme steht der Prozess der Wissensbeschaffung bzw. der Wissensgenerierung im Zentrum; Informationen werden selektiert, bewertet und aufbereitet1. Die SchülerInnen nutzen das Internet u. a. zur Informationsgewinnung. Sie erleben, dass sie im Vergleich zur Verwendung von Büchern umfangreicheres Wissen erwerben können. I: „Hättet ihr jetzt diese ganzen Meerschweinchenfragen auch anders beantworten können?“ S: „In Büchern.“ Sin: „Ja, aber dann würden wir nicht so viel herauskriegen wie jetzt.“ Zitat 4.4: SchülerInnen, Freier Medieneinsatz, Primarstufe
Die SchülerInnen können bei der computergestützten Recherche die Wissenspfade selbst gesteuert navigieren und so je nach Interessenlage und eigenen Lerntempo Schwerpunkte setzen (vgl. Zitat 4.20). Die folgende Schülerin beschreibt, dass die Informationsrecherche im Internet durch die zahlreichen Verlinkungen vielfältigere und umfassendere Suchoptionen bietet als z. B. Bücher, die oft linear aufgebaut sind. Durch die Vernetzung unterschiedlicher Themen können viele neue Wissensressourcen genutzt werden. „Und bei den meisten Sachen findet man auch noch andere Sachen, von denen man ja gar nicht wusste, dass die existieren und lernt eben noch mehr dazu. Und das ist eben bei einem Buch nicht so. In einem Buch ist das genau, z. B. Biologie, dann 1 Die Fähigkeit zur Wissensbeschaffung und -aufbereitung gehört zur Medienkompetenz. Diese wird im Kapitel 4.6.3 näher erläutert.
4.1 Kontext: Merkmale der Lernumgebung
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steht da nur was über Bio drin. Und im Internet gibt es weit über 1 Million verschiedene Seiten, auf denen was steht, auf denen verschiedene Themen angesprochen sind.“ Zitat 4.5: Schülerin, Medienprojekt, Sek. I
Neben dem Potenzial zur selbst gesteuerten Informationsrecherche bietet das Internet problematische Verlockungen, wie z. B. das Aufrufen unterrichtsexterner und/ oder jugendgefährdender Inhalte (vgl. Zitat 4.117, Zitat 4.118). 4.1.1.3 Computer als Tutor Der Computer dient insbesondere in den Fällen „Lernprogramme“ und „SelMa“ als Tutor. Während im Fall „Lernprogramme“ einfach konzipierte „Drill und Practice-Programme“, wie z. B. Vokabeltrainer zum Einsatz kommen, wird in Selma eine von der Lehrperson selbst konzipierte komplexe Lernumgebung zur Verfügung gestellt. In SelMa werden Aufgaben online bereitgestellt und es besteht die Option Lösungen zur eigenen Kontrolle abzurufen, um einzelne Arbeitsschritte nachzuvollziehen. SchülerInnen können das Lerntempo selbst bestimmen. Auf diese Weise können digitale Medien differenziertes Lernen ermöglichen. Zudem besteht die Möglichkeit grafische Funktionen zu nutzen, um sich einen spielerischen und experimentellen Zugang zu den mathematischen Funktionen zu beschaffen (vgl. Videotranskript 4.2, Videotranskript 4.14). Doch auch in den anderen Fällen wirkt der Computer phasenweise als Tutor, so ermöglicht er z. B. eine selbst gesteuerte Rechtschreibüberprüfung bzw. eine eigenständige Wissenskontrolle. Durch die Möglichkeit sich selbst eine Rückmeldung einzuholen, wird ein selbst gesteuertes Lernen stark gefördert: Lin1: „Sie kriegen das Feedback nicht vom Lehrer. Sie sehen selbst, was los ist." Lin2: „Die Eigenkontrolle ist da." Zitat 4.6: Lehrerinnen, Lernprogramme, Primarstufe
Ein Vorteil des Einsatzes digitaler Medien ist es, dass das Feedback unmittelbar und je nach Programm auch sehr individuell und detailliert erfolgen kann, was aus lerntheoretischer Sicht besonders effektiv ist. Derartig zeitnahe Rückmeldungen sind vonseiten der Lehrperson, die durch die Abgabe der Kontrollfunktion an den Computer entlastet wird, kaum umsetzbar. Über die Möglichkeit der inneren Differenzierung kann individuell an den jeweils unterschiedlichen Lernbedürfnissen angeknüpft werden, sodass alle SchülerInnen
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
zeitgleich aktiv erreicht werden können, was im Frontalunterricht in dieser Form nicht möglich wäre. „Es gibt ja auch Programme, die genaue Fehlermeldungen geben. (...) eine viel individuellere Rückmeldung, als ich sie je im Unterricht geben kann. (...)Die Rückmeldung – da mache ich mich kaputt. Wenn es sinnvoll sein soll, muss sie jede Stunde kommen. Ich habe im Lehrerzimmer die Hefte – (..) Nach zwei Tagen schaffe ich vielleicht die Rückmeldung – ehe es dann von den Kindern verbessert wird, ist das Thema eigentlich schon wieder passé. Der Lerneffekt ist stark gegen Null tendierend. Bei Klassenstärken von dreißig Kindern kann so ein Instrument helfen, dass alle arbeiten. Sonst stehen Sie vorn als Lehrer und 1/3 taucht weg.“ Zitat 4.7: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Durch die Lernprogramme erhalten die SchülerInnen nicht nur Feedback, sondern auch Hinweise zur Navigation. Die SchülerInnen können selbst gesteuert und ohne Lehrerhilfe derartige Programme nutzen. Sin1: „Zum Beispiel, wenn man so normalen Unterricht macht, dann braucht man immer einen Lehrer, aber wenn man was mit den Computern macht, dann hat man ja auch da so eine Stimme, die einem hilft.“ Sin2: „Was zum Beispiel dieses Englischprogramm angeht, da ist so ein kleiner Junge und der sagt dir dann auch, was du da machen sollst und wie das funktioniert usw., da gibt es auch meistens Hilfen dann.“ Zitat 4.8: SchülerInnen, Medienprojekt, Sek. I
Der Computereinsatz in der Freiarbeit ermöglicht leistungsschwächeren SchülerInnen – losgelöst von dem Leistungsdruck, dem Klassenniveau nicht gerecht zu werden- wieder motiviert zu lernen. Als emotionslose Maschine ermöglicht er gerade schwächeren SchülerInnen ohne Angst vor Blamage im eigenen Lerntempo und –niveau z. B. Aufgaben beliebig oft zu wiederholen (vgl. Abschnitt 4.3.1). In der Grundschulklasse, in der die SchülerInnen mit Lernprogrammen arbeiten, fällt auf, dass diese im Vergleich zum konventionellen Unterricht, in dem sie die Rückmeldungen von der Lehrperson erhalten, freiwillig und von sich aus bereit sind, Lernstoffe und Aufgaben zu wiederholen. Besonders im Hinblick auf eine Verfestigung von Wissen ist der Aspekt der Wiederholung sehr wichtig. Dieses Medium ermöglicht die Wiederholung und den Erhalt eines direkten Feedbacks. Der Aufforderungscharakter der digitalen Medien ist für die SchülerInnen derart groß, dass sie z. B. auch bereits abgeschlossene Aufgaben nochmals
4.1 Kontext: Merkmale der Lernumgebung
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bearbeiten, um ihre Ergebnisse auf den Computer durch ein Abspeichern – gewissermaßen als Beleg (und Belohnung) für ihr Lernen- zu sichern. „Wenn ich wiederhole, dann sagen die Kinder schnell, das hatten wir schon und machen es nicht noch mal. Wenn die bei der CD von vorne noch mal anfangen müssen, weil sie dummerweise ihren Spielstand nicht gespeichert hatten (...) dann ist das egal, die fangen noch mal von vorne an, machen noch mal alle Kontinente, obwohl sie die längst kennen, ohne zu meckern. Das ist auch ein Phänomen.“ Zitat 4.9: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Die Videoausschnitte bestätigen dieses Phänomen. So bearbeiten die folgenden zwei Schüler ein Lernprogramm mehrmals, obwohl sie es als „sehr leicht“ bewerten: S1: „Oh, man ist das leicht, das gibt es ja gar nicht. (...) 60 Aufgaben, 3 Fehler. -So, machen wir gleich noch mal. „(Sie starten das Programm neu.) S1: “Show me the car.” S2: „Zeig mir das Auto.“ S1: „Das ist voll leicht, ne?“ (sie machen weiter) Videotranskript 4.1: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Vermutlich würden schwierigere Aufgaben eher dem Lernniveau der Schüler entsprechen. Dennoch entscheiden sich die Schüler, das Lernprogramm nochmals zu starten. Ursache hierfür könnte zum einen die Motivation sein, länger am PC arbeiten zu können (es besteht die potenzielle Gefahr den Computer beim Beenden des Lernprogramms anderen SchülerInnen überlassen zu müssen). Zudem könnte ihre Motivation durchaus in dem Erwerb von Wissen liegen, da sie noch 3 Fehler haben und sie die Aufgaben nun in umgekehrter Reihenfolge bearbeiten, also ggf. anderes Wissen überprüft wird, als in dem vorherigen Durchlauf. Vermutlich wollen sie ihr Kompetenzerleben auskosten, so zeigt das Programm bei einer Wiederholung mit weniger Fehlern eine Kompetenzsteigerung sofort an. Einerseits bietet das Lernprogramm, da es anscheinend sehr einfach strukturiert ist, keine angemessene Herausforderung für die Schüler, da die Aufgaben unter ihrem Leistungsniveau zu liegen scheinen, anderseits können sie durch das Prinzip der Wiederholung „altes“ Wissen auffrischen und verfestigen. Hier wirken die digitalen Medien als Motivationshilfe. Auch die Selbsteinschätzungen der SchülerInnen im Interview zeigen, dass die Aufgaben unter ihrem Lernniveau liegen, da sie zu einfach strukturiert sind:
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement S1: Da steht Haus, also house, und schon drücken wir auf das Haus. Man muss nur das letzte Wort wissen, und schon hat man es eigentlich gepackt. I: Also Ihr findet das ziemlich leicht, oder? S1: Ja, sehr leicht. Zitat 4.10: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Insgesamt bieten die digitalen Medien als Tutor und durch die Möglichkeit zur freien Informationsrecherche aber durchaus das Potenzial SchülerInnen im selbst gesteuerten Lernen zu unterstützen und können hierdurch u. a. auch die Lehrperson in ihrer Funktion als Wissensvermittler entlasten (vgl. Zitat 4.20, Zitat 4.22). 4.1.1.4 Computer als kreatives Werkzeug Durch den Einsatz der digitalen Medien gewinnt die Wissensrepräsentation an Bedeutung. Die digitalen Medien unterstützen als Werkzeug eine Wissensaufbereitung (Wissensbewegung vom Wissen zur Information2). Hierbei ermöglichen die vielfältigen Darstellungsmöglichkeiten der eingesetzten Technologien einen breiten kreativen Gestaltungsspielraum, der das konstruktivistische Lernen der SchülerInnen unterstützt. Produktivitätstools, (wie z. B. Textverarbeitung, Tabellenkalkulation, Präsentationssoftware etc.) werden in allen untersuchten Fällen zur Wissensaufbereitung und -repräsentation verwendet. Im Fall „Freier Medieneinsatz“, im Märchenprojekt und insbesondere in dem Medienprojekt werden zudem als Mittel zur multimedialen Präsentation Ton- und Bildverarbeitung genutzt. Im Medienprojekt gestalteten die SchülerInnen selbst mit Hilfe von Web-Tools Internet-Seiten. Der Computer als kreatives Werkzeug ist eng mit einer Produkt- und Zielorientierung verbunden (vgl. Zitat 4.19, Zitat 4.40, Zitat 4.45). Im Medienprojekt haben die HauptschülerInnen u. a. ein Interview mit einer Mutter geführt, in dem darum geht, wie die HauptschülerInnen auf andere wirken (vgl. Zitat 4.182). Mit Hilfe von computergestützter Bild- und Tonverarbeitung können sie zentrale Aussagen aufbereiten und lernen so Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, also Wissen zu selektieren sowie kompakt und zugleich ansprechend aufzubereiten. Ihren Zusammenschnitt können sie als Werkzeug zum Diskussionsaustausch anderen Klassen sowie Eltern präsentieren. Anders als 2 Auch eine ungekehrte Wissensbewegung von der Information zum Wissen ist z.B. durch die Selektion und Aufbereitung von Informationen aus dem Internet möglich.
4.1 Kontext: Merkmale der Lernumgebung
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bei einer Face-to-Face—Interaktion kann allerdings keine direkte Rückkopplung mit der Mutter stattfinden, sondern vermittelt über die Medien-AG. Die Mutter persönlich in andere Klassen zu schicken wäre sehr aufwendig, insofern erleichtert der Medieneinsatz eine Wissenskommunikation. Die Medien-AG kann über ihre mediengestützten Produkte eine schulinterne und -externe Diskussion auslösen und fungiert so als wichtiges Kommunikationsmedium. Gerade die Produktivitätstools unterstützen die kreative Weiterverarbeitung und Sicherung zentraler Aussagen und Ergebnisse. „Das könnte auch noch selbst so eine Möglichkeit werden, dass das so ein Trailer wird, den wir dann immer wieder mit der Diskussion mit den Klassen mit reinbringen können. Wir können die Mutter ja nicht durch alle Klassen schicken. (...) so als Ton können wir sie sehr wohl in die Klassen schicken. (...) mit Medien schnippelt man sozusagen auf unserem schönen Radiocut-Platz am Computer die wichtigsten Aussagen auf ein sehr schön überschaubares Feld zusammen und kann das dann einsetzen.“ Zitat 4.11: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Ein Grundschullehrer betont, dass Computer ein konstruktivistisches Lernen fördern. Er findet die Bezeichnung „Rechner“ für Computer unpassend und plädiert dafür, sie weniger nach ihren technischen Arbeitsvorgängen zu benennen, sondern vielmehr nach ihren kreativen Nutzeroptionen und Gestaltungsmöglichkeiten. „Die Geräte befördern meiner Meinung nach eine bestimmte Art zu arbeiten. (...) Die Schüler entdecken das konstruktivistischer. Das kann man sicher auch mit anderen Mitteln fördern, aber dieses Medium ist ganz besonders hervorragend dafür geeignet. (...) Ich halte den Computer für ein kreatives Werkzeug. Man sagt ja auch gerne Rechner zu den Dingern, aber ich finde, dass sie das gerade am wenigsten für den Benutzer machen sollten.“ Zitat 4.12: Lehrer, Freier Medieneinsatz, Primarstufe
Trotz vieler multimedialen Möglichkeiten, wie z. B. der Bild- und Tonausgabe kann der Computer keine sinnlichen und haptischen Erfahrungen ersetzen: „Wenn ich jetzt Kinder habe, die keine räumliche Vorstellung vom 100er Raum haben, die muss ich nicht an den PC setzen. Denen fehlt das Anfassen und Anschauen. Das bringt nichts.“ Zitat 4.13: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Zudem ist der Computereinsatz nicht immer zwingend zur Aufgabenbewältigung nötig, sondern kann teilweise auch durch andere Arbeitswerkzeuge – die sogar je nach Aufgabenstellung angemessener sein können, ersetzt oder ergänzt – werden. Durch eine Kombination verschiedener Arbeitswerkzeuge- unter denen der Computer nur eines darstellt- können die SchülerInnen ihre individuellen Vorlieben umsetzen sowie die Vor- und Nachteile der einzelnen Mittel kennenlernen: „Es gibt immer noch Kinder, die erst konzeptionell auf dem Papier arbeiten wollen – da lege ich auch Wert drauf. (...) Im letzten Jahr waren auch Kinder dabei, die den PC nur als Hilfsmittel genutzt haben. Die haben einen Comic geschrieben. Sie haben die Tabelle und die Überschrift ausgedruckt aber dann mit der Hand da rein gemalt. Die haben genau erkannt, wo der Vorteil liegt und was man lieber mit der Hand macht.“ Zitat 4.14: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
4.1.1.5 Computer als Mindtool Über ein kreatives Werkzeug hinaus kann der Computer auch als Mindtool fungieren. Die SchülerInnen des SelMa-Falls haben die Möglichkeit mithilfe der medienzentrierten Lernumgebung, Ergebnisse grafisch darzustellen und unterschiedliche Zahlenwerte in die Aufgaben einzutragen, das folgende Arbeitspaar nutzt diese Option3: Der Schüler sitzt direkt am Computer und bedient diesen, während seine Mitschülerin im Matheheft mitschreibt. S: „Sag mal, sollen wir b mal verändern? (...) Soll ich mal? Mal gucken, wie das aussieht?" (...) (Schüler verändert Zahlenwerte) Sin: „Jaha, ist ja cool, aber die gleiche Spiegelung dann jetzt, das bleibt, ..mach mal ne –2 oder so, ist ja cool, noch mal (..Lachen, Text zwischendurch unverständlich). Das glaub ich nicht, mach mal ne 3 oder so ... Oh (enttäuscht) Ne, das ist ja nicht lustig, mach mal das Minus da weg ... Also, wenn du negative Werte da eingibst, dann ist es viel schöner! (Lachen) Ist ja gut J., komm mach mal weiter (Lachen) ... künstlerische Fähigkeiten"4 Videotranskript 4.2: SchülerInnen, SelMa, Sek. II
3 Vgl. zu dieser Programmoption, Abschnitt 4.1.1.4 4 Später wird dieses Ausschnitt auch im Hinblick auf die soziale Dimension analysiert (vgl. Videotranskript 4.45).
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Die Initiative mit den grafischen Optionen des Programms herumzuspielen, geht von dem Jungen aus. Das Mädchen scheint sich bis zu dieser Stelle gar nicht über diese technischen Möglichkeiten bewusst zu sein („geht das?“). Nachdem der Schüler die Werte verändert hat, ist die Schülerin sehr begeistert und steigt mit in das Spiel ein. Die Atmosphäre ist ungezwungen, mathematische Aspekte bekommen durch diese Funktion einen spielerischen Charakter. Die Schülerinnen lernen „nebenbei“, z. B. wie unterschiedlich sich positive und negative Werte auf die grafische Ergebnisdarstellung auswirken, auch wenn die Schülerin es in diesem Moment aus einer künstlerischen Perspektive sieht („Wenn Du negative Werte eingibst, ist es viel schöner!“). Die Schüler generieren auf diese Weise mithilfe des Programms über ein visuelles Lernen Wissen. Ein Potenzial der digitalen Medien liegt in der Interaktivität, die mit anderen Medien nicht möglich wären. So können z. B. die SchülerInnen in dem SelMaFall selbst ihre Erkenntnisgewinnung steuern und entdeckend lernen. Es gibt keine eindimensionalen Lösungswege, sondern verschiedene Möglichkeiten der Aufgabenbewältigung. Die SchülerInnen können eigenständig darüber entscheiden, welche Hilfsmittel sie nutzen möchten. Hierzu bietet die interaktive Lernumgebung verschiedene Systemkomponenten ( z.B. grafische Animationen). „Wo interaktive Programme sind, (kann) ich was eingeben und da verändert sich was; wie dreht sich der Stern, was bewirkt das, was ich tue? (...) Der Schüler entscheidet selber, was er eingibt oder anklickt, wie das Bild aussieht, statt dieses ganz normale Lösung: richtig oder falsch.“ Zitat 4.15: Lehrer, SelMa, Sek. II
Der Computer ermöglicht durch die Funktion der schnellen grafischen Darstellung der unterschiedlichen Zahlenwerte Erkenntnisse, die ohne seinen Einsatz in dieser Form nicht oder nur unter sehr umständlichen Bedingungen möglich wären. Durch derartige Funktionen der Lernumgebung wird der Computer im Fall SelMa und im Wirtschaftsprojekt zu einem Mindtool. Im Wirtschaftsprojekt wird das Programm Excel genutzt, um die Entwicklung eigener Geschäftsideen rechnerisch zu stützen. Viele dort genutzte Optionen (z. B. „verkettete Tabellen“), wären ohne dieses Programm kaum möglich . „In Phase drei steht die Entwicklung eigener Geschäftsideen und die Umsetzung in einen Businessplan im Zentrum (...). Mit Excel kann ich zum Beispiel Kalkulationen durchrechnen oder meine Parameter verändern usw.. Verkettete Tabellen z. B. im Programm Excel wären ohne PC gar nicht möglich.“ Zitat 4.16: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
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4.1.2 Aufgabenstellung/ Didaktik Die Integration des Computers in den Unterricht kann, auch wenn sie keine notwendige Bedingung darstellt, bestimmte didaktische Lernformen, wie offenes, kooperatives Arbeiten und eine innere Differenzierung stützen: „Elemente, die ich entscheidend halte für die Computerarbeit, (waren) von vorneherein vorhanden. Eher in offenen Formen arbeiten, Kinder kooperativ arbeiten lassen, die verschiedenen Tempi (berücksichtigen). Insofern hat es sich nicht geändert. Es kam ein Werkzeug dazu, welches man hervorragend dafür einsetzen kann und auch besonders unkompliziert einsetzen kann, wenn man sowieso schon in diesen Formen arbeitet.“ Zitat 4.17: Lehrer, Freier Medieneinsatz, Primarstufe
Im Folgenden werden die wichtigsten Merkmale der didaktischen Unterrichtsgestaltung in den Fallstudien vorgestellt, wie ein selbst gesteuertes und schülerzentriertes Lernen, die Unterrichtsform der Freiarbeit mit instruktionalen Anteilen, der Schwerpunkt auf fächerübergreifende, authentische Aufgaben, die Betonung des Teamworks5 sowie die Öffnung des Unterrichts durch den Austausch mit schulexternen Partnern und der Aspekt der Produkt und Zielorientierung. 4.1.2.1 Selbst gesteuertes und schülerzentriertes Lernen Der Einsatz des Computers kann ein selbst gesteuertes und schülerzentriertes Lernen fördern, das durch eine entsprechende Aufgabenstellung z. B. die Bereitstellung einer Auswahl verschiedener Lernthemen gestützt wird. Die SchülerInnen können im Sinne einer inneren Differenzierung je nach Lerntyp und Interessenlage mitbestimmen, wann und wie sie etwas bearbeiten. Die folgende Lehrerin betont die Bedeutsamkeit eines Angebotes verschiedener Lernoptionen: „Es gibt verschiedene Zugänge [zum Unterricht]. Man kann nicht sagen, dass es nur einen gibt. Man muss möglichst viele verschiedene anbieten.“ Zitat 4.18: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
5 Prozesse des selbstgesteuerten Lernens und Gruppenlernen wirken sich positiv auf den Erwerb von Schlüsselqualifikationen aus und zählen zugleich selbst als Schlüsselqualifikation (Deutschmann, 2003, S.90). Die Themen selbstgesteuertes und kooperatives Lernen werden daher noch einmal ausführlich als Output der Projekte (im Kapitel „Erwerb von Schlüsselqualifikationen“) beschrieben.
4.1 Kontext: Merkmale der Lernumgebung
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Die Grundschullehrerin hat eine sogenannte Märchenkartei entwickelt, aus der die SchülerInnen zwischen unterschiedlichen Themen frei wählen können. Mögliche hierin enthaltene Aufgaben sind beispielsweise: Ein neues Märchen schreiben, bestehende Märchen verfremden, ein Märchen als Hörspiel bearbeiten, ein Märchen als Comic malen, Märchengedichte erstellen oder Kleider für eine Märchenfigur schneidern. Hierbei wirkt der Computer als nützliches Werkzeug, die SchülerInnen dürfen aber auch Aufgaben ohne Mediennutzung bewältigen. Viele SchülerInnen entwickeln erst ein Konzept (oft auch ohne PC), um es dann in den Computer einzugeben. Sin1: „Wir schreiben Sachen auf dem Computer, z. B. neue Märchen oder wenn man ein Bilderbuch macht, schreibt man das im PC und druckt es dann.“ S1: „Ich und die Katrin machen auch was mit den Märchen. Wir machen ein Hörspiel. Das haben wir erst auf Blockblätter geschrieben und tippen das in den PC. Dann wollen wir das auf den Laptop von Frau L. sprechen.“ Sin2: „Ich habe eigentlich nichts, wo man mit dem PC zu tun hat. Ich mache Kleider für eine Puppe.“ S2: „Wir schreiben Märchen zu einem Gedicht. Wir entwerfen das gerade und verkürzen und dann schreiben wir das auf dem Computer.“ Zitat 4.19: SchülerInnen; Märchenprojekt, Primarstufe
Dadurch, dass die SchülerInnen eigenständig aus einem Pool ihre Aufgaben suchen dürfen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass durch diese ihre eigenen Interessen berührt werden und sie entsprechend intrinsisch motiviert sind. Auch die folgende Grundschullehrerin betont, dass digitale Medien über das Angebot verschiedener Aneignungsformen das Potenzial innewohnt, unterschiedliche Lerntypen zu erreichen, was sie durch eine meist eindimensionale Wissensvermittlung in ihrer Rolle als Lehrperson nicht leisten kann. Gerade die digitalen Medien können als Werkzeug zur aktiven Wissensaneignung fungieren und stehen dem passiven Aufnehmen im Frontalunterricht gegenüber. Bei der selbst gesteuerten Informationsrecherche z. B. via Internet können die SchülerInnen, neben der Aufnahme der Informationen über einen anderen Sinneskanal, ihr eigenes Lese- und Lerntempo bestimmen. Außerdem können die SchülerInnen über das Internet auf ein größeres Repertoire an Wissensressourcen zurückgreifen und daher auch etwas über Wissensgebiete erlernen, über die die Lehrperson noch kein Expertenwissen besitzt und weitergeben kann. Aus diesen Gründen zieht sich die Lehrerin während des Unterrichtes bewusst zurück: „Es gibt ja auch Kinder, die können verbale Informationen nicht so schnell hintereinander aufnehmen. Das ist ja auch eine Information, die da verbal kommt.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement Kinder, die in dieser Beziehung damit umgehen können, warum muss ich die noch mit meinem „Gerede" praktisch belästigen, wenn ich sage, du bekommst alles das raus. Du bekommst sogar das raus, was ich dir vielleicht nicht beantworten kann, wenn du mich jetzt fragst.“ Zitat 4.20: Lehrerin, Freier Medieneinsatz, Primarstufe
Im Fall SelMa können die SchülerInnen teilweise selbst bestimmen, wann sie welche Aufgabe bearbeiten möchten. So gibt es neben Pflichtaufgaben einen Anteil freiwilliger Aufgaben. SchülerInnen können sich erst einmal einen Überblick über die Aufgaben6, die als Lernstationen konzipiert sind, verschaffen, um sich dann gezielt für eine zu entscheiden. Bereits angeeignete Ressourcen der einen Aufgaben (z. B. Matrizenrechnung) können so auf andere übertragen werden. Diese Form des Stationenlernens zielt durch eine nicht lineare Verknüpfung zwischen den Stationen auf ein selbst gesteuertes und vernetztes Lernen der SchülerInnen: „Ich wollte noch mal zu diesem Hin- und Herklicken und zum Stationen anschauen und verwerfen etwas sagen:(...) Dadurch, finde ich, entsteht in den Köpfen der Schüler so langsam auch eine Vernetzung (..), dass es solche Problemstellungen gibt, die an welcher Stelle womit zu tun haben, dann klicke ich zum dritten Mal diese Station an und dann kann ich sie besser einordnen, was das eigentlich bedeutet. Das gehört alles dazu und ist auch wichtig im Unterschied zu diesem linearen, dass man sagt: „Heute machen wir die Aufgabe 3a und danach 4b" Da vernetzt sich erst mal gar nichts.“ Zitat 4.21: Lehrer, SelMa, Sek. II
Viele Lehrpersonen schildern, dass sie es langfristig als Entlastung und Bereicherung erleben, wenn sie nicht ständig als Wissensvermittler fungieren müssen, sondern die SchülerInnen eigenständig Informationen zu ihren Fragen aus dem Internet recherchieren. Auf diese Weise unterstützen die digitalen Medien das selbst gesteuerte Lernen der SchülerInnen. „Ich selber begrüße das und ich empfinde das eher als eine Erleichterung und Bereicherung wenn die Kinder nicht mehr mich fragen, sondern sagen sie schauen, ob sie im Internet etwas finden. (...) Es wird ein Teil der Wissensvermittlung aus der Hand genommen. Das können die Kinder selber übernehmen.“ Zitat 4.22: Lehrerin, Freier Medieneinsatz, Primarstufe
6 Die Aufgaben hängen inhaltlich unterschiedlich zusammen, so bauen einige aufeinander auf.
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Im Fall „freier Medieneinsatz“ müssen die SchülerInnen einen Fragenkatalog mithilfe des Internets beantworten, später können sie einen Aufsatz über zentrale Ergebnisse schreiben. Ihre Wahlmöglichkeiten sind daher eher gering, sie können lediglich eine eigene (kleine) eigene Schwerpunktsetzung vornehmen. Im Medienprojekt und im Wirtschaftsprojekt ist der Grad der Selbststeuerung der SchülerInnen sehr hoch, so können sie z. B. eigene Projektideen kreieren. Sie können sich eigene Themen und die Medien selbst aussuchen. In beiden Projekten dürfen die SchülerInnen Einfluss auf ihre Arbeitszeit nehmen. Ihre intrinsische Motivation schlägt sich u. a. auch in einer großen Investition von Freizeit nieder (-Zitat 4.159 , Zitat 4.187). Im Fall „Lernprogramme“ wird gerade durch die Freiarbeit das selbst gesteuerte Lernen gefördert. Strukturiert wird das Lernen der Schülerinnen durch einen Wochenplan, für deren Bearbeitung sie selbst Verantwortung übernehmen, zudem dürfen sie freiwillig Zusatzaufgaben wählen. Wie die SchülerInnen als selbst gesteuerte Lerner agieren und welche Rolle die Lehrpersonen hierbei einnehmen, wird in Kapitel 4.4.3 behandelt. 4.1.2.2 Freiarbeit mit instruktionalen Anteilen In den untersuchten Fällen dominiert die Form der Freiarbeit, die vor allem auch durch Partner- und Gruppenarbeit gekennzeichnet ist. Dennoch findet über alle untersuchten Fälle hinweg zeitweilig Frontalunterricht statt. Dieser ist nicht durch eine unidirektionale Kommunikation der Lehrperson zu ihren SchülerInnen gekennzeichnet, vielmehr findet ein von der Lehrperson gelenktes Klassengespräch statt7. Auch wenn in den offenen Unterrichtsphasen eine Schülerzentrierung vorherrscht, betonen sowohl die Lehrpersonen auch die SchülerInnen, dass lehrerzentrierte Phasen z. B. die Einführung in das Thema sowie die Zusammenführung von Ergebnissen nach wie vor wichtig sind. Die folgende Grundschullehrerin betont die Wichtigkeit eines Wechselspiels zwischen Frontalunterricht, unterstützender Beratung und selbst gesteuertem Lernen: „Frontalunterricht muss sein (...). Ansonsten versuche ich die Kinder möglichst früh und viel selbstständig arbeiten zu lassen; immer mit Hilfestellungen.“ Zitat 4.23: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe 7 Frontalarbeitphasen werden in der vorliegenden Untersuchung bewusst aus der Beobachtung ausgegrenzt, da der Schwerpunkt in der Schüler-Schüler- Interaktion liegt. Wenn die Lehrperson in diese strukturierend oder beratend eingriff, wurde dies in der Analyse der Interaktionsmuster berücksichtigt.
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In allen Fällen findet zu Beginn eine inhaltliche Einführung statt. Auf dieses Basiswissen aufbauend können die SchülerInnen im Wirtschaftsprojekt dann selbst gesteuert und kreativ eigene Ideen verwirklichen: „Die Schüler haben ja im Vorfeld jetzt zweimal gelernt, nach welchen Grundregeln so ein Unternehmen aufgebaut ist, wie es funktioniert, und wie es unter Umständen sicher in den Konkurs gesteuert werden kann. Sie haben also schon die Grundregeln, Grundprinzipien verstanden. Und anhand dieser Grundregeln versuchen sie dann, etwas Neues auf die Beine zu stellen, wobei beispielsweise auch die Kreativität der Idee eine gewisse Rolle spielen soll.“ Zitat 4.24: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Trotz der Betonung des selbst gesteuerten und individualisierten Lernens ist es wichtig, dass Gruppenarbeits- und Selbstlernphasen zeitweise von der Unterrichtsform des Klassengespräches abgelöst werden. Die Lehrperson übernimmt dann die Aufgabe (Zwischen-)Ergebnisse zusammenzuführen und Reflexionsprozesse gezielt anzuregen: „Es bleibt aber immer ein Rest, der am besten in der ganzen Gruppe besprochen wird. (...) Wie verfeinert wir das auch machen und wie viel Fehler und Stolpersteine wir da auch rausnehmen, ganz ohne unsere Beteiligung wird es wohl nicht gehen. Ich würde immer vorziehen, dass die Schüler eine Zeit lang daran arbeiten, aber dann muss vom Lehrer geplant ein Moment der Reflexion kommen, Schüler können das noch nicht selbstständig.“ Zitat 4.25: Lehrer, SelMa, Sek. II
Auch wenn durch den Computereinsatz individueller auf den Lernprozess der SchülerInnen eingegangen werden kann und ein selbst gesteuertes Lernen im Fokus steht, sehen es viele der Lehrpersonen nach wie vor als eine wichtige Aufgabe an, durch eine Strukturierung der Arbeitsprozesse für eine gewisse Kontinuität im Lernen zu sorgen, da einzelne Wissensressourcen aufeinander aufbauen. Die Orientierung an einen Lehrplan kann diese Strukturierung unterstützen: „Ich meine, dass man schon sehen muss, dass Medien den Lernprozess verändern – sie individualisieren ihn sehr stark. Man muss aber aufpassen – Schule ist ja auch an Lehrpläne und an das Fortschreiten einer Progression gebunden – wir können ja nicht alles Beliebige lernen: In einer Fremdsprache muss man eine Entwicklung sehen können. Die Dinge müssen aufeinander aufbauen. Die Entwicklung muss ich als Lehrer strukturieren.“ Zitat 4.26: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
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Ein Vergleich der Fälle zeigt, dass die Lehrpersonen vor allem in den Grundschulfällen noch eine relativ starke Lenkung übernehmen. Ausnahme bildet hier der Fall „freier Medieneinsatz“, so fällt auf, dass der Lehrer sich bewusst zurückzieht und versucht die SchülerInnen möglichst frühzeitig an selbst gesteuerte Lernformen heranzuführen (vgl. -Videotranskript). In den höheren Klassen, vor allem im Wirtschafts- und Medienprojekt übernehmen auch SchülerInnen instruierende und moderierende Funktionen, bzw. werden zu GruppenführerInnen (vgl. Videotranskript 4.30, Videotranskript 4.46). Die instruierende Rolle von Lehrpersonen wird noch einmal kurz in Abschnitt 4.4.1 thematisiert. Außerdem wird in Abschnitt 4.4.4 dargestellt, wie sich zu starke Lehrerinterventionen auf die Wissensgenerierung der SchülerInnen auswirken können. 4.1.2.3 Authentisches und fächerübergreifendes Lernen Authentische Aufgabenstellungen sind eine förderliche Rahmenbedingung für das Wissensmanagement der SchülerInnen. In allen untersuchten Fällen (außer in SelMa) werden fächerübergreifende Kompetenzen geschult. Welche Fächer in den einzelnen Fällen behandelt werden, ist Tabelle 3.2 zu entnehmen. Die Aufgaben sind durch die Realitätsnähe für die SchülerInnen mit einem tieferen Sinn verbunden, der sie intrinsisch motiviert. Nur in der Grundschule, in der Lernprogramme eingesetzt werden, dominieren eher künstliche, einfach strukturierte Sortier- und Zuordnungsaufgaben (vgl. Videotranskript 4.34). Im Fall „freier Medieneinsatz“ sollen die SchülerInnen im Internet Informationen über Meerschweinchen recherchieren und sich dabei u. a. vorstellen, sie wollten sich selbst eines anschaffen, sodass hier durch die Aufgabenstellung eine Ich-Bezogenheit und Realitätsnähe hergestellt wird. Im SelMa-Fall unterstützt insbesondere der Einsatz des TI 89, ein hochwertiger, grafikfähiger Taschenrechner, die Bearbeitung alltagsnahe Aufgaben. Die Absolvierung einzelner Rechenschritte tritt zugunsten der Problemlösungskompetenz in den Hintergrund: „Wir können z. B. realistische Aufgaben aus der Anwendung nehmen, wo die Schüler die Rechenarbeit den TI 89 machen lassen und sehr viel mehr mit Aus- und Bewertung beschäftigt sind. (...) Weil dieser ganze Rechenaufwand, den wir vorher hatten, den wir auch einüben mussten, jetzt entfällt. Das können wir dann für solche Dinge nutzen. Das meine ich auch mit „Mathematik ins Leben zurückstellen“. Zitat 4.27: Lehrer, SelMa, Sek. II
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Eine Besonderheit des Märchen-, Medien- und Wirtschaftsprojekts liegt darin, dass die Handlungen der SchülerInnen nicht mehr hauptsächlich einem Wissenszuwachs und deren Überprüfung durch Hausaufgaben oder Klassenarbeiten im Sinne eines (künstlich) überprüfbaren Lernens dient, sondern dass diese Produkte erstellen, die durch eine Veröffentlichung, den Austausch mit Externen oder eine Weiterentwicklung durch andere SchülerInnen einen authentischen Wert und Nutzen gewinnen. So werden die Aufgaben insbesondere durch die Einbeziehung externer Partner realitätsnah. Die Lehrerinnen des Märchenprojekts schildern z.B. wie erfolgreich sich die Einbeziehung eines Kriminalkommissars bei einer Lesenacht in der Schule auf das ganzheitliche Lernen und die intrinsische Motivation der SchülerInnen ausgewirkt hat. Durch das Lernen im Kontext würden die SchülerInnen auch mehr Wissen internalisieren als in der sonst meist eher künstlichen schulischen Lernumgebung. Einzelne Aufgaben oder Fächer stehen nicht mehr nebeneinander, sondern werden miteinander verbunden, was ein vernetztes Denken fördert: Lin1: „Die Lesenacht. Das war ganz gut, dass da der Kriminalkommissar kam (...), der dann auch richtig seine Uniform trug und am Abend da saß und die Fragen der Kinder beantwortet hat (...).“ Lin2: „Das hat so eine ganzheitliche Betrachtungsweise. Das fängt mit der Sprachbetrachtung an. Wir haben überlegt, wie muss ein Detektiv sein, wie formuliere ich einen Satz. Die Fragesätze.“ Lin3: „Vom Lehrplan ist auch fächerübergreifender Unterricht gefordert. Aber es ist trotzdem eine Seltenheit. In dem großen Maße habe ich es bisher nicht erlebt.(...).“ Lin4: „Es hat doch ein Beziehungsdenken. Es ist nicht alles so in Schachteln nebeneinander gestellt, sondern verwächst ineinander. Das ist positiv. Man kann es sich auch alles besser merken, was man da so erarbeitet. (...).“ Lin5: „Es ist alles nicht so gekünstelt. (...) Man kann eine Vorgangsbeschreibung machen, man kann Personenbeschreibungen mit reinbringen – diese ganzen Sachen macht man an dem Ziel. Das finden die Kinder auch logisch, einen Steckbrief zu machen. Das ist nicht an den Haaren herbeigezogen. Es ist ganz selbstverständlich – da lernen sie ganz anders und mit wesentlich größerer Begeisterung.“ Zitat 4.28: Lehrerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Die SchülerInnen aus dem Wirtschaftsprojekt schildern, wie wichtig ihnen die praxisnahe Gestaltung ihrer Projekte ist. Kleine und einfache Ideen gewinnen hierbei im Vergleich zu großen und allzu komplexen Konzeptionen. „Ich persönlich fand die Einfachen (Projekte) viel lobenswerter, weil sonst so viele Sachen unrealisierbar sind an der einen oder anderen Ecke.“ Zitat 4.29: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
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4.1.2.4 Klasseninterne bis schulexterne Kooperationen In allen untersuchten Fällen findet klassenintern Partner- und/oder Gruppenarbeit statt. Es kann zwischen drei Gruppenarten unterschieden werden8: Formelle Gruppen: Dieselben Gruppenmitglieder bearbeiten für einen Zeitraum von wenigen Tagen bis einigen Wochen eine gemeinsame Aufgabe, bis sie ein spezifisches Ziel erreicht haben. Diese Form findet sich in den Fällen „Lernprogramme“, „freier Einsatz Neuer Medien“ und „SelMa“. Allerdings dominiert hier eher die Form einer informellen Partnerarbeit, mehr als zwei Schülerinnen bewältigten selten gemeinsam eine Aufgabe. Informelle Gruppen: Die Lernenden tauschen sich über einen Zeitraum von wenigen Minuten bis zu einer gesamten Maßnahme spontan aus. Ein derartiger informeller Austausch ließ sich in allen Fällen beobachten. Basisgruppen: Heterogene Gruppenmitglieder bearbeiten über einen längeren Zeitraum (bis zu einem Jahr) regelmäßig und kontinuierlich eine Aufgabe. Basisgruppen finden sich im Märchen-, Wirtschafts- und Medienprojekt. Es wird gemeinsam mit anderen ein größeres langfristiges Projekt umgesetzt. In vielen der untersuchten Fällen wird die Schülerzusammenarbeit durch eine entsprechende Anreizstruktur gestützt, indem z. B. der Aspekt Teamwork mit in die Benotung einfließt und die SchülerInnen Aufgaben bearbeiten, die auf eine wechselseitige Abhängigkeit („Interdependenz“) zielen (vgl. Abschnitt 4.4.5.c) Die Möglichkeit sich in der Freiarbeit informell und spontan auszutauschen, wird von den SchülerInnen gerne und produktiv genutzt. Interaktionen können je nach Bedürfnisorientierung aufgebaut und wieder losgelöst werden: L: „Die arbeiten erst allein und dann, nachher, ergeben sich erste Gespräche zweier, dreier, je nachdem, wie die zusammensitzen.“ I: „Ja das ging relativ spontan, ich habe gesehen, dass dann einzelne erst saßen und dass sie dann den Nachbarn mit einbezogen haben und rechts dann der Dritte hinzukam und dann ging das wieder auseinander.“ Zitat 4.30: Lehrer, SelMa, Sek. II
In der folgenden Klasse haben einige türkische SchülerInnen, die innerhalb der Freiarbeit Werbung für Urlaub in ihrem Heimatland machen wollen, via 8 Vgl. Johnson & Johnson, 1999, S.15
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Internetrecherche zunächst recht unstrukturiert Informationen zusammengetragen. Zur gezielten Strukturierung kann sich eine gedankliche Vorwegnahme der Frage nach den Bedürfnissen der potenziellen Adressaten positiv auswirken. Diese Zielgruppenorientierung wird hier durch die Frage eines Mitschülers angestoßen, der sich als „echter“ Adressat für Urlaub in Antalya interessiert. Der klasseninterne informelle Austausch kann auf diese Weise wichtige Anregungen zur Wissensgenerierung und -repräsentation bieten und über authentische Lernsituationen eine intrinsische Motivation der SchülerInnen fördern: „Ein Mädchenteam (will ...) ihr Heimatland vorstellen (...) also wie man in der Türkei Urlaub macht (...), die haben erst mal wild drauf los Bilder gesammelt und (...) Texte gemacht. (..) Einer, der mit der Arbeit momentan hängt und nicht so weiter konnte, düste zu den beiden rüber und sagte „ich will mal was über Antalya wissen." - „Wie Antalya? Moment mal." Da ging es schon los, da wurden sie jetzt von draußen drauf gestoßen (...) So allgemein würde nicht reichen.“ Zitat 4.31: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Es zeigt sich die Wichtigkeit spontaner Aushandlungsprozesse und dass sich auch Leerläufe einzelner SchülerInnen, die ggf. aus Langeweile Kontakt zu anderen Gruppen suchen, bereichernd auf die gemeinsame Wissensgenerierung auswirken können. Strenge Kommunikations- oder Klassenregeln wären hier wohl kontraproduktiv. Gerade der Einsatz der digitalen Medien und die Unterrichtsform der Freiarbeit bieten Freiräume für derart offene Interaktionsregeln. Zudem zeigt sich, dass das Internet als Plattform mit großen Informationsmengen zur Orientierungslosigkeit führen kann, wenn ein roter Faden/ eine klare Zielsetzung fehlt. Um eine Wissensteilung und gemeinsame Wissenskonstruktion der SchülerInnen zu fördern, fließt u. a. im Wirtschaftsprojekt der Aspekt Teamwork mit in die Benotung ein. Der „Wissensgeber“ gibt so nicht nur sein eigenes Wissen preis, sonders profitiert auch selbst von dieser Weitergabe, indem diese z. B. als kooperatives Sozialverhalten benotet wird und/ oder andere sein Wissen für das gemeinsame Projekt nutzen und fortführen. Die Bereitschaft eigenes Wissen weiterzugeben und gemeinsam im Team Wissen zu generieren, sind wichtige Schlüsselqualifikationen für ein Bestehen im Berufsleben und die Konkurrenzfähigkeit von Wirtschaftsunternehmen. „Später im Beruf nützt es wenig, wenn man alles Mögliche im Kopf hat und das letzten Endes dann nicht an andere weitergibt oder mit anderen teilen will, in der Teamarbeit dann völlig versagt, dann kann man auch eine Firma in Konkurs führen. Also dieser Aspekt Teamarbeit muss ebenfalls bewertet werden.“ Zitat 4.32: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
4.1 Kontext: Merkmale der Lernumgebung
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In allen Fällen (außer SelMa) erwähnen die Lehrpersonen, dass sie das Arbeitsund Sozialverhalten der SchülerInnen mitbewerten. In den Grundschulfällen fließt dieser Aspekt separat in der schriftlichen Beschreibung des Arbeits- und Sozialverhaltens ein. Im Wirtschafts- und Medienprojekt wird das Arbeits- und Sozialverhalten zu einem Bestandteil der Fachnote, der SchülerInnen haben in diesen Fällen ein Mitspracherecht bei der Notengebung, bzw. diskutieren gemeinsam mit der Lehrperson innerhalb einer Gruppendiskussion ihre jeweilige Fremd- und Selbsteinschätzung, die mit in die Bewertung einfließt. Innerhalb des Wirtschaftsprojektes sollen sich die SchülerInnen untereinander Feedback geben. Der betreuende Lehrer einer Gruppe beobachtet, dass die SchülerInnen sehr kritisch miteinander umgehen und ihr Tonfall teilweise hart ausfällt. Durch das Pflegen einer Feedbackkultur sollen die sozialen und inhaltlichen Kompetenzen der SchülerInnen geschult werden: „Das ist ein schöner Prozess, wenn die Kinder den Vortrag da vorn üben. Wir hocken da alle und dann gehen alle nacheinander nach vorn und üben. Ich kritisiere, aber die anderen sind noch viel brutaler. „Was sagt uns das denn? Wo willst du denn hin damit? Du kannst ja keinen ganzen Satz sprechen." Durch diese Sache werden sie in der sprachlichen Form und in der inhaltlichen Schärfe geschult. Da merken sie sofort, ob er das kapiert hat oder ob er um den Brei herum redet. Dieses Feedback innerhalb der Gruppe ist bedeutsam.“ Zitat 4.33: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Der Interviewausschnitt zeigt, dass es dem betreuenden Lehrer sehr wichtig ist, die Selbst- und Fremdwahrnehmung der SchülerInnen zu schulen. Ein gemeinsames Lernen wird durch den qualitativen symmetrischer Feedbackprozess unterstützt. Es wird deutlich, dass neben einer fachlich-inhaltlichen Dimension, nämlich einer sachlichen Rückmeldung die Beziehungsebene/ soziale Dimension nicht vernachlässigt werden sollte. Wird in den untersuchten Fällen eine gemeinsame Wissensrepräsentation angestrebt, scheint sich dies als Rahmen sehr positiv auf die Wissenskommunikation auszuwirken. Die SchülerInnen kooperieren verstärkt miteinander, gerade wenn ein gemeinsames Ziel angestrebt wird, deren Erfolg von ihren wechselseitigen Austauschprozessen abhängt. Andererseits ist durch ein fehlendes Einbringen einzelner Personen u. U. das ganze Projekt gefährdet, was dann zulasten engagierter SchülerInnen geht. Das folgende Zitat spiegelt die gegenseitige Abhängigkeit der Schülerinnen wider. Das Gemeinschaftsprodukt ist mehr als die Summe der Einzelleistungen:
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement „Bei dem Wirtschaftsprojekt müssen sich alle reinhängen und aufeinander verlassen können, weil es sonst nicht klappt und alles zusammenbricht.“ Zitat 4.34: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Ein weiterer Aspekt, der im Wirtschaftsprojekt den Wissensaustausch untereinander fördern soll, ist, dass trotz Arbeitsteilung bei der Wissensrepräsentation alle SchülerInnen auch die zentralen Ergebnisse der anderen internalisiert haben und vorstellen können. „Ich erwarte auch, dass jeder Schüler die ganze Präsentation der Geschäftsidee vortragen kann. Die teilen sich ja die Parts, trotzdem muss jeder alles können. Damit stelle ich sicher, dass alle das durchschaut haben.“ Zitat 4.35: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Die Art der Aufgabenstellung wirkt sich auf das Zusammengehörigkeitsgefühl und die Motivation der SchülerInnen aus. Hierbei scheint es sich positiv auszuwirken, wenn die Aufgabenstellung so konzipiert ist, dass sie gut in Partner- oder Gruppenarbeit bewältigt werden kann. Die SchülerInnen des Märchenprojektes sind besonders stolz darauf gemeinsam etwas Großes zu schaffen, zu dem jeder Einzelne seinen individuellen Part beiträgt, was alleine in dieser Form nicht möglich wäre. Lin1: „Wir haben dann gemeinsam ein Ganzes gemacht. Das ist ein großer Ansporn.“ Lin2: „(...) Wenn der Teil noch fertig ist, da kommen wir auf 100 Seiten. Das kriegt man allein nicht zusammen. Das ist unmöglich. So schreibt jeder seinen Teil. Jeder arbeitet auf seinem Niveau mit.“ Zitat 4.36: Lehrerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Indem viele SchülerInnen und durch den E-Mail-Austausch auch PartnerschülerInnen, in das Projekt involviert sind, deren Ziel u. a. das Erstellen eines gemeinsamen Märchenbuches ist, erfahren sie, dass über eine konstruktive und kooperative Zusammenarbeit Größeres geschaffen werden kann, als durch Einzelarbeit. Durch eine Aufgabenstellung, die darauf zielt, dass ein Erfolgserlebnis nur als Team möglich ist, wird eine enge Zusammenarbeit der SchülerInnen forciert. Ein Gemeinschaftsprodukt wird im Märchen-, Wirtschafts- und Medienprojekt angestrebt. Bei der Bearbeitung eines Gemeinschaftsprojekts verschwimmen die Einzelleistungen im Endprodukt. Die SchülerInnen können sich im Austausch mit
4.1 Kontext: Merkmale der Lernumgebung
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unterschiedlicher Qualität einbringen, eine innere Leistungsdifferenzierung, die eine Gruppe auch aushalten muss und thematisieren/ reflektieren sollte. „Man arbeitet mehr zusammen. Man muss von vorneherein ein Problem lösen. Das haben sie zu zweit und am Ende gewinnt man nur als Team. Man hat die Lösung oder nicht. Ob der eine jetzt besonders findig war und der andere leider nicht, das muss das Team erst mal unter sich ausmachen bei so einer Aufgabe.“ Zitat 4.37: Lehrer, Freier Medieneinsatz, Primarstufe
Eine geringe Interdependenz z. B. in der Phase des Abtippens von bereits erstellten Arbeitsprodukten führt dazu, dass die SchülerInnen eine Arbeitsteilung aushandeln, die meist mengen- oder zeitorientiert und eben nicht ressourcenabhängig erfolgt (vgl. Kapitel 4.5.1). Es ließ sich zudem das Phänomen des Trittbrettfahrerdaseins, des Mitläufertums und der Verantwortungsdiffusion finden (vgl. Abschnitt 4.5.3). Da die Arbeitsergebnisse der SchülerInnen in den untersuchten Fällen oftmals Gemeinschaftsprodukte sind, lässt sich für Außenstehende z. B. Eltern nicht mehr extrahieren, welcher Anteil von welchem Kind stammt, was einige Eltern verunsichert. Allerdings ist hier kritisch anzumerken, dass auch einzeln geführte Arbeitshefte nicht immer die Leistung der Kinder widerspiegeln, wenn es sich z. B. um von der Tafel oder von MitschülerInnen abgeschriebene Werke handelt. „Wenn im Heft etwas steht, ist es eben auch vorzeigbar. (...) In der freien Arbeit ist das nicht so nachweisbar. Sie lernen da zwar wesentlich mehr, aber es ist nicht fixiert. Ich kann auch nicht sagen, dass ich 20 Aufsätze im Heft stehen habe, sondern viele Dinge sind gemeinsame Mappen. Da ist bei vielen Eltern: „Was ich nicht sehen kann, weiß ich nicht, ob mein Kind es gelernt hat." Zitat 4.38-: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Die befragten Lehrpersonen befürworten das Streben nach einem Gemeinschaftsprodukt, da sie beobachten, dass die gemeinsame Wissensgenerierung oft zu einem effektiverem Lernen führt als das Streben nach Einzelleistung. In Abschnitt 4.1.2.5 wird noch einmal kurz auf diesen Aspekt der Ziel- und Produktorientierung verwiesen. Allerdings birgt das Streben nach einem Gemeinschaftsprodukt auch die Gefahr des Mitläufertums und Trittbrettfahrerdaseins sowie die Gefahr, dass fehlende Absprachen zu einer Verwortungsdifussion führen können (vgl. Abschnitt 4.5.3).
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Austausch mit Externen Der Unterricht wird durch den Austausch mit Externen geöffnet, es finden klassen- und schulübergreifende sowie schulexterne Gruppenarbeiten statt (vgl. Wirtschaftsprojekt: Zitat 4.2, Medienprojekt Zitat 4.11, Zitat 4.182). Eine kooperative Zusammenarbeit gestaltet sich im Märchenprojekt u.a. derart, dass ältere Partnerschülerinnen Übersetzungen vornehmen und somit die Arbeitsprodukte der jüngeren SchülerInnen aufgreifen und fortführen. Bei der Wissenskommunikation spielt der Einsatz von digitalen Medien z. B. E-Mail eine wichtige Rolle, denn über diese werden Zwischenprodukte ausgetauscht. Durch die gemeinsam angestrebte Veröffentlichung werden die SchülerInnen zu Produzenten und indem sie die Werke der anderen lesen, zugleich zu Konsumenten. „Wir wollen den Kalender, das Tagebuch oder das Märchenbuch für und mit den anderen machen. Dieses Miteinander. Gerade bei den Sagen haben die Älteren es häufig übersetzt und an die Kleinen zum Illustrieren geschickt. Dadurch kam ein Gemeinschaftsprodukt raus.“ Zitat 4.39: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Die Projektarbeit im Märchenprojekt wird u. a. durch den Austausch mit einer Märchenbuchautorin sehr bereichert. Es wird ein großes intrinsisches Interesse an dem Thema geweckt, das zugleich einen authentischen Bezug erhält. Durch den direkten Austausch erfahren die SchülerInnen, dass sich auch hinter Schriftstellern Menschen wie du und ich verbergen und sie selbst ähnliches schaffen könnten. Durch die enge Zusammenarbeit mit derart positiven Vorbildern kann ihre Selbstwirksamkeit gestärkt und soziale Hürden überwunden werden. Zugleich ändert sich ihre Rolle, so können sie über Fragen an die Expertin Wissen generieren und müssen nicht, wie meist im lehrerzentrierten Unterricht, Antworten auf Lehrerfragen geben: Lin1: „Für die Kinder war es schon ein Highlight, dass Frau S. kam. Sonst sieht man die Personen immer nur auf dem Buchrücken. Das hat ihnen imponiert, dass durch die Arbeit auch so etwas zustande kommt.“ Lin2: „Die waren auch angetan, was das für eine einfache Frau war: Was die hat sich das ausgedacht? Dann war immer die Verbindung da: Wir können das auch. Das muss nicht jemand besonderes sein. Das war gut.“ Lin1: „Meine (SchülerInnen) hat immer interessiert, wo man die Ideen herbekommt, wie man weiterschreiben kann, wie schafft man es, so viele Bände zusammen zu kriegen, ohne dass es langweilig wird.“ Zitat 4.40: Lehrerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
4.1 Kontext: Merkmale der Lernumgebung
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4.1.2.5 Produkt- und Zielorientierung Besonders motivierend ist es für die SchülerInnen, wenn ihre Arbeit produktorientiert ist und sie ein klares Ziel, bzw. Endprodukt anstreben wie im Märchen, Wirtschafts- und Medienprojekt sowie im Fall „freier Medieneinsatz“. Die Endprodukte sind mit einer authentischen Zielsetzung verbunden, diese kann z. B. darin bestehen für eine „echte“ Zielgruppe zu schreiben. „Es hat (sich ...) zu ein(m) tolle(n) Produkt (entwickelt), was sich die Eltern, die Eltern anderer Kinder, der Leser, sie, gerne angucken. Der eigentliche Sinn des Schreibens, nämlich für einen Leser zu schreiben, ist jetzt endlich mal hergestellt. Das ist mir früher nie gelungen.“ Zitat 4.41: Lehrer, Freier Medieneinsatz, Primarstufe
Der Austausch mit externen Partnern, den die SchülerInnen bereits beim Erstellen ihrer Arbeitsprodukte antizipieren, hat Einfluss auf ihr Arbeits- und Rollenhandeln. Das Feedback durch Externe wird antizipiert und führt durch das Einnehmen der Rolle des Alter-Egos zu einer Selbstevaluation (vgl. Zitat 4.31). Neben einer guten schriftlichen Aufbereitung ihrer Ergebnisse mithilfe digitaler Medien schulen die SchülerInnen ihre mündlichen Präsentationsfertigkeiten, intrinsisch motiviert durch die „echte“ Zielgruppe“ des Fachpublikums. Über ein derartiges Fachwissen verfügen die Lehrpersonen meist nicht. Die SchülerInnen sind daher gezwungen, sich selbst detailliert zu informieren und vorzubereiten, da die Kontrollfunktion ihrer Arbeitsergebnisse durch die geplante Veröffentlichung vor Spezialisten größer ist als bei schulischen Referaten. Sin1: „Bei einem Referat haben die Lehrer die Hälfte der Zeit selbst keine Ahnung, wovon man redet. Hier ist es so, vor allem der Druck, da sitzen Leute, die Ahnung haben und man darf sich nicht widersprechen. (...) das ist schon etwas anderes, als (...) in der Schule. Die Leute haben richtig Ahnung, die dort vor einem sitzen.“ (...) Sin2: „Man merkt auch, dass viele das freie Sprechen gelernt haben, die es vorher vielleicht gar nicht konnten. Die müssen dann jetzt zwangsweise vor einem Riesenpublikum vortragen und für viele ist das ein Vorteil. Bei denen ist es dann vielleicht auch eine Motivation gewesen, das zu lernen.“ Zitat 4.42: Schülerinnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Gerade dadurch, dass die Wissensrepräsentationen der SchülerInnen anderen zugänglich gemacht werden, gewinnt der Unterricht an Authentizität und Ernsthaftigkeit. Die SchülerInnen werden hierdurch motiviert, ihr eigenes Wissen „preiszugeben“ und zu verteilen. Die Art der Zielgruppe kann unterschiedlich
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
sein, so wird zum einen für einen relativ kleinen Adressatenkreis wie Eltern geschrieben (Wissen repräsentiert), während in einigen Fällen durch eine Internetveröffentlichung indirekt die ganze Welt Adressat sein kann. Durch die Bedeutsamkeit dieser Zielgruppe strengen sich die Kinder besonders an. Lin1: „Durch die Veröffentlichung im Internet achten sie unheimlich darauf, dass es stilistisch alles stimmt. (...)“ (...) Lin3: „Es ist jetzt ein Adressat da, und die Kinder können freier schreiben. Die Kreativität wird gefördert.“ Zitat 4.43: Lehrerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Im Wirtschaftsprojekt erleben die SchülerInnen durch die Präsentation ihrer Arbeitsprodukte vor Externen, eine besondere Wertschätzung ihrer Arbeit. „Wenn hinterher ein Produkt da ist, mit dem sie sich identifizieren können, was auch nach draußen geht und nicht immer schulintern ist, bewirkt einmal eine Öffnung der Schulen und man erfährt eben seine eigene Wertigkeit. Das ist schon sehr befriedigend.“ Zitat 4.44 Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
In allen Fällen (bis auf SelMa) erstellen und kreieren die SchülerInnen mediengestützt Produkte. Wie bereits dargestellt (vgl. Abschnitt 4.1.1.4) fördern Produktivitätstools eine Produktorientierung. Für die Phase der Wissensgenerierung und -repräsentation ist es anscheinend günstig, wenn die SchülerInnen innerhalb eines klaren äußeren organisatorischen Rahmens, der durch Ziel und Zeit abgesteckt ist, definiert ist (wie z. B. im Wirtschaftsprojekt durch die Endpräsentation), frei agieren können. Die Verantwortung dafür, dass das Ziel erreicht wird, übernimmt die Gruppe und kann den Weg dorthin eigenständig bewältigen. Durch den äußeren zeitlichen Rahmen und die klare Produktorientierung sind die SchülerInnen gezwungen, ihre Arbeit zu strukturieren und zu systematisieren, haben aber inhaltlich genug Freiraum ihr Wissen selbst gesteuert zu managen. Während die Lehrperson im konventionellen Unterricht diese Prozesse steuert, ziehen sie sich hier mehr zurück und agieren helfend im Hintergrund. „(Der Punkt der Endpräsentation forciert...) den Arbeitsprozess (...). Hier lernen sie systematisch auf den Punkt zu arbeiten. (...) Wir haben einen Auftrag, der am so und so vielten erfüllt sein muss. Das Team ist dafür verantwortlich, dass das ohne Wenn und Aber klappt.“ Zitat 4.45: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
4.2 Intervenierende Variable: Genderfokus
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4.2 Intervenierende Variable: Genderfokus Nachdem im vorherigen Kapitel die äußeren Kontextbedingungen, nämlich die Beschaffenheit der Lernumgebung dargelegt wurde, wird nun als eine wichtige innere/ personale Rahmenbedingung der Interaktionen die Gender-Perspektive eingenommen. Es wird in diesem Kapitel anhand der empirischen Daten gezeigt, wie durch eine geschlechtsspezifische Sozialisation eine männlich geprägte Computerkultur entstehen kann, außerdem werden die computerbezogenen Selbst- und Fremdbilder der Mädchen und Jungen fokussiert sowie gezeigt, inwiefern die Lehrpersonen für Doing Gender-Prozesse sensibilisiert sind. 4.2.1 Männlich geprägte Computerkultur Im Kreise der Familie scheinen vornehmlich männliche Personen, wie Väter und Brüder im Computerbereich als Vorbilder zu fungieren, erste Computererfahrungen sammelten die befragten Jungen und Mädchen nach eigenen Angaben meist gemeinsam mit diesen. Über alle geführten Schülerinterviews hinweg gab nur eine einzige Schülerin an, dass sie erste Computererfahrungen gemeinsam mit ihrer Schwester erworben hat. Sie scheint nach wie vor die Ausnahme zu sein. Die Einstellung dieses Mädchens hat sich durch das Sammeln eigener Erfahrungen am Computer gewandelt, so sei das Arbeiten am PC doch nicht so langweilig, wie zunächst angenommen: Sin1: „Ich habe auch zu Hause eine Geschichte geschrieben. (...) Das waren zwei Seiten und das war dann doch nicht so langweilig. Meine Schwester hat mir auch ein bisschen geholfen.“ Sin2: „Bei richtig langen Geschichten hilft mir dann der Papa.“ Zitat 4.46: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
In keiner der Befragungen wurde von dem Computer einer Mutter gesprochen. Kinder lernen so bereits unbewusst in der Familie, dass Computer Männersache sind: „Computer selbst haben meistens die Väter und da dürfen die Kinder ab und an ran.“ Zitat 4.47: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Auch bei der schulischen Computereinführung bestätigt sich die in der Literatur gefundene männlich geprägte Computerkultur (vgl. Abschnitt 2.4.5): Es engagieren sich die Väter der Kinder, weibliche Identifikationsfiguren scheinen kaum zu existieren: „Als der Schwung von der Dresdner Bank kam, hat er (ein Vater) alles installiert und Herr M., der ist aber auch beruflich eingespannt. Das sind meistens die Väter, die auch mehrheitlich arbeiten gehen.“ Zitat 4.48: Lehrerinnen, Lernprogramme, Primarstufe
Mädchen scheinen zudem weniger Computerzugangsmöglichkeiten zu besitzen als ihre männlichen Mitschüler. Oftmals schildern sie, dass sie bei Bedarf auf den Rechner von männlichen Verwandten oder Freunden zurückgreifen, während Jungen von ihren Erfahrungen am eigenen PC berichten: S1: „Ich habe einen eigenen (Computer) und meine Eltern haben auch noch einen.“ Sin1: „Ich bin benutze manchmal den von meinem Bruder.“ S2: „Ich benutze meinen nicht so oft, weil ich keinen Drucker habe und der Computer ist auch schon älter und hat nicht so viel Speicherplatz.“ I: „Hast du auch einen Computer zu Hause von Geschwistern oder einen eigenen?“ Sin2: „Von meiner Mutter der Freund hat einen, den darf ich mal benutzen.“ Zitat 4.49: SchülerInnen, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Durch die geringeren Zugangsmöglichkeiten haben Mädchen im Vergleich zu Junge weniger Chancen sich eigenständig Computerkompetenzen anzueignen. Die Folge ist, dass Jungen in der Schule im Umgang mit Computern meist auf deutlich mehr Vorerfahrungen zurückgreifen können als ihre Mitschülerinnen. Diese Unsicherheiten scheinen dazu zu führen, dass sich Mädchen zunächst eher zurückhaltend bis ablehnend gegenüber den digitalen Medien verhalten. Zudem hat sich oftmals ein negatives Selbstkonzept bezüglich der eigenen Computerfertigkeiten herausgebildet, was sich in Ängsten und Unsicherheiten niederschlägt. Einige Lehrpersonen beobachten, dass sich diese Unsicherheiten bei der schulischen Computernutzung nach einer Einführungsphase legen. Lin2: „Es gibt Kinder (....), die ganz ablehnend waren (...) und sich das überhaupt nicht zugetraut haben. Das ist jetzt auch nach einem Jahr überhaupt kein Thema mehr. Es sind alle damit vertraut und benutzen das völlig selbstverständlich.“ I: „Waren das mehr Jungen oder eher Mädchen?“ Lin2: „Mädchen.“ Zitat 4.50: Lehrerinnen, Freier Medieneinsatz, Primarstufe
4.2 Intervenierende Variable: Genderfokus
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4.2.2 Unterschiedliche Medienzugänge bei Jungen und Mädchen? In den Interviews wurde u. a. gezielt nach Unterschieden im Medienzugang bei Jungen und Mädchen gefragt. Dieser Fragestellung liegt der Differenzansatz zugrunde. Sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die befragten Lehrpersonen schildern häufig von geschlechtsspezifischen Interessen im Umgang mit dem Computer. So wird u. a. berichtet, dass Jungen eher spielorientiert und an technischen Daten interessiert seien, während Mädchen eher produktorientiert arbeiten würden: „Die Jungen wollen spielen und interessieren sich, wie schnell das Ding ist. Mädchen wollen etwas produzieren. Sie sind viel zielgerichteter.“ Zitat 4.51: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Auch die Umgangsweisen am Computer sind laut den Befragungen unterschiedlich. So scheinen die Jungen insgesamt experimentierfreudiger zu sein, sie probieren gerne Sachen aus und haben anscheinend auch weniger Angst als die Mädchen, am Computer durch Versuch und Irrtum zu lernen: „Die Jungen eher nach dem Motto, drücken wir mal die Taste und gucken, was passiert. Die Mädchen eher, ich will nichts kaputt machen, beobachtend, was muss ich machen.“ Zitat 4.52: Lehrerin, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Ein Lehrer betont immer wieder, dass nach seinem Eindruck die stereotypen Vorstellungen der Technikdistanz der Mädchen und des Interesses der Jungen der „Wirklichkeit“ entsprächen, also gewissermaßen eine Tatsache darstellen, die er nicht infrage stellt. In seinem Erleben und Beobachten scheint er Mädchen keine Technikkompetenz zu zuschreiben, so hält er es für „schwieriger“ diese Domäne „an die Frau zu bringen“, inwieweit er dies versucht hat, bleibt offen. Mädchen würden sich innerhalb der Medien-AG eher im darstellerischen und die Jungen im technischen Bereich starkmachen. Als Ursache für das starke technische Interesse der Jungen wird die geschlechtsspezifische Sozialisation angesehen: „Interessant allerdings ist, dass z. B. die wirklichen Techniker Jungs sind. Also die wirklich mehr so diese Computertiefblicke haben, das sind mehr so die Jungs. Während sich die Mädchen, die hier sich so sehr stark engagiert haben, mehr so im darstellerischen Bereich, sprich Moderation, Texte schreiben oder im Interview-
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement bereich sehr stark eingebracht haben. Aber was so Schnitttechnik angeht, wie geschnitten wird etc., mehr so die Jungsdomäne ist. Das ist in sofern schwieriger an den Mann äh an die Frau zu bringen. Es ist wirklich so, aber das ist auch eine Sache, die hängt damit zusammen, dass man das denen schon früh reinredet. Den Jungs und den Mädels.“ Zitat 4.53: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Positiv zu bewerten ist, dass einige der befragten Lehrpersonen betonen, dass sich die Unsicherheiten von Mädchen, aber auch von Jungen, die zuhause keine Zugangsmöglichkeiten zu einem Computer besitzen durch regelmäßigen Computereinsatz im Unterricht langsam legen würden. Ein schulischer Medieneinsatz könnte auf diese Weise ggf. zur Chancengleichheit der Geschlechter und zwischen SchülerInnen mit und ohne eigenen Computerzugang beitragen (vgl. auch Zitat 4.49): „Also am Anfang begünstigt es natürlich die Schüler, die sich damit auskennen, bei anderen ist erst mal teilweise eine Hemmschwelle. Aber da wir in der Schule den PC relativ häufig einsetzen (...) wurden (die Ängste) ruck zuck beseitigt: In der Oberstufe treten die eigentlich gar nicht mehr auf.“ Zitat 4.54: Lehrer, SelMa, Sek. II
In diesem Zusammenhang wird immer wieder eine frühzeitige schulische Computereinführung für beide Geschlechter befürwortet. Jungen, die sich nach wie vor oft im heimischen Elternhaus und Freundeskreis früh mit Computern auseinandersetzen, haben im Vergleich zu Mädchen meist bereits bei der Einschulung einen kleinen Wissensvorsprung. Diesen könnten die Mädchen durch eine rechtzeitige Konfrontation mit Computern im Grundschulbereich wieder aufholen, da hier der Vorsprung der Jungen noch nicht so ausgeprägt ist wie in höheren Klassen. „Was noch interessant ist, wir hatten seit der 1. Klasse immer PCs im Raum. (...) Die Mädchen haben sich am Anfang etwas gescheut. Die Jungen sind sofort darauf geflogen. Inzwischen haben die Mädchen diese Scheu längst nicht mehr. Sie wissen, wie sie damit umgehen. Das finde ich gut.“ Zitat 4.55: Lehrerin, Lernprogramme, Primarstufe
Ein Grundschullehrer betont, dass er noch keine großen Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen im Hinblick auf die Computernutzung, wie z. B. Hemmschwellen bei den Mädchen oder ein Vordrängeln der Jungen, wie er es von Oberschulen mitbekommen habe, beobachtet hätte. Der folgende Lehrer erlebt,
4.2 Intervenierende Variable: Genderfokus
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dass die Geschlechterdifferenzen in der Primarstufe im Hinblick auf den Umgang mit Computern anscheinend noch nicht so stark ausgeprägt sind wie bei älteren SchülerInnen: „Ich habe noch keine Barrieren hier beobachtet. (...) Im Grundnutzungsbereich sehe ich da keine Unterschiede. Das wurde oft schon von Oberschulen berichtet, dass die Jungen sich daran drängeln.“ Zitat 4.56: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Doch auch in der Sek. I und Sek. II kann der Computereinsatz laut den Lehrerinterviews noch eine Angleichung der Differenzen bewirken. Die betreuenden Lehrer des Medienprojektes schildern z. B., dass sie im Laufe der Zeit erste Veränderungen im Interesse der Mädchen an digitalen Medien beobachten. So legten sich deren anfängliche Unsicherheiten und wandelten sich in eine hohe Motivation mit Computern zu arbeiten: L1: „Es war ´ne Zeit sehr jungenlastig (...). Aber was die Situation jetzt im Moment angeht, denke ich gerade mal bei den Älteren ist es sehr ausgewogen.“ (...) L2: „(...) Mädchen sind etwas vorsichtiger. (...) Wenn sie aber erst einmal die Scheu verloren haben und dann feststellen, dass sie das ja auch können, dann sind sie auch wieder hoch motiviert und möchten am liebsten nur noch am Computer arbeiten.“ Zitat 4.57: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
4.2.3 Zuschreibungen von Mädchen und Jungen 4.2.3.1 Mädchen: Jungen als Computercracks- und –freaks Insbesondere in den Befragungen der SchülerInnen schlagen sich einige geschlechtsstereotype Vorstellungen nieder. So meinen einige, dass Jungen sich im Vergleich zu Mädchen mehr für Computer interessieren und auch kompetenter im Umgang seien. Dass sowohl Schüler als auch Schülerinnen Jungen mehr Kompetenz zuschreiben, spiegelt die männlich geprägte Computerkultur wieder. Dieses befragte Mädchen schreibt Jungen im Umgang mit dem Computer eine Expertenrolle zu. Sie fühlt sich selbst offensichtlich von dieser Expertenkultur, die für sie undurchschaubar ist, ausgeschlossen. Sie erhöht den männlichen Mitschüler, indem sie ihm im Computerbereich keinerlei Schwächen oder Lücken zutraut:
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement „Manche (Jungen) sind sehr interessiert, also die sitzen den ganzen Tag vor den Dingern rum. Die haben auch schon ihr Praktikum im Computerbereich gemacht. Im Unterricht tauschen sie dann irgendwelche Disketten oder Programme aus. Oder sie geben sich Tipps, wie man das und das lösen kann. (...) Der konnte alles.“ Zitat 4.58: Schülerin (GK11), SelMa, Sek II
Einige Schülerinnen gehen davon aus, dass Computerexperten wenig Sozialkompetenz besitzen, und begründen hiermit ihr Desinteresse am Fach Informatik. Zugleich scheint sich hier ihr negatives computerbezogenes Selbstbild nieder zu schlagen. Ursache für ihr Desinteresse könnte u. a. auch die stereotype Annahme sein, dass Jungen eher über technische Kompetenz verfügen würden, während Mädchen eher sozial kompetent seien. Andererseits handelt es sich hier um eine durchaus medienkritische Anmerkung, dass sich ein übertriebener Umgang mit Computern unter Umständen negativ auswirken kann. Sin1: „Ich bin da nicht so super drin und ich bin auch schon mal aus Informatik ausgestiegen, weil ich nicht so viel von Leuten halte, die viel mit Computern zu tun haben. Ich glaube nämlich, dass sie die Kommunikationsfähigkeit verlernen. Ich denke, dass es in der Schule schon wichtig ist, aber viele beschäftigen sich auch noch nach der Schule damit und dann verdummen die und werden gesellschaftsunfähig. (...).“ Sin2: „Es ist auch so, dass diejenigen, die sich gut mit Computern auskennen und viel damit zu tun haben, wenig mit der Gruppe zu tun haben. Die können dann vielleicht nicht innerhalb der Gruppe kommunizieren und das ist für die ein Nachteil.“ Zitat 4.59: Schülerinnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
In dem dieser Arbeit zugrunde liegendem Verständnis von Medienkompetenz wird die Behandlung von Computerkompetenz und Sozialkompetenz als konträre Pole als problematisch bewertet, vielmehr wird dafür plädiert, dass Medienkompetenz als Überbegriff diese beiden Konstrukte integriert. Vielleicht vermeiden es einige Mädchen sogar aus Angst davor, als sozial inkompetent zu gelten, sich intensiv mit Computern auseinander zusetzen. So inszenieren die folgenden beiden Mädchen ihr Desinteresse an Computern, sie scheinen sich insbesondere davon zu distanzieren, als „Freak“ zu gelten. So werden als Freaks meist Personen bezeichnet, die zwar auf einem Gebiet Experten sind, dafür aber von der wirklichen Welt abgeschottet und dadurch weltfremde „Fachidioten“:
4.2 Intervenierende Variable: Genderfokus
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Sin1: „Ich lehne den Computer eigentlich generell ab und nutze ihn nur, wenn ich etwas auf Word tippen muss (Referate z. B.) oder wenn ich ins Internet muss. (...) Ich bin aber kein Freak.“ Sin2: „Ich mache das auch nicht gerne.“ Zitat 4.60: Schülerinnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Durch geschlechtsspezifische Vorurteile werden Jungen und Mädchen mit Attributen versehen, die sich ggf. negativ auf ihr Verhalten auswirken könnten. Jungen werden oftmals als Computerexperten angesehen, sie inszenieren sich womöglich dementsprechend als solche (vgl. Abschnitt 4.4.7). Bei Mädchen hingegen können aus ihren negativen computerbezogenen Selbstbildern, im Sinne einer self-fullfilling prophecy, Ängste nicht mithalten zu können entstehen. Als Folge ziehen sie sich bei informationstechnologischen Aufgaben eher zurück. Dieses Vermeidungsverhalten wiederum kann aufgrund geringerer Computererfahrungen zu wirklich weniger Computerkenntnissen führen, wodurch sich der Wissensvorsprung der Jungen noch mehr verstärkt. So kann ein Teufelskreis entstehen, durch den das negative computerbezogene Selbstbild der Mädchen sowie langfristig deren Computerdistanz noch mehr verstärkt wird. Dies schlägt sich auch in deren Teilnahme an freiwilligen informationstechnologischen Angeboten nieder, die viele Mädchen anscheinend aus Angst nicht mit den männlichen Computercracks mithalten zu können abwählen: „Also, ich weiß von ihr, dass sie von Informatik auf Pädagogik gewechselt hat, weil in Informatik saßen dann nur die Cracks, die das mit dem Programmieren probieren wollten, und da ist man natürlich dann fehl am Platz.“ Zitat 4.61:Schülerin, SelMa, Sek II
4.2.3.2 Jungen: Frauen und Technik als Gegensatz Ein befragtes Jungenpaar geht in seinen geschlechtsstereotypen Zuschreibungen so weit, dass sie- wenn auch mit einem Schmunzeln- den männlichen Computerfertigkeiten weibliche Kochkünste gegenüberstellen. Sie greifen hierbei auf den stereotypen Satz „Frauen und Technik“ zurück: eine (Erwachsenen-)floskel, die sich inzwischen ohne nähere Ausführungen in ihrer Interpretation verselbstständigt hat. Eigentlich handelt es sich bei diesem Satz nur um eine Andeutung, die nicht näher ausgeführt wird, dennoch ist die Interpretation üblich, dass „Frauen und Technik nicht zusammenpassen“, ggf. wurde dieser Satz von älteren Vorbildern erlernt:
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement S1: „ Frauen und Technik also. (Lachen).“ I: „Nee, also ist das so, dass die Mädchen sich nicht so dafür interessieren?“ S2: „Ja. Die interessieren sich für Kochen und so alles. (Lachen).“ Zitat 4.62: Schüler (6.Kl.), Lernprogramme, Primarstufe
Während Mädchen durch derart stereotype Zuschreibungen diskriminiert werden, kann das Computerinteresse von Jungen durch ein positives Selbstbild noch weiter gefördert werden9. Auf diese Weise wird eine männlich geprägte Computerkultur aufrecht gehalten. 4.2.4
(Un)Doing Gender von Lehrpersonen
4.2.4.1 Lehrerinnen: Unsicherheit und „Geschaffte“ Abhängigkeit Besonders die befragten Lehrerinnen im Fall Lernprogramme schildern, wie sehr sie bei der Computereinführung und -nutzung von männlichen Personen abhängig sind. So werden als Verantwortliche für die Computereinstellungen meist männliche Personen genannt. Die Lehrerinnen scheinen für die Ursachen ihrer Computerzurückhaltung sensibilisiert zu sein. Sie erkennen, dass sie ihre Ängste und Unsicherheiten, die sie selbst bereits teilweise als unbegründet entlarven, abbauen und sich mehr zutrauen müssten. Der Wunsch, die eigene Einstellung zu verändern und sich Computerfertigkeiten anzueignen, scheint zu bestehen, wenngleich derzeit die Abhängigkeit von männlichen „Experten“ noch deutlich hervortritt: Lin1: „Momentan ist es nur Uli, der sich ziemlich gut auskennt. (...) Wir müssen uns auch mehr zutrauen. Am Anfang hatte ich nur Angst etwas kaputt zu machen. Das geht gar nicht. Und wenn, dann drückt man Reset und dann geht es wieder neu los.“ (...) I: „Was würde passieren, wenn Herr S. gehen würde?“ Lin2: „Aaaaaah.“ Zitat 4.63: Lehrerinnen, Lernprogramme, Primarstufe
Die Lehrerinnen geben an, sich mehr fachliche Computerunterstützung außerhalb des Kollegiums zu wünschen. Es ist auffällig, dass die Lehrerin (Lin2) dieser
9 Diese positive Selbstbilder schlagen sich auch in dem Verhalten einiger Jungen nieder, die ihr (Pseudo-) Expertentum in Interaktionen mit Mädchen entsprechend inszenieren (vgl Kapitel 4.4.7).
4.2 Intervenierende Variable: Genderfokus
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Person automatisch das männliche Geschlecht zuschreibt, dem sie anscheinend mehr Computerkompetenzen als dem weiblichen Geschlecht zutraut. Lin1: „Ich wünsche mir (...) jemanden außerhalb des Kollegiums, der noch einmal eine Unterstützung gibt. Dass Sachen schneller installiert oder umgestellt werden.“ (...) Lin2: „Und ruhig für ein größeres Gebiet zuständig ist. Es ist ja hier nicht tagtäglich etwas. Man muss ihn einfach anrufen können und der ist dann in überschaubarer Zeit hier.“ Zitat 4.64: Lehrerinnen, Lernprogramme, Primarstufe
Bei auftauchenden technischen Problemen werden meist männliche Kollegen zur Hilfe gerufen. Die Lehrerinnen im Projekt „Lernprogramme“ scheinen sich selbst nur geringe Computerkenntnisse zuzuschreiben: Lin1: „Dich habe ich auch schon (um Hilfe) gefragt, weil ich wirklich noch weniger Ahnung hab.“ Lin2: „Du meinst immer nur, ich hätte Ahnung. (Lachen) Ich habe nur jemanden zu Hause, der Ahnung hat. Es ist wirklich war. Ich verlasse mich in dem Moment total auf meinen Sohn. Der ist wirklich fit. Sonst hätte ich auch gar nicht angefangen. Da bin ich ganz ehrlich. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass ich jemanden zu Hause habe, dem ich Fragen stellen kann.“ Zitat 4.65: Lehrerinnen, Lernprogramme, Primarstufe
Lin 1 distanziert sich von der ihr durch die Kollegin zugesprochene Teilkompetenz, und betont, dass sie sich nur auf ihren Sohn, den sie als Experten anerkennt, verlässt. Beide Lehrerinnen besitzen ein sehr negatives Selbstbild im Hinblick auf ihre Computerkompetenzen. Zumindest Lin2 scheint in der Wahrnehmung ihrer Kollegin durchaus schon im Computerbereich geholfen zu haben. Diese Lehrerinnen scheinen sich vollkommen auf das Wissen anderer (vorwiegend männlicher) Personen zu stützen, von denen sie aber wohl auch lernen. Neben der Abhängigkeit von männlichen Experten zeigt sich hier auch, wie wichtig es für unsichere Lehrpersonen ist, bei Problemen auf fachkundige Personen zurückgreifen zu können. Ein reines Vorhandensein von Computern in den Klassenzimmern führt nicht automatisch zu deren Nutzung. Der Abbau von Ängsten bzgl. des Computereinsatzes scheint eine wichtige Voraussetzung dafür zu sein, den Computer in den eigenen Unterricht zu integrieren. Die Unsicherheiten von meist weiblichen Lehrpersonen können zu einem Vermeidungsverhalten führen, daher, dass sie sich scheuen, den Computer in ihren Unterricht zu integrieren:
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement „Ich weiß z. B., dass Katrin damit (mit Computern) nichts am Hut hat. Das liegt aber auch daran, weil ihr selbst die Kenntnisse fehlen. Ich denke, dass man auch mit Schülern daran arbeitet, sobald man sich selbst etwas zutraut. Wenn ich vielleicht auch noch Angst vor dem Teil habe, würde ich es auch nicht einsetzen.“ Zitat 4.66: Lehrerinnen, Lernprogramme, Primarstufe
Dass sich Lehrerinnen anscheinend meist selbst weniger Computerkompetenzen als ihren männlichen Kollegen zuschreiben, schlägt sich auch der Wahrnehmung durch (meist männliche) Schüler nieder. So betont z. B. dieser Schüler aus dem Fall „freier Medieneinsatz“, dass er und seine MitschülerInnen im Hinblick auf den Umgang mit Computern bereits kompetenter seien, als sie ihre Lehrerin einschätzen. „Frau W. kennt sich nicht wirklich gut mit Computern aus, also, da sind wir schon klüger.“ Zitat 4.67: Schüler (6.Kl.), freier Medieneinsatz, Primarstufe
4.2.4.2 Sensibilisierung der Lehrpersonen für Doing Gender-Prozesse Gehen männliche Lehrpersonen anders mit der Geschlechterproblematik beim Computereinsatz um als ihre weiblichen Kolleginnen? Bei einem der untersuchten Fälle fällt auf, dass kein einziges Mädchen das freiwillige Angebot annimmt, am Rechner zu arbeiten und sie stattdessen die Matheaufgaben auf dem Papier lösen. I: „Es ist uns auch aufgefallen, dass die Mädchen in der Zeit nicht am Rechner waren. Ist das typisch?“ L: „Das waren alles türkische Mädchen und die haben nur Interesse, wenn es ans Internet geht, weil sie dann türkische Seiten aufrufen können. Sonst arbeiten sie wenig mit Rechnern. Ich glaube, dass die auch zu Hause keine Möglichkeit haben. Eigentlich müsste man sie natürlich gerade deshalb mehr an die Rechner setzen.“ Zitat 4.68: Lehrer, Lernprogramme, Primarstufe
Hier könnte als Kreuzbedingung die kulturelle Herkunft der Mädchen eine Rolle spielen, denn in dieser Klasse stammen sie alle aus der Türkei. Ggf. besitzen türkische Mädchen zuhause seltener einen Computer als Deutsche, so geht auch der Lehrer davon aus, dass die betroffenen Mädchen keinen heimischen Computerzugang besitzen. Im Vergleich zu den anderen Fällen fand hier kein fächerübergreifender, sondern nur fachspezifischer Mathematikunterricht statt.
4.2 Intervenierende Variable: Genderfokus
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Dass Mathefertigkeiten und Computerkompetenzen im allgemeinen eher Jungen zugeschrieben werden, könnte u. U. auch eine Ursache für die Zurückhaltung der Mädchen sein. Interessant scheint an diesem Transkriptionsausschnitt die Sensibilisierung des Lehrers für seine eigenen Verhaltensweisen. So bemerkt er selbst kritisch, dass er eigentlich gerade aufgrund der geringen Zugangsmöglichkeiten der Mädchen, diese bestärken sollte, mehr am Computer zu arbeiten. Es zeigt sich, dass er sich bisher anscheinend nicht allzu sehr mit dieser Problematik auseinandergesetzt hat, da er sonst wahrscheinlich während seines Unterrichts verstärkt darauf geachtet hätte, alle SchülerInnen zur Computerarbeit zu motivieren. So achten z. B. die folgenden Lehrerinnen darauf, das auch SchülerInnen, die eher zurückhaltend sind oder sich nicht freiwillig zur Arbeit am Computer melden, am PC lernen können. I: „Gibt es auch Schüler, die nach wie vor nicht so gern mit dem PC arbeiten?“ Lin: „Ja. Die halten sich zurück. (...) Wenn ich bei mir J. nehme – die würde sich nie vordrängeln oder dafür melden. Wenn ich sie bitte, macht sie es.“ Zitat 4.69: Lehrerinnen, Lernprogramme, Primarstufe
Einige (männliche) Lehrer berichten von Schülerinnen, die sie innerhalb der Unterrichtsfälle als Expertinnen wahrnehmen, diese jedoch weniger im Hinblick auf Computerkenntnisse, sondern eher auf einer Verhaltensebene. So werden einige Schülerinnen im Wirtschaftsprojekt z. B. in der Rolle der „Projektleiterin“ gesehen. Diese Schilderungen vom weiblichen Expertentum sind allerdings brüchig, in dem Sinne, dass diese Schülerinnen immer wieder als Ausnahme gesehen und einer Vielzahl von männlichen Experten gegenübergestellt werden. Auf diese Weise wird das Können der Mädchen zwar wahrgenommen, aber dennoch überwiegen die stereotypen Zuschreibungen, dass Jungen bessere Kenntnisse besäßen. Bei dem folgenden Lehrer wird durch seine ambivalenten Schilderungen durchaus deutlich, dass sich seine Vorstellungen über männliches und weibliches Expertentum in einem Umbruch befinden, auch wenn es der Lehrer für sich selbst noch als „Rätsel“ wahrnimmt: „Häufig ist es so, dass die Jungs nicht nur die besseren Computerkenntnisse haben, sondern auch an Wirtschaft etwas mehr interessiert sind, bloß bei meiner jetzigen Gruppe würde ich sagen, das Paradepferd (...), also, der Schüler, der das Ganze vorantreibt oder die das Ganze vorantreibt, ist in dem Fall eine Schülerin. Daneben gibt es noch eine Schülerin, die ebenfalls sehr engagiert ist, vielleicht nicht ganz den Einblick hat, aber sehr engagiert ist und sich auch fast ein Bein ausreißt. Ohne die sähe es in der Gruppe schlecht aus. Es sind diesmal also nicht die Jungen. Es kann
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement schwanken, mal so und mal so. Aber wenn man eine Tendenz nennen sollte, da ist es ein Rätsel. Die Kenntnisse sind bei den Jungen etwas stärker ausgeprägt.“ Zitat 4.70: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Ein Vergleich der Aussagen von Schülern und Schülerinnen sowie von Lehrern und Lehrerinnen legt nahe, dass weibliche Personen anscheinend Doing-GenderProzesse sehr viel bewusster reflektieren und hinterfragen. So schildern sie meist detaillierter, wie sie die Interaktion zwischen männlichen und weiblichen Personen erleben und scheinen sowohl ihre eigene Zurückhaltung, als auch männliche Experteninszenierungen10 mehr zu hinterfragen. Die Beobachtung, dass die Lehrerinnen von sich aus deutlich mehr die Geschlechterproblematik thematisieren, während sich männliche Lehrer von sich aus weniger zu diesem Thema äußern, könnte ggf. ein Hinweis darauf sein, dass Frauen durch ihren eigenen Werdegang stärker für Doing Gender-Prozesse sensibilisiert sind und daher auch eher versuchen, diesen aktiv entgegen zu steuern. So haben die folgenden Lehrerinnen u. a. gezielt geschlechtsheterogene Gruppen gebildet und darauf geachtet, dass die Mädchen in der gemeinsamen Arbeit nicht benachteiligt sind. Die Lehrerinnen richten hierbei besonders die Aufmerksamkeit darauf, welche Rollen die Schüler und Schülerinnen in der gemischt geschlechtlichen Partnerarbeit einnehmen, dass die Mädchen nicht nur passiv dabeisitzen. Lin1: „Oft wollen die Kinder wie D. und M. zusammen an den PC. (...) gerade so in der Übergangszeit, als die Mädchen sich nicht so getraut haben, da habe ich sie mit Jungen zusammengesetzt, und die haben das gemacht. Man muss nur aufpassen, dass das Mädchen nicht nur dabei sitzt.“ Lin2: „Das ist im Buddenberg ganz gut durch dieses Partnerrechnen. Da sind sie wirklich gezwungen zu wechseln.“ Lin1: „Da haben sie nicht protestiert. Das haben sie ganz bereitwillig dem anderen erklärt.“ Zitat 4.71: Lehrerinnen, Lernprogramme, Primarstufe
10 vgl. Abschnitt 4.4.7
4.3 Interaktionsmuster: Der Computer als Arbeitspartner
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4.2.4.3 Lehrerinnen als Experten Es lassen sich durchaus, wenn auch noch eher vereinzelt, Beispiele finden, in denen Lehrerinnen eine Expertenrolle in Bezug auf den Computereinsatz einnehmen und als solche geschätzt werden.. Ggf. ist dies ein Zeichen für einen ersten Umbruch im Geschlechterverhältnis. Lin1: „Die (Kollegin, die die Arbeit mit Computern eingeführt hat) war auch gut.“ Lin2: „Die hat das klasse gemacht.“ Lin1: „Die ist jetzt als Dozentin an der Uni. Das ist eben ungünstig für die Schule.“ Lin2: „Ich denke, dass sich U. unheimlich viel Mühe gibt. Der weiß auch unheimlich viel, aber er weiß eben im Bereich Linux auch nicht so Bescheid.“ Zitat 4.72: Lehrerinnen, Lernprogramme, Primarstufe
Ein (männlicher) Schulleiter möchte eine Kollegin, der er sowohl im Hinblick auf ihre pädagogischen Fertigkleiten als auch in ihren Computererfahrungen Expertenwissen zuschreibt, als Ressource für seine Schule nutzen. Die Selbstwahrnehmung dieser Frau hingegen scheint nicht so positiv zu sein, da sie sich wohl noch nicht in den Schuldienst traut. „(Eine Kollegin hat) uns bei der ersten Homepage (..) unheimlich geholfen. Die hat auch sehr viel Verständnis gehabt und hat uns so die ersten Schritte, bis wir dann selber laufen konnten, gezeigt. Und die habe ich gestern angeschrieben, ob sie nicht Lust hätte, bei uns Informatiklehrerin zu werden. Sie hat nämlich das erste Staatsexamen, aber traut sich nicht in die Schule, obwohl ich sie für kompetent genug halte.“ Zitat 4.73: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Bei der Initiierung und Umsetzung des Märchenprojektes ist eine Frau der Motor gewesen und wird als solche im Kollegium geschätzt: Sie ist diejenige, die es in der Hauptsache führt. (...) Ich finde es wichtig, dass es einen Motor gibt: Das ist Frau U., die Vorschläge macht.“ Zitat 4.74: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Weibliche Vorbilder spielen eine wichtige Rolle um Schülerinnen im Computerbereich zu motivieren und der eingangs beschriebenen männlich geprägten Computerkultur entgegenzuwirken. Wie SchülerInnen und Lehrpersonen Doing bzw. Undoing Gender betreiben, wird in u.a. auch in der Vorstellung der Interaktionsmuster (vgl. Kap.4.4, 4.5) beleuchtet.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.3 Interaktionsmuster: Der Computer als Arbeitspartner In diesem Kapitel wird dargestellt, wie der Computer für die SchülerInnen (aber auch einige Lehrpersonen) zu einer Art Interaktionspartner wird. Das Augenmerk wird dabei besonders auf die Ursachenzuschreibungen11 gelegt, die SchülerInnen bei Schwierigkeiten im Umgang mit dem Computer vornehmen. Diese bestimmen, welche Bewältigungsstrategien von den SchülerInnen angewendet werden. Anhand von beispielhaften Ausschnitten des Datenmaterials wird gezeigt, welchen Einfluss die Computerbilder auf die Lern- und Interaktionsprozesse der SchülerInnen ausüben, womit das subjektive Erleben der SchülerInnen im Umgang mit dem Computer ins Zentrum rückt. Wie -Abbildung zeigt, fungiert der Computer für die SchülerInnen einerseits als emotionslose Maschine, kann in ihrem Erleben zu einem undurchschaubaren Objekt werden oder zu einem Subjekt mit eigenen Willen, zu einem Gegenspieler oder zu einer Art „allwissenden Hoheit“.
Emotionslose Maschine
Undurchschaubares Objekt
Computer als Interaktionspartner
Willentlich handelndes Subjekt
Gegenspieler
„Allwissende Hoheit“
Abbildung 4.2: Der Computer als Interaktionspartner
11 Zur Analyse der Ursachenzuschreibungen, die von den SchülerInnen vorgenommen werden, wird das in Abschnitt 2.4.2 vorgestellte Konstrukt der Kausalattribution als Interpretationsfolie herangezogen.
4.3 Interaktionsmuster: Der Computer als Arbeitspartner
187
4.3.1 Computer als emotionslose Maschine Der folgende Lehrer betont die Vorteile des Computers als emotionslose Maschine: „Der Computer kann etwas oder hat etwas, was ich überhaupt nicht habe: Er ist völlig emotionslos. (...) Der Computer ist ein Partner, der ihm nichts übel nimmt, der nichts vorschreibt, dem alles egal ist. Der Junge kann da hundert Mal die falsche Zahl eintippen, das ist dem egal, der verzieht keine Miene, guckt nicht zur Decke, erballt die Fäuste, was weiß ich, was wir für Gesten alles machen. (...) Ich nehme an, darin steckt für diese Kinder mit Lernschwierigkeiten, ein erhebliches Motivationspotential.“ Zitat 4.75: Lehrer, Freier Medieneinsatz, Primarstufe
Der Computer wird durch seine Objekthaftigkeit zu einem sehr geduldigen Arbeitspartner. Zudem ermöglicht er eine innere Differenzierung: Als „emotionslose“ Maschine entlastet er schwache SchülerInnen, die in Ruhe und ohne Angst vor Blamage lernen können. Gerade Lernprogramme ermöglichen eine beliebige Wiederholung des Lernstoffes und ermöglichen so eine eigenständige Wissensüberprüfung sowie die Verfestigung von Wissensbeständen. Die SchülerInnen können individuell je nach eigenem Lernniveau und -tempo lernen. „Man kann auch beispielsweise durch dieses Englischprogramm, da lernt man das erst viel langsamer und da versteht man das auch endlich. Ich bin z. B. ganz schlecht in Englisch, und dadurch kann ich viel besser lernen. Da habe ich das dann ruhig. Das ist nicht so laut, und wenn man was Falsches sagt, dann blamiert man sich nicht. Das ist viel besser." Zitat 4.76: Schüler, Medienprojekt, Sek. I
Der Computereinsatz erleichtert es den SchülerInnen schnell und einfach Fehler zu korrigieren, ohne dass sie wie z. B. im Heft ihren Text durchstreichen oder mit Tintenkiller korrigieren müssen. Sie haben so die Chance ihre Fehler selbst gesteuert und ohne das ihre Unsicherheiten zur Schau gestellt werden, zu korrigieren. I: „Was mögt ihr besonders am Lernen mit dem Computer, was gefällt euch da?“ S: „Dass man alles löschen kann, wenn es blöd ist und dass es nicht jeder sehen kann.“ Zitat 4.77: Schüler (Jahrgangsstufe 6), Freier Medieneinsatz, Primarstufe
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.3.2 Computer als undurchschaubares Objekt In den beobachteten Unterrichtsstunden werden die SchülerInnen immer wieder mit Problemen unterschiedlichster Art konfrontiert. Unter Problemsituationen werden hier all diejenigen Momente zusammengefasst, in denen sie aus ihrer Alltagsroutine im Umgang mit dem Computer herausgerissen werden. Entscheidend ist, wie die SchülerInnen die Situationen erleben/ bzw. wahrnehmen, ihre subjektive Sicht bestimmt, was zum Problem wird und was nicht. Ein Beispiel ist das Ereignis „Bildschirmschoner geht an“. Es irritiert einige SchülerInnen, da sie die Bedeutung des veränderten Monitorbildes nicht kennen und nicht wissen wie sie es handhaben können, durch derartige für sie unbekannte Funktionen wird der Computer für sie zu einem undurchschaubaren Objekt. Bei anderen, die wissen, dass der Bildschirmschoner dann angeht, wenn die Tastatur und Maus für längere Zeit nicht bedient wurde und dass dieser sich bei der nächsten Aktivierung durch Tastatur oder Maus auch wieder abschaltet, gehört das Angehen des Bildschirmschoners zum Alltag. Sie schenken diesem Ereignis dementsprechend keine große Aufmerksamkeit mehr und „bewältigen“ es durch Mausklick oder Tastaturaktivierung schnell. Es wird deutlich, dass die SchülerInnen derartige „Probleme“ unterschiedlich erleben, denn wenn einer z. B. weiß wie das Problem z. B. „Bildschirmschoner geht an“ zu händeln ist, wird dies oftmals nicht mehr thematisiert, sondern wieder nebensächlich, es stellt kein Problem mehr dar. Bildschirmschoner geht an. Sin1: "Oh, Gott!", Sin2 klickt, sodass Bildschirmschoner wieder verschwindet. Videotranskript 4.3: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Die Schülerin in dem folgenden Videoausschnitt erlebt es als kritisch, dass die Bildschirmseite bald zu Ende ist, wird aber direkt durch ihre Arbeitspartnerin beruhigt, die aufgrund eigener Erfahrungen anscheinend weiß, dass automatisch eine neue Seite beginnt: Sin1 (die auch tippt): "Oh, Oh, unsere Seite ist gleich zu Ende!" Sin2: "Na, und? (...) Da kommt jetzt die zweite Seite." Videotranskript 4.4: Schülerinnen, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Es zeigt sich, dass gerade computerunerfahrene SchülerInnen leicht irritiert werden. Sie gehen anscheinend nur von dem aus, was sie sehen (z. B. der Bild-
4.3 Interaktionsmuster: Der Computer als Arbeitspartner
189
schirmschoner ist schwarz bzw. die nächste leere Seite noch nicht zu sehen) und können manchmal einfache, alltägliche Programmoptionen aufgrund ihrer fehlenden Erfahrung noch nicht richtig einschätzen. Der Computer wird für sie zu einem undurchschaubaren Objekt. Die beobachteten Probleme weisen unterschiedliche Schwierigkeitsgrade auf. Das oben dargelegte Problem „Bildschirmschoner geht an“ lässt sich z. B. relativ leicht durch Versuch und Irrtum lösen, indem SchülerInnen mehr oder weniger zufällig Maus/ bzw. Tastatur aktivieren. Um hingegen z. B. das Phänomen „Computerabsturz“ bewältigen zu können, ist der Rückgriff auf Wissen erforderlich, die SchülerInnen müssen vorher gelernt haben, dass sie durch Eingabe der Tastenkombination „Strg+Alt+Entf“ das fehlerhafte Programm beenden/ bzw. den Rechner neu starten können. Die Strategie „Lösungsschritte kennen und ausführen“ wird angewendet, wenn die SchülerInnen auf entsprechendes Vorwissen zurückgreifen können (vgl. z. B. Transkript 4.23.). Lösungsstrategien werden SchülerInnen nur dann aktiv einsetzen, wenn sie glauben, dass sie das Problem durch ihr aktives Handeln beeinflussen können. Eine erleichternde Voraussetzung hierfür ist, dass ihnen mögliche Problemursachen transparent sind und der Computer eben nicht zu einem undurchschaubaren Objekt wird. Der folgende Unterrichtsmitschnitt zeigt die Partnerarbeit von zwei Grundschülern vor dem PC: In der Unterrichtsstunde tauchen technische Schwierigkeiten auf. Die Internetverbindung steht nicht mehr. Die Schüler wollen im Internet surfen und haben gerade eine neue Adresse eingegeben. Lin: „Der ist jetzt wieder raus, ihr müsst rausgehen. Jetzt geht eigentlich gar nichts mehr!" S1: „Bei uns ist was passiert!" S2 liest vor: „Die Seite konnte nicht angezeigt werden" (zeigt auf Bildschirm). S2 zeigt auf die Adresszeile: „Wer hat das da gemacht?" (bezieht sich auf Backslash). Sin1(andere Gruppe): „Das war die Frau L.!" Lin: „Er ist wieder rausgegangen, da müssen wir wieder jetzt neu reingehen." S1 und 2 gucken in ihre Mücke-Hefte (eine Kinderzeitschrift, aus der sie die Internetadresse übernommen haben). S1: “Hattest du den Strich da gemacht? " S2 in nörgelndem Ton: „Ey, wer hat das kaputt gemacht?" Lin: „Einen kleinen Moment, wenn wir Glück haben, gehts noch mal, aber jetzt die Uhrzeit wird immer schlechter nach 9." S1 (dreht sich zur Lehrerin, zeigt auf den Bildschirm): „Wir haben gar nichts gemacht und jetzt ist so ein Strich dahinter?"
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement Lin: „Das macht der immer!" S1: “Ach, so! (guckt in sein Heft, sucht dann neue Adresse raus)." Videotranskript 4.5: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Als die Schüler nach der Eingabe ihrer Internetadresse eine Fehlermeldung erhalten, fällt einem Schüler bei der Problemanalyse auf, dass hinter der Adresse ein Strich steht: Dass es sich hierbei um den Slash handelt, der bei manchen Servern automatisch auftaucht, wissen die Schüler anscheinend nicht und sind daher verwirrt und unsicher. Dass der Rechner automatisch Dinge wie z. B. den Slash erzeugt, bringt die Schüler aus dem Konzept, für sie rückt daher die Frage nach dem Verursacher in den Vordergrund. Den Computer schließen sie als Verursacher ob ihres geringen Wissens bezüglich der Bedeutung des Slashs und der Automatismen im Computer aus. Für sie kommen nur Menschen infrage – daher Mitschüler oder die Lehrerin. Bei ihren bisherigen Internetrecherchen ist ihnen dieser Slash anscheinend nicht bewusst aufgefallen, da sie nun aber eine (sachliche) Ursache dafür suchen, dass die Seite nicht angezeigt werden kann, führt ihre bewusste Wahrnehmung dazu, dass sie in dem Slash die Ursache für das misslungene Aufrufen der Internetseite sehen. Sie nehmen hier eine Ursachenzuschreibung vor (auch wenn sie diese nicht thematisieren). Diese ist jedoch falsch. So zeigt die Aussage der Lehrerin, dass die Internetverbindung aus technischen Gründen nicht mehr steht. Auf diese Weise entsteht ein kommunikatives Missverständnis: So interpretiert eine Mitschülerin die allgemeine Frage des Schülers „Wer hat das gemacht?“ anscheinend so, als würde der Schüler nicht fragen, wer den Strich erzeugt hat (dieses geht aus seiner Frage ja auch nicht hervor), sondern als wolle dieser wissen, wer den Internetabbruch erzeugt habe. Die Schülerin hat nun ihrerseits aufgrund der Lehreraussage eine falsche Ursachenzuschreibung vorgenommen, sie glaubt nämlich, dass nicht ein technischer Mangel, sondern aktives Handeln der Lehrperson zum Abbruch der Internetverbindung geführt hat und teilt ihre Wahrnehmung dem Schüler mit („Das war die Frau L.!“). Die Lehrerin verweist in ihrer Begründung des Abbruchs der Internetverbindung nicht darauf, dass z. B. technische Mängel oder eine Überlastung zum Abbruch der Internetverbindung geführt habe. Sie gibt stattdessen gewissermaßen dem Computer die „Schuld“, indem sie ihn personifiziert („Er ist wieder rausgegangen“). Derartige Personifizierungen werden im nächsten Kapitel genauer analysiert. Obwohl die Schüler nach dieser Aussage der Lehrerin nun wissen müssten, dass der Strich nicht die Ursache für das Nicht-Aufrufen der Internetseite ist, interessiert sie dennoch weiter, wer denn nun der Verursacher dieses Backslashs ist. So fragt S1 noch mal gezielt seinen Arbeitspartner, ob
4.3 Interaktionsmuster: Der Computer als Arbeitspartner
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dieser den Strich erstellt habe. Da auch S2 sicher ist, hierfür nicht verantwortlich zu sein und beide die Funktion des Slashs nicht kennen, schreibt dieser den aus seiner Sicht „ominösen“ Slash extreme Bedeutung zu, sodass der Strich entweder anzeigt, dass etwas kaputt ist, oder der Strich selbst etwas „kaputt“ gemacht habe. Auch hier steht allerdings wieder nicht die Funktion dieses Striches, nämlich Verzeichnisnamen zu trennen, im Vordergrund (sonst hätte der Schüler nach dem „Warum“ gefragt), sondern die nach dem Verursacher. Ihre Frage ist „Wie kommt der Strich dahin, obwohl keiner ihn dorthin gesetzt hat? (Wer war das?)“ statt „Welche Funktion hat der Strich?“ Dieses Vorgehen erscheint in ihrer Perspektive auch sehr logisch, denn sie haben für sich bereits geklärt, was der Strich macht, also welche Funktion er hat. Er macht etwas kaputt, lässt den Computer „aus dem Internet fliegen“ etc.. Wieso sollten sie sich weiter mit der „Was-Frage beschäftigen, wenn sie die Antwort meinen gefunden zu haben? Sie rufen die Lehrerin zur Hilfe, um aufzuklären, wie der Strich entstanden ist. Die Lehrerin greift auf die Strategie der Personifizierung zurück („Das macht der immer“), legt dadurch jedoch weder die Bedeutung des Slashs (Trennung von Verzeichnissen) noch die Ursache des Seitenaufbauabbruchs offen. Aufgrund der schwierigen Situation, die Lehrerin steht gerade selbst unter Stress, da sie damit beschäftigt ist, eine neue Verbindung aufzubauen, lässt sich ggf. die stark vereinfachte Antwort und Personifizierung des Computers erklären. Für die Schüler scheint diese Antwort auch einleuchtend zu sein, zumindest haben sie geklärt, dass es „normal“ sei, dass dort ein Strich auftaucht. Ihnen war es anscheinend wichtig, zu klären, dass sie keine Schuld trifft. Dass sie nicht weiter nach der Bedeutung fragen, kann auch heißen, dass sie es als selbstverständlich ansehen, dass der Computer eigenständig Dinge vornimmt, daher, dass sie diesen ggf. auch selbst personifizieren (in dem Sinne „der denkt jetzt“). Während sie sich selbst als potenzielle Verursacher des Striches gegenseitig indirekt Vorwürfe gemacht haben und diesen Strich als „Fehler“ ansahen, wird er hier- sobald geklärt ist das der Computer der Verursacher ist- als normal hingenommen. Anscheinend wird das „Handeln“ des Computers nicht weiter hinterfragt, sondern automatisch als „richtig“ angesehen. Der Computer wird daher zu einer undurchschaubaren Maschine, deren Funktionen nicht weiter hinterfragt werden.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.3.3 Computer als Subjekt mit eigenem Willen Eine typische external variable Kausalattribution ist es, das Gelingen oder Misslingen einer Handlung auf unspezifische Rahmenbedingungen zurückzuführen, wie die Zuschreibung des Computers als unsteuerbarer Dritter mit eigenem Willen. Mit dem Computer wird wie mit oder über einen Menschen geredet. Die Aussagen implizieren z. B., dass der Computer Vorlieben und Abneigungen bzw. eine Absicht/ einen Willen hat. Diese Ursachenzuschreibungen werden in den beobachteten Unterrichtsstunden, sowohl von SchülerInnen als auch von Lehrpersonen vorgenommen, insbesondere bei Problemen, deren sachliche Ursache nur schwer zu erkennen oder zu beschreiben ist. Das folgende Transkriptionsbeispiel illustriert dies: Die Schüler haben eine Internetadresse eingegeben, die nicht aufgerufen wird. S1: „Bei uns lädt der nicht." L: „Komm mal her. Ja, mal sehen, ob er das bei Euch auch schneller lädt (hilft ihnen)." S2 (im Vordergrund): „April, April macht, was er will!" Videotranskript 4.6: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Die Art und Weise wie S2 auf die langsame Internetverbindung reagiert, zeigt, dass dieser die Ursache in unglücklichen Umständen sieht, denen er sich aufgrund einer geringen Einflussnahme ausgeliefert fühlt. Es ist auch eine andere zusätzliche Lesart des Satzes „April, April, macht was er will!“ möglich, nämlich wenn sich das „Wollen“ in der Metapher nicht auf den Monat „April“ bezieht, sondern auf den Computer. In diesem Fall würde eine Personifizierung des PCs vorliegen. Anstatt erst einmal eine sachliche Ursache zu suchen (z. B. die Rechtschreibung zu überprüfen) schreiben die folgenden Schüler dem Computer, den sie personifizieren, einen Willen und somit die Rolle des Verursachers zu: Die beiden Grundschüler wollen eine Internetseite aufrufen. Nachdem sie die Adresse eingegeben haben, erhalten sie eine Fehlermeldung. S2: „Jetzt kommt www.muecke.de (voller Vorfreude)-guckt dann auf Bildschirm, liest vor "Die Seite wurde nicht gefunden." S1: „Oh, Mann, der mag es nicht!" Videotranskript 4.7: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Hier scheinen die Kinder zu glauben, dass der Computer durch aktives Eingreifen das Aufrufen einer Seite verweigern könnte, weil er das Eingetippte nicht mag.
4.3 Interaktionsmuster: Der Computer als Arbeitspartner
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Dem Computer wird eine menschliche Eigenschaft; nämlich einen eigenen Geschmack zu haben („Der mag es nicht“) zugeschrieben. Auf diese Art und Weise wird der Computer als Gegenspieler erlebt (vgl. Abschnitt 4.3.4). Lehrpersonen, die als Vorbilder für die SchülerInnen fungieren, sollten ihr eigenes Handeln im Hinblick auf problematische Personifizierungen des Computers hinterfragen. So schreibt besonders die folgende Lehrerin - wohl aufgrund eigener Unsicherheiten - dem Computer einen Willen zu und vermittelt so eine geringe Beeinflussbarkeit und Transparenz von Computerproblemen: Die Lehrerin versucht beim Aufrufen einer Internetadresse zu helfen. S zu Lin: „Können Sie auch bei uns helfen?" Lin: "Äh, ich kann es probieren, aber du hast ja gesehen, der will nicht immer!" Videotranskript 4.8: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Auch dieser Ausschnitt demonstriert, wie die Lehrerin den PC personifiziert Mehrere Kinder haben Probleme die Internetadresse „Kindercampus“ aufzurufen. Lin: „Kindercampus" will er heute irgendwie nicht. Dann such doch einfach mal ne andere Adresse!" Videotranskript 4.9: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Durch das Hinzuziehen von Kovariationsinformationen, daher die vergleichende Analyse mit den Aufrufergebnissen anderer SchülerInnen, zieht die Lehrerin den Schluss, dass die Seite „Kindercampus“ aktuell nicht aufgerufen werden kann. Da sich das Aufrufen der Internetseite der unmittelbaren Beeinflussung durch die Schüler oder die Lehrerin entzieht, schlägt diese eine Versuchs- und IrrtumsStrategie vor, nämlich einfach eine andere Seite aufzurufen. In ihrer Informationsweitergabe personifiziert sie den Computer („will er heute irgendwie nicht“). Durch das Nicht-Funktionieren der gewünschten Homepage im Zusammenspiel mit einer fehlenden Information über potenzielle sachliche Ursachen (z. B. technische Ausfälle) könnte gerade diese Zuschreibung eines Willens an den Computer durch die Lehrerin dazu führen, dass die SchülerInnen den Computer als eine undurchschaubare Maschine, die sich äußeren Steuerungsmöglichkeiten weitgehend entzieht, wahrnehmen. Aufgrund dieser zugeschriebenen „Willkür“ des Computers, der sie sich ohnmächtig ausgeliefert fühlen, können SchülerInnen ihr eigenes aktives Handeln zur Problembewältigung unterschätzen und so schlimmstenfalls im Umgang mit technischen Problemen Vermeidungsstrategien und eine geringe Selbstwirksamkeit entwickeln.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.3.4 Computer als Gegenspieler Der Computer wird bei auftauchenden Problemen, insbesondere bei solchen, die sich der Einflussnahme der SchülerInnen entziehen, zu einem Gegenspieler. Den Computer zu personifizieren ist eine Form der emotionalen Stressbewältigung. Es gibt folgende Beweggründe den PC zu beschimpfen: A) Man verdrängt die eigene Verantwortung, ggf. auch die eigene Inkompetenz B) Frust kann abreagiert werden. Der Computer kann/wird sich nicht wehren. Die folgenden Schüler machen, als Probleme auftauchen, eine Geste, als würden sie den Computer würgen wollen, anscheinend um ihrem Ärger freien Lauf zu lassen: S1: „Da ist nur weiß, bei uns ist nur weiß!" S2 reibt sich die Augen, als würde er weinen. Lin: „Ich kann es doch auch nicht ändern, tut mir furchtbar leid!" S2 deutet an, als würde er den Computer würgen. Videotranskript 4.10: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Derartige Reaktionen werden vermutlich dem Frustabbau dienen. Dies könnte auch daran erkennbar sein, dass die Schüler hier die „Würge- Geste“ mit einem humoristischen Unterton praktizieren. Im folgenden Beispiel bauen die Schüler ihren Frust ab, indem sie den Computer, den sie als Gegenspieler erleben, schlagen. „Das sind ziemlich langsame Computer und meistens funktionieren die Laufwerke auch nicht. Da flippt man meistens aus ... und dann hauen wir erst mal den Computer.“ Zitat 4.78: Schüler, Medienprojekt (6. Kl.), Sek. I
Als ihr Computer lange braucht, um ihre eingegebene Internetseite aufzurufen, versuchen diese zwei Schüler ihn zu „beschwören“, schneller zu „handeln“: S2: „Der hängt da fest, der geht nicht weiter. -Doch jetzt geht er weiter." S1: „Zieh mal ein bisschen (macht Zieh-Geste über Ladeleiste, schmunzelt)“ S2: „Geht gar nicht, geht gar nicht, das ist ein echter Computer!--Wenn es aber keinen Bildschirm gäbe, dann (macht ebenfalls Ziehgeste, anderer deutet Geste an, die Bildschirm einschlagen andeutet und macht dann die Ziehbewegung mit) fertig! (schmunzelt)- (Richtung Leiste mit Hand schwingend) Geh los, geh los!" Videotranskript 4.11: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
4.3 Interaktionsmuster: Der Computer als Arbeitspartner
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Die Schüler sind hier mit dem Problem „lange Ladezeiten“ konfrontiert, dieses können sie kaum aktiv beeinflussen. Sie sind mehr oder weniger zum Abwarten verurteilt. Die Schüler kennen die Funktion des blauen Ladebalkens und wissen, dass dieser angibt, wie lange es ca. noch dauert, bis die eingetragene Internetadresse aufgerufen wird. Interessant ist dennoch, welches Bild die Schüler (insbesondere S2) vom Innenleben des Computers haben. So scheint dieser zu glauben, dass er, wenn die Bildschirmscheibe nicht da wäre, direkt in den Monitor eingreifen könnte, um die Ladeleiste aktiv zu ziehen. Hier zeigt sich, wie unklar den Schülern die Funktionsweisen des PCs sind.. Anderseits agieren die Schüler mit einem Schmunzeln, sodass ihnen ggf. doch die Funktionen klar sind und sie lediglich die lange Wartezeit überbrücken wollen. Diese Ziehbewegung zeigt, dass die Schüler gerne aktiv eingreifen würden. Sie scheinen an eine Art gute „Beschwörung“ des PCs zu glauben, wenngleich sie diese humorvoll umspielen: „Geh los! Geh los!“. Als Frustbewältigungsstrategie zeigt sich hier auch eine gewisse Aggressivität, die der Schüler durch die Geste des ScheibenEinschlagens andeutet. Fragwürdig ist, was für S2 ein „echter“ und was ein „falscher Computer“ ist, so scheint für ihn zu einem echten Computer eine Bildschirmscheibe als Schutz (vielleicht als eine Art Haut?) dazu zu gehören, ohne diese glaubt er aber, wie ein Arzt in das Innenleben eines Menschen, über den Monitor auch beim Computer operativ eingreifen zu können. Bei diesem Vergleich wird die Personifizierung noch einmal deutlich. Gerade durch technische Ausfälle wird der Computer zum Gegenspieler und sie können u. U. dazu führen, dass die geplante Unterrichtseinheit nicht stattfinden kann: „Einmal sind wir fast eine Stunde nicht ins Internet gekommen und haben so gut wie nichts geschafft.“ Zitat 4.79.: Schülerin, Freier Medieneinsatz, Primarstufe
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.3.5 Computer als „allwissende Hoheit“ Neben der Zuschreibung eines Willens lassen sich Videosequenzen finden, in denen SchülerInnen den Computer als eine Art „allwissenden Chef“ erleben: Zwei Mädchen schreiben gemeinsam einen Text am Computer. Ein Mitschüler ist hinzu gekommen. S: „Was macht Ihr? (Sinnen ignorieren S, nach kurzer Pause) Mäppchen ist doch falsch!“ Sin1: „Ja, dann mach mal bitte richtig!“ S (schnappt sich die Maus, korrigiert mit Tastatur, aktiviert hierzu anscheinend auch die Rechtschreibkontrolle): „So. Geh mal wieder zurück. Das ist es doch. Vielleicht mit „e". Meppchen.“ Sinnen (lachen): „Meppchen, vielleicht will er es so!“ S: „Nein, das ist es auch nicht. Was will denn der? Schreib mal wieder Mäppchen hin. (Tippt es doch selbst). So, jetzt gucken wir mal. (bedient Maus). Akzeptiert er Mäppchen? (Er aktiviert die Rechtschreibkontrolle, die das Wort anscheinend nicht kennt, sondern Märchen vorschlägt.) Märchen?—Oh, Mann, das ist doch richtig! Oh, man leck mich!“ (S geht wieder, lässt M alleine). Videotranskript 4.12: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Interessant ist, dass die beteiligten Akteure dem Computer bei der Fehlerkorrektur die Rolle eines Chefs, der zufriedengestellt werden soll, zuschreiben. Indem sie ihm einen Willen zuschreiben, personifizieren sie den Computer („Vielleicht will er es so!“, „Akzeptiert er...?“). Ihre Strategie ist es, per Versuch und Irrtum die richtige Rechtschreibung für das Wort „Mäppchen“ zu finden. Sie kommen anscheinend nicht auf die Idee, andere Möglichkeiten außer der Rechtschreibfunktion in Betracht zu ziehen, wie z. B. das Fragen von MitschülerInnen oder der Lehrperson, das Hinzuziehen eines Duden o. ä.. Ggf. schlägt sich hier eine Art „Computergläubigkeit“ nieder; der Computer wird als perfekt angesehen. Denn auf die Idee, dass der Computer das Wort „Mäppchen“ gar nicht eingespeichert haben könnte, kommen sie nicht - die Rechtschreibkontrolle schlägt als Wortverbesserung „Märchen“ vor, daher ist „Mäppchen“ wohl nicht eingespeichert. In diesem Fall wirkt sich die Rechtschreibkontrollfunktion negativ aus, da sie die SchülerInnen noch mehr verwirrt. Als der Computer die diversen Rechtschreibvorschläge des Jungen nicht akzeptiert, baut dieser seinen Frust darüber durch Beschuldigen des Computers ab („oh man leck mich!“). Der Computer wird, da er die erwartete Unterstützung nicht bietet, als Gegner angesehen. Der Computer wird nicht mehr als Werkzeug, als „instrumentelles Objekt“ angesehen, sondern wird zu einem „evokatorischen
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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0bjekt“ (vgl. Abschnitt 2.4.3), in dessen Gebrauch subjektive Bedeutungen, Gefühle, Fantasien und Wünsche einfließen. Fragwürdig ist, ob der Junge sein eigenes Verhalten als fehlerhaft erlebt oder einfach nicht kompatibel zum PC. Anstatt seine Rechtschreibversion (die zwar falsch ist) selbstsicher durchzusetzen („Oh, man das ist doch richtig!“) gibt er durch seinen Rückzug die Verantwortung frustriert an den PC bzw. wieder an die Mädchen ab12. Im Zusammenhang mit dem Wissensmanagement kann festgehalten werden, dass Personifizierungen des Computers als allwissender „Chef“ und Zuschreibungen einer perfekten Maschine die Gefahr bergen, dass die eigene Verantwortung für Lernprozesse abgegeben wird und somit eine Wissensgenerierung sowie die Selbstwirksamkeit der SchülerInnen blockiert wird. Der folgende Interviewausschnitt verdeutlicht diesen Aspekt sehr gut: „Manchmal denken sie (MitschülerInnen), der Computer würde ihnen helfen, in dem die dann Fehler schreiben und der Computer das automatisch berichtigt.“ Zitat 4.80, Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Insgesamt fällt auf, dass die Personifizierungen des Computers nahezu alle aus den Grundschulfällen, vor allem aus dem Fall „Lernprogramme“ stammen. Dies lässt vermuten, dass sich vor allem bei jüngeren SchülerInnen derartige Vorstellungen finden lassen. Gerade im Fall „Lernprogramme“ nimmt allerdings auch die Lehrerin selbst viele Personifizierungen des Computers vor, worin sich vermutlich ihre eigene Unsicherheit im Computerumgang niederschlägt (vgl. Videotranskript 4.9, Videotranskript 4.10), ggf. übertragt sie diese Sichtweise auf ihre SchülerInnen.
12 Diese Sequenz wird in Abschnitt 4.4.7.2 noch einmal ausführlich im Hinblick auf die Interaktion zwischen den SchülerInnen analysiert.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften In allen untersuchten Fällen bilden die SchülerInnen Lerngemeinschaften (vgl. 2.3.4). Aus den Video- und Interviewdaten werden folgende Interaktionsmuster der Wissensverteilung extrahiert, die in den nächsten Abschnitten dargelegt werden: Kapitel 4.4.1 zeigt, dass Lehrpersonen zeitweilig noch als Wissensvermittler auftreten. Abschnitt 4.4.2 erläutert, wie SchülerInnen zeitweise auch gegenüber ihren Lehrpersonen als Experten auftreten und die Lehrpersonen partiell zu Novizen werden. In Abschnitt 4.4.3 wird die Rolle von Lehrpersonen als Facilitatoren und von SchülerInnen als selbst gesteuerte Lernende beschrieben (vgl. auch Abschnitt 2.2.3). Abschnitt 4.4.4 thematisiert, wie sich starke Lehrerinterventionen auf die Wissensgenerierung der SchülerInnen auswirken können. In Abschnitt 4.4.5 wird auf das Tutoring unter SchülerInnen eingegangen: Sie suchen und geben Hilfe und greifen auf kooperative Strategien zurück. Auch kooperatives Tutoring kann, wie Abschnitt 4.4.6 zeigt, fehlschlagen. In Abschnitt 4.4.7 werden sogenannte Experteninszenierungen analysiert, in denen SchülerInnen ihr echtes oder Pseudo-Wissen in Szene setzen, anstatt anderen konstruktiv zu helfen. Abschnitt 4.4.9 verweist auf die Rolle der digitalen Medien in Lerngemeinschaften. Die dargestellten Interaktionsmuster in Lerngemeinschaften sind reziprok. Es finden immer wieder Rollenwechsel statt. Sowohl SchülerInnen als auch Lehrpersonen agieren zeitweise als Tutoren und dann wieder in einer anderen Situation als Lernende. Eine Wissensasymmetrie findet sich auf der Mikroebene der einzelnen Interaktionssequenzen, wenn die SchülerInnen und Lehrpersonen aber die Rolle von Lehrenden und Lernenden regelmäßig tauschen, zielt ihre Beziehung auf der Makroebene des Unterrichts auf eine Symmetrie. Es finden sich auch langfristige Wissensasymmetrien zwischen Lehrpersonen und ihren SchülerInnen und zwischen guten und schwächeren SchülerInnen, die allerdings wiederum je nach Fach und/oder fächerübergreifenden Schlüsselkompetenzen, wie z.B. Sozialkompetenzen oder Fertigkeiten im Umgang mit den digitalen Medien, variieren können. Abbildung 4.3 veranschaulicht die Interaktionsmuster in Lerngemeinschaften.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Makroebene des Unterrichts: Summe der einzelnen Interaktionsmuster der Mikroebene, durch Rollenwechsel entsteht wechselseitiges Lehren und Lernen (Symmetrische Interaktion)
Lerngemeinschaften Durch eine Konkurrenzorientierung wird das Voneinander Lernen behindert
SchülerInnen als Experten- Lehrer als Lernende Lehrer als TutorenSchülerInnen als Lernende
Experteninszenierungen Kooperatives Tutoring unter SchülerInnen
Mikroebene der einzelnen Interaktionssequenzen: Asymmetrie durch einseitigen Wissensvorsprung
. Abbildung 4.3: Bilden von Lerngemeinschaften
4.4.1 Lehrende als Wissensvermittler/ SchülerInnen als Lernende In den Unterrichtsfällen existieren nach wie vor Phasen, in denen die Lehrpersonen– je nach Vorwissen der SchülerInnen- bewusst die Rolle eines Wissensvermittlers einnehmen, z. B. um den SchülerInnen Basiskompetenzen bzw. Methodenwissen zu vermitteln. Um am Computer selbst gesteuert arbeiten können, ist es gerade in der Grundschule eine notwendige Bedingung, noch unerfahrenen SchülerInnen Basisfunktionen zu erklären. Bei einem derartigen „Scaffolding“ (Ausrüsten) nimmt die Lehrperson13 die Rolle des Erklärers ein. Aufgrund der unterschiedlichen Vorerfahrungen der SchülerInnen können derartige Einführungen im Sinne einer inneren Differenzierung umgesetzt werden. „Es gibt welche, die, außer dass sie wissen, was ein Computer ist - zumindest äußerlich - gar keine Ahnung haben. Denen muss man natürlich erst einmal 13 Diese Rolle des Wissensvermittlers kann, wie in Abschnitt 4.4.5 gezeigt wird, auch von SchülerInnen übernommen werden.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement entsprechend helfen, aber in der Freiarbeit ist das ja kein Problem. (...) Dann kann ich mir auch die Zeit nehmen und einem Einzelnen am Computer helfen, was er denn da macht, wie er das Ding überhaupt startet und wie er ins Internet oder in die Textverarbeitung kommt.“ Zitat 4.81: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Einige Lehrpersonen- gerade in der Primarstufe- vermitteln grundlegendes Wissen im Umgang mit dem Computer. Die folgende Lehrerin achtet bewusst darauf, dass sie die einzelnen Schritte zwar erklärt, diese aber die SchülerInnen selbst aktiv ausführen lässt. Indem die SchülerInnen die einzelnen Handlungsschritte selbst schon einmal angewandt haben, werden sie diese vermutlich besser verinnerlichen als durch reines Zuschauen. Zwei GrundschülerInnen haben gemeinsam einen Text verfasst, den sie nun abspeichern wollen. Sie haben bereits das Datei-Menü aufgerufen, rufen nun aber, da sie unsicher sind, wie die nächsten Arbeitsschritte lauten, die Lehrerin zur Hilfe. Sin2: "Frau L, soll ich ‚Speichern’ oder ‚Speichern unter’?“ (Als L nicht reagiert, wiederholt sie die Frage noch mal etwas lauter.) L: "Mach mal ‚Speichern unter’ und ich komm gleich zu dir." (Sin klickt). L kommt fast direkt, Sin1 steht auf (um Platz freizumachen?). L (bleibt hinter Sin2 stehen, zeigt auf Bildschirm): "Dann hast du es jetzt unter ‚Eigene Dateien’, dann musst du jetzt hier Deinen Namen eingeben (Sin2 "Ah ja!" beginnt zu tippen) und dann noch mal drücken auf ‚klick’ und dann kannst du auf Speichern gehen und dann (er)kennst du es wieder, wenn du noch mal reingehst.“ Videotranskript 4.13: Lernprogramme, Primarstufe
Wie bereits in Abschnitt 2.2.2 dargelegt, können auch Phasen der Instruktion ein konstruktivistisches und selbst gesteuertes Lernen unterstützen, wenn sie dem Prinzip der Bedarfsdeckung entsprechen. Insgesamt sollte sich die Lehrperson aber verstärkt zurückziehen und eher als Facilitator agieren, um zunächst den SchülerInnen Freiraum zum selbst gesteuerten Lernen zu geben, wie in Kapitel 4.4.3 ausführlich gezeigt wird. Unabhängig hiervon zeigen alle Fälle, dass nach wie vor strukturierende Klassengespräche vonseiten der Lehrperson wichtig sind, um in neue Themenkomplexe einzuführen und/oder um Ergebnisse in den Freiarbeitsphasen zusammenzuführen und zu strukturieren (vgl. Abschnitt 4.1.2.2.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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4.4.2 Lehrer als Mit-Lernende und Schüler als Experten Die interviewten SchülerInnen und Lehrpersonen schildern, dass sich durch den Computereinsatz und die offenen Unterrichtsformen ihre Rollen zeitweise vertauschen, da auch die SchülerInnen Lehrpersonen Wissen vermitteln und die Lehrpersonen von SchülerInnen lernen. In diesen Episoden besitzen die SchülerInnen einen Wissensvorsprung gegenüber ihren Lehrpersonen, die Intraktionsstruktur ist daher asymmetrisch. Abbildung 4.4 zeigt den Wissensfluss14.
S Wissensfluss
C
Wissensdominanz der SchülerInnen durch selbst gesteuertes Lernen
+ offene Lernumgebung
L Abbildung 4.4: SchülerInnen als Experten und Lehrpersonen als Novizen Beim Erwerb des Wissensvorsprungs stellt die Integration von Computern in den Unterricht eine wichtige Rahmenbedingung dar, denn gerade in diesem Bereich besitzen viele der SchülerInnen mehr Erfahrung als ihre Lehrpersonen. Zudem können sich SchülerInnen durch selbst gesteuertes Lernen am Computer einen Wissensvorsprung gegenüber anderen erarbeiten.
14 Der Begriff des Wissensflusses soll keineswegs bedeuten, dass Wissen 1:1 weitergegeben werden kann, vielmehr wird bei einer gelungenen Vermittlung das dargebotene Wissen durch eine aktive Aufnahme/ Interpretation des Wissensempfängers (neu) aufbereitet.
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4.4.2.1 Selbst- und Fremdsicht der Wissensdominanz der SchülerInnen Heutige SchülerInnen wachsen in einer Medien- und Wissensgesellschaft auf. Sie gehen sowohl nach eigenen Aussagen als auch der der involvierten Lehrpersonen selbstverständlich mit digitalen Medien um. Sie erwerben oftmals einen Erfahrungs- und Wissensvorsprung gegenüber ihren Lehrpersonen, die oft erst im Erwachsenenalter mit digitalen Medien konfrontiert werden und bei denen daher das Erlernen von Computerkompetenzen meist langwieriger ist. Dieser Wissensvorsprung ermöglicht es den SchülerInnen gegenüber ihren Lehrpersonen als Experten aufzutreten: „Das sagte ich ja eben schon, dass in manchen Fällen, der Schüler der Lehrer und der Lehrer der Schüler ist. (...) die heutigen Jugendlichen haben einen wesentlich direkteren Verständniszugriff auf diese Medien als wir. (...) Bei denen geht das sehr viel schneller, weil die einfach damit groß werden. Das ist schon ein Rollenwechsel, dass sie einfach merken, ich kann hier mehr als der Lehrer.“ Zitat 4.82: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Eine wichtige Bedingung dafür, dass Lehrpersonen auch von SchülerInnen lernen, ist, dass sie diese als Experten (an)erkennen und agieren lassen. Ein Vergleich der Lehrer- und Schülerinterviews zeigt, dass teilweise unterschiedliche Selbst- und Fremdbilder bezogen auf die Computerfertigkeiten der SchülerInnen aufeinander treffen. Während SchülerInnen oft selbstbewusst auf ihr Wissen, verweisen, dominiert bei einigen Lehrpersonen hingegen anscheinend das Schülerbild des unwissenden Novizen. So schildert diese Schülerin, dass sie sich von ihrer Lehrerin als Computerexpertin verkannt fühlt15: „Die wollen das nicht, weil die denken, wir machen da was kaputt. Wir kennen uns aber damit aus. (...), aber die glauben uns nicht.“ Zitat 4.83: Schülerin (6. Kl.), Medienprojekt, Sek. I
Die SchülerInnen der Medien-AG erleben das wechselseitige Lernen von und mit ihrem Projektlehrer als Ausnahme vom traditionellen Schulalltag. Sie bilden gemeinsam mit ihrem Lehrer eine Lerngemeinschaft. Die Symmetrie in der Lehrer-SchülerInnen-Beziehung schlägt sich auch darin nieder, dass die SchülerInnen ihren Lehrer duzen. Im traditionellen Unterricht erleben sie, dass viele Lehrpersonen eine künstliche Hierarchie aufrechterhalten sowie eine kaum 15 Diesers Interview zeigt darüber hinaus, dass es durchaus auch selbstbewußte weibliche Computerexpertinnen gibt.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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vorhandene Schülerzentrierung. Es ist den SchülerInnen wichtig, dass die Lehrpersonen ihren Wissensvorsprung wahrnehmen und auch ihre Meinung ernst nehmen. Es scheint, dass Lehrpersonen, die SchülerInnen als Experten anerkennen und auch dazu stehen, dass sie nicht auf allen Gebieten einen Wissensvorsprung gegenüber den SchülerInnen behaupten können, von den SchülerInnen mehr respektiert werden, als diejenigen, die versuchen unbedingt eine Rolle als „Allwissender“ aufrecht zu erhalten. Es findet dann statt eines Austausches eine Konkurrenzorientierung im Hinblick auf das Behaupten einer Wissensdominanz statt: S: „Das ist mit den Lehrern teilweise auch so, die sind noch nicht so ganz auf den Trichter gekommen, dass das Verhältnis Schüler-Lehrer ganz anders geworden ist, das auf ein gegenseitiges Arbeiten hinläuft und nicht mehr das „der Lehrer weiß alles und der Schüler nicht.“ (...) „Das haben wir hier oben im Medienbereich praktisch abgeschafft, dieses Thema. Jeder lernt von jedem.“ Sin2: „Deswegen duzen wir auch unseren Lehrer...“ (...) Sin1: „Das ist halt gerade so, die Lehrer versuchen uns was beizubringen. Und wenn wir Schüler mal unsere Meinung sagen wollen, dann heißt es nee, wir Schüler haben von nichts Ahnung. Es ist halt gerade mittlerweile nicht mehr so, es gibt viele Schüler, die einfach viel mehr Ahnung von bestimmten Themen, ich sage nicht bei allen, haben, z. B. Computer. Und die Lehrer wollen halt nicht drauf eingehen, und die denken. „Ok, ich habe Ahnung, ich bin viel älter. Ich habe meine Lebenserfahrung". Es ist aber nicht immer so.“ Zitat 4.84: SchülerInnen, Medienprojekt, Sek. I
Der folgende Grundschüler fühlt sich von seiner Lehrerin als Experte verkannt: S1: “Die Frau B. ist halt sehr unsicher. Sie will mir oft nicht glauben, und da ist es ein Problem. Sie hält sich immer für die Bessere, da sie die Ältere ist. (...) Unser Computer springt z. B. häufig mal nicht an, weil irgendwelche Idioten ein Passwort darauf haben, und das häufigste Passwort, was da drauf ist, ist "Win", das tippen alle ein, wenn es nicht geht. Und das ist wieder so eine Sache. Sie will immer einen anderen Lehrer holen, der sich auskennt.“ I: „Und dann zieht sie dich nicht so sehr zu Rate?“ S1: „Nein.“ Zitat 4.85:Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Der Schüler geht davon aus, dass sich die Lehrerin aufgrund ihres Alters ihm gegenüber behaupten will. Indem die Lehrerin lieber Kollegen zur Hilfe ruft, anstatt ihn zu konsultieren, hindert sie ihn daran, die Rolle eines Tutors/ bzw. Experten einzunehmen. Er führt ein Beispiel aus dem Unterricht an, in dem er der
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Lehrerin vermutlich durchaus hätte helfen können (Eingabe des Passwortes “Win“). Eine Ursache für das Handeln der Lehrerin liegt wohl darin, dass sie aufgrund eigener Unsicherheiten den Schüler nicht als echte Hilfe wahrnimmt und sich lieber auf einen Kollegen beruft, dem sie eher Expertenwissen zuschreibt. Das falsche Fremdbild der Lehrerin, die dem Schüler hier kein hilferelevantes Wissen zutraut, führt letztendlich dazu, dass sie den Schüler am Ausüben der Rolle eines potenziellen Hilfegebers hindert. Sie nutzt ihre Lehrerautorität, um bei der Rollenaushandlung eine Verhaltensdominanz zu behaupten. Sie verstärkt durch ihr Handeln einerseits eine Lehrer-Schüler-Hierarchie, wird aber andererseits auf einer unterschwelligen Ebene durchaus von einigen SchülerInnen auf der Wissensebene als inkompetent (in Bezug auf Computerfragen) wahrgenommen und verliert durch die fehlende Anerkennung von Schülerexperten bei diesen an Respekt. 4.4.2.2 Lehrerängste vor Autoritäts- und Kontrollverlust Eine Betrachtung der Sichtweisen -gerade der nicht in die Unterrichtsfälle involvierten- Lehrpersonen ist wichtig, um zu identifizieren, aus welchen Gründen SchülerInnen von Lehrpersonen an dem Einnehmen einer Expertenrolle gehindert werden, bzw. warum Lehrpersonen sich scheuen eine Novizenrolle einzunehmen. Der wahrgenommene Wissensvorsprung der SchülerInnen –gerade im Bereich der digitalen Medien– kann bei einigen Lehrpersonen zu Unsicherheiten und Ängsten führen. So existiert die Angst, dass die Lehrpersonen aufgrund des Wissensvorsprungs der SchülerInnen einen Gesichtsverlust erleiden könnten und nicht mehr ernst genommen würden. Derartige Ängste rühren anscheinend von einer angenommenen gesellschaftlichen Erwartung, die Rolle eines allwissenden Lehrmeisters erfüllen zu müssen. Sie gehen davon aus, dass SchülerInnen und Eltern sie, wenn sie diese (selbst auferlegte) Erwartungshaltung nicht erfüllen können, sanktionieren könnten. „Da ist viel Angst bei den anderen – dass sie ihre Autorität verlieren, weil die Kinder vielleicht mehr am PC können. Es könnte ja sein, dass sich Schüler oder Eltern amüsieren, weil der Lehrer keine Ahnung hat.“ Zitat 4.86: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
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Einige (nicht in die Projekte involvierte) Lehrpersonen sind nicht bereit, ihr Wissensmonopol mit den SchülerInnen zu teilen oder diesen gegenüber die Rolle eines Novizen einzunehmen. Sie weigern sich außerdem vereinzelt, sich autodidaktisch Computerwissen anzueignen. Die Philosophie des lebenslangen Lernens wird hier nicht verfolgt. Diesen Lehrpersonen fehlt zudem eine Schülerorientierung, sie sind durch ihre Rollendefinitionen festgefahren. „Da war dann ein Argument einer Kollegin: „Ich kann das nicht! Ich will das nicht lernen und wenn das die Kinder können, ich lasse mir das doch nicht von denen zeigen!" Es ist bei vielen Lehrern einfach eine Frage des Rollendenkens.“ Zitat 4.87: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Es existiert auch die Angst durch das selbst gesteuerte Aneignen von Expertenwissen der SchülerInnen die Kontrolle über den Unterrichtsverlauf zu verlieren. Die Lehrer können nicht mehr alle Wissensquellen kontrollieren und müssen demnach den SchülerInnen die Prozesse der Wissensselektion und kritischen Bewertung zutrauen. Einige Lehrpersonen gehen davon aus, dass sie, wenn sie den SchülerInnen die Wissensdominanz in einigen Bereichen zugestehen, zugleich ihre Verhaltensdominanz abtreten und sich z.B. bei Disziplinproblemen nicht mehr gegenüber den SchülerInnen behaupten zu können: „Das ist auch ein Teil der Angst, dass sich die Kinder Informationen beschaffen könnten, die sie nicht mehr kontrollieren können und deren Beschaffungswege sie nicht mehr nachvollziehen können. Ihre Rolle ist akut gefährdet und wenn sie das im Zusammenhang sehen mit den zunehmenden Disziplinproblemen, wo auch viele denken, wenn ich diese Rolle auch noch aufgebe, wenn sie unterminiert wird, habe ich nichts mehr in der Hand, um mit den Kindern klarzukommen.“ Zitat 4.88: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Die Macht vermittelt einigen Lehrpersonen offenbar eine Sicherheit. Sie begeben sich mit der wechselnden Rolle auf ein unsichereres Terrain und können auf keine Erfahrungs zurückgreifen, um ihre Ängste abzubauen. Es vermischen sich zwei unterschiedliche Dominanzbereiche, so kann ein Lehrer den SchülerInnen durchaus die Expertenrolle zugestehen und diese trotzdem, wenn sie offensichtlich Unterrichtsregeln brechen, disziplinieren. Insgesamt zeigt sich die Angst der Lehrpersonen vor Autoritätsverlust, durch ein traditionelles Rollenverständnis geschürt und die Angst vor Kontrollverlust, sowohl bezogen auf die Kontrolle der Lernvorgänge als auch auf die Disziplin.
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4.4.2.3 Bild des Universalgelehrten versus lebenslanges Lernen Die meisten der in die Unterrichtsfälle involvierten Lehrpersonen erleben bewusst einen Rollenwechsel und beobachten, dass auch die SchülerInnen neue Erwartungen an sie stellen. So sehen sich nicht in der Rolle des alleinigen Wissensvermittlers, sondern wollen auch gemeinsam mit den SchülerInnen lernen. „Ich habe das hier auch so erlebt, dass die hier sehr offen sind und mehr den Lehrer als Teil einer Lehrgemeinschaft sehen, aber nicht als Wissenspächter oder Monopolinhaber der Wissensvermittlung.“ Zitat 4.89: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Angst durch den Wissensvorsprung der SchülerInnen einen Autoritätsverlust zu erleiden, besitzt der Lehrer nicht, sondern erlebt, dass diese ihn- auch wenn er Wissenslücken offen zugibt- aufgrund seines Alters- und Erfahrungsvorsprungs als Autorität schätzen. Vielleicht schätzen die SchülerInnen ihn auch gerade dafür, dass er Wissenslücken offen zugibt, während sie diejenigen Lehrpersonen entlarven, die versuchen ihre Wissenslücken zu kaschieren. Der Lehrer wird „menschlicher“, eher zum Partner. Dieser Lehrer zeichnet im historischen Verlauf nach, dass es früher problematischer gewesen sei, als Lehrperson einen Wissensmangel zuzugeben, da noch eher das Bild des allwissenden Lehrmeisters vorherrschte. Er geht davon aus, dass nach wie vor bei einigen seiner KollegInnen dieses Bild handlungsleitend ist. Nach dem Motto „Wissen ist Macht“ wollen sie dieses Bild des allwissenden Lehrmeisters aufrecht erhalten, um die Lehrer-Schüler-Hierarchie durchzusetzen. „Es klappt bei diesen Schülern auch, dass sie (.mein Alter und meine Erfahrung) als ausreichende Autoritätsbasis akzeptieren. Sie merken, dass ich mir kein Bein breche ihnen zu sagen, dass ich etwas nicht wusste und sie es toll gemacht haben. (...). (Früher war es) eine Überraschung für die Kinder, wenn ich mal sagte: „Das weiß ich nicht!" Es spukte noch das Bild durch die Köpfe, der Lehrer weiß alles, wie zu Wilhelms Zeiten. Da fing es erst langsam an aufzubrechen, dennoch war es oft bei den Kindern ein Schlucken und ein Verlust an Autorität. Genau das ist es, was manche Kollegen noch versuchen herüber zu retten, dieses Bild. Ich der Lehrer, du kleiner Schüler und du tust besser daran mir in allem zu gehorchen, dann geht es dir gut.“ Zitat 4.90: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Der Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft beeinflusst das jeweilige Lehrerbild. Es war schon damals eine Fiktion, die Rolle eines Universalgelehrten einzunehmen. In der heutigen Wissensgesellschaft, in der Wissensbestände noch schneller wachsen, ist dieses Bild erst recht nicht mehr zeitgerecht. Nicht eine möglichst große Anhäufung von Wissen, sondern vielmehr sich die Methode des Lernens anzueignen und gemeinsam mit anderen Wissen zu teilen und zu generieren ist eine wichtige Bedingung, um in der heutigen Zeit zu bestehen: Hierzu gehört auch, dass Lehrpersonen gegenüber ihren SchülerInnen zeitweilig die Novizenrolle einnehmen. Diejenigen Lehrpersonen, die unbedingt versuchen gegenüber ihren SchülerInnen die Rolle des Wissensmonopolinhabers zu behaupten, orientieren sich demnach an einem nicht mehr zeitgemäßen Rollenbild. „Der alte Lehrer ist eben der Wissende, das ist ja dieses Ding. Und insofern, wenn es heißt, neue Lehrer braucht das Land, dann sind das eben Lehrer, die Lernen lernen, nur dass sie das auch mit Schülern lernen dürfen, dass die ruhig ihnen auch was beibringen. (...) Das wird in vielen Fällen wahrscheinlich eine Sache sein, die fast normal werden wird, weil das Wissensgebiet steigt eben jeden Tag ins Unermessliche und alles kann man eben nicht können. Der alte Goethische Universalgelehrte, das ist eine Fiktion. Der war schon damals fast eine Fiktion und heute ist er erst recht eine.“ Zitat 4.91: Lehrer, SelMa , Sek. II
4.4.2.4 SchülerInnen als Experten Die SchülerInnen werden gerade in Medienfragen zu kompetenten AnsprechpartnerInnen für MitschülerInnen, während sich die Lehrpersonen, die sich selbst auf diesem Gebiet als Novizen erleben, zurückziehen. Der folgende in das Wirtschaftsprojekt involvierte Lehrer gibt die Rolle des Vermittlers und Beraters in Computerbelangen bewusst an seine SchülerInnen ab. In seiner Sicht muss er für ein Gelingen des Projektes nicht selbst über Computerfertigkeiten verfügen, sondern es reicht, wenn einige der SchülerInnen hier Experten sind und dieses Wissen bereitwillig an MitschülerInnen weitergeben. Damit dies gelingt, achtet er auf eine entsprechende Gruppenzusammensetzung, sodass in jedem Team mindestens eine Person über Expertenwissen im Umgang mit dem Computer verfügt: „Es gibt Schüler, die machen einem da (bei der Nutzung des Programms PowerPoint) was vor. (...) In jeder Gruppe (gibt es) aufgrund einer gewissen
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement vorhergehenden Organisation immer ein bis zwei Leute, die sich auskennen. Und die werden dann auch von den Gruppenmitgliedern konsultiert bei irgendwelchen Problemen. Es ist nicht so, dass der Lehrer dem einzelnen Schüler Computerkenntnisse beibringen soll.“ Zitat 4.92: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Die SchülerInnen eignen sich Lerninhalte oftmals selbst gesteuert an und werden so auf einigen Spezialgebieten zu Experten. Da die Lehrperson nicht vollständig in die Erarbeitung involviert ist, fällt es ihr manchmal schwer bei komplexen Arbeitsprozessen, wie hier in dem Wirtschaftsprojekt, Ergebnisse oder Produkte der Schülerarbeiten angemessen zu überprüfen: „Da gibt es Schüler, (...), die relativ fix dem Lehrer dann auch etwas vormachen, die sich da dermaßen einarbeiten, dass sie am Schluss wirklich Spezialisten auf ihrem Gebiet sind. (...)Und als Lehrer sieht man dann letzten Endes nur das Endergebnis und muss dann die Erklärungen des Schülers zwar mehr oder weniger gründlich überprüfen auf ihre Plausibilität, aber eigentlich hat der Schüler den größeren Wissensschatz darüber.“ Zitat 4.93: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Der Lehrer des SelMa-Falls hat selbst ein Stationenlernen in HTML erstellt und setzt dieses zum ersten Mal in den Unterricht ein, wodurch noch einige Fehler in den Aufgabenlösungen vorhanden sind. In der folgenden Sequenz entdeckt eine Schülerin einen Fehler und weist den Lehrer auf diesen hin: Sin1: „Da ist ein Fehler drin! Herr H., kann es sein, dass Sie hier einen Fehler gemacht haben?" L (kommt und vollzieht die Rechenschritte nach): „...Warte, das schreib ich mir mal auf... ich komm sofort..." (L geht weg.) Sin1 und Sin2 (schlagen Hände gegeneinander) „Hey! (freudig)" Andere Sin: „Habt ihr einen Fehler gemacht?" Sin1: „Nein, wir haben einen Fehler gefunden. Wir haben das richtig! ..." Lehrer (kehrt zurück): “Was ist das für ein Ergebnis?" Sin1: „17,5." Lehrer: „... Ja, O.K." Videotranskript 4.14: Schülerinnen, SelMa , Sek. II
Dass die Schülerinnen den Lehrer auf einen von ihm gemachten Fehler aufmerksam machen, spricht für ihr Selbstbewusstsein und eine Symmetrie in dem Lehrer-Schüler-Verhältnis. Die Schülerinnen scheinen sich sehr sicher zu sein, einen Fehler gefunden zu haben, denn sie schlagen bereits zu einem Zeitpunkt die
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Hände freudig gegeneinander, zu dem sie noch keine Rückmeldung vom Lehrer erhalten haben, dass sie recht haben. Dass die Schülerinnen den Lehrer auf Fehler aufmerksam machen, scheint für sie aber dennoch eher eine Ausnahmesituation zu sein, sonst würden sie vermutlich nicht so stolz reagieren. Ihre Geste des in die Hände Klatschens erinnert daran, wie sich z. B. Sportler nach einem Sieg freuen. Die Schülerinnen erleben sich in dem Fall als sehr kompetent. Dem vermeintlich mehrwissendem Lehrer wird ein Fehler nachgewiesen. Auch die Reaktion der Mitschülerin, die fragt, ob die Schülerinnen selbst einen Fehler produziert hätten, zeigt, dass diese noch von der traditionellen Asymmetrie zwischen Lehrern und SchülerInnen ausgeht, in der eben die SchülerInnen Fehler machen und die Lehrperson diese korrigiert. Einen Wissensvorsprung gegenüber dem Lehrer zu erleben ist auch für die SchülerInnen noch neu und bewirkt anscheinend ein großes Kompetenzerleben. 4.4.2.5 Lehrpersonen als Lernende Indem Lehrpersonen zeitweise in die Rolle des Lerners schlüpfen, können sie SchülerInnen in deren Rolle als Wissensvermittler beobachten und so einen Außenblick auf ihr Lehrerhandeln gewinnen und dieses reflektieren: „Es gibt viele Schüler, die von Computern und den Programmen mehr wissen als die Lehrer, sodass jetzt die Lehrer die Lernenden und die Schüler die Lehrer sind. Und ich denke mal, da kommt auch so manches zum Vorschein, wo die Lehrer dann doch zum Nachdenken kommen und sich fragen, wie habe ich das rüber gebracht und wie macht das der Schüler. Sie kriegen so auch eine Rückmeldung. Der Lehrende schlüpft mal in die Rolle eines Schülers und das ist für die meisten, denke ich mal, ganz gut.“ Zitat 4.94: Lehrer, Medienprojekt, Sek. II
Viele Lehrpersonen schildern, dass sie selbst durch ihre neue Rolle als Lernender profitieren. Hierzu gehört auch, dass sie für neue spezielle Wissensgebiete, die die SchülerInnen interessieren, offen bleiben und durch diese Schülerzentrierung selbst neue Wege einschlagen. Die Lehrpersonen können durch das Lernen von und mit den SchülerInnen eigene Wissenshorizonte erweitern. So ist der folgende Lehrer überrascht, wie viel er durch das Referat eines Schülers über ein ihm noch nicht so bekanntes Land dazu gelernt hat. „Ich habe ein Referat gehört von einem Jungen, der fährt mit seinen Eltern immer nach S.. (Ich habe) gestaunt, was da alles zutage kam. Dinge, die ich gar nicht
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement wusste. (...) So etwas ist mit die stärkste Rollenveränderung. Ich sitze da auf dem Schülerplatz und bin begeisterter als die anderen Schüler, weil mich das echt interessiert hat, und lerne so etwas dazu auf Pfaden, auf die ich nie gekommen wäre.“ Zitat 4.95: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Der Erwerb von Spezialwissen wird insbesondere durch die offenen Unterrichtsformen mit bedingt und wäre theoretisch auch ohne Computereinsatz denkbar, dieser unterstützt allerdings als Werkzeug eine eigenständige und vielfältige Informationsrecherche. Im Wirtschaftsprojekt stellt der Austausch mit externen Partnern einen wichtigen Baustein zur Wissensgenerierung der SchülerInnen dar. Nicht nur die Wirtschaftspartner fungieren als Experten, sondern zeitweilig erarbeiten sich auch die SchülerInnen durch das Nutzen vielfältiger -oft medial gestützter- Informationsquellen einen Wissensvorsprung und behaupten diesen selbstbewusst. U. a. decken die SchülerInnen Mängel im Wirtschaftsmanagement der Firmen auf und geben diesen Verbesserungsvorschläge. Auf diese Weise profitieren auch die externen Partner von dem Wissensaustausch mit den SchülerInnen. Auf der sozialen Ebene scheint es für die Wirtschaftspartner kein Problem zu sein, die SchülerInnen als Experten anzuerkennen und ihre Kritik dankbar anzunehmen. Auch sie erfahren so einen Gewinn durch die Zusammenarbeit mit den SchülerInnen: Sin: „Wir haben Kritik geübt, weil wir der Meinung sind, dass er (der Wirtschaftspartner) den Markt hier in der Eifel nicht gut genug ausschöpft.“ I: „Wie hat er darauf reagiert?“ Sin: „Er fand es positiv und hat gesagt, dass es ihm nicht geschadet hätte, weil wir ihn auf etwas aufmerksam gemacht haben, was ihm noch nie so deutlich bewusst war. Wir hatten nämlich andere Quellen und haben z. B. in der Verbandsgemeinde nachgefragt, wie das mit Bauplätzen aussieht. Da hat er wohl nie dran gedacht und er war uns eigentlich dankbar.“ Zitat 4.96: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
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4.4.3 Facilitatoren und selbst gesteuert Lernende Dieser Abschnitt thematisiert, wie sich die untersuchten Lehrpersonen als Gestalter von Lernumgebungen und in der Rolle von Lernberatern begreifen. Wie in Abschnitt 2.2.3 dargestellt werden diese beiden Rollen unter dem Begriff des Facilitators zusammengefasst. Außerdem wird darauf eingegangen wie SchülerInnen mit ihrer neuen Anforderung, selbst gesteuert zu lernen, umgehen. 4.4.3.1 Moderatoren, Berater und Facilitatoren Viele interviewte Lehrpersonen beschreiben ihre Rolle als die von Beratern und Moderatoren, doch gerade der Begriff des Moderators scheint mit unterchiedlichen Inhalten besetzt zu sein. Für diese Lehrpersonen des SelMa-Falls ist ein Moderator jemand, der nicht mehr alle Fäden in der Hand hat, sondern sich bewusst zurückzieht, um den SchülerInnen Freiräume für selbst gesteuertes Lernen zu ermöglichen. Die Lehrer fühlen sich in dieser Rolle wohl und es scheint gut zu funktionieren, dass die SchülerInnen durch ihren Rückzug selbst mehr Verantwortung übernehmen: „Man tritt in die Rolle rein, dass man berät und nicht mehr den Unterricht zentral von vorne lenkt. Man tritt als Moderator auf, was natürlich eine ganz andere Rolle ist. (Lin2: „Eine sehr angenehme.“) (...). Ich wollte aus dieser zentrierten Rolle raus, weil ich die Schüler zu mehr Selbstständigkeit kriegen wollte. Sie sollen mehr Verantwortung übernehmen, also muss ich mich automatisch mehr zurückziehen und Freiraum für selbstständiges Arbeiten schaffen. Mir hat diese Rolle gut getan. Ich dachte: `Aha, es klappt.´ Zitat 4.97:Lehrerin, SelMa, Sek. II
Eine Grundschullehrerin aus dem Märchenprojekt verwendet bei ihrer Rollenbeschreibung den Begriff des Moderators mit vollkommen gegensätzlichen Inhalten zu den oben dargelegten Ausführungen durch die Lehrpersonen der anderen Schule. So beschreibt sie die Rolle eines Moderators als jemanden, der versucht klare Ziele zu verfolgen, auch wenn er hierbei gegen den Willen oder die Bedürfnisse der Kinder arbeitet. Der Lehrerin ist jedoch wichtig, sich an den Bedürfnissen der SchülerInnen zu orientieren. Sie will nicht ziel-, sondern prozessorientiert agieren. Entsprechend will sie nicht vorher festgesetzte Ziele abarbeiten, sondern ist bereit bestehende Zielvorgaben in Auseinandersetzung mit ihren SchülerInnen zu modifizieren. Sie wendet sich daher gegen eine Rollenzuschreibung als Moderator:
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement „Für mich ist ein Moderator jemand, der ein Ziel hat, was er unbedingt erreichen will und keine Offenheit für aktuelle Entwicklungen mitbringt. Klar habe ich als Lehrer auch meine Ziele, aber wie oft kommt im Unterricht etwas auf – ein Aspekt, den ich noch gar nicht berücksichtigt habe, oder etwas, was die Kinder unheimlich interessiert: Da muss ich doch so offen sein und darauf eingehen. Das Ziel erreiche ich dann eben auf anderen Wegen. Wenn es zu Konflikten kommt, dann muss ich auch einsehen, dass es vielleicht für die Kinder so wichtig ist, dass das Thema uninteressant ist. Das hat keinen Sinn dem Ziel noch nachzuhecheln.“ Zitat 4.98: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Die Grundschullehrerin betont im Hinblick auf ein selbst gesteuertes Lernen der SchülerInnen den Aspekt der Schülerzentrierung, die beiden anderen Lehrpersonen, die in der Sekundarstufe II unterrichten, betonen die Förderung einer größeren Verantwortungsübernahme, was sicherlich durch die unterschiedlichen Altersgruppen der jeweiligen SchülerInnen mitbedingt wird. Die interviewten Lehrpersonen sind sich in dem Rückzug von einer stark lenkenden Funktion einig, ihre Definitionen der Rolle eines Moderators sind aber konträr. Während diese Lehrerin an der Moderatorenrolle die starke Lenkung kritisiert, ist für die anderen beiden Lehrpersonen der Verzicht auf eine „zentrierte“ Rolle das entscheidende Merkmal eines Moderators. Ein weiterer Projektlehrer verwendet den Begriff der Moderatorenrolle synonym zu dem eines Gesprächs- und Projektleiters. I: „Wer verteilt die Aufträge? Wer teilt das ein? Wer ist der Gesprächsleiter in den Sitzungen?“ L: „Das bin ich als Lehrer sehr häufig. Obwohl es sehr auf die Schüler ankommt. Die zwei Mädchen treiben es auch sehr von sich aus voran. Es ist manchmal sehr gut, wenn man als Lehrer am Ende alles noch einmal zusammenfasst. Da mache ich den Moderator und bringe noch einmal alles als Ergebnissicherung auf den Punkt.“ Zitat 4.99: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Seine Aufgabe sieht dieser Lehrer in der Strukturierung von Arbeitsprozessen, eine Aufgabe, die teilweise auch von den SchülerInnen16 übernommen wird. Eine zentrale Aufgabe des Moderators besteht für ihn darin, das selbst gesteuert erarbeitete Wissen der SchülerInnen zu sichern. Die Rolle der Gesprächsführung/ bzw. des Gruppenleiters, der einzelnen SchülerInnen Aufgaben zuteilt und am Ende Zentrales zusammenfasst, schlägt sich oftmals in einer Verhaltensdominanz
16 Es fällt auf, dass in seiner Gruppe vor allem zwei weibliche Schülerinnen diese Verhaltensdominanz übernehmen (vgl. Zitat 4.70).
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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nieder, die aber nicht automatisch auch eine Bestimmung über inhaltliche Aspekte einschließt. Aufgrund dieser unterschiedlichen Besetzung des Moderator-Begriffes wird in der vorliegenden Arbeit für diese Lehrerrolle bewusst kein „In-vivo-Code“ (vgl. Abschnitt 3.4.1) verwendet. Lehrpersonen greifen auf eine große Vielfalt an Handlungen zurück, die auf ein selbst gesteuertes Lernen der SchülerInnen zielen. Der Begriff des „Facilitators“ vereint die inhaltlichen Beschreibungen und Tätigkeiten der Lehrpersonen im Hinblick auf eine Förderung des selbst gesteuerten Lernens der SchülerInnen und wird daher für diese Rollenbeschreibungen verwendet. Wie in Abschnitt 2.2.3 beschreiben, gehört es zur Rolle von Facilitatoren authentisch zu sein. Das folgende Videotranskript zeigt, wie eine Grundschullehrerin ihre Empfindungen ausdrückt und dabei zugleich die SchülerInnen als eigenverantwortliche Menschen anerkennt. So fühlt sie sich durch die Lautstärke in der Klasse gestört. Anstatt die SchülerInnen „nur“ zu disziplinieren („Seid bitte leise!“) oder Sanktionen auszusprechen, spricht sie in der „Ich“-Form und verdeutlicht, dass es um ihr persönliches aktuelles subjektives Erleben und Empfinden geht. Zugleich richtet sie einen Appell an die SchülerInnen, eigenständig die Verantwortung dafür zu übernehmen, nicht zu laut zu werden, wenngleich ausdrücklich ein Austausch zwischen den SchülerInnen erwünscht ist: Lin: „Legt Ihr grad mal den Stift hin oder schaut mal auf! Ich finde es im Moment anstrengend mit A und B zu sprechen, weil hier so eine Geräuschkulisse ist. Geht mal darauf ein, dass Ihr es leiser macht. Ihr könnt Euch gern absprechen, aber ich hab manchmal das Gefühl, es wird immer lauter. Achtet Ihr mal drauf?!“ Videotranskript 4.15: Lehrerin, Lernprogramme, Primarstufe
Vor allem der betreuende Lehrer der Medien-AG schildert, wie wichtig es ist, „echt“ zu sein. Die SchülerInnen merken, ob die Lehrperson hinter ihrem Handeln steht oder nur künstlich eine Rolle behauptet. Zudem fungieren die Lehrpersonen als Vorbild, so ist es ein wichtiger Aspekt der Sozialkompetenz auch eigene Fehler offen zu reflektieren: „Bin ich authentisch? Das ist ganz wichtig. Ob die mir überhaupt was abnehmen oder ob die sagen, ‚Reden Sie mal'. Hier rein, da raus (...). Eine wirkliche Beziehung baut sich nur auf, wenn beide Seiten von sich was preisgeben und sich als Mensch, auch als fehlbares Wesen zeigen. Die lernen von mir auch, dass ich Fehler, die ich mache, eingestehe.“ Zitat 4.100: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Die in dieser Arbeit untersuchten Lehrpersonen agieren als Lernberater, ziehen sich verstärkt zurück und gestalten Lernumgebungen, die das selbst gesteuerte Lernen der SchülerInnen fördern sollen. Sie ermöglichen ihnen hierdurch, eigene Lernwege zu finden. Unterstützt wird dieser Prozess durch den Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnologien, die z. B. durch das Internet eine selbst gesteuerte Informationsrecherche oder durch den Einsatz von Lernprogrammen eine eigenständige Kontrolle der SchülerInnen ermöglichen (vgl. Kapitel Lernumgebungen). Abbildung 4.5 veranschaulicht das Interaktionsmuster „Lehrpersonen als Facilitatoren und SchülerInnen als selbst gesteuerte Lerner“. Lernberater „erleichtern“
L L als als Facilitator Facilitator
S
Selbst gesteuertes Lernen
C
konstruktivistisch
+ orientierte
Aufgabenstellung/ Didaktik „ermöglichen“
Gestalter von Lernumgebungen
Abbildung 4.5: Facilitatoren und SchülerInnen als selbst gesteuerte Lerner Tabelle 4.1 gibt einen zusammenfassenden Überblick über die aus den Daten extrahierten zentralen Tätigkeiten, die unter der Lehrerrolle des Facilitators zusammengefasst werden und die SchülerInnen als selbst gesteuerte Lerner übernehmen. Hierbei kristallisieren sich zwei zentrale Phänomene heraus, zum einen, die Schaffung und Nutzung von Gestaltungs(frei)räumen zum selbst gesteuerten Lernen und zum anderen, die Hilfe zur Selbsthilfe. Das erste Phänomen zielt vor allem auf das „Ermöglichen“ und der zweite vor allem auf das „Erleichtern“ selbst gesteuerter Lernprozesse, wenngleich beide Aspekte nicht trennscharf voneinander abzugrenzen sind.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Interaktionale Strategien der Interaktionale Strategien der Lehrpersonen SchülerInnen a) Gestaltungs(frei)räume zum selbst gesteuerten Lernen schaffen und nutzen Lehrpersonen als Gestalter von Den Lernprozess selbst steuern Lernumgebungen Demokratie erfahrbar machen (Forschungs-)Fragen entwickeln Freiräume ausnutzen b) Hilfe zur Selbsthilfe Stärkung der Selbstwirksamkeit, Autonomie einfordern versus Innere Differenzierung, Forderung nach mehr Unterstützung Prozessorientierung und durch die Lehrperson Schülerzentrierung Bewusster Rückzug und flexible Hilfe Tabelle 4.1: Lehrer als Facilitatoren und Schüler als selbst gesteuerte Lerner Im Folgenden werden die in der Tabelle aufgelisteten Tätigkeiten anhand der Forschungsdaten näher ausgeführt und belegt. a)
Gestaltungs(frei)räume schaffen und nutzen
Wie bereits in Kapitel 4.1 vorgestellt, stellt die Beschaffenheit der Lernumgebung eine wichtige Rahmenbedingung zum selbst gesteuerten Lernen dar. Im Folgenden wird dargestellt, welche interaktionalen Strategien die SchülerInnen und Lehrpersonen einsetzen, um Gestaltungs(frei)räume zu schaffen und zu nutzen. Lehrer als Gestalter von Lernumgebungen Die Gestaltung einer gemäßigt konstruktivistischen Lernumgebung, die auf ein kooperatives und selbst gesteuertes Wissensmanagement der SchülerInnen zielen soll, erfordert von den Lehrpersonen didaktische Kompetenzen, insbesondere im Hinblick auf eine sinnvolle Integration digitaler Medien. Wie diese in den einzelnen Fällen integriert werden, wurde in Kapitel 1 dargelegt. In allen untersuchten Fällen (außer im Fall Lernprogramme) gestalten Lehrpersonen, zumindest teilweise, die Lernumgebung.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Ein Lehrer im Medienprojekt schafft eine offene Lernumgebung, indem er den SchülerInnen anregende Materialien zur Verfügung stellt. Diese sollen nicht nach dem „Laissez-Faire“17-Prinzip agieren, sondern es soll ein didaktischer Handlungsrahmen zum selbst gesteuerten Lernen geschaffen werden. „Das Prinzip der Freiarbeit ist ja nicht, wie manche denken, dass die machen können, was die wollen, sondern das Prinzip ist ja, dass, man nennt es in der Montessori-Pädagogik „eine vorbereitete Umgebung gibt", d.h., dass eben bestimmte Materialien den Schülern zur Verfügung stehen. Und welche Materialien, das ist ja nicht willkürlich.“ Zitat 4.101: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Die Gestaltung einer offenen Lernumgebung wie z. B. von Wochenplänen nimmt im Vergleich zum Frontalunterricht einen meist vorbereitungsintensiveren und wichtigeren Stellenwert ein, da oft im Sinne einer inneren Differenzierung selbst Lernmaterialien entwickelt werden. Hier schlägt sich, neben dem Zeit- und Geldaufwand, auch die Kreativität der Lehrpersonen nieder. Es ist ein Unterschied, ob einfach bestehende Materialien (wie z.B. Lernprogramme) eingesetzt werden, oder ob die Lehrperson eigene offene Lernszenarien entwickelt. Im SelMaProjekt werden die Lehrer im Rahmen der Unterrichtsvorbereitung sogar zu (didaktischen) Medienentwicklern. Sie haben webbasierte Aufgabenstellungen („Lernstationen“) zusammengestellt und programmiert, die die SchülerInnen während des Unterrichtes abrufen können. Den Lehrpersonen ist es wichtig, eine Lernumgebung zu schaffen, die den SchülerInnen durch das Abrufen von Hilfeoptionen gerade genug Informationen bietet, um ihr selbstgesteuertes Lernen zu unterstützen und nicht durch zu viele Vorgaben zu behindern. Neben diesem didaktischen Anspruch müssen auch technische Herausforderungen, wie die Erstellung von Webseiten, gemeistert werden: „Da ist die Diskussion innerhalb von SELMA, was man denn an Hilfestellungen braucht. Reicht die Aufgabenstellung aus und dann gleich die Lösung, oder fehlen da nicht noch irgendwelche Zwischenschritte (...). In welcher Form werden Lösungen präsentiert: Vollständig bis ins I-Tüpfelchen oder will man doch noch ein paar Lücken lassen, damit das nicht alles so vorgegeben ist. (...) und dann kommt dazu noch die technische Umsetzung. Die ganze Mathematik, die Formeln etc. in HTML zu bringen war ein hoher Zeitaufwand.“ Zitat 4.102: Lehrer, SelMa , Sek. II 17 Beim „Laizzes faire“ Prinzip werden die SchülerInnen sich selbst überlassen, ohne dass die Lehrperson in irgendeiner Form Vorgaben gibt oder in das Geschehen eingreift (Lewin, Lippit & White, 1939).
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Den Lernprozess selbst steuern Durch die Bereitstellung einer entsprechender Lernumgebung können sich die SchülerInnen selbst Wissensressourcen (z. B. im Internet) beschaffen oder eine selbst gesteuerte Ergebniskontrolle (z. B. bei Lernprogrammen) vornehmen. Hierbei spielt der Einsatz von digitalen Medien (vgl. Abschnitt 4.1.1.) eine zentrale Rolle. Das den SchülerInnen in den untersuchten Projekten mehr Gestaltungsfreiraum und Wahlmöglichkeiten übertragen werden, wurde bereits in der Vorstellung der Lernumgebung als Rahmenbedingung thematisiert. Doch wie gehen die SchülerInnen hierbei vor und welche Probleme können auftauchen? Der folgende Videoausschnitt zeigt, wie sich zwei SchülerInnen im Fall SelMa für die Auswahl der nächsten Aufgabe18 entscheiden: Die SchülerInnen haben ihre Lernstation erfolgreich bearbeitet und wählen nun die nächste aus. S: „(Station) Neun ist auch noch, oder sollen wir eine, die wir machen müssen? Also die Acht?“ Sin: „Die müssen wir ja sowieso machen.“ S: „Hast du die Acht schon gemacht?“ Sin: „Ne, hab ich nicht, machen wir die mal.“ Videotranskript 4.16: SchülerInnen, SelMa, Sek. II
Für die beiden SchülerInnen liegen die Entscheidungsmerkmale darin, dass sie b) eine Station wählen, die zum Pflichtprogramm gehört. b) eine Aufgabe wählen, die sie beide noch machen müssen und somit gemeinsam bewältigen können. Diese soziale Dimension scheint für sie zentral zu sein. Der innerhalb von SelMa stattfindende Erfahrungsaustausch mit anderen Erprobeschulen zeigt, dass die SchülerInnen zur eigenständigen Auswahl zwischen den verschiedenen Stationen mehr Orientierungshilfe im Sinne von Hintergrundinformationen zur Aufgabe benötigen, um der Gefahr vorzubeugen, dass sie die Aufgaben einfach unreflektiert abarbeiten. Es ist eine große Gratwanderung, bei der Gestaltung der Orientierungshilfe unterstützende Informationen zu bieten
18 Die SchülerInnen müssen 6 Pflichtstationen und mindestens 2 frei gewählte Stationen bearbeiten, die Reihenfolge der Bearbeitung bestimmen sie selber.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
ohne durch zu enge Angaben (wie z. B. Zeitvorgaben) die SchülerInnen in ihrem selbst gesteuerten Lernen zu behindern oder zu verunsichern: „Die (Erprobeschulen) hatten uns als Anregung gegeben, die Schüler bräuchten konkretere Entscheidungshilfen zur Auswahl einer Station. (...) (...)Aus dem Grund hatten wir jetzt in die Übersicht noch diese kleinen Kästchen eingebaut, die etwas genauer informierten. „Da wird die Matrizenmultiplikation eingeführt – das ist leichter, das ist schwer – da braucht man 30 min, da 40 min – so als Entscheidungshilfe. Aber ich habe jetzt von H. (einem Kollegen) auch schon gehört, dass das unter Umständen Schüler abgeschreckt hat, wenn sie dort eine falsche Zeitangabe gelesen haben.“ Zitat 4.103: Lehrerin, SelMa, Sek. II
Digitale Medien bieten das Potenzial zur selbst gesteuerten Informationsrecherche (vgl. Abschnitt 4.1.1). Meist haben die SchülerInnen klare Aufgaben, etwas Bestimmtes zu recherchieren oder sie suchen selbst Informationen, die wichtig für ihre Aufgabenbearbeitungen sind. Im Fall „Lernprogramme“ sollen die SchülerInnen zunächst den Umgang mit dem Internet lernen und dürfen ausgehend von vorgegebenen Internetseiten frei im Netz navigieren: Sin1 (liest vor): „Sowieso- die Online-Zeitung" Sin2 (zeigt auf Bildschirm): „Da ist ja was! (dann Richtung Lehrerin:) Wir haben schon was!" Sin1 (liest weiter vor): " (...). Was sollen wir machen?" Sin2: „Wo bist denn Du? (Sin1: "Fotos") (lies vor). Querbeet (lacht, zeigt auf Bildschirm)." Sin1: „Wir machen Querbeet, ja?" (klickt dorthin) (Richtung Lehrerin) "Wir haben Querbeet angeklickt!" Sin2: „Ist Harry Potter abgeschrieben?" (klickt dorthin). (Sin2 liest den Text vor. Sin 1 verfolgt den Text eine Weile am Bildschirm mit, guckt dann weg, ist abgelenkt, guckt in Kamera.) Sin2: "Was machen wir jetzt? Du bist gefragt!" Sin1: „Machen wir "Archiv", da! " Sin2: „Das ist langweilig (lacht). Machen wir "Fotos?" Sin1: „Ja, Fotos!" (lacht kurz neckisch in Kamera). (Sin2 liest Text zu den Fotos vor, Sin1 guckt in die Gegend und in die Kamera.) Videotranskript 4.17: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Es fällt auf, dass die SchülerInnen mehrmals der Lehrerin ihre Arbeitsschritte mitteilen (“Wir haben schon was!“). Dies könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Schülerinnen es noch nicht gewohnt sind, eigenständig Entscheidungen zu
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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treffen und ihre Auswahl durch das Informieren der Lehrerin indirekt absichern wollen. Auch wenn diese nicht reagiert, kommt zumindest kein Widerspruch oder Hinweis darauf, dass sie etwas falsch gemacht hätten. Inhaltlich hangeln sich die zwei Schülerinnen durch verschiedene Links, die thematisch sehr unterschiedlich und zusammenhanglos sind. Es handelt sich um kein gezieltes Surfen, sondern eher um ein Treiben lassen im Netz, diesem kann einerseits eine fehlende Zielorientierung vorgeworfen werden, andererseits liegt der Schwerpunkt in diesen Unterrichtsphasen wohl bewusst in der Reduktion auf die technische Handhabung. Eine Medienkompetenz würde darüber hinaus auf Fähigkeiten zur gezielten Informationsrecherche zielen, die eine kritische Selektion und Aufbereitung der recherchierten Inhalte beinhaltet. Gerade das Thema „Ist Harry Potter abgeschrieben?“ bietet Potenzial zu einer kritischen Reflexion der Inhalte, wird von den SchülerInnen aber nur passiv konsumiert. Eine zu geringe Aufgabenstrukturierung scheint eine unreflektierte Aufnahme der recherchierten Informationen und ein Abschalten einzelner SchülerInnen zu fördern. Es fällt auf, dass sich in dieser Interaktion Sin1 mehrmals gedanklich zurückzieht und Sin2 ihre Navigationswege durchsetzt. Ein Beispiel für eine zielorientierte Aufgabenstellung ist der Fall „Freier Medieneinsatz“, der u.a. auf die Aufbereitung recherchierter Informationen über Meerschweinchen zielt. Die SchülerInnen beschaffen sich - auch wenn sie von der Lehrperson Begriffe oder Fragen vorgegeben bekommen – selbst gesteuert Informationen: Sin: „Entweder gehen wir ins Internet und sie (die Lehrer) geben uns einen bestimmten Begriff zu dem wir etwas finden sollen, aber sonst machen wir das eigentlich alleine.“ I: „Das heißt, ihr bekommt irgendeine Aufgabe etwas im Internet zu finden?“ Sin: „In Biologie z. B. über Meerschweinchen und dann finden wir da auch bestimmt etwas.“ Zitat 4.104: Schülerin, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Im Wirtschaftsprojekt (und im Medienprojekt) müssen die SchülerInnen neben der selbstständigen Informationsrecherche, -selektion und -aufbereitung auch eigenständig über ihre Zeitressourcen verfügen, und einzelne Arbeitsaufträge selbst strukturieren und aufteilen: „Der Spaß ist halt irgendwie, sich davor zu setzen und das muss einfach gemacht werden, weil die (externen Wirtschaftspartner) in zwei Monaten etwas dazu hören möchten und in der Zeit muss man etwas bringen. Das muss dann eigenständig aufgeteilt werden und eine Gliederung muss gemacht werden und es wird überall etwas rumgehorcht und angerufen, um weitere Tipps zu bekommen. Es ist wichtig
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement sich selbstständig Sachen zu besorgen und das Wesentliche herauszufiltern, obwohl das sehr schwierig ist.“ Zitat 4.105: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Für die SchülerInnen ist die Projektarbeit mit einer intrinsischen Motivation („Spaß“) verbunden, die geplante Präsentation vor Experten aus der Wirtschaft scheint sie anzuspornen und ihre Arbeitsprozesse u. a. durch die Terminfrist zu forcieren. Neben der inhaltlichen Herausforderung („obwohl das sehr schwierig ist“) zielt das Projekt zugleich auch auf die selbst gesteuerte Bewältigung sozialer Aufgaben, wie die eigenständige Aushandlung, wer in der Gruppe welche Aufgaben übernimmt sowie die Nutzung sozialer Ressourcen, nämlich der Aufbau und die Pflege wichtiger Kontakte (u. a. auch Partnern aus der Wirtschaft), die als Informationsquellen dienen und mit denen eine Wissenskommunikation stattfindet. Dadurch, dass die SchülerInnen in vielen der Unterrichtsfälle z. B. im Märchenprojekt durch die selbst gesteuerte Auswahl zwischen Arbeitsaufträgen mit unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten und Schweregraden einen großen Gestaltungsspielraum haben, übernehmen sie selbst Verantwortung für ihr Lernen. Die SchülerInnen können es durch die in der Lernumgebung gebotene Differenzierung lernen, selbst Entscheidungen zu treffen sowie ihre Stärken, Schwächen und Interessen besser einzuschätzen: Sin1: „Es gibt leichte und schwere Aufträge – das ist immer unterschiedlich.“ S1: „Bei dem Märchenprojekt durften wir uns auch aussuchen, was wir machen. Da kann man eigentlich nicht klagen, dass einem die Aufgabe zu schwer ist.“ Zitat 4.106: SchülerInnen; Märchenprojekt, Primarstufe
Für die Lehrpersonen im Medienprojekt ist es ein wichtiges Lernziel, dass die SchülerInnen es auch im schulischen Kontext lernen, selbstbestimmt zu agieren und eigene Entscheidungen zu treffen. Dieser Lehrer stellt die Pole der Selbstund Fremdbestimmung einander gegenüber, wobei er für einen Mittelweg plädiert. „Es ist im Grunde fast zweitrangig, wofür er (der Schüler) sich entscheidet, sondern dass er sich entscheidet. Sozusagen seine Entscheidung in die eigene Hand nimmt und sich nicht immer Fremdbestimmen lässt. Die übliche Schule. Der Lehrer sagt was. Alle nicken oder passen sowieso nicht auf. (...) Wir können nicht total Abschied vom Fachunterricht nehmen. Wollen wir auch nicht. Denn wenn die Schüler rauskommen, dann ist die edle Freiheit so nicht mehr gegeben und sie sollen
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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durchaus auch lernen, systematisch zu arbeiten und sorgfältig nach Plan zu arbeiten. Ich denke, das sind so zwei Pole einer Sache.“ Zitat 4.107: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Der Lehrer kritisiert, dass Unterricht im „üblichen Stil“ oftmals von einer Fremdbestimmung der SchülerInnen durch ihre Lehrperson gekennzeichnet ist und die SchülerInnen in eine passive Rolle drängt. Es ist wichtig, dass sich SchülerInnen zu selbstbestimmten Individuen entwickeln. Um dies zu fördern, sollen sie auch im Unterricht eigene Entscheidungen treffen dürfen. Er betont zugleich, dass Fachunterricht und das Arbeiten nach einem vorgegebenen Plan (denn das Prinzip der Selbststeuerung schließt planmäßiges und strukturiertes Arbeiten nicht aus) wichtig sei, um SchülerInnen optimal auf ihre Zukunft vorzubereiten, die auch nicht immer die Freiheit bietet, selbst gesteuert zu agieren. Demokratie erfahrbar machen Die Handlungen der Lehrpersonen in ihrer Rolle als Facilitatoren zielen verstärkt darauf, eine Wissens- und Verhaltensdominanz zwischen Lehrpersonen und SchülerInnen abzubauen. Im klassischen Unterricht scheinen nach wie vor stark lenkende Lehrerhandlungen zu dominieren. In derart asymmetrischen Interaktionsmustern zwischen Lehrpersonen und SchülerInnen versuchen Lehrpersonen oft, eine (manchmal künstliche) Wissensdominanz zu behaupten und agieren „als Zeigefingerschwinger“ an den Bedürfnissen der SchülerInnen vorbei. „Also dann kommt der Lehrer, der sagt „da müssten wir aber, da könnten wir..." was ja auch der normale Fall an unserer Schule ist, dass Lehrer sich in dem Fall als Zeigefingerschwinger dann erheben, aber sich wundern, dass die Schüler nicht in Bewegung geraten. Und ich denke, wir können Schüler nur, wie wir uns auch selbst, meine ich, nur motivieren, wenn wir so etwas wie eine Betroffenheit, wie eine wirklich eigene Interessenlage schaffen.“ Zitat 4.108: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Den SchülerInnen wird im Märchen-, Medien- und Wirtschaftsprojekt ein Mitspracherecht eingeräumt. Vor allem in dem Medienprojekt wird über politische Themen diskutiert. Der betreuende Lehrer der Medien-AG versucht seine SchülerInnen mit einer Mischung aus Leistungsanspruch und Stärkung ihres Selbstbewusstseins dazu zu motivieren, sich in gesellschaftliche Belange ein-
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
zumischen. Gerade die Medienproduktionen der SchülerInnen dienen als wichtiges Werkzeug zur Meinungsbildung und Verbreitung und können auch zur Einmischung in unterrichtsexterne Belange dienen: „Wir sagen „Hey, du hast hier einen Platz und du hast hier eine Aufgabe. Und wir fordern dich, weil wir dich auch fördern. (...) Und ob das jetzt mit einer Theateraufführung oder mit einer Radiosendung oder einfach nur mit einer Analyse von irgendso einem komischen Brief vom Bundesfinanzministerium, da kannst du einfach mitmischen. Da darfst du kräftig mitreden und du bist gefragt. Du bist wichtig!" Zitat 4.109: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Der Lehrer möchte mit der Medienarbeit zu einer lebendigen Demokratie beitragen. Selbstbestimmt und -verantwortlich zu agieren und zugleich die Bedürfnisse anderer zu respektieren, ist eine wichtige Voraussetzung, um als aktiver Demokrat wirken zu können. Hierzu gehört es, empfangene Informationen kritisch zu analysieren und sich stets einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten und diesen nach außen zu vertreten. Der Lehrer versucht das Mitbestimmungsrecht der SchülerInnen zu erweitern und sie darin zu bestärken für die eigene Position zu kämpfen. Damit die SchülerInnen dies lernen, soll auch im Unterricht „echte“ Demokratie praktiziert werden. Hierarchien, wie autoritäre Interaktionsformen zwischen Lehrpersonen und SchülerInnen sollen abgebaut werden. Eine Symmetrie in der Lehrer-SchülerInnen-Beziehung schlägt sich u. a. darin nieder, dass auch SchülerInnen das Verhalten des Lehrers hinterfragen dürfen. „Ich werte z. B. die Medienarbeit, die wir hier leisten, als eine politische Bildungsarbeit, die sie auch in Stande setzt, bestimmte Dinge infrage stellen zu können. (...). Auch die Person kann man infrage stellen. Auch ich kann mich infrage stellen. All diese Aspekte gehören trainiert und das gehört auch zu einer wirklichen Demokratie. Solange aber weiterhin die alten Ideen „Solange du die Füße unter meinen Tisch stellst" und „die, die hier bei mir angestellt sind ..." Solange das noch gängiges Regulationsmechanismusprinzip ist, da kann man natürlich sagen, wird mitnichten Demokratie praktiziert.“ Zitat 4.110: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Der Lehrer plädiert für eine demokratische „Beziehungsschule“: „Man könnte sagen, was uns heute fehlt, ist so eine Beziehungsfähigkeit. Eine Beziehungsschule. Dass Schüler lernen Beziehungen aufzunehmen. In einer Weise, die eben demokratisch orientiert ist. Also eben orientiert ist an der Freiheit des
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anders denkenden. An der Toleranzschwelle, die man sich selber basteln möchte, dass da dieses Einsehen, dieses Verstehen des Anderen gefordert und trainiert wird.“ Zitat 4.111: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Neben der Sachebene spielt im Unterricht auch die Beziehungsebene eine wichtige Rolle. So ist es dem Lehrer des Medienprojektes wichtig, dass seine SchülerInnen durch eine demokratische Beziehung zu ihm und zu ihren MitschülerInnen (und ggf. zu Externen) lernen für ihre eigenen Bedürfnisse zu kämpfen und zugleich erfahren, dass die eigene Freiheit da endet, wo die des anderen beginnt. Da sie die Interaktions- und Arbeitsprozesse der jeweiligen SchülerInnen durch deren selbst gesteuertes Lernen nicht mehr vollständig evaluieren können, haben sich einige der Lehrpersonen dazu entschlossen, die SchülerInnen als Experten mit in ihre Notengebung zu involvieren. Hierzu setzen sich alle beteiligten SchülerInnen und Lehrpersonen zusammen und handeln die einzelnen Noten per Selbstbewertung und über die Fremdeinschätzung von MitschülerInnen wechselseitig aus. Die Schüler lernen auf diese Art und Weise ihr eigenes Verhalten zu evaluieren, eine wichtige Fertigkeit, um selbst gesteuert lernen zu können. Durch die Einräumung eines Mitspracherechts bei der Notengebung wird das Machtgefälle zwischen Lehrpersonen und SchülerInnen reduziert, wenngleich die Lehrperson wohl weiterhin die letzte Entscheidungsinstanz bleiben wird: „Wenn es ernst wird, also wenn die Zeugnisse geschrieben werden, der Notenspiegel also praktisch festgelegt wird, dann wird sich einfach zusammengesetzt (...) und gesagt „ok also Mitarbeit, das ist das das das, was sagt Ihr dazu?" Dann wird halt rumgefragt in der Runde. Und dann kommt die Note im Endeffekt raus. Da ergibt sich ja eine Tendenz und man sagt ok, der war so und so oft nur da und der macht irgendwie nicht richtig mit und der ist nicht sehr engagiert, ok, dann gibt es halt nur eine Vier. Das kristallisiert sich in den Gesprächen einfach heraus.“ Zitat 4.112: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Die SchülerInnen können durch die Konfrontation ihrer Selbsteinschätzung mit der Fremdeinschätzung lernen, ihr eigenes Verhalten besser zu reflektieren. Andererseits könnte das Involvieren der SchülerInnen in die Notengebung die Gefahr bergen, dass bei geringen sozialen Kompetenzen destruktive Äußerungen verletzen oder sich Antipathien negativ auf die Fremdwahrnehmung auswirken.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
(Forschungs-)Fragen entwickeln Durch ein größeres Mitspracherecht der SchülerInnen bei der Unterrichtsgestaltung erweitert sich ihr Handlungsspielraum. Neben einer größeren Motivation der SchülerInnen wird durch eine aktive Einbeziehung ihrer Ideen und Perspektiven der Wissenshorizont aller Beteiligten- inklusive der der Lehrperson erweitert. Es geht nicht nur darum, Antworten zu finden, sondern auch durch eigene Fragen neue Sichtweisen zu generieren. „Es war zur heutigen Vorbereitung der sechsten Stunde „Fragen zum Euro" so, dass die eine Frage, nämlich die Frage, was halten die Menschen vom Euro, nicht von mir kam. Man ist einfach eingeengt. Ich habe immer gesagt, ich finde den (Euro) gut (...) aus der ganz naiven Verbrauchersicht. Deswegen kam mir die Frage überhaupt nicht in den Sinn, (...). Ich weiß natürlich, dass es erhebliche Skepsis gibt. Ein Schüler sagte, man müsste das mit aufschreiben, was halten wir eigentlich davon. Das ist mit eine neue Schülerrolle. Natürlich gehört dazu auch vom Lehrer die Bereitschaftsoffenheit.“ Zitat 4.113: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Die SchülerInnen bearbeiten nicht nur von Lehrpersonen oder Schulbüchern vorgegebene Aufgaben, sondern konstruieren teilweise auch selbst welche. Hierdurch wird die Chance zum kreativen Arbeiten und Perspektivwechsel gegeben. Zugleich erhalten ihre erstellten Produkte z. B. durch die anschließende Bearbeitung durch MitschülerInnen eine echte Funktion und Wertschätzung: „Letzte Woche sollten die Schüler sich zu Hause Sachaufgaben ausdenken und die wurden in der Schule dann von jedem auf PC geschrieben. Die haben wir gesammelt und das haben die Kinder als Arbeitsblatt zurückbekommen. Das mussten sie dann berechnen.“ Zitat 4.114: Lehrerin, Lernprogramme, Primarstufe
Insbesondere der Austausch mit Externen (im Märchen- Wirtschafts- und Medienprojekt) fördert eine forschende Haltung der SchülerInnen, die über ihre Fragen, die aufgrund des authentischen Kontaktes meist intrinsisch motiviert sind, selbst Wissen generieren.
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Freiräume ausnutzen Wenngleich die meisten SchülerInnen durch die offene Lernumgebung und durch die Möglichkeit in einem großen Gestaltungsraum selbst gesteuert agieren zu können intrinsisch motiviert sind und selbst gesteuert lernen, gibt es auch SchülerInnen, die nicht mit der Methode zu erreichen sind und die Offenheit, die mit einer geringeren Kontrolle durch die Lehrperson einhergeht, ausnutzen. Eine Schülerin im Fall SelMa sieht als Kehrseite des selbstbestimmten Arbeitens die Gefahr, dass einige SchülerInnen, wenn sie z. B. die Option haben, Lösungen abzurufen, diese einfach unreflektiert übernehmen19. Sie betont, dass sie und ihre MitschülerInnen aufgrund ihres Alters aber durchaus selbst Verantwortung für ihr Handeln übernehmen sollten. Diese Übernahme von Eigenverantwortung ist eine wichtige Kompetenz, um das Lernen zu lernen: „Es gab auch welche, die einfach die Lösungen abgeschrieben haben. Aber wir sind in der Oberstufe und da muss jeder für sich selber entscheiden, wie er das macht.“ Zitat 4.115: Schülerin, SelMa , Sek. II
Einige Lehrpersonen beobachten, dass die SchülerInnen teilweise die durch die offene Unterrichtsmethode und den Computereinsatz gebotenen Freiräume ausnutzen, um unterrichtsexternen Interessen nachzugehen: „Ist ja kein Problem von der Oberfläche den Sprung ins Internet zu kriegen. Und wenn sie dann merken, dass der Pauker kommt, anderes Fenster einstellen und flupp, flupp schon sind sie wieder schön bei der Station.“ Zitat 4.116: Lehrer, SelMa, Sek. II
Auch das Disziplinieren gehört nach wie vor zu dem Aufgabenbereich der Lehrpersonen. So berichtet der „SelMa“- Lehrer, dass er aktiv entgegensteuert, wenn einige SchülerInnen die durch den offenen Unterricht entstehenden Freiräume ausnutzen und sich nicht mehr mit ihrer Aufgabe auseinandersetzen: „Wenn es um Disziplin geht, habe ich die Situation, dass nicht alle Schüler gut mitmachen, wenn ich nicht hinterher bin. (...) Für die 10, 20 %, die sich auch mit dieser Methode nicht fangen lassen, bin ich der Sheriff und schaue, ob sie im Internet sind. " Zitat 4.117: Lehrer, SelMa, Sek. II 19 Die Gefahr des unreflektierten Übernehmens von Lösungen besteht allerdings auch im Frontalunterricht, indem gewartet wird bis andere SchülerInnen eine Lösung erarbeitet haben, die dann einfach abgeschrieben wird.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Neben dem Nachgehen privater Interessen besteht die Gefahr des Aufrufens jugendgefährdender Themen. Derartige Aktivitäten entziehen sich oft der Lehrerkontrolle. Eine fehlende Zielorientierung und unklare Aufgabenstellung scheint hierbei verstärkend zu wirken: S1: „Die schalten dann zwei Seiten gleich und sobald der Lehrer kommt, sind sie dann am Suchen und sobald der Lehrer wieder weg ist, gucken sie sich die neuen Fußballergebnisse an. Da kriegen die Lehrer natürlich nicht so viel mit, denn der Computer bietet so viele Möglichkeiten, wenn wir jetzt mal ehrlich sprechen wollen. (...)“ S2: „In Geschichte sollten wir z. B. Rezepte mit Kartoffeln aus dem Zweiten Weltkrieg finden. Und dann haben wir alles mit Kartoffeln gefunden und Hanfrezepte aus dem Zweiten Weltkrieg.“ S1: „Ich denke, dass die Lehrer selber nicht wissen, was dabei rauskommen soll. Die wissen nur, ob wir das Internet nutzen können.“ Zitat 4.118: SchülerInnen, Freier Medieneinsatz, Primarstufe
Für ein Ausnutzen der Gestaltungsfreiräume gibt es unterschiedliche Ursachen, diese können zum einen darin liegen, dass SchülerInnen kein intrinsisches Interesse an der Aufgabenbearbeitung haben oder aufgrund einer Überforderung Ablenkungsstrategien anwenden. Der Computereinsatz scheint hier als Rahmenbedingung einzuwirken: Er bietet mit seinen zahlreichen Möglichkeiten, z. B. im Internet zu surfen oder Bildschirmschoner zu installieren, womöglich einen höheren Anreizcharakter zur Ablenkung als in traditionellen Unterrichtsformen (wie Briefe schreiben). Ein anderes Problem des Interneteinsatzes ist die für Lehrpersonen teilweise fehlende Nachvollziehbarkeit der Wissensbeschaffung, wie die Gefahr der Verwendung von Plagiaten20, die ggf. unentdeckt bleiben und eine gerechte Bewertung der Arbeitsprodukte von den SchülerInnen erschweren: „Da hat man festgestellt, dass die Bewertung dieser Facharbeiten zunehmend schwieriger wurde, weil es sich nicht mehr kontrollieren ließ, wo die Schüler ihre Kenntnisse her hatten. In der Praxis hat dann sicherlich mancher Schüler aus dem Internet irgendwelche Dinge heruntergeladen und in seiner Facharbeit verwendet, aber der Lehrer ist nie dahinter gekommen und, insofern werden Noten dann auch verfälscht.“ Zitat 4.119: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
20 Hier tut sich speziell ein neuer Markt auf. So existiert bereits Software zum Aufspüren von Plagiaten.
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b) „Hilfe zur Selbsthilfe“ Neben der Schaffung von Gestaltungs(frei)räumen ist die “Hilfe zur Selbsthilfe“ eine zentrale interaktionale Strategie der Lehrpersonen zur Förderung des selbst gesteuerten Lernens der SchülerInnen. Die Handlungsabsicht vieler befragter Lehrpersonen zielt darauf, den SchülerInnen zu helfen „es selber zu machen“. Der folgende Lehrer beruft sich auf die Montessori-Pädagogik, die die Wichtigkeit einer Schülerzentrierung, des Zurücknehmens der Lehrperson, aber auch das Geben einer bedürfnisorientierter Hilfestellung, betont: „Frau Maria Montessori hat ja gesagt, wir müssen uns zurücknehmen. Soweit der Schüler das kann, soll er es selber machen. Ihm helfen es selbst zu tun, das war ja ihr Losungswort und das durchzieht ihre ganze Arbeit.“ Zitat 4.120: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Wodurch zeichnet sich eine derartige Hilfe zur Selbsthilfe aus? In den folgenden Unterkapiteln werden wichtige Aspekte, wie eine Stärkung der Selbstwirksamkeit der SchülerInnen, Schülerzentrierung und Lernprozessorientierung dargestellt. Stärkung der Selbstwirksamkeit Die Lehrpersonen können durch ihr Verhalten zu einer Stärkung der Selbstwirksamkeit der SchülerInnen beitragen, indem sie nicht im Sinne eines Defizitansatzes die Schwächen der SchülerInnen betonen, sondern vielmehr an deren Stärken anknüpfen. Der Projektleiter der Medien-AG betont, dass dies weniger durch die Schaffung einer Lobkultur zu erreichen ist, die letztendlich nur auf die Schaffung extrinsischer Motivationsanreize zielt, sondern vielmehr durch die Stärkung eines Glaubens an sich selbst durch das Erleben eigener intrinsischer Erfolgserlebnisse: „Ich kann nicht auf Defiziten weiter rumtrampeln und dann erwarten, dass das dann irgendwann wie ein Phönix aus der Asche zur Manege bewegt, sondern ich habe doch zu gucken, wo ich Felder finde, wo ich sie ermutigen kann. Also dass ich sie irgendwo abholen kann, damit sie wieder Mut schöpfen, dass sie doch was auf die Pfanne kriegen, dass sie eben doch was schaffen können. Und zwar selbst und schon gar nicht durch das, was unser Schulrat bei unserer letzten großen Besprechung im Lehrerzimmer sagte, wir müssten eine Lobkultur entwickeln.“ Zitat 4.121: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Differenzierung, Schülerzentrierung und Prozessorientierung Die unterstützende Rolle des Computers beim selbst gesteuerten und individualisierten Lernen der SchülerInnen wurde bereits in Kapitel 1 vorgestellt. Das Prinzip der Differenzierung bezieht sich nicht nur auf die Gestaltung der Lernumgebung, sondern darüber hinaus auf das Handeln der Lehrpersonen während der Unterrichtsphasen. Um selbst gesteuert lernen zu können, benötigen die SchülerInnen einen unterschiedlichen Grad an Unterstützung und Beratung: „Gut ich muss dem einen Kind mehr Hilfestellung geben, dem anderen weniger. Wenn das Kind, das mehr Hilfestellung bekommen hat, diese auch umsetzt, ist es doch für das Kind auch schon wieder ein Lernerfolg.“ Zitat 4.122: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Diese Grundschullehrerin schildert, dass schwache und unsichere SchülerInnen zu Beginn noch starke Probleme mit der offenen Lernumgebung haben. Sie versucht, diese schrittweise an das selbst gesteuerte Lernen heranzuführen: „Gerade bei der Wochenplanarbeit gibt es viele Kinder, die am Anfang ob der vielen Aufgaben, die zu erledigen sind, erst mal verzweifeln. Das sind aber Erfahrungen. Wenn sie in kleinen Schritten vorgehen, können sie auch einen hohen Berg an Arbeit abarbeiten.“ Zitat 4.123: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Auch der folgende Lehrer des SelMa-Falls richtet sein Ausmaß an Hilfestellung situationsorientiert und je nach Schülertyp aus. Während leistungsstarke SchülerInnen auch bei auftretenden Schwierigkeiten möglichst selbstständig und ohne Lehrerhilfe arbeiten sollen, ist es bei schwächeren und unsicheren SchülerInnen u. U. passender, ihnen mehr Unterstützung und Hilfestellung zu geben, damit sie nicht in ihrem Lernprozess behindert werden: „Ich reagiere ganz individuell. Es sitzen einige am PC und kommen nicht weiter, je nachdem wer das ist, lasse ich sie, oder ... Der B. hatte sich beispielsweise so verstrickt, dass ich doch eingegriffen habe. Ich habe mit ihm die Station zu Ende gemacht, damit er endlich etwas anderes beginnen konnte.“ Zitat 4.124: Lehrer, SelMa, Sek. II
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Gerade die Arbeitsform der Freiarbeit ermöglicht es den Lehrpersonen individuell und bedürfnisorientiert auf die SchülerInnen einzugehen und auf diese Weise auch unterschiedlichen Leistungsniveaus gerecht zu werden. „Ich habe Freiräume, um mit Schwachen oder Starken arbeiten zu können. Dadurch wird der Unterricht offener.“ Zitat 4.125: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Auch dieser Lehrer versucht individuell und situationsspezifisch zu agieren: „Ansonsten konzentriere ich mich wirklich auf die einzelnen Kinder und auf die Differenzierung und da stellen sich jeden Tag neue Aufgaben, auf die ich dann auch spontan reagieren muss und das mache ich auch.“ Zitat 4.126: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Um langfristig ein selbst gesteuertes Lernen der SchülerInnen zu fördern, ist eine Lernprozessorientierung wichtiger als das Lernprodukt an sich. Das oberste Unterrichtsziel ist nicht das Erreichen möglichst vieler vorzeigbarer Ergebnisse (Ergebnisorientierung), sondern dass die SchülerInnen das Lernen lernen21: „Es ist mir nicht wichtig, ob sie zehn oder zwölf Aufgaben haben, sondern dass sie richtig sind. Sie lernen das Lernen.“ Zitat 4.127: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Die Lehrperson als Facilitator agiert nicht mehr vorwiegend als Wissensvermittler oder Lösungsgeber, sondern vielmehr als Lernprozessberater. Ihre Handlungen zielen nicht auf den Erwerb von deklarativem Wissen, sondern darauf, die SchülerInnen beim Erwerb von Methodenwissen und Handlungsstrategien zu unterstützen. Eine Variante, das selbst gesteuerte Lernen der SchülerInnen zu fördern, besteht in einem schrittweisen Heranführen an die Lösung: Die Grundschüler haben einen kleinen Aufsatz über ihr Wochenende geschrieben und in den Computer eingetippt. Die Lehrerin kommt hinzu: Lin (zeigt auf Bildschirm): „Gut! Guck mal, die Namen sind rot unterstrichen, weil die (PCs) Namen nicht kennen, aber andere Wörter, Fußball z. B., da müsst Ihr mal überlegen, was daran falsch sein könnte. Was meinst du?" (die SchülerInnen haben „Fußball“ geschrieben) 21 Das Lernen lernen ist eine wichtige Schlüsselqualifikation (vgl Kapitel 4.6).
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement S1: „Das ß da!" (zeigt auf die Stelle). Lin: „ß? Nö, was anderes! Was ist denn das für eine Wortart?" S2: „Groß!" Lin: „Genau!" (L geht wieder) Videotranskript 4.18: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Die Grundschullehrerin erklärt den SchülerInnen, dass der Computer falsch geschriebene Wörter rot unterstreicht. Sie verweist somit auf die computergestützte Rechtschreibkontrolle, zeigt aber auch deren Grenzen auf („der Computer kennt keine Namen“)22. Anstatt den Fehler direkt zu verbessern oder den Schülern die Rechtschreibkontroll-Funktion zu demonstrieren, (ob sie diesen Schülern bereits vertraut ist, kann anhand der Daten nicht rekonstruiert werden), führt sie durch ihre Fragen an die Lösung heran. Damit die SchülerInnen das Lernen lernen, sollen sie Selbstkontrollstrategien, wie den richtigen Umgang mit Wissensressourcen, z. B. dem Internet erwerben. Einige Lehrpersonen machen sie zwar indirekt auf Fehler aufmerksam, geben aber keine direkte Rückmeldung, sondern verweisen auf derartige Wissensquellen: Die Grundschülerinnen schreiben einen Aufsatz über Meerschweinchen, als Wissensquelle dient ihnen hierbei u. a. das Internet. Bei der Darstellung der Zähne ist ihnen ein Fehler unterlaufen. Die Lehrperson überprüft nun deren Text: L: „Und die acht Backenzähne. Haben sie die oben und unten? Oder zusammen?“ Sin1: „Oben und unten?“ L: „Insgesamt acht? Oder insgesamt 16?“ Sin1: „Insgesamt acht.“ L: „Dann haben sie doch nur vier oben und vier unten. Stimmt das? (Sin2: „Ja!“) Würde ich noch mal nach gucken.“ Sin1: „Ja, ist richtig. Wirklich!“ L: „Ich würde noch mal nachgucken.“ Sin2: „16, ne?“ Sin1: „Acht unten, acht oben.“ L: „Genau das würde ich vorsichtshalber noch mal nachgucken.“ Videotranskript 4.19: SchülerInnen, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Es fällt auf, dass sich der Lehrer aktiv dagegen wehrt, die von den SchülerInnen indirekt eingeforderte richtige Antwort zu geben und stattdessen eine selbst gesteuerte Informationsrecherche im Internet nahe legt. Auch der nächste Video-
22 vgl. hierzu Abschnitt 4.3.5.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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ausschnitt zeigt, dass viele der untersuchten Lehrpersonen anstatt ein direktes Feedback zu geben, oftmals auf andere Wissensressourcen verweisen: Die SchülerInnen haben einen Fragebogen mit jeweils vier vorgegebenen Antwortmöglichkeiten erstellt, nun kommt die Lehrperson hinzu, um ihnen eine Rückmeldung zu geben. L: „Darf ich das mal ... (unverständlich: korrigieren oder probieren)?“ Sin1: „Ja, klar!“ (Sie macht Anstalten aufzustehen, um L an PC zu lassen). L: „Ne, ne, du machst das, ich zeig dir das nur. (Sin setzt sich wieder, L liest Text am Bildschirm.) also, hier eine Schmuckkette. Da machen wir erst mal die Frage. Kann man die anfassen, ja! Alles klar. Und nach der neusten Rechtschreibung müssen wir leider die Sache anders schreiben. Pass mal auf, ich gib dir mal einen neuen Rechtschreibduden.“ Videotranskript 4.20: SchülerInnen, Medienprojekt, Sek. I
Als der Lehrer hinzukommt, um ihr Arbeitsprodukt zu überprüfen, steht die Schülerin von ihrem Platz auf- vermutlich ein Zeichen dafür, dass sie erwartet, dass die Lehrperson nun am Rechner eventuelle Fehler korrigiert. Sie sieht sich selbst durch ihren räumlichen Rückzug in der passiven Rolle. Der Lehrer hingegen wehrt sich gegen diese Zuschreibung und weist der Schülerin wieder eine aktive Rolle zu („Du machst das, ich zeig dir das nur“). Seine Rückmeldung besteht nicht in der Vorgabe einer Lösung, er sagt ihr zwar, was falsch ist, stellt ihr dann aber zur Verlagerung weg von der Vermittlungs- hin zur Aneignungsperspektive ein Nachschlagewerk zur Verfügung. Insgesamt ist es zwar zeitaufwendiger, wenn die SchülerInnen selbst Begriffe nachschlagen, sie lernen aber, indem sie selbstverantwortlich ihre Fehler korrigieren, vermutlich besser als durch ein passives Aufnehmen der Verbesserungen durch die Lehrperson. Ein betreuender Lehrer des Wirtschaftsprojektes beschreibt seine Rollenveränderung, weg von einer stark lenkenden, bewertenden Position hin zu einer stärkeren Schülerzentrierung, als einen Lernprozess. Er übernimmt nach wie vor eine strukturierende Funktion, versucht aber nicht mehr –wie früher- seine Sichtweisen durchzusetzen, sondern stattdessen Denkprozesse der SchülerInnen anzuregen. Im Sinne des Konstruktivismus bestärkt er die SchülerInnen darin, individuelle Wege einzuschlagen. „Ich habe da viel gelernt. Ich muss manchmal in der Sitzung, wo es um den Punkt geht, ein bisschen zerren, damit sie ein wenig aus der Lethargie rauskommen, aber ich bin heute viel moderater in meinen Hinweise. Früher war es: „So kann man das nicht machen!", heute würde ich sagen: „Denk mal drüber nach – ist das so richtig?" ich bin heute auch viel flexibler in Alternativen zu denken. Wo will der Schüler eigentlich hin – welche Möglichkeiten eröffnet uns sein Weg? Lassen wir ihn mal
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement gehen, vielleicht ist das viel erfolgsorientierter. Das ist die Rolle, in der ich mich heute sehe: viel ruhiger, abwartender, stärker reflektierender.“ Zitat 4.128: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Wie die dargelegten Beispiele zeigen, steht bei der Prozessorientierung und Schülerzentrierung im Vordergrund, dass die SchülerInnen sich selbst gesteuert Wissen aneignen und ihren eigenen Lernweg einschlagen, auch wenn sie hierbei längere Strecken oder Umwege gehen23. Bewusster Rückzug und flexible Hilfestellung Um das selbst gesteuerte Lernen der SchülerInnen zu fördern, stehen die Lehrpersonen nicht mehr sofort bei Schwierigkeiten zur Verfügung. Dieser Lehrer schildert, dass es für ihn ein wichtiger und schwerer Umstellungsprozess ist, sich von der kontrollierenden und intervenierenden Rolle zurückzuziehen und es auszuhalten, dass er in manchen Unterrichtsphasen gar nicht von den SchülerInnen benötigt wird. Zu dem Zurückziehen gehört es auch, sich gegenüber Rollenzuschreibungen von SchülerInnen, die ihre Lehrer in die Rolle des Wissensvermittlers, Lösungsgebers oder Erklärers bringen wollen, zu wehren und das Geben einer direktiven Hilfestellung zu verweigern. Auf diese Weise sollen die Schülerinnen lernen, sich eigenständig Methoden zur Problembewältigung anzueignen: „(Man muss) sich auf die Lehrerrolle neu einstellen. Die ist ja eine andere. Die ist geneigt, dauernd hinter dem Schüler zu stehen und zu schauen, was machst du da eigentlich. Und wenn man dann da sitzt, (...) und keiner will was von einem, ist das schon komisch. (...)– aber man muss sich einfach sagen `Das ist okay. Das ist gut, was du machst. Das ist besser, als wenn du wieder hinter denen stehst und sagst guck mal mach mal hier und mach mal da. (...) Wenn wir zu früh eingreifen, nehmen wir Schülern ja auch die Chance selber Sachen zu entdecken. (...) Auch wenn wir sehen, dass da gleich ein Fehler kommt, gerade dann müssen wir auch weggehen und uns zurückhalten, ohne den Schülern sofort zu erklären – auch wenn sie es vielleicht wünschen – was dort falsch ist. Wir müssen darauf Wert legen zu sagen: „Nein wir ziehen uns jetzt zurück, damit sie die Chance haben, ein Problem zu sehen und eine Lösung zu finden." Zitat 4.129: Lehrer, SelMa, Sek. II
23 Siehe auch Videotranskript 4.21.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Durch diesen Rückzug verlagert sich die Perspektive weg von einer Wissensvermittlung durch die Lehrperson hin zu einer aktiven Aneignung, einem selbst gesteuerten Lernen der SchülerInnen. Dieses Zurückziehen funktioniert aber nur dann, wenn alle SchülerInnen die vorbereiteten Aufgabenstellungen selbst gesteuert bewältigen können. So agieren die Lehrpersonen teilweise auch als Berater. Es ist für sie eine große Herausforderung, sich spontan auf die individuell sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der SchülerInnen einzustellen, ihre Probleme schnell zu durchschauen und angemessen Hilfe zu geben. Die Konfrontation mit derartigen Situationen, die insbesondere bei gleichzeitigen Anfragen stressbesetzt sind, erfordert von den Lehrpersonen ein hohes Maß an Flexibilität und Konzentration. Für die folgende Lehrerin sind derartige Situationen mit der Sorge verbunden, Schülererwartungen nach kompetenter Unterstützung nicht erfüllen zu können. „Man bekommt auf einmal fünf oder sechs TIs24 vor die Nase gehalten. Man hat den kleinen Bildschirm und soll sofort sehen, wo der Fehler liegt. Ich habe das nicht immer auf den ersten Blick sehen können, wo eine Klammer fehlt. Dann muss man sich erst mal hinsetzen, und das, während der Unterricht läuft. Das sind Punkte, wo der Eindruck entsteht: 'Die können das ja selber nicht.'“ Zitat 4.130: Lehrerin, SelMa, Sek. II
Während es im Frontalunterricht meist nicht weiter hervorsticht, wenn einige SchülerInnen sich gedanklich zurückziehen oder etwas nicht verstanden haben, werden in offenen Unterrichtssituationen derartige Probleme schneller deutlich und können entsprechend behandelt werden. Die Lehrpersonen haben in offenen Lernumgebungen allerdings mit der Schwierigkeit zu kämpfen, nicht alle SchülerInnen zeitgleich bei ihren unterschiedlichen Problemlagen unterstützen zu können. „Beim Frontalunterricht kann ich mich der Illusion hingeben, dass alles doch genauso funktioniert hat, wie ich mir das vorgestellt hatte. Zwar bekommen fünf Kinder in der letzten Reihe nichts mit, aber es stört meinen zeitlichen Ablauf nicht. Das ist bei solchen Formen natürlich komplizierter, wenn ein Kind nicht mitbekommen hat, was es machen soll, dann geht das Hilfeschreien los und ich habe ein Problem, weil ich auch noch 25 anderen Kindern helfen muss und die berate.“ Zitat 4.131: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
24 TI= ein wissenschaftlicher Taschenrechner mit Programmier- und Grafikfunktion
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Offene Unterrichtsformen erfordern eine größere Flexibilität der Lehrpersonen, um auf die individuellen Bedürfnisse einzelner SchülerInnen eingehen zu können, während es im Frontalunterricht nahezu unmöglich ist, unterschiedlichen Lerntypen sowie starken und schwachen SchülerInnen zugleich gerecht zu werden. Während sich Lehrpersonen in offenen Lernumgebungen auf der einen Seite durch das selbst gesteuerte Lernen der SchülerInnen zurückziehen können (und umgekehrt durch ihren Rückzug ein selbst gesteuertes Lernen fördern), treten im anderen Extrem auch Situationen auf, in denen sie als flexible Hilfegeber für viele SchülerInnen gleichzeitig stark gefordert sind. Dadurch, dass auch SchülerInnen die Rolle von Tutoren übernehmen, können sie die Lehrperson entlasten (vgl. Abschnitt 4.4.5). Autonomie einfordern vs. Forderung nach Unterstützung Dass die SchülerInnen im normalen Schulalltag oft eher lehrergesteuerte Unterrichtsmethoden mit klar vorstrukturierten Arbeitsaufträgen gewöhnt sind, spricht dafür, sie langsam an das selbst gesteuerte Lernen heranzuführen. So müssen sich gerade SchülerInnen, die erst später zu dem SelMa-Unterricht dazugestoßen sind, erst in die Rolle des selbst gesteuerten Lerners einfinden, damit sie die gebotenen Freiheiten und die damit einhergehende fehlende gewohnte äußerliche Lenkung nicht überfordert: „Einige Schüler (die von anderen Schulen kommen) kennen das (selbst gesteuerte Lernen) nicht und sind letzten Endes überfordert und driften irgendwohin ab. Denen fehlt dieses starre Raster, das ihnen immer vorgibt: ,In dieser Stunde machst du das, das, das und das.’“ Zitat 4.132: Lehrer, SelMa, Sek. II
Auch die folgende Grundschullehrerin betont, dass es für die SchülerInnen eine große Umstellung und mit einem Lernprozess verbunden ist, selbst gesteuert zu lernen: „Von den Kindern wird mehr verlangt. Sie müssen mehr arbeiten. Sie müssen selbst aktiv werden. Da wird viel von ihnen verlangt. Jeder hat etwas anderes und muss sich selbst kontrollieren. Es ist für die Kinder am Anfang sehr schwer, selbst verantwortlich zu sein. Sie sind diese Lenkung gewöhnt. Das ist eine ganz neue Erfahrung.“ Zitat 4.133: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Viele Videoausschnitte belegen, dass es für die SchülerInnen eine Umstellung zu sein scheint, dass die Lehrperson nicht mehr die von ihnen erwartete Rolle des Wissensvermittlers einnimmt. In dem folgenden Videotranskript ist der Prozess der gegenseitigen Rollenaushandlung zwischen der Lehrperson und zwei Schülern sehr langwierig. Die Versuche der SchülerInnen durch gezieltes Fragen und Bitten klare Lehrerantworten zu erhalten, schlagen bei dem Lehrer bewusst fehl: Die Schüler versuchen, ein in ein Lernspiel eingebundenes Rätsel zu lösen. Die Frage nach dem höchsten Berg können sie richtig mit „Mount Everest“ beantworten, beherrschen aber nicht die richtige Schreibweise, sodass der Computer eine Fehlermeldung gibt. Um die richtige Rechtschreibung herauszufinden, schlagen sie in einem Duden nach. Nachdem sie dort den Begriff nicht finden, holen sie den Lehrer hinzu: L: „Everest, findest du nicht? - Dann gib ich dir mal einen heißen Tipp zum Nachschauen, fängt mit Ev an!“ S1: „Haben wir schon geguckt! Können Sie es uns nicht sagen?“ L (blättert in einem Lexikon, hat es anscheinend gefunden und gibt das Buch S1): „Natürlich könnte ich es dir sagen, aber der Trick ist ja, dass du das nachschaust und selber rauskriegst.“ S1: „Bitte, bitte, bitte!“ L : „Bitte, bitte, bitte.—also womit fängt der Everest an, mit welchem Buchstaben? (S1: „E“) Ja, e, jetzt musst du mal Ev gucken, mehr gebe ich dir als Tipp nicht. Den Rest machst du selber. Du kannst das nämlich.“ S2: „Wie wird das geschrieben Mount Everest? Mont, wie wird Mount geschrieben?“ L: „Mount ist ein englisches Wort. Kannst du ja nachschauen.“ (Er legt einen weiteren (englischen) Duden auf den Tisch). (...) L geht weg, Schüler recherchieren alleine weiter (...). S2 (steht auf geht zu S1 rüber): „Hier! (zeigt Stelle im Buch) ich sag, schreib: E-VE-R (buchstabiert, S1 tippt)—Ne, falsch-Moment“ (tippt selbst). Beide: „JA!!“ (begeistert) Videotranskript 4.21: Schüler (6. Kl.), Medienprojekt, Sek. I
Während die Schüler ohne große Anstrengung schnell und einfach direkt die richtige Schreibweise für das Wort vom Lehrer erhalten wollen, will dieser, dass die Schüler diese –unterstützt durch einige Hinweise, die er ihnen gibt, selbst herausfinden. Beide Seiten weigern sich standhaft, die ihnen zugeschriebenen Rollen anzunehmen. Der Lehrer versucht seine Rolle als „Förderer des Selbstlernens der Schüler“ durchzusetzen, indem er Tipps gibt (Anfangsbuchstaben nennt, Hinweis, dass es ich um ein englisches Wort handelt) und Ressourcen, wie Nachschlagewerke zur Verfügung stellt, die den Schülern helfen sollen selbst-
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
ständig weiter zu suchen. Zudem nennt er zur Erläuterung seines Handelns seine pädagogische Motivation, nämlich dass er den Schülern absichtlich die Lösung nicht bekannt gibt, damit die Schüler sie sich selbstständig erarbeiten. Er versucht die Selbstwirksamkeit der SchülerInnen zu bestärken, indem er betont, dass er an ihre Fertigkeiten glaubt: „Du kannst das nämlich.“ Die Schüler ignorieren die verschiedenen Strategien des Lehrers und versuchen immer wieder, die Lösung zu erfahren („bitte, bitte, bitte“), sie gehen kaum auf die Hinweise des Lehrers ein, sondern stellen stattdessen immer wieder hartnäckig ihre Frage nach der richtigen Schreibweise. Der Lehrer beendet schließlich den Aushandlungsprozess und setzt sich durch, indem er sich den Schülern entzieht und stattdessen als Ressource einen (zusätzlichen) englischen Duden zur Verfügung stellt. Nach einem langen Rechercheprozess finden die Schüler schließlich doch selbst die richtige Schreibweise. Ihr Erfolgserlebnis ist groß, da sie sich die Lösung –unter Hilfestellung des Lehrers und eigener Anstrengung– selbst erarbeitet haben. Sie haben ihre Selbstwirksamkeit erfahren. Langfristig dient die Strategie der Lehrperson, die Schüler im Umgang mit Nachschlagewerken zu fördern, zur Herstellung von Symmetrie in der LehrerSchüler-Interaktion, da die Schüler immer mehr lernen selbst gesteuert auch ohne Hilfe der Lehrperson z. B. ihre Rechtschreibung zu überprüfen. Dennoch ist die beschriebene Situation ambivalent, denn auf der Hinterbühne (vgl. Goffman, 2003) ist noch ein Machtgefälle zwischen der Lehrperson und den beiden Schülern sichtbar. Der Lehrer nutzt die formale Lehrer-Schüler-Hierarchie aus, um sich gegen die ihm von den Schülern zugeschriebene Rolle des Wissensvermittlers zu wehren und fordert von den Schülern –wenngleich er auch unterstützende Hinweise gibt- sich selbst gesteuert Wissen zu erarbeiten. Letztendlich bestimmt in diesem Beispiel die Lehrperson die Rollen, sowohl die eigene als auch die der Schüler, die sich schließlich zunächst auch gegen ihren Willen fügen müssen. Natürlich gibt es auch viele Situationen, in denen die Schüler gerne als selbst gesteuerte Lerner agieren, ohne den Lehrer als Wissensvermittler hinzuziehen. Sie haben aber umgekehrt weniger Einflussmöglichkeiten auf die Lehrerrolle. So können sie sich im umgekehrten Fall kaum dagegen wehren, wenn die Lehrpersonen ihnen als „Zeigefingerschwinger“ Wissen aufdrängen und die auf einigen Gebieten vorhandene Wissensdominanz ihrer SchülerInnen nicht anerkennen (vgl. Zitat 4.83, Zitat 4.84, Zitat 4.85, Zitat 4.87, Zitat 4.108). Die SchülerInnen müssen sich aufgrund der formalen Hierarchie meist den ihnen von der Lehrperson zugeschriebenen Rollen fügen. Wenngleich die SchülerInnen die eigenständige Wissensrecherche im Internet manchmal schwierig finden, scheinen sie dies zu schätzen:
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I: „Was findet ihr denn schwierig?“ Sin1: „Wenn man ins Internet geht und dann muss man immer Fragen heraussuchen oder so was.“ S1: „Ja, wo die stehen, das weiß man nicht.“ Sin1: „Dann muss man immer so ... (...) lange knobeln.“ I: „Das ist jetzt also eine schwierige Sache.“ Sin1: „Ja.“ I: „Gefällt euch das nicht so sehr?“ Sin1 und S1: „Doch, schon.“ Sin1: „Aber schwierig.“ Zitat 4.134: SchülerInnen, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Die zwei SchülerInnen bezeichnen die selbst gesteuerte Internetrecherche als „Knobeln“, ein Wort, das eigentlich aus dem Bereich der Rätsellösung stammt und dem Freizeitbereich zuzuordnen ist. Knobeln als Tätigkeit zielt auf eine logische Herangehensweise an eine Problemlösung, die nicht im Trail & Error aufgeht, sondern strategisch geplant wird. Die SchülerInnen bewerten dieses „Knobeln“ als eine freudige Herausforderung, die zwar schwierig ist, aber durchaus lohnenswert und befriedigend. Manchmal erbitten die SchülerInnen bei Schwierigkeiten von der jeweiligen Lehrperson einen Tipp, scheinen es aber zu verstehen, dass es ihre Autonomie fördert, manchmal auch komplizierte Vorgänge selbst zu lösen und hierdurch selbst gesteuert zu lernen. I: „Warum (gibt der Herr K. Euch nicht immer Tipps), was glaubt ihr denn?“ Sin1: „Dass wir selber das herausfinden sollen.“ (Sin2: „Ja.“) S1: „Dass wir mehr lernen am Computer.“ S2: „Dass wir lernen, damit umzugehen.“ Zitat 4.135: SchülerInnen, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Gerade im Medien- und Wirtschaftsprojekt müssen die SchülerInnen vermehrt selbst gesteuert lernen, da sie nicht mehr bei allen Problemen und Fragen auf das Wissen der Lehrpersonen zurückgreifen können. Dieses selbst gesteuerte Lernen wird von ihnen weitgehend positiv bewertet. Die Herausforderungen in der authentischen Situation sind durch den „Ernstcharakter“ hoch, so agieren die SchülerInnen ohne Netz und doppelten Boden. „Man lernt, dass Lehrer auch nur Menschen sind. Das fand ich ganz interessant, weil die Lehrer auf deinem Niveau stehen und genauso wenig Ahnung haben, wie man selber. Man muss selber etwas machen, überlegen und entwickeln, damit das
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement funktioniert. Ansonsten geht es nicht voran, weil der Lehrer dir nicht sagen kann, was du machen sollst. Du musst selber herausfinden, was du machen musst. Das gefällt mir besonders gut.“ Zitat 4.136: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Der Forderung nach Autonomie und Selbstständigkeit stehen auf der anderen Seite Gefühle der Überforderung gegenüber. So erfordert ein selbst gesteuertes Lernen von den Schülerinnen ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Aktivität, die mit einer starken Anstrengung verbunden ist. Teilweise wünschen sich die SchülerInnen den traditionellen lehrergesteuerten Unterricht zurück. Die folgenden Lehrpersonen sehen aber bei dieser Unterrichtsform die Gefahr, dass die SchülerInnen sich im Vergleich zu offenen Unterrichtsformen eher gedanklich zurückziehen können. L: „Ich (habe) auch schon Reaktionen gehört, die sagten: ,Hören Sie uns auf mit Selbstständigkeit: Es ist uns zu viel.’ (...) ,Machen Sie doch bitte den alten Unterricht. Kommen Sie rein, legen Sie uns die Texte in Geschichte auf den Tisch, sagen Sie, was Sie wollen – wir machen es Punkt“ L2: „Oder wir machen es nicht. Da konnte man sich nämlich in aller Ruhe mal ausklinken. Wie oft haben die da rumgedümpelt im normalen Unterricht. (...).“ L1: „Ja. Richtig. Klar. Die Schüler merken auch, dass Verantwortung übernehmen und Selbstbestimmen eine sehr anstrengende Sache ist.“ Zitat 4.137: Lehrer, SelMa, Sek. II
Den SchülerInnen ist es insgesamt wichtig, dass die Lehrpersonen für sie nach wie vor wichtige Ansprechpartner bei Problemen bleiben. Sin1: „Man braucht weiterhin den Kontakt (zum Lehrer), wenn man nicht mehr weiter weiß.“ Sin2: „Das ist besonders wichtig für Schüler, die Schwierigkeiten haben. Für viele ist es wichtig, dass jemand da ist - das gibt Sicherheit. Man ist kein Genie, das sich alles selbst beibringen kann.“ Zitat 4.138: SchülerInnen, SelMa, Sek. II
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4.4.4 Lehrerinterventionen als Störvariable In diesem Abschnitt wird erörtert, inwieweit sich die subjektiven Theorien von Lehrpersonen in ihren videografierten Handlungen und der Wahrnehmung durch ihre SchülerInnen niederschlagen. Hierbei soll auch gezeigt werden, wie sich ein stark lenkendes Lehrerverhalten, dass sich durchaus in den Daten wiederfindet, auf den Prozess der Wissensgenerierung der SchülerInnen auswirkt. Die SchülerInnen des SelMa-Falls erleben, dass sie durch Fragen seitens der Lehrpersonen teilweise aus wichtigen Gedankengängen herausgerissen werden. Für einige SchülerInnen bewirkt bereits ein „über die Schulter schauen“ aufgrund eines Stresserlebens eine Unterbrechung ihres Lernprozesses, während es für andere unproblematisch ist. Einig sind sich die befragten SchülerInnen darin, dass sie gerne zunächst selbst gesteuert und ohne lenkende Lehrerinterventionen Aufgaben bewältigen möchten: Sin1: „Ich fühle mich unter Druck gesetzt, wenn der (Lehrer) hinter mir steht.“ Sin2: „Ich habe es gern, wenn ich erst mal rumprobieren kann. Auch wenn es so aussieht, als würde ich auf nichts kommen, wenn dann ein Lehrer kommt, unterbricht er einen.“ Sin3: „Kontrolliert fühle ich mich nicht. Es stört mich. Er kommt, fragt, darüber vergesse ich, was ich eigentlich tue und dann muss ich erst wieder den Faden aufnehmen. Schauen, ohne mich zu unterbrechen, kann er ruhig.“ Zitat 4.139: SchülerInnen, SelMa, Sek. II
Als die Lehrpersonen im SelMa-Fall im Interview mit dem Erleben ihrer Interventionen durch die SchülerInnen konfrontiert werden, tritt ein längeres Schweigen auf. Das Schweigen kann zum einen ein Zeichen dafür sein, dass die Lehrpersonen –da diese Kritik nicht ihrem Erleben entspricht- überrascht sind. Zum anderen handelt es sich um eine Kritik an ihrem Verhalten, die sie erst einmal verarbeiten müssen. L1: „Wenn sie ernsthaft bei der Arbeit sind, fühlt sich – glaube ich – niemand diesbezüglich (durch mein Hinzukommen) von mir bedroht.“ (Lachen) (...) I: „Wir hatten die Frage gestellt, wie sie (die SchülerInnen) das empfinden, wenn jemand kommt und ihnen über die Schulter schaut. Und überwiegend empfanden sie das als Störung, (..) weil sie, wenn sie eine Frage gestellt bekommen, sich darauf konzentrieren(...). Wenn der Lehrer weg ist, müssen sie den Faden wieder aufnehmen und wissen nicht mehr genau, wo sie sind.“ (Langes Schweigen) (...)
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement L1: „Ich kann das nachvollziehen. Andererseits fragt man ja normalerweise nichts, sondern schaut, gibt vielleicht mal einen Hinweis: ,Schaut doch mal da, da ist ein Fehler, da müsst ihr weiter arbeiten.“ L2: „Aber das kann an der Stelle unpassend sein, das ist gar keine Frage.“ L1: „Ich habe das jetzt bei dem Zirkel in der 11 sehr stark gehabt, dass immer die Rückfragen an mich herankamen. Da war die Situation eine ganz andere. Dann fühlten sich Jungen, die den Sprung ins Internet gewagt hatten, wenn ich rumging, kontrolliert. Das hat dann auch seine Berechtigung. Es ist problematisch von außen mit einer Frage heran zu kommen. Das muss man vorsichtig dosieren.“ Zitat 4.140: Interview, SelMa, Lehrerinnen
Nachdem die Lehrpersonen sich auf die Fremdwahrnehmung durch ihre SchülerInnen eingelassen haben, können sie diese Kritik teilweise nachvollziehen. Im Gesprächsverlauf zeichnen sich zwei Pole des Wirkens von Lehrerinterventionen ab: Zum einen können diese „unpassend sein“ und daher - wie es auch das Erleben der SchülerInnen zeigt, deren Wissensgenerierungsprozess stören, auf der anderen Seite will die Lehrperson in ihrer Funktion als „Classroom-Manager“ auch den Lernprozess der SchülerInnen kontrollieren um z. B. bei Ablenkungsstrategien der SchülerInnen („Sprung ins Internet“) diszi-plinierend eingreifen zu können. In Situationen der umgekehrten Rollenzuweisung, in denen nicht Lehrpersonen den SchülerInnen die Rolle von Hilfesuchenden zuschreiben, sondern die SchülerInnen Lehrpersonen gezielt um Hilfe bitten, könnte die Gefahr des Eingreifens der Lehrperson zu einem für die SchülerInnen unangemessenen Zeitpunkt umgangen werden. Ein betreuender Lehrer des Wirtschaftsprojektes wird nach seinem Selbstbild bzw. seiner Rolle innerhalb der Gruppe befragt: I: „Ich muss zu Ihrem Projekt aber doch noch einmal fragen, ob Sie sich als Mitglied dieser Gruppe verstehen oder als ein außenstehender Begleiter dieser Gruppe, die Sie betreuen?“ L: „Eigentlich sollte das Zweite der Fall sein, dass man das vielleicht initiiert, die Schüler motiviert und dann letzten Endes auch bewertet, (...). Nur in der Praxis sieht es so aus, dass - ganz platt gesagt - der Lehrer sich auch nicht blamieren will mit seiner Gruppe und dann auch so ein bisschen in die Gruppe hineingerät und mitarbeitet und schaut, dass am Schluss etwas dabei herauskommt. Also man praktiziert da auch inklusive des Lehrers Teamwork, was natürlich die Rolle des Lehrers durchaus verändert. Und was die Bewertung dann angeht, ist das Ganze dann schon etwas problematisch.“ Zitat 4.141: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
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Der Lehrer beschreibt sein Bild des Soll-Handelns in dem Unterrichtsprojekt, das eher in einer motivierenden, und begleitenden Funktion besteht. Als Grund für dieses Soll-Handeln scheint er weniger eine Förderung des selbst gesteuerten Lernens der SchülerInnen zu sehen, sondern vielmehr, dass er durch ein aktives Mitgestalten der Lehrperson eine faire Notengebung gefährdet sieht. Er ist nicht lernprozess-, sondern ergebnis- und leistungsorientiert. Entscheidend scheint für ihn nicht der Lernweg zu sein, sondern, „dass am Schluss etwas dabei raus kommt“. Motivation für sein aktives Einbringen in die Gruppenprozesse ist das Fördern eines –aus seiner Sicht- gelungenen Endproduktes, mit dem er sich anscheinend als betreuender Lehrer stark identifiziert. Er ist sich auch durchaus bewusst, dass er durch seine aktive Einmischung die Soll-Linie (Fördern eines freien selbst gesteuerten Lernens der SchülerInnen) durchbricht. Nur die Konsequenzen reflektiert er nicht vollständig, sondern er sieht nur die (potenziellen) Gewinne hinsichtlich des Outputs, aber nicht dass er durch sein Handeln ggf. eine selbst gesteuerte Wissensgenerierung der Schülerinnen behindert. Er befürchtet, dass ein schlechtes Gruppenprodukt auf ihn als Betreuer zurückfallen könnte. Insgesamt sieht er sich selbst aber in seiner Beschreibung als „Teammitglied“. Die Wahrnehmung dieses Lehrers durch seine SchülerInnen zeigt, dass er nicht als Teammitglied wahrgenommen wird, dass „ein bisschen in die Gruppe hineingerät und mitarbeitet“, sondern eher in der Rolle eines sehr dominanten Chefs: S1: „Der macht zu viel. (...)Unser Lehrer ist sehr ehrgeizig und will, dass alles perfekt ist. Er sitzt dann mit uns vor dem Computer und diskutiert mit uns über irgendwelche Satzzeichen oder Formulierungen, wo er sich dann doch sehr reinmischt. (...).“ S2: „(...) Jedes kleinste Wort muss richtig sein. (...)Normalerweise, wenn ich ein Referat halte, mache ich mir Stichpunkte und so machen das auch alle anderen Gruppen, weil die Lehrer dort dazu einfach nichts sagen würden. Unser Lehrer will aber, dass wir genaue Formulierungen haben und genauso sprechen. Eigentlich verlangt er sogar, dass wir unseren Text auswendig lernen. Das wird von uns auch immer kritisiert, dass man eigentlich lernen soll, frei zu sprechen.“ Zitat 4.142: Schüler, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Der Ehrgeiz des Lehrers, dass die SchülerInnen ein gelungenes Endprodukt vorstellen, geht soweit, dass er ihren gestalterischen Freiraum deutlich einschränkt und eine geringe Schülerorientierung zeigt. Mit seiner Wissens- und Verhaltensdominanz wirkt er auf die Wissensgenerierung und -repräsentation stark ein und behindert durch seine engen Vorgaben, dass die SchülerInnen selbst
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
gesteuert agieren können. Diese fühlen sich durch die Lehrerintervention behindert und erleben eine Ambivalenz im Hinblick auf den Erwerb ihrer Präsentationstechniken. So haben sie richtig erkannt, dass zu einer guten Präsentation die Fähigkeit gehört, Inhalte frei vorzutragen. Ihr Lehrer erwartet aber von ihnen das Auswendiglernen von vorformulierten Texten und behindert so durch seinen Ehrgeiz ihr selbst gesteuertes Lernen. Als der Lehrer im Interview noch einmal gezielt nach seinem Grad der Einmischung gefragt wird, wird deutlich, dass er bewusst die Arbeit der SchülerInnen in hohem Ausmaße steuert. Das Veröffentlichen der Schülerprodukte25, die sich sonst als Rahmen förderlich auf die Arbeit der SchülerInnen auswirkt (vgl. Abschnitt 4.1.2.5 bewirkt in diesem Fall ein Profilieren der Lehrperson. Seine Absicht, die SchülerInnen durch sein dominantes Eingreifen vor Misserfolgen zu bewahren, basiert auf einem negativen Schülerbild. So traut er es den SchülerInnen nicht zu, selbst gesteuert gute Argumente und Formulierungen zu entwickeln und scheint kaum an ihre Selbstentfaltungskräfte zu glauben: I: „Habe ich das richtig verstanden, dass es schon einmal vorgekommen ist, dass Sie oder ein anderer Lehrer also teilweise die Arbeit der Schüler und Schülerinnen übernommen haben?“ L: „Nein, übernehmen nicht, aber doch so stark lenken, begleiten und Satz für Satz irgendwelche Formulierungen für die Endpräsentation mit den Schülern durchgehen, damit das am Ende ein rundes Bild ergibt und die Gruppe dann letzten Endes passabel abschneidet. Es ist so: Wenn man schwächere Schüler, die sagen wir auch in sprachlichen Fächern z. B. Deutsch, Sozialkunde keine vernünftigen Sätze zustande bringen und dann in der Kombination keine vernünftigen Erklärungen und keine Argumentation aufbauen können, dass die dann auch bei so einem Wirtschaftsprojekt schlecht aussehen würden, wenn sie ganz ohne Hilfe des Lehrers dastünden.“ Zitat 4.143: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Die SchülerInnen des Wirtschaftsprojektes sind aufgrund des schulischen Rahmens, insbesondere dadurch, dass das Projekt von ihrem Lehrer benotet wird, institutionell in der schwächeren Position, um sich gegen die beschriebenen übertriebenen Lehrerinterventionen zu wehren. Sie betonen, dass sie sich eine gleichberechtigte (symmetrische) Teamarbeit wünschen. Diese wäre basierend auf ihren Erfahrungen ohne Lehrperson deutlich einfacher. Hilfreich empfinden diese SchülerInnen die Lehrerbegleitung nur dahin gehend, dass sie sich in Anwesenheit einer Respektperson disziplinierter verhalten als in einer freien AG. 25 Die Projektergebnisse werden in Form von PowerPoint-Präsentationen externen Wirtschaftspartnern vorgestellt.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Insgesamt erleben sie die Interventionen ihres betreuenden Lehrers aber eher als „verwirrend“ und wenig produktiv. Der betreuende Lehrer scheint von seiner Gruppe vorwiegend als Störfaktor erlebt zu werden. Dies ist sicherlich dadurch zu erklären, dass er stark lenkend und wenig schülerzentriert agiert. Sin2: „Man muss sich mit Lehrern herumschlagen und das Ganze spiegelt sich in Noten wieder.“ Sin1: „Ich fände es sogar besser, wenn das Ganze ohne Lehrer stattfinden würde. Die Verhältnisse wären gleich und das finde ich auf jeden Fall besser. So ist natürlich jemand da, vor dem man Respekt hat und so eher zu den Treffen kommt.“ I: “Das heißt, die Unterstützung durch den begleitenden Lehrer ist im Grunde zu gering, wenn ich das richtig interpretiere.“ Sin2: „Das ist nicht immer wirkliche Unterstützung. Das ist teilweise auch Verwirrung.“ Zitat 4.144:: SchülerInnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Eine Grundschullehrerin im Märchenprojekt betont die Gefahr der Profilierung, die einer Schülerzentrierung widerspricht. Ihr ist es wichtig, nicht aus einem falschen Ehrgeiz heraus das Anforderungsniveau der SchülerInnen zu übersteigen: „Man muss (...) aufpassen, dass man nicht Sachen in den Unterricht wegen des Projektes bringt, die für die Kinder eigentlich überzogen sind. Da muss man bei den Tatsachen bleiben. Ich arbeite nur für die Kinder. Das ist meine Schwelle. Nicht für das Projekt. Da mache ich mit, da mach ich nicht mit, weil sie es noch nicht können. Ich muss mich nicht profilieren. Es geht um die Kinder.“ Zitat 4.145: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Dass eine zu starke Lehrerintervention den Prozess der Wissensgenerierung der SchülerInnen behindern kann, belegen nicht nur die Sichtweisen der SchülerInnen, sondern auch einige Videotranskriptionen. Insbesondere im Märchenprojekt wird –wie das folgende Videotranskript als Beispiel zeigt, deutlich, dass sich die geschilderte Selbstwahrnehmung der Grundschullehrerin als offen und schülerzentriert (s. o.) nicht unbedingt immer in ihrem Verhalten niederschlägt: Der Schüler hat den Auftrag erhalten, das Märchen von „Rotkäppchen und der böse Wolf“ zusammenzufassen. Er hat sich bereits vorher in sehr kurzen Abständen an die Lehrerin gewendet und geht nun wieder zu ihr hin, um ihr seinen handgeschriebenen Zettel zu zeigen: S: „Einen langen Satz habe ich geschrieben ... Ist falsch, oder?“
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement Lin: „Warum soll das falsch sein?“ S: „Weil ich es war.“ Lin (schaut auf Zettel): „Aber guck mal, das kannst du eigentlich weglassen, oder? Die Mutter sagt doch zum Rotkäppchen: Besuch die Großmutter. Nicht die Großmutter, die wird ja besucht, die ist ja krank, ne? (S: „Ja“) Und ich denke, wenn die Mutter zum Rotkäppchen sagt, bring der Großmutter die Sachen, dann müssen die nicht lange darüber diskutieren, sondern das wird einfach gemacht. Da fragt das Rotkäppchen nicht lange. Das kannst du im Grunde- also hier musst du Groß wegstreichen- weil das ja nur die Mutter ist. Und dann streichst du das hier durch und schreibst: Mutter sagt zu Rotkäppchen: Bring der Großmutter die Sachen!“ Videotranskript 4.22: SchülerInnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Der Interaktionsbeginn zeigt, dass der Schüler sehr unsicher ist und ein negatives Selbstbild besitzt. Bei ihm scheint eine negative intrinsisch stabile Kausalattribuierung vorzuherrschen, so geht er bereits, bevor die Lehrerin seine Arbeit kommentiert, davon aus, dass seine Arbeit „falsch“ ist („weil ich es war“). Die Lehrerin reagiert auf diese Äußerung kaum und beginnt kurz darauf mit ihrer Kritik. Sie verbessert den inhaltlichen Fehler des Schülers, der Großmutter und Mutter verwechselt hat, ohne dem Schüler die Chance zu geben, diesen (womöglich Flüchtigkeits-)fehler selbst zu verbessern. Sie bestätigt durch ihr Handeln die zugeschriebene Rolle des Schülers als „Problemfall“. Auch im weiteren Verlauf geht sie nicht auf die individuellen Ideen des Schülers ein- zwar hat dieser den Auftrag erhalten eine Zusammenfassung zu erstellen, aber im Sinne einer Schülerzentrierung und Stärkung des Selbstbewusstseins des Schülers wäre es durchaus möglich gewesen, auf seine Idee -nämlich einer längeren Diskussion zwischen Mutter und Rotkäppchen einzugehen, anstatt diese einfach invasiv zu streichen und letztendlich eine klare Formulierung vorzugeben. Das Handeln der Lehrerin widerspricht ihrer im Interview geschilderten Offenheit, ggf. wäre aus einer Änderung des Arbeitsauftrages eine interessante eigene kreative Variante des Märchens von dem Schüler entstanden. Es scheint eine Kluft zwischen der Handlungsabsicht der Grundschullehrerin und ihrem tatsächlichen Handeln vorzuliegen. Auch die folgenden Videosequenzen belegen, dass die Lehrerin dazu neigt, den SchülerInnen sehr direktive Vorschläge zu unterbreiten: Zwei SchülerInnen sind darüber verärgert, dass sie noch keine Antwort auf ihre letzte E-Mail an die Partnerschule erhalten haben. Sie haben eine E-Mail formuliert, mit der sie ihren Unmut zum Ausdruck bringen (vgl. Videotranskript 4.56) und rufen nun die Lehrerin: Sin1: „Frau L, geht das?" (L kommt, Sinnen lachen beide) "Geht das?"
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Lin (kniet sich hin): „Wollt Ihr das so abschicken? (S beide lachen: "Ja!"). Aber Ihr könnt denen ja vielleicht dann was vorschlagen, wenn die jetzt öfter wieder in den Computerraum gehen dürfen, dass sie auch dann wenigstens E-Mails schreiben, wenn das zu anstrengend ist, mit Füller zu schreiben." Sin1 (lacht): „Genau, Schreibt uns eine E-Mail!" Sin2: „Genau, schreibt uns eine E-Mail!" Lin: „Ja. (Die Schülerinnen widmen sich direkt wieder dem PC, wollen mit dem Tippen beginnen). Aber das könnt Ihr auch ein bisschen freundlicher schreiben, ne. Ihr wollt ja schließlich mit denen eine Brieffreundschaft haben, ne" (lacht dabei). Sin2: „Aber das finden wir doch nicht nett!" Sin1 (schmunzelnd zu L): „Aber was sollen wir denn sonst schreiben. Ihr könnt noch länger mit der Post warten (macht dabei eine abwinkende Bewegung)." Lin zu Sin1 gewandt: "Nein, aber könnt doch schreiben, Habt Ihr Lust uns E-Mail zu schreiben? (Sin2 zeitgleich: „Genau, vielleicht ...") Oder macht euch das E-MailSchreiben mehr Spaß als mit Füller zu schreiben?" (...) Sin1: „Äh, macht euch (L: "nicht so laut!") das Computerschreiben nicht sehr Spaß?" Lin (steht auf): „Aber die konnten ja die ganze Zeit nicht E-Mail schreiben, weil die nicht in den Computerraum gekommen sind, weil der immer belegt war." Sin1: „Ach deswegen konnten die uns nicht schreiben!" Lin: „Ja!" Sin1: „Und jetzt schreiben die uns gleich?" Lin: „Nein, die müssen erst in den Computerraum gehen." Sin1: „Deshalb haben die immer noch nicht geschrieben!?" Lin: „Weil die erst am Donnerstag wieder gehen!" Sin1: „Dann müssen wir alles noch mal löschen?" Lin: „Nein, wieso, das könnt Ihr ja schreiben ,Vielleicht fällt es euch leichter- oder macht es euch mehr Spaß E-Mail zu schreiben- dann schickt uns doch E-Mails?'’“ Sin1: „Genau! ..." Videotranskript 4.23: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Die Schülerinnen scheinen in ihrer Lehrerin eine Art „Chefin“ zu sehen, die ihr Arbeitsprodukt bewertet und absegnet („Geht das?“). Ihr Lachen zeigt, dass sie sich ihrer etwas frechen Formulierung durchaus bewusst sind (vgl. Videotranskript 4.56). Die Lehrerin gibt als Reaktion zwar keine direkte Bewertung ab, verdeutlicht aber indirekt, dass die E-Mail für sie noch verbesserungswürdig ist („Aber ihr könnt denen ja ...“). Hierbei gibt sie den SchülerInnen direkten Input, den Sin1 sehr verkürzt übernimmt („Genau, schreibt uns eine E-Mail!“). Sie hat die Absicht der Lehrerin, die darauf zielt, dass die SchülerInnen freundliche und konstruktive Botschaften an ihre Partnerschulen schicken, nicht verstanden. So verweist die Lehrerin ausdrücklich auf die Beziehungsebene zur Partnerschule, daher, dass freundliche Formulierungen
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
wichtig sind, um einen positiven Kontakt zur Partnerschule zu pflegen. Die Reaktion der Schülerinnen zeigt, dass es für sie aufgrund ihres Unmutes sehr schwer ist, freundliche Botschaften zu formulieren, obwohl die Lehrerin ihnen bereits zu Beginn einen direkten Formulierungsvorschlag unterbreitet hat, den sie aber nicht annehmen. Der Kontakt mit der Partnerschule scheint gerade dann, wenn Schwierigkeiten auftauchen, eine authentische Lernumgebung zu bieten, um soziales Lernen zu forcieren. Es ist eine Herausforderung, die eigene Enttäuschung bzw. Erwartungen an andere freundlich und höflich zu formulieren. Im Interaktionsverlauf fällt auf, dass die Lehrerin den Schülerinnen oft viele konkrete Angaben vorgibt. Das lenkende Verhalten der Lehrerin scheint die SchülerInnen in ihrer Wissensgenerierung stark einzuengen, so haben diese kaum Gelegenheit eigene Ideen zu entwickeln. Hätte die Lehrerin anstatt bereits Formulierungsvorschläge zu geben eher Fragen an die SchülerInnen gestellt, hätte sie vermutlich eher die Entwicklung eigener Ideen durch die Schülerinnen angeregt. Die Übernahme der Vorschläge der Lehrerin durch die Schülerinnen wirken unreflektiert. Die Versuche der Formulierungsübernahme schlagen fehl, indem die SchülerInnen den Inhalt entweder durch Verkürzung oder durch Verdrehung der Hauptaspekte entstellen. So betont Sin1 z. B. beim Aufgreifen der Formulierung von ihrer Lehrerin nicht den Aspekt, dass E-Mail-Schreiben ggf. mehr Spaß macht als Briefe schreiben, sondern kehrt den inhaltlichen Aspekt um: „Macht euch das Computerschreiben nicht sehr Spaß?“ In dieser Sequenz generiert eigentlich nur die Lehrerin Wissen. Hierdurch klärt sich aber letztendlich die Ursache dafür, warum die PartnerschülerInnen noch nicht zurückgeschrieben haben. Der Beziehungskonflikt zur Partnerschule kann aufgelöst werden: Für die Schülerinnen dürfte es auf der Beziehungsebene eine andere Bedeutung haben, ob die anderen Ihnen aus Interesselosigkeit oder aufgrund schlechter Rahmenbedingungen (kein Zugang zum Computerraum) nicht antworten. In der Beziehung zwischen Sin1 und Sin2 fällt auf, dass hauptsächlich Sin1 mit der Lehrerin kommuniziert, Sin1 scheint das Sagen zu haben, während Sin2 eher eine Assistentenrolle einnimmt. Dass sich die Lehrerin auch körperlich fast ausschließlich Sin1 zuwendet, verstärkt diesen Eindruck. Die Schülerinnen nehmen interessanterweise in der Interaktion mit der Lehrerin ähnliche Rollen ein, wie in ihrer vorherigen Partnerarbeit ohne Lehrerintervention (vgl. Videotranskript 4.56). Sin2 ist so von dem Prozess der Wissensgenerierung weitgehend ausgeschlossen.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Im Zentrum der folgenden Intervention durch die Lehrerin steht die von den SchülerInnen verfasste E-Mail an ihre Partnerschule, mit der über die Einführung von Schuluniformen diskutiert wird. Die SchülerInnen haben ihre E-Mail an die Partnerschule formuliert. Sin1: „Frau L, Frau L. wir sind fertig!" (...) Lin (kommt hinzu): „Ähm, Ihr findet Uniform besser als Schulkleidung. Was ist denn jetzt bitte der Unterschied zwischen Schuluniform und Schulkleidung? Meint Ihr mit Schulkleidung ganz normale Kleidung?“ Sin2: „Ja, die schreiben auch (nimmt ausdruckten Zettel der E-Mail) das, die Schulkleidung: Aber wir finden die Uniform besser ..." Lin: „Ja, ( zu anderem Schüler) -darf ich das jetzt kurz mit denen besprechen? (L kniet sich zwischen die Schülerinnen). Ja, also meint Ihr das (zu anderem S) versuch mal alleine weiter zu machen ich komm gleich- Ihr meint also die Schulkleidung ist die normale Kleidung (..) oder meint Ihr hier- lies noch mal genau (zu Sin2, liest vor). Unsere Eltern meinen Schulkleidung wäre billiger und würde unser Benehmen verbessern, meinen die damit, mit Schulkleidung, Eure Kleidung oder so ne Uniform?“ (Sin2 zuckt mit den Schultern). Lin: „Guck mal- die sagen, das Benehmen würde sich verbessern (Zeigt auf den Zettel, den sie direkt vor Sin2 hält) Wo würdet Ihr Euch eher benehmen oder weniger rumrennen und Blödsinn machen in der Uniform oder in normalen Klamotten? " Sin1 (mehr zu sich): „Da können wir das wieder löschen." (Sin2 kratzt sich am Kopf.) Lin: „Mmmh, was meint Ihr?" Sin2 (guckt noch mal aufs Blatt, wo die Lehrerin noch mit dem Finger auf den Satz zeigt): „In der Schulkleidung". Lin: „Schulkleidung. Die meinen mit Schulkleidung und Uniform das gleiche (Zeigt noch mal auf Zettel). Das geht jetzt nur darum- die Eltern sagen, das sie es besser finden, wenn alle die gleiche Kleidung haben. Das ist nicht so ne Tobehose, sondern was Feineres." Sin1: „Ich hab mich schon gewundert.“ Sin2: „Sollen wir dann schreiben, wir würden auch die Schulkleidung nehmen?" Lin: „Dann müsst Ihr aber auch hinschreiben, warum Ihr das wollt. Warum wollt Ihr, dass alle die gleiche Kleidung anhaben? (..) Hat das Vorteile?" Sin2: „Ja, das man sich dann damit besser benehmen kann." (schmunzelt) Lin: „Ja, gibt es vielleicht noch andere Vorteile? (..) Die sagen, das wird billiger. Wieso ist das billiger, wenn alle das Gleiche anziehen?" Sin1 (setzt leise an): „Weil. man..." Sin2 zeitgleich: „Schulkleidung ist das Gleiche oder Uniform?!" Lin: „Schulkleidung und Uniform ist das gleiche. Das andere ist normale Kleidung.-mmh?"
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement Sin2 nickt. (Bildschirmschoner geht an, Sin2 betätigt direkt die Maus.) Lin: „Ja, also bessert das aus. Ihr könnt ja schreiben, wir fänden Uniform besser als normale Kleidung." Sin2: „Ja." Lin: „Aber Ihr müsst begründen, warum. (Sin2: "Aber"). Weil das interessiert die ja, warum." Sin2: „Als die normale Kleidung?" Lin: „Ja. ne? O.K. (legt Hand auf Schulter von Sin2)." (Sin1 löscht anscheinend Text). Sin2: „Stop! (L "Halt"). Mensch, was machst denn du?" Lin: „Das hat doch gestimmt!" Sin2 (bedient Tastatur, redet mit Nachdruck): „Besser als die normale Kleidung!" Lin (legt beide Hände auf die Schulter von Sin2): „Aber bitte begründen, warum Ihr das wollt, ja!" Sin1 und 2: „Ja." (L geht.). Videotranskript 4.24: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Die Lehrerin entdeckt in der E-Mail einen inhaltlichen Fehler und versucht diesen den Schülerinnen zu verdeutlichen. Zunächst beginnt sie die SchülerInnen mit ihren Fragen und Textbeispielen selbst an die Lösung heranzuführen, dass es sich bei den Begriffen „Schulkleidung“ und „Uniform“ um Synonyme handelt. Ihre Schülerzentrierung schlägt sich auch in ihrer Körperhaltung („sich zwischen die Schülerinnen knien“) nieder, indem sie sich mit den SchülerInnen räumlich auf eine Ebene begibt. Dennoch setzt die Lehrerin die Schwerpunkte und gibt das Arbeitstempo vor, indem sie versucht einige prägnante Textstellen für die SchülerInnen auf zu bereiten. Sin1 scheint die Hinweise zu verstehen, geht aber in der Interaktion insgesamt unter. Die Reaktionen von Sin2 zeigen, dass sie der Lehrerin nicht folgen kann. Gegen Ende der Interaktion agiert die Lehrerin schließlich doch als Wissensvermittlerin, wobei sie ihre Erklärung noch mal wiederholen muss. Erst als Sin2 durch ihre Frage („Schulkleidung ist das gleiche...?“) selbst die Regie übernimmt, werden ihr die Begrifflichkeiten, wie ihr Nicken zeigt, deutlich. Es scheint für ihr Lernen entscheidend zu sein, dass sie selbst aktiv die Antwort einfordert, anstatt dass die Lehrerin von sich aus Wissen vermittelt. Insgesamt dominiert die Interaktion zwischen der Lehrerin und Sin2. Sin1 kommt, obwohl sie offensichtlich das Missverständnis verstanden hat, nicht zum Zuge, obwohl sie ggf. wichtige Beiträge zur Aufklärung des Missverständnisses hätte leisten können. Teilweise wird sie sogar ausgrenzt (z. B. dass die Lehrerin die ausgedruckte E-Mail nur vor Sin2 hält und Sin1 von Sin2 unterbrochen wird).
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Die Verhaltensdominanz der Lehrerin, in der sich ihre Wissensdominanz niederschlägt, bewirkt bei Sin1 anscheinend (gemeinsam mit der Verhaltensdominanz von Sin2) eine soziale Ausgrenzung und bei Sin1 eine inhaltliche Unterwerfung, die sie in ihrem selbst gesteuerten Lernen behindert. Die Lehrerin lenkt die SchülerInnen durch ihre Beispiele, Fragen und Arbeitsaufträge dahin, den Fokus besonders auf die Vorteile einer Schuluniform zu richten und damit eine eindimensionale Sicht einzunehmen. Eine eigene Meinung sollte aber durch ein kritisches Abwägen verschiedener Perspektiven entstehen. Um eine reflektierte Meinungsbildung der Schülerinnen zu fördern, hätte sie ihnen z. B. auch den offenen Arbeitsauftrag geben können, Vor- und Nachteile einer Schuluniform aufzulisten. Die von der Lehrerin aufgeführten Aspekte des „Sich besser Benehmens“ und der „Kosten“, entstammen wohl eher der Erwachsenen- und Erziehersicht, Grundschulschülerinnen würden von sich aus wohl eher andere Aspekte fokussieren. Der Versuch der Lehrerin, die SchülerInnen durch ein Diskutieren dieser Aspekte zum kritischen Nachdenken anzuregen und die verschiedenen Begrifflichkeiten zu erläutern, schlägt fehl. Die vielen Beispiele der Lehrerin führen zu einer unreflektierten Übernahme von Sin2, für sie scheint die Lehrerin als eine Art Entscheidungsinstanz zu wirken („Sollen wir dann schreiben, wir wollen auch die Schulkleidung nehmen?“). Das Einnehmen dieser Rolle ist sicherlich nicht die Handlungsabsicht der Lehrerin, der es wohl lediglich darum geht, dass die SchülerInnen ihre Meinung begründen, dennoch lenkt sie sie in eine eindimensionale Denkrichtung. Wenngleich sie hier die Bedeutung der Begriffe letztendlich vermitteln kann, wird den Schülerinnen durch die Schwerpunktsetzung und Lenkung der Lehrerin kaum Freiraum gelassen, selbst Ideen und Argumente zu entwickeln. Ihre eigene Meinungsbildung, im Sinne einer selbst gesteuerten kreativen Wissensgenerierung, wird behindert. Die folgenden Schüler beschäftigen sich lange mit ästhetischen Details, wie mit der Auswahl der Schriftfarbe. Auch hier interveniert die Grundschullehrerin: S2: „Jetzt müssen wir uns noch für eine Farbe entscheiden (Zeigt auf Farbauswahl).Violett!" S1: „Violett, Ähh (abwertend, blickt dabei in Kamera)." S2: „Mach mal Dunkelrot-Braun." S1: „Hellbraun? -das ist bloß Grau. Welche Farbe nehmen wir jetzt- die lassen wir?" S2: „Nimm halt grün (zeigt auf Farbe)-Dunkelrot." L guckt zu J-Paar: „Jetzt macht aber nicht ewig da rum mit der Farbe, ne?" S (beide in genervtem Ton): „Ja! Videotranskript 4.25: Schüler, Märchenprojekt, Primarstufe
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Die Schüler können durch ein Herumprobieren die Funktionen der Programme gut kennenlernen und ihr ästhetisches Empfinden schulen. Die Auswahl der Farben wird schließlich ein Aspekt ihres Arbeitsprozesses sein, durch die sie ihrem Produkt eine persönliche Note verleihen. Da es sich um eine Partnerarbeit handelt, müssen sie ihre Geschmäcker aufeinander abstimmen und eine gemeinsame Entscheidung fällen. Andererseits sollte der Inhalt wichtiger als die Verpackung sein. So scheint die Lehrerin eine inhaltliche Zielorientierung zu vermissen und greift disziplinierend ein. Durch ihre Intervention stellt sie eine asymmetrische Beziehung zu ihren Schülern her. Sie unterbricht durch ihre Einflussnahme den Aushandlungsprozess der Schüler, die sich, wie ihr genervt klingendes „Ja“ zeigt, bei einer Selbststeuerung lieber noch länger mit der Farbauswahl beschäftigen würden. Die Lehrerin verstößt gegen ihr Prinzip der Schülerzentrierung. Diese Lehrerin hat in den Interviews geschildert, dass sie ihre Rolle als die einer Lernberaterin sieht (vgl. Zitat 4.145). Die Videotranskriptionen (vgl. Videotranskript 4.22 - Videotranskript 4.25) sind aber Belege dafür, dass sie doch stark lenkend agiert. Es schlägt sich eine Kluft zwischen ihrer Handlungsabsicht und ihrem wirklichem Handeln nieder (vgl. Kapitel 2.2.3). 4.4.5 Kooperatives Tutoring unter SchülerInnen Situationen des Tutoring sind oft durch eine klassische Hilfegeber (Experten)Novizen -Beziehung gekennzeichnet. Sie sind dadurch asymmetrisch strukturiert, dass die Hilfegebenden (Experten) einen Wissensvorsprung gegenüber MitschülerInnen (Novizen) besitzen. Beim kooperativen Tutoring liegt zwar eine Wissensdominanz vor, in dem Sinne, dass einer mehr als der andere weiß, aber im Gegensatz zu konkurrenzorientierten Experteninszenierungen (siehe Abschnitt 4.4.7) keine Verhaltensdominanz, bei der die Bedürfnisse des Partners ignoriert werden. Es liegt eine Partnerorientierung vor, da das eigene Handeln nach den Bedürfnissen des Arbeitspartners ausgerichtet wird. Es handelt sich um ein kooperatives asymmetrisches Interaktionsmuster. Kooperative und konstruktive Hilfe zielt darauf ab, durch das (Ver-)teilen von Wissensbeständen eine Wissensasymmetrie (den Wissensvorsprung) zu verringern, sodass dieses Handeln langfristig in Richtung einer Wissenssymmetrie zielt (die aufgrund unterschiedlicher Lebens- und Lernerfahrungen aber nie endgültig erreicht werden kann). Abbildung 4.6 veranschaulicht diesen Prozess.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Wissensmenge
S1 Wissensfluss
S1 S2
Wissensasymmetrie verringert sich bei erfolgreicher Wissensweitergabe
S2 Zeit
Abbildung 4.6: Interaktionsmuster kooperatives Tutoring unter SchülerInnen Neben den analysierten sozialen Aspekten kann der Inhalt des Tutoring verschiedene Bezüge haben: So kann das Vermitteln von Werkzeugwissen, wie z. B. dem Umgang mit digitalen Medien oder die Vermittlung von Verfügungswissen im Vordergrund stehen. Da die SchülerInnen über unterschiedliches Wissen verfügen, wechseln sie je nach Aufgabenstellung die Rollen des Lehrenden und Lernenden und bilden auf der Makroebene Lerngemeinschaften. 4.4.5.1 Bedürfnisorientierte Hilfestellung Was sind die Auslöser bzw. ursächlichen Bedingungen für gegenseitige Hilfestellungen der SchülerInnen? Die Auslöser dafür, dass sich SchülerInnen anderen SchülerInnen zuwenden, um Dinge zu erklären, sind unterschiedlich. So signalisieren einige MitschülerInnen, dass sie Hilfe benötigen, indem sie andere gezielt um Hilfe bitten. Die Rollenaushandlung wird dann durch die Fremdbilder der Hilfesuchenden initiiert. Die Wahrnehmung, dass MitschülerInnen Hilfebedarf haben, kann aber auch von den Helfenden selbst ausgehen, indem sie z. B. für die zu Hilfe gerufene Lehrperson einspringen. Manche MitschülerInnen bieten auch von sich aus ihre Hilfe an, hierbei wird nur teilweise im Vorfeld der Hilfebedarf abgeklärt. In diesen Fällen steht das Selbstbild der SchülerInnen, die sich als kompetent erleben, als Grundlage für deren Handeln im Vordergrund. Sie können aber nur
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erfolgreich als solche auftreten, wenn die Hilfeempfänger, die ihnen zugeschriebene Rolle des Novizen einnehmen. Die SchülerInnen aus den Grundschulfällen helfen sich oftmals erst dann von sich aus gegenseitig, wenn die Lehrperson gerade nicht in Reichweite ist. Sie erkennen das Hilfebedürfnis ihrer MitschülerInnen durch das Hinzurufen der Lehrperson und vertreten diese bei Bedarf: Die Schüler wollen zur Recherche eine Internetadresse eintippen. Da sie anscheinend nicht wissen, wie sie mithilfe der Tastatur Schrägstriche erzeugen können, rufen sie gezielt ihre Lehrperson herbei. S: „Frau L., wo kriegen wir die Striche her?“ Sin1: „Die ist nicht da! Die gibt es da oben bei der 7! Bei der 7!“ S: „Bei der 7? Danke, klappt aber nicht!“ Sin1: „Da musst du "groß" machen!“ Videotranskript 4.26: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Da die zu Hilfe gerufene Lehrerin aktuell nicht greifbar ist, schaltet sich eine Mitschülerin in die Interaktion ein. Sie versucht die gewünschte Tastatureingabe zu erklären: „bei der 7!“. Hierbei vergisst sie Detailinformationen, die sie, ausgelöst durch das Feedback der Hilfesuchenden („klappt aber nicht“) nachträgt. Ihre kindliche Umschreibung „Da musst du groß machen!“ für die Shift-Taste zeigt, wie gut die Schülerinnen einen Zugang zur Tastaturbedienung und Benennung finden, den sie sich anscheinend über die jeweiligen Funktionen (wie „groß machen“) verschaffen. Die Vermittlung von Handlungswissen im Umgang mit der Computerbedienung ist erfolgreich, da die hilfesuchenden SchülerInnen gezielt nachhaken, als sie die erste Anweisung nicht vollständig verstehen oder umsetzen können. Durch diese Rückkoppelung findet schließlich ein erfolgreiches Tutoring statt. In dem nächsten Beispiel wird – auch nachdem die Lehrperson nicht zur Verfügung steht- gezielt ein Mitschüler um Hilfe gebeten. Die Schülerinnen haben gerade eine Internetadresse eingegeben und wissen nicht, dass sie nun lediglich noch “Doppelklicken“ oder „Return“ drücken müssen: Sin1: „Fertig! und was soll ich jetzt machen? (Richtung Lehrerin) (dann lauter): Wir sind fertig, was sollen wir machen?" Sin2: „Ja, toll (ironisch). Jetzt grad ist die Frau P. weggegangen. (verschränkt die Arme, lehnt sich zurück). Jetzt können wir erst mal warten!" (andere lehnt sich ebenfalls zurück.) Sin1 (lacht) wendet sich an anderen S: „S., was müssen wir jetzt machen?" (Zeigen auf Bildschirm) S: „Was ist denn die Adresse?"
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Sin2 liest Adresse vor. S kommt näher: „Habt Ihr schon nachgeschaut, ob sie richtig ist?" Sin liest noch mal überprüfend. (S geht wieder) (...) Sin1: „Frau P., was muss man machen, wenn man das eingegeben hat?" Lin: „Was muss man machen? Wisst Ihr nicht mehr, was wir machen müssen, Mmh (aufmunternd)?" S im Hintergrund: „Doppelklick!" Lin: „Ja, einfach drücken!" Die Internetseite öffnet sich. Die Schülerinnen scheinen begeistert zu sein. Videotranskript 4.27: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Die Frage der SchülerInnen an die Lehrerin "Wir sind fertig, was müssen wir jetzt machen?" zeigt zum einen, dass sie bei ihrer Suche nach Hilfestellung zunächst auf die Lehrperson fixiert sind. Sicherlich ist den Schülerinnen aber bewusst, dass ihnen hier auch MitschülerInnen helfen könnten, so wird, nachdem die Lehrperson offensichtlich nicht greifbar ist, gezielt ein Mitschüler um die fehlende Information gebeten. Fragwürdig ist, ob sich die Schülerinnen aus Angst davor, etwas kaputt zu machen, einfach nicht trauen im Sinne eines Versuch- und Irrtum-Prinzips verschiedene Tasten auszuprobieren, um schließlich die EnterTaste zu finden, oder ob sie einen komplexeren Arbeitsschritt erwarten. Zunächst spiegelt sich die Abhängigkeit der Schülerinnen von der Hilfestellung durch die Lehrerin darin nieder, dass sie einfach untätig herumsitzen, bis sie schließlich den Mitschüler als Experten 2. Rangordnung (da zuerst die Lehrerin gefragt wird) um Hilfe bitten. Dadurch, dass die SchülerInnen ihre Frage etwas unspezifisch stellen („Was müssen wir jetzt machen?“) entsteht ein Kommunikationsproblem. Die Frage der Schülerinnen zielt darauf, welcher Arbeitsschritt nach der Eingabe einer Internetadresse folgt (nämlich noch „Enter“ drücken). Der Schüler hingegen hinterfragt die Rechtschreibung, da er anscheinend weiß, dass falsch geschriebene Adressen nicht aufgerufen werden können. Allerdings kommt dies nicht wirklich als Problemursache infrage, da hier das Monitorbild anders aussehen müsste und dort eine Fehlermeldung käme. Als nach gründlicher Kontrolle eine falsche Schreibweise nicht als Problemursache infrage kommt und der Schüler anscheinend keine Idee mehr hat, warum die Seite nicht aufgerufen wird, entzieht er sich der Situation, indem er sie einfach verlässt. Als später wieder die Lehrerin zur Hilfe kommt und die Frage der Schülerinnen zurückspiegelt, daher was sie wohl tun müssen, nachdem sie die Adresse eingegeben haben, schaltet sich der Schüler wieder ein und sagt vor („Doppelklick“). Er agiert hierdurch wieder als Experte, wenngleich er diesmal nicht dazu aufgefordert wurde. Er sagt vor, dies kann zum einen bedeuten, dass es ihm wichtig ist, seinen Expertenstatus zu behalten und zu inszenieren, auf der anderen Seite kann das Vorsagen durchaus
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auch einen sozialen Wert haben, indem er den SchülerInnen helfen will. Insgesamt zeigt sich, dass er auch vorher den Schülerinnen, ohne die Einmischung der Lehrerin, hätte helfen können, wenn die SchülerInnen ihre Frage z. B. nachträglich genauer gestellt oder er gezielter nachgefragt hätte. Diese Feedbackschleife hätte das Kommunikationsproblem vermutlich auflösen können. Als die Schülerinnen schließlich mit dieser Information endlich die Internetseite aufrufen können, sind sie begeistert. Das Aufrufen dieser Internetseite ist für sie ein besonderes Erfolgserlebnis, das anscheinend noch nicht in ihren Alltag integriert ist. In diesem Ausschnitt scheinen sich daher auch die unterschiedlichen Vorerfahrungen der Jungen und Mädchen im Bereich der digitalen Medien nieder zu schlagen (vgl. Kapitel 4.2). Die unterschiedlichen Vorerfahrungen können auch Kommunikationsprobleme verursachen, denn was dem einen gerade helfen würde, wird von dem anderen ggf. nicht erkannt und als zu banal verworfen und/ oder übersehen. Eine Orientierung an den Bedürfnissen des Partners lässt sich auch, ohne dass dieser sein Hilfebedürfnis durch Fragen oder Bitten kundtut, an unterschiedlichen Merkmalen erkennen. Das folgende Videotranskript verdeutlicht dies: Zwei SchülerInnen formatieren gemeinsam ihren geschriebenen Text. SchülerIn2 will das Textfeld vergrößern. Sin2: „Das geht nicht.“ Sin1: „Du hast auch nicht geschoben. Soll ich dir das mal zeigen? (Sin2: „Mm“ (bestätigend)) Also: Wenn du hier ziehst, wenn du einfach nur so ziehst, dann ziehst du das ganze Ding. (Sin2: „Ach so. Ja.“) Du musst hier, dass der Pfeil so erscheint. Dann kannst du das so ziehen. (Sin2: „Ach so, das Kreuz ist ...“). Und das ist genauso. Dieses, wenn du das so machst, dann verschiebst du das proportional, dann verschiebst du so und so, da schiebst du nur oben-unten, da schiebst du nur rechts und links.“ Sin2: „Ach so. O.k.“ Videotranskript 4.28: Schülerinnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Schülerin1 kann die Aufgabe, eine Grafik zu vergrößern, nicht alleine bewältigen („das geht nicht“). Ihre Mitschülerin klärt u. a. durch Fragen noch mal gezielt das Hilfebedürfnis ihrer Partnerin ab („Soll ich Dir das mal zeigen?“) und beginnt nach Bestätigung mit ihrer Erklärung. Hierdurch initiiert sie eine Rollenaushandlung, bei der sie gezielt die Rolle der Wissensvermittlerin übernimmt. Die Mitschülerin nimmt durch ihr Einverständnis die ihr zugeschriebene Rolle als Hilfeempfängerin an (Role-taking) und respektiert ihre Arbeitspartnerin als Expertin. Die Hilfe gebende Schülerin setzt didaktische Methoden ein, sie
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unterstützt ihre schrittweise Erklärung mit der Veranschaulichung durch das Monitorbild. Die zustimmenden Laute der Mitschülerin signalisieren, dass sie die Erklärung mitverfolgt und anscheinend auch verstanden hat. Diese Art von Hilfestellung ist sehr konstruktiv. Die Laute der Zustimmung weisen darauf hin, dass die Schülerin wohl zumindest kurzfristig prozeduales Wissen (Wissen, wie Schrift- und Bildgrößen verändert werden können) erworben hat. Inwieweit die Schülerin dieses Wissen jedoch wirklich langfristig internalisiert hat und demnächst eigenständig derartige grafische Veränderungen vornehmen kann, bleibt ungewiss, denn sie hat hier lediglich durch die Strategie „Lernen durch Beobachtung“ (und Erklärung) neues Wissen erworben. Eine weitere unterstützende Strategie hätte z. B. darin bestehen können, dass sie selbst anschließend versucht eine Grafik zu verändern (Learning by Doing) und, um einem Vergessen vorzubeugen, die entsprechenden Handlungsschritte für sich (und andere) schriftlich festhält (also Wissen repräsentiert). Bei der Weitergabe von Wissen nehmen die SchülerInnen durchaus auch didaktische Überlegungen vor. So betonen die folgenden SchülerInnen, dass es nicht ausreicht, Wissen vorzusagen oder ein Problem selbst zu beheben, sondern dass der andere durch Erklärungen und eigenes Ausprobieren dazu befähigt werden sollte, das Problem demnächst selbst zu beheben. Durch Learning by Doing wächst die Wahrscheinlichkeit, dass SchülerInnen in der Novizenrolle einen Wissenszuwachs erfahren, und in Zukunft bei ähnlichen Schwierigkeiten selbst eher imstande sein werden, ähnliche Aufgaben zu bewältigen. Die Abhängigkeit von entsprechenden Experten kann sich hierdurch verringern: Sin1: „Wenn man etwas nicht weiß, dann kann man eben fragen (..). Die, die es wissen. Die erklären es dann und dann muss man es machen.“ I: „Also andere SchülerInnen?“ Sin2: „Ja, die machen es aber nicht selber, sonst weiß der andere dann nicht, wie es geht.“ Zitat 4.146 Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Durch kooperatives Tutoring können die SchülerInnen gerade auch im sozialen Bereich lernen. Im Unterricht wird besonders auf schwächere und unsichere MitschülerInnen geachtet, denen bei Schwierigkeiten selbstverständlich geholfen wird. Die SchülerInnen lernen es, Verantwortung für MitschülerInnen zu übernehmen und erwerben hierdurch Sozialkompetenz. Eine wichtige Rahmenbedingung hierzu scheint u. a. die Sozialform der Partnerarbeit zu sein. Im folgenden Beispiel aus dem Fall „Lernprogramme“ nutzt eine Schülerin ihre Stärke in dem Fach Deutsch dazu, einer ausländischen Mitschülerin bei der Rechtschreibung zu helfen. Die ausländische Schülerin scheint noch nicht so sicher im
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Umgang mit dem Rechtschreibkontrollprogramm zu sein, sodass sie die menschliche Unterstützung der technischen vorzieht. „Bei mir tippen sie bestimmte Texte, die sie geschrieben und wir besprochen haben, zu zweit in den PC. Heute hat (...) A., die sehr gut in Deutsch ist, R., die Türkin ist und mit Deutsch noch große Schwierigkeit hat, geholfen die Geschichte in den PC zu tippen. Es gibt da zwar ein Rechtschreibprogramm, aber R. bekommt es häufig doch nicht richtig hin.“ Zitat 4.147: Lehrerin, Lernprogramme, Primarstufe
In einigen Situationen zeigt sich auch, dass die SchülerInnen nicht nur gegenseitig Verantwortung übernehmen, sondern auch auf einen sorgfältigen Umgang mit dem Arbeitsmittel Computer achten. SchülerInnen, die noch keine so großen Computererfahrungen besitzen, werden wichtige Funktionen erklärt: „Wir haben einen Jungen in der Klasse, und der kennt sich mit Computern nicht so gut aus, und dann hat er einfach einmal ohne den Computer herunterzufahren den Computer ausgeschaltet. Und dann haben wir den erst einmal wieder eingeschaltet, und haben geguckt, ob das geht, und haben ihm gezeigt, wie man den ausmacht.“ Zitat 4.148: Schülerin, Lernprogramme, Primarstufe
In diesem Beispiel haben auch die Hilfe gebenden SchülerInnen etwas dazu gelernt, nämlich dass ein Computer, auch wenn er nicht richtig runter gefahren wurde, trotzdem wieder „normal“ gestartet werden kann, wenngleich das Hochfahren etwas länger dauern kann. Eine Lehrerin schildert von einem lernbehinderten Schüler, der von den anderen MitschülerInnen selbstverständlich respektiert wird. Die SchülerInnen lernen, Verantwortung für leistungsschwächere SchülerInnen zu übernehmen, indem sie durch aktive Hilfestellungen diesen SchülerInnen helfen und somit mit zu deren Integration beitragen. „Dieser Schüler wäre ohne Integration auf der Sonderschule. (...) Für die anderen Kinder in der Klasse (...) ist es ganz wichtig zu sehen, da sitzt noch der und es ist richtig, dass der hier sitzt, weil ihm auch geholfen wird und er auch einiges machen kann (...)Viele von denen helfen auch und setzen sich zu dem hin und rechnen das noch mal oder gucken sich die Karte an.“ Zitat 4.149: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Viele SchülerInnen empfinden die Hilfe durch MitschülerInnen teilweise sogar als angenehmer als diejenige durch die Lehrperson oder das Hinzuziehen von Fachbüchern. In diesem Kontext wird von SchülerInnen des Medienprojekts
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geschildert, dass das gleiche Sprachniveau der SchülerInnen bei Erklärungen einen leichteren Zugang zum Lernstoff ermöglicht. S1: „Hier bekommt man das eben von M. oder anderen Leuten im Hauptschuldeutsch erklärt.“ Sin1: „Oder von Schüler zu Schüler, das ist viel einfacher als von Lehrer zu Schüler oder von Bürokratendeutsch ...“ S2: „Ja das ist auch mit den ganzen Büchern und so. Das versteht zum Teil auch ein Studierter gar nicht, was da drinsteht.“ Zitat 4.150: SchülerInnen, Medienprojekt, Sek. II
Gerade die Partnerarbeit und der Einsatz der offenen Unterrichtsformen ermöglichen- entgegen einem Frontalunterricht- individuelle Hilfe nach dem Prinzip einer inneren Differenzierung. So können die Hilfestellungen durch MitschülerInnen und Lehrpersonen dem jeweiligen Lernstand und den Bedürfnissen einzelner SchülerInnen angepasst werden: „Im Unterricht fragt man natürlich eher leise seinen Banknachbarn, oder man fragt den Lehrer, aber das ist dann meistens eine Erklärung, die den restlichen Kurs gar nicht so interessiert, weil die das dann oft schon verstanden haben.“ Zitat 4.151: Schülerin, SelMa , Sek. II
Die gegenseitige Schülerhilfe wird von vielen Lehrpersonen als Entlastung erlebt, denn sie können nicht mehr für alle SchülerInnen zugleich Ansprechpartner sein. Dadurch, dass die SchülerInnen lernen sich gegenseitig zu helfen, ist das Gelingen des Unterrichts nicht mehr nur von der Person des Lehrers abhängig, sondern die SchülerInnen übernehmen mit Verantwortung. Die Lehrpersonen versuchen, dieses gegenseitige Helfen zu institutionalisieren und zu fördern. „Die Kinder beraten sich gegenseitig und werden dadurch gleichzeitig zu Mitschülern und Lehrern. (...) Eine wichtige Sache ist es das auch zu institutionalisieren, einfach um auch meine Belastung ein bisschen zu reduzieren oder meine Unabkömmlichkeit.“ Zitat 4.152: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
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4.4.5.2 Schneeballsystem Eine Strategie, das Peer-Tutoring unter den SchülerInnen zu fördern, ist die Einführung eines Schneeballsystems, indem ehemalige Lernende/Novizen zu Lehrenden/Experten werden. Durch die Institutionalisierung dieser didaktischen Maßnahme wird langfristig eine Schülersymmetrie im Hinblick auf die Wissensweitergabe gefördert. Abbildung 4.7 zeigt das Schneeballsystem.
S7 S3 S6 S1
Wissensfluss
S5 S2 S4
Zeit
Abbildung 4.7: Wissensweitergabe im Schneeballsystem Eine Grundschullehrerin schildert im Interview, dass sie dieses System besonders im Hinblick auf die Weitergabe von Kompetenzen in der Computerbedienung von Anfang an in ihrer Klasse etabliert hat. I: „Haben Sie den Schülern als erstes Bedienungsfähigkeit vermittelt, wenn Sie die PCs teilweise seit der 1. Klasse einsetzen?“ Lin1: „Schneeballsystem. Nicht zentral allen. Bei den ersten habe ich noch geschaut, was die wissen und wie sie sich anstellen.“ Zitat 4.153: Lehrerin, Lernprogramme, Primarstufe
Eine Voraussetzung dafür, dass sich innerhalb der Klasse ein Schneeballsystem etablieren kann, ist, dass, gerade in der Grundschule, als Basis zunächst alle SchülerInnen Grundlagen im Handling mit dem Computer erwerben. Einige SchülerInnen, die dann weitergehende Vorerfahrungen besitzen, wie z. B. die Fertigkeit E-Mails abzurufen, geben ihren Wissensvorsprung dann an MitschülerInnen weiter, sodass nach und nach immer mehr SchülerInnen die entsprechenden Kompetenzen per Peer-Tutoring erlernen und schließlich selbst weitergeben können.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Lin2: „Ich mache es immer so, dass sich alle im Halbkreis rumstellen und dann erkläre ich erst mal die Tastatur (...), dann die Maus, dann Programme. Dann habe ich auch immer drei oder vier dabei, die schon ein wenig Bescheid wissen. E-Mail haben wir auch uns als Brieffreundschaft untereinander beigebracht. Ein Kind hat es gewusst und dem Nächsten gezeigt. Der hat seine E-Mail geschrieben und am nächsten Tag den Nächsten eingewiesen. So hat jeder mal eine E- Mail gesendet und abgeholt.“ Zitat 4.154: Lehrerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
4.4.5.3 Wissensaustausch durch Interdependenz Eine Klassenkultur des gegenseitigen Helfens wird überwiegend positiv bewertet. Die SchülerInnen empfinden das gegenseitige Erklären als hilfreich und schätzen die Partnerarbeit, weil es aus ihrer Sicht die Aufgabenbearbeitung vereinfacht. „Manchmal haben wir (die Aufgaben) auch zu zweit gemacht, weil es dann irgendwie schneller ging oder einfacher war. Zitat 4.155: Schülerin, SelMa, Sek. II
Die Inhalte des Tutorings sind vielfältig, da neben einer Fachkompetenz, die Dimension Medienkompetenz (dies schließt fachübergreifende Fertigkeiten und das Handling mit dem Computer ein) bedeutsam ist. Diese Wissensdimensionen scheinen nicht miteinander zu korrelieren, sodass Computerexperten nicht unbedingt über Fachwissen verfügen und umgekehrt. Indem die SchülerInnen nun gegenseitig ihr jeweiliges Expertenwissen nutzen und sich vermitteln, profitieren beide Seiten von dem wechselseitigen Lernen und Lehren. Es wird auf der Makroebene des Unterrichts eine symmetrische Beziehung zwischen den SchülerInnen gefördert. Eine wichtige Bedingung für den wechselseitigen Austausch scheinen der Computereinsatz und die Lernumgebung zu sein, die auf Interdependenz zielen, sodass für eine erfolgreiche Projektbearbeitung verschiedenes Expertenwissen benötigt wird, wie hier in dem Wirtschaftsprojekt: „Da ist letztendlich der PC als wichtigstes Werkzeug dazu da, sie ein Stückchen zusammen zu schweißen, weil der eine schon eine ganze Menge Erfahrung hat und der andere fast keine. Derjenige, der die wenigen Erfahrungen hat, ist aber gerade der, der das Projekt bereichern könnte. Da wird sich derjenige, der die Rechnererfahrung hat, aber wenig mit dem Projekt zu tun hatte, hinsetzen und dem anderen zeigen, wie er das am besten in den Rechner kriegt.“ Zitat 4.156: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
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Durch die Vielfalt der benötigten Fachkompetenzen können die unterschiedlichen Stärken der einzelnen SchülerInnen genutzt werden. Jeder behauptet in einem anderen Kompetenzbereich die Wissensdominanz, sodass Rollenwechsel zwischen Experten und Novizen stattfinden können. Durch das wechselseitige Nutzen der unterschiedlichen Stärken können alle voneinander profitieren: „Bei mir ist es so, dass die Guten den Schwächeren meistens helfen. (...) Das wechselt ja auch, denn einige Kinder haben eine besondere Stärke in dem Fach und andere in dem, sodass das gegenseitige Helfen nicht immer bei zwei, drei festen Bezugspersonen bleibt.“ Zitat 4.157: Lehrerin, freier Medieneinsatz, Primarstufe
4.4.5.4 Nachwuchsförderung Eine besondere Form des Tutorings findet im Medienprojekt statt, so führen dort die SchülerInnen gezielt Jüngere im Sinne einer Nachwuchsförderung in ihre Projektarbeit ein. Ihre Motivation zur Wissensweitergabe liegt vor allem darin, dass ein Weiterbestehen der AG auch nach ihrem schulischen Abgang gesichert ist: Sin1: „Wir sind hier in 7 Wochen weg und dann ist keine Medien-AG mehr da. Und das bringt halt nichts und deswegen versuchen wir, Neue zu finden. (...)“ S1: „Aber ich sage mal, nicht alle werden nach den Sommerferien weg sein. (...) Also R. und ich werden wahrscheinlich auf jeden Fall einmal die Woche hier rumhängen.“ (...) Sin2: „Ich sage mal, es wäre auch schade, wenn (...) dann die ganzen Themen, die wir angefangen haben, dass sich da dann kein Mensch mehr drum kümmern würde. Also dann wäre diese Arbeit dann sozusagen umsonst gewesen.“ S2: „Die Arbeit ist wie ein Kind und das muss gepflegt und großgezogen werden. Dann tut es einem selber auch weh, wenn man weiß, dass nach diesen 7 Wochen kommt keiner mehr und alles vergammelt hier und es ist dann hier, wie es einmal mit der Schülerzeitung war, dass die dann komplett eingestellt wird.“ Zitat 4.158: SchülerInnen, Medienprojekt, Sek. II
Die SchülerInnen haben anhand der Schülerzeitung erlebt, wie ein Projekt nach Abgang der entsprechenden „Wissensträger“ eingestellt wurde, sodass sie diesem Schicksal rechtzeitig eigenverantwortlich entgegenwirken wollen. Sie geben ihr Wissen vor allem durch Wissenskommunikation, durch ein Vermitteln ihrer Kompetenzen an jüngere SchülerInnen weiter („Nachwuchsförderung“). Durch
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ihre Wissensweitergabe an jüngere SchülerInnen ist es nicht mehr zwingend an ihre Person gebunden, da neue Verantwortlichkeiten rechtzeitig übertragen werden können. Auf diese Weise geht ihr Spezialwissen (für das Projekt) nicht verloren, sondern kann durch andere Personen weiter genutzt und ausgebaut werden. Ein Fortbestehen des Projektes wird daher wahrscheinlicher. Sie scheinen dem Projekt sehr stark verbunden zu sein, das wie ein „Kind“ ein wichtiges, lieb gewonnenes Stück von ihnen geworden ist, in das sie gerne ihre Freizeit sowie ihr Wissen und Können investieren und deren Zukunft sie nun (wie ein erwachsen gewordenes Kind) loslassen müssen und zugleich sichern wollen. Auch wenn für die MedienschülerInnen der Ausstieg aus der AG mit einem Trennungsschmerz verbunden ist, lebt dennoch ihr erarbeitetes Wissen und Können weiter. Ihre intrinsische Motivation schlägt sich darin nieder, dass sie freiwillig und selbst gesteuert auch nach Schulabgang ihre Freizeit für das Projekt investieren wollen. In dem Projekt der Medien-AG findet ein jahrgangsstufenübergreifendes Lernen in dem Sinne „Ältere lehren Jüngere“ statt. Hierzu haben die SchülerInnen selbst einen Schnuppertag ins Leben gerufen, an dem sie jüngere SchülerInnen in den Umgang mit Techniken zur computergestützten Ton- und Bildaufnahme und -verarbeitung einführen. Der Lehrer übernimmt hierbei die Funktion eines Moderators, der die Schülerexperten, die sich jeweils auf ein Themengebiet spezialisiert haben, vorstellt, diese aber die Lehraufgaben eigenverantwortlich ausüben lässt. L: „Und was wir also hier haben ist ein Experiment. Das heißt, hier werden gleich Schüler Lehrer, und die stellen wir gerade vor. Mit S1 habe ich schon angefangen. S2, was machst du heute?“ S2: „Ich bringe heute, wie man mit Minidisk Originaltöne aufnehmen kann, bei.“ L: „Also eine ähnliche Übung quasi, nur mit Technik direkt. Während S1 mehr da diese Recherche macht, also Informationen per Text. Was hast du vor, S3.?“ S3: „Ich bin der R., und bringe euch Videokamera bei. Das heißt Filme drehen (...).“ S4: „Ich bin der M., und ich mache die Digitalkamera, also Fotobearbeitung am Computer.“ Videotranskript 4.29: Schüler, Medienprojekt, Sek. II
In der Medien-AG gibt es auch einen ehemaligen Schüler, der sich freiberuflich sehr in der AG engagiert. Das jahrgangsstufenübergreifende Lernen geht daher sogar über den Schulabschluss hinaus:
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement S: „M. (der ehemalige Schüler) ist (...) eigentlich ein großer Bruder. Man kann das wirklich so sagen. M. hilft uns wirklich bei allem. Er hat hier den Überblick mit allen Geräten, die hier oben stehen. Der hilft uns.“ Sin: „Er ist sozusagen das Mädchen für alles.“ S: „Wie ein großer Bruder einfach.“ Sin: „Der ist wirklich immer da. Wenn wir ihn brauchen, ist er immer da!“ Zitat 4.159: SchülerInnen, Medienprojekt, Sek. I
Die SchülerInnen schätzen diesen ehemaligen Schüler (M.) sehr, erleben den Kontakt zu ihm so eng wie zu „einem großen Bruder“, das Beziehungsklima scheint daher sehr familiär zu sein. Sie können sich das Projekt kaum ohne seine Hilfe vorstellen. So stellen die SchülerInnen ihn als einen unverzichtbaren Experten dar („Er hat den Überblick mit allen Geräten“). Interessant ist, dass auf ein widersprüchliches Geschlechterstereotyp zugegriffen wird, dass selbst ein Junge als „Mädchen für alles“ beschrieben wird. Einerseits wird hierdurch Undoing Gender betrieben, da ein Junge mit einem Mädchenklischee versehen wird, andererseits spricht der Rückgriff auf diese für sich stehende Begrifflichkeit für ein Doing Gender, da durch ihn allein Geschlechterdifferenzen künstlich hergestellt werden. „Mädchen für alles“ kann einerseits abwertend verstanden werden, als „Trottel, dem jede Drecksarbeit aufgebürdet werden kann“, anderseits aber auch als Lob, dass jemand auf allen Gebieten eine Hilfe ist. Die Ergänzung des Schülers zeigt, dass er den älteren Schüler eher als eine gute Seele erlebt, die sie nie im Stich lassen würde, sodass er wohl letztere Interpretation meint. An dem Schnuppertag führt einer der Schüler zwei Jüngere in den Umgang mit einem Ton-Schnittprogramm ein. Er erklärt das Handling mit dem Programm, in diesem Fall die Arbeitsschritte, um unerwünschte Sequenzen, wie „Öhms“ herauszuschneiden: S: „Dann kannst du mit der rechten Maustaste hier drauf gehen, dann haben wir hier die Funktion - nein, die sind hier. O. k. vergessen wir es. Mal hier die Taste "entfernen" –kennt Ihr bestimmt. Klickst du da drauf, dann hinterlässt der hier so einen blauen Strich. Das heißt, da wurde etwas geschnitten oder etwas verbessert halt. Jetzt haben wir hier dieses „Öhm", weil „Öhm" stört halt.- und hier haben wir wieder ein „Öhm" (geht wohl auf andere Tonspur) und gehen wir hier drauf und hören das (Computer: „Öhm, Öhm" als Loop-Schleife). Natürlich können wir auch Blödsinn damit machen, z. B. einen „Öhm-Rap", aber das wollen wir ja nicht.“ S1: „Können wir das rausschneiden, das Ja und dafür ein Nein einsetzen?“ S: „Also, wer möchte jetzt erst mal gucken, ob er das hinkriegt mit dem „Öhm"? Also, wer will zuerst? Freiwillige vor! Sonst suche ich einen aus ...“
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S1: „Lass mich mal. Ich mache das "Öhm" jetzt fertig (Sin lacht). Aber dafür muss es doch erst mal wieder da sein.“ S: „Guck doch mal. Dann klickst du halt hier. Dieser grüne Pfeil zeigt immer an, wo irgendein Mutant ist.“ Sin2: „Und wo das abspielt.“ S: „Wo das abspielt. Das heißt, dann mach noch mal. Mal kucken, ob du es kapiert hast. Wahrscheinlich nicht. Aber mach mal.“ S1: „Ich habe es gefunden. Irgendwo hier.“ Sin2: „Irgendwo! Du musst es sicher wissen.“ S: „Siehst du, P.? Du hast wieder nicht zugehört. (S1: „Jaaah!“). Mach mal bitte.“ S1: „Mit der rechten Maustaste... Und jetzt. Und noch mal. (Rechner spielt Öhms in Loop-Schleife ab) so und jetzt Doppelknopf.“ S: „So, das haben wir jetzt kapiert, alles in Ordnung, durchgestiegen? O.k.“ Videotranskript 4.30: SchülerInnen, Medienprojekt, Sek. I
Der lehrende Schüler wendet didaktische Strategien an, indem er versucht an bereits bestehendes Wissen der SchülerInnen anzuknüpfen („die Taste „Entfernen“- kennt ihr bestimmt“) und seine Handgriffe erläutert („Klickst du da drauf, hinterlässt der einen blauen Strich. Das heißt ...“). Er schneidet als Beispiel auch nicht irgendwelche Laute oder Sätze heraus, sondern gezielt die „Öhms“, gibt daher also ein für seine Arbeit authentisches Beispiel. Interessant ist, dass er zusätzlich, um die Funktionsmöglichkeiten zu erläutern darauf hinweist, dass es auch umgekehrt möglich sei, aus dem herausgeschnittenen Tonfile etwas Neues zu produzieren, wie beispielsweise einen „Öhm-Rap“, was allerdings „Blödsinn“ sei. Sein Bezug auf einen Rap ist vermutlich nah an der außerschulischen Erlebniswelt der SchülerInnen. Die Reaktion von S1 („Können wir das rausschneiden, das Ja und dafür ein Nein reinsetzen?“) verweist darauf, wie gerade digitale Medien zur Manipulation von Informationen missbraucht werden können. Dass der ältere Schüler hierauf nicht antwortet, kann –neben der Möglichkeit, dass er sie akustisch überhört hatdaran liegen, dass er sich dieser Frage nicht gewachsen fühlt oder seine Erläuterungen auf den technischen Umgang begrenzen möchte. Nach seinen Erklärungen gibt er in seiner Funktion als Tutor den SchülerInnen die Möglichkeit, selbst das Programm auszuprobieren. Hierbei bevorzugt er keinen, sondern gibt die Initiative an seine Hörer ab, indem er „Freiwillige vorlässt.“ Dennoch merkt er kurz an, dass er falls sich keiner meldet, doch jemanden bestimmt. Wen er gewählt hätte, bleibt offen. Der Schüler ergreift die Initiative, während sich seine Mitschülerin zurückhält. Seine Aussage: „ich mache das „Öhm“ jetzt fertig“ zeigt, dass zwischen den SchülerInnen eine lockere, entspannte Atmosphäre herrscht, so
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lacht die beisitzende Mitschülerin über die Personifizierung des Tonausschnittes. Der Schüler hat sich dem legeren Umgangston des Schülerlehrers angepasst. Da der Schüler zur Bewältigung des Arbeitsschrittes keinen Ansatz findet („dafür muss es doch erst mal wieder da sein“) erläutert der lehrende Schüler noch einmal die Funktion. Es fällt auf, dass er die Öhms als „Mutanten“ bezeichnet, er verwendet daher wieder eine andere Sprache (wie auch der „Öhm-Rap“), als sie vermutlich eine Lehrperson verwenden würde. Die Schülerin ergänzt diese Aussage um eine weitere Information, nämlich dass der grüne Pfeil nicht nur die Öhms anzeigt, sondern zudem, wo die Tonspur beginnt abzuspielen. Die Schülerin bringt zwar ihr Wissen ein, versucht jedoch nicht die Aufgabenbewältigung aktiv zu übernehmen. Auch der lehrende Schüler übergibt dem Jungen wieder die Aufgabe. Hierbei wird deutlich, dass er es dem Jungen nicht zutraut, diese Aufgabe zu bewältigen („Mal gucken, ob du es kapiert hast. Wahrscheinlich nicht“). Hier sind drei Interpretationen möglich: a) er wertet die Kompetenzen des Schülers im Vorfeld ab oder b) er schätzt den Schwierigkeitsgrad der Aufgabe so hoch ein, dass sie zu schwer für die SchülerInnen sind, c) er schätzt seine Erklärungen als nicht ausreichend ein. Interessant wäre an dieser Stelle zu erfahren, inwieweit er der Schülerin diese Aufgabenbewältigung zutraut. Der Schüler versucht dennoch die Aufgabe zu bewältigen „Ich habe es gefunden, irgendwo hier!“. Der Verwendung des Begriffes „irgendwo“ zeigt, dass er anscheinend noch nicht die genauen Handgriffe kennt, was die Mitschülerin entlarvt („Irgendwo! Du musst es genau wissen!“). Auch der lehrende Schüler rügt den Schüler für die anscheinend mangelnde Aufmerksamkeit „Siehst Du, P.? Du hast wieder nicht zugehört.“ Durch diesen Satz wird die Vermutung a) von oben wahrscheinlich, nämlich dass der lehrende Schüler schon negative Erfahrungen mit S1 gesammelt hat, als einer der nicht oft zuhört und dann nicht weiß, was er machen soll und ihm entsprechend geringe Kompetenzen zuschreibt. S1 ist dadurch etwas entnervt: „Jaaa!“, zeigt aber nach der erneuten Aufforderung, die Aufgabe zu bewältigen, dass er durchaus das Vorgehen verstanden hat und auch umsetzen kann. Der Schülerlehrer bestätigt kurz die Richtigkeit, vergewissert sich durch Fragen noch einmal, dass die Schüler das verstanden haben. Hierdurch gibt er ihnen einerseits die Chance, noch einmal nachzuhaken und holt sich auf der anderen Seite Feedback ein, inwieweit diese Funktion verstanden wurde. In dieser Sequenz wird Undoing Gender betrieben, die Schülerin agiert mit ihren Bemerkungen gegenüber dem Mitschüler als Expertin, während der Mitschüler, der sich teilweise ungeschickt ausdrückt, die Aufgabe letztendlich aber wohl auch verstanden hat, ihr in dieser Sequenz unterlegen ist.
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4.4.5.5 Weibliche Expertinnen In den Daten lassen sich entgegen stereotypen Vorstellungen, dass Mädchen im Umgang mit digitalen Medien nicht so sicher sind, durchaus viele Sequenzen finden, in denen sie Undoing Gender vollziehen und auch gegenüber männlichen Personen selbstbewusst auftreten, wie das vorherige Videotranskript 4.30 schon zeigte. In dem folgenden Beispiel mischt sich eine Schülerin ungefragt in die Interaktion zweier Mitschüler ein, um zu vermitteln: Die Schüler haben gerade eine Internetadresse eingegeben. S2 : „Und was muss ich jetzt machen? -Frau L? Was müssen wir jetzt machen?" L (im Hintergrund): „Enter"- wenn ihr fertig seid." (S2 drückt "enter"). S1: „Das ist doch kein Enter!" S2: „Doch, guck- ach so, da ist Enter (drückt die andere Enter Taste beim Zahlenblock)!" Sin (von anderer Gruppe): „Das ist doch das Gleiche!" S1: „Passiert ja gar nix!" Sin: „Du musst warten!" L: „Da müsst Ihr einen Moment warten. da unten ist ein blauer Balken, guck mal!" Videotranskript 4.31: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Als Auslöser für die Intervention des Mädchens scheint infrage zu kommen, dass sie ein Missverständnis ausräumen will. Außerdem scheint sie sich gerade selbst etwas zu langweilen, da sie auf das Laden ihrer eigenen Internetadresse wartet, sodass hierdurch ggf. die Aufmerksamkeit für die Aktionen des Jungenpaares erhöht ist. Sie teilt ihr Wissen mit, dass beide Enter-Tasten“ das gleiche sind. Auch im weiteren Verlauf der Interaktion schaltet sie sich ein, indem sie – anscheinend aufgrund eigener Erfahrungen- weiß, dass der Computer länger braucht, um eine Internetseite zu laden. Die Schülerin ist selbstbewusst. Sie mischt sich von sich aus in die Interaktion der Jungen ein und verfügt über das Wissen, dass es zwei Enter-Tasten gibt. Allerdings gehen die Mitschüler gar nicht auf ihre durchaus hilfreichen Hinweise ein, sie wird einfach ignoriert. Auch die Lehrperson bestätigt durch ihre Ergänzung, das der blaue Balken die Ladezeit angibt zwar die Aussage der Schülerin („Du musst warten“), geht aber nicht weiter auf sie ein. Bei näherer visueller Analyse des Videoausschnittes scheint es so zu sein, dass die Lehrperson die Schülerinnenaussage überhört hat und somit den Wissensvorsprung, den die Schülerin hier gegenüber ihren Mitschülern besitzt, übersieht.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement In dem nächsten Interaktionsausschnitt übernimmt eine Schülerin ungefragt die Regie über die Druckereinstellungen eines Jungenpaares: Ein Jungenpaar hat seinen Text fertiggestellt. Zwei Mädchen im Hintergrund fragen die Lehrerin, ob sie jetzt an den PC dürfen. L: "Ja, hier dürft Ihr hin, die sind jetzt fertig und speichern noch ab und drucken. (Zu den S gewandt) Ja, noch mal speichern. So und jetzt druckt Ihr es aus, dafür müsst Ihr den Drucker umstellen." S1 bittet S3, der direkt vor Drucker sitzt, dies zu tun. Er macht das. Sin1 im Hintergrund: „Hier auf Drucker.(Er zeigt auf den Bildschirm)." S1. „Jah!"" S2: „Hoffentlich kapiert er das!" (Es passiert anscheinend nichts. S1 steht auf, um L zu holen). S2 (äfft in Kamera): „Da müssen wir Frau L holen!" Sin1: „Ihr müsst auch den Drucker anschalten!" (mit Nachdruck gesprochen) S1 (mit Nachdruck): „Der ist an!"(Er wartet trotzdem, holt noch nicht die L). Sin1 übernimmt die Maus, liest von Bildschirm vor (mit vorwurfsvollem Ton) „Kein Papier mehr, Ihr lest es doch!" (Sin1 geht zum Drucker, um zu gucken und Papier nachzufüllen.) Videotranskript 4.32: SchülerInnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Die Schüler möchten gerne einen Text ausdrucken und sind dabei, den Druckauftrag zu senden. Bereits an dieser Stelle mischt sich die Mitschülerin ungefragt in die Interaktion ihrer Mitschüler ein und gibt die Anweisung „Hier auf Drucker.“, das betonte „Jah!“ des Schülers zeigt, dass er anscheinend durchaus diesen Arbeitsschritt kennt und wohl eher von der Einmischung genervt ist. Interessant ist, dass S2 durch seine Aussage: „Hoffentlich kapiert er das!“ (die sich wohl auf den Drucker und nicht auf den Mitschüler bezieht) den Drucker personifiziert und diesem einen Verstand zuschreibt. Als das Drucken nicht funktioniert, steht S1 direkt auf, um die Lehrerin zur Hilfe zu holen. An dieser Stelle mischt sich die Mitschülerin ein: „Ihr müsst auch den Drucker anschalten!“, S1 kontert direkt „Der ist an!“. Das zeigt, dass die Schülerin einfach ins Blaue hinein, eine Vermutung als Problemursache herangezogen hat, die nicht stimmt. Ihre Art und Weise Hilfe zu geben ist eher unfreundlich bis besserwisserisch. Dennoch scheint sie im Umgang mit dem Computer durchaus kompetent zu sein und erkennt, dass die Problemursache für das Nichtfunktionieren des Druckers darin liegt, dass Papier nachgefüllt werden muss. Sie gibt nicht nur Hinweise, sondern handelt auch aktiv, indem sie in die Tastatur eingreift und anschließend direkt selbst beim Drucker Papier nachfüllt. Sie behauptet in dieser Situation gegenüber den Jungen sowohl eine Wissens- als auch eine Verhaltensdominanz. Die Jungen lassen das Mädchen agieren, ohne ihr Verhalten aktiv zu bestärken. Dadurch, dass sie aber nicht mehr die Lehrerin zur
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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Hilfe rufen und ihre Mitschülerin agieren lassen, zeigt sich, dass sie insgeheim das Mädchen als Expertin anerkennen. Der folgende Ausschnitt zeigt, dass es durchaus auch Jungen gibt, die Schülerinnen die Expertenrolle zuschreiben, hier allerdings nicht in Form von Medien-, sondern von Fachkompetenz. In dem Wirtschaftsprojekt, in dem die SchülerInnen selbst Projektideen kreieren und kalkulieren, findet zeitweise auch ein Austausch zwischen einzelnen Arbeitsgruppen statt: Die Schüler einer Gruppe des Wirtschaftsprojektes sind unsicher, wie sich ihre Kalkulation nennt. S1 (an S2): „Wie nennt man das Ganze jetzt, was da raus kommt?“ S2: „Ähm—Eigen-Eigenanteil, ähm, Selbstkosten.“ S1: „Selbstkosten.“ S2 (an andere Sin): „Wie nennt man das, Selbstkosten, oder?“ Sin (im Hintergrund): „Ja, Selbstkosten. Du hast Produktionskosten und Selbstkosten. Bei meiner Kalkulation, da waren erstens die Herstellungskosten, aber ihr seid ja kein produzierender Betrieb und dann die Selbstkosten (...).“ S2: “O.K.” Videotranskript 4.33: SchülerInnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Die Schüler haben zwar die Vermutung, dass es sich um Selbstkosten handelt, ziehen aber sicherheitshalber gezielt eine Mitschülerin zurate, die in ein anderes Projekt involviert ist. Diese bestätigt den Begriff „Selbstkosten“ und führt ihre Erklärung noch weiter aus, indem sie eine Differenzierung zwischen den Begriffen Produktions- und Selbstkosten vornimmt, hierzu macht sie auf die Unterscheidung zwischen „ihrem“ Projekt und dem ihrer Mitschüler aufmerksam, die kein produzierender Betrieb sind. Sie nimmt hierdurch eine Transferleistung vor. Der Mitschüler bestätigt abschließend mit einem O. K., dass er die Erklärung nachvollziehen konnte. Durch dieses Feedback kann die Interaktionssequenz erfolgreich abgeschlossen werden. Im Hinblick auf weibliches Expertentum findet sich, wie die angeführten Beispiele illustrieren, eine ganze Bandbreite von Reaktionen, diese reichen vom Ignorieren, über eine stille bis zur offenen Anerkennung.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.4.6 Fehlgeschlagenes Tutoring Das Geben von konstruktiver Hilfe kann unterschiedliche Konsequenzen haben. Wenn beim Tutoring eine Orientierung an den Bedürfnissen des Hilfesuchenden vorliegt, wächst die Möglichkeit, dass der Hilfeempfänger durch die Intervention etwas dazu gelernt hat. Selbst kooperatives Tutoring kann durch unterschiedliche Faktoren scheitern. Diese werden im Folgenden dargelegt. 4.4.6.1 Inhaltlich falsche Hilfestellung Es kommt in den beobachteten Unterrichtssequenzen selten vor, dass die Hilfestellung sachlich nicht richtig ist und somit die Gefahr besteht, dass Falsches gelernt wird. So vermittelt hier ein Schüler seinem Arbeitspartner, mit dem er gemeinsam ein Englischlernprogramm bearbeitet, eine falsche Aussprache. S2: “Show me the car.” S1: „Car? Das heißt Ker“ (spricht es falsch aus). Videotranskript 4.34: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Diese falsche Hilfestellung wird auch aufgrund defizitärer Rahmenbedingungen gegeben. Die Computer in diesem Unterricht sind schlecht ausgestattet. Sie besitzen keine Tonausgabe mit deren Hilfe die SchülerInnen ihre Aussprache kontrollieren und entsprechend verbessern können. Das eingesetzte Lernprogramm beinhaltete diese Funktion. 4.4.6.2 Echte Hilfestellung ignorieren Auch „echte“, konstruktive Hilfestellung kann negative Konsequenzen haben. Wenn diese z. B. bewusst vom Arbeitspartner – z. B. aufgrund eines Konkurrenzempfindens überhört wird, und er sich hierdurch weigert, die Novizenrolle zu übernehmen. Die folgende Interaktionssequenz zeigt, wie eine Schülerin versucht, „echtes“ Wissen zu vermitteln. Die SchülerInnen wollen ihren gemeinsamen Text ausdrucken. Sin1: „Ja, ist o. k. 2mal - 3mal drucken!" Sin2: „Was?" Sin1: „Ja, 1mal für mich, 1mal für dich und 1mal für die Schule!" Sin1 bedient, S2 spricht laut: „3mal, Hä, das war 1mal!"
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
269
Sin1. „Das kommt schon (Richtung Drucker)." (Sie guckt dort lässt sich von S, der vor PC sitzt den Ausdruck geben, geht dann wieder zu PC, um nächsten Druck einzustellen, holt nächsten Druck ab, geht wieder zu PC.) Sin2: „Du könntest das ja gleich 2mal ausdrucken!" (Sin1 stellt wieder Druckoptionen ein.) Sin1: „Hab ich ja!" Sin2: „Du könntest das aber alles auf einmal ausdrucken!" (Sin 1 reagiert nicht, guckt zu Nachbarjungen.) Sin2: „Da müssen wir noch warten." Videotranskript 4.35: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Die Schülerin versucht ihrer Arbeitspartnerin zu vermitteln, dass es möglich ist, bei den Einstellungen der Druckeroptionen direkt drei Exemplare auf einmal zu drucken. Auf die Erklärversuche reagiert ihre Partnerin kaum und wählt den umständlicheren Arbeitsweg, jedes Exemplar einzeln zu drucken. Die mehrmaligen Hinweise ihrer Partnerin scheint sie absichtlich zu überhören. Als Ursache für das Ignorieren könnte infrage kommen, dass ihr entweder unklar ist, was ihre Partnerin meint, da sie die Funktion nicht kennt. Oder ihr ist es nur wichtig ist das Endziel „drei Exemplare zu drucken“ erfolgreich zu bewältigen, sodass sie ggf. auch einen langwierigeren Arbeitsweg in Kauf nimmt, sie also gar nicht das Bedürfnis nach Hilfestellung verspürt. Zudem wäre es möglich, das ein unterschwelliger Konkurrenzkampf zwischen den Mädchen herrscht und sie ihre Arbeitspartnerin nicht in ihrer Rolle als „Expertin“ anerkennen möchte. Durch ihr Ignorieren der Hinweise gibt schließlich Sin2 nach und hört mit ihren Erklärversuchen auf, die offensichtlich fehlgeschlagen sind. Sin1 behält durch ihr Ignorieren die Verhaltensdominanz, auch wenn der Wissensvorsprung in dieser Situation bei Sin2 liegt. Eine vorerst durch den Unterstützungsversuch von Sin2 kooperative Interaktionssequenz schlägt durch das bewusste Ignorieren dieser angebotenen Hilfe in ein eine Konkurrenzsituation um. Das Wissenspotenzial von Sin2 bleibt in dieser Situation ungenutzt. Inwieweit Sin1 doch „heimlich“ von Sin2 lernt, bleibt offen. 4.4.6.3 Unaufgeklärte Missverständnisse Eine weitere Ursache für ein gescheitertes Tutoring kann in unaufgeklärten Missverständnissen liegen: Zwei Grundschülerinnen formulieren eine E-Mail an ihre Partnerschule. Eine der Schülerinnen tippt, während die andere ihr den Text diktiert.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement Sin2 tippt, Sin1 will ihr die entsprechende Taste zeigen: „Da ist es!" Sin2 schiebt den Finger weg: „Lass!" und tippt weiter. (Sin1 setzt sich auf ihre Hände, guckt in die Kamera, dann auf den Bildschirm). Sin2: "Eh-Mail." Sin1. "IHHH-Mail!" Sin2: "EHH!! Strich E strich!" Sin1 (sitzt immer noch auf ihren Händen nickt mit Kopf Richtung Tastatur): „Ja, da!" Videotranskript 4.36: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
In dieser Sequenz greift die diktierende Schülerin, da sie die entsprechende Buchstabentaste schneller findet in die Tastatur ein, um den Schreibprozess zu beschleunigen. Die tippende Mitschülerin wehrt sich gegen diesen Eingriff und verteidigt so ihre Rolle als Tipperin und ihr „Arbeitsrevier“, in das Sin1 eindringen wollte. Für Sin1 scheint die Sachebene, das schnelle Bearbeiten der Aufgabe, im Vordergrund zu stehen, während Sin2 sich eher auf die Beziehungsebene, auf die Verteidigung ihrer „Macht“ in der Rolle als Tipperin, bezieht. Sin1 akzeptiert diese Abwehr und zieht sich direkt zurück, dieses wird körpersprachlich noch verstärkt, indem sie sich auf ihre Hände setzt, so als wollte sie sich selbst davor bewahren, noch mal in die Tastatur zu greifen. Der dabei stattfindende Blick in die Kamera kann aber auch bedeuten, dass sie diese ggf. als Kontrollinstanz empfindet und sich daher eher zurückzieht. In der weiteren Interaktion spricht Sin2 die –von der deutschen Lautsprache her richtige Schreibweise- Eh-Mail, was zeigt dass sie sich gedanklich mit der Rechtschreibung auseinandersetzt. Sin1 hingegen nimmt einen anderen Blickwinkel ein und nennt- die von der Aussprache her richtige Betonung „IHH-Mail“, woraufhin Sin2 wieder verbessert, indem sie die richtige Schreibweise betont. Sie ergänzt die Aussage diesmal noch um „Stich E strich!“, vermutlich will sie damit verdeutlichen, dass sie sich auf die Schreibweise bezieht. Sin1 scheint dies nachvollziehen zu können und gibt noch mal ihr o. k. mit dem verbalen Hinweis auf die Tastatur. Da es schwierig ist, ohne auf die Tastatur zu zeigen, deutlich zu machen, welche Taste sie meint, und sie nach wie vor auf ihren Händen sitzt, wird deutlich, dass sie sich selbst in ihre Schranken weist. Sie ist in dieser Interaktion die Nachgebende und Unterlegene. Es hätte in dieser Situation ein Tutoring stattfinden können, wenn sich Sin1 nicht zurückgezogen hätte, sondern darauf hingewiesen, dass sie sich auf die englische Aussprache und nicht auf die Schreibweise bezieht. Inwieweit den Schülerinnen dieser Unterschied zwischen der Schreibweise und Aussprache bewusst ist oder wird, bleibt offen. Es wird deutlich, wie wichtig eine Feedbackschleife für ein gelungenes Tutoring ist.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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4.4.7 Experteninszenierungen Es kann zwischen kooperativen Formen des Tutorings, die bereits vorgestellt wurden und Experteninszenierungen differenziert werden. Bei Experteninszenierungen liegt die Motivation der SchülerInnen nicht darin, MitschülerInnen bedürfnisorientiert zu unterstützen, sondern vielmehr einen eigenen potenziellen Wissensvorsprung zur Schau zu stellen. SchülerInnen können aber auch als Experten auftreten, wenn sie keinen echten Wissensvorsprung besitzen. In diesem Fall werden unterschiedliche Strategien eingesetzt, um nicht als PseudoExperte entlarvt zu werden26. Eine weitere Strategie besteht darin, eigenes echtes Wissen zu nutzen, um anderen zwar zu helfen, dieses aber zugleich geheim zuhalten, um den eigenen Wissensvorsprung nicht durch ein Aufholen der MitschülerInnen zu gefährden. 4.4.7.1 Hilfe aufdrängen Ein wichtiger Auslöser für das Tutoring ist eine hilfebedürftige Person, die ihre Bedürftigkeit entweder durch gezieltes Bitten um Hilfestellung kundtut und somit die Situation des Hilfegebens initiiert oder umgekehrt vielmehr der Hilfegebende seine Hilfe ungefragt und ohne offensichtlichen Hilfebedarf aufdrängt27. Hier steht nicht eine Orientierung an den Bedürfnissen des Arbeitspartners im Vordergrund, sondern vielmehr sich als Experte zu inszenieren. In den Videomitschnitten lassen sich einige Situationen finden, in denen sich SchülerInnen auf unerwünschte Weise in die Arbeitsweise von MitschülerInnen einmischen. Als in dem folgenden Ausschnitt die Lehrperson, die den SchülerInnen bei der Rechtschreibkontrolle hilft von anderen SchülerInnen abgelenkt wird und geht, versucht ein Mitschüler ihre Rolle einzunehmen und den Mädchen bei der Rechtschreibüberprüfung zu helfen: Eine Sin tippt (alleine) an einem Text. Sie schaut sich um (wartet wohl auf Mitschülerin). S (aus dem Hintergrund): „Hast du schon was geschrieben? (Sin nickt.) Danach komm ich auch, ich hab hier schon was! (anscheinend vorgeschrieben).“ Sin (in genervtem Ton): „Jaha!“ 26 Indem Lehrpersonen zwanghaft versuchen, die Rolle eines Wissensmonopolinhabers zu behaupten, inszenieren sich diese auch als (Pseudo-)Experten (vgl. Abschnitt 4.4.2.2. 27 Auch eine ungefragte Hilfe kann bei Hilfebedürftigkeit angemessen sein und vom Hilfeempfänger dankend angenommen werden.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement (Sin2 kommt hinzu, bringt vorgeschrieben Zettel mit, gibt ihn Sin1. Die Schülerinnen arbeiten gemeinsam. (...) Lin (kommt hinzu, guckt über die Schulter): „Guck mal (zeigt auf Bildschirm) da unterstreicht er immer. Guckt mal, was da anders sein müsste! (Die Schülerinnen verbessern den Fehler wortlos. Lin guckt noch eine Weile, geht dann vom Lärm der Nachbargruppe angelockt weiter. S kommt hinzu, guckt ihnen kurz über die Schulter.) S (bedient die Maus und Tastatur): „Das ist doch falsch! (Text zwischendurch unverständlich...) Und „aufgehängt" das ist auch ein falsches Wort, das habt Ihr falsch geschrieben. Guck mal, dann ist es rot unterstrichen. Hast du das gesehen?“ Sin1: „Ja, ist gut. (winkt ab).“ S: „Dann geh weiter.“ (Sin1 tippt weiter.) S (schlägt die Hände überm Kopf zusammen, ruft leicht panisch): „Nein!!“ (Sin1 verdreht die Augen und tippt weiter. Beide Schülerinnen ignorieren den Schüler, dieser steckt seine Hände in die Hosentaschen). S: „T, dann gehst du hier vor. (Er bedient die Pfeiltasten auf der Tastatur) – (Dann arbeiten die Schülerinnen kommentarlos weiter). Jetzt hast du es. Machst du ja auch gut. (Er geht wieder, die Mädchen würdigen ihn die ganze Zeit keines Blickes, lassen ihn aber am PC agieren).“ (Sin2 diktiert weiter, Sin1 tippt.) Fortgang der Interaktion s.u.
Als ein Motiv für die Intervention des Schülers könnte infrage kommen, dass er den Mädchen helfen möchte, damit sie schneller fertig werden, weil er nach ihnen an ihrem Rechner arbeiten möchte und anscheinend schon ungeduldig wartet („Danach komm ich auch, ich hab hier schon was!“). Seine Einmischung könnte also eine Art Okkupationsmaßnahme sein, um selbst schneller an den PC zu können. Seine Intervention als Hilfestellung wäre dann im Vergleich zur potenziellen Möglichkeit des „reinen Drängelns“ durchaus konstruktiv, so versucht er zu erklären, dass der Rechner durch rote Unterstreichung falsch geschriebene Wörter markiert („Guck mal, dann bleibt es rot unterstrichen“). Allerdings hat die Lehrerin zuvor fast den gleichen Hinweis gegeben, sodass zu erwarten ist, dass für die SchülerInnen dieser Rat überflüssig ist. Der Schüler scheint hier gewissermaßen die Lehrerin vertreten zu wollen. Er ist dominant, so greift er einfach ungefragt in die Tastatur ein, um das Wort zu verbessern, anstatt es die Mädchen selbst korrigieren zu lassen. Die Reaktion des Mädchens (Abwinken) zeigt, dass seine Hilfestellung unerwünscht ist und nicht benötigt wird, was ihn keineswegs irritiert. Im Gegenteil, durch ein panisches „Nein“Rufen versucht er sich noch mehr aufzudrängen. Doch auch dies scheint nicht die gewünschte Reaktion der Mädchen nach sich zu ziehen. Diese ignorieren ihn
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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einfach und zeigen nonverbal (durch Augenverdrehen) wie genervt sie von seiner Einmischung sind. Durch ihr Verhalten leisten sie passiven Widerstand und zeigen, dass sie ihn an dieser Stelle keineswegs in seiner Rolle als Hilfegeber anerkennen. Hierauf zieht sich der Junge kurzfristig zurück, indem er seine Hände in die Hosentasche steckt, um sich nach einiger Zeit wieder einzumischen („T“, dann gehst du hier vor“). Die Mädchen bestärken den Jungen zwar nicht verbal in seinem Verhalten, dadurch, dass sie ihn aber agieren lassen, scheinen sie ihn entweder im Stillen als Experte anzuerkennen oder sind einfach zu schüchtern, um sich aktiv (verbal) gegen die Einmischung zu wehren. Er erklärt zwar sein Vorgehen, bedient aber wieder ungefragt die Tastatur und drängt dadurch seine Hilfe auf. Die fehlende Anerkennung der Mädchen bewirkt anscheinend einen Strategiewechsel beim Schüler. So geht er dazu über, die Mädchen zu loben („Machst du ja auch gut“, “So jetzt habt Ihr es“), um ein positives Interaktionsklima herzustellen. Auf der anderen Seite stellt er so aber auch eine Hierarchie her, indem er sich anmaßt, über das Verhalten der Mädchen zu urteilen. Er versucht wohl wieder, eine Art Lehrerverhalten zu imitieren. Der Junge zieht sich zunächst aus der Interaktion zurück, entweder, weil er sich nicht genug als Experte anerkannt fühlt oder weil er davon ausgeht, dass die Mädchen nun erst einmal alleine klar kommen (Fortgang der Interaktion siehe Videotranskript 4.38). In dieser Interaktionssequenz dominiert die aufgedrängte und von den Mädchen unerwünschte Hilfestellung des Jungen, der seine Überlegenheit demonstrieren will. Seine Experteninszenierung gelingt vordergründig, da die Mädchen ihn agieren lassen, im Hintergrund zeigt sich aber, gerade auf der nonverbalen Ebene, ihre Ablehnung. Er missachtet die nonverbalen Signale und die Mädchen trauen sich anscheinend nicht, ihn klar zu verweisen. 4.4.7.2 Fluchtverhalten nach fehlgeschlagener Experteninszenierung Nach einiger Zeit kehrt der Junge (s. o.) wieder zu den Mädchen zurück, um ihnen über die Schulter zu schauen und sich wieder einzumischen. Sin2: „Mäppchen, mit b glaub ich.“ S: „Was macht Ihr? (Sinnen ignorieren S, nach kurzer Pause:) Mäppchen28 ist doch falsch!“ Sin1: „Ja, dann mach mal bitte richtig!“ 28 Leider ist der Bildschirm in der Videosequenz nicht zu sehen, so dass es offen bleibt, wie die SchülerInnen Mäppchen wirklich geschrieben haben.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement S (schnappt sich wieder die Maus, korrigiert mithilfe der Tastatur, aktiviert hierzu die Rechtschreibkontrolle): „So. Geh mal wieder zurück. Das ist es doch. Vielleicht mit „e". Meppchen.“ Sinnen (lachen): „Meppchen, vielleicht will er es so!“ S: „Nein, das ist es auch nicht. Was will denn der? Schreib mal wieder Mäppchen hin. (Tippt es doch selbst). So, jetzt gucken wir mal. (Er bedient die Maus). Akzeptiert er Mäppchen? (Er aktiviert die Rechtschreibkontrolle, die das Wort anscheinend nicht kennt, sondern Märchen vorschlägt.) Märchen?—Oh, Mann, dass doch richtig! Oh, mann leck mich! (S geht weg).“ Videotranskript 4.37: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Die Einmischung des Jungen. („Was macht Ihr?“) wird von den Mädchen zunächst wieder ignoriert. Erst als dieser einen konkreten Fehlerhinweis gibt („Mäppchen ist doch falsch“), reagieren die Mädchen. Sie scheinen sein Hilfeangebot erstmalig anzunehmen („Ja, dann mach mal bitte richtig!“), ggf. ist ihre Bemerkung auch ironisch gemeint, dass sie den Jungen vorführen möchten. Der Junge probiert nun zunächst eine neue Schreibweise aus, indem er das „Ä“ durch ein „E“ austauscht. Die Mädchen lachen über diesen Vorschlag, anscheinend gehen sie intuitiv davon aus, dass diese Schreibweise wohl eher falsch ist. Die Wahrnehmung des Computers als „gemeinsamer Chef“ führt dennoch zu einem Einvernehmen des Jungen und der Mädchen in der Reaktion auf den Computer. Sie versuchen erstmalig zusammen eine Lösung für die Rechtschreibung zu finden und amüsieren sich über die Reaktionen des Computers („Meppchen- vielleicht will er es so!“)29. Als der Junge merkt, dass er mit der Rechtschreibfunktion nicht helfen kann, bzw. diese ihn verwirrt, gibt er auf und verlässt die Situation. Sein Frust darüber, dass der Computer nicht die erwartete Unterstützung bietet und die Tatsache, dass er seine Expertenrolle nicht mehr aufrecht halten kann, veranlassen ihn schließlich zu einem Fluchtverhalten, er entzieht sich einfach der unangenehmen Situation.
29 Zur Interpretation dieses Abschnittes im Hinblick auf die Personifizierung des PCs vgl. Videotranskript 4.12.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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4.4.7.3 Überlegenheit demonstrieren In einigen Interviews mit (meist männlichen) Schülern finden sich Experteninszenierungen. So fällt in den Schülerinterviews aus der 3. und 4. Klasse im Fall „Lernprogramme“ auf, dass bei den offenen Fragen nur die Jungen antworten und sich die Mädchen von sich aus gar nicht äußern, obwohl je zwei weibliche und zwei männliche SchülerInnen an dem Gruppeninterview teilnehmen. Erst als die InterviewerInnen nach ungefähr der Hälfte des Gesprächs die Mädchen gezielt ansprechen und ihnen Fragen stellen, antworten diese. Es zeigt sich, dass sie daheim über keine eigenen Computer verfügen, sondern diese von männlichen Familienmitgliedern mitnutzen müssen. Diese Tendenz findet sich in allen Interviews (vgl. Kapitel 4.2). Im Gesprächsverlauf (Fall Lernprogramme) wirkt es, als ob die Jungen als stellvertretende Sprecher für ihre Klasse fungieren. Sie stellen sich als Experten dar, während sich die Mädchen zurückhalten. Im Interview betonen sie immer wieder ungefragt, über wie viel Computerwissen sie verfügen. Anscheinend bekommen sie dies auch von ihren Eltern vermittelt. In der Darstellung ihrer Computerkompetenzen neigen sie durchaus zu Übertreibungen, so vergleicht sich dieser Junge mit dem Microsoft-Gründer Bill Gates und glaubt auch jetzt schon (als Grundschüler) nahezu alles über Computer zu wissen: „Mein Vater sagt, ich sei sehr weit in Sachen Computer für mein Alter, ich sei ein kleiner Bill Gates, weil ich so ziemlich alles weiß, was man wissen muss.“ Zitat 4.160: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Er betont zudem, dass er bei Schwierigkeiten von einigen MitschülerInnen als Experte zurate gezogen wird: „Die (MitchülerInnen) ziehen dann halt entweder die Frau B. zu Rat, und die ist meistens fassungslos, oder manche fragen auch mich. Meine beiden Freunde z. B. kommen erst zu mir, wenn sie etwas nicht verstehen, bevor sie zu unserer Lehrerin gehen.“ Zitat 4.161: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Die Lehrerin ist aus Sicht des Schülers in Computerbelangen nicht als Hilfegeberin geeignet. Er erlebt diese als „fassungslos“ und mit der Situation überfordert30.. Sich selbst schreibt er hingegen selbstbewußt größere Computerkompetenzen zu als seiner Lehrerin (Fortgang des Interviews s.u.). 30 Diese Lehrerin scheint bei Schwierigkeiten dazu zu neigen, den Computer zu personifizieren, anstatt sachliche Ursachen zu suchen (vgl. Videotranskript 4.9, Videotranskript 4.10). Sie besitzt
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.4.7.4 Aufrechthalten der Expertenrolle durch Geheimhaltung von Wissen Im Fortgang des Interviews (s. o.) zeigt sich, wie sehr die Schüler es genießen, ihre Expertenrolle auch gegenüber der Lehrerin zu inszenieren, wenngleich die meisten SchülerInnen bei Schwierigkeiten zunächst die Hilfe der Lehrperson suchen: I: „Könnt Ihr denen (MitschülerInnen) denn dann auch manchmal helfen, wenn sie Schwierigkeiten haben? (Alle S: Ja.) Fragen die Euch dann auch richtig, oder trauen die sich dann eher nicht?“ S1: „Trauen nicht so. Die fragen dann immer unsere Lehrerin, und wenn die total verzweifelt ist, fragt sie schon uns. Das ist das Schöne. Wir haben ja dieses Lernprogramm, und das lässt sich nicht einfach so beenden mitten im Spiel. Das muss man ganz speziell beenden, und das versteht sie nicht.“ I: „Was passiert, wenn Ihr nicht weiter wisst?“ S1: „Dann ist die Klasse verloren.“ Zitat 4.162: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Wie kommt es, dass sich die MitschülerInnen nicht trauen diese Schüler um Hilfe zu bitten, wo doch eigentlich eine Kultur des gegenseitigen Helfens im Unterricht gefördert werden soll? Vermutlich haben sie Angst von diesen Schülern bloßgestellt zu werden. Der Wissensvorsprung wird von den Schülern anscheinend nicht im Sinne eines konstruktiven Helfens genutzt, sondern als Mittel zur Macht, um über MitschülerInnen und sogar die Lehrperson zu dominieren. Bei so einer konkurrenzorientierten Hilfestellung steht nicht der Lernzuwachs der PartnerInnen im Vordergrund, sondern vielmehr eine egozentrische Selbstinszenierung. So scheinen die Schüler MitschülerInnen und der Lehrerin bei ihren Hilfestellungen nicht vermittelt zu haben, wie sich ein Lernprogramm „ganz speziell“ beenden lässt. Es handelt sich bei dem Ausführen der einzelnen Handlungsschritte zum sicheren Beenden des Programms wohl um einfaches Verfügungswissen, dass auch leicht vermittelbar wäre. Erst durch die Unwissenheit der Lehrperson gewinnt dieses Verfügungswissen einen Expertenstatus. Durch die Strategie der Geheimhaltung von Wissen sichern sich die Schüler ihre Expertenrolle, die sie wahrscheinlich durch eine Weitergabe ihres Handlungswissens schnell verlieren könnten. Sie stellen die Lehrperson nicht nur als inkompetent dar, sondern betonen vor allem auch ihre Abhängigkeit von ihnen („das versteht sie nicht“, zudem selbst ein negatives Selbstbild in Bezug auf ihre Kompetenzen im Umgang mit dem Computer (vgl. Abschnitt 4.2.4) und scheint entsprechend eine große Unsicherheit auszustrahlen.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften
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„fragt sie schon uns“). Ihre Macht über sie scheinen die Schüler zu genießen („Das ist das Schöne“). Hier scheinen die in Abschnitt 4.4.2.2 beschriebenen Ängste unsicherer Lehrpersonen vor Autoritäts- und Kontrollverlust gegenüber ihren SchülerInnen durchaus berechtigt zu sein. Die Grundschüler inszenieren sich derart als Experten, dass sie ihr Vorhandensein als unverzichtbaren Bestandteil für das Gelingen des Unterrichts darstellen („Dann ist die Klasse verloren“)31. Wissensmenge
S1 Hilfe ohne Wissensfluss
S2
S1 Wissens- und Verhaltensdominanz bleibt bestehen
S2 Zeit
Abbildung 4.8: Hilfe ohne Wissensweitergabe Um einen Expertenstatus zu behaupten, wird nichts erklärt, sondern vielmehr ein Wissensvorsprung zur Schau gestellt. Das Motto „Wissen ist Macht“ wird im wahrsten Wortsinn zur Strategie. Es ist zwar im Sinne einer konstruktivistischen Lernumgebung, dass SchülerInnen teilweise als ExpertInnen auftreten. Wenn sie ihren Wissensvorsprung aber nicht weitergeben, sondern dazu ausnutzen, um Macht über andere auszuüben, wird eine Klassenkultur des erfolgreichen Teilens von Wissen behindert. Durch die Geheimhaltung von Wissen wird eine Machtund Wissensasymmetrie zwischen den Akteuren aufrechterhalten. Die schwächeren SchülerInnen, die nach Hilfe suchen, bleiben abhängig von der Hilfe des anderen. Sie werden durch die Hilfestellung eben nicht befähigt, demnächst ähnliche Probleme eigenständig zu bewältigen.
31 In Zitat 4.163 wird im Fortgang des Interviews auf die Reaktionen der MitschülerInnen auf diese Experteninzenierung eingegangen.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.4.7.5 Entlarven und Stärken von (Pseudo-)Experten MitschülerInnen und Lehrpersonen reagieren unterschiedlich auf Experteninszenierungen, so können diese sowohl entlarvt, als auch gestärkt werden (vgl. auch Abschnitt 4.4.1). Als ihr Mitschüler sich und seine Freunde in seiner Selbstdarstellung als unverzichtbare Experten für das Funktionieren des Unterrichts darstellt (wie das bereits analysierte Zitat 4.162 zeigt), lenkt interessanterweise eines der mitinterviewen Mädchen ein: I: „Was passiert, wenn Ihr nicht weiter wisst?“ S1: „Dann ist die Klasse verloren.“ Sin3: „Das ist aber noch nie passiert.“ S1: „Aber wenn, dann wäre die Klasse verloren.“ Zitat 4.163: SchülerInnen, Lernprogramme, Primarstufe
Das Mädchen schwächt die Selbstinszenierung des Jungen („Das ist aber noch nie passiert“) ab. Allerdings ist auch eine andere Interpretation der Aussage des Mädchens möglich, nämlich, dass sich ihre Aussage darauf bezieht, dass die Jungen bisher immer weiter wussten, in diesem Fall würde sie umgekehrt die Jungen in ihrer Expertendarstellung bestärken32. Der Junge behält das letzte Wort, indem er die angebliche Abhängigkeit der Lehrperson und MitschülerInnen als ein potenzielles Szenario darstellt. Hier spiegelt sich sein extremes Selbstbewusstsein wieder, da er sich nicht scheut, sich selbst (und seine Freunde) derart zu loben. Anscheinend will seine Peergroup innerhalb der Klassenkultur zumindest in Computerbelangen das Sagen haben. Der Junge exkludiert sich und seine Freunde vom Rest der Klasse, so sagt er, die Klasse sei verloren und nicht „wir“. Im später mit den Lehrerinnen des entsprechenden Schülers durchgeführten Interview wird es möglich, der Selbstwahrnehmung des Schülers als Experte die Fremdwahrnehmung durch die Lehrerinnen gegenüberzustellen: Lin1: „Der ist auch so, dass er gern rumprobiert. Er denkt, dass er alles kann.“ Lin2: „Wenn es dann wirklich um das Können geht, kann er manchmal doch nicht alles.“
32 Leider ist es nachträglich nicht mehr möglich herauszufinden, auf welche Aussage sich das Mädchen hier bezieht, so dass keine der dargestellten Interpretationen ausgeschlossen werden kannauch wenn sie jeweils auf gegensätzliche Phänome, nämlich Entlarven von (Pseudo-)Experten und/oder Stärken dieser hindeuten.
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Lin1: „Schon. Aber wenn es ein Problem gibt, dass die Kinder nicht rauskommen oder ein Programm hängt, dann können sie schon helfen.“ Lin2: „Weil sie weniger Angst haben – die haben einfach weniger Angst.“ Zitat 4.164: Lehrerinnen, Lernprogramme, Primarstufe
Die Lehrerinnen entlarven, dass einige der Schüler ihre Computerfertigkeiten oftmals überschätzen und dass der Schüler, der sich selbst als Experte darstellt, in entscheidenden Momenten anscheinend doch noch nicht über genügend Wissensressourcen verfügt. Dennoch hat Lin1 auch Situationen erlebt, in denen die Schüler durchaus kompetent helfen konnten, wie z. B. bei Programmschwierigkeiten. Die andere Lehrerin nennt als einen entscheidenden Grund, dass es diesen Schülern manchmal gelingt, Probleme zu beheben, deren geringe Angst. Sie spricht von „weniger“ Angst ohne das Vergleichsobjekt zu nennen, wahrscheinlich bezieht sie sich hier auf sich selbst oder auf das weibliche Geschlecht. Die Angst kann hier unterschiedliche Bezüge haben, wie Berührungsängste mit der Technik, Angst vor Kontrollverlust und /oder Angst vor Autoritätsverlust. Der folgende Interviewausschnitt verdeutlicht die konträren Einstellungen der zwei Lehrerinnen bzgl. des Erlebens von Schülern als Experten: Lin1: „Wenn ein Problem auftritt, da hole ich eher die Jungen ran, wenn ich keine Zeit habe das zu lösen. Ich sage dann: „Hol dir mal den D. oder M. – schau mal, ob die Dir helfen können." Lin2: „Die machen aber oft viel Mist. Die gehen in Bereiche rein, weil sie sich zu viel zutrauen. (...).“ Lin1: „(...). Z. B. meint ja S. auch, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben – die gehen in Sachen rein, da weiß ich selbst nicht mehr, wie ich da raus komme. (...) Der hat mir etwas verstellt. Es war von Anfang so, dass der PC sofort in die Lernprogramme ging. (...). Jetzt geht der mir in die Druckereinstellungen. Was weiß ich, wie er das gemacht hat. Ich kann es nicht zurückstellen und er auch nicht.“ Lin2: „Ruf seinen Vater an, dass er kommt und das wieder herstellt.“ Zitat 4.165: Lehrerinnen, Lernprogramme, Primarstufe
Lin1 stärkt Schüler in ihrem Expertenstatus, indem sie diese gezielt als Helfer in den Unterricht integriert. Sie spricht nur von Jungen, wodurch sie Schülerinnen keine Expertenrolle zuschreibt, sie betreibt hierdurch Doing Gender. Ihre Kollegin hingegen entlarvt Schüler als Pseudoexperten. Da sich die Jungen aus Sicht von Lin 2 „zu viel zutrauen“, probieren sie diverse Einstellungen in den Programmen aus, was u. a. dazu führt, dass Funktionen verändert werden und die unsicheren Lehrpersonen den Überblick verlieren. Ggf. handelt es sich hier um eine vorschnelle Unterstellung der Lehrerin, dass die Jungen denken, sie wüssten
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
was sie tun, so agieren diese vielleicht bewusst mit der Versuch- und IrrtumMethode, weil sie sich zwar viel trauen, nicht unbedingt aber zutrauen. Die Ausdrücke der Lehrerin „der hat mir etwas verstellt“ und “der geht mir in die Druckereinstellungen“ zeigen, dass sie das Handeln des Schülers auf sich selbst bezieht und als Eingriff in ihren Handlungsbereich erlebt. Sie erleidet durch den Übergriff einen Kontrollverlust, der irreversibel ist, denn sie kann das Problem alleine nicht beheben und auch die Schüler können ihre Einstellungen nicht mehr zurückstellen. Damit entlarvt sie auch das Pseudo-Expertentum, das mitunter auf Trial & Error beruht, als auf realen Wissensbeständen. Durch die Einrichtung von Sicherheitsprogrammen, die anscheinend teilweise schon installiert sind, bzw. durch das Einschränken von Benutzerrechten könnten derartige Programmeingriffe im Vorfeld vermieden werden. Der Problemlösungsvorschlag der Lehrerin, wie die durch experimentierfreudige Schüler verschobenen Rechnereinstellungen wieder hergestellt werden könnten, nämlich den Vater (und nicht die Mutter) eines Schülers zur Hilfe zu holen, verdeutlicht, wie sehr sie sich von männlichen Experten abhängig macht. Interessanterweise stammen nahezu alle Experteninszenierungen aus einem der untersuchten Unterrichtsfälle, nämlich dem Fall „Lernprogramme“. Daher drängt sich die Frage auf, welche Rahmenbedingungen existieren in diesem Projekt, die in den anderen nicht zu finden sind? Die Unsicherheit der Lehrerinnen im Umgang mit den digitalen Medien führt anscheinend dazu, dass sie sich von männlichen Computerexperten abhängig machen und einige Schüler diese Unsicherheiten ausnutzen, um eine Expertenrolle zu behaupten (Abschnitt 4.2.4). 4.4.8
„Bedürfnisorientierten Hilfe“ versus „Experteninszenierung“
Abbildung 4.9, die sich an das axiale Modell der Grounded Theory orientiert, stellt die beiden Hauptphänomene des (Peer-) Tutoring -die kooperative „bedürfnisorientierte Hilfe“ und die konkurrenzorientierte Strategie der „Experteninszenierung“- zusammenfassend gegenüber.
4.4 Interaktionsmuster: Lerngemeinschaften Die Interaktion wird symmetrischer, wenn S/ L die Rolle des Tutors und Novizen regelmäßig wechseln
Kooperation
Asymmetrie durch echten oder inszenierten Wissensvorsprung
Peer-Tutoring
Weitergabe von Wissen
Motivation
Anderen helfen, schnelle/ produktive gemeinsame Aufgabenbewältigung Institutionalisierung eines Schneeballsystems
Rahmenbedingungen
Interdependenz S können sich durch offene Unterrichtsform/ Computereinsatz Wissensvorsprung erarbeiten.
Strategien sich auf Experten berufen/ verlassen
Wissensweitergabe/ Nachwuchsförderung, damit eigenes Wissen von anderen weiter genutzt wird. Wissenszuwachs bei Hilfeempfänger wahrscheinlich Sozialkompetenz: schwächeren S helfen als Selbstverständlichkeit Schülerhilfe entlastet L S lernen zu lehren/ als Experten zu agieren Fehlgeschlagene Hilfe, weil sie inhaltlich falsch ist oder echte Hilfe ignoriert wird (geht Richtung Konkurrenz)
Die Interaktion wird symmetrischer, wenn S die demonstrierte Überlegenheit ignorieren oder Pseudoexperten entlarven
Konkurrenz Experteninszenierung Aufrechterhalten eines echten Expertenstatus oder als Pseudoexperte auftreten, Überlegenheit demonstrieren/ aufrechterhalten Unsicherheiten von L und S (Angst vor Autoritäts- und Kontrollverlust, L Bild des allwissenden Lehrmeisters) Angst durch Wissenspreisgabe Expertenstatus langfristig zu verlieren
Erbetenes Hilfegesuch erfüllen Bedürfnisorientierung durch Feedbackschleife, Erklärungen und Modelllernen
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Konsequenzen
Sich auf Experten berufen schafft Abhängigkeit , „Machtgefälle“ wird durch Stärkung des Expertenstatus aufrechterhalten
Geheimhaltung von Wissen um Expertenstatus aufrecht zu halten Überlegenheit demonstrieren durch aufgedrängte Hilfe Verkennen echter Experten Fluchtverhalten bei Gefahr der Aufdeckung von Pseudoexperten Hierarchien und Abhängigkeiten bleiben bei echten Experten durch fehlende Wissensweitergabe/ fehlendes Lernen bestehen S fühlen sich durch aufgedrängte Hilfe gestört, ignorieren die Experteninszenierung (s.o.) Pseudoexperten bleiben entweder unentdeckt oder werden entlarvt (s.o.) Echte Experten werden ignoriert, deren Hilfepotenzial nicht genutzt
Abbildung 4.9: „Weitergabe von Wissen“ versus „Experteninszenierung“
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.4.9 Funktion digitaler Medien in Lehr-/Lernkontexten Welche Rolle spielen digitale Medien in Lerngemeinschaften? Zum einen können sie eine Tutorenfunktion übernehmen, wie dies bei der Verwendung von Lernprogrammen oder bei der Aktivierung der Rechtschreibkontrolle der Fall ist (vgl. Abschnitt 4.1.1). Es wurden bereits zwei Einflussfaktoren des Computers als Tutor näher beschrieben, so bietet der Computer als emotionslose Maschine gerade schwächeren SchülerInnen die Möglichkeit selbst Fehler zu korrigieren, ohne dass diese zur Schau gestellt werden (vgl. Abschnitt 4.3.1). Der Computer kann allerdings auch als „allwissende Hoheit“ und undurchschaubares Objekt wirken. Wenn die SchülerInnen diesem eine Art Übermacht zuschreiben, kann dies ihr selbst gesteuertes Lernen blockieren, da die Verantwortung für das Lernen symbolisch an den Computer abgetreten wird (vgl. Abschnitt 4.3.2 und 4.3.5). Wenn das „Verhalten“ des Computers als inkompatibel zu den eignen Bedürfnissen erlebt wird, wird dieser zu einem Gegenspieler (vgl. Abschnitt 4.3.4). Digitale Medien unterstützen ein individualisiertes Lernen, indem die SchülerInnen selbst Schwerpunkte setzen und sich selbst gesteuert Wissen aneignen können (vgl. Abschnitt 4.1.1 a, b). Eine Gefahr der selbst gesteuerten Informationsrecherche im Internet liegt in dem Ablenkungspotenzial, so gehen z. B. einige SchülerInnen unterrichtsexternen, privaten Interessen nach (Zitat 4.116, Zitat 4.118). Außerdem besteht die Versuchung recherchiertes Wissen oder in Lernprogrammen die Lösung einfach unreflektiert zu übernehmen (Zitat 4.115, Zitat 4.119). Digitale Medien können zudem als Mindtool wirken. Im Fall SelMa unterstützt so u. a. die Möglichkeit zur grafischen Ergebnisdarstellung und im Wirtschaftsprojekt das Programm Excel neue Methoden der Wissensaneignung (vgl. Abschnitt 4.1.1e). Über die Möglichkeit zur Informationsrecherche im Internet können die SchülerInnen sich selbst Wissen aneignen und sich somit auf bestimmten Gebieten einen Expertenstatus erarbeiten. Dadurch, dass SchülerInnen im Vergleich zu den Lehrpersonen oft viel früher Erfahrungen im Umgang mit dem Computer gemacht und sich entsprechende Kompetenzen angeeignet haben, besitzen sie gerade hier oft einen Wissensvorsprung. Sie können so gegenüber ihren Lehrpersonen, die zeitweilig zu (Mit)lernenden werden (vgl. Zitat 4.82, Zitat 4.92, Zitat 4.93, Zitat 4.94), als Experten auftreten. Da gerade Schüler im Vergleich zu MitschülerInnen oft über mehr Computererfahrungen sowie positivere Selbstbilder im Hinblick auf ihre Computerkompetenzen verfügen (vgl. Abschnitt 4.2.1), wird hierdurch ihre Rolle als Experten, aber auch Experteninszenierungen (vgl. Abschnitt 4.4.7) mitbedingt.
4.5 Interaktionsmuster: Forschungs- und Produktionsgemeinschaften
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Lehrpersonen haben dadurch, dass die digitalen Medien ihnen einen Teil ihrer Tutorenrolle abnehmen, mehr Spielräume frei, sich z. B. um schwächere SchülerInnen zu kümmern und im Hintergrund als Berater und Facilitator zu fungieren (vgl. Abschnitt 4.4.3). Als Facilitatoren gestalten sie auch selbst die Lernumgebung, in der die digitalen Medien eine zentrale Rolle übernehmen. Gerade das Einnehmen der Rolle von Facilitatoren kann stark durch den Medieneinsatz, der offene Lernformen und ein selbst gesteuertes Lernen der SchülerInnen begünstigt, unterstützt werden. Der Einsatz digitaler Medien unterstützt die Bearbeitung fächerübergreifender Aufgaben, die auf unterschiedliche Fertigkeiten zielen. Da z. B. Methodenkompetenzen und technische Fertigkeiten im Umgang mit dem Computer meist ungleich auf die SchülerInnen verteilt sind, zielen die Aufgaben auf eine Interdependenz, sodass sich die Rollen von Experten und Novizen ständig wechseln können (vgl. Zitat 4.156, Zitat 4.157).
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.5 Interaktionsmuster: Forschungs- und Produktionsgemeinschaften In allen untersuchten Fällen (außer im Fall „Lernprogramme“) bilden die SchülerInnen Forschungs- und/oder Produktionsgemeinschaften (vgl. 2.3.5). Sie recherchieren z. B. im Internet zu bestimmten Themen und generieren im Austausch mit anderen gemeinsam (neues) Wissen. Dem Einbringen individueller Wissensressourcen folgt eine sachliche und soziale Aushandlung im Sinne einer gemeinsamen Wissensgenerierung und Konsensfindung. Forschungsgemeinschaften streben eine Wissensgenerierung an und Produktionsgemeinschaften eine Wissensrepräsentation. Es handelt sich hierbei also wie bereits in Abschnitt 2.3.5 dargelegt, um zwei getrennte Wissensmanagementprozesse, die in der Praxis allerdings oft zusammenfallen, wie in den untersuchten Fällen Medien- und Wirtschaftsprojekt, sowie im Fall „Freier Einsatz Neuer Medien“. Im Fall SelMa finden sich nur Forschungsgemeinschaften und im Märchenprojekt vor allem Produktionsgemeinschaften. Angestrebt wird z. B. im Märchenprojekt die Veröffentlichung („Produktion“) eines gemeinsamen Buches, das im internationalen Austausch mit anderen Schulen in verschiedene Sprachen übersetzt wird. Das Wirtschaftsprojekt zielt u. a. auf die Entwicklung einer eigenen Firmenkonzeption, die externen Partnern aus der Industrie und Wirtschaft in einer abschließenden PowerPoint-Präsentation vorgestellt wird. In der Medien-AG werden u. a. Homepages und Filme erstellt. Auch klassenintern stellen sich die SchülerInnen oftmals wechselseitig ihre Ergebnisse vor oder sie produzieren selbst Aufgaben und wichtige Fragen, die ihre MitschülerInnen und/oder externe Partner bearbeiten33. Das Einnehmen der Forscherperspektive sowie die Generierung und -repräsentation von Wissen sind oftmals eng miteinander verbunden. Neben einer inhaltlichen Dimension der Aufgabenbewältigung müssen die SchülerInnen ihre Arbeitsprozesse untereinander koordinieren. Besonders in zwei Fällen agieren die SchülerInnen weitgehend selbstständig als Forschungs- und Produktionsgemeinschaften: Im Medien- und Wirtschaftsprojekt teilen die SchülerInnen das Gesamtprojekt in Arbeitsbereiche ein, zu denen sich dann jeweils verschiedene (Experten-) Gruppen bilden. Zu Beginn der Projektarbeit müssen Gruppenziele festgelegt und Arbeitsrollen/Aufträge verteilt werden. Diese Projektkoordination kann sowohl symmetrisch erfolgen, indem die Gruppenmitglieder gemeinsam aushandeln, wer welchen Part übernimmt oder auch asymmetrisch, indem vor allem die Lehrperson oder ein/e bis mehrere SchülerInnen diese Aufgabe übernehmen. In der Praxis finden sich oft Mischformen. Doch auch in den anderen Projekten 33 Vgl. hierzu die Falldarstellungen in Kapitel 3.3.
4.5 Interaktionsmuster: Forschungs- und Produktionsgemeinschaften
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müssen die Arbeitsrollen verteilt und ausgehandelt werden. In diesem Kapitel werden die unterschiedlichen Interaktionsmuster der Arbeitsteilung und Wissensgenerierung vorgestellt. Obwohl sich im Fall Lernprogramme keine Forschungs- und Produktionsgemeinschaften bilden, wird auch dieser hier analysiert, denn viele der hier behandelten Interaktionsmuster (z. B. der Arbeitsteilung) finden sich nicht nur im speziellen in Forschungs- und Produktionsgemeinschaften, sondern in jeder Form der gemeinsamen Aufgabenbearbeitung. Dennoch nimmt der Fall Lernprogramme hier einen Sonderstatus ein, da er weniger auf eine Wissensrepräsentation oder –generierung zielt, sondern vielmehr auf eine Wissensnutzung. In diesem Kapitel werden die interaktionalen Strategien der SchülerInnen im Hinblick auf stattfindende Groundingprozesse und auf die Art und Weise der Arbeitsteilung, die sowohl mengen-, als auch ressourcenorientiert erfolgen kann, analysiert. Während unter dem Grounding und der Konsensbildung Aushandlungsprozesse schwerpunktmäßig unter fachlich-inhaltlichen Aspekten analysiert werden, liegt der Fokus bei der Arbeitsteilung auf der organisatorischen Ebene, wenngleich in der Praxis beide Ebenen verschwimmen. Eine Analyse der Daten zeigt, dass auf der Beziehungsebene vor allem ausgehandelt wird, wer jeweils die Verhaltens- bzw. Wissensdominanz behauptet. Dies beeinflusst wiederum die Interaktionsprozesse auf der Sach- und Organisationsebene. In der Praxis verschwimmen die drei Ebenen, wenngleich sie in den Aushandlungsprozessen jeweils unterschiedlich fokussiert werden34. Um Konkurrenz, Revier- und Machtkämpfe handelt es sich, wenn zwei bis mehrere SchülerInnen die Verhaltens- und/ oder Wissensdominanz unter Ignorieren der Bedürfnisse der ArbeitspartnerInnen behaupten wollen. Hierarchische Muster entstehen, wenn ein oder mehrere SchülerInnen als Leithandelnde erfolgreich die Wissens- und/ oder Verhaltensdominanz behaupten. Wenn die anderen Gruppenmitglieder die Rolle von Mitläufern oder gar Trittbrettfahrern einnehmen, ist das Machtgefälle besonders hoch. Um eine symmetrische Interaktion handelt es sich, wenn sich die Wissens- und Verhaltensdominanz relativ gleichberechtigt auf die einzelnen Gruppenmitglieder verteilt bzw. sich diese in ihren Kompetenzen ergänzen, indem z. B. jede/r auf einem Spezialgebiet als Experte agiert (vgl. Abbildung 2.9). Eine andere Möglichkeit ist, dass sich ein gleichberechtigtes Arbeiten in regelmäßigen Rollenwechseln (z. B. Gruppenführer, Tipper, Diktierer) niederschlägt.
34 Siehe hierzu Abbildung 2.5 .
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Abbildung 4.10 gibt einen Überblick über die skizzierten Interaktionsmuster der Forschungs- und Produktionsgemeinschaften, die in diesem Kapitel behandelt werden.
Forschungs- und Produktionsgemeinschaften
Arbeitsteilung/ aushandlung
Ressourcenorientiert
Mitläufer/ Trittbrettfahrer
Konsensbildung Grounding
Mengenorientiert
Asymmetrisch/ hierarchisch
Leit- und -Ko-Handelnde: Experte-Gruppe Gruppenführer-Gruppe
Wissens- und Verhaltensdominanz
Symmetrisch/ komplementär
(A-)symmetrisch/ konkurrenzorientiert Konkurrenz- Machtund Revierkämpfe
Gleichberechtigte Zusammenarbeit
Abbildung 4.10: Forschungs- und Produktionsgemeinschaften
4.5 Interaktionsmuster: Forschungs- und Produktionsgemeinschaften
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4.5.1 Arbeitsteilung Neben einer inhaltlichen Aushandlung zur Bewältigung der gemeinsamen Aufgaben müssen sich die SchülerInnen auf der Koordinationsebene über ihre Arbeitsteilung verständigen. Im Folgenden werden die Rollenaushandlungen der SchülerInnen, die zu einer isolierten, mengen- oder ressourcenorientierten Arbeitsteilung führen, dargestellt. Im Hinblick auf die Arbeitsteilung scheint insbesondere die Art der Aufgabe als wichtige Rahmenbedingung zu wirken. Eine „echte“ Gruppenaufgabe zielt darauf, dass die SchülerInnen zu derer Bewältigung möglichst aufeinander angewiesen sind. Beim Abtippen von Texten kann zwar einE SchülerIn die Rolle des Tippers und der/die andere die des Diktierers einnehmen und den anderen so unterstützen, aber der Grad der wechselseitigen Interdependenz ist eher gering. Die Videosequenzen belegen in der Phase des Abtippens vielfältige Interaktionsmuster. So tippen einige SchülerInnen mehr oder weniger alleine, während sich der Arbeitspartner langweilt und /oder sich ablenken lässt. Es handelt sich dann vielmehr um Einzelarbeit, da der Arbeitspartner kaum in das Arbeitsgeschehen involviert ist. S2 tippt, S1 lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, nimmt Schlafhaltung ein. Videotranskript 4.38: Schüler, Märchenprojekt, Primarstufe
Unabhängig von einer verbalen Aushandlung teilen sich einige SchülerInnen auch nonverbal- im gegenseitigen Einvernehmen die Bedienung des Computers. Zwei Schüler arbeiten gemeinsam am PC. Obwohl die Maus "normal" auf der rechten Seite angeschlossen ist, bedient sie der links sitzende Schüler, sodass sein Arm direkt vor dem Oberkörper des anderen ist. Videotranskript 4.39: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Die Schüler scheint es nicht zu stören, dass sie sich eigentlich aufgrund der ungünstigen Sitzposition gegenseitig behindern. Ein Platzwechsel würde die Bedienung sehr vereinfachen. Es ist anzunehmen, dass die beiden Schüler eng miteinander befreundet sind, sodass trotz der ungünstigen Anschlüsse keine Revier- oder Machtkämpfe (vgl. Abschnitt 4.5.4) entstehen. Auch die folgenden beiden Schüler arbeiten nonverbal sehr eng zusammen: Es steht nur ein Stuhl vor dem Monitor. S1 sitzt dort und tippt, S2 steht. S1: „Jetzt schreib ich, dann kannst du!" (Er tippt, der andere tippt regelmäßig mit, wenn er eine Taste vor S2 entdeckt, S1 scheint das nicht zu stören.)
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement Lin (im Vorbeigehen zu S2): „Willst du dir nicht einen Stuhl holen, dann schreibt es sich besser?" S2: „Nein, wir teilen uns einen Stuhl!" Lin: „Ihr teilt euch einen Stuhl!" S2: „Ja!" Videotranskript 4.40: Schüler, Märchenprojekt, Primarstufe
Obwohl S1 verbal auf ein abwechselndes Tippen hinweist, duldet er in seiner Rolle als Tipper die regelmäßigen Eingriffe seines Arbeitspartners. Diese scheint er weniger als Störung, sondern vielmehr als unterstützend wahrzunehmen. Die Arbeitsteilung zwischen den Schülern findet verstärkt auf der nonverbalen Ebene statt, wobei einer offiziell in der verbalen Aushandlung die Rolle des Tippers einnimmt, die der andere durch seine Tastatureingriffe als Ko-Handelnder stützt. Ob Tastatureingriffe als Störung („Eingriffe in das eigene Arbeitsrevier“) oder als unterstützend geduldet werden, scheint vor allem von der individuellen Wahrnehmung und der Beziehung zwischen den SchülerInnen abzuhängen. Es wird angenommen, dass diese beiden Schüler gut miteinander befreundet sind. Die Schüler besitzen gerade in offenen Unterrichtsformen die Freiheit, ihre Arbeitsweise und Arbeitsteilung selbst zu bestimmen, so lehnen die Schüler den Vorschlag der Lehrerin, einen weiteren Stuhl hinzuzuholen, ab. 4.5.1.1 Mengenorientierte Arbeitsteilung Ein Interaktionsmuster der SchülerInnen ist die mengenorientierte Arbeitsteilung, d. h., das die SchülerInnen ihre Arbeitsrollen nach bestimmten, meist vorher vereinbarten Zeit- oder Mengenangaben wechseln. Diese ist mit einer gleichberechtigten Zusammenarbeit eng verbunden. Ein gleichberechtigtes Arbeiten ist allerdings nicht mit Kollaboration gleichzusetzen, da es sich auch um klar voneinander abgegrenzte Aufgabenbereiche handeln kann, bzw. um Arbeitsteilungen, die keine großen Austauschprozesse erfordern. Gerade in dem Projekt, in dem Lernprogramme eingesetzt werden, die eigentlich wohl eher für Einzelarbeit konzipiert wurden, arbeiten die Schüler in einem mengenorientiertem Wechsel: Zwei Schüler bearbeiten ein Englischprogramm, bei dem sie u. a. Bildern Begriffe zuordnen sollen, zudem sollen sie die Begriffe auch laut aussprechen. Bisher haben sich die Schüler bei der Aufgabenbearbeitung immer abgewechselt. S2: “There is a nose.”
4.5 Interaktionsmuster: Forschungs- und Produktionsgemeinschaften
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S1 (fasst sich an seine Nase, hält sie dabei zu): „Meine Nose (richtig ausgesprochen). „Meine Nose (falsch ausgesprochen).“ (Er lacht und setzt sich die Kapuze seines Pullis auf). S2 (lacht kurz mit, wendet sich dann wieder der Aufgabe zu): „There is a lady.“ S1: „Ey, Mann jetzt darf ich auch zweimal, jetzt hast du zweimal gemacht!“ S2: „Ich hab erst einmal gemacht, du warst gerade.“ S1 (zeigt auf Bildschirm): „Doch du warst! Du hast das und das gemacht: There is a nose. Jetzt bin ich! - There is a door.” Videotranskript 4.41: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Diese Sequenz zeigt, dass es den Schülern sehr wichtig ist, ein abwechselndes Bearbeiten penibel umzusetzen. Der humorvolle Einwand von S1 zu dem Zuordnungsbild der Nase stiftet bei S2 Verwirrung, sodass er zwei Aufgaben hintereinander löst. S2 thematisiert daraufhin, dass S1 somit gegen die vereinbarte Regel der abwechselnden Bearbeitung verstößt. Ein abwechselndes Bearbeiten der Aufgaben zielt vor allem auf eine formale Gerechtigkeit. So thematisieren die beiden Schüler ganz genau, wer welche Aufgabe bewältigt hat, wobei jeder Schüler dafür kämpft, dass er auch zu seinem ihm zustehenden Recht kommt. Die Schüler versuchen so, die Dichotomie zwischen der „Stärkung der eigenen Person“ auf der einen Seite und einer „Stärkung der Zusammenarbeit“ auf der anderen Seite aufzulösen. Nachdem die Schüler das Programm absolviert haben, bearbeiten sie es freiwillig ein zweites Mal. S1: „Machen wir am besten alles umgekehrt.“ S2: „Ja!“ S1: „Show me the ring.—Bei mir ist immer dasselbe.“ S2: “Show me the fire.” S1. „Das hatte ich, jetzt hast du es.“ (Sie arbeiten weiter und kommentieren jedes Mal, wer im ersten Durchlauf welche Aufgabe hatte.) Videotranskript 4.42: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Wieder nimmt die Aufgabenkoordination einen hohen Stellenwert in der Kommunikation zwischen den Schülern ein, ein weiter Beleg dafür, wie wichtig ihnen die formale Gerechtigkeit ist. In dieser Sequenz spielt auch der Lernaspekt in der Aufgabenverteilung eine Rolle, so ist es den Schülern sehr wichtig, zu kommentieren, wer von ihnen im ersten Durchgang welche Aufgabe bewältigt hat. Ihre mengenorientierte, abwechselnde Arbeitsteilung scheint aufgrund der zufälligen Aufgabenauswahl des Lernprogramms durcheinander zu geraten, bzw. nicht mehr ganz stimmig zu sein, wie ihre Kommentierungen zeigen. Dennoch
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
ziehen sie aus ihren Kommentaren keine Konsequenzen, wie eine Veränderung der Arbeitsteilung oder die Vereinbarung einer neuen Regel, wie z. B. “jeder macht die Aufgabe, die er im ersten Durchgang noch nicht hatte“. Dies wäre nahezu identisch mit zwei separaten Durchgängen in Einzelarbeit, die aufgrund des Wegfalles der Thematisierung, wer welche Aufgabe zu lösen hat, zeitlich wohl effektiver wäre. In der Einzelarbeit könnte anderseits aber kein gegenseitiges Monitoring stattfinden, aus dem Tutoringprozesse hervorgehen können (z. B. ein gegenseitiges Verbessern der Aussprache). Das Lernprogramm scheint bedingt für die Partnerarbeit geeignet. Die folgenden zwei Grundschülerinnen, die gemeinsam vorgeschriebene Märchentexte abtippen, organisieren den Rollenwechsel Tipperin-Diktiererin mengenbasiert: Sin1: „O. K. jetzt bin ich dran, jeder zwei einzelne (Sätze)." (Beide lesen zur Überprüfung den letzten Satz am Monitor). Sin2 (bedient dabei Maus): „Aber guck mal!" Sin1: „Alles bloß zweimal." Sin2: „Aber wir hatten irgendwie auch schon längere!" (Scrollt mit Maus nach oben). Sin1. „Siehste jetzt hast du es kaputt gemacht! Jetzt musst du da hoch gehen (zeigt auf Bildschirm). Wir können ja noch einen machen." (...) Sin2 schreibt Wort noch in Ruhe zu Ende. Sin1: „Genau, jetzt komm ich dran!" Sin2: „Ja!" (Sin2 übernimmt das Märchenheft, rückt ein wenig zur Seite, sodass Sin1 die Tastatur übernehmen kann.) Videotranskript 4.43: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Obwohl die Schülerinnen anscheinend schon zu Beginn der Interaktion ausgehandelt haben, dass sie sich nach jeweils zwei getippten Sätzen abwechseln, wird ihre Regel noch einmal im Hinblick auf den Gerechtigkeitsaspekt überprüft. Beide Schülerinnen möchten gerne die Tipperrolle übernehmen, als Sin1 ihr Recht einfordert, kontert Sin2 auf der Sachebene damit, dass doch die jeweiligen Sätze unterschiedlich lang seien, sodass ihre vereinbarte Regel (abwechselndes Tippen der Sätze) demnach ungerecht wäre. Auf diese Weise schafft sie es, Sin1 zu überzeugen, noch eine Weile länger tippen zu dürfen. Danach wird von beiden im Einvernehmen der Rollenwechsel vorgenommen. Die vorgestellten Videosequenzen zeigen, dass die SchülerInnen eine mengenorientierte Rollenaushandlung mit dem Ziel vornehmen, eine formale Gerechtigkeit zwischen ihnen herzustellen. Bereits vereinbarte Regeln können
4.5 Interaktionsmuster: Forschungs- und Produktionsgemeinschaften
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u. U., wenn sie in der jeweiligen Situation unangemessen erscheinen, neu ausgehandelt werden. Derartige Aushandlungsprozesse betonen vor allem die Beziehungsebene und bergen - besonders wenn sie in Machtkämpfe (vgl. Abschnitt 4.5.4) umschlagen, die Gefahr, zulasten einer Ziel- und Aufgabenorientierung zu gehen. Eine Schülerin erzählt im Interview, wie sie sich mit ihrer Freundin das Zehnfingersystem aufgeteilt hat. Sie haben, indem jede die Bedienung einer Tastaturseite übernimmt, jeder ein Arbeitsgebiet zugeordnet und auf diese Weise eine „revier“-orientierte Arbeitsteilung umgesetzt. „Ich habe mir (die Tastatur) mal mit meiner Freundin geteilt und ich habe die und sie die andere Hälfte gemacht.“ Zitat 4.166: Schülerinnen, Medienprojekt, Sek. I
Das enge Zusammenarbeiten scheint den SchülerInnen sehr wichtig zu sein, sodass sie sich eine in der Umsetzung wohl eher schwierige Aufgabenteilung überlegt haben, die wieder vor allem auf eine formale Gerechtigkeit zielt. Zum anderen schlägt sich in dieser Aushandlung wieder der Freiheitsgrad und auch die Kreativität der SchülerInnen nieder, die selbstbestimmt ihre gemeinsamen Arbeitsweisen entwickeln und umsetzen. 4.5.1.2 Ressourcenorientierte Arbeitsteilung Für einige (wenige) SchülerInnen ist nicht entscheidend, dass alle gleich viel oder oft tippen, sondern dass der-/diejenige den Part übernimmt, der/die die Aufgabe besser bewältigen kann. Diese Schülerinnen betonen weniger den Aspekt, dass beide ungefähr das gleiche machen, sondern vielmehr, dass sie z. B. die Tipp-Aufgabe schnell und effektiv, also zielorientiert absolvieren. In dem folgenden Beispiel übertragt Sin2 ihrer Partnerin die Tipper-Rolle, da sie diese für kompetenter hält. Diese wehrt sich zwar gegen diese Zuschreibung, übernimmt aber dennoch die Tippaufgabe. Sin2: „Willst du das schreiben? Du bist schneller!“ Sin1: „Hmmh („verneinendes Lachen"), ja, ich bin schneller!– Ja, aber ich kann schreiben.“ (Schülerinnen wechseln die Plätze, sodass nun Sin1 an der Tastatur sitzt.) Videotranskript 4.44: Schülerinnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
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Bisher wurde im Hinblick auf eine Aufgabenverteilung vor allem auf die Koordination des Abtippens von Texten eingegangen. Auch wenn es SchülerInnen gibt, die schnell oder langsam tippen, kann die Tastaturbedienung problemlos von jedem übernommen werden, da hierzu wenig Spezialwissen nötig ist. Einige Projekte, wie insbesondere das Wirtschafts- und Medienprojekt zielen aber vor allem auf eine inhaltliche Spezifizierung der SchülerInnen. Die Aufgaben werden ressourcenorientiert verteilt, wobei die SchülerInnen die Aufgaben eigenständig im Hinblick auf ihre Kompetenzen und Interessen aufteilen. Grundlage für diese Aushandlungen sind die Selbsteinschätzungen der SchülerInnen und deren Gruppenaushandlungsprozesse. Der Lehrer des Wirtschaftsprojektes überträgt den SchülerInnen bewusst die Aufgabe der Arbeitskoordination, die diese ressourcen- und interessenorientiert vornehmen. Hier wirkt besonders die Beschaffenheit des Wirtschaftsprojekts als Rahmenbedingung, da in diesem ganz unterschiedliche -von wirtschaftlichen und mathematischen bis hin zu medientechnischen- Aufgaben bewältigt werden müssen, die auf eine breite Vielfalt von Kompetenzen zielen. Die SchülerInnen handeln selbst gesteuert untereinander aus, wer welchen Part übernehmen soll: „Der eine geht lieber mit Zahlen um, der andere befasst sich lieber mit der Historie eines Unternehmens. Der Letzte hat irgendwelche Zukunftsvisionen oder will den Ausblick bei der Präsentation vielleicht übernehmen. Das kristallisiert sich natürlich am Anfang dieser Gruppenarbeit in einem gruppendynamischen Prozess schon heraus. Also ich habe es bislang eigentlich nicht erlebt, dass ich da jetzt rigide eingreifen müsste (...). Das haben die Schüler eigentlich relativ schnell selber immer herausgefunden.“ Zitat 4.167: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Den Lehrpersonen des Wirtschaftsprojektes ist es wichtig, möglichst heterogene Gruppenmitglieder zusammensetzen, um gleichstarke Gruppen zu bilden: In jede Gruppe wurde einE guteR SchülerIn und einE Computerexpertin integriert, um eine möglichst optimale Arbeitsatmosphäre herzustellen. Zum anderen müssen auch die sozialen Rahmenbedingungen, wie potenzielle Antipathien, die störend auf den Gruppenprozess einwirken könnten, beachtet werden. „(Wir) haben nach guten Schülern geguckt, um einen davon in jede Gruppe zu setzen. Dann haben wir geschaut, wer Ahnung von Rechnen hat und haben einen davon dareingesetzt, weil das einfach entlastet, wenn da jemand ist, der sich im Umgang mit Rechnern gut auskennt. Die anderen haben wir dann so verteilt. Wir versuchen im Vorfeld schon bei der Gruppeneinteilung, zum einen möglichst gleichstarke Gruppen zu bekommen und zum anderen muss man schauen, dass in
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der Gruppe kein sozialer Zündstoff drin ist, wenn z. B. zwei Schüler gar nicht miteinander klarkommen.“ Zitat 4.168: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Auch in der Medien-AG gibt es Aufgaben aus den vielfältigsten Fachbereichen, von der Homepageerstellung bis zum Entwickeln, Umsetzen und Zusammenschneiden von Moderationen, zu bewältigen. In den unterschiedlichen Spezialgebieten bilden sich Experten, die einzelne Aufgaben anscheinend weitgehend alleine bewältigen, während z. B. Recherchetätigkeiten gemeinsam als Team vorgenommen werden: Sin1: „Wir schreiben mit den Computern unsere Texte für die Moderationen oder so. Dann basteln wir uns unsere Computer teilweise selber zusammen. Oder wir machen Audioschnitt mit den Computern. (...).“ S1: „Videoschnitt, dann HTML-Bearbeitung.“ I: „Machen das denn immer grundsätzlich alle Schüler?“ Sin1: „Es ist aufgeteilt bei uns. Wir haben ette da drüben, also der S1, der kennt sich so am meisten mit dem PC und dem Audioschnitt aus. Und die anderen schreiben halt die Texte. Die Recherche machen eigentlich schon alle zusammen. (...).“ (...) I: „Ist das allgemein so, dass ihr hier im Unterricht so eine Aufgabenverteilung habt, dass jeder das macht, wo er so Experte ist für irgendwas.“ Sin1: „So ungefähr ja.“ Zitat 4.169: SchülerInnen, Medienprojekt, Sek. I
Die Aufgabenverteilung wird eigenständig und selbstverantwortlich zwischen den SchülerInnen aufgeteilt und erfolgt sowohl ressourcen- als auch interessengeleitet. Innerhalb der Gruppe zeichnet sich besonders ein Computerexperte ab (S1): S2: „S1 macht eigentlich die ganzen Sachen, die am PC gemacht werden. Irgendwelche Seiten erstellen oder irgendetwas schneiden...“ (...) S2: „Ich sage mal, wir haben uns da nicht so richtig mit beschäftigt, um das zu lernen oder so. Ich saß da mal daneben und habe mir das angeguckt. Ich müsste mich da wahrscheinlich eine halbe Stunde bis Stunde da reinhängen, bis ich das geschafft habe. Ich bin jetzt gerade dabei, Homepages zu erstellen. Da saß ich gestern auch zwei Stunden. Mit Hilfe. Da ist schon einiges zu tun.“ S2: „Meistens gibt es dann auch so von einigen Personen, die jetzt mal Lust haben was anderes zu lernen auch so ein kleines Springen nach da. Nehmen wir jetzt z. B. auch mal ihn hier. Am Anfang war er nur für Moderationen zuständig, aber mittlerweile hat er sich so in die Technik reingehangen und bis jetzt ist eigentlich nichts kaputt gegangen.“
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement Sin2: „Ich sage mal so, wenn wir irgendwie so ein Projekt haben und das vorher besprechen, dann fragen wir dann auch immer. Also wer hat Lust was zu machen?“ Sin1: „Aber meistens sind halt die Leute, die es können, die machen halt immer ihre gleichen Aufgaben, was irgendwie auch logisch ist, weil bis man sich in die anderen Sachen reingelernt hat, vergeht Zeit und die Zeit haben wir dann nicht immer so.“ S2: „Man weiß es ja aber auch von allen anderen Sachen, dass es im Endeffekt immer die gleichen sind, die es machen. Man merkt das hier auch, wer dann nachmittags hier rumhängt. Man sieht das.“ Zitat 4.170: SchülerInnen, Medienprojekt, Sek. I
Innerhalb der Medien-AG scheinen die SchülerInnen noch stark von dem Expertenschüler (S1) abhängig zu sein, wenngleich die Situation durch das Tutoring langsam aufzubrechen scheint. Eine ressourcenorientierte Arbeitsteilung, in der einzelne SchülerInnen für Spezialgebiete zuständig sind, führt einerseits zu einer schnellen und effektiven Aufgabenbewältigung, auf der anderen Seite aber auch dazu, dass sich Experten immer weiter spezialisieren und die Wissenskluft zu anderen Gruppenmitgliedern größer wird. Wenn andere Gruppenmitglieder Interesse haben, in ein für sie neues Spezialgebiet einzusteigen, können Experten als Tutoren fungieren. Das Erreichen des gemeinsamen Gruppenziels dauert dann zwar länger, die Gruppe ist aber nicht mehr so sehr von einigen wenigen Experten abhängig, weil wichtige Gruppenfunktionen austauschbarer werden. Hierdurch kann eine symmetrische Beziehung zwischen den Gruppenmitgliedern entstehen. Ein derartiger Weg wäre eher lernprozess- und weniger ergebnisorientiert. Langfristig kann so der Gefahr des Zusammenbrechens der Gruppe durch den Wegfall einzelner wichtiger Experten vorgebeugt werden. Die Aufgabenverteilung erfolgt in der AG nicht nur ressourcenorientiert, sondern auch interessengeleitet. Dies kann dazu führen, dass SchülerInnen in verschiedene Bereiche hineinschnuppern („springen“) und sich andererseits in den unterschiedlichen Arbeitsbereichen durch eine Spezialisierung Experten herausbilden. Da die Medien-AG zur Umsetzung ihrer Ziele oft unter Zeitdruck arbeiten muss, scheint vor allem die ressourcenorientierte Arbeitsteilung, die mit einer effektiven Zielorientierung und dem Herausbilden von Experten einhergeht, zu dominieren. Letztendlich zeichnet sich auch ab, dass sich die Gruppe in aktive und passive SchülerInnen aufzuteilen scheint („im Endeffekt immer die gleichen“), die Spezialisten bringen sich aktiv ein und die anderen ziehen sich eher zurück (vgl. Abschnitt 4.5.3).
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Eine zu starke Zielorientierung birgt die Gefahr, dass wichtige Tutoringprozesse aufgrund eines Zeitmangels im Keim erstickt werden. Außerdem kann sie dazu führen, dass SchülerInnen nur noch Aufgaben übernehmen, deren Bewältigung für sie aufgrund ihres hohen Fachwissens keine Herausforderung mehr darstellt, sodass ihr Lernprozess aufgrund einer bloßen Wissensumsetzung stagniert und/ oder die SchülerInnen zu „Fachidioten“ werden. Durch regelmäßige Teambesprechungen, die innerhalb der Medien-AG stattfinden, erhalten die SchülerInnen auch Einblicke in die anderen Arbeitsgebiete, wodurch sich ihr Wissenshorizont erweitern kann. 4.5.2 Wissens- und Verhaltensdominanz Eine ressourcenorientierte Arbeitsteilung kann sich neben fachlichen Spezialisierungen auch auf die soziale Dimension, wie das Koordinieren, Anleiten, Motivieren oder Disziplinieren anderer Gruppenmitglieder beziehen. Die folgenden Videosequenzen belegen, dass die Verhaltens- und Wissensdominanz nicht immer bei der gleichen Person liegt. Die SchülerInnen des SelMa-Falls haben die Möglichkeit mithilfe der medienzentrierten Lernumgebung, Ergebnisse grafisch darzustellen und unterschiedliche Zahlenwerte in die Aufgaben einzutragen. Der Schüler sitzt direkt am Computer und bedient diesen, während seine Mitschülerin im Matheheft mitschreibt. Sin: „O. K. machen wir mal weiter.“ S: „Sag mal, sollen wir b mal verändern? Sin: „Geht das? (S: „Ja, geht.") Ja, aber ..." S: „Soll ich mal? Mal gucken, wie das aussieht?" (...) (Schüler verändert Zahlenwerte). Sin: „Jaha, ist ja cool, aber die gleiche Spiegelung dann jetzt, das bleibt, mach mal ne –2 oder so, ist ja cool, noch mal (..Lachen, Text zwischendurch unverständlich). Das glaub ich nicht, mach mal ne 3 oder so ... Oh (enttäuscht) Ne, das ist ja nicht lustig, mach mal das Minus da weg ... Also, wenn du negative Werte da eingibst, dann ist es viel schöner! (Lachen) Ist ja gut J., komm mach mal weiter (Lachen) ... künstlerische Fähigkeiten." S: „Warte mal". Sin: „Komm, nächste Aufgabe." Videotranskript 4.45: SchülerInnen, SelMa, Sek. II35 35 Dieses Transkript wurde bereits im Hinblick auf die Rolle der neuen Medien analysiert (vgl. Videotranskript 4.2).
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Auf der Beziehungsebene fällt auf, dass der Junge versucht mit dieser Funktion das Mädchen zu beeindrucken, was ihm auch gelingt, hier spielt ggf. auch das Werben um die Gunst des Mädchens eine Rolle. Er kann sich selbst gegenüber dem Mädchen als Experte darstellen. Wahrend er die Wissensdominanz behauptet, behauptet das Mädchen die Verhaltensdominanz. Er wartet – bevor er agiert- zunächst auf die Einwilligung von seiner Mitschülerin („Soll ich mal?“). Sie bestimmt, welche Zahlen eingetragen werden, ruft nach dem Herumspielen mehrmals zur Zielorientierung auf und diszipliniert hierbei den Jungen („Ist ja gut, J., komm mach weiter!“). Beide SchülerInnen ergänzen sich mit ihren Kompetenzen, es handelt sich um eine symmetrische komplementäre und ressourcenorientierte Zusammenarbeit. Gerade in dem komplexen Wirtschafts- und Medienprojekt stellt sich die Frage, wie sich diese in unterschiedliche Aufgabenbereiche gliedern und unter den SchülerInnen sinnvoll verteilen lassen. Es wird zu einem wichtigen Bestandteil der Wissenskommunikation, wie die SchülerInnen wechselseitig ihre Rollen aushandeln und die Arbeit koordinieren. Hier steht weniger Fachwissen - oder Wissen im Umgang mit dem Computer im Vordergrund, wenngleich die Verteilung dieser Wissensressourcen die Arbeitsteilung mit bedingt, sondern vielmehr eine organisatorische Kompetenz zur Koordination. Eine Sozialkompetenz fließt mit ein, da es darum geht, das die einzelnen SchülerInnen sich bei den jeweiligen Rollenaushandlungen einbringen, sich durchsetzen und zugleich offen für die Bedürfnisse anderer SchülerInnen bleiben. Die Aufgabenverteilung in der Gruppe kann so aussehen, dass einige SchülerInnen die Projektkoordination in Form einer Art Chefrolle übernehmen, wie z. B. in einer Projektgruppe des Wirtschaftsprojekts: Im Gruppenraum des Wirtschaftsprojektes sind mehrere SchülerInnen. Sin1 arbeitet an einem Rechner, S1 ist zu Beginn der Videosequenz an einem anderen Rechner (ca.1- 2 Arbeitsplätze entfernt), er scheint gerade bei einer anderen Gruppe auszuhelfen. Sin1 (ruft quer durch den Raum): „So, S1. Kommst du mal bitte zu Deiner Gruppe?! Also heißt das jetzt du warst jetzt zwei Stunden unterwegs und bringst uns kein Ergebnis. Ist das so, ja oder nein? (S1: unverständlich). Ja nichts und, dann kommst du jetzt mal her und machst jetzt weiter an den Folien.“ Sin2 (im Hintergrund): „Da ist doch nichts mehr zu machen an den Folien.“ Sin1: „Doch.“ (guckt in Kamera) (S1 sagt anscheinend etwas im Hintergrund). Sin3: „Ja, guck mal!“ Sin1: „Ja, was ist das denn jetzt, was soll das denn sein? (zu Mitschüler, der gerade in der Nähe steht:) Geh noch mal auf speichern, ja? (Dieser geht zu dem anderen Rechner hin, speichert, dann geht sie zu S1). Wie das ist doch die Seite, die wir schon hatten.“
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Sin3: „Nein.“ Sin1 (guckt S1 zunächst über die Schulter, strahlt zu anderen Gruppenmitgliedern, verzieht dann das Gesicht): „Warum haben wir denn da einen roten Kreis? Ne, das muss aber da weg, wir sind doch kein verträumtes Ferienhotel!“ Sin4 (guckt Sin3 an, beide grinsen sich an): „Sin1 (nimmt beschwichtigend ihren Arm), ja.“ Sin1: „Das haben wir doch vor drei Tagen geklärt.“ Sin4: „Ja, ja“ (geht kurz aus dem Bild, scheint zu lachen). Sin1: „Außerdem Kontinuität: Wir können ja kein eckiges Firmenzeichen haben, (unverständlich). Und jetzt, wo ist denn die Folie jetzt?“ S1 (ruft Folie auf, steht auf, betrachtet den Monitor): „Das sieht beschissen aus!“ Sin1: „Warum sieht das hier beschissen aus und bei dir zu Hause angeblich nicht?“ S1: „Weil der Computer ... (unverständlich)“ Sin5: „Dann sieht es auf der Wand vielleicht wieder gut aus, wer weiß!“ Sin1: „Ne, also so kann das nicht bleiben, das passt auch gar nicht farblich.“ (Ton danach unverständlich.) Videotranskript 4.46: Schülerinnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Die Schülerin (Sin1) diszipliniert ein männliches Gruppenmitglied (S1), indem sie diesen für seine - in ihren Augen - unzureichende Arbeit rügt. Auf der sozialen Ebene stellt sie sich über diesen Schüler (und auch über die anderen MitschülerInnen), die sie durch ihre Verhaltensdominanz in eine untergeordnete Rolle bringt. Sie praktiziert ein Undoing Gender, indem sie gesellschaftlich vorherrschende Rollen, in der meist männlichen Personen die Chef-Rolle inne wohnt und Frauen in einer Sekretärinnenfunktion arbeiten, umkehrt. Dass sie quer durch den Raum ruft und den Schüler bereits im Vorfeld in einem harten Tonfall kritisiert, ohne diesem eine Chance zu geben seine Arbeit vorzustellen, ist unsachlich. Zudem gibt sie Befehle, die von anderen Gruppenmitgliedern als unpassend kommentiert werden („Da ist doch nichts mehr zu machen an den Folien“). Schließlich vermittelt Sin3, indem sie Sin1 mit ihrer Aufforderung („guck mal“) bittet, sich die Arbeit des Mitschülers (S1) anzuschauen. So schafft sie es, dass Sin1 ihren Arbeitsplatz verlässt, um den des Schülers zu besuchen (und nicht wie zu Beginn, wo sie S1 zu sich ruft). Auf diese Weise wird zumindest räumlich die Hierarchie zwischen Sin1 und S1 aufgelöst. Auf der Inhaltsebene verhält sich Sin1 weiterhin dominant, sie bewertet die Arbeit des Schülers. Ihre Kritik wirkt hart und unsachlich. Der Schüler scheint sein Verhalten gegenüber der Schülerin sachlich zu verteidigen (Ton leider unverständlich). Die Reaktion der Schülerin lässt darauf schließen, dass er anscheinend anführt, dass unterschiedliche Monitore Farben u. U. auch anderes darstellen. Die Schülerin agiert als Entscheidungsinstanz der Gruppe, sie formuliert ihre Statements nicht in Form von subjektiven Meinungsäußerungen,
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
sondern als indiskutable Tatsachen (z. B. „So kann das nicht bleiben“). Die MitschülerInnen im Hintergrund scheinen sich jedoch hinter ihrem Rücken über sie lustig zu machen und versuchen zugleich beschwichtigend einzuwirken. Die Dominanz der Schülerin führt zu einem Zusammenhalt der anderen Gruppenmitglieder, die sich aber inhaltlich nur wenig einbringen und sich insgesamt ihrem Befehlston zu beugen scheinen. Die Verhaltensdominanz von Sin1, die in dieser Sequenz mit einem minimalen Einfühlungsvermögen einhergeht, bewirkt eine hierarchische Interaktionsstruktur und behindert eine konstruktive Zusammenarbeit. Auch im späteren Verlauf der Interaktion agiert diese Schülerin (Sin1) als Chefin, wenngleich sie dem Schüler in deutlich freundlicherer Form Anweisungen erteilt. Ausgangslage ist wieder eine Unzufriedenheit ihrerseits mit der ästhetischen Aufbereitung der erstellten Folien: Sin1 und S1 stehen zusammen vor einem PC. Sin1: „Irgendetwas läuft hier falsch. Ich meine, das ist so schon richtig, ne, die ganzen Rechnungen ...“ S1: „Um was geht es denn?“ (Sin1 begutachtet lange die Folien. S1 setzt sich und bearbeitet die Präsentation. Dann steht er auf und Sin1 setzt sich auf den Stuhl. Er guckt im Stehen beim Bearbeiten zu, bedient zwischendurch die Maus.) Sin1: „(Unverständlich) Oder warte mal! Da kann man doch noch einen Rahmen drum ziehen, oder nicht? (S2: „Ja, kann man.“) Jetzt lass mich gerade den Rahmen da drum ziehen. Jetzt wie, A.?“ S1: „Alles?“ (Er zieht den Rahmen). Sin1: „Ja! Um alles einen Rahmen, also unten um das hier, ne? So. Stop, stop, stop, stop, stop, stop, stop! Farbe! Geh' mal runter! Geht nicht noch weiter runter? Da! Dunkelblau. Moment! Und füllen, kann man das nicht noch füllen? Schattierung oder irgendwas Ähnliches? Ne! Das ist doch jetzt wieder - das ist das Falsche. Das ist ja jetzt wieder jede Zeile einzeln.“ S1: „Nein, das ist die gesamte Tabelle.“ Sin1: „Dann mach' mal hier so ein helles Grau da oben. Dritte. Ja! Perfekt! Ja, ja! Speichern! Speichern! Und ausdrucken!“ Videotranskript 4.47: SchülerInnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Während Sin1 im Sinne einer Verhaltensdominanz bestimmt, was gemacht wird, weiß S1 im Sinne einer „Wissensdominanz“, wie ihre Wünsche praktisch umgesetzt werden können. Dies führt zu einem Einvernehmen der beiden. S1 stellt ihre Anweisungen nicht infrage, sondern verwirklicht sie direkt. Sin1 würde anscheinend auch gerne selbst ihre Layoutvorstellungen umsetzen („Jetzt lass mich gerade mal den Rahmen drum ziehen“), scheint aber dann in der Umsetzung doch sehr von dem Mitschüler anhängig zu sein. Anstatt im Sinne eines Tutoring
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zu erklären was er macht, setzt er ihre Wünsche direkt um und nimmt so die Rolle ihres Assistenten ein. Durch eine komplementäre Nutzung ihrer unterschiedlichen Kompetenzen ergänzen sich die beiden Jugendlichen insgesamt zu einer produktiven Zusammenarbeit. Dass die Schülerin hierbei die Chefrolle und der Schüler, obwohl er der Computerexperte zu sein scheint, die Assistentenrolle einnimmt, spricht für Undoing-Gender-Prozesse36.Später zeigt sich noch einmal, wie zufrieden die Schülerin mit dem Endprodukt ist: S1 druckt, Sin1 holt den Ausdruck ab. (S1 bearbeitet im Vordergrund weiter die Folien). Sin1 (zu S2, der gerade zufällig in der Nähe ist): „So eine geile Kalkulation hast du noch nie im Leben gesehen. Das ist farblich unterlegt.“ S2: „Donnerwetter.“ Sin2: „Das war vorher auch schon so.“ Sin1: „Eheh!“ (Sin2 geht wieder, S2 kommt hinzu) S2: „(Unverständlich) eine eigene Kalkulation? Voll bescheuert.“ Sin1: „Eigene Überlegung muss da hin.“ S2: „Warum steht da ,Eigene Kalkulation’?“ Sin1: „Ja, das habe ich nicht gemacht.“ S2: „Muss da ,Eigene Überlegung’ hin? (Sin1: „Ne.“) Soll ich ,Eigene Kreativität’ hinschreiben?“ Sin1: ",Eigener Entwurf’.(S3 kommt hinzu, Sin drückt ihm das Blatt strahlend in die Hand) - Hier!“ S3: „Wow!“ Sin1: „Farbliches Grausen!“ S3: „Spitze!“ Videotranskript 4.48: Schülerinnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Für Sin1 scheinen weniger die Inhalte, als vielmehr die ästhetische Darstellung des gemeinsamen Produktes zentral zu sein. Der anfängliche Einwand der Mitschülerin, dass die Folie auch vorher schon farblich unterlegt war, wird ignoriert, da dieser vermutlich nicht die Erwartungshaltung von Sin1, die Lob erwartet, erfüllt. Auf die Kritik ihres Mitschülers an der Formulierung der Überschrift, regiert sie zunächst mit einer Verantwortungsdiffusion („habe ich nicht gemacht“) und entwickelt einfach spontan eine neue Überschrift („eigener Entwurf“). Dass sie sich damit ihrer ersten Aussage („eigene Überlegung“) widerspricht, zeigt, dass für sie die Überschrift derzeit wohl eher nebensächlich ist. Im Vordergrund steht das Einholen eines Feedbacks zu dem Layout, deren 36 Vgl. Kapitel 4.2.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
„Erfolg“ sie sich wohl selbst zuschreibt. Es fällt auf, dass der Schüler, der ihre Layoutgestaltung umgesetzt hat, also selbst aktiv zu dem Produkt beigetragen hat (s. o. Videotranskript 4.47) nicht in diese positive Feedbackkultur involviert ist, sondern außen vor steht. Durch die Verhaltensdominanz von Sin1 und sein fehlendes Einbringen ist er von diesem Gruppengeschehen ausgegrenzt. Schließlich erhält Sin1 das erwünschte und erwartete positive Feedback zu dem Folienlayout. Die Schülerin macht als Chefin gewissermaßen Werbung für das tolle Gruppenprodukt. Durch dieses gegenseitige humorvolle Bestätigen („Farbliches Grausen!“) kann ein gutes Gruppengefühl gestärkt werden. Allerdings sind in diesem Fall nur einige wenige Schüler in die Lobkultur involviert und es steht nicht das Gesamtprodukt der Gruppe, sondern vielmehr die Layout-Idee einer einzelnen Schülerin im Vordergrund, was dem Prinzip einer gemeinsamen Lernund Produktionskultur widerspricht. 4.5.3 Verantwortungsdiffusion, Trittbrettfahrer und Mitläufer Im Wirtschafts- und Medienprojekt behindern Phänomene wie Verantwortungsdiffusion, Trittbrettfahrer- und Mitläuferdasein ein kollaboratives und produktives Wissensmanagement. Im Hinblick auf die Arbeitsteilung schildert die Schülerin einer Gruppe des Wirtschaftsprojektes, dass die Arbeit zu ungleichen Lasten auf die einzelnen Gruppenmitglieder verteilt ist: Sin: „Wir entscheiden selber, wer was macht. Meistens verläuft das ungerecht. (...) Die Leute, die sowieso still sind, sitzen dann hinten und sagen nichts und brauchen dann natürlich auch nichts zu machen. Diejenigen, die den Mund aufmachen, kriegen die ganze Arbeit, weil sie selber die Ideen haben und selber entwickeln und dann keinem die Arbeit aufhalsen wollen.“ I: „Wollen sie das dann selber machen?“ Sin: „Ne. Es gibt viele Folien, die die anderen hätten machen können und ich hätte mir die Arbeit gespart. Es ist aber dämlich, wenn alles gerecht aufgeteilt ist und jeder seine Folien macht und die anderen dann falsche Folien machen, obwohl es unsere Aufgabe war, die Masterfolie zu machen. Somit mussten wir meist deren Folien verbessern, weil die am Vorabend erst da waren und die Verantwortlichen nicht kamen.“ Zitat 4.171: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Die Schülerin betont, dass die Verantwortung für die Arbeitsteilung bei ihr und ihren MitschülerInnen liegt, die sie aber selbst als ungerecht empfindet. Als eine
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sich selbst steuernde Arbeitsgruppe gehört es zu den Aufgaben der SchülerInnen diese Gerechtigkeit in einem wechselseitigem Austausch herzustellen. So hätte die Schülerin als eigenverantwortliches Gruppenmitglied im Sinne einer Sozialkompetenz Reflexionsprozesse über die als unfair empfundene Arbeitsteilung anregen und eine Veränderung initiieren können. Die Schülerin scheint aber das Zurückziehen einzelner SchülerInnen als Selbstverständlichkeit hinzunehmen („brauchen dann natürlich auch nichts zu machen“) und sich nicht aktiv für eine gerechtere Aufgabenverteilung einzusetzen. Die Aussage der Schülerin spricht im Gegenteil dafür, dass die engagierten SchülerInnen (zu denen sie sich selbst auch zählt) die Bewältigung bestimmter Aufgaben an sich reißen und gar nicht immer daran interessiert sind, vor allem die Weiterentwicklung und Umsetzung eigener Ideen anderen Gruppenmitgliedern zu überlassen. Sie sind daher selbst an der ungleichen Arbeitsteilung beteiligt. Die letzte Aussage der Schülerin ist schwierig zu entschlüsseln, da sie sich in logischen Widersprüchen verhakt. So betont sie auf der einen Seite, dass sie durchaus die Erstellung einiger Folien an andere hätte abgeben können, was sie aber wohl nicht gemacht hat, obwohl sie sich „viel Arbeit gespart hätte“. Sie plädiert sogar im Gegensatz zu der Eingangsaussage, in der sie stillen SchülerInnen indirekt den Vorwurf eines Trittbrettfahrerdaseins macht, gegen eine formal gerechte Arbeitsteilung. Sie scheint hierbei Vorurteile über die stillen SchülerInnen mit wirklich Erlebtem zu vermischen. Ihre Aussagen belegt sie anhand einer Situation, in der einige SchülerInnen aus ihrer Sicht „falsche“ Folien erstellt haben. Es gibt in ihren Aussagen viele Hinweise auf eine Zweiteilung der Gruppe, so spricht sie von „wir“, den aktiven Gruppenmitgliedern und den „anderen“, vermutlich eher stillen Gruppenmitgliedern, die sie wohl als Störfelder erlebt. Die aktiven Gruppenmitglieder haben anscheinend eine Masterfolie erstellt, die als Grundlage für das Formatieren aller anderen Folien innerhalb einer Computerpräsentation dient. Dieses Layout haben die „anderen“ nicht übernommen und ggf. sogar eine eigene Masterfolie erstellt, was in diesem Interview offen bleibt. Anscheinend haben fehlende Absprachen zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern zu einer Verantwortungsdiffusion geführt. Eine fehlende bzw. unklare Aufgabenkoordination führte letztendlich dazu, dass einige Folien überarbeitet werden mussten und so ein unnötiger zusätzlicher Arbeitsaufwand entstand. Das Problem der fehlenden Absprache, und der Verantwortungsdiffusion wird zwar auf der sachlichen Ebene durch einen zusätzlichen Arbeitsaufwand der aktiven Gruppenmitglieder, die die aus ihrer Sicht falschen Folien (da sie nicht ihrem erstellten Layout entsprechen) überarbeiten, behoben. Auf der sozialen Ebene kommt es aber zu keiner Reflexion. Die Wissens-
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generierung in dieser Gruppe scheint zunächst weniger durch das Trittbrettfahrerphänomen, als vielmehr durch das Phänomen der Verantwortungsdiffusion behindert zu werden. Dennoch haben sich wohl einige SchülerInnen wirklich aus der Gruppe zurückgezogen, was sich darin niederschlägt, dass sie zu einigen wichtigen Gruppentreffen nicht erschienen sind. Ggf. wird dieses Trittfahrerverhalten aber durch die Dominanz der aktiven Gruppenmitglieder, die die Arbeit, die sie den anderen wohl nicht zutrauen, an sich zu reißen scheinen, mitbedingt und führte im Sinne einer „self-fullfilling prophecy“ zu einem passiven Verhalten und Rückzug der anderen Mitglieder. Eine andere Arbeitsgruppe des Wirtschaftsprojektes sieht die Ursache für eine ungerechte Arbeitsteilung, die sie anscheinend auch in anderen Gruppen wahrnehmen, in mangelhaften Koordinationsprozessen. Die SchülerInnen erleben in ihrer eigenen Gruppe eine angenehme Arbeitsteilung. Sie gehen davon aus, dass SchülerInnen, die in dem Wirtschaftsprojekt arbeitsmäßig überlastet sind, selbst schuld an diesem Prozess sind. „Die Einen sagen: es ist viel Arbeit und von daher überlege es dir gut, weil es auch viel für die Schule zu tun gibt. Ich finde nicht, dass es zu viel ist. Vielleicht liegt es auch oft an der Koordination der Gruppenarbeit, dass die Einen viel machen und die Anderen wenig. Bei uns ist es aber ganz gut verteilt.“ Zitat 4.172: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Obwohl in dieser Gruppe eine gerechte Aufgabenverteilung zu herrschen scheint, gibt es dennoch fehlende Aushandlungsprozesse in der Gesamtgruppe, die durch eine hieraus resultierende Verantwortungsdiffusion zu einer unnötigen Mehrarbeit führen. Diese schlägt sich auch negativ auf das Gesamtgruppenprodukt nieder, indem in ihrer Präsentation viele, unnötige Wiederholungen auftauchen. „In der jetzigen Gruppenarbeit sieht man, wie man Sachen verteilen kann und muss und wie man sich auf andere verlassen kann. Man sieht auch, was für Fehler dabei entstehen können, so wie beim letzten Mal, da hat sich ziemlich viel in unserem Vortrag überschnitten, also ziemlich viele Leute haben sich wiederholt. Das hat schon etwas ausgemacht.“ Zitat 4.173: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Ein Vergleich der beiden obigen Zitate zeigt, dass eine gerechte Aufgabenverteilung nicht automatisch mit einer guten und sinnigen Aufgabenkoordination einhergeht, die durch regelmäßige Absprachen gefördert werden kann. Bei beiden Arbeitsgruppen des Wirtschaftsprojektes scheint sich das Problem der Verantwortungsdiffusion hinderlich auf die Wissensgenerierung auszuwirken. In
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der ersten Gruppe liegt die Ursache verstärkt in der sozialen Gruppenstruktur eine Zweiteilung der Gruppe und dominante Gruppenmitglieder, die die Arbeit an sich reißen und schwächere in eine Statistenrolle drängen (Zitat 4.171). In der zweiten Gruppe liegt die Ursache eher auf der sachlichen Ebene, so empfinden die Gruppenmitglieder die Aufgabenverteilung als gerecht, merken aber erst bei Erstellung des Gruppenergebnisses (der gemeinsamen Präsentation), dass ihre Absprachen anscheinend noch nicht ausreichten, um Arbeitsprozesse klar voneinander abzugrenzen und Doppelungen zu vermeiden (Zitat 4.173). Auch wenn in der zweiten Gruppe zwischen den Gruppenmitgliedern ein guter Gruppenzusammenhalt herrscht, gibt es auch dort einen Ausnahmefall: S1: „Das Ausklinken, na ja. Wir sind halt guter Dinge darein gegangen und dann ist die erste Phase vorbei, wo man selber oder alle sich über den Einen oder Anderen aufregen. (...).“ Sin2: „Bei uns gab es ein extremes Beispiel. Da ist ein Junge, der sich supergut mit Computern auskennt, der kann alles und macht sonst nichts anderes. (...).“ Sin1: „Wir haben es zwei Phasen lang mit guten Worten probiert, indem wir ihm gesagt haben, dass etwas bis zu einem bestimmten Zeitpunkt fertig sein muss. Darauf konnten wir uns nicht verlassen. Dann muss in den letzten beiden Phasen, zwei Tage vorher, richtig reingehauen werden, was sehr stressig ist, aber sonst funktioniert das nicht. Und jetzt wird das halt so verteilt, dass wir weniger Stress haben. Dann müssen die Anderen halt mehr machen, aber sonst bricht das wieder alles zusammen.“ I: „Das heißt, dass dem bestimmte begrenzte Aufgabenbereiche zugeteilt werden, mit denen er klarkommt?“ Sin1: „Genau. Überwiegend im Computerbereich.“ Sin2: „Gut. Es geht gar nicht um das Klarkommen, sondern um das Vortragen. (...) Beim ersten Mal war es besonders schlimm (...), weil er nicht den Teil gesprochen hat, den er besprechen sollte. (...) Die Leute und sogar unsere Gruppe haben über ihn gelacht. Beim zweiten Mal hat es auch nicht besser geklappt, weil er wieder zu lange geredet hat und er war bei der Gruppenarbeit nie richtig dabei.“ Zitat 4.174: SchülerInnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Diese SchülerInnen berichten von einem Jungen, der sich anscheinend aus den Gruppenprozessen ausklingt. Sie schreiben diesem Jungen zugleich die Rolle eines Computerexperten, aber auch die eines unzuverlässigen „Fachidioten“ zu. Aufgrund der Interdependenz, der wechselseitigen Abhängigkeit der einzelnen Gruppenmitglieder, kann die Teamwork durch einen „Störer“ zusammenbrechen. So führte die Nicht-Beteiligung des Schülers dazu, dass die anderen Gruppenmitglieder auf den letzen Drücker seine Aufgaben mit übernahmen. Um derart stressige Phasen und negative Erlebnisse im Vorfeld zu vermeiden, sind die
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SchülerInnen dazu übergegangen, dem „Problemschüler“ nur stark eingegrenzte Aufgabenbereiche zuzuordnen und lieber selbst mehr Arbeit zu investieren. Der erste Versuch einer sozialen Lösung („mit guten Worten probiert“) ist gescheitert und wurde von einer sachlichen Lösung, nämlich dem Schüler Aufgaben in seinem Kompetenzbereich zu übertragen und andere Aufgaben lieber selbst zu bewältigen, abgelöst. Der Computerexperte scheint innerhalb der Gruppe eine Außenseiter- und Trittbrettfahrerrolle einzunehmen. Es wirkt so, als ob die Situation eskaliert sei: Der schlechte Vortrag des Schülers bei einer gemeinsamen Gruppenpräsentation, an der er sich nicht an vorher vereinbarte Absprachen hielt (, die ggf. schon auf seine geringe Anwesenheit innerhalb der Gruppenarbeit zurückzuführen ist) führte dazu, dass er von anderen (sogar eigenen) Gruppenmitgliedern ausgelacht wurde. Durch dieses Auslachen tragen die Gruppenmitglieder zu einer Ausgrenzung des Schülers und einer Verstärkung seiner Rolle als Außenseiter bei. Eine derart sozial belastende negative Erfahrung löste bei ihm anscheinend einen sozialen Rückzug aus („war bei der Gruppenarbeit nie richtig dabei“), die einen fehlenden Austausch und notwendige wichtige konstruktive Feedbackprozesse weiter behindern. Die Situation des Schülers ist hierdurch auf der Sachebene stagniert (keine Verbesserung seines Vortrages) und auf der Beziehungsebene eskaliert. Die anderen Gruppenmitglieder scheinen es aufgegeben zu haben, eine angemessene Feedbackkultur zu dem Schüler zu pflegen und gehen so den Weg des geringsten (sozialen) Widerstandes, indem sie lieber Mehrarbeit investieren, anstatt dem Schüler wichtige Aufgaben zu übertragen. Ihnen ist ein gutes Gruppenprodukt anscheinend wichtiger als ein gutes soziales Klima („Es geht gar nicht um das Klarkommen, sondern um das Vortragen“). Auf der anderen Seite versuchen sie ihn durch die Zuweisung von Computeraufgaben, in denen dieser Schüler Experte ist, in die Gruppenarbeit zu integrieren. Lehrer im Wirtschafts- als auch im Medienprojekt schildern von einzelnen SchülerInnen, die kaum aktiv in Gruppenarbeitsprozesse eingebunden sind: „Solche Prozesse – wir arbeiten getrennt und schicken uns das zu – haken immer an der einen Schülerin: Sie ist außen vor. Sie ist aber nicht nur da außen vor, sondern auch sonst. Sie ist sehr introvertiert. Sie kann präsentieren – da werden Sie überrascht sein, aber im Gruppenprozess ist sie nicht eingebunden. Sie ist in dem Sinne im Gruppenprozess doppelt benachteiligt. Ich weiß aber auch nicht, wie ich das aufbrechen soll.“ Zitat 4.175: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
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Die beschriebene Schülerin des Wirtschaftsprojekts kann aufgrund fehlender Computerfertigkeiten nicht aktiv an den digitalen Austauschprozessen der Gruppe partizipieren und ist somit von einigen wichtigen Kommunikationswegen ausgegrenzt. Die Schülerin ist zusätzlich in der Face-to-Face Kommunikation sehr zurückhaltend, da sie ein introvertierter Typ ist und trägt so wenig zur gemeinsamen Wissensgenerierung bei. Aus Sicht des Lehrers ist die Schülerin durch ihre Schüchternheit und Unsicherheit im Computerumgang in der Gruppe benachteiligt und ausgrenzt. Er möchte gerne einen Beitrag zu ihrer Integration leisten, weiß aber nicht wie. Aufgrund der Datenlage bleibt es offen, inwieweit er oder andere Gruppenmitglieder die Schülerin beim Erwerb von Computerkenntnissen im Sinne eines Tutoring unterstützen. Die Stärke der Schülerin scheint im Präsentieren von Gruppenergebnissen- wo sie anscheinend doch aus sich herausgehen kann- zu liegen, sodass sie durchaus einen wichtigen Gruppenbeitrag leistet. Das ihr die wichtige Aufgabe der Präsentation übertragen wird, könnte ein Hinweis darauf sein, dass sie durchaus in der Gruppe Anerkennung findet und diese ihre Schwächen und Stärken respektieren. Der betreuende ehemalige Schüler des Medienprojekts beobachtet, wie einige neu hinzugekommene SchülerInnen als Mitläufer agieren. „Gerade die 2 oder 3 Experten, (...), die dazu gekommen sind, sind sehr oberflächlich, also nicht wirklich integriert in das Ganze. Aber ich würde es nicht aufgrund der Gruppenstruktur sagen, sondern aufgrund ihrer eigenen Einstellung zum Ganzen. (...). Ich denke mal, sie haben mitgekommen, dass man hier oben mit Engagement dabei sein muss, dass man aber auch ganz gut durchkommt, wenn man es nicht tut, in dem man da so ein bisschen mitläuft..“ Zitat 4.176: Ehemaliger Schüler, Medienprojekt, Sek. I
Neben fehlenden sozialen und fachlichen Kompetenzen kann auch die Einstellung einzelner SchülerInnen eine geringen inhaltlichen Mitarbeit bedingen. Einigen scheint die intrinsische Motivation zu fehlen, viel Energie und Zeit in die Gruppe zu investieren, sodass diese lieber den Weg des geringsten Aufwandes gehen und ein Mitläuferdasein pflegen. Als Rahmenbedingung scheint einzuwirken, dass es sich hierbei um SchülerInnen handelt, die erst später in die Gruppe eingegangen sind und sich daher ggf. wenig mit ihrem Team identifizieren. Zudem scheint sich auch hier das Phänomen der Verantwortungsdiffusion niederzuschlagen, so fällt es in dem Gruppenergebnis nicht weiter auf, wer welchen inhaltlichen Beitrag geleistet hat. Gerade in großen Arbeitsgruppen (wie in dem Medien- und Wirtschaftsprojekt) ist es einfach, unterzutauchen. Dieser Prozess wird unterstützt, wenn andere aktive SchülerInnen (vgl. Zitat 4.171) dazu neigen, wichtige Aufgaben an sich zu reißen.
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4.5.4 Konkurrenz-, Macht- und Revierkämpfe Je mehr die Aufgabenstellung darauf zielt, dass die SchülerInnen zu ihrer Bewältigung aufeinander angewiesen sind, desto eher scheinen die SchülerInnen zu kooperieren. Der folgende Ausschnitt zeigt, wie sich Lernprogramme, die eher für Einzelarbeit konzipiert sind, auf die Partner- und Gruppenarbeit auswirken können: Die Schüler bearbeiten ein Mathelernprogramm, S1 bedient die Tastatur, S2 sitzt neben ihm, zudem stehen 4 weitere Schüler hinter ihnen, die eine Weile zuschauen. S1 (tippt): „Das ist Schade, das ist voll leicht (...) egal." (S3, der neben ihm saß, steht auf und geht weg. S2, der vorher auch hinten stand, lacht, nimmt seinen Platz ein). S2: „15" S1: „Ja, ich weiß." (Er rechnet die nächsten Aufgaben ganz alleine, die anderen hinten stehenden Schüler sind anscheinend weggegangen, Videobild erfasst nur tippenden Schüler). L (kommt hinzu): „Wechselt euch bitte ab, ja, S1!" (S1 guckt S2 fragend an, dieser übernimmt direkt die Tastaturbedienung, S1 greift nach einiger Zeit erst zeitweise wieder ein, um schließlich die Bedienung wieder ganz zu übernehmen.) S2: „Voll langweilig" (S2 sieht kurz in die Videokamera und dann anscheinend S3, der zurückkehrt, und steht wieder auf. S3 nimmt wieder seinen alten Platz ein. S2 ist anscheinend weggegangen. S1 ist so in diese Aufgabe vertieft, dass er den anderen anscheinend kaum wahrnimmt. Zwischendurch lockert er seinen rechten Arm). S1: „Mein Arm tut weh!" S3: „Mir ist langweilig! Komm wir machen das mal anders." (Seine Hände wandern Richtung Tastatur. S1 drängt ihn weg). S1: „Warte mal, ich will diese Runde fertig machen!" S3: „Hier kann man gar keine Runden fertig machen!" S1: (Unverständlich) S3: „Ja? Bei viel Aufgaben, denn?" (Schiebt Papierzettel vor ihm unruhig hin und her, S1 antwortet nicht, rechnet alleine weiter). (Level ist anscheinend beendet. S1 lehnt sich kurz zurück.) S3: „Bravo" (klingt etwas unbetont.) Videotranskript 4.49: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Es zeigt sich, dass das Lernprogramm wenig geeignet ist, um in Partner- oder gar Gruppenarbeit bewältigt zu werden. Bereits zu Beginn der Sequenz scheint S1 zur Bewältigung des Lernprogramms, dass er bereits in Einzelarbeit als „zu
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einfach“ einstuft, auf keine Hilfe durch seine Mitschüler angewiesen zu sein. Das sich dennoch insgesamt 5 Schüler um den Rechner scharren, zeigt wie begehrt für diese das Arbeiten an dem Computer ist. Einer der hinten stehenden Schüler nutzt das Weggehen von S3 um schnell den Sitzplatz zu ergattern und sich aktiv an der Aufgabenlösung zu beteiligen. Das er schließlich S1 die Lösung vorsagt, scheint dieser eher als Störung, als als hilfreich zu empfinden („ja, ich weiß“). Die Lehrerintervention, mit der Aufforderung an die SchülerInnen sich abzuwechseln, bewirkt nur eine kurzfristige Änderung, so übergibt S1 zwar nonverbal seinen Posten an S2, drängt diesen aber langfristig durch seine Eingriffe in die Tastatur wieder in eine Zuschauerrolle. Er scheint sich vor allem deshalb durchsetzten, weil er wohl schneller die Lösungen findet. Die Schüler bearbeiten die Aufgabe nicht gemeinsam, sie sprechen sich überhaupt nicht ab. Als S3 zurückkehrt, überlässt S2 ihm wieder seine „alte Position“ und verlässt die Arbeitssituation. Hier bewirkt ggf. der Kameraeinsatz die freiwillige Platzvergabe, die mit einem „sozial erwünschten“ Verhalten einhergeht, so hätte S2 auch unsozial nach dem Motto „weggegangen, Platz vergangen“ handeln können. Andererseits war seine Position als Sitznachbar, dem die Zuschauerrolle zuteil wird, auch wenig attraktiv, da S1 ihn von der Aufgabenbewältigung ausgegrenzt hat. Es folgt ein Revierkampf zwischen S1 und S3: Die Signale von S3, dass ihm langweilig ist und die damit einhergehende Botschaft, dass er mehr involviert werden möchte, werden von S1 ignoriert. Obwohl S1 vom Tippen Armschmerzen bekommt, verteidigt er vehement seine Rolle als Tipper, die in dieser Sequenz mit der des aktiven Aufgabenlösers einhergeht. S3 versucht noch einmal, diesmal nachdrücklicher, einen Rollenwechsel zu initiieren und den aktiven Part zu übernehmen: „Mir ist langweilig, komm wir machen das mal anders.“ Er formuliert den Rollenwechsel als direkte Aufforderung und nicht als Bitte. Doch sein Partner verteidigt seine aktive Rolle und lehnt den Rollenwechsel mit einer sachlichen Begründung, nämlich dass er erst den Level beenden wolle, ab. Diese Begründung wird zunächst von S3 infrage gestellt, zudem sendet er weiter nonverbale Signale (unruhiges Hin- und Herschieben des Zettels), das ihm langweilig ist und er ungeduldig darauf wartet, endlich einen aktiveren Part übernehmen zu können. S1 ist so sehr in die Aufgabe vertieft und möchte seine Rolle aufrechterhalten, dass er nicht auf diese Signale eingeht. Für S1 scheint es in dieser Sequenz ein wichtigeres Handlungsziel zu sein, das Programm eigenständig zu bewältigen, als auf die Bedürfnisse seiner Arbeitspartner Rücksicht zu nehmen. Diese egozentrische Zielorientierung ist für ihn
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bedeutsamer als eine gute Beziehung oder Zusammenarbeit mit seinem Arbeitspartner herzustellen. Als der Level beendet ist, reagiert S3 mit einem unbetonten „Bravo“, das wohl ironisch zu verstehen ist. Er kann sich selbst nicht mit der Aufgabenbewältigung identifizieren und hatte keine Chance sich aktiv einzubringen. Der Revierkampf der Schüler scheint vor allem durch eine fehlende Interdependenz der Aufgabenstellung begründet zu sein. Das Programm ist offensichtlich zur Gruppenarbeit ungeeignet, da es auf Einzelarbeit zielt und aufgrund eines anscheinend geringen Schwierigkeitsgrads keine Austauschprozesse unter den Schülern forciert. Es handelt sich um einen Machtkampf, in dem sich S1 durchsetzt, der keinerlei Zusammenarbeit (auch keine hierarchische) zulässt. Durch die Ausgrenzung seiner Mitschüler kann er die Aufgabe quasi in Einzelarbeit lösen. In der folgenden Interaktion dominiert ein Rollenkampf um die Tastaturbedienung: S1 hat einen ausgedruckten Zettel mit Internetadressen, aus dem die Schüler sich frei eine auswählen dürfen, vor sich liegen. S2 sitzt direkt vor der Tastatur. S1 (guckt ins Heft und wählt eine Internetadresse aus): „Kinder-Campus.de." S1: „Ich schreib, ich schreibe!" er (greift in die Tastatur ein, die direkt vor S2 liegt). S2 (schiebt den anderen weg): „Jetzt mach ich, jetzt mach ich!“ (Er tippt sehr langsam, S1 diktiert buchstabierend, steht auf und greift wieder in Tastatur ein, S2 akzeptiert dies.) S1: „Moment ich schreibe!" (S2 rückt freiwillig zur Seite, steht auf, setzt sich auf den freien Stuhl rechts neben S1 und nimmt den Zettel auf). S2 (diktiert buchstabierend. Einmal zeigt er, wo S1 drücken muss, doch dieser schiebt ihn mit einer Geste weg). S1: „Ich mach doch!" Videotranskript 4.50: Schüler, Lernprogramme, Primarstufe
Wer tippen darf, scheint zum einen davon abzuhängen, wer schneller die Tasten findet und zum anderen, wer offiziell die Tipper-Rolle innehat. Derjenige, der offiziell (daher nach einer verbalen oder nonverbalen Einigung) die Tipper-Rolle innehat, nimmt sein „Recht“ war, die Tastatur als sein Arbeitsrevier vor „Eingriffen“ durch den Partner zu verteidigen. Gerade in einer nonverbalen Aushandlung (erfolgreiches Wegschieben des anderen von der Tastatur) schlägt sich die „körperliche“ Dominanz einzelner Schüler wider. Zudem fällt auf, dass in dieser Interaktion die inhaltliche Dimension, nämlich die freie Auswahl der Internetadresse Nebensache ist, so wird der Vorschlag von S1 ohne Diskussion umgesetzt, während die Arbeitsteilung (Wer darf tippen?) für die Schüler zentral
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zu sein scheint. Dass sie sich bereits bei der Eingabe der Adresse mehrmals mit der Tipper-Rolle abwechseln, geht mit einer eher geringen Zielorientierung (schnelle Eingabe der Adresse) einher. Die folgenden Videoausschnitte zeigen, wie zwischen zwei SchülerInnen ein Macht- und Revierkampf um die Arbeitskoordination ausbricht: Die beiden gefilmten Grundschülerinnen sind gerade dabei, gemeinsam Märchensprüche zusammen zustellen (es handelt sich um die Erstellung eines Märchenrätsels, die anderen sollen später anhand der Sprüche erraten, um welches Märchen es sich handelt.) Beide haben im Vorfeld ihren Text handschriftlich erstellt, den sie nun in den Computer eingeben. Sin1: „So und jetzt kommen--was war das jetzt ... Hänsel und Gretel." Sin2: „Hänsel KOMMA Gretel (stöhnt, greift in Tastatur ein)." Sin1: „UND schreibt man da!" Sin2: „Ne! (löscht das "und")." Sin1: „Hör auf, Mann!- Was machst denn du? -Ach, Mensch ich hab das vielleicht nicht falsch geschrieben. Es heißt Hänsel UND Gretel und nicht Hänsel KOMMA Gretel!" Sin2: „Da steht’s aber mit Komma geschrieben (zeigt auf Zettel). Bäh (steckt kurz Zunge raus und ändert es wieder durch Tastatureingabe). Sin1 (mit äffendem Tonfall): „Weil ich es dort falsch geschrieben habe! Und vergessen habe es zu verbessern!" (Sin2 (!) tippt nun UND ein. Sin2 klemmt zum Tippen das Blatt zunächst unter ihr Kinn, legt es dann weg, Sin1 nimmt Zettel auf). Videotranskript 4.51: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe (Fortgang s. u.)
Sin1 und Sin2 streiten sich um die Formulierung. Während Sin1 selbstständig und losgelöst von dem vorgeschriebenen Zettel agiert, orientiert sich Sin2 genau an diesem, ohne den Inhalt zu hinterfragen. Aufgrund dieser unterschiedlichen Sichtweisen entsteht ein Machtkampf zwischen den beiden Mädchen, in dem beide versuchen ihre Meinung durchzusetzen. Die Aushandlung findet neben der verbalen Ebene zeitgleich über die Tastatureingabe statt. Sin1 kann schließlich mit ihren (verbalen) Argumenten überzeugen. So entlastet sie Sin2 emotional, indem sie zugibt, dass sie bei der Erstellung des Handzettels einen Fehler gemacht habe. Sin2 gibt ihr schließlich nonverbal Recht, indem sie (obwohl sie gerade nicht die Position der Tipperin besetzt) die Schreibweise von Sin1 umsetzt. Durch ihre nonverbale Reaktion kann sie den Streit und die Auseinandersetzung beenden, ohne verbal zugeben zu müssen, dass sie im Unrecht war. Der Computermonitor, bzw. die Tastaturbedienung wirkt bei Meinungsdifferenzen als ein wichtiges Machtinstrument. Letztendlich ist der getippte Text,
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und nicht unbedingt der verbal ausgehandelte Inhalt, das Ergebnis der Wissensrepräsentation. Entsprechend machtbesetzt kann die Position des Tippers sein. Sin2 nutzt ihren kurzen Eingriff in die Tastatur um einen Rollenwechsel zu initiieren, den sie zusätzlich verbal einleitet: Sin2. „Komm, ich schreib jetzt!" (nimmt der anderen ihren Zettel weg) Sin1: „Ach gib her!" Sin2: „Nein, ich schreib jetzt! (Sin1: "Ach, Mann!") Du hast jetzt die ganze Zeit geschrieben!" (Sin2 legt Blatt auf ihren Schoss und tippt.) Sin1: "Na toll!" Sin2 legt Sin1 den Zettel hin, die diesen erst mit etwas Verzögerung aufnimmt): „Mach! -Ach du bist vielleicht. !" Videotranskript 4.52: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe (Fortgang s. u.)
Sin2 hat durch ihren Tastatureingriff eigentlich bereits nonverbal die Rolle der Tipperin ergattert, zumal Sin1 den von ihr zur Seite gelegten vorgeschriebenen Zettel aufgenommen und damit gewissermaßen die Rolle der Diktiererin eingenommen hat (vgl. Ende Videotranskript 4.52). Ihre zusätzliche verbale Einleitung des Rollenwechsels (der in der vorherigen Situation ggf. ohne eine Thematisierung aufgrund der nonverbalen Aktionen eigentlich schon eingeleitet war) ist nicht als höfliche Bitte formuliert, sondern als Tatsache- von der sie nicht erwartet, dass Sin2 diese infrage stellt: „Komm, ich schreib jetzt!“. Sin2 versucht aber nicht nur die Rolle als Tipperin einzunehmen, sondern nimmt zusätzlich Sin1 den handgeschriebenen Zettel aus der Hand, womit diese auch den Posten der Diktiererin überflüssig macht und Sin2 positionslos dasteht. Sin1 fordert zunächst den Zettel zurück. In der Position der Diktiererin würde dies ihr Arbeitsmittel sein. Dennoch scheint sie mit dem Wechsel, daher dem Verlust ihrer Rolle als Tipperin nicht einverstanden zu sein. Sin2 findet jedoch im Gegensatz zu ihr sachliche Argumente den Rollenwechsel beizubehalten („Du hast jetzt die ganze Zeit geschrieben“). Sie verweist auf den Gerechtigkeitsaspekt, dass es fair ist, wenn beide ungefähr gleich lange tippen und Sin1 (aus ihrer Sicht) schon lange diesen Posten inne hatte. Sin1 geht hierauf zunächst nicht ein und protestiert auf der emotionalen Ebene („Na, toll“) und nonverbal, indem sie den ihr nun von Sin2 angebotenen Zettel, deren Übernahme symbolisch mit dem Einnehmen der Diktiererrolle verbunden ist, erst nach längerem Zögern aufnimmt. Sin2 wiederum rügt Sin1 dafür, dass sie die ihr zugewiesene Rolle nur unter Protest annimmt. Nach einiger Zeit geht der Machtkampf weiter:
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(Sin2 tippt den von Sin1 diktierten Text, wirkt dabei ungeduldig, nimmt immer wieder Hände in die Luft und sucht Tasten). Sin1: „Komma (seufzt ungeduldig) Spieglein." Sin2: „Ha (ungeduldig) jetzt warte doch mal! -Spieglein Spieglein ..." Sin1: “An der Wand (Sin2 tippt laut wiederholend) wer ist die Schönste im Land? Schönste-S- im Land, Fragezeichen!" Sin2: „drittens!" Sin1: „Ich würde das aber erst noch in Klammern machen!" Sin2: „Ach, Entschuldigung (Sin1 will Klammern machen, aber Sin2 schiebt sie weg)-- nein, nichts machen!" Sin1 (seufzt genervt): „Klämmerchen! Was machst denn du? (Sin1 (!) drückt Löschtaste)" Sin2: „Ach du! --Du bist so ... (Sie drückt Taste) So! (Sie schiebt bei erneutem Versuch von Sin1 in die Tastatur zu Greifen ihre Hand weg, tippt alleine weiter)." Sin1: „Klammer!" Sin2 (genervt): „Ja!" Sin1 (leicht autoritär): „Neue Zeile! Drittens." Sin2: „Ich höre." (klingt genervt). Sin1: „Knusper, ach so das hatten wir schon!" Sin2: „Dann streichen wir halt das durch, was wir schon haben!" Sin1: „Ach, komm!" (Ablehnend) (Sin2 steht auf, nimmt das vorgeschriebene Blatt geht zu einem benachbarten Tisch, um den Text zu streichen, Sin1 guckt ihr nach, setzt sich dann direkt vor den PC auf den Platz der anderen und tippt alleine weiter.) Videotranskript 4.53: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Beide Schülerinnen kritisieren indirekt die Handlungen der jeweils anderen. Zunächst ist Sin2 mit dem schnellen Diktierstil von Sin1 überfordert. Es zeigt sich, dass wieder die Tastaturbedienung als Machtinstrument verwendet wird, so greift Sin1 einfach in die Tastatur ein und löscht das von Sin2 produzierte. Sin2 wehrt sich unter Protest und verteidigt das „Tipp-Revier“, das sie aktuell als ihren Herrschaftsbereich ansieht. Die Stimmung zwischen den Schülerinnen ist wieder gereizt. Die Idee von Sin2 zur besseren Übersichtlichkeit bereits Abgetipptes auf dem handgeschrieben Zettel durchzustreichen, wird von ihrer Partnerin abgelehnt. Beide Schülerinnen verfolgen unabhängig voneinander unter Ignorieren der Bedürfnisse der jeweils anderen ihre Strategie. In der räumlichen Trennung der Schülerinnen, so verlässt Sin2 zum Zwecke des Text-Durchstreichens die Arbeitssituation (was nicht nötig wäre) und Sin1 tippt den Text alleine weiter, schlägt sich ihre Beziehungsstruktur nieder. Die gemeinsame Arbeitssituation scheint sich aufgelöst zu haben (ein potenzieller Fortgang der Interaktion wurde nicht per Video festgehalten). Die Trennung der SchülerInnen ist für den Arbeitsprozess eher kontraproduktiv, so tippt Sin1 nun auswendig,
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ohne den handgeschriebenen Text vor Augen zu haben. Andererseits zeigten ihre bisherigen Einwände, dass sie anscheinend den vorgeschriebenen Text bereits auswendig kennt und somit kaum auf die Rolle von Sin2 als Diktiererin angewiesen ist. Diese fehlende Interdependenz scheint den Macht- und Rollenkampf der Schülerinnen mit zu bedingen. Dieser dominiert die Interaktion zuungunsten einer kooperativen und konstruktiven Aufgabenorientierung. In den darstellten Rollenmachtkämpfen wird deutlich, dass eine konstruktive Partnerarbeit, neben einer fehlenden Interdependenz, durch ein Konkurrenzdenken behindert wird. In größeren und komplexeren Projekten, wie z. B. in dem Medien- und Wirtschaftsprojekt, in denen mehrere SchülerInnen zusammenarbeiten, gestaltet sich eine Arbeitskoordination noch schwieriger (vgl. Abschnitt 4.5.3). Die einzelnen Arbeitsgruppen innerhalb des Wirtschaftsprojekts sind sehr ehrgeizig. Insbesondere die Wettbewerbssituation führt dazu, dass die Gruppen untereinander konkurrieren: „Wir haben über dieses Wirtschaftsprojekt auch Konkurrenzdenken richtig kennengelernt, wo dann, sobald man in den Raum kommt, die andere Gruppe dann den Computer herunterfährt, damit man möglichst nichts sieht. Das ist auch o. k., aber das ist nur ein Wirtschaftsprojekt. (...)Teilweise ist das aber echt stressig, denn diese Gruppe stellt sich dann absichtlich weg und macht Theater und sagt ständig: wir gewinnen, wir gewinnen! Die Lehrer lassen sich teilweise darauf ein und belügen sich zum Teil gegenseitig im Lehrerzimmer, wer denn mehr Folien hat und die Gruppe weiß gar nichts davon. Und überhaupt, das ist ein Spiel hier, also das ist schon sehr lustig.“ Zitat 4.177: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Die Wettbewerbssituation bewirkt ein Konkurrenzdenken, das mit unsozialen Strategien einhergeht, wie dem Geheimhalten von Wissen37 und einem Verschleiern des Arbeitsstatus (z. B. Computer herunterfahren), nicht nur auf Schüler, sondern auch auf der Lehrerebene. Bei einem wechselseitigen Austausch würden eigentlich beide Gruppen profitieren, aber die Angst durch Wissenspreisgabe, die ggf. einseitig bleibt, einen Nachteil im Wettkampf zu haben sowie gegenüber den anderen Gruppen nach außen eine Dominanz zu behaupten, scheint als Handlungsmotiv zu überwiegen. Die Schülerin scheint die eingesetzten Strategien als sehr ambivalent zu erleben, so reichen ihre Bewertungen von „o. k.“, über „stressig“ bis „lustig“. Ihre Metapher zu der eines Spieles zeigt, dass sie diese nicht als ernste böswillige, sondern als legitime, vielleicht auch 37 Diese Strategie ließ sich auch auf der individuellen Verhaltensebene finden (vgl. Zitat 4.162).
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neckende, Wettbewerbsstrategien bewertet. Die durch den Wettkampf geschaffene Konkurrenzsituation scheint einen gemeinsamen konstruktiven Austausch zwischen den einzelnen Arbeitsgruppen zu behindern und zugleich das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der einzelnen Gruppen, die sich teilweise selbst vorweg als Gewinnerteam betiteln, zu stärken. Auch in der Partnerarbeit lässt sich ein ähnliches Phänomen der Abgrenzung von anderen und des partnerinternen Zusammenhaltes beobachten. In der folgenden Sequenz geht es darum, dass zwei Schüler ihr Arbeitsrevier verteidigen und die Bedürfnisse ihrer Mitschüler, die „ihren“ Arbeitsplatz erhalten wollen, ignorieren: In der Grundschule, in der Lernprogramme eingesetzt werden, achtet die Lehrerin auf eine gerechte Einteilung der Computerarbeitszeit, da nicht alle SchülerInnen zeitgleich am Rechner sitzen können: L: „Wenn Ihr dieses Programm fertig habt, dann lasst ihr die Nächsten an den Rechner, ja?“ (geht wieder) Level oder Programm scheint beendet. S1: „Bitte nicht Ende!“ S2 klickt weiter. Nächster Level wird aufgerufen. S1 (freudig): „Jaah!!“ Die nächsten Schüler kommen direkt zum Rechner, einer sagt (ironisch): „Lasst euch ruhig Zeit!“ S2: „Na, und?“ (macht Viktory-Symbol und bearbeitet weiter mit seinem Partner die Aufgaben). Videotranskript 4.54: Schüler (6. Kl.), Lernprogramme, Primarstufe
Die Aufforderung der Lehrerin an die Schüler bei Programmende den Computer den nächsten Schülern zu überlassen, wirkt unspezifisch. Als sich ein Ende des Programms abzeichnet, sind die Schüler zunächst enttäuscht und freuen sich umso mehr als der nächste Level aufgerufen wird, denn somit können sie weiter am Rechner arbeiten, was für sie offensichtlich mit einer hohen intrinsischen Motivation einhergeht. Einer der nächsten Schüler, die bereits ungeduldig auf den Rechnerplatz warten, reagiert auf diese Fortführung des Lernprogramms mit Ironie: „Lasst euch ruhig Zeit“. Vermutlich fühlt sich der Schüler ungerecht behandelt, da er beobachtet hat, dass die Schüler, obwohl der Level beendet ist, ihren Arbeitsplatz nicht freigeben. Das Schülerpaar kostet es aus, dass sie- da die Lehrperson nicht als potenzielle Entscheidungsinstanz der Platzvergabe anwesend ist, ihren beliebten Arbeitsplatz vorerst behalten können. Dass sie in dieser Situation am längeren Hebel sitzen und sich als Sieger fühlen, signalisieren
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sie ihren Mitschülern durch das Zeigen des Viktory-Symbols. Sie haben ihr Arbeitsrevier erfolgreich verteidigt. Die Schüler verbindet eine gemeinsame Zielorientierung („Revier verhalten“), die Ziele der Mitschüler stehen diesem entgegen. Die Bearbeitung von Lernprogrammen ist mit individuellen Zielen verbunden und steht im Gegensatz zu anderen Projekten, in denen die ganze Klasse ein gemeinsames Projektziel anstrebt, deren Bearbeitung mit einem hohen Grad an Interdependenz verbunden ist und entsprechend eine Zusammenarbeit der unterschiedlichen Arbeitsgruppen forciert (wie im Wirtschafts-, Märchen- und Medienprojekt). 4.5.5 Konsensbildung und Groundingprozesse Am Anfang von Groundingprozessen steht oft ein gemeinsames Brainstorming von Ideen, wobei jeweils Ideen anderer abgelehnt, aufgegriffen oder fortgeführt werden, sodass im besten Fall im wechselseitigen Austausch gemeinsam „neues“ Wissen generiert wird (vgl. Kapitel 2.2.6). Innerhalb des Märchenprojektes ist es eine Aufgabe der SchülerInnen, gemeinsam Geschichten zu schreiben. Es wird die Kreativität der SchülerInnen gefördert, zudem müssen sie sich über die inhaltliche Ausgestaltung einigen: Zwei Schüler aus dem Märchenprojekt entwerfen eine eigene Geschichte am Computer. Sie sind gerade dabei, sich Namen für ihre Zauberer auszudenken. S 2 bedient die Tastatur. S1: „Lachkopf, wir müssen noch mehr ... Zauberer Lachkopf Komma Griesgram (S2: "Ja ...") (Eine Mitschülerin kommt kurz vorbei und bittet um irgendwelche Materialien/Text unverständlich, S1 verdreht genervt die Augen, sagt aber „Ja“.) "Wir brauchen ein paar Zauberer. Die haben ja lustige Namen. Wie nennen wir den Letzten?“ S2: „Jetzt kommt der Schreckliche.“ (tippt) S1: “Was? (lacht) Lachkopf, wir müssen noch einen nehmen ...Und der Letzte ist ... Mann, wie heißt der Letzte?“ (mehr zu sich selbst gesprochen). S2: „Lachkopf und Dummkopf?“ S1: „Nein, der Dummkopf!. Vielleicht der Schlaue.“ S2: „Rumpelpumpel!" S1: „Nä, nimm einfach irgendeinen Namen (Guckt nachdenklich lachend nach oben) -RumpelPumpel! (S2 tippt). Was schreibst du? Rumpel-Pumpel-M.! (mit schmunzelndem vorwurfsvollem Ton, nimmt Hand vors Gesicht)--das sind die Zauberer." S2: „Und jetzt?" (er tippt weiter, S1 guckt auf Bildschirm).
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S1: „Lachkopf, was macht der?Und Rumpel-Pumpel (lacht), Rumpel-Pumpel (lacht kurz, erblickt dann Kamera) E-L, und was machen wir jetzt?- (beugt sich zu S2, lacht) Lachkopf und der Kumpel RumpelPumpel--was haben die nun vor?" Videotranskript 4.55: Schüler, Märchenprojekt, Primarstufe
Die Schüler sind bei der Namenssuche sehr kreativ, durch die Aufgabenstellung wird ihre Fantasie angeregt. S1 findet die Ideen „lustig“, was zeigt, dass ihm die Aufgabenstellung Spaß bereitet und mit einem Erfolgserlebnis verbunden ist. Die Unterbrechung durch eine Mitschülerin scheint S1 als sehr störend zu empfinden, da er womöglich aus seinem Brainstorming herausgerissen wird. S1 übernimmt in der Interaktion die Regie, er initiiert die Namenssuche. Die Schüler greifen gegenseitig ihre Vorschläge auf, bzw. führen sie weiter. S1 startet die Namenssuche mit der Orientierung an Adjektiven wie der „Lachkopf“ und der „Griesgram“. Sein Arbeitspartner schlägt- „der Schreckliche“ vor (hinter vorgehaltener Hand, hier spielt sicherlich der Kameraeinsatz mit ein) und folgt damit dem Namensschema seines Partners. Seine Idee sichert er direkt schriftlich. Er orientiert sich im nächsten Vorschlag weiter an dem Wortschema von S1, indem er aus Lachkopf, „Dummkopf“ formt. S1 lehnt diesen Vorschlag direkt ab, ohne eine sachliche Begründung zu liefern. Indem er das Gegenteil bildet („Der Schlaue“), lässt er sich doch von S2 inspirieren. In der verbalen Kommunikation ist S1 derjenige, der bestimmt, welche Namen übernommen und welche abgelehnt werden. S2 nutzt allerdings seine Rolle als „Tipper“ aus, um seine eigenen Ideen trotzdem einfach zu schreiben und schafft es damit langfristig auch diese zu behaupten. Die Tastatur dient als Machtinstrument, um seinen Vorschlag nonverbal durchzusetzen. Als S2 den Vorschlag „Rumpelpumpel“, trotz der Ablehnung durch S1 tippt, reagiert S1 mit einem schmunzelndem Vorwurf, nimmt den Vorschlag aber letztendlich doch an, indem er abschließt “Das sind die Zauberer“. Er scheint diesen Vorschlag später sogar ganz lustig zu finden, so greift er diesen auf und formt er hieraus ein Wortspiel „der Kumpel Rumpelpumpel“. Wenngleich die Schüler auch einige egozentrische Strategien verfolgen, gehen sie insgesamt durchaus aufeinander ein. Sie führen ihre Vorschläge, die sich gegenseitig befruchten, weiter. Interessant erscheint, dass es neben der verbalen Aushandlung (in der S1 dominiert), noch die Ebene der nonverbalen Aushandlung per Tastatureingabe gibt, über diesen Weg kann S2 seine Idee der Namensgebung („Rumpelpumpel“) durchsetzen. Die Interaktion wird im gemeinsamen Einvernehmen fortgeführt, indem S1 S2 durch seine offene Frage („was haben die nun vor?“) aktiv einbezieht. Es handelt sich prinzipiell um eine gleichberechtigte Zusammenarbeit.
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Im Vordergrund der folgenden Kommunikation zweier Schülerinnen aus dem Märchenprojekt steht die Aushandlung über Soll, Kann- und Mussnormen: Zwei Mädchen formulieren eine E-Mail an die SchülerInnen ihrer Partnerschule. Diese haben sich bisher auf ihre letzte E-Mail noch nicht zurückgemeldet, worüber sie enttäuscht sind. Sin1 tippt. Sin1: „Warte mal, hmm- wir warten schon sehr lang- habt Ihr vergessen uns zu schreiben (guckt dann Nachbarin an, lächelt). Wir schreiben immer wieder zu euch, aber ihr schreibt nie zurück, oder?" (....Unterbrechung durch Mitschülerin, der Sin2 kurz hilft.) Sin1: „Das finden wir nicht nett von euch!" Sin2 (lacht): „Genau, schreib, schreib!" Sin1 (lacht auch): „Nein! Schreib du doch!" Sin2: „Schreib du das, ich unterschreib." Sin1 (tippt mit links, mit dem rechten Arm umarmt sie sich): „Das finden wir nicht nett von euch, da ist das E." Sin2: „Ihr mü – Ihr müsst euch schämen! Können wir schreiben.“ (Sin1& 2 lachen) Sin1: „Quatsch! Von euch ...“ Sin2: „Punkt. Punkt.“ Sin1: „Ausrufezeichen!“ Sin2: „Ah, genau! Nehmen wir ein Ausrufezeichen. Wo ist das Ausrufezeichen?“ Sin1: „Da! (S2 drückt) Em.“ Sin2: „Neue Zeile.“ Sin1: „Em (nachdenklich)“ Sin2: „Ihr müsst euch schämen!“ Sin1: „Nein!“ Sin2: „Doch!“ Sin1: „Nein, dann musst du dich schämen!“ Sin2: „Nö!“ Sin1: „Warte mal! Wann schreibt ihr uns? (Sin2: Äh.) Wann schreibt ihr uns endlich wieder? Eure, äh: Viele Grüße, eure Klasse 3a.“ Sin2: „Genau! Schreib’: Wann schreibt. Ihr endlich -wann schreibt- da ist das S." Sin1: „Ihr uns endlich." Sin2: „Fragezeichen!--Eure Klasse 3 a." Die SchülerInnen rufen unter Lachen die Lehrerin hinzu. Videotranskript 4.56: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
Die Interaktion der SchülerInnen kreist darum, inwieweit sie ihre PartnerschülerInnen dafür rügen können, dass sie ihnen nicht auf ihre E-Mail geantwortet haben. Das Schreiben und Lesen von Briefen könnte als Metapher für das Verhältnis von „Geben“ und „Nehmen“ verstanden werden. So haben die
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SchülerInnen anscheinend das Gefühl, das dieses Verhältnis aufgrund ihrer unbeantwortet gebliebenen E-Mail nicht ausgewogen ist. Die Beziehung zwischen Sin1 und Sin2 wirkt freundschaftlich, sie lachen viel gemeinsam. Ihr gemeinsames Formulieren und Ihr Ärger darüber, dass die Partnerschüler noch nicht auf ihre letzte Mail geantwortet haben, verbindet sie. So überlegen sie, wie sie die Partnerschülerinnen sanktionieren und zugleich zu einer schnellen Antwort motivieren könnten. Ihr häufiges Lachen zeigt, dass sie ihre Formulierungen vermutlich eher neckisch meinen, dennoch beinhalten sie eine Provokation. Sin1 scheint die gefundene Formulierung („Das finden wir nicht nett von Euch“) als zwar lustig, aber nicht wirklich angemessen zu empfinden und reagiert ambivalent auf die Schreibaufforderung durch Sin2 („Nein, schreib du doch!“): So weigert sie sich selbst zu tippen und fordert zugleich Sin2 auf dies zu tun. Interessanterweise scheint sie mit der Rolle der Tipperin auch zugleich die Übernahme der Verantwortung für das Geschriebene zu verbinden. Gerade bei per Tastatur geschriebenen Texten ist es eigentlich nicht sichtbar, wer was geschrieben hat. So überzeugt sie anscheinend schließlich die Bemerkung von Sin2, dass sie auch unterschreiben wird, daher durch ihre Unterschrift „offiziell“ die Verantwortung für die Inhalte übernimmt, doch die Rolle der Tipperin weiter auszuführen. Die Körperhaltung von Sin1 beim Tippen, dass sie zwar einhändig tippt, sich mit dem anderen Arm aber den Bauch festhält, bzw. umarmt, könnte ein Indiz für ein „Sich selbst Zurückhalten“ sein, das sie selbst eigentlich nicht ganz hinter dem Text steht, auch wenn der Vorschlag von ihr initiiert wurde. Motivation für die Umsetzung könnte auch sein, dass sie das gute Klima zu Sin2 nicht gefährden will, so lachen beide über diese Äußerung. Als Sin2 dann weiter beginnt Sanktionen für die PartnerschülerInnen zu formulieren („Ihr müsst euch schämen!“) wird es ihr anscheinend doch zu übertrieben. Im Hinblick auf die Beziehung zur Partnerschule, betonen beide Formulierungen den Sanktionsaspekt („das finden wir nicht nett von euch!“ und „Ihr müsst euch schämen!“) wobei die Letztere u. a. noch etwas gravierender wirkt, andererseits durch die übertriebene Formulierung, auch eher als neckische Bemerkung verstanden werden könnte. Der Ausdruck „Du muss dich schämen“ erinnert sehr an eine Erwachsenfloskel, die Eltern nutzen, um das nicht gesellschaftsnorme Verhalten ihrer Kinder zu sanktionieren und Autorität zu vermitteln. Die Schülerinnen scheinen als Symbole dafür, wie sie ihre Botschaften meinen, keine Emoticons einzusetzen, sodass hier u. U. durch den Wegfall nonverbaler Signale (wie z. B. Lachen) beim Empfangen der E-Mail die Gefahr eines
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Missverständnisses oder gar der Entstehung einer gestörten Beziehung zur Partnerschule auftreten könnte. In der Beziehung zwischen den beiden Schülerinnen fällt auf, dass Sin1 dominanter wirkt, sie bestimmt, was letztendlich geschrieben wird, und lehnt die Formulierungsvorschläge von Sin2, die sie als unangebracht empfindet ab („Quatsch“, „Dann musst du dich schämen!“). Sin2 scheint hingegen ihre Formulierung als durchaus legitim zu empfinden und versucht zunächst diese durchzusetzen. Die Aushandlung, was nun geschrieben werden soll, die ohne Anführung sachlicher Argumente für die eine oder andere Position vonstatten geht, wirkt wie ein Machtspiel. Sin1 unterbreitet schließlich einen neuen Formulierungsvorschlag („Wann schreibt Ihr uns?“) und bricht damit den Machtkampf ab. Ihr gelingt es damit, wieder eine sachliche Ebene herzustellen und zugleich auf der Beziehungsebene zur Partnerschule ihr sehnsüchtiges Warten auf Antwort auszudrücken. Sin2 übernimmt wieder eine untergeordnete Rolle, fügt sich dem Vorschlag von Sin1 und assistiert ihr beim Tippen. Sin1 ist in dieser Interaktionssequenz die Leithandelnde, während Sin2 - nach einem stattfindenden Machtkampf bezüglich der Formulierungsaushandlung- eine untergeordnete, aber dennoch ko-handelnde Rolle einnimmt. Im Prozess der Wissensgenerierung wirken die Vorschläge von Sin1 insgesamt sachorientierter als die von Sin2, die emotionaler erscheint. In der Interaktion bringen beide Schülerinnen ihre Ideen ein, in der Wissensrepräsentation (der schriftlichen Fassung der E-Mail) schlagen sich aber ausschließlich die Vorschläge von Sin1, die gewissermaßen als Entscheidungsinstanz fungiert, nieder. Lediglich zu Beginn nimmt Sin2 ein wenig Einfluss, indem sie Sin1 überredet ihre zunächst nicht ganz erst gemeinte Formulierung doch in die Mail zu integrieren. Während sie die Ideen von Sin1 mitträgt und stützt, wird der von ihr eingebrachte und verteidigte Vorschlag („Ihr müsst euch schämen!) abgelehnt. Zwischen den Schülerinnen finden keine Grounding-Prozesse statt, da jede versucht ihre Formulierungsversion durchzusetzen ohne eine „neue“ gemeinsame Formulierung im wechselseitigen Aufgreifen und Fortführen auszuhandeln. Letztendlich wirkt es so, als ob Sin1, die sich durchsetzt, diese E-Mail ohne Sin2 genauso formuliert hätte. Inhaltlich sind sich beide SchülerInnen anscheinend durchaus ihrer provokanten Formulierung bewusst, so rufen sie unter Lachen die Lehrerin herbei (zum Fortgang der Interaktion siehe Videotranskript 4.23). Es wurde bereits dargelegt, dass die zu bearbeitende Aufgabenstellung eine wichtige Rahmenbedingung für Austauschprozesse zwischen den SchülerInnen darstellt. Der folgende Videoausschnitt zet, wie bereits das obige Beispiel zeigte, dass auch eine auf einen Diskurs zielende Aufgabenstellung nicht automatisch zu
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Groundingprozessen führt, wenn sie von den SchülerInnen falsch verstanden bzw. nur verkürzt bearbeitet wird: In der Partnerschule der Grundschule des Märchenprojektes wird über die Einführung einer Schuluniform diskutiert. Zwei Schülerinnen (es handelt sich hierbei um das gleiche Arbeitspaar wie oben) verfassen eine Antwort auf die E-Mail dieser Partnerschule, in der sie nach ihrer Meinung gefragt werden. Sin2 hält die ausgedruckte E-Mail der PartnerschülerInnen in ihren Händen. Sin1 (tippt): „Schau mal, wenn wir schreiben (liest vor) 'Hallo liebe Kinder! Uns geht es gut, wir wollten uns herzlich bedanken, dass ihr uns so schnell geschrieben habt. Wenn wir unsere Meinung sagen dürften, würden wir ...' Das ist doch dumm!" Sin2: „Aber, aber die fragen uns doch, was haltet Ihr davon, wenn Ihr in Schuluniform zur Schule gehen müsstet! Wir waren dafür und das können wir doch schreiben!" Sin1: „Nein, wir müssen schreiben, ähm- Warte mal!" Sin2 (enttäuscht): „Och, Mann, ey, D. pass mal auf!" (anscheinend kommuniziert sie mit einem anderen Schüler, der die beiden kurz versehentlich anrempelt). Sin1: „Zum Beispiel, das mit der Schuluniform- das mit der Schuluniform finden wir gut, aber wir würden nicht die Uniform, also nicht die Schulkleidung nehmen, sondern die Uniform." Sin2: „Ja, schreib! (Sie blickt zur anderen Nachbarin und dann kurz in die Kamera). Sin1 (tippt): „Finden wir gut. Aber, wenn wir unsere Meinung sagen dürften, finden wir Uniform besser, oder? (Sin1 guckt zu Jungenpaar, als ihr Blick später die Kamera streift, setzt sie sich aufrecht hin und guckt in die ausgedruckte Mail und auf den Bildschirm, gähnt dann ausgiebig, Sin1 tippt konzentriert) als die Schulkleidung." (Sin2 legt Zettel hin, guckt wieder kurz in Kamera, nimmt Zettel wieder, beginnt zu schmunzeln auch Sin1 nimmt daraufhin Kamera kurz wahr, schmunzelt mit.) Sin1: „Sollen wir schreiben, viele Grüße- äh-..? Sin2 (zeigt auf Ende des Zettels): „Hier, Viele Grüße, Eure Klasse ... Viele GrüßeViele-Grüße..." Sin1: „Sollen wir erst mal schreiben J. und N.?" Sin2: „Nein, so wie hier (zeigt auf Zettel) viele Grüße, Eure Klasse 3 a. (Sin1 tippt) Nächste Zeile, Ausrufezeichen! Nächste Zeile, nächste Zeile ähm Eure N. und J., genau." Videotranskript 4.57: Schülerinnen, Märchenprojekt, Primarstufe
In der Interaktion fällt wieder auf, dass gerade zu Beginn Sin1 den lenkenden und dominierenden Part übernimmt. Sie bestimmt, was geschrieben wird und scheint den Inhalt eher mit sich selbst in Form eines Selbstgespräches als mit ihrer Partnerin auszuhandeln. Wobei sie ihre durchaus sinnige Formulierung („Wenn wir unsere Meinung sagen dürften, würden wir ...“) selbst als „dumm“
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unterbricht. Den vernünftigen und begründeten Einwand von Sin2, dass die Formulierung doch angemessen sei, ignoriert sie und unterbindet damit Kollaborationsprozesse. Sie formuliert schließlich neu, wobei ihr Satz aufgrund einer unlogischen Verknüpfung der Begriffe „Schuluniform“ und „Schulkleidung“ keinen Sinn ergibt („Wir würden ... nicht die Schulkleidung nehmen, sondern die Uniform“). Sin2 bestätigt inhaltlich durch ihre Bestärkung diese (Nonsens-) Formulierung, scheint sich aber gedanklich nicht damit auseinanderzusetzen. Sie hat sich anscheinend der Dominanz von ihrer Partnerin unterworfen und zurückgezogen. Zudem wird sie durch den von ihr wahrgenommenen Kameraeinsatz und den benachbarten Schülern abgelenkt. Sin1 hingegen konstruiert alleine weiter an dem Satzbau und hält diesen durch ihr zeitgleiches Tippen direkt fest. Sin2 ist weiter abgelenkt, der Kameraeinsatz bewirkt bei ihr eine kritische Selbstreflexion, die sich in einer Änderung ihrer Körperhaltung (aufrechtes Setzen) niederschlägt, widersprüchlich scheint aber ihr kurz darauf folgendes Gähnen. Dieses kann wiederum als Signal für ihre Passivität, dass sie nicht aktiv an der Wissensgenerierung beteiligt ist, gedeutet werden. Sin1 scheint erst, nachdem sie fertig getippt hat, bewusst zu werden, dass sie gefilmt wird. Beide Schülerinnen scheinen durch ihr Schmunzeln eine Art flirtende Sequenz mit dem potenziellen Zuschauer/ Kameramann aufzubauen. In der Interaktion ist wieder Sin1 die Leithandelnde, während Sin2 eine untergeordnete Rolle einnimmt, erst gegen Ende bringt sie sich mit ihrer Orientierung an der Verabschiedungsfloskel der Partnerschule, die sie gewissermaßen als „Norm“ nutzt, aktiv ein und setzt sich gegenüber Sin1 durch. Die Mädchen beenden ihre E-Mail, ohne Gründe für ihre Entscheidung für Schuluniformen abzuwägen oder zu nennen. Obwohl die Aufgabenstellung nämlich die Frage nach der Meinung der SchülerInnen zur Schuluniform- auf einen Diskurs zielt, findet keine inhaltliche Auseinandersetzung oder Argumentation statt. Aus welchen Gründen, die SchülerInnen ihre Entscheidung treffen und ob eine Übernahme der Entscheidung von Sin1 durch Sin2 einfach nur „unreflektiert“ abgenickt wurde, bleibt - da sich die SchülerInnen ggf. vor dieser Sequenz inhaltlich abgestimmt haben, offen. In dieser Sequenz findet keine inhaltliche Meinungsbildung, im Sinne einer kritischen Auseinandersetzung mit Vor- und Nachteilen einer Schuluniform sowie eine Ko-Konstruktion von Wissen statt. Eventuelle Groundingprozesse entstehen durch die sehr verkürzte Aufgabenbearbeitung erst gar nicht. Eine Ursache für das fehlende Grounding scheint hier vor allem zu sein, dass den SchülerInnen offensichtlich die Aufgabenstellung, die eben auf den Austausch von Argumenten zielt, nicht deutlich ist. Eine Lehrerintervention im Sinne einer Aufforderung zum Abwägen
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verschiedener Argumente könnte ggf. einen entsprechenden Diskurs zwischen den SchülerInnen anregen (vgl. zum Fortgang der Interaktion Videotranskript 4.24). Im Wirtschaftsprojekt entwickeln die SchülerInnen eigenständig Unternehmenskonzepte. Der Einsatz des Präsentationsprogramms „PowerPoint“ dient als Werkzeug zur Wissensrepräsentation und scheint Groundingprozesse zwischen den SchülerInnen anzuregen. Drei Schülerinnen arbeiten die zentralen Aspekte und wirtschaftlichen Grundlagen ihres Projektes „Edu-plus“ (ein Nachhilfeservice) heraus und stellen die Ergebnisse mithilfe des Programms PowerPoint dar. Sin1 und 2 sitzen beide je auf einem Stuhl vor dem Computermonitor, Sin3 kniet zwischen den beiden Schülerinnen auf dem Boden. (Sin3 ist in der Kameraführung aufgrund ihrer Sitzposition oftmals sehr schlecht bis gar nicht zu sehen und agiert erst in Videotranskript 4.59 aktiv). Sin2: „Wir müssen noch die Annahmen formulieren, dass wir davon ausgehen, dass wir immer die gleiche Schülerzahl haben, da die neuen Schüler, die Schüler die weggehen ausgleichen werden. Weißt du, was ich meine?“ (...) Sin1: „-Warte: generell Ausgleich der Schülerzahlen durch ...“ Sin2: „Ausgleich der abgehenden Schülerzahl ...“ Sin1: „... durch dazukommende. — Ne!“ Sin2: „...durch neue 5te Klassen.“ Sin1: „Ne!! Das hat ja nicht nur mit den neuen 5ten Klassen zu tun, sondern ...“ Sin2: „Doch! (Sin1: Nein!) Es geht jetzt darum, dass die die nach der 10 nicht mehr dabei sind, dass die durch die 5Klässler, die neu an die Schulen kommen ...“ Sin1: „Geht es nur darum? Oder geht es auch darum, dass Leute später z. B. einfach keine Lust mehr haben, damit zu machen oder so oder genug gelernt haben, sag ich jetzt mal (lacht).Aber dann halt wieder Neue nachkommen, die dann halt dazukommen. (...).“ Sin2: „Also es ja egal, ob du jetzt ...“ Sin1: „Es geht ja dann nicht nur ums 10te und 5te Schuljahr. Das kann ja auch im 7ten Schuljahr sein.“ Sin2: „Ja. Es kann ja auch sein - was weiß ich - dass die Mutter jetzt sagt, jetzt ist 7te Klasse erreicht Kind, jetzt kannst du allein zu Hause bleiben. Dann brauch sie nicht mehr 15 DM im Monat dafür zahlen. Und auf der anderen Seite kommt dann aber eine Mutter und stellt fest, oh mein Kind ist schlecht in Mathe und hat gemerkt ein Professor in Mathe als Nachhilfe kostet normalerweise 75 DM die Stunde, und wenn sie die jetzt dafür zu uns hinschickt, dann kriegt sie für 15 DM professionelle Nachhilfe.“ Sin1: „Ja gut.“ (Zum Fortgang der Interaktion siehe nachfolgendes Videotranskript 4.59) Videotranskript 4.58.: Schülerinnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
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In dieser Interaktionssequenz findet ein Diskurs zwischen Sin1 und Sin2 statt, den Input hierzu gibt Sin2 („Wir müssen noch die zentrale Annahme formulieren...). Sin2 wirkt in der Diskussion insgesamt engagiert, aber teilweise auch sehr schnell und unüberlegt in ihren Schlussfolgerungen und Einwänden. So ist sie zunächst etwas kurzsichtig und geht davon aus, dass die Anzahl ihrer Schülerkundschaft nur von den abgehenden 10ten und dazukommenden 5. Klassen bestimmt wird. Diesen Trugschluss versucht Sin1 ihr zu widerlegen bzw. zu erklären, warum dies nicht so ist. In dem Disput fällt auf, dass sich die SchülerInnen gegenseitig unterbrechen, während sie bis zu Beginn ihre Sätze gegenseitig beendet haben und somit die jeweiligen Formulierungsansätze ihrer Arbeitspartnerin fortgeführt haben. Im Mittelteil dominiert ein gegenseitiges Widersprechen. Schließlich gelingt es Sin1, Sin2 von ihrem logischen Fehler zu überzeugen, daher dass in jeder Jahrgangsstufe potenziell mit Nachhilfe begonnen bzw. aufgehört werden kann. Sin2 bestätigt nicht nur die Begründung von Sin1, sondern versucht sie selbst mit einem aus ihrer Sicht authentischen Beispiel zu belegen, also Wissen zu generieren. Das gegenseitige Fortführen und Unterbrechen der Sätze der jeweiligen Partnerin zeigt, dass sich die SchülerInnen in einem Flow befinden. In Gruppenaustauschprozessen können wechselseitige Unterbrechungen und spontane Austauschprozesse wohl auch das Engagement und die intrinsische Motivation der SchülerInnen widerspiegeln. Auf der Beziehungsebene sticht die Zurückhaltung von Sin3 hervor, die sich bisher nicht in die Gruppenarbeit eingebracht hat. Die Sitzanordnung “hoch, tief, hoch“- scheint symbolisch für die Interaktion zu sein. So sitzen Sin1 und Sin2 nicht nur auf gleicher Ebene, sondern scheinen zugleich über den Kopf von Sin3 hinwegzureden: Sie sprechen sich untereinander gezielt mit „du“ an und grenzen hierdurch Sin3 aus (z. B. „Weißt du, was ich meine?“). Die Interaktionsdynamik spiegelt sich auch in der Kameraführung nieder: Zu Beginn sind nur Sin1 und Sin2 im Bild zu sehen, die dazwischenkniende Sin3 wird erst später prägnant sichtbar, so scheint es sich bis hierher vielmehr um eine Partnerarbeit zu handeln, Sin3 wird durch ihr fehlendes Einbringen „unsichtbar“. Es ist davon auszugehen, dass der Computereinsatz auf die Sitzordnung und die Interaktionsdynamik Einfluss nimmt. Die SchülerInnen sitzen alle in Blickrichtung des Monitors, ohne diesen würden sie sich vermutlich eher gegenüber sitzen und ggf. Sin 3 weniger übersehen. Nachdem Sin1 und Sin2 den Konsens wieder gefunden haben, nehmen sie wieder ihre Formulierungsversuche auf, an der sich nun erstmalig auch Sin3 aktiv beteiligt: Sin2: „Ausgleich der abgehenden Schülerzahlen ...“
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Sin1: „Ausgleich der abgehenden? Ne, das kann man nicht sagen. Ausgleich der 7ten, nein! –Ausgleich der Schülerzahlen durch Abgänge und Zugänge. Durch Abund Zugänge?“ Sin3: “Oder durchschnittliche Schülerzahl bleibt konstant durch Ausgleich zwischen Ab- und Zugängen.“ Sin2: „Ne, das ist viel zu lang.“ Sin1: „Mmh (bestätigend). Ausgleich –näh (Sin1 und 2 lachen kurz, Sin3 nicht). Durchschnittliche Schülerzahl bleibt konstant - durch Zu- und Abgänge. (Sin2: „Ja.“) Oder? Ich weiß es nicht!“ Sin2: „Schülerzahl bleibt durchschnittlich konstant. So rum.“ Sin1. „Ja, o. k. Also: (Sie beginnt zu tippen).“ Sin3: „Durchschnittlich konstant. Hört sich das nicht komisch an?— (Sin2: „Nö!“). Ich würde sagen durchschnittliche Schülerzahl, oder?“ Sin1 (lacht): „Ich hätte auch gesagt durchschnittliche Schülerzahl.“ Sin2: „Durchschnittliche Schülerzahl?“ Sin1 (zeigt lachend auf gerade geschriebenen Text): „Aber so sagt man es eher weniger als das andere.- Wir schreiben jetzt „Durchschnittliche Schülerzahlen" finde ich nämlich auch besser.“ Sin2: „Klingt aber auch nicht berauschend.“ Sin1: „Ne. Aber das wird ja eh alles noch mal geändert.“ Sin3: „Du kannst ja auch Schülerdurchschnitt schreiben.“ Sin1 und 2 (begeistert): „Schülerdurchschnitt! Ja!“ (Sin2 streichelt Sin3 hierbei über den Kopf, alle drei / auch Sin3 lachen) Sin2: „Jetzt haben wir es!“ Videotranskript 4.59: Schülerinnen, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Sin3 führt zwei neue Begrifflichkeiten in die Interaktion ein („Durchschnitt“, „konstant“), die später sowohl von Sin1 als auch von Sin2 aufgegriffen werden. Der Vorschlag von Sin3 führt bei Sin2 zunächst aber nur zu einer formalen Ablehnung, so geht sie auf der Sachebene nur auf die negativen Aspekte ein („das ist zu lang“) und verhält sich destruktiv, da sie den Vorschlag nur ablehnend verwirft, ohne auf die Begrifflichkeiten einzugehen, bzw. den Vorschlag weiter zu führen. Erst über den Aufgriff und die Weiterführung der Begrifflichkeiten von Sin3 durch Sin1 arbeitet sie konstruktiv weiter mit an der Formulierung. Sin1 scheint als Vermittlerin zwischen Sin2 und Sin3 zu fungieren. Insgesamt fällt auf, dass Sin1 die einzige der drei SchülerInnen ist, die die Formulierungen der anderen nicht kritisiert und/oder bewertet, sondern immer auf einer inhaltlichen Ebene konstruktiv weiterführt. Zudem versucht sie sich die Gunst beider Mitschülerinnen zu bewahren, indem sie mal Sin2 zustimmt und mal Sin3. Auf die immer wiederkehrenden Zweifel durch Sin2 an der Formulierung reagiert Sin1 schließlich mit einer Abmilderung der Wichtigkeit „Wird ja eh alles noch
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
mal geändert“, vermutlich um die Diskussion abzukürzen. Sin3 schlägt eine neue Formulierung vor („Schülerdurchschnitt“), die schließlich sowohl bei Sin1, als auch bei Sin2 auf Begeisterung stößt. Die unterschiedlichen Interaktionsebenen werden noch einmal durch die Gestik des über den Kopf-Streichelns von Sin2 untermalt. Sin3 findet hier erstmalig „offiziell“ von Sin2 Anerkennung. Durch ihren Vorschlag scheint sie in das Gruppengefüge aufgenommen zu sein, sodass die Drei zum ersten Mal gemeinsam lachen und einen Konsens gefunden haben. Besonders die Rolle von Sin3 hat sich von einem „nicht-sichtbaren“ zu einem voll integrierten Gruppenmitglied, das schließlich den entscheidenden Input gibt und Anerkennung erfährt, gewandelt. Ihr sozialer Gruppenstatus ist durch ihre kompetenten sachlichen Einwände deutlich gestiegen. Die Sachebene vermischt sich hier mit der Beziehungsebene. Bei Interaktionsbeginn (vgl. Videotranskript 4.58) steht auf der Sachebene eine inhaltliche Diskussion um die Motivation und Bedürfnisse der Eltern und Kinder als Kundschaft im Vordergrund und wird anschließend durch eine bloße Formulierungssuche abgelöst. In der Wissensgenerierung (und letztendlichen Formulierung) schlägt sich besonders der Input von Sin3 nieder, von ihr werden die Begriffe „Schülerdurchschnitt“ und „konstant“ eingeführt. Von Sin2 stammen vor allem bewertende Aussagen, während Sin1 am meisten versucht, Entscheidungen zu forcieren. In der Interaktion haben die Schülerinnen gemeinsam Wissen generiert. Es findet ein Wechselspiel zwischen Wissensgenerierung und Wissensrepräsentation statt. So wird die Diskussion der Schülerinnen durch die Aufgabe, zentrale Annahmen über den Bestand ihrer Schülerkundschaft zu formulieren, angeregt. Der Einsatz des Präsentations-Programms nimmt hierbei Einfluss auf die Formulierungen, so werden die SchülerInnen dazu motiviert, Sachverhalte kurz und knapp darzustellen. Im positiven Sinne werden sie so zu prägnanten Äußerungen gezwungen. Wenn dies nicht gelingt, können durch inhaltliche Verkürzungen Missverständnisse entstehen, so könnte der Begriff „Schülerdurchschnitt“ –losgelöst vom Zusammenhang- z. B. auch mit dem Begriff des Notendurchschnittes assoziiert sein. Um Dinge auf den Punkt zu bringen, muss Wichtiges von Unwichtigem getrennt werden, es müssen Entscheidungen getroffen werden, was schriftlich dargestellt wird und was später beim Vortrag an Zusatzwissen mündlich ausgeführt wird. Der Einsatz des Präsentationsprogramms kann als förderliche Rahmenbedingung die Selektion, Bewertung, Generierung und Aufbereitung von Wissen sowie Groundingprozesse zwischen SchülerInnen anregen. Der Prozess der Ideenfindung wäre allerdings auch ohne Computereinsatz (auf dem Papier) umsetzbar.
4.5 Interaktionsmuster: Forschungs- und Produktionsgemeinschaften
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Eine SchülerInnengruppe aus dem Wirtschaftsprojekt betont, dass für sie die Aushandlung und Ko-Konstruktion von Wissen, wie z. B. das Brainstorming von Ideen für Folientitel mit einer großen intrinsischen Motivation verbunden ist: „Der Spaß ist halt, dass man mit der Gruppe vor dem Computer sitzt und beispielsweise eine Überschrift für eine Folie sucht und es kommen dann verschiedene Ideen und Vorschläge.“ Zitat 4.178: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
4.5.6 Computer in Forschungs- und Produktionsgemeinschaften Auch in Forschungs- und Produktionsgemeinschaften spielen digitale Medien eine wichtige Rolle. Sie unterstützen durch die Möglichkeit der freien Internetrecherche das (Er-) forschen von Wissen. Auf die Vor- und Nachteile der digitalen Medien als Werkzeug zur ressourcenorientierten Wissensbeschaffung wurde bereits ausgiebig in Abschnitt 4.1.1b eingegangen. (Er-)forschen hängt eng mit Lernen zusammen. Als Mindtool bieten digitale Medien neue Forschungszugänge an wie z. B. die Option Ergebnisse grafisch zu erfassen (vgl. 4.1.1e) oder anhand von Kalkulationen in Excel neue Erkenntnisse zu gewinnen. Zudem können sie z. B. via E-Mail den Wissensaustausch und die gemeinsame Wissensgenerierung mit externen Experten erleichtern. Als wichtiges Kommunikationsmedium ermöglichen sie so einen schulexternen und fächerübergreifenden Austausch und können auch die außerschulische Kooperation in den Arbeitsgruppen entscheidend stützen. Auf diese Weise wird es auch möglich gemeinsam mit Schulexternen gemeinsame Arbeitsprodukte zu erstellen z. B. über das Internet besteht zudem die Möglichkeit erstellte Produkte und Arbeitsergebnisse zu veröffentlichen und so zu einer Verbreitung des erarbeiteten Wissens beizutragen. Durch diese Optionen erhält die Arbeit der Schülerinnen eine authentische Wertigkeit und steigert deren intrinsische Motivation (vgl. 4.1.1a). Produktivitätstools können als kreative Werkzeuge eine Wissensaufbereitung erleichtern. Sie ermöglichen eine multimediale Aufbereitung des erarbeiteten Wissens und können hierdurch ggf. auch eine Neustrukturierung bedingen. Allerdings bergen sie auch die Gefahr, dass die spielerischen Gestaltungsoptionen zu Ungunsten einer inhaltlichen Orientierung zu sehr in den Vordergrund geraten (vgl. 4.1.1d).
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Eine andere Gefahr liegt darin, dass SchülerInnen, die sich gut mit den medialen Optionen auskennen eine Verhaltensdominanz behaupten und unsichere SchülerInnen aufgrund ihrer Unsicherheiten zu MitläuferInnen oder gar Trittbrettfahrern (vgl. Abschnitt 4.5.3) werden. Wenn sich mehrere SchülerInnen inhaltlich oder auch auf der Ebene der Rollenaushandlung nicht einigen können, kann der Computer auch zu einem Machtinstrument werden. So wurde beobachtet, dass teilweise Maus und Tastatur dazu verwendet werden, die eigene Sichtweise unter Ignorieren der Bedürfnisse und Ideen anderer durchzusetzen (vgl. Abschnitt 4.5.4). Indem digitale Medien in Forschungs- und Produktionsgemeinschaften auf unterschiedliche Kompetenzen zielen, wie z. B. die kritische Reflexion recherchierter Informationen, soziale Kompetenzen im Austausch mit anderen sowie didaktische Kompetenzen in der Aufbereitung von Wissen und Kompetenzen im Umgang mit dem Computer zielen sie insgesamt auf eine Interdependenz und können so wechselseitige Austauschprozesse fördern (vgl. Zitat 4.168, Zitat 4.169).
4.6 Konsequenzen: Erwerb von Schlüsselqualifikationen
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4.6 Konsequenzen: Erwerb von Schlüsselqualifikationen Die Aneignung von Schlüsselqualifikationen (vgl. Abschnitt 2.1) wird von vielen interviewten Lehrpersonen als zentrales Unterrichtsziel genannt. Als Schlüsselqualifikationen werden der Erwerb von Sozialkompetenzen, Selbstlern- und Methodenkompetenzen sowie Medienkompetenzen der SchülerInnen beschrieben. Die einzelnen Schlüsselqualifikationen sind – wie Abbildung 4.11 veranschaulicht – eng miteinander verwoben. So berührt z. B. die Fähigkeit zur Selbstreflexion sowohl das Sozialverhalten als auch Selbstlernkompetenzen. Die Selektion, Bewertung und Aufbereitung von Wissen wird unter dem Konstrukt der Medienkompetenz vorgestellt, kann aber durch die eigenständige Beschaffung von Wissensressourcen auch der Selbstlernkompetenz zugeordnet werden.
Sozialkompetenz
Selbstlernkompetenz
Medienkompetenz
Abbildung 4.11: Schlüsselqualifikationen
4.6.1 Sozialkompetenzen Durch die Teamarbeit und den Austausch mit Externen lernen die SchülerInnen sich auszudrücken, Wissen zu vermitteln (Lernen durch Lehren), Wissen von anderen aufzugreifen und fortzuführen. Die SchülerInnen lernen sowohl sich durchzusetzen, als auch Rücksicht auf andere zu nehmen. Diese sozialen Kompetenzen sind zugleich eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche gemeinsame Ko-Konstruktion von Wissen. Sozialkompetenzen lassen sich schwer theoretisch- anhand von Büchern aneignen. Vielmehr handelt es sich um einen Lernprozess, der – meist unbewusst - im kommunikativen Austausch mit anderen Menschen - also durch Learning by Doing erworben wird. Die
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Sozialform der Gruppenarbeit, die im traditionellen Unterricht nach wie vor wenig praktiziert wird, spielt hier eine wichtige Rolle. Im gemeinsamen Austausch können nicht nur die SchülerInnen, sondern auch die Lehrpersonen Sozialkompetenzen erwerben. „Teamarbeit wird -trotz an allen Enden gerufen- an der Schule doch nicht so intensiv betrieben. Auch unter Lehrern nicht, man ist doch mehr oder weniger Einzelkämpfer, mehr oder weniger. Im Umgang mit den Schülern lernt man sicherlich einiges dazu. (...) Man lernt es nicht in kleinen Lernschritten oder liest Bücher dazu, sondern man inhaliert es einfach im Laufe der Gruppenarbeit.“ Zitat 4.179: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Durch die Sozialform der Gruppen- und Partnerarbeit müssen sich die SchülerInnen untereinander abstimmen und sich bei Uneinigkeiten einigen: „Manchmal setzte ich auch zwei zusammen, damit sie sich absprechen. Es wird da auch eine starke soziale Lernfähigkeit aufrecht erhalten und unterstützt. Es ergeben sich im Spiel auch mal Streitigkeiten, die in vernünftigen Bahnen gelöst werden müssen.“ Zitat 4.180: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Es ist allerdings nicht selbstverständlich, dass sich die SchülerInnen durch die Sozialform der Teamarbeit automatisch sozial verhalten. So lassen sich durchaus Sequenzen finden, in denen die Bewältigung zwischenmenschlicher Konflikte unter den SchülerInnen misslingt (vgl. Abschnitt 4.5.4). 4.6.1.1 Kritische Selbstreflexion Durch den wechselseitigen Austausch beim Teamwork bekommen die SchülerInnen sowohl verbal als auch nonverbal Feedback zu ihrem Handeln, wodurch ihre Selbstreflexion geschult wird: Sin: „Ich habe die Angewohnheit in Gruppen immer alles ziemlich schnell zu regeln und zu sagen, wer was macht. Das ist eigentlich nicht so toll und da muss ich an mir arbeiten. (...) Ich habe immer das Bedürfnis, wenn jemand nicht weiterkommt oder sich zu doof anstellt, der Person zu sagen, wie sie es machen muss. (...). Es hat funktioniert. Ich war hinterher selber erschrocken, als ich gemerkt habe, was ich gemacht habe. Und das ist mir immer wieder passiert. (....).“ I: „Hast du das selber gemerkt oder hat dir jemand dieses Feedback gegeben?“
4.6 Konsequenzen: Erwerb von Schlüsselqualifikationen
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Sin: „Nein, das habe ich selber gemerkt und ich fand das ganz schrecklich. Die Einen schauten mich dann plötzlich komisch an und da habe ich mich gefragt, was ich da eigentlich gemacht habe. Dann war mir das etwas peinlich und dann habe ich selber versucht das ein wenig zu ändern.“ Zitat 4.181: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Die Schülerin aus dem Wirtschaftsprojekt hinterfragt ihr Gruppenhandeln dahin gehend, dass sie oftmals aufgrund ihres Ehrgeizes und ihrer Ungeduld dazu neigt, eine zu dominante Rolle einzunehmen. So hat sie mehrmals MitschülerInnen Arbeitsanweisungen erteilt. Dass die anderen sie befolgt haben („das hat funktioniert“) zeigt, dass sich die Schülerin als Respektperson durchsetzen kann und sich im Gruppengefüge eine Art Chefposition erarbeitet hat. Indem andere ihre Rollenzuweisungen annehmen, entwickelt sich eine asymmetrische Kooperation. Ohne das ihr Verhalten thematisiert wurde, hat sie selbst dennoch anhand der nonverbalen Signale ihrer MitschülerInnen bemerkt, dass ihr Verhalten anscheinend teilweise unangemessen ist. Aufgrund dieser unangenehmen Erfahrungen, die die Schülerin wie eine Sanktion erlebt, bemüht sie sich ihr Handeln verstärkt zu hinterfragen und zu verbessern. Inwieweit ihr Verhalten in der Gruppe diskutiert wird, lässt sich leider anhand der Daten nicht klären. Die Sozialkompetenz der Schülerin zeigt sich in ihrer Sensibilität, nonverbale Reaktionen auf ihr Verhalten zu reflektieren und sich selbst durch eine kritische Selbstsicht weiter zu entwickeln. Eine Sozialkompetenz äußert sich auch darin, gesellschaftliche Phänomene zu reflektieren und sich in zwischenmenschliche Belange einzumischen. In der Medien AG setzen sich die SchülerInnen u. a. kritisch mit ihrer Außenwirkung auf Externe auseinander. Sie haben u. a. eine Mutter interviewt, die mitbekam, wie einige SchülerInnen sich unhöflich gegenüber Passanten verhalten. „Eine Betroffenheit, die können wir glaube ich nur durch eine Begegnung erreichen. Also so einen Konflikt, wie wir heute hatten, also dass Leute sagen: „Also Mensch, das ist hier unterstes Level von sozialem Verhalten auf der Straße. Das ist ja schon fast anpöbeln.“ (...) Und was ich auch sehr spannend fand heute früh, war das gerade auch aus der Medientruppe (...), „wir sind ja nur Hauptschüler, das ist ja nur Hauptschulniveau" gesagt wurde. Also dieses Image ist ihnen offensichtlich sehr wohl bewusst, dass da so was ist wie eine Art Stempel „so bin ich". Und auf der anderen Seite aber habe ich auch gesehen, dass da ein sehr großes Interesse auch ist, dieses zu relativieren. (...) Also es gab eine ganz heiße Diskussion da unten. Wir haben nicht den Königsweg, aber die Idee, weiter zu konfrontieren. Das war die gesamte Schule inklusive Lehrerschaft.“ Zitat 4.182: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
Über den Austausch mit Externen wird es möglich, dass die SchülerInnen mit ihrer Fremdwahrnehmung konfrontiert werden. Es zeichnet sich eine Ambivalenz in der Selbstwahrnehmung der SchülerInnen ab, so scheinen diese zum einen selbst negative gesellschaftliche Bilder („Vorurteile“) internalisiert zu haben („Wir sind ja nur Hauptschüler“), versuchen aber anderseits derartigen Zuschreibungen und Stigmatisierungen entgegenzuwirken. Mithilfe ihrer Medienproduktionen, wie der Veröffentlichung eines Zusammenschnittes zentraler Aussagen der Mutter (vgl. Zitat 4.11) können sie eine schulinterne Diskussion auslösen. Ihre intrinsische Motivation ist es, auf diese Art und Weise langfristig zu einem besseren Image von HauptschülerInnen beizutragen. Ihre Sozial- und Medienkompetenz schlägt darin nieder, dass sie über ihre Medienproduktionen und Diskussionen einen aktiven (fast schon politischen) Beitrag zur Mitgestaltung der Gesellschaft leisten. Selbstvertrauen und –bewusstsein Die folgenden SchülerInnen beschreiben, wie sich ihre sozialen Fertigkeiten im Laufe des Medienprojektes weiterentwickelt haben. Gerade durch den Austausch mit externen Experten, die für sie besondere Respektpersonen darstellen, können sie einen Zuwachs an Selbstbewusstsein erleben. So erleben sie, dass auch mit Menschen höherer (gesellschaftlicher) Position, trotz der beruflichen Hierarchie eine „normale“, weitgehend symmetrische Kommunikation möglich ist. Sie schulen durch den Austausch mit anderen ihre verbalen Fertigkeiten und ihre Menschenkenntnis. Die SchülerInnen profitieren, indem sie die erworbenen Kommunikationskompetenzen auf andere Bereiche, wie z. B. Vorstellungsgespräche gewinnbringend übertragen. S1: „Man lernt im Endeffekt, dass Menschen die im Beruf eine höhere Position haben, dass es auch nur Menschen sind, mit denen man ganz normal sprechen kann. (...).“ Sin1: „Man lernt, auch mit anderen Menschen umzugehen. Man lernt, viel im Team zu arbeiten. Man lernt, sich besser auszudrücken. Man weiß, was man sagen will. Bei Vorstellungsgesprächen z. B. hat es mir sehr viel gebracht, weil man einfach viel lockerer ist.“ Zitat 4.183 SchülerInnen, Medienprojekt, Sek. I
Die Einstellung zu Lehrpersonen und anderen Erwachsenen hat sich durch das Medienprojekt verändert, während sich SchülerInnen früher aus Angst vor Autoritäten mit ihren Ideen und Meinungen zurückgehalten haben, trauen sie sich
4.6 Konsequenzen: Erwerb von Schlüsselqualifikationen
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nun eher ihre eigenen Vorstellungen zu behaupten. Durch dieses Verhalten entsteht eine symmetrische Beziehung, die sich positiv auf den Wissensaustausch und das Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven auswirkt. Derartige symmetrische Interaktionsmuster können als förderliche Rahmenbedingung für eine Ko-Konstruktion von Wissen angesehen werden. S1: „Früher saßen wir alle so, wenn uns irgendjemand Erwachsenes gefragt hat „nein ich will nichts sagen, nein" und mittlerweile reden wir einfach so frei nach Schnauze, dass wir einfach drauf lossabbeln ... S2: „Wir haben auch keine Angst mehr, wenn ein Lehrer zu uns ankommt und sagt „so und so ist das" dann auch einfach mal unsere Meinung dem ins Gesicht zu sagen.“ Zitat 4.184: Schüler, Medienprojekt, Sek. I
Eine Besonderheit im Medienprojekt (sowie im Wirtschafts- und Märchenprojekt) liegt darin, dass die SchülerInnen auch von sich aus Kontakt zu SchulExternen aufbauen, und z. B. im Rahmen von Interviews die Gesprächsführung übernehmen. Sie lernen, in authentischen Situationen soziale Hürden und eigene Kontaktängste abzubauen. Auch zu einer gelungenen (mündlichen) Präsentation, gehört, neben der Fähigkeit Wissen prägnant dar zu stellen, eine Portion Mutgerade wenn diese vor Experten und einem großen Publikum vorgestellt wird. „Man lernt zu sprechen. Man lernt vor einer Gruppe von 100 Leuten zu stehen und da zu reden, also wenn man da nicht lernt, wo dann? Wo lerne ich mich auszudrücken, wo lerne ich, meine eigenen Grenzen praktisch auch ein bisschen zu überspringen? Wo lerne ich mit wildfremden Menschen zu reden, die anzusprechen, wenn nicht in einem Interview?“ Zitat 4.185: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
4.6.1.2 Soziale Probleme bewältigen Eine Sozialkompetenz zeigt sich gerade in der Bewältigung von kritischen Vorfällen. So wird in der Medien-AG ein delinquenter Mitschüler nicht öffentlich stigmatisiert. Die SchülerInnen lösen das Problem eigenverantwortlich und sensibel klassenintern, anstatt den Schüler schulischen Hierarchien und gesellschaftlichen Sanktionsmechanismen auszuliefern. Auf diese Weise konnte dieser später wieder in die Klasse integriert werden.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement „Wir haben (...) einen ganz kniffeligen Fall hier drin gelöst (... zum Thema) „Betrug, Klau und Lüge" (...). Ohne die übliche Schiene mit Klassenlehrer und dann Anzeige und was weiß ich da alles. (...), wo die sich richtig zusammengerauft haben und wo dann derjenige, der dann auch derjenige war, der dort dann sozusagen im Brennpunkt stand, irgendwann auch in die Gemeinschaft zurückgekommen ist.“ Zitat 4.186: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Auch in den anderen Fällen findet teilweise eine Bearbeitung gesellschaftsrelevanter Themen statt. So beschäftigten sich die SchülerInnen im Fall „freier Medieneinsatz“ u. a. auch mit der Euro-Einführung und die SchülerInnen des Märchenprojektes diskutieren mit PartnerschülerInnen über die Vor- und Nachteile des Einsatzes von Schuluniformen. Dass in der Medien-AG z. B. die Außenwirkung der HauptschülerInnen reflektiert wurde, wurde bereits dargelegt (vgl. Zitat 4.182). 4.6.2 Selbstlernkompetenzen Wie SchülerInnen als selbst gesteuerte Lerner agieren und Lehrpersonen in ihrer Rolle als Facilitatoren diesen Prozess fördern, wurde bereits ausgiebig in Kapitel 4.4.3 thematisiert. Im Folgenden werden kurz einige wichtige Selbstlernkompetenzen, wie die intrinsische Motivation, die Selbstwirksamkeit der SchülerInnen und wie diese das Lernen lernen vorgestellt. 4.6.2.1 Intrinsische Motivation und Anstrengungsverhalten Eine positive Veränderung, die viele SchülerInnen (z. B. hier im Medienprojekt) beschreiben ist, dass sie durch die ansprechende Gestaltung des Projekts intrinsisch motiviert sind, was sich sehr positiv auf ihre Leistungs- und Lernbereitschaft auswirkt. So sind sie im Gegensatz zu früher vielmehr bereit, Zeit und Energien in die Schule zu investieren und ihre Faulheit zu überwinden: S: „Meine Mutter (..) sagte, „du hängst die ganze Zeit in der Schule, was macht Ihr da?“ (...). Normalerweise würde die sagen, „du bist bekloppt, früher warst du nie gerne in der Schule und jetzt hängst du den ganzen Tag da drin.“ Sin: „(...) seitdem ich hier an der Schule bin, bin ich hier auch nachmittags und das haben meine Eltern auch irgendwie nicht verstanden, weil ich mich wirklich, seitdem ich hier auf der Schule bin, um 180° geändert habe.“ Zitat 4.187: SchülerInnen, Medienprojekt, Sek. I
4.6 Konsequenzen: Erwerb von Schlüsselqualifikationen
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4.6.2.2 Selbstwirksamkeit Die Selbstlernkompetenz der SchülerInnen zeigt sich u. a. darin, dass sie die Verantwortung für ihren eigenen Lernprozess übernehmen und gebotene Freiheitsgrade nicht ausnutzen. Die folgende Schülerin beschreibt ihr hohes Maß an Selbstwirksamkeit. Sie erlebt es zugleich als motivierend, als auch als verlässliche Quelle, wenn sie sich selbst Wissen aneignet. „Ich finde es gut, dass man Sachen selber herausbekommen kann. Ich persönlich glaube Sachen eher, wenn ich die Sachen selbst herausgefunden habe. Ich möchte entweder den Beweis dazu haben oder es selber herausfinden.“ Zitat 4.188: Schülerin, SelMa, Sek. II
Im Fall SelMa werden gezielt Lerntagebücher eingesetzt, um einen selbst gesteuerten und reflexiven Lernprozess der SchülerInnen zu fördern. „Mir kam es auf die Reflexion an. Und da haben wir ja auch im diesjährigen Jahrgang ganz tolle Beispiele gefunden. (..) Ein Mädchen hat das Tagebuch als Chance begriffen, über den Unterricht zu reflektieren. So wurde sie im Unterricht immer stärker. Sie bekam eine ganz andere Tiefensicht für den Unterricht. Das konnte man dann wieder im Lerntagebuch nachlesen. Das war eine tolle Entwicklung; solche Lerntagebücher hatten wir im Sinn. Dagegen hatten wir andere Beispiele, wo gerade die Reflexionsschritte nicht aufgetaucht sind. Das musste dann irgendwie in die Bewertung mit einfließen.“ Zitat 4.189: Lehrer, SelMa, Sek. II
Die Schülerin hat die Methode des Lerntagebuches als Werkzeug für ihr selbst gesteuertes Lernen genutzt. Sie hat sich so selbst einen tieferen Einblick über die einzelnen Arbeits- und Rechenschritte verschafft und ihre mathematischen Fertigkeiten ausgebaut. Aber offensichtlich lassen sich nicht alle SchülerInnen mit dieser Methode erreichen.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
4.6.2.3 Lernen lernen Die SchülerInnen lernen durch die offene Lernumgebung und die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten der digitalen Medien, ihre eigenen Lernprozesse autonom zu steuern. Sie sollen dazu befähigt werden, Lernen zu lernen. Die Lehrerin des Märchenprojekts sieht dies als die Hauptaufgabe der Grundschule an. Hierzu gehört das selbst gesteuerte Lernen in offenen Lernumgebungen, wie das selbstständige Aneignen von Arbeitstechniken und die Kooperation in der Gruppe. „Die Kinder in der Grundschule müssen die offenen Formen erst lernen. Das heißt, dass sie erst Gruppenarbeit, selbstständige Arbeit, das Suchen von Informationen in Büchern oder woanders lernen müssen. (..)"Lernen lernen" ist eine der Hauptaufgaben der Grundschule.“ Zitat 4.190: Lehrerin, Märchenprojekt, Primarstufe
Viele Lehrpersonen betonen, das Lernen lernen zu einer der zentralen Schlüsselqualifikationen im Informationszeitalter wird. Das Aneignen von Methoden der Informationsrecherche, -aufbereitung und der aktiven Problembewältigung gewinnt einen wichtigeren Stellenwert gegenüber dem Erlangen von Wissensbeständen. Gerade in diesem Bereich wird die Nutzung digitaler Medien zu einer zentralen Rahmenbedingung. „Der Bereich, der zunehmend wichtiger geworden ist, das Lernen lernen, die sogenannten Schlüsselqualifikationen (..), Techniken zu erlernen, sich Wissen zu verschaffen, offene Fragen zu beantworten, Probleme zu lösen ohne gleich ein dickes Lexikon in 18 Bänden haben zu müssen, was heute eh kaum jemand hat. (...). Das wäre ohne Computer nicht machbar.“ Zitat 4.191: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
4.6.3 Medienkompetenzen Zu dem Erwerb von Medienkompetenz gehört es, neben technischen Fertigkeiten, Wissen zu selektieren, zu bewerten und aufzubereiten. Für die folgende Lehrerin zählt der Umgang mit digitalen Medien, wie z. B. eine effektive Internetrecherche zu den grundlegenden Basiskompetenzen, um der ständig wachsenden Informationsflut in der Wissensgesellschaft gewachsen zu sein.
4.6 Konsequenzen: Erwerb von Schlüsselqualifikationen
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„Es ist oder wird zur Kulturtechnik mit dem Computer umgehen zu können genauso wie Lesen oder Schreiben zu können. Das Inhaltliche verändert sich ja so schnell. Wichtig ist es auch noch, dass sie Strategien und Lösungswege kennen, um im Internet etwas zu finden.“ Zitat 4.192: Lehrerin, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Bei der Medienkompetenz steht nicht mehr der Erwerb von Verfügungswissen, sondern vielmehr das Wissen über effektive Strategien und Methoden zur Informationsbeschaffung im Vordergrund: „Eigentlich sind die ganzen Sachen ja im Internet versteckt, wenn man es genau nimmt. Aber man muss halt danach suchen. Und das lernt man eben auch. Man sucht und lernt das suchen.“ Zitat 4.193: Schüler, Medienprojekt, Sek. I
Die SchülerInnen können durch die Auseinandersetzung mit digitalen Medien lernen, sich selbst Wissensressourcen zu beschaffen, diese Informationen zu selektieren und zu bewerten (eine kritische Sichtweise einzunehmen). Medien sollen nicht unreflektiert konsumiert werden, sondern gewonnene Informationen aus einer kritischen Perspektive heraus aufbereitet werden. „Ich sehe das immer für die Gruppen, die ich da betreut habe: Ich meine, dass die alle ganz viel mitgenommen haben. Die Schlüsselqualifikationen. Wie beschaffe ich mir selbst Informationen? Ich sitze ja nicht dabei. Die finden alles selbst. Das wird bewertet, diskutiert, umgewälzt.“ Zitat 4.194: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
4.6.3.1 Wissen selektieren und bewerten (Wissen generieren) Es wurde bereits erwähnt, dass das Internet die Gefahr eines „Lost in Hyperspace“-Phänomens“ birgt (vgl. Abschnitt 2.4.4). Zur Medienkompetenz gehört daher die Fertigkeit aus einer Unmenge von Informationen die Relevanten herauszufiltern, hierbei zählt neben dem Bezug zum Thema auch die eigene thematische Schwerpunktsetzung, die oftmals von einer intrinsischen Motivation gelenkt wird. Recherchierte Informationen müssen nebem ihrer Relevanz vor allem auch im Hinblick auf ihren Wahrheitsgehalt hinterfragt werden. So kann der Vergleich verschiedener (medialer) Informationsquellen Ungereimtheiten aufdecken (aber nicht unbedingt auflösen).
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement „Eine ganz wichtige Sache, die man auch im Buch oder Zeitung hat, aus dem Wust von Informationen, die herauswählen, die interessant sind und (...) die der Wahrheit entsprechen. Wir leben in einer Zeit, wo es nicht mehr damit getan ist Informationen herauszufinden, sondern wir müssen uns bei jeder ausgewählten Information fragen, stimmt das denn auch? Nur weil es in der „Tagesschau" war, stimmt es leider überhaupt noch nicht, stellt man dann fest, wenn man noch sieben andere Nachrichtensender sieht.“ Zitat 4.195: Lehrer, freier Medieneinsatz, Primarstufe
Die SchülerInnen der Medien-AG habendie Wichtigkeit erkannt, bewusst unterschiedliche Informationsquellen heranzuziehen um Widersprüche auf zu decken und zu hinterfragen. Der Vergleich und die Bewertung unterschiedlicher Informationen tragen durch einen inneren Disput zu einer persönlichen Meinungsbildung bei und führen zur wichtigen Selektion und Aufbereitung. Die SchülerInnen sind sich durchaus bewusst, dass dieser Prozess von ihnen als Subjekt aktiv gesteuert wird. Gemäß des Konstruktivismus scheinen sie nicht von einer absoluten, sondern von einer subjektiven Wahrheit auszugehen: „Wenn ich 5 verschiedene Sachen habe und davon sind 3 gleich und 2 nicht, dann kann ich mir alles in Ruhe durchlesen und mir meine eigene Meinung davon bilden und für mich persönlich daraus ziehen, was ich glauben soll und was nicht.“ Zitat 4.196: Schülerin, Medienprojekt, Sek. I
Die SchülerInnen werden vor allem im Märchen-, Wirtschafts- und Medienprojekt, aber auch im Fall „freier Medieneinsatz“ selbst zu Produzenten. Die digitalen Medien bieten verschiedene multimediale Formen der Wissensaufbereitung über die die SchülerInnen Präsentationstechniken erwerben können (vgl. Abschnitt. 4.1.1d). Der Lehrer der Medien-AG betont, dass Medienkompetenz, über ein (reflektives) Konsumieren digitaler Medien hinaus, auch umfasst z. B. über eigene Medien-Produktionen Gesellschaft aktiv mitzugestalten. Dem betreuenden Lehrer ist es wichtig, den SchülerInnen zu vermitteln, dass derartige Wissensrepräsentationen (auch im schulischen Kontext) umsetzbar sind. „Medienkompetenz ist für mich in einer Mediengesellschaft die Teilhabe und zwar die aktive Teilhabe an dieser Gesellschaft. Nicht nur als Konsument, auch als Produzent. Deswegen produziere ich mit denen, was das Zeug hält. Dass die einfach merken so eine Radiosendung ist machbar. So eine Videogeschichte ist machbar.“ Zitat 4.197: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
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4.6.3.2 Medien kritisch bewerten Digitale Medien bergen bei unreflektierter Nutzung die Gefahr der Reizüberflutung und Manipulation sowie der unreflektierten Konsumierung. Um dem entgegenzuwirken, ist es eine Aufgabe der Schule den SchülerInnen zu helfen, eigene Bewertungsmaßstäbe zu entwickeln und sich über das Einnehmen verschiedener Perspektiven schließlich einen eigenen Standpunkt zu erarbeiten und zu vertreten. Ein Unterrichtsziel, das vor allem im Medienprojekt zentral ist: „Die haben heute ihr Multimedia und die werden damit so beballert, dass man die Frage auch stellen kann, wie bereiten wir unsere Kids darauf vor, dass sie sich da orientieren. (...) Dass sie einen Standpunkt vermitteln können, dass sie erst mal auf einen Standpunkt hinarbeiten. Das würde aber bedeuten, dass sie auch andere Standpunkte erst einmal erarbeiten. Dass sie sich erst mal Kriterien erarbeiten für bestimmte Beurteilungen. (..) Und das, was wir heute eigentlich bräuchten, ist, dass die Kids sich zurechtfinden in der Manipulation von Bilderwelten.“ Zitat 4.198: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
Die SchülerInnen der Medien-AG, haben dadurch, dass sie nicht nur das Ergebnis der Arbeit anderer konsumieren, sondern auch selbst Produkte gestalten eine kritischere Sicht auf Medien gewonnen und sich von „naiven“ Medienkonsumenten zu reflexiven Produzenten entwickelt. Ihre Art und Weise mithilfe der digitalen Medien selbst Wissen zu generieren und zu repräsentieren hat einen Einfluss auf ihren Medienkonsum. Sie werden immer mehr zu Experten in ihrem jeweiligen Metier und können Medienprodukte entsprechend differenzierter und kritischer bewerten. „Und man merkt bei den meisten Sachen auch, wie man von den Medien regelrecht veräppelt wird und wie so was z. B. zustande kommt. Wie lange es dauert, so einen Beitrag z. B. zu machen. Oder wie das abläuft, wenn man so eine Homepage erstellt. Vorher hat man meistens nur das fertige Objekt gesehen und meint so „toll, sieht gut aus" und man weiß aber im Endeffekt nicht wirklich, was da für Arbeit hinter steckt. Und in dem Moment, wo man mit der Arbeit konfrontiert wird, da weiß man, was da für harte Arbeit hinter steckt und man findet sich auch besser zurecht.“ Zitat 4.199: Schüler, Medienprojekt, Sek. I
Der Lehrer des Medienprojektes bestätigt die Selbstwahrnehmung der SchülerInnen, dass diese kritischer mit Medien umgehen, dargestellte Inhalte bewusst hinterfragen und sich eine eigene Meinung bilden.
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4 Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement „Also worüber die (SchülerInnen) sich mittlerweile schon ärgern, dass es Filmkritiken gibt, die sie überhaupt nicht gut finden. Dass haben sie mittlerweile schon festgestellt, dass sie da nicht immer einverstanden sind, dass da ein Film platt gemacht wird oder umgekehrt.“ Zitat 4.200: Lehrer, Medienprojekt, Sek. I
4.6.3.3 Wissen (re)präsentieren Die SchülerInnen des Wirtschaftsprojektes lernen Wissen prägnant, selbstbewusst und gut artikuliert darzustellen. Dass sie ihre Ergebnisse vor einem großem Plenum präsentieren, ist ein Ansporn und eine gute Möglichkeit das freie Vortragen zu üben. Die Größe der Zuhörerschaft bildet einen förderlichen Rahmen zum Erlernen der verbalen Wissensrepräsentation. „Man merkt auch, dass viele das freie Sprechen gelernt haben, die es vorher vielleicht gar nicht konnten. Die müssen dann jetzt zwangsweise vor einem Riesenpublikum vortragen und für viele ist das ein Vorteil. Bei denen ist es dann vielleicht auch eine Motivation gewesen, das zu lernen.“ Zitat 4.201: Schülerin, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
Durch den Erwerb von Präsentationskompetenzen werden die SchülerInnen u. a. optimal auf ein Berufsleben vorbereitet. Der Austausch mit Externen kann einen Wissensaustausch hervorbringen, von dem beide Seiten profitieren, so können SchülerInnen von den WirtschaftspartnerInnen lernen und sich sogar zum potenziellen Mitarbeiter-Nachwuchs etablieren38. „Wenn sie Präsentationstechnik lernen, davon profitieren sie auch später noch sehr viel. Das haben wir auch von einer Bank hier gehört(...): „Wir haben einen Schüler von ihnen eingestellt. Der hat von dem Projekt erzählt. Hatte eine klare Sprache, wusste, was er wollte. Wir haben selten eine so schlüssige und auf den Punkt gebrachte Vorstellung von jemanden gesehen." Zitat 4.202: Lehrer, Wirtschaftsprojekt, Sek. II
38 Ein anderer Profit liegt in der wechselseitigen Perspektivenerweiterung, d.h. dass auch externe Partner von SchülerInnen lernen (vgl. Zitat 4.96) .
5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse
„Wissenschaft= die systematische Klassifizierung der Erfahrung“ Sinclair Lewis (1885-1951) In diesem Kapitel wird anhand der in Kapitel 4 beschriebenen empirischen Befunde ein dreidimensionales Achsenmodell zum gemeinsamen Wissensmanagement in mediengestützten Lernumgebungen entwickelt. Als wichtiges zentrales Anliegen dieser Arbeit wird dargestellt, wie sich die unterrichtlichen Interaktionsmuster in den Wissensmanagement-Prozessen, besonders im Sinne einer Ko-Konstruktion von Wissen, niederschlagen, um förderliche und hinderliche Aspekte eines gemeinsamen Wissensmanagements herauszuarbeiten. Hierbei wird auch fokussiert, welche Rolle dem Einsatz digitaler Medien zuteil wird. 5.1 Axiale Dimensionalisierung der Interaktionsmuster In Anlehnung an die beschriebene Methodik der Grounded Theory (Kapitel 3.4) werden nun die im Zentrum dieser Arbeit stehenden Interaktionsmuster im Sinne eines axialen Codierens entsprechend ihrer zentralen Eigenschaften dimensionalisiert, um später Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Ausprägungen und Dimensionen - gerade im Hinblick auf die Ko-Konstruktion von Wissen - herzustellen. Als zirkuläre Ergänzung zu den aus den Daten extrahierten Phänomenen und deren unterschiedlichen Ausprägungen werden Interaktionsmodelle gesichtet und im Hinblick auf deren Eignung für die Bildung von Achsenkategorien überprüft, die dem Anspruch, Wissensmanagement aus einer vorwiegend sozialen Sicht zu analysieren, gerecht werden. In diesem Zusammenhang erscheint das SYMLOG-Konzept (System for the Multiple Level Observation of Groups) von Bales und Cohen (1982) als hilfreich, da es der detaillierten Analyse von Gruppenprozessen in sozial-emotionaler und kognitiver Hinsicht dient. Zudem wird die Verknüpfung der Außensicht („Beobachterperspektive“) mit der Innensicht der in Interaktionsprozesse involvierten Personen möglich. Dennoch dient es hier nur als Anregung, da die dort entwickelten quantitativen Ratingverfahren nicht angewandt werden. Außerdem M. Stadermann, SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen, DOI 10.1007/978-3-531-93178-4_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse
werden die Achsenkategorien des im Zentrum von SYMLOG stehenden Raummodells für unterrichtliche Interaktionsmuster im Hinblick auf eine Eignung für die Ko-Konstruktion von Wissen in computerunterstützten Lernumgebungen stark modifiziert1. Das SYMLOG-Raummodell zur Bestimmung von sozialen Verhaltensweisen in Gruppen wird durch die folgenden drei Dimensionen aufgespannt: Durch die Achse der sozio-emotionalen Orientierung mit den Polen „freundlich“ versus „unfreundlich“, dann durch die Achse des Einflusses und der Macht mit den Polen „Einfluss nehmend“ versus „auf Einfluss verzichtend“ und die Achse der Aufgabenorientierung und Expressionalität mit den Polen „zielgerichtet/ kontrolliert“ versus „gefühlsbestimmt/ ausdrucksvoll“. Die sozio-emotionale SYMLOG-Achse mit den Polen „freundlich“ versus „unfreundlich“ wird in die Pole „Kooperation“ versus „Konkurrenz“ verändert. Diese Begriffe sind nicht synonym. So heißt „Kooperation“ nicht unbedingt, dass beide Partner freundlich miteinander umgehen, während z. B. KonkurrentInnen nicht unbedingt unfreundlich zueinander sein müssen. „Kooperation“ wird in diesem Fall definiert als die Schaffung oder das Agieren innerhalb eines gemeinsamen Handlungsrahmens mit einem gemeinsamen Ziel. Unter „Konkurrenz“ wird als Gegenpol verstanden, dass die beteiligten Interakteure unter Ignorieren der Bedürfnisse der Arbeitspartner egozentrische Ziele anstreben; es wird kein gemeinsamer Handlungsrahmen hergestellt und auch keine gemeinsamen Ziele verfolgt. Auf diese Weise werden Verhaltensmuster zugleich auf einer sozialen und einer sachlich-inhaltlichen Ebene betrachtet. So können z. B. die SchülerInnen durchaus gemeinsam ein Ziel verfolgen, das sowohl emotionaler Art sein kann und mit einer geringen Aufgabenorientierung einhergeht, z. B. dem Computer die Rolle eines Sündenbockes zuschreiben, um ihren gemeinsamen Frust zu bewältigen, als auch sachlich zielorientiert (z. B. die gemeinsame Lösung eines Rätsels) vorgehen. Über eine deskriptive Ebene hinaus werden den Akteuren Handlungsabsichten unterstellt. Sind sich die Akteure in ihren gemeinsamen Zielen einig, werden sie kooperativ miteinander umgehen, falls nicht, wird jede/r versuchen, die eigenen Ziele mit verschiedenen Mitteln gegenüber dem anderen durchzusetzen. Dazwischen findet sich ein Verhandlungsspielraum, so kann bei uneinigen Handlungsabsichten ein Konsens erzielt, bzw. einer der beiden Akteure von der Sichtweise des anderen überzeugt werden, sodass aus zwei vormals konträren und egozentrischen Zielorientierungen eine gemeinsame entstehen kann.
1 Um den Einfluss der neuen Medien auf die Wissensmanagement-Prozesse in das Modell zu integrieren wird zudem in dieser Arbeit – unabhängig von SYMLOG- eine weitere Dimension entwickelt (vgl. Abschnitt 5.2.2).
5.1 Axiale Dimensionalisierung der Interaktionsmuster
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Die SYMLOG Pole der Macht-Achse, nämlich „Einfluss nehmend“ versus „auf Einfluss verzichtend“ erscheinen beim Versuch der Konstruktion von Interaktionsmustern nicht ganz passend. Der Begriff Interaktionsmuster impliziert nicht nur einzelne Verhaltensweisen, wie „Einfluss nehmen“, sondern vielmehr, wie sich die Interaktion zwischen den SchülerInnen gestaltet. Eine Interaktion setzt sich aus mehreren Aktions-Reaktionsequenzen zusammen, die voneinander abhängig sind2. Auf eine andere Person kann nur Einfluss genommen werden, wenn diese auf ihren Einfluss verzichtet. Wenn z. B. ein Schüler einem anderen in die Tastatur eingreift, kann dieser a) sich selbst von der Tastatur zurückziehen, in dem Fall würde eine Dominanz-Unterwerfungsstruktur vorliegen oder b) den Partner von der Tastatur wegdrängen, in dem Fall würde ein Konkurrenzkampf um die Position des Computerbedieners entstehen, bis ggf. wiederum einer nachgibt. Hier wird deutlich, dass die Interaktionsmuster nicht als starres System begriffen werden können, sondern im Laufe der Interaktion wechseln können. Interaktionsmuster befinden sich aufgrund der immer wieder neuen Aushandlung des Situationsrahmens durch die involvierten Personen im Wandel, die Übergänge sind fließend. Um die aus den Daten extrahierten Interaktionsmuster auf der Machtachse zu dimensionalisieren, erweist sich bei einer weiteren Literaturrecherche das Konzept der kommunikativen Interaktionsformen von Michel (1973) als hilfreich. Michel differenziert in seiner Analyse von Unterrichtsgesprächen zwischen symmetrischen und asymmetrischen Interaktionsformen. Symmetrisch ist eine Interaktion dann, wenn die beteiligten Gesprächspartner auf einer Ebene gleichberechtigt miteinander kommunizieren. Als asymmetrisch wird eine Interaktion dann bezeichnet, wenn ein Machtgefälle (z. B. bei einer mündlichen Prüfung) und/oder ein kommunikatives Ungleichgewicht (z. B. beim Frontalunterricht) zwischen Interaktionspartnern herrscht. Die Interaktion beruht demnach auf sich ergänzenden Unterschieden. „Symmetrie“ versus „Asymmetrie“ lassen sich gut als Gegenpole auf einer Achse darstellen und wurden daher als Macht- und Einflussachse (in Anlehnung an die zweite Achse von Bales & Cohen) in das Dimensionalisierungsschema der interaktiven Strategien integriert. Wissensmanagement hat immer einen Beziehungs- und einen Verhaltensaspekt. Die Inhaltsebene fokussiert die Wissensaushandlung, während sich die Beziehungsebene auf die Rollenaushandlung bezieht, mal wird der eine Aspekt in der Kommunikation verstärkt thematisiert, mal der andere. Diese wichtigen
2 Dies gilt auch für die erste Achse mit den Polen der „Kooperation“ und „Konkurrenz“. Allerdings wird hier das Interaktionsmuster, sobald einer der Akteure konkurrenzorientiert agiert – auch wenn sein Partner kooperativ vorgeht, dem Pol der Konkurrenz zugeordnet.
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5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse
Phänomene der Verhaltens- und Wissensdominanz3 finden sich auf der Macht/ Einfluss-Achse wieder: Ein Expertenschüler, der anderen seine Hilfe aufdrängt, behauptet somit sowohl eine Wissens- als auch eine Verhaltensdominanz. Sein Verhalten zielt somit auf eine asymmetrische Beziehung zu seinen MitschülerInnen, die er in eine Novizenrolle drängt. Der Machtbegriff scheint gerade für die vorliegende Untersuchung aufschlussreich, da er unterschiedliche Interaktionsqualitäten und das Verhältnis zwischen den Interakteuren erfassen kann. Mit dem Begriff Macht gehen vor allem zwei Konnotationen einher, nämlich auf der einen Seite „machen“, im Sinne von „Einfluss nehmen, etwas bewirken“, auf der anderen Seite aber auch im Sinne eines Herrschaftsgefälles von „über andere Macht ausüben“. Im Zusammenhang mit kollaborativem Lernen ist es wichtig, dass sich alle Interakteure einbringen und wechselseitig Einfluss nehmen und zwar ohne andere zu übergehen oder zu beherrschen. Die erste Konnotation ist also förderlich, die Letzte eher hinderlich für Groundingprozesse. So geht es nicht nur darum, ob Einfluss genommen wird, sondern vielmehr wie, mit welchen Strategien. Hier wirkt vor allem die erste bereits vorgestellte Achse mit den Polen Kooperation versus Konkurrenz ein. Auf das Hinzuziehen der SYMLOG- Achse der Aufgabenorientierung und Expressionalität wird verzichtet, da die Verhaltensweisen der SchülerInnen zugleich aufgabenorientiert und gefühlsbestimmt sein können z. B., wenn sie gemeinsam einen Aufsatz über ein für sie emotionales Erlebnis formulieren. Demnach wären Aufgaben-/Zielorientierung versus Expressionalität eigentlich zwei Pole, die nebeneinander und nicht als Gegenpole anzuordnen sind. Abbildung 5.1 zeigt das in dieser Arbeit entwickelte Achsenmodell, nämlich die dimensionalisierten Interaktionsmuster gemeinsamen Wissensmanagements. Dieses setzt sich aus zwei Eigenschaftsdimensionen zusammen: eine sozioemotionale Achse mit den Polen Kooperation versus Konkurrenz und eine Macht- und Einflussdimension, die von den Polen Symmetrie versus Asymmetrie aufgespannt wird. Wie dargestellt, ergibt sich hieraus schließlich ein Vier-FelderModell, in dem die beobachteten interaktionalen Strategien eingegliedert werden. Schließlich werden diesen vier Feldern vier grundlegende Interaktionsmuster zugeordnet, nämlich 1. Symmetrische Kooperation, 2. Asymmetrische Kooperation, 3. Dominanz-/Unterwerfungsstruktur und 4. Konkurrenzkampf.
3 Sie schlagen sich natürlich auch auf der Achse der Zielorientierung nieder. So kann eine Kooperation bzw. ein Konkurrenzkampf, sowohl auf der Ebene der Rollenaushandlung (Verhaltensdominanz) als auch auf der Ebene der inhaltlichen Aushandlung (Wissensdominanz) statfinden.
5.1 Axiale Dimensionalisierung der Interaktionsmuster
343
Wechselseitiges Peer-Tutoring Lehrpersonen als Facilitatoren/ SchülerInnen als selbst gesteuerte Lerner Computer als kreatives Werkzeug, Mindtool, und Medium zum selbst gesteuerten Lernen
Symmetrie
Experte-Novize, Tutoring Lehrpersonen als Wissensvermittler Computer als Tutor
Machtdimension
Diskurs: Fehlende Konsensbildung Konkurrenzkampf
Leit-Handelnde und Ko-Handelnde
Rollen-/Revierkampf
Asymmetrie Diskus: Leithandlende mit destruktiver Verhaltensdominanz und Trittbrettfahrer Experteninszenierungen
Streit um Expertenstatus Computer als Machtinstrument Computer als Gegenspieler
Asymmetrische Kooperation
Gleichberechtigte Arbeitsteilung
Asymmetrischer Diskurs
Hilfe ohne Tutoring Computer als Machtinstrument
Dominanz-Unterwerfung
Diskurs: Grounding und Konsensfindung
Sozio-emotionale Dimension
Symmetrische Kooperation
Kooperation
Computer als undurchschaubare Maschine/ „willkürlich handelnde allwissende Hoheit“,
Konkurrenz
Abbildung 5.1: Dimensionen gemeinsamen Wissensmanagements Die in das Modell eingegliederten Interaktionsmuster werden nun im Hinblick auf die Leitdifferenzen Kooperation-Konkurrenz sowie Symmetrie-Asymmetrie beleuchtet. In Abschnitt 5.2.1 wird dann auf die einzelnen Ausprägungsgrade der Interaktionsmuster eingegangen und deren Rolle für ein gemeinsames, kollaboratives Wissensmanagement herausgearbeitet. In Lerngemeinschaften besteht durch einen echten oder einen vorgegebenen Wissensvorsprung (Lehrpersonen als Wissensvermittler) prinzipiell eine Asymmetrie zwischen den Hilfegebenden und dem Hilfeempfänger. Wenn sich jedoch die Rollen des Hilfegebers und Hilfeempfänger im Laufe der Interaktion im Sinne eines wechselseitigen Peer-Tutoring mehrmals wechseln, handelt es sich um eine symmetrische Kooperation. Es ist es ein Unterschied, ob jemanden geholfen wird, um ihn/sie zu unterstützen und zu fördern oder ob der Wissens-
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5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse
zuwachs der ArbeitspartnerInnen nicht das Ziel ist, sondern vielmehr eine Inszenierung als ExpertIn und die Demonstration einer potenziellen Überlegenheit. Im ersten Fall wird gemeinsam auf ein Ziel hingearbeitet, es findet eine Kooperation statt. Im zweiten Fall steht hingegen weder der Partner noch das Projekt im Vordergrund, sondern das egozentrische Bedürfnis im Sinne Konkurrenzorientierung den Wissensvorsprung aufrecht zu halten und den anderen in der Unterlegenheitsposition zu lassen. Bei einer Hilfestellung ohne Tutoring bleibt eine Wissensasymmetrie zwischen Hilfegebendem und Hilfeempfänger bestehen. Der Hilfeempfänger wiederum kann sich der durch die MitschülerInnen zugeschriebenen Rolle des „Bedürftigen“ fügen (Role-Taking) oder sich gegen diese Zuschreibung wehren. So kann eine Experteninszenierung, aber auch echte konstruktive Hilfe bewusst ignoriert und der andere als Hilfegeber abgelehnt werden oder ein Streit um die Position des Experten entstehen (Role-Making). Hierdurch kann sich eine vormals asymmetrische Macht-Unterwerfungsstruktur in einen Konkurrenzkampf wandeln. Es wird zu einer zentralen Aufgabe der Lehrperson als Facilitator Hilfe zur Selbsthilfe zu geben und durch die Gestaltung einer entsprechenden Lernumgebung ein selbst gesteuertes Lernen der SchülerInnen zu fördern. Da diese Handlungen der Lehrpersonen die Handlungsspielräume von Schülerinnen erweitern können, werden diese dem Feld der symmetrischen Kooperation zugeordnet. Auch bei der gleichberechtigten Arbeitsteilung, egal ob ressourcenoder interessengeleitet, handelt es sich um eine symmetrischen Kooperation. In dem asymmetrischen Interaktionsmuster „Leit- und Ko-Handelnde“ schlägt sich immer eine Hierarchie zwischen den SchülerInnen nieder. Leithandelnde können kooperativ agieren, indem sie z. B. MitschülerInnen konstruktiv anleiten oder konkurrenzorientiert, wenn sie die Bedürfnisse und die Meinung anderer gängeln. Eine Macht- und Unterwerfungsstruktur kann aber auch dann entstehen, wenn einige SchülerInnen als Mitläufer oder Trittbrettfahrer agieren. Das Trittbrettfahrer- sowie Mitläuferdasein stellt eine mehr oder weniger freiwillige Zurücknahme der eigenen Person dar. Diese kann zum einen auf ein unreflektiertes Berufen auf anerkannte Experten beruhen, zum anderen aber auch eine Strategie sein, einen möglichst geringen Arbeitsaufwand zu investieren. Während im ersten Fall das Herstellen einer großen Harmonie oder Kooperation handlungsleitend ist, steht im zweiten Fall eine egozentrische Zielorientierung im Vordergrund. Es geht dann darum, aufgrund eines fehlenden Erkennens, wer welchen Beitrag im Gemeinschaftsprodukt geleistet hat, mit möglichst wenig Arbeitsaufwand eine gute Bewertung zu erhalten (das „Schmücken mit fremden Federn“).
5.1 Axiale Dimensionalisierung der Interaktionsmuster
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Indem sich SchülerInnen wechselseitig einbringen, ihr Wissen austauschen und diskutieren, kann eine gleichberechtigte Aushandlung im Sinne einer symmetrischen Kollaboration erfolgen. Asymmetrisch wird die Kooperation dann, wenn sich einige mehr als andere einbringen und/ oder die Rolle eines Gruppenführers übernehmen (vgl. Leit- und Ko-Handelnde). Wenn die SchülerInnen keine Konsensfindung erzielen und jeder nur seine eigne Sichtweise unter Ignorieren der Meinung anderer durchsetzen möchte, handelt es sich um einen Konkurrenzkampf, der mit einer fehlenden Konsensfindung einhergeht. Der Konkurrenzkampf kann sich auch auf eine uneinige Rollenaushandlung beziehen z. B., wenn ein Streit um die Bedienung der Tastatur entsteht. Über Eingriffe in die Eingabegeräte, die u. a. zur Durchsetzung der eigenen Sichtweise dienen, wird der Computer zum Machtinstrument. Im Wissensmanagement kann auch der Computer selbst zu einer Art Interaktionspartner werden: Die Beziehung zum Computer wird dann als asymmetrisch erlebt, wenn diesem die Rolle einer „allwissenden Hoheit“ oder eines willkürlich handelnden Objekts zugeschrieben wird. Wird die „allwissende Hoheit“ zu einem hilfreichen Tutor, dann wird die Interaktion als kooperativ erlebt, „agiert“ der Computer als undurchschaubare Maschine oder in der Personifizierung eines „willentlich handelnden Subjekts“ gegen die Handlungsabsichten der SchülerInnen, wird er im Sinne einer Konkurrenzorientierung zum Gegenspieler. Der Computer kann darüber hinaus als kreatives Werkzeug, Kommunikationsmedium und Mittel zur selbst gesteuerten Informations- und Ressourcenbeschaffung genutzt werden, das die eigene Zielerreichung sozusagen als „kooperativer Partner“ unterstützt. Ein weiterer Blick auf das entwickelte Achsenmodell zeigt, dass der Pol der Kooperation weiter ausdifferenziert werden kann. Kooperation kann unterschiedliche Qualitäten besitzen, eine gemeinsame Zielorientierung kann mit einer starken Arbeitsteilung einhergehen oder eben auch mit gemeinsamen Aushandlungsprozessen im Sinne einer Kollaboration. So zielt eine getrennte Arbeitsteilung, in der die Gruppenaufgabe in Einzelarbeiten zerlegt wird, zwar auf eine gemeinsame Zielorientierung, aber es finden keine Austauschprozesse im Sinne einer Ko-Konstruktion von Wissen statt. Anders verhält es sich beim Interaktionsmuster des Diskurses, in dem gemeinsam neues Wissen hergestellt wird. Es handelt sich bei den dargestellten Achsen um Gegenpole, zwischen denen ein kontinuierliches Feld aufgespannt wird. Eine Interaktion ist nicht symmetrisch oder asymmetrisch, sondern kann in der Praxis im Hinblick auf „Gleichberechtigung“ unterschiedlich stark ausgeprägt sein. So ist z. B. das Machtgefälle von Gruppenführern, die ihre Mitglieder kooperativ koordinieren (diese zwar einteilen, ihnen aber auch ein Mitspracherecht einräumen), deutlich
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5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse
geringer, als bei Gruppenführern mit einer destruktiven Verhaltensdominanz, bei der die Bedürfnisse der anderen Gruppenmitglieder übergangen werden. Kooperatives Arbeiten zeichnet sich durch eine eher symmetrische bzw. nur geringe Asymmetrie zwischen den Akteuren aus. Paradoxerweise dienen viele Interaktionsmuster im Feld der asymmetrischen Kooperation dazu, vorhandene Asymmetrien zu verringern4. Experten, die ihr Wissen weitergeben, tragen gewissermaßen zu einer Verringerung ihres Wissensvorsprunges bei und Gruppenführer, die unsichere SchülerInnen in die Gruppe integrieren, tragen zu einer Vergrößerung derer Einflussnahme bei. Genau umgekehrt verhält es sich z. B. bei dem konkurrenzorientierten, asymmetrischen Verhalten der destruktiven Verhaltensdominanz, hier geht es darum, andere zu übergehen und so ihres Einflusses zu berauben. Auch die Interaktionsmuster im Feld der symmetrischen Konkurrenz zielen paradoxerweise auf einen wechselseitigen Machtentzug und somit eigentlich auf die Herstellung eines asymmetrischen Machtgefälles. Die Achsen der Kooperation und Konkurrenz sowie der Symmetrie und Asymmetrie sind also nicht ganz unabhängig voneinander. Insgesamt kann festgehalten werden, dass kooperatives Verhalten eher mit der Herstellung von Symmetrie/ Gleichberechtigung und konkurrenzorientiertes Verhalten eher mit der Herstellung von Asymmetrie /Hierarchie verbunden ist. Die gewählte Darstellungsform als Vier-Felder-Modell bietet den Vorteil, eine idealtypische Vereinfachung der komplexen Wirklichkeit zu bieten, die einer besseren Übersichtlichkeit und Strukturierung der gefundenen Phänomene dient, wie die oben dargestellten Zusammenhänge zeigen. Dennoch weist das Modell durch seine statische Darstellungsform auch zwei Nachteile bzw. Grenzen auf. Zum einen das bereits vorgestellte Problem, dass unterschiedlich starke Ausprägungsgrade der jeweiligen Achsen nicht berücksichtigt werden können. Eine weitere Grenze ist, dass das entwickelte Modell nicht die Dynamik von Interaktionsprozessen erfassen kann: Um diese Interaktions-Dynamik näher zu beleuchten, wird auf die Theorie des Symbolischen Interaktionismus5 verwiesen (vgl. Tillmann, 1989). Herangezogen wird hier insbesondere das Konzept des Role-Making und Role-Taking, das auf Tuner zurückgeht (vgl. Tillmann, 1989, S.135): Role-Taking bedeutet die Übernahme einer Rolle, die von der Gesell4 Ausnahme bilden das Interaktionsmuster des asymmetrischen Diskurses sowie der Leit- und KoHandelnden. So haben z.B. Mitläufer nur einen sehr geringen Einfluss auf die Ko-Konstruktion von Wissen. 5 Der symbolische Interaktionismus ist eine Handlungstheorie aus der Mikrosoziologie, in dessen Zentrum die Interaktion zwischen Personen steht. Sie wurde von Blumer, einem Schüler von Mead, begründet. Ihre zentrale Annahme lautet, dass soziale Objekte, Situationen und Beziehungen ihre Bedeutungen erst in symbolisch vermittelten Interaktions- und Kommunikationsprozessen erhalten (vgl. Tillmann, 1989)
5.2 Förderliche und hinderliche Aspekte des Wissensmanagements
347
schaft durch Sozialisation (zum Beispiel Geschlechterstereotype) angeeignet wurde und zugleich das Übernehmen der Rolle, die einem in dem situativen Kontext durch den Interaktionspartner („Alter“) zugewiesen wird. Um dessen Erwartungen an das eigene Verhalten zu antizipieren, muss die Rolle bzw. Sichtweise von „Alter“ eingenommen werden. Werden diese Erwartungen ignoriert, ist der Interaktionsfortgang gefährdet. Dennoch ist es möglich, sich gegen Rollenzuschreibungen zu wehren. Unter Role-Making wird das aktive Ausgestalten der eigenen Rolle innerhalb der Interaktion verstanden, durch die ein Individuum seine Individualität in die Interaktion einfließen lassen kann (ebd., S.135). In jeder interaktionalen Situation findet ein Wechselspiel zwischen RoleTaking und Role-Making statt. Da Rollen innerhalb jeder Interaktion in gewissen Grenzen neu ausgehandelt werden können, sind sie nicht statisch, sondern wandelbar. So ist es z. B. möglich, dass eine zu Beginn symmetrische Kooperation im Verlauf eines Diskurses durch eine fehlende Konsensfindung in eine symmetrische Konkurrenzsituation umschlägt, sodass sich ein Machtkampf um das Durchsetzen des eigenen Standpunktes zwischen den Akteuren entwickelt. Dann steht nicht mehr die gemeinsame Zielorientierung im Vordergrund, sondern dass Erreichen egozentrischer Ziele. Entweder eskaliert die Situation derart, dass sich die Arbeitspartner trennen oder einer von beiden setzt sich durch (dann schlägt die symmetrische Interaktion in eine asymmetrische um). Es ist es wichtig, auf diese Dynamik der dargestellten Interaktionstypen hinzuweisen, denn in jeder Interaktion finden sowohl auf der Inhalts- als auch auf der Beziehungsebene ständig Aushandlungsprozesse statt, deren Ergebnis eine Neuverteilung der Rollen sein kann. Das in dieser Arbeit entwickelte Modell ist daher transparent, die Interaktionsmuster können sich aufgrund ständig stattfindender Aushandlungsprozesse jederzeit wandeln und sowohl horizontal als auch vertikal in die ein oder andere Richtung umschlagen. Wenngleich die Interaktionsmuster auch über eine längere Zeit andauern können, stellen sie prinzipiell eine Momentaufnahme der Interaktion dar.
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5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse
5.2 Förderliche und hinderliche Aspekte des Wissensmanagements 5.2.1 Rolle der Interaktionsmuster Wie wirken sich die jeweiligen interaktionalen Strategien auf die Prozesse des Wissensmanagements, insbesondere auf eine Ko-Konstruktion von Wissen aus? Die dargestellten Phänomene lassen sich vor allem den zwei Wissensmanagementphasen der Wissenskommunikation und der Wissensgenerierung zuteilen, wobei diese Prozesse in der Praxis keinesfalls unabhängig voneinander sind: Eine gelungene Wissenskommunikation ist die Voraussetzung für eine gemeinsame Wissensgenerierung im Sinne einer Ko-Konstruktion von Wissen. In Lerngemeinschaften liegt der Schwerpunkt der Wissenskommunikation in der Weitergabe und Teilung von Wissen und bezieht sich in der Schule vor allem auf Tutoring-Prozesse. Sowohl wechselseitige Tutoringprozesse als auch das asymmetrische Interaktionsmuster „Tutor-Novize“ kann sich bei einer bedürfnisorientierten Hilfe und Wissensweitergabe positiv auf ein gemeinsames Wissensmanagement auswirken. Die SchülerInnen lernen zu lehren und ihr Selbstbewusstsein wächst durch die Anerkennung als Hilfegebende. Dennoch kann auch bedürfnisorientierte Hilfe fehlschlagen, nämlich dann, wenn sie inhaltlich falsch ist, MitschülerInnen durch ein „Vorsagen“ die Chance genommen wird, selbst Wissen zu generieren oder echte Hilfe vom Hilfe-Empfänger nicht angenommen wird. SchülerInnen, die über Expertenwissen verfügen, können dieses in dem Sinne „Wissen ist Macht“ auch ausnutzen und für sich behalten, um so zum einen ihren Expertenstatus und zum anderen die Abhängigkeit anderer von ihnen aufrecht zu erhalten. Durch das Geheimhalten von Wissen und die fehlende Wissensweitergabe wird eine Kollaboration behindert. Aber auch der umgekehrte Fall ist denkbar, der ebenfalls mit einem Ignorieren der Bedürfnisse anderer Gruppenmitgliedern einhergeht, nämlich indem SchülerInnen (aber auch Lehrpersonen) gewissermaßen als Pseudoexperten anderen Wissen aufdrängen. Zudem können Lehrpersonen Schülerexperten ignorieren. Indem Lehrpersonen als Facilitatoren agieren -eine problemorientierte Lernumgebung gestalten, sich bewusst zurückziehen und als Berater fungierenfördern sie den Erwerb von Schlüsselqualifikationen wie ein selbst gesteuertes und kooperatives Lernen der SchülerInnen. Eine zu starke Zurückhaltung kann allerdings auch bewirken, dass SchülerInnen entstehende Freiräume ausnutzen, um unterrichtsfremden Aktivitäten nachzugehen. Andererseits können Lehrpersonen durch zu starke Interventionen ein selbst gesteuertes Lernen der SchülerInnen behindern und ggf. wichtige Wissensgenerierungsprozesse stören.
5.2 Förderliche und hinderliche Aspekte des Wissensmanagements
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Ein anderer Aspekt beim gemeinsamen Wissensmanagement ist, wie SchülerInnen ihre Arbeitsteilung koordinieren. Eine mengenorientierte Arbeitsteilung mit regelmäßigen Rollenwechseln zielt vor allem auf einen (formalen) Gerechtigkeitsaspekt. Wenn die Arbeitsteilung jedoch zu stark thematisiert wird, kann dies zulasten einer sachlichen Zielorientierung gehen, andererseits führen zu geringe Absprachen zur Verantwortungsdiffusion und ggf. zu unnötigem Mehraufwand, daher das Arbeiten doppelt gemacht werden. Durch eine ressourcen- und interessenorientierte Arbeitsteilung können gut unterschiedliche Bedürfnisse berücksichtigt werden und es können sich ExpertInnen herausbilden, anderseits besteht die Gefahr, dass Fachidioten entstehen oder ggf. jede/r Schüler nur das macht, was er sowieso schon kann und so der Lernprozess weitgehend stagniert. Bei der Konstellation Leit- und Ko-Handelnde ist eine gemeinsame Ko-Konstruktion von Wissen möglich. Leithandelnde können ein Grounding unterstützen, indem sie schwächere/ unsichere SchülerInnen stärken, bei Unstimmigkeiten vermitteln und/oder auf einer organisatorischen Ebene wichtige Aspekte zusammenführen und festhalten. Es besteht aber auch die Gefahr, dass Leithandelnde aufgrund ihres Expertenstatus und/oder ihrer Verhaltensdominanz das Gemeinschaftsprodukt so stark beeinflussen, dass es eigentlich mehr eine Einzelleistung darstellt und andere ihre Sichtweisen kaum oder gar nicht einfließen lassen. Dies ist besonders dann der Fall, wenn MitschülerInnen aufgrund eines Harmoniebedürfnisses den Diskurs scheuen und somit zu Mitläufern werden. Bei einer destruktiven Verhaltensdominanz ignorieren Leithandlende mit autoritärem Führungsstil bewusst die Sichtweisen und Meinungen ihrer MitschülerInnen und setzen ihre eigene durch. Umgekehrt kann ihre Dominanz aber auch durch den Rückzug sowie das Mitläufer- und Trittbrettfahrerdasein anderer SchülerInnen, die wenig bis gar nichts zum Gemeinschaftsprodukt betragen (mit-) bedingt sein. Wenn nur wenige SchülerInnen ihr Wissen in die Gruppe einbringen, findet keine Kollaboration statt, sondern nur eine unreflektierte Übernahme des Wissens einzelner Leithandelnder. Eine diskursive Aushandlung mit dem Ziel einer Ko-Konstruktion von Wissen kann nur dann stattfinden, wenn die SchülerInnen Ideen initiieren, wechselseitig Argumente aufgreifen und fortführen sowie einen gemeinsamen Konsens finden. Ein fehlender Austausch sowie eine fehlende Sachorientierung, in der emotionale Macht- und Revierkämpfe dominieren, lassen Groundingprozesse im Keim ersticken. Eine fehlende Einigung im Prozess der Konsensbildung kann wiederum die Entstehung von Macht- und Revierkämpfen mitbedingen. Eine Interdependenz, die wechselseitige Abhängigkeit zur gemeinsamen Aufgabenbewältigung, kann im besten Fall eine sogenannte Win-Win-Situation bedingen, die durch ein wechselseitiges Geben und Nehmen gekennzeichnet ist.
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5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse
Bei Macht- und Revierkämpfen steht es im Vordergrund, den anderen zu dominieren und die eigene Sichtweise unter Ignorieren der Bedürfnisse des anderen durchzusetzen. Ziel ist dann nicht, eine gemeinsame Lösung zu finden, sondern vielmehr im Sinne einer Konkurrenzorientierung die eigene Meinung durchzusetzen. Derartige Situationen können soweit eskalieren, dass sich die gemeinsame Arbeitssituation zwischen den SchülerInnen aufgrund eines ungelösten Konfliktes auflöst. Die Möglichkeit eines Groundings wird durch fehlende Kompromissbereitschaft von beiden Seiten im Keim erstickt. Wenn SchülerInnengruppen in einem internen oder auch formalen Wettkampf gegeneinander antreten, dient dieser Konkurrenzkampf als starke Motivation, besser zu sein als die anderen. Die Motivation, einen potenziellen Wettbewerbsvorsprung aufzubauen, kann aber, wenn sie sich z. B. in Verschleierungsund Geheimhaltungsstrategien äußert, produktive Austauschprozesse behindern. Konkurrenz, Revier- und Machtkämpfe, in denen die Verhaltensdominanz mehrerer SchülerInnen aufeinandertrifft, behindern eine Konsensbildung, da das egozentrische Stärken der eigenen Person und/ oder eigener Interessen wichtiger ist als eine gemeinsame Zielorientierung. Umgekehrt kann auch eine gemeinsame Zielorientierung zum Problem werden, nämlich wenn sie mit einem extremen Harmoniebedürfnis zusammenfällt, das den Austausch kontroverser Meinungen blockieren kann. So scheint es für den Prozess des Groundings durchaus wichtig, dass die Akteure auch ihre egozentrischen Ziele in der Interaktion verwirklichen, aber dennoch im Sinne einer gemeinsamen Zielerreichung zu Kompromissen bereit sind. Im Wissensmanagement kann auch der Computer zu einer Art Interaktionspartner werden: Indem ihm die Rolle eines gemeinsamen Chefs zugeschrieben wird, kann er einerseits die Zusammenarbeit von SchülerInnen stärken, andererseits aber indem er als allwissende Hoheit und undurchschaubare Maschine angesehen wird, die Selbstwirksamkeit der SchülerInnen und somit auch ein selbst gesteuertes Lernen schwächen. Technikausfälle und Programmfehler entziehen sich oft der Einflussnahme der SchülerInnen und Lehrpersonen, sodass sie diesen oft hilflos ausgeliefert sind und deren Wissensmanagement behindern. In Abschnitt 5.2.2 wird detaillierter auf die Rolle der digitalen Medien auf das Wissensmanagement der SchülerInnen eingegangen. Tabelle 5.1 verdeutlicht den Einfluss der einzelnen Interaktionstypen auf den Prozess des Wissensmanagements. Die interaktionalen Strategien, die eng miteinander verbunden sind und teilweise eine geringe Trennschärfte zeigen, wirken sich je nach Ausprägung förderlich oder hinderlich auf ein konstruktives Wissensmanagement aus. In Anhang B finden sich zu den in Tabelle 5.1 dargestellten Hypothesen Belegstellen.
5.2 Förderliche und hinderliche Aspekte des Wissensmanagements
Interaktionsmuster
... förderlich für ein gemeinsames ... hinderlich für ein gemeinsames konstruktives konstruktives Wissensmanagement Wissensmanagement
Interdependenz ermöglicht Peer(Peer-) Tutoring Tutoring, gemeinsamer Wissenspool wächst, S können durch Lehren lernen. Indem starke S schwächeren helfen, wächst deren Sozialkompetenz. S-Tutoring entlastet L. Durch Scaffolding und bedürfnisorientiertes Tutoring unterstützen L die Hilfe zur Selbsthilfe. Selbstbewusstsein der S wächst durch die Erfahrung, auf manchen Gebieten Experte zu sein. Durch die Anerkennung dieser können auch L Neues dazulernen. L als Facilitatoren- S als selbst gesteuerte Lerner
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Hilfe zur Selbsthilfe: L gestaltet problemorientierte Lernumgebung, zieht sich zurück/ berät im Hintergrund um ein selbst gesteuertes Lernen/ Erwerb von Schlüsselqualifikationen zu fördern.
Leit- und Konstruktive Wissens- und Ko-Han- Verhaltensdominanz: Gute Koordination und/oder wichtiges delnde inhaltliches Input unterstützt effektive Zielerreichung, bei Unstimmigkeiten wird vermittelt, um eine gerechte Konsensbildung zu bewirken.
Fehlgeschlagenes Tutoring: Gefahr, dass Pseudoexperten falsches Wissen weitergeben oder S echte Hilfe ignorieren, bzw. nicht annehmen. Experteninszenierungen/ aufgedrängte Hilfe ohne Bedürfnisorientierung, aber auch eine bewusste Geheimhaltung von Wissen verstärken Machtgefälle. L als “Zeigefingerschwinger“ sowie eine fehlende Bereitschaft der L SExperten anzuerkennen/ von diesen zu lernen stört die Wissenskommunikation (vgl. auch starke Lehrerinterventionen als Störvariable L als Facilitator). Zu schwache Interventionen /zu viel Freiraum kann zur Überforderung der S bzw. zu Ablenkungsstrategien, einem Ausnutzen der Freiräume führen. Zu starke Lehrerinterventionen stören das selbst gesteuerte Lernen der S. Destruktive Verhaltens- und Wissensdominanz: Bestimmen über andere (unter Ignorieren derer Bedürfnisse) bewirkt schlechtes Sozial/ Arbeitsklima. Dominanz einzelner drängt andere in eine Statistenrolle. Umgekehrt bringen Mitläufer / Trittbrettfahrer eigene Sicht nicht ein, verstecken sich hinter Gemeinschaftsprodukt und tragen wenig bis nichts zum Wissensmanagement bei.
352 Arbeitsteilung
5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse Regelmäßige Rollenwechsel zielen bei einer sachlichen Zielorientierung auf einen (formalen) Gerechtigkeitsaspekt. Bei einer ressourcen- und interessenorientierten Arbeitsteilung können sich Spezialisten/ Experten herausbilden: „Lernen in Tiefe“: Individuelle Interessen und Kompetenzen werden berücksichtigt, eine intrinsische Motivation gefördert, durch optimale Wissensnutzung schnelle Zielerreichung.
Aushandlung
Ein Initiieren/ Aufgreifen/ und Fortführen von Ideen sowie Kompromissbereitschaft beflügelt ein Grounding. Aufgaben, die auf Interdependenz zielen, verstärken die Motivation zum Austausch. S und L/ externe Experten kommunizieren symmetrischer.
Konkurrenz, Machtund Revierkampf
Konkurrenzkampf dient als Motivation, besser sein zu wollen als andere, stärkt den internen Gruppenzusammenhalt und/ oder die eigene Person.
Personi- Computer als gemeinsamer Chef fizierung oder Sündenbock dient der Frustdes PCs bewältigung, stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl der S
Zu starke Arbeitskoordination auf der Beziehungsebene geht zulasten einer sachlichen Zielorientierung, aufgrund einer längeren Einarbeitungszeit kann ein Zeitverlust entstehen. Eine zu geringe Arbeitskoordination/ fehlender Austausch kann zur ungerechten Arbeitsteilung sowie Verantwortungsdiffusion/ Mehraufwand führen. Einseitig ressourcen- und interessenorientierter Arbeitsteilung: Gefahr der Entstehung von „Fachidioten“, ggf. aufgrund purer Nutzung bereits bestehender Wissensbestände Stagnation des Lernens Außerdem werden ggf. unsichere S von „Experten“ abgeschreckt/ ziehen sich zurück. Fehlende /gescheiterte Aushandlung: Ein fehlendes Aufeinandereingehen/ Einbringen eigener Ideen sowie zu starke Dominanz einzelner S behindert ein Grounding (vgl. -destruktive Verhaltens- und Wissensdominanz, Mitläufer/Trittbrettfahrer). Machtspiele stören konstruktive Austauschprozesse (vgl. Konkurrenzund Revierkämpfe). Ego-Denken geht mit fehlender gemeinsamen Zielorientierung einher, bewirkt schlechtes Sozial- /Arbeitsklima. Ursache oft fehlende Interdependenz. Maus und Tastatur: Machtinstrument, um sich durchzusetzen. Sicht des PCs als „allwissende Hoheit“ sowie als undurchschaubare Maschine und Sündenbock für eigene Fehler/ Wissenslücken, sowie Technikausfälle stören Selbstwirksamkeit der S.
Tabelle 5.1: Förderliche und hinderliche Ausprägungen der Interaktionsmuster
5.2 Förderliche und hinderliche Aspekte des Wissensmanagements
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Wird nun noch einmal der Blick auf das entwickelte Achsen-Modell gerichtet, so lassen sich deutliche Zusammenhänge zwischen einer Ko-Konstruktion von Wissen und den vier Feldern erkennen, wie Abbildung 5.2 zeigt.
Kooperation
Computer als kreatives Werkzeug, Mindtool und Medium zum selbst gesteuerten Lernen
Erfolgreiches Grounding aufgrund eines gleichberechtigten Diskurses, aber auch Gefahr des nebeneinanderher Arbeitens, sowie der Verantwortungsdiffusion und /oder fehlender Sachorientierung. Machtdimension
Experte-Novize, Tutoring L als Wissensvermittler Computer als Tutor
Asymmetrisches (gelungenes) Grounding versus gescheitertes Grounding aufgrund fehlendem Diskurs (Mitläufer)
Asymmetrie
Diskurs: Fehlende Konsensbildung
Diskus: Leithandlende mit destruktiver Verhaltensdominanz und Trittbrettfahrer
Rollen-/Revierkampf
Experteninszenierungen
Streit um Expertenstatus
Hilfe ohne Tutoring
Computer als Machtinstrument
Computer als Machtinstrument
Computer als Gegenspieler
Computer als „willkürlich handelnde allwissende Hoheit“, undurchschaubare Maschine
Gescheitertes Grounding aufgrund ungelöster Interessenkonflikte
Dominanz-Unterwerfung
L als Facilitatoren und S als selbst gesteuerte Lerner
Symmetrie Konkurrenzkampf
Leit-Handelnde und Ko-Handelnde
Wechselseitiges Peer-Tutoring Sozio-emotionale Dimension
Symmetrische Kooperation
Gleichberechtigte Arbeitsteilung
Asymmetrische Kooperation
Asymmetrischer Diskurs
Diskurs: Grounding und Konsensfindung
Gescheitertes Grounding aufgrund destruktiver Wissens- und Verhaltensdominanz/ Rückzug
Konkurrenz
Abbildung 5.2: Wechselspiel: Interaktionsmuster und Groundingprozesse
354
5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse
Es handelt sich bei nahezu allen Strategien, die dem Pol der Konkurrenz zugeordnet werden um destruktive Handlungen, die ein Wissensmanagement im Sinne einer Ko-Konstruktion von Wissen behindern. Als positiv zu werten ist lediglich, dass eine Konkurrenz, bzw. Wettbewerbssituation zu anderen, den internen Gruppenzusammenhalt (der sich allerdings dann wiederum durch eine gemeinsame Zielorientierung im Sinne einer Kooperation auszeichnet) stärkt und die Akteure anspornt besser zu sein als andere. Etwas schwieriger verhält es sich mit dem Pol der Kooperation, der nicht automatisch mit einer Ko-Konstruktion von Wissen gleichzusetzen ist. Auch wenn alle Interaktionspartner gleichberechtigt ein gemeinsames Ziel anstreben, kann aufgrund fehlender Austauschprozesse eine Ko-Konstruktion von Wissen behindert werden (z. B. Mehraufwand/ Verantwortungsdiffusion durch fehlenden Austausch). Auch im Feld der asymmetrischen Kooperation findet nicht unbedingt eine Ko-Konstruktion von Wissen statt. Es ist zwar tendenziell möglich, dass einer die Interaktion dominiert und die ArbeitspartnerInnen auch einen kleinen Anteil Wissen einbringen, aus dem schließlich gemeinsam neues Wissen generiert wird. Wenn das Interaktionsmuster Leithandelnde-Gruppenmitglieder allerdings eine Ausprägung annimmt, in der die Gruppenmitglieder den Weg des geringsten Widerstandes gehen und die Vorschläge dominanter SchülerInnen nur abnicken, ohne diese zu hinterfragen und/oder fortzuführen, werden Groundingprozesse aufgrund eines fehlenden Diskurses im Keim erstickt. Insgesamt erscheint es für Groundingprozesse am besten geeignet, wenn es sich um eine tendenziell symmetrische Kooperation handelt. Über eine gemeinsame Zielorientierung (Kooperation) und eine möglichst gleichberechtigte Beziehung (Symmetrie) hinaus sind die diskursiven Austauschprozesse zwischen den SchülerInnen entscheidend. Ein gleichberechtigtes und kooperatives Arbeiten mit einer starken Arbeitsteilung, in der jeder einen Aufgabenpart übernimmt und in der wenig bis gar keine Austauschprozesse stattfinden stünde dem entgegen. Einfluss von Gender Im Folgenden wird kurz in einem Exkurs auf den Einfluss von Gender auf die Interaktions- und Wissensmanagement-Prozesse eingegangen. Im Hinblick auf (Un-)Doing Gender ist die Macht- und Einflussdimension von besonderer Bedeutung. Insgesamt liegen im Hinblick auf den Geschlechteraspekt vielfältige Phänomene vor: Die Analysen zeigen, dass einige Jungen dazu tendieren, sich als Experte zu inszenieren. Sie wenden hierzu unterschiedliche Strategien an, zum einen wird eine echte Expertenrolle aufrecht
5.2 Förderliche und hinderliche Aspekte des Wissensmanagements
355
erhalten, indem sie ihr Wissen dazu ausnutzen, um über MitschülerInnen, vereinzelt sogar auch über Lehrpersonen Macht auszuüben. So schaffen sie es, u. a. MitschülerInnen aber auch Lehrpersonen durch Geheimhaltung ihres Wissens von ihnen abhängig zu machen. Teilweise überschätzen die Jungen ihr eigenes Computerwissen. Das positive computerbezogene Selbstbild einiger Jungen führt u. a. dazu, dass sie MitschülerInnen ihre Hilfe aufdrängen. Sie tendieren zudem an Bruchstellen der Interaktion, in denen deutlich wird, dass sie ihre Expertenrolle nicht mehr aufrecht halten können, zu einem Fluchtverhalten. Dieses Pseudoexpertentum wird von Mitschülerinnen und Lehrpersonen in unterschiedlichem Ausmaß durchaus entlarvt. Weibliche Pseudoexperten, die in dieser Art und Weise agieren, können im Datenmaterial nicht gefunden werden, aber einige weibliche Expertinnen, die teilweise ungefragt (auch Jungenpaaren) Hilfe geben und/ oder auf der Verhaltensebene dominieren, indem sie Arbeitsprozesse der Jungen (vereinzelt auch in destruktiver Weise) anleiten. In den vorliegenden Daten scheinen Mädchen durchaus von Jungen (zumindest versteckt) als ExpertInnen anerkannt zu werden. Im Extremfall könnte Doing Gender im Umgang mit digitalen Medien verstanden werden als ein in Interaktionen immer wieder hergestelltes Machtgefälle zwischen Männern und Frauen. In den Daten schlägt sich das u. a. darin nieder, dass in einem Fall nur Jungen am PC arbeiten, dass sich Lehrerinnen teilweise bei der Pflege der technischen Geräte von männlichen Kollegen abhängig machen und sich in den Interviews teilweise sowohl bei Lehrpersonen als auch bei SchülerInnen die Ansicht eines Differenzansatzes („Mädchen haben einen anderen Zugang zu digitalen Medien als Jungen“) und vereinzelt auch eines Defizitansatzes („Frauen und Technik ...“) finden lassen. Derartige Einstellungen betonen und verstärken Unterschiede zwischen den Geschlechtern, insofern könnten sie dem Pol der Asymmetrie zugeordnet werden. Agieren Lehrerinnen und Schülerinnen hingegen als Experten und achten Lehrpersonen selbstverständlich darauf, dass beide Geschlechter am Computer arbeiten, kann von Undoing Gender gesprochen werden. Viele Lehrpersonen schildern, dass sich durch die gleichberechtigte Nutzung der digitalen Medien anfängliche Unsicherheiten der Mädchen legen und sich Unterschiede im Hinblick auf Computerfertigkeiten angleichen. Da beim Undoing Gender das Reduzieren eines Machtgefälles, also das Herstellen eines Gleichgewichtes zwischen den Geschlechtern im Vordergrund steht, könnte es dem Pol der Symmetrie zugeordnet werden. Die untersuchten Projekten fördern zudem den Erwerb fächerübergreifender Schlüsselqualifikationen. Technikinteressierte SchülerInnen können z.B. Sozialkompetenzen und umgekehrt sozialkompetente SchülerInnen computerbezogene Fertigkeiten erwerben.
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5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse
5.2.2 Rolle der digitalen Medien In der vorliegenden Arbeit wurden gezielt Interaktionen untersucht, die in offenen Lernumgebungen unter Einsatz digitaler Medien stattfinden. Daher soll an dieser Stelle gezielt der Einfluss der digitalen Medien auf das Wissensmanagement der Schülerinnen als dritte Dimension in das Modell integriert werden. Es zeichnen sich zwei Pole ab, nämlich die digitalen Medien als (förderliches) Werkzeug des Wissensmanagements und die digitalen Medien als Machtinstrument. Diese sind nicht völlig unabhängig von den anderen beiden Dimensionen: Die digitalen Medien als Machtinstrument lassen sich dem Pol der Konkurrenz zuordnen, wenn sie unter Ignorieren der Bedürfnisse anderer einer egozentrischen Zielorientierung und Stärkung der eigenen Person dienen, während sie als (förderliches) Werkzeug eines gemeinsamen Wissensmanagements eine Kooperation bzw. Kollaboration fördern. Zudem scheinen sie als Machtinstrument vor allem einer expressionalen und als förderliches Medium zum Wissensmanagement eher einer sachlichen Zielorientierung zu dienen. Abbildung 5.3 zeigt die Ergänzung des Achsenmodells um die dritte Dimension des Einflusses der digitalen Medien auf das Wissensmanagement im Unterricht. Kooperation Digitale Medien als Medium des Wissensmanagements
Symmetrie
Asymmetrie
Digitale Medien als Instrument der (Ohn-)Macht Konkurrenz
Abbildung 5.3: Modell zum gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagement
5.2 Förderliche und hinderliche Aspekte des Wissensmanagements
357
Wie wirkt der Computer als Machtinstrument? Über die Navigationselemente Maus und Tastatur besteht die Möglichkeit, eine eigene Meinung oder Sichtweise direkt zu sichern, um (auch unbewusst) einen Austausch zu vermeiden und/ oder auf der Machtebene die eigene Meinung durchsetzen. Insgesamt fällt auf, dass sich Rollenmachtkämpfe vor allem um die Bedienung dieser Computerwerkzeuge drehen. MitschülerInnen werden im Sinne eines Verteidigens ihres Arbeitsreviers ausgegrenzt, bzw. Revierkämpfe entstehen. Die Navigationselemente Maus und Tastatur werden dann oft als Machtwerkzeuge missbraucht. Derartige Eingriffe in die Computerbedienung dienen einer egozentrischen Zielorientierung und unterbinden Groundingprozesse. Sie können dem Pol der Konkurrenz zugeordnet werden. Als Rahmenbedingung spielt die Aufgabenstellung mit ein, so konnten in dieser Untersuchung vor allem dann Revierkämpfe beobachtete werden, wenn die Aufgabenstellung eine geringe Interdependenz aufweist, wie z. B. eher für Einzelarbeit konzipierte Lernprogramme. Einige SchülerInnen, die sich selbst große Computerkompetenzen zuschreiben, scheinen dazu zu neigen, auch unerwünscht Hilfestellungen zu geben, bzw. diese anderen aufzudrängen. Eine aufgedrängte Hilfe führt aufgrund einer fehlenden Bedürfnisorientierung und/oder einer fehlenden Wissensweitergabe (so kann anderen auch geholfen werden, ohne diesen Wissen zu vermitteln) nicht automatisch zu einem produktiven und kollaborativen Wissensmanagement, wie bereits anhand des Interaktionsmusters der Experteninszenierungen dargelegt. Andererseits können u. U. SchülerInnen, die wenig Computererfahrungen besitzen, durch ein fehlendes Tutoring von anderen SchülerInnen abhängig bleiben. Auf diese Art und Weise können durch die unterschiedlichen Computererfahrungen leider auch unproduktive Wissenshierarchien entstehen. Bei der Computernutzung können folgende Probleme auftauchen: So besteht die Gefahr, dass in der freien Informationsrecherche und /oder in der Nutzung der vielfältigen multimedialen Optionen die SchülerInnen durch eine Reizüberflutung überfordert werden und/oder ggf. recherchierte Informationen einfach unreflektiert übernehmen. Die vielfältigen multimedialen Möglichkeiten einer Wissensaufbereitung können dazu führen, dass diese zulasten einer inhaltlichen Orientierung zu sehr in den Vordergrund treten. Das Internet kann zudem dazu genutzt werden, fachfremden Aktivitäten im Sinne einer egozentrischen Zielorientierung z. B. dem Verschicken privater E-Mails nachzugehen. Auf diese Weise können die durch das selbst gesteuerte Lernen entstehende Handlungsfreiräume ausgenutzt werden. Dies birgt auch die Gefahr, dass z. B. jugendgefährdende Inhalte aufgerufen werden.
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5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse
Der Computer wird von den SchülerInnen auch personifiziert, nämlich dann wenn sie sich selbst unsicher, bzw.„ohn-mächtig“ fühlen. Dies geschieht vor allem dann, wenn sie den Computer als „all-mächtig“ und/oder undurchschaubar erleben. Die Personifizierung des Computers als Sündenbock dient vor allem dazu, den eigenen Frust zu bewältigen, manchmal aber auch dazu, die eigene Verantwortung für auftauchende Probleme abzugeben. Derartige Personifizierungen wirken sich negativ auf das Wissensmanagement aus, da sie sowohl die wichtige Selbstwirksamkeit der SchülerInnen schwächen, als auch zu einer mangelnden sachlichen Zielorientierung beitragen. Wird der Computer als eine Art „allwissende Hoheit“ angesehen, dann werden Wissensmanagement-Prozesse blockiert: So kann z. B. eine unreflektierte Übernahme von aus dem Internet recherchierten Wissen die Entwicklung einer eigenen kritischen Sichtweise behindern oder es kann bei den SchülerInnen zur Verwirrung führen, wenn ein Rechtschreibprogramm bestimmte Wörter nicht eingespeichert hat. Die eigene Verantwortung (bzw. Kontrolle/ „Macht“) für das Wissensmanagement wird symbolisch an den Computer abgegeben. Die „Beziehung“ zu dem Computer entspricht gewissermaßen dem Pol der Asymmetrie, wobei die SchülerInnen sich durch die fehlende aktive Verantwortungsübernahme selbst zurückziehen und der Technik „unterwerfen.“ Der Computer kann auch dann zu einer Ohnmacht führen, wenn SchülerInnen (und Lehrpersonen) sich aufgrund technischer Ausfälle überfordert fühlen und die Unterrichtsstunde flexibel (unter Verzicht der Computerintegration) umgestaltet werden muss. Die „Beziehung“ zum Computer entspricht dann einer asymmetrischen Konkurrenzorientierung, da sein „Verhalten“ der Umsetzung geplanter Unterrichtsziele widerspricht. Die digitalen Medien wirken aber nicht nur als hinderliches Medium des Wissensmanagements, sondern können als Gegenpol vor allem auch als Medium und Werkzeug (gemeinsame) Wissensmanagementprozesse unterstützen: Die Integration der digitalen Medien in den Unterricht unterstützt das Lernen in offenen und kooperativen Unterrichtsformen und die Bearbeitung authentischer und fächerübergreifender Aufgaben, die zu einer Interdependenz zwischen den SchülerInnen beitragen. Außerdem können digitale Medien zu einem Mindtool werden, wenn sie z. B. rechnerische oder grafische Optionen bieten, die ohne den Medieneinsatz kaum möglich wären. Durch die Integration der digitalen Medien in eine Lernumgebung, die auf die unterschiedlichsten fachlichen, sozialen sowie Medienkompetenzen zielt, die oft ungleich auf die verschiedenen Akteure verteilt sind, entsteht eine Interdependenz, die eine Kollaboration unterstützt. Der Computereinsatz wirkt sich dann als Rahmenbedingung förderlich auf Groundingprozesse aus, da er
5.2 Förderliche und hinderliche Aspekte des Wissensmanagements
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durch die unterschiedlichen benötigten Kompetenzen zu einer symmetrischen Beziehung zwischen den Akteuren beitragen kann und z. B. die Bildung von Expertengruppen unterstützt. Der Einsatz der digitalen Medien fördert ein selbst gesteuertes Lernen der SchülerInnen, indem diese selbst gesteuert z. B. im Internet Wissen recherchieren und sich selbst ein Feedback beschaffen können. Hierdurch können sich Lehrpersonen mehr zurückziehen und müssen nicht mehr voranging als Wissensvermittler agieren. Vielmehr begleiten sie als Facilitatoren die Lernprozesse der SchülerInnen. Dadurch, dass sich die SchülerInnen gerade durch eine eigenständige Informationsrecherche via Internet selbstständig einen Wissensvorsprung erarbeiten können, bzw. aufgrund ihrer Computersozialisation teilweise bereits einen Wissensvorsprung gegenüber ihren Lehrpersonen besitzen, wird die Beziehung zwischen diesen deutlich symmetrischer. Lehrpersonen werden teilweise zu Novizen und können von SchülerInnen lernen. Der Computereinsatz fördert durch die Möglichkeit des selbst gesteuerten Lernens die Entstehung dieser Interaktionsmuster. Der Einsatz der digitalen Medien ermöglicht besonders via E-Mail den Austausch mit schulexternen Partnern und stützt so nicht nur eine Öffnung der Schule, sondern zudem Kollaborationen, die über klasseninterne Austauschprozesse hinaus gehen. Gemeinsam mit schulexternen (aber auch schulinternen) Partnern kann Wissen ausgetauscht und generiert werden. Insbesondere eine Veröffentlichung der Arbeitsprodukte unterstützt den Ernstcharakter der Projekte. Die digitalen Medien fördern so eine schulexterne Wissenskommunikation und kooperative sowie kollaborative Austauschprozesse. Digitale Medien unterstützen selbst gesteuerte Lernprozesse. Sie fungieren u. a. als Tutor, indem sie z. B. eine eigenständige Fehlerkontrolle sowie eine inneren Differenzierung ermöglichen. Gerade schwächere SchülerInnen können den Computer als emotionsloses Gerät dazu nutzen, Wissenslücken ohne Angst vor sozialer Blamage selbst gesteuerte aufzuarbeiten. Durch eine möglichst frühzeitige Computereinführung in der Schule könnte die Chance bestehen, dass unerfahrene Schülerinnen ihre Wissenslücken in der Computernutzung rechtzeitig angehen. Auf diese Art und Weise soll sich die Schere zwischen leistungsstarken und schwachen SchülerInnen immer mehr schließen und der Gefahr vorgebeugt werden, dass sich unsichere SchülerInnen immer mehr zurückziehen. Zudem ermöglichen digitale Medien die langfristige Sicherung und weltweite Verbreitung von Wissensrepräsentationen. Indem SchülerInnen ihr Wissen z. B. via Homepageerstellung, oder der Entwicklung eines eigenen Filmes mithilfe der (neuen) Medien veröffentlichen, das von anderen (auch
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5 Kategorisierung der Wissensmanagementprozesse
Schulexternen) konsumiert, genutzt und weiterentwickelt werden kann, ist eine Wissensbewegung potenziell nie abgeschlossen. Die digitalen Medien wirken als raum- und zeitübergreifendes Medium des Wissensmanagements. Durch ihre kreativen Optionen können sie gut für das (Er-)forschen und (Re-)Produzieren von Wissen genutzt werden. Als derartiges Werkzeug und Medium dienen sie einer intrinsischen Motivation der SchülerInnen. Insgesamt können digitale Medien als förderliches Werkzeug eines kollaborativen Wissensmanagements wirken, wenn sie in problemorientierte, offene und schülerzentrierte Lernumgebungen eingebettet werden. Dennoch ist es wichtig, auch den negativen Einfluss von digitalen Medien als (Ohn-) Machtinstrument zu reflektieren. Lehrpersonen und SchülerInnen sollten z. B. für Prozesse von Experteninszenierungen, die Personifizierung des Computers sowie negative computerbezogene Selbst- und Fremdbilder sensibilisiert werden. Zudem ist die Bedeutsamkeit des Erwerbs von Medienkompetenzen zu betonen, zu denen neben technischen Kompetenzen im Umgang mit dem Computer auch Schlüsselqualifikationen, wie das Einnehmen kritischer Sichtweisen, ein Hinterfragen der gebotenen Programminhalte und –optionen, aber auch der Erwerb von Sozialkompetenzen zählen. Tabelle 5.2 stellt die beiden Rollen der digitalen Medien als (förderliches) Medium des Wissensmanagements und als (hinderliches) Mittel der (Ohn-)Macht noch einmal tabellenartig gegenüber. Beispielhafte empirische Belege zu den einzelnen aufgeführten Hypothesen befinden sich im Anhang B. Digitale Medien als (förderliches) Medium zum Wissensmanagement
Digitale Medien als (hinderliches) Mittel der (Ohn-) Macht
E-Mail-Programme und Internet fördern eine zeit- und raumübergreifende Wissenskommunikation, sie erleichtern zudem über den Austausch mit externen Partnern eine Öffnung der Schule.
In der freien Informationsrecherche und der Nutzung von Multimedia besteht die Gefahr der Reizüberflutung durch zu viele Möglichkeiten (Lost in Hyperspace) sowie das u. U. recherchierte Informationen unreflektiert übernommen werden.
Die digitalen Medien als Tutor und Werkzeug zur selbst gesteuerten Informationsrecherche fördern die Selbstwirksamkeit der SchülerInnen und entlasten die Lehrpersonen.
Einige SchülerInnen überfordert das selbst gesteuerte Lernen (Ohn-Macht).
Es besteht die Gefahr, dass SchülerInnen Freiräume ausnutzen, um eigenen fachfremden Interessen (im Internet) Durch das selbst gesteuerte Lernen können nachzugehen (Macht).. Außerdem besteht sich Schülerinnen Expertenwissen aneignen. die Gefahr, dass jugendgefährdende Inhalte aufgerufen werden.
5.2 Förderliche und hinderliche Aspekte des Wissensmanagements
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Digitale Medien als (förderliches) Medium zum Wissensmanagement
Digitale Medien als (hinderliches) Mittel der (Ohn-) Macht
Die Einbindung von digitalen Medien unterstützt das Lernen in offenen und kooperativen Unterrichtsformen sowie das Bearbeiten kreativer und authentischer Aufgabenstellungen.
Lernprogramme, die eher für Einzelarbeit konzipiert wurden, können in der Lerngruppe ein Frustpotenzial auslösen, da SchülerInnen oft ausgeschlossen werden, bzw. Machtkämpfe entstehen. Manche zu einfach gestrickte Lernprogramme unterfordern die SchülerInnen.
Digitale Medien können als Mindtool neue Erkenntisse ermöglichen. Der Einsatz der digitalen Medien in offene Unterrichtsformen unterstützt symmetrische Interaktionsmuster: Durch eine hohe Interdependenz arbeiten SchülerInnen eng zusammen. Lehrpersonen werden zu Facilitatoren und Mitlernenden, während SchülerInnen teilweise zu Lehrenden werden.
(Pseudo-)ComputerexpertInnen können sich inszenieren und durch fehlende Wissensweitergabe ein Abhängigkeitsgefälle aufbauen. MitschülerInnen/ Lehrpersonen werden zu Statisten und /oder machen sich von Computerexperten ahängig.
Durch die regelmäßige Computernutzung im Unterricht kann sich die Wissenskluft zwischen erfahren und unerfahrenen SchülerInnen sowie zwischen Jungen und Mädchen angleichen.
Es besteht die Gefahr, dass die Schere zwischen leistungsstarken und -schwachen SchülerInnen durch das selbst gesteuerte Lernen am Computer größer wird und sich unsichere SchülerInnen zurückziehen.
Digitale Medien können durch die Möglichkeit über ein Weiterklicken/ bzw. Abspeichern die eigene Sichtweise unter Ignorieren der Sichtweisen der ArbeitspartnerInnen zu sichern, als Machtinstrument missbraucht werden.
Durch die Möglichkeit zur inneren Differenzierung können unterschiedliche Eine Zuschreibung des Computers als Lernniveaus berücksichtigt werden. undurchschaubare Maschine und Der Computer als emotionsloses Gerät kann Personifizierung als allwissende Hoheit schwächere SchülerInnen fördern, ohne dass führt über eine Verringerung der Selbstwirksamkeit zur Ohnmacht. diese Angst haben sich zu blamieren. Produktivitätstools/ Multimedia bieten vielfältige Möglichkeiten zur Wissensgenerierung und (Re-) Präsentation, die sich förderlich auf die Motivation auswirken.
Es besteht die Gefahr, dass die Technik ausfällt. Die technischen Möglichkeiten können zulasten einer inhaltlichen Orientierung oder unter Vernachlässigung der Sinneswahrnehmung zu sehr in den Vordergrund geraten.
Tabelle 5.2: Einfluss der digitalen Medien auf Wissensmanagementprozesse
6 Fazit
„Unser Wissen ist nicht vorhanden, wenn es nicht benutzt wird.“ Igor Strawinski (1882-1971) 6.1 Zusammenfassung Im Zentrum dieser Arbeit stehen die zwischen SchülerInnen (und Lehrpersonen) im mediengestützten offenen Unterricht stattfindenden Interaktionen, um förderliche und hinderliche Aspekte eines gelungenen kooperativen Wissensmanagements unter Nutzung digitaler Medien zu identifizieren. Als theoretische Grundlage wurde u. a. auf den gemäßigten Konstruktivismus zurückgegriffen, in dem Lernende zu aktiven Wissenskonstrukteuren werden. Die Gestaltung einer entsprechenden Lernumgebung ist durch ein Wechselspiel von Instruktion und Konstruktion gekennzeichnet. Aufgabenstellungen sollen möglichst authentisch sowie in soziale Kontexte eingebunden sein. Lehrende nehmen vor allem die Rolle von sogenannten Facilitatoren ein: Als Lernberater unterstützen sie die SchülerInnen und als Gestalter von (gemäßigt) konstruktivistischen Lernumgebungen ermöglichen sie diesen ein selbst gesteuertes Lernen. Eng verwoben mit dem Konstruktivismus sind die Konzepte des selbst gesteuerten und kollaborativen Lernens. Im wichtigen Prozess der KoKonstruktion von Wissen generieren mindestens zwei Personen im wechselseitigen Austausch neues Wissen. Das Konstrukt des Wissensmanagements umfasst alle Aktivitäten zum Erfassen, Lenken, Weitergeben, Sichern und (Ko-)Konstruieren von Wissen. Das „Münchner Modell des Wissensmanagements“ versucht, diese Tätigkeiten unter einer sozialen Perspektive zu beleuchten. Communities als weitgehend selbstorganisierende Gemeinschaften werden als Keimzelle eines produktiven Wissensmanagements begriffen. Es kann zwischen Lern-, Forschungs- und Produktionsgemeinschaften unterschieden werden. Der Einsatz von digitalen Medien, hierunter fallen alle Arten von Computern, deren Vernetzung in Inter- und Intranets sowie alle Formen von Peripheriegeräten und verschiedene Anwendungssoftware, kann WissensmanageM. Stadermann, SchülerInnen und Lehrpersonen in mediengestützten Lernumgebungen, DOI 10.1007/978-3-531-93178-4_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Fazit
mentprozesse beflügeln: Beispielsweise dienen E-Mail-Programme und das Internet als globale Medien zur zeit- und raumübergreifenden Wissenskommunikation und Wissensgenerierung. Produktivitätstools und Multimedia erleichtern eine kreative Aufbereitung und Verbreitung von Wissen. Tutorielle Programme zielen auf eine Wissensnutzung und –überprüfung. Computer können als evokatorisches Objekt wirken, daher werden diesem teilweise menschliche Eigenschaften zugeschrieben. Eine Personifizierung des Computers kann gerade dann, wenn die eigene Verantwortung für Störungen ihm zugeschrieben wird, zu einer geringen Selbstwirksamkeit führen. Nationale und internationale Forschungsbefunde belegen, dass eine schulische Integration von Computern in konstruktivistischen Lernumgebungen nach wie vor noch keine Selbstverständlichkeit ist. Untersuchte „Good Practice“-Fälle zeigen, dass der Einsatz digitaler Medien eigenaktiv-konstruierendes und kooperatives Lernen und Lehren unterstützen kann. Digitalen Medien wird daher bei der Gestaltung (gemäßigt) konstruktivistischer Lernumgebungen eine Katalysatorfunktion zugeschrieben. Entscheidend ist hierbei nicht die alleinige Integration digitaler Medien, sondern deren Einbettung in eine entsprechende pädagogische Praxis. Die digitalen Medien sollen nicht als Lehrerersatz dienen, sondern als Werkzeug zum eigenaktiv-konstruierenden und kollaborativen Lernen. Als Datengrundlage der empirischen Untersuchung dienten Interviews mit Lehrpersonen und Schülerinnen sowie Videoaufnahmen der Unterrichtspraktiken aus 6 Fällen von der Primarstufe bis zur Sekundarstufe II. Durch eine Kombination der Interview- und Beobachtungsdaten konnte sowohl die subjektive Sicht der involvierten Personen rekonstruiert, als auch eine Außensicht auf deren Verhalten gewonnen werden. Die Daten stammen aus der deutschen SITES M2, die die innovative Einbettung digitaler Medien in offene Lernumgebungen untersucht: Im Fall „freier Medieneinsatz“ nutzten GrundschülerInnen das Internet zum Wissenserwerb über Meerschweinchen und den EURO. Im „Märchenprojekt“ produzierten GrundschülerInnen u. a. im Austausch mit europäischen PartnerschülerInnen gemeinsam ein Märchenbuch, das auch im Internet veröffentlicht wurde. Im Fall „Lernprogramme“ fand in einer Grundschule ein individualisiertes und selbst gesteuertes Lernen mit Lernprogrammen in der Freiarbeit statt. Im „Medienprojekt“ bearbeiteten HauptschülerInnen unter Nutzung alter und „neuer“ digitaler Medien authentische Probleme und erstellten selbst Medienprodukte.
6.1 Zusammenfassung
365
Im „Wirtschaftsprojekt“ entwickelten SchülerInnen der Sek. II im Austausch mit WirtschaftspartnerInnen u. a. eigene Unternehmenskonzepte, die sie anhand von Präsentationen auch Schulexternen vorstellten. Im Fall „SelMa“ lernten SchülerInnen der Sek. II anhand computergestützter Lernstationen selbst gesteuert im Mathematikunterricht. Um möglichst offen an die Daten heranzutreten und eine breite Vielfalt an Phänomenen einzufangen, wurde die Methodik der Grounded Theory angewandt. Der in dieser Arbeit entwickelten Theorie mittlerer Reichweite diente neben dem paradigmatischen Modell von Strauss und Corbin auch das Modell der GruppenInteraktionsforschung von Capella und McGrath als Interpretationsschema. Als Kontextbedingung des Wissensmanagements der SchülerInnen wurden die Merkmale der jeweiligen Lernumgebungen näher fokussiert. Zu den didaktischen Merkmalen zählten fächerübergreifende und authentische Aufgaben, eine Öffnung des Unterrichts, eine Schülerzentrierung sowie die Betonung von selbst gesteuertem Lernen und Teamwork. Hierbei fanden in den untersuchten Fällen unterschiedliche Kooperationsformen von der klasseninternen über die klassenübergreifende, schulübergreifende bis zur schulexternen Zusammenarbeit statt. Außerdem wurden in den untersuchten Projekten oft gemeinsam Produkte erstellt, bzw. veröffentlicht. Wenngleich in allen Fällen offene Unterrichtsformen vorherrschten, gab es gerade zur Einführung und Auswertung Phasen, in denen die Lehrpersonen instruierend und strukturierend agierten. Die Integration der digitalen Medien, kombiniert mit diesen didaktischen Maßnahmen tragen entscheidend zu einem Gelingen des Wissensmanagements der SchülerInnen bei: So ermöglichten diese im Märchen-, Wirtschafts- und Medienprojekt über E-Mail den Austausch mit schulexternen PartnerInnen. Hypertext ermöglicht über die nicht linearen Verbindungsoptionen eine individuelle Aneignung des Lernstoffes mit eigenständiger Schwerpunktsetzung. Hierbei steht vor allem die Wissensbeschaffung und -aufbereitung im Zentrum. Während in den Grundschulklassen oftmals entsprechende Internetseiten vorgegeben wurden, fand in höheren Schulstufen meist ein freies Navigieren im Netz statt. Produktivitätstools (z. B. Textverarbeitung, Präsentationssoftware) sowie Multimedia-Anwendungen, z. B. Ton- und Bildverarbeitung wurden in den Fällen „freier Medieneinsatz“, im Märchen- Wirtschafts- und Medienprojekt genutzt. Insbesondere in denjenigen Fällen (wie dem Märchen-, Wirtschafts- und Medienprojekt), in denen die SchülerInnen für eine „echte“ Zielgruppe, wie Schulexterne, aber auch für andere Klassen oder Eltern Wissen generierten und
366
6 Fazit
aufbereiteten, wirkte sich dies sehr positiv auf ihre Motivation und ihre Anstrengungsbereitschaft aus. Insbesondere im Fall Lernprogramme und SelMa konnten die SchülerInnen mithilfe der digitalen Medien eine Rückmeldung über ihren Lernstand erhalten. Auch einfache Textverarbeitungsprogramme, die in fast allen Fällen genutzt wurden, unterstützen z. B. durch eine eigenständige Rechtschreibkontrolle selbst gesteuertes Lernen. Im Fall SelMa und im Wirtschaftsprojekt wurden digitale Medien auch als Mindtools genutzt. In SelMa konnten die SchülerInnen anhand grafischer Darstellungen die Wirkung unterschiedlicher Zahlenwerte in mathematischen Funktionen ausprobieren und im Wirtschaftsprojekt mithilfe von Excel rechnerische Kalkulationen durchführen, anhand derer neue Erkenntnisse gewonnen werden konnten, die ohne Computereinsatz kaum möglich wären. Im Hinblick auf den Umgang mit digitalen Medien wurde ein Genderfokus eingenommen, der als intervenierende Rahmenbedingung auf das Handeln und die Interaktionen zwischen den SchülerInnen und Lehrpersonen einwirkt: Die Interviews zeigen, dass nach wie vor männliche Akteure den Umgang mit Computern dominieren. Die befragten Jungen besaßen im Vergleich zu den Mädchen im Hinblick auf ihre Computerfertigkeiten meist ein deutliches positiveres Selbstbild und trauten sich entsprechend mehr zu, während Mädchen aufgrund ihrer Unsicherheiten oftmals zu einem Vermeidungsverhalten tendierten. Die Lehrpersonen schilderten, dass sich durch den unterrichtlichen Computereinsatz die beschriebenen Unterschiede und Unsicherheiten von Mädchen abbauen ließen. Den Kern des Wissensmanagements bilden die interaktionalen Strategien der SchülerInnen und Lehrpersonen sowie die Interaktionsmuster, die hieraus resultieren. Auch der Computer kann als eine Art Interaktionspartner begriffen werden. Bei Problemen wurde gerade in den Grundschulfällen oftmals der Computer im Sinne einer externalen Ursachenzuschreibung in unterschiedlichem Ausmaß als Verursacher personifiziert, so wurde ihm u. a. ein eigener Wille zugeschrieben oder er wurde als willkürlich handelnder, aber teilweise auch „allwissender“ Chef personifiziert. Eine Personifizierung des PCs als undurchschaubares Objekt bzw. Subjekt mit eigenem Willen führt zur geringen Selbstwirksamkeit. Wenn dieser zudem als „allwissend“ angesehen wird, führen Programmlücken (z. B. im Rechtschreibprogramm) zur Verwirrung und blockieren so ein selbstverantwortliches Wissensmanagement, wie es der Computer sonst in seiner Tutorenfunktion stützen kann. Im Gegensatz zu diesen Personifizierungen wirkt der Computer auch als emotionslose Maschine, so schätzten es die SchülerInnen, dass sie z. B.
6.1 Zusammenfassung
367
eigenständig Fehler korrigieren konnten, ohne sich ggf. vor anderen durch diese zu blamieren. In allen untersuchten Unterrichtsfällen bildeten sich Lerngemeinschaften, in denen Wissen weitergegeben und geteilt wurde. Durch den Einsatz der digitalen Medien und die Möglichkeit, sich innerhalb der offenen Lernumgebung selbst (Spezial-)wissen anzueignen, konnten SchülerInnen nicht nur gegenüber MitschülerInnen, sondern teilweise auch gegenüber Lehrpersonen als Experten auftreten, die dann phasenweise in die Rolle von Lernenden schlüpften. Die meisten befragten Lehrpersonen und SchülerInnen schätzten diesen Rollenwechsel. Allerdings nutzten einige wenige SchülerInnen umgekehrt ihren Wissensvorsprung (gerade im Computerbereich) dazu aus, um über MitschülerInnen, aber auch Lehrpersonen Macht auszuüben. Sie gaben ihr Expertenwissen nicht weiter und hielten andere so in Abhängigkeit. Einige SchülerInnen inszenierten sich auch als Experten, indem sie anderen ungefragt Wissen aufdrängten, teilweise auch ohne einen echten Wissensvorsprung zu behaupten. Teilweise ließ sich – besonders im Märchen- und Wirtschaftsprojekt eine Kluft zwischen dem Handeln und der Selbstwahrnehmung von Lehrpersonen, die als Facilitatoren handeln wollten, finden. So agierten einige im Gegensatz zur Selbstwahrnehmung teilweise doch recht direktiv. Die Videos und Schülerinterviews zeigen, dass starke Lehrerinterventionen eine Wissensgenerierung der SchülerInnen stören können. Die SchülerInnen forderten insgesamt Autonomie ein, betonten aber dennoch wie wichtig es sei, eine Lehrperson als Unterstützung im Hintergrund zu haben. Eine Besonderheit der meisten untersuchten Projekte (außer die Fälle „Lernprogramme" und „Selma“) ist, dass die SchülerInnen Forschungs- und/oder Produktionsgemeinschaften bildeten. Die Koordination der Navigationselemente Maus und Tastatur erfolgte in den meisten untersuchten Fällen in einem mengenorientierten Wechsel, der auf eine „formale“ Gleichberechtigung der Schülerinnen zielt. Die SchülerInnen, gerade im Wirtschafts- und Medienprojekt, bildeten Expertengruppen, die sich durch eine weitgehend ressourcenorientierte Aufgabenbewältigung auszeichnen. In den komplexeren Projekten (wie dem Medien- und Wirtschaftsprojekt), in denen die SchülerInnen die Arbeitskoordination innerhalb der Gruppe selbst übernahmen, trat teilweise das Phänomen der Verantwortungsdiffusion auf. Während der Arbeitsphasen agierten einige SchülerInnen als Leithandelnde, sie lenkten den Arbeitsprozess, während die Arbeitspartner zu Ko-Handelnden wurden. Im Wirtschafts- und im Medienprojekt fand sich aber auch ein Mitläufertum sowie vereinzelt Trittbrettfahrer. Aushandlungsprozesse fanden nicht nur verbal statt, sondern wurden teilweise über die Tastaturbedienung ausgetragen. Nicht nur auf der inhaltlichen Ebene,
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6 Fazit
sondern auch im Hinblick auf Rollenaushandlungen fungierte die Tastatur als Machtwerkzeug, über das oftmals eine Art Revierkampf stattfand. In den Projekten konnten die SchülerInnen folgende Schlüsselqualifikationen erwerben: Die Teamarbeit und der Austausch mit Externen förderte eine Sozial- und Kommunikationskompetenz, insbesondere, wenn die Projekte (wie im Märchen, Wirtschafts- und Medienprojekt) auf eine Interdependenz zielten. Die SchülerInnen erwarben durch die offenen Lernumgebungen, die ihnen nach dem Prinzip der Differenzierung oft unterschiedliche Wahlmöglichkeiten sowie eine selbst gesteuerte Wissensaneignung und -überprüfung boten, Selbstlernkompetenzen. Die SchülerInnen eigneten sich Medienkompetenzen an, wie die Selbstbeschaffung von Wissensressourcen, die Bewertung von Informationen sowie deren Aufbereitung. Die SchülerInnen wurden im Märchen, Wirtschafts- und Medienprojekt selbst zu Produzenten: Indem sie wichtige Ergebnisse (mit Präsentationstools) festhielten und teilweise auch veröffentlichten, erlernten sie Präsentationstechniken. Um förderliche und hinderliche Aspekte eines gemeinsamen, mediengestützten Wissensmanagements zu identifizieren, wurden die aus den Daten extrahierten Interaktionsmuster dimensionalisiert und auf einem 3-Achsenmodell abgebildet. Die erste sogenannte sozio-emotionale Achse wird mit den Polen der Kooperation und Konkurrenz, die den Grad der gemeinsamen Zielorientierung darstellen, aufgespannt. Die zweite Achse verweist auf die Machtebene, auf die Beziehungsstruktur zwischen den Akteuren, und wird von den Polen der Symmetrie und Asymmetrie aufgespannt. Paradoxerweise zielen viele Interaktionsmuster, die der asymmetrischen Kooperation zugeordnet werden, langfristig auf eine symmetrische Beziehung zwischen den Akteuren. So agierten z. B. Lehrpersonen als Facilitatoren, um ein selbst gesteuertes Lernen der SchülerInnen zu fördern und langfristig Hierarchien zwischen ihnen und den SchülerInnen zu verringern. Umgekehrt verhält es sich im Feld der symmetrischen Konkurrenz, so steht bei diesen gleichberechtigten Machtkämpfen im Zentrum, wer sich letztendlich über den anderen behaupten kann. Diese Dimensionen sind also nicht ganz unabhängig voneinander, so zielt Kooperation eher auf Symmetrie und Konkurrenz eher auf Asymmetrie. Die dritte Achse verweist auf die Rolle der digitalen Medien beim gemeinsamen Wissensmanagement und wird von den Polen der „digitalen Medien als Medium des Wissensmanagements“ und als „Instrument der (Ohn-)Macht“ aufgespannt. Zum Machtinstrument werden die digitalen Medien z. B. dann, wenn
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SchülerInnen sich über die Navigationselemente Maus und Tastatur unter Ignorieren der Bedürfnisse der ArbeitspartnerInnen durchsetzen. Der Computer wird zu einem Instrument der eigenen Ohnmacht, wenn die Technik versagt und/oder der Computer als Verursacher für Probleme personifiziert wird. Wird dem Computer z. B. die Rolle einer „allwissenden Hoheit“ zugeschrieben, bewirkt dies u. a., dass die eigene Verantwortung symbolisch an den Computer abgegeben wird. Eine derart geringe Selbstwirksamkeit blockiert eine sachliche und produktive Problembewältigung. Als förderliches Medium des Wissensmanagements können die digitalen Medien z. B. über eine Internetnutzung zur selbst gesteuerten Informationsrecherche, über den Gebrauch von E-Mail-Programmen zur raum- und zeitübergreifenden Wissenskommunikation mit externen Partnern, über die Verwendung von Lernprogrammen zu einem individuellen Lernen gemäß einer inneren Differenzierung und über die Nutzung von Produktivitätstools- wie z. B. PowerPoint oder HMTL zur Wissensaufbereitung und –verbreitung beitragen. Außerdem bewirkte der Einsatz der digitalen Medien in den meisten untersuchten Fällen (außer im Fall „Lernprogramme“), dass die SchülerInnen komplexe und authentische Aufgabenstellungen bearbeiten konnten, die einen kollaborativen Wissensaustausch stützen. Insgesamt kann die Integration der digitaler Medien in den Unterricht eine Ko-Konstruktion von Wissen fördern. Entscheidend ist über den Medieneinsatz hinaus, deren didaktische Einbindung in offene kollaborative Lernumgebungen, die auf eine Interdependenz zielen.
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6.2 Konsequenzen und Ausblick 6.2.1 Reflexion des methodischen Vorgehens Zunächst soll kurz das Forschungsdesign dieser Arbeit reflektiert werden, um hieraus Empfehlungen für zukünftige Studien abzuleiten. Die Erfahrungen, die in dieser Arbeit mit den vorliegenden Videodaten gemacht wurden, zeigen, dass es bei der Aufnahme von Interaktionen u. U. besser ist, auf ein Heranzoomen zu verzichten, da dies meist mit dem Wegfall anderer wichtiger Informationen (z. B. was macht der Interaktionspartner) einhergeht. Stattdessen sollte lieber eine feste Kamera installiert werden, die das soziale Geschehen vollständig festhält. Eine andere mögliche Herangehensweise wäre es, jeden Interaktionspartner einzeln zu filmen, was allerdings mit einem erheblichen technischen Mehraufwand verbunden wäre. Zudem kann die Empfehlung ausgesprochen werden, dass es bei der Analyse von Interaktionen vor dem Computer Sinn macht, das Geschehen am Monitor vollständig mitzufilmen, um die Handlungen der Akteure richtig deuten zu können. Inzwischen gibt es hierzu sehr hilfreiche technische Verfahren, wie z. B. das „SimultaneSceenrecording“1. Die gefundene Kluft zwischen den unterschiedlichen Erhebungsebenen (Außensicht durch die Videodaten und die subjektive Sicht der SchülerInnen und Lehrpersonen anhand der Videodaten) zeigt die Wichtigkeit forschungsmethodisch die verschiedenen Daten zu triangulieren und soll dazu motivieren, zur Analyse sozialen Phänomenen (wie hier den Interaktionsmustern im mediengestützten Unterricht) verstärkt Videostudien durchzuführen. Denn diese bieten in Kombination mit Interviewdaten das Potenzial, die unterschiedlichen Sichtweisen gegenüberzustellen und so zwischenmenschliche Interaktionen detailliert aufzuschlüsseln. Allerdings muss hierbei kritisch angemerkt werden, dass ein derartiger Vergleich eine gewisse Fähigkeit der Probanden zur Selbstreflexion voraussetzt. Die Interviews mit den SchülerInnen zeigen, dass GrundschülerInnen eher weniger ihr eigenes Verhalten und das ihrer Lehrer hinterfragen, während die SchülerInnen aus der Sekundarstufe 1 und 2 dies tendenziell tun. So konnte in dieser Arbeit die Gegenüberstellung der Lehrer- und Schülersichtweise bedingt eingelöst werden. Forschungsmethodisch könnte mithilfe der Methodik des lauten Denkens2, indem Lehrpersonen und SchülerInnen anhand von Videoaufnahmen ihr beo1 Dieses Verfahren wird von Neuß (2002) beschrieben. 2 Diese Methode wird von Weidle & Wagner (1994) dargestellt.
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bachtetes Unterrichtsverhalten reflektieren, nach Handlungsmotiven sowie Ursachen für die teilweise gefundene Kluft zwischen Handlungsabsicht und Handlungspraxis recherchiert werden. In der Anwendung der Methodik der Grounded Theory zeigten sich deren Vor- und Nachteile. Die Methodik bietet durch ihre offene Herangehensweise viel Potenzial. So diente das paradigmatische Modell als hilfreiches heuristisches Gerüst zur Strukturierung der empirischen Befunde ohne das der Blick auf das Datenmaterial zu sehr eingeengt wurde. Anderseits bestand gerade zu Beginn der Arbeit das Problem, dass es potenziell unendlich viele Codier- und Vergleichsmöglichkeiten gab. In dieser Arbeit war das Problem noch dadurch erhöht, dass neben den diversen inhaltlichen Codierungen (und der unterschiedlichen Beschaffenheit der einzelnen Unterrichtsfälle) durch die Datentriangulation (Interviews mit Schülerinnen und Lehrpersonen, sowie Videoaufnahmen der Unterrichtssequenzen) zugleich die verschiedenen Perspektiven der Sicht der Lehrpersonen, der SchülerInnen und der Außensicht auf das Unterrichtshandeln analysiert werden mussten. Um das Problem der Unerschöpflichkeit der Datenvergleiche zu verringern, macht es Sinn, von Beginn an mit impliziten Theorien zu arbeiten. Im Auswertungsprozess wurde erlebt, dass Forschende nicht als Tabula rasa an die Daten herangehen und dies auch wertvoll ist, solange diese Voreingenommenheit reflektiert und so gewinnbringend genutzt wird. So konnte z. B. bei der Datenanalyse auf einzelne Bausteine des SYMLOG Modells zurückgegriffen werden. Dieses bereits in Störmer (2001) quantitativ genutzte Modell zeigte sich –in einer entsprechenden Modifizierung- auch für eine qualitative Analyse wie die Grounded Theory als hilfreich. Im Laufe der Auseinandersetzung mit dem Datenmaterial, der parallelen Literaturrecherche und dem Einfluss bisheriger Forschungserfahrungen konnte so schließlich, über die Entwicklung des paradigmatischen Modells hinaus, empirisch in loser Anlehnung an das SYMLOG-Konzept, ein neues dreidimensionales Modell zum gemeinsamen Wissensmanagement in mediengestützten Lernumgebungen entwickelt werden.
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6 Fazit
6.2.2 Konsequenzen für Unterrichtspraxis und Lehrerfortbildung Die Befunde dieser Arbeit zeigen, welche große Rolle die Computerbilder der SchülerInnen auf deren Handeln ausüben. Personifizierungen bieten einen hohen metaphorischen Gehalt, so dienen sie als Schuldzuschreibung, Frustbewältigung und als Strategie für Kinder (und Erwachsene), um sich Funktionsweisen des Computers vereinfacht und bildhaft zu erklären und widersprechen nicht automatisch einem technischen Sachverstand. Andererseits können diese Zuschreibungen des Computers als „allwissende Hoheit“ oder undurchschaubare Maschine dazu führen, dass SchülerInnen die Verantwortung für ihre Lernprozesse gewissermaßen an den Computer abtreten. Um eine Selbstwirksamkeit der SchülerInnen zu stärken, sollten die Computerbilder der SchülerInnen selbst zum Unterrichtsgegenstand werden. So sollte der evokatorische Charakter von Computern bereits in der Lehrerfortbildung thematisiert werden, um diese Wirkung bei der Konzeption und praktischen Umsetzung des Unterrichts zu berücksichtigen. Auf diese Art und Weise könnte in der Schule z. B. eine kindgerechte didaktische Medienreflexion gefördert werden. Die Methodik des lauten Denkens bietet ein didaktisches Potenzial für Lehrerfortbildungen, sodass Lehrpersonen über eine bewusste Einnahme der Außensicht lernen können, ihr Handeln bewusst und regelmäßig im Hinblick auf ihre Handlungsabsichten zu hinterfragen, gerade um der auch in dieser Arbeit teilweise gefundenen Kluft zwischen dem Wissen und Handeln entgegen zu wirken. Hier könnte auch eine Konfrontation mit dem Erleben von Lehrerhandlungen aus Schülersicht durchaus hilfreich sein. Der Genderfokus zeigt, dass Mädchen im Umgang mit den digitalen Medien im Vergleich zu Jungen noch etwas unsicherer sind, zugleich weisen die Beobachtungen der Lehrpersonen darauf hin, dass gerade durch den frühen Computereinsatz im Unterricht anfängliche Differenzen ausgeglichen werden können. Lehrpersonen sollten insgesamt z. B. in Fortbildungen für Benachteiligungen sensibilisiert werden und versuchen, unsichere Schülerinnen, aber auch Schüler in ihren Selbstkonzepten zu stärken. Im Hinblick auf die Ko-Konstruktion von Wissen zeigt sich, dass sich eine Einbettung von Computern in den Unterricht förderlich auswirken kann. Wichtig erscheint eine Berücksichtigung der sozialen Dimension, so führen vor allem kooperative und symmetrische Interaktionsmuster zu einem gemeinsamen produktiven Wissensmanagement. Konkurrenzorientierte hierarchische Interaktionsmuster, aber auch fehlende Absprachen in gleichberechtigten Forschungs- und Produktionsgemeinschaften blockieren hingegen Wissensmanagementprozesse. Zusammenarbeit unter Nutzung digitaler Medien sollte daher mit einer zeit-
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gleichen Förderung sozialer Lernprozesse – wie z. B. dem Hinterfragen der Rollenzusammensetzung in der Gruppe sowie der Reflexion des eigenen Gruppen- und Arbeitsverhaltens einhergehen. Neben dem fachlichen Austausch sollten sich regelmäßige Plan- und Organisations- sowie Feedbackphasen etablieren, um die sozialen Kompetenzen der SchülerInnen, wie gegenseitige Rücksichtsnahme und wechselseitiges Aufeinandereingehen, zu schulen. Um die Entstehung kollaborativer Interaktionsmuster zu fördern, könnten gezielt für den Einsatz digitaler Medien Sozialtrainings entwickelt werden. Ggf. bietet auch ein unterrichtlicher Kameraeinsatz Möglichkeiten, dass SchülerInnen über eine Außensicht ihr eigenes Handeln reflektieren. Die Befunde dieser Arbeit zeigen zudem, dass die Potenziale digitaler Medien z. B. zum zeit und -raumübergreifenden Wissensaustausch (mit Externen) dazu genutzt werden sollten, die Bearbeitung authentischer Aufgaben, die auf eine Interdependenz zielen, zu stützen, um hierdurch wechselseitige kollaborative Austauschprozesse zu forcieren. Das entwickelte Achsenmodell, das auf förderliche und hinderliche Aspekte eines gemeinsamen mediengestützten Wissensmanagements verweist, könnte z. B. in webbasierte Tools integriert werden, um als Lern- und Reflexionsfläche für Lehrpersonen zu dienen. So könnten anknüpfend an den Befunden dieser Arbeit neue Unterrichtsund Fortbildungskonzepte entwickelt, erprobt und evaluiert werden. Deren Schwerpunkt sollte zum einen darin liegen, wie Lehrpersonen im Einnehmen einer Rolle als Facilitatoren unterstützt und gestärkt werden können und zum anderen, wie die Potenziale der digitalen Medien gewinnbringend zur Gestaltung gemäßigt konstruktivistischer Lernumgebungen genutzt werden können. 6.2.3 Ausblick Das in dieser Arbeit entwickelte Modell könnte, neben dem beschrieben Nutzen für die Lehrerfortbildung, als Analyseinstrument für weitere wissenschaftliche Zwecke, auch außerhalb des schulischen Bereichs, genutzt, weiterentwickelt und/ oder modifiziert werden. So könnte beispielsweise untersucht werden, welche Interaktionsmuster sich z. B. in Online-Diskussionsforen finden und wie die digitalen Medien in diesem Bereich die wechselseitigen Austauschprozesse bedingen. Anknüpfend an das Phänomen der Personifizierung des Computers könnten Unterrichtskonzepte, die gezielt Computerbilder und den Umgang mit diesen thematisieren, wissenschaftlich begleitet und im Hinblick auf eine Kompetenzförderung analysiert werden.
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Die vorliegende Arbeit untersucht zwar die Qualität von Interaktionsmustern, dies aber verstärkt im Hinblick auf die soziale Dimension des mediengestützten Wissensmanagements. Wenngleich die Studie darauf verweist, dass möglichst symmetrische und kooperative Interaktionsmuster die Ko-Konstruktion von Wissen beflügeln, bleibt es offen, inwieweit diese Ko-Konstruktionen wirklich zu inhaltlich besseren Leistungen führen. Hier könnten weitere Untersuchungen ansetzen. Außerdem sollten Studien mit einem verstärkt quantitativen Forschungsansatz der Frage nachgehen, in welcher Häufigkeit und in welchen Unterrichtskontexten sich die in dem Modell beschriebenen Interaktionsmuster in der aktuellen Unterrichtspraxis wieder finden. Es könnten zudem unterschiedliche Lehrertypen herausgearbeitet werden, um z. B. zu untersuchen, unter welchem bibliografischen Hintergrund, in welchen Ausbildungskontexten und unter welchen organisatorischen Bedingungen Lehrpersonen in der Unterrichtspraxis als Facilitatoren agieren. Abschließend bleibt zu hoffen, dass die schulische Unterrichtspraxis digitale Medien als Katalysator nutzt, um langfristig eine Lernkultur zu etablieren, die im Sinne eines gemäßigten Konstruktivismus Lernende als soziale und selbstreferenzielle Wesen ins Zentrum rückt. Diesen Prozess zu forcieren und zu begleiten, bleibt weiterhin eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft.
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