Schön wie Marilyn Anne McAllister Julia 1405 14 2/2000
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1. KAPITEL Gibson Walker sah sechs nackte ...
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Schön wie Marilyn Anne McAllister Julia 1405 14 2/2000
scanned by suzi_kay
1. KAPITEL Gibson Walker sah sechs nackte Frauen vor sich. Sie waren alle rank und schlank, hatten lange Beine, sanft geschwungene Hüften und hübsche Brüste. Und woran dachte er bei diesem Anblick? Warum es nicht sieben waren. Ungeduldig wippte er mit dem Fuß. "Wo steckt sie nur?" fragte er schroff. Nun warteten sie schon seit einer halben Stunde! Wie sollte er die Fotoserie für den brandneuen Duft "Seven" schießen, wenn er nur sechs Models hatte? Das Parfüm hieß ja nicht "Six", sondern "Seven". "Können wir endlich anfangen?" jammerte eine der nackten Frauen. "Mir ist kalt", sagte die nächste und fröstelte. "Mir ist heiß." Die Dritte klimperte Gibson verführerisch mit den Wimpern zu und versuchte, ihn auch heiß zu machen. Auf die habe ich gerade gewartet, dachte er und wies sie mit einem unmissverständlichen Blick in ihre Schranken. Sie versteckte sich sofort hinter einem Scheinwerfer. "Meine Nase glänzt, Gibson", sagte eine andere Frau, betrachtete sich im Spiegel und schnitt komische Grimassen. Auf deine Nase achtet sowieso keiner, Süße, hätte er beinah gesagt, riss sich jedoch zusammen. Immerhin ging es hier um Kunst, das jedenfalls bildeten sich die Mitarbeiter der
Marketingabteilung ein. Also wandte er sich an die Maskenbildnerin: "Puder ihre Nase, Judi." Judi machte sich beflissen ans Werk und puderte auch die Wangen eines anderen Models ab, während Sierra, die Friseurin, zum tausendsten Mal die Frisuren richtete. Gibson wurde immer ungeduldiger und rief Edith, seiner rechten Hand, zu, sie solle herausfinden, wo, um alles in der Welt, Nummer sieben geblieben war. Am liebsten suchte er sich seine Models selbst aus. Wenigstens konnte er sich dann darauf verlassen, dass sie zuverlässig und professionell arbeiteten und pünktlich waren. Dieses Mal hatte sein Kunde allerdings darauf bestanden, die Mädchen selbst auszusuchen. "Wir möchten einen repräsentativen Querschnitt", hatte der Chef der Werbeabteilung erklärt. "Natürlich müssen die Frauen alle bildhübsch sein, aber nicht im üblichen Sinne." Obwohl das sehr schwammig ausgedrückt war, hatte Gibson sofort gewusst, was der Mann wollte. Der Duft "Seven" sollte jeder Frau gefallen. Daher musste "Jedefrau" auch in der Anzeige abgebildet sein - selbstverständlich nur schöne Frauen, aber nicht der Typ, den man gemeinhin mit leerem Gesichtsausdruck über die Laufstege stöckeln sah. "Wir sehen unsere Kartei durch", hatte der Werbechef versprochen. "Wir suchen große und kleine Frauen mit lockigem oder glattem Haar und natürlich von unterschiedlicher ethnischer Herkunft heraus. Wir schicken sie dann vorbei." Er, Gibson, hatte nichts dagegen. Solange die Damen pünktlich waren. Und eine war es nicht! Gibson trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. Er ging ungeduldig im Atelier hin und her und wurde immer wütender. Die Mädchen wurden des Wartens auch langsam überdrüssig. Wie sollte er sie bei Laune halten?
Plötzlich hörte er Edith sagen: "Ja, er wartet schon auf Sie. Sie können gleich durchgehen." Langsam öffnete sich die Tür zum Atelier. "Das wird aber auch langsam Zeit", rief er der jungen Frau, die hereinkam, missmutig zu. "Wir warten seit eins auf Sie." Sie blinzelte verwirrt. Ihre Augen waren von einem tiefen Veilchenblau. Gibson schüttelte den Kopf, als er es bemerkte. Welch eine Verschwendung, denn er sollte ja Schwarzweißfotos machen. "Mein ... mein Flugzeug hatte Verspätung." "Ihr Flugzeug?" Hatte man sie etwa extra eingeflogen? Womöglich war sie ein aufgehender Stern an der Westküste der neueste Superstar von Los Angeles. Gibson betrachtete sie genauer, um herauszufinden, was an ihr so besonders war. Immerhin stand er im Ruf eines Frauenkenners. Das brachte sein Beruf mit sich. Er fotografierte Frauen - schöne Frauen. Er war berühmt dafür, Frauen von ihrer besten Seite darzustellen und dem Betrachter der Fotos ihre Schönheit zu vermitteln. Diese junge Frau mit den veilchenblauen Augen wirkte wie ein typisch amerikanisches Mädchen aus den Fünfzigerjahren. Sie mochte Mitte zwanzig sein, also älter als die anderen Models, war mittelgroß und besaß Kurven, von denen die anderen sechs Frauen nur träumen konnten. Genaueres konnte man erst sagen, wenn sie ihr Hemdblusenkleid ausgezogen hatte. Wer trug heutzutage in New York eigentlich noch Hemdblusenkleider? Mit dem welligen blonden Haar und dem sinnlichen Mund wirkte sie wie eine zugeknöpfte Marilyn Monroe. Das war natürlich ein Widerspruch in sich! Vielleicht hatte der Werbechef sie gerade deshalb ausgewählt, weil er hoffte, die Frauen würden dazu verleitet werden, den neuen Duft zu kaufen, weil sie sich einbildeten,
damit eine neue Marilyn Monroe zu sein. Keine schlechte Idee, wie Gibson neidlos zugeben musste. "Wie heißen Sie?" fragte er. "Chloe", sagte sie und schien sich zu wundern, dass er ihren Namen nicht kannte. Gibson zog die Augenbrauen hoch. Ob sie zu den arroganten Models gehörte, die erwarteten, nach zwei oder drei Aufträgen von jedermann erkannt zu werden? Hoffentlich nicht! Mit Primadonnen konnte er nichts anfangen. "Okay, Chloe, nun sind Sie ja endlich hier. Ziehen Sie sich aus, und dann können wir anfangen." Chloe sah ihn völlig verblüfft an und wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort heraus. Und sie war errötet. "Was ist los?" fragte Gibson ungerührt. "Hat Ihnen keiner gesagt, was Sie heute hier zu tun haben?" "Das.... das haben sie mir jedenfalls nicht gesagt." Sie schluckte und sah sich um. Dabei entdeckte sie die sechs nackten Frauen, die sie eine nach der anderen musterte. Normalerweise waren die Models es gewohnt, ohne einen Faden am Leib herumzulaufen, wenn es von ihnen verlangt wurde. Es machte ihnen überhaupt nichts aus. Doch unter Chloes betroffenem Blick wurden sie unruhig. Wenn ich jetzt nicht einschreite, ziehen sie sich womöglich wieder an, dachte Gibson und schüttelte den Kopf, bevor er sich Chloe zuwandte und zuckersüß sagte: "Okay, dann verschwinden Sie eben wieder dorthin, wo Sie hergekommen sind. Oder Sie tun jetzt, was von Ihnen verlangt wird." Schweigen. Sie schien sogar vergessen zu atmen. Schließlich schien sie wieder zu sich zu kommen und befeuchtete sich die Lippen. Gibson spürte, wie unentschlossen die junge Frau war. Fast meinte er, Panik in ihrem Blick zu lesen. Was, um alles in der Welt, hatten diese Narren sich dabei gedacht, ausgerechnet dieses Mädchen zu engagieren?
Doch dann atmete sie tief durch und nickte. "Okay, wo kann ich mich ausziehen?" "Ich zeige es Ihnen." Sierra, die Friseurin mit dem violetten Haarschopf, lächelte ihr aufmunternd zu und ging voraus. "Hier entlang." Unsicher folgte Chloe ihr zu den Umkleidekabinen an einer Wand des Ateliers. Gibson hätte schwören können, dass Chloe zitterte, als sie an ihm vorbeiging. Während der vergangenen zwölf Jahre hatte Gibson viele Frauen fotografiert. Er schmeichelte ihnen mit seiner Kamera und erhob sie dadurch zu Kunstobjekten. Dadurch war er zu einem der meistgefragten Fotografen der Branche geworden. Vom professionellen Standpunkt aus freute er sich darüber, privat hätte ihm der Ruhm nicht gleichgültiger sein können. Auch aus den Frauen, die er abbildete, machte er sich nichts. Er hatte es sich zur Regel gemacht, sich nie mit einer Frau einzulassen, die er fotografierte. Den Fehler hatte er einmal gemacht - und nie wieder. Er konzentrierte sich ganz auf seine Arbeit, auf die richtige Beleuchtung, die am besten geeignete Belichtung und Pose. Frauen waren für ihn austauschbare Objekte. Bis zu dem Moment, als Chloe an diesem Nachmittag aus der Umkleidekabine kam. Chloe war kein Objekt. Sie war ein Mensch, ein lebendiger Mensch, der atmete - und zitterte. Es machte ihn verrückt. "Okay, an die Arbeit, Mädels", sagte Gibson und wagte kaum hinzusehen, als Chloe sich zu den anderen Models stellte. "Bildet einen Kreis. Ich brauche Silhouetten. Streckt die Arme hoch über den Kopf. Höher. Sehr gut." Und sieben Frauen streckten die Arme in die Höhe - sechs mit geschmeidigen Bewegungen, die siebte zitterte. Gibson ließ die Kamera sinken. "Das gilt auch für Sie, Chloe. Strecken Sie die Arme hoch über den Kopf!"
Als Chloe gehorchte, wippte ihr Haar. Und ihre Brüste wippten auch. Gibson bekam einen trockenen Mund und feuchte Hände. Und er war erregt. Wie ein Teenager, dachte er ärgerlich. Während seiner mittlerweile zwölfjährigen Laufbahn hatte er schon Hunderte, ja Tausende Brüste gesehen, jedenfalls wahrscheinlich mehr als ein Durchschnittsmann in seinem ganzen Leben. Doch die meisten Brüste hatten nicht gewippt. Er befeuchtete sich die Lippen. Die anderen waren alle fest, klein und fast künstlich gewesen, während Chloes eher ... üppig waren. Ohne das Hemdblusenkleid hätte man sie wirklich mit Marilyn verwechseln können. Gibson machte die Augen zu und versuchte sich zu konzentrieren. Doch sobald er wieder hinsah, hatte er sie sofort im Blickfeld. "Streck die Arme aus", rief er ihr wütend zu. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er sie plötzlich duzte. "Doch nicht ruckartig nach vorn, Süße! Bilde dir ein, du würdest die Arme nach deinem Geliebten ausstrecken!" Chloe errötete am ganzen Körper. Gibson ließ die Kamera erneut sinken und blinzelte. Dann sah er wieder hindurch. Das war ja unglaublich! Geradezu faszinierend. Noch nie hatte er gesehen, wie jemand am ganzen Körper errötete. Wie bezaubernd! Nein, "bezaubernd" war wohl doch übertrieben. Ihn hatte keine Frau mehr bezaubert seit... Gibson riss sich zusammen. "Hör auf zu zittern", befahl er. "Oder ich habe sechs hübsche Ladys und einen verwackelten Schatten." "Entschuldigung." Chloe konnte einfach nicht aufhören zu zittern. Gibson schüttelte den Kopf und sah wieder durch die Kamera. Dann begann er die ersten Aufnahmen zu machen. "So,
und nun schwimmt. Fließende, elegante Bewegungen, als würdet ihr waten." Sie schwammen, stellten sich auf Zehenspitzen und machten fließende Armbewegungen. Nur Chloe fiel aus dem Rahmen. Gibson biss sich auf die Lippe und konzentrierte sich auf die anderen Mädchen. Sie wateten voran, und wieder kam Chloe in sein Blickfeld. Er räusperte sich und versuchte einen Arbeitsrhythmus zu finden. "Zeigt mir eure Lippen. Tut so, als wurdet ihr küssen. Prima!" Und natürlich musste Chloe direkt in die Kamera sehen. Wieder war sie am ganzen Körper errötet, und sie bot ihm die Lippen zum Kuss! Gibson fluchte unterdrückt. "Du sollst nicht mich ansehen, Süße. Ich brauche Profile", sagte er heiser. "Küss deinen Freund. Du hast doch einen Freund?" Jetzt errötete sie noch tiefer! Schade, dass die Fotoserie nur schwarzweiß war. Die rosige Farbe hätte sieh gut gemacht. Er atmete tief durch, trocknete die feuchten Hände an seinen Jeans und befeuchtete sich die Lippen. Nun konzentrier dich endlich, ermahnte er sich ärgerlich. Aber genau das tat er ja. Allerdings nur auf eine Person, sosehr er sich auch bemühte. Und er wurde immer erregter. Verzweifelt überlegte er, wie die Models sich bewegen sollten, doch ihm fiel absolut nichts ein. In seinem Kopf herrschte gähnende Leere. Er konnte immer nur diesen unglaublich verführerischen Körper ansehen. Im Gegensatz zu den anderen sechs Mädchen schien Chloe die Sache mit viel Herz anzugehen. Wenn er "dein Freund" sagte, errötete sie. Wenn er sie bat zu küssen, spiegelte sich Sehnsucht in ihrem Gesichtsausdruck. "Ja", sagte er. "Genau. Mehr. Weiter so. Gib mir mehr, Süße." Sie sahen ihn alle an.
"Ich meine, ihr Süßen." Gibson lächelte ihnen entschuldigend zu und sah wieder Chloe an. Sie zitterte. Sie errötete. Ihre Brüste wippten. Plötzlich gab es vor der Tür Unruhe. "Du kannst da jetzt nicht hinein", rief jemand. "Kann ich doch. Ich bin sowieso schon spät dran", sagte eine andere Frauenstimme. Im nächsten Moment wurde die Ateliertür aufgerissen, und Tasha, ein Topmodel, mit dem er schon oft zusammengearbeitet hatte, stürzte herein. "O Gibson! Entschuldige bitte. Das Taxi ist liegen geblieben. Und der Fahrrer! Er sagt, Sie können nicht gehen, ohne zu bezahlen. Ich sage, ich bezahle nicht. Sie haben mich nicht am rrichtigen Orrt abgesetzt. Dann hat err mich festgehalten, und ich habe geschrrien: Kidnapping! Err sagt, ich bin Betrrügerin. Unglaublich!" Als sie aufgebracht den Kopf schüttelte, wehte das lange flammend rote Haar nur so. "Und dann die Polizei! Man sollte meinen, sie glauben hübschem Mädchen, oderr? Aberr was tun sie? Sie glauben diesem schrrecklichen Taxifahrrer." Während Tasha ihre Verspätung erklärte, zog sie sich temperamentvoll aus - erst das bauchfreie Top, dann den winzigen BH, die Sandaletten und den Minirock. "Ich sage dirr, diese Polizisten haben ja keine Ahnung!" Sie schleuderte ihren Slip durch die Luft. Dann breitete sie die Arme aus und strahlte Gibson an. "Ich bin ferrtig. Jetzt können wirr anfangen, ja?" Gibson machte den Mund wieder zu. Mitten im Atelier stand die wunderschöne nackte Tasha, und an ihr wippte gar nichts. Die anderen Models umringten sie. Langsam ließ er den Blick über die Mädchen gleiten. Sie sahen ihn an, dann betrachteten sie einander. Alle schienen das Gleiche zu denken. Sie zählten: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Gibson wandte sich Chloe zu. Der zitternden, errötenden Chloe mit den wippenden Brüsten. Sieben. Und mit. Tasha waren es ...
Acht. Acht? "Einen Moment mal", sagte Gibson. "Irgendwas stimmt hier nicht. Wenn Tasha für die Aufnahmen vorgesehen ist, dann ..." "Natürrlich bin ich vorrgesehen!" "Dann ist eine von euch nicht vorgesehen." Alle richteten den Blick auf Chloe, die schützend die Arme vor der Brust verschränkte und sich hinter einem Tisch verschanzte. Sie war von Kopf bis Fuß so rot wie Tashas Haar. "Du bist gar kein Model." Gibson musterte sie vorwurfsvoll. "Natürlich bin ich kein Model!" Mit der Antwort hatte er nun überhaupt nicht gerechnet. Wenigstens hätte sie sich doch herausreden, die Gelegenheit beim Schöpf packen können! So etwas wäre ja nicht zum ersten Mal passiert. Gibson sah sie wütend an. Wenn sie kein Model war, was, um alles in der Welt, tat sie dann nackt in seinem Atelier? "Wer sind Sie?" "Das habe ich Ihnen doch gesagt!" Ihr Tonfall klang fast verzweifelt. "Ich bin Chloe. Chloe Madsen. Ihre Schwester hat mich geschickt." "Meine Schwester? Gina hat Sie hergeschickt?" Sie nickte. Und ihre Brüste wippten. Gibson machte die Augen zu. Als er sie wieder öffnete, sah er, dass Chloe in einen Bademantel schlüpfte, der auf einem Tisch gelegen hatte. Dann verschränkte sie" wieder die Arme. "Ja, Gina hat mich geschickt, damit ich bei Ihnen arbeite. Den Sommer über. Als Ihre Assistentin." "Als meine Assistentin?" Er musterte sie ungläubig. "Ja. Sie hat gesagt, Sie seien einverstanden. Stimmt das vielleicht nicht?" Ach du liebe Zeit! Gibson biss sich auf die Lippe. "Doch, wahrscheinlich", antwortete er schließlich.
"Wahrscheinlich?" fragte Chloe nach. "Also gut. Ich muss wohl Ja gesagt haben." Aber nur, weil er immer Ja sagte, wenn Gina ihn um etwas bat. Das war er ihr schuldig. Sie hatten ihre Eltern verloren, als er dreizehn und Gina zwanzig Jahre alt gewesen war. Gina hatte für ihn gesorgt. Seinetwegen hatte sie sogar ihr Studium abgebrochen. Später hatte sie dann darauf bestanden, dass er die Universität besuchte. Sie hatte ihn immer unterstützt und an ihn geglaubt. Wenn sie ihn hin und wieder um einen Gefallen bat, konnte er also schlecht Nein sagen, so gern er es manchmal auch getan hätte. Immerhin ließ er es sie wissen, wenn es ihm nicht passte. Meistens hatte sie dann auch nicht mehr darauf bestanden. Bis jetzt. Wütend schrie er Chloe an: "Wenn Sie meine Assistentin sind, warum, um alles in der Welt, haben Sie sich dann ausgezogen?" "Weil Sie es mir gesagt haben." So einfach war das? Gibson sah sie verblüfft an. "Wenn ich Sie mitten auf der Straße darum bitten würde, sich auszuziehen, dann würden Sie das tun?" "Natürlich nicht!" Chloe errötete wieder. "Aber Gina hat mir eingeschärft, ich müsste alles tun, was Sie von mir verlangen. Beruflich, meine ich." Sie hielt seinem Blick stand. Chloe Madsen hatte Mut, das müsste man ihr lassen. Chloe atmete tief ein und aus, wobei ihre Brüste sich unter dem dünnen Frotteemantel hoben und senkten. Er hatte sie schon nackt gesehen. Und die dunkelrosa Knospen. Wahrscheinlich werde ich sie nie wieder sehen, dachte er. Wenn man bedachte, wie die nackte Chloe ihn fast um den Verstand gebracht hätte, war das wohl auch besser so. "Warrum arrbeitest du mit dem Mädchen?" fragte Tasha vorwurfsvoll. "Das darrfst du nicht! Ich bin das ,Seven'-
Mädchen!" Sie stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn wütend an. "Tasha ..." Gibson lächelte ihr beruhigend zu. Sie umfasste sein Gesicht und küsste ihn auf den Mund. "Wirr fangen noch einmal von vorrn an, ja? Verrzeihst du Tasha die Verrspätung?" "Ja." Gibson brachte sich schnell in Sicherheit und ließ den Blick zu Chloe gleiten, die ihn noch immer ansah. Er machte keine Anstalten, die Arbeit wieder aufzunehmen. "Gibson?" fragte Tasha ungeduldig. Er wandte den Blick ab, "Ja?" "Fangen wirr jetzt endlich an?" "Ach so, ja, natürrlich, ich meine, natürlich." Das würde ihn wenigstens von Chloe Madsen ablenken. Er hob die Kamera. "Okay, Mädels, auf ein Neues. Ihr wisst, was ihr zu tun habt." Sie bildeten wieder einen Kreis, Tasha fand ihren Platz. Sie zitterte nicht, und bei ihr wippte auch nichts, wie Gibson erleichtert feststellte. "Und was ist mit mir?" fragte Chloe. "Was soll ich jetzt tun?" Er wandte sich ihr wieder zu. Vor seinem inneren Auge sah er sie nackt. Allein der Gedanke erregte ihn, doch Gibson riss sich zusammen und antwortete: "Gehen Sie wieder nach Hause." Sie sollte nach Hause gehen? Das hatte ihr gerade noch gefehlt! In Collierville in Iowa konnte sie sich nicht mehr blicken lassen, nachdem sie sich in New York entblößt hatte! Chloe war in eine der kleinen Umkleidekabinen geflüchtet und hörte zu, wie Gibson Walker den Models mit seiner rauen, verführerischen Baritonstimme Anweisungen gab. Arme ausstrecken und schwimmen. Genau wie er es vorhin auch von ihr verlangt hatte. Bei der Erinnerung daran barg sie das Gesicht in den Händen. Sie schämte sich furchtbar. Schließlich begann sie nervös, sich wieder anzuziehen. Ihre Hände zitterten so sehr, dass es doppelt so lange wie sonst
dauerte, bis das Hemdblusenkleid zugeknöpft war. Endlich war es geschafft. Eigentlich hätte sie die Umkleidekabine jetzt verlassen können, doch sie traute sich nicht, Gibson Walker wieder unter die Augen zu treten. Er war so wütend auf sie gewesen. Aber wieso eigentlich? Immerhin hatte sie sich gehorsam ausgezogen, als er sie darum gebeten hatte. Den Grund dafür würde sie wohl nie begreifen. Wie hatte sie nur so dumm sein können? Für sie gab es nur eine Ausrede: Gina hatte ihr erklärt, Gibson könnte sie durchaus als Model einsetzen, wenn er das Atelier ausleuchtete und die richtigen Kameraeinstellungen vornahm. Sie, Chloe, hatte offensichtlich nicht richtig zugehört und gedacht, Gibson wollte sie als Ersatzmodel. Sie lachte auf. Was Dave wohl dazu sagen würde? Gar nichts, denn er würde es nie erfahren. Es hatte Dave Shelton, ihrem Verlobten, sowieso nicht gepasst, dass sie den Sommer über in der Großstadt mit dem schlechten Ruf jobben wollte. "Was willst du denn ausgerechnet in New York?" hatte er gefragt. "Dort kommst du nur auf dumme Gedanken." "New York ist eine wundervolle, faszinierende Stadt, die unglaublich viel zu bieten hat. Ich möchte mich einfach mal umsehen. Du brauchst keine Angst zu haben, ich lasse mich schon nicht manipulieren", hatte sie geantwortet. Wenn Dave allerdings erfahren würde, dass sie splitterfasernackt vor ihrem Arbeitgeber hin und her stolziert war, kaum dass sie in New York eingetroffen war, würden seine schlimmsten Befürchtungen sich natürlich bestätigen. Doch niemand würde es ihm erzählen. Es sei denn, Gibson Walker würde es ihm verraten. Aber das würde er nicht tun, oder? "Küssen, Ladys. Ich will sehen, wie ihr küsst. Prima, sehr gut, ausgezeichnet", hörte sie Gibson sagen.
Wieder barg Chloe das Gesicht in den Händen. Sie hatte ihm direkt in die Augen gesehen und die Lippen zum Kuss geformt. Allein bei der Vorstellung daran hätte sie vor Scham im Erdboden versinken können. Und dann sagte er schließlich: "Das war's. Vielen Dank. Ich glaube, wir haben eine prima Serie gemacht." Die Models begannen alle durcheinander zu reden. Am lautesten war die sexy Rothaarige, die zu spät gekommen war und sie, Chloe, verdrängt hatte. Es hieß "Gibson dies, Gibson das", und er antwortete ganz gelassen, als würde er jeden Tag mit nackten Schönheiten arbeiten. Wahrscheinlich tat er es sogar. Jetzt kamen die Mädchen zu den Umkleidekabinen. Jemand klopfte an ihre Tür. "Ich bin noch nicht so weit", behauptete Chloe leise. Das würde sie wohl nie sein. Am liebsten wäre sie für den Rest ihres Lebens in der Kabine geblieben. Sie atmete mehrere Male tief durch und versuchte, ruhig und gelassen zu werden. Die Mädchen hatten sich inzwischen wieder angezogen und verließen das Atelier. "Bye, Gibson", riefen sie zum Abschied. "Wiedersehen, Mädels." "Du bist der Größte, Gibson. Bis zum nächsten Mal." Dann herrschte Stille. Der Augenblick der Wahrheit war gekommen. Chloe wusste, dass sie sich nicht länger verstecken konnte. Sie hatte zwei Möglichkeiten. Entweder versuchte sie, ungesehen zu verschwinden und den nächsten Flug nach Iowa zu nehmen, oder sie trat dem Mann im Atelier mutig entgegen und versprach, ihm eine gute Assistentin zu sein. Eigentlich hatte sie keine Wahl, denn sofort nach Hause zu fliegen kam überhaupt nicht in Frage. Sie hatte sich so sehr auf den Sommer in New York gefreut. Um sich diesen Traum zu erfüllen, hatte sie einiges aufs Spiel gesetzt. Dave hatte sie erklärt, sie wollte die Zeit nutzen, um sich über einiges klar zu
werden. Natürlich hatte er sie nicht verstanden. Aber das wäre wohl auch zu viel erwartet gewesen. Jedenfalls konnte sie nicht unverrichteter Dinge wieder zurückkehren, das stand immerhin fest. Chloe atmete tief durch und machte die Tür auf. "Ich habe einen Flug für Sie gebucht", sagte Gibson kurz angebunden, sowie die Tür sich öffnete. "Er geht um sechs Uhr, dann sind Sie um neun in Chicago. Dort haben Sie eine Stunde Aufenthalt. Dann geht es mit dem letzten Flug nach Dubuque, wo Sie Viertel nach elf landen werden. Sie können jemanden anrufen, der Sie vom Flughafen abholen soll." Er ließ flüchtig den Blick über sie gleiten - nicht nur, um sich davon zu überzeugen, dass sie sich angezogen hatte und ihre Brüste noch wippten. Dann widmete er sich entschlossen einem Stapel unerledigter Sachen, die sich während der vergangenen zwölf Jahre auf seinem Schreibtisch gestapelt hatten. Es war wirklich äußerst wichtig, sich jetzt sofort darum zu kümmern! Als Chloe nicht reagierte, sah er auf, wobei er sorgfältig darauf achtete, ihr nur ins Gesicht zu blicken. Dieses Gesicht hatte sehr verführerische Lippen. Verflixt! Chloe betrachtete ihn besorgt. "Die Flugkosten übernehme ich natürlich", erklärte er ungeduldig. Wahrscheinlich machte sie sich wegen des Geldes Sorgen. "Darum ... darum geht es gar nicht. Ich ... ich kann nicht nach Hause zurück." "Wie bitte?" Gibson musterte sie verblüfft. "Wieso können Sie nicht nach Hause? So ein Unsinn!" Doch Chloe schüttelte energisch den Kopf. "Nein, das geht nicht. Jedenfalls nicht vor dem 15. August." "Hat man Sie bis dahin aus Iowa verbannt?" Das wäre sehr merkwürdig gewesen. Er war zwar seit zwölf Jahren nicht mehr dort gewesen, konnte sich jedoch nicht vorstellen, dass es
plötzlich ein Gesetz geben sollte, das den Einwohnern verbot, vor Ablauf einer bestimmten Frist nach Hause zurückzukehren. "Ich habe erzählt, ich würde am 15. August zurück sein", erklärte sie. "Na und? Gibt es in Iowa kein Telefon? Sie können doch anrufen, um Bescheid zu sagen, dass Sie nun doch früher kommen, nämlich heute Abend." Wieder schüttelte sie den Kopf. "Das kann ich nicht." Gibson wurde ungeduldig. "Und wieso nicht?" Chloe Madsen sah ihn flüchtig an. Dabei klimperten ihre Wimpern. "Lassen Sie das!" herrschte er sie an. Sie blickte ihn erstaunt an. "Was denn?" "Unterstehen Sie sich zu weinen!" Chloe hob das Kinn. "Ich weine nie." Er hatte keine Lust, sich darüber zu streiten. "Sie können mir ruhig glauben. Jedenfalls weine ich nicht, wenn es um einen Job geht." Sie überlegte einen Moment, dann atmete sie tief durch. Und dabei hoben und senkten sich ihre Brüste. Gibson machte für einige Sekunden die Augen zu. Dann wandte er sich ab, ging zur Tür und riss sie auf, damit Chloe sein Atelier verließ. Edith, seine rechte Hand, saß am Schreibtisch. Jetzt sah sie interessiert auf. Er schöpfte wieder Hoffnung. In Ediths Anwesenheit würde Chloe wohl auf eine weitere Auseinandersetzung verzichten. "Ich weiß, dass ich mich vorhin dumm benommen habe", sagte Chloe leise: "Aber als Gina und ich uns über den Job unterhalten haben, habe ich versprochen, alles zu tun, was von einer Assistentin verlangt wird. Gina meinte, dazu gehört auch, als Modell zu posieren. Ich habe das vorhin missverstanden. Es hätte mir bewusst sein müssen, dass Sie nicht nur die Scheinwerfer ausrichten wollen. Ich dachte, Sie würden es von
mir erwarten. Und als Sie dann wütend geworden sind und gesagt haben, wenn ich mich nicht ausziehen würde, könnte ich gleich wieder gehen, habe ich eben gehorcht, weil ich nicht nach Hause kann." "Warum nicht?" Chloe sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. "Es geht eben nicht. Ich habe so ein Theater gemacht, um herzukommen und ..." Sie verstummte. "Wieso haben Sie Theater gemacht?" fragte Gibson interessiert. Doch sie ging nicht darauf ein. Schließlich sagte sie: "Ich habe einen Fehler gemacht. Es tut mir Leid. Ich habe mich wie eine Närrin aufgeführt. Wahrscheinlich habe ich auch so ausgesehen." Nein, eher unvergesslich. Bis ans Ende seiner Tage würde ihm in Erinnerung bleiben, wie Chloe Madsen nackt durch sein Atelier geschwommen war. Aber das wollte sie sicher nicht hören. Chloe biss sich auf die Lippe. "Ich würde wirklich sehr gern als Ihre Assistentin arbeiten. Bitte seien Sie mir nicht böse." "Ich bin nicht böse", antwortete er rau. "Aber Sie können nicht hierbleiben." "Sie haben Gina doch versprochen ..." "Nein. Gina hat mich überredet. Das versucht sie ständig. Ich höre gar nicht mehr richtig zu, wenn sie mich mal wieder von etwas überzeugen will. Ab und zu sage ich ,ja, ja', und dann ist die Sache erledigt." "Offensichtlich haben Sie auch in meiner Angelegenheit ,ja, ja' gesagt." Chloe sah ihn triumphierend an. "Ich hätte nie gedacht, dass Gina Sie tatsächlich zu mir schicken würde." "Hat sie aber! Sie hat mir versichert, dass Sie damit einverstanden sind, mich zwei Monate lang als Assistentin zu beschäftigen. Das ist doch auch keine große Sache."
"Ist es doch!" Sie sah ihn erstaunt an. "Warum?" Ihre unschuldige Frage nahm ihm den Wind aus den Segeln. "Weil... weil..." Weil er kein unschuldiges Mädchen aus Iowa als Assistentin haben wollte! In New York herrschten raue Sitten. Man musste mit allen Wassern gewaschen sein, wenn man hier überleben wollte. Chloe würde hier innerhalb kürzester Zeit unter die Räder kommen. "Es hat keinen Zweck." "Sie halten mich also für unfähig." Sie musterte ihn vorwurfsvoll. Gibson erwiderte unwirsch ihren Blick. "Ganz im Gegenteil, ich halte Sie für ausgesprochen fähig ..." "Das bin ich auch!" "Und Sie wären bestimmt auch eine gute Assistentin..." "Ganz bestimmt!" "Aber ich will keine Assistentin." "Du brauchst aber eine", sagte Edith. Gibson und Chloe wandten sich ihr verblüfft zu. Edith nickte Chloe aufmunternd zu und schenkte Gibson ein wohlwollendes Lächeln. "Du brauchst eine Assistentin", wiederholte sie. "Ich habe doch ... Wie heißt sie doch gleich?" Er konnte ihre Namen einfach nicht behalten. Assistentinnen kamen und gingen ständig. "Prudence?" "Perdita", korrigierte Edith ihn geduldig. "Und der Name passt zu ihr." "Ach ja, Perdita." Sie war eine von vielen, die für ihn die schwere Kameraausrüstung trugen, Scheinwerfer ausrichteten, Besorgungen machten, Filmrollen wechselten und eben Mädchen für alles waren. Bisher hatte es keine der jungen Frauen lange bei ihm ausgehalten. Er hatte sie meist schnell wieder an die Luft gesetzt, weil sie einfach zu dumm waren. Man musste ihnen alles immer wieder erklären, bevor sie es
einmal richtig machten. Es war wirklich die reinste Zeitverschwendung, und er hatte sie alle sofort vergessen, sowie er sie gefeuert hatte. An Chloe würde er sich immer erinnern. "Wir brauchen jemanden, auf den wir uns verlassen können", gab Edith zu bedenken. "Du weißt ja, dass ich nächste Woche zu Georgia fahre." Gibson verzog unwillig das Gesicht. Daran wollte er lieber nicht erinnert werden. Ohne Edith war er verloren. Sie sorgte für den reibungslosen Ablauf seiner Arbeit. Sie leitete das Atelier, verhandelte mit den Werbeagenturen, kümmerte sich ums Essen, um die Fahrradkuriere, die ständig etwas brachten oder abholten, und sie war einfach unentbehrlich. Und nun hatte sie angekündigt, einen Monat Urlaub zu nehmen, um sich um ihre Tochter zu kümmern, die nach fünfzehn Jahren kinderloser Ehe ausgerechnet in diesem Sommer Drillinge erwartete. Natürlich hatte er Edith den Urlaubswunsch nicht abschlagen können. Sie freute sich sehr darauf, endlich Großmutter zu werden. Der Flug nach North Carolina war schon lange gebucht. Wie er allerdings ohne sie auskommen sollte, war ihm, Gibson, ein absolutes Rätsel. "Chloe wird mich sicher würdig vertreten", fügte Edith hinzu. "Wie bitte?" Er glaubte sich verhört zu haben. Doch sie lächelte nur gelassen. "Sie macht einen vernünftigen, verantwortungsbewussten Eindruck. Und wenn deine Schwester ihr zutraut..." "Meine Schwester ..." "... ist eine gute Menschenkennerin", sagte Edith in energischem Tonfall. "Wenn er Sie nicht als Assistentin haben will, können Sie meinen Job übernehmen. Einverstanden, Chloe?" Dann sah sie Gibson aufmunternd an. "Willst du sie nun oder nicht?" Sehr missverständliche Formulierung, dachte er. Nein, ich will sie nicht. Dann wäre ich ja jeden Tag mit ihr zusammen.
Wie soll ich das aushalten, wenn ich allein bei ihrem Anblick erregt werde? Doch er hatte natürlich keine Wahl. Eins wollte er allerdings von vornherein klarstellen: "Ich übernehme aber keine Verantwortung für Sie, Chloe." Chloe sah ihn verblüfft an. "Natürlich nicht." "Sie müssen sich selbst durchbeißen. Ich kann Sie nicht beschützen. Schließlich bin ich kein Kindermädchen!" "Das habe ich auch nie ..." "Wenn Sie hier bleiben, dann auf Ihre eigene Verantwortung. Nur damit das von vornherein klar ist." Sie sah ihn herausfordernd an. "Alles klar", sagte sie, und als er sich abwandte, fügte sie fast angriffslustig hinzu: "Sonst noch etwas?" Gibson drehte sich um. "Ja, allerdings. Behalten Sie gefälligst Ihre Sachen an!"
2. KAPITEL Selbstverständlich musste er ihr eine Unterkunft besorgen! "Das hast du mir schließlich versprochen", sagte Gina vorwurfsvoll am Telefon. "Was habe ich?" fragte Gibson ungläubig. Gina hatte am späten Abend angerufen, um zu hören, ob die "liebe Chloe" gut angekommen war und wo er sie untergebracht hatte. "Du hast gesagt, du würdest ihr ein Zimmer zur Untermiete besorgen", beharrte sie. Er war völlig verblüfft. "Das soll ich wirklich gesagt haben?" "Na ja, vielleicht nicht genau mit diesen Worten, aber als ich dich gefragt habe, ob du ihr ein Zimmer zur Untermiete besorgen könntest, hast du Ja gesagt." "Aber ich hätte doch nie gedacht..." Er brachte es nicht übers Herz, seiner Schwester zu gestehen, dass er niemals damit gerechnet hätte, dass sie ihm wirklich jemanden als Assistentin schickte. Noch dazu ... Chloe. "Ich habe noch nichts gefunden", sagte er schließlich. "Nein?" fragte Gina entsetzt. "Nein, aber es wird sich schon etwas ergeben." "Eines Tages wirst du es mir danken." Dessen war Gina sieh offenbar ganz sicher. "Chloe ist sehr fleißig, Gibson. Sie würde alles tun, worum du sie bittest."
"Was du nicht sagst", antwortete er trocken und biss sich auf die Lippe. Was Chloe bereits getan hatte, wollte er seiner Schwester lieber verschweigen. Es würde sie nur unnötig schockieren. Er selbst war ja auch schockiert, dass er ausgerechnet das Mädchen nackt gesehen hatte, das seine Schwester ihm geschickt hatte. "Sie ist selbst eine gute Fotografin", erzählte Gina. "Dir kann sie natürlich nicht das Wasser reichen, mein Lieber. Aber immerhin hat sie schon wundervolle Aufnahmen für unser Lokalblatt gemacht." Gina arbeitete für das Blatt, wahrscheinlich hatte sie Chloe durch die Zeitung kennen gelernt. Gibson erinnerte sich dunkel an die Fotos in der Collierville Gazette: Jubelpaare, die goldene Hochzeit feierten, Footballspieler, Gewinnerinnen lokaler Wettbewerbe wie Schweinekönigin oder Landschaftsfotos, die Mais- und Sojabohnenfelder zeigten, so weit das Auge reichte. "Ach, und das Fotografieren hat sie auf die Idee gebracht, nach New York zu kommen?" "Nein, nicht direkt." Gina schwieg vorübergehend. "Es hatte, glaube ich, etwas mit einer Nonne zu tun." "Wie bitte?" "Ja, Chloe hat eine Reportage geschrieben. Weißt du, Gibson, sie ist etwas rastlos und versucht herauszufinden, was sie wirklich will." Vielleicht will sie Nackttänzerin werden, dachte Gibson amüsiert. "Sie hat drei Jahre lang als Kindergärtnerin gearbeitet, bevor sie bei unserem Blatt angefangen hat." "Als Kindergärtnerin?" Er hatte eine Kindergärtnerin nackt gesehen! Allein die Erinnerung an die nackte Chloe erregte ihn erneut. Immerhin wusste er jetzt, warum sie so ein züchtiges Hemdblusenkleid trug.
"Ja, sie kann sehr gut mit Kindern umgehen. Aber der Job hat sie nicht ausgefüllt. Deshalb ist sie zu uns gekommen." "Und das reicht ihr auch nicht?" fragte Gibson. "Das kann ich nicht beurteilen. Sie ist bisher nie aus Iowa herausgekommen und sehnt sich danach, auch einmal etwas anderes zu sehen." Schön dumm, dachte Gibson. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie hier zurechtkommen wird, Gina", sagte er dann unverblümt. "Sie ist zu naiv und unschuldig." "Sie hat ja immerhin dich und ..." "Mich hat sie auf gar keinen Fall! Bin ich vielleicht Mary Poppins?" "Natürlich nicht. Sie braucht schließlich auch kein Kindermädchen. Ich dachte nur, es wäre schön, wenn du sie wahrnehmen würdest." Das hatte er bereits getan! Und wie! "Sie möchte gern alles von dir lernen, was du ihr beibringen kannst." Ob Gina sich bewusst war, wie zweideutig dieser Satz klang? Wohl kaum. Und du bist doch ständig auf der Suche nach einer neuen Assistentin." . Woher weiß Gina das? überlegte Gibson. Hatte sie sich etwa mit Edith unterhalten? "Sie ist genauso, wie ich mir ein Mädchen für dich ..." Gina biss sich gerade noch rechtzeitig auf die Lippe. Er wusste auch so, was seine Schwester hatte sagen wollen: genau das richtige Mädchen für dich zum Heiraten. Es war ein offenes Geheimnis, dass Gina hoffte, er wurde bald heiraten und nach Iowa zurückkehren. An diese Hoffnung klammerte sie sich, seit er vor zwölf Jahren im Sommer ein Praktikum bei dem berühmten Starfotografen Camilo Volante gemacht hatte.
Es war ihr damals ein Rätsel gewesen, warum ihr Bruder so versessen auf dieses Praktikum gewesen war. "Stars interessieren dich doch gar nicht", hatte sie verwundert gesagt. Und er hatte erklärt: "Aber Menschen." Er wollte Menschen fotografieren. Und das wollte er von dem Mann lernen, der nur berühmte Leute ablichtete. Mit dem Wissen könnte er vor die Kamera bekommen, wen er wollte. So jedenfalls hatte er es sich damals ausgemalt. Natürlich hatte er damit gerechnet, nach Iowa zurückzukehren. Doch es kam ja immer anders, als man dachte. Er hatte das Praktikum bei Camilo verlängert, und dann hatte sich sowieso alles geändert. Unwiderruflich. Daher war er nie nach Iowa zurückgekehrt. Inzwischen hatte Gina sich damit abgefunden, dass er sehr erfolgreich schöne Frauen fotografierte. Trotzdem wurde sie nicht müde, ihn zu fragen, was eigentlich aus seinen Plänen geworden war, Menschen aus allen Lebensbereichen abzulichten. Oft wollte sie auch wissen, wann er denn endlich heiraten und nach Iowa zurückkommen würde, um Farmer und Schweineköniginnen zu fotografieren. Dieses eine Mal schenkte sie sich die Frage allerdings. "Ich bin nicht interessiert", behauptete Gibson schließlich. "Woran? Ach so, du meinst, an Chloe?" Gina lachte. "Warum solltest du dich auch für sie interessieren? Sie ist auch nicht an dir interessiert. Außerdem ist sie ja nur vorübergehend in New York, Gibson. Und sie ist verlobt und heiratet im September." Chloe wollte heiraten? Er zuckte zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen. Diese unerwartete Reaktion verstörte ihn. Was ging es ihn an, ob Chloe heiraten wollte? Gar nichts! Vor seinem geistigen Auge sah er wieder die nackte, rosige Chloe mit den wippenden Brüsten. Als Verlobte konnte er sie sich wirklich nicht vorstellen. "Und wer ist der Narr, der sie hat ziehen lassen?" fragte er.
"Falls du wissen möchtest, mit wem sie verlobt ist, kann ich es dir sagen: mit Dave Shelton, einem sehr netten jungen Mann. Erinnerst du dich noch an Ernie und Lavonne Shelton? Ihnen gehört die Farm am nördlichen Stadtrand. Sie sind Daves Eltern." Gibson erinnerte sich vage an den Namen. "In meiner Klasse war eine Kathy Shelton." "Das ist seine ältere Schwester. Sie hat geheiratet und ist nach Dubuque gezogen. Vor drei Jahren hat sie sich wieder scheiden lassen und ist mit den Kindern nach Hause gekommen. Bis vor zwei Monaten haben sie alle in einem Wohnwagen auf der Farm gewohnt. Eigentlich war der für Chloe und Dave vorgesehen. Kathys wegen haben sie vor drei Jahren nicht geheiratet." "Dann sind sie schon seit drei Jahren verlobt?" "Nein, seit acht Jahren, soviel ich weiß." "Acht Jahre?" "Von mir weißt du das aber nicht. Ich bin ja keine Klatschbase, und so genau bin ich auch nicht informiert." In einer Kleinstadt wie Collierville gab es keine Geheimnisse. Natürlich wusste Gina genau Bescheid! Darauf hätte er jede Wette abgeschlossen. Doch seine Schwester hatte offenbar das Gefühl, bereits genug gesagt zu haben. "Ich muss jetzt Schluss machen, Bruderherz. Halt mich bitte auf dem Laufenden. Und wenn du mehr über Chloe und Dave erfahren möchtest, solltest du Chloe fragen." Ich werde mich hüten, dachte Gibson, als er den Hörer auflegte. Eigentlich hätte sie ein schlechtes Gewissen haben müssen, denn sie wusste, dass Gibson Walker sie nicht beschäftigen wollte. Hätte er eine Möglichkeit gesehen, sie vor die Tür zu setze», er hätte es getan, davon war Chloe überzeugt. Also hätte sie von sich aus gehen müssen. Doch das kam nicht in Frage.
Sie hatte alles, aber auch alles darangesetzt, von zu Hause fortzukommen, nur für zwei Monate, um sich den Wind um die Nase wehen zu lassen. Da konnte sie nicht nach einem Tag wieder zurückkehren und Dave erzählen, sie hätte es sich anders überlegt. Er würde fragen, was sie dazu bewogen hatte. Und sie, ehrlich, wie sie nun einmal war, würde ihm alles beichten: die Verwechslung, die Nacktfotos, wie dumm sie sich angestellt hatte. Nein, das ging wirklich nicht. Also blieb sie, wo sie war. Mit den Schuldgefühlen wurde sie schon fertig. Viel schlimmer war die Verlegenheit über den peinlichen Zwischenfall. Chloe stand am Fenster ihres Hotelzimmers, in dem Gibson sie abgeliefert hatte, und sah in den New Yorker Nachthimmel hinaus, als das Telefon klingelte, "Hallo." Es konnte nur Dave sein. Sie hatte die Zeitverschiebung außer Acht gelassen, als sie ihn Stunden zuvor angerufen hatte. Natürlich melkte er um diese Zeit die Kühe. Also hatte sie ihre Telefonnummer hinterlassen. "Hallo. Und? Hast du dich schon selbst verwirklicht?" Chloe rang sich ein Lächeln ab. "Noch nicht ganz. Wie geht's?" Es ging ihm natürlich gut. Sie war ja auch erst seit sechzehn Stunden fort. Dave erzählte, wie sein Tag gewesen war, wie das Wetter war, wie es den Kühen ging und was er bei seinen Eltern zu Abend gegessen hatte. "Mom hat mich zum Abendessen eingeladen. Ich glaube, sie wollte nur wissen, ob du tatsächlich fort bist. Sie und Dad können es kaum fassen." Sie waren nicht die Einzigen. Die eintausendeindhundertzweiundvierzig Einwohner von Collierville konnten nicht begreifen, wie jemand freiwillig den Sommer in New York verbringen konnte. Sie, Chloe, hatte es schließlich aufgegeben, ihnen zu erklären, was sie vorhatte. Es
hatte ja doch keinen Zweck. Nur Dave sollte verstehen, warum sie in die Großstadt wollte. Dave und sie waren zusammen aufgewachsen und seit der Schulzeit ein Paar. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass sie zusammengehörten. Sie wusste alles über Dave, und Dave wusste alles über sie - nur von dem Nackttanz am Nachmittag wusste er nichts. "Ist alles so, wie du es dir vorgestellt hast?" fragte er. "Es ist noch viel besser." Zum Glück wollte er nichts Genaueres wissen! "Und wo wohnst du?" Chloe beschrieb ihm das einfache, aber ordentliche Hotel. "Wenigstens sind Sie hier sicher", hatte Gibson gesagt, als er sie zu ihrem Zimmer gebracht hatte. "Allerdings wäre es besser, wenn man die Zimmertür auch von außen verriegeln könnte", hatte er schroff hinzugefügt. Sie hatte nicht gefragt, wie er das meinte. Dave schien überrascht. "Ich dachte, du würdest irgendwo zur Untermiete wohnen." "Ja, im Hotel bin ich nur vorübergehend. Er hat noch nichts für mich gefunden." Sie verschwieg Dave, dass Gibson gehofft hatte, sie würde nicht auftauchen. "Du wirst doch wohl nicht bei ihm wohnen!" "Natürlich nicht!" Das hätte Gibson Walker niemals zugelassen. Als er sich bewusst geworden war, dass er sie nicht so schnell wieder loswurde, hatte er sie ins Hotel verfrachtet. "Aber ich kann mir kein Hotelzimmer leisten", hatte sie protestiert. "Ich aber." Sein Tonfall hatte keinen Widerspruch geduldet. Gibson hatte an der Rezeption für eine Übernachtung bezahlt. Als sie ihre Kreditkarte herausgezogen hatte, hatte er einfach abgewinkt. Für ihn war die Angelegenheit damit erledigt gewesen. Er hatte sie zum Zimmer gebracht, gesagt, er hoffte,
sie würde über Nacht zur Vernunft kommen und doch nach Hause fliegen. "Moment!" hatte sie gerufen, als er gehen wollte. "Wann fangen wir morgens an?" Einen Augenblick lang hatte er sie schweigend angesehen, dann hatte er sich ein Lächeln abgerungen und geantwortet: "Die ersten Aufnahmen sind für neun Uhr angesetzt." Dann war er wirklich gegangen. "Ich kümmere mich morgen nach der Arbeit um ein anderes Zimmer", versprach Chloe Dave. "Ja, aber eins, wo du gut aufgehoben bist." "Natürlich." "Du fehlst mir." "Du fehlst mir auch, Dave. Aber du wirst schon sehen, wie schnell die Zeit verfliegt. Ehe du dich's versiehst, bin ich schon wieder da." Dave seufzte. "In einundsechzig Tagen." Du liebe Zeit, er zählte die Tage schon jetzt! Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen. "Verglichen mit der Ewigkeit, sind einundsechzig Tage gar nichts. Und wenn ich wieder da bin, werden wir für immer und ewig zusammen sein." Das stimmte ja auch. Sie kannte Dave, seit sie denken konnte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, plötzlich irgendwo ohne ihn zu sein. Manchmal hatte sie sich schon gefragt, ob sie überhaupt ohne ihn sein konnte. Vielleicht wollte sie es nun herausfinden. "Jedenfalls bin ich ganz schön wütend auf Schwester Carmela", sagte Dave schroff. "Schwester Carmela trifft keine Schuld." Dave wirkte nicht überzeugt. Und es war ja tatsächlich die neue Äbtissin des gleich hinter der Stadtgrenze von Collierville gelegenen Klosters gewesen, die sie, Chloe, auf die Idee gebracht hatte. Sie, Chloe, hatte vor etwa einem Monat ein Interview mit Schwester Carmela für die Zeitung geführt und sich auf Anhieb
blendend mit ihr verstanden. Während des Gesprächs hatte die Äbtissin nicht nur von ihrer Arbeit erzählt, sondern auch verraten, wie sie sich ihrer Berufung bewusst geworden war. Sie war direkt nach dem Studium zur Abtei gekommen und noch voll jugendlicher Begeisterung gewesen. "Ich habe mich hier sofort wohl gefühlt", hatte sie strahlend berichtet. "So lebendig und zufrieden, als hätte ich meinen Platz im Leben gefunden. Bis kurz vor dem Ablegen meines Gelübdes lief alles wie am Schnürchen. Plötzlich machte ich mir Gedanken. War ich wirklich zum Leben als Nonne berufen? Oder wollte ich nur Nonne werden, weil es für mich die einfachste Lösung war? Ich zweifelte an allem, wurde jeden Tag rastloser und unzufriedener." Chloe, der es in den vergangenen Monaten ähnlich ergangen war, horchte auf. "Und wie sind Sie darüber hinweggekommen?" fragte sie gespannt. "Gar nicht." Die Äbtissin lächelte. "Ich bin gegangen." "Sie sind gegangen?" Chloe fiel der Stift aus der Hand. Sie hob ihn wieder auf und betrachtete Schwester Carmela forschend. Machte sie Witze? Doch es schien ihr ernst zu sein. "Ich konnte nicht bleiben. Zuerst musste ich mir hundertprozentig klar sein, ob ich auch wirklich das Richtige tat. Also beschloss ich, meine Berufung auf die Probe zu stellen, indem ich eine Zeit lang in der .wirklichen Welt' lebte. Ich wollte sehen, ob ich vielleicht dorthin gehörte." Chloe lächelte. "Und Ihnen ist bewusst geworden, dass es Ihnen nicht gefällt?" "Oh, es hat mir sogar sehr gut gefallen. Ich war erfolgreich, aber ich spürte, dass ich hierher gehöre. Also bin ich zurückgekommen." Wie gut sie, Chloe, sie verstehen konnte! Sie konnte genau nachvollziehen, was in Schwester Carmela vorgegangen sein musste, denn ihr ging es ganz genauso. Je näher der
Hochzeitstermin rückte, desto rastloser wurde sie. Dabei waren es bis dahin noch vier Monate. Doch sie konnte nächtelang nicht schlafen. Sie lag wach und dachte über ihre Zukunft nach. Ob sich irgendetwas ändern würde, verglichen mit ihrem bisherigen Leben? Eigentlich war sie gar nicht unzufrieden mit dem, was sie hatte. Aber sie kannte es ja auch nicht anders! Dave und sie waren schon so lange zusammen, sie schienen füreinander geschaffen zu sein wie Schwester Carmela fürs Kloster. Und genau das beunruhigte Chloe. "Du machst dir nur unnötig das Leben schwer", sagte Dave. Doch sie wusste, dass es nicht der Fall war. Sie erbat sich eine Art Probezeit, in der sie ihren Horizont erweitern wollte. Collierville mit seiner sanften, von Flüssen durchzogenen Hügellandschaft im nordöstlichen Iowa war wundervoll. Dave war wundervoll. Sie liebte beide. Aber vielleicht ging alles etwas zu glatt, wie damals bei Schwester Carmela. Wahrscheinlich sollte ich auch fortgehen, dachte Chloe. "Willst du etwa auch fünfzehn Jahre lang fortbleiben?" fragte Dave entrüstet, als sie ihm von Schwester Carmela erzählte, die sich mit ihrer Entscheidung tatsächlich so lange Zeit gelassen hatte. "Natürlich nicht. Nur zwei Monate. Was hältst du davon?" "Gar nichts. Was willst du denn in New York finden, was du nicht auch hier hast? Abgesehen von Kriminalität, Armut, Dreck und Luftverschmutzung." Dave wusste natürlich, dass es das auch alles in Iowa gab, allerdings weniger ausgeprägt als in der Metropole. Aber er war stolz darauf, aus dem mittleren Westen zu kommen, und fühlte sich Städtern überlegen. Immerhin unterstützte er sie schließlich bei ihrem Vorhaben und erklärte seinen Eltern, es würde ihm nichts ausmachen, auf sie zu warten. Sie hatten die Hochzeit ja auch zuvor schon einmal verschoben.
"Im August bin ich wieder da", erklärte Chloe tröstend beim Abschied. "Und ich muss mich allein um die Hochzeitsvorbereitungen kümmern", bemerkte ihre Mutter mit finsterer Miene. Doch in Wirklichkeit war sie froh, freie Hand zu haben. Es sollte eine Hochzeit werden, die so leicht keiner vergessen würde. "Ich nehme mein Adressbuch mit. Dann kann ich die Floristin und den Partyservice von New York aus bestellen und die Einladungen verschicken", hatte Chloe versprochen. Doch heute Abend würde sie sich darum noch nicht kümmern. Heute Abend genoss sie die Aussicht auf das nächtliche New York. Ab und zu kniff sie sich, um sich davon zu überzeugen, dass sie nicht träumte. Es würde wundervoll werden, in New York zu arbeiten. Sie nahm sich vor, gute Arbeit zu leisten. Ihr Einstand war ja nicht so gelungen, doch das würde schon werden. Und in zwei Monaten würde sie beruhigt nach Hause zurückkehren und Dave heiraten. Wie Schwester Carmela würde sie sich den Wind der großen, weiten Welt um die Nase wehen lassen und dann wieder nach Hause fahren. "Das Gras ist hier auch nicht grüner", erklärte Chloe und kicherte, denn weit und breit war überhaupt kein Gras zu sehen. Sie schloss die Augen und dachte an Iowa - grüne Wiesen, blauer Himmel, keine Skyline wie in New York. Dort wartete Dave auf sie, der starke, ausgeglichene, verlässliche Dave. So einen Mann konnte man sich nur wünschen. Bevor sie ins Bett ging, wünschte sie sich, dass Dave sie auch so intensiv ansehen würde, wie Gibson Walker es getan hatte, wenn sie in ihrer Hochzeitsnacht nackt vor ihm stand. Manchmal könnte man glauben, Gina hat einen Draht zum Allmächtigen, dachte Gibson. Vielleicht war da sogar etwas dran, denn sie setzte sich stets für ihre Mitmenschen ein und half
ihnen, wo sie nur konnte. Wahrscheinlich hatte sie dafür gesorgt, dass für Chloe alles so lief, wie sie es sich vorgestellt hatte. Er stand gerade vor Edith, die an ihrem Schreibtisch saß, und machte ihr klar, sie müsse eine Unterkunft für Chloe finden, wenn sie unbedingt wolle, dass sie blieb, als die Tür aufging und Sierra, die Hairstylistin, hereinkam. "Sie bleibt?" Sierra war begeistert. "Sieht so aus. Sie will einfach nicht gehen", antwortete Gibson schroff. "Aha. Ein Blick auf dich genügte, und sie hat beschlossen, nicht mehr ohne dich leben zu können, oder?" Sierra arbeitete schon lange für ihn und wusste daher, dass die Frauen ihm nachliefen und es ihm überhaupt nicht passte. "Sie ist verlobt", versuchte er ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch Sierra ließ sich nicht beeindrucken. "Du könntest ihn ausstechen." "Ich bin nicht interessiert!" rief er so laut, dass sie zurückwich. Dann zuckte sie lässig die Schultern. "Das bist du ja nie, oder?" Es war ein offenes Geheimnis, dass er zwar ab und zu mit einer Frau ausging, jedoch nie etwas Ernstes daraus wurde. "Allerdings nicht", bekräftigte Gibson. "Auch gut. Wann kommt sie denn heute Morgen?" "Keine Ahnung. Ich habe gesagt, dass wir um neun Uhr anfangen. Mal sehen, ob sie tatsächlich auftaucht. Vielleicht ist sie ja inzwischen auch zur Vernunft gekommen und hat den ersten Flug nach Hause genommen." Die Tür ging erneut auf. "Wer? Ich?" fragte Chloe. Gibson stöhnte. Erstens, weil sie tatsächlich noch in New York war, zweitens, weil sie noch süßer, unschuldiger und begehrenswerter aussah als am Vortag. Alles nur Einbildung, versuchte er sich einzureden.
Schön war's! Sie sah frisch, fröhlich und ausgeruht aus, hatte rosige Wangen und schien es kaum abwarten können, endlich mit der Arbeit anzufangen. "Ich habe noch keine Unterkunft für sie gefunden", meinte er ausdruckslos. "Meine Schwester sucht gerade jemanden, der in ihrem Haus einhütet", sagte Sierra. Gibson und Chloe wandten sich ihr verblüfft zu. "Sie können bestimmt bei meiner Schwester wohnen, Chloe. Ihre Wohnung wird gerade renoviert, und sie zieht so lange aus, braucht aber jemanden, der da ist, wenn die Handwerker kommen, und alles im Auge behält." Chloe strahlte. "Das ist ja wunderbar!" "Moment mal!" mischte Gibson sich sofort ein. Erwartungsvoll sahen sie ihn an, und plötzlich wusste er nicht mehr, was er sagen sollte. Dass die Wohnung der Schwester einer Friseurin mit lilafarbenen Haaren seiner Meinung nach völlig ungeeignet war für eine ehemalige Kindergärtnerin aus Iowa, die ungefähr so viel Erfahrung hatte wie ihre Schützlinge? Sierra wusste offenbar genau, was er dachte. Lächelnd sagte sie: "Mariah ist... normal. Sie sieht ganz anders aus als ich." "Das meine ich nicht ..." Gibson verstummte. Was sollte er auch dazu sagen? Ihm konnte es ja egal sein. Er war schließlich kein Kindermädchen. "Von mir aus. Frag deine Schwester!" Er schob die Hände in die Taschen seiner Jeans und wandte sich ab. "Dann brauche ich mich darum nicht auch noch zu kümmern. Ich habe sowieso genug zu tun." Er verschwand in Richtung Atelier. Hinter ihm erklangen Schritte. "Warten Sie doch auf mich", bat Chloe atemlos. Doch er wollte sie jetzt lieber nicht in der Nähe haben. "Helfen Sie Edith. Wenn Perdita kommt, schicken Sie sie zu mir ins Atelier."
Als er ihre Enttäuschung bemerkte, fiel es ihm schwer, bei seinem Entschluss zu bleiben. In diesem Moment betraten die ersten Models das Studio. "Hallo, Gibson!" "Hallo, ihr Süßen." Er lächelte ihnen freundlich, zu, bevor er Chloe anherrschte: "Nun gehen Sie endlich! Sie wollten doch tun, was ich Ihnen sage!" Chloe errötete. Dann drehte sie sich um und verschwand im Büro, Gibson legte einen neuen Film ein, während Sierra sich um die Frisuren der Mädchen kümmerte. Aus dem Büro hörte er, wie Edith Chloe die Terminplanung erklärte. "Ich mache mir schnell Notizen", sagte Chloe gerade, und er nickte zufrieden. Wenn sie im Büro half, stand sie ihm wenigstens nicht im Weg herum. Wo diese Perdita nur wieder blieb! Sie musste sich um die richtige Beleuchtung kümmern, damit er gleich anfangen konnte, sowie Sierra die Models frisiert hatte. Er las die Anweisungen der Werbeagentur durch und machte sich Notizen, bevor er sich schließlich selbst um die Beleuchtung kümmerte. Edith kam herein. "Perdita hat gerade angerufen. Sie kann heute nicht kommen, weil ihre Planeten in Opposition zueinander stehen." Gibson sah sie fassungslos an. Sie lächelte verstohlen. "Sie glaubt nun einmal an so etwas. Zu dumm, du könntest sicher Hilfe gebrauchen." Er sah Chloe an Edith' Schreibtisch sitzen und telefonieren. Dabei machte sie sich eifrig Notizen. Dann sah er Edith an. Edith ließ den Blick von ihm zu Chloe und schließlich wieder zu ihm schweifen. Sollte er sie vielleicht auf Knien anflehen?
"Ich könnte dir ja Chloe ins Atelier schicken, wenn sie den Anruf erledigt hat", schlug Edith vor, nachdem sie ihn noch einen Augenblick hatte zappeln lassen. "Tu das", antwortete er schroff. Fünf Minuten später tauchte Chloe im Atelier auf. "Was kann ich tun?" fragte sie beflissen. "Die Scheinwerfer müssen aufgestellt werden." Er zeigte ihr, wo er sie haben wollte, und Chloe machte sich an die Arbeit. Von Perdita und ihren Vorgängerinnen war er es gewohnt, ständig Anweisungen erteilen zu müssen. Bei Chloe war das anders. Wenn man ihr einmal etwas erklärte, behielt sie es, und beim nächsten Mal hatte sie bereits alles erledigt, bevor er überhaupt dazu kam, ihr zu sagen, was getan werden musste. Es schien, als ahnte sie bereits, was er wollte. Und sie sagte kein Wort, sondern konzentrierte sich völlig auf die Arbeit. Es war kaum zu glauben! Chloe meisterte alles ohne Schwierigkeiten. Erst als die Aufnahmen schließlich im Kasten und die Models verschwunden waren, strahlte Chloe ihn an. "Das hat Spaß gemacht." Perdita hatte die Arbeit nie Spaß gemacht. "Ja", antwortete Gibson schroff und drückte ihr einen Fotoapparat in die Hand. "Hier, können Sie einen Film einlegen?" Fast ehrfurchtsvoll nahm sie ihm die Kamera ab und legte geschickt einen neuen Film ein. Gibson sah ihr zu. "Auch das gehört zu Ihren Aufgaben." Chloe reichte ihm den Apparat gerade zurück, als Sierra ins Atelier kam. "Ich habe eben mit meiner Schwester telefoniert. Chloe kann heute Abend um sieben Uhr vorbeikommen." "Wir sind pünktlich da", sagte er. Als Chloe und Sierra ihn erstaunt anblickten, fügte er schroff hinzu: "Gina möchte bestimmt, dass ich mich persönlich davon überzeuge, ob die Wohnung für Chloe geeignet ist. Nun sieh mich nicht so an,
Sierra. Gina ist meine Schwester, das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann." "Klar." Sierra nickte vielsagend. Und Chloe lächelte ihm dankbar zu, was völlig unnötig war. "Danke." "Schon gut. Jetzt aber zurück an die Arbeit!" Natürlich fand Chloe Mariahs Wohnung wundervoll. Das hätte er sich ja denken können. Gibson stöhnte. Sie fand ganz New York wundervoll, so viel hatte er nach einem Tag in ihrer Gesellschaft bereits herausgefunden. "Die Stadt pulsiert förmlich", sagte sie, als sie im Taxi unterwegs waren. "Sehen Sie mal!" Sie zeigte auf einen Mann, der Frack und Zylinder trug und an einer Straßenecke auf einem Flügel spielte. "Wohin sie auch sehen, Sie wissen nie, was Sie erwartet." "Ob das unbedingt so positiv ist, weiß ich nicht", antwortete Gibson schroff. Doch Chloe ließ sich von seiner schlechten Laune nicht beeindrucken. Sie war begeistert von dem Viertel, in dem Mariah ihre Wohnung hatte. Die Upper West Side war gar nicht so weit entfernt von seiner Wohnung, die am Central Park West lag. Keine schlechte Gegend, wie auch er fand, aber eben nicht gerade Iowa. Trotzdem wollte er sich das Haus etwas näher ansehen. "Ich entscheide, ob die Wohnung geeignet ist. Wenn nicht, suchen wir etwas anderes", sagte er, als sie ausstiegen. "Wie bitte?" Chloe sah ihn erstaunt an. Gibson nahm ihr Gepäck aus dem Kofferraum und zeigte auf das braune Gebäude, in dem Sierras Schwester wohnte. "Sie haben gehört, was ich gesagt habe." Mariah machte tatsächlich einen ganz normalen Eindruck. Sie sah hübsch aus, hatte eine gute Figur und langes Haar, das braun war, nicht lilafarben. Und ihre Fingernägel waren rot
lackiert, nicht schwarz. Sie trug Ohrstecker, gepierct schien sie aber nicht zu sein. Sierra hatte auch noch keine Piercings, doch es war sicher nur eine Frage der Zeit. Davon war er überzeugt. Mariah bat sie hinein und führte sie hinauf. "Ich wohne im zweiten Stock. Das Gebäude ist fast völlig entkernt worden, seit ich die Wohnung im Frühjahr gekauft habe. Das Haus war in einem schrecklichen Zustand. Der Putz fiel von den Wänden, die Tapeten hatten sich gelöst, und die Decken hingen durch. Aber jetzt ist alles so weit vorbereitet, dass die Maurer nächste Woche anfangen können zu arbeiten." Die Wohnung lag auf der Südseite und hatte Ähnlichkeit mit einer Höhle. Bis auf einen Fernseher, einen Videorecorder und einen mit bunten Decken und Kissen bedeckten Futon war das Wohnzimmer unmöbliert. Die Küche war ebenso spartanisch eingerichtet. Küchengeräte, ein Barhocker und ein Tisch mit Töpfen und Schüsseln - das war's. "Der Gasherd funktioniert", erklärte Mariah. "Und warmes und kaltes Wasser gibt es auch. Hier ist der Kühlschrank, und hier ist Licht." Sie zeigte auf eine Leuchtstoffröhre. "Wenn die Maurer hier fertig sind, kommen die Tischler und die Kücheneinrichter. Möglicherweise kann die Küche vorübergehend nicht benutzt werden, aber das dauert wirklich nicht lange. Eigentlich sollte es keine Probleme geben." Chloe sah sich schweigend um. Gibson hatte allerdings hundert Fragen. Ob die Handwerker seriös seien? Es seien doch nicht etwa Schwarzarbeiter? Ob sie zuverlässig seien? Oder womöglich vorbestraft? "Gleich werden Sie sich auch noch nach ihren Schulzeugnissen erkundigen", sagte Chloe ärgerlich. ; "Man kann gar nicht vorsichtig genug sein." "Ich bin sicher, dass sie sehr seriös und zuverlässig sind", erklärte Mariah und führte sie zum Schlafzimmer, das sich im hinteren Teil der Wohnung befand. Auch hier mussten die
Maurer arbeiten. In der Mitte stand ein französisches Bett mit bunten Kissen und Decken. Das ist viel zu groß für eine Person, dachte Gibson beunruhigt. Ob sich wohl Männer bei ihr einladen werden, um das Bett mit ihr zu teilen? Oder ob ihr Verlobter am Wochenende einfliegt? überlegte er. Dann schüttelte er den Kopf. Was geht es mich an? "Die Maurer und Tischler haben in der Wohnung unter mir angefangen", erzählte Mariah. "Sie ist inzwischen fertig und einfach wundervoll geworden. Ich werde Rhys bitten, sie Ihnen zu zeigen." "Wer ist Rhys?" fragte Gibson sofort. "Mein Nachbar. Wir haben unsere Wohnungen zur gleichen Zeit gekauft. Seine geht über zwei Etagen. Eigentlich die reinste Verschwendung für einen Single, der zudem kaum zu Hause ist." Sie schüttelte den Kopf. "Er ist Feuerwehrmann und auf der ganzen Welt im Einsatz. Wenn irgendwo eine Ölquelle brennt, wird er zu Hilfe gerufen." Gibson beobachtete Chloes Reaktion. Das Mädchen aus Iowa schien aus dem Staunen gar nicht mehr herauszukommen. Wieso konnte diese Mariah sich nicht auf das Wesentliche beschränken? "Wann wird der Müll abgeholt?" fragte er. "Wird der Müll getrennt? Beaufsichtigt jemand die Handwerker? Chloe kann die Verantwortung dafür jedenfalls nicht übernehmen." "Ich habe eine Liste gemacht. Sie liegt in der Küche. Es ist alles halb so schlimm", antwortete Mariah. Die hat leicht reden, dachte Gibson. Schließlich ist sie in den Hamptons, während Chloe hier die Stellung hält. Hoffentlich sind die Handwerker nicht alle Kriminelle. Chloe schien sich darüber überhaupt keine Gedanken zu machen. In der Küche las sie sich die Liste durch und lächelte Mariah fröhlich zu. "Das ist kein Problem. Ich werde sicher eine Menge Spaß haben, so mittendrin in New York." Mariah lachte. "Ganz bestimmt."
"Sie muss arbeiten und kann nicht den ganzen Tag über hier sein", gab Gibson zu bedenken. "Das ist auch nicht nötig. Rhys lässt die Männer in die Wohnung." "Ach? Ich dachte, er schwirrt ständig in der Weltgeschichte herum und ist nie hier." Wieso hatte der Mann einen Schlüssel zu der Wohnung? Mariah machte eine viel sagende Geste. "Sie wissen ja, wie das ist. Wenn er fort ist, kann er sonstwo sein, und wenn er hier ist, dann ist er unten in seiner Wohnung. In den nächsten sechs Wochen ist er jedenfalls hier. Sie werden ihn sicher in den nächsten Tagen kennen lernen", sagte sie zu Chloe. "Er ist groß und kräftig und sehr attraktiv." Gibson biss sich auf die Lippe. "Sie ist verlobt!" Mariah ließ sich nicht beeindrucken. "Ansehen darf sie ihn sich aber, oder?" Sie zwinkerte Chloe vielsagend zu, und die beiden Frauen lachten verschwörerisch, während er ärgerlich zusah. Als Chloe seinen Blick auffing, verzog sie das Gesicht. Was hat sie denn? fragte er sich beleidigt. Ich habe doch nur gesagt, dass sie einen Verlobten hat. "Ich weiß nicht, ob er den Wohnungsschlüssel haben sollte", sagte Gibson schließlich. Doch Chloe überhörte seine Bemerkung einfach und wandte sich Mariah zu. "Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mir vorübergehend Ihre Wohnung überlassen. Und ich lasse die Maurer und Tischler und wen auch immer gern herein. Ich glaube, ich werde mich hier sehr wohl fühlen." "Ganz bestimmt." Auch Mariah ging nicht auf seinen Einwand ein. "Und ich bin beruhigt, dass jemand einhütet." Sie gaben einander die Hand und lächelten, während Gibson schweigend und mit mürrischem Gesichtsausdruck zusah. Dann wandte Chloe sich ihm zu. "So, das wäre also erledigt", sagte sie in geschäftsmäßigem Tonfall. "Vielen Dank fürs
Bringen. Das war sehr nett von Ihnen. Jetzt möchte ich Sie aber nicht länger aufhalten. Ich weiß ja, wie beschäftigt Sie sind." Und sie sah ihn an, als wäre er jetzt entlassen! Gibson war so schockiert, dass es einen Moment dauerte, bis er sich wieder gefangen hatte. "Ja, ich bin in Eile. Ich habe noch eine Verabredung und möchte das Mädchen nicht warten lassen", erklärte er und versuchte dabei, den Herzensbrecher zu mimen. Dann ging er zur Tür, wo er sich noch einmal umdrehte. "Morgen früh um neun im Atelier", sagte er zu Chloe. Sie blinzelte. "Selbstverständlich." Er machte die Tür auf. "Sie können die Linie neun in Stadtrichtung nehmen. Sie steigen an der 79. Straße ein und an der 18. aus." "Okay." Gibson drehte sich um. "Sie kennen sich doch mit der UBahn aus, oder?" "Natürlich." Doch er sah, wie sie nervös schluckte, bevor sie sich ein Lächeln abrang. "Wir machen das anders", entschied er daher. "Wir treffen uns um halb neun an der U-Bahn-Station." "Keine Sorge, ich werde ihr zeigen, was sie wissen muss", sagte Mariah fröhlich. "Sie können sich auf mich verlassen. Fahren Sie nur gleich direkt zum Studio. Chloe wird dann wahrscheinlich schon da sein." "Genau", bekräftigte Chloe. "Mariah erklärt mir alles." Die beiden Frauen lächelten ihm zu. Er konnte sich immer noch nicht losreißen. "Sie kommen zu spät zu Ihrer Verabredung", sagte Chloe schließlich, als das Schweigen unerträglich wurde. Gibson atmete tief durch. "Wie? Ach ja." Er schüttelte den Kopf, dann ging er die Treppe hinunter. Als hinter ihm die Tür ins Schloss fiel, blieb er stehen. Er kam sich vor wie eine Mutter, deren Kind den ersten Schultag hatte.
3. KAPITEL Am nächsten Morgen begleitete Mariah Chloe zur U-BahnStation, wo Chloe Mariahs Anweisung gemäß Metallmarken kaufte und durchs Drehkreuz ging. "Sehr gut", sagte Mariah von der anderen Seite der Absperrung. "Nun sind Sie bald eine richtige New Yorkerin und wissen automatisch, was Sie tun müssen." Sie ließ einige Pendler vorbei, bevor sie zögernd fragte: "Oder soll ich vielleicht doch mitkommen?" Chloe schüttelte den Kopf und lächelte zuversichtlich. "Ich schaffe das schon." Sie freute sich darauf, etwas Neues zu tun. Fast fühlte sie sich wie an ihrem ersten Schultag, begierig, etwas zu lernen. Angst hatte sie nie gekannt. Im Gegenteil, für sie war es der Beginn eines großen Abenteuers gewesen. So wie jetzt, dachte sie, als sie in die U-Bahn stieg und sich festhielt, sowie diese losratterte. Ich wohne in Manhattan, gehe zügig den Broadway entlang, nehme die U-Bahn, werde hin und her geworfen wie viele tausend andere Pendler auf dem Weg zur Arbeit, dachte sie. Und ich arbeite für Gibson Walker. Wenn das kein Abenteuer ist! Sie ärgerte sich, dass sie Gina nicht über ihren Bruder ausgefragt hatte. Doch als Gina vorgeschlagen hatte, für ihn zu arbeiten, hatte sie, Chloe, nur an New York gedacht - die
Metropole, die Herausforderungen, die Möglichkeiten. An Gibson hatte sie keinen Gedanken verschwendet. Vage erinnerte sie sich an die Schulzeit. Gibson war viele Klassen über ihr gewesen, und ihre älteren Schwestern, Kate und Julie, hatten für ihn geschwärmt. Als sie Kate erzählt hatte, sie würde in New York für ihn arbeiten, hatte diese sie beneidet. "Du Glückspilz! Alle Mädchen in meiner Klasse waren in ihn verknallt. Er sah einfach fantastisch aus. Und das Beste daran war, dass er sich dessen überhaupt nicht bewusst war." Zumindest das hatte sich inzwischen geändert. Gibson war zwar nicht arrogant, aber er wusste, dass Frauen ihn unwiderstehlich fanden. Sie lagen ihm ja förmlich zu Füßen. Glücklicherweise wusste er, wie er damit umgehen musste wie er mit Frauen umgehen musste. Chloe hatte am Vortag beobachtet, wie er die Models aufgezogen hatte, um eine entspannte Atmosphäre zu schaffen. Es war ihm problemlos gelungen. Er schien die Frauen nicht allzu ernst zu nehmen. Manchmal schienen sie ihm sogar völlig gleichgültig zu sein. Und doch waren sie alle hingerissen von ihm. Sie mochten sich gar nicht wieder von ihm trennen. Ob er mit einem der Models verabredet gewesen war? überlegte Chloe. Und wenn ja, mit welchem? Sie hätte Kate und Julie fragen sollen, mit welchem Typ Mädchen er in der High School gegangen war. Obwohl es ihr ja eigentlich gleichgültig sein konnte! Gibson Walkers Liebesleben interessierte sie nicht, und damit Schluss! Diese Gedanken beschäftigten sie so sehr, dass sie fast vergessen hätte, an der 18. Straße auszusteigen. In letzter Sekunde rief sie: "Entschuldigung. Ich muss hier raus!" Dann arbeitete sie sich zur Tür vor, die sich gerade wieder schloss, und schaffte es gerade noch herauszukommen, bevor die UBahn wieder losratterte.
Ich muss mich wirklich besser konzentrieren, solange ich mich hier noch nicht eingelebt habe, dachte Chloe. Gibson hatte das Gefühl, mindestens drei Chloe Madsens zu kennen. Zunächst war da die Kindergärtnerin, die staunend Wolkenkratzer betrachtete und irgendwo gegenlief, weil sie nicht auf den Weg achtete. Das war das Mädchen, das er am Vortag begleitet hatte. Er hatte Angst, ihr könnte etwas zustoßen in der großen, bösen Stadt. Dann gab es die geschäftsmäßige Chloe, die sich ganz auf ihre Arbeit konzentrierte. Sie war die erste Assistentin, die diese Bezeichnung auch verdiente. Man brauchte ihr alles nur einmal zu erklären, beim nächsten Mal machte sie es automatisch. Und sie dachte mit. Außerdem war sie stets pünktlich und eine wahre Bereicherung fürs Studio. Und dann war da noch die nackte Chloe. Genau diese Chloe - die sinnliche, weibliche Chloe, die er seit dem ersten Nachmittag nicht mehr gesehen hatte - ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Dabei hatte er in den vergangenen Tagen doch wirklich nur die Kindergärtnerin und die tüchtige Assistentin gesehen, die stets unauffällig gekleidet war. Meistens trug sie eine Leinenhose und eine Bluse, manchmal mit Gürtel, manchmal ohne. Doch ständig erinnerte er sich an die nackte Chloe. Und wie! Er wusste, was sich unter der, unauffälligen Kleidung verbarg, sosehr Chloe sich auch bemühen mochte, ihre Reize zu verstecken. Es ging so weit, dass er sich eines Tages tatsächlich dabei ertappte, wie er hinter ihrem Schreibtischstuhl stand und versuchte, ihr in den Ausschnitt zu spähen! Als Chloe ihn dabei erwischte, runzelte er ärgerlich die Stirn und sagte unwirsch, sie solle die Bluse bis zum Hals zuknöpfen. Sie würde ja alle Welt einladen, ihr in den Ausschnitt zu starren.
Tatsächlich erschien Chloe von dem Tag an nur noch bis oben zugeknöpft. Und das machte ihn erst recht wahnsinnig. Was sollte er denn tun? Er konnte sie doch kaum bitten, die Bluse wieder aufzuknöpfen. Also sagte er gar nichts, und die Blusen blieben hochgeschlossen. Und nachts träumte er wieder von der nackten Chloe! Glücklicherweise war der nächste Tag auch ihr letzter Arbeitstag im Atelier, denn von nun an sollte sie Ediths Posten übernehmen. Chloe hatte all ihre Mittagspausen geopfert, um sich von Edith einarbeiten zu lassen. "Sie hat eine schnelle Auffassungsgabe", erzählte Edith ihm an ihrem letzten Arbeitstag vor dem Urlaub. "Du kannst dich ganz auf sie verlassen, sie wird die Büroarbeit ordentlich erledigen. Aber bist du sicher, dass du sie nicht im Atelier benötigst?" Er, Gibson, war sich hundertprozentig sicher. Nach dem Traum der vergangenen Nacht hätte er sie am liebsten in den nächsten Flieger nach Iowa gesetzt. Doch das würde sie kaum mitmachen. Natürlich könnte er Gina bitten, sie zur vorzeitigen Rückkehr zu bewegen. Aber mit welcher Begründung? Vielleicht reichte es ja schon, wenn sie wenigstens nicht mehr ständig im Atelier war. Am späten Nachmittag - Edith war bereits gegangen unterhielten Chloe und Sierra sich im Büro über Rhys. Gibson kam zufällig dazu. "Mariah hat ihn mir neulich vorgestellt", sagte Sierra. "Ich musste ihn die ganze Zeit ansehen. Ist er nicht hinreißend?" Er wartete darauf, dass Chloe sagen würde, er sei ganz okay, aber keineswegs so gut aussehend wie ihr Verlobter, den sie mindestens hundertmal am Tag erwähnte. Doch das war nicht der Fall.
Chloe lächelte verträumt und antwortete: "Stimmt, das ist er. Und er ist ein richtig netter Typ. Gestern Abend kam er rauf, um mir beim Möbelrücken zu helfen, damit die Maurer im Schlafzimmer arbeiten können." "Ja, er ist einfach wundervoll", schwärmte Sierra. Chloe lachte. "Du hast Recht." "Ich dachte, Sie sind verlobt", sagte Gibson unvermittelt. Die beiden sahen ihn verblüfft an. "Macht es diesem Dingsda nichts aus, wenn Sie anderen Männern schöne Augen machen?" Er wusste genau, dass "Dingsda" Dave hieß, schließlich sprach Chloe den ganzen Tag von ihm. Chloe lachte ihn aus. "Ich bin zwar verlobt, das heißt aber noch lange nicht, dass ich tot bin, Gibson. Was spricht dagegen, dass ich einen gut aussehenden Mann schätze? Sie schätze ich ja auch, Gibson." Kaum hatte sie das gesagt, errötete sie heftig. Offensichtlich war es ihr peinlich, und sie war über sich selbst schockiert. Ihn hatte sie auch schockiert. So sehr, dass er selbst rot wurde. Wann war ihm das zuletzt passiert? Daran wollte er jetzt lieber nicht erinnert werden. "Natürlich nur rein beruflich", fügte sie verlegen hinzu. Als er ihre Verlegenheit bemerkte, beruhigte Gibson sich wieder. Er zwinkerte ihr zu und sagte lächelnd: "Das beruht ganz auf Gegenseitigkeit." Sierra lachte. Und Chloe errötete noch tiefer. "Gehen Sie!" Sie versuchte ihn wegzuscheuchen. "Ich muss telefonieren und habe jetzt keine Zeit für Scherze." "Mit Sierra haben Sie sich auch unterhalten", gab Gibson zu bedenken. "Über die Arbeit." "Über einen Kerl."
Chloe sah ihn vernichtend an, dann wandte sie den Blick ab und begann auf die Schreibtischplatte zu trommeln. Er hatte den Eindruck, dass ihr der Kragen zu eng war. Daher beugte er sich vor und strich darüber. "Machen Sie den Knopf auf, Chloe", sagte er leise. Sie zuckte zusammen und blickte ihn entsetzt an. Gibson zuckte lässig die Schultern. "Er verbirgt nichts, was ich nicht bereits gesehen habe." Obwohl Gibson sie ständig an den ersten Nachmittag im Atelier erinnerte und sie aufzog, war Chloe mit ihrer ersten Arbeitswoche in New York ganz zufrieden. Sie war inzwischen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln so vertraut, als hätte sie ihr Leben lang in New York gelebt, und die Arbeit im Studio machte ihr überhaupt keine Mühe. Im Gegenteil! Sie hatte mehr Freude an dieser Tätigkeit, als sie es je für möglich gehalten hätte. Anfangs hatte sie nämlich gedacht, sie wäre nur als Mädchen für alles engagiert, aber Gibson erlaubte ihr sogar, Testfotos zu machen, bevor er mit den eigentlichen Aufnahmen begann. Anhand dieser Sofortbilder konnte er überprüfen, ob die Beleuchtung stimmte. Bereitwillig beantwortete er ihre Fragen. Ihr Interesse an seiner Arbeit freute ihn. Und sie, Chloe, war sehr wissbegierig. Als er ihr einmal eine Kleinigkeit in aller Ausführlichkeit erklärte, fügte er mit einem verlegenen Lächeln hinzu: "Wenn ich Sie langweile, müssen Sie es mir sagen." Doch sie hätte ihm stundenlang zuhören können. "Sie langweilen mich nicht", erwiderte sie daher. Fast hätte sie ihn gebeten: "Ich möchte alles von Ihnen lernen." Gerade noch rechtzeitig wurde ihr bewusst, wie es sich anhören musste, und daher schwieg sie. Gibson hatte sie in den vergangenen Tagen oft genug damit aufgezogen, wie sie nackt durchs Atelier getanzt war. Sie wollte daher keine weiteren Bemerkungen herausfordern.
Aber die Kunst des Fotografierens wollte sie gern von ihm erlernen. Sie hatte schon immer gern Menschen fotografiert, und Gibson war ein wahrer Meister auf diesem Gebiet. Das Arbeitsumfeld hätte nicht künstlicher sein können, und doch gelang es Gibson immer wieder mit erstaunlicher Leichtigkeit, den Models die Nervosität zu nehmen und das Beste aus ihnen herauszuholen. Als Chloe ihn einmal darauf ansprach, zuckte er nur die Schultern. "Das funktioniert bei allen Menschen." Je länger sie bei ihm arbeitete, desto mehr bewahrheitete sich diese Aussage. Es war ihm ja sogar gelungen, sie dazu zu bewegen, sich auszuziehen! Chloe versuchte diesen Tag aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie hatte schließlich genug anderes zu bedenken. Sie lieh sich alte Fotomappen von Gibson aus, um sie abends in Ruhe zu analysieren. Tatsächlich lernte sie so, mit seinen Augen zu sehen. Er beschränkte sich aufs Wesentliche, Überflüssiges wurde verbannt. Seine Welt war einfacher, nicht so überfrachtet. Allerdings hatte sich diese Sichtweise erst nach und nach entwickelt. Am Anfang seiner Karriere waren die Aufnahmen persönlicher, unruhiger gewesen. "Ja, nicht klar strukturiert", sagte er, als Chloe ihn darauf ansprach. Sie war da anderer Meinung, doch der Erfolg war ja unbestreitbar. Inzwischen konnte sie Gibson Walkers Aufnahmen auf den ersten Blick erkennen. Sie waren raffiniert in ihrer Einfachheit und lenkten den Blick aufs Wesentliche. Wenn Chloe sich in ihrer Freizeit nicht damit beschäftigte, Gibsons Fotos zu analysieren, hielt sie sich im Museum of Modern Art auf, dem New Yorker Museum für moderne Kunst. Sie begann ihre Tour ausgerechnet mit diesem Museum, weil sie
ähnliche Ausstellungsgegenstände in Collierville ganz bestimmt nicht finden würde. Als sie Freitag nach der Arbeit nach Hause kam, beschäftigte sie sich mit einem Reiseführer, den sie gerade erstanden hatte, und beschloss, am Wochenende so viele Museen wie möglich zu besuchen. Rhys, der vom Einkaufen zurückgekehrt war, machte auch noch einige Vorschläge und erklärte sich sogar bereit, den Reiseleiter zu spielen. "Würdest du das wirklich tun?" Er lächelte jungenhaft. "Klar. Es würde mir Spaß machen, die Stadt mit deinen Augen zu sehen. Wohin möchtest du denn am liebsten?" "Nach Ellisisland." "Klingt gut. Am Sonntag?" Chloe nickte begeistert. "Und Samstag gehe ich zuerst ins Metropolitan und am Nachmittag ins Frick." "Das halte ich für übertrieben. Ein Museum pro Tag reicht völlig", fand Rhys. Und sie musste ihm schließlich Recht geben. Sie ging am Samstag zunächst in den Waschsalon, um ihre Wäsche zu waschen. Zur Unterhaltung hatte sie sich einige Zeitschriften mitgebracht, die sie nun nach Aufnahmen von Gibson durchblätterte. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Seine Arbeiten tauchten überall auf und fielen ihr sofort ins Auge. Nachmittags besuchte sie das Metropolitan. Das Museum war so überwältigend, dass sie zunächst gar nicht wusste, wo sie ihre Tour beginnen sollte. Schließlich beschloss sie, sich auf die klassische Abteilung zu beschränken. Da sie ja nun in New York wohnte, konnte sie jederzeit wiederkommen und sich eine andere Abteilung vornehmen. Nach dem Museumsbesuch ging sie quer durch den Central Park und aß ganz in der Nähe ihrer Wohnung in einem thailändischen Restaurant zu Abend.
Gibson hatte einige Tage zuvor für die thailändische Küche geschwärmt, und sie wollte das Essen einmal ausprobieren. In Collierville gab es nur wenige Restaurants mit ausländischer Küche, und ein thailändisches war nicht darunter. Schade, dachte Chloe nach dem köstlichen Essen. Ob es Dave wohl auch geschmeckt hätte? Sie beschloss, auf dem Rückweg in eine Buchhandlung zu gehen, um zu sehen, ob sie ein thailändisches Kochbuch finden konnte. Dann könnte sie Dave beim allabendlichen Anruf versprechen, einmal etwas Exotisches für ihn zu kochen. In der Nähe des Lincoln Center befand sich eine große Buchhandlung. In der Kochbuchabteilung fand Chloe ein gutes halbes Dutzend Werke mit thailändischen Rezepten. Sie suchte sich schließlich das kleinste mit den besten Fotos aus, damit Dave beim Anblick der Aufnahmen das Wasser im Mund zusammenlief. Auf dem Weg zur Rolltreppe kam sie an der Abteilung für Fotografie vorbei und begann, neugierig zu stöbern. Es gab eine unglaubliche Auswahl an hochwertigen Büchern über Topmodels. Sie kniete sich hin, und im untersten Regal fand sie schließlich ein Buch von Gibson Walker, und sie griff danach. In diesem Moment trat ihr jemand auf die andere Hand. "Oh, Entschuldigung", ließ sich eine vertraute Männerstimme vernehmen. Chloe zog die Hand weg. In der anderen hielt sie inzwischen das Buch. Als sie aufblickte, sah sie Gibson, der sie erstaunt musterte. "Chloe?" Er stellte das Buch, in dem er geblättert hatte, ins Regal zurück und half ihr hoch. "Was, um alles in der Welt, tun Sie denn da unten?" "Ich ... habe mir Bücher angesehen. Ich dachte, vielleicht haben Sie auch eins veröffentlicht. Das wollte ich gern kaufen." Sie hielt es hoch. Es war ein Bildband von ihm.
Gibson machte keinen besonders erfreuten Eindruck. "Was wollen Sie denn damit?" "Ich will mehr über Ihre Arbeit erfahren und von Ihnen lernen." "Aber nicht mit dem Buch." Er versuchte es ihr abzunehmen, doch sie ließ es nicht los. Bei näherer Betrachtung stellte sie fest, dass es sich um einen Bildband über Catherine Neale handelte. "Fantastisch! Sie haben wirklich ein ganzes Buch mit ihr gemacht?" fragte sie begeistert. Catherine Neale war eine berühmte Hollywoodschauspielerin, die früher als Model gearbeitet hatte. "Sie haben Catherine Neale gekannt?" "Jedenfalls habe ich mir das eingebildet", antwortete er schroff. "Vor langer Zeit. Ich wusste gar nicht, dass diese dummen Bücher überhaupt noch auf dem Markt sind." Er ließ das Buch los und wandte sich ab. Einerseits hätte Chloe sich das Buch gern sofort näher angesehen, andererseits wollte sie sich gern weiter mit Gibson unterhalten. "Ist das Ihr einziges Buch?" "Ja." Gibson ließ den Blick über die vollen Regale gleiten und sagte verächtlich: "Allerdings ist es nicht das einzige Buch über sie." Er zeigte flüchtig auf eine ganze Reihe von Büchern über Catherine Neale. Darunter befand sich auch das Exemplar, in das er vertieft gewesen War. Ob er sich ansehen wollte, was die Konkurrenz drauf hatte? Chloe verkniff sich die Frage. "Sie ist sehr fotogen." "Und dessen war sie sich auch bewusst." Gibson wandte sich ihr wieder zu und nahm ihr das andere Buch aus der Hand. "Was haben Sie denn da?" Sie errötete verlegen bei der Erinnerung daran, dass sie die thailändische Küche ausprobiert hatte, weil er sie ihr empfohlen hatte. Doch eigentlich konnte er es ja nicht wissen.
"Ich habe gerade wunderbar gegessen und dachte, ich besorge mir ein Kochbuch, damit ich die Gerichte zu Hause für Dave nachkochen kann." "Aha. Für Dave also. Aber vorher benutzen Sie den sexy Feuerwehrmann als Versuchskaninchen, oder?" Sein Tonfall war so harsch, dass sie zusammenzuckte. "Wie?" Sie sah Gibson verwirrt an. "Ach, nichts." Er gab ihr das Buch zurück und sah auf seine Armbanduhr. "Ich muss los", erklärte er dann abrupt. "Ich habe nämlich noch eine Verabredung." "Mit dem gleichen Mädchen?" fragte Chloe neugierig, obwohl es sie ja nun wirklich nichts anging. "Wie?" Gibson betrachtete sie erstaunt, dann schüttelte er den Kopf. "O nein! Ich verabrede mich niemals zweimal mit demselben Mädchen." Er lächelte spöttisch. "Viel Spaß beim Kochen." Bevor er sich endgültig abwandte, gab er ihr noch einen Ratschlag: "Stellen Sie das andere Buch wieder ins Regal. Es ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist." Dann war er verschwunden. Nun betrachtete Chloe den Band näher. Vielleicht war das Buch schon einige Jahre alt, und Gibsons Stil hatte sich inzwischen verändert. Wahrscheinlich wollte Gibson nicht, dass jemand seine früheren Arbeiten sah. Das machte sie erst recht neugierig. Sie suchte sich einen gemütlichen Sessel und vertiefte sich in das Buch. Es übertraf all ihre Erwartungen. Die Fotos von Catherine Neale waren auf das Wesentliche reduziert, schließlich hatte Gibson Walker die Aufnahmen gemacht. Aber irgendwie wirkten die Bilder auch sehr persönlich. Der Betrachter erlebte Catherine, wie sie war. Die Aufnahmen strahlten Wärme aus und wirkten fast intim. Inzwischen vermied Gibson es sorgfältig, einen solchen Eindruck zu vermitteln. Die Porträts zeigten eine junge, frische, lebendige Catherine, die mit der Kamera flirtete. Auf einigen Aufnahmen trug sie
ausgefallene Gewänder, auf anderen stand sie am Fenster und sah mit sehnsüchtigem, fast verzweifeltem Blick hinaus auf die Stadt. Woran mochte sie gedacht haben? Chloe erhielt die Antwort auf der nächsten Seite. Gibson hatte Catherine abgelichtet, als sie mit dem gleichen Ausdruck einen Theatereingang betrachtete. "Sie hat sich danach gesehnt, ihren Namen in großen Lettern zu sehen", sagte Chloe leise vor sich hin. Es gab auch verschiedene Nacktaufnahmen, auf denen Catherine entweder in Schatten getaucht war oder sich kaum verhüllt auf einem ungemachten Bett rekelte. Hier veränderte sich ihr Ausdruck. Auf einigen Fotos erschien sie distanziert, fast abwesend, auf anderen wiederum flirtete sie mit der Kamera, lockte und wirkte verführerisch. Chloe erkannte, dass dies noch nicht der Filmstar Catherine Neale war. Doch Gibson war es mit seinen Fotos gelungen, ihre Begabung darzustellen - und seine. Wahrscheinlich hat er die Aufnahmen gemacht, als sie beide am Anfang ihrer Karriere standen, dachte Chloe. Catherine wirkte wie ein Filmstar, wenn sie nur einen Apfel aß oder ein Schaumbad nahm. Man glaubte, die geborene Verführerin vor sich zu haben. Ob sie Gibson verführt hatte? Die Frauen, die jetzt für ihn posierten, konnten nicht bei ihm landen, sosehr sie sich auch bemühten. Er war charmant und zog sie auf, ließ sich jedoch niemals mit ihnen ein, sondern konzentrierte sich völlig darauf, das Beste aus ihnen herauszuholen und auf Zelluloid zu bannen. Es ist wirklich erstaunlich, wie distanziert er bleibt, obgleich es ihm mit der Kamera gelingt, die Persönlichkeit des jeweiligen Models ans Licht zu bringen, dachte Chloe bewundernd und wünschte sich, auch so viel Talent zu haben. Die Fotos, die sie von der heiligen Schwester Carmela gemacht hatte, waren nicht schlecht. Sie hatte die Äbtissin im tiefen Gebet und herzlich
lachend abgelichtet. Eigentlich war sie mit den Aufnahmen ganz zufrieden, doch an Gibsons kamen sie natürlich nicht heran. Schließlich ist er auch ein berühmter New Yorker Fotograf und ich nicht, dachte sie. Aber sie hatte die Chance, von ihm zu lernen, und die nahm sie jeden Tag wahr. Und aus diesem Buch würde sie auch etwas mitnehmen können. Sie klappte es zu und überlegte, wie es wohl wäre, so einen Bildband zu machen. Catherine musste ihm hundertprozentig vertraut haben, sonst hätte Gibson sich niemals so viel Freiheit herausnehmen können. Chloe versuchte sich vorzustellen, selbst eine solche Studie zu machen, einen Menschen in all seinen Stimmungen und mit all seinen Hoffnungen, Ängsten und Wünschen abzubilden. Wie wäre es, Gibson so gut zu kennen? Natürlich würde sie ihn bei der Arbeit im Atelier fotografieren: hinter der Kamera, in charakteristischen Posen. Gibson war ständig in Bewegung, während sie selbst stets in einer Position blieb, wenn sie fotografierte. Das würde sich nun ändern! Sie würde ihn knipsen, wenn er voll konzentriert arbeitete, wenn er stolz lächelte, wenn eine Einstellung ganz besonders gut gelungen war, wenn er Perdita herumkommandierte, sich ungeduldig durchs Haar strich, sie, Chloe, herausfordernd ansah und wenn er wegging. Natürlich würde sie ihn auch außerhalb des Ateliers fotografieren. Vielleicht sogar in seiner Wohnung? Wie mochte die eingerichtet sein? Luxuriös oder eher spartanisch? Groß oder klein? Was würde sie in seinen Kleiderschränken finden, außer Jeans und Hemden, die er zur Arbeit trug? Boxershorts? Slips? Wie sah er nackt aus? Nackt?
Chloe erwachte aus ihrem Tagtraum und sah auf die Uhr. Du liebe Güte! Es war fast zehn, und sie hatte völlig vergessen, Dave anzurufen. Er hatte angenommen, diese alten Bücher wären vernichtet worden. Und nun musste er ausgerechnet Chloe mit einem Exemplar antreffen. Das passte ihm überhaupt nicht. Bei dem Gedanken, dass sie sich eingehend mit dem Buch beschäftigen würde, wurde Gibson erst recht ungehalten. Noch schlimmer war es jedoch, das Buch am nächsten Tag nicht mehr vorzufinden. Er hatte es kaufen und vernichten wollen. Hatte Chloe es etwa erworben? Das konnte er sich eigentlich nicht vorstellen. Warum sollte sie so viel Geld für diesen Schund ausgeben? Nur hartgesottene Catherine-Neale-Fans würden das tun. Und zu denen zählte Chloe bestimmt nicht. Allerdings wollte sie wissen, wie man gute Aufnahmen machte. Jedenfalls beobachtete sie ihn ganz genau bei der Arbeit. Offensichtlich bildete sie sich ein, das Buch könnte lehrreich sein. Verflixt! Als er sie jedoch am Montagmorgen wiedersah, erwähnte sie den Bildband mit keiner Silbe. Besorgt sah Gibson auf, als Chloe ins Atelier kam. Wahrscheinlich würde sie wissen wollen, wie es ihm gelungen war, solche Fotos von dem berühmten Filmstar zu machen. Doch sie setzte sich kommentarlos an Ediths Schreibtisch und fing an zu arbeiten. Sehr gut, dachte Gibson. Er hatte auch gar keine Lust, ihre Fragen zu beantworten oder zu hören, welches Museum sie am Wochenende besucht hatte oder wie es dem guten alten Dave ging. Er war froh, dass Chloe im Büro war und er im Atelier. Doch bereits eine Stunde später wünschte er sie sich sehnlichst zurück. Perdita stellte sich heute besonders
ungeschickt an. Sie ließ Sachen fallen, vergaß alles und trödelte herum. Er befahl ihr, Telefondienst im Büro zu machen und Chloe zu ihm ins Atelier zu schicken, die etwas von der Arbeit verstand. Perdita sah ihn an, als hätte er sie geohrfeigt. Das hätte er auch am liebsten getan! Kurz darauf betrat Chloe das Atelier und schüttelte missbilligend den Kopf. "Sie haben Perditas Gefühle verletzt." Gibson lachte nur und machte eine so abfällige Bemerkung, dass sie ihn pikiert ansah. "Ihre Schwester hätte Ihnen öfter den Mund mit Seife auswaschen sollen", sagte sie und hob den Scheinwerfer auf, den Perdita umgestoßen hatte. Er lächelte. "Das hätte sie nicht gewagt." "Ich aber." Sie blitzte ihn wütend mit ihren blauen Augen an. "Das würde ich gern sehen." Bei der Vorstellung musste er wieder lachen. Die Atmosphäre zwischen ihnen knisterte. Sie sahen einander an und atmeten beide schneller. Als Gibson bemerkte, wie Chloes Brüste sich hoben und senkten, hielt er den Atem an. "Seid ihr bald so weit?" jammerte das Model. Gibson wandte den Blick ab und griff nach der Kamera. "Klar", sagte er kurz angebunden. "Wir sind so weit. Stehen Sie nicht untätig herum, Chloe! Kümmern Sie sich gefälligst um das richtige Licht!" Er sah Chloe flüchtig an. Sie blinzelte, als würde sie sich von einem vorübergehenden Schockzustand erholen, dann schüttelte sie den Kopf und machte sich schnell an die Arbeit. Bis zum Feierabend wechselten sie kaum noch ein Wort miteinander. Sie hätte ihn sich nicht nackt vorstellen sollen! Seitdem traute sie sich kaum, ihn anzusehen, geschweige denn seinen Blick zu erwidern.
Ich habe gestern sogar gedroht, ihm den Mund mit Seife auszuwaschen, dachte Chloe beschämt. Sie wusste selbst nicht, was in sie gefahren war. Wahrscheinlich vermisste sie Dave doch mehr, als sie es für möglich gehalten hätte. Sie war es gewohnt, einen Mann um sich zu haben. Und in Daves Abwesenheit war es nun einmal Gibson. Was sollte sie tun? Ignorieren konnte sie einen Mann wie Gibson Walker schlecht. Ich darf nicht vergessen, dass ich mit Dave verlobt bin, dachte sie und drehte ihren Verlobungsring hin und her. Der kleine Brillant funkelte beruhigend. "O Dave", flüsterte sie verzweifelt. Gut, dass sie die meiste Zeit im Büro arbeitete und nicht im Atelier, so wie gestern, als sie für Perdita hatte einspringen müssen. Glücklicherweise würde das heute nicht passieren. Gibson und Perdita waren seit acht Uhr morgens im Central Park, um Außenaufnahmen zu machen. Sie, Chloe, war froh, einen Tag lang ungestört im Büro arbeiten zu können, denn es hatte sich einiges angesammelt. Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Überlegungen. "Komm sofort hierher", tobte Gibson und merkte offenbar gar nicht, dass er sie plötzlich duzte. "Wie bitte?" "Nimm dir sofort ein Taxi und komm zur 72. Straße. Ich brauche dich hier." "Aber ich ..." Weiter kam sie nicht. "Keine Widerrede! Komm einfach! Ich habe Perdita gefeuert. Du bist meine neue Kameraassistentin."
4. KAPITEL Von nun an arbeiteten sie zu zweit. Keine Perdita, die als Blitzableiter diente, keine Edith, die dazwischen ging, wenn es zwischen Gibson und ihr knisterte - Chloe musste sich ständig in Erinnerung rufen, dass sie verlobt war. Und sie erwähnte Dave bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit. Bei den Aufnahmen im Central Park bemerkte sie, wie erstaunt Dave darüber sein würde, dass man sich mitten in Manhattan fast in einem Wald verlaufen konnte. Am nächsten Tag erzählte sie, wie gut ihm der Film gefallen hätte, den sie sich abends im Kino angesehen hatte. "Dave und ich haben nur selten Gelegenheit, uns einen ausländischen Film anzusehen. Leider werden in Collierville meistens amerikanische Filme gezeigt." Gibson antwortete nicht, er sah sie nur an und verdrehte die Augen. "Aber das weißt du ja selbst", fuhr Chloe daher fort. Ihr war I bewusst, dass sie Unsinn redete, doch solange sie von Dave sprach, fühlte sie sich einigermaßen sicher. "Dave und ich mögen ausländische Filme. Dave mag am liebsten französische. Er hat ja Französisch gelernt und hätte gern ein Semester in Frankreich studiert. Leider hat das nicht geklappt, weil sein Vater ihn auf der Farm brauchte." Am nächsten Tag erzählte sie, wie gut Dave mit seinen drei Neffen umgehen konnte. Das Thema bot sich an, weil sie gerade
Aufnahmen mit Kindern machten. Natürlich waren es Mädchen. Ob Gibson je ein männliches Wesen fotografiert hatte? Seitdem sie ununterbrochen von Dave erzählte, war sie sich Gibsons Nähe weniger bewusst. Und sie dachte kaum noch darüber nach, wie es wäre, Gibson nackt zu fotografieren. Jeden Abend rief sie Dave an. Den Donnerstagabend verbrachte sie mit Rhys in South Street Seaport, wie sie es bei ihrem Ausflug nach Ellis Island verabredet hatten. Als Gibson davon erfuhr, fragte er missbilligend: "Und was sagt Sowieso dazu, wenn du mit einem anderen Mann ausgehst?" "Meinst du Dave?" fragte sie, obwohl sie ganz genau wusste, von wem er sprach. Er tat nur so, als könnte er sich den Namen nicht merken, um sie zu ärgern. "Der hat nichts dagegen." Ihre Verabredungen mit Rhys waren weniger riskant, als an Gibson zu denken. Den Bildband über Catherine Neale schob sie unter die Matratze des Betts im Nebenraum, in dem die Maurer schon fertig waren, denn sie wollte nicht daran erinnert werden. Trotzdem träumte sie in der Nacht darauf, dass sie Gibson fotografierte - zwar nicht nackt, aber immerhin. Sie verbrachten einfach zu viel Zeit miteinander. Und nachts träumte sie von ihm! Chloe zählte die Stunden bis zum Wochenende. Zwei Tage ohne Gibson Walker würden ihr gut tun. Gibson ärgerte sich inzwischen darüber, dass er Perdita an die Luft gesetzt hatte. Lieber hätte er sich weiter mit ihrer Unzuverlässigkeit, Schludrigkeit und Ungeschicklichkeit abfinden sollen, als Tag für Tag mit Chloe zu verbringen. Er war schon völlig am Ende. Er musste zusehen, wie sie sich bewegte. Er spürte ihr seidiges Haar, wenn sie sich im Atelier an ihm vorbeidrängte. Er atmete ihren blumigen Duft ein - ihren ureigenen Duft, denn Parfüm benutzte sie nicht. Er hatte extra gefragt. Und er musste
ihre Begeisterung für seine Arbeit ertragen ihre schier endlosen Fragen ertragen. Fast ununterbrochen war er erregt. Wie sollte er sich dabei aufs Fotografieren konzentrieren? Wie sollte er das Beste aus den Models herausholen, wenn Chloe ständig in seiner Nähe war? Chloe, die ihrerseits nur von Dave sprach. Immer nur Dave, Dave, Dave! Am Freitag konnte er es nicht mehr ertragen. "Sag mal, ist das eigentlich transzendentale Meditation, was du da betreibst?" fragte Gibson und sah sie wütend an. "Was?" "Diese gebetsmühlenartige Erwähnung eines einzigen Namens: Dave, Dave und noch mal Dave." Chloe errötete verlegen. "Tut mir Leid, wenn ich dich damit langweile." "Ja, es wird tatsächlich langsam langweilig. Hör bitte auf damit! Ich will diesen Namen nicht mehr hören. Es geht mir auf die Nerven. Ohne dieses ständige Gerede wäre ich schon viel weiter." Er zeigte auf die Tür. "Geh ins Büro, erledige Ediths Arbeit, und lass mich in Ruhe!" "Das hätte ich die ganze Woche tun sollen." Sie blinzelte und sah ihn beleidigt an. In ihren wunderschönen blauen Augen schimmerten Tränen. Sie würde doch wohl nicht zu weinen anfangen! Und wenn schon! Gibson wandte sich energisch ab. Sie soll sich nicht so anstellen, dachte er ärgerlich und widmete sich seiner Arbeit. Erst als das letzte Model das Atelier verlassen hatte, dachte er daran, sich eventuell bei Chloe für seine Schroffheit zu entschuldigen. Er war einfach überarbeitet, würde er behaupten und sie zum Essen einladen. Und dann ... Chloe telefonierte. Mit einem Mann! Sie flirtete richtig. Im Büro! "He, ich bezahle dich nicht dafür, dass du mit deinem
Freund am Telefon flirtest", sagte Gibson ungehalten. Kein Gedanke mehr daran, sich zu entschuldigen. "Das ist nicht mein ..." Er ließ sie nicht ausreden. "Ich habe in der Dunkelkammer zu tun. Warte nicht auf mich. Du kannst gehen, wenn du hier fertig bist. Außerdem solltest du Dave klarmachen, dass er dich nicht bei der Arbeit stören soll." "Aber..." "Und lass mich in Ruhe! Ich will ungestört arbeiten." Gibson schloss sich in der Dunkelkammer ein und begann Filme zu entwickeln. Die Zeit verging. Aus Minuten wurden Stunden. Er merkte es gar nicht. Es machte ihm Spaß, seine Filme selbst zu entwickeln. Leider ging das nur bei Schwarzweißaufnahmen. Farbfilme musste er ins Labor schicken. In der Dunkelkammer konnte er genauso viel Kreativität entwickeln wie beim Fotografieren. Und es war wunderbar entspannend. Er ging in seiner Arbeit völlig auf. Insbesondere da er es mit den Bildern sehr schöner Frauen zu tun hatte und durch niemanden abgelenkt wurde. Um kurz vor neun war er fertig. Er massierte seine schmerzenden Schultern und betrachtete zufrieden die Fotos. Sie waren wirklich sehr gut geworden. Und er fühlte sich auch gut. Jedenfalls weniger rastlos als in den vergangenen zwei Wochen. Gibson öffnete die Tür und verließ die Dunkelkammer, die zwischen dem Atelier und dem Empfangsbereich lag. "Was, um alles in der Welt, tust du denn noch hier?" Chloe saß noch immer am Computer. Ihre Finger flogen nur so über die Tastatur. Bei seinem scharfen Tonfall sah sie verwirrt auf. "Du hast doch selbst gesagt, ich soll hier alles fertig machen. Es hatte sich einiges angesammelt. Nachdem du Perdita gefeuert hattest, musste ich dir ja im Atelier helfen."
Sofort verspannte er sich wieder. "Du hättest schon längst Feierabend machen können, wenn du nicht den ganzen Nachmittag mit Sowieso telefoniert hättest." "Er heißt Dave." "Das weiß ich." Chloe biss sich auf die Lippe. "Es war aber gar nicht Dave." "Wieso nicht? Bei wem raspelst du denn sonst noch Süßholz?" "Das stimmt überhaupt nicht! Ich habe mich nur mit Rhys unterhalten. Wir wollen morgen zusammen thailändisch kochen." Gibson verzog ärgerlich das Gesicht. Er hätte mehr über diesen Rhys in Erfahrung bringen sollen, bevor er Chloe erlaubt hatte, in Mariahs Wohnung zu ziehen. Was sollte er tun, wenn der Mann sich als unverbesserlicher Casanova entpuppte, der es auf unschuldige Mädchen abgesehen hatte? "Was weißt du eigentlich über ihn?" fragte Gibson und ging auf sie zu. "Er ist Feuerwehrmann. Das hat Mariah ja erzählt. Aber ..." Chloe lächelte bewundernd. "... nicht irgendeiner. Er ist Fachmann für brennende Ölquellen und andere Großfeuer, und er wird in der ganzen Welt eingesetzt. Er ist gerade erst aus Südamerika zurückgekehrt." Begeistert erzählte sie von Rhys Sowiesos Heldentaten, bis er sie schließlich unterbrach. "Hast du das alles von Mariah?" "Wie? Nein. Ich habe ihn gefragt." "Ach. Wann denn?" "Als wir vergangenen Sonntag auf Ellis Island waren." Seine Miene verfinsterte sich. "Und gestern Abend, als wir zusammen Wäsche gewaschen haben." Der gemeinsame Ausflug nach Ellis-Island war schon schlimm genug. Aber dass sie mit dem Mann auch noch ihre
Wäsche wusch ... Wütend schrie Gibson sie an: "Was fällt dir überhaupt ein? Du kennst diesen Typ doch gar nicht!" "Ich habe ihn auf dem Weg zum Waschsalon getroffen, und Rhys hat mir vorgeschlagen, doch lieber seine Maschine zu benutzen." Gibson stöhnte. "Was ist los?" fragte Chloe. "Hat er dir vielleicht auch seine Briefmarkensammlung gezeigt?" "Mach dich nicht lächerlich, Gibson! Er weiß doch, dass ich verlobt bin." Und wenn schon! Er schüttelte den Kopf. "Und wenn er es vergisst?" "Keine Chance. Jedenfalls revanchiere ich mich für seine Freundlichkeit mit einem thailändischen Essen." Ist sie eigentlich so naiv, oder tut sie nur so? überlegte Gibson. Eigentlich ging es ihn ja nichts an, was Chloe Madsen in New York tat. Allerdings fühlte er sich doch ein wenig für sie verantwortlich, weil seine Schwester Gina sie nach New York geschickt hatte. Was würde Gina sagen, wenn Chloe in die Fänge eines attraktiven Feuerwehrmanns geriet? Vielleicht sollte ich doch Erkundigungen über ihn einziehen, dachte Gibson. Das bin ich Gina schuldig. "Was sagtest du, wie der Mann mit Nachnamen heißt?" fragte er wie nebenbei. "Ich habe gar nichts gesagt." Er zog eine Augenbraue hoch und musterte Chloe streng. Chloe hielt seinem Blick stand. Schließlich gab sie aber nach. "Wenn du es unbedingt wissen willst, er heißt Wolfe. Rhys Wolfe." Gibson stöhnte wieder. Ein Wolf im Schafspelz, oder? Er hatte es ja geahnt! Chloe hatte geplant, sich am Samstag einen schönen Tag machen. Morgens wollte sie sich das Empire State Building ansehen, am Nachmittag einen Spaziergang durch Greenwich
Village machen, und um fünf wollte sie bei Rhys sein, um bei ihm zu kochen. Sie hatte gerade ihr Frühstücksgeschirr gespült und schlüpfte in bequeme Sandaletten, als das Telefon klingelte. "Ich stelle eine Mappe für einen potentiellen Kunden zusammen", sagte eine schroffe Männerstimme ohne Einleitung, als Chloe den Hörer abnahm. "Wie?" "Du hast gehört, was ich gesagt habe. Wir sehen uns in einer Stunde im Atelier." Sprach's und legte auf. Chloe betrachtete fassungslos den Hörer in ihrer Hand. Dann ließ sie ihn krachend auf die Gabel fallen. "In einer Stunde im Atelier. Der ist wohl verrückt geworden. Ich sollte den Anruf ignorieren", überlegte sie laut. Doch das tat sie natürlich nicht. Schließlich war sie nach New York gekommen, um Gibson zu helfen und um etwas von ihm zu lernen. Und trotzdem war sie nicht gerade begeistert von der Vorstellung, wieder mit Gibson Walker allein zu sein. Der Anruf hatte Gibson überrascht. "Hier spricht Palinkov", hatte eine Männerstimme mit leichtem russischem Akzent gesagt. "Dmitri Palinkov. Haben Sie schon von mir gehört?" O ja, das hatte er, Gibson. Der Mann war der aufgehende Stern am Himmel der Modemacher. Seine farbenprächtige Kollektion und seine eleganten Schnitte hatten auf den Modeschauen in Paris und Mailand im vergangenen Jahr Furore gemacht. In diesem Jahr zeigte er seine neue Kollektion auch in New York. "Ich suche einen Fotografen", erklärte Palinkov. "Einen Fotografen mit Vorstellungsvermögen." Gibson hörte interessiert zu. "Ja?" "Ja. Ich habe mit Marie gesprochen", sagte Palinkov. "Sie kennen doch Marie Kemmerer?"
Natürlich kannte er, Gibson, Marie Kemmerer. Schließlich war sie seine Agentin. Sie war die beste Agentin weit und breit, und sie verfügte über großen Einfluss in den Kreisen, auf die es ankam. "Marie hat Sie erwähnt. Ich würde mir gern Ihre besten Arbeiten ansehen - was Sie für Ihre besten Arbeiten halten. Ich will sehen, ob Sie über eine gewisse Vorstellungskraft verfügen. Ich brauche einen Fotografen für meine Kollektion, der meine Vision umsetzt. Marie hat mir schon einige Sachen von Ihnen gezeigt. Vielleicht sind Sie der Richtige für mich. Aber ich bin mir noch nicht ganz sicher. Es gibt zwei weitere Kandidaten. Ich würde gern sehen, worauf es Ihnen beim Fotografieren ankommt. Können Sie mir eine Mappe mit, sagen wir, dreißig Aufnahmen zusammenstellen?" "Gern." Daher verbrachte er, Gibson, diesen Samstag im Atelier. Und er wollte Chloe dabeihaben, wenn er seine besten Aufnahmen zusammenstellte. Aufnahmen, die etwas über ihn aussagten. Wenn er Palinkov überzeugen konnte, wäre das sein größter, lukrativster Auftrag. Chloe hatte ihn beeindruckt. Sie stellte die richtigen Fragen, und sie hatte einen guten Blick. Außerdem wusste sie genau, was er brauchte, manchmal sogar, bevor er sich selbst darüber bewusst geworden war. Sie wusste, welche Vision er hatte, und sie konnte ihm bei der Auswahl der Aufnahmen sicher wertvolle Hilfe leisten. Und wenn sie sich dadurch zu ihrer Verabredung mit diesem Rhys Wolfe verspätete, dann konnte es ihm, Gibson, nur recht sein. Deshalb hatte er sie angerufen. Gleich nach dem Anruf waren ihm Zweifel gekommen, doch die hatte er einfach ignoriert. Die Zweifel stellten sich allerdings sofort wieder ein, als es zwischen Chloe und ihm knisterte, sowie sie das Atelier betreten hatte und ihn wütend anfunkelte.
"Was ist denn?" fragte Gibson schuldbewusst und beleidigt zugleich. "Ärgerst du dich, weil ich dich gebeten habe, heute ins Atelier zu kommen?" "Natürlich nicht. Aber immerhin hättest du nicht ganz so grob zu sein brauchen." Er verdrehte die Augen. Das wusste er selbst. Aber wenn er sie freundlich gebeten hätte zu kommen, hätte sie vielleicht ebenso freundlich Nein gesagt. "Passt es dir nicht, hier zu sein? Hattest du etwa ein Rendezvous mit diesem Wolfsmenschen?" "Du weißt doch genau, dass ich heute Abend für Rhys koche", antwortete sie ausdruckslos. "Sonst nichts. Ich bin nämlich verlobt mit Dave." Schon wieder dieser Name! Er klang wie eine Herausforderung. Eine geschlagene Minute lang musterten sie sich schweigend. Schließlich wandte Gibson sich ab und zeigte aufs Atelier. "Komm, lass uns endlich anfangen zu arbeiten." Er hatte schon überall Fotos ausgebreitet. Schnell erklärte er Chloe, worum es ging. Sie verstand sofort, was er meinte, und nickte ernst. Zuerst zeigte er ihr die Fotos, die ihn berühmt gemacht hatten. Konzentriert betrachtete sie die Aufnahmen und begann sie zu sortieren. Gibson schleppte weitere Fotomappen heran. "Wir müssen die Fotos nach Stimmungen sortieren", erklärte Chloe und stellte sich zu ihm. Wieder atmete er diesen Blumenduft ein. Es war ein erregender Duft. Er musste sich zusammenreißen, um sich auf seine Aufgabe konzentrieren zu können. "Gib mal her." Sie nahm ihm einige Fotos aus der Hand und begann zu sortieren. Gibson sah ihr fasziniert zu. Und sie beachtete ihn überhaupt nicht, sondern legte mehrere Stapel an, von denen sie schließlich
einige nach vorn zog. "Sieh dir diese Aufnahmen mal etwas genauer an." Sie waren alle weniger beeindruckend als die, die er selbst ausgesucht hatte, irgendwie sanfter, subtiler. Gibson schüttelte den Kopf. "Nein, die sind nicht mitreißend genug. Palinkovs Kollektion ist mitreißend, faszinierend." Er zeigte auf die Aufnahmen mit einer klaren Aussage. "Aber Palinkov will deine Vision sehen", gab Chloe zu bedenken. "Die erkennt er darin am besten." Er nahm die Fotos mit den klaren Konturen hoch. "Das ist nur ein Teil deiner Vision." "Die Aufnahmen, die du ausgesucht hast, sind nicht so gut wie diese hier." Sie betrachtete erneut die Fotos und musste ihm Recht geben. "Stimmt. Aber du hast welche von gleich guter Qualität." "Welche meinst du?" "Die in dem Bildband über Catherine Neale." Gibson schüttelte energisch den Kopf. "Nein." "Sie sind weicher, ausdrucksvoller." "Nein." "Sie sind so gut wie die Aufnahmen, die du ausgewählt hast." , "Ich sagte Nein!" Chloe sah auf. Er funkelte sie an, dann wandte er den Blick ab. "Das waren ausgezeichnete Fotos, Gibson", sagte sie ruhig. "Sie zeigen eine andere, persönlichere Facette deines Könnens." "Mein Stil hat sich aber geändert. So bin ich nicht mehr." "Wirklich nicht?" Sie sah ihn von der Seite an. "Nein." Energisch schüttelte er den Kopf. Chloe gab sich damit nicht zufrieden. "Sie sind sehr gut. Voller Einfühlungsvermögen und..." "Hör auf!" Er drückte ihr einen weiteren Stapel Fotos in die Hand. "Palinkov ist eher an diesen Bildern interessiert",
behauptete er. "Das sind Modeaufnahmen. Such einige heraus. Dann vergleichen wir." Pflichtbewusst machte sie sieh an die Arbeit. Allerdings nahm sie die Fotos mit zu einem anderen Tisch und wandte ihm den Rücken zu. Das war auch besser so. Vielleicht habe ich sie überschätzt, dachte Gibson. Offensichtlich konnte sie nicht erkennen, wie sehr sich seine Arbeiten verbessert hatten, seit der Bildband über Catherine Neale herausgekommen war. Schweigend sortierte er Fotos. Auch Chloe konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe. Sie arbeiteten den ganzen Nachmittag lang. Schließlich entdeckte Gibson die Aufnahmen, die er gemacht hatte, als Chloe bei ihm angefangen hatte. Wie oft hatte er der Versuchung widerstanden, die Fotos zu betrachten! Jetzt hielt er sie in der Hand. Warum auch nicht? Schließlich gehörten auch sie zu seiner Arbeit. Er legte die Fotos nebeneinander auf den Tisch und betrachtete sie. Sie waren ... anders. Sie war anders. Die anderen Mädchen wirkten professionell, makellos, distanziert. Chloe sah ... wunderschön aus. So lebendig. Er konnte fast sehen, wie ihre Brüste hüpften. Gibson schluckte, als er bemerkte, wie erregt er wurde. Vorsichtig atmete er tief durch. "O nein!" sagte jemand hinter ihm. "Die kommen nicht in die Mappe." Lächelnd wandte er sich um. Chloe musterte ihn wütend. "Leg die Fotos weg! Wirf sie am besten gleich in den Mülleimer." Sie versuchte die Fotos an sich zu bringen, doch er wusste das geschickt zu verhindern. Chloe wandte eine andere Taktik an, doch auch die schlug fehl. "Gibson! Gib mir die Fotos!"
Er schüttelte den Kopf. "Kommt nicht in Frage." Sie versuchte ihn zu täuschen, lockte ihn in eine Richtung und versuchte von der anderen Seite an die Bilder zu kommen. Doch er hatte etwas geahnt und wich nicht von der Stelle. Im nächsten Augenblick prallten sie frontal zusammen. Die Zeit schien stillzustehen. Chloe blinzelte und sah ihn hilflos an. Ihre Lippe bebte. Gibson beugte sich vor, um sie zu küssen. Gerade noch rechtzeitig wich Chloe zurück, taumelte und musste sich an einer Stuhllehne festhalten. "Bitte nicht", flüsterte sie. Nein, natürlich nicht. Der Augenblick der Schwäche war auch schon wieder vorbei. "Ich ... ich muss jetzt gehen", sagte sie leise, straffte sich und strich sich die Hose glatt. Sorgfältig mied sie seinen Blick. "Ich habe es Rhys versprochen ..." Gibson wollte etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders und nickte nur. "Okay", erwiderte er schließlich heiser. "Geh nur, ich komme schon allein zurecht." "Dort auf dem Tisch liegen die Fotos, die ich ausgesucht habe." "Danke." Sie ging zur Tür. Dort blieb sie stehen und drehte sich noch einmal um. "Versprich mir, die anderen Fotos nicht zu verwenden. Bitte, Gibson!" Ihre Fotos, meinte sie. "Sie sind aber sehr gut." Komisch, die meisten Frauen wären ganz versessen darauf gewesen, Fotos von sich in eine Mappe für Dmitri Palinkov zu schmuggeln. Catherine hätte keine Skrupel gehabt. Nein, die nicht! Chloe sah ihn bittend an. "Ich flehe dich an, Gibson." Sie schien den Tränen nahe zu sein. Mit weinenden Frauen konnte er nichts anfangen. "Okay, versprochen", sagte Gibson daher schroff.
Chloe strahlte übers ganze Gesicht. "Vielen Dank, Gibson." Und dann lief sie zu ihm und küsste ihn direkt auf den Mund. Sie zuckten beide zusammen, als hätte sie der Schlag getroffen. Chloe legte sich die Hand auf den Mund. "Entschuldige bitte", sagte sie undeutlich. Dann wandte sie sich ab und flüchtete aus dem Atelier. Gibson sah ihr verblüfft nach. Sie konnte es nicht fassen. Was hatte sie nur dazu bewogen, Gibson Walker zu küssen? Hatte sie den Verstand verloren? Auf dem Nachhauseweg konnte Chloe an nichts anderes denken als an den Kuss. Das erotische Knistern war schon schlimm genug gewesen, als sie mit Gibson zusammengeprallt war, aber bei dem Kuss erst... Sie war so durcheinander, dass sie versehentlich erst zwei Stationen zu spät aus der U-Bahn ausstieg. Wie war es möglich, dass sie sich so sehr nach Gibson sehnte? "Dave", murmelte sie immer wieder beschwörend vor sich hin, als sie zu Fuß zu Mariahs Wohnung zurückging. "Ich dachte schon, du hättest unsere Verabredung vergessen", sagte Rhys lächelnd, als sie schließlich bei ihm klingelte. "Entschuldige bitte. Ich musste arbeiten." "Am Samstag? Der Mann scheint ein richtiger Sklaventreiber zu sein." "Nein, das ist er eigentlich nicht." Rhys zog die Augenbrauen hoch und zuckte die Schultern. "Ach, das hatte ich vergessen. Er ist ja dieser Superfotograf, der schöne Frauen ablichtet. Sie offenbaren ihm nicht nur ihren Körper, sondern auch ihre Seele, oder?" Chloe errötete tief. Als er es bemerkte, lachte er vergnügt. "Dich hat er wohl auch schon verzaubert?" "Hat er nicht!" Doch das Gegenteil war der Fall!
Es dauerte eine Weile, bis er wieder bei der Sache war. Was hatte Chloe sich nur dabei gedacht, ihn zu küssen? Hatte sie etwa nicht gespürt, wie erregt er gewesen war, als sie zusammengeprallt waren? Wie naiv war sie eigentlich? Gibson biss sich auf die Lippe. Dieser Dave musste ein Narr sein, wenn er eine Frau wie Chloe auch nur einen Moment lang aus den Augen ließ. Und was machte der Mann? Er ließ sie nach New York gehen! Unglaublich! Diese Frau hätte einen Heiligen verführen können. Verzweifelt schüttelte Gibson den Kopf und fasste einen Entschluss. Chloe musste verschwinden, damit sein Leben wieder in ruhigen Bahnen verlief. Und bis es so weit war, würde er mit anderen Frauen ausgehen, um sich abzulenken. Wahrscheinlich war er schon viel zu lange allein gewesen. Er ging zum Empfang und begann in Ediths Telefonbuch zu blättern. Wen könnte er anrufen? Wem würde es nichts ausmachen, nur eine einzige Nacht mit ihm zu verbringen, ohne sich gleich Hoffnungen auf eine Beziehung zu machen? Tasha? Nein. Vanessa? Nein. Shellie vielleicht? Lieber nicht. Gibson blätterte und blätterte. Vor seinem geistigen Auge tauchten die schönsten Frauen auf. Tina? Nein. Jessica? Nein. Alana? Alana! Dunkelhaarig, erotisch, hohe Wangenknochen, sinnlicher Mund, zu allem bereit. Sie spielte mit den Männern. Genau was ich brauche, dachte Gibson und nahm den Hörer ab.
5. KAPITEL Chloes Abendessen bei Rhys Wolfe verlief sehr harmonisch. Er war witzig, geistreich und charmant und überhaupt keine Gefahr für sie. Rhys war gern in der Gesellschaft von Frauen, hatte allerdings etwas gegen feste Bindungen - genau wie Gibson. Als Chloe nach dem Abendessen anmerkte, wie sehr es ihr gefalle, dass er als Mann den Abwasch erledigte, und sich wunderte, dass noch keine Frau ihn sich geschnappt hatte, antwortete er unmissverständlich: "Ich lasse mich nicht einfangen. Die Ehe ist nichts für mich." Sein kompromissloser Tonfall überraschte sie, doch sie wagte nicht zu fragen, ob Rhys vielleicht schlechte Erfahrungen gemacht hatte, denn er schien sich plötzlich hinter einer unsichtbaren Mauer verschanzt zu haben. Außerdem ging es sie ja auch gar nichts an - ebenso wenig wie Gibsons Privatleben. Über Rhys grübelte sie nicht die ganze Nacht lang nach, über Gibson sehr wohl. Mit wem mochte er verabredet sein? Ob er je mit Catherine Neale liiert gewesen war? Sie hätte Wetten darauf abschließen mögen und überlegte, was sie über den Filmstar wusste. Soweit sie sich erinnerte, war Catherine mit einem Produzenten verheiratet und von einem Regisseur geschieden. Aber Gibson hatte sie lange vor diesen Ehen gekannt. Damals war sie wahrscheinlich noch unverheiratet gewesen.
Das ist ja auch völlig gleichgültig, dachte Chloe. Für Gibson war Catherine Neale Vergangenheit. Am Montagabend konnte Gibson den Feierabend kaum erwarten. "Ich bin zum Essen verabredet", erzählte er Sierra und Chloe und lächelte vielsagend. "Wird wohl eine heiße Nacht, oder?" fragte Sierra anzüglich. "Davon gehe ich aus", stimmte er rau zu und ließ den Blick zu Chloe gleiten, um zu sehen, wie sie auf die Bemerkung reagierte. Chloe ließ sich nichts anmerken. Schon den ganzen Tag lang hatte sie versucht, Gibson einfach zu ignorieren. Sie wollte nicht über ihn nachdenken, und sie weigerte sich strikt, sich daran zu erinnern, wie es gewesen war, ihn zu küssen. "Kennen wir sie?" fragte Sierra, als sie alle zusammen im Aufzug nach unten fuhren. Gibson lächelte sexy. "Alana." "Alana?" Sierra musterte ihn verblüfft, als sich die Aufzugtür öffnete. "Die verspeist dich doch mit Haut und Haaren." Er lachte. "Stimmt. Und es gefällt mir ausnehmend gut." Selbstzufrieden hielt er ihnen die Haustür auf und winkte nach einem Taxi, als sie alle auf dem Bürgersteig standen. Chloe sah dem Taxi nach, in dem er davonfuhr. Plötzlich fühlte sie sich ganz leer. "Wer ist Alana?" fragte sie. Sierra zeigte auf die Werbetafel an einer Hauswand schräg gegenüber. Das riesige Schwarzweißporträt zeigte die erotischste, verruchteste, sinnlichste und sensationellste Frau, die je für ein Parfüm Werbung gemacht hatte. "Die da." "Ach, die", sagte Chloe und rang sich ein Lächeln ab. "Wie ... nett." Sierra lächelte abfällig. "Das ist nichts Festes." Das konnte sie, Chloe, sich auch nicht vorstellen. Immerhin hatte Gibson ihr selbst kürzlich verraten, dass er nie zweimal mit ein und derselben Frau ausging.
Doch bei Alana wurde er seinem Vorsatz untreu. Mit ihr war er länger als einen Tag, oder besser gesagt, eine Nacht zusammen. Sogar länger als eine Woche. Jeden Morgen kam er gähnend und übernächtigt ins Atelier und fragte sie anzüglich, ob sie sich gut mit Dave unterhalten habe. Dann streckte er sich, erklärte, er sei schrecklich müde, und erzählte, er habe den Abend mit Alana verbracht. Wohl eher die Nacht, dachte Chloe, als sie betont unbekümmert antwortete: "Dave und ich haben uns wunderbar unterhalten. Dave ..." Doch Gibson hörte nicht zu, sondern wandte sich stets sofort ab und bereitete sich auf die Aufnahmen vor, die an dem Tag auf dem Plan standen. Zweimal gingen sie in dieser Woche in den Central Park zu Außenaufnahmen. Sie schleppten eine sehr umfangreiche Kameraausrüstung mit. Fünf Models mit kaum zu bändigenden Mähnen sollten fotografiert werden. "Das ist eine echte Herausforderung", hatte Sierra gesagt. Dem konnte Chloe nur zustimmen. Nicht nur, weil sie damit beschäftigt war, die schwere Ausrüstung zu tragen und Gibsons Anweisungen zu folgen, sondern auch, weil es so schwül war und Gibson mit nacktem Oberkörper arbeitete. Er hatte eine muskulöse, behaarte Brust, wie sie feststellte. Nicht, dass es sie sonderlich interessiert hätte. Wieso auch? Für sie gab es nur Daves Brust. Genau! Dave. Dave. Dave. Sie schloss die Augen und räusperte sich. "Als Dave und ich..." "Bring mir das Objektiv! Nun steh doch nicht untätig herum!" fuhr Gibson sie an. Chloe funkelte ihn wütend an. Ihn und seine nackte Brust. Dann drückte sie ihm das Objektiv in die Hand. Versehentlich trat sie ihm dabei auf den Fuß. Selber schuld, dachte sie. Warum hat er auch so große Füße?
Ihr Verhalten hatte nichts damit zu tun, dass er mit Alana zusammen war. Das konnte ihr, Chloe, ja nun wirklich egal sein. Gibson war ein ganz normaler, gesunder, heißblütiger Mann. Es hätte sie gewundert, wenn er keine Freundin gehabt hätte. Aber musste er ständig von ihr sprechen? Jeden Tag? Ohne Unterlass? Alana sei eine wunderbare Tänzerin, erzählte er, und so klug. Alana wisse, wie man einen Mann glücklich mache. Chloe hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Dieses ständige "Alana dies, Alana das" ging ihr schrecklich auf die Nerven. Dachte Gibson denn nur noch an diese Alana? Und es gab kein Entrinnen. In ganz New York lächelte Alana von den Hauswänden. Sie war in Zeitschriften abgebildet, in den U-Bahnen, überall zeigte sie ihren sexy Schmollmund. Und eines Nachmittags stand sie sogar persönlich im Atelier. "Was will die denn hier?" fragte Chloe irritiert, bereute ihre Unhöflichkeit jedoch sofort. "Du hast sie selbst vor zwei Wochen zu Aufnahmen herbestellt", antwortete Sierra. "Ach so." Chloe senkte verlegen den Kopf. "Dann ist es ja gut." Als sie Alana angerufen hatte, hatte sie natürlich noch keine Ahnung gehabt, wer sie war. Inzwischen lagen die Dinge anders. Alana, die auf den Fotos unglaublich schön wirkte, war in natura noch bezaubernder - ohne ihren Schmollmund. Lachend kam sie mit zwei Kolleginnen in den Empfangsbereich, wo Gibson gerade telefonierte. Die anderen beiden Models winkten ihm nur zu, aber Alana begrüßte ihn richtig. Sie ging zu ihm, umarmte ihn und küsste ihn auf den Mund. Chloe sah fassungslos zu. Bisher hatte sie in New York viele hundert angedeutete Küsse, aber keinen einzigen richtigen Kuss gesehen. Deshalb war es ihr ja auch so peinlich gewesen, dass sie Gibson geküsst hatte. Zu dem Zeitpunkt war ihr noch nicht
bewusst gewesen, dass man sich in New York nicht richtig küsste. Erzähl das mal Alana, dachte Chloe. Und dann beobachtete sie verblüfft, dass Gibson den Kuss erwiderte. Sehr professionell! Sie funkelte ihn missbilligend an. Er bemerkte es und lächelte ihr selbstzufrieden zu, bevor er Alana noch einmal küsste. "Hallo, Schatz. Wie geht es denn meinem Mädchen?" "Ich freue mich, dich zu sehen", antwortete Alana mit ihrer erotischen Stimme. "Aber ich bin spät dran. In einer Stunde bin ich mit Walter auf einen Drink verabredet." Chloe erwartete, dass er Alana antworten würde, Walter müsse dann eben warten, weil er, Gibson, sich nicht unter Zeitdruck setzen lasse, doch er nickte nur und sagte: "Okay, dann wollen wir mal. Chloe? Beeilung!" Das war doch nicht zu fassen! Sie hatte den ganzen Tag lang ohne Pause geschuftet, und nun tat er so, als wäre sie an Alanas Verspätung schuld. Übertrieben unterwürfig lächelte sie ihm zu. "Natürlich, Boss. Sofort, Boss. Stets zu Diensten, Boss." "Wie?" Er runzelte die Stirn. Doch sie hatte sich schon abgewandt und war auf dem Weg ins Atelier, um die Kameras für die Aufnahmen einzustellen. Als Gibson kurz darauf Arm in Arm mit Alana nachkam, funkelte Chloe die beiden wütend an. Erst der Kuss und dann auch noch das! Aber was ging es sie an? Sie fand es nur ziemlich unprofessionell. Was würden die Leute sagen, wenn sie Dave im Redaktionsbüro der Collierville Gazette um den Hals fiele? Sie würde nicht im Traum daran denken, sich so zu verhalten. Aber sollte Gibson doch tun, was er wollte. Es war schließlich seine Sache. Trotzdem ärgerte es sie, dass er offensichtlich nicht die Finger von Alana lassen konnte.
"Es hat nichts zu bedeuten", sagte Sierra, die ihren Gesichtsausdruck gesehen hatte. Chloe zuckte die Schultern. "Mir ist das doch egal." Doch als Gibson sich früher als sonst verabschiedete, weil er noch einen anderen Termin hatte, ärgerte sie sich. Wahrscheinlich würde er sich mit Alana treffen, nachdem diese ihre Verabredung mit Walter wahrgenommen hatte. "Geh doch auch früher", bot Gibson ihr an, als er ihre finstere Miene bemerkte. "Dann hast du mehr Zeit, ins Museum zu gehen oder mit Dave zu telefonieren." Er lächelte anzüglich. Chloe ließ sich nicht provozieren. Fröhlich lächelnd antwortete sie: "Vielen Dank. Genau das werde ich tun, sowie ich zu Hause bin." Dave war allerdings nicht da. Sie hatte den Zeitunterschied vergessen. Vermutlich war Dave noch damit beschäftigt, Heu zu machen, vielleicht war er auch schon dabei, die Kühe zu melken. "Dann eben nicht", sagte Chloe leise vor sich hin. Sie würde Dave später anrufen. Rastlos sah sie sich in Mariahs Wohnung um und beschloss, noch einen Spaziergang um den Block zu machen. Rhys öffnete gerade seine Wohnungstür, als sie in den Flur trat. "Hallo. Was ist los?" "Nichts. Ich hatte heute etwas früher Feierabend und will jetzt spazieren gehen." "Kann ich mitkommen?" "Gern." Sie fühlte sich in seiner Gesellschaft sehr wohl. Bei ihm konnte sie sich entspannen, während sie bei Gibson ständig auf der Hut sein musste. Sie verbrachten den ganzen Abend zusammen und alberten herum. Nachdem sie in einem gemütlichen Restaurant zu Abend gegessen hatten, gingen sie nach Hause.
Schade, dass Rhys so einen gefährlichen Beruf ausübt, dachte Chloe. Mit so einem Mann könnte ich nie eine Beziehung eingehen. Es war schlimm genug, jeden Tag mit einem Fotografen zusammen zu sein, dem die Frauen förmlich zu Füßen lagen. Unvermittelt blieb sie mitten auf der Amsterdam Avenue stehen. Rhys zog sie schnell von der Straße. "Was ist denn plötzlich los?" fragte er besorgt. "Ach, gar nichts." Chloe rang sich ein Lächeln ab, dann atmete sie tief durch. "Mir ist nur gerade etwas eingefallen." Etwas Schreckliches! Während der vergangenen Minuten hatte sie Rhys mit Gibson Walker verglichen und keinen einzigen Gedanken an Dave verschwendet! Gibson pfiff den ganzen Vormittag fröhlich vor sich hin. Und wenn er nicht pfiff, summte oder sang er. . Es war kaum auszuhalten. Chloe hätte ihm am liebsten den Hals umgedreht. Diese übertriebene Fröhlichkeit war wirklich unerträglich und hatte wahrscheinlich mit Alana zu tun. Allerdings hätte sie sich lieber die Zunge abgebissen, als Gibson zu fragen, wieso er so gut gelaunt war. Aber sie sollte es auch so erfahren. "Du musst unbedingt mal ins ,Ricardo' gehen", sagte er. "Das Essen ist fantastisch, die Atmosphäre wunderbar italienisch, und es ist sehr intim." Das letzte Wort sprach er fast zärtlich aus. "Ich würde es bestimmt nicht als intim empfinden", antwortete Chloe scharf. Sie suchte gerade in einer Schublade nach einer Schere. "Es sei denn, Dave wäre bei mir." Er presste die Lippen zusammen, doch er fing sich schnell und fuhr fort: "Man kann dort wirklich ganz unbeobachtet sitzen. Die Tische sind alle durch hohe Zwischenwände abgeteilt, man ist vor neugierigen Blicken geschützt." Sie konnte sich lebhaft vorstellen, worauf er anspielte, und knallte wütend die Schublade zu.
Sierra, die gerade ein junges Mädchen frisierte, das Gibson für eine Anzeigenserie für Hautcreme für Jugendliche gebucht hatte, verdrehte die Augen und lächelte ihr aufmunternd zu. Chloe riss sich zusammen und rang sich ein Lächeln ab, wenn es ihr auch schwer fiel. "Ich dachte nur, du würdest das Restaurant gern einmal ausprobieren, falls dein Liebster sich hier einmal blicken lässt", sagte Gibson wie nebenbei. "Ich werde es mir überlegen", antwortete Chloe kurz angebunden. "Vielleicht wäre es auch besser, wenn du bei deinen Museums und Theaterbesuchen bleiben würdest", fügte er nachdenklich hinzu. "Du bist ständig in Museen unterwegs, oder?" Was sollte das? Wollte er sie herausfordern? Und wenn ja, warum? Sierra schien auch erstaunt zu sein und sich zu wundern, worauf Gibson hinauswollte. Chloe fühlte sich durch die Anwesenheit Sierras und des jungen Mädchens bestärkt und hob herausfordernd das Kinn. "Eigentlich ist es gar keine so schlechte Idee. Ich könnte mal mit Rhys ins ,Ricardo' gehen." "Mit Rhys?" Gibson funkelte sie wütend an. "Warum, um alles in der Welt, solltest du mit diesem Wolfe dorthin gehen?" "Warum denn nicht?" Sie musterte ihn fragend. "Rhys ist für alles zu haben", fügte sie vielsagend hinzu und wartete neugierig auf seine Reaktion. Er wirkte angewidert. "Der arme Dave. So ein Dummkopf." Chloe sah ihn wütend an. "Was willst du damit sagen?" "Na ja, er kann doch nicht besonders helle sein, wenn er zu Hause bleibt und sich um seine Felder und Wiesen kümmert, während jemand anders sich an sein Eigentum heranmacht." Sie war fassungslos. Auch Sierra und das junge Mädchen machten einen erstaunten Eindruck. Sie blickten zwischen
Gibson und ihr hin und her, als würden sie ein Tennismatch beobachten. "So, du hältst Dave also für einen Dummkopf? Und denkst, dass ich sein Eigentum bin, an das sich jemand heranmacht? Habe ich dich da richtig verstanden?" Chloe stemmte die Hände in die Hüften. Gibson lächelte sarkastisch. "Wenn er kein Dummkopf wäre, hätte er dich niemals allein nach New York verschwinden lassen." "Ich bin nicht verschwunden! Ich arbeite hier. Und ich habe dir schon oft genug gesagt, dass Dave mir vertraut." Er lachte verächtlich. "Ich sage doch die ganze Zeit, was für ein Dummkopf er ist." "Wenn ich mit einem Mann essen gehe, dann heißt das noch lange nicht, dass ich anschließend mit ihm ins Bett falle." "Nein?" Gibson zog eine Augenbraue hoch. "Nein! Nur weil bei dir zum Nachtisch Sex auf der Karte steht, muss es bei mir noch lange nicht so sein. Keine falschen Schlüsse, bitte." "Es stört dich also, dass ich mit Alana ins Bett gehe." Er lächelte zufrieden. Chloe funkelte ihn an, dann atmete sie tief durch und sagte zuckersüß: "Genau wie es dich stört, dass ich mit Rhys essen gegangen bin." Sie sahen einander starr an, bis Sierra zu lachen anfing. Daraufhin funkelten sie beide die arme Sierra wütend an. "Was ist?" fragte Chloe. "Was gibt es da zu lachen?" wollte Gibson wissen. Sierra versuchte sich zusammenzureißen. "Ach, nichts." Chloe und Gibson Wandten sich ab und widmeten sich wieder ihrer Arbeit. Und Sierra lächelte amüsiert vor sich hin, während sie die Haare des jungen Mädchens auskämmte. Palinkov hatte sich für die Konkurrenz entschieden.
Gibson konnte es kaum fassen. Das war doch unmöglich! Seine Vision war mit der Palinkovs identisch. Die Frauen, die er fotografierte - intelligent, mutig, schön - waren genau die, für die Palinkov seine Kollektion entwarf. Er hatte die Fotomappe entsprechend zusammengestellt. Gibson hatte Palinkovs Worte noch im Ohr, nachdem der Modedesigner längst aufgelegt hatte. "Tut mir Leid", hatte Palinkov bedauernd gesagt. "Ich dachte ... als Marie mir Ihre Arbeiten zeigte ... also, ich dachte, dass irgendwas fehlt. Sanftheit würden Sie es wohl nennen." "Sanftheit?" hatte Gibson erstaunt gefragt. "Was meinen Sie damit?" "Frauen verkörpern auch Sanftheit", erklärte Palinkov. "Sie sind fürsorglich, offen. Marie hatte zwei Fotos, auf denen das zum Ausdruck kam. Es waren wohl frühe Aufnahmen. Auf den Bildern, die Sie mir geschickt haben, habe ich diese Sanftheit leider nicht entdecken können." "Ich..." "Sind Ihre früheren Aufnahmen Ihnen unangenehm?" "Nein ... Ich weiß nicht. Ich dachte ..." Gibson wusste nicht, was er sagen sollte. Er wollte auch nicht über diese Fotos sprechen. "Haben Sie Angst vor Sanftheit?" "Selbstverständlich nicht." "Ich dachte, vielleicht ..." Palinkov verstummte. "Na ja, also vielleicht kennen Sie ..." "Ich kenne mich mit Frauen aus." "Ja, ja, natürlich. Ich dachte nur, vielleicht kennen Sie sich selbst nicht." "Wie bitte?" Gibson glaubte sich verhört zu haben. "Sie sind nicht verheiratet?" "Nein." Er wurde langsam wütend. "Aha." Was wollte Palinkov denn damit schon wieder andeuten?
"Die Ehe ist eine gute Lehrmeisterin." "Sie meinen, ein guter Fotograf muss verheiratet sein?" fragte Gibson ungläubig. "Nicht unbedingt. Aber für meine Kollektion ist es sehr wichtig." "Was hat die Ehe mit Ihrer Kollektion zu tun? Ihre Kleider sind farbenfroh und schlicht geschnitten. Ganz einfach. Man bekommt, was man sieht. Und genauso sind auch meine Aufnahmen." "Ganz recht. So ließen sich meine bisherigen Kollektionen beschreiben. Aber mein Stil hat sich geändert. Ich habe dazugelernt. Ich habe geheiratet. Ich bin weltoffener geworden. Meine Frau hat mir beigebracht, dass die Dinge nicht immer so einfach sind. Das Leben ist kompliziert, voller Facetten. Ich dachte, ich hätte es auf den Fotos gesehen, die Marie mir gezeigt hat. Aber ich habe mich wohl getäuscht." Palinkov seufzte. "Schade." Gibson biss die Zähne zusammen. "Der Fotograf für meine neue Kollektion muss nachvollziehen, was es bedeutet, Frau zu sein." Dann engagieren Sie doch eine Fotografin, hätte Gibson am liebsten geschrien. Doch dazu war er zu gut erzogen. "Er muss Frauen schätzen, ihnen vertrauen, sie lieben. Oder jedenfalls eine", erklärte Palinkov. "Tut mir wirklich Leid, Mr. Walker, dass wir nun doch nicht zusammenarbeiten können. Aber ich halte es wirklich für das Beste, wenn Finn MacCauley..." "Sagten Sie MacCauley?" Er, Gibson, war wie vom Donner gerührt gewesen. MacCauley hatte ihn, den berühmten Gibson Walker, aus dem Feld geschlagen? Ungeheuerlich! Finn MacCauley war sein schärfster Konkurrent, und er hatte ihm nun den Palinkov-Auftrag vor der Nase weggeschnappt. Es war einfach nicht zu fassen!
Erst einige Zeit nach diesem deprimierenden Telefongespräch erholte er sich von seinem Schock. Wütend bedachte er Palinkov und Finn mit allen Schimpfwörtern, die ihm einfielen, und ließ sich schließlich erschöpft aufs Sofa fallen. "Es ist alles ihre Schuld", sagte er schroff und meinte Chloe. Wenn er nicht ständig an Chloe Madsen hätte denken müssen und darüber so wütend gewesen wäre, hätte er ganz andere Fotos ausgesucht. Vielleicht hätte er sogar einige Aufnahmen von Catherine ausgewählt. Chloe hatte gesagt, sie hätten eine andere Vision ausgedrückt - Liebe, Wärme, Offenheit und Sanftheit. Nur weil ihm die Fotos inzwischen verlogen erschienen, musste es noch lange nicht bedeuten, dass sie schlecht waren. Ihm wurde bewusst, warum er die alten Fotos außer Acht gelassen hatte: gar nicht so sehr Catherines, sondern vielmehr Chloes wegen. Bei ihr musste er aufpassen, dass er nicht rückfällig wurde. Jahrelang hatte er eine unsichtbare Mauer um sich herum aufgebaut, die Chloe nun einzureißen drohte. Da er das nicht wahrhaben wollte und sie aus seinen Gedanken verbannen wollte, verbannte er gleichzeitig einen Teil seiner Arbeit. Und was war das Ergebnis? Palinkov war zur Konkurrenz gegangen! Verflixt! Und Chloe war an allem schuld. Sie brachte sein ganzes Leben durcheinander - sein Berufs- und sein Privatleben. Und die kurze Affäre mit Alana hatte auch nichts genützt. Okay, ich muss Chloe nach Iowa zurückschicken, dachte Gibson. Und wenn es für sie zu überraschend kam, wenn sie sich über ihre Zukunft noch nicht klar geworden war und noch nicht jedes Museum und jedes ausländische Restaurant in New York besucht hatte, dann war das ihr Pech. Aber es machte ihn einfach verrückt, sie jeden Tag um sich zu haben und ihre sexy
Figur und den Kussmund sehen zu müssen. Er hielt es nicht mehr aus und musste sie loswerden. Zwar hatte er Gina versprochen, Chloe nicht hinauszuwerfen, wenn er es auch am liebsten getan hätte, doch irgendetwas würde ihm schon einfallen, damit Chloe die Flinte ins Korn warf und nach Iowa entschwand. Aber was? Ganz einfach! Wieso war er nicht schon viel früher darauf gekommen? Er würde sich an sie heranmachen! Das würde ihr solche Angst einjagen, dass sie das erste Flugzeug zu ihrem Dave nehmen würde. Und er, Gibson, hätte auch noch seinen Spaß. Wie einfach die Lösung doch war. Und ein schlechtes Gewissen brauchte er auch nicht zu haben, denn schließlich spielte sie sowieso mit dem Feuer, weil sie ständig mit diesem Rhys Wolfe zusammen war. Wenn sie glaubte, gegen alle Männer außer Dave immun zu sein, dann würde sie sich noch wundern! Was seine Schwester sagen würde, wenn sie davon erfuhr, wollte er lieber nicht bedenken. Er wusste selbst, dass sein Verhalten alles andere als fair war. Pech für Chloe. Schließlich war er kein Heiliger, sondern ein Mann, dem es nur um seine Selbsterhaltung ging. "Dave vertraut dir, Kleines?" sagte Gibson leise vor sich hin. "Das werden wir ja sehen." "Wohin?" Chloe musterte Gibson misstrauisch. Sie hatte den ganzen Tag versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Am Wochenende hatte sie ausgiebig mit Dave telefoniert, um die bevorstehende Hochzeit zu planen und alles Mögliche zu besprechen. Solange sie mit Dave sprach, dachte sie wenigstens nicht an einen anderen Mann. Jedenfalls war sie sich am Montagmorgen sicher, dass sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle hatte. Und nun bat Gibson sie, ihn auf eine Party zu begleiten! "Warum?" fragte sie misstrauisch.
Unschuldig sah er sie an. "Warum nicht? Ich dachte, es würde dir Spaß machen, mal etwas anderes zu sehen. Bist du deswegen nicht nach New York gekommen? Wolltest du dich nicht unter den oberen Zehntausend umsehen und dich dann zufrieden mit dem, was du hast - nach Iowa zurückziehen?" Chloe hatte das Gefühl, herausgefordert zu werden. Doch Gibson wirkte ganz gelassen und freundlich. Er erweckte nicht den Eindruck, als hätte er Hintergedanken. "Er hat dich zu Marie Kemmerers Party eingeladen?" meinte Sierra verblüfft, als Chloe sie um Rat fragte. Chloe nickte. Sierra war beeindruckt. "So ein Großereignis darfst du dir nicht entgehen lassen." "Wieso Großereignis?" "Marie Kemmerer ist Gibsons Agentin. Sie ist berühmt für ihre Partys. Sie kennt Gott und die Welt. Und sie weiß genau, wen sie einladen muss, um Aufsehen zu erregen", fügte Sierra lachend hin. "Was denn für Aufsehen?" fragte Chloe besorgt. "Ach, Marie findet es wunderbar, wenn die Partygäste einander nicht grün sind und die Stimmung aufgeheizt ist. Sie weiß genau, wie sie das erreicht." "Warst du schon mal auf einer ihrer Partys?" Sierra schüttelte bedauernd den Kopf. "Leider nicht." In diesem Moment kam Gibson in den Empfangsbereich. "Lade Sierra ein", schlug Chloe vor. "Ich habe dich eingeladen." "Warum? Hat Alana keine Zeit?" Sie wusste selbst nicht, warum sie das gefragt hatte. Es klang so ... eifersüchtig. Gibson lächelte wissend. "Nein, sie ist diese Woche leider in Texas." "Geh mit", riet Sierra. "Du kannst mir dann alles erzählen." "Ich habe aber gar nichts Passendes anzuziehen."
"Du kannst gern in Jeans kommen", sagte er. "Marie ist das egal." "Kommt nicht in Frage!" "Irgendwas wirst du schon finden. Sierra kann dich beraten." "Ja, gern. Komm schon, Chloe. Es wird bestimmt sehr lustig." Chloe hatte Zweifel. "Dann hast du Dave etwas zu erzählen." Sierra sah sie aufmunternd an. "Er wird bestimmt beeindruckt sein." Wohl kaum. Ihm ging das Familienleben über alles. Aus gesellschaftlichen Veranstaltungen machte er sich überhaupt nichts. Aber sie, Chloe. Sie wollte sich gern einmal unter der New Yorker High Society umsehen. Es war eine Herausforderung. Und vielleicht würde sie ihren Weg dadurch klarer sehen. Chloe dachte an ihr Gespräch mit der Äbtissin. Die heilige Schwester Carmela wäre bestimmt zu Marie Kemmerers Party gegangen. "Also gut", sagte Chloe schließlich. "Danke für die Einladung." Gibson war zufrieden. Und als Gina ihn am Mittwochabend anrief, lobte sie ihn sogar, weil er so großzügig gewesen wäre und Chloe eingeladen hätte. "Du bist wirklich ein lieber Kerl, Gibson", sagte sie, als er es ihr erzählte. "Klar, war ich schon immer", antwortete er verlegen und verdrängte die plötzlichen Gewissensbisse. Nur er selbst wusste, dass seine Beweggründe alles andere als "lieb" waren.
6. KAPITEL "Es war ein Fehler, die Einladung anzunehmen", hatte sie, Chloe, bestimmt schon zum tausendsten Mal gesagt, seit Gibson sie gebeten hatte, sie zu Marie Kemmerers Party am Samstagabend zu begleiten. "Unsinn. Du gehst da jetzt hin." Sierra hatte den Kopf geschüttelt. "So eine Chance bekommst du nie wieder. Das darfst du dir nicht entgehen lassen. Und in dem Kleid wirst du der Star des Abends sein. Es ist ein fantastisches Kleid." Da hatte sie, Chloe, ihr allerdings zustimmen müssen. Das Modell wirkte, als käme es direkt von einem Pariser Laufsteg, und genau daher stammte es auch. "Delia hat es vergangenen Herbst bei einer der Pariser Modenschauen vorgeführt", hatte Sierra erzählt. "Der Designer hatte Kleinigkeiten daran auszusetzen und hat es ihr geschenkt." Inzwischen war Delia schwanger und hatte das Kleid ihr, Chloe, geschenkt, nachdem ihre Freundin Sierra sie darum gebeten hatte. "Gern", hatte sie gesagt. "Ich werde sowieso nie wieder hineinpassen." Chloe hatte zuerst auch befürchtet, das Kleid würde ihr zu eng sein. "Ich habe keine Mannequinfigur", hatte sie protestiert, als Sierra ihr das Kleid gebracht hatte. Doch Sierra hatte darauf bestanden, dass sie es wenigstens anprobierte. "Ich kann es für dich ändern, Chloe." "Aber Delia..."
"Delia will es nicht wiederhaben. Rot ist sowieso keine Farbe für sie." Das Kleid war tatsächlich von einem sehr ausdrucksvollen Rot, das nur von winzigen gelben Blumen abgemildert wurde. "Ich trage aber kein Rot", protestierte Chloe noch, als Sierra ihr das Kleid bereits über den Kopf zog. Es saß wie eine zweite Haut. Erst von der Hüfte an war es etwas ausgestellt. Sierra betrachtete sie bewundernd. "Und ob du Rot trägst." "So kann ich doch nicht losgehen! Man sieht ja jede Kurve. Das ist zu gewagt." "Überhaupt nicht. Außerdem hat Gibson dich schon in viel gewagterer Aufmachung gesehen." Chloe wusste sofort, worauf Sierra anspielte, und errötete. "Mag sein, aber die anderen Gäste ..." "Ich kann die Naht etwas auslassen", hatte Sierra versprochen. "Sieh doch mal in den Spiegel. Pass auf, so. Jetzt sitzt es nicht mehr wie eine zweite Haut, sondern umschmeichelt deine Figur. So ist es besser. Einfach atemberaubend!" "Aber ich..." "Gib dir einen Ruck, Chloe. Du weißt doch selbst, wie fantastisch du in diesem Outfit aussiehst. Natürlich ist das sonst nicht dein Stil, aber die Party ist ja auch etwas Besonderes, und da solltest du dich eben entsprechend kleiden. Alana würde das auch tun." Alana! Chloe wollte nicht zugeben, dass die Erwähnung dieses Namens schließlich den Ausschlag gegeben hatte. Das Kleid stand ihr wirklich ausgezeichnet. Es betonte ihre weiblichen Kurven. "Okay, ich ziehe es an", hatte sie schließlich gesagt. "Prima. Wenn du möchtest, frisiere ich dich am frühen Samstagabend", hatte Sierra versprochen. "Nachmittags kümmere ich mich um Izzys Haar." "Wer ist Izzy?"
"Finn MacCauleys Frau. Finn ist ein Konkurrent von Gibson. Die besten Jobs werden an diese beiden Spitzenfotografen vergeben. Und Izzy ist Polizistin und hat ihm vor zwei Jahren seine Nichten nach New York gebracht. Er hat sie direkt abgeworben und sie gebeten, sich um die kleinen Mädchen zu kümmern. Bald darauf haben Finn und Izzy geheiratet. Inzwischen haben sie einen kleinen Sohn, und Izzy ist wieder schwanger. Ich konnte mir Finn nie als Familienvater vorstellen, aber er scheint sich in der Rolle zu gefallen. Na ja, du wirst die beiden sicher auf der Party kennenlernen." "Das wäre nett", hatte Chloe höflich gesagt. "Klar. Du wirst froh sein, Verstärkung zu haben." Sierra hatte gelacht. "Ich bin gegen sechs Uhr bei dir, um dich zu frisieren." Als Sierra, wie versprochen, am Samstagabend bei ihr auftauchte, wurde Chloe von neuen Zweifeln geplagt. "Soll ich wirklich auf diese Party gehen?" fragte sie Sierra besorgt. "Klar. Setz dich vor den Spiegel." "Aber..." "Setz dich! Du gehst hin! Wir haben das Kleid, und gleich hast du auch die passende Frisur. Wie willst du Dave denn von dem Ereignis des Jahres erzählen, wenn du nicht hingehst?" "Ach, Dave ist das sowieso egal." "Er wird sich aber bestimmt fragen, warum du nach New York gegangen bist und dir dann die Party schlechthin entgehen lässt." Natürlich hatte Sierra Recht, keine Frage. Chloe atmete tief durch und setzte sich ergeben vor den Spiegel, damit Sierra mit der Arbeit beginnen konnte. Chloe selbst konnte nicht viel mit ihrem Haar anfangen. Es war wellig und ziemlich widerspenstig. Doch Sierra war eine Meisterin in ihrem Beruf. Sie brachte ihre Haare mit dem Lockenstab in Form, kämmte sie und bauschte sie auf, bevor sie einen Reif hindurchzog, der mit Brillanten besetzt zu sein
schien. Dann knetete sie einzelne Locken von unten nach oben und ließ sie locker über die Ohren fallen. "Sehr, sehr sexy", kommentierte sie ihre Arbeit schließlich zufrieden und bewunderte Chloes Spiegelbild. "Wie es Gibson wohl gefallen wird." "Er wird es nicht einmal bemerken", versicherte Chloe. "Wollen wir wetten?" Zum Glück ließ sie, Chloe, sich nicht auf eine Wette ein. Die wäre sie nämlich teuer zu stehen gekommen. Eine halbe Stunde später stand Gibson an der Tür und betrachtete sie fassungslos. Sie sah ihn besorgt an. "Geht es dir nicht gut?" Er räusperte sich, machte die Augen zu und öffnete sie wieder. "Doch, doch", behauptete er schließlich heiser und befeuchtete sich die Lippen. "Mir geht es prima", fügte er dann hinzu. "Wie sehe ich aus?" fragte sie, da sie fürchtete, sie könnte für eine hawaiische Nacht doch das verkehrte Outfit tragen. In Collierville hätten Kränze aus Papierblumen dazugehört und bunte Schirmchen in den Cocktailgläsern. Gibson schluckte. "Du siehst erstaunlich aus." Chloe errötete. "Es ist zu eng, oder?" "Nein." Wieder räusperte er sich. "Überhaupt nicht. Es ist einfach atemberaubend." Er atmete tief durch. "Ich werde sie alle in die Flucht schlagen müssen." Sie schüttelte verwirrt den Kopf. "Sei nicht albern! Es ist nur anders als das, was ich sonst trage." "Das kannst du laut sagen." "Ich kann mich noch schnell umziehen." "Kommt nicht in Frage", sagte Sierra hinter ihr. "Ist es nicht einfach perfekt, Gibson?" "Sehr nett. Woher hast du das Kleid?" fragte er Sierra, denn dass sie, Chloe, es nicht selbst gekauft hatte, stand für ihn außer Frage.
"Von Delia. Humberto hat es ihr nach der Modenschau in Paris geschenkt. Er fand, es wäre das perfekte Kleid für sie. Offensichtlich hat er Chloe nicht darin gesehen." "Nein." Chloe überlegte, was das zu bedeuten hatte. Missbilligend hatte es jedenfalls nicht geklungen. Aber wieso wirkte Gibson so schockiert? Seine Aufmachung gefiel ihr jedenfalls. Sonst trug er meistens Jeans und ein weißes Hemd, heute Abend war er ganz in Schwarz gekleidet. Schwarz und Rot passen eigentlich gut zusammen, dachte Chloe und lächelte verstohlen. "Was ist denn so lustig?" fragte Gibson sofort. "Ach, nichts." Sie befeuchtete sich nervös die Lippen. "Mir ist nur gerade etwas eingefallen." "Aha. Bist du dann so weit?" Chloe sah Sierra fragend an. "Bin ich so weit?" Sierra lachte. "Allerdings bist du das." "Dann mal los. Wir nehmen ein Taxi", sagte Gibson. Chloe nahm die kleine Abendhandtasche, die Sierra ihr geliehen hatte, und folgte Gibson nach draußen. Als sie an Rhys Wolfes Wohnungstür vorbeikamen, ging die Tür auf. "Hallo, Chlo...eee." Rhys sah sie genauso verblüfft an, wie Gibson es wenige Minuten zuvor getan hatte. "Wahnsinn", sagte er schließlich und lächelte. "Das reinste Dynamit." Dieser Kommentar missfiel Gibson so sehr, dass er sie zur Eile antrieb. "Wir kommen noch zu spät. Entschuldigen Sie uns." "Hast du nicht gesagt, die Party fängt erst um neun an?" fragte Chloe, als sie im Taxi saßen. Gibson überhörte die Frage geflissentlich. Schweigend ließen sie sich zu der Adresse fahren, die er dem Fahrer gegeben hatte. Was Gibson wohl denkt? überlegte Chloe und sah kurze Zeit später aus dem Fenster, als das Taxi hielt. Weit und breit nur sechs- und achtstöckige Lagerhäuser. Hatte er sich auch nicht in
der Adresse geirrt? Doch er bezahlte den Fahrer und half ihr beim Aussteigen. Hinter ihnen wurde eine Tür geöffnet, und ein mit einem grellen Hawaiihemd und weißen Jeans bekleideter Mann bat sie ins Haus. Der Eingang war nur von zwei nackten Glühbirnen beleuchtet, und die teilweise zersprungenen Bodenfliesen machten keinen sehr sauberen Eindruck. Als Gibson sie zu der Party eingeladen hatte, hatte Chloe sich vorgestellt, es wäre wie bei ihren Eltern. Man lud einige Freunde ein, aß zusammen und unterhielt sich angeregt. Sie hätte niemals gedacht, dass sie in einem alten Lagerhaus landen würde. Als Gibson ihr die schwere Stahltür eines Frachtaufzugs aufhielt, wurde sie nervös. "Bist du sicher, dass ...?" "Steig ein." Er half ihr in den Lift. "Aber..." Gibson lächelte amüsiert. Unwillkürlich fragte sie sich, ob er sie an der Nase herumführte und es in Wirklichkeit gar keine Party gab. Chloe wollte gerade sagen, dass sie wieder nach Hause wollte, als die Aufzugtür aufgerissen wurde und ein halbes Dutzend Leute einstiegen. Die Frauen trugen farbenfrohe Kleider, die Männer schreiend bunte Hawaiihemden und Hosen. Jetzt war Chloe froh, dass sie nichts gesagt hatte. Offensichtlich fand doch eine Party statt. Einer der Männer drückte auf den Knopf für den obersten Stock, und der Aufzug begann sich quietschend und ruckend nach oben zu bewegen. Vom Dachgeschoss erklang Musik. Kurz darauf hielt der Aufzug, und sie stiegen alle aus. Chloe blickte sich fasziniert um. Sie hatte den Eindruck, dass sie auf Hawaii war. Den Diamond Head hätte sie überall erkannt. Und das war der Diamond Head im Hintergrund. Davor spielte ein Quartett, das aus einem Hawaiigitarristen, einem Schlagzeuger,
einem Ukulelespieler und einem weiteren Gitarristen bestand. Die Melodie kam Chloe bekannt vor. Ihre Großmutter hatte früher gern die Platten von Don Ho gehört. Nicht nur der Diamond Head befand sich mitten in New York, sondern auch ein feiner Sandstrand. Chloe staunte. Sie hatte einen Frachtaufzug zum Strand genommen! Gibson lächelte über ihren verblüfften Gesichtsausdruck. "Komm", sagte er und ging vor. Chloe atmete tief durch und folgte ihm zögernd. Ein nur mit weiten bunten Shorts bekleideter Kellner bot ihr einen Drink an, in dem ein kleiner Papiersonnenschirm und ein Sektquirl steckten. "Was ist das?" fragte sie misstrauisch. "Ein Mai-tai." Der Kellner lächelte. "Ein wunderschöner Drink für eine wunderschöne Lady." Chloe sah Gibson Hilfe suchend an. Doch der erwiderte nur ungerührt ihren Blick. Offensichtlich war er gespannt, wie sie sich verhalten würde - das unschuldige Mädchen aus Iowa! Eigentlich kann es mir auch egal sein, was er denkt, überlegte Chloe. Schließlich bin ich nicht mit ihm verlobt. Andererseits wollte sie ihn aber auch nicht blamieren, denn immerhin hatte er sie zu dieser Party eingeladen. Neugierig sah sie sich um. Alle anderen Gäste schienen ein Glas in der Hand zu halten. Also nahm auch sie sich beherzt einen Drink. Wenn sie ihn langsam trinken würde, würde ihr der Alkohol schon nicht zu Kopf steigen. "Danke", sagte sie zu dem Kellner und trank einen kleinen Schluck. Das Getränk war gut gekühlt, schmeckte nach Früchten und war einfach köstlich. Sie lächelte Gibson zu, der ihr Lächeln zwar erwiderte, aber einen etwas besorgten Eindruck machte. "Schmeckt wunderbar", erklärte sie. "Der beste Mai-tai, den ich je probiert habe." Und der einzige, aber das brauchte Gibson ja nicht unbedingt zu wissen. "Trink ihn aber nicht so hastig", warnte er sie.
"Keine Sorge", antwortete sie. Obwohl es sie ärgerte, dass er sie bevormundete, ließ sie sich nichts anmerken. Aufgeregt deutete sie mit dem Glas in der Hand auf die künstliche Landschaft, von der sie umgeben waren, und hätte einer anderen Frau dabei fast das Getränk über das Kleid geschüttet. "Oh, Entschuldigung." "Ich hole dir etwas zu essen", sagte Gibson. "Du solltest nicht zu viel von dem Zeug auf leeren Magen trinken." "Das tue ich schon nicht." "Bleib hier. Ich bin gleich wieder da." Chloe nickte gehorsam. "Okay." Als sie seine besorgte Miene bemerkte, lächelte sie beruhigend. "Mach dir keine Gedanken, es ist alles in Ordnung. Nun geh schon." Sie spielte mit dem kleinen Papiersonnenschirm in ihrem Glas. Als Gibson endlich in Richtung Büfett verschwunden war, sah sie sich in Ruhe um. Vor der hawaiischen Dekoration spielte die Combo, und etwa ein halbes Dutzend Paare tanzte zu den beliebten Melodien im Sand. Am anderen Ende des riesigen Raums entdeckte Chloe Surfer, die auf hohen Wellen ritten. "Wie, um alles in der Welt...?" "Na, Kleine, willst du es mal mit einem Großen versuchen?" Ein Muskelprotz hatte sich neben ihr aufgebaut. Als Chloe sich überrascht umdrehte, zwinkerte er ihr anzüglich zu und drängte sich unmissverständlich an sie. Sie umklammerte ihr Glas. "Danke, aber ich warte auf jemanden", antwortete sie und lächelte höflich, aber ablehnend, wie ihre Mutter es ihr vor Jahren beigebracht hatte. Das schien zu wirken, denn der Mann wandte sich sofort ab und versuchte sein Glück bei dem nächsten Mädchen, das offensichtlich weniger ablehnend reagierte. Da Chloe die Unterhaltung nicht mit anhören wollte, ging sie zu den Surfern. Als sie sich ihnen näherte, konnte sie erkennen, dass es ein Video war. Der Film wurde direkt auf die Wand projiziert und wirkte sehr realistisch.
Fasziniert beobachtete Chloe das Geschehen. Die Leute lachten, unterhielten sich, flirteten. Jeder schien sich von dieser Party etwas zu versprechen. "Hier." Gibson gesellte sich wieder zu ihr und gab ihr einen Teller, wobei er unauffällig prüfte, wie viel sie schon getrunken hatte. Er war offenbar beruhigt. "Wie findest du es hier?" fragte er, nachdem er einen Appetithappen verspeist hatte. "Mit Collierville ist es nicht zu vergleichen", antwortete sie über den Lärm hinweg. "Hier tragen mehr Leute Nasenringe als Ohrringe." "Gibson! Liebling!" Eine kleine Frau mit silbergrauem Haar, die mit einem Kaftan bekleidet war, stürmte auf Gibson zu, gab ihm Luftküsse und hakte sich bei ihm ein. "Ich bin so froh, dich hier zu sehen. Ich hatte nämlich befürchtet, du könntest schmollen." Schmollen? Chloe sah ihn an und bemerkte, dass er sich für die temperamentvolle Frau ein Lächeln abrang. "Ich schmolle nie, Marie", behauptete er. "Das weißt du doch. Geschäft ist Geschäft." "Natürlich, mein Lieber, aber ich konnte es nicht fassen, dass Palinkov dich nicht haben wollte." Chloe horchte auf. War das nicht der Modedesigner, für den sie die Fotomappe zusammengestellt hatten? Sie sah Gibson an. "Na ja, wie ich sehe, hast du dir ja jemanden zum Trösten mitgebracht." Marie lachte und ließ den Blick über Chloe gleiten. "Willst du sie mir nicht vorstellen, Gibson?" "Das ist meine Assistentin", erklärte Gibson schroff. "Chloe Madsen. Marie Kemmerer." Das war Marie? Nach deren Pfeife jeder tanzte? Gibsons Agentin? Die Gastgeberin? "Deine Assistentin?" Marie lachte amüsiert. "Du nimmst mich auf den Arm, Gibson." Sie zwinkerte ihm wissend zu. "Ich weiß doch, wie deine Assistentinnen aussehen. Mir brauchst du nichts vorzumachen, ich kenne dich zu gut."
"Sie ist wirklich meine Assistentin." "Das stimmt, Miss Kemmerer." Chloe reichte ihrer Gastgeberin die Hand. "Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Vielen Dank, dass Gibson mich mitbringen durfte." Marie Kemmerer winkte ab. "Gibson tut sowieso, was er will." Sie schüttelte Chloe die Hand. "Freut mich, Sie bei mir zu sehen, meine Liebe." Marie wandte sich wieder Gibson zu. "Du musst dich mit Palinkov unterhalten, damit er sich ein besseres Bild von dir machen kann. Zeig ihm, dass du ihm nicht böse bist. Komm, er steht da hinten unter einer Palme." Sie wollte Gibson mit sich ziehen. "Chloe..." Marie hielt einen gut aussehenden jungen Mann an, der gerade vorbeikam. "Horton wird sich um Chloe kümmern", sagte sie in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. "Nicht wahr, Horton?" Der weißblonde Horton hatte wässrig-blaue Augen und machte keinen sehr intelligenten Eindruck. Er lächelte lässig. "Darauf kannst du dich verlassen." Gibson schien sich unschlüssig zu sein, ob er sie, Chloe, wirklich der Obhut dieses sexy Jungen überlassen sollte. Da sie ihm keinesfalls zur Last fallen wollte, lächelte sie strahlend und sagte fröhlich: "Viel Spaß." "Dir auch", erwiderte Gibson und verschwand mit Marie in der Menge. "Wollen wir tanzen?" fragte Horton. "Warum nicht?" Chloe rang sich ein höfliches Lächeln ab. Chloe war erwachsen und konnte selbst auf sich aufpassen. Es war nicht seine Aufgabe, sie zu beschützen. Im Gegenteil. Sie sollte sich so blamieren, dass sie fluchtartig nach Iowa zurückkehren würde. Und warum verrenkte er, Gibson, sich dann den Hals und hielt ständig Ausschau nach ihr, statt sich auf Gespräche mit wichtigen Leuten zu konzentrieren?
Er hatte sich mit Palinkov ausgesprochen, dessen Frau die Hand geküsst und ihm versichert, er würde Finn MacCauleys Arbeit mit Spannung entgegensehen. Dann hatte er sich ein Lächeln abgerungen und sich verabschiedet, um Chloe zu suchen. Doch er konnte sie nirgends finden. Er hatte gehört, dass dieser Morton, oder wie der blonde Schönling hieß, sie zum Tanzen aufgefordert hatte. Aber wo steckte die atemberaubend schöne Chloe in dem knallroten Kleid nur? "Gibson! Ich wollte dich schon vor einer Ewigkeit anrufen." Es war Steve. Er arbeitete für die Agentur und hatte sich einige Zeit nicht blicken lassen. Sie unterhielten sich über die Arbeit, über Football und lachten über Anekdoten, die sie sich gegenseitig erzählten. Zwei Models, mit denen sie schon oft gearbeitet hatten, gesellten sich zu ihnen und begannen eifrig mit ihnen zu flirten. Gibson lächelte und tat, als ginge er darauf ein, obwohl er in Wirklichkeit die ganze Zeit nach dem roten Kleid und dem blonden Lockenkopf Ausschau hielt. Vergeblich. Egal, dachte er. Ich wollte ja, dass sie hier den Boden unter den Füßen verliert. Und trotzdem machte er sich Gedanken um sie. "Sieh mal, wen ich hier habe, Gibson!" rief Marie und zog ihn mit sich. "Eine alte Bekannte von dir. Ich habe sie gestern bei Dumont getroffen." Sie drehte ihn um, und er sah sich der Frau gegenüber, die er am liebsten nie wieder gesehen hätte. "Du erinnerst dich doch an Catherine Neale, Gibson?" fragte Marie. Catherine Neale. Er war ihr seit acht, möglicherweise sogar zehn Jahren nicht mehr begegnet. Sie war immer noch sehr schön, vielleicht etwas reifer, aber völlig faltenlos. Das lange schwarze Haar, in das er so gern die Hände geschoben hatte, trug sie nicht mehr offen, sondern in einem raffinierten Knoten. Die Frisur betonte ihren schönen langen Hals.
"Hallo, Gibson", sagte Catherine mit ihrer leicht rauchigen Stimme, die er so gut kannte, und reichte ihm die Hand. "Wie schön, dich nach so vielen Jahren wieder zu sehen." "Ja." Er schüttelte ihr die Hand, wie es sich für einen zivilisierten Menschen gehörte. "Du siehst gut aus." Sie lächelte. "Du auch." "Findest du das nicht etwas untertrieben, Gibson?" fragte Marie pikiert. "Aus ihr ist eine Schönheit geworden. Du solltest stolz sein, denn immerhin hast du sie entdeckt." Catherine nickte lächelnd. "Ja, ich habe dir einiges zu verdanken, Gibson." "War mir ein Vergnügen." Gibson entzog ihr die Hand und schob sie in die Hosentasche. "Ich lasse euch jetzt allein. Ihr habt euch sicher viel zu erzählen." Marie lächelte herzlich und rief: "Hallo, Eita." Er rechnete damit, dass Catherine nach einigen belanglosen Bemerkungen das Weite suchen würde, doch sie sah ihn besorgt an und sagte: "Ich wollte dir damals wirklich nicht wehtun, Gibson." Sie legte ihm behutsam eine Hand auf den Arm. Gibson sah auf und bemerkte, dass Marie, die sich mit Eita unterhielt, ihn und Catherine nicht aus den Augen ließ. Wahrscheinlich wartete sie nur darauf, dass es zwischen ihnen krachte. Den Triumph gönnte er ihr nicht. Er umfasste Catherines Hand und sagte betont höflich: "Das hast du auch nicht." Catherine blinzelte. "Aber ich dachte ..." "Es war nett, dich wieder zu sehen. Bitte entschuldige mich jetzt, Catherine. Ich muss mal sehen, wo meine Begleiterin geblieben ist." Chloe hatte Gibson vor Stunden aus den Augen verloren. Horten und sie hatten getanzt, zuerst ganz ruhig, doch dann hatte Horten sie herumgewirbelt, als wäre er Fred Astaire und sie Ginger Rogers. Jedenfalls hatten die anderen Partygäste einen
Blick auf ihren Slip erhaschen können, und sie war so verlegen, dass sie schnell in die Damentoilette geflüchtet war. Als sie schließlich zurückkam, war Horten glücklicherweise verschwunden, und Gibson war leider nirgends zu sehen. Sie hätte sich gern mit ihm über die Party und die anderen Gäste unterhalten. Allein kam sie sich ziemlich verloren vor. Da sie Durst hatte, ging sie zur Bar und bestellte sich Soda mit Grenadine. "Bitte, Herzchen." Der Barmixer reichte ihr lächelnd das Glas. Chloe zog sich in eine Ecke zurück und versuchte den vielen aufdringlichen Männern aus dem Weg zu gehen, die sich an sie heranmachen wollten. Die meisten verloren schnell das Interesse, wenn sie merkten, dass sie weder Model noch Modedesignerin war. Aber einige waren hartnäckig und schlugen ihr sogar vor, mit zu ihnen kommen, um dort weiterzufeiern. Sie lehnte höflich, aber bestimmt ab und flüchtete sich auf die Dachterrasse. Dort war es zwar schwül, aber Immerhin nicht so voll. Sie atmete tief durch und betrachtete New York bei Nacht. "Sind Sie auch geflohen?" Chloe drehte sich um. Eine kleine Frau in einem sackartigen bunten Kleid lächelte ihr schalkhaft zu. Als Model arbeitet sie jedenfalls nicht, dachte Chloe. "Versuchen Sie mich in eine Schublade zu stecken?" Die Frau lachte amüsiert. "Geben Sie sich keine Mühe, ich passe nirgends hinein. Ich bin Izzy." Sie reichte ihr die Hand. "Izzy?" "Ja. Und Sie müssen Chloe sein. Sierra hat mir von Ihnen und dem Kleid erzählt. Daran habe ich Sie erkannt." "Stimmt. Ich bin Chloe Madsen und arbeite bei Gibson Walker. Sierra hat mich heute Abend frisiert."
Izzy nickte. "Das Kleid ist wirklich eine Sensation. Sierra hat nicht zu viel versprochen. Sie hat mich auch gebeten, mich Ihrer ein wenig anzunehmen." "Das ist nett. Ich fühle mich hier irgendwie fehl am Platz." "Ich auch, Chloe. Aber Finn muss sich ab und zu auf diesen Partys blicken lassen. Ihm macht es auch keinen Spaß, aber heute Abend gab es kein Entkommen. Er unterhält sich gerade mit einem Modedesigner, der ihm einen Großauftrag gegeben hat." Izzy drehte sich um und blickte in Richtung Treppe. "Ach, da ist er ja." Ein schlanker, dunkelhaariger, gut aussehender Mann kam lächelnd auf sie zu. "Das ist mein Mann Finn. Finn, das ist Chloe Madsen. Sie arbeitet für Gibson." Finn zog die dunklen Augenbrauen hoch. "Ach, Sie sind eins von Gibsons Mädchen für alles?" "Ja. Aber nur diesen Sommer über. Eigentlich bin ich eine Kollegin seiner Schwester in Collierville." Finn und Izzy musterten sie verblüfft. "Collierville?" "Iowa." Sie sahen einander an. "Gibson stammt aus Iowa?" fragte Izzy. "Das wussten wir gar nicht. Wir haben eine Freundin in Dubuque. Sie heißt Josie Fletcher." "Das ist nur etwa eine Stunde von Collierville entfernt", sagte Chloe. "Wir waren letztes Jahr da. Finn hat Aufnahmen von der Pension gemacht, die Josie und Sam geführt haben." Izzy und Finn erzählten, dass ihre Freunde inzwischen nach New York gezogen seien, aber mehrmals im Jahr nach Dubuque fliegen würden. "Uns hat es dort sehr gut gefallen", sagte Izzy. "Ich würde jederzeit gern wieder Urlaub in Iowa machen." "Besonders das Angeln bringt dort viel Spaß", meinte Finn. "Vielleicht kaufen wir uns ein Haus in Iowa. Man kann sich dort herrlich entspannen."
"Den Mädchen hat es auch gefallen." Izzy erzählte Chloe von ihren Nichten Pansy und Tansy. Als Chloe sich verwundert über die Namen äußerte, erklärte Finn: "Meine Schwester hatte manchmal merkwürdige Einfälle. Aber die Kinder sind eigentlich ganz vernünftig. Bei den Namen müssen sie das wohl auch sein." Chloe erzählte von Collierville, und Izzy verlieh wieder ihrer Überraschung Ausdruck, dass auch Gibson aus dieser Stadt in Iowa stammte. "Hast du das gewusst?" fragte sie ihren Mann. "Nein, Gibson und ich unterhalten uns nicht über private Dinge." "Ich schon. Allerdings macht er um sein Privatleben tatsächlich ein großes Geheimnis", bemerkte Izzy nachdenklich. "Wenn es nach dir ginge, würdest du die Leute ausfragen, bis sie dir alles über sich verraten haben." Finn lächelte ihr zärtlich zu. "Ich interessiere mich eben für meine Mitmenschen." Chloe mochte die beiden. Sie waren sympathisch, und man konnte sich gut mit ihnen unterhalten. In ihrer Gesellschaft fühlte sie sich wohl. Interessiert erkundigte sie sich nach den beiden Nichten und nach dem kleinen Sohn, der gerade ein Jahr alt geworden war. "Er heißt Gordon", erzählte Izzy. "Nach meinem Großvater, bei dem ich aufgewachsen bin. Aber wir nennen ihn nur Rip." "Ja, und das nicht ohne Grund", sagte Finn trocken und lächelte. Chloe lachte. Finn besorgte ihnen frische Getränke und holte Stühle, die er mit der Rückenlehne zur Treppe an die Balkonbrüstung stellte. Es war ein leichter Wind aufgekommen, dadurch war es nicht mehr ganz so schwül auf der Dachterrasse. Chloe strich sich das Haar aus dem Gesicht und wandte sich um. An der Treppe stand Gibson und ließ suchend den Blick über die Terrasse gleiten.
Wen sucht er denn? überlegte sie. Und dann hatte er sie entdeckt und kam auf sie zu. Chloe sprang auf. "Hallo, Gibson." Als er bemerkte, in wessen Gesellschaft sie sich befand, verfinsterte seine Miene sich. Höflich nickte er Izzy dann zu, bevor er sich Finn zuwandte. "Guten Abend, MacCauley." "Hallo, Walker." "Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?" fragte Izzy einladend. "Finn kann noch einen Stuhl holen." Finn machte keinen sehr begeisterten Eindruck, und Gibson schüttelte ablehnend den Kopf. "Nein, danke, ich wollte nur Chloe holen." Er zog Chloe mit sich. "Aber..." "Komm schon", sagte Gibson leise. Chloe sah sich um und winkte Finn und Izzy zu. "Vielleicht sehen wir uns bald mal wieder." "Ganz bestimmt", versprach Izzy. "Warum hast du es denn so eilig?" fragte Chloe pikiert, als Gibson sie die Treppe hinunterbegleitete. "Es ist ja wohl nicht nötig, dass du dich mit dem Feind abgibst", sagte er barsch. "Feind? Finn und Izzy?" "Genau. Er hat mir den Job weggeschnappt." "Welchen Job?" Ihr fiel ein, dass Sierra erwähnt hatte, Finn und Gibson wären Konkurrenten. "Palinkov." Chloe blieb stehen. "Du hast den Palinkov-Auftrag nicht erhalten?" "Nein." Sie dachte, Gibson würde ihr die Gründe nennen, doch er sah schweigend an ihr vorbei. Jetzt fiel ihr ein, dass sie ihn überhaupt nicht gefragt hatte, welche Fotos er nach ihrem Streit
schließlich vorgelegt hatte. Dies war dafür jedenfalls nicht der richtige Zeitpunkt. Chloe legte Gibson tröstend eine Hand auf den Arm. "Das tut mir Leid." Er schüttelte sie ab. "Spar dir dein Mitleid." "Der Job war dir so wichtig." "Natürlich! Der Auftrag wäre die absolute Krönung gewesen." "Und deshalb tut es mir Leid, dass du ihn nicht bekommen hast. Ich würde zu gern wissen, was für Arbeiten Finn eingereicht hat. Sie müssen unglaublich gut sein, wenn er dich damit aus dem Feld geschlagen hat." Gibson zuckte die Schultern. "Das ist Ansichtssache. Wahrscheinlich hat er eine andere Vision." Er verzog das Gesicht. Wieder berührte Chloe seinen Arm. Sie wollte, dass Gibson sie ansah. Als er es schließlich tat, sagte sie leise: "Deine Vision ist fantastisch, Gibson." Es lag nicht in ihrer Absicht, sich bei ihm einzuschmeicheln, sie hatte lediglich gesagt, was sie dachte. Sie bewunderte seine Arbeit, seine Vision, und das sollte er ruhig wissen. Sie hatte nicht erwartet, dass er sie küssen würde - jedenfalls nicht so! Er, Gibson, hatte eigentlich nicht beabsichtigt, Chloe zu küssen. Nicht so. Es war kein sanfter, zärtlicher Kuss, bei dem er ihre süßen Lippen nur leicht berührte. Nein, der Kuss war fordernd und leidenschaftlich. Er, Gibson, küsste gern. Aber er hatte sich vorgenommen, nur noch Frauen zu küssen, die ihm nichts bedeuteten. Und Chloe bedeutete ihm viel zu viel. Der Kuss hatte sie offenbar völlig aus dem Gleichgewicht gebracht. Ihn, Gibson auch. Dieser Kuss hatte Dämme eingerissen und hätte niemals geschehen dürfen.
Sie sahen einander lange an, nachdem Gibson sich von Chloe gelöst hatte. Schließlich räusperte er sich. "Ich glaube, ich sollte dich jetzt lieber nach Hause bringen", sagte er rau.
7. KAPITEL Gibson brachte sie im Taxi nach Hause. Angestrengt sahen sie beide aus dem Fenster und hingen ihren Gedanken nach. Zu dieser Zeit herrschte kaum Verkehr in Richtung Norden. Trotzdem hatte Chloe das Gefühl, die Fahrt würde nur im Schneckentempo verlaufen. Geistesabwesend blickte sie hinaus auf die hellen Lichter der Metropole, die im Gegensatz zu sonst keinerlei Faszination auf sie ausübten. Sowie das Taxi vor Mariahs Haus angehalten hatte, stieß Chloe die Tür auf und stieg aus. Entsetzt musste sie feststellen, dass auch Gibson ausgestiegen war. "Alles in Ordnung", behauptete sie, ohne ihn anzusehen, und versuchte, schnell die Haustür aufzuschließen. Da ihre Hände zitterten, gelang es ihr jedoch nicht. "Du brauchst mich wirklich nicht nach oben zu bringen." "Das ist das Mindeste, was ich tun kann." Diese Höflichkeitsfloskel hatte ihr gerade noch zu ihrem Glück gefehlt. Als Chloe sich weiter abmühte, nahm Gibson ihr den Schlüssel ab, öffnete die Tür und hielt sie ihr auf. Chloe wandte sich um und sagte heiser: "Vielen Dank für den netten Abend." Sie hoffte, Gibson würde nun begreifen, dass sie allein sein wollte. Doch er überging ihre Bemerkung einfach und folgte ihr ins Haus. "Ich bringe dich noch hinauf."
Hätte sie protestiert, wäre alles nur noch schlimmer geworden. Also schwieg sie und ging so schnell wie möglich die Treppe hinauf. Die Tür zu Mariahs Wohnung ließ sich glücklicherweise problemlos auf schließen. Und Chloe stellte erleichtert fest, dass Sierra, die noch auf den Klempner gewartet hatte, bereits fort war. Es wäre ihr sehr schwer gefallen, sich nach diesem Abend noch mit irgendjemandem unbeschwert zu unterhalten. Sie wandte sich zu Gibson um und sagte entschlossen: "Danke." Ein Lächeln wäre vielleicht angebracht gewesen, doch ihr war nicht nach Lächeln zumute. "Gute Nacht", fügte sie hinzu und schloss die Tür hinter sich. Dann lehnte sie sich dagegen und lauschte. Erleichtert stellte sie fest, dass Gibson bereits auf dem Weg nach unten war, und atmete auf. Plötzlich begann sie zu zittern. Sie wusste nicht einmal, warum. Und sie fragte sich, was sie mehr bedauerte: dass sie Gibson geküsst hatte oder die Tatsache, dass er sich so offensichtlich wünschte, er hätte sie nicht geküsst. Ihr ganzes Leben schien auf einmal auf dem Kopf zu stehen. Offensichtlich habe ich mich übernommen, dachte sie. Hätte sie sich doch nur mit dem zufrieden gegeben, was sie gehabt hatte! Mit unsicheren Schritten ging Chloe in die Küche. Der Klempner war tatsächlich da gewesen. Beide Wasserhähne funktionierten wieder. Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, dann zog sie das rote Kleid aus, nahm den funkelnden Reif aus dem Haar und hielt den Kopf unter den Wasserhahn. Das eiskalte Wasser machte sie wieder munter. "Das habe ich jetzt gebraucht", sagte sie leise vor sich hin und griff nach einem Handtuch, um sich das Gesicht abzutrocknen und das Haar zu frottieren. Sie wollte den Geschmack von Gibsons Lippen loswerden und wieder in die Wirklichkeit zurückfinden. Als sie aufsah, bemerkte sie Sierras Zettel:
Dave hat angerufen. Er ist wirklich schrecklich nett. Ruf ihn zurück, und erzähl ihm, wie die Party war! Natürlich ist Dave nett, dachte Chloe und ließ die Notiz auf den Tisch zurückflattern. Er ist gutherzig und viel solider und vernünftiger als ich. Am liebsten hätte sie ihn sofort angerufen und sich bei ihm ausgeweint. Sie wollte ihm gestehen, wie dumm sie gewesen war, dass sie einen Fehler gemacht hatte und das nächste Flugzeug nach Hause nehmen würde. Doch das ging nicht. Dave hatte eine große Farm mit Milchkühen, die er morgens um halb fünf melken musste. Sie konnte ihn nicht mitten in der Nacht wecken, um ihm ihr Leid zu klagen. Das wäre einfach nicht fair gewesen. Außerdem konnte sie ihm sowieso unmöglich erzählen, was ihr passiert war. Wie sollte sie ihm etwas erklären, das sie selbst nicht verstehen konnte? Sie wunderte sich ja selbst darüber, warum es sie so erschüttert hatte, Gibson Walker zu küssen. Er, Gibson, hatte die ganze Nacht nach einer Erklärung für sein Verhalten gesucht. Am Nachmittag des folgenden Tages hatte er die Lösung. Er redete sich ein, dass er Chloe nur zu ihrem eigenen Besten geküsst hatte. Nachdem er sie nach Hause gebracht hatte, war er zu Fuß zu seiner Wohnung gegangen, weil er sich einbildete, seine Gedanken bei einem nächtlichen Spaziergang besser ordnen zu können. Er hatte sich geirrt. Vielleicht lag es an der schwülen Nachtluft, die wie eine Dunstglocke auf der Stadt zu liegen schien. Jedenfalls war er richtig benommen gewesen, als er vor seiner Haustür stand. Er hatte nur daran denken können, wie süß Chloes Lippen geschmeckt hatten, wie bereitwillig sie seinem Drängen nachgegeben hatten, wie wunderbar sie sich angefühlt hatten. Bei der Erinnerung daran ging es ihm wieder durch und durch. Er sehnte sich schmerzlich nach Chloe.
Was war nur in ihn gefahren? Und was war in sie gefahren? Schließlich war sie verlobt. Was fiel ihr überhaupt ein, einen anderen Mann zu küssen? Okay, er, Gibson, hatte angefangen, hatte den Kopf geneigt und ihre Lippen leicht berührt. Sie hatte an diesem Abend aber auch wunderschön und zu verführerisch ausgesehen. Warum hatte sie nicht einfach die Lippen zusammengepresst, statt seinen Kuss auch noch zu erwidern? Denn das hatte sie getan. Und wie! Und sie war förmlich dahingeschmolzen und hatte sich sehnsüchtig an ihn geschmiegt. Er hatte genau gespürt, dass sie mehr gewollt hatte als nur einen Kuss. Genau wie ich, dachte er. Diese Erkenntnis machte ihm schreckliche Angst. Er hatte sich vor Jahren geschworen, sich nur noch mit Frauen einzulassen, die auch nur etwas Spaß haben wollten und ebenso wenig an einer festen Beziehung interessiert waren wie er. Bei Chloe war das anders. Deshalb hätte er sie niemals küssen dürfen! Wie hatte das nur geschehen können? Ich wollte ihr vor Augen führen, dass es zu riskant ist, länger in New York zu bleiben, redete Gibson sich ein. Ja, genauso war es gewesen! Chloe Madsen zu küssen war Teil seiner Strategie gewesen, sie loszuwerden. Er hatte sie geküsst, um sie aufzurütteln, ihr Angst zu machen, sie zurück zu Farmer Dave nach Iowa zu schicken, wohin sie gehörte. Wenn er ehrlich gewesen wäre, hätte er einsehen müssen, dass dies absoluter Unsinn war. Doch Gibson versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, und lenkte sich am Wochenende mit Fernsehen ab. Er hatte sogar den Anrufbeantworter eingeschaltet. Falls Gina anrief, wollte er unter keinen Umständen mit ihr sprechen, denn es hätte nur alles wieder aufgewühlt. Als Gibson Montag früh zum Atelier fuhr, redete er sich ein, dass Chloe vielleicht sogar schon nach Iowa verschwunden war.
Doch wer saß an Ediths Schreibtisch, als er das Büro betrat? Chloe erschrak, als er hereinkam. Dann widmete sie sich wieder dem Terminplan. "Du bist aber früh hier", sagte Gibson vorwurfsvoll. Sie blickte nicht einmal auf. Er konnte sehen, wie blass sie war. Um das zu vertuschen, hatte sie zu viel Rouge aufgelegt, was er ihr auch sagte: "Das Rot steht dir nicht. Du siehst aus, als seist du in den Farbeimer gefallen." Nun sah Chloe doch auf. Ihre rot geschminkten Lippen bebten. Sie sprang auf und lief zum Badezimmer. "So schlimm ist es nun auch wieder nicht", rief Gibson ihr nach. "Jedenfalls kein Grund zum Heulen." Die Badezimmertür fiel krachend zu. Sie, Chloe, hatte sich schon einige Dummheiten in ihrem Leben geleistet. Doch dieser Sommer setzte allem die Krone auf. Und am dümmsten war es, jetzt in Tränen auszubrechen. Sie hatte dreiunddreißig Stunden Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was auf der Party zwischen ihr und Gibson passiert war. Zeit genug, sich mit dem Kuss abzufinden. Schließlich hatte er Gibson sowieso nichts bedeutet. Wäre er nicht aus heiterem Himmel gekommen, hätte der Kuss sie vielleicht auch nicht so schockiert. Außer Dave hatte sie eigentlich noch nie jemand richtig geküsst. Sie hatte einfach nicht gewusst, wie sie reagieren sollte. Immerhin war sie erwachsen und sollte imstande sein, die ganze Angelegenheit zu vergessen. Doch jedes Mal, wenn Gibson sie ansah, fing sie an zu weinen. Chloe wusch sich das Gesicht und sah in den Spiegel. Vom vielen Rubbeln waren Wangen und Lippen jetzt erst recht rot. Ich muss endlich lernen, mich wie eine Erwachsene zu benehmen, dachte sie. Sie hatte eine schlaflose Nacht hinter sich. Am Sonntag hatte ihre Mutter angerufen und ihr vorgeworfen, wie unverantwortlich es wäre, in New York zu bleiben, wenn sie in
Iowa gebraucht wurde, um ihre Hochzeit vorzubereiten. Obwohl sie, Chloe, noch kurz zuvor drauf und dran gewesen war, das nächste Flugzeug nach Hause zu nehmen und sich bei Dave auszuweinen, riss sie sich zusammen und verteidigte sogar vehement ihren Entschluss, in New York zu bleiben. "Du möchtest doch sicher nicht, dass ich so ende wie Daves Schwester, oder?" hatte sie ihre Mutter gefragt. "Sie und Kevin haben völlig unüberlegt geheiratet, und wozu hat .das geführt? Fünf Jahre später stand sie mit drei Kindern bei ihren Eltern vor der Tür." "Das würde dir niemals passieren", hatte ihre Mutter entrüstet gerufen. "Stimmt. Genau deshalb bin ich in New York. Ich will ganz sicher sein, dass mir so etwas nicht passiert." Nach kurzem Zögern hatte ihre Mutter gefragt: "Hast du es dir etwa anders überlegt, Chloe?" "Nein, natürlich nicht." Und das hatte sie ja auch nicht. Nur ihre Gefühle hatten sie im Stich gelassen. Bei Gibsons Kuss hatte sie nicht eine Sekunde lang an Dave gedacht. Erst als Gibson sich von ihr gelöst und sie erschrocken angesehen hatte, war ihr Verlobter ihr wieder eingefallen. o Habe ich es mir anders überlegt? fragte Chloe sich jetzt. Sie wusste es nicht. Ihr war nur klar, dass sie jetzt nicht nach Hause fliegen konnte, denn das hätte bedeutet, eine Entscheidung zu treffen, zu der sie noch nicht bereit war. Hatte die ehrwürdige Schwester Carmela diesen Zustand gemeint, als sie von Versuchung gesprochen hatte? Ist Gibson meine Versuchung? überlegte Chloe. Und wenn sie der Versuchung widerstand, wäre ihre Bindung an Dave dann umso fester? Offensichtlich. Der Kuss war eine Versuchung gewesen, eine Probe. Ich werde widerstehen, dachte Chloe entschlossen. Und es war ja auch nur ein Kuss gewesen. Zu mehr war es gar nicht
gekommen. Das habe ich verhindert, dachte sie stolz. Es war immerhin etwas, oder? Sie beschloss, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, Gibson unbeschwert zuzulächeln und so zu tun, als wäre nie etwas gewesen. Er war nicht im Empfangsbereich, als sie schließlich aus dem Badezimmer herauskam, sondern bereits im Atelier, wo er alles für die bevorstehenden Aufnahmen vorbereitete. Das war eigentlich ihre Aufgabe. Als sie ihre Hilfe anbot, sagte Gibson nur kühl: "Ich komme schon zurecht." Doch Chloe schüttelte den Kopf und griff nach der Kamera, in die er gerade einen Film einlegen wollte. Er gab ihr die Kamera. "Gibson?" "Ja?" Sie mied seinen Blick. "Tut mir Leid, dass ich so übertrieben reagiert habe. Einmal im Monat bin ich leider überempfindlich." Ob er ihr glaubte, wusste sie nicht. Er sah sie an, und sie hielt seinem Blick stand. Schließlich nickte Gibson. Vielleicht hatte die Erklärung ihn doch überzeugt. "Ich hätte dich nicht kritisieren sollen", sagte er leise. "Du hattest ja Recht." "Nein, ich ..." Er fuhr sich über den Nacken. "Du hast dir nur nicht mehr ähnlich gesehen. So viel Make-up passt nicht zu dir." "Ich weiß." Sie rang sich ein Lächeln ab. "Ist es jetzt besser?" "Ja." Es war eine Erleichterung, sich wieder wie zivilisierte Menschen zu unterhalten. Chloe atmete auf und begann den Film in die Kamera zu legen. "Kommst du nachher mit zum ... Mittagessen?" fragte Gibson zögernd. Das traute sie sich noch nicht zu. "Vielen Dank, aber ich bin schon mit Rhys verabredet", antwortete sie höflich.
Das stimmte sogar. Und selbst wenn sie nichts vorgehabt hätte, seine Einladung hätte sie auf alle Fälle abgelehnt. Mit ihm zusammen zu sein war zu gefährlich. Aha, für diesen Rhys hat sie also Zeit, aber für ihren Boss nicht, dachte Gibson beleidigt. Ist mir auch egal, soll sie doch! Er hatte Chloe sowieso nur zum Mittagessen eingeladen, weil es ihm inzwischen unangenehm war, dass er sie so angefahren hatte. Woher sollte er denn wissen, dass sie so empfindlich war? Ihm lag überhaupt nichts daran, mit ihr essen zu gehen. Er hatte nur gedacht, sie würde sich vielleicht über die Einladung freuen. Verstehe einer die Frauen, dachte er und versetzte wütend einem der Scheinwerferständer einen Tritt. Vor einer halben Stunde hatte Chloe sich verabschiedet. "Ich bin um eins wieder da", hatte sie ihm zugerufen. "Lass dir ruhig Zeit", hatte er schroff geantwortet, als sie schon weg war. "Bleib den ganzen Tag weg. Am besten den Rest deines Lebens. Untersteh dich zurückzukommen!" Natürlich hatte sie das nicht mehr gehört. Gibson schob die Hände in die Hosentaschen und marschierte schlecht gelaunt im Atelier hin und her. Rhys machte ihr einen Vorschlag. "Ich habe in der ersten Augustwoche wieder einen Einsatz", erzählte er. "Da du Mariahs Wohnung ja nur bis Ende Juli nutzen kannst, wollte ich dich fragen, ob du in den letzten beiden Wochen deines Aufenthalts in New York bei mir wohnen möchtest." Chloe, die ihm am Tisch gegenübersaß, sah ihn erstaunt an. "Rhys, ich ... ich ... Das ist aber nett von dir. Ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, wo ich bis zu meinem Abflug nach Iowa wohnen soll." Vor lauter Aufregung hatte sie ganz vergessen, dass Mariah Anfang August ihre renovierte Wohnung beziehen wollte. Und die Handwerker waren tatsächlich fast fertig. Sie, Chloe, musste also nicht länger einhüten. Mariah hatte zwar gesagt, sie würden eine Lösung finden, denn sie, Chloe, würde ja nur noch bis
Mitte August in New York bleiben, aber bisher hatten sie sich noch keine Gedanken darüber gemacht. Rhys zuckte die Schultern. "Es war nur so eine Idee." Chloe lächelte ihm herzlich zu. "Eine wunderbare Idee. Du bist immer so nett zu mir, Rhys." Das Lob machte ihn verlegen. "Kunststück. Du bist ja auch eine viel umgänglichere Nachbarin als Mariah." Sie blinzelte. Bisher hatte er Mariah kaum erwähnt. Merkwürdig! "Wie meinst du das?" fragte sie neugierig. "Ach, nur so." Er konzentrierte sich auf sein Sandwich, das die Kellnerin ihm gerade gebracht hatte. Das wird ja immer mysteriöser, dachte Chloe, beschloss jedoch, den armen Rhys nicht weiter auszufragen. Sie hatte selbst genug Probleme und wollte sich nicht auch noch mit denen anderer Menschen belasten. "Ich lasse es mir durch den Kopf gehen", versprach sie schließlich. "Es ist wirklich eine gute Idee." "Jedenfalls bist du herzlich willkommen", sagte Rhys. "Jederzeit." Chloe lächelte und wünschte sich, alle Männer wären so nett und unkompliziert wie er. Wenn Gibson wie Rhys gewesen wäre, hätte sie einen wunderbaren Sommer in New York verleben können. Aber so einfach war das Leben nun einmal nicht. Das wäre ja auch schrecklich langweilig gewesen. "Was soll das heißen, du ziehst mit Rhys zusammen? Und was ist mit Dave? Oder wie heißt er doch gleich?" "Mein Verlobter heißt Dave", bestätigte Chloe ruhig. "Und ich habe nicht gesagt, dass ich mit Rhys zusammenziehe, sondern lediglich, dass ich bei ihm einziehe." "Entschuldige bitte, aber worin besteht der Unterschied? Es ist seine Wohnung, und er wohnt dort." "Schon, aber ..."
"Das heißt im Klartext, dass du sehr wohl mit ihm zusammenziehst", schrie Gibson wütend. "Wie willst du das denn sonst bezeichnen?" Chloe seufzte. "Er muss zu seinem nächsten Einsatz und reist Mittwoch ab." "Mittwoch, aha. Und wann ziehst du ein?" "Samstag. An dem Tag kommt Mariah zurück. Und sie bringt Freunde mit, so dass ..." "Dann würdest du ja fünf Tage lang mit Rhys zusammenwohnen!" "Genau." Sie senkte verlegen den Blick. "Die Wohnung ist sehr groß", fügte sie schließlich hinzu. "Nicht groß genug." Dessen war er sich hundertprozentig sicher. "Rhys interessiert sich überhaupt nicht für mich." "Ist er ein Mann aus Fleisch und Blut?" meinte er und beantwortete seine Frage gleich selbst: "Siehst du, dann interessiert er sich auch für dich." "Ich..." "Wenn du noch ein einziges Mal sagst, du bist verlobt, bist du auf der Stelle gefeuert." Er funkelte sie wütend an. "Ich wollte nur sagen, dass ich nicht an ihm interessiert bin." Chloe faltete sittsam die Hände und sah ihn unschuldig an. Gibson wandte ungeduldig den Blick ab. Woher weiß sie, dass dieser Rhys ihr gleichgültig ist? überlegte er. Hatte sie ihn etwa auch geküsst? So genau wollte er es gar nicht wissen. Jedenfalls war er den ganzen Tag über unkonzentriert und wütend und fuhr Chloe bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit an. Am liebsten hätte er sie vorzeitig nach Hause geschickt, weil er ihren Anblick einfach nicht mehr ertragen konnte. Doch dann wurde ihm bewusst, dass sie dann wahrscheinlich noch mehr Zeit mit diesem Rhys Wolfe verbringen würde.
Vielleicht sollte ich diesen Dave anrufen und ihm raten, besser auf seine Verlobte aufzupassen, überlegte Gibson. Schließlich ist das nicht mein Job. Und doch schien er genau diese Rolle zu spielen. Ich bin urlaubsreif, dachte er schließlich. Er hatte seit Jahren keinen Urlaub gemacht. War er überhaupt je verreist gewesen? Er konnte sich nicht erinnern. Es würde ihm bestimmt gut tun, mal zwei Wochen aus New York herauszukommen und sich richtig zu erholen. Das war überhaupt die Idee! Wenn er zwei Wochen von der Bildfläche verschwinden würde, wäre er wenigstens nicht mehr in Chloes Nähe. Und er konnte verhindern, dass sie bei Wolfe einzog, denn sie konnte in seiner, Gibsons, Wohnung bleiben, bis er zurückkam. Und wenn er nach New York zurückkehrte, wäre sie längst nach Iowa abgereist. Für immer. Wieso fiel ihm das erst jetzt ein? Als Gibson am nächsten Morgen das Atelier betrat, kam er ohne Begrüßung direkt zum Thema. "Vergiss Wolfe", sagte er. "Du kannst bei mir einziehen." "Wie bitte?" Chloe drehte sich fassungslos um. Fast wäre ihr ein teurer Fotoapparat aus der Hand geglitten. Sie war es inzwischen gewohnt, dass Gibson ihr ohne Vorwarnung irgendetwas an den Kopf warf, aber dieser Vorschlag übertraf alles. Er war völlig absurd. Wie war Gibson nur auf diese verrückte Idee gekommen? "Du hast genau gehört, was ich gesagt habe. Nun sieh mich nicht so an, als hätte ich dir einen unsittlichen Antrag gemacht! Du hast die Wohnung ganz für dich. Ich werde nämlich verreisen." "Du willst was?" Das war ja das Allerneueste. Auch Sierra, die gerade ins Atelier gekommen war, wirkte erstaunt. Gibson musterte sie beide ungeduldig. "Ihr werdet doch wohl schon mal davon gehört haben, dass Leute Urlaub machen,
oder? Jedem Amerikaner stehen zwei Wochen Erholungsurlaub zu." Chloe sah ihn ungläubig an. "Schon. Aber ausgerechnet jetzt?" "Ausgerechnet jetzt. Samstag geht es los. Diesen Samstag." "Und wo soll es hingehen?" fragte Sierra neugierig. "Ich mache eine Bergwanderung." "Eine Bergwanderung?" wiederholten Sierra und Chloe gleichzeitig und sahen ihn verblüfft an. "Du hast doch keine Ahnung von Bergwanderungen", fügte Sierra noch hinzu. Gibson wirkte beleidigt. "Ich weiß, wie man wandert. Also kann ich auch in den Bergen wandern." "Wenn du meinst", sagte Chloe langsam. "Genau das meine ich", antwortete er und verschwand in der Dunkelkammer. Sie schüttelte den Kopf. "Seltsam. Bisher hat er kein einziges Wort über seinen Urlaub verloren." "Und ich dachte immer, Urlaub wäre ein Fremdwort für ihn." Auch Sierra war ratlos. "Allerdings ist die Idee gar nicht so schlecht. Gibson war in den vergangenen Tagen wirklich ziemlich ungenießbar." "Wahrscheinlich fehlt ihm Alana." Chloe wusste selbst nicht, wie sie darauf gekommen war. Allein die Vorstellung schmerzte sie. Das wurde noch schlimmer, als Sierra zustimmte. "Vielleicht hast du Recht", meinte sie. "Die beiden waren in letzter Zeit viel zusammen. Und hat er nicht gesagt, dass sie da irgendwo zu Modeaufnahmen ist? Hast du eine Ahnung, wohin er will?" Er wolle nach Montana, erzählte er Chloe später. Sein Flug war bereits gebucht. Sie könne Samstagmorgen bei ihm einziehen, dann habe er noch etwas Zeit, ihr alles zu zeigen - wo sie schlafen könne, wo sie alles finden würde und worauf sie achten müsse. "Es wäre nett, wenn du meine Pflanzen gießen
und den Briefkasten leeren würdest. Ach ja, und die Zeitung müsstest du auch hereinholen." Er setzte voraus, dass sie tatsächlich bei ihm statt bei Rhys einziehen würde. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, was sie von seiner Bevormundung hielt, aber sie schwieg. Immerhin hatte er ihr den Sommerjob gegeben, wie konnte sie es ihm da abschlagen, sich während seiner Abwesenheit um seine Wohnung zu kümmern? Sie fragte nur, ob es wirklich nötig sei, überhaupt noch in New York zu bleiben, wenn er fort sei. Sie habe dann doch gar nichts zu tun. "Doch, im Büro gibt es noch genug zu tun", sagte Gibson ausdruckslos. "Außerdem brauche ich jemanden, der sich während meiner Abwesenheit um meine Wohnung kümmert. Und es kostet dich natürlich keinen Cent. Du hast dann noch vierzehn Tage Zeit, dir New York anzusehen. Oder willst du etwa vorzeitig kündigen?" "Nein, natürlich nicht. Also abgemacht." Und daher packte Chloe ihre Sachen und fuhr am Samstagvormittag in Begleitung von Rhys zu Gibsons Wohnung. Gibson fuhr sofort aus der Haut, als er Rhys sah. "Was will der denn hier?" fragte er ungehalten, als die Aufzugtür sich öffnete und Rhys ihr mit ihrem Gepäck folgte. "Er hilft mir beim Umzug", erklärte Chloe ungerührt. "Wo soll er meine Sachen abstellen?" Gibson zeigte auf ein Zimmer, das von der Eingangshalle abging, und funkelte sie wütend an. "Ich hätte dir doch helfen können. Hattest du nicht gesagt, er muss zum Einsatz?" "Ja, Mittwoch. Worauf muss ich denn nun achten, Gibson?" "Komm mit, ich zeige dir alles." Zuerst zeigte er ihr das Zimmer, in dem sie schlafen sollte. Die Fenster boten einen herrlichen Blick auf den Central Park, und an den Wänden
hingen große Schwarzweißfotos von fröhlich spielenden Kindern. Chloe war entzückt und hätte sich die Bilder gern näher angesehen. Doch Gibson trieb sie zur Eile an. "Komm, ich erkläre dir, wie du meine Pflanzen gießen musst." Die Fotos kann ich mir ja später noch ansehen, dachte sie, konnte sich jedoch kaum losreißen. Die Bilder waren einfach wunderbar, so ausdrucksvoll und lebensnah - und vom Stil her ganz anders als die Aufnahmen, die er jetzt machte. "Chloe! Wo bleibst du denn?" rief Gibson ungeduldig. Sie folgte ihm schnell auf die Dachterrasse. Seine Wohnung war riesig und hatte hohe Räume, die fast alle zum Central Park hinaus lagen. Vom Esszimmer aus gelangte man auf die große Dachterrasse, auf der Bäume und Büsche in großen Kübeln wuchsen. "Wenn es viel regnet, brauchst du die Pflanzen natürlich nicht zu gießen", sagte Gibson. "Wenn nicht, müssen sie jeden Tag gewässert werden. Hier ist der Gartenschlauch." Er erklärte ihr, welche Schlüssel zu welchen Türen gehörten und wie die Alarmanlage funktionierte, nannte ihr die Namen der Türsteher und des Hausverwalters und fügte schließlich hinzu: "Wenn du irgendwelche Probleme hast, kannst du dich gern an sie wenden." "Wahrscheinlich würden sie sich besser um deine Wohnung kümmern als ich", sagte Chloe, "Ich möchte aber, dass jemand hier ist." "Das kann ich verstehen", meinte Rhys, der zu ihnen auf die Dachterrasse hinausgekommen war. "Das ist wirklich eine fantastische Wohnung." "Danke", antwortete Gibson kurz angebunden. "Lassen Sie sich nicht aufhalten. Ich möchte Chloe noch zeigen, wie die Müllpresse betätigt wird. Sie brauchen wirklich nicht auf uns zu warten."
"Ach, das macht mir nichts aus", erklärte Rhys fröhlich. "Wir wollen anschließend den botanischen Garten besichtigen." Gibson senkte den Blick, allerdings nicht schnell genug. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte sie schwören können, er wäre verletzt. Doch er hatte sich bereits wieder im Griff. "Ach so, auch gut", sagte er und hatte es plötzlich sehr eilig fortzukommen. "Erklären Sie ihr, wie die Müllpresse funktioniert." Er verschwand in einem Zimmer - vermutlich handelte es sich um sein Schlafzimmer - und kehrte mit zwei Reisetaschen zurück. Dann händigte er Chloe zwei Schlüssel aus und ging zur Etagentür. "Der kleine ist für den Briefkasten in der Eingangshalle. Die Post kommt gegen zwei. Vielen Dank. Bye, Chloe Madsen. Es war ... interessant, dich kennen zu lernen." Bevor ihr richtig bewusst wurde, dass sie ihn vielleicht nie wiedersehen würde, war er schon im Aufzug verschwunden. Sie sah Gibson nach und fühlte sich plötzlich sehr einsam und verlassen. Hinter ihr tauchte Rhys auf. "Sag mal, wollen wir nicht Mittagessen gehen?" fragte er. Mein Entschluss war richtig, dachte Gibson, als er im Flugzeug den Sicherheitsgurt anlegte und sich die Baseballmütze ins Gesicht zog. Er hatte jemanden gefunden, der sich um seine Wohnung kümmerte, und eigentlich war es auch eine gute Tat, die Freundin seiner Schwester mietfrei dort wohnen zu lassen und sie gleichzeitig vor diesem Wolfe zu beschützen. Prima, es war für alles gesorgt, nun konnte er sich auf seinen wohlverdienten Urlaub freuen und sich in der guten Bergluft Montanas endlich richtig erholen. Es war mal etwas anderes, Gebirgsbäche, Fische und andere Tiere in freier Natur zu erleben. Wunderbar! Er würde sicher viel Spaß haben. An New York und eine gewisse Chloe Madsen würde er jedenfalls keinen einzigen Gedanken verschwenden?
Gibson lehnte sich zurück und machte die Augen zu, als das Flugzeug die Startbahn entlangholperte. Ob sie wohl in seinem Bett schlafen würde?
8. KAPITEL Chloe schlief nicht in Gibsons Bett. Allerdings sah sie sich öfter in seinem Schlafzimmer um, als gut für sie war. Da sie im Atelier nichts mehr zu tun hatte, konnte sie die letzten zwei Wochen in New York aus vollem Herzen genießen und jeden Tag Sehenswürdigkeiten besuchen, wenn sie wollte. Sie besichtigte das Cloisters, das Museum of the American Indians, das Guggenheim-Museum, die New York Historical Society, das Museum of American Folk Art, das Museo del Barrio, das Cooper-Hewitt und das Museum of the City of New York. Es wäre ihr sehr schwer gefallen, wieder nach Hause zu fahren, ohne all diese interessanten Museen abgeklappert zu haben. Die meiste Zeit verbrachte sie jedoch damit, an Gibson zu denken. Seine direkt am Central Park gelegene Wohnung beeindruckte sie sehr, besonders die Fotos, mit denen Gibson die Wände dekoriert hatte und die ihr tiefe Einblicke in sein Wesen gewährten. Natürlich hatte sie damit gerechnet, Vergrößerungen seiner besten Fotos von den schönsten Frauen der Welt zu sehen. Davon hingen jedoch nur wenige an den Wänden. Die meisten Aufnahmen zeigten Menschen in ihrer natürlichen Umgebung - spielende Kinder, alte Leute und junge Erwachsene. Überrascht stellte Chloe fest, dass ihr einige Gesichter und Schauplätze sehr bekannt vorkamen. Gibson hatte
die Fotos in Collierville gemacht. Damals war sein Stil noch ganz anders und nicht aufs Wichtigste konzentriert gewesen. Über dem Küchentisch hing das Foto der alten Mrs. Hellier, die vor einigen Jahren gestorben war. Auf dem Bild wirkte sie mindestens fünfzehn Jahre jünger und hielt sich sehr gerade. Gibson hatte sie fotografiert, als sie bei stürmischem Wetter Wäsche aufhängte. Es war eine fantastische Aufnahme. Chloe betrachtete sie jeden Morgen und glaubte fast, den Wind zu spüren, so lebensnah war das Bild. Gibson hatte Mrs. Hellier so getroffen, wie sie gewesen war: eine starke, unabhängige Frau, die sich kein X für ein U vormachen ließ. Im Gästezimmer hingen Aufnahmen von zwei Brüdern, auf die sie, Chloe, früher aufgepasst hatte. Die beiden sausten den Bunker Hill auf dem Schlitten hinunter. Ihre Mienen spiegelten Angst und Freude wider. Beim Anblick des Bilds erinnerte sie sich daran, wie sie als Kind selbst diesen steilen Hügel hinuntergesaust war. Auf allen Fotos, die sie in der Wohnung fand, entdeckte sie, wie engagiert Gibson bei der Arbeit gewesen war. Man spürte eine Verbindung zwischen dem Fotografen und dem Menschen, den er vor der Kamera hatte. Auf den Modeaufnahmen, mit denen er sein Geld verdient hatte, fehlte diese intensive Beziehung, die sie vorher nur in dem Bildband über Catherine Neale gesehen hatte. Die emotionale Bindung an seine Darsteller war also früher durchaus spürbar gewesen - im Gegensatz zu Gibsons heutigen Aufnahmen. Was mochte ihn so verändert haben? Das Mädchen, das ihm eine Angellizenz verkaufte, hatte goldblonde Locken. Hübsch, aber sie glänzten nicht in der Sonne, so wie Chloes. Gibson verspürte nicht das Bedürfnis, die Hände durch sie hindurchgleiten zu lassen, sie dufteten auch nicht nach Blumen und Sonne. Obwohl er sich fest vorgenommen hatte, nicht an Chloe zu denken, kreisten seine Gedanken fast ausschließlich um sie. Er
ärgerte sich über sich selbst. Nun hatte er den halben Kontinent überquert und stand immer noch in ihrem Bann. Sie begleitete ihn auf Schritt und Tritt. Wie ihre Locken in der Sonne glänzten, wie hübsch ihr Lächeln war, wie sie sich in den Hüften wiegte, wenn sie durch ein Zimmer ging, und wie ihre Brüste wippten, wenn sie die Arme ausstreckte, um etwas von einem der oberen Regale zu nehmen! In Zukunft würde er alle anderen Frauen an Chloe messen. Das Haar anderer Frauen war nicht so wellig und auch nicht so goldblond. Kein Mund war so süß und lud so zum Küssen ein wie Chloes. Und die Hüften und Brüste anderer Frauen konnten nicht mit Chloes mithalten. Ach, Chloe! Er, Gibson, kam einfach nicht von ihr los. Am ersten Tag hatte er noch gedacht, mit der Zeit würde er sie vergessen. Er war ja jeden Tag mit ihr zusammen gewesen. Da war es ganz natürlich, dass er sich genau an sie erinnerte. Mit der Zeit würde es schon vergehen. Allerdings machte er sich nicht klar, dass er auch mit anderen Frauen täglich zusammengearbeitet hatte - mit den Models und mit Sierra. Doch an deren Aussehen erinnerte er sich nicht so gut. Nur an Chloes. Er versuchte sie zu vergessen. Doch jedes Mal, wenn er das Mädchen mit den blonden Locken sah, musste er wieder an Chloe denken. Abends kehrte er in sein Motelzimmer zurück und schaltete den Fernsehen ein, um sich abzulenken. Doch an wen dachte er? An Chloe. Und auf die Videofilme, für die man extra bezahlen musste, verzichtete er lieber. Die würden ihn nur noch mehr erregen. Stattdessen nahm er eine kalte Dusche. Morgen wird alles besser sein, dachte Gibson zuversichtlich. Er wollte eine Bergwanderung machen und sich an der
wunderschönen Landschaft erfreuen. Für Gedanken an Chloe Madsen bliebe da keine Zeit. Doch er hatte sich geirrt. Es wurde alles noch schlimmer. Er fuhr mit einem Mietwagen in die Berge, die wirklich von atemberaubender Schönheit waren. So hatte er es sich vorgestellt. In einem Sportgeschäft hatte er sich eine Karte gekauft, damit er sich nicht verirrte. Als er die Zivilisation hinter sich gelassen hatte, stellte er den Wagen ab, schnallte sich den Rucksack mit dazugehörigem Mumienschlafsack um, schloss das Auto ab und machte sich auf den Weg zum Bergkamm. Er hatte eine Karte, und er hatte sich ein Buch mit genauen Streckenbeschreibungen besorgt, er war gesund, fit und entschlossen, zum Gipfel zu kommen. So schwer konnte es doch gar nicht sein. Doch es war noch viel anstrengender, als er es sich je hätte träumen lassen. Er hatte nämlich die dünne Höhenluft nicht bedacht, an die er nicht gewöhnt war. Deshalb geriet er schnell außer Atem. Außerdem hatte er die neuen Bergstiefel nicht eingetragen. Wann hätte er dazu auch Zeit gehabt? Schließlich hatte er sich ganz spontan zu diesem Urlaub entschlossen. Und er hatte vergessen, dass es in Montana selbst mitten im Sommer schneien konnte. Fassungslos betrachtete Gibson die Schneeflocken, die um ihn herum auf die Erde fielen. Es schneite tatsächlich! Die Temperatur war drastisch zurückgegangen, es war Wind aufgekommen, und der Schnee wurde immer dichter. Gibson beschloss umzudrehen. Auf Schnee war er nicht vorbereitet gewesen. Das Wandern war ihm schon bei gutem Wetter schwer genug gefallen, aber bei Schnee und Eis? Nein, das wollte er sich nicht antun. So kehrte er also durchnäßt und durchgefroren mit Blasen an den Füßen und viel Zeit ins Motel zurück. Wieder schaltete er den Fernseher ein, suchte jedoch vergeblich nach einem interessanten Programm. Sollte er sich doch einen erotischen
Film ansehen? Die Versuchung war groß, denn den ganzen Tag über hatte er ständig an Chloe denken müssen. Zuerst hatte er sich gefragt, was sie zu der fantastischen Landschaft sagen würde. Danach hatte er überlegt, ob sie wohl die Namen der Blumen kannte, die auf dem Berg wuchsen, und ob sie je gezeltet hatte. Als es zu schneien begonnen hatte, war sein erster Gedanke gewesen, was Chloe wohl dazu sagen würde. Und dann hatte er sich zusammengerissen und sich auf den Rückweg konzentriert. Nachdem er eine heiße Dusche genommen hatte, war ihm eingefallen, dass er Chloe nie wiedersehen würde. Und das war keine besonders angenehme Vorstellung. Er lag auf dem Bett und dachte an sie, erinnerte sich an ihr Lächeln, an ihren süßen Mund und ... Stöhnend warf Gibson sich auf dem Bett herum. Und dann tat er genau das, was er sich selbst verboten hatte. Er nahm die Fotos aus dem Rucksack, die er an ihrem ersten Tag in New York von Chloe gemacht hatte. Die nackte, verführerische Chloe. Und er betrachtete auch die anderen Aufnahmen, die er gemacht hatte, um einen Film voll zu bekommen. Er hatte verschiedene Stimmungen eingefangen: Chloe, wie sie lachte, wie sie nachdachte, wie sie konzentriert arbeitete. Und in jeder Lebenslage wirkte sie unendlich anziehend. Er hätte die Fotos zu Hause lassen sollen. Warum hatte er sie nur eingepackt? Ursprünglich hatte er vorgehabt, sie von Zeit zu Zeit anzusehen, um zu überprüfen, ob er Chloe Madsen immer noch anziehend fand. Er hatte gehofft, mit der Zeit würde sie ihm gleichgültig werden. Doch so, wie die Dinge jetzt standen, würden wohl Jahre vergehen müssen, bevor er gegen Chloe Madsen immun war. Er war so verzweifelt, dass er sofort wieder auf Bergtour ging, sowie der Schnee in der Stadt geschmolzen war.
"Ich an Ihrer Stelle würde jetzt nicht in die Berge gehen", hatte der Portier des Motels warnend gesagt. "Es ist ziemlich glatt und gefährlich da oben." Er, Gibson, hatte den Wetterbericht gehört, der Sonne und höhere Temperaturen vorhergesagt hatte, und er musste sich dringend ablenken. "Ich werde es schon überleben", sagte er daher. Drei Tage später dachte er immer noch in jeder freien Sekunde an Chloe, und dabei passierte das Unglück. Er achtete nicht auf den Weg, rutschte aus, fiel und brach sich das Bein. Nur mit viel Glück überlebte er. Bis zu ihrem Heimflug waren es kaum noch vierundzwanzig Stunden. Chloe saß auf Gibsons Bett und versuchte sich ihre Ankunft in Iowa und Daves stürmische Umarmung zur Begrüßung vorzustellen. Die Koffer waren gepackt, Gibsons Pflanzen gegossen, alles war sauber und aufgeräumt. Sie hatte sogar Kekse als kleines Dankeschön für Gibson gebacken und auf den Küchentisch gestellt. Hoffentlich ruft er an, bevor ich abreisen muss, dachte sie. Dann konnte sie sich wenigstens persönlich für seine Gastfreundschaft bedanken und für alles, was er ihr beigebracht hatte. Einmal noch wollte sie gern seine Stimme hören. Dieser Wunsch machte ihr Angst. Erschrocken sprang sie vom Bett, auf dem sie sowieso nichts zu suchen hatte. Schnell strich sie die Tagesdecke glatt, damit er nicht merkte, dass sie auf seinem Bett gesessen hatte. Dann setzte sie sich gedankenverloren wieder hin und nahm Abschied von dem Zimmer, in dem sie abends manchmal noch gelesen oder einfach nur nachgedacht hatte. Natürlich hätte sie das auch im Gästezimmer tun können oder in einem der vielen anderen Zimmer, aber das Schlafzimmer
war nun einmal am gemütlichsten. Hier hatte Gibson keine Fotos aufgehängt. Nur auf seiner Kommode standen drei gerahmte Schnappschüsse - einer von Gina, als sie jung gewesen war, einer von Gina, ihrem Mann und den Kindern und einer von einem glücklichen jungen Paar. Vermutlich handelte es sich um Gibsons Eltern. Der Mann hatte genauso dunkles Haar wie Gibson und den gleichen Gesichtsausdruck. Die Frau hatte sein Lächeln. Sie standen vor Rasmussens Eisdiele in Collierville. Beim Anblick der vertrauten Umgebung hatte Chloe fast ein wenig Heimweh bekommen. Vielleicht kam sie deshalb so oft in dieses Zimmer, weil sie hier an zu Hause erinnert wurde. Und auch, weil sie sich Gibson nahe fühlte? Diesen Gedanken schob sie schnell beiseite. Sie fuhr nach Hause. Morgen würde sie wieder in Iowa sein, und ihr Abstecher nach New York wäre vorbei. Ihr Leben würde von nun an so verlaufen, wie sie es sich seit ihrem achtzehnten Geburtstag ausmalte. Sie stellte sich vor, wie Dave sie vom Flughafen abholen und sie in die Arme schließen würde. Sie würde ihn ganz fest an sich drücken und wissen, dass sie zu ihm gehörte. Chloe streckte sich auf dem Bett aus und umarmte eins von Gibsons Federkissen. Dabei stellte sie sich vor, dass sie Dave so hielt. Doch es war nicht Dave. Noch nicht. Heute war sie noch in New York, und sie wusste, an diesen Augenblick würde sie sich immer erinnern. An dieses Zimmer, dieses Bett, dieses Kissen, den Duft. Den Duft der Großstadt, den Duft des Baumwollbezugs. Den Duft von Gibson. Das Klingeln des Telefons schreckte sie aus dem Schlaf. Chloe fuhr hoch und wusste im ersten Moment nicht, wo sie war, bevor ihr klar wurde, dass sie in Gibsons Bett
eingeschlafen sein musste. Verstört sah sie auf die Uhr. Es war schon nach elf. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich. "Habe ich dich geweckt?" "Gibson!" rief sie begeistert. Er hatte also tatsächlich angerufen, um sich von ihr zu verabschieden. "Wie geht es dir? Amüsierst du dich gut? Was hast du schon alles gesehen?" "Ich habe mir das Bein gebrochen." "Was?" Chloe glaubte sich verhört zu haben. Gibson hatte es ganz gelassen gesagt. "Wann? Wie ist das passiert? Wie geht es dir jetzt?" "Alles halb so schlimm. Aber ich wollte dich um einen Gefallen bitten." "Klar. Schieß los." Sie sprang vom Bett und richtete Kopfkissen und Tagesdecke, als könnte Gibson sehen, wo sie war. "Ruf bitte die Nummer an, die ich dir gleich geben werde, und bestell einen Wagen, der mich morgen Nachmittag um zwei vom Flughafen abholt. Ich könnte natürlich auch ein Taxi nehmen, aber so ist es einfacher." Chloe schrieb die Telefonnummer auf, die er ihr gab. "Ich rufe gleich an. Aber..." "Danke." Er legte den Hörer auf, bevor sie weitersprechen konnte. Erstaunt betrachtete sie den Hörer und legte ihn wieder auf die Gabel. Ein Abschied war das ja nicht gerade gewesen! Aber ein Abschied kam auch nicht in Frage, wenn Gibson verletzt war. Die Traurigkeit, die sie beim Kofferpacken übermannt hatte, war plötzlich verflogen. Nach kurzer Überlegung nahm Chloe den Hörer wieder ab und rief zu Hause an; "Ich kann morgen nicht nach Hause kommen", sagte sie ohne Umschweife.
Dave war darüber alles andere als glücklich. Ihre Mutter ebenso wenig. Die Blumen für die Hochzeit mussten ausgesucht, ein Menü zusammengestellt und zweihundert Einladungen verschickt werden. "Später", sagte Chloe nur und fühlte sich sehr erleichtert, als sie den Hörer wieder auflegte. Der arme Gibson hatte sich das Bein gebrochen. "Was, um alles in der Welt, tust du denn noch hier?" Gibson musterte Chloe entsetzt. Der Flug war schrecklich gewesen. Sein eingegipster Knöchel war auch sieben Tage nach der Operation und drei Tage, nachdem man ihn aus dem Krankenhaus entlassen hatte, noch geschwollen und schmerzte. Der Gips würde frühestens in zwei Wochen abgenommen werden. Natürlich hätte er, Gibson, auch früher nach New York fliegen können, doch er war in Bozeman geblieben und hatte die Tage bis zu Chloes Abreise gezählt. Und jetzt wartete sie in der Ankunftshalle auf ihn und sah zu, wie er auf Krücken auf sie zuhumpelte. Ihre erschrockene Miene überspielte sie schnell mit einem zuversichtlichen Lächeln. "O Gibson!" Er war überhaupt nicht zuversichtlich und wusste nicht, was er tun würde, wenn sie ihm jetzt um den Hals fallen würde. Seine Willenskraft hatte ihre Grenzen, und er fühlte sich schrecklich. Chloe konnte er in diesem Zustand am wenigsten gebrauchen. Gibson hielt sie mit einer Krücke auf Distanz. "War dein Flug nicht für heute Morgen gebucht?" Chloe ging vor ihm her, als wollte sie ihm den Weg bahnen. "Ja, aber ich habe ihn storniert. Der Fahrer wartet bei der Gepäckausgabe." Unbewusst wiegte sie sich in den Hüften, als sie vor ihm herging. Er machte die Augen zu, wäre dabei fast über diese dummen Krücken gestolpert und fluchte unterdrückt. Sie blieb stehen und stützte ihn. "Alles in Ordnung?"
Gibson versuchte sie abzuschütteln. "Ja, alles wunderbar, verflixt! Wieso bist du nicht in Iowa?" Langsam ging Chloe weiter. "Weil ich zu Hause Bescheid gesagt habe, dass ich nicht komme." "Wie bitte?" Sie drehte sich zu ihm um, wobei ihre goldblonden Locken wippten. "Ich konnte dich nicht im Stich lassen. Du kannst doch jetzt nicht allein bleiben." "Wieso nicht?" "Weil du Hilfe brauchst." "Brauche ich nicht!" "Doch. Und deshalb bleibe ich." Sie wollte bleiben? Gibson blieb entsetzt stehen. Chloe ging weiter. "He", rief er. "Was soll das heißen? Du kannst nicht bleiben!" Sie kam zurück und lächelte. Dieses Lächeln hatte ihm gerade noch gefehlt! Nur mit größter Anstrengung gelang es ihm, sich zurückzuhalten. "Und ob ich das kann. Versuch doch, mich davon abzuhalten", antwortete sie gut gelaunt. Es war nicht fair! Es war einfach nicht fair! Da hatte er, Gibson, sich todesmutig auf eine Bergwanderung begeben und sich von New York fern gehalten, um Chloe Madsen zu vergessen, und was passierte? Er brach sich das Bein, und Chloe spielte Krankenschwester. Sie versorgte ihn mit Mahlzeiten, Büchern, Zeitschriften, versuchte ihn aufzumuntern, machte sein Bett, strich ihm das Haar aus dem Gesicht und berührte ihn ständig unabsichtlich. Es machte ihn noch verrückt! Er begehrte sie mehr denn je. Zwölf Jahre lang hatte er nur hin und wieder einmal eine unbedeutende Affäre gehabt. Sowie es ernst zu werden drohte, hatte er regelmäßig die Flucht ergriffen. Das hatte er Catherine zu verdanken. Seit Catherine hatte er keine Frau mehr an sich herangelassen.
Und Chloe würde er auch nicht an sich heranlassen. Aber er wollte gern mit ihr schlafen. Der wochenlange Kampf gegen seine Gefühle war erfolglos geblieben: Er begehrte Chloe immer mehr. Sie war ständig bei ihm. Keine Minute ließ sie ihn aus den Augen. Jetzt holte sie lächelnd das Tablett, auf dem sie ihm das Abendessen serviert hatte. Gibson machte verzweifelt die Augen zu. "Wie geht es Dave?" fragte er. Chloe hörte vorübergehend auf zu lächeln, fing sich jedoch schnell wieder. "Es geht ihm gut." Sie beugte sich über ihn und zog die Decke glatt, wobei sie ihn versehentlich am Arm und am Bein berührte. Sie schien es nicht einmal zu merken. Aber er merkte es. Sie brauchte ihn nur flüchtig zu streifen, und schon brannte er lichterloh. Wie sehr sehnte er sich danach, sie an sich zu ziehen, die Hände unter ihre Bluse zu schieben und diese wunderbaren Brüste zu liebkosen! Er stöhnte. "Ach du liebe Zeit! Habe ich dir wehgetan?" fragte Chloe entsetzt und richtete sich schnell auf. Gibson schluckte. Er wusste überhaupt nicht mehr, wie er sein Verlangen verbergen sollte. Als er nicht antwortete, sah sie ihn besorgt an. "Es tut mir so leid, Gibson." Sie schlug die Bettdecke zurück. "So kann es ja auch nicht bequem sein. Du hättest schon vor Stunden deinen Schlafanzug anziehen sollen. Warte, ich helfe dir." Sie begann sein Hemd aufzuknöpfen. "Nein!" rief er. "Aber..." Gibson scheuchte sie weg. "Ich habe Nein gesagt. Warum hörst du mir nicht zu?" Chloe wich zurück. "Du kannst doch nicht in Jeans und Hemd schlafen", sagte sie, als hätte sie es mit einem aufsässigen Fünfjährigen zu tun.
"Das hatte ich auch nicht vor." "Dann sag mir, wo deine Schlafanzüge sind, und ich hole dir einen." "Ich besitze keine Schlafanzüge", antwortete er kaum vernehmbar. "Wie?" "Ich trage keinen Schlafanzug. Ich schlafe nackt", rief er. "Oh." Sie errötete, ließ den Blick über ihn gleiten und ergriff dann die Flucht. An der Tür drehte sie sich noch einmal um. "Ruf mich, falls du etwas brauchst!" Gibson ließ sich in die Kissen zurücksinken und stöhnte frustriert. War er nicht edelmütig? Gina hätte ihm geraten, positiv zu denken. Na ja, vielleicht war es positiv, dass ihm jetzt nicht nur der Knöchel wehtat.
9. KAPITEL Erst jetzt wurde Chloe bewusst, was in den vergangenen Wochen mit ihr los gewesen war. Wie oft hatte sie sich Gibson nackt vorgestellt, sich jedoch keine weiteren Gedanken darüber gemacht, dass sie schließlich mit Dave verlobt war und nicht mit Gibson. Als Gibson auf Krücken auf sie zugehumpelt war, blass und abgemagert, hatte sie eine tiefe, überwältigende Sehnsucht empfunden. So etwa hatte sie sich ihre Gefühle vorgestellt, wenn Dave sie am Flughafen in Iowa in die Arme schließen würde. In diesem Moment wurde ihr klar, dass dies niemals passieren würde. Niemals würde sie für Dave empfinden, was sie für Gibson empfand. Sie liebte Dave seit vielen Jahren, aber nicht so, wie sie Gibson Walker liebte. Es wurde Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Am liebsten wäre sie sofort zu Gibson gelaufen, hätte ihn an sich gezogen und ihm verraten, wie sehr er ihr gefehlt hatte und dass sie es kaum hatte erwarten können, ihn wiederzusehen. Doch als sie seinen verzweifelten, fast ängstlichen Gesichtsausdruck am Flughafen bemerkt hatte, hatte sie sich zusammengerissen und sich vorgenommen, ihm mehr Zeit zu geben.
Ich bin eben Gibsons Mädchen, dachte Chloe, als sie später ins Bett ging. Aber Gibsons Frau werde ich wohl nie sein, denn er liebt mich nicht. Am nächsten Morgen rief Chloe Dave an. Sie hatte keine Ahnung, wie sie ihm schonend beibringen sollte, dass aus der Hochzeit nichts werden würde. Deshalb fiel sie mit der Tür ins Haus. "Ich kann dich nicht heiraten", erklärte sie, sowie er sich gemeldet hatte. "Was?" Ihr Anruf im Morgengrauen traf ihn natürlich völlig unvorbereitet. Chloe wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. "Aus unserer Hochzeit wird nichts. Ich bin immer noch rastlos." "Aber ich dachte, du wärst deiner Sache inzwischen sicher", antwortete Dave verletzt und verblüfft zugleich, als er sich vom ersten Schock erholt hatte. "Es ist alles meine Schuld. Mit dir hat das gar nichts zu tun", fuhr Chloe fort. Nur mit mir selbst und meinen Gefühlen für Gibson, dachte sie, sagte es aber nicht, um Dave nicht unnötig zu verletzen. "Das liegt daran, dass wir so lange getrennt waren", behauptete er. "Wenn du erst mal wieder bei mir bist..." "Nein." Aber das überzeugte ihn nicht. "Wir waren zu jung, als wir beschlossen haben zu heiraten", erklärte Chloe. "Wir waren ja noch Kinder." "Wir waren verliebt." "Ja, wir waren verliebt. Aber jetzt..." Sie verstummte. "Aber jetzt bist du nicht mehr in mich verliebt", beendete Dave traurig den Satz für sie. Chloe kam sich sehr schäbig vor, weil sie Dave so wehtat. Aber was sollte sie tun? Es wäre falsch gewesen, ihn zu heiraten. Durch Gibson wusste sie, welch tiefer Gefühle sie fähig war. Für Dave hatte sie nie so viel empfunden. "Ich habe dich sehr lieb, Dave", widersprach sie. "Aber es reicht nicht für
ein ganzes Leben." Sie war den Tränen nahe. "Es tut mir so leid. Ich wollte dich nicht verletzen." Dave schwieg. "Es tut mir so unendlich leid", flüsterte sie. "Wir finden bestimmt eine Lösung, Chloe." "Nein, sicher nicht." Sie legte den Hörer auf und schämte sich zutiefst, weil sie Dave so wehgetan hatte. Es würde ihm sicher auch kein Trost sein, zu wissen, dass es ihr auch nicht besser ging, denn auch ihre Liebe war unerwidert. Gibson liebte sie ja nicht. Den Verlobungsring nahm sie nicht ab. Gibson sollte nicht wissen, dass es keine Hochzeit geben würde. Sie ließ sich nichts anmerken und machte weiter wie bisher. Sie wusste, dass sie seine Wohnung eines Tages verlassen müsste und ihn nie wiedersehen würde. Wenigstens hätte sie ihre Erinnerungen. Am Sonntag versuchte Gibson noch einmal, Chloe davon zu überzeugen, dass er auch sehr gut allein zurechtkam. Dabei fuchtelte er so vehement mit seiner Krücke in der Luft herum, dass er das Gleichgewicht verlor und zu Boden gegangen wäre, wenn sie ihn nicht im letzten Augenblick aufgefangen und in die Arme geschlossen hätte. Als er ihren warmen, weichen Körper spürte, wurde er von heftigem Verlangen durchflutet. Chloe schien zu beben. Mit heftig klopfenden Herzen standen sie so beieinander, bis Chloe schließlich vorsichtig zurückwich und nur noch seine Arme umfasst hielt, damit er nicht doch das Gleichgewicht verlor. Gibson stützte sich wieder auf seine Krücken und senkte den Blick. Verzweifelt versuchte er, sich wieder zu beruhigen. "Ich bleibe", sagte sie schließlich. Er sah auf und nickte langsam. "Das hätte ich mir denken können." In diesem Moment gab er den Kampf gegen seine Gefühle auf. Wochenlang hatte er sich beherrscht, jetzt hatte er
keine Kraft mehr. Schließlich war er auch nur ein Mann und kein Heiliger. Wenn sie also mit dem Feuer spielen wollte, dann würde er mitspielen. "Die Sonne scheint. Möchtest du ein wenig auf der Dachterrasse sitzen?" fragte sie jetzt. Gibson sah auf und ließ den Blick über sie gleiten. Sie war wunderschön! Und er begehrte sie so sehr. Das würde immer so sein. Diese Erkenntnis schockierte ihn. Für immer? Er war doch nicht etwa ...? Doch! Die Tatsache ließ sich nicht mehr leugnen. Aber Chloe ist doch verlobt, dachte er. Und sie wird diesen Dave heiraten. Nein, wird sie nicht! Das werde ich schon zu verhindern wissen. Es war ein sonniger Tag, die Luftfeuchtigkeit war niedrig, und man hielt es gut an der frischen Luft aus. Gibson ließ sich vorsichtig auf einem der Liegestühle nieder, die sie aufgestellt hatte. "Kann ich dir etwas bringen?" fragte Chloe. "Etwas zu trinken? Ein Buch oder eine Zeitschrift?" "Wie war's mit meinem Fotoapparat?" Sie blinzelte erstaunt, nickte dann aber. "Wo ist er? In deinem Gepäck?" "Im kleinen schwarzen Koffer." Chloe eilte ins Schlafzimmer und kehrte kurz darauf mit der Kamera zurück. Gibson hatte sich inzwischen das Hemd ausgezogen und trug nur noch Shorts, und sie wünschte, sie hätte ihre eigene Kamera mitgebracht. "Danke." Er nahm die Kamera aus der Tasche und schraubte ein Objektiv auf, dann richtete er den Sucher auf sie, Chloe. "He, was soll das? Nicht, Gibson!" Doch er machte ein Foto nach dem anderen von ihr und lächelte nur.
"Bitte, Gibson!" "Ich habe zu wenig Aufnahmen von dir", behauptete er lächelnd. "Du bist wunderschön." Chloe schluckte. Wie er sie ansah! "Sei nicht albern, und zieh mich nicht immer auf." "Das tue ich ja gar nicht, Chloe." Seine Stimme war rau und sinnlich. Chloe schnitt ein Gesicht. Gibson lachte jungenhaft. "Wunderbar!" Und schon knipste er wieder drauflos. "Hör auf!" "Nur wenn du auch aufhörst." "Womit?" Er klopfte auf den freien Liegestuhl. "Hör auf herumzulaufen, leg dich zu mir, und entspann dich!" Chloe gehorchte. Entspannen konnte sie sich allerdings nicht. Dazu war Gibson ihr viel zu nah. Sie schloss die Augen und wandte das Gesicht ab. Kurz darauf riskierte sie einen flüchtigen Blick. Gibson zwinkerte ihr zu. "Gibson!" Er lachte. "Ertappt!" "Ich wollte nur sehen, ob alles in Ordnung ist", behauptete sie würdevoll. "Brauchst du etwas?" "Dich." Die Welt schien stillzustehen. Sie sahen einander tief in die Augen. Gibson ließ ihr leicht einen Finger über den Arm gleiten. Chloe begann zu beben. Nein, das ging nicht! Oder doch? Sie wusste weder aus noch ein. Gibson schien genau zu wissen, was in ihr vorging. "Hast du Lust, den Whirlpool zu benutzen?" fragte er, um ihr über ihre Verlegenheit hinwegzuhelfen. "Wie bitte?"
Er setzte sich auf und zeigte auf einen großen Gegenstand, der vor dem Küchenfenster stand und abgedeckt war. "Vielleicht hast du Lust, im Whirlpool zu sitzen. Er ist schnell gefüllt. Heute ist so ein schöner Tag." Chloe hatte sich noch immer nicht von ihrer Überraschung erholt. Hatte er wirklich gesagt, er würde sie brauchen? Sie nahm sich zusammen. "Ja, das ist eine wunderbare Idee", sagte sie schließlich. Sie hatte noch nie im Whirlpool gebadet. Außerdem wäre es eine gute Ablenkung. "Tut mir Leid, dass ich das Wasser nicht selbst einlassen kann", sagte Gibson. "Aber es ist ganz leicht." Chloe entfernte die Abdeckung, spülte das Becken aus und drehte den Warmwasserhahn auf. In dem Pool hatten sechs Personen Platz. Ob Gibson mit Alana darin gebadet hatte? Chloe verdrängte die Vorstellung schnell. "Es dauert etwa eine halbe Stunde, bevor das Becken voll ist", erklärte Gibson. "Du kannst ja schon mal deinen Badeanzug anziehen. Oder badest du lieber nackt?" fragte er neckend. "Nein, nein. Ich bin gleich wieder da." Als Chloe auf die Dachterrasse zurückkehrte, machte Gibson weitere Aufnahmen von ihr und ließ sich durch ihre abwehrende Haltung nicht stören. Er lächelte nur und machte weiter, auch als sie schließlich im Whirlpool saß. Er stand auf, setzte sich auf den Beckenrand und fotografierte sie. Er hatte einen wunderbaren Blick auf ihre Dekollete, das gerade eben aus dem sprudelnden Wasser schaute. In diesem Moment sah Chloe auf. Ihr Gesichtsausdruck war ganz entspannt und ihr sinnlicher Mund leicht geöffnet. Gibson stöhnte vor Sehnsucht auf. Dann riss er sich die Kamera vom Hals, legte sie beiseite und beugte sich vor, um Chloe zu küssen.
Der Kuss war wunderbar - genauso, wie ein Kuss sein sollte. Ihm, Gibson, schien es, als würde er nach Hause kommen. Doch er wollte mehr. Er schob zärtlich die Hand in ihr Haar, während Chloe seine Schultern umfasste und ihn näher zu sich heranzog. Gibson rutschte zur Seite und verlor das Gleichgewicht. "O nein!" Kopfüber landete er im Whirlpool, mit dem Gesicht auf ihrer Brust. Es war so herrlich, dass er fast protestiert hätte, als sie ihn hochzog. Doch ihre besorgte Miene, als Chloe ihn "Ist alles in Ordnung, Gibson?" fragte, war noch wunderbarer. Er lachte und schüttelte sich, dass die Wassertropfen nur so flogen. "Klar. Mir ging es noch nie besser." "Und der Gips?" "Der ist trocken geblieben. Ich ... ich will dich, Chloe." Das Versteckspiel war vorbei. Er sah sie ernst und erwartungsvoll an. Sie nickte langsam. Wie hätte sie auf eine Nacht mit Gibson verzichten können? Natürlich wäre es ihr lieber gewesen, das ganze Leben mit ihm zu teilen, doch dieser Wunsch würde nie in Erfüllung gehen. Dessen war Chloe sich ganz sicher. Und so bliebe ihr wenigstens die Erinnerung an diese eine Nacht. Ich liebe dich, sagten ihre Blicke. Bis an mein Lebensende, sagte ihr Herz. Du bist wunderbar, erklärte sie ihm mit ihren Liebkosungen. Zärtlich ließ sie die Hände über Gibsons Brust gleiten und umfasste dann liebevoll sein Gesicht. "O Gibson", flüsterte sie. "Kommst du mit?" fragte Gibson leise. Chloe nickte und kletterte aus dem Whirlpool. Sorgfältig hüllte er sie in ein weiches Handtuch und trocknete sie ab. Als er sich vorbeugte, um ihre Beine abzunibbeln, ließ sie zärtlich eine Hand durch sein feuchtes Haar gleiten, um ihn zu berühren. Er
sah auf. In seinem Blick spiegelte sich sehnsüchtiges Verlangen. Er nahm ihre Hand und küsste sie so zärtlich, dass Chloe erschauerte. Als er sich aufrichtete, legte sie einen Arm um ihn, und eng umschlungen gingen sie ins Schlafzimmer. Chloe betrachtete das ungemachte Bett und erinnerte sich, wie sie einige Nächte zuvor dort gelegen und sein Kopfkissen umarmt hatte, um sich Gibson näher zu fühlen. Und nun? Nun stand sie vor ihm und wartete gespannt, was passieren würde. Gibson sah ihr tief in die Augen, legte die Krücken weg und musste sich aufs Bett setzen, weil er sonst das Gleichgewicht verloren hätte. Chloe lächelte und berührte zärtlich seinen Mund, den er daraufhin leicht öffnete. Er liebkoste ihren Finger, dann hob er die Hände und streifte ihr ganz langsam den Badeanzug über die Brüste. Chloe erschauerte bei der Berührung und dachte daran, dass sie schon einmal nackt vor ihm gestanden hatte. Dieses Mal beugte er sich vor und liebkoste ihre Brüste mit dem Mund. Sein zärtliches Spiel erregte sie so sehr, dass ihr heiß wurde. Sie schob die Hände in sein Haar und küsste ihn, dann fielen sie zusammen aufs Bett, wobei Gibson ihr den Badeanzug ganz abstreifte. Chloe lag auf ihm und spürte, wie er vor Verlangen erschauerte. Lächelnd sah sie ihm tief in die Augen und las die Sehnsucht in seinem Blick. Gibson ließ zärtlich die Hände über ihren Rücken gleiten und bog sich ihr leicht entgegen. Sie spürte deutlich, wie erregt er war. Als sie sich aufrichten wollte, hielt er sie fest. Sie zog leicht an den Shorts. "Darf ich ...?"
Er nickte und atmete schneller ... und noch schneller, als sie sich aufsetzte, um eine Hand unter den Bund zu schieben und mit der anderen den Reißverschluß aufzuziehen. Vorsichtig streifte sie das störende Kleidungsstück über seine Beine und den Gips und sah auf. Endlich lag Gibson Walker nackt vor ihr. Auf diesen erregenden Anblick hatte sie lange gewartet. Aber das Warten hatte sich gelohnt. Lange konnte sie seinen perfekten Körper nicht bewundern, denn Gibson wurde ungeduldig. "Komm her", sagte er drängend und zog sie wieder auf sich. Er stöhnte vor Leidenschaft auf, als er spürte, wie perfekt sie zusammen passten, und Chloe bewegte sich ein wenig hin und her. Gibson bog sich ihr entgegen. "Pass auf, Liebling", warnte er sie rau. "Sonst bin ich fertig, bevor wir richtig angefangen haben." Er hatte sie Liebling genannt! Sie war überglücklich und berührte zärtlich seine Wange. Dann verteilte sie kleine Küsse auf seinem Gesicht, bevor ihre Lippen sich zu einem leidenschaftlichen Kuss fanden. "Wir lassen uns Zeit", flüsterte sie an seinem Mund. Sie wusste, dass sie nur diese eine Nacht hatte, aber diese Nacht sollte nie zu Ende gehen! Er, Gibson, liebte Chloe einmal. Er liebte sie zweimal. Er liebte sie so oft und auf so viele verschiedene Weisen, dass er den Überblick verlor. Er erinnerte sich an die Nacktfotos, die er von ihr gemacht hatte, und daran, wie er sich vorgestellt hatte, Chloe zu liebkosen und tiefe Sehnsucht in ihr zu wecken. Die Wirklichkeit übertraf all seine Fantasien. Chloe war einfach perfekt. Heißblütig. Sie gab und nahm. Sie verschmolz mit ihm, als wären sie füreinander geschaffen. Und sie war so natürlich dabei. Sie gab sich ihm ganz hin, nahm ihn auf, umfing
ihn, liebkoste ihn, bis er erschöpft in die Kissen zurücksank. So etwas hatte er noch nie erlebt. Chloe sah ihn an. "Was ist?" Gibson lachte verlegen. "Ich versuche nur umzudenken." Neugierig fragte sie: "Was meinst du damit?" Er lächelte anzüglich. "Ich hätte nie gedacht, dass der Sexualkundeunterricht an Colliervilles Schulen so gut ist. Seit ich Abitur gemacht habe, muss der Fortschritt ja Quantensprünge gemacht haben." "Gibson!" Sie begann ihn zu kitzeln, bis er um Gnade flehte, ihre Hände festhielt und sich auf sie legte. "Jetzt bin ich dran", sagte er rau und ließ sich zwischen ihre Beine gleiten. "Geht das denn mit dem Gips?" fragte sie besorgt. "Das werden wir gleich herausfinden." Chloe bog sich ihm entgegen, und sie waren wieder eins. Danach schliefen sie erschöpft ein. Als sie wieder aufwachten, begannen sie erneut mit dem Liebesspiel. Er wollte erfahren, was Chloe noch alles gelernt hatte. Und das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Ihre Begeisterung entzückte und schockierte ihn. "Und ich habe dich für ein unschuldiges Mädchen aus Collierville gehalten", sagte Gibson verblüfft. Chloe lächelte, schmiegte sich zärtlich an ihn und küsste ihn. "Das war ich ja auch. Bis du gekommen bist." Weit nach Mitternacht schlief sie schließlich in seinen Armen ein. Gibson betrachtete sie zärtlich und schob sachte eine Hand in ihr wunderschönes goldblondes Haar. Chloe murmelte etwas und lächelte glücklich im Schlaf. Er beugte sich vor, küsste sie und schlief kurz darauf auch ein. Das Klingeln des Telefons weckte sie auf. Chloe ging an den Apparat, bevor Gibson ihr raten konnte, den Hörer nicht
abzunehmen. Es wäre ihm viel lieber gewesen, sie wieder im Arm zu halten. "Wie?" fragte sie gerade und wurde blass. Gibson setzte sich auf. "Was ist denn?" erkundigte er sich schlaftrunken. Chloe befeuchtete sich die Lippen. "Ja ... ja, natürlich", sagte sie resigniert. "Schicken Sie ihn herauf." "Bringt uns jemand das Frühstück?" meinte er lässig. "Haben wir vorher noch Zeit, uns zu amüsieren?" Sie schüttelte den Kopf und stand auf. "Dave ist hier." Damit hatte er nun ganz und gar nicht gerechnet. Ungläubig sah er sie an. "Wie?" Chloe hob die Shorts auf und warf sie ihm zu. "Du hast richtig gehört. Zieh dich schnell an!" Sie lief in ihr Zimmer, um sich auch schnell etwas überzuziehen, bevor Dave erschien. Gibson hatte sich kaum die Shorts angezogen, als auch schon ein energisches Klopfen an der Wohnungstür ertönte. Chloe knöpfte sich auf dem Weg zur Tür die Bluse zu. "Ich würde nicht...", begann er, doch es war schon zu spät. Chloe hatte die Tür bereits geöffnet, und Dave marschierte herein. Nach einem Blick auf ihn und einem auf Chloe hatte er offenbar genug gesehen. Jedenfalls wurde er rot vor Zorn und ballte die Hände zu Fäusten. "Nicht, Dave!" rief Chloe ängstlich. Aber Dave holte aus und streckte ihn mit einem gezielten Schlag nieder. Er, Gibson, hatte den Schlag kommen sehen, war jedoch nicht ausgewichen, weil er das Gefühl hatte, dass er ihn verdient hatte. "O nein!" Chloe betupfte vorsichtig seine blutige Lippe, dann sah sie Dave wütend an. "Wie konntest du nur?" "Das wagst du zu fragen?" Dave stand vor ihm und atmete schwer.
Gibson schob Chloe beiseite. "Schon gut, Chloe. Mir ist weiter nichts passiert." "Aber ..." Sie wirkte erschüttert und wusste offenbar nicht, wie sie sich verhalten sollte. Es ist meine Schuld, dachte er. "Tut mir Leid." Er sah erst sie an, dann Dave. "Ich wollte nicht... Ich meine, es war nicht meine Absicht ..." Das stimmte nicht. Er hatte es gewollt, und es war seine Absicht gewesen. Aber Chloe sah so verzweifelt aus, dass er irgendetwas sagen musste. Doch wie sollte er es wieder gutmachen, dass er ihr die Unschuld genommen hatte? Er hatte sie benutzt, um das zu bekommen, was er wollte. So, wie Catherine ihn benutzt hatte. Als Chloe ihm auf die Beine helfen wollte, schob er sie fort. "Mir geht es gut", behauptete er heiser. "Mach dir um mich keine Gedanken. Ich habe nur bekommen, was ich verdient habe." "Aber..." "Das stimmt allerdings", sagte Dave ausdruckslos. "Komm, Chloe." "Nein, ich ..." "Geh mit ihm, Chloe." Die Worte fielen ihm, Gibson, unendlich schwer. Sie sah ihn entsetzt an. Und dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, und Resignation spiegelte sich in ihrem Blick. "Geh schon, Chloe", sagte Gibson rau und mit ungeheurer Willensanstrengung. " Geh einfach."
10. KAPITEL So hatte sie, Chloe, sich ihre Rückkehr nach Collierville nicht vorgestellt. Ihre Mutter war sprachlos, ihr Vater Verblüfft, und ihre Schwestern schüttelten nur den Kopf. "Was ist passiert?" fragten alle. Chloe antwortete nicht. Wie hätte sie ihnen denn erklären sollen, dass sie Dave nicht genug liebte, um ihn zu heiraten, und dass Sie einen anderen Mann über alles liebte? Es würde Dave verletzen, und ihr würde es nicht helfen. Außerdem brachte sie es nicht übers Herz, von Gibson zu sprechen. Nicht einmal mit Gina, die sie forschend ansah, als sie wieder in der Redaktion erschien. "Stimmt es, dass du Dave nicht heiratest?" fragte sie. "Ja." Die Neuigkeit hatte sich in Collierville wie ein Lauffeuer verbreitet. Gina erwartete von ihr eine Erklärung für den Meinungsumschwung, doch Chloe schwieg. "Hat Gibson sich etwa danebenbenommen?" erkundigte sich Gina schließlich misstrauisch. Chloe schüttelte den Kopf. "Nein, natürlich nicht." "Schade eigentlich", sagte Gina und seufzte. Chloe musterte sie erstaunt. "Na ja, ich meine, es wäre doch schön, wenn er endlich so ein nettes Mädchen wie dich finden und heiraten würde." Als sie
ihre verblüffte Miene bemerkte, fügte Gina schnell hinzu: "Ich habe dich natürlich nicht nach New York geschickt, um dich mit Gibson zu verkuppeln. Du warst ja schließlich mit Dave verlobt, aber ich dachte, wenn er dich sieht, würde er darüber nachdenken, auch bald zu heiraten." Chloe schüttelte den Kopf. "Ich glaube nicht, dass Gibson ans Heiraten denkt." Er war ein wunderbarer Liebhaber, einfallsreich, zärtlich und leidenschaftlich, und sie würde die gemeinsame Nacht niemals vergessen, in der sie so unendlich viel gelernt hatte. Aber Gibson hatte kein einziges Mal "Ich liebe dich" zu ihr gesagt. Er liebt mich nicht, dachte Chloe. Er wird mich nie lieben. Die gelöste Verlobung sorgte drei Wochen lang für Gesprächsstoff in Collierville. Dann beschäftigten die Leute sich mit einer anderen Nachricht. Ein Laster hatte auf dem Weg zum Schlachthof seine achtundsiebzig Schweine verloren. Es hatte sieben Stunden gedauert, die Tiere wieder einzufangen, die überall auf der Autobahn herumliefen. Der Lastwagenfahrer, Feuerwehrmänner, neun Farmer, drei Journalisten, ein Fotograf und zwei Bürgermeister hatten sich an der Aktion beteiligt. Collierville hatte ein neues Thema, und Chloe atmete auf. Am Freitag, der auf den Labor Day folgte, traf sie zufällig Dave, als sie die Redaktion verließ. Seit dem gemeinsamen Rückflug von New York hatte sie ihn nicht ein einziges Mal gesehen. Immer wieder hatte sie sich vorgenommen, ihn anzurufen, um sich bei ihm zu entschuldigen, doch sie hatte es immer wieder verschoben, weil sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Jetzt war sie gezwungen, etwas zu sagen. Es kam gar nicht in Frage, wortlos an ihm vorbeizugehen. Schließlich war er immer noch einer der liebsten Menschen, die sie kannte, und sie wollte ihn gern als Freund behalten. Scheu lächelte sie ihn an. "Hallo." Dave erwiderte ihr Lächeln. "Wie geht es dir?" "Ganz gut. Und dir?"
"Es wird langsam wieder." Er wirkte auch recht zuversichtlich. Offensichtlich hatte er sich davon erholt, dass sie ihm das Herz gebrochen hatte. "Das ... das freut mich", sagte Chloe. "Ich wollte dich anrufen, um zu hören, wie es dir so geht, aber ..." Dave lächelte ironisch. "Es war besser, dass du nicht angerufen hast." Sie blickten einander forschend an, als würden sie sich zum ersten Mal als Erwachsene wahrnehmen. "Du hattest recht Chloe", erklärte Dave schließlich. "Womit?" "Damit, dass du die Verlobung gelöst hast." Sie sah ihn verblüfft an. "Aber wieso ...?" "Ich habe mit deiner Vermieterin telefoniert." "Mit wem?" "Mit Mariah. Ich wollte wissen, was eigentlich passiert ist und ob es ein Fehler von mir gewesen ist, dich nach New York gehen zulassen." "Du hättest mich gar nicht aufhalten können, Dave." "Ja, das ist mir klar geworden. Nach meiner Unterhaltung mit Sierra ist mir einiges klar geworden." "Du hast mit Sierra gesprochen?" Chloe kam aus dem Staunen kaum noch heraus. Dave nickte. "Mariah hat mir ihre Nummer gegeben. Und Sierra hat mir erzählt..." Er wurde rot und räusperte sich. "Sie hat mir erzählt, dass du nackt getanzt hast für diesen Walker." Chloe sah sich entsetzt um. Glücklicherweise hatte außer ihr niemand gehört, was Dave gerade gesagt hatte. "Das hat sie dir erzählt?" Sie war fassungslos. "Ja, sie hat auch erklärt, dass es eine Verwechslung war. Aber das hat für mich keine Rolle gespielt. Die Chloe, die ich ich kenne, hätte niemals ..." Er verstummte. "Jedenfalls habe ich mir alles durch den Kopf gehen lassen und bin zu dem Schluss gekommen, dass du Recht hattest. Wir waren ja noch Kinder, als
wir uns verlobt haben, und wir haben uns nie gefragt, ob wir auch als Erwachsene zueinander passen. Das heißt, du hast es dich gefragt. Deshalb bist du auch nach New York gegangen, oder?" Er sah sie neugierig an. Chloe nickte. "Ich wollte mir einfach über unser Leben klar werden. Natürlich hatte ich gedacht, ich würde nach Collierville zurückkehren und mir meiner ganz sicher sein. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, zu dem Schluss zu kommen, dass wir doch nicht zueinander passen." "Ich weiß", sagte Dave leise und fuhr sich verlegen über den Nacken. "Tut mir Leid, dass ich ihm einen Kinnhaken verpasst habe." "Es war nicht seine Schuld." "Er ist ein Narr." "Nein..." "Doch. Wenn er dich nicht liebt, ist er ein Narr. Das habe ich Sierra auch gesagt." "Tatsächlich?" Sie war entsetzt. Dave nickte zufrieden. "Sie ist meiner Meinung." "Ihr habt euch darüber unterhalten?" "Ja. Sierra ist wirklich ein nettes Mädchen." Er lächelte, fast zärtlich. Chloe sah ihn erstaunt an. Dave und Sierra? Das erschien ihr doch recht unwahrscheinlich. Aber das Leben steckte ja voller Überraschungen. Die beiden würden sicher glücklicher werden als sie mit ihrer unglücklichen Liebe zu Gibson. Sie lächelte Dave an. "Sag mal, was hältst du eigentlich von violettem Haar?" Er fühlte sich schrecklich. Sein ganzes Leben stand auf dem Kopf. All seine guten Vorsätze, an die er sich zwölf Jahre lang gehalten hatte, waren über Bord gegangen. "Dabei habe ich doch gewusst, dass es mit ihr Probleme geben würde", sagte Gibson sich ein ums andere Mal. Doch das half ihm nun auch nicht weiter. Was geschehen war, war geschehen.
Am liebsten hätte er Gina beschimpft, weil sie daran schuld War, dass sein geordnetes Leben völlig aus den Fugen geraten war. Doch das ging natürlich nicht. Er sprach schon seit Jahren nicht mehr mit ihr über sein Privatleben. Außerdem würde er schon wieder darüber hinwegkommen. Über die Geschichte mit Catherine war er ja auch hinweggekommen. In zwei, drei Wochen würde er sich nicht einmal mehr an Chloes Namen erinnern. Chloe, ach, Chloe! Er sah sie vor sich. Ihr Lächeln, ihren sinnlichen Mund. Er meinte, ihr Lachen zu hören, ihre Wärme zu spüren. So schnell würde er sie wohl doch nicht vergessen. Wenn er hätte arbeiten können, wäre alles halb so schlimm gewesen. Mit Chloes Hilfe hätte er seine Arbeit auch mit einem eingegipsten Bein erledigen können. Sie war intelligent genug, um die Aufnahmen selbst machen zu können. Er hätte es ihr schnell beigebracht. Aber Chloe war fort. Edith war noch in North Carolina. Es gab niemanden, der eine Assistentin für ihn hätte einstellen können. Er wollte auch keine neue, er wollte Chloe. Doch Chloe gehörte zu Dave. Er, Gibson, kam sich sehr nobel vor, weil er auf sie verzichtet hatte. Gina wäre stolz auf ihn. Oder nicht? Wohl kaum, wenn sie erfahren würde, was er mit Chloe angestellt hatte. Natürlich hätte er Chloe in Ruhe lassen sollen. Er hatte sich wie ein Schuft benommen. Andererseits war er froh, weil er nun wenigstens seine Erinnerungen hatte. Die konnte ihm niemand nehmen. Und er sehnte sich unendlich nach Chloe. Würde das denn nie vergehen? Das Klingeln des Telefons riss ihn aus seinen trüben Gedanken. In den vergangenen drei Wochen seit Chloes Abreise hatte er kaum ein Gespräch angenommen. Der Anrufbeantworter hatte die Anrufe aufgezeichnet. Das Gerät war auch jetzt eingeschaltet. Eine wütende Frauenstimme sagte:
"Gibson Walker, du gehst jetzt sofort an den Apparat. Ich weiß genau, dass du zu Hause bist." Es war Marie, seine Agentin. Er hatte ihr vor drei Wochen mitgeteilt, er könnte nicht arbeiten, weil er sich den Fuß gebrochen hatte. Sie hatte nur gefragt, ob er die Kamera mit den Füßen betätigte. Gibson seufzte und nahm den Hörer ab. "Was ist los, Marie?" "Ich wusste doch, dass du da bist. Hindert dein Fuß dich jetzt schon daran, Anrufe entgegenzunehmen?" "Ich spreche doch mit dir, Marie. Was willst du?" "Ich will nur sichergehen, dass du heute Abend zur ,Seven'Party kommst." Gibson machte die Augen zu. Das hatte ihm gerade noch gefehlt! "Gibson? Bist du noch da?" "Mein Bein ..." "Du brauchst ja nicht zu tanzen, mein Lieber. Du musst dich nur dort blicken lassen, ein wenig Süßholz raspeln, dir von allen auf die Schulter klopfen lassen, und schon darfst du wieder gehen. Die Aufnahmen sind einfach grandios. Die Mädchen sind außergewöhnlich schön." Nicht so schön wie das Mädchen, das nicht auf den Fotos war. "Bis später." Marie hatte aufgelegt. Er wusste, dass er zu dieser Veranstaltung erscheinen musste. Schließlich wollte er es sich nicht mit seinen Kunden verderben. Außerdem würde es ihm gut tun, mal wieder unter Menschen zu kommen und nicht ständig Trübsal zu blasen. Die Party war grässlich. Sein Fuß schmerzte, und mindestens ein Dutzend leicht bekleideter Mädchen bot an, ihn, Gibson, gesund zu pflegen. Drei von ihnen machten ihm sogar noch ganz andere eindeutige Angebote. Er sagte zu allen Nein, höflich, aber bestimmt.
Schließlich kam Finn MacCauleys Frau Izzy zu ihm und erlöste ihn, indem sie die Mädchen vertrieb und sich bei ihm einhakte. "Kommen Sie, wir nehmen Sie mit hinaus. Finn und ich wollten sowieso gerade gehen." So weit ist es also schon mit mir gekommen, dachte Gibson. Jetzt lasse ich mich tatsächlich von der Frau meines ärgsten Konkurrenten retten. "Sie wollten doch gehen, oder?" fragte Izzy zur Sicherheit. Gibson nickte. "Gut." Sie hakte sich auch bei ihrem Mann ein. "Dann wollen wir mal." Was Finn davon hielt, kümmerte sie nicht weiter. Sie winkte Marie fröhlich zum Abschied zu, und kurz darauf standen sie auf der Straße. "Bist du nicht stolz auf mich?" fragte Izzy ihren Mann. "Es ist erst halb elf, und wir haben es schon hinter uns." Finn nickte und sah ihn, Gibson, an, als würde er sich fragen, was er in ihrer Gesellschaft machte. "Ich habe ihn gerettet", erklärte Izzy und lächelte ihm zu. Gibson befreite sich aus ihrem Griff und nickte. "Ja, vielen Dank. Das war wirklich sehr nett von Ihnen." "Ach, nun seien Sie doch nicht so förmlich. Es wird Zeit, dass Sie und Finn sich einmal wie vernünftige Leute unterhalten. Ständig dieses Konkurrenzverhalten!" Finn lächelte verlegen. "Eigentlich hat sie Recht. Kommen Sie doch auf einen Sprung noch mit zu uns." Gemeinsam fuhren sie im Taxi durchs nächtliche New York. Als Gibson bewusst wurde, dass Finn und Izzy in der Parallelstraße von Mariahs Domizil wohnten, wurde er ganz wehmütig. Finn brachte ihm ein Bier, und Izzy versorgte ihn mit Kartoffelchips. Gibson saß wortlos am Tisch und sah aus dem Fenster. Er blickte direkt auf Chloes ehemaliges Zimmer. Izzy schien seine Gedanken zu lesen. "Schade, dass Chloe nicht mehr hier ist", sagte sie.
Gibson sah sie verblüfft an. "Wie?" Izzy lächelte. "Ich hatte sie richtig gern. Wir haben viel Spaß miteinander gehabt." "Tatsächlich?" "Ja. Während Sie auf Ihrer Bergwanderung waren, haben Chloe und ich die Sehenswürdigkeiten abgeklappert, mal mit den Kindern, mal allein. Chloe und ich haben uns wunderbar verstanden. Ich dachte, Sie und Chloe ..." Sie verstummte. Gibson senkte den Kopf und betrachtete angestrengt sein Bierglas. Er hoffte, Izzy würde verstehen, dass er nicht über Chloe sprechen wollte. Vergeblich. "Warum haben Sie sie gehen lassen?" "Nun sei doch nicht so neugierig." Finn sah seine Frau streng an. "Ich bin nicht neugierig. Ich mache mir Sorgen, Also, warum haben Sie Chloe gehen lassen?" "Das habe ich ja gar nicht. Es stand doch die ganze Zeit fest, dass sie wieder nach Collierville zurückkehren würde. Sie ist verlobt und heiratet übermorgen." Gibson umklammerte das Bierglas so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. "Und das lassen Sie zu?" fragte Izzy schockiert. Er sah sie verblüfft an. "Was, um alles in der Welt, soll ich denn tun?" "Sie könnten die Hochzeit verhindern." Die Hochzeit verhindern? Er sah die Szene vor sich. Zuerst würde er den nächsten Flieger nach Iowa nehmen und dann in die Kirche stürzen und rufen: "Die Hochzeit darf nicht stattfinden." Was bin ich für ein Narr gewesen, dachte Gibson und schüttelte den Kopf. Die ganze Zeit hatte er sich eingebildet, es wäre richtig, auf Chloe zu verzichten. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er sich gründlich geirrt hatte. Chloe hätte niemals so völlig ungehemmt mit ihm geschlafen, wenn sie ihn nicht von ganzem Herzen geliebt hätte. Aber wenn sie ihn, Gibson, liebte, warum wollte sie dann Dave heiraten?
Weil ich sie in seine Arme getrieben habe, dachte er. Das durfte doch nicht wahr sein! Was hatte er nur angerichtet? "Natürlich müssen Sie die Hochzeit verhindern", sagte Izzy. "Ihnen bleibt gar keine andere Wahl." "Das sehe ich auch so", stimmte Finn ihr zu. Und plötzlich wusste Gibson genau, was er zu tun hatte. Als er nach Hause kam, holte er seine Reisetasche aus dem Schrank und begann zu packen. Collierville hatte sich überhaupt nicht verändert, seit er, Gibson, der Stadt vor zwölf Jahren den Rücken gekehrt hatte. Es schien fast, als wäre die Zeit stehen geblieben. Er hatte sich einen Mietwagen genommen und war vom Flughafen direkt zum Haus seiner Schwester gefahren. Gibson stieg aus und ging den Gartenweg entlang, als die Haustür aufgerissen wurde. Gina sah ihn verblüfft an. Dann stieß sie einen Freudenschrei aus und fiel ihm um den Hals. "Gibson", rief sie begeistert. "Das ist aber eine Überraschung! Warum hast du denn nicht angerufen? Warum bist du hier? Ach, das will ich gar nicht wissen. Ich freue mich wahnsinnig." "Die Freude wird dir vergehen, wenn du hörst, warum ich gekommen bin", sagte Gibson warnend. Gina musterte ihn überrascht. "Was willst du damit sagen?" "Ich bin hier, um die Hochzeit zu verhindern." Sie sah ihn verständnislos an. "Welche Hochzeit?" "Chloes Hochzeit. Was dachtest du denn?" Gina schüttelte ratlos den Kopf. "Aber es findet doch überhaupt keine Hochzeit statt." Gibson blickte seine Schwester fassungslos an. "Wieso nicht?" "Weil Chloe und Dave die Hochzeit abgesagt haben." Konnte das denn wahr sein? Oder träumte er?
"Warum haben sie die Hochzeit abgesagt?" fragte er. War das Chloes Idee gewesen? Oder wollte Dave sie nicht mehr heiraten, weil er sie mit ihm, Gibson, erwischt hatte? Gina wusste nichts Näheres. "Ich muss mit Chloe sprechen." Er wandte sich ab, um zum Auto zurückzugehen. "Wo ist sie?" "Keine Ahnung. Sie hat Urlaub genommen und ist weggefahren." "Und du weißt nicht, wohin?" Gina schüttelte bedauernd den Kopf. "Aber vielleicht weiß Dave, wo sie steckt." Wahrscheinlich würde er ein blaues Auge riskieren, wenn er Dave aufsuchte, aber darauf musste er es jetzt ankommen lassen. Er wollte zu Chloe. "Und wo finde ich Dave?" Gina beschrieb ihm den Weg, und kurz darauf stand er vor Dave, der gerade einen Traktor reparierte. "Was wollen Sie?" fragte der Farmer unfreundlich. Gibson konnte es ihm nicht verübeln. "Jedenfalls keine blutige Lippe. Obwohl ich zugeben muss, dass ich den Kinnhaken neulich verdient hatte." "Das stimmt allerdings. Und warum sind Sie hier?" "Ich muss Chloe finden. Meine Schwester sagte, Sie wüssten vielleicht, wo sie steckt." "Kann sein." Dave widmete sich wieder dem Traktor. Gibson wartete und wartete. Als Dave immer noch nicht antwortete, bat er: "Würden Sie es mir bitte sagen?" Dave sah ihn an. "Warum sollte ich?" "Weil ich sie liebe." Er, Gibson, hatte lange gegen seine Gefühle angekämpft, doch das War nun vorbei. Er liebte Chloe Madsen, und das würde auch immer so bleiben. Er senkte den Blick und schloss die Augen. "In der Nähe des Klosters gibt es eine Ferienhütte", sagte Dave langsam. "Wahrscheinlich ist sie dort."
Die Ruhe im Kloster tat Chloe gut. Sie saß mit der ehrwürdigen Schwester Carmela im Garten und genoss die Sonne. "Vielleicht sollte ich Nonne werden", sagte sie. Carmela lachte. "Das hätte noch gefehlt, Chloe. Dadurch würdest du deine Probleme auch nicht lösen. Du kannst nicht vor deinen Gefühlen davonlaufen." "Nein, das geht auf die Dauer wohl nicht." "Du musst dir über deine Gefühle klar werden." . Sie, Chloe, wusste, was sie empfand. Sie liebte Gibson von ganzem Herzen und sehnte sich schrecklich nach ihm. "Was soll ich denn tun?" fragte sie verzweifelt. "Er erwidert meine Liebe ja nicht." Carmela lächelte wissend. "Ich wäre mir da nicht so sicher. Man weiß nie, was das Leben noch mit einem vorhat. Du musst Vertrauen haben, Chloe." Sie sah auf und lächelte noch strahlender. "Du wirst schon sehen." Sie blickte an ihr vorbei und wurde immer vergnügter. Chloe fragte sich, warum Carmela plötzlich noch fröhlicher war als sonst, und blickte sich um. Ein Mann kam den Hügel herunter. "Gibson!" Sie sprang so ungestüm auf, dass ihr Stuhl dabei umfiel, und lief Gibson entgegen. Er hatte jetzt einen Gehgips und humpelte stark. Als er sie bemerkte, beschleunigte er seine Schritte. Hinter ihr war Carmela aufgestanden und sagte leise: "Das hatte ich mir doch gedacht." Chloe war überglücklich und warf sich Gibson so stürmisch in die Arme, dass sie beide zu Boden gingen. "Oh, entschuldige! Das wollte ich nicht. Hoffentlich habe ich dir nicht wehgetan..." Weiter kam Chloe nicht, denn Gibson presste die Lippen auf ihre, um sie verlangend zu küssen. Er schob die Hand in ihr Haar und hielt sie fest, als wollte er sie nie wieder loslassen.
Überglücklich erwiderte sie seine Küsse. Als sie zwischen durch kurz aufsah, bemerkte sie, dass Carmela ihr vergnügt zulächelte und dann zum Fluss hinunterging. Chloe dankte ihr schweigend für ihr Verständnis, bevor sie sich wieder ganz auf den Mann konzentrierte, nach dem sie sich wochenlang gesehnt hatte. Es war wunderbar, wieder in seinen Armen zu liegen und seine heißen, leidenschaftlichen Küsse zu erwidern! "Warum, um alles in der Welt, hast du mir nicht gesagt, dass die Hochzeit nicht stattfindet?" fragte Gibson schließlich außer Atem und sah sie vorwurfsvoll an. Sie lächelte. "Das konnte ich nicht. Dann hättest du gedacht, du hättest alles für Dave und mich verdorben. Oder hätte ich vielleicht zugeben sollen, dass ich Dave nicht heiraten kann, weil ich nur an dich denken kann?" Gibson lächelte vergnügt. "Das wäre eine gute Idee gewesen." Er setzte sich auf und wurde ernst. "Und? Tut es dir Leid, dass wir beide ... Ich meine ..." Er sah sie unsicher an. Die Antwort schien ihm außerordentlich wichtig zu sein. Chloe umfasste zärtlich seine Hand. "Es tut mir nicht leid, aber ich muss wissen, ob du mich auch liebst." Gibson atmete erleichtert auf und strahlte. "Ich liebe dich mehr, als ich je einen Menschen geliebt habe. Dabei hatte ich mir fest vorgenommen, nie wieder jemanden zu lieben." "Nie wieder?" "Genau. Catherine hatte mich zu sehr enttäuscht." "Du warst in Catherine Neale verliebt?" Er nickte. "Wir waren sogar verheiratet." "Wie bitte?" Gibson lächelte verlegen. "Es ist lange her. Damals kannte uns noch niemand. Ich war bei Camilo beschäftigt, dem berühmten Fotografen. Du hast sicher schon von ihm gehört."
Natürlich! Der Mann war weltberühmt. Und er war mit Catherine Neale verheiratet gewesen. "Du hast ihm Catherine Neale ausgespannt?" "Nein, es war umgekehrt." Gibson seufzte. "Catherine wollte sich unbedingt von ihm fotografieren lassen, weil sie glaubte, dadurch würde ihr der Durchbruch gelingen. Mich hat sie nur benutzt, um an Camilo heranzukommen. Und ich habe es am Anfang nicht einmal bemerkt, weil ich so ein unbedarfter Junge aus Iowa war. Deshalb hatte ich auch etwas dagegen, dass du in New York arbeitest. Ich wurde damals bitter enttäuscht, und ich wollte verhindern, dass du auch ausgenutzt wirst." Deshalb hatte er sich anfangs so merkwürdig verhalten! Sie fand es rührend, und sie liebte ihn umso mehr. "Ach, Gibson!" Chloe umarmte ihn und küsste ihn zärtlich. "Sie hat dich überhaupt nicht verdient." Er zuckte die Schultern. "Sie benutzt Menschen und wirft sie weg. Und ich hatte mir damals geschworen, nie wieder jemanden an mich heranzulassen. Doch dann bist du aufgetaucht, mein Liebling." "Ich würde niemals ..." "Das weiß ich", unterbrach er sie. "Du hast überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihr." "Hoffentlich ist das ein Kompliment." Sie schnitt ein Gesicht. Gibson lachte und spielte mit ihren goldblonden Locken. "Allerdings. Es ist das größte Kompliment, das ich jemals gemacht habe." Er wurde ernst. "Und es ist ein Heiratsantrag. Willst du mich heiraten, Chloe? Meinst du, du könntest es mit mir aushalten? Mit mir alt werden? Ich liebe dich so sehr." "Na ja, wenn das so ist ..." Chloe fiel ihm glücklich um den Hals. Gibson lachte. "Ist das ein Ja, mein Liebstes?" Sie sah ihm tief in die Augen, dann küsste sie ihn, bis sie beide völlig außer Atem waren. Gibson wartete noch immer auf eine Antwort. "Chloe?"
Chloe küsste ihn wieder und sagte strahlend: "Das ist ein Ja, Gibson. Ich liebe dich, und ich will deine Frau werden."
- ENDE -