Hermann Zapf Schrift und Buch in der Welt von morgen
Kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft Nr. 91
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Hermann Zapf Schrift und Buch in der Welt von morgen
Kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft Nr. 91
Kleiner Druck der Gutenberg-Gesellschaft Nr. 91
Hermann Zapf Schrift und Buch in der Welt von morgen
Gutenbergs Erfindung des Schriftgusses am Beginn der Neuzeit schuf die technischen Voraussetzungen für die Massenherstellung von Büchern. Die Schrift ermöglichte es dem Menschen, Gedanken und Mitteilungen festzuhalten und auszutauschen. Der Buchdruck half ihm, seine Erkenntnisse und Ideen zu vervielfältigen und über seinen engeren Wirkungskreis hinaus zu verbreiten. Das Drucken von Büchern war die wichtigste Voraussetzung aller wissenschaftlichen Arbeit bis in unsere Tage und wird es sicher auch für die Zukunft bleiben. Um 1450 lebten etwa 300–400 Millionen Menschen auf der Erde, ungefähr 10 % der jetzigen Bevölkerung. Heute sind es aber bereits ca. 3 Milliarden. Gutenbergs Erfindung war also eine notwendige Voraussetzung für die kulturelle Entwicklung der Menschheit in den vergangenen 500 Jahren. Die Zukunft stellt uns vor neue Aufgaben, weil die Proportionen sich weit größer entwickeln als in der Zeitspanne seit Gutenbergs Erfindung. In etwa 30 Jahren wird sich die Weltbevölkerung verdoppeln, dann werden ungefähr 6 Milliarden Menschen diese Erde bevölkern. Für diese riesige Zahl gilt es, die technischen Voraussetzungen zu schaffen, um alle mit dem Wissen und den Gedanken ihrer Zeit vertraut zu machen. Ich möchte hier erwähnen, daß es uns — trotz allen Fortschritts auf vielen Gebieten — bis heute nicht gelungen ist, das Analphabetentum in der Welt zu beseitigen. Nach der UNESCO-Statistik gibt es heute — im Zeitalter der Computer und der Raumfahrt — über 750 Millionen Menschen, die weder lesen noch schreiben können. 50 Millionen mehr als vor 10 Jahren. 750 Millionen, das ist etwa die gleiche Anzahl
Menschen, die unser sogenanntes lateinisches Alphabet verwenden. Das bedeutet aber, daß 75 % der Weltbevölkerung keine Antiquabuchstaben benutzen. Unabhängig davon wird das Problem des Analphabetentums kaum in den nächsten 30 Jahren gelöst werden können.
Ist das Druckgewerbe überhaupt auf der ganzen Welt in der Lage, in 30 Jahren 6 Milliarden Menschen zu versorgen? Wir wollen dabei unsere Hochrechnungen gar nicht weiterverfolgen, denn in etwa 500 Jahren würde es so viele Menschen geben, daß für den einzelnen als ›Lebensraum‹ nur die Fläche einer aufgeschlagenen Gutenberg-Bibel zur Verfügung stünde. (Vorausgesetzt, die Menschheit nimmt in einem ähnlichen Maße zu, wie es in den vergangenen Jahrzehnten der Fall war.) Eigentlich müßte sich ein Goldenes Zeitalter für das Druckgewerbe eröffnen, angesichts der täglichen Zunahme der Weltbevölkerung um ca. 190 000, also um eine Stadt größer als Mainz. Neben der Aufgabe, die Menschen mit Wissen und Informationen zu versorgen, kommen neue, bisher unbekannte Probleme auf uns zu. Wie soll der einzelne Mensch das Wissen und die unzähligen täglichen Neuigkeiten verarbeiten.
Außer Bücher, Zeitungen und Zeitschriften stehen ihm heute im Hörfunk und im Fernsehen zusätzliche Informationsquellen zur Verfügung. Der Tag hat aber wie zu Gutenbergs Zeiten auch heute nur 24 Stunden. Bedenken wir, es gibt etwa 50 000 technische und wissenschaftliche Zeitschriften auf der Welt. Allein ca. 6000 medizinische Zeitschriften mit über 2 Millionen Seiten jährlich. Kein Mediziner ist mehr in der Lage, alle wichtigen Forschungsergebnisse zu studieren, wenn er gleichzeitig noch seinen Beruf als Arzt ausüben soll. 90 % aller
Wissenschaftler, die je auf unserer Erde gearbeitet haben, leben heute, sind unsere Zeitgenossen und veröffentlichen ihre Ergebnisse.
War es bisher noch möglich, das Wissen und die Forschungen in Büchern zu speichern, so wird die Zukunft die gewaltigen Mengen an Wissen, Informationen und Forschungen nur durch neuartige, vom Buch unabhängige Mittel bewältigen können. Datenzentren und wissenschaftliche Film-Archive werden uns helfen, diese Probleme zu lösen. Wie Gutenbergs Erfindung, so erfolgte auch die Entwicklung der Computer zum richtigen Zeitpunkt, da in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts das Ausmaß der Erfindungen und das Wissen ins Uferlose zu wachsen begann. Jeweils innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelt sich das Wissen. Um das Jahr 1700 konnte noch ein einzelner Mensch ein nahezu allumfassendes Wissen besitzen, wie z. B. Gottfried Wilhelm Leibniz. In seinen jungen Jahren war er — wie Sie wissen — ja auch hier in Mainz tätig. 75 000 Zetteln vertraute er seine Gedanken und sein Wissen an. Mit seiner Erfindung einer Rechenmaschine im Jahre 1671 gehört er zu den geistigen Vätern der Computer von heute. Seine Vision, das gesamte menschliche Wissen in seinem Sammelwerk ›Thesaurus omnis humanae cognitionis‹ zu vereinen, wäre damals noch in Büchern möglich gewesen. Obgleich beim Druck des letzten Bandes die ersten bereits veraltet gewesen wären. Heute ist solch ein gewaltiges Projekt nicht mehr in Buchform zu verwirklichen. Theoretisch aber könnten Computer dies heute erfüllen, wenn wir die praktische Bedeutung und die Kostenfrage einmal außer acht ließen. Die Datenzentren der Zukunft werden das klassische Buch nicht verdrängen, jedoch durch ihre Möglichkeiten, schnell zugriffsbereite aktuelle Daten und Ergänzungen zu
liefern, eine neue Form des Studiums und der wissenschaftlichen Forschung entwickeln helfen. Es ist ein Unterschied bei jeder wissenschaftlichen Arbeit, ob man grundlegende Fakten einem Buch entnehmen kann, um durch Vergleich und Abbildungen die Zusammenhänge zu studieren, oder ob lediglich nur eine Information benötigt wird, die sich auf dem allerneuesten Stand befindet. Diese Informationen können entweder kurz auf einem Bildschirm erscheinen oder über den Bildschirm auch als Photokopie abgerufen werden; man benötigt sie, um schnell Details auf einem bestimmten Gebiet zu erfahren und um gleichlaufende Forschungen beobachten zu können. Als in den 50er Jahren das Mikrofilmverfahren für die Praxis entwickelt wurde, hatte man schon das Ende der Bibliotheken für die kommenden Jahrzehnte vorausgesagt. Der Ausbau der Datenzentren wird aber nicht die Auflösung der privaten und öffentlichen Bibliotheken bedeuten, sondern diese Datenzentren — selbst in ihrer perfektesten erträumbaren Formwerden lediglich wie Mikrofilm eine notwendige Ergänzung für die veränderten Verhältnisse der Zukunft darstellen. Allerdings werden wir neben der klassischen Buchform, wie sie Gutenberg und seine Nachfolger in den vergangenen 500 Jahren entwickelten, neue Arten von Berichts- oder Informationsblättern entstehen sehen. Ohne feste Einbände, durch ein Klassifikationssystem übersichtlich gemacht. Computer-Ergebnisse und -Analysen, Informationen, die oft nur eine ganz kurze Zeit von Bedeutung oder aktuell sind, gibt es ja heute bereits. Neben den Forschungsberichten und Daten, Konfere nzveröffentlichungen und Bestandsübersichten hat die Entwicklung der Datenverarbeitungsmaschinen ganz neue Aufträge der Druckindustrie erschlossen, die früher entweder überhaupt nicht existierten oder durch den relativ langsamen Ablauf des Erarbeitungs- und Herstellungsprozesses unmöglich für den praktischen Einsatz waren. Die Vorteile des gedruckten Buches für die Wissenschaft und Forschung werden auf vielen Bereichen kaum von elektronischen Datenzentren verdrängt werden können. Allein innerhalb von 2 Jahrzehnten verdoppelten sich die
Bestände der amerikanischen Universitätsbibliotheken auf über 35 Millionen Bände. Wir dürfen aber auch keine Angst vordem Computer haben, eine Angst, mit der viele noch nicht fertig werden.
Wir sollten den Computer als dienstbaren Geist betrachten, der uns Routinearbeiten in Wissenschaft, Verwaltung und Wirtschaft abnimmt, damit der Mensch sich seiner spezifischen Fähigkeit mehr bewußt wird: dem schöpferischen Denken. Vergessen wir aber nicht, daß der Computer vielleicht einen ähnlichen Einfluß auf unsere weitere Entwicklung haben wird wie einst das Alphabet oder Gutenbergs Erfindung. Der Computer ist weder ein unbequemer Konkurrent, der uns von unseren Arbeitsplätzen verdrängen will, noch eine Wundermaschine, die uns eine bequeme und angenehme Zukunft verheißt. Betrachten wir den Computer als unser zusätzliches und logisches Gedächtnis, dem wir Fakten und umfangreiche Vorgänge gleichermaßen anvertrauen können, um sie dann nach einem vorprogrammierten Schema jederzeit über Schlüsselworte zurückzurufen. Er kann systematisch zerlegte Daten und Resultate schnell vergleichen und kombinieren und dabei wichtige Einzelheiten heraussuchen. Die vergangenen 500 Jahre waren vom Hand- und Maschinensatz und der Buchdruckpresse gekennzeichnet. Viele alltägliche Arbeiten werden stets diesem Verfahren vorbehalten bleiben. Die kommenden Jahre werden diese ›klassischen‹ Methoden nicht ausschalten, aber sie werden sich mehr den neuen Notwendigkeiten anpassen müssen. Computer arbeiten mit unvorstellbaren Geschwindigkeiten: In Milliardstelsekunden werden die Rechenoperationen ausgeführt, in sogenannten Nanosekunden. Der elektrische Strom durcheilt mit einer Geschwindigkeit von 300 000 km
in der Sekunde die kurzen Strecken zwischen den elektronischen Bauteilen in einem Computer. (Eine Nanosekunde verhält sich zu einer vollen Sekunde wie 1 Millimeter zu 1000 Kilometer.) Die Ergebnisse eines Computers, output genannt, sind so riesenhaft, daß Hunderte von Hand- und Maschinensetzern in der herkömmlichen Weise nicht Schritt halten könnten. Die in den letzten Jahren entwickelten Photosetzmaschinen sind heute bereits in der Lage, riesige Computerdaten zu verarbeiten. 36 000 Seiten eines über 80 Bände umfassenden Spezialkataloges wurden auf einer Linotron 1010 im Government Printing Office in Washington in 6 Wochen hergestellt. Das bedeutet 6000 Seiten in einer Woche, 2spaltig mit je über 100 Schriftzeilen pro Seite. Die Setzgeschwindigkeit der Linotron 1010 beträgt etwa 3 Millionen Buchstaben in einer Stunde. So phantastisch diese Zahlen sein mögen, die neueren Entwicklungen auf diesem Gebiet zeigen, daß die Geschwindigkeiten noch um ein Mehrfaches gesteigert werden können: Lichtsetzmaschinen in Verbindung mit Laser wird der nächste Schritt sein, um die Zukunftsprobleme im Zeitalter der progressiven Zahlen zu lösen. »Die Wirklichkeit ist schneller als unsere Phantasie«, hat Wernher von Braun einmal gesagt, das gilt auch für das Setzen und Drucken. Gutenberg konnte die Auswirkungen seiner Erfindung auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung nicht voraussehen. Rückblickend wissen wir aber heute, daß der Buchdruck eine soziale Umschichtung einleitete, die allein erst alle gesellschaftlichen Veränderungen der Vergangenheit ermöglichte. Der Druck von Büchern schuf die Voraussetzungen dafür, daß die Allgemeinheit einen persönlichen Anteil an den Problemen und Fragen ihrer Zeit nehmen konnte, ehe Hörfunk und Fernsehen erneute Möglichkeiten der Unterrichtung, der raschen Information und — wie wir ja leider auch wissen, ähnlich wie beim Buch — der einseitigen Beeinflussung der Massen brachten. Oft waren es in der Geschichte der Menschheit einzelne Bücher, die grundlegende Veränderungen auslösten oder bewirkten. Wir staunen manchmal, wie schnell in den früheren Zeiten und unter den damaligen recht umständlichen
Bedingungen die wirklich epochemachenden Bücher ihre Leser erreichten. Aber es gab noch den wirklich intensiven Leser, der neue Erkenntnisse durch die Macht des Wortes in sich aufnahm, die neuen Erkenntnisse aus den Büchern weitertrug und schließlich diesen Ideen und Gedanken zur Entfaltung verhalf. Der Leser und die Lesegewohnheiten beeinflussen die Form des Buches. Die Bibeldrucke Gutenbergs und seiner Nachfolgerwaren für ein bedächtiges Lesen bestimmt. Handlichere Bücher als Reiselektüre entwickelte erst Aldus um 1500. Bis zu den wohlfeilen Taschenbüchern unserer Tage war aber noch ein langer Weg. Leider sind wir heute meistens gezwungen, hastig und schnell zu lesen. Nicht alle Taschenbücher und Zeitschriften nehmen darauf Rücksicht, da sie oft in einem zu kleinen Schriftgrad gesetzt sind. Wir lesen heute viel mehr Fachliteratur, weil wir aus beruflichen Notwendigkeiten dazu gezwungen werden. Die Strukturveränderungen in allen Teilen unserer Wirtschaft werden einen permanenten Lernprozeß von uns fordern. Die Studienzeit oder die Lehrzeit im herkömmlichen Sinn wird allein nicht mehr genügen, um ein Fachwissen für ein ganzes Leben zu vermitteln.
Um mit der technischen Entwicklung einigermaßen Schritt halten zu können, müssen wir neue Formen der Freizeitbeschäftigung entwickeln. Bücher, Hörfunk und Fernsehen werden nicht mehr primär der Entspannung oder Zerstreuung dienen, sondern der Unterrichtung und der Erweiterung unseres Wissens, um die Zukunft besser verstehen zu können. Der Anteil der Belletristik an unserer Buchproduktion geht mehr und mehr zurück. Ihr Anteil betrug in den früheren Jahrzehnten etwa 20 %. Er ist heute bereits auf 15 % ge-
sunken, während sich das Sachbuch im Gesamtumsatz des Buchhandels innerhalb der letzten Jahre verdoppelte. Erkenntnisse und Gedanken zu verbreiten und an eine unbegrenzte Anzahl von Menschen weiterzugeben, ist nun heute auf verschiedene Weise möglich. Nahezu 500 Jahre war der Buchdruck das einzige marktbeherrschende Medium der Mitteilung. In den letzten 50 Jahren sind nun für die Verbreitung neuer Gedanken und wissenschaftlicher Ideen mindestens ebenso weitreichende Mittel dazugekommen: der Hörfunk und das Fernsehen. Auf der einen Seite hat das Volumen an Informationen derartig zugenommen, daß sie kaum zu bewältigen sind, auf der anderen Seite bahnen sich Entwicklungen an, die verschiedenen Kommunikationsmittel, die heute existieren, sinnvoller zu nutzen und die einzelnen Anwendungsgebiete besser als bisher gegenseitig abzugrenzen. Wir haben dabei zu bedenken, daß viele Dinge, die eine größere Verbreitung finden sollen, nicht mehr unbedingt in gedruckter Form vorliegen müssen. Die Möglichkeit der Speicherung auf Magnetbänder oder Magnettrommeln in Datenverarbeitungsmaschinen ergibt heute weitere Informationsträger, die jederzeit auf Abruf verfügbar sind. Das bedeutet, daß eine Reihe von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen und Abhandlungen überhaupt nicht in gedruckten Büchern benötigt werden. Nur andeuten möchte ich die neuesten Entwicklungen im audio-visuellen Bereich, denn auch hierdurch werden wir eine Verlagerung vom gedruckten Wort zum gesprochenen Wort mehr und mehr feststellen. Obwohl hier ein Zusammenwirken von Lehrbuch und Lernmaschinen denkbar wäre. Ein weiteres Phänomen sollten wir bei unseren Zukunftsbetrachtungen einbeziehen. Unabhängig von der Anzahl der Leser, die uns die Zukunft geben kann, ist zu berücksichtigen, daß die Lesefreudigkeit nicht zunehmen wird. Der Einfluß der visuellen Information ist in den vergangenen Jahren so gewachsen, daß eine Rückentwicklung zum geruhsamen Leser kaum stattfinden wird. Die Beobachtungen sind nicht allein auf die Industriestaaten begrenzt, selbst in den skandinavischen Ländern ist dies festzustellen, die bisher als besonders lesefreudig galten. So
werden die Bild-Ton-Kassetten in der allernächsten Zukunft einen ganz neuen Sektor in der Vermittlung von Wissen und Forschung darstellen, deren strukturelle Veränderungen auf unsere Lesegewohnheiten und deren Auswirkungen auf das Druckgewerbe wir noch gar nicht zu überschauen vermögen.
Das Goldene Zeitalter für das gedruckte Buch wird also nicht kommen. Leider wird es sogar seine Vorherrschaft als Informationsträger einbüßen, die es jahrhundertelang behauptet hatte. Wollen wir uns jetzt noch einmal dem Buch zuwenden, der technischen Entwicklung des Buches seit Gutenberg. Gutenberg verdrängte durch seine Erfindung das handgeschriebene Buch der mittelalterlichen Schreiber. Er mechanisierte die Buchherstellung. Das Neue am gedruckten Buch war, daß Gutenberg alle Schriftzeilen in gleicher Länge und mit gleichem Wortabstand anstrebte. Gleich lange Zeilen und optisch gleiche Wortabstände konnte er nur durch zusätzliche Ligaturen und Abbreviaturen zum normalen Alphabet erreichen. Aus diesen Gründen umfaßte sein Typenapparat teilweise 290 Figuren. Natürlich hätte er die Übertragung der handgeschriebenen Buchstaben in den gegossenen Metallbuchstaben auch mit einem geringeren Aufwand erreichen können. Welch eine Ersparnis an Zeit und Kosten wäre es gewesen, an Stelle von 290 Buchstaben und Figuren nur mit der Hälfte zu arbeiten. Denken wir dabei nur an das Setzen der Seiten und an das Ablegen der Buchstaben. Allerdings war damals am Beginn der industriellen Massenproduktion — die Johannes Gutenberg mit seiner Erfindung des Schriftgusses einleitete — die Arbeitszeit noch kein ausschlaggebender Faktor. Hätte Gutenberg durch eine Verringerung des Umfanges seines Alphabets die gleichen Wortabstände innerhalb einer Zeile von Anfang an aufgegeben, so hätte er ähnliche Probleme beim Satz gehabt wie wir heute: das Austreiben der
Zeile durch Vergrößern oder Verkleinern der Wortabstände. Das hätte aber bedeutet, daß die 42zeilige Bibel sich nicht in der Vollkommenheit zeigen würde, wie wir sie heute von der satztechnischen Form her noch immer bewundern, bewundern nach über 500 Jahren, die seit ihrem Druck in Mainz vergangen sind. Gutenberg schuf neben der Erfindung des Schriftgusses neue Regeln und Gesetze für das Buch. Die Typographie ist keine Kopie des handgeschriebenen Buches, denn dies hatte die unterschiedlich langen Zeilen. Neue Regeln und Gesetze wird auch der Photosatz in der Zukunft bringen, wenn er sich nächstens davon befreit, den Bleisatz, d. h. das Prinzip Gutenbergs, zu kopieren. Es ist interessant, festzustellen, daß bereits heute die frei auslaufende Zeile im Photosatz mehr und mehr Anwendung findet. Wir werden auf manches Ornament der Vergangenheit verzichten lernen. Davor brauchen wir uns nicht zu fürchten, denn keineswegs werden unsere Gestaltungsmöglichkeiten ärmer werden oder die Bücher der Zukunft uniformiert aussehen, wie so viele annehmen. Entscheidend ist aber nicht, wieviel in der Zukunft gedruckt wird, sondern nach wie vor, wieviel den Menschen erreicht, also was gelesen und von ihm aufgenommen wird. Die Grundformen der Buchstaben, wie wir sie heute gewohnt sind, werden auch in Zukunft bleiben. Alle Versuche gänzlich neuartiger Alphabete scheiterten an der jahrhundertelangen Verbreitung der herkömmlichen Formen und an unseren heutigen Lesegewohnheiten. In diesem Zusammenhang möchte ich nur an Bernard Shaws Gedanken für ein neues Alphabet erinnern. Selbst der Kompromiß aus Hunderten von Vorschlägen im Jahre 1962 fand durch die ungewöhnlichen Formen, die mit unseren Antiqua-Buchstaben nichts mehr Gemeinsames hatten, keine Zustimmung beim englischen Leser. Werden die Buchstaben, die wir als abendländische Formen innerhalb der vergangenen 2000 Jahre entwickelt haben, auch den Anforderungen der Zukunft gerecht werden? Wir müssen mehr und mehr daran denken, daß nicht nur allein das menschliche Auge die Buchstaben und Zeichen aufnehmen wird, sondern auch Lesemaschinen,
deren elektronische Abtastvorrichtungen eine überaus genaue Unterscheidung einzelner Formen voraussetzt. Alle Versuche, die Alphabete den primitiven Anforderungen der ersten Lesemaschinen anzupassen, waren lediglich Übergangslösungen. Lesemaschinen sind heute in der Lage, Drucktypen und teilweise bereits handgeschriebene Buchstaben zu lesen und in Lochstreifen umzuwandeln. Die Erfindung der Typographie durch Johannes Gutenberg beeinflußte in der darauffolgenden Zeit auch die Form der Buchstaben. Nach wenigen Jahrzehnten zeigten die Drucktypen bereits ihre spezifischen Gesetzmäßigkeiten und entfernten sich allmählich von den ursprünglichen handgeschriebenen Formen. Am deutlichsten ist dies bei den Antiquaschriften zu sehen, bei der Verringerung von Ligaturen und der Vereinfachung der Initialen. Wie Gutenberg anfangs handgeschriebene Formen zum Vorbild nahm, so sehen wir heute bei einigen Systemen typographische Alphabete einfach in den Photosatz übernommen. Hier werden teilweise typographische Unzulänglichkeiten, die durch die technischen Einschränkungen bedingt waren, im Photosatz einfach kopiert, ohne die neuen Möglichkeiten des Photosatzes wirklich auszunützen. Das mag vielleicht eine Übergangserscheinung sein. Die weiteren Entwicklungen, die sich bereits in den neuesten Photosatzsystemen abzeichnen, werden die Formen langsam verändern. Die neuen Freiheiten in einer sinnvollen Art zu nutzen, wird daher die zukünftige Aufgabe der Schriftentwerfer und Techniker sein. Bei den Photosatzsystemen, die mit Kathodenstrahlröhren arbeiten — ähnlich dem Bildschirmprinzip in unseren Fernsehgeräten — bahnen sich diese Veränderungen bereits an. Vor allen Dingen aber bei den Alphabeten für eine digitale Speicherung, also für eine Auflösung in Lichtpunkte.
Alphabete, die für digitale Schriftkernspeicher entworfen werden, wären ein Anachronismus, wenn sie einfache Kopien typographischer Formen darstellen würden. Die Alphabete wurden in den vergangenen 500 Jahren in erster Linie für die Wiedergabe im Buchdruckverfahren ent-
worfen. Zuerst für die Verwendung auf der Handpresse und für einen Druck auf vorgefeuchtetem Papier. Seit etwa 80 Jahren waren die Alphabete auch für Maschinensatz und für den Druck auf Rotationsmaschinen entwickelt worden. Schon der Offsetdruck und besonders der Rotationsoffset von Zeitungen stellt andere Anforderungen an die Buchstabenform als das normale Hochdruckverfahren. Heute kommen viele zusätzliche Probleme für den Schriftentwerfer dazu: dieMulti-Media oder MehrzweckVerwendung der neuen Alphabete. Nur ein paar Beispiele: 1. Buchstabenformen, die den Bedürfnissen der verschiedenen Drucktechniken gerecht werden, wie Hoch-, Flachund Tiefdruck. 2. Alphabete, die auf einem Bildschirm klar unterscheidbar und rasch lesbar sind. 3. Schriftzeichen, die sich auf Mikrofilm einwandfrei verkleinern und wieder zurückvergrößern lassen oder über eine Xeroxkopie den Leser erreichen. 4. Die spezifischen Probleme der elektronischen Lesemaschinen schon beim Entwurf zu berücksichtigen, um fehlerfreie Unterscheidungen besonders kritischer Buchstaben zu ermöglichen. 5. Vorlagen für Buchstaben zur Wiedergabe in einem elektrostatischen Druckvorgang oder für die Aufzeichnung mit Hilfe eines Laserstrahls. Beide zuletzt genannten Verfahren befinden sich zwar erst im Versuchsstadium, aber hier eröffnen sich ganz ungewöhnliche und interessante Aufgaben für die Zukunft. Ein ›ideales‹ Antiqua-Alphabet wird es daher kaum geben können. Zu verschieden sind die technischen Wiedergabemöglichkeiten. Auf der anderen Seite wird uns dies vor einer Einheitsschrift bewahren, die allzu leichtfertig von verschiedenen Seiten propagiert wird. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, die durch die Technik in der Vergangenheit entstandenen Buchstabenformen gedankenlos in die neuen Systeme der Gegenwart und Zukunft zu zwängen. Es sollte unser ehrliches Bemühen sein, einen eigenen Beitrag innerhalb der Entwicklung des Alphabets und des technischen Fortschritts zu liefern, d. h. Formen zu schaffen, die unser Denken von heute, die
Industrieform der Gegenwart widerspiegeln, zumal die Schrift ein Ausdrucksmittel darstellt, das auch Stilrichtung und den Geist einer Epoche wie kaum ein anderes Mediumwiederzugeben vermag.
Wir können den Übergang von der typographischen Arbeitsweise Gutenbergs in die elektronische Zukunft des Druckgewerbes nicht aufhalten, ebensowenig wie es zur Zeit Gutenbergs nicht gelang, seine Erfindung zu verhindern oder zu ignorieren. Ich denke hier an den Herzog Federigo von Urbino, der es noch Jahrzehnte nach Johannes Gutenberg unter seiner Würde fand, gedruckte Bücher in seiner Bibliothek aufzubewahren und lieber dafür unzählige Schreiber jahrelang beschäftigte, um Bücher in der alten handgeschriebenen Art herstellen zu lassen.
Die Zukunft wird sicher viele unserer bisherigen Gewohnheiten verändern. Wir wissen aber auch, daß gedruckte Bücher weiterhin ein überaus wichtiges Instrument zur Bewältigung der Probleme in der Welt von morgen sein werden. Hoffen wir, daß der Mensch der Mittelpunkt in dieser technisierten Umwelt bleibt.