James A. Michener
Südsee
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»Südsee«, der Roman von James A. Michener, nach dem das...
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James A. Michener
Südsee
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»Südsee«, der Roman von James A. Michener, nach dem das gleichnamige Welterfolgs- Musical entstand. Zweiter Weltkrieg. Die US-Soldaten suchen, soweit es die Umstände gestatten, kurzes Vergessen in den Armen exotisch betörender Frauen oder sie begegnen unter Palmen — wie Tony und die Halbjavanerin Latouche — der großen, alles verzehrenden Leidenschaft, der Liebe im Angesicht des Todes... Sonderauflage für Engel Verlag GmbH, München 1966 by Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München
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Buch Wem beim Titel ›Südsee‹ unwillkürlich ein paar unvergeßliche Melodien im Ohr klingen, der unterliegt keinem Irrtum. Denn das berühmte Musical entstand nach James A. Micheners gleichnamigem Roman, den Sie hier in den Händen halten. Es ist ein Buch - die Handlung spielt im Zweiten Weltkrieg auf pazifischen Inseln, wo sich Japaner und Amerikaner gegenüberstehen -, das sich zwischen zwei Polen extremer Spannung bewegt, zwischen Leben und Sterben, blasser Todesangst und nackter Daseinslust. Während man an einer Stelle liest: »Der Oberst kam wieder herüber und packte mich am Arm. 'Was ist denn mit Ihnen, mein Junge?' 'Mir fehlt weiter nichts,' sagte ich. 'Ich habe nur an ein paar Kameraden gedacht.' 'Das tun wir alle,' sagte der Oberst und sah mich mit dem traurigen müden Blick an, den alte Männer bekommen, wenn sie die Jungen in den Tod geschickt haben.« Nur wenige Buchseiten weiter erlebt der Leser ein völlig gegensätzliches Milieu: »Die Mädchen in dem Grünen Haus waren ganz anders. Sie konnten sich mit einem auf englisch unterhalten, einem etwas auf dem blechernen Klavier vorspielen und sogar Tee servieren, wie in guter Gesellschaft.« Die Soldaten wissen, daß die betörende Schönheit der Tropenwelt jeden Tag, ja jede Stunde zu einer Flammenhölle des Grauens werden kann. Sie suchen kurzes Vergessen in den Armen exotisch schöner, betörender Frauen, denen sie begegnen unter Palmen - wie Tony und die Halbjavanerin Latouche - der großen, alles verzehrenden Leidenschaft, der Liebe im Angesicht des Todes. Ein faszinierender Roman, für den James A. Michener den Publitzer-Preis bekam, eine der begehrtesten literarischen Auszeichnungen der Welt.
Inhalt Die Südsee ............................................................................ 4 Meuterei ............................................................................... 9 Alligator ............................................................................. 46 Unsere Heldin..................................................................... 61 Trockenfäule ..................................................................... 101 Leidenschaft ..................................................................... 132 Das Rollfeld auf Konora .................................................. 157 Wie sie sich verbrüderten................................................. 189 Frisco ................................................................................ 227 Die Landung auf Kuralei.................................................. 241 Ein Friedhof auf Hoga Point ............................................ 269
Die Südsee Ich wünschte, ich könnte euch von der Südsee erzählen. So, wie es wirklich dort war. Der unendliche Ozean. Die unzähligen Kolonien der Korallen, die wir Inseln nannten. Kokospalmen, die sich anmutig dem Meer zuneigten. Riffe, auf denen die anbrandenden Wellen sich in Schaum auflösten, und die unbeschreiblich schönen Lagunen im Innern der Atolle. Ich wünschte, ich könnte euch von der erdrückenden Schwüle des Dschungels erzählen, dem hinter den Vulkanen aufsteigenden Vollmond und dem Warten dem Warten, diesem unausgesetzten ewigen Warten. Aber wann immer ich auch anfange, von der Südsee zu sprechen, kommen mir die Menschen dazwischen. Ich versuche, jemandem zu schildern, wie es auf den vor Hitze dampfenden Hebriden aussah, und ehe ich mich's versehe, erzähle ich von der alten Tonkinesenfrau, die eingeschrumpfte Menschenköpfe verkaufte. Als Andenken. Für fünfzig Dollar das Stück. Oder es fragt mich jemand: »Wie war es denn nun wirklich auf Guadalcanal?« Und bevor ich diesen gottverlassenen Erdenwinkel beschreiben kann, schweife ich schon wieder ab und erzähle von dem Geheimagenten, der mitten unter den Japanern lebte und uns durch Funk von ihren Bewegungen verständigte. Das heißt, er tat das bis zu einem bestimmten Tag. Die Menschen kommen mir dazwischen. Dieser alte Wilde zum Beispiel, der sich nichts sehnlicher wünschte, als von einem Flugzeug abzuspringen und an einem Fallschirm zur Erde hinabzufliegen. »Mich auch so großer Menschenvogel!« schrie er immer wieder verzückt, bis wir ihn eines Tages am Schlafittchen nahmen und vom Flugplatz jagten. Seitdem ging er schweigend zwischen den anderen Schwarzen einher, ein Wesen für sich, wie einer, der Dinge entdeckt hat, die der -4-
Menschheit besser verborgen bleiben. Oder ich komme auf den verrückten Kommandanten zu sprechen, der um zwei Uhr morgens aufstand und barfuß über den Bretterboden seiner neuen Baracke tappte. »Zimmermann! Zimmermann!« schrie er in die Dschungelnacht hinaus. »Hier ist noch eine ganz rauhe Stelle!« Und irgendein verschlafener Soldat schlurfte aus seiner stickigen Koje und ging mit ein paar Schmirgelsteinen zu der Baracke hinüber. »Schau zu, daß du diese Splitter hier wegkriegst, mein Junge«, sagte der Kommandant dann besänftigt. Oder es geht mir so wie an dem einen Abend oben in Detroit. Einige von uns warteten auf einen Zug. Die Luft in der Kneipe war zum Schneiden dick. Seit mehr als einer Stunde erzählte uns ein Major von seinen Erlebnissen mit Patton in Afrika, in Sizilien und in Frankreich. Er erging sich in dicken Tönen wie ›große Truppenverschiebungen nach dem Osten‹, ›in vier höllischen Tagen nach Palermo‹, ›einen Stoßkeil in das flache Land südlich von Paris‹, ›eine gigantische Zangenbewegung gegen die Mitte der Rundstedtschen Stellungen‹. Als er den Krieg gewonnen hatte, drehte er sich zu mir um und fragte mich: »Wie war es denn in der Südsee?« Ich bemühte mich, ihm so ehrlich zu antworten, wie ich nur konnte, aber irgendwo kam ich plötzlich auf den Jungen zu sprechen, der mir da draußen auf einem Felsen begegnet war. Siebenundzwanzig Monate auf ein und demselben Felsen. Ein halbes Dutzend Bäume. Hatte die ganze Zeit die Krätze. Wurde in die Schnapsschmuggelaffäre verwickelt. Half bei der Reparatur eines Schiffes, das für die Landung auf Kuralei eingesetzt war. Und dann bekam er ein Kabel aus der Heimat. »Zum Teufel!« brummte der Major. »Der hat ja, scheint's, nichts anderes getan als auf seinem Hintern gesessen und gewartet.« »Ja, genau das!« rief ich, erfreut, endlich einen Menschen gefunden zu haben, der verstand, was ich damit sagen wollte. -5-
»Das ist aber eine lausige Art, einen Krieg zu führen«, knurrte er angewidert, und im nächsten Auge nblick hatten wir den Rhein überschritten und rollten mit unseren prächtigen Panzern die Autobahnen entlang. Aber unser Krieg ließ auf sich warten. Während des Wartens auf die Eroberung von Guadalcanal verkam man in Neukaledonien. Dann schwitzte man sich zwanzig Pfund in Guadal ab, während man auf den Schlag bei Bougainville wartete. Es gab natürlich auch Gefechte. Aber das war immer nur ein kurzes Aufflackern mit bitteren Augenblicken. Ein greller Lichtschein über Tulagi. Ein Schreckenstag in Tarawa. Eine grauenhafte Nacht auf Kuralei. Dann erholte man sich wieder und wartete weiter. Und es dauerte nicht lange, da bekam man einen Haß auf seinen Nebenmann und konnte keine Kokospalme mehr sehen. Ich diente in der Südsee während der kritischen Zeit von 1941 bis Ende 1943. Ich war zwar nur ein Schreibstubensoldat, der von Insel zu Insel fuhr, aber ich lernte dabei ein paar von den Männern kennen, die wirklich den Krieg dort austrugen. So einen Kerl wie den alten Bullen Halsey, der den Schneid hatte, als wir gerade Senge bezogen, auszurufen: »Weihnachten sind wir in Tokio!« Keiner von uns glaubte ihm, aber es tat uns doch wohl, daß wir von Männern seines Schlages geführt wurden. Ich kannte auch Admiral McCain, wenn auch nur ganz flüchtig. Er war ein häßlicher alter Mann, aber ein großartiger Flieger. Eines Tages überflog er Santo, deutete auf diese Inselwildnis und sagte: »Dort werden wir unseren Flugplatz bauen.« Und der Flugplatz wurde dort gebaut, und Millionen Dollar wurden dort ausgegeben, und alle sind sich darüber einig, daß Santo der beste Flugplatz war, den die Marine je in dieser Gegend gebaut hat. Ich war immer mächtig stolz auf McCain, weil er auch zu uns Fliegern gehörte. Dann gab es da den kleinen Aubrey Fitch, der sich mit seinen -6-
Flugzeugen durch alle Luftschlachten durchkämpfte und so scharf ranging, daß die Japse es nicht mehr riskierten, wiederzukommen. Ich traf Vandegrift, von den Seesoldaten, der die Landung auf Guadal durchführte, und den Starrkopf General Patch, der diese Insel vom Feind säuberte und sich dann daranmachte, in Südfrankreich einzumarschieren. Wenn ich diese Männer nach vielen Stunden schwerer Arbeit in ihren schmutzigen Uniformen sah, schlug mir dieser Anblick alle Vorstellungen aus dem Kopf, die ich mir je von einem Helden gemacht hatte. Vor meinen Augen präsentierte sich keiner von ihnen als Held. Es ging mir mit ihnen wie bei meiner Bekanntschaft mit Admiral Millard Kester. Ich befand mich gerade auf der Latrine von Efate, die so ähnlich aussah wie ein französisches pissoir, und in einer dieser primitiven Buden hörte ich jemanden laut fluchen. Heraus trat ein Vizeadmiral, dessen Unterzeug sich in dem Reißverschluß seiner Hose verfangen hatte. »Dieses gottverdammte Ding!« fluchte er. »Ich hatte es eigentlich gar nicht kaufen wollen. Da hat man mir einen schönen Dreck angedreht!« Ich lachte über seine mißliche Lage. »Gucken Sie nicht so dumm! Holen Sie mir lieber jemand, der diesen Reißverschluß reparieren kann!« fuhr er mich an, nur gebrauchte er noch eine Menge Adjektive vor dem aufreizenden Reißverschluß. Ich ging in die Bar. »Kann hier einer von euch einen Reißverschluß reparieren?« fragte ich, und ein Obermaschinist sagte, das könne er wohl, aber er war betrunken und brachte es nur fertig, in das Unterzeug des Admirals ein Loch zu reißen, worüber ich wieder lachen mußte. Und schließlich machte mein Gelächter Admiral Kester so wild, daß er sich seine Uniformhose und seine Unterhose runterzerrte, den Stoff aus diesem empörenden Reißverschluß losriß und alles auf den Boden warf. Aber selbst dann funktionierte der Reißverschluß nicht. Da stand er nun bloß in seinem Khakihemd und fluchte. Doch -7-
schließlich trieben wir einen Maschinisten auf, der nicht betrunken war, und der Reißverschluß wurde repariert. Daraufhin zog Admiral Kester seine Hose wieder an und begab sich in die Bar. Es war nur ein Glück für mich, daß er damals noch nicht meinen Namen kannte. Dann waren da auch die Männer mit den niedrigeren Dienstgraden. Luther Billis, der sich zwei schnäbelnde Tauben auf seinen Brustkasten tätowieren ließ. Und der gute Dr. Benoway, ein vielgeplagter freundlicher Mann. Und natürlich Tony Fry, der durch seinen Zusammenstoß mit Admiral Kester in der ganzen Umgebung bekannt wurde. Der Alte zog die Brauen hoch, als er Frys Torpedoflugzeug mit den zwölf Bierbuddeln sah, die auf die Steuerbordseite gemalt waren. »Was, zum Teufel, haben diese Bierflaschen zu bedeuten, Fry?« fragte der Admiral. »Na ja, Sir. Es ist doch 'ne alte Kiste, und ich benutze sie nur noch, um unser Bier zu holen«, erwiderte To ny ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich habe die Tour schon zwölfmal gemacht, Sir.« »Kratzen Sie diese verdammten Bierflaschen wieder ab«, befahl der Admiral. Aber seine alte Mühle behielt Tony natürlich und holte weiter Bier darin. Er war wirklich ein Prachtjunge. Sie werden noch lange Zeit fortleben, diese Männer von der Südsee, denn sie waren aus bestem amerikanischem Holz geschnitzt. Solange unsere Generation noch am Leben bleibt, wird man sich ihrer und ihrer Siege erinnern. Dann werden sie wie die Männer der Südstaaten allmählich vergessen werden. Immer längere Schatten werden sie verdunkeln, bis ihr Guadalcanal dem Ohr so fremd klingt wie heute Shiloh und Valley Forge.
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Meuterei Als ich von Vanicoro nach Numea zurückkehrte, rief mich Admiral Kester in sein Büro. Das war eines der Zimmer an dem Pfefferkuchenbalkon, der auf die Rue General Gallieni hinausging. »Im Korallenmeer haben wir Glück gehabt«, sagte er, »aber erst auf die nächste Schlacht kommt es wirklich an.« Er fuhr mit der Hand über die Inseln auf der Landkarte. Ich erinnere mich noch genau, wie er mit dem Zeigefinger auf eine große Insel deutete, die wie eine Niere aussah - Guadalcanal! »Eines Tages werden wir eine dieser Inseln besetzen. Wenn wir das tun, müssen wir für einen regelmäßigen Nachschub von Flugzeugen aus Neuseeland und Australien sorgen. Jetzt sehen Sie mal her!« Mit gespreizter Hand glitt er von Bougainville, Neugeorgien und Guadal auf der Karte weiter herunter und schob die drei Finger bei Santo zusammen. »Santo haben wir bereits und werden es auch halten. Das ist unsere Schlüsselstellung. Und wir können Santo von Numea aus versorgen. Aber sollten wir je in einem Notfall mehr Flugzeuge brauchen, müssen wir in der Lage sein, sie von Neuseeland und Australien bis Numea heraufzufliegen.« Er rutschte mit dem Daumen in einem kühnen Schwung von Guadalcanal nach Auckland. »Das ist unsere Hauptschlagader. Wenn Sie nun den Luftweg von Numea nach Auckland verfolgen, sehen Sie hier im Meer, nicht weit von der Strecke Australien-Numea, einen kleinen Fleck. Dieser Fleck ist eine Insel. Die ist wichtig für uns, lebenswichtig!« Er streckte das Kinn vor und stieß seinen dicken Zeigefinger gegen die Landkarte. Der lebenswichtige Fleck war die Insel Norfolk. Es gibt in der Südsee keine andere Insel wie Norfolk. Einsam und verloren ragt sie aus dem Wasser auf, die einzige Insel im ganzen Ozean, auf der keine Menschen lebten, bevor die -9-
Weißen kamen. Von steilen Klippen umgeben, fortwährend von den Wellen des weiten Meeres umbrandet, liegt sie da wie ein Fleck unter Gottes - oder Admiral Kesters - Zeigefinger. »Sie werden da bereits einige Amerikaner antreffen«, fuhr der Admiral fort, »die dort eine Rollbahn bauen sollen. Sie kommen aber nicht weiter. Lesen Sie mal!« Er reichte mir eine Meldung aus Norfolk: »ZWEI BAUPLÄTZE ZUR WAHL STOP WIDERSTAND GEGEN GÜNSTIGEREN PLATZ SEHR HEFTIG STOP KÖNNEN WIR EINHEIMISCHE WÜNSCHE IGNORIEREN STOP ERBITTE ANWEISUNG STOP TONY FRY.« »Dieser Fry«, bemerkte der Admiral, »ist ein verrücktes Huhn. Einer der besten Reservisten, die mir je begegnet sind. Er würde mich nicht mit Einzelheiten behelligen, wenn sich nicht ernstliche Schwierigkeiten ergeben hätten. Natürlich können wir die Meinung der Einheimischen ignorieren, wenn es sein muß. Die australische Regierung hat die Verantwortung für den Schutz von Norfolk eindeutig auf uns abgewälzt. Wir können also handeln, wie wir es für verdammt richtig halten. Aber es ist immer am klügsten, seine Macht mit Vernunft auszuüben. Entweder tut man, was die Einheimischen wünschen, oder man kriegt sie dazu herum, das zu wollen, was wir in jedem Fall tun müssen.« Er betrachtete die Landkarte. »Das sind die lebenswichtigen Routen.« Energisch setzte er seinen breiten Daumen wieder auf Guadal. »Wir müssen eine Rollbahn auf Norfolk haben. Und zwar eine große.« Dann kehrte er der Landkarte den Rücken zu. »Also fliegen Sie nach Norfolk runter. Nehmen Sie den alten Seeaufklärer. Und sagen Sie Fry, daß Sie Vollmacht von mir haben, den Fall zu entscheiden. Machen Sie niemanden wild, wenn Sie es vermeiden können. Aber vergessen Sie nicht unsere Hauptaufgabe: den Krieg zu gewinnen!« Die alte Catalina startete von Numea an einem ungewöhnlich -10-
schönen Tag. Wir flogen nicht hoch. Unter uns breiteten sich die Wogen des weiten Ozeans und eilten im goldenen Sonnenlicht dahin. Von Australien herüber wehte eine frische lebhafte Brise, als ströme diese gewaltige Insel eine fortwährende Unrast aus, und aus der Tasmanischen See rollten steile Wellenberge, die geradenwegs aus den Polarregionen der Antarktis kamen, weiter nach Norden zu und wühlten das Meer auf. Die Wintersonne stieg nicht hoch, denn es war Juli, aber flink bewegte sie sich über den Himmel und wanderte immer vor uns her. Nach sechs Stunden erblickte ich am Horizont einen Fleck. Er dehnte sich rasch zu einer Insel aus und dann zu einer Insel mit gezackten Klippen. Unter uns lag Norfolk. Ich entsinne mich noch jeder Einzelheit dieses ersten Anblicks. Nicht viel mehr als zehn Quadratmeilen. Gefährliche Riffe an der ganzen Küste. Im Norden ein hoch aufragender Berg und sonst eine schöne Hochebene. »Sollte nicht so schwer sein, dort eine Rollbahn zu bauen«, dachte ich da oben in der Luft. »Direkt vom Plateau abwärts. Wenn man dann noch eine Querbahn baut, hat man einen Platz, der bei jedem Wetter angeflogen werden kann. Sieht einfach aus. Dieser Tony Fry muß die Schwierigkeiten übertrieben haben.« »Wir werden in dieser kleinen Bucht landen«, sagte der Pilot. »Ich sehe gar keine«, erwiderte ich. »Zwischen den Klippen«, sagte er. Ich blickte hinunter, und da, wo er hinzeigte, erblickte ich jetzt eine kleine Bucht. Vom Meer nicht geschützt und schrecklich klein - aber eine Bucht. »Die Wellen sehen mir aber mächtig hoch aus«, sagte ich. »Das sind sie auch.« Er lachte. »Verdammt hoch!« Er flog weit auf die See raus und setzte zur Landung an, aber er hatte zuviel Fahrt und zog über die Insel weg, um durch schnelles Steigen Höhe zu einem zweiten Versuch zu gewinnen. Wir kamen von der winzigen Bucht angejagt, flogen über eine -11-
gewundene Hügelstraße, die zum Plateau hinaufführte, und dann genau die Strecke hinunter, die mir für den Bau einer Rollbahn am geeignetsten erschienen war. Und da sah ich erst die Fichten von Norfolk. Denn zu beiden Seiten dieser Strecke erhoben sich die Fichten wie die Säulen einer riesigen und prächtigen Kathedrale, eine stattliche Allee, die sich zwei Meilen lang bis zum Berg hinzog. »Mein Gott«, flüsterte ich, »das ist es. Das ist der Haken!« Wir drehten wieder zur See ab, legten uns gerade und versuchten die vertrackte Landung zum zweitenmal. Wieder hatten wir zuviel Fahrt, und wieder jagten wir die alte Catalina über die Hügelstraße, über das Plateau und dann an den hohen Fichten von Norfolk entlang. Wir flogen jetzt so niedrig, daß wir die staubige Straße zwischen diesen schlanken Stämmen gena u erkennen konnten. In einem Karren, der zum Meer hinunterfuhr, saß eine alte Frau. Mit einem scharfen Ruck hob sie den Kopf, als wir über sie hinwegbrausten. Und das war mein erster Anblick von Teta Christian. Beim dritten Versuch gelang uns die Landung, doch schlugen wir uns fast die Zähne dabei aus. Ein hochgewachsener, überschlanker Marineoffizier mit etwas hängenden Schultern winkte uns von der zerfallenen Mole zu. Das war Leutnant Tony Fry, in Shorts und darüber nur ein zerknülltes Hemd. Er grüßte uns, als wir ausstiegen, und sagte: »Bin froh, Sie hier zu haben, Sir. Verdammt froh, Sie hier zu haben.« Er hatte zwinkernde Augen und ein lustiges Wesen. »Wenn Sie hier zu unserem Stall herüberkommen wollen, werde ich der Begrüßung mehr Nachdruck verleihen.« Er führte uns durch die Menge der schweigend dastehenden Inselbewohner zu einem kleinen steinernen Kuhstall, der nicht weit von der Mole entfernt lag. »Aber dieser Kuhstall ist ja aus Haustein gebaut«, sagte ich. »Und solider als bei uns daheim.« »Ich weiß«, sagte Tony. »Die Sträflinge mußten beschäftigt -12-
werden. Wenn es sonst nichts für sie zu tun gab, bauten sie Kuhställe.« »Was für Sträflinge?« fragte ich. »Herzlich willkommen, meine Herren!« Tony brachte eine Flasche schottischen Whisky zum Vorschein. Später erfuhr ich, daß niemand Tony je fragte, wie und woher er seinen Whisky bekam. Er hatte immer welchen. »Diese Insel«, sagte er zu mir, als wir tranken, »ist die alte Sträflingsinsel. Alles, was Sie da am Ufer sehen, ist von den Sträflingen gebaut.« »Woher kamen die denn?« »Aus Australien. England schickte seine schlimmsten Verbrecher nach Australien. Und die Sträflinge, die so hart gesotten waren, daß Australien nicht mit ihnen fertig werden konnte, wurden dann hierhergeschickt. Es ist keine schöne Insel«, sagte Fry. »Oder wäre es nicht, wenn sie reden könnte.« »Nun!« sagte ich und sah Tony dabei in die Augen. »Was ist mit der Rollbahn?« Er lächelte mich verschmitzt an. »Admiral Kester?« fragte er. »Ja.« Er lächelte wieder. »Sie sind wegen der Rollbahn hergekommen?« Ich nickte. Er lächelte, ein ansteckendes, liebenswürdiges Lächeln, das seine weißen, etwas unregelmäßigen Zähne entblößte. »Commander«, sagte er. »Trinken wir noch einen.« »Ich habe eine schreckliche Vorahnung, daß diese Fichtenallee die Ursache der Schwierigkeiten ist«, sagte ich, während er den Whisky einschenkte. Fry zuckte nicht mit der Wimper. Er grinste mich nur freundlich an und hob sein Glas. »Auf die Rollbahn!« sagte er. »Gott sei Dank haben Sie die Entscheidung zu treffen, nicht ich.« -13-
In diesem Augenblick gab es draußen vor dem Stall einen Aufruhr. »Es ist Teta!« riefen ein paar Stimmen. Erschöpft von seinem langen Galopp blieb ein Pferd keuchend stehen, und Wagenräder knirschten in dem roten Sand. Eine hohe Stimme schrie: »Wo ist er? Wo ist Tony?« »Da drinnen! Mit dem neuen Amerikaner!« »Laßt mich rein!« rief die hohe Stimme. Und in unseren Stall stürzte Teta Christian. Sie war wohl schon über neunzig, hatte vier lange spitze Zähne in ihrem Oberkiefer und unten nur noch zwei. Ihr Haar war dünn und wuschlig. Aber der schmächtige Körper hielt sich sehr gerade. Sie ging sogleich auf Tony zu. Er nahm sie bei der Hand und klopfte sie auf die Schulter. »Reg dich nur nicht auf, Teta«, sagte er. Sie schob ihn beiseite und trat vor mich hin. »Warum kommst du her und willst unsere Fichten fällen?« fragte sie, und ihre hohe Stimme schwoll zu einem lauten Gejammer an. »Ich...« Aber Tony unterbrach mich. »Überlegen Sie sich, was Sie sagen, Commander. Es ist das einzige Gelände auf der Insel, das für unsere Zwecke geeignet ist.« »Du hältst den Mund!« platzte die alte Teta heraus. »Du hältst den Mund, Tony!« »Ich kam nur her, um zu sehen, was sich da tun läßt«, sagte ich. »Dann fahr wieder ab!« rief Teta und stieß mich mit ihrer knochigen Hand. »Steig in dein Flugzeug und fahr zurück. Laß uns in Frieden.« »Ich glaube, wir gehen hier lieber raus«, sagte ich. »Wo hau ich mich denn heute nacht hin?« »Das ist allerdings ein Problem«, meinte Fry etwas verwirrt. »Das ist eine verdammt heikle Frage.« -14-
»Ich nehme mit allem vorlieb«, versicherte ich ihm. »Kann ich nicht bei Ihnen kampieren? Ich bleibe ja nur eine Nacht.« Tony zog die Brauen hoch, als wollte er sagen: ›Sind Sie dessen so sicher?‹ Er lachte wieder. »Das ist es ja gerade, Commander. Ich möchte es Ihnen eigentlich nicht empfehlen, bei mir zu übernachten.« Er zupfte an seiner Leutnantsspange auf seinem Kragenspiegel. »Ich... ich...« ›Aha!‹ sagte ich zu mir selbst. ›Weibergeschichten. Diese verdammten Yankees. Brauchen nur irgendwo in die Nähe von einer Schürze zu kommen. Mir scheint, Fry hat sich hier was angelacht. Die Offiziere sind noch schlimmer als die Mannschaften.‹ »Schon gut«, sagte ich laut. »Ich bin mit jeder Unterkunft zufrieden.« Ich griff nach meinem einzigen Gepäck, einer Fallschirmtasche, die von dem Urwaldleben auf Vanicoro sehr mitgenommen war. Als ich gerade die Hand danach ausstreckte, kam ein pummeliges junges Mädchen von fünfzehn oder sechzehn Jahren in den Stall und lief auf Tony zu, in dieser eigentümlichen Weise, die man immer gleich spitz hat. Sie war schrecklich verliebt in ihn. Zu meinem größten Abscheu bemerkte ich, daß sie ganz ausdruckslose Augen hatte und ihr dauernd der Mund offenstand. »Das ist Lucy«, sagte Fry und tätschelte ihr zärtlich die Schulter. Lucy sah mich an und grinste. »Hallo«, sagte sie. »Wir könnten Sie in einem der Sträflingshäuser einquartieren«, schlug Tony vor. »Hier unten am Strand.« Mir drehte sich etwas der Magen um: amerikanische Offiziere und eingeborene Frauen. »Wenn die Sträflingshäuser ebenso gut gebaut sind wie dieser Stall, soll's mir recht sein«, erwiderte ich. »Oh, das sind viel schönere Bauten«, versicherte er mir. »Warum steigen Sie nicht in das Flugzeug und fliegen -15-
zurück?« wimmerte die alte Teta. »Ich kann Sie im Jeep rüberfahren«, erbot sich Fry. »Eigentlich bin ich viel mehr daran interessiert, mir die Insel etwas näher anzusehen«, sagte ich. »Lassen Sie uns nur die Tasche abstellen und dann losfahren.« »Sag's ihm, Tony«, jammerte Teta. »Sag ihm die Wahrheit!« Fry wischte sich die Stirn. Später stellte ich fest, daß er mehr schwitzte als jeder andere Mann in der Südsee. Er hielt immer Ausschau nach einem kühlen Fleckchen oder nach einem Menschen, der ihm seine Arbeit abnahm. »Nun hör mal zu, Teta. Du gehst jetzt heim. Du machst uns etwas Orangenlimonade und kochst uns etwas Gutes zum Abendessen.« Er griff in die Tasche und nahm das ganze Kleingeld heraus, das er bei sich trug. Fast nur Pennystücke. »Haben Sie einen Dollar?« fragte er mich. Ich gab ihm einen. »Hier, nimm das, Teta, und hau ab!« Er gab ihr einen leichten Klaps auf den Hintern und schob sie zur Tür hinaus. Wir folgten und stiegen in Tonys Jeep. Lucy saß bereits vorn neben dem Steuer. »Nein, Lucy!« sagte Fry. »Du mußt dich hinten hinsetzen.« Während das Mädchen auf den Rücksitz kletterte, ging Tony zum Stall zurück und sprach dort mit einer Gruppe mürrisch dreinschauender Eingeborener. In diesem Augenblick rannte ein Leutnant vom Heer auf den Jeep zu. »Mensch, sind wir froh, daß Sie da sind!« platzte er heraus. »Es ist höchste Ze it, daß jemand herkam, um hier nach dem Rechten zu sehen. Wir hatten schon alles bereit, um mit dem Bau der Rollbahn anzufangen, da hat Fry das Ganze wieder abgeblasen. Sie müssen energisch sein, Commander«, flüsterte er. »Machen Sie Schluß mit diesem verdammten Blödsinn. Die alte Teta ist die Schlimmste von der ganzen Bande.« Ich blickte über meine Schulter auf Lucy. Sie saß ruhig da, sah nichts und hörte nichts. »Die braucht Sie nicht zu -16-
beunruhigen, Commander«, sagte der Leutnant. »Die ist dümmer als Bohnenstroh.« Fry kam vom Stall angeschlendert, und der Heeresoffizier eilte davon. »Dies war das große Gefängnis«, sagte Tony, als wir von der Mole die rote Straße hinauffuhren. »Und dies ist das Galgentor. Da haben sie die Gefangenen gehenkt, damit es jeder sehen konnte. Mit einer besonderen Schlinge, die sich nie fest zuzog. Sie nur langsam erdrosselte. Die Füße haben sie ihnen auch nicht zusammengebunden. Einige haben noch fünfzehn Minuten lang mit den Beinen gestrampelt. Und die Wachtposten mußten mit Knüppeln und Schießprügeln dabeistehen. Später erzähl' ich Ihnen mal, was sich eines Tages bei einer solchen Hinrichtung ereignet hat.« Ich betrachtete das prächtige Tor. Das vulkanische Gestein, aus dem es erbaut worden war, sah noch ebenso sauber und neu, so schön behauen und ausgesucht gleichmäßig aus wie im Jahre 1847, als dieser herrliche Bau errichtet wurde. Von geradezu göttlichen Proportionen, war dieses Tor nur eines von ein paar hundert prachtvollen Bauwerken. Da gab es Mauern, so schön wie eine Schloßmauer in Versailles, alte Häuser, genau nach den Entwürfen englischer Architekten, Türme, Lagerhäuser, Salinen, Scheunen, eine Kapelle, Kornspeicher und Kalkgruben, alles aus grauem Lavastein, alles edelste Architektur und in sich vollkommen. Dicht nebeneinander standen diese Bauten da an der Küste der Insel Norfolk, ein grimmiges Denkmal zur Erinnerung an die schlimmste Sträflingskolonie, die England je unterhalten hat. Sie ächzten unter den Norfolkfichten, wenn des Nachts ein Wind hineinfuhr, denn sie waren nicht bewohnt. Es waren tote und leere Ruinen. Das Meer konnte ihnen nichts anhaben, denn sie waren stärker als zu der Zeit, in der sie erbaut wurden. Aber sie waren leblos und verlassen. »An diesem kann ich nie vorbeigehen, ohne stehenzubleiben«, sagte Fry. »Es ist so, als schreie es den ganzen Jammer der Menschheit aus.« Wir stiegen neben einem erlesenen Bauwerk -17-
aus dem Jeep. »Wenn du willst«, sagte Fry zu Lucy, »kannst du mitkommen.« Das Mädchen kletterte heraus und wich Fry nicht von der Seite, während wir das Badehaus der Beamten betrachteten. »Sie hatten Angst, im Meer zu schwimmen«, erzählte er. »Haifische. Und zu viele Beamte wurden in der Bucht von den Gefangenen ersäuft. Sie versteckten sich hinter den Felsen und tauchten die Beamten dann unter die Wellen. Deshalb wurde das hier gebaut.« Das Badehaus war ein kleines Gebäude dicht an der Straße. Mindestens zwanzig meisterhaft aus dem Felsen ausgehauene Stufen führten zu einem gut acht Quadratmeter großen, mit Fliesen ausgelegten Schwimmbecken hinunter. An der Westseite des Beckens war der Boden etwas abschüssig, damit das Wasser freien Ablauf zum Ozean hatte. Es war ein wunderbares Schwimmbad, mit ausgesuchten Steinen gemauert, mit aller Sorgfalt und der Meisterschaft von Männern erbaut, die unbegrenzt Zeit hatten. Aber nicht das Bad war es, was Tonys Fantasie und mein Entsetzen erregte. Es war der Tunnel, durch den das Wasser eines kleinen Bachs in das Becken geleitet wurde. Dieser Tunnel war fast zwei Meter hoch. Er war ganz durch den Fuß eines niedrigen Hügels gegraben und etwa zehn Meter lang. Er war mit prachtvollen Steinen gepflastert und so schön gewölbt wie die anmutigste Säulenhalle, die je erbaut worden ist. Die Grundpfeiler dieser zehn Meter langen Zuleitung waren von erlesenem Ebenmaß. Und all das lag unter einem Erdhügel begraben, wo niemand es sehen konnte. Ich betrachtete es mit Grauen. Ich dachte an die endlosen Stunden und Mühen, die in diesem Gebäude steckten, an die unnötige Vollkommenheit, das menschliche Elend, wo ein Rohr denselben Dienst getan haben würde. Tony und Lucy standen neben mir in dem dumpfigen Tunnel, als ich das ausgezeichnete Mauerwerk betrachtete. Fry unterbrach die bedrückende Stille. »Und wenn einer der Steinmetzen oder gelernten Maurer starb«, -18-
sagte er, »schrieb der Gouverneur nach England. Und die Nachricht wurde weitergegeben. Dann hielten die Richter scharf Ausschau nach Steinmetzen. Einige wurden für den Rest ihres Lebens hierhergeschickt, weil sie einen Hasen gestohlen hatten.« Als Tony mich bei meinem Quartier absetzte, hüstelte er ein paarmal. »Es tut mir schrecklich leid, Sie hier zu lassen«, sagte er. »Aber ich glaube, es ist am besten so.« Lucy kletterte unterdessen im Jeep über den Sitz wieder nach vorn. »Das genügt mir hier durchaus«, entgegnete ich. »Ich hätte Sie sehr gern in meiner Bude untergebracht«, fuhr er fort. »Aber es würde sehr peinlich sein. Es würde für Sie schrecklich peinlich sein. Das ist der Fehler, den ich gemacht habe. Verstehen Sie, ich wohne bei der alten Teta Christian. Sie wäre entzückt, Sie auch bei sich wohnen zu haben. Der Inbegriff der Gastlichkeit. Aber wenn Sie das täten, würde sie Sie ebenso weich machen, wie sie mich weich gemacht hat.« »Die Fichten?« fragte ich. »Ja«, antwortete er. »Das einzig günstige Gelände auf der ganzen Insel.« »Warum fällen Sie die Bäume dann nicht und bauen die Rollbahn?« Fry blickte mich über eine Minute lang an. Seine Augen waren klar und lächelten belustigt. Er hatte eine spitze Nase und ein spitzes Kinn. Er war ungefähr dreißig Jahre alt und scherte sich den Teufel um irgendwas oder irgendwen. Er begutachtete mich, und obwohl ich dem Rang nach sein Vorgesetzter war, stand ich stramm und bemühte mich, die Musterung zu bestehen. Offenbar gelang mir das. Er stieß mich leicht gegen den Arm. »Sehen Sie, Commander«, sagte er. »Die alte Teta Christian ist die Enkelin von Fletcher Christian, dem Meuterer. Alle diese Menschen an der Mole sind Bounty-Leute. Die sind nicht so leicht kleinzukriegen.« Er nickte mir zu und ging. Lucy -19-
beugte sich vor und hupte, als Tony den Jeep mit einer scharfen Wendung umdrehte. »Bounty-Leute!« sagte ich vor mich hin. »Also hier sind sie schließlich gelandet, nachdem sie Pitcairn verließen? In diesem Paradies!« Und es war wirklich ein Paradies! Ach, es war eines der bezauberndsten Paradiese in dem weiten Ozean. Seit Äonen vom Menschen unberührt, ließ es seine edlen Fichten fünfzig Meter und höher wachsen, und immer kerzengerade. Es bildete eine Hochebene voller Schluchten und Täler, die jedem Menschen das Herz warm machten. Es erzeugte die köstlichsten Früchte und schützte seine Geheimnisse durch gefährliche Klippen. Ich kam für einen Tag nach Norfolk. Ich blieb eine Woche und dann noch eine. Und ich lebte in einem Paradies, dessen kühle, reine, frische Luft nach den Nebeln von Vanicoro eine besondere Wohltat war. Spät an jenem Nachmittag fuhr Tony zu mir herunter. »Wir wollen noch diese beiden Bauplätze in Augenschein nehmen, dann kann ich morgen früh zurückfliegen«, sagte ich zu ihm. »Überstürzen Sie die Dinge nicht, Commander«, erwiderte Tony. »Die Insel können wir uns auch morgen ansehen. Die alte Teta hat ein paar von den Bounty-Leuten zum Abendessen eingeladen. Sie möchten Sie gern kennenlernen. Rein gesellschaftlich.« »Fry, ich möchte da nicht unfreundlich sein, aber schließlich bin ich doch nur deshalb hier, weil Admiral Kester über diese Unentschlossenheit ziemlich aufgebracht ist. Wir führen immerhin Krieg.« »Das weiß ich nur zu gut«, erklärte Tony. »Ich mache ja mit.« »Wenn Sie also nichts dagegen haben, möchte ich mir diese beiden Plätze jetzt gleich ansehen. Wenn dann noch Zeit ist, können wir immer noch zu der alten Frau gehen.« »Bitte schön«, sagte Fry. Ich freute mich, als ich sah, daß Lucy nicht im Jeep auf uns wartete. Die dicke kleine -20-
Schwachsinnige begann mir schon etwas auf die Nerven zu gehen. Doch als wir an den verlassenen Ruinen des Gefängnisses vorbeifuhren, lief sie auf die Straße hinaus. »Wir nehmen sie lieber mit«, sagte Tony. »Sie redet nie viel.« Er hielt also, und Lucy kletterte auf den Rücksitz. »Das eine Gelände«, sagte Tony, »befindet sich an der Nordwestspitze der Insel. Oben bei der Kabelstation.« Um dorthin zu kommen, fuhren wir die Küstenstraße entlang. Weiter im Inland konnte ich ein geschwungenes Tal nach dem anderen sehen, jedes mit seiner Quote von Fichten, die hoch in den frühen Abendhimmel hineinragten. Das Gelände, das wir uns jetzt ansahen, war allerdings enttäuschend. Nach Osten und Süden hin wurde das vorgesehene Rollfeld durch den Berg eingeengt. Landungen würden dort schwierig sein. Die Riffe ließen höchstens eine Rollbahn von 1200 Metern zu. Und irgendeine Behelfsrollbahn für abweichende Winde kam hier überhaupt nicht in Frage. »Kein sehr günstiges Gelände für eine Rollbahn«, bemerkte ich. »Nicht gerade ideal«, pflichtete Tony mir bei. »Wollen Sie jetzt das andere Gelände sehen?« »Ja, sehr gern«, antwortete ich. Er fuhr von der Kabelstation nach Süden, bis wir etwas zu sehen bekamen, was mich ungläubig mit den Augen blinzeln ließ. Dort, auf dieser einsamen Insel, stand eine Kapelle, ein Prachtstück bäurischer Architektur. Sie war aus Holz und rötlichbraunem Sandstein erbaut und stand mitten in einem Fichtenhain. Sie war so völlig verschieden von dem Geist der sachlichen brutalen Bauten unten am Wasser, daß Tony mir mein Erstaunen angesehen haben muß. »Die alte melanesische Mission«, sagte er. »Von dieser Stelle aus wurden die ganzen Hebriden und Salomonen zum christlichen Glauben bekehrt. Und hier haben auch die Heiligen gelebt.« -21-
»Die Heiligen?« fragte ich. »Ja. Lucys Großonkel war einer. Er ging von hier nach dem Norden. Auf eine Insel, die Vanicoro heißt. Die Eingeborenen haben ihn dort bei lebendigem Leibe verbrannt. Und während seiner Marter schrie er unaufhörlich: ›Gott ist die Liebe. Jesus ist das Heil!‹ Die alten Männer des Dorfes kamen zu dem Schluß, daß an seiner Religion doch etwas dran sein mußte. Sie fuhren in ihren Kanus zu einer Nachbarinsel und kehrten mit einem anderen Missionar zurück. Ein ganzes Dorf wurde bekehrt. Ja, es hat eine Menge Heilige hier gegeben.« »War er...« Ich deutete mit dem Kopf auf den Rücksitz. »Freilich. Das sind sie alle, mehr oder weniger. Hören Sie sich nur die Namen der Gäste an, die Teta zu ihrer Gesellschaft heute abend eingeladen hat, Christian, Young, Quintal, Adams. Sagen die Ihnen irgendwas?« »Die Meuterer von der Bounty?«. fragte ich. Der alte Matthew Quintal war einer meiner Lieblinge. Ich konnte es nicht fassen, daß noch Nachkommen von ihm lebten und einem diesen unverbesserlichen Schurken wieder ins Gedächtnis riefen. »Jawohl. Und Nobbs und Buffet, die Missionare, die ihnen folgten. Die Familien der Meuterer haben in diesen hundert Jahren immer wieder untereinander geheiratet. Ich glaube, sie sind alle ein bißchen verrückt.« Tonys freimütige Bemerkung verblüffte mich. Ich blickte mich nach Lucy um und erwartete, sie in Tränen zu finden. Sie grinste mich jedoch mit offenem Mund an. »Das ist das andere Gelände«, sagte Fry. Wir hielten auf einem kleinen Hügel. Vor uns breitete sich die Hochebene nach allen Seiten aus mit der Fichtenallee, die sich an einer wahrhaft idealen Rollbahn entlangzog. »Das habe ich schon aus der Luft gesehen«, sagte ich. »Das ist das Richtige. Hier können wir sogar eine zweitausend Meter lange Behelfsbahn für kompliziertere Landungen bauen.« -22-
»Das stimmt«, gab Tony zu. »Wir wollen uns das morgen genauer ansehen«, schlug ich vor. »Guter Gedanke. Dann wollen wir jetzt erst essen.« Tony schaltete den zweiten Gang ein und fuhr langsam den Hügel hinab. Als er unten angelangt war, rief Lucy: »Drück auf die Hupe! Drück auf die Hupe!« Fry tat es aber nicht, also beugte sich Lucy über seine Schulter und hupte eine ganze Minute lang. Aus einem baufälligen Haus rannte eine Schar Kinder auf die staubige Straße und neben dem langsam fahrenden Jeep her. »Es ist Lucy! Es ist Lucy!« kreischten sie. »Es ist Lucy im Jeep!« Unser schwachsinniges Dickerchen grinste sie an, warf ihnen Kußhände zu und drehte an dem Griff der Hupe. Dann lehnte sie sich still auf ihren Sitz zurück und sagte nichts mehr. Als wir an dem schon halb eingefallenen Haus vorbei waren, trat Tony mit dem ganzen Fuß auf den Gashebel, und wir brausten auf den Hof der alten Teta zu. Auf dem Weg dahin fuhren wir durch die Fichtenallee, auf der ich Teta an diesem Morgen zum Strand hinuntereilen sah. Als wir unter diesem riesigen Baldachin entlangrollten, war das Geräusch des Motors gar nicht mehr zu hören. Etwa dreißig Meter über uns, auf beiden Seiten, erhoben die Fichten von Norfolk, Baum für Baum, ihre majestätischen Häupter. Von Süden her wehte ein Wind, dieser Wind, der Tag für Tag aus der Antarktis angefegt kommt. Es klang, als singe er da oben zwischen den Fichten. Niemand sagte etwas, weder Tony noch ich, noch Lucy. Ich bedauerte es nicht, als wir von der Fichtenallee in einen schmalen Weg einbogen. Er führte an ein paar Ruinen vorbei, die hier, mitten in der Südsee, atemberaubend wirkten. Über mir ragte ein Bauwerk auf, das so aussah wie ein Stück von einem hohen Aquädukt, der auch der Via Appia zur Zierde gereicht hätte. »Was ist das?« rief ich. -23-
»Das waren mal Ställe«, erwiderte Tony. »Die Sträflinge bauten sie für die Pferde des Gouverneurs, als die Insel größenwahnsinnig wurde.« Ich betrachtete diese fantastischen Ställe: anmutig geschwungene Bogengänge, ihre zehn oder zwölf, in den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erbaut. Da standen sie nun in makelloser Reinheit, die Steine mit vollendeter Sorgfalt geschliffen und die Bögen von einem Ebenmaß wie die Tempel des alten Rom. »Für seine Pferde?« fragte ich. »Jawohl«, sagte Tony. »Er mußte sich doch etwas ausdenken, um die vielen Steinmetzen zu beschäftigen.« Ich starrte diesen grotesken Irrsinn an. Die majestätischen Ruinen in Karthago und Syrakus konnte ich begreifen. Aber diese kolossale Pracht aus uralter Zeit von irgendwoher hier mitten im Herzen dieser winzigen Insel... Etwa zweihundert Meter hinter den Ställen betraten wir einen Garten, in dem alle möglichen Arten von Blumen, Sträuchern und Obstbäumen wuchsen. Das war Teta Christians Heim. »Als die Bounty-Leute hierherkamen, Commander«, sagte sie mit ihrer schwachen hohen Stimme, »wählte sich mein Vater, Fletcher Christian, diesen Platz zu seinem Wohnsitz. Er liebte den Blick über dieses Tal.« Sie zog den Vorhang zur Seite und zeigte mir ihre Aussicht, ein Tal mit wunderschönen Fichten und einem schmalen Bach, der sich in Windungen in die Seitentäler zum Meer hin verlor. »Mein Vater, Fletcher Christian, hat dieses ganze Land bebaut, aber ich habe die Orangenbäume angepflanzt.« Ich fand sie unheimlich, diese Orangenbäume, die da so üppig neben den Fichten gediehen. Es war, als entdecke man in Minnesota plötzlich einen Hain mit Zitrusfrüchten, schwer zu begreifen. »Als mein Vater, Fletcher Christian, auf diese Insel kam«, sagte Teta, »blickten er und Adams Quintal über das Land. Langweile ich Sie auch nicht, Commander?« -24-
»O nein! Bitte erzählen Sie weiter. Es interessiert mich sehr.« »Er und Adams Quintal blickten über das Land. Nobbs Buffet und Thomas Young waren dabei. Sie beschlossen, nicht an der Küste zu wohnen. Das Land dort gehörte zum Gefängnis.« »Waren denn keine Gefangenen da?« fragte ich. »O nein! Nach der großen Meuterei wurden alle Sträflinge fortgeschafft. Zwei Jahre später überließen sie die unbewohnte Insel uns. Von allen, die von Pitcairn hierherkamen, ist außer mir keiner mehr am Leben«, jammerte sie weiter. »Ich war fünf Jahre alt, als wir uns einschifften. Ich erinnere mich noch gut an Pitcairn, obwohl einige Leute sagen, daß man sich nicht so weit zurückerinnern kann.« Sie verfiel in den seltsamen Pitcairndialekt, ein Gemisch aus dem Seemannsenglisch der Bounty-Besatzung und tahitischen Worten, die die von den Meuterern geraubten Mädchen beigesteuert hatten. Ihre Freunde stritten sich eine Weile mit ihr in diesem unmöglichen Kauderwelsch. Es waren Quintais und Nobbs und Buffets und unzählige Christians. »Sie wollen es mir noch immer nicht glauben«, sagte Teta lachend. »Aber ich erinnere mich noch an einen Tag, als ich auf den Klippen von Pitcairn stand. Direkt neben der Statue des alten Götzen, die mein Vater gefunden hatte, als er nach Pitcairn kam...« Ihre Gedanken wanderten. Ich wußte nie, ob der ursprüngliche Christian, dieser grimmige Meuterer, nun eigentlich ihr Großvater oder ihr Urgroßvater oder noch entfernter mit ihr verwandt war. »Also beschlossen mein Vater, Fletcher Christian, und Adams Quintal, auf keinen Fall die Bauten auf dem Zuchthausgelände zu benutzen. Sollten sie nur einstürzen und ihre Toten unter sich begraben! Sollten sie nur verfallen, diese schrecklichen Häuser! Mein Vater, Fletcher Christian, war ein sehr guter Mensch und half beim Bau der Mission mit, die Sie heute gesehen haben. Er wollte kein Geld für seine Arbeit nehmen. Mein Vater sagte: ›Wenn der Herrgott mir dieses Land und dieses Tal geschenkt hat, werde ich ihm -25-
dafür meine Arbeit schenken.‹ Langweile ich Sie mit diesen Geschichten, Commander?« Ich versicherte ihr an diesem Abend immer wieder, daß mich die Geschichte der Insel Norfolk keineswegs langweile. Ich tat das so überzeugend, daß sie versprach, mich am nächsten Morgen abzuholen und mir das Archiv von der ersten Siedlung der Meuterer zu zeigen. Pünktlich um neun Uhr früh hielt der Jeep vor meinem Quartier. Tony und Lucy saßen vorn, und die alte Teta hockte auf dem Rücksitz. »Wir fahren nur ein kleines Stück weiter die Straße hinunter«, sagte sie. Dann führte sie uns zu dem größten der noch erhaltenen Gefängnisbauten. Das Haus lag versteckt hinter einer Mauer, die ein architektonisches Meisterwerk war. Diese Mauer war noch solider gebaut und durch Wachhäuser in den Ecken und durch Schutzwälle noch stärker geschützt als das Gefängnis selbst. »Wen hatten sie denn hier untergebracht?« fragte ich. »Die Mörder?« »O nein!« protestierte sie lebhaft. »Hier haben die Gefängniswärter gewohnt.« »Warum dann diese sechs Meter hohe Mauer? Und die Glasscherben?« »Um die Gefangenen abzuhalten, falls sie meutern sollten. Und das haben sie auch getan. Andauernd. Das war früher hier eine Schreckensinsel«, sagte sie. Hinauf, am Postamt vorbei, führte uns Teta zwei Treppen hoch in einen großen, fast leeren Raum. Es war die oberste Ratsstube, und an den Wänden hingen die verblaßten Photographien längst verstorbener Christians, Buffets, Quintals und der Vorfahren der anderen Familien. Lucy stand auf einem Bein und betrachtete diese finsteren Gesichter. Teta jedoch trat zu einem alten Wandschrank und holte daraus mehrere Schachteln hervor, alle dick mit Staub bedeckt und mit rotem Garn umschnürt. Sie blickte in verschiedene hinein, bis -26-
sie die richtige gefunden hatte. Sie stellte sie mit einem so heftigen Schwung auf den Tisch, daß ihr weißes Haar in der Staubwolke gar nicht mehr zu sehen war, und sagte dabei: »Das ist sie!« Sie zog mehrere Papiere heraus und ließ sie durch ihre schwachen Finger auf den Tisch gleiten. Ich nahm eins in die Hand. Ein Gesuch von Fletcher Christian an den Gouverneur: »... Und deshalb bitte ich untertänig um die Erlaubnis, meinen weißen Bullen Jonas auf den Gemeindewiesen frei herumlaufen zu lassen. Wenn er an viele Kühe herankann, wird er nicht wild werden, und da es der beste Zuchtstier auf der Insel ist, werden alle nur Nutzen davon haben.« Das Gesuch war in einer unsicheren Handschrift unterzeichnet, die sich deutlich von der Schrift des Textes unterschied. »Das hier meinte ich«, sagte Teta. Es war noch ein Gesuch, das Fletcher Christian, Adams Quintal, Nobbs Buffet und Thomas Young zusammen unterzeichnet hatten. »Da es Gott in seiner Weisheit gefallen hat, uns hierherzubringen, möchten wir darum ersuchen, auf dieser Insel eine Fichtenallee zu pflanzen, auf daß die Bäume hier wachsen wie nirgendwo sonst auf der Welt, und sollten wir sie nicht mehr groß werden sehen, werden doch unsere Kinder es noch erleben.« Das Gesuch wurde bewilligt. »Ich sollte mir jetzt das Gelände für die Rollbahn ansehen«, sagte ich. »Das hat doch noch Zeit bis zum Nachmittag«, ent gegnete Tony. »Sagen Sie Ihrem Piloten, daß Sie noch einen Tag zulegen müssen. Ein paar von den Dorfbewohnern haben uns zu einem Picknick eingeladen.« Ich nahm daran teil. Je mehr ich von Tetas Geschichten zu hören bekam, um so interessierter wurde ich. Nachdem wir gegessen und ich noch ein halbes Dutzend Orangen verspeist hatte, fragte sie mich: »Würden Sie sich gern die alten Grabsteine ansehen? Auf dem Friedhof?« -27-
Das interessierte mich freilich, und so führte sie mich auf den Friedhof, diese uralte Frau, die bald selbst dort ruhen würde. Er lag auf einem sanft ansteigenden Hügel dicht am Meer. »In dieser Abteilung liegen die Bounty-Leute«, sagte sie. Da standen die weißen Grabsteine, und alle trugen sie die gleichen Namen: Quintal, Young, Adams, Christian. »Ich bin eine Quintal«, sagte Teta. »Ich heiratete diesen Mann.« Sie zeigte auf den Grabstein von Christian Nobbs Quintal. Daneben standen die unvermeidlichen winzigen Steine: ›Mary Nobbs Quintal, im Alter von 3 Mon.‹ ›Adams Buffet Quintal, 1 Jahr alt.‹ ›Nobbs Young Christian Quintal, im Alter von 8 Mon.‹ »Mein Vater, Fletcher Christian, liegt da drüben begraben«, sagte Teta. »Das heißt, er liegt gar nicht dort. Er ist auf dem Meer umgekommen. Und da unten liegen die Gräber der Sträflinge. In dieser Ecke liegen alle, die gehenkt worden sind.« Ich las die düsteren Inschriften: ›Thomas Burke, gehenkt am 18.Juli 1838. Er erschlug einen Posten, und Gott erschlug ihn.‹ ›Timothy O'Shea, gehenkt am 18. Juli 1838. Er tötete einen Wärter. Möge Gott seiner Seele gnädig sein.‹ Die tragische Geschichte von Haß, plötzlichem Tod, Aufstand und schrecklicher Rache war in diesen verwitterten Steinen verewigt. ›Thomas Worcester, aus Amerika, 18 Jahre alt.‹ Mehr war nicht zu entziffern. »Die Aufrührer hat man hier drüben beerdigt«, wimmerte Teta. Ich betrachtete die Gruppe dicht beieinanderliegender Gräber. Englische Bauernnamen, irische Bauern. »Was haben die denn getan?« fragte ich. »Das sind die Männer, die bei der großen Revolte die Wachposten getötet und ihre Leichen dann in der Brücke eingemauert haben. Da, wo wir unser Picknick hatten. Deshalb heißt sie die Blutige Brücke.« »Und sie haben sie alle gehenkt?« »Alle miteinander. Sie henkten sie mit der langsamen -28-
Schlinge. Der letzte Mann wurde ohnmächtig, da warteten sie, bis er wieder zu sich kam. Ein Gefangener empörte sich dagegen, und sie peitschten ihn, bis er starb.« Sie blickte über die Gräber auf das unruhige Meer hinaus. »Mein Vater, Fletcher Christian, sagte, er wolle keins von ihren blutigen Häusern haben. Da rissen die Bounty-Leute die Häuser nieder, die man uns unten an der Küste gegeben hatte, als mein Vater das sagte.« Es war jetzt zu spät für mich, das Gelände für die Rollbahn noch an diesem Tag zu besichtigen; deshalb sagte ich meinem Piloten, er solle am nächsten Morgen starten und ohne mich nach Numea zurückfliegen. Ich würde eine Nachricht schicken, sobald meine Arbeit hier getan sei. Am selben Abend saß ich in Tetas Haus bei den Stallruinen und hörte zu, wie sie uns von dem Leben auf Pitcairn erzählte. »Mein Vater, Fletcher Christian«, sagte sie, »war als der Anführer der Meuterer bekannt. Aber Kapitän Bligh war ein sehr böser Mann. Mein Vater sagte mir, daß Mr. Christian gar nicht anders handeln konnte. Es gibt Leute, die sagen, es sei eine Schande, daß die Mädchen aus Tahiti mit nach Pitcairn gegangen sind, aber mein Vater, Fletcher Christian, sagte, wenn die tahitischen Mädchen das nicht getan hätten, wer denn sonst mitgekommen wäre? Und das ist eine Frage, die niemand beantworten kann. Ich bin selbst zur Hälfte eine Tahitin. Niemand in unserer Familie hat je außerhalb der Bounty-Leute geheiratet. Ich meine damit die Meuterer, die sich mit ihren Frauen aus Tahiti in Pitcairn angesiedelt haben. Eine Menge Menschen finden das schlecht.« Sie sprach in dem Pitcairnkauderwelsch zu ihren Inselfreunden, und sie lachten. »Teta!« sagte ein Mr. Quintal. »Du trinkst zuviel von dem Rum des Leutnants. Du wirst noch betrunken.« Teta beugte sich vor und klopfte Fry auf den Arm. »Wenn man ein bißchen Rum trinkt, wird man nicht gleich betrunken«, sagte sie. Fry schenkte ihr etwas Whisky ein. Alles, was aus einer Flasche kam, war für Teta Rum, ein Überbleibsel aus den -29-
alten Seefahrertagen. »Worüber wir eben gelacht haben, Commander, ist ein komischer alter Mann, der vor einiger Zeit hierhe r auf die Insel kam. Hat jedem von uns den Kopf gemessen. Es war ein Deutscher. Er machte Bilder von uns, wer wen geheiratet hat, und dann wies er nach, daß wir alle verrückt waren. Sein Buch hatte auch Bilder. Ich war einer von den Leuten, die nicht verrückt waren, aber Nobbs da drüben«, und sie zeigte auf einen ihrer Verwandten, »dessen Bild war ganz vorn in dem Buch. Den fand er besonders verrückt.« »Sie könnten doch heute nacht hierbleiben«, sagte Fry, aber ich lehnte das ab. Ich zog es vor, in meinem Quartier zu schlafen. »Wie Sie wollen.« Wir stiegen in den Jeep, und Lucy kletterte auf den Rücksitz. »Drück auf die Hupe! Drück auf die Hupe!« rief sie, als wir langsam an dem baufälligen Haus vorbeifuhren. Diesmal tat Tony ihr den Gefallen, und ein Dutzend kindlicher Gestalten purzelten aus der Tür auf die dunkle Straße. »Es ist Lucy! Es ist Lucy!« schrien sie in die Nacht hinaus. »Lucy im amerikanischen Jeep!« Im Dunkeln konnte ich beinahe hören, wie Lucy hinter mir lautlos vor sich hin lachte. Am nächsten Morgen ging ich zu dem Gelände hinauf, das für die Rollbahn vorgesehen war, und begutachtete die Arbeit, die dort zu tun war. Tony ließ sich nicht blicken, aber der resolute Heeresleutnant rollte seine Traktoren mit Hilfe der Arbeiter, die uns die australische Regierung zur Verfügung stellte, an den richtigen Platz. »Na«, sagte er, »ich glaube, jetzt sind wir so weit, daß wir anfangen können.« Ich wollte schon zustimmend nicken, als ich zu den Norfolkfichten hinübersah, und da entdeckte ich die alte Teta. Sie saß in ihrem Wagen, hatte die Zügel an der Peitsche festgebunden und sah nur zu. »Roden Sie zunächst mal das Unterholz«, sagte ich. -30-
»Aber die Bäume, Commander!« »Damit wollen wir noch ein paar Tage warten.« »Aber verdammt noch mal, Commander! Es wird uns eine Menge Zeit kosten, bis wir alle diese Bäume gefällt haben. Wir können nichts tun, bevor wir damit fertig sind.« »Ich möchte mir erst noch die andere Seite ansehen. Das Land kriegen wir billiger.« »Aber, mein Gott!« rief der Leutnant. »Das haben wir doch schon alles durchexerziert.« »Dann werden wir es eben noch einmal tun!« schrie ich. »Jawohl, Sir«, erwiderte er. Ich ging hinüber, um mir einen der Bäume näher anzusehen. Er hatte einen Durchmesser von fast zwei Metern und eine schuppige Rinde. Seine Zweige waren ganz parallel zum Boden gewachsen. Seine Nadeln waren wie Spachtel, breit und flach, dabei aber fleischig wie ein wasserhaltiger Kaktus. In vollkommenem Ebenmaß ragte er zum Himmel auf. ›Einen solchen Baum‹, dachte ich, ›hat Kapitän Cook gesehen, als er Norfolk besichtigte. Soviel bekannt ist, hat kein Mensch, weder ein Farbiger noch ein Weißer, vor ihm die Insel betreten. So ein Baum war es, der ihn sagen ließ: Und diese gastliche Insel wird eine ergiebige Quelle von Spieren für unsere Schiffe abgeben.‹ »Ich fahre zur Mission hinunter«, sagte die alte Teta, während sie die Zügel wieder in die Hand nahm. »Wollen Sie mitkommen?« Ich kletterte in ihren Wagen. Als wir bei Lucys Haus vorbeifuhren, sah uns das grinsende Mädchen. Flink wie ein Tier lief sie zu ihrem Pferd und schwang sich in den Sattel. Sie spornte es mit ihren Fersen an und hatte uns bald eingeholt. » Fahrt ihr zur Mission?« fragte sie. . »Ja, komm nur mit«, sagte die schmächtige alte Frau. »Lucy ist ein gutes Mädchen«, sagte Teta zu mir. »Sie ist nur etwas einfältig.« -31-
Bei der Mission banden wir das Pferd fest, aber Lucy ließ das ihre frei umherlaufen. Die Kapelle war noch viel schöner, als ich von der Straße aus gedacht hatte. Innen war sie aus buntem Marmor und Holz von den Salomonen, mit seltenen Muscheln und Schnitzereien von den Hebriden verziert. Ohne überladen zu sein, war sie doch unvorstellbar prächtig. Reich geschmückt mit Gold und Silber. An der Seite war jeder Kirchenstuhl mit Perlmutt ausgelegt, das irgendein einheimischer Künstler geduldig bearbeitet hatte. Szenen aus Christi Leben herrschten in diesen Reliefs vor, aber es gab auch einige darunter, die ein freies christliches Motiv darstellten. Der irisierende Glanz dieser durchsichtigen Schicht im Innern der Muscheln sprach beredt von der Liebe, die auf diese Arbeit verwandt worden war. Die Fenster verblüfften mich. Sie erinnerten mich an etwas, was ich schon einmal irgendwo gesehen hatte, aber der Vergleich, den ich zog, kam mir so töricht vor, daß ich ihn nicht einmal vor mir selber auszusprechen wagte. »Die Fenster«, sagte Teta, »sind von einem sehr berühmten Mann in England gemacht und auf einem Schiff hierhergeschickt worden.« »Du meine Güte!« sagte ich. »Sie sind von Burne-Jones.« Wie seltsam nahmen sich seine asketischen Gestalten in dieser Kapelle aus! »Bischof Patteson hat diese Kapelle gebaut«, leierte Teta weiter. Aber ihr Gedächtnis ließ sie im Stich. Sie brachte die berühmten melanesischen Missionare alle durcheinander. Dabei hatte sie jeden von ihnen gut gekannt. Selwyn und Patteson und Paton. »Mein Bruder Fletcher Christian ging mit dem guten Bischof Selwyn nach Norden«, erzählte sie. »Sie gingen nach Vanicoro, wo mein Onkel Fletcher Christian lebendig verbrannt wurde. Dadurch bekehrte er ein ganzes Dorf. Er war ein sehr frommer Mann. Mein Bruder hieß auch Fletcher Christian. Diese Tafel da oben gilt ihm, nicht meinem Onkel. Mein Bruder kam eines Tages nach Hause und kniete hier nieder. Das war -32-
kurz nachdem mein Vater im Meer umgekommen war. Er sagte, das heißt, mein Bruder Fletcher Christian sagte: ›Ich werde Gott nachfolgen! Ich gehe mit Bischof...‹« Sie stotterte. »›Ich gehe mit Bischof Patteson.‹ Sie fuhren nach Norden zu einer kleinen Insel dicht neben Vanicoro. Baliha'i. Er war ein sehr guter Missionar. Bischof Paton sagte von ihm: ›Fletcher Christian ruht in Gott!‹ Er ruht in Gott, weil die Eingeborenen mit einem vergifteten Pfeil auf ihn schossen. Sie schossen ihn durch den rechten Arm. Zunächst erholte er sich wieder, aber dann setzte eine Blutvergiftung ein. Drei Tage lang beteten sie für meinen Bruder, und die ganze Zeit wand er sich am Boden und rief laut: ›Ich bin erlöst! Ich bin mit dem Blut des Herrn gewaschen!‹ Drei Tage lang schrie er so, preßte die Kiefer fest zusammen und schrie durch die Zähne: ›Gott ist mein Heil!‹ Und am vierten Tag starb er.« Einsam saß Teta in der verlassenen Kapelle, die nun nicht mehr benutzt wurde, weil ihre Aufgabe erfüllt war. Von hier aus war Gottes Wort weiter nach Norden auf alle Inseln getragen worden. »Ich weiß noch, wie es in Pitcairn war«, sagte sie. »Wir waren alle krank und hatten keine Medizin. Die Medizin von Tahiti war vergessen, weil wir keine Heilkräuter hatten. Zu essen hatten wir auch nichts mehr. Mein Vater Fletcher Christian ging zu einer Versammlung. Sie beschlossen, daß wir Pitcairn verlassen müßten. Alle. Nicht nur diejenigen, die gehen wollten, sondern alle miteinander. Als wir hierherkamen, waren wir eine Zeitlang sehr glücklich. Wenigstens gab es hier genug zu essen. Aber nach zwei Jahren wollten viele von uns wieder nach Hause fahren. Zurück nach Pitcairn. Einige Familien fuhren auch wieder zurück.« Teta dachte an diese fernen Menschen. »Ich wollte immer zurückfahren. Und meine Mutter, sie war eine Quintal, hatte großes Heimweh nach Pitcairn. Aber mein Vater Fletcher Christian wollte nichts davon hören. Er sagte: ›Gott in seiner Weisheit hat uns an diesen blühenden Strand gebracht. Gott wollte, daß wir hierbleiben sollen.‹ Da sind wir also nicht -33-
mit den anderen weggefahren.« Als ich an dem Nachmittag wieder in meinem Quartier saß, war mein Kopf ganz wirr. Niemand konnte wissen, wie nötig wir diese Rollbahn auf Norfolk brauchen konnten, oder wie bald. Angenommen, die Japaner besiegten uns in einer großen Schlacht auf den Hebriden! In einem solchen Fall würde die Rollbahn auf Norfolk eine Lebensnotwendigkeit für uns sein. Gedanken dieser Art stählten mich zu dem unausweichlichen Entschluß. Die Fichten von Norfolk mußten daran glauben. Schluß mit diesem sentimentalen Blödsinn! Langsam ging ich zu dem alten steinernen Kuhstall, in dem die Landtruppe ihr Hauptquartier aufgeschlagen hatte. »Morgen früh werden wir mit der Arbeit anfangen«, sagte ich ihnen. »Haut die Bäume da um.« »Es ist doch jetzt erst drei, Sir«, sagte der eifrige junge Leutnant. »Da könnten wir diesen Nachmittag noch ein paar fällen.« »Morgen früh ist noch Zeit genug«, sagte ich. »Bringen Sie nur Ihre Maschinen und Ihr Werkzeug in Ordnung.« »Das steht alles seit zwei Wochen bereit«, entgegne te er kühl. Ich hielt es für meine Ehrenpflicht, den Inselbewohnern mitzuteilen, daß der unwiderrufliche Entschluß getroffen worden sei. Ich wollte das an diesem Abend bei Teta tun. Ich stieg die staubige Straße von dem Gefängnisterrain zum freien Land und zu den von Fichten bestandenen Tälern hinauf. Fry muß an diesem Nachmittag geschlafen haben, was er öfter tat, denn Lucy klapperte auf ihrem Pferd an mir vorbei; sie sah aus wie ein Kentaur und machte ein großes Theater. Kaum war sie an mir vorbeigeritten, hielt sie an, wendete ihr großes Pferd um und raste in der anderen Richtung an mir vorüber. Diese Ausfälle unternahm sie neun- oder zehnmal, ohne ein einziges Wort zu sprechen. Als ich bei der Fichtenallee anlangte, wurde ich in meinem Entschluß wieder schwankend. »Ich kann das -34-
nicht zulassen!« sagte ic h mir. »Das schönste Denkmal der ganzen Südsee vollkommen zerstört! Nein, bei Gott! Ich werde alles tun, was nur irgend in meiner Macht steht, um das zu verhindern. Ich werde bis zum Äußersten gehen. Das muß ich!« Und ich eilte zu den Gefängnisbauten zurück, zu dieser dichtbebauten, leidumdüsterten Küste, und gab eine dringende Depesche an Admiral Kester auf. Sie war sehr lang. Ich teilte ihm die Maße der beiden Plätze mit, berichtete ihm, daß auf dem Gelände im Norden der Bau einer Querbahn unmöglich sei und Landungen durch den kleinen Berg behindert würden. Aber ich verschwieg ihm auch nicht den heftigen Widerstand gegen den Bau auf dem zentral gelegenen Gelände und schloß mit den Worten: » ERBITTE GENEHMIGUNG PLATZBAU NORDSEITE.« Ich ging nicht zum Abendbrot zu Teta. Ich vergaß überhaupt zu essen und merkte es gar nicht. Am selben Abend gegen zehn Uhr bekam ich meine Antwort. Sie war kurz und bündig, und als ich sie las, hörte ich förmlich, wie Admiral Kester dabei geflucht hatte: ›Was tun diese verdammten Narren nur da unten?‹ Oder: ›Bei Gott, warum können sie sich denn nicht an die verdammten Tatsachen halten und sich endlich entschließen?‹ Seine Depesche ließ keinen Zweifel daran zu, daß sein Entschluß gefaßt war: ›BETRIFFT IHR 140522 STOP ABGELEHNT STOP WIEDERHOLE ABGELEHNT STOP KESTER.‹ Aber seine Depesche erleichterte mich. Ich nahm sie in die Hand und ging den Hügel zu dem Plateau hinauf, wo die Bounty-Leute wohnten. Ich ging durch die lange Fichtenallee und dachte: ›Ihr werdet nicht durch meine Hand fallen.‹ An dem Seitenweg bog ich zu Tetas Haus ab, und zu meiner Linken sah ich die strengen und doch schönen Stallbauten. ›Die Steinmetze waren zu lebenslänglicher Haft verurteilt, und sie waren nun einmal hier‹, hatte Tony gesagt, ›da mußten sie eben beschäftigt werden.‹ In dem Licht des aufgehenden Mondes zeichneten sich die Pferdeställe von Norfolk in ihrer stattlichen Größe vom Himmel ab, jeder Stein aufs sorgfältigste geschliffen, jede Fuge -35-
fest mit Mörtel verschmiert und geglättet. Teta und Tony saßen allein am Tisch und tranken Rum. Aber Lucy saß natürlich in einer Ecke und ließ Tony den ganzen Abend nicht aus den Augen. »Mein Vater Fletcher Christian war ein sehr guter Seemann«, erzählte Teta. »Es war ein großer Kummer für diese Insel, als er auf dem Meer umkam. Das geschah an der Wasserfallmole. Es gibt auf Norfolk nur zwei Stellen, wo ein Schiff überhaupt anlegen kann. In dieser Hinsicht erinnert es mich an Pitcairn. Mein Großvater Fletcher Christian sagte, wenn einer bei der Insel Pitcairn anlegen und wieder ausfahren könne, sei er wirklich ein großer Seemann. Mir wurde gesagt, daß mein Vater auf beiden Inseln der beste Seemann war, und doch kam er auf dem Meer um. Bei der Wasserfallmole, wo eine Landung wegen der gefährlichen Klippen besonders schwierig ist. Da vor Anker zu gehen, ist bei jedem Wetter schlimm. Die Wellen zerbrachen sein Boot und schleuderten ihn auf die Felsen. Direkt bei der Mole. Dann rissen sie ihn wieder ins Meer hinaus, und wir haben die Leiche niemals gefunden. Ich glaube, wir hätten sie finden können, aber es gab unter uns keine anderen Seeleute, die so mutig waren wie mein Vater, und niemand suchte nach ihm, bevor der Sturm vorbei war.« »Schlechte Nachrichten«, sagte ich. Tony goß der alten Teta noch ein Glas ein. Lucy trat an den Tisch und bat um etwas Rum. »Nein, Lucy«, sagte Tony. »Geh du in deine Ecke zurück und setz dich wieder hin.« »Von Numea?« fragte Tony. »Ja. Ich habe dem Admiral gekabelt.« »Ich weiß«, sagte Tony. »Das habe ich ja auch getan.« »Er hat die Entscheidung getroffen«, sagte ich. »Ich weiß«, sagte Tony wieder. »Ich habe sie Ihnen in die Schuhe geschoben, und Sie haben sie auf den Admiral -36-
abgewälzt.« »Teta«, sagte ich ruhig. »Morgen fangen wir damit an, die Bäume zu fällen.« Die alte Meuterin sah mich an und wollte etwas sagen. Sie brachte aber kein Wort heraus. Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre sechs spitzen Zähne und trank einen großen Schluck Rum. »Ich erinnere mich noch, wie mein Vater Fletcher Christian diese Bäume pflanzte«, sagte sie dann. »Ich lief neben den Männern her. Sie markierten zwei Reihen. Damals gab es dort noch keine Straße. Vier Männer steckten Pflöcke in die Erde, und mein Vater sagte zu Adams Quintal - dessen Sohn habe ich dann geheiratet. Wir wurden von einem Missionar von der Mission getraut. Bischof Patteson traute uns, und dann nahm er Fletcher Christian, meinen Bruder, mit zu den Inseln hinauf, wo der junge Mann an Blutvergiftung starb. Ja, Tony, mein Bruder starb, die Kiefer zusammengepreßt, als wären sie mit Eisen festgeschraubt. Er konnte nur noch durch die Zähne sprechen.« Die alte Frau ließ den Kopf auf ihre Hände fallen. Die Lampe warf einen gespenstischen Lichtschein auf ihr weißes Haar. »Sie ist wieder betrunken«, sagte Lucy. »Zuviel Rum.« »Lucy!« rief Tony. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst da sitzenbleiben und den Mund halten.« »Morgen müssen wir mit der Arbeit anfangen. Gleich nach dem Frühstück«, sagte ich und hielt ihm die Depesche vor die Nase. »Mir brauchen Sie das nicht zu beweisen, Commander.« Fry kicherte in sich hinein. »Ich weiß genau, wie Ihnen zumute ist. Den Inselbewohnern müssen Sie das klarmachen. Heben Sie Kesters Depesche für die auf.« Ich weiß nicht, wer die Nachricht verbreitete. Ich kann nicht glauben, daß es Teta war, und Lucy saß stumm in ihrer Ecke, als ich fortging. Vielleicht hatten die Einheimischen es von den Landsern gehört. Jedenfalls hatte sich schon früh am nächsten -37-
Morgen eine Menschenmenge bei den hohen Fichten versammelt. Als ich mit unseren Pionieren auf sie zukam, trat Nobbs Quintal, dessen Bild sich auf der Titelseite des Buches befand, in dem nachgewiesen wurde, daß alle Bounty-Leute auf Norfolk degeneriert seien, einen Schritt vor, klopfte sich auf den Hut und fragte mich, ob er etwas sagen dürfe. Ich ballte meine Hände und dachte: ›Jetzt kommt es!‹ »Commander«, sagte Nobbs Quintal. »Wir wissen, daß die Bäume fallen müssen. Wir wissen, daß Krieg ist. Mein eigener Sohn ist im Krieg. In Ägypten. Die alte Teta hat fünf Enkel in der Armee. Wir wissen, daß Sie versucht haben, den Flugplatz zu verlegen. Wir hörten von Ihrem Bericht, den Sie gestern abschickten. Aber können Sie nicht noch einen Tag warten? Wir möchten so gern noch einige Aufnahmen von den Bäumen machen.« Sie hatten eine alte Box-Kamera und ein paar Filmpacks. Ein amerikanischer Soldat hatte eine ganz gute Taschenkamera, und ein Australier besaß einen sehr guten französischen Apparat. Den ganzen Morgen machten sie Aufnahmen von den Fichten. Die Quintals und die Christians und die Nobbses und all die anderen standen unter den Bä umen, fuhren in ihren Wagen über die staubige Straße und machten Gruppenaufnahmen von den einzelnen Familien. Gegen Mittag ging Nobbs Quintal an den Pferdeställen vorbei zu Tetas Hof und fuhr sie in ihrem Wagen herauf. Die alte Frau erschien zwischen den Bäumen und blickte traurig in die Gegend, als sie zusammen mit verschiedenen Familien und auch allein fotografiert wurde. Die Zügel waren um den Peitschenstock geschlungen. Speichel rann Teta von den sechs Zähnen in die Mundwinkel. Sie war der einzige Mensch von den Pitcairnleuten, die noch am Leben war. Gegen zwei Uhr waren alle Filme verknipst. Die letzten Momentaufnahmen wurden von Teta Christian, Tony und mir aufgenommen. Bei der allerletzten lief Lucy von den anderen fort und stellte sich neben Tony. Auf diesem Bild hätte sie mit -38-
ihrem Kopf Teta fast ganz verdeckt, aber die alte Frau im Wagen beugte sich zur Seite und lugte hinter meiner Schulter hervor. Die Pioniere rückten an. Mit Kreissägen sägten sie den ersten Baum über die Hälfte durch. Dann stießen zwei Räummaschinen gegen den Stamm. Die hohe Fichte verlor das Gleichgewicht und begann kaum merklich zu zittern. Im Fallen richtete sie sich dann eine Sekunde lang wieder etwas auf und taumelte in der Luft wie ein getroffener Soldat, der noch ein paar Schritte weiterläuft. Tödlich verwundet, wirbelte der mächtige Baum herum und stürzte dann in einer Staubwolke zu Boden. Noch drei Bäume wurden auf diese Weise umgebracht. Die Inselbewohner sagten nichts, als ihre lebende Kathedrale so entweiht wurde. Die alten Bounty-Leute betrachteten das Fällen der Bäume einfach als noch ein Unglück mehr in der langen Reihe der Mißgeschicke, die ihre Sippen zu erdulden hatten. »Sie müssen noch weiter fortgehen«, sagten die Pioniere. »Wir müssen die Stümpfe sprengen.« Wir entfernten uns bis zu einer sicheren Stelle und sahen zu, wie die Pioniere zwischen die Wurzeln der gefällten Bäume Dynamitstäbchen legten. Dann setzten sie eine Sprengkapsel ein und führten die Drähte in einem Zündapparat zusammen. Die Ladung wurde zur Explosion gebracht, aber es geschah nicht viel. Nur etwas Erde und Staub und ein paar Holzstückchen wirbelten in der Luft herum. Erst als die Raupenschlepper zurückkamen und die Stümpfe umstießen, sahen wir, was geschehen war. Die Wurzeln waren zerstört worden. Gleich der schwerfälligen Menge alter Menschen, die in den Elendsvierteln einer Großstadt nach Belieben angebrüllt und herumgeschubst werden kann, wurden die Stümpfe der Norfolkfichten geknufft und gemartert und in einen Abfallhaufen verwandelt. Ich brachte es nicht fertig, an diesem Abend wieder zu Teta zu gehen. Ich fühlte mich einsam und elend in meiner Einsamkeit. Ich blieb mit ein paar Australiern zusammen, die ihr Lager neben der Baumreihe aufgeschlagen hatten. »Es ist 'ne -39-
verdammte Schande«, sagte einer von ihnen in ihrer barbarischen Soldatensprache. »Eine einzige verdammte Allee auf dieser verdammten Insel, und da müssen wir den verdammten Flugplatz bauen!« Unsere Gedanken wurden durch das Krachen einer Explosion draußen unterbrochen. Wir stürzten zum Eingang unseres Zelts und sahen im Mondschein zwischen den Bäumen eine Staubwolke aufsteigen. »Der Teufel ist los!« rief ein Australier. Wir eilten über den Platz bis zu der Stelle, wo die Explosion stattgefunden hatte. Wir fanden nur die Reste von einem der kleineren Raupenschlepper, der in tausend Stücke zersprengt worden war. Dynamit! »Diese gemeine Drecksbande!« sagte ein Pionier. Dann ereiferte er sich auf echt militärische Art, um zu beweisen, daß er keine Schuld daran habe. »Diese Maschinen sollten doch bewacht werden, Feldwebel!« brüllte er. »Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß Sie Posten aufstellen sollten?« Er lief auf einige Lichter zu und brüllte immer wieder: »Feldwebel! Feldwebel!« Ich verließ die Australier und schlug den Weg zu den Ruinen der Pferdeställe ein. Unterwegs sah ich plötzlich eine weibliche Gestalt vor mir her laufen. Ich rannte, so schnell ich konnte, und überholte die dicke Lucy. Ich packte sie bei den Schultern und begann sie zu schütteln, aber sie brach in Tränen aus und plärrte so laut, daß ich mit ihren gestammelten Antworten nichts anfangen konnte. Ich ging deshalb zu Tetas Haus hinüber, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, daß ihre Tür geöffnet und geschlossen wurde. »Komm mit, Lucy!« sagte ich, und sie schlurfte mit ihren nackten Füßen durch den Staub hinter mir her. In Tetas Haus saßen die alte Frau und Fry wieder beisammen und tranken Rum. Teta keuchte zwar nicht, schien jedoch außer Atem zu sein. Fry hatte sich offensichtlich seit einiger Zeit nicht vom Fleck gerührt. »Mein Vater Fletcher Christian«, erzählte Teta, »sagte uns immer, daß es nichts ausmache, ob wir nun auf -40-
der Insel Norfolk oder auf der Insel Pitcairn lebten, solange wir nur in Gottes Hut seien. Meine Mutter glaubte das nicht. Sie sagte, diese Insel sei sehr gut für Leute, die nicht auf Pitcairn gelebt hätten. Aber sie könne nicht einsehen, wieso etwas mehr zu essen und Dampfer aus Australien uns für das Leben entschädigen sollten, das wir auf Pitcairn hatten. Sie sagte, sie wolle lieber dort leben, auf der Klippe am Meer, als irgendwo sonst auf der Welt. Als mein Vater im Meer umkam, hatte sie eine Gelegenheit, zu ihrem Heim auf Pitcairn zurückzukehren. Ein Boot fuhr dorthin. Ich bat sie, an Bord zu gehen und uns alle mitzunehmen. Aber sie sagte: ›Nein, Fletcher ist hier draußen im Meer begraben. Mein Platz ist hier.‹ Das war kurz nachdem mein Bruder Fletcher Christian oben im Norden getötet worden war. Wie mein Vater war er ein sehr frommer Mensch. Aber diese Frömmigkeit der Familie steckte nur in den Männern. Nicht in den Frauen. Obwohl ich Bischof Paton gut gekannt habe. Er war ein feiner Mensch.« Die alte Frau brabbelte weiter und weiter, bis es mir klar wurde, daß sie wieder betrunken war, weil sie zuviel von Tonys Rum genossen hatte. Gegen Morgen verließ sie uns und ging in ihre Schlafkammer. Ich trommelte mit den Fingern auf dem Tisch, und Tony sagte: »Kommen Sie! Wir wollen Lucy nach Hause fahren.« »Ich will aber nicht nach Hause!« rief sie. »Steig in den Jeep!« befahl Tony und fügte leise hinzu: »Du hast für eine Nacht genug angerichtet.« Das schwachsinnige Mädchen kletterte hinter uns hinein. Am Hügel fuhr Tony sehr langsam und drückte auf die Hupe. Die Reaktion ließ auf sich warten, aber als sie dann eintrat, war sie noch heftiger als sonst. Von überallher drängten sich Kinder aus dem alten Haus und kamen in der Dämmerung schreiend angerannt. »Es ist Lucy!« brüllten sie. »Lucy, die im amerikanischen Jeep nach Hause kommt!« -41-
»Also sie hat die Zugmaschine in die Luft gesprengt?« fragte ich. »Ja, das hat sie«, sagte Tony schläfrig. »Sie und Teta.« »Fry«, sagte ich kühl. »Diese beiden Frauen würden auch in Millionen Jahren nicht von selber draufkommen, wie man Dynamit hochgehen läßt.« Ein Posten hielt uns an. »Guten Abend, Commander«, sagte er. »Es sind Saboteure am Werk. Einen Raupenschlepper haben sie bereits in die Luft gejagt.« »Es war ohnehin nur ein alter Traktor«, sagte Tony, als wir zu Tetas Haus zurückfuhren. »Irgendeine alte Maschine, die jemand in den Staaten nicht mehr brauchen konnte. Commander, ich sehe den Mann förmlich, wie er sich die Hände reibt und sagt: ›Paß auf, den kann ich noch der Regierung verkaufen. Und bei dem Geschäft noch Geld verdienen. Außerdem ist es patriotisch! So ein Geschäft ist nicht zu überbieten!‹ Na, sein Traktor hat uns ja denn auch viel genützt!« »Wir brauchten ihn aber für die Rollbahn!« »Das glaube ich nicht«, erwiderte Tony. »Tatsächlich bin ich verdammt sicher, daß Sie ihn nicht brauchen könnten. Weil es nämlich der Traktor ist, der am Nachmittag den Motorschaden hatte, und der Pionier sagte, der sei nicht mehr zu reparieren.« Er brachte den Jeep vor Tetas Zaun zum Stehen. »Fry«, sagte ich, »dafür könnten Sie vors Kriegsgericht kommen.« Tony drehte sich um und sah mir in die Augen. »Wer würde Ihnen glauben?« fragte er. »Bei Gott, Mann«, sagte ich erbittert, »wenn ich die Beweise hätte, würde ich die Sache vorbringen.« »Vor wen?« fragte er. »Vor Ghormley? Oder vor Ad miral Kester? Können Sie sich den Ausdruck von Kesters Gesicht vorstellen? Da gab es einen alten, unbrauchbaren -42-
Raupenschlepper. Zwei Frauen jagten ihn in die Luft, als eine letzte Geste der Empörung. Eine neunzigjährige Greisin und ein schwachsinniges junges Mädchen. Besonders wenn ich dann erzähle, wie Sie herkamen, um einen Auftrag auszuführen, und sich einfach nicht dazu entschließen konnten, ein paar Bäume umzuhauen. Das klingt fantastisch, Commander. Kester würde das nie glauben.« »Ich könnte noch begreifen, daß Sie ihnen in Friedenszeiten beistehen«, sagte ich. »Aber wir haben Krieg.« »Gerade dann brauchen Menschen einen Beistand, Commander!« sagte Fry ruhig. »Nicht, wenn alles glatt läuft.« »Das Ganze ist so verdammt sinnlos«, sagte ich und blickte zu den Stallruinen hinüber. »Einen Traktor in die Luft zu jagen!« »Commander«, sagte Fry mit ruhigem Eifer. »Jetzt sehe ich es ganz deutlich. Irgendein armes Schwein von einem Juden im Lager von Dachau schmiedet Pläne für seine Flucht. Wie er die Wachposten umbringen kann. Widerstand gegen die Nazis. Ein einzelner kleiner Hebräer. Sie würden ihn wahrscheinlich nicht zum Mittagessen in Ihr Haus einladen. Er stinkt. So sinnlos. Ein kleiner Jude. Aber, bei Gott, ich halte es mit ihm. Ich bin auf seiner Seite, Commander.« Fry klopfte mich leicht auf die Schulter. Ich hasse es, abgekanzelt zu werden. »Diese Leute hier auf Norfolk kann man nicht so leicht abtun«, fuhr er fort. »Sie sind wie der kleine Jude. Ein paar übergescheite Wissenschaftler können hierherkommen und nachweisen, daß diese Nachkommen der Meuterer alle verrückt sind. Aber glauben Sie das? Wir haben uns neulich eine Landkarte angesehen, Teta und ich. Wir wollten uns mal ansehen, wo ihre Enkel kämpfen. Sie kann sich nicht mehr entsinnen, ob es ihre Enkel oder ihre Urenkel sind. Sie heißen ja alle gleich. Aber sie sind in Afrika, Malaia, Indien, Neuguinea und England. Einer war oben in Narvik. Ein anderer auf Kreta. Sie mögen dumm sein, aber sie wissen, was sie wollen. Sie -43-
wußten, was sie wollten, als sie diesen Kapitän Bligh von seinem Schiff aussetzten. Sie wußten, was sie wollten, als sie dem Land hier mit den Gefängnisbauten den Rücken kehrten. Weigerten sich, in den Sträflingshäusern zu wohnen, die für sie bereitstanden. Und ihre Heiligen wußten, was sie wollten, als sie als Missionare nach dem Norden gingen. Ich bin auf ihrer Seite. Wenn das Sprengen eines unbrauchbaren Traktors dazu dient, diesen Geist lebendig zu erhalten, dann bin ich damit einverstanden.« Tony verfaßte eine etwas unklare Meldung über den Raupenschlepper. Ich bestätigte sie und schickte sie an mein Büro in Numea. Ich weiß nicht, was daraus geworden ist. Als Fry mir den Bericht übergab, sagte er: »Ist es nicht schrecklich? Die ganzen Bäume müssen daran glauben. Wir zerstören nicht ein einziges Denkmal aus jenen Sträflingstagen. Nicht ein einziges Gebäude rühren wir an. Die Rollbahn läuft nur zwanzig Meter von den Pferdeställen daran vorbei, aber sie sind so ungefährdet wie das Galgentor. Nicht einen Stein von der Blutigen Brücke rühren wir an, wo sie die ermordeten Wachposten eingemauert haben, und ebensowenig das obszöne Badehaus der Gefängnisbeamten. Aber die Kathedrale des Geistes, die machen wir dem Erdboden gleich.« »Fry«, sagte ich, »die melanesische Mission bleibt erhalten.« »Dieses lausige Ding!« brüllte Fry. »Eine Missionskapelle im englischen Baustil auf einer wilden Südseeinsel. Eine kitschige sentimentale Kapelle mit Bur ne-Jones' ausgemergelten Engeln auf einer solchen Insel! Wenn wir schon eine Rollbahn bauen mußten, warum konnten wir sie nicht dort bauen? Und die wahre Kapelle stehenlassen?« »Mein Vater Fletcher Christian«, erzählte Teta an meinem letzten Abend, als unsere Unteroffiziere im Fackelschein weiterarbeiteten, um den Bau der Rollbahn zu beschleunigen, »mein Vater Fletcher Christian sagte uns, daß es Gottes Wille war, eine solche Insel wie Norfolk zu schaffen. Ein Mensch muß -44-
die Insel lieben, um hierherzukommen, weil es hier keinen Hafen und keine Landeplätze gibt. Mein Vater sagte: ›Ein Mann muß sich den Zugang zur Küste dieser Insel erkämpfen!‹ Und das hat er auch getan, als das Boot auf den Felsen zerschellte. Langweile ich Sie auch nicht damit, Commander?«
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Alligator Eines Tages im November 1942 trafen mehrere Admirale im Haus der Marine in Washington zusammen. Sie erörterten den begrenzten Sieg im Korallenmeer. Sie berechneten unsere Chancen auf Guadalcanal. Dann gingen sie zu anderen Erwägungen über, und gegen Ende der Beratung sagte der Offizier, der als Vorsitzender fungierte: »Wir werden Kuralei nehmen!« Es war ein absurder Entschluß. Unsere Streitkräfte befanden sich in diesem Augenblick mehr als taus end vom Feind besetzte Meilen von Kuralei entfernt. Wir hatten im Stillen Ozean kaum genug Flugzeuge, um die Seesoldaten auf Guadalcanal zu schützen. Ob es uns möglich war, die Stützpunkte zu halten, die wir eingenommen hatten, und die Stellungen auszubaue n, die wir hielten, war sehr fraglich. Der Ausgang des Krieges im Pazifik war also noch ganz ungewiß, als die Männer in Washington übereinkamen, den nächsten Schlag gegen Kuralei zu führen. Ebenso fantastische Männer faßten in Rußland ebenso fantastische Entschlüsse. Sie vergaßen, daß Paulus vor den Toren von Stalingrad stand. Sie sagten: »Und wenn wir Warschau genommen haben, werden wir sofort weiter auf Posen vorrücken. Wenn nötig, werden wir diese Stadt umgehen und zur Oder vorstoßen. Ja, das werden wir tun.« Und in London ignorierten die Briten Rommel an der Schwelle von Alexandria und folgerten ruhig: »Wenn wir Rommel aus Tunesien vertreiben und wenn ihr Amerikaner in eurem afrikanischen Unternehmen auch Erfolg habt, werden wir auf diese Weise auch auf Sizilien landen.« -46-
Daß jeder dieser drei grandiosen Träume sich verwirklichte, ist ein Wunder unseres Zeitalters. Warum das KuraleiAbenteuer Erfolg hatte, davon konnte ich mich persönlich überzeugen. Das verdankte es dem Unternehmen Alligator. Ich bezweifle, daß irgend etwas, an dem ich je wieder teilnehmen werde, für mich von ebenso großer Bedeutung sein wird. Alligator war zunächst ein Triumph des Hirns und dann der physischen Leistung. Es war ein rauschender Sieg des Geistes, der sich in Fleisch und Blut vollzog. Für mich, der es nur unvollkommen und in Bruchstücken sah, war es ein dauerhafter Beweis dafür, daß demokratische Menschen den anderen, die dieses System verhöhnen, immer gewachsen sein werden; denn es war eine Gruppe schwer arbeitender Durchschnittsamerikaner, die das Unternehmen Alligator plante. Zunächst teilten die Admirale in Washington ihren Entschluß ihren Untergebenen mit: »Wir werden Kuralei nehmen!« Einer dieser Untergebenen erzählte mir später, daß sein Kopf sich wie ein Stück Blei ange fühlt habe, als diese Worte ausgesprochen wurden. »Kuralei nehmen!« rief er aus und lachte noch nachträglich. »Das klang genauso blödsinnig wie der Vorschlag, uns einfach einzuschiffen und Rabaul oder Truk oder Palau zu nehmen. Zu jener Zeit war das eine groteske Vorstellung.« Aber er und vielleicht sechzig andere höhere Offiziere machten sich dann daran, Kuralei tatsächlich zu nehmen. Sachverständige aller Dienstgrade beschäftigten sich Tag und Nacht mit Kuralei und ließen alles andere liegen. Kartenzeichner wurden hinzugezogen, um vollständige Karten von Kuralai zu zeichnen - und vier anderen Inseln, damit niemand mit Sicherheit sagen konnte: ›Als nächstes kommt Kuralai dran.‹ Es stellte sich bald heraus, daß es keine Karten von der Insel gab, auf die man sich verlassen konnte. Monate später überflogen einzelne und unbewaffnete Flugzeuge heimlich und mit großer Geschwindigkeit Kuralei. Die Piloten fotografierten die Insel und vier andere Inseln, und einige dieser Flieger wurden nie -47-
wieder gesehen. Ein Unt erseeboot setzte eines Nachts sechs Männer an Land, um einen Küstenstreifen von Kuralei zu erkunden. Sie kamen wieder. Die Männer, die auf einer anderen Insel an Land gingen, kehrten nicht zurück, aber selbst in den Augenblicken ihrer grausamsten Martern konnten diese Männer das Unternehmen nicht gefährden, denn sie wußten nichts. Nach fünf Monaten lagen die ersten Karten von Kuralei vor. Sie erwiesen sich zu sechzig Prozent als genau. Hunderte von Männern bezahlten jeden Irrtum in diesen Karten mit ihrem Leben, aber Hunderte anderer leben heute, weil die Karten so viele genaue Angaben enthielten. Der Admiral, dem es oblag, für das Unternehmen die nötige Anzahl von Zerstörern zu stellen, zog dabei achtzehn oder zwanzig Möglichkeiten in Betracht: Falls die U-Boot-Gefahr innerhalb der nächsten vier Monate nachläßt; falls wir zwölf Zerstörer von den Aleuten fortnehmen können; falls wir nur Schutz für acht Flugzeugträger brauchen; falls wir es durchsetzen können, nur die Transporter zu benutzen, die sechzehn Knoten machen; falls wir uns auf eine vollständige Ausrüstung in Brisbane verlassen können; falls Camden und Seattle mit der Ausrüstung der Kreuzer, die wir brauchen, rechtzeitig fertig werden; falls die Verteidigung der Strecke zwischen hier und Ascension den Begleitschiffen der Zerstörer überlassen werden kann; falls das afrikanische Experiment alle dafür eingesetzten Zerstörer benötigt; falls wir uns dann wirklich fest auf Mac Arthurs Flotte verlassen können; falls die Meldungen aus Korea über die Lage der japanischen Flotte vier Wochen vor dem Tag X weiterhin günstig sind; falls wir uns dazu entschließen, die meisten Küstenbatterien durch Luftbombardements kampfunfähig zu machen; falls wir in Midway sichere Deckung haben; falls unser Fliegerschutz so mächtig ist wie geplant; falls wir alle Geleitzüge südlich Pearl Harbour zurückhalten können - und so weiter, bis eine wahrlich verblüffende Anzahl von Möglichkeiten erwogen worden war. -48-
Aber wenn ein Mann, der sein Leben ganz der Seefahrt gewidmet hat, dessen ganzer Daseinszweck darin liegt, einem solchen Notfall zu begegnen, sich vier Monate lang mit dem Problem der Zerstörer bei Kuralei beschäftigt, kann man mit Recht eine kluge Entscheidung erwarten. Das Ärztekorps packte seine Aufgabe etwas anders an. Diese Mediziner studierten sämtliche Landungsunternehmen von der See und der Luft her, über die es irgendwelche Aufzeichnungen gab. Landungen mit großen und mit kleinen Booten. Landungen bei bewegter und bei ruhiger See. Landungen mit und ohne Fliegerschutz. Landungen mit starkem und geringem Widerstand in der Luft. Landungen ohne jeden Widerstand in der Luft. Landungen in den Tropen, in der Arktis und in Gegenden mit gemäßigtem Klima. Landungen mit noch verfügbaren und bereits gesunkenen Lazarettschiffen. Und wo sie sich auf keine Erfahrungen stützen konnten, verbrachten die Ärzte viele Stunden damit, sich zu überlegen, was möglicherweise geschehen könne. Bedächtig und mit großer Gewissenhaftigkeit arbeiteten sie immer wieder neue Pläne aus. ›Bei einer Landung während des höchsten Flutstandes auf einer durch Korallenriffe geschützten Küste gegen wirksamen, aber ständig gestörten feindlichen Widerstand muß man mit folgenden Verlusten rechnen...‹ Die Spezialisten machten sich unter den angenommenen Voraussetzungen ans Werk. ›Man kann ruhig voraussagen, daß sich bei jeden hundert Mann, die in diesem Unternehmen kampfunfähig werden, die Art der Verwundung folgendermaßen verteilt...‹ Die Forscher unter den Ärzten überschlugen nun den wahrscheinlichen Prozentsatz an Beinwunden, Bauchwunden, Kopfwunden, zerschmetterten Armen, zerfetzten Gesichtern, schwer verletzten Hoden, verlorenen Augen und abgeschossenen Füßen. Dann traten die Lazarettärzte in Funktion. ›Aus der beiliegenden Tabelle ist zu ersehen, daß für dieses Unterne hmen X Lazarettschiffe mit x Betten benötigt werden. Von den x Betten müssen nicht weniger -49-
als x Prozent verstellbare Betten sein zur Pflege der Wunden in den Kategorien k bis r.‹ Dann wurde die Anzahl der benötigten Chirurgen bestimmt, die Anzahl der Sanitäter, die Anzahl der Krankenschwestern und ihre dem Rang entsprechende Verteilung, der Internisten, Kopfspezialisten, Augenärzte, Urologen und Haut- und Geschlechtsärzte. Die Anzahl der erforderlichen Operationstische wurde errechnet und auch die aller anderen Ausrüstungsgegenstände. Im Raum von Pearl Harbour bis Perth wurde jede Möglichkeit klinischer und ärztlicher Behandlung ins Auge gefaßt. ›Wir dürfen ruhig voraussetzen, daß wir zu der Zeit, in der dieses Unternehmen startete, sowohl auf Guadalcanal als auch auf den Russels und auf Munda Marinelazarette haben werden; daß wir dann in den Neuen Hebriden und in Numea über weitere Krankenhausbetten verfügen können und daß die Projekte, die in Neuseeland und in Australien bereits in Angriff genommen wurden, bis dahin fertiggestellt sind. Das heißt, daß wir, niedrig geschätzt, mindestens...‹ Von vier medizinischen Warenlagern wurde eine genaue Bestandsaufnahme gemacht, um sich zu vergewissern, daß der mutmaßliche Bedarf an Medikamenten, Plasma, Verbandszeug, Instrumenten und allen erdenklichen Apparaten gedeckt sein würde. ›Wenn wir, wie wir mit Sicherheit annehmen dürfen, bis dahin über ein günstiges Rollfeld verfügen, etwa auf einem Stützpunkt wie Konora, können wir vierzehn Lazarettflugzeuge einsetzen, die täglich soundso viele lebensgefährlich Verwundete auf dem schnellsten Weg...‹ Hier unterbrach ein höherer Stabsarzt der Marine alle weiteren Überlegungen. »Lassen Sie uns nun einmal damit rechnen«, sagte er, »daß dieses Unternehmen fehlschlägt. Nehmen wir für den Augenblick an, daß wir fünfundzwanzig Prozent Verluste haben werden. Daß wir doppelt soviel Operationen ausführen müssen. Daß es um zweihundert Prozent mehr Kopfverletzungen geben wird. Was tun wir dann?« Also revidierten die Ärzte ihre -50-
Tabellen und betrachteten die bisher gemachten Erfahrungen unter diesem neuen Gesichtswinkel. Um diese Zeit kehrte ein Arzt, der ein Lazarett für die Seesoldaten auf Guadalcanal geleitet hatte, nach Washington zurück. Seine ärztlichen Kollegen stürzten sich auf ihn und bombardierten ihn drei Tage lang mit Fragen. Ein britischer Arzt, der einer Ärztekommission angehörte, die bald nach Rußland reisen sollte, und der sich gerade in Washington aufhielt, wurde zwei Tage ausgefragt. Er war auf Kreta gewesen. Bedächtig und mit unendlicher Mühe, überaus gewissenhaft, aber hoffnungsvoll, trafen die Ärzte ihre Schätzungen. Lange bevor das erste Boot sie nach Kuralei einschiffte, ja, bevor noch unsere Langstreckenbomber anfingen, die japanischen Stellungen weich zu machen, wurde die medizinische Geschichte der Schlacht geschrieben. Wie alle solche Voraussagen war sie blutig, unbarmherzig und grausam. Sollten unsere Verluste hinter den schrecklichen Erwartungen der Ärzte zurückbleiben, würden wir einen großen Sieg erringen. Und sollten sich unsere Verluste nur auf die Hälfte oder ein Drittel der angenommenen Zahl belaufen, würden Hunderte über Hunderte amerikanischer Familien weniger Leid erfahren, als sie jetzt erwarten mußten. In einem solchen Fall würde Admiral Kester in der Lage sein, das Ergebnis der Schlacht mit den magischen Worten zu melden: ›Unsere Verluste waren überraschend gering.‹ Es war seltsam. Die Männer, die den Unterschied zwischen den erwarteten und den wirklichen Toten ausmachten, würden nie erfahren, daß sie die Glücklichen waren; aber die ganze Welt würde reicher sein, weil sie diese Schlacht überlebten. Im Laufe der Zeit wurde es notwendig, mehr und mehr Männer in das Geheimnis von Kuralei einzuweihen. Sieben Monate waren inzwischen vergangen. Ein ansteckendes Geflüster ging in der Marine um: ›Ein großer Schlag wird vorbereitet!‹ Alle hörten etwas davon läuten. Die australischen Stewards, die auf irgendeinem Hafenschlepper Dienst taten, -51-
wußten, daß ›etwas im Gange war‹. Die kleinen Japanerjungen, die in Pearl Harbour Schuhe putzten, wußten es und ebenso die französischen Mädchen, die in den Lagerhäusern von Numea arbeiteten. Aber wo würde dieser Schlag geführt werden? Wann sollte es losgehen? Mehr als ein halbes Jahr war vergangen, seit diese Entscheidung getroffe n worden war, aber Ort und Zeit waren noch ein sicheres Geheimnis. Es wurde nun für die dienstlichen Mitteilungen ein Deckname gebraucht, um sich auf das Geheimnis beziehen zu können, ohne es zu verraten. Alligator war das Kennwort, für das man sich entschied. Es hieß das Unternehmen Alligator. Jetzt erst konnten alle nötigen Anweisungen gedruckt werden. Wo nur immer möglich, wurden Namen fortgelassen. Im Text tauchten Sätze auf wie: ›Wir können uns darauf verlassen, daß Alligator die japanische Flotte an der Nase herumführen wird...‹ ›Alligator wird nicht weniger als zwanzig Truppentransportflugzeuge benötigen, und zwar in der Zeit...‹ ›Zwei Wochen vor dem Tag X des Unternehmens Alligator werden die Lazarette in der Gegend südlich von...‹ Die Ausgabe besonderer Instruktionen hatte begonnen. Die Vervielfältigungsmaschinen arbeiteten, und gewisse Dienststellen wurden Tag und Nacht von bewaffneten Posten bewacht. Alligator war bereits eine Tatsache. Am selben Tag, an dem der geplante Angriff auf Kuralei einen Namen bekam, flog Kapitänleutnant Samuel Kelley von Washington zu der Insel Efate in den Neuen Hebriden. Er wurde ermächtigt, den Oberbefehl über den ganzen Nachschub in dieser Gegend zu übernehmen, und hatte darauf vorbereitet zu sein, ein größeres Unternehmen zu versorgen. ›Nichts‹, wurde ihm gesagt, ›darf der reibungslosen Durchführung dieser Aufgabe in die Quere kommen. Unsere ganze Position im Pazifik hängt von diesem Unternehmen ab!‹ Zur selben Zeit wurde ein Kapitänleutnant aus dem Stab von Admiral King mit mündlichen Instruktionen zu Admiral Kester, den höchsten Fliegeroffizieren in Pearl Harbour und zu General -52-
MacArthur geschickt. Dieser Kapitänleutnant wußte nichts von Kapitänleutnant Kelleys Auftrag, und die beiden Männer, die im selben Flugzeug in die Südsee flogen, fragen sich jeder, was der andere wohl dort zu tun habe. Unterdessen waren die Pläne in Washington so weit wie nur irgend möglich gediehen. In scharf bewachten Paketen wurden sie nach Pearl Harbour geflogen, wo Admiral Nimitz und sein Stab die Arbeit fortsetzten und sie zu ihrer eigenen machten. Das Datum für den Tag X war allerdings noch nicht festgelegt worden, doch als das Projekt Admiral Nimitz übertragen wurde, mutete es nicht mehr halb so blödsinnig an wie an dem Tag, an dem es in Washington ausgeheckt worden war. Als es viel später mir dann zu Ohren kam, schien das Unternehmen ein logischer und unumgänglicher Zug zu sein. Der feine Unterschied liegt darin, daß der Plan, als ich seine Folgerichtigkeit einsah, bereits so weit vorgeschritten war, daß nur noch eine größere Katastrophe seine Ausführung hätte verhindern können. Hierin liegt, glaube ich, das Geheimnis der modernen Kriegführung zur See und in der Luft begründet. In Pearl Harbour arbeiteten die Vervielfältigungsmaschinen noch angestrengter und ausgiebiger als seinerzeit in Washington. Tag für Tag wurden der Vorgeschichte von Alligator neue Kapitel hinzugefügt. Frühere wurden revidiert oder vernichtet. Und doch gab es noch keinen schriftlichen Hinweis darauf, wann Alligator losschlagen sollte. Alles, was man mit Sicherheit sagen konnte, war, daß eine ungeheuer große Anzahl von Schiffen dabei eingesetzt werden würde. Die strengsten Geheimnisse über den Beginn des Unternehmens Alligator waren noch nicht zu Papier gebracht worden und wurden es auch erst in den allerletzten Wochen vor dem unausweichlichen Tag. In diesem Stadium der Entwicklung wurde ich mit unklaren Befehlen nach Pearl Harbour geschickt. Ich hatte zwar den Verdacht, daß meine Reise dorthin mit dem bevorstehenden -53-
Angriff in irgendeinem Zusammenhang stand. Ich dachte, der Schlag würde gegen eine der kleineren Inseln bei Bougainville geführt werden. Während einiger aufregender Minuten dachte ich sogar, er sei womöglich gegen Kavieng gerichtet. An Kuralei aber dachte ich nicht einen Augenblick. Ich landete auf dem Flugplatz und begab mich sofort zur Ford-Insel, wo ich bei einem alten Freund, einem Leutnant English, übernachtete. Etwas später kam Tony Fry auf einem Dienstflug angeflogen, und wir legten uns beide in die Sonne, fachsimpelten und warteten in einer trübseligen Dienststelle nach der anderen. Da ich ein bewährter Kurier war und sonst gerade nichts zu tun hatte, wurde ich mit einigen Papieren, die Bezug auf Alligator nahmen, weiter nach Midway geschickt. Die Insel machte gar keinen Eindruck auf mich. Es war nur eine Handvoll Sand und Felsen in der öden Wasserwüste des Stillen Ozeans. Seitdem habe ich oft gedacht, daß Millionen Amerikaner jetzt und in Zukunft Guadalcanal, Neu-Georgien und Kuralei mit denselben Augen betrachten werden, wie ich an jenem sehr heißen Tag Midway betrachtete. Die Inseln, die sich meinem Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt haben, erscheinen anderen nur als kleine Streifen Urwald oder Sandflecken. Man kann von diesen anderen Männern nichts anderes erwarten: denn sie waren ja nicht dort. Tony Fry flog schließlich weiter nach Segi Point, einem winzigen Fleckchen in den Salomonen. English mußte irgendwo anders hinfliegen, und ich blieb also allein in den Unterkunftsräumen auf der Ford-Insel zurück. Junge Offiziere meldeten sich dort zu Hunderten in diesen aufregenden Tagen, die dem großen Schlag vorausgingen, und eilten dann nach kurzen Besprechungen weiter auf Inseln, von denen sie nie etwas gehört hatten, oder auf Schiffe, deren Existenz ihnen völlig unbekannt war. Nur ich blieb und blieb und blieb. Ich tat das Übliche, was man in Pearl Harbour eben tat, aber irgendwie erschreckten mich diese Truppenverschiebungen, und die ganze -54-
Zeit hatte ich einen üblen Geschmack im Mund. In Kalifornien oder in New York oder in Oklahoma machten andere Männer die gleichen Erfahrungen. Sie waren zwar in der Heimat, aber auch sie hatten im Mund einen üblen Geschmack; denn selbst Chicago oder Fort Worth vermögen einen Mann, der draußen auf den Inseln gewesen ist und weiß, daß ein neuer großer Schlag vorbereitet wird, nicht zu trösten. Seine Frau und seine Mutter mögen ihm noch so oft sagen, daß er jetzt zu Hause sei, und ihn beschwören, doch endlich die Schlachten zu vergessen, aber in seinem Herzen weiß er, daß er nicht daheim ist. In dieser Stimmung meldete ich mich eines Tages beim Hauptquartier der Flotte. Dieses Mal sprach ich nicht umsonst vor. Eine mittelgroße, ungewöhnlich schwere Aktenmappe wurde mir ausgehändigt. Es wurde mir gesagt, daß ich, falls unser Flugzeug auf See notlanden sollte, die Mappe ins Wasser werfen müsse. Sie würde garantiert in acht Sekunden sinken. Man gab mir eine Pistole und zu meinem Schutz einen bewaffneten Feldwebel der Seesoldaten mit. Von einer bewaffneten Eskorte begleitet, wurde ich zu einem startbereiten Flugzeug geführt. Sieben andere Offiziere saßen noch in dem Flugzeug, und ich war sicher, daß mindestens einer von ihnen den Befehl erhalten hatte, mich zu überwachen: aber welcher Offizier, konnte ich nicht herausfinden. Wir landeten diese Nacht auf Funafuti, einem Inselchen, das im Ozean kaum zu sehen war. Zwei Posten standen vor meiner Unterkunft, die ich mit niemandem teilte, Wache. Am Morgen wiederholte sich die Prozedur des vorhergehenden Tages, und wir verließen Funafuti, eine wirklich trostlose kleine Insel, um nach Neu-Kaledonien hinüberzuspringen. Als wir nur noch etwa eine Stunde von Numea entfernt waren, wurde ein ungünstiger Wetterbericht durchgegeben, und wir wurden angewiesen, auf Plaine des Gaiacs zu landen, einer von Numea etwas weiter entfernten Rollbahn. Wir machten eine Landung, die mir ziemlich riskant erschien, denn wir wurden -55-
tüchtig durcheinandergerüttelt. Wir mußten eine schwierige Entscheidung treffen. Sollten wir in einem kleineren Flugzeug nach Numea fliegen? Sollten wir in einem Jeep hinüberfahren? Oder sollten wir die Weiterreise bis zum nächsten Morgen verschieben? Es wurde beschlossen, eine Stunde zu warten und die erste Möglichkeit wahrzunehmen. Ein einmotoriges Torpedoflugzeug flog uns rüber, und jetzt erfuhr ich erst, welcher von meinen Mitpassagieren meine besondere Wache war. Es war ein Marineleutnant, der aussah wie ein kleiner Bankbeamter. In dem überfüllten Torpedoflugzeug ließen wir uns beide nicht anmerken, daß wir wußten, warum der andere mitflog. In Magenta machten wir eine recht klägliche Landung, und der Marineleutnant und ich waren beide sichtlich mitgenommen, als wir ausstiegen. Der ganze Himmel war dicht verhangen, und wir fragten uns, wie der Pilot sich nur durch die Wolken getastet hatte. Hier bestiegen wir einen Panzerwagen, und wir fuhren direkt zu Admiral Kesters Hauptquartier. Der Ad miral erwartete uns bereits. Zu dritt überreichten wir, der Marineleutnant, der Seesoldat und ich, ihm die Aktenmappe. Admiral Kester nahm die Mappe mit in sein Zimmer und öffnete sie. Sie enthielt ein vervielfältigtes Buch, zwanzig mal vierunddreißig Zentimeter groß. Das Buch hatte einen Umfang von sechshundertundzwölf Seiten und enthielt außerdem noch sechs vervielfältigte Generalstabskarten. Das Erstaunlichste an dem Buch war die erste Seite. Der erste Satz bezeichnete das bevorstehende Unternehmen als Alligator. Der zweite Satz war kurz. Er lautete einfach: ›Sie werden Kuralei angreifen und die Insel besetzen.‹ Andächtig wie einer, der plötzlich in den Besitz einer Erstausgabe von Shakespeares Werken gelangt ist, nach der er jahrelang gefahndet hat, durchblätterte Admiral Kester langsam die streng geheimen ersten Seiten. Die Kriegsschiffe der ihm unterstellten Einheiten waren benannt, die Sammelpunkte genau -56-
angegeben. Der Standort jedes Schiffes mittags und gegen Mitternacht an jedem der fünf der Landung vorausgehenden Tage war endgültig festgelegt worden. Die Feuervorbereitungen, die Anordnung der Landungsboote, die Zusammensetzung der Luftangriffe, Kennwort für die verschiedenen Stunden, Funkwellenlängen, Festlegung der Angriffsziele und jede andere nur irgend erdenkliche Einzelheit, die ein erfolgreiches Vorgehen gegen den Feind gewährleisten konnte - alles das stand auf diesen ersten Seiten. Es fehlte nur das Datum für den Tag X. Der Admiral hatte die Anfangsseiten durchgelesen und schlug nun aufs Geratewohl irgendeine andere Stelle in dem umfangreichen Buch auf. Da stand auf Seite 291: ›In dieser Jahreszeit sind keine Wirbelstürme zu befürchten. Es ist jedoch bekannt, daß 1897 dreihundertachtzig Meilen südwestlich von Kuralei ein Orkan gewütet hat. Sollte daher wider Erwarten doch ein Orkan ausbrechen, wird er zweifellos aus... aufziehen.‹ Auf Seite 367 las Kester, daß ›die Eingeborenen auf Kuralei sich vermutlich unfreundlich verhalten werden. Die langjährige und strenge Verwaltung unter den Deutschen wurde von den Japanern nicht geändert. Statt bei den Eingeborenen auf eine Auflehnung gegen die japanische Regierung zu stoßen, werden die amerikanische n Truppen die Eingeborenen apathisch oder sogar feindlich eingestellt finden. Unter keinen Umständen dürfen sie daher als Läufer, Melder oder Wachposten benutzt werden. Doch soll jeder Eingeborene, der gefangengenommen wird oder sich freiwillig ergibt, gründlich verhört werden.‹ Auf Seite 401 wurde dem Admiral mitgeteilt, daß auf Kuralei ziemlich dieselben Früchte wachsen wie auf den südlicheren Inseln, und ihm nach der in der Südsee allgemein gültigen Regel geraten, ›alles, was gut aussieht, gut riecht und gut schmeckt, getrost zu essen.‹ Auf Seite 492 hielt der Admiral inne. ›Wir müssen leider mit hohen Verlusten rechnen. Die Landung auf dem Grün-Strand -57-
wird vermutlich ein heftiges, gutgezieltes Abwehrfeuer entfesseln. Die Zahl der Brust-, Kopf- und Gesichtsverletzungen wird aller Voraussicht nach höher sein als bei jedem bisherigen Unternehmen. Falls auf Grün-Strand seit der Aufklärung im Dezember-Stacheldrahtverhaue errichtet worden sind, werden wir mit einer noch größeren Anzahl von Verwundeten rechnen müssen. Es muß daher jede Vorsorge getroffen werden, daß alle Lazarettschiffe, Feldlazaretteinheiten und Lazarette auf den Stützpunkten der Zone ausreichendes Personal aufweisen, um einen weiteren Zustrom von Verwundeten mit Kopf- und Brustschüssen aufnehmen und behandeln zu können. Das ist unerläßlich!‹ Auf Seite 534 wurde für die Stunden von 01.00 bis etwa 05.15 eine klare Nacht vorausgesagt. Je nach dem Datum des Tages X könne der Mond hell genug oder auch nicht hell genug sein, um die Umrisse der Flotte deutlich erkennen zu lassen. Es sei jedoch schon beobachtet worden, daß selbst ein abnehmender Mond noch genügend Licht verbreite, um das zu ermöglichen. Auch leuchteten die helleren Planeten in den Tropen manchmal so stark, daß man Umrisse eines Schlachtschiffes ausmachen könne. Admiral Kester klappte das Buch zu. ›Alligator‹ stand auf dem braunen Pappdeckel des Einbandes. Im selben Augenblick wurden andere Exemplare dieses Alligators von Männern durchgesehen, die für Unterseebootpatrouillen, Luftoperationen, den Zustand der Schlachtschiffe und den Nachschub verantwortlich waren. Jeder der Männer - und es ist leicht zu verstehen, warum - sagte, als er das Buch nach der ersten flüchtigen Lektüre aus der Hand legte: ›Jetzt kommt es also auf mich an.‹ Der Tag X würde erst später bestimmt werden, und irgendein Offizier würde dann wie ich als Kurier zu den verschiedenen Inseln fliegen und unter schwerer Bewachung reisen. Man würde mit diesem Auftrag einen ebenso unauffälligen Mann wie mich betrauen, und zu jedem Exemplar vom Alligator, das in -58-
Umlauf war, würde er eine Seite hinzufügen. Die Seite, auf der das Datum des Tages X stehen würde. Von diesem Augenblick an gab es dann kein Zurück mehr. Ein wahrhaft gewaltiges Vorhaben würde in Gang kommen. Schiffe, die vor vier Monaten aus Algier oder Bath oder San Diego ausgelaufen waren, würden in einer unvergeßlichen Schlacht eingesetzt werden. Alle möglichen Gebrauchsartikel, die in den Hafenspeichern von San Fransisco und Sydney aufgestapelt lagen, würden endlich ihre Verwendung finden. Blutplasma aus einer Stadt in Arkansas würde nun seinen barmherzigen Zweck erfüllen. Instrumente aus London, Pökelfleisch aus Illinois, Dieselöl aus Louisiana und Ersatzteile für Funkgeräte aus einer kleinen Stadt in Pennsylvania würden sich nach und nach auf einer kleinen Insel im fernen Pazifik ansammeln. Auch Männer setzten sich daraufhin in Bewegung. Aus Australien, Neuseeland, den Aleuten, Pearl Harbour, Port Hueneme und mehr als achthundert anderen Orten trafen sie mehr oder weniger schnell an den angegebenen Stellen ein. Seesoldaten, die in Suva schwitzten und fluchten, sahen sich plötzlich in einen atemberaubenden Wirbel hineingerissen, der erst am Strand von Kuralei oder eine Meile landeinwärts oder, wenn sie Glück hatten, auf dem höchsten Felsen des höchsten Berges enden würde. Auch die geringfügigsten Einzelheiten, die in diesem weitschweifigen Buch erwähnt wurden, verwirklichten sich, sobald die Teilnehmer dieses Angriffs auf Kuralei landeten. Deshalb kommen einem diese Männer, wenn man jetzt auf sie zurückblickt, in ihrer Selbstgefälligkeit, ihren Streitigkeiten und ihren Ansprüchen nicht mehr so töricht vor. Sie wußten nicht, was ihnen bevorstand, und waren glücklich in ihrer Unwissenheit. Die Intensität, die Unvermeidlichkeit, die unendliche Plackerei des Unternehmens Alligator waren zu groß, um von dem einzelnen Mann begriffen zu werden. Es veränderte das -59-
Leben in jedem Land der Welt. Es forderte von jeder Familie in Japan und Amerika ein Opfer. Alligator war die Ursache, daß Kinder geboren und nicht geboren wurden, und war auch der Grund, daß ein stupsnasiges kleines Mädchen in Columbia, SüdCarolina, das sonst in seinem ganzen Leben keinen Mann gefunden hätte, von einem Seesoldaten einen Heiratsantrag erhielt, einem Gefreiten, den sie nur einmal gesehen hatte. Er befand sich in der ersten Welle, die über den Strand rollte, und am Abend vorher, als er an den nächsten Tag dachte, gingen ihm alle guten Dinge durch den Kopf, die er in seinem Leben gekannt hatte. Da gab es die Mutter und den Vater, einen alten Ford und die Samstagabende in einer kleinen Stadt in Georgia und den Stolz, ein Seesoldat und schon Gefreiter zu sein, und sonst gab es nur noch verteufelt wenig. Aber es gab da noch diese Kleine in Columbia, Süd-Carolina. Sie war nicht hübsch, aber sie war nett. Sie gehörte zu den Mädchen, die gewissermaßen zu einem Mann aufsehen. Also erbat sich dieser Seesoldat ein Stück Papier und schrieb an jenes Mädchen: ›Liebe Florella, vielleicht weist Du nicht wer ich bin, ich bin der Seesoldat Joe Blight, der damals rüberkam um Dich zu besuchen. Du warst sehr lieb zu mir an dem Abend, Florella und ich möchte dir sagen, daß ich dich wenn ich...‹ Aber er tat es nicht. Einige kommen nicht zurück. Für Florella aber, die sonst nie einen Mann gefunden haben würde, der sie geheiratet hätte, war dieser Brief nebst dem, den der Feldgeistliche ihr noch dazu geschrieben hatte... nun, fast ebensogut wie verheiratet zu sein.
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Unsere Heldin Zwei Wochen nachdem Schwester Nellie Forbush Leutnant Harbison einen Heiratsantrag gemacht hatte, bekam sie aus Little Rock in Arkansas einen Zeitungsausschnitt zugeschickt. Auf der Seite mit den Nachrichten aus dem Landkreis hatten sie ein großes und hübsches Bild von ihr gebracht, das sie in ihrer Ausgehuniform zeigte. Darunter stand: ›Unsere Heldin. Mädchen aus Otolousa fährt nach den Neuen Hebriden, um unsere verwundeten Seesoldaten zu pflegen.‹ Nachdenklich betrachtete Nellie das Photo, das ihr aus dem Zeitungsblatt entgegenlächelte. Damals war sie noch jünger und selbstsicherer und war noch nicht acht Tage lang seekrank gewesen. Als dieses Bild aufgenommen wurde, hatte sie noch nicht im Dreck gelebt, war noch nicht hungrig zu Bett gegangen und hatte nicht unter einem übelriechenden Moskitonetz schlafen müssen. Auch hatte sie sich damals nie einsam gefühlt und hatte Tage und Nächte noch als ein Ganzes empfunden. Ja, sie war ein glückliches Mädchen, als sie dem Photographen zu dieser Aufnahme saß. Sie war zu diesem Zweck mit ihrer Mutter und Charlie Benedict nach Little Rock gefahren, und beide waren so stolz auf sie gewesen - die Mutter, weil sie in ihrer neuen Uniform so hübsch und patriotisch aussah, und Charlie, weil er hoffte, daß sie ihn heiraten werde. Doch als die Bilder in Otolousa eintrafen, wurde Charlie auf einmal ganz mürrisch. »Du bist eine Schönheit«, sagte er. »Du wirst nie zu einem Mann zurückkehren, der nicht zum Wehrdienst taugt.« »Ich möchte gern die Welt sehen, Charlie«, hatte sie erwidert. »Ich möchte gern andere Menschen kennenlernen. Ich will wissen, wie es in der Welt aussieht. Und wenn der Krieg aus ist, komme ich wieder nach Hause.« Insgeheim aber bezweifelte sie -61-
das ebenso stark wie Charlie. Auf den Neuen Hebriden lernte sie viele Menschen kennen. Zu viele! Unter hundert Männern war sie oft das einzige Mädchen. Die meisten von ihnen wollten mit ihr ein Verhältnis anfangen; aber das war es nicht, was Nellie Forbush meinte, als sie sagte, sie wolle gern die Welt sehen. Ihr hatte dabei vorgeschwebt, daß sie mit fremdartigen Menschen sprechen würde, um herauszufinden, wie sie lebten und wovon sie träumten interessante kleine Einzelheiten, die sie um wertvolle Erfahrungen bereichern konnten. Sie besaß die Lebendigkeit des Herzens, die in allen Zeiten Menschen auf die Suche nach neuen Ideen und tieferen Einsichten getrieben hat. Doch während des ganzen ersten Jahres bei der Marine hatte Nellie nur einen einzigen Menschen gefunden, der ihre Sehnsucht nach Ideen und Erfahrungen teilte, und das war Dinah Culbert. Sie und Dinah hatten einen wahren Hunger auf Sensationen, Ideen und Erkenntnisse, mit denen das Leben durchwoben ist. Sie waren zwar beide Realisten, aber doch so feinnervig, daß sie auch für übersinnliche Dinge empfänglich waren, die mit dem bloßen Verstand nicht mehr erfaßt werden können. Nellie war daher sehr traurig, als Dinah nach dem Norden kommandiert wurde, um bei der Einrichtung eines neuen Lazaretts zu helfen. Am Abend vor Dinahs Abreise blieben sie noch lange auf und sprachen miteinander. Gemeinsam machten sie sich über den hübsche n Bill Harbison lustig, diesen armen Teufel, der, wie sie hörten, jetzt soviel trank. Nellie hatte Dinah bereits erzählt, wie sie Bill einen Antrag gemacht hatte und von ihm abgewiesen wurde. Und Dinah dachte daran, wie Bill unlängst abends auf einer Gesellschaft, als er schon etwas betrunken war, sich schwankend erhoben und sie herzlich mit einem lauten ›Hallo, Oma !‹ begrüßt hatte. Die beiden Krankenschwestern wurden in ihrem Gespräch durch einen Tumult vor der Wachtstube am Tor unterbrochen. -62-
Ein Heeresoffizier half einer Schwester aus einem Jeep. Ein Arzt kam herbeigelaufen. Bald steckten sie aus allen Fenstern die Köpfe heraus. Sie sahen, wie noch ein zweiter Arzt hinzutrat und sich des Offiziers annahm. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde in den Schlafräumen. Es war die stille Schwester, die den Hauptmann liebte, der in Vila stationiert war. Er fuhr sie gerade nach Hause. Unterwegs hatten sie ein Weilchen gehalten. Am Flugplatz. Nein, sie waren nicht sehr zärtlich geworden. Sie hatten die Flugzeuge beobachtet. Da sprangen drei Männer aus dem Busch und überfielen sie. Mit Knüppeln. Sie schlugen den Hauptmann nieder und versuchten, die Schwester aus dem Jeep zu ziehen. Als sie schrie und sich wehrte, wollte der eine sie mit seinem Knüppel zum Schweigen bringen. Der Schlag verfehlte sie und brach einem der Angreifer den Arm. Der Verletzte brüllte auf. Außer sich vor Wut packten sie sie dann an einem Arm und einem Bein. Sie klammerte sich am Steuerrad fest, und der Hauptmann schlug wieder auf die Rohlinge ein. Sie versetzten ihm noch einen Hieb, und dann... kam ein Auto. Die drei Angreifer sahen es kommen und ergriffen die Flucht. In dem Jeep saßen zwei Landser, die sofort hinter den Verbrechern herjagten. Aber inzwischen hatten die erfolglosen Mädchenräuber schon das Weite gesucht. Einer der Landser fuhr dann den Jeep des Hauptmanns zum Lazarett. Der Hauptmann war am Kopf übel zugerichtet. Die Schwester zitterte noch von dem Schock, war aber nicht verletzt. Die ganze Nacht flitzten Wagen vorbei, und jedes Fahrzeug wurde angehalten. Um 3 Uhr wurden alle Dienstgrade in sämtlichen Unterkünften gemustert. Schlaftrunken stellten sich die Männer in langen dunklen Reihen auf. Offiziere verhörten die Soldaten und die anderen Offiziere. Schließlich, gegen Morgen, wurde ein Mann mit einem gebrochenen Arm entdeckt. Er sei über den Stamm einer gefällten Kokospalme gefallen. Warum hatte er das nicht gemeldet? Er war gerade erst -63-
zurückgekommen. Was hatte er draußen getan? Fliegende Füchse gejagt. Womit? Mit einem Gewehr. Wo war das? Sein Freund hatte es mitgenommen. Wie hieß sein Freund? Wußte er nicht. Wie konnte er von einem Freund sprechen, wenn er nicht einmal dessen Namen wisse? Wußte er nicht. Wo war dieser Freund stationiert? Wußte er nicht. Hatte ihn irgend jemand gesehen, wie er auf die Fledermausjagd ging? Nein. War noch jemand dabeigewesen, den er kannte? Niemand. Nur er und der Freund? Ja. Gehörte sein Freund zum Heer oder zur Marine? Wußte er nicht. Sie sperrten den Verdächtigen im Lazarett in eine Kammer ein. Es war nichts aus ihm herauszubringen, und der Polizei gelang es nicht, ihm nachzuweisen, daß er ein Unhold war. War er das, so wurden seine Mitschuldigen doch nie entdeckt. Seitdem gingen die Schwestern abends nur noch aus, wenn ihre Verehrer geladene Revolver bei sich trugen. In den heißen Morgenstunden übten Leutnant Harbison und seine Freunde sich im Scheibenschießen, um in den kühlen Nächten ihre Mädchen vor den Mannschaften schützen zu können. Natürlich wurde Harbison als Lokalheld von dem Hauptmann verdrängt, der seine Krankenschwester so tapfer verteidigt hatte. Der Hauptmann wurde ein noch größerer Held, als er um die Schwester anhielt und sie ihm ihr Jawort gab. Die beiden saßen in der Kantine des Lazaretts meist still für sich in einer Ecke. Sie trank nur Limonade, und er bestellte sich fast immer eine Flasche Coca-Cola. Leutnant Harbison ging jetzt mit einem dummen kleinen Flittchen, mit dem er sich häufig in die Büsche schlug. Als das Mädel nach Hause geschickt wurde, bandelte er mit einer geschiedenen Krankenschwester an, die wußte, daß er verheiratet war, und eine Art Abkommen mit ihm traf, das sich anscheinend gut bewährte. Wenn Nellie ihnen begegnete, nickte sie ihnen immer freundlich zu. Sie bemerkte, daß Bill dick wurde. Auf den Inseln kam es noch zu vielen anderen Überfällen auf -64-
Krankenschwestern, und nicht alle konnten rechtzeitig abgewehrt werden. Scheußliche Begebenheiten, die aber so geschickt vertuscht wurden, daß niemand je genau erfuhr, was eigentlich geschehen war. Nur Gerüchte und Vermutungen. Doch bald wußte jede Schwester, daß ihr Gefahr drohte. In den finsteren Blicken der Soldaten konnte sie deutlich lesen, daß sie in ihr nur ein Spielzeug sahen, das zum Vergnügen der Offiziere hierher geschickt worden war. Da auf jede weiße Frau einige tausend Männer kamen und es den Soldaten verboten war, sich mit den Schwestern abzugeben, mußte man darauf gefaßt sein, daß noch allerlei schreckliche Dinge passierten. Trotzdem ertappte Nellie sich dabei, daß sie die Männer mit einem tieferen Interesse betrachtete. Wenn es Schwierigkeiten gab, zeigten sich die guten Männer von ihrer besten Seite. Der bewaffnete Soldat, der als Fahrer des Lazarettautos am Steuer saß, wenn sie mit den Offizieren herumfuhr, schien jetzt mehr geneigt, sie zu beschützen. Und jeder Mann, dem man es zutrauen konnte, daß er eine Frau vergewaltigte, war offensichtlich irgendwie degeneriert und würde zu Hause als Zivilist auch schlimme Dinge tun. »Ich finde, die Männer sind jetzt sogar noch netter als früher«, sagte Nellie an dem Morgen, an dem Dinah ihre Sachen packte. »Ich dachte, es würde gerade umgekehrt sein.« »Männer sind immer nett«, meinte Dinah und lachte. »Ich habe gestern abend noch darüber nachgedacht, Dinah. Hier draußen scheinen die guten Menschen besser zu werden und die schlechten Menschen schlechter.« »Das ist in Amerika nicht anders, du Krauskopf. Wart's nur ab, bis du erst eine Kleinstadt wirklich gut kennst, Nellie!« »Aber hier ist es mir erst richtig bewußt geworden, daß jeder sein ganzes Leben lang von Gefahren bedroht ist. Das sind wir doch wirklich. Nur, daß wir nach und nach einige Maßnahmen treffen, um die Gefahren auszuschalten. Wir haben gewisse -65-
Mädchen, die für die Bedürfnisse gewisser Männer sorgen. Und wenn ein Mann ein Betrüger oder ein Schurke werden will, haben wir... nun, scheinen wir doch gewisse Bezirke zu haben, in denen er seinen dunklen Geschäften mehr oder weniger unbehelligt nachgehen kann. Ist es nicht so?« »Ich weiß es nicht, Nellie«, sagte Dinah, während sie ihre Reisetasche zuschnürte. »Ich weiß nur eins sicher, daß nämlich, soweit ich es bisher feststellen konnte, nichts, was sich überhaupt nur vorstellen läßt, unmöglich ist. Und das gilt ebenso für das Gute wie für das Schlechte.« Kurz nach Dinahs Abreise traf im Lazarett eine Schreckensnachricht ein. Bill Harbison und noch ein paar Männer von der BOLWARE-8 waren nach Numea geflogen, um frisches Gemüse zu holen. Das Flugzeug fing Feuer. Der letzte Funkspruch gab eine Position östlich von Numea an. Es versank im stürmischen Meer, und nicht ein einziger Mann von der Besatzung war gefunden worden. Nellie konnte nicht arbeiten und mußte von ihren Pflichten dispensiert werden. Sie legte sich hin und begann gegen ihren Willen zu weinen. Es war schrecklich zu denken, daß ein so junger und begabter Mann so sinnlos sterben mußte. Nellie fand in diesem Augenblick, daß der Krieg an sich verständlich sei. Es sind die Dinge, die er im Gefolge hat, die Dinge, die uns nahestehenden Menschen geschehen, die unbegreiflich sind und zu allen Zeiten unbegreiflich waren, dachte sie und war drei Tage richtig krank. Dann kam plötzlich die Nachricht, daß man die Männer bis auf einen in einem Schlauchboot gefunden habe. Sie seien zwar böse mitgenommen, würden sich aber wieder erholen. Harbison gehörte zu den Geretteten. Wieder blieb Nellie in ihrem Zimmer. Sie stellte fest, daß sie Bill nicht sehen wollte, sich aber doch sehr freute, daß er noch lebte. Es wurde ihr bewußt, daß Bill ein Stück von ihr selbst in sich trug, und sie war froh darüber, daß dieser Teil ihres Wesens dem Leben -66-
zurückgegeben war. Doch als der hübsche junge Leutnant mit seiner unvermeidlichen Krankenschwester wieder im Lazarett erschien, bedauerte Nellie, ihn wiedergesehen zu haben. Er war von der Sonne tiefbraun gebrannt und sah besser aus denn je. Eine Woche lang saß er jeden Abend mit der Schwester an dem einen oder anderen Tisch in der Kantine und erzählte von den Tagen im Schlauchboot. Es mußten schreckliche Tage gewesen sein. Aus dieser Sackgasse, in der sie sich mit ihren Gefühlen festgerannt hatte, wurde Nellie von der klugen Dinah befreit, die sie zu ihrer Entlastung anfordern ließ. Vergnügt packte sie ihre Sachen und wartete auf das Flugzeug, das sie zu dem nördlichen Stützpunkt bringen sollte. Sie war noch nie geflogen. Sie sah die Maschine aus der Richtung von Numea einfliegen, beobachtete aufmerksam die Geschäftigkeit, die jede Landung und jeden Abflug begleitet, und riß vor Staunen den Mund auf, als sie sah, welch zauberhaften Anblick Efate und Vanicoro aus der Vogelperspektive boten. Der Pilot flog absichtlich eine kleine Kurve nach Osten, damit seine Passagiere die Vulkane sehen konnten. Die Landung verlief glatt, und Nellie stieg ebenso beschwingt aus dem Flugzeug wie Aschenbrödel aus der Galakutsche. Ja, so ließ es sich leben. Dinah holte sie vom Flugplatz ab, und am selben Abend lernte sie auf der Plantage eines französischen Pflanzers, in dessen Haus zu Ehren der neuen Krankenschwester ein Diner gegeben wurde, Emile de Becque kennen. Nellie, Dinah, drei andere Schwestern und einige Ärzte saßen bei flackerndem Kerzenlicht in einem offenen Pavillon am Meer. Fliegenfenster hielten ihnen die Insekten fern, und von Zeit zu Zeit ging ein kleiner indochinesischer Boy mit einer Flitspritze herum, was ihm sichtlich großen Spaß machte. Junge Annamiten servierten das Essen, das sehr gut war. An einem anderen Tisch nahmen zwei Franzosen ihr Diner ein. Der eine war der Besitzer der Plantage, ein kleiner und -67-
dicker Mann, den Nellie schon früher am Abend kennengelernt hatte. Der andere war eine auffallende Erscheinung: Mitte vierzig, sehr schlank, mit etwas hängenden Schultern und tiefliegenden schwarzen Augen unter buschigen Brauen. Er hatte lange Arme und schmale Handgelenke, und obwohl er beim Sprechen ständig die Hände gebrauchte, waren ihre Bewegungen doch zart und entspannt. Nellie bemühte sich, den Franzosen nicht fortwährend anzustarren, aber während man auf den Hummer mit Reis wartete, wurde sie vom Hausherrn dabei ertappt, wie sie seinen Gast beobachtete. Der dicke Franzose erhob sic h und ging zu einem der Ärzte hinüber. »Ah, docteur!« rief er liebenswürdig. »Darf ich Sie mit meinem guten Freund Emile de Becque bekannt machen? Er ist ein fanatischer Vorkämpfer von de Gaulle.« Bei dieser Empfehlung blickte jeder am Tisch auf. De Becque nickte kurz und erhob sich ebenfalls. Als er auf die amerikanische Gesellschaft aus dem Lazarett zutrat, fuhr der korpulente Pflanzer in seiner Einführung fort: »Ja, Monsieur de Becque war unser erster und mutigster Gaullist. Er hat dem General hier viele Anhänger geworben. Und als wir befürchten mußten, daß die Japaner uns besetzen würden, ist Monsieur de Becque mit einem jungen Kapitänleut nant auf sämtliche Inseln gefahren und hat alle verdächtigen Personen verhaftet. Wären die Japsen tatsächlich gelandet, wäre er der Führer unserer Widerstandsbewegung geworden.« Monsieur de Becque nickte wieder und lächelte, als er so vorgestellt wurde, der Reihe nach jede Krankenschwester freundlich an. Er hatte vorn einen Goldzahn, aber das tat seinen markanten Zügen keinen Abbruch. Nellie fand, daß er unverkennbar französisch aussah, weil ihm das Haar so tief in die Stirn wuchs. Er trug es kurz, und der gepflegte Haarschnitt glich die zwangsläufige Saloppheit seiner Tropenkleidung wieder aus. »Monsieur de Becque hatte unsere Flucht in die Berge bis in -68-
die kleinsten Einzelheiten vorbereitet«, erzählte der Plantagenbesitzer weiter. »Sie müssen nämlich wissen, daß wir uns bis zu Ihrem Kommen verstecken wollten, und Monsieur de Becque hatte bereits unter den Eingeborenen eine Anzahl zuverlässiger Leute ausgesucht, die uns in die verschiedenen Schlupfwinkel führen sollten. Auch die Frauen waren alle bewaffnet.« Nellie sollte später entdecken, daß es, wenn man dem, was man zu hören bekam, Glauben schenken konnte, auf den ganze n Neuen Hebriden nicht einen einzigen Anhänger von Pétain gab. Doch als sie sich den dicken Pflanzer und viele andere ähnliche Typen genauer ansah, hatte sie das seltsame Gefühl, daß von all diesen Männern nur Emile de Becque aus Überzeugung handelte. Sie zweifelte nicht daran, daß er selbst dann so gehandelt haben würde, wenn Pétain persönlich die Inseln besetzt hätte. Sie bekam de Becque in den folgenden Wochen häufig zu sehen. Der hochgewachsene Franzose freute sich, Menschen gefunden zu haben, mit denen er reden konnte, und obwohl er sich auf englisch nur mangelhaft auszudrücken vermochte, konnte er sich doch verständlich machen. De Becque machte Nellie zwar nie einen Besuch, aber die Ärzte - eine Menschengattung, die ja fast immer vielseitig interessiert ist luden de Becque hin und wieder zum Abendessen ein, und nach dem Essen gesellten sich meist Nellie und Dinah und noch die eine oder andere Schwester dazu und sprachen mit den Männern über Politik oder erörterten die Frage, wann der Krieg in Europa wohl zu Ende sein würde. Der Franzose war ein guter Diskussionspartner, und selbst die Schwierigkeiten der fremden Sprache hinderten ihn nicht, die Anwesenden durch die grundsätzliche Richtigkeit seiner Beweisführungen zu beeindrucken. Er war bald der einzige Franzose, der an diesen zwanglosen Diskussionsabenden im Lazarett teilnahm; denn während die anderen Pflanzer lediglich als Repräsentanten einer -69-
exotischen Welt ein gewisses Interesse erweckten, das bereits nach der ersten oder zweiten Begegnung erlosch, war de Becque selbst eine interessante Persönlichkeit und wurde von den wißbegierigen Amerikanern als ebenbürtig empfunden. »Ich vermute«, sagte er einmal, »daß die Menschen schon vor langer Zeit entweder Gaullisten oder Pétainisten gewesen sind. Ich glaube, sie wachsen einfach so auf. Allerdings«, fügte er verschmitzt hinzu, »werden einige nie erwachsen, und das waren gerade diejenigen, mit denen wir es zu tun hatten.« »Aber was«, fragte ein Arzt, »hat Sie im besonderen dazu veranlaßt, sich de Gaulle anzuschließen?« »De Gaulle?« wiederholte der Franzose verächtlich. »Was heißt hier de Gaulle? Wer interessiert sich denn schon für de Gaulle? Ich halte ihn für einen aufgeblasenen Burschen und kann ihn nicht ausstehen.« Er schnaubte und machte mit den Händen eine wegwerfende Bewegung. »Aber«, sagte er nach einer kleinen Pause, »wofür de Gaulle eintritt! Welcher anständige Mensch könnte da anders handeln?« Nachdem de Becque schon mehrere Male im Lazarett zu Gast gewesen war, meinte er, es sei nun an ihm, einmal den Gastgeber zu machen, und lud seine neuen Freunde zu einem Abendessen auf seiner Plantage ein. Die Ärzte waren entzückt. »Die Schwestern auch?« schlug der Franzose vor, wobei er die Schultern hochzog und das Wort auch so gedehnt aussprach, als ob es zwei Silben hätte. »Warum nicht?« meinten die Ärzte, und wenige Abende später ratterte eine kleine Gesellschaft von Amerikanern in ihren Jeeps den Hügel zu de Becques Plantage hinauf. Sie lag auf einem breiten Plateau, von dem man die Inseln und das Meer überblickte. Die meisten Engländer und Franzosen, die auf den Inseln leben, ziehen es vor, direkt am Meer zu wohnen, aber de Becque bildete eine Ausnahme. Er liebte den weiten Rundblick, und von seiner Veranda hatte man wirklich eine herrliche -70-
Aussicht. Sein Haus war ein achteckiger Bau, dessen eine Front doppelt so lang war wie die anderen. Diesen Teil bewohnte er mit ein paar Büchern, einem Radio und einem alten Grammophon. In den sieben anderen Flügeln befand sich das geräumige Speisezimmer, ein Warenhaus, ein Lager, eine Reihe von Schlafzimmern und ein behaglich eingerichtetes Gastzimmer, in dem man mal einen Missionar, mal eine indochinesische Familie oder einen Regierungsbeamten und auch mal einen Händler antreffen konnte. Am Abend des Diners war das Fremdenzimmer jedoch nicht bewohnt. Das Achteck umschloß einen Hof, in dessen Mitte die Küche lag, ein kleines, niedriges und rauchgeschwärztes Gebäude, das nur von den annamitischen Köchen betreten wurde, die darin für das Diner eine Reihe leckerer Gerichte zubereitet hatten. Um diesen einstöckigen Bau gruppierte sich eine Anzahl Hütten, die ihren ursprünglichen Zweck schon seit langem eingebüßt hatten. Jetzt lebten Annamiten und Eingeborene dort und gingen ihren rätselhaften Gewohnheiten nach. Am Rande des Dschungels lag, von den Bäumen halb verdeckt, ein buddhistischer Tempel, der den zu Besuch weilenden Missionaren viel Kummer machte, denn die Eingeborenen fanden sein Glockengeklingel und rhythmisches Getrommel viel lustiger als alles, was die Methodisten oder der landläufige Katholizismus ihnen zu bieten hatten. Die breite Veranda des langen Speisesaals blickte nach Süden, und dort konnte man vier herrliche Dinge sehen: die Durchfahrt, in der die großen Schiffe lagen; die Vulkane von Vanicoro; den weiten Pazifischen Ozean und einen alten Blumengarten, wie man ihn sonst nur in Tongking findet. Nellie glaubte, noch nie ein solches Blütenmeer gesehen zu haben. Alle Arten von Blumen wuchsen in diesem Garten, Azaleen, einfacher und gefüllter Hibiskus, Hortensien, blaßgelbe Teerosen und andere, die sie nicht kannte. Dazwischen -71-
leuchteten da und dort die flammend roten Büsche der Bougainvilleen auf, und überall waren, ganz nach Laune, Jasminbäume angepflanzt. De Becque brach ein halbes Dutzend Zweige für seine Gäste ab und zeigte ihnen, wie die Eingeborenen die vierblättrigen weißgelben Blüten in ihrem Haar trugen. Die Schwestern schnupperten an den Blüten, die ihr Gastgeber ihnen überreichte, und waren entzückt. Der Jasmin roch nach Dschungel - ein süßer, schwacher und doch eindringlicher Duft. Außerdem hatte er eine leicht aphrodisische Wirkung, eine Tatsache, die den Eingeborenen schon seit langem bekannt war. De Becques Diner stellte jede Mahlzeit, die die Ärzte ihm vorgesetzt hatten, weit in den Schatten. Es bega nn mit einer Suppe, gegrillten Süßwasserkrebsen, Hummer mit Reis und Endiviensalat. Als nächstes gab es drei Gänge hintereinander: Rinderfilet, Lammkoteletts und ein köstliches Mischgericht aus Reis, Zwiebeln, grünen Bohnen und dem schwarzen Fleisch der Wildhühner. Dann servierte de Becque den ›Millionärssalat‹, der aus den zarten, hauchdünn geschnittenen Schößlingen der Kokospalme bestand und mit Olivenöl, Essig und Salz und Pfeffer angemacht war. Vanillecreme mit Rum, kleine Kuchen, Kaffee und sechs verschiedene Schnäpse und Liköre bildeten den Abschluß der Mahlzeit. Und das alles am Rande des Dschungels, 550 Meilen von Guadalcanal entfernt! Zu behaupten, daß die amerikanischen Gäste verblüfft gewesen wären, hätte eine Unterschätzung ihrer Reaktionen bedeutet. »Wo bekommen Sie denn die Hummer her?« erkundigte sich einer der Ärzte. »Wir fangen sie auf verschiedene Weise. Draußen im offenen Meer.« »Und wie fangen Sie die Wildhühner?« »Die Schwarzen, die Sie, als Sie ankamen, draußen am Tor -72-
gesehen haben, schießen sie mit Pfeilen oder Kleinkaliber. Es sind hervorragende Schützen.« »Das kann man wohl sagen«, erwiderte der Arzt. »Aber wo gibt es hier solche großen Krebse?« »Hoch oben in den Wildbächen. So essen wir freilich nicht alle Tage, das werden Sie sich wo hl denken können, meine lieben Freunde. Höchstens einmal alle zwei Wochen. Denn um einen Hummer zu bekommen, muß ich den Leuten fünf Tage vorher Bescheid sagen. Bei Krebsen sogar eine Woche und bei Wildhühnern mindestens zwei Tage vorher.« »Wie haben Sie es nur den Eingeborenen beigebracht, daß sie bei Tisch so ausgezeichnet servieren?« fragte Dinah. »Es scheint ihnen richtig Spaß zu machen.« »Ich habe Geduld mit ihnen«, antwortete der Franzose. »Ich bin sozusagen ihr Versuchskaninchen, und wenn sie dann me ine Gäste bedienen, geben sie sich alle Mühe, mir keine Schande zu machen. Halten Sie es im Lazarett nicht ebenso?« »Sagen Sie mir, Monsieur de Becque«, fragte ein besonders neugieriger Arzt, »wie lange haben Sie eigentlich zur Anlage und zum Ausbau dieser Plantage gebraucht?« »Sechsundzwanzig Jahre«, sagte de Becque. »Ich kam als junger Mann hierher.« »Haben Sie den Boden etwa selbst gerodet?« »Mit Hilfe einiger Eingeborener und einer javanischen Arbeiterfamilie.« »Aber die Gelben, die ich draußen gesehen habe, sind doch keine Javaner, oder?« »Nein«, entgegnete de Becque. »Das sind Annamiten. Ausgezeichnete Arbeiter. Wir holen sie uns aus Tongking.« »Sechsundzwanzig Jahre!« rief einer der älteren Ärzte aus. »Was werde ich wohl in sechsundzwanzig Jahren als mein Lebenswerk vorzuweisen haben?« -73-
»Und Sie waren bereit, dies alles aufzugeben, falls Pétain gesiegt hätte?« fragte Dinah ehrfürchtig. Der Franzose lächelte. »Ich dachte, dieser Krieg sollte ja gerade beweisen, daß Pétain keinesfalls siegen konnte«, sagte er liebenswürdig. »Ihr Amerikaner macht euch so viel Gedanken um de Gaulle und seine Anhänger, und dabei handelt jeder von euch so, als wärt ihr selber Gaullisten. Eure Reden und Handlungen stimmen nicht überein.« Nach dem Essen saßen die Gäste in der mit engmaschigem Draht vergitterten Veranda. Einer der Ärzte hatte zwei Moskitospritzen mitgebracht, um die elenden Biester fernzuhalten. Der Hausherr ließ Whisky, Bier, Coca-Cola, Ingwerbier, Limonade und Rum servieren. Als die Nacht hereinbrach und am nächtlichen Himmel eine zauberische Mondsichel aufstieg, wandte das Gespräch sich dem Leben auf diesen Inseln zu. »Wie kommt es, daß Sie in diesem Klima so gesund geblieben sind?« wollte einer der Ärzte wissen. »Durch schwere körperliche Arbeit und eine gewisse Enthaltsamkeit«, erwiderte der Franzose. »Ich habe zwar für meine Gäste stets alle möglichen Sorten Alkohol im Haus, trinke selbst aber sehr wenig. Ich habe mich bemüht, in allen Dingen Mäßigkeit zu üben.« Die Schwestern fragten sich, was dieses ›in allen Dingen‹ wohl einschließen mochte. »Glauben Sie, daß andere Weiße es auch in den Tropen ausha lten könnten?« fragte eine. »Ich meine, ebensogut wie Sie?« »Natürlich«, sagte er. »Ich glaube, die Willenskraft spielt dabei eine große Rolle. Nehmen Sie zum Beispiel Malaita auf den Salomonen. Oh, eine wahre Hölle! Und doch fand ein guter Bekannter von mir, ein gewisser Anderson, das Leben dort recht ersprießlich.« »Sagen Sie, Monsieur de Becque«, fragte eine andere -74-
Schwester, »stimmt es, daß die meisten Weißen, die in den Tropen leben, vor irgend etwas zu Hause davongelaufen sind?« Der Franzose drehte sich auf seinem Stuhl nach dieser dreisten Fragerin um. Sie war noch sehr jung, und deshalb lächelte er. »Ja«, gab er zu, »ich glaube, das ist wohl so. Nehmen wir an, auch ich sei vor irgend etwas davongelaufen wo hätte ich wohl ein schöneres Fleckchen Erde finden können als dieses hier?« Mit einer weit ausholenden Geste deutete er auf die erhabenen Berggipfel von Vanicoro. »Und genaugenommen«, sagte er dann sehr ruhig, »läuft auch jeder von Ihnen vor irgend etwas davon, nicht wahr? Einerlei, ob sie noch keinen Mann gefunden haben, ob Ihr Liebster im Krieg ist oder Ihre Frauen bereits anfangen, Sie zu langweilen. Ich halte es nicht für klug, die Gründe, weshalb irge nd jemand sich irgendwo aufhält, allzu genau zu untersuchen.« Er lächelte der verlegenen Schwester freundlich zu. »Ach, Monsieur de Becque«, sagte sie. »So hatte ich das gar nicht gemeint.« »Das weiß ich, meine Liebe! Aber so fasse ich nun einmal diese Frage auf. Denken Sie nur nicht, daß zum Beispiel in Marseille alle Menschen glücklich sind und nichts zu verbergen haben, hier draußen aber jeder ein Flüchtling sei! Diese Art zu denken wäre heutzutage sehr töricht. Ich möchte nicht wissen, wie viele Männer und Frauen in Marseille mich gerade in diesem Augenblick beneiden mögen...« Es war schon nach Mitternacht, und die Schwestern mußten ins Lazarett zurück, so ungern sie auch die Plantage verließen. Am Tor, wo die Jeeps parkten, zog de Becque Nellie etwas beiseite. Sie hatte sich so hingestellt, daß er es, falls er es im Sinn haben sollte, leicht tun konnte. »Fähnrich Forbush«, sagte er, »Sie haben so großes Interesse für meinen Besitz gezeigt, daß es mich sehr freuen würde, wenn Sie mich wieder einmal besuchen wollten.« -75-
»Das will ich gern«, entgegnete Nellie freimütig. »Wenn Sie also erlauben, werde ich Sie an einem der nächsten Nachmittage mit dem Wagen abholen. Mein Kakaowäldchen wird Ihnen bestimmt gefallen.« Als er sie dann drei Tage später in die Kakaopflanzungen führte, gab Nellie zu, daß sie noch nie etwas gesehen habe, was sie so entzücke wie diese naturhafte urwüchsige Schönheit. Sie ahnte in diesem Augenblick noch nicht, daß sie hier unter den Kakaobäumen viele der glücklichsten Stunden ihres Lebens, aber auch eine sehr bittere verbringen sollte. Die Plantagenbesitzer in den Tropen pflanzen ihre Kokospalmen meist am Meer entlang und ein bis zwei Meilen landeinwärts. Wie überschlanke Balletteusen mit phantastischem Kopfschmuck stehen die hohen Palmen in schnurgeraden Reihen aufrecht da. Das Gras zwischen den Stämmen wird sehr kurz geschnitten, damit die heruntergefallenen Nüsse leicht zu finden sind. Eine Kokospflanzung sieht daher eigentlich immer recht ordentlich aus. Eine Kakaopflanzung hingegen wächst ganz willkürlich. Gewöhnlich bildet sie die Grenze zwischen der Plantage und dem Urwald. Die Bäume wachsen Jahr für Jahr wirr durcheinander, und ringsum wuchert das Unterholz des Dschungels, so daß es zeitweilig schwierig zu sagen ist, wo die Kakaopflanzung endet und das wilde Wachstum des Urwalds beginnt. An der Stelle, wo seine Kakaobäume mit den Kokospalmen zusammenstießen, hatte de Becque sich. vor langer Zeit einen Pavillon erbaut, der nur Raum für wenige Menschen bot. Sein Boden bestand aus achtzehn Zoll dicken Teakholzplanken, geflochtene Kokosmatten bildeten die halbhohen Wände, und das Dach war mit festem Stroh bedeckt. Zwei Bänke aus Mahagoni und zwei massive bequeme Sessel aus Teakholz waren die einzigen Möbel. Vier aus dem Stamm der -76-
Kokospalme geschnitzte, groteske Eingeborenenmasken schmückten die vier Ecken. Zwei davon stellten unwahrscheinlich langnasige Dschungelgötter und die anderen beiden Gesichter weißer Frauen mit roten Lippen dar, wie die Eingeborenen sie sahen. Diese Masken verliehen dem kleinen Raum, der in seiner Kahlheit sonst fast steril gewirkt hätte, etwas Farbe. Es ist jedoch zweifelhaft, ob in einer Kakaopflanzung von Sterilität überhaupt die Rede sein kann. Als Nellie in dem Pavillon wartete, während de Becque mit seinen Eingeborenen sprach und dann die unregelmäßigen Reihen der Bäume abschritt, glaubte sie ihren Augen nicht zu trauen, weil der Urwald, den sie sich so eintönig vorgestellt hatte, so bunt und voller Leben war. Über sie hinweg flog ein endloser Schwärm der verschiedensten Vögel. Weiße, grüne, rote, violette und gelbe Papageien, viel prächtiger als irgendein anderer Vogel bis auf den Quetzal, der in närrischen Kapriolen durch die Pflanzung stob. Ihre schrillen Schreie wurden von dem zarten Schirpen überaus graziöser, schwalbenähnlicher Vögel begleitet, die in Scharen zwischen den Kakaobäumen hin und her flogen. Diese anmutigen Vögel hatten ein pechschwarzes Gefieder; nur die Brust und der Bauch waren weiß. Während sie so zwischen den Baumschatten einherschwebten, sahen sie selbst wie Schatten aus, aber sobald ein Sonnenstrahl sie traf, leuchtete ihr weißer Leib hell auf. Zuweilen verirrten sich auch Wasservögel so weit ins Land hinein, wie die Kakaopflanzung reichte, und gelegentlich ließ sich von den fernen Bergen ein dürrer Habicht dort für einen Tag nieder und verscheuchte die dahinjagenden Schwalben. Aber am meisten begeisterte Nellie sich für den Kakaobaum, der unter den Urwaldriesen ein Zwerg ist und allenfalls nur eine Höhe von sechs Metern erlangt. Er hat einen kräftigen Stamm, dicke Äste, die etwa anderthalb Meter über dem Boden ansetzen, und einen sehr ebenmäßigen Wuchs. Seine Blätter -77-
glänzen wie wilder Efeu, nur noch stärker, und jedes hat eine andere Farbe. Manche sind blaßgrün, andere tief dunkelgrün, einige violett, manche fast blau oder grau oder auch hellgelb. Und die meisten Bäume haben mindestens fünfzig rote Blätter, vom hellsten Zinnober bis zum leuchtenden Scharlach und dunkelsten Karmin. Jedes Blatt schillert, und wenn es welkt, fällt es sofort ab. Bei Regenwetter ist eine Kakaopflanzung von eigenartig melancholischem Reiz. Im hellen Sonnenlicht leuchtet sie wie eine Halle mit lauter Spiegeln, und in der Dämmerung strahlt sie die tiefe Ruhe des dichten Dschungels und einen geheimnisvollen Zauber aus, wie er nirgendwo sonst in den Tropen zu finden ist. Alle diese Eigenschaften verdankt sie in hohem Maße der Schönheit ihrer eigenen Früchte. Die Kakaoschoten wachsen nämlich in einer geradezu märchenhaften Weise. Im späten Januar und im Februar zeigen sich die ersten Knospen, die sich später zu Schoten entwickeln, an den seltsamsten Stellen. Überall am Baum tauchen dann diese bunten Schoten auf: Da hängt eine nur fünf Zentimeter über dem Boden an einem toten starren Stamm. An einem Ast aber hängen gleic h ein Dutzend und an einem anderen gar keine. In der Vertiefung an der Stelle, wo ein Ast vom Stamm abzweigt, mag ein ganzes Büschel hängen, während der Ast selbst kahl bleibt. Zur Erntezeit sieht ein ausgewachsener Kakaobaum so aus, als habe jemand aufs Geratewohl aus der Entfernung eine Handvoll Schoten auf ihn geworfen. Die kleinen jungen Schoten haben eine blaßlila Färbung. Während sie zu ihrer vollen Größe heranwachsen, nehmen sie allmählich eine gespenstisch grünviolette Farbe an wie die Bilder von Georges Braque. Eine Zeitlang sind sie dann alle grün, und danach wechseln sie fortwährend ihre Farbe wie ein Chamäleon. Die reifen Schoten, die wie dicke Gurken aussehen und oft zwanzig Zentimeter lang werden, leuchten am selben Baum sowohl hellgrün als auc h goldgelb, gelbrot, dunkelrot, -78-
violett und blaugrün. Und an jedem Baum gibt es auch taube, häßliche schwarze wie verkohlte Schoten mit kleinen Löchern, wo die Ratten die süßen Samen herausgefressen haben, die, wenn sie geröstet und gemahlen werden, erst den eigentlichen Kakao ergeben. Während Nellie darauf wartete, daß de Becque seinen Rundgang beendete, dachte sie über den Widerspruchsgeist der Menschen nach, der aus dem französischen cacao im Englischen das Wort cocoa geprägt hatte. Sinnend betrachtete sie die Pflanzung: Die bunten Papageien, die schillernden Blätter und die vielfarbigen Kakaoschoten boten an diesem heißen Nachmittag einen herrlichen Anblick. Als die hohe, leicht vorgeneigte Gestalt des Pflanzers zwischen den Bäumen wieder auftauchte und de Becque dann schwer atmend bei ihr ankam, bat sie ihn, sich doch zu ihr zu setzen. Er blieb jedoch am Eingang stehen. »Warum haben Sie diesen Pavillon gebaut?« fragte sie. »Ich halte mich gern in der Nähe des Urwaldes auf«, erklärte er. »Gehen Sie auch an Regentagen hierher? Ist es dann auch so schön?« »An Regentagen ist es am schönsten«, sagte er. »Aber es ist seltsam, dieser Pavillon dient gar keinem besonderen Zweck. Die Küche liegt zu weit entfernt, als daß man hier essen könnte. Schlafen kann man auch nicht hier, weil kein Bett da ist und die Wände nicht vergittert sind. Trotzdem halte ich mich hier lieber auf als irgendwo sonst auf meiner Plantage.« »Ich habe gerade die Kakaobäume bewundert«, sagte Nellie in einem singenden Tonfall. Sich selbst sagte sie: ›Ich werde diesen Mann heiraten. Das wird von nun an mein Leben sein. Dieser Berghang wird meine Heimat werden, und an den Nachmittagen werden er und ich hier sitzen.‹ Laut fuhr sie fort: »Es sind doch herrliche Bäume, nicht wahr?« -79-
»Ja, nicht so einförmig wie die Kokospalmen. Aber der Ertrag ist viel geringer.« »Mister de Becque«, begann sie. »Nein, das klingt zu albern. Monsieur de Becque wollte ich sagen.« »Warum nennen Sie mich nicht einfach Emile?« »Das will ich gern«, antwortete sie mit einem kle inen verlegenen Lachen. Zu sich selbst sagte de Becque darauf: ›Das ist es, worauf ich all die langen Jahre gewartet habe. Wer hätte je gedacht, daß ein so unberührtes, heiteres junges Geschöpf wie dieses Mädchen hier zu mir auf meinen Hügel hinaufklettern würde? Es hat sich gelohnt, darauf zu warten. Ich wüßte nur gern...‹ »Emile?« hub Nellie wieder an. »Darf ich Sie etwas fragen?« »Natürlich dürfen Sie das«, erwiderte er lächelnd. »Warum haben Sie Frankreich verlassen?« Es entstand eine kleine Pause. Nellie und Emile sahen einander über die kurze Entfernung hinweg schweigend an. Draußen schossen die Schwalben durch das Laub der Kakaobäume, und die Papageien kreischten empört, weil sie hier eingedrungen waren. Es war ein drückend heißer schwüler Sonnentag dort am Rande des tropischen Urwalds. »Es gereicht mir nicht zur Unehre«, sagte der Franzose schließlich. »Das weiß ich«, versicherte ihm Nellie. »Ich habe einen Mann getötet«, fuhr Emile träumerisch fort, und seine Stimme versank in der lastenden Stille des Kakaowäldchens. »Warum?« fragte Nellie, nicht im geringsten beunruhigt. Es schien für Emile de Becque eine ebenso natürliche Handlungsweise zu sein wie das Schreiben eines Briefes. Er hatte gesagt: ›Ich habe einen Mann getötet‹, und sie atmete erleichtert auf, weil es nichts Schlimmes war. -80-
»Einen Schürzenjäger. Einen Betrüger. In einem kleinen Nest bei Marseille. Jedermann freute sich über seinen Tod, und es war seine eigene Schuld. Aber sie meinten, ich solle doch lieber fortgehen. Die Polizei brauchte drei Tage für ihre Nachforschungen und ließ mir Zeit, mein Bündel zu schnüren. Ich konnte mich aber nicht dazu entschließen, und ein alter Mann, der früher zur See gefahren war, sagte zu mir: ›Ich war mal auf einer Insel. Die Männer trugen dort Schweinezähne, und die Frauen hatten überhaupt nichts an. Alles, was du anpflanztest, gedieh auf dieser Insel. Mit ein bißchen Geld könnte ein mutiger Mann dort ein feines Leben haben und reich werden!‹ Ich hörte ihm nur widerwillig zu, aber dann sagte er etwas, was mich umstimmte. ›Und der Insel gegenüber‹, erzählte er, ›liegt eine andere Insel mit zwei Vulkanen. Die hast du die ganze Zeit vor deinen Augen.‹ Das gab den Ausschlag. Meine Mutter hatte immer Neapel sehen wollen. Sie hatte ein Buch über Pompeji gelesen und wollte unbedingt Neapel sehen. Aber es kam nie dazu. Sie ist ihr ganzes Leben lang nicht aus dem Nest bei Marseille herausgekommen. Ich schlug dem alten Seemann auf den Rücken und schrie: ›Da hast du mich auf einen guten Gedanken gebracht, Alter! Ich werde nicht nur einen, ich werde zwei Vulkane sehen!‹ Am selben Abend noch verließ ich das Dorf, und am nächsten Tag klopfte die Polizei an mein Elternhaus. ›Wo ist Emile de Becque?‹ fragten sie. ›Er wird wegen Mordes gesucht.‹ Die alten Leute im Haus sagten: ›Er ist fortge laufen.‹ ›Der elende Schurke!‹sagte die Polizei. ›Wenn er wiederkommt, werden wir ihn verhaften! Denkt daran, dann nehmen wir ihn mit!‹ Sie waren wütend, und unterdessen saß ich in einem Café in Marseille und wartete dort vier Tage lang auf ein Schiff. Sie wußten es und scheuten sich, in Marseille Meldung zu erstatten, weil sie auch wußten, daß die Schiffe dort manchmal drei oder vier Tage im Hafen liegen. Schließlich schickten sie einen jungen Burschen hin, um mir nachzuspüren. Er erfuhr, daß ich die Stadt verlassen hatte, und da klebten sie -81-
erst die Plakate an. Aber ich bin nie wieder in Marseille gewesen.« »Wie haben Sie ihn getötet?« fragte Nellie, von ihrem eigenen Mut überrascht. »Mit einem Messer«, sagte Emilie, selbst nach so vielen Jahren noch mit einer gewissen Befriedigung. »Und Sie haben es niemals bedauert, hiergeblieben zu sein, nicht wahr?« fragte sie. »Nie«, sagte er kurz und bündig. Dann fügte er eine merkwürdige Erklärung hinzu: »Die Plantage ist heute mehr als hunderttausend Dollar wert.« In dem kleinen Pavillon unter den Kakaobäumen blickten die beiden Menschen einander an, jeder mit einem kleinen Lächeln. De Becques Goldzahn war zu sehen. Nellies Lächeln wirkte so ansteckend und ergriff nun auch Besitz von ihren vollen Lippen. Sie dachte, daß er noch nicht alt, aber auch nicht mehr jung war. Er war ein angesehener und reicher Mann, ein Mann mit tiefen Gedanken. Ein Mann, der mit einem Messer zustach, der sich für de Gaulle eingesetzt hatte und den Widerstand gegen die Japaner geführt haben würde. »Nellie«, sagte er so leise, daß es bei dem Gekreisch der Papageien kaum zu hören war. »In den heißesten Monaten könnten Sie nach Australien fahren.« Nellie erwiderte nichts darauf. Sie sah ihn nur an, als er sich jetzt erhob, durch den Pavillon auf sie zukam und sich über sie beugte. Sie hob den Kopf. Obwohl er ihren Mund mit seinen Lippen nur streifte, hatte sie dabei die deutliche Empfindung, daß sie von einem Mann geküßt wurde, einem echten Mann, einem Mann, der es wert war, geliebt zu werden. Er setzte sich auf die Lehne ihres Sessels, und sie schwiegen eine Weile. »Ich muß bald gehen«, sagte Nellie leise. Als sie sich erhoben und sie neben ihm stand, bemerkte sie erst, daß ihre Nase ihm gerade bis zur Schulter reichte. Während sie sich -82-
so an ihn lehnte, fragte sie ihn: »Bist du verheiratet, Emile?« »Nein«, antwortete er. »Ich bin so glücklich«, murmelte sie und preßte ihre drollige kleine Nase fest an seine Schulter. Er strich ihr über das Haar und führte sie dann den langen gewundenen Pfad durch die Kokospflanzung zum Haus zurück. »Sie jetzt essen wollen?« fragte der annamitische Koch. »Ich speise allein«, erwiderte de Becque. »Ich bin gleich wieder da.« »Emile«, sagte Nellie, als er bei seinem australischen Wagen vor dem bewachten Gittertor stehenblieb. »Laß mich ein paar Tage darüber nachdenken. Ich werde dir dann meine Antwort sagen.« »Wie du meinst«, sagte er. Am Abend vertraute Nellie Dinah die Neuigkeit an. »Ich glaube, ich werde ihn heiraten«, sagte sie. »Es ist aber sehr heiß auf dieser Insel«, entgegnete Dinah. »Heiß ist es in Arkansas auch«, sagte Nellie strahlend. »Aber wenn es dir in Arkansas zu heiß wird, kannst du an die See reisen.« »Und hier kann ich nach Australien fahren. Das tun viele Frauen auf diesen Inseln während der heißen Jahreszeit.« »Nun, ich brauche dir wohl nicht erst zu sagen, daß du den Mann kaum kennst«, sagte Dinah und blickte das hübsche junge Mädchen dabei forschend an. »Bitte, sage so etwas nicht, Dinah«, bat Nellie. »Aber als ich mich in Bill Harbison verliebte, meintest du, ich würde in mein eigenes Unglück rennen. Glaubst du das jetzt auch? Sag's mir ganz offen, Dinah!« Die ältere Frau überlegte einen Augenblick. »Nein«, sagte sie dann. »Eigentlich beneide ich dich sogar. Das heißt, wenn du -83-
den Mut dazu aufbringen solltest. Leicht wird das Leben hier nicht sein.« »Aber ein wirkliches Leben! Und Bücher können wir hier auch haben. Emile liest viel auf französisch. Und wir können uns über alles unterhalten.« »Nellie«, sagte Dinah ernst. »Warum schreibst du das nicht alles deiner Mutter?« Mrs. Forbush antwortete umgehend per Luftpost. Ihr Brief strotzte von praktischen Lebensweisheiten, die sie in vielen Jahren gesammelt hatte. Unter anderem schrieb sie: ›Ehen zwischen älteren Männern und jungen Mädchen können eine Zeitlang sehr gut gehen, aber du mußt auch an die Zukunft denken. Wirst du dich dort auch wohl fühlen, wenn er vor dir stirbt?... Die weißen Frauen auf der Insel werden dich, wenn es vorwiegend Französinnen sind, nicht gern dort sehen. Hast du dir das einmal überlegt?... Liebe ist freilich immer eine gute Grundlage für eine Ehe, und wenn er Geld hat, wie du schreibst, um so besser... Was weißt du eigentlich von ihm? Weshalb hat er Frankreich verlassen?... Außerdem ist er wahrscheinlich Katholik... Nellie, ich habe immer gedacht, du würdest Charlie Benedict heiraten. Er hat jetzt eine gute Stellung... Wenn dein Vater noch lebte, würde er vermutlich sagen: »Nur zu! Mit drei ordentlichen Mahlzeiten am Tag kommt man dort genauso aus wie hier!« Aber, glaub mir, Kind, das Leben besteht nicht nur aus drei ordentlichen Mahlzeiten am Tag. Du brauchst auch Freunde und vertraute Stätten, wo du dich heimisch fühlst...‹ So ging es in dem Brief noch seitenlang weiter. Mrs. Forbush wog die Vorteile gegen die Nachteile ab und kam zu dem verführerischen Schluß, daß es letzten Endes ja Nellies Leben sei und sie darin liegen müsse. Mrs. Forbush brachte zwar ihre Metaphern durcheinander, aber ihre Schlußfolgerungen waren hieb- und stichfest. Nellie zeigte Dinah den Brief. »Deine Mutter hat einen gesunden Menschenverstand«, sagte die ältere Krankenschwester. »Den hat sie auch nötig gehabt, um uns vier -84-
Kinder großzuziehen«, entgegnete Nellie lachend. »Aber ich wünsche mir etwas mehr vom Leben, als Mutter hatte. Sie hat sich mit so wenig bescheiden müssen.« »Nun, zur Erziehung ihrer Kinder hat es immerhin gereicht, und die sind ihr doch prächtig geraten«, meinte Dinah und lachte jetzt auch. »Und sie hat ihren Verstand nicht aus Büchern.« »Ich glaube, ich werde ihn heiraten«, sagte Nellie wieder. Dinah enthielt sich jeder weiteren Bemerkung. Sie fragte sich nur im stillen, was sie an Nellies Stelle getan haben würde, und konnte wie Mrs. Forbush zu keinem endgültigen Entschluß kommen. Als de Becque Nellie am nächsten Tag abholte, schlug sie vor, den Nachmittag im Pavillon zu verbringen. Als sie dort ankamen, waren sie ganz erschöpft von der Hitze. Wieder brannte die Sonne heiß auf die Kakaobäume, und die Papageien machten einen Höllenspektakel, als hätten sie sich über irgend etwas erbost. Plötzlich verstummten sie. »Schau doch mal!« rief Nellie. »Da oben!« Über ihnen kreiste ein großer Habicht, der von den Bergen herübergeflogen war. Nirgends war mehr eine Schwalbe zu sehen. Mit einer Eleganz, die Nellie diesem Raubvogel gar nicht zugetraut hätte, schwebte der Habicht lautlos vorbei und bewegte nur dann und wann einen Flügel. Kaum war er ihren Blicken entschwunden, als die Papageien auch schon wieder in ein wildes Geschrei ausbrachen. »Ich habe darüber nachgedacht, Emile«, sagte die junge Schwester, »und ich bin bereit, deine Frau zu werden.« »Ich danke dir«, sagte Emile mit großer Zurückhaltung. Sie küßten sich. Dann setzten sie sich in die schweren Sessel und beobachteten das bunte Leben unter den Kakaobäumen. »Wir werden ein gutes Leben haben, Nellie«, sagte der Franzose. »Es wird dir gefallen. Auf der Nachbarinsel gibt es ein gutes Krankenhaus. Aber wenn es dir lieber ist, kannst du deine Kinder auch in Australien bekommen. Alle drei Monate -85-
fährt ein Schiff, und es gibt hier eine ganze Menge netter Leute. Ich habe ein eigenes kleines Boot, und zwei andere Pflanzer haben ein großes Motorboot. Ich werde dich meine Muttersprache lehren, damit du auch französische Bücher lesen kannst. Ich habe sehr viele. Und englische Bücher können wir hier auch bekommen. Ich habe es dir noch nicht gesagt, aber ich habe einiges Geld gespart.« Bei dem Gedanken an die Ersparnisse, die er in all den Jahren gemacht hatte, wurde Emile nachdenklich. Draußen riefen die Vögel sich etwas zu, und die in allen Farben schillernden Kakaoblätter warfen das Sonnenlicht zurück wie die Facetten eines Spiegels. »Ich werde vor dir sterben, Nellie, weil ich älter bin«, sagte er in seiner bedächtigen Art. »Aber wenn du dich dann hier heimisch fühlst, wirst du keinen Hunger leiden müssen, und es wird dir auch sonst an nichts fehlen. Und sollten wir Kinder haben, werden sie ohne Sorgen aufwachsen; und bis unsere Töchter groß sind, wird die Insel hier längst ein amerikanischer Stützpunkt sein, und sie werden sich unter den netten jungen Amerikanern einen guten Ehemann aussuchen können. Wenn du aber nicht auf der Insel bleiben willst, kannst du nach Amerika zurückkehren. Du wirst auch dort genug zum Leben haben.« Diese Anspielung auf seinen Tod verschloß Nellie den Mund. Ho ch oben am Abendhimmel zog der Habicht gelassen seine Kreise, und die Papageien schwiegen wieder. Auch sie dachten an den Tod. Bevor de Becque sich von Nellie am Tor des Lazaretts verabschiedete, sagte er ihr noch, daß er für ein paar Tage wegfahre. Er müsse Rindfleisch zu der Insel bringen, auf der die französische Regierung alle jungen Mädchen und unverheirateten Frauen untergebracht hatte. Es war eine kleine Insel, die kaum sechzehn Meilen entfernt lag, und dort lebten weiße, gelbe und schwarze Mädchen, zwar von ihren Eltern getrennt, aber unbehindert durch Verbote und in Sicherheit vor den amerikanischen Truppen. De Becque und die anderen -86-
Pflanzer sorgten für ihre Ernährung. Zum erstenmal küßte Nellie ihn zum Abschied. Sie zwinkerte der Wache am Tor zu. »Wir werden heiraten«, sagte sie. Als de Becque weggefahren war, suchte sie den Kapitänleutnant auf, der ihrem Lazarett vorstand. Sie sagte ihm, daß sie die Absicht habe, de Becque zu heiraten, und fragte ihn, welche Formalitäten sie erfüllen müsse. »Das ist eine umständliche Geschichte«, warnte sie der Kapitänleutnant. »Ich weiß auch nicht, was Sie da alles zu tun haben. Wir unterstehen hier nämlich in manchen Dingen dem Heer. Ich werde mal mit Ihnen zum General gehen, Fähnrich Forbush.« Das tat er auch, und Nellie lernte in dem General einen freundlichen alten Herrn kennen, der Töchter in ihrem Alter hatte. »Ich kann es zwar nicht gutheißen«, sagte er mit einem ernsten Unterton, »aber ich weiß, wie es ist, wenn ein Mädchen sich etwas in den Kopf gesetzt hat. Eine Frage, Fähnrich Forbush: Haben Sie oder Ihre Freunde sich über Monsieur de Becques Vergangenheit erkundigt? So, das haben Sie. Na, dann werden wir mal den Amtsschimmel in Bewegung setzen. Aber Monsieur de Becque muß persönlich hier erscheinen. Bringen Sie ihn mir, sobald er wieder da ist.« Nellie seufzte und lächelte ihren Kommandierenden General an. Dieser Schritt war getan! Sie war überrascht, wieviel Interesse ein Kapitänleutnant und ein General an ihren Privatangelegenheiten nahmen. Sie fühlte sich glücklich und bedeutend. Als sie in die Kantine gingen, fragte Dinah Culbert Nellie, ob sie, da de Becque ja nicht da war, sich diesen Abend an den Tisch setzen wolle, an dem ein sehr unterhaltender Gast saß, ein Marineflieger, der gerade die ganzen Inseln abgeflogen hatte und amüsante Geschichten zu erzählen wußte. Beim Essen saß Nellie neben dem Gast, einem Leutnant namens Bus Adams, der -87-
bei jedem Gang eine andere Geschichte zum besten gab. In den meisten machte er sich selbst zur Zielscheibe des allgemeinen Gelächters, doch schließlich bestellte er sich noch einen Whisky und sagte: »Diese Geschichte habe ich zwar noch nie in Damengesellschaft erzählt. Sie ist eigentlich nur für Männer, aber vielleicht haben die Damen auch ihren Spaß daran. Von den Geschichten, die mir bisher zu Ohren gekommen sind, ist es jedenfalls die einzige, in der die Inseln wirklich halten, was sie versprechen. Ich habe sie ›Die Tochter des Franzosen‹ getauft. Sie trug sich auf Luana Pori zu, und ich kann mich dafür verbürgen, daß sie wirklich passiert ist. Ich kenne diese Tochter des Franzosen. Sie ist eine großartige Frau, ein französischjavanischer Mischling und vielleicht 23 Jahre alt.« Und Adams erzählte nun die Geschichte, die bei seinen Zuhörern großen Anklang fand und auch bei den Schwestern lebhaftes Interesse erweckte. »Nun?« fragte Adams, als er geendet hatte, »habe ich Ihnen nicht gesagt, daß es eine typische Geschichte aus den Tropen ist?« »Allerdings«, pflichtete ihm einer der Ärzte bei. »Sie müßten sie niederschreiben.« »Nein, nein«, erwiderte Bus und winkte ab. »Ich finde, daß solche Geschichten nicht halb so gut wirken, wenn man sie bei Tage hört. Der Wein, die Nacht und der Mondschein bringen einen erst in die richtige Stimmung.« »Mir scheint, auf jeder dieser Inseln passieren die unwahrscheinlichsten Dinge«, meinte ein anderer Arzt. »Als Fremde bekommen wir sie nur nicht zu hören.« »Das ist eigentlich merkwürdig«, sagte Adams, »denn wenn ich mich nicht sehr irre, lebt der Franzose meiner Geschichte hier auf Ihrer Insel. Ein richtiges Original, erzählte man mir. Schlug einen Heidenkrach, als die Leute es hier vor ein paar Jahren mit Pétain halten wollten.« -88-
Bevor irgend jemand ihn daran hindern konnte, platzte Adams mit dem Namen heraus. Die berüchtigte Tochter des Franzosen war de Becques Tochter. Ihre Mutter war eine Javanerin. Die anderen drei Töchter des Franzosen, die auf Luana Pori lebten, waren auch halbe Javanerinnen, stammten aber von einer anderen Mutter. Und auf einer der kleineren Inseln bei Vanicoro hatte er noch vier andere Töchter, die ihre Schwestern an Schönheit noch übertrafen. Die Mütter dieser Mädchen waren Polynesierinnen und Annamitinnen aus Tongking. »Er hat nie geheiratet«, schloß Adams. »Aber die Frauen waren ganz verrückt nach ihm, und er hat sie alle gut behandelt.« Nellie Forbush saß sehr aufrecht da und lächelte den Flieger freundlich an, als er das erzählte. Er wollte nicht glauben, was die Ärzte ihm später zuflüsterten. »Großer Gott!« sagte er. Nellie lächelte auch den Ärzten und den anderen Schwestern zu. Dann nahm sie Dinahs Arm und entschuldigte sich. Die beiden Freundinnen gingen durch den langen Flur zu ihren Zimmern. Es war seltsam, aber Nellie fand keinen Grund zum Weinen. De Becque war ein Insulaner, sagte sie sich. Seit sechsundzwanzig Jahren lebte er nun schon hier. Er war eine bedeutende Persönlichkeit, und Frauen gab es im Überfluß. Sie hatten eine Chance gesehen, durch ihn zu schönen Töchtern zu kommen, halben Weißen, und hatten sich diese Chance nicht entgehen lassen. Nach Bus Adams' Geschichte zu urteilen, waren de Becques Töchter bezaubernd schöne Mädchen. Latouche, die älteste, hatte zwar ein ungezügeltes Temperament, war aber auch klug und reizend. »Ich weiß noch nicht, was ich tun werde«, sagte Nellie zu Dinah, als sie allein waren. »Was vergangen ist, ist vergangen, Nellie«, meinte Dinah. »Vor weniger als einer Woche habe ich dir gesagt, daß ich mir wegen de Becque keine Sorgen mache. Das tue ich auch -89-
jetzt nicht. Es ist ein hartes Leben hier draußen, er hat es gelebt und sich die Achtung aller bewahrt. Das bringen nur Kampfnaturen fertig, Nellie.« »Ich will erst mal sehen«, sagte Nellie wieder. »Man weiß doch nicht, wie's noch kommt. Mutter ist es damit sehr komisch ergangen. Sie wollte einmal furchtbar gern einen Hut haben und hatte sich auch genügend Geld dafür gespart. Sie steckte das ganze Geld ein und fuhr nach Little Rock. ›Ich will erst mal sehen‹, sagte sie sich immer wieder vor. Schließlich stand sie vor dem Kaufhaus, und da sah sie genau den Hut, den sie sich gewünscht hatte. Sie betrachtete ihn ein Weilchen, und dann brach sie in Tränen aus, weil im Schaufenster nebenan moderne Kinderwagen ausgestellt waren. Und sie brauchte gerade einen Kinderwagen für mich. Mutter sagt immer, es sei das beste, rechtschaffen zu leben und sich darin keinen Augenblick irremachen zu lassen.« Die beiden Frauen unterhielten sich noch bis spät in die Nacht hinein. Die anderen Schwestern, denen die Geschichte irgendwie zu Ohren gekommen war, blieben in dieser Nacht auch noch lange auf und sprachen darüber, was Nellie doch für ein scheußliches Pech habe, und als Nellie am nächsten Morgen frisch und munter zum Frühstück erschien, waren sie geradezu enttäuscht. Denn Nellie hatte sich noch nicht dazu entschlossen, sich vor Herzeleid zu verzehren. Zwei Tage später klingelte de Becque sie von der Wachstube aus an. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen, lächelte den Schwestern in ihrem Saal zu und eilte zu ihm hinunter. Sie bemerkte sogleich, daß er auch etwas niedergeschlagen war. In bedrückendem Schweigen fuhren die beiden Liebenden über die Straßen auf den Korallenriffen und den Hang zu seiner Plantage hinauf. Sie parkten seinen Wagen am Tor und gingen dann zu Fuß zwischen den Kokospalmen weiter. De Becque schwieg noch immer und machte ein Gesicht, als quäle ihn etwas. Als sie am Ende der Kokospflanzung anlangten und die Kakaobäume in -90-
Sicht kamen, blieb de Becque plötzlich stehen und küßte seine künftige junge Frau zärtlich. »Du bist meine ganze Hoffnung«, flüsterte er. Nellie reichte ihm ihre Hand und ging so mit ihm bis zum Pavillon. Sie fühlte, wie er zitterte, und dachte, sie wäre es selbst. Wieder blieben sie einen Augenblick stehen und beobachteten den Sturzflug der schwarzweißen Schwalben. Dann betraten sie den kühlen Pavillon. »Allo, Nellie!« riefen vier junge Stimmen. Überrascht blickte Nellie die vier kleinen Mädchen mit den kurzen Zöpfchen an, die hinter einem der Teakholzsessel standen und jetzt in ihren Musselinkleidchen vortraten und knicksten. Die beiden jüngeren stammten von einer annamitischen Mutter und waren so hübsch, wie es nur eurasische Mädchen sein können. Sie waren sieben und neun Jahre alt, hatten ganz dunkelbraune mandelförmige Augen, klare hohe Stirnen, schneeweiße Zähne und eine goldbraune Haut. Die anderen beiden Mädchen, die zehn und elf Jahre alt waren, gehörten unverkennbar zur Hälfte der seltsamen und stolzen polynesischen Rasse an. Sie hatten runde Gesichter und eine dunklere Haut als ihre Schwestern. Ihre Augen wetteiferten an Schwärze mit ihrem langen glatten Haar, das sich auch nicht lockte, wenn es in Zöpfe geflochten wurde. Sie waren auffallend ebenmäßig gewachsen und hatten volle Lippen. Als sie ihren Knicks gemacht hatten, riefen sie wieder: »Allo, Nellie!« »Das sind meine Töchter«, sagte de Becque stolz. »Ich habe noch vier andere. Die Älteste ist schon verheiratet, und sie leben alle zusammen auf Luana Pori. Hier habe ich ein Bild von ihnen.« Dabei zog er aus einem Umschlag eine abgegriffene Photographie von vier großen schlanken Mädchen mit auffallend klugen Augen. Die erste und die dritte waren ausgesprochene Schönheiten, noch viel schöner, als Bus Adams -91-
sie in seiner Geschichte geschildert hatte. Die zweite und vierte waren auch sehr hübsche Mädchen, deren Anmut nur neben dem geradezu märchenhaften Liebreiz der beiden anderen etwas verblaßte. Nellie fiel auf, daß alle vier ein wenig spöttisch lächelten. »Meine Familie!« sagte de Becque und legte Nellie die Hand auf die Schulter. »Ich hätte es dir eigentlich gleich sagen sollen.« Nellie Forbush aus Otolousa in Arkansas brachte kein Wort über die Lippen. Sie war froh, daß ihre Mutter sie gelehrt hatte, nie einen voreiligen Entschluß zu fassen. Neben ihr stand ein gesunder willensstarker Mann. An einen solchen Menschen hatte sie gedacht, als sie damals gesagt hatte: ›Ich möchte gerne die Welt sehen und andere Menschen kennenlernen.‹ Sie hatte keine alten Damen mit weißen Spitzenkragen, die ewig vor dem Kamin hockten, treffen wollen, sondern Männer und Frauen, die den Mut zu einem eigenen Leben aufbrachten. Sie betrachtete wieder das Bild von Latouche, de Becques ältester Tochter, deren Gesicht das Temperament und die Energie des Vaters widerspiegelte. Ja, dieser Latouche konnte man es schon zutrauen, daß sie einen Mann umbrachte und sich gegen die ganze amerikanische Armee zur Wehr setzte. Die Geschichte des Fliegers schien durchaus glaubhaft. Nellie dachte, daß sie Latouche liebgewinnen könnte. Aber vor ihr standen andere unleugbare Tatsachen! Zwei Faktoren, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Emile de Becque hatte sich nicht mit javanischen und annamitischen Frauen begnügt, sondern auch mit einer Polynesierin gelebt. Einem Niggerweib! Die Vorurteile, in denen Nellie aufgewachsen war, saßen bei ihr so tief, daß sie jeden Menschen, ob tot oder lebendig, der keine weiße oder gelbe Haut hatte, als einen ›Nigger‹ ansah. Und das war das Letzte! Ihre kleinbürgerliche Erziehung machte es ihr einfach unmöglich, die Lehren ihrer Kindheit zu verleugnen. Emile de Becque hatte mit einer Negerin zusammengelebt und -92-
hatte Kinder von ihr, und wenn sie ihn heiratete, würden diese beiden Mädchen ihre Stieftöchter werden. Sie empfand einen Abscheu, den Emile nie verstehen würde. Als er sah, wie sie zurückzuckte, nickte er seinen Töchtern zu, die auf diesen Wink hin den Pavillon verließen. »Nellie«, sagte er dann, während er sie sanft in den Sessel drückte und sich über sie beugte. »Ich habe kaum etwas zu meiner Entschuldigung vorzubringen, nur, daß ich sehr jung war, als ich hierherkam, und daß es auf der Insel keine weißen Frauen gab. Ich versuchte, das Beste aus diesem Leben zu machen. Die Frauen hatten mich alle gern, und keine hat je versucht, mir irgendwelche Schwierigkeiten zu bereiten. Du mußt mir glauben, Nellie. Ich liebte diese Frauen und war gut zu ihnen. Aber ich habe keine von ihnen geheiratet, weil ich wußte, daß du eines Tages auf die Insel kommen würdest.« Er hatte nichts von seiner Würde eingebüßt, während er da vor ihr stand und so freimütig zu ihr sprach. Er demütigte sich nicht vor ihr, und doch beschwor er sie mit jedem Wort und jeder Geste, nicht an ihm zu zweifeln. »Oh, sieh mal den großen Vogel da!« riefen die kleinen Mädchen auf französisch. Die beiden Menschen im Pavillon hörten die sanften Kinderstimmen wie Klänge einer fernen Musik. Nellie schaute den Mädchen zu, wie sie unter den Kakaobäumen herumtollten. Die kleinen Polynesierinnen sind doch sehr dunkel, dachte sie, beinah schwarz. Sie schluckte schwer. Ihr Herz klopfte hörbar. »Wo sind ihre Mütter?« fragte sie. De Becque faltete die Hände und blickte fort. »Die Javanerinnen sind schon vor langer Zeit wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Wo die Annamitin heute ist, weiß ich nicht. Sie bedeutete mir nicht viel. Und die Polynesierin ist tot.« Nellie schämte sich zwar, aber sie freute sich doch, als sie -93-
hörte, daß die Schwarze nicht mehr lebte. Während sie noch diesem Gedanken nachhing, schaute das ältere der beiden ›Negermädchen‹ in den Pavillon hinein und rief mit einschmeichelndem Stimmchen: »Papa! Voilà une petite souris dans ce cacao!« Nellie blickte hinaus. Das Kind hatte das ausdrucksvolle Gesicht und die weiche Stimme des Vaters, Eigenschaften, die de Becque so liebenswert machten. »Vaten jouer!« sagte Emile ruhig. »Oui, papa«, erwiderte das dunkelhäutige Mädchen. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Emile«, murmelte Nellie. »Du kannst das nicht verstehen.« »Es war ein Schock für dich, Nellie. Darüber bin ich mir klar.« »Nein!« schrie Nellie gequält auf. »Das ist es ja gar nicht. Es ist etwas ganz anderes, was ich dir nicht erklären kann.« Ihre Tränen machten de Becque ganz ratlos. Warum Nellie glaubte, daß er den Grund ihres Kummers nicht verstehen könne, läßt sich schwer sagen. Er hatte viel über Amerika gelesen und wußte einiges von den Sitten und Vorurteilen dieses Landes. Und doch hatte Nellie recht mit ihrer Vermutung, daß kein Franzose zu begreifen vermochte, warum ein Mann, der ganz offen mit einer Negerin gelebt hatte, in den Augen eines Mädchens aus Arkansas Unverzeihliches getan und die Grenzen der Schicklichkeit weit überschritten hatte. »Ich kann nicht...« Sie hielt in ihrer Erklärung inne. Es war zwecklos. An der Tatsache war ja doch nichts zu ändern. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen, und in dem Widerstreit ihrer Gefühle und Ideale brach sie von neuem in Tränen aus. »Bring mich bitte nach Hause«, bat sie. Vor dem Haus trafen sie den Koch, der sein Erstaunen darüber ausdrückte, daß Nellie schon gehen wollte. Er warf -94-
entsetzt die Arme hoch. »So feines Essen! Es schon gekocht und es sehr gut!« protestierte er. Von diesem Vorwurf gerührt, willigte Nellie ein, noch zum Abendessen zu bleiben, dann wollte sie aber gleich nach Hause. Die vier kleinen Mädchen, offenbar die besonderen Lieblinge des Kochs, aßen für sich an einem kleinen Tisch. Sie plapperten leise auf französisch, handhabten Messer und Gabel überaus manierlich und verabschiedeten sich mit einem Knicks, als sie dann zu Bett gingen. Ihr Liebreiz und ihre Wohlerzogenheit waren eine ebenso unumstößliche Tatsache wie das ›Niggerweib‹, und Nellie ertappte sich bei dem Gedanken: ›Ich wäre glücklich, wenn meine Kinder auch so wären!‹ Emile sprach kein Wort, als sie den Hügel hinunterfuhren. Als sie in die Korallenstraße einbogen, stellten sich ihnen vier rabiate Burschen, die dem Wagen dort an der Kurve aufgelauert hatten, in den Weg. Es waren vier junge Amerikaner, die in ihrer hemmungslosen Gier nach einer Frau diesen Überfall schon seit einiger Zeit geplant hatten. Als sie auf den Wagen zusprangen, gab Emile Gas und griff nach einem Messingrohr, das an einer Kette befestigt war. Er traf damit den eine n Angreifer im Gesicht und einen anderen am Kopf. Dabei steuerte er den Wagen so nahe an den Straßenrand, daß die beiden anderen gegen einen Baum geschleudert wurden. In rasendem Tempo fuhr de Becque weiter, bis er ein Lastauto mit einigen Soldaten auf sich zukommen sah. In einer Staubwolke schwenkte er den Wagen herum und fuhr zu der Stelle zurück, wo der Überfall stattgefunden hatte. Einer der Angreifer hatte nicht fortlaufen können, weil sein Bein zerquetscht worden war. Die Soldaten packten ihn und machten sich dann auf die Suche nach den anderen. Sie fanden noch einen, der mit blutüberströmtem Gesicht im Gras lag. Die beiden anderen waren entkommen. »Bringen Sie sie bitte zur Polizei«, sagte de Becque ruhig. »Da können Sie Gift drauf nehmen, Mister!« sagte ein Soldat. Der Lastwagen fuhr weiter. De Becque beugte sich einen -95-
Augenblick über das Steuerrad. Dann wickelte er seine tödliche Waffe wieder ein und verstaute sie so, daß sie im Notfall sofort greifbar war. Nellie hatte Angst, etwas zu sagen. Sie lehnte den Kopf an seine Schulter. De Becque fuhr jetzt sehr langsam. »Es ist eine häßliche Welt«, sagte er. »Nur die schwere Arbeit einiger Menschen macht sie erst schön. Denk daran, Nellie. Diese Insel könnte deine Heimat werden. Dein Zuhause. Du würdest sie dazu machen!« »Du verstehst nicht«, flüsterte sie. Als sie vor dem Tor hielten, waren sie sich einig. »Was ist es denn?« »Ich kann dich nicht heiraten«, sagte sie. »Ich werde es nie können.« De Becque küßte sie zum Abschied. Die Posten lächelten. Sie wußten, daß die junge Schwester bald heiraten würde. Sie war auch wirklich ein reizendes Mädchen. Wenn sie nur alle so wären! Der eine Posten schnippte mit den Fingern und zwinkerte de Becque zu. »Heh!« flüsterte er seinem Kameraden zu, als Nellie ins Haus gegangen war. »Der Bursche hatte ja Tränen in den Augen. Was ist denn da wieder los?« In ihrem Zimmer zog Nellie sich gleich aus und legte sich aufs Bett. Sie war aber zu erregt, um schlafen zu können. Immer noch sah sie die häßlichen, gierigen Blicke der Männer vor sich, die versucht hatten, sie aus dem Auto zu ziehen. ›Vielleicht sind das die Männer, die vorn am Steuer sitzen müssen, während die Offiziere und die Schwestern auf dem Rücksitz miteinander schäkern.‹ Sie schlug die Hände vors Gesicht. ›Das Ganze ist so widerlich. Ach, ich hätte nie herkommen sollen. Ich hab alles ganz falsch gemacht.‹ Sie dachte an Emile de Becque und die kleinen braunen -96-
Mädchen unter den Kakaobäumen. In ihrem Kopf herrschte ein ebenso großes Durcheinander und quälender Aufruhr wie in den Gedanken der Männer, die das Auto überfallen hatten. »Dieses Klima hier macht einen ganz wirr«, stöhnte sie. »Ich kann einfach nicht denken.« Und dann wußte sie, was sie wollte. Ihr Entschluß war gefaßt. Sie erhob sich, riß ihren Schlafrock vom Haken, zog ihn an und begann in fieberhafter Eile einen Brief zu schreiben. Einen Brief an Charlie Benedict in Otolousa, Arkansas. Sie teilte ihm etwas mit, was er schon seit Jahren zu hören hoffte - daß sie ihn heiraten wolle. Ja, mehr als alles in der Welt wollte sie Charlie Benedict heiraten. Sofort. Auf der Stelle! Sie sehnte sich nach der Geborgenheit eines Lebens, in dem sie vor Überraschungen sicher war und wußte, was das Morgen bringen würde und das Gestern gebracht hatte. Sie wollte heim nach Otolo usa mit seinen vertrauten Straßen. Sie scherte sich einen Pfifferling darum, ob sie je wieder einen fremden Ort zu sehen bekam. In diesem Augenblick trat Dinah Culbert ins Zimmer. »Nun, hast du dich entschieden?« »Ja, ich werde heiraten!« »Fein! Das ist gescheit von dir, Nellie!« Dinahs begeisterte Zustimmung brachte Nellie etwas aus der Fassung. »Aber nicht de Becque, sondern Charlie Benedict aus Otolousa«, sagte sie kleinlaut. Sie biß sich auf die Lippen und legte den Federhalter hin. »Ach, Dinah!« rief sie aus. »Ich kann doch nicht einen Mann heiraten, der mit einer Schwarzen zusammengelebt hat.« »Natürlich nicht«, bemerkte Dinah trocken. Sie war nicht in Arkansas aufgewachsen und konnte das nicht verstehen. »Nanu! Was ist denn das?« fragte sie und deutete auf den Zeitungsausschnitt, der auf Nellies Schreibtisch lag. »Aber Nellie, das bist du ja!« rief sie und sah das Bild beifällig an. Dann las sie die Unterschrift. »Unsere Heldin!« las sie laut und -97-
schaute dabei zu Nellie hinüber, die mit Tränen in den Augen, roter Nase und zum Weinen verzogenem Mund dasaß. »Unsere Heldin!« schrie Dinah wieder und wedelte mit dem Bild vor Nellies verheultem Gesicht herum. Schwester Forbush erhaschte einen flüchtigen Blick von ihrem Photo in dem Zeitungsausschnitt, und sie dachte an den Nachmittag, als das Bild in Otolousa eintraf, ›Ich möchte gern die Welt sehen, Charlie. Ich möchte wissen, wie die anderen Menschen leben‹, hatte sie damals gesagt. Die Komik der Situation brachte sie zum Lachen. Erst lachte sie über Dinah, dann über sich selbst. Die beiden Schwestern faßten einander bei den Armen und fingen an zu tanzen. »Unsere kleine Heldin!« rief Dinah wieder und wieder, bis sie vor Lachen nicht mehr sprechen konnte. Dann setzte sie sich auf Nellies Stuhl und fegte dabei den Brief an Charlie Benedict auf den Boden. Mit einer tiefen Verbeugung hob Nellie ihn auf und zerknüllte ihn zu einer kleinen Kugel. »Leb wohl, Charlie!« rief sie, während sie die Papierkugel in eine Ecke warf. »Nellie!« rief Dinah, »wo hast du das her?« »Was?« fragte Nellie, die schon halb hysterisch war. »Das Photo hier. Es lag auf dem Boden bei deiner Jacke«, und Dinah zeigte auf das Bild von de Becques vier älteren Töchtern. »Oh!« rief Nellie erstaunt, »Emile muß das...« »Was für entzückende Mädchen!« sagte Dinah. Nellie hörte auf zu lachen und guckte Dinah über die Schultern. Die Mädchen waren wirklich entzückend. Wenn man sich diese Latouche ansah: so anmutig und selbstsicher! Ihre drei Schwestern auch. Stille glückliche junge Mädchen, denen der Schalk aus den Augen blickte und die sich vor nichts zu fürchten schienen - genau wie ihr Vater. »Das haben sie bestimmt von ihm«, murmelte Nellie. -98-
»Was sagtest du?« fragte Dinah. »Sieh doch nur, Dinah! Schau sie dir an. Wie vergnügt sie aussehen!« »Du würdest dich in ihrer Gesellschaft keinen einzigen Augenblick langweilen«, bemerkte Dinah scharfsinnig. »Und die vier Kleinen! Sie sind einfach süß, Dinah. Und so wohlerzogen. Ach, hol's der Teufel!« Schwester Forbush ging im Zimmer auf und ab. Als sie in der Ecke ihren zerknüllten Brief an Charlie Benedict sah, stieß sie mit dem Fuß danach. »Der Teufel soll sie alle holen«, schrie sie wieder. »Ein sehr vernünftiges Benehmen!« meinte Dinah lächelnd. »Für eine kleine Heldin!« »Was hat's denn für einen Zweck, sich irgend etwas vorzumachen, Dinah«, gestand Nellie und lief auf die Freundin zu. »Jetzt habe ich mich endgültig entschlossen. Ich möchte ihn... so schrecklich gern heiraten!« Sie fing an zu weinen und lehnte ihren Kopf an Dinahs Schultern. Dinah tröstete sie, indem sie auch zu weinen begann. In ihrer gemeinsamen Freude schluchzten sie ein Weilchen vor sich hin. »Ich glaube, diesmal hast du den richtigen Entschluß getroffen«, flüsterte Dinah. »Schnell!« schrie Nellie. »Sieh zu, ob du einen Jeep kriegen kannst! Wir müssen unbedingt sofort einen haben! Ich muß es ihm heute noch sagen.« Sie eilte im Zimmer umher und sammelte ihre Sachen auf. »Ach, Dinah«, rief sie übermütig, »denk doch nur, wie schön das sein wird! Eine große Familie in einem großen Haus! Acht Töchter und eine reizender als die andere. Ich mach mir nichts draus, mit wem er zusammengelebt hat. Ich habe einen Mann gefunden. Jetzt weiß ich, was ich will. Mutter hatte recht. Man soll sich durch nichts irremachen lassen.« -99-
In ausgelassener Stimmung zog sie sich an und lief mit Dinah die Treppen hinunter. Während sie auf den Jeep warteten, fragte der Posten: »Haben Sie sich anders besonnen, Fähnrich?« »Jawohl!« Nellie lachte. »Das habe ich!« Er schnippte mit den Fingern und zwinkerte ihr zu. »Halsund Beinbruch!« sagte er, als sie dann in den Jeep stiegen. Dinah trieb den Fahrer zur Eile an. »Mehr als 25 schaffe ich nicht«, brummte er. »Es ist aber sehr dringend!« drängte Dinah. »Jeder hat es hier eilig«, erwiderte der Fahrer. »Es ist eine schreckliche Insel.« »Aber es ist wirklich sehr dringend!« beharrte Dinah. »Oh! Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« fragte der Fahrer äußerst hilfsbereit. »Im Notfall schaffe ich auch 26.« Nellie zuckte zusammen, als sie an der Stelle vorbeikamen, wo die vier rabiaten Burschen vor ein paar Stunden de Becques Wagen überfallen hatten. Als der Jeep dann bei der Plantage anlangte, bat sie Dinah und den Fahrer, auf sie zu warten, und eilte durch den Garten auf die Veranda zu. Sie war leer. Im Speisesaal war auch niemand. Dann hörte sie Stimmen aus einem der Schlafzimmer. Sie lief durch den Flur, bis sie vor der richtigen Tür stand. Es war das Schlafzimmer der Kinder. Leise trat sie ein. Die vier kleinen Mädchen standen in ihren Nachthemden vor de Becque, der auf einem der Betten saß. Mit ihren zarten Stimmchen sangen sie: »Au clair de la lune.« Emile erhob sich, lächelte Nellie zu und sang mit seinen Töchtern weiter. Nellie fiel mit ihrem unsicheren Sopran mit ein, und es dauerte nicht lange, da sangen sie alle das alte Lied so laut, daß Dinah und der Fahrer es draußen im Jeep hörten und mitsingen konnten.
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Trockenfäule »Ich will mich nich' davon unterkriegen lassen«, pflegte Joe zu sagen. Immer wieder murmelte er vor sich hin: »Ich laß mich nich' davon unterkriegen. Mich soll es nich' umschmeißen.« Was dieses ›es‹ war, darüber ließ Joe sich nicht näher aus. Es war die Platzangst oder das Barackendelirium; es war die Atollwut, der Inselkoller, das Landserfieber oder das heulende Elend. Es ging einem verdammt dreckig, wenn man es bekam, und man bekam es, wenn man ein ganzes Jahr lang oder noch länger immer auf derselben Insel gehockt hatte. Joe hockte nun schon siebenundzwanzig Monate auf seinem Felsen, und er schwor bei Gott, daß es ihn nie erwischen sollte. Nicht so, wie es ein paar von den anderen Jungs erwischt hatte! Diesen Landser zum Beispiel, der einen Lastwagen stahl. Auf einer Insel, auf der es nur drei lumpige Meilen Straße gab, stahl er ein Lastauto! Oder wie den Soldaten, der sich als Blinder Passagier auf einem Schiff versteckte. Nur, weil's ein Schiff war, das irgendwo anders hinfuhr. Einer schlug einen Offizier. Sechs andere brannten unter den Klippen heimlich Schnaps und wurden auf die Mare-Insel deportiert, um dort ihre Strafe abzusitzen. Und dann war da noch Lo uie, der sich in der Nacht, als der Transporter abstürzte, in das Zimmer der Krankenschwester schlich. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. Joe sah das alles mit an und noch Hunderte von anderen Fällen. Wenn etwas sehr Schlimmes passierte, dann tagte ein Kriegsgericht. Jeder sagte: ›Was denn, zum Teufel! Deswegen werdet ihr den Burschen doch nicht verknacken, wie? Er hatte den Inselkoller!‹ Aber sie verknackten ihn trotzdem. Ein ständiger Strom von Burschen, ebenso brave Kerle wie Joe, -101-
wurde unter Bewachung in die Staaten zurückgeschickt. »Ohne mich!« gelobte sich Joe. »Wenn ich hier endlich wegkomme und wieder zum guten alten Onkel Sam zurückgehe, tu ich's auf freiem Fuß, und kein Posten wird hinter mir herlaufen! Mich wird es nich' erwischen!« Aber es erwischte auch ein paar von den Offizieren. Genauso wie die Mannschaften. Sie machten keine Ausnahme. Sie waren ebensowenig dagegen gefeit. Da gab es diesen hübschen Leutnant, der immer lächelte. Tag für Tag, ohne was zu tun. Der hielt es gerade dreizehn Monate auf dem Felsen aus. Aber auch nicht einen Tag länger. Dann ließ er sich von einem Flugzeug nach Neuseeland mitnehmen. Den hatte der Inselkoller so schwer gepackt, daß er nach Australien weiterflog, und schließlich stöberten sie ihn in Karachi in Indien auf. Daß man ein Offizier war, hieß noch lange nicht, daß es einem nicht an den Kragen ging. Das sah man ja an dem alten Hasen, der in Philadelphia einen Kurz- und Schnittwarenladen hatte. Der fing an zu saufen, und eines Tages erwischten sie ihn, wie er in die Offiziersmesse einbrach. Er mußte unbedingt einen Schluck Whisky haben, und dabei war es schon zwei Uhr nachmittags. Konnte nicht noch zwei Stunden warten. Sie brachten ihn vors Kriegsgericht. Sie schickten ihn bloß nach Hause, ganz unauffällig. Versuchten, die Sache zu vertuschen, damit sie den Mannschaften nicht zu Ohren kam. Aber die erfuhren es doch. Und neun Zehnteln von ihnen tat der alte Mann leid. Es schien, als ob die älteren Männer dem Inselkoller nicht so gut widerstanden wie die jungen. Zum Beispiel dieser Unteroffizier, der eines Nachts zu schreien anfing. Zuerst wußte niemand, was in ihn gefahren war. Er schrie sich die Seele aus dem Leib, und sie mußten ihn in eine Zwangsjacke stecken. Sie brauchten zwei Tage, ihn zum Schweigen zu bringen. Kamen dahinter, daß er Raketenschnaps trank. Den schickten sie auch nach Hause. -102-
Nun gab es auf dem Felsen niemanden, der dem Alkohol mehr zugetan war als Joe. Er war aber nicht etwa ein Säufer, bewahre. Er hatte nur für einen guten Tropfen verdammt viel übrig. Bevor er zur Marine ging, hatte er in Columbus, Ohio, einen kleinen Schusterladen. Er arbeitete fleißig, sparte sein Geld, und jeden Samstagabend trank er mit den Jungs. Am liebsten trank er Bier, Gin und Whisky. Wein und süße Schnäpse waren nur was für die Frauen. Und Rum schmeckte komisch. Ein- oder zweimal hatte Joe so viel getrunken, wie er gerade noch eben vertragen konnte. Schwankte nach Hause und sang auf der Straße, daß die Leute glaubten, das Herz würde ihm brechen. Hauptsächlich Wiegenlieder. Lieder, die ihm vor langer Zeit seine Mutter vorgesungen hatte. Sie war tot, und er wohnte bei einem Maurer im Norden der Stadt, hinter der Universität. Als er singend nach Hause kam, zog ihn die Frau des Maurers am nächsten Morgen damit auf. Joe wurde rot, hatte einen mächtigen Brummschädel und schwor, sich nie wieder zu betrinken. Joe brachte es nicht fertig, dieses Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte, zu halten, aber das war etwas anderes, als den Inselkoller zu kriegen. Gegen das Saufen konnte man selber angehen. Das lag ganz bei ihm. Aber es gab nichts, was man gegen den Inselkoller tun konnte. Ihn und achthundert andere Burschen hatten sie auf dem Felsen abgesetzt. Jemand mußte da sein; wenn nicht Joe, dann irgendwer sonst. Und da blieb er! Er saß auf seinem Felsen, als die Seesoldaten in Guadalcanal einrückten, und er hockte noch dort, als ein neuer General, namens Eisenhower, in Afrika landete. Die Hälfte der Männer auf dem Felsen glaubte, er sei ein großer Nazibonze. Aber später wußten sie es dann besser. Joe war auf dem Felsen, als Mussolini Leine zog, und auf dem Felsen hörte er auch von der Landung in der Normandie. Ein paar Seesoldaten aus Tarawa landeten einmal auf dem Felsen und flogen dann wieder weiter. Eddi Rickenbacker hielt sich ein -103-
paar Tage dort auf und auch Mrs. Roosevelt. Aber sie gingen wieder weg, und er blieb da. Für Joe spielte sich der ganze Krieg auf diesem Felsen ab. Es war ein Korallenatoll westlich der Datumslinie. Ringsum gab es da überhaupt nichts anderes zu sehen als den Stillen Ozean. Nur die flammende Sonne, fast direkt über einem, verriet dir, wo Osten und wo Westen war. Nachts stand die Hälfte der Sterne auf dem Kopf, und die andere Hälfte hattest du vorher noch nie gesehen. Die Insel innerhalb des Atolls war einundeinviertel Meilen lang und eine Viertelmeile breit. Die Startbahn für die Landflugzeuge nahm fast die ganze Länge der Insel ein und der Rollplatz für die Wasserflugzeuge den Rest. Es war, wie alle Männer auf dem Felsen stur glaubten, der beste Hafen für Wasserflugzeuge im ganzen Pazifik. Niemand sagte ihnen, daß es mindestens ein halbes Dutzend bessere gab. Früher war der Felsen dicht bewaldet gewesen, aber jetzt standen nur am Rand noch ein paar Bäume, wie ein Haarkranz auf dem blanken Schädel eines Kahlköpfigen. Die Unterkünfte befanden sich dicht an der Küste der kleinen Insel oder drängten sich an der Südwestspitze zusammen. Der Felsen hatte einen großen Nachteil und einen großen Vorzug. Es gab zu wenig Trinkwasser, und jeden Abend gegen sieben kam vom Meer ein kühler Wind auf. Joe insbesondere sagte immer: »Das einzige, was mich hier noch zusammenhält, is' diese Brise. Auf die is' wenigstens Verlaß. Wie drückend heiß es auch tagsüber sein mag, abends kühlt es doch ein bißchen ab.« Und der Wassermangel war ein Übel, das auch seine gute Seite hatte. Er gab den Männern was zu denken und etwas zu tun. Was sie über das Wasser sagten, kann man nicht wiederholen, aber was sie damit anfingen, war erstaunlich. Jedes Stückchen Blech auf der Insel, jeder Fetzen Segeltuch, jeder alte -104-
Ölkanister wurde noch verwandt. Zunächst einmal bauten sich die Männer Brausebäder. Dazu suchten sie sich einen größeren flachen, etwas abschüssigen Platz aus. Die meisten dieser Duschvorrichtungen waren aus Blech, einige aus Holz und ein paar aus Segeltuch. Rundherum bauten sie Rinnen und ließen dann das Wasser aus der Hauptrinne in ein Faß laufen. Erfinderische Männer wie Joe trieben irgendwo etliche Meter Gummischlauch auf, mit dem sie den Wasserstrahl auffingen. Auf diese Weise konnten sie drei oder vier Kanister füllen, ohne sie von der Stelle zu rücken. So brauchten sie nur den Schlauch zu verlagern. Joe zeichnete sich auch insofern aus, als er eine Patentbrause erfand. Er höhlte für seine Wasserrinne einen Baumstamm aus und stellte seine vier Kanister auf ein Holzgerüst. Wenn er duschen wollte, stellte er sich dann einfach unter einen der Kanister und kippte ihn um. Das Wasser war zwar immer warm. Eine kalte Dusche bekam er nie, aber wenigstens wurde er sauber. Das war mehr, als er in den ersten fünf Monaten auf dem Felsen fertiggebracht hatte. Aber einerlei, wie oft Joe sich auch wusch, er bekam immer noch Hautkrankheiten. Jeder bekam in der Südsee mal einen Ausschlag, aber es war einfach gräßlich, wenn man immer wieder so etwas hatte und immer auf demselben Felsen hockte. Joe merkte erst, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmte, als ihm nachmittags um zwei Uhr so schwindelig wurde. Später fand er heraus, daß es daher kam, weil er in seinem Körper nicht mehr genug Salz hatte. Wenn man jeden Monat dreißig Tage und einige Monate sogar einunddreißig Tage lang ununterbrochen schwitzt, dünstet man das Salz einfach aus. Bevor Joe dahinterkam, litt er schwer an Hitzepickeln. Er wachte eines Morgens wie gewöhnlich auf, aber kaum hatte er sich das Hemd angezogen, hatte er das Gefühl, als steche ihn jemand mit einer Handvoll Nadeln in den Rücken. Er sprang auf und blickte sich um. »Was is'n los, Joe?« fragte einer seiner Kameraden. -105-
»Irgendwas hat mich gestochen!« behauptete er. »Wo?« fragten ihn die anderen. »Genau hier!« Er wollte auf seine Schulterblätter zeigen, als es ihn wieder stach, diesmal unter seinem linken Knie. Er fing an sich zu kratzen. »Uhuuuh!« schrien die Männer. »Er hat die Krätze!« Und ob er sie hatte! Und treu blieb sie ihm auch! Drei Monate lang. Jeden Morgen und jeden Nachmittag bekam er Anfälle, bei denen er hätte schwören können, daß ihm irgendwelche Leute Dolche in den Leib bohrten. Kratzen nützte nichts. Das machte es nur noch schlimmer. Nach einer Weile bekam Joe fast am ganzen Körper einen roten Ausschlag. An vielen Stellen hatte der Schweiß die Haut in dünnen Fetzen wie eine Säure weggeätzt. Wenn neuer Schweiß über diese Stellen lief, schloß Joe die Augen und fluchte. Schließlich meldete er sich im Revier, und dort traf er eine lange Reihe von Leidensgenossen an. Ein großer Bursche, ein Apothekergehilfe, dem jeder einzelne seiner Patienten leid tat, ging reihum mit einem Eimer voll weißem Zeug und einem Tapezierpinsel. Er wandte etwa zwanzig Sekunden an jeden Mann. Die Arbeit ging ihm so fix von der Hand wie einem gelernten Anstreicher. Gottlob war Menthol in dem weißen Zeug, sonst hätte Joe dieses rasende Jucken, das Tag für Tag wiederkam, nicht mehr ausgehalten. Wie bei allen Männern fraß sich die Krätze schließlich immer tiefer herunter bis zwischen seine Beine. Da fing sein Elend erst an. Nachts rüttelte der Mann, der über ihm schlief, an dem Bett und schrie: »Joe! Hör endlich auf, dich zu kratzen!« Joe knurrte nur und rollte sich auf die Seite. Aber am Morge n hatte er zwischen den Beinen keine Haut mehr. Jetzt waren seine Beine und seine Achselhöhlen entzündet. Bei der morgendlichen Inspektion war es Joe aufgefallen, daß ein halbes Dutzend Männer abseits stand, bis der große Sanitäter mit der Anstreicherei fertig war. Er hatte sich schon immer -106-
gefragt, was mit denen geschah. Jetzt erfuhr er es. Wenn die leichteren Fälle abgefertigt waren, wurden die Entzündungen behandelt. Mit einem kleinen Seziermesser schabte der geduldige Sanitäter den Eiter von jedem Pickel ab und schmierte dann auf die offene Wunde eine Salbe. Der Heilprozeß ging schrecklich langsam vor sich. Manchmal dauerte es einen ganzen Monat. Und arbeiten mußte man die ganze Zeit trotzdem. Zwanzig Minuten nachdem man das Revier verlassen hatte, lief der Schweiß über die Salbe, und nach weiteren zwanzig Minuten war die Wunde wieder offen. Dann stellte Joe etwas Komisches fest: Jeder, dem er auf dem Felsen begegnete, hatte irgendeine Patentmedizin, die ein sicheres Mittel gegen die Krätze war. Aber jeder hatte auch die Krätze! Das einzige, was bei Joe wirklich nützte, war ein Präparat, das irgend jemand aus den Staaten geschickt hatte. Der Mann, dem es gehörte, probierte es an sich aus, und es wirkte. Eine Lösung aus Salizylsäure und Schwefelquecksilber. Vier andere Männer schmierten sich zwischen den Beinen damit ein, und binnen einer halben Stunde war die Haut weggefressen. Sie gingen ins Revier. Aber selbst dann benutzten einige dieses Teufelszeug noch. Bei einigen half es. Joe war einer von denen. Er legte sich hin, schmierte sich ausgiebig ein und biß sich dann auf die Finger. Es tat gemein weh. »Ich hab Glück«, sagte er. »Bei mir wirkt es.« Jeden Monat in diesen zweieinviertel Jahren bekam er wieder Hitzepickel, aber er hatte keine Entzündungen mehr. Die anderen, die immer darunter zu leiden hatten, taten ihm schrecklich leid. Er wußte, daß sie verdammt viel ausstehen mußten. Joe hatte nur noch unter einem anderen Gebrest zu leiden. Sein wundester Punkt waren seine Füße! Wie die meisten Männer auf dem Felsen führte er einen nie endenden Kampf gegen die Fußflechte. Ungleich der Krätze kam die Flechte und verschwand wieder. Und sie war nie schlimm, wenn man nicht -107-
zu den Unglücklichen gehörte, die dadurch vergiftet wurden. Denen schwollen die Füße an, und ein Mann verlor sogar drei Zehen. Die Flechte fraß sie ihm direkt an den Wurzeln ab. Als die Krankheit das erste Mal ausbrach, sagten ihm seine Kameraden, er habe die Lepra. Später bekamen sie es mächtig mit der Angst, und ein wildes Gerücht verbreitete sich im Lager, daß es wirklich Lepra sei. Die Ärzte machten dem schnell ein Ende. Es sei nur eine starke Entzündung, sagten sie. Aber trotzdem verlor der arme Kerl drei Zehen. Im übrigen duschte man sich, sooft man nur konnte, aß Berge von Salz und hoffte das beste. Einmal bekam Joe fünf dicke Beulen unter seinem linken Arm, aber sieben starke Dosen Sulpho brachten sie wieder weg. »Ich trank damals vielleicht neun Gallonen Wasser am Tag«, erzählte Joe später seinen Freunden in der Heimat, »und brauchte überhaupt nicht zu pinkeln. Wo ist das ganze Wasser nur geblieben?« Das Atebrin machte Joe den größten Kummer. Er haßte diese kleinen gelben Pillen und war durchaus nicht davon überzeugt, daß sie etwas nützten. Die Amerikanische Medizinische Gesellschaft erklärte sie für eine Zeitverschwendung, und Joe war ziemlich sicher, daß die Ärzte in der Heimat mehr wußten als diese Knochensäger auf dem Felsen. Teufel, diese Kerle konnten ja nicht mal die Krätze heilen! Aber trotzdem mußte jeder täglich seine Atebrinpillen schlucken. Das war noch nicht so schlimm, bis man damit anfing, gelb zu werden. Dann machte man sich so seine Gedanken. Joe begann sich zu fragen, ob diese Geschichten nicht vielleicht doch wahr seien. »Wie ich direkt von einem Arzt gehört habe«, vertraute einer der Männer ihm eines Abends an, »hat das Atebrin gar keine andere Wirkung, als die Malaria zu unterdrücken. Man merkt's dir nicht an, verstehst du? Du kriegst bloß 'ne gelbe Haut, und sonst merkst du nichts. Aber die ganze Zeit treibt die Malaria ihr Unwesen in dir! Hier unten!« Er -108-
schlug sich auf den Hosenlatz. »Und wenn sie dich hier kaputtgeschunden haben und du zur Arbeit nicht mehr taugst, schicken sie dich nach Hause, ein hilfloses Wrack! Dann kriegst du kein Atebrin mehr, und die Krankheit kommt bei dir überall zum Durchbruch.« Daraufhin senkte er die Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern und schlug sich wieder auf den Hosenlatz. »Aber hauptsächlich hier«, sagte er bekümmert. »Dann bist du nur noch ein ausgebranntes Wrack.« Die Männer in Joes Baracke fragten sich, ob an dem, was der Mann da sagte, etwas Wahres dran sei. Es klang sehr einleuchtend, daß man dieses Atebrin nur bekam, um irgend etwas in Schach zu halten. Wenn sie einen mit Drogen aufpulverten, nur, damit man bei der Arbeit nicht schlappmachte, war das schon schlimm genug. Aber wenn man nun dadurch, daß man drei Monate lang Atebrin schluckte, womöglich seine Potenz einbüßte? Hieß das etwa, daß man niemals Kinder haben konnte? Oder noch Schlimmeres? Mit ihrem geradezu märchenhaften Fonds an Unwissenheit und Aberglauben untersuchten Joe und seine Kameraden diese Frage von allen Seiten. Sie fanden keine Antwort auf die niederschmetternde Andeutung ihres Aufklärers: »Alles ganz schön und gut, aber woher wißt ihr, daß ihr nicht impotent werdet?« Joe hatte keine Möglichkeit, das festzustellen. Wie Hunderte anderer Männer auf dem Felsen hatte er tatsächlich keinen Grund, zu glauben, daß er potent war. Er hatte sich ein- oder zweimal verliebt, aber er hatte nie geheiratet. Und auch nicht mit einem Mädchen geschlafen. Er hatte es das eine oder andere Mal tun wollen, aber moralische Hemmungen, versäumte Gelegenheiten und all diese seltsamen Dinge, die einen Mann davon abhalten, das zu tun, was er eigentlich tun will, hatten ihn daran gehindert. Er konnte über seine Potenz nur Vermutungen anstellen, aber er wollte sie bestimmt nicht einbüßen. Als er in den folgenden Tagen immer gelber wurde, fragte er sich finster, -109-
ob dieser Bursche womöglich recht habe. Er hätte sich gern mit jemand darüber aus gesprochen, aber er hatte bemerkt, daß man immer nur Unannehmlichkeiten bekam, wenn man sich auf so etwas einließ. Große Unannehmlichkeiten. Vor zwei Monaten hatte Joe, als er in seiner Koje lag, mitten in der Nacht einen lauten Schrei und die Geräusche vo n einer Prügelei gehört. Mit den anderen Männern seiner Baracke war er aus dem Bett geklettert, gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie zwei Offiziere und drei Mann einen Unteroffizier und einen jungen Matrosen umringten, dessen Nase blutete. Ein dritter Offizier lief zu jeder der Baracken. »Schon gut, Männer!« sagte er ruhig. »Geht auseinander und geht wieder in die Klappe!« Am nächsten Morgen schwirrten im Lager wilde Gerüchte herum. Offiziell wurde nie etwas bekannt, aber der Unteroffizier und der Matrose waren verschwunden. Später hörte Joe es dann. Der Unteroffizier bekam sechzehn Jahre in Portsmouth und der Matrose zwei Jahre auf der Mare-Insel. Acht Tage darauf schlich Louie sich in das Zimmer der Krankenschwester. Der Schwester, deren Flugzeug abge stürzt war. Louie kam auch ins Gefängnis. Seitdem hielt Joe sich einfach von allem, was irgendwie mit geschlechtlichen Dingen zu tun hatte, fern. Es war ein zu kostspieliger Luxus auf dem Felsen. »Und«, hatte er sich geschworen, »mich soll es nich' erwischen!« Glücklicherweise bekam ein gescheiter junger Arzt Wind von dem, was die Männer beunruhigte. Er schrieb nach Washington und bat um eine offizielle Erklärung, daß Atebrin die Manneskraft nicht beeinträchtige. Sie war von einem Juden, einem Iren, einem Protestanten und einem Arzt aus einer kleinen Stadt in Missouri unterzeichnet. Achthundert Kopien wurden davon gemacht, und jeder Mann auf dem Felsen bekam eine. Aber der zweite Einfall dieses jungen Doktors war sogar noch besser. Er trieb einen geschickten Photografen auf, der Aufnahmen von Bildern in Zeitschriften machen konnte. Dann -110-
suchte er die Photos von zwei prominenten Filmstars aus, die sich als Schlafzimmerathleten großer Beliebtheit erfreuten. Er ließ den Photografen ein kleines Plakat von zwanzig zu fünfundzwanzig Zentimetern anfertigen, auf dem die beiden Filmstars einander angrinsten. Darunter stand in großen Buchstaben ihr Bekenntnis: WIR FINDEN ATEBRIN EINFACH HERRLICH ! Die Männer kamen aus der ganzen Insel herbeigeströmt, um das Plakat zu sehen. Es tat eine sehr gute Wirkung. Joe hatte sechzehn Monate auf dem Felsen ausgeharrt, als sich in seinem Leben zwei wichtige Ereignisse zutrugen. Er bekam einen neuen Skipper, und ein Libertyschiff mit ein paar Seebienen, diesen Allerweltskerlen der Baukompanien, an Bord ging wegen eines Maschinendefekts bei der Insel vor Anker. Joes alter Skipper wurde aus etwas undurchsichtigen Gründen nach Hause geschickt. Entweder hatte er einen Nervenzusammenbruch erlitten, oder er mußte wegen der Buchführung in der Offiziersmesse über die Klinge springen. Genau erfuhr Joe das nie. Der neue Skipper war ein typischer Marinemann. Mit seinen zweiundfünfzig Jahren hatte er es nur bis zum Fregattenkapitän gebracht. Höher würde er nie aufsteigen. Er war ein schwerer Trinker, auf den man sich nicht verlassen konnte. Also schleppte er sich weiter so hin von einem unwichtigen Posten zum anderen. Viele hatten ihn gern, aber nur wenige achteten ihn. Ehrgeizige junge Leute nahmen jede Gelegenheit wahr, um seinem Kommando zu entrinnen, aber sie gingen ihm um den Bart, solange er ihr Vorgesetzter war. Einige von ihnen bissen sich sogar schweigend auf die Lippe, wenn er ihren reizenden Frauen gegenüber zudringlich wurde. Er war noch keine Woche auf dem Felsen, da wußte Joe schon, daß er als eine Art Strafe hierher versetzt worden war. Für etwas, was er in den Staaten getan hatte. Was, erfuhr Joe nie. Der Skipper, der dafür bekannt war, führte sofort Neuerungen ein. Bei Gott, er war der Boß, und es würde jetzt anders werden. -111-
Wenn er schon auf dieser gottverlassenen Insel hocken mußte, würde er ihnen schon ein paar Flötentöne beibringen. Sein erster Befehl war, daß jeder Mann jederzeit unter einem Moskitonetz schlafen mußte. Beinahe wäre es zu einer Meuterei gekommen, und der Anführer der Rebellen war Joe. Die Baracken, in denen die Mannschaften schliefen, waren eine üble Angelegenheit. Wellblechhütten für acht Mann beherbergten vierundzwanzig. Die Männer schliefen in Kojen übereinander, und obwohl nachts eine frische Brise wehte, vermocht e sie die überfüllten Wellblechhütten doch nicht zu durchdringen. In manchen Nächten schwitzte Joe in seinem Bett unaufhörlich bis zum nächsten Morgen. Er probierte es zwei Nächte und stellte dabei fest, daß er etwas hatte, was ein Arzt Platzangst genannt haben würde. Er kämpfte mit dem Netz und hätte sich beinahe erdrosselt. In der heißen stickigen Luft schwor er sich, nie wieder unter einem Netz zu schlafen. Erbittert riß er es ab. Am nächsten Tag stand er vor dem neuen Skipper. »Ich werde an Ihnen ein Exempel statuieren«, sagte der rotgesichtige Mann. Joe zitterte sichtlich, als er diese Worte hörte. Sechzehn Monate hatte er sich aus allen Schwierigkeiten rausgehalten, und jetzt saß er drin in der Patsche, bis über die Ohren. »Hilf mir wieder raus, lieber Gott! Hilf mir wieder raus!« betete er. »Ich will keine Unannehmlichkeiten!« »Was, zum Teufel, bilden Sie sich eigentlich ein?« brüllte der Skipper ihn an. »Glauben Sie, Sie können sich hier einfach alles herausnehmen?« Er blickte zu dem erschrockenen Seemann auf. Joe fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Der Skipper war schon im Begriff, mit Joe kurzen Prozeß zu machen, als ihm einfiel, warum er auf diesen Felsen versetzt worden war. »Ich muß einen neuen Anfang machen«, murmelte er vor sich hin. »Diesmal werde ich's anders anpacken!« gelobte er sich still. »Junger Mann«, sagte er laut, »gefällt es Ihnen nicht bei der Marine?« -112-
»O Sir«, erwiderte Joe mit der stehenden Antwort des Seemanns auf die stehende Frage des Skippers, »es gefällt mir großartig!« »Dann zeigen Sie das auch!« sagte der Skipper brummig. »Wenn ich Sie noch einmal bei etwas erwische, stoße ich Sie glatt aus der Marine aus.« Dann fügte er noch die vernichtende Drohung hinzu: »Und Sie finden sich beim Heer wieder!« Joe stand stramm und ging. Seitdem schlief er also unter einem Moskitonetz. Es war merkwürdig, aber da draußen, mitten im Stillen Ozean, auf einer Insel, fast ganz für sich allein, war Joe verkrampft und nahe am Ersticken. Er wachte nachts auf und rang nach Atem. Schließlich löste er das Problem durch einen Kompromiß. Er stahl eine Dynamomaschine und brachte über seiner Koje einen elektrischen Ventilator an. »Wenn sie mich danach fragen«, brummelte er vor sich hin, »sage ich einfach, daß ich sie mir von einem der Flugzeugwracks genommen habe.« Er beulte die Maschine etwas ein, damit sie mehr wie Strandgut aussah. Der Ventilator wirkte Wunder, und er konnte wieder atmen. Einmal klemmte er sich die Hand darin, und mehrmals verfing sich das Netz in den Flügeln, aber das war es wert. Die Seebienen kamen eines Abends an Land. Joe stand auf der primitiven Mole, als sie von Bord gingen. Es überraschte ihn, zu sehen, wie sehr sie sich darüber freuten, wieder an Land zu sein, selbst auf so einem kahlen Felsen. Er kam auf den Gedanken, daß bei der Marine anscheinend jeder woanders sein wollte, als er gerade war. Er dachte in späteren Jahren noch oft an diesen Abend zurück. Es war der Abend, an dem er Luther Billis kennenlernte. So einen Menschen wie die Seebiene Luther Billis hatte Joe noch nie gesehen. Er war groß, dick und braun. Er trug mehrere Armbänder und in seinem linken Ohr einen goldenen Ring. Und er war wunderschön tätowiert. Billis befand sich in Begleitung eines jungen Juden, der ihm wie ein Hund überallhin nachlief. -113-
Er redete Joe in einem frischen forschen Ton an. »Hallo Joe! Was ist denn hier los?« »Hallo!« erwiderte Joe. »Gibt's hier nich' irgend so was wie 'ne Seemannskneipe?« fragte Billis. »Da drüben!«Joe zeigte mit dem Finger hin. »Also komm mit, Joe, ich halte dich frei! Ich hab auf dieser Fahrt eine Menge Geld gewonnen. Weil ich den Jungs ein paar Lebensweisheiten beigebracht habe!« Er zog ein Bündel Banknoten aus der Tasche. »Also komm schon, Hyman!« schrie er dem Judenjungen diktatorisch zu. Als Billis ein halbes Dutzend Männer traktiert hatte, denen er vorher noch nie begegnet war, zeigte er bewundernd auf seinen jüdischen Freund. »Ich will euch nur sagen«, erklärte er, »das ist ein Genie. Ein Universitätsprofessor!« Billis lächelte stolz, und sein Freund grinste. »Professor Hyman Weinstein, könnte aber ebensogut Professor Einstein sein!« Er brüllte vor Lachen über seinen Witz. »Der Professor spricht fünf Sprachen. Sprich mal 'n bißchen jiddisch, Hyman.« Weinstein, der in Billis sowohl einen Meister als auch einen wunderbaren Freund gefunden hatte, sprach ein paar Worte aus dem Alten Testament auf hebräisch. »Es stimmt wirklich!« flüsterte ein Junge, der etwas abseits saß. »Die Psalmen!« »Deutsch, Hyman!« befahl Billis wie ein Zirkusdirektor, der die Künste eines dressierten Löwen vorführt. Der Professor ratterte ein paar deutsche Worte herunter. »Hitler würde tot umfallen, wenn er das hörte!« schrie Billis. »Professor, jetzt erzähl ihnen was auf lateinisch!« Hyman kam diesem Wunsch mit ein paar juristischen Phrasen nach, und daraufhin verlangte Billig, Französisch zu hören. Als sein Freund mehrere französische Sätze gesprochen hatte, bat er um Ruhe. »Jetzt lacht ihr euch kaputt, Jungens. Erzähl ihnen was auf russisch, Hyman!« -114-
Während Hyman eine ganze Reihe russischer Wörter herunterratterte, fing Billis an zu singen: »Joho, hiev ho!« nach der Melodie der Wolgaschiffer. Seine Zuhörer brachen in Lachen aus. »Hört auf damit, hört auf!« schrie er. »Diese Bolschewiken machen ihre Sache gar nicht so schlecht! Hitler hat nichts zu lachen!« Er klopfte Hyman mit seiner großen Hand auf die Schulter und zog den kleinen Juden auf die Bank, auf der er und Joe saßen. Die nächsten drei Stunden waren die schönsten, die Joe auf dem Felsen erlebt hatte. Er hatte nicht gewußt, daß es unter den Seeleuten so großartige Menschen gab. Billis hatte vor nichts Angst und war schon überall gewesen. Und Weinstein konnte fünf Sprachen sprechen. Sie unterhielten sich über Gott und die Welt. Billis glaubte, daß es einen Gott gebe und daß die Luftfahrt nach dem Krieg einen riesigen Aufschwung nehmen würde. Weinstein meinte, Frankreich würde wieder eine Großmacht werden. »Was denkst du, Joe?« Joe konnte es nicht fassen, daß ein Fremder wissen wollte, was er dachte. Aber durch die Frage ermutigt, platzte er mit seiner Philosophie heraus. »Ich finde es Blödsinn, auf diesem Felsen zu ho cken, während ihr alle draußen irgendwo kämpft. Und ich sitze hier bloß nutzlos herum, Tag für Tag. Dreimal in der Woche landen 'n paar Maschinen hier und ich pump sie voll. Die übrige Zeit versuche ich, keine Scherereien zu kriegen. Das ist alles. Das ist eine lausige Art, den Krieg zu verbringen. Ich schäme mich richtig.« Billis war entsetzt über Joes Äußerung. »Was is 'n mit dir los?« fragte er. »Du denkst da ganz falsch, Joe. Du enttäuscht mich wirklich sehr. Ich hätte dich für einen viel vernünftigeren Menschen gehalten!« »Was hab ich denn Falsches gesagt?« erkundigte sich Joe. »Was du da redest, daß du von keinem Nutzen bist. Wenn du -115-
nicht hier wärst, wer wäre denn dann hier?« fragte Billis streitsüchtig. »Du weißt verdammt gut, wer dann hier sein würde. Die Japse! Und angenommen, die Japse wären hier, wenn wir Bruch machten, wo sollten wir dann hin, um den Schaden wieder zu reparieren?« Er schien eine Wut auf Joe zu haben, weil dieser die Insel den Japsen überlassen wollte. »Von der Seite aus habe ich mir das noch nie angesehen«, erwiderte Joe. »Wir können doch nicht alle gegen die Japaner kämpfen«, fügte Billis weise hinzu. »Da hast du recht, Luther«, gab Joe zu. »Geht ihr, ich meine, du und Hyman, wieder an die Front?« Sie wußten nicht, wohin sie gingen, aber sie hatten einen Haufen schwerer Motoren und anderer Maschinenteile dabei. Wahrscheinlich kamen sie auf irgendeine Insel und würden dann eine andere Insel angreifen. »Was willst du tun, wenn der Krieg aus ist?« fragte Billis. »Ich geh wieder zurück in meinen Laden, in Columbus, Ohio. Ich bin Schuhmacher.« »Was machst du aber, wenn wir alle nur noch Schuhe aus Kreppgummi tragen?« fragte Billis. »Die nicht mehr besohlt werden müssen?« Der Gedanke jagte Joe einen Schreck ein. Daran hatte er noch nie gedacht. Er wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Die Leute würden ihre Schuhe doch immer reparieren lassen müssen, dachte er. Aber Luther Billis' reger Geist beschäftigte sich bereits mit neuen Problemen. »Hast du ein Mädchen?« fragte er. »Nein«, erwiderte Joe. »Hab ich nich'.« »Du hast kein Mädchen?« schrie Billis. »Was, zum Teufel, bist denn du für ein Seemann?« »Ich hab mich nie viel mit Mädchen abgegeben«, erklärte Joe. »Ich werd' dir sagen, was ich tue«, verkündete Billis und legte -116-
Joe den Arm um die Schulter, »ich verschaffe dir ein Mädchen. Bist schon ein feiner Kerl. Findest du nicht auch, Hyman?« Weinstein nickte. »Guckt euch mal den Mond da überm Wasser an!« sagte er dann. Billis drehte sich um und betrachtete das seltene Bild von Mondschein auf tropischem Gewässer mit Palmen an der Küste und einem Schiff an der Mole. »Gott, ist das schön!« sagte er. »Du solltest öfter hierhergehen, Joe, und solltest dir das ansehen. So wie Hyman das eben getan hat.« Die drei Männer saßen schweigend da und sahen zu, wie der Mondschein auf den Wellen aufglitzerte und wieder verblaßte. In den ganzen sechzehn Monaten hatte Joe bisher noch nie dieses merkwürdige und liebliche Schauspiel gesehen. Er wünschte sich plötzlich, mit Billis und dem Professor fortgehen zu können. Er wollte mit Männern Zusammensein, die sich so angeregt unterhielten und neue Dinge sahen. Er wollte... Aber um Mitternacht lief das Boot aus. Die Seebienen waren fort. Joe blickte dem Schiff nach, solange es im Mondschein zu sehen war. Ihm war noch nie zuvor so sonderbar zumute gewesen. Große, ungewohnte Gedanken wallten in ihm auf. Er konnte nicht schlafen, und deshalb ging er am Rand der Insel entlang spazieren. Die Rollbahn leuchtete hell im Mondschein. »Schön ist das«, sagte er. »Und wie das Wasser da gegen die Klippen brandet! das ist wirklich schön.« Ja, die Welt war schön in dieser Nacht. Sie war so schön, wie nur eine tropische Nacht auf einer abgelegenen Insel schön sein kann. Eine Million Männer in der Südsee mochten das voneinander nicht wahrhaben wollen und sich in ihren Briefen nach Hause darüber lustig machen. Aber es war schön. Vielleicht leugneten einige dieser Million Männer diese Schönheit nur deshalb, weil sie sie wie Joe noch nie wahrgenommen hatten. Ähnliche Gedanken gingen Joe durch den Kopf, als er merkte, -117-
daß jemand ihm nachlief. Er wollte gerade am Rand der Klippe entlanggehen, als das Licht einer Taschenlampe vor ihm aufblitzte. »Nein, das wirst du bleiben lassen!« schrie eine Stimme. Schnell kamen zwei Männer auf ihn zugerannt und packten ihn. »Hier ist noch einer von ihnen«, rief die Stimme mit dem Licht. Joe wurde zu einem Jeep geschleppt. »Elende Bande von Schnapsschmugglern!« sagte eine barsche Stimme, als er in ein kleines Lastauto gestoßen wurde. Joe sah sich die anderen Gefangenen an. Er kannte keinen von ihnen. »Das is' keiner von uns!« sagte der Anführer der Bande. »Halt's Maul!« befahl die barsche Stimme. »Aber der gehört doch gar nich' zu uns!« »Halt die Klappe!« »Fahr dahin, du schöne Zeit!« brummte der Anführer der Bande in mürrischem Ton. Joe verbrachte diese Nacht im Arrestlokal. Er befand sich dort in Gesellschaft von sechs Soldaten, die in einer Höhle bei den Klippen eine Schnapsbrennerei betrieben hatten. Jetzt hatte man sie erwischt. Sie hatten aus Konservenmais und Zucker reinen Alkohol gebrannt und für jede Menge, die sie herstellen konnten, guten Absatz gefunden. Alle sechs hatten im Monat jeder ihre zweihundert Dollar daran verdient. Joe betrachtete sie. Es waren genau solche Burschen wie er. Er fragte sich, wie sie wohl dazu gekommen waren, sich zu einer solchen Bande zusammenzuschließen. Er fragte sich auch, ob Luther Billis es ebenso trieb. Luther hatte einen Haufen Geld. Aber irgendwie hatte er das Gefühl, daß Luther anders war. Diese Männer hier saßen in der Patsche. »Ich verpfeife die ganze Geschichte!« sagte ein kleiner Maschinenmaat. Er hatte den Destillierapparat gebaut. »Wenn die mir eine Gefängnisstrafe aufbrummen wollen, packe ich -118-
aus!« »Wenn du das tust«, flüsterte der Bandenführer heiser, »bringe ich dich um. Da kannst du Gift drauf nehmen!« Doch am nächsten Morgen rückte der kleine Maschinenmaat mit der vollen Wahrheit heraus. Joe war entsetzt. Das Geständnis erfolgte, kurz nachdem der Skipper Joe befohlen hatte, beiseite zu treten. Offensichtlich hatte Joe nichts damit zu tun. So stand er da am Fenster, während der Maschinenmaat erzählte, wie ein Leutnant ihnen kistenweise Konservenmais und tonnenweise Zucker verkauft hatte. Ein Viertel von dem Reingewinn hatte er eingesteckt. Das machte im Monat vierhundert Dollar. Das war ein Fall, wo der Skipper nicht losbrüllte. »Holt ihn sofort her«, sagte er leise. Niemand sprach, bis der Leutnant erschien. Er war noch ganz jung. Er warf einen Blick auf die sechs Angeklagten, erblaßte und setzte sich. »Haben Sie irgend etwas zu sagen?« fragte der Skipper. »Nein, Sir!« erwiderte der Leutnant. »Sie haben Stubenarrest!« sagte der Skipper kurz. »Und die sechs Mann kommen wieder in den Bunker.« Joe fühlte sich innerlich ganz komisch. Er wußte, jetzt kam er an die Reihe. »So«, sagte der Skipper. »Da sind Sie ja wieder! Immer in der Patsche!« »O nein, Sir!« »Wie kommt es, daß Sie da unten bei den Klippen waren? Haben Sie für die Bande Schmiere gestanden?« »O nein, Sir! Ich hab mit denen nie etwas zu tun gehabt. Nie!« »Was hatten Sie denn da auf der Klippe zu suchen?« Joe schluckte schwer. Die Worte wollten ihm erst nicht kommen. »Ich hab dem Schiff nachgesehen, Sir!« -119-
Wie in einem Blitz sah der Skipper sich selbst, vor langer Zeit auf Haiti. Ein Schiff fuhr aus der Bucht hinaus. Er war damals noch Fähnrich und überzeugt, eines Tages Admiral zu werden. Er konnte verstehen, warum die jungen Leute den Schiffen nachblickten. »Halten Sie sich lieber aus solchen faulen Geschichten heraus, junger Mann«, sagte er. Das war alles. Es wäre nicht ehrlich, zu behaupten, daß Joe Billis vergessen hatte. Aber er hatte aufgehört, fortwährend an diesen merkwürdigen Burschen zu denken, als ein Brief auf dem Felsen ankam. Er war für Joe und kam von einer Miß Essie Schultz in Perkasie, Pennsylvania. Joe verschlang den Brief. Lieber Joe, entschuldige bitte, daß ich Dir schreibe, obwohl wir uns nicht vorgestellt sind, aber mein guter Freund, Dr. Luther Billis, erzählte mir, daß Du kein Mädchen hast, dem Du schreiben kannst. Ich schreibe Briefe an siebzehn Seeleute und einen Soldaten. Ich finde, Ihr Jungs seid die tapfersten Männer in ganz Amerika. Ich würde niemals den Mut aufbringen, um gegen die Japse zu kämpfen. Ich bin froh, daß wir Jungens haben wie Dich, die für uns kämpfen. Ich wünschte, ich hätte ein vorteilhaftes Foto von mir, das ich Dir schicken könnte, aber Du weißt ja, wie es heutzutage ist. Ein oder zwei Abzüge ist alles, was man kriegt. Deshalb schicke ich Dir dieses. Die eine in der Mitte bin ich. Mager, was? Ich arbeite in einer Hosenfabrik. Im Augenblick machen wir Hosen für die Marine, also wenn Deine nicht passen, bin ich schuld (Ha!) Ich tanze sehr gern und hab Benny Goodman und Louie Prima am liebsten. Ich höre auch viel Radio und lese jedes Jahr ein paar Bücher. Mr. Billis sagte mir, Du wärst ein großartiger Kerl und daß Du mir gefallen würdest. Das glaube ich schon. Willst Du mir nicht schreiben und mir alles von Dir erzählen? Ich verspreche auch, Dir sofort zu antworten. (Deine (?)) Essie Schultz -120-
P. S. Schick mir doch ein Bild von Dir. Der Brief schmiß Joe glatt um! Es ging über seinen Verstand, daß Luther Billis sich die Mühe gemacht hatte, so etwas für ihn zu tun. Aber daß diese Essie ihm dann wirklich geschrieben hatte... Das war ein richtiges Wunder! Er las den Brief achtoder zehnmal. Er war so hübsch geschrieben, mit ganz geraden Zeilen. Und er roch so gut. Und da stand Essie vor einem Haus. Und da lag Schnee auf dem Boden! Er guckte und guckte und konnte sich nicht satt daran sehen. Essie war auch keineswegs die Häßlichste. Bei weitem nicht! Er bekam noch sieben Briefe von Essie, reizende, lustige Briefe. Er zeigte mehreren Kameraden ihr Bild. Es war nicht viel von ihrem Gesicht darauf zu sehen, aber was man erkennen konnte, sah furchtbar nett und sauber aus. Joe fühlte sich großartig. Dann bekam er eines Tages einen sehr kurzen Brief von ihr. »Ich werde den Soldaten heiraten«, schrieb Essie. »Er findet, ich sollte aufhören, Euch anderen Jungs zu schreiben. Ich hab ihm gesagt, daß er wohl eifersüchtig auf die Marine ist. (Ha!)« Joe war mehrere Tage schlechter Laune. Er zerriß Essies Bild. »Ich will kein Bild von einer verheirateten Frau«, sagte er zu sich. »Ich will keine Unannehmlichkeiten haben.« Aber er war sehr unglücklich. Essies Briefe waren für ihn... Nein, in Worten konnte er das gar nicht ausdrücken. Er wußte nur, daß die Wochen jetzt viel länger waren. Und wenn sie auch noch siebzehn anderen geschrieben hatte! Ihm hatte sie auch geschrieben, und darauf kam es an. Joe versuchte viermal, ihr einen Glückwunschbrief zu schreiben, aber er konnte die Worte nicht finden. Da kam eines Tages, als er gerade auf der Rollbahn war, ein Flugzeug mit ein paar Mannschaften aus Numea an. Einer von ihnen hatte einen Bastrock, ein wunderhübsches Stück, rot und gelb gestreift. -121-
»Wieviel willst du dafür haben, Kumpel?« fragte Joe. »Fünfzehn Dollar«, erwiderte der Seemann. »Das ist eine Menge Geld«, meinte Joe. »Das stimmt«, entgegnete der Seemann. »In Numea kriegst du sie billiger, aber du bist hier nicht in Numea.« Trotzdem war der Rock ein so herrliches Geschenk für ein Mädchen, daß Joe ihn kaufte. Er packte ihn sorgfältig ein, adressierte das Paket an Essie Schultz, Perkasie, Pennsylvania, und ließ es von der Zensur begutachten. Als der Offizier sich den Rock lange genug angesehen hatte, schob Joe noch ein kleines Stück Papier hinein. »Alles Gute, Joe.« Es war nicht so, daß er auf dem Felsen gar keine Mädchen zu sehen bekam. Alle drei oder vier Monate machte irgendein Flugzeug mit einer Varietetruppe an Bord hier eine Zwischenlandung. Wenn sie Zeit hatten, sangen oder tanzten die Mädchen dann immer in der Rot-Kreuz-Baracke. Aber das war doch nicht so wie ein Mädchen haben - ein Mädchen für sich. Einige Zeit später erhielt Joe von Billis direkt einen Brief. Er war kurz und bündig: »Eine gewisse Alice Baker aus Corvallis wird Dir sehr bald schreiben. Ich kenne ihre große Schwester und ihren Bruder. Er ist ein Trottel. (Ha!) Aber Alice ist ein reizendes Mädchen. Ihre Schwester hält mich für einen Offizier, also laß sie in dem Glauben: Dein bester Freund L. Billis.« Joe freute sich mächtig über diese Nachricht von Luther. Er fragte sich, ob Luther in Corvallis wohl eine Offiziersuniform getragen hatte. Das war 'ne gefährliche Sache. Da machten sie kurzen Prozeß mit einem, wenn man dabei erwischt wurde. Während Joe auf einen Brief von Alice Baker wartete, passierte etwas Merkwürdiges. Eines Nachts um halb zwölf wurde er von einem Wachtposten aus dem Bett geholt. »Sie werden im Bungalow von Skipper gebraucht«, wurde ihm gesagt. In der Dunkelheit ging er über die Korallenwege zu dem Platz, wo der Skipper ein Haus für sich allein hatte bauen lassen. -122-
Der Bau kostete 9000 Dollar, hatten sich die Männer ausgerechnet. Der Skipper sagte, wenn er schon auf diesem Felsen leben müsse, dann wolle er, bei Gott, auch wie ein Gentleman wohnen. Um seine Unterkunft hätte ihn mancher Admiral beneidet. »Joe«, sagte er, »als ich vorhin über den Fußboden ging, habe ich da drüben einen Splitter gespürt. Dort im Schrank finden Sie einen Schmirgelstein. Reiben Sie mir die Bohle glatt, wollen Sie?« Joe holte den Stein heraus und machte sich an die Arbeit. Während er damit beschäftigt war, glitt der Skipper mit seinen nackten Füßen von einer Bohle auf die andere. »Reiben Sie hier noch mal drüber, ja?“ »Schmirgeln Sie die noch ein bißchen ab.« Joe arbeitete bis halb zwei. »Nehmen Sie sich morgen lieber einen freien Tag«, sagte der Skipper. Joe erzählte keinem Menschen etwas davon. Ein paar Tage später wurde er wieder nachts herausgerufen. Diesmal hatte sich das Linoleum im Badezimmer gelöst. Joe machte es fest. Mitten in der Arbeit unterbrach ihn der Skipper. »Joe«, sagte er, »in dem Schrank dort steht eine Flasche sehr guten Whiskys. Ich gehe jetzt zwanzig Minuten am Strand spazieren. Wenn ich Sie bei meiner Rückkehr beim Trinken erwische, mache ich Ihnen die Hölle heiß. Wie spät haben Sie es?« Die beiden Männer stellten ihre Uhren genau gleich auf 01.19. »Also denken Sie daran«, sagte der Skipper. »In zwanzig Minuten bin ich wieder da.« Joe arbeitete weiter und schenkte dem Schrank keine Bedeutung. Er trank gern Whisky, aber wollte mit keinem Menschen Unannehmlichkeiten haben. Neun Minuten nach halb zwei kam der Skipper leise singend zurück. Mit einem verschmitzten Lächeln ging er auf den Schrank zu und schaute hinein. Dann grunzte er und zog die Flasche heraus. »Ich habe sie nicht angerührt«, beteuerte Joe. »Du gottverdammter Dickschädel!« schrie der Skipper. »Ich -123-
habe dir doch gesagt, daß ich zwanzig Minuten wegbleiben würde.« »Ich habe sie nicht angerührt«, sagte Joe störrisch. »Ich weiß, daß du es nicht getan hast, Joe«, sagte der Skipper mit einer müden Stimme. »Aber das durftest du ruhig. Du bist ein braver Kerl. Du arbeitest schwer. Ich werde wieder weggehen. Wenn du einen heben willst, bediene dich. Aber wenn ich dich je dabei erwische, sperr ich dich in den Bunker!« Er ging wieder hinaus und summte dabei vor sich hin. Seitdem brachte Joe einen großen Teil seiner Zeit damit zu, den Bungalow des Skippers in Ordnung zu bringen. Aber er erzählte es keiner Menschenseele. Er wollte in keine Patsche kommen. Bei der Postausgabe erhielt Joe eines Tages einen Brief aus Corvallis. Von Alice Baker. Sie war achtzehn und ging in die Prima der Oberschule von Corvallis. Sie hatte noch keinen Verehrer, und ihr Bruder war als Soldat in England. Fähnrich Billis habe ihrer Schwester von Joe erzählt, und ihre Schwester habe sie gebeten, Joe zu schreiben. Sie finde es zwar etwas komisch, aber sie nehme an, es sei nichts weiter dabei. »Fähnrich Billis«, schloß sie, »sagte, Du seist etwas schwerfällig, aber mir sind schwerfällige Jungens viel lieber. Einige Jungens hier in Corvallis sind solche Draufgänger, daß sie sich einbilden, wenn sie ein Mädchen bloß einmal ansehen, sei es gleich in sie verschossen. Auf dem Bild sehe ich genauso aus wie in Wirklichkeit. Beste Grüße, Alice Baker.« Joe konnte nicht glauben, daß ein Mädchen, das so reizend aussah wie Alice Baker auf diesem Bild, ihm schreiben wollte. Er betrachtete das Bild vielleicht ein dutzendmal am Tag, zeigte es aber keinem Menschen. Er hatte Angst, daß seine Kameraden ihm nicht glauben würden. Nach zwei Tagen kam er zu dem Schluß, daß er ihren reizenden Brief beantworten müsse. Er brütete sehr lange über seiner Antwort. Schließlich kam das dabei heraus: -124-
Liebe Alice, ich bin beinahe vom Stuhl gefallen als sie mir den Brief von Dir gaben. Es ist der schönste Brief, den ich je von irgend jemand bekommen habe. Bisher habe ich ihn schon vierundzwanzigmal gelesen und werde ihn immer wieder lesen, bis ich einen anderen von Dir bekomme. Ich kann Dir nicht glauben, wenn Du sagst, Du hast keine Verehrer. Ein so hübsches Mädchen wie Du könnte hundert haben. Ich habe Angst, den Männern in meiner Baracke Dein Bild zu zeigen. Dann würden sie Dir alle schreiben wollen. Es ist doch Dein Bild, nicht wahr, Alice? Fähnrich Billis wird Dir wohl schon von mir erzählt haben, nehme ich an. Ich bin ein Schuhmacher aus Columbus, Ohio, aber jetzt hocke ich schon neunzehn Monate auf diesem Felsen. Ich bin nicht schön und ich trinke gern Whisky, aber ich werde nie betrunken. Ich hoffe, Du wirst mir wieder schreiben. Ich würde Dir gern ein Bild von mir schicken, Alice, aber hier auf diesem Felsen gibt es keine Möglichkeit, sich knipsen zu lassen. Es hat gar keinen Zweck rumzufragen. Mein Onkel muß noch ein Bild von mir haben, das vor langer Zeit aufgenommen ist. Ich werde ihn bitten, es Dir zu schicken. Ich bin jetzt nur etwas dicker. Bitte, antworte mir auf diesen Brief, Alice, denn ich glaube, Du bist ein sehr liebes Mädchen. Herzlichste Grüße Joe Der Briefwechsel ging von da ab weiter. Schließlich schrieb Alice dreimal in der Woche an Joe. Und schließlich brachte Joe doch den Mut auf, seinen Kameraden ihr Bild zu zeigen. Nach gutem alten Marinebrauch gaben sie mächtig mit ihr an. Die Hälfte von ihnen nannte sie ›dieses Mauerblümchen‹, und die andere Hälfte wollte wissen, wie dieser Filmstar hieß. Joe stand dabei und strahlte vor Glück. Sie zogen ihn immer wieder mit -125-
ihr auf, und abends kam ein älterer Marin, der sich in Seeleuten auskannte, auf ihn zu und fragte, ob er sich das Bild noch einmal ansehen dürfe. Joe blieb einfach die Spucke weg bei dem Gedanken, daß sich jemand noch ihrer erinnerte. Sie saßen auf den Stufen vor der Wellblechhütte und betrachteten Alice Bakers Bild. »Ein entzückendes Mädchen«, sagte der ältere Mann. Eines Tages traf ein Brief von Alice ein, der vom Salzwasser halb aufgeweicht war. Joe konnte die Schrift kaum noch lesen. Er ging mit dem Brief zum Postamt, um herauszufinden, was damit geschehen war. »Irgendwo am Äquator ist ein Flugzeug in den Eimer gefallen.« »Jemand verletzt?« fragte Joe. »Zehn Tote. Die Postsäcke haben sie aber noch gefunden. Ein Taucher hat sie rauf geholt.« Joe ging sehr behutsam mit dem Brief um. Es war unheimlich - ein Brief von dem Mädchen, das man liebte, aus den Händen von Toten! Joe hatte erst wenig vom Tod gesehen, aber er hatte einen riesigen Bammel davor. Es war so, als ob man in eine Patsche geriet, aus der man nie wieder herauskam. Es verdarb einem alles. Als das Urteil des Kriegsgerichts über den Leutnant verlesen wurde, der Eigentum der Regierung an die Schnapsschmuggler verkaufte, hatte einer der Offiziere gesagt: »Ich würde lieber Selbstmord begehen!« Aber der Leutnant, der zu drei Jahren Gefängnis verurteilt war, beging keinen Selbstmord. Er lebte weiter, und die Schnapsschmuggler überlebten es auch. Sie kamen ins Gefängnis und blieben am Leben. Joe gehörte auch zu denen, die weiterleben, ganz gleich, was geschieht. Damit tröstete er sich an dem Abend, als sie den ehemaligen Landwirt in dem Palmenhain an einem Baum hängen fanden. Kein Mensch begriff je, warum er es gerade jetzt getan hatte. Seine Frau bekam ein Kind, als er schon sechzehn Monate hier draußen war, aber er willigte in die Scheidung ein, und sie heiratete den anderen Mann. Der Landwirt hatte sich prächtig damit abgefunden. Joe kannte ihn gut, und dann, sieben -126-
Monate nachdem alles vorbei war, knüpfte er sich auf. Noch zwei andere Ereignisse erinnerten Joe auf seinem heißen, stickigen, einsamen kahlen Felsen an den Tod. Das eine war ein Brief von Luther Billis. Er jagte Joe einen Schauder über den Rücken aus Angst um seinen Freund. ›Die Marine hat dies Bild von mir aufgenommen‹, schrieb er. ›Ein Wunder, daß der Apparat nicht dabei in die Luft ging. Wie Du siehst, trag ich darauf meinen Ohrring nicht. Sie haben mich gezwungen, ihn abzunehmen, aber jetzt hab ich ihn wieder drin. Das Bild is für die Marine, wie sie mir die Medalje gaben. Was ich tat, hätten sie eigentlich einen ihrer Helden tun lassen solln. Jedenfalls hat es mir zwei Japsschwerter eingebracht, und die sind prima. Das eine schicke ich meiner Mutter, und das andere kriegt mein Skipper, Commander Hoag, einer der besten Männer, die je gelebt haben, wenn er auch'n Offizier is. Ich hoffe, du hast inzwischen von Alice Baker gehört. Sie ist ein reizender Käfer, ich hab mal versucht, sie zu küssen, und sie gab mir eine Ohrfeige. Dein bester Freund L. Billis.‹ Das zweite Ereignis geschah am 7. Juni. Sie hatten an dem Nachmittag Fußball gespielt, und als sie vom Spielplatz zurückkamen, hörten sie ein lautes Geschrei. »Wir sind in Frankreich gelandet!« brüllten sie alle. Das war allerdings ein Grund zum Feiern, und der Skipper befahl, eine Sirene heulen zu lassen. »Irgendeine gottverdammte Sirene, wenn sie nur zu hören ist!« Sie nahmen die vom Feuerwehrwagen, und es klang prächtig. Dann schlug der Feldgeistliche vor, daß sie sich zu einem Gebet versammeln sollten. Der Skipper stand neben ihm auf dem Podest. »Heute abend gelten unsere Gebete«, hub der Pfarrer an, »allen tapferen Männern, die gegen den Feind kämpfen. Wo immer tapfere Männer kämpfen und fallen, nimm sie in Deinen Schutz, o Herr!« Sie sangen zwei Choräle, und der Skipper fragte, ob irgend jemand die Marseillaise singen könne. Ein ehemaliger Schullehrer konnte es, und die anderen summten -127-
die Melodie mit. Diese Begebenheiten vertieften noch Joes Kümmernisse. Wenn ein so feiner Kerl wie Luther Billis sein Leben riskieren konnte, warum mußte er, Joe, den ganzen Krieg über auf diesem Felsen hockenbleiben? Wenn Alice Bakers Bruder in Frankreich landen konnte, was hatte Joe dann auf einem Korallenriff zu suchen? Bisher hatte Joe an die Männer daheim noch nie gedacht, aber am Abend des 7. Juni 1944 dachte er sehr viel an sie. Einige fielen in Frankreich. Andere, wie Luther Billis, kämpften gegen die Japaner. Einige Männer, wie dieser Landwirt, verloren alles und brachten sich selber um. Und solche Männer wie die Schnapsbrenner bekamen auf dem Felsen den Inselkoller. Wieder andere arbeiteten in Flugzeugfabriken oder sorgten dafür, daß in der Heimat alles klappte. Und einige Männer taten überhaupt nichts. Doch bevor seine Gedanken mit ihm durchgingen, hielt Joe inne. ›Auf dem Felsen ist es genau dasselbe‹, grübelte er. ›Wie wenig haben doch die einen, und wie viel habe ich! Alice Baker, einen elektrischen Ventilator, ab und zu einen Schluck aus der Whiskyflasche des Skippers und einen besten Freund, der eine Heldentat vollbracht hat!‹ Die Gedanken an den Tod herrschten jedoch in ihm vor. Eines Nachts fuhr er mit einem Ruck im Bett hoch. Er schwitzte am ganzen Körper. Grauenhafte Angstträume quälten ihn. Luther Billis war tot! Auf einer Insel, auf der es von den Japsen nur so wimmelte, lag Luther Billis neben dem Stamm einer Kokospalme. Joe wischte sich den Schweiß vom Gesicht und versuchte, wieder zu schlafen. Aber die ganze Nacht sah er in der heißen Baracke Luther Billis und den Baumstamm vor sich. Er beruhigte sich erst wieder, als er einen kurzen Brief von Billis bekam. Es gehe ihm großartig, und er bringe jetzt Professor Weinstein ›Bechle-Mer‹, dieses Kauderwelsch der Eingeborenen, bei, damit der Professor jetzt mit einem halben Dutzend Sprachen glänzen könne! Seine Angst um Luther bestärkte ihn aber in einem Entschluß. -128-
Er wollte, daß Alice und Luther für alle Fälle ein Bild von ihm hatten. Er wollte sich jetzt doch knipsen lassen. Das war auf dem Felsen ein großes Unternehmen. Zunächst einmal mußte man jemanden finden, der gestohlene Filme und das richtige Papier für die Abzüge hatte. Dann mußte die Aufnahme so heimlich gemacht werden, daß niemand davon Wind bekam. Und schließlich mußte man die Bilder durch die Zensur schmuggeln. Also machte sich Joe, der mit keinem Menschen Unannehmlichkeiten haben wollte, auf die Suche nach einem Schwarzhandelphotographen. Er fand dann auch einen am anderen Ende der Insel. Es war ein schmächtiges Männchen mit abfallenden Schultern. Woher er sein Material bekam, wußte niemand. Alle wußten nur, daß er ein paar dicke Eisen im Feuer hatte. »Es kostet zehn Dollar«, knurrte der Photograph. »Dafür kriegst du zwei Abzüge und das Negativ.« Joe stieß einen Pfiff aus. »Es zwingt dich keiner dazu, Kumpel«, fuhr ihn der Photograph an. »Schließlich bin ich derjenige, der etwas dabei riskiert. Du hast ja gesehen, was die Schnapsbrenner gekriegt haben. Der Preis ist zehn Dollar!« Joe zog seine Brieftasche heraus und gab dem Mann zwei Fünfer. Es war ein Haufen Geld, aber wenn dein Mädchen in Corvallis war, dich noch nie gesehen hatte und kein anderes Bild von dir besaß als das mickrige, das dein Onkel ihr geschickt hatte - wie konntest du da diese zehn Dollar besser anlegen? Der Photograph stellte seine billige Boxkamera ein. »Sieh nicht so steif aus!« sagte er zu Joe, aber Joe war kein Dummkopf. Wenn er schon zehn Dollar für ein Bild ausgab, wollte er sich auch von seiner besten Seite zeigen. Also stellte er sich in Positur, als hätte er einen Stock verschluckt, strich sich das Haar glatt aus der Stirn und starrte den teuren, weibischen Knaben finster an. Der Photograph zuckte die Achseln und knipste. »Komm in drei Tagen wieder. Und vergiß nicht, du bekommst zwei Abzüge und das Negativ. Ich will keine -129-
Scherereien haben. Ich bin derjenige, der dabei was riskiert.« Drei Tage später bekam Joe seine beiden Bilder. Sie waren recht ordentlich geworden. Seine Uniform und sein vorgestrecktes Kinn stachen einem am meisten in die Augen. Aber er sah doch wie ein anständiger sauberer Seemann aus. Genau wie die achthundert anderen Jungens auf dem Felsen. Nur, daß die anderen nic ht mehr so selbstsicher aussahen, wenn sie schon so lange auf dem Felsen gehockt hatten wie Joe. Er grinste die Bilder zufrieden an, und auf dem langen Rückweg ins Lager warf er immer wieder einen verstohlenen Blick auf sein Konterfei. Als er im Lager ankam, wurde er dort vom Feldgeistlichen erwartet. Der Pfarrer war Katholik, und Joe war Methodist, aber sie waren gute Freunde. Der Geistliche hatte ihm nur wenig zu sagen. Alice Baker war tot. Ein Autounfall. Ihre Schwester hatte an Joes Einheit geschrieben. Der Pater hatte nie etwas von Alice Baker gehört. Er wußte nur, daß ein Mensch gestorben war, der einem anderen Menschen etwas oder auch viel bedeutet hatte. Keine Nachricht vermochte das so genau auszudrücken. Er suchte nach Worten, die sich bei solchen Unglücksfällen nie einstellen wollten. Es war ein sehr heißer Tag. Der Schweiß lief Joe über das Gesicht, bis es fast so aussah, als weine er. »Brave Menschen sterben in der ganzen Welt«, sagte der Geistliche, »und brave Menschen werden wieder geboren.« Es gab nichts mehr zu sagen. Joe blieb noch ein paar Minuten sitzen und starrte den Pfarrer an, und dann ging er. Er trat in den strahlenden Sonnenschein hinaus. Von der Rollbahn leuchtete es ganz hell herüber. Joe blickte auf die Wellen, deren Schönheit Lut her Billis entdeckt hatte. Leise, in überwältigender Eintönigkeit, rauschten sie auf den Felsen zu. Joe zählte sie. Eins, zwei, drei! Für ihn waren sie die Monate, die er hier auf dem Felsen verbracht hatte. Vierzehn, fünfzehn, sechzehn. In dem Monat hatte er Luther Billis kennengelernt. -130-
Siebzehn, achtzehn. Da hatte der Landwirt Selbstmord begangen. Neunzehn, zwanzig, einundzwanzig. Alice Baker war sein Mädchen geworden. Fünfundzwanzig, sechsundzwanzig, siebenundzwanzig. Die Wellen waren sich alle gleich, eine wie die andere, genau wie diese trübseligen Monate. Joe legte die Hände vors Gesicht. Ein Mädchen, das er nie gesehen hatte! Eine komische kleine Stadt, in der er nie gewesen war! »Ich will hier weg«, flüsterte er vor sich hin. »Ich will hier weg!«
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Leidenschaft Dr. Paul Benoway erholte sich schließlich von dem Sonnenbrand, den er sich während der Tage im Schlauchboot zugezogen hatte. Als er wieder zu seiner Einheit zurückkam, versuchte er seiner Frau einen langen Brief zu schreiben. Er wollte ihr von den qualvollen Stunden des Wartens im Schlauchboot erzählen, seinen gestammelten Gebeten und diesem Gemisch von Freude und Verzweiflung, mit dem er jeden Morgen die blutrote Sonne aufs neue aufgehen sah. ›Als ich am vierten Tage wieder die Sonne erblickte‹, fing er eine neue Seite an, ›war mir zumute wie einem aztekischen Menschenopfer, das am Ende des fünften Jahres darauf wartet, ob die Sonne wieder aufgehen wird oder nicht. Wie der Azteke wußte ich, daß die Welt, wenn die Sonne wieder aufgehen würde, noch einmal gerettet und noch Hoffnung war. Aber wie er wußte ich auch, daß mit dem Aufsteigen der flammenden Kugel am Horizont meine persönliche Qual von neuem begann.‹ Benoway hielt inne und überlas das Geschriebene. Die Worte klangen unecht und beleidigten sein Ohr. Es waren nicht seine eigenen Worte. In all den Jahren seiner Ehe hatte er nie so zu seiner Frau gesprochen, nicht einmal in den Wochen seiner Werbung. Er zerriß das Blatt. ›Gewissen Menschen‹, grübelte er, ›ist es einfach nicht gegeben, so zu schreiben oder zu reden.‹ Und eine hartnäckige Befürchtung wurde in ihm laut, ein Gedanke, der ihn schon seit mehreren Jahren verfolgte. ›Fehlt es mir an Leidenschaft?‹ fragte er sich. ›Bin ich unfähig, ebenso stark zu lieben wie...‹ Die Worte wollten nicht kommen. Verlegen suchte er nach ihnen, als scheue er sich, sie auszusprechen, auch vor sich selbst. Dann beendete er, leicht errötend, den Satz: ›...wie die großen Liebenden?‹ -132-
Widerstrebend kam Dr. Benoway zu dem Schluß, daß er die große Leidenschaft, deren heißer Atem die Romane und Dramen des heutigen Amerika durchweht, nie erfahren habe. Er hatte Nancy, seine Frau, vor zwölf Jahren kennengelernt. Sie war sehr schön und mit seinem älteren Bruder verlobt. Doch Paul, der gerade erst seine Assistentenzeit im Krankenhaus beendet hatte, umwarb die Braut seines Bruders und heiratete sie. Manche Nacht hatte Paul sich schlaflos in seinem Bett herumgewälzt, weil Robert so tief verletzt zu sein schien und doch nichts getan hatte, um diesen Diebstahl zu verhindern. Man sollte eigentlich meinen, daß ein Mann, der seinem Bruder die Braut gestohlen hatte, überdies zu einer Zeit, als er noch keine eigene Praxis besaß sich in der Leidenschaft etwas auskennen müsse. Das war aber nicht der Fall. Nancy war einfach ein reizendes und begehrenswertes Mädchen und hatte diese Eigenschaften auch als Frau bewahrt. Aber die atemberaubende, glühende Liebe, die einem solchen Unterfangen, wie dem eigenen Bruder die Braut auszuspannen, eigentlich vorausgehen und folgen sollte, war nicht Paul Benoways Sache. Es widerstrebte ihm, zuzugeben, daß bei ihm oder seiner Frau irgend etwas nicht stimme. Er neigte nicht zur Selbstbetrachtung, aber die Befürchtung, die in ihm aufstieg, während er vergeblich versuchte, eine leidenschaftliche Beteuerung seiner Liebe zu Papier zu bringen, ja, diese Befürchtung veranlaßte sogar einen Mann wie Paul Benoway, über sein Sexualleben nachzudenken. Er stellte jedoch nur sachlich fest, daß er normal sei. Das war alles, und er bat sich sozusagen selbst um Verzeihung, dieses Thema überhaupt zur Sprache gebracht zu haben. ›Ich weiß nicht, woran es liegt‹, sagte er zu sich. Er saß in seiner Wellblechhütte und blickte auf den Pazifik hinaus. Es war noch früh am Abend, aber er knipste bereits das Licht an. Es hatte doch keinen Zweck mehr, noch irgend etwas zu tun. Er -133-
würde den Brief morgen fertig schreiben. Er hatte ihn ja schon fast beendet, und notfalls konnte er ihn auch so abschicken. Er hatte wenigstens mitgeteilt, daß er noch lebte und keine ernstlichen Verletzungen davongetragen hatte. ›Nancy ist ein entzückendes Geschöpf‹, dachte er da im Dunkeln, während die Wellen in einer endlosen Symphonie gegen die Korallenriffe anbrandeten. ›Sie ist eine so gute Frau, wie ein Mann sie sich nur wünschen kann. Sie ist schön. Sie liebt ihre Kinder. Sie ist eine Zierde des Hauses. Sie sprüht zwar nicht gerade vor Geist, aber sie ist auch nicht dumm...‹ Er schlug sich auf das Knie. »Hol's der Teufel!« murmelte er. »Woher nehme ich mir eigentlich das Recht, meine eigene Frau zu analysieren? Wenn nicht dieser elende Krieg...« Das war es. Wenn dieser verfluchte elende Krieg nicht dazwischengekommen wäre, hätten Millionen Menschen wie Paul ihre Zweifel verbergen oder ersticken können. Dann hätten sie es noch nicht nötig gehabt, sich einzugestehen, daß ihre Liebesfähigkeit erloschen war. »Aber die meine ist noch gar nicht erloschen!« rief Paul laut sich selber zu. Sie ist nur...« Er erhob sich von seinem Stuhl. »Wie bin ich denn überhaupt in diese Stimmung gekommen? Was, zum Teufel, haben Liebe und Leidenschaft mit dem Leben auf diesem Felsen zu tun?« Er wurde in seinem Grübeln durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen. »Darf ich hereinkommen?« fragte eine muntere Stimme. Paul spähte in die Dunkelheit zu dem ruhelosen Ozean hinaus. »Oh! Komm nur herein!« rief er. Es war Leutnant Harbison. »Danke, Paul. Ein wunderschöner Abend heute, nicht wahr?« »Ja, eine echt tropische Nacht. Diese Palmen mit dem Mond im Hintergrund sehen genauso aus wie eine kitschige Ansichtskarte, was?« Harbison trug die Jacke und die Baseballmütze eines Fliegers -134-
und dazu ein Paar teure Mokassins. Er war noch immer sehr braun von den Tagen im Schlauchboot. »Ich hoffte, daß du nicht ins Kino gegangen seist«, sagte er. »Ich habe nämlich ein Anliegen an dich.« »Was kann ich für dich tun, Bill?« fragte Benoway. Er war Harbison gern behilflich. Jeder tat Harbison gern einen Gefallen. »Ja, Paul, es handelt sich um folgendes«, sagte der schlanke junge Mann, während er sich anmutig in einem Sessel räkelte und seine gut eingefetteten Mokassins gegen die Wand stemmte. »Der Chefzensor hat mir da eine verdammt harte Nuß zu knacken gegeben.« Er warf einen Brief auf Benoways Tisch. Es war ein sehr dicker Brief, der noch nicht zugeklebt und auch noch nicht mit dem Zensurstempel versehen war. »Was habe ich denn damit zu tun?« fragte Dr. Paul Benoway. »Es handelt sich nicht um das übliche Zensieren, Paul«, erwiderte Harbison etwas verlegen. »Es ist ein viel schwierigeres Problem. Und«, sagte er in dem leisen vertraulichen Ton, der sogar die Mannschaften dazu brachte, sich für ihn ganz besonders anzustrengen, »du bist wahrscheinlich der einzige unter den Offizieren, der uns hier einen Rat geben kann.« »Sehr schmeichelhaft, Bill. Also setz mir den Fall mal auseinander«, und der Doktor nahm die berufliche Haltung an, die er bis an sein Lebensende beibehalten sollte. Er war jetzt wieder ganz der Arzt in der Sprechstunde. »Da gibt es nichts zu erklären«, sagte sein Besucher. »Das steht alles hier drin«, und Harbison deutete auf den Brief. »Soll ich den lesen?« »Ja, bitte. Aber es wär mir lieber, du liest ihn, wenn ich nicht dabei bin. Also, wenn's dir nichts ausmacht?« Und Bill erhob sich, hüstelte etwas verlegen und lächelte. »Lies ihn und sag mir, ob wir gegen die Jugend irgend etwas unternehmen sollen.« -135-
Harbison verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Von dem schmalen Weg, der zum Strand hinunterführte, rief er dem Arzt noch zu: »Ich gehe hier ein bißchen spazieren und bin ungefähr in einer halben Stunde wieder da. Inzwischen wirst du dir ja ein Urteil gebildet haben.« Dr. Benoway nahm den Brief in die Hand und entdeckte, daß noch ein zweiter Brief darunter lag. Er rannte zur Tür. »Bill!« rief er. »Du hast zwei Briefe dagelassen!« Er hörte draußen im Dunkeln eilige Schritte, und da steckte Harbison schon wieder den Kopf zur Tür herein und warf einen Blick auf den zweiten Brief. »Natürlich«, sagte er in unbekümmertem Ton. »Das ist mein eigener Brief. Ich habe ihn dir gebracht, damit du ihn heute noch abzeichnest und stempelst. Ich möchte gern, daß er morgen mit dem ersten Boot weggeht und das Flugzeug erreicht.« Er lächelte dem Doktor zu. »Geht in Ordnung«, versicherte Paul dem Freund. Harbison ging wieder fort, und Benoway griff erneut nach dem dicken Brief. Der Umschlag war schmutzig und in einer ungelenken Handschrift adressiert. Der Absender hieß augenscheinlich Timothy Hewitt, ein Maschinengefreiter von Benoways Truppenteil. Komisch, den Namen hatte er noch nie gehört. Es mußte ein neuer Mann sein. Wie fast jeder Brief, den Dr. Paul Benoway zu sehen bekam, war es ein Luftpostbrief. Die gewöhnliche Feldpost hatte sich hier im Pazifik nicht eingebürgert. Der Brief war offenbar an Hewitts Frau oder an seine Mutter gerichtet, denn die Aufschrift lautete: ›Mrs. Timothy Hewitt, 3127 Boulware Boulevard, El Paso, Texas.‹ Dr. Benoway öffnete den Umschlag und zog die Bogen heraus, sechs dünne, doppelseitig beschriebene Bogen. Hewitts Handschrift war groß und deutlich. ›Mein Augenstern, mein Alles, meine heißgeliebte Bingo!!!‹ begann der Brief. Dr. -136-
Benoway räusperte sich. »Wenn das keine Leidenschaft ist!« murmelte er. Aber er sagte das ohne jeden Spott und fand es nicht lächerlich. ›Das klingt nach echter Leidenschaft‹, dachte er. ›Genau das, was ich gemeint habe!‹ Dann las er weiter: ›Meine Süße Du mein ge liebter Herzensschatz Du wie Du mir fehlst und wie ich mich danach sehne daß Du jetzt hier bei mir wärst in diesem kleinen und dunklen Zelt was für einen Spaß würden wir haben und wie wollte ich Dich küssen wie Du noch nie geküßt worden bist die ganze Nacht würden wir uns küssen und alles andere wenn Du weißt was ich meine und ich wette Du weißt es (ha ha) und am Morgen würden wir vergnügt aufwachen und alles wäre herrlich nicht wahr mein einziger Liebling mein angebetetes Weib wenn ich hier morgens aufstehe habe ich nur ein leeres Gefühl in meinem Herzen und das geht den ganzen Tag nich weg auch nich wenn ich den scheußlichen Fraß esse den es hier gibt und was sie Essen für einen Frontkämpfer nennen mir geht es noch immer so wie damals als ich Dich in Louisville zum erstenmal gesehen hab an jenem wundervollen Tag vor vier Jahren ich kann Dich so deutlich vor mir sehen als wärst Du hier bei mir und das bist Du auch immer und immer bis in alle Ewigkeit direkt hier in meinen Armen und wenn ich je denken müßte ein neuer Tag würde anbrechen ohne Dich für immer bei mir zu haben würde ich sterben. Im Augenblick sitze ich in meinem Zelt und denke wie gewöhnlich an Dich ich habe meine kurzen Hosen an und weil mir vorhin die Haare geschnitten sind liegen überall Stoppeln von meinem Haar auf meiner Hose was sehr komisch aussieht kann ich Dir sagen ich weiß Du würdest darüber lachen wärst Du hier aber heute abend bin ich dort bei Dir mein angebeteter Liebling wo Du doch alles Gute und Schöne für mich bist was es auf der Welt geben kann ich bin ganz nahe bei Dir und es ist bald Schlafenszeit Du sagst, komm schon Tim laß uns zu Bett gehen wir müssen morgen früh aufstehen und ich lache wie immer und sage ich weiß warum Du zu Bett gehen willst und Du lachst und -137-
sagst, rede nich so Tim und ich kriege Dich zu packen und zieh Dich auf die Kautsch und fang an Dir die Strümpfe auszuziehn und Du quietschst und windest Dich und sagst mach das Licht aus Tim was werden die Nachbarn denken und ich zieh Dich ganz aus und Du hast das Licht ausgeknipst und wir sind ganz allein da im Dunkeln aber ich kann Dich genau sehen denn aus der Küche von den Abrahams kommt etwas Licht und da liegst Du...‹ Dr. Benoway stand der Schweiß auf der Stirn. Der junge Hewitt fuhr in seinem Brief damit fort, die intimen Reize seiner Frau zu schildern, ihre verschiedenen Reaktionen, die Art, wie sie sich ihm hingab, und auch seine eigenen Empfindungen während des Liebesaktes. Dr. Benoway hatte in seinem ganzen Leben noch keinen solchen Brief gelesen. »Das ist ein absolut klinischer Fall, verflucht noch mal!« murmelte er vor sich hin und warf noch einen Blick auf die letzte Seite des Briefes, der in einer wahren Orgie von Bildern und Worten endete. »Kein Wunder, daß die von der Zensur da ratlos sind! Ich weiß selbst nicht, was man da tun soll.« Er faltete die Bögen sorgfältig zusammen und steckte sie wieder in den Umschlag. Er schlug sich gerade mit dem Brief auf die linke Hand, als Harbison wieder erschien. »Darf ich hereinkommen?« erklang die muntere Stimme des Leutnants aus dem Dunkeln. »Bin froh, daß du wieder da bist«, sagte der Doktor lachend und schenkte Harbison und sich einen Whisky ein. »Nach dem Ton deiner Stimme zu urteilen, hast du den Brief inzwischen gelesen«, bemerkte Harbison. »Ja, das war ein starkes Stück«, sagte Benoway und warf seinem Gast den Brief zu. »Belaste mich nicht damit, Paul!« Harbison lachte. »Du bist der Arzt!« »Ich weiß auch nicht, was ich von diesem Brief halten soll«, -138-
entgegnete Benoway. »Ich bin kein Psychologe.« »Gewiß, Paul, aber das Problem ist dir doch klar«, versuchte Harbison ihn zu überreden. »Müssen wir nicht befürchten, daß so ein rabiater Kerl mit solchen Äußerungen bei anderen Leuten Anstoß erregt und, wie es so schön heißt, das Ansehen der Marine schädigt? Besteht bei einem solchen Burschen nicht die Gefahr, daß er, wenn er mal einen über den Durst trinkt, alle Hemmungen verliert und er dann nicht nur elend verprügelt wird, sondern so schwere Anklagen gegen ihn vorgebracht werden, daß wir die größten Unannehmlichkeiten mit ihm haben?« »Das kann ich dir nicht sagen, Bill. Da verlangst du zuviel von mir. Schließlich schreibt fast jeder Mann in seinem Leben mal einen solchen Brief. Aber die meisten Mädchen sind doch wohl so vernünftig, ihn sofort zu zerreißen und mit dem Absender kein Wort mehr zu reden. Solche Briefe sind Auswüchse...« »Du verstehst noch nicht, Paul«, unterbrach ihn Harbison. »Hewitt schreibt jede Woche zwei oder drei solcher Briefe; manchmal sogar fünf. Und immer dasselbe!« Dr. Benoway vergaß für einen Augenb lick seine ärztliche Würde und stieß einen leisen Pfiff aus. »Wie bringt er bloß die Energie dazu auf? Mein Gott, was für ein Mensch ist denn das?« »Das haben wir uns auch schon gefragt. Jeder Zensor, der zum erstenmal einen Brief von ihm in die Finger bekommt, rennt damit sofort zum Chef, und der weiß dann schon immer, daß er einen neuen Zensor vor sich hat.« »Wer ist dieser Hewitt? Warum höre ich erst heute davon?« »Ein neuer Mann. Er kam her, während wir im Schlauchboot unsere Sonnenbäder genommen haben, und in der Prüfstelle haben sie gewartet, bis ich mich etwas erholt hatte, bevor sie mir mit dem Angeber kamen. Und ich wollte dich nicht damit belästigen, solange du noch nicht wieder im Dienst warst. Ich -139-
glaube, wir sollten uns hier nicht länger mit diesem Knaben abgeben. Ich halte ihn für sanatoriumsreif.« »Ich würde mir den Burschen gern mal ansehen, Bill«, schlug Dr. Benoway vor. »Heute abend noch?« fragte Harbison. »Ja, am besten gleich. Willst du ihn herzitieren?« Dr. Benoway mochte jetzt noch nicht zu Bett gehen. »Soll ich ihn hierher bringen oder in dein Dienstzimmer?« »Bring ihn nur hierher.« Daheim behandelte Paul Benoway seine vertracktesten Fälle häufig zu Hause. Das gab den Patienten gleich am Anfang das Gefühl, daß der Doktor ein persönliches Interesse an ihnen nahm. Nancy hatte nie etwas dagegen, und zuweilen fragte Paul eine Patientin, die an einer besonders hartnäckigen Neurose litt: ›Wäre es nicht ein guter Gedanke, wenn meine Frau uns ein Weilchen Gesellschaft leistete? Sie kennen doch Mrs. Benoway, nicht wahr?‹ Und in neun von zehn Fällen erklärte sich die Patientin mit dieser ungewöhnlichen Behandlungsmethode einverstanden, denn alle kannten Mrs. Benoway. Und da stand nun der Maschinengefreite Timothy Hewitt, und in dem Aktendeckel auf Dr. Benoways Schreibtisch lagen seine Personalpapiere. »Soll ich später noch einmal vorbeikommen?« fragte Harbison liebenswürdig in einem Ton, dem man zugleich seine Bereitwilligkeit, zu gehen als auch noch dazubleiben, entnehmen konnte. »Ja, Leutnant Harbison«, erwiderte Paul offiziell. »Wir sprechen uns dann noch.« »Wenn der Doktor Sie nicht mehr braucht, können Sie wieder auf Ihre Stube gehen, Hewitt«, sagte Harbison zu dem verblüfften Mariner. »Gute Nacht!« Sein freundliches Lächeln beruhigte den jungen Mann. »Setzen Sie sich, Hewitt«, sagte der Doktor. »Entschuldigen -140-
Sie mich einen Augenblick, ich möchte dies nur rasch durchsehen.« Hewitt, ein schlanker Bursche von zweiundzwanzig Jahren, saß steif auf seinem Stuhl. Als der Doktor in den Papieren zu lesen begann, sprang er auf. »Was hat das alles zu bedeuten, Sir? Habe ich irgend etwas verbrochen?« »Hewitt!« »Ja, Sir!« »Setzen Sie sich!« »Ja, Sir!« »Bis jetzt haben Sie noch nichts auf dem Kerbholz.« Der junge Mann atmete auf und saß jetzt etwas ungezwungener da, machte jedoch ein völlig verdutztes Gesicht. Dr. Benoway beschäftigte sich mit den Papieren. ›Timothy Hewitt. Kein weiterer Vorname. Geboren 1921. Irische Eltern. Katholisch. Aus Louisville, Kentucky. Im Zivilberuf Bäcker. Keine Kinder. Stammlager Great Lakes. Wollte nicht als Armeebäcker ausgebildet werden. Erstes Kommando San Diego. Keine Verfehlungen im Dienst. Zähne in Ordnung. Augen normal. Keine Narben. Nach seiner Angabe nie geschlechtskrank gewesen. Gewicht 142. Größe 1,68. Ergebnis der Intelligenzprüfung durchschnittlich. Keine weiteren Besonderheiten.‹ Dr. Benoway dachte einen Augenblick nach. »Durchschnitt. Durchschnitt«, murmelte er vor sich hin. »Und was heißt das eigentlich - Durchschnitt?« »Hewitt!« sagte er scharf. Der junge Mann erhob sich. »Sie können sitzenbleiben.« »Danke, Sir.« »Das ist also die Verpackung, in der so viel Leidenschaft steckt«, sagte Dr. Benoway halblaut. »Wie bitte, Sir?« fragte der Mariner. »Nichts, Hewitt. Ich überlegte nur etwas.« Kapitänleutnant -141-
Benoway musterte den Mann mit militärischem Blick. Hewitt, der wohl etwas zugenommen hatte und seine Uniform mit echt irischer Unbekümmertheit trug, sah mit seinem sauberen Haarschnitt wie der gute Durchschnittstyp eines amerikanischen Seemanns aus. Er hatte einen klaren offenen Blick, und sein Gesicht verriet auch sonst nicht, daß er irgendwelchen Mißbrauch mit sich trieb. Falls der Mann ein Psychopath war, konnte man es ihm jedenfalls nicht anmerken. »Es handelt sich um diesen Brief«, sagte Dr. Benoway plötzlich. »Genaugenommen, um alle Ihre Briefe.« Dabei schob er dem Gefreiten den offenen, unzensierten Brief hin. Hewitt griff danach. »Aber das ist doch mein Brief«, protestierte er. »Das weiß ich, Hewitt, darum geht es ja gerade.« »Was ist denn Unrechtes daran? Es ist ein Brief an meine Frau, und ich habe nichts von Schiffen oder sonstwas darin geschrieben.« »Das hat ja auch keiner behauptet, Hewitt.« Der Mariner atmete erleichtert auf und drehte den Brief zwischen den Händen. Dr. Benoway blätterte in den Papieren. Ja, da stand es: ›Acht Jahre Volksschule in Louisville, Kentucky.‹ »Hewitt«, begann er. Der Mann beugte sich vor, ein junger, fast schmächtiger Bursche, der sich verdutzt fragte, was nun wohl kommen würde. »Hewitt«, sagte der Doktor wieder. »Können Sie an diesem Brief wirklich nichts Unrechtes finden?« Hewitt öffnete den Brief und überflog hastig jede einzelne Seite. »Nein, Sir«, sagte er. »Ich hab doch von nichts was geschrieben.« Dr. Benoway lehnte sich in seinem Sessel zurück und holte tief Luft. Die Sache fing an, ihn zu irritieren. »Schauen Sie sich -142-
mal den sechsten Bogen an, die letzte Seite, Hewitt, wenn ich nicht irre.« Er wartete, bis der Mariner die Seiten durchgeblättert hatte. »Finden Sie daran gar nichts Merkwürdiges? Ich meine, halten Sie das für einen üblichen Brief?« »O nein, Sir!« erwiderte Hewitt unbefangen. »Es ist ein Brief an meine Frau.« »Das ist mir klar, Hewitt, aber...« Dr. Benoway hüstelte. Der Gefreite wartete. »Die Sprache, Hewitt! Erscheint Ihnen die nicht etwas ungewöhnlich?« Hewitt überlas die Seite und wurde etwas rot. »Nun ja, Sir, aber es ist ja ein Brief an meine Frau. Das ist doch wohl ein kleiner Unterschied, etwas ganz Spezielles, könnte man sagen.« Dr. Benoway starrte den erstaunlichen Maschinengefreiten an. Hielt der Junge ihn zum Narren? War das Ganze ein schlechter Witz, den man sich mit ihm erlaubte? Hatte Harbison das etwa in Szene gesetzt? Nein, dieser Gedanke war zu absurd und unfreundschaftlich. Er beschloß, bei Gott, dieser Sache auf den Grund zu gehen. »Hewitt«, bega nn er wieder. Die offensichtliche Verständnislosigkeit, die sich im Gesicht des jungen Mannes widerspiegelte, ging ihm auf die Nerven, aber er ließ nicht locker. »Sie müssen sich doch darüber im klaren sein, daß die Worte, die Sie da gebrauchen, und die Dinge, über die Sie sprechen, nun...« »Aber es ist doch ein Brief an meine Frau, Sir. Deshalb haben wir uns doch geheiratet. Deshalb heiraten Menschen doch. Damit sie jemand haben, mit dem sie über alles sprechen können.« »Was sagt denn Ihre Frau zu diesen Briefen, Hewitt?« platzte Benoway heraus. »Bingo? Sie hat noch nie was dazu gesagt. Nicht, daß ich wüßte.« -143-
»Und ihre Briefe an Sie? Schreibt sie Ihnen... auch so?« Dr. Benoway zeigte auf Hewitts Brief, der nun wieder auf dem Tisch lag. Hewitt lächelte. »Nic ht genauso«, sagte er zärtlich. »Ich habe einen bei mir«, fügte er impulsiv hinzu, und bevor Dr. Benoway ihn daran hindern konnte, zog der Mariner eine verschwitzte Brieftasche heraus und entnahm ihr einen Brief mit dem Poststempel Louisville. »Sie können ihn gern lesen, wenn Sie wollen«, sagte der junge Mann etwas verlegen. »Sie sind ja schließlich 'n Doktor.« Paul freute sich über das indirekte Kompliment. Er faltete die Bogen auseinander und überflog die ersten Zeilen. Dann wandte er sich gleich der letzten Seite zu. Er las nur ein paar Sätze - der Brief war in einer zierlichen klaren Handschrift und in einem leidlich guten Englisch geschrieben -, errötete, als sei man ihm persönlich zu nahegetreten, und gab den Brief zurück. Hewitt nahm ihn und schob ihn behutsam wieder in seine abgenutzte Brieftasche. »Schreiben Sie und Ihre Frau sich immer so?« »Ja, das tun wir wohl, Sir.« Benoway knirschte mit den Zähnen und verwünschte sich selbst: ›Geschieht dir ganz recht, mein Junge. Du hast es ja herausgefordert, und da hast du es nun...‹ »Hewitt«, sagte er dann. »Ich weiß zwar nicht, ob Sie mich auf den Arm nehmen wollen, oder...« »O nein, Sir!« »... aber vielleicht kann ich Ihnen einiges sagen, was Ihnen ein Licht aufstecken wird. Zunächst einmal können Sie wegen eines solchen Briefes verhaftet und ins Gefängnis gesperrt werden. Unterbrechen Sie mich nicht! Bleiben Sie sitzen! Ein Gentleman würde niemals einen solchen Brief schreiben, geschweige denn eine Dame so einen wie den Ihrer Frau. Das tut man einfach nicht. Ich sollte meinen, Sie hätten mehr -144-
Achtung voreinander. Wenn Sie so in Ihrem eigenen Schlafzimmer miteinander reden, ist das Ihre Sache. Aber wenn Sie diesen oder irgendeinen Ihrer Briefe Ihren Kameraden zeigen, können Sie vors Kriegsgericht kommen. Sind Sie nun wirklich so dumm, oder tun Sie nur so?« herrschte Kapitänleutnant Benoway den Maschinisten an. »Aber, Sir«, entgegnete Hewitt, »sie ist doch meine Frau. Ich bin mit ihr verheiratet. Das ist doch nicht irgendein Brief, sondern ein Brief an meine Frau.« »Verdammt noch mal, Hewitt, soll das ein Witz sein?« »Aber nein, Sir! Ich verstehe bloß nicht, was Sie sagen wollen.« Hewitt machte durchaus nicht den Eindruck eines Mannes, der in seiner Würde gekränkt ist und die Rolle der beleidigten Unschuld spielt. Er war offensichtlich verblüfft über diesen Ausbruch des Arztes. Dr. Benoway schüttelte den Kopf. Vielleicht sagte der Junge wirklich die Wahrheit. Die Briefe waren ja immerhin da. Der Arzt versuchte es wieder: »Nun sagen Sie mir mal, Hewitt, warum schreiben Sie solche Briefe?« »Es ist doch nur ein Brief an Bingo, Doktor.“ »Haben Sie sich denn schon immer solche Briefe geschrieben?« »Nein, das nicht, Sir. Verstehen Sie, Bingo, so nenne ich sie, und ich waren nämlich einen Abend in so 'nem Klub, wo nur Bingo gespielt wird, und da haben wir beide zu gleicher Zeit ›Bingo‹ geschrien und uns einen Preis von fünfundzwanzig Dollar geteilt. So haben wir uns kennengelernt. Ja, und anfangs, Sir, war Bingo schrecklich zimperlich. Sie wohnte bei drei Schwestern, alten Tanten von ihr, die sie erzogen haben. Sie wollte mich sie nicht mal küssen lassen, und als wir dann heirateten... Na, Sie sind ja schließlich 'n Doktor, aber es ist schwer zu sagen. Also, Bingo weigerte sich immer wieder, mit -145-
mir zu schlafen, wenn Sie verstehen, was ich meine, und wenn Sie den Ausdruck entschuldigen wollen, die Sache ging mir höllisch an die Nieren, Sir. Da hab ich mich denn eines Nachts hingesetzt und ihr gesagt, warum ich geheiratet habe und weshalb sie geheiratet hat, und von da an war alles anders, kann ich Ihnen sagen, da haben wir uns erst richtig geliebt; es war wie eine andere Welt, und über ihre alten Weiber haben wir uns nur noch lustig gemacht. Doch als ich dann in den Krieg ging, war alles zu Ende, und ich wußte nicht, wie ich ihr davon schreiben sollte, und unsere Briefe waren beinahe wieder so zimperlich wie diese alten Tanten. Aber wie ich ihr dann einen Abend schrieb, mußte ich daran denken, was für Spaß wir zusammen hatten, besonders mittwochs, und das war auch gerade ein Mittwoch, und da habe ich ihr eben ziemlich genau geschrieben, was ich fühlte, und hab mich einfach, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen wollen, den Teufel darum geschert, wenn Sie das verstehen können, Sir.« Dr. Benoway griff nach Hewitts Brief, klebte ihn zu, schrieb seine Initialen darauf und stempelte ihn mit seinem kleinen runden Zensurpetschaft. »Ich will Ihnen was sagen, Hewitt«, erwiderte er dann. »Von jetzt ab geben Sie alle Ihre Briefe hier bei mir auf, einverstanden? Ich verlasse mich darauf, daß Sie keine militärischen Geheimnisse mitteilen werden. Das heißt, überhaupt keine Informationen.« »Oh, Sir, das würde ich nie tun. Nein, Sir.« »Ich vertraue Ihnen, Hewitt. Aber um sicher zu gehen, werde ich vielleicht dann und wann eine Stichprobe machen.« Es entstand ein längeres Schweigen. »Sie können jetzt gehen, Hewitt.« »Jawohl, Sir. Aber...?« »Ja?« »Sie haben gesagt, meine Frau könnte verhaftet...« -146-
»Nur, wenn Sie ihre Briefe irgend jemand anderem zeigen.« »Das würde ich nie tun. Sie sind doch von meiner Frau.« »Na, dann ist's ja gut. Also, gute Nacht, Hewitt.« Der Doktor streckte dem jungen Mann seine Hand hin. Hewitt ergriff sie, schüttelte sie herzlich und ging. »Uff!« seufzte der Doktor auf, als er sich in seinen Sessel fallen ließ. Die heimliche Be fürchtung, daß die ganze Szene ein obszöner Scherz gewesen war, den irgendein teuflisches Gehirn ersonnen hatte, quälte ihn noch immer. Andererseits aber hatte Hewitt sich wie ein Mann benommen, und zwar wie ein Mann, dem man einen solchen Brief schon zutrauen konnte. »Leidenschaft!« sagte Benoway zu sich selbst. »Weiß der Himmel! Der Herrgott teilt davon wahrhaftig sehr ungleiche Portionen an die verschiedenen Menschen aus.« Reumütig nahm er seinen eigenen unbeendeten Brief an seine Frau in die Hand und fing an, ihn zu lesen. ›Liebste Nancy:‹ begann der Brief. Der Doppelpunkt sah scheußlich aus, aber Dr. Benoway setzte in seinen Briefen immer hinter der Anrede einen Doppelpunkt. Vor langer Zeit hatte er einmal irgendwo gelesen: ›Es ist immer korrekt, in der Anrede einen Doppelpunkt zu gebrauchen. Es ist schicklich, allgemein üblich und in allen Fällen angebracht, besonders wenn man sich über die korrekte Form der Anrede im Zweifel ist.‹ Der Brief lautete: ›Ich möchte gern der erste sein, von dem Du erfährst, daß ich ein etwas aufregendes Erlebnis und sozusagen einen Unfall hatte, daß ich aber heil davongekommen bin, ohne den geringsten Schaden zu nehmen. Die Einzelheiten dieses kleinen Abenteuers darf ich Dir erst mitteilen, wenn wir uns wiedersehen werden, weil es sich um militärische Dinge handelt, die streng geheim bleiben müssen. Ich kann Dir also heute nur sehr oberflächlich darüber berichten, und es ist möglich, daß die Zensur trotzdem noch einiges streichen wird. Neulich hatte ich einen unserer üblichen Flüge über See zu -147-
machen. Den Charakter meines Auftrages wirst Du Dir wohl denken können. Wie es mitunter vorkommt, hatten wir unterwegs eine Panne und mußten auf dem Wasser notlanden. Es gelang uns jedoch ohne große Schwierigkeiten, unser Schlauchboot flottzumachen, und es dauerte nicht lange, da schwabberten wir damit herum. Bedauerlicherweise hatten wir keinen großen Vorrat an Trinkwasser und Proviant dabei. Ich war nicht der dienstälteste Offizier - das war der Flugzeugführer -, aber ich wurde mit der verantwortungsvollen Aufgabe betraut, unsere Rationen einzuteilen. Das tat ich nach meinem besten Vermögen, und obwohl die Männer sich natürlich über die Kleinigkeit der Rationen beklagten, wurde mir doch keine Ungerechtigkeit vorgeworfen. Die Marine hat bereits bekanntgegeben, daß wir seit vier Tagen vermißt wären. Einige von uns litten unter schwerem Sonnenbrand, und Fieberschauer hatten wir alle, aber wenn ich an die armen Männer denke, die zwanzig und dreißig Tage lang in einer solchen Nußschale auf dem weiten Ozean umhertrieben, muß ich mich wirklich glücklich schätzen, daß wir so bald gerettet worden sind. Am Abend des vierten Tages, nach zwölf Stunden sengend heißer Sonne ohne einen einzigen Regentropfen, erblickten wir, gerade als die Dämmerung hereinbrach, ein Schiff, das uns aber nicht sehen konnte Unser Kommandant überrechnete sogleich, auf welchem Kurs wir dem Schiff am nächsten kommen würden, und wir fingen an zu paddeln, neben dem Schlauchboot herzuschwimmen und zu beten. Das Schiff fuhr an uns vorüber, und ich glaubte schon, das Herz würde mir brechen, aber in der Dunkelheit denn es war jetzt stockfinster - sah oder roch oder hörte uns ein kleiner Hund und fing an zu bellen. Natürlich konnten wir sein Gebell nicht hören, denn hätten wir es hören können, hätten die Männer an Bord des Schiffes unsere Hilferufe ja auch gehört, aber als wir dann an Bord genommen -148-
wurden, lief er bellend auf dem Deck herum. Es war nur ein kleiner Fixköter, ähnlich wie der, den Baxters einmal hatten, aber ich dachte, das ist wirklich ein reizender Hund. Liebling, während der ganzen Zeit im Schlauchboot und dann auf dem Schiff habe ich immer an Dich gedacht, und der Gedanke, Dich vielleicht nie wiederzusehen, tat mir unsagbar weh. Einmal erlebten wir schlimme Stunden, als das Schlauchboot anfing, Wasser überzunehmen, und ich betete sehr heftig und dachte dabei immerfort an Dich. Ich möchte nicht, daß Du Dir irgendwelche Sorgen um mich machst, Nancy, denn ich bin wohlauf. Wenn ich daran denke, was andere ausgestanden haben, schäme ich mich ein bißchen, aber es erfüllt mich doch mit einem gewissen Stolz, sagen zu dürfen, daß ich mich ebenso gut gehalten habe wie die meisten von uns. Nur einmal war ich wirklich niedergeschlagen.‹ Dann folgte der Absatz mit dem Menschenopfer der Azteken, der ihm so übertrieben vorgekommen war, daß er das Blatt zerrissen hatte. Im Vergleich zu Hewitts Brief klang sein Brief etwas dürftig, und Paul war sich dessen durchaus bewußt. So hatte er zum Beispiel nichts davon geschrieben, was für ein Durcheinander in ihm herrschte, während er betete, so daß er eigentlich gar nicht zu Gott, sondern zu Nancy gebetet hatte. Auch hatte er nichts davon erwähnt, wie er am dritten Abend eine ganze Zeitlang nichts anderes mehr sah als Nancy. Sogar den Ozean hatte ihr Bild verdrängt, und einer von der Besatzung hatte ihn gefragt: ›Wohin gucken Sie denn, Doktor?‹, und er hatte erwidert: ›Aufs Meer.‹ Oder von dem schrecklichen Augenblick, als das Schiff in der Dunkelheit an ihnen vorüberfuhr, ohne sie zu sehen, und alles, woran er denken konnte, nicht seine Verlassenheit im weiten Ozean war, sondern die Tatsache, daß dieses ruhig dahingleitende Schiff Nancy glich, wenn sie ein Zimmer verließ: eine hohe, anmutige Gestalt, der alle Blicke folgten. Und ebensowenig konnte er zu Papier bringen, daß er, als er dann auf -149-
dem Schiffsdeck ihrer aller kleinen vierbeinigen Lebensretter sah, übers ganze Gesicht gelacht hatte, weil das krause Hundefell ihn so lebhaft an Nancys Haar erinnerte, wie es nachts zerzaust auf dem Kopfkissen lag. »Nein«, sagte er, »ich werde diesen Brief zerreißen und einen neuen schreiben. Es hat sich ja gar nicht so zugetragen, wie ich es da geschildert habe. Es ging alles viel tiefer. Bei Gott, es war wohl das stärkste Erlebnis das ich je in meinem Leben gehabt habe. Und das werde ich Nancy einfach erzählen - und auch, welche Rolle sie darin gespielt hat!« Er nahm einen neuen Bogen und schob dabei Bill Harbisons Brief zur Seite. Gewöhnlich zeichnete er, wie alle Offiziere, die Post seiner Freunde nur ab und verließ sich auf ihre Ehrenhaftigkeit. Aber jetzt drehte er den Brief unschlüssig in seinen Händen. Dann zog er ihn aus dem Umschlag und warf einen flüchtigen Blick auf die erste Seite. Die Anrede fiel ihm ins Auge. ›Meine einzige geliebte Lenore‹, las er. Automatisch drehte er, wie alle Briefprüfer das zu tun pflegen, den Umschlag um und sah nach, ob der Brief an Harbisons Frau gerichtet war oder an eines der vielen Mädchen, mit denen der Leutnant auch korrespondierte. Die Anschrift lautete: Mrs. Bill Harbison, 188 Loma Point, Albuquerque, New Mexico. Es war also ein Brief an seine Frau. Paul Benoway betrachtete versonnen die Anrede. Meine einzige geliebte Lenore! Er wünschte, er könnte Nancy auch so anreden, denn sie war seine Einzige und war seine Geliebte - so geliebt, wie er keinen anderen Menschen auf dieser Welt je lieben würde. Aber es war ihm nie in den Sinn gekommen, Nancy so anzureden, und hätte er diese Worte laut sagen müssen, wäre er sich irgendwie nackt vorgekommen; in Bill Harbisons Brief schienen sie jedoch durchaus am Platz zu sein. Mechanisch begann Dr. Benoway, die erste Seite zu lesen. Ohne es zu wollen - und mit ausgesprochen schlechtem Gewissen -, las er dann den ganzen lebendigen Brief. -150-
›Meine einzige geliebte Lenore, mein Liebling, ich bin gerade von einem Flug zurückgekehrt, der mich beinahe in das Reich der Toten entführt hätte, mir aber die beseligende Gewißheit schenkte, daß ich Dich noch mehr liebe als je zuvor. Es gibt so viel zu erzählen, daß ich kaum weiß, womit ich anfangen soll. Ich weiß, daß Dich dies alles beunruhigen wird, aber ich kann Dir nur sagen, daß es, so schrecklich es Dir auch vorkommen muß, mich Dir nähergebracht hat als all die glücklichen Tage der Vergangenheit. Wir hatten einen gefährlichen Frontauftrag.‹ (Dr. Benoway ärgerte sich etwas. Es war bloß einer der regelmäßigen Flüge nach Numea gewesen, um frisches Gemüse zu holen, und Harbison hatte sich sogleich verdrückt, um mit einem der französischen Mädchen in Luana Pori zu schlafen.) ›Unser Flugboot war nur unzulänglich bewaffnet, aber unser Kommandant war einer der tapfersten Männer, die mir je begegnet sind. Falls wir auf dieser Kiste mit japanischen Maschinen ins Gefecht geraten würden, dachte ich, als wir abflogen, könnte ich mir für diese brenzlige Situation keinen besseren Mann vorstellen als Joe. Mein Vertrauen in ihn war begründet. Wir flogen in einer Höhe von ungefähr neuntausend Metern über...‹ (Hier hatte Harbison, um die Wachsamkeit der unerbittlichen Zensur vorzutäuschen, eine Zeile ausgestrichen.) ›Ich muß gestehen, daß ich etwas vor mich hindöste, als ich unseren Heckschützen rufen hörte: »Zeros aus Richtung sieben!« Und da waren sie schon, diese Biester, zwei Stück. Sie hatten obendrein noch den Vorteil, über uns zu hängen. Wir machten uns sofort gefechtsklar, aber bevor ich noch an ein Maschinengewehr herankonnte, schlugen schon die ersten Geschosse bei uns ein, und einer unserer Schützen wurde am Bein verwundet. Glücklicherweise hatten wir einen Arzt bei uns, Dr. Benoway, von dem ich Dir schon mal geschrieben habe. Nun, er hatte den -151-
Jungen im Handumdrehen verbunden, aber jetzt kamen die Japse zurück, und wir konnten sie nicht aufhalten. Wieder durchsiebten sie unseren müden Schlitten. Sie machten vier weitere Anflüge, und obwohl unsere Schützen sic h alle Mühe gaben, gelang es uns doch nicht, die gelben Teufel zu treffen. Beim sechsten Anflug zerschoß uns der zweite Japs beide Motoren, und wir sausten im Sturzflug aufs Meer hinunter. Daraufhin ließen die Japsen für ein paar kostbare Minuten von uns ab. So stürzten wir ins Meer, und in diesen schrecklichen Minuten dachte ich nur an Dich. Mein Herz schlug wie eine Riesentrommel, und jeder Schlag rief Deinen Namen: »Lenore! Lenore!« Es war ein schauriger Alptraum, der erst endete, als unser großartiger Pilot unsere Kiste im letzten Augenblick abfing, über die Wogenkämme hingleiten ließ und schließlich in ein Wellental hineinsetzte.‹ (›Dieser Aufschneider‹, dachte Benoway. ›Wir sind in tadellosem Gleitflug aus viertausendfünfhundert Meter Höhe heruntergekommen, genau wie bei einer normalen Landung auf glattem Wasser. Wir hatten, Gott sei Dank, gar keinen Seegang, und es war nicht ein einziger Japaner zu sehen. Irgendein verdammter Mechaniker hatte zwei große Stücke Schmirgelpapier im Öltank liegen gelassen. Fragt mich nicht, warum!‹) ›Wir schwammen noch keine halbe Minute auf dem Wasser, da flogen uns die feigen Japse wieder an. Aber nach einem heftigen Feuerstoß, der unseren verwundeten Schützen das Leben kostete, sahen wir zwei amerikanische Maschinen an der Kimm. Die Japse sahen sie auch und brausten davon. Es kam zu einer längeren Schießerei. Drei Maschinen stürzten brennend ab. Einer unserer beiden Jäger entkam in der zunehmenden Dunkelheit. Er war offenbar schwer beschädigt, denn er schwankte bedenklich. Wir wissen nicht, ob er die Küste erreicht hat, aber wo immer der Junge heute auch sein mag, kannst du für ihn beten, weil sein heldenhafter Mut uns -152-
wehrlosen Männern das Leben rettete. Wir waren unser acht in dem Schlauchboot, und ich will Dir nicht schreiben, was wir alles durchgemacht haben. Ohne den eisernen Willen unseres Piloten und Dr. Benoways Umsicht und Fürsorge würde es heute nur wenigen von uns noch möglich sein, ihren Lieben zu schreiben. Tagsüber war es glühend heiß, und die Nächte waren eiskalt. Wir hatten alle Fieber und sehr wenig zu essen und zu trinken. Der Doktor hatte es übernommen, unsere Rationen einzuteilen, und... Meine Liebste, wenn ich wieder in Deinen Armen ruhe, werde ich Dir mehr von den Qualen dieser fünfzehn Tage erzählen. Laß Dir heute daran genügen, daß wir gerettet worden sind. Wichtig ist nur, daß Du in diesen ganzen schrecklichen Tagen und einsamen Nächten immer bei mir warst. Nachts leuchtete Mir Dein Gesicht aus den Sternen entgegen, und wenn die heiße Sonne auf unser armseliges Schlauchboot niederbrannte, hast Du mir geholfen, die Hitze zu ertragen. Immer wieder habe ich Dich laut gerufen, und wo immer sich ein Hoffnungsschimmer zeigte, warst Du da. Einen Tag lang flog eine Möwe neben uns her und hoffte auf ein paar Krumen, die sie nicht bekam, denn auch wir hofften ja auf ein paar Krümchen. Alle Männer erblickten in dieser Möwe ein gutes Omen, aber ich sah nur Dich. Das matte Weiß ihres Gefieders erinnerte mich an Deine Haut und ihre Anhänglichkeit an Deine Treue. Die anmutige Bewegung des Flügels war Dein anmutiger Gang, und als die Nacht hereinbrach und mit ihren dunklen Schatten die weiße Möwe umfing, war mir's, als schlügen die Wogen unserer Liebe über Dir zusammen.‹ (»Es waren zwei braune Vögel«, murmelte Benoway vor sich hin. »Eine Möwe haben wir gar nicht gesehen!«) ›Und wenn ich tausend Jahre alt würde, wirst Du mir niemals näher sein als in jener Nacht, Geliebte. Da wurde mir erst bewußt, was mir in dem Maße bisher noch nicht klargeworden war, daß Du das Schönste bist, was ich in diesem Leben kenne, -153-
und das Beste, was mir je begegnen kann. Mein Leib, mein Herz und eine Seele riefen nach Dir, und als wir gerettet wurden, waren es nicht die rauhen Arme des Matrosen, die mich in Sicherheit brachten, sondern Deine ge liebten Hände. Wenn ich Dich wiedersehe, werde ich Dir alles das vielleicht nicht sagen können, aber schlafe ruhig, Geliebte, denn auch über den endlosen Ozean findet meine Liebe den Weg zu Dir, wo immer Du sein magst. Heute bist Du ganz mein, mein für immer, bis mein Herz still steht und uns keine Stunde mehr schlägt. Ich liebe Dich, ich liebe Dich, ach, mein Liebling.‹ Paul Benoway wischte sich die Stirn und lauschte dem Tosen der Brandung, die gegen die Korallenriffe schlug. Er wußte, und jeder Offizier der Einheit wußte es, daß Bill Harbison hier im Südpazifik eine Liebelei nach der anderen hatte. Er wußte von Bills Eskapaden nach Luana Pori und von seinem Verhältnis mit der blonden Krankenschwester. Aber er wußte auch, daß Bill Harbison einen Lebensnerv berührt hatte, der vielen Menschen, und besonders Dr. Paul Benoway, unbekannt war. Was machte es schon aus, auf welche Weise Harbison dieses Wissen erlangt hatte? Was für eine Rolle spielte es, welchen Schlüssel dieser Mann benutzt hatte, um sein Herz zu erschließen, solange es aufgeschlossen und mitteilsam blieb, ein Herz, das sich verschwenden und andere glücklich machen konnte? Was nützten die moralischen Lehren und weisen Sprüche, wenn sie einen Mann so verschlossen machten wie eine Kommode ohne Schlüssel, während andere Menschen ihre innersten Geheimnisse ausbreiteten und so lebten, wie Gott es für seine Geschöpfe bestimmt hatte? Wieder blickte Dr. Benoway auf diese zärtlichen Liebesworte. Sie drückten genau das aus, was er selber fühlte! ›Wichtig ist nur, daß Du in diesen ganzen schrecklichen Tagen und Nächten immer bei mir warst... Die anmutige Bewegung des Flügels war Dein anmutiger Gang... Mein Leib, mein Herz, meine Seele riefen nach Dir...‹ Ja, das war es, was er Nancy sagen wollte und -154-
was er vergeblich versucht hatte, ihr zu schreiben. Plötzlich nahm er wieder seinen eigenen, unbeendeten Brief an seine Frau in die Hand und fuhr mit dem Finger über die Zeilen bis zu den Worten: ›Wenn ich daran denke, was andere ausgestanden haben, schäme ich mich ein bißchen, aber es erfüllt mich doch mit einem gewissen Stolz, sagen zu dürfen, daß ich mich ebenso gut gehalten habe wie die meisten von uns. Nur einmal war ich wirklich niedergeschlagen.‹ Er strich den letzten Satz aus und nahm einen neuen Bogen. Wen ging es denn etwas an, daß er bei dem Gedanken an die Menschenopfer, die jene Azteken dem Sonnengott darbrachten, den Mut verloren hatte. Das war wirklich töricht von ihm, so etwas in einem Brief zu schreiben, noch dazu, wenn man es damit verglich, was ein Mann wie Bill Harbison zu schreiben wußte. Verstohlen legte er Bills Brief vor sich auf den Tisch und schrieb hastig: ›Meine Liebste, wenn ich wieder in Deinen Armen ruhe, werde ich Dir alles erzählen.‹ In einem geradezu fieberhaften Eifer, als bringe er dadurch alles zum Ausdruck, was sich in seinem Herzen aufgespeichert hatte, schrieb er dann die beiden letzten Seiten von Bills Brief ab. Dann legte er den Federhalter hin und betrachtete die letzten Worte: ›Ich liebe Dich, ich liebe Dich, ach, mein Liebling.« Nein, in seinem Brief nahmen sie sich nicht gut aus. In seinem ganzen Leben hatte er nie auch nur annähernd so etwas gesagt wie ›Ach, mein Liebling‹. Es klang so schrecklich albern, wenn man es so sagte: ›Ach, mein Liebling, ach, mein Liebling, meine liebste Clementine! Hast für immer mich verlassen, und alleine wein ich, ach, mein Liebling Clementine!‹ Eigentlich klang es aber doch ganz nett, dachte Paul und begann den ganzen Schlager zu singen, und während er noch sang, fing er innerlich an zu lachen und sich sehr glücklich zu fühlen. Mit tänzerischen Bewegungen schob er Bill Harbisons Brief wieder in den Umschlag, klebte ihn zu und drückte den Zensurstempel darauf. Mit denselben tänzerischen Gesten zerriß -155-
er dann die zweite Hälfte seines eigenen Briefes. Er lachte jetzt laut heraus und unterschrieb rasch den Teil, den er zuerst geschrieben hatte. ›Alles Liebe, Paul‹, schrieb er.
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Das Rollfeld auf Konora Als Admiral Kester sich durch den dicken Wälzer über das Unternehmen Alligator durchgeackert hatte, sagte er sich: »Für die Drecksarbeit werden wir auf Konora ein Rollfeld für unsere Bomber bauen müssen.« Er betrachtete seine Landkarte. Konora war nur ein Stecknadelkopf von einer Insel, 320 Meilen von Kuralei entfernt. Wenn man Konora besetzte, konnte ma n nur noch hinter sich spucken. Dann würden die Japaner wissen, daß wir einen größeren Schlag planten. Aber sie konnten nicht ahnen, ob der nächste Schritt Kuralei oder Truk oder Kavieng sein würde. Das gab einem immerhin einen kleinen Vorsprung. Aber man mußte schnell handeln. Sobald man den ersten Fuß auf Konora setzte, mußte man damit rechnen, daß die ganzen Streitkräfte des japanischen Kaiserreichs sich darauf konzentrierten, die nächsten Inseln zu schützen. Man durfte dem Feind nicht viel Zeit lassen. Wenn man auf Konora landete, waren die Einsätze gemacht. Entweder legte man eine Rollbahn in Rekordzeit hin, oder... Bei diesem Punkt seiner Überlegungen bat mich Admiral Kester, Commander Hoag von den 144. Seebienen zu holen. Sofort! Kurz darauf erschien Commander Hoag. Er war ein Riese, etwa ein Meter neunzig groß, und wog gut seine zweihundert Pfund. Er hatte breite Schultern, lange Beine, große Hände und buschige Augenbrauen. Er hatte die beiden obersten Knöpfe seines Hemds nicht zugeknöpft, was ihm ein etwas saloppes Aussehen gab. Aber wenn man seine dichtbehaarte Brust sah, vergaß man das. Er war ein typischer Südstaatler, aus Georgia. Vor dem Krieg war er Bauunternehmer in Connecticut gewesen. Als begeisterter Wassersportler und Motorbootfahrer kannte er viele Marineleute. Einer von denen hatte ihn dazu überredet, sich zu den Seebienen zu melden. Das kostete ihn -157-
einige zwanzigtausend Dollar im Jahr, denn im Zivilleben war er ein reicher Mann. Doch ihm gefiel die Ordnung und die Disziplin bei der Marine. Er war siebenundvierzig und hatte zwei Kinder. »Commander Hoag ist zur Stelle, Sir!« meldete ich. »So schnell?« fragte der Admiral. »Führen Sie ihn herein.« Hoags hohe Gestalt erschien im Türrahmen, und dann trat er rasch auf Admiral Kesters Schreibtisch zu. »Sie wollen mich sprechen, Sir?« Ich wollte mich entfernen. »Bleiben Sie hier«, sagte Kester. »Ich möchte Sie gern bei diesem Unternehmen als Verbindungsoffizier haben.« Der Admiral deutete mit keiner Geste an, daß wir uns setzen könnten, also blieben wir wie zwei Schuljungen vor seinem primitiven Schreibtisch stehen. »Hoag«, sagte er kurz. »Können Sie auf Konora ein Rollfeld bauen?« »Jawohl, Sir!« erwiderte Hoag, mit einem Blick, der seine Erregung deutlich verriet. »Wieso glauben Sie das?« forschte Kester. »Ich habe in dieser Zone jede Insel daraufhin untersucht, ob dort der Bau eines Rollfeldes möglich wäre. Konora würde sich dafür eignen. Es sind da allerdings noch ein paar vertrackte Fragen zu klären. Wir müßten versuchen, alle Australier und Missionare aufzutreiben, die je dort gelebt haben. Und sie sehr genau ausfragen. Aus den Karten ist nicht viel zu ersehen.« »Könnte die Bahn von dem Augenblick an gerechnet, wo Ihre ersten Laster an Land rollen, innerhalb von fünfzehn Tagen zur Inbetriebnahme fertiggestellt werden?« Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, erwiderte Hoag: »Ja, Sir.« »Konzentrieren Sie sich ganz auf diese Aufgabe, Hoag. Die Landung wird in fünf Wochen erfolgen. Sie werden die zweite -158-
Welle anführen. Sie werden wahrscheinlich keine Kampftruppen brauchen, da die Seesoldaten die Insel in zwei Tagen gesäubert haben werden. Aber es ist schon besser, Sie rechnen damit. Der Quartier- und Geheimdienst wird Ihnen jede Unterstützung zukommen lassen, die Sie benötigen. Sie haben ganz freie Hand, Hoag. Aber denken Sie daran: Es ist von größter Wichtigkeit, daß der Fahrplan eingehalten wird. Unsere Bomber müssen am sechzehnten Tag auf Konora landen können.« »Das werden sie auch«, entgegnete Hoag in einem rauhen Ton, der tief aus seiner Brust kam. »Sie können die Startzeiten heute schon festsetzen.« »Sehr gut«, sagte der Admiral. »Das werde ich tun.« In den nächsten fünf Wochen arbeitete ich mit Commander Hoag zusammen. Ich war sein Laufjunge und rannte herum, um Schiffsraum, wichtige Werkzeuge und Spezialisten zu stehlen. Es wurde beschlossen, die 144ste und fünf Pioniereinheiten der Seebienen auf Konora zu werfen. Ein paar Trupps würden Straßen bauen; andere würden den Dschungel roden; wieder andere würden die Förderung und den Transport der Korallen übernehmen; einige würden für den Betrieb der elektrischen Aggregate sorgen; sehr wichtige Trupps würden nichts anderes tun als eine gewaltige Maschinerie in Schuß zu halten, und ein Trupp würde Unterkünfte bauen. »Diese Koralle macht mir Sorge«, sagte Hoag immer wieder, während er seine Karten betrachtete. »Ich kann nirgendwo Angaben darüber finden, ob es auf dieser Insel Korallengruben gibt. Aber es müßten welche da sein. Verdammt noch mal, es wäre sonst die einzige Insel in dieser ganzen Gegend, die keine hätte. Ausgerechnet! Irgendwo bei unserem Vorstoß nach Norden werden wir wohl auf die eine Insel ohne Korallen treffen. Dann ist der Teufel los. Aber ich kann einfach nicht glauben, daß es diese Insel ist. Einer der beiden Berge da muß Koralle haben. Herrgott!« seufzte er. »Es wäre scheußlich, wenn wir die ganze Koralle aus dem Meerwasser rausholen müßten. -159-
Holen Sie mir die Sachverständigen wieder her!« Als die Korallenexperten zurückkamen, stand Hoag vor einer großen Karte von Konora. Die Insel hatte die Form eines Männerbeins mit leicht gebeugtem Knie. Sie sah so ähnlich wie ein Bumerang aus, aber das Knie war nicht sehr ausgeprägt. Keiner der beiden Schenkel war lang genug für ein Bomberfeld, aber wenn man die Bahn so anlegte, daß sie direkt über die Beugung hinwegführte, würde sie ihren Zweck erfüllen. Auf diese Weise würde sie beide Schenkel quer durchschneiden. Da der eingeschlossene Winkel nach Süden zeigte, würde die Bahn also nach Westen und Osten verlaufen. Das war günstig im Hinblick auf die Winde in dieser Region. »Also, Leute«, sagte Hoag müde. »Gehen wir diese verdammte Sache noch mal durch. Wir können die Bahn überhaupt nur bauen, wenn wir sie über diesen Winkel hinwegführen. Die beiden Schenkel fallen aus. Sind wir uns darüber einig?« Die Männer stimmten ihm zu. »Das stellt uns vor zwei Probleme. Erstens die Frage, ob da eine Schlucht vorhanden ist. Leutnant Perlstein, sind Sie sich darüber inzwischen klargeworden?« Der junge Perlstein, ein übergroßer Jude, den seine Männer liebten, weil er immer bereit war, in ihrem Interesse Krach zu schlagen, trat vor die Karte. Sein Vater war ein Baumeister aus New York. »Commander«, sagte er, »ich bin fest überzeugt, daß es da eine tiefe Schlucht gibt, die sich von Norden nach Süden durch dieses Knie zie ht. Ich bin dessen ganz sicher, aber auf den Aufnahmen ist nichts davon zu sehen. Wir haben bisher auch keinen Menschen auftreiben können, der mal dort gewesen ist. Sie sind immer an den beiden Enden der Insel gelandet. Aber schauen Sie sich den Wasserfall an! Es muß da eine Schlucht geben!« »Ich glaube das nicht«, entgegnete ein Fähnrich. Es war der junge De Vito aus Columbus, Ohio. Er hatte in Michigan -160-
studiert und in Detroit gearbeitet. Die Männer stimmten ab. Die meisten waren der Ansicht, daß es auf Konora keine tiefe Schlucht gebe. »Aber, Commander«, wandte Perlstein ein, »warum bauen wir die Bahn nicht so weit wie möglich nach Norden hinauf? Und machen sie nur fünfzehnhundert Meter lang. Wenn wir sie dort bauen, wo Sie sie eingezeichnet haben, kriegen Sie zwar die gewünschte Länge heraus, das ist richtig, aber Sie stoßen dann bestimmt auf eine Schlucht. Da bin ich absolut sicher.« Commander Hoag wandte sich zu mir um. »Fragen Sie, ob eine fünfzehnhundert Meter lange Strecke ausreicht«, befahl er. Ich erkundigte mich also genau bei den Luftsachverständigen und bekam zu hören, daß es, wenn der Bau einer längeren Bahn wirklich unmöglich sei, fünfzehnhundert Meter auch tun würden. Doch würde eine zusätzliche Länge von dreihundert Metern das Leben von mindestens fünfzehn Piloten retten. Ich meldete dieses Ergebnis. Alles blickte auf Perlstein. Er kam mit einem Gegenvorschlag: »Warum bauen wir dann nicht das eine Ende der Bahn hier durch den Unterschenkel so weit wie nur irgend möglich nach Osten runter? Dann können Sie das andere Ende immer noch über das Knie führen, aber so viel nördlicher, daß die Schlucht umgangen würde.« »Fragen Sie unsere Experten, ob sie damit was anfangen könnten«, wurde mir gesagt. »Lassen Sie uns mal sehen. Dann würde der Wind beim Start und beim Landen etwa aus 325 Grad kommen.« Ich kehrte bald darauf mit dem Bescheid zurück, daß unsere Luftexperten 325 Grad Gegenwind für sehr viel ungünstiger hielten als die früheren Pläne, die sie genehmigt hatten. »Es wäre alles gut für ein Flugzeug mit normalem Gewicht«, meldete ich. »Aber unsere Bomber werden bis zum Stehkragen beladen sein.« -161-
Hoag stand auf. »Der Bau wird also nach unseren bisherigen Plänen ausgeführt. Wie steht es nun mit der Koralle?« Der Commander und seine Offiziere traten zusammen vor die Karte. Mit roter Kreide markierte er zwei Anhöhen, die eine an der Nordspitze des Knies und die andere ungefähr in halber Höhe des westlichen Schenkels. Dann punktierte er eine Linie am Küstenstreifen an der Innenseite des Knies entlang. »Wir können ziemlich sicher damit rechnen, dort einen Korallenboden vorzufinden«, erklärte er und zeigte auf den Küstenstreifen. »Aber was halten Sie von diesen beiden Hügeln? Ob das Korallenberge sind?« Seine Männer erörterten das Für und Wider einer solchen Möglichkeit. Auf einigen Südseeinseln wurde den Seebienen die Arbeit durch die Entdeckung eines kleinen Berges aus verhärteten Korallenskeletten verhältnismäßig leicht gemacht. Dann brauchten sie nichts weiter zu tun, als dieses wunderbare Meergestein mit ihren Räumern loszubrechen, es auf Lastwagen zu laden, dahin zu fahren, wo es benötigt wurde, und es mit einer Walze glattzuwalzen. Das Ergebnis war dann eine Straße oder ein Weg, eine Mole oder eine Rollbahn, die fast ebenso stabil war wie Zement. Aber auf anderen Inseln, wie zum Beispiel auf Guadalcanal und Bougainville, gab es keine Koralle, weder in Gestalt eines Berges noch an der Küste längs der Bucht. Dann fluchten und schwitzten die Seebienen, und solange Amerikaner auf diesen Inseln lebten, mußten sie Lavastaub schlucken, fanden sie ihn nachts in ihren Betten und freuten sich, wenn ein Regenguß ihn von den Straßen fortspülte. Falls die Staaten, wie einige Marineleute angeregt haben, den Seebienen ein Denkmal errichten sollten, dann müßten die Seebie nen ihrerseits der Koralle ein Denkmal errichten, denn sie war ihr treuester Verbündeter. »Die Australier sind da, Sir«, meldete ein Kurier. Zwei baumlange magere Männer und eine alte und reizlose Frau betraten das Zimmer. Commander Hoag überließ der -162-
müden Frau seinen Stuhl. Die Männer blieben stehen. Sie stellten sich selbst als Mr. und Mrs. Wilkins und Mr. Heskwith vor. Vor achtzehn Jahren hatten sie drei Monate auf Konora gelebt. Sie waren die einzigen Menschen, die wir finden konnten, die die Insel kannten. Es war sehr still in dem heißen Raum, als diese drei Vorposten des Empires versuchten, sich den Schauplatz einer ihrer vielen Niederlagen auf den Inseln wieder ins Gedächtnis zurückzurufen. Sie hatten es dort nicht zu Geld gebracht. Die Moskitos waren unerträglich. Handelsschiffe weigerten sich, in der Lagune anzulegen. Die Eingeborenen waren unfreundlich. Mr. Heskwith hatte seine Frau auf Konora verloren. Er hatte nie wieder geheiratet. Obwohl wir keine Zeit zu verlieren hatten, unterbrach niemand diesen trübseligen Bericht. Die Wilkins' und Mr. Heskwith waren dann nach Guadalcanal gegangen. Wir fragten uns, was für zarte Beziehungen wohl zwischen Mr. Heskwith und Mrs. Wilkins bestanden haben mochten. Wie sie da vor uns saß, eine verblühte Frau in eine m schlechtsitzenden Kleid, schien sie kaum die Anziehungskraft zu besitzen, um zwei Männer achtzehn Jahre lang an ihre strohgedeckte Hütte zu fesseln. »In Guadalcanal ging es uns recht gut«, schloß Mr. Wilkins, »bis die Japaner kamen. Wir sahen, wie sie unser Haus bis auf den Grund niederbrannten. Wir hatten uns in die Berge geflüchtet. Meine Frau und ich waren mit die ersten, die die amerikanischen Truppen begrüßt haben. Mr. Heskwith befand sich zu der Zeit auf einer Pfadfindertour mit den Eingeborenenjungs. Er traf später mit Ihren Leuten zusammen. Mr. Heskwith wurde von Ihrer Marine für einen Orden vorgeschlagen, weil er Ihrer Sache große Dienste geleistet hat.« Der hagere Mr. Heskwith verzog das Gesicht zu einem etwas kümmerlichen Lächeln. Wir fragten uns, welchen Beistand er wohl der Marine der Vereinigten Staaten geleistet haben konnte. »Sehr gut«, sagte Commander Hoag. »Wir sind stolz darauf, daß Leute wie Sie und Mr. -163-
Heskwith uns wieder helfen wollen. Sie verstehen, daß Sie sich während der nächsten vier oder fünf Wochen als Gefangene zu betrachten haben. Wir werden Konora sehr bald besetzen und dort über dem Knick eine Rollbahn bauen. Wie Sie da auf der Karte sehen. Wir können nicht das Risiko eingehen, daß es irgendein Gerede darüber gibt. Bis wir landen, stehen Sie unter Bewachung.« »Natürlich«, sagte Mr. Wilkins. »Das standen wir damals auch.« Die drei Australier betrachteten jetzt schweigend die Karte. Wir waren ziemlich bestürzt, als Mrs. Wilkins trocken bemerkte: »Ich wußte gar nicht, daß die Insel so aussieht.« Ratlos blickten wir einander an. »Jetzt zeigen Sie uns mal, wo Sie damals gewohnt haben«, schlug Commander Hoag vor. »Hier«, sagte Mr. Wilkins und zeichnete ein Kreuz auf die Karte. »Nein«, berichtigte ihn seine Frau. »Es tut mir leid, David, aber wir haben da drüben gewohnt.« Sie konnten sich nicht einmal darüber einigen, auf welchem Schenkel der Insel sie damals gehaust hatten. »Könnten Sie die Karte von der Wand abnehmen?« fragte Mr. Wilkins. »Da finden wir uns vielleicht besser zurecht.« Commander Hoag und einer seiner Offiziere zogen die Reißzwecken heraus und legten die große Karte auf den Fußboden. »Das ist besser«, sagte Mr. Wilkins lebhaft. Er und seine Frau gingen um die Karte herum, neigten den Kopf zur Seite und kniffen ein Auge zu. Sie konnten sich aber nicht einig werden, Mr. Wilkins schien nicht einmal glauben zu wollen, daß Norden Norden war. »Sehen Sie hier«, sagte Commander Hoag ruhig. »Auf den anderen Karten ist es genauso. Hier ist Norden.« Die Wilkins' wurden sich noch immer nicht schlüssig, wo sie damals gewohnt hatten. »Denken Sie mal nach«, ermunterte sie Hoag, »wo ging denn die Sonne auf?« -164-
»Das haben sie uns schon in dem anderen Zimmer gefragt, Sir«, erklärte Mrs. Wilkins. »Aber wir können uns nicht mehr darauf besinnen. Es ist schon so lange her. Und wir möchten Ihnen doch nichts sagen, was nicht stimmt.« »Mr. Heskwith!« sagte Hoag plötzlich. »Vielleicht können Sie uns etwas sagen.« Der hagere Mann betrachtete den westlichen Schenkel der Insel. »Fällt Ihnen jetzt etwas ein?« fragte Hoag. »Ich versuche, die Stelle wiederzufinden, wo wir Marie beerdigt haben«, erwiderte der Australier. »Es war nicht weit weg von der Bucht.« Hoag trat beiseite, während die drei älteren Leute sich vergeblich bemühten, auch nur eine schwache Erinnerung an dieses so weit zurückliegende und traurige Kapitel in ihrem Leben wieder wachzurufen. Es kam zu keiner Einigung. Die Zeit hatte die Ereignisse verdunkelt. Es stimmt schon, wenn Leute sagen: ›Ich sehe es noch so deutlich vor mir, als wäre es gestern gewesen‹, aber glücklicherweise bleiben uns einige Dinge nicht so gegenwärtig, als hätten sie sich erst gestern zugetragen. Sie werden aus dem Gedächtnis ausgelöscht, so wie Konora aus dem Gedächtnis der Australier ausgelöscht worden war. »Darf ich eine Frage stellen, Sir?« warf Leutnant Perlstein ein. Als der Commander bejahte, führte Perlstein die drei Australier ans obere Ende der Landkarte. »Es würde uns sehr helfen, wenn Sie uns irgend etwas Bestimmtes über diesen Knick hier sagen könnten. Verstehen Sie, die Rollbahn muß direkt darüber hinwegführen. Ist einer von Ihnen mal in der Gegend gewesen?« Sie fingen alle drei auf einmal an zu sprechen, aber aufgrund einer vor achtzehn Jahren getroffenen Vereinbarung überließen sie Mr. Wilkins das Wort. »Ja«, sagte er. »Das ist der gegebene Platz dafür. Da waren wir doch zuerst, nicht wahr? Aber es gefiel uns da nicht.« »Und warum nicht?« fragte Perlstein triumphierend. -165-
»Kein Wind«, sagte Wilkins kurz. Perlsteins Lächeln verschwand. »Sind Sie an dieser Stelle weiter ins Inland gegangen?« fragte er wieder. »Kommen Sie zur Sache, Perlstein«, unterbrach Hoag ihn ungeduldig. »Was wir wissen müssen«, sagte er in seiner freundlichen Art, »ist, ob es dort oberhalb des Knicks eine tiefe Schlucht gibt.« Die Australier sahen einander verdutzt an. Dann schüttelten sie gleichzeitig den Kopf. »Das wissen wir nicht, Sir«, sagte Mr. Wilkins. »Der einzige Mensch, der das wissen könnte«, fügte Mrs. Wilkins hinzu, »ist Mr. Davenport.« »Wer ist dieser Davenport?« fragte Hoag mit einer gewissen Spannung. »Das ist der Neuseeländer, der länger als zwölf Jahre auf Konora gelebt hat«, erklärte Mrs. Wilkins. »Warum hat man diesen Davenport nicht hergeholt?« fragte Hoag. »Oh!« rief Mrs. Wilkins aus. »Den haben die Japaner erwischt. Ihn und seine ganze Familie.« Hoag war ganz geknickt. Er unterhielt sich ein paar Minuten mit Perlstein, während die Australier wieder die große Karte von der winzigen Insel betrachteten. Perlstein beugte sich wieder über die Karte. »Können Sie sich nicht auf irgendeinen Menschen besinnen, der etwas von diesem Knick weiß?« fragte er. »Sie werden begreifen, wie dringend es ist, Näheres über diese mutmaßliche Schlucht zu erfahren.« Die Australier runzelten die Stirn. »Nein«, sagte Mr. Wilkins laut. »Der Kapitän von der Alceste wird das auch nicht wissen.« »Sehr unwahrscheinlich«, pflichtete ihm Mrs. Wilkins bei. Es war Mr. Heskwith, der den glänzenden Einfall hatte. Er trat etwas zögernd vor. »Warum schicken Sie nicht einen von uns -166-
auf die Insel zurück?« meinte er. »Ja«, meinten auch die beiden Wilkins'. Sie traten alle drei ein paar Schritte auf Commander Hoag zu. Hoag war etwas bestürzt über diesen Vorschlag. »Es sind doch Japaner auf der Insel. Hunderte«, sagte er fast barsch. »Das wissen wir!« erwiderte Mr. Wilkins. »Sie glauben, daß es Ihnen gelingen würde?« fragte Perlstein. »Wir können es doch wenigstens versuchen«, meinte Mr. Wilkins. Es klang so, als erböte er sich, bis zur nächsten Straßenecke zum Krämer zu gehen. »Sie haben doch Unterseeboote für solche Manöver, nicht wahr?« erkundigte sich Mr. Wilkins. »Wollen Sie damit sagen, daß Sie alle drei da an Land gehen wollen?« fragte Commander Hoag ungläubig. »Jawohl«, erwiderte Mr. Wilkins als das Oberhaupt dieses Terzetts. »Ich finde, ich sollte gehen«, erklärte Mr. Heskwith. »Er kennt sich im Wald besser aus als wir«, gab Mrs. Wilkins zu. »Vielleicht sollten wir drei jeder einen andern Weg einschlagen.« Commander Hoag dachte einen Augenblick nach. Er trat auf die Karte zu. »Ist eine von diesen Anhöhen ein Korallenberg?« fragte er. »Das wissen wir nicht«, antwortete Mr. Wilkins. »Perlstein! Kann auch ein Laie feststellen, ob es ein Korallenberg ist? Wie tief müßte man da graben?« »Nun - vielleicht anderthalb Meter tief, Sir, sollte ich meinen. An drei verschiedenen Stellen. Das dürfte als Beweis genügen.« Commander Hoag wandte sich jetzt an Mr. Heskwith. »Wollen Sie das wirklich riskieren?« fragte er. -167-
»Selbstverständlich«, entgegnete Heskwith. Und dabei blieb es. Ich erhielt den Auftrag, aus einer Gruppe von Freiwilligen zehn Mann auszuwählen, die diese Fahrt mitmachen sollten. Einen ganzen Nachmittag saß ich in dem drückend heißen kleinen Büro und betrachtete die Gesichter der tapferen Burschen, die das Risiko einer geheimen Landung auf Konora auf sich nehmen wollten. Es gab keinen Anhaltspunkt dafür, warum sie kamen, keinen Hinweis darauf, warum sich gerade diese Männer zu dem Unternehmen gemeldet hatten. Ich musterte mehr als vierzig Mann an diesem Tag und wäre froh gewesen, jeden einzelnen von ihnen bei einer solchen Landung dabeizuhaben. Sie hatten nur eines gemeinsam. Jeder Mann, wie er da zu mir hereinkam, drehte seine Mütze in den Händen und machte ein dummes Gesicht. Fast alle sagten sie so etwas wie: ›Ich höre, Sie haben einen Job zu vergeben‹, oder: ›Was hat es mit dieser Patrouille auf sich?‹ Inzwischen habe ich erfahren, daß bei den Japanern, wenn sie für ein besonders gefährliches Unternehmen Freiwillige brauchen, die Offiziere aufstehen und den Mannschaften etwas von ihren Vorfahren, ihren Kaisern und ewigem Ruhm in die Ohren brüllen. Bei uns hingegen, jedenfalls bei den Seebienen, läßt man sozusagen nur ein Gerücht umgehen, und sehr bald kommen dann vierzig Mann herbeigelaufen, die Mütze in der Hand und etwas nervös und aufgeregt. Verheiratete Männer wies ich zurück, obwohl ich nicht daran zweifelte, daß einige von ihnen allen Grund hatten, ihr Glück auf Konora zu versuchen. Die allzu jungen Burschen schickte ich auch wieder fort. Der erste Mann, den ich annahm, war Luther Billis, der die Eingeborenensprachen kannte und sozusagen dazu geboren war, auf einer Insel wie Konora zu sterben. Der goldene Ring an seinem linken Ohr pendelte hin und her, als er etwas davon brummelte, daß er gern einen Jungen namens Hyman dabeihaben würde. Ich sagte ihm, er solle mir -168-
diesen Hyman reinschicken. Daraufhin erschien, schlotternd vor Angst, ein überschlanker junger Jude. Ihn nahm ich auch. Die restlichen acht waren so der übliche Durchschnitt von amerikanischen jungen Männern. Ich nehme an, es wäre sehr modern, zu sage n, daß ich zehn von Amerikas ›kleinen Leuten‹ für ein abenteuerliches Unternehmen gegen die Japaner ausgewählt hatte. Aber wenn einer nachts auf Konora an Land geht, um drei anderthalb Meter tiefe Löcher zu graben, ist er kein ›kleiner Mann‹. Dann ist er verdammt groß, mein Lieber! Die paar Mann hatten sich kaum eingeschifft, als Commander Hoag und sein Stab schon gar nicht mehr an sie zu denken schienen. Mr. und Mrs. Wilkins wurden zur Abwehr zurückgeschickt. An ihrer Stelle wurden Admiral Kesters Luftwaffenspezialisten hereingerufen. Commander Hoag sprang sehr energisch mit ihnen um. »Ich brauche bei diesem Unternehmen einen anständigen Luftschirm«, sagte er nachdrücklich, während ich Notizen machte. »Und zwar einen, auf den man sich verlassen kann, kein Herumkurbeln! Ich möchte nicht, daß meine Männer durch eine wildgewordene Bande in der Luft abgelenkt werden. Und unter keinen Umständen dürfen Ihre Piloten irgendeinen Versuch machen, auf der Rollbahn zu landen, bis ich das Zeichen gebe.« Die Flieger läche lten einander an. »Ein Flieger taugt nichts, wenn er kein Draufgänger ist«, bemerkte einer von ihnen. »Stimmt! Dasselbe gilt für die Seebienen. Aber sagen Sie Ihren Männern, sie sollen sich ihre Künste für die Japaner aufsparen. Nun, was halten Sie davon? Das ist Ihr Ressort. Sagen Sie mir, ob es möglich ist. Setzen wir eine ständige Streife von Neuseeländern in Mustangs als Tiefflieger ein. Denen liegen diese schweren Maschinen, und sie werden damit unter den Japsen schön aufräumen. Geben Sie uns ein paar Grumman-Avengers oder Vought-Corsairs als Höhenschutz. Und schicken Sie in einem Umkreis von mindestens -169-
zweihundert Meilen jeden Morgen, Mittag und Abend einige von unseren Torpedobombern los.“ »Sie werden sich auf die Hand spucken, Commander«, bemerkte ein Flieger. »Da haben Sie recht! Aber sobald wir Konora angreifen, werden die Japse wissen, daß wir losschlagen. Das kann ich nicht ändern. Wir werden es so machen: Wir werden die Bomber in drei Richtungen ausschicken, nach Kuralei, Truk und Rabaul.« Die Fragen des Lufteinsatzes waren geklärt. Nun erschienen die Männer, die für den Einsatz der Flotte zuständig waren, und teilten uns mit, welche Schiffe wir haben könnten und wann. Aus San Diego liefen Öltanker aus, um in drei Wochen zur Stelle zu sein. Die Intendanturbeamten diskutierten die Probleme der Verpflegung, und allmählich formierte sich die Armada. An dem Tag, an dem wir mit unseren Vorbereitungen fertig waren, belegten achtzehn Maschinen Konora mit einem Bombenteppich. Von nun an stand die Insel pausenlos unter Feuer, und aus allen Teilen des Stillen Ozeans holten die Japaner so viel Entsatz herbei, wie sie nur auftreiben konnten. Jene überschlauen japanischen Offiziere, die so selbstgefällig vom Bau einer Rollbahn auf Konora abgeraten hatten - weil diese Insel doch nie angegriffen werden würde -, bissen sich auf die Lippen und schüttelten den Kopf. Schließlich brachte Commander Hoags Stab seine Ausrüstung und seine Karten an Bord eines Libertyschiffes. Am selben Abend, als wir da über unseren Plänen brüteten, kehrten Mr. Heskwith und Luther Billis von ihrer Expedition zurück. Billis bot mit seinen Tätowierungen und den vielen Armbändern einen prächtigen Anblick in dem flackernden Schein der Bordlichter. Der hagere und wortkarge Mr. Heskwith mit seinem zerknitterten Gesicht kam daneben gar nicht zur Geltung. »Wir hatten gar keine Schwierigkeiten«, sagte der Australier -170-
ruhig. »Es war ganz ungefährlich.« »Gibt es da eine Schlucht?« fragte Leutnant Perlstein eifrig. »Ja«, erwiderte Mr. Heskwith, »eine sehr tiefe. Sie erstreckt sich von Norden nach Süden. Zwei kleine Bäche versickern darin.« »Wie tief?« fragte Hoag. »An der Stelle?« Mr. Heskwith überließ Billis das Wort. Der Mann von der Baukompanie trat vor, klirrte mit seinen Armbändern und grinste. »Nicht tiefer als sechs Meter«, sagte er. »Und wie breit?« »Etwa dreißig Meter, schätze ich«, antwortete Billis. Er sah den Australier fragend an. »Nein, breiter nicht«, bestätigte Mr. Heskwith. »Und die beiden Berge?« fragte Hoag. »Die Hügel?« wiederholte Heskwith. »An den da kamen wir nicht ran. Da können wir nichts sagen. Wir konnten nur bei diesem hier ein Loch graben. Es war sehr spät.« »Aber sind Sie denn auf Koralle gestoßen?« »Ja.« »Doch, wir haben da Koralle gefunden«, warf Billis ein, »aber sehr viel tiefer als bei all den anderen Anhöhen auf diesen Inseln.« »Und es ist wirklich Koralle?« »Ja, Sir.« Commander Hoag dankte den beiden Männern und entließ sie. Er lächelte, als er sah, wie Billis mit seiner schweren Pratze Heskwith auf die hagere Schulter schlug. Er hörte Billis flüstern: »Mir scheint, wir haben ihnen gesagt, was sie hören wollten, was, Kumpel?« Hoag drehte sich wieder zu seinen Offizieren um. »Es gibt da -171-
also einen beachtlich tiefen Graben. Denn eine Schlucht kann man das eigentlich nicht nennen. Und wir wollen annehmen, daß dies hier ein Korallenberg ist. Mit einer wahrscheinlich knapp einen Meter hohen Lehmschicht darüber. Na schön. Wir müssen eben etwas riskieren. Wie beim Roulette. Auf der einen Seite haben wir etwas verloren und auf der anderen etwas gewonnen. Wir haben einen Graben und die Koralle, um ihn auszufüllen. Perlstein! Wir geben Ihnen unsere sämtlichen Bagger und die schweren Lastwagen. Schlagen Sie eine Straße direkt bis zu diesem Hügel. Lassen Sie sich durch nichts aufhalten. Kümmern Sie sich um nichts sonst, weder um die Verpflegung noch um die Unterkünfte und das Benzin. Schürfen Sie den Lehm ab und versetzen Sie den Berg hierher!« Er deutete auf den Graben. Bevor noch jemand den Mund aufmachen konnte, hatte er bereits acht oder zehn weitere Befehle erteilt. Dann entließ er die Männer. Als sie gegangen waren, sank er in einen Sessel. »Ich weiß nicht, was wir getan hätten, wenn es dort eine Schlucht und keine Koralle geben würde!« sagte er. »Mir scheint, Gott läßt die Amerikaner und die Seebienen nicht im Stich.« Auf der Fahrt nach Norden lernte ich Commander Hoag ziemlich gut kennen. Er war ein überaus sympathischer Mann. Der beste Offizier, der mir je begegnet ist. Die Tatsache, daß er nicht aktiv war, bewahrte ihn vor dieser herablassenden Reserviertheit, die man von den Männern, die die Marineschule in Annapolis absolviert haben, erwartet. Hoag war ein unternehmender Mann und ein unermüdlicher Arbeiter. Da er aber im Zivilleben eine hohe gesellschaftliche Stellung einnahm, verfügte er außerdem über die liebenswürdigen Umgangsformen, die den echten Marineoffizier auszeichnen und ihn von den Offizieren der anderen Waffengattungen unterscheiden. Hoags Männer vergötterten ihn und erzählten die rührendsten Geschichten von ihm, was er alles getan hatte. Selbst seine -172-
Offiziere, die täglich mit ihm zusammen waren, verehrten ihn und hielten sein Urteil für nahezu unfehlbar. Ich erhielt einen Beweis von dieser Urteilskraft, als er mir erzählte, warum er gerade Perlstein damit beauftragt hatte, den Graben auszufüllen. »Sehen Sie«, sagte er nachdenklich, während er auf das Korallenmeer hinausblickte, »Perlstein hatte recht. Aus scharfsinnigen Rückschlüssen, die jeder von uns hätte ziehen können, folgerte er, daß es dort eine Schlucht oder einen Graben geben müsse. Dann bot er mir die Stirn und hielt halsstarrig daran fest. Es wurde ihm ausgeredet. Oder, wenn Sie wollen, ich spielte meinen Rang gegen ihn aus. Und nun stellt sich heraus, daß es dort wirklich einen so breiten Graben gibt. Also ist es das einzig Richtige, ihm die Verantwortung dafür zu übertragen. Passen Sie auf, wie er sich da reinknien wird. Er wird mich verwünschen und toben und fluchen, aber gleichzeitig wird er diesen Graben in sein Herz schließen. Schon als Beweis dafür, daß er recht hatte und der Alte ein verdammter Idiot war! Ich wette, daß Perlstein beim Ausfüllen dieser Grube einen neuen Weltrekord aufstellt. Aber er wird nicht schlecht dabei fluchen!« Dann und wann hörte ich Perlstein während der Fahrt vor sich hinmurmeln: »So ein Blödsinn! Ausgerechnet dort müssen sie eine Rollbahn bauen! Ich hab's ihnen ja gleich gesagt, daß es da eine Schlucht gibt!« Als er seinen Spezialtrupp zusammentrommelte, um mit ihm die Einzelheiten für ihren Angriff auf den Korallenberg durchzusprechen, teilte er den Männern mit: »Wir haben eine gigantische Arbeit vor uns. Die schwerste Arbeit, die von den Seebienen in der Südsee in Angriff genommen wurde. Wir müssen in weniger als fünfzehn Tagen einen Berg abtragen. Ich hab's ihnen von Anfang an gesagt, daß da ein großes Loch sein muß. Hätte sich jeder sagen können, daß da eins sein mußte. Aber ich glaube, wir werden das Kind schon schaukeln und diese Grube zuschütten!« Wenn ich so die verschiedenen Offiziere zu ihren Abteilungen reden hörte, kam es mir vor, als habe jeder einzelne Mann in -173-
diesem Bataillon auf Konora und auf alles, was mit dem Rollfeld zusammenhing, einen persönlichen Haß entwickelt. Die Männer verfluchten ihre schweren Werkzeuge und gaben ihnen einen Tritt, während sie im Laderaum begeistert daran herumputzten. Luther Billis, dem die Laster und Raupenschlepper unterstanden, war fest überzeugt, daß es in der ganzen Marine keine schlechteren gab. »Seht euch diese verdammten Dinger doch nur an!«jammerte er. »Mit diesem Ausschuß soll ich einen Berg abtragen! In dem ganzen Haufen gibt es nicht ein einziges gutes Differential! Aber ich denke, wir werden es trotzdem schaffen!« In Guadalcanal kamen zwei Sachverständige an Bord unseres Libertyschiffs. Sie trugen Papiere bei sich und hielten mit Commander Hoag ein paar Blitzbesprechungen ab. Zum Schluß rief er uns herein. Einer der beiden Männer war ein Fregattenkapitän und der andere ein Zivilist in Uniform. Hoag stellte sie uns vor und hielt eine kurze Rede. »Meine Herren«, begann er, »ich habe gute und schlechte Nachricht für Sie. Zuerst die schlechte Nachricht: Wir werden unseren ganzen Arbeitsplan umwerfen müssen. Wir müssen unsere Koralle vom Innenstrand des Knicks wegbaggern, um die ganze Rollbahn bis auf die Randstreifen damit pflastern zu können. Ich erwarte von Ihnen, meine Herren, daß Sie Ihr Arbeitsprogramm dementsprechend ändern. Die gute Nachricht ist, daß unsere Rollbahnen, wenn wir für ihre Pflasterung lebende Koralle benutzen, die besten in der ganzen Zone sein werden. Weil wir sie durch ausgiebiges Besprengen mit Salzwasser am Leben erhalten können. Und lebende Koralle bindet besser, ist elastischer und sammelt keinen Staub an.« Eine erregte Diskussion entspann sich nach dieser Mitteilung. War der Alte verrückt geworden? Hoag ließ seine sich ereifernden Männer dieses Projekt in Grund und Boden verdammen und bat dann den Zivilisten, eine sachliche Erklärung abzugeben. Der Sachverständige faßte sich kurz. »Ich -174-
weiß, es klingt absurd«, sagte er. »Aber wir haben tatsächlich festgestellt, daß die Koralle am Leben bleibt, wenn sie täglich mit frischem Meerwasser begossen wird. Und solange diese Organismen leben, wachsen sie, wenn auch kaum merklich, weiter und füllen die Lücken aus, die sonst entstehen würden. Ihre Flugzeuge landen dann also auf einer lebenden, elastischen Matte. Sie brauchen nichts weiter zu tun, als diesen Korallenboden mit Meerwasser zu begießen.« Daraufhin ergriff der Fregattenkapitän das Wort. »Wir haben uns zu diesem Experiment - nein, es ist gar kein Experiment, es ist eine Erfahrung! Aber wir haben beschlossen, sie zum erstenmal in großem Stil auf Konora anzuwenden. Ein Schiff mit Spezialbaggern liegt draußen vor Lunga Point. Und für das Besprengen haben wir vier massive Milchwagen mit Glasbehältern und rostfreien Hähnen. Wir haben die Entscheidung darüber Commander Hoag überlassen. Wir zwingen sie ihm keineswegs auf. Denn es ist immer noch von größter Wichtigkeit, daß er seinen Termin einhält. Sie werden aber bei dieser neuen Methode ein viel leichteres Arbeiten haben.« Es folgte ein langes Schweigen. Dann trat ein Fähnrich vor. »Sie baggern die Koralle aus dem Meer?« fragte er. »Ja, Sir.« »Mit Spezialmaschinen?« »Ja, Sir.« »Benzin oder Diesel?« »Diesel.« Weitere Fragen wurden nicht gestellt. Commander Hoag dachte einen Augenblick nach und betrachtete die Karte. Offenbar wollte er noch etwas bemerken, unterließ es dann aber. »Das wäre alles, meine Herren«, sagte er nur trocken. »Sie wissen, was das bedeutet. Führen Sie Ihre Straßen hier lang. Ach ja, das war's, was mir nicht einfallen wollte. Die Fahrwege für die Lastwagen müssen bis zu den beiden Enden des Rollfeldes -175-
führen. Perlstein sagte mir, er brauche zum Ausfüllen der Grube mindestens zwölf Tage. Wir werden von beiden Seiten zur Mitte zu hinarbeiten.« Die Besucher verabschiedeten sich, und in derselben Nacht nahm unser Schiff Kurs nach Norden. Im Schlepp hatten wir das neue Schiff mit dieser sonderbaren Baggervorrichtung. Es fiel mir auf, daß die Offiziere sich über die Idee mit der lebenden Koralle nicht me hr lustig machten. »Dieser Zivilist scheint etwas loszuhaben«, sagte einer der widerborstigsten jungen Leute. Doch beklagten sie sich bitter über die zusätzliche Arbeit. Wenn man sie so reden hörte, hätte man es für absolut unmöglich gehalten, auch nur eine einzige weitere Straße auf Konora zu bauen. Alle Einwände verstummten völlig, als wir eines Morgens fünf Truppentransportern mit Seesoldaten begegneten. Es war ein feierlicher Augenblick, als sie in Sicht kamen. Wir wußten, was das für Schiffe waren und daß unser Erfolg und unser Leben von diesen zähen Jungs abhing. In solchen Augenblicken wird ein Bund geschlossen, den auch das härteste Mißgeschick nicht mehr lösen kann. Von diesem Augenblick an waren die Seesoldaten auf diesen Schiffen unsere Freunde. Wir sollten keinen von ihnen zu sehen bekommen, bis wir die Küsten betraten, die sie für uns erobert hatten, und einige von ihnen, die wir dann am Strand liegen sahen, sollten nie mit uns sprechen... Das waren unsere Freunde, die Seesoldaten. Zwei Tage später scherten schwere Kreuzer ein, und am nächsten Tag griffen wir Konora an. Den ganzen Tag lang wechselte unser Luftbombardement mit dem Geschützfeuer unserer Schiffe ab. Es war großartig, zu beobachten, wie auf die Sekunde genau unsere Streitkräfte einander ablösten. Es war herrlich, daran zu denken, welch geistige Kraft da am Werke war. Und es war scheußlich, sich vorzustellen, daß man selbst dort auf dieser Insel sein könnte. Ich erinnere mich noch deutlich meiner Gedanken: ›Vor langer Zeit haben die Japaner uns so zugesetzt und uns auf Guadal bombardiert. Merkwürdig, -176-
aber das werden sie nie wieder tun!‹ In der Nacht heulten schwere Granaten durch die Luft, und um vier Uhr morgens sahen wir die ersten Seesoldaten an Land gehen. Die Landung war weder tragisch noch leicht. Es war die übliche Landung der Seesoldaten, mit einigen Verlusten, aber mit dem geplanten Erfolg. Um vier Uhr dreißig nachmittags gingen die ersten Abteilungen der Seebienen an Land. Sie sollten Baracken aufschlagen und einen Lagerplatz freimachen. Nachts wurden sie von den Japsen angegriffen und vier Seebienen fielen. Bei Tagesanbruch fuhren unsere ersten großen Leichter auf die Küste zu. Sie hatten Luther Billis, ein Dutzend Raupenschlepper und Leutnant Perlstein mit seinen Männern an Bord. Ich sah sie, als sie am Strand aufliefen. Drei Minuten später rumpelte schon ein Trecker über den Sand und fuhr in das Unterholz hinein. Nach vier weiteren Minuten fiel bereits der erste Baum. Den ganzen Tag fuhren Perlstein und seine Männer in rasendem Tempo dem Korallenberg entgegen. Zu ihrem Schutz mußten zwei Kompanien der Seesoldaten eingesetzt werden. Bei Sonnenuntergang hatte Perlstein die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Seine Männer arbeiteten die ganze Nacht bei gespenstischem Fackelschein, und zwei von ihnen wurden verwundet. Einer der beiden Verwundeten war Luther Billis, der darauf bestand, in den vordersten Reihen zu sein. Er hatte nur eine leichte Fleischwunde, aber der Sanitäter, der ihn verband, war ein kleiner Witzbold. Er trug ein selbstgemachtes rotes Pappherz bei sich, das er Billis an die Hosen steckte, da der ›große Schieber‹ nicht dazu zu bewegen war, ein Hemd zu tragen. Am nächsten Morgen drängte er sich an die Spitze der Schlange, die nach Kaffee anstand. »Ich bin ein Mordsheld!« brüllte er. »Besondere Vergünstigungen!« Dann fing er an, die Seesoldaten zu beschimpfen, wobei er kein Blatt vor den Mund nahm. »Diese elende Bande hat mich im Stich gelassen«, schrie er laut. »Ist einfach weggelaufen, als es brenzlig wurde!« Die -177-
Seesoldaten, die für den dicken Nomaden etwas übrig hatten, stellten daraufhin ein Schild auf, das in chromgelben Buchstaben die Inschrift ›Billis-Boulevard‹ trug. Der Name ist auf Konora noch heute unvergessen. Es befanden sich doch mehr Japaner auf der Insel, als wir angenommen hatten. Es wäre zwar übertrieben zu sagen, daß die Seebienen ihre Tätigkeit einstellen mußten, um gegen die gelben Teufel zu kämpfen, aber jeder Arbeitstrupp brauchte einen Infanterieschutz. Wenn keine Seesoldaten verfügbar waren, mußten die Seebienen ihre eigenen Schützen stellen. Vierzig Jahre alte Handwerker, die erwartet hatten, in Pearl Harbour zu arbeiten und zwischen Bettlaken zu schlafen, knurrten und fluchten und griffen zum Gewehr. Ich bezweifle jedoch, daß die Seebienen alle miteinander auch nur zwei Japaner erschossen. Aber sicherlich verfeuerten sie eine Menge Munition! Am dritten Tag gelang es den Seesoldaten, an einem sicheren Platz ein Radargerät anzubringen, und um sieben Uhr abends erreichte Perlstein sein erstes Ziel: den Korallenberg. Billis und ein paar andere Rowdies eröffneten zur Feier dieses Ereignisses ein heftiges Sperrfeuer. Der Kommandant der Seesoldaten schickte sofort einen Melder hin, um zu erfahren, was da los war. Er war außer sich, als er die Erklärung hörte, und bat Hoag zu sich. »Ich verbitte mir diesen Unfug von Ihren Männern!« fuhr er ihn an. »Jawohl, Sir«, erwiderte Hoag schneidig, aber er sagte keinem Menschen etwas von dieser Zurechtweisung. Am fünften Tag, an dem die Zugmaschinen und Bagger Konora schon übel zugerichtet hatten, überzeugte ich mich selbst davon, wie sich die Sache mit den lebenden Korallen anließ. In der Lagune, innerhalb der schützenden Ausbuchtung unter dem Knick, war eine tatkräftige Mannschaft bereits eifrig mit dem Baggern zugange. Sie operierten mit einem Dutzend -178-
massiver Stahlklauen, die sie bis auf den Korallengrund ins Wasser senkten. Wenn sie wieder auftauchten, wurden diese Klauen zum Strand hinübergezogen, wo eine Schüttvorrichtung die ausgebaggerte Koralle in Haufen aufschichtete. Als ich dastand und mir das ansah, ragte hinter mir aus dem Dschungel wie ein vorsintflutliches Ungeheuer ein riesiger Dampfkran auf. Er bewegte sich mit einer grauenhaften Langsamkeit und einem malmenden und knirschenden Geräusch. Bedächtig rückte er so weit auf den Strand vor, daß er die lebende Koralle einschaufeln und dann auf die Lastautos verteilen konnte, die schon bereitstanden, um ihre erste Ladung in Empfang zu nehmen. »Wollen Sie sich mal ansehen, was wir da rausholen?« fragte mich ein Offizier. Ich ging mit ihm bis zu dem entferntesten Bagger. Wir warteten, bis eine neue Ladung hochgewunden und ausgeschüttet wurde. Dann traten wir vor, um uns die Ausbeute näher zu betrachten. In dem zerstampften Haufen zu unseren Füßen erblickten wir ein Wunderland. Die Koralle wächst wie ein Unterwasserstrauch, und zwar in vielen Farben, vom zartesten Pastellgrün bis zu purpurnen, blutroten Tönen. Es gibt blaue, violette, graue, amethyst- und orangefarbene und hin und wieder sogar einen Strauch tiefschwarzer Korallen. Wie die Haut des Menschen werden sie immer blasser, wenn ihr Ende naht, und im Tode ganz weiß. Der Offizier brach einen Zweig lebender Koralle ab und reichte ihn mir. Sie war violett und bestand aus einem steinartigen, bereits verkalkten Skelett. Daran haftete ein weiches mineralisches Segment von einer fahlen weißen Färbung. Die äußerste Spitze war fast rein pflanzlich. Sie sonderte eine trübe Milch ab, die einen üblen Geruch ausströmte. Und überall befanden sich Saugnäpfe wie an den Fangarmen der Kraken. Das waren die Triebe, die sich nicht entwickelt hatten. Es war unmöglich, sich vorzustellen, daß aus diesem -179-
winzigen Organismus und seinem verhärteten äußeren Skelett die Insel entstanden war, auf der wir uns gerade befanden, und in diesem Augenblick überall im Stillen Ozean Tausende von neuen Inseln entstanden, von denen die meisten freilich nicht aus dem Wasser aufragen, sondern unterirdische Paläste von märchenhafter Schönheit bleiben würden. Ebenso schwer war es zu glauben, daß diese übelriechende weißliche Flüssigkeit bald der Arbeit unserer Seebienen zugute kommen sollte. Die Tage schleppten sich weiter. Ich bekam Perlstein kaum noch zu sehen, aber ich hörte, daß er mit allen möglichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Am siebenten Tag hatte er besonders großes Pech. Ein japanischer Bomber überflog die Insel, einer von neun, die es versuchten, und legte sein Ei direkt auf Perlsteins Dampfkran. Tötete zwei Mann und verwundete einen. Der Kran sei hin, hieß es. Ich wurde hinaufgeschickt, um den Schaden zu begutachten und zu sehen, was ich tun könnte, um ihm einen Ersatz zu verschaffen. Perlstein hatte Tränen in den Augen. »Gott verdamm mich!« sagte er. »Da plagt man sich und plagt man sich, und dann muß so etwas passieren!« Er untersuchte den zertrümmerten Kran. Ich verstand nicht viel von Maschinen, aber es schien mir doch, als sei der Kran nicht allzu schwer beschädigt. Als die beiden Leichen fortgetragen wurden, sahen wir uns das, was von der Maschinerie noch übriggeblieben war, etwas eingehe nder an. »Billis?« fragte ich. »Können Sie das Ding nicht auch ohne Motor noch benutzen? Ich meine, könnten Sie es nicht durch einen Traktor in Gang bringen? Der Hebearm funktioniert doch noch.« Billis und seine Männer überlegten sich diese vertrackte Aufgabe, die ich ihnen da gestellt hatte. »Es ließe sich vielleicht machen, Sir«, sagte der schmutzige dicke Kerl schließlich. »Aber es würde...« »Probieren wir's doch gleich mal aus!« rief Perlstein, als er -180-
kapiert hatte, was sich da tun ließ. »Hört mal zu, Jungens! Wir brauchen doch nichts weiter zu tun, als die Koralle hierher zu schleppen. Dann brauchen wir den Kran nicht mehr von der Stelle zu rücken. Wollen mal sehen, was wir da tun können!« Ich verließ Perlstein, der, nackt bis zum Gürtel, hoch oben auf dem Hebearm saß, wo er ein paar Schrauben herausdrehte. Nachts konnten wir es im Dschungel schießen hören. Ein paar Männer schworen darauf, ein paar Japse hätten unsere Linien durchbrochen und Nahrungsmittel gestohlen. Andere hatten Angst davor, einzuschla fen. Aber allmählich drangen wir doch immer weiter und weiter vor. Augenscheinlich gab es jetzt in der Mitte der Insel keine Japaner mehr. Und die Seesoldaten waren auf beiden Spitzen gelandet, so daß für die Gelben nur noch zwei schmale Kessel übrigblieben, in die sie immer tiefer hineingetrieben wurden. Am achten Tag veranstalteten die Neuseeländer für uns einen fürchterlichen Luftzirkus. Zwei Staffeln japanischer Jäger kamen angeflogen und schossen uns ziemlich böse zusammen. Acht Mann wurden verwundet und drei getötet. Aber die Neuseeländer, diese tollkühnen Burschen, trieben die Japaner aufs Meer hinaus und schossen einen nach dem anderen ab. Natürlich hörten wir alle auf zu arbeiten, und wir zählten sieben japanische Flugzeuge, die entweder ins Meer oder auf Konora abstürzten. Ein rabiater Japs versuchte, auf dem Rollfeld niederzugehen, statt dessen schlug er auf den Korallenberg auf, zertrümmerte dabei Perlsteins notdürftig zusammengeflickten Kran völlig und verletzte vier Mann. An dem Abend fand eine eilige Besprechung statt. Es wurde beschlossen, den Dampfkran am Stand zum Berghang hinaufzutransportieren. Denn wenn die Grube dort oben nicht ausgefüllt wurde, hatte es wenig Zweck, noch weiter lebende Koralle zu fördern. Also begab sich um neun Uhr abends eine seltsame Prozession quer durch Konora. Billis fuhr vorneweg auf seinem Lieblingstraktor. Jeder Baum, der die Überführung -181-
des Dampfkrans behindern konnte, wurde umgelegt. Ich fand es erstaunlich, wie leicht so ein riesiger Baum entwurzelt und beiseite geschoben werden konnte. Später erzählte mir Billis, das käme daher, weil die Wurzeln nirgends Halt fanden. Sie vermochten die harten Korallenskelette nicht zu durchdringen. Langsam, mit fürchterlichen Geräuschen, krochen wir auf den Dschungelpfaden weiter. An einer Stelle hatte sich Wasser angesammelt, und der Raupenschlepper sackte weg. Wir mußten eine Stunde warten, bis ein anderer kam, um ihn freizukriegen. Dann stießen diese beiden Ungetüme zusammen einen Baum nach dem anderen in diese Senke. Langsam bahnte sich der riesige Kran seinen Weg bis zu der Notbrücke, in die Mitte und hinüber. Unterdessen war Billis wieder an der Spitze des Zuges und legte einen Nesselbaum um. Am Fuß des Hügels warfen sechs Traktoren Stahlseile aus und hievten dann den Kran Zoll für Zoll den Hang hinauf. Im Morgengrauen stand er an der richtigen Stelle. Im Morgengrauen hatte ein schlauer Fähnrich bei den Korallengruben am Strand eine Art Podest errichtet, das es ermöglichte, die Bagger direkt in die Lastwagen zu entleeren. Im Morgengrauen ging die Arbeit weiter. In dieser ganzen Zeit war Commander Hoag ein großes, unerschöpfliches Kraftreservoir. Er war ständig auf den Beinen und packte überall mit an. Er half auch beim Bau des Podests am Ufer über den unter Wasser liegenden Korallengruben mit. Immer wieder besuchte er die Verwundeten und mußte die Zähne zusammenbeißen, als er sah, wie einem prächtigen jungen Kameraden das Bein abgenommen wurde. Aber meistens hielt er sich auf dem Rollfeld auf. Die Arbeit ging dort so langsam voran. Gott, sie kroch nur weiter! Zwei Trupps, die von beiden Enden zur Mitte vorrückten, hatten mit ihren Räumern alle Bäume umgelegt und sie in die Südecke der Schlucht geworfen. Hoag wollte nicht erlauben, daß auch der Teil, über den die Rollbahn hinwegführte, mit -182-
Bäumen ausgefüllt wurde. Dazu durfte nur Koralle verwandt werden. Als nächstes wurde die oberste Erdschicht abgeschürft, um die am höchsten gelegene Seite der Schlucht zu blockieren. Auf diese Weise wurde der natürliche Abfluß des Regenwassers in den Ozean geleitet, ohne die Rollbahn zu berühren. Das ließ einen langen schönen Streifen gewachsenen Korallengesteins frei, der in der Mitte von der Schlucht unterbrochen wurde. Wieder von den beiden Enden her stießen die Raupenbagger die oberste Korallenschicht auf die Schlucht zu. Inzwischen begannen auch Perlsteins Lastautos zu rollen. Vierundzwanzig Stunden lang wurde jeden Tag die Koralle vom Berg abgetragen und hinunter zum Rollfeld befördert. Und gleichzeitig wurde die lebende Koralle aus dem Meer zu den beiden Enden der Bahn transportiert. Sechs Dampfwalzen rollten ständig hin und her. Am Nordende der Bahn baute eine Gruppe von Zimmerleuten die Baracke für die Flugleitung. Elektriker hatten bereits zwei identische Kraftwerke gebaut und montierten jetzt auf der ganzen Strecke die Scheinwerfer. Von nun an gab es auf Konora zwischen Tag und Nacht keinen Unterschied mehr. Bisher war noch keiner außer Hoag davon überzeugt, daß die Rollbahn rechtzeitig fertig sein würde. In seinem Auftrag schickte ich Admiral Kester eine Nachricht, die ihm versicherte, daß er die Landung unserer Bomber auf Konora zur verabredeten Zeit festsetzen könne. Am sechzehnten Tag würden die Bomber hier sein! Wir fragten uns nur, ob es hier dann auch ein Rollfeld geben würde, auf dem sie landen konnten. Zu der Zeit ereignete sich eine wunderbare Geschichte. Luther Billis verschwand für zwei Tage. Wir dachten schon, er läge irgendwo tot im Busch, aber am Abend des zweiten Tages kam er mit zwei Samuraischwertern ins Lager zurück. Das eine überreichte er Commander Hoag gerade noch, bevor er ins Loch kam. Nach dem Abendessen kam der Kommandant der Seesoldaten herüber und fragte Commander Hoag, ob er nicht -183-
bitte die Anklage gegen Billis fallen lassen könne. Anscheinend hatten ein paar Seesoldaten damit geprahlt, was für fabelhafte Kerle sie wären, und Billis hörte sich das eine Weile mit an und wettete dann mit ihnen, daß er zum Kessel auf der Westseite der Insel gehen und sich ein japanisches Schwert holen würde, was sie ja auf der Ostseite versuchen könnten, aber sicher nicht fertigbrächten. Offenbar hatte Billis die Wette gewonnen, und es sei doch nicht richtig, meinten die Seesoldaten, daß er dafür bestraft werden sollte. Außerdem hatte er ihnen gesagt, wo sich das japanische Lager befand. Commander Hoag ließ sich das einen Augenblick. durch den Kopf gehen und setzte den ›großen Schieber‹ wieder in Freiheit. Billis erzählte uns dann sein ganzes Abenteuer. Seine alte Dame besaß, scheint's, einen Zeitungsstand in Pittsburgh. Aus Guadal hatte er ihr das Ohr eines Japsen geschickt, und das hängte sie in ihrer Bude auf. Die Leute liefen von überall her zusammen, um es sich anzusehen. Er hatte ihr auch ein japanisches Schwert versprochen, und da hatte er gedacht, das wolle er nun auch holen. Er würde es ihr nach Pittsburgh schicken. Was Commander Hoag mit seinem Schwert anfing, darüber konnte sich der Alte selber den Kopf zerbrechen. In dieser Nacht goß es in Strömen. Im Licht der Scheinwerfer sah man die Männer auf dem Rollfeld bis über die Knöchel im Wasser stehen. Das Bollwerk am Graben hielt, Gott sei Dank. Die Erde und die Baumstämme leiteten das Regenwasser tatsächlich ab. Am Morgen war kaum noch eine Spur davon zu sehen. Die Männer, die während der Sintflut geschlafen hatten, wollten nicht glauben, daß es eine gegeben hatte. Inzwischen waren auch die Milchwagen eingesetzt. Die Fahrer waren die Zielscheibe unbarmherzigen Spottes, besonders einer, der vergessen hatte, die Hähne zuzudrehen, und mit leeren Wagen ankam. Am selben Tag überschlug sich einer von Perlsteins Fahrern, der in einem tollen Tempo den Hügel hinunterraste, und brach sich das Genick. Und sein Laster war -184-
so schwer beschädigt, daß er nicht mehr repariert werden konnte. Daraufhin wurde an der gefährlichen Stelle ein Posten hingestellt, der die Fahrer ermahnte, etwas zu bremsen; aber am nächsten Tag überschlug sich wieder ein Lastwagen. Der Fahrer brach sich nur beide Beine, aber das Lastauto war hin. »Ich kann sie nicht dazu bringen, langsamer zu fahren«, wandte Leutnant Perls tein ein. »Sie wissen, wann wir fertig sein müssen.« Die Japsen wußten das anscheinend auch, denn sie schickten jetzt jede Nacht eine größere Anzahl Bomber und außerdem noch vier oder fünf einzelne Störflugzeuge zu uns herüber. »Wir werden die Scheinwerfer ausdrehen müssen«, beschloß Commander Hoag widerstrebend. Doch als wir mit der Arbeit in zu großen Rückstand kamen, verkündete er, daß die Vierundzwanzig-Stunden-Schicht wiederaufgenommen werde. Amerikanische Nachtjäger wurden ausgeschickt, um uns zu helfen. Sie schossen schon in der ersten Nacht, in der die Scheinwerfer wieder brannten, zwei japanische Bomber ab, und seitdem kam keiner von den Seebienen mehr durch eine Bombe ums Leben. Die Männer, die auf dem Rollfeld arbeiteten, konnten unsere Flieger nicht genug loben. Es war ein gutes Gefühl, da oben in der Luft die Yankeejäger zu wissen. Am Morgen des fünfzehnten Tages meldete sich Leutnant Perlstein, hager, unrasiert und sichtlich nervös, bei Commander Hoag. »Sie können das Rollfeld übernehmen, Sir. Die Grube ist ausgefüllt, da geht kein Stückchen Koralle mehr rein.« Hoag sagte nichts. Er schüttelte Perlstein nur herzlich die Hand. Als der Leutnant gehen wollte, machte Hoag noch einen Vorschlag. »Warum schlafen Sie heute nacht nicht auf einem der Boote? Sie können etwas Ruhe gebrauchen.« Am Nachmittag gab es einen merkwürdigen Zwischenfall, über den ich mir immer wieder den Kopf zerbrochen habe. Ein Aufklärer von unserer Luftsicherung kriegte sich mit einem japanischen Störflugzeug in die Wolle und schoß es ab. Der Japs -185-
stürzte brennend ins Meer. Sie versuchten es immer von neuem, die Rollbahn zu treffen, aber diesem war es nicht gelungen. Bevor er jedoch seinen letzten langen Abschwung machte, knallte er unserem Aufklärer noch eins vor den Bauch, und der Pilot sah sich vor eine schwere Entscheidung gestellt. Er konnte eine Wasserlandung versuchen oder auf dem unfertigen Rollfeld aufsetzen. »Macht die Platzmitte frei!« funkte er. »Ich komme rein.« Als seine Absicht deutlich wurde, geriet Commander Hoag außer sich vor Wut. »Haltet das Flugzeug auf!« schrie er dem Flugleiter zu, aber der kümmerte sich nicht darum. Hoag hatte nicht das Recht, ihm einen solchen Befehl zu geben. Zitternd beobachtete Hoag, wie die Maschine angebraust kam, bedenklich schwankte, als sie sich dem noch ungepflasterten Mittelteil näherte, und dann über den schmalen Streifen rutschte, der schon gepflastert war. Die Mannschaften tobten vor Begeisterung über diese wunderbare Landung und rannten auf das Flugzeug zu. Den Revolver in der hoch erhobenen Hand, brüllte Commander Hoag, jeder habe sofort zu seiner Arbeit zurückzukehren. Er war nicht mehr wiederzuerkennen. Aus dem Sitz des Piloten kletterte Bus Adams. Er grinste mich an und streckte dem Commander die Hand hin. »Sie hatten kein Recht, hier zu landen!« tobte Hoag. »Ich habe es ausdrücklich verboten! Sehen Sie sich mal an, was Sie hier angerichtet haben!« Adams warf mir einen beredten Blick zu und tippte sich auf die Stirn. »Nein, nein!« wies ich ihn zurecht. »Rollt das Flugzeug sofort von der Bahn weg. Wenn's nicht anders geht, schmeißt es einfach runter!« schrie Hoag. Er weigerte sich, auch nur noch ein einziges Wort mit Bus zu sprechen. Als die Maschine von den Männern, die sich fragten, wie Bus sie bloß reingeschaukelt hatte, auf einen Randstreifen -186-
gezogen wurde, rannte Commander Hoag davon. Am Abend aber suchte er Bus und mich auf. Er sah sehr müde und abgehärmt aus, wie ein alter Mann. Er wollte sich nicht zu uns setzen und erlaubte uns auch nicht, seine Entschuldigung zu unterbrechen. »Seit sechs Wochen habe ich nichts anderes getan, als mich zu sorgen und mir zu überlegen, wie wir dieses Rollfeld fertigkriegen, damit unsere Bomber am sechzehnten Tag darauf landen können. Wir haben mehrmals unser Programm ändern und gegen Regengüsse, Unglücksfälle und jedes andere erdenkliche Pech ankämpfen müssen. Und dann kommen Sie heute nachmittag einfach angebraust und landen hier. Und da habe ich eben den Kopf verloren. Verstehen Sie, Sir«, sagte er zu Bus. »Wir haben eine Menge Männer auf diesem Feld verloren. Jeder Meter ist teuer bezahlt. Darüber kommt man nicht so leicht hinweg.« Er verließ uns. Ich weiß nicht, ob er in dieser Nacht überhaupt geschlafen hat, denn am nächsten Morgen stand er mit demselben verhärmten Gesicht schon um sieben Uhr da und wartete auf uns. Es war der sechzehnte Tag, und die Bomber aus Guadalcanal und Munda konnten jeden Augenblick einfliegen. Die Grube war ausgefüllt. An der Küste parkten die Lastwagen, und auf dem Hügel rostete der Kran. Auf dem nördlichen und südlichen Schenkel der Insel überlegten sich die Japse verzweifelt, wie sie unsere Soldaten überlisten konnten. Und überall im Pazifik waren gewaltige Vorbereitungen für die Landung auf Kuralei im Gange. Es war ein wichtiger Tag. Dann tauchten im Osten ein paar Punkte auf. Das waren sie. Das waren unsere Bomber! Im Funkturm wurden Befehle ausgegeben. Die Punkte vergrößerten sich mit mathematischer Genauigkeit. Es war einfach ein fabelhaftes Schauspiel. In ihrer ganzen Pracht kurvten die Maschinen über dem Rollfeld, dem besten in der Südsee. Dann formierten sie sich zu einer Staffel, und der erste Bomber, der auf Konora landen sollte, kam -187-
angeschwirrt. Die Bahn war wunderbar elastisch, getragen von lebenden Korallen, eine herrliche Leistung und der Entschluß freier Männer. Genau in diesem Augenblick sprangen drei japanische Soldaten, die in tödlichem Schweigen in der Nähe der Rollbahn die Landung abgewartet hatten, aus ihrer Deckung hervor und versuchten, den Bomber abzuknallen. Zwei wurden von den Seesoldaten erschossen, aber der dritte Mann raste wie ein Verrückter weiter. Die Augen traten ihm aus dem Kopf, und die Haare hingen ihm über das vor Haß verzerrte Gesicht; so rannte dieses primitive Geschöpf wie das Ebenbild seiner rätselhaften Ahnen aus der Vorzeit auf uns zu. Eine Handgranate an den Leib gepreßt, warf er sich uns mit einem lauten ›Banzai‹ entgegen und riß Commander Hoag zu Boden. Die Granate explodierte. Sie brachte den wahnsinnigen Japs in einen Himmel, der für die Japaner, die Harakiri begehen, reserviert ist, und sie brachte Commander Hoag, einem freien Mann, einem geistig hochstehenden und uranständigen Mann, einem Mann, für den andere Männer durchs Feuer gingen... diese grausige, infame, sinnlose Tat brachte Hoag den Tod. Aber über uns kurvten die Bomber, landeten auf dem Rollfeld und flogen dann von Konora aus weiter nach Kuralei, Manila und Tokio.
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Wie sie sich verbrüderten »Die Einsamkeit! Dieses Verlangen!« In Konora warf ein Flieger diese Worte in die kühle Nacht. Wir wußten, daß die Landung auf Kuralei bald vor sich gehen würde. Wir dachten alle an begehrenswerte Dinge. Das eine der beiden Worte traf Bus Adams. »Verdammt noch mal!« rief er aus. »Ich kann euch sagen! Manchmal überkam mich hier draußen ein Verlangen, daß es mich fast in Stücke zerriß.« Die Sterne funkelten über der stillen Lagune. »Einem japanischen Schiff einen Volltreffer in den Bauch zu jagen! Ein Fußballspiel im Schnee zu sehen. Die Tochter des Franzosen zu küssen.« Die letzte Flasche Bier war geleert worden. Es war Zeit, schlafen zu gehen, aber wir blieben noch unter den Kokospalmen sitzen. Bus betrachtete den auf dem Kopf stehenden Orion in dem Durcheinander des flimmernden Sternenhimmels. »Habe ich euch je die Geschichte von der Tochter des Franzosen erzählt?« fragte er. Wir beugten uns vor. Ein Franzose! Und seine Tochter! Das klang nach einer pikanten erotischen Geschichte. In vieler Hinsicht war sie das auch. ›Es gab zwei Häuser in Luana Pori‹ - begann Bus. ›Es gab das Rote Haus für die Mannschaften. Da kostete es fünf Dollar, und man mußte Schlange stehen. Im Grünen Haus kostete es zehn Dollar, aber dafür war das Ganze auch etwas kultivierter aufgezogen. Das Grüne Haus war natürlich nur für die Offiziere. Nach allem, was ich hörte, war das Rote Haus eine ziemlich finstere Angelegenheit. Die Mädchen waren fast ausschließlich Javanerinnen oder melanesische Mischlinge. Freilich, sie hielten sich da auch immer ein paar hübsche Französinnen als Köder, aber alles in allem war es einem in dem Roten Haus ziemlich egal, wie die Mädchen aussahen. Schließlich war es ja keine -189-
Gemäldegalerie. Die Mädchen in dem Grünen Haus waren ganz anders. Sie konnten sich mit einem auf englisch unterhalten, einem etwas auf dem blechernen Klavier vorspielen und sogar den Tee servieren wie in der guten Gesellschaft. Bei ihnen war es eine Sache ihrer Berufsehre, uns zur Unterhaltung auch ein paar gesellschaftliche Feinheiten zu bieten. Zum Beispiel eine kleine Tanzerei, eine Bridgepartie oder eine Teestunde. Sogar ein offizielles Diner. Ins Grüne Haus ging man nicht einfach hin und klopfte an die Tür und bat um ein Mädchen. Wenn man das getan hätte, wäre eine ältliche französische Dame erschienen und wäre höchst überrascht und ehrlich bestürzt gewesen. Es gab verschiedene Möglichkeiten, im Grünen Haus Einlaß zu finden. Mit der Zeit kam man schon dahinter, auf welche Weise. Wenn man daran interessiert war. Hier möchte ich gleich eine Sache ganz klarstellen: Die Tochter des Franzosen hatte nichts mit den beiden Häusern in Luana Pori zu tun. Davon bin ich fest überzeugt. Ich weiß, Oberstleutnant Haricot glaubte Beweise dafür zu haben, daß die Häuser ihr gehörten. Das glaube ich aber nicht. Und was die unverschämte Behauptung ihres Schwiegervaters angeht, sein Sohn habe sie in dem Rosa Haus unten in Numea kennengelernt - nun, der war ein fanatischer alter Wirrkopf, der vor nichts zurückschreckte. Zuletzt hat er sich den Kopf an der Wand seiner Gefängniszelle eingeschlagen und ist tatsächlich auf diese Weise krepiert. Das Mädchen war eine halbe Javanerin. Sie war damals etwa dreiundzwanzig, wog keine hundert Pfund und war nicht ganz einen Meter sechzig groß. Sie war sehr schlank, sehr zäh und selbstbewußt. Sie hatte breite Schultern, schmale Hüften und auffallend lange Finger. Ein Seesoldat sagte einmal, wenn sie einem alten Mann die Wange streichelte, ›sah das aus, als spiele sie Geige‹. -190-
Sie hatte einen kleinen Kopf, aber keinen Stecknadelkopf, versteht ihr. Er wirkte nur noch kleiner, weil sie ihr Haar in der Mitte gescheitelt und glatt über den Ohren trug. Sie veränderte diese Frisur oft. Am besten gefiel sie mir, wenn sie sich eine Jasminblüte hinter das linke Ohr steckte. Kennt ihr Jasmin? Eine weiße wächserne Blüte. Wunderhübsch. So ähnlich wie die Hartriegelblüten. Nur etwas dunkler. Ebenso sah sie aus wie alle schönen Mädchen, die dir je begegnet sind. Nur etwas dunkler. Ihr Vater war der alte Pflanzer, von dem ich euch schon erzählt habe. Wirklich ein Original. Lebte weiter oben auf einer der nördlicheren Inseln. Ihre Mutter war eine javanische Dienerin. Es war schwer zu sagen, wem von ihren Eltern sie ähnlicher war. Sie war eine Asiatin, das stimmt. Sie hatte die Schlitzaugen. Aber sie hatte auch französische Züge. Sie war ebenso klug, geistreich, tiefsinnig, betriebsam und heißblütig wie ihr alter Herr und - ja, verdammt sinnlich. Aber auf eine reizende Art, versteht ihr. Nicht derb! Und dann war sie auch wieder geheimnisvoll und schwermütig, still und versonnen wie eine Katze. Das hatte sie wohl von ihrer Mutter geerbt. Ich lernte sie auf eine ganz vertrackte Weise kennen‹, sagte Bus. ›Eines Tages landete ich auf dem Flugplatz von Luana Pori, lieh mir einen Jeep und fuhr an den beiden öffentlichen Häusern vorbei zu ihrer Plantage. Weißer Lattenzaun, wißt ihr, und großer Blumengarten. »Madame Barzan«, sagte ich. »Weiter oben im Norden... wurde einer unserer Flieger abgeschossen. Er starb. Nicht gerade in meinen Armen, aber er sagte mir noch...« Sie legte den Kopf auf die Seite und lächelte mich an. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Mister Adams. Auf dem Flugplatz sagen sie: ›Der Adams ist richtig.‹ Erzählen Sie mir keine Märchen, Bus. Wollen Sie heute abend hier essen?«‹ ›Ich glaube‹, sagte Bus, ›daß jeder, der einmal bei Latouche Barzan zum Abendessen eingeladen war, mir beistimmen wird, daß ihre Diners ein denkwürdiges Erlebnis waren. Auf ihrer -191-
Plantage gab es viele kleine Häuser. Für welchen Zweck die alle gebaut wurden, habe ich nie erfahren. Das eine war ein prächtiger Salon. Fußboden, Dach und Wände alles aus Bambusmatten. Die Einrichtung bestand aus einem Dutzend oder noch mehr Stühlen, vier kleinen Tischen, drei langen Bänken und einer Bar. Vor dem Essen versammelten wir uns dort zu einem Drink. Fast alle Offiziere auf Luana Pori konnte man bei Latouche antreffen. Jeder war willkommen. Wir genossen es alle, zu beobachten, wie sie ihr maskenhaft glattes Gesicht zu einem durchtriebenen französischen Lächeln verzog, wenn sie irgendeinem ältlichen Oberst ein paar neue Reifen für ihr australisches Auto oder eine Wagenladung Treiböl für ihren Dynamo abschmeichelte. Sie schmollte so reizend, sie schob ihre Unterlippe etwas vor und zog ihre gewölbten Wangen ein. Und wenn man dann als Mann bei ihr stand, mußte man sich schon sehr in der Gewalt haben, um sie nicht in den Arm zu nehmen und zu küssen. Sie wußte das, denn ich habe oft gesehen, wie sie einem der älteren Offiziere ganz dicht auf die Pelle rückte und über seine albernen Witze lachte, bis sie dem alten Narren völlig den Kopf verdreht hatte. Auf diese Weise bekam sie fast alles, was sie für ihren Haus halt und die Pflanzung brauchte. »Ach, Major!« schmollte sie. »Ich möchte so gern ein kleines Haus für unseren Schlachter bauen. Aber woher bekomme ich etwas Zement? Haben Sie nicht welchen übrig?« Dabei geizte sie durchaus nicht etwa mit ihrem Geld. Wie Sie noch hören werden, beköstigte sie die halbe amerikanische Armee auf Luana Pori. Aber für Geld gab es ja nichts zu kaufen. Und wenn die Armee Zement hatte - nun, dann war es nur vernünftig, die Armee zum Essen einzuladen. »Bus?« fragte sie mich eines Abends. »Wo kann ich ein paar Patronen für Kleinkaliber bekommen?« -192-
»Was in aller Welt willst du denn damit anfangen?« fragte ich. »Wildhühner schießen! Wie, glaubst du denn, fangen wir die vielen Wildhühner, die wir hier andauernd auf den Tisch bringen? Indem wir ihnen Salz auf den Schwanz streuen?« Sie lachte leise über ihren Scherz. Womit man sich auch für ihre Diners erkenntlich zeigte, sie waren es wert. Ein Türschloß, eine Eismaschine, eine Rolle neuen Kupferdraht oder eine Flugzeuguhr in einem Kasten aus dem Mahagoniholz eines Propellers. Das machte sich alles bezahlt. Gegen sieben Uhr abends bat uns Noé, der javanische Diener, mit seiner schrillen Stimme zum Essen. Dann gingen wir vom Salon zu dem Speisehaus hinüber. Das war ein ganz schlichter Raum mit einem sehr langen Tisch aus braun gebeiztem Urwaldholz. Latouche saß am oberen Tischende, und ich saß neben ihr, in der ersten Zeit. Während wir darauf warteten, daß die Suppe serviert wurde, bemächtigte sich unser immer eine große Spannung. Dann traten La touches drei Schwestern ein. Zuerst kam Josephine. Sie war neunzehn. Mehr Javanerin als Latouche. Sehr schmal und Brüste, an denen man ewig hätte schlafen mögen. Sie war mit einem Feldwebel von den Seesoldaten verlobt. Er spielte den ernsthaften Bräutigam, um mit ihr, solange er auf Lua na Pori war, zusammenleben zu können. Doch als er auf Konora beinahe daran glauben mußte, benahm er sich wie ein Wilder. Sein kommandierender Offizier ließ ihn mehr als zweitausend Meilen zurückfahren, damit er Josephine heiraten konnte. So ein Mädchen war sie. Laurencin war siebzehn und schön wie Latouche. Marthe war erst fünfzehn, als ich sie kennenlernte. Sie war die Königin des Schwesternquartetts. Da sie seit Kriegsbeginn unter älteren Männern lebte, hatte sie sich ein paar verdammt reizende Tricks angewöhnt. Sie wußte das und blickte mit ihren sanften -193-
Mandelaugen züchtig auf ihren Teller nieder. Doch ein- oder zweimal während jeder Mahlzeit sah sie zu einem der jüngeren Offiziere auf und machte ihn mit ihrem Charme ganz verwirrt. Auf Luana Pori fiel so mancher Bissen auf den Fußboden, meistens von der Gabel der jungen Männer, die ihre Augen nicht von Marthe abwenden konnten. Es gab bei Latouche ausgezeichnet zu essen. Mindestens zweimal wöchentlich ließ sie einen Ochsen schlachten und schickte ihre Eingeborenen in den Wald auf die Jagd nach Wildhühnern oder an den Strand, um Nahrung aus dem Meer zu holen. Und wenn amerikanische Jäger gelegentlich in den Bergen einen Hirsch erlegten, wurde er in ihrer Küche für sie gebraten. Und wann immer ein Schiff aus den Staaten ankam, brachte es irgend jemand immer fertig, einen Lastwagen voll Steaks und Puter und Corned Beef und Mais und Bohnen zu stehlen, den Raub über Nacht in Latouches Vorratskammer zu schmuggeln und ihr zuzuflüstern: »Der Koch in unserer Messe ist ein Stümper. Er kann nicht einmal Wasser kochen. Und gebraucht nie Gewürze!« »Na ja«, sagte Latouche dann mitleidig. »Hier im Dschungel! Was können Sie da schon erwarten? Ich werde das Zeug Noé geben. Wollen mal sehen, was er daraus macht.« Nach dem Essen führte Latouche ihre Gäste in den Salon zurück, wo sie ein halbes Dutzend überaus reizender Französinnen vorfanden. Ich habe nie herausbekommen, wer diese Mädchen waren, wo sie ihre Mahlzeiten einnahmen und wie sie überhaup t auf die Plantage kamen. Aber jedenfalls wurden sie immer in einem Jeep nach Hause gefahren. Sobald die Vorstellungen beendet waren, schlich sich Latouche in das Speisehaus zurück, wo ich auf sie wartete. »Wer sind diese Mädchen?« fragte ich sie eines Abends, als sie sich mit mir zusammen in einen Sessel schmiegte. Sie lächelte, ein mehr javanisches Lächeln. »Ich habe Männer -194-
gern«, sagte sie. »Die amerikanischen Männer habe ich sehr gern. Es ist nicht gut für Männer, immer allein zu sein.« Wie ich hörte, sollen Latouches Diners zu nicht weniger als sechs Hochzeiten geführt haben. Aber für mich kam das Beste, wenn Noé die Teller und Schüsseln abgeräumt hatte und mit der kleinen Lampe in die Küche zurückging. Dann saßen Latouche und ich da in der schattigen Dunkelheit des Eßzimmers und spielten Platten auf dem alten Grammophon, das ihr Vater ihr aus Australien mitgebracht hatte. Sie liebte die amerikanische Musik. Ich mußte oft lachen. Ich saß da im Dunkeln und dachte an die Frauen der Obersten und Majore, die daheim in ihren Bridgeklubs erzählten: ›John fühlt sich so einsam auf diesen Inseln. Die Kinder und ich haben ihm letzte Woche ein paar Platten geschickt.‹ Und da waren sie nun, in Latouches weißem kleinem Speisehaus. Es gab auch einige javanische Platten. Ich liebte diese verrückten Melodien, besonders wenn Latouche die wimmernde Musik mit einem leisen Summen begleitete. Wenn sie dessen müde wurde, küßte sie mich zart auf das Ohr und flüsterte: »Die nächste ist für Mister Bus Adams privat.« Dann spielte sie die Aufnahme von ›Au clair de la lune‹, gesungen von Yvonne Printemps. Sie sagte, es sei eine alte Platte. Der Apparat taugte nicht viel, und die Nadel kratzte. Aber das Lied klang wunderschön dort am Rande des Dschungels. Ihr wißt doch, wie es geht: Dumdumdumdumdumda. Der Nachname des Mädchens schreibt sich Printemps, man spricht ihn aber Präntan aus. Durch die Nase. Das ps am Ende wird gar nicht ausgesprochen, und diese Yvonne kann wirklich singen. Die letzte Platte spielten wir für Latouche. Dann küßte ich sie, und sie schloß die Augen, und ich fühlte, wie sie erschauerte, aber nicht aus Liebe. Habt ihr übrigens mal Hildegarde ›Als ich das letztemal in Paris war‹ singen hören? Das Lied ist weiter nichts Besonderes, aber Mensch, wenn man das in einem Ra um -195-
aus Bambus hörte und dabei Latouche Barzan in den Armen hielt... »Bus?« flüsterte sie. »Paris? Wie ist diese Stadt?« Ich versuchte, es ihr zu beschreiben. Ich dichtete noch alles mögliche für sie hinzu, denn sie war ganz wild darauf, alles von Paris zu erfahren. Alles, woran ich mich noch erinnerte, waren breite schöne Straßen und enge winklige Gassen. Ich erzählte ihr auch etwas von der Oper, dem Louvre und von Notre-Dame. Meist mußte ich mir aber überlegen, welche Filme ich gesehen hatte, die in Paris spielten. Einmal fing ich mit der Rue Claude Bernard an, wo ich in der Nähe eines Käsemarktes wohnte. Ich schmückte diese Straße so aus, daß selbst die Käsehändler sie nicht wiedererkannt hätten. Aber es lohnte sich, denn als die Musik aufhörte und mit ihr zugleich meine Stimme verklang, küßte Latouche mich leidenschaftlich und rief: »Ach, Bus! Ich wünschte, du wärst nicht verheiratet. Ich wünschte, mein Mann wäre tot. Du und ich könnten heiraten...« »Latouche!« flüsterte ich. »Um Gottes willen, sage so etwas nicht!« »Warum nicht? Ich wünschte, mein Mann wäre tot da oben in den Bergen. Dann wäre alles gut. Ich könnte einen netten Amerikaner heiraten.« »Hör auf!« »Was is'n los, Bus? Wünschst du nicht manchmal, deine Frau wäre tot?« »Das ist nicht komisch, Latouche«, protestierte ich. Meine Stirn war ganz naß. »Ich sage doch nicht, daß es komisch ist«, meinte sie, während sie langsam ihr Kleid aufknöpfte. »Ich spreche sehr ernst. Wann küßt du mich? Wann ziehst du mir das Kleid aus? Mir scheint, daß du nie wünscht, deine Frau wäre tot?« Mir war sehr komisch zumute. Ihr wißt ja, wie es ist. Du bist hier draußen auf den Inseln. Du hast zwar eine Frau, aber du hast doch keine. Manchmal fliegt dir der Gedanke durch den -196-
Kopf... Ohne ihn wirklich zu denken, natürlich. Und entsetzt zuckst du zurück. ›Was, zum Teufel, rede ich denn da? Was für ein Mensch bin ich denn überhaupt? Und die ganze Zeit hältst du ein Mädchen wie Latouche in deinen Armen, spürst ihr schwarzes Haar auf deinem Gesicht und überall den berauschenden Duft von Jasmin. Und wenn sie mit dieser Frage auf dich einhämmert, als wäre sie die schreckliche kleine Stimme... Mann, dann holst du tief Luft und antwortest nicht. Ich konnte es Latouche nicht verdenken, daß sie ihren Mann tot wünschte. Achille Barzan war ein ziemlich jämmerliches Mannsbild, der Sohn französischer Bauern, die vor Jahren wegen irgendeines Verbrechens nach Numea deportiert wurden, niemand wußte mehr, weswegen. Sie hatten den Grund und Boden für ihre Pflanzung aus dem Urwald herausgehauen. Allein pflanzten sie Kokospalmen an und pflegten die Kakaoschößlinge, bis aus ihnen große Bäume wurden. Acht lange Jahre lebten sie kümmerlicher als die Schweine, ohne irgendwelchen Ertrag, und gerieten immer tiefer in Schulden. Dann, gerade als die Pflanzung anfing, etwas abzuwerfen, heiratete ihr Sohn Fräulein Latouche de Becque, die uneheliche Tochter eines französischen Renegaten, der mit einer farbigen Frau nach der anderen zusammenlebte. Ihr einziger Trost war, daß Latouche eine Mitgift bekam. Die hatte ihr Vater einem Pflanzer weiter oben im Norden gestohlen. Und das Mädchen war sehr hübsch. »Zu hübsch!« bemerkte die alte Madame Barzan. »Sie wird unserem Sohn nur Unglück bringen. Denkt an meine Worte!« Die alte Frau hatte Latouches Eigensinn früh entdeckt. Es überraschte sie daher nicht, als Achille Latouche schlagen und ihr verbieten mußte, nach Numea zu fahren. Auch konnte die Familie sie nicht davon abbringen, sich über den alten Pétain lustig zu machen. Die Barzans, Mutter, Vater und Sohn, erkannten deutlich, daß nur der Arbeitsplan und die Disziplin des grimmigen Marschalls Frankreich retten konnten. -197-
»Das sieht man doch!« sagte Achille. »Jeder Gaullist auf diesen Inseln ist genau das, was Pétain in seiner Rede sagte: undiszipliniert!« In Numea, wo die Leute sich auf solche Dinge verstanden, waren die wohlhabenderen Männer alle Anhänger von Pétain. Nur der Pöbel begeisterte sich für de Gaulle. Das bewies ja schon Latouche. Ein Mischling! Und dazu noch unehelich! Man konnte sie ebensogut eine Gaullistin wie einen Bastard nennen. Das kam so ziemlich auf dasselbe heraus. Die Barzans waren infolgedessen angenehm überrascht, als Latouche plötzlich Vernunft annahm, sich dem Urteil ihres Mannes fügte und eine achtbare Anhängerin von Pétain wurde. Sie waren freilich noch überraschter, als zwei Boote in der Bucht anlegten und eine Gruppe hitziger Männer unter der Führung von Latouches Vater an Land sprang und jeden Anhänger von Pétain verhaftete. Das heißt, jeden bis auf Achille, der sich in den Dschungel flüchtete. »Da sind sie«, meldete Latouche eisig. Sie stand vor den beiden elenden Barzans und denunzierte ihre Schwiegereltern. »Sie wollen sich ergeben«, sagte sie verächtlich. »Führt sie weg!« befahl Latouches Vater. Daraufhin schnappte das Spatzenhirn der alten Madame Barzan über. »Diebin! Hure!« kreischte sie und schlug nach Latouche mit der bloßen Hand. Ein ungewöhnlich kleiner Gaullist aus Efate versuchte, sie zum Schweigen zu bringen, aber der alte Barzan glaubte, man wolle seiner Frau etwas antun. Er ergriff einen Holzknüppel, stürzte auf den kleinen Mann zu und schlug ihn auf den Kopf. »Werft sie ins Gefängnis!« befahl de Becque. Madame Barzan, die unentwegt etwas von ›Dieben und Mördern und Huren‹ vor sich hin brabbelte, starb im Boot. Der alte Mann blieb im Gefängnis. Der kleine Gaullist, den er geschlagen hatte, litt noch zwei Jahre später an den Folgen. Er konnte den Kopf nicht stillhalten und den Buchstaben s nicht -198-
aussprechen. Latouche sprach nur selten von dieser erbärmlichen Familie. Bevor die Amerikaner kamen, brachte sie ihre drei Schwestern auf die Plantage. Sie rechnete damit, daß die Yankees Luana Pori besetzen würden. Sie wollte ihre Schwestern zur Hand haben. Selbst in den qualvollen Tagen während der Schlachten im Korallenmeer weigerte sie sich, weiter ins Inland zu gehen. »Ich glaube, die Amerikaner gewinnen. Wenn sie verlieren, bin ich doch erledigt. Die Japse werden wahrscheinlich diesen feigen Hund Achille Barzan zu ihrem Bevollmächtigten auf Luana Pori ernennen, nehme ich an.« Kurz nachdem sie mir von ihrem Mann erzählte, verließ ich das Marinelager und übersiedelte auf die Plantage. Latouche und ich bewohnten eines der kleinen weißen Häuser inmitten der Blumengärten. Es war aus Bambus und fleckenlos sauber. An der einen Wand hingen sechs oder noch ein paar Kleider von Latouche. An der anderen hing ein Farbdruck von einer Straße in Paris. Auf dem Rohrtisch lagen ein halbes Dutzend Bücher: ›Vom Winde verweht‹ und fünf Tauchnitz-Ausgaben deutscher Romane. Auch zwei Stühle standen da, der eine mit einem Überzug aus geblümtem Chintz. Latouche und ich waren sehr glücklich in diesem kleinen Haus. Meist trug sie nur einen Büstenhalter aus einem billigen bedruckten australischen Stoff und ein Paar teure Leinenshorts, die ihr ein Oberst von Lord und Taylor in New York besorgt hatte. Sie ging barfuß. In den heißen Nachmittagsstunden schliefen wir, bis die anderen abends zum Essen kamen. Noé brachte uns kalten Limonadensaft und schlüpfte unbekümmert in das kleine Haus, ob wir nun angekleidet waren oder nicht. Ich versuchte oft, mich darauf zu besinnen, was ich in jenen Wochen meiner Frau geschrieben habe. ›Liebling, die tiefen Wunden an meinen Handgelenken heilen allmählich. Auf dieser Insel ist es gottlob etwas kühler.‹ Aber von den Gewissensbissen, die an meinem Herzen nagten, schrieb ich ihr -199-
nichts. Ungefähr um diese Zeit führte Oberstleutnant Haricot seine Razzia auf der Plantage durch. Er stürmte eines Abends gegen sieben in den Salon und stand stramm wie ein Gauleiter. »Alles, was sich an gestohlenem Eigentum unserer Regierung hier auf der Plantage befindet, wird morgen früh abtransportiert werden«, verkündete er. Ja, er klatschte sogar in die Hände, und ein blutjunger Leutnant schrieb den Befehl nieder. Dann nickte der Oberst einer Französin zu, die viel älter war als Latouche, und schritt zur Tür. »Aber die Sachen gehören doch mir«, sagte Latouche und vertrat ihm den Weg. »Sind Sie die Tochter von Madame?« fragte er großspurig. »Ich bin selbst die Madame«, erwiderte Latouche und neigte leicht den Kopf. »Madame Barzan.« Haricot, der den Posten eines Offiziers für zivile Angelegenheiten erhalten hatte, weil er ein Jahr lang auf der Oberschule in Terre Haute in die französische Klasse gegangen war, verbeugte sich tief und sagte: »Eh bien, Madame Barzan...« »Ich weiß!« rief Latouche. »Ich weiß sehr gut, Oberst Haricot. Sie glauben, ich schlechte alte Frau, die Eigentum von der USARegierung gestohlen hat.« Sie schmollte mit ihm. »Nein«, entgegnete er äußerst liebenswürdig. »Nicht gestohlen, aber Sie haben es nun einmal, und ich muß es wiederhaben.« »Was wollen Sie denn wegnehmen?« fragte Latouche und streckte das Kinn vor. »Das Lichtaggregat«, erwiderte Haricot. »Das habe ich von Oberst Hensley bekommen.« Der Oberst war sichtlich verblüfft, diesen Namen zu hören. »Und ich habe es repariert«, beharrte Latouche. »War ganz kaputt, als ich es bekam. Schrott! Sehen Sie, hier habe ich noch -200-
die Quittung. Ich glaube, das können Sie mir nicht wegnehmen, Oberst Haricot!« »Morgen früh wird alles abgeholt. Pünktlich um neun Uhr. Dieser Diebstahl von Regierungseigentum muß ein Ende haben.« Er schlug wieder die Hacken zusammen und ging. Er würde diesen Franzosen schon ein paar Flötentöne beibringen. Natürlich arbeiteten wir die halbe Nacht, um das ganze Heeresgut im Dschungel zu verstecken. Am nächsten Morgen erschien Haricot mit seinen Männern und schleppte ein paar Kleinigkeiten fort, die wir übersehen hatten. Aber das Lichtaggregat rührten sie nicht an! Latouche lud sehr gelassen einen Marinerevolver mit amerikanischen Patronen und stand vor dem kleinen Kraftwerk Wache. Haricot warf ihr einen kurzen schiefen Blick zu und befahl seinen Männern, die Suche an einer anderen Stelle fortzusetzen. Als die Arbeit getan war, erschien der Oberst im Salon. »Meine Herren«, sagte er dramatisch. »Diese Plantage steht jetzt unter Besuchsverbot. Ab heute wird hier eine Wache postiert! Sie werden diese Besitzung jetzt alle verlassen!« Und tatsächlich standen vor dem weißen Holzzaun zwei Posten mit Maschinenpistolen. »Dicke Luft!« flüsterte mir einer der Offiziere zu, aber am Abend schlichen wir alle am Strand entlang zur Plantage zurück und fanden uns zum Essen wieder in dem kahlen Speisezimmer ein. Latouche war liebenswürdig und sogar vergnügt. »Ich habe gerade erfahren, daß der Oberst nicht verheiratet ist! Ich glaube, wir werden noch viel Spaß mit ihm haben!« Der Spaß fing damit an, daß der Feldwebel, der die Wache übernommen hatte, bei dem Oberst um die Erlaubnis einkam, Mademoiselle Marthe de Becque zu heiraten. »Was ist das für ein Mädchen?« fragte der Oberst. »Ein französisches kleines Flittchen?« »Sie ist Madame Barzans Schwester, Sir.« -201-
»Sie meinen da oben von der Plantage?« »Jawohl, Sir.« »Verdammt noch mal! Ich habe Ihnen gesagt, Sie sollten den Platz bewachen, aber nicht hineingehen. Wie lange spielt die Geschichte schon?« »Ich habe mich auf den ersten Blick in sie verliebt.« »Was hatten sie innerhalb des Tores zu suchen?« »Ich habe das Tor nicht verlassen, Sir. Sie kam zu mir heraus. Das heißt jetzt, Sir, nachdem ich früher drinnen war.« »Was in aller Welt geht hier vor?« schrie der verwirrte Oberst. »Steigen Sie in den Jeep!« Latouche begrüßte Haricot freundlich, aber zurückhaltend. »Vermissen Sie noch etwas?« fragte sie. »Sir!« brüllte der Oberst mich an. »Was tun Sie eigentlich hier?« »Probleme unserer Luftabwehr, Sir«, erklärte ich, »sehr wichtige Sache.« »Oh!« erwiderte der Oberst. Schließlich war es bei der Marine durchaus üblich, daß ein Leutnant tat, womit beim Heer nur ein Oberst betraut wurde. Er musterte mich und wand te sich dann wieder zu Latouche um. »Unannehmlichkeiten mit Ihren Soldaten, Oberst Haricot?« fragte sie. »Dieser Mann sagt, er wolle Ihre Schwester heiraten.« »Meine Schwester? Laurencin? Noé!« rief sie. »Laurencin soll herkommen.« »Ich meine Marthe«, protestierte der Feldwebel, aber Latouche hörte nicht auf ihn. »Sie halten den Mund!« befahl der Oberst. Kurz darauf betrat die errötende Laurencin in reizender Verwirrung das Zimmer. Wie ihre Schwester trug sie einen -202-
kleinen Jasminzweig im Haar. »Was höre ich da, Laurencin?« fragte Latouche unvermittelt. »Du hast dich in diesen Jungen hier verliebt?« »Ich meine doch Marthe!« beteuerte der Feldwebel. »Schweigen Sie!« donnerte Haricot. Im stillen genoß er diesen Auftritt. Weiß der Himmel, er konnte verstehen, daß dieser junge Kerl... Laurencin hielt ihre zarten Hände hoch. »Ich sehe ihn jetzt zum erstenmal«, sagte sie. »Was heißt denn das?« erkundigte sich Haricot. »Es ist ihre Schwester!« sagte der Feldwebel wieder. »Ich weiß, daß es ihre Schwester ist«, schrie der Oberst. »Ach!« rief Latouche in gespielter Verlegenheit. »Ach, Oberst Haricot!« Sie stieß den Oberst ganz leicht vor die Brust. »Natürlich! Meine andere Schwester! Noé! Sage Marthe, sie soll hierherkommen!« Latouche nahm den Oberst beim Arm und drängte sich ganz dicht an ihn. »Kommen Sie, setzen Sie sich auf diesen Stuhl«, schlug sie vor. »Es ist heute sehr heiß.« Als Marthe eintrat, gab es kein Theater. Sie ging einfach auf den Feldwebel zu und hielt seine Hand. Oberst Haricot, der jetzt ganz aufgekratzt war, lächelte das Mädchen an. »Und wie heißen Sie nun?« »Marthe«, antwortete das Mädchen. »Und Sie wollen meinen Feldwebel heiraten?« »Ja.« »Das können Sie aber nicht!« wetterte Haricot. »Zu viele heiraten hier draußen. Das ist schlecht für die Moral.« Latouche war über diese Wendung der Dinge hocherfreut. Sie wollte gar nicht, daß Marthe den erstbesten jungen Mann heiratete, dem sie begegnet war. Tatsächlich hatte Latouche bereits Haricot als einen sehr -203-
geeigneten Gatten für Laurencin oder Marthe ins Auge gefaßt. Er hatte Geld, war nicht häßlich und sah so aus, als ob seine Frau spielend mit ihm fertig werden würde. »Hörst du, was der gute amerikanische Offizier sagt, Marthe?« fragte Latouche und zuckte die Achseln. »Du kannst jetzt nicht heiraten!« Latouche klopfte den Feldwebel auf den Arm. »Es ist vielleicht besser so.« Dann ging sie wieder zu Oberst Haricot zurück und strich ein paarmal dicht an ihm vorüber. »Ich glaube, es wäre am besten, wenn der Feldwebel hier nicht mehr Wache steht. Meine Schwestern sind so hübsch. Die Männer verlieben sich immer in sie.« »O nein! Die Wache bleibt!« Der Oberst verbeugte sich steif, wie er es die Preußen im Film hatte tun sehen, wenn sie französischen Mädchen ein unangenehmes Ultimatum stellen. Bevor wir uns an diesem Nachmittag schlafen legten, flüsterte ich: »Das war ein häßlicher Trick.« »Marthe ist in Ordnung«, erwiderte Latouche und breitete ihr Haar auf dem ganzen Kopfkissen aus. »Wird ihr nur gut tun. Mädchen müssen ihre Erfahrungen mit den Männern machen, und das können sie heutzutage gar nicht schnell genug!« Sie lachte und summte dann ›Als ich das letztemal in Paris war‹ vor sich hin. »Du solltest Marthe besser im Auge behalten«, riet ich ihr. »Das Mädchen ist verliebt.« »Skipper?« fragte sie. »Wie ist Paris im Winter? Schnee?« Ich versuchte mich zu besinnen. Soviel ich wußte, sah es dort in der kalten Jahreszeit wie in jeder anderen Stadt aus. Ich wollte das gerade sagen, als mir eine Oper einfiel, die ich in New York gehört hatte: La Bohème. Eine Spanierin sang die Hauptrolle. Im dritten Akt versucht dieses Mädchen, glaube ich, einen Soldaten im Schneesturm zu finden. Ich erzählte La touche davon und von der kleinen Wachstube. Sie stützte sich auf einen Ellbogen. Ihre Augen leuchteten, als sehe sie Paris im Schnee -204-
wirklich vor sich. Als ich aufhörte zu sprechen, rief sie: »Ach Bus!« und die Wildheit ihrer Gefühle ließ das kleine Haus so laut ächzen, daß es bestimmt noch im Salon zu hören war. An diesem Abend kehrte Oberst Haricot zur Plantage zurück. Ich konnte mir denken, welcher Aufruhr in seinen Gedanken ihn wieder dorthin trieb. Er hatte sich gewiß gesagt: ›Ich werde noch einmal hinfahren und mich da umsehen. Mich davon überzeugen, daß die Posten auch ihre Pflicht tun. Mich vergewissern, daß alles im Lot ist.‹ Ich bin sicher, daß er glaubte, er ginge nur deswegen wieder hin. Doch als er das Speisehaus betrat und dort eine größere Gesellschaft beim Abendessen antraf, fühlte er sich überrumpelt. »Ich...« Er geriet ins Stottern. Dann schämte er sich seiner selbst und seiner Motive. Er knallte wieder die Hacken zusammen und sagte in leisem barschem Ton: »Madame Barzan! Wenn Sie mit diesem Betrieb nicht Schluß machen, werde ich dieses Lokal für immer schließen. Und«, drohte er finster, »Ihre beiden Häuser da auf dem Hügel werde ich Ihnen auch zusperren!« Wie eine wütende Katze sprang Latouche auf den Mann zu und schlug ihn viermal ins Gesicht. Dann trat sie ihn gegen die Schienbeine. Ich war als erster an ihrer Seite und zog sie fort. »Sagen Sie das nie wieder, Oberst Haricot!« zischte sie und zitterte vor Empörung in meinen Armen. »Es sind nicht meine Häuser! Das nächstemal bringe ich Sie um!« Der Oberst war perplex. Er wußte absolut nicht mehr, was er denken sollte. Er hatte nie mit Frauen verkehrt, die einen schlugen und mit den Füßen traten. In Terre Haute war er solchen Frauen nie begegnet. Wenn in seiner Welt das Betreten eines Hauses verboten wurde, dann wurde es auch gemieden. Kein rechtschaffener Offizier würde gegen ein solches Verbot verstoßen. Aber hier auf Luana Pori war alles anders. Selbst Offiziere beachteten hier nicht die allgemeinen Anstandsregeln. Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Eßzimmer. Am Tor blieb er stehen und gab den Posten strikten Befehl, zu -205-
schießen, falls irgendein Offizier versuchen sollte, die Plantage zu verlassen. Dann fuhr er schleunigst die Straße hinunter. »Er kann uns große Unannehmlichkeiten machen«, sagte ein Hauptmann. »Er wird nichts dergleichen tun«, entgegnete Latouche. »Warum sind Sie dessen so sicher?« »Der Oberst ist ganz durcheinander«, sagte Latouche einfach. Sie streckte den Arm aus und streichelte Laurencins Hand. »Er wird sich schon sehr bald wieder beruhigen. Er ist schon richtig.« Unterdessen rannte Oberst Haricot in seinem kahlen Büro in der Dienststelle des Stützpunkts auf und ab. Er versuchte einen Befehl zu diktieren, daß alle Militärpersonen auf der Plantage in Haft genommen werden sollten. Die Worte wollten ihm aber nicht kommen. »Ach, gehen Sie zu Bett!« sagte er zu seinem Schreiber. »Was ist denn schon passiert?« fragte er sich. »Ich habe eine junge Frau beleidigt, und sie hat mich ins Gesicht geschlagen. Bisher habe ich in meinem ganzen Leben noch keine Frau beleidigt. Meine Mutter hat mich da eines Besseren belehrt. Das Mädchen war durchaus berechtigt, mich zu schlagen.« Er begann sich eine hübsche eindrucksvolle Geschichte für Latouche zurechtzulegen. Aber er wußte, daß man sich über seine Autorität lustig machen würde. Und er liebte es, Autorität zu haben. »Gefreiter!« schrie er. Dieser verschlafene Bursche erschien wieder in dem kahlen Büro. »Ach, gehen Sie wieder zu Bett!« sagte der Oberst. »Ich wollte, er könnte sich endlich entschließen«, murmelte der Gefreite. »Es tut mir leid«, schrie der Oberst. Tief in seinem Innern hörte er immer wieder eine Stimme sagen: »Sie haben sich amüsiert. Und ich amüsiere mich ganz und gar nicht. Seit ich von der Oberschule in Terre Haute abgegangen bin, habe ich überhaupt kein Vergnügen mehr gekannt. Vielleicht singen sie -206-
nach dem Essen. Oder vielleicht sitzen sie auch nur beisammen und unterhalten sich. Sie haben sich heute abend doch sehr ordentlich aufgeführt. Und sie haben sich amüsiert!« »Ich werde zurückfahren und mich entschuldigen«, sagte er entschlossen. »Meine Mutter hätte mir das auch gesagt. Ich habe mich da oben sehr unhöflich benommen. Ich werde zurückgehen und mich entschuldigen. Gefreiter! Gefreiter!« Am Tor rief ihn der Wachtposten an. »Ich bin es! Oberst Haricot! Irgend jemand weggegangen?« »O nein, Sir.« »Haben wohl einen mächtigen Bammel da drinnen, wie?« »O ja, Sir.« Als Haricot ankam, befanden wir uns alle im Salon. Die Offiziere standen auf und verbeugten sich. Haricot war Anfang vierzig und dick. Sein Gesäß war ganz rund und wackelte sehr komisch, als er vor Latouche die Hacken zusammenschlug. »Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen«, sagte er einfach. »Ich habe mich wie ein Narr benommen.« Latouche erhob sich, reichte ihm ihre schöne Hand und verzieh ihm. Sie brachte es fertig, ihn dabei leicht zu streifen, Oberst Haricot machte eine Bewegung, als wollte er sich hinsetzen und noch weiter um Verzeihung bitten. Latouche hatte das jedoch vorausgesehen. Sie hakte sich leicht bei ihm ein und sagte: »Es tut mir so leid, Oberst Haricot. Nachdem Sie so nett gewesen sind, sich wieder hierherzubemühen. Ich habe eine Verabredung mit diesem Piloten hier.« Woraufhin sie ohne weitere Erklärung meinen Arm ergriff und mich aus dem Salon führte. Draußen wurde sie sehr rührig. »Noé!« rief sie mit gedämpfter Stimme. »Schnell! Hol mir Laurencin!« Als das zarte, damals erst siebzehn Jahre alte Mädchen herbeikam, zupfe Latouche flink das Kleid ihrer Schwester zurecht, schob die Blumen in ihrem Haar gerade und küßte sie. »Siehst hübsch -207-
aus«, flüsterte sie ihr zu. Sie strich den Rock über Laurencins Hüfte glatt und bauschte die Rüschen unten am Saum auf. »Jetzt deine große Chance!« Halb schubsend, halb ziehend, stieß sie die zögernde Laurencin auf die Tür zum Salon zu, als Oberst Haricot sich gerade wieder empfehlen wollte. »Viel Glück, Laurencin«, flüsterte sie. »Das ist deine große Chance!« Ein paar Tage später wurden die Wachtposten entfernt. Das war ein Fehler, denn eines Abends wurde die Plantage durch Schüsse aufgestört. Latouche und ich waren schon zu Bett gegangen. Oberst Haricot befand sich mit Laurencin im Garten. Ich zog mich rasch an und ging dem Geräusch der Schüsse nach. Zu meiner Überraschung traf ich im Salon einen Marineoffizier an. Ein Soldat redete auf ihn ein und versuchte, ihm einen Revolver zu entreißen. »Wo sind die Mädchen?« grölte der Offizier. »Kommen Sie, Leutnant Harbison«, bat ihn sein Fahrer. »Rühr mich nicht an, mein Junge!« schrie der betrunkene Offizier. Er fuchtelte dem betroffenen Fahrer mit seinem Revolver vor der Nase herum. Als er mich dann erblickte, wankte er durch den Salon, um mich zu begrüßen. »Wo sind die Mädchen?« fragte er. »Hier sind keine Mädchen«, sagte ich. »Komm mir bloß nicht damit. Ich kenne euch Flieger! Ihr wollt alles für euch behalten. Ich kenne dich. Hier sind immer Mädchen gewesen. Ein ganzer Haufen!« Er prallte gegen einen Pfosten, als ich ihm auswich. Die Bambuswände zitterten. In diesem Augenblick erschien Latouche. »Da ist sie ja!« rief Harbison. »Du besinnst dich doch auf mich, Baby. Damals, als das Flugboot Bruch machte. Du kennst mich doch noch!« »Wirf ihn raus, Bus«, sagte Latouche ruhig. »Versuch nur mal, mich rauszuwerfen!« grölte Harbison. »Das ist hier nichts als ein gottverdammtes Hurenhaus. Ich -208-
kenne dich, Mädchen! Ich kenne dich ganz genau!« Ich sprang auf den Eindringling zu. Aber er sah mich kommen. Mit der Gewandtheit des geübten Fußballspielers wich er mir aus, stellte mir ein Bein und boxte mich ins Gesicht, als ich hinfiel. Der Revolverkolben hakte mir den Unterkiefer aus, und ich wurde ohnmächtig. Gegen drei Uhr morgens kam ich wieder zu mir. Ich befand mich in Latouches kleinem Haus. Auf dem Bett. Und ich hatte ein höchst seltsames Gefühl. Mein Kiefer war ganz betäubt. Der Stabsarzt hatte ihm eine Ladung Kokain injiziert. Und aus weiter Entfernung glaubte ich meinen alten Freund Tony Fry reden zu hören. »Ich hätte diesen üblen Burschen nicht herbringen sollen«, sagte Tony. »Aber mach dir keine Sorgen. Latouche und der Fahrer haben ihn zusammengeschlagen. Famose Leistung.« Ich schloß die Augen vor Schmerzen, und Tony tätschelte mir den Kopf. »Du hast dich angestrengt, Bus«, sagte er. »Aber du solltest mal sehen, wie der Fahrer dann Harbison zugerichtet hat. Latouche hat auch mitgeholfen.« Noch später in dieser Nacht, als sonst niemand mehr im Zimmer war, hörte ich Tonys Stimme wieder. In der ihm eigenen ruhigen, ernsten Art sprach er zu Latouche. »Paris«, sagte er auf französisch, »ist die bezauberndste Stadt von der Welt. Als kleiner Junge war ich mal mit meiner Mutter da.« Und das dann folgende Schweigen sagte mir, daß ich nie wieder mit Latouche schlafen würde. Das Weh in meinem Herzen schmerzte ärger als die Verletzung in meinem Gesicht. Ich versuchte, mir die Decke über die Ohren zu ziehen, aber der Stabsarzt hatte sie am Laken festgesteckt. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, räumte eine junge Französin von vielleicht fünfundzwanzig Jahren das Zimmer auf. »Wer sind Sie?« fragte ich mit zusammengebissenen Zähnen. -209-
»Lisette«, antwortete sie. »Und was tun sie hier?« »Latouche hat mich heute früh hierhergeholt.« »Wozu?« »Um Sie zu pflegen, Mister Bus.« Sie deutete auf ein Feldbett in der Ecke. »Wo haben Sie das her?« »Oberst Haricot. Er hat es gestern nacht noch heraufgebracht.« Lisette war hübsch, rundlich und lieb. Ihr Mann war in Afrika. Seit Bir Hacheim hatte sie keine Nachricht mehr von ihm. Sie wußte, was ein Mann auf diesen Inseln brauchte. Nach etwa einer Woche quartierte sie uns aus Latouches Schlafzimmer aus. Als ich wieder herumlaufen konnte, trieb ich für Lisette zwei alte Fallschirme auf, einen roten und einen weißen. In den ersten drei Tagen nach der Prügelei bekam ich weder Tony noch Latouche zu sehen. Sie hatten sich in ein kleines Haus am Rande des Dschungels zurückgezogen, Noé brachte ihnen das Essen. Schließlich besuchten sie mich. Sie bedeuteten Lisette, sie möge solange hinausgehen. Fry sah mich an und sagte nichts. Latouche stand weitab vom Bett und sagte in einem hastigen Singsang: »Es tut mir leid, Bus. Du bist ein guter Kerl. Ich wünschte, ich hätte so einen Mann wie dich. Einen so tapferen Kämpfer. Tony erzählte mir von dir in Munda. Was du da getan hast. Ich wünschte, wir hätten uns schon früher gekannt. Ich ohne Mann, du ohne Frau. Es tut mir leid, Bus.« Nachts hörte ich Tony auf dem kleinen Klavier französische Liedchen und Themen aus bekannten Opern klimpern. Wenn die Gäste sich alle empfohlen hatten, wenn Oberst Haricot in seinem Jeep fortgefahren war, sah ich Latouche im Salon allein zwischen den Stühlen tanzen, während Tony an dem kleinen Radioapparat herumfingerte, den Oberst Haricot Laurencin -210-
geschenkt hatte. »Komm wieder ins Bett«, rief Lisette ungeduldig auf französisch. »Laß die beiden in Frieden. Latouche hat jetzt eben auch einen Mann!« Ich konnte mich aber nicht davon abbringen, den beiden nachzuspionieren. Gott, ich weiß nicht, wie mir damals zumute war. Aber dann hörte ich wieder Lisettes sanfte Stimme, diesmal auf englisch: »Du, komm wieder ins Bett, Bus. Das geht nur sie an.« Ich hätte es Tony damals gleich ausreden sollen. Ich wußte, daß er von Latouche bezaubert war. Aber ich ahnte nicht, was das für Folgen haben sollte. Wir anderen - nun, ihr wißt ja, wie es war. Die Mädchen waren da, und sie fühlten sich einsam. Wir hatten einen Haufen Geld und eine Menge Zeug, das sie brauchen konnten und das die Marine nicht ärmer machte. Es war ein schönes Leben. Aber bei Tony war es etwas anderes. Er lernte etwas Javanisch sprechen. Wenn Latouche die Arbeit auf der Pflanzung besichtigte, begleitete er sie überallhin. Vier Tage hintereinander ließ er sich nicht im Lager blicken. Sie saßen im Garten auf einer Bank, und er las ihr vor. Und ich hatte Latouche noch nie so gesehen, wie sie damals war. Sie erzählte ihm die Geschichte der Inseln und wie ihr Vater als junger Bursche hierhergekommen war. Sie unterhielten sich auf französisch, auf englisch und in gebrochenem Java nisch. Nachts brannte die Lampe in ihrem kleinen Haus fast bis zum Morgen. Dieses faule Leben nahm ein Ende, als wir entdeckten, daß Marthe ein Kind erwartete. »Dieser Feldwebel!« schnaubte Latouche. »Dieser gottverdammte Feldwebel!« »Nun«, sagte ich. »Ich hatte dich ja gewarnt.« »Ach, du!« rief sie erbost. »Was nützt uns das jetzt?« Sie ließ sich in einen großen Teakholzsessel fallen und zog Marthe zärtlich auf ihren Schoß. »Wie ist das passiert?« fragte sie sanft. »Ich liebe ihn«, erwiderte Marthe auf französisch. -211-
»Natürlich liebst du ihn«, gab Latouche zu. »Das tun wir immer. Aber wie kam es dazu?« Marthe verbarg das Gesicht an der Schulter ihrer Schwester. Latouche wiegte sie hin und her. »Wie habt ihr das gemacht?« flüsterte sie. »Wir nahmen ein Zimmer im Grünen Haus«, sagte Marthe. Latouche sprang auf die Füße und schleuderte Marthe auf den Boden. Sie stieß das schwangere Mädchen mit den Füßen und schlug ihr ins Gesicht. Dann stürzte sie voller Wut in ihr Schlafzimmer und kam mit einem Revolver zurück. Ich rannte mit dem Kopf gegen sie an, packte sie am Handgelenk und entwand ihr die Waffe. Sie keuchte einen Augenblick, und dann sagte sie kurz: »Komm mit, Bus!« Ich folgte ihr zu dem Jeep, den Oberst Haricot ihr zur Verfügung gestellt hatte. Sie stieg ein. Wir fuhren zum Grünen Haus. Acht oder zehn Wagen standen davor. Latouche stieg aus dem Jeep und schritt auf die Tür zu. Drinnen konnten wir das billige Klavier und das Geräusch von Tanzschritten hören. Latouche stieß die Tür weit auf. Die Mädchen rissen die Augen auf, als sie diese blendende Schönheit sahen. »Es ist Madame Barzan!« tuschelten sie und wichen scheu an die Wände zurück. Latouche sah sich in dem überladenen Zimmer um. Dann erblickte sie die Inhaberin in einem Plüschsessel, trat auf sie zu, packte die korpulente ältere Frau bei den Schultern und zog sie auf die Füße. »Du gottverdammte blöde Kuh!« zischte Latouche. Sie schlug der Frau mehrmals ins Gesicht und stieß sie brutal gegen den Bauch. Die wimmernde Madam plumpste in den Stuhl zurück. Latouche beugte sich über sie und schimpfte: »Ein Glück für dich, daß der Offizier mir meinen Revolver weggenommen hat. Ich hätte dich sonst bestimmt umgebracht! Meine Schwester hier in diesem Haus!« Sie wandte sich langsam um und musterte die Anwesenden und das Zimmer. »Wir gehen!« sagte sie zu -212-
mir. Wieder auf der Plantage, suchte Latouche Marthe auf und sagte ihr, daß es ihr leid tue. Sie schlang den Arm um das reizende kleine Mädchen und weinte ein bißchen. »Es ist nicht gut«, murmelte sie. »Diese ganze Liebe mit den Soldaten. Irgend jemand muß immer darunter leiden. Diesmal vielleicht du! Wie weit ist es denn bei dir, Marthe?« »Im dritten Monat«, erwiderte die Fünfzehnjährige. »Oh, mon Dieu!« Latouche seufzte. »Ja, was können wir da tun, Tony? Was meinst du? Sollen wir sie verheiraten?« »In Amerika tun wir das gewöhnlich«, gab Tony zur Antwort. »Wir nennen das den Schandfleck tilgen.« Dem heftigen Prusten und Schnauben, das plötzlich an unser Ohr drang, entnahmen wir, daß Oberst Haricot mit dem Missetäter eingetroffen war und seinen Feldwebel gehörig zusammenstauchte. In großartiger Manier betrat er den Salon, verbeugte sich tief vor La touche und näherte sich Marthe so behutsam, als läge das arme Kind bereits in den Wehen. »Also!« brüllte er den verlegenen Feldwebel an. »Was gedenken Sie nun zu tun?« »Ich will sie heiraten«, sagte der Soldat und trat neben seine blasse Liebste. »Das wird auch Zeit!« schnaubte der Oberst. Dann reichte er dem Feldwebel mit einem geradezu väterlichen Wohlwollen die Hand und fügte in tiefbewegtem Ton hinzu: »Es tut gut, einen anständigen Burschen zu sehen, der wie ein Mann handelt.« Der Feldwebel war ganz verdutzt. Er hatte Marthe doch schon heiraten wollen, als er sie das erstemal gesehen hatte. In diesem Augenblick kam Laurencin in den Salon. Der Oberst warf ihr einen kurzen Blick zu, ließ den Kopf sinken und wurde knallrot. »Wir werden auch heiraten«, sagte er. »Ach, Oberst Haricot!« rief Latouche, als ob sie allein im -213-
Salon durch diese erstaunliche Neuigkeit überrascht wurde. Als rangältester Marineoffizier unter den Anwesenden wußte ich, was ich zu tun hatte. Ich ging auf den Oberst zu und sprach ihm die Glückwünsche meiner Waffengattung aus. »Ich weiß ja nicht, was sie in Terre Haute dazu sagen werden.« Haricot kicherte. »Aber der Teufel soll sie holen, was sie auch sagen mögen. Verstehen Sie, meine Herren, ich habe in diesem Haus mehr Spaß gehabt... verdammt viel Spaß...« »Das können die meisten von uns auch sagen, Oberst«, bemerkte Fry. »Der Gedanke, diese Plantage verlassen zu müssen, geht mir verflucht an die Nieren«, gestand Haricot. »Weiter nach Norden rauf?« »Jawohl«, erwiderte er. »Ich habe meiner Mutter von Laurencin geschrieben. Daß sie eine halbe Javanerin ist, wissen Sie. Mom war sehr großzügig. Hat ihr ganzes Leben lang immer Geld für die Missionen gegeben. Sie ist eine Baptistin, meine Mutter. Sie schrieb mir, da sie das viele Geld hergegeben habe, um Seelen zu retten, müßten inzwischen einige Seelen doch wohl gerettet worden sein!« Er knuffte mich und strahlte. »Kapiert?« fragte er. Doch als jemand eine Doppelhochzeit vorschlug, wollte der Oberst nichts davon hören. »Schließlich«, bemerkte er mit einer gewissen Berechtigung, »ist da immerhin ein Unterschied, ein erheblicher Unterschied.« Worin dieser Unterschied eige ntlich bestand, ob in seinem Rang im Vergleich zu dem des Feldwebels oder in Laurencins Jungfräulichkeit im Vergleich zu Marthes Schwangerschaft, habe ich nie herausbekommen. Als der Oberst gegangen war, nahm Latouche mich beiseite und bat mich, drei alte Fallschirme für sie aufzutreiben, einen roten, einen gelben und einen weißen. »Ich kann doch nicht einfach hingehen und Fallschirme stehlen«, wandte ich ein. -214-
»Du hast Lisette doch zwei gegeben«, erinnerte sie mich. »Aber die hat sie auch verdient.« »Habe ich keine verdient?« fragte sie und drehte sich vor mir im Kreis herum. Sie wirbelte auf mich zu, und ich versuchte, sie in den Schatten zu ziehen. Sie stieß mich weg. »Ich denke, du bist Tonys Freund«, sagte sie. »Dann bitte doch Tony um die Fallschirme.« »Das kann ich nicht, Bus! Ich will Tony damit überraschen.« Sie ließ ihre Finger über meinen Hemdsärmel gleiten, und ich wußte, daß sie ihre Fallschirme bekommen würde. Oberstleutnant Haricot und Laurencin wurden im Salon getraut. Ein Inselmissionar, ein Baptist, gab sie zusammen. Tony war Trauzeuge. Ich gab die Braut fort. Wie immer stiegen mir die Tränen in die Augen. Auf einer Hochzeit werde ich schrecklich sentimental. Latouche stand in einem einfachen, fertig gekauften Kleid unauffällig neben ihrer Schwester. Doch hinterher bei der Feier erschien Latouche in der Tür, von Kopf bis Fuß in schimmernde Fallschirmseide gehüllt. Wir starrten sie alle an. Auch wenn ich betrunken war, konnte ich mir kein so schönes Mädchen vorstellen. Sie hatte meine drei Schirme in lauter schmale, spitz zulaufende Streifen zerschnitten. Kennt ihr Fallschirmseide? So leicht wie der Atem eines Babys. Also Latouche hatte sich daraus ein prächtiges Gewand geschneidert, mit einem Rock, der am Saum über zwanzig Meter weit war. Aber die Seide war so fein, daß sie ihre winzige Taille wie ein schmales Band umschloß. Es sah fast so aus, als trüge sie gar kein Mieder, so deutlich zeichnete sich ihre zierliche Büste unter der hauchdünnen Seide ab. Wir hatten an diesem Abend kaum noch Augen für etwas anderes als für Latouche. Seltsam, aber dieses grelle Rot und Gelb harmonierte wunderbar mit dem matten Goldton ihrer Haut. »Einst warst du mein Baby«, flüsterte ich vor mich hin. Als sie im Salon an mir vorbeiging, drückte sie mir die Hand -215-
und sagte ganz leise: »Komm bitte nachher zum Schuppen.« Mein Herz klopfte laut, als ich den dunklen Weg hinuntereilte, der zu den kleinen Hütten führte, in denen die javanischen Arbeiter wohnten. Latouche erwartete mich da im Schatten. Zu meiner Bestürzung sah ich Tony neben ihr stehen. »Eine Überraschung«, sagte sie. Dort vor uns, in einer Vertiefung, einem Quadrat, das von zwei Hütten, dem Schuppen und einem Bambuswandschirm begrenzt war, hatten die einheimischen Buddhisten einen Tempel errichtet. Sie zelebrierten dort die heilige Feier zu Ehren der Hochzeit von Marthe de Becque und ihrem amerikanischen Feldwebel. In der Dunkelheit ragten da in einem Abstand von etwa sechs Metern zwei Pfosten aus Teakholz auf. Dazwischen hatten sie drei breite Teakholzbretter genagelt, eins über das andere, die den Altar darstellten. Jedes dieser Bretter war mit einem weißen Tuch bedeckt. Auf dem obersten flackerten Kerzen. Vier Bronzegefäße, flach wie Teller, glitzerten auf den unteren Brettern. An einer fein gewebten Matte vor dem Altar kniete ein alter buddhistischer Priester in weißen Hosen und schwarzem Seidenmantel und betete. Links und rechts von ihm hockten mit untergeschlagenen Beinen zwei andere Javaner, auch in Schwarz. Der eine schlug in einem unregelmäßigen Rhythmus auf eine kleine Trommel. Der andere stieß dann und wann gegen eine hell klingende Glocke. Der Klang dieser Glocke und das dumpfe Dröhnen der Trommel nahm uns bald ganz gefangen und schien rings um uns her von allen Seiten widerzuhallen. Wir saßen auf dem Boden. In dem gespenstischen und schwankenden Licht der flackernden Kerzen standen Marthe und der Soldat vor dem Priester. Frauen von der Plantage, javanische Prostituierte aus den beiden Häusern und alte Männer von den Lagerschuppen der Kakaobohnen stöhnten in die Nacht hinaus. Das Getrommel und Geläute dauerte fort. Der Priester erhob sich und segnete das Paar vor ihm. Über -216-
Marthe sprach er dann noch den besonderen Segen der Fruchtbarkeit aus wie eine Vorahnung priesterlicher Weisheit. Ein alter Javaner, der neben Tony saß, erklärte ihm die Bedeutung der Riten. Fry, der in dieser Sprache schon gute Fortschritte machte, gab eine kluge Antwort. Die Trommel dröhnte weiter. Das Läuten der Glocke klang noch in meinen Ohren nach, als ich hinter mir eine Unruhe bemerkte. Plötzlich hörte ich ein lautes Geschrei auf javanisch und dann derbe französische Flüche. »Mon Dieu!« rief Latouche und wurde ganz blaß. »Da haben wir's!« flüsterte Fry und fuhr sich mit der Zunge über die schmalen Lippen. In die heilige Stätte brach ein hagerer Franzose ein. Achille Barzan war von den Bergen herabgekommen. »Götzendiener!« brüllte er. »Diebe! Ehebrecher!« Er stürmte zum Altar und stieß ihn um. Dann erblickte er Latouche in ihrem schimmernden Gewand und sprang auf sie zu. Ich warf mich dazwischen. Barzan schlug mich mit einer schweren Keule. Ich stolperte rückwärts und dachte, mein Arm sei gebrochen. Als Latouche das sah, schrie sie auf und lief aus der Einfriedung heraus. Ihr flatterndes Gewand verfing sich in dem Wandschirm und riß ihn nieder. Mit wehendem Rock, der im Kerzenschein aufleuchtete, rannte sie den Hügel hinauf, auf ihr schützendes weißes Haus zu. Obwohl mein Arm heftig schmerzte, versuchte ich, Barzan festzuhalten. Mit einem Sprung fuhr ich auf ihn los, prallte aber nicht gegen ihn, sondern auf Tony. Wäre ich etwas schneller gewesen, hätte ich vielleicht eine Tragödie verhindert. Denn Latouche erreichte ihr Zimmer nicht rechtzeitig genug, um noch ihre Tür zu verschließen. Rasend vor Wut, stürzte Achille Barzan in das weiße Haus. Die Keule in der hoch erhobenen Hand, fuhr er auf seine Frau los. Vier Pistolenschüsse hallten durch die Nacht. Barzan verlor das Gleichgewicht, -217-
streckte noch zweimal den Arm nach den Sternen aus und fiel dann tot hin. Während des langen Verhörs, das daraufhin stattfand, hielt sich Oberstleutnant Haricot einfach prachtvoll. Die Franzosen, die ihn ausfragten, mochten ihn gern. Er hatte einen französischen Namen und konnte ihre Sprache schlecht genug sprechen, um sich sowohl ihre Achtung als auch ihr Mitleid zu erringen. Außerdem war er ein Mann von Charakter, ein Mann von Gefühl. Er bestand darauf, daß Latouche in Notwehr gehandelt habe. Daß sie ein anständiges und wohlerzogenes Mädchen sei. Daß Achille Barzan ein Raufbold und ein Tyrann gewesen war, ein feiger Hund und Anhänger von Pétain. »Das hat mit der Sache nichts zu tun!« sagte der Vorsitzende. »Es beweist, daß er keine Ehre im Leib hatte«, beharrte Haricot. Der Oberst sprach auch für Tony und mich. Wir durften zum Beispiel nicht einmal aussage n, daß wir auch nur wußten, wo Latouche schlief. Ich wurde nicht gefragt, ob ich sie je hatte drohen hören, zwei verschiedene Menschen umzubringen. Auch sprach ich nicht von ihrem Wunsch, ihr Mann möge tot sein. Nein, wir waren Musterzeugen. »War Tony Fry ein häufiger Gast auf der Plantage?« Ja, das war er. »Ist er, was man, nun, einen Schürzenjäger nennen könnte?« O nein, das sei er bestimmt nicht! »Hat er je, wie soll ich sagen, versucht...« Nein, niemals! »Ja, Oberst, was tut er denn dann auf der Plantage?« Der Oberst war außer sich und fragte Fry, was er dort tue. »Ich lerne Javanisch.“ »Könne der Leutnant ein paar javanische Worte sagen?« Das könne und wolle er. »Dolmetscher, was hat der Leutnant gesagt?“ »Er sagte: ›Die hohen Koprapreise werden sich ha lten, wenn die Vereinigten Staaten weiterhin Kopra kaufen.‹« Jetzt wies Oberst Haricot auf vier Tatsachen hin. »Hatte Achille Barzan seine Frau bedroht?« Das hatte er. »Hatte er -218-
versucht, dem amerikanischen Piloten den Arm zu brechen?« Auch das hatte er. »Hatte er eine Keule geschwungen, um seine Frau zu erschlagen?« Neun Zeugen hatten das gesehen. »Hatte sie ihn in Notwehr erschossen?« Offensichtlich. Bien! Was soll man da sagen? Noch dazu, wo dieser Oberst die ganze Zeit redet! Nun, Vorsitzender? Nun ja... natürlich müsse Madame Barzan verhaftet werden. Ja. Eine reine Formalität. Das sei durch die Aussagen des Zeugen Haricot klar erwiesen. Als die Nachricht von dieser Tragödie den alten Papa Barzan im Gefängnis erreichte, tobte er vor Kummer und verfluchte Latouche, daß es in der Nacht weithin zu hören war. Er schrie, daß sein Sohn sie im Rosa Haus in Numea kennengelernt habe. Daß sie ein böser Teufel sei. Aber der alte Mann war nicht ganz richtig im Kopf. Das zeigte sich deutlich aus dem, was ein paar Tage später geschah, als er hörte, daß Latouche freigelassen wurde. Der alte Mann bäumte sich auf und rannte mit dem Kopf viermal gegen die Wand, bis er sich den Hals brach. Natürlich mußte Oberst Haricot Luana Pori verlassen. In gewisser Hinsicht hatte er die Armee entehrt. Er hatte eine Farbige geheiratet. Er war in eine Mordaffäre verwickelt. Zärtlich küßte er Laurencin bei seinem Abschied und flehte zu Gott, daß er in ihrem Schoß eine Tochter zurückgelassen habe, ebenso liebreizend wie sie selbst. Josephines Seesoldat wurde hierher nach Konora versetzt. Er half uns, unseren Brückenkopf gegen die Japaner zu verteidigen. Eines Nachts wurde er fast wahnsinnig, denn unter den durch das Granatfeuer zersplitterten und in die Luft gesprengten Kokospalmen erblickte er eine, die sich ihm zuneigte wie das schlanke javanische Mädchen auf Luana Pori. Sie gaben ihm später die Erlaubnis, zurückzufliegen und sie zu heiraten. Marthes Feldwebel hatte nicht dasselbe Glück. Ihn traf eine Kugel hier draußen in der Brandung, die ihr da vor euch seht. Einer seiner Kameraden, der entsetzt gewesen war, als der Feldwebel Marthe heiratete, sah ihn mit dem Gesicht vornüber -219-
auf die Korallen niederfallen und dachte. ›Vielleicht war er gar nicht so dumm.‹ Auch mein Leben nahm eine andere Wendung, als der Oberst uns verließ. Am selben Tag erhielt Lisette eine Kabeldepesche aus Rom. Ihr Mann war aus einem Gefangenenlager befreit worden. Er befand sich jetzt bei den Amerikanern in Rom. Ein alter Mann hatte die Depesche gebracht, und Lisette fing an zu weinen. Ich bezahlte den alten Mann und schickte ihn fort. »Jetzt wird er bestimmt durchkommen. Ich weiß es!« wimmerte Lisette auf französisch. »Lieber Gott, ich habe so eifrig für ihn gebetet.« Die Tränen strömten ihr aus den Augen, und sie konnte nichts mehr sagen. Sie streichelte meinen Arm. Sie wischte sich das Gesicht. Sie nahm mein Taschentuch und putzte sich die Nase. »Wir müssen uns trennen, Bus. Ich werde ihm jetzt eine gute Frau sein«, sagte sie. Von den Liebespaaren auf der Plantage blieben nur Latouche und Tony zurück. Wie zwei Kinder, die von Weihnachten träumen, wanderten sie in den Gärten und am Strand umher. Ich überraschte die beiden eines Tages tief unten auf den weißen Korallen. Latouche hatte nichts an; wie Gott sie geschaffen hatte, glitt sie mit ihrem schlanken goldbraunen Leib durch das seichte Wasser. Da verließ auch ich die Plantage und begann meine Sachen zu packen. Ich wußte, wir rückten nun weiter nördlich auf Kuralei vor. Ich hatte wenig mehr getan, als die Jeeps und Raupenschlepper für den Transport auf das Schiff zu begutachten, als Tony mich aufsuchte. »Bist du in einer Klemme?« fragte ich, als ich sein ernstes Gesicht sah. »Heiliger Bimbam, nein!« erwiderte er und verzog das Gesicht zu einem feinen Lächeln. »Bus, ich wollte dich bitten, mein Trauzeuge zu sein.« Ich holte tief Luft, blickte erst in den Schatten unter den Palmen und sah dann Tony an. Er trug nichts weiter als -220-
schmutzige Leinenhosen, Sandalen und auf dem Kopf einen Tropenhelm. Wie ein Strandräuber sah er aus, eine ganz besondere Art von Strandräuber. »Latouche?« fragte ich. »Ja.« »Aber Tony! Sie werden dir nie die Genehmigung dazu geben, nach allem, was geschehen ist.« »Ich will gar nicht darum einkommen.« »Was willst du dann tun?« »Der buddhistische Priester. Samstag nacht. Niemand braucht etwas davon zu erfahren.« »Aber die Marine...« »Es braucht niemand sonst zu wissen.« Mir schwirrte etwas der Kopf. Weiß Gott, ich wußte wie einem Mann da draußen auf der Plantage zumute war. Die langen Tage, der Ozean und der Dschungel setzten einem hart zu. Und das kleine weiße Haus. Das Lachen der lebenslustigen Mädchen. Aber Heirat? Ein alter Narr wie Haricot aus Haute Terre oder ein Seemann aus Boston, vielleicht, aber Tony Fry... »Hör mal, Tony«, beschwor ich ihn. »Du hast Ameisen in den Hosen. Ich auch. Genau wie alle anderen hier. Aber du brauchst das Mädchen doch nicht zu heiraten.« »Bus«, sagte Tony leise. »Wenn du nicht mein bester Freund wärst und du sagtest das, dann würde ich dir eins in die Fresse hauen.« Immer noch lächelnd, ließ er plötzlich seine rechte Faust von den Knien hochschnellen. Doch dann besann er sich auf meinen empfindlichen Unterkiefer, zog den Arm zurück und traf mich nur seitlich am Kopf. Wir plumpsten in einen Sessel. »Dich hat's schwer erwischt, Tony«, murmelte ich. »Ich möchte dich als Trauzeugen haben. Ich werde Latouche heiraten.« »Die Heirat wird nicht rechtsgültig sein«, sagte ich und rieb mir den Kopf. »Du machst nur dem Mädchen und dir selbst -221-
etwas vor.« »Jetzt hör mich mal an, Bus«, sagte Tony sehr ruhig. »Ich weiß, was ich will. Ich bin kein Waschlappen, verstehst du? Mein ganzes Leben lang habe ich um mich herum diese Kümmerlinge gesehen, die dem Mädchen nachtrauern, das sie haben wollten. Weil sie keine Traute hatten. Gesehen, wie sie nach Zärtlichkeiten hungern und vorzeitig altern und innen ganz leer sind. Bus, dieses Mädchen ist die Richtige für mich. Sie füllt mich aus. Bis zum Überfließen. So steht die Sache.« »Aber wenn du sie in die Staaten mitnehmen willst, Tony! Jeder wird sie dort für eine Japanerin halten.« »Das will ich gar nicht«, erwiderte er. »Und vielleicht gehe ich überhaupt nicht mehr in die Staaten zurück. Ich liebe dieses Leben hier. Die heißen Nachmittage und die kühlen Nächte. Ich liebe diese Insel. Ich habe auch etwas Geld. Vielleicht ist das Leben hier draußen das, was ich mir vom Leben erwartet habe. Diese Südsee wird das Zentrum einer neuen Welt sein. Hier liegt unsere Zukunft. Nun, ich bin dabei. Mir liegt das hier.« »Tony, du zwingst mich dazu«, sagte ich. »Aber was weißt du von dem Rosa Haus in Numea?« »Sag es mir, Bus. Was glaubst du? Ehrlich!« »Du hast es dir selber zuzuschreiben, Tony. Also: Du kennst Latouche nicht. Diese Geschichte mit Achille Barzan! Weißt du, daß sie von seinem Tod geträumt hat? Daß sie ihn herbeisehnte? Das Mädchen ist nicht viel besser als eine Mörderin. Es tut mir leid, Fry, aber es ist so.« Tony rieb sich die Nase, um mich nicht sehen zu lassen, daß er lachte. »Bus«, kicherte er. »Du bist ein reizender Kerl. Diese Geschichte mit Achille Barzan, wie du es nennst. Was würdest du sagen, wenn ich dir erzählte, daß Latouche und ich uns jeden Schritt genau überlegt haben? Seit Tagen und Tagen. Die Eingeborenen berichteten uns jeden Morgen, wo Barzan sich versteckte. Wir bezahlten sie dafü r, es Barzan zu stecken, daß -222-
Marthe heiratete. Wo und wann. Wir wußten, er würde kommen. Wir überlegten uns sechs verschiedene Möglichkeiten, ihn um die Ecke zu bringen. Ich wollte ihn selbst erschießen. Die Gerichtsverhandlung auf mich nehmen. Notwehr. La touche sollte mir dann später folgen. Aber sie dachte sich etwas Besseres aus. Sie wußte, er haßte sie, weil sie noch weiter dem Buddhismus anhing. Obwohl sie gleichzeitig Katholikin war. Wir wußten, daß Barzan versuchen würde, die Hochzeit zu verhindern.« »Also war das alles nur Theater?« »Nein, es war echt. Du hast dir doch wirklich beinah den Arm gebrochen, oder nicht? Und er versuchte, sie mit seiner Keule zu erschlagen, nicht wahr? Genau, wie wir es geplant hatten.« Ich lachte mich selber aus. »Und ich lief wie ein Verrückter, um sie zu retten. Vor Achille! Junge! Junge!« Tony grinste mich an, mit dem ihm eigenen, mir so wohlvertrauten Lachen. »Das haben wir auch mit einberechnet, Bus. Wir wußten ja, wie sentimental du bist. Daß du dich gern zum Beschützer einer Frau aufwirfst. Wir wußten, daß du versuchen würdest, Achille zu packen, bevor er die Tür von Latouches kleinem Haus erreichte. Warum, glaubst du, habe ich dich umgestoßen, als du ihm nachjagen wolltest? Hast du geglaubt, du wärst gestolpert?« Über die staubigen Jeeps und Raupenschlepper da unten am Strand hinweg blickten wir einander an. Tony zog einige Papiere hervor. »Willst du die für mich unterschreiben, Bus?« Ich blätterte sie durch. Bestätigung an seine Bank, daß Latouche de Becque-Barzan-Fry seine legitime Ehefrau sei. Ein Testament. Ein Brief an seinen Versicherungsagenten. Das übliche also. Ich unterschrieb sie als Zeuge, klebte die Umschläge zu und drückte den Zensurstempel darauf. An dem Samstagabend war Vollmond. Ihr wißt ja, wie er in solchen Nächten aus dem Dschungel aufsteigt. Zuerst nur ein -223-
schwaches Glühen, dann stehen plötzlich sämtliche Bäume in Flammen, und schließlich heben sich die höchsten Stämme wie verkohlte Stümpfe von der Mondscheibe ab. In diesem Mondschein, beim Dröhnen der Trommel und dem Läuten der kleinen Glocke, heiratete Tony das Mädchen. Ich küßte die junge Frau und eilte zur Startbahn unserer Jagdflugzeuge zurück. Ich konnte nicht denken. Ich wünschte alle diese Diners und Luana Pori und solche verrückten Männer wie Tony Fry und Frauen wie Latouche zum Teufel. Ich war innerlich wie verkrampft. Ihr Jungens wißt ja, was man in einem solchen Fall tut. Obwohl es streng verboten war, nahm ich mir eine Maschine und stieg auf. In die Dunkelheit. Aber als ich über den Dschungel hinaus übers Meer flog, ließ der Mond alles hell und wunderbar erscheinen. Zurück flog ich sehr hoch. Unter mir lag die Plantage. Wie ein heller Splitter, der aus dem dunklen Urwald herausgeschnitzt war. Ich konnte den Salon sehen, das kleine Haus, das Lisette und ich bewohnt hatten, das andere, in dem Latouche schlief, und den weißen Zaun. Ich ging im Sturzflug herunter und kurvte so lange über der Pflanzung, bis mir die Ohren dröhnten. Ich wollte ihnen schon eine Hochzeitsmusik machen! Ihr wißt ja, was so eine Maschine für Wunder wirkt, wenn man in einer solchen Verfassung ist. Man kann steigen und kurbeln. Man fühlt sich wie der liebe Gott. Und wenn man dann wieder runtergeht, kann man auch schlafen. Am Sonntag kam das Schiff, das uns weiter nach Norden bringen sollte. Ich eilte zur Plantage hinauf, um Fry zu holen. Ich fand ihn auf einer Bank inmitten der Blumen. Latouche, in Shorts und einem winzigen Büstenhalter, lag neben ihm und hatte ihren Kopf in seinen Schoß gelegt. Er las ihr aus einem Buch vor. »Dieses Buch behauptet, die Zukunft von Amerika liege bei Asien«, sagte Latouche auf französisch. »Weißt du, Bus?« begann Tony. »Der Mann hat recht. Wart's -224-
nur ab. Wir werden alle wieder hierherkommen. Wir werden gegen China oder Indien oder gegen die Malaien kämpfen. Asien wird es nie zulassen, daß Australien in den Händen der Weißen bleibt. Bus, wenn du schlau bist, siedelst du dich hier irgendwo an. Hier wird künftig der Schnittpunkt der Welt liegen.« »Die Zeit ist abgelaufen!« sagte ich. Tony klappte das Buch zu und sah mich an. »Bus!« sagte Latouche leise. »Hol mir eine Blume für mein Haar.« Ich pflückte ihr eine flammend rote Blüte. Sie war zu groß. »Ich werde etwas von diesem grünen und gelben Gras nehmen«, meinte sie. Sie trug es schief hinter dem Ohr. - »Das Schiff hat angelegt«, sagte ich. »Na ja«, entgegnete sie, »einmal mußte es ja kommen.« »Ich werde meine Sachen packen«, sagte Tony. La touche zuckte die Achseln und ging ihm durch den Garten nach. In ihrer dürftigen Bekleidung sah sie wie ein Traum aus, gar nicht wie ein Mädchen aus Fleisch und Blut. Sie war das Symbol alles dessen, woran Männer in einsamen Gegenden denken. Ihr Gesäß wippte nicht wie das der Straßenmädchen und schaukelte nicht wie die dicken Hinterbacken tugendhafter aristokratischer Witwen. Ihre Schultern blieben ganz gerade, wenn sie ging. Das schwarze Haar wehte ihr leicht über die Schulter. Ihre Beine waren schlank und kräftig, ein Ankerplatz in dem Ozean der Verzweiflung, die jeden Mann einmal überkommt. Leichtfüßig verschwand sie in dem kleinen Haus. Nun, ihr wißt ja, was dann geschah. Wir kamen nach Santo und warteten dort eine Weile. Ich muß immer lachen, wenn ich einen Kriegsfilm sehe. Der Held und sein bester Freund gehen in Frisco an Bord und landen dann direkt auf dem Brückenkopf, wo der Freund fällt und der Held gleich vier japanische Stellungen erobert. Freilich, du gehst in Frisco an Bord, aber du steigst in Luana Pori aus. Dort wartest du ein paar Monate. Dann -225-
fährst du nach Santo und wartest noch weitere Monate. Du wartest in Guadal und in den Russels. Aber schließlich kommt der Tag, an dem selbst ein Einfaltspinsel sehen kann, daß der nächste Schlag...‹
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Frisco Als wir Kuralei angriffen, befand ich mich auf der LB-108. Ich war in Numea an Bord gegangen und war neun Tage auf dem Schiff, bevor wir den Brückenkopf eroberten. Da lernte ich die Besatzung ganz gut kennen. Die LB-108 war ein Landungsboot, ein sehr kleines Schiff, mit Geschützen an Bord. Es war das kleinste Schiff, das mit eigener Kraft zu der Invasion fuhr. Seine besondere Aufgabe war es, einen Sturmtrupp von Freiwilligen nach Kuralei zu bringen, fünfundzwanzig Mann, die bereit waren, als erste zu landen. Diese Crew war darauf gefaßt, einen Meter tief durch Wasser an Land zu waten, das gegen die Korallenriffe einer vom Feind besetzten Küste anbrandete. Die anderen fünfundsiebzig Mann bildeten eine schwer bewaffnete Reserveeinheit, die da eingesetzt werden sollte, wo der Kampf am heftigsten tobte. Die eigentliche Besatzung, rund dreißig Mann, sollte die Flakwaffen bedienen und den Feind mit Granaten weich machen. Der Skipper der LB-108 war ein Fähnrich aus Annapolis. Seine Männer gingen alle für ihn durchs Feuer. »Gott steht uns bei, wenn wir einem japanischen Schlachtschiff begegnen sollten!« sagten sie zu mir. »Der Kapitän bringt es fertig und fährt direkt darauf zu.« Und ich bin sicher, das hätte er auch getan. Der Erste Offizier war ein junger Lehrer aus Nevada. Er war ein Fähnrich, genau wie die beiden anderen Offiziere. Der Erste Offizier hatte eine sehr helle durchdringende Stimme. »Der einzige Unterschied zwischen unserem Skipper und unserem Ersten«, vertraute mir einer der Matrosen an, »ist der, daß der Skipper einen, wenn man etwas angestellt hat, tüchtig zusammenstauchen kann. Vor dem Ersten kommt man sich dann bloß schrecklich klein vor.« -227-
Ich glaube ja, daß der Skipper sich im stillen etwas darüber ärgerte, einen Offizier an Bord zu haben, der einen höheren Dienstrang hatte als er selbst. Falls es brenzlig werden sollte. Aber ich verstand nichts vo n Schiffen und war ihm, hoffe ich, nicht im Wege. Zwei Tage vor dem Tag X trafen wir mit der Invasionsflotte zusammen. Es war ein herrliches Gefühl. Als du dich in deine Koje legtest, schwammst du noch ganz allein auf dem weiten Ozean herum, und am Morgen sahst du dich auf einmal von großen, imposanten Linienschiffen umgeben. Ich atmete erleichtert auf. Falls es ein paar Japsflugzeugen gelingen sollte, durchzubrechen, würden sie jetzt einen so winzigen Fleck auf dem Ozean wie unsere Nußschale sicherlich übersehen. Andererseits versuchte der Skipper immer wieder, seinen Kahn so zu manövrieren, daß er im Falle eines Angriffs einen der dicken Pötte vor einem Torpedo in die Steuerbordflanke bewahren konnte. Er verdoppelte die Wache bei den Flakgeschützen. Ich weiß nicht, wann er eigentlich schlief. Es war sein erstes Kommando, und er trieb sich fortwährend auf dem ganzen Schiff herum. Ich sah ihn oft an den unwahrscheinlichsten Stellen. Der letzte Tag vor dem Tag X war sehr stürmisch, mit heftigen Böen. Das machte uns besorgt, weil die japanischen Torpedobomber eine Schwäche dafür hatten, plötzlich zwischen den kleinen Wolken hervorzubrechen und den Ozean mit ihren Aalen zu verseuchen. Wir hatten vier Alarme an dem Tag, bekamen aber keine Japsmaschinen zu sehen. Die Nacht brach an, und der Sturm legte sich. Unter einem wunderschönen klaren, mit Sternen übersäten Himmel fuhren wir weiter. Dann sahen wir auf einmal in der Ferne überall am Himmel andere Sterne aufblitzen! Unsere Kriegsschiffe hatten Kuralei erreicht! Die Bombardierung der Insel hatte begonnen! Mehrere Stunden betrachteten wir diesen Feuerzauber. Die Männer, die, sobald die Sonne aufging, so schwer arbeiten -228-
würden wie noch nie zuvor, konnten sich nicht dazu entschließen, schlafen zu gehen. Sie standen in Gruppen an der Reling und neben den Geschützen, um wenigstens von weitem der amerikanischen Kriegsmarine bei ihrem ersten Großangriff in der Südsee zuzusehen. Ich versuchte etwas zu schlafen, aber es gelang mir nicht. Einmal, als ich mich an den Lärm schon etwas gewöhnt hatte, nickte ich für ein Weilchen ein. Aber kurz darauf wurde ich durch einen gewaltigen dumpfen Stoß wieder aufgeweckt. An Deck gab es ein lautes Geschrei, und ich dachte schon, wir hätten etwas abgekriegt. Ich eilte an Deck, und da bot sich mir ein phantastischer Anblick. Die Japse hatten einen unserer Öltanker getroffen. Er brannte so hell wie eine Fackel. Während ich, zugleich fasziniert und entsetzt von dem, was ich da sah, dieses Schauspiel betrachtete, schob sich eins unserer größten Schlachtschiffe zwischen uns und die hohen Flammen. Ein paar Augenblicke lang, in denen wir alle den Atem anhielten, hob sich die Silhouette des riesigen Schiffs von dem Feuerschein ab. Dann verschwand es vor unseren Augen wie ein Spuk und blieb, für uns jedenfalls, unsichtbar. Der Öltanker brannte aus und wurde versenkt. Schweigend standen wir beisammen und sahen, wie Kuralei von neuen Salven getroffen wurde. Aber wir glaubten jetzt nicht mehr, daß wir von dem Abwehrfeuer an der Küste nicht getroffen werden könnten. Wie die Männer an Deck konnte auch ich nicht schlafen. Dennoch ermüdeten diese Feuerblitze meine Augen, und das Dröhnen der Geschütze lähmte meine Gedanken. Es war zu gewaltig, als daß man es hätte begreifen können. Ich ging wieder in meine kleine Kajüte hinunter, merkte aber bald, daß es mir einfach unmöglich war, jetzt da allein zu bleiben. Wie der jüngste Seemann wurde auch ich von Gedanken bestürmt, mit denen ich allein nicht fertig werden konnte. Ich ging durch den Gang weiter zum Aufenthaltsraum der -229-
Mannschaften. Ich wußte, daß ich dort ein Eindringling war, aber ich trat doch ein. Die Männer von der LB-108 waren nicht unfreundlich zu mir, da ich ihnen ja nichts zu befehlen hatte. Ich glaube sogar, sie freuten sich darüber, daß ich mich zu ihnen setzte. Sie hielten mich für viel klüger, als ich war. »Wie groß ist eigentlich die Besatzung von einem Tanker, Sir?« fragten sie mich. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Glauben Sie, daß sie alle draufgegangen sind, Sir?« »Ein paar Überlebende gibt es doch immer«, gab ich zu bedenken. »Mir scheint, hier draußen im offenen Meer hat man einen ganz schönen Tod, wenn man schon dran glauben muß. Denken Sie doch nur an all die Schiffe hier!« »Das ist richtig!« sagten die Männer und nickten einander zu. Der Gedanke heiterte mich etwas auf, und ich glaube, den Männern erging es ebenso. Ich hatte plötzlich das Gefühl, daß eine starke Kraft von Amerika hier draußen war, um uns während der nächsten Tage zu schützen. Und daß wir wiederum andere schützten. Daran mußte ich in den folgenden Tagen immer wieder denken. Das Bewußtsein, dazuzugehören, ist eine der kostbaren Erfahrungen, die einem Mann im Kampf zuteil werden. In der späteren Nacht gesellte sich auch der Erste Offizier zu uns. Er mochte auch nicht allein in seiner Unterkunft bleiben. Die Männer, die gerade Wache geschoben hatten, kamen für einen Augenblick herein, um ein Glas Wasser zu trinken, und blieben ebenfalls da. Die Luft war zum Schneiden dick von dem vielen Zigarettenrauch. Wie immer, wenn ein paar Mariner so zusammensitzen, fing einer an zu singen: »Wo das Reh und die Antilope grasen...« Wir fielen mit ein und versuchten, die verschiedenen Tonhöhen zu einem melodischen Wohlklang aufeinander abzustimmen. Ein Bootsmann, durch die ihm angeborene Begabung dazu -230-
bestimmt, führte uns bei unserem Gesang an. Er war ein schlanker Bursche unter zwanzig, ein Ire mit einer schönen Tenorstimme. Bevor noch die letzten Noten eines Liedes verklungen waren, stimmte er schon wieder ein neues an. Bald wie bei jedem Sängerfest, an dem ich teilnahm - kam er uns dann auch mit den beiden uralten Lieblingsliedern aller Männerstimmen. In hohem Falsett sang er: »Ich komme, ich komme, denn mein Kopf hängt schon ganz tief.« Ich glaube, wir sangen das Lied mindestens achtmal. Die wahren Sänger unter uns belebten es durch Varianten und Triller, die ich bisher noch nie gehört hatte. Die Brüller sangen immer nur ein paar Töne mit, aber die hielten so lange, daß es eine reine Freude war. Dann stimmte der Bootsmann das andere Lieblingslied an: »Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht...« Seiner hohen Stimme lag das Weihnachtslied besonders gut, und ein Baß, der die zweite Stimme dazubrummte, gab einen reizvollen Kontrast dazu ab. Es mag vielleicht seltsam erscheinen, daß unsere Männer an Bord eines kampfbereiten Schiffes gerade ein deutsches Weihnachtslied sangen, noch dazu ein Weihnachtslied, das so typisch deutsch ist, daß es auf englisch gesungen barbarisch klingt. Dennoch wählten sie dieses Lied, und als sie es sangen, klang es gar nicht deutsch, obwohl mehr als die Hälfte der Männer es in dieser Sprache sang. Es klang auch nicht gerade wie ein religiöses Lied. Es war nichts weiter als eine Folge von herrlichen Tönen, denen sich die Männer mit derselben Liebe hingeben konnten wie den wehmütigen schönen Erinnerungen, die sie auslösten. Unser Gesang wurde gegen halb drei Uhr früh durch laute Explosionen unterbrochen. Wir eilten hinauf und kamen gerade rechtzeitig an Deck, um zu sehen, wie auf Kuralei eine Reihe von Munitionsstapeln in die Luft flogen. Ein- bis zweihundert Meter hohe Flammensäulen schossen empor, fielen in sich zusammen und sprangen dann noch höher. Wieder waren unsere Schiffe, ihrer Hunderte, schien es, eine Weile lang hell -231-
beleuchtet. Genau auf unserem Kurs feuerte ein Kreuzer eine Breitseite ab und verschwand in der Dunkelheit. Bald nahm ein anderer Kreuzer seinen Platz ein, und neue Explosionen erschütterten die Küste. Nach ein paar Minuten gingen wir wieder hinunter. Aber die Lust zum Singen war uns vergangen. Ein untersetzter Heizer, der auch zu dem Sturmtrupp gehörte, saß neben mir am Tisch und hatte wie ich die Füße auf eine Bank gelegt. »Das kann ich Ihnen sagen, Sir«, sprach er mich an. »Seit der Market Street nachts an einem Sonnabend habe ich so was Schönes noch nich' wieder gesehn!« »Meinst du die Market Street in Frisco?« fragte ein Geschützmaat. Mehrere Männer beugten sich interessiert vor. »Na freilich, die in Frisco!« sagte der Heizer. »Das is' vielleicht 'ne Stadt!« murmelte ein anderer Heizer. »Kannst du ruhig lauter sagen, Kumpel!« bemerkte ein Matrose beifällig. Die Unterhaltung verstummte einen Augenblick. All die Männer um mich herum dachten jetzt an die Market Street in Frisco. Zwei fingen dann plötzlich gleichzeitig an zu spreche n. »Ich erinnere mich noch...«, sagte der eine. »Ich war gerade auf der Market...«, begann der zweite. Sie lachten und bedeuteten sich gegenseitig, daß der andere doch zuerst ausreden solle. Der Koch, den niemand leiden konnte, enthob sie dieser Verlegenhe it. »Ich war vier Tage in Frisco«, erzählte er. »Na und?« erkundigte sich eine Stimme. »Und das war der schönste Urlaub, den ich je gehabt habe«, erwiderte der Koch. »Was hast du denn bloß so lange in Frisco gemacht?« hänselte ihn die Stimme. »Hast du dir einen Schlepper aufgegabelt?« »Das geht dich einen Dreck an!« entgegnete der Koch. »Es -232-
war Freitag, wie ich ankam. Ich hatte mir Fisch bestellt. Und wie ich da im Lokal den Gang runtergehe, sitzt da diese Puppe.« »Was war denn mit der los?« fragte der Spaßvogel. »Wo mit der was los war«, sagte der Koch, »das wär dir gar nich' aufgefallen!« Darauf wußte der Spaßvogel nichts zu erwidern. Die Männer spitzten die Ohren und beugten sich weiter vor. Es interessierte sie doch, zu hören, was dem Koch, den sie sonst nicht ausstehen konnten, mit einem Mädchen, in Frisco passiert sein konnte. »Na, erzähl schon, Smutje. Was war denn?« fragte einer. »Tja, diese Puppe - und ich mach euch da nichts vor, Jungens. Also, die war schon mit ihrem Nachtisch fertig, und ich saß immer noch bei meiner Suppe. Es sah mir ja so aus, als wenn sie mir Augen machte, aber ihr wißt ja, wie es is'. Eine schicke Biene. Vielleicht war sie's, aber vielleicht war sie's auch nich'. So eine, die's sozusagen dir überläßt.« »Das ist die Sorte, die ich mag«, unterbrach ihn eine gurrende Stimme. »Ich meine die Sorte, die's dir überläßt!« »Nun heraus mit der Sprache! Also, was war dann, Smutje?« »So fix wie 'ne Katze hab ich meine Suppe aufgeschlabbert und bin dann zu ihr hin. ›Sie haben ja Ihren Fisch noch nich' gegessen‹, sagte sie. ›Zum Teufel mit dem Fisch!‹sagte ich sehr prompt, schob dem Kellner zwei Dollar hin und sag zu ihm: ›Behalten Sie den Rest!‹ Aber dann sagte der Kellner: ›Und das Essen der jungen Dame?‹Also hab ich ihm noch zwei Eier in die Hand gedrückt. Na, und da hat die Puppe aber vielleicht wirklich Augen gemacht. Da hat sie gesehn, daß ich die Spendierhosen anhabe.« »Worauf du da aus warst, hättest du auch billiger haben können«, bemerkte der Meckerer. »Mag sein«, meinte der Koch. »Aber diese Puppe war Klasse!« -233-
»Und was habt ihr dann gemacht, Smutje?« »Wir sind bummeln gegangen! Und, mein Lieber, diese Puppe war genau, was ich gesagt habe, ganz große Klasse. Wenn wir in 'nen Klub oder in ein Restaurant gegangen sind, haben sich solche Burschen wie ihr alle die Hälse nach ihr verrenkt, aber mächtig!« »Wofür hat sie dich denn gehalten, Smutje, für 'n reichen Onkel aus der Provinz?« »Ja, das hat sie, wenn ich ehrlich sein soll. Ich hab in vier Tagen hundertachtzig Dollar für diese Puppe ausgegeben.« »Huiiiii!« pfiff ein Matrose. »Den Deubel hast du getan, mein Lieber!« rief die hartnäckige Stimme. »Doch hab ich das, so wahr mir Gott helfe!« erwiderte der Koch. »Einhundertundachtzig Dollar in vier Tagen! Und das war's mir auch wert.« »Ein Teil davon is' wohl für die Hotelrechnung draufgegangen, nehme ich an«, gurrte der Mann im Hintergrund. »Gott bewahre! Geschlafen haben wir bei ihr!« »Ach, sie hat wohl einen Puff gehabt!« verdolmetschte das der Nörgler. »Ich hab dir ja gleich gesagt, daß du das billiger haben konntest.« »Na, und wenn schon!« fertigte ihn der Koch ab. »Mir war's die hundertachtzig Eier wert. Wir sind immerzu Taxi gefahren. Hatten überall die besten Plätze. War'n zweimal im Variete. Geschenke hab ich ihr auch gekauft. Teufel noch mal, ich hab euch Jungs hier schon an einem einzigen Abend hundertachtzig Eier beim Würfeln verlieren sehn. Und was habt ihr davon gehabt? Aber ich? Für meine Pinke hab ich mich vier Tage lang in Frisco großartig amüsiert mit einer Puppe, die einfach Klasse war!« Die Männer sahen ihren Smutje an. Sie lachten jetzt anders -234-
über ihn. Selbst der Meckerer machte ihm brummig ein Zugeständnis. »Ich muß schon sagen, das war gar nich' so ohne«, erklärte er. Das war das Äußerste, was er an Beifall aufbrachte, aber diese fragwürdige Anerkennung freute den Koch. Er grinste. Während der ganzen Zeit hatte ich aus einer Ecke rechts hinter mir ein merkwürdiges leises Knirschen gehört, und als der Koch seine Geschichte beendet hatte, drehte ich mich um, weil ich wissen wollte, woher dieses Geräusch kam. »Das is' bloß Norval«, sagte ein Matrose. Ich verrenkte mir den Hals noch etwas mehr und entdeckte einen hageren, vielleicht dreiund zwanzig Jahre alten Heizer mit einem ausgesprochen mürrischen Gesicht. Er sah mich mit die sem starren Blick an, den Offiziere so oft zu sehen bekommen und der nichts anderes besagt als: ›Was hast du hier eigentlich zu suchen? ‹ »Kümmern Sie sich gar nicht um ihn«, riet mir ein pausbäckiger Mariner. Was mit dem Mann da in der Ecke nicht stimmte, habe ich nie herausbekommen. Während dieser langen ereignisreichen Nacht saß er dort allein im Halbdunkel. Erst schliff er sein Bajonett, bis es so scharf war wie eine Rasierklinge. Dann schliff er einen etwa zwanzig Zentimeter langen Dolch, den er aus seinem Gürtel hervorzog. Als das getan war, zog er sich die Schuhe aus, deren Sohlen, wie ich dann sah, mit langen spitzen Nägeln beschlagen waren. Geduldig schliff er nun jeden einzelnen Nagel so sorgfältig wie ein Hundertmeterläufer, der hört, daß sein Rivale ein schnellerer Sprinter ist. Die ganze Nacht blieb dieser Norval da sitzen. Hin und wieder hob er den Kopf und horchte zu dem albernen Geschwätz am Tisch hinüber. Zweimal trafen sich unsere Blicke. Er funkelte mich verächtlich an, atmete hörbar durch die Nase und beschäftigte sich dann aufs neue mit seinen kratzenden, knirschenden Feilen. Das zweitemal feilte er am Abzug seines Revolvers herum, damit er schon bei dem -235-
geringsten Druck seines Fingers einen Schuß abfeuern konnte. Der Stahl an der Abzugsvorrichtung war sehr hart, und Norvals Feilen gaben ein schrilles, durchdringendes Geräusch von sich. »Halt ein, du Mörder!« schrie ihm ein Matrose zu. Aber Norval feilte weiter an seinem Revolver herum. Er blickte nicht einmal auf, doch seine verächtlich gekrümmten Schultern und die unwillige Bewegung seines Kopfes drückten nur zu beredt die alte Frage aus: ›Was hast du hier eigentlich zu suchen?‹»Ich hab auch ein paar wundervolle Tage in Frisco verlebt«, sagte ein Maschinenmaat. »Meine Frau ist mit mir hingefahren. Es war verdammt schwer, ein Zimmer zu kriegen, aber schließlich fanden wir eins. Mensch, wir sind in den Zoo gegangen und in die Bildergalerie und rauf zu den Klippen und ins Theater und ziemlich überallhin, glaube ich.« Es war auf einmal ganz still in dem Raum. Das letzte, was die meisten dieser Männer von Amerika gesehn hatten, war Frisco. Dort hatten sie ihren letzten Spaß gehabt und noch einmal ihre Freiheit genossen. Einige dachten an den Zoo, andere erinnerten sich daran, wie sie sich in Frisco vier Filme hintereinander angesehen hatten. »Und komisch«, fuhr der Maschinenmaat fort. »Einigen von euch mag's jedenfalls komisch vorkommen. Aber meine Frau und ich hatten nämlich beschlossen, daß wir erst nach dem Krieg Kinder haben wollten. Doch wie wir da in Frisco waren und in dem Bewußtsein... Na, und jetzt haben wir eine kleine Tochter. Wollt ihr sie sehen?« Auf das erste zustimmende Gemurmel hin riß er aus seiner Brieftasche das Bild von einem Baby, das sich durch nichts von den meisten Babys unterschied, die ich bisher gesehen habe. Die Männer, die keine Kinder hatten, warfen einen flüchtigen Blick auf das Bündel, brummten etwas und reichten das Bild weiter. Die Väter jedoch bewunderten das kleine Mädchen, sagten aber sonst nichts und gaben das Bild dem Nebenmann in die Hand. »Ich bin auch vier Tage in Frisco gewesen«, sagte ein Heizer -236-
mit rauher Stimme. »Geschlafen habe ich im Christlichen Verein für junge Männer auf dem Embarcadero, aber gegessen hab ich jeden Tag bei Joe di Maggio, und jeden Abend hab ich mich betrunken. Junge, Junge, das waren dir mal vier Tage! Ich bin da mit einem Australier zusammen losgezogen, und wie wir beide uns amüsiert haben! Einmal haben sie ihn eingesperrt, aber sie haben ihn gleich wieder freigelassen und ihm gesagt, er soll sich seinen Rausch ausschlafen. An dem Abend haben wir so laut gefeiert, daß man's noch in Seattle hören konnte!« »Habt ihr Jungs euch auch viel auf der Grant Street herumgetrieben?« fragte ein Mariner. »Ich bin jedenfalls mal einen Abend dagewesen und hab mir da 'ne chinesische Puppe aufgegabelt. Sagt mal ehrlich, was haltet ihr denn von so einem Chop-Suey-Liebchen? Findet ihr's in Ordnung, sich mit denen einzulassen?« Es entspann sich eine erregte Diskussion über die Frage, ob ein Weißer sich mit diesen gelbhäutigen Mädchen abgeben dürfe oder nicht. Dieses Problem wurde jedoch sofort gelöst, als der Mariner das Bild von der kleinen schlitzäugigen Puppe aus Frisco herumzeigte. Das Bild, auf dem das Mädchen das Tanzkostüm trug, in dem es in einem Nachtklub auftrat, ließ das eben noch so hitzig erörterte Thema als eine rein akademische Frage erscheinen. »Und Sie?« fragte mich ein Heizer. »Was haben Sie in Frisco erlebt?« »Ich habe anscheinend viel versäumt«, sagte ich. »Ich bin nämlich spät abends angekommen und schon am nächsten Tag mit dem Clipper weitergeflogen?« »Sie sind hierher geflogen?« fragten die Männer. »Ja.« »Mit dem Mars?« »Nein, mit dem gewöhnlichen Clipper.« Die Tatsache, daß ich die Reise in die Südsee im Flugzeug gemacht hatte, verlieh mir -237-
eine gewisse Autorität. »Wann, glauben Sie, wird der Krieg aus sein?« fragten sie mich. »In vier Jahren, schätze ich.« Diese Antwort wurde mit tiefem Schweigen aufgenommen. Die Männer dachten daran, was alles in vier Jahren mit ihnen geschehen konnte. »Da haben wir ja noch Hoffnung, wie?« bemerkte ein Witzbold mit Grabesstimme. »Sie wissen doch, was die Leute sagen, Sir? Der Optimist: ›Neunzehnhundertfünfundvierzig, wer's nicht mehr erlebt, der irrt sich.‹ Der Pessimist: ›Dreiundfünfzig sind wir zwei alle beide noch dabei.‹ Der Realist: ›Achtundvierzig, mit ein bißchen Schwein könn' wir dann wieder in Frisco sein.‹ Und der blöde Hund: ›Sie'mun'vierzig ist Schluß mit dem Krieg, dann feiern wir daheim den Sieg.‹« »Versteh ich nich'«, sagte ein Matrose. »Wieso blöder Hund?« »Weil's sich siebenundvierzig längst ausgefeiert haben wird! Da werden die Jungs, die aus Europa zurückkommen, den Rahm schon abgeschöpft haben!« meinte der Witzbold und schlug auf den Tisch. »Glauben Sie, daß wir so lange hier draußen bleiben müssen, Sir?« »Einige von uns schon«, sagte ich. »Sie auch, glauben Sie?« »Kann sein.« »Macht Sie dieser Gedanke nicht wild, Sir?« »Anfangs, ja«, gab ich zu. »Und jetzt?« fragten die Männer. Das interessierte sie, denn das betraf sie auch. »Oh, ich kam sozusagen zu dem Schluß, daß es nicht viel ausmacht, wann ich zurückkomme.« Der Ernst des Augenblicks -238-
veranlaßte mich, noch offen hinzuzufügen: »Ich glaube nicht, daß ich bloß deshalb, weil jemand anders früher nach Hause kommt, ins Gras beißen muß. Für mich gibt es noch eine Menge zu tun!« Ein Unteroffizier nickte mir zu. »Genauso denke ich auch, Sir. Junge, Junge, wenn ich erst wieder zu Hause bin, gibt's einen Haufen Arbeit für mich! Und je länger es dauert, um so mehr bin ich überzeugt, daß ich sie auch tun werde.« »Was willst du denn alles tun?« erkundigte sich jemand. »Das geht nur mich an«, sagte der Unteroffizier. »In Frisco ist mir das auch so gegangen«, erzählte ein kleiner Ladenbesitzer. »Ich sagte mir: ›Das ist das letztemal für lange Zeit. Mach das Beste daraus !‹ Aber wißt ihr, was ich dann getan habe?« Draußen gab es ein paar heftige Detonationen. Unwillkürlich sahen wir alle auf die Uhr. »Ich konnte mir einfach nicht schlüssig werden, was ich zuerst tun sollte. Also blieb ich den ganzen Morgen in meiner verdammten Bude liegen, stand nur mittags ein bißchen auf, aß irgendwas und ging dann wieder zu Bett. Ein paar Abende bin ich auch ausgegangen, aber ich fühlte mich lausig. Als das Schiff auslief, war ich froh, daß ich wegkam!« »Na!« rief ein Landwirt aus. »Mir waren die Tage nicht lang genug. Diese Straßenbahnen in Frisco! Mensch, ich glaube, ich bin jeden Tag mehr als hundert Meilen in diesen schnittigen Wägelchen gefahren. Ich stieg auf und fragte jedes hübsche Mädchen, das ich sah, was sie vorhatte. Ich hab so lange auf sie eingeredet, bis wir warm miteinander wurden. Jeden Tag 'ne andere Puppe. Ich bin schon in Boston, in Panama und in San Diego gewesen, aber wenn's ans Amüsieren geht, läßt sich keine andere Stadt mit Frisco vergleichen.« »Sagt mal«, fiel ihm ein Mariner ins Wort, »fahren wir nicht?« Wir schwiegen eine Weile. Ja, wir fuhren. Wir fuhren auf die -239-
Küste zu. Wieder sahen wir auf unsere Armbanduhren. Da erschien ein Kopf in der Luke. »Sturmtrupp!« Norval warf seine Feile hin und stürzte auf den Gang hinaus. »Sturmtrupp! Fertig machen zur Landung! Fertig machen zur Landung!« Als ich mich in dem verrauchten Raum allein sah, ging ich an Deck. Im Zwielicht der Morgendämmerung des Tages X ging die erste Welle vor. Ein Kugelregen prasselte auf sie nieder, als sie den Korallenstrand erreichte. Die japanischen Kanonen donnerten im Morgengrauen. Aber einige von unseren Leuten kamen durch! Sie hatten es geschafft! Und jetzt schwiegen unsere Schlachtschiffe, und unsere Flugzeuge drehten ab. Männer, menschliche Wesen auf zwei Beinen, Männer, die auf ihrem Bauch über die Korallen krochen, Männer mit einem Verstand, mit quälenden Gedanken und einer schrecklichen Sehnsucht... Männer setzten nun den Angriff fort.
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Die Landung auf Kuralei Wir hätten Kuralei planmäßig erobert, wäre nicht Oberstleutnant Kenjuro Hyaichi gewesen. Ein Absolvent der technischen Hochschule von Kalifornien, der dort mit Auszeichnung promoviert hatte, war er für die Aufgabe, mit der die Japaner ihn betrauten, der gegebene Mann. Sobald unsere Bomber damit begannen, Konora, wo wir dann das Rollfeld bauten, weich zu machen, gab der japanische Kommandant auf Kuralei Hyaichi seine Anweisungen: ›Stellen Sie sich vor, Sie wären ein amerikanischer Admiral und wollten diese Insel angr eifen. Was würden Sie tun?‹ Hyaichi stieg in ein Flugzeug und ließ sich von dem Piloten viertausend Meter hoch fliegen. Kuralei lag nun unter ihm wie eine große Erdnuß da. Die Innenseite des Knicks blickte nach Norden, und die leicht gebeugten beiden Arme der Insel umgaben zwei Buchten mit schönem Sandstrand. Ein geradezu idealer Platz für eine Landung! Das konnte man sogar von der Luft aus sehen. An der Außenseite des Knicks aber lag ein Vorgebirge, das nach Süden zu in einen scharfen Winkel auslief. Aus der Luft betrachtete Hyaichi sich dieses Vorgebirge sehr genau. ›Vielleicht wissen sie, daß wir die beiden Buchten befestigt haben. Vielleicht versuchen sie, an dem Vorgebirge zu landen.‹ Der Oberst befahl seinem Piloten, auf tausend Meter und dann auf hundertfünfzig runterzugehen. Er flog nun in der Richtung, aus der unsere Aufklärer kamen, weit ins Meer hinaus. Sechsmal flog er die Insel mit voller Fahrt an, um festzustellen, ob er sehen könne, was ein amerikanischer Pilot, der Angst und keine Zeit hatte, zu sehen glaubte. Dann betrachtete er die Insel von einem kleinen Boot aus. -241-
Außerdem ließ er sie von allen Seiten und aus jeder Höhe photographieren. Die Aufnahmen sah er sich viele Tage lang immer wieder an. In einer Nacht ließ er zwei japanische Spione aus Truk die Insel anlaufen. Sie mußten an verschiedenen Stellen an Land gehen. ›Was haben Sie gesehen? ‹fragte er sie. ›Hatten Sie den Eindruck, daß die Bucht befestigt war? Was halten Sie von dem Vorgebirge?‹ Er ließ zwei erprobte Beobachter aus Palau herüberfliegen. Beide hatten Kuralei bisher noch nie gesehen. Als ihr Flugzeug im Sturzflug runterging, waren sie ganz benommen. ›Die Buchten? ‹ fragte Hyaichi. ›Hatten Sie den Eindruck, daß die beiden kleinen Buchten im Norden einen Sandstrand haben? Und was ist mit dem Vorgebirge? Haben Sie die Klippen gesehen?‹ Offiziere der japanischen Abwehr brachten dem Oberst sechzig und siebzig Seiten lange Protokolle der Verhöre von amerikanischen Gefangenen. Sie zeigten ihm ausführliche Berichte über jede amerikanische Landung von Guadalcanal bis Konora. Sie hatten ein ganzes Buch nur über Admiral Kester, eine Analyse jeder Aktion, die der Admiral je befehligt hatte. Als er das alles durchstudiert hatte, schaltete Oberstleutnant Hyaichi die Möglichkeit unserer Landung am Vorgebirge aus. ›Es ist nicht zu machen‹, sagte er. ›Diesem Korallenriff, das da zweihundert Meter weit ins Meer hinausragt, werden sie auch mit ihren modernsten Erfindungen nicht beikommen können.‹ Doch bevor der Oberst dem japanischen Oberkommando seinen Vorschlag unterbreitete, alle verfügbaren Streitkräfte auf die beiden nördlichen Buchten zu konzentrieren, trank ein Arbeiter in Detroit ein Bier. Als er das Bier getrunken hatte, unterhielt er sich mit einem Schuhverkäufer aus St. Louis, der seinem Schwager anvertraute, was dieser einem Mann erzählte, der nach Texas reiste, wo die Neuigkeit nach Mexiko weitergeleitet wurde und von dort nach Tokio und Kuralei gelangte, daß nämlich ›General Motors ein schwimmfähiges -242-
Fahrzeug bauten, das auch die vertracktesten Hindernisse, die es nur gebe, zu überwinden vermöge‹. Oberstleutnant Hyaichi zerriß seine Aufzeichnungen und sagte seinen Vorgesetzten: ›Die Amerikaner werden auf beiden Seiten des Vorgebirges landen‹. ›Wie wollen sie das fertigbringen?‹ wurde er gefragt. ›Sie haben neue Waffen‹, erwiderte er. ›Amphibien-Tanks mit besonderen Ketten zur Überwindung der Korallen.‹ Fast genau vor einem Jahr hatte Admiral Nimitz beschlossen, daß wir bei einem Angriff auf Kuralei nicht in den beiden Buchten landen würden. ›Wir werden bei dem Vorgebirge landen. Darauf werden sie nicht gefaßt sein.‹ Zu unserem Glück schenkten Oberstleutnant Hyaichis Vorgesetzte seinen Schlußfolgerungen keine Beachtung. Es wäre Wahnsinn, sagten sie, die Verteidigung von den natürlichen Landeplätzen im Norden zurückzuziehen. Sie erklärten sich lediglich damit einverstanden, daß Hyaichi mit dem Material, das er noch auftreiben könne, eine weitere Verteidigungsstellung in dem Vorgebirge ausbaue. Welch gute Arbeit er da leistete, sollten wir später erfahren. Um 05.27 setzten unsere ersten Schwimmtanks an der Südküste auf das unter Wasser vorspringende Korallenriff auf. Die Flut hatte ihren höchsten Stand erreicht, und halb schwimmend, halb rutschend bewegten sie sich auf die Küste zu. Als sie nur noch sechs Meter vom Strand entfernt waren, brach ein wahres Höllenfeuer los. Die Geschütze in Oberstleutnant Hyaichis festen Stellungen jagten unsere Schwimmtanks aus dem Wasser direkt in die Luft. Unsere Männer starben, bevor sie noch in das seichte Wasser über dem Korallenriff zurückfielen. Als die Ebbe einsetzte, wurden ihre Leichen, die sich sanft in einigen Wasserlachen wiegten, gefunden. Nur ein paar Mann erreichten die Küste, und die mußten die letzten sechs Meter durch einen Kugelregen laufen. Um 05.36 erreichte unsere zweite Welle diese sechs Meter -243-
von der Küste entfernte imaginäre Linie. Die japanischen Fünfzöller feuerten ihre Geschosse ab. Von den neun Schwimmtanks, die auf die Küste zusteuerten, wurden fünf versenkt, und von den dreihundert Mann in diesen fünf Tanks wurden hundert sofort getötet. Weitere hundert fielen, während sie an Land wateten. Aber einige erreichten das Ufer und bildeten eine Kompanie, die erste auf Kuralei. Es wurde jetzt hell. Die LB-108 hatte Kurs auf das Korallenriff geno mmen, um die Landungen zu melden. Wir funkten dem Flaggschiff. Admiral Kester brach der Schweiß an den Händen aus. »Alle Landungsversuche für achtzehn Minuten abblasen!« befahl er. Um 05.44 eröffneten unsere Schiffe ein gewaltiges Sperrfeuer. Wie hatten sie nur diese Fünfzöller bisher verfehlen können? Wie hatte überhaupt irgend etwas unser vorheriges Bombardement überstehen können? Viele Japaner überlebten es nicht. Aber diejenigen, die sich in Oberstleutnant Hyaichis Spezialbunkern verbargen, hatten es überlebt, und sie überlebten auch diesen Beschuß. Auf dem schmalen Strand westlich des Vorgebirges drängten sich 118 Mann dicht aneinander, als die Granaten über sie hinwegfegten. Unser Kennwort für diesen Strand war Grün und für den auf der Ostseite Rot. Das einzige, auf zwei Beinen wandelnde Funkgerät auf Grün-Strand empfing den Befehl: »Ende der Beschießung abwarten! Dann auf erste Reihe Kokospalmen vorgehen!« Aber bevor der Funker antworten konnte, schlug eine unserer Granaten zwischen den Männern ein. Die Überlebenden formierten sich wieder, aber sie hatten nun keinen Funker mehr. Um 06.02 setzte die dritte Welle unserer Schwimmtanks zur Landung an. Der Geschützdonner rollte über sie dahin, bis sie auf dem Korallenriff angelangt waren. Eine nervenzerrüttende Stille trat ein. Es war jetzt Tag. Die Sonne ging auf. Unsere Amphibien schaukelten über die Koralle. Bei der -244-
verhängnisvollen Sechs-Meter-Linie begannen ein paar Japaner unsere Schwimmtanks zu beschießen. Drei wurden vernichtet, aber acht kamen durch und setzten ihre Männer am Ufer ab. Die japanischen Maschinengewehrschützen und die Scharfschützen auf den hohen Bäumen brachten uns schwere Verluste bei. Doch unsere Männer gruppierten sich von neuem und gingen auf die erste Reihe der Kokospalmen vor. Sie hatten schon die Hälfte des Weges zu den zerborstenen Stümpfen zurückgelegt, als die Japaner aus den sorgfältig hinter den Bäumen ausgehobenen Gräben das Feuer auf sie eröffneten. Unsere Männer versuchten diesem Kugelregen standzuhalten, aber sie konnten es nicht. Sie traten den Rückzug zum Strand an. Die Kokospflanzung war von festen Stellungen durchzogen, hinter jeder Baumreihe ein Graben. Als unsere Männer zum Strand zurückliefen, sahen sie einen auf dem Riff hilflos aufgespießten Schwimmtank, der jeden Augenblick umzukippen drohte. Eine japanische Granate traf ihn genau in die Mitte und jagte ihn hoch. Menschenleiber wirbelten im Schein der frühen Morgensonne durch die Luft und fielen tot auf die Korallen nieder. »Die armen Teufel!« sagten die Seesoldaten auf dem Strand. Um 06.31 Uhr erschienen amerikanische Flugzeuge. Grumman-Avengers! Sie bombardierten den ersten Graben, bis nur ein Japs noch mit dem Leben davonkommen konnte. Immer wieder warfen sie ihre Bomben. Zwölf Minuten lang blitzten sie den ganzen Grün-Strand auf. Dann rückte die nächste Welle unserer Schwimmtanks an. Die ersten beiden bekamen einen Volltreffer und zerbarsten in tausend Stücke. »Wie können diese Japse nur weiterleben?« rief der Mann neben mir aus. Von der nachfolgenden Welle wurden vier weitere Schwimmtanks versenkt. Also eröffneten unsere großen Schiffe um 07.10 Uhr wieder das Feuer. Diesmal dauerte das Bombardement achtundzwanzig -245-
Minuten und richtete sich hauptsächlich auf den etwa sechzig Meter breiten Streifen hinter der ersten Reihe der umgestürzten Kokospalmen. Als es aufhörte, versuchten unsere Männer es wieder. Sie erreichten jetzt zwar die Bäume, wurden aber wieder zurückgeworfen. Fast vierhundert Mann befanden sich jetzt an Land, die sich am Rand der Küste zu festen Verbänden zusammenschlossen. Um 07.48 Uhr hörten wir die Meldungen von Rot-Strand, an der anderen Seite des Vorgebirges. »Viermal zurückgeworfen. Der erste Trupp sicher gelandet!« Viermal! sagten wir uns. Mein Gott, das ist ja noch schlimmer als hier! Das kann doch nicht sein! Und doch war es so, und als auf Rot-Strand die Ebbe einsetzte, drängten die Japaner unsere Männer auf die Korallen zurück. Es war phantastisch! Als man damals in Numea das Unternehmen Alligator ins Auge faßte, wußte man natürlich, daß es dabei hart zugehen würde. Aber doch nicht so! Auf GrünStrand standen neun Reihen Kokospalmen, und dahinter lag eine Kakaopflanzung. Der Rand dieser Pflanzung war die AlbanyLinie. Wir mußten die Kakaobäume bis zum Abend erreichen. Wir wußten, daß dort ein riesiges Blockhaus aus Torf und Holz, aber auch aus Stein und Beton vor dem Anbruch der Nacht zerstört werden mußte. Der Sturm auf das Blockhaus sollte genau um 10.45 Uhr einsetzen. Das war die vorgesehene Zeit. Um 14.00 Uhr drängten sich unsere Männer noch immer am Strand zusammen. Kester wollte sie nicht zurückziehen. Ich glaube, sie wären auch nicht zurückgegangen, wenn er es ihnen befohlen hätte. Sie harrten aus. Sie versuchten, nach Westen vorzudringen, doch die Klippen verhinderten jeden Durchbruch, sie versuchten, nach Osten abzuschwenken, aber da versperrten ihnen die Geschütze der festen Stellungen im Vorgebirge den Weg. -246-
Um 14.22 Uhr brachte Admiral Kester seinen zweiten Plan zur Ausführung. Während auf Rot und auf Grün nur schmale Brückenköpfe geha lten wurden, wurde allen verfügbaren Stoßtrupps befohlen, die zerklüftete Westseite des Vorgebirges anzugreifen. Wir wußten nicht, ob unsere Boote dort landen konnten. Wir wußten nur, daß, sollten sie landen und unsere Männer da auch einen Brückenkopf errichten und für die Truppen und die Panzer quer durch das Gebirge einen Weg schlagen können, wir eine Flanke für die bereits eroberten Brückenköpfe und eine Chance haben würden, die Kakaobäume noch vor Dunkelheit zu erreichen. Um 14.25 Uhr bekamen wir unsere Befehle: »LB-108. Alle Mann auf Punkt 66!« Die Männer zwinkerten einander zu. Dann kletterten sie in die Landungsboote. Der Mann, dessen Frau ein kleines Mädchen bekommen, und der junge Kerl, der seinen Urlaub in Frisco verschlafen hatte. Sie stiegen zu den anderen in die Boote. Die Sonne neigte sich bereits dem Westen zu, als sie auf die Küste zufuhren. Oberstleutnant Hyaichis Männer lagen auf der Lauer, und dann feuerten zwei Geschütze, die nur für den Fall einer solchen Landung in Deckung gebracht worden waren, auf unsere Seesoldaten. Die Granaten schlugen in unsere Boote ein. Das eine mit Männern der LB-108 überschlug sich in der Luft und zermalmte seine Besatzung. Die Unglücklichen warfen die Arme vor und versuchten freizukommen, aber das Boot traf sie alle. Ein paar schwammen unter dem Rumpf hindurch. Sie fanden keinen Grund, also schwammen sie auf die Küste zu, wie es ihnen geraten worden war. Die japanischen Scharfschützen schossen auf sie, und von den wenigen erreichten nur ganz wenige das Ufer. Ein Mann schüttelte sich wie ein Hund und rannte in den Dschungel. Ein anderer, der sich auch retten konnte, rief einem Kameraden zu: »Rot-Strand! Grün-Strand! Sonova-Strand! Alles Scheiße!« -247-
Die in Deckung gebrachten Geschütze auf der Höhe feuerten weiter. Ad miral Kester schickte acht Grumman-Avengers auf sie los. Unsere Bomber stürzten sich auf die japanischen Stellungen und brachten eins der Geschütze zum Schweigen. Ich erinnere mich noch, wie der eine Bomber minutenlang direkt über einem japanischen Geschütz zu hängen schien und es mit dem tödlichen Blei überschüttete. Es war ekelhaft. Dann explodierte das Flugzeug! Mit einem lauten Knall zerbarst es in einer rotschwarzen Wolke. Seine einzelnen Teile flogen weithin über das Gelände, aber sie verletzten keine n. Dazu waren sie zu klein. Um 14.48 Uhr kam Meldung eines Vizeadmirals an Kester: »Männer bei Punkt 66 sicher gelandet.« Der Admiral setzte dort alle verfügbaren Boote ein. Sonova-Strand wurde genommen. Wir verloren dort dreihundert Mann, aber der Brückenkopf wurde erobert. Boote und Männer überschlugen sich in der Luft und verendeten beide mit heißem Stahl in ihren Eingeweiden, aber das Vorgebirge war gewonnen. Unsere Flugzeuge und unsere Schiffe konnten zwar nicht alle diese verdammten japanischen Scharfschützen zum Schweigen bringen, aber Sonova-Strand, dieser blutige Küstenstreifen, war in unserer Hand. Um 15.02 Uhr schickte Admiral Kester bei Sonova vier Panzer an Land, mit dem Befehl, das Vorgebirge zu durchstoßen und jedweden Punkt unterstützen zu he lfen, der als Brückenkopf besonders günstig schien. Zweihundert Mann fuhren mit Äxten und Spaten davon. Ich sah, wie diese schwerfälligen Fahrzeuge an Land rumpelten und ihren ersten Nesselbaum umlegten. Ich hörte ein lautes Knirschen, das einen Augenblick lang den Lärm der Schlacht übertönte. Dann verschwanden die Panzer zwischen den Bäumen. Um 15.14 Uhr unternahmen die Japaner ihren einzigen Luftangriff an diesem Tag. Etwa dreißig Bomber kamen, von -248-
vierzig Jägern begleitet, aus Truk angeflogen. Sie hatten es auf unsere dicken Pötte abgesehen. Die Abwehr der Flotte schoß aus allen Rohren. Jedes Schiff der Kampfgruppe eröffnete das Feuer mit seinen Fünfzöllern, Bofors, Oerlikons, Dreizöllern und kleineren Kalibern. Die Luft war schwer von Blei. Einige der japanischen Maschinen stürzten trudelnd ins Meer. Ich sah, wie die Flammen an der linken Tragfläche des einen Bombers hervorschossen. Er versuchte, sie durch einen Abschwung zu löschen. Aber eine zweite Granate traf den Rumpf. Das Flugzeug explodierte und brach in vier Teile auseinander. Der Motor, der in hellen Flammen stand, traf das Wasser in einem spitzen Winkel und prallte fünfmal wieder ab, bevor er mit einem wütenden Zischen versank. Einer unserer Transporter bekam einen Volltreffer. Er brannte lichterloh, als er unterging. Dicht daneben plumpste wieder ein japanisches Flugzeug ins Meer. Aus großer Höhe kam jetzt eine Grumman-Avenger in einem tödlichen Sturzflug angebraust. »Abspringen!« schrien tausend Stimmen. Aber der Pilot schaffte es nicht mehr. Die Maschine stürzte direkt hinter dem japanischen Bomber ins Meer und verbrannte. Ein japanischer Jäger, der wegsackte, ging im Tiefflug auf die LB-108 runter und begann sie zu beschießen. Ich hörte die dumpfen Einschläge von Blei, das Feuer unserer eigenen Geschütze und dann einen Aufschrei. Der Japs flog unversehrt davon. Die Männer auf der LB-108 fluchten. Der junge Kommandant wurde aschfahl vor Wut und rannte aufs Achterdeck, um zu sehen, wer von seinen Leuten getroffen worden war. Die japanischen Flugze uge wurden vertrieben. Ein Jäger stürzte sich jedoch in einem letzten Angriff auf die Kommandobrücke eines unserer Zerstörer. Die Aufbauten flogen in die Luft und mit ihnen sechsunddreißig Mann und vier Offiziere. Zwei andere Jäger versuchten dasselbe. Der eine brauste im Tiefflug über das Deck eines Kreuzers und kam noch -249-
dreimal aus den kochenden Fluten wieder hoch. Der andere kam in einer Sturzspirale angetrudelt und versank nicht weit vor mir sofort im Meer. Er explodierte unter Wasser, und ein Geysir schoß an der Stelle empor. Weit draußen im Meer jagten unsere Maschinen die anderen Japse in den Tod. Da sie keinen Brennstoff mehr hatten, mußten unsere Piloten selbst aufs Wasser runtergehen. Einige kamen dort Tage später vor Durst qualvoll um. Andere wurden fast sofort aufgefischt und bekamen Geflügel zum Abendessen. Während die Kamikaze-Flieger sich mitten in unsere Flotte stürzten, eröffnete eine japanische Küstenbatterie das Feuer und traf eines unserer Munitionsschiffe. Mit einem schaurigen Ächzen flog es in die Luft. Bevor noch die letzten Bruchstücke dieses Schiffes im Wasser versunken waren, hatten unsere schweren Geschütze die Küstenbatterie bereits entdeckt und zerstört. Unterdessen hatten sich unsere Truppen auf Grün-Strand formiert. Während die Sonne sich dem Ozean näher zuneigte, versuchten sie um 15.44 Uhr einen neuen Angriff auf die erste Reihe der Kokospalmen. Sie wurden zurückgetrieben, diesmal jedoch nicht ganz bis zu dem Korallenriff. Es gelang ihnen, etwa fünfzehn oder zwanzig Meter landeinwärts ein paar Stellungen zu halten. Um 15.57 Uhr zog Admiral Kester sie auf die Korallen zurück. Zum letztenmal an diesem Tag. Er schickte Flugzeuge aus, um den ersten Graben zu vernichten. Diesmal strichen unsere Maschinen so tief über die Gräben hinweg, daß sie mit den Flächenspitzen fast die Baumstümpfe berührten. Ihre treffsicheren Bordwaffen zielten so genau auf die schmalen Schlitze wie die Nadel einer Nähmaschine, die eine geheftete Naht runternäht. Aber die Einstiche der Bordwaffen brachten den Tod. Um 16.07 Uhr drehten die Flugzeuge ab. Auf ein Signal hin erhoben sich die Soldaten auf dem Strand wie ein Mann und -250-
stürmten auf den ersten Graben zu. Die Japse wußten, daß sie kamen, und empfingen sie mit einem Flankenfeuer. Doch die Jungens vom Grün-Strand griffen weiter an. Einige stürzten verwundet zu Boden. Andere starben stehend und warfen sich noch mit einem gespenstischen Laufschritt dem Graben entgegen. Einige fielen aus Angst um und lagen wie tot. Aber die meisten stürmten weiter und brüllten heiser vor Wut, als sie sich mit ihren Bajonetten auf die Japaner stürzten. Im Graben entstand ein wildes Handgemenge. Dann wurde es still. Ein paar Amerikaner krochen zurück, um unsere Verwundeten fortzuschaffen. Daran sahen wir, daß die Unseren gesiegt hatten. Die Japaner im zweiten Graben versuchten nun mit ihren Geschützen die erschöpften Amerikaner zusammenzuschießen. Ein paar tollkühne Schützen an Bord eines Kreuzers feuerten daraufhin mehrere Salven von schweren Granaten ab, die unmittelbar vor dem zweiten Graben einschlugen. Es war riskant, aber wirksam. Die Japse wurden in Stücke zerfetzt. Unsere Männer hatten Zeit, sich wieder zu formieren. Sie standen jetzt nicht mehr auf Korallengrund. Sie hatten jetzt festen Inselboden unter den Füßen, den Boden von Kuralei. Um 16.18 Uhr traf Admiral Kester seine Entscheidung. GrünStrand war unsere größte Chance. Er gab Rot-Strand nicht auf. Aber alles, was wir hatten, wurde nach Grün-Strand geworfen. »Irgendeine Meldung von unseren Panzern?« »Sie dringen auf der Halbinsel vor, Sir!« Es hatte keinen Zweck, auf den Tisch zu hauen. Wenn die Panzer durchkommen konnten, würden sie es auch tun. Um 16.29 Uhr ratterten etwa hundert Schwimmtanks auf Grün-Strand zu, unter dem Donner eines gewaltigen Sperrfeuers, das die Westseite dieses Küstenstreifens bis zu den Klippen mit Feuer bestrich. Dreißig Tiefflieger beschossen die japanischen Stellungen im Vorgebirge. Ein Mann neben mir schrie gellend auf. Ein -251-
japanisches Geschütz, das noch irgendwo in den Trümmern verborgen war, durchlöcherte unsere Schwimmtanks. »Bombardiert das Geschütz!« schrie er. »Da drüben steht es!« Er sprang von einem Bein aufs andere und mußte gegen das Schott pinkeln. »Bombardiert das Geschütz!« Zwei Schwimmtanks wurden von diesem Geschütz zerstört. Aber mehr als neunzig erreichten den Strand. Jetzt hatten wir eine Chance, den ersten Graben zu halten, mochten auch noch so viele Japaner zu einem Gegenangriff ansetzen. »Ein Panzer!« schrie unser Beobachter. Ich blickte hinüber, sah aber keinen. Doch, da war einer! Aber es war ein japanischer Panzer. Sogar drei! Der japanische General hatte schließlich Oberstleutnant Hyaichis Vorstellungen doch nachgegeben und brachte nun schnell alles bewegliche Material zu den Stellungen im Vorgebirge. Und unsere eigenen Panzer saßen noch immer im Dschungel fest. »LB-108! Selbst landen und Raketen schießen!« Der Befehl kam vom Flaggschiff. Mit großem Geschick nahm der junge Skipper soviel Fahrt auf wie nur irgend möglich. Er steuerte sein kleines Fahrzeug so nahe an die Kampflinien heran, wie das Meer es nur tragen wollte. Wir spannten uns an und spürten bald einen heftigen Stoß, als wir auf den Korallen aufliefen. Wir waren gestrandet, und unser Bug zeigte auf die japanischen Panzer. Unsere erste Raketensalve ging mit einem leisen Zischen los und verfehlte ihr Ziel. »Zu hoch!« stöhnte der Skipper. Die Ladung schlug in die Kakaobäume. Die japanischen Panzer fuhren auf unsere Männer im ersten Graben zu. Unser nächster Raketenstoß wurde mit einem anhaltenden, lauten Zischen abgefeuert. Der vorderste Panzer explodierte und versperrte dem zweiten den Weg. In diesem Augenblick wurde die LB-108 von einem japanischen Fünfzöller getroffen und sackte nach Backbord ab. Die Männer an den Geschützen richteten das Visier neu ein und -252-
feuerten eine weitere Salve ab. Auch der zweite Panzer explodierte. Die Japse kletterten aus der Turmöffnung heraus. Zwei entkamen in die Kakaopflanzung. Zwei andere wurden von Gewehrkugeln getroffen und blieben mit dem Kopf nach unten auf dem brennenden Panzer hängen. Der dritte japanische Panzer hörte auf, unsere Männer im ersten Graben zu beschießen, und bewarf jetzt die 108 mit Granaten. Zwei trafen uns, und wir legten uns noch mehr auf die Seite. Dieselben tollkühnen Schützen auf dem Kreuzer begannen jetzt wieder, unbekümmert um unsere Männer in dem Graben, zu feuern. Ihre Geschosse trafen den dritten Panzer haargenau. Wir holten tief Luft. Wahrscheinlich hatten die Japse noch mehr Panzer im Anmarsch, aber die ersten drei waren jedenfalls erledigt. Unser Skipper betrachtete sein Schiff. Es war hin. Es mußte entweder von dem Riff weggerissen und versenkt werden oder liegenbleiben und verrotten. Ihm war seltsam zumute. Sein erstes Kommando! Was für ein Krieg! Da brachte man sein Schiff den ganzen Weg von Norfolk hierher, um zwei Panzer aufzuhalten. An Land. Und ließ sein Schiff absichtlich auf ein Korallenriff auflaufen. Der helle Wahnsinn! Er verfluchte sich selbst, als er an den Tiefflieger dachte, der unversehrt entkommen war. Zwei seiner Männer waren getötet, und nicht eine von unseren Kugeln hatte das Flugzeug getroffen. Es geschah alles so schnell. »So schnell!« murmelte er. »Ein lausiger Krieg!« Um 16.55 Uhr stürzten unsere Seesoldaten im ersten Graben, ermutigt durch die Verstärkung der Schwimmtanks, völlig unerwartet aus dem entfernten Westende ihres Grabens heraus und überwältigten die Japaner in dem gegenüberliegenden Teil des zweiten Grabens. Als die Seesoldaten den japanischen Graben stürmten, entspann sich ein erbitterter unsichtbarer Kampf. Wir konnten über dem Grabenrand Arme hochschleudern und Bajonette aufblitzen sehen. Schließlich -253-
vermochten die Männer im Ostende des ersten Grabens die Spannung nicht länger zu ertragen. Trotz stärksten feindlichen Feuers sprangen sie über die zweite Reihe der Baumstümpfe hinweg und stießen zu ihren Kameraden vor. Nicht ein einziger Japs überlebte diesen brutalen Nahkampf, der sich schweigend im verborgenen abspielte. Auch der zweite Graben war genommen. Um 16.59 Uhr trafen tausend Japaner zur Verstärkung auf diesem Kampfplatz ein. Da sie noch nicht wußten, daß wir unsere ganzen Kräfte auf Grün-Strand konzentriert hatten, war die Hälfte der Japaner zunächst auf Rot-Strand geworfen worden. Oberstleutnant Hyaichi durchschaute jedoch unseren Plan. Schwitzend und mit zusammengebissenen Zähnen beschwor er seinen Kommandierenden General, nur eine Nachhut auf Rot-Strand zurückzulassen und den letzten Mann und das letzte Stück Stahl gegen Grün-Strand einzusetzen. Das geschah dann auch. Doch als die japanischen Reserven durch die Kokospflanzung marschierten, feuerte der Skipper der LB108 fünf Raketensalven in ihre Mitte. Das Ergebnis übertraf alle Erwartungen. Unsere Männer im zweiten Graben rissen vor Staunen den Mund auf, als sie sahen, was diese Raketen zuwege gebracht hatten. Dann erstürmten sie laut schreiend den dritten Graben, bevor dessen Besatzung verstärkt werden konnte. Um 17.22 Uhr, als die Sonne bereits durch die Baumwipfel von Kuralei zu blinken begann, setzten sich unsere Panzer längs der Küste am Vorgebirge in Bewegung. Sechzig schwitzende Axtträger schleppten sich mühselig hinter den Panzern vorwärts. Aber vor ihnen türmte sich ein unübersteigbares Hindernis von hohen Felsen auf. Der Kommandant erfaßte die Situation und führte seine Abteilung in den Dschungel zurück. Die Japaner sahen ihre Chance und rückten mit Sturmgeschützen an, aber das Feuer von unseren Schiffen machte diese kampfunfähig. Wir hörten die Einschläge im Dschungel. Um 17.40 Uhr war unsere Lage noch sehr ungewiß. Wir -254-
waren noch immer sechs Baumreihen von der Albany-Linie entfernt. Und das Blockhaus der Japaner stand direkt am Rand der Kakaopflanzung. Um unsere Aussichten, uns eine wirklich sichere Stellung zu verschaffen, schien es schlecht bestellt, als plötzlich ein Freudengebrüll erscholl. Einer unserer Panzer war durchgebrochen! Ganz allein fuhr er auf das Herz der japanischen Stellung vor. Zwei feindliche Panzer, die bisher unsichtbar gewesen waren, drangen aus den Befestigungen in der Kokospflanzung heraus und beschossen ihn. Von beiden Seiten unter schwerem Feuer, explodierte er. Kein Mann kam mit dem Leben davon. Doch bald vergaßen wir den ersten Panzer, denn aus dem Dschungel kamen drei weitere Panzer angekrochen. Ihre Ketten waren beschädigt, aber sie kämpften sich weiter vor. Als die triumphierenden Japse sie kommen sahen, zögerten sie erst, doch kaum hatten sie den Schaden bemerkt, feuerten sie los. Unsere Panzer aber schossen und schossen. Die feindlichen Panzer wurden aufgerissen. Einer zog sich aus dem Kampf zurück. Seine Besatzung entfloh. Der andere entging seinem Schicksal nicht. Das konzentrierte Feuer unserer drei beschädigten Panzer brachte ihn zur Strecke, und doch bewegte er sich noch vorwärts. Dann brannte er mit einem heftigen Zischen aus. Seine Besatzung machte nicht einmal mehr den Versuch, sich zu retten. Um 17.42 Uhr landeten weitere elf von unseren Panzern auf Sonova-Strand. Man hätte glauben können, ihr Tag finge gerade erst an. Dabei saß ihnen die Sonne auf den Fersen, als sie, wie Wildschweine auf der Jagd nach Futter, grunzend im Dschungel verschwanden. Ein endloser Strom von Landungsbooten legte am GrünStrand an. Wie anders sah das Bild jetzt aus! Kein einziger Schuß von der Küste traf diese Welle. Achthundert Yankees auf Kuralei ohne einen Verlust. Wie anders war das jetzt! Wir empfingen Admiral Kesters Order: »Nur noch achtundvierzig -255-
Minuten Tageslicht. Haltet euch ran!« Um 17.49 Uhr setzten die Japaner zu ihrem großen Gegenangriff an. Mit einem wilden Geheul stürmten sie aus ihrem Blockhaus. Unsere Raketen schlugen zwischen ihnen ein, hielten sie aber nicht auf. Es waren unsere Männer im dritten Graben, die sie aufhielten. Wie sie das machten, weiß ich nicht. Die Japse fielen mit einem irrsinnigen Gebrüll über sie her. Mit Handgranaten und Bajonetten verrichteten diese Banzaibrüder ihr teuflisches Werk. Achtzig von unseren Männern kamen bei diesem Sturmangriff um. Zwölf wurde der Kopf vom Rumpf abgetrennt. Aber inmitten dieses Gemetzels rückten drei von unseren Panzern von den brennenden japanischen Panzern ab und rumpelten auf den Streifen zwischen dem dritten und vierten Graben. Unentwegt rollten sie in diesem Engpaß hin und her. Einem japanischen Selbstmörderstoßtrupp gelang es, einen der Panzer in Brand zu setzen. Ihre Fackeln waren ihre eigenen benzingetränkten Leiber. Die Besatzung unserer Panzerwagen versuchte diesem Inferno zu entfliehen. Aus dem dritten Graben sprangen fünfzig Männer freiwillig heraus, um ihnen zu helfen, und rannten auf den brennenden Panzer zu. Die Männer der Besatzung sprangen aus dem Turm. In ihrer Verwirrung liefen sie aber nicht zu unseren Linien hinüber, sondern in den vierten Graben hinein. Als unsere Männer sahen, wie sie dort niedergemetzelt wurden, gerieten sie außer sich vor Wut. Sie erstürmten den vierten Graben und brachten jeden Japs um. In einem spontanen Schwung stürmten sie dann weiter und nahmen auch gleich den fünften Graben! An Bord der LB-108 glaubten wir unseren Augen nicht zu trauen. Denn hinter diesen beherzten Seesoldaten kämpften noch immer mindestens hundertzwanzig Japaner. In diesem kritischen Augenblick traf die Verstärkung von unseren Schwimmtanks ein. Die Japaner wurden von beiden Seiten unter heftiges Feuer genommen. Nicht einer von ihnen entkam. Der Stoßtrupp aus -256-
dem Blockhaus wurde vollkommen aufgerieben. Um 18.03 Uhr funkte Admiral Kester: »Ihr könnt es schaffen. In siebenundzwanzig Minuten bis zur Albany-Linie!« Da waren wir noch vier Baumreihen vom Blockhaus entfernt. Aber wir wußten, daß es hinter dem siebenten Graben keine Unterstände mehr gab. Wir wußten aber auch, daß der sechste und siebente Graben schwerer zu nehmen sein würden als jede Stellung, die wir bisher erobert hatten. Also setzte Admiral Kester noch ein letztesmal seine geliebten Flugzeuge ein, um die beiden Gräben weich zu machen. In dem sanften Abendglühen brummten sie zwischen den Baumstümpfen hin und her und spuckten Vitriol. Dann zogen die schrecklichen Maschinen wieder ab. Einen Augenblick lang war es ganz still. Wir warteten auf unseren nächsten Sturmangriff. Wir warteten darauf, daß weit ere Panzer aus dem Vorgebirge herausgerumpelt kamen. Wir warteten in fiebernder Spannung auf den Anbruch der Tropennacht. Wir waren noch so weit von dem Blockhaus entfernt. Und die Sonne war schon fast ganz im Meer versunken. Was wir erwarteten, traf nicht ein. Dafür geschah etwas anderes. Aus unserer linken Flanke, nach den Klippen hin, brachen aus dem Dickicht große japanische Truppenverstärkungen hervor und griffen den Raum zwischen dem ersten und dem zweiten Graben an. Wir konnten mit einem Blick übersehen, daß wir an dieser Stelle nur unzulänglich gesichert waren. Die LB-108 und mehrere andere Schiffe entschlossen sich sofort, ihre sämtlichen Geschütze auf dieses Ziel zu richten. Raketen, Fünfzöller, Achtzöller und andere Geschosse trafen die Japse. Der Angriff wurde abgeschlagen. Unsere Linien hielten stand. Aber ich sehe noch immer den einen Raketenstoß vor mir, den wir an dem Tag in der Dämmerung abfeuerten. Als die Männer im zweiten Graben von dem Angriff an ihrer Flanke -257-
überrumpelt wurden, wandten sie sich zur Seite, um dieser neuen Gefahr zu begegnen. Drei Männer dicht neben den Japanern zögerten nicht einen Augenblick. Ohne einen Befehl abzuwarten, sprangen sie aus ihrem Graben heraus, um sich dem Feind im Nahkampf zu stellen. Unsere Geschosse schlugen zwischen den vordringenden Japanern ein. Unsere drei Freiwilligen wurden getötet. Von ihren eigenen Kameraden. Es gab keine Möglichkeit, diese Tragödie zu verhindern. Um ihr Leben zu retten, hätten diese drei Männer nur etwas weniger Mut beweisen müssen. Die Schuld traf nur sie selbst. Wenn Granaten einmal abgefeuert sind, können sie ebensowenig aufgehalten werden wie ein Krieg, wenn er einmal ausgebrochen ist. Um 18.07 Uhr war die Sonne untergegangen. Die riesigen Wolken über Kuralei färbten sich goldrot. Die Nachtvögel hielten ihren Einzug in der Kakaopflanzung. Neue Reserven der Japaner meldeten sich im Blockhaus zu einem letzten Widerstand. Unsere eigenen Verstärkungen schraken zusammen, wenn sie wieder auf tote Japse traten. Es wurde jetzt schnell dunkel. Um 18.09 Uhr brachen acht von unseren Panzern vom Sonova-Strand mit knatternden Maschinengewehren aus dem Dschungel heraus. Vier fuhren direkt auf das Blockhaus zu. Die anderen vier, die in den schmalen Streifen zwischen dem fünften und dem sechsten Graben einbogen, stießen mit einer japanischen Reserveeinheit zusammen. Es war ein ungleicher, übler Kampf. Drei Japse steckten sich selbst in Brand und versuchten, mit sich auch die Besatzung unserer Panzer zu verbrennen. Sie wurden buchstäblich in Stücke gerissen. Unsere Panzer aber rumpelten weiter. Beim Blockhaus war es eine andere Geschichte. Dort waren überall sehr geschickt Panzerfallen ausge legt. Unsere schweren Schlitten konnten es nicht wagen, gegen die Mauern anzurennen. Sie hielten Abstand und hämmerten mit ihren -258-
Granaten auf das nachgiebige Gebäude ein. »Flammenwerfer einsetzen! Alles, was ihr habt! Nehmt das Blockhaus!« Der Befehl war kurz und bündig. Er erreichte die Seesoldaten im fünften Graben im selben Augenblick, als der Abendstern sichtbar wurde. Acht kräftige junge Männer mit nahezu einem Zentner auf dem Buckel kletterten aus dem Graben. Da sie eine ungewöhnlich gute Zielscheibe abgaben, stürmten sie mit ihrem Feuerzauber inmitten von Hunderten von Beschützern über den sechsten und siebenten Graben hinweg. Das zog einen prasselnden Hagelschauer von feindlichem Feuer nach sich. Aber wenn einer der acht fiel, nahm ein anderer den schweren Apparat des gefallenen Kameraden auf. In der zunehmenden Dunkelheit war es ein gespenstischer Anblick. Ein Feldwebel nahm seine Hände hoch und sprang. »Keine Gräben mehr hinter der siebten Baumreihe!« Ein Panzer wirbelte auf seiner rechten Raupenkette herum und rumpelte hinüber. Mit Panzern zu ihrer Rechten und Schützen zu ihrer Linken stürmten die Flammenwerfer nun vorwärts. Von allen Seiten schlugen die Granaten ins Blockhaus ein. Es stand noch. Doch wurden seine Verteidiger vorübergehend von den Schießscharten weggetrieben. Das war der richtige Augenblick! Mit heiseren Schreien sprangen unsere Flammenwerfer auf das Blockhaus zu. Einige fielen und verbrannten in ihrem eigenen Feuer. Aber drei Flammenwerfer erreichten die Schießscharten und hielten ihre Flammenrohre hinein. Die Glut fraß den ganzen Sauerstoff weg und dörrte den Japanern drinnen nicht nur die Augen und Lippen, sondern auch die Kehlen und Lungen aus. Als die drei Männer von den Schießscharten zurücktraten, war das Blockhaus in unserer Hand. Es war jetzt Nacht! Von allen Seiten versuchten die Japaner, in unsere Linien einzudringen. Wo es ihnen gelang, mußten unsere Männer das mit ihrem Leben bezahlen. Wir fanden sie am Morgen mit durchschnittener Kehle auf. Dieser Anblick erstickte jedes Mitleid mit den Japanern, die im Blockhaus -259-
lebendig verbrannt waren. Sie waren nichts weiter als der Feind, ein grausamer, unbarmherziger Feind. Und das würden sie auch bleiben, jeder einzelne von ihnen, bis ihre eigene rote Sonne ebenso unterging wie die erschöpfte Sonne auf Kuralei. Der Gefechtsstand für unseren Stab wurde in dieser Nacht auf Grün-Strand aufgeschlagen. Ich ging im Dunkeln an Land. Es war schaurig zu denken, wie viele Männer dort gefallen waren. Im fahlen Mondlicht schimmerte der Erdboden so weiß wie das Haar einer alten Frau, die viel vom Leben gesehen hat. Aber es waren auch rote Flecken dort zu erkennen. Selbst im Mondschein. Die Führer der Einheiten meldeten: »Oberst, der Plan für den Bau des Rollfeldes ist vollkommen umgeschmissen. Der Transporter mit der BOLWARE-8 an Bord ist abgesackt. Schwere Verluste.« Ich packte den Mann am Arm. »War das der Transporter, der vor der Küste den Volltreffer bekam?« fragte ich. »Ja«, sagte er noch ganz benommen. »Direkt in den Rumpf!« »Wer ist denn davongekommen?« Ich ratterte die Namen meiner Kameraden in dieser Einheit herunter. Dr. Benoway einen Schuß ins Bein. Der Koch tot. Der alte Skipper auch tot. »Und was ist mit Harbison?« fragte ich. Der Mann sah in dem gelben Licht zu mir auf. »Wollen Sie mich zum Narren halten, Sir?« »Nein, wieso? Ich kenne ihn gut.« »Den kennen Sie auch? Aber nicht gut, glaube ich. Wissen Sie denn nichts?« Seine Augen blickten mich erregt an. »Nein.« »Harbison, Sir, ist vier Tage, bevor wir nach Norden kamen, abgehauen. Die ganze Zeit auf Efate hat er fortwährend von unserem Fronteinsatz geredet. ›Haltet mich zurück, Jungens. Ich brenne schon darauf, den Japsen eins auszuwischen!‹ Aber als -260-
unser Befehl kam, wurde er kalkweiß im Gesicht. Hat sich sofort per Luftpost mit seinem Schwiegervater ins Vernehmen gesetzt. Der hat ihn losgeeist. Jetzt ist er wieder in Neu-Mexiko. Erholungsurlaub!« »Und der kleine jüdische Leutnant, der die Luftaufnahmen machte?« fragte ich weiter mit einem üblen Gefühl im Magen. »Der ist tot«, schrie der Mann. Er sprang auf. »Der Alte ist tot, der Koch ist tot, aber Harbison ist wieder in Neu-Mexiko!« schrie er und fing an zu weinen. »Halt die Klappe!« rief ein Oberst der Seesoldaten. »Der Mann hat einen Nervenschock«, sagte ich. Der Oberst kam zu uns herüber. »Ja, der war auch auf dem Transporter. Den haben wir aus dem Eimer gefischt. Gebt ihm etwas Morphium, aber bringt ihn um Gottes willen zum Schweigen. Wo, zum Teufel, ist nur die Fünfziger-Reserve-Muni?« Weitere Meldungen liefen ein. Wir befanden uns genau dort, wo wir uns laut Alligator befinden sollten. Alles war soweit planmäßig verlaufen. Das heißt, alles bis auf eine Einzelheit. Unsere Verluste waren viel höher, als wir sie geschätzt hatten. Das hatten wir diesem Kerl Hyaichi zu verdanken. Mit dem hatten wir nicht gerechnet. Wir hatten auch nicht im Traum daran gedacht, daß uns gerade auf dem Strand, den wir haben wollten, ein ehemaliger Student der technischen Hochschule von Kalifornien erwartete, der sein Diplom mit Auszeichnung gemacht hatte. »Wir werden einen neuen Strandkommandanten ernennen müssen, Sir«, meldete ein junger Offizier dem Oberst. »Hat's unseren erwischt?« fragte der Oberst. »Ja, Sir. Er ist mit den Truppen landeinwärts gegangen.« »Verdammt noch mal!« schrie der Oberst. »Ich habe es Fry hundertmal gesagt...« »Es war nicht seine Schuld, Sir. Es kam, wie die Japse diesen -261-
Überraschungsangriff auf unsere Flanke machten.« Vom Westen her hörten wir eine wilde Schießerei. Der Oberst blickte auf. »Tja«, sagte er. »Da haben wir einen verdammt tüchtigen Strandkommandanten verloren. Morgen übernehmen Sie den Posten. Und laden Sie mir die Muni aus und schaffen Sie sie rauf.« Ich packte den neuen Strandkommandanten am Arm. »Was haben Sie da gesagt?« flüsterte ich. »Fry hat' erwischt.« »Tony Fry?« »Ja. Kannten Sie ihn?« »Ja«, erwiderte ich leise. »Wie kam es denn?« »Wenn Sie ihn gekannt haben, werden Sie sich's schon denken können.« Der junge Offizier wischte sich das Gesicht. »Seine Arbeit am Strand war getan. Es kamen keine Boote mehr. Wir griffen schon das Blockhaus an. Fry folgte uns. Unser Käpten sagte noch: ›Bleiben Sie lieber hier, Leutnant. Das ist Sache der Seesoldaten.‹ Aber Fry lachte und lief uns nach. In dem Augenblick eröffneten die Japse das Feuer auf den Klippen, und ein paar von unseren eigenen Geschossen trafen unsere Männer. Fry ergriff einen Karabiner. Aber die Japse jagten ihm zwei Kugeln in den Bauch. Ein ganzes Stück hat er sich noch weitergeschleppt. Dann fiel er um. Hat den Karabiner nicht ein einziges Mal abgefeuert.« Ich fühlte mich hundeelend. »Danke«, sagte ich. Der Oberst kam wieder herüber, um nach dem Mann von der BOLWARE-9 zu sehen. Er packte mich am Arm. »Was ist denn mit Ihnen, mein Junge? Nehmen Sie lieber auch gleich ein Schlafmittel«, sagte er. »Mir fehlt weiter nichts«, sagte ich. »Ich habe nur an ein paar Kameraden gedacht.« »Das tun wir alle«, sagte der Oberst und sah mich mit dem -262-
traurigen müden Blick an, den alte Männer bekommen, wenn sie die jungen in den Tod geschickt haben. Als ich seinem Blick begegnete, wurde mir plötzlich klar, daß ich Bill Harbison nicht eine einzige Träne nachgeweint hätte. Aber daß Fry draufgehen mußte, machte mich krank. Dieser freie, gutherzige unabhängige Mensch! In meiner Erbitterung dämmerte es mir langsam, was es eigentlich mit dem Fronteinsatz auf sich hat. Als Zivilist schämte ich mich, bis ich dann auch eine Uniform trug. In den Staaten fühlte ich mich unbehaglich, weil andere draußen kämpften. In Numea dachte ich: »Die Burschen auf Guadal! Das sind die wahren Helden!« Doch als ich auf Guadal eintraf, stellte ich fest, daß die echten Helden noch näher an der Front sein müßten. Und während ich verhältnismäßig sicher an Bord der LB-108 saß, wußte ich erst, wo unsere Helden waren. Sie befanden sich auf Kuralei. Aber am Strand selbst hatten ja nur ein paar Männer wirklich gegen die Japaner gekämpft. Und plötzlich begriff ich, daß aus den Farmen und Dörfern, den Kleinstädten und den Großstädten in den Vereinigten Staaten eine ununterbrochene Reihe zu den wenigen Männern führte, die die Blockhäuser erstürmten. Gleichviel, an welchem Platz in dieser Reihe du auch standest, wenn du nicht einer der Männer am Ende dieser langen Reihe warst, der letzte Mann, der mit seiner zerschundenen Hand in die Schießscharte eines solchen Blockhauses greift, dann hattest du den Krieg noch so gut wie gar nicht zu spüren bekommen höchstens eine Vorahnung davon wie den Klang des Signalhorns, das in der Ferne zum Kampf bläst. Du konntest vielleicht einen flüchtigen Einblick gewonnen haben, aber was Krieg war, wußtest du noch nicht; und würdest es dank der Gnade Gottes auch nie wissen. Allein, ein Fremder unter diesen Männern, die die Brückenköpfe gebildet hatten, ging ich hinaus, um mir einen Schlafplatz zu suchen. Neben mir lagen zwei Männer in einem Erdloch und unterhielten sich. Begierig auf etwas Gesellschaft, -263-
lauschte ich in der Dunkelheit ihren Worten. »Europa ist viel schlimmer als das hier.« »Du weißt ja nicht, was du redest, entgegnete eine jüngere Stimme. »Diese Gelben hier sind die zähesten Burschen von der ganzen Welt.« »Ich sag dir doch, du sollst mir nicht mit dem Blödsinn kommen«, wiederholte der ältere Mann. »Mein Bruder war in Afrika und hat auch den Angriff auf Sizilien mitgemacht. Er sagte, die Krauts sind die dollsten Kerle, die je in Uniform rumgelaufen sind.« »Gib mir mal Feuer!« Es entstand eine Pause, während der jüngere Mann das unsichtbare Feuerzeug anstrich. »Halt den Kopf tief!« warnte ihn sein Kamerad. »Wenn die Japse so wenig taugen, warum bist du dann so ängstlich?« »Wie ich eben sagte«, argumentierte der andere. »Wo hast du heute schon richtiges Artilleriefeuer gesehen? Wenn das die Deutschen gewesen wären, würde dieser Strand dick voll Granaten liegen.« »Na, ich finde, unsere Boote haben eine ganze Menge Volltreffer abgekriegt, soweit ich gesehen habe«, wandte der jüngere Soldat ein. »Da hast du doch gar nichts gesehen! Denk an meine Worte! Wart's ab, bis wir in Frankreich zu landen versuchen! Ich bezweifle sehr, daß wir da auch nur ein Boot an Land kriegen. Die Krauts haben's in sich. Außerdem sind sie motorisiert, und zwar nicht schlecht!« »Du liest zu viele Zeitungen!« behauptete der zweite Seesoldat. »Glaubst du wirklich, daß es, wenn sie mal die Geschichte dieses Krieges niederschreiben, nicht heißen wird, der Japs sei der schlimmste Gegner, mit dem wir es je zu tun hatten?« -264-
»Hör mal! Ich hab's dir schon hundertmal gesagt. Mit den richtigen Japsen sind wir ja noch gar nicht zusammengestoßen. Denk an meine Worte. Wenn wir uns eines Tages mit denen irgendwo anders, zum Beispiel auf den Philippinen, herumschlagen müssen, dann vielleicht...« »Was haben wir denn heute getan? Wer waren denn diese kleinen gelben Kerlchen? Vielleicht die sieben Zwerge von Schneewittchen? Wo, zum Teufel, war dann Schneewittchen?« »Also jetzt warte mal eine Minute! Und beantworte mir eine Frage, eine einzige Frage? Willst du mir die beantworten?« »Nur heraus damit!« »Und keine Wenns und Unds und Abers?« »Na, frag schon!« »Also gut. Dann beantworte mir meine Frage: War es so schlimm, wie du gedacht hast?« Es folgte ein längeres Schweigen. Beide Männer waren bei der ersten Welle dabeigewesen. Der junge schien sich alles noch einmal sehr genau durch den Kopf gehen zu lassen. »Nein«, sagte er schließlich. »Verstehst du nun, was ich meine?« bemerkte der Meckerer. »Doch, aber ein Kinderspiel war's ja nun auch gerade nicht«, verteidigte sich der junge Mann. »Nein, das habe ich auch nicht behauptet. Aber es ist eine Tatsache, daß die Japse nicht so schlimm waren, wie sie immer gesagt haben. Wir sind immerhin gelandet. Und wir haben das Blockhaus genommen. Vorhin habe ich gerade gehört, daß wir genau das erreicht haben, was man von uns erwartet hat.« »Aber andererseits«, sagte der junge Seesoldat, »war's auch kein Sonntagsausflug. Ich weiß nicht, ob's nicht doch so schlimm war, wie ich gestern abend gedacht habe!« »Komm mir bloß nicht damit! Gestern abend haben wir uns doch erzählt, was wir gedacht haben. Und es war nicht mal halb -265-
so schlimm. Stimmt's? Nichts weiter wie 'ne richtige Rauferei. Ich kann nicht finden, daß die Japse besonders harte Brocken sind, bei Gott nicht.« »Glaubst du denn, daß die Deutschen, so wie sie sich in Afrika ergeben haben, deswegen härtere Brocken sind?« »Nu hör mich doch mal an! Ich hab's dir schon hundertmal gesagt. Da sind sie an die Wand gedrückt worden. Aber warte nur, bis wir sie in Frankreich angreifen. Ich zweifle, ob wir da auch nur ein Boot an Land kriegen. Das ist 'n Ausflug, den ich bestimmt nicht mitmachen möchte.« Sie schwiegen einen Augenblick. Dann sprach der Jüngere wieder. »Burke?« fragte er. »Wegen gestern abend. Glaubst du wirklich, er wird sich noch 'n viertes Mal aufstellen lassen?« »Hör mal! Das habe ich dir schon hundertmal gesagt! Das amerikanische Volk macht das nicht mehr mit. Denk an meine Worte. Das machen sie nicht mehr mit. Ich dachte, darüber wären wir uns gestern abend einig geworden.« »Aber ich hörte Oberst Hendricks sagen...« »Eddie, bitte! Du wirst doch nicht diesen Trottel als eine Autorität betrachten. Oder?« »Aber wie er uns hier an Land gebracht hat, das hat er doch gar nicht so schlecht gemacht, findest du nicht?« »Ja, aber was war dann hier? Eine richtige Metzelei!« »Eben hast du noch gesagt, es war viel einfacher, als du's dir vorgestellt hast.« »Ich hab an die da drüben gedacht«, sagte Burke. »An die Jungens auf Rot-Strand. Diese armen Teufel. Wir haben's schon recht gemacht. Aber deswegen ist der Hendricks doch 'n sturer Kopf. Also weißt du, Eddie, bei Gott, wenn ich 'ne volle Blase hätte, möchte ich mich von dem Burschen nicht ins Badezimmer führen lassen.« »Ja, vielleicht hast du recht. Er ist so dumm, daß er's bis zum -266-
Oberst gebracht hat. Das ist alles. Zum richtigen Oberst!« »Bitte, Eddie! Das haben wir doch schon alles durchgekaut. Ich hab einen Bruder, der hat noch bis zu seinem elften Jahr das Bett naß gemacht. Und jetzt ist er Hauptmann beim Heer. Na und? Er ist so dumm, daß ich ihn in meinem Laden nicht mal das Kleingeld rausgeben lassen würde. Und jetzt ist er Hauptmann! Und da soll ich mir von jemand imponieren lassen, bloß weil er 'n Oberst ist? Ein Metzger ist er, weiter nichts. Wie ich dir schon hundertmal gesagt hab, von Strategie hat der Bursche keine Ahnung.« Diesmal schwiegen sie längere Zeit. Dann rief Eddie begeistert aus: »Mensch! Wenn ich erst wieder in Bakersfield bin!« Dazu sagte Burke nichts, und Eddie fragte ihn: »Sag mir eins, Burke!« »Nu red schon!« »Glaubst du, sie haben die Insel hier genügend weich gemacht, bevor wir gelandet sind?« Burke dachte eine ganze Weile darüber nach. Dann gab er seine Meinung ab: »Es ist eben so, wie ich dir in Numea gesagt hab. Sie müssen aus ihren Erfahrungen lernen.« »Aber du glaubst nicht, sie haben sie weich genug gemacht, nicht wahr, Burke?« »Na ja, da wo die Japse ihre Geschütze hatten, hätten sie schon noch ein paar von unseren dicken Dingern abschmeißen können. Da wär's schon angebracht gewesen.« Neues Schweigen. Und dann: »Burke, ich hatte Angst, als es hier losging.« »War nur 'ne etwas derbe Rauferei«, versicherte ihm der ältere Mann. »Du kannst deinem Schöpfer auf den Knien danken, daß du's nicht mit den Krauts zu tun bekommst. Da hätten wir dicke Luft!« Wieder Schweigen und dann noch eine Frage: »Aber wenn -267-
die Japse so harmlos sind, wie du sagst, warum willst du dann, daß ich Wache stehe, während du schläfst?« Burke war mit seiner Nachsicht und Geduld am Ende. »Gott verdamm' mich!« brummte er. »Es ist ja immerhin Krieg! Und wenn wir auch bloß gegen die Italiener kämpften, würden wir trotzdem Wache stehen! Das verlangt schon der gesunde Menschenverstand. Weck mich um Mitternacht, damit du auch noch ein bißchen schlafen kannst.«
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Ein Friedhof auf Hoga Point Ich flog nach Konora hinüber, um das Luftwaffenpersonal von BOLWARE-8 zu ergänzen, das bei Kuralei schwere Verluste erlitten hatte. Wie immer meldeten sich für jeden Posten an der Front gleich zehn Freiwillige. Der Skipper fragte mich: »Ist BOLWARE-8 nicht die Einheit, die fast ein Jahr lang auf einen Einsatz gewartet hat?« »Ja«, sagte ich. »Und dann kam sie gerade rechtzeitig nach Kuralei, um einen Volltreffer abzukriegen.« »Sie berauben mich zwar meiner besten Männer, aber tun Sie's nur.« Die Spezialisten wurden im Flugzeug an ihren Bestimmungsort gebracht. Wir anderen warteten den nächsten Transporter ab. Schweißtriefend und erschöpft stützte ich die Arme auf den Tisch. »War Kuralei denn so schlimm?« fragte der Skipper. »Für mich nicht«, erwiderte ich. »Aber für die Männer auf dem Strand war's schlimm genug. Aber ich habe eine Menge zu sehen bekommen. Haben Sie eigentlich Tony Fry gekannt?« »Natürlich! Der flog doch damals die Rülpskiste mit den Bierbuddeln. Mit dem bin ich in Guadal oft zusammengewesen. Hat's den auch erwischt?« »Ja«, sagte ich und blickte fort. Mein rechtes Augenlid zuckte verdächtig. Ich konnte es nicht ruhig halten. »Commander«, sagte der Skipper. »Sie sind ja das reinste Nervenbündel. Was Sie brauchen, ist eine Angeltour. Ich habe ein paar alte Klamotten für Sie. Wir werden mal rausfahren und uns ein bißchen die Sonne aufs Fell brennen lassen.« Konora war ein friedliches Paradies. Als ich von dem Munitionsleichter, auf dem wir angelten, zur Insel -269-
hinüberblickte, schien sie zu schlafen. Ihre niedrigen Berge hoben sich klar von dem tiefblauen Himmel ab. Auf dem grünen Hügel am Knick der Insel leuchtete ein weißer Streifen. ›Da hat Perlstein die Koralle weggebrochen‹, entsann ich mich. Am Strand in der Bucht ragte ein hoher Kran auf, der lebende Koralle zur Ausbesserung des Rollfeldes in Lastautos schaufelte. Von Zeit zu Zeit, wenn sie auf das Rollfeld niedergingen oder in anmutigen Kurven aufstiegen, glitten unsere silbrig glänzenden Bomber über den dunklen Himmel. Weit draußen im Meer tauchten schlanke Zugvögel unermüdlich nach den jungen Fischen. Am Rande des Riffs wirbelten steile Brecher silbernen Schaum in die Luft. Rings am Horizont ging das Ultramarinblau des Himmels in das Graublau des Ozeans über. Ich schloß die Augen vor dieser zauberischen Schönheit. Es war ein so völlig anderes Bild als der Anblick der zerborstenen Kokospalmen auf Kuralei. »Von hier draußen sieht das nicht schlecht aus«, meinte der Skipper. Es fiel einem schwer zu glauben, daß auf Konora neunhundertsiebzehn Japaner lagen, in Gräben, die unsere Seesoldaten und Seebienen gewissenhaft ausgehoben hatten. Und noch weniger konnte man es fassen, daß auf dieser Insel zweihunderteinundachtzig Amerikaner zur ewigen Ruhe gebettet waren. Vor wenigen Wochen erst war dieses friedliche Eiland noch ebenso verwüstet gewesen wie Kuralei. Unser Munitionsprahm lag jetzt direkt vor Hoga Point. Ich sagte zu dem Skipper: »Halten Sie mich für verrückt, wenn ich Sie bitte, mich hier an Land zu setzen? Ich habe offenbar meine Nerven noch nicht wieder völlig in der Gewalt und würde gern durch den Busch zum Lager zurückgehen.« »Sie sind hier der Gast«, sagte er nachsichtig und ließ mich vom Bootsmann an Land rudern. Wenige Minuten später stand ich auf der Spitze eines kleinen Hügels, der vom Meer sanft -270-
anstieg bis zu einer Höhe von vielleicht fünfundzwanzig Metern über der Brandung. Auf dieser Höhe bildete er ein Plateau mit dem weiten Ozean auf der einen und der stillen Lagune auf der anderen Seite. Hier, auf dem von ihrem Feind zerstörten Gelände, hatten die Amerikaner ihren Friedhof angelegt. Ein weißer Lattenzaun umschloß die Grabstätten. In der einen Ecke ragte eine schmale eiserne Fahnenstange empor. An diesem Mast wehte die amerikanische Flagge. Da die Luft ganz klar war, leuchteten die weißen Streifen und Sterne so hell, wie ich es noch nirgendwo sonst gesehen hatte. Vor mir lagen die Toten, die toten Helden, die diese Insel erobert hatten. Auf einer fremden Anhöhe auf einer fremden Insel in einem fremden Meer, weit entfernt von ihren Farmen und Dörfern, ruhten sie hier neben der Lagune, über die sie ihrem Schlachtentod entgegengefahren waren. Über ihnen wölbte sich der Himmel wie das Dach einer Kathedrale, und hoch oben kreisten die Vögel in nicht endenden Ehrenbezeigungen. Ich kann die Gefühle, die mich überkamen, als ich auf die Gräber meiner Kameraden niederblickte, mit Worten nur schwer wiedergeben. Nicht ein einziges Mal während der fünf Wochen, in denen ich die Vorbereitungen für den Kampf treffen half, und auch nicht eine Sekunde lang während des Angriffs auf Kuralei dachte ich je daran, daß ich sterben könne. Und ebensowenig hatten das die Männer gedacht, die nun hier in ihren Gräbern lagen. Der Seesoldat da vorn am Bug des Schiffes konnte von einer Kugel getroffen werden. Der Pionier, der beim Essen immer so schmatzte, konnte von dem Kran herunterfallen. Aber mich würde es nicht erwischen, hatte ich immer gedacht. Dennoch lagen hier fast dreihundert Amerikaner vor mir, die auch gedacht hatten, sie würde es nicht erwischen. Aber da standen nun die weißen Kreuze. Mir graute vor der unbarmherzigen Rechenmethode, nach der ein Toter und ein Toter und noch ein Toter drei weiße Kreuze ausmachen. Wenn -271-
du daheim in der Zeitung liest, daß zweihunderteinundachtzig Mann bei der Eroberung einer Insel gefallen sind, dann ist diese Zahl nur ein Symbol, das du mit deinem Verstand noch zu begreifen vermagst. Wenn du aber vor den weißen Kreuzen stehst, erblickst du in den zweihunderteinundachtzig Toten Männer, die Söhne, Ehegatten und Geliebte gewesen sind. Einsam und erbittert lehnte ich mich gegen den Lattenzaun. In diesem Augenblick sah ich einen sehr großen und hageren Neger auf mich zukommen. Er bewegte sich wie eine der Blechenten, die man aufziehen kann und die diese glotzäugigen Händler an den Straßenecken in New York verkaufen - ein komisches Gewatschel, welches dadurch entsteht, daß beim Gehen kein Fuß ganz vom Boden aufgehoben wird. Aber die Haltung des Negers verlieh diesem Schlurfen eine gewisse Würde. Er sah aus, als gehöre ihm Hoga Point, als habe er dort schon von Kind auf gelebt. »'n Abend, Sir«, schnarrte er. Er schleifte einen Rechen hinter sich her, den er nun gegen den Zaun stieß. Während er sich mit beiden Händen auf den Stiel stützte, beugte er sich zu mir vor. »Suchen Sie hier jemand, Sir? Oder gucken Sie bloß so?« »Ich wollte mir nur den Friedhof ansehen«, erwiderte ich. »Darf ich hineingehen?« »Freilich könn' Sie das, Sir!« entgegnete der große Neger. Er deutete auf die Pforte in dem weißen Lattenzaun. »Woll'n Sie nich' bitte reinkommen, Sir? Is' mir wirklich 'ne Freude, daß mal 'n Offizier unsern Friedhof besucht. Ich un' Denis kriegen hier oben nich' viele Leute zu sehn. Kommen Sie nur rein!« Ich ging mit ihm zu der Pforte, er innen und ich außen am Zaun entlang. Zuvorkommend machte er die Pforte auf und hakte sie dann wieder sorgfältig ein. »Ich find', es is' richtig 'n Genuß, unter dis'n Bäumen da zu sitzen«, sagte er und zeigte auf ein paar hohe Bäume, deren Schatten fast bis an den Zaun reichte. Gemächlich führte er mich zu einem mit Moos bewachsenen alten Baumstumpf. Er hatte recht. Dort im Schatten zu sitzen, -272-
war ein Genuß. »Ich un' Denis sitzen hier ziemlich oft, wenn die Sonne zu heiß wird. Die Sonne brennt schon manchmal mächtig stark hier in dis'n Breitengraden.« Er sprach in einem etwas schleppenden Ton, der sehr gut zu seinem Gang paßte. Die Hände fest um den Rechen geklammert, ließ er sich neben mir auf dem Boden nieder. »Wer ist Denis?« fragte ich. »Ich un' Denis haben dis'n Platz hier unter uns«, antwortete der Neger. »Was meinen Sie damit?« »Na ja, ich un' Denis, wir sind nämlich die einzjen Leute, die hier arbeiten«, näselte er. »Scheint so, daß keiner sonst an so 'nem Platz wie dis'in hier arbeiten mag.« Mit einer weit ausholenden Armbewegung deutete er auf die weißen Kreuze. »Ist Denis auch ein Farbiger?« fragte ich. »Ja«, antwortete er. »Ich un' Denis sind beide Farbije. Er is' von Geo'gia, un' ich bin von Mississippi.« »Ist es Ihnen da nicht unheimlich, in einem Friedhof zu arbeiten?« Der Neger lachte leise, gutmütig und unbekümmert. »Jaja! Ich weiß genau, was Sie alle denken«, sagte er. »Alle diese Witze über G'spenster und uns Farbije! Aber was Sie alle nich' sehn«, fügte er ruhig hinzu, »is, daß es hier gar keine G'spenster nich' gibt!« Er machte wieder eine Bewegung über die Gräber hinweg. Ich wartete still, bis er weitersprach. »Hier oben«, fuhr er fort, »gibt's bloß lauter Helden. Ich un' Denis haben schon oft gesagt, daß wir um uns rum nie wieder bloß lauter Helden haben werden. Ich glaube, wir lieben unsre Arbeit mehr als alle andern Männer auf dis'in Felsen hier. Woll'n Sie sich nich' die Gräber mal ansehn, Sir?« fragte er. -273-
»Wir haben 'n paar mächtig intressante Gräber hier.« Mit Hilfe des Rechens richtete er sich langsam auf, bis er wieder auf seinen Füßen stand. Dann führte er mich zu einem kleinen Winkel im Friedhof. »Dies hier sind die Männer, die den letzten Angriff von den Japsen aufgefangen haben«, sagte er leise und ehrfürchtig wie der Küster der Kathedrale in Antwerpen. »Die hat's alle erwischt. Jeden einzjen von ihnen.« Er senkte seine Stimme noch mehr. »Manche von denen konnten wir überhaupt nich' wiederfinden. Das heißt, nich' alles von ihnen. Da konnten wir eben bloß Arme und Beine begraben und so tun, als wären's Leichen.« Er sprach jetzt wieder etwas lauter: »Aber hier liegen sie nu alle. Und schlafen. Denen macht's nu nichts mehr aus. Leichen oder nich'. Deswegen sind sie doch alle Helden! Und da drüben«, sagte er stolz, »haben wir den allerbesten von allen. Dies Grab da mit den Blumen. Ich un' Denis haben die Blumen da angepflanzt.« Ich blickte zu dem geschmückten Grab hinüber. Die Plätze daneben waren noch frei, und die Blumen wuchsen in üppiger Fülle bis hinauf zu der Inschrift auf dem schlichten weißen Holzkreuz: ›Commander Hoag‹. »Wie Sie sehn könn'«, sagte der Totengräber feierlich, »liegt hier der Commander. Commander Hoag persönlich, 'n feinerer Mensch hat in dieser Welt noch nie nich' gelebt. Jeder sagt das. Kannten Sie den Commander?« Ich sagte ihm, daß ich ihn gekannt hätte. Der Neger brabbelte weiter. »Das war vielleicht der beste Mann, wo ich in der ganzen Marine begegnet bin. War freundlich zu jedem. Hat einen immer mit 'nem Lächeln gegrüßt. Hat sich auch nich' gescheut, einen tüchtig runterzuputzen. Ich besinn mich noch auf ein Mal besonders, wo er mir un' Denis die Hölle heiß gemacht hat. Hat uns or'ntlich zusammengeschimpft. War wegen was mit der Offiziersmesse. Wir hatten damals 'ne schöne Wut auf ihn. Haben's ihm aber nich' nachgetragen. Und nu liegt er hier. Tot wie die andern. Sagen Sie doch, Sir, was -274-
soll'n wir bloß anfangen, wenn Männer wie der Commander alle wegsterben? Wo soll'n wir denn so 'n guten Mann wieder herkriegen? Glauben Sie, daß es noch mehr solche Männer gibt, die seinen Posten übernehmen könn'?« Ich verschanzte mich hinter die Lehren der Sonntagsschule. »Hat es sich nicht immer wieder bestätigt«, sagte ich, »daß sich überall da, wo ein tüchtiger Mann gebraucht wird, auch einer findet? Sie glauben doch nicht etwa, daß unsere Seebienen jetzt schlapp machen, nur weil Commander Hoag nicht mehr lebt?« »Das meine ich ja grade«, rief der Neger. »Genau das! Wir haben ja schon 'nen neuen Skipper. Freilich. Aber das is' kein guter Mensch. Ganz und gar nich' is' er das!« Der große Neger blickte sich langsam um. »Lassen Sie mich Ihnen mal sagen, wie ich das meine.« Er stieß seinen Rechen zwischen die Blumen auf Commander Hoags Grab und stützte sich darauf. Über das Grab des gefallenen Führers hinweg unterhielten wir uns, und wann immer der Totengräber Hoags Namen erwähnte, nahm er die eine Hand vom Rechen und deutete mit schlaffem Zeigefinger auf den Erdhügel hinunter. »Vor vielleicht drei Monaten kriegten wir 'nen Offizier in die Einheit, der alle Farbijen haßte! Der hat uns in der Messe das Leben verdammt sauer gemacht. Eines Morgens hab ich ihm zweimal gesagt, daß wir keine Eier nich' mehr haben. Ganz wild is' er da geworden. ›Von so 'nem gottverfluchten Nigger brauch ich mir nich' sagen zu lassen, was ich haben kann oder nich' !‹ hat er gebrüllt. Später am Tag hat Commander Hoag dann von dem Krach gehört und uns in sein Büro gerufen. Alle farbijen Soldaten. Und wie wir reinkommen, stand er auf. ›Tut mir schrecklich leid, Leute‹, hat er gesagt, ›was da heute morgen passiert is'. Ihr wißt alle, daß wir so was hier in der 144sten nich' dulden. Ihr habt genau dieselben Rechte wie alle andern. Und ich lass' es nich' zu, daß euch die genommen werden.‹« Der Neger zeigte mit dem Daumen auf das Grab. »Das war'n guter -275-
Mensch. Wo finden wir solche Männer wieder?« Ich wiederholte meine vorherige Bemerkung, aber der Neger widersprach lebhaft. »Nee nee, Sir!« entgegnete er. »Das kann ich nich' glauben, 's gibt bloß soundso viele gute Menschen, und wenn die einmal weg sind, wo soll'n wir dann die andern herkriegen? Das sehn Sie ja bei unsrer Einheit. Wie Commander Hoag starb, wen haben sie da auf seinen Posten gesetzt? Den Offizier, der uns Schwarze immer so schikaniert hat. Und was hat der gleich am ersten Tag gesagt? ›Jetzt wer'n hier andre Saiten aufgezogen! ‹ hat er gesagt, ›Ich lass' mir von 'ner Bande gottverdammter Nigger keine Frechheiten mehr bieten!‹ Deswegen arbeiten wir ja jetz' hier, ich und Denis. Als Strafe! Aber uns gefällt's hier, das weiß er bloß nich'. Hier gibt's niemand, der uns rumkommandiert. Hier is' keiner, der uns was zu sagen hat. Hier sind wir der Chef!« Er überblickte seine einsamen Äcker. »Hier gibt's keinen Unterschied zwischen Schwarz und Weiß. Wer tot is', vergißt das alles.« Er zog seinen Rechen aus Commander Hoags Grab und schlurfte weiter die langen Reihen der Gräber entlang. »Der da drüben«, sagte er und zeigte mit seinem Rechen auf ein kleines weißes Kreuz am Ende einer Reihe. »Der war stockbetrunken. Is' einen Abend von der Klippe runtergestürzt und hat sich 's Genick gebrochen. Alles seine eigne Schuld. Aber nu is' er tot. Bei ihm daheim is' er jetz' sicher 'n großer Held, denk ich mir. Ich hör richtig, wie seine Leute sagen, so 'n bißchen stolz, wissen Sie, und dabei doch traurig: ›Unser Junge is' auf Konora gefallen! Das is' ein Grund, weshalb mir die Arbeit hier oben gefällt. Hier oben sind sie alle Helden. Hier gibt's nich' einen schlechten Kerl darunter.« Wir gingen zwischen den neuen Gräbern umher. Ihre scharfen Umrisse wurden schon überall durch das zarte Grün junger Grashalme verwischt. Am Zaun entlang blühten gelbe Blumen. »Der Junge da, wollt ich sagen«, fuhr der Totengräber fort und zeigte mit seinem Rechen auf ein Grab, das sich durch -276-
nichts von den anderen Gräbern unterschied. »Der war richtig!« Ich folgte dem Rechen an den Gräbern von zwei Schützen der Seesoldaten und dem eines Gefreiten von unseren Pionieren vorbei bis zum Grab eines Offiziers. Im Friedhof von Hoga Point gibt es keine Rangunterschiede mehr. Keine Offiziere und Mannschaften, sondern nur noch Männer. Ich stand jetzt vor dem Grab des Oberleutnants Joe Gable von den Seesoldaten. »Der hat sich weiter unten im Süden selbst in 'ne Patsche gebracht«, leierte der Neger weiter und zeigte träge mit dem Daumen wieder auf das Grab. »Hat sich auf dem Schiff mit seinen eigenen Leuten in die Haare gekriegt. Weil sie ihn immer Vier Dolla' genannt haben. Da hat er sich mächtig drüber geärgert. Na, die Prügelei haben sie dann sozusagen vertuscht. Aber zwei Abende vor unserer Landung hier, hörte ich, kam's wieder zu 'ner Keilerei. Diesmal hat der Leutnant 'nen anderen Offizier geschlagen. Davon hat dann auch der Oberst gehört. Er wurde ganz wild. Hat t ihnen gesagt, sie hätten kein Recht nich', sich zu prügeln, wo die Japse so dicht bei sind. Der Oberst wollte den Leutnant sofort in den Bunker werfen. Aber statt dessen hat er dem jungen Kerl noch 'ne Chance gegeben. Sagte ihm, wenn er sich bei der Landung zusammenreißt, wollte er das Ganze vergessen. Der Oberst wußte aber nich', daß der Junge großen Liebeskummer hatte. Wegen der Geschichte da unten im Süden. Deswegen war ihm schon alles ganz egal.« Der Totengräber machte eine Pause und starrte nachdenklich auf das Grab. »Scheint so, manchmal sind's gerade die Offiziere, die nich' acht auf sich geben könn'. Ja, dann kam der Brückenkopf«, fuhr er fort, »Und da war dieser Seesoldat hier einer der Besten von uns. Der hat's den Japsen or'ntlich gegeben. Da haben all die Klugscheißer, die wo ihn geneckt haben, ihre große Klappe gehalten. Schließlich hat's ihn dann erwischt. Auf einmal is' er zusammengesackt. Der Oberst hat gesehn, wie er gefallen is', haben sie mir erzählt. Neulich kam der Oberst hier rauf und hat sich das Grab angeguckt. Ich denk mir, er is' ganz froh, daß er -277-
den Leutnant nich' ins Loch gesteckt hat. Aber vielleicht is' er's auch wieder nich', weil, wenn er den Jungen eingesperrt hätte, wäre er ja noch am Leben.« Der Totengräber ging zum Eingang des Friedhofs zurück und schlurfte zu dem kühlen Platz unter den Bäumen hinüber. Mit Hilfe des Rechens ließ er sich auf dem bemoosten Baumstumpf nieder und wartete auf seinen Kollegen Denis. Ich setzte mich nicht zu ihm, sondern blieb zwischen den Gräbern stehen. Wie der Neger fragte ich mich, woher die Männer kommen sollten, die einen Mann wie Commander Hoag ersetzen konnten. Überall im Pazifik, in Rußland, in Afrika und bald auch an Fronten, die noch keinen Namen hatten, starben unsere besten Männer. Wer würde ihren Platz einnehmen? Wer würde die Mädchen heiraten, die sie sonst geheiratet hätten? Oder die Häuser bauen, die sie gebaut haben würden? Gab es in der Heimat noch Männer, die fähig waren, Hoags Arbeit zu tun? Und einen Joe Gable abzulösen? Oder einen Tony Fry? Oder sorgte der Krieg in seiner Not selbst für Ersatz? Ich dachte an Hoag, wie ich ihn gekannt hatte, einen Mann, der sich nie sein Hemd richtig zuknöpfte. Er stammte aus Atlanta und trat doch für die Neger ein. Er war sehr wohlhabend, aber er befreundete sich auch mit dem geringsten seiner Leute. Er war ein Patrizier, aber er setzte Juden auf verantwortungsvolle Posten. Er war mit Arbeit überlastet, aber er achtete darauf, daß andere sich nicht überanstrengten. Doch als er starb, kam ein großmäuliger Stänker daher und nahm seinen Posten ein. Nannte Perlstein eines Abends einen Itzig. Drohte, mit den gottverdammten Niggern kurzen Prozeß zu machen. Nannte den schwer arbeitenden jungen De Vito ›einen dreckigen Vagabunden, und ihr wißt ja, wie diese Faulenzer im Krieg versagen!‹ Wenn dieser Nachfolger noch lange auf dem Posten blieb, würde alles, was Hoag geduldig aufgebaut hatte, -278-
zunichte werden. Die 144sten Seebienen würden nicht mehr fähig sein, einen Brückenkopf zu erobern. Ihre Haltung ließ bereits zu wünschen übrig. Der gute Geist, der diese Mannschaft zusammengehalten hatte, war tot. Jeder Mann, der dort auf Hoga Point lag, hatte etwas zur Freiheit Amerikas beigetragen, was er mit sich ins Grab nahm. Jetzt waren sie für immer gegangen. Wer würde nun ihre Arbeit tun? Frauen? Alte Männer? Oder wurde denen, die weiterlebten, nun eine doppelte Last aufgebürdet? Die eigene und jene der Toten? Vom Lattenzaun her hörte ich eine muntere Stimme. Es war Denis, der einen Eimer kaltes Wasser schleppte. Er lachte, als er mich bei den Gräbern stehen sah. »Sind Sie hier raufgekommen, weil all die Toten hier in die Staaten gebracht werden soll'n?« fragte er mich. »Nein«, antwortete ich. »Haben sie das vor?« »Sie reden jedenfalls davon.« Denis lachte wieder und wischte sich die Stirn. »Ich find' das ja Blödsinn. Wenn ich hier gestorben wär, wo könnt ich dann besser ruhn als wie bei meinen Kameraden, mit denen ich zusammen gekämpft hab? Wo könnt ich ein friedlicheres Plätzchen finden als hier oben überm Meer? Gucken Sie doch mal die Vögel da!« Ich folgte seinem Blick und schaute den vier buntschillernden Vögeln nach, die zur Lagune hinabflogen. »Mit dem Prediger haben Sie sich wohl schon unterhalten, was?« fragte Denis. »Wer ist das?« erkundigte ich mich, und Denis zeigte auf seinen Kameraden unter den Bäumen. »Der da, das is' der Prediger! In Mississippi nennt er sich nämlich so!« Er lachte und brachte seinem Kameraden das Wasser. Der Totengräber trank einen großen Schluck und goß den Rest aus dem Becher in die Blumen. »Hören Sie nich' drauf, was der Denis da sagt«, flüsterte er -279-
mir zu. »Denis, der redet gern viel, der kann seinen Mund oft keinen Augenblick stillhalten.«
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