Oliver Bidla . Carina Jasmin Englert . Ja Reichertz (Hrsg.) Securitainment
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Oliver Bidla . Carina Jasmin Englert . Ja Reichertz (Hrsg.) Securitainment
Oliver Bidla Carina Jasmin Englert Ja Reichertz (Hrsg.)
Securitainment Medien als Akteure der Inneren Sicherheit
III VS VERLAG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1.Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer sclence-suslness Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seinerTeile ist urheberrechtlich geschützt, Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung desverlagsunzulässig undstrafbar. Das gilt insbesondere für vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherungund Verarbeitung in elektronischen Systemen. DieWiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen. warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und dahervon jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17601-7
Inhalt
Vorwort
I
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Theoretische Perspektive: Medien als Akteur
Die Medien als Akteurefür mehr Innere Sicherheit Jo Reichertz
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Wenn aus Medien Akteure werden. Der Akteurbegriffund die Medien Oliver Bidlo
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Dauerbrenner Outsourcing. Neue Akteure und neue Inhalte am TV-Markt Carina Jasmin Englert
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11 Medien als Aktivierer? Innere Sicherheit schreiben - Sicherheitsthemen in Tageszeitungen Stefanie Böhm
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Von Lesereportem und Kontrolleuren. Medien und Bürger als Akteure der Überwachung. Oliver Bidlo
111
Die Enthüllungsplattform WikiLeaks zwischen Bürgerservice und Sicherheitsrisiko Pascal Riemann
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Inhalt
III Vom Vermittlerzum Wachhund Das Fernsehen - dein Freund und Helfer? Hermeneutisch-wissenssoziologische Videoanalyse von Fernsehsendungen zur Inneren Sicherheit in Deutschland Carina Jasmin Englert / Phillip Roslon Wenn Watchdogs CRITItainment betreiben. Der ,Sheriffunter den Medien' oder die Boulevardisierung der Kritik Carina Jasmin Englert / Phillip Roslon Reality-TV - ein Versuch, das Muster zu finden Jo Reichertz
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203
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IV Securitainment Wenn Innere Sicherheit zur Unterhaltung wird - Securitainment Oliver Bidlo / Carina Jasmin Englert
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Die Führung zur Selbst-Führung Jo Reichertz / Oliver Bidlo / Carina Jasmin Englert
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Vorwort
Der hier vorliegende Band gibt einen Überblick über erste Forschungsergebnisse, die im Rahmen des DFG-Projekts Medien als Akteure. Die neue Eigenständigkeit der Medien am Beispiel des Diskurses über ,Innere Sicherheit' an der Universität Duisburg-Essen erarbeitet wurden. Ziel des Projektes ist es, aus soziologischer wie kommunikationswissenschaftlicher Sicht zu ermitteln, ob und inwieweit die (privaten) Medien im gesellschaftlichen Diskurs um Innere Sicherheit on air und offair eigenständig agieren und somit zu Recht auch als selbständige Akteure begriffen werden müssen. Die öffentlich-rechtlichen wie die privaten Medien (Zeitungen, Fernsehen, Rundfunk) haben von Beginn an auf die politische Willensbildung eingewirkt teils ausdrücklich und teils auch sehr nachdrücklich; die einen mehr, die anderen weniger. Das taten sie vornehmlich dadurch, dass sie unter dem selbst angehefteten Label ,Qualitätsjournalismus' über die Legislative, die Judikative und die Exekutive und deren Politik berichteten, deren Politik kommentierten oder und somit deren Politik als ,Vierte Gewalt im Staat' kritisch beobachteten, Entscheidungen kommentierten oder Deutungsrahmen setzten und neue Deutungen in Umlauf brachten. Ziel war dabei - so das explizite Selbstverständnis - die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit. Medien ,dienten' in diesem Verständnis der Öffentlichkeit und waren orientiert an dem Gemeinwohl - selbst dann, wenn sie sich explizit einer bestimmten politischen Richtung verpflichtet fühlten und selbst dann, wenn sie sich am Markt behaupten mussten. Oft versuchten sie auch in Ausübung der Vierten Gewalt, Themen auf die Tagesordnung zu setzen oder Personen bzw. Ereignisse zu skandalisieren. Dass private wie öffentlich-rechtliche Medien also auch Akteure im gesellschaftlichen Diskurs sind, ist nicht wirklich neu, sondern ziemlich alt. In diesem Sinne waren Medien von Beginn an auch politische Akteure und natürlich haben sie auch bestimmte Interessen(gruppen) vertreten. Letzteres aber immer mit dem Ziel, die Perspektive ,ihrer' Gruppe in der Öffentlichkeit zur Geltung zu bringen. Neu ist, dass die (privaten) Medien seit Beginn der 1990er Jahre vor allem Unternehmen sind, die schwarze Zahlen schreiben müssen und wie andere börsennotierte Unternehmen geführt und vermarktet werden und sich dem Kunden
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Vorwort
verpflichtet fühlen und nicht einer kritischen Öffentlichkeit - was auch Auswirkungen auf die öffentlich-rechtlich Medien und deren Politik hat. Neu ist außerdem, dass die Printmedien zunehmend weniger genutzt werden und dass stattdessen das Internet als Lese- und Schreibmedium genutzt wird. Neu ist zudem, dass Bürger sich als sogenannte ,Bürgerreporter' aktiv an der Nachrichtenproduktion beteiligen und damit den Qualitätsjoumalismus unter Druck setzen. Neu ist auch, dass die privaten Medien sich explizit in vermeintlicher Vertretung ihrer Kunden und Käufer in den Diskurs einmischen und ihn aktiv gestalten wollen. Steigende Konkurrenz und ökonomischer Druck und die Notwendigkeit der Kundenbindung nötigen sie zur politischen Aktion. Sie bringen das zur Sprache und stoßen (z.B. in Ordnungspartnerschaften und Kriminalpräventiven Räten) das an, von dem sie vermuten (oder aufgrund der Marketingabteilungen auch wissen), dass ihre Kunden es zur Sprache gebracht bzw. angestoßen haben wollen: Wenn die Bürger sich in einer Gegend unsicher fühlen, dann sind es zunehmend die Medien, die dieses Unsicherheitsgefühl aufgreifen, Vorschläge fiir eine Änderung öffentlich unterbreiten, Ordnungspartnerschaften initiieren und steuern und die Polizei animieren, die Vorschläge umzusetzen. Die Leser und die Zuschauer wirken so auf die Medieninhalte ein, steuern deren Auswahl und deren politische Ausrichtung. Verschärft wird dieser Einfluss der ,Rezipienten' durch eine Vielzahl von Möglichkeiten (z.B. Blogs, Onlineberichterstattung, Leserreporter etc.), an den Medieninhalten aktiv mitzuarbeiten, an der Medienarbeit mitzuwirken oder modem: zu kollaborieren. Ob die Medien tatsächlich als eigenständige Akteure agieren und in welchem Maße dies geschieht, das wurde in der Zeit von 2009 bis 2011 in einem DFG-Projekt im Wesentlichen empirisch untersucht. In diesem (ersten) Band stellen wir nun die Ergebnisse vor, die sich vor allem auf die Medien beziehen. In einem weiteren Band werden wir die Arbeitsergebnisse präsentieren, die sich damit beschäftigen, wie die mit der Inneren Sicherheit befassten Institutionen, also vornehmlich die Polizei, auf diese neuen Strategien der Medien reagieren und (als Reaktion darauf) ebenfalls neue Handlungsweisen herausbilden. Ganz herzlich möchten wir der DFG fiir die finanzielle Unterstützung danken.
Essen, Januar 2011 Jo Reichertz, Oliver Bidlo, Carina Englert
I
Theoretische Perspektive: Medien als Akteur
Die Medien als Akteure für mehr Innere Slcherhelt' Jo Reichertz
The newspaper is supposed to be the community 8 watchdog. Michael Connelly: The Scarecrow (2009: 36)
1. Neue Tendenzen bei der Politik der Inneren Sicherheit Innere Sicherheit ist eines der wenigen Ziele staatlicher Führungspolitik, über die es keinen Dissens gibt. Alle wollen sie, die Innere Sicherheit, selbst die, die in Opposition zur Führung stehen. Innere Sicherheit ist ein basaler Bestandteil aller bürgerlichen Regierungspolitik, auch weil sie wesentlich zum politischen Selbstverständnis der Modeme und dem damit verbundenen Schutz aller Bürger gehört. Innere Sicherheit meint, dass der Staat jedem Gesellschaftsmitglied Schutz für die Unverletztheit seiner Person, seiner Rechte und seines Eigentums bietet. Zuständig für die operative Herbeiführung und Erhaltung Innerer Sicherheit ist seit dem 19. Jahrhundert die Polizei. Diese versteht bzw. verstand ihr Geschäft vor allem als Gefahrenabwehr, was bedeutet, dass insbesondere der Einzelne vor Verbrechen geschützt wird und staatliche Einrichtungen gesichert werden. Die gegenwärtige Situation ist gekennzeichnet durch eine Neuverteilung staatlicher Sicherheitsaufgaben. Ohne dass sich der Staat aus dem Prozess der Herstellung von Sicherheit und Sicherheitsgefühl völlig zurückzieht, übergibt er zunehmendAufgaben an private Unternehmen, NGOs (Non-Govemmental Organizations), Vereine und Bürger (Garland 1997 und vor allem Garland 2008: 65ff.; Singelnstein/Stolle 2006: 25-55, siehe auch Lange/OhlylReichertz 2008 und Groenemeyer 2010). Neue Akteure, von Gunther Teubner private govemance regimes genannt (Teubner 2003, vgl. auch Ortmann 2010: 2l9ff.), tauchen im Feld der Inneren Sicherheit auf, werden in dieses Feld hineingezogen oder suchen es aktiv auf, weil dort ökonomische Gewinne erwartet oder doch vermutet werden (vgl. hierzu auch der Beitrag von Englert über den Fernsehmarkt in diesem Band). Überall "ergänzen und ersetzen, verschieben und verändern hochspezialisierte Regimes [...] in einer Art außerstaatlicher Rechtsproduktion staatliches Recht und müssen es, weil letzteres immer öfter Überforderungen ausgesetzt ist" (Ortmann 2010 : 219). Die Diese Einleitung greift überwiegend die überlegungen von Reichertz 20 I 0 auf. Allerdings finden sich hier deutlicher und sehr viel ausfiihrlicher die Bezüge zum Forschungsprojekt ,Die Medien als Akteur' . Einerseits werden hier die Fragen des Projekts erläutert, andererseits auch schon wesentliche Ergebnisse angedeutet und eingearbeitet.
O. Bidlo et al. (Hrsg.), Securitainment, DOI 10.1007/978-3-531-93077-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Jo Reichertz
neuen Akteure betreiben zusammen (und manchmal auch gegeneinander) aktiv eine Politik der Sicherheit - wenn auch jeder nach eigenen Maßstäben und eigenen Relevanzen (vgl. Feltes 2008). "An die Stelle staatlich gesetzter treten immer öfter ,selbstgesetzte' Normen und Standards." (Ortmann 2010: 219) Obwohl manche es so wahrnehmen, ist es nicht so, dass der Staat sich systematisch aus der Politik der Inneren Sicherheit herauszieht, sondern man muss genau hinschauen und differenzieren: denn neben den (nach wie vor ablaufenden) Deregulierungsprozessen sind immer auch Neu-, Um- und Re-Regulierungen zu verzeichnen. Deshalb kann hier nicht von einer bloßen ,Entstaatlichung' der Sicherheitspolitik gesprochen werden, also einer Selbstfreistellung oder Selbstbefreiung des Staates von der Verantwortung (vgl. Offe 1994), sondern von einer tief greifenden Umgestaltung staatlicher Zuständigkeit. Der Staat versteht sich immer weniger als ,Hirte', der :für jedes Mitglied seiner Herde verantwortlich ist und sich deshalb auch um jedes Teil der Herde zu kümmern hat (Foucault 2005: 188-220), sondern als die Instanz, die lediglich gewährleistet (mithin nicht garantiert), dass bestimmte politisch gewollte Aufgaben sichergestellt werden. Wer diese Aufgaben letztendlich wahrnimmt, ob staatliche, gemeinnützige oder private Organisationen, bleibt offen und ist auch nicht wichtig, da alle Träger (private wie öffentliche) gleich gestellt sind' . Was allein zählt, das ist die Effizienz, mit der die Aufgaben erledigt werden. Effizienz meint hier immer und vornehmlich ,ökonomische Effizienz' (Folkers/Weißgerber 2008), die auch mit modemen Managementtechniken bei allen beteiligten Akteuren (:für die Polizei siehe Lange/Schenk 2004) erreicht werden soll. In Abgrenzung zu Foucault wird auch ein anderes Bild vom Staatswandel gezeichnet: er habe sich vom Herrschaftsmonopolisten in einen Herrschaftsmanager verwandelt (Genschel/Zangl 2008, im Anschluss daran auch Heinze 2009), der zusammen mit anderen Akteuren den Staat vor allem manage, sich allerdings eine .Auffangverantwortung" (Heinze 2009: 205) vorbehalte. Dennoch sei ein solcher ,Gewährleistungsstaat' (Voßkuhle 2003; Heintzen 2003) chronisch überbelastet, was auch dazu führe, neben nichtstaatlichen Organisationen auch den einzelnen Bürger verantwortlich zu machen und ihn mit zahlreichen Maßnahmen zu aktivieren, auch selbst :für Innere Sicherheit und Ordnung 2
Wichtig wird diese Frage allerdings dann, wenn es ,Fehler' bei der Gewährleistung von Sicherheit gibt - so geschehen bei der Love-Parade in Duisburg 20 I O. Die Polizei, die Feuerwehr, die Stadt und der Veranstalter waren für die Organisation von Sicherheit zuständig, und als es zur Katastrophe kam, stritten sich die Beteiligten (angesichts der erwartbaren Regressansprüche) entschieden und öffentlich (auch mithilfe der Medien) darüber, wer versagt hat. Die Duisburger Love-Parade hat somit nicht nur eine Eventpraxis der Technoszene beendet, sondern auch die Bereitwilligkeit der Sicherheitsbehörden bei der Bewilligung von Großveranstaltungen zu hoffen, dass schon alles gut gehen wird. Es steht zu erwarten, dass sich stattdessen die Praxis etablieren wird, vom schlimmsten Fall auszugehen - nicht nur bei Großveranstaltungen.
Die Medien als Akteure für mehr Innere Sicherheit
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zu sorgen bzw. an seinem Ort das Richtige (auchfür die Sicherheit) zu tun (Lessenich 2008). Der Staat als Herrschaftsmanager' tritt oft gern auch als ein Aktivierungsstaat (Butterwege 2007) auf oder wie Ortmann formuliert: "Der Staat überlässt mehr Steuerungsaufgaben ,uns', aber es kommt zu mehr Normierung des Lebens als zuvor. Er überlässt es ,uns', das heißt, den zu steuernden Akteuren, aber genau besehen doch eher jenen private govemance regimes, die uns diese ,Selbst'steuerung meist ab und aus der Hand nehmen." (Ortmann 2010: 219) Wenn von der Miteinbeziehung anderer Akteure, also den private govemance regimes, oder von der Aktivierung der Bürger selbst gesprochen wird, kommen in der kriminologischen Fachliteratur meist nur Privatunternehmer (Sicherheitsfirmen und auch Architekten und Stadtplaner), NGOs oder die Bürger in den Blick: Eine Reihe privater Firmen übernehmen großflächig Überwachungsaufgaben (vgl. Beste 2008). In Hessen werden sogenannte Public Private Partnerships geplant, bei denen der Staat zwar Eigentümer der Gefängnisse bleibt, aber Betrieb und Instandhaltung von privaten Unternehmen übernommen wird (zur aktuellen Situation im deutschen Strafvollzug siehe Alex/Feltes 2008). In der kommunalen Kriminalprävention verfolgen staatliche Akteure im Rahmen von Community Policing-Ansätzen seit den 1990er Jahren eine Deregulierungsstrategie, indem die Durchsetzung von Sicherheit in der Nachbarschaft und im Wohnumfeld verstärkt dezentral in die Verantwortung von Bewohnerschaft, Vermietern bzw. Wohnungsunternehmen und ansässigen Gewerbetreibenden gelegt werden soll (vgl. auch Kury 2008). Bei allen aktuellen Analysen zur Neuausrichtung der Politik der Inneren Sicherheit spielen die Medien als eigenständige Akteure so gut wie keine Rolle: Glaubt man den kriminologischen, soziologischen und kommunikationswissenschaftliehen Analysen, dannberichten die Medien ,nur' über die Politiken der Inneren Sicherheit, sind also Überbringer von Nachrichten, gestalten diese jedoch allenfalls durch die Berichterstattung und gelegentliche Skandalisierungen mit. Die Auswirkung der Medien wird dann als nicht kalkulierbarer ,Kollateralschaden' der Nachrichtenübermittlung und -verbreitung betrachtet, und nicht als Ergebnis einer eigenen und neuen ,Strategie' der Medien, die System hat. Dieses neue System ist - so die These - nicht die gängige, wenn auch meist unbegriffene Praxis geworden. Sie zielt vor allem auf Kundenbindung in einem Markt, in dem der Konkurrenzdruck in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Die kriminologischen Studien unterschlagen meist völlig diese Bedeutung der Medien als eigenständige Akteure (z.B. Groenemeyer/Wieseler 2008) - das 3
Die systematische Unterstützung staatlichen Handelns durch den großflächigen Einsatz zentraler wie dezentraler Großrechner (fiir die Polizei siehe: Heinrich 2008) führt nicht nur zu einem massiv erhöhten Abstimmungsbedarf, sondern verändert die Arbeit der Akteure grundsätzlich (fiir die Polizei siehe: Wilz/Reichertz 2008).
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Jo Reichertz
gilt auch und in besonderem Maße für Garland 2008 und in dessen Nachfolge auch Singelnstein/Stolle 20064, die beide im Anschluss an die Arbeiten von Michel Foucault (zu Recht) einen grundlegenden Wandel der Politik der Inneren Sicherheit westlicher Staaten diagnostizieren (kritisch hierzu Reuband 2010). Die Arbeiten von Garland und Singelstein/Stolle folgen Foucault aber auch in seiner Nichtbeachtung der Medien. Gleiches gilt auch für die studies 01governmentality, die ebenfalls die Akteurrolle der Medien meist ausblenden (beispielhaft hierfür: KrassmannNolkmer 2007)5.Und wenn einmal die Medien explizit in den Fokus der kriminologischen Forschung geraten, dannwird vor allem deren Rolle bei der Erweckung und Steigerung der Kriminalitätsfurcht (Reuband 2008) oder die Thematisierung von Polizei in den fiktionalen oder semifiktionalen Fernsehsendungen (Kersten 2008) untersucht. Im politischen Diskurs über die äußere Sicherheit werden die Medien vor allem in ihrer Bedeutung als Multiplikatoren von Nachrichten gewürdigt (siehe ähnlich JägerNiehrig 2009b: 8)6bzw. aufdiese beschränkt. In den letzten Jahren wurde zudem wiederholt auch auf den CNN-EfIekt hingewiesen (Livingston 1997). Demnach sollen Medien in bestimmten historischen und politischen Konstellationen durchaus auch in der Lage sein, politische Entscheidungen herbeizuführen'. 4
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Das gilt im übrigen auch für den Sammelband von JägerNiehrig 2009. Obwohl der Zusammenhang im Buchtitel "Sicherheit und Medien" benannt wird, verbleibt auch hier die Analyse im Wesentlichen bei der Betonung der Multiplikatorenfunktion der Medien. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildet z.B. die Arbeit von Seier/Surma 2008 . Hier zeigt sich, wie fruchtbar es ist, die Foucaultschen überlegungen um die Beachtung der Rolle der Medien zu ergänzen. Allerdings wird von denAutorinnen nur herausgearbeitet, dass und aufweiche Weise Medien (Brief, Zeitung, Fernsehen etc.) konstitutiv sind für die Praktiken der Selbstfiihrung, dass also "Medientechnologien und Selbsttechnologien produktiv ineinander greifen" (Seier/Surma 2008: 177). Die Bedeutung der Medien als eigenständige Akteure für den und in dem öffentlichen Diskurs, wie z.B. bei Ivänyi/Reichertz 2002 und Ivänyi 2003 herausgearbeitet, gerät dabei nicht in den Blick. Jäger und Viehrig betonen neben der Multiplikatorenfunktion der Medien im Anschluss an die Arbeiten von Vtrilio auch deren Fähigkeit zur Teleaktion. "Die Analyse der neuen Handlungsbedingungen bewegt sich zwischen zwei Polen: der Teleaktion und der Multiplikatorenfunktion. Auf der einen Seite ist die dreifache Aufhebung von Handlung zu beobachten, die durch die Teleaktion ersetzt wird [...]: Handlungen werden bewahrt, es wird weiter gehandelt; sie werden ersetzt, indem anders gehandelt wird; und - zumindest aus Sicht der Akteure - werden sie auf ein höheres Niveau gehoben. Denn Teleaktion simuliert nicht nur eine neue Realität, sondern schafft auch gleichzeitig eine neue Realität, die die bisherigen Handlungsräume ersetzt." (Jäger/ Viehrig 2009b : Bf.) In Deutschland ist diese Frage im Jahr 2003 am Beispiel einer Bild-Kampagne gegen ,FloridaRolf diskutiert worden. BILD hatte dagegen polemisiert, dass der in Florida lebende Rolf dort Sozialhilfe aus Deutschland bezieht. Diese mediale Klage führtedazu, dass das deutsche Kabinett auf Initiative der Bundessozialministerin Ulla Schmidt eine Verschärfung der Richtlinien zur Zahlung von Sozialhilfe ins Ausland verabschiedete (siehe hierzu: http://www.bpb.de/veranstaitungen/VVTUUC.html-letzter Abruf: 20.11.2010).
Die Medien als Akteure für mehr Innere Sicherheit
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Neuere kommunikationswissenschaftliehe Analysen nehmen durchaus die Akteursrolle der Medien in den Blick (z.B. Page 1996, Pfetsch/Adam 2008, Jäckel/ Mai 2008, Mai 2005), beziehen sich allerdings in der Regel auf den politischen Prozess ganz allgemein (Hombach 2004, Kübler 2010) und nicht auf den Prozess der Herstellung Innerer Sicherheit. Neben ihrer .Primärfunktion der Informationsübermittlung" (Eilders 2008: 27) nehmen sich ihr "Recht in Anspruch, sich als Sprecher der Öffentlichkeit mit ihrer eigenen Sichtweise, ihren Präferenzen und Bewertungen zu Wort zu melden" (ebd.). Sie versuchen, bestimmte Themen auf die Agenda zu setzen, sie kommentieren politische Entscheidungen und sie setzen Deutungen tframes - siehe ausführlich dazuBaumgarten 2010: 43ff.) in die Welt (z.B. Eilders 2008, Waldherr 2008). In der allgemeinen Diskussion um die Frage, ob die Massenmedien als politische Akteure zu betrachten sind, hat sich die kommunikationswissenschaftliche Forschung vor allem auf drei Themen konzentriert (siehe auch: Pfetsch/Adam 2008a): die politischen Folgen des Handelns von großen, mittlerweile auch global agierenden Medienunternehmen (Baker 2007), die Bedeutung einzelner hervorgehobener individueller Akteure im Feld der Medienarbeit (Neidhardt/Eilders/Pfetsch 2004; Pfetsch/Adam 2008a) und (aus der neoinstitutionalistischer Perspektive - siehe Senge/Hellmann 2006 und Senge 2011) die Bedeutung der Medien bei der Vermittlung der von der Makroebene vorgegebenen Werte (Marcinkowski 2007).
2. Der Prozess des Polizierens Innere Sicherheit stellt sich nicht von selbst her, sondern muss hergestellt werden: sie ist in der Regel das Ergebnis eines komplexen Zusammenwirkens lokaler, regionaler und überregionaler Praktiken. Polizieren meint dabei das gesamte staatliche, private, von Verbänden und Bürgerinitiativen getragene Handeln, das auf die Erreichung und Erhaltung von Sicherheit zielt", Der Begriff ,Polizieren' greift zwar den deutschen Ausdruck ,policieren' (abgeleitet vom Substantiv ,Policey',) auf, der bereits im 16. Jahrhundert aufkam und insbesondere im 18. Jahrhundert die europäische ,Kunst des Regierens' maßgeblich bestimmte, erfährt aber hier in Abgrenzung zu der Tradition des Policey-Gedankens (vgl. vor allem Nitschke 1996; klassisch zum Thema: Moh11832) eine Neufestlegung. Zu berücksichtigen 8
Diese Überlegungen zum Begriff des ,Polizierens' sind maßgeblich beeinflusst durch ein Konzeptpapier zum Antrag auf Förderung einer Forschergruppe - .Polizieren - Über den Wandel bei der Erreichung und Erhaltung von innerer Sicherheit" vom September 2005, dass neben mir von Thomas Feites, Cay Folkers, Andre Kaiser, Julian Krüper, Martin Morlok, Peter Stegmaier, Jürg Weißgerber und Henning van den Brink verfasst wurde .
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ist in dieser Hinsicht zunächst, dass das semantische Feld des - heute im Deutschen ungebräuchlichen - Ausdrucks ,Polizieren' sich nur zum Teil mit dem des englischen .policing' deckt. Es sollen dagegen hier lediglich diejenigen Praktiken angesprochen sein, die zur Herstellung Innerer Sicherheit führen bzw. führen sollen. Polizieren kann demnach beschrieben werden als ein Kampf der beteiligten Akteure um die Rechtfertigung, Verankerung und Durchsetzung bestimmter Handlungsstrategien innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. Diese Prozesse vollziehen sich im Rahmen der etablierten politischen, juristischen und ethischen Legitimationsdiskurse und mithilfe der gegebenen Medien der Gesellschaft (siehe ausführlicher dazu: Reichertz 2007a und c, Reichertz 2010 und auch Feltes 2009). ,Polizieren' deckt sich also keineswegs mit Kustodialisierung (vgl. EIsbergen 2004). Zwar trifft sich ,Kustodialisierung' mit dem ,Polizieren', wenn es um private governance regimes als Akteure der Inneren Sicherheit geht. Aber auch bei dem Konzept der Kustodialisierung werden die Medien ausgeblendet. Stattdessen stehen besorgte Bürger im Mittelpunkt dieses Konzepts, die ihr vermeintliches Recht selbst in die Hand nehmen und selbst für ihre Innere Sicherheit sorgen wollen. Das Konzept des Polizierens setzt da an, wo die Kustodialisierung aufhört. Dort will der Bürger überwachen und sein Revier schützen, hier werden die Medien zu "community's watchdogs?" (Connelly 2009: 36), weil sie es dürfen - da sie nur schreiben und nicht ,handgreiflich' werden. Am Prozess des Polizierens sind Polizisten ebenso beteiligt wie Richter, so genannte ,Schwarze und Blaue Sheriffs' ebenso wie ,Sky Marshals', Polizeiforscher, Journalisten, Fernsehmacher, Sicherheitsfirmen, Bürgerwehren sowie Sicherheitswarte, Jugendgerichtshilfen ebenso wie Streetworker und natürlich auch Detektive und Bodyguards. Zum Polizieren gehören Repression wie Prävention, das öffentliche Warnen und Aufklären, das Erstellen von Ratgebern genauso wie das Herausgeben von Kriminalstatistiken, die Ausbildung in Kampfsportarten wie der Besitz von Waffen, das Beobachten von öffentlichen Plätzen mit Videokameras (siehe hierzu Hempel/Metelmann 2005, Zurawski 2007, Kammerer 2008) wie die Ausstrahlung von Fernsehsendungen, die auf Ordnung und Sicherheit zielen (von Aktenzeichen XY-ungelöst bis hin zu Tatort Internet), dazu gehören auch alle Maßnahmen zur Erschwerung von Geldwäsche, das systematische Scannen des World Wide Web nach strafbaren Inhalten und der Bau von ,Panic-Rooms'. Dazu gezählt werden müssen aber auch die unterschiedlichen Bewegungen zur Aufwertung der 9
Man beachte dabei die Implikationen der Metapher ,Wachhund' . Medien sind in diesem (Selbst-) Verständnis nicht (mehr) die Vierte Gewalt im Staate, sondern Wächter, die ein bestimmtes Haus, eine bestimmte Gemeinde vor Angriffen von außen schützen. Es geht also nicht (mehr) um die Schaffung einer kritischen Öffentlichkeit, sondern um die Schaffung partikularer Sicherheit.
Die Medien als Akteure für mehr Innere Sicherheit
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Innenstädte durch die Beseitigung von Müll sowie die Ausgrenzung von Bettlern, Drogenabhängigen und Prostituierten, die Beratungen von Drogenkonsumenten in den ,Locations', die Bürgerbeteiligung bei Betreuungsaufgaben, die bewachende Nachbarschaftshilfe und die geschützten Wohngebiete (also gated communities) fiir Ältere und Wohlhabende (vgl. Wehrheim 2000, 2002). Gewiss gehören auch alle wissenschaftlichen Debatten über die Innere Sicherheit, das plötzliche Erstarken des Broken-Window-Ansatzes (vgl. Wilson/Kelling 1996), die Übernahme des Zero-Tolerance-Konzeptes durch eine Reihe von bundesdeutschen Städten (vgl. DreherlF eltes 1997) und die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen über einen steigenden Bedarf an verhaltensorientierten Traditionen und Werten dazu. Der Begriff des ,Polizierens' unterscheidet sich somit erkennbar von dem des ,Regierens' (KortelWeidenfeld 2000; KortelFröhlich 2004, Leggewie/Münch 2001), denn ,Regieren' bezeichnet vor allem das staatliche Handeln, das auf gezielte Steuerung des Ganzen und seiner Teile ausgerichtet ist (zu Praktiken der Steuerung aus systemtheoretischer Perspektive siehe Willke 1998). In dieser Perspektive geraten Institutionen theoretisch erst dannin den Blick, wenn sie Gegenstand oder Betreiber staatlichen Handelns sind. ,Polizieren' umfasst dagegen mehr: Es beinhaltet auch Formen individuellen Verhaltens, die nicht durch staatliche Interventionen initiiert sind. Es ist damit also das gesamte öffentliche und private, von Verbänden, Institutionen und Bürgerinitiativen getragene Handeln angesprochen, das auf die Erreichung von Ordnung und/oder subjektiv empfundener Sicherheit zielt. ,Polizieren' bezieht sich gerade auch aufVerhaltensformen und -normen, die das individuelle und soziale Leben auf informelle Weise regeln - und nicht nur allein auf den rechtlich regulierten Bereich im engeren Sinn. ,Polizieren' bezieht sich hier also auf die Gesamtheit historisch gewachsener ,,Machttechniken, die auf Individuen zielen und diese auf stetige und beständige Weise lenken sollen" (Foucault 1994: 67). Der hier verwendete Begriff des ,Polizierens' weist Berührungspunkte mit dem von Michel Foucault geprägten Konzept der Gouvernementalität auf, das allerdings auf einen weitaus umfänglicheren Anwendungsbereich bezogen ist. Der Begriff Gouvernementalität nimmt nämlich die Gesamtheit der Praktiken des Führens und des Regierens in den Blick und zwar sowohl die Praktiken des Führens anderer Menschen als auch der eigenen Person. Den französischen Ausdruck ,gouverner' bezieht Foucault auf die Übernahme von Verantwortung fiir Dinge und Menschen, die Anleitung der Geführten, ihre systematische Beobachtung und ihre Umwelten, und zwar vor dem Hintergrund der Frage, wie die Geführten am besten von einem bestimmbaren Ausgangspunkt zu einem bestimmten Ziel gebracht werden können. Dies gilt gleichermaßen fiir die Führung einer Familie, eines Landes
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Jo Reichertz
und natürlich auch für die Führung seiner selbst - und das unterscheidet ,gouverner' vom Regieren im engeren politikwissenschaftlichen Sinne (zum Konzept der Gouvernementalität siehe vor allem Foucault 1994 und 2004, aber auch: Lemke 1997,2000; Krasmann 1999, 2002, 2003a, 2003b; Lemke/Krasmann/Bröckling 2000; KrassmannNolkmer 2007 und Pieper/Rodriguez 2003). Die Vorzüge des Gouvernementalitätskonzepts liegen darin, dass die Betrachtung sozialer Selbstregulierungsvorgänge keine idealisierten Akteure voraussetzt, sondern mit einer Interdependenz von sozialer Regulation und individueller Habitusbildung rechnet (vgl. auch Bourdieu 1979). Die Verhaltensdispositionen und Optionsspielräume der sozialen Akteure werden dabei vom Ansatz her nicht als Eigenschaften vorsozialer Handlungssubjekte konzeptualisiert. Vielmehr werden sie von den Regeln und Zwängen des soziokulturellen Raums überhaupt erst konstituiert, ohne dass ein Verhältnis vollständiger Determination vorläge. Foucaults Einsicht zufolge wirken die gegebenen sozialen Machtverhältnisse auf die Akteure niemals nur einschränkend, sondern immer auch befähigend (vgl. Foucault 2005). Das Polizieren ist dementsprechend nicht als einseitige obrigkeitliche Beeinflussung oder Disziplinierung zu verstehen, sondern wird von den Akteuren im sozialen Raum immer auch mehr oder weniger freiwillig mitgetragen, abgewandelt oder auch vorangetrieben. Die Akteure lernen, sich selbst bereitwillig selbst fiihren zu wollen. Die Scham ersetzt den Zwang (vgl. Foucault 2004 und 2010, Necke12008: 149fI, Reichertz 2009, Tomasello 2010 10) .
3. Medien als Akteure innerhalb der Politik der Inneren Sicherheit Sozialwissenschaftliche Zeitdiagnosen sind sich im Wesentlichen darüber einig, gleich ob sie unter dem Label Risiko-, Wissens- oder Kommunikationsgesellschaft oder anderen firmieren (vgl. Ederer/Prisching 2003: 13fI.), dass (nicht nur) die deutsche Gesellschaft gekennzeichnet ist durch (a) einen massiven und umfassenden, alle gesellschaftlichen Bereiche beeinflussenden Globalisierungsschub, (b) durch eine tief greifende Herauslösung des Einzelnen aus angestammten Gruppen bei gleichzeitiger Angewiesenheit auf neue gesellschaftliche Institutionen, (c) durch weiter anwachsende und noch bedeutsamer werdende Interkulturalität und (d) die zentrale Rolle von Wissen und Kommunikation bei der Bearbeitung und Bewältigung der aus den Besonderheiten moderner Gesellschaften resultierenden Integrationsprobleme (Heck/Grande 2004; Giddens 1999; Sennett 2000). Für solche 10
Stellvertretend für viele andere ähnlich lautenden Aussagen: "Sowohl Kooperations- als auch Konformitätsnormen werden durch Schuld- und Schamgefiihle untermauert." (Tornasello 2010: 78)
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Gesellschaften ist der Kampfder Perspektiven konstitutiv und auch auf Dauer gestellt. Unterschiedliche und oft heftig miteinander konfligierende, besser: in Konflikt stehende Sitten, Normen und Interessen müssen immer wieder neu aufeinander abgestimmt und in ein ,Gleichgewicht' gebracht werden. Bei diesem Prozess spielen mediale Kommunikation und die Medien auch deshalb eine wichtigere Rolle, weil immer mehr, immer öfter und immer begründeter Geltungsansprüche und Legitimationen ausgehandelt werden müssen (siehe auch Ziemann 2006 und 2011). Die deutsche Gesellschaft ist aus dieser Sicht eine Gesellschaft, 1.
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in der das private wie berufliche individuelle Leben immer stärker und immer häufiger durch die Notwendigkeit kommunikativen (Aus- )Handelns gekennzeichnet ist (Knoblauch 1995, Reichertz 2007a, Villa 2008), in der alle Bereiche des privaten wie beruflichen, des individuellen wie des öffentlichen Lebens von einem tiefgreifenden Medialisierungs- bzw. Mediatisierungsprozess überarbeitet werden (Imhoff 2006, Krotz 2007, Meyen 2009), in der das private wie berufliche individuelle Leben immer stärker und immer häufiger durch die Notwendigkeit der Nutzung von Kommunikationsmedien aller Art gekennzeichnet ist (Döring 2003, GoIl2002), in der Kommunikation im privaten wie im beruflichen Leben das wichtigste Mittel zur Initiierung und Umsetzung von Veränderungsprozessen (change management) ist (Doppler & Lauterburg 2008, Richter 2008), in der wegen der Kunden- und Prozessorientierung in immer mehr Unternehmen Netzwerkstrukturen aufgebaut und deshalb von fast allen Mitarbeitern/innen auch immer mehr Kommunikationsarbeit erwartet wird (Holtgrewe 2005, Sydow 2006, Castels 2002), in der politische oder ökonomische Entscheidungen unter immer größerer Unsicherheit und mit zunehmendem Risiko, außerdem in vemetzten, globalisierten und daher immer komplexeren Zusammenhängen getroffen werden müssen und die Ansprüche an individuelle Entscheider, Entscheidungen kommunikativ herbeizuführen, sie kommunikativ zu vermitteln und durchzusetzen den Stellenwert von Kommunikation emorm erhöht haben (vgl. z.B. Kieser 1998, Faust 2006, Schreyögg 2000, Ortmann 2010), in der staatliche, wirtschaftliche und private Organisationen aller Art Kommunikation als ein Steuerungsmittel erster Güte ansehen und zur Erreichung ihrer Ziele einsetzen (Lange/Schimank 2004, KrasmannlVolkmer 2007, Opitz 2004, Pfadenhauer 2008),
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in der die lokale, nationale wie internationale Öffentlichkeit sich im Wesentlichen mit Hilfe der Massenmedien informiert und durch sie auch irritieren bzw. animieren lässt (Münch 1991, Luhmann 1996, Eilders/Neidhardt/ Pfetsch 2004, Jarren/Donges 2002, Baker 2007), 9. in denen neue Formen der gesellschaftlichen Kommunikation (Internet, Web 2.0, Powerpoint) von Wissen aller Art alltäglich geworden ist (Schnettler/ Knoblauch 2007, Reichertz 2007b, Lul12008) und 10. in der Probleme des Wissens und der Kommunikation von immer leistungsstärkeren Kommunikationstechnologien übernommen werden und diese Medien deshalb als Bedingung und Mittel erfolgreichen Wirtschaftens und Verwaltens nicht mehr wegzudenken sind (Brüggemeier et al. 2006, Köthe 2008). Diese tief greifenden Veränderungen der Gesellschaft, die einerseits von den neuen Formen der Kommunikation und den neuen Kommunikationsmedien mit geschaffen wurden, andererseits den Kommunikationsbedarfund den Bedarfan neuen Kommunikationsmedien erheblich gesteigert haben, kommt in allen gesellschaftlichen Bereichen zum Ausdruck. Seit der Öffnung des Rundfunkmarktes für private Anbieter ist eine tief greifende Verlagerung des gesellschaftlichen und politischen Geschehens in den öffentlichen Diskurs hinein zu verzeichnen: Medien und der damit verbundene Mediatisierungsprozess" stellen nicht mehr nur die ,Begleitmusik' zu dem eigentlichen politischen Geschehen dar, sondern sind ein wesentlicher Teil der Politik (vgl. Münch 1991: 17). Medien (regionale wie überregionale) und der Prozess der Mediatisierung spielen also zunehmend eine wichtige und auch qualitativ neue Rolle (Imhof2006, Krotz 2007, Meyen 2009), da sich alle Beteiligten ihrer bedienen wollen. Besonders markante, medial gut vermittelbare Großereignisse wie die Anschläge vom 11. September 2001 dienen dazu, Neuorientierungsprozesse anzustoßen bzw. bereits ablaufende zu deuten und zu rechtfertigen. So gaben die Terroranschläge in New York und Washington nicht nur in fast allen westlich orientierten Staaten (für alle Akteure) den symbolischen Katalysator ab, mit dem teils weitreichende Veränderungen der "Politik der inneren Sicherheit" legitimiert wurden und immer noch werden (vgl. z.B. Reichertz 2003; Hitzler/Reichertz 2003; Heitmeyer/Soeffner 2004; Miller/Soeffner 1996; Kemmesies 2006, Münkler 2006). Mediatisierungsprozesse sind in modemen Demokratien allgegenwärtig und deshalb unabdingbar, da Politik, Machtausübung und Legitimation an den Glauben 11
Zum Begriff der Medialisierung siehe weiter unten.
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der Beherrschten an die Geltung der gesellschaftlichen Ordnung gebunden sind (Jarren/Donges 2002 und 2007). Deshalb muss dieser Glaube dadurch erzeugt werden, dass Politik von allen Akteuren dargestellt wird und die Beherrschten in der Versinnbildlichung von Politik das finden, was ihnen die Erzeugung dieser Geltung ermöglicht bzw. nahe legt. Die Herstellung von Öffentlichkeit hat sich durch die mit der Privatisierung des Rundfunks einhergehenden sprunghaften Vermehrung der Medien und die neuen Konkurrenzbedingungen, denen sich auch die öffentlich-rechtlichen Sender nicht entziehen können, quantitativ wie qualitativ in entscheidender Weise verändert: Die Vermehrung der Medien hat zur Folge, dass (auf der Suche nach ,Content') immer mehr Akteure Content produzieren (so z.B. in sogenannten nachfrageorientierten "Content-Farmen" - Langer 2010: 10) und immer mehr Bereiche immer intensiver beobachtet werden, sodass kaum mehr ein Bereich der Gesellschaft von ihrer Beobachtung ausgespart bleibt. Die Konkurrenz der Medien und vor allem: die persönliche Konkurrenz der in den Medien Arbeitenden hat die Art der Berichterstattung (Kampf um Aufmerksamkeit) in wesentlichen Punkten verändert: es geht vor allem um Quoten und Auflagenhöhe. Diese qualitativen wie quantitativen Veränderungen der Erreichung gesellschaftlicher Öffentlichkeit mithilfe der Medien, die ich hier mit dem BegriffMediatisierung bezeichnen möchte, sind von den Sozialwissenschaften bislang weder hinreichend erfasst noch hinreichend auf ihre Folgen hin untersucht worden.
4. Mediatisierung als neue Ausdrucksform der Medialisierung Der Begriff ,Mediatisierung', der meist synonym mit dem Begriff ,Medialisierung' benutzt wird, ist in der Medienwissenschaft schon mehrfach wegen seiner Missverständlichkeit zu Recht kritisiert worden. Wenn hier gleichwohl der Begriff der Mediatisierung bewusst weiterhin verwendet wird, dann deshalb, weil damit ein neues Phänomen adressiert werden soll, das über die Medialisierung hinausgeht. Medialisierung meint nämlich nur, dass alles Wichtige und alles, was als wichtig gelten will, in den Medien auftauchen muss, Mediatisierung meint darüber hinaus auch noch den Prozess der Ausrichtung und Gestaltung des Handelns von gesellschaftlichen Akteuren auf die Medien und deren Berichterstattung hin (siehe auch Imhof2006 und Krotz 2007). All das ist in modemen Demokratien allgegenwärtig (Kepplinger 1998), auch weil jede Politik an Legitimation gebunden ist. Deshalb müssen alle gesellschaftlichen Akteure sich darum bemühen, den Glauben an die Legitimität der eigenen Perspektive und Position zu erzeugen (vgl. Jarren/Dongers 2002). Dies versuchen politische Akteure zunehmend dadurch zu erreichen, dass
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sie allen ,stakeholders ' eine Visualisierung oder,Versinnbildlichung' ihrer Politik anbieten, die ihnen die Erzeugung dieser Legitimität ermöglicht bzw. nahe legt. Politik und Politiker, obwohl schon immer auf Inszenierung angewiesen und deshalb darin ausgewiesen, müssen in erheblich gesteigertem Maße inszeniert werden, wobei sich alle beteiligten Akteure immer mehr darauf ausrichten, Ereignisse zu dramatisieren oder allgemeiner: zu theatralisieren (vgl. Meyer 2001: 547-571; Reichertz 1998: 385-402, auch Reichertz 2007b und Reichertz/Englert 2010, auch in diesem Buch in den Beiträgen von EnglertJRoslon und Bidlo/Englert). Mediatisierung meint darüber hinaus, dass Politik in den Medien stattfindet. Die Medien berichten nämlich nicht nur über die für sie inszenierte Politik und darüber, was in der Politik entschieden wird, sondern sie ermöglichen und unterstützen oder erschweren oder unterlaufen die politische Entscheidung: Nicht nur und nicht allein durch einen politischen Kommentar, Sondersendungen, Talkshows und Politikmagazine, sondern auch dadurch, dass sie die Arena stellen, in der Politik - zumindest ein Teil davon - betrieben wird", Medien sind wie selbstverständlich in politische Steuerungsprozesse (Govemance) eingebunden und die Medien stellen nicht nur die Rennbahn zur Verfiigung, sondern sie sind selbst Akteure" in dieser Konkurrenz um die Angemessenheit von Politik. Vor allem deshalb wird hier bewusst der Begriff der Mediatisierung'" verwendet. In den Medien spielt sich also ein öffentlicher Kampfum die (Be-)Deutung und Durchsetzung von Politik ab, der über die rein symbolische Politik hinausgeht und der eine qua-
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Ein besonders bemerkenswertes Beispiel hierfür ist die Debatte über die Integration von Migranten/innen, die Sarrazin mit seinem Buch im Sommer 2010 ausgelöst hat (Sarazzin 2010). Erst wurde er öffentlich von den Medien und der Politik in den Medien geächtet, dann glaubten einige Medien (auch BILD), öffentlich fiir die Meinungsfreiheit (auch fiir die von Sarrazin) in Deutschland kämpfen zu müssen, dann war man sich in zahlreichen Talk-Shows bald einig, dass Sarrazin ein wichtiges Thema angestoßen habe (nur ungeschickt bis unhaltbar argumentiert habe) und dass jetzt die Politik eine bessere Integrationspolitik betreiben müsse. Die Politik revanchierte sich mit dem Vorwurf an die Medien, diese wären bei der Integrationsproblematik ihrer gesellschaftlichen Aufgabe (was ist hier mit gesellschaftlicher Aufgabe gemeint?) nicht gerecht geworden. In der neueren Debatte bescheinigen auch andere Autoren den Medien, dass diese als Akteure auftreten - so auch JägerMehrig 2009b. Allerdings beziehen sich deren Befunde aufvornehmlich auf die äußere Sicherheit (auch wenn sie anderes reklamieren). Zudem beschränkt sich das Akteursein der Medien darauf, ein " Spielfeld der Teleaktion zu sein und als Multiplikator von Regierungs- und Eliteninteressen zu dienen" (ebd. : 15). Die hier vorgenommene Gebrauch des Begriffs ,Mediatisierung' weicht damit etwas ab von dem Gebrauch, den Friedrich Krotz in den letzten Jahren etabliert hat. Er meint mit ,Mediatisierung' vor allem dengrundlegenden Prozess, der dadurch gekennzeichnet ist, dass die gesamte Kultur einer Gesellschaft durch den medialen Wandel kommunikativen Handelns neu aufbereitet und ausgehandelt wird (Krotz 2007). Der hier verwendete Mediatisierungsbegriff beschränkt sich darauf, vor allem das neuartige Handeln der Medien zu untersuchen.
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litativ neue Form besitzt, die Soeffner und Tänzlerfigurative Politik genannt haben (Soeffner/Tänzler 2002: 17-34). Ausdrücklich ist mit ,figurativer Politik' nicht ,symbolische Politik' (wie z.B. bei Sarcinelli) (vgl. Sarcinelli 1998) gemeint. Der letztere Begriff geht auf eine Debatte in den Rechtswissenschaften zurück, denn seit Gusfield (1963 und 1981) und Noll (1981: 347-364) nennt man scheinbar folgenlose Gesetzestexte auch ,symbolische Gesetze'. Diese sind Teil eines symbolischen Rechts, welches seinerseits Ausdruck einer symbolischen Politik ist. Eine beliebte Metapher für symbolische Politik: "Es wird politisch viel Wind gemacht und erreicht wird nichts." Der Begriff ,Mediatisierung' adressiert hier sehr viel mehr und anderes als symbolische Politik: Die Berichterstattung in und durch die Medien ist für alle gesellschaftlichen Akteure enorm wichtig, nicht nur, weil alle, die wahrgenommen und berücksichtigt werden wollen, in den Medien vorkommen müssen, sondern weil die Medien Teil der praktischen Politik geworden sind. Deshalb drängt alles und jeder in die Medien - nicht nur weil sie gesehen werden wollen, sondern weil sie beteiligt sein wollen. Deshalb sind Medien wirksam und deshalb ist die Darstellungspolitik - so sehr sie auch mit Symbolen arbeitet - keine symbolische Politik, sondern praktische Politik mit Symbolen.
5. Polizieren und der Mediatisierungsprozess Diese allgemeinen Bestimmungen zur figurativen Politik gelten noch sehr viel mehr, wenn es darum geht, eine Neuausrichtung gesellschaftlicher Herstellung und Verantwortung von ,Innerer Sicherheit' zu erreichen, durchzusetzen und zu verankern - geht es doch hier nicht um die Fortschreibung eines bereits vorhandenen Handlungskonsenses, sondern um die Veränderung alter Muster und Zuständigkeiten. Es entsteht ein erhöhter Bedarfan Erklärung und Legitimation, was reflexartig zur verstärkten Mediennutzung führt. Auch hier müssen alle Akteure im Feld des Polizierens, so sie denn wirken und ihr Handeln legitimieren wollen, mit den Medien ,umgehen' - das gilt nicht nur für die überregional präsenten Akteure, sondern auch und gerade für die nur regional und/oder lokal präsenten. ,Polizieren' (also nicht zu verwechseln mit ,policing') meint (wie oben bereits ausgeführt) das gesamte staatliche, private, von Verbänden und Bürgerinitiativen getragene Handeln, das überregional, regional oder lokal auf die Erreichung und Erhaltung von Sicherheit zielt. Ausdrücklich sind damit zwei Prozesse angesprochen: die jeweils historisch fundierte und in die jeweilige Kultur eingebundene Herstellung von Innerer Sicherheit durch bestimmte Institutionen und Personen einerseits und die Deutung und Akzeptanz der Leistungsfähigkeit dieser Instituti-
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onen und Personen durch die Öffentlichkeit, die Medien und die Bürger andererseits. Allerdings können Herstellung und Deutung nur analytisch voneinander getrennt werden, gibt es im gesellschaftlichen, kommunikativ vermittelten Prozess doch keine strikte Arbeitsteilung zwischen aktiven Produzenten auf der einen und passivem Publikum auf der anderen Seite. Denn die in interpersonalen wie medialen Diskursen vorgenommene Deutung von Sicherheit beeinflusst ihrerseits Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster und kann als solche an der ,Herstellung' von Innerer Sicherheit durchaus beteiligt sein. Öffentlichkeit, Medien und Bürger können daher nicht nur als ,Resonanzkörper', sondern müssen ebenfalls als aktiv gestaltende Akteure betrachtet werden. An dem aktuell zu beobachtenden Sicherheitsdiskurs, der durch die Entwicklung der Deregulierung bei gleichzeitiger Neuregulierung des Polizierens maßgeblich bestimmt ist, sind zunächst die direkt :für die Gesetzgebung verantwortlichen Sicherheitspolitiker beteiligt. An ihm nehmen aber auch die Institutionen und gesellschaftlichen Gruppen teil, diefür die Gewährleistung von Innerer Sicherheit verantwortlich sind bzw. die sichfür die Gewährleistung der Inneren Sicherheit verantwortlich wähnen. So kommt es zu einem hoch komplexen, von verschiedensten Interessen her angegangenen und in einer dynamischen Machtformationen stehenden, in sich widersprüchlichen und unübersichtlichen Verständigungsprozess, mit dem sicherheitspolitische Selbstverständlichkeiten zur Disposition gestellt und durch neue Dispositionen ersetzt werden. Die am Diskurs Beteiligten sind ganz im Sinne der "Reflexiven Modeme" (Giddens 1995, 1999) immer wieder von Neuem zu einem Überdenken und Modifizieren ihrer Positionen gezwungen. Dieser Verständigungsprozess über die Innere Sicherheit und die mit ihm einhergehenden machtpolitischenAuseinandersetzungen sind heute ohne die Beteiligung der Medien nicht mehr denkbar. Politische Akteure müssen, wollen sie und ihre Position im öffentlichen Diskurs auftauchen, das Treiben der Journalisten (teils mit professioneller Hilfe) beobachten: so produzieren sie Ereignisse, damit über sie berichtet wird, sie müssen mit ihren PR-Beratern oder Spin Doctors (vgl. Esser 2000: 17-24; Kocks 200la: 137-148) Strategien entwickeln, in welchen Medien und welchen Sendungen in welchem Outfit über welches Thema etwas gesagt werden sollte".
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Dieses Spiel zwischen Medien und Politik findet sich seit einigen Jahren auch in einern anderen Bereich der Inneren Sicherheit: im Recht. Unter dem Begriff ,Litigation-PR' kämpfen Unternehmer und finanzstarke Einzelpersonen, die sich vor Gericht einer Straftat zu verantworten haben, mit Hilfe der Medien um eine öffentliche Entschuldung oder Freisprechung, währenddessen Staatsanwälte mit Hilfe Ihrer PR-Abteilungen ihrerseits die Presse selektiv mit Informationen versorgen und so dagegen halten.
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Diese Einflussnahme auf die Medien ist aber nicht ungebrochen möglich, hat sich doch das modeme Mediensystem aufgrund politischer und ökonomischer Rahmenbedingungen zunehmend zu einem eigenständigen gesellschaftlichen Subsystem entwickelt, das nach eigenen Logiken und eigenen Zwängen prozessiert. Damit entzieht es sich weitgehend dem unmittelbaren Zugriff politischer Akteure. Das Mediensystem hat sich eigene ,Spielregeln' geschaffen, gemäß derer Berichterstattung funktioniert. Medien - so sie denn um sich herum eine soziale Organisation geschaffen haben und das sind in modemen Gesellschaften all die, die aufrnassenhaften Verkauf angewiesen sind - beobachten nämlich in der Regel die Welt nach eigenen Relevanzen, also auch das Wirken der politischen Akteure. Den Medien ist dabei das wichtig, was ihren Käufern wichtig ist, und denen ist wichtig, über das politische Handeln der unterschiedlichen Akteure nicht mit offiziellen Verlautbarungen informiert zu werden (und ihnen ist wichtig, über das Relevante so unterrichtet zu werden, dass sie es verstehen können und dabei auch ein wenig unterhalten werden). Für die ,Hofberichterstattung' sind die jeweiligen Regierungs- bzw. Pressesprecher zuständig. Deshalb dürfen sich (in demokratischen Gesellschaften) die Medien nicht von den politischen Akteuren instrumentalisieren lassen, wollen sie noch Käufer finden, wollen sie also überleben. Weil also politische Akteure und die Medien sich bei ihrem Handeln an unterschiedlichen Interessen orientieren und dennoch immer aufeinander verwiesen sind, werden von beiden ,Parteien' immer ausgefeiltere Praktiken entwickelt, die jeweils andere Seite für die eigenen Zwecke zu nutzen. Dieses Bestreben ist dann besonders intensiv, wenn Gewichtiges aufdem Spiel steht. Und wenn es um die Sicherheit geht, steht Gewichtiges auf dem Spiel. Der öffentliche Kampf um die Innere Sicherheit findet mittlerweile zu wesentlichen Teilen in den Massenmedien statt (ausdifferenzierter Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt, aber vor allem öffentlich-rechtliches und privates Fernsehen, Rundfunk, Internet: Homepages/Mails/Chats). Die parlamentarische Debatte, die lange Zeit die Bühne der öffentlichen Auseinandersetzung war, hat an Bedeutung verloren, erlangt jedoch dann wieder etwas mehr Gewicht, wenn sie in Phoenix live übertragen wird. Deshalb ist jede politische Debatte in eine an Personen gebundene ,Ökonomie der Aufmerksamkeit' (Franck 1998) und die damit einhergehenden Inszenierungschancen und Inszenierungszwänge von Personen eingebunden (vgl. Hitzler/Peters 1998; Soeffner/Tänzler 2002, Willems/Jurga 1998, Dörner 2000). Neu ist, dass die Medien - durchaus in Verfolgung ökonomischer Interessen - immer mehr selbst zu politischen Akteuren werden (vgl. Reichertz 2000 und 2007a). Sie haben und wollen zu allem etwas Eigenes sagen - auch zur Inneren Sicherheit (vgl. Page 1996, Eilders 2008, EilderslNeidhardt/Pfetsch 2004).
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Die Medien (Zeitungen wie Fernsehsender) entwickeln mittels eigener Deutungen und Kommentierungen ein eigenes Profil (Corporate Identity), das sich von der Konkurrenz abgrenzt und die Medien dadurch unterscheidbar macht. Medien - die sich zum einen von ihren direkten (Medien-)Konkurrenten und zum anderen von den anderen Akteuren im Handlungsfeld unterscheiden, indem sie eine eigene Position liefern oder gar Eigenes selbst veranlassen oder tun - liefern möglichen Käufern einen Nutzen, der, wenn er groß genug erscheint, den Kauf des Mediums bzw. dessen Nutzung zur Folge hat. Wichtigfür die eigene ,Medien-Identität' sind Auswahlentscheidungen und Präsentationselemente, nach denen Ereignisse und Angebote erfasst, selektiert und dargestellt werden. Dieser Auswahlprozess unterliegt verschiedenen Rahmenbedingungen, die zum Ersten von außen auf das Mediensystem einwirken (Ökonomie - sieh hierzu Karmasin 1998, Heinrich 201Oaund b, Hosp 2005), zum Zweiten durch das Journalistische Feld' (Bourdieu 1998) und zum Dritten aus der Arbeit der Journalisten selbst resultieren. Als wichtigste externe Faktoren können hier ökonomische, politische und technologische Einflüsse genannt werden, während die Stellung im journalistischen Feld, das Selbstverständnis der einzelnen Journalisten, der vermeintliche Nachrichtenwert und die Darstellungszwänge der Medien die bedeutendsten internen Faktoren ausmachen (vgl. auch Baum/Schmidt 2002). Es ist davon auszugehen, dass die Medien innerhalb der politischen Kommunikation im Allgemeinen und des sicherheitspolitischen Diskurses im Besonderen in konkreter, teils durch persönliche Beziehungen gesicherter Wechselbeziehung zu den einzelnen Akteuren stehen und mehr oder weniger etablierte Netzwerke von konkreten Personen bestehen bzw. aufgebaut werden (siehe hierzu Bourdieu 1998). Deshalb sind die Medien wie auch die am Prozess des Polizierens Beteiligten und ihre Agenturen wechselseitig sowohl Akteure als auch Instrumente im sicherheitspolitischen Diskurs (siehe hierzu auch Jäger/Viehrig 2009 a und b). Und genau auf diesen Sachverhalt richten die Akteure im sicherheitspolitischen Diskurs zunehmend ihr Verhalten aus. Sie entwickeln auf allen Ebenen (überregional, regional und lokal) Strategien und Konzeptefür den Umgang mit Medien und :für eine mediengerechte Präsentation. Sie richten innerhalb ihrer BehördenAbteilungen ein, die entsprechende Konzepte ausarbeiten und die relevanten Kontakte herstellen. Dabei nutzen sie auch eine mittlerweile entstandene medienpolitische Beraterbranche und stellen sie in ihre Dienste: Und das alles, um die eigene sicherheitspolitische Position in den Medien öfIentlichkeitswirksam zum Tragen zu bringen und durchzusetzen (vgl. hierzu auch der Beitrag von Englert in diesem Band).
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6. Was bedeutet: Medien als Akteur? Medien sind nicht nur Berichterstatter, sondern auch Akteure, die auf die Gesellschaft, in der sie leben und die sie trägt, einwirken. Das ist nach Durchsicht der Literatur völlig unstrittig. Auch unstrittig ist, dass die Medien immer als ,korporierte Akteure' aufgefasst werden müssen (siehe Reichertz 2007: 250f.). Das heißt: Medien werden immer als strukturierte Organisationen aufgefasst, die unterschiedliche Subjektpositionen miteinander verbinden. Das Handeln der Organisationen kann dabei begriffen und auch behandelt werden als das Handeln eines Akteurs (siehe ausführlich Ortmann 2010: 62ff. und Bidlo in diesem Band). Weiter zu diskutieren wäre die Frage, ob korporierte Akteure auch über so etwas wie eine "geteilte Intentionalität" (Tomasello 2010: 11) verfügen und was dies für eine sozialwissenschaftlicheAnalyse bedeutet. Im Anschluss an vor allem Searle (1995: 34ff.), der von "kollektiver Intentionalität" spricht, versteht Tomasello unter geteilter Intentionalität "ganz allgemein die Fähigkeit, mit anderen in kooperativen Unternehmungen gemeinsame Absichten zu verfolgen und Verpflichtungen einzugehen" (Tomasello 2010: 11f.), Hier müsste ebenso wie bei dem Begriffdes korporiertenAkteurs untersucht werden, ob der Akteursstatus und die einheitliche Intentionalität ,nur' von außen (also von Lebenswelt und Wissenschaft) zugeschrieben werden (und dann es auch werden) oder ob die Medien sich auch selbst als einheitliche Akteure mit kollektive Intentionen verstehen. Doch zurück zu dem Agieren der Medien: Meist nehmen (wie oben erläutert) die Studien zum Agieren des korporiertenAkteurs ,Medien' keineswegs das Gleiche, sondern oft recht unterschiedliche Formen des aktiven medialen Handelns in den Blick. Versucht man sich einen groben Überblick über die unterschiedlichen Handlungsweisen der Medien zu verschaffen, dann finden sich mindestens acht zu unterscheidende Formen und Ebenen des Akteurseins: 1.
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Erst einmal sind Medien Akteure, weil sie Nachrichten multiplizieren und übermitteln, also berichten und mitteilen, was sich in der Welt Bemerkenswertes getan hat. Dann sind Medien Akteure, weil sie die Nachrichten mittels materieller Träger distribuieren. Sie ,schaffen' also eine spezifische materielle Vertriebsstruktur, die erstellt, gewartet, mit Energie versorgt und ausgebaut werden muss. Ganz handgreiflich wirken hier die Medien auf Land und Leute ein. Indem die Medien on air über die Welt berichten, sind sie auch an deren Konstruktion beteiligt. Sie sind Akteure bei der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Sie sagen, zwar nicht allein, sondern im Konzert mit anderen, was ist und was nicht ist.
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Medien berichten on air nicht nur über Ereignisse in der Welt, sondern erklären und bewerten diese. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, im Interesse anderer Ereignisse und Entscheidungen (a) mittels framing zu deuten und (b) mittels Kommentare zu erklären und bewerten. Indem sie deuten und bewerten, etablieren und gestalten die Medien darüber hinaus einen gesellschaftlichen Diskurs und auch eine spezifische Form von Öffentlichkeit und öffentlicher Meinung. Medien sind aber auch deshalb Akteure, weil sie on air und offair implizit oder explizit Aktionen, welche die Gesellschaft bewegen sollen, anstoßen oder sich daran beteiligen. So geben manche explizit Wahlempfehlungen oder ermitteln off air dort gegen Straftäter, wo die Polizei ihrer Meinung nach zu wenig tut etc.. Medien können aber auch indirekt agieren. So z.B. wenn sie on air und off air andere dazu bewegen wollen, offair etwas Bestimmtes zu tun. Ein Beispiel hierfür: Sie fordern Leser/innen dazu auf, als kostengünstiger und allgegenwärtiger Lesereporter tätig zu werden und verändern somit die Struktur der Öffentlichkeit. Medien übernehmen eine Art Ausfallbürgschaft, indem sie aktiv Aufgaben übernehmen, für die andere Institutionen der Inneren Sicherheit zuständig waren oder wären - wie z.B. dass sie dabei helfen, Kriminalpräventive Räte zu etablieren, aktiv in Ordnungspartnerschaften mitarbeiten oder öffentliche Informationsveranstaltungen z.B. zum Thema ,Stalking' organisieren.
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Medien handeln nicht nur anders, sondern sie haben auch ihre Zielstellung geändert. Verstanden sie sich in der ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik als Vierte Gewalt im Staate, die neben der Legislative, der Judikative und der Exekutive für das Gelingen und das Wohlergehen eines Staates verantwortlich waren - sie fiihlten sich in der Pflicht -, so hat sich das Ziel teils explizit, teils unter der Hand gewandelt: nicht mehr die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit ist das Ziel, sondern die Umwerbung des Kunden. Medien als korporierte Akteure agieren also auf verschiedene Weise und auf unterschiedlichen Ebenen. Und je nach Erkenntnisinteressen fokussieren unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen nur bestimmte Formen des Medienhandelns. Die Kommunikationswissenschaft (und oft auch die Politikwissenschaft) nehmen vor allem das Multiplizieren und Berichten, das Kommentieren, das auf die Tagesordnung-Setzen und das Deuten in den Blick, die Soziologie dagegen mehr die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit und das Etablieren und Gestalten
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von Diskursen. Die Medienökonomie interessiert sich vornehmlich fiir die Organisation und das Marketing von Distributionsprozessen. Was oft ausgeblendet wird, das ist der Teil des medialen Agierens, der nicht aufdie Kognition des Nutzers zielt, sondern aufdessen Tat, also darauf, Aktionen innerhalb der Gesellschaft und Aktionen von anderen anzustoßen. Diese Formen des Akteurseins stehen in dem DFG-Projekt und stehen deshalb auch hier vor allem im Vordergrund. Und diese Formen des Agierens sollen im Weiteren aus der Sicht einer handlungstheoretisch angelegten, qualitativ vorgehenden und an einer soziologischen und kommunikationswissenschaftliehen Forschungsperspektive orientierten Sozialforschung untersucht werden.
7. Die Bedeutung der Medien in der Debatte um mehr Sicherheit Will man dies, nämlich das Agieren der Medien, in den Blick nehmen, dannmuss man auch den Diskurs um die Innere Sicherheit in Zukunft besser ausleuchten, sehr viel mehr (a) dem Diskurs in den Medien (vgl. hierzu auch die Beiträge von Böhm und EnglertJRoslon in diesem Band) und (b) den Feldaktivitäten der Medienvertreter (vgl. hierzu den Beitrag von Englert in diesem Band) Aufmerksamkeit schenken. Für die Untersuchung des öffentlichen Kampfes um die richtige Politik des Polizierens sind dabei erst einmal zwei Untersuchungsbereiche bedeutsam zum einen die Inhalte der Medien, zum anderen die Rolle der Medien als eigenständige Akteure. 7.1 Die Medien und ihre Inhalte Wenn die Diskursinhalte und die Diskursakteure im Fokus der Untersuchung stehen sollen, dann muss zum einen geklärt werden, wer was wo zu wem mit welchen Argumenten sagt, zum anderen aber auch, wie die Akteure miteinander vernetzt sind, sich aneinander orientieren und fiireinander/gegeneinander arbeiten. Wichtige Orientierungspunkte fiir die Analyse sind dabei durchgängig die Dimensionen ,Handlungen - Strukturen' (Was ist neu, was bewährt?) und ,Effizienz - Legitimation' (Was wirkt wie - was wird wie legitimiert?) (vgl. hierzu auch der Beitrag von EnglertJRoslon in diesem Band) . Grundlegend ist die Klärung der Fragen, welche Diskursinhalte, also welche Argumente, Themen und Metaphern im Diskurs um Innere Sicherheit von welchen Akteuren ins Spiel gebracht und genutzt werden. Hier sollte es in erster Linie um die Rekonstruktion der im Gebrauch der Medien kursierenden sicherheitspolitischen Diskursinhalte und der Diskursdynamik gehen: Welche Akteure beteiligen
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sich mit welchen Themen an dem Diskurs, welche Positionen tauchen aufund wie beziehen sie sich aufeinander? Welche Wechselbeziehungen und Diskursentwicklungen ergeben sich aus den Bezugnahmen? In welche Darstellungs- und Inszenierungsformen ist die Diskursdynarnik gekleidet und welchen Wandlungsformen unterliegt sie? Im Kern müsste es darum gehen, die Struktur der in den Medien repräsentierten Diskursentwicklung im Falle des sicherheitspolitischen Diskurses zu beschreiben (vgl. auch Frevel 2003: 321-336). Und: Wie hat sich im Zuge der Neuregulierung des Polizierens das Verhältnis der einzelnen Akteure zu den Medien und zur Außen-/Selbstdarstellung insgesamt gewandelt (z.B. Wandel bei der Ausbildung und Besetzung der Pressesprecher bei der Polizei, Öffnung der Polizei für ,AufStreife'-Dokumentationenl-Serien etc.)? Wichtig erscheint mir, sich bei solchen Analysen erst einmal auf die ,fiihrenden' Medien zu konzentrieren, also auf die Printmedien und auf das Fernsehen. Gewiss ist auch der Rundfunk, also ,das Radio' und hier vor allem das lokale, meist privat finanzierte Radio bei der Herstellung von Innerer Sicherheit aktiv, somit ein eigenständiger Akteur und für unser Thema von Bedeutung. Gleiches gilt zunehmend für das Internet. Es hat in den letzten Jahren als eigenständiges Diskursmedium beachtlich an Bedeutung gewonnen. Allerdings ist die Analyse des Internets als Akteur deshalb so besonders schwierig, da die einzelnen Formate und Gattungen (Mails, Chats, Homepages, Online-Zeitungen, Boards, Blogs) noch stark im Wandel begriffen sind und sich nur schwer mittelfristige Aussagen treffen lassen. Wichtig ist allerdings, dass nicht allein die so genannten ,anspruchsvollen' Medien und Formate (also solche, von denen sich Intellektuelle oder gar der ,wohl informierte Bürger' angesprochen fiihlen) untersucht werden sollen, sondern auch die weniger ,anspruchsvollen' Medien und Formate, da davon ausgegangen werden kann, dass diese Medien und Formate von großen Teilen der Bevölkerung genutzt werden. Parallel dazu sollte die Frage angegangen werden, wie das Zusammenspiel bzw. die Konkurrenz der Feldakteure, der politischen, privaten und medialen Akteure organisiert ist bzw. war, ob und gegebenenfalls wie sie einander beobachten und sich in ihren Handlungsstrategien wechselseitig aufeinander beziehen (vgl. Bourdieu 1998), und ob sie im Diskurs Koalitionen eingehen oder alle einzeln agieren. Hier gilt es, das Handeln auf der ,Hinterbühne' auszuleuchten (Feld, Netzwerk, Klüngel), das maßgeblich an der Gestaltung des Sicherheitsdiskurses beteiligt ist. Wie gehen die verschiedenen Akteure den Zugriff auf die Medien an? Wie managen sie die Themen, die sie für relevant halten oder die ihnen durch externe Ereignisse auferlegt werden? Welche Ressourcen (Geld, PR-Berater, Spin Doctors, Presseabteilungen - vgl. Kocks 200la und 200lb) stehen ihnen dabei zur Verfii-
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gung? Welche Interessen verfolgen die Vertreter der Medien bei der Bearbeitung sicherheitspolitischer Themen? Wie gestalten sie den Umgang mit den Akteuren? Gehen NGOs ihre PR-Arbeit anders an als Privatunternehmen oder Institutionen? Ziel sollte sein, am Fall des Diskurses die Struktur der Wechselbeziehung zwischen den Akteuren und den Vertretern der Medien (also das Netzwerk) zu beschreiben - und zwar in ihrer Bedeutung fiir das Resultat: der Sinnstruktur des in den Medien repräsentierten sicherheitspolitischen Diskurses. Dabei muss durchaus an die Ergebnisse der Nachrichtenwerttheorie, der Gatekeeper- und der Redaktionsforschung angeknüpft werden (Ruhrmann 1994: 237-256), doch gilt es auch, die relevanten, in der Region und am Ort gewachsenen Mikropolitiken imjournalistischen Feld und die ökonomischen Verflechtungen und Zwänge, die immer mehr das Handeln der Medien durchdringen und dieses bei der Selektion und Konstruktion von ,Nachrichten' bestimmen, in den Blick zu nehmen (Bourdieu 1998) (vgl. auch die Ausfiihrungen von Englert über den Fernsehmarkt in diesem Band). 7.2 Die Medien als eigenständige Akteure Das eigentlich Neue an der Rolle der Medien im öffentlichen Kampf über die ,richtige' Form des Polizierens wird aber erst sichtbar, wenn man die Medien als eigenständige Akteure selbst in den Blick nimmt und hier vor allem die Zeitungen und das (lokale) Fernsehen (Eilders/Neidhardt/Pfetsch 2004) - obwohl sich natürlich die Politik des Fernsehen von der Politik der Zeitungen und der Politik des Hörfunks massiv unterscheidet. Gleiches gilt auch fiir die einzelnen Fernsehsender, Rundfunksender und die Zeitungen: auch hier gibt es große Unterschiede. Einige verschweigen eher ihre aktive Rolle, andere arbeiten sie heraus. Selbst innerhalb eines Fernsehsenders ist die Spannweite groß: Sie reicht von Sendeformaten, die sich explizit einmischen bis zu Formaten, die scheinbar nur der Informationspflicht entsprechen. Ganz gewiss sind die Medien keine "unified actors" (page 1996) mehr. Statt mit einer Stimme zu sprechen, sprechen sie mit vielen Zungen - je nachdem, wer ihre Kunden sind. Zu der ,Vermehrung der Zungen' zählt auch, dass vor allem bei den Printmedien zunehmend Bürger als sogenannte ,Bürgerreporter' aktiv werden und sich an der Nachrichtenproduktion beteiligen und damit den Qualitätsjournalismus unter Druck setzen. Auch bei den Medien kommt es zur Vermehrung der Akteure: ,,Auch in europäischen Ländern lässt sich derzeit ein Wandel beobachten, bei dem ehemalige Hoheitsaufgaben inzwischen auch von ganz neuen Anbietern übernommen werden, während etablierte Medien mit teilweise langer Tradition ins Straucheln geraten sind." (Langer 2010: 9) Immer mehr Bürger, journalistisch begabte und auch solche ohne Begabung, streben danach, an den Medieninhalten aktiv
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mitzuarbeiten, an der Medienarbeit mitzuwirken oder modem: zu kollaborieren. Der Bürgerreporter oder Leser-Reporter (Volkmann 2008) ergänzt und ersetzt teilweise den Qualitätsjournalisten - was Letzteren massiv unter Druck setzt, ist doch der Bürgerreporter viel kostengünstiger. Dieser erhöhte Druck führt dann einerseits auch zur Überhöhung und Abschottung des Qualitätsjournalismus (z.B. durch Selbstverpflichtungen und moralische Standards), andererseits führt er im journalistischen Feld zu rituellen Kämpfen darum, wer Qualität produziert und wer nicht. Eine besondere Rolle spielt dabei der ,Medienjournalismus' (= Medien schreiben über Medien), der sich gerne als "Instrument der Medienselbstkontrolle" (Rentsch 2010: 26) und auch als Media Watchdog verstehen möchte, jedoch oft genug ein Mittel ist, die unliebsame Konkurrenz (z.B. die private Konkurrenz) zu kritisieren. Medienjournalismus ist somit oft ein Mittel der Auseinandersetzung im journalistischen Feld (Quast 1999, Weischenberg/Malik/Scholl 2006 - vergleiche hierzu aber auch den Artikel von Englert/Roslon in diesem Band). Besonders massiv gingen einige Vertreter des Qualitätsjournalismus mit Wikileaks ins Gericht (Ausnahme: der Spiegel). Wikileaks warf man nämlich angesichts dessen neuer Form des investigativen Journalismus vor, keinen Qualitätsjournalismus, sondern Denunziation zu betreiben (siehe hierzu den Beitrag von Riemann in diesem Band). Was fehle, das sei eine verantwortliche Qualitätskontrolle durch ausgebildete Redakteure. Die Vehemenz der Attacken aufWikileaks, das sich selbst als global watchdog" versteht, erklärt sich nicht nur daraus, dass dieser korporierte Akteur eine bislang unangreifbare Internetplattform anbietet (Stand: Anfang Dezember 2010), auf der von ihm auf Zuverlässigkeit geprüfte interne und geheime Informationen öffentlich gemacht werden, ohne dass der Informant erkennbar ist, sondern sicherlich auch daraus, dass hier ein neuer Akteur das journalistische Feld betreten hat, der in der Lage ist, die Strukturen des Feldes und die Bedeutung des Journalismus zu verändern - falls er den vereinten Angriffen der in diesem Punkt vereinigten Staatengemeinschaft standhalten kann (was bezweifelt werden muss). Und das Besondere: Wikileaks ist ohne Zweifel einAkteur, der eine eigene Sicherheits- und Außenpolitik betreibt - schon allein dadurch, dass er aktiv in die Sicherheits-, Innen- und Außenpolitik von Staaten eingreift.
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Diese Einschätzung des global watchdog wird nicht von allen Initiatoren von Wikileaks geteilt. So wird intern von Daniel Domscheit-Berg die Konzentration auf nationale und internationale Geheimdolrumente kritisiert (vgl. Fresenius 2010: 32). Sie bediene, so Domscheit-Berg, vor allem die Aufmerksamkeitsökonomie. Man müsse jedoch auch auf der lokalen Ebene Geheimdokumente publizieren. Auch das war für ihn ein Grund, weshalb er Ende 2010 mit OpenLeaks eine Konkurrenzplattform zu Wikileaks in die Welt setzte.
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Ebenfalls neu über das bereits Genannte hinaus ist, dass die privaten Medien sich explizit in vermeintlicher Vertretung ihrer Kunden und Käufer in den Diskurs einmischen und ihn aktiv gestalten wollen. Steigende Konkurrenz und ökonomischer Druck und die Notwendigkeit der Kundenbindung nötigen sie zur politischen Aktion. Sie bringen das zur Sprache und stoßen an, von dem sie vennuten (oder aufgrund der Marketingabteilungen auch wissen), dass ihre Kunden es zur Sprache bringen bzw. angestoßen haben wollen: Die Leser und die Zuschauer wirken so auf die Medieninhalte ein, steuern deren Auswahl und deren politische Ausrichtung. Verschärft wird dieser Einfluss der ,Rezipienten' durch eine Vielzahl von Möglichkeiten (z.B. Blogs, Internet, Social Webs etc.), sich an dem Nachrichtenstrom anzuschließen. Deshalb reagieren immer mehr klassische Medien "auf den entbündelten Nachrichtenkonsum in Netzwerken, indem sie selbst twittern, eigenen Kanäle in youtube anlegen und eigene Facebook-Fanseiten anbieten" (Langer 2010: 10). Neu ist auch, dass z.B. die WAZ-Mediengruppe im Jahr 2009 (im Rahmen ihrer kostendämpfenden Umorganisation) ein Rechercheteam geschaffen hat, das ähnlich dem Vorhaben von Wikileaks, den Dingen auf den Grund gehen will "und Unbekanntes bekannt'"? machen möchte. Zitat aus öffentlichen dem Aufruf des Leiters der Recherche-Gruppe: "Wenn Sie wollen, dass wir diesen Dingen aufden Grund gehen "dann rufen Sie uns an, schicken Sie eine Email, ein Fax oder einen Brief. Melden Sie sich einfach?", Der Leser, also der Kunde, soll offensichtlich näher an die Quellen heran, ohne dass sie von Journalisten gedeutet werden. Auch das ein Angriff auf den Qualitätsjournalismus - dieses Mal jedoch aus den eigenen Reihen. Manche deuten das auch als die ,Befreiung' der Leser von der Bevonnundung der Journalisten. Frei geschaltet wurde das Upload-Portal der WAZGruppe dann im Dezember 2010. Auch das ein Ausdruck davon, dass Medien sich zunehmend als community's watchdogs verstehen, denn dem WAZ-Upload Portal geht es vor allem um Lokales". Aber das Aufblühen der Wikileaks Alternativen auf lokaler und nationaler Ebene ist auch Ausdruck davon, dass die gesellschaftliche Debatte über Transparenz und Sicherheit in eine neue Runde gegangen ist. War es bisher vor allem der Staat, der seinen Wunsch nach mehr (Video-)Beobachtung seiner Bürger etwas blauäugig mit dem Satz: "Wer nichts zu verbergen 17 18 19
http://www.zdnet.de/news/digita1e_wirtschaft_internet_ebusiness_waz_startet_wiki1eaks_alternativeJuer_informanten_story-39002364-41542283-1.htm -letzter Aufruf: 20.12.2010. ebd. So würde die neue WAZ Plattform, laut Auskunft des Leiter des Recherche-Teams, sehr gerne Dokumente der Polizei und des Innenministeriums zum Ablauf des Unglücks bei der Loveparade in Duisburg an die Öffentlichkeit bringen (vgl. ebd.), da viele deren Inhalte in die Öffentlichkeit gehörten.
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hat, der kann sich doch beobachten lassen." rechtfertigte, so sind es jetzt die Medien, die mit einer ähnlichen Argumentation vom Staat grenzenlose Transparenz einfordern und diese auch herstellen. Auch hier berichten die Medien nicht nur oder stoßen die Debatte an, sondern die Medien setzen das Wort in die Tat um. Sie handeln und sind damit auch ein politischer Akteur. Besonders gut sichtbar wird die aktive Politik der Medien im regionalen und lokalen Bereich. Hier ist zu fragen: Welche Ereignisse werden von den lokalen, regionalen und überregionalen Medien aufgegriffen, ausgearbeitet, verbreitet und verfolgt, und welche Bedeutung bzw. welche Folgen erlangt die Medienthematisierung auf der regionalenllokalen Ebene? Medien stellen, so die These, nicht nur für Akteure ein Verbreitungsmittel bereit, sondern sie werden selbst aktiv - auch im Diskurs über die richtige Form und die gültige Legitimierung innerer Sicherheit. Dies tun sie implizit und explizit. Implizit tun sie dies (in Deutschland) mit der Ausstrahlung von fiktionalen Filmen und Serien (aus Ost und West), in denen der Prozess des Polizierens offen oder verdeckt thematisiert wird. Dazu zählt der Tatort, genauso wie Hinter Gittern, Das Schweigen der Lämmer ebenso wie Aufder Flucht und Wolffs Revier ebenso wie Helicops, Großstadtrevier und Post Mortem (vgl. Viehoff 2005: 89-110; Brück 2002; allgemein zum Fernsehkrimi siehe Vogt 2005) (ein Abbild der deutschen Fernsehlandschaft mit einer Auswahl an Sendungen der Inneren Sicherheit finden sich bei EnglertJRoslon in diesem Band). Interessant sind dabei weniger allgemeine Fragen wie z.B. nach dem Bild des Polizisten oder nach der möglicherweise durch Krimis evozierten Kriminalitätsfurcht, sondern im Vordergrund sollte die Klärung der Frage stehen, wer in der fiktionalen Deutung (also den Krimis) für das Polizieren zuständig ist, welche Mittel von den Akteuren eingesetzt werden, welche Konflikte zwischen den Akteuren auftauchen, welchen Sinn das Zusammenspiel der Akteure macht, was auf Altes zurückgreift und was an Neuem eingeführt wird und: wie effizient die dargestellten Maßnahmen sind und wie sie legitimiert werden (zur Legitimation bestimmter Darstellungsweisen vgl. die Analyse von EnglertJRoslon in diesem Band). Explizit beteiligen sich die Medien auch mit ,Eigenproduktionen' an dem Sicherheitsdiskurs. Dies sind im Einzelnen: (a) halbdokumentarische Sendungen und Serien über Institutionen des Polizierens - so z.B. Gerichtsshows, Polizeisoaps wie Toto und Harry, K 1, Lenßen und Partner (vgl. Kersten 2008) - hier auch: ,Verbigbrotherung' der Polizeiarbeit, (b) Magazine, in denen die Arbeit der Sicherheitsakteure gedeutet, kommentiert und bewertet wird - so z.B. in Focus TV;Spiegel Tv; Extra, AkteX/05, Monitor, Panorama, (c) Formate, in denen über den Alltag der Arbeit der Polizei, der Sozial- und Jugendämter oder anderer Insti-
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tutionen des Polizierens informiert wird - so z.B. Achtung, Kontrolle! Einsatzfür die Ordnungshüter, Exklusiv. die reportage, (d) Formate, in denen die Medien die Arbeit der Polizei aktiv unterstützen - z.B. AktenzeichenXY-ungelöst (vgl. Reize 2006) oder Tatort Internet (Hipp 2010), und (e) Reportagen, in welchen die Bürger über Gefährdungslagen (Einbruch) informiert und in Sicherheitsfragen beraten und teils explizit zu mehr Aufinerksamkeit und Mitarbeit angehalten werden (ausfiihrlieh hierzu der Beitrag von Englert/Roslon in diesem Band). Die meisten dieser, oben noch ,Eigenproduktion' genannten Formate werden entgegen der Bezeichnung nicht mehr von den Sendern selbst hergestellt, sondern in dem Bestreben, möglichst billig und schnell zu produzieren, werden sie an private eigenständige Produktionsfinnen vergeben. Ein völlig neuer Markt ist so entstanden: Privatfinnen produzieren bestimmte Sendungsformate auf eigene Kosten vor und verkaufen sie dann an den meistbietenden Fernsehsender. Ebenfalls entstanden sind private ,Infonnationsfinnen', die Nachrichten- und Magazinsendungen produzieren. Dort fehlt die Zeit zur journalistischen Recherche. Zunehmend ist man, so die Klage, "nur noch damit beschäftigt, Agenturmaterial fernsehtauglich zu machen" (Butzek 2010: 25). Dies fiihrt zur schnellen und kostengünstigen Produktion von Informationsschnipseln (auch und vor allem über Innere Sicherheit, lokale Ordnung etc.). Alle die o.a. Formate, so verschieden sie im Einzelnen auch sind, sollen in Ermangelung eines eingefiihrten Begriffs hier erst einmal unter Securitainment (zum Begriff: Bidlo/Englert 2009, auch in diesem Band) gefasst werden. Eine solche Begriffsbildung rechtfertigt sich dadurch, dass in den genannten Fernsehfonnaten nicht nur Informationen zur Inneren Sicherheit unterhaltsam aufbereitet werden, sondern vor allem dadurch, dass Innere Sicherheit zur Unterhaltung wird. Darüber hinaus muss aber auch erfasst und vermessen werden, - und diese Perspektive geht systematisch über aktuelle Medienanalysen hinaus - ob und wie sich die Medien oder Medienangehörige, z.B. die aus den so genannten ,Blaulichtredaktionen" in kommunalen Sicherheitsinitiativen (Kriminalpräventiven Räten oder Ordnungspartnerschaften) engagieren, sie tragen oder sponsern und über sie berichten, ob und wie sie aktiv Aufklärung darüber betreiben, wie man sich vor Diebstahl, Raub und Einbruch schützen kann, ob und wie sie auch offair in öffentlichen Veranstaltungen Bürger informieren (z.B. über Stalking) und warnen, ob und wie sie mit Politikern und Wissenschaftlern Podiumsdiskussionen veranstalten, um Sicherheitsprobleme und Sicherheitspolitik diskutieren, ob und wie sie ungesühnte Verbrechen anprangern oder die Revision von Fehlurteilen bewirken. Kurz: ob und wie sie selbst mit einer eigenen Position in die Politik der Inneren Sicherheit eingreifen und sie mit gestalten.
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Hier zeigt sich das Neue an den Medien und das Neue der Medien besonders klar, agieren sie doch hier nicht mit dem Programm, sondern außerhalb. Dass ein solches Agieren der Medien vor allem der Bindung der Leser / Zuhörer / Zuschauer an das ,Programm' der Medien dient, dass es also um Kundenbindung und den Schutz wirtschaftlicher Interessen geht und nicht um eine (ausgearbeitete) Sicherheitspolitik, ändert nichts daran, dass es de facto Sicherheitspolitik ist. Nicht die Absicht zählt, sondern die Folgen - und jede Theorie, die sich mit dem Agieren der Medien beschäftigt, muss die Folgen dieses Agierens für die Herstellung der Inneren Sicherheit einer Gesellschaft im Auge haben. Alle diese Fragen wurden in dem DFG-ProjektMedien als Akteure. Die neue Eigenst ändigkeit der Medien am Beispiel des Diskurses über .Innere Sicherheit' an der Universität Duisburg-Essen von 2009 bis 2011 untersucht. Vornehmlich wurde dabei mit qualitativen Verfahren gearbeitet: teilnehmender Beobachtung von ,Blaulichtreaktionen' von Zeitungen, privaten Firmen, die Videoproduktionen herstellen, und Polizeipressestellen, narrativen Interviews mit Mitarbeitern/innen von Zeitungen und Polizeipressestellen, formalisierten Inhaltsanalysen von Zeitungsberichten und Fernsehproduktionen und auch hermeneutischen Deutungen von Zeitungsberichten und Videoproduktionen. Die hier versammelten Einzelbeiträge geben einen ersten Überblick über die Ergebnisse der Analysen.
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Wenn aus Medien Akteure werden. Der Akteurbegriff und die Medien Oliver Bidlo
Einleitung Akteur und (Massen-) Medien sind heute zwei Begriffe, die immer häufiger miteinander in Verbindung gebracht werden. Auch die meisten in diesem Band vertretenden Aufsätze arbeiten selbst mit dem Begriff der Medien als Akteure z.B. der Inneren Sicherheit. Andere Konzeptionen sehen die "Massenmedien als politische Akteure" (pfetsch/Adam 2008), die Medien als "selbständige Akteure" (Reichem 2007) oder verstehen "Medien als Akteur und Instrument der Politik" (Hombach 2004). Das Spannungsfeld, das sich zwischen beiden Begriffen Akteur und Medien öffnet, wird nur selten thematisiert (Ausnahme ist z.B. Donges 2008a). Donges betont zu Recht: "Es ist jedoch sinnvoll danach zu fragen, was es heißt, Medien den Status eines Akteurs zuzuschreiben." (Donges 2008a: 337) Meier setzt sich zwar nicht mit Medien, aber mit der Universität als Akteur auseinander (Meier 2008) und stellt dezidiert vier unterschiedliche Quellen der Akteurtheorie dar, von denen aus er im weiteren Verlauf die Universität als einen Akteur nachzeichnet. Analog hierzu sollen zunächst einige akteurstheoretische Konzepte skizziert werden. Zuvor muss allerdings der zugrunde gelegte Medienbegriffkonturiert werden, um in einem letzten Schritt darzulegen, wie man Medien als Akteure begreifen kann bzw. welche Implikationen damit verbunden sind. Die nachfolgenden Ausfiihrungen möchten zunächst kurz das :für die in diesem Band versammelten Aufsätze vorliegende Verständnis vom Medium als ein Akteur explizieren und dann die theoretischen Probleme darlegen und in Erinnerung rufen, die durch eine unreflektierte Koppelung der Begriffe Medien und Akteur entstehen können. Das Spannungsfeld des Begriffspaares liegt zwischen handlungs-, strukturund systemtheoretischen Implikationen. Allein dadurch wird deutlich, dass eine theorieinkonsistente Verwendung der Begriffe droht, wenn mikro-, meso- und makrosoziologische Aspekte undifferenziert in einem Begriffspaar gebunden werden. Wenn man Medien als Akteure begreift, hilft zunächst einmal die Explikation, welchen Medienbegriff man :für seine weitere Ausfiihrungen zugrunde legt O. Bidlo et al. (Hrsg.), Securitainment, DOI 10.1007/978-3-531-93077-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Oliver Bidlo
was man also unter einem Medium versteht, und daran anschließend, was und wie man mit dem Plural des Begriffes umgeht. Denn die Bandbreite reicht in unterschiedlichen Verständnissen von der Luft oder der Glühlampe bis hin zur Zeitung, Radio, Fernsehen oder Internet. Der Medienbegriffwird immer häufiger inflationär und entgrenzt genutzt, was so viel meint, dass kaum noch deutlich wird, was kein Medium ist. Und gerade in einer solchen Situation ist das Darlegen des zugrunde gelegten Medienverständnisses - zumindest in seinen Grundzügen - nicht nur eine wissenschaftliche Formalität, die immer häufiger ausbleibt, sondern eine Notwendigkeit; oder frei nach Voltaire: "Wenn Sie mit mir sprechen wollen, definieren Sie Ihre Begriffe."
Der Medienbegriff
Im alltäglichen Sprachgebrauch versteht man unter Medien zumeist das, was man in der Presse, dem Hörfunk oder Fernsehen hört oder sieht (zu einer Soziologie der Medien siehe Ziemann 2006, Medientheorie allgemein Weber 2010, Kloock/ Spahr 2007, Faulstich 2000). Genauso meint man damit oft auch die Anbieter und Unternehmen, die Inhalte produzieren und anbieten (vgl. auch EnglertJRoslon in diesem Band); und die physischen Medien und Endgeräte nicht zu vergessen, "die als technische Mittel zur Übertragung von Zeichen dienen" (Hasebrink 2006: 9), also etwa die Kupferkabel und die Empfangsgeräte. Eine einheitliche Bestimmung zu finden, was Medien - zumal Massenmedien - sind, ist sicherlich nicht möglich. Medien können die physische Grundlage sein, wie z.B. das Papier einer Zeitung als Medium für die Druckerschwärze, die wiederum in Kombination mit dem Papier als Medium für die Buchstaben dient. Die Buchstaben zu Sätzen, Absätzen und Seiten geformt, dienen dann als Medium für das Auszusagende. Man sieht daran, dass bereits die meisten Medien, die man heute allgemein als solche versteht, selbst aus ,kleineren' Medien bestehen bzw. aus diesen zusammengesetzt sind. Daher ist die Frage nach den Grenzen eines Mediums - wo fängt es an und wo hört es auf-, nehmen wir z.B. das Internet, nicht so leicht zu beantworten, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat. Gehören nicht die einzelnen Computer und deren Nutzer, die sich ins Netz einloggen, dazu? Nicht auch die Netzwerkkabel, Router und Netzwerkfestplatten, die den physischen Teil des Mediums ausmachen? Aber wenn wir von den Medien sprechen, meinen wir zugleich auch die Medienmacher, die Journalisten, Buchautoren oder TV-Produzenten, die die Inhalte, die durch das Medium verbreitet werden, erstellen? Wir meinen aber auch die Medienunternehmen, die - je nach ihrer inhaltlichen Ausrichtung - den Rahmen und den Duktus des Programmes vorge-
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ben. Nimmt man dann noch die Rezipienten hinzu, die durch ihre Auswahl mittelbar und unmittelbar das Programm bestimmen und etwas erst durch ihre Nutzung bzw. ihre Rezeption zu einem Medium machen, zeigt sich die Vielfalt, die sich hinter dem Begriff der Medien, selbst wenn man sie schon enger fasst, verbirgt. Medien sind Mittel zur Kommunikation und werden traditionell hinsichtlich ihrer Funktion und Bedeutung fiir den Kommunikationsprozess betrachtet. Eine solche instrumentell-funktionale Perspektive stellt beispielsweise verstärkt die Frage nach der sozialstrukturellenAnlage der Mediennutzer, ihrer Verteilung oder der Wirkung der Medien auf die menschliche Kommunikation im Allgemeinen oder der Gegenüberstellung von face-to- face- und massenmedialer Kommunikation im Besonderen. Eine hinzuzuziehende kulturwissenschaftliche Anschauungsweise erweitert das Verständnis der Medien hinsichtlich ihrer tiefgreifenden Auswirkung nicht nur auf soziale, sondern auch auf kulturelle Prozesse. "Sie sieht die Weltund Selbstverhältnisse der Menschen, kulturelle Praktiken, ästhetische Symbolisierungsleistungen und geistige Tätigkeiten eingelagert in mediale Bedingungen, die an deren Formierung beteiligt sind. Medien sind in diesem Verständnis sehr viel mehr als Instrumente fiir Kommunikationen: sie sind Ermöglichungen und Bestimmungsfaktoren kultureller Praxen." (Karpenstein-Eßbach 2004: 8) Die Stellung der Medien, zurnal der Massenmedien, fußt dann in ihrer Formierungsleistung fiir die Kultur selbst. Medien informieren, d.h., sie bringen etwas in Formation, nämlich Daten über die Welt.' Medien bringen nicht nur gesellschaftliche Vernetzung hervor, ihre Besonderheit liegt in ihrem symbolischen Charakter, mit dem sie dies tun und der fiir ihre Formierungsleistung grundlegend ist; das kann z.B. ästhetisch, politisch oder ökonomisch sein. Ein Beispiel hierfiir ist, dass die Dominanz eines Mediums zu historisch gewachsenen und kulturell sich verankernden Strukturen führt. Man denke an den Buchdruck (vgl. McLuhan 1995), der den Code der Schriftsprache zu einer bzw. zwei Kulturtechniken (lesen und schreiben) werden ließ und die schon seit der Antike anhaltende Optisierung des Menschen weiter voran trieb. Dieser Aspekt verweist zugleich auf den Zusammenhang des Mediums und der menschlichen Sinne. Gerade die digitalen Medien verringern den Einsatz des Körpers als Ausdrucksfläche und bieten zugleich medial überformte Möglichkeiten der Wahrnehmung und des Ausdrucks. Im Zuge der Ausbreitung der digitalen Medien und ihren Kommunikationsformen kann man von einem Wandel im zwischenmenschlichen Verhältnis sprechen. Denn
Wobei dannunterstellt wird , dass es so etwas wie Daten, also Uninformiertes - etwas noch nicht in Form Gebrachtes -, überhaupt gibt. Aber selbst, wenn man diesem Argument - dass es etwas Uninformiertes nicht gibt -, folgt, bleibt der Umstand bestehen, dass Medien dann Informationen in Formation bringen und damit eine gewisse Formierungsleitung erbringen.
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die Codes, mit denen und durch die die Menschen kommunizieren, wandeln sich (Flusser 2003, Bidlo 2008). Der Medienphilosoph Vilem Flusser sieht sogar einen "Umsturz der Codes" durch TV; Video und Computer, den er in seiner Heftigkeit mit der industriellen Revolution und ihrer Auswirkung auf die Arbeitswelt gleichsetzt. Wenn wir nun im weiteren Zusammenhang die Medien als Massenmedien begreifen, dann ist die Rezipienten- und die Produzentenebene gemeint und das sich zwischen ihnen aufspannende Feld von ökonomischen, politischen, moralischen oder juristischen Interessen. Und dieses Feld wiederum wird gerahmt von kulturellen und gesellschaftlichen Aspekten, wie der Bedeutung von Bildern und Texten oder der gesellschaftlichen Praxis der Handhabung dieser Medien auf Rezipienten- sowie Produzentenebene. Mit dem Letztgenannten ist gemeint, dass die Menschen zunehmend zu Prosumenten (Blättel-Mink/Hellmann 2010, siehe auch Toftler 1980) werden; sie konsumieren bzw. rezipieren nicht mehr nur das, was von den Medien dargeboten wird, sondern sie beteiligen sich aktiv an der Gestaltung der Inhalte.' Der Theoriehintergrund für den Begriff der Massenmedien kann eine systemtheoretische Perspektive sein, die Medien als funktionales Teilsystem der Gesellschaft begreift. Hier stellt sich danndie Frage, wie man in eine solche Konzeption den mikrosoziologisch aufgeladenen Akteurbegriff implementieren kann. Umgekehrt muss der Begriffdes Akteurs, wenn er - wie es die Regel ist - verstanden wird als mit einer Intentionalität ausgestattetes Bewusstsein, expliziert werden hin zu seiner Anschlussfähigkeit an Organisationen oder Institutionen.
Akteurtheorien
In vielen soziologischen - meist mikrosoziologisch-handlungstheoretischen - Ansätzen wird problemlos davon ausgegangen, dass es Akteure gibt, verstanden als handlungsfähige und mit einem Bewusstsein, Motive und Ziele ausgestattete Individuen, die Urheber von Handlungen sind.' Individuen sind in der Regel mit agency versehen, d.h. soviel, wie das Überschreiten und Heraustreten aus Ursache-Wirkungsbeziehungen. Das Thema "strukture and agency", das damit angesprochen 2
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Ein Beispiel können die sog. Leserreporter sein (vgL Bidlo Leserreporter in diesem Band). Daran wird übrigens ein weiteres deutlich; es gibt keine eindeutig bestimmbaren Grenzen des Mediums mehr - sofern es diese überhaupt je gab -, die Grenzen verschwimmen vielmehr. Denn freie Mitarbeiter oder die genannten Leserreporter sind in dem Augenblick Teil des Mediums, wo sie stellvertretend fiir dieses handeln z.B. durch eine Beitragsproduktion. Und manche Freelancer sind bei Pressekonferenzen sowohl fiir Print- als auch fiir Rundfunk und Fernsehen anwesend und liefern Beiträge fiir alle Formen. Z.B. bei Alfred Schütz, Max Weber oder im Rational Choice-Ansatz (Hartmut Esser, James Coleman u.a.).
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ist, nimmt das Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen Strukturen, in denen sich die Individuen bewegen, und die Handlungsfähigkeit, Autonomie und Kreativität individueller und kollektiver Akteure in den Blick. Die Hintergrundfolie hierfür ist sicherlich zum einen die philosophische Freiheits- und Determinismusdebatte, also der Frage, wie sich ein freier Wille in einer kausal bestimmten Welt etablieren kann. Und zum anderen die Frage nach der Möglichkeit sozialen Wandels auf der einen Seite und der Stabilität von Gesellschaften und Institutionen auf der anderen Seite. Soziologische Handlungstheorien arbeiten, wie erwähnt, seit jeher mit dem Begriffdes handelnden Subjekts, Individuums oder Akteurs, also einer Handlungseinheit, die mit Motiven, Intentionalität und Handlungsfähigkeit ausgestattet ist (vgl. Reichertz 2009: 54-74, grundsätzlicher Reckwitz 2008). Immer wieder werden aber auch Organisationen als Akteure vorgestellt z.B. im Neo-Institutionalismus (vgl. Hasse/Kürcken 2005). Ob und wie lassen sich Organisationen als Akteure denken? Und welche theoretischen Probleme bringt eine solche Verquickung der darin enthaltenen Positionen? Zunächst lässt sich konstatieren, "dass für weite Teile der Soziologie offenbar keinerlei Problem besteht. Es ist vollkommen üblich, Organisationen als handlungsfähige Einheiten zu begreifen und auch Akteure zu nennen, ohne auch nur im Entferntesten über die Angemessenheit dieses Tuns zu reflektieren." (Meier 2009: 13)4 Heute ist die gegenwartsdiagnostische These verbreitet, die aus dem soziologischen Neo-Institutionalismus (siehe hierzu Senge 2011 und Senge/Hellmann 2006, auch HasselKrücken 2005) stammt, dass modeme Gesellschaften zu weiten Teilen aus institutionalisierten und verantwortlichen Handlungsträgerschaften bestehen. Hierdurch wird der Akteurstatus eben auch Einheiten zugeschrieben, die nicht mehr nur als ein handelndes Individuum gefasst werden. "Demnach wird die modeme Gegenwartsgesellschaft von universellen, hochgradig institutionalisierten Konzepten verantwortlicher Handlungsträgerschaft (actorhood) durchdrungen. Diese plausibilisieren nicht nur akteurzentrierte Selbstdeutungen der modernen Gesellschaft. Sie beleihen überdies Einheiten mit Autorität und Legitimität, die für sich überzeugend reklamieren können und denen von anderen zugemutet wird, Akteure zu sein." (Meier 2009: 13) Innerhalb des soziologischen Neo-Institutionalismus werden Akteure nun nicht mehr als apriori, vorgegebene Subjekte verstanden, sondern als aposteriori sozial konstruierte Einheiten. Neo-Institutionalistische Ansätze gehen sehr wohl von der vorrangigen Existenz des Menschen aus, aber das Subjekt, ausgestattet 4
Diesem Verständnis schließen sich auch die Ausführungen von EnglertlRoslon zu der Femsehanalyse in diesem Band an.
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mit Wünschen, Motiven und Zielvorstellungen, ist insoweit sozial konstruiert, als dass eben diese Motive und Zielvorstellungen soziale Konstruktionen und Entwürfe sind. Und hier treffen wir wieder auf die Frage nach der Detenniniertheit und Nichtdetenniniertheit des Handelns. Denn Akteure sind bereits sozial konstruierte Einheiten, sind sozial geprägt. Und damit ist der freie Wille im Sinne von Agency immer auch schon sozial gefasst. Bei George H. Mead (vgl. Mead 1993) finden wir z.B. in der Konzeption des I den kreativen Funken, der die soziale Struktur dann immer wieder auch verändern kann und so sozialen Wandel ermöglicht. Handlungstheoretisch lassen sich dergestalt folgende Anforderungen an Akteure festhalten: Sie müssen ein Wollen hervorbringen, "auf deren Grundlage sie ein intendiertes und nicht durch soziale Strukturen determiniertes Tun (oder gegebenenfalls Unterlassen) generieren" (Meier 2009: 41). Auf der nächsthöheren Ebene können aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher individueller Akteure überindividuelle Einheiten hervorgehen, denen man wiederum einen Akteurstatus zusprechen kann. Solche korporative Einheiten, wie z.B. Organisationen, sind Akteure, die entsprechend aus anderen, individuellen Akteuren zusammengesetzt sind, die in der Lage sind, wie eine einzelne Person zu handeln (vgl. auch Donges 2008b: 52) und so auf ein gemeinsames Ziel (z.B. ein fertiges Produkt oder eine Dienstleistung) hinzuarbeiten, das - als geteilte Intention vorausgesetzt - gemeinsam erreicht werden will. Aus den individuellen Handlungen und ihrer systematischen Bezugnahme entsteht dadurch ein geordnetes Ganzes. Es handelt sich dann nicht mehr nur um eine Ansammlung oder ein Aggregat von Individuen, sondern um einen komplexen Akteur und um eine korporative Einheit. Diese korporierten Einheiten sind emergente Gebilde, die sich nicht mehr nur aus den Intentionen, Motiven oder den Interessen der einzelnen Organisationsmitglieder speisen, sondern eine Verselbständigung diesen gegenüber darstellen (Ortmann 2010: 62). Auf dieser Ebene wird eine Zweiteilung der Perspektive verschärft, die auf der Ebene individueller Akteure als Grundvoraussetzung von Sozialforschern angenommen und entsprechend nicht (oder nur, wenn sie zum Problem wird) problematisiert wird. Legt man Definitionsmaßstäbe an den Begriff des Akteurs an, z.B. Unterstellung eines Bewusstseins, Handlungsfähigkeit, Intentionalität, Motivation u.a., so lässt sich damit für den Sozialforscher der Akteurstatus eines Individuums oder einer Organisation benennen oder verneinen. Auf der Ebene von Organisationen tritt aber nun darüber hinaus verschärft die Rezipientenperspektive hinzu. Die Menschen des Alltags können Organisationen oder andere Korporationen als Akteure wahrnehmen, auch wenn ein Sozialforscher den Akteurstatus nach Anlage gewisser Definitionsmaßstäbe dieser Korporation
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den Akteurstatus nicht unbedingt zuschreiben würde. Selbst wenn man gewisse Akteure als Fiktion versteht, z.B. die juristische Person, die eine Personenvereinigung oder eine Vermögensmasse mit gesetzlichen Rechten und Pflichten, aber keine natürliche Person ist, verliert sie dadurch nicht ihre soziale Relevanz. Zusammengefasst: Es kann etwas geben, dass sozialwissenschaftlich nicht als Akteur gefasst wird, dennoch aber im Alltag als Akteur wahrgenommen wird. Fasst man den Akteurbegriff eng und verleiht ihn nur Individuen, die mit einer natürlichen Handlungsfähigkeit ausgestattet sind, fallen letztlich alle überindividuellen Gebilde aus dem Akteurstatus heraus. Sie sind dann theoretisch fiktive Akteure, aber auf der (alltagspraktischen) Rezipientenebene mit realer Akteurwirkung und einem praktischen Akteurstatus. In der sozialen Praxis sind sie Akteure, weil ihnen der Akteurstatus zugesprochen wird, der sich "durch die zyklische Verknüpfung von Selbst- und Fremdbeschreibung" (Ortmann 2010: 63) konstituiert. Die soeben problematisierte Beschreibung des Akteurstatus' von Organisationen folgt der Grundperspektive der Handlungstheorie. Aus systemtheoretischer Perspektive ergeben sich die beschriebenen Aspekte insoweit nicht, als dass das Soziale respektive soziale System subjektlos konzipiert wird, indem nicht mehr Handlungen, sondern Kommunikationen als Grundelement des Sozialen verstanden werden (vgl. Luhmann 1997). "Dort, wo kommuniziert wird, konstruiert sich die Kommunikation ihre Handlungen und gleichzeitig auch ihre Akteure." (Meier 2009: 56) Akteure sind dergestalt kommunikativ konstruiert. Demnach lassen sich systemtheoretisch auch Organisationen als Akteure fassen. Neben den handlungs- und systemtheoretischen Fassungen, lässt sich im Anschluss an Michel Foucault oder Pierre Bourdieu eine Mesoebene kennzeichnen. Bei Foucault (Foucault 1994) und Bourdieu (Bourdieu 1976) sind Akteure sozusagen handlungsfähige Verkörperungen sozialer Strukturen. Bei Foucault wirkt die strukturalistische Überzeugung von subjektlosen Strukturen fort. Erst die Strukturen und die Verzahnung von ,,Machtwirklichkeit und Wissensgegenstand" bringen im Nachgang eine Seele und den Menschen hervor. Foucault drückt dies anschaulich durch die Entwicklung und die Funktion des Gefängnisses aus. ,,Doch täusche man sich nicht: man hat an die Stelle der Seele, der Illusion der Theologen, nicht einen wirklichen Menschen, einen Gegenstand des Wissens, der philosophischen Reflexion oder technischen Intervention, gesetzt. Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ,Seele' wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers." (Foucault 1994: 42)
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Somit geht es weniger um einen qua Existenz innehabenden Subjektstatus von Individuen, sondern um die Praxis und die sozialen Prozesse, die an der Subjektkonstitution beteiligt oder stärker ausgedrückt: essentiell sind. Wenn Bourdieu der Möglichkeit nach nicht von Individuen oder Subjekten spricht, sondern von Akteuren, drückt er damit die Doppelung der sozialen Struktur aus. "Das Konzept des Akteurs (französisch ,agent') zeigt klar die Anwesenheit des Sozialen in den intimsten Regungen. In ihm verschränken sich objektive Zwänge der sozialen Struktur und subjektive Determinationen des Habitus." (Rehbein 2006: 95) Und nach Foucault sind Akteure, wie oben erwähnt, nur bedingt als Produzenten von Diskursen zu verstehen. Vielmehr sind Akteure (Subjekte) als Produkte der Diskurse zu begreifen. Das Subjekt ist ein Effekt des Diskurses. Diskurse bestimmen das Wissen des Subjektes und bringen als Diskursfigur das Subjekt hervor. Dergestalt ist der Akteurstatus von Subjekten ebenso ein Effekt des Diskurses, wie auch die Zuschreibung des Akteurstatus' von Organisationen. Medien können in diesem Zusammenhang dann als Verdichtungen im Diskurs verstanden werden, die so weit gehen können, dass man ihnen einen Akteurstatus zuschreibt. Gerade die Machttheorien von Bourdieu und Foucault lassen eine Lesart zu, die das Verhältnis von Akteur und Struktur anbieten, in der Akteure Machtwirkungen ausgesetzt sind, sie aber dennoch ihren gestalterischen Freiraum behalten, in der Subjekte Ergebnis von Subjektivierungen sind, die sich an Organisationen anlegen lassen. "Während verschiedene Handlungstheoretiker [...] behaupten, dass Organisationen, insoweit sie als Akteure angesprochen werden, behandelt würden, als ob sie Individuen seien, behaupten die governmentality studies, dass Individuen als Subjekte konstituiert würden, insoweit sie behandelt werden, als ob sie Organisationen seien." (Meier 2009: 67) Insofern Organisationen Handlungsträgerschaft zugeschrieben wird, gehen damit zugleich eine Reihe von Adressierungen einher, die von Verantwortlichkeit bis hin zu gewissen Erwartungen an ihre Funktion reichen, die wiederum zirkulär zu den angenommenen Erwartungen der Organisationen selbst werden. Vereinfacht veranschaulichen lässt sich dieser Kreislauf z.B. an dem Spiel von Einschaltquoten und daran anschließender Programmauswahl aufseiten der TV-Sender. Die Einschaltquoten werden vonseiten der Sender als Erwartungen der Zuschauer verstanden, die Programmauswahl der Sender fiir die Zuschauer erwecken auf mittlerer Sicht eine Erwartung und ein Profil eines Senders bei den Zuschauern. Eine Verdichtung dieses Prozesses vollzieht sich übrigens - zumindest auf der Seite der Printmedien, aber nicht ausschließlich dort - durch die verstärkte Einbindung des Publikums bzw. der Rezipienten durch sogenannte Bürger-, Leseroder Lokalreporter. Damit sind Nutzer des Mediums gemeint, die selbst Inhalte
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fiir das entsprechende Medium produzieren. Gerade diese Leserreporter bilden in ihrer zunehmenden Verbreitung eine neue Dynamik, wie Medien als Akteure auf dem Spielfeld der Produktion, Distribution und Rezeption von (Medien-) Inhalten aktiv werden (vgl. den entsprechenden Aufsatz von Bidlo in diesem Band).
Medien als Akteure Wir haben gesehen, dass die handlungstheoretische Perspektive zunächst die "natürliche" Theorieumgebung des Akteurbegriffs ist, d.h. jene Theorieumgebung, der er entspringt. Hieraus wiederum lässt sich nicht ohne Weiteres das Mediensystem als ein mit Bewusstsein und Intentionalität ausgestattetes und darauf handelndes Individuum fassen. Die Massenmedien als Akteure aufzufassen, "impliziert eine eigene Handlungsautonomie und eine eigene Logik, die ihr intentionales Handeln strukturiert" (Pfetsch/Adam 2008: 10). Im Anschluss an die obige Darstellung lassen sich Medien als Akteure eines dezentralen Feldes begreifen, "in dem Akteure mitwirken, die zuallererst in diesem Feld konstituiert werden" (Meier 2009: 72). Medien als Akteure sind Produkte des Diskurses genauso wie die Subjektakteure. Der Akteurstatus ist dergestalt keine automatisch an ein Subjekt gebundene Eigenschaft. Medien sind diskursiv hervorgebrachte, gesellschaftlich konstruierte Handlungseinheiten im Rahmen der sozialen Ordnung. Pointiert: "Der Korporativakteur ist eine Realität, die sich einer Fiktion verdankt." (Ortmann 2010: 63) Daraus wird auch ihre Machtwirkung im gesellschaftlichen Kontext deutlich. Denn Macht wird im Kontext von den governmentality studies (vgl. Foucault 2004) nicht als eine dominante oder "durch klar identifizierbare Machthaber gedeutet, die die gesellschaftlichen Zwangsmittel in sich konzentrieren, sondern eher als das allgegenwärtige, dezentrale Wirken vielfältiger sozialer Kräfte" (Meier 2009: 73). Eine Organisation wird qua Zuschreibung zu einem Akteur (siehe auch Ortmann 2010: 62-65). Darin inbegriffen sind auch externe Zuschreibungen von Handlungsund Verantwortungserwartung, die an einen Akteur angelegt werden, die wiederum durch seine Handlungsträgerschaft bedient werden. Medien können also als Organisationen gefasst werden, denen man einen Akteurstatus zuschreibt, sie "werden plausible Adressen der Zurechnung von Handlungen; an sie werden Erwartungen adressiert, und sie erkennen Erwartungen als fiir sich gültig an, die einem gesellschaftlichen Modell des Akteurs entsprechen" (Meier 2009: 98). Die Umwelt erwartet von einer Zeitung, dass sie sich wie ein Medium verhält und entsprechend handelt. Dazu gehört auch die Ein- und Abgrenzung von seiner Umwelt, d.h. der äußeren Einheit des Akteurs. Diese Einheit wird z.B. durch Cor-
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porate Design, einen Pressesprecher, ein Leitbild, Leitlinien, grundlegende, dem Unternehmen oder Organisation zugrunde liegende Überzeugungen usw. konstituiert. Das wiederum verweist aufdie Autonomie, die dem Medium als Akteur zugesprochen wird (so wie sie allen Akteuren unterstellt wird). Die Medien ziehen in Deutschland ihre Autonomie und ihre Aufgabe in einem nicht unerheblichen Maße aus dem Artikel 5 des Grundgesetztes, der die Autonomie der Presse und die Meinungsfreiheit festschreibt. Im Verständnis der Feldtheorie Pierre Bourdieus besitzt das journalistische respektive mediale Feld allerdings nur eine schwache Autonomie, da es in hohem Maße vom politischen und ökonomischen Feld abhängig ist. Aus der bisher beschriebenen akteurtheoretischen Perspektive waren und sind Medien schon immer Akteure. Das Neue daran ist die Veränderung in der Art ihrer Aktivität, d.h. in der Art ihres Handelns, die sich prägnant so zusammenfassen lässt: Vom Vermittler zum Akteur (siehe hierzu auch die Einleitung von Reichertz in diesem Band). Genau genommen ist der Begriff des Akteurs in dieser prägnanten Formulierung doppelt unterlegt, hier trifft der theoretische auf den alltagsweltlichen Begriff des Akteurs, der das Machen, selbst Tun und das Bestimmen meint. Vermittler agieren natürlich und Akteure ebenfalls. Aber die Akteure agieren mit einem anderen Motiv als die Vermittler; sie wollen nun im hohen Maße selbst bestimmen, was, wie und warum in den Medien gesendet wird. Damit ist gemeint, dass Medien immer stärker - aus ganz unterschiedlichen Beweggründen (z.B . politisch, moralisch, ökonomisch motiviert) - selbst darüber entscheiden, was berichtet wird; und zugespitzt formuliert, selbst Inhalte anschieben und hervorbringen, über die dann erst berichtet wird. Sie sind nun selbst immer auf der Suche nach einem Inhalt, der zu einem Thema ausgebaut werden kann. Sie erschaffen sich vermehrt ihren Gegenstand selbst, über den dann berichtet wird. Aber nicht nur das, sie beziehen auch Stellung zu diesem selbst erzeugten Gegenstand, haben eine Meinung, die politisch, ökonomisch, moralisch usw. motiviert sein kann, und tun diese kund oder stellen sie erneut zur Diskussion, z.B. über die immer weiter verbreiteten Kommentarfunktionen aufden entsprechenden Onlineplattformen von Rundfunk-, Fernseh- und Zeitungsunternehmen. Der Akteurstatus der Medien, so wie er hier verstanden wird, ist ein starker und konturiert sich besonders deutlich in der schon konstatierten Unterscheidung bzw. Entwicklung der Medien vom Vermittler zum Akteur. In Rekurs auf die in der Einleitung von Reichertz zu diesem Band aufgestellten Handlungstypen, sind es besonders die Typennummern sechs bis acht, die den besonderen Akteurstatus beschreiben, der in diesem Band gemeint ist: Medien beteiligen sich on air und offair an Aktionen und Themen, die die Innere Sicherheit betreffen und gehen auch in Eigeninitiative vor, um z.B. auf Pro-
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bleme und auch Unterlassungen anderer Institutionen hinzuweisen.' Medien betätigen sich zudem als Akteure in diesem Sinne, wenn sie andere dazu auffordern etwas zu tun. Das kann z.B. die Aufforderung sein, sich als Leserreporter aktiv für Themen und Inhalte (und damit für das Medium) einzusetzen. Daran anschließend werden Medien durch diese Eigenaktivität und ihr Aktivierungsversuch der Rezipienten zu Akteuren, denen im Diskurs zunehmend auch die aktive Rolle in Bezug zur Sicherungsherstellung zugeschrieben wird. Sie selbst treten bei Informationsveranstaltungen auf oder organisieren diese selbst zu Themen, sind oft Teil von Krirninalpräventiven Räten und werden damit aktives Mitglied und Gestalter dieses Feldes. Als Hintergrundfolie für die weiteren Beiträge lässt sich das hier vorliegende Verständnis von Medien als Akteure nochmals wie folgt zusammenfassen.
Abschluss Medien, verstanden als Massenmedien, treten als korporierte Einheiten in einem sich aufspannenden Feld oder eines Diskurses aufbzw. bilden sich erst innerhalb des Feldes bzw. Diskurses aus. Damit können sie als ein Akteur in diesem Feld betrachtet werden. Die ,Intentionen' ihres Agierens stammen zu einem Teil aus Zuschreibungen und Erwartungen anderer Akteure und Diskursteilnehmer und zu einem anderen Teil aus selbst hervorgebrachten und durch die herangetragenen Erwartungen anderer Diskursteilnehmer ausgebildeten Interessen. Es ist die Interdependenz dieser Selbst- und Fremdbeschreibung und -zurechnung ihres Handelns, die ihre Intentionen ausbilden. Die intendierten Handlungen der Medien als Akteure müssen hier in Anlehnung an Reichertz auch als kommunikatives Tun verstanden werden (vgl. Reichertz 2009), das nicht nur die willentlich Adressierten in den Blick nimmt, sondern auch die, die Kommunikation unadressiert erreicht, 5
Man denke hier beispielsweise an das Format "tatort internet. Schützt endlich unsere Kinder" aufRTL 11,das ganz explizit versucht, Dinge ans Licht zu holen, die in den Augen des Senders bisher nicht oder zu wenig vonseiten der "Anderen" in den Blick genommen wurde und wird. Der Imperativ "Schützt endlich unsere Kinder" kann an die Politik, die Eltern, die Gesellschaft, Lehrer, Vertreter von Jugendämtern usw. gerichtet sein; und der darin befindliche Unterlassungsvorwurf unterstreicht erst die implizite Aussage des Mediums: Wir tun endlich etwas und werden aktiv, was sonst kein anderer tut, obwohl es dringend nötig wäre, und fordern alle auf, uns dieses gleich zu tun! Darin ist sowohl die Eigenaktivität als auch der Aktivierungsversuch anderer enthalten. Inwieweit der Aktivierungsversuch ehrlich gemeint ist oder nicht kann hier nicht verhandelt werden. Allerdings wird gerade über Veränderungen, die die Sendung oder das Medium durch seine Eigenaktivität angestoßen hat, ebenfalls im Nachgang gerne berichtet. Ganz im Sinne: Wir haben das Thema erst einmal in die Öffentlichkeit gebracht und dafiir gesorgt, dass die ,,Anderen" endlich etwas tun.
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weil sie im Wahrnehmungsbereich sind. "Gekennzeichnet ist dieses kommunikative TWldadurch, dass es zwar in der Situation nicht bewusst gesetzt wurde [...], aber dennoch sinnhaft ist und auch immer in einer kommunikativen Situation als sinnhaft gedeutet wird - auch weil es auf eine frühere Handlung verweist [...]. Kommunikatives Handeln wie kommunikatives Tun lassen sich nicht willentlich nicht nur auf die richten, die adressiert werden sollen, sondern erreicht all die, in deren Wahrnehmungsbereich Kommunikation sich ereignet." (Reichertz 2009: 118-119) Der Akteurstatus der Medien ist weiterhin nicht an ein Subjekt gebunden - kann dies aber durchaus auch sein, wie sich im Beitrag von Englert/Roslon in diesem Band zeigt. Folgt man der Darstellung, Medien als korporative Einheiten und damit als einen korporierten Akteur zu fassen, lassen sich ihnen Handlungen zuschreiben. Wenn Medien aber in unserem Zusammenhang als Akteure verstanden werden, die handeln, ist damit nicht nur jede Form des Handelns gemeint. Vielmehr ist damit gemeint, dass das Handeln der Medien, das sich mit dem Begriff des Akteurs verknüpft, nicht nur das Vermitteln bzw. Distributieren und Kommentieren von Nachrichten ist (das ist es selbstverständlich auch), sondern sich vor allem auf die besondere off air und on air Aktivität, die Selbstgestaltung von Themen im Feld der Inneren Sicherheit und die Aktivierung von Rezipienten Wld entsprechenden Institutionen (z.B. Polizei, Politik allgemein, Jugendämter, Ordnungsamt usw.) bezieht. Diese Akteurperspektive ist die gemeinsame Grundlage der in diesem Band versammelten Beiträge.
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"Wer nicht wirbt, der stirbt." Dieses Diktum Henry Fords bezog sich ursprünglich auf die Produktwerbung (von Automobilen). Darin drückt der umtriebige Automobilhersteller kurz und knapp aus, dass in einer großen und großflächigen Gesellschaft die öffentliche Lobpreisung eines Produkts überlebensnotwendig ist. Verzichtet man auf diese Möglichkeit, hat man keine Chance auf dem .Markt'.' Zu Beginn des 20. Jahrhunderts revolutioniert derAutomobilhersteller Henry Ford mit seiner Idee derFließbandtechnik die industrielle Produktion (,Fordismus'). Die erfundene Produktionsweise sieht eine verstiirkte Arbeitsteilung in einzelne Produktionsschritte am Fließband vor, sodass die Fließbandarbeiter vorwiegend eintönige Arbeitsvorgänge durchführen müssen (SigelnsteiniStolle 2006: 18). Ford beeinflusst mit dieser modernen Form der Automobilherstellung nicht nur die Industrie. Der ,Fordismus' wirkt sich auch auf die moderne Kultur aus. Gottl-Ottilienfeld prägt den Begriff des ,Fordismus', den er als einen nicht roten Sozialismus (vgL Gottl-Ottilienfeld 1925: 40) versteht. Gottl-Ottilienfeld bezeichnet diesen im Gegensatz zum ,,roten Sozialismus" (ebd.) die Utopie eines Sozialismus ohne Revolution. Der ,weiße Sozialismus' sei in der Lage, alle sozialen Probleme des Kapitalismus zu beseitigen ohne die kapitalistische Wirtschaftsform abzuschaffen (ebd.) . Massenproduktion und Massenkonsum ermöglichen Lohnsteigerungen und die Fabrikarbeiter können die eigens produzierten Waren erwerben (Hirsch/Roth 1986: 50f.). Zur gleichen Zeit propagieren die Lehren von John Maynard Keynes einen stark lenkenden Eingriff des Staates in die Marletabläufe. Eine Idee, die sich als Mittel gegen Unterbeschäftigung und Wirtschaftskrisen durchsetzt. Die staatliche Regulierung der Produktion und der Gesellschaft steigt. Der keynesiansiche Sozial- und Wohlfahrtsstaat entsteht, der die Nachfrage im Interesse der Vollbeschäftigung regelt (SingelnsteiniStolle 2006 : l8f.). In den 1970er Jaltren nimmt die Automatisierung einzelner Produktionsschritte zu. Dies fiihrt zunächst zur Arbeitserleichterung und später zur Arbeitskrafteinsparung. Das Idealbild staatlicher Regulierung wird durch die Ölkrise Anfang der 70er Jaltre weiter erschüttert und die Profit- und Wachstumsraten sinken. Das fordistische Modell wird durch Automatisierung und Technologisierung der Produktionsabläufe setzt. Die Flexibilität von Mensch und Maschine wird gesteigert. DieArbeitsorganisation wird zur Gruppenarbeit und der einzelne Beschäftigte arbeitet selbstständig und trägt ab diesem Zeitpunkt mehr Verantwortung (Hirsch/Roth 1986: 106ff.). Von der einstig angestrebten Idealvorstellung der Vollbeschäftigung verabschiedet man sich in der ,postfordistischen' Zeit. Die Wirtschaftskrise verschärft den Druck auf den gesamten Wirtschaftsmarkt und den einzelnen Arbeitnehmer. Der Verlust des Arbeitsplatzes kann heute dazu fiihren, dass man die eigene Arbeitskraft entweder zu verschlechterten Bedingungen anbieten muss oder man riskiert dauerhaft vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden, denn die ,,[...] waltrhaft Benachteiligten werden schlicht nicht mehr gebraucht" (Heck 2005: 49) . Die Wirtschaftskrise verschärft jedoch nicht nur den Druck auf den Einzelnen, sondern den Druck auf alle nationalen Industriezweige.
O. Bidlo et al. (Hrsg.), Securitainment, DOI 10.1007/978-3-531-93077-0_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Betrachtet man die aktuelle Entwicklung des Fernsehmarktes, so stimmt dieses Diktum auch heute noch, auch wenn sich dessen Bedeutung etwas gewandelt hat. Überträgt man die Aussage "wer nicht wirbt, der stirbt" auf den TV-Markt, fällt der Blick vor allem auf die Einführung des dualen Fernsehsystems 1984. Seit diesem Zeitpunkt sind die Relevanz und die Quantität der Werbung im Fernsehen gestiegen,da sich private Fernsehsender ausschließlich über die von ihnen erzielten Werbeeinnahmen finanzieren (Maurer/Reinemann 2006: 86). Ohne Werbeaufträge beziehungsweise bei zu geringen Werbeeinnahmen hat ein privater Fernsehsender eine geringere bis keine Chance, auf dem ,Markt' zu überleben. Die dadurch notwendigen Veränderungen im Denken und in der Praxis sowie die dadurch entstehende Dynamik des ,sozialen Feldes' des Fernsehmarktes im Sinne Pierre Bourdieus lässt sich allerdings nicht auf die Notwendigkeit von Werbeeinnahmen von privaten Sendern und dem damit verbundenen ,Kampfum Aufmerksamkeit' (Einschaltquoten) reduzieren. Vielmehr handelt es sich nach Bourdieu um verschiedenste Mechanismen des ,journalistischen Feldes', dem bestimmte unsichtbare Strukturen inhärent sind. Dies schließt beispielsweise neben den privaten auch die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender ein. Bourdieu versteht das ,journalistische Feld' als einen autonomen Mikrokosmos, der seinen eigenen Gesetzen folgt und durch die Anziehung und Abstoßung, welche durch andere Mikrokosmen aufihn ausgeübt werden, definiert ist (vgl. Bourdieu 1998: 55). Bourdieu beschreibt das ,soziale Feld' als einen ,,[...1 strukturierte[n] gesellschaftliche[n] Raum, ein Kräftefeld - es gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt konstante, ständige Ungleichheitsbeziehungen in diesem Raum -, und es ist auch eine Arena, in der um Veränderung oder Erhaltung dieses Kräfteverhältnisses gekämpft wird. In diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine Position im Feld und folglich seine Strategien bestimmt, in die Konkurrenz mit den anderen ein" (Bourdieu 1998: 57f.). Demnach setzt sich das Kräftefeld des ,journalistischen Feldes' aus unterschiedlichen (korporierten) Akteuren (wie zum Beispiel Journalisten, Sendeanstalten oder auch Regisseure) zusammen (zum Begriff des Akteurs siehe Bidlos Beitrag in diesem Band; spezielle zum ,korporierten Akteur' auch der Beitrag von Englert/ Roslon über das in diesem Band), die in ständiger Konkurrenz bzw. in einer bestimmten Relation zueinander stehen (Meyen 2009 und Meyn 2004: l83ff.). Ein ,soziales Feld' befindet sich daher ständig in Bewegung, es treten neue Akteure ein (zum Beispiel vor einigen Jahren die Welle der journalistischen Freelancer), andere fallen weg (beispielsweise durch den 1Rückgang spezifischer Spartenzutei-
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lung wie Blaulichtreporter-) und weitere möchten sich (neu) im Feld behaupten. In den Zeitungsredaktionen existieren keine festen ,Ressorts' mehr für die bestimmte Mitarbeitern vorrangig alleine verantwortlich sind (Meier 2002a und Meier 2002b) und die zum Beispiel die Kontakte zu den Polizeivertretern pflegen. Es sind zunehmend Generalisten gefragt (Interview M-2-2). Solche Generalisten sind unter anderem die ,Freelancer' im journalistischen Feld. Besonders durch die Zunahme von ,Freelancern' (und des Outsourcings der Produktion von Fernsehinhalten an Produktionsfirmen') wird die mediale Berichterstattung immer mehr zur Ware (Kuhlen 2009), die nicht mehr hauptsächlich durch Redaktionen im Kontakt zu Informanten generiert wird. Diese Veränderungen sind nicht zuletzt auf das Konkurrenzverhältnis (im Kampf um Einschaltquote und Leserzahl) zwischen den einzelnen Medienvertretern zurückzufiihren, das Bourdieu wie folgt beschreibt: ,,Die wirtschaftliche Konkurrenz der Sender oder Zeitungen um Leser oder Zuschauer oder, wie es auch heißt, um Marktanteile, spielt sich konkret in Form einer Konkurrenz zwischen den Journalisten ab, und diese Konkurrenz hat ihre eigenen spezifischen Ziele: den Scoop, die Exklusivmeldung, das berufliche Ansehen, und sie wird nicht als rein wirtschaftlicher Kampf um finanzielle Gewinne erfahren und verarbeitet, obwohl sie den Zwängen unterliegt, die mit der Position eines Informationsmediums innerhalb ökonomischer und symbolischer Kräfteverhältnisse verbunden sind." (Bourdieu 1998: 57f.; Hervorhebungen im Original)
Das (ökonomische, kulturelle, soziale) Kapital ist dabei unter den Akteuren eines Feldes ungleich verteilt, woraus sich die Kräfteverhältnisse des ,journalistisehen Feldes' bestimmen und diese einen sehr wichtigen Stellenwert einnehmen. Dies gilt auch und insbesondere für den TV-Markt, in dem es heute mehr denn je um Einschaltquote und damit um Erfolgskonzepte geht. Hieran zeigt sich: Fernsehsendungen ,schweben' nicht einfach in einem leeren Raum. Konkrete Fernsehsendungen werden vor einem bestimmten gesellschaftlichen Hintergrund von konkreten Menschen in bestimmten Situationen produziert und rezipiert. Für einund dieselbe Fernsehsendung bestehen unterschiedliche Lesarten, abhängig davon, wie der Rezipient den Inhalt interpretiert. Der individuelle Konsum von Fernsehsendungen ist (so ein Ergebnis der Cultural Studies) etwas Kreatives (Hall 1999). Die Auswahl der auszustrahlenden Fernsehsendungen durch die Sendeanstalten erfolgt dagegen weniger kreativ. Es gilt rechtliche und politische Grundlagen, Vor2 3
Der ,typische Blaulichtreporter', dessen Themenschwerpunkt sich in der Redaktion rund um die Innere Sicherheit in Deutschland dreht, gerät zunehmend in den Hintergrund. Das Outsourcing der Produktion von Fernsehinhalten an Produktionsfirmen kann in diesem Beitrag nur in eingeschränktem Umfang behandelt werden. Während der Arbeit an diesem Beitrag ist allerdings die zunehmende Relevanz von Produktionsfirmen auf dem Femsehmarkt, nicht zuletzt auf die gezeigten Inhalte deutlich geworden, weshalb eine ausführlichere Erörterung dieser Thematik angedacht ist.
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schriften und Rahmenbedingungen ebenso zu berücksichtigen wie volkswirtschaftliche Aspekte (Karstens/Schütte 2010). Das sind die Mindestanforderungen. Hinzu kommt der (kommerzielle) Erfolg. Dass die Sendungen kommerziellen Erfolg (= hohe Einschaltquote, am besten auch bei Wiederholungen) haben sollen, ist vor allem seit der Einführung des dualen Rundfunksystems 1984 für die privaten Sender von hohem Interesse. Denn nur auf diese Weise können sie in der freien Marktwirtschaft unter anderem durch gut platzierte Werbeeinnahmen und Wettbewerbsvorteile durch ein neues Sendungsformat überleben: ,,Beim werbefinanzierten Fernsehen verschafft ein Programmveranstalter durch die Ausstrahlung von Sendungen den werbetreibenden Unternehmen Zuschauer fiir die eingelagerten Werbespots und andere Werbeformen. Vordergründig werden Werbespots bestimmter Länge und bestimmter Platzierung im Programm verkauft." (Berger 2008: 19)
Werbeeinnahmen sind demzufolge neben einem völlig neuen Sendungsformat für den TV-Markt die entscheidende Einnahmequelle der privaten Sender, die im Gegensatz zu den öffentlich-rechtlichen Sendern keine staatlichen Rundfunkgebühren erhalten. Allerdings sind die staatlichen Subventionierungen für die öffentlichrechtlichen Sender auch an die Erfüllung des Grundversorgungsauftrags und den klassischen Rundfunkauftrag gebunden. Der Grundversorgungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verlangt die ..[... ] ungekürzte Darstellung der Meinungsvielfalt, ein umfassendes Programmangebot bei uneingeschränkter weltanschaulicher Vielfalt und die tatsächliche Empfangbarkeit seiner Programme [...]. Zusätzlich verlangt der klassische Rundfunkauftrag die Herstellung und Ausstrahlung eines Programms, das dem Gemeinwohl verpflichtet ist und Information, Bildung und Kultur und Unterhaltung gleichermassen berücksichtigt." (Lucht 2006: 173 nach BVerfGE 73, S. 118f. und BVerfGE 87, S. 181ff.)
Lucht erläutert weiter, dass das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass nur der öffentliche-rechtliche Rundfunk aufgrund seiner Teilfinanzierung durch Gebühren in der Lage ist, diese beiden Aufträge zu erfüllen. Denn durch die staatliche Subventionierung sind die öffentlich-rechtlichen Sender nicht in dem Maße wie private Sender auf Einschaltquoten zur eigenen Finanzierung angewiesen (Lucht 2006: 173). Dennoch erfordert die Legitimierung der Rundfunkgebühren für die öffentlich-rechtlichen Sender auch eine Art Konkurrenzfähigkeit. Was nützt Bildungsfernsehen, wenn es sich keiner ansieht? Völlig befreit vonjeglicher Konkurrenz und jeglichem Marktgeschehen sind die öffentlich-rechtlichen Sender also nicht (Beyer/CarI2008: 53).4 4
Interessant sind in diesem Kontext die Erläuterungen von Hanno Beck und Andrea Beyer zu der Frage, ob mittlerweile nicht auch eine öffentlich-rechtliche Zeitung nach dem Vorbild öffentlich-
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So folgen die einzelnen privaten und öffentlich-rechtlichen Sender unterschiedlichen (Markt-) Strategien im ,Kampf um die Quote und damit im ,Kampf um die eigene Stellung im ,journalistischen Feld'. Sie erfinden in diesem Zusammenhang neue Sendungsformate, sie entwickeln bestehende Formate weiter oder orientieren sich an bereits bestehenden (ausländischen) Formaten (anderer Sender) (Karstens/Schütte 20 I0: 186ff.) und ,kämpfen' um Werbeeinnahmen. Ein Kampf, der sich zunehmend verschärft: ,,[...] die Intensität des Wettbewerbs um die Werbegelder hat zugenommen. Die Anzahl der Sendeunternehmen hat sich stetig erhöht, zugleich wird Werbung teilweise ins Internet verlagert, so dass die Refinanzierung der Sendeuntemehmen schwieriger wird." (Haucap 2010: 24)
Dies bestätigen Bemd Holznagel, Eike Jahn und Isabel Simon ebensofür das Femsehprogramm, die von einer Steigerung der Femsehprogramme um 100 Prozent seit 2003 sprechen (Holznagel/Jahn/Simon 2009: 202f.). Die Wirtschaftskrise verschärft dabei zusätzlich den Druck auf die gesamte Presse, das heißt sowohl aufdie Femseh- als auch aufdie Printmedienbranche (hierzu unter anderem Beck/ ReineckiSchubert 2010: 43) und damit auch der Kampfum die Quote sowie letztendlich auch um die Deutungshoheit im ,journalistischen Feld'. Unterschiedliche Sender- und Sendungsstrategien mit diesen veränderten Rahmenbedingungen umzugehen, haben unterschiedliche Inhalte und Darstellungsweisen von Sendungen zur Folge. Die (Markt-) Strategien tangieren damit das, was die Rezipienten sehen und so auch das, was einer Sendungsanalyse als Grundlage dient: ,,Die Funktionsweise des Fernsehmarktes, seine ökonomischen Besonderheiten, die Akteure sowie Zahlen und Daten über den Femsehmarkt sind unentbehrliche Informationen fiir ein umfassendes Verständnis dieses Mediums in Theorie und Praxis." (Berger 2008: 8)
Nun können die folgenden Ausführungen nicht den Anspruch darauf erheben, alle Akteure, Zahlen und Daten über den Femsehmarkt vollständig darzustellen. Jedoch ermöglichen sie einen Einblick in den heutigen Femsehmarkt, dessen Dynamik und Einfluss auf einzelne Femsehsendungen und -formate unter Berücksichtigung der Stellung der Einnahmequelle für die Sender durch die von ihnen gesendete Werbung.'
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rechtlicher Sender in Deutschland gebraucht wird (Beck/Beyer 2009: 95ff.). Eine weitere wichtige untersuchenswerte Kapitalsorte am Medienmarkt ist beispielsweise das soziale Kapital in Form von Vertrauen zwischen den Joumalisten und deren Informanten.
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1. Die Geschichte des Fernsehens: Kleine Schritte und große Sprünge Der bereits angesprochenen Einführung des dualen Rundfunksystems 1984 gingen einige technische und gesellschaftliche kleine Schritte und große Sprünge voraus. Die technische Geschichte des Fernsehens geht zurück auf das Ende des 19. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit werden erste Experimente von Schriftstellern und Ingenieuren durchgeführt, aus denen teils visionäre, teils völlig utopische Fernsehfantasien und Fernsehapparaturen entstehen (Rusch et al. 2007: 282ff.). Dies geschieht zu einer Zeit, in der Paul Nipkow das ,Elektrische Teleskop' erfindet, die erste technische Entwicklung, die dem späteren Fernsehen gleicht. Der Durchbruch des Fernsehens zum alltäglichen Nutzungsgegenstand in Deutschland gelingt ihm erst gut 50 Jahre später. Nazi-Deutschland nimmt 1935 das erste halb-regelmäßige TV-Programm der Welt in Betrieb, was vor allem auf die negative politische Entwicklung und die damit verbundenen damaligen Propagandazwecke zurückzuführen ist. Der täglich zweistündige Fernsehbetrieb wurde in den extra dafür vorgesehen knapp 30 Fernsehsalons in Berlin und Hamburg zunächst nicht gut angenommen. Es gab kein individuelles Programm. Außerdem irritierte die Zuschauenden die kleine grobkörnige Darstellung der sonst so groß und wirkmächtig erscheinenden Politiker. Sie waren die Darstellungen auf den großen Leinwänden des Kinos gewohnt. Fernsehen als Alltagsgegenstand - eine immer noch undenkbare Idee. Während der Kriegszeit des Zweiten Weltkrieges kommt die Entwicklung des Fernsehens völlig zum Erliegen. Der televisionäre Sendebetrieb wird erst 1952 im Nachkriegsdeutschland wiederaufgenommen (Hörisch 2004: 360ff.). Die Siegermächte stellen die Weichen für das deutsche Nachkriegsprogramm im Fernsehen. In Westdeutschland heißt dies: staatsferne Organisation des Rundfunkbetriebs. Durch Orientierung an der dezentralen föderalistischen Organisation des Staates entstehen öffentlich-rechtliche Sendeanstalten in Westdeutschland. Je nach Besatzungszone entwickelb sich Südwestfunk (SWF, französische Besatzungszone), Süddeutscher Rundfunk (SDR, US-Besatzungszone) und der Nordwestdeutsche Rundfunk (NWDR, britische Besatzungszone) (Karstens/Schütte 2010: 12).6 Während beispielsweise der NWDR Anfang der 1950er Jahre noch für weniger als zehntausend Zuschauende von 20-22 Uhr sein Programm an drei Tagen in der Woche ausstrahlt (Hörisch 2004: 360ff.), weitet er ab Weihnachten 1953 sein Programm auf den täglichen Sendebetrieb aus (Karstens/Schütte 2010: 13). Die Sendungen bleiben allerdings ein für die Zuschauenden unübersichtlicher Mix aus 6
Die Anfänge des Fernsehens zur Nachkriegszeit rufen die kritischen Stimmen derFemsehtheorie hervor, wie Horkheimer und Adomo, die vor der ,Verdwnmung' und ,Manipulation des naiven Zuschauers' durch die Kulturindustrie, speziell durch das Fernsehen warnen (Adorno 1970: 69ff.) und begründen damit den kritischen medientheoretischen Diskurs in Deutschland.
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unterschiedlichsten Themengebieten und Genres. Sich ein eigenes Fernsehgerät anzuschaffen erscheint den meisten Deutschen noch als wenig lohnenswert (Reichertz 2009: 15ft). Auch die Einführung der ,Arbeitsgemeinschaft der öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland' (ARD) bringt keine Ordnung in diese unübersichtliche Programmgestaltung. Jede in dem Zusammenschluss bestehende Anstalt ist zu unterschiedlich großen Anteilen an der Gesamtsendezeit beteiligt. Die jeweilige Sendeanstalt besteht auf ihrer regionalen Prägung, und eine aufeinander abgestimmte, gar einheitliche Programmgestaltung der Programminhalte liegt in weiter Feme. Der Kampf um Sendeplätze beginnt zu einer Zeit, in der Live-Übertragungen das Fernsehprogramm ausmachen. Die Krönung Elisabeth 11. 1953 und die Fußballweltmeisterschaft 1954 machen den Deutschen klar, dass sie durch Fernsehen an wichtigen geschichtlichen Ereignissen trotz geografischer Entfernung teilnehmen können. Die Beliebtheit des Fernsehens steigt (Enge1lRidder 2010). Seit 1957 kommt zur Live-Übertragung die Aufzeichnung hinzu. Kameras verlassen die Studios (Karstens/Schütte 2010: 14). Ab diesem Zeitpunkt beginnt sich das Fernsehen mehr und mehr in die deutschen Haushalte zu integrieren - oder besser: die deutschen Haushalte integrieren das Fernsehen in ihr Zuhause. Seit Ende 1957, als mehr als eine Million Menschen ein Fernsehgerät angemeldet haben, steigen die Nutzungszahlen stetig (ebd.): "Zugleich konnte man erstmals wirklich von einem Massenmedium sprechen, das bald auch politische und wirtschaftliche Begehrlichkeiten weckte." (Karstens/Schütte 2010: 14) In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts geht das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) mit popularistischeren Programminhalten als dieARD auf Sendung. Dieser Zeitpunkt markiert die Geburtsstunde der Einschaltquote. Es folgen 1964 die Dritten Programme (Karstens/Schütte 2010: l6f.). Zu dieser Zeit sind die meisten deutschen Haushalte mit einem Fernsehgerät ausgestattet und können ab 1963 zwischen zwei Programmen, nämlich ARD und ZDF wählen. Bereits zehn Jahre später, nach der Einführung des Farbfernsehens, setzt der Trend zum Zweit- beziehungsweise Drittgerät ein (Hörisch 2004: 360ff.). Das Fernsehgerät ist aus dem deutschen Haushalten nicht mehr wegzudenken,? Neben der Information hält die Unterhaltung, beispielsweise in Form von Serien sowie Spielfilmen, Einzug in das deutsche Fernsehprogramm: "Einmal der Erprobungsund Einführungsphase entwachsen, brachte das Fernsehen in Reportagen, Dokumentationen und Nachrichtensendungen die große weite Welt in die deutschen Wohnstuben." (Karstens/Schütte 2010 : 17, auch: Reichertz 2009: 15ft) Auf diese 7
Der Streit um das Verdummungs- oder Bildungsmedium Fernsehen verliert in den letzten Jahrzehnten zunehmend an Schärfe. Man erkannte, dass Fernsehen auch positive Affekte hat, wie beispielsweise die ,Reeducationprogramme' nach dem Zweiten Weltkrieg (Hörisch 2004: 360ff.).
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Weise kommt dem öffentlich-rechtlichen Rundfunkauftrag und dem Grundversorgungsauftrag eine neue Stellung zu. Die Experimentierfreude zu innovativen neuen Inhalten und Sendungsformaten nimmt Anfang der 1970er Jahre aufgrund der Ölkrise ab und geht Ende der 70er zur Zeit des RAF-Terrorismus weiter zurück (ebd.). Die Zuschauenden sehnen sich nach harmloser nicht-politischer Unterhaltung und diese bekommen sie auch. Seit der Einführung der Privatsender RTL plus und SAT.l 1984 haben sich der Fernsehmarkt und auch das Feld der relevanten Akteure, aber auch das Programmangebot massiv verändert. Zum Beispiel entwickelt sich durch die ausgeweitete Sendezeit der Privatsender das 24-Stunden-Programm an sieben Tagen der Woche (Hörisch 2004: 360). Es entstehen neue Realitätskonstruktion und -einblicke, indem Privatsender andere - boulevardeskere - Inhalte aufgreifen und es kommt durch dieAusdifferenzierung der Zuschauerschaft in Informations- und Unterhaltungsinteressierte (vgl. u.a. Meyen 2001). Dies führt zu einer stärkeren Polarisierung zwischen den unterschiedlichen Bildungsschichten in Deutschland durch den Gegensatz der Angebote des öffentlich-rechtlichen, mehr informationsorientierten, und privaten, mehr unterhaltungsorientierten, Fernsehens (Hörrisch 2004: 360). Zu Beginn der Einführung des Privatfernsehens besaßen nur wenige deutsche Haushalte einen Kabelanschluss oder eine Satellitenschüssel (Karstens/Schütte 2010: 20). Ab 1988 sind sowohl RTL als auch SAT.l mit der normalen Hausantenne zu empfangen, die Anzahl der Kabelanschlüsse ist besonders in den Ballungsräumen stark angestiegen (ebd.). Die zunehmende Zuschauerzahl gewöhnt sich schnell an das Unterhaltungsfernsehen der privaten Sender, die neben bekannten Formaten auch viel Neues zu bieten hatten. Die Strip-Show Tutti Frutti auf RTL oder kommerzielle Ratespiele wie das Glücksrad auf SAT.l stellen beispielsweise ein neues Konzept im Fernsehprogramm dar. Zunehmend sichern sich die Privatsender auch Ausstrahlungsrechte an populären Sportevents, wie Boxen oder Fußball. Es setzen sich zudem immer mehr Kanäle durch und die Gesamt-Sehdauer der Zuschauenden ist seit 1994 um gut 27 Prozent (ca. 45 Minuten) gestiegen. 2006 liegt die Durchschnittsfernsehzeit schon bei 212 Minuten pro Person pro Tag (Karstens/Schütte 2010: 21). Doch nicht nur fiir die Rezeptionsforschung gilt 1984 als Wendepunkt im Femsehdiskurs, sondern auch fiir die einzelnen Sender, ihr Programm und das damit verbundene Marktgeschehen: "Das Privatfernsehen hatte sich durchgesetzt - und
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mit ihm eine Kombination aus neuen Finanzierungsmodalitäten und einer gewandelten programmlichenAnmutung [...]." (Karstens/Schütte 2010: 21)8
2. Wenn das Fernsehen zum Markt wird: Unterschiedliche Finanzierungsmodelle Der Fernsehmarkt folgt in wesentlichen Punkten einem bestimmten Geld- und Güterkreislauf. Dabei gibt es zwischen privaten und öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten Unterschiede. Während die Rezipientenfinanzierung (Beyer/Car12008: 29) einen Schwerpunkt der öffentlich-rechtlichen Sender darstellt, ist die Werbefinanzierung (Beyer/Car12008: 28) mehr das Finanzierungsmodell der Privatsender. In Reinform liegen weder die Rezipientenfinanzierung noch die Werbefinanzierung vor. Beispielsweise finanzieren sich die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten hauptsächlich durch die Rezipienten in Form von Rundfunkgebühren, jedoch nicht ausschließlich. Werbung ist auch für die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten eine Einnahmequelle, wenn auch in geringerer Ausprägung als bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. Für die öffentlich-rechtlichen Sender gilt nach Beyer und Carl ein spezielles Kreislaufmodell für Geld und Güter:
Grafik 1: Kreislaufmodell bei öffentlich-rechtlichem Angebot (nach: Beyer/Car12008: 29) mediale Dienstleistung
Rezipient als Produktionsfaktor.
Rezipient
Zeit
Medienunternehmen
Staat
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Die Folgen der Einführung von Internet und Smartphones sind bis zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht in ihrer Gänze absehbar. Es wird jedoch bereits heute von einem notwendigen Paradigmenwechsel gesprochen, der die Zunahme von Bezahlinhalten im Fernseh- und im Zeitungsbereich zu berücksichtigen hat (Siebenhaar 2010: 9ff.).
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Der Rezipient, der Staat beziehungsweise die von ihm autorisierten Institutionen und das öffentlich-rechtliche Medienunternehmen selbst stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander. Der Rezipient investiert Zeit und liefert dem Medienunternehmen Einschaltquoten und zahlt Gebühren an den Staat. Das öffentlich-rechtliche Medienunternehmen stellt dem Rezipienten hierfür die mediale Dienstleistung zur Verfügung. Die Besonderheit: der Staat bestimmt in diesem Kreislauf mit. Er gibt das Geld des Rezipienten in Form von GEZ-Gebühren an das Medienunternehmen weiter und erteilt ihm dafür die Berechtigung zur Nutzung der medialen Dienste. Die öffentlich-rechtlichen Medienunternehmen unterliegen einer besonderen rechtlichen Kontrolle durch den Staat (Beyer/CarI2008: 29). Der staatliche Gebühreneinzug garantiert den öffentlich-rechtlichen Medienunternehmen einen Großteil ihrer Einnahmen. Die öffentlich-rechtlichen Sender sind damit von dem Druck des Erfolgs bei dem Zuschauer zu einem großen Teil befreit, wenn auch nicht völlig. Denn auch sie benötigen eine Rechtfertigungsgrundlage für diese Art von Finanzierung in Form eines ansprechenden Programms. Die privaten Rundfunkanstalten verfolgen nach Beyer und Carl das Kreislaufmodell der Werbefinanzierung:
Grafik 2: Kreislaufmodell bei Werbefinanzierung (nach: Beyer/CarI2008: 29) mediale Dienstleistung
Rezipient als Produktionsfaktor.
Rezipient
Zeit
Medienunternehmen
Geld
Ware
werbetreibende Wirtschaft
WerbeleistungIKontakte
Die Beziehung zwischen Rezipient und Medienunternehmen bleibt die gleiche wie bei dem Kreislaufmodell des öffentlich-rechtlichen Angebots. Statt des Staates tritt hier allerdings die werbetreibende Wirtschaft als regulierende Instanz auf. Die Geldund Güterströme sind nicht direkt mit dem Medienkonsum verbunden. Der Rezipi-
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ent trägt hier durch den Kaufpreis der beworbenen Produkte einen Teil der Kosten, der von Unternehmen für die Werbung in deren Preiskalkulation eingeplant wird. Der Rezipient kauft ein Produkt der werbetreibenden Wirtschaft und erhält dafür die gekaufte Ware. Ein Teil dieses erwirtschafteten Geldes fließt in die Medienunternehmen, die dafür von den Medienunternehmen Werbeleistungen erhalten. Entsprechend der unterschiedlichen Kreislaufmodelle der öffentlich-rechtlichen und privaten Sender gestalten sich auch die (Sach- beziehungsweise Formal-) Ziele? der Sender verschieden (Beyer/Carl 2008: 30). Das öffentlich-rechtlicheAngebot erhält seine Erlöse aus den Gebühren und definiert sein Sachziel anhand der Sendeleistungen gemäß des Programmauftrags und sein Formalziel ist die wirtschaftliche Erfüllung des Programmauftrags. Die Erzielung von Einnahmen ist bei den öffentlich-rechtlichen Angeboten lediglich Mittel zum Zweck. Im Gegensatz hierzu stellen Werbeerlöse die Erlösquelle des werbefinanzierten Angebots dar. Das Sachziel ist hier die Produktion von Rezipientenkontakten für die Werbewirtschaft, eng verbunden mit dem Formalziel, angemessene Gewinne für die Gesellschafter zu erwirtschaften. Hier ist die Gewinnerzielung das herausragende Ziel (Beyer/Car12008: 30). Diese unterschiedlichen Kreislaufprozesse von Geld und Gütern zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Medienunternehmen beeinflussen nicht zuletzt die Inhalte der jeweiligen Programme unterschiedlicher Sender. Die Sender setzen unterschiedliche Maßstäbe an das Programm. Während bei den öffentlichrechtlichen Sendern vor allem der Bildungs- und Informationsauftrag im Vordergrund steht, setzen private Sender besonders auf neue unterhaltende in ihr Chancen-Risiko-Profil passende Formate.
3. Die Dynamik. des Feldes: Substanzielle Veränderung des TV-Marktes Seit der Einführung des dualen Rundfunksystems 1984 setzt das ,Marktdenken' bei den privaten, aber auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern ein. Sowohl private als auch öffentlich-rechtliche Fernsehsender sind in den 1990er Jahren dazu übergegangen, sich mit Produktionen in den Fernsehmarkt einzubringen (Zabel 2009: 187). Dabei konkurrieren die Sender nicht nur um die Einschaltquote, sondern ebenso um den Werbemarkt und die Rechte an unterschiedlichen Programmen 9
Beyerund Carl definieren das ,Forma1ziel' als ,,[.. .] in erwerbswirtschaftlich orientierten Unternehmen übergeordnete Ziele, an denen sich die Sachziele auszurichten haben. In ihnen kommt derErfolg untemehmerischen Handelns zum Ausdruck. Beispiele sind Produktivität, Rentabilität und Wirtschaftlichkeit" (Beyer/Carl 2008: 30). Sachziele sind nach Beyer und Carl Ziele des konkreten Handelns, wie Markt-, Produkt- und Finanzziele sowie soziale und ökologische Ziele (Beyer/CarI2008: 30).
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(Programmbeschaffungsmarkt). Das ,Marktgeschehen' bestimmt unter anderem das Programm sowie die Werbung und vor allem auch die Beschaffung beziehungsweise Produktion von Sendungen. Daher liegt der Fokus der folgenden Ausfiihrungen auf dem Fernsehmarkt, seinen Dynamiken und Folgen." Das Chancen-Risiko-Profil hat sich seit 1984 auchfür die öffentlich-rechtlichen Sender verändert. Auch sie befinden sich im Zwiespalt zwischen Massengeschmack und Gemeinwohl (Schröder 2009), denn die Konkurrenz zwischen den privaten und öffentlich-rechtlichen Sendern erhöht sich - zugunsten der Zuschauer. Um Einschaltquotenfür die erforderlichen Werbeeinnahmen zu erzielen, müssen die Bedürfnisse der Zuschauer immer besser durch das Programm befriedigt werden. Nur aufdiese Weise lassen sich die Marktanteile der Sender behalten oder ausbauen. Einen Trend zu verpassen, istfür einen Sender ein starker Rückschlag, der manchmal sogar nur mit einer neuen Trendwende ausgeglichen werden kann (Karstens/Schütte 2010: 185). Das Chancen-Risiko-Profil hat sich mit dem dualen Rundfunksystem verändert: die (ökonomische) .Wettbewerbsfähigkeit'!' entscheidet über das Überleben der (privaten) Sender. Doch nicht nur die Einschaltquote und Werbeeinnahmen sind wichtige Einnahmequellenfür die Sender, sondern auch die möglichst rentablen Produktionsbedingungen von Sendungen entscheiden über die Chancen-Risiko-Profile der Sender. Der Umbruch betrifft zum Ersten das jeweilige Werbeprogramm der Sender. Bei ARD und ZDF sind lediglich 20 Minuten Werbung pro Tag vor 20.00 Uhr erlaubt. Kommerzielle Sender unterbrechen das Programm mit bis zu einem Fünftel pro Sende stunde das Programm durch Werbung (Karstens/Schütte 2010: 21). Die Finanzierung durch Werbung istfür die Privatsender von entscheidender Bedeutung, während die öffentlich-rechtlichen Sender sich hauptsächlich durch die staatlichen Rundfunkgebühren finanzieren. Der Druck durch die Werbefinanzie10
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Die nachstehenden Erläuterungen sind als exemplarisch zu betrachten und erheben keinen Anspruch aufVollständigkeit. Technische, volkswirtschaftliche und rechtliche Entwicklungen beeinflussen den Fernsehnoarkt neben dem beschriebenen Geschehen auf dem Fernsehnoarkt entscheidend. Allerdings liegt der Fokus dieses Beitrages mehr aufden Folgen und weniger auf den Ursprüngen der Entwicklung des Fernsehnoarkts. Näheres zur technischen Entwicklung des Fernsehens findet sich beispielsweise bei Jan Krone 2009, speziell zur Entwicklung der Fernsehtechnik Klaus Sandig 2005 und Rainer Schäfer 2005. Ausfiihrungen zur Medienökonomie sind unter anderem bei Andrea Beyer und Petra Carl2008 sowie bei Gabriele Siegert 2002 , Hanno Beck 2005 sowie bei Klaus-Dieter Altrneppen und Matthias Karmasin 2003 zu finden. Den Fernsehrnarkt mit seinen Dynamiken greift außerdem Zabel2009 auf. Durch die Wirtschaftskrise trifft sowohl die öffentlich-rechtlichen, allerdings vor allem die Privatsender hart. Die Netto-Werbeerlöse gehen drastisch zurück, allein zwischen 2000 und 2003 gehen um knapp 20 Prozent zurück (Karstens/ Schütte 2010). Nähere Ausfiihrungen über den Wettbewerb am deutschen Femsehmarkt finden sich bei Zabel 2009.
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rung lastet damit vorrangig auf den privaten Sendern, was sich auch auf deren Programm auswirkt." Die Einfiihrung der Privatsender hat zum Zweiten entscheidende Folgen für die Konkurrenzsituation auf dem deutschen Fernsehmarkt. Die Konkurrenz unter den privaten Sendern ist hoch, ebenso wie die Konkurrenz zwischen dem öffentlich-rechtlichen und den privaten Sendern. Die Sender können nicht mehr über Jahrzehnte hinweg ein- und dasselbe Programm ausstrahlen, sondern sind gezwungen, etwas Neues, am besten noch nie Dagewesenes, auf den Markt zu bringen (vgl. Karstens/Schütte 2010: l84ff.). Ein Phänomen, was im Besonderen für den deutschen Fernsehmarkt gilt, da hier die Konkurrenz höher ist als in den meisten europäischen Ländern ist (Karstens/Schütte 2010: 22). Die Zuschauerquote ist für die Sender entscheidend. Die Attraktivität des Fernsehprogramms entscheidet darüber, ob überhaupt ein-, um- oder abgeschaltet wird. Für die öffentlich-rechtlichen Sender leitet sich aus innovativen Konzepten, die dem ihnen auferlegten Bildungsauftrag genügen, die Legitimation ihrer staatlichen Subvention durch Rundfunkgebühren ab. Für die privaten Fernsehsender sind innovative Konzepte entscheidend, um die von ihnen zu vergebenden Werbeplätze zu möglichst hohen Preisen anbieten und damit ihre Finanzierung sichern zu können. Was also zählt, ist der Erfolg einer Sendung beim Zuschauer. Als dritte Folge der Einfiihrung der Privatsender lässt sich das die Trennung von Programmproduktion beziehungsweise -einkauf und Programmausstrahlung nennen. ZDF und die Freies Fernsehen Gesellschaft (FFG) führten das Prinzip der Trennung von Programmausstrahlung und Programmproduktion respektive -einkauf ein. Dies hat sich bis heute als übliche Verfahrensweise des deutschen Fernsehens entwickelt (Karstens/Schütte 2010: 21). ,Outsourcing' hat zu einem gängigen Verfahren entwickelt, nicht nur neue Sendungsideen zu finden, sondern auch umzusetzen. Am Beispiel der Ideenentstehung und der damit verbundenen Generierung von Fernsehinhalten werden die Auswirkungen der substanziellen Veränderung des Fernsehmarktes (s.o.), dessen Dynamiken und Folgen für die Fernsehinhalte beschrieben." An diesem konkreten Beispiel aus der Praxis, wird sich zeigen, dass 12
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Interessant ist in diesem Zusammenhang der von Feldmeier beschriebene Trend zur Entwertung der Werbung . Das Krisenjahr 2009 hat auch bei den Werbeeinnahmen seine Spuren hinterlassen: Branchenexperten sprechen von einer Einbuße bei den Nettoerlösen der Werbung um 10 Prozent (Feldmeier 2010: 13). Der generelle Trend zu sinkenden Einnahmen durch Werbung zeigt sich seit 2001: Diese sind um 26 Prozent gesunken, während die Werbeleistung der Medienuntemehmen um 14 Prozent gestiegen ist (ebd.). Dies zeigt die positive Entwicklung fiir den Werbekunden und die negative Entwicklung fiir die Werbungsplätze anbietenden Medienuntemehmen. Ein Trend, den es in zukünftigen Analysen zu berücksichtigen gilt. Auch hier gilt, dass die Ausfiihrungen lediglich exemplarischen Charakter beanspruchen können.
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jedes ,soziale Feld' einem stetigen Wandel im Hinblick auf seine Struktur (bedingt durch die Kapitalverteilung), seine Spielregeln und seine Akteure unterliegt. Die Akteure nehmen durch ihre Handlungen und Einsätze ihrer Kapitalien systematisch auf die soziale Praxis Einfluss (vgl. Bourdieu 1987: 389ff.).
3.1 Einmal ein .First mover' sein: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt Die Entscheidung fiir oder gegen eine Sendungsidee beziehungsweise deren Umsetzung und Ausstrahlung hängt von der Angebotsform ab: je nach Trägerschaft (öffentlich-rechtlich oder privat), Finanzierungsart (Gebühren und Werbeeinnahmen, lediglich Werbeeinnahmen oder Pay-TV), Programmart (Spartenprogramm, Vollprogramm, Teleshopping), Verbreitungsgebiet (national, lokal, Ballungsraum) und Vertriebsweg (Terrestrik, Kabel, Satellit, Internet, Handy) gestaltet sich das Programm anders. Entscheidend seit der Einführung des dualen Rundfunksystems bei der Ideenentstehung zu einer Sendung sind fiir die privaten Fernsehsender allerdings hauptsächlich ökonomische Faktoren entscheidend." Um weiterhin fiir den Zuschauenden attraktiv zu bleiben, muss sich das Fernsehen ständig selbst neu erfinden. Der Anspruch: Stets neue Sendungen oder überarbeitete Formate auf den Markt zu bringen. Es existieren wenige Ausnahmen dieser Regel. Sendungen wie die tagessehau oder heute, die seit Jahrzehnten im deutschen Fernsehen zu sehen sind, bilden mittlerweile diese wenigen Ausnahmen der Regel. Für die Mehrzahl der deutschen Fernsehprogramme gilt, dass sie in immer kürzerem Rhythmus wechseln und alte fiir neue Sendungen Platz machen (müssen). Der ,First mover', also derjenige Sender, der es schafft mit einer Sendung einen,Trend' zu setzen, besitzt den anderen Sendern gegenüber einen Vorsprung (Karstens/Schütte 2010: 185). Dieser Vorsprung schlägt sich nicht zuletzt im ökonomischen Kapital des Senders nieder. Bourdieu beschreibt in diesem Zusammenhang den bereits erwähnten ,scoop', die Leitnachricht, die dem jeweiligen Akteur im ,journalistisehen Feld' einen (ökonomischen) Gewinn verschafft (s.o.). Die Möglichkeit ,First mover' zu werden, birgt einige Risiken, bei wenig einschätzbaren Chancen. Die ,Erfindung' ist die einzige Option einen Trend zu 14
Dies impliziert allerdings nicht, dass sich die Entscheidungen der Sender fiir oder gegen bestimmte Programme und deren Produktionsweisen nur aufBasis ökonomischer Interessen getroffen werden. Die Errechnung der Erlöse gestaltet sich wesentlich komplexer. Neben Zuschauerzahlen und Einschaltquoten entscheiden auch die Demographie des entsprechenden Ausstrahlungsgebiets der Sendung und die Einschätzung der Qualität der Umgebung der Sendung fiir Werbung. Beispielsweise ist die Sendung Ich bin ein Star - holt mich hier raus aufRTL zwar ein Quotenerfolg, dennoch hielten sich Markenartikelindustrie mit Werbebuchungen zurück. Die Werbekunden wollen ihre Produkte nicht mit etwas in Verbindung bringen, was beim Zuschauenden Ekel erregt (Karstens/Schütte 2010: 190; siehe hierzu auch Schön 2008: 22).
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setzen, der bisher am Fernsehmarkt unbekannt ist. Für eine ,Erfindung' existieren keine unmittelbaren Vorbilder und sie besitzen ein hohes Maß an Originalität. Durch ihren innovativen Charakter ziehen sie eine hohe Aufmerksamkeit im Erfolgsfall auf sich. Erfindungen gründen sich allerdings zu einem gewissen - wenn auch geringen - Anteil auf Ähnlichkeiten zu bereits bestehenden Sendungen, andernfalls entfernen sich Erfindungen zu weit von den bestehenden Bedürfnissen und Gewohnheiten der Zuschauer. Ein Beispiel für eine Erfindung ist Wetten das? ! von 1981 auf ZDF. Es existieren zwar Ähnlichkeiten beispielsweise zu der USamerikanischen Sendung The Price is Right von 1956, jedoch sind die wesentlichen Merkmale neu. Neu sind unter anderem die außergewöhnlichen Wettangebote der Zuschauer oder die internationalen Show-Acts und prominenten Gäste. Auch heute erzielt Wetten das?! mit diesem Konzept einen Marktanteil von bis zu 40 Prozent (Karstens/Schütte 2010: 186). Allerdings besitzen Erfindungen aufdem deutschen Fernsehmarkt eher Seltenheitswert, da der Sender mit einer Erfindung ein großes Risiko eingeht. Eine Erfolgseinschätzung ist aufgrund des innovativen Charakters und der fehlenden Erfahrungswerte nur sehr schwer möglich. Für den Sender bedeutet dies, dass er eine große Chance durch ein hohes, schlecht kalkulierbares Risiko erkauft (ebd.). 3.2 Einfach, schnell und preisgünstig: Der spin-off Entscheidend für den Erfolg einer Sendung ist die Aufmerksamkeit bei möglichst vielen Zuschauenden. Das Erfolgspotenzial einer Sendung lässt sich am besten abschätzen, wenn ein ähnliches Format mit all seinen Erfahrungswerten am Fernsehmarkt bereits existiert. Aus diesem Grund stammt ein Großteil der Sendungsideen in Deutschland aus der Programmbeobachtung anderer nationaler Sender. Sogenannte,Weiterentwicklungen' ,auch ,spin-offs', bereits bestehender Sendungen bilden eine sicherere Lösung der Ausweitung des Senderprogramms. Anhand der Einschaltquoten (die, die Sender unter anderem von der Gesellschaft für Konsumforschung, kurz GfK, erhalten) können die für den Zuschauenden nicht interessanten Teile einer Sendung herausgegriffen und gegebenenfalls ersetzt werden. ,Spin-offs' besitzen den Vorteil eines geringeren Zeit- und Arbeitsaufwands. Allerdings ist die Aufmerksamkeit der Zuschauer bei ,spin-offs' wesentlich geringer als bei ,Erfindungen'. Der Charakter eines solchen ,spin-offs' ist wenig innovativ und birgt daher weniger neue Inhalte, die auch über die bereits bestehende Zuschauerschaft weitere Rezipienten ,anlocken'. Für das Chancen-Risiko-Potenzial bedeutet dies, ein möglichst geringes Risiko, allerdings auch eine möglichst geringe Chance zur Aufmerksamkeit beim Zuschauer (Karstens/Schütte 2010: l86f.).
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3.3 Sicher ist sicher: Formate anderer Sender Eine weitere Gruppe der in Deutschland ausgestrahlten Sendungen stammt von anderen internationalen Sendern. Hauptsächlich aus Großbritannien oder den USA. Beispielsweise hat Wer wird Millionär?, seit 1999 auf RTL, einen angloamerikanischen Vorgänger: die britische Quizshow Who Wants to Be a Millionair? von 1998. Dies ist nicht zuletzt auf das günstige Chancen-Risiko-Profil dieser bereits am Markt erprobten Sendungen zurückzuführen. .Formate anderer Sender' stellen eine attraktive Alternative zu der ,Erfindung' von Sendungen dar (Karstens/ Schütte 2010: l87f.). Die (inter-)nationale Programmbeobachtung stellt bei der Entwicklung neuer Ideen für den deutschen Fernsehmarkt somit eine wichtige Informationsquelle dar. Allerdings bleibt hierbei zu berücksichtigen, dass sich die Erfahrungswerte von deutschen Sendern und Sendern im Ausland nicht einfach vergleichen lassen. Eventuelle unterschiedliche kulturelle Hintergründe erfordern eine Anpassung des ausländischen Formats in Deutschland. Ebenso die Nutzungsrechte sind bei den .Formaten anderer Sender' eine zu berücksichtigende Überlegung bei der Übernahme eines Sendungskonzepts. Das Chancen-Risiko-Potenzial kann bei einem .Format eines anderen Senders' ebenso erfolgsversprechend sein wie bei einer ,Erfindung'. Als RTL II 2003 mit der Ausstrahlung der Sendung Frauentausch beginnt, handelt es sich dabei um ein ursprünglich britisches Format mit dem Namen Wife Swap. Frauentausch läuft heute noch. Ein bereits bestehendes ausländisches Format hält Einzug nach Deutschland und erscheint den Zuschauenden als neu und generiert dementsprechend Aufinerksamkeit und so Erfolg ." Die Sender orientieren sich damit grundsätzlich bei der Auswahl von Sendungsideen am Chancen-Risiko-Potenzial der Ideenentstehung. Auf diese Weise hat die Entstehung einer Idee bereits Einfluss aufdie Umsetzungsentscheidung einer Sendung und damit aufdie Fernsehinhalte. Für das deutsche Fernsehprogramm bedeutet dies nach Gerd Hallenberger, dass die Strategien zur Risikovermeidung den Markt dominieren und in Deutschland daher seit den 1990er Jahren regelrechte Wellen in der Programmgestaltung zeigen, wie die beispielsweise die CoachingWelle, die Quiz-Welle oder auch die Gerichtsshow-Welle (Hallenberger 2008: 19).
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Neben den veröffentlichten Zuschauerzahlen, (nationale und internationale) Programmzeitschriften und Fachpublikationen, Programm-Messen sowie Ergebnisse von Internetrecherchen treten Beobachtungen und Nachforschungen von Rechercheunternehmen zur Ermittlung des Erfolgs von Fernsehsendungen.
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4. Die (neue) Praxis: experimentieren, praktizieren(, absetzen) Doch eine neue Sendung auf einem Sender ist nicht immer eine Erfolgsgarantie, im Gegenteil. Als Deutschland sucht den Superstar (kurz: DSDS) 2002 auf RTL das erste Mal ausgestrahlt wird, erzielt die Casting-Show, an deren Ende dem Gewinner ein Plattenvertrag zugesichert wird, einen Marktanteil von über 50 Prozent (Kartens/Schütte 2010: 185). Dieser RTL-Erfolg lässt einige ,Nachahmer-Sendungen' auf den Markt treten. Star Search auf Sat.l wurde noch 2003 gesendet und auch die öffentlich-rechtlichen wollten dieses Erfolgsformat nicht verstreichen lassen: Ebenfalls 2003 begann das ZDF die Sendung Die deutsche Stimme 2003 auszustrahlen, doch keine der beiden ,Kopien' von DSDS schaffte es zu einem Quotenerfolg. Beide Sendungen gingen nicht in die zweite Staffel. DSDS läuft heute noch. Beispiele für dieses ,Nachahmerverhalten' zwischen den Sendern bilden unter anderem die Talkshow-Welle. Die Talkshow findet ihren Ursprung 1980 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Die Sendung Heut abend startet 1980 im Bayrisehen Rundfunk und wurde von Joachim Fuchsberger moderiert. Sie entwickelte sich zur ,,[...] erfolgreichsten Talkshow der frühen 80er Jahre" (Foltin 1994: 88). Mit einer Verzögerung von vier Jahren setzt Mitte bis Ende der 1980er Jahre eine Welle von Talkshows im privaten Rundfunk ein (Krieger 2002: 61). Namen wie Hans Meiser auf RTL, Arabella Kiesbauer auf ProSieben oder Vera Int- Veen dominieren den Nachmittag der Privatsender in den neunziger Jahren. Auch hier bestimmt nicht zuletzt das Chancen-Risiko-Profil das Programm. Neumann-Bechstein schreibt 1997, dass die Talkshow eine der preiswertesten TV-Unterhaltungen auf dem damaligen Markt darstellt (Neumann-Bechstein 1997: 135). Dies kann nach Beyer unter anderem daraufzurückgeführt werden, dass Talkshow-Themen, die sich den alltäglichen Problemen der Gesellschaft, wie ungewollte Schwangerschaften, Cellu1ite oder Fremdgehen widmen, immer wieder aktuell sind und die Talkshow, einmal aufgezeichnet, immer wieder gesendet werden kann (Beyer 2000: 175). Doch der steigende Konkurrenzdruck zwischen den einzelnen Sendern :fiihrt nicht nur zu einem ,Nachahmertum' und zu bestimmten ,Wellenbewegungen', sondern auch zu einem zunehmenden Experimentierverhalten der einzelnen Sender. Langwierige Marktforschungen, die sich nicht nur zeit-, sondern auch kostenintensiv gestalten, werden von den Sendern mittlerweile möglichst vermieden (Karstens/Schütte 2010 : 185). Es werden Sendungen in kleiner Sendungsanzahl (sechs bis zehn Folgen für eine erste Staffel) produziert und direkt über den Sender ausgestrahlt.
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Ein Beispiel für eine dieser Sendungen ist die ,Kleingärtnersoap' Ab ins Beet", die seit 2007 auf RTL II zu sehen ist. Hier werden Hobbygärtner (bevorzugt im Kleingartenverein) beim Pflanzen, Gartenhäuserbau oder der Planung ihres Gartenstücks begleitet. Das Risiko im Hinblick auf finanzielle Einsätze des Senders bei der Produktion solcher Art von Sendungen gestaltet sich relativ klein im Vergleich zur ausführlichen Marktforschung. Minimales technisches Equipment (Kamera, Mikrofon, eventuell Licht) und wenig Personal (im Idealfall ein Kamerateam und eventuell noch ein Regisseur) reichen vor Ort aus. Requisiten, Bühne und Schauspieler bringt das Kleingarten-Motiv ganz im Go:ffman'schen Sinne von selbst mit. Menschen werden in solchen Sendungen also genau bei dem gefilmt, was sie ,sowieso schon vorhatten'. Hält die Idee nicht, was sie verspricht, nämlich eine für den Sender rentable Einschaltquote zur Platzierung der Werbung zu erzielen, wird sie einfach abgesetzt, ohne dass ein hoher finanzieller oder zeitlicher Verlust zu beklagen ist (vgl. Interview M-2-1). Es entscheidet damit der Praxistest über Erfolg oder Misserfolg der Sendung. Wenn widererwarten eine Sendung doch nicht erfolgreich ist, warten die Sender mittlerweile nicht mehr lange ab, neu am Markt eingeführte Sendungen, bei denen sich der versprochene Erfolg in Form von hohen Einschaltquoten nicht einstellt, wieder abzusetzen. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab man neuen Sendungen noch eine Schonfrist von ca. drei Monaten bis sich der Sender dazu entschloss, die Sendung abzusetzen. Mittlerweile können bereits die ersten zwei bis drei Ausstrahlungstermine darüber entscheiden, ob eine Sendung weitergesendet wird oder eben nicht (Karstens/Schütte 2010: 185). Dies geschah beispielsweise der Sendung Hire or Fire-Der beste Job der Welt von 2004 auf ProSieben. Hier suchte John de Mol für seine Produktionsfirma einen Creative Director. Der Marktanteil der Sendung lag bei 2,2 Prozent und damit weit unter dem versprochenen Erfolg (ebd.), sodass ProSieben nicht lange zögerte und die Sendung bereits nach der ersten Ausstrahlung absetzte (Karstens/Schütte 2010: l85f.).
5. Neue Inhalte und neue Akteure: Der Trend zum Outsourcing und seine Folgen Obige Erläuterungen zur Ideenentstehung und Sendungsumsetzung zeigen einen Trend der Sendeanstalten zum Outsourcing sowohl in redaktioneller als auch in technischer Hinsicht. Sender greifen seit Entstehung des dualen Rundfunksystems in unterschiedlicher Hinsicht auf die Möglichkeit des Outsourcings zurück (Za16
Bei der Einschätzung dieses Formats greife ich auf Interviews zurück, die im Rahmen unseres DFG-Projekt mit ,Machern' solcher Formate geführt wurden.
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bel 2009: 58). Neben Rechercheunternelnnen übernelnnen Produktionsfirmen die Ideenfindung für denjeweiligen Sender. Die Produktionsfirmen können außerdem die Aufgabe der Umsetzung der jeweiligen Sendungsidee übernelnnen. Es kommt zu einer Verlagerung der Ideenentwicklung und Sendungsproduktion nach außen (Outsourcing) (Karstens/Schütte 2010: 189).17 In diesen Fällen gehen Sender und TV-Produzenten eine Marktbeziehung miteinander ein (ZabeI2009: 60ff.). Outsourcing hat Vorteile. Beispielsweise macht Outsourcing von Sendungsproduktionen die Sendeanstalten flexibler (Beyer/CarI2008: 119) und es kommt zu Produktivitätsvorteilen (ZabeI2009: 178). Outsourcing spart zudem Kosten, da der ,Markt' billiger produziert, als dies in Eigenproduktionen der Sender möglich ist (Heinrich 2010a: 193). Die Bezahlung erfolgt durch die Vergabe eines Produktionsauftrags für die Sendung, also nur dann, wenn Idee auch tatsächlich umgesetzt wird. Die Produktionsfirmen stehen um den Produktionsauftrag im Wettbewerb und sind so zur Kreativität gezwungen. Sie versuchen immer innovativer Konzepte auf dem Markt anzubieten (Karstens/Schütte 2010: 190). Allein diese Vorteile erklären bereits den generellen Trend zum Outsourcing, der sich im Übrigen nicht nur am Fernsehmarkt, sondern auch bei den Printmedien feststellen lässt (Heinrich 2010a: 202fT., ausführlicher Heinrich 2010b: 151ff.). Ein Formathandel zwischen den einzelnen Sendern kommt aufgrund des Wettbewerbs am Markt kaum in Betracht. Sender möchten dennoch keinen,TV-Trend' verpassen und übernelnnen Formate in ähnlicher Weise - was immer öfter zu einem Phänomen führt, das Schumpeter 1939 unter dem Begriff ,Schweinezyklus' behandelt hat: Wenn sich ein bestimmtes Produkt auf dem Markt gut verkauft, erzeugen immer mehr dieses Produkt, so dass es bald wegen des Überangebots nur noch wenig wert ist, was dazu führt, dass es nicht mehr produziert wird, bis dann wieder jemand das Produkt neu auflegt. Da Kopien von Fernsehformaten in Deutschland allerdings allein aufgrund des Urheberrechts nicht erlaubt sind, müssen einige Details der Sendung verändert werden. Dies führt häufig zu einer Übergabe der Sendungsumsetzung an Produktionsfirmen (Karstens/Schütte 2010: 76ff.). Die Einwirkung solcher Agenturen auf 17
Das Outsourcing betrifft nicht nur Produktionsfirmen und Rechercheunternehrnen, sondern beispielsweise auch Lieferanten (weitere Erläuterungen hierzu finden sich bei Zabel 2009). Es wird durch die nachstehenden Erläuterungen damit lediglich ein Ausschnitt aus dem Diskurs des Fernsehmarktes gezeigt, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Outsourcing kann weiterhin in internes und externes Outsourcing unterteilt werden. Während bei dem internen Outsourcing die Produktion noch beim Sender selbst liegt, tritt er beim externen Outsourcing nur noch als Auftraggeber auf (Zabel 2009: 58ff.). Die folgenden Erläuterungen beziehen sich auf das externe Outsourcing und orientieren sich an der Definition von Heinrich, der Outsourcing als ,,[.. .] die Auslagerung einer ursprünglich unternehmensintemen erstellten Produktion in den Markt [... ]" (Heinrich 2010a: 167, siehe ausführlich auch Heinrich 2010b 151ft).
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das Fernsehprogramm ist erheblich, denn sie bestimmen, wie etwas gezeigt wird, auch wenn die Sender oft (noch) vorgeben, was gezeigt wird. Allerdings produzieren Produktionsfinnen nicht nur Inhalte nach Angaben der Sender, sondern auch eigene Angebote zum Verkauf anbieten treten sie als neuer Akteur in den Diskurs des Fernsehmarktes ein. Sender pflegen regelmäßig Kontakt zu privaten Produktionsfinnen, um für die entwickelten Formate ein fonnelles oder informelles Erstzugriffsrecht zu erhalten (Karstens/Schütte 2010: 189). Die Produktionsfinnen geben in diesem Fall vor, was eine betrachtenswerte Thematik für das deutsche Fernsehen darstellt. Es wird in Zukunft genauer beobachtet werden, inwieweit es dadurch zu einer Art ,Fremdbestimmung' der Formate und Inhalte durch Produktionsfinnen kommt und ob diese letztendlich nicht sogar die gezeigten Inhalte und darüber hinaus das Profil einer Sendung (und damit auch des Senders) bestimmen. Dabei folgen sie nicht ausschließlich jedoch vorrangig ökonomischen Interessen, denn es zählt nur das (=wird nur das produziert), was sich gut verkaufen lässt. Diese Umstrukturierung des Fernsehmarktes hin zum Outsourcing zeigt Folgen. Neben die alten Fernsehleute, oft auch ,Qualitätsjoumalisten' genannt, treten neue Akteure wie Rechercheunternehmen oder Produktionsfinnen in das Feld des Fernsehmarktes ein." Auf dem deutschen Fernsehmarkt existiert mittlerweile eine Vielzahl von Produktionsfinnen unterschiedlichster Ausprägung, wie eine exemplarische Auflistung von deutschen Produktionsfinnen zeigt": •
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Alpha Entertainment Film und Fernsehproduktion GmbH (produziert Informationsprogramme, Dokumentationen, Trailer und Spots für Privatfernsehen, Industrie- und Dienstleistungsunternehmen) Center TV Production GmbH (TV-Produktionsfinna, die für verschiedene TV-Sender wie unter anderem RTL, VOX, WDR und ORF tätig ist) Tele News Company (TNG) (produziert Reportagen und Dokumentationen und beliefert Nachrichtensendungen mit Informationen und aktuellem Videomaterial) WestCom Media-Group (produziert Beiträge für nationale und internationale Fernsehsender und betreut Live-Strearnings im Internet) (vgl. FilmFernsehen 2010)
Die Beteiligung der Produktionsfinnen am deutschen Fernsehmarkt hat Einfluss auf die Inhalte des Fernsehens, auch auf die der Inneren Sicherheit und Folgen für 18 19
Zum Spagat zwischen Qualität und Einschaltquote siehe auch Wick 2008 und Hallenberger 2008. Diese Auflistung erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit, sondern stellt lediglich eine exemplarische Auswahl der großen Vielfalt von Anbietem dar. Mehr hierzu unter : http://www. film-fernsehen.de/anzeige/filmfemsehen.php4?ziel=produktionsfinna.
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dessen Diskurs: "Neue Akteure tauchen im Feld der Inneren Sicherheit auf, werden in dieses Feld hineingezogen oder suchen es aktiv auf, weil dort ökonomische Gewinne vermutet werden." (Reichertz: Medien als Akteure für mehr Innere Sicherheit - in diesem Band) Die Akteure betreiben zusammen aktiv eine Politik der Sicherheit - wenn auch jeder nach eigenen Maßstäben und eigenen Relevanzen (Feltes 2008). Dabei erfolgen diese Veränderungen im Feld des Fernsehmarktes nicht intendiert, sondern resultieren vielmehr aus der Dynamik des Feldes." Es zeigt sich: Fernsendungen schweben nicht im leeren Raum. Sie sind immer mehr als das auf dem Bildschirm Gezeigte. Sie sind das auch Ergebnis der Dynamik des Feldes des Fernsehmarktes und sind nicht zuletzt von den ökonomischen und gesellschaftspolitischen Überlegungen der Sender abhängig. Genau auf diese muss sich auch der analytische Blick richten - will man das Fernsehen als Institution und einzelne Fernsehformate verstehen und verstehend erklären. Der analytische Blick darf sich deshalb nicht nur auf das Gesendete richten, sondern muss auch und mehr als bislang den Akteur des Sendens fokussieren.
Literatur Adorno, Theodor W. (1970): Prolog zum Fernsehen. In: Adorno, Theodor w.: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 69-80. Altmeppen, Klaus-Dieter; Karmasin, Matthias (Hrsg.) (2003) : Medienökonornie. Bd.1. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Bättel-Mink, Birgit; Hellrnann, Kai-Uwe (2010) : Proswner Revisited. Zur Aktualität einer Debatte. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften. Beck, Klaus; Reineck, Dennis; Schubert, Christiane (2010): Journalistische Qualität in der Wirtschaftskrise. Berlin: Deutscher Fachjournalisten Verband. URL : http://www.dfjv.de/fileadmin/user_upload/pdf/Studie_Journalistische_Qualitaet_03_2010.pdf [letzter Abruf: 20.12.2010]. Beck , Ulrich (2005): Was zur Wahl steht. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Die Entwicklung der Printmedien zum Outsourcing behandelt der Beitrag von Oliver Bidlo in diesem Band über den Bürgerreporter. Beispielsweise wird der Bürger in der BILD-Zeitung zum Prosument (zum Proswnenten siehe auch Bättel-Mink/Hellmann 2010) , der nicht mehr nur konsumiert, sondern die Inhalte der Zeitung auch produziert, indem er eigene Beobachtung auf eigenen Fotos im Alltag festhält und an die BILD-Zeitung schickt . Diese können dannvon der Redaktion veröffentlicht und kommentiert werden.
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Medien als Aktivierer?
Innere Sicherheit schreiben - Sicherheitsthemen in Tageszeitungen Stefanie Böhm
1. Einleitung
Medien vermitteln ihren Rezipienten nicht nur sicherheitsrelevante Themen, sondern sie gestalten - neben den staatlichen, gesellschaftlichen und politischen Akteuren - Innere Sicherheit aktiv mit (vgl. Reichertz 2007 und 2011; Feltes 2009: 107). Das ist die zu überprüfende Ausgangsthese des Projekts, innerhalb dessen die hier vorgelegte Zeitungsinhaltsanalyse vorgenommen wurde. Allerdings ist der Akteursbegriff innerhalb der sozialwissenschaftliehen und kommunikationswissenschaftlichen Literatur uneinheitlich - was letztlich auch darauf zurückzuführen ist, dass Unterschiedliches unter dem Handlungsbegriff verstanden wird (siehe zum Begriff des Handeins von Akteuren den Einleitungsbeitrag von Reichertz in diesem Band). Wenn die Medien in der kommunikationswissenschaftliehen Literatur als Akteure in den Blick genommen werden, dann deshalb, weil sie teils sehr bewusst Themen setzen, Deutungsrahmen anbieten, die Welt erklären und mehr oder weniger deutlich Ansichten mittels Kommentaren vertreten und damit Position beziehen (vgl. Eilders/NeidhardtJPfetsch 2004; Pfetsch/Adam 2008, Eilders 2008). Der Status der Medien als Akteure ergibt sich dann zum einen dadurch, dass sie on air durch die Verbreitung bestimmter Themen, die Innere Sicherheit betreffen, maßgeblich den öffentlichen Diskurs mitzubestimmen versuchen. Dabei treten die Zeitungen selbst jedoch meist nicht sichtbar als eigenständiger Akteur in Erscheinung' sondern sie bleiben im Hintergrund und werden vor allem als Nachrichtenüberbringer und (scheinbar neutrale) Kommentatoren gedeutet. Weniger Beachtung findet in der Fachliteratur (auch in der sozialwissenschaftliehen) der Umstand, dass die Zeitung für jedermann erkennbar als eigenständiger Akteure auftreten. Dies kann geschehen, indem das Medium z. B. offair für die Leser/innen Podiumsdiskussionen zu sicherheitsrelevanten Themen initiiert oder sich in Stadtteilen sichtbar in der Präventionsarbeit engagiert (z.B. Bürger auf die Diebstahlgefahren auf Weihnachtsmärkten hinweist und Tipps zur SieheO. Bidlo et al. (Hrsg.), Securitainment, DOI 10.1007/978-3-531-93077-0_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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rung des Eigentwns gibt). Die Akteurrolle der Medien ist aber auch dann gegeben, wenn das Medium Probleme aus der Lebenswelt der Leser/innen aufgreift und zum Thema macht und mit Hilfe des Medieneinsatzes Veränderungen herbeifiihren will und dann den Leser über seine eigene Aktivität informiert. Die Zeitung macht sich selbst, bzw. ihr Engagement und ihre Errungenschaften für den Leser zum Gegenstand der eigenen Berichterstattung. Zeitungen sind also on air und offair tätig - beides mit dem Ziel, Käufer zu finden und zu binden - was angesichts der Konzentrationsprozesse innerhalb der Medien (Rationalisierung), der Konkurrenz durch die neuen digitalen Medien (online-Plattformen, Bloggs) und aufgrund des veränderten Käuferverhaltens (weniger langfristige Vertragsbindungen) immer schwieriger wird. In der vorliegenden Studie wird nur die Aktivität der Zeitungen on air untersucht werden. Über die Aktivitäten der Zeitungen off air können also weder Aussagen gemacht noch abgeleitet werden. Angenommen wird, dass Printmedien verstärkt als Akteure, also mehr Aktionen selbst anstoßen bzw. andere anstoßen, auftreten. Daher ist von besonderem Interesse, in welchem Maße ein Medium als korporierter Akteur (siehe die Beiträge von Reichertz und Bidlo in diesem Band) aktiv wird und in wie weit diese Aktivität anband der Inhalte der jeweiligen Zeitung sichtbar wird. Im Rahmen des DFG-Projektes "Medien als Akteure der Inneren Sicherheit" werden insbesondere lokale Strukturen und Phänomene betrachtet. Daher bilden die Lokalteile von tagesaktuell erscheinenden Zeitungen aus der Region Ruhrgebiet und angrenzendes nördliches Rheinland hier den Untersuchungsgegenstand. Da die WAZ über die zahlenmäßig stärkste Leserschaft in diesem Gebiet verfügt, wird die WAZ Dortmund, die WAZ Bochum-Wattenscheid und die WAZ Essen für die Untersuchung herangezogen. Zudem soll der Kölner Lokalteil der Kölnischen Rundschau betrachtet werden. Um die Repräsentativität der Ergebnisse gewährleisten zu können, werden jeweils 100 Exemplare dieser Zeitungen in dem Zeitraum vom 01. Juni 2009 bis 07. Oktober 2009 ausgewertet werden.' Im Folgenden wird anband der empirischen Inhaltsanalyse in Anlehnung an die eher quantitative Inhaltsanalyse von Wemer Früh der Grad der Aktivität der genannten Medien untersucht werden. ,,Die systematische, offengelegte und damit kritisierbare Vorgehensweise der empirischen Wissenschaft verlangt [... ], dass sowohl die Vorstellungen des Forschers als auch der anvisierte Realitätsausschnitt in eine dritte Modalität, nämlich die empirischer Daten überfiihrt werden, wobei dieser Prozess offenzulegen ist. Nur so ist es möglich, dass sich Sachverhalte von
Für den Zeitraum ab Juni 2009 lagen die meisten Zeitungsexemplare vor.
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völlig verschiedener Beschaffenheit wie unsere Vorstellungs- und Objektwelt intersubjektiv nachvollziehbar miteinander vergleichen lassen." (Früh 2007: 20) Zu diesem Zweck werden sämtliche Artikel der o.a. Zeitungen zu Sicherheitsthemen mit Hilfe eines aus den Daten entwickelten Kategoriensystems dahingehend beurteilt werden, inwieweit sich durch sie der Grad der Aktivität des Mediums zeigt. So scheint es Formen der Berichterstattung zu geben, in denen Medien weniger aktiv sind und solche, in denen das Medium eher Informationen vermittelt, als das es selbst Akteur ist. Im Anschluss daran wird betrachtet werden, in welchem Verhältnis die Menge dieser Artikel, in denen das Medium als Akteur auftritt, zu der Anzahl der Artikel mit sicherheitsrelevanten Themen insgesamt steht.
2. Kategorisierung Die Artikel, die sich mit der Thematik der Inneren Sicherheit beschäftigen, unterscheiden sich zum Teil deutlich in verschiedenen Aspekten voneinander, wie Inhalt und Zielrichtung. Es wird angenommen, dass die genannten Punkte Aufschluss über den Grad der Aktivität eines Mediums geben können. Um eine Auswertung dieser Artikel vornehmen zu können, galt es, vor dem Hintergrund der Projektfragestellung trennscharfe Kategorien aus dem Material zu entwickeln, die geeignet waren, die jeweilige Besonderheit der Texte zu erfassen. Zentral war bei der Kategorienbildung, ob und inwieweit die Zeitung selbst aktiv wird oder ob andere Akteure der Inneren Sicherheit die Zeitung als Sprachrohr bzw. als Vermittler ihrer Botschaften benutzten. Als Akteure der Innere Sicherheit zählen dabei, ganz im Sinne von Feltes (2009) "Bürger, Nachbarschaftsorganisationen, Polizei (inklusive Gewerkschaften), Geheimdienste, Private Sicherheitsdienste, Medien, Politiker [und] Wissenschaftler. Sie alle gestalten - oftmals im Gleichklang, meist aber unter Betonung gegenseitiger Dissonanzen - den Rahmen, in dem sich Innere Sicherheit gestaltet" (Feltes 2009: 107). Aufgrund der Sichtung und ersten exemplarischen Auswertung des Datenmaterials ergaben sich sukzessive fiinf Hauptkategorien: • • • •
Bericht, Kommentar, die Polizei rät, Hilfeersuchen der Polizei und
•
Polizeibericht.
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2.1 Der Bericht Der Bericht ist gekennzeichnet durch eine (umfassende) Darstellung eines Ereignisses. Mit abnehmender Wichtigkeit werden dem Leser Fakten und Hintergrundinformationen geliefert (vgl. Fasel 2008: 42). Der Umfang eines Zeitungsberichts beträgt bis zu 100 Zeilen. Dadurch hat der Autor die Möglichkeit, eine detailliertere Darstellung eines Themas vorzunehmen. Im Bericht berichtet das Medium meist über andere oder anderes, manchmal auch über andere Medien oder über sich. In der Regel taucht das Medium also im Bericht nicht explizit als Akteur auf. Im Bericht ist das Medium erst einmal nur insoweit Akteur, als es den Bericht schreibt, also das Thema auswählt und stilistisch gestaltet. Insofern hat sich in jedem Bericht das Medium implizit als Akteur eingeschrieben. Zu der Kategorie ,Bericht' werden fiir unsere Zwecke auch Meldungen und Nachrichten gezählt, da auch hier die Beschreibung eines Ereignisses im Vordergrund steht. Bericht, Meldung und Nachricht unterscheiden sich vor allem im Umfang. Die Nachricht ist die nächst kleinere Form des Berichts. In komprimierter Form liefert sie dem Leser einen Überblick über ein Ereignis, indem die wichtigsten ,W-Fragen' (wer, wann, was, wo, wie, warum) beantwortet werden. Allerdings beschränkt sich der Umfang der Nachricht auf acht bis 40 Zeilen, sodass Hintergrundinformationen und Erklärungen, wie sie im Bericht vorgenommen werden, weitgehend ausbleiben müssen (vgl. Fasel 2008: 42). Die Meldung ist noch deutlicher reduziert. In zwei bis drei Sätzen wird ein Ereignis knapp und präzise auf den Punkt gebracht. Berichte, Meldungen und Nachrichten machen den Großteil der Zeitungsartikel aus. Aufgrund der Vielfalt der vorgefundenen Berichtsformen wurden weitere fiinfUnterkategorien entwickelt. Zentral fiir diese Ausdifferenzierungen der Kategorie ,Bericht' war das Kriterium,Wer ist der Akteur, über den berichtet wird?' a.
Berichte, die sich inhaltlich in erster Linie mit einem staatlichen Akteur der Inneren Sicherheit, wie der Polizei, der Feuerwehr, dem Zoll, dem Ordnungsamt oder der Bundespolizei befassen, zählen zu der Kategorie A staatliche Akteure. Mögliche Inhalte eines solchen Berichts sind zum Beispiel, dass die Feuerwehr zu einem Tag der offenen Tür einlädt, dass die Polizei die neuesten Verkehrsunfallstatistiken herausgegeben hat oder dass ihre Uniformen und Streifenwagen nun nach und nach von Grün aufBlau umgestellt werden. Vordergründig ist hier also nicht die Darstellung zum Beispiel eines Tathergangs unter Erwähnung des polizeilichen Vorgehens, sondern die Institution selbst (polizei, Feuerwehr, Zoll etc.) steht im Bericht (A) im Zentrum. Der
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b.
Bericht (A) deutet auf ein Interesse des Mediums an der jeweiligen Institution oder an deren Arbeit hin. Texte, die sich in erster Linie mit der Beschreibung zum Beispiel eines Unfall- oder Tathergangs beschäftigen, also dem, was Menschen in ihrem Alltag zugestoßen ist, und sich dabei nur in zweiter Linie auf einen staatlichen Akteur der Inneren Sicherheit beziehen, fallen in die Kategorie B - Alltag. In einem solchen Artikel wird ein staatlicher Akteur der Inneren Sicherheit erwähnt, jedoch bildet er nicht selbst den Mittelpunkt der Berichterstattung. Zur Verdeutlichung, welche Formen eines Artikels zu der Kategorie Bericht (B) gezählt werden, soll ein Beispiel dienen: Geschildert wird ein Verkehrsunfall. Dessen Abläufe und Konsequenzen stehen im Zentrum des Interesses. •
•
•
c.
d.
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Dabei bezieht sich der Autor auf eine Aussage (zum Beispiel: "Nach Angaben der Polizei beträgt der Sachschaden 20.000 Euro." Oder: "Die Pressesprecherin der Polizei erklärte, dass zurzeit keine weiteren Aussagen gemacht werden könnten. ") Oder ein staatlicher Akteur der Inneren Sicherheit wird als Teil des Geschehens im Artikel erwähnt (zum Beispiel: "Die Rettungskräfte waren in kürzester Zeit am Unfallort.") Oder aber im Text wird kein staatlicher Akteur der Inneren Sicherheit erwähnt, doch auf einer zum Artikel gehöriger Fotografie ist zu erkennen, wie Polizisten den Unfallort absperren wollen und die Feuerwehr mit Schneidwerkzeugen das Opfer aus seinem PKW befreien will.
Staatliche Organe der Inneren Sicherheit dienen in einem Artikel der Kategorie Bericht (B) als Bezugsgröße, bzw. als Referenz, um einen Sachverhalt glaubhafter schildern zu können. Zu der Kategorie C - Gericht werden all jene Zeitungsartikel gezählt, die sich mit Fällen beschäftigen, die bereits vor Gericht verhandelt werden. In einem Bericht (C) wird also über einen anstehenden, bereits laufenden oder schon zum Abschluss gekommenen Prozess berichtet. Welchem Verbrechen die Angeklagten verdächtigt werden, spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle . Die Kategorie D - keine staatlichen Akteure der Inneren Sicherheit umfasst alle diejenigen Artikel, in denen zwar ein die Innere Sicherheit betreffendes Thema behandelt wird, jedoch ohne dass sich dabei auf Polizei, Feuerwehr, Staatsanwaltschaft etc. bezogen wird. Folgende Möglichkeiten bestehen:
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•
•
•
e.
Ein Thema der Inneren Sicherheit wird besprochen, ohne dass der Autor auf eine der unter dem Punkt Bericht (B) genannten Optionen zurückgreift. Geschildert wird, wie zum Beispiel eine Organisation, die nicht originär für die Erhaltung der Inneren Sicherheit zuständig ist (zum Beispiel eine Schule), im Rahmen einer bestimmten Aktion der Öffentlichkeit einen Innere Sicherheit betreffenden Aspekt zugänglich machen will und dabei nicht auf die Unterstützung von Polizei, Ordnungsamt etc. zurückgreift. In beiden geschilderten Fällen wird durch das bewusste oder unbewusste Weglassen der Bezugnahme auf Polizei, Feuerwehr und Co. für den Leser das Medium zur Referenzgröße in Fragen der Inneren Sicherheit.
Obwohl politische Akteure ebenso wie zum Beispiel die Polizei, das Ordnungsamt und die Feuerwehr zu den staatlichen Akteuren der Inneren Sicherheit zählen, werden sie hier getrennt behandelt, da sie als übergeordnete Instanz fungieren . Die Kommunalpolitik ,managet' Ordnungsämter und freiwillige Feuerwehren und sie kann Anliegen, die von Bürgern an sie herangetragen werden, an die zuständige Behördenleitung weitergeben. Zur Kategorie E - Politik zählen alle Artikel über politisch initiierte Aktionen zur Inneren Sicherheit. Hierzu würden Artikel zählen, in denen beispielsweise über den Aktionsplan der Kommune gegen die Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts berichtet wird. Der Grad der expliziten Eigenaktivität des Mediums ist in der Kategorie Bericht eher gering, denn hier steht das Berichten, die Weitergabe von Informationen an den Leser (ohne explizite Wertung) im Vordergrund. Das Medium tritt dabei in der Regel nicht erkennbar als expliziter Akteur auf, sondern nur als impliziter, nämlich in seiner Rolle als Auswähler und Gestalter des Berichts.
Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass in der Kategorie Bericht (B) auch gerade diejenigen Artikel zu finden sind, in denen das Medium ganz besonders aktiv wird, indem es zum Beispiel über die sprichwörtlichen Steine, die durch die eigene Berichterstattung ins Rollen gebracht wurden, berichtet. Zu Analysezwecken werden daher diese speziellen Erscheinungsformen gesondert behandelt und separat ausgewertet werden. Die Tatsache, dass Medien über solche ,Errungenschaften' berichten, deutet daraufhin, dass sie mit der Intention über Zustände, Ereignisse etc. schreiben, etwas zu bewegen - selbst wenn dies nicht explizit im Artikel angesprochen wird . Aufgrund dieses unterschwelligen
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Agierens der Medien in der Kategorie Bericht (B) muss der Grad der Aktivität des Mediums in der folgenden Analyse hierbei als höher eingeschätzt werden, als bei den übrigen Berichtformen. 2.2 Der Kommentar Der Kommentar gehört zu den meinungsbildenden Formen journalistischer Darstellung (Eilders/Neidhardt/Pfetsch 2004: 39ft). Indem der Autor Stellung zu einem Thema bezieht, wird dem Leser eine Orientierung geboten. Es soll ihm so erleichtert werden, ein Ereignis einzuordnen und sich eine Meinung zu bilden (vgl. Fasel 2008: 18 f., 102 ff.). Kommentiert werden die Ereignisse aus dem lokalen Bereich aber nicht nur von Journalisten, sondern vielfach auch von interessierten Bürgern, denen durch das Medium eine Plattform geboten wird. Indem Leser angesprochen und zum Mitmachen animiert werden, zeigt sich ein hoher Grad der Aktivität des Mediums. Das Medium wird aktiv, indem es seine Leser aktiviert (vgl. Bidlo: Leserreporter in diesem Band).
2.3 Die Polizei rät "Die Polizei [ist] fiir die Bürger eine wichtige (wenn nicht sogar die wichtigste, weil unspezifische) Hilfeinstitution, an die sie sich mit den verschiedensten Problemen wenden können und die rund um die Uhr verfügbar ist." (Feltes 2009, S. 107) Wohl deshalb ist die Polizei fiir die Bürger und deshalb auch fiir das Medium und seine Leser von ganz besonderer Bedeutung. Und deshalb wird die Polizei in den Zeitungen deutlich häufiger in Verbindung mit Sicherheitsthemen erwähnt als andere staatliche Akteure der Inneren Sicherheit. Viele Zeitungen verfügen deshalb über sogenannte ,Blaulichtredaktionen', also Redaktionen fiir Polizei und Feuerwehr. Und bei vielen Zeitungen gibt es sogar eine spezielle Rubrik Polizeibericht. Allerdings gilt es auch hier wegen der Vielzahl der Formate zu unterscheiden. Unter der Kategorie die Polizei rät sollen alle diejenigen Artikel zusammengefasst werden, bei denen sich die Polizei über das Medium Zeitung ausdrücklich an die Öffentlichkeit wendet, um diese (in der Regel kriminalpräventiv) zu beraten. So könnte beispielsweise zum Herbst hin von der Polizei darauf aufmerksam gemacht werden, dass sich Einbruchsdiebstähle häufen, sobald die Tage wieder kürzer und die Nächte länger werden. In diesem Zusammenhang könnte die Polizei Tipps geben, wie sich die Leser vor solchen Einbrüchen schützen können. Da die Zeitung der Polizei hier vor allem als Plattform dient, ist der Grad der Aktivität des Mediums sehr gering.
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2.4 Hilfeersuchen der Polizei Die Kategorie Hilfeersuchen der Polizei umfasst Zeitungsartikel, in denen die Polizei die Öffentlichkeit um ihre Mithilfe bei der Aufklärung von Straftaten auffordert. Diese Artikel sind in der Regel ähnlich aufgebaut, wie Artikel der Kategorie Bericht (B). Bei Hilfeersuchen der Polizei handelt es sich folglich nicht immer um die Veröffentlichung von Fotografien, mit deren Hilfe Täter identifiziert werden sollen. Genauso zählen zu dieser Kategorie auch Berichte, denen lediglich ein "Hinweise" oder "Zeugen" mit anschließend genannter Telefonnummer des zuständigen Kommissariats, angehängt wurden. Ebenso zählen hierzu die Texte, die den Leser und potentiellen Zeugen dazu auffordern, sich mit Hinweisen an die Polizei zu wenden. Auch hier ist der Grad der Aktivität des Mediums als sehr gering einzustufen.
2.5 Polizeiberichte Wie weiter oben bereits erwähnt, befindet sich in den meisten Lokalteilen der untersuchten Zeitungen eine spezielle Rubrik Polizeibericht. Darunter finden sich in der Regel eine oder mehrere kurze Meldungen zu polizeilich relevanten Ereignissen. Bei diesen Texten handelt es sich sehr häufig um Meldungen, die durch die Pressestellen der Polizei im ots-System veröffentlicht wurden und oftmals (wenn überhaupt) nur leicht verändert in dieser Rubrik abgedruckt werden.' Daher ist das aktive Wirken des Mediums in der Kategorie Polizeibericht als besonders gering einzuschätzen. Im Zuge der Datenerhebung wurde aber nur die Anzahl der Rubriken, nicht die Anzahl der darunter aufgefiihrten Meldungen erfasst. Für die nachfolgende Analyse ist von Interesse, ob und mit welcher Regelmäßigkeit die Zeitungen einen Polizeibericht eingerichtet haben. Die darunter aufgefiihrten Meldungen können keine weiteren Erkenntnisse über die Aktivität des Mediums liefern.
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Die Mitarbeiter der Polizeipressestellen geben täglich Meldungen über die wichtigsten Ereignisse des letzten Tages bzw. der letzten Nacht heraus . Seit Ende der neunziger Jahre erfolgt die Weitergabe dieser Meldungen an die Presse mittels des von der Firma news aktuell angebotenen ots-Systems. Dieses löste seit 1997 nach und nach die Versendung des Polizeiberichtes an die Medien per Fax ab (siehe hierzu ausführlich Böhm 2010) . News aktuell ist eine Tochter der Hamburger dpa-Firmengruppe und versteht sich als Mittler zwischen Pressestellen und Medien (Vgl. Konzept: news aktuell. In: Beele 2000, S. 254) . Zur Datenübersendung werden insbesondere zwei nachrichtentechnische Programme genutzt: ots. satellit und ots.e-mail. Redaktionen können die Meldungen der Polizeipressestellen nun (genauso wie die Meldungen von Nachrichtenagenturen) via Satellit empfangen. Außenbüros oder auch freie Mitarbeiter, die diese Möglichkeit nicht haben, können das Programm ots.e-mail nutzen. Hierbei werden die Meldungen direkt an die E-Mail Adressen der Journalisten geschickt.
Ereignis
Gerichtsverfahren
Ereignis oder Initiative
Initiative
Variieret (Ereignis , Institution, Person)
Bitte um Zeugenhinweise
Variiert
Bericht (B)
Bericht (C)
Bericht (D)
Bericht (E)
Kommentar
Hilfeersuchen der Polizei
Polizeibericht
Gering bis nicht vorhanden
Mittel bis gering
Hoch (Das Medium bietet einer bestimmten Person eine Plattform zur Meinuogsäußenmg.)
Gering (Das Medium als Vermittler.)
Hoch (Durch die fehlende Bezugnahme auf eine IdIS wird die Aktivität des Mediums erkennbar.)
Mittel (Das Medium dient als Vermittler.)
Mittel (das Medium dient als Vermittler)
IdIS Mittel (Institution (das Medium dient als der Inneren Vermittler.) Sicherheit)
Grad der sichtbar werdenden Aktivität des Mediums
Bericht (A)
Fokusaur
Gering
Hoch
I
I
Hoch
Gering
Gering
Gering
I
Mittel bis hoch
Gering
Gering
Gering
Grad der Subjektivität
Gering
Gering
Gering
Grad der sichtbar werdenden Aktivität der IdIS (Einßussnahme der Pressestellen)
Unter der Überschrift ,,Polizeibericht" herichtet die Polizei neutral üher ein Ereignis der Inneren Sicherheit. Dabei können auch Hilfeersuchen eingebracht werden. Das Medium wird als Vermittler genutzt .
Das Medium macht ein Innere Sicherheit betreffendes Ereignis zum Gegenstand der Berichterstattung. Es erfolgt keine explizite Bewertuog. Das Hilfeersuchen wird dabei in den Text eingegliedert.
Eine bestimmte Person kommentiert etwas oder jemanden aus seiner persönlichen Perspektive. Es erfolgt eine explizite Bewertuog.
Das Medium macht eine politische Initiative zur Inneren Sicherheit zum Thema der Berichterstattung. Es erfolgt keine explizite Bewertuog.
Ein Journalist berichtet neutral über ein Ereignis der IS, ohne Bezugnahme auf eine IdIS. Es erfolgt keine explizite Bewertung.
Das Medium macht ein Gerichtsverfahren zum Thema der Berichterstattung. Es erfolgt keine explizite Bewertuog.
Das Medium macht ein Innere Sicherheit betreffendes Thema zum Gegenstand der Berichterstattung. Es erfolgt keine explizite Bewertung.
Das Medium macht eine IdIS zum Gegenstand der Berichterstattung. Es erfolgt keine explizite Bewertuog.
Zusammenfassung
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Stefanie Böhm
3. Analyse des Datenmaterials
Bei der Sichtung derjeweils 100Lokalteile ergab sichfolgendes Bild: In derWAZ Dortmund wurde Innere Sicherheit am häufigsten thematisiert. Hier fanden sich insgesamt 392 relevante Artikel. Mitgeringem Abstand folgt die WAZ BochumWattenscheid mit 377 Artikeln zurInneren Sicherheit. Auch in der Kölnischen Rundschau konnte mit 367 Artikeln eine ähnliche Häufigkeit festgestellt werden. Etwas abgeschlagen liegtdieWAZ Essen. Hierkonnten in den 100ausgewerteten Lokalteilen nur286 Artikel zu sicherheitsrelevanten Themen gefunden werden. DieseVerteilung deutet daraufhin, dass Sicherheitsthemen in Dortmund, BochumWattenscheid und Köln von insgesamt größerer Bedeutung für den öffentlichen Diskurs sind, als in Essen. An diesen Größen lassen sichjedoch vielerlei Dinge nicht ablesen, so dass sich eine Vielzahl von Deutungsmöglichkeiten eröffnet.
Abbildung 1: Anzahl derArtikel zu Innerer Sicherheit ausje 100Zeitungsexemplaren
Innere Sicherheit schreiben - Sicherheitsthemen in Tageszeitungen
93
Sicher ist nur, dass allein die Menge derArtikel mit Sicherheitsthemen wenig überdie Bedeutung des Themas in einerKommune undnoch wenigerübermögliche Hintergründe und Ursachen dafür aussagt (vgl. Früh 2007, S. 24). Zu diesem Zweck wurde die oben beschriebene Kategorisierung vorgenommen, durch die ermöglicht werden soll, zu aussagekräftigen Ergebnissen zu gelangen. ImFolgenden werden die vier untersuchten Lokalteile jeweils einzelnbetrachtet. Dabei werden insbesondere markante Abweichungen diskutiert.
Abbildung 2: Zeitungen im direkten Verleich 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0
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19,23 %
10,2%
ffi!:8~1%!
1,33%
1,53 %
3,15 %
0,82%
0,27%
1,79%
1,4%
0,27%
1,06%
1,28%
1,4 %
Die Polizei rät
7,9%
23,94%
14,54 %
11,53 %
Hilfeersuchen der Polizei
20,16 %
0,53%
2,44%
Polizeibericht
Kommentar
mT51\%~
17,6%
5,59%
2,18%
Bericht (E)
1:19:49,%1
45,92 %
25,27 %
4,09%
Bericht (D)
IWAZ Essen
7,14%
32,71 %
26,43 %
Bericht (C)
WAZ Dortmund 9,31 %
30,25%
Bericht (B)
WAZ BochumWattenscheid 7,9%
Bericht(A)
Kölnische Rundschau
Innere Sicherheit schreiben - Sicherheitsthemen in Tageszeitungen
95
Der Lokalteil der WAZ Dortmund ist derjenige mit dem insgesamt größten Aufkommen an Artikeln, die Innere Sicherheit betreffen. Von diesen 392 Artikeln sind allein 46 Prozent der Kategorie Bericht (B) zuzuordnen. In annähernd der Hälfte der Artikel bezieht sich also Text oder Bild auf einen staatlichen Akteur der Inneren Sicherheit. Den zweitgrößten Anteil macht mit 18 Prozent die Berichterstattung über Gerichtsverfahren aus (Bericht (C). 15 Prozent stellen Hilfeersuchen der Polizei. Zehn Prozent der Gesamtsumme sind Artikel über sicherheitsrelevante Themen ohne Bezug zu den zuständigen Organen (Bericht (D). Nur zwei Prozent macht der Kommentar aus. Mit jeweils einem Prozent sind die Kategorien Die Polizei rät und Bericht (E) vertreten. Besonders hervor sticht hier das im Vergleich zu den drei übrigen Zeitungen hohe Aufkommen des Berichtstypen (B) und (D) sowie das Fehlen der Kategorie Polizeibericht (vgl. Abb. 2). Auch der Kommentar ist - obwohl zahlenmäßig generell sehr schwach angesiedelt - in den ausgewerteten Lokalteilen der WAZ Dortmund stärker vertreten als in den übrigen untersuchten Zeitungen. Dem Bericht (D) und dem Kommentar wurde ein hoher Aktivitätsgrad des Mediums beigemessen, dem Bericht (B) ein mittlerer. Dass die WAZ Dortmund gerade in diesen Kategorien im Vergleich zu den anderen Zeitungen die höchsten Werte erreicht, spricht fiir eine hohe Aktivität des Mediums. Auch das Nicht-Einrichten der Rubrik Polizeibericht, durch die wie gesagt weniger das Medium als vielmehr die Polizeipressestelle spricht, deutet auf ein betont aktives Vorgehen hin. Auch bei der WAZ Bochum-Wattenscheid machen Artikel der Kategorie Bericht (B) den größten Anteil der insgesamt 377 relevanten Artikel aus. Der Polizeibericht und Hilfeersuchen der Polizei liegen mit 25 und 24 Prozent etwa gleichauf. Neun Prozent machen die Berichterstattung unmittelbar über staatliche Akteure der Inneren Sicherheit (Bericht (A) aus. Artikel, in denen diese trotz eindeutigem Themenbezug nicht erwähnt werden (Bericht (D», stellen sechs Prozent der Gesamtzahl. Der Polizeibericht, Berichte über politische Initiativen (Bericht (E) und die Kategorie die Polizei rät sind mit nur jeweils einem Prozent vertreten. Kommentare zum Thema Innere Sicherheit sind mit 0,27 Prozent machen einen nahezu verschwindend geringen Anteil aus.
Stefanie Böhm.
96
Abbildung 4: WAZ Dortmund Bericht (A)
Hilfee rsuch en die P olizei rat 1?o
der Polizei l S? o
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Bericht (E ) j,
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Abbildung 5: WAZ Bochum-Wattenscheid Polizeibericht 1° 0
Bericht (E ) 1?o
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Innere Sicherheit schreiben - Sicherheitsthemen in Tageszeitungen
97
Vetglichen mit den Ergebnissender drei weiteren untersuchten Lokalteile weist dieWAZ Bochum-Watteoscheidkeioe besonderenAuflälligkeiten auf,die auf eine überdurchschnittliche Aktivität des Mediums hinweisen könnten (vgl. Abb. 2). Zwarist hierin derKategorie Hilfeersuchen der Polizei der mitAbstandhöchste Wert zu finden, doch spricht auchdasnicht für, sondern ehergegen ein verstärktes Anflreteodes Mediums als Akteur, deun in dieser Kategorie dient die Zeitung der Polizei lediglich alsVermittler ihrer Interessen. So wie in den übrigen untersuchtenLokalteilenderZeitungen,ist auchin der Kölnischen Rundschau die KategorieBericht (B) mit 30 Prozent am stärksten vertreten. Einen mit 27 Prozent vergleichbargroßenAnteil hat hier aber die Berichterstattungüber Gerichtsverfahren (Bericht (C)). Auffälligist vor allem das relativ häufige Vorkommen des Polizeiberichts, der20 Prozent der367Artikel zu Innerer Sicherheit ausmacht. Acht Prozent stellenHilfeersuchen der Polizei, vier Prozent Berichte übersicherheitsrelevante Themen ohneEinbezug von Polizei,Feuerwehr und Co. Zwei Prozent derArtikel beschäftigen sichmit Initiativen der Politik. Der Kommentar ist auchhiermit nur einem Prozent kaum vertreten.
Abbildung 6: Kölnische Rundschau
Bericht (E)
Dass in den Lokalteilen der Kölnischen RundschauHilfeersuchen derPolizei verglichenmit den anderen untersuchten Zeitungen amseltensten zu finden sind(vgl.
Stefanie Böhm
98
Abb. 2), ist mit dem sehr kontinuierlichen Erscheinen des Polizeiberichts zu erklären, in dem im Falle der Kölnischen Rundschau zumBeispiel auchFahndungsfotos veröffentlicht werdeo. Die im Vergleich niedrigsten Werte sind hier außerdem in deo KategorienBericht (B), Bericht (D) und die Polizei rät zu finden. Insgesamt erscheint dieKölnische Rundschau hierals wenig eigeninitiativ, sondern vielmehr als Vermittler sicherheitsrelevanter Themen. In den ausgewerteten Lokalteilen der WAZ Essen, der Zeitung mit den insgesamt weuigsten Artikeln zu Sicherheitsthemen (vgl. Abb. I), sind 40 Prozent
der 286 Artikel der Kategorie Bericht (B) zuzuordoen. 19 Prozent stellt die Berichterstattung über Gerichtsverfahren (Bericht (C). Einen Aoteil von jeweils 11 Prozent haben Artikel, die unmittelbar über einen staatlichen Akteur der Inneren Sicherheit berichten (Bericht (A) und diejeuigen, welche vollständig auf deren Erwähnung verzichten (Bericht (D). Politische Iniriativen (Bericht (1i) machen bei derWAZ Essen drei Prozent aus. Kommentare und die Kategorie die Polizei rät haben nureinenAnteil von jeweils einemProzent.
Abbildung 7: WAZ Essen die Polizei rät 1?o
Hilfeersuchen
Polizeibericht
der Polizei 12? o
K Oll111.1e11t
1°0 " Beri cht (E) - - ---I..... 3?o
Zwar ist die WAZ Essen in keioer Kategorie deutlicher Spitzenreiter, doch liegt derprozentualeAoteil häufig über dem Durchschuill (vgl. Abb. I). In deoKatego-
rien, dieaufeine besonders hohe Aktivität desMediums hinweisen, dem Bericht
Innere Sicherheit schreiben - Sicherheitsthemen in Tageszeitungen
99
(D) und dem Kommentar, erreicht die WAZ Essen im ersten Fall den höchsten Wert, im zweiten Fall liegt sie mit nur geringem Abstand hinter der WAZ Dortmund an zweiter Stelle. Auch in der Kategorie Bericht (B), derfür einen mittleren Aktivitätsgrad des Mediums spricht, erzielt die WAZ Essen den zweithöchsten Wert. Dagegen erschienen relativ wenige Artikel aus den drei Kategorien, in denen das Medium am wenigsten als Akteur und am stärksten als Vermittler auftritt (die Polizei rät, Hilfeersuchen der Polizei und der Polizeibericht). Es scheint so, dass - obwohl die WAZ Essen insgesamt am wenigsten über sicherheitsrelevante Themen berichtet - sie dennoch einen im Vergleich hohen Grad der Aktivität an den Tag legt. Diese ersten, eher deskriptiven Ergebnisse sollen in einem zweiten Schritt im Hinblick auf den Aktivitäts- und Vermittlungsgrad der Medien gewichtet werden. Zu diesem Zweck werden im Folgenden jeder der oben angefiihrten Kategorien Gewichtungspunkte zugeordnet - je nach Grad der erkennbaren Eigenaktivität des Mediums bzw. dem Grad, in dem es einem anderen Akteur der Inneren Sicherheit als Plattform, als Vermittler seiner Informationen dient. Jeder Kategorie werden also zwei Werte zugeordnet: einenfür den Aktivitätsgrad und einenfür den Vermittlungsgrad. Die Punktevergabe erfolgt folgendermaßen: Zur Bestimmung des Aktivitätsgrades: •
•
•
3
Faktor(Akteur/ I bei einer nicht sichtbaren expliziten Aktivität des Mediums: Im Text zeigt sich, dass ein anderer Akteur der Inneren Sicherheit die Zeitung als Plattform zur Verbreitung seiner Informationen nutzt. Das Medium dient einem erkennbar aktiven anderen Akteur der Inneren Sicherheit als Vermittler und ist selbst nicht erkennbar aktiv. Faktor; 2 bei einer geringen expliziten Aktivität des Mediums: Im Text zeigt sich, dass ein anderer Akteur der Inneren Sicherheit die Zeitung als Plattform zur Verbreitung seiner Informationen nutzt. Das Medium dient einem erkennbar aktiven anderen Akteur der Inneren Sicherheit als Vermittler und ist selbst nur in einem sehr eingeschränkten Maße aktiv. FaktorA 3 bei einer mittleren expliziten Aktivität des Mediums: Die Aktivität einer Zeitung tritt deutlich zutage. Die explizite Aktivität eines anderen Akteurs der Inneren Sicherheit, über den berichtet wird oder von dem die Informationen stammen, über die berichtet wird, ist nur sehr schwach erkennbar.
Im Folgenden: FaktorA
100 •
StefanieBöhm Faktor; 4 bei einer hohen expliziten Aktivität des Mediums. Das Medium wird in diesem Fall nicht oder nicht sichtbar von einem anderen Akteur der Inneren Sicherheit als Plattform genutzt.
Zur Bestimmung des Vermittlergrades: •
Faktor(Vermittler)4 1, wenn im Text keine explizite Aktivität eines anderen Akteurs der Inneren Sicherheit als der Zeitung erkennbar ist. Das Medium stellt sich nicht als Vermittler von Information dar, sondern als Akteur im Feld der Inneren Sicherheit.
•
Faktor., 2, wenn im Text eine geringe explizite Aktivität eines anderen Akteurs der Inneren Sicherheit als der Zeitung erkennbar ist. Das Medium stellt sich auch hier nicht als Vermittler von Information dar, sondern ist immer noch deutlich als Akteur im Feld der Inneren Sicherheit zu erkennen.
•
Faktor., 3, wenn im Text die explizite Aktivität eines anderen Akteurs der Inneren Sicherheit als der Zeitung deutlich sichtbar ist. Das Medium wird von diesem Akteur erkennbar als Plattform bzw. als Vermittler von Information genutzt. Die explizite Aktivität des Mediums ist geringer als die des anderen Akteurs der Inneren Sicherheit.
•
Faktor., 4, wenn im Text die explizite Aktivität eines anderen Akteurs der Inneren Sicherheit als der Zeitung sehr deutlich erkennbar ist. Der andere Akteur der Inneren Sicherheit benutzt das Medium in einem hohen Maße als Vermittler seiner Informationen. Die explizite Aktivität des Mediums ist hier überaus gering.
In Anlehnung an die zuvor entwickelte Kategorisierung ergibt sich folgendes Bild:
4
Im Folgenden: Faktor,
Innere Sicherheit schreiben - Sicherheitsthemen in Tageszeitungen
101
Abbildung 8: Bestimmung des Aktivitäts- und Vermittlergrades der einzelnen Kategorien Faktor, 1 = keine erkennbare, 4 = hohe explizite Aktivität eines Mediums
Faktor; 1 = keine erkennbare, 4 = hohe Aktivität eines anderen Akteurs der Inneren Sicherheit, dem das Medium als Vermittler dient.
3
Bericht (A)
2
Bericht (B)
3
2
Bericht (C)
2
3
Bericht(D)
4
1
Bericht (E)
2
3
Kommentar
4
1
Die Polizei rät
1
4
Hilfeersuchen der Polizei
2
3
Polizeibericht
1
4
Im Ergebnis, also dem Aktivitäts- und dem Vermittlerindex, muss sich zum einen widerspiegeln, wie gering oder wie hoch der Grad der Aktivität und analog dazu der Grad der Vermittlerfunktion des Mediums in jedem einzelnen Artikel ist. Zum anderen muss im Ergebnis zum Ausdruck kommen, in welchen Häufigkeiten Artikel einer jeweiligen Kategorie vorhanden sind. Der Faktor (Häufigkeit)! ergibt sich wie folgt: Faktor., 1 entspricht 1-10 % FaktorH2 entspricht 10-20 % Faktor., 3 entspricht 20-30 % Faktor., 4 entspricht 30-40 % Faktor., 5 entspricht 40-50 % Wie der Aktivitätsindex fiir eine jeweilige Zeitung ermittelt wird, soll hier exemplarisch an der WAZ Essen dargestellt werden: 10,49 Prozent der Artikel in der WAZ Essen konnten der Kategorie Bericht (A) zugeordnet werden. Der Bericht (A) spricht fiir einen niedrigen Aktivitätsgrad 5
Im Folgenden: Faktor.,
Stefanie Böhm
102
des Mediums (Faktor; 2, vgl. Abb. 7). Ein Anteil von 10,49 Prozent entspricht dem Faktor., 2): 2x2=4 Diese Rechnung wird :fürjede Kategorie durchgeführt: ---+ Bericht (B): 4 x 3 = 12; ---+ Bericht (C): 2 x 2 = 4; ---+ Bericht (D): 2 x 4 = 8; ---+ Bericht (E): I x 2 = 2; ---+ Kommentar: I x 4 = 4; ---+ Die Polizei rät: 1 x 2 = 2; ---+ Hilfeersuchen der Polizei: 2 x I = 2; ---+ Polizeibericht: 1 x 1 = 1 Die so erhaltenen Werte, die die Aktivität des Mediums in den einzelnen Kategorien widerspiegeln, werden summiert. Im Falle der WAZ Essen erhält man einen Aktivitätsanteil von 39. Dieselbe Rechnung wird auch zur Ermittlung des Vermittlerindexes durchgeführt: Hier erhält man einen Vermittleranteil von 40. Anschließend werden diese beiden Werte wieder addiert. Die Summe sämtlicher Ergebnisse (79) wirdfür die folgende Rechnung als 100 Prozent zugrunde gelegt. Ermittelt man den prozentualen Anteil der Werte 39 und 40 an 79, erhält man einen Aktivitätsindex von 49,37 Prozent und einen Vermittlerindex von 50,63 Prozent.
Abbildung 9: Übersicht: Aktivitätsindex - Vermittlerindex (On air) Aktivitätsindex
Vermittlerindex
WAZEssen
49,37%
50,63 %
WAZ Dortmund
51,25 % 47,5% 45%
48,75 % 52,5%
WAZ Bochum-Wattenscheid Kölnische Rundschau
55%
Die erhaltenen Ergebnisse verdeutlichen, in welchem Maße die Medien als Akteur und als Vermittler on air tätig sind. Die WAZ Dortmund ist in diesem Vergleich die einzige Zeitung mit einem Aktivitätsindex über 50 Prozent, wobei auch der Aktivitätsindex der WAZ Essen nur geringfügig unterhalb dieses Wertes liegt (vgl. Abb. 8). Dieses Ergebnis bestätigt die zuvor angestellte Beobachtung, dass es sich bei diesen beiden Zeitungen um sehr aktive Medien handelt. Insbesondere
Innere Sicherheit schreiben - Sicherheitsthem.en in Tageszeitungen
103
die Kölnische Rundschau weist mit 55 Prozent einen hohen VermittIerindex auf. Dieses Ergebnis spricht dafür, dass sie mehr als Vermittler, deno als Akteur tätig ist. Auch hier koonten die im ersten Schritt aogestellten Vermutungen bestätigt werden. Die WAZ Bochum-Wattenscheid befindet sich mit einemAktivitätsindex von 47,5 Prozent und einem Vermittlerindex von 52,5 Prozent eher im Mittelfeld.
Abbildung 10: Initiativen der Zeitungen • Gesamtzahl derrele vanten Art ikel von insgesamt 100 ausgewe rtetenLokalteilen der Zeit ung en
• Initiativen derZeitung e nzum Thema Innere Siche rheit. üb el' die berichtet wurde
Ein besonderer Fall in der Analyse ist die Betrachtung der Fälle, in denen das Medium im Text über sich selbst als aktiven Akteur berichtet, also dass es eine Veraostaltung zur Inneren Sicherheit organisiert hat oder aufeinen Missstaod hingewiesen hat, der daun beseitigt wurde. Entgegen der Erwartungen faoden sich solche Berichte sehr selten. Unter den 286 Artikeln mit sicherheitsrelevaoten Themen in der WAZ Essen fanden sich nur ein Artikel der eben beschriebenen Art. Bei der WAZ Dortrnund waren es nur zwei von insgesamt 392 Artikeln, bei der WAZ Boehum-Wattenscheid nur einer von insgesamt 376 Artikeln. Auch bei der Kölnischen Rundschau fiel das Ergebnis ähnlich dünn aus. Hier konnte einer aus 367 Artikeln gefimden werden, in dem die Zeitung über sich als Akteur berichtete. Dies ist für
104
Stefanie Böhm
uns ein höchst überraschendes Ergebnis, denn es legt aufden ersten Blick den Eindruck nahe, als würden die untersuchten Printmedien deutlich mehr als Vermittler agieren, denn als eigenständiger Akteur mit eigenständigen Interessen. Diese Ergebnisse widersprechen eklatant den Interviewäußerungen, die wir im Rahmen der Projektarbeit mit Journalisten geführt haben. Dort wurde nämlich in allen Interviews betont, wie aktiv sich die eigene Zeitung in Fragen der Inneren Sicherheit einbringe. Immer wieder berichteten Journalisten (auch anband diverser Beispiele), wie erst durch ihren Einsatz und ihre Nachforschungen die Polizei und die Politik auf Missstände aufmerksam gemacht worden sei und im Folgenden auch bearbeitet wurden", Es ist erstaunlich, wie sehr diese Interviewäußerungen und die Ergebnisse der quantitativen Auswertung der in den einzelnen Zeitungen erschienenen Artikel, divergieren. Eine mögliche Erklärung fiir diesen Widerspruch ist, dass die Journalisten selektiv das seltene Besondere betonten (und sich damit rühmten), jedoch das überall anzutreffende Alltägliche ausblendeten. Allerdings konnten wir auch bei den Feldaufenthalten bei Zeitungsredaktionen und Pressestellen von staatlichen Akteuren der Inneren Sicherheit wiederholt Zeugen von initiativem Vorgehen verschiedener Medien werden. Eine Erklärung fiir die stark voneinander abweichenden Resultate ist, dass die Medien zwar Einiges durch ihre Aktivität anstoßen, jedoch darüber nicht explizit berichten. Die Frage ist allerdings, weshalb sie das tun oder genauer: weshalb sie das nicht tun, ist doch anzunehmen, dass die Berichterstattung über vom Medium in Gang gesetzte Prozesse als eine zugkräftige Werbung in eigener Sache anzusehen wäre. Die Ergebnisse aus dem ersten Teil dieser Untersuchung haben jedoch gezeigt, dass die Aktivität eines Mediums nicht nur durch das zur Sprache bringen der eigenen Initiativen sichtbar wird. Vielmehr zeigt sich der Grad der Aktivität in Feinheiten wie zum Beispiel den fehlenden Verweisen auf staatliche Akteure der Inneren Sicherheit, so dass sich das Medium als einzige Referenz fiir den Leser platziert. In der nächsten Zukunft wäre daher zu untersuchen, ob die offairAktivitäten der Printmedien on air in die Berichterstattung mit einfließen und sie teilweise bestimmen, bloß als solche nicht deklariert werden. Es scheint, als würde Aktivität on air nicht so deutlich angezeigt werden. An dieser Stelle kann nicht abschließend geklärt werden, aus welchem Grund die untersuchten Printmedien ihre Leserschaft nicht in größerem Umfang über 6
Vgl. Interview M3, Z. 211-254. Die im Rahmen des DFG Projektes gefiihrten Interviews können nach Absprache eingesehen werden .
Innere Sicherheit schreiben - Sicherheitsthemen in Tageszeitungen
105
ihre Initiativen, offair stattfindenden Bemühungen und die durch sie angestoßenen Prozesse in Kenntnis setzen.
3.1 Ein Mangel an Vitamin B als Indikator für Aktivität? Möglicherweise lässt sich anband des gesammelten Datenmaterials nicht nur etwas über den Grad der Aktivität oder der Vermittlerfunktion sagen, sondern darüber hinaus auch etwas über das Verhältnis eines Mediums zu den verschiedenen (staatlichen) Akteuren der Inneren Sicherheit. Während der Erstellung der Kategorien wurde versucht, sämtliche Akteure der Inneren Sicherheit mit aufzunehmen. Wie zuvor beschrieben, wird jedoch bei Sicherheitsthemen im lokalen Bereich insbesondere auf Informationen der Polizeipressestellen zurückgegriffen. Dieser Umstand zeigt sich unter anderem in der Existenz des Polizeiberichtes (ein ,Feuerwehr- oder ,Ordnungsamtbericht' wurde von keiner Zeitung eingerichtet). Auch ist die Polizei der einzige staatliche Akteur der Inneren Sicherheit, dem die Zeitungen in dem Maße (wie zum Beispiel in den Kategorien die Polizei rät und Hilfeersuchen der Polizei) eine Plattform bieten. Für andere staatliche Akteure der Inneren Sicherheit existieren keine ähnlichen Formate. Aus diesem Grund muss sich die nachstehende Betrachtung in erster Linie aufden Zusammenhang der Aktivität eines Mediums und seinem Verhältnis zur örtlich zuständigen Polizeipressestelle konzentrieren. So könnte zum Beispiel ein geringer Anteil in den Kategorien Polizei rät, Hilfeersuchen der Polizei und dem Polizeibericht darauf hindeuten, dass zu der Pressestelle der ortsansässigen Polizeibehörde keine guten Verbindungen bestehen. Auch ein überdurchschnittlich hohes Vorkommen der Kategorie Bericht (D) würde dafür sprechen. Denn an dieser Stelle werden staatliche Akteure der Inneren Sicherheit bewusst oder unbewusst ausgeklammert. Ein wenig gutes Verhältnis zu den Pressestellen von staatlichen Akteuren der Inneren Sicherheit könnte zur Folge haben, dass ein Medium verstärkt eigeninitiativ agieren muss. Diese Annahme soll im Folgenden anband der vier exemplarisch gewählten Zeitungen überprüft werden. Insbesondere bei der WAZ Dortmund lassen sich verschiedene Auffälligkeiten erkennen. Von allen untersuchten Zeitungen wurde hier der geringste Anteil der Berichte in der Form (A) geschrieben. Dadurch, dass im Bericht (A) unmittelbar über einen staatlichen Akteur der Inneren Sicherheit berichtet wird, kann hierfür eine Kooperation desselben mit dem Medium vonnöten sein. Für einen ausführlichen Bericht über beispielsweise die Polizei braucht ein Journalist ausführlichere Informationen zu den Vorgängen, über die berichtet werden soll. Die Details, die man in den im ots-System veröffentlichten Meldungen erfahren kann,
106
Stefanie Böhm
reichen für einen ausführlichen Bericht in der Regel nicht aus. Die Mitarbeiter der Polizeipressestellen geben in der Regel mit voller Absicht nur spärliche Informationen über ihre veröffentlichten Meldungen heraus. Der allgemeine Tenor unter den Pressesprechern ist, dass interessierte Journalisten ja gerne anrufen können, um weitere Details zu erfahren. Somit liegt es letzten Endes zu einem großen Teil in den Händen der Pressestellen, wer welche (ausführlicheren) Informationen erhält. 7 Aus diesem Grund kann ein überdurchschnittlich niedriges Aufkommen der Kategorie Bericht (A) darauf hinweisen, dass einem Medium der gute Draht zu Pressestellen von staatlichen Akteuren der Inneren Sicherheit, mit denen man kooperieren könnte, fehlt. Der nächste auffällige Aspekt ist der überdurchschnittlich hohe Anteil des Berichtstypus (D) in der WAZ Dortmund. Dieser steht nicht nur, wie zuvor beschrieben, für eine hohe Eigeninitiative des Mediums, sondern kann bei vermehrtem Vorkommen auch ein Hinweis auf ein weniger gutes Verhältnis zu staatlichen Akteuren der Inneren Sicherheit sein. Schließlich stellt sich die Frage: Warum sollte ein Medium über ein sicherheitsrelevantes Thema berichten, zu dem die Informationen in der Regel durch die Pressestellen von staatlichen Akteuren der Inneren Sicherheit veröffentlicht wurden, und selbige dennoch nicht mit einem Wort in dem verfassten Artikel erwähnen? So dient der Verweis auf die Feuerwehr, Polizei etc. in der Regel doch als Referenz, als Beleg für die Richtigkeit der Informationen wie im Bericht (B). Wie zuvor beschrieben bleibt dem Leser so nur das Medium als Bezugspunkt. Es ist daher zu vermuten, dass mit der Formulierung eines Artikels als Typus (D) eine Abgrenzung zu dem betreffenden staatlichen Akteur der Inneren Sicherheit vorgenommen wird. In dieselbe Richtung deutet der komplette Verzicht auf die Einrichtung des Polizeiberichts. Richten die WAZ Essen und die WAZ Bochum-Wattenscheid zumindest in seltenen Fällen den Polizeibericht ein, so springt bei der WAZ Dortmund dessen völliges Auslassen ins Auge. Auch der Bericht (C) ist hier sehr selten vertreten. Informationen über laufende Verfahren erhalten Journalisten unter anderem durch die Pressestellen der Staatsanwaltschaft. Die Tatsache, dass in der WAZ Dortmund am wenigsten über Gerichtsverfahren berichtet wird, kann einerseits auf ein weniger gutes Verhältnis zu letzterer hinweisen. Da Journalisten offenen Verfahren jedoch selbst beiwohnen können, ist diese Möglichkeit eher unwahrscheinlich. Die im Gegensatz zu dem Bericht (C) überdurchschnittlich häufigen Berichtstypus (B) lässt vermuten, dass hier lediglich ein anderer Interessenschwerpunkt bei der Berichterstattung über Sicherheitsthemen besteht. 7
Während Feldaufenthalten in Pressestellen staatlicher Akteure der Inneren Sicherheit konnte beobachtet werden, dass die beschriebene Handhabung gängige Praxis ist.
Innere Sicherheit schreiben - Sicherheitsthemen in Tageszeitungen
107
Dennoch existieren mit dem im Vergleich niedrigsten Aufkommen des Berichts (A), dem überdurchschnittlich hohen Vorkommen des Berichts (D) und dem Fehlen des Polizeiberichts drei Faktoren, die auf weniger gute Kontakte zu - in diesem Fall- der Polizeipressestelle hinweisen. Gerade in Dortmund scheint jedoch das Interesse an Sicherheitsthemen überdurchschnittlich hoch zu sein (vgl. Abb. 1). Die WAZ Dortmund erreichte zudem mit 51,25 Prozent den höchsten Aktivitätsindex. Die Vermutung scheint sich hier zu bestätigen, dass ein Medium, das Schwierigkeiten hat, über eine Pressestelle eines staatlichen Akteurs der Inneren Sicherheit an tiefergehende Informationen zu gelangen, diesen Umstand durch größere Eigeninitiative auszugleichen. Es gilt nun zu überprüfen, inwieweit diese Annahme einer Gegenprobe standhält. Ist die Vermutung korrekt, so sollte ein Medium mit einem niedrigeren Aktivitätsindex Merkmale aufweisen, die aufgute Verbindungen zu Pressestellen staatlicher Akteure der Inneren Sicherheit hinweisen. Zwar ist die Kölnische Rundschau das Medium mit dem niedrigsten Aktivitätsindex, doch wird durch die kontinuierliche Inanspruchnahme des Polizeiberichts eine leicht andere Gewichtung erzielt, die das Ergebnis des Vergleichs mit der WAZ Dortmund verzerren könnte. Daher wird an dieser Stelle ein Medium aus demselben Hause, der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, herangezogen. Der Aktivitätsindex der WAZ Bochum-Wattenscheid weicht nur um 2,5 Prozentpunkte von dem der Kölnischen Rundschau ab und ist von daher genauso fiir einen Vergleich mit der WAZ Dortmund geeignet. Bei der WAZ Bochum-Wattenscheid ist insbesondere das deutlich niedrigere Vorkommen der Berichtform (D) und das signifikant hohe Auftreten von Artikeln der Kategorie Hilfeersuchen der Polizei auffällig (vgl. Abb. 2). Durch die Formatierung eines Artikels als Bericht (D) löst sich das Medium von den staatlichen Akteuren der Inneren Sicherheit los. Auf diese Möglichkeit wird bei der WAZ Bochum-Wattenscheid in etwa nur halb so oft zurückgegriffen wie bei der WAZ Dortmund. Die Kategorie Hilfeersuchen der Polizei ist dagegen um knappe zehn Prozentpunkte häufiger vertreten. Diese beiden Umstände können auf ein gutes Verhältnis zur ortsansässigen Polizeipressestelle hinweisen. Indikatoren, die aufmangelnde Verbindungen hinweisen könnten, wie ein unterdurchschnittliches Aufkommen des Berichts (A) oder ein völliges Ausklammern des Polizeiberichts, können nicht gefunden werden. Hier zeichnet sich ein im Vergleich mit der WAZ Dortmund relativ gutes Verhältnis zu der Polizeipressestelle ab. Auch an dieser Stelle bestätigt sich die Vermutung, dass ein Medium, das enge Kontakte zu der Pressestelle eines staatlichen Akteurs der Inneren Sicherheit unterhält, in geringerem Maße aktiv werden muss, als ein Medium mit weniger guten Verbindungen. Denn enge Kontakte bedeuten in der Regel einen besseren Infor-
108
Stefanie Böhm
mationsfluss seitens der Pressestellen. Medien, denen diese Quellen verschlossen bleiben, sind also gezwungen, andere Wege zu gehen. Insbesondere der Berichtstypus (D) scheint dabei eine Form zu sein, die genutzt wird, um über Sicherheitsthemen zu schreiben, ohne dass hierzu tiefergehende Informationen von den Pressestellen geliefert werden müssen. Denn unter der Kategorie Bericht (D) wurden zum einen Artikel gefasst, welche Informationen beinhalteten, die offensichtlich von der Pressestelle eines staatlichen Akteurs der Inneren Sicherheit geliefert wurden und zum anderen auch solche Artikel, die zum Beispiel über Initiativen von nichtstaatlichen Akteuren wie Schule oder Verkehrsclubs berichten. Des weiteren hat ein Printmedium die Möglichkeit, durch den Kommentar Sicherheitsthemen aufzugreifen. Diese Option wird allerdings nur selten genutzt.
4. Fazit Aufgrund der durchgefiihrten Datenanalyse lassen sich über die oben bereits genannten Einzelergebnisse folgende Thesen zum Aktivitätsgrad einer Zeitung mit guten Gründen rechtfertigen: •
•
• •
Die Menge der in den untersuchten Zeitungen abgedruckten Artikel zu sicherheitsrelevanten Themen ist wenig aussagekräftig, um den Grad der Aktivität eines Mediums zu bestimmen. Anhand der prozentualen Verteilung der Zeitungsartikel innerhalb der Kategorien lassen sich deutliche Tendenzen bezüglich der Aktivität eines Mediums ausmachen. Über eigene Initiativen der Zeitungen zu Sicherheitsthemen wurde deutlich weniger im Medium informiert als erwartet wurde. Medien, die weniger gute Kontakte zu Pressestellen staatlicher Akteure der Inneren Sicherheit unterhalten, sind gezwungen, eine größere eigene Aktivität an den Tag zu legen, um über Sicherheitsthemen informieren zu können.
Das überraschende Ergebnis der hier vorgelegten Inhaltsanalyse von Zeitungen aus dem Ruhrgebiet war, dass (entgegen der Erwartungen) die Zeitungen recht wenig explizit als Akteure auftraten bzw. sich on air als Akteure ,outeten'. Dies widerspricht eklatant (a) den Aussagen von Journalisten/innen, die in den parallel gefiihrten Interviews, geäußert wurden und (b) den Beobachtungen, die im Rahmen der Projektarbeit bei Feldaufenthalten gemacht wurden. In den Interviews wurde nämlich immer wieder und meist sehr stolz auf (erfolgreiche) Aktionen der Zeitungen hingewiesen, und bei unseren Feldbeobachtungen wurden wir immer wieder Zeugen, wir die Zeitungen aktiv in das gesellschaftliche Geschehen eingriffen.
Innere Sicherheit schreiben - Sicherheitsthemen in Tageszeitungen
109
Erste Hypothesen, die den genannten Widerspruch aus der ,Beschaffenheit der Daten' erklären könnten, sind: (a) In den Interviews werden vereinzelte Aktionen der Medien in den Erinnerungen der Erzähler/innen selektiv so verdichtet, dass ihre Anzahl größer erscheint als sie tatsächlich ist. (b) In den Erinnerungen der Beobachter werden Einzelaktionen der Medien selektiv so verdichtet, dass ihre Anzahl größer erscheint als sie tatsächlich ist. Erste Hypothesen, die den Widerspruch aus der Praxis der Zeitungsarbeit erklären sind: (c) Die Zeitungen haben zu einem früheren Zeitpunkt häufiger aktiv eingegriffen als im Untersuchungszeitraum", (d) Die Zeitungen haben aus Werbezwecken schon immer mehr über eigene Aktionen gesprochen bzw. sie angekündigt, als sie auszuführen. (e) Die Zeitungen haben Gründe dafür, ihre Rolle als eigenständige Akteure im öffentlichen Diskurs herunter zu spielen. Ob eine oder keine dieser Hypothesen zutrifft, das ist in weiteren Forschungsarbeiten zu klären.
Literatur Beele, Karl (2002): Pressearbeit der Polizei: ein Leitfaden Für die Praxis. 2. Aufl, Hilden/Rhld.: Verlag deutsche Polizeiliteratur. Böhm, Stefanie (2010) : Von der Schreibmaschine zu news aktuell- Zum Wandel der Aufgabe von Polizeipressestellen. Essen (unveröffentlichtes Manuskript; Magisterarbeit). Eilders, Christiane (2008): Massenmedien als Produzenten öffentlicher Meinungen. In: Barbara Pfetsch/ Silke Adam (Hrsg.) Masseumedien als politische Akteure. Wiesbaden: VS Verlag. S. 27-51. Eilders, ChristianelNeidhardt, FriedhelmlPfetsch, Barbara (2004) : Die Stimme der Medien. Wiesbaden: VS Verlag. Fasel, Christoph (2008): Textsorten. Wegweiser Journalismus. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH. Feltes, Thomas (2009): Akteure der Inneren Sicherheit: Vom Öffentlichen zum Privaten. In: Lange, Ohly, Reichertz (2009) : Auf der Suche nach neuer Sicherheit. Fakten, Theorien und Folgen. 2. Aufl, 105-113. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Früh, Wemer (2007): Inhaltsanalyse. 6. Aufl, Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH. 8
Betrachtet man den Zeitungsmarkt (z.B. Heinrich 2010: 229-333) und wertet man die Interviews aus, die im Rahmen es Projekts mit Journalisten/Innen geführt wurden, dann muss davon ausgegangen werden, dass aufgrund des allgemeinen Kostendrucks viele Blaulichtredaktionen bei den Zeitungen aufgelöst oder zumindest ausgedünnt wurden. Die Folgen dieser (nicht nur in Deutschland zu beobachtenden) Veränderung der Verlagspolitik waren: (a) Personell und auch finanziell sind viele Redaktionen gar nicht mehr in der Lage, eigenständig aktiv zu werden (vgl. auch Langer 2010), (b) die personellen (und belastbaren) Netzwerke zwischen den (Blaulicht-) Journalisten und den Polizisten verfallen inuner mehr bzw. entstehen auch immer weniger - was weitreichende Folgen für die ,Qualität' der Berichterstattung über Innere Sicherheit hat.
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Stefanie Böhm
Heinrich, Jürgen (2010): Medienökonomie. Bd. 1. Wiesbaden: VS Verlag. Langer, Ulrike (2010): Journalismus unter Zugzwang. In : Tendenz. (2). S. 8-13. Pfetsch, BarbaraIAdam, Silke (2008): Massenmedien als politische Akteure. Wiesbaden: VS Verlag. Reichertz, Jo (2007): Medien als selbständige Akteure. In : Aus Politik und Zeitgeschehen. APuZ. 12.2007.25-31. Reichertz, Jo (2011): Die Medien als Akteure in der Debatte um (mehr) Sicherheit. In diesem Band.
Von Lesereportern und Kontrolleuren. Medien und Bürger als Akteure der Überwachung
Oliver Bidlo
Einleitung Im Rahmen des aktuellen Sicherheitsdiskurses, der kennzeichnet ist von der Herausbildung, Um- und Neuverteilung von Aufgaben zur Inneren Sicherheit, kommen die Medien, ihre Bedeutung für diesen Diskurs und ihre Aktivitäten in diesem Prozess nur allmählich in den Blick (vgl. Reichertz 2010: 42). Medien sind nicht nur ein wichtiger Teil dieses Prozesses, indem sie über Sicherheit, Kriminalität und Kontrolle berichten und auch das Feld bestimmten, wie die Akteure sich in den Medien verhalten müssen - Stichwort Medialisierung -; sie verändern und bringen vielmehr neue Artikulationsformen hervor, die den Nutzern und Rezipienten neue Rollen zukommen lassen (vgl. JäckeIJMai 2008). Und damit mediatisieren (zur Unterscheidung in diesem Kontext vgl. Reichertz 2010: 48ff.) sie den Sicherheitsdiskurs, indem sie nicht nur die Arena (z.B. die jeweiligen Sendeformate oder die Sendezeit) für die jeweiligen Akteure zur Verfügung stellen oder über das berichten, was passiert; sie werden vielmehr selbst Akteure in diesem Feld mit eigenen Meinungen, Deutungsangeboten, aber auch Praktiken, die - intendiert oder unintendiert - gewisse sicherheitsrelevante Aspekte unterstützen. Gemeint ist in diesem Kontext die Verquickung von eigenen Aktivitäten, der Aktivierung anderer und der Zur-Verfügung-Stellung eines Distributionskanals. Und dadurch nehmen die Medien eine polizierende (vgl. Reichertz 2010: 43 und allgemein Reichertz 2007b) und manchmal auch kustodialisierende (vgl. van EIsbergen 2004) Funktion wahr. Diese Punkte gerinnen in der medialen Formation des Leserreporters, um den es im weiteren Verlauf dieses Beitrages gehen soll. Denn bisher wird das Thema "Überwachung des Alltags" zumeist unter dem Gesichtspunkt .Big Brother" diskutiert, und als Schlüsselmetapher kann man in diesem Zusammenhang das Benthamsche Panoptikum verstehen. 1 Damit ist gemeint, dass der Staat oder andere Bentham entwarf zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Modell- das Panoptikum - zum Bau von Gefängnissen und ähnlichen Einrichtungen. Das Besondere daran waren drei wesentliche
O. Bidlo et al. (Hrsg.), Securitainment, DOI 10.1007/978-3-531-93077-0_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Institutionen (z.B. Unternehmen) mit einem elektronischen Blick den Menschen ins "Visier" nehmen, entweder um ihn zu kontrollieren oder um ihn zu profilieren, d.h. ein Bewegungs-, Kauf-, Arbeits- oder allgemein ein Verhaltensprofil zu erstellen (vgl. z.B. Greif/Mitrea et.al. 2008 und dort besonders Horster/Schartner oder Hempel/Metelmann2005). Der einzelne Mensch steht in dieser Perspektive einem übermächtigen Anderen gegenüber, der über ihn wacht. Das Unbehagen, das das Wort "Überwachung" in diesem Kontext mit sich führt, liegt in seiner Verhaltenskontrolle oder zumindest in dem Anstreben derselben. Überwachung will kontrollieren, von deviantem Verhalten abhalten, ein mögliches Abweichen sichtbar machen und im besten Falle eine Ahndung ermöglichen. Der Aspekt der Kontrolle wird in letzter Zeit durch eine weitere Perspektive ergänzt, die immer mitgedacht oder als selbstverständlich gegeben vorausgesetzt wurde. Es ist die Schutz/unktion der Kontrolle, die zunehmend betont und hervorgehoben wird, wenn es um Überwachung im Alltag geht. Diese beiden Bedeutungsinhalte - Kontrolle und Schutz - des Wortes "Überwachung" lassen sich visualisieren durch das Symbol der Kamera und des Schildes. Wie eine solcheAkzentuierungsverschiebung in der Deutung von Überwachung - von der Kontrolle hin zu ihrer Schutzfunktion - vor sich gehen kann und angestoßen wird, soll weiter unten diskutiert werden im Rahmen eines kurzen Vergleiches zweier Symbole, die in diesem Zusammenhang genutzt werden: der Kamera und das Schild. Zunächst, und das ist der rote Faden dieses Aufsatzes und steht im Zusammenhang mit dem oben angesprochenen Sachverhalt, soll auf die Erweiterung der Überwachungsperspektive eingegangen werden. Denn zur Sichtweise des staatlichen .Big Brother" gesellt sich seit einiger Zeit eine weitere Form des elektronischen Blickes: Es sind die mit Handy-Cam und Digitalkamera ausgestatteten Alltagsmenschen, die jede aufregende, peinliche, gefährliche oder rührige Situation aufnehmen und distributieren. Sinnbildlich und beispielhaft steht dafür die Mobilkurzwahlnummer 1414 der Bildzeitung, die Leserreportern gegen Bezahlung bei Veröffentlichung ihrer Bilder eine Plattform bietet, um kuriose Situationen des Alltags oder "Stars" der Gegenwart in unvorteilhaften, überraschenden oder interessanten Szenen zu zeigen. Unter Aspekte: I. Durch einen in der Mitte des Gefängnisses angelegten Beobachtungs- und Überwachungsturm konnten die davon sternförmig abgehenden Zellen zentral überwacht werden. 2. Der Personalaufwand war aufgrund der Architektur geringer als in bis dahin entworfenen Gefängnissen. Und drittens konnten die Gefängnisinsassen aufgrund der Konzeption (z.B. Lichteinfali, Ausleuehrung etc.) den Wärter nicht sehen, ob und wie er sie beobachtet, der Wärter hingegen konnte jede Zelle in den Blick nehmen. Die Insassen konnten also nicht wissen, ob sie gerade beobachtet werden oder nicht. Bentham erhoffte sich dadurch mit geringerem Aufwand aufgrund der erwarteten Überwachung (die sich durch die Insassen nicht verifizieren oder falsifizieren ließ) ein regelkonformes Verhalten der Gefangenen. Vgl. z.B. Foucault 2007, Jung 1994.
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1414 kann jeder zum Bild-Leserreporter werden, der mit einer Kamera "bewaffnet" ist und interessante Schnappschüsse macht. Da bei modemen Mobiltelefonen mittlerweile eine Fotokamera zur Standardausstattung gehört und das Mobiltelefon wiederum zur Grundausstattung des modemen Menschen, wird nahezu jeder Bürger zu einem potentiellen Produzenten solcher Bilder. Die Bildzeitung belässt es aber nicht nur bei dem Hinweis auf die Zusendbarkeit der Bilder, sondern gibt sogleich eine Anleitung, was ein gutes von einem schlechten Bild unterscheidet und gibt Beispiele für gelungene und weniger gelungene Fotos."
Von Leser-, Bürger-, Festival- oder Lokalreportern Das Phänomen des Leserreporters ist nicht ganz neu, hat jedoch zum einen durch die einfache Handhabung von Digitalkameras und Fotohandys und der digitalen Übertragungsmöglichkeit und durch die Möglichkeit, über das Internet (z.B. Kommentarfunktionen, Blogs, Foren etc.) selbst Inhalt zu produzieren, eine Beschleunigung erfahren. Es gibt heute kaum noch Zeitungsredaktionen, die nicht aufAufnahmen von Leserreportern zurückgreifen, so z.B. die Saarbrücker Zeitung, die Bild-Zeitung, die Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) mit ihren Stadtspiegeln, das Westfalen Blatt oder die Rheinische Post;' besonders natürlich dann, wenn es z.B. um Unglücke geht und vor Ort erste Eindrücke festgehalten werden können. Als die Saarbrücker Zeitung im Januar 2006 ihre Leser aufrief, für die Zeitung aktiv zu werden und Bilder oder Berichte über Interessantes imjeweiligen Umfeld zu produzieren, zog die Bild-Zeitung im Juli 2006 - passend zur WM 2006 in Deutschland - nach. "Die Zehntausende von Bild-Leserreportern wirken vor diesem Hintergrund wie eine Heerschar lebender Überwachungskameras, wie die mobile Eingreiftruppe einer neuen Bilderoffensive." (Bernard 2006) Somit gab es im deutschen Journalismus "einen neuen Akteur" (Volkmann 2008: 220). Mithilfe der hermeneutischen Ausdeutung des nachfolgenden Bildes und des dazu abgedruckten Textes eines Leserreporters der Bild-Zeitung soll die Art und die Konzeption dieser Form des journalistischen Arbeitens exemplarisch veran-
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Vgl. die entsprechenden Unterseiten aufwww.bild.de Vgl. z.B, für die WAZ www.lokalkompass.de/, Saarbrücker Zeitung www.saarbmecker-zeitung. de/meinesz/leserreporter, der Stern mit seiner Webseite www.augenzeuge.de oder die entsprechenden Unterseiten der Webauftritte der genannten Zeitungen. Ganz neu in diesern Zusammenhang ist eine von der WAZ Mediengruppe im Dezember 2010 installierte Dokumentenplattforrn, die sich an Wikileaks anlehnt und es Lesern ermöglicht, der Zeitung anonym digitale Dokumente zukommen zu lassen (zu finden unter www.derwesten-recherche.org).
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schaulichtwerden.Das Bildund derdazugehörige Textstammen vom. 22.09.2009 und sind auf der entsprechenden Intemetseite der Bildzeitungeingestellt 4
Das Leserreporter-Bild zeigt zwei Polizeibeamte, die sich aufihr Polizeifahrzeug zubewegen. Ein Beamter trägt eine Tüte. Deutlich sichtbar ist ein Halteverbotszeichen, vor dem. der Polizeiwagen abgestellt wurde. Die Aufuahmeperspektive lässt vermuten, dass das Bild von einem Fenster oder Balkon aus einem Wohnhaus (erster oder zweiter Stock) gemacht wurde. Die Kontextualisierung des Bil-
des und seine interpretierteAussage werden nun von der Bildzeitungvorgenommen. Der Text zum Bild lautet folgendennaBen: "Bieraeht die Polizei einlwüen Haben sie denn keine Angst vor einem. Knöllchen?
Im absolutal Halteverbothaben diese beiden PolizistenihrenS1lcifenwage:n geparkt. DochDicht wegen eines dringenden diensdichal Einsatzes, sandem schliehtweil sie der HUDge1' plagt.••
Um 17.35 Uhr kommensie dann aus der Pizzeria ,Sa1vano' im Dfulseldorfcr Stadtteil Elkr. Gut gelaunt und eingedeckt mit 1e~ Mahheiten sclllendemsie zurück zu. ihrem Funkwagen. Der r.---RqJorts-, der das auf dem Foto fllllthielt: ,A1lI N~ bekmnmt man in m-Straße üblicherwe:ise ein Knöllchen.....•
Sindbeim Parken vielleichtdochnicht alle Menschen gleich'!"
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http://www.bild.delBlLDIregionaJlduesseldorflaktue1ll2009I09!221parken-im.-~-
geht-dic-polizei-cinkaufen..htmJ. (Bild und Thxt vom 22.09.2009), letzter Zugriff 31.10.10. Zwischenzeitlich wurde du Bild ge1öecht, nunmehrist nur noch der entsprechende Text anf der
Seite zu. finden.
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Dass der Text zu diesem Bild nicht unmittelbar vom Leserreporter selbst kommt, lässt sich daraus schließen, dass er im Text selbst zitiert wird. Der Text beschreibt einige Aspekte, die nicht im Bild zu finden sind (17.35 Uhr, Pizzeria "Salvano", Stadtteil Düsseldorf-Eller). Aber erst die Kontextualisierung bzw. der Text macht in diesem Fall aus dem Bild etwas Interessantes. Die wertende Verknüpfung von Sichtbarem - Polizeiwagen, Halteverbotsschild, Tüte - kombiniert mit den nicht sichtbaren Elementen "Pizzeria" und "leckerer Mahlzeit" in der Tüte machen hier aus dem Bild eine deviante Situation, die die Zeitung zur Frage führt: "Sind beim Parken vielleicht doch nicht alle Menschen gleich?" Es geht hier nicht darum zu urteilen, inwieweit das Bild selbst durch den Text erst sinnhaft aufgeladen wird oder ob das Bild authentisch ist. Vielmehr zeigt sich zweierlei: Die Zur-Schau-Stellung solcher Bilder bietet den Rezipienten eine Praxis an, solche Situationen im Bild festzuhalten, d.h. erst einmal solche Situationen als solche Bilder zu erkennen und danach Ausschau zu halten. Auf der anderen Seite lässt sich unterstellen, dass man nicht selbst Gegenstand einer solchen Aufnahme werden möchte. D.h. in diesem Kontext: Kommen diese Bilder den darin befindlichen Personen, aber nicht nur diesen, sondern auch anderen Polizeibeamten und letztlich jedem Bürger, zu Gesicht - was bei der Verbreitung der Massenmedien und den relativ exakten Angaben zum Ort und zur Zeit nicht abwegig ist, dann ist zu erwarten, dass solche Situationen in Zukunft vermieden werden". Das dargestellte Bild und der dazugehörige Text haben in diesem Sinne einen positivgeneralpräventiven Charakter. Denn die positive Generalprävention versucht, das Vertrauen der Menschen in die Rechtsordnung zu stärken. "Die Verhaltenskonformität innerhalb der Gesellschaft soll mittels Konformitätsdruck stabilisiert werden. Positive Generalprävention ist somit die direkte Anwendung der Sozialisationstheorien (z.B. Lerntheorie), die erklären, wie gesellschaftliche Normen verinnerlicht werden und hierdurch Normvertrauen, Normanerkennung und Rechtstreue hervorgerufen werden. "6 Allein die Frage, warum dieses Deutungsangebot :fürjenes Bild ausgewählt wurde, ist interessant und macht zumindest deutlich, dass der Text nur eine mögliche Deutung und Interpretation anbietet, die zudem genau in den Aspekt der Überwachung und der Kontrolle passt; und hier zudem den Duktus des "Wer kontrolliert den Kontrolleur?" bedient und implizit beantwortet (nämlich die Bild-Zeitung mithilfe der Leserreporter). Ein anderes Deutungsangebot hätte übrigens wie folgt aussehen können: Die Polizei ist immer auf dem 5
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Leider konnten wir nicht erheben, welche Reaktionen dieses Bild bei der Düsseldorfer Polizei auslöste (= langlebige Frozzeleien durch die Kollegen, Schreiben des Dienstvorgesetzten und ein allgemeines Rundschreiben zur Praxis des Parkens von Polizeiwagen insbesondere beim Einkaufvon Essen). Der Krimlexartikel unter dem Stichwort Generalprävention, http://www.krimlex.de.04.11.2010
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Sprung, ist immer bereit, macht nicht mal eine ordentliche und richtige Mittagspause, sondern sie ist auch noch, wenn es um das Essen geht, im Dienst. Es wird kein Dienst nach Vorschrift gemacht, sondern selbst während einer kurzen Auszeit wird keine Zeit verschenkt. Wie oben bereits erwähnt, laden eine Reihe von meist populären Tageszeitungen ihre Leser dazu ein, sich aktiv um die Inhalte der Zeitung zu bemühen. Schon immer gab es Umfragen unter den Lesern und Abonnenten einer Zeitung, um deren Interessenlagen klarer zu sehen und die eigenen Inhalte daran auszurichten. Auch über entsprechende Leserbriefe oder andere Rückmeldungen gelang es, die Beiträge zu produzieren, die eine breite Leserschaft ansprechen. Ökonomische Gesichtspunkte spielen dabei schon immer die zentrale Rolle. Aber auch das Profil und das Selbstverständnis, das ein Medienunternehmen bzw. das dazugehörende Medium hat, wirkt sich auf die Grundeinstellung und -darstellung der Beiträge und ihre Aufmachung aus. Eine besondere Praxis, um Leser zu aktivieren, ist deren Einbindung als Leserreporter. Für eine Zeitung kann dies unterschiedliche Vorteile haben. So profitiert man einmal von einer gewissen Allgegenwart der Bilder- und Beitragsmacher. Hinzu kommt eine unmittelbare Belieferung mit Bildern und Eindrücken. Bevor ein Pressefotograf den Ort des Geschehens erreicht, hat oft bereits ein Augenzeuge Bilder- oder Videoaufnahmen gemacht und kann diese über die mittlerweile gängigen Internethandys umgehend an eine Redaktion seiner Wahl versenden. Und aufgrund der Vielzahl von Kontaktmöglichkeiten (allgemein über die WWWAdresse, E-Mail, TelefonIMobiltelefon, SMS, Fax, Foreneintrag, Brief) und ihrer Durchlässigkeit (z.B. schnelle Weiterleitungsmöglichkeit bei E-Mails und SMS) wird nahezu jeder zu einem potentiellen Leserreporter, jeder kann schnell und unverbindlich die Medien kontaktieren und über Wahrgenommenes berichten bzw. ein Bild dazu liefern. Leserreporter werden demnach als solche aktiv, wenn sie journalistische Produkte wie Bilder oder Texte produzieren und den Redaktionen zur Verfiigung stellen. Damit handeln Leserreporter, als wären sie Journalisten. Allerdings fehlen ihnen die berufliche Sozialisation und die Professionalität eines Journalisten, und damit auch die Regeln, "die den Code des Teilsystems Journalismus in normativer, evaluierter und kognitiver Hinsicht spezifizieren" (Volkmann 2010: 214). Man kann in gewisser Hinsicht davon sprechen, dass Leserreporter journalistisches Arbeiten imitieren und sich auch daran orientieren. Dies tun sie, wenn sie mit der Intention und der Haltung durch ihren Alltag gehen, ein journalistisches Artefakt zu produzieren. Leserreporter lassen sich aber auch in die Kategorie Populärer Journalismus einordnen, zumal wenn man Journalismus nicht nur aufkommunikationstheoreti-
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sehe, sondern "aufkulturelle, alltägliche und lebensweltliche Zusammenhänge der Medienrezipienten" (Renger 2008: 269) hin verstanden sieht. Populärer Journalismus zielt weniger auf ein Informations- und Orientierungsangebot, das durch professionelle Journalisten erarbeitet wird, sondern "aufspezifische Muster von sozialer Praxis im Sinne des Einflusses aufAlltagshandlungen und -praktiken" (ebd.). Auf diesem Wege produziert der populäre Journalismus seine eigenen Rezipienten und die populäre Öffentlichkeit. Texte und Bilder dieser populären journalistischen Produktion produzieren spezifische Praktiken und Bedeutungskonstruktionen. Sie bieten Schnittstellen für eigene Alltagserfahrungen und -handlungen, die dadurch in gewisse Praktiken münden. Gerade Bild- und Videoaufnahmen und entsprechende journalistische Texte von Lesereportern entstehen in und aus Situationen, die von einer Unvermitteltheit gekennzeichnet sind. Man gerät unversehens in sie oder findet sie plötzlich vor. Die Aktualität solcher Bilder hat einen hohen Wert für das entsprechende Medium. Darüber hinaus besitzen diese Bilder und Beiträge eine eigene Ästhetik. Zwar gibt es gewisse Vorgaben, wenn es um die Bildperspektive, den Bildausschnitt oder die Form eines Textbeitrages geht. Dennoch werden gerade bei plötzlichen Ereignissen (z.B Überschwemmungen, Unfälle, Straftaten) amateurhaft wirkende Aufnahmen gerne genommen, weil sie eine Authentizität und Aktualität des Ereignisses suggerieren, die ein professionelles Pressefoto häufig nicht aufweist. Das professionelle Foto möchte zwar nicht unbeteiligt wirken, sucht aber stärker nach einem Standpunkt, der außerhalb der Situation liegt, der objektiv ist. Ein Leserreporter ist häufig stärker mit der Situation verbunden. Er sieht noch nicht so sehr mit seinem Objektiv, sondern mit seiner subjektiven Einstellung und hält danndas fest, was ihn bewegt und anspricht. Das Bild entsteht stärker aus der Identität und Subjektivität des Amateurjournalisten und bringt daher eine Ebene ins Bild, die für Leser und Betrachter eine zusätzliche Lesart zulässt, weil Produzent und Produkt stärker miteinander verwoben sind. Man versetzt sich nicht nur ins Bild, sondern auch in den Macher des Bildes. Und dieser ist ein Alltagsmensch wie ich. Das erhöht den Identifikationsgrad. Das Bild eines professionellen Pressefotografen will hingegen den Betrachter des Bildes im Bild lassen und nicht aus es - zu ihm selbst - herausfiihren. Aus dem Fernsehen kennt man die Subjektivitätsbindung beispielsweise durch die Nutzung einer Wackelkamera, aber auch die Scripted Reality-Formate im Fernsehen (vgl. Reichertz und Englert/Roslon in diesem Band) bedienen das Verlangen der Rezipienten nach lebensweltlicher Rückkopplung. Es ist die Welt des Alltags, aus der heraus und über die häufig berichtet wird; sie ist den Lesern unmittelbar vertraut und schafft damit auch Vertrauen. Und dabei sind es Form und Inhalt der Beiträge oder
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Bilder, die das von ihrer Anlage her ausdrücken. In ästhetischer Hinsicht soll eine unmittelbare Beteiligung und dadurch wiederum Authentizität vermittelt werden. Authentizität steht in dieser Hinsicht in Opposition zur Professionalität. Es ist das Tendenziöse, das normative In-der-Situation-sein und nicht das deskriptive Auf-die-Situation-schauen (was zugleich ebenfalls möglich ist), das den entscheidenden Unterschied in der Anlage und der Betrachtung der Bilder eines Pressefotografen und bildproduzierenden oder beitragsschreibenden Leserreporters ausmacht. Um die Macht der Bilder zu verstehen, muss man die Macht der Medien beschauen und verstehen. Im vorliegenden Verständnis von Medien wird den Medien keinen monokausalen manipulativen Charakter unterstellt, so wie es noch die ,Frankfurter' der ersten Generation mit ihrer Kultur- und Medienkritik taten/ sondern im Verständnis der cultural studies werden sie als ein Wirkungsrahmen (neben Kultur und Macht) verstanden, der "auch Potential fiir eine produktive Lebensgestaltung" und "damit Orte der Auseinandersetzung um Wirklichkeitsdefinitionen" (Hepp/Winter 2008: 11) hat. Zu kritisieren sind sie erst, wenn sie Handlungsspielräume und -praktiken von Menschen einengen. Medien können aufgrund ihrer permanenten Präsenz einen Einfluss auf die Handlungsfähigkeit (agency) von Menschen haben, wobei darunter nicht ein individuelles Interesse einzelner Personen, Gruppen oder ihre Handlungsmacht zu verstehen ist. Vielmehr meint es eher den Zugang zu Orten, Feldern und Diskursen, die die Welt formen und beeinflussen können. Und die Medien bilden hier einen wesentlichen Ort bzw. ein wesentliches Feld. "Entsprechend besteht nicht eine ,lebensweltliche Handlungsfähigkeit' von Menschen, die (möglicherweise) durch Medien bzw. mediale Diskurse beschränkt wird. Vielmehr sind Medien selbst Ressourcen der Schaffung von Handlungsfähigkeit in verschiedenen Lebenswelten, indem sie kommunikativ ,Landkarten' oder ,Geometrien' schaffen, die machtgeprägt bestimmte Räume von Handlungsfähigkeit postulieren." (Hepp/Winter 2008: 12) Leserreporter können ein Honorar erhalten, wenn ihr Bild (oder ihr Beitrag) an exponierter Stelle in der bundes- oder landesweiten Printausgabe abgedruckt wird. Problematisch kann es dann in rechtlicher Hinsicht werden. Denn neben den Abdruckrechten, die der Produzent abtritt, "muss er auch die Zeitung von den Rechten und Ansprüchen Dritter freihalten. Sieht sich zum Beispiel ein/e abgelichtete/r Prominente/r, in den Persönlichkeitsrechten verletzt, so zieht dies einen Prozess nach sich, dessen Kosten ausschließlich vom ,Leserreporter' zu tragen sind" (Brüning 2009: 68). 7
Vgl. hierzu z.B. Adorno (1963): Eingriffe. Neun kritische Modelle; dort besonders die Aufsätze .Prolog zum Fernsehen" und ,,Fernsehen als Ideologie". Zudem dersl. (1971): Erziehung zur Mündigkeit; dort vor allem das Gespräch "Fernsehen und Bildung" aus dem Jahre 1963.
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Die von den jeweiligen Medienunternehmen intendierten Folgen des Einsatzes von Leserreportern lassen sich wie folgt zusammenfassen: Durch das Werben um Leserreporter lassen sich neue Leser und Nutzer ansprechen, Bestandskunden werden noch enger ans Medium gebunden (vgl. Volkmann 2008: 220ff.). Der Aspekt der Mitgestaltung und Partizipationsmöglichkeit der Rezipienten vermittelt eine Teilhabe am Medium und den Inhalten (hierzu und zur Debatte um Bürgerjournalismus vgl. Hooffacker 2008, zur Partizipation und Sicherheit vgl. Wurtzbacher 2008), welche die Akzeptanz des Mediums erhöht und es zugleich noch enger an die Lebenswelt der Menschen koppelt. Ein so mitgestaltetes Medium wird zu einem tendenziell unverzichtbaren Element des eigenen Alltags, weil es enger an diesen gekoppelt ist, weil es letztendlich selbst mitproduziert wird. Gerade auch durch Beiträge in lokalem und regionalem Umfeld gelingt den Redaktionen ein themenspezifischer Rücklauf, was vor Ort aktuell diskutiert wird oder von Interesse ist. 8 Neben diesen kundenbindenden Elementen spielt eine weitere wichtige Rolle die Produktion von content für die Onlineausgaben von Printprodukten. Mittlerweile gibt es keine Tageszeitung mehr, die nicht über ein Onlineangebot verfügt. Um nicht einfach einen deckungsgleichen Inhalt für Print- und Onlineprodukt anbieten zu müssen - auch um sich nicht durch das kostenlose Onlineangebot finanziell selbst zu schädigen -, und weil der Onlinebereich quasi unbegrenzt virtuellen Raum zur Verfügung stellen kann, werden die Onlineplattformen mit Beiträgen von Leserreportern aufgefüllt. Die minutenschnelle Verfiigbarmachung und die unmittelbaren Kommentarfunktionen machen eine hohe Aktualität und Fluktuation von Beiträgen und Nachrichten möglich. Neben diesen intendierten Funktionen gibt es eine Reihe von unintendierten Folgen des Phänomens Leserreporter, von dem hier nur das zum Thema des Beitrages bezugnehmende in den Blick genommen werden soll. Es ist der Überwachungsaspekt, die zunehmende Überwachung des Alltags, die nun nicht mehr nur durch den Staat, sondern von den Bürgern - unter wesentlicher Mithilfe der Medien - selbst vorgenommen wird. Die Medien bieten über ihr Partizipationsangebot und ihren Teilnahmeaufruffür die Bürger (vgl. z.B. http://www.1okalkompass. deI) nicht einfach nur passiv die Plattform und die Distributionsmöglichkeit für solche Leser- und Bürgerbeiträge, sondern werden durch Aufrufe - Interessantes, Kriminelles, Deviantes abzulichten und darüber zu berichten - selbst zu wesentlichen Akteuren der Inneren Sicherheit. 8
Für die Schwierigkeiten, Wissen darüber zu erlangen, was die Leser gerne lesen möchten und zu den Problemen "ordentlicher" Lokaljournalisten vgl. Kretzschmar, Möhring, Zimmermann 2009.
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Der Überwachungsaspekt, der von Beginn an im Konzept der Leserreporter allein durch die Aufnahmebereitschaft der Leserreporter enthalten war, hat sich im Verlauf der Zeit dynamisiert. Zu Beginn dieses Konzeptes ging es darum, außergewöhnliche Situationen, die sich irgendwo und irgendwann auftaten, mithilfe von Leserreporter ins Bild zu bekommen. Leserreporter waren damit der verlängerte Arm, die Augen und Ohren der Redaktion. Durch die zur Fußball-WM in Deutschland von der Bild-Zeitung initiierte Aktion .Leeerreporter", die seither zu einer täglichen Rubrik ausgebaut wurde, hat sich dieses Konzept in verschiedener Hinsicht moduliert (vgl. Bernard 2006). Denn nun soll sich die Aufmerksamkeit der Leserreporter nicht mehr nur auf die Beobachtung und das Festhalten außergewöhnlicher Ereignisse, sondern auch auf das Aufspüren von Prominenten oder Alltagsmenschen in bemerkenswerten Situationen richten. Nicht nur Prominenten, sondern auch den ins Visier geratenden normalen Bürgern droht ein weiterer Verlust von Privatheit und damit ein Verlust eines zumindest teilweise kontrollfreien Raumes. Im Zusammenhang mit der 1414-Aktion der Bild-Zeitung heißt dies: ,,zum anderen aber,und das ist vielleicht das wirklichNeue an dieserAktion, wird dieArbeit der Amateurreporterausdrücklichum denAspekt der polizeilichenÜberwachungergänzt.Nicht umsonsthieß es bereits in einem der erstenAufrufe der Bild-Zeitung,dass ,Prominente,kuriose Unfälle,Kleinkriminelle bei derArbeit' als vordringlichste Motivegewünschtseien."(Bernard2006)
In diesem Sinne wird die Apparatur des Amateurs oder des Hobbyfotografen zu einer latenten Überwachungskamera, die jederzeit in ihre unmittelbare Funktion gesetzt werden kann, indem sie eine sich auftuende ,,relevante" Situation festhält. Die unmittelbare Funktion - auch wenn sie zunächst nur latent vorhanden ist, also schlummert - ist das Überwachen und nicht allein das Aufzeichnen. Denn das Überwachen beginnt bereits mit dem Wissen der möglichen Aufgezeichneten um das potentielle Vorhandensein einer Kamera und nicht erst mit dem tatsächlichen Akt des Aufzeichnens durch die Kamera und den Kamerafunktionär (vgl. z.B. Bauman 2003, Foucault 2007). Macht in Form von Überwachung ist fiir Bauman nicht mehr physisch gebunden, sondern bewegt sich in der Postmoderne bzw. "flüchtigen Modeme" mit der Geschwindigkeit elektronischer Signale - seien es Handys, Überwachungs- oder Digitalkameras usw. (vgl. Bauman 2003: 19 ff.) Denn mit dem sedimentierten Wissen um die Möglichkeit, Gegenstand einer solchen Aufzeichnung zu werden, verändert sich bereits die Wahmehmungs- und Handlungspraxis im Alltag. Das Besondere ist nun, dass dieser Umstand - Gegenstand einer solchen Aufnahme zu werden - sich nicht mehr nur aufPersonen von besonderem Interesse bezieht, sondern jeder Mensch potentielles Ziel eines Schnappschusses werden kann. Plattformen wie youtube, MyVideo oder flickr nehmen gerne auf,
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was nicht den Weg in die Zeitung oder ins Fernsehen schafft oder dort aus national-rechtlichen Gründen möglicherweise nicht veröffentlicht werden darf. Eine Erweiterung dieser Entwicklung findet sich in der Koppelung von Hardund Software, die das Unternehmen Google vorgenommen hat: Das internetfähige Google-Handy ist ausgestattet mit einer eingebauten Digitalkamera und einer Software, das die gemachten Fotos sogleich über das Internet abgleicht und dadurch das Aufgenommene zu erkennen vermag (vgl. Gaschke 2010). So kann dannjeder Mensch, den man fotografiert hat und von dem es ein auffindbares Bild im Internet gibt, identifiziert werden. Die Überwachung durch den Mitbürger wird dergestalt noch dichter in ihrer Potentialität. Man kann daher zurecht mit Ronald Hitzler konstatieren: "Quer zu Entwicklungen wie Disziplinierung, Verrechtlichung, Individualisierung, Industrialisierung, Globalisierung und anderen Etikettierungen sozialen Wandels ist die vielgestaltig anschwellende Überwachungspraxis ein keineswegs marginaler Aspekt der Modernisierung." (Hitzler 2009: 214) Und gerade vor dem Hintergrund unterschiedlicher und kombinierter Medientechnologien zeigt sich, dass diese auch neue Handlungspraktiken hervorbringen. Und diese kulturelle Praxis drückt sich vermittels der Medien aus (allgemein Hepp/ Höhn Wimmer 2010) - mehr noch werden von diesen entweder hervorgebracht oder zumindest dynamisiert. Eine These, die sich aus dem bisher Gesagten abzeichnet, lautet: Mit der Etablierung der Geste des Aufuehmens, mit dem Einzug des foto- und videographischen Panoptikums in den Alltag und seiner kontrollierenden Wirkung, verändert sich die Alltagspraxis der Menschen. Die soziale Kontrolle wird nicht mehr nur durch die staatliche oder institutionelle Überwachung des öffentlichen Raumes geleistet, sondern auch zunehmend durch den einzelnen Bürger selbst, der dadurch zur Verhaltenskonformität drängt und selbst gedrängt wird. Soziale Kontrolle bezeichnet die verschiedenen Praktiken, mit denen eine Gesellschaft alle Gesellschaftsmitglieder zur Normkonformität anhält. Sie ist abhängig von gesellschaftlichen Bedingungen und umfasst dabei nicht nur staatliche, sondern auch und zunehmend mediale und private Mechanismen und technische Prozesse, die die soziale Integration sicherstellen sollen (vgl. Singelnstein/Stolle 2006, Eifler 2008). Beispiele für solche Mechanismen sind Familie, Beruf, das soziale Umfeld, aber auch die Medienberichterstattung und -unterhaltung.
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Veränderung der Praxis
Wie vollzieht sich nun ein solcher Alltagspraxen-Wechsel, der durch das Vorhandensein und die Nutzung von Digitalkameras und Fotohandys zu Überwachungszwecken unterstellt wird? Die Wirkung auf den Alltagsmenschen liegt in der Sedimentierung gewisser Verhaltensweisen, die sich in seiner Selbstfiihrung niederschlagen (vgl. allgemein Foucault 1993 und 2006). Eine Antwort auf die "nachbarschaftliche" Kontrolle ist u.a. auch der Prozess der zunehmenden Inszenierung und Präsentation des Selbst im öffentlichen Raum. D.h., die zunehmende private und staatliche Überwachung findet auch eine Antwort darin, dass die Bürger sich vermehrt medial selbst inszenieren und exhibitionieren. Neu ist das alles natürlich nicht. Aber dieser Prozess erfährt solcherart durch das elektronische Panoptikum eine weitere Dynamisierung, eine neue Qualität. Denn "das panoptische Schema ist dazu bestimmt, sich im Gesellschaftskörper auszubreiten, ohne irgendeine seiner Eigenschaften aufzugeben; es ist dazu berufen, im Gesellschaftskörper zu einer verallgemeinerten Funktion zu werden" (Foucault 2008: 913). Und diese verallgemeinerte Funktion lässt sich durch die Praxis des Aufnehmens im Kontext mit der Bedeutung und Distributionsmöglichkeit von Bildern, ihrer kulturellen Bedeutung und vor dem Hintergrund des Sicherheitsdiskurses konstatieren. Hitzler hebt den doppelten Charakter des elektronischen Panoptikums hervor: Während es im Disziplinar-Panoptikum darnm geht, dass alle sich so verhalten, als würden sie ständig beobachtet, geht es im Kuriositäten-Panoptikum darum, dass sich die Menschen vermehrt so verhalten, als verdienten sie die Aufmerksamkeit und setzen sich entsprechend in Szene (vgl. Hitzler 2009: 216). Das sich freiwillige Sichtbarmachen in den globalen digitalen Strömen und Kommunikationsfäden vermittelt ein Gefühl vom Inder-Welt-sein und der Teilhabe an der Welt. Und das unfreiwillige, kontrollierende In-den-Blick-geraten der Anderen folgt derselben impliziten Logik und dem Wunsch nach (medialer) Aufmerksamkeit, die wiederum nur jener erhält, der es wert ist, angeblickt zu werden. Das Besondere an der gegenwärtigen Situation ist nun der Wandel in der Struktur des Panoptikums. Es ist nicht mehr nur - wie beim Bentham'schen Panoptikum - ein zentraler Ort, von dem aus das allsehende Auge die Bürgerinnen und Bürger im Blick hält und dadurch kontrolliert - und diese Kontrolle wird eben nicht mehr durch architektonische Entwürfe gewährleistet; sondern die Kontrolle verschiebt sich auf eine herausgebildete gegenseitige Beobachtung und Kontrolle der Menschen untereinander mittels digitaler Apparaturen. Der Einzelne wird nicht nur durch die Überwachungskameras der Staatsgewalt überprüft sowie zu einem gesetzes- und normgefälligen Verhalten angehalten, sondern bereits durch
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die vorhandenen und vermuteten Fotohandys und mobilen Webcams zu einem normgefälligen Handeln und Verhalten gedrängt. Da die Menschen niemals wissen können, ob Bild- und Tonaufnahmen von ihnen gemacht werden, z.B. durch die sichtbaren Überwachungskameras in Einkaufszentren, öffentlichen Verkehrsmitteln oder öffentlichen Plätzen oder eben dadurch, dass sie zufällig Motiv einer Digitalkamera, Fotohandys usw. werden, und ob wiederum diese Aufnahmen nicht irgendwo zur Ausstrahlung kommen - man denke hier auch an Stefan Raabs "TV total" -, verändert sich zunehmend und allmählich die soziale Praxis: Denn anders als die öffentlichen Kameras, die ihre Aufzeichnungen nach einer gewissen Zeit automatisch löschen (zumindest sollte es so sein) bleibt etwas privat Festgehaltenes zunächst uneingeschränkt erhalten. Wie gesagt: die Bürger betrachten sich sozusagen aus der von ihnen unterstellten Perspektive der .Big Public", der Öffentlichkeit, und das auch in ihren Privaträumen, auf Partys oder Feiern und verhalten sich entsprechend (vgl. Hitzler/Pfadenhauer 2000). Ein spontanes "auf den Tischen tanzen" des Lehrpersonals der Universität, ein allgemein ausgelassenes Feiern, z.B. auf einer Fachbereichsparty, ist zwar prinzipiell möglich, wird aber durch das Wissen um die Aufnehmbarkeit der Situation schwer vorstellbar, sofern man sich nicht am nächsten Tag bei youtube mit seiner Tanzeinlage wiederfinden möchte. Gleiches giltfür Lehrer aufAbi-Feiern, wo nunmehr doppelt überlegt werden muss, eine gewagte Tanz- oder Comedyeinlage aufs Paket zu bringen. Gerade Personen, die im öffentlichen Raum tätig sind, ohne prominent zu sein, wie Lehrende, aber letztlich alle Berufstätigen und Bürger müssen ihr Verhalten zu solchen Gelegenheiten noch stärker anpassen bzw. eine Haltung an den Tag legen, die ihrer Stellung in jedem Augenblick gerecht wird. Weitere Beispiele sind von Schülern mitgeschnittene Videoaufzeichnungen aus Klassenräumen, die tobende Lehrer zeigen, pubertäre Jungenstreiche wie Schnappschüsse aus der Mädchenumkleidekabine, die dann von Handy zu Handy wandern. Dies zeigt zudem, dass, wenn auch bei Älteren dieses Gefühl von der Möglichkeit, Gegenstand solcher Aufnahmen zu werden noch unbestimmt ist, eine Generation heran wächst - man kann sie auch als digital natives oder born digital bezeichnen (vgl. Palfrey/Gasser 2008) -, die diesen Umstand von .Kindesbeinen" an als Möglichkeitsraum erlebt und kennt und ihre Alltagspraxis darauf ausrichtet. Denn parallel zum Wissen, unverhofft Gegenstand eines Schnappschusses zu werden, steigt auch der Wunsch nach Selbstinszenierung, die man mit selbst installierten Webcams, eingestellten Bildern auf eigenen Homepages, youtube oder den Seiten digital-sozialer Netzwerke wie facebook, studivz oder stayfriends betreiben kann." 9
Andererseits gibt es mittlerweile eine Reihe von Firmen, die sich darauf spezialisiert haben, rufschädigende oder missbilligende digitale Daten zu einer Person aus dem Internet zu löschen
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Der Ausspruch in Shakespeares Wie es euch gefällt "Die ganze Welt ist eine Bühne" oder Goffmans "Wir alle spielen Theater" erhalten in diesem Zusammenhang eine neue bzw. verstärkende Bedeutung. Konformitäts- und Kontrolldruck entsteht durch die Überwachung, aber vor allem durch die befürchtete Überwachung. Und diese Entwicklung - der sich ausbreitenden gegenseitigen Überwachung durch die Bürger selbst - steht in der Linie, der von Foucault dargelegten Disziplinargesellschaft. Bei der disziplinierenden Gewalt handelt es sich nicht um eine triumphierende und offensiv zur Schau gestellte Macht, sondern um eine bescheidene und misstrauische Gewalt. Bei Max Weber ist Macht noch stark am Individuum und der sozialen Situation gekoppelt. "Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht." (Weber 1984: 89) Bei Foucault wird Macht nicht mehr personalisiert gedacht, sondern legt sich netzartig über die Gesellschaft, besteht aus Relationen. "Die Macht ist nicht etwas, was man erwirbt, wegnimmt, teilt, was man bewahrt oder verliert." (Foucault 1983: 115) Macht ist das organisierende Prinzip von Beziehungen und den Verhältnissen der Menschen untereinander. Alle wirken an diesem Netz mit und sorgen zugleich für die Reproduktion desselben. Das Netz der Macht wird dergestalt in sozialen Beziehungen lokal verwirklicht und aktualisiert und verfestigt sich durch sich wiederholende Praktiken. Medien sind in diesem Zusammenhang Dispositive der Macht, sie greifen nicht oder nur selten handfest in Kräfteverhältnisse ein, um sie unmittelbar auf gewisse Ziele hin zu manipulieren. Sie schaffen vielmehr Bedingungen für die Akzeptanz gewisser Handlungen, Aussagen und Praxen als gut, richtig oder schön bzw. als schlecht, falsch oder hässlich und "gestalten und verändern aufdiese Weise die Gesellschaft - sowohl den privaten als auch den beruflichen Alltag, dessen moralische Fundierung, seine politische Legitimität und seine ästhetischen Formen" (Reichertz 2007a: 26). Eine so verstandene und nicht mehr offen zur Schau gestellte, sondern bescheidene Gewalt und Macht behandelt Individuen als Objekte, die beobachtet werden müssen. Die Disziplinierung verfestigt sich in den Individuen und bestraft Normverstöße. Nicht der Akt des Bestrafens ist das Hauptwerkzeug der Machtausübung im Sinne eines Herrschaftsverhältnisses, sondern die Verhaltenskontrolle, das Schaffen von Wahrscheinlichkeitsfeldern, die gewünschtes Verhalten gebären. Der Prozess der Fremdfiihrung leitet sich allmählich über zu einem Prozess der Selbstfiihrung. Foucault sieht die Disziplin und ihre vielfältigen Prozeduren im 18. (z.B. www.web-killer.de, www.ru1lotse.de). Da immer mehr PersonalchefBewerberInnen auch durch eine Internetsuche überprüfen, haben umgekehrt immer mehr BewerberInnen den Wunsch, unangenehme Bilder, Kommentare oder andere Einträge durch und über sie, zu löschen.
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Jahrhundert zu einer allgemeinen Herrschaftsform anwachsen, das sich von der Sklaverei wie auch vom Domestikentum - einem schrankenlosen Herrschaftsverhältnis auf der Basis des Einzelwillens eines Herrschers - unterscheidet: "das ist ja gerade die Eleganz der Disziplin, dass sie auf ein so kostspieliges und gewaltsames Verhältnis verzichtet und dabei mindestens ebenso beachtliche Nützlichkeitseffekte erzielt" (Foucault 2008: 839). Die Form der Disziplinierung schreibt Praktiken, Mechanismen und Verhaltensweisen in den Körper ein. "So formiert sich eine Politik der Zwänge, die am Körper arbeiten, seine Elemente, seine Gesten, seine Verhaltensweisen kalkulieren und manipulieren. Der menschliche Körper geht in eine Machtrnaschinerie ein, die ihn durchdringt, zergliedert und wieder zusammensetzt." (Foucault 2008: 840) Das Einschreiben von Verhaltensweisen vollzieht sich durch eine Vielzahl von kleinen, verschiedenartigen und "verstreuten Prozessen, die sich überschneiden, wiederholen oder nachahmen, sich aufeinander stützen, sich aufverschiedenen Gebieten durchsetzen, miteinander konvergieren" (Foucault 2008: 840) und weist so auf eine Mikrophysik der Macht, von der heute die Massenmedien ein wichtiger Teil geworden sind. Das ist es, was sich durch die ,,1414"-Beobachter- und Aufzeichnerperspektive konstatieren lässt. Die Kontrollen durch den Staat oder den Mitbürger, gekoppelt mit der zunehmenden Selbstinszenierung der Menschen in digital-sozialen Netzwerken und darüber hinaus, sedimentieren sich und münden in einer zunehmend konformen Selbstführung der Bürger, zumindest, was das Verständnis und die Notwendigkeit von Kontrollen angeht. Es muss kontrolliert werden und ich bin Teil der Kontrolle; ich bin Kontrolleur wie auch Kontrollierter. Diese Verschiebung und Verdichtung der sozialen Kontrolle steht im Einklang mit den Aktivierungs- und Selbstführungsprozessen des Bürgers durch den Staat, wie sie von Foucault beschrieben wurde (vgl. Foucault 2005).
Von der Kamera zum Schild Die Medien und ihre Bilder umgeben uns nicht nur permanent, sondern sie prägen auch unsere Alltagswahmehmung. Bilder sind keine Naturdinge, bilden also keinen unverstellten Blick auf die Welt, sondern sind soziale Konstruktionen. Wir richten uns am Gesehenen aus. Bilder sind Formen des menschlichen Weltzugangs und der Wirklichkeitsaneignung. Sie sind heute mehr als früher wesentlicher Teil des Prozesses gegenseitigen Entwerfens, Überwachens und von anderen gesehen und verstanden zu werden (vgl. Raab 2008: 12). Darin liegt ihre sinn- und wirklichkeitsbildende Kraft, daraus schöpfen sie ihre gemeinschaftsbildende und -formende Wirkung. Diese Sichtweise ist geleitet von der wissenssoziologischen Annahme, dass die Wahmehmungs- und Kommunikationsweisen von Handelnden
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und daraus resultierende Vergemeinschaftungen deutend verstanden werden können (vgl. Bidlo/Englert 2009: 252). Über audiovisuelle Artefakte werden zudem "Veränderungen in der Struktur und der Materialität kommunikativen Handelns" (Raab 2008: 165) innerhalb von Sehgemeinschaften angeschoben. ,,In Gesellschaften, die ihre Mitglieder zunehmend auch medial sozialisieren, sind die audiovisuellen Medien zusätzliche gesellschaftliche Institutionen. Sie bestimmen die soziale und kulturelle Ausformung des Sehens mit und führen es hin zu neuen, verfeinerten Formen der Erfahrung." (Raab 2008: 165) Als ein Beispiel für Sehgewohnheiten und Bedeutungszuweisung eines Bildes oder Symbols möchte ich kurz auf das Bild der Kamera eingehen. Im Rahmen der Überwachung und Kontrolle hat sich das Bild oder Symbol der Kamera schon lange etabliert. Das Kamerasymbol- in Supermärkten, Kaufhäusern, öffentlichen Plätzen, Flughäfen usw. - verweist darauf, dass wir beobachtet werden, dass unsere Anwesenheit im Aufzeichnungsbereich der Kamera und unsere Handlungen festgehalten und aufgezeichnet werden. Die Kamera kontrolliert uns als technischer Apparat, zumindest tut sie das als ausführendes Instrument und symbolisiert Kontrolle durch sich selbst. Ein dahinter stehender, konkreter Mensch ist bei fest montierten Kameras nicht auszumachen. Es ist nur eine Macht zu vermuten, die sich der Kamera als Kontrollapparat bedient. Aber darüber hinaus versinnbildlicht die Kamera auch eine besondere Form der Kontrolle; sie suggeriert das allsehende Auge, das alles und jeden im Blick hat, in den Blick nimmt und notfalls sofort intervenieren kann (oder dies zumindest unterstellt), wenn es zu einem unbotmäßigen Verhalten kommt. Diese Atmosphäre bildet sich z.B. im Ausdruck des .Big Brother" ab, also in der Perspektive "Staat blickt aufBürger". In einem ähnlichen, allerdings fiktionalen Zusammenhang findet man beispielsweise auch das Auge als Kontrollinstrument. Dabei ist nicht nur an den US-Film .Das fliegende Auge" (Columbia Pictures, 1983) und die daran anschließende Fernsehserie zu denken, sondern auch an Saurons suchendem Auge in J.R.R. Tolkiens Fantasy-Trilogie "Der Herr der Ringe". Der dunkle Herrscher materialisiert sich selbst nur durch ein auf einem Turm thronendes und von Feuer konturiertes Auge, das seinen Blick gleich einem Suchscheinwerfer über die Ebene streifen lässt, infonnationssammelnd, unmittelbar suchend und mittelbar strafend durch ausgesandte "Kontrolleure", die auflehnendes Verhalten ahnden. Denn diese beidenAspekte hängen im Verständnis der Bedeutung der Kamera (oder des Auges) untrennbar miteinander zusammen - das Erblicktwerden und ggf. eine Sanktion bei nicht normgerechtem Verhalten. Das kann eine Strafe des Staates sein, oder aber das "Gelächter" der Nachbarn, Arbeitskollegen und Mitbürger.
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In diesem Zusammenhang der Kontrolle und Überwachung zeigen sich latente und manifeste Entwicklungen, das Bild der Kontrolle - symbolisiert durch die Kamera - aufzuweichen und zu einer ,,Bürger auf Bürger"-Perspektive zu erweitern. Für eine solche Perspektive ist die Kamera - die, wie bereits beschrieben, kulturell anders aufgeladen ist - unbrauchbar; es gibt ein Symbol, das nicht so negativ konnotiert ist wie das Kamerasymbol, sondern wesentlich positiver belegt ist und einen scheinbar ganz anderen Kontext bedient: Es ist das Schildsymbol, das zum Beispiel in der Fernsehsendung "Achtung Kontrolle! Einsatzfür die Ordnungshüter" (Kabel eins) das Logo bildet. Auch hier wird kontrolliert, "was das Zeug hält", nicht aber nur mit einer Kamera, die aufgrund des Mediums Fernsehen immer dabei ist, sondern eben durch die Ordnungshüter, die mit einer Kamera begleitet werden. Das Seriensymbol, welches fortwährend eingeblendet ist, zeigt ein metallisches Schild, auf das in der Mitte der Schriftzug "Achtung Kontrolle!" eingeschrieben ist (vgl. ausführlich Bidlo 2010 und Bidlo/Englert in diesem Band). Das Schildsymbol hebt anders als das Kamerasymbol eine Schutzfunktion hervor, die von der verschriftlichten Handlungsaufforderung "Achtung Kontrolle!" ausgeht. Der (und hier auch das) Schild dient dem Schutz der dahinter liegenden Ordnung und der Menschen, die sich im Zeichen der Ordnung und Kontrolle dort versammeln. Sie beschützen und werden beschützt. Der Schriftzug ist im wahren Sinne des Wortes das, was der Träger - der Ordnungshüter - im Schilde führt und was ihn auszeichnet. Schilde waren vormals nicht nur eine Verteidigungswaffe, sondern wurden zugleich als Ausdrucksfläche genutzt, indem sie mit künstlerisch entworfenen Symbolen und Schriftzügen versehen wurden. Daher auch die im Sprachgebrauch sich ausgebildete Unterscheidung zwischen dem Schild als Schutzwaffe und das Schild als Ausdrucksfläche. Die dort aufgebrachten Wappen und Symbole verrieten dem Wissenden die wichtigsten Aspekte über die Herkunft des Schildträgers, seine Bündnisse und damit auch über seine Absichten. Man konnte am Schild erkennen, ob der Träger Freund oder Feind war. Außerhalb des ritterlich-höfischen Lebens, aufWanderschaften oder Streifzügen, war es von essentieller Bedeutung, zu erkennen, was der Ritter im Schilde führt. Das Tragen von Schilden war zunächst nur den Adligen vorbehalten und den in ihren Dienst stehenden Rittern. So war das Schild von vornherein immer Ausdruck einer dahinter liegenden Macht und Ordnung. Es gibt keinen umnittelbaren Bezug des Schildes zur Kontrolle ein Schild kontrolliert nicht bzw. ist kein Werkzeug zur Kontrolle; es ist vielmehr ein mittelbarer, hergestellter Bezug, indem das Schild - wie beschrieben - Ausdruck einer Ordnung und des Schutzes ist, die durch Kontrolle erreicht wird. Das Schild schützt seinen Träger, früher also den tugendhaften Ritter, heute und hier den Ordnungshüter, der wiederum die soziale Ordnung repräsentiert und damit alle
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ordentlichen Menschen, die geschützt werden müssen. Die Kontrolle hebt nicht mehr auf eine Überwachungsfunktion ab, sondern legt ihren Fokus auf einen hinter dem Schild liegenden Aspekt: Die Überwachung dient dem Schutz der Menschen, symbolisiert durch das Schild. Das Schild (jetzt: die Kontrolle) schützt die Menschen und dient der Ordnung. Die Karneraperspektive auf das im Serientrailer präsentierte Seriensymbol ist so ausgerichtet, dass man als Zuschauer von unten nach oben auf das Symbol blickt. Dies erweckt zum einen den Eindruck, als schaue man sitzend auf das Schildsymbol. Das Schild ist über den Köpfen der Zuschauer positioniert als Sinnbild fiir Ordnung und Recht, die über die Zuschauer wachen, und unterstreicht zwei zentrale Funktionen. Es bietet Schutz, und der wird durch Kontrolle erreicht. Eine völlig andere Konnotation und eine andere Vorstellung von Kontrolle wären erzeugt worden, wenn statt des Schildes eine Überwachungskamera als Symbol fiir die Sendung gewählt worden wäre. Die Kamera ist vor dem Hintergrund unserer Kultur symbolisch anders aufgeladen. Sie impliziert den Überwacher und die Obrigkeit als "Schnüffler", das allsehende und spionierende Auge. Der Schild hingegen symbolisiert hier das Angebot von Schutz, der sich hinter dem Schild verbirgt. Er soll nicht fiir die Überwachung stehen, obgleich diese zumindest nach dem Schutzaspekt mitgedacht wird. 10 Somit wird mit dem Schriftzug "Achtung Kontrolle! Einsatz fiir die Ordnungshüter" in Kombination mit dem Schildsymbol die Ausrichtung dieses Serienformates mitgeteilt. Es geht um die Bewahrung von Sicherheit und Schutz; und es gibt Menschen, die sich hierfiir und damit fiir die Gemeinschaft einsetzen. Der gleiche Schriftzug mit einer Überwachungskamera als Symbol hätte im Gegensatz dazu z.B. auch fiir ein Format stehen können, in dem den Menschen Anleitungen gegeben werden, wie und wo man im Alltag überwacht wird, dieses erkennt und sich ggf. einem solchen überwachenden Auge auf legitime Art und Weise entzieht. Das Schildsymbol findet sich übrigens auch bei einer Reihe von Virenschutzprogrammen, 11 die ja gerade durch permanente Kontrolle jeder Datei auf dem Rechner - also durch totale Überwachung - ihre Schutzfunktion ausüben.
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Ein Beispiel dafür, dass das Schildsymbol nicht eingehen muss mit Überwachung und Kontrolle - und wo dieses auch nicht mitgedacht ist - sind Versicherungen; in diesem Falle die HUK Coburg Versicherung, die mit dem Schild als Symbol wirbt. Versicherungen stehen nicht fiir Schutz durch Kontrolle, sondern verbleiben ausschließlich bei der Schutzfunktion des Schildes. Z. B. McAfee, GDATA oder - zwar kein Virenschutzprogramm, aber eine Firewall- ZoneAlarm.
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Fazit Die Bürger westlicher Staaten werden zunehmend, gewollt oder ungewollt, implizit und explizit, zu eigenen Kontrollakteuren im Prozess der sozialen Kontrolle, indem sie selbst zu Produzenten und Distributoren von Überwachungsbildern werden. Sie werden zu Prosumenten (Blätte1-Mink/Hellmann 2010), aktiven Produzenten und Konsumenten. Diese durch das Phänomen des Leserreporters zu beobachtende Entwicklung steht zugleich in einer Linie zu Prozessen und Begriffen, die sich in politischer und gesellschaftlicher Hinsicht in Begriffen wie Partizipation, Aktivierung, Bürgergesellschaft und -beteiligung, Selbstverantwortung, aber auch dem Open-Source-Gedanken widerspiegeln. Ihnen allen ist gemeinsam, dass es um die Mitgestaltung und aktive Teilnahme geht. 12 Aber diese Teilnahme spielt sich immer auch vor dem Hintergrund der Machtfelder ab (politik, Medien, Ökonomie), in denen sie sich bewegt. Und dadurch werden die Aktivierten unweigerlich zu Mitproduzenten der Machtrelationen, indem sie diese aktiv reproduzieren und aktualisieren. Und diese Aktivierung ist in nicht unerheblichem Maße durch die Massenmedien hervorgerufen, die durch die Bereitstellung der technischen Basis und dem Auf- und Einfordern vonjoumalistischenArtefakten, produziert von Leserreportern, erst ein Forum und eine gesellschaftliche Deutung für eine solche Praxis anbieten. "Doch Nutzer wollen nicht nur kommentieren und .Gefällt mir' klicken, sie sind längst auch selbst Produzenten. [... ] Am liebsten natürlich dort, wo sie auch wahrgenommen werden." (Langer 2010: 10) So bieten nicht nur viele Zeitungen den Lesern die Möglichkeit, für sie aktiv zu werden. Mittlerweile haben sich weitere Dienstleister etabliert, wie z.B. Gogol Medien, der seit 2003 das Bürgerreporternetzwerk "MyHeimat" betreibt, das Bürgern die Möglichkeit gibt, auf der Internetplattform Beiträge und Bilder einzustellen." Darüber hinaus ko12
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Ganz neu innerhalb dieser Entwicklung ist der Bürgerwissenschaftler. Laien helfen zwischenzeitlich Wissenschaftlern nicht mehr nur mit der Rechnerkraft ihrer Computer aus, sondern "knobeln" selbst an aktuellen Fragen z.B. zum Proteinaufbau, Auswertung von Galaxiebilder usw. über eigens dafiir entwickelte Software und über das Internet. Vgl. hierzu Ludwig, Inga : Eiweißfalter und Erbensucher. In: Süddeutsche Zeitung. Nr. 293, 18. Dezember 2010 , S. 24 Vgl. http://www.myheimat.de/. Die Selbstbeschreibung macht den Anspruch der Plattform deutlich: ,,myheimat ist ein deutschlandweites Internetportal, auf dem Bürger aus ihrem Ort berichten. Gemeinsam mit seinen Medienpartnem verschafft myheimat den Beiträgen der Bürgerreporter weitere Aufmerksamkeit. Redakteure der Medienpartner integrieren Inhalte von myheimat in ihre Produkte, wie zum Beispiel Lokalzeitungen oder eigene myheimat-Magazine und bereichern damit die lokale Medienlandschaft in der Region. Aufmyheimat.de können Bürger: - aus ihrer Heimat berichten - verschiedenste Perspektiven ihrer Heimat erleben - neue Menschen aus ihrer Heimat kennenlemen - mit ihren Beiträgen bei den myheimat-Medienpartnem weitere Aufmerksamkeit erreichen"
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operiert die Plattform mit verschiedenen Zeitungen und Verlagen als Lizenznehmer. ",Hannoversche Zeitung', ,Marburg extra', ,Waldeckische Landeszeitung' und mehr als ein Duzend weiterer Tages-, Wochen- und Anzeigenblätter bedienen sich aus dem Pool örtlich relevanter Beiträge für die Zeitung, Online oder neue Printprodukte." (Langer 2010: 10) Die Massenmedien sind damit auf einer weiteren Ebene als Akteur tätig, indem sie nicht nur selbst auf dem Feld der Inneren Sicherheit tätig sind, sondern zugleich andere dazu auffordern, dort tätig zu werden. Die Massenmedien aktivieren sozusagen ihre Rezipienten, indem sie sie zur Mitarbeit aufrufen. Es ist nicht der Staat, der dazu aufruft, sich um seine Mitbürger und Nachbarn zu kümmern (Stichwort Zivilcourage), sondern es sind hier die Medien, die in erster Linie aus ökonomischen Gründen, aber auch vor dem impliziten Hintergrund des sich ausbreitenden Sicherheitsdiskurses, Rezipienten und Bürger dazu aufrufen, Beiträge zu produzieren. Es wird also nicht explizit dazu aufgerufen, den Alltag anderer Menschen zu überwachen, aber das ist die zwangsläufige Folge des Aufrufes, sich beitrags- und fotosuchend durch den Alltag zu bewegen und dortige Besonderheiten zu "Papier" oder ins Bild zu bringen. Mehr noch: Jeder Mensch wird dadurch zwangsläufig selbst zu einem aktiven Ordnungshüter - zumindest in dem Augenblick, in dem er sich dazu entscheidet, ein Bild, einen Kommentar, ein Video oder einen Beitrag zu einem ihm 'deviant' erscheinenden Verhalten zu produzieren. Neu daran ist weniger der Umstand selbst, sondern vielmehr seine Dynamisierung. Schon immer hatte der Mitmensch meiner sozialen Umwelt einen nonnierenden Einfluss auf mich und mein Verhalten. Man schaut, wie Menschen sich in Situationen verhalten, und richtet sein eigenes Handeln, sobald man in eine ähnliche Situation kommt, daran aus. Das kann das Verhalten im Restaurant, an der Bushaltestelle, im Straßenverkehr oder im Wartezimmer des Arztes sein. Aber die beschriebene Dynamisierung der gegenseitigen sozialen Überwachung erfolgt aus dem neuen Zusammenspiel zwischen Bürgern und Medien, den neuen Distributionsmöglichkeiten und einer sich im öffentlichen Diskurs auftretenden Verdichtung hin zur Duldung und Akzeptanz von vielfältiger Kontrolle im Alltag. Die Menschen werden zu ihren eigenen Kontrolleuren und zu ihrem eigenen Gegenstand. Zum einen kontrollieren sie oder zeigen dieses z.B. durch eine Digitalkamera an. Zum anderen verhalten sie sich tendenziell so, dass sie nicht zwangsläufig Gegenstand einer solchen Aufnahme eines anderen Kontrolleurs werden. Verstärkt wird die Schutzfunktion von Kontrolle hervorgehoben, hinter die der Überwachungsaspekt zurücktritt. Und wer ist schon gegen mehr Sicherheit? Unter: http://www.myheimat.de/?page=info.php&setview=popup[Zugriffam25.11.10]
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Für den Aspekt der Produktion und Distribution von Überwachungsbildern steht sinnbildlich und beispielhaft die 1414-Aktion der Bildzeitung, die eine Plattform fiir die Verteilung kontrollierender und normierender Bilder, Bildproduktion und ein Belohnungssystem bietet. Für den zweiten angesprochenen Teil - also der Duldung und zunehmenden Akzeptanz von Kontrollen - steht exemplarisch das Schildsymbol als Ausdruck des Schutzes durch Kontrolle. Die mediale Darstellung leistet hier zweierlei. Zum einen ist die Darstellung von Regellosigkeit und Bedrohung medial überformt und zum anderen beziehen die Darstellungen ihre Wirkmacht auf den Rezipienten über ihre permanente Ausstrahlung und damit durch ihre durchgängige mediale Präsenz. .Die Existenz dieser permanenten kleinen inneren Gefahr gehört zu den Voraussetzungen fiir die Akzeptanz des Kontrollsystems. Deshalb räumt man der Kriminalität in Presse, Radio und Fernsehen aller Länder der Erde so viel Platz ein, als wäre sie jeden Tag eine Neuigkeit." (Foucault 2005: 233) Nur dadurch, dass permanent darüber berichtet oder man selbst zu einem solchen Bericht aufgefordert wird, können sich das Kontrollsystem und damit gewisse Praktiken und Selbstführungsprozesse legitimieren, aktualisieren und zur Akzeptanz aufrufen. Diese Akzeptanz soll vordergründig durch ein Einsehen in seine Notwendigkeit erreicht werden und tritt damit zunächst nicht durch eine dominierende und repressive Machtform auf. Erst wenn ein Widerstand gegen das Kontrollsystem erfolgt, muss zwangsläufig eine repressive Maßnahme durch austauschbare und unindividuelle Ordnungshüter erfolgen, die dannnicht mehr nur deviantes Verhalten markieren, sondern auch bestrafen. Unter Kontrolle muss dergestalt heute nicht mehr nur der Blick des .Big Brother" verstanden werden, sondern es bildet sich vielmehr eine Duldungs- und Verständnishaltung fiir ihre Durchführung aus. Denn Sicherheit braucht Schutz (Schild). Ein Grund hierfiir liegt in der Vergemeinschaftung der Kontrolle. Wenn es um den Schutz des Schutzwürdigen geht - was darunter zu verstehen ist, wird kaum verhandelt - wird Kontrolle akzeptiert und sogar unterstützt; sogar, wenn der Blick durch die Kleidung geht, wie es beim so genannten "Nacktscanner" der Fall ist. Die Frage und das Argument nach der Einschränkung von persönlicher Freiheit der Menschen, die es gegenüber der Kontrolle abzuwägen gilt, kann sich im derzeitigen Diskurs nur marginal Gehör verschaffen oder sich durchsetzen; selbst dann nicht, wenn die Validität empirischer Daten über die Wirksamkeit z.B. der Kamera-Überwachung öffentlicher Plätze brüchig ist (vgl. hierzu u.a. auch Zurawski 2011).
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Oliver Bidlo
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Die Enthüllungsplattform WikiLeaks zwischen Bürgerservice und Sicherheitsrisiko Pascal Riemann
1. Im Netz der (Un-)Sicherheit Im Laufe der Zeit wurde vor allem von politischer Seite immer wieder gefordert, das Internet dürfe kein ,,rechtsfreier Raum" sein.' Dieser Warnung liegt der Eindruck zugrunde, dass das Netz unrechtmäßiges Verhalten nicht nur begünstige, sondern in einigen Fällen sogar erst ermögliche - man denke zum Beispiel an internetspezifische Delikte wie das Phishing. Die Enthüllungsplattform WikiLeaks schickt sich nun an zu beweisen, dass das Internet, welches selbst von Vielen als Bereich der Unsicherheit wahrgenommen wird, gleichermaßen den Nährboden für neue mediale Akteure im Handlungsfeld Sicherheit und damit mehr Schutz für Gesellschaften und ihre Bürger bieten kann. Dass der hiermit verbundene Eingriff in gesellschaftliche Sicherheitsarrangements und Arkanpolitik aber äußerst unterschiedliche Deutungen zulässt, wird im Folgenden aufgezeigt.
2. Konjunktur für Datenlecks - WikiLeaks im Jahr 2010 "Ein Leben ohne Geheimnis ist nicht vorstellbar, ein Zusammenleben ohne Verborgenes gibt es nicht." (Hornung 2010: 17) Zu Beginn des 3. Jahrtausends, in dem die Rede von der Informations- und Wissensgesellschaft fest in (populär-) wissenschaftlichen und auch alltäglichen Diskursen etabliert ist, klingt dieses Zitat erst einmal anachronistisch. Unbestritten ist: Gesellschaftliche Wissensvorräte wachsen immer weiter und gerade Prozesse der Informatisierung und Medialisierung erleichtern den Zugang zu Wissen jeder Art ungemein. Gleichermaßen kann aber auch das Zurück- bzw. Geheirnhalten von Informationen als ein grundlegendes gesellschaftliches Moment begriffen werden: Vgl. hierzu die Kritik von Lischka (2009).
O. Bidlo et al. (Hrsg.), Securitainment, DOI 10.1007/978-3-531-93077-0_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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PascalRiemann ,,Jedermann hat Geheimnisse, Wissen, das er anderen vorenthält, indem er es nicht zur Sprache bringt, es verschweigt, es mit Lügen zudeckt, darum herum redet oder einfach mitteilt ,Das sage ich nicht' und es damit zu seiner Privatangelegenheit deklariert." (Schirrmeister 2004: 1)
Derartiges .Jnformationskontrollmanagement" (SpitznageI1998: 37) betreiben nicht nur individuelle Akteure, sondern auch Organisationen: Unternehmen beispielsweise sind um die Geheimhaltung ihrer Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse gegenüber Außenstehenden bemüht, um eigene Wettbewerbsvorteile nicht zu gefährden und Schäden vom Unternehmen femzuhalten. Der wohl bedeutendste gesellschaftliche Geheimnisträger ist aber der Staat, dessen Geheimnisse ihre Legitimation häufig in strategischen und vor allem auch sicherheitspolitischen Erwägungen finden. Das deutsche Strafgesetzbuch (§ 93 Abs. 1) definiert zum Beispiel: "Staatsgeheimnisse sind Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, die nur einem begrenzten Personenkreis zugänglich sind und vor einer fremden Macht geheimgehalten werden müssen, um die Gefahr eines schweren Nachteils fiir die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland abzuwenden. "2
Vordiesem Hintergrund erscheinen Staatsgeheimnisse geradezu als "staatserhaltende Notwendigkeit" (Schirrmeister 2004 : 54). Das Ausmaß der antiepistemologischen' Bemühungen staatlicher Akteure ist gewaltig: Galison (2004: 231) schätzt, dass allein das Information Security Oversight Office (ISOO) der Vereinigten Staaten eine Menge von 7,5 Milliarden Seiten geheim hält. Die Welt der als geheim klassifizierten Informationen scheint enorme Dimensionen zu haben: ,,[...] the classified universe is, as best I can estimate, on the order of five to ten times larger than the open literature that finds its way to our libraries." (ebd.) Doch trotz des offensichtlichen Aufwands, der im Rahmen organisierter, vor allem staatlicher Arkanpolitik betrieben wird, sind Geheimnisse nicht unbedingt auf Dauer gestellt: Mit jeder Geheimhaltung ist das Risiko der Offenbarung, des Geheimnisbruchs oder -verrates verbunden (vgl. Sievers 1974: 61). Diese Tatsache dürfte der US-Regierung unter Präsident Obama im Jahr 2010 gleich mehrmals bewusst geworden sein: Im April 2010 beispielsweise häuften sich Medienberichte über die Veröffentlichung eines internen Videos des US-Militärs aus dem Jahr 2007. Darauf festgehalten ist der Angriff eines US-amerikanischen Kampfhubschraubers in Bagdad auf eine Gruppe Zivilisten, die unter zynischen Kommentaren der US-Besatzung beschossen werden. Wie sich herausstellte, waren unter den Beschossenen auch zwei Journalisten der Agentur Reuters (vgl. Meu2 3
Siehe http://bundesrecht.juris.de/stgb/_93.htm1(10.11.201O). ,,Epistemology asks how knowledge can be uncovered and secured. Antiepistemology asks how knowledge can be covered and obscured." (Galison 2004: 237)
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then 2010: 3). Im Juli 2010 berichteten die amerikanische New York Times, der britische Guardian und der SPIEGEL gleichzeitig über die Veröffentlichung von fast zweiundneunzigtausend internen Dokumenten des US-Militärs über den Afghanistan-Krieg (vgl. Gebauer et al. 2010). Viele, die damals noch glaubten, eine Enthüllung von Militär- und damit Staatsgeheimnissen in dieser Größenordnung müsse einmalig bleiben, sahen sich im Oktober 2010 eines Besseren belehrt: Nun kursierten Artikel in den Medien, die besagten, dass fast vierhunderttausend Dokumente des US-Militärs zum Irak-Krieg:für jedermann frei verfiig- und einsehbar seien (vgl. Hoyng et al. 2010). Was war hier passiert? Weder hatte das US-Militär kurzfristig seine Arkanpolitik geändert und militärische Geheimdokumente offen gelegt noch hatten Investigativjoumalisten großer Medienkonglomerate die Sicherheitsbarrieren der letzten verbliebenen Weltmacht durchbrochen. Die Veröffentlichungen gehen vielmehr zurück auf das Agieren von WikiLeaks, einer neuen Art vonjoumalistischen Plattform, eines neuen medialen Akteurs (vgl. hierzu den Aufsatz von Bidlo in diesem Band), über den das amerikanische Nachrichtenmagazin Time schrieb: ,,[...] it could become as important ajournalistic tool as the Freedom ofInformationAct" (Schmidt 2007) und von dem zum Beispiel die New York Daily News behauptet, er könne womöglich die Welt der Nachrichten komplett verändern (vgl. Reso 2010).
3. Whistleblowing als Bürgerservice Wikil.eaks" ist eine Internetseite und hinter ihr steht eine Organisations, welche mittels der Internetplattform immer wieder Dokumente veröffentlicht, die von staatlichen Stellen oder Unternehmen als geheim eingestuft wurden. Über die Mitarbeiter von WikiLeaks ist wenig bekannt, primär wurden mit der Enthüllungsplattform bislang zwei Personen in Verbindung gebracht: der Australier Julian Assange, der als ihr Gründer gilt, sowie Daniel Domscheit-Berg, der sich früher Daniel Schmitt nannte und als Sprecher fungierte, bis er im Sommer 2010 die Organisation im Streit verließ," 4
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In manchen Publikationen auch in der Schreibweise "Wikileaks" zu finden; das erste Element des Namens verweist darauf, dass die Internetseite im besten Fall als Wiki agiert, also als Plattform , auf der jedermann an der Infonnationsbearbeitung mitwirken kann . ,,Leaks" kommt vom englischen Verbum r.to leak' (auf Deutsch etwa: durchsickern lassen) bzw. vom Nomen .Jeak'' (etwa : Leck , undichte Stelle) und verweist aufdie Tätigkeit des Publizierens von zuvor geheimen Informationen. Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, ob WikiLeaks tatsächlich schon als Organisation bezeichnet werden kann. Manche Medien behaupten zum Beispiel, WikiLeaks sei eher noch eine "Idee" (Goetz/Rosenbach 2010) bzw. ein "loser Verbund" (Kuhn 2010) . Vgl. http ://www.spiegel.de/netzweltJnetzpolitik/O.1518.7l9543.00.html(20.11.20l0).
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Pascal Riemann
Seit dem offiziellen Start der Seite im Jahr 2007 wurde eine Vielzahl unterschiedlicher und teilweise brisanter Dateien hochgeladen, darunter zum Beispiel ein geheimes Handbuch der US-Behörden zur operativen Arbeit im Gefangenenlager Guantänamo? und - aus deutscher Sicht sicher besonders interessant - der geheime Bundeswehrreport über die Bombardierung der Tanklaster bei Kunduz (vgl. O.A. 2010). Aber erst durch die oben beschriebenen .Leaks" im Jahr 2010 wurde der Enthüllungsplattform weltweit öffentliches Interesse zuteil. Das geheime Material wird WikiLeaks von Quellen aus dem Umfeld der betroffenen Organisationen zugespielt - häufig verstoßen die Informanten dabei gegen bestehende Gesetze, weshalb sie ein hohes Risiko tragen. Ermöglicht wird die notwendige Geheimhaltung derjenigen, die Geheimnisse in vermeintlicher Befolgung einer höheren Moral öffentlich machen, durch eine bestimmte Verschlüsselungstechnologie (The Onion Router - TOR), die WikiLeaks nutzt, um die Anonymität ihrer Quellen zu gewährleisten. So können Informanten ihre Daten über die Homepage von WikiLeaks übermitteln, ohne ihre Identität oder IP-Adresse preiszugeben (vgl. Marks 2008: 28; Lynch 2010: 311). Nach der Übermittlung erfolgt eine Prüfung der Dokumente aufAuthentizität durch WikiLeaks-Mitarbeiter und Freiwillige (vgl. Pike 2010: 17) sowie eine .Jiarm minimisation procedure": "We do not censor our news, but from time to time we may remove or significantly delay the publication of some identifying details from original documents to protect life and limb of innocent people."" Sobald die Dokumente anschließend von WikiLeaks veröffentlicht werden, gelten sie als unzensierbar, da die Inhalte auf Servern und in Peer-to-Peer-Netzwerken rund um die Welt gespiegelt sind (vgl. Cohen 2010: 33). WikiLeaks ist demnach ein medialer Akteur, der das öffentlich macht, was vor der Öffentlichkeit verborgen werden soll. WikiLeaks wird also im Bereich des Whistleblowing aktiv," Wörtlich übersetzt bezeichnet der aus dem Englischen stammende Begriff"Whistleblower" eine Person, die mit einer Trillerpfeife Alarm schlägt (vgl. Bug/Beier 2009: 1). Wolz (2007: 13 f) zählt in Anlehnung an Miceli und Near mehrere Merkmale auf, diefür das "Whistleblowing" charakteristisch sind: Eine Person, die als Whistleblower fungiert, deckt unmoralische, illegitime oder gar illegale Praktiken auf. Dabei ist der Whistleblower kein Mittäter, aber Insider: Die angeprangerten Praktiken erfolg(t)en innerhalb einer bzw. durch eine 7 8 9
Vgl. http://www.welt.de/politik/article1369599/Guantanamo_Handbuchjm_Internet_aufgetaucht. html (20.11.2010). Siehe http://www.wikileaks.org/mediaiabout.html(21.11.201O). WikiLeaks wird häufig auch als "whistle-blowing website" charakterisiert (vgl. zum Beispiel Cohen 2010, Pike 2010 sowie Meuthen 2010, der WikiLeaks als "Whistleblower-Netzwerk" beschreibt).
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Organisation, welcher der Whistleblower angehört oder der er zwnindest als Lieferant bzw. Kunde verbunden ist. Whistleblowing baut demnach grundlegend darauf auf, dass organisierte Geheimnisse häufig auch kollektive Geheimnisse und somit institutionalisierte Sonderöffentlichkeiten (vgl. Westerbarkey 1991: 16) sind, die sich in einigen Fällen über die Organisation im Ganzen, in anderen Fällen nur über gewisse Subsysteme erstrecken. Die zur Erfüllung der organisationsspezifischen Ziele herangezogenen Produktivkräfte werden durch ihre Tätigkeit teils nicht nur zu Mitarbeitern, sondern - je nach Position in der Organisation - auch zu Mitwissern um interne Geheimnisse und damit zu einer potenziellen Bedrohungfür die Organisation als Geheimnisträger: ,,[...] sie besitzen eine doppelte Macht: Die Macht zur Kontrolle über die Kommunikation hinsichtlich des geheimes [sic] Inhalts, die sie mit dem Ursprungsgeheimnisträger teilen, und die Einnahme einer Machtposition diesem gegenüber." (Schirrmeister 2004: 50 f)
Diese Machtposition nutzen Whistleblower aus: Sie geben belastende Informationen entweder an Außenstehende wie die Medien (externes Whistleblowing) oder innerhalb der Organisation (internes Whistleblowing) weiter, jedoch ohne sich dabei an den üblichen Dienstweg zu halten (vgl. Wolz 2007: 13 f). Von diesen internen oder externen Adressaten des Whistleblowing verspricht sich der Whistleblower direkt oder indirekt eine Veränderung des wahrgenommenen Missstandes und damit ein Zurückwirken auf die Organisation selbst. Das wesentliche Handlungsmotiv, welches Whistleblowern dabei gängigerweise zugeschrieben wird, ist Gemein- bzw. Uneigennützigkeit (vgl. Leisinger 2003: 29; Bug/Beier 2009: 1).10 Zusammenfassend handelt es sich bei einem Whistleblower demnach um eine Person, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer Organisation in den Besitz von internen, die eigene Organisation belastenden Informationen kommt und diese aus uneigennützigen Motiven im weitesten Sinne öffentlich macht." In diesen Prozess schaltet sich nun WikiLeaks quasi als webbasierter Dienstleister ein, wie der frühere WikiLeaks-Mitarbeiter Daniel Domscheit-Berg erläutert: ,,[...] WikiLeaks ist vom Prinzip ganz einfach gesagt ein Bürgerservice, eine Plattform, [...] in der Bürger, die Dokumente haben, mit denen zum Beispiel immoralisches Verhalten oder Korruption, Steuerhinterziehung oder welches schlechte Verhalten auch immer in der Gesellschaft nachgewiesen werden kann, [...] uns diese Dokumente dort zuspielen [kann], das kann anonym 10
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Wolz (2007: 18) weist daraufhin, dass zumindest in den USA Whistleblowing auch aus Rache oder finanziellen Motiven möglich sei, weil es dort für Whistleblower finanzielle Anreize per Gesetz gibt. Auch er gesteht aber zu, dass die Mehrzahl der Fälle auf altruistischen Motiven beruhen dürfte. Auch die organisationsinteme Weitergabe von Informationen erweitert den Kreis der Wissenden und kann damit als Form der "Veröffentlichung" über das ursprünglich geheimnistragende Subsystem hinaus angesehen werden.
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Pascal Riemann geschehen, wir können sicherstellen, dass die Quellen auch anonym bleiben, und wir können dieses Material dannvollöffentlich fiir die Öffentlichkeit zur Verfiigung stellen, und dieses Material, wenn wir es denn publiziert haben, kann nicht wieder zensiert werden. "12
Was die eigene Informationspolitik und Selbstdarstellung angeht, wurden WikiLeaks unlängst viele Ungereimtheiten vorgeworfen (vgl. Lischka/Patalong 2010). Dennoch scheint das für Whistleblower wichtige Motiv der Uneigennützigkeit auch für WikiLeaks grundlegend zu sein. Auf ihrer Homepage (Stand: November 2010) bezeichnet sich das Kollektiv selbst als "not-far-profit media organisation", deren Aufgabe und Ziel es sei, der Öffentlichkeit wichtige Informationen zugänglich zu machen und dadurch für transparentere und bessere Gesellschaften weltweit zu sorgen: .Better scrutiny leads 10 reduced corruption and stronger democracies in all society's institutions, inc1uding government, corporations and other organisations.?" Mit dieser Positionierung als "global watchdog'?' (Lynch 2010: 311) bringt sich WikiLeaks in die Nähe anderer Akteure, darunter vor allem die klassischen Medien (presse und Rundfunk) und speziell der Investigativjoumalismus, welche ebenfalls Aufgaben der Beobachtung und Aufdeckung gesellschaftlicher Missstände und damit des Polizierens (vgl. Reichertz 2010: 43 fl) wahrnehmen. Weitere Anhaltspunkte unterstreichen diese Nähe: Lynch zum Beispiel konnte in einer Umfrage herausfinden, dass immer mehr Journalisten die Webseite auf der Suche nach Informationen aufsuchen und damit als Instrument ihres journalistischen Handelns einsetzen (vgl. Lynch 2010 : 311). Zudem scheint sich WikiLeaks nach zwischenzeitlich anderslautenden Aussagen mittlerweile auch selbst im (investigativ-)journalistischen Feld zu verorten." Gleichzeitig sieht sich WikiLeaks allem
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Auszug aus einem Transkript zum Interview mit Daniel Domscheit-Berg aufdctp.tv (http://www. dctp.tv/#/meinungsmacher/wikileaks-schmitt; 27.10.2010). Siehe http://www.wikileaks.org/media/about.html(21.11.2010). Interessanterweise wird WikiLeaks aber auch immer wieder die eigene rigide Arkanpolitik, beispielsweise hinsichtlich derbeteiligten Personen und der Arbeitsweise, vorgeworfen, so zum Beispiel von David Cohen: ,,[...] it is yet another irony that the mission of such a secretive organisation is to enforce openness on others [...]." (Cohen 2010: 33) Nach seinem Ausscheiden aus der Organisation kritisierte Danie! Domscheit-Berg gerade diese zuletzt eher globale Ausrichtung und gleichzeitige Vernachlässigung lokaler Themen durch WikiLeaks (vgl. Fresenius 2010: 32 f), Es scheint, dass WikiLeaks zumindest früher auch durchaus das Selbstverständnis eines "community's watchdog" (siehe hierzu die Einleitung von Reichertz) hatte , der sich auch lokaler Themen annimmt. Daniel Domscheit-Berg gab in einem Interview aufdctp.tv (http://www.dctp.tv/#/meinungsmacher/ wikileaks-schmitt; 27.10.2010) zu Protokoll, dass er die Aufgabe von WikiLeaks in der "neutralen" Publikation von Dokumenten sieht und dass zu überlegen sei, ob journalistische Einordnungen durch die Organisation auf eine separate Plattform auszugliedern seien . Mittlerweile stellt sich WikiLeaks explizit in eine Reihe mit ,,[...] other media outlets conducting investigative journa-
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Anschein nach aber auch als Antwort auf eklatante Probleme des klassischen (Investigativ-)Journalismus, beispielsweise hinsichtlich Kosten und Quellenschutz: ,,Es ist in der Tat der Umstand, dass investigativer Journalismus aufgrund der schlechten Finanzierung der Medien generell im Moment sehr starke Probleme hat und viele investigative Teams bei Nachrichten, Zeitungen und so weiter eben geschlossen werden und man das wieder billiger machen möchte. "16
Laut Julian Assange erlaubt WikiLeaks diese Ökonomisierung des Investigativjournalismus, vor allem durch die Abwicklung der Quellenarbeit und das Bereitstellen des geleakten Materials zur weiteren Verwendung durch klassische Medienunternehmen (vgl. Mey 2010). Zum Thema Quellenschutz attestiert Daniel Domscheit-Berg: "In vielen Ländern der Welt können Journalisten heute dazugezwungen werden auch ihre Quellen offen zu legen über Gerichtsbeschlüsse, das heißt ein Joumalist kann den Schutz seiner Quelle auch nicht mehr unbedingt gewährleisten. "17
Wie oben beschrieben, zeichnet sich WikiLeaks gerade dadurch aus, dass die ursprünglichen Whistleblower anonym bleiben. Allerdings ist die Veröffentlichung von ehemals geheimen und anonym bezogenen Dokumenten im Internet noch kein Alleinstellungsmerkmal von WikiLeaks, wie Steven Aftergood vom Federation of American Scientists' Project on Govemment Secrecy zu bedenken gibt: .Anonymous leaking is an ancient art and many websites publish documents from sources they cannot identify [...]." (Marks 2008: 29) Die Besonderheit dürfte vielmehr in der Professionalisierung des medialisierten Whistleblowing-Prozesses (vgl. ebd.) und der dadurch bedingten Möglichkeit der Aktivierung von Datenlieferanten liegen: WikiLeaks stellt die eigenen Fähigkeiten in punkto Quellenschutz - ermöglicht durch die Verschlüsselung bei der Datenübermittlung - aktiv in den Vordergrund (vgl. Lynch 2010: 311) und erzeugt dadurchfür potenzielle Datenlieferanten ein Bewusstsein der Sicherheit und Vertrauen, welches die Angst vor negativen Sanktionen und damit die Hemmschwelle zur Weitergabe von brisanten Dokumenten deutlich senken dürfte. Die US-Army deutet dies in einem internen Bericht, welcher ironischerweise wiederum aufWikiLeaks veröffentlicht wurde, ähnlich:
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lism [...1" und konstatiert, dass jedes hochgeladene Dokument mitsamt einer journalistischen Einordnung veröffentlicht wird (siehe http://www.wikileaks.orglmedialabout.html;21.11.201 0). Ebenfalls aus dem Interview mit Daniel Domscheit-Berg (http://www.dctp.tv/#/meinungsmacher/ wikileaks-schmitt; 27.10.2010) . Siehe Fußnote 16.
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Pascal Riemann "Wikileaks.org uses trust as a center ofgravity by assuring insiders, leakers, and whistleblowers who pass information to Wikileaks.org personnel or who post information to the Web site that they will remain anonymous. ,,"
Insofern lässt sich WikiLeaks tatsächlich vom klassischen Journalismus abgrenzen, wie der SPIEGEL mit Bezug aufAussagen des Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Frank Schirrmacher, erläutert: "Während Staatsanwälte weltweit immer wieder versuchten, Journalisten zur Preisgabe ihrer Quellen zu drängen, oder das Redaktionsgeheimnis nicht achteten [...], genieße WikiLeaks Vertrauen, weil es unangreifbar sei. ,Hier wird es keine Hausdurchsuchung geben, weil keiner weiß, wo er genau suchen soll', so Schimnacher. ,Es ist ein perfekter Geheimagentenspielplatz.'" (Müller 2010)
Es zeigt sich: Die Plattform WikiLeaks lebt von der Aktivität und ,,zuarbeit" ihrer Quellen. Als medialer und korporierter Akteur (vgl. ReichertzlMarth 2010: 251) versucht sie wiederum, durch die zugesicherte Anonymität das Vertrauen der potenziellen Quellen und dadurch deren Aktivität zu gewinnen. So will sie Ordnung in Bereichen schaffen, die von der Öffentlichkeit originär nicht einsehbar sind. Auf diese Weise werden bis dato unsichtbare Unsicherheiten sichtbar gemacht, und zwar - so stellt es sich zumindest zurzeit dar - unwiderruflich. Als selbst berufene Ordnungs- und Kontrollinstanz macht WikiLeaks dabei auch und gerade nicht Halt vor den eigentlichen Kontrolleuren, d.h.: dem Staat und seinen vielfältigen Akteuren, und ist damit zumindest der Idee nach nicht nur ein globaler, sondern auch ein "Meta-Wachhund": "WikiLeaks underlines to govemment that simply stamping something as secret isn't a solution, because it will come out [...]".19
4. Der Wachhund als Sicherheitsrisiko? Führt man sich die typische Konstellation des Whistleblowing und die in ihr vertretenen Parteien vor Augen, so wird deutlich, dass sich dieses Phänomen in einem Spannungsfeld widerstrebender Interessen abspielt: Auf der einen Seite finden sich die Verschwiegenheits- und Geheimhaltungswünsche der Organisation bzw. einzelner Mitglieder oder Subsysteme, auf der anderen Seite das Offenbarungsinteresse des Whistleblowers, welches sich idealiter anband eines zu erwartenden Gemeinnutzens bzw. öffentlichen Interesses legitimiert. So unterschiedlich wie die involvierten Interessen kann daher auch die Bewertung von Whistleblowing ausfallen: 18 19
Siehe http://www.wired.com/images_blogs/threatlevel/20l0/03/wikithreat.pdf (12.10.2010). Aussage von Ross Anderson, der an der Universität Cambridge zum Thema Computersicherheit forscht (siehe Cohen 2010: 32).
Die Enthüllungsplattform WikiLeaks zwischen Bürgerservice und Sicherheitsrisiko 143
Je nach Standpunkt kann diese Handlungsform positiv oder auch äußerst negativ gedeutet werden, wovon Überschriften wie "The Whistleblower as Hero and Traitor" (Akerström 1991: 43) und "Whistleblower und Denunziatoren" (Deiseroth/ Derleder 2008) zeugen. Auch Leisinger (2003: 73) unterstreicht diesen Punkt: .Alle, die sich mit Whistleblowing beschäftigt haben, weisen auf die dem Sachverhalt innewohnende Ambivalenz hin: Whistleblowing kann eine Bedrohung sein und Schaden anrichten - fiir den Whistleblower und die Organisation. Whistleblowing kann jedoch auch eine Gelegenheit fiir das Unternehmen [bzw. die Organisation; P.R.] sein, die langfristige Effizienz und die Moralität der Institution zu verbessern und Schaden von Individuen, der Natur oder dem Allgemeinwohl abzuwenden."
Deiseroth und Derleder (2008: 248) fragen in diesem Zusammenhang beispielsweise: ,,Muss nicht jede Gesellschaft aufHelden und HeIdinnen bauen, um Katastrophen abzuwenden, also auf Personen, die ohne Rücksicht auf ihren persönlichen Nachteil entschlossen fiir die Gemeinschaft zu handeln bereit sind?"
Andere Stimmen, wie zum Beispiel der Wirtschaftsethiker Dominik H. Enste vom Institut der Deutschen Wirtschaft, bringen das Phänomen explizit in die Nähe des negativ konnotierten Denunziantentums. 20 Eine Einordnung des Phänomens Whistleblowing muss also immer auch unterschiedliche Interessen und Argumentationsmuster in Rechnung stellen, was am Beispiel von WikiLeaks abermals deutlich wird: Die hinter der Enthüllungsplattform stehenden Akteure legitimieren ihr Handeln unter anderem mit den zu schützenden Grundwerten der Rede- und Meinungsfreiheit, dem oben schon erwähnten Anliegen der Gemeinnützigkeit und einer Verbesserung gesellschaftlicher Verhältnisse durch mehr Transparenz." So erlaubten die Veröffentlichungen der Irakdokumente beispielsweise einen tieferen Einblick in die Gräuel und Verbrechen, die mit den dortigen kriegerischen Auseinandersetzungen einhergingen." Es gibt auch außerhalb von WikiLeaks nicht wenige Anhänger, welche die Arbeit der Enthüllungsplattform positiv deuten." Allerdings haben gerade die Veröffentlichungen zu den Kriegen in Afghanistan und im Irak auch heftige Kritik hervorgerufen, nicht zuletzt vonseiten der US20
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Vgl. den Beitrag von Melanie Longerich zum Thema Whistleblowing vom 12.11.2010 im Deutschlandfunk (http://ondemand-mp3 .dradio.de/1ile/dradio/20I0/11/12/dlC20101112_1840_8839ae6c. mp3; 14.11.2010). Vgl. http ://www.wikileaks.org/media/about.html(21.11.201O). Vgl. http://www.zeit.de/news-l0201 0/24/HAUPTGESCHIClITE-SONNTAG-iptc-bdt-20I010241O-26958364xml (26.11.2010). In Deutschland äußerte sich zum Beispiel der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele positiv (siehe http://www.sueddeutsche.de/politik/wikileaks-enthuellungen-guttenberg-wiegeltab-1.9801l8; 24.11.2010).
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Regierung, die in WikiLeaks ein Sicherheitsrisiko sieht: Vor allem gäben die veröffentlichten Kriegsdokumente dem Gegner strategisch wichtige Informationen an die Hand und gefährdeten dadurch US-amerikanische Interessen, die nationale Sicherheit und nicht zuletzt das Leben von Amerikanern und Verbündeten." Zudem fänden sich im Wust der offen gelegten Dokumente auch Namen bzw. Details, die eine Identifizierung von US-Informanten im Kriegsgebiet möglich machten und diese dadurch einer potenziellen Bedrohung aussetzten (vgl. Schmitz 2010). Gerade dieser letzte Punkt wird auch von eigentlichen Fürsprechern wie der Organisation Reporter ohne Grenzen scharf kritisiert." Julian Assange weist diese Kritik meist ebenso bestimmt unter Berufung auf die oben erwähnte ,,harm minimisation procedure" zurück. Der Vorwurf, ein Sicherheitsrisiko zu sein, wiegt in Zeiten des global agierenden Terrorismus schwer. Es verwundert also kaum, dass die durch ihre offensichtlichen Datenlecks geradezu bloßgestellten staatlichen Akteure der USA den "global watchdog" an die Kette legen wollen, wozu allem Anschein nach unterschiedliche Strategien ausgelotet werden: Presseberichten zufolge prüfen Rechtsexperten der US-Regierung schon seit dem Sommer 2010, ob sie Assange vor Gericht bringen können." Es ist aber zumindest fraglich, ob WikiLeaks juristisch beizukommen ist. Aus US-amerikanischer Sicht erläutert Pike (2010: 17), dass vermutlich eher die ursprüngliche Datenquelle als WikiLeaks selbst mit juristischen Konsequenzen rechnen müsse, außerdem sind - wie oben angedeutet - die Server der Plattform über die ganze Welt und damit über mehrere Jurisdiktionen verteilt: ,,[...] if someone tries to take legal action against Wikileaks in one country [...] it cannot take down the entire service [...], making Wikileaks a resilient beast." (Marks 2008: 28) Auch die "finanzielle Kriegsfiihrung", die WikiLeaks der US-Regierung vorwirft, da deren Vorgehen nach den Afghanistan-Enthüllungen zur Sperrung eines Spendenkontos der Plattform geführt habe (vgl. Leigh/Evans 2010), scheint die Organisation nicht grundlegend aufhalten zu können, wie die später folgende Veröffentlichung der Irak-Protokolle zeigt. Zwar wird nach den Irak-Veröffentlichungen der Ton nochmals deutlich rauher: Stimmen werden laut, Assange und seine Mitstreiter sollten als "feindliche Kämpfer" eingestuft und damit gewissermaßen als Terroristen gelabelt werden; immerhin käme das Verhalten von WikiLeaks "politischer Kriegsfiihrung gegen
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Siehe beispielsweise http://www.spiegel.de/politik/aus1and/O.1518.708516.00.html(24.11.2010). Vgl. Meuthen 2010: 5 sowie http://www.spiegel.de/po1itik/aus1and/O.1518.711630.00.htm1 (26.11.2010). Vgl. http://www.spiegel.de/spiegellprint/d-74822636.htm1(24.11.2010).
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die USA" gleich." Aber grundlegend scheint der staatliche Kontrolleur zurzeit seinem selbst ernannten Beobachter nicht habhaft werden zu können. Umso wichtiger erscheint daher die mediale Auseinandersetzung mit den ungeliebten Whistleblowern um die diskursive Deutungshoheit, da ,,[...] alle gesellschaftlichen Akteure sich darum bemühen [müssen], den Glauben an die Legitimität der eigenen Perspektive und Position zu erzeugen [...]" (Reichertz 2010: 48), was zu einem bedeutenden Teil auch in und mit den klassischen Medien geschieht: "Die Dokumente herunterspielen und ihre Veröffentlichung durch WikiLeaks zugleich als Verrat geißeln - das ist die Linie der US-Regierung." (pitzke 2010) Etwas grundlegend Neues finde sich in den Protokollen - in diesem Fall aus dem Irak - ohnehin nicht (vgl. ebd.). Auch wenn der Wachhund also tatsächlich ein "widerstandsfähiges Biest" zu sein scheint, wurde bereits vor einiger Zeit im oben angefiihrten Report der USArmy erkannt, dass die Stärke von WikiLeaks, nämlich Vertrauen als "center of gravity" einzusetzen, auch eine Schwachstelle sein kann: "The identification, exposure, or termination of employment of or legal actions against current or former insiders, leakers, or whistleblowers could damage or destroy this center ofgravity and deter others from using Wikileaks.org to make such information public. "28
Zugegeben: Einen mutmaßlichen Informanten von WikiLeaks konnten die USBehörden anscheinend ausfindig machen und festsetzen. Dabei handelt es sich um einen Soldaten aus den Reihen der US-Armee, der WikiLeaks das Video zum Hubschrauberangriff im Irak zugespielt haben soll. Der Grund fiir dessen Identifizierung ist aber nicht bei WikiLeaks zu suchen, sondern darin, dass er im Internet mit der Weitergabe des sensiblen Materials geprahlt hatte." Daher konstatiert WikiLeaks auf der Homepage auch weiterhin: .As far as we can ascertain, WikiLeaks has never revealed any of its sources. "30 Die Auseinandersetzung zwischen staatlicher und medialer Ordnungsinstanz wird sich also allem Anschein nach fortsetzen."
27 28 29 30 31
Vgl. ebd. Siehe http://www.wired.com/images_blogs/threatlevel/2010/03/wikithreat.pdf (12.10.201 0). Vgl. http://www.taz.de/1/netz/netzpolitik/artikel/1/wikileaks-informant-verhaftet/(24.11.2010). Siehe http://www.wikileaks.org/media/about.html(21.11.2010). Die Ereignisse vor der Drucklegung für den vorliegenden Band bestätigen diese Einschätzung: Ende November 2010 veröffentlichte WikiLeaks vertrauliche US-amerikanische Diplomatenberichte und löste damit abermals ein gewaltiges mediales Echo und harsche Kritik aus politischen Kreisen aus.
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5. ,,Am Ende muss es tausend WikiLeaks geben" Es bleibt festzuhalten: Als medialer Akteur und selbst ernannte Ordnungsinstanz ist WikiLeaks für seine Datenquellen gleichsam Aktivator, Dienstleister und Publikationsmedium im Whistleblowing-Prozess. Aufbauend auf ihrer spezifischen Form des investigativen Journalismus wollen die Betreiber der Plattform unter anderem auch das Verhalten der staatlichen Ordnungsmacht für den Bürger transparenter und damit kontrollierbarer machen. Aus anderer Perspektive erscheint WikiLeaks aufgrund des Eingriffs in gesellschaftliche Sicherheitsarrangements geradezu als Sicherheitsrisiko und bedient die eingangs erwähnte Einschätzung, das Internet sei Brutstätte und Hort von Unsicherheiten. Somit bringt sich die Plattform in Frontstellung zu staatlichen Ordnungshütern und stellt sich - zumindest bislang - trotz massiver Anfeindungen als äußerst widerstandsfähig dar. Gemeinwohlorientierter Bürgerservice oder Sicherheitsrisiko: Es bleibt abzuwarten, welche der unterschiedlichen Deutungen von WikiLeaks sich zukünftig durchsetzen wird. Wenn es nach Daniel Domscheit-Berg geht, könnte sich der WikiLeaks-Effekt in nächster Zeit nochmals deutlich potenzieren: Nicht nur, dass der WikiLeaksAussteiger demnächst seine eigene Enthüllungsplattform starten will, er skizziert zudem ein Szenario, das gerade Vertretern der US-Regierung ganz und gar nicht gefallen dürfte : ,,[...] am Ende muss es tausend WikiLeaks geben"."
32
Vgl. http://www.spiegel.de/netzweltJnetzpolitik/0.1518.732889,00 .html (04.12.2010). Tatsächlich bringen sich die ersten Nachahmer schon in Stellung, auch aus dem Lager der etablierten Medien: Die WAZ-Mediengruppe hat im Dezember 2010 beispielsweise ein Portal eingerichtet, über das Informanten ebenfalls anonym Dokumente und Informationen hochladen und einem professionellen Rechercheteam zur Verfügung stellen können (siehe https:llwww.derwesten-recherche. org).
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III
Vom Vermittler zum Wachhund
Das Fernsehen - dein Freund und Helfer? Hermeneutisch-wissenssoziologische Videoanalyse von Fernsehsendungen zur Inneren Sicherheit in Deutschland Carina Jasmin Englert / Phillip Roslon
1. Der Forschungsbereich Fernsehen "Trotz rasanter Entwicklung des Internets bleibt das Fernsehen mit Abstand das Leitmedium in Deutschland. Im Jahr 2010 sehen die Deutschen nach einer Studie imAuftrag von ZDF undARD durchschnittlich 220 Minuten am Tag fern." (www.handelsblatt.com 2010)
Fernsehen hat seinen Status als Leitmedium in Deutschland nicht verloren - so eine Studie der ARD und des ZDF von 2010 1• Durch seine Omnipräsenz nimmt das Medium Fernsehen dabei stets auch an gesellschaftlichen Diskursen, also auch an dem über Innere Sicherheit, teil: Die Inhalte und Botschaften der Fernsehprogramme beziehen sich mittlerweile auf fast alle Bereiche des alltäglichen Lebens. Es gibt kaum mehr eine Handlungssituation, zu dem das Fernsehen nichts sagt oder Beispiele für falsches oder richtiges Verhalten zeigt. Fernsehen bezieht sich also nicht mehr auf einzelne (und meist wenig relevante) Teile des alltäglichen Lebens (Freizeit), sondern es ist an jedem Ort des Alltags und zu jeder Zeit zu finden und: es äußert sich fast zu allen Aspekten menschlichen Lebens. Das Fernsehen äußert sich on air zu allem und richtet sich an jeden (Reichertz 2006: 238). Beispielsweise partizipiert das Medium Fernsehen am Diskurs der Inneren Sicherheit, indem es die Innere Sicherheit in neuartigen Femsehformaten', wie
2
Die Datenbasis dieser Untersuchung derARDund ZDF Studie Massenkommunikation 2010 setzt sich wie folgt zusanunen: Basis: BRD Gesamt (bis 1990 nur alte Bundesländer), Mo-So (bis 1990 Mo-Sa), 5-24 Uhr, 14+ Jahre, bis 2005 Deutsche, ab 2010 deutschsprachige Bevölkerung. Quelle: ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation 1964 - 2010 (Engel/Ridder 2010) . Unter Femsehfonnaten wird hier in Anlehnung an Knut Hickethier ,,[...] die spezifische kommerzielle Ausgestaltung und lizenzgebundene Festlegung [.. .]" (Hickethier 2003 : 152f.) Fernsehproduktionen verstanden.
O. Bidlo et al. (Hrsg.), Securitainment, DOI 10.1007/978-3-531-93077-0_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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zum Beispiel Doku-Soaps oder Pseudo-Dokus thematisiert, in denen nicht die Information, sondern die Unterhaltung im Vordergrund steht. Das Erkenntnisinteresse der hier vorgelegten Analyse der deutschen Fernsehlandschaft ist zu versuchen, ein repräsentatives Abbild der Fernsehformate in Deutschland zu schaffen, welche sich, in welcher Weise auch immer, mit Innerer Sicherheit beschäftigen. Grundlegend dabei ist es, eine ausgewogene Wahl sowohl zwischen Formaten als auch den Sendungen des öffentlich-rechtlichen sowie privaten Fernsehens im Hinblick auf Aktualität und Ortsgebundenheit (Ruhrgebiet mit Umgebung Köln) und den Themenkomplex Innere Sicherheit zu erreichen.
2. Das DatenmateriaP und Operationalisierung Die Fernsehlandschaft in Deutschland hat sich in der ersten Zeitspanne unserer Beobachtung (Dezember 2008 bis Dezember 2009) als sehr heterogen erwiesen. Zahlreiche unscharf und unterschiedlich definierte Fernsehformate in der Praxis (beispielsweise in Fernsehzeitschriften, Programmankündigungen im Fernsehen) und in der Literatur (zum Beispiel Fernsehlexika, eine Übersicht über die unterschiedlichen Begriffe und Klassifikationssysteme :für Fernsehprogramme findet sich bei Gehrau 200 I: 39ff.) erschweren eine übersichtliche Erfassung der Sendungen, die sich mit dem Themenbereich der Inneren Sicherheit befassen oder diesen zumindest tangieren. Erstes Ziel der hier vorgelegten Analyse ist die Erstellung einer Übersicht über das Feld der Fernsehsendungen, klassifiziert nach einzelnen Formaten, die sich mit der Inneren Sicherheit beschäftigen. 2.1 Hilfsmittel: Technische Ausstattung
Das im Hinblick auf das oben genannte Erkenntnisinteresse zu untersuchende Datenmaterial, welches eine systematische Datenerhebung überhaupt erst ermöglicht und die Erhebung entscheidend beeinflusst, umfasst alle deutschen Fernsehsendungen, sowohl die, die das Thema der Inneren Sicherheit als Schwerpunkt behandeln (beispielsweise Tatort aufARD), als auch die Sendungen, in denen das Thema Innere Sicherheit sporadisch auftauchen kann (zum Beispiel Stern TV auf RTL). Die Sendungen sind in einer ersten Phase versuchsweise mit der TerraTec Home Cinema Software und dazugehöriger Hardware (DVB-T-Antenne) aufgenommen worden und im .mpg-Format auf einer externen Festplatte gespeichert worden. Die Aufnahmen sind mittels Digital Video Broadcasting Terrestrial (kurz: 3
Das gesamte Datenmaterial kann am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Duisburg-Essen eingesehen werden.
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DVB-I) eines onlinegeschalteten Computers aufgezeichnet worden. Diese Software erwies sich für eine umfangreiche Aufnahme zahlreicher Sendungen als zu unhandlich und unverlässlich, weswegen man in einer zweiten Phase aufden Festplattenrekorder der Universität Duisburg-Essen zurückgegriffen hat. Hier wurden die aufgenommenen Sendungen im .vdr-Format aufeinem Server gespeichert und im Anschluss daran auf eine externe Festplatte mit 1,3 Terabyte heruntergeladen. 2.2 Sichtung des Datenmaterials Die Beobachtung des Fernsehfeldes lässt sich in zwei Phasen unterteilen: Die Sichtungsphase aller im deutschen Fernsehen laufenden Sendungen zur Inneren Sicherheit zur ersten Orientierung (Dezember 2008 bis Dezember 2009) und die dreimonatige Aufnahmephase von aus dem ersten Datenkorpus ausgewählten Sendungen zur Analyse (Januar 2010 bis März 2010). Bereits seit Januar 2009 begannen wir damit, den deutschen TV-Diskurs thematisch nach Sendungen der Inneren Sicherheit zu durchsuchen, um festzustellen, welche Fernsehsendungen sich mit der Thematik der Inneren Sicherheit auseinandersetzen oder diesen Themenbereich zumindest tangieren. Durch Aufnahme der in Betracht kommenden Sendungen erhielten wir 358 Aufnahmen. Hierzu sind die Sendungen der Inneren Sicherheit in Deutschland, die auf den deutschen ,großen Sendern' (ARD, ZDF, WDR, NDR, RTL, SaU, Prosieben. kabeleins, RTLII) gesendet werden anband einer Fernsehzeitschrift (TV-Movie) ermittelt worden. Diese Aufnahmen aus der ersten Orientierungsphase umfassen die nachstehenden 54 Sendungen (in alphabetischer Reihenfolge): • • •
24 Stunden Reportage auf SaU 30 Minuten Deutschland aufRTL Achtung Kontrolle! Einsatz für die Ordnungshüter aufkabeleins
• •
Akte 09 auf Sat.1 Alarm für Cobra 11 auf RTL
• • • • • • • •
Aspekte im ZDF Die Bergwacht im ZDF Brisant aufARD Der Bulle von Tölz auf Sat.1 Der Kriminalist im ZDF Die große Reportage auf RTL Die Rosenheimcops im ZDF Die Schu1errnittler auf RTL
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• • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
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drehscheibe Deutschland im ZDF Ein Fallfür zwei im ZDF Exklusiv die Reportage aufRTL2 ExplosivaufRTL ExtraaufRTL Flemming im ZDF Focus TV aufRTL Focus TV Reportage auf Sat.l Frontal21 im ZDF FutureTrend Reportage auf RTL Großstadtrevier aufARD Hallo Deutschland im ZDF KII - Kommissare im Einsatz auf Sat.l Kommissar Stolberg im ZDF Kriminalreport im WDR Küstenwache im ZDF Lenßen und Partner auf Sat.l Mein Revier auf kabel eins N24 auf Streife aufN24 Niedrig und Kuhnt auf Sat.l NotrufHafenkante im ZDF Panorama aufARD Plusminus aufARD Quarks & Co im WDR Recht & Ordnung auf RTL Schneller als die Polizei erlaubt aufVOX Soko Kitzbühl im ZDF Soko Köln im ZDF Soko Leipzig im ZDF Soko Wismar Spiegel TV auf Sat.l Staatsanwalt Posch ermittelt aufRTL Stern TV aufRTL
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• • • • • • • •
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Tatort aufARD Toto & Harry auf Sat.l Unter Verdacht Verdachtsfälle auf RTL Wilsberg im ZDF ZappimNDR ZDF.Reportage im ZDF ZDF.Reporter im ZDF4
2.3 Erkenntnisinteresse und Theoretical Sampling Nach Sichtung dieses aufgenommenen Sendungsmaterials wurden von fünf Auswahlkriterien, die sich an der Projektzielsetzung orientieren, berücksichtigt: Das Projekt untersucht nun aus kultursoziologischer Perspektive die Bedeutung der Medien und des Mediatisierungsprozesses beim diesem aktuellen öffentlichen ,Kampf um die ,richtige' Politik des Polizierens und dessen Konsequenzen für eben diesen Prozess. Da vermutet wird, dass diese Folgen nicht nur, aber besonders gut aufregionaler und lokaler Ebene sichtbar werden, sollen neben der Untersuchung der überregionalen Mediennutzung vorrangig der regionale (Rhein! Ruhr) und der lokale (Kö1nlBochum) Einsatz der Medien untersucht werden (Projektbeschreibung 2010). In Anlehnung hieran wurde das Erkenntnisinteresse der folgenden Femsehanalyse formuliert und 16 Sendungen der deutschen Femsehlandschaft aus dem Themenbereich der Inneren Sicherheit ausgewählt. Gemeint sind hier Sendungen mit themenspezifischer Ausrichtung im Hinblick auf Innere Sicherheit und nicht mit ausschließlicher themenspezifischer Fokussierung auf Innere Sicherheit. Zum ersten entschied die Aktualität der Sendungen über deren Aufnahme, das heißt ob die Sendungen zur Zeit des dreimonatigen Aufnahmezeitraums (01. Januar 2010 bis 01. April 2010) durchgängig gesendet wurden und damit durch einen Online-Festplattenrekorder im Aufnahmezeitraum aufgezeichnet werden konnten. Zweitens ist eine ausgeglichene Auswahl zwischen den unterschiedlichen Sendungsformaten des Femsehens (siehe oben) wichtig. Hier gilt die alltagsverständliche Formatbenennung wie sie in zwei deutschen (Online- )Femsehzeitungen und den jeweiligen Sendungshomepages (TV-Movie, www.klack.de und zum Beispiel www.sat.1.de, www.rtl.de) erfolgt, wie Doku-Soap, Magazin oder Ac4
Zu diesen Aufnahmen zählen unter anderem weitere Nachrichtenformate und Spezialberichte aus dem Themenbereich des Amoklaufs von Winnenden.
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tion-/Spielfilmserie etc. als Orientierung. Lediglich nach (alltagsverständlichen) Formaten auszuwählen, istfür das Erkenntnisinteresse ein repräsentatives Bild der deutschen Fernsehlandschaft im Hinblick auf Innere Sicherheit zu erreichen, nicht ausreichend. Deshalb ist neben der Formatauswahl drittens das Ziel eine Ausgewogenheit zwischen den öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern, um die Vergleichbarkeit eines gegebenenfalls vorhandenen unterschiedlichen Umgangs mit der Thematik Innerer Sicherheit zu erreichen entscheidend. Viertens wurden aus dem Projektverständnis heraus bevorzugt Sendungen in die Analyse einbezogen, die die vorhergehenden Kriterien erfiillen und zudem wenn möglich - aus dem geografischen Schwerpunkt des Ruhrgebiets und näherer Umgebung (Rhein/Ruhr) und lokal (Köln/Bochum) stammen ,,[...] [d]a vermutet wird, dass diese Folgen [der aktiven Teilnahme von Medien als eigenständige Akteure am Diskurs der Inneren Sicherheit; Anm. CJE und PR] nicht nur, aber besonders gut aufregionaler und lokaler Ebene sichtbar werden [...]" (Projektbeschreibung 20 I0). Dies bezieht sich sowohl auf die Inhalte der Sendung, wie Toto & Harry in Bochum oder Soko Köln in Köln, als auch auf die Lokalisierung der Sendeanstalt der Sendung (im ,Idealfall' würde dannder Kriminalreport im WDR im Gegensatz zu Kripo live im MDR bevorzugt'). Es ergeben sich die nachstehendenden Auswahlkriterien nach Priorität:
•
Thema Innere Sicherheit
• • • •
Aktualität Ausgeglichene Auswahl zwischen Formaten Öffentlich-rechtliche versus private Sender Ortsgebundenheit Ruhrgebiet (und nähere Umgebung)
Aus diesem Theoretical Sampling und unter Orientierung am Erkenntnisinteresse resultieren die nachstehenden 16 Formate." Zur Übersichtlichkeit wird hier eine Sortierung nach Formaten angeführt, die sich am Alltagsverständnis (in An5
6
Dies war leider aufgrund derAktualität nicht möglich, denn in der Aufnahrnezeit wurde die Sendung Kriminalreport im WDR nicht regelmäßig gesendet. Hieran wird deutlich, dass es sich bei den Auswahlkriterien um eine Auflistung nach Priorität handelt, was heißt: je höher in der Liste ein Aspekt angesiedelt ist, desto entscheidender ist er für die Auswahl unserer Datenerhebung zur Analyse. Die lokale Ausprägung der analysierten Sendungen stellt sich im Theoretical Sampling als gering dar, da es nicht möglich ist, das gesamte Femsehfeld mit seinen unterschiedlichen Femsehforrnaten einzig auf das Ruhrgebiet und die nähere Umgebung einzugrenzen, da die meisten deutschen Fernsehsendungen sich nicht inhaltlich schwerpunktrnäßig mit speziellen Orten (Ausnahmen bilden hier größtenteils - 23 von 54 Sendungen insgesamt - die Spielfilmserien wie Notruf Hafenkante, Alarm für Cobra 11 und Soko Köln) beschäftigen und keine geografische Bindung aufweisen.
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lehnung an TV-Zeitschriften und an Homepages der jeweiligen Sendung, siehe oben) orientieren: • •
•
•
•
Aus den Spielfilmserien-Formaten: Soko Köln (ZDF) und Alarm für Cobra 11 (RTL) Aus denpseudo-dokumentarischen Formaten (Scripted Reality, Reality-TV): Auf den öffentlich rechtlichen Fernsehsendern waren hier keine Sendungen zu finden; Niedrig und Kuhnt (SaU), Die Schulermittler (RTL), aufgrund der Spezifität der behandelten Fälle zum Thema "Schule" und Verdachtsjälle (RTL) Aus dem Magazin-Formaten: WISO (ZDF) und Kripo live (MDR), sowie aus den Privatsendern die Sendungen Akte 20.10 - Reporter kämpfen für Sie! (SaU) und Extra (RTL) Aus den reportage- respektive dokumentationsartigen Formaten, die sich speziell mit Innerer Sicherheit beschäftigen: Auf dem öffentlich-rechtlichen Sendern existierte zu dieser Zeit keine passende Sendung und auf den Privatsendern die Serie Toto & Harry (SaU), sowie die Sendungen Schneller als die Polizei erlaubt (Vox) und Achtung Kontrolle! Einsatz für die Ordnungshüter (kabel eins)? Aus den reportage- respektive dokumentationsartigen Formaten, die sich unter anderem mit Innerer Sicherheit beschäftigen: ZDF.reportage und ZDF. reporter (ZDF), sowie aus den Privatsendern Spiegel TV Reportage (SaU), 24 Stunden Reportage (Sat.1)
Von diesen 16 Formaten wurden insgesamt 513 Einzelsendungen aufgezeichnet. Das ist die Grundmenge, also das Datenmaterial, welches im Folgenden mithilfe der hermeneutisch-wissenssoziologischen Videoanalyse (ReichertzlEnglert 2010) untersucht wird. Das tatsächlich analysierende Samiple bestand aus fiinf zufällig ausgewählten Einzelsendungen aus jedem der 16 Formate.
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Die Sendungsauswahl erfolgte hier zum einen mit der Begründung, dass Toto & Harry eine der wenigen Serien mit immer gleichen zwei Hauptrollen darstellt und zum zweiten dass Schneller als die Polizei erlaubt in Kooperation mit der Polizei NRW2008 als vierteilige Doku-Soap gestartet ist. Diese läuft bis heute auf Vox und ist ebenso wegen der Ortgebundenheit (polizeibehörden Münster, Köln, Düsseldorf, Recldinghausen und Kleve) interessant. Achtung Kontrolle! Einsatz fir die Ordnungshüter haben wir zusätzlich in unsere Aufnahmeliste eingefiigt, da es sich hierbei um eine Sendung handelt, die täglich außer sonntags im Fernsehen zu sehen ist und damit eine sehr große Präsenz aufweist (polizei NRW 2010).
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3. Datenerhebung Aus der Forschungsfrage, hier der Untersuchung der deutschen Fernsehlandschaft im Hinblick aufFernsehsendungen der Inneren Sicherheit (siehe oben) wurden drei Forschungsfragen abgeleitet, die in der nachstehenden Analyse beantwortet werden. 3.1 Forschungsfragen Die erste Frage unserer Analyse interessiert sich dafür, inwieweit korporierte Akteure on air im Fernsehen sichtbar werden, sodass die Handlungen vor der Kamera einem Medium (Sendeanstalt, Sender) zurechenbar werden (zum Akteursbegriffe siehe auch der Beitrag über die Medien als Akteure von Oliver Bidlo in diesem Band) . Mit dem Terminus ,korporierter Akteur' sind die Medienmacher wie beispielweise Regisseure, Kameraleute, Zuständige für Schnitt und Bühnenausstattung etc. gemeint, also die konkreten Personen, denen die Handlungen nicht nur vor, sondern auch hinter der Kamera zugerechnet werden können. Der Terminus ,korporierte Akteure' orientiert sich auch an den Ausführungen von Günther Ortmann, der unter ,korporativen Akteuren' nicht nur einzelne Individuen, sondern auch Organisationen versteht (Ortmann 2010 : 63). Das heißt, der ,korporierteAkteur' kann in unseren Ausführungen beispielsweise eine Sendeanstalt, wie RTL 11, ProSieben, RTL, SaU etc. heißen, die im Sinne eines ,generalisierten Anderen' im medialen Diskurs und im Fall des DFG-Projektes auch im Diskurs der Inneren Sicherheit auftreten. Diese zeichnen sich wiederum dadurch aus, dass sie aus einzelnen Teilen des ,korporierten Akteurs', wie zum Beispiel Redakteure, Kameraleute oder Reporter bestehen, die dem ,korporierten Akteur' der jeweiligen Sendeanstalt zurechenbar sind. So besteht der ,korporierte Akteur' aus einer Ansammlung von verschiedenen ,Selfes' und ist nicht mehr länger auf ein einziges ,Self, wie dies George Herbert Mead erläutert hat, reduzierbar. Diese Frage orientiert sich an der allgemeinen Zielsetzung des Forschungsvorhabens, in dessen Mittelpunkt auch die Frage steht, was das Fernsehen an Eigenproduziertem über seine Kanäle on air im Hinblick auf den Themenbereich der Inneren Sicherheit in Deutschland verbreitet (Projektbeschreibung 2010). Ein Sendungsformat lässt sich nicht komplett von seinen dahinter stehenden korporiertenAkteuren losgelöst betrachten (Reichertz/Englert 2010), sodass sich nicht die Frage danach stellt, ob ein korporierter Akteur in eine Sendung involviert ist oder nicht, sondern in welcher Ausprägung die Sichtbarkeit des Akteurs on air deutlich wird. Das Gegensatzpaar hohe Sichtbarkeit des korporierten Akteurs versus niedrige Sichtbarkeit des korporierten Akteurs hat sich aus der Überlegung ergeben, dass bereits kleins-
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te Nachbearbeitung von Videoaufnahmen (kurz Video") zum Beispiel Schnitte und Kameraperspektive auf ein Geschehen im Fernsehen einwirken, sodass die Handlung vor der Kamera gar nicht erst die Möglichkeit besitzt, sich von der Sichtbarkeit der korporierten Akteure ,völlig frei' zu machen. Hierbei dient die Handlung der Kamera als Orientierungspunkt dafiir, inwieweit das Medium als korporierter Akteur in die jeweilige Sendung vor dem Bildschirm fiir den Rezipienten sichtbar involviert ist (ReichertzlEnglert 20 I0) und vom Zuschauer wahrgenommen wird", Zur Erfassung der Sichtbarkeit des korporierten Akteurs wird ein Kontinuum mit dem Gegensatzpaar hohe Sichtbarkeit der korporierten Akteure versus niedrige Sichtbarkeit der korporierten Akteure gebildet, welche die Punkte darstellen, die das Kontinuum aufspannen:
Niedrige Sichtbarkeit der korporierten Akteure
Hohe Sichtbarkeit der korporierten Akteure
Die zweite Forschungsfrage der Fernsehanalyse stellt sich vor dem Hintergrund des "Streit[s] um den Eingriff in die Wirklichkeit" (Hickethier 2007), in dem es um die Inszenierung von Fernsehinhalten und die Strategien des Dokumentarischen geht, was unterschiedliche Fernsehformate zur Folge hat (ebd.). Anband der im Alltagsverständnis als unterschiedlich ausgewiesenen Sendungsformate ist zu erörtern, inwieweit sich die Verteilung differierender Sendungsformate zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsendern unterscheidet. Hierzu werden die einzelnen Forrnate voneinander abgegrenzt und im Anschluss hieran definiert, 8
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Videos lassen sich nach ihrer Erstellungsart weiter unterscheiden. Hierzu schreiben Reichertz und Englert: "Es gibt Verfahren, die sich mit der Deutung von Videos beschäftigen, die von Wissenschaftlern zum Zwecke wissenschaftlicher Forschung gedreht wurden (paradigmatisch hierfür: Heath & Hindmarsh & Luff2010, siehe auch Dinkelaker & Herde 2009), zum zweiten gibt es Verfahren, die sich um die Deutung von Videos bemühen, die von Amateuren zur Dokumentation von besonderen Festen und Anlässen erstellt wurden (vor allem Raab 2008), und zum dritten lassen sich Verfahren ausmachen, welche die Analyse von Videos angehen, die von (Halb-)Professionellen erzeugt wurden, um einem Fernsehsenderverlcauft zu werden. Im Weiteren werden wir uns ausschließlich mit der Auslegung der letztgenannten Videos beschäftigen." (Reichertz, Englert 2010) Dem ist auch hier so. Für Dokumentationen sowie für fiktionale Formen des Fernsehens gilt ganz allgemein, dass diese inszeniert sind (siehe auch Reichertz über Reality-TV - in diesem Band). Allerdings kann leicht ein anderer Eindruck entstehen (vgl. Holly 2004: 51), denn die "Omnipräsenz des Mediums [.. .] auratisiert televisionär erzeugte Authentizität" (Heller 1994 : 100). So wird im Alltag oft angenommen, Dokumentationen seien tatsächlich dokumentarisch, sprich als die Realität abbildend, eben wegen der televisionär erzeugten Authenzität, die der Zuschauende wahrnimmt.
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sodass diese wissenschaftliche Definition von Fernsehformaten mit der des Alltagsverständnisses abgeglichen werden kann, da Begriffe hier oft uneinheitlich und synonym von den Fernsehanstalten und Programmzeitschriften verwendet werden. Hierzu wird das nach dem Alltagsverständnis aus verschiedenen (Online-)Fernsehzeitschriften vorgegebene Fernsehformatsystem der im Lauf der Analyse wissenschaftlichen Formatbestimmung gegenübergestellt. Beispielsweise stellt sich die Frage: Sind die von einer Fernsehzeitschrift als ,Magazin' bezeichneten Sendungen tatsächlich alle diesem einen Format zuzuordnen oder ergeben sich hier weitere Differenzierungen? Desweiteren gilt es zu erörtern, inwieweit sich Hybridsendungen" des Fernsehens wie ,Pseudo-Doku', die eine ,,[...] Verschmelzung traditionell gut unterscheidbarer Darstellungsformen darstellen" (Weischenberg 2001: 67), wie Dokumentation und Spielfilm, durch fiktionale und non-fiktionale Stilmittel auszeichnen. Die immer weniger fiir den Zuschauer deutliche Differenzierung von Fiktionalität und Non-Fiktionalität erläutern auch Karstens und Schütte: ,,Die Abgrenzung zwischen fiktionalen und nonfiktionalen Formaten verschwimmt immer mehr. Früher war alles ganz einfach: Spielfilme und Serien gehörten in den Bereich des Fiktionalen. Ihre Handlungen waren erfunden. Zwar konnten sie sich an der Realität anlehnen, sie zeigten aber keine Ausschnitte aus der Wirklichkeit sondern erfanden sie neu, über ausgedachte Handlungsstränge, ausgewählte, zum Teil gestaltete Orte und Schauspieler, die von Drehbuchautoren erdachte und von Regisseuren konkretisierte Rollen spielten." (Karstens/Schütte 2010: 150)
Zur Herausarbeitung der Unterschiede wird hier ein mit einer ,Achse' gearbeitet, die sich aus den Polen Non-Fiktionalität versus Fiktionalität ergibt. Dabei gilt, dass non-fiktionale Texte ,,[. . .] den Anspruch erheben, dass das Berichtete so auch geschehen ist [...] [und] fiktionale den, dass es so hätte sein können" (Trültzsch 2009: 18, siehe hier auch Reichertz zum Reality-TV - in diesem Band). Dies bestätigen auch Karstens und Schütte, wenn sie im Kontext von non-fiktionalen und fiktionalen Fernsehformaten erklären, dass Fiktionalität das bewusste Erfinden von Realität ausmacht, während non-fiktionale Formate Ausschnitte aus der Wirklichkeit präsentieren (Karstens/Schütte 2010: 150). Als Drittes wird die nachstehende Analyse der Frage nachgehen, ob öffentlich-rechtliche Sender tatsächlich eine zunehmende Tendenz zur Boulevardisierung aufweisen - wie z.B. Muckenhaupt bereits vor zwölfJahren behauptete, wenn er schreibt, dass RTL aktuell ,,[...] nach zehn Jahren elektronischer Bildzeitung [...] moderater geworden [ist]" (Muckenhaupt 1998: l29f.) und fiir sich die neue 10
Hybridsendungen lassen sich nach Faulstich wie folgt beschreiben: "Hybridsendungen sind im Vergleich miteinander heterogen und lassen sich kaum über denselben Leisten scheren - außer eben in ihrem Charakter als Mischform." (Faulstich 2008 : 136) Hiermit sind Sendungsformate wie zum Beispiel Doku-Soaps oder Living-History-TVgemeint (Faulstich 2008 : 35).
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Sachlichkeit entdeckt hat (ebd.: 130). Klein hat diese Tendenz damit erläutert, dass Kulturmagazine der öffentlich-rechtlichen Sender mit der Einfiihrung der privaten Sender sich dem "Diktat der Einschaltquoten" (Klein 1998: 106) stellen müssten, da sie nun aus Konkurrenzgründen auf ihre Einschaltquoten zu achten hätten. Klein erklärt eine Boulevardisierungstendenz der öffentlich-rechtlichen Sender, und damit das ,,[... ] Abschwören gegenüber elitären Attitüden gerade auch in den Kulturmagazinen" (Klein 1998: 106) der öffentlich-rechtlichen Sender. Unter Boulevardismus wird hier (im Abgrenzung zur Boulevardisierung) das Vorhandensein von Boulevardisierungstendenzen verstanden. Zur Analyse dieser Tendenz respektive der Verwendung unterhaltender Elemente in den Fernsehsendungen werden die von Josef Klein vorgeschlagenen Erkennungsmerkmale der Boulevardisierung berücksichtigt, die vor allem aus der Emotionalisierung, Personalisierung, Dramatisierung, Ästhetisierung bis hin zur Verkitschung und Verminderung von Distanz (Klein 1998: 103) bestehen (siehe hierzu auch Döveling 2008 und Klaus/Lücke 2003). Diese werden um die Stilmittel der allgemeinen Inszenierung von Karpenstein-Eßbach'' ergänzt: der Tendenz zur Schwarz-WeißMalerei in der Beschreibung von Personen und Sachverhalten und die sich daraus ergebende Stilisierung. Mit Boulevardismus wird dagegen die Ansammlung der beschriebenen Kennzeichen fiir Boulevardisierung, welche sich je nach Ausprägung auf die Kategorisierung der Sendung auswirken. Informativität bezeichnet im Gegensatz hierzu, das Fehlen von Boulevardisierungsmerkmalen, das heißt: je weniger boulevardesker eine Sendung ist, desto informativer ist sie. In Anlehnung an Klein bedeutet dies fiir die Informativität, dass das Vorhandensein der Konversationsmaximen der Quantität, Qualität, Relevanz und Modalität von Herbert P. Grice (Grice 1993: 249fl), nach denen sich die Berichterstattung richten solle, fiir Informativität spricht (Klein 1998: 103). Um eine solche Veränderung feststellen und vermessen zu können, wird hier eine weitere ,Achse' eingeführt, die durch das Gegensatzpaar Boulevardismus versus Informativität gebildet wird. Alle drei Achsen zusammen spannen einen dreidimensionalen Vier-FelderRaum auf, der es ermöglicht, die Besonderheit der jeweils untersuchten Sendungen darin abzutragen.
11
Christa Karpenstein-Eßbach erläutert die Aufgabe der Inszenierung wie folgt: "Inszenierungen zielen auf alltagsenthebende, gesteigerte Erfahrungen des Interessanten beziehungsweise des interessant Gemachten." (Karpenstein-Eßbach 2004: 205)
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3.2 Kodierungssystem/-vorlage Um die graduellen Abstufungen der vorgestellten Sendungen auf den beschriebenen Kontinuen abbilden zu können, wird in Nutzung der der hermeneutisch-wissenssoziologischen Videoanalyse von Reichertz und Englert (Reichertz/Englert 2010) und der ethnografische Semantik von Christoph Maeder (Maeder 2009) ein Kodiersystem entwickelt, das es ermöglicht, die unterschiedlichen Sendungen in die vier Felder des Koordinatensystem zu platzieren, so dass so Cluster von Fernsehsendungen gleicher beziehungsweise ähnlicher Ausprägungen sichtbar werden. 3.2.1 Die Sichtbarkeit der korporierten Akteure Bei der Auswertung der Daten entlang der Frage, ob und inwieweit der korporierte Akteur für den Zuschauenden deutlich sichtbar wird, wurden die nachstehenden Schlüsselkategorien zur Einordnung einer Sendung auf dem Kontinuum aufgestellt, welches durch das Gegensatzpaar hohe Sichtbarkeit der korporierten Akteure versus niedrige Sichtbarkeit der korporierten Akteure aufgespannt wird. Als theoretische Basis für die Herausarbeitung von Schlüsselkategorien, anband derer sich der Sichtbarkeitsgrad des korporierten Akteurs erkennen lässt, dient das von Reichertz und Englert erarbeitete Handlungsorientierte Notationssystem (HANOS) für die Handlung der Kamera (Reichertz/Englert 2010). Nach der offenen Kodierung wurde nach mehrmals wiederholter Durchsicht des Materials die Schlüsselkategorien immer wieder überarbeitet, die Handlung vor und die Handlung durch die Kamera von HANOS unter der Prämisse der Sichtbarkeit der koporierten Akteure zusammengefasst und erweitert, sodass sich die nachstehenden Schlüsselkategorien ergeben haben:
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Tabelle 1: Schlüsselkategorien der Sichtbarkeit der
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koporierten Akteure
Schlüsselkategorien Aktivität der Kamera bei Einstellungen
Handelt die Kamera während der Aufnahme (zum Beispiel Schärfentiefe, Tempo, Kadrierung)? Autonome Kamera Tritt die Kamera auch autonom auf? Voice over Gibt es einen voice over-Kommentar? Musik/Geräusch Sind Geräusche oder Musik vorhanden? Werden Grafiken eingeblendet?" Graphik Text Wird Text eingeblendet (zum Beispiel Namensnennung, Untertitelung)? Moderation Gibt es eine Moderation durch Moderator/in vor der Kamera? Stimme aus dem Off oder Sprechen mit Ka- Ist während der Aufnahme eine Stimme aus dem mera Hintergrund aus Kamerarichtung zu vernehmen (zum Beispiel Stimme des Kameramannes oder des Interviewenden) beziehungsweise spricht eine Person vor der Kamera in die Kamera respektive mit der Kamera? Schnitt Sind außer des gängigen harten Schnittes andere Schnittarten erkennbar (zum Beispiel weicher Schnitt)? Zeitlupe/-raffer Sind Sequenzen in Zeitlupe, -raffer vorhanden? Verfremdung Existieren Verfremdungen (zum Beispiel bei Gesichtern, Kennzeichen, Markenzeichen undsoweiter)? Bildbearbeitung Wurde das Bild nach der Aufnahme bearbeitet (zum Beispiel Sepia, Rahmen um Bild)? Ninunt der korporierte Akteur vor der Kamera StelKorporierter Akteur meldet sich explizit lung zum Geschehen (zum Beispiel Moderator, Kaselbst zu Wort meramann)?
Diese Schlüsselkategorien weisen alle bei ihrem Vorhandensein auf die Sichtbarkeit des korporierten Akteurs hin, denn sie zeigen (mehr oder weniger offensichtlich an), wenn und dass die Handlung vor der Kamera modifiziert worden ist. So wird der Zuschauer daraufhingewiesen, dass er nicht dem tatsächlichen Geschehen beiwohnt, sondern einer Handlung, die aus der Perspektive des jeweiligen Akteurs gezeigt wird. Um dies zu verdeutlichen, wurde für die Sichtbarkeit des korporierten Akteurs ein Punkt vergeben, während das Nicht-Vorhandensein des 12
Das Sender-Logo zählt hierbei nicht als eigene Grafik, da sonst keine signifikanten Unterschiede vorhanden wären, denn ein Sender-Logo wird in den von uns analysierten Sendungen immer eingeblendet.
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Akteurs null Punkte nach sich zieht, das heißt je mehr Punkte eine Sendung in dieser Kategorie erhält, desto aktiver ist das Medium für die Augen des Zuschauenden". Die Höchstpunktzahl beträgt dabei 13, die niedrigste 0 Punkte. Hiernach ergibt sich die folgende Tabelle:
Tabelle 2: Punktevergabe zu den Schlüsselkategorien Sichtbarkeit der koporierten Akteure Schlüsselkategorien Aktivität der Kamera bei Eiostellungen Autonome Kamera Voiceover Musik/Geräusch Graphik Text Moderation Stimme aus dem Off oder Sprechen mit Kamera Schnitt Zeitlupe/-raffer Verfremdung Bildbearbeitung Korporierter Akteur meldet sich explizit selbst zu Wort
Vorhanden I I I I I I I I I I I I I
Nicht-vorhanden 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0 0
3.2.2 Die Fiktionalität versus Non-Fiktionalität Auf der x-Achse wird das Kontinuum von Fiktionalität und Non-Fiktionalität betrachtet. Hierbei wird auf das bereits eingeführte Verständnis von Karstens und Schütte Bezug genommen, die Spielfilme und Serien dem Bereich des Fiktionalen zuordnen und damit unter anderem erfundene Handlungen, gestaltete Orte und imaginäre Charaktere verbinden (Karstens/Schütte 2010: 150). Die Tendenz zur Zunahme von Hybrid-Formaten im gesamten deutschen Fernsehen bestätigt die Hypothese von Karstens und Schütte. Reality-TV und Scripted Reality lassen die Grenzen zwischen Fiktionalität und Non-Fiktionalität zunehmend verschwimmen. Orientierung für die einzelnen Schlüsselkategorien und ihre Punktevergabe bieten aus diesem Grund die Abgrenzungen zwischen Reality-TV mit seinen Doku-Soaps 13
Hier gehen wir im Gegensatz zu den anderen Gegensatzpaaren nicht in den Negativbereich, da es keine Negativaktivität beim Medium gibt: selbst ein wenn eio Medium sich on air nahezu unsichtbar zu machen versucht, ist es dennoch vorhanden alleio aufgrund der Existenz der Sendung.
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und Scripted Reality mit seinen Pseudo-Dokus. Pseudo deswegen, da hier nicht die Realität abgebildet wird, sondern der gezeigten Handlung ein Drehbuch zugrunde liegt (zum Beispiel Verdachtsfälle auf RTL) . Während bei Doku-Soaps der Anteil an Realität durch ,echte' Menschen und zum Großteil auch real gezeigte Handlungen steigt. Ein Beispiel hierfiir stellt die Sendung Toto und Harry aufSaU dar, in der zwar auch Narration durch zum Beispiel Schnitt stattfindet und nachgedrehte Szenen Bestandteil der Sendung darstellen (Funker), aber dennoch sieht man das tatsächliche Geschehen. Dies steht im Gegensatz zur Pseudo-Doku, in der Situationen künstlich für die Kamera hergestellt werden (zum Beispiel mittels Drehbuch) und oft durch Laiendarsteller beziehungsweise Schauspieler umgesetzt werden. Dies beeinflusst den Anteil an Fiktionalität respektive Non-Fiktionalität der einzelnen Sendung und entscheidet somit über die Kategorisierung der Sendung als fiktional oder non-fiktional. Die aus diesem semantischen Feld gewonnenen Segregate (Maeder 2009: 684) und die aus dem offenen Kodieren ergebenden Stichworte ergeben die nachstehenden Schlüsselkategorien:
Tabelle 3: Schlüsselkategorien zu der Fiktionalität beziehungsweise NonFiktionalität Schlüsselkategorien Handlung Charaktere Drehbuch Requisiten Bühne Narration
Deutungsnahelegung Darstellungsstil
Ist die Handlung völlig fiktiv, handelt es sich um eine wahre Begebenheit oder sieht der Zuschauende das eigentliche Geschehen? Handelt es sich um Schauspieler, Laiendarsteller oder reale Menschen? Gibt es ein WortjUr-Wort-Drehbuch , handelt es sich um Scripted Realityl Reality-TV oder gibt es kein Drehbuch? Sind die Requisiten konstruiert oder handelt es sich um reale Gegenstände? Spielt das Geschehen in einer realen Umgebung oder in konstruierten ,Bühnenbildern'? Ist die Reihenfolge der Handlungsstränge logisch aufgebaut oder existieren Brüche (zum Beispiel Kamera ist schon am Einsatzort bevor Polizei eintriffi)? Wird dem Zuschauenden eine Deutung des Geschehens nahegelegt (zum Beispiel durch Musikunterlegung, wie Zirkusmusik bei Verkehrssündern) Auf welche Art und Weise wird etwas dargestellt (zum Beispiel Spielfilmoptik durch bestimmte Filter wie Weichmacher undsoweiter)?
Die Punktevergabe zu diesen Schlüsselkategorien gestaltet sich in Schritten von
+1 über 0 bis -1 wie folgt. Es handelt sich damit hier um eine teilweise dreischrittige Abstufung:
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Tabelle 4: Punktevergabe zu den Schlüsselkategorien Fiktionalitdt und NonFiktionalitdt Schlüsselkategorien Handlung Charaktere Drehbuch
I (fiktiv) I (Schauspieler) I (, Wort-fiirWort-Drebuch')
Requisiten Bühne Narration Deutungsnahelegung
I I I I
(konstruiert) (konstruiert) (hoch) (hoch)
Darstellungsstil
I (Spielfilmoptik)
o(wahre Begebenheit) o(Laiendarsteller) o(,Scripted Reality' im Falle von ,PseudoDokus' und ,RealityTV' in Form von ,Doku-Soaps' auch spontane Aktivität) -
-
o(mittel) o(mittel) o(Hybrid-Formen)!'
-I (tatsächliches Geschehen) -I (reale Menschen)" -I (kein vor den Aufnahmen feststehendes Drehbuch; nachträgliche Sortierung der Handlungsstränge)
-I (real) -I -I -I -I
(real) (niedrig) (niedrig) (Real gefilmtes)
Jegliches Vorhandensein der Schlüsselkategorien weist auf die Fiktionalität einer Sendung hin, das heißt: je mehr Punkte erreicht werden (maximal sind 8 Punkte zu erreichen), desto fiktionaler ist eine Sendung. Vice versa heißt dies: je weniger Punkte, niedrigste Punktzahl sind -8, desto non-fiktionaler ist eine Sendung. Die Punktevergabe von + I bis -1 (und nicht von +1 bis +3 oder 0 bis +2) orientierte sich an der Darstellung im Koordinatensystem und dessen Nullpunkt und damit einhergehend auch die Möglichkeit zur Negativität. 3.2.3 Der Boulevardismus versus Informativität Die y-Achse stellt das Kontinuum zwischen den Polen Boulevardismus und Informativität dar. Entscheidend für den ersten Entwurf der dazugehörigen Schlüsselkategorien ist die oben angeführte Definition von Boulevardisierung. Diese wurden im Verlauf des offenen Kodierens ergänzt und modifiziert, sodass sich die nachstehende Tabelle ergibt: 14
15
Nach Faulstich lassen sich Fernsehformate nach unterschiedlichen Stilmerkmalen unterscheiden. Er hebt dabei vor allem die Darsteller des jeweiligen Formats hervor und differenziert zwischen den unterschiedlichen Schwerpunkten. Während Real-Life-TV mehr die ,echten' Personen heute und Gruppenkonstellationen in den Vordergrund stellt, betonen Doku-Soaps stärker die Fiktionalisierung von eigentlich ,beglaubigten' Ereignissen betont (Faulstich 2008: 140f.). Mit Hybrid-Formen des Fernsehens sind nach Faulstich unter anderem Doku-Soap und LivingHistory-TV (wie bei Spiegel TV Thema) gemeint (Faulstich 2008: 35), die man unseres Verständnisses nach noch durch die Pseudo-Doku und das Reality-TV ergänzen kann.
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Tabelle 5:
Schlüsselkategorien zu Boulevardismus und Informativität
Schlüsselkategorien Emotionalisierung Personalisierung' Dramatisierung Ästhetisierung (bis hin zur Verkitschung) Verminderte Distanz
Schwarz-Weiß-Malerei Zynische/ironisierende Kommentare Umgangssprache Eye-Catcher
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Inwieweit spielen Emotionen in der Sendung eine Rolle?' Inwieweit wird das Dargestellte an Personen erläutert? Inwieweit wird das Gezeigte übertrieben dargestellt? Inwieweit wird das Gezeigt ausgeschmückt (zum Beispiel durch Musik, Filter-Darstellung) Inwieweit wird die Distanz zwischen Zuschauenden und gezeigten Personen vermindert (zum Beispiel Eindringen in die Privatsphäre von Personen)? Inwieweit werden Personen oder Sachverhalte stilisiert? Inwieweit erfolgen durch den voice over - Sprecher zynisehe oder ironisierende Kommentare? Inwieweit weichen Kommentare des voice over-Kommentars von der Standardsprache ab? Inwieweit werden bildliehe Auffälligkelten verwendet (zum Beispiel Sepia, Rahmen)?
Die Punktevergabe erfolgt hier mit dem Ziel einer dreischrittigenAbstufung. Dazu wird nicht das Vorhandensein von Schlüsselkategorien (wie es noch bei Sichtbarkeit des korporierten Akteurs der Fall gewesen ist), sondern deren Ausprägung betrachtet. Dies ist darauf zurückzuführen, dass kein Format - auch nicht die Dokumentation - aufInszenierung verzichtet (Faulstich 2008: 93).
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Dass Emotionen v.a. im Reality TV eine wichtige Rolle spielen beschreibt auch Döveling 2008. Auch hier lehnen wir unser Verständnis von Personalisierung an Karstens und Schütte an, die die Personalisierung als eine an Personen festgemachte storyorientierte Umsetzung eines Berichts bezeichnen (Karstens/Schütte 2010 : 179).
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Tabelle 6: Punktevergabe zu den Schlüsselkategorien Boulevardismus und Informativität Schlüsselkategorien Emotionalisierung Personalisierung Dramatisierung Ästhetisierung (bis hin zur Verkitschung) Verminderte Distanz Schwarz- Weiß-Malerei Zynische/ironisierende Kommentare Umgangssprache Eye-Catcher
Hoch 1 1 1 1 1 1 1 1 1
Mittel
0 0 0 0 0 0 0 0 0
Niedrig -1 -1 -1 -1 -1 -1 -1 -1 -1
Hier ergibt sich ein Höchstwert von +9 Punkten und ein Tiefstwert von -9, sodass gilt: je höher die Punktzahl, desto boulevardesker und je niedriger die Punktzahl desto informativer die Sendung.
4. Analyse der Sendung Akte 20.10 - Reporter kämpfen für Sie! Auf Basis der oben vorgestellten Punktevergabe wird hier ein signifikantes Beispiel herausgegriffen, welches im Folgenden exemplarisch analysiert wird, so dass das Kodierverfahren sichtbar und nachvollziehbar wird. Signifikant meint hier vor allem die hohe Sichtbarkeit korporierter Akteure vor der Kamera. Gegenstand der exemplarischen Analyse ist die Sendung Akte 20.10 - Reporter kämpfen fio: Sie (kurz Akte 20.10) vom 16. Februar 20 IO. Diese Sendung wird zur Analyse herausgegriffen, da bereits bei der ersten Durchsicht aller untersuchten 16 Fernsehsendungen das Format Akte 20.10 aufgrund der hohen Sichtbarkeit der korporierten Akteure vor der Kamera und durch die Kamera als besonders signifikant erschienen ist. Darauf weist bereits der Namenszusatz der Sendung Reporter kämpfen jUr Sie hin. Durch den Einsatz der Journalisten für die Rezipienten der Sendunghandele es sich um die ,Abzocke bei der Waschmaschinenreparatur' (siehe Sendung vom 26 Januar 2010) oder um die ,Glücksspielmafia' (siehe Sendung vom 16. Februar 2010) - stellt sich die Sendung investigativ dar.
4.1 Die Sendung Akte 20.10 Akte 20.10 -Reporter kdmpfen fiir Sie ist eine deutsche Fernsehsendung des Privatsenders Sat.1. Produziert wird die Sendung von Meta Productions in Berlin,
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deren Geschäftsfiihrer Ulrich Meyer auch gleichzeitig der Moderator und somit das ,Gesicht' der Sendung ist. Akte 20.10 läuft dienstags um 22:20 Uhr auf SaU und zählt mit seiner mittlerweile (fast) sechzehnjährigen (seit 1995) Laufzeit zu den beständigsten Formaten des Senders. So fungiert sie damit nahezu als -laut Homepage der Sendung - ",Dauerläufer' im SAT.l-Programm" (Metaproductions 2010). Sich selbst bezeichnet Akte auf der Homepage der Produktionsfirma als "spannend & engagiert" (Metaproductions 2010). Das besonders Markante an der Sendung, das Akte 20.10 von anderen ähnlich angelegten Magazinformaten abhebt, ist die ständige Präsenz der Akte 20.1O-Reporter vor der Kamera. Hier machen sie sichfür die Belange von Zuschauern stark und ,kämpfen' :für ihr Recht. Das Engagementfür den Zuschauer respektive :für den ,Bürger' spiegelt sich auch im Zusatztitel Reporter kämpfen für Sie wider. 18 Dies tritt ebenso durch die von der Sendung nach eigenen Kriterien gestalteten Kategorien von Akte 20.10 zutage: Investigativ, Persönlich, Aktuell, Internet, Test, Medizinisch, Hilft und Service (Sat.1 2010). Das Konzept der Sendung wird von Meta Productions wie folgt zusammengefasst: Dabei lassen sich Reporter und Produktionsfirma weder von juristischen noch körperlichen Drohungen beeindrucken. Sie verfolgen dasfür AKTE typische Ziel, exklusive Storys zu finden und somit eigene Themen zu setzen, dabei hochwertige Bilder zu liefern und einenfür jedermann relevanten Ratschlag anzubieten (Metaproductions 2010). So kann Akte 20.10 auf einige in der Sendung vorgestellte Erfolge (zum Beispiel Verhinderung eines Auftragsmordes in Folge vom 05. Januar 2010) der Vergangenheit zurückblicken. Allerdings rutscht Akte 20.10 ungeachtet dessen auch immer wieder in das Feld des Boulevardismus, zum Beispiel mit ihrer, laut Homepage der Produktionsfirma als House ofJustice getauften Redaktion oder Aktionen wie zum Beispiel der Verlosung eines Akte-T-Shirts (Sat.l 2010).
4.2 Beschreibung der zu analysierenden Sendung in Sequenzen Der Inhalt der Sendung Akte 20.10 vom 16.02.2010 setzt sich aus fünf Sendungsbeiträgen zusammen (siehe Sequenzaufstellung), die von Ab- undAnmoderation der jeweiligen Beiträge durch Ulrich Meyer unterbrochen werden. Die Sendung beginnt mit einem kurzen sendungsspezifischen Vorspann. Außerdem existieren Werbeunterbrechungen und vor der jeweiligen Unterbrechung eine kurze Sendungsvorschau sowie nach der jeweiligen Unterbrechung eine Anmoderation des 18
Mit Akte 20.10 stellt Zapp eine der wenigen Sendungen im deutschen Fernsehen dar, die investigativen Journalismus vor der Kamera zeigen (siehe hierzu auch der Beitrag von EnglertlRoslon Zapp in diesem Buch).
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nachfolgenden Beitrags. Das Ende der Sendung markieren die Abmoderation von Ulrich Meyer und sein Hinweis auf die nachfolgende Sendung 24 Stunden - Die Reportage. Die letzten Sekunden der Sendung erscheinen im Sat. J typischen Rahmenformat, in dem zusätzliche Informationen über die Sendung (Credits) sowie der Titel der nachfolgenden Sendung, Videotexthinweis, Zuschauerpostadresse und Produktionsfirma zu sehen sind:
Abbildung J: Ulrich Meyer im Akte 20.1 O-Studio und der Sat.1 typische Sendungsabspann
4.3 Überblick über die Sequenzen der Sendung Im Folgenden werden die einzelnen Sequenzen der Sendung kurz aufgelistet, um einen Gesamteinbliek in die zu analysierende Folge von Akte 20.10 zu ermöglichen und die näher zu betrachtende Sequenz in den Gesamtzusammenhang der Sendung einordnen zu können.
Tabelle 7: Übersicht über die einzelnen Sequenzen des Beitrags Sequenz 1. Sequenz 2. Sequenz 3. Sequenz 4. Sequenz
Inhalt
Vorspann der Sendung Anmoderation der Sendungvon Ulrich Meyer im Akte-Studio Vorschau auf zwei Beiträge der Sendung(Hausverwaltung und ,Glätteinspektor') Anmoderation des ersten konkreten Sendungsbeitrags .Glücksspielabzocke'
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5. Sequenz 5.1 5.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 6. Sequenz 7. Sequenz 8. Sequenz 9. Sequenz 10 Sequenz 11. Sequenz 12. Sequenz 13. Sequenz 14. Sequenz 15. Sequenz 16. Sequenz 17. Sequenz 18. Sequenz 19. Sequenz 20. Sequenz 21. Sequenz 22. Sequenz 23. Sequenz 24. Sequenz 25. Sequenz
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Beitrag ,Glücksspielabzocke' Akte-Redaktion in Berlin (,E-Mail-Flut') Bei erster Geschädigten zuhause: 39jährige Beamte Bei ehemaligem Glücksspielhotline-Mitarbeiter Geteiltes Bild: Linke Hälfte Akte-Redaktion in Berlin, rechte Hälfte: ehemaliger Glücksspielhotline-Mitarbeiter in Düsseldorf Ehemaliger Glücksspielhot1ine-Mitarbeiter Zweite Geschädigte: ältere Frau in Berlin Ehemaliger Glücksspielhot1ine-Mitarbeiter Dritte Geschädigte: ältere Frau Ehemaliger Glücksspielhot1ine-Mitarbeiter Vierte Geschädigte: ältere Frau Resümee: Dreiteilung des Bildes mit den drei älteren Geschädigten Abmoderation im Akte-Studio des Beitrags ,Glücksspielabzocke' sowie Anmoderation des neuen Beitrags ,Brust-OP' Beitrag ,Brust-OP' Abmoderation im Akte-Studio des Beitrag ,Brust-OP' sowie Anmoderation des neuen Beitrags ,Glätteinspektor' Sendungsvorschau auf die kommenden Beiträge Werbung uns Programmvorschau I Anmoderation Beitrag ,Glätteinspektor' Beitrag ,Glätteinspektor' Abmoderation im Akte-Studio des Beitrags ,Glätteinspektor' sowieAnmoderation des neuen Beitrags ,Nebenkostenabrechnung' Sendungsvorschau auf die kommenden Beiträge Werbung und Programmvorschau Il Anmoderation Beitrag ,Messerstecher' Beitrag ,Messerstecher' Abmoderation Beitrag ,Messerstecher' undAnmoderation Beitrag ,Nebenkostenabrechnung' Teil I Einspielung ,Zuschauerauftrag' Anmoderation Beitrag ,Nebenkostenabrechnung' Teil Il Beitrag ,Nebenkostenabrechnung' Abmoderation des Beitrags ,Nebenkostenabrechnung' und Abmoderation der Sendung Teil I mit Hinweis auf die nachfolgende Sendung 24 Stunden Einspieler: Vorschau auf die Sendung 24 Stunden Abmoderation der Sendung Teil II Sendungsabspann
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4.4 Analyse einer Sequenz Die Analyse der Sendung Akte 20.10 beginnt mit der 4. Sequenz der Anmoderation durch Ulrich Meyer zum nachfolgenden Beitrag über die ,Abzocke der Glückspielmafia' (siehe Sendung vom 16. Februar 2010) . Der Beitrag, der im Folgenden analysiert wird, ist die 5. Sequenz. 4.4 .1 Hohe versus niedrige Sichtbarkeit der korporierten Akteure
In der Anmoderation dieses ersten Beitrages wird gleich zu Beginn der Analyse eine Schlüsselkategorie zum Gegensatzpaar hohe Sichtbarkeit der korporierten Akteure versus niedrige Sichtbarkeit der korporierten Akteure evident: die Moderation durch Ulrich Meyer, der stellvertretend für die gesamte Redaktion von Akte 20.10 im eigenen Akte 20.10-Studio vor die Kamera tritt, sodass bereits hier der korporierte Akteur, vertreten durch eine markante Person und ein besonderes Gesicht sichtbar wird:
Abbildung 2: Moderator Ulrich Meyer im Akte 20.10-Studio
Um der Zielsetzung der Verortung einzelner Fernsehsendungen im Koordinatensystem nachzukommen, muss nun im Folgenden eine Punktevergabe für die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung der Schlüsselkategorien im Hinblick auf die Sichtbarkeit der korporierten Akteure mit +1 oder 0 erfolgen. Da hier bereits durch die
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Moderation eine erste Schlüsselkategorie erfüllt ist, wird hier der Wert +1 für Moderation in die Übersicht (siehe oben) eingetragen. Doch nicht nur die Moderation weist auf die Sichtbarkeit der korporierten Akteure an der Sendung hin) sondern zu Beginn der 5. Sequenz werden zwei Mitarbeiter der Akte 20.10-Redaktion gezeigt:
Abbildung 3: Mitarbeiter in der Akte 20. 1O-Redaktion bearbeitet einen "Strom an E-Mails" (siehe Sendung vom 16. Februar 2010)
Weiter zeigt sich die Sichtbarkeit der korporierten Akteure durch Akte-Mitarbeiter vor der Kamera, in diesem Fall sogar mit Mikrofon, zeigt sie sich in den einzelnen Beiträgen, wenn Geschädigte von Mitgliedern der Akte-Redaktion interviewt werden. In diesem Fall liegt eine der wichtigsten Schlüsselkategorien vor) die auf eine hohe Sichtbarkeit der korporierten Akteure hinweisen durch die korporierten Akteure vor der Kamera:
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Abbildung 4: Akte 20.10-Reporter in der Wohnung einer Geschädigten
Eine ebenfalls hohe Sichtbarkeit erlangen die korporierten Akteure durch die jeweilige Aktivität der Kamera während der Aufnahme - gut erkennbar an unterschiedlichen Schärfentiefen und Großaufnahmen:
Abbildung 5: Glücksspielhotline-Mitarbeiter macht Testtelefonat (Beispiel für Schärfentiefe)
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Abbildung 6: Beispiel für Großaufnahme
Entscheidend für die Sichtbarkeit der korporierten Akteure ist auch die Bildbearbeitung in derpost-production-Phase. Die Nachbearbeitung der Aufnahmen erfolgt durch die Akte 20.10- Redaktion nicht nur anhand des Einsatzes unterschiedlichster grafischer Elemente, sondern durch eine ganze Reihe von Filtern zur Bildbearbeitung (zum Beispiel Diffusionsfilter zum Diffusionseffekt), nachträgliche Farbreduzierung des Bildes hin zur Schwarz-Weiß-Darstellung oder durch Überblendung von einem zum anderen Bild, wie im nachstehenden deutlich wird:
Abbildung 7: Beispiel für Überblendung in der Akte 20.1 O-Redaktion
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Ähnlich der Überblendung erscheint auch der weiche Schnitt, welcher eine weitere Schlüsselkategorie auf der Liste zur Sichtbarkeit der korporierten Akteure darstellt:
Abbildung 8: In der Wohnung einer Geschädigten (Bsp. für weichen Schnitt)
Die unterschiedlichen Textelemente in Kombination mit grafischen Darstellungen, wie bei den Namensnennungen, Verfremdungen, Grafikeinblendungen oder bei den von Akte 20.10 angeführten E-Mail-Beispielen verdeutlicht die Sichtbarkeit der korporierten Akteure:
Abbildung 9: Beispiel für Namenseinblendung r~
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Abbildung 10: Adresse der Geschädigten wird unkenntlich gemacht (Beispiel für Verfremdung)
-
,..-
Abbildung 11: Namen von Gewinnspielfinnen (Beispiel für GrafikEinbIendungen)
WINIONTOR24 MAXIIOMBI100 GEWINNTRAUM
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Abbildung 12: Von Akte 20.10 angeführtes E-Mail-Beispiel im Auszug
,
"'-
ln
.pl.1
~."
leh al:
Mein Vater hat über .ein Jahr insgesamt 5000 € ab(,Je~Qgen bekommen.
Während die Schrift des E-Mail-Beispiels nach vorne zoomt, ertönt ein zischendes Geräusch bei der Vergrößerung der Schrift und übertönt kurze Zeit die ohnehin ständig laufende Hintergrundmusik. Hier werden die grafischen Elemente der post-production zusätzlich auditiv betont. Dies bedeutet positive Vermerke (+ 1) auf der Liste der Schlüsselkategorien zur hohen Sichtbarkeit der korporierten Akteure unter den Schlüsselkategorien Musik/Geräusch, Grafik, Text, Verfremdung, Bildbearbeitung. Zu den hörbaren Schlüsselkategorien zählt in dieser Sequenz außerdem, der ständige voice over-Kommentar, der die jeweilige Situation in der Femsehsendung einleitet, zusammenfasst und erklärt. Dementsprechend ergibt sich hier erneut ein positiver Wert in der Schlüsselkategorie voice over-Kommentar. Diese Elemente wirken unterstützend auf die Narration der Sendungsbeiträge. In diesem lässt sich die nachträglich eingefügte Narration, das heißt die chronologische Reihenfolge, die den Aufnahmen nach ihrer Fertigstellung zugrunde gelegt wird, vor allem an einem Bruch erkennen, wenn die Kamera auf den bereits in einer Wohnung einer Geschädigten sitzenden Redaktions-Mitarbeiter fahrt. Denn die Geschichte wird dadurch eingeleitet, dass die Kamera das Wohnzimmer der Geschädigten betritt und den Eindruck vermittelt, dass die Kamera gerade in diesem Moment das erste Mal zur Situation hinzukommt und so den Zuschauenden in das Geschehen einleitet und in das Wohnzimmer fiihrt:
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Abbildung 13: Wohnung der Geschädigten, in der der Akte 20.10- Reporter bereits 3m Tisch sitzt (Beispiel für Narration)
Bei dem Eintritt der Kamera in das Wohnzimmer der Geschädigten fällt ihr Blick nicht als erstes auf die Geschädigte und den Akte 20.10- Reporter, die am Wohnzimmertisch sitzen und sich besprechen, sondern sie macht einen Schwenk aufdie rechte Seite des Wohnzimmers und agiert so autonom. Sie zeigt nämlich erst die Einrichtung und die Lebensverhältnisse der Geschädigten. So zeigt sie dem Zuschauer, dass die von der Kamera Besuchte Kinder hat oder häufig von Kindern Besuch bekommt (siehe Kindertisch rechts im Bild):
Abbildung 14: Wohnzimmer der Geschädigten mit Kindermöbeln
Carina Jasmin Englert I Phillip Roslon
180
Ihren Höhepunkt erreicht die Sichtbarkeit der korporierten Akteure am Ende des Beitrags, wenn drei weitere Geschädigte, nämlich drei ältere Damen, in drei Großaufnahmen durch einen vorhergehenden weichen Schnitt sichtbar gemacht werden. Diese Ausschnitte werden nicht als Fotos, sondern als in Zeitlupe versetzte Bewegtbilder gerahmt und vor dem verschwommenen Hintergrund in Szene gesetzt. Auch hier ertönen Hintergrundmusik und ein voice over-Kommentar.
Abbildung 15: Weitere Geschädigte der ,Glücksspielmafia' (Beispiel für Rahmung, Großaufnahme)
Aus den obigen Beschreibungen ergibt sich damit die nachstehende Liste der Schlüsselkategorien für die Sichtbarkeitder korporierten Akteure für Akte 20.10:
Tabelle 8: Schlüsselkategorienfür die Sichtbarkeit des korporierten Akteurs Schlüllelkategorien Aktivität der Kamera bei Einstellungen Autonome Kamera Voiceover Musik/Geräusch Graphik Text Moderation Stimme aus dem Off oder Sprechen mit der Kamera
Punkte
1 1 1 1 1 1 1 1
Das Fernsehen - dein Freund und Helfer?
Schnitt Zeitlupe/-raffer Verfremdung Bildbearbeitung Korporierter Akteur meldet sich explizit selbst zu Wort Summe
181
I I I I I
13
4.4.2 Fiktionalität versus Non-Fiktianalität Die Sendung Akte 20.10 befindet sich nach der Auswertung der einzelnen Schlüsselkategorien im non-fiktionalen Bereich. Dies lässt sich vor allem damit begründen, dass Akte 20.10 das eigentliche Geschehen zeigt" und dass nichts per Drehbuch vor dem Dreh" festgesetzt worden ist - obwohl es natürlich einen Drehplan gab. Ebenso wenig sind in den Beiträgen Charaktere, Requisiten noch Bühne fiktiv, sondern es werden reale Menschen in realen Situationen im Dokumentationsstil gezeigt, so dass der Darstellungsstil (nähere Ausführungen zum Darstellungsstil, vor allem im Hinblick auf das Reality-TV siehe auch Reichertz Reality TV in diesem Buch) eine Bewertung von -1 zukommt. In diesem Beispiel besucht der Akte 20.10-Reporter tatsächlich geschädigte Betrugsopfer in ihren Wohnungen beziehungsweise nimmt der Reporter Kontakt mit einem ehemaligen Glücksspielhotline-Mitarbeiter auf, allem Anschein nach auch an seinem tatsächlichen Arbeitsplatz. Bereits zu diesem Zeitpunkt zeigt sich durch die vergebenen Negativwerte (deuten auf Non-Fiktionalität hin) die starke Tendenz der Sendung zur Non-Fiktionalität. Einzig Narration und Deutungsnahelegung sprechen zumindest zum Teil für Fiktionalität. So befindet sich der Akte 20.1 O-Reporter bereits im Wohnzimmer der ersten Geschädigten (in Sequenz 5.2) bevor die Kamera in das Wohnzimmer eintritt. Das zeigt, dass die Aufnahmen zu einer narrativen Struktur zusammengestellt worden sind. Musik und Kommentierungen wie "drei alte Damen, liebenswürdig und gutgläubig" (siehe Sendungstranskript) in der Schlusssequenz 5.9 legen außerdem eine bestimmte Deutung nahe, die die älteren Damen als Opfer und die "Gewinnspielmafia" (Sendungstranskript) als Täter respektive Betrüger darstellt. Diese Erläuterungen lassen sich in der nachstehenden Tabelle zusammenfassen:
19 20
Was nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass Akte 20.10 als ,Live-Sendung' deklariert wird (siehe LIVE-Zeichen neben dem SaU - Sendersymbol), Hier beziehen wir uns ausschließlich aufdie Beiträge der Sendung, den Autoren ist es allerdings bewusst, dass Moderation und voice over-Kommentar durchaus einem Drehbuch folgen, dass der Sendung nachträglich nach dem Dreh der Beiträge beigefügt wird.
182
Carina Jasmin Englert / Phillip Roslon
Tabelle 9: Schlüsselkategorien :für Fiktionalität und Non-Fiktionalität Schlüsselkategorien Handlung Charaktere Drehbuch Requisiten Bühne Narration Deutungsnahe1egung Darstellungsstil Summe
Punkte -1 -1 -1 -1 -1 0 1 -1
-s
4.4.3 Boulevardismus versus Informativität
Emotionalisierung, Personalisierung und Dramatisierung bedingen sich in der analysierten Folge von Akte 20.10 gegenseitig. Es werden hier nicht nur reine Fakten gezeigt, sondern vor allem durch die Beschreibung der Geschädigten Emotionen wie Mitleid aufgrund von Hilflosigkeit (der betrogenen älteren Damen) angesprochen. Darüber hinaus wird bereits in der Anmoderation durch Ulrich Meyer deutlich, dass die Sendung zur Personalisierung tendiert, denn hier spricht er von "Ihre Eltern" und geht damit direkt auf den Zuschauenden ein, vermindert die Distanz zwischen Zuschauenden und der Sendung und gibt dem nachfolgenden Beitrag ein ,Gesicht'. Die Betonung der Brisanz der Situation durch die Kommentierungen (unter anderem auch ironisierender und zynischer Art und Umgangssprache "Abzocke", .Lastschriftmafia" und vor allem metaphorische Redewendungen wie "auf Granit beißen", siehe Sendungstranskript) verstärken mit dem Stilmittel der Musikuntermalung die Dramatisierung der Inhalte. Die umgangssprachliche Bezeichnung der Glücksspielhotline-Betreibenden deuten bereits auf eine erste Schwarz-Weiß-Malerei im Hinblick auf die Personenbeschreibungen von Opfern und Tätern hin, die zwei Fronten (,böswillig bereichert' :fürGlückspielhotline versus ,hilflos ausgebeutet' :fürältere Damen) eröffnet. Eye-Catcher in Form von Grafiken mit Geldbeträgen in der Signalfarbe rot, wie der nachstehende bestätigen die Tendenz zum Boulevardismus:
Das Fernsehen - dein Freundund Helfer?
183
Abbildung 16: Eye Catcher in Form von Geldbeträgen
100€
Signifikant für die Ästhetisierung bis hin zur Verkitschung der bildliehen Darstellungen ist der folgende Bildausschnitt:
Abbildung 17: Platzierung der Geschädigten vor Marienstatue und Bild mit Sonnenuntergang in ihrer Wohnung (Beispiel für Deutungsnahelegung)
184
Carina Jasmin Englert / Phillip Roslon
Interessant ist hier vor allem die Positionierung der Geschädigten vor dem Hintergrund einer Holzmadonna auf einer Kommode und einem Bild mit Sonnenuntergang an der Wand. Diese deutlich positiv besetzten ,Requisiten' lassen auf die bewusste Wahl des Bildausschnitts schließen. Auch wird eine bestimmte Deutung nahe gelegt: Die an christliche Werte glaubende Geschädigte ist gutgläubiges und hilfloses Opfer.
Tabelle 10: Schlüsselkategorien :für Boulevardismus und Informativität Schlüsselkategorien Emotionalisierung Personalisierung Dramatisierung Ästhetisierung (bis hin zur Verkitschung) Verminderte Distanz Schwarz-Weiß-Malerei Zynische/ironisierende Kommentare Umgangssprache Eye-Catcher Summe
Punkte I
I I I I I 0 I 1 8
5. Gesamtdarstellung der Ergebnisse Solch eine Analyse im Kontext der drei Gegensatzpaare istfür alle der 16 Sendungen von fiinfverschiedenen zufällig ausgewähltenAusstrahlungsterminen aus dem oben beschriebenen Datenkorpus erfolgt. Hierbei ergaben sich die nachstehenden Ergebnisse: Legende: Kürzel a b c d e f g
Sendung 24 Stunden Achtung Kontrolle! Akte 20.10 Alarm für Cobra 11 Die Schulermittler Extra Kripo live
Das Fernsehen - dein Freund und Helfer?
h i j k I
185
Niedrig und Kuhnt Schneller als die Polizei erlaubt Soko Köln Spiegel TV Toto & Harry Verdachtsfälle
m
n
WISO ZDF.reportage ZDF.reporter
0
p
Bei der Sichtbarkeit der korporierten Akteure sind bei der Auswertung die folgenden Ergebnisse zu verzeichnen:
Tabelle 11: Schlüsselkategorien Sichtbarkeit der korporierten Akteure im Überblick Schlüsselkategorie Aktivität bei Einstellungen Autonom? Voice over Musik/Geräusch Graphik Text Moderation Stimme aus dem Off Schnitt Zeitlupe/ Raffer Verfremdung Bildbearbeitung Korporierter Akteur explizit Summe
a
b
c
D
g
H
I
I
1 1
1 1 1 I 0 1 0 0 0 1 1 1 1 1 1 I 0 1 1 1 0 1 1 1 0 0 1 1 0 1 1 0 1 1 0 1 1 1 1 1 0 0 1 1 1 1 1 I 0 1 1 I 5 11 11 11
I
1 1 1 1 1 0 1 1 1 1 1 1 12
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
I
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0 1 I
0 1 0 0 1 1 0 0 0 6
i j k 1 1 1 1 0 1 1 0 1 1 1 1 1 0 1 1 0 1 0 0 0 1 0 1 1 0 0 1 1 1 1 0 0 1 1 0 0 0 1 11 4 9
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0 0 I
1 1 1 1 1 0 1 0 1 9
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1 I 1 0 1 1 1 I 0 1 1 1 0 1 1 1 0 1 0 1 1 1 1 I 1 I 9 12
p 1 1 0 1 1 1 1 0 1 1 1 1 0 1 1 1 1 0 0 0 1 1 0 1 1 1 9 10
0
Bezüglich der FiktionalitätlNon-Fiktionalität von Sendungen sind bei der Auswertung die folgenden Ergebnisse zu verzeichnen:
186
Carina Jasmin Englert / Phillip Roslon
Tabelle 12: Schlüsselkategorien Fiktionalität und Non-Fiktionalität im Überblick Schlüsselkategorie Handlung
a
E
f
g
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0
h 1
-1
-1
0
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1
0 0 0
-1
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-1
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1
-1
-1
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1
-1
-1
-1
-1
-1
-1
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Charaktere Drehbuch Requisiten Bühne
i
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1
-1
-1
-1
1
0
-1
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0
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-1
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-1
-1
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-1
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1
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-1
-1
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0
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1
1
-1
-1
0
-1 -5
-1
-1
-7
-7
0 0 -1 -6
-1 -5
5
Und bezüglich des/der Boulevardismus/lnformativität von Sendungen sind die Resultate nach Auswertung der Schlüsselkategorien folgende:
Tabelle 13: Schlüsselkategorien Boulevardismus und Informativität im Überblick Schlüsselkategorie Emotionalisierung Personalisierung Dramatisierung
c 1 1
d 1 1
e 1 1
1
1
1
f 0 0 0
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1
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0 0 0 -2
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Ästhetisierung/ 0 Verkitschung Verminderte Distanz 0 Schwarz-Weiß0 Malerei zynische/irouisieren-1 de Kommentare Umgangssprache 1 Eye-Catcher 0 Summe -1
k 0 1 0
1
1
-1
-1
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1
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-1
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1
-1
0
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0 0
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4
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2
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g
h
i
-1
1
1
-1
Am Schluss lassen sich also die Endwerte jeder Sendung bezogen auf die drei Gegensatzpaare so zusammenfassen, sodass es zu folgender Tabelle kommt:
Das Fernsehen - dein Freund und Helfer?
187
Abbildung 18: Gegenüberstellung der Schlüsselkategorien im Überblick Schlüsselkategorie Sichtbarkeit der korporierten Akteure FiktionalitätJNonFiktionalität Boulevardismusl Infonnativität
a
12
C
d
9 13
5
b
j
k
1
m
n
6
11 4
9
9
9
12
g
H
11 11 11
e
F
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0
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9 10
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-6
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5
-5
-7
-7
-1
-2
8
4
4
-2
-6
5
4
2
2
-2
5
-6
-9
-9
6. Erläuterung der Gesamtgrafik Um die Momentaufnahme des Feldes der Fernsehsendungen zur Inneren Sicherheit in Deutschland grafisch zu veranschaulichen, haben wir uns fiir die Darstellung der Auswertung der Daten fiir ein dreidimensionales Koordinatensystem entschieden. Die x-Achse stellt dabei das Kontinuum zwischen Fiktionalität und Non-Fiktionalität dar, während die y-Achse das vom Gegensatzpaar Boulevardismus versus Infonnativität erzeugte Kontinuum aufspannt. Die z-Achse, die der Darstellung ihre Dreidimensionalität verleiht, nimmt das Gegensatzpaar hohe Aktivität des Mediums versus niedrige Aktivität des Mediums ein. Für die Aktivität des Mediums wird eine gesonderte Darstellung gewählt, da diese vor den Schlüsselkategorien der Fiktionalitdt/Non-Fiktionalitdt und dem Boulevardismus/der Infonnativität hervorgehoben wird. Dabei ist den Autoren bewusst, dass diese Kategorisierungen lediglich Tendenzen einer Sendung nachzeichnen können. Denn es liegen lediglich verschiedene graduelle Abstufungen hin zur Fiktionalität oder Non-Fiktionalität, zum Boulevardismus oder zur Informativität sowie zur hohen Sichtbarkeit der korporierten Akteure oder zur niedrigen Sichtbarkeit der korporierten Akteure vor (es existiert keine völlig non-jiktionale/fiktionale Sendung oder auch keine rein boulevardeskelinfonnative Fernsehsendung.
Carina Jasmin Eng1ert / Phillip Ros1on
188
Grafik 1: Grafische Gesamtdarstellung der Ergebnisse" Boulevardismus 10
11
10
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8
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-8
-10
Informativität
Die Gesamtdarstellung unterteilt sich in vier Räume eines Koordinatensystems. Auf diese Weise lassen sich die Sendungen in vier Ausrichtungen kategorisieren. Der erste Quadrant wird durch ,Fiktionalität' und ,Boulevardismus• charakterisiert. Hier befinden sich die Sendungen mit Spielfilmcharakter (wie Alarmfiir Cobra 11 und Soko Köln) und (Hybrid-)Sendungen, die sich durch einen Pseudo-Doku-Charakter auszeichnen, wie Die Schulermittler und Verdachtsfälle. Der zweite Quadrant zeichnet sich durch Non-Fiktionalität und Boulevardismus aus. Hier befinden sich die Sendungen Akte 20.10, Spiegel TVund Schneller als die Polizei erlaubt. Hier ist (wie die Darstellung zeigt) kein eindeutiges Cluster von Formaten zu er21
Die Punkte fund p werden aufgrund der überlagerung mit den Punkten I und 0 absichtlich außerhalb ihres eigentlichen Punktes dargestellt und dem fällt keine weitere Bedeutung zu.
Das Fernsehen - dein Freundund Helfer?
189
kennen. Genau wie im dritten Quadranten, der aus Non-Fiktionalitdt und Informativität besteht, befinden sich hier Sendungen verschiedener Art, wie Doku-Soaps (Toto & Harry, Achtung Kontrolle! Einsatzfiir die Ordnungshüter), Reportagen (24 Stunden und ZDF.reportage sowie ZDF.reporter) und Magazine (Extra, WISO)22. Zwar können die Sendungen aus dem zweiten und dritten Quadranten, also aus dem non-fiktionalen Bereich, nicht unter einem Format zusammengefasst werden, allerdings grenzen diese sich deutlich von den Drehbuch-Formaten aus den beiden rechtsseitigen Quadranten ab. Im vierten Quadranten, bestehend aus Fiktionalität und Informativität, befindet sich einzig die Sendung Kripo live. Die Sendung würde man eigentlich den Magazinen zuschreiben. Allerdings besitzt Kripo live aufgrund der Beschaffenheit der in der Sendung angeführten Beiträge a la Aktenzeichen XY einen hohen Grad an Fiktionalität. Somit besitzt die Sendung eher die Eigenschaft, fiktional als non-fiktional zu sein. Denn hier werden reale Verbrechen größtenteils durch Schauspieler auf einemfiktionalen Bühnenbild mit fiktionalen Requisiten nachgestellt. Dies dient dabei nicht der Unterhaltung, sondern der Täterfindung und zur Unterstützung der Polizeiarbeit, deswegen gehört sie in den informativen Bereich. Für die Unterscheidung zwischen Informativität und Boulevardismus ist die Formataufteilung nicht so deutlich vornehmbar wie für Non-Fiktionalität versus Fiktionalität. Bei fiktionalen beziehungsweise non-fiktionalen Formaten ist die Unterscheidung recht deutlich, wie auch die Lücke zwischen der rechten und der linken Hälfte des Koordinatensystems zeigt (siehe Abstand von sieben Einheiten zwischen Kripo live zu Schneller als die Polizei erlaubt, also die Sendungen, die zwischen den Grenzen am nächsten zusammenliegen). Es wird deutlich, eine Sendung fällt klarer entweder in den fiktionalen oder non-fiktionalen Formatbereich als sie es in die Kategorien Boulevardimus - Informativität tut. Hier ist keine sehr 22
Eine Reportage ist ein reiner Non-Fiction-Fernsehfilm, der versucht, Wirklichkeit ,,[. . .] authentisch zu ,dokumentieren', das heißt möglichst unverfälscht zu reproduzieren, sie andererseits aber informations- und aufklärungsorientiert zu konstruieren und insofern eine Geschichte zu erzählen, was nicht möglich ist ohne Schnitt, Montage, Strukturierung, Gewichtung, Arrangement, Interpretation - kurz: ohne Inszenierung" (Faulstich 2008: 93). Reportagen sind damit immer mehr der Dokumentation und weniger der Fiktion zuzurechnen, wobei der Unterschied zwischen Reportage und Doku-Soap vor allem darin besteht, dass Doku-Soaps als Serie auftreten (wie das zum Beispiel bei Toto & Harry der Fall ist), während Reportagen dagegen zwar auch in regelmäßigen Abständen im Fernsehen gezeigt werden (zum Beispiel wöchentlich), jedoch die Themen von Folge zu Folge variieren (siehe Spiegel TV). Zwischen Reportage und Magazin besteht eine gewisse Verbindung, da eine Reportage auch ein Element eines Magazins sein kann (Karstens/Schütte 2010 : 183). Allerdings gilt, dass Magazin als überbegriffeine ,,[...] Sendungsform [meint], die mehrere Elemente miteinander verknüpft. Den Schwerpunkt eines Magazins machen Bildbeiträge aus. Dazu können andere Formen wie Talks und Interviews kommen. Die Verbindung der Elemente übernimmt meist ein Moderator." (Karstens/Schütte 2010 : 184)
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190
große Lücke zwischen den Randbereichen erkennbar (der Unterschied bei dem die Sendungen zwischen den Grenzen am nähesten zusammenliegen beträgt hier drei Einheiten zwischen den Sendungen 24 Stunden und Soko Köln). Die Verteilung zwischen den einzelnen Sendungen auf dem Kontinuum Boulevardismus - Irformativitd: auf der eher non-fiktionalen Hälfte des Koordinatensystems sind gradueller. Das heißt, die Eckpunkte Akte 20.10 und ZDF.reporter liegen zwar weit auseinander (Akte 20.10 mit +8 Einheiten und ZDF.reporter mit -9 Einheiten auf dem Boulevardismus-Informativitäts-Kontinuum), allerdings befinden sich die anderen Sendungen dazwischen breit auf dem Kontinuum verteilt mit recht geringen Schwankungen auf der Non-Fiküonlitätsebene (siehe Rahmen links) :
Grafik 2:
Gruppierungen respektive Cluster im Feld von Fernsehformaten Innerer Sicherheit Boulevardismus 10
10
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191
Betrachtet man nun die rechte Hälfte des Koordinatensystems fallt auf, dass diese Verteilung sich nicht über das gesamte Kontinuum des Boulevardimus und der Informativitiit zieht (siehe gestrichelte Linie). Vielmehr ballen sich die Spielfilmformate und Pseudo-Dokus im ersten Quadranten. Lediglich Kripo live fällt in den vierten Quadranten aufgnmd seiner Sonderstellung tatsächliche Sachverhalte fiktiv nachzustellen und gleichzeitig der Information und eben nicht der Unterhaltung zu dienen. Eine weitere Dimension im Koordinatensystem, die es in den Erläuterungen zu berücksichtigen gilt, wird durch die Größe des jeweiligen Punktes dargestellt. Diese Größe des Punktes steht für die Sichtbarkeit des korporierten Akteurs. Das
Grafik 3: Aufteilung des Feldes nach der Sichtbarkeit des korporiertenAkteurs Boulevardismus 10 -
10
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192
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heißt, je größer ein Punkt, desto höher ist die Sichtbarkeit des Akteurs. Hierbei erscheint die Grafik als homogenes Feld. Lediglich zwischen den Spielfilmformaten Alarmfür Cobra 11 und Soko Köln und Niedrig und Kuhnt scheint es im Gegensatz zu den anderen analysierten Sendungen größere Unterschiede in der Sichtbarkeit des korporierten Akteurs zu geben. Es zeigt sich, dass die Mehrzahl der Sendungen eine hohe Ausprägung (Punktzahl +9 bis + 13 Einheiten bei einer Maximalpunktzahl von 13 Einheiten) der Sichtbarkeit der korporierten Akteure aufweisen (13 von 16 Sendungen). Hier scheint eine vertikale Linie bei Fiktionalität+6 eine Grenze zu markieren, die zeigt, dass ab einem bestimmten Grad der Fiktionalität (in diesem Fall +6) die Sichtbarkeit des korporierten Akteurs stark abnimmt. Die Darstellung zeigt, eine recht lückenlose Streuung der Sendungen zwischen Boulevardismus und Informativität in der Horizontalen, während bei Fiktionalität und Non-Fiktionalität durchaus eine Teilung in der Vertikalen zu erkennen ist. Auffällig ist dabei die gesonderte Stellung von Niedrig und Kuhnt, die in der Interpretation noch näher betrachtet wird.
7. Interpretation Die erste Frage fiir unsere Analyse lautete, ob und inwieweit korporierte Akteure vor der Kamera fiir den Zuschauenden sichtbar werden, sodass die Handlungen vor der Kamera einem Akteur (Sendeanstalt, Sender) zurechenbar werden. Dies lässt sich nun anhand der Auswertung der Endergebnisse fiir die einzelnen Sendungen gut erkennen (siehe Tabelle 10). Es wird im Folgenden allerdings nicht darum gehen, die einzelnen Bewertungen der Sendungen dezidiert zu betrachten, sondern vielmehr das gesamte Feld zu betrachten, da die ausgewählten Sendungen das Feld der Fernsehsendungen der Inneren Sicherheit in Deutschland repräsentieren. Auffällig hierbei ist die Platzierung von Niedrig und Kuhnt und die Punktzahl +6 fiir die Sichtbarkeit des korporierten Akteurs, denn diese Sendung gruppiert sich mit den klassischen Spielfilmserien mit niedriger Punktzahl (Alarm für Cobra 11 und Soko Köln). Dies geschieht, obwohl Niedrig und Kuhnt eher eine Hybridsendung als eine Spielfilmserie darstellt. Dies ist darauf zurückzufiihren, dass Niedrig und Kuhnt bis auf den Darstellungsstil, der an die Pseudo-Doku-Formate erinnert und die ebenfalls in Pseudo-Dokus eingesetzten Laiendarsteller, bevorzugt Elemente des Spielfilms verwendet und daher als eher fiktional (im Sinne von Scripted Reality) im Gegensatz zu non-fiktional (im Sinne von Reality-TV) unter den Hybridsendungen gilt. Niedrig und Kuhnt markiert damit den Übergang zwischen hoher und niedriger Sichtbarkeit des korporierten Akteurs. Dies bestätigt wiederum, dass sich der korporierte Akteur in Spielfilmen und Hybridsendungen
Das Fernsehen - dein Freund und Helfer?
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mit betontem Spielfilmcharakter aktiv unsichtbar macht. Im Gegensatz existieren Hybridsendungen mit der Betonung des Reality- TV-Charakters, Reportagen und auch Magazine, in denen der Moderator als korporierter Akteur vor der Kamera sogar ein wichtiges Element in der Darstellung sein kann. Vor allem in Magazinen macht sich der korporierte Akteur so entweder aktiv sichtbar oder versteckt seine Präsenz zumindest nicht aktiv, wie an den Doku-Soaps deutlich wird. Beispiele hierfür sind Toto und Harry aus dem non-fiktionalen Bereich und Die Schulermittler aus dem fiktionalen Bereich. In beiden Sendungen kommt es vor, dass sich beispielsweise die Kamera in Glastüren oder Autoscheiben spiegelt oder dass sich die Menschen vor der Kamera an die Kamera im Gespräch wenden. Das heißt, hier wird nicht bewusst die Sichtbarkeit des korporierten Akteurs vermieden, wie dies bei Spielfilmen der Fall ist, sondern nicht verdeckt beziehungsweise in Pseudo-Dokus sogar zum Zwecke der Authentizität aktiv inszeniert. Dies erklärt zum einen den größeren Unterschied im Hinblick auf die Sichtbarkeit des korporiertenAkteurs zwischenjiktionalen und non-fiktionalen Sendungen (größtes Gegensatzpaar Soko Köln mit +4 versus Akte 20.10 mit +13 Punkten) und zum anderen die relative Homogenität zwischen Sendungen der Formate Pseudo-Doku, DokuSoap, Reportage und Magazin. Die zweite Frage unserer Untersuchung versuchte zu ermitteln, inwieweit sich die Formate zur Inneren Sicherheit aufdie öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsender verteilen. Hierzu ist es zunächst erforderlich, die einzelnen Formate voneinander abzugrenzen sowie sie mit dem Alltagsverständnis abzugleichen, da Bezeichnungen hier oft uneinheitlich und synonym von den Fernsehanstalten und Programmzeitschriften verwendet werden. Desweiteren gilt es zu erörtern, inwieweit sich Hybridsendungen des Fernsehens wie Pseudo-Dokus und DokuSoaps durch fiktionale und non-fiktionale Stilmittel auszeichnen. Im vorhergehenden Abschnitt ist bereits erläutert worden, dass sich Sendungen aus dem Bereich Reality-TV (Doku-Soaps) eher durch dokumentarische Elemente auszeichnen, im Gegensatz zu Sendungen der Scripted Reality (Pseudo-Doku) die zwar auch dokumentarische Elemente verwenden, allerdings mit dem Ziel eine Dokumentation zu imitieren. Dabei sind die Sendungen der Scripted Reality fiktional, gespickt mit (pseudo-)dokumentarischen Elementen, während Doku-Soaps grundsätzlich dokumentarischer sind (im Hinblick aufHandlung, Charaktere undsoweiter)." Zu23
Dies bestätigt das Alltagsverständnis davon, dass der korporierte Akteur in Femsehfonnaten der Spielfilmserie ohnehin unsichtbar ist, sodass der Zuschauende die Illusion hat, sich in der Handlung zu befinden. Aufgrund nicht vorhandener Schlüsselkategorien wie Stimme aus dem Off, voice over-Kommentar und vor allem ,Medium meldet sich implizit oder explizit zu Wort' ist es dem Zuschauenden möglich, völlig ,in der gezeigten Handlung einzutauchen', wie dies bei Soko Köln der Fall ist. Während sich bei eher magazinartigen Formaten wie Akte 20.10 die
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194
sammenfassend ergibt sich anband dieser Unterscheidung die nachstehende Kategorisierung der Hybridsendungen folgendes Bild:
Grafik 4: Hybridsendungen
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I
I
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I
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I z.B. To to &: Hcurv, Ac h t un g Ko ntro lle! Ein sa tr für d te Or dms n q si nner. Seim el ler
L.B. Die Schule rnütrter .
Verda cht s/all e
als die Poliz ei er la ub t
Trotz der signifikanten Unterschiede zwischen Reality-TV-Sendungen und Sendungen der Scripted Reality werden diese imA1ltagsverständnis, vor allem in Fernsehzeitschriften (TV Movie und www.k1ack.de), unter dem Sammelbegriff der DokuSoap zusammengefasst. Die Differenzierung ist im Alltagsverständnis daher eher korporierten Akteure durchaus (bewusst) zeigen und nennen, sodass man ständig der Illusion beraubt wird, sich dem Fernsehgeschehenvöllig ,hingeben' zu können. Stattdessen wird beispielsweisedurch das Auftreten eines Kameramannsoder eines Reporters VC1T der Kamera der
Zuschauendeständig daran erinnert, dass er in diesem Moment .nur' Fernsehen schaut und die gezeigte Handlung eine Fernsehsendungist. Er befindet sich damit nicht mehr im Fernsehen, sondern vor dem Fernsehgerät. Eine Ausnahme bilden hier diejiktiDnalen Formate, die einen Doku-Soap-Charakter aktivherstellenund sojiJctional einengewissenDarstellungsstil der Dokumentationimitieren(vgl. zum Darstellungsstilauch die Erläuterungenvon ReichertzReality-TV in diesemBuch). Bei der Auswertung der ausgewähltenSendungenfällt damit auf, dass einige Sendungenim fiktionalenBereich, die auf den ersten Blick aufgrund ihres Darstelhmgsstils auch dem Reality-TV zugerechnet werden könnten, deshalbfiktional sind, da dieser Darstellungsstil lediglicheine Imitation und keineRealitätdarstellt(vgl. zur Realitätim Reality-TV auchReichertz Reality TV in diesem Buch), waswiederummit der Sichtbarkeitder des korparierten Akteurs in Verbindung steht
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irrefiihrend und für eine wissenschaftliche Analyse zu unpräzise, weshalb wir uns bei den Hybridsendungen für die obige Unterscheidung entschieden haben." In der Grafik 2 zeigt sich zum zweiten ein Cluster im fiktionalen Randbereich (gestrichelte Linie), in dem sich die Spielfilmsendungen (Alarm für Cobra 11 und Soko Köln) befinden. Diese zeichnen sich vor allem durch einen bestimmten Darstellungsstil aus, der für Spielfilme typisch ist, also nicht die Realität wiedergibt, sondern ,lediglich' Wirklichkeit repräsentiert, ,,[...] die dramaturgisch und ästhetisch gestaltet ist" (Mikos 2003: 71). Darüber hinaus stellen diese beiden Sendungen die fiktionalste Ausprägung des Sendungsfeldes dar (unter anderem aufgmnd der Fiktionalität der Charaktere, Handlung, Requisiten und Bühne sowie dem zugmndeliegenden Drehbuch). Zwar tauchen diese Elemente auch bei anderen Sendungen, wie beispielsweise bei Pseudo-Dokus auf, allerdings nicht in dieser inhaltlichen Ausprägung, sondern nur formal. Spielfilmserien seien damit all die Fernsehformate, die sich durch einen hohen Grad an Fiktionalität der oben genannten Punkte auszeichnen und in Serie auftreten (Faulstich 2008).25 Sie betonen zudem den Unterhaltungs- und nicht den Informationsgehalt." Dies bestätigt auch die Platzierung der Sendungen Alarm für Cobra 11 und Soko Köln in der oberen Hälfte (Boulevardismus) des Koordinatensystems. Somit lässt sich die Bildung von Fernsehformaten um das Format Spielfilmserie erweitern. Im non-fiktionalen Bereich des Koordinatensystems ist ein Cluster der einzelnen Formate (Reportage, Magazin und Doku-Soap) weniger deutlich. Dies ist darauf zurückzufiihren, dass die Formate der Reportage und des Magazins aufgrund ihrer Beschaffenheit (wie weiter oben bereits ausgefiihrt) miteinander in 24
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Die Definitionen von Reality/Doku-Soap, die zwar nicht ohne Narration auskommt, aber dennoch ,echte' Menschen in realen Situationen zeigt, und ,Pseudo-Doku', welche ,Scripted Reality' darstellt, bestätigen sich auch in der Auswertung der analysierten Sendungen. Während ,RealitySoaps' wie Toto und Harry, Schneller als die Polizei erlaubt und Achtung Kontrolle! Einsatzfür die Ordnungshüter sich im zweiten und dritten Quadranten und sich damit links der y-Achse befinden, was auf ihren non-fiktionalen Charakter hinweist, wie die obige Grafik belegt. Für die ,Pseudo-Dokus' wie Die Schulermittlerund Verdachtsfalle gilt, dass sie mit den Spielfilmserien aufgrund des gemeinsamen Drehbuch-Charakters im ersten Quadranten platziert sind und sich damit mehr der Fiktionalität zuordnen lassen, da es sich hier nicht um tatsächlich Geschehenes handelt, was die Sendung zeigt, sondern um eine Drehbuch-Handlung. Die Sonderstellung von Niedrig und Kuhnt in diesem Zusammenhang ist bereits erläutert worden. Faulstich beschreibt die Serie wie folgt: ,,Die Besonderheit der fiktionalen Fernsehserie besteht im jeweiligen Schema und seiner Variation von Folge zu Folge [. . .] Zentral ist also die Frage nach dem Verhältnis von Folge zu Folge innerhalb einer Serie, nach denAnschlüssen von Folge zu Folge, nach den Modifikationen des Immergleichen im Gesamt der Serie." (Faulstich 2008: 106) Dies heißt allerdings nicht, dass Sendungen aus dem Spielfilmserienformat Diskurs über Innere Sicherheit nicht beeinflussen können, sondern dies bedeutet lediglich, dass die ,Macher' der Sendung dies nicht intentional bezwecken respektive bewusst umsetzen.
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Verbindung stehen. Reportagen zeigen eine gewisse Verbundenheit mit dem. Magazin, was zur Folge hat, dass sich ihre Stilmittel überschneiden und diese in der Darstellung daher weniger Differenzen aufweisen. Dennoch ist eine Unterscheidung in der Untersuchung sinnvoll und notwendig, denn im Hinblick auf die Sichtbarkeit des korparierten Akteurs können eine Moderation, ein Studio oder ein Publikum erheblich zu der Sichtbarkeit des korparierten Akteurs beitragen. Ein Aspekt, der grundlegend für die Forschungsplanung gewesen ist (siehe erste Forschungsfrage). Aus all dem ergibt sich folgendes Bild, das eine Übersicht über die unterschiedlichen Formate der Femsehlandschaft in Deutschland Innere Sicherheit be treffend darstellt:
Grafik 5: Fernsehformate
Fernsehformat e
ReportJ gen
MJ gJzine
Hybrid sendungen
Sptclfi lm scrtcn
I
ReJlity-TVSendun gen (Dok uSOJps)
Scripted Realit v Send ungen (Pseudo-Doku s]
Durch diese Differenzierung zwischen unterschiedlichen Fernsehformaten ist es nun möglich, einen Blick auf die Verteilung derFormate zwischen öffentlich-rechtlichen Sendern und privaten Sendern zu werfen. Magazine und Reportagen sind demnach sowohl auf öffentlich-rechtlichen als auch auf privaten Fernsehsendern präsent. Es fällt allerdings auf, dass sich diese in ihrer informativen beziehungsweise boulevardesken Ausprägung unterscheiden. Es zeigt sich, dass die öffentlich-rechtlichen Magazine und Reportagen eine stärkere Tendenz zur Informativität
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aufweisen (zum Beispiel ZDRreporter mit -9 Einheiten für die Informativität und WISO mit -6 Einheiten für die Informativität) und sich lediglich von allen untersuchten Sendungen des öffentlich-rechtlichen Soko Köln (Spieljilmserie) oberhalb der x-Achse im Bereich des Boulevardismus befindet. Für die privaten Sender gilt, dass sich hier auch durchaus Reportagen und Magazine unterhalb der x-Achse im Bereich der Informativität befinden, diese sich allerdings stark in der Nähe der der x-Achse in Richtung Boulevardismus aufhalten. Dies gilt für den Großteil (sieben von elf) aller Sendungen. Zu beachten ist jedoch, dass es sich bei dem Datenkorpus um eine recht unausgewogene Auswahl von Sendungen öffentlich-rechtlicher und privater Fernsehsender handelt (elf Sendungen aus den Privaten und fünf aus den Öffentlich-Rechtlichen). Dies hängt damit zusammen, dass auf den öffentlichenrechtlichen Sendern Formate wie die Doku-Soap und die Pseudo-Doku nicht ausgestrahlt werden, was für die Unausgewogenheit in der Sendungsauswahl sorgt. Dies gibt bereits einen ersten Hinweis auf die Boulevardisierungstendenz privater Sender, die im nachstehenden weiter besprochen werden soll. Die Auswertung hat gezeigt, dass die erläuterte Tendenz zur Boulevardisierung der öffentlich-rechtlichen Sender in Richtung der boulevardeskeren privaten Sender (Klein 1998, Muckenhaupt 1998) sich nicht in der Analyse des gesamten Fernsehfeldes bestätigt. Denn auch innerhalb der einzelnen Cluster nach Formaten (siehe Grafik 1), befinden sich die Sendungen der öffentlich-rechtlichen Sender immer eher im Bereich der Informativität und die der privaten immer mehr im Bereich des Boulevardismus und zeichnen sich damit durch mehr Elemente des Boulevardesken aus."
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Das hat auch Folgen fiir die Wirklichkeit: wie wir aufgrund von Felderfahrungen mit der Polizei und Presse, die wir im Verlauf des Forschungsprojelctes erworben haben, wissen, nimmt die Bereitschaft der Polizei, sich an Doku-Soaps und Pseudo-Dokus zu beteiligen, deutlich ab. Beispielhaft fiir viele ähnlich lautende Auskünfte hier zwei Ausschnitte aus einem Interview mit einer Polizeipressestelle. Der Interviewte antwortet auf die Frage, welche Fernsehformate fiir die Polizei ansprechend erscheinen: "Wir haben auch schon hier ein Format gemacht fiir die ARD-Reportage ne halbe Stunde. Da waren Dreharbeiten von vier Wochen, das is auch ne super Reportage gewordn draus." (Interview P225) Und: "Achtung Kontrolle, sowas sieht man natürlich, machen wir ungeme, weil Situationen da entstehen können, die einmal schlecht fiir die Polizei sein können und auch schlecht fiir das Gegenüber sein können . Aus welchem Grund auch immer. Und das wird sofort aufgenommen." (Interview P225) Die bestätigt die Tendenz zur Boulevardisierung auch ursprünglich seriöser Themen (siehe Beitrag EnglertlRoslon Zapp und Bidlo/Englert in diesem Buch).
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8. Verdichtung und Ausblick Die Datenauswertung erlaubt aus unserer Sicht folgende Aussagen: Die Fernsehsendungen zur Inneren Sicherheit sind kein Beleg für eine grundsätzliche Umstellung von Informativität zu Boulevardismus im Bereich der öffentlich-rechtlichen Sender. Auch heute noch sind die eher boulevardesken Sendungen wie DokuSoaps oder Pseudo-Dokus eher in den privaten Sendern anzutreffen. Die öffentlich-rechtlichen Sender verzichten bisher völlig aufdiese Formate bei der Darstellung der Inneren Sicherheit. Allerdings bedeutet dies nicht, dass die öffentlich-rechtlichen Sender unabhängig von dem Geschehen des Fernsehmarktes agieren. Auch sie müssen aufEinschaltquoten achten, alleine um ihre staatliche Subventionierung in Form der GEZGebühren rechtfertigen zu können. Der Konkurrenzdruck ist mit dem Erscheinen der privaten Sender Anfang der 80er Jahre gestiegen (Meyn 2004). Dass sich die öffentlich-rechtlichen Sender bezüglich der Formate von Sendungen an den privaten orientieren, zeigt sich beispielsweise an Quizsendungen (zum Beispiel Das Quiz mit Jörg Pilawa aufARD 2001), die in der Form bis zu diesem Zeitpunkt lediglich aufden Privaten (Wer wird Millionär aufRTL 1999) gesendet worden sind. Im Bereich der Inneren Sicherheit, der auf den privaten Sendern aber mit seinen Doku-Soaps und Pseudo-Dokus vertreten ist, trifft das für die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten nicht zu. Und auch die Tendenz zu boulevardeskeren Themen, die Muckenhaupt zum Beispiel für die TV Nachrichtenerstattung (Muckenhaupt 1998) und Klein für die Kulturmagazine (Klein 1998) bei öffentlich-rechtlichen Sendern festgestellt haben, können wir in der erfolgten Analyse für den Bereich Innere Sicherheit nicht bestätigen. Eine Tendenz, die sich allerdings für die privaten Sender an den Ergebnissen beobachten lässt, ist, dass Hybridformate des Reality-TV und der Scripted Reality zunehmen und dass die Medien eine Welt zeigen, die vorgibt, mit der eigenen etwas zu tun zu haben und aufeinmal den Alltag von Jedermann zum Thema macht. Während in den 1990er Jahren noch die Talkshows das Nachmittagprogramm der privaten Sender dominierten und dann von den Gerichtsshows zu Beginn des neuen Jahrtausends abgelöst wurden, macht Scripted Reality heute einen sehr großen Teil des Nachmittagsprogramms bei den Privatsendern aus (zum Beispiel aufRTL: Mitten im Leben, Verdachtsfälle, Familien im Brennpunkt, Die Schulermittler und Sat.l Niedrig und Kuhnt und auf ProSieben We are family). Zu keinem Zeitpunkt des Tages findet man ein Format der Scripted Reality (Pseudo-Doku) auf den öffentlich-rechtlichen Sendern. So prägt diese Sendungsangebot am Nachmittag ein bestimmtes Bild der privaten Sender.
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Für den einzelnen Zuschauer kann dies Unklarheit und Unsicherheit im Bezug auf den Realitätsgehalt von Dokumentationen mit sich bringen. So wird mancher vielleicht nicht mehr mit Sicherheit zwischen Pseudo-Doku, Doku-Soap und Dokumentation (siehe ebenso Programmbeschreibung in den Fernsehzeitschriften) unterscheiden können. Ob die Entwicklung, dass der Unterhaltungswert den Wahrheitsgehalt einer Sendung ersetzen kann, weiter geht, kann man für die untersuchten Sendungen aus dem Bereich der Scripted Reality und des Reality-TVzum Thema der Inneren Sicherheit nur vermuten. Allerdings ist klar, dass das Medium Fernsehen mit diesen Formaten entschieden auf den öffentlichen Diskurs der Inneren Sicherheit einwirkt, was im Besonderen die Darstellung von Innerer Sicherheit on air betrifft, allerdings auch offair zu beobachten ist (Reichertz 2010: 245). Ohne Zweifel hat neben den klassischen Fernsehformaten Dokumentation und Spielfilm/Serie (Krimi), die sich bislang vor allem mit dem Thema der Inneren Sicherheit in Deutschland beschäftigt haben, ein neues und wirkmächtiges Format etabliert - nämlich das Format Ebene des Scripted Reality und Reality-TV. Wie wirkmächtig dieses neue Format allerdings genau ist und welche Folgen es für die Innere Sicherheit hat, bedarf noch eingehender Analysen.
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Wenn Watchdogs CRITItainment betreiben. Der ,Sheriff unter den Medien' oder die Boulevardisierung der Kritik Carina Jasmin Englert / Phillip Roslon
1. Einleitung
Die zunehmende Boulevardisierung und Entertainisierung des Informationssektors im Fernsehen ist heute eine weitverbreitete Praxis in der Medienlandschaft (SiegertJMeier/Trappel2005: 483; auch Hallenberger/Nieland 2005a und b). Nicht nur die Unterscheidung zwischen fiktionalen und non-fiktionalen Inhalten des Fernsehens wird dadurch erschwert (Karstens/Schütte 2010: 150f.). Diese Entwicklung hat auch Konsequenzen für einst als rein ,medienkritisch' geltende Fernsehsendungen, die den Qualitätsjoumalismus (in Abgrenzung zum Boulevardjoumalismus; im Speziellen zu diesem Unterschied auch Neissl/Siegert/Renger 2001; zum Qualitätsjoumalismus u.a. BecklReineckiSchubert 2010) im Auge behalten möchten. Nicht nur typische Unterhaltungsformate des Fernsehens, wie Spielfilme und Serien, weisen bis zu einem bestimmten Grad die typischen Merkmale der Boulevardisierung auf, sondern auch sich medienkritisch verstehende Fernsehformate zeigen beispielsweise eine generelle Dramatisierung des Gezeigten sowie Personalisierung und Emotionalisierung. Dies lässt sich nicht zuletzt auf die ökonomischen Umstände zurückführen, welche vor allem seit dem Entstehen des dualen Fernsehsystems in den 1980er Jahren zunehmend den Druck auf private wie öffentlich-rechtliche Fernsehsender ansteigen ließ (siehe auch Englert TV-Markt in diesem Band). Hierdurch wurde es für die untereinander konkurrierenden Fernsehsender und -sendungen zunehmend schwieriger, ihre Marktanteile zu erhöhen respektive beizubehalten. Denn die Bedürfnisse der Zuschauenden müssen immer besser befriedigt werden (Karstens/Schütte 2010: 185). Unterhaltung ist in diesem Kontext zu einem wichtigen ,Gut' geworden. Besonders deutlich wird diese Entwicklung im Fernsehsektor, denn hier machen die Medien weder vor der Wissenschaft, noch vor ,ernsteren' gesellschaftlichen Themen wie Innerer Sicherheit halt (Bidlo/Englert 2009 und Bidlo/Englert in diesem Band). Der Trend: Einstehen für den Qualitätsjoumalismus - aber bitte mit Unterhaltungswert. O. Bidlo et al. (Hrsg.), Securitainment, DOI 10.1007/978-3-531-93077-0_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Ein Beispiel für diesen Trend ist das seit 2002 vom NDR (Norddeutscher Rundfunk) produzierte Medienmagazin Zapp. Dieses beobachtet, bewertet und kritisiert gegebenenfalls - nach sendungseigenem Anspruch - die Medienlandschaft und deren Dynamiken in Deutschland.' Vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Entwicklung der Medienlandschaft stellt sich uns im speziellen Fall von Zapp' als Beobachter - nahezu als ,Sheriffunter den Medien' oder auch als ,watchdog' über das Mediengeschehen (Karaca 2003: 48)3 die Frage: Steht die Forderung nach Qualitätsjournalismus im Sinne eines ,medialen watchdogs' im Widerspruch zu dem Kritisieren von Verstößen gegen den Qualitätsjournalismus mit Hilfe boulevardesker Elemente?
2. Der ,Kampf' um die Deutungshoheit im journalistischen Feld Das journalistische Feld ist gekennzeichnet durch Kämpfe um die Deutungshoheit, denn soziale Felder sind ,Kampffelder' (Bourdieu 1987b: 96), in denen es um die Wahrung oder die Veränderung der Kräfteverhältnisse geht. Dies gilt auch für die Deutungshoheit, das heißt dafür, ,wer den Ton angibt' . Die Sendung Zapp - Das Medienmagazin nimmt an diesem ,Kampf' im ,journalistischen Feld' teil. Sie ist eine Eigenproduktion des Fernsehsenders NDR (Norddeutscher Rundfunk) und wird seit 2002 dort ausgestrahlt. Wöchentlich läuft die Sendung hier von 23.05 Uhr bis 23.35 Uhr. Dabei bilden in der Regel drei bis vier Themen den Schwerpunkt der Sendung, die entweder von der Moderatorin Anja Reschke oder ihrer Kollegin Inka Schneider eingeleitet, kommentiert und in diesem Zuge nahezu immer, wenn auch implizit, bewertet werden. Dies geschieht im Anschluss an einen einfiihrenden Sendungsvorspann, nachdem eine Übersicht über die in der Sendung zu behandelnden Themen erfolgt ist. Zapp wirft Fragen zu der nach ,Zapp-Maßstäben' ,richtigen' Vorgehensweise bezüglich der Bericht-
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Bereits das Lexem ,Zapp' weist in seiner Bedeutung ,durch das Fernsehprogramm schalten', auch ,Channel-Hopping', auf die Tätigkeit der Sendung hin, das deutsche Mediengeschehen zu beobachten (zum Channel-Hopping u.a. FuchsIHennig-Thurau 2010; Müller-Rüster 2010 oder auch StoltelHaubrich 2004). Zapp eignet sich gut als Beispiel im Kontext des Boulevardisierungstrends und der watchdogThematik, da in dieser Sendung zum einen emotional aufgeladene Bilder medienbedingt (Fernsehen) eine zentrale Rolle in der Setzung emotionaler Stimuli spielen (LfM 2010) . Zum anderen, da Zapp die Boulevardisierung der journalistischenArbeit selbst thematisiert oder besser: kritisiert, indem die Sendungen eigene Maßstäbe zur Messung von ,richtigem' journalistischem Vorgehen setzt. Karaca versteht die Presse als eine Art ,watchdog' (Wachhund) über die Demokratie. Diese Beschreibung lässt sich allerdings auch auf die Medienlandschaft übertragen. Hier ,wachen' Medien über das Mediengeschehen und treten fiir den Qualitätsjournalismus ein (ebd.).
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erstattung über journalistisch relevante Themen aufund blickt wöchentlich hinter die ,,[...] Kulissen von Zeitungen, Radio, Fernsehen und Internet und [behält] die journalistische Arbeit im Auge [...]" (NDR 2010). Das heißt, Zapp begibt sich damit auf eine Art Metaebene und blickt selbst, als Fernsehsendung, unter anderem auf das Fernsehprogramm. Die Themen fallen nach sendungseigenen Kriterien in folgende Kategorien: Medien und Politik/Wirtschaft, Zeitungen und Zeitschriften, Film/Fernsehen/Radio und Internet. 2.1 Die Selbstdarstellung Zapps als, watchdog'
Das Medienmagazin versteht sich laut seines Internetauftrittes auf der Homepage des NDR als das "einzige Medienmagazin in der ARD" (NDR 2010), also der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland. Hier finden sich Informationen zur Moderation und zur Redaktion sowie zu den "Machern" (NDR 2010) der Sendung. Man erfährt, was Zapp darstellt und tut, es werden Auszeichnungen aufgelistet, und es wird ein Archiv von gesendeten Zapp-Beiträgen, unterteilt in vier Themenkategorien (wie oben beschrieben) zur Verfiigung gestellt. Zapp versteht sich selbst als einzigartiges Format, das den Überblick über die gesamte Medienlandschaft besitzt und nach eigenen Angaben "beobachtet, hinterfragt, erklärt und bewertet" (NDR 2010). Allein an dieser Selbstbeschreibung wird schnell deutlich, dass sich Zapp nicht einfach als Institution oder Vermittler respektive Bote von Nachrichten versteht, sondern eine eigene Position bezieht und fiir den Qualitätsjournalismus ,kämpft' im Sinne eines ,medialen watchdogs' . Bei dem Terminus,watchdog' sind drei Bedeutungskonnotationen zu berücksichtigen. Es existieren zum ersten ,community watchdogs', die durch lokale,Überwachung' des Geschehens Nachbarschaftspolitik betreiben." Zum zweiten ,global watchdogs' wie Wikileaks (hierzu auch Riemann Wikileaks in diesem Band), die global Politik betreiben. Darüber hinaus existieren zum dritten ,media watchdogs', die das eigene ,journalistische Feld' überwachen, dieses in ,gut' und ,böse' teilen und eine Art wertende Instanz darstellen. Zapp ist solch ein ,medialer bzw. media watchdog'. Zapp verspricht des Weiteren Blicke hinter die Kulissen von Zeitung, Radio, Fernsehen und Internet und will gleichzeitig die journalistische Arbeit "im Auge behalten" (NDR 2010) und im Sinne eines ,medialen watchdogs' das Mediengeschehen ,überwachen' . Diese so aufgeriffenen Einsichten würden sonst im Verborgenen bleiben, müssen jedoch, nach Ansicht von Zapp, gezeigt werden. Zapp be4
Der Unterschied zur vierten Gewalt und dem .community watchdog' besteht darin, dass die Medien als vierte Gewalt on air arbeiten, also im Medium, und dass die .community watchdogs' offair, also nicht im Medium arbeiten.
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richtet ,,[...] über die komplexen Zusammenhänge innerhalb der Medienlandschaft [...]" (NDR 2010) und vermittelt diese, wie bereits erwähnt, "mit Hilfe von unterhaltenden Elementen" (ebd.) und richtet sich so auch an diejenigen, die sonst über weniger Hintergrundinformationen verfügen (ebd.). Zapp packt mit seiner Kritik .Jieiße Eisen an" (ebd.), das heißt Zapp ,traut sich' auch diejenigen (Tabu-)Themen zu behandeln, die sonst nicht in der Medienöffentlichkeit behandelt werden. Diese explizite Betonung der ,kritischen' Stellungnahme zu anderen Sendungen, Sendern und deren Verantwortlichen zieht sich durch die komplette Internetvorstellung von Zapp. Zwar müssen sich die privaten Sender der Kritik stellen, allerdings wird ihnen auch ebenso .Pionierarbeit" (NDR 2010) zugesprochen. Auch öffentlich-rechtliche Sender werden vor Kritik nicht verschont. Während den privaten Sendern die Erfolge des Frühstücksfernsehens und der Boulevardmagazine oder die Renaissance der Quiz-Shows zugeschrieben werden, wird gleichzeitig auf Missstände in den eigenen Reihen hingewiesen: es wird von Schleichwerbung, dubiosen Verträgen und fehlender Distanz von ARD-Sportjournalisten berichtet (ebd.). Außerdem wird laut Zapp das Herangehen von einzelnen Journalisten einer kritischen Prüfung unterzogen. "Mangelnde Recherche" (NDR 2010) und nicht überprüfter Wahrheitsgehalt (ebd.) gehören Zapp zufolge zu den Hauptproblemen der journalistischen Arbeit: ,,[e]s wird inszeniert" (NDR 2010), darüber hinaus fehlt "die kritische Distanz" (ebd.). Dem werden "mutige Journalisten" (ebd.) gegenübergestellt, die sogar "Todesdrohungen zum Trotz" (ebd.) weiterhin kritisch berichten. Der "mutige Journalist" (ebd.) ist es auch, der im Inland gegen Rechtsradikalismus vorgeht und dem Druck von Unternehmen, Verlagen und Politikern standhält, sowie im Ausland für Pressefreiheit, gegen Zensur und Ungerechtigkeit kämpft (ebd.). An dieser Stelle spielen Umschreibungen aus dem Kontext von Werten und Moral eine entscheidende Rolle. Die Reaktion auf solch eine Vorgehensweise der Sendung Zapp zeigt Wirkung. Eine Auflistung der Auszeichnungen auf der Homepage, wie zum Beispiel den Sonderpreis des Weißen Rings 2009 für den Beitrag des Anschlags von Winnenden aus Sicht der Opfer,' 2.2 Die boulevardesken Elemente von Zapp Wie sich die konkrete Vorgehensweise von Zapp gestaltet, ein Sendungsimage zur kritischen Betrachtung von Medieninhalten trotz der Verwendung boulevardesker Elemente in der Sendung zu stilisieren, wird im nachstehenden als Zusammenfassung aufgegriffen. Hierbei wird das Sendungsimage von Zapp näher untersucht, 5
Einen Anteil an der Selbstdarstellung von Zapp im Internet haben auch das Sendungsarchiv und der eigens für die Sendung geöffnete Zuschauer-Blag Zappenduster. Hier reagieren die ZappModeratoren aufAnregungen und Kritik der Zuschauenden an der Sendung.
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wobei die Ausführungen von Eric Karstens und Jörg Schütte (Karstens/Schütte 2010) grundlegend sind. Abbildung 1: Das Logo der Sendung Zapp
Dem Logo einer Sendung kommt ein hoher Status für das Image zu, wie Karstens und Schütte in ihren Erläuterungen zur Produktion von Fernsehsendungen betonen (Karstens/Schütte 2010: 196, siehe auch Reichertz/Englert 2010). Da ein Sendungsimage immer auch zum Vorgehen der Sendung passen sollte, ist ein näherer Blick auf die Umsetzung des Logos sinnvoll, um zu überprüfen, ob sich hier bereits erste Hinweise auf das Image von Zapp finden lassen. Es liegt nahe, bei der näheren Betrachtung des Logos vor dem Hintergrundwissen um die Vorgehensweise von Zapp, die Sendung als einen ‚kritischen Videorekorder‘ zu bezeichnen. Diese Deutung wird darüber hinaus durch die Verwendung des Play-Symbols im Online-Beitragsarchiv unterstützt, da es hier tatsächlich die Funktion eines ‚Buttons‘ übernimmt, der angeklickt werden muss, um einen Beitrag online anzusehen. Denn Zapp gibt in jeder Sendung Einblicke in Mediengeschehnisse, die sich in der jeweils vergangenen Woche ereignet haben. Zapp zeichnet somit eine Woche lang, von der Sendung als signifikant charakterisierte Ereignisse des Mediengeschehens, auf und spielt diese dem Zuschauer vor. Dies gibt an dieser Stelle bereits einen ersten Hinweis auf die Tätigkeit von Zapp: es wird etwas im Fernsehen betrachtet (beobachtet), etwas festgehalten (aufgenommen) und es wird etwas vor Augen geführt, indem es ‚abgespielt‘ wird. Auf diese Art und Weise wird das Sendungsimage bereits im Logo repräsentiert: die Sendung Zapp agiert im medialen Feld, indem sie kritisiert, indem sie sich als ‚medialer Sheriff‘ zeigt, der über das Mediengeschehen wacht.6 6
Die Bildinterpretation des Zapp-Logos vor dem Hintergrund der hermeneutischen Wissenssoziologie (Reichertz 1992: 146ff.) ist an dieser Stelle lediglich als Quintessenz einer ausführlicheren
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Der VOISJlllDIl der Sendungbestätigt den bisher durch das Logo gewonnen Eindruck. des Sendungsimages: er zeigt Szenendes (alltäglichen) Geschehens aus dem. medialenFeld, die von. Zapp beobachtet werden. Beispielsweise sind zu Beginn desVorspanns Fotografenam rotenTeppich zu erkennen,eine Reihe von aufgebauten TV-Kameras, sowie eine Vielzahl von Mikrophonen:
Abbildung 2: Der Sendungsvorspann von Zapp
Hier zeigt sich bereits die von Zapp eingenommene Perspektive auf das Mediengeschehen. Man nimmt die Medien in den Blick. während diese die Welt in den Blick nehmen. Zapp platziert sich zwar imjoumalistischen Feld, aber der Blick richtet sich nicht auf die Kulissen. Vielmehr betrachtet Zapp das Geschehen hinter den Kulissen und besitzt damit eine eigene Perspektive auf dasGeschehen. Am Ende dieser Bildsequenzen wird eine nicht zu erkennende Person gezeigt, die, auf die Kamem zulaufend, ihre Hand vor diese hält Zapp filmt auch dort, wo Menschen nicht beobachtet werden möchten. Zapp scheut sich also nicht, das aufzudecken und öffentlich zu machen, was in der Regel nicht für die ,Öffentlichkeit' bestimmt ist. Der Vorspann der Sendungbestätigt somit die Deutung, Zapp stili-
siere sich selbst als ,medialen Sheriff". BildanBlyae zu verstehen, diedemGesamtverDhrenzwarniebt gerechtwerdenkann,aber dennoch ein wichtigelI Resnltltunserer Beobachtung=J. im Hinblick auf diem analysieMnde Beispielfolge von zapp dameUt. DieAutore.n sind sieh hierbei darüber im Klaren, dassdiesesErgebnis niclrt die ..Wrr1dichkeit eines Bildes" (Roid1ertz 1992; 146) zeigt. Dies stellt auch nieht das Zio1 dor wUsetlSl!loziologischen Forsclnmg dar, sondern es geht hier vielmcbr IDD. die Betrachtung der ..BOZiale[n] RcaIitIt" (Rcichertz 1992: 146).
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Unterstützt wird diese Interpretation durch die Anmoderation der jeweiligen Moderatorin vor Beginn der eigentlichen Sendungsbeiträge. Dies kann beispielsweise dadurch geschehen, dass die Rezipienten unmittelbar in die Moderation mittels direkten Ansprechens des Zuschauenden einbezogen werden, beispielsweise durch Verwendung eines gemeinschaftsstiftenden ,wir alle' . Zapp als ,medialer Sheriff' , zeichnet das Geschehen in der Medienlandschaft nicht nur auf, sondern Zapp bewertet und macht Missstände für seine Rezipierenden öffentlich. Hierdurch teilt Zapp die Medienlandschaft in ,gut' und ,böse' und rechnet sich dabei selbst zu den ,Guten' - eine Praxis, die in den Medien, wie Fernsehen, vor allem im Kontext politischer Öffentlichkeit ein gängiges Mittel im .Kampf' zwischen den Feldakteuren des journalistischen Feldes um Deutungshoheit,journalistische Qualität und ökonomischen Vorteil beispielsweise in Form von Einschaltquoten darstellt (Bourdieu 1998: 57f.; zum ökonomischen Vorteil auch Englert TV-Markt in diesem Band). Bei näherer Betrachtung der Sendung wird jedoch auch deutlich, dass sich Zapp boulevardesker Stilmittel bedient. Während unterschiedlichen Medienvertretern durch die Sendung Zapp zugeschrieben wird, dass sie ,reißerisch arbeiten', kommt der Interpret nicht umhin, sich zu fragen, ob Zapp durch Personalisierungen, Schwarz-Weiß-Malerei, Stilisierungen, Emotionalisierungen, Dramatisierungen und durch die gesamte Inszenierung der Beiträge nicht die Form der Kritik ebenso boulevardesk werden lässt. Sendungsanalysen, die wir hier nicht dokumentieren dürfen, bestätigen dies,? Zur Analyse der Boulevardisierungstendenz respektive der Verwendung unterhaltender Elemente in der Berichterstattung von Zapp wird auf die Merkmale der Boulevardisierung von JosefKlein zurück zurückgegriffen. Klein betont vor allem die Aspekte der Emotionalisierung, Personalisierung, Dramatisierung, Ästhetisierung bis hin zur Verkitschung und Verminderung von Distanz (Klein 1998: 103).8 Diese werden an dieser Stelle um die Erläuterungen Karpenstein-Eßbachs" zur Inszenierung ergänzt: die Tendenz zur Schwarz-Weiß-Malerei in der Beschreibung von Personen und Sachverhalten und um die sich daraus ergebende Stilisierung. Ferner ist an
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Diese Sendungsanalyse können wir hier leider nicht anfiihren, da die in dem Magazin kritisch beleuchtete Person im Fall einer Publikation mit rechtlichen Konsequenzen gedroht hat. Klein stellt den von ihm vorgeschlagenen Aspekten der Boulevardisierung die Konversationsmaximen der Quantität, Qualität, Relevanz und Modalität von Herbert P. Grice (Grice 1993: 249ff.) gegenüber, nach denen sich die Berichterstattung seiner Meinung nach richten sollte. Die Boulevardisierung wirkt sich nach Klein negativ auf die Informativität, Fundiertheit, Wahrhaftigkeit, Relevanz und Klarheit aus (Klein 1998: 103). Christa Karpenstein-Eßbach erläutert die Aufgabe der Inszenierung wie folgt: "Inszenierungen zielen auf alltagsenthebende, gesteigerte Erfahrungen des Interessanten bzw. des interessant Gemachten." (Karpenstein-Eßbach 2004: 205)
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dieser Stelle die Definition der Boulevardisierung von Marcus Kleiner und JörgUwe Nieland wichtig: Boulevardisierung zeichnet sich durch [... ] zynische und ironisierende Kommentare, die eine bestimmte Diskurs-Hippness unterstreichen wollen [aus]. Diese inhaltlichen Boulevardisierungstendenzen werden zudem sprachlich und optisch unterstützt, etwa durch die Annähenmgen an die Umgangssprache, Verwendung vieler Photos, vergrößerte Überschriften sowie plakative Aufmacher und Eye-Catcher. (Kleiner, Nieland 2004: 2)
Setzt man dieses Verständnis von ,Boulevardisierung' als Analysegrundlage, zeigt sich: Auch bei Zapp wird Kritik unterhaltsam in Szene gesetzt, wie Zapp selbst bestätigt: "mit Hilfe von unterhaltenden Elementen" (ebd.) wird das Geschehen beschrieben und Kritik geübt. Angesichts der Beliebtheit der ,-tainment'-Wortschöpfungen (unter anderem Wittwen 1995: Infotainment, Dörner 2005: Politainment: Bidlo/Englert 2009: Securitainment) könnte man Zapp auch als ,Crititainment' bezeichnen.
3. Crititainment Der Terminus ,Crititainment' ist ein bereits im medialen Wissenschaftsdiskurs von Gerd Hallenberger und Jörg-Uwe Nieland eingeführter Terminus, der zur Beschreibung einer speziellen Programmform herangezogen wird: Hier triffi ein dominant unterhaltungsorientiertes Fernsehen, dessen Gegenstand in hohem Maße andere Medieninhalte sind, auf eine in allgemeineren populärkulturellen Traditionen verankerte Lust an höchst subjektiver Bewertung, die selbst wieder Objekt neuer Unterhaltung sein kann. (Hallenberger, Nieland 2005a: 126)
Dabei verstehen Hallenberger und Nieland Oliver Kalkofes Mattscheibe als Vorreiter dieser Programmform und führen weitere Bespiele, wie Die 100 nervigsten ... auf ProSieben oder Unsere Besten im ZDF an. Hierbei zeigt sich der Trend zum Ranking von unterschiedlichen Fernsehinhalten, die neben Musik auch beispielsweise Personen des öffentlichen Lebens betreffen können. Während diese Sendungen aus dem Unterhaltungssektor des Fernsehens stammen (,Entertainment') und entweder Ranglisten erstellen oder auf satirische Weise bewerten respektive kritisieren (,criticism'), entstammt Zapp dem Informationssektor und ist ursprünglich mehr den ,Informativen' (Rolly 2004: 54) zuzurechnen. Trotz oberflächlicher Gemeinsamkeiten unterscheidet sich Zapp signifikant von den von Hallenberger und Nieland angeführten Beispielen. Diese Differenzierung betrifft - betrachtet man den aktuellen Fernsehdiskurs - zum Beispiel die satirische Fernsehsendung Switch auf ProSieben im Vergleich zu Zapp. Auf der
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einen Seite gibt es Switch, das ,,[...] mit den Mitteln der Verkleidung, der karikierenden Imitation und der satirischen Kommentierung gesendetes Fernsehen [...] lächerlich macht [...]" (HallenbergerlNieland 2005a: 127) und aufdiese Weise Kritik als Unterhaltungsobjekt nutzt (Kritik als satirisch aufbereitete Unterhaltung im Sinne des critiTAINMENT nach der Auffassung von Hallenberger und Nieland'"; hierzu auch Jäckel 2008). Auf der anderen Seite befindet sich Zapp: hier richtet sich die Kritik auf tatsächliche Missstände in der Medienlandschaft, die anhand unterhaltender Elemente zuschauerwirksam umgesetzt wird (unterhaltsam aufbereitete Kritik im Sinne des CRiTItainment). Die Begriffe differieren damit in erster Linie aufgrund der unterschiedlichen Schwerpunktsetzung. Außerdem unterscheiden sich beide Begrifflichkeiten in ihrer Perspektive auf das Mediengeschehen. Switch blickt lediglich auf die Kulissen des Fernsehgeschehens, also auf das, was auch der Zuschauer sehen kann und macht genau dies dannzum Thema. Bestandteil des ,Crititainments' ist also gemäß Hallenberger und Nieland das, was sich ,auf der Bühne' abspielt. Zapp wirft dagegen auch einen Blick hinter die Kulissen, auf das, was sich ,hinter der Bühne' abspielt und kann auf diese Weise beobachten, wenn ,Medien' auf der Hinterbühne aus der Rolle fallen (Goffrnan 2008). Zusammenfassend lässt sich aus unserer Sicht festhalten: ,CRITItainment' meint, dass Sendungen aus dem Informationssektor (die ,Informativen') mit unterhaltenden Elementen am Mediengeschehen Kritik üben".
4. Ein genereller Trend zum CRITItainment? Vor dem Hintergrund der beschriebenen Mechanismen ist es verständlich, dass auch vorgeblich ,seriöse' Fernsehformate vor der Boulevardisierung nicht haltmachen - auch weil der Konkurrenzdruck (Saxer 2003) vor allem für die öffentlichrechtlichen Sendern und Sendungen seit der Einfiihrung des dualen Fernsehsystems steigt. Denn auch die Mitspieler im ,journalistischen Feld' (Bourdieu 1998) stehen in einem Konkurrenzverhältnis, welches sich durch Marktanteile, das kollektive Kapital angesehener Journalisten oder den Stellenwert bei Werbekunden konstituiert (Bourdieu 1998: 56). Die aus diesem Konkurrenzverhältnis resultierenden Kräfteverhältnisse sind von ,außen' nicht direkt ersichtlich, da sie ,indirekt' wirken. Das bedeutet: ,,[...] wer verstehen will [...], [muss] die Gesamtheit der objektiven Kräfteverhältnisse berücksichtigen [...], aus denen die Struktur des Felds besteht." (Bourdieu 1998: 56) Denn die einzelnen Feldangehörigen müssen 10 11
Ähnlich agiert auch Harald Schmidt (Reichertz 2007: 271-290). Zur kritischen Reflexion der Medien siehe grundsätzlich BeckerIWehner2006.
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ihren Stand im Feld nicht nur legitimieren, sondern sie müssen sich auch in eine ihnen gewinnbringende ökonomische Situation bringen, um überleben zu können. Dies bedeutet weiter, dass das ,Überleben' imjoumalistischen Feld zum einen nicht ,lediglich' von der Macht der gesamtökonomischen Verhältnisse (und damit einer Macht, die außerhalb des Feldes liegt, Bourdieu 1998: 82ft) ausgeht, sondern auch von den einzelnen Mitgliedern des Feldes, die aufgrund des Konkurrenzverhältnisses untereinander gezwungen sind, unter Orientierung aneinander zu agieren. Dies schließt jedoch nicht aus, dass durchaus auch ein einzelner Feldteilnehmer wie Zapp imstande ist, etwas zu bewirken, denn ein [... ] Feld ist ein strukturierter gesellschaftlicher Raum, ein Kräftefeld - es gibt Herrscher und Beherrschte, es gibt konstante, ständige Ungleichheitsbeziehungen in diesem Raum-, und es ist auch eine Arena, in der um Veränderung oder Erhaltung dieses Kräftefeldes gekämpft wird. In diesem Universum bringt jeder die (relative) Kraft, über die er verfügt und die seine Position im Feld und folglich seine Strategien bestimmt in die Konkurrenz mit den anderen ein. (Bourdieu 1998: 57)
Auch Zapp steht in Konkurrenz zu anderen Akteuren imjournalistischen Feld, die die Meinung Zapps teilen (wie weiter unten in den angeführten Internetbeispielen von RP-online und sueddeutsche.de deutlich wird) oder nicht (die in der Sendung kritisierten Medienvertreter). Medien sind in diesem Fall Akteure, die aktiv in das Geschehen eingreifen und etwas verändern (zum AkteursbegrifI auch BidJo und Reichertz in diesem Band). Zapp bezieht den Zuschauer in die eigene Sichtweise ein (,wir') und spaltet gleichzeitige das journalistische Feld in ,gut und böse', wobei Zapp sich von den,bösen' Feldakteuren abgrenzt. Zapp, verstanden als,watchdog' und so als Kontrollinstanz im journalistischen Feld, bringt auf diese Weise Dynamik in das Feld. Verstärkt wird die Argumentationsweise von Zapp in diesem Zusammenhang durch gekonnte Selbststilisierung in Form von angeführten Auszeichnungen der Sendung auf der Zapp eigenen Homepage und das Hervorheben des Einsatzes für die ,richtigen' moralischen Wertrnaßstäbe (deutscher Pressekodex"). Doch durch diese Form der Selbststilisierung ist erst mal noch nicht viel gewonnen. Erst durch die Stärkung der eigenen Position durch andere Akteure, die sich im journalistischen Feld beteiligen, wie die Wortbeiträge von Experten in der Sendung, die Zapp in seiner Vorgehensweise der eigenen Perspektive bestärken, gewinnt Zapps Kritikposition an Legitimation. Auch durch das Aufgreifen der von Zapp angeregten Themen durch andere Feldakteure (zum Beispiel aus Politik, Wirtschaft und Medien), die sich auf Zapp berufen, wird die Position Zapps als Kritiker in Medienlandschaft von jenen legitimiert. 12
Der deutsche Pressekodex ist den 1970 Jahren vom deutschen Presserat und den Presseverbänden beschlossen worden. Die einzelnen Richtlinien sind auch unter http://www.presserat.info/inhalt/ der-pressekodex/pressekodex.html zu finden.
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Bourdieu vertritt die These, dass einzelne mächtige Unternehmen im Feld der Wirtschaftsunternehmen den Wirtschaftsraum komplett neu gestalten können, was auch fiir die Fernsehlandschaft gilt (Bourdieu 1998: 57) und das, obwohl das j ournalistische Feld mehr als andere Felder von externen Strukturverhältnissen, wie beispielsweise von der technischen Entwicklung oder von dem wirtschaftlichen Marktgeschehen abhängig ist (ebd.: 75). Darüber hinaus sind jegliche Kommunikationsbeziehungen gleichermaßen Machtbeziehungen (Bourdieu 2005: 81). Dies kann ebenso auf die Kommunikationsbeziehung zwischen einer Fernsehsendung, oder konkreter, dessen Moderation und den Zuschauern angewendet werden mit dem Unterschied, dass der Kommunikation ein technisches Medium zwischengeschaltet ist und dadurch keine direkte Reziprozität möglich wird. Dennoch gelingt es der Zapp-Moderatorin durch ihre Argumentationsweise (wie oben erläutert) den Zuschauenden durch direkte Ansprache und der Sensibilisierung fiir journalistisches Fehlverhalten anzusprechen und eine Art Machtbeziehung herzustellen. In dieser Machtbeziehung fordert Zapp durch sein Agieren (durch das Hinweisen aufjournalistisches Fehlverhalten bei ,anderen' Medienvertretern) weiteres Handeln heraus. Beispielsweise fordert man den Zuschauenden dazu auf, zwischen ,richtiger' und ,falscher' Vorgehensweise in der journalistischen Berichterstattung zu differenzieren, andere Medienvertreter dazu, sich ,richtig' zu verhalten, sich von den ,Bösen' abzugrenzen und das Fehlverhalten von journalistischen Vertretern nicht zu akzeptieren, sondern ebenso wie Zapp (zum Beispiel in Form von Zeitungsartikeln in Zeitungen und Zeitschriften oder in Fernsehsendungen) zu kritisieren. Etwas, dass Zapp nicht immer, aber manchmal erreicht: einige Akteure des journalistischen Feldes greifen die von Zapp angebrachte Kritik in Form von Beiträgen im Fernsehen und Onlinesparten von Zeitungen auf und unterstützen diese. Diese Vertreter des journalistischen Feldes akzeptieren die machtvolle Position von Zapp als ,Sheriff unter den Medien', der das Geschehen im journalistischen Feld nicht nur beobachtet, sondern aufgreift und kritisiert. Zapp fordert so eine Reaktion anderer Teilnehmer des journalistischen Feldes heraus, sei dies beabsichtigt oder nicht - eines jedoch ist klar: Zapps Kritik übt in gewisser Weise Macht aus, was vor allem dadurch möglich wird, dass andere mediale Vertreter die Position Zapps durch ihre Reaktion legitimieren, trotz unterhaltsamer Elemente beziehungsweise Tendenzen zur Boulevardisierung der Sendung Zapp. Dass die Boulevardisierung mittlerweile ebenso die einst rein ,seriösen' Themen und Fernsehsendungen, auch die der öffentlich-rechtlichen Sender erreicht hat, ist unstrittig (siehe auch Muckenhaupt 1998: 122ff.). Dies gilt auch fiir den kritischen Blick auf die Akteure im journalistischen Feld, in dem Kritik zur Unterhaltung wird: Information und Unterhaltung - Boulevardisierung und Kritik
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- schließen sich schon lange nicht mehr aus, sondern ergänzen sich (Reichertz/ Englert 2010), was in der Praxis des journalistischen Feldes bereits nicht ,nur' außer Frage zu stehen scheint, sondern sich - wie selbstverständlich - in den unterschiedlichsten Sendungsformaten vollzieht. Etwas auf unterhaltsame Weise zu kritisieren scheint daher völlig legitim in der Praxis des journalistischen Feldes.
5. Kritikiähigkeit und Boulevardisierung sind kein Widerspruch Dass die Stellung Zapps als ,medialer Sheriff' auch in der Praxis auf Akzeptanz trifft und auch eine gewisse Form von Macht ausübt, ist daraus ersichtlich, dass die Form der Kritik von Zapp tatsächliche Folgen hat. Denn unabhängig davon, ob die Kritik ernst zu nehmen ist oder nicht, ist bereits klar, dass sie ankommt und sich somit auf die Praxis auswirkt (Thomas- Theorem), denn es kommt zu Bewegungen beziehungsweise zu Veränderungen im Diskurs um die angemessene Form der Berichterstattung durch die Reaktionen anderer Pressevertreter (von Zeitungen und Onlineportalen). Dies lässt sich unter anderem an dem folgenden Beispiel belegen, in dem durch die Berichterstattung beziehungsweise durch das Aufdecken von Missständen in der journalistischen Praxis durch Zapp Reaktionen von Vertretern der Presse hervorgerufen werden. In der Zapp-Sendung vom 17. Juni 2009 deckt Zapp die Nebenverdienste von TV-Moderatoren des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aufund die Art und Weise, wie sie ihre Prominenz vermarkten, indem sie neben ihrer TV-Präsenz unter anderemfür Banken und Großunternehmen Firmenveranstaltungen moderieren oder die Leitung von Podiumsdiskussionen übernehmen. Diese Kritik ,in den eigenen Reihen' verstärkt die Glaubwürdigkeit des Formats zusätzlich. Zapps in der eigenen Sendung vorgetragene These in Form von Kommentierungen der Berichterstattung lautet, dass die Unabhängigkeit der Journalisten durch diese Nebentätigkeiten beeinflusst werden könnte, wenn sie in ihrem Hauptberuf als Journalist auch mal kritisch über das Unternehmen berichten müssten, mit dem sie kurz zuvor noch in einem Beschäftigungsverhältnis standen. Da sich die Honorare der Moderatoren auf mehrere tausend Euro belaufen, stellt sichfür Zapp die Frage nach der Käuflichkeit dieser Fernsehmoderatoren. Dieser Bericht hat erhebliche Wellen geschlagen: zahlreiche Internetseiten, Tageszeitungen und TV-Magazine haben über den vermeintlichen Skandal berichtet. Für Bild war er sogar eine Schlagzeile wert (Bild vom 19. Juni 2009).13 13
In den im Rahmen des DFG-Projekts mit Medien- und Polizeivertretem geführten Interviews ist immer wieder betont worden, dass sich die Bild-Zeitung als eine Art Leitmedium erwiesen hat, an dem sich eine Mehrheit der (Polizei-)Pressevertreter auf das hin orientiert bezüglich dessen, was als berichtenswert gilt.
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Bei all diesen Berichten wird immer auf die NDR-Sendung Zapp verwiesen und erklärt, dass sie es war, die hier aktiv gewesen ist und etwas aufgedeckt hat. Dies stärkt die Position Zapps erneut. Dadurch, dass Zapp auf bestimmte Missstände hingewiesen hat, erlangte etwas in der Medienlandschaft und damit in der Öffentlichkeit Präsenz und es zeigten sich auch über die beschriebenen Reaktionen der Medienlandschaft hinaus Folgen: Politiker mischen sich in die ursprünglich zwischen Medienvertretern geführte Diskussion um die Angemessenheit von Nebenverdiensten der TV-Sprecher ein und fordern, wie beispielsweise der damalige stellvertretende FDP-Vorsitzende Rainer Brüderle, eine Offenlegung der Zahlungen an Moderatoren (RP-Online 2009). Neben einer verpflichtenden Offenlegung von Nebeneinkünften lautete ein weiterer Vorschlag aus öffentlichen Reihen, dass bei den öffentlich-rechtlichen Fernsehsendern angestellte Moderatoren zukünftig einen Teil ihrer Nebeneinkünfte spenden sollen, wie die Süddeutsche Zeitung vom 23. Juni 2009 berichtet (Wiegand 2009). Dies zeigt, dass Zapp trotz unterhaltender Elemente in der eigenen Sendung im Diskurs der Medien als Referenzquelle für kritische Mediendiskussionen genannt wird und damit bis zu einem gewissen Grad Akzeptanz findet. Hieran wird deutlich, dass Zapp in dem Falle und durch die Kritik dieser Art eine gewisse "symbolische Macht" (Bourdieu 2005: 82)14 erworben hat, auch wenn nicht eindeutig geklärt werden kann, ob Zapp klaren Qualitätsjoumalismus betreibt. Die boulevardisierenden Elemente, welche die Kritik von Zapp in der Sendung veranschaulichen, verhindern nicht die Akzeptanz von Zapp als ,medialer Sheriff' beziehungsweise als ,watchdog'. Vielmehr verstärken die unterhaltsamen Elemente, dass die Kritik im Diskurs ,ankommt', ein Phänomen, dass sich besonders deutlich, aber nicht ausschließlich bei der Sendung Zapp - das Medienmagazin zeigt.
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"Die symbolische Macht ist eine Macht, die in dem Maße existiert, wie es ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen, sich Anerkennung zu verschaffen [...]." (Bourdieu 2005: 82)
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Reality-TV - ein Versuch, das Muster zu finden Jo Reichertz
1. Was Reality- TV mit den Südfrüchten verbindet Seit Jahren geistert ein Begriff durch die Medien- und Kommunikationswissenschaften, der auf den ersten Blick klar zu sein scheint. Doch schaut man genauer hin, dann verschwimmen schnell die Grenzen, dannlöst sich der Begriffauf, dann zerfließt er. Gemeint ist hier der Begriff des Reality-TV. Reality-TV weist in gewisser Hinsicht Ähnlichkeiten mit Südfrüchten auf nicht weil diese Art des Fernsehens wohlschmeckend oder gar gesund wäre. Nein, ähnlich wie bei Südfrüchten gibt es nämlich auch bei dem Reality-TV nicht etwas Bestimmtes, Festes, das bei näherer Betrachtung allen Formaten, die zum Reality-TV landläufig gezählt werden, gemeinsam wäre - etwas, das es rechtfertigen würde, einerseits Feigen, Bananen und Zitronen und andererseits die medienöffentliche Restaurierung eines Eigenheims, die Hilfe bei der Erziehung ,schwieriger' Kinder, die Bitte um öffentliche Verzeihung und die Auswahl des bestenAmateursängers unter einen jeweils eigenen Begriff zu fassen. Wendet man sich nun von der Vielzahl von Früchten, die nicht im Norden wachsen, ab und betrachtet statt dessen das aktuelle Feld des Reality- TV, dann sieht man vor allem "ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Kleinen wie im Großen" (Wittgenstein 1977: 57). Was man gerade nicht sieht, das sind klare Grenzen und abgeschlossene Gebiete. Es gibt also aus meiner Sicht keine (kleine) Schnittmenge, die fiir alle Formate des Reality-TV spezifisch ist (z.B. die Ausrichtung auf die Realität), sondern es gibt Ähnlichkeiten und Überschneidungen, aber auch Widersprüche und Gegensätze. Das eine Besondere des Reality- TY; das Spezifische oder: das Alleinstellungsmerkmal existiert nicht wirklich und der Glaube daran ist aus meiner Sicht ein von der vordergründigen Beobachtung produzierter Mythos, der sich weniger aus der Sache selbst ergibt, sondern aus den Erzählungen der beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen: aus deren Sprachgebrauch (um noch einmal Wittgenstein zu bemühen).
O. Bidlo et al. (Hrsg.), Securitainment, DOI 10.1007/978-3-531-93077-0_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Weil das so ist, macht es aus meiner Sicht keinen Sinn, von dem Reality-TV zu sprechen, sondern, wenn überhaupt, sollte man Reality-TV als Feld begreifen. ,Aufgespannt' wird dieses Feld von unterschiedlichen Formaten, die teilweise weit auseinanderliegen. Die verbindende Anmutung! des Reality- TV ist, dass hier etwas gezeigt wird, das (a) wirklich stattgefunden hat, das (b) genauso stattgefunden hat und das (c) den gezeigten Personen tatsächlich passiert ist. Allerdings gibt es innerhalb des Formats Reality-TV mittlerweile eine große Bandbreite. So reicht das Feld des Reality-TV von Fernsehshows, in denen ,normale' (also nicht-prominente) Menschen, junge wie alte, schöne wie weniger schöne, eine Reihe von Prüfungen zu absolvieren haben und die dann von Juroren und / oder dem Publikum zum nächsten Model, zum Supertalent oder zum Superstar gekürt werden bis hin zu Sendungen, in denen das Fernsehen fiir den Landwirt eine Landwirtin sucht, dabei hilft, mit Überschuldung zurecht zu kommen oder aber Eltern wie Kinder mithilfe einer Supernanni nacherzieht. Aber das Feld spannt sich auch durch Sendungen auf, in denen der Arbeitsalltag von Polizisten (Kontrolleuren, Wachdiensten, Detektiven etc.) mitverfolgt wird, bis hin zu solchen, in denen Menschen intensiv an sich arbeiten, um dünner, schöner, schlagfertiger zu werden oder einen besseren Gärtner, eine bessere Hausfrau und Mutter oder einen erfolgreichen Bewerber um einen Arbeitsplatz abzugeben. Oder allgemeiner: Die Bandbreite des Reality-TV reicht von der sehr dichten Dokumentation einer Situation, über das Ersetzen der wirklichen Personen durch Laiendarsteller oder Nachwuchsschauspieler, über die nachträgliche Dramatisierung von Szenen bis hin zu Gestaltung von Szenen, die in der Wirklichkeit tatsächlich so hätten stattfinden können oder tatsächlich stattgefunden haben. Wird bei den ersteren oft ohne Drehbuch gearbeitet', so liegt den zuletzt genannten Formaten ein vorab von Schreibern geschaffenes Drehbuch zugrunde (diese Unterscheidung wird auch von Englert/Rolson in diesem Band aufgegriffen). Das ist dann das sogenannte scripted Reality- Tv. Weil das Feld so groß ist, finden sich um den Begriff des Reality-TV herum eine Fülle neuer Begriffe. Und es werden im-
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Für eilige Leser dieses Textes sei noch angemerkt, dass hier allein gesagt wird, dass Reality-TV eine solche Anmutung vermittelt. Keinesfalls soll behauptet werden, dies sei eine zutreffende Kennzeichnung von Reality-TV. Denn keine der drei Anmutungen trifft zu, wie man schon bei flüchtiger Prüfung feststellt. Auch hier sei für den eiligen Leser angemerkt, dass hier nur davon gesprochen wird, dass diesen Formaten oft kein Drehbuch zugrunde liegt. Natürlich gibt es auch Formate innerhalb des RTV, die mittels detailliertem Drehbuch gestaltet werden. Und auch bei den Formaten ohne Drehbuch existiert immer ein Drehplan, in dem Termine, notwendige Ausrüstung und Personal aufgelistet werden.
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mer mehr'. Die wichtigsten dieser Begriffe lauten: Doku-TV, Lifestyle-TV, Poli-, Info-, Ecotainment, Self-Improvement-Dokus oder gar Factual Entertainment, Flyon-the-wall-TV u.v.a.m.. Diese Vielzahl der Begriffe weist nicht nur auf die starke Binnendifferenzierung des Reality-TV hin, sondern auch darauf, dass viele Beobachter das Feld unter verschiedenen Perspektiven betrachten. Und da zu jeder Perspektive auch eine bestimmte Werthaltung gehört, kann man die Vielzahl der Begriffe auch als Ausdruck der Perspektivenvielfalt der stakeholders des Reality-TV interpretieren. Für gestandene Journalisten ist Reality-TV lediglich billiges Amateur-TV, für Deutschlehrer dagegen Schund- oder Trash-TV, für Kulturkritiker zugleich auch noch (Sozial-)Spanner-TV. Für die privaten Produktionsfirmen, die solche Formate herstellen, ist Reality-TV quick-and-dirty TV, dagegen für die Fernsehsender quick-and-cheap-TV. Für Kandidaten, die mit Hilfe des Fernsehauftritts ihr Leben ändern wollen, ist es performatives Fernsehen, für Wissenschaftler, die allein nach der Funktion fragen, ist es Politainment oder Securitainment (vgl. zu Begriffsdefinition den Beitrag von Bidlo/Englert in diesem Band). Für Menschen, die sich echte (Lebens-)Hilfe versprechen, ist es Help-TV und für solche, die gerne geben, ist es Charity-Tl/. Medienwissenschaftler, die sich bei Fernsehformaten für die Darstellungsmittel interessieren, ist es Doku-TV und für die, denen der Weltbezug wichtig ist, ist es Reality-TV. Was fehlt, das ist eine verbindliche Perspektive. Und die wird es auch nicht geben können, da es keine ,Super-Perspektive' gibt, die alle Perspektiven umfasst und einschließt. Deshalb kann es hier nicht darum gehen, eine schlüssige und verbindliche Definition des Reality-TV zu entwerfen, sondern es geht mir im Weiteren darum, aus kommunikationswissenschaftlicher und soziologischer Perspektive" das Besondere des Reality-TV zu ermitteln, also das Muster zu erkennen, dass die Formate aus dieser Perspektive (zumindest lose) miteinander verbindet. Ganz sicher wird man auch nicht alles, was unter dem Label ,Reality-TV' läuft, miteinander verbinden können. Manches wird nur ganz lose angekoppelt sein und deshalb für einige nicht dazugehören. Fokus meiner Suche nach dem Muster, das verbindet, sind vor allem die Formate des Reality-TV, die (wenn auch auf unterschiedliche Weise) vorgeben, Ereignisse aus dem Leben von Berufsgruppen oder Ereignisse aus dem Leben ,normaler' Menschen festzuhalten und wiederzugeben. Damit stehen Videoproduktionen im Fokus der Betrachtung, also meist Filmproduktionen, die nicht mehr von den Fernsehsendern selbst hergestellt werden, sondern von teils kleinen 3 4
Eine von mir angestellte, nicht systematisch organisierte Sichtung hat im Juni 2010 etwa 60 bis 70 Sendungen des Reality-TV pro Woche finden können. Zur Bestimmung dieser Perspektive siehe ausführlich Reichertz 2009 . Hier finden sich auch Ausführungen zu den Begriffen ,Kommunikation' und ,Medien'.
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privaten, miteinander konkurrierenden Produktionsfirmen, die darauf angewiesen sind, dass sie ihre Produkte an Sendeanstalten verkaufen. Diesen Produktionsfirmen geht es im Wesentlichen darum, "möglichst billig möglichst viel Programm zu produzieren" (Butzek 20 I 0: 25), um es aufdem allgemeinen Markt anzubieten. Noch eine Bemerkung zum Abschluss: Es soll hier auch nicht versucht werden, ein umfassendes Schaubild des Reality-TV zu erstellen - also mit den verschiedenen Genres, den Sub-, den Sub-Sub- und den Sub-Sub-Subgenres. Solche Schaubilder sind meist schon überholt, wenn sie in Buchform publiziert werden. Aus dem gleichen Grund werde ich aufdie extensive Nennung von Sendungsnamen für die einzelnen Formate verzichten (eine Momentaufnahme der deutschen Fernsehlandschaft findet sich bei Englert/Roslon in diesem Band). Da die Lebenszyklen der einzelnen Formate oft sehr kurz sind, wirken Artikel, die über Serien und Formate berichten, die bereits abgesetzt sind, wie Berichte aus einer anderen Welt - auch weil sie nicht mehr verfügbar sind. Zudem können selbst Medienwissenschaftler nicht mehr alle Formate kennen. Deshalb sagt die Nennung des Titels einer Sendung, also solcher Sendungen wie Verzeih mir, Traumhochzeit, Fliege, Rosen von dem Ex etc. immer weniger. Wer einen umfassenden quantitativen Überblick über die ,nichtfiktionalen' Sendungen, geordnet nach Sparten und Sendeanstalten, sucht, ist mit Krüger 20 IOaund 20 IObgut beraten.
2. Wie viel Realität ist in Reality-TV? Dem Begriff Reality-TV ist scheinbar untrennbar die ,Realität' eingeschrieben, als sei dies das konstitutive Merkmal dieser Art des Fernsehens. RealityTV zeigt demnach Realität, Wirklichkeit. Bei näherer Betrachtung ist diese Sicht der Dinge unhaltbar. Dies nicht, weil Reality-TV keine Wirklichkeit zeigt, sondern weil das nicht das Spezifische des Reality-TV ist. Auch viele andere Formate zeigen Realität (so der Dokumentarfilm oder die Reportage), aber selbst fiktionale Formate zeigen Wirklichkeit: nämlich die Realität am Filmset. Das Besondere des Reality-TV ist gerade nicht, dass es die Realität zeigt, sondern das Besondere des Reality-TV ist, dass es die Realität auf besondere Weise zeigt. Sichtbar wird dies, wenn man sich den RealitätsbegritT näher anschaut. Realität ist nämlich im allgemeinen Sprachgebrauchs all das, was sich in der Welt 5
Aus wissenschaftlicher Sicht ist das nicht ganz so einfach. Meist unterscheiden konstruktivistisch orientierte Wissenschaftler zwischen einer unfasslichen und chaotischen Wirklichkeit (manchmal auch Welt genannt) und einer Realität, welche als der von Menschen befriedete Teil der Wirklichkeit begriffen wird. Realität ist das, was uns bekannt uns verfiigbar ist, die Wirklichkeit die Totalität aller Erscheinungen, der wir prinzipiell nicht Herr werden können. Beispielhaft für diese Sicht:
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ereignet, egal ob einer hinschaut oder nicht. Es regnet, Menschen sterben, Tiere werden geboren, Pflanzen wachsen, Kaufhäuser öffnen, Menschen kaufen ein, Banken werden überfallen, Polizisten vernehmen Beschuldigte etc.. Aber zur Realität gehört auch all das, was sich ereignet, weil jemand hinschaut und zur Realität gehört immer auch das, was es nur gibt, weil jemand glaubt, dass andere gerne hinschauen würden. Pressekonferenzen gehören genauso zur Realität wie Tanzturniere, Krönungen, Fußballspiele, Spielshows, Peepshows, Nachwuchswettbewerbe und Theaterauffiihrungen u.v.a.m.. All das wird im Fernsehen und im Film immer wieder gezeigt und meist werden die jeweiligen Formate nicht dem Reality-TV zugeordnet. RealityTV heißt also nicht RealityTV; weil auch Reality drin ist. Reality ist nicht der Punkt bei dieser Art von TV! Eine andere Begründung fiir den BegriffReality-TV ergibt sich aus dem Darstellungsstil dieser Art von Fernsehen. Reality-TV ist dann das Fernsehen, das Dinge so darstellt wie die Wirklichkeit, also unmittelbar und unverfälscht. Reality-TV zeige die Welt demnach realistisch oder doch fast realistisch. Analog der Aussage, dass eine Dokumentation nicht deshalb eine Dokumentation ist, weil sie etwas dokumentiert, sondern weil sie mit dokumentarischen Stilmitteln der Darstellung sagt, dass hier etwas dokumentiert wird, kann man auch sagen: Reality-TV ist nicht Realität, weil sie Realität zeigt, sondern weil sie mit realistischen Stilmitteln sagt, dass etwas Realität ist. Dann gilt auch: Fiktionalität ist nicht gegeben, weil etwas fiktional ist, sondern weil mit den Stilmitteln des Fiktionalen gesagt wird, dass etwas fiktional ist. Der Darstellungsstil zeigt den Rahmen an und der sagt, was der Fall ist (dieser Aspekt gilt auch in der Analyse der Fernsehlandschaft im Beitrag von Englert/Roslon in diesem Band als grundlegend). Eine ,reine', also einmischungsfreie, Dokumentation von Leben kann nur als Idealtyp entworfen werden, von dem sich jede tatsächlich realisierte Produktionen systematisch unterscheiden müssen. Selbst die Kamera, die 24 Stunden lang aus einer festen Position das Geschehen aufeiner Kreuzung aufzeichnet, ist keine Dokumentation, sondern dem so gerichteten Kamerablick ist immer schon eine Annahme darüber eingeschrieben, die sagt, was sehenswert und was nicht sehenswert ist. Vielen Vermessungsversuchen des RealityTV liegt deshalb die These (explizit oder implizit) zugrunde, es würde sich beim Reality-TV um ein Hybridformat handeln (z.B. Wegener 1994, Klaus 2008, Krüger 20l0a), es würde also nach Belieben Elemente alter und bewährter Formate (Dokumentation vs. Film) immer wieder neu kombinieren: es mische (beliebig) Elemente des Dokumentarischen
"Während wir uns vornehmen können, die Realität zu erkennen und zu beschreiben, übersteigt das Vorhaben, die Welt in seiner Totalität zu beschreiben, unsere Kräfte." (Boltanski 2010: 93)
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mit Elementen des Fiktiven und erzeuge so ein Neues, das weder richtig real noch richtig fiktiv sei. Und bei vielen diesen Diagnosen klingt als Subtext fast immer mit, dass dieses Neue von geringer Qualität ist, dass hier das Alltägliche und Triviale zum Zeigenswerten stilisiert werde und somit der Unterschied zwischen hoher Kultur und niederer Kultur durch das RealityTV eingeebnet werde. Diese Hinwendung zum Alltag wird oft als Hinwendung zum Banalen skandalisiert (explizite Ausnahmen sind z.B. Mikos 2000 und Klaus 2008). Oft wird dann in vielen ,kritischen' Studien mit einer Geste bildungsbürgerlicher Selbstgefälligkeit in kritisch-ironischer Distanz der Begriffdes,Unterschichtfernsehens' ins Spiel gebracht (z.B. Nolte 2004). Aus meiner Sicht ist die Beschränkung auf den Wirklichkeitsbezug oder die Darstellungsmittel wenig ertragreich. Einfach deshalb, weil weder das eine noch das andere das Spezifische des Reality-TV trifft. Das Besondere des Reality-TV ist es nicht, eine unzulässige Mischung aus der Dokumentation der Wirklichkeit und der Erzählung einer fiktiven Geschichte zu sein. Das Besondere des RealityTV ist etwas anderes. Oft sind die Vermessungen des Reality-TV schon allein deshalb unzutreffend, weil sie den Gegenstand und die Darstellungsform nicht auseinanderhalten und deshalb zu dem Ergebnis kommen, Reality-TV sei eine unklare Gemengelage aus Wirklichkeit und Phantasie. Diese Einschätzung erscheint mir, wie oben ausgefiihrt, angesichts der Realität des Reality- TV unterkomplex zu sein. Denn das Reality-TV variiert und kombiniert zumindest drei Komponenten immer wieder neu und aufs Neue. Diese drei Komponenten sind: Wirklichkeitsbezug, Darsteller und Darstellungsstil. Beim Wirklichkeitsbezug reicht Reality-TV von dem Anspruch, bei den gezeigten Ereignissen handele es sich um Ereignisse, die tatsächlich so stattgefunden haben, über Ereignisse, die ungefähr so stattgefunden haben oder aber so hätten stattfinden können, bis hin zu der Rahmung, dass das Gezeigte reine Erfindung sei. Bei den Darstellern reicht Reality-TV von dem Anspruch, die Akteure vor der Kamera seien auch die wirklichen Akteure des gezeigten Geschehens, über den Anspruch, die Darsteller seien Menschen aus dem Alltag (also Laien) bis hin zu der Aussage, bei den Darstellern handele es sich um Nachwuchsschauspieler. Bei dem Darstellungsstil reicht Reality-TV von dem Anspruch, bei den gezeigten Ereignissen handele es sich um die Dokumentation, über den Anspruch, man habe der Deutlichkeitshalber ein wenig dramatisiert bis hin zu der Rahmung, dass es sich um die filmische Umsetzung einer Narration handelt. Wirklichkeitsbezug, Darsteller und Darstellungsstil sind die Ingredenzien, die bei jedem Reality-TVFormat immer wieder aufs Neue kombiniert werden. Weil das so ist, lässt sich Re-
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ality-TV nicht hinreichend mit nur einer Komponente oder mit zweien oder mit dreien beschreiben. Reality-TV ist mehr als die Kombination aus den genannten drei Komponenten. Es hat noch etwas darüber hinaus.
3. Vorläufer des Reality- TV Die Geschichte des Reality-TV reicht weit in die Vergangenheit zurück. Sie begann (genau genommen) als der Mensch anfing, sich mit anderen Menschen mittels Medien über die Welt zu verständigen, als er also anfing, mediale Darstellungen der Welt zu erzeugen. Schon früh unterschieden die Menschen bei den Darstellungen zwischen dem Wirklichen, dem Übernatürlichen und dem Fantasierten. Dem Wirklichen konnte und musste man sich anders nähern als dem Übernatürlichen und bei der Darstellung des Fantasierten konnte man ,freier' sein als bei der Darstellung der Wirklichkeit. Für das Wirkliche, das Übernatürliche und das Fantasierte galten und gelten andere Erkenntnis- und auch andere Darstellungsstile. Und weil man mit Darstellungsstilen immer auch spielen kann, hat es schon früh bewusstes Irrefiihren, bewusste Irritation und bewusste Fälschungen gegeben. Fantasiertes wurde als wirklich dargestellt, Wirkliches mit der Phantasie verschönt, Übernatürliches mit Phantastischem angereichert und Phantastisches ins Übernatürliche gehoben. Homer betrieb Infotainment, als er in Hexametern vom Untergang Trojas sang. Herodot war nicht nur ein Geschichtsschreiber, sondern er schrieb immer auch schöne Geschichten. Ovid glaubte, mit der Aeneis Geschichte in Verse zu fassen. Kleist bediente sich gern der Wirklichkeit, wenn er schrieb. Büchner auch, Shakespeare und viele andere mehr ebenfalls. Fast nie war das Fantasierte nur der Fantasie entsprungen. Caravaggio nahm reale Menschen (oft Prostituierte oder Gauner) als Vorlagen fiir seine Heiligengemälde, Gericault nutzte den Bericht der Überlebenden der Medusa, um ein dramatisches Gemälde zu schaffen. Schrieb Flaubert Reality-Literatur, als er über Madame Bovary berichtete, oder Emil Zola, als er das Schicksal der Therese Raquin schilderte? Sitting Bull und Buffalo Bill traten, als sie zu alt zum Kämpfen waren, gemeinsam in einer Wild West Show auf und spielten öffentlich Cowboy und Indianer miteinander. Ein Pariser Theater machte aus dem kriminellen Treiben der Apachenbande in Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts schnell eine Revue und bot die Hauptrolle der Freundin des Bandenchefs an. Und war die Vertonung des Kriegs der Welten (Mars Attack) durch Orson Wells gar Reality-Hörfunk? Im Dokumentarfilm White Wildemess verbreiteten im Jahr 1958 die Filmemacher die Mär, Lemminge begingen immer wieder kollektiv Selbstmord. In Wirklichkeit wurden sie von den Machern über die Klippe geschubst. Ein Jahr später
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liefin den Kinos die Dokumentation Serengeti darfnicht sterben von Michael und Bernhard Grzimek. Hunderttausende Deutsche weinten in den Kinosälen, als die Tiere Afrikas bei Geigenmusik um ihr Überleben kämpften. Heute sind es nicht mehr die Tiere in Afrika, die kämpfen, sondern Königspinguine, die weite Strecken zurücklegen, um ihre Kinder zu versorgen - all dies filmisch aufgezeichnet mit einer Mischung aus Witz, Action und Dramatik. Der tapsige Knut erfreute nicht nur die Zoobesucher in Berlin, sondern der Bär war auch Held zahlreicher Filmbeiträge. Die Liste ließe sich problemlos verlängern. Kurz: In allen Medien kann man Fiktionales realistisch und dokumentarisch darstellen und Reales fiktional. Und seit es Medien gibt hat man das getan. Oft ist die Vermischung von Realität und Fantasie bzw. von Dokumentation und Fiktion ein lustvolles Spiel, oft bewusste Provokation und oft auch gewollte Täuschung. Wirklich neu ist daran also nichts - auch nicht die Hinwendung zum Alltag normaler Menschen. Diese Hinwendung ist in der Kunst etwa seit dem 19. Jahrhundert zu beobachten: Bauern wurden aufeinmal bei ihrer Arbeit gemalt, Fabrikarbeiter und einfache Leute ebenso. Das normale Leben von normalen Leuten mit den normalen Problemen fand auf einmal auch in der Kunst statt - auch weil zunehmend die normalen Leute das Geld hatten, sichfür Kunst zu interessieren. Und als Frank Wedekind über die Probleme pubertierender Jungendlicher schrieb, kam es nicht nur auf der Theaterbühne zu einem Frühlingserwachen. Die Kunst wandte sich zunehmend vom Besonderen und Außerordentlichen ab und verstärkt dem ,Nonnalen' zu. Also auch das ist nichts Neues. Mit dem Reality-TV macht Fernsehen also vieles nach, was in anderen Medien schon lange der Brauch ist. Aber nicht alles. Es gibt auch Besonderheiten, die so, also in dieser Kombination, vor allem im Reality-TV zu finden sind.
4. Die Besonderheiten des Reality- TV Blickt man zu Beginn des Dritten Jahrtausends zurück aufdie Geschichte des deutschen (privaten wie öffentlich-rechtlichen) Fernsehprogramms, dannfällt schnell auf, dass der Wechsel zum Reality-TV mit der Zulassung privater Anbieter auf dem deutschen Fernsehmarkt kam - also 1984. Seitdem bietet das Fernsehen seinen Nutzern/innen verstärkt eine Fülle neuartiger Serviceleistungen an: Es ,spricht' nämlich nicht mehr nur zu dem vor ihm versammelten, mehr oder weniger passiv das Übermittelte rezipierende Fernsehvolk, sondern es hat (a) die Pforten zu den Fernsehstudiosfür (fast) jedes Gemeindemitglied weit geöffnet und lädt j edennann undjedefrau ein, es tagtäglich zu besuchen, sei es, um über Freud und Leid zu berichten, sei es, das eigene Leben mit der Hilfe des Mediums in eine neue Bahn zu
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bringen. Aber es macht noch sehr viel mehr. Immer öfter sucht das Fernsehen (b) die kleinen Lebenswelten, den Alltag bestimmter Gruppen, aufund macht sich ein Bild davon, welches es dann an alle Willigen versendet (siehe Röser & Thomas & Peil 2010, Döveling & Mikos & Nieland 2007). Kaum eine Lebenswelt ist zu klein oder zu verschroben, um nicht in die mediale Aufmerksamkeit zu gelangen (Reichertz 2000). Und kaum ein Problem ist klein genug, um keine Lösung zu finden. Will man angesichts dieser Lage nun das Besondere des Reality-TV ermitteln, also das Muster, das diese Formate miteinander verbindet, macht es Sinn, nach dem Eigenen des Reality-TV zu fahnden (siehe auch Klaus & Lücke 2003). Was ist das Spezifische des Reality-TV; was zeichnet es aus? Hier die wichtigsten Eigenheiten des Reality- TV. 4.1 Reality-TV ist Videoproduktion Die Produktion von Reality- TV ist durchgängig eine Produktion von Videos, d.h. sie werden mit Hilfe digitaler Videokameras aufgezeichnet. Deren Bilder sind deshalb im Unterschied zu fotografischen Filmkameras sofort (also schon während der Produktion) als Bilder und als digitale Datei verfügbar und kontrollierbar und in der Postproduktion leicht mittels Grafikprogrammen bearbeit- und gestaltbar. All dies ermöglicht einen schnellen Dreh und eine billige Nachbearbeitung. Obwohl auch Videoproduktionen ,Filme' sind, muss man unterscheiden: Kinofilme und Fernsehfilme haben andere Produktionsbedingungen und deshalb auch eigene und eigenständige Bildsprachen (und andere Vorstellungen von den impliziten Zuschauern) entwickelt. Videoaufnahmen, egal ob sie von Professionellen oder Halbprofessionellen erstellt wurden, unterscheiden sich dagegen deutlich von den Filmproduktionen, denen immer ein explizites und vorab entwickeltes Drehbuch zugrunde liegt. Videoproduktionen verfügen dagegen eher selten über ein Drehbuch (Ausnahme: scripted-Formate) und einen Einstellungsplan, dafür aber über ein sehr viel geringeres Budget, was zur Folge hat, dass bei Videos sehr viel mehr mit Hilfe von Schnitt und Montage eine Erzähllinie gebastelt wird. Die Aufnahmen" werden in der Regel nicht konkret in ihrem Ablauf geplant, sondern die Ereignisse übernehmen die Regie oder genauer: scheinen die Regie zu übernehmen, sobald eine Idee zu einem Format entstanden ist. Wenn die Idee, Kleingärtner bei der Pflege ihres Kleingarten zu beobachten, einmal ,durch' ist, dann geht die Sendung direkt in Produktion. Dazwischen steht nicht (mehr) eine langwierige Planungsphase, in der Drehbücher geschrieben und Statisten aufwendig gecastet sowie detaillierte Einstellungsprotokolle erstellt und Marktumfragen 6
Die nächsten Bemerkungen zur Arbeitsweise des Reality-TV verdanken den Hinweisen von Carina Englert sehr viel.
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gestartet werden, sondern es werden lediglich die groben Züge der Videoproduktion festgehalten. Es kommt in diesem Format darauf an, dass die Protagonisten dabei gefilmt werden, wie sie (normalerweise) Dinge tun - und dies möglichst ohne Beeinflussung durch Interviewfragen oder die Aktivität eines Reporters. Kurz: Bei vielen (also nicht allen) RTV-Formaten wird ein passender Ort gesucht, die Kamera aufgestellt und ,draufgehalten'. Die Aufnahmen, die dabei entstehen, werden durch die montierende Kamera (in der Postproduktion) später nachbearbeitet und dabei dramatisiert. Die vor Ort aufgezeichneten Bilder sind zwar wichtig, aber die Geschichte ergibt sich nicht in den Bildern, sondern wird mit den Bildern erzählt. Der eigentliche Prozess der Produldion besteht im nachgelagerten Bearbeitungsprozess, der den Aufnahmen erst im Nachhinein Struktur verleiht und eine ,gute' Geschichte auf den Leib schneidert. Dies alles bedeutet allerdings nicht, dass die Aufnahmen immer völlig wahllos erfolgen und sich das Geschehen unbeeinflusst vor der Kamera vollzieht, sodass die Kamera lediglich eine beobachtende Funktion hat. Dies ist allein schon deshalb nicht der Fall, da die Kamera bereits durch ihre Anwesenheit die Handlung vor der Kamera verändert. So muss man in der alltäglichen Praxis des Filmes im Alltag die Akteure vor der Kamera immer wieder ermahnen, bitte nicht in die Kamera zu schauen, die Kamera nicht zu beachten, so zu tun, als sei sie gar nicht vorhanden. Manchmal muss sich die Kamera auch aus dem Geschehen zurückziehen, weil sie von den Akteuren nicht erwünscht oder sogar aus gesetzlichen Gründen nicht erlaubt ist. Dann sieht sie nicht alles. Manchmal mischt sich die Kamera aber auch massiv ein, sie arrangiert Szenen neu, erläutert das Geschehen durch Untertitel, dramatisiert, weil das Geschehen mehr Action braucht oder fügt neue Teile ein, um die Geschichte ,rund' zu machen oder bittet die Beteiligten ausdrücklich, einen Kommentar in die Kamera zu sprechen und auch hier: Bitte nicht in die Kamera schauen. Weshalb hier diese Ausführungen zu den Produktions- und Herstellungsbedingungen? Weil sie eigene Möglichkeitsräume schaffen, die auch inhaltliche Rahmen kreieren. Sie schatTenein eigenes Genre und dieses Genre dient dannMachern wie Nutzern als Deutungsrahmen. Diese Rahmen eröffnen und begrenzen kommunikatives Handeln, und sie weisen dem Handeln meist auch ein gewisses Gewicht zu (Witz, Prüfung, Gebet, Entschuldigung). Die Rahmen legen nahe, was jeweils kommuniziert werden darfund was nicht und welche Folgen es hat. Diese Rahmen sind gesellschaftlich erarbeitet und verbürgt - sie sind Institutionen. Rahmen können in bestimmten Situationen interaktiv ausgefüllt, moduliert oder auch verändert werden. Rahmen bilden das Fundament, auf dem Kommunikation möglich wird.
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4.2 Reality-TV ist perfekt unperfekt Videoproduktionen des Reality- TV; und das ist eine sehr auffällige Besonderheit, sind fast immer unperfekt: Die Kamera wackelt oft, die Akteure versprechen sich oder nuscheln unverständlich, Übergänge sind unklar, es gibt eine Vielzahl von Brüchen, vieles wird wiederholt und ist redundant. Kurz: alles was das Fernsehen ansonsten tut, um Professionalität zu demonstrieren, wird hier unterlassen. In der Fachliteratur wird das meist entweder auf das Unvermögen der Macher oder auf den Zwang zu niedrigen Produktionskosten (Laien statt Schauspieler, kein Drehbuch etc.) zurückgeführt. Denkbar und plausibel ist jedoch auch folgende Lesart: Die hier behandelten Formate sind bewusst unprofessionell produziert (Mikos spricht hier von ,Amateurisierung' - vgl. Mikos 2000: 171) und - so die These weiter - das müssen sie auch sein. Diese Formate kämpfen nämlich im Medium Fernsehen gegen das Medium Fernsehen": Sie spielen mit den Erwartungen der Zuschauer, was Fernsehen ist und was nicht. Und sie machen ihre Sendungen so, wie man es nicht vom Fernsehen erwarten würde. Denn sie zeigen im Fernsehen etwas, das wegen seiner Machart, also wegen des Stils, die Kamera zu bedienen, gerade nicht Fernsehen ist - also alltägliche Realität. Das scheinbar Unperfekte ist ein künstlich hergestelltes Unperfektes, es ist ein Darstellungsstil. Und dieser Darstellungsstil ist die ,perfekte' Lösung des Problems, wie man im Fernsehen zeigt, dass etwas (vorgeblich) nicht Fernsehen ist. Um nicht missverstanden zu werden: Keinesfalls soll hier behauptet werden, hinter dem ,künstlich Unperfekten' des hier untersuchten Reality-TV (das fiir mich das Signum des Reality-TV ist) stünde ein bewusstes Kalkül- also eine bewusste ästhetische Strategie. Im Gegenteil: Das künstlich Unperfekte des RealityTV ist das Ergebnis der ökonomischen Rahmenbedingungen, welche maßgeblich die Praxis der Videoproduktion gestalten. Man produziert eine Sendung mit Hilfe von bestimmten Praktiken, die sich bewährt haben, und auf diese Weise ,mendelt' sich ein bestimmter Typ von Sendung heraus, der passt, weil er verkauft werden kann. Verkauft werden kann er, weil die Einschaltquoten stimmen. So findet mit der Zeit eine Abstimmung, die Anpassung des Videoangebots an die Bedürfuisse der Zuschauer statt. Anstatt vorab teure und langwierige Marktstudien in Auftrag zu geben, werden Sendungen produziert und auf dem Markt angeboten. Die Formate, die von den Sendern gekauft werden und erfolgreich sind, werden entweder weiter produziert oder geklont oder leicht variiert und erneut auf dem Markt angeboten. Man behält das bei, von dem man glaubt, dass es funktioniert, variiert 7
Ich möchte Oliver Bidlo für diesen Hinweis danken. In einem Gespräch hat er dieses Problem besonders deutlich herausgearbeitet und deshalb verdankt mein Argument ihm viel.
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immer wieder kleinere Bestandteile und schafft so eine Artenvielfalt der Videoprodukte. Und jede Art sucht sich ihre Nische und überlebt nur dann, wenn es ihr gelingt, eine zu finden. Auf dieser Weise erhält jeder Fisch den Köder, auf den er anbeißt. Der Angler muss nur darauf achten, dass der Köder nicht zu teuer wird",
4.3 Alltag als endlose Geschichte Das Reality-TV produziert grundsätzlich in Serie . Auf diese Weise entsteht Bekanntschaft, Vertrautheit. Man erkennt die Welt und die Personen in ihr wieder, sie werden dem Zuschauer vertraut. Und die Welt kommt immer wieder, weil das Reality-TV nicht das Einmalige der Welt zeigt, sondern das Wiederkehrende, das Normale, das Alltägliche, das, was immer wieder kommt. Reality-TV ist deshalb grundsätzlich Wiederholung und deshalb eignet es sich besonders gut fiir Wiederholungen. Reality-TV ist deshalb auch endlos . Eine weitere Besonderheit des Reality-TV ist sein steter Wandel. Kaum ist ein Format auf Sendung, wird es auch schon abgewandelt. Wie sehr sich die einzelnen Formate selbst innerhalb kurzer Zeit wesentlich ändern, kann man sehr gut an der Geschichte der Talk-Shows sehen. Wurden anfangs, also in den 1970ern prominente Persönlichkeiten eingeladen (Je später der Abend von Dietmar Schönherr, 1973), von denen man glaubte, dass sie etwas über die Welt und das Leben, aber zumindest etwas über ihr Leben sagen konnten einlud, so änderte sich das bald massiv. Zunächst gesellte man ,normale' Menschen, die etwas Beachtliches geleistet hatte, zu den Prominenten und ließ sie erzählen. Anfang der 1990er änderte sich das Format grundsätzlich. Aus der seltenen, nur alle vier Wochen ausgestrahlten Celebrity-Show wurde die daily talk-shows (Meiser, Arabella, Fliege etc.). Man verzichtete nun ganz aufdie hervorgehobenen Menschen, auf Stars, Politiker und Künstler und lud nur noch das normale Volk ein und die sprachen dann (oft auch wirr und kontrovers und oft auch völlig sinnfrei) miteinander über die kleinen und großen Probleme des ,normalen' Lebens. Ob eine Show gelang oder nicht, hing sehr stark vom Moderator und den Gästen ab - war also Glückssache. In der nächsten Entwicklungsstufe der Talk-Shows ließ man nicht mehr jeden zu Wort kommen, sondern gestaltete die ,Mischung' der Gäste so, dass bestimmte (kontroverse) Standpunkte aufeinandertrafen und so der Sendung eine gewisse Dynamik bescherten. Auch hier war die Anzahl der ,langweiligen' Sendungen hoch. Dann bat man die Gäste, bestimmte Positionen betont zu vertreten, also vor allem als typischer Vertreter einer Position aufzutauchen, so dass zwei oder drei 8
Erneut möchte ich Oliver Bidlo danken: Diese Metapher über die ,Verbindung' zwischen Medienangebot und Zuschauer, die ursprünglich von Helmut Thoma benutzt wurde ("Der Wurm muss dem Fisch schmecken und nicht dem Angler!") hat mit dem Hinweis auf die Kosten ergänzt.
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gesellschaftliche Positionen vor der Kamera um Anerkennung rangen. Als auch das immer wieder zu ,undynamischen' Sendungen fiihrte, schleuste man unter die ,normalen' Menschen unbekannte Nachwuchsschauspieler, die gezielt bestimmte Thesen vertreten und Konflikte provozieren sollten. Schlussendlich setzte man nur noch aufNachwuchsschauspieler und ein halbwegs schlüssiges Skript. Aus der Talk-Show wurde eine scripted Talk-Show. Spannend waren die allerdings auch nicht. Eine ähnliche Entwicklung durchliefen auch die Mediations- und Gerichtsshows. Durchgehend kann man also bei diesen Formaten feststellen, dass der Anteil an redaktioneller Gestaltung zunahm, während der ,Reality'anteil stetig abnahm.
4.4 Kamera als korporierter Akteur Entgegen der ersten Intuition dokumentiert das Reality-TV nicht das reallife, sondern es erzählt immer eine (fiktive) Geschichte. Aber es ist nicht die große Geschichte und auch keine Geschichte des Großartigen, sondern im Gegenteil: Es ist immer eine Geschichte ohne Größe, aber eine, die immer wieder vorkommt. Da das wirkliche Leben sich nicht in Geschichten ereignet und das Abfilmen des Lebens im Verhältnis I: I nur wenige Zuschauer zum Anschauen motiviert, entwickelt die Videokamera, wenn sie dann für Fernsehproduktionen unterwegs ist, (meist ex post) eine Geschichte, die sie mittels Filmschnitt erzählt. Manchmal greifen die Akteure hinter der Kamera allerdings schon während der Dreharbeiten ein - wie z.B. über die Sendung Frauentausch glaubhaft von ehemaligen Akteuren vor der Kamera berichtet wird. So wurden die Akteure vor der Kamera von den Akteuren hinter der Kamera (allerdings immer für den Zuschauer unhörbar) ermuntert zw. auch aufgefordert, bestimmte, sehr pointierte Positionen zu vertreten. Das Auge des Zuschauers sieht dannim Video nicht das, was sich tatsächlich im reallife vor der Kamera ereignet hat, sondern nur das, was die Handlung der Kamera es sehen lässt. Die montierende Kamera fügt die einzelnen takes nach eigener Sortierung zu einem neuen Sinn zusammen, indem takes entweder gekürzt oder sogar herausgenommen werden. Damit bricht die Kamera die Ereignisstruktur und verleiht dem Geschehen eine narrative Struktur (ein erneuter Aspekt, der in der Fernsehanalyse von EnglertJRoslon in diesem Band aufgegriffen und untersucht wird). Die Narration steht im Vordergrund, nicht das Ereignis, auch wenn die Narration wie ein Ereignis aussieht. Das Video besitzt also eine Doppelstruktur: Es ist Narration und Ereignis zugleich. Deshalb muss man auch beides mit einer Deutung verstehen, in einer Deutung auflösen. Man muss also fragen: Weshalb muss das Ereignis als Narration eingekleidet und weshalb muss die Narration als Ereignis ausgeflaggt werden?
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Das Ereignis muss als Narration eingekleidet werden, weil die Narration etwas Spezifisches liefert: ein Muster, das wir kennen. Zudem einen Spannungsbogen, der uns auf das Zukünftige vorbereitet und uns damit dabei (also bei der Sendung) bleiben lässt. Und er liefert durch diese Spannung Unterhaltung, welche die Zeit vergessen lässt. Die Narration ist kein Unterricht, der uns gerade sitzen und eine Lektion lernen lässt, sondern die Narration erzählt eine unterhaltsame Geschichte und lehrt uns (manchmal) heimlich etwas - aber aufjeden Fall ohne Anstrengung und Entsagung. Die Narration bedient den Zuschauer, verbeugt sich vor ihm, macht es ihm leicht, verlangt nicht, sondern gibt. Als Gattung ist die Narration die Unterwerfung des Geschehens unter die Bedürfnisse des Zuschauers. Die Narration dient buchstäblich dem Zuschauer. Die Narration erhält jedoch dadurch, dass sie als reales Ereignis eingekleidet wird, mehr Nähe zum Alltag der Zuschauer und mehr Gewicht und zunehmende Authentizität und auch mehr Relevanz. Es hat sich tatsächlich so ereignet - so lautet die Botschaft; oder doch zumindest könnte es sich so ereignet haben. Es ist wichtig, zu wissen, dass es sich so ereignet hat, weil es dadurch auch fiir mich bedeutsam ist. Das Gezeigte ist keine fiktive Erzählung, in der alles nur erfunden und damit bedeutungslos ist, sondern das Gezeigte ist Teil der Welt, in welcher der Zuschauer lebt, und deshalb ist es auch fiir ihn von Belang. Auch das Ereignis dient somit dem Zuschauer. Es betrifft ihn, weil es auch ihm passieren kann. Es geht um Bedeutsamkeit, die sich aus der Wirklichkeitsnähe ergibt. Die als Ereignis eingekleidete Narration richtet sich somit in jeder Hinsicht nach den Wünschen der Zuschauer aus. Es gilt, ihm Gutes zu tun, ihn zu unterhalten und ihn mit der Unterhaltung am Gerät zu halten - nicht nur, weil es unterhaltend ist, sondern auch weil es etwas mit seinem Leben zu tun hat und deshalb bedeutsam ist. Das Video als Narration und Ereignis unterhält und informiert über eine Vielzahl von Fragen, die fiir den Zuschauer von Belang sind. Das Medium oder genauer: die Kamera als inkorporierter Akteur mischt sich bei dem Reality-TV grundsätzlich massiv ein, stellt Fragen, nimmt Perspektiven ein und vor allem: beeinflusst durch Nachbearbeitung, Montage, Kommentar, Dramatisierung und Ergänzung. Dem gefilmten Geschehen wird nachträglich eine bestimmte narrative Struktur verliehen, die durch Musik, Untertitel und Betitelung der Sendung zusätzlich attraktiv gestaltet wird (siehe auch die Fernsehanalyse von Englert/Roslon in diesem Band, die sich u.a. mit der an diese Gesichtspunkte gebundene Tendenz zur Boulevardisierung von Fernsehsendungen beschäftigt). Reality-TV erfüllt somit gerade nicht den dokumentarischen Anspruch, die Realität möglichst unbeeinflusst durch Regisseur, Reporter und Kameramann aufzunehmen, sondern Reality-TV ist eine eigenständige Erzählung der Medien. Das Medium
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ist der eigentliche Akteur und als Akteur erzählt es die Geschichte, die möglichst vielen gefällt. Erneut: ,Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler' . Im Gegensatz zum Film, der versucht, die Kamera unsichtbar zu machen, bringt das Reality-TV meist durch permanent eingeblendete Logos sich selbst ins Bild. Damit wird zugleich ständig in Erinnerung gerufen, wer hier spricht, wer hier agiert, wer hier hinter der Kamera steht. Die Kamera dementiert gerade nicht ihre Anwesenheit, will sich nicht unsichtbar machen, sondern sie zeigt permanent Präsenz. Mit dieser Geste wird gerade nicht das Geschehen vor der Kamera betont, sondern die stete Rückverweisung betont den Autor und das Tun des Autors (hinter der Kamera). Deren Arbeit und deren Treiben ist die Botschaft. Sie, die Kamera, nimmt immer wieder bestimmte Dinge in den Blick, wendet sich ihnen zu, deutet sie, bewertet sie, erzählt Dinge über sie. Dabei verliert sich die Kamera nie in das Geschehen um sie herum, sondern sie ist stets bei sich, unberührt, beherrscht die Welt dort draußen, sie ist die Unbewegte, die betrachtet. Wichtig dabei ist, dass die Kamera (das Medium) so ist wie der Zuschauer. Die Kamera ist (aus Sicht der Zuschauer) ,einer von uns'; sie vertritt ihn vor Ort. Sie ist da, wo er nicht ist, aber wo er immer auch sein könnte. Weil die Kamera so ist wie er, darf sie auch nicht professionell sein, sondern sie muss immer auch so filmen wie er - also wie ein Hobby-Filmer oder alle die, die ihr Fotohandy benutzen. Die Kamera will gerade nicht dementieren, dass sie als Kamera dabei ist. Sie ist das Auge des ,normalen' Menschen, der das sieht, was alle anderen auch sehen. Aber die Kamera hat nicht nur ein Auge, sondern immer auch eine Stimme. Gemeint ist damit nicht die Stimme eines Reporters vor der Kamera, sondern die voice over-Kommentare, die bei Videoproduktionen später im Schnittraum hinzugefügt werden. Es gilt fast immer: Kein Reality-TV ohne voice over-Kommentar. Es ist die ,Stimme des Herrn', die einordnet, bewertet. Sie gehört dem Schöpfer des Videos und der im Video gezeigten Welt. Deshalb sind voice over-Kommentare so etwas wie ,Gottes Stimme' im Video, die letztlich auch erklären, worum es eigentlich geht. Denn oft sind die gezeigten Ereignisse ohne voice over-Kommentare nicht verständlich.
4.5 Nahwelt-TV Die Kamera des Reality-TV nimmt das in den Blick, was ansonsten (also den Journalisten) keines Blickes würdig ist, weil es zu banal oder zu trivial ist. Sie nimmt das Unspektakuläre auf, das Normale, das Alltägliche. Sie hält es fest, macht es auf diese Weise auch wichtig. Es zeigt das, was dem Zuschauer hätte passieren können oder seinen Freunden oder deren Freunden. Aufjeden Fall: Es zeigt das,
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was (aus der Perspektive der Zuschauer) einem von uns passierte oder hätte passieren können. Reality-TV liefert jedoch keine wirkliche Realitätserfahrung, sondern sie ermöglicht dem Zuschauer eine Anmutung von Realität. In diese kann er all seine Hoffnungen, aber auch all seine Ängste einbetten. Die Realität des Reality-TV ist dabei vor allem der ,normale' Alltag und die Nahwelt der Zuschauer. Deshalb wäre es angemessen, diese Art von Fernsehen Nahwelt-TV oder Alltags-TV zu nennen (vgl. auch Wulfr 1995). Die Welt des Nahwelt-TV ist die Welt in der Reichweite des Zuschauers und deshalb ist es die Welt, die ihn betrifft. Und deshalb macht es (für ihn) Sinn, diese Welt zu kennen. Und zu dieser Welt gehört heute auch das Fernsehen. Denn das Fernsehen bietet für ihn fast jede Art von Service an und es ist an fast jeder Stelle des (sozialen) Lebens des Zuschauers zu finden. Das Fernsehen ist nämlich nicht mehr das Gerät, das in der Ecke des Wohnzimmers präsent ist oder das als Bilderbogen auf dem Laptop mich während des Reisens begleitet, sondern das RealityTV ist eine Institution, die fast überall als Akteur präsent ist, wo Menschen miteinander leben und miteinander Probleme haben. Man kann es immer aufsuchen und man findet es leicht. Das Reality-TV hilft bei der Gesangskarriere, der Erziehung der Kinder, der Renovierung des Hauses, der Bewältigung von Schulden und es klagt Behörden und Firmen an, wenn diese den Bürgern Unrecht getan haben, die Gerichte aber schweigen.
4.6 Moral Letztlich geht es im Reality-TV immer um die Moral. Die Kamera des RealityTV, die die Geschichte erzählt, nimmt immer selbst Stellung zum Geschehen, sie bewertet unverholen. Im Reality- TV hat jede Geschichte deshalb ihre Moral (siehe auch Wulff 1995). Es ist nicht immer die Gleiche, was gleich ist, das ist, dass es eine Moral geben muss. Den Geschichten sind nämlich immer auch Botschaften inhärent - sowohl eine offensichtliche als auch eine versteckte. Somit haben die Videoproduktionen einen ,heimlichen Lehrplan' . Diesen kann manjedoch nur entdecken, wenn man nach dem Muster hinter dem Offensichtlichen sucht, also das Implizite expliziert, das scheinbar gar nicht im Fokus der Erzählung liegt. Meist ist diese Moral mittelschichtsorientiert und betont die Verantwortung des Einzelnen (vgl. Reichertz & Englert 2010). Der Einzelne soll selbst darauf achten, nicht in Bedrängnis zu kommen, er soll Unruhe meiden und sich freiwillig in die Gesellschaft integrieren. Er soll aktiv an seiner Sicherheit, an seiner Gesundheit, an seiner Arbeitskraft etc. mitarbeiten. Tut er das nicht, ist er selbst an seinem Unglück schuld.
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Es geht dem Reality- TV also nicht um die Abbildung der Realität oder um die Erzählung des Außergewöhnlichen - auch nicht um einen ästhetischen Genuss während und durch die Rezeption. Es geht immer um Moral und öffentliche Belehrung. Dies stellt das Reality- TV in eine lange Reihe - also in die gleiche Reihe wie die kirchlichen Fensterbilder, die Moritate und die Lehrstücke. Reality-TV sind Lehrstücke in laufenden Bildern - weshalb man diese Art von Fernsehen auch zu Recht mit den Fotoromanen in der Bravo in Verbindung bringen kann (die im Übrigen auch als Fortsetzungen inszeniert sind). Ein Lehrstück in laufenden Bildern will ansprechen, will unterhalten, aber auch zeigen, was richtig ist, was zu tun ist. Ein Lehrstück will immer auch erziehen. Ob es ihm auch gelingt, ist allerdings eine andere Frage. Denn bei der Rezeption und Bewertung dieser Fernseh-Moral ist ganz entscheidend, aus welcher Sozialschicht die Zuschauer kommen. Einigen wird die Fernsehmoral eine Lehre sein, anderen dient sie zur moralischen Erbauung und wieder anderen zur moralischen Aufrüstung gegen die jeweils anderen. Fernsehen kann nämlich nur anbieten, vielleicht noch nahelegen, aber keinesfalls verpflichten.
5. Die gesellschaftliche Funktion des Reality- TV Reality- TV erbringt für nicht wenige Gesellschaftsmitglieder zunehmend (auch moralische) Orientierungshilfen bei fast allen Problemen der Lebensfiihrung und der Lebensdeutung - Leistungen also, die bislang vor allem von historisch gewachsenen Institutionen wie der Religion, der Pädagogik, der Rechtsprechung, der Medizin, der Politik etc. fast exklusiv verwaltet und angeboten wurden. Fernsehen stellt somit nicht nur, aber auch (und das zunehmend) ein funktionales Äquivalent zu einigen dieser (im Prozess der funktionalen Differenzierung) entstandenen Institutionen dar. Hintergrund dieser Überlegung ist die allgemeine These, dass die im bisherigen Prozess der funktionalen Differenzierung von Gesellschaft entstandenen Institutionen keineswegs für immer in der erlangten Form Bestand haben, sondern dass auch sie sich in einem weiteren Entwicklungsprozess befinden. Einige der ,alten' Institutionen verlieren an Gewicht, einige verlagern ihren Arbeitsbereich und machen anderen, bereits etablierten Institutionen Teil-Aufgaben streitig (z.B. die Polizei der Sozialarbeit, die Religion der Psychologie und Sozialarbeit etc. und natürlich auch vice versa) und gänzlich neue Institutionen entstehen. Kurz: Beobachtbar sind zur Zeit Aufstieg und Fall gewachsener Institutionen, zudem heftige Grenzgefechte um Aufgaben, Klienten und Ressourcen und auch das Aufblühen neuer Institutionen, deren Aufgaben. Das Fernsehen und hier explizit das Reality-TV ist ein solcher neuer Akteur, der sich aktiv an der Debatte über das, was in dieser Gesellschaft normal und wertvoll ist, nachhaltig beteiligt.
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IV Securitainment
Wenn Innere Sicherheit zur Unterhaltung wird Securitainment Oliver Bidlo / Carina Jasmin Englert
1. Securitainment
Mit dem Begriff Securitainment - gebildet aus den Begriffen Security und Entertainment - bezeichnen wir das Zusammen- und Wechselspiel von Unterhaltung und der Vermittlung der Inneren Sicherheit. Der Begriff spielt dabei nicht auf den Themenkomplex "Kriminalität und Gewalt durch Medien" (Kersten 2008: 294) an, der im Sinne der Wirkungsforschung Gewaltdarstellungen in den Medien und ihre Wirkung aufdie Rezipienten in den Blick nimmt, sondern aufdie Formen der Vermittlung von Sicherheit hinsichtlich der Wahrung der gesellschaftlichen und rechtlichen Ordnung. Die gegenwärtige enge Kopplung dieser beiden Bereiche Security und Entertainment - in den Massenmedien (vor allem im Fernsehen), hat es in dieser Ausprägung noch nicht gegeben. Securitainment ist dabei nicht nur die rnassenmedial gerechte und unterhaltende Darstellung von Themen der Inneren Sicherheit, sondern umfasst zugleich eine Wirkung auf die Sichtweisen der Rezipienten, die mit dieser aufbereiteten Form der Darstellung einher geht. Kurz gesagt: Das Securitainment als eine besondere Darstellungsform, sein Angebot von Deutungs- und Handlungsmustern, wirkt zurück auf die Alltagsstruktur der Rezipienten. Diese Darstellungsform konstruiert einen neuen Erfahrungsraum, der angereichert ist mit eigenen Akteuren, Deutungsmustern und Sinnentwürfen (vgl. Dörner 2001: 31), die den Zuschauern als Folie für ihr Verständnis von Innerer Sicherheit dienen und ihnen Identifikationsangebote bieten. Denn .festzuhalten [ist], dass Innere Sicherheit ein subjektives wie objektives Konstrukt ist, das von unterschiedlichen Akteuren auf [...] unterschiedlichen Ebenen gewährleistet werden soll" (Feltes 2008: 107). Innere Sicherheit ist dergestalt auch ein mediales Konstrukt (vgl. z.B. Stegmaier 2006). Kennzeichen des Securitainments ist ein hohes Maß an Inszenierung und die theatrale Darbietung der "Schauspieler". Die Darsteller, eingebunden in eine Inszenierung (z.B. das TV-Forrnat Toto und Harry), richten sich in ihren Darstellungshandlungen nicht nur auf eine effektive Zielerreichung der Kommunikation aus, so wie es wäre, wenn sie unbeobachtet handelO. Bidlo et al. (Hrsg.), Securitainment, DOI 10.1007/978-3-531-93077-0_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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ten, sondern zielen mit ihrem theatralen Gestus auf anwesendes und abwesendes (TV-Zuschauer) Publikum (vgl. Reichertz 2007: 38). "Inszenierungen zielen auf alltagsenthebende, gesteigerte Erfahrungen des Interessanten bzw. des interessant Gemachten" (Karpenstein-Eßbach 2004: 205) und beinhalten zugleich eine gewisse Performativität. Performativität als Ansatz wird hier kulturwissenschaftlich verstanden als eine Sichtweise, welche die Handlungsfähigkeit der Akteure in den Fokus der Betrachtungen stellt. Als kulturelle Performanz sind Rituale, Theateraufführungen oder massenmediale Darbietungen gesellschaftliche Interpretationen durch die Akteure, die nicht nur kulturelle Wertvorstellungen vermitteln und Identifikationsangebote schaffen, sondern durch die auch kultureller Wandel angestoßen wird (vgl. Brückner, Schömbucher 2002). Eine besondere Rolle innerhalb des Securitainments kommt den quasi-dokumentarischen Formaten zu, die sich nicht nur an die Realität anlehnen, sondern aus ihrem Fundus schöpfen und vorgeben, diese darzustellen. Sie stellen eine Art "performatives Reality TV" (Döveling 2008: 58) dar. Beispiele hierfiir sind das schon erwähnte Format Toto und Harry oder Achtung, Kontrolle! Einsatzjür die Ordnungshüter, die nicht von professionellen Schauspielern dargeboten werden, sondern von Akteuren aus dem jeweiligen dargestellten beruflichen Feld (z.B. Polizist, Zollbeamter, Ordnungsamt usw.). Zugleich werden auch keine fiktiven Situationen, sondern in Form der Dokumentation authentische Szenen aus dem beruflichen Alltag der Akteure gezeigt. Dass es sich sehr wohl um eine Inszenierung handelt, im Sinne einer verdichteten Darstellung der Realität, werden wir am Beispiel einer Kurzinterpretation einer Folge Achtung Kontrolle! nachzeichnen. Denn auch wenn solche Situationen authentische Szenarien darstellen, sind sie fiir das entsprechende Medium - in unserem Fall das Fernsehen - vor- und nachbereitet. Diese erste Kurzbeschreibung zum Begriff des Securitainments wirft bereits die Frage auf, welche intendierten und unintendierten Folgen das Securitainment mit sich bringt. Werfen wir einen ersten Ausblick auf diese Frage. Die erste und evidente Funktion einer solchen Sendung ist die Unterhaltung des Publikums. Es muss kaum betont werden, dass ökonomische Gründe bzw. die daraufgerichteten Einschaltquoten den Ausschlag geben, ob ein Format im Allgemeinen und eine Sendung im Besonderen weiter ausgestrahlt oder aus dem Programm genommen werden. Wesentlich interessanter - und auch schwieriger zu fassen - sind die unintendierten Folgen solcher Formate, die man in die Frage gerinnen lassen kann: Aufwelche Frage oder gesellschaftliche Situation geben solche Formate eine Antwort? Unsere Hypothese diesbezüglich: Solche Formate sind ein Teilprozess der sozialen Kontrolle, die die Mitglieder einer Gesellschaft zur Verhaltenskonformität ,auffordern' und so versuchen, soziale Integration herzustel-
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len. Securitainment ist eine Gestaltungs- und Vermittlungsinstanz fiir diesen Aspekt; und Medien werden zu (kommerziellen) Sicherheitsproduzenten, "die über die gesetzlichen Anforderungen hinaus auch die Ordnungs- und Wertvorstellungen ihrer Auftraggeber umsetzen" (Singelstein, Stolle 2006: 12). Bevor wir uns der entsprechenden Interpretation zuwenden, gilt es zuvor, die bei den Begriffiichkeiten Innere Sicherheit und Unterhaltung fiir unser Vorhaben etwas genauer zu fassen und zu verdichten. Beginnen wir mit dem Aspekt der Inneren Sicherheit.
2. Innere Sicherheit und soziale Kontrolle Innere Sicherheit meint die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, den Schutz aufUnversehrtheit eines jeden Gesellschaftsmitglieds durch den Staat. Gewährleistet wird dies in einer engen Sichtweise durch die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols. Solcherart sind die wichtigsten Institutionen der Inneren Sicherheit die Staatsanwaltschaft und die Polizei. Wie oben bereits angeklungen, konstituiert sich Innere Sicherheit aber nicht nur durch rechtliche Aspekte, sondern wird durch politische und mediale Perspektiven sowie durch die subjektive Wahrnehmung der Bürger mitbestimmt. Innere Sicherheit hat als Gegenstand das (ideale) Ziel der Abwesenheit von Verbrechen. Problematisch ist dieses Ziel auch deshalb, da Kriminalität kein objektiver, im Sinne einer Unveränderlichkeit, vorhandener Tatbestand, sondern ein gesellschaftlicher Zuschreibungsprozess ist, der sich historisch und gesellschaftsspezifisch verändern kann. Was in den Kanon gesellschaftlich akzeptierter Verhaltensweisen seinen Platz findet und was nicht, wird durch den Sicherheitsdiskurs bestimmt. Die daraus resultierende Fluktuation bzw. Vagheit des Gegenstandes "gewährleistet indes, dass der Sicherheitsdiskurs an andere Ausgrenzungsstrategien leicht anknüpfen kann. [. . .] Die Instrumente der Kontrolle und Repression schaffen in diesem Sinne gar erst die Verbrechen, die zu kontrollieren sie beabsichtigen." (Kunz 2005: 16) Und wer diesen Sicherheitsdiskurs beherrscht, entscheidet, wer und was "als Feind der Inneren Sicherheit zu gelten hat und umgekehrt, wer zu den Bedrohten zu zählen ist" (Kunz 2005: 16). Den Bürgen muss Sicherheit vermittelt werden. Dies geschieht einmal auf der unmittelbaren Erfahrungsebene durch den Schutz der Person vor eigener Viktimisierung. Darüber hinaus sind es die Massenmedien - hier besonders das Fernsehen - die in einem verstärkten Maße die Wahrnehmung der sozialen Welt, und damit auch der Sicherheit, bestimmen. Sie stellen dabei einen Weltzugang dar. Im Zusammenhang mit Innerer Sicherheit reicht dieser angebotene Weltzugang von der Nachrichtenberichterstattung bis zu fiktiven Unterhaltungsangeboten. Mas-
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senmedien - so unsere These - vermitteln hier nicht nur und berichten über Innere Sicherheit, sondern agieren vermehrt auf diesem Feld (vgl. auch Reichertz 2009). Und das Securitainment hat in diesem Zusammenhang zur Folge, soziale Kontrolle zu generieren. Soziale Kontrolle bezeichnet die verschiedenen Praktiken, mit denen eine Gesellschaft alle Gesellschaftsmitglieder zur Normkonformität anhält. Innere Sicherheit wird dergestalt auch über den Aspekt der sozialen Kontrolle gewährleistet. Soziale Kontrolle als Instrument der Sicherstellung von Innerer Sicherheit ist ebenfalls abhängig von gesellschaftlichen Bedingungen und umfasst dabei nicht nur staatliche, sondern auch mediale und private Mechanismen und Prozesse, die die soziale Integration sicherstellen. Dies sind beispielsweise Familie, Beruf, das soziale Umfeld, aber auch die Medienberichterstattung und -unterhaltung.' Und die Massenmedien sind hier wesentlicher Bestandteil des Kommunikations- und Vermittlungsraumes, durch den die Kommunikation über soziale Kontrolle erfolgt. Neben Diskussionsrunden, Informations- und Nachrichtensendungen sind es die bereits angesprochenen Sendungen wie Z.B. Toto und Harry oder Achtung Kontrolle!, die dieses leisten. Dabei geht es in erster Linie nicht um die Vorstellung, dass ein solches Angebot mit einem intentional manipulativen Anspruch dargeboten wird. Vielmehr greift das Fernsehen Diskurse auf, prozessiert sie z.B. in Form der angesprochenen Sendungen und distribuiert diese wiederum durch die Ausstrahlung. Und diese stößt wiederum - auch im Sinne der Gouvernementalität - die Wirklichkeits- und Wahrheitskonstruktionen der Rezipienten an. "Welche Interpretation der Wirklichkeit sich dabei durchsetzen und als Realität verankert werden kann, ist danach gleichwohl nicht zufällig, sondern folgt Regeln und ist [...] geprägt von gesellschaftlichen Machtstrukturen." (Singelstein, Stolle 2006: 109) Die durch das Securitainment vermittelte soziale Kontrolle wird beim Rezipienten zu einer inneren Selbstkontrolle, indem dieser seine Verhaltensweisen mit denen in der Sendung gezeigten und den daraus folgenden Reaktionen der Ordnungshüter abgleicht. Die dort gezeigten Handlungen und die Reaktionen darauf vermitteln - gewollt oder ungewollt - klare Verhaltensanforderungen und wünschenswerte Reaktionsmuster. Zwar wird durch die Darstellung der Ordnungshüter eine Fremd:fiihrung angedeutet; diese mündet aber nicht in einer expliziten Verhaltensaufforderung, tritt also nicht offen zutage. Vielmehr sollen die Bilder oder die unaufdringlich gezeigten Folgen eines devianten Tuns für sich sprechen. Sie sollen so eine gewisse Wahrheit produzieren, die sich in der Selbst:fiihrung sedimentieren kann. Macht und Herrschaft treten hier nicht mehr offen konfrontativ Für die genannten staatlichen und privaten Mechanismen vgl. Singelnsteinl Stolle 2006. Es ist verwunderlich, dass dort nicht auch die Medien genannt und in den Blick genommen werden.
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oder imperativ auf, sondern setzen sich vielmehr über Zustimmung und Akzeptanz durch (vgl. Singe1stein, Stolle 2006: 116). Fremdführung maskiert sich so als Selbstführung. Dies darfnicht dazu verleiten, hier den Topos der gezielten Manipulation des Publikums durch Medien von Seiten eines Herrschenden zu vermuten, so wie ihn Adorno und Horkheimer vertraten. "Vorstellungen von eindeutiger Herrschaft, gemäß der die Medienanbieter an den Hebeln der Macht sitzen und die passiven Konsumenten lenken," (Hieber 2008: 99) übersehen die Eigenaktivität der Rezipienten, unterstellen eine monokausale Wirkweise und eine daraus entstehende Hierarchie, die es in dieser Eindeutigkeit nicht gibt. Dennoch bleibt ein Einfluss oder besser: eine Wirkung, die wir durch Securitainment sehen, und die liegt in der Sedimentierung und Etablierung bestimmter gewünschter Verhaltensweisen. Die Inhalte des Securitainments werden durch den herrschenden Diskurs geleitet, wobei Herrschaft oder Macht nicht immer offen zu Tage treten und agieren, sondern auch im Verborgenen wirken. Genau genommen ist Securitainment eine Verdichtungen im herrschenden Diskurs zur Inneren Sicherheit - der Diskurs verstanden "als subjektunabhängig gedachte Verkettung von Elementen und Argumenten" (Schaal/Heidenreich 2006: 228) -, der dort pointiert zur Darstellung kommt und an dem sich dann Handlungen koppeln, durch die wiederum eine Praxis konstituiert wird. Securitainment ist dergestalt eine narrative Strategie innerhalb des herrschenden Diskurses. Und neben der sozialen Kontrollfunktion des Securitainments beinhaltet es einen weiteren wichtigen Aspekt. Es stellt die dargestellte soziale Kontrolle als legitimiert und nötig dar und fordert so Akzeptanz fiir das Vorgehen und der gegenwärtigen Verhältnisse. Und die unterstellte allgegenwärtige Präsenz der Regellosigkeit, Bedrohung und Kriminalität ist ein wesentlicher Aspekt fiir die Akzeptanz der Kontrollen. "Die Existenz dieser permanenten kleinen inneren Gefahr gehört zu den Voraussetzungen fiir die Akzeptanz des Kontrollsystems. Deshalb räumt man der Kriminalität in Presse, Radio und Fernsehen aller Länder der Erde so viel Platz ein, als wäre sie jeden Tag eine Neuigkeit." (Foucault 2005: 233) Die Medien rezipieren und distributieren in solchen Formaten jedoch nicht einfach die herrschende politische Einstellung zum Thema Innere Sicherheit. Vielmehr werten sie den Einzelfall auch aus eigener Perspektive, indem sie z.B. Beschuldigte zu Wort kommen lassen und mitunter Sympathie fiir sie wecken oder durch eindeutige Kommentierungen gewisse Sachverhalte als sozial nicht wünschenswert ausweisen. Damit werden die Medien zu Akteuren im Feld der Inneren Sicherheit, mit eigenen Deutungsabsichten und Handlungsempfehlungen.
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3. Unterhaltung als Totalphänomen Massenmedial inszenierte Unterhaltungsangebote sind in unserer heutigen Gesellschaft omnipräsent, wobei das Fernsehen als Leitmedium der Unterhaltung gilt. Demzufolge haben sich Unterhaltung beziehungsweise Entertainment zu einem Untersuchungsgegenstand entwickelt, der nicht mehr lediglich im Interessensgebiet der Psychologie, der Literatur-, Medien- und der Kommunikationswissenschaft liegt, sondern Unterhaltung wird zunehmend selbstverständlicher Bestandteil weiterer Wissenschaftsdisziplinen, wie u.a. der Politologie und der Kriminologie. So haben sich Unterhaltung und Entertainment nicht nur gemäß dem Alltagsverständnis zum "sozialen Totalphänomen" (Saxer 2007 : 19) entwickelt. Doch was ist Unterhaltung? ,Unterhaltung' respektive ,Entertainment' wird hier weniger als Gedankenaustausch, denn mehr als ,Kurzweil', ,Zeitvertreib' oder ,Zerstreuung' verstanden und in diesen Zusammenhängen kann Unterhaltung unterschiedlichen Ausprägungen unterliegen. Dabei geht es u.a. wo die Einübung von Wertvorstellungen und nicht zuletzt wo die emotionale Verstärkung von Weltbildern (Schicha, Brosda 2002: 10). Schicha und Brosda unterscheiden darüber hinaus zwischen formalen Kategorien der unterhaltenden Darstellung und unterhaltsamen Inhalten. Während erstere beispielsweise mit Annehmlichkeiten, Stimulation, Entlastung und Erholung verbunden sind, rufen zweitere Assoziationen wie Flucht aus der realen Welt, Banalität, Belanglosigkeit und Trivialität hervor (vgl. Schicha, Brosda 2002: 10f.). Dies löst allerdings noch nicht die Frage danach, wie Unterhaltung bzw. "Entertainisierung" (Saxer 2007: 21) mit Information in Fernsehformaten verbunden werden und welche Rolle die Unterhaltung dabei übernimmt. Es ist bisher lediglich deutlich geworden, dass sich auch dem ,Ernst verschriebene Wissenschaften' wie Politologie oder Kriminologie der Thematik ,Unterhaltung' im Kontext der Medien nicht mehr verschließen können. Dies bestätigt Kamps mit der Erläuterung, dass im Zuge der ,Entertainisierung' die Orientierung an unterhaltenden Formaten zum Zwecke der Kommunikation ansteigt und ursprüngliche (Fernseh-) Formate vom Informations- in den Unterhaltungsmodus wechseln (Kamps 2007: 149). Bereits in den als Dokwnentar- beziehungsweise als Nachrichtensendungen ausgewiesenen Formaten des Fernsehens werden Informationen mit aufregenden Bildern ausgeschmückt und ereignisreiche Storys ,inszeniert' (vgl. hierzu auch Englert/Roslon in diesem Band). Zunehmend liegen .Hybridformenden" (Hickethier 2007: 176) und ,hybride Genres' des Fernsehens, wie beispielsweise halbdokwnentarische oder halbfiktionale Sendungen im Interesse des Fernsehzuschauers (Schicha, Brodsa 2002: 7), man bedenke hier allein den Anstieg von Reality-TV-Sendungen im deutschen Fernsehen (vgl. hierzu auch Reichertz in diesem Band). Die "mediale Erlebnisgesellschaft" (Dör-
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ner 2001: 40) oder auch die .Femsehgeneration" (Peiser 1996) wünscht sich zunehmend aufregend verpackte Information, bei einer ansteigenden Zuschauerzahl ,schlägt' demzufolge die Unterhaltung die Information (Corsa 2005). Allerdings gilt hierbei nicht, dass sich Information und Unterhaltung dabei ausschließen, sondern sie gehen in den ,Hybridformaten' des Fernsehens eine Verbindung ein. Auch hieran zeigt sich, dass die Entertainisierung und die .Boulevardisierung'? (Kleiner, Nieland 2004) von Informationen voran schreitet, sodass es zu einer zunehmenden .Fiktionalisierung'' der Informationskultur kommt, von Leder auch als "Infotainisierung" (Leder 1996: 92) definiert. Termini wie "Infotainment" (Wittwen 1995), .Politainment" (Dörner 2001) und .Edutainment" (Mangold 2004) entstehen. Der Feel-Good-Faktor, das heißt die ansprechende Inszenierung von Informationen, hat Hochkonjunktur, wie es bereits seit mehreren Jahren am Beispiel der halbdolrumentarischen Formate, die sich mit den Themen der Inneren Sicherheit beschäftigen (z.B. Schneller als die Polizei erlaubt oder Recht & Ordnung), erkennbar ist. Dies ist darauf zurückzuführen, dass Unterhaltung ein emotionales Geschehen darstellt, aus welchem mannigfaltigste Gratifikationen resultieren (Saxer 2007: 19). Nicht umsonst steigen die Einschaltquoten, wenn es beispielsweise zu einer zunehmenden Personalisierung, Emotionalisierung und Dramatisierung der Fernsehinhalte kommt, welche am besten mit einer möglichst geringen Distanz zum Zuschauenden gezeigt werden (vgl. hierzu Englert/Roslon in diesem Band) Dabei ist die Inszenierungstendenz von Informationsinhalten keine neue Erscheinung. Bereits 2002 erläutern Thomas Meyer und Christian Schicha die Tendenz zur Inszenierung der Politik im Fernsehen, die eine zunehmende Relevanz erlangt (Meyer, Schicha 2002: 53). Erika Fischer-Lichte betont überdies, dass in der Welt nichts existiert, was völlig frei von Inszenierung ist, sie ist demzufolge den Dingen unserer Welt inhärent (Fischer-Lichte 1998: 88f). Fischer-Lichte definiert den Terminus der ,Inszenierung' gemäß der Theaterwissenschaft als schöpferischen Prozess zur Verbindung zwischen etwas Imaginärem-Fiktivem und etwas Realem-Empirischem (Fischer-Lichte 1998: 88). Meyer und Schicha bestärken diesen Gedanken von Fischer-Lichte und erklären, dass auch "Infotainment [...] 2
.Boulevardisierung zeichnet sich durch einen allgemeinen Verfall journalistischer Standards (etwa Objektivität, umfassende Recherche, Wahrung ethischer Grundsätze etc.) aus; durch einen Rückgang räsonierender (z.B. Politik und Wirtschaft) und einen gleichzeitigen Anstieg unterhaltender Themen (u.a. Skandale, Sensationsmeldungen, Sex, Lifestyle), durch die der Massengeschmack bedient werden soll; eine Zunahme von Serviceleistungen; starke Personalisierungen und Emotionalisierungen sowie zynische und ironisierende Kommentare, die eine bestimmte Diskurs-Hippness unterstreichen wollen. Diese inhaltlichen Boulevardisierungstendenzen werden zudem sprachlich und optisch unterstützt, etwa durch die Annäherung an die Umgangssprache, Verwendung vieler Photos, vergrößerte überschriften sowie plakative Aufmacher und EyeCatcher." (Kleiner, Nieland 2004: 2)
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in hohem Maße informieren [kann und dass] [p]rinzipiell [... ] alle Inszenierungsformen und Inszenierungsgrade für der Sache angemessene Informationen offen [sind]" (Meyer, Schicha 2002: 57). Daher ist es vielmehr entscheidend, aufweIehe Art und Weise und in welchem Maße Elemente des Fiktionalen-Imaginären und des Realen-Empirischen in der Inszenierung zum Einsatz kommen und welcher Anspruch mit dieser spezifischen Art der Inszenierung erhoben wird (Meyer, Schicha 2002: 53). Am Beispiel von fiktionalen Serien im Kontext der Inneren Sicherheit zeigt sich, dass Inszenierung und Theatralität hier aufgrund ihrer starken Ausprägung beispielsweise in Form von Drehbuchcharakterären, Actionszenen oder kohärenten Handlungssträngen meist deutlich hervortreten. Doch wie verhält es sich mit dokumentarischen respektive halbdokumentarischen Formaten mit dem Anspruch die ungestellte Realität wiederzugeben? Augenscheinlich scheint die Begleitung der Autobahnpolizei bei der Kontrolle von LKW-Fahrern an der Grenze zwischen Deutschland und Tschechien zunächst nicht sonderlich interessant. Wehrt sich jedoch der LKW-Fahrer gegen ein Bußgeld, das ihm seiner Meinung nach ungerechtfertigt auferlegt worden ist, wirkt das Geschehen schon wesentlich interessanter. Werden außerdem die vermeintlich ,langweiligen' Szenen wie die vorherige Kontrolle von einigen LKW-Fahrern, die anstandslos verlaufen sind, für die spätere Sendungsausstrahlung herausgeschnitten und mit Musik beziehungsweise voice over-Kommentaren hinterlegt, die bestimmte Deutungen nahelegen, steigt der Unterhaltungsfaktor. Hierzu ein kleines Gedankenexperiment: es besteht ein eindeutiger Unterschied in der Darstellung eines Autobahnpolizisten, der seiner Arbeit nachgeht, einen völlig übermüdeten LKW-Fahrer erwischt und diesen nach dem voice over-Kommentar ,völlig zu Recht aufgrund der von dem übermüdeten LKW-Fahrer ausgehenden Gefahr' aus dem Verkehr gezogen im Gegensatz zu einem Autobahnpolizisten, der mit einer typischen Zirkusmusik begleitet, die gleiche Situation auflöst und vom voice over-Kommentar als ,zu übertriebene Reaktion, die LKW-Fahrer machen doch nur ihren Job' dargestellt wird. Verändert sich in dieser Situation auch noch die Kameraperspektive von der Halbtotalen zur Totalen, sodass der Zuschauer vor dem Fernseher der Eindruck hat, live dabei zu sein und sich in die Situation hinein fiihlen kann, wird aus der Arbeit der Autobahnpolizei ein unterhaltsames Format für den späteren Fernsehabend. All diese Maßnahmen können unter dem Terminus ,Inszenierung', das heißt die Verwendung theatraler Elemente, zusammengefasst werden, der wortwörtlich als ,in Szene setzen' zu verstehen ist (Hickethier, Bleicher 1998: 369). Überträgt man diesen Gedanken auf die technischen Medien handelt es sich sogar um eine doppelte Inszenierung: Sowohl die Akteure vor der Kamera als
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auch die durch Technik vorgenommenen Veränderungen, wie Schnitt oder Montage und der Einsatz eines Sprechers, lassen eine elektronische Variante beziehungsweise ein endgültiges Inszenierungsprodukt entstehen (Hickethier, Bleicher 1998: 369). Dieser Gedanke lässt sich sogar noch weiterführen, indem man auf die ,Hyper-Ritualisierung' im Sinne Goffinans (Goffman 1981: 328) Bezug nimmt. Über die Inszenierung vor der Kamera, sprichjiir die Kamera hinaus, inszeniert sich der jeweilige Akteur zudem selbst. An einem Beispiel erläutert bedeutet dies, dass sich das im alltäglichen Leben ständig inszenierende Mitglied einer Gesellschaft vor der Kamera erneut inszeniert, um eine weitere Rolle in der Rolle einzunehmen, denn der Autobahnkontrolleur möchte sich und seine Arbeit natürlich als möglich korrekt und gerecht darstellen. Diese Aufnahmen werden dannin einem dritten Schritt in einen weiteren Grad der Inszenierung überführt, dadurch, dass die aufgezeichneten Szenen erneut überarbeitet und ihnen durch Schnitt und Montage eine narrative Struktur verliehen wird. Es kommt hier in vielen Fällen zu einer überhöhten Standardisierung, Übertreibung und Vereinfachung von Ritualen (Goffinan 1981). ,Rituale' werden in der Goffman'schen Theorie als stark betonte respektive überbetonte Handlungs- und Verhaltensweisen aufgefasst und erinneren weniger an die alltägliche Bedeutung der Zeremonie. Eine Überlegung wäre in diesem Zusammenhang, ob hier nicht sogar von einer ,Hyperinszenierung' gesprochen werden könnte. Hier zeigt sich, dass uns das, was uns tagtäglich in der Realität begegnet, oft unscharf und ambivalent erscheint und dieses erst durch die mediale Inszenierung ein Geschehen klar strukturiert und leicht verständlich wird (Hickethier, Bleicher 1998: 369). So werden Zusammenhänge schnell deutlich und einfach verständlich ohne dass es einer näheren Einfiihrung in den jeweiligen Sachverhalt bedarf. Auf diese Weise entstehen völlig neue Ordnungen, eine schöne neue Welt, die den Anspruch erhebt real zu erscheinen und auch erscheint (Thomas-Theorem). Diese Welt wird von inkorporierten Akteuren (vgl. hierzu auch den Beitrag von Englert/Roslon in diesem Band) nach bestimmten gesellschaftlich gültigen Idealen konstruiert. In diesem Zusammenhang spricht Siegfried Kracauer von der "Errettung der äußeren Wirklichkeit" und der ,,Affinität zur ungestellten Realität" (Kracauer 2003: 95fl). Dass dieser Anspruch jedoch nahezu nie in Fernsehinhalten seine Erfüllung findet wird alleine am ersten längeren amerikanischen Dokumentarfilm Nanuk der Eskimo (im Originaltitel Nanook ofthe North) von Robert Flaherty aus dem Jahr 1922 deutlich. Dabei handelt es sich vielmehr um den Versuch, die Wirklichkeit nahezu ,perfekt' zu inszenieren, sodass man sich im gleichen Zug von der ungestellten Realität entfernt (Hickethier, Bleicher 1998: 370), was bis heute auch für nahezu alle dokumentarischen Formate der Inneren Sicherheit gilt. Dieser Prozess der Inszenierung wirkt
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sich entscheidend auf die gesellschaftliche Gegenwartskultur aus (Fischer-Lichte 2000: 11), denn die mediale Inszenierung der Arbeit eines Ordnungshüters vermittelt den Zuschauern ein bestimmtes Bild, ein Verständnis von dem, was in der Inneren Sicherheit vor sich geht. Diese Entwicklung ebnet den Wegfür Termini wie das bereits erwähnte ,Infotainment' (Wittwen 1995), ,Politainment' (Dörner 2001) oder ,Edutainment' (Mangold 2004), die den Versuch unternehmen, die völlig neuen Umstände der fortschreitenden Entertainisierung zu erfassen. Es entsteht eine regelrecht als ,Familie' zu bezeichnende Fülle an ,-...tainments' (Mattusch 1997: 124). Während das Infotainment die Verschränkung jeglicher Wissensvermittlung mit unterhaltenden, meist emotionalen Aspekten bezeichnet und dergestalt die Weitergabe von Wissen und die Glaubwürdigkeit in den Hintergrund treten lassen kann (Mangold 2004: 536), wird dem Edutainment die Aufgabe zugeschrieben, besonders den Aspekt der Lemmotivation und den Lernerfolg durch Spaß- und Unterhaltungselemente zu forcieren (ebd.). Man könnte diesbezüglich davon ausgehen, dass ein weiterer neuer Begriff augenscheinlich überflüssig sei. Bei näherer Betrachtung fällt allerdings auf, dass das Securitainment weder dem Infotainment, noch dem Edutainment und schon gar nicht allein dem Politainment (aufgrund seiner Themenzentriertheit der Politik) zuzuordnen ist. Zunächst ist im Securitainment die Weitergabe von Wissen, wie im Infotainment der Fall, nicht von Beginn an als sekundär zu klassifizieren. Allein in den alltäglichen Situationen, wie bei der Einhaltung von Parkverboten, ruft sich mancher Kenner von Serien des Securitainments die Erinnerung an die letzte Folge von Schneller als die Polizei erlaubt zurück, dass dieses Bußgeld und die Punkte in Flensburg :für zu schnelles Fahren es nicht wert sind, eine solche Strafe zu riskieren. Ebenso wenig ist das ,Securitainment' eindeutig dem ,Edutainment' zurechenbar, denn es muss - und lässt es sich meist auch nicht - den Sendungen ein eindeutig angestrebter Erziehungs- respektive Lernerfolg von den Konzipienten ausgehend zuordnen. Vielmehr entscheidet die Einschaltquote über den Erfolg einer Sendung. Dass sich in letzter Instanz tatsächlich Folgenfür das Verständnis von Innerer Sicherheit zeigen, muss von den Fernsehsendern (eingeschlossen hier die inkorporierten Akteure wie Regisseure und Drehbuchschreiber der Serien) folglich nicht beabsichtigt sein, denn letztendlich entscheidet die Einschaltquote und das damit verbundene Interesse an bestimmten Inhalten und deren Umsetzung über den Erfolg oder Nicht-Erfolg der Wissenserweiterung beziehungsweise Wissensmodulation. Das heißt, wie die Rezipienten Schneller als die Polizei erlaubt oder Recht & Ordnung interpretieren und in der Praxis mit unseren Mitmensch dieses Wissen umsetzen respektive anwenden, gilt als entscheidend :fürdie Konstruktion des Verständnisses von Innerer Sicherheit. Darüber ent-
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scheiden nicht die Intention und das Ziel der inkorporierten Akteure allein, falls diese überhaupt vorhanden ist. Ein Medium wird so (beabsichtigt oder nicht) zum Akteur in der gesellschaftlichen Konstruktion von Innerer Sicherheit (Feltes 2008: 105). Wenn auch nicht alles, was wir wissen allein aus den Medien stammt (Reichertz 2007: 17), gilt dennoch "Kommunikation und Medien haben die Welt verändert und werden sie auch weiterhin verändern" (Reichertz 2007: 11), dies gilt auch fiir den Diskurs der Inneren Sicherheit in Deutschland.
4. Interpretation der Sendung Achtung Kontrolle! Einsatzjür die Ordnungshüter "Vergessen Sie den Tatort, wie Sie ihn bisher kennen! Alles erfunden, alles nicht echt! ,Achtung Kontrolle Spezial' zeigt das wirkliche Leben von Polizisten und Zöllnern; Ordnungshüter an ihren,Tatorten', wie man sie noch nicht gesehen hat: als zeitversetzte ,Live-Reportage'. [...] Ob Polizei, Zoll, Gerichtsvollzieher oder Lebensmittelkontrolleure - die Ordnungshüter sorgen dafiir, dass Gesetze eingehalten und Straftaten verfolgt und aufgedeckt werden." So kündigt der Sender Kabel 1 das "Reportage-Format" auf seiner Internetseite an.' Die Ankündigung betont, dass das "wirkliche Leben" gezeigt werden soll, es sich also um echte "Fälle" und Situationen handelt, es sich um keine Fiktionen, sondern eine Dokumentation der dargestellten Ereignisse handelt. Das Format soll authentisch, echt, wirklich sein. Die erste Sendung der "Ordnungshüter" wurde am 02.06.2008 ausgestrahlt. Die hier interpretierte Folge war am 05.03.2009 auf Kabel] zu sehen. Für die nachfolgende kurze Fallanalyse möchten wir einige Vorbemerkungen vorausschicken. Unser Ansatz ist geleitet von der wissenssoziologischen Annahme, dass die Wahmehmungs- und Kommunikationsweisen von Handelnden und die daraus resultierenden Vergemeinschaftungen deutend verstanden werden können. Und über audiovisueller Artefakte werden "Veränderungen in der Struktur und der Materialität kommunikativen Handelns" (Raab 2008: 165) innerhalb von Sehgemeinschaften angestoßen. "In Gesellschaften, die ihre Mitglieder zunehmend auch medial sozialisieren, sind die audiovisuellen Medien zusätzliche gesellschaftliche Institutionen. Sie bestimmen die soziale und kulturelle Ausformung des Sehens mit und fiihren es hin zu neuen, verfeinerten Formen der Erfahrung." (ebd. 165) An einigen wenigen Stellen der Interpretation haben wir zusätzliches Kontextwissen eingefiigt, um die Interpretation zu verdichten und nicht zu umfangreich werden zu lassen. 3
Zu finden unter http://www.kabeleins.de/doku_reportage/achtunlLkontrolle! am 10.04.2009.
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Bevor wir zur kurzen Inhaltsangabe des von uns ausgewählten Sendungsteils kommen, und daran anschließend einzelne Sequenzen interpretieren, skizzieren wir kurz die Vorschau. Die Sendung beginnt zunächst mit der Vorschau, die die zwei in der Sendung dargestellten Themen mit einem Szenenzusarnmenschnitt vorstellt und mit einem Kommentar untermalt. Die Vorschau beginnt unvermittelt mit Szenen der zweiten Kontrolleurs-Geschichte, die Lebensmittelkontrolleure bei einer Restaurantkontrolle zeigt. Nach einer 15-sekündigen Sequenz wird zur nächsten Geschichte übergeleitet, die von einem Sicherheitsdienst auf einer großen Uni-Party handelt. Diese Sequenz ist 45 Sekunden lang. Abgeschlossen wird der Vorspann mit dem üblichen 10 Sekunden Achtung Kontrolle! -Trailer und endet mit dem AchtungKontrolle !-Symbol. Danach beginnt der zweite in der Vorschau vorgestellte Fall von einem privaten Sicherheitsdienst auf einer großen Universitäts-Party, die wir an dieser Stelle kurz vorstellen und anschließend interpretieren wollen. Die Kamera begleitet in diesem Fall das Team eines privaten Sicherheitsdienstes, der für die Sicherheit einer großen Universitätsparty engagiert wurde. Der Sicherheitsdienst verfolgt das Geschehen vor der eigentlichen Partyhalle, sichert die Eingänge, regelt den Einlass und bewegt sich zudem in der Halle zwischen den Besuchern. Im Fokus steht der Sicherheitschefnamens Guido, welcher sich in Begleitung eines Mitarbeiters auf den Weg durch die Halle macht und auch vor der Halle aktiv ist. Dabei wird Guido interviewt, einige Ereignisse gezeigt und diese durch eine Stimme aus dem Offkommentiert. Diese Teilfolge endet mit einer Szene, in der Guido zwei Studierende endgültig des Platzes verweist bzw. keinen weiteren Einlass mehr gewährt und die Studierenden dieses schlussendlich akzeptieren. Jeder einzelnen Folge dieser Sendung ist ein Vorspann vorangestellt, welcher jeder Folge in gleich bleibender Form der Sendung vorangestellt ist und in die allgemeine Thematik des Formats Achtung Kontrolle! einführt. In dem in den Farben rot und weiß gehaltenen, mit Musik unterstrichenen und damit dynamisch wirkenden Vorspann, werden Ordnungshüter in zahlreichen Situationen unterschiedlichster Art gezeigt. Von Händen in Handschellen über Polizeibeamte, die in einem Treppenhaus eine Wohnungstür eintreten und einem ,Polizeibu1li' mit Sirene im Einsatz zum Polizisten mit einem Blitzgerät und einem Zollbeamten, der eine Kelle schwingt sind die Akteure der Inneren Sicherheit zu erkennen. Abschließend schnellt eine Hand ins Bild, welche ein Abzeichen in Form eines Schildes mit der Aufschrift Achtung Kontrolle! Einsatz fiir die Ordnungshüter. Bereits dieser Vorspann definiert einleitend jeder Sendung, wer als Ordnungshüter gilt und vor allem auch, was diese Ordnungshüter für Sonderrechte gegenüber der zivilen Bevölke-
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rung besitzen.Bemerkenswertan der zu analysierenden Folge ist, dasshierbei ein privatesSicherheitsuntemehmenim. Fokus der Sendung steht,welches im. Vorspann zwar gar nicht angesprochen. aber auch nicht negiert worden ist. Beginnen möchten wir mit der Interpretationdes Achbmg Kontrolle/-Symbols (Bild), das zum. Ende des Vorspanns und vor Beginn der ersten Geschichte zu sehen ist. Das Symbolselbst wird übrigenswährend der ganzen Sendung, ähn-
lich wie das Programmsymbol (Kabel] Zeichen), eingeblendet.
Das Standbild zeigt eine Art Klapptasche, die von einer Hand ins Bild bewegt wird, und die im unterenTeil dasAchtung Kontrolle/-Symbol zeigt. Die Form des Symbols gleicht einem Schild, was durch die blankpolierte,silberne Optik unterstrichen wird. Es trägt alsAufschrift den Titel der Sendung. Das gesamte Arrangement - Handbewegung, K1apptasche und silberne Marke - erinnert an eine FBIMarke oder einen Marshall-bzw.entferntan einenSheriffstem aus entsprechenden Hollywood.-Filmen und wird so bewusst in den Kontext der Polizei gestellt. Ordnungshiiter sind jedoch nicht nur Polize:ibeamter jegliche Couleur, sondern z.B. auch Bedienstetedes Ordnungs- oder Gesundheitsamtes und - wie sich durch die kurze Inhaltsangabe bereits angedeutet hat - fiir die Produzenten der SenduIlg auch Mitarbeiter privater Siche:rheitsdienste. Das polizeilicheArrangement gilt ebenfalls :I:ür die Klapptasche. Eine Marke ist zwar teilweiseAusstattungsmerkmal der deutschenPolizei (z.B. Kriminalpolizei), nicht aber in dieser Form. Die Klapptasehe ist zudem. bei der deutschenPolizeioder anderen Ordnungsinstitutionen kein Ausstattungsgegenstand. Dienstausweisund ggf. eine Markemüssen selbstuntergebracht werden. Seit einiger Zeit können allerdings entsprechende Berufsgrup-
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pen auf eigene Kosten ähnliche Ausweismappen, wie die gezeigte, im Internet bei Polizei- und Securityausstattern erwerben (vgl. z.B. www.enforcer.de). Das Schildsymbol unterstreicht zugleich eine Schutzfunktion, die von der verschriftlichten Handlungsaufforderung Achtung Kontrolle! ausgeht. Das Schild dient dem Schutz des dahinter Liegenden. Der Schriftzug ist im wahren Sinne des Wortes das, was der Träger - der Ordnungshüter - im Schilde fiihrt. Das Schild schützt seinen Träger - vormals den tugendhaften Ritter -, hier den Ordnungshüter, der wiederum die soziale Ordnung repräsentiert, die geschützt werden muss. Kontrolle dient in diesem Sinne dem Schutz. Die Kameraperspektive ist so ausgerichtet, dass man als Zuschauer von unten nach oben auf das Symbol blickt. Dies erweckt zum einen denn Eindruck, als schaue man sitzend auf das Bild. Zum anderen "schwebt" das Schild als Sinnbild für die Ordnung und das Recht über den Zuschauer und drückt damit die zwei ihm inhärenten und zusammenspielenden Funktionen aus. Es dient dem Schutz, der wiederum durch Kontrolle erreicht wird. Ein völlig anderer Ausdruck bzw. andere Vorstellung von Kontrolle hätte man erreicht, wenn man statt des Schildes eine Überwachungskamera als Symbol für die Sendung gewählt hätte. Die Kamera impliziert den Überwacher, das allsehende Auge, das eine eher bedrückende Stimmung verbreitet und einschränkend, spionierend wirkt. Das Schild symbolisiert eine andere Vorstellung von Sicherheit; es steht für den Schutz und nicht für die Überwachung. Somit wird mit dem Schriftzug Achtung Kontrolle! Einsatz für die Ordnungshüter in Kombination mit dem Schildsymbol die Ausrichtung des Formates mitgeteilt. Es geht um die Bewahrung von Sicherheit und Schutz, und es gibt Menschen, die sich hierfür und für die Gemeinschaft einsetzen. Doch nicht nur diese Klapptasche kann Bestandteil der Requisiten des (Rollen-) Trägers sein, sondern in dieser aktuellen Sendung ebenso Kleidung der Sicherheitsleute. Die Schulterklappen und der dunkelgrüne Aufnäher mit dem dort eingestickten unterstrichenen Namen der Sicherheitsfirma an beiden Oberarmen des lindgrünen Hemdes erinnert an eine Polizeiuniform. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um einen staatlichen Vertreter der Ordnung, sondern um ein privates Sicherheitsunternehmen. Dennoch erscheint die Bekleidung durch die soeben hervorgehobenen Merkmale als eine Art offizielle Uniform, die darauf hinweist, dass der Person, die sie trägt, ein besonderer Status in ihrer Umgebung zukommt. Obwohl die beiden Angestellten des privaten Sicherheitsunternehmens lediglich Hausrecht ausführen dürfen, sprich, die gleichen Rechte und Pflichten besitzen wie jeder andere deutsche Staatsbürger, erlangen sie durch ihre Requisiten Autorität und ihnen wird die Rolle des Ordnungshüters auf dieser Bühne der Universitätsparty zugeschrieben (Goffinan 2003). Durch ihr autoritäres Verhalten erfüllen
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sie selbst wiederum die an sie gestellten Erwartungen. Die Ordnungshüter sind für ihre Berufsgruppe damit "typisch": Sie treten selbstbewusst mit fester Stimme auf, bewegen sich sicher in der Menge und scheuen sich vor keiner Auseinandersetzung. Sie verhalten sich autoritär - und auf diese Weise sind sie es auch (vgl. Thomas-Theorem). Dieses Bild der Ordnungshüter verfestigt sich im Verlauf der Sendung. Der Sicherheitsangestellte Guido erläutert zu Beginn der Sendung, dass gleich etwas passieren wird, spricht im Polizeislang und benimmt sich auf genau die Weise, wie sich ein Ordnungshüter eben zu benehmen hat. Dass sich seine Prophezeiungen, dass es bald Ärger geben wird, erfüllen, scheint selbstverständlich, denn er kennt sich aus. Die Bühne für dieses Schauspiel der Ordnungshüter wird gleich zu Beginn der Sendung eröffnet. Aus der anfangs eingeblendeten amorphen Masse von Studierenden heben sich die Ordnungshüter nicht nur aufgrund ihrer Kleidung und ihres Auftretens hervor, sondern auch die Stimme aus dem Offund die Kamerafiihrung verstärkt diesen Eindruck. Einleitend erläutert der Kommentator die Faktenlage mit den Eckdaten des Ortes, des Ereignisses und betont, dass es sich um eine Universitätsparty mit 10.000 Teilnehmern handelt, auf der 20 Sicherheitsleute für Ordnung sorgen. Hieraus lässt sich nicht nur sehr gut die Kräftedarstellung schlussfolgern, nämlich, dass 20 Sicherheitsangestellte ausreichen, um 10.000 potenzielle Unruhestifter auf der Party zurechtzuweisen, sondern es wird ebenso anhand weiterer Erläuterungen deutlich, dass diese Ordnungshüter tatsächlich zur Herstellung Innerer Sicherheit benötigt werden: "Die Security-Männer brauchen nicht lange warten. Einige Studenten haben schon ordentlich getankt und geraten aneinander." (5:31) Durch diesen Kommentar wird die Anwesenheit und das Vorgehen der Ordnungshüter auf der Universitätsparty durch das Medium mittels Stimme aus dem Off (für den Zuschauer) bereits in der Vorschau zur Sendung legitimiert: "Wenns am schönsten ist, soll man aufhören. So auch diese Studenten, die bekommen von Guido Hausverbot bei der Uniparty und werden frech." (3:57) Guido, der Ordnungshüter in Person, darf Hausverbot erteilen, es tritt demnach sehr deutlich hervor, dass er die Autorität an diesem Abend auf dieser Party besitzt. Signifikant ist überdies der folgende Kommentar: "Und als das nicht zieht, probieren sie es mit der Mitleidstour, doch Guido bleibt hart und gibt obendrein noch Nachhilfe, was deutsche Satzzeichen anbelangt." (4:10) Guido bleibt ,,hart", er greift durch, und das zu Recht. Auf dieser Bühne, der Uniparty, besitzt Guido die Autorität. Nicht zuletzt aus diesem Grund ist es auch er und sein Kollege, denen die Kamera in der Sendung unentwegt folgt. Durch den Effekt der Wackelkamera und die Kamerafiihrung aufAugenhöhe der sichtbar werdenden Personen könnte der
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Zuschauer den Eindruck gewinnen, als sei er selbst mitten im Geschehen. Eindeutig ist allerdings, dass die Kamera als Akteur auf der Party nicht nur anwesend ist, sondern an ihr sogar teilnimmt. Denn sie bestimmt die Perspektive aufdas Geschehen, erteilt ausgewählten Personen das Wort und entscheidet durch das Fokussieren gewisser Situationen mittels Totale oder Halbtotale, welche Ereignisse der Uniparty von Belang sind. Die Kamera konstruiert das Geschehen, und das, obwohl es augenscheinlich die Ordnungshüter sind, denen die Kamera zu folgen scheint. Letztendlich ist es die Kamera, die die Perspektive auf das Geschehen bestimmt. Wann sie zu einer bestimmten Situation hinzutritt, welche Personen sie aufnimmt und welche Schlussfolgerungen aus dem Geschehen gezogen werden (Stimme aus dem Oft) ist demzufolge abhängig vom Medium Fernsehen, welches auf diese Weise (wenn auch nicht intendiert) zum Akteur der Inneren Sicherheit wird. Doch dies ist nicht alleine auf die Kameraführung zurückzufiihren, die Stimme aus dem Off ergänzt diese Konstruktion. Beides sind Elemente des Mediums, welches über das Ereignis berichtet. Daher obliegt ihm anstelle des Zuschauenden eine gewisse Deutungshoheit der Situation. Denn das Medium ist vor Ort, es sieht, spricht und hat Recht. Das Fernsehen wird demzufolge allein bereits aufgrund der Kameraführung zum Erzähler einer Geschichte, die ebenso aufunzählige andere Art und Weise erzählt hätte werden können. Entscheidend ist zudem das Zusammenspiel von der Stimme aus dem Off und der Kameraführung. Das Gezeigte wird zwar durch die Kameraführung bereits vorausgewählt, dennoch könnte der Zuschauende das Gesehene auf unterschiedlichste Weise interpretieren. Beispielsweise könnte er bei einer Szene eine Geschubsten selbst bestimmen, wer der "Gute" und wer der "Böse" ist. Kommentiert jedoch in der zweiten Instanz zusätzlich die Stimme aus dem Off die Situation und weist ihr einen bestimmten Sinn zu, scheint die Situation lediglich recht eindeutig interpretierbar. Unterstrichen wird die Eindeutigkeit der Situation und die Akteursrolle des Mediums dadurch, dass zwei verbreitete Instrumente eingesetzt werden: die Emotionalisierung und die Personalisierung, welche auch als typische Merkmale von Unterhaltungs- bzw. Boulevardformaten klassifiziert werden (Klein 1998: 103). Emotionen werden vor allem dannhervorgerufen, wenn die Stimme aus dem Off die Situation durch stark wertenden, ja nahezu ironische Kommentare abge-/ be-urteilt: "Wenns am schönsten ist, soll man aufhören. So auch diese Studenten, die bekommen von Guido Hausverbot bei der Uniparty und werden frech." (3:57) Weiterhin enthält dieses Zitat die Personalisierung des Ordnungshüters Guido (an anderer Stelle wird auch dessen Kollege mit Vornamen angesprochen), welche bereits an ein oder anderer Stelle dieser Interpretation zum Tragen kam. Mit
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den Ordnungshütern auf"Du". Durch die Einblendung des Personenbeschreibung "Guido-Chef Sicherheitsdienst" (5:16) wird gleich zu Beginn der Sendung eine Basis geschaffen, auf welcher der Zuschauende Guido im weiteren Verlauf der Sendung kennen lernt. Im Gegensatz zur Personalisierung der Ordnungshüter (v.a. Guido), welche soziale Nähe des Zuschauenden zu Guido impliziert, fällt auf, dass die Unruhestifter sich sowohl in sozialer Distanz zu den Ordnungshütern als auch zum Zuschauenden befinden. Dieser Eindruck entsteht dadurch, dass "unser" Guido die Störenfriede mit "Sie" anspricht. Außerdem werden weder Namen der Unruhe stiftenden Studierenden genannt noch Gesichter gezeigt, respektive werden diese verfremdet. Ein Studierender ist von einem Sicherheitsmitarbeiter aus der Halle verwiesen worden und darf diese nicht mehr betreten. Es entwickelt sich ein Gespräch zwischen Guido und dem Verwiesenen, der von einem Freund unterstützt wird. Beide werden anonymisiert dargestellt. Innerhalb dieser Szene, die - pointiert ausgedrückt - einem Standgericht gleicht im Sinne eines Ausnahmegerichts, das bei Unterdrückung von Empörungen und inneren Unruhen zum Einsatz kommt -, ist Guido Staatsanwalt und Richter in einem. Er befragt seinen Mitarbeiter als Zeugen und bewertet diese Aussage höher ein als die des dazukommenden Freundes des Verwiesenen, der betont, dass dieser selbst "geschubst" wurde und nur dadurch als physische Kettenreaktion andere angerempelt hat. Das Urteil ist bereits seit der ersten Szene gesetzt: Kein Zutritt mehr für verdächtigte Schubser. Nach einer zehnrninütigen Diskussion (so die Information aus dem Ofl), in der der Student seine Unschuld beteuert und sprachlich versucht, den Sicherheitschefumzustimmen, beendet dieser das Gespräch durch seinen Abgang. Zurück bleiben die beiden Studierenden, die mit Unverständnis auf das - in ihren Augen - ungerechte Urteil reagieren. Die Kamera bietet beiden daran anschließend ein Forum, um nochmals die Ungerechtigkeit zu thematisieren, die ihnen in ihren Augen widerfahren ist. Die Darstellung der Studierenden ist sympathieerzeugend. Sie sprechen und argumentieren deutlich und bleiben vernünftig. Schlussendlich ziehen beide sich mit dem abschließenden Satz des ,,Bestraften" zurück: "Na, auf jeden Fall muss ich dannjetzt anderweitig gucken." Der Abgang der Studierenden wirkt erneut Sympathie erzeugend bei den Zuschauern. Er ist leise und vernünftig; trotz des vermeintlich erfahrenen Unrechts erduldet und akzeptiert der Verwiesene die Strafe und zieht von dannen. Der szenische Ablauf hätte sich ohne Weiteres anders entwickeln können . Die beiden Studierenden hätten mit Gewalt Einlass suchen, sie hätten sich an einem anderen Zugang "einschmuggeln" können, sie hätten ihr Unrecht laut beklagen können etc. Es gab denmach eine breite Auswahl an Handlungsoptionen. Gewählt wurde die Duldung und Akzeptanz des vermeintli-
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ehen Unrechts, was sympathisch wirkt und zugleich die besonders unterlegte Dialektik der Situation auflöst: Ein Sicherheitsteam von 20 Mitarbeitern sorgt für die Sicherheit eine Party mit 10.000 Personen. Dies zu bewerkstelligen kann man nur, indem mögliche Konfliktherde von Seiten des Sicherheitsdienstes - so die Darstellung - mit Vorgriffshandlungen entschärft werden, genauer: sich erst gar nicht entwickeln können. Diese Form der Prävention, in diesem Fall ein präventives Aussperren, wird über die mediale Ausstrahlung ein missglücktes Beispiel für eine positive Generalprävention, die darauf zielt, die Verhaltenskonformität der Bevölkerung durch einen Konformitätsdruck zu festigen und so das Vertrauen in die Rechts- und Sozialordnung zu unterstützen. Darüber hinaus wird in der letzten Sequenz eine Handlungsoption für den Fall eines selbst erlittenen Fehlurteils vermittelt und subtil begründet bzw. legitimiert: Duldung und Akzeptanz eines .Einzelschioksala" zur Sicherung des großen Ganzen (Feier mit 10.000 Studierenden);" und die eigenverantwortliche Sicherstellung, nicht in unüberschaubare Situationen zu geraten, in denen man möglicherweise den Eindruck erwecken könnte, als verstieße man gegen die Ordnung, da man ansonsten (selbstverantwortet) in den Prozess der Ordnungsüberwachung und den damit ggf. verbundenen Konsequenzen geraten könnte. Bei beiden Studierenden wurden die Gesichter unkenntlich gemacht bzw. sie wurden anonymisiert. Dadurch wird einem induktiven Folgern der Weg geebnet; mehr noch erlaubt es die Ausbildung einer Handlungstypologie, da man vom (austauschbaren) Einzelfall auf die Allgemeinheit schließen kann. Ein sozial wünschenswertes Handeln in dieser Situation ist ein ordentlicher, nicht zu lauter und hinnehmender Abgang vom Schauplatz. Diese Beispielanalyse bestätigt die Klassifikation der Sendung Achtung Kontrolle! als halbdokumentarisch. Erkennbar wir dies vor allem durch Elemente der Boulevardberichterstattung wie Emotionalisierung und Personalisierung, welche den unterhaltenden Anteil des Formates ausmachen. Durch den Schnitt nach der Aufnahme und die spezifische Perspektive der Kamera auf das Geschehen sowie durch die Stimme aus dem Offwird der Sendung eine narrative Struktur nach der Aufnahme durch das jeweilige Medium zugewiesen. Doch in der Sendung sind zudem dokumentarische Elemente enthalten, schließlich handelt es sich nicht um ein ausschließlich fiktionales Format im Sinne einer erfundenen Geschichte (wie dies bei Barbara Salesch und ähnlichen Formaten der Fall ist), sondern einige Ausschnitte können durchaus als Dokumente der Arbeit der Ordnungshüter gewertet werden. Zwar nehmen die Kamera, und damit das Medium, eine eigene Perspekti4
Ein zugespitztes Beispiel fiir einen solchen Fall bot die Diskussion zum Abschuss von entfiihrten Flugzeugen, die Innenminister Wolfgang Schäuble gesetzlich verankern wollte. Diese Initiative scheiterte durch das Urteil des Bundesverfassungsgericht im Februar 2006, das den entsprechenden Paragraphen fiir verfassungswidrig erklärte.
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ve auf das Geschehen ein, jedoch werden die Handlungen von den Personen ebenso dokumentarisch aufgenommen, schließlich geben die Ordnungshüter in der gesamten Serie die Wege der Kamera vor. Dementsprechend enthält diese Folge von Achtung Kontrolle! sowohl fiktionale als auch dokumentarische Teile, was sie zu einem halbdokumentarischen Format macht. An dieser Besonderheit der Klassifizierung der Sendung als halbdokumentarisch lässt sich erkennen, dass das Medium einen wesentlichen Anteil an der Konstruktion eines Verständnisses von Innerer Sicherheit hat. Dies geschieht unter anderem durch die Auswahl bestimmter Szenen, Kommentierungen und Perspektiven auf das Geschehen und wird legitimiert durch den Anspruch des Mediums auf Authentizität, indem es postuliert, die Realität abzubilden. Auf diese Weise wird das Feld der Inneren Sicherheit durch das Securitainment modifiziert, sei es intendiert oder nicht.
5. Abschluss: Vom Vermittler zum Akteur Securitainment stellt in unserem Verständnis auf zwei wesentliche Aspekte ab. Zum einen wird durch die Darstellung und Verbreitung solcher hier angesprochenen Sendungen in den Massenmedien eine symbolische Herstellung von Innerer Sicherheit generiert. Trotz der Verankerung dieser Sendung im Alltag und ihrer subtilen Authentizitätsbekundungen, besitzen sie einen wesentlich fiktionalen Teil, was zur Folge hat, dass es sich bei diesem Format um keine reine Dokumentation, aber auch um keine ausschließlich fiktionale Sendung handeln kann. In der Serie Achtung Kontrolle! wird in der Sendung eine eigene Wirklichkeit konstruiert, welche zunächst einmal festlegt, wer überhaupt als Akteur der Inneren Sicherheit zu verstehen ist, dessen Vorgehensweisen in diesem Zusammenhang legitimiert und das Feld der Inneren Sicherheit mit den dementsprechenden eigenständig Einsatzgebieten absteckt. Und auch die Darstellung von Kontrolle und ihre Funktion werden entworfen und gestaltet. Die Wahl des Schildsymbols mit Aufschrift als Serienzeichen zeigt ein anderes Verständnis oder Verstandenwissen-wollens von Sicherheit und Kontrolle als z.B. eine Überwachungskamera. Das Schild wirbt um Zustimmung und Verständnis, während beispielsweise die Kamera ermahnt und mit ihrem suchenden Blick auf Überwachung aus ist. Doch nicht nur das Verständnis von Innerer Sicherheit wird durch Securitainment konstruiert respektive modifiziert, sondern darüber hinaus entsteht eine neue Form sozialer Kontrolle. Es wird gezeigt, welche Verhaltensweisen richtig sind bzw. gebilligt werden und welche Konsequenzen bei Verstoß zu tragen sind (wie am Beispiel der beiden Studierenden deutlich wird). Der Zuschauende lernt
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hierdurch implizit etwas über die Innere Sicherheit, ihre Kontrolle und Legitimation. Und auch wenn es nicht in erster Intention der Massenmedien steht, über die Ausstrahlung solcher Sendungen aktiv soziale Kontrolle darzustellen und aufzuzeigen, fügen sie genau dies dem Diskurs über Innere Sicherheit hinzu. "Dass ein solches Agieren der Medien vor allem der Bindung der Leser / Zuhörer / Zuschauer an das ,Programm' der Medien dient, dass es also um Kundenbindung geht und nicht um eine (ausgearbeitete) Sicherheitspolitik, ändert nichts daran, dass es de facto Sicherheitspolitik ist. Nicht die Absicht zählt, sondern die Folgen - und jede Theorie, die sich mit dem Agieren der Medien beschäftigt, muss die Folgen dieses Agierens für die Herstellung der Inneren Sicherheit einer Gesellschaft im Auge haben." (Reichertz 2009: 12f.) Medien nehmen den Sicherheitsdiskurs auf, prozessieren gewisse Inhalte und fügen diese als neue Aspekte oder Ergebnisse dem Diskurs wieder zu. Sie werden dadurch zu einem wesentlichen Akteur für dieses Feld, denn unter anderem ihnen ist es geschuldet, dass das Feld der Inneren Sicherheit völlig neu geordnet wird. Es zeigt sich hieran, dass die Medien, welche durch die Entertainisierung des Themenfeldes der Inneren Sicherheit zunächst ökonomische Interessen erfüllt sehen möchten /vgl. hierzu auch den Beitrag von Englert in diesem Band), in zweiter Instanz zu Akteuren der Inneren Sicherheit werden, welche deren Konstruktion in einer Gesellschaft mit beeinflussen. Medien sind schon lange nicht mehr auf die Rolle des Vermittlers zwischen Innerer Sicherheit und Zuschauendem reduzierbar, sondern sie werden zu einem Akteur innerhalb dieses Diskurses, der, wenn auch unintendiert, verändert und neu kreiert.
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Die Führung zur Selbst-Führung Jo Reichertz / Oliver Bidlo / Carina Jasmin Englert
Jede Forschung bringt Überraschungen mit sich. Manche Annahmen stellen sich bei der Auswertung der Daten als falsch heraus, manche Phänomene, die bei der Antragstellung noch überall anzutreffen waren, sind verschwunden, und andere Phänomene sind statt dessen neu aufgetreten. Dass all dies auch bei einem Forschungsprojekt über die aktuelle Medienentwicklung passierte, ist zweierlei: völlig normal, aber auch kennzeichnend. Normal ist es, weil es wegen der Wandelbarkeit der Gesellschaft wundem würde, wenn es nicht passierte, dass Manches verschwindet und Neues auftaucht. Kennzeichnend ist es zugleich, weil gerade bei den Medien ein rasanter Wandel der Verhältnisse die Normalität ist. Auch für uns hielt das Feld eine Reihe von Überraschungen bereit. Überraschend war dabei, wie rasant und wie dynamisch sich gerade das journalistische Feld (Zeitungen, Radio, Fernsehen, Internet) in den letzten zehn Jahren gewandelt hat. Maßgeblich verantwortlich für die Veränderungen waren aus unserer Sicht, neben der allgemeinen globalen Entwicklung hin zu mehr Vernetzung und damit verbunden hin zu mehr Konkurrenz, die Medienunternehmen selbst, die Weiterentwicklung der digitalen Medien und die auch damit einhergehende neue Bedeutung des Einzelnen als Kunde und als Produzent von Medieninhalten. Auch wenn die einzelnen Faktoren sich gegenseitig bedingen und sich deshalb nur schwer isoliert werden können, lassen sich einige Entwicklungen doch bestimmten Einflüssen zuordnen. Folgende Entwicklungen sind aus unserer Sicht die Wesentlichen, die auch die neue Bedeutung der Medien sichtbar machen: Sie sind nicht mehr (nur) Vermittler (von Informationen), sondern eigenständige Akteure in Diskursen um die richtige Politik - auch indem sie ihren Worten Taten voranschicken oder folgen lassen. a.
Die allgemeine aktuelle Politikausrichtung zu Beginn der 2000er Jahre ermöglicht und begünstigt (vor allem durch die neoliberale Politik der Aktivierung) das Aufkommen neuer gesellschaftlicher Akteure, sogenannterprivate governance regimes. Überall ergänzen und ersetzen, verschieben und verän-
O. Bidlo et al. (Hrsg.), Securitainment, DOI 10.1007/978-3-531-93077-0_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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dem hoch spezialisierte Akteure ,,[... ] in einer Art außerstaatlicher Rechtsproduktion staatliches Recht und müssen es, weil letzteres immer öfter Überforderungen ausgesetzt ist" (Ortmann 2010: 219). Die neuen Akteure, darunter auch die Medien, betreiben zusammen (und manchmal auch gegeneinander) aktiv eine Politik der Sicherheit - wenn auch jeder nach eigenen Maßstäben (also eigenen Werten und Normen) und eigenen Relevanzen. Neben und oft auch an die Stelle staatlich gesetzter und demokratisch kontrollierter Normen und Standards ,,[...] treten immer öfter ,selbstgesetzte' Normen und Standards" (Ortmann 2010: 219). Die Medien (hier: Zeitung, Funk, Fernsehen und ihre netzgestützten Erweiterungen) werden einerseits von anderen Akteuren in das Feld der Inneren Sicherheit hineingezogen, andererseits suchen sie es aktiv auf, weil dort ökonomische Gewinne erwartet oder doch vermutet werden. Viele Zeitungsverlage ,verdichteten' Mitte der 2000er Jahre aus ökonomischen Gründen (weniger Anzeigen, weniger Abonnenten, sinkende Auflage) zum einen ihre Redaktionen (= Zusammenarbeit verschiedener Zeitungen und Produktion von gemeinsamen ,Mänteln', Zusammenlegung verschiedener Ressorts und Schaffung von News-Desks und Content-Desks und deutliche Ausdünnung des Personals), zum anderen setzten auch sie verstärkt aufJreelancer. Das hatte zur Folge, dass manche Zeitungsverlage ihre Blaulichtredaktionen entweder ganz schlossen oder aber Redaktionen aus verschiedenen Regionen zusammenlegten. Auf diese Weise erodierten langsam aber sicher die alten lokalen und historisch gewachsenen Beziehungsnetze zwischen einzelnen Polizisten und Zeitungsreportern und mittlerweile sind sie nur noch selten anzutreffen. Das :führteauf beiden Seiten zu Vertrauensverlust und einer mangelnden Bereitschaft, Informationen zu handeln. Auch das hat die Qualität des Qualitätsjournalismus eingeschränkt. In dem Bestreben, kostengünstiger zu produzieren, wurden ebenfalls schwerpunktmäßig Anfang der 2000er Jahre von den Fernsehsendern wie Zeitungsverlagen eine Fülle von Dienstleistungen und hier vor allem Film- und Sendungsproduktionen ausgelagert und an private Anbieter (= eigenständige Produktionsfirmen) vergeben. Auf diese Weise entstand ein neuer Markt mit neuen Akteuren: Privatfirmen, die bestimmte Sendungsformate auf eigene Kosten vorproduzieren und dann an den meistbietenden Fernsehsender verkaufen. Darunter auch eigene Informationsfirmen, die Nachrichten produzieren und verkaufen. Dies :führte zu schnellen und kostengünstigen Produktionen von Informationsschnipseln (auch und vor allem über Innere Sicherheit, lokale Ordnung etc.). Neben dem sogenannten ,Qualitätsjouma-
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lismus' trat mit den privaten Produktionsfinnen ein neuer Akteur im Feld auf, der von den Haushaltsabteilungen der Medienunternehmern gern gesehen wird, jedoch unter den Journalisten einen zweifelhaften Ruf genießt. Die Auslagerung der Produktion von Fernsehsendungen hat auch zu einer Angleichung der Formate und Inhalte der Fernsehstationen geführt. Dies deshalb, da die Produktionsfinnen meist nicht mehr allein für einen bestimmten Sender produzieren, sondern für den allgemeinen Markt. Dies führt dazu, dass sich sowohl die Formate und die Inhalte der Sender angleichen, die diese Formate aufkaufen und ausstrahlen. Noch wichtiger ist, dass auf diese Weise sich auch die mit diesen Sendungen vermittelten Nonnen und Werte angleichen. Letztlich sind es somit die privaten Produktionsfinnen, die zu führenden Wert- und Normanbietern werden. Der Qualitätsjournalismus verliert dort also erheblich an Bedeutung. Diese privaten Produktionsfinnen übernehmen nicht nur das finanzielle Risiko der Vorfinanzierung einer Fernsehproduktion, sondern sie vermarkten, in der Absicht, andere Abnehmer zu finden, ihre Produkte auch, wenn auch meist in anderer Form, via digitaler Infonnationsplattfonnen direkt an die Bürger. Wer will, kann sich nämlich bei vielen dieser Informationsfirmen direkt auf der Homepage bedienen und (meist ungeschnitten) das sofort finden, was andere erst Stunden später in den Nachrichtensendungen der einzelnen Sender zu sehen bekommen. So kann sich der Bürger direkt und sehr schnell beim ,Hersteller' informieren. Ebenfalls von den Medienunternehmen mit angestoßen, manchmal um den ökonomischen Druck zu mildem, manchmal um mehr Kundennähe zu demonstrieren, manchmal um Kundenbindung zu erreichen, ist neben der Nutzung von freelancern und privaten Produktionsfinnen die Etablierung des Lesereporters oder auch des Bürgerreporters oder des Bürgerjournalisten. Immer häufiger fordern die Medien ihre Kunden auf, selbst zur Feder oder zur Kamera zu greifen und Beiträge für das Medium zu produzieren. Auf diese Weise werden zentrale Aufgaben des Mediums ausgelagert: Der Leser erbringt dabei die Arbeit des journalistischen Autors und ersetzt ihn (teilweise). Die Kunden selbst werden vermehrt zu Prosumenten, die nach Maßgabe des entsprechenden Mediums dazu angestoßen werden, Akteure (im Auftrag der Medien) zu werden. Das Internet (hier besonders Blogs, Foren und Twitterdienste) sowie digitale Bildaufzeichnungsgeräte und Bildbearbeitungsprograrnme beschleunigen den Trend zum Prosumenten maßgeblich. Manchmal werden die Kunden zu Prosumenten, weil kleines Geld lockt, manchmal, weil es ihnen Spaß macht, manchmal, weil man jemanden
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eins auswischen will. Hier zeigt sich: Medien sind Akteure, die etwas anstoßen - mehr noch: Sie ,öffnen' neue Felder, indem sie andere aktivieren, andere zu Akteuren machen1. Allerdings treffen die Medien hier auf viele, bereits aktive Akteure, die seit Jahren die neuen Medien dazu nutzen, um zu kollaborieren, Content zu erstellen und sich mittels Blogs an der politischen Debatte zu beteiligen. Der Qualitätsjournalismus gerät auf diese Weise durch zwei neue Akteure unter Druck - nämlich durch die privaten Produktionsfirmen und die neuen Bürgerreporter. Beide produzieren ihre ,News' auf eigene Kosten und auch nach einer völlig anderen Logik als die klassischen Anbieter und sie bewerten ihren Content auch eigenständig. Das gesellschaftliche Problem, wie man an (gesicherte) Informationen gelangt, wird jetzt auch von anderenAkteuren bearbeitet. Besonders problematischfür den Qualitätsjournalismus ist dabei, dass die neuen Akteure, die oft Zeitzeugen vor Ort sind, oft sehr viel schneller sind als die Fernsehnachrichten oder die Tageszeitung aus Papier. Weshalb sollte man das lesen/sehen, was man schon aus anderen Medien weiß? Das wird mittelfristig zu einer Neubestimmung der Rolle des Qualitätsjournalismus führen. Alle Medienunternehmen stehen allein aufgrund der Konkurrenzsituation unter dem Zugzwang, immer wieder neue Formate zu generieren, auszuprobieren und mit den Kundenmeinungen abzugleichen. Auch deshalb sind die Medien dazu gezwungen, aktiv zu werden und so auch Inhalte aktiv zu generieren. Diese Entwicklung fand in ähnlicher Form bereits in den frühen 1960er Jahren auf dem Feld der Information statt: Die Medien wandelten sich damals von dem Boten in den Veranstalter. Informierten sie anfangs diejenigen, die bei bestimmten Ereignissen nicht dabei waren (sie waren also Fenster in die Welt), so schufen sie bald eigene Veranstaltungen, zu denen die Welt kam, um Informationen unter die Leute zu bringen (die Medien brachten Dinge in die Welt, über die sie dann berichten konnten). Zu dieser aktiven Rolle der Medien gehört auch, dass es nicht mehr ausreicht, nur zu berichten (auch wenn es in der Welt genug zu berichten gibt), zu bewerten und zu kommentieren, sondern es müssen in schnelleren Zyklen innovative undfür den Rezipienten ansprechende Formate erzeugt werden. So steigt die Anzahl der Formate sprunghaft an und die Medieninhalte bzw. deren -forBeispiele dafür, dass Medien als Akteure neue Felder öffnen und neue Themen selbstständig in den öffentlichen Diskurs heben, ist die Fernsehsendung Tatort Internet, in der es um den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Pädophilen geht, oder auch die Einrichtung der lokalen Wikileaks-Altemative durch die WAZ im Dezember 2010.
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mate werden zunehmend fluide . Und da die erfolgreichen Formate so lange kopiert und verbreitet werden, bis sie nicht mehr erfolgreich sind, gleichen sich (wie bereits oben beschrieben) neben den Inhalten auch die dort angebotenen Werte und Normen an. Ebenfalls dem ökonomischen Druck geschuldet ist das weitere Aufblühen des Reality-TV. Dieses Großformat, das sich in viele Unterformate aufsplittert, kann sich je nach Zielgruppe und Botschaft mit den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Problemen beschäftigen, diese ausleuchten und auch vorgeben, diese zumindest fallweise zu lösen. Reality-TV ist billig und schnell zu produzieren und: Es ,trifft' die Kunden dort, wo sie sind, nämlich in deren Alltag. Und: Reality-TV will und kann die Kunden (glaubhaft) unterhalten. Zunehmend wird auch im Bereich der Inneren Sicherheit mittels Reality-TV unterhaltsam an der Herstellung der Inneren Sicherheit gearbeitet. Unterhaltung und Innere Sicherheit werden systematisch miteinander verbunden, weshalb die Formate, die sich mit Themen der Inneren Sicherheit beschäftigen, mittlerweile sehr viel mehr der Unterhaltung als der Information zuzuordnen sind. Diese neue Art der Unterhaltung, die wir hier Securitainment genannt haben, verändert nicht nur die Darstellung von Innerer (Un-) Sicherheit, sondern liefert auch Praktiken und Normen für die Herstellung Innerer Sicherheit. Die Medienakteure selbst ,verstecken' sich dabei nicht mehr hinter der Kamera, sondern treten oft (in Form von Moderatoren/innen bewusst als für den Zuschauenden aktive Akteure auf (v.a. im Fernsehen). Sie kämpfen on air und auch off air für das Recht des Alltagsmenschen, sie korrigieren Ungerechtigkeiten, sie legen Missstände offen und verfolgen mit ihren Mitteln und ihrer Moral die Täter. Obwohl die Botschaften des Reality-TV sehr vielfältig sind, lässt sich doch in der Behandlung der Themen zur Inneren Sicherheit ein gewisses Muster erkennen: Das Medium macht sich durchweg zum Anwalt des Wohlbefindens der Zuschauer. Es legt dem Zuschauer das nahe, was dem Zuschauer gefällt und seinem Wohlgefallen entgegen kommt, und es entwirft und verfolgt damit eine Strategie der ,inneren Führung', die mittels Selbstfiihrung aktiv darum bemüht ist, Unruhe und Schaden für den Zuschauer zu vermeiden. Fremdzwang wird so in Selbstzwang, Fremdfiihrung so in Selbstführung umgewandelt. Wenn innen Ruhe ist, dann ist auch außen Ruhe. Medien liefern so die Führung zur Selbstjührung. Die Mitglieder einer Gesellschaft werden so zur Verhaltenskonformität ,aufgefordert ' und diese zielt letztlich auf die aktive soziale Einpassung des Einzelnen in die Gesellschaft. Damit ist das Medium Teil einer bestimmten Form von Governance. Ob die Zu-
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schauer diese Form annehmen oder zurückweisen, steht wieder auf einem anderen Blatt und viel wird davon abhängen, welcher Sozialschicht sie sich zurechnen. Die Medien und hier vor allem die öffentlich-rechtlichen präsentieren sich selbst gerne in der ,Figur' der Vierten Gewalt im Staat, die den Politikern im Interesse einer kritischen Öffentlichkeit auf die Finger schaut. Insbesondere der ,Qualitätsjoumalismus' berichtete über die Legislative, die Judikative und die Exekutive und deren Politik. Er kommentierte Entscheidungen oder setzte Deutungsrahmen und brachte diese in Umlauf. Ziel war dabei - so das explizite Selbstverständnis - die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit. Diese Selbstzuschreibung als Vierte Gewalt im Staate nährt sowohl den Mythos der Gemeinschaftsorientierung der Medien als auch den Mythos von einer kritischen Öffentlichkeit. Falls es beides einmal gegeben haben sollte, dann gehört beides angesichts der aktuellen Kollaboration von Medien und deren Kunden der Vergangenheit an. Medien und hier vor allem die Privaten (aber nicht nur sie) sind nicht mehr die Vierte Gewalt, sondern vielmehr Community/s Watchdogs. Interessant ist allerdings, dass für die Medienakteure bei der Selbstbeschreibung die Figur der Vierten Gewalt wesentlich attraktiver ist und sie ihr Tun gerne und auch weiterhin so begreifen. Würden sie ihr Selbstverständnis ihrem tatsächlichen Tun anpassen, dann wären sie keine kritischen Beobachter mehr, sondern Akteure und somit auch Täter - sie wären mit verantwortlich. Medien handeln heute nicht nur anders, sondern sie haben auch ihre Zielstellung geändert. Verstanden sie sich in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik als Vierte Gewalt im Staate, die neben der Legislative, der Judikative und der Exekutive für das Gelingen und das Wohlergehen eines Staates verantwortlich waren - sie fühlten sich in der Pflicht -, so hat sich das Ziel teils explizit, teils unter der Hand gewandelt: Nicht mehr die Herstellung einer kritischen Öffentlichkeit ist das Ziel, sondern die Umwerbung des Kunden. Und nur wenn der Kunde von heute auch der Kunde von morgen ist, dann rechnet sich der Einsatz des Mediums. Dann bleibt das Medium auf dem Markt. Und die Kunden, die sich unterhaltend selbst führen, benötigen dann auch keine kritische Öffentlichkeit mehr.
Literatur Ortmann, Günter (2010): Organisation und Moral. Weilerswist: Velbrück,