David Hewson
Semana Santa
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Semana Santa – Karwoche im Süden Spaniens. Maria Gutierre...
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David Hewson
Semana Santa
scanned 05/2008 corrected 10/2008
Semana Santa – Karwoche im Süden Spaniens. Maria Gutierrez, eine junge Akademikerin, hat sich ihr Praktikum bei der Polizei anders vorgestellt sie erwartete nicht, in eine Mordserie verwickelt zu werden. Aber als sich die Stimmung in der alten Stadt immer mehr aufheizt, die Angst bedrohlich um sich greift, muß auch Maria alles daran setzen, dem gnadenlosen Morden ein Ende zu bereiten. Doch was sie nicht ahnt: Der Geschichte kann keiner entkommen – dem erbarmungslosen spanischen Bürgerkrieg. ISBN: 3 550 08239 8 Original: Semana Santa Ins Deutsche übertragen von Hedda Pänke Verlag: Ullstein Erscheinungsjahr: 1997
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Buch Semana Santa – Karwoche im Süden Spaniens. Sechs Tage kommt die Stadt nicht zur Ruhe – religiöse Prozessionen, pompöse Umzüge, ausschweifende Fiestas und Stierkämpfe lassen sie zu einem brodelnden Hexenkessel werden und zur dramatischen Kulisse für eine Serie grotesker Ritualmorde. Auch Maria Gutierrez, eine junge Akademikerin, hat sich ihr Praktikum bei der Polizei anders vorgestellt – sie erwartete nicht, in eine Mordserie verwickelt zu werden. Aber als sich die Stimmung in der alten Stadt immer mehr aufheizt, die Angst bedrohlich um sich greift, muß auch Maria alles daran setzen, dem gnadenlosen Morden ein Ende zu bereiten. Doch was sie nicht ahnt: Der Geschichte kann keiner entkommen – dem erbarmungslosen spanischen Bürgerkrieg.
Autor
David Hewson ist als freischaffender Journalist für zahlreiche Zeitungen tätig, u.a. für die Sunday Times und The Times. Er ist Autor mehrerer Reiseführer über das südliche Spanien. Mit Semana Santa legt er seinen ersten Roman vor, der in Großbritannien für den angesehenen W.H. Smith Fresh Preis ausgesucht wurde und überall erstklassige Kritiken erhielt. Epiphany, sein zweiter Roman, wird bei Ullstein 1999 erscheinen.
David Hewson
SEMANA SANTA Roman Ins Deutsche übertragen Von Hedda Pänke
Ullstein
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Hewson, David: Semana Santa: Roman/David Hewson. Ins Dt. übertr. von Hedda Pänke. – Berlin: Ullstein, 1997 Einheitssacht.: ›Semana Santa‹ (dt) ISBN 3-550-08239-8
Titel der englischen Originalausgabe: Semana Santa Copyright © 1996 by David Hewson Englische Originalausgabe 1996 by Harper Collins Publishers, London Übersetzung © 1997 by Ullstein Buchverlage GmbH & Co. KG, Berlin Alle Rechte vorbehalten Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg Druck und Verarbeitung: Grafischer Großbetrieb Pößneck Ein Mohndruck-Betrieb Printed in Germany 1997 ISBN 3 550 08239 8
1 La Soledad. Die Worte hallten im Kopf der alten Frau nach, als sie aus schnell verblassenden Träumen erwachte. Wie das leise Knurren eines unsichtbaren Tieres drang der Lärm der Stadt durch die Tür unter dem Mauerbogen. Oleanderduft mischte sich mit dem Geruch von Diesel und Zigaretten. Von ihrem Sessel aus, dessen brüchiges Rohrgeflecht ihr in die Glieder stach, konnte sie über den Garten in den Patio blicken. Ein paar Orangen- und Zitronenbäume mit schrumpligen, in der Nachmittagssonne verstaubt wirkenden Früchten, die wächsernen, roten Samenhülsen an einem einsamen Granatapfelbaum, der plötzliche Gestank von Katzenpisse in der für die Jahreszeit zu warmen Nachmittagsluft. Caterina Lucena sah, wie sich die Geister wieder versammelten: heiter, unbeschwert, geräuschvoll. Lachen klang zwischen den glänzenden Wänden wider, die Kacheln schimmerten neu in der Sonne. Sie sah, wie die Leute von Gruppe zu Gruppe schlenderten, genau wie vor mehr als sechzig Jahren, als sie sie als junges Mädchen, von Hochachtung und Bewunderung erfüllt, von ebendiesem Fenster aus beobachtet hatte. Alle großen Persönlichkeiten der Zeit waren hier gewesen. Einmal hatte sie sogar 7
ihn, Lorca, gesehen. Unter Orangenblüten hatten sie Fino und Manzanilla getrunken und über Dinge gesprochen, die sie nicht verstand. Sie hatte gesehen, wie sich der Ausdruck ihrer Mienen im Verlauf zweier Jahreszeiten von strahlender Zuversicht in unausgesprochene Besorgnis verwandelt hatte, dann in bange Furcht und schließlich in nackte, brutale Angst. Und während dieser ganzen Zeit hatten die Bäume geblüht und Früchte getragen. Ungepflückt blieben sie an den Zweigen hängen und wurden von den Kutschen und Autos, die sie hinter der Mauer hören konnte, mit staubigem Sand bedeckt. Eines Tages kam sie, von unbekannten Geräuschen geweckt, aus ihrem kleinen, sonnigen Zimmer herunter und fand die Erde mit faulenden Früchten bedeckt vor. Es war, als hätte ein plötzliches Erdbeben sie von den Ästen geschüttelt. Zerfetzt und verformt lagen sie auf der trockenen rotbraunen Erde. Verwesendes Fruchtfleisch quoll aus den aufgeplatzten orangefarbenen und gelben Schalen hervor. Das hatte etwas Obszönes und war über den reinen Anblick hinaus beängstigend. Eine Lebensspanne später sah sie sich wieder so, wie sie damals war, beobachtete das junge Mädchen in seinem weiten Kleid aus kühler Baumwolle, das an der blaugold gefliesten Tür des Patios in der Sonne stand und schockiert und ahnungsvoll auf die bittere Ernte blickte. Sie wartete. Es würde kommen. Es kam immer. 8
Eine Explosion hinter der Patiomauer, so ohrenbetäubend, so gewaltsam, als würde die Welt auseinandergerissen. Die Luft, der Himmel erbebte. Sie schrie, und die Zeit spielte verrückt, die Sekunden wurden zu Stunden, als wollte sie die Schmerzen, das Leid verlängern. Die Bäume waren wie elektrisiert. Ihre Äste zuckten, als durchliefen sie stahlharte Muskeln, die sich plötzlich aus Wut oder Angst verspannten. Sie ballten sich wie Fäuste, entspannten sich wieder, und die Luft füllte sich mit Blättern, Zweigen und dem widerlich süßen Aroma faulender Früchte. Die Detonation der Kanone trieb einen neuen Geruch heran, den scharfen Gestank von Kordit und Verbranntem. Über ihr Flügelschläge, angstvolle Schreie der Vögel, Flattern, Flattern. Ein Gegenstand taucht vor ihr auf, sinkt vom Himmel, blutige Tränen auf Weiß, nahe genug, um ihn zu berühren. Er schwebt wie eine Feder herab, langsam, fast anmutig. Sie kann das Rot, tiefdunkel und sehr real, auf den Federn sehen. Kann den blutigen Streifen am Hals sehen, wo die Explosion den Kopf abgerissen hat. Und spürt irgendwo in ihrem Hinterkopf, daß sie schreit. Doch da ist kein Laut, kein Schmerz, überhaupt keine Empfindung. Die Welt ist zu einem einzigen Ereignis zusammengeschrumpft: Vor ihr schwebt eine kopflose Taube mit unwirklicher Langsamkeit zu Boden. Sie sieht, wie der Hals krampfhaft zuckt. Sie sieht, wie Blut aus dem Körper pulst. Die Tropfen fliegen 9
langsam durch die Luft, perfekte rote Perlen, halb erstarrt in ihrer Bewegung. Sie fallen auf ihr Kleid, ihre Haut. Sie sieht das Rot auf ihren Armen, spürt es klebrig in ihrem Nacken. Sie schreit, fühlt den leichten roten Regen auf ihrer Zunge und kommt nicht umhin, ihn zu schmecken – frisch, warm und salzig –, als sie sich automatisch mit der Zunge über die Lippen fährt. Und die gedankliche Umsetzung dreht ihr den Magen um, lange bevor die physische Reaktion einsetzt. Die Zeit bleibt stehen. Die Taube verharrt vor ihr, als wolle sie sagen: Das ist der Moment. Dann setzen die Sekunden wieder ein. Mit einem plötzlichen, brutalen Klatschen prallt sie auf der Erde auf, und als sie zu würgen beginnt, weiß sie, daß dieses Ereignis, obgleich nur Vorbote anderer, weit verhängnisvollerer Geschehnisse, sie für den Rest ihres Lebens prägen wird. Irgendwann, in einer anderen Zeit, erbricht sich ein junges Mädchen im Patio seines Elternhauses, den kleinen, zerfetzten Körper einer Taube vor seinen Füßen. Draußen der Lärm der Waffen, der Geruch von Blut. La Soledad. Doña Caterina sieht ihre Geister schwinden, langsam in der Nachmittagssonne verblassen. Unvermittelt kommt Ärger in ihr hoch: Warum jetzt? Warum ruhen die Toten nicht in ihren Gräbern? Tränen brennen in ihren Augenwinkeln. Sie empfindet Scham über den sauren schalen Nachgeschmack von Manzanilla in der Kehle. Ein kleines Mittagessen, ein Schluck aus dem Plastikbehälter, den die Stunden10
hilfe um die Ecke kauft, heiße, schlafträge Nachmittage. Aber wenigstens hat das die Träume vertrieben, schon seit Jahren, fast so erfolgreich, daß sie sie vergessen konnte. Ein Geräusch erregt ihre Aufmerksamkeit. Bei aller Hinfälligkeit sind ihre Augen, ihre Ohren so scharf wie eh und je. Eine Bewegung in einer Ecke des Patios. Sie beobachtet, wie eine Gestalt hinter der purpurfarbenen Bougainvillea in Richtung Mauer verschwindet. Die Gestalt ist halb von den Bäumen verdeckt. Sie sieht nur Rot, überall Rot. Kein Gesicht, keine Identität. Tiefes Rot, die Farbe von Taubenblut. Sie spürt, wie ihre Verärgerung zunimmt, stützt sich auf die Armlehnen ihres Sessels und stemmt sich hoch. Ihre Glieder schmerzen. Sie greift nach dem alten Krückstock, ohne den sie inzwischen nicht mehr auskommt, und ihre Hilflosigkeit macht sie noch zorniger. »Gesindel, Gesindel, Gesindel«, schreit sie durch die geöffnete Tür. Ihre Stimme hallt durch den Patio, klingt in ihren Ohren wie das Krächzen einer Krähe. Neue Tränen treten ihr in die Augen. »Du diebischer Nichtsnutz! Spionierst einer alten Frau hinterher, anstatt dir dein Essen durch ehrliche Arbeit zu verdienen. Komm her. Du kriegst von mir, was du verdienst. Ich schiebe dir meinen Stock ins Hinterteil, du nichtsnutziger Lümmel!« Blätterrascheln in der Ecke des Patios, ein Schnaufen. Die rote Gestalt klimmt an der Mauer empor und verschwindet. 11
Sie verspürt Erleichterung, dann Scham über ihr Leben: Sie erwacht, ißt, schläft und zählt dann die Pesetas, um sich zu vergewissern, daß sie morgen das gleiche machen kann. Und jetzt muß sie junge Diebe anschreien, die sie berauben wollen. Sie lehnt sich in ihrem Sessel zurück und sieht sich im Raum um. Die wertvollsten Möbel sind längst fort, im Auktionshaus an der Calle Mayor gelandet. Die Gemälde, das Porzellan, die chinesischen Teppiche. Das Gefüge ihrer Erinnerungen an die Kindheit hat sich aufgelöst, wurde verstreut. Vor ihrem inneren Auge, dem aktiven, vielgestaltigen Bereich ihrer Imagination, den sie neuerdings bevorzugt, kann sie die Wohnungen der nouveaux riches in den neuen Vierteln sehen, in denen sie in engen Schuhkartons leben, Schulter an Schulter wie die Armen, aber mit Fernsehgeräten und lauten Radios. Die Symbole ihres Lebens und ihrer Herkunft verleihen ihren oberflächlichen, schäbigen Existenzen zwischen den dünnen Gipswänden einen Hauch von Authentizität. Aber es fehlt nichts. Dessen ist sie sich fast sofort gewiß. Alles, was noch da ist, stellt einen festen, greifbaren Eckpfeiler in ihrem Leben dar. Den Verlust einer Vase, einer Scherbe der Vergangenheit, hätte sie sofort bemerkt. Blinzelnd macht sich Doña Caterina bewußt, daß ihr Denken für kurze Zeit ausgesetzt hatte. Keine Überlegung, nicht einmal das vertraute und willkommene Aufwallen von Ärger, dieses plötzliche, stechende Gefühl, das sie am Leben erhielt. Das Alter 12
fing an, sie zu versteinern, langsam, von Tag zu Tag mehr. Dieser Prozeß hatte bereits vor Jahrzehnten begonnen, mit dem sanften Herabstürzen einer kopflosen Taube. Doch dem unvermeidlichen Ende entgegen beschleunigt er sich jetzt. Es macht ihr nichts aus. Sie schnuppert und weiß Bescheid. Es ist der Geruch, der alte Geruch. Wieder quält sie sich aus dem Rohrsessel hoch. Sie trägt ein altes ausgeblichenes Kleid, das wie ein Sack an ihr herabhängt. Die aufgedruckten, einst azurblauen Rosen heben sich blaß vom Untergrund schwärzlicher Blätter ab. Ihre Haare, grau mit wenigen hellbraunen Strähnen, sind zu einem strengen Knoten zusammengefaßt. Ihre zerfurchten, walnußbraunen Züge wirken noch immer aristokratisch: ein Blick, der Unbedachte vernichten kann, eine Hakennase, mindestens seit der Reconquista ein Merkmal ihrer Familie, Wangenknochen, die fast spitz unter den Augen aufragen. Als sie sich an ihrem Stock zur Tür müht, sieht sie aus wie ein gebrechlicher alter Adler, der auf Beute aus ist. Doña Caterina dreht am Türknauf und betritt die Halle. Sie ist groß und hoch, vornehmer als ihr Zimmer. Sonnenlicht strömt durch die staubtrüben Fensterscheiben über der messingbeschlagenen Flügeltür. Der Boden ist gefegt, die Fliesen glänzen, wie das nur hundertjährige Keramik kann. Eine Wand wird von einem riesigen Spiegel bedeckt, blind an den Stellen, wo die Quecksilberbeschichtung schad13
haft geworden ist. Sie kann sich aus der Entfernung in ihm sehen: eine ätherisches, blasses Wesen, das mit dem Haus zu verschmelzen scheint. So enden die großen Familien, denkt sie, im Verfall, in Schäbigkeit, im blassen Abglanz ihrer Vergangenheit. Das haben die Narren im Krieg nicht begriffen. Es gibt keinen entscheidenden Wendepunkt, keinen apokalyptischen Moment. Alles … vergeht einfach, bis nichts bleibt als eine Auswahl zufälliger Eintagserscheinungen, ohne Bezug zueinander – es sei denn für eine Geschichte, die kein Lebender je ergründen kann. Wieder schnuppert sie, und ein kalter Schauer läuft ihr über den Rücken. Sie beginnt zu ahnen, was sie geweckt hat. Der Dieb im Garten war es nicht. Sie schlurft zu den anderen Räumen des Erdgeschosses. Sie sind unbewohnt, aber wer kann sich da heutzutage schon sicher sein? Je weiter sie sich von der Treppe entfernt, desto schwächer wird der Geruch. Dennoch zieht sie die Kette mit den Schlüsseln aus der Tasche, dreht sie rasselnd in den alten Schlössern und blickt hinein, schiebt das Unvermeidliche auf. Doch sie sieht nur mit Tüchern verhüllte Möbel, die wie mißgestaltete Gespenster darauf warten, daß jemand sie zum Leben erweckt. Alle drei Räume bieten das gleiche Bild: leblos, verstaubt, leer. Nachdem sie die Tür des letzten Zimmers wieder verschlossen hat, setzt sich Doña Caterina auf einen kleinen, hochlehnigen Stuhl neben dem Spiegel. Gegenüber, auf der anderen Seite des Raums, gibt es 14
bequemere Sitzgelegenheiten, aber sie möchte ihr Spiegelbild nicht sehen. Sogar der Anblick ihres eigenen Gesichts könnte sie erschrecken. »Die Angel-Brüder«, sagt sie vor sich hin und schüttelt den Kopf. Im letzten Jahr hatten sie gut gezahlt, sie in dieser Hinsicht nicht betrogen. Sie waren nur selten anwesend. Sie hätten einen guten Ruf, sagten sie. Das stimmte. Sie zeigten ihr die Zeitungsausschnitte über die Ausstellungen in London und New York, die Artikel in ausländischen Hochglanzmagazinen. Aber sie hatten auch einen anderen Ruf, was sehr schnell ersichtlich wurde. Das Knallen von Türen zu mitternächtlicher Stunde. Seltsame Besucher in absonderlicher Kleidung. Eine Andersartigkeit, die sie gelegentlich ängstigte, ihr eine Furcht einflößte, die sie nur zu gut kannte. Eines Tages, in der Halle, sah sie sie gemeinsam die Treppe herunterkommen. Hand in Hand, kichernd wie Kinder und in exotische Lederanzüge gekleidet, die sie absolut schwachsinnig aussehen ließen. Sie war nicht dumm. Sie kannte sich mit derlei aus. »Sie sind aus Barcelona«, sagte sie und sah ihnen mit diesem Adlerblick in die Augen, den niemand, nicht einmal die Brüder Angel mit ihren Adern voller Drogen ignorieren konnten. Pedro, der ruhigere, der mit dem blonden Haar, bei dem sie sich immer fragte, ob es gefärbt war, nickte. »Sind Sie Brüder? Richtige Brüder?« »Si, Doña Caterina«, antwortete er (und sie er15
kannte, daß der andere aus irgendeinem Grund der Sprache nicht mächtig zu sein schien). »Mehr als das. Wir sind Zwillinge.« Sie starrte die beiden an. Zwischen ihnen gab es absolut keine Ähnlichkeit. Sie konnte es nicht glauben. Pedro wirkte gekränkt. »Es stimmt. Wir würden Sie doch nicht anlügen. Sehen Sie.« Er schüttelte seinen Bruder, dessen dunkle Augen leer und unergründlich wirkten. »Wir werden es der guten Frau zeigen.« Sie öffneten die Reißverschlüsse ihrer Lederjacken und zogen ihre weißen, gerüschten Baumwollhemden aus den Hosen. Doña Caterina roch den Duft, der von ihnen ausging: schwer, feminin. »Sehen Sie her.« Pedro deutete auf eine blasse Narbe an seiner Taille. Seine Finger waren mit Farbe verschmiert: rot, blau, gelb. Seine Nägel waren lang und schmutzig. Die Narbe war etwa zehn Zentimeter lang und fünf breit, mit kleinen Schwielen an den Rändern, wie die Risse einer selbstzugefügten Wunde. Sie befand sich an seiner linken Körperseite. Der andere Bruder hob sein Hemd und enthüllte eine blasse, schmale Taille. Auf der rechten Seite sah sie eine nahezu identische Narbe. »Sehen Sie«, sagte Pedro, »ich bin der rechte Zwilling, Juan ist der linke. Bis zu unserem zweiten Lebensjahr waren wir miteinander verbunden. Wir sind nicht nur Brüder, wir sind Zwillinge. Wir sind nicht nur Zwillinge, wir sind himmlische Zwillinge.« 16
Er lachte wie berauscht, doch da war eine Energie in ihm, die nicht vom Alkohol kommen konnte. »Das ist das Geheimnis, das Geheimnis unserer Kunst. In unseren ersten beiden Lebensjahren waren wir ein Wesen mit zwei Seelen. Jetzt sind wir zwei Wesen, zwei Seelen, und doch schaffen wir« – er sprach das Wort aus, als wäre es heilig – »wie ein Mensch. Zwei Seelen, ein Ziel.« Sie sah ihn an. Ihre Abneigung stieß ihr sauer auf. »Verhalten Sie sich nachts bitte ruhiger«, sagte sie. »Und unterlassen Sie alles, was dieses Haus in einen schlechten Ruf bringen könnte. Nicht alles, was in Barcelona erlaubt sein mag, ist es auch hier. Jedenfalls nicht unter meinem Dach.« »Wir werden Ihnen nur Ehre bereiten, Madame.« Das Französisch ging ihm glatt über die Lippen, nicht zum ersten Mal. »Eines Tages wird man eine Gedenktafel an Ihrer Tür anbringen.« Bei diesen Worten waren sie aus dem Haus gestolpert. Aber der Lärm hatte nachgelassen. Im letzten Monat war kaum noch ein Laut von ihnen zu vernehmen gewesen. Und ihr Geld war willkommen. Nein, das Geld war lebensnotwendig. Sie steht auf und macht sich bewußt, daß es das ist, was sie am meisten fürchtet. Sie ist zu alt, um neue Menschen unter ihrem Dach aufzunehmen. Deshalb hat sie sich nie bemüht, auch die anderen Zimmer zu vermieten. Die Aufgabe, neue »Gäste« zu finden, sie zu überprüfen, sie im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, daß sie rechtzeitig zahlten – das alles überstieg ihre Kräfte. Ganz gleich, was sich 17
hinter ihren verschlossenen Türen abspielte: Die Brüder Angel zahlten regelmäßig und störten sie inzwischen nicht mehr. Sie waren ihre Rückversicherung, bis das Ende kam. Zu verkaufen hatte sie nichts mehr, nur noch das Haus selbst, aber wenn sie das tat, würde sie das ebenso umbringen wie eine Krankheit oder ein junger Tunichtgut von der Straße. Doña Caterina seufzt und geht ohne einen Seitenblick an dem riesigen Spiegel vorbei auf die Treppe zu. Früher einmal ist sie das Geländer hinunter in die Arme ihres Vaters gerutscht. Früher einmal. Jetzt umfaßt sie es mit einer faltigen, altersschwachen Hand, setzt einen Fuß auf eine Stufe, zieht den anderen nach. Siebenundzwanzig Stufen sind es – als Vierjährige hat sie sie gezählt –, und die Bewältigung jeder einzelnen kostet sie fast eine Minute. Als sie oben angekommen ist, sinkt sie auf den Boden. Tränen laufen ihr über die Wangen. Ihr Atem kommt in keuchenden Stößen. Die Tür zum Zimmer steht halb offen, der Gestank ist unerträglich: ein übler, miasmatischer Geruch, der sie bis ins Mark frösteln läßt. La Soledad. Das Telefon, ihr Telefon steht auf einem kleinen Tisch nur einen Schritt hinter der geöffneten Tür. Aber nichts in der Welt, nicht einmal der Herrgott persönlich, könnte Doña Caterina dazu bewegen, die Schwelle zu überqueren. Sie weiß nicht, wie lange sie dort auf dem Boden sitzt, und die Erinnerungen, die Schrecken zucken mit einer Deutlichkeit durch ihren Kopf, die ihr die Galle die Kehle herauftreibt. Als die Welt aufhört, sich um sie zu drehen, 18
wischt sie sich mit dem Ärmel über das Gesicht, steht auf, greift nach dem Geländer und müht sich, Stufe um Stufe, weiter hinauf. Das durch das Fenster über der Tür dringende Sonnenlicht wird blasser. Draußen stimmen die Vögel ihr Abendlied an. Sie braucht weitere zwanzig Minuten, um an das Telefon in ihrem Zimmer zu gelangen. In der Notrufzentrale des großen Polizeipräsidiums hinter der Plaza de la Paz blinkt ein rotes Signal auf. Miguel Domingo, ein übergewichtiger Zivilist, der überzeugt ist, mit seiner Zeit etwas Besseres anfangen zu können, als wirre Anrufe entgegenzunehmen, sieht es vor sich blinken. Er trinkt eine SanMiguel-Dose leer, beißt von seinem fetten Schinkenbrot ab, kaut, schluckt, rülpst und streckt die Hand aus. Mit einem Höchstmaß an gelangweilter Aggressivität legt er den Schalter um und knurrt: »Dígame.« Aber es dauert eine Minute, bis Doña Caterina mit dem Schluchzen aufhören und zu sprechen beginnen kann.
2 Um sechs Uhr morgens ist die mehrspurige Fernstraße nahezu leer. In einer Stunde werden die schweren Laster aus Cádiz, Sevilla und Córdoba die neue Autobahn verstopfen, die am Rand stehenden Palmen in Wolken schwarzen Dieselrauchs hüllen und Aus19
einandersetzungen mit den Einheimischen anzetteln, die aus den Vororten zu ihren Arbeitsstätten wollen. Doch noch ist alles paradiesisch friedlich. Maria Gutierrez hält ein gleichmäßiges Tempo von fünfzig mit ihrem gemieteten Seat Ibiza, ihre müden, schmerzenden Augen sind auf die Fahrbahn gerichtet. Der kleine rote Wagen bleibt so lange wie möglich auf der inneren Fahrspur. Sie hat keine Eile, läßt sich vom Verkehr treiben und versucht nicht daran zu denken, wohin er sie bringt. Seit zehn Jahren, seit einer Dekade, ist sie nicht mehr in der Stadt gewesen. Und die Rückkehr kommt ihr vor wie ein unerwünschtes Eindringen in ihre eigene Vergangenheit. Die Haare fliegen ihr um den Kopf, zerzaust vom Fahrtwind, der durchs halbgeöffnete Fenster hereinweht. Sie sind hellbraun, mit blonden Strähnen, zu jung, zu ungebärdig für sie, ein Relikt von gestern. Ihre klaren blauen Augen, sehr intensiv, fast bohrend, verlassen die Fahrbahn, blicken auf Abfahrten und wieder zurück, halten nach Richtungen Ausschau, registrieren Anblicke, die alte Erinnerungen wachrufen, die Vergangenheit aufstören, die irgendwo in ihrem Kopf begraben ist. Es sind kluge, abgeklärte Augen in einem blassen, wachen Gesicht, das eher faszinierend ist als schön. Maria Gutierrez ist dreiunddreißig: Sie hat die Augen einer zehn Jahre älteren Frau und die Frisur einer Zwanzigjährigen. Vor sieben Stunden, mitten in der Nacht, hat sie ihre Wohnung in einem Apartment-Hochhaus in der Neustadt von Salamanca verlassen. Eine helle, saubere, aseptische Umgebung. Der Abstand der Hoch20
hausblöcke ist von den Behörden auf den Zentimeter genau genormt. Die grauen Steinbauten strahlen Exaktheit aus, Korrektheit und eine Art kalte, komfortable Teilnahmslosigkeit. Niemand stellt um drei Uhr morgens seinen Müll vor die Tür. Lautes Singen, nächtliche Parties und lärmende Familienauseinandersetzungen sind nicht gern gesehen. Keiner kennt den anderen: Man steht morgens auf, geht zur Arbeit, kommt heim, legt sich ins Bett. Man ist im Norden, und das ist die »neue Stadt«: distanziert, abweisend und doch von dem unausgesprochenen Gefühl beherrscht, etwas verloren zu haben. Aber auch sicherer. Im Norden kennen Emotionen ihren Platz. Unter der Oberfläche, wohlverwahrt. Im Süden ist es anders. Sechs Stunden lang fuhr Maria Gutierrez über unbekannte Autobahnen. Ihr gefiel die Dunkelheit, die Anonymität, die Sicherheit, die sie verhieß. Dann, als die Sonne strahlend über der Bergkette im Osten aufging, erreichte sie die Stadt. Die Schnellstraße umfährt die Altstadt entlang der äußeren Stadtmauer, die im neunten Jahrhundert von den Arabern errichtet wurde. Dreihundert Jahre später kehrten die Christen im Triumph zurück. Hinter diesen Mauern planten sie den Feldzug, der zwei Jahrhunderte später die christliche Wiedereroberung Spaniens vollendete. Fünfhundert Jahre später zerstörte ein anderer Bürgerkrieg die Hälfte des honigfarbenen Mauerwerks. Den Rest besorgten dann die Städteplaner der sechziger Jahre. Sie rissen sie ab, um Platz für eine Verkehrsader aus Asphalt zu schaffen. 21
Aber Reste der alten Umfriedung sind geblieben: hier ein überwölbtes Tor, dort ein Mauerfragment. Ein junger Mann, jemand, der von ihren Haaren, ihren Augen fasziniert gewesen war, hatte sie ihr einmal gezeigt, als sie die Universität besuchte. Damals, als ihre Gefühle sie verunsicherten, sie noch nicht gelernt hatte, sie zu beherrschen und fest in sich zu verschließen. Jetzt kommt sie an den Mauerresten vorbei, und in dem kleinen inneren Spiegel, der unerwünscht aus dem Nichts auftaucht, sieht sie sein Gesicht. Sie fragt sich, wo er jetzt ist – falls er noch lebt. Irgendwo in ihrem Kopf regt sich eine Erinnerung an ihren letzten Streit, an den Augenblick, als ihr seine Intensität, seine Nähe zuviel wurde. Als sie sich für die Sicherheit des Alleinseins und gegen das Risiko des Zusammenseins entschied. Die Erinnerung rührt sich, dreht sich im Schlaf, und nur für den Fall, daß sie erwacht, hält sie den Atem an, bis alles in ihr wieder ruhig ist. Das Auto fährt an der alten Abzweigung nach Cádiz vorbei, passiert die innere Stadtmauer, biegt rechts ab und hält auf den Fluß zu, eine träge braune Wassermasse von rund zweihundert Meter Breite. Auf seinem Weg aus den Bergen in Cazorla zum Atlantik teilt sich der Guadalquivir vor dem niedrigen Felsplateau, auf dem die Stadt ursprünglich erbaut wurde. Er umfließt es, bildet eine kleine natürliche Insel: leicht zu verteidigen, aber zu klein, um all die Menschen aufzunehmen, die die Stadt bald anziehen sollte. Vorbei an den mittelalterlichen Kaianlagen – Columbus ist hier einst gelandet –, vorbei an 22
den Ausflugsbooten, die auf Passagiere warten. Hinter der blankpolierten Messingreling eines kleinen Dampfers schrubbt jemand das Deck, von einer Zigarette fällt Asche auf schimmernde Holzplanken. Sie fährt jetzt direkt am Ufer entlang. Nur ein schmaler, tiefer gelegter Fußweg trennt sie vom Fluß. Auf ihm üben ein paar Jugendliche für die Fiesta: Horn, Trompete und Trommeln quälen sich durch eine der alten Melodien. Sie dringt einen Moment lang durch das halbgeöffnete Fenster und verklingt dann über dem Wasser, treibt auf den Alfabia-Park auf dem gegenüberliegenden Ufer zu. Tauben stieben auf, wie hochgescheucht von den Mißklängen. Vier Brücken fuhren in die Altstadt. Jede trägt den Namen des Stadtviertels, in das sie führt: Carmona, Veracruz, Santana. Und El Viejo. Der Alte. Der barrio. Sie erinnert sich an den Namen – der Spiegel ist wieder da und diesmal nicht zu verdrängen –, denkt an kleine Räume in kleinen Wohnungen, schmale Betten, das Knacken von Eisengestellen unter dem Gewicht von zwei Körpern. Sie braucht nur an zwei der Brücken vorbei, um dann nach El Viejo einzubiegen, doch statt dessen umkreist sie die ganze Altstadt, läßt sich Zeit, weitere zwanzig Minuten, sucht nach Ausreden und denkt an den vor ihr liegenden Tag. Es gibt keine Entschuldigung. Heute wird es ruhig bleiben. Die großen Feiern, die Höhepunkte finden erst am Wochenende statt. Die Semana Santa hat gerade erst begonnen. Die Absperrungsgitter scheinen noch sauber gestapelt zu sein. Sie wurden noch nicht von nächtlichen Zechern in den Fluß 23
geworfen. Niemand hat die Holztribünen für die Paraden in Brand gesetzt. Niemand schläft seinen Rausch aus auf einer Bank am Fluß. Golden und alt, mit drei eleganten Bögen, taucht die Brücke nach El Viejo rechts vor ihr auf. Sie gibt Zeichen, sieht in den Rückspiegel und biegt auf die einspurige Straße ein. Die Ampel zeigt Grün, und der Wagen rauscht durch, der Fahrtwind hallt an den alten Hauswänden wider. Sie fährt unter dem Almohadentor hindurch, einem machtvollen, von Alter und Luftverschmutzung verwitterten Triumphbogen, und erreicht die Plaza de la Paz, biegt nach links, in den barrio. Sie erinnert sich an die Straße, findet die kleine unterirdische Parkgarage, stellt das Auto ab und läuft zum Apartment hinauf. Sie öffnet die Tür, wirft ihre Tasche auf den Boden, reißt die Fenster auf, wirft sich auf das Bett und starrt zur Decke. Die Geräusche und Gerüche der Stadt treiben von draußen herein. Ein Jahrzehnt ist vergangen, aber sie sind die gleichen.
3 »Vielleicht ist sie eine Lesbe. Das muß es sein. Das ist es. Eine Lesbe. Höchstwahrscheinlich, eindeutig.« Sergeant Felipe Torrillo, »der Bär«, hörte intensiv zu, mit hochrotem Gesicht. Das war ungewöhnlich für die Tageszeit. Torrillo, eins achtzig groß, zwei24
einhalb Zentner schwer und mit dem Gesicht eines übergewichtigen Cherub, platzte fast vor unterdrücktem Ärger. Er hörte Quemada zu, dem Schandmaul des Reviers, und wünschte sich meilenweit weg. »Weißt du, Torrillo, du bist nicht firm in diesen Dingen. Tief im Innern haben alle Lesben Schuldgefühle. Sie zerreißen sich zwar pausenlos über uns das Maul, aber in Wirklichkeit brennen sie nur darauf, einen richtigen Schwanz zu spüren. Darauf gebe ich dir mein Wort. Und die da drüben« – Quemada zeigte so auffällig auf die zierliche Gestalt im Warteraum gegenüber dem Dienstzimmer, daß ihr das nicht entgehen konnte – »ist eine waschechte Lesbe. Ich fress einen Besen, wenn ich mich irre. Sie fühlen sich von Bullen angezogen, weil sie wissen, daß wir ganze Kerle sind, anders als die kleinen Tunten, mit denen sie sich sonst umgeben. Und weißt du, warum? Weil sie hoffen, daß wir sie eines Tages kurieren.« Das elektrische Licht beschien die Halbglatze des älteren Mannes, spiegelte sich in seinem dünnen Lächeln wider, dem dünnen Stoff seines Anzugs. Ein Jahr trennte die beiden, aber es wirkte wie ein Jahrzehnt. Torrillo stand auf. Sein Leinenanzug zeigte Knitterfalten, seine langen braunen Haare waren hinten zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengefaßt – ein Relikt seiner längst vergangenen Dienstzeit im Drogendezernat. Quemada sah aus wie ein unterbezahlter Bankdirektor, er war fast dreißig Zentimeter kleiner, eindeutig zu dick und hatte sich die verbliebenen Haarsträhnen wie Sardellen um seine 25
Glatze gelegt. Er keuchte beim Sprechen, Schweißperlen bedeckten seine Stirn. Quemada verschob einen Stapel Unterlagen auf dem Schreibtisch, der aussah, als hätte jemand einen Papierkorb darauf ausgeleert. »Sag deiner kleinen Lesbe, wenn sie geheilt werden will, könnte ich mich unter Umständen bereit finden, den Arzt zu spielen.« Drei der anderen Polizisten hinter ihm lachten dreckig auf, sahen Torrillos Miene und verstummten. »Du bist ein Blödmann, Quemada«, sagte der größere Mann mit steinernem Gesicht. »Ein Blödmann.« Torrillo suchte nach weiteren Worten, fand keine und wiederholte sich noch einmal. Die Tür ging auf, und Rodríguez trat ein. Der Capitán schnupperte: Zigaretten, Schweiß, billige chorizo und abgestandene Furze. Er warf einen Blick in den Warteraum, sah Torrillo an, dessen Gesicht inzwischen purpurrot war, und deutete in die Richtung seines Büros. Die beiden Männer gingen über den Flur, und Torrillo öffnete die Glastür. Sie traten ein und setzten sich. Aus seinem Ledersessel sah Rodríguez aus dem Fenster über den Platz zur Kathedrale hinüber, einer kuriosen Mischung aus christlicher Gotik und muslimischer Moschee, durch die sich die Touristen tagtäglich in langen Schlangen hindurchwanden. Das war der Ausblick, sein Ausblick. Er genoß ihn seit mehr als einem Jahrzehnt. Die Art, wie er nachdenklich zur Kathedrale hinüberblickte, wenn die Fälle knifflig wurden, und dort Erkenntnisse zu gewinnen 26
schien, die dem Rest von ihnen verschlossen blieben, war in Polizeikreisen zur Legende geworden. Sie nannten ihn schon den »Alten«, lange bevor er das seinen Jahren nach verdient hätte. Aus dem Chaos und der Korruption, für die die Polizei unter Franco stand, hatte er etwas geschaffen, was funktionierte, Erfolge vorzuweisen hatte. Und wenn sie nicht immer verstanden, wie er das machte, trug das nur weiter zum Mythos bei, zur Magie. Manchmal brauchte man eben nicht alles zu verstehen. Der Torre del Oro, der dreihundert Jahre alte Glockenturm, der einmal als Minarett gedient hatte, warf einen langen, schmalen Schatten über den Platz. Es war halb neun Uhr morgens, und Rodríguez konnte sehen, daß im Alarcon, der kleinen Bar, die die Polizisten frequentierten, ein großer Teil der Morgenschicht Berge von churros verputzte, Unmengen Kaffee und Schokolade in sich hineinschüttete, Gläser mit coñac leerte. Torrillo ließ dem Capitán Zeit, sich mit dem Tag anzufreunden, und empfand erneut die unbehagliche Besorgnis, die ihn seit kurzem immer wieder überfiel. Der Alte, der Capitán, zu dem sie seit undenklichen Zeiten aufgeblickt hatten, sah alt aus. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sich jeder auf ihn verlassen hatte. In der man sicher sein konnte, daß Rodríguez schon regeln würde, was bei ihnen auch immer schieflief, und das auf eine Weise, die ihnen unerfindlich blieb. Aber das war jetzt schon lange her. Nun wirkte er alt, bequem und zufrieden. Er mußte knapp sechzig sein, am Horizont winkte der Ruhestand, und er fing an zurück27
zuwinken: eine kleine casita an der Küste. Endlich mehr Zeit für die Familie, von der er so oft sprach. Torrillo sah ihn schon als Ruheständler vor sich, wie sich das lebhafte Gesicht unter der Sonne langsam mahagonibraun verfärbte, die lebendigen dunklen Augen ihren Glanz verloren. Das geschah bereits. Sie wußten es alle. Wenn die Dinge heikel wurden, wenn sie mit einem Fall nicht weiterkamen und im Alarcon mißmutig in ihre Gläser starrten, sagte garantiert jemand: »Der Alte wird’s schon richten.« Diese Zeit verging. Die Generationen wechselten, und mit ihnen veränderte sich die Welt. Torrillo dachte darüber nach, wie der Alte abbaute, und fragte sich, warum ihm jemand das übelnehmen sollte. Dann sagte er: »Großer Gott, warum ausgerechnet zu uns?« Rodríguez sah seinen Sergeant lächelnd an. »Warum nicht zu uns? Sie will etwas lernen. Und wo könnte sie das besser als bei uns? Es ist eine Anerkennung.« »Sie scheinen das nicht so zu sehen.« Torrillo reckte den Daumen über die Schulter Richtung Dienstzimmer. »Sie sind eben – wie war doch gleich das Wort, das ich durch die Tür hörte? Blödmänner.« Torrillo lachte. »Das bin ich auch. Manchmal.« »Manchmal.« Rodríguez’ Augen funkelten humorvoll und – auch wenn das vielleicht nicht anhielt – hellwach. Torrillo rief sich ins Gedächtnis, daß keiner – kein einziger – im ganzen Gebäude so agil wirkte, beson28
ders nicht zu dieser Morgenstunde während der Semana Santa. »Holen Sie sie herein. Und besorgen Sie uns dann Kaffee. Wir werden das ganz sachlich über die Bühne bringen und uns dann um unsere Arbeit kümmern.« Torrillo sprang auf die Beine. »Selbstverständlich. Es gibt da etwas Neues. Aber genaues weiß ich noch nicht. Kam erst kurz vor Ihrer Ankunft rein. Der Bericht liegt auf Ihrem Tisch.« Rodríguez nickte und vertiefte sich in die Unterlagen. Er las noch immer, als sich die Tür wieder öffnete und Maria Gutierrez eintrat. Torrillo folgte ihr, schloß die Tür und hüstelte. »Ich werde Kaffee besorgen.« »Und ein Glas Wasser für mich, bitte«, sagte sie ruhig. Der Akzent war leicht, aber unüberhörbar: nördlich, Mittelklasse, selbstsicher. Rodríguez sah sie an. Das Memo über den Neuzugang – von ihm kaum gelesen – hatte ihn auf eine andere Frau vorbereitet. Maria Gutierrez war klein und zierlich, kaum größer als ein Meter fünfundfünfzig. Sie trug ein blaßblaues Batisthemd und ausgeblichene Beuteljeans, die so aussahen, als hätte sie sie bei einem Straßenhändler gekauft. Ihre Haare schienen vom Kopf in alle Richtungen emporzustreben, um an irgendeinem Punkt wieder von der Gravität herabgezogen zu werden. Rodríguez konnte nicht entscheiden, ob das eine beabsichtigte Frisur oder mangelnde Sorgfalt war. Zusammen mit ihrem feingeschnittenen, faszinierenden Gesicht machte 29
das Ganze den Eindruck nachlässiger Eleganz, aber dies war keine Frau, die Wert auf Äußerlichkeiten legte. Sie trug kein Make-up auf ihrer hellen Haut, die eher nordeuropäisch als spanisch wirkte. Wache, intelligente Augen sahen ihn an, schätzten auch ihn ab. Rodríguez wünschte sich, das Memo sorgfältiger gelesen zu haben. Er kam nicht auf ihr Alter. Sie konnte nahezu alles zwischen zwanzig und dreißig sein. Alterseinschätzungen waren noch nie seine Stärke gewesen. Torrillo kehrte zurück, stellte drei Kaffeegläser auf den Schreibtisch und reichte ihr einen Plastikbecher mit Wasser. »Danke«, sagte sie. »Und vielen Dank dafür, daß Sie sich die Zeit nehmen, mir Einblick in Ihre Arbeit zu geben.« Torrillo lächelte errötend. »Señora Gutierrez«, fragte Rodríguez, »studieren Sie in Salamanca?« »Nein, Capitán. Ich bin Professorin.« »Ah.« »Professorin der Geisteswissenschaften. Ich nahm an, das wäre Ihnen mitgeteilt worden.« »Geisteswissenschaften?« wiederholte Torrllo verblüfft. »Wir sind hier bei der Polizei. Was hat die mit Geisteswissenschaften zu tun?« »Ich bin von der Qualifikation her Professorin für Geisteswissenschaften. Im Moment bin ich für das Innenministerium tätig«, erläuterte sie freundlich und geduldig. »Wir befassen uns mit einer Reihe von Projekten, die die Effektivität der Polizei untersu30
chen sollen. Unter Umständen versetzen unsere Arbeitsergebnisse die Regierung in die Lage, Veränderungen in der Ausbildung und in der Ermittlungspraxis zu empfehlen. Auch in den Universitäten sind neue Zeiten angebrochen, Capitán. Wir müssen uns bezahlt machen, daher übernehmen wir diese Aufträge. Meine Entscheidung war das nicht. Wir haben unsere Untersuchungen in Madrid, Barcelona und Málaga durchgeführt, wir arbeiten an weiteren, hier ebenso wie in Burgos und Santander. Schließlich wird ein Bericht verfaßt … Es gibt eine Methodik für das Projekt, die ich Ihnen zur Verfügung stellen kann, wenn Sie das wünschen. Im Grunde geht es darum, Ihre Arbeit an einem Fall zu verfolgen und später darüber zu berichten.« »Eine Methowas?« Torrillos hob verdutzt die Brauen. »Eine Methodik. Die Vorgehensweise, wenn Ihnen das lieber ist.« »Es ist mir lieber, erinnert mehr an Polizeiarbeit.« »Capitán?« Rodríguez hatte sich wieder seinen Unterlagen zugewandt. Er ließ nur zögernd davon ab. »Möchten Sie, daß ich Ihnen erkläre, wie ich gern vorgehen würde, Capitán?« »Nur kurz, bitte. Ich wurde brieflich aus Madrid angewiesen, Sie hier bei uns aufzunehmen und Ihnen soweit wie möglich freie Hand zu lassen. Also heißen wir Sie willkommen, aber Sie werden sicher verstehen, daß wir zunächst einmal die Arbeit erle31
digen müssen, für die wir bezahlt werden. Ich werde Sie nach Kräften unterstützen, vorausgesetzt – und das sollte ganz klar sein –, vorausgesetzt, daß es unsere Arbeit in keiner Weise beeinträchtigt.« Die blauen Augen blitzten, und Rodríguez entging die kühle Entschlossenheit keineswegs. »Selbstverständlich. Ich habe nicht vor, Sie zu behindern. Ich möchte lediglich Arbeitsvorgänge beobachten und Notizen machen. Und danach Ihnen und Ihrem Sergeant ein paar Fragen stellen. In einer Abschlußbesprechung, wenn Sie so wollen. Und ich werde Ihnen eine Kopie des fertigen Berichts zuschicken.« Rodríguez wedelte mit der Hand über den Schreibtisch, zeigte zu den gefüllten Regalen hinüber. »Berichte, Berichte, Berichte. Das Leben eines Polizisten besteht aus Papier.« Ausdruckslos sah sie ihn an. »Nein. Verzeihen Sie. Selbstverständlich erhalte ich sehr gern Ihren Bericht. Aber im Moment muß ich mich mit einem anderen befassen.« Er hob ein Schriftstück hoch. »Wenn ich es richtig verstanden habe, geht es Ihnen darum, einen Fall vom Anfang bis zum Ende zu verfolgen. Einen ganz x-beliebigen Fall.« Sie nickte. »Vielleicht gibt es kein befriedigendes Ende. Wir haben hier eine recht gute Aufklärungsrate, aber niemand ist vollkommen.« »Das ist mir klar. Am einfachsten wird es sein, wenn Sie mich einem verhältnismäßig personalin32
tensiven Fall zuteilen, an dem ich dranbleibe, bis die Ermittlungen erfolgreich abgeschlossen sind oder Sie sie einstellen.« »Verstehe.« Rodríguez blickte wieder die Unterlagen auf seinem Schreibtisch an. »Sind Sie empfindlich, Frau Professor?« Die blauen Augen zuckten mit keiner Wimper. »Nun, das wird sich zeigen. Haben Sie schon einmal von den Angel-Brüdern gehört?« »Den Künstlern? Ja, selbstverständlich. Wer hätte das nicht?« Torrillo schüttelte den Kopf. »Ich.« »Sie werden Sie kennenlernen. Sie wurden gestern abend tot aufgefunden. Wahrscheinlich ermordet. Ausgerechnet am Beginn der Semana Santa, muß ich schon sagen. Ich hatte gehofft, Ihre Aufmerksamkeit auf unser hervorragendes System zur Bewältigung von Verkehrsströmen und Menschenansammlungen zu lenken, Frau Professor, doch offenbar ist mir das nicht vergönnt. Das Haus liegt in Carmona. Ich habe Hauptkommissar Menéndez auf den Fall angesetzt. Sie treffen ihn auf dem Parkplatz.« Sie rührte sich nicht. »Gestern abend, Capitán?« »Wie ich schon sagte.« »Und jetzt ist es fast neun Uhr vormittags? Braucht ein höherer Polizeiangehöriger so lange, um am Tatort zu erscheinen?« »Sie wurden gestern abend von einer sehr alten Dame entdeckt. Sie ist sehr hinfällig und war von daher begreiflicherweise ein bißchen verwirrt. Als sie in unserer Zentrale anrief, beschwerte sie sich ledig33
lich über einen äußerst unangenehmen Geruch. Mehr nicht.« »Und?« »Der aufnehmende Beamte vermittelte ihr einen Installateur, der um diese Tageszeit gar nicht leicht zu bekommen ist. Nach seiner Ankunft im Haus rief uns der Installateur an und erläuterte die wahre Sachlage. Ich glaube, man könnte mit einigem Recht sagen, daß es hier ein kleines Problem mit unserer … Methodik gab. Bitte. Hauptkommissar Menéndez wartet.« Torrillo stand auf, ging zum Garderobenhalter und zog seinen Sakko an. Sie folgte ihm zur Tür hinaus und kritzelte beim Laufen fieberhaft etwas in ein kleines Notizbuch. Vor dem Tisch mit dem Dienstbuch blieb Torrillo stehen und trug sich aus. Quemada saß am Nebentisch und grinste breit. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, schnalzte mit der Zunge und hob die Schultern, als wollte er sagen: Vielleicht irgendwann, wenn ich nichts Besseres zu tun habe. Maria Gutierrez hörte auf zu kritzeln, beugte sich vor und sah Quemada direkt in die Augen. Sie war so nahe, daß sie seinen Tabakatem riechen konnte. Torrillo spürte die veränderte Atmosphäre und drehte sich neugierig um. Quemada spannte den Arm an. Ein wabbliges Polster bildete sich zwischen Ellbogen und Schulter. »Gefallen Ihnen Muskeln, Señora?« grinste Quemada. »Nicht, wenn sie zwischen den Ohren liegen.« 34
Torrillo lachte laut auf, ein tiefes, sonores Röhren, das durch den ganzen Raum hallte. Stumm und mit hochrotem Gesicht saß Quemada da. Maria Gutierrez straffte die Schultern, steckte ihr Notizbuch in einen kleinen grauen Lederaktenkoffer und verließ unter schüchternem Applaus den Raum. Torrillo sah Quemada an, dessen Kinn sich auf Schreibtischhöhe befand, und empfand fast so etwas wie Mitleid. »Sie mag vielleicht eine Lesbierin sein, mein Freund«, sagte er. »Aber wenn, dann ist sie unsere Lesbierin.« Dann folgte er ihr die zwei Treppen hinunter. Auf dem Parkplatz ging Torrillo auf einen Ford zu und öffnete ihr die Tür. Der Mann auf dem Beifahrersitz drehte sich nicht einmal um. »Das ist Hauptkommissar Menéndez«, knurrte Torrillo, leicht verlegen. »Guten Morgen, Herr Kommissar«, sagte sie zu dem dunkelgekleideten Rücken vor ihr. Sie erhielt keine Antwort. Zwei Minuten später fuhren sie schnell und schweigend auf die Straße hinaus. In diesem Jahr war die Hitze früh gekommen, schwer und feucht hing sie in der Luft. Auf dem Platz begannen Arbeiter damit, die Tribünen an der Prozessionsstrecke für den folgenden Sonntag zu errichten. Sie erkletterten die riesigen Metallgerüste und hingen an ihnen wie Insekten, die die Knochen eines längst toten Tiers inspizieren. 35
Am Torre del Oro fuhr Torrillo auf die rechte Spur und wartete auf Grün, um auf die Campillos einzubiegen und am riesigen Rund der Stierkampfarena vorbeizufahren, die sanftgolden in der Morgensonne erschimmerte. »Semana Santa. Eine Schande.« Er wollte gerade durch das halbgeöffnete Fenster spucken, als er sich an die Beifahrerin im Fond erinnerte. Menéndez blickte auf die Straßen hinaus, drehte sich dann aber um und sah sie an. Ein langes, kaltes Gesicht, nicht älter als dreißig, mit einem schmalen schwarzen Schnurrbart. Der Hauptkommissar trug einen adretten dunkelblauen Anzug über einem makellos weißen Hemd und weinroter Seidenkrawatte. Er sah aus wie ein Börsenmakler. »Auf Traditionen gibt man nicht allzuviel in Polizeikreisen, Frau Professor«, sagte er mit ausdrucksloser Stimme. »Wir neigen dazu, in den Tag hineinzuleben.« »Traditionen«, knurrte Torrillo verächtlich zum offenen Fenster hinaus. »Heilige Woche, daß ich nicht lache! Wissen Sie, wie das abläuft? Die ersten drei Tage der Woche liegen sie auf den Knien und die nächsten vier auf dem Rücken. Sie besaufen sich oder b… , Sie verstehen schon, was ich meine. Zur Karwoche kommen an die hunderttausend Besucher in die Stadt, und sie benehmen sich genauso. Drei Tage in Sack und Asche« – Seine Stimme ging in ein Falsett über, er ließ kurz das Steuer los und rang die Hände – »›Bitte, Herr Jesus, vergib uns unsere 36
Schuld, wir haben im letzten Jahr schwer gesündigt.‹ Und dann nichts wie ab in den Park, zur feria, die ganze Nacht in den casitas. Da können Sie zusehen, wie der Gratis-Fino ihnen alle Hemmungen wegschwemmt. Während der Semana Santa regelt man als Polizist entweder den Verkehr, schleppt Betrunkene ab oder bekommt Ärger mit Leuten, die sich nicht entscheiden können, ob sie nun saufen oder vögeln wollen. Entschuldigen Sie, Señora, aber das schreiben Sie sich doch hoffentlich nicht auf, oder?« Torrillo blickte in den Rückspiegel und sah sie lächeln. »Gut. Wäre mir auch nicht recht. Könnte bei den Leuten, die unsere Löhne zahlen, zu Mißverständnissen führen.« Das Auto bog um die Ecke in eine kleine Straße, vorbei an weißgetünchten Hauswänden, an Passanten, die über handtuchschmale Bürgersteige stolperten. Dann verbreiterte sich die Straße. Die Häuser waren hier größer, halbgeöffnete Holztore gewährten Einblicke in schattige Innenhöfe, in denen rote Pelargonien und purpurfarbene Jacarandablüten leuchteten. »Das ist Carmona. Sehen Sie die Kirche? Die wohltätigste Jungfrau der Stadt, sagt man. Da, wo ich herkomme, gibt es überhaupt keine Jungfrauen. In Carmona sollen sie noch ein paar haben. Und auf keinen Fall bringen wir hier schmutzige Wörter über die Lippen«, sagte Torrillo. »Wenn wir es tun, brechen die Leute auf der Straße tot zusammen. Sie sind so empfindsam.« 37
Torrillo beobachtete, wie eine Pferdekutsche mit einer Ladung Betrunkener gemächlich in eine Seitenstraße einbog. Er zeigte auf ein großes altes, quadratisches Gebäude. Davor parkten ein weißer CitroënKrankenwagen und zwei Polizeikombis. Torrillo passierte Eisentore, von denen die Farbe abblätterte, und parkte auf einer Kiesauffahrt unter dem Mimosenbaum. Wie ein Taxifahrer stieg er aus, rannte hinten um den Wagen herum und riß die Fondtür auf. »Sie können mich Bär nennen, wenn Sie wollen. Das macht jeder, nur der Hauptkommissar nicht.« Maria Gutierrez schwang ihre Beine vom Rücksitz und stieg aus. Ihr Kopf befand sich irgendwo in Torrillos Brusthöhe. »Bär?« »Ich denke, es ist liebevoll gemeint. Meistens jedenfalls.« Als sie sich dem Haus zuwandten, unterhielt sich Menéndez bereits intensiv mit einem Polizisten. Sein Gesicht hinter der dunklen Sonnenbrille war ausdruckslos.
4 »Ich glaube, der Capitán hat Sie das schon gefragt, Frau Professor, aber ich möchte mich noch einmal vergewissern. Sind Sie empfindlich?« Die Halle erinnerte sie an Buñuel-Filme der sieb38
ziger Jahre: verblichene Größe, Staub, ein Gefühl von Verfall. Menéndez’ Miene zeigte eine Spur von Ungeduld. »Ich folge Ihnen. Notfalls kann ich immer noch umkehren.« »In Ordnung.« Sie gingen die Treppe hinauf, vorbei an Männern in weißen Overalls, die das Geländer mit Pinseln einpuderten und Kreise um kaum erkennbare Fingerabdrücke zogen. Je näher sie dem Treppenabsatz kamen, desto widerlicher wurde der Geruch. Sie holte ein Taschentuch hervor, besprengte es mit Eau de Cologne und drückte es sich kurz an die Nase. Es half ein bißchen. Wortlos betraten Menéndez und Torrillo das Zimmer. Sie folgte ihnen auf den Fersen. Die Tür führte in einen riesigen, sonnendurchfluteten Raum. In der Mitte sah sie etwas Dunkles, Undefinierbares, umgeben von Vertretern der Gerichtsmedizin. Über dem Ganzen surrte ein Fliegenschwarm. Von Zeit zu Zeit versuchte eine weiße Hand ihn zu verscheuchen. Vergeblich. Irgendein innerer Instinkt riet ihr, keinen Blick auf die Mitte zu werfen, noch nicht. Sie sah daran vorbei und betrachtete das, was für die ermittelnden Beamten nicht von Interesse zu sein schien: den irdischen Besitz der verstorbenen Brüder Angel. Ein Marmorkamin beherrschte die linke Wand des Raums, über ihm hing ein großer, vergoldeter Spiegel. Auf dem Kaminsims stand eine fast meterhohe Uhr aus Goldbronze. Die Zeiger 39
standen auf zwölf. An der gegenüberliegenden Wand ein Sammelsurium moderner Kunst: ein Wandgemälde, das sie vage Gilbert und George zuordnete, ein Seidenparavent von Warhol sowie einige Werke, die vermutlich von den Brüdern selbst stammten. Nahe der Tür eine Pinnwand mit Zeitungsausschnitten und Fotos: Ein Bild aus einem englischen Magazin zeigte die Brüder auf einer Party in London, die Rezension einer Ausstellung in New York, ein paar Amateuraufnahmen der Brüder mit Angehörigen der internationalen Glitzerwelt. Zwischen ihr und dem Fenster ein Durcheinander von Möbeln. Konnte das ihr Geschmack gewesen sein? Wohl kaum. Die Möbel waren zur Seite geräumt worden, um mitten im Zimmer Platz zu schaffen. Unter anderen Voraussetzungen hätte sie über die Ungereimtheit der Stilarten lachen können. Vier Eßtische sahen nach englischem Chippendale aus. Der fünfte Tisch war jedoch die Darstellung einer halbnackten Frau auf allen vieren, die die Plexiglas-Tischplatte auf dem Rücken balancierte. Sie trug kniehohe Lederstiefel, ihre Vulva war grotesk vergrößert, und ihre Brüste hingen bis fast auf den Boden. Ihre Augen waren geschlossen, die Lippen geöffnet: Ein Ausdruck, den Künstler eines bestimmten Alters für Ekstase zu halten schienen. Aus der Mitte des Raums drang Menéndez’ Stimme zu ihr: leise, drängend, fragend. Sie konnte es nicht länger aufschieben. Maria Gutierrez trat auf die von Fliegen umsurrte Männergruppe zu. Torrillo bemerkte sie und trat einen Schritt zur Seite. Unwill40
kürlich mußte sie blinzeln und war überrascht, daß sie sich nicht auf der Stelle übergeben mußte. Die Brüder Angel lagen direkt unter einer kleinen modernen Lampe, die tief von der Decke herabhing. Ihre Leichen ruhten Seite an Seite auf der dunkelroten Samtdecke des übergroßen Doppelbetts. Sie waren gekleidet wie spanische Höflinge – in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, vermutete sie. Ein Zwilling trug Grün, der andere Rot: Brokatwämse, Kniebundhosen aus Samt, weiße Kniestrümpfe, schwarze Lederschuhe. Die rechte Leiche hielt ein Schwert vor der Brust. Die Hand des anderen Bruders ruhte auf einem kleinen Schmuckkästchen. Menéndez streckte die Hand aus und öffnete den Deckel: glitzernder Talmischmuck. Menéndez’ Hand steckte in einem Plastikhandschuh, wie sie Verkäuferinnen an der Feinkosttheke der Supermärkte benutzen. Beide Brüder trugen Rüschenhemden von der Art, wie sie von Picadores in der Stierkampfarena noch immer bevorzugt werden. Der Arm mit dem Schwert verdeckte fast die gesamte Brust des Toten, aber auf der seines Bruders sah sie einen großen, schwarzverkrusteten Blutfleck. Darüber und darunter Pfeile, ähnlich den Darts-Pfeilen in englischen Pubs. An ihnen waren rote, gelbe und blaue Bänder befestigt, und die Spitzen steckten tief im Fleisch. Mindestens sechs Pfeile durchbohrten den Oberkörper, von knapp unterhalb des Halses bis zum Nabel. Noch weitere Blutflecke bedeckten den Oberkörper, deren Ursache aber nicht ersichtlich war. 41
Menéndez trat an die andere Seite des Betts und hob den starren Arm mit dem Schwert an. Darunter das gleiche Bild: eine große Wunde in der Mitte, eine Reihe bebänderter Pfeile, weitere Blutflecke. Er ging wieder zurück und berührte das Hemd. Es war nicht zugeknöpft. Er öffnete es, und einen Moment lang befürchtete sie, sich übergeben zu müssen. Die Fliegen waren nicht von draußen gekommen. Der Körper wimmelte vor gelben und weißen Maden, belebt durch die Verwesung. Auf unsicheren Knien drehte sie sich um und verließ den Raum. Sie schwankte die Treppe hinunter, zur Tür hinaus und sank auf die Eingangsstufen. Selbst hier schien die Luft vom Verwesungsgeruch verpestet zu sein. Sie fragte sich, ob sie ihn jemals wieder loswerden würde. Maria Gutierrez verschwamm es vor den Augen, als sie zum Polizeiwagen ging und die hintere Tür öffnete. Sie ließ sich auf den Rücksitz fallen und verlor das Bewußtsein. Menéndez sah sie nicht gehen. Er lief konzentriert um das Totenbett herum, untersuchte die Leichen, hob Kleidungsstücke an, berührte das wächserne Fleisch mit einem Stift und hielt seine Feststellungen auf einem kleinen Tonbandgerät fest. Torrillo notierte die Anmerkungen zusätzlich auf seinem Block. Menéndez hatte ihn nie darum gebeten. Es schien irgendwie selbstverständlich zu sein. Der Rest der Truppe trat zurück. Niemand sagte ein Wort. Sie beobachteten die Kriminalpolizisten 42
bei der Arbeit, einige gelangweilt, die meisten fasziniert. Draußen erwachte die Stadt zum Leben. Vögel sangen in den Mimosenbäumen entlang der Straße vor den Patiomauern. Eine Prozession zog vorüber, erst drang Weihrauchgeruch durch die Fenster, dann das heitere Geplauder der Teilnehmer. Charterjets zogen in tausend Meter Höhe letzte Landeschleifen und luden Tausende weiterer Besucher der Heiligen Woche auf dem Flughafen Murillo ab. Die Straßenhändler bemühten sich halbherzig um Geschäfte mit Touristen und Einheimischen, stellten aber fest, daß die Mischung aus Hitze und kurzlebiger religiöser Leidenschaft für die meisten nur schwer erträglich war. Ein Polizist wurde mit dem Messer angegriffen, aber nicht ernsthaft verletzt, als er den Tumult in einer Bar schlichten wollte, der in einer harmlosen Auseinandersetzung über Fußball seinen Anfang genommen hatte. Auf der Plaza de la Paz errichteten sieben Mitglieder einer Sekte einen Stand, an dem über den bevorstehenden Weltuntergang am nächsten Sonntag informiert wurde. »Vor oder nach dem Stierkampf?« erkundigte sich ein beunruhigter Zuschauer, als sie ihre Transparente entrollten. Und sie nahmen an, er mache sich über sie lustig. Ein unvorschriftsgemäß beladener Lastwagen mit Knoblauch kippte auf der Umgehungsstraße um und verursachte einen Rückstau bis zur Autobahn nach Cádiz. Aufgrund der Hitze und der Erregung erlitt ein Mann einen Herzanfall, diverse Autofahrer gerieten mit den Fäusten aneinander, und eine jugendli43
che Mutter brachte vorzeitig ein Mädchen zur Welt. Als Hebamme fungierte eine Busschaffnerin. Und Maria Gutierrez schlief und hatte einen Alptraum, in dem kopflose Tauben wie roter Regen aus einem strahlendblauen Himmel zu Boden fielen. Wieder und immer wieder. Abrupt fuhr sie hoch, die grauenerregenden scharlachroten Bilder noch immer irgendwo eingebrannt. Einen Moment lang wußte sie nicht, wo sie sich befand. Dann erinnerte sie sich, zog ihre Jeans glatt, fuhr sich durch die Haare, blickte prüfend in den Innenspiegel und stieg aus. Ein Mann mit Arzttasche kam durch das Eingangstor. Zu spät, wie üblich, dachte sie, rief sich dann aber zur Ordnung. Sie war hier, um den Polizisten auf die Finger zu sehen, nicht, um einer von ihnen zu werden. Schon gar nicht, wie einer zu denken. Als sie das Haus wieder betrat, kamen Menéndez und Torrillo gerade die Treppe herunter. Der Hauptkommissar wirkte unnatürlich aufgekratzt, auf eine Weise konzentriert, die jede Ablenkung ausschloß. Die Arbeit – die Morde – hatte ihm neue Energien verliehen, denen etwas Dunkles, fast Fanatisches anhaftete. Sein Gesicht schien zu leuchten, seinen wachen braunen Augen entging nichts. Sein Blick fiel auf sie. Er hob eine Hand, winkte ihr zu, sanft, fast weiblich, deutete in die Richtung einer Tür und ging auf sie zu, Torrillo im Schlepptau. »Geht es Ihnen wieder besser?« Sie nickte. 44
»Gut. Es ist aber auch ein schockierender Anblick. Die meisten Menschen wären auf der Stelle umgefallen. Sie haben sich hervorragend gehalten. Und jetzt …« Sie wartete. »Jetzt müssen wir kurz mit der Señora sprechen, der das Haus gehört. Ich glaube zwar nicht, daß sie uns viel Neues mitzuteilen hat, dennoch dürfte es eine ganz interessante Unterhaltung werden.« Menéndez zeigte erneut auf die Tür. Sie betraten den Raum. Eine Polizistin in prallsitzender Uniform stand neben einer alten Frau, die kerzengerade auf einem ausgeblichenen Polstersessel saß und mit beiden Händen die Armlehnen umkrallte. Sie wirkte uralt, zu alt, um überhaupt noch am Leben sein zu können. Ihr Gesicht sah aus wie eine griechische Maske, resolut, gelassen, voller Tragik. »Sie wissen, wer ich bin. Ich wünsche keinen Skandal. Der Name meiner Familie sollte in dieser Stadt noch bekannt genug sein, um das zu verhindern, denke ich.«
5 Menéndez konnte Caterina Lucena mehr über die Brüder erzählen als sie ihm. Er hatte sich die Vorstrafenregister sowie Zeitungsausschnitte aus der Bibliothek ins Haus bringen lassen und kurz überflogen. Sie enthüllten fast alles, was bereits in den Printme45
dien erschienen war: stubenrein in Hola!, schlüpfriger in Esquire und Playboy. Pedro und Juan Angel waren vor vierunddreißig Jahren in einem der ärmsten Viertel von Barcelona zur Welt gekommen. Als siamesische Zwillinge, seit der Geburt an den Hüften zusammengewachsen – jedoch nur äußerlich, obwohl das seinerzeit den Ärzten nicht bekannt war. Sie besaßen keine gemeinsamen inneren Organe. Aber im damaligen Spanien waren sie medizinische Monstrositäten, und niemand sah sich in der Lage, eine zutreffende Diagnose zu stellen. Ihr Vater verdiente sich sein Geld als Deckarbeiter in der Frachtschiffahrt. Ein Jahr nach ihrer Geburt heuerte er auf einem Frachter nach Kowloon an und wurde nie wieder gesehen. Die meisten Leute waren der Ansicht, er hätte den Anblick der Rechnungen nicht mehr ertragen, die das Krankenhaus der Heiligen Jungfrau in regelmäßigen Abständen schickte. Kurz vor ihrem zweiten Geburtstag wurden die Brüder durch eine einfache Operation getrennt, für die die öffentliche Gesundheitsfürsorge zahlte, und danach verschwanden sie aus den Zeitungen, aus dem öffentlichen Bewußtsein. Zunächst hatten die Zeitungen das Bild einer armen, aber aufrechten Ghettofamilie gezeichnet, die sich tapfer mit dem Los herumschlug, das ihr vom Schicksal aufgebürdet worden war. Barcelona ist eine große Stadt, aber dennoch ein Dorf. Die Mutter arbeitete als Hure in den Docks, und das sprach sich schnell herum. Die Operation beruhigte das Gewis46
sen der Leute und versetzte sie in die Lage, sich wieder anderen Dingen zuzuwenden. Für die Familie änderte sich nichts. Die Mutter arbeitete weiter als Prostituierte und überließ die Kinder meistens der Obhut einer Tante, die selbst sechs Kinder hatte, alles Jungen. Die verabscheute die Aufgabe, vor allem aber die Tatsache, daß es Jungen waren. Seit der Geburt ihres ersten Sohnes hatte sie die Jungfrau Maria um ein Mädchen angefleht, aber ihre Gebete waren nie erhört worden. Pedro und Juan waren zierliche, ruhige, brave Kinder, und so ergab es sich für die Tante wie von selbst. In den ersten acht Jahren ihres Lebens wurden beide wie Mädchen behandelt. Sie trugen Kleider, sie erhielten Tanzunterricht, sie nahmen an den Umzügen teil. Sie wurden mit Mädchennamen gerufen: Anna und Belen. Gelegentlich, wenn sie ihren Sonntagsstaat trugen, ein wenig Rouge auf den Wangen, sagten die Leute lächelnd Guapas zu ihnen. Niemand brachte sie mehr mit den siamesischen Zwillingen in Verbindung. Die Sache gehörte der Vergangenheit an. Als sie acht Jahre alt waren, entblößten sich die Brüder während des Kommunionsunterrichts und wurden demzufolge der Kirche wie der Schule verwiesen, die von der Kirche unterhalten wurde. Es bestand allgemeine Übereinstimmung darüber, daß ihre Notlage selbstverschuldet war und ihre Zukunft ihrer eigenen Verantwortung unterlag. Das nahmen sich beide zu Herzen und verbrachten die nächsten anderthalb Jahrzehnte auf der Straße, boten sich als Strichjungen an, verhökerten weiche und harte Dro47
gen und traten in die sattsam bekannte Spirale jugendlicher Verbrechen ein: Diebstähle von Handtaschen und Kameras von Touristen, Spritztouren mit gestohlenen Autos, kleinere Raubzüge im Umkreis der Docks. Viermal wurden sie zu Jugendstrafen verurteilt, später zu Gefängnis, stets gemeinsam, da sie es ablehnten, getrennt zu werden. Bei ihrem letzten Gefängnisaufenthalt beteiligten sie sich an Kursen zum Thema bildende Kunst. Nach ihrer Entlassung erklärten sich die Brüder zu Künstlern und produzierten eine Reihe von Werken, die zunehmend Beifall und Kritik auslösten, zunächst in Barcelona, dann auch international. Mit Hilfe von Sotheby’s in New York verkauften sie ein Paar Stierhoden in Acryl für 32000 Dollar. Lammfromme Katholiken gerieten in höchste Empörung, als sie vor der Kathedrale der Heiligen Familie in ihrer Heimatstadt ein fünfzig Meter hohes Kondom aufblasen ließen. Spätere Werke umfaßten die in Kunststoff eingeschweißte Totgeburt eines Lamms, das in London für 25000 Pfund an den Kunstkenner gebracht wurde. (»Das muß ich meinem Cousin Carlo erzählen«, sagte Torrillo, als er das hörte, »er ist Schafzüchter in Antequera. Ich könnte mir vorstellen, daß er bereit ist, genau so was abzugeben, vielleicht sogar zum halben Preis.«) Ein Objekt mit dem »Stilleben«, ein Karton voller Kleenextücher, auf die die Brüder masturbiert hatten, blieb unverkäuflich, als es auf einer Auktion in Los Angeles zu einem Mindestpreis von 50000 Dollar angeboten wurde. Im Alter von dreißig Jahren, vier Jahre vor ihrem 48
Tod, waren die Brüder Angel feste Größen in den internationalen Kunstkreisen. Sie waren in drei Almodóvar-Filmen in Erscheinung getreten und hatten für Benetton eine Werbekampagne entwickelt. Die Magazine schätzten, daß sie beide Dollar-Millionäre waren, mit vier Wohnsitzen: in Spanien, einem an der Riviera und einem kleinen Apartment auf der Lower East Side in New York. Die Polizeiakten wiesen nach, daß sie ihre Vergangenheit nicht gänzlich aufgegeben hatten. Mitte der achtziger Jahre waren beide wegen Heroinbesitzes belangt worden, und es gab den Fall eines zwölfjährigen Jungen in Barcelona, der sie sexuellen Mißbrauchs und verschiedener Perversitäten beschuldigte, aber die Anzeige zurückzog – vermutlich nach der Zahlung eines Schweigegeldes. Zwei Jahre vor ihrem Tod wurde bekannt, daß sie HIV-positiv waren, aber es gab keinerlei Hinweise darauf, daß die Immunschwäche bei einem von ihnen inzwischen akut ausgebrochen war. Die obszöneren Aspekte verkniff sich Menéndez. Señora Lucena war eine alte Frau. Sehr wahrscheinlich vertrat sie höchst katholische Wertvorstellungen. Als er fertig war, funkelte sie ihn zornig an. »Sie haben ihre Miete gezahlt, waren aber kaum jemals hier«, erklärte sie, verbittert darüber, daß sie ihre Geldnot eingestehen mußte. »Sie waren nicht … nicht nach meinem Geschmack. Aber sie zahlten.« Menéndez dachte an die Gegebenheiten des Hauses. »Sie sahen nichts, Sie hörten nichts.« »Das habe ich nicht gesagt«, widersprach die alte 49
Frau bestimmt. »Danach haben Sie noch nicht gefragt.« »Bitte …« Sie trank einen Schluck Wasser aus dem Glas auf einem antiken Beistelltisch. »Als ich gestern erwachte, hörte ich etwas im Patio. Jemand war im Garten, einer von diesen jungen Ganoven. Er ist über die Mauer geklettert.« »Warum ist er nicht einfach zum Tor hinausgegangen?« »Weil das verschlossen ist – und sehr hoch. Das müssen Sie doch gesehen haben.« »Haben Sie es selbst verschlossen?« Sie musterte ihn verächtlich. »Sehe ich so aus, als wäre ich dazu fähig? Das macht die Zugehfrau. Sie kommt stundenweise. Sie kommt auf Anforderung der Angels. Wenn sie sie nicht brauchen, hilft sie mir. Das ist eine Übereinkunft.« »Wie sah dieser Eindringling aus?« »Rot. Er war rot gekleidet. Es war ganz hinten in der Ecke. Hinter den Bäumen. Ich habe nur kurz hinübergeblickt, aber …« »Ja?« »Meine Augen sind nicht besonders gut.« Sie trank das Glas aus und wandte sich an die Polizistin. »In dem Schrank da drüben steht eine Flasche Fino. Ich hätte gern einen Schluck.« Die Polizistin holte die Flasche, eine billige Supermarkt-Marke, die Menéndez nicht kannte. »Ich glaube, er könnte ein Kostüm getragen haben.« 50
»Was für ein Kostüm?« »Eine … Robe. Vielleicht. Das Gesicht konnte ich nicht erkennen und …« Sie verstummte, und einen Moment lang glaubte Menéndez, sie würde in Tränen ausbrechen. »Ich glaube, wir haben jetzt genug Fragen gestellt. Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe.« Sie nickte und betupfte sich mit einem grauen Taschentuch das Gesicht. »Diese Bäume … Meinen Sie die dort neben dem Wein?« Menéndez deutete aus dem Fenster auf die linke Seite des Innenhofs. »Nein, nein. Ganz hinten.« »Ah. Jetzt verstehe ich.« »Er war ein Ganove. Ein Straßenräuber.« »Ja. Vermutlich.« Torrillo spähte in den Patio hinaus. Menéndez klappte sein Notizbuch zu. »Doña Caterina, wahrscheinlich steht Ihnen noch Geld aus dem Mietverhältnis zu?« Sie sah ihn mißtrauisch an. »Wir haben Bargeld im Zimmer der Brüder gefunden. Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen sechs Monatsmieten ausgezahlt werden. Das ist, denke ich, zur Zeit gängige Praxis in der Stadt.« Sie nickte, umklammerte das feuchte Taschentuch. »Es ist der Geruch. Dieser Geruch …« »Ich weiß«, sagte Menéndez, »ich weiß.«
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6 Torrillo lenkte den Ford in Richtung El Viejo. Es war früher Nachmittag und die Straßen halb leer. Er hatte ein gewaltiges Käsesandwich in der linken Faust, hielt es halb zum Fenster hinaus und biß ab, sobald es die Verkehrsverhältnisse erlaubten. »Was werden Sie als nächstes tun?« Sie saß wieder hinten und fühlte sich von ihren Überlegungen ausgeschlossen. »Wenn wir zurückkommen, werden bereits die ersten Untersuchungsergebnisse der Mediziner auf uns warten. Die Todesursache ist ziemlich offensichtlich, würde ich meinen. Die Oberkörper beider Opfer weisen geringfügige Verletzungen auf – Sie haben die Pfeile gesehen –, und es gibt noch weitere Wunden, aber keine dieser Verletzungen war ernsthaft genug, um den Tod herbeizuführen. Ich vermute, daß ein Stoß ins Herz, vielleicht mit einem Schwert, die Männer getötet hat. Das Vorgehen scheint in beiden Fällen identisch zu sein.« Nach einer kurzen Pause setzte Menéndez hinzu: »Alles im Zusammenhang mit den Brüdern Angel scheint identisch zu sein.« »Also?« »Also gehen wir vor wie üblich. Wir stellen die Todesursache fest. Wir bringen alles über die letzten Stunden der Opfer in Erfahrung, was möglich ist. Vielleicht wird das nicht leicht sein, denn meiner Schätzung nach sind die beiden seit mindestens einer 52
Woche tot, und ich begreife noch immer nicht, warum zwei reiche Männer mit Wohnsitzen überall auf der Welt ein solches Zimmer gemietet haben, es aber nur selten nutzten. Und wir sprechen mit Menschen, die sie gekannt haben. Wir haben ein Tagebuch und die Adreßbücher aus dem Zimmer. Aber …« Er brach ab, unschlüssig. »Aber?« »Aber … Interessiert Sie unsere Methodik? Für die meisten Morde gibt es eher simple Motive. Familienstreitigkeiten, Auseinandersetzungen unter Liebenden. Sie sind nicht … komplex.« Sie machte sich wieder Notizen. »Aber hier haben wir es offenbar mit einem Ritualmord an zwei berühmten und höchst exzentrischen Männern zu tun, die niemand dort vermutet hätte, wo sie aufgefunden wurden. Und die theatralische Pose … Sie stimmen doch mit mir überein, daß diese Aufbahrung theatralisch wirkte?« »Ja.« »Mir ist bekannt, daß sich die Angel-Brüder ausgesprochen unkonventionell kleideten, aber das erstreckte sich doch wohl kaum auf … was eigentlich? Brokatwämse und Kniebundhosen? Waren sie vielleicht auf einem Maskenball? Ich weiß nicht, es wirkte irgendwie … feierlich.« Er blickte in den Spiegel und sah, daß sie lächelte. »Polizisten sind selten Kunstkenner, Herr Hauptkommissar.« »Das nennen Sie Kunst?« murmelte Torrillo mit vollem Mund. »Mein Cousin Carlo könnte …« 53
»Sicher, sicher«, unterbrach Menéndez. »Ich glaube, die Professorin hat uns etwas zu sagen.« »Haben wir Zeit für einen kleinen Umweg?« »Wie lange?« fragte Menéndez. »Fünf Minuten. Für den Weg. Wie lange es dann dauert, hängt von Ihnen ab.« Sie richtete sich auf und sah aus dem Fenster. »Kennen Sie den alten Fischmarkt in Veracruz?« »Wurde vor fünf Jahren geschlossen«, sagte Torrillo. »Es heißt, sie wollen eine Touristenattraktion daraus machen, sobald sich der Gestank verzogen hat.« »Fahren Sie hin.« Das Auto verließ die Hauptstraße und schlängelte sich durch eine Reihe schmaler Seitenstraßen, vorbei an protestierenden Fußgängern und aus den Fenstern hängender Wäsche. Bald tauchte ein verfallenes, mit Brettern vernageltes Gebäude vor ihnen auf. »Nach links, vielleicht dreihundert Meter, dann wieder links. Es ist eine Sackgasse. Dort müßte ein Hinweisschild auf das Hospiz sein.« Torrillo lachte grimmig auf. »Das Hospiz? Das kenne ich. Mein Onkel war da drin. Ging hinein wie ein Lamm, drei Monate später kam er in einer Kiste wieder heraus.« Sie bogen in die Sackgasse ein und parkten auf der gelben Linie. Torrillo zeigte auf das Eisentor in der Mauer. »Wollen Sie, daß ich mitkomme? Kann diese Gemäuer nicht ausstehen. Jagen mir Schauer über den Rücken.« 54
»Essen Sie Ihr Sandwich auf und kommen Sie nach«, sagte Menéndez und stieg aus, Maria Gutierrez gleich nach ihm. Sie durchquerten das Tor und fanden sich in einem kopfsteingepflasterten Innenhof wieder. Sie überquerten ihn zur einzigen Tür im gegenüberliegenden Gebäude und traten an einen Empfangstisch. Hinter ihm saß eine ältere Ordensschwester in grauweißem Habit und las in einem Terminbuch. Bei ihrem Eintritt sah sie auf. »Die Kapelle, Schwester«, sagte Maria. »Ist sie offen?« Die Ordensschwester griff zu einem Schlüsselbund an ihrer Taille und zeigte auf ein hölzernes Spendenkästchen. Menéndez steckte einen Tausendpesetaschein hinein und murmelte: »Hoffentlich ist es das auch wert.« Sie liefen einen langen Flur entlang, dessen Wandkacheln Szenen aus der Bibel zeigten. Ein unvorstellbar dürrer Mann mit hoffnungslosem Gesichtsausdruck beobachtete sie aus seinem Rollstuhl heraus. Die Ordensschwester schloß die Tür auf und ließ sie ein. Mit wenigen Schritten holte Torrillo sie ein. Überrascht registrierte Maria seine Schnelligkeit. »Kalt ist es hier«, sagte er. »Diese Räume lassen mich immer frösteln.« Es war auch dunkel. Nur langsam gewöhnten sich ihre Augen an das dämmerige Licht. Auf dem Altar schimmerte ein goldener Leuchter. Darüber war ein kleiner Scheinwerfer auf ein Gemälde gerichtet: 55
Christi Himmelfahrt. Die Farben erstrahlten selbst in dieser Düsternis. An den Wänden der Kapelle weitere Bilder: Krankenheilungen, der zur Opferung Isaaks bereite Abraham, zwei Darstellungen der Jungfrau mit dem Kind. »Kommen Sie.« Sie folgten Maria über den Mittelgang bis in die Mitte der Kapelle. »Und jetzt drehen Sie sich um.« Über dem Eingang hing ein Gemälde, knapp zwei Meter breit, einen hoch. Zwei kleine Punktstrahler beleuchteten es von beiden Seiten. Es wirkte wie ein Abbild der Szene, die sie gerade verlassen hatten: Zwei Männer, einer rot, der andere grün gekleidet, lagen auf einem Totenbett. Ihre Körper waren in Verwesung übergegangen, Maden krochen aus ihren Augenhöhlen. In der rechten Ecke des Gemäldes hielt eine geisterhafte Hand – die Hand Gottes – eine Waage, mit der das Leben der beiden bewertet und als zu mangelhaft befunden wurde. In der linken unteren Ecke loderten die Flammen der Hölle. »Künstler im Leben, Künstler im Tod«, sagte sie mit einer Spur Selbstzufriedenheit. »Vielleicht hätte es den Angel-Brüdern gefallen.«
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7 Capitán Rodríguez kam direkt von der Pressekonferenz. Die Blitzlichter der Kameras brannten ihm noch immer in den Augen. In einer Ecke des Raumes stand eine Tafel. Mit einem Stück Kreide in der Hand stand Menéndez davor. Zwei neue Ermittler waren dem Fall zugeordnet worden: Velasco und ein noch immer leicht verlegener Quemada. Es war kurz vor neun Uhr abends. Draußen sank die Sonne und tauchte die Stadt in ein bronzenes Gold. Rodríguez sah nicht aus wie ein Mann, der bald nach Hause gehen würde. »Fragen«, sagte Rodríguez, nahm Menéndez die Kreide ab und begann zu schreiben: 1. 2. 3. 4. 5.
Wen kannten die Brüder in der Stadt? Mit wem haben sie sich in letzter Zeit getroffen? Warum haben sie sich hier aufgehalten? Wer hatte ein Motiv, sie zu töten? Welche Bedeutung hat die Art der Tatausführung? Die Pfeile? Warum wurden ihre Leichen nach dem Vorbild eines alten Gemäldes aufgebahrt?
»Weitere?« »Natürlich«, sagte Torrillo. »Nach wie vielen Tätern suchen wir hier eigentlich? Diese Burschen müssen sich doch gewehrt haben. Sie hätten sich nicht einfach hingelegt und von Pfeilen durchbohren lassen. Waren sie gefesselt? Oder was?« 57
Rodríguez hob ein Papier von seinem Schreibtisch. »Betäubt. Steht hier im ärztlichen Bericht. Mit Betäubungsmitteln, die in Krankenhäusern üblich sind.« »Also suchen wir nach jemandem, der Zugang zu Drogen hat? Einem Arzt oder so?« »Möglicherweise«, meinte Menéndez. »Aber wir dürfen nicht vergessen, daß die Angels Fixer waren. Ein großer Teil ihres Stoffs stammt vermutlich aus dem öffentlichen Gesundheitswesen. Wenn sie von ihrem Lieferanten getötet wurden, kommt der an Betäubungsmittel vermutlich genauso leicht heran wie an Heroin. Er könnte die Drogen vertauscht haben, so daß sie es sich unter Umständen selbst injizierten. Aber dennoch ist ein wichtiger Punkt:« 6.
Wie spielte sich die Tat eigentlich genau ab?
»Noch etwas?« »Liebschaften«, sagte Quemada. »Diese Schwulen sind doch alle gleich. Streiten wie die Kesselflicker. Wenn ein Mann seine Frau verprügelt, gibt es ein paar Prellungen, mehr nicht. Kein Problem. Aber diese Schwulen greifen doch gleich zum Messer, die ganze verdammte Bande. Liebhaber, denken Sie an meine Worte.« Rodríguez wirkte wenig beeindruckt, kreiste die dritte Frage auf der Tafel ein, und Quemada zuckte mit den Schultern. »Noch etwas?« »Warum ist er zurückgekommen?« Die beiden 58
neuen Ermittler musterten Maria eisig. »Ist das denn nicht interessant?« fuhr sie fort. »Die beiden waren seit einer Woche tot. Warum ist er noch einmal ins Haus zurückgekehrt?« »Hat etwas verloren. Oder vergessen, vermutlich«, sagte Quemada. »Ja, höchstwahrscheinlich«, stimmte Velasco zu. Maria sah den neuen Kriminalpolizisten an und versuchte, seinen Platz in der Hierarchie der Polizeibehörde zu orten. Und eine Hierarchie gab es, das war ihr schon jetzt klar. Eine Hackordnung, ohne daß darüber ein Wort verloren wurde. Mit Rodríguez an der Spitze, nicht nur qua Position, sondern auch durch seine Persönlichkeit. Velasco sah aus wie Mitte Dreißig, mit bräunlich fahlem Teint, ein hageres mißmutiges Gesicht mit Bartstoppeln. Er trug einen zerknitterten Kunstfaseranzug, der unter der Bürobeleuchtung förmlich schillerte. Velasco hält das für schick, dachte sie. Er irrt sich. »Höchstwahrscheinlich?« fragte sie. Quemada blähte empört die Nasenflügel. »Warum hat er dann die Tür offengelassen? Warum ist er nicht hineingegangen, hat sich geholt, was er wollte, und die Tür wieder geschlossen wie zuvor? Es wirkt so, als …« »Capitán?« Quemadas Augen richteten sich flehend auf Rodríguez. »Ich weiß, daß wir die Señora hier unter uns dulden müssen, aber müssen wir uns wirklich alles anhören, was sie zu sagen hat?« Rodríguez setzte sich in Positur, verstrahlte Autorität und sagte: »Ideen können uns nur weiterhelfen. Und soweit ich weiß, ist von Ihnen niemand auf das 59
Gemälde gekommen. Fahren Sie bitte fort, Frau Professor.« Sie hörte Quemada abfällig knurren. »Es sieht ganz so aus, als wollte er, daß sie gefunden werden. Nicht irgendwann, sondern zu diesem ganz bestimmten Zeitpunkt.« »Warum sollte er das gewollt haben?« fragte Rodríguez. »Keine Ahnung.« »Nein«, sagte Rodríguez und machte sich eine Notiz auf seinem Block. »Aber das ist eine gute Frage.« 7.
Warum kam er zurück und ließ die Tür offenstehen?
»Noch etwas?« Torrillo klopfte mit dem Stift auf seinen Tisch. »Sergeant?« »Sie kennen doch diese Caterina Lucena, oder?« »Ich habe von ihr gehört. Die meisten, die in dieser Stadt aufgewachsen sind, kennen sie. Eine sehr alte, sehr vornehme Familie. Sie ist die Letzte ihres Geschlechts. Der Rest der Familie wurde im Bürgerkrieg getötet.« »Nun ja …« Torrillo steckte einen Finger ins Ohr und ließ ihn kreisen. »Es kam mir nur so vor, als würde sie vielleicht nicht ganz die Wahrheit sagen, Capitán.« »Warum?« »Sie ist doch noch durchaus auf Zack, stimmt’s? Ich meine, sie ist vielleicht alt, aber ich glaube nicht, 60
daß sie so verdreht ist, wie sie uns glauben lassen will.« Rodríguez wartete schweigend auf weiteres. »Nun, so kam es mir jedenfalls vor, Capitán. Nehmen Sie beispielsweise ihre Behauptung, im Garten nichts gesehen zu haben. Kein Gesicht und nichts? Als der Hauptkommissar in den Patio hinauszeigte, wußte sie die richtige Stelle sehr wohl von der falschen zu unterscheiden. Wie kommt es dann, daß sie nichts gesehen haben will? Ist sie nur alt und verwirrt, oder ■ wußte sie vielleicht, wer es getan hat, und fürchtete sich, daß er zurückkommen könnte?«. Rodríguez drehte sich zur Tafel um und schrieb: 8.
Hat Caterina Lucena gelogen?
»Ich glaube, das ist der springende Punkt«, sagte Torrillo. Rodríguez unterstrich die letzte Frage und wandte sich wieder um. »Nehmen Sie sich das Tagebuch und die Adreßbücher vor, die wir in der Wohnung gefunden haben. Setzen Sie sich mit Barcelona und Madrid in Verbindung – dort haben die Brüder den größten Teil ihres Lebens verbracht. Spüren Sie Bekannte, Freunde und Geschäftsverbindungen auf. Finden Sie heraus, mit wem sie hier ihre Zeit verbracht haben. Wann sie hergekommen sind. Was sie hier machten.« Velasco wischte sich ein paar unsichtbare Stäubchen vom Anzug und stand auf. Quemada sammelte 61
ihre Unterlagen ein, und sie verließen den Raum durch die Glastür. Menéndez folgte ihnen. Rodríguez sah Torrillo an. »Gehen Sie nach Hause, Sergeant. Es war ein langer Tag, und der morgige wird nicht kürzer werden. Gehen Sie schlafen.« »Erst muß ich unbedingt was essen«, grummelte der Riese. »Professor Gutierrez?« Sie schlief bereits halb. Der Tag schien sie völlig ausgelaugt zu haben. Ihr Notizbuch lag auf ihrem Schoß. Seit einer guten halben Stunde hatte sie es nicht mehr angerührt. »Capitán?« »Es ist schon spät, und ich halte es nicht für ratsam, daß Sie zu dieser Stunde allein nach Hause laufen. In dieser Woche ist es recht lebhaft draußen. Mitunter zu lebhaft. Ich werde Sie fahren.« »Ich kann mir ein Taxi nehmen.« »Falls Sie eins bekommen. Bitte, ich bestehe darauf.« Sie liefen die zwei Treppen zum Parkplatz hinunter. Rodríguez hielt ihr die Tür auf. Dann lief er um den Wagen herum, setzte sich hinter das Steuer und schnallte sich an. »Wohnen Sie im barrio?« »Ein Freund hat mir sein Apartment vermietet. Er ist Psychologe. Er ist vor kurzem nach New York gezogen.« »Wohnen Sie allein?« Sie versuchte seinen Gesichtsausdruck zu ergründen, doch es gelang ihr nicht. »Ja.« 62
»Würden Sie mir bitte erklären, woher Sie von dem Gemälde wußten?« »Ich habe hier vorübergehend gelebt, während des Studiums, nach meinem ersten Examen. Manche Studenten verbringen ihre Tage in Bars und Discos. Ich zog Gemälde vor. Das Bild ist in Künstlerkreisen nicht unbekannt. Der Maler stammt aus Sevilla. Valdés Leal.« »Den Namen habe ich schon gehört.« »Er ist kein Murillo, gehört aber in dieselbe Zeit. Das Goldene Zeitalter. Er hat ein paar kleinere religiöse Werke geschaffen, aber bekannt wurde er für seine … Schreckensvisionen? Ja, ich glaube, so kann man sie nennen. Es gibt noch eins, auch in Sevilla, das besonders schauerlich ist. Murillo sagte, er könne es nicht betrachten, ohne sich die Nase zuzuhalten.« »Und was bezweckte er mit diesen Motiven?« »Valdés Leal war tief religiös. Mit seinen Bildern wollte er darauf hinweisen, daß es neben der Herrlichkeit des Lebens den Tod gibt, daß das irdische Leben flüchtig ist und in Verfall und Verwesung endet und daß erst am Ende bewertet wird, ob uns das Heil oder Verdammnis zuteil wird.« »Glauben Sie, daß die Brüder Angel mit seinem Werk vertraut waren? Daß sie genau dieses Gemälde kannten?« »Mit Sicherheit«, erwiderte sie bestimmt. »Es soll schockieren, es enthält Elemente, die abstoßen, sogar Übelkeit hervorrufen, es hat apokalyptische Aspekte. Wenn die Brüder ein verfaulendes Lamm in 63
Kunststoff einschweißen und dafür Zehntausende von Dollars verlangen, geht es ihnen damit nicht um die gleiche Sache? Ich kann mir nicht vorstellen, daß sie Leal nicht kannten. Sie?« »Nein. Ihre Argumente wirken sehr schlüssig.« Sie hob die Hand. »Die nächste Straße bitte rechts einbiegen. Das dritte Haus. Wo der Optiker ist. Mein Apartment liegt im ersten Stock, über dem Geschäft.« Der Wagen blieb stehen. »Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Capitán?« »Wenn ich Sie beantworten kann, werde ich das gern tun.« »Diese Caterina Lucena. Was ist sie für ein Mensch? Die Leute scheinen von ihr fasziniert zu sein.« Seufzend blickte er zum Fenster hinaus. »Das ist keine sehr angenehme Geschichte. Vor allem nicht nach einem Tag wie heute.« »Dennoch würde ich sie gern hören. Sie haben meine Neugier angestachelt. Es wäre unfair, mich im ungewissen zu lassen.« »Haben Sie noch nicht ausreichend Stoff für Alpträume?« »Ausreichend ist ausreichend. Mehr kann es nicht schlimmer machen.« »Wahrscheinlich nicht.« Im Schein der Straßenlampe wirkte Rodríguez plötzlich alt und erschöpft. Der Gegensatz zu den Männern, denen er vorstand, war deutlicher als je zuvor. Er hätte ein Universitätsdozent sein können, 64
einer der höflichen, distinguierten alten Männer, die sie während ihres Studiums zu schätzen und zu bewundern gelernt hatte, Männer, die bis in die Nacht hinein redeten und redeten, Geschichten erzählten, Geschichte lebendig machten. »Die Lucenas sind eine alte Familie, sehr alt. Sie lassen sich zurückverfolgen bis in die Reconquista. Dazu gibt es eine Geschichte. Die Dynastie wurde von einem Soldaten begründet – den Namen habe ich vergessen –, der als Lohn für die Verteidigung einer Festung gegen die Mauren Ländereien im Süden erhielt.« »War das so ungewöhnlich?« »Ungewöhnlich war die Art seiner Verteidigung. Sechs Monate lang belagerten die Mauren die Festung erfolglos, doch dann ergriffen sie seine Tochter, die im Land herumreiste. Sie brachten sie vor die Mauern der Festung und riefen zum Vater hinauf, daß sie ihr die Kehle durchschneiden würden, wenn er sich nicht endlich ergebe. Ohne zu zögern zog er seinen Dolch aus der Scheide, warf ihn hinunter und sagte: ›Nehmt den.‹« »Was ist dann geschehen?« »Die Mauren ließen das Mädchen unversehrt und zogen ab. Danach schienen die Lucenas dazu bestimmt, nicht nur tapfer zu sein, sondern tapferer als alle anderen. Lesen Sie in der Militärgeschichte nach: Der Name Lucena ist überall zu finden, von der Armada bis zum napoleonisch-spanischen Krieg. Wenn Caterina Lucena Sie über ihre aristokratische Nase hinweg ansieht, dann von der hohen Warte 65
ruhmreicher Jahrhunderte. Können Sie diesen Stolz nachempfinden?« »Nachempfinden vielleicht, aber nicht verstehen.« »Ein Stolz ohne Zukunft, natürlich. Sie ist eine alte Jungfer, und außer ihr hat niemand den Bürgerkrieg überlebt.« »Niemand?« »Kein einziger. Die Menschen hier reden nicht über den Krieg. Selbst mein Vater, der ihn mitgemacht hat, sprach kaum mit mir darüber. Nur sehr wenige Geschichten wurden bekannt, und eine davon betrifft die Lucenas. Verhängnisvolle Dinge gingen hier mit den Menschen vor. Sie spalteten sich in links und rechts auf, wurden zu Todfeinden. Die Lucenas vertraten die Linke, die aristokratische Linke, und für gewisse Zeit übten sie bestimmenden Einfluß aus. Dann wendete sich das Blatt. Die Rechte gewann die Oberhand durch den Mob, durch Straßenbanden, durch Gewalt. Als bekannt wurde, daß Lorca in Granada von der Falange ermordet worden war, fuhr eine Gruppe von Falangisten – zumindest behaupteten sie, Falangisten zu sein – zum Haus der Lucenas. Dem Haus, in dem Sie heute gewesen sind. Offenbar fühlten sie sich von den Vorgängen in Granada zu weiteren Taten inspiriert. Die Lucenas hatten einen Wachtposten vor der Tür. Er wehrte sich, aber es waren zu viele. Die Bande brach in das Haus ein und verschleppte alle, die sich darin befanden. Caterinas Eltern, Brüder, Schwestern, weitere Verwandte. Eine Zeitlang wurden sie in einem behelfsmäßigen Gefängnis der Falange am Rand der 66
Stadt gefangengehalten. La Soledad. Eines Tages, genau wie im Fall Lorca, wurden sie ins Freie gebracht. Man forderte sie auf, eine Grube auszuheben und sich vor ihr aufzustellen.« Sie wußte bereits, wie es weiterging. »Sie richteten ein Maschinengewehr auf die ganze Familie. Zwölf, vielleicht fünfzehn Menschen. Die Grube war ihr Grab.« Rodríguez blickte in die Dunkelheit hinaus. »Und Caterina Lucena?« »Sie war die Jüngste. Dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Als ihrem Vater bewußt wurde, was geschah, stieß er sie zu Boden und befahl ihr, sich nicht zu rühren. Die Körper fielen auf sie, schützten sie. Das wissen wir mit ziemlicher Gewißheit, und diese Geschichte wurde von verschiedenen Quellen bestätigt. Doch soweit ich weiß, hat Caterina Lucena selbst nie darüber gesprochen. Der nicht gesicherten Version zufolge hat sie fast den ganzen Tag unter den Toten und Sterbenden gelegen. Leicht verletzt, sagen manche, andere behaupten unversehrt. Am frühen Abend, als andere Gefangene erschienen, um die Grube zuzuschütten, quälte sie sich unter den Leichen hervor und entkam. Wie, weiß niemand zu sagen. Manche sagen, einige der Gefangenen hätten ihr dabei geholfen und wären dafür erschossen wurden. Aber das sind Mutmaßungen.« Ein paar Passanten kamen vorbei, von Kopf bis Fuß in Weiß gekleidet. Sie sprachen im Flüsterton miteinander. Ihre Stimmen hallten leise von den Hausmauern wider. 67
»Wie lebt man nach einem solchen Ereignis?« fragte Maria. »Wie? Vielleicht fällt es ihr leichter. Sie ist Caterina Lucena. Denken Sie an den Vater während der Reconquista, denken Sie an den Dolch, der vom Festungswall heruntergeworren wurde. Es ist ihr Schicksal, Unglück zu überstehen. Jedes Unglück. Vermutlich empfindet sie es so.« »Es ist eine schreckliche Stadt«, sagte sie, ohne nachzudenken. »Das habe ich schon damals so empfunden. Als Studentin. Sie hat etwas Dunkles, Unerklärliches an sich. Sie wirkt bedrohlich, selbst wenn sie Feste feiert.« »Nein«, entgegnete Rodríguez entschieden. »Es ist eine reale Stadt. Real wie Ihr Gemälde von Valdés Leal, real wie die Brüder Angel auf ihrem Totenbett. Sie erscheint nur bedrohlich, weil sie das nicht versteckt, was wir lieber nicht sehen wollen. Sie nutzt die Nähe des Todes, um uns die Herrlichkeit des Lebens besser schätzen zu lassen.« Sie sah ihn in der Dunkelheit an, versuchte den Ausdruck seiner Augen zu erkennen, die jetzt im Widerschein der Windschutzscheibe dunkel funkelten. »Und das gefällt Ihnen. Das spornt Sie an.« Das war eine Feststellung, keine Frage. Er griff an ihr vorbei und stieß die Beifahrertür auf. Die Abendluft drang ins Auto, kühl und sanft nach Orangenblüten duftend. »Ich muß jetzt ins Büro zurück. Bitte entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit.« 68
Sie hob ihre Tasche vom Boden, stellte sie sich auf den Schoß. »Wann soll ich morgen erscheinen?« »Wann es Ihnen beliebt. Um zehn Uhr haben wir eine Besprechung. Sie sind uns selbstverständlich willkommen.« »Dann bin ich um zehn da.« »Um zu beobachten?« Sie hob die Schultern. »Was sonst?« Rodríguez musterte sie in der Dunkelheit, und diese Tatsache war ihr sehr wohl bewußt. Er hatte ein interessantes Gesicht: fein geschnitten, sympathisch, offen. Doch dahinter, wo man ihn fast denken hören konnte, war etwas anderes, eine scharfe, aggressive Intelligenz, die er zurückhielt, bis sie gebraucht wurde. Sie beneidete niemanden, der ins berufliche Fadenkreuz des Capitán geriet, nicht einmal am Ende seiner Laufbahn. »Ich habe nichts dagegen einzuwenden, wenn Sie über das Beobachten hinausgehen«, sagte er schließlich. »Absolut nichts. Menéndez ist ein intelligenter Mann, besser ausgebildet als die meisten. Auch ehrgeizig. Aber er denkt recht einspurig. Das tun sie alle. Sie müssen aus ihrem Trott aufgescheucht werden.« »Das ist nicht meine Aufgabe.« »Nein«, sagte er, und jetzt glitzerten seine Augen eindeutig. »Nein, das ist es nicht. Aber Sie müssen aussprechen, was Ihrer Ansicht nach gesagt werden muß.« Sie schwieg einen Moment. »Sie testen ihn, stimmt’s?« sagte sie dann. 69
Rodríguez lachte. Es war ein tiefes, angenehmes Lachen. »Sie sind Professorin, stimmt’s? Ich würde es lieber anders ausdrücken: Ich lasse unseren kleinen Hauptkommissar ein bißchen von der Leine. Er hat lange in meinem Schatten gearbeitet, er sollte jetzt ein wenig selbständiger werden. Ich werde mich zurückhalten und zusehen, wohin das führt. Ich bin kein Dummkopf. Er sieht sich natürlich bereits als Capitán. Aber ich denke, ein paar Jahre habe ich schon noch vor mir. Und wer weiß? Vielleicht zeigt dieser merkwürdige kleine Fall, was wirklich in unserem Freund Menéndez steckt.« »Verstehe«, sagte Maria und stieg aus. »Capitán?« Er lächelte unschuldig zu ihr hoch. »Ich möchte keineswegs in irgendeine Intrige hineingezogen werden …« »Nichts, verehrte Frau Professor, läge mir ferner. Unser vorrangiges Ziel ist es, diesen Fall so schnell und effizient wie möglich aufzuklären. Aber ich möchte auch herausfinden, ob Menéndez geeignet ist, meine Nachfolge anzutreten. Und das werde ich herausfinden.« Damit zog er die Tür zu, und der Motor erwachte unter einer Abgaswolke zum Leben. Schnell verschwand der rote Wagen in der samtdunklen Nacht. Maria Gutierrez schloß ihr Apartment auf. Der Klang von Metall gegen Metall hallte durch den langen Flur. Einsamkeit durchflutete sie, und dahinter, gestaltlos und kaum bewußt, Anzeichen von Angst.
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8 »Mach schon, Bär. Du kannst ein bißchen Englisch. Du hast letztes Jahr diesen Kursus besucht.« Je mehr der Mann vor ihnen schwatzte, desto intensiver bettelte Quemada. Die Semana Santa geriet langsam in Schwung. Im Polizeirevier befanden sich zwei zu Verwarnungszwecken festgenommene Prostituierte, ein Taschendieb und zwei Touristen, die behaupteten, beraubt worden zu sein. Und Quemadas Mann. Bislang ein Mysterium. »Dieser Kerl macht mich noch verrückt, Bär. Er schnattert wie eine Ente, aber ich verstehe kein einziges Wort. Du brauchst dich nur so lange mit ihm zu befassen, bis die für Touristen zuständigen Kollegen erscheinen, in Ordnung?« Torrillo wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und verfluchte das Wetter. Es war heiß wie im Hochsommer, aber er hatte noch einen anderen Grund zu schwitzen. Er wollte Quemada nicht eingestehen, wie wenig Englisch von dem Einführungskurs hängengeblieben war und wieviel sich davon mit dem Touristenjargon vermischt hatte, den man im Laufe der Jahre so aufschnappt. Er beugte sich über den Mann, starrte ihn lange und bekümmert genug an um einen Moment der Stille zu erzwingen, und sagte dann laut und deutlich: »Shut the fuck up!« Der Mann verstummte abrupt, sah tief gekränkt aus und sagte dann mit unüberhörbar amerikanischem 71
Akzent: »Jetzt reicht es. Jetzt reicht es endgültig. Holen Sie mir den amerikanischen Konsul, sofort. Ich habe von dieser gottverdammten Stadt die Nase gestrichen voll, und wenn Sie erst wissen, mit wem Sie es zu tun haben, wird es Ihnen noch leid tun, Sie …« Torrillo starrte ihn erneut an und sagte dann, noch lauter: »Shut the fuck up!« »Verdammter Geier, Mann«, kreischte der Mann. »Sind das Ihre ganzen englischen Sprachkenntnisse? Ich bin hier, um einen gemeingefährlichen Irren anzuzeigen, der mich umbringen wollte, und mit wem bekomme ich es zu tun? Mit einem schwachsinnigen Pavian mit Pferdeschwanz …« Mit hochrotem Gesicht sprang der Amerikaner auf. Er trug ein rotes Footballjacket und rote Jogginghosen. Gut eins achtzig, kräftig gebaut, dunkle Haare, etwa dreißig Jahre alt, schätzte Torrillo. Er sah aus, als könne er sehr gut für sich selbst sorgen, und jetzt begann er echt wütend zu werden. »Shut the …« »Ich bin jetzt geschlagene zwei Stunden hier, und jetzt verlange ich, den amerikanischen Konsul zu sprechen.« Er hämmerte mit beiden Fäusten auf den Tisch. Der hopste dabei jedesmal einen Zentimeter in die Höhe. »Ich will ihn auf der Stelle sprechen. Ich verlange ein Flugticket nach Hause. Die Stadt ist noch mein Tod. Ich bin von Mücken total zerstochen. Ich wurde in euren verdammten Bars total ausgeplündert. Ich wurde um sieben Uhr morgens – sieben Uhr mor72
gens! – von einer Nutte belästigt, einer Nutte mit einem Schnurrbart, um den sie mein alter Herr beneiden würde. Heiliger Strohsack, Jungs, ihr seid wohl zu jeder Tageszeit dazu aufgelegt, was? Nun, ich nicht, weil es hier so heiß ist wie in einer gottverdammten Sauna, trotz gegenteiliger Behauptungen eurer scheißfreundlichen Touristikleute in New York. ›Milde Temperaturen, Frühlingswetter, Mister Famiani.‹ Mildes Frühlingswetter, meine Fresse! Und schließlich – aber das ist nur die Krönung des Ganzen, verstehen Sie? Nur der letzte Hieb, der mir den Rest gegeben hat –, als ich gerade etwas gegessen hatte, das ich nicht einmal einem verdammten Schwein vorsetzen würde, als ich eben in mein Hotel zurückkehren wollte, um eine Mütze voll Schlaf zu bekommen, in der hoffnungsvollen, aber bestimmt irrigen Annahme, daß ihr verfluchten Kerle euren Lärm wenigstens so lange abschalten könnt, daß ich die Augen schließen kann, springt mich aus dem Nichts irgend so ein hirnrissiger Typ an, quasselt auf mich ein, als wäre er gerade einer Klapsmühle entkommen, und hat doch die gottverdammte Unverschämtheit, das hier auf mich zu schleudern …« Der Amerikaner griff blitzschnell in die Tasche, holte etwas heraus und streckte es ihm anklagend entgegen. Torrillo warf einen Blick auf den Gegenstand, einen auf den empörten Mann, dachte eine Sekunde lang nach, sah ihm in die Augen und schlug ihm voll ins Gesicht. Die Wirkung war beträchtlich. Die Nase des Amerikaners verformte sich, sein Körper 73
hob ab, flog über Quemadas Schreibtisch und nahm einen Papierstapel mit sich. Der Metallgegenstand segelte hoch in die Luft, fiel wieder herunter und rutschte noch ein Stück über den Kunststoffboden. Der Mann blieb zusammengekrümmt neben einem Drehstuhl liegen, Blut quoll ihm aus der Nase. Tränen standen in seinen Augen, und jetzt schrie er wirklich. Schrie so laut und unzusammenhängend, daß Torrillo kein einziges Wort verstand. Torrillo lief hinüber, ging in die Hocke, griff unter den Schreibtisch, holte etwas hervor und hielt es hoch: einen silberglänzenden Pfeil. Der Schaft war bis zur Hälfte bräunlich befleckt, am oberen Ende zierte ein gelbes Band die Plastikfedern. In sicherer Entfernung von dem Mann legte Torrillo den Pfeil auf einen Schreibtisch und trat zu ihm hin. Er griff in eine Schublade, holte Handschellen heraus, drehte den Mann grob um und legte sie ihm an. Dann riß er ihn hoch und setzte ihn unsanft auf einen Stuhl. Blut rann ihm aus der Nase, tropfte ihm vom Kinn auf die rote Jacke. Er schrie noch immer, mit weit aufgerissenem Mund. »Shut the fuck up«, sagte Torrillo betont leise. Der Amerikaner begann hilflos zu schluchzen. Rosafarbene Blasen quollen ihm aus Mund und Nase. Quemada blickte das Häufchen Elend auf dem Stuhl an, dann Torrillo, schüttelte den Kopf und ließ einen leisen, langgezogenen Pfiff hören. »Allmächtiger, Bär. Wenn du dir jemanden vorknöpfst, dann aber richtig.« 74
9 Fünfundvierzig Minuten später saßen Menéndez, Torrillo und Maria Gutierrez im Verhörraum. Ein Polizeiarzt betupfte das Gesicht des Mannes, dessen Identität sie inzwischen kannten: Freddy Famiani, zweiunddreißig Jahre alt, ein Berufssportler aus Laguna Beach, Kalifornien. Der Arzt hatte auch eine Pfeilwunde am Oberarm des Mannes mit einem Pflaster versorgt. Menéndez sprach leidlich Englisch, Maria fließend. Gemeinsam war es ihnen gelungen, so viel aus dem Mann herauszubekommen, um den Irrtum erkennen zu können, ihm dann die Handschellen abzunehmen, einen Arzt zu rufen, Famiani ein wenig zu beruhigen und davon zu überzeugen, daß er weder einen Anwalt noch den amerikanischen Konsul brauchte und daß kein wirklicher Schaden entstanden war. »Sieht doch gar nicht so schlimm aus«, erklärte Torrillo, nachdem der Arzt Famianis Gesicht gesäubert hatte. »Habe ihm nur einen kleinen Klaps gegeben. Wenn ich wirklich zugelangt hätte, wäre er noch immer im Traumland.« »Der Sergeant nahm an, Sie wollten ihn angreifen«, übersetzte Maria frei. »Es gab einen Überfall, bei dem ein Mann, auf den Ihre Beschreibung zutrifft, Pfeile wie den benutzte, den Sie aus der Tasche zogen.« »Einen Überfall?« 75
»Einen sehr ernsten Überfall«, fügte Menéndez hinzu. »Ernst? Wurde jemand getötet?« Menéndez schwieg. »Mist.« Famiani fuhr sich mit dem Armel über das Gesicht. »Hier geht es ja zu wie in New York. Haben Sie einen Schluck Wasser für mich?« Torrillo ging hinaus und kam mit einem Plastikbecher zurück. »Muß auf meinen Flüssigkeitshaushalt achten«, sagte Famiani. »Sehr wichtig. Die hier auch.« Er griff in seine Jackentasche und zog ein Tablettenfläschchen heraus. Fasziniert sah Menéndez zu, wie er zwei Pillen in die Handfläche schüttete und mit Wasser hinunterschluckte. »Nichts Illegales, Herr Polizist«, sagte Famiani und zog geräuschvoll Blut hoch. »Vitamine. Salz. Rein natürlich. Ich gehe gern fair und sauber in meine Läufe. Vielleicht bin ich deshalb so erfolgreich.« Menéndez holte Stift und Block hervor. »Sie heißen Frederick Famiani. Sie kommen aus Laguna Beach in Kalifornien. Letzten Mittwoch sind Sie hier angekommen, mit dem Zug aus Málaga. Wann sind Sie in Spanien eingereist?« »Vor einem Monat. Habe mich mit ein paar alten Freunden an der Küste getroffen. Sie leiten eine Tennisschule in der Nähe von Mijas. Bringen braunen Greisen die Rückhand bei. Auch eine Art, sich seine Brötchen zu verdienen. Dann kam ich her. Habe mir die Stadt angesehen und ein bißchen trainiert. Diese verfluchten Tourismusexperten in New York spra76
chen von – ich zitiere – ›mildem Klima‹. Mild … , daß ich nicht lache!« »Warum haben Sie trainiert?« »Wohl kein Sportfan, was? Im Herbst findet der Berlin-Marathon statt. Riesenereignis, sechzehntausend Läufer und eine fette Börse. Quer durch die Stadt und dann durchs Brandenburger Tor. Letztes Jahr bin ich als Fünfzehnter eingelaufen, wohl weil mir das Wetter zugesetzt hat, und dann war es offen gestanden mein erster europäischer Lauf und ich nicht gewöhnt, durch diese ganze Hundekacke zu rennen. Liegt genug davon auf den Straßen herum, um einen kotzen zu lassen. Hier ist es sogar noch schlimmer. Wenn ihr hier einen Marathon veranstaltet, könnt ihr ihn glatt den Braunschlüpfrigen NikeSpecial nennen, und ich rutsche euch vom Start weg bis direkt durchs Zielband. Aber in diesem Jahr wird es anders. Hundescheiße schreckt mich nicht mehr. Und ich bin auch fitter. Jedenfalls war ich es, bevor ihr mich fertiggemacht habt. Werdet ihr Jungs eigentlich oft verklagt? Nein? Das wundert mich. Zieht bloß nicht nach Amerika. Dort würdet ihr nie eine Berufsversicherung bekommen. Aus eurem Übergriff könnte ich drüben jede Menge Moos rausschlagen. Mehr als in einem Jahr mit dem Marathonlauf.« »Kennen Sie irgend jemanden in der Stadt?« »Nein, mit Ausnahme von euch reizenden Leuten niemanden, auch wenn während meines Trainings alle möglichen Damen meine Bekanntschaft machen wollen. Sind sie einfach nur freundlich, oder haben sie … äh, irgendwelche Hintergedanken?« 77
Er lächelte Maria an. »Hören Sie, Sie sind erstaunlich ansehnlich. Sind Sie auch ein Cop? Unmöglich. Oh, entschuldigen Sie. Mein Trainer sagt, wenn ich häufiger meinen Mund halten könnte, würde ich häufiger gewinnen: Spart Energien. Wissen Sie, was ich meine?« Famiani blickte in kühle blaue Augen und stellte fest, daß sich manche Menschen zum Schweigen nicht erst zwingen müssen. »Und nun erzählen Sie uns bitte doch noch einmal ganz genau und ausführlich, wie Sie zu diesem Gegenstand kamen.« Menéndez hielt den Pfeil hoch, der nun in einem Plastikbeutel steckte. »Einwand, lieber Freund. Er kam zu mir, gewaltsam. Okay?« Famiani trank wieder einen Schluck Wasser, und Torrillo konnte sich vor Ungeduld kaum noch beherrschen. »Ich laufe gern am frühen Morgen und am späten Abend. Dann kommen einem nicht so viele Leute in die Quere, und es ist einigermaßen kühl. Auch gut für die Disziplin, wissen Sie? Früh aus dem Bett und gleich raus auf die Straße. Abends ein leichtes Essen und, sobald es ein bißchen verdaut ist, wieder hinaus. Ich wohne in einer Kaschemme da …«, er zeigte aus dem Fenster, hinter den Torre del Oro, »ja, da drüben. Entspricht nicht ganz Holiday-InnMaßstäben, und das Lustgestöhn aus den Nebenzimmern gibt es gratis dazu, nebst den quietschenden Bettfedern, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber gleich daneben liegt ein Park, in dem man her78
vorragend trainieren kann. Sie kennen doch den großen Park mit den vielen Tauben …?« »Den Alfabia?« »Yeah. Gibt es da blauweiße Kacheln über dem Eingang? Einen kleinen Torbogen? Eine Art Kanal mit Brücken?« Menéndez nickte. »Ich stehe also gegen fünf auf, frühstücke einen Happen, wenn man das als Frühstück bezeichnen kann, und laufe durch den Park, wie an den vergangenen drei Tagen auch. Gestern abend kommt mir der Einfall, auch abends ein wenig zu laufen. Bevor ich mich ins Bett lege. Ja, und dabei ist es passiert.« »Was?« »Der Kerl hat mich mit dem Pfeil getroffen.« Famiani krempelte sich den Jackenärmel hoch. »Hier. Jetzt kann man es wegen des Pflasters nicht mehr sehen, aber der Misttyp wirft mit diesem gottverdammten Ding auf mich. Aus nächster Nähe, nicht weiter entfernt, als Sie jetzt sind. Taucht einfach hinter einer der kleinen Brücken auf und nimmt mich aufs Korn. Wissen Sie was? Ich glaube, er wollte noch einen auf mich schmeißen. Die Beleuchtung ist da nicht allzugut, aber ich habe ihn gesehen. Er wollte noch etwas herausholen. Das konnte ich genau sehen. Vielleicht noch einen Pfeil? Keine Ahnung. Vielleicht aber auch etwas Größeres? Schwer zu sagen.« Famiani schüttelte den Kopf. »Und soll ich Ihnen noch was sagen? Ich glaube, der Irre war verblüfft. Ich glaube, er hat tatsächlich erwartet, daß ich darauf 79
eingehe. Von ihm ging etwas ausgesprochen Aggressives aus. Das erkennt man, wenn man soviel in den Straßen herumkommt wie ich. Das ist so eine OkayJunge-laß-es-uns-austragen-Attitüde. In Marina del Rey wollte mir schon mal jemand so kommen, nur weil ich um ein Haar gegen seinen Einkaufswagen gestoßen bin. Nicht mit einem Pfeil, natürlich, aber Sie wissen, was ich meine.« Er warf die Fäuste hoch. »Kommt alles nur von der miesen Ernährung, wissen Sie. Bringt Yin und Yang bedenklich aus dem Gleichgewicht. Zuviel dunkles Fleisch und Krustentiere, das ist schlecht für die innere Balance. Sie sollten mal mit meinem Trainer Benny sprechen, der kennt sich mit diesen Sachen aus. Fisch, Geflügel, sanft gedämpftes Gemüse. Das ist gut für den Organismus, das hält einen ausgeglichen. Ihr solltet es wirklich mal versuchen. Soweit ich gesehen habe, lebt ihr Jungs doch hauptsächlich von Schweinefett. Ich will mich ja nicht einmischen, aber das ist höchst ungesund.« »Aber statt dessen sind Sie davongelaufen?« fragte Menéndez, ohne von seinen Notizen aufzublicken. »Gelaufen? Wenn mich jemand mit Pfeilen traktiert, können Sie Ihr letztes Hemd verwetten, daß ich die Beine in die Hand nehme. Ich war schneller aus dem Park als eine Ladung Mist von der Schaufel. Zu schade, daß es kein Wettbewerb war, den hätte ich garantiert gewonnen.« »Ist er Ihnen gefolgt?« »Hatte nicht die geringste Chance.« 80
»Aber Sie können ihn beschreiben.« »Nope.« Alle drei sahen ihn an, warteten. »Entschuldigen Sie, Mister Famiani«, sagte Maria, »aber Sie scheinen die Frage nicht verstanden zu haben.« »Klar habe ich die verstanden. Sie fragten, ob ich ihn beschreiben kann, und ich sagte: nein. Hört ihr Jungs mir eigentlich zu oder nicht? Ich habe den Kerl doch nicht einmal gesehen. Nur … das da!« »Vielleicht sollte ich dem kleinen Scheißer noch eins auf die Nase geben«, schlug Torrillo auf spanisch vor. »Hey, hey hey! Ich glaube, das habe ich sehr wohl verstanden«, sprudelte Famiani los. »Ich mache Ihnen nichts vor, wirklich nicht. Großes Pfadfinderehrenwort! Es ist die reine Wahrheit. Ich habe nur mitbekommen, daß er eins von diesen komischen Kostümen trug, die ihr immer anzieht, wenn ihr mit eurem Weihrauch rumwedelt.« »Kostüm?« »Yeah. Sie wissen schon, diese Kapuzengewänder, wie der Ku-Klux-Klan. Schlechter Geschmack, wenn ihr mich fragt. Könnte eure Kirche leicht in einen Topf mit diesen Mistkerlen werfen. Schön und gut, in eurem Land könnt ihr machen, was ihr wollt. Aber für mich ist das ausgesprochen daneben.« Menéndez riß einen Zettel von seinem Block ab und zeichnete. »Etwa so?« »Yeah. Hatte ich das nicht schon gesagt? Diese verdammten bodenlangen Gewänder mit weiten 81
Ärmeln. Und spitzen Kapuzen, die das ganze Gesicht verhüllen, und Sehschlitzen. Dahinter habe ich nichts gesehen. Absolut nichts. Nicht einmal die Augen.« »Aber seine Hand.« »Seine Hand schon. Muß ich ja gesehen haben. Schließlich hat er damit den verdammten Pfeil rausgezogen. Nachdem er mich getroffen hatte, fummelte er noch einmal in seinem Gewand herum, als wollte er noch was rausholen. Keine Ahnung, was. Eine Uzi? Habt ihr die eigentlich hier? War ziemlich gruslig, ihn so herumfummeln zu sehen, Mann. Habt ihr Alien gesehen? Die Szene, wo der Typ dieses Ding in seinen Bauch kriegt und es sich in seinem Innern herumwindet und auf dem Weg raus sein TShirt hochschiebt? So ähnlich sah das aus. Sie können sicher sein, daß ich das Weite gesucht habe. Und wie ich schon sagte, er hatte nicht den Hauch einer Chance, mir zu folgen. Nicht einmal, wenn er Jesse Owens gewesen wäre. Nicht mit diesem Flattergewand um die Beine. Selbst mein alter Herr wäre ihm entkommen.« »Können Sie seine Hand beschreiben?« »Weiß. Mit Fingern. Großer Gott, wie sollte man eine Hand noch beschreiben? Und was kommt jetzt? Legen Sie mir Fotos von Händen vor, damit ich eine davon wiedererkenne?« »Ist Ihnen an seinem Kleid sonst irgend etwas aufgefallen? Trug er vielleicht Schmuck?« »Kleid? Schmuck? Hören Sie, geht es hier vielleicht um irgendeine Schwulengeschichte? Grundgü82
tiger, ist das eine verdrehte Stadt. Nein. Er trug keinen Schmuck an seinem Kleid.« Famiani schniefte ausgiebig und streckte die langen Beine von sich. »Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Kann ich jetzt gehen? Ich möchte mit dem Nachmittagszug nach Madrid. Dort treffe ich mich mit Benny. Nichts für ungut, aber diese Stadt verursacht mir Gänsehaut, ehrlich. Kerle in Kutten, die einen mit gottverdammten Pfeilen bewerfen …« Menéndez ließ sich Kontaktadressen in Madrid, Berlin und Kalifornien nennen und schrieb sie auf. »Wir müssen Sie bitten, mit einem unserer Beamten in den Park zu gehen und ihm die Stelle zu zeigen, an der der Überfall stattgefunden hat. Danach bringen wir Sie in Ihr Hotel – auch zum Bahnhof, wenn Sie das wünschen.« »Nett von Ihnen, aber in Anbetracht der Situation ist das wohl das mindeste.« »Hier ist meine Nummer – falls Ihnen noch etwas einfällt.« Menéndez überreichte ihm eine kleine weiße Karte mit dem Stadtwappen. »Danke. Aber da gibt es nicht mehr zu sagen. Alles war in wenigen Sekunden vorbei. Gott sei Dank. Und wenn ich trainiere, trainiere ich. Langstreckenläufe verlangen Konzentration auf das Wesentliche.« »Vielen Dank«, sagte Menéndez mit undurchdringlicher Miene. »Sagen Sie Ihrem Riesen, daß er mich nicht zur Tür zu begleiten braucht. Für heute wurde mir bereits mehr als genug Aufmerksamkeit zuteil.« 83
Famiani stand auf, wischte sich mit dem Armel über die Nase, hob eine Ferse an, knickte das Knie, um die Muskeln anzuspannen, wiederholte die Prozedur mit dem anderen Bein und grinste leicht. »Alles in allem gar nicht so schlecht.« Er ging zur Tür, griff nach der Klinke, drehte sich aber noch einmal zu ihnen um. »Das Gewand. Es war rot. Aber das habe ich Ihnen schon gesagt, oder? Bestimmt habe ich das gesagt. Dunkelrot. Scharlachrot. Verrückt. Der Klan trägt die Dinger in Weiß, was immerhin Sinn macht, nehme ich an. Rot ist völlig neu für mich, und um ganz aufrichtig zu sein, Jungs, es paßt irgendwie zu euch.«
10 Mürrisch traten Quemada und Velasco gegen die Beine ihrer Schreibtische. Famianis Auftritt zögerte sich über das Ende ihrer Schicht um neun Uhr hinaus, und es paßte ihnen nicht, hier im Hauptraum Däumchen zu drehen, während Torrillo und die Frau sich anderswo vergnügten. Mißmutig blickten sie hoch, als der Amerikaner aus dem Verhörraum kam, um mit einem Angehörigen der Tagesschicht zum Park aufzubrechen – nicht ohne vorher seinem dringenden Wunsch Ausdruck verliehen zu haben, die Stadt so schnell wie möglich verlassen zu wollen. Mit einer Kopfbewegung forderte Torrillo sie auf, 84
ihm in Rodriguez’ Büro zu folgen. Auf dem Flur musterten sie die vor ihnen gehende Frau. Ausgeblichene, locker sitzende Jeans, eine frische Batistbluse. Die Haare sahen noch immer so aus, als bedürften sie dringend ein bißchen mehr Zuwendung. Doch bei gründlicher Überlegung schien es angeraten, sich jede Bemerkung zu verkneifen. Menéndez öffnete die Tür und trat als erster ein. Sonnenlicht flutete durch die Fenster herein, schickte staubige Lichtbündel quer durch den Raum. An der Tafel hatte sich seit gestern abend nichts verändert, aber der Schreibtisch des Capitán war jetzt mit Papieren überfüllt, meist von Schreibblöcken gerissenen, engbeschrifteten Notizzetteln. Der Hauptkommissar setzte sich hinter den Schreibtisch, bedeutete den anderen, gleichfalls Platz zu nehmen, schickte Torrillo Kaffee holen und sagte nach dessen Rückkehr: »Der Capitán hat mich gebeten, diese Besprechung an seiner Stelle zu leiten. Er ist beschäftigt. Nun, was gibt’s?« Velasco holte tief Luft, wischte sich die schwitzenden Handflächen an den Knien seiner Anzughose ab und fragte sich, warum sein Partner immer ihm das Reden überließ. Im Grunde funktionierte ihre ungleiche Partnerschaft ganz gut. Funktionierte seit nunmehr fast drei Jahren. Aber abgesehen von ihren Witzeleien und gelegentlichen spontanen Besäufnissen nach dem Dienst, gab es Seiten, viele Seiten an Quemada, die er nicht kannte. Velasco verdrängte seine leichte Verärgerung und sagte: »Es wird Ihnen nicht besonders gefallen.« 85
Dann trank er einen tiefen Schluck vom abgestandenen Kaffee und begann. »Unserer Meinung nach scheinen die Brüder ihre Bleibe im Haus des alten Mädchens zu einer Art … nun ja, Ferien vom Ich genutzt zu haben.« Menéndez schrieb wieder und blickte nicht hoch. »Erläutern Sie das ein wenig näher.« »Nun, gestern abend haben wir mit Unmengen von Leuten in Madrid und Barcelona gesprochen, die die Opfer kannten, und der Chef vom Dienst gab uns sogar die Erlaubnis für ein Transatlantikgespräch mit New York.« »Und alle wußten von der Wohnung hier?« fragte Menéndez. »Gewissermaßen«, erwiderte Velasco. »Sehen Sie, diese Burschen hatten kaum Verwandte – nur Bekanntschaften. Soweit wir feststellen konnten, verfügten die Brüder über Wohnsitze in Madrid und sonstwo. Dort hielten sie sich vor allem aus geschäftlichen Gründen auf. Um sich mit Agenten und potentiellen Käufern ihres Schrotts zu treffen, um schicke Parties zu besuchen, um gesehen zu werden. Aber gelebt haben sie dort offenbar nicht.« »Ja.« Quemada förderte ein Notizbuch zutage. »Wir haben mit ihrem Agenten in Madrid gesprochen, einem Ausländer namens Mendelsohn, und als wir ihn nach Freunden der Brüder fragten, erwiderte er, da gäbe es keine. Buchstäblich keinen einzigen. Nun, sagte ich, mit wem trafen sie sich, mit wem verbrachten sie ihre Zeit? Mit allen, die sie zu ihren Parties einluden, antwortete er. Es sieht so aus, 86
als hätte ihr Leben ausschließlich aus Parties bestanden, aus Gelegenheiten, sich bekannt zu machen und Geschäfte abzuschließen. Sonst nichts. Nun kommen mir die Brüder aber nicht gerade wie Leute vor, die überhaupt keine Bekannten haben. Also frage ich ihn: Und was machen sie, wenn sie sich wirklich amüsieren wollen? Er sei sich zwar nicht ganz sicher, meinte er, aber er glaubt, daß sie dann hierherkamen, wenn sie die Promifeten satt hatten, denn mitunter waren sie wochenlang fort. Und nach der Rückkehr wären sie wie verwandelt gewesen. Und die Kollegen in Madrid und Barcelona sagen, daß die Wohnungen dort, außer ein paar schmutzigen Büchern und wenigen Gramm Pot, absolut sauber sind. Während …« »Während es so aussieht, daß sie im Haus der alten Dame knietief in Schund und Schmutz gewatet sind.« Velasco lächelte. Die Pointe würde er sich von seinem Partner nicht nehmen lassen. »Dort wurden genügend Spritzen gefunden, um ein mittleres Krankenhaus auszustatten. Aber erstaunlicherweise kein Dope. Dafür anderes Zeug. Perverses Zeug: Handschellen, Leder, Peitschen und Co. Im Schlafzimmer gibt es eine Pritsche. Es wurden Blutspuren gefunden, die nicht von den Brüdern stammen. Sie werden zur Zeit genauer untersucht. Aber es handelt sich tatsächlich nur um Spuren, verstehen Sie. Nicht genug, um auf ernsthafte Körperverletzung hinzuweisen. Sexuelle Spielchen eben.« »Wir haben auch ein bißchen herumtelefoniert«, fuhr Quemada fort. »In den üblichen Kreisen. Die 87
Stricher kennen sie, manche offensichtlich recht gut.« »Irgendwelche Namen?« »Im Moment noch nicht. Wir wollen uns heute abend mit ein paar Leuten treffen. Die wichtigen Burschen dieser Branche arbeiten nicht tagsüber, und der Himmel mag wissen, wohin sie nach Dienstschluß verschwinden.« »Gut.« Menéndez nahm einen Zettel vom Schreibtisch. »Haben Sie sich ihre Notizbücher angesehen?« »Ja. Aber sie waren zu schlau, um darin irgend etwas Eindeutiges festzuhalten. Vielleicht gibt es noch private Tagebücher, aber die haben wir bisher noch nicht gefunden.« »Gingen sie zum Stierkampf?« »Ja«, erwiderte Velasco. »Sogar recht häufig. In Madrid. Barcelona. Einige Male auch hier. Das war einer der Kreise, in denen sie verkehrten. Sagt der Agent. Stierkämpferparties. Sie ließen sich gern mit den Toreros fotografieren.« »Macht Homos an. Die knappen Hosen und so weiter«, steuerte Quemada bei. Menéndez rieb sich die Augen mit den Handrücken. Er wirkte, als hätte er keine Sekunde geschlafen. »Sie beide haben seit zwei Stunden Dienstschluß. Hätten Sie trotzdem noch eine halbe Stunde Zeit für mich?« Sie nickten. Sie mochten Menéndez nicht, besonders nicht die Art, wie er auf den Posten des Capitáns aus war. Aber ihnen gefielen seine Ermittlungsüberlegungen. 88
»Gut. Vertagen wir uns. In einer Viertelstunde machen wir weiter, wenn ich meine Notizen durchgesehen habe. Versuchen wir, der Sache eine Richtung zu geben.« Sie gingen auseinander. Die beiden Polizisten beendeten ihren Papierkram, während Torrillo mit Maria ins Alarcon ging, wo er zwischen lautstarken Polizisten zwei ungeheuer große, von rotem Bratenfett triefende Toastscheiben mit einem Kaffee und einer copa Brandy hinunterspülte. Sie trank ein Mineralwasser und gab nach dreißig Sekunden jeden Versuch auf, die Tabakwolken beiseite zu wedeln, die von allen Seiten aufstiegen. »Werden Sie das in Ihrem Bericht vermerken?« »Was?« »›Und nach einer Stunde begeben sie sich in die Bar um die Ecke, um sich mit miesem Fraß vollzustopfen‹?« Sie lachte, und Torrillo hatte den Eindruck, daß das nicht allzu häufig vorkam. »Nein.« »Und was schreiben Sie dann?« Sie dachte nach. »Ich weiß es noch nicht. Ich habe mir zwar ein paar Notizen gemacht, aber …« Zwei Verkehrspolizisten drängten sich an den Tresen vor und grölten ihre Bestellungen. »Grundgütiger Himmel«, fauchte Torrillo. »Könnt ihr denn nicht sehen, daß eine Dame im Raum ist?« Einer der Verkehrspolizisten drehte sich um und musterte ihn durch seine Sonnenbrille. »Klar sehe ich das, Bär. Ich weiß nur nicht, warum.« 89
Die dunklen Gläser richteten sich auf sie. »He!« rief der Verkehrspolizist. »Ich weiß, wer sie ist. Quemada hat es mir gesagt. Sie ist die Schneekönigin. Unverkennbar. Wissen Sie schon, wie man diesen Jungs ordentliches Arbeiten beibringt, Señora?« Maria spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Die undurchdringlichen Gläser starrten sie weiter unverwandt an, erstickten jedes Wort in ihrer Kehle. »Diese verfluchten Asphaltcowboys müssen immer den Muskelprotz mimen«, knurrte Torrillo. »Laßt mich gefälligst vorbei.« Er trottete am Verkehrspolizisten vorbei zur Ecke des Tresens, stapelte ein paar schmutzige Teller aufeinander, schob sie zur Seite und postierte seine Hünengestalt so schützend vor Maria, daß sie zumindest einigermaßen bequem stehen konnte. Sie stellte ihr Wasserglas auf die schmuddelige Kunststofftheke und wünschte sich einen Moment lang, das Rauchen nicht aufgegeben zu haben. »Achten Sie gar nicht auf sie, Frau Professor. Großmäuligkeit gehört bei denen offenbar zum Beruf. Das hat nichts zu bedeuten.« »Nein«, erwiderte sie und fragte sich, ob sie amüsiert oder verärgert sein sollte. »Nein.« »Sie sagten gerade …« Der Riese wollte so schnell wie möglich wieder zum Thema zurück. »Die Sache ist die, Bär … Ich meine, es ist meine Aufgabe, über die bestehende Ermittlungsmethodik zu berichten. O Entschuldigung – Vorgehensweise.« »Ja? Und?« 90
»Und hinter die bin ich noch immer nicht gekommen.« Er zwinkerte, verzog sein rundes Gesicht. »Sie wollen also unsere Spielregeln kennenlernen, unsere Bestimmungen?« »Wenn Sie so wollen.« Torrillo fragte sich, ob er der Frau trauen konnte. War das etwa ein neuer Versuch der Führungsebene, sie mit weiteren Vorschriften und Papierkram zu knebeln? Das Problem war nur, daß sie so gar nicht nach Führungsebene aussah. »Für die meisten Dinge gibt es eindeutige Bestimmungen. Aber kaum für den aktuellen Fall. Das ist nun einmal unmöglich.« »Das ist mir klar.« »Und Sie haben den Capitán kennengelernt.« Sie schwieg. Wartete ab, daß er mehr sagte. »Der Capitán ist anders. Er hat ein Gespür für die Dinge. Und das heißt, daß wir in den meisten Fällen ohne ›Regelwerk‹ auskommen. Sicher haken wir eine Reihe von Punkten auf einer Vorgehensliste ab, aber wesentlich wichtiger ist das, was man nicht abhaken kann.« Er stürzte einen Schluck Kaffee hinunter, und sie fragte sich, warum er so aussah. Warum dieser Pferdeschwanz, warum der Leinenanzug, der besser zum Manager einer Rockband passen würde? »Es ist alles eine Frage der Intuition, der Inspiration. Und die kommt von hier …« Er tippte sich an den Kopf. »Nicht aus irgendeinem schlauen Buch. Ich möchte Ihnen eine kleine Geschichte erzählen. 91
Als Kind fuhr ich häufiger zu Verwandten in der Nähe von Santiago. Kennen Sie sich dort ein bißchen aus? Es ist grün. Rund ums Jahr. Es regnet ständig, und das macht alles grün, nicht so verdorrt und wüstenähnlich wie hier. Damals begeisterte ich mich für Vögel. Hier trifft man auf Adler, Bussarde, Wiedehopfe, alle möglichen selteneren Vögel und hält sie für selbstverständlich. Aber da oben gibt es überall diese Drosseln, und die haben mich fasziniert, weil man sie hier kaum sieht und sie ganz schlaue Tiere sind. Man kann sie beobachten, über sie nachdenken und versuchen zu ergründen, was sie da eigentlich machen. Tatsache ist, daß ich diese Drosseln genau beobachtet habe, wie sie durchs Gras hüpften und nach Würmern Ausschau hielten. Auf die Schliche bin ich ihnen aber trotzdem nicht gekommen. Sie neigen den Kopf ein wenig zur Seite, das Auge ist auf den Boden gerichtet, aber wenn sie zupicken, dann ganz woanders. Das habe ich stundenlang beobachtet, aber nie herausfinden können, wie sie es machen. Bis ich eines Tages ganz plötzlich drauf kam, wie dumm ich gewesen war. Ich hatte angenommen, daß sie mit den Blicken nach den Würmern suchen. Aber das tun sie gar nicht. Wenn sie den Kopf neigen, lauschen sie nach ihnen. Nach einem Rascheln im Gras vielleicht, irgend etwas. Und so ist es auch mit dem Capitán. Man denkt, er hält nach irgend etwas Ausschau, während er in Wirklichkeit lauscht, angestrengt irgendwohin lauscht. Also ziehen wir los, ermitteln Teile von Tatbeständen, berichten sie ihm, und er hört zu. Diese Me92
thode wird meines Wissens in keinem Handbuch empfohlen.« Sie trank ihr Glas aus und sah auf die billige Uhr an ihrem Handgelenk. »Ich glaube, daß Handbücher lediglich eine Unterstützung der Intuition sein sollen, Bär, daß sie einem Beispiele geben, Anregungen liefern, wenn es an Inspiration mangelt. Wenn man lauscht und doch nichts anderes hört als den Wind.« »Nun, genau das ist der Punkt, Frau Professor. Wissen Sie, ich arbeite jetzt schon sehr lange mit dem Capitán zusammen. Wir alle. Für sehr viele von uns ist er so etwas wie eine Legende. Der Mann, der alle Fälle löst. Ich kann mich an keine einzige Situation erinnern, in der seine Intuition versagt hätte. Letztendlich.« »Letztendlich.« Sie sah ihn neugierig an, versuchte die Tiefe seines Zutrauens zu orten. »Er ist kein junger Mann mehr, Bär. Er wirkt mitunter erschöpft.« Er lächelte. Damit hatte er gerechnet. »Sicher. Aber wissen Sie … und verzeihen Sie mir, wenn ich das sage, aber manchmal hören Sie sich an wie dieser Schleimer Menéndez. Er ist hinter der Position des Capitán her. Aber das wissen Sie vermutlich längst.« »Er ist ehrgeizig. Was wäre daran so falsch?« »Nichts. Aber es ist nicht sympathisch, das so deutlich zu zeigen. Zumindest könnte er warten, bis Rodríguez sich zur Ruhe setzt. Allzu lange dauert das ja nicht mehr.« »Bär«, sagte sie, »würden Sie mir einen Gefallen tun?« 93
»Jederzeit, wenn möglich.« »Nennen Sie mich doch Maria. Bitten Sie auch den Capitán, mich beim Vornamen zu nennen. Und Menéndez. Wenn er sich dazu überwinden kann.« »Danke, Maria.« »De nada«, lächelte sie. Zum zweitenmal an diesem Tag. Nicht schlecht, dachte Torrillo. Hin und wieder beginnt die Schneekönigin zu schmelzen. Rodríguez saß hinter seinem Schreibtisch, hinter seinem Papierberg. Die Tafel war abgewischt. Er wartete, bis jedermann sich gesetzt hatte, dankte Quemada und Velasco für ihr Bleiben (»Bekommen wir Überstunden bezahlt, Capitán?« erkundigte sich Velasco hoffnungsvoll, erhielt aber keine Antwort), stand auf und trat mit einem Stück Kreide an die Tafel. Menéndez hielt den Kopf über einen Notizblock gesenkt, sein Kugelschreiber huschte über das Papier. »Drei unterschiedliche Ermittlungswege bieten sich an. Velasco, Quemada. Sie machen da weiter, wo Sie bereits begonnen haben.« »In Ordnung, Capitán«, erwiderte Velasco. »Die Richtung, die wir bereits verfolgen, oder alle drei?« fragte Quemada. »Alle drei«, sagte Rodríguez. »Sie meinen, die Strichjungen aufzuspüren und aus ihnen so viel wie möglich herauszuholen?« »Ja.« »Gut.« Quemada gähnte. »Nur, daß ich das nicht mißverstehe. Es war eine lange Nacht, und bei mei94
ner Begriffsstutzigkeit habe ich es gern, wenn die Dinge deutlich ausgesprochen werden.« Schon diese kleine Aufmüpfigkeit brachte Torrillo auf die Palme. Er funkelte Quemada böse an, bis der den Blick abwandte, verlegen auf seine Schuhe starrte und dann sagte: »Ich übernehme die zweite Spur. Das ist der Typ in der roten Kutte, stimmt’s? Laufen von dieser Sorte eigentlich viel herum?« »Himmel«, grollte Torrillo, »es ist Semana Santa. Vermutlich gibt es jetzt Zehntausende da draußen.« »Zehntausend Leute in Büßergewändern, vielleicht sogar noch mehr«, mischte sich Velasco ein. »Aber nicht Zehntausende in roten. Insgesamt gibt es rund sechzig Büßerorden. Die meisten von ihnen tragen Weiß, etliche Schwarz, wenige Braun. Kaum Rot. Nicht, daß ich wüßte.« Rodríguez ergriff einen Zettel vom Tisch. »Drei. Die Bruderschaft vom Wahren Kreuz.« »Das klingt aber gar nicht nach Wahrem Kreuz, eher nach Unwahrem Kreuz oder noch etwas anderem. Diese frommen Brüder bringen mich noch um«, meinte Quemada. »Du bist schlichtweg ungebildet«, erklärte Velasco. »Verwandte von mir haben mit diesen Dingen zu tun, und das ist Tradition. Sie arbeiten das ganze Jahr lang und tun Dinge, von denen du noch nie etwas gehört hast. Sie sammeln Geld für wohltätige Zwecke, unter anderem auch für notleidende Polizisten. Du solltest sie also nicht verspotten.« »Nun, einer von ihnen beschert Polizisten kein 95
Geld, dafür aber Arbeit.« Quemada beugte sich vor und hielt sich mit den Daumen seine Lider offen. »Die Bruderschaft vom Wahren Kreuz«, wiederholte Rodríguez, »Die Bruderschaft der Ewigen Flamme …« »Die können Sie vergessen«, sagte Velasco. »In der hatte ein Cousin von mir ziemliche Bedeutung. Die Kutte ist zwar rot, aber eher orangerot. Niemand könnte den Farbton als Scharlachrot bezeichnen. Abgesehen davon tut sich da nicht mehr allzuviel. Mein Cousin hat den Orden vor Jahren verlassen. Er trägt jetzt Schwarz. Und wenn ich es mir recht überlege, können wir den ersten auch ausschalten. Höchstwahrscheinlich. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, haben sie sich vor ein paar Jahren mit der Ewigen Flamme vereinigt. Passiert neuerdings häufiger. Die Religion ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Die jungen Leute brausen heutzutage lieber mit dem Motorrad durch die Gegend oder verhökern Stoff im Park, jedenfalls einige von ihnen. Hat sich vielleicht noch nicht herumgesprochen, aber sie sind jetzt eine Bruderschaft. Sie tragen das gleiche Habit.« Rodríguez machte sich Notizen. »Gut. Also scheiden sie zunächst einmal aus. Damit bleibt nur die Bruderschaft vom Blut Christi.« Quemada riß die Augen auf. »Von denen habe ich gehört! Die kenne ich!« Velasco verdrehte seufzend die Augen. »Meine Güte, die kennt doch jeder.« »Ja«, stimmte Torrillo zu. »Ausnahmslos.« 96
»Ich nicht«, sagte Maria. »Sie sind nur Beobachterin, Señora, Sie gehören nicht zur Ermittlungsmannschaft«, stellte Quemada fest. Maria fragte sich, warum sie das kränkte. Strenggenommen hatte er doch sogar recht. Sie sah zum Capitán hinüber, wartete auf ein Zeichen, einen Hinweis darauf, wo sie in der Hackordnung stand. Er reagierte nicht auf Quemadas Bemerkung. »Die Bruderschaft vom Blut Christi ist relativ neu«, fuhr Rodríguez fort. »Wurde erst während des Bürgerkriegs gegründet. Sie hat vielleicht zweitausend Mitglieder in der Stadt. Es gibt ein kleines Büro. Menéndez wird später mit dem Verantwortlichen sprechen.« »Jetzt weiß ich es wieder.« Quemada fuhr auf seinem Stuhl kerzengerade hoch. »Ich weiß, wo ich davon gehört habe. Das ist doch der Orden, in den Polizisten eintreten, die von göttlicher Berufung erfaßt werden, stimmt’s?« »Das kann doch alles nicht wahr sein«, stöhnte Velasco auf und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »›Göttliche Berufung‹? Und dann fragen sie sich noch, warum diese Gesellschaft den Bach runtergeht.« »Sie veröffentlichen keine Mitgliederlisten«, sagte Rodríguez. »Aber wir könnten ihnen gerichtliche Maßnahmen androhen, falls sie Schwierigkeiten machen. Aber man darf wohl mit Fug und Recht behaupten, daß der Mitgliederkreis recht begrenzt ist. Polizei, Stadtverwaltung, Politiker – lokale wie auch nationale.« 97
»Welche Politikerrichtung?« fragte Maria. »Ein bißchen rechts von den Christlichen Demokraten?« Rodríguez nickte. »Wie ich schon sagte, wurde der Orden während des Bürgerkriegs gegründet. Vielleicht sogar von der Falange. Natürlich ist sie im Lauf der Jahre konzilianter geworden. Auch sehr viel kleiner. Verfügt kaum noch über Einfluß. Bei einer sozialistischen Regierung nicht verwunderlich.« »Und so was gehörst du an, Velasco? Du schnüffelst also in deiner Freizeit Weihrauch?« Quemada sah seinen Partner verständnislos an. »Nein, tue ich nicht«, entgegnete der Kommissar heftig. »Und selbst wenn, wäre es eine Unverschämtheit, danach zu fragen. Selbst von einem Partner. Abgesehen davon, heißt es noch lange nicht, daß unser Mann in ihren Reihen zu finden ist. Wir suchen nach einem Verrückten, der sich in ihrer Kutte gefällt, mehr nicht. Großer Gott, diese Dinger kann man vermutlich in jedem Maskenverleih bekommen, genau wie zur Fastnacht Hexen- und Zaubererkostüme für deine Kinder. Vielleicht hat er es sich nur ausgeliehen.« Menéndez blickte von seinen Notizen auf. »Höchstwahrscheinlich nicht. Ich habe bereits mit den sechs größten Kostümgeschäften in der Stadt gesprochen. Keins von ihnen verleiht Büßergewänder. Sie betrachten das als geschmacklos.« »Dann hat er es sich unter Umständen schneidern lassen. Vielleicht hat es ihm seine Mutter genäht.« »Vielleicht«, sagte Menéndez. »Aber selbst wenn das so ist, sollten wir eine Verbindung nicht aus98
schließen. Direkt oder indirekt, durch Verwandte oder Bekannte vielleicht. Warum sonst sollte er sich für Rot entscheiden? Weiß wäre doch unauffälliger.« »Kaum noch«, sagte Torrillo. »Es laufen inzwischen auch von denen Tausende da draußen rum. Wir können kaum jeden von ihnen ansprechen. Und selbst wenn, was sollten wir sie fragen?« »Genau«, murrte Velasco düster. »Im nächsten Jahre gehe ich in der Semana Santa auf Urlaub. Dieser Fall könnte mich zum Atheisten machen, wenn das so weitergeht. Und die dritte Sache, um die wir uns kümmern sollen?« »Die Pfeile.« Rodríguez zog die Schublade seines Schreibtisches auf und holte einen Beweismittelbeutel heraus. In ihrer leicht milchigen Plastikhülle wirkten die scharfen silberfarbenen Gegenstände irgendwie stumpf und harmlos. Er hob den Beutel an seinem Etikett hoch. »Den Brüdern bohrte er die Pfeile in die Körper, bevor er sie tötete. Das ergaben die gerichtsmedizinischen Untersuchungen. Sie haben die Haut nicht post mortem durchdrungen. Auch auf Famiani – und wir müssen davon ausgehen, daß es sich um einen weiteren Mordversuch handelte – warf er einen Pfeil, bevor er versuchte, zu einer anderen Waffe zu greifen.« »Die Brüder könnten mit den Pfeilspielchen einverstanden gewesen sein«, wandte Quemada ein. »Die frischen Verletzungen befinden sich auf Brust und Armen. Aber auf ihren Rückseiten gibt es ältere Hinweise darauf, daß sie sich auch früher schon haben piken lassen. Vielleicht als perverses Stimulans.« 99
»Dann machte er sie mit Drogen bewußtlos und tötete sie«, fugte Velasco hinzu. Sein Partner nickte. »Das mußte er tun, weil er nicht beide gleichzeitig bewältigen konnte. Ja, das macht Sinn. Ich sehe es förmlich vor mir.« »Und was wäre mit Famiani geschehen, wenn er sich gewehrt hätte?« fragte Maria. »Was läßt sich aus dem Fall der Brüder für ihn folgern?« »Nachdem sie von den Pfeilen getroffen worden waren, wurden ihnen mit einem langen, spitzen Gegenstand tiefe Wunden an den Schultern, den Seiten und unter dem Rippenbogen beigebracht«, erklärte Rodríguez. »Doch obwohl genau geplant, waren auch das keine tödlichen Verletzungen, und falls die Brüder noch bei Bewußtsein waren, müssen sie sehr schmerzhaft gewesen sein.« »Fast so, als wollte er sie reizen, aufstacheln?« erkundigte sich Torrillo verblüfft. »Ja. Und dann …« Maria lächelte (zum drittenmal an einem Tag, dachte Torrillo) und hob dann die Hand wie eine Schülerin. »Frau Professor?« »Und dann tötete er sie mit einem zielsicheren Stoß ins Herz?« Sie spürte, wie sich alle Blicke auf sie richteten. Ein Anflug von Verdrossenheit zuckte über Rodríguez Gesicht, verschwand wieder. »Korrekt.« »Das ist es. Eine Imitation des Stierkampfes. Die roten Kostüme repräsentieren das Cape des banderil100
leros, wenn er den Kampf beginnt. Doch dann verändert er die traditionelle Abfolge – und das zeigt seinen Sinn fürs Praktische. Als nächstes setzt er die bebänderten Pfeile ein, um das Opfer weiter aufzureizen. Erst dann wird er ein Picador und setzt eine Art Lanze ein. Schließlich verwandelt er sich in den Matador. Er beendet den Kampf, er ›bringt das Opfer‹, mit einem einzigen Stoß in das Herz.« Velasco wirkte verwirrt. »Ich weiß von Menschen, die irgend etwas kopierten, aber die bemühten sich stets, dabei höchst präzise zu sein. Sie sind besessen, wahnsinnig, deshalb kopieren sie ja auch. Ihnen würde nicht einmal im Traum einfallen, etwas nicht aufs I-Tüpfelchen genau zu imitieren. Also warum hält er sich nicht exakt an die Wirklichkeit, wenn er sie kopieren will?« »Weil er durchaus einen Sinn fürs Praktische hat, wie ich schon sagte, er will die Wirklichkeit nicht kopieren, er will ein Ritual auf eine neue Situation übertragen, auf die Ermordung eines Menschen, der nicht so einfältig ist wie ein Stier. Der Anblick der Pfeile hat die Brüder kaum gewarnt. Sie haben sie vermutlich als Bestandteil des ›Spiels‹ betrachtet. Als die Lanze oder welche Waffe auch immer gezückt wurde, deutete der Schmerz, die Ernsthaftigkeit der Verletzungen allerdings auf etwas anderes hin. Ähnlich bei Famiani: Auch viele andere Männer hätten aggressiv und gewalttätig darauf reagiert, hätte man sie mit Pfeilen beworfen.« »Ich hätte den Mistkerl grün und blau geschlagen«, erklärte Quemada. 101
»Nein, das hätten Sie nicht. Sie wären gestorben. Jeden Versuch von Ihnen hätte die Lanze vereitelt. Und dann, durch die Lanze kampfunfähig geworden, hätte sich das Schwert in Ihr Herz gebohrt.« »Also suchen wir nach einem perversen Sexualtäter, der der Bruderschaft vom Blut Christi angehört und etwas mit dem Stierkampf zu tun hat?« fragte Torrillo. »Wir suchen nach Verbindungen zwischen allen drei Aspekten«, entgegnete Rodríguez. »Ich kenne da einen Stierkämpfer, von früher«, sagte Torrillo zu Menéndez. »Wir könnten mit ihm reden, nachdem wir mit den Leuten von der Bruderschaft gesprochen haben.« »In Ordnung.« »Und die anderen Fragen?« Ihren Blicken entnahm Maria, daß sie sich bereits zu häufig eingemischt hatte. Das würde ihr zwar niemand ins Gesicht sagen, doch es stand unausgesprochen im Raum. »Und das Motiv?« fragte sie. »Caterina Lucena? Die Wahl des Gemäldes als eine Art Vorbild für den Mord? Die Zufälligkeit, die sich irgendwie aufdrängt. Famiani war mit Sicherheit ein zufälliges Opfer, woher wollen wir wissen, daß es die Brüder nicht auch waren?« »Eins nach dem anderen, Frau Professor. Es hat keinen Sinn, Theorien nachzujagen, bevor wir nicht überprüft haben, was wir bereits wissen. Die Besprechung ist beendet.« Stöhnend stand Velasco auf. »Und wie soll ich nach alledem in den Schlaf kommen?« 102
»Kein Problem«, entgegnete Quemada. »Denk an Jesus. Das läßt jeden einschlafen. Um sechs ist wieder Dienstbeginn.« Langsam bewegten sie sich auf die Tür zu. »Frau Professor?« Maria blieb stehen. »Dürfte ich mit Ihnen vielleicht ein Wort unter vier Augen sprechen?« Die anderen tauschten Blicke aus und verließen den Raum. Maria drehte sich um und setzte sich vor den chaotisch überladenen Schreibtisch. Rodríguez rieb sich die Augen. »Entschuldigen Sie, aber ich habe fast die ganze Nacht gelesen.« Sie nickte. »Auch Sie sollten sich irgendwann einmal ausruhen.« »Das werde ich. Irgendwann. Verzeihen Sie meine Frage, aber ist dieser Fall für Ihren Bericht eigentlich von Nutzen?« »Ja.« Was sollte sie mehr sagen? »Es ist kein gewöhnlicher Fall. Über unsere Routinearbeit sagt er nur wenig aus.« »Haben Sie es mit vielen gewöhnlichen Fällen zu tun?« »O ja. Der größte Teil unserer Arbeit kann mit einem herkömmlichen Ermittlungsraster erledigt werden. Selbst die Mordfälle. Vielleicht könnte es ratsam sein, Ihre Erkundungen zu verschieben, bis dieser Fall gelöst ist.« Er versuchte, ihre Gedanken zu lesen, aber die kühlen, blauen Augen verrieten nichts. 103
»Wollen Sie das? Daß ich mich zurückziehe?« »Ich denke, Sie sollten über die Möglichkeit nachdenken. Um zurückzukommen, wenn unsere Tätigkeit für Ihren Bericht aufschlußreicher ist.« »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.« »Nein, das habe ich nicht. Das sollten Sie allein entscheiden.« »Falls Sie den Eindruck haben, daß ich Ihre Ermittlungen behindere …« Er hob abwehrend die Hand. »Nein. Ganz und gar nicht. Wenn das der Fall wäre, würden wir dieses Gespräch nicht führen. Sehen Sie …« Er griff zu einer Akte mit ihrem Namen und schlug sie auf. »Ist das die Verpflichtungserklärung, die Sie vor Ihrer Ankunft hier unterzeichneten?« Maria warf einen Blick auf das engbeschriftete Dokument und ihre Unterschrift. »Ja.« »Selbstverständlich haben Sie es nicht Zeile für Zeile gelesen. Es ist mir unbegreiflich, wie ein Mensch diese Sprache überhaupt lesen kann – oder wer sich so etwas ausdenkt. Aber Sie wissen, was es bedeutet?« »Ich denke schon.« »Es bedeutet, daß alle polizeiinternen Informationen, die Sie hier erhalten, ausnahmslos vertraulich sind. Ohne schriftliche Genehmigung eines höheren Verwaltungsbeamten der Nationalpolizei dürfen sie keineswegs an Dritte weitergegeben werden.« »Ja. Damit habe ich mich einverstanden erklärt.« 104
»Das ist mir klar, aber Sie sollten auch nicht vergessen, daß Sie es unterschrieben haben.« »Werden Sie meine Frage beantworten?« Rodríguez blickte sie über den Schreibtisch hinweg an. Für einen Moment wurde seine Intelligenz, seine Scharfsinnigkeit sichtbar, und sie konnte verstehen, warum sie ihn alle so schätzten. Dann verschwand das wieder hinter einem höflichen Behördenlächeln. »Ja. Ich hoffe, daß Sie bis zum Abschluß dieser Ermittlungen bei uns bleiben. Es ist kein gewöhnlicher Fall, und er verfügt über Aspekte, möglicherweise sexuelle Aspekte, bei deren Aufklärung die Ansichten eines intelligenten Außenstehenden hilfreich sein könnten. Aber ich ziehe es auch in Zukunft vor, daß Sie mich meine Schlüsse ziehen lassen, ohne mich zu unterbrechen.« Maria spürte ein gewisses Zögern. »Kommt da nicht noch ein ›Aber‹, Capitán?« »Aber … Sie sollten sich klarmachen, was da auf uns zukommen könnte.« »Ich denke, dessen bin ich mir bewußt.« »Und das wäre?« »Ein Täter, der zwei Menschen ermordet hat und einen dritten töten wollte.« »Das ist vermutlich noch nicht alles.« »Was noch?« »Es gibt da ein Schema, das sogar unseren Freunden Quemada und Velasco aufgefallen ist, auch wenn sie es in Ihrer Gegenwart nicht erwähnen wollten. Der Mord an den Brüdern Angel war mit Sicher105
heit keine Zufallstat. Sie müssen ihren Mörder gut gekannt haben, um ihn in ihre Wohnung zu lassen, um so vertraut mit ihm zu werden. Der Angriff auf Famiani hat die Qualitäten einer Nachahmertat.« »Und das Schema?« »Zwei Möglichkeiten sind denkbar. Unser Mann könnte die Angel-Brüder getötet und Gefallen daran gefunden haben. Oder er könnte ganz geplant vorgehen. Vergessen Sie nicht, daß er uns durch seine Rückkehr zum Tatort auf die Leichen aufmerksam machte. Er wollte, daß sie gefunden werden.« »In beiden Fällen rechnen Sie damit, daß er erneut mordet.« »Höchstwahrscheinlich. Meine Vermutung geht dahin, daß es sich um den Beginn einer Serie handelt, die in irgendeiner Weise mit der Semana Santa zusammenhängt. In dieser Zeit gerät die Stadt förmlich aus den Fugen. Und das hat gerade erst begonnen. Bis zum Sonntag mit dem abschließenden Umzug und den Stierkämpfen steigt die allgemeine Erregung von Tag zu Tag. Üblicherweise nimmt die Zahl unserer Festnahmen – und das umfaßt alle Deliktkategorien – mit jedem Tag der Fiesta exponentiell zu. Vielleicht durch angefachte Leidenschaften. Aber alle so motivierten Taten kommen irgendwann zu einem Ende – entweder wird der Täter gefaßt, oder die Serie erschöpft sich. Nur sehr wenige Mehrfachtäter morden über mehrere Jahre hinweg. Studien über die Mörder besagen, daß meist irgendein Ereignis die Serie beendet. Vielleicht befreien sie sich selbst von ihrem Drang. Sie heiraten. Sie finden zu Gott.« 106
»Ich verstehe, was Sie damit sagen wollen.« »Tatsächlich? Wir haben es hier mit einem Menschen zu tun, der auf jeden Fall intelligent ist, intelligent genug, um die Tötung zweier moderner Künstler nach dem Vorbild eines jahrhundertealten Gemäldes vorzunehmen, intelligent genug, um die Parallelen zu erkennen, die Sie gesehen haben. Dieser Mensch, diese Menschen, könnten über den rein physischen Aspekt hinaus gefährlich sein. Ich habe erlebt, daß robuste, einfältige, unsensible Polizisten durch das Böse zerstört wurden, das Menschen in diese Welt tragen. Ihre gestrigen Äußerungen über diese Stadt machen mir Sorgen. Sie müssen zu einer anderen Einstellung finden, sonst könnten Sie Schaden nehmen.« »Ich war müde, niedergeschlagen. Grundlos vermutlich.« Er blickte wieder in die Akte. »Gestern nacht habe ich das hier erstmals gelesen.« »Und?« »Sie waren verheiratet.« »Ja.« »Jetzt nicht mehr?« »Mein Mann starb. An einer plötzlichen Krankheit. Vor zwei Jahren. Er war zweiunddreißig.« »Und damals faßten Sie den Entschluß, von der Lehre zur Forschung zu wechseln?« »Ja. Ich wollte Veränderungen in meinem Leben. Es kam mir falsch vor weiterzumachen, als wäre nichts geschehen.« »Aber Sie trauern noch immer um ihn?« 107
»Manchmal.« »Verstehe.« »Hat das irgendeine Bedeutung?« »Selbstverständlich ist Ihr Seelenfrieden für mich von Bedeutung.« »Ich darf also weitermachen?« »Ja. Es würde mich freuen. Sie werden in Kürze mit Menéndez und Torrillo Befragungen durchführen. Von Mittag an verdopple ich die Kräfte, die mit den Ermittlungen befaßt sind. Um halb drei gibt es eine weitere Pressekonferenz. Wir wollen mit Hilfe der Medien um sachdienliche Hinweise bitten. Das ist nicht ganz einfach: Wir müssen die Aufmerksamkeit der Menschen erregen, ohne sie in Panik zu versetzen. Aber vielleicht ist das in der Semana Santa eine grundlose Sorge. Wer sieht in diesen Tagen schon fern, Frau Professor? Wer liest Zeitungen?« »Es wäre mir lieb, Capitán, wenn Sie mich Maria nennen könnten.« »Das hat mir der Sergeant bereits gesagt. Sehr gern.« »Danke.« »Und falls das alles für Sie zuviel wird, Maria, dann sind Sie hoffentlich nicht zu stolz, mir das zu sagen. Ich könnte Ihre Hilfe brauchen, denn wir haben nur sehr wenige Frauen bei der Polizei, aber ich könnte meine Aufgaben besser erledigen, wenn ich mir um Sie keine Gedanken zu machen brauchte.« Fast hätte sie gelacht. »Ich werde dafür sorgen, daß mein Seelenzustand Ihre berufliche Kompetenz nicht beeinträchtigt, Capitán.« Er nahm die Herausforderung nicht an. 108
»Das weiß ich zu schätzen. Würden Sie jetzt Sergeant Torrillo bitten, wieder zu mir zu kommen?« Der Bär lehnte am Wasserspender. Es schien, als wolle er ihn umstoßen. Er blickte ihr ins Gesicht, sah ihre leicht geröteten Wangen und etwas, was Erheiterung sehr nahe kam. »Das ist heute schon das vierte Mal, Maria«, sagte er. »Daraus kann leicht eine Gewohnheit werden.«
11 Die Atmosphäre auf den Straßen hatte sich verändert. Durch die halbgeöffneten Fenster des Autos, das sich durch die Menschenmassen kämpfte, konnte Maria den Unterschied rast mit den Händen greifen. Die Atmosphäre war aufgeladen, elektrisch. Ein weißgekleideter Knabenchor überquerte mit Kreuzen und Gesangbüchern den Platz, langsam, in Reih und Glied wie eine militärische Formation, angeführt von einem kahlköpfigen Priester. Am Straßenrand stauten sich die Schaulustigen, drückten auf die Auslöser ihrer Kameras, blätterten in Broschüren, bereiteten sich auf die nächste Sehenswürdigkeit vor. An der Ecke neben der Apotheke schmetterte eine Zigeunerin ein Stegreifliedchen und schob bettelnd eine Hand durch das Wagenfenster. Torrillo knurrte etwas, und die Hand verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Körper drängelten und stießen ge109
gen das Auto, als es versuchte, den Menschenmassen zu entkommen. Über ihnen erklangen die Glocken des großen Turms und ließen Taubenschwärme in den tiefblauen Himmel schwirren, an dem nur ein paar kaum sichtbare Zirruswolken vor der langsam verbleichenden Mondsichel hingen. Vormittagsdüfte – Kaffee, heißes Fett, süße churros – mischten sich mit den Gerüchen der Semana Santa. Weihrauch und Pferdeäpfel, Diesel und billiger Wein. Traditionell gekleidete Tänzerinnen mit schwarzen Kopfschleiern trippelten vorbei, verbreiteten eine Wolke schwülstigen Parfums und lachten mit hellen, unverdorbenen Mädchenstimmen. Ihre Absätze klapperten auf dem Kopfsteinpflaster, ihre karminrot geschminkten Lippen summten zum Takt von Kastagnetten. Ihnen folgten zwei Reiter, ein Mann im grauen Anzug und mit dem runden Hut eines caballero aus Jerez, eine Frau in weißen Reithosen, blutroter Jacke und schwarzen, überknielangen Lederstiefeln. Beide hatten eine Hand an den Zügeln, die andere hielt ein Sherryglas. In der Ferne, in einer Ecke des Platzes, nahe dem Seiteneingang zur Kathedrale, sah Maria den Hauptanziehungspunkt der Zuschauermenge: Eine gewaltige Plattform funkelte golden in der Sonne. Sie wurde von Männern auf den Schultern getragen, die in der Hitze Ströme von Schweiß und Tränen vergossen. In der Mitte konnte sie eine Madonna ausmachen, hinter Glas, mit dem Kreuz in der Hand. Sie sah aus wie eine altmodische Wachspuppe. Der Heiligen Jungfrau folgten Büßer, langsam, schweigend, anonym. 110
Sie waren ausnahmslos weiß gekleidet. Dann befreite sich der Polizeiwagen aus der Umklammerung der Massen und bog scharf in die breitere El Cano ein. Torrillo legte den dritten Gang ein, und die Menschenmenge blieb hinter ihnen zurück. Wie Bienen, die einen einzigen Honigtopf umschwärmten. Hier wirkten die Straßen verlassen, viele der Geschäfte waren geschlossen. Durch eine schmale Nebenstraße hindurch sah sie eine weitere Prozession, hörte das Schmettern einer Trompete, das dumpfe Grollen einer Trommel. Dann verklangen die Töne, verloren sich im Gewirr der mittelalterlichen Sträßchen und Wege von San Isidro, dem ältesten Viertel der Stadt, dem ältesten Teil von El Viejo. Dem barrio des barrio, in dem die Menschen fast aufeinander lebten, aus den Fenstern schrien, nie zu schlafen schienen und denen sich die Karte ihrer verwinkelten Umgebung von Kindesbeinen an fest eingeprägt hatte. Als Studentin war sie einmal hier hineingeraten, um dann stundenlang nach einem Ausweg aus diesem Labyrinth zu suchen. Doch keine Sekunde lang hatte sie sich bedroht oder als Eindringling in dieser kleinen, abgeschlossenen Welt gefühlt. Torrillo trat auf die Bremse und parkte den Ford in der engen kopfsteingepflasterten Straße, neben einer Apotheke und so dicht an der Hauswand, daß ihnen keine andere Wahl blieb, als auf der Fahrerseite auszusteigen. »Von hier aus müssen wir zu Fuß weiter«, sagte der Sergeant. »Aber es ist nicht weit.« Er duckte sich unter einem Torbogen hindurch, 111
unter dem es nach Katzenpisse stank, und sie folgten ihm, Menéndez als Schlußlicht. Die Gasse verbreiterte sich, ausreichend, um zwei Esel fast bequem passieren zu lassen. Die Hauswände waren weiß gekalkt, Pelargonien loderten rot. Wie überall im barrio roch es nach Wäsche, Blumen, Urin, Kloake und Essen, immer wieder nach Essen. Ein Kind schrie, eine Mutter schimpfte, ein Fernseher schnatterte hinter einer halbgeschlossenen Tür, aus einem Fenster im oberen Stockwerk kamen die unverkennbaren Geräusche eines Liebespaares, das rhythmische Quietschen von Bettfedern, das Stöhnen der Lust. Sie erreichten einen hübschen kleinen Platz, hübsch genug, um die Touristen anzuziehen, wenn sie mutig genug waren, den Spuren der Vergangenheit zu folgen, die ihnen das Verkehrsamt in den sicheren Bereichen der Stadt gewissenhaft aufgezeichnet hatte. In der Mitte ein Renaissancebrunnen, die Statue eines Fohlens, das mit erhobenen Vorderläufen in einer Muschel steht. Torrillo deutete auf ein Schild an der Wand. »Plaza del Potro. Hier muß es irgendwo sein.« Der Sergeant verschwand in dem Laden, den jemand in seinem Vorderzimmer eingerichtet hatte und der ein Sammelsurium an Brot, Gebäck, Käse und Fleisch feilbot. Er kam wieder heraus und strebte dem Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite zu. Dort gab es eine hellgelb gestrichene, aber verschlossene Tür und eine Sprechanlage mit einer Reihe von Tasten. Torrillo drückte auf eine, sagte etwas und stieß nach dem Summton die Tür auf. 112
Das Büro befand sich im ersten Stockwerk, ein schlichter eleganter Raum mit Schreibtischen und Schränken aus Teakholz, Ledersesseln und dem Geruch von Möbelpolitur. Miguel Castaneda, der Generalsekretär der Bruderschaft vom Blut Christi, saß auf dem aufwendigsten Sessel hinter einem riesigen Schreibtisch. Er wirkte wie mindestens siebzig, klein, stämmig, hatte ein faltiges, lederähnliches Gesicht und blinzelte sie durch rechteckige goldgerahmte Brillengläser unfreundlich an. »Nein. Die Antwort lautet nein, Herr Hauptkommissar. Unsere Mitgliederlisten sind eine Sache des Vertrauens zwischen der Bruderschaft und Gott. Keineswegs sind sie für den öffentlichen Gebrauch bestimmt.« Menéndez sah sich um. Die Wände waren mit alten Schwarzweißfotos bedeckt. Von vielen blickte Francos Gesicht weiß, gebieterisch, mitunter wie berauscht. Ein Bild zeigte den General in voller Uniform an der Spitze einer Büßerprozession, ein anderes im dunklen Anzug und mit gelangweilter Miene als Betrachter eines Umzugs. »Hier geht es nicht um öffentlichen Gebrauch, Don Miguel. Die Listen werden von der Polizei mit der gebotenen Vertraulichkeit behandelt, das kann ich Ihnen zusichern.« Castaneda räusperte sich. »Die Polizei, die Polizei. Vor dreißig oder vierzig Jahren hätten Sie eine solche Versicherung abgeben können. Aber jetzt nicht mehr. Sie sind Schachfiguren, Hauptkommissar. Diener dieses vergifteten Staates.« 113
»Wir sind Polizisten, Señor, die zwei Morde und einen Mordversuch untersuchen. Taten, die unseren bisherigen Erkenntnissen zufolge von einem Mitglied Ihrer Bruderschaft oder jemandem verübt wurden, der ihr sehr nahesteht. Es ist Ihre Bürgerpflicht, uns bei unseren Ermittlungen zu unterstützen.« »Pflicht?« zischte Castañeda, funkelte sie zornig an und ließ das Wort einen Moment lang im Raum nachhallen. »Pflicht? Sie wissen doch gar nicht, was dieses Wort bedeutet. Keiner von Ihnen weiß das mehr.« »Wir haben die Pflicht, die Einwohner dieser Stadt zu schützen«, sagte Menéndez. »Und um dieser Pflicht nachzukommen, müssen wir Einblick in Ihre Mitgliederlisten nehmen. Soweit ich weiß, ist jedes Ihrer Mitglieder unschuldig. Aber verstehen Sie denn nicht, daß jedes von ihnen als verdächtig betrachtet werden muß, solange wir es nicht einwandfrei entlasten können?« »Das ist eine absurde Feststellung, Herr Hauptkommissar. Was Sie selbst wissen müßten, wenn Sie kein Dummkopf sind, wovon ich nicht ausgehe. Die Ziele unserer Bruderschaft sind Wohltätigkeit, Traditionspflege, Gottesdienst. Und Pflichterfüllung. Ja. Wahre Pflichterfüllung. Sie verschwenden nur Ihre Zeit. Meine Zeit.« »Wir könnten einen gerichtlichen Beschluß erwirken. Aber das würde unnötig Zeit kosten. Sehr viel einfacher und diskreter wäre es, wenn Sie sich zur Mitarbeit bereit finden könnten.« »Versuchen Sie es. Haben Sie eigentlich eine Vor114
stellung, wer der Bruderschaft angehört? Das ist kein Straßenpöbel. Keine gemeinen Diebe, mit denen Sie es für gewöhnlich zu tun haben. Ich könnte hier und jetzt zum Telefon greifen und einen Ihrer Vorgesetzten anrufen. Ich könnte mich mit einer beliebigen Anzahl von höchsten Richtern in Verbindung setzen.« »Das bezweifle ich nicht. Allerdings auch nicht, daß sie ihre Verantwortung in dieser Angelegenheit kennen werden. Hier handelt es sich um offizielle polizeiliche Ermittlungen, und Sie können uns Ihre Unterstützung nicht verweigern.« »Sie scheinen nicht begreifen zu wollen, Herr Hauptkommissar. Es ist unvorstellbar, daß einer unserer Brüder Verbrechen, wegen der Sie ermitteln, auch nur in Erwägung ziehen würde.« Der Ekel in Castanedas Stimme war unüberhörbar. »Sie sind Polizist. Sie wollten wissen, wo Sie den Abschaum finden, der in diesen Kreisen verkehrt. Hier mit Sicherheit nicht.« »Und doch liegen uns gesicherte Beweise dafür vor, daß die Taten von jemandem begangen wurden, der die Kleidung Ihrer Bruderschaft trug.« »Hochstapler. Scharlatane.« »Aber warum sollte sich der Täter, die Täter ausgerechnet Ihre Bruderschaft aussuchen? Aus welchem Grund?« »Vielleicht läßt sich ein Kompromiß finden«, mischte sich Maria ein. »Wenn wir Ihnen bestimmte Details nennen, könnten Sie die mit Ihren Unterlagen vergleichen und uns dann sagen, ob es irgendwelche Übereinstimmungen gibt.« 115
Castaneda sah Menéndez an. »Ist die Frau Polizistin?« »Sie ist eine Zivilistin, die uns bei der Aufklärung dieses Falls hilft.« Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Unglaublich.« »Wir suchen nach jemandem mit engen Beziehungen zum Stierkampf«, sagte Torrillo. »Wie steht es damit?« »Ich bezweifle, daß es unter unseren Mitgliedern auch nur eins gibt, das nicht hin und wieder die Arena besucht.« »Und wie steht es um die Branche insgesamt? Gibt es Manager unter Ihren Mitgliedern, Schiedsrichter, Matadore?« fragte Menéndez. »Selbstverständlich. Aber wir drehen uns im Kreis. Um darauf genauer zu antworten, müßte ich Ihnen unsere umfassende Mitgliederliste zur Verfügung stellen, und das ist unmöglich.« »Und was ist mit ihm?« Torrillo deutete mit dem Kopf auf ein kleines Bild in der Ecke, das Werbeplakat für die Corrida am Ende der vorjährigen Semana Santa. Ganz oben auf der Teilnehmerliste und mit übergroßen Lettern standen die Worte »El Guapo«. Daneben war das Bild eines jungen Mannes mit blonden Haaren zu sehen, die gefärbt wirkten. Sein Lächeln enthüllte ein ebenmäßiges Gebiß. Eher ein Popstar als ein Matador, dachte Torrillo. In seiner – kurzen – Zeit der Arenabesuche hatten Toreros anders ausgesehen. »Weitere Stierkampfplakate kann ich hier nicht entdecken. Was ist mit Mateo? Sind Sie vielleicht ein Fan von ihm, Señor?« 116
Der alte Mann wand sich sichtlich. »Er ist ein sehr beliebter Matador. Manche Puristen schätzen sein Auftreten vielleicht nicht, aber es kommt mir nicht zu, das zu beurteilen.« »Gehört er der Bruderschaft an?« fragte Menéndez. Castaneda seufzte. »Jetzt wird es heikel. Die Mitgliedschaft ist vertraulich. Ich sage nichts darüber, aber mein Schweigen hat nichts zu bedeuten. Vielleicht ist er Mitglied, vielleicht nicht.« »Hält er sich zur Zeit in der Stadt auf?« »Ich nehme es an. In der Zeitung las ich, daß er in dieser Woche der erfahrenste Matador in der Arena sein wird. Er stammt von hier. Aber das ist kein Geheimnis. Also ja, ich gehe davon aus, daß er bereits hier ist.« Torrillo trat vor das Poster und betrachtete es sich genauer. Er rieb das billige, dicke Papier zwischen Daumen und Zeigefinger und starrte das Foto an, bis er die einzelnen Punkte sehen konnte, aus denen es sich zusammensetzte. »Don Miguel, er ist«, begann er sehr langsam, »ein sehr gutaussehender Junge. Wenn wir die Gäste der Parties überprüfen, an denen die ermordeten Brüder Angel teilgenommen haben … Halten Sie es für möglich, daß sich die drei da irgendwann begegnet sind?« Castaneda lachte polternd. »Wenn Sie damit das andeuten wollen, was ich vermute, Sergeant, könnten Sie gar nicht ferner liegen. El Guapo ist ein Kämpfer – im Leben ebenso wie in der Arena. Das gehört zum Beruf, wie man so sagt. Aber verlassen 117
Sie sich nicht auf mein Wort. Finden Sie es selbst heraus. Tun Sie, was Sie tun müssen. Ich betrachte unsere Unterhaltung als beendet.« »Das werde ich an höherer Stelle melden müssen«, sagte Menéndez. »Wie es Ihnen beliebt. Ich habe zu arbeiten.« Er brachte sie zur Tür, und sie liefen zur Treppe. Unten angekommen, verzog Torrillo das Gesicht und trat fluchend gegen die Wand. »Was haben diese alten Kerle nur? Er hat doch nichts zu verbergen. Warum kann er uns denn nicht unterstützen?« »Er wird es tun«, erwiderte Menéndez. »Er will uns nur dazu zwingen, etwas dafür zu tun, das ist alles.« Maria blickte sich um, sah einen Hinweis auf servicios und sagte: »Würden Sie mich bitte einen Moment entschuldigen?« Menéndez nickte. »Wir warten.« Sie folgte dem Hinweisschild, kam zu einer durch eine Frauensilhouette mit Fächer gekennzeichneten Tür und trat in Sie hängte ihre Tasche an den Haken, streifte ihre Jeans hinunter und setzte sich. Durch den Spalt über der Tür roch sie kräftigen Tabak. Der Rauch drang in den winzigen Waschraum, hing wie eine graue Wolke unter der Decke und trieb träge durch das halbgeöffnete Fenster ins Freie. Sie trat vor das kleine Becken, wusch sich die Hände mit einem rosafarbenen, feuchten Stück Seife und trocknete sie an einem verschlissenen grünen Handtuch ab, rieb sie sich gewohnheitsmäßig noch einmal an ihren 118
Jeans, griff nach ihrer Tasche, schob den Riegel der Tür zurück und drückte auf die Klinke. Nichts rührte sich. Die Tür ließ sich zwar einen Spalt aufschieben, federte aber sofort wieder zurück. Irgend etwas blockierte die Tür, etwas, das leicht nachgab, wenn sie dagegen drückte. Der Tabakgeruch wurde beißender. Maria spürte, wie es ihr kalt über den Rücken rieselte. Warum? fragte sie sich verwundert. Erneut stemmte sie sich gegen die Tür. Sie gab ein bißchen weiter nach, fünf Zentimeter vielleicht. Sie sah den sonnengefleckten Kachelfußboden und noch etwas, den Rand irgendeines Gegenstands, bevor sich die Tür sanft, aber fest wieder schloß. Maria versuchte, sich das Ganze zu erklären, und fragte sich, ob sie nach Torrillo und Menéndez rufen sollte. Aber sie konnten sie mit Sicherheit nicht hören. Sie sah zum Fenster. Aber das war zu klein, um hindurchzukriechen. Außerdem hatte sie keine Ahnung, wohin es führte. Wieder drückte sie auf die Klinke, stemmte sich mit aller Kraft ihres zierlichen Körpers gegen die Tür. Wieder ließ sie sich ein paar Zentimeter aufdrücken. Als sie es erneut und noch energischer versuchte, flog die Tür auf. Sie verlor das Gleichgewicht, kippte nach vorn, sah schon den gekachelten Fußboden auf sich zukommen. Sie fiel, schlug mit den Knien auf, rollte herum, um den Aufprall abzufedern, und fand sich mit angezogenen Knien, Hände um die Schienbeine gekrallt, im Schatten eines von Kopf bis Fuß in scharlachrotes Tuch gehüllten Riesen wieder, der sie aus schmalen Augenschlitzen anstarrte. 119
Er war ungeheuer groß, anonym, tödlich bedrohend. Der Gigant nahm die Hände aus den Falten des Gewandes, und Maria stellte fest, daß sie schrie – ohne zu wissen, wann sie den Mund geöffnet hatte. Sie schrie aus Leibeskräften, rollte sich über den Boden, versuchte verzweifelt, der drohenden Gestalt zu entkommen, schlug mit beiden Händen um sich. Ihre Handtasche flog auf und verstreute ihren Inhalt über die Fliesen. Sie sah, wie sich seine Finger langsam streckten, tödlich langsam, sah weiße Haut, dunkle, pelzartige Haare, sah große, fettige Poren. Und sah, daß die Hände leer waren, bevor es dunkel um sie wurde. Torrillo stürmte als erster durch die Tür. Sie lag auf dem Boden und schrie. Mit erhobenen Händen stand der Mann mit dem Rücken zur Toilettentür, Torrillo zwischen ihnen. Keuchend, mit tränenüberströmten Wangen richtete sie sich auf. »Polizei«, herrschte Torrillo den Mann an. »Alles in Ordnung?« erkundigte sich Menéndez besorgt. »Er hat mich erschreckt.« Der Mann nahm die Kapuze ab. Er war etwa dreißig Jahre alt, hatte einen sauber gestutzten Vollbart, einen gesunden Teint und hellbraune, leicht wirre Augen. Er schwankte leicht hin und her. »Mir fehlt nichts«, sagte Maria. Sie wischte sich Staub von den Jeans, zupfte ihre Bluse zurecht und stopfte ihre Habseligkeiten in die Tasche zurück. »Er hat mich erschreckt, das ist alles. 120
Ich konnte nicht hinaus. Als es mir endlich gelang, stand er da. Es geschah alles blitzschnell.« »Ich wußte nicht, daß jemand da drinnen war«, sagte der Mann. »Das Männerklo war zu – verschlossen, was weiß ich. Deshalb habe ich gewartet, ob bei ›Damen‹ jemand rauskommt. Vermutlich bin ich nicht ganz bei mir.« Die Stimme hörte sich leicht berauscht und gewöhnlich an. »Ich wollte niemandem Angst einjagen. Wir haben da draußen bei dem Umzug so gepichelt, daß ich unbedingt pi… die Toilette aufsuchen mußte. Ich wollte sie nicht erschrecken.« Torrillo grunzte etwas Unverständliches und filzte ihn von Kopf bis Fuß. Aus einer Tasche in der Kutte holte er einige Münzen, Autoschlüssel, ein paar tausend Pesetas, eine Packung Zigaretten, ein billiges Feuerzeug und einen Ausweis. Torrillo sah erst das Bild, dann den Mann an. Es entsprach ihm. Er schrieb sich den Namen des Mannes in sein Notizbuch. Der Mann faßte sich in den Schritt. »’tschuldigung, aber es ist wirklich dringend. Sie füllen einen auf diesen Umzügen buchstäblich ab.« Menéndez nickte in Richtung Tür. »Danke, Señor.« Er hielt seine Kapuze in einer Hand. Noch bevor er die Tür erreicht hatte, hob er mit der anderen sein Gewand. Maria sah Sandalen, blaue Socken, weiße, behaarte Beine, dann cremefarbene Unterhosen. Der Mann stolperte in die Toilette, schlug die Tür halb zu. Dann hörten sie ein erleichtertes Aufstöhnen und ein sprudelndes Rauschen. 121
Sie sah Menéndez an. »Offenbar leichter Anfall von Panik. Tut mir leid«, sagte sie bedrückt. »Da draußen laufen an die zweitausend dieser Typen nerum«, erwiderte er. »Sie können nicht jedesmal in Panik geraten, wenn Sie einen von ihnen erblicken.« »Nein.« Aber Torrillo bemerkte, daß sie noch immer Tränen in den Augen hatte. Die Männer verließen das Gebäude, voran, damit sie sich sammeln konnte. Sie folgte ihnen durch die schmale Gasse, sah, wie sich Torrillo wieder unter dem Torbogen bücken mußte, und setzte sich in den Fond. »Wieder alles in Ordnung«, sagte sie. »Gut.« Menéndez nickte. »Auf der Pressekonferenz sind vermutlich auch Kameras. Das sollte man nicht vergessen.« Der Mann in der roten Kutte wartete, bis sie außer Hörweite waren, wartete weitere fünf Minuten, ging zur Außentür und schob den Riegel vor. Dann trat er zurück in den Waschraum und betrachtete sich lächelnd im Spiegel. Ganz ruhig. Keine Angst. Kein Zittern. Ganz gelassen, sicher. Er versuchte sich an das zu erinnern, was er bei seinem letzten Ausflug erlebt hatte, bemühte sich, die Erinnerungen in seinem Kopf zu sortieren, denn alles war so schnell gegangen. Zu schnell. Dann zog er er sich die spitze Kapuze wieder über den Kopf und verließ die Damentoilette. Er zog den Schlüsselbund hervor, den Torrillo betrachtet hatte, öffnete mit dem rechten Schlüssel das Einsteckschloß zum 122
Männer-WC, trat ein und griff zu dem Paket, das er hinter dem Wasserkasten versteckt hatte. Es war in Öltuch eingeschlagen und einen knappen Meter lang. Er öffnete es, holte ein Paar Gummihandschuhe heraus und streifte sie sich sorgfältig über. Dann lief er zum Büro hinauf, in dem Miguel Castaneda kerzengerade auf seinem Sessel saß und wütend ins Telefon sprach. Er drückte die Tür auf, und der Hörer flog auf die Gabel. Der alte Mann wirkte wie ein kleiner alter Stier – nußbraun und schnaubend vor Zorn. »Wer zum Teufel sind Sie?« rief er mit sich überschlagender Stimme. »Sie können hier nicht einfach so hereinkommen. Sie haben gefälligst anzuklopfen.« Der Mann griff in die Öltuchrolle und zog den ersten Pfeil heraus, spürte das Metall kalt, hart und beruhigend durch den Plastikhandschuh, hob den Arm und fühlte, wie sich die Muskeln spannten. Das kleine Geschoß zischte durch die Luft, erst schwarz, dann silbern, als es durch den Schatten der Jalousetten flog. Castaneda öffnete den Mund zu einem Schrei, als der Pfeil sein linkes Brillenglas zerschmetterte, die Hornhaut durchbohrte, in der Augenhöhle steckenblieb und ihn aus seinem Ledersessel nach hinten schleuderte. Der Lärm. Es war viel zu laut. »Scheiße«, sagte der Mann. Er ließ seine Werkzeuge auf den Boden fallen, ergriff das Schwert und trat hinter den Schreibtisch. Der alte Mann krümmte sich verzweifelt und zerrte 123
den Pfeil aus seinem Kopf. Blut und Schleim tropften aus der zerfetzten Augenhöhle. Castaneda zuckte hektisch, gab gurgelnde Geräusche von sich, versuchte zu schreien. Der Kapuzenmann stieß dem alten Mann das Schwert in die Kehle, durchschnitt seine Luftröhre, durchtrennte den Hals bis zum Rückgrat. Ein Blutstrom schoß die Klinge empor. Ihre Spitze durchdrang den Teppich, durchbohrte die Dielen, nagelte Castaneda am Boden fest. Der alte Mann lag auf dem Rücken, rührte sich kaum, gab nur noch leise gutturale Töne von sich. Um ganz sicher zu gehen, lehnte sich der Mann mit seinem ganzen Gewicht auf das Schwert, drückte es noch tiefer in den Boden. Dann ging er zur Öltuchrolle zurück, wählte weitere Utensilien aus, drehte sich wieder um und betrachtete sein Werk. Es war nicht vollkommen, aber selbst in der Arena konnte man nicht immer alles richtig machen, selbst in der Arena gab es unvorhersehbare Umstände. Der Kapuzenmann wischte sich die Hände an seiner Robe ab, hob zwei weitere Pfeile sowie einen aus Zaunmaterial gefertigten Spieß auf und machte sich daran, sein Werk so kunstvoll zu vollenden, wie es die Situation zuließ. Zwanzig Minuten später, nachdem er die Aktenschränke durchstöbert hatte, ging er die Treppe wieder hinunter und betrat die Toilette. Er legte Kutte und Kapuze ab, holte die Sporthosen und das blaßblaue Hemd aus dem Plastikmüllsack, den er hinter dem Wasserkasten verstaut hatte, wusch sich 124
das Blut von Armen und Händen, entfernte sein Makeup sowie den theatralischen Bart und betrachtete sich im Spiegel. Er steckte das Kostüm in den Plastiksack und wickelte ihn in das Öltuch ein. Er verstaute die Unterlagen aus den Aktenschränken in einer zerknitterten Supermarkttüte, sah sich noch einmal um, ob er auch nichts vergessen hatte, und verließ den kleinen Raum. Auf seinem Weg zum Ausgang sah er etwas auf dem Boden liegen. Er bückte sich, hob es auf und steckte es in seine Tasche. »Blöde Bullen«, sagte er. Dann trat er in die strahlende Nachmittagssonne hinaus und wanderte gemächlich durch den barrio, auf der Suche nach Müllcontainern. Als er einen fast vollen gefunden hatte, vergewisserte er sich, daß er unbeobachtet war, und schob das Öltuchbündel unter die oberste Müllschicht. Er trat einen Schritt zurück. Das Paket lag wohlverborgen unter einem Sammelsurium verrottender Lebensmittel, leerer Weinflaschen und Ölkanister. Er lief zehn Minuten in einen anderen barrio, setzte sich in ein kleines Café und bestellte das Tagesmenü: sopa de picadillo, chuleta de cerdo con patatas, Karamelpudding und eine halbe Karaffe Rotwein. Sechshundert Pesetas. Während er auf das Essen wartete, rief er über den Münzfernsprecher die Müllabfuhr an und forderte einen vorrangigen Abtransport des Containers, den er gerade benutzt hatte. Er sei überfüllt und verbreite penetrante Gerüche. Der Angestellte versprach, noch am Nachmittag für Abhilfe zu sorgen. 125
Nachdem er gegessen hatte, lief er in einen anderen Bereich des barrio, schloß eine schmale Haustür auf und lief die Treppen hinauf in eine ordentliche, weißgetünchte Zweizimmerwohnung, duschte, zog sich etwas Sauberes an, goß sich ein Glas Mineralwasser ein, setzte sich auf das billige Habitat-Sofa, schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle. Die Pressekonferenz wurde live auf Kanal 8 übertragen. Die Medien hatten inzwischen einen Namen für ihn: El Matador. Er lächelte. Das gefiel ihm. Die Bullen erschienen auf dem Bildschirm, der große Schweigsame, der Alte, der Capitán. Sie sprachen von Sicherheitsvorkehrungen, Wachsamkeit und der Notwendigkeit von Informationen und Hinweisen. Sie nannten eine gebührenfreie Telefonnummer und sicherten Vertraulichkeit zu. Ihren Mienen, ihren gelassenen Gesichtern entnahm er, daß sie noch nichts von Castaneda wußten. Die Kamera schwenkte zur Seite, und zum ersten Mal konnte er sehen, daß sie hinter ihnen stand. Aufmerksam, konzentriert, die Haare locker nach hinten gekämmt und mit einem Band zusammengehalten, klarer, blasser Teint. Sie sah anders aus als die Frauen, die er kannte, die kleinen Straßenschlampen. Dann drehte sie den Kopf und blickte direkt in die Kamera, durch sie hindurch, sah ihn an, forschend, verwundert. Einen Moment lang hielt die Welt den Atem an, das Summen in ihm verstummte. Er kam innerlich zur Ruhe. War allein mit ihr. Ein gutes Gefühl. 126
Er streckte die Hand nach seinem Jackett aus, griff in die Innentasche und zog das Adreßbuch heraus. Es hatte einen glänzenden Plastikeinband mit Blumenmuster und war nicht sehr dick. Die meisten Seiten waren leer, die wenigen Eintrage mit schwarzer Tinte geschrieben, in einer feinen, weiblichen Schrift. Die Adressen befanden sich alle im Norden des Landes. Er schlug die erste Seite auf. Dort standen ihr Name, eine Adresse in Salamanca, eine Dienstnummer, eine Privatnummer, eine Faxnummer, eine E-mail-Nummer. Auf derselben Seite stand auch eine Adresse hier in der Stadt, nicht weit von der Stelle entfernt, an der er sich gerade befand, mit einer Telefonnummer. Er schloß das Buch, befühlte das Äußere, sah die Frau auf dem Bildschirm an, die ihre Hände züchtig vor sich gefaltet hatte. Er dachte daran, wie oft diese Finger das Buch berührt haben mußten, und fragte sich, wie viele der Eintragungen ihre Liebhaber betrafen, fragte sich, was sie in den langen, dunklen Nächten miteinander getrieben hatten. Er sah sie sich auf dem Schirm genau an und versuchte sich vorzustellen, wie sie wäre, wie sich ihre Haut anfühlte, wie es sein würde, hart in sie hineinzustoßen und zu spüren, wie sich ihr Körper öffnete, sanft, feucht, wie eine erblühende Rose. Als er hart genug war, begann er langsam vor dem Fernseher zu masturbieren, eine Hand an seinem Penis, in der anderen das Adreßbuch. Die Übertragung wurde durch Werbung unterbrochen: »… vergessen Sie Ihre Sommer-Casera nicht, kaufen Sie sich 127
jetzt einen Renault Clio, trinken Sie ein Glas Osborne und machen Sie die Bekanntschaft attraktiver Frauen.« Er spürte es kommen, fühlte, wie die Spannung zunahm. Er strich mit dem kleinen Buch sanft über seinen Penis, spürte den glatten, kühlen Einband an seiner Haut. Dann, kurz davor, schlug er das Buch in der Mitte auf und hielt es unter den rosafarbenen, zuckenden Peniskopf. Es ergoß sich über die ganze Seite, mit einem kurzen heftigen Strahl, der ihn flüchtig zusammenzucken ließ. Er zog ein Zellstofftuch aus der Schachtel auf dem Tisch und wischte den Samen sorgfältig von der Seite. Die Tinte einer Adresse irgendwo in Madrid wirkte verschwommen. Er betrachtete seine Finger, entdeckte Blutreste im Nagelbett, schüttelte pikiert den Kopf, ging ins Bad und suchte nach einer Nagelbürste.
12 »El Matador. El Matador? Himmel. Das ist der Gipfel. Genau das, was wir brauchen. Semana Santa. Touristen. Spinner. Trunkenbolde. Als wäre das nicht schon schlimm genug. Nun setzt die Presse allem noch mit El Matador die Krone auf. Wer denkt sich so etwas nur aus?« Torrillo redete vor sich hin, zum Fenster hinaus, während das Auto die Vororte durcheilte. Menéndez 128
hockte auf dem Beifahrersitz, am Autotelefon, sprach gelegentlich mit jemandem, machte sich Notizen. Maria saß auf dem Rücksitz und sah die Welt an sich vorbeisausen. Sie befanden sich in einem Teil der Stadt, den Touristen nie zu Gesicht bekamen. Schäbige, vernachlässigte Hochhauskomplexe ragten zwischen Schrottplätzen und Müllhalden empor. Braune Gestalten in abgerissener Kleidung liefen langsam und ziellos umher. Einige stöberten im Abfall und suchten das heraus, was noch verwertbar war. Sie kamen an einer Olivenpresse vorbei, und die Luft füllte sich mit durchdringendem, beißendem Gestank. Neben der Straße türmten sich die trockenen, bräunlichen Olivenreste, sieben bis acht Meter hoch. Weitere kleine Gewerbebetriebe, eine Reifenfabrik, Autoschrottplätze. An einem Straßenstand wurden Orangen, Melonen, Avocados und Tomaten verkauft. Sie ließen die Hochhäuser hinter sich, dann verschwanden auch die Betriebe. Nur kleine Gemüseparzellen auf rötlicher Erde, hin und wieder ein Schuppen. Schwarzgekleidete Männer und Frauen bearbeiteten das Land. Gebückt, die Köpfe mit ausgefransten Strohhüten vor der Sonne geschützt, hackten sie die Erde auf. Menéndez’ Telefongespräch schien kein Ende zu nehmen. Torrillo ließ seiner Verärgerung freien Lauf. Wird mich diese Sache heute schlafen lassen? fragte sich Maria. Und aus dem Nichts, aber scharf wie eine Sichel, schlug die Erinnerung zu. Die grüne Maske und die roten Samtwände. Sie dachte an die Zeit vor zwei Jahren, als Luis aus 129
dem Krankenhaus zurückkam und ihr von den Untersuchungsergebnissen berichtete. Sie hatten an dem kleinen Küchentisch gesessen, an dem Tisch, an dem sie, gerade eine Woche zuvor, sich endlich doch für Kinder entschieden hatten, um sich, wie er sagte (nicht sie, nein, sie nicht) zu »vervollständigen«. Man konnte es spüren: unbekannt, unsichtbar, lebensbedrohend. Diese Sache war von irgendwoher (woher?) gekommen, in seinen Körper eingedrungen und hatte von ihm Besitz ergriffen. Diese Sache, die sie nicht kannten, nicht benennen konnten, diese Sache, die ihn verzehrte. An diesem Abend hatte sie ihm über den Tisch hinweg ins Gesicht geblickt und seinen Tod gesehen. Da war etwas hinter seinen hellen grauen Augen, etwas, das bereits starb. Sein Gesicht – so voll, so gesund – bekam Falten. Seine Haut wurde fahl. Und die Untersuchungsergebnisse hatten nichts ergeben, nur die Tatsache, daß er starb, an irgendeiner inneren Auszehrung, einem mysteriösen Geschwür, das sein Zellgewebe zerstörte, seine Muskelfasern, seine Nerven, seine Energie, seine Lebenskraft. Nachdem sie keine Worte mehr hatten, waren sie ins Bett gegangen und hatten sich geliebt, langsam, freudlos, überzeugt, daß es das letzte Mal sein würde. Doch da irrten sie. Zwei Wochen lang, vielleicht drei – sie wußte es nicht mehr genau, denn diese Tage entzogen sich irgendwie ihrer Erinnerung – hatte er sich an die Normalität geklammert, und die Nähe seines Todes schien ihr Verlangen zu steigern. Morgens, nachmittags, abends griff er plötzlich nach 130
ihrer Hand, und sie folgte ihm. Doch das war nicht einfach sexuelles Verlangen. Es war eine Trotzreaktion, ihre Art, dem Tod die Stirn zu bieten. Ihre Art, sich nicht widerstandslos abzufinden. Dann schlug die Krankheit, diese Sache zurück. Er verging, vor ihren Augen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie er in diesen letzten Wochen ausgesehen hatte. Irgend etwas in ihr blockierte die Vorstellung des hageren Gesichts, des ausgezehrten Körpers, der ausgelaugten Hülle eines menschlichen Wesens, das reglos auf einem Krankenhausbett lag, leblos, mit stumpfen Augen, wie Blei im blaßgrauen Licht des Nachmittags. Zwölf Wochen nach jenem Abend an dem Küchentisch war er gestorben. Sie hatte tage- und nächtelang an seinem Bett gesessen, seine Hand gehalten und das graue, kalte Pergament gefühlt, das einst seine Haut gewesen war. Und dann hatte er einfach aufgehört zu existieren, aufgehört zu atmen. Eine Woche vor seinem Tod hatte sie im Bad gesessen und beobachtet, wie sich ihr Urin in dem kleinen Plastikbehälter verfärbte, während ihr Tränen der Wut über die Wangen liefen. Da war er noch bei klarem Bewußtsein gewesen, aber sie hatte es ihm nicht gesagt. Was hätte sie auch sagen sollen? Daß das Leben etwas war, was man so einfach weitergeben konnte wie die Rolle des Fängers beim Einkriegen auf dem Kinderspielplatz? Nach der Beerdigung, einer kleinen Feier, an die sie sich kaum erinnern konnte, fuhr sie zum Flughafen, flog nach Madrid, nahm die Maschine nach 131
London, landete in Heathrow, fuhr mit der U-Bahn in die Stadt und bezog ein Hotelzimmer. Sie hatte sich die Telefonnummer vom Plakat auf der U-BahnStation aufs Handgelenk geschrieben und rief dort an, sobald sie das Hotelzimmer betreten hatte. Am nächsten Morgen hatte man sie aufgenommen und am folgenden Tag den Eingriff durchgeführt. Sie erinnerte sich daran, wie sie dem Rücken lag, an die weiße Decke starrte und sich dazu zwang, sich in ihrer hellen Leere zu verlieren, sich bemühte, nicht auf die Wände zu blicken, die roten Samtwände. Ein anonymes Gesicht hinter einer hellgrünen Maske beugte sich über sie. Ein leichtes Stechen in ihr, zu schwach, um als Schmerz bezeichnet zu werden, und dann war es vorüber. Innerhalb weniger Minuten war alles vorbei. Als sie ein wenig unsicher den Raum verließ, sah sie in einer Operationsschale eine kleine Blutlache und Gewebe, sah, daß die Gestalt mit der grünen Maske sie bemerkte und einer Krankenschwester etwas zurief. Sie griff nach der Schale und schüttete den Inhalt in einen Container neben den Waschbecken. Es war vorbei. Zwei Tode in ebenso vielen Wochen, und der Rest des Jahres verschwand hinter Nebelwänden. Bis auf die Träume: eine kleine Lache aus Blut und Gewebe liegt auf einer silberfarbenen Schale. Bewegt sich. Und schließlich starb auch das. Oder schlief nur ein. Die grüne Maske und die roten Samtwände. Maria konzentrierte sich wieder und stellte fest, daß sie sich auf dem offenen Land befanden. Das Licht ging in das sanfte Gold des Nachmittags über. 132
Menéndez hatte den Hörer aufgelegt und kritzelte angestrengt vor sich hin, während der Wagen über die ungepflasterte Landstraße holperte. Er schien zu spüren, daß sie aus ihren Erinnerungen aufgetaucht war. »El Guapo, dieser Stierkämpfer, hält sich bereits seit vier Tagen in der Stadt auf«, sagte Menéndez. »Quemada und Velasco suchen gerade nach ihm und überprüfen die Bekannten der Brüder Angel. El Guapos richtiger Name ist Jaime Mateo. Er stammt aus El Viejo. Vielleicht gibt es da eine Verbindung. Caterina Lucena wurde heute morgen in ein Krankenhaus gebracht. Es besteht Verdacht auf Lungenentzündung.« »Hat die Pressekonferenz schon irgend etwas ergeben?« fragte Maria. »Ein halbes Dutzend Anrufe. Meistens Wichtigtuer, vermutlich. Wir gehen ihnen nach.« »Hat sich Castaneda schon an höherer Stelle beschwert?« »Nicht, daß ich wüßte.« Torrillo lachte. »Interessant. Er kam mir so vor, als würde er sich sofort an seine Freunde in den roten Kutten wenden, sobald er nur einen Strafzettel fürs Falschparken bekommt.« Menéndez dachte einen Moment darüber nach und nickte. »Nichts Neues von der Spurensicherung?« »Nichts, was wir nicht schon wüßten. Keine Fingerabdrücke. Nichts Auffälliges an den Waffen, was darauf hinweisen würde, daß man sie nicht auf jedem Markt kaufen kann.« 133
Torrillo schüttelte den Kopf. »Ist dieser Mann so ausgebufft oder hat er nur Glück?« »Vielleicht beides«, sagte Maria. Sie starrten sie jetzt nicht mehr sofort an, wenn sie etwas sagte. Die Szene im Gebäude der Bruderschaft schien sie irgendwie mit ihnen zusammengeschweißt zu haben. Oder vielleicht hatten sie auch nicht genügend Zeit, lange darüber nachzudenken, nicht genügend Zeit, sie von ihrer Arbeit fernzuhalten. »Vielleicht«, sagte Menéndez. »Von heute an kommt die Karwoche richtig in Schwung«, meinte Torrillo. »Heute abend beteiligen sich an die zwölfbis fünfzehntausend Leute allein an den Prozessionen überall in der Stadt, in fünfzehn bis zwanzig verschiedenen Gemeinden. Besser könnte er gar nicht untertauchen. Großer Gott: Wir hätten größere Chancen, wenn er sich als Kellner verkleiden würde. Er ist ungemein schlau.« »Dann können wir nur hoffen, daß seine Glückssträhne abreißt«, sagte Menéndez. Das Auto bog von der Straße ab, mühte sich weitere vierhundert Meter über eine staubige Schotterpiste und hielt vor einem kleinen, lehmbraunen Bauernhaus. Auf der Veranda konnte Maria auf einem großen Rohrsessel die Gestalt eines alten Mannes mit weißem Hemd und hellgrauen Hosen ausmachen. Er hatte sich einen Strohhut über die Augen gezogen. Torrillo schmunzelte. »Das wird Ihnen gefallen. Glauben Sie es mir, es wird Ihnen bestimmt gefallen. Zu seiner Zeit war der alte Manolo einer der besten 134
Stierkämpfer weit und breit. Ein richtiger Stierkämpfer, keiner der Hollywoodtypen, die man heutzutage zu sehen bekommt. Also sparen wir uns El Guapo besser bis zum Ende der Unterhaltung auf, ja? Ich habe so das dumpfe Gefühl, daß seine Erwähnung die Fetzen fliegen lassen könnte.« Sie stiegen aus und gingen auf die schattige Veranda zu. Und abrupt schoß es ihr wieder durch den Kopf. Wird mich diese Sache heute abend in den Schlaf kommen lassen? Reglos saß Manolo Figuera auf seinem Rohrsessel. Bei ihrer Ankunft war er im Haus verschwunden und mit einer Flasche Weißwein, einer Schale Eiswürfel und einem Teller Oliven zurückgekehrt. Er hatte alles auf einem kleinen Rohrgeflechttisch abgestellt und sie gebeten, Platz zu nehmen. Das Haus und der rissige helle Holzboden wirkten hinfällig und alt. Wie Figuera selbst. Vor dem Haus wuchsen ein paar Tomaten, eine Handvoll Auberginen. Ein Wassertank war halb gefüllt, seine Oberfläche dunkelgrün, algendurchzogen. Über ihnen schossen Mauersegler unter dem azurblauen Himmel dahin, stießen hohe Zwitscherlaute aus. »Haben Sie mich kämpfen sehen?« fragte er. Maria und Menéndez schüttelten die Köpfe. »Da ist Ihnen viel entgangen«, sagte Torrillo. »Als ich ein Junge war, nahm mich mein Vater mit zur Corrida. Hier. Manchmal in El Puerto, einmal auch in Rondo. Zur Fiesta. Das war schon … etwas.« Figuera lächelte. »Das war wirklich etwas. Aber 135
das ist lange her. Kaum jemand erinnert sich noch daran. Für wie alt halten Sie mich?« Maria musterte ihn. »Siebzig?« Er lachte. »Zweiundachtzig. Zweiundachtzig«, sagte er und zeigte sehr weiße, künstliche Zähne. »Ich laufe tagtäglich viereinhalb Kilometer. Um meine Tochter im Dorf zu besuchen. Ich halte das Haus in Ordnung, ich ziehe ein bißchen Gemüse. Man lebt sein Leben wie in der Arena, und nachdem man in der Arena aufgehört hat, lebt man für immer so weiter. Nun …« Er zeigte auf den Tisch, goß Wein in vier Gläser und ließ einen Eiswürfel in sein eigenes Glas fallen. Maria hätte fast nach Luft geschnappt. Der Montilla war so kalt, daß er nahezu jeden Geschmack verloren hatte. Er war nur ein hartes, körniges Gefühl auf der Zunge. »Ich war kein Star. Dafür kämpfte ich zu traditionell. Selbst damals waren mit der Tradition keine Massen anzuziehen. Aber die Puristen, die aficionados, die haben mich gemocht. Die Massen zogen die gutaussehenden Jungs vor, die flirteten und ihre Mätzchen machten. Nicht so ausgeprägt wie heute. Aber die Anfänge waren bereits da. Ich hatte mein Auskommen. Mein Haus gehört mir, es ist kein Prachtbau, aber wenn ich sterbe, hinterlasse ich keine Schulden.« »Don Manolo«, sagte Menéndez, »wir brauchen Ihren Rat.« Figuera griff nach ein paar Oliven und hörte genau zu. 136
»In der Stadt ist es zu einem Verbrechen gekommen, vielleicht sogar zu mehreren, die in irgendeinem Zusammenhang mit dem Stierkampf zu stehen scheinen. Mein Sergeant Torrillo hofft, daß Sie uns zu einem … besseren Verständnis verhelfen können.« »Verständnis? Wenn ich kann. Aber ich bin ein alter Mann. Ich komme nur noch selten in die Stadt. Und zu den Stierkämpfen gehe ich gar nicht mehr, mit Ausnahme der romería in Rondo, und das mehr aus Gewohnheit als aus Freude.« »Wie auch immer. Dennoch würde ich Ihren Rat sehr schätzen.« »Zu welchem Thema?« Menéndez spielte mit seinem Glas, ließ den Wein darin sanft kreisen. »Wir haben es mit einem Mann zu tun, der zwei Menschen ermordet hat, einen dritten töten wollte und dabei Methoden anwendet, die ich nur als Imitation der Corrida beschreiben kann.« »Sie meinen, er tötet Menschen in der Arena?« »Nein. Aber er benutzt die Waffen – die Pfeile, die Lanzen, das Schwert. Es ist ein Versuch, die Tode wie die in der Arena aussehen zu lassen.« Figueras Gesicht wurde ausdruckslos. Die Muskeln erschlafften, seine Wangen sackten herab. Er streckte die Hand nach dem Tisch aus, griff nach einer Sonnenbrille und setzte sie auf. »Mitunter ist es für meine alten Augen zu hell. Reden Sie bitte weiter.« »Wir würden vor allem gern wissen, ob Ihnen ein Fall bekannt ist, bei dem jemand aus Stierkämpfer137
kreisen – ganz gleich in welcher Position – vielleicht Ähnliches getan hat.« »Haben Sie keine Archive?« »Doch. Wir haben Archive. Aber sie reichen nur ein paar Jahre zurück. Der Papierkram wurde in dieser Stadt schon immer recht gern vernachlässigt. Wir kennen keine Parallelen, und selbst wenn es sie gibt, wären sie schwer aufzufinden. Und falls es sie irgendwo anders gegeben hat, wäre es ganz unmöglich. Sie sind im Verlauf Ihrer Karriere in ganz Spanien herumgekommen. Sie kennen viele Leute. Wozu wir unter Umständen ein Jahr brauchten, können Sie uns vielleicht gleich sagen.« Hinter der Sonnenbrille war nichts zu erkennen. Der alte Mann leerte sein Glas, füllte es erneut, ließ zwei Eiswürfel hineinfallen. »Beim Stierkampf geht es um Ehre. Nicht um Verbrechen. Selbst heute noch, selbst für die geschniegelten Jungs, die man auf dem Bildschirm sieht – oh, ich habe Fernsehen, einen Videorecorder –, selbst für sie ist es eine Sache der Ehre. Ohne Ehre sind Sie in der Arena zum Scheitern verurteilt. pas versteht sich von selbst. Sie reden von Verbrechen. Sie wissen, daß der Stierkampf nicht gegen Gesetze verstößt. Der Präsident könnte, wenn er das wollte, jeden Matador, der sich weigert, gegen den Stier zu kämpfen, hinter Gitter bringen. Das wäre ein Verbrechen, und obwohl mir derlei zu Ohren gekommen ist, habe ich es selbst noch nie erlebt. Aber ein Verbrechen, wie man es tagtäglich auf den Straßen erlebt? Niemals. Das ist ganz ausgeschlossen.« 138
»Aber es braucht kein Matador gewesen zu sein«, sagte Torrillo. »Es könnte ein anderer gewesen sein. Vielleicht ein Picador. Vielleicht ein Organisator.« »Niemand, aber auch niemand, der in der Arena auftritt, würde so etwas tun. Aus welchem Grund? Und was den Anhang betrifft, nun, vielleicht, doch das überzeugt mich nicht. Da geht es um läßliche Vergehen. Unterschlagung, Bestechlichkeit, da steckt man sich hier und da etwas in die Tasche. Aber nach meiner Erfahrung nie mehr als das. Das sind kleine Leute, notwendige Leute, nehme ich an, aber doch kleine Leute. Bankangestellte. Buchhalter. Anwälte. Kleine Leute. Wissen Sie, wie es ist, einen Stier mit einem Schwert zu töten? Nein. Niemand weiß es, bevor er es getan hat. Es ist eine Frage der Stärke – körperlicher und geistiger. Einen Menschen auf diese Weise zu töten … Das kann ich mir nicht vorstellen. Dazu müßte man aus Stahl sein. Und das sind diese kleinen Leute nicht.« Er stellte sein Glas ab. »Sie sagten, er hätte mehr als einen Menschen auf diese Weise getötet?« »Ja. Zwei, von denen wir wissen. Und bei einem dritten hat er es versucht.« »Und Sie vermuten, daß er erneut töten könnte?« Menéndez trank sein Glas aus und goß sich neu ein. »Sie durchschauen uns so gut, wie Sie Ihre Stiere durchschauten, Don Manolo.« »Ein Hauptkommissar der Polizei macht sich mit seinem Sergeanten und seiner charmanten Begleiterin nicht den langen Weg, nur um mit einem alten Mann über unbedeutende Dinge zu reden.« 139
»Wir glauben, daß die Ereignisse irgendwie mit der Semana Santa verknüpft sein könnten, und, ja, wir befürchten, daß es sich zu einer Serie auswachsen könnte.« »Ja.« »Es gibt da einen weiteren Aspekt. Es sieht so aus, als würde der Täter Büßergewänder anziehen, eine Verkleidung höchstwahrscheinlich. Scharlachrote Kutten, die wir für die Roben der Bruderschaft vom Blut Christi halten.« »Ah.« Sie warteten. Gespannt, aber vergeblich. »Sagt Ihnen das irgend etwas, Don Manolo?« fragte Menéndez schließlich. »Es sieht so aus, als hätte ich den ganzen Wein getrunken, Herr Hauptkommissar. Es ist ein heißer Tag, aber das sieht mir gar nicht ähnlich. Vielleicht kann die Señora eine neue Flasche aus dem Kühlschrank holen. Er steht in der Küche, rechts. Ein Korkenzieher liegt in der Schublade.« Ihr Gesichtsausdruck entging ihm nicht. »Keine Angst, Verehrteste. Ich warte, bis Sie wieder da sind.« Als sie zurückkam, goß sie ihm Wein ein und setzte sich. Menéndez’ Hand schwebte mit gezücktem Stift über seinem Notizblock. Figuera trank genüßlich einen Schluck. »Das ist ein guter Wein. Von einem der Sherrygüter in Jerez. Sie haben so viele Trauben, daß sie neuerdings gar nicht wissen, wohin mit ihnen. Niemand will mehr Fino trinken, nicht einmal die Engländer. Also kel140
tern sie sie zu diesem Wein, und zumindest ich habe nichts dagegen einzuwenden.« Er nahm die Brille ab, legte sie auf den Tisch und rieb sich die Augen. Seine Blicke schossen hin und her, aufmerksam, auf der Hut. »Ich weiß nur von einer Gelegenheit, bei der Menschen, in diesem Fall mehr als zwei Menschen, auf derartige Weise getötet wurden. Aber darüber werden Sie in Ihren Archiven nichts finden. Sie werden in keinen Archiven etwas darüber finden, obwohl ich davon überzeugt bin, daß noch genügend Leute unter uns weilen, die Ihnen wesentlich genauer über die Ereignisse Auskunft geben könnten als ich. Falls sie dazu bereit sind, woran ich allerdings beträchtliche Zweifel hege. Aber das alles ist vor langer Zeit geschehen. Vor Ihrer Geburt, nehme ich an.« »Dennoch glaube ich, daß wir davon erfahren sollten«, sagte Menéndez. »Das sollten Sie«, erwiderte Figuera knapp. »Wir haben es fast ein halbes Jahrhundert lang höflich abgelehnt, über den Krieg zu sprechen, an ihn zu denken. Und jetzt, plötzlich, gibt es überall aufnahmebereite Ohren. Aber nun ist es zu spät.« Während des Krieges, erzählte Figuera, sei die Bevölkerung der Stadt aufgespalten gewesen: in die Rechten, die Linken und jene »dazwischen«, die große schweigende Mehrheit, die schon so genug ums Überleben zu kämpfen hatte, ohne auch noch zu den Waffen greifen zu müssen. »Und in die letzte Kategorie gehörte auch ich. Wenn mich Leute fragen, wo ich im Krieg stand, se141
he ich ihnen in die Augen und sage: ›Mittendrin.‹ Sie können das Feigheit nennen, wenn Sie mögen, aber ich halte mich nicht für einen Feigling. Es ist nur so, daß ich nie einen anderen Spanier aus so nichtigen Gründen wie Politik töten könnte. Wenn die Deutschen oder die Briten eingefallen wären, hätte ich natürlich gekämpft. Aber für die Banditen, die Spanien damals regierten? Niemals. Ich war jung. Ich hatte gerade geheiratet. Wir freuten uns auf Kinder. Ich war fest entschlossen, mich auf keinen Fall hineinziehen zu lassen. Aber das waren schließlich die meisten von uns. Die Mitte war ein ungemütlicher Aufenthaltsort. Sie verschob sich nahezu von einem Tag zum anderen. Während die Falange und die Kommunisten gegeneinander kämpften, veränderte sie sich so, daß es plötzlich nicht mehr wichtig war, was man tat, sondern was man nicht tat. Der Feind meines Feindes ist mein Freund – kennen Sie diesen Spruch? So in etwa war das. Je mehr man bemüht war, sich herauszuhalten, desto heftiger wurden die Versuche, einen hineinzuziehen. Ich hatte Glück. Ich war ein bißchen bekannt, aus der Arena. Das gewährte mir eine Art Schutz – von beiden Seiten. Hätte ich eine andere Kunst ausgeübt, als Maler vielleicht oder als Dichter wie Lorca, wäre ich ein gebrandmarkter Mann gewesen. Aber das war ich nicht, und das war mein Glück. Viele hatten dieses Glück nicht und wurden mitgerissen, gegen ihren Willen. Und deshalb haben wir so lange nicht darüber gesprochen. Heute können Sie über die Greuel nachlesen, über Todeslager und Erschießungskom142
mandos, und Sie denken vielleicht, daß das ganz besondere Menschen gewesen sein müssen, harte, politische Männer, mit einem fanatischen Feuer im Leib. Aber das waren sie nicht, jedenfalls in den meisten Fällen nicht. Es waren ganz gewöhnliche Menschen. Postboten, Bäcker, Kellner, Ladenbesitzer. Männer der Mitte, die von der einen oder anderen Seite vereinnahmt wurden und sich plötzlich in dieser gewalttätigen neuen Welt wiederfanden. Männer, die vor dem Krieg keiner Fliege hätten etwas zuleide tun können, wurden plötzlich zu Menschen, die, ohne nachzudenken, Frauen und sogar Kinder töteten, nur wegen ihres Namens oder ihres Wohnortes. Es war Bürgerkrieg. Das machte den Unterschied aus.« »La Soledad«, sagte Menéndez. »Sie waren dort.« »Nie.« Der alte Mann spie das Wort förmlich aus. »Niemals. Wir wußten, daß es existierte. Jedermann wußte es. Es war ein abscheulicher Ort. Kein Mensch, der seine fünf Sinne beisammenhatte, begab sich in seine Nähe, nur jene, deren Angehörige dort festgehalten wurden. Sie gingen zu den Toren, die sehr gut bewacht wurden, und versuchten die Posten dazu zu überreden, Lebensmittel weiterzugeben. Ich bezweifle, daß viel davon diejenigen erreicht hat, für die es bestimmt war. Anfangs war La Soledad einfach ein Gefangenenlager, verstehen Sie? Die Falange sperrte dort ihre Kriegsgefangenen ein. Doch dann änderte sich das. Die Soldaten verschwanden, und Zivilisten nahmen ihre Plätze ein. Ich erinnere mich noch genau an den Zeitpunkt. Mai 143
sechsunddreißig. Einen ganzen Monat lang sprach in der Stadt niemand von La Soledad, aber jedermann wußte, daß dort etwas geschah.« »Nur einen Monat lang?« »Ja. Als Franco in Madrid von den Gerüchten hörte, schickte er einen seiner Vertrauten, um die Vorfälle zu untersuchen. Die gesamte Lagerleitung wurde ausgewechselt, die verantwortlichen Männer verschwanden. Dann wurde aus La Soledad wieder ein ganz ›normales‹ Gefangenenlager. Natürlich kam es auch weiterhin zu Exekutionen. Und noch immer verschwanden Leute aus der Stadt, obwohl ich bezweifle, daß sie nach La Soledad kamen. Das hatte Madrid inzwischen unter Kontrolle.« »Und was ist in diesem Monat geschehen?« fragte Maria. »Bevor sich die Dinge änderten? Wurden damals Menschen wie in einer Stierkampfarena getötet? So wie wir es beschrieben haben?« »So ging das Gerücht. Manche, so heißt es, wurden mit einem bereits gereizten Stier in eine behelfsmäßige Arena gesperrt und gezwungen, sich ohne Waffen gegen ihn zur Wehr zu setzen. Andere wurden behandelt, als wären sie Stiere. Das Lagerpersonal griff sie mit Pfeilen an, mit Lanzen, und tötete sie schließlich mit einem Schwertstoß ins Herz. Das waren die Geschichten, die man über diesen Monat hörte. Zunächst wollte es niemand glauben, aber dann berichteten Leute, Leichen gesehen, Schreie gehört zu haben. Wir wußten, daß es stimmte. Wir wußten es.« Maria schüttelte den Kopf. »War das zu der Zeit, 144
in der Caterina Lucenas Familie umgebracht wurde? Als es ihr auf irgendeine Weise gelang, aus dem Lager zu entkommen?« Figuera griff nach seiner Brille, nahm einen tiefen Schluck Wein. »Doña Caterina ist eine würdige alte Dame aus einer der bedeutendsten Familien Spaniens. Das Schicksal ihrer Familie ist eine Schande.« »Aber wie konnte sie entkommen?« Er spielte mit der Sonnenbrille. »Warum fragen Sie mich? Doña Caterina kann für sich selbst sprechen. Es kommt mir nicht zu, Klatsch über solche Persönlichkeiten zu verbreiten.« »Hier geht es um Mord, Don Manolo«, sagte Torrillo. »Wir müssen es wissen.« »Wenn die ehrenwerte Dame beschlossen hat, nicht über das zu sprechen, was vor so langer Zeit geschehen ist, darf ich mich über ihre Entscheidung nicht hinwegsetzen. Ich wiederhole mich: Sie müssen sie selbst fragen.« »Aber sie ist alt«, wandte Maria ein. »Hinfällig. Vielleicht sollten wir ihr das ersparen.« Figuera schnaubte verächtlich. »Sie ist Caterina Lucena. Sie ist stärker als wir alle, und wenn Sie sie fragen, wird Sie Ihnen auch antworten. Wenn sie es will.« »Das werden wir tun«, sagte Menéndez. »Und was ist mit der Bruderschaft?« »Die Bruderschaft.« Er zog den Kopf zwischen die Schultern. Der Himmel war jetzt voller Mauersegler. Sie machten einen Höllenlärm. 145
»Sie kennen die Antwort, Herr Hauptkommissar«, sagte Figuera schließlich. »Warum fragen Sie also?« »Sie wurde nach Kriegsende von den Anführern der örtlichen Falange gegründet«, sagte Menéndez. Maria ließ ihn nicht aus den Augen. »Unter ihnen waren Männer, die im Lager gewesen waren. Männer, die von den Greueltaten wußten, die sich an ihnen beteiligt hatten.« »Aber auch andere«, sagte Figuera. »Unschuldige. Männer, die nicht guthießen, was da geschah. Vergessen Sie das nicht. Aber, ja, da gab es in der Bruderschaft jene, die nichts in einer Organisation zu suchen hatten, die Christi Namen trägt. Und das wußten wir alle. Wir alle wußten es. Und wagten nicht, ein Wort darüber verlauten zu lassen.« »Verstehe«, sagte Menéndez. Und wünschte, es wäre so.
13 Gegen sechs Uhr abends, als Torrillos Auto Manolo Figueras Haus entgegenholperte, begannen sich überall in der Stadt die Prozessionsteilnehmer zu sammeln. Mit Büßerkapuzen und Priesterhüten, mit Mantillas aus Spitze und grauen Reiterkappen aus Filz. Zu Fuß, zu Pferd und auf knatternden Motorrä146
dern verstopften sie zu Tausenden die engen Gassen der barrios und die breiteren, schmuddeligen Straßen der Arbeitersiedlungen. In düsteren, verstaubten Gewölben schulterten Männer die vergoldeten und versilberten Podeste, richteten sich stöhnend auf und trugen die prunkvollen Massenmagneten auf die Straßen hinaus, wo sich die Schaulustigen drängelnd um sie scharten. Es war mitten in der Semana Santa, und der Streß zeigte Wirkung. Streit flackerte auf, zwischen Männern und Frauen, zwischen den Schafen und Hirten der Gemeinden. Unter der Decke heiliger Ideale loderten Leidenschaften auf, nahmen Leben einen neuen Verlauf, wurden in der unbeweglichen, gleichgültigen Hitze der Nacht Schwüre geleistet und wieder gebrochen. In El Viejo, wo drei verschiedene Prozessionen aus drei verschiedenen Gemeinden, jede mit lediglich ein paar hundert Teilnehmern, stattfinden sollten, versammelten sich die Feiernden um den Fohlenbrunnen – in Weiß, in Scharlachrot, in schlichter und in feierlicher Kleidung. Die Stimmung war gedämpft, fast schuldbewußt. Von jetzt an würden die Umzüge immer düsterer werden, bis zur Tragödie des Karfreitag, an dem der Tod triumphierte, wie immer zwei Tage lang triumphierte, bis am Ostersonntag die Welt neu erschaffen wurde. Und dann würden die Stiere in die Arena gelassen, die feria würde beginnen, das Leben zurückkehren – wiederbelebt und geläutert durch das jährliche Ritual von Leidenschaft, Macht und Liebe. 147
Aus dem Gebäude an der Ecke drang ein Schrei, ging aber im allgemeinen Chaos unter. Es dauerte eine Stunde, bis es dem ersten Polizisten gelang, sich seinen Weg durch die Menge zu bahnen.
14 »Showbusineß«, sagte Manolo Figuera angewidert. »Das ist kein Stierkampf, das ist Showbusineß.« Die drei Besucher saßen hinter zugezogenen Vorhängen im Vorderzimmer des kleinen Hauses und sahen auf einen kleinen japanischen Fernseher, der auf einem Videorecorder stand. »El Guapo. Der ›Hübsche‹, aber auch ›Angeber‹. Nicht unbedingt ein schmeichelhafter Spitzname. Finden Sie nicht auch?« Maria betrachtete den Mann auf dem Bildschirm. Er war zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt, blond, groß, muskulös und sah aus wie ein Model – für Deos, für Jeans? – oder ein Darsteller einer Vorabend-TV-Serie. Er lächelte ohne Unterlaß, agierte für das Publikum, forderte und belohnte seine Aufmerksamkeit. Er verströmte Herzlichkeit, winkte den Zuschauern spontan zu, warf ihnen sogar einmal ein Ohr zu. Und sie jubelten. Und doch war da auch etwas Unechtes, Gekünsteltes. Als sich die Kameras nach einer gefährlichen Szene auf sein strahlendes, triumphierendes Gesicht richteten, kam es 148
ihr vor, als würde er sich über die Menge lustig machen. Die grauen Augen reflektierten nichts, absolut nichts. Es war Showbiz, der alte Mann hatte recht, Showbiz oder etwas gänzlich anderes. »Und jetzt«, sagte Figuera und drückte auf die Fernbedienung, »möchte ich Ihnen das zeigen. Das hat El Guapo in die Arena gebracht. Das ist es, weshalb sie ihn so lieben.« Auf dem Schirm flackerte es, und die Bilder begannen zu rasen: blaßgelber Sand, Visionen von Gold und Rot, dunkelbraun schimmerndes Fell. Erneut drückte Figuera auf die Fernbedienung. Die Bilder erstarrten, dann setzten sie sich, langsamer, wieder in Bewegung. Der Kampf neigte sich dem Ende zu. El Guapo war hutlos, ein leichter Wind und die Bewegung des Kampfes ließen seine goldenen Haare wehen. Die banderilleros tänzelten am Rand des Arenarunds, warteten auf eine plötzliche Gefahr, die ihr Eingreifen erforderlich machen würde. Auf ihren Pferden – mit Augenklappen und dicken Schutzpolstern unter den Bäuchen – verharrten die Picadore reglos am Rand des Bildschirms. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf El Guapo und den Stier. Er erstrahlte förmlich in seinem knappsitzenden Anzug aus Gold und Silber. Schweiß glänzte auf seinem Gesicht. Behende schwang er die Muleta, ließ den Stier um sich kreisen, als wäre er eine Marionette. Das Tier wirkte erschöpft, aber auch maßlos gereizt. Rotz und Speichel troffen ihm aus Nase und Maul. Bebänderte Pfeile durchbohrten seine Schultern, aus einer von 149
den Lanzen der Picadore verursachten Rückenwunde floß Blut. Der Stier keilte aus, stampfte und schnaubte durch die Arena – unsicher, wohin mit seiner Wut. »Jetzt passen Sie auf«, sagte Figuera. Er ließ keinen Blick vom Bildschirm, das alte Ritual rief Erinnerungen wach. »Sehen Sie hin. Das ist der Zeitpunkt, zu dem jeder herkömmliche Matador das Tier töten würde. Genau jetzt. Er hat es bereits viel zu weit getrieben. Das Tier ist erschöpft, unendlich erschöpft. Es kann nicht mehr.« El Guapo jagte das Tier noch dreimal durch die Arena, und sie sahen, wie es strauchelte und an einem Punkt fast zusammenbrach. »Ich hätte ihn schon vor zwei Minuten getötet«, sagte Figuera ausdruckslos. »Es war ein gutes Tier. Es hätte es verdient.« Die Gestalt in dem lichtschimmernden Anzug tänzelte noch einmal ganz nahe an dem Stier vorbei, näher als je zuvor, dann drehte er sich um und winkte der Menge zu. Er lächelte, ein Filmstarlächeln, schneeweiße Zähne, hob die Hände hoch über den Kopf. Die Kamera schwenkte über die Zuschauer. Sie rasten. Männer, Frauen, Mädchen waren aufgesprungen, jubelten, kreischten, tobten. Eine Gruppe junger Frauen in kurzen Röcken, mit Blumen in ihren langen schwarzen Haaren, schüttelten wie benommen die Köpfe, den Tränen nahe. Maria kamen sie so fremd vor, als wären sie Wesen von einem anderen Planeten. Die sexuelle Erregung, die sie offensichtlich empfanden, konnte sie nicht einmal 150
ansatzweise nachvollziehen. Der Mann, das ganze Geschehen wirkten so unecht, so falsch. Er schleuderte Muleta und Stoßdegen von sich und ging langsam, ungeschützt, auf den Stier zu. Der blieb vor ihm stehen, reglos, verdutzt, Speichel tropfte in den Sand. El Guapo öffnete den Mund, sprach das Tier an. Sie konnten die Worte nicht hören, aber der Sinn war eindeutig. Plötzlich glaubte Maria den Inhalt seiner Worte zu verstehen: Du wirst sterben, also erweise mir die Ehre. El Guapo fiel auf die Knie, kaum einen Meter vom Stier entfernt. Die Spitzen seiner Hörner glänzten in der Sonne. El Guapo schob sich durch den goldenen Sand vorwärts. Das Tier starrte ihn dumpf an. Als er nicht mehr als dreißig Zentimeter entfernt war, hob er die Hände. Die Kamera zoomte. Man konnte den heißen Atem des Tieres sehen. In kurzen, keuchenden Stößen blies er dem Matador ins Gesicht, verwehte seine blonden Haare. Er streckte die Hände aus, und einen Moment lang sah es so aus, als wolle er den Stier küssen. Er ließ die Hände sinken, rutschte weitere zehn Zentimeter vor, hob sie erneut und berührte die Hörner. Es war ein Augenblick allerhöchster Spannung. In der Arena erstarb jedes Geräusch. Absolut symmetrisch glitten seine Hände vom Hörneransatz aufwärts. Er streckte die Zeigefinger aus und ließ sie, langsam, mit der Zartheit einer sexuellen Liebkosung, über die Außenseiten der Hörner wandern. Das Tier stand reglos, wie erstarrt, rang keuchend nach Atem. Seine Pupillen waren zwei konzentrierte, winzige schwarze Punkte. 151
An den Hornspitzen hielt er inne, umfaßte sie mit Daumen und Zeigefinger, befühlte, untersuchte sie. Die Kamera begeisterte sich an den Fingern: Wie sie die Spitze berührten, betasteten, vor der tödliche Schärfe zurückzuzucken schienen. Ein Bild im Bild wurde eingeblendet. Die Mädchen mit den Blumen in den dunklen Haaren über den hübschen Gesichtern stöhnten ekstatisch auf. Lange schwarze Locken wehten, als sie mit geschlossenen Augen und geöffneten Lippen die Köpfe von einer Seite zur anderen wiegten. Die Hand eines Mädchens schien auf Abwege zu geraten … Abrupt suchte sich die Kamera ein anderes Ziel. El Guapo ließ die Hände sinken und sah den Stier lange an. Ehrfürchtig? Noch immer auf den Knien rutschte er herum, bis er dem Stier den Rücken zukehrte, der jetzt etwa einen Meter entfernt war und Anzeichen von Unruhe zeigte. Er begann zu stampfen, sein Atem ging regelmäßiger, aber noch immer rührte er sich nicht von der Stelle – wie gebannt durch das Ritual, dem er unterworfen worden war. Die Kameraeinstellung verschob sich, zeigte den Matador jetzt von vorn. Kniend winkte er den Zuschauern zu, schien den Stier hinter sich völlig vergessen zu haben. Seine Hörner, der massive dunkle Kopf ragten dicht über der kleinen Gestalt im Sand auf. Fast schienen sie eins zu sein: ein Mensch-Stier, Leben und Tod eng verbunden. Dann erhob sich El Guapo, und das Publikum, das während der gesamten Zeit den Atem angehalten hatte, riß es von den Sitzen. Es sprang hoch, applaudierte, winkte, schrie. Blumen 152
regneten von den Rängen, Taschentücher, Hüte, Mantillas. Die Arena tobte – sol und sombra. Und noch immer rührte sich der Stier nicht von der Stelle. El Guapo hob die Muleta, den Stoßdegen auf, verbarg ihn unter dem blutroten Tuch, schlenderte auf den Stier zu, beugte sich mit einer einzigen behenden Bewegung über seine Hörner und stieß ihm den Degen schnell und tief zwischen die Schulterblätter. Das Tier schien zu erschauern, zurückzuweichen, als erwache es sehr plötzlich und sehr heftig aus einem Traum. Wieder schrie die Menge auf. Ein Knie knickte ein, langsam sank der Stier auf die rechte Seite. Blut rann ihm aus dem Maul, ein Beben lief durch seinen ganzen Körper. Dann stürzte der Stier zu Boden, und Blut, hellrotes Blut, mischte sich mit dem Sand der Arena. Die Zuschauer begannen zu jubeln, ihre gellenden Hochrufe ließen den kleinen Lautsprecher des Fernsehers vibrieren. »Showbusineß«, sagte Figuera und schaltete mit einem angewiderten Blick auf den Bildschirm die Fernbedienung aus. Das Bild schnurrte zu einem winzigen silbernen Punkt zusammen und verschwand. Draußen begann es zu dämmern, das Zwitschern der Mauersegler war verstummt. Die Flasche auf dem kleinen Tisch war leer. Er starrte sie an. »Dazu ist es verkommen. Showbusineß.« »Sind Sie ihm begegnet?« fragte Menéndez. »Persönlich?« »Flüchtig. Er wird sich nicht daran erinnern. Geschichte interessiert ihn nicht.« 153
»Kennen Sie seine Herkunft? Er stammt aus der Stadt. Soviel weiß ich. Er ist eine Waise.« Figuera lachte. »Eine Waise? Das ist neu für mich. Das Wort darf ich nicht vergessen. Eine Waise.« Menéndez schwieg. Er spürte, daß Figuera etwas in der Hinterhand hatte, aber nicht sicher war, ob er es sagen sollte. »Ein Bastard, und das meine ich wörtlich. Er ist ein Bastard, keine Waise.« »Sie wissen, wer sein Vater ist.« »Familiengeheimnis, Herr Hauptkommissar. Wie sehr Sie die doch interessieren. Erst Doña Caterina. Und nun El Guapo.« »Im Zusammenhang mit Doña Caterina wüßte ich von keinen Familiengeheimnissen.« Figuera schaltete Fernseher und Videorecorder aus. »Nein. Wohl kaum. Aber ich werde Ihnen ein Familiengeheimnis von El Guapo verraten und Ihnen auch sagen, warum. Lesen Sie es in Ihren Archiven nach. Inzwischen ist sein Vater tot, aber irgendwann in den fünfziger Jahren, an den genauen Zeitpunkt kann ich mich nicht erinnern, war er ein ›bedeutender Mann‹ in unserer feinen Stadt. Kurz, für vielleicht zwei Jahre, bis jemand die Bücher überprüfte und sich fragte, wo das ganze Geld geblieben war. Antonio Alvarez. Ja. Schreiben Sie sich den Namen auf. Merken Sie ihn sich gut. Er ist inzwischen tot, seit gut zehn Jahren, glaube ich. Kaum beweint.« »Und wer war seine Mutter?« fragte Maria. 154
Figuera schüttelte den Kopf. »Halten Sie mich für ein wandelndes Geburten- und Sterberegister? Verzeihen Sie. Aber wenn ich müde werde, reagiere ich gereizt. Ich kann mich nicht erinnern. Ich sagte, er wäre Alvarez’ Bastard, aber er ist nicht der einzige. Dieser Mann war – ich möchte Ihre Ohren nicht beleidigen, Señora – produktiv. Von früh an. Hören Sie sich in der Stadt um, durchforschen Sie Ihre Archive. El Guapo hat viele Halbbrüder und Halbschwestern, obwohl ich bezweifle, daß er sie auf der Straße erkennen würde.« Menéndez beendete seine Notizen. »Ich bin Ihnen sehr dankbar. Aber eine Frage habe ich noch. Warum haben Sie uns das erzählt, Don Manolo?« Der alte Mann lächelte ihn an. »Sie sind ein kluger Mann, Herr Hauptkommissar. Sie hören zu. Das ist selten heutzutage. Warum? Antonio Alvarez war ein Bastard im übertragenen Sinne. Beispielsweise war er Sekretär Ihrer Bruderschaft. Das ist eine Tatsache, das werden Sie in Ihren Archiven finden. Er war auch ein Franco-Freund. Er hat sich dem General nicht nur angeschlossen, weil er sich davon Vergünstigungen für sich selbst erhoffte oder als eine Art Rückversicherung. Er war auch davon überzeugt. Und das ist schlimmer.« »Ich werde diese Dinge überprüfen.« »Gut. Überprüfen Sie sie. Archive sind eine feine Sache. Aber etwas werden Sie in Ihren Archiven dennoch nicht finden.« Menéndez spürte die innerliche Anspannung des alten Mannes. 155
»Aber ich habe Ihnen das nicht erzählt. Verstehen Sie?« Der Hauptkommissar nickte. »Alvarez war in La Soledad.« »Als es zu den Scheußlichkeiten kam?« »Ja«, sagte Figuera. »Und Sie glauben, er hat sich daran beteiligt?« Figuera stand auf und begann die Gläser abzuräumen. »Ich glaube, ich bin jetzt müde. Und ich glaube, daß ich Ihnen genug erzählt habe. Darüber hinaus glaube ich, daß Ihr Sergeant Sie sprechen möchte.« Torrillo stand an der Tür. Menéndez hatte gar nicht bemerkt, daß er aus dem Raum verschwunden war. Jetzt stand er stumm und besorgt neben der Tür. »Ein Anruf über das Autotelefon, Hauptkommissar. Ich hörte es, als Sie sich unterhalten haben.« Menéndez wußte sofort, was seine Miene zu bedeuten hatte. »Vielen Dank, daß Sie uns Ihre Zeit gewidmet haben, Don Manolo. Ich hoffe, wir sprechen uns bald einmal wieder.« Der alte Mann sagte kein Wort, als sie sein Haus verließen.
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15 Die Plaza del Potro war voller Menschen, manche in Kostüm, manche in Straßenkleidung, aber alle bedrückt, besorgt, stumm. Menéndez, Torrillo und Maria bahnten sich ihren Weg durch die Masse der Schultern. In der Nähe des Hauseingangs stand eine Gruppe Reporter zusammen, von den Zeitungen, den Fernsehstationen. Als sie sich näherten, flammten Blitzlichter auf, wurden Fragen gerufen. Menéndez beantwortete sie nicht. Torrillo und Maria drängten ihm nach. Sie liefen an den wachestehenden Uniformierten vorbei und fanden sich in dem Gebäude wieder, das sie erst vor wenigen Stunden verlassen hatten. Im oberen Stockwerk waren leise Männerstimmen zu hören. Menéndez wandte sich der Treppe zu, und sie folgten ihm. Das Büro schien vor Blut zu triefen. Es befand sich in dunkelroten, klebrigen Lachen auf dem Boden, es war gegen die Wände gespritzt. Ein aufdringlich süßlicher Geruch lag in der Luft. Fünf Polizisten inspizierten den Raum. Maria kannte keinen von ihnen. Ein Mann in weißem Nylonkittel untersuchte die Leiche Auf den ersten Blick wirkte sie wie etwas vom Fleischmarkt. Interessiert beugte sich Menéndez über das Opfer. Torrillo begann mit den anderen Polizisten zu sprechen. Maria fühlte sich zwischen ihnen hin und her gerissen und fragte sich, was sie von ihr erwarteten. 157
Dann machte sie sich bewußt, daß sie für die beiden im Moment nicht existierte. Der Fall beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit. Ihre Arbeit, ihre eigentliche Arbeit verlor zunehmend an Bedeutung. Sie fragte sich, warum Menéndez sie bislang toleriert hatte und ob er das auch weiterhin tun würde, was geschehen wäre, wenn sie nicht mehr nützlich war. Ihr fiel eine plausible Antwort ein, und sie ging fast augenblicklich zu Menéndez und dem Pathologen hinüber, die auf die sterblichen Überreste von Miguel Castaneda blickten. Der Gerichtsmediziner trug weiße, jetzt blutbefleckte Gummihandschuhe. Er kniete neben dem Toten und beugte sich über ihn, als wolle er eine Krankheit diagnostizieren. Er schob zerfetzte Hautpartien zur Seite, untersuchte eine Reihe Einstichwunden, sah dem Toten in den Mund, hob die Arme an, um den Grad der Leichenstarre festzustellen, prüfte, wie fest der Ring an einem Finger der rechten Hand saß. Menéndez und Maria sahen schweigend zu. Schließlich stand der Mann auf und drehte sich zu ihnen um. Er hatte ein schmales leicht nervöses, blasses Gesicht mit einem bleistiftdünnen Schnurrbart, der so aussah, als hätte er eine Ewigkeit zum Wachsen gebraucht. Er lächelte. Da waren Tabakflecken auf seinen Zähnen. »Hauptkommissar?« »Guten Abend, Doktor Castares.« »Sie bekommen jetzt die kurze Version zu hören. Die ausführliche folgt morgen.« »Und wie lautet die kurze?« 158
»Der Tod ist vor längerer Zeit eingetreten. Am Nachmittag, möglicherweise auch schon früher. Dem Opfer wurde eine Vielzahl von Wunden zugefügt, mit drei unterschiedlichen Werkzeugen. Eins davon wurde zurückgelassen.« Er deutete auf einen rotbebänderten Pfeil, der in einem Plastikbeutel neben der Leiche lag. »Er befand sich auf dem Boden, nicht in ihm. Aber er weist Blut- und Gewebespuren auf. Ich vermute … Da ist eine Augenverletzung, dort.« Er zeigte auf Castanedas Kopf. Die Augenhöhle war ein Chaos aus Blut, geronnener Augenflüssigkeit und purpur verfärbtem Gewebe. Sie sah nicht mehr menschlich aus. »Wahrscheinlich hat der Pfeil diese Verletzung verursacht. Der Täter schleuderte ihn dem Mann direkt ins Gesicht, zerbrach seine Brille – im Auge sind Glassplitter nachweisbar – und durchbohrte das Auge. Aber die Verletzung war nicht tödlich. Gestorben ist er, weil ihm die Kehle durchschnitten wurde. Die Luftröhre ist glatt durchtrennt. Das kann er nicht länger als wenige Sekunden überlebt haben.« In Menéndez’ Kopf drehte es sich. Sechs Stunden, sieben? »Es gibt aber noch weitere Verletzungen?« »Ja«, erwiderte Castares. »Etliche. Eine genaue Aufzählung finden Sie im Obduktionsbericht, aber ich schätze, daß es wenigstens zwanzig sind. Vermutlich kurz nach Eintritt des Todes verursacht. Manche könnten ebenfalls von Pfeilen stammen. Andere sehen nach einem größeren spitzen Instrument aus. Aber schwer zu sagen, um was es sich handelt.« 159
»Sie haben auch die Obduktion der Brüder Angel durchgeführt?« »Ja.« »Fallen Ihnen Ähnlichkeiten auf?« Castares dachte einen Moment lang nach. »Setzen Sie mich nicht unter Druck, Hauptkommissar. Ich muß in meinen Unterlagen nachsehen, um es Ihnen definitiv sagen zu können. Aber schon jetzt halte ich Ähnlichkeiten nicht für ausgeschlossen.« »Sie gehen also davon aus, daß Castaneda zunächst von diesem Pfeil ins Auge getroffen wurde.« »Ja.« Menéndez drehte sich um, sah zur Tür, blickte sich im Raum um, dachte darüber nach, wie sich der Mord abgespielt haben könnte. »Aber das hat der Täter nicht geplant. Also hat er improvisiert. Er ist ein Mann mit ›Sinn fürs Praktische‹. Er hat Castaneda mit einer Klinge – einem Degen? – getötet und die Leiche dann so ›frisiert‹, daß sie dem Ritual entspricht.« »Es ist an Ihnen, die notwendigen Schlüsse zu ziehen«, erwiderte Castares. »Ich kann lediglich feststellen, daß es keinen Grund für die anderen Verletzungen gibt. Keine von ihnen ist lebensgefährlich.« Einer der Polizisten, der sich hinter Castanedas Schreibtisch zu schaffen machte, hob ein Buch hoch, ließ es wieder sinken und sagte: »Gehen wir eigentlich davon aus, daß El Matador der Täter war?« Menéndez nickte. »So sieht es aus.« »Nun«, sagte der Polizist, »irgendwas kommt mir komisch vor. Ich war im Haus dieser Tunten, und 160
das war voll von Dingen, die etwas wert waren. Die nur darauf warteten, gestohlen zu werden. Und doch hat er nichts geklaut. Es wurde doch nichts gestohlen, oder?« »Nicht, daß wir wüßten«, sagte Menéndez. »Normalerweise arbeite ich im Diebstahlsdezernat.« Er zeigte auf den niedrigen grauen Aktenschrank neben dem Schreibtisch. »Vermutlich fällt mir deshalb so etwas auf. Sehen Sie mal.« Er trat zu dem Aktenschrank, zog ein Taschentuch hervor und öffnete damit die oberste Schublade. »Die meisten anderen Schubladen und Schränke in diesem Büro haben Schlösser, die man mit einer Büroklammer aufbekommt. Frage mich, warum sie sie dann überhaupt zuschließen. Aber hier ist es anders. Diese Schrankfächer verfügen über kleine Vorhängeschlösser, sehen Sie?« Menéndez trat neben ihn. »Aber jetzt sind alle Vorhängeschlösser geöffnet. Jedes einzelne. Also habe ich hineingeschaut.« Er zog die Schubladen auf, eine nach der anderen. »Voll, wie Sie sehen. Alle bis auf die hier.« Er stieß mit dem Fuß leicht gegen die unterste Lade. Menéndez bückte sich und warf einen Blick hinein. In ihr befanden sich ein paar Akten ohne Beschriftung. Er zog eine heraus. »Sie sind leer«, sagte der Polizist. »Bis auf die unterste. Freuen Sie sich nicht auf Fingerabdrücke, Herr Hauptkommissar. Unser Stierkampffreund hat keine hinterlassen.« Menéndez griff nach der letzten Akte und schlug 161
sie auf. In ihr befand sich ein hellgelber Briefbogen – leer, bis auf eine rötliche Markierung in einer Ecke. Sie sah aus wie ein Daumenabdruck. »Handschuhe«, sagte der Polizist. »Nur ein verschmierter Handschuhabdruck. Blut, nehme ich an. Aber Sie verstehen, was ich meine?« Menéndez nickte. »Er hat die Schublade ausgeräumt.« »Keine Hinweise auf den Inhalt. In den anderen Schubladen befindet sich das Übliche. Protokolle von Sitzungen, Buchführungsunterlagen, Mitgliederkarteien.« »Sind Sie sicher, daß es sich um Mitgliederkarteien handelt?« »Absolut. Hier sind sie.« Er zog die zweite Lade von oben auf. »Hier und in der darunter. Alles Mitgliederunterlagen, manche reichen Jahre zurück. Und sehen Sie hier?« Er zog eine kleine Karte aus einer Art Steckfach an der Vorderfront der Schublade. »Die drei obersten Laden verfügen über eine Art Inhaltsregister. Der Bursche hatte ein gutes Ablagesystem, hielt Ordnung. Aber unten? Nichts. Es gibt da zwar auch eine Karte. Aber die ist leer. Unser Freund wußte offensichtlich genau, was sich darin befand, wollte es aber nicht jeden wissen lassen.« »Vielleicht befanden sich dort gar keine Unterlagen, vielleicht enthielt die Schublade irgendwelche Wertgegenstände.« »Nein. Ich habe mir die anderen Schubladen angesehen. Auch dort hat jemand gestöbert. Das sieht 162
man an der Unordnung der Papiere. Auf einigen wurden sogar Blutspuren hinterlassen. Verständlich, unter den Umständen.« Menéndez schüttelte verwirrt den Kopf. »Moment mal«, sagte der Polizist. »In diesen alten Aktenablagen verklemmt sich mitunter etwas. Ganz hinten. Diesen Tip habe ich mal von einem BüroHeini bekommen.« Er zog die Lade heraus, griff in den Leerraum, fingerte eine Weile herum und förderte ein einziges, verstaubtes Papier zutage. Menéndez griff danach und las. Maria trat hinter ihn und blickte ihm über die Schulter. Es war eine Liste mit Namen, Firmennamen. Hinter jedem stand eine Summe. Es handelte sich um erhebliche Summen. Es stand kein Datum auf der Liste. »Spenden?« fragte sie. »Wer weiß? Kennen Sie einen der Namen?« Sie schüttelte den Kopf. »Nach Multis sieht das nicht aus.« »Nein«, sagte Menéndez, faltete das Papier zusammen und steckte es ein. Sie sah ihn neugierig an. Sein Gesicht verriet nichts. »Hat die Frau irgend etwas gesagt, die den Toten gefunden hat?« fragte Menéndez. »Nichts, was für Sie von Bedeutung wäre. Ein echter Herr, dieser Señor Castaneda, sagt sie. Wie konnte man ihm das nur antun? Warum machen Menschen so etwas?« Menéndez deutete auf den Aktenschrank. »Bringen Sie die Unterlagen ins Präsidium, nachdem die 163
Leiche abtransportiert ist. Ich möchte, daß jedes Mitglied auf mögliche Beziehungen zu den AngelBrüdern überprüft wird. Vergleichen Sie die Namen auch mit unseren Unterlagen über Sexualstraftäter und allen führenden Persönlichkeiten aus der Stierkampfbranche. Setzen Sie ein paar Männer von der Nachtschicht daran. Morgen früh möchte ich einen Bericht vorliegen haben.« »In Ordnung.« »Sie wissen, wo ich zu finden bin, wenn Sie mich brauchen.« Sie verließen das Büro. »Hauptkommissar?« Ein Polizist in Zivil kam ihnen auf der Treppe entgegen. Er hielt ein fleckiges Taschentuch in der Hand. »Sieht so aus, als hätte der Bursche eine Art Maskierung getragen. Wir haben Spuren von Make-up im Waschbecken gefunden, auch Haarreste.« Torrillo zückte seinen Block, fand den Namen, kritzelte ihn auf eine neue Seite, riß sie ab und gab sie dem Mann. »Könnten Sie diesen Namen überprüfen? Wir haben ihn von einem Ausweis.« »Sicher, Bär«, sagte der Mann, verließ das Gebäude und lief zu seinem Dienstauto. Sie blieben in einer Ecke der Eingangshalle zurück, umgeben von Polizisten, die ihnen keine Aufmerksamkeit schenkten. Das Schweigen der beiden Männer bedrückte Maria. »Glauben Sie wirklich, daß er es war? Der Mann, dem wir begegnet sind?« 164
»Der, den ich gefilzt, dessen Personalausweis ich mir angesehen habe?« Düster starrte Torrillo zum Fenster hinaus. »Wir werden es wissen, sobald er überprüft ist.« »Der Zeitpunkt könnte hinkommen«, sagte Menéndez. »Denken Sie nach. Versuchen Sie sich zu erinnern.« Sie bemühte sich. Sie versuchte, die Ereignisse in ihr Gedächtnis zurückzuholen, wie eine Fotografie, wie etwas, das auf Film gebannt werden konnte. Sie versuchte es und erkannte, daß sie recht hatten. »Er wollte mich gar nicht erschrecken«, sagte sie. »Er lehnte an der Tür, weil er darüber nachdachte, was er gleich tun würde. Er war mit seinen Gedanken ganz woanders.« Erneut versuchte sie sich zu erinnern. »Sein Gesicht war zu rot. Sein Bart zu … schwarz.« »Ja«, sagte Menéndez. Jetzt, im nachhinein, wußten sie es alle. »Der alte Illusionistentrick. Wir sahen, was wir sehen sollten, und nicht das, was wirklich da war.« »Aber, aber …« Sie suchte nach Worten. »Sie meinen also, er kam her, um Castaneda zu töten, wurde von uns gestört, führte die Tat aber dennoch aus?« »Sieht ganz so aus«, sagte Torrillo. Sie schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich. Ich kann einfach nicht glauben, daß er völlig unbeeindruckt blieb. Durch das Zusammentreffen mit uns, meine ich.« »Intelligenz, Selbstsicherheit, Impulsivität, Defizite an Schuldgefühlen, Reue oder Scham«, zählte Me165
néndez auf. »Mangel an automatischen Reaktionen auf antizipatorische Furcht, Gefühllosigkeit …« »Lehrt man diese Dinge auf der Polizeischule?« wollte Maria wissen. »Nicht unbedingt. Aber das heißt keineswegs, daß man sie nicht irgendwie lernt. Irgendwo habe ich gelesen, daß fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig Prozent aller Verbrechen dem Bereich der Psychopathie zuzuordnen sind. Bei Gewaltverbrechen ist die Zahl sogar noch höher. Vielleicht sollten wir wirklich mehr darüber lernen.« Maria versuchte sich daran zu erinnern, was sie vor Jahren gelesen hatte. »Aber paßt das auch zu den Fakten dieses Falls?« »Ja«, erwiderte er, und Maria war von der Entschiedenheit in seiner Stimme überrascht. »Absolut.« »Aber wie kann uns das helfen?« Er dachte nach. »Es gibt Hinweise darauf, daß das hier die Tat eines Menschen mit psychopathischen Tendenzen ist. Wir sollten die Unterlagen nach Zusammenhängen überprüfen, mit Ärzten sprechen. Aber in gewisser Weise ist es auch irgendwie deprimierend.« »In welcher?« »Für einen Polizisten besteht das vorrangige Problem bei psychopathischem Verhalten darin, daß die ihm zugrundeliegende emotionale Störung nicht durchgängig eklatant ist. Man kann diese Menschen nicht aufgrund ihres Verhaltens aufspüren – mit Ausnahme des Augenblicks, in dem sie ein Verbrechen begehen. Es kann sich um Menschen handeln, 166
die einen ehrenwerten Beruf ausüben, jeden Tag in ein Büro gehen, höfliche, wenn auch stets distanzierte Beziehungen zu den Menschen unterhalten, die sie kennen. Natürlich kennen sie nicht allzu viele. Und sie halten sich für normal, auch wenn sie töten. Das erschwert unsere Arbeit beträchtlich.« Torrillo versenkte seine Hände in den Jackentaschen und seufzte tief. »Vielleicht sollte ich ein wenig erläutern, was der Hauptkommissar meint, Maria. Wenn wir Leute fassen, dann weil wir wissen, daß sie einen roten Panda fahren, ihre Frauen verprügeln oder etwas mit sich herumtragen, was sie besser nicht bei sich hätten. Irgendwann kommen wir auch hier an unser Ziel, aber wir brauchen mehr Informationen. Wenn wir den Leuten da draußen sagen, daß wir nach einem ganz durchschnittlichen Typen suchen, der seinen Nächsten haßt, mitunter so haßt, daß er ihn umbringen könnte, laufen wir Gefahr, daß uns ein ganzer Raum voller Polizisten verdutzt fragt: Na und? Was soll dieser Mist? Auch wir hassen unseren Nächsten und werden von Zeit zu Zeit unwirsch. Das liegt an der Stadt.« »Gehen Sie nach Hause, Sergeant«, sagte Menéndez. »Warten wir ab, wie die Sache bei Tageslicht aussieht.« Torrillo knurrte irgend etwas und blickte zu Boden. Maria wartete ab. Sie war nicht entlassen. »Es ist kein Gemälde«, sagte sie. Menéndez sah sie an, und sie wünschte sich unwillkürlich, daß sein Gesicht offener wäre, lesbarer … 167
»Was meinen Sie damit?« »Bei den Brüdern Angel unternahm er ungeheure Anstrengungen, die Morde einem Gemälde nachzuempfinden. Das war nicht einfach ein simpler Mord. Das hatte etwas Symbolhaftes. Aber hier hat er einfach getötet. Sicher auch geplant, aber anders …« Er dachte darüber nach. »Bei den Angels hatte er Zeit. Hier nicht.« Sie konnte, wollte nicht mit ihm streiten. »Ich weiß. Dennoch ist es anders. Es fühlt sich irgendwie anders an.« »Aber es war derselbe Täter. Es muß derselbe gewesen sein. Niemand könnte die Tat derart detailgetreu kopieren.« »Nein. Sie haben recht.« Sie sagte es so, daß er wußte: es bedeutete das Gegenteil. »Maria«, sagte Menéndez, »könnten Sie mir einen Gefallen tun? Ich möchte, daß Sie morgen früh Caterina Lucena besuchen und sie fragen, rundheraus fragen, was in La Soledad geschehen ist. Ihnen wird sie es vielleicht sagen. Ich lasse Sie mit einem Wagen abholen. Er kann dann vor dem Krankenhaus auf Sie warten.« »Wollen Sie nicht mitkommen?« »Das wäre sinnlos. Wenn sie überhaupt bereit ist, über die Ereignisse zu sprechen, dann nur einer Frau gegenüber. Einer, die keine Polizistin ist. Abgesehen davon … gibt es andere Dinge zu tun.« Der Zivilbeamte kam mit Torrillos Zettel zurück. »Der Personalausweis ist eine Niete. Wurde vor zwei 168
Monaten als gestohlen gemeldet. Gehört einem Busfahrer. Wir haben bei den Nachbarn nachgefragt. Er macht Urlaub auf Mallorca. Mit Frau und Kindern.« Torrillo knurrte. Menéndez drehte sich um und ging. Sie folgten ihm. Die Nacht draußen war warm und schwül. Schon bald lag der Platz mit den bedrückt flüsternden Schaulustigen hinter ihnen. »Hauptkommissar Menéndez?« Er öffnete ihr die Wagentür. Maria fand, daß er erschöpft aussah. »Sie sollten wissen, daß ich die Einzelheiten nicht in meinen Bericht aufnehmen werde. Derartige Details gehören nicht zu meinen Aufgaben.« »Sie sollten schreiben, was Sie schreiben wollen. Es gibt hier nichts zu verbergen. Ich werde in meinen Berichten sehr ausführlich sein. Sie brauchen nicht zu glauben, mich oder Torrillo schützen zu müssen.« Sie fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. »So habe ich es nicht gemeint. Ich wollte lediglich sagen, daß … Sie sich keine Vorwürfe machen sollten.« »Nein. Vielleicht nicht. Fragen Sie mich morgen danach.« Schweigend brachte Menéndez sie nach Hause. Er wartete, bis sie hineinging, wartete, bis sie von innen den Schlüssel umdrehte. Oben in der Wohnung lief sie direkt zum Regal im Wohnzimmer, zog fünf Bücher heraus, ging ins Schlafzimmer, warf sie aufs Bett. Sie zog ihre Jacke aus, ließ sich aufs Bett fallen und griff nach dem ersten Buch: »Die Maske der Normalität«.
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16 Der Mann trug einen Zapata-Schnauzer und ein rotes Satinkleid, das knapp oberhalb der Knie endete. Er war auf die Art übergewichtig, in der dünne Menschen dick werden, wenn sie sich einfach nicht beherrschen können. Braune, behaarte Beine lugten unter dem Kleidersaum hervor und steckten in braunen Kunstlederschuhen. Er war etwa vierzig Jahre alt und rauchte eine Zigarre, die beißende Qualmwolken von sich gab, sobald er daran zog. Die Luft im kleinen Raum in der Gegend des barrio, in der die Sexshops hinter geschwärzten Fenstern ihre Waren feilboten, stank nach Tabak, Schweiß und Amylnitrat. Quemada und Velasco sahen erst ihren Gesprächspartner an, dann einander. Sie waren nicht entzückt. »Ich bin ein Geschäftsmann. Das ist alles. Sie haben keinen Grund, mich zu schikanieren. Ich kenne meine Rechte.« Und wenn sie sich Felipe Ordoñez ohne das Kleid vorstellten, wirkte er durchaus wie jemand, der seine Rechte kannte. Wie ein Anwalt, ein öffentlicher Angestellter, jemand von der städtischen Busgesellschaft. »Niemand will Sie schikanieren, Señor Ordoñez.« Velasco bemühte sich, seine Stimme so sachlich wie möglich klingen zu lassen. Er glaubte, daß es ihm angesichts der Gegebenheiten recht gut gelang. Ve170
lasco fühlte sich mehr als hundeelend. Sein Schädel fühlte sich an wie ein Matscheimer. Das Wetter machte alles noch schlimmer. Ihn plagte das Gefühl, Heuschnupfen, die chinesische Grippe und Typhus gleichzeitig zu bekommen. Sein Gesicht hatte eine kränkliche Pergamentfarbe, genau wie die alten Bücher, die er sich so gern im Museum ansah, wenn er an einem ruhigen Tag ein paar Dienststunden schwänzte. Er schwitzte in seinem Anzug aus Polyester, fühlte sich von Minute zu Minute mieser und versuchte angestrengt, sehr angestrengt, so verständnisvoll wie möglich zu sein. »Wir sind nicht gekommen, um uns nach Ihren Geschäften zu erkundigen. Wir versuchen lediglich, von Ihnen ein paar Informationen über Leute zu erhalten, die Sie unter Umständen kennen. Leute, denen etwas sehr Unerfreuliches zugestoßen ist. Mehr nicht.« »Ich bin Geschäftsmann. Bei mir geht alles legal zu. Sehen Sie sich ruhig meine Unterlagen an. Ich zahle meine Steuern, vermutlich mehr als Sie.« »Wir haben keine Lust, uns mit Ihnen herumzustreifen, mein Herr«, sagte Quemada und betrachtete sich die Bilder an den Wänden. Sie zeigten junge Männer in den unterschiedlichsten Posen: in knappen Höschen, hingegossen am Strand, in die Kamera schmollend. Er sah sie sich nicht gern an, aber Felipe Ordoñez noch weniger. Jedesmal, wenn er dem Typen ins Gesicht sehen wollte, ertappte er sich dabei, statt dessen auf sein Kleid zu starren. »Wir wollen nur wissen, ob Sie den beiden ermordeten Männern ein 171
Rendezvous vermittelt haben. Wenn ja, kein Problem, wir sind nicht pingelig. Wir unterhalten uns mit jedem aus Ihrer Branche. Ausnahmslos. Wir hätten nur gern, daß Sie uns endlich eine Auskunft geben.« Ordoñez sah aus, als wolle er die Farbe seines Gesichts mit der seines Kleids in Übereinstimmung bringen. »Ich vermittle keine – O Gott, allein diese Vorstellung! – keine Rendezvous für irgendwelche Leute. Geht das nicht in Ihre Köpfe?« Quemada angelte eine Farbbroschüre vom Schreibtisch. Sie trug Namen und Adresse des Unternehmens, in dem sie sich gerade befanden. Das Titelbild zierte eine Strandszene: Junge, braune, schlanke, muskulöse Männer strahlten in die Kamera. Darunter stand: »Abraxas-Presentations: Besondere Partner für besondere Männer.« Quemada studierte die Broschüre in seiner Hand. »Und was tun Sie dann für Ihre Kunden? Verkaufen Sie Ihnen Karten für die Oper? Ein paar Runden auf dem Golfplatz? Worum geht es hier eigentlich? Wohltätigkeit?« Ordoñez deponierte die Zigarre auf dem Rand des Aschenbechers. Ein nervöses Zucken erschien über dem rechten Auge des Mannes, und er versuchte, es mit einem leichten Klopfen seines dicken Zeigefingers zu verscheuchen. Quemada und Velasco warfen sich einen Blick zu. Das war jemand, der bereits in die Zange genommen war und dem das gar nicht gefallen hatte. Das war jemand, den sie kleinkriegen konnten. 172
Ordoñez hatte sein Zucken erfolgreich bekämpft. »Ich führe eine Kontaktagentur. Wissen Sie, was das ist?« »Eine Art Bordell? Mit dem einzigen Unterschied, daß Sie die Augen zudrücken, wenn sie zu vögeln beginnen?« erkundigte sich Quemada. »Gott bewahre!« Ordoñez sank auf einen Metallstuhl hinter dem Schreibtisch. »Warum können Sie uns nicht einfach in Ruhe lassen? Warum muß ich das zwei- oder dreimal monatlich über mich ergehen lassen? Erlauben Sie sich das auch mit Heterosexuellen? Was wollen Sie? Geld?« Velasco beugte sich über den Schreibtisch, blickte ihm in die Augen und zog die Nase hoch. Es klang, als würde sich ein Kamel räuspern. Ordoñez zuckte zurück. »Sie bieten uns Geld an? Sie wollen uns bestechen? Ich werde einfach so tun, als hätte ich das nicht gehört, denn wenn ich es gehört hätte, müßten wir Sie gleich hoppnehmen. Und jetzt, Señor Ordoñez, ersuche ich Sie dringend, uns endlich zuzuhören. Wir sind an Ihren Geschäften nicht interessiert. Es ist uns gleichgültig, ob in Ihren Büchern Hühner, Ziegen oder Kaninchen auftauchen. Gleichgültig, egal, piepegal. Wir sind nur daran interessiert, wer sich von ihren Klienten mit den Brüdern Angel getroffen hat. Nennen Sie uns die Namen, und Sie sind uns los.« »Ich habe den Brüdern Angel nie irgendwelche Namen genannt.« Sie sagten eine ganze Weile gar nichts, sahen zu, wie er schwitzte. 173
Schließlich schlug sich Quemada mit der Broschüre spielerisch auf die linke Handfläche. »Sie sind die zweitgrößte Schwulenagentur in der Stadt, stimmt’s?« »Das stimmt.« »Und insgesamt gibt es nur drei Agenturen Ihrer Art. Legal, meine ich. Stimmt’s?« »Ja. Aber sehr viele Leute wenden sich nicht an Agenturen. Sie sehen einfach in den Zeitungen nach. Unter den Kleinanzeigen.« »Nun ja, vielleicht trifft das sogar zu. Aber sehen Sie, wir waren bei Ihren beiden Konkurrenzunternehmen und haben uns deren Bücher angesehen. Sie haben uns diesen Mist nicht aufgetischt. Sie zeigten uns ihre Unterlagen, und denen konnten wir entnehmen, daß die Angel-Brüder nicht zu ihren Kunden gehörten. Wenn doch, wurden sie zumindest nicht in ihren Büchern geführt.« »Was wir für unwahrscheinlich halten«, fügte Velasco hinzu, »in Anbetracht der Tatsache, daß einige der Namen, die sie uns zeigten, einige Wochen lang nicht von der Titelseite des El Diario herunterkommen würden. Daher gehen wir nicht davon aus, daß sie eine geheime Liste für Leute wie die Brüder Angel führten, die keinerlei Hehl daraus machten, daß sie zum anderen Ufer gehörten.« »Da uns Ihre Konkurrenten versichert haben, nie mit den Brüdern Angel in Kontakt getreten zu sein«, fuhr Quemada fort, »können wir nicht ausschließen, daß sie sich an Sie gewandt haben. Vielleicht haben sie es aber auch nicht getan. Wie auch immer. Wir 174
würden uns gern vergewissern. Verzeihen Sie, wenn wir zudringlich erscheinen, aber wir möchten von Ihnen gern bewiesen haben, daß Sie ihnen nie irgendwelche Namen nannten. Sie haben da drüben einen hübschen kleinen PC. Einen Aktenschrank sehe ich nicht. Also nehme ich an, daß Sie alles datenerfaßt haben. Rufen Sie irgendein Programm auf, tippen Sie das Wort ›Angel‹ ein und zeigen Sie uns, daß nichts erscheint.« »Ja«, schniefte Velasco, »das würde genügen.« Ordoñez warf einen Blick auf den Computer. Er blieb auf seinem Stuhl sitzen und rollte mit ihm vor das Gerät. Die Geste hatte etwas von der Selbstverständlichkeit, mit der sich eine Sekretärin durch ihr vertrautes Büro bewegt. Velasco schüttelte den Kopf. Ordoñez verbrachte seine Zeit nicht damit, die Körper sonnengebräunter Jünglinge einzuölen, wie die Broschüre versprach. Er bearbeitete die Tasten eines Büro-Computers wie irgendeine Zeitsekretärin. Ordoñez schaltete das Gerät ein und rief ein Windows-Programm auf. Er richtete den Cursor auf ein kleines Feld auf dem Lineal und klickte mit der Maus. Der Computer ließ sich einen Moment Zeit, dann erschien eine Art Adreßbuch auf dem Schirm. Es gab Spalten für Namen, Vornamen, Adressen, Postleitzahlen, Telefon- und Faxnummern. »Da. Wollen Sie selbst nachsehen?« Ordoñez funkelte sie böse an. Seine Augen schimmerten feucht. »Nein«, wehrte Quemada an. »Das überlassen wir Ihnen.« Ordoñez’ Finger huschten mit der Schnelligkeit 175
eines Blindschreibers über die Tasten. Das Wort ›Angel‹ tauchte im Namensfeld auf. »In Ordnung?« »In Ordnung«, erwiderte Quemada. Er hieb auf die Return-Taste, der PC surrte einen Augenblick lang, dann erschien die Botschaft »Name nicht gefunden« auf dem Bildschirm. »Zufrieden?« fragte Ordoñez, sah sie aber nicht an. »Señor Ordoñez«, sagte Velasco. Der Mann hantierte weiter am Computer, schob die Maus herum, schloß Fenster. »Señor Ordoñez, würden Sie mich gefälligst ansehen?« Velasco spürte, daß er mit dieser Lautstärke seinem Hals zuviel zugemutet hatte. Ein stechender Schmerz breitete sich zwischen seinen Schläfen aus. Ordoñez wischte sich mit dem Armel über die Augen und drehte sich um. »Glauben Sie, uns für dumm verkaufen zu können, Señor Ordoñez?« Velasco schob ihn zur Seite und griff nach der Maus. »Sehe ich aus, als wäre ich bescheuert? Oder was? Meine Kinder haben so ein Ding zu Hause. Manchmal benutze ich es auch. Sehe ich aus, als wäre ich bescheuert? Ihnen paßt nicht, daß wir Sie ansehen und denken: ›Was ist das denn für eine Tunte in dem roten Kleid?‹ Lassen Sie mich Ihnen jetzt einmal etwas sagen: Mir paßt es nicht, daß wir hier hereinkommen und Sie denken: ›Das ist ein verdammter Bulle. Ist mit Sicherheit total bescheuert.‹ Sehen Sie her. Sehen Sie genau her. Denn das ist es, wovon ich rede.« 176
Velasco hatte sich vorgebeugt, Ordoñez’ Auftrag gelöscht, eine neue Datei aufgerufen und deutete nun auf eine Ikone mit der Bedeutung »KundenKartei«. »Sie haben uns lediglich den Speichermist vorgeführt, den Sie nutzen, wenn Sie Briefe schreiben wollen. Den kenne ich, Señor Ordoñez. Meine Kinder nutzen den. Ich nutze ihn. Aber als Geschäftsmann will man mehr. Man will Daten, Orte und Geldsummen speichern. Geld, Señor Ordoñez. Kennen Sie dieses Wort? Das bezeichnet etwas, was Sie von Leuten einnehmen, die Sie ›Kunden‹ nennen.« Er klickte die Ikone zweimal an, der Computer schnurrte und summte. Schon bald erschien Text auf dem Bildschirm: »Kennwort eingeben.« »Ja, ein Kennwort. Keine schlechte Idee, Señor Ordoñez. Und nun seien Sie so gut und geben Sie es ein. Je schneller Sie das tun, desto schneller können wir endlich Tacheles miteinander reden. Desto schneller sind Sie uns wieder los.« Ordoñez griff nach seiner Zigarre, zündete sie wieder an, nahm ein paar Züge und schien darauf zu warten, daß sie noch etwas sagten. Quemada und Velasco blieben stumm. »Kann ich mich auf Sie verlassen? Keine Folgen? Keine Hinweise darauf, woher das Zeug stammt? Keine Anzeigen oder so was?« »Señor Ordoñez«, murrte Quemada, »müssen wir uns denn stets und ständig wiederholen?« »In Ordnung«, fügte sich der Mann endlich ins Unvermeidliche. »Also in Ordnung.« 177
Er tippte ein Wort. Sternchen erschienen auf dem Bildschirm. Dann öffnete sich die Kartei, Namen und Adressen kamen in Sicht. Er gab das Wort »Angel« ein, erteilte den Auftrag »Suchen« und ließ dann ausdrucken. Wenige Sekunden später begann ein kleiner Laserdrucker in der Ecke des Raumes zu laufen. »Diese Typen waren Mistkerle«, sagte Ordoñez und paffte. »Es überrascht mich, daß das nicht schon früher passiert ist.« Der Rauch trieb durch seinen Schnauzer, kräuselte sich um seine Wangen. »Soll ich Ihnen was sagen?« fragte Ordoñez rhetorisch. »Als sie zum ersten Mal herkamen, als sie anriefen, betrachtete ich das tatsächlich als Ehre. Ist das zu fassen?« Er hatte eine Flasche Sobrano aus dem Schreibtisch geholt und reichte den Brandy nun in Pappbechern herum. Zunächst lehnte Velasco ab, aber als er sah, daß Quemada trank, griff er auch zu einem. Es brannte ihm in der Kehle, tat aber auch gut. »Das muß vor zwei Jahren gewesen sein. Zunächst riefen sie an, dann kamen sie persönlich vorbei. Immerhin waren sie berühmt, oder? Wir hatten schon zuvor mal Prominente, aber nicht so. Offen, direkt. Es war ihnen egal.« »Eins verstehe ich nicht«, sagte Velasco. »Warum mußten sie sich denn an eine Agentur wenden, um Freunde zu finden? Ich hätte angenommen, daß sie über Mangel daran nicht zu klagen hatten – bei den pausenlosen Parties und so weiter.« 178
Ordoñez lächelte. »So einfach ist das nicht. Jedenfalls nicht, wenn man das will, was sie wollten.« »Sie hängten es an die große Glocke?« »Nicht unbedingt. Hätte ich von Anfang an Bescheid gewußt, hätte ich sie abgelehnt. Aber ich hatte keine Ahnung.« »Und die Leute auf dieser Liste …« Quemada warf einen Blick auf die rund dreißig Namen auf dem Ausdruck. Hinter jedem standen eine Adresse und ein paar Daten. »Sie wußten es zunächst auch nicht?« »Genau.« Ordoñez füllte ihre Pappbecher auf. »Die Brüder sagten lediglich, daß sie andere Burschen kennenlernen wollten, in ihrem Alter, vielleicht auch ein bißchen jünger, mit Sinn für Spaß, Liebe zur Kunst. Sie kennen das sicher.« »Nicht unbedingt«, sagte Quemada. »Ja«, meinte Velasco gedehnt. »Ich habe es schon gesehen. Man findet diese Formulierungen in den Kleinanzeigen der Zeitungen.« Quemada warf seinem Partner einen Seitenblick zu. »Ja, Kommissar, so ist es«, meinte Ordoñez. »Die meisten Leute drücken sich spezifischer aus. Um ganz offen zu sein, und vielleicht werden Sie mir jetzt nicht glauben, geht es den meisten nur um ein wenig Gesellschaft. Wenn sie sich sympathisch sind … na prima. Wenn mehr daraus wird, dann hat das nichts mehr mit mir zu tun. Die meisten, die hier anrufen, sind geschäftlich in der Stadt, ein bißchen einsam. Sie suchen jemanden, mit dem sie zu Abend 179
essen können. Jemanden auf der gleichen Wellenlänge.« »Und die Brüder Angel?« »Die Angels waren auf S-und-M aus. Aber das sagten sie nicht. Das stellte ich erst fest, als die Leute anfingen, sich zu beschweren.« »Sadomasochismus? Prügel und Peitschen?« fragte Quemada. »Ja. Aber die Angels wollten mehr. Sie haben die Liste. Fragen Sie diese Leute.« Ordoñez beugte sich vor und kreuzte etwa zehn Namen an. »Das sind die, die sich am heftigsten beklagt haben. Für die AngelBrüder war das eine Art Spiel. Sie waren sehr charmant zu den Burschen, die sie kennenlernten. Sie gingen mit ihnen in ein superteures Restaurant und luden sie danach zu sich auf einen Kaffee und ein Glas …« »Und dann?« »Dann … verliefen die Dinge anders als vereinbart.« »Was heißt das?« fragte Quemada. »Sie schlugen sie zusammen und versuchten, sie zu vergewaltigen«, erklärte Ordoñez ausdruckslos. »Manchmal gelang es ihnen. Manchmal bezogen aber auch die Brüder ganz hübsche Prügel, doch vielleicht gehörte das mit zum Spiel.« »Und warum hat uns niemand eingeschaltet?« erkundigte sich Quemada. »Machen Sie Witze? Was hätten Sie denn getan?« »Uns die Brüder vorgeknöpft. Sie festgenommen. Körperverletzung ist noch immer ein Verbrechen – ganz gleich, um wen es sich dabei handelt.« 180
Ordoñez trank einen tiefen Schluck Weinbrand. »So funktioniert das nicht. Nie.« »Könnte irgend jemand von dieser Liste besonders wütend auf die Brüder gewesen sein?« Ordoñez dachte einen Moment lang nach. »Da kann man keinen hervorheben. Sie haben sich alle beschwert. Vielleicht wurden auch einige der anderen so behandelt, aber sie haben sich nicht beklagt.« »Vielleicht hat es ihnen gefallen«, bemerkte Quemada. Ordoñez blickte ihn fast gequält an. »Vielleicht.« »Sind Sie auch dort gewesen, Señor Ordoñez?« »Nein.« »Wurden Sie eingeladen?« »Ja.« »Und warum sind Sie der Einladung nicht gefolgt?« Ordoñez steckte sich eine neue Zigarre an. »Ich bin verheiratet.« Quemada bekam den Mund nicht mehr zu. »Bevor Sie fragen: mit einer Frau.« »Heißt das … Wollen Sie damit sagen, hier geht es nur ums Geschäft?« Er nickte. »Geschäft. Und auch ein wenig Spaß. Hin und wieder.« Velasco blickte von seinen Notizen hoch. »Sind Sie ein Anhänger des Stierkampfes, Señor Ordoñez?« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht nur kein Anhänger, ich verabscheue ihn. Barbarisch. Grausam.« 181
»Haben Sie jemals zu einer dieser Bruderschaften gehört? Sie wissen schon, zu diesen religiösen?« »Nein.« Quemada wirkte nachdenklich. »Gibt es eigentlich eine homosexuelle Bruderschaft? So eine wie diese Büßervereinigungen?« Wieder schüttelte Ordoñez den Kopf. »Nicht, daß ich wüßte. Es gibt natürlich eine Schwulenbewegung innerhalb der Kirche. Aber darüber hinaus wohl nicht, nichts Separates.« »Ist einer der Leute auf dieser Liste hier ein besonderer Stierkampf-Fan, gehört jemand einer Bruderschaft an?« »Keine Ahnung. Sie rufen an, ich vermittle ihnen ein Treffen. In den meisten Fällen lerne ich sie gar nicht persönlich kennen. Nur telefonisch.« »Und das wär’s dann? Mehr nicht?« »Mehr nicht. Nach der letzten Beschwerde, vor drei oder vier Wochen – das genaue Datum finden Sie auf der Liste – habe ich den Angels erklärt, mit ihnen nichts mehr zu tun haben zu wollen. Es lohnte den Ärger nicht.« »Wie haben sie reagiert?« »Sie meinten, sie würden mir das Haus über dem Kopf anzünden.« »Reizende Leute, was?« »Kann man wohl sagen.« Velasco machte sich Notizen. »Danke, Señor Ordoñez«, sagte er dann. »Wir werden uns mit den Leuten auf der Liste in Verbindung setzen, und falls wir noch etwas brauchen, wenden wir uns wieder an Sie.« 182
Quemada musterte ihn von Kopf bis Fuß und griff dann zur Türklinke. »Hübsches Kleid«, sagte er. »Aber die Schuhe passen nicht ganz.«
17 Maria stellte fest, daß sie über den Buchseiten einzuschlafen drohte. Sie brachten ihr Dinge ins Gedächtnis zurück, die sie als Studentin gelernt, aber vergessen hatte, da sie so irreal wirkten, ihrem Leben so fern. Aber sie konnte Menéndez’ Niedergeschlagenheit nachempfinden. Psychopathie war eine Befindlichkeit, die in einer Großstadt perfekt »untergehen« konnte. Es gab eine Vielfalt von Verhaltensmustern, die urbanem Streß zugeschrieben werden konnten. Der Zustand war ›gewöhnlich‹, wurde aber verkannt. Psychopathie manifestierte sich eher durch rücksichtsloses, antisoziales Verhalten denn durch tatsächliche Verbrechen. Aber erst einmal in Schwung gekommen, war eine bisher latente Neigung zu Gewalttaten häufig genug nicht mehr zu bremsen. Das Problem für Ärzte – und die Polizei – bestand darin, daß die üblichen Anzeichen einer geistigen Erkrankung fehlten: Psychosen, Neurosen, mentale Ausfälle. Psychopathie hatte ihre Ursachen nicht in irgendeiner geistigen Erkrankung, sie war kein Verhalten, zu dem man durch das Aufwachsen in krimineller Umgebung konditioniert wurde, keine Eigenschaft, 183
die vom Vater auf den Sohn weitergegeben wurde. »Normale« Kriminelle konnten über ihre Vergehen Scham und Schuld empfinden. Sie waren neben ihrer kriminellen Karriere zu konventionellen, durchaus liebevollen Beziehungen fähig. Im Gegensatz zum Psychopathen. Zwischenmenschliche Kontakte bedeuteten ihm nichts. Wenn der psychopathische Zustand zu Verbrechen führte – und er konnte sich ebensogut als Hedonismus, Intoleranz, cholerisches oder allgemein antisoziales Verhalten manifestieren –, dann war das Verbrechen etwas, was einfach »passierte«. Eine absichtsvolle Tat, aus nichts anderem heraus geboren als dem Verlangen, sie zu begehen. Es gab Anzeichen dafür, daß es für extrem psychopathisches Verhalten Auslöser gab, doch das waren Allerweltsereignisse: ein kleiner Autounfall, eine Beleidigung, Kopfschmerzen. Dem Psychopathen fehlt der Sinn für die Maßstäbe, der die Reaktionen »normaler« Menschen bestimmt. Wenn einem Psychopathen beispielsweise im Straßenverkehr die Vorfahrt genommen wird und der »Sünder« ihm vielleicht noch den Vogel oder den Mittelfinger zeigt, kann das zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung führen, mitunter sogar zum Totschlag. Und später nach den Gründen für sein absurdes Verhalten befragt, kann der Psychopath nicht begreifen, warum das von anderen als unsinnig übersteigert betrachtet wird. Sie waren Menschen, in denen ein Monster schlummerte. Ganz gewöhnliche Menschen mit ein paar wunden Stellen. Ein leichter Druck auf eine der 184
wunden Stellen, und das Ungeheuer erwachte, beging seine Taten und legte sich wieder zur Ruhe. Bis zum nächsten Mal. Maria erschauerte, schlug das Buch zu und legte sich auf den Rücken. Dieser Täter würde sich nicht dadurch offenbaren, daß er Amok lief, sich in einem Haus einschloß und die Polizei dazu herausforderte, ihn da herauszuholen. Er würde sich nicht offenbaren, indem er die Gewalttätigkeit so weit eskalierten ließ, daß selbst der einfältigste Polizist darüber stolpern mußte. Sie dachte an eine Formulierung in dem Buch: »Bemühungen, das Verhalten von Psychopathen zu mäßigen, erwiesen sich vermutlich deshalb als erfolglos, weil sie keinerlei Leid empfinden, nichts Falsches an ihrem Verhalten feststellen können und sich von daher zu Änderungen nicht motiviert fühlen.« Dieser Mann würde sich seine Tat sehr genau überlegen. Wen er töten wollte. Und dann, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, würde er losziehen, das Verbrechen begehen, nach Hause zurückkehren, sich waschen und umziehen, den Fernseher einschalten und darauf warten, daß über seine Tat in den Abendnachrichten berichtet wurde. Wie auf die Fußballergebnisse: objektiv, interessiert, geduldig. Und zwischen den Taten würde er zu Hause sitzen oder zur Arbeit gehen, unauffällig, unverdächtig – auf Nachbarn, Kollegen und Bekannte (denn Freunde hätte er mit Sicherheit nicht) vielleicht ein bißchen introvertiert wirkend. Menéndez hatte recht. Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Fakten dahin185
gehend zu überprüfen, ob es vielleicht irgendwelche Hinweise in den Details gab. Und abzuwarten. Sie stand auf, ging in die Küche, nahm die Mineralwasserflasche aus dem Kühlschrank und goß sich ein Glas ein. Dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und setzte sich auf das niedrige Ledersofa. Maria befühlte die glänzende Chromröhre der Armlehne und dachte: Genau das, was ein Mann kaufen würde, nur schöner Schein und keine Bequemlichkeit. Draußen hörte sie die Nachtschwärmer. Sie sangen, riefen, manche grölten betrunken. Autohupen schrillten durch die engen Straßen. Es war noch nicht einmal Mitternacht, und der Krach würde bis in die frühen Morgenstunden hinein anhalten. Die Wohnung befand sich im oberen Geschoß eines zweistöckigen Hauses, über einem kleinen Optikergeschäft, und war durch einen eigenen Eingang neben dem Schaufenster mit seinen Brillen und Werbeplakaten für Kontaktlinsen erreichbar. Man öffnete die Haustür und stieg dann die Treppe zur Wohnungstür hinauf. Sie führte direkt ins Wohnzimmer, dreimal so lang wie breit und mit italienischen Möbeln in Beige- und Brauntönen ausgestattet. In der Mitte der gegenüberliegenden Wand ein mit Schirm verdeckter Kamin, daneben Bücherregale. Zwei Türen führten vom Wohnraum in die Küche und in das Schlafzimmer mit angeschlossenem Bad. Eine Junggesellenwohnung, eine Welt für einen Einzelnen, abgeschlossen, privat, abgesondert. Maria dachte einen Moment lang an den Eigentümer. Als sie beide in dieser Stadt Studenten gewe186
sen waren, vor so langer Zeit, hatten sie sich geliebt, kurz, vielleicht einen Monat lang. Sie erinnerte sich daran, wie sie durch El Viejo gestreift waren, billigen Wein getrunken und von tapas gelebt hatten, an heiße Abende in einer winzigen Studentenbehausung, an ein Bett mit Metallrahmen und Sprungfedern, die kreischten wie streunende, liebeskranke Kater. Und dann war alles in eine einfache, etwas langweilige Freundschaft übergegangen, allmählich, unbewußt, irgendwie selbstverständlich. Die Leidenschaft, wenn es überhaupt Leidenschaft gewesen war, hatte ein Ende gefunden, ganz so, als hätte sie ein Eigenleben gehabt, ein endliches Leben, das an eine bestimmte Zeitspanne gebunden war wie das einer Eintagsfliege. Und danach war sie verschieden, unauffällig, unbeachtet, unbetrauert. »Paolo«, flüsterte sie, und sogar sein Name klang nach all diesen Jahren anders, beschwor einen ganz anderen Menschen herauf, nicht mehr den ruhigen jungen Büchernarren, mit dem sie einst so schüchtern ins Bett gegangen war. Maria trank einen Schluck Wasser, stand auf und zog sich aus. Nackt trat sie vor den großen Spiegel an der Wohnungstür. Ihre Haare waren ungebärdig wie immer. Unter ihren Augen lagen die ersten Ansätze von Tränensäcken. Sie war dreiunddreißig Jahre und fühlte sich alt. Sie berührte ihre linke Brust, drückte sanft die Brustwarze, bis sie hart wurde, und dachte: Ist das noch der Körper, der vor mehr als einem Jahrzehnt in dieser Stadt eine so flüchtige Erregung verspürt hat? 187
Es kam ihr nicht so vor. Die unbeschwerte, naive junge Frau, die sie damals gewesen war, schien die Darstellerin in einem unbedeutenden, längst vergessenen Stück zu sein, die einen Text sprach, der ihr nichts mehr sagte, und von Wünschen und Motiven beherrscht wurde, die für sie keine Bedeutung mehr hatten. Sie wußte kaum noch, daß sie einmal dieses Mädchen gewesen war, spürte keine Verbindung mehr zwischen der Maria von damals und der Maria von heute. Sie waren durch die inzwischen vergangenen Jahre unwiderruflich voneinander getrennt, die Jahre, in denen sie sich dem trockenen, leidenschaftslosen akademischen Leben hingegeben hatte, und die kurze, unbegreiflich strahlende Zeit mit Luis. Es war eine Kluft, die sie nie wieder überwinden konnte eine Kluft, in die einige unermeßliche Elemente ihres Lebens gefallen waren, und ihr nichts geblieben war, was sie berühren könnte, nichts, was sie vorweisen könnte. Sie betrachtete sich im Spiegel – nackt, die linke Hand an der Brust, die Brustwarze halb steif, das Wasserglas in der rechten, und fragte sich: Bin ich noch attraktiv? Und ist mir das eigentlich wichtig? Dann, sehr plötzlich, sehr laut, klingelte das Telefon. Sie fuhr zusammen, spürte, wie das Glas ihrer Hand entglitt, und sah fasziniert zu, wie es fiel, scheinbar im Zeitlupentempo. Es traf auf dem Steinfußboden auf und zersprang in blitzende Glasscherben und Flüssigkeit. »Mist«, sagte Maria und trat schnell einen Schritt 188
zurück. Dann ging sie zum niedrigen Tisch hinüber und fragte sich, warum ihr ihre Nacktheit so unbehaglich war. Sie griff nach dem Hörer und wartete darauf, daß sich jemand meldete. Doch da war nur leises, kontrolliertes Atmen zu hören. »Ist da jemand?« Sie blickte auf die Uhr. Es war fast Mitternacht. Automatisch vergewisserte sie sich erneut, daß die Vorhänge zugezogen waren. »Ist da jemand in der Leitung? Sonst lege ich auf.« Sie hörte etwas, das wie ein Lachen klang. Kalt und trocken. »Sie wissen nicht einmal, daß Sie es verloren haben«, sagte eine Männerstimme. Sie hörte sich jung an, ein wenig berauscht, vielleicht sogar betrunken. »Ich glaube, Sie haben sich verwählt.« Wieder das Lachen. »Wirklich?« »Wirklich«, sagte Maria und legte den Hörer auf. Sie blieb noch einen Augenblick lang sitzen, wartete darauf, daß es noch einmal klingelte. Als das nicht geschah, ging sie ins Bett und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, in dem die nächtliche Welt nichts anderes war als eine graue, leblose Landschaft, unentrinnbar zweidimensional.
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18 Velasco und Quemada saßen an ihren Schreibtischen. Die Hälfte der Nachtschicht lag hinter ihnen, der Raum war fast leer. Auf dem Flur krakeelte ein Betrunkener, der unter einem Minimum an Fürsorglichkeit in eine Ausnüchterungszelle gebracht wurde. »Wie soll man bei diesem Krach nachdenken können?« erkundigte sich Quemada gequält. »Das ist eine rein rhetorische Frage, nehme ich an«, sagte Velasco. »Was?« »Nicht so wichtig.« »Ist mit dir alles in Ordnung? Du siehst ziemlich mies aus. Du siehst ohnehin nicht gerade aus wie das blühende Leben. Aber ich würde sagen, du verfällst. Zusehends.« Velasco schloß die Augen. Er gab seiner Erkältung noch ein paar Tage. Höchstens. Wenn sie dann nicht vorbei war, würde er sich ins Bett legen. Garantiert. Aber allein die Vorstellung vergrößerte sein Leiden. Das hier war ein Riesenfall, ein Kriminalknaller, einer, mit dem man es nur einmal im Leben zu tun bekam. Und er war nicht bereit, sich den Spaß entgehen zu lassen. »Sie sollten mir für die Zusammenarbeit mit dir eine Zulage geben. Das sollten sie wirklich. So wie die Zuschüsse für die Betreuung von Waisen oder Behinderten.« »Ich will nur nicht, daß du mich ansteckst. Das ist 190
alles. Und hör endlich auf, so widerlich zu schniefen und zu schnaufen.« »Es handelt sich um eine menschliche Krankheit. Wie solltest du sie dann bekommen?« Quemada nickte friedfertig. Dann trank er einen Schluck Kaffee und warf einen Blick auf Ordoñez’ Liste. Velasco beobachtete ihn. »Meiner Meinung nach sollten wir uns jeden auf dieser Liste vorknöpfen und sehen, was sie zu sagen haben.« »Jetzt? Mitten in der Nacht? Willst du, daß sich auf dem Schreibtisch des Capitán die Beschwerden stapeln, wenn er zum Dienst erscheint? Vermutlich ist die Hälfte dieser Knaben verheiratet. Wenn wir nachts um zwei da anrufen und fragen: ›Ist Señor Sanchez daheim? Wir würden ihm gern ein paar Fragen nach seinen männlichen Gespielen stellen‹, riskieren wir garantiert Verleumdungsklagen.« »Immerhin handelt es sich dabei um die Ermittlung in einem Mordfall.« »Ja, aber das heißt nicht, daß wir kopflos vorgehen müssen. Sicher, irgend jemand muß diese Liste überprüfen, aber ich halte es für das beste, den Capitán entscheiden zu lassen, wie und wann.« »Irgend etwas müssen wir aber tun.« »Hm.« Quemada holte ein Telefonbuch hervor und meinte: »Glaubst du, daß unser Mann mit seinem richtigen Namen auf dieser Liste steht, wenn überhaupt?« Velasco verzog das Gesicht zu einem ›Vielleicht, vielleicht auch nicht‹. »Warum nehmen wir uns 191
nicht die Namen vor und überprüfen, ob einige von ihnen nicht im Telefonbuch stehen. Vermutlich sind sie dann gefälscht«, schlug er vor. »Einverstanden. Aber würdest du einer Agentur deinen richtigen Namen nennen, selbst wenn es dir nur um das Übliche geht – Handbetrieb, Mund-zuPenis-Bearbeitung und so weiter? Würdest du das wirklich tun?« »Vielleicht nicht, aber laß es uns trotzdem versuchen.« Schulterzuckend griff Quemada nach dem Band A-M. »Ich beginne am Anfang, du hinten. Arbeiten uns bis zur Mitte durch.« Velasco nieste und nahm sich den zweiten Band vor. Eine halbe Stunde später schlug Quemada sein Buch zu und überprüfte die Liste. Er hatte die Namen mit einem roten Stift abgestrichen, Velasco mit einem grünen. Alle Namen trugen Vermerke – bis auf einen. »Nicht zu fassen«, sagte Quemada. »Offenbar rufen diese Typen da an, sagen: ›Schicken Sie mir einen neuen Freund, der alte ist mir abhanden gekommen‹, und hinterlassen ihre Namen und Adressen. Scheiße, die Hälfte von ihnen nennt auch ihre Kreditkartennummern. Ich sehe den alten Felipe förmlich vor mir: ›American Express, mein Herr? Jederzeit, gern.‹ Unglaublich.« »Reg dich ab, Quemada. Man sagt, daß die am meisten zu verbergen haben, die sich am meisten empören.« 192
»Tatsächlich?« »Tatsächlich.« »Nun, mir sollte ›man‹ das besser nicht sagen.« Velasco betrachtete nachdenklich den einzigen Namen ohne Vermerk. »Offenbar ein echter Witzbold. Miguel Ratón, Hotel Inglaterra.« »Vielleicht war er ohne Minnie auf der Durchreise und fühlte sich einsam.« »Disney sollte ihn verklagen.« »Weißt du eigentlich, daß es Micky und Minnie in einem Trickfilm einmal wirklich miteinander getrieben haben? Ehrlich. Echt.« »Echt?« »Ja, es war ein Scherz.« »Was du nicht sagst.« »Es war ein Scherz. Zu Disneys Geburtstag oder so. Er wurde auf einer Party gezeigt. Micky bespringt Minnie. Das habe ich in einer Zeitschrift gelesen.« »Tatsächlich?« »Disney sah sich den Film an und fragte, von wem er sei – offenbar war er wirklich gut – und feuerte sie alle. Nach der Party, nachdem er die Geschenke eingeheimst hatte.« »Du liest vielleicht einen Schund.« »Danke, Partner«, sagte Quemada. »Vielen Dank.« Erneut blickte er auf die Liste. »Sonst nichts. Alle anderen haben den richtigen Namen, die richtige Adresse angegeben.« »Ja«, meinte Velasco. »Obwohl der gute Felipe nicht besonders gut im Tippen von Telefonnummern zu sein scheint.« 193
Quemada wartete auf weiteres. »Sieh dir das hier mal an.« Velasco zeigte auf einen abgehakten Eintrag. Da stand: Luis Romero, 3 Calle de Calderon, Telefon 516 76 78. Dahinter der Vermerk, daß er sich mit den Angel-Brüdern vier Monate zuvor getroffen hatte. »Die Nummer ist falsch. Eindeutig falsch. Ich habe mir die richtige notiert. Sie lautet Fünfzwölfdreiunddreißig-siebenundneunzig. Ausgesprochen schlampig getippt.« »Vielleicht hat er eine zweite Nummer. Auf der Arbeitsstelle oder so ähnlich.« »Nein. Kennst du dich mit unserem Telefonsystem denn nicht aus? Es gibt keinen Ortsanschluß, der mit Fünfsechzehn beginnt. Die Stadt ist säuberlich in Vermittlungsgebiete aufgeteilt. Das weiß ich. Ich wollte einmal einem Telefonbetrüger auf die Spur kommen. War gar nicht leicht, kann ich dir sagen. Diese Nummer kann nicht richtig sein. Paß auf.« Velasco drückte auf eine Taste seines Telefons und wartete auf das Freizeichen. Dann wählte er die Nummer. Alles, was sie hörten, war ein anhaltendes Pfeifen. Er wählte noch einmal, mit dem gleichen Ergebnis. »Diese Nummer gibt es nicht, hat es nie gegeben. Muß ein Fehler sein«, mutmaßte Velasco. »Vielleicht. Um seine Identität zu verschleiern, hätte der Bursche doch nie bewußt eine falsche Nummer angegeben. Warum sollte er sonst seinen richtigen Namen nennen? Oder er wollte aus ir194
gendwelchen Gründen sichergehen, daß niemand zurückrief.« Quemada dachte einen Moment lang nach, dann stöberte er in seinen Notizen. »Was hat Felipe Ordoñez darüber gesagt, wann er seinen Laden schließt? Um welche Zeit?« »Um drei. Drei Uhr morgens«, sagte Velasco. »Jede Menge nächtliche Nachfragen, nehme ich an.« Quemada sah auf seine Armbanduhr. Es war halb drei. »Eine Sache hätten wir ihn noch fragen sollen«, sagte er und wählte. Ordoñez kam sofort an den Apparat. »Señor Ordoñez? Hier Kommissar Quemada, wir waren heute bei Ihnen. Sie haben doch meine Karte? Ja, Señor. Tut mir leid, daß wir Sie wieder belästigen. Aber da gibt es noch eine kleine Sache. Ich wäre Ihnen denkbar, wenn Sie noch einmal in Ihren Computer blicken könnten. Es kann nicht lange dauern, und danach lassen wir Sie in Ruhe.« Quemada wartete. Er hörte, wie der Schreibtischstuhl durch die Gegend rollte, das Piepen und Surren des Computers. »Haben Sie Ihre Kunden-Kartei aufgerufen? Gut. Ich kann warten. Macht nichts. Jetzt? Ich würde gern wissen, ob Sie einen Freddy Famiani gespeichert haben, einen Amerikaner.« Quemada lauschte, nickte und legte dann seine Hand über die Muschel. »Er ruft Famiani auf. Er erinnert sich an ihn. Erinnert sich an den Amerikaner.« 195
»Großer Gott«, sagte Velasco. »Nie im Leben …« »Sie haben einen Eintrag für Mister Famiani? Ja, Señor. Er wollte sein Geld zurück, weil der Kontakt nie auftauchte? Gut. Und der Name? Kennen Sie ihn? Sind Sie ihm persönlich begegnet? Nein? Verstehe. Zahlt immer bar, per Post oder indem er einen Briefumschlag durch die Tür schiebt. Gut. Ich bin Ihnen zu Dank verbunden. Einen angenehmen Abend noch.« Quemada legte den Hörer auf, machte sich ein paar Notizen und sah seinen Kollegen an. »Freitag abend vereinbarte Famiani ein Treffen mit Luis Romero. Sagte, Romero wäre nie aufgetaucht.« Velasco trommelte mit seinem Stift auf den Schreibtisch und grinste. »Willst du den Angeber Menéndez wecken, oder soll ich es tun?«
19 Eine Stunde später rasten vier Polizeiwagen quer durch die Stadt in eine Gegend, die als gutbürgerliches Wohnviertel durchging. Noch immer waren die Straßen belebt. Benommen vom Alkohol und mürrisch vor Müdigkeit hingen die Menschen an den Straßenecken herum. Aber die Munterkeit, der Frohsinn waren verflogen. Jetzt war es nur noch spät. Menéndez saß im ersten Auto, zusammen mit Ve196
lasco und Quemada. In den drei anderen Fahrzeugen saßen zwölf Polizisten, alle in Uniform, alle bewaffnet. Vier von ihnen gehörten einer Spezialeinheit an, die in der Überwältigung bewaffneter Verbrecher ausgebildet war. Zwei waren von der Polizeimannschaft, die im Jahr zuvor in Valencia die nationalen Meisterschaften im Schießen gewonnen hatte. »Wie gehen wir vor, Hauptkommissar?« fragte Quemada. Menéndez blickte aus dem Fenster, sah hohe Häuser, gußeiserne Straßenlampen vorbeifliegen. »Wir klingeln und stellen ein paar Fragen. Was sollten wir sonst tun?« Quemada verzog das Gesicht. »Dieser Typ wird sich wohl kaum von uns ohne Widerstand Handschellen anlegen und abführen lassen, oder?« Menéndez war offenbar anderer Ansicht. »Vielleicht nicht. Aber wenn wir aus blauem Himmel bei ihm auftauchen, ihn überrumpeln, könnte er auch genau das tun.« »Sie hoffen also auf das ganze psychologische Brimborium.« »Wenn Sie es so nennen wollen.« Der Wagen bog rechts in eine baumbestandene Sackgasse ein und hielt vor einem Haus mit hohem Eisenzaun. Sie stiegen aus und warteten auf die anderen Fahrzeuge. »Nun«, meinte Quemada zu seinem Partner, »wenn er anfängt, mit seinen Pfeilen um sich zu werfen, werde ich jedenfalls nicht versuchen, ihn zur 197
Aufgabe zu überreden. Das überlasse ich den anderen Jungs. Dafür werden sie schließlich bezahlt.« Velasco schüttelte den Kopf. »Überlaß das ruhig dem Hauptkommissar. Der weiß schon, was er macht.« »Ja, überlassen wir es dem Hauptkommissar. Wenn einer von uns ins Gras beißt, wird er vielleicht noch schneller befördert.« Mißmutig trat Quemada nach einem Steinchen in seinem Weg. Drei Meter vor ihnen fingerte Menéndez nach einem Riegel fand das Tor unverschlossen, öffnete es und trat ein. Der Rest der Mannschaft folgte. Das Haus war eine moderne, einstöckige Villa inmitten eines großen Gartens. In der Ferne schimmerte ein nierenförmiger Swimmingpool im Mondlicht. Blüten durchdufteten die Nacht. Unter einem Baldachin in der Nähe der Hauswand stand ein viertüriger Mercedes. »Der Kerl hat also Geld«, wisperte Quemada. »Kann sich bestimmt etliche Freunde leisten, wenn ihm der Sinn danach steht.« Im Haus brannte nirgendwo Licht. Die Eingangstür und alle Fenster im Erdgeschoß waren vergittert. Menéndez rüttelte leicht an dem Gitter der Haustür. Es war verschlossen. Er wandte sich zum Leiter der Spezialeinheit um, der einen schweren Hammer geschultert hatte, sah dessen Einsatzbereitschaft und schüttelte den Kopf. Quemada warf einen Blick auf die bewaffneten Kollegen und sagte zu Velasco: »Sie tragen kugelsichere Westen, siehst du das? Scheiße, warum sie und wir nicht? Warum?« 198
»Weil sie es sind, die damit fertig werden müssen, wenn es zu einer Schießerei kommt.« »Nur zu wahr«, sagte Quemada und begann sich zu fragen, wieviel der Mercedes gekostet hatte. Menéndez drückte auf die beleuchtete Klingel. Innen im Haus hallte es, hart und metallisch wie ein Gong. Sie hörten, wie das Geräusch lange, leere Flure durcheilte, auf der Suche nach einer Reaktion, aber keine erhielt. Erneut drückte Menéndez auf die Klingel, noch einmal. Dann wartete er erst einmal ab. Velasco und Quemada fragten sich, was als nächstes anstand. Es würde nicht leicht sein, in dieses Haus einzudringen, nicht zu dieser Stunde, nicht, ohne zu wissen, was darin war. Dann leuchtete im oberen Geschoß ein Fenster auf gedämpft, gelblich. Offenbar eine Nachttischlampe. Sie hörten Geräusche. Im Haus bewegte sich etwas. Mehr Licht, weitere Geräusche, jetzt schon näher. Mit einem unerwartet lauten Rasseln wurde die Tür aufgeschlossen. Unbewußt machten Quemada und Velasco ein paar Schritte zurück, hinter die Uniformierten. Die standen, gespannt, die Hände am Griff ihrer Waffen, gut drei Meter hinter Menéndez, der durch das Sicherheitsgitter Richtung Tür spähte. Das Licht über dem Eingang ging an, die Tür öffnete sich, und eine verschlafene Frau in langem, schäbigem Morgenrock stand vor Menéndez. Quemada und Velasco entspannten sich ein wenig, traten, ohne nachzudenken, wieder vor und fanden sich zwischen den Bewaffneten und Menéndez wieder. Sie wollten sich nichts entgehen lassen. 199
»Señora Romero? Wir sind von der Polizei«, sagte Menéndez. Die Frau musterte ihn, nickte und versuchte, hinter ihm in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Sie sah aus, als brauche sie eine Brille. »Was wollen Sie?« fragte sie leise. »Wie spät ist es eigentlich?« »Verzeihen Sie die späte Stunde, aber wir würden gern mit Ihrem Mann sprechen. Es ist wichtig.« Sie starrte ihn an, und Velasco ertappte sich dabei, nach seinem Holster zu fühlen. Nur für den Fall des Falles. Die Frau wirkte mehr als eine Spur verwirrt. »Sie wollen mit meinem Mann sprechen? Sie sind von der Polizei und wollen meinen Mann sprechen?« »Ja.« »Ist das ein Witz? Erlauben Sie sich irgendeinen schlechten Scherz?« Menéndez schwieg. Irgend etwas störte ihn, unbewußt, seit Velasco und Quemada ihn geweckt hatten. Irgend etwas im Zusammenhang mit dem Namen Luis Romero. Er hatte versucht dahinterzukommen, was das war, bislang vergeblich, an die Berichte gedacht, die über seinen Schreibtisch gewandert waren, an Vorfälle, die er gut kannte. Aber da hatte es eine Lücke gegeben. Er war auf Urlaub gewesen, eine knappe Woche lang die Küste entlanggefahren. Nach der Rückkehr hatte er das Dienstbuch durchgeblättert und überprüft, ob irgend etwas seiner Aufmerksamkeit bedurfte … und da war es. Da war Luis Romero, tot, begraben, fast vergessen. 200
Er sah die blasse, kummervolle Frau an und sagte: »Verzeihen Sie bitte. Da wurde ein Fehler gemacht. Ich kann mich nur entschuldigen. Aber ich muß mit Ihnen sprechen. Bitte.« »Jetzt?« Er nickte, und sie schloß das Sicherheitsgitter auf. Der Hauptkommissar drehte sich zu seinen Männern um und entließ die Uniformierten. Irgendwie enttäuscht verschwanden sie im Dunkel der Nacht, ließen ihn mit Velasco und Quemada allein. »Ist er denn nicht zu Hause?« erkundigte sich Velasco. »Gibt es irgendein Problem?« Menéndez schob die Hände in die Taschen und sagte halblaut: »Luis Romero hat vor zwei Monaten Selbstmord begangen. Es stand in den Berichten. Ich hätte mich daran erinnern müssen.« Er trat auf die Haustür zu. »Vor zwei Monaten?« fragte Quemada entgeistert. »Mist«, murmelte Velasco und folgte Menéndez ins Haus. Teresa Romero setzte sich im Wohnzimmer auf ein cremefarbenes Sofa, unter ein großes, modernes Gemälde. Menéndez wußte, daß er den Maler kennen müßte, aber der Name wollte ihm nicht einfallen. Quemada und Velasco nahmen diskret auf Eßzimmerstühlen Platz und zogen Notizblöcke hervor. Die Frau wirkte, als stünde sie kurz vor einem Zusammenbruch. Strähnig und farblos fielen ihr die glatten Haare auf die mageren Schultern. Ihr Teint wirkte fahl, fast grau. Sie ist vermutlich fünfzig Jahre 201
alt, dachte Menéndez, aber irgend etwas – Leid? Angst? Das Leben? – hat ihre Züge so verwüstet, daß sie sehr viel älter wirkte. In ihren Augen lag etwas Quälendes und Gequältes. »Verzeihen Sie«, wiederholte Menéndez. »Wir haben beim Namen Ihres Mannes nicht sofort an seinen Tod gedacht. Das war der Fehler. Es tut mir sehr leid.« Sie umklammerte ein Glas Weinbrand. Es war vier Uhr morgens. »Was wollen Sie wissen?« Fast schien es so, als fürchte sie sich vor den Fragen. »Señora Romero …«, begann Menéndez, rang nach den richtigen Worten, brach ab und wünschte sich, Maria wäre bei ihnen. »Wir sind mit den Ermittlungen einiger sehr schwerer Verbrechen befaßt, und im Zusammenhang damit sind wir auch auf den Namen Ihres Mannes gestoßen.« In ihrem Gesicht veränderte sich nichts. Sie wollte die auf der Hand liegende Frage nicht stellen. »Jemand hat sich seines Namens bedient. Eindeutig unberechtigt, da es erst in der letzten Woche geschah. Aber ich muß wissen, ob das noch häufiger der Fall gewesen sein könnte. Ich muß wissen, welchen Umgang er pflegte.« Sie trank einen Schluck. »Sie wissen, was mein Mann war?« »Ein Universitätsprofessor? Ich versuche vergeblich, mich zu erinnern.« »Er war Professor für Geschichte. Die ›Geschichte an sich‹.« Sie sah ihn prüfend an, ob jetzt etwas bei 202
ihm klickte, und lachte trocken auf, als das nicht der Fall war. »War er als Professor beliebt, anerkannt?« Wieder lachte Teresa Romero, trank noch einen Schluck. »O ja. Er war beliebt. Tagtäglich, allabendlich. Irgendwo war er immer beliebt. Hier.« Sie stand auf, ging zu einem Beistelltisch, nahm ein Foto und reichte es Menéndez. Es war das Porträt eines Mannes Ende Vierzig in einem gemusterten Hemd, der mit einem Glas der Kamera zuprostete. Ein goldenes Armband lag um sein Handgelenk, eine Goldkette um seinen gebräunten Hals. Seine Haare waren braun gelockt. Er trug einen Schnurrbart und ein breites, strahlendes Lächeln. »Ein Professor für Geschichte?« Sie lehnte sich über seine Schulter, und er konnte den Alkohol riechen. »Oder ein kleiner Schauspieler, der noch immer so tat, als wäre er fünfundzwanzig?« Sie stolperte zum Sofa zurück und setzte sich. »War Ihr Mann homosexuell?« fragte Menéndez. »Nein«, erwiderte sie ohne Zögern. »Das wohl nicht. Er mochte die Frauen, er mochte die Geschichte. Das können Ihnen viele Menschen bestätigen. Ich war mit dem Mann nur verheiratet. Ich habe keine Ahnung.« »Wissen Sie, ob er sich der Dienste von Kontaktagenturen für Homosexuelle bediente? Wir haben seinen Namen in einer Kundenkartei gefunden.« Sie dachte einen Moment lang nach. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.« 203
Ihre Stimme klang verträumt, unkonzentriert. Menéndez zog ein Papier aus der Tasche. Es war die Namensliste von Abraxas. Er reichte sie ihr. »Kennen Sie einen dieser Leute?« Sie las die Namen, einen nach dem anderen. »Nein«, sagte sie. »Interessierte er sich für den Stierkampf?« »O ja. Kampf, Leidenschaften, Blut. Das liebte er. Einen Torero sah er besonders gern. Diesen hübschen, mit den blonden Haaren.« »El Guapo?« fragte Velasco. »Ja, ihn. Er ließ sich keinen Kampf entgehen. Ich glaube, Luis kannte ihn sogar, flüchtig.« »Und wie hielt er es mit der Religion?« Sie sah ihn an. »Fragen Sie das im Ernst?« »War er in irgendeiner Weise an den Aktivitäten der Semana Santa beteiligt? Gehörte er vielleicht einer der Bruderschaften an?« »Mein Mann war ein Anarchist, der alles zutiefst verabscheute, was mit der Kirche zusammenhing, Hauptkommissar. Das einzige, was ihm an der Semana Santa gefiel, war die Corrida nach ihrem Ende.« »Verstehe.« Menéndez stand auf. »Es ist sehr spät.« »Ist es das?« fragte sie. »Señora Romero?« Sie driftete ab, die Fragen schienen sie kaum noch zu erreichen. »Warum hat sich Ihr Mann das Leben genommen? Aus welchem Grund, Ihrer Meinung nach?« Sie schnaubte verächtlich, verschüttete Weinbrand auf den Morgenrock. 204
»Warum?« »Er scheint doch ein glücklicher, zufriedener Mann gewesen zu sein. Vielleicht war sein Lebensstil ein wenig unkonventionell. Aber dem Foto nach zu urteilen, wirkte er durchaus nicht depressiv oder verzweifelt.« Sie blickte zum Fenster hinaus. Dort zog langsam die Morgendämmerung herauf. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »In den letzten zehn Jahren habe ich Luis kaum noch gekannt. Er war nicht mehr der Mann, den ich geheiratet hatte. Er wurde ein anderer, jemand, der seiner Jugend nachjagte, die er nie hatte. Ich weiß nicht, was in ihm vorging. Und darüber hinaus …« Menéndez wartete einen Moment. »Darüber hinaus?« bohrte er dann sanft nach. Mit angewidertem Gesichtsausdruck stellte sie das Glas auf den Tisch. »Da trinke ich sein Mistzeug. Der Himmel mag wissen, warum. Ich mache Luis Vorwürfe, dabei ist es nicht seine Schuld.« Teresa Romero zog ihren Morgenrock enger um sich und starrte ihn an. »Sie waren hier, Herr Hauptkommissar. Sie kamen hierher und erzählten mir, daß mein Mann eines Nachts mit seinem Auto in den Alfabia-Park gefahren ist, eine halbe Flasche Whisky austrank, ein Taschenmesser nahm und sich die Pulsadern aufschnitt. Und dann fragten sie, was auch Sie wissen wollen: ›Warum?‹ Ich habe meinen Mann in den letzten paar Jahren vielleicht nicht mehr gekannt, Herr Hauptkommissar, aber manche Dinge ändern sich nie. Luis war ein Feigling. Ich 205
konnte ihn vor einer Auslandsreise doch nicht einmal zu einer Spritze überreden. Er verabscheute die Vorstellung von Verletzungen, Schmerzen, Operationen. Es ist vorstellbar, daß er sich tötete, doch dann nur, wenn er unheilbar krank gewesen wäre. Aber so niemals. Nicht Luis. Es hätten Tabletten sein müssen, etwas in dieser Art.« »Und was ist dann Ihrer Meinung nach geschehen?« »Auf diese Frage gebe ich Ihnen die gleiche Antwort wie Ihren Polizistenkollegen, und es ist mir egal, was Sie denken. Jemand hat ihn getötet.« Menéndez schwieg. »Ich bin keine vor Trauer hysterische Witwe, Herr Hauptkommissar. Ich war es gleich nach seinem Tod nicht und bin es auch jetzt nicht. Aber ich kannte Luis gut genug, um zu wissen, daß er sich das nie angetan hätte. Viele andere Dinge vielleicht, aber das nicht.« »Verstehe.« »Tatsächlich?« Sie griff nach einer Schachtel Zigaretten, öffnete sie, schien es sich aber anders zu überlegen und legte die Packung wieder auf den Tisch. »Was zwischen einem Mann und einer Frau vorgeht, die lange miteinander verheiratet sind, sieht keiner. Niemand, Herr Hauptkommissar. Nicht einmal die Eheleute selbst. Das spielt sich unsichtbar ab, hinter uns, um uns, und wenn wir etwas bemerken, sind wir meistens zu höflich, um es zu erwähnen.« 206
»Aber warum sollte jemand Ihren Mann töten wollen?« »Das weiß ich nicht. Ich weiß es wirklich nicht.« Menéndez steckte sein Notizbuch ein und zermarterte sich das Hirn nach weiteren Fragen. Es fielen ihm keine ein. Er stand auf, auch Quemada und Velasco erhoben sich. »Sie sagten, Ihr Mann wäre Professor für Geschichte gewesen, Señora Romero?« meinte Menéndez. »Ja.« »Was war sein Fachgebiet?« Nun steckte sich Teresa Romero doch eine Zigarette an. »Luis war ein hervorragender Historiker, Herr Hauptkommissar. Das kann ihm niemand nehmen. Er begann als Spezialist für klassische Geschichte, aber in den letzten zehn Jahren befaßte er sich eigentlich nur noch mit einem Thema. Der Geschichte des Bürgerkriegs.« »In der Stadt?« »Selbstverständlich. Ohne die Stadt gäbe es keine Geschichte.« »Nein«, erwiderte Menéndez knapp. »Vermutlich nicht. Aber interessierte er sich besonders für das Kriegsgeschehen hier in der Stadt? Was ist hier geschehen? Das könnte wichtig sein.« Sie sah ihn an, überrascht von der Dringlichkeit seiner Frage. »Das sollten Sie seine Kollegen fragen. Mich hat er nie in Einzelheiten der Dinge eingeweiht, die ihn interessierten.« »Ja«, sagte Menéndez und gab Velasco und Que207
mada ein Zeichen. »Wir werden Sie auf dem laufenden halten«, sagte er, nachdem sie den Raum verlassen hatten. »Worüber?« »Den Tod Ihres Mannes. Die Ursachen.« »Herr Hauptkommissar«, sagte Teresa Romero, »Sie scheinen mich nicht verstanden zu haben. Luis könnte getötet worden sein. Nein. Er wurde getötet. Aber das ist mir gleichgültig. Es hat keine Bedeutung für mich. Er ist tot, aber mein Leben hat sich nicht verändert.« Menéndez nickte und blickte noch einmal auf das Gemälde. Miró. Jetzt konnte er die Symbolik erkennen: Sonne, Stiere, Blut, Tod. »Nein«, sagte er und trat in die frische Morgenluft hinaus.
20 Auf dem Nachttisch klingelte das Telefon. Abrupt wurde Maria aus tiefem Schlaf gerissen und brauchte einen Moment, sich zurechtzufinden. Sie nahm den Hörer ab. Auf dem kleinen Digitalwecker stand die Zahl acht. Sie hatte das Gefühl, in alle Ewigkeit weiterschlafen zu können. »Guten Morgen, Maria.« Es war Torrillo. Einen Moment lang wunderte sie sich, daß sie geglaubt hatte, es könnte ein anderer 208
sein. Dann erinnerte sie sich an den merkwürdigen Anruf um Mitternacht. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Leicht war es nicht. »Tut mir leid, Bär. Ich habe verschlafen. Das sieht mir gar nicht ähnlich.« »Kein Problem. Es werden noch eine Menge anderer Leute verschlafen. Es war eine unruhige Nacht.« »Ist wieder ein Mord geschehen?« Ihre plötzliche Erregung ließ sie zusammenzucken. Sie kam ihr ungehörig vor, natte eine Spur von Sensationsgier, die sie an sich gar nicht kannte. »Nein, aber dennoch war viel zu tun. Ein paar Jungs von der Nachtschicht sind auf eine mögliche Spur gestoßen. Wir müssen ein paar Namen überprüfen, und von so was sind die Leute hier immer besonders begeistert.« »Ich muß mich nur anziehen. In fünfzehn Minuten bin ich da.« »Das ist nicht nötig, sagte der Hauptkommissar. Er möchte, daß Sie zu Caterina Lucena ins Krankenhaus gehen und versuchen, mit ihr über den Krieg zu sprechen. Um zwölf will er eine Besprechung abhalten. Vielleicht hat sich bis dahin etwas Handfestes ergeben.« »Er will also tatsächlich, daß ich allein zu ihr gehe?« »Scheint es sogar für unverzichtbar zu halten. Mit unsereins redet die alte Dame doch nicht.« Maria fragte sich, welch simpler Instinkt ihnen sagte, ihr könnte es besser ergehen. »Sie wissen, wie Sie zum Krankenhaus kommen?« 209
»Ich kann von hier aus zu Fuß gehen.« »In Ordnung. Aber wenn Sie einen Wagen brauchen, rufen Sie an. Wir schicken Ihnen sofort einen.« »Gut.« »Viel Glück.« Torrillo legte auf, und sie bewunderte seine Munterkeit zu dieser frühen Morgenstunde. Eine akademische Angewohnheit war das nicht. Sie zwang sich aus dem Bett, duschte, aß im Morgenrock ein frugales Frühstück und zog sich an. Eine weiße Bluse, schlichte dunkle Hosen. Sie erinnerte sich an den Blick, mit dem Caterina Lucena ihre Jeans bedacht hatte. Zwanzig Minuten vor neun lief sie die Treppe hinunter, verließ das Haus und machte sich auf den Zehnminutenweg zum Krankenhaus. Um halb zehn, als der Optiker sein Geschäft öffnete, trank ein junger Mann in hellblauer Uniform mit dem Namen der städtischen Elektrizitätswerke unter der linken Schulter im Eckcafé gegenüber seinen Kaffee aus, überquerte die Straße und betrat das Geschäft. Der Optiker, eine würdevolle, leicht pompöse Gestalt in weißem Nylonkittel, stand hinter dem Tresen. Er trug eine teure Schildpattbrille und verbreitete das aufgesetzte Gehabe eines Halbprofis. Er sah dem Eintretenden mit kaum verhüllter Abneigung entgegen. »Sie wünschen eine Brille?« »Nein«, erwiderte der Mann. »Señora Gutierrez hat uns von ihrem Büro aus angerufen. Mit ihrem 210
Stromanschluß scheint irgendwas nicht in Ordnung zu sein. Sie bat darum, daß wir uns die Sache möglichst schnell ansehen. Leider könne sie uns die Schlüssel nicht selbst übergeben, aber sie meinte, Sie hätten Ersatzschlüssel und würden uns ins Haus lassen.« Der Optiker starrte ihn an. »Uns hat sie nichts davon gesagt.« Der Arbeiter hob die Schultern. »Dafür kann ich nichts. Entweder lassen Sie mich rein, oder Sie lassen es bleiben. Aber Sie sollten sie sicherheitshalber anrufen. Wenn wir noch einmal herkommen müssen, kostet das extra. Ich will lediglich einen Blick auf den Zähler werfen und mich überzeugen, daß er ordentlich funktioniert.« Der Optiker polierte den Glastresen emsig mit einem kleinen gelben Staubtuch. »Ich werde Ihnen eins der Mädchen mitgeben. Sie kann Sie im Auge behalten.« »Kein Problem«, sagte der Arbeiter. »Haben Sie keine Werkzeuge?« »Wie ich schon sagte: Ich will nur den Zähler überprüfen. Sehen, ob er richtig läuft.« Unter dem Tresen holte der Optiker drei Schlüssel hervor. Er legte sie auf die Glasplatte. »Gina?« Eine hübsche Halbwüchsige mit schulterlangen braunen Haaren trat aus einem Hinterraum. Sie trug einen pinkfarbenen Overall und in der Hand eine drahtgerahmte Brille. Der Optiker zeigte auf den Tresen. »Er will sich den Zähler der Wohnung ansehen. 211
Der befindet sich gleich hinter der Tür. Weiter kommt er mir nicht.« Sie sah den Mann an und lächelte. Er sah sympathisch aus. »Es ist der messingfarbene Chubb-Schlüssel«, sagte der Optiker, als er ihr das Bund überreichte. »Ist er immer so liebenswürdig?« Sie kicherte, sagte aber nichts. Sie schloß die Tür auf, und sie traten ein. In dem kleinen Vorraum vor der Treppe war es dunkel. Sie drückte auf den Lichtschalter. Mit Zeitmechanismus. Er hörte, wie er die Sekunden wegtickte, als er die Tür hinter ihnen zuzog. »Da drin ist er.« Sie zeigte auf einen verriegelten Kasten an der Wand. Er öffnete den Riegel und betrachtete die Skalen und Schalter: nichts Ungewöhnliches. »Ist er in Ordnung?« fragte das Mädchen. »Wir haben denselben Stromkreis. Wenn der Strom in der Wohnung abgeschaltet wird, müssen wir den Laden auch schließen.« Lächelnd drehte er sich zu ihr um. »Kein Problem. Offensichtlich nur falscher Alarm.« Sie fragte sich, wie alt er war: dreißig, vielleicht auch älter. Der Schnurrbart stand ihm nicht. Auch an seiner Frisur wäre einiges zu verbessern. »Gut. Aber jetzt muß ich wieder ins Geschäft.« Der Elektriker kritzelte etwas auf einen Block, den er aus der Brusttasche gezogen hatte. »Ja. Geben Sie mir die Schlüssel. Ich schließe für Sie ab.« 212
Er nahm ihr die Schlüssel aus der Hand, steckte sie kurz in seine Jackentasche, legte ihr eine Hand auf den Rücken, und sie verließen den Vorraum. Die Beleuchtung tickte noch immer: mindestens zwei Minuten. Er zog die Tür zu, steckte den Messingschlüssel ins Schloß und drehte ihn halb um. Als er dann versuchte, den Schlüssel herauszuziehen, ging es nicht. »Mist«, sagte er. »Klemmt.« Sie sah ihn an: rehäugig und stumm. Er griff in seine hintere Hosentasche und holte einen Schraubenzieher heraus. »Dauert nur eine Minute.« Sie sah zu, wie er die Deckplatte des Schlosses abschraubte, ein paar Hebel bewegte, den Schlüssel drehte und dann aus dem Schloß zog. Er wischte den Schlüssel mit den Händen ab und betrachtete ihn genau. »Nichts passiert. Nur ein bißchen ungefügig, das ist alles.« Dann gab er ihr die Schlüssel zurück. Sie ging in das Optikergeschäft zurück. Er befühlte den Kneteblock in seiner Tasche, wußte, daß der Abdruck in Ordnung war, und machte sich auf den Heimweg.
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21 Caterina Lucena saß aufrecht im Bett eines kleinen Privatzimmers im Hospital der Barmherzigen Schwestern. Maria hatte sie nur einmal gesehen, am Tag nach der Entdeckung der Leichen. Ihre Verwirrung damals war nur zu verständlich gewesen. Jetzt, im Krankenhausbett, schien sie ein anderer Mensch zu sein. Ihr Teint hatte zwar eine fahlgraue Färbung angenommen, dennoch strahlte sie eine Ruhe aus, die Maria nicht erwartet hätte. Sonnenlicht strömte durch ein riesiges Fenster neben dem Bett. Der Raum war sehr hoch, die Stuckverzierung an der Decke durch allzu sorgloses Übertünchen nahezu eingeebnet. Man wußte sofort, wo man war: in einem alten Dienstbotenzimmer eines Herrenhauses, das nun dem öffentlichen Wohl diente. Eine Ordensschwester in grauweißem Habit brachte ihnen die Getränke, um die sie gebeten hatten: Tee mit Zitrone für Maria, warmes Wasser für Caterina Lucena. Sie lächelte sie an und verließ dann wieder das Zimmer. Maria suchte nach einer Gesprächseinleitung, sah sich dieser Aufgabe aber sehr schnell enthoben. »Sagen Sie dem Herrn von der Polizei, daß ich ihm dankbar bin.« »Entschuldigen Sie, aber ich verstehe nicht ganz.« »Die Schwestern haben es mir gesagt. Dieses Zimmer wird aus dem Wohltätigkeitsfonds der Poli214
zei bezahlt. Ich selbst könnte es mir nicht leisten. Sagen Sie ihm, daß ich dankbar dafür bin.« »Gern.« Maria nahm einen Schluck Tee. Er war lauwarm und hatte einen metallischen Nachgeschmack. »Wie geht es Ihnen?« Caterina Lucena lächelte. »Ich bin alt. Ich fühle mich wie immer. Sie haben von einer beginnenden Lungenentzündung gesprochen. Vielleicht trifft das zu. Ich fühle mich nicht schlechter oder besser als sonst auch. Bis auf die Tatsache, daß sie mir nicht gestatten, meinen Manzanilla zu trinken, doch das ist vielleicht gut so. Jedenfalls fehlt er mir nicht. Sie sind sehr liebenswürdig. Sie stellen keine Fragen. Sie nehmen mich so, wie ich bin: eine einsame alte Frau am Ende ihres Lebens. Ihr Gottvertrauen ist anrührend. Ich wünschte, ich hätte es auch.« Maria lauschte dem Gesang der Vögel vor dem Fenster und dachte, daß es üblere Orte für den Lebensabend gab. »Ich bin davon überzeugt, daß es Ihnen bald bessergeht.« »Ja«, sagte sie. »Sie versuchen nett zu sein. Das tun die Jungen immer gegenüber den Alten. Behandeln uns wie Kinder. Aber Sie wollen auch Fragen stellen. Jedenfalls hoffen Sie, Fragen stellen zu können.« Maria stellte die Teetasse ab und betrachtete die alte Frau im Bett. Sie strahlte eine innere Kraft aus, eine stählerne Stärke, ganz unabhängig davon, wie hinfällig ihr Körper wirkte. »Ich bin keine Polizistin. Keine professionelle Ermittlerin. Vermutlich merkt man das.« 215
»Man merkt es«, sagte sie. »Und deshalb haben sie Sie auch geschickt. Der Hauptkommissar ist kein Dummkopf. Er weiß nicht so viel, wie er zu wissen glaubt, aber er ist nicht dumm. Wurden noch mehr Menschen getötet?« Maria nickte. »Das dachte ich mir. Sie geben mir keine Zeitungen. Sie behandeln mich wie eine senile alte Frau. Aber wenn es zu weiteren Morden käme, würden Sie wiederkommen, das wußte ich.« »Was weiß der Hauptkommissar nicht?« Caterina Lucenas Augen funkelten aus den runzligen Höhlen. Sie schienen Maria zu durchbohren. »Sie können es nicht wissen. Die Männer. Sie sind davon ausgeschlossen.« »Wovon?« fragte Maria, und unvermittelt tauchte, träge, zögernd, eine Vision vor ihr auf, die sie schon einmal gesehen hatte: das Bild eines weißen, kopflosen Vogels, der langsam aus einem klarblauen Himmel fiel. Blut sickerte wie scharlachrote Perlen aus seinem durchschnittenen Hals. Sie schüttelte den Kopf, die Vision verschwand. »Vom Strom von Leben und Tod, der die Welt durchzieht«, sagte die alte Frau, und Maria hatte das Gefühl, daß es im Zimmer eiskalt wurde. »Er geht nur von uns aus. Wenn er versiegt, ist das nur uns zu verdanken.« Maria erschauerte. Der Raum wirkte noch kleiner als zuvor, das Licht schien sich verändert zu haben, schimmerte nicht mehr golden, war jetzt grell, kalt, 216
hart. Von der alten Frau ging etwas Wahnhaftes aus, das sie erschreckte. »Ich weiß nicht, ob ich das richtig verstehe …« »Sie werden es verstehen. Sie werden Sie verletzen, Sie beherrschen, aber letztendlich werden Sie verstehen. Und sie durch das Leid besiegen. Das ist das Geschenk, das uns gegeben wurde. Das Geschenk, für das sie uns hassen, weil sie es uns niemals nehmen können.« Maria blickte auf ihre Hände und sah, daß sie zitterten. Sie drückte sie zusammen, und langsam beruhigten sie sich. Das Blut kam wieder, die Wärme kehrte zurück, und der Raum nahm seine frühere Atmosphäre an. »Er hat Sie geschickt, damit Sie nach dem Krieg fragen«, sagte die alte Frau im Bett. Ihre Stimme hörte sich an, als wäre sie Hunderte von Jahren alt. »Er weiß, daß ich ihm nie etwas sagen würde. Er weiß, daß ich noch niemandem davon erzählt habe. Er glaubt, daß Sie das Geheimnis ergründen können. Warum traut er Ihnen das zu?« »Das weiß ich nicht.« »Weil er weiß, daß auch Sie gezeichnet sind. Er kann die Narben erkennen.« Luis? dachte Maria. Waren die Narben so sichtbar? Oder waren sie nur Unterlagen in irgendeinem Aktenschrank? »Von jemandem verletzt zu werden, den man liebt, ist sehr viel schmerzhafter, als von jemandem verletzt zu werden, den man haßt«, sagte Caterina Lucena. 217
Maria bohrte sich die Fingernägel in ihre Handflächen. »Woher wissen Sie diese Dinge? Woher kommt das?« »Ich blicke mich um, ich habe Augen.« Sie lachte. Es klang wie das Rascheln von totem Laub unter den Füßen. »Sie wollen also etwas über La Soledad hören?« fragte Caterina Lucena. Nein, dachte Maria. Nein, nein, nein. Alles, nur das nicht. Ich möchte von Musik hören, von Blumen, Sonne, schattigen Patios, fließendem Wasser, Lachen, Kindern, Licht und Heiligkeit. Ich möchte eine Unterhaltung führen, die mich inspiriert, mit Leben erfüllt. Ich möchte etwas über das Leben hören, über Güte, Dankbarkeit. Die grüne Maske und die roten Samtwände. »Ja«, sagte sie. »Ich würde gern Näheres über La Soledad erfahren.« Und für einen Moment kehrte die Taube zurück. Drei Meter groß, pumpte sie direkt vor ihrem Gesicht unablässig Blut in die Luft. Als sie wieder zu sich kam, als der Schrei tief in ihr sich in nichts aufgelöst hatte, sah sie die alte Frau an. Auf den grauen, runzligen Zügen lag ein Ausdruck von Triumph.
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22 Als der Krieg ausbrach, war sie gerade vierzehn Jahre alt geworden. Die Lucenas bewohnten den alten Familiensitz in Carmona. Damals war das ein vornehmer Vorort mit nur wenigen, hochherrschaftlichen Villen an breiten, palmenbestanden Straßen. Hier und da waren Haufen von Pferdeäpfeln zu sehen, hinterlassen von den Pferden der Kutschen, die die Leute noch immer bevorzugten, obwohl sich die meisten ein Auto leisten konnten. Sie war das jüngste Kind, hatte drei Brüder und eine Schwester im Alter von sechzehn bis einundzwanzig Jahren, und hatte es nicht leicht, ihre Position in einem Haushalt zu wahren, in dem sie »das Kind« war. So weit sie sich zurückerinnern konnte, schloß man sie nahezu von allem aus. Caterina war zu jung, um irgend etwas zu verstehen. Sie durfte sich nicht an ihren Spielen beteiligen, hatte keinen Zugang zu den Kreisen, in denen sie verkehrten. Wenn Papas wichtige Freunde zu Besuch kamen, war sie die erste, die den Raum verlassen mußte. Sie durften bleiben, zumindest für gewisse Zeit, um sich die Neuigkeiten, den Klatsch aus Madrid, aus Barcelona, aus Palma anzuhören. Dann hockte sie auf dem Korridor und lauschte auf das Geflüster hinter der Tür wie auf das Flattern von Nachtfalterflügeln in der Dunkelheit 219
und empfand tiefen, brennenden Zorn über diese Ungerechtigkeit. Sie war die Jüngste, das Baby. Und doch hatte sie vor wenigen Wochen, als sie an einem schwülheißen Nachmittag schwitzend auf ihrem Bett lag, einen bohrenden Schmerz in ihrem Unterleib verspürt. Sie hatte an sich heruntergeblickt und den tiefroten Fleck auf ihrem leichten Nachmittagskleid gesehen, sich dorthin gefaßt und durch den Batist hindurch die Feuchtigkeit gespürt. Hatte gesehen, daß ihre Finger blutrot wurden, und beobachtet, wie sich der Fleck ausbreitete, bis er die feinbestickte Bettdecke beschmutzte. Dann war sie aus dem Kleid geschlüpft und hatte es zusammengefaltet – mit dem Fleck nach oben-, auf das Bett gelegt, sich geduscht und saubere Sachen angezogen. Mit leuchtendem Gesicht und strahlenden Augen war sie die Treppe hinuntergelaufen und durch alle Zimmer gegangen. Das Kleid hatte sie als eine Art Zeichen zurückgelassen: Seht her, ich werde erwachsen, ich werde wie ihr. Als sie schließlich in ihr Zimmer zurückkehrte, war das Kleid verschwunden, die Bettdecke gewechselt. Sie hatte darauf gewartet, daß sie jemand darauf ansprach: ihre Mutter, ihr Vater, ihre Schwester. Selbst ein Dienstmädchen. Aber es war, als wäre überhaupt nichts geschehen. Dreimal hatte es sich seither wiederholt, einmal pro Monat, jedesmal mit kurzen, aber heftigen Schmerzen, den Schweißausbrüchen, dem Zittern und dann dem Blut. Dreimal hatte sie die Spuren ihrer Veränderung auf dem Bett hinterlassen. Dreimal wurden sie wortlos entfernt. Und es 220
gab niemanden, den sie fragen, mit dem sie sprechen konnte. Die Familie entfremdete sich noch mehr voneinander, zog sich von ihr zurück, zog sich voneinander zurück. Sie verstand das nicht. Mit dem Verlauf des Sommers verließ Papa immer weniger das Haus, nur noch zu den seltenen Gelegenheiten, zu denen er die Bank aufsuchen mußte. Er wirkte abwesend, sein gutaussehendes Gesicht hager und besorgt. Ein inneres Leiden schien ihn zu verzehren, für das es kein Gegenmittel gab. Ihre Mutter, verschlossener denn je zuvor, schien nicht zu merken, was da vor sich ging. Das alltägliche Leben veränderte sich, wurde eine Abfolge schweigsam eingenommener Mahlzeiten und langer, sehr langer Stunden, in denen es ihr überlassen blieb, allein durch das riesige Haus zu streifen, zu lesen oder sich mit den Dienstboten zu unterhalten. Es kam ihr vor, als ob ein Gewitter heraufzöge. Sie spürte die Veränderung in der Atmosphäre, das Nahen einer Katastrophe. Aber um sie herum tat die Familie so, als wäre alles wie immer. Das Leben von heute wurde eine Parodie des Gestern. Handlungen, Ereignisse wurden so routinehaft, so rituell wiederholt, als könne die Vergangenheit – War das eigentlich eine glückliche Vergangenheit? fragte sie sich – auf magische Weise wiederbelebt und zur Gegenwart werden. Eines Nachts, als sie wegen der Hitze nicht schlafen konnte, saß sie aufrecht im Bett in ihrem Zimmers, dessen Fenster in den Garten hinausführten, 221
und lauschte, wartete. Die Welt draußen schien aus den Fugen geraten zu sein. Sie hörte Geräusche, fremde Geräusche, von Soldaten und Pferden, schweren, unvertrauten Fahrzeugen, und über allem dieser merkwürdige, aggressive Tonfall, zu dem Männer greifen, wenn sie ihre Männlichkeit beweisen wollen. Von unten hörte sie Rufe. Laut, immer lauter. Es war die Stimme ihrer Mutter, hoch, hysterisch, anklagend, und ihre Worte schienen sich in einem unaufhörlichen Kreis zu drehen: »Warum mußtest du Partei ergreifen? Warum? Warum? Warum?« Sie lauschte, konnte aber keine Antwort hören. Sie hatte früher schon Vorahnungen gehabt. Als eine Cousine ihr einen Brief schrieb, hatte sie von seiner Ankunft gewußt, bevor der Postbote damit an der Tür erschienen war. Als ihr Vater ohne seinen Schirm ins Amt ging und vorzeitig zurückkehrte, wußte sie den Grund, ohne mit ihm gesprochen zu haben. Ihrem Vater war das nicht entgangen. »Unsere kleine Zigeunerin«, hatte er sie genannt und sie mit seinen sorgenvollen braunen Augen angesehen, als wolle er sich entschuldigen. Als wolle er sagen: Es tut mir leid, aber das ist alles, wozu ich in dieser Situation fähig bin. Doch das genügt nicht. Und das tut mir leid. In jener Nacht wußte sie nicht, ob sie schlief oder wachte, ob die Angst, die sie gepackt hielt, ein Traum war oder die Vorahnung einer tödlichen Gefahr, die sie alle verschlingen würde. Starr und unbeweglich lag sie auf dem Bett, die Hände hinter dem Kopf ver222
schränkt, und lauschte nach unten. Sie glaubte, ihre Mutter schluchzen zu hören, und fragte sich erneut, ob sie nicht träumte. Ihre Mutter konnte nicht schluchzen. Das gehörte sich nicht für eine Lucena, nicht einmal für eine, die nur in die Familie hineingeheiratet hatte. Doch dann wurde es unverkennbar, ein atemloses, rhythmisches Schluchzen, das trostloser als alles klang, was Caterina je gehört hatte. Draußen in der heißen, dichten, halbtropischen Dunkelheit knallte ein Gewehrschuß, und Caterina erschauerte auf ihrem großen, eisengerahmten Bett. Die Schweißperlen auf ihrer Haut wurden eiskalt, und einen Augenblick lang fühlte sie sich ganz allein auf der Welt. Zwischen ihr und den Sternen gab es nichts mehr. Gott hatte dem Universum den Rücken gekehrt. Es blieb nur eine alles umhüllende Dunkelheit, kalt, unmenschlich und dazu fähig, ihre winzige Existenz auszulöschen wie die einer Motte, die unbedacht in einen sonnendurchfluteten Raum geflattert war. Erneut erschauerte Caterina, schloß die Augen und versuchte zu schlafen. Vage wabernde, tiefrote Schatten tauchten vor ihren Lidern auf, Schatten, die sich durch ihr Bewußtsein drehten und wälzten, gestaltlos, stumm, unablässig. Wie riesige gesichtslose Phantome aus lebendigem Gewebe tanzten sie durch die Nacht. Sie hatten keine Augen, keine Gesichter und waren doch irgendwie menschlich. Glieder formten sich aus dem roten, blutenden Gewebe, drängten gegeneinander, lösten sich aneinander wieder auf. Riesige Torsi entstanden, schoben, 223
drängten sich zuckend gegeneinander, Blut strömte aus dunklen Höhlungen, die sich öffneten und wieder schlossen. Das war die Welt, eine endlose Prozession aus Blut, Gewebe und Muskeln, unauflösbar miteinander verschlungen, rastlos, ruhelos, unaufhörlich gequält. Und in ihr Geräusche, ein tiefes Stöhnen, das Schmerz und Ekstase mit einem tierischen Grunzen vermengte, daneben Worte, reale Worte, Worte, die Caterina nur ansatzweise verstand. Worte, die sie wegen der Wirkung fürchtete, die sie auf sie ausüben könnten. Sie sah, wie sich zwei Phantome im Zentrum ihres Alptraums wanden, nacheinander griffen, manchmal fast menschlich wirkten, dann wieder eine Masse aus Sehnen und Fleisch zu sein schienen. Dann trennten sie sich und nahmen flüchtig eine schwach erkennbare Gestalt an. Arme formten sich aus der Masse, lang und fleischig, und jeder lief in einem rötlichen, von Venen und Arterien durchzogenen Ende aus. Da war ein Kopf, ein Körper, Beine, massig wie Baumstämme. Von irgendwoher kam ein hohes Lachen, aber nein. Es klang zu gezwungen, zu hastig, zu mechanisch. Es hat auch etwas Flüssiges an sich, dachte sie und glaubte einen Moment lang, den Verstand zu verlieren. Dann umarmten sich die Wesen, ausgesprochen obszön. Ein Phantom fiel auf den Rücken, die stämmigen Beine spreizten sich und enthüllten im Schritt eine riesige, blutrote Öffnung. Das andere Phantom veränderte die Form, wurde zu etwas Massivem, Bedrohlichem. Es beugte sich vor, auf das Loch zu, drang ein, stieß rhythmisch zu und 224
schrie – selig erschauernd, ekstatisch. Die Welt erbebte, bestand nur noch aus dem Bild der zwei Wesen, die einander verzehrten. Sie sah zu, wie sich das untere Phantom teilte, von seinem Partner in zwei Stücke gerissen wurde, um sich dann mit ihm zu einer einzigen, zuckenden Fleischmasse zu vereinen, die in den Wogen von Blut herumrollte, das von allen Seiten auf sie einströmte, ein rotes heißes Meer, von einer Hitze, die sie auf ihrer Haut spüren konnte, mit einem Geruch, in dem sich Blut mit etwas anderem mischte, einer fundamental menschlichen Essenz. Caterina kniff die Lider zusammen, aber die Obszönität blieb. Sie öffnete die Augen, sah zum Himmel empor, zu Gott. Es war eine klare, wolkenlose Nacht. Hell funkelten die Sterne in der blauschwarzen Dunkelheit, unbekannte Formen, Konstellationen, die sie nicht erkannte. Sie hatte die Welt hinter sich gelassen, das Universum. Im Zentrum des Firmaments glomm etwas Helles auf, kam näher. Jetzt konnte sie erkennen, was es war. Eine Taube, von einem so strahlenden Weiß, daß sie das Gefühl verspürte, die Augen davor schützen zu müssen. Sie kam näher, und nun vernahm sie ein monotones Geräusch: den beständigen, hohen Ton eines Instruments, das sie nicht kannte, das aber von allen Seiten auf sie einzudringen schien. Die Taube kam näher. Mit langsamer, fast träger Regelmäßigkeit bewegte sie ihre Flügel. Sie konnte jede Feder erkennen. Sanft bewegten sie sich durch den Luftstrom, vor und zurück. Die Flügelspitzen 225
waren durchscheinend, ließen die Sterne hindurchschimmern. Sie kam näher, immer näher, bis sie unvorstellbar langsam über ihr schwebte, nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war und sie mit einem Auge ansah. Caterina konnte die Luft spüren, die sie mit ihren sanften Flügelschlägen verdrängte. Konnte jeden Quadratzentimeter des makellosen Körpers betrachten. Die Taube strahlte ein blendendes, reines Leuchten von übernatürlicher Intensität aus, strahlte es ganz nah vor ihrem Gesicht aus, verwirrte sie mit ihrem Glanz. Caterina betrachtete den Kopf. Der Schnabel hatte das satte Gelb von gereiftem Mais. Die Taube hielt den Kopf völlig reglos, während sich ihre Schwingen ganz langsam bewegten. Von dem Tier ging eine Würde aus, eine Majestät, die sie mit Ehrfurcht erfüllte. Sie blickte das Auge an, und nur dort konnte sie einen Makel entdecken. Es war dunkel, mit einem schwachweißen Rand um die Iris. Caterina starrte es an und erkannte dann mit einem Schock, den sie sich nicht erklären konnte, daß der Vogel blind war. Wenn er Gott war, dann ein Gott, der nicht sehen konnte, und das kam ihr entsetzlicher vor als alles andere in ihrem Alptraum. Sie starrte ihm in das tiefe, schwarze Auge, suchte nach einem Erkennen, doch das blieb aus. Dann veränderte sich etwas. Das schwarze Zentrum schien das Aussehen zu verändern, noch dunkler zu werden. Jetzt war es eine winzige Masse wirbelnder Flüssigkeit, die den Farbton wechselte, je länger sie es anstarrte. 226
Caterina starrte wie gebannt hin, als ein nadelspitzengroßer Blutstropfen im Zentrum der Retina erschien. Er wurde größer, sah jetzt aus wie ein scharlachroter Strudel, wurde immer größer. Ein Tropfen fiel aus dem Auge des Vogels, befleckte das makellose Gefieder auf seiner Brust. Caterina schrie, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Der Vogel war kein Gottesbote mehr. Seine Augen waren rote Höhlen. Unablässig tropfte Blut aus dem maisgelben Schnabel, durchscheinende rote Perlen vor samtdunklem Himmel. Caterina verbarg die Augen hinter den Händen, aber die Vision blieb, forderte, betrachtet zu werden. Sie blickte durch ihre Finger. Sie waren mit Blut bedeckt. Seinem Blut. Der Vogel öffnete den Schnabel. Weit. Weiter als überhaupt möglich. Seine Kehle war ein Bassin heftig strudelnden Rots. Das Geräusch von Schwingen, größeren Schwingen. Schwarze Schatten schwebten über ihr, und der Geruch war wieder da: übel, ekelerregend und doch irgendwie entsetzlich menschlich. Diesmal schrie die Taube auf, und sie hörte sich an wie ein angstvolles, schmerzgepeinigtes Kind. Caterina sah, wie ihr Kopf in einer Masse geronnenen Bluts explodierte. Es spritzte ihr ins Gesicht, drang in ihren Mund. Sie spürte ihr Hirn auf der Zunge. Die Welt wurde schwarz, weiß, dann rot. Sie fühlte sich auf den Kopf gestellt und durch einen langen, schmalen Tunnel in die Hölle geschleudert. Licht. Helles, grelles Licht. Sie war wach. In ihrem Zimmer. Es war morgens. Durch die geöffneten Fens227
ter drang die Sonne herein. Von der Straße kamen laute, unbekannte, bedrohliche Geräusche. Sie sah an sich hinunter. Eine riesige Lache halb getrockneten Blutes durchtränkte ihr Nachthemd von der Taille bis zu den Knien. Laken und Matratze unter ihr waren ruiniert. Sie befühlte sich. Das Blut war warm und klebrig, aber es lief nicht mehr. Sie war nicht krank. Das war normal. Sie betrachtete die bräunlichen Blutklümpchen an ihren Fingern. Sie roch daran und verspürte fast so etwas wie Hochachtung. Im Zimmer hatte sich nichts verändert. Die Welt nur geringfügig. Sie hatte überlebt. Es hatte Rufe gegeben, Schreie, dessen war sie sicher. Aber niemand war zu ihr gekommen. Niemand. Wieder betrachtete Caterina ihre vierzehnjährigen Finger und dachte: Ich bin Gott begegnet, und er hat mich im Stich gelassen. Ich habe meine Familie geliebt, und sie hat mich im Stich gelassen. Ich blute, aber nur ich bemerke es. Doch ich bin eine Lucena und werde mich nicht unterkriegen lassen. Sie ließ sich ein Bad ein und blieb eine gute halbe Stunde in der Wanne liegen, kam nach Seife duftend aus dem Wasser trocknete sich ab, zog sich ein frischgebügeltes weißes Kleid an, ging zum Frühstück hinunter und lief danach durch jedes Zimmer. Sie hörte ihren beklommenen, angstvollen Gesprächen zu. Beobachtete sie mit einer Spur von Herablassung. Sie hatten keine Ahnung, konnten nicht sehen. Gegen zehn Uhr war sie in ihr Zimmer zurückgekehrt, der angespannten, fast hysterischen Stimmung 228
überdrüssig, die das ganze Haus erfaßt zu haben schien, voller Scham über ihre Angst. Sie hatte sich ihr Lieblingskleid aus weißrosa Batist angezogen und ein wenig gemalt: den Patio von ihrem Fenster aus, mit den durch die Äste fallenden Sonnenstrahlen, den honiggoldenen Steinen der Mauer. Auf den Lärm der Straße hatte sie nicht mehr geachtet. Der war inzwischen belanglos. Inzwischen hatte sie ein neues Buch angefangen, Entführt von Robert Louis Stevenson, und mit ihm eine andere Welt betreten. Sie war eingeschlafen, hatte geträumt. Irgendwann gegen Mittag hatte Lärm Caterina Lucena geweckt. Sie war hinuntergegangen, hatte in den Patio geblickt und war stumm und entsetzt zurückgewichen, weil ein anderes, lauteres Geräusch in ihre Welt eingedrungen war. Als sie die Taube aus dem Himmel herabflattern sah, kopflos und blutüberströmt, erkannte sie so plötzlich und erschütternd, daß sie sich übergeben mußte: Der Alptraum war diesmal Wirklichkeit.
23 Es waren mindestens ein Dutzend Männer in der Kleidung der Landarbeiter – groben Jacken, derben Drillichhosen. Sie trugen Gewehre über der Schulter oder bedrohlich im Anschlag. Gewaltbereitschaft klebte an ihnen wie Fliegen an einem toten Tier. Als 229
ihnen Caterina in die Augen blickte, sah sie dort nichts weiter als die vage Andeutung dumpfen Hasses. Entsetzt machte sie sich bewußt, woran sie sie erinnerten: an eine Jagdgesellschaft. Sie trieben die Familie auf die Ladefläche eines geschlossenen Lastwagens. Dort, in der stickigen Dunkelheit, konnte Papa es nicht über sich bringen, einen von ihnen anzusehen. Er starrte die metallene Wagenwand an, hin und wieder fiel Licht durch die vergitterten Fenster auf sein Gesicht. Er schien irgendwo anders zu sein. Einer der Jungen – Fernando, glaubte sie – sagte etwas, und ein Bewacher schrie ihn an, fuchtelte mit seinem Gewehr. Danach schwiegen sie, während das Fahrzeug durch die Straßen holperte, schwiegen, bis auf ihre Mutter, die mit den Händen vor dem Gesicht leise vor sich hin schluchzte. Wenn sie uns töten wollen, dachte Caterina, warum dann nicht schon im Haus? Warum bringen sie uns irgendwohin? Das ergab doch keinen Sinn. Aber das Töten von Menschen machte schließlich nie Sinn. Caterina spürte, wie langsam, aber bestimmt Empörung in ihr hochkam. Nicht über das, was geschehen war oder noch geschehen konnte, sondern über die Stupidität des Ganzen. »Männerspielchen«. Diese Formulierung hatte ihre Mutter in der Nacht gebraucht, als sie Papa vorwarf, »Partei ergriffen« zu haben. Es waren »Männerspielchen«, und sie waren unglaublich, unbeschreiblich stupide. 230
Der Lastwagen schüttelte sie durch, stundenlang – so kam es ihr wenigstens vor. Sie spürte, wie sich die Luft veränderte, als sie die Stadt hinter sich ließen. Die Gerüche von Pferden und Autoabgasen wurden durch die von Ackern, Dünger und erntereifem Getreide ersetzt. Auch die Geräusche veränderten sich. Die Vögel hörten sich anders an. Die Abstände zwischen ihrem Gezwitscher wurden länger. Nach und nach hörte es ganz auf. Und dann bog der Wagen scharf nach rechts ab, holperte kurz über eine unebene Piste und hielt an. Bitte, flehte Caterina. Öffnet die Türen nicht. Macht euch einen Spaß mit uns. Laßt uns hier drinnen in unserer Angst schmoren. Die ganze Nacht, wenn ihr wollt. Laßt uns hier in unserer Furcht verrecken. Amüsiert euch über uns. Auf eure Männerart. Die Türen öffneten sich, Licht fiel in den Lastwagen, grell, hart, und sie blickten in eine trostlose, grausam öde Landschaft hinaus. Caterina hörte ihre Mutter einen Schrei ausstoßen, so verzweifelt, daß sie unwillkürlich erschauerte und spürte, wie ein kollektives Grauen sie umfaßte wie ein weiches, alles bedeckendes Cape. La Soledad. Die Einöde. Das Lager war in einer flachen Senke auf unfruchtbarem Boden vor der Stadtgrenze errichtet. Die Landschaft war kahl und abweisend: Felsbrocken, Staub und Sand. Sie standen vor den Doppeltüren, die sich nun öffneten, um sie einzulassen. Rechts, in einiger 231
Entfernung, stand ein weißes Bauernhaus, daneben gab es eine umzäunte Rinderweide sowie, noch ein bißchen ferner, eine der Übungsarenen, in denen die Bauern ihre Tiere prüften, die schnellen von den langsamen trennten, die verwegenen von den vorsichtigen. Eine Gruppe magerer Stiere stand auf der Weide, keuchten mit offenen Mäulern in der reglosen Sommerluft. Sie sahen nicht aus wie Tiere für die Arena. Sie waren dürr und teilnahmslos, die Knochen ihrer Hinterläufe staken spitz aus dem Fell. Hier gibt es weder Spaß noch Spiel, Caterina. Der Gedanke flog sie aus dem Nichts an, und ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie fühlte sich wieder feucht und wagte nicht nachzusehen, ob es sich zeigte. Bevor sie durchs Tor gedrängt wurden, sah sie sich noch einmal nach dem kleinen Bauernhof um. Am baufälligen Zaun der kleinen Übungsarena hingen die Utensilien einer Corrida. Lanzen, Scheuklappen, Pfeile mit verblichenen Bändern steckten nachlässig im Holz. Im Sand entdeckte sie einen dunklen Fleck, der frisch zu sein schien. Sie schüttelte den Kopf, wollte noch einmal genauer hinsehen, aber ein Arm stieß sie grob weiter. La Soledad sah aus wie aus Strandgut zusammengeschustert. Die äußere Umgrenzung wies in etwa die Form einer Pferderennbahn auf: ein langgezogenes, an den Ecken abgerundetes Rechteck. Der Zaun wirkte unüberwindlich. In den Boden gerammte Pfähle, mindestens vier Meter hoch, mit hölzernen, palmwedelgedeckten Wachtürmchen an jeder Ecke, die über Leitern zugänglich waren. Aus jedem Pos232
tenausguck lugte der lange, silbergraue Lauf eines Maschinengewehrs, eine khakigekleidete Gestalt dahinter. Unterhalb des dem Haupttor nächsten Postentürmchens stand eine kleine Hütte, eine Fahne der Falange hing schlaff aus einem der Fenster. Innerhalb des Zauns standen verstreut niedrige Hütten, zwanzig vielleicht, baufällige Konstruktionen aus Metallschrott, Holz, Stroh und gelegentlich Backstein. Vor einigen von ihnen ein Sonnenschutz aus Palmwedeln auf Bambusstöcken. In ihrem Schatten lagerten Männer und Frauen auf der Erde, stumm, starr, leblos. Stühle gab es nicht. Kein Laut war zu hören. Caterina konnte Fäkalien riechen. Hinter einer notdürftigen Bretterwand schien sich eine offene Latrine zu befinden. Die Familie hatte das Lager gemeinsam betreten, wurde aber sehr schnell getrennt. Die Männer mit den Gewehren wiesen Caterinas Eltern eine braune Hütte in der Nähe der Latrine zu. Die Kinder wurden zur anderen Seite des Lagers gedrängt, zu einer Hütte, die aussah wie ein ehemaliger Schweinestall. Verstohlen befühlte sich Caterina, spürte die Feuchtigkeit zwischen ihren Beinen und fragte sich, wie sie damit fertig werden sollte. Es gab keine Dienstboten, keinen Hinweis auf Wasser. Sie hatten die Hälfte des Lagers halb durchquert, als sie ihn sah, vor der Hütte mit der Flagge. So gelassen, wie er da saß, langsam auf seinem Stuhl hin und her schaukelte, eine Zigarre zwischen den Lippen, sah er aus, als besäße er irgendeine Art von Autorität. 233
Sie bemerkte, daß er sie musterte, spürte die unangenehme Zudringlichkeit seiner Blicke, wandte sich ab. Inzwischen befand er sich hinter ihr. Sie konnte so tun, als gäbe es ihn nicht, ihren Geschwistern in die Hütte folgen, den Mund halten und tun, was man ihr sagte. Sie könnte es tun. Einer der Bewacher befahl ihnen stehenzubleiben. Sie blickte hoch. Über ihnen kreisten dunkle Schatten in der Sonne. Sie hatte überwältigenden Durst. Sie kniff die Augen zusammen, und als sie sie wieder öffnete, stand er vor ihr. Sah sie an. Lächelte. Das Schweigen um sie dröhnte in ihren Ohren. Der Mann fragte den Bewacher nach ihren Namen. Als der sie nannte, lächelte er. »Wie alt bist du?« fragte er Caterina. Sie schluckte. In der Hitze fiel es ihr schwer. »Vierzehn, Señor«, sagte sie. »Soso.« Hoch ragte er vor ihr auf, verstellte die Sonne. Sie wollte ihn ansehen, schaffte es aber nicht. »Du siehst nicht sehr gut aus, Caterina.« »Ich würde gern einen Schluck trinken, Señor. Wenn das möglich ist.« Er lachte. »Es ist möglich. Komm.« Der Bewacher funkelte ihn zornig an. »Antonio …?« Der Mann wandte sich ihm zu, und zum ersten Mal konnte ihm Caterina ins Gesicht sehen, das sie überraschte. Antonio sah aus wie ein Filmschauspieler: hohe, feingeschnittene Wangenknochen, klare, leichtgebräunte Haut, dunkle, intelligente Augen, ein schwarzer, schmaler Schnurrbart. Er sah aus wie die 234
Männer, die sie im Kino gesehen hatte. Tapfere, verwegene, ehrenhafte Männer. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm reißen. »Überschreite deine Grenzen nicht, amigo«, sagte Alvarez kalt. Der Bewacher kniff die Lippen zusammen. »Komm.« Sie liefen quer durch das Lager, er voran, sie hinterher: ein verwirrtes junges Mädchen in einem rosaweißen Batistkleid. Er rief den Wachtposten am Tor knapp einen Befehl zu. Zögernd öffneten sich die Plankentüren. Sie folgte ihm zu dem kleinen weißen Bauernhaus, wahrte während der ganzen Zeit den gleichen Abstand. Als sie auf der Veranda standen, zog er einen Schlüssel hervor und öffnete die alte Holztür, deren dunkelblauer Anstrich verblichen war. Er machte einen Schritt zur Seite, um sie eintreten zu lassen. Drinnen war es kühl und dunkel. Antonio Alvarez ging zum Fenster und zog den verschlissenen Vorhang auf. Licht strömte in den Raum. Sie sah einen Schreibtisch voller Papiere, ein paar Stühle, ein altes Sofa, eine Schüssel mit Wasserkrug auf einem niedrigen Tisch. Links stand eine Tür halb offen. Dahinter ein Doppelbett, ungemacht. Er trat an den Tisch und goß Wasser in ein Glas. »Wir haben auch Wein hier, Caterina. Und Weinbrand.« Sie schüttelte den Kopf, stürzte das Wasser hinunter, schwieg. Der Raum schien grenzenlos zu sein, mit tiefen Schatten in den Ecken, Da war ein schaler, organischer Geruch, den sie nicht definieren konnte. 235
»Bist du krank?« »Señor?« Sie sah ihn an und versuchte, so jung wie möglich zu wirken. »Du siehst krank aus. Auf deinem Kleid ist Blut.« Wieder schüttelte sie den Kopf. »Das hat nichts zu bedeuten, Señor. Ich bin nicht krank. Ich würde jetzt gern zu meiner Familie zurückkehren.« Alvarez drehte sich um und zündete eine Petroleumlampe auf dem großen Schreibtisch an. Gedämpftes, gelbes Licht fiel in die düsteren Ecken des Zimmers. »Weißt du, was ich vor dem Krieg gemacht habe?« »Nein, Señor.« »Ich habe in einem Krankenhaus gearbeitet und kranken Menschen geholfen. Menschen, die geblutet haben. Wie du. Ich helfe noch immer Menschen. Und das ist gut. Alles, was ich dir sage, dir rate, Caterina, wird gut sein, alles.« »Aber ich bin nicht krank, Señor. Das passiert einfach. Es ist keine Krankheit.« »Nein«, sagte Alvarez. Er zog die Vorhänge zu, ging zur Tür und verriegelte sie. »Aber du solltest immer tun, was ein Arzt dir rät, Caterina. Hat dir das deine Mutter denn nicht gesagt?« In dem Licht konnte sie nicht deutlich sehen. Im schummrigen Lichtschein der Lampe bewegte er sich vor ihr hin und her. Dann spürte sie seine Arme um sich. Seinen Atem. »Hab keine Angst«, sagte er. Sie fühlte, wie er ihr das Kleid auszog, und ließ sich stumm von ihm ins Schlafzimmer führen. 236
»Von mir wirst du nur Gutes erfahren«, sagte er. Aber sie schrie über die Schmerzen, die er ihr zufügte. Schrie, bis er ihr den Mund mit der Hand verschloß, in sie hineinstieß, immer wieder stieß und ihren Körper mit einer brutalen Pein füllte, die kein Ende zu nehmen schien. Dann schrie auch er, die Welt wurde dunkel, drehte sich, schien eher Traum als Wirklichkeit. Sie befanden sich an einem Ort, an dem Gut und Böse nebeneinander existierten, untrennbar waren. Sie waren gemeinsam dorthin gelangt. Er wirkte ausgelaugt, sein gutes Aussehen war verschwunden. Sein Atem kam in kurzen, keuchenden Stößen. Sie fühlte mit der Hand zwischen ihre Beine, wo jetzt eine Blutlache war, befühlte sein steifes Ding, das noch immer in ihr war, und fragte sich, was sie getan hatte, warum das geschehen war. Er entzog sich ihr, drehte sich auf den Rücken und wischte sich mit dem Bettuch ab, automatisch, ohne nachzudenken. Sie blickte an sich hinunter und versuchte im dämmrigen Licht zu sehen, was mit ihr geschehen war. Es gelang ihr nicht. Er atmete wieder regelmäßiger, sah zur Decke empor. Dann setzte er sich auf, schwang die Beine vom Bett und begann, sich die Hosen anzuziehen. Sie wollte etwas sagen, sich entschuldigen. Sie fühlte sich auf eine Weise an ihn gebunden, die sie nicht verstand. Er stand auf, schloß seinen Gürtel, schob die Hände in die Taschen und blickte lächelnd auf sie herunter. Seinen Gesichtsausdruck konnte sie nicht 237
deuten. Plötzlich, aus dem Nichts heraus, überkam sie ein brennender Schmerz, ein schreckliches Wundgefühl. Sie legte ihre Hand auf die Stelle, drückte sanft zu, fing an zu weinen. Er beugte sich über sie, faßte sie unter das Kinn. »Wenn du tust, was ich dir sage, wird dir nur Gutes geschehen. Dir und deiner Familie. Wir befinden uns in einem Krieg. Wir balancieren auf einem schmalen Grat zwischen Leben und Tod. Wir können einander am Leben erhalten. Wenn du tust, was ich dir sage.« Sie nickte und fragte sich, ob sie den Kopf freiwillig bewegte oder durch seinen festen, schmerzenden Griff dazu gezwungen wurde. Tränen brannten in ihren Augen. Sie wischte sie mit der Bettdecke fort. »Nebenan ist ein Bad. Das kannst du benutzen. Ich werde die Tür hinter mir verschließen. Dann bist du ungestört. Während ich fort bin, werde ich mich darum kümmern, daß es deiner Familie an nichts fehlt.« Er sah wieder gut aus. Ein bißchen wie jemand, den sie im Kino gesehen hatte. Ein Amerikaner. In dem Film hatte er einen Piraten gespielt. Die Tür schloß sich. Inzwischen war es im Zimmer nahezu dunkel. Nur schmale Lichtstreifen fielen durch die geschlossenen Vorhänge vor den kleinen, quadratischen Fenstern zu beiden Seiten des Raums. Sie stolperte in das Badezimmer, ließ kaltes Wasser in die Wanne, wusch sich, langsam, wie abwesend. Dann kroch sie ins Bett zurück und schlief ein.
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24 Es war früher Abend. Draußen hörte sie Laute von Tieren. Nur von Tieren? Nein. Da waren auch menschliche Stimmen: Irgendwo, in einiger Entfernung unterhielten sich Männer aufgeregt miteinander. Die Worte konnte sie nicht verstehen, nahm aber die Anspannung in ihren Stimmen wahr. Caterina verließ das Bett, zog ihr rosaweißes Batistkleid an und sah sich im Haus um. Es war eine kleine Bauernkate: ein Schlafzimmer, ein Wohnraum, ein winziges Bad, eine kleine Küche. Die Haustür und der Hinterausgang durch die Küche waren innen verriegelt. Sie wagte nicht nachzusehen, ob sie auch verschlossen waren. Vor jedem Fenster ein verschlissener Vorhang, der Licht und Hitze abhielt. An der Rückseite des Hauses zog sie einen beiseite. Und blickte ins Nichts, auf einen felsübersäten, kargen Hang, ein paar Feigenkakteen kämpften in der ockerfarbenen Erde ums Überleben. Das einströmende Licht ließ den Wohnraum ein wenig besser überblicken. Überall war Männerkleidung verstreut, auf schäbigen Rohrsesseln, auf dem Boden. Ein paar Weinflaschen auf einer verstaubten Anrichte. Das war keine x-beliebige Schlafbaracke, hier wohnte ein Mann, ein Mann, der irgendeine Befehlsgewalt über die anderen da draußen zu haben schien. Der Schmerz hatte sich in ein dumpfes, leichtes Brennen verwandelt. Auf gewisse Weise war sie sogar 239
stolz darauf. Was geschehen war, hatte nichts mit ihrem früheren Leben, mit seinen engen Grenzen, seinen bequemen Belanglosigkeiten, seiner aseptischen Atmosphäre zu tun. Das alte Leben hatte nicht weitergehen können. Sie blutete, sie wurde etwas ganz Neues, auch wenn ihre Familie, selbst ihre Mutter, sich weigerten, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen. Nur Antonio, er war der einzige, hatte die Veränderung bemerkt. Er hatte sie gesehen, ihre Bedeutung erkannt und sie in eine neue, grausame Welt eingeführt, eine Welt von Schmerzen, Blut und geheimnisvollen Empfindungen. Eine neue Wirklichkeit, die sie trotz aller Leiden faszinierte. Sie bemühte sich, an ihre Familie zu denken, wollte versuchen, ihr zu helfen. Aber das Bild dieses Mannes wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen, so mächtig war es. Und das Bild dessen, was sie gemeinsam getan hatten – so seltsam, so fundamental, so real. Wenn sie jetzt daran dachte, es im Durcheinander der Bilder und schmerzlichen Empfindungen in ihrem Kopf bewertete, erkannte sie, daß es eine Art Tür in eine neue Realität war, eine dichtere, wesentlichere Welt als die die sie an diesem Morgen für immer hinter sich gelassen hatte. Sie hob die Hände. Sie zitterten nicht. Sie war eine Lucena. Die Stimmen draußen wurden lauter. Caterina blickte zum Vorderfenster hinüber. Aber die zerfransten Vorhänge verwehrten jede Sicht. Neben dem Fenster stand ein einfacher Holzstuhl. Sie zog ihn zur Mitte des Fensters, zum Spalt zwischen den 240
Vorhängen, kniete sich auf ihn, beugte sich vor und schob die beiden Stoffbahnen ein wenig auseinander. Ein muffiger Geruch stieg ihr in die Nase. Sie suchte nach der Ursache und stellte fest, daß es der Vorhang selbst war. Schmutz, Feuchtigkeit und Vernachlässigung hatten im Lauf der Jahre ihre Spuren im Stoff hinterlassen. Sie spähte durch den Spalt und sah die Sonne tief am Himmel stehen. Sie konnte bis hinüber zum Lager blicken. Die Tore waren geschlossen. Sie fragte sich, wie es ihrer Familie erging. Ob ihren Eltern gestattet worden war, sich mit ihren Geschwistern zu treffen. Ob sie überhaupt an sie dachten. Vor dem Lager, in der Nähe der Stierweide und der Übungsarena, standen Gruppen von Männern zusammen und redeten mit den gedämpften, aufgeregten Stimmen miteinander, die sie schon beim Erwachen gehört hatte. Noch immer standen sie zu fern, um ihre Worte verstehen zu können. In der Ferne, hinter ihnen, konnte sie Bewegung in der Übungsarena ausmachen. Jemand schob ein Gerät vor sich her, das sie schon einmal gesehen hatte, auf einer Ferienreise irgendwohin, auf einer Hacienda. Ein Gerät, das sie für einen »Angreifer« hielt: Hörner auf Rädern, die sie zum Üben benutzten. In der Arena bewegten sich ein paar Leute. Was sie da machten, war nicht zu erkennen. Langsam ließ Caterina die Vorhänge zusammenfallen und kletterte vom Stuhl. Plötzlich hatte sie Hunger. Ihr Magen war zu einem riesigen, schmerzenden Loch geworden. Sie sah in der Küche nach 241
und fand einen Laib trockenes, hartes Brot, ein wenig Käse, alten Schinken. Sie zog die Schublade des Holztisches auf, entdeckte ein scharfes kleines Messer und begann mit ihm an den Lebensmitteln herumzusäbeln. Sie schnitt einen Hauch Käse ab, etwas Schinken, und eine dünne Scheibe Brot. Sie rollte Käse und Schinken zusammen, legte sie auf das Brot und klappte es zusammen. Es war so trocken, daß sie fast daran erstickte. Sie trank einen Schluck Wasser aus dem Krug. Es war lauwarm und schmeckte abgestanden. Dann setzte sie sich und wartete auf seine Rückkehr. Später, als sie sich in der nervösen Stille des Hauses in Jerez erholte und sich fragte, ob sich das Klima ändern würde und sie nach La Soledad zurückkehren müßte, versuchte sie, die Tage zu zählen. Vielleicht waren es dreißig gewesen, vielleicht auch mehr. Ein Tag ging in den nächsten über, nahtlos, wie zusammengeschmolzen, Tag und Nacht unauflöslich miteinander verbunden. Sie wurde wach und aß etwas. Er brachte Lebensmittel mit, ließ sie auf dem Tisch zurück. Brot, Käse, gelegentlich Orangen. Sein Leben verlief nicht in konventionellen Bahnen. Das hatte sie sehr schnell erkannt. Manchmal war er da, wenn sie erwachte, weil die Sonne gegen die Vorhänge im Schlafzimmer schien. Dann lag er nackt neben ihr, mit Bartstoppeln auf dem Kinn, den Wagen. Sie sah ihn an, wie er schlief, und dachte daran, wie weh die Stoppeln ihrem Gesicht, ihren Schultern getan hatten, als er sich auf sie wälzte, in sie eindrang. 242
Wenn er schlief, dann so tief, daß nichts ihn wecken konnte. Wenn sie in die Küche gehen würde, das kleine Messer aus der Schublade holte, zurückkehrte und ihm die Kehle durchschneiden würde, von einem Ohr zum anderen, das Blut die Bettwäsche tränken würde – würde er erwachen und sie mit dem in der Sonne funkelnden Messer über sich entdecken? Nein. Sie glaubte es nicht. Es wäre also möglich. Aber sie tat es nicht. Sie hätte einen Mann töten können. Davon war sie überzeugt. Aber nicht ihn. Zwischen ihnen bestand eine Beziehung, die sie respektierte. Er beschützte sie, und wenn es zunächst auch eine Vergewaltigung gewesen war, so hatte sich das im Lauf der Tage geändert. Jetzt wartete sie, freute sich auf ihn. Er unterwies sie, sorgte für sie, war Beschützer und Liebhaber zugleich, und dafür war sie dankbar. Manchmal tat er Dinge – berührte ihre kleinen Brüste, küßte die Brustwarzen und wartete darauf, daß sie anschwollen, steif wurden –, die ihr das Gefühl vermittelten, anders zu sein, erwachsen, eine Frau. Es hatte einen Moment gegeben, schon recht früh, als sie sich bewußt machte, daß sie es sich wünschte, enttäuscht wäre, wenn er einfach herumrollen und einschlafen würde (wie er es mitunter tun wollte, wenn er, wie so häufig, erschöpft, besorgt und abwesend wirkte). Als es zum ersten Mal geschah, hatte sie seine Brust berührt, die weichen schwarzen Haare gefühlt, die Wärme seiner Haut, hatte ihre Hand hinunterwandern lassen zwischen seine Beine und zu ihrer Überraschung festgestellt, daß es anschwoll und hart wurde. Sie hörte, wie sich 243
sein Atmen veränderte, und dann, ohne darüber nachzudenken, was sie tat, hatte sie ihn dort geküßt. Es war eine Tat der Komplizenschaft und konnte, einmal vollzogen, nicht zurückgenommen werden. Er befahl ihr, das Haus nicht zu verlassen. Er verschloß es jedesmal, wenn er ging. Sie hörte den Schlüssel im Schloß und versuchte nie zu fliehen. Sie konnte nirgendwohin und wollte ihn ohnehin nicht verlassen. Das dämmerige Bauernhaus wurde ihre Welt, ihr Universum. Die Tage zogen sich scheinbar endlos hin. Nur selten kam er vor der Abenddämmerung zurück. Die Nächte verbrachten sie in enger Umarmung, schwitzend, keuchend, wie benommen von der harten, schmerzlichen, berauschenden Faszination, die sie aneinander fanden. Sie begann, sich um das Haus zu kümmern, seine Kleidung in Ordnung zu halten. Jeden Morgen, bevor er sie verließ, brachte er Wasser herein, damit sie etwas waschen konnte, ein paar Lebensmittel. Sie lernte die Eier zu braten, die er, noch nestwarm, von den Hühnern holte, die sie draußen gackern hörte. Es verging mindestens eine Woche, bevor sie nach ihrer Familie fragte. Sein Gesicht verdüsterte sich. Er wandte den Blick ab. Und sie haßte sich, die Frage gestellt zu haben. »Wenn du dich ruhig verhältst«, sagte er schließlich, »wenn du tust, was ich dir sage, kann ich dich am Leben erhalten, Caterina. Es gibt wahnsinnige Männer hier in La Soledad. Sie tun Dinge, die ich nicht verhindern kann. Sie würden mich umbringen, wenn ich es versuchte. Du mußt Geduld haben. 244
Wenn die Kämpfe in der Stadt ein Ende finden, und lange kann das nicht mehr dauern, dann wird alles sehr viel sicherer werden. Aber dränge mich nicht. Stell keine Fragen. Bleib vor allem im Haus. Mach sie nicht auf dich aufmerksam. Ich versuche mein Bestes für deine Familie.« Das Zögern in seiner Stimme entging ihr nicht. »Und für mich?« »Und für dich. Immer.« Sie lächelte. Es stimmte. Sie beide gegen die ganze Welt. Das hatte sie längst gefühlt, und nun hatte er es bestätigt. »Mit mir hast du eine Vereinbarung. Nicht mit meiner Familie«, sagte Caterina. Ihre Augen glitzerten in der Dunkelheit. Antonio Alvarez sah sie an und fragte sich, wodurch er die Veränderung bewirkt hatte, die er miterlebte. Sie sah jetzt älter aus. Sie trug ein bäuerliches Hemdkleid, das er eines Tages für sie gekauft hatte. Sie war noch immer knabenhaft schlank, aber ihre Brüste wuchsen, und sie konnte jederzeit als junge Frau eines Bauern durchgehen, sehr hübsch und voller Leben. Er dachte an sein eigenes Leben in der Stadt und fragte sich, wie seine Gier ihn so weit hatte treiben können. Dann dachte er an die Nächte und daran, wie sich ihre Körper auf der harten Strohmatratze bewegten, an ihr Gesicht im Mondlicht, ihre geschlossenen Augen, die halb geöffneten Lippen, ihr leises, fast zwitscherndes Stöhnen. Es war unmöglich, und er verabscheute es, länger darüber nachzudenken. 245
»Bleib im Haus. Verhalte dich ruhig. Halte dich von den Fenstern fern«, sagte er, stand vom Tisch auf, griff nach seinem Jackett und entriegelte die Tür. Im flüchtigen Sonnenschein seines Abschieds hatte sie genickt. »Ja«, hatte sie gesagt. Aber sie war noch immer ein Kind. Sie würde sich nicht daran halten.
25 Irgend etwas hatte sich da draußen verändert. Sie spürte es, wenn sie in seine Augen sah, hörte es den fernen Stimmen vor der verschlossenen Tür an. Es lag in der Luft. Die Atmosphäre war angespannter geworden. Antonio blieb noch länger vom Haus fort. Sie vermißte ihn. An manchen Abenden war er so erschöpft, daß er sofort einschlief und erst wieder erwachte, wenn sie sich auf ihn setzte, die Beine um seine Taille schlang und ihm zärtlich zwischen die Beine griff. Aber auch das hatte sich zwischen ihnen verändert. Sein Interesse an ihr schien nachgelassen zu haben, seine Gedanken woanders zu sein. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den sie nicht verstand, der ihr nicht gefiel. Und sie wagte nicht zu fragen, weshalb das so war, was draußen passierte, in La Soledad. Eines Abends blieb er noch länger aus als sonst, 246
und sie langweilte sich, war gekränkt, fühlte sich vernachlässigt. Sie hatte seine Sachen gewaschen, etwas zu essen vorbereitet. Die Hälfte davon hatte sie gegessen, hatte von dem herben Rotwein getrunken, den er in grünen, unverkorkten Flaschen mitgebracht hatte. Er machte sie schwindlig, brachte sie auf wilde, verwegene Gedanken. Wenn sie zuviel davon trank, wurde ihr mitunter übel. Aber heute abend nicht. Heute abend machte er sie neugierig, mutig, rebellisch. Sie ging zum Vorderfenster, stieß den Stuhl zur Seite und schlüpfte hinter den Vorhang. Es war Nacht, aber ein prachtvoller silberner Vollmond stand am sternenfunkelnden Himmel. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals einen so wundervollen Abend erlebt zu haben. Ruhig und still lag alles unter dem klaren, weißen Licht. Sogar das karge Land von La Soledad, die schäbigen kleinen Unterkünfte, die Pfähle der Umzäunung wirkten plötzlich ganz selbstverständlich. Sie erinnerte sich an eine Formulierung, die ihre Brüder verwendeten, wenn sie Soldat spielten: Alles vollständig angetreten. Genau so sah die Landschaft vor ihr jetzt aus. Alles an ihr, der zerklüftete, felsige Boden, die struppigen Feigenkakteen, die armseligen Baracken – alles wirkte perfekt an Ort und Stelle, als könnte es gar nicht anders sein. Hingerissen, verzückt, verträumt starrte Caterina aus dem Fenster und hoffte, daß sich dieser Anblick nie ändern würde. Dann war ein Geräusch zu hören, das sie nie wieder vergessen würde. Da schrie ein 247
Mensch, so schmerzgequält, so gepeinigt, so verzweifelt, daß sie glaubte, seine Qual an sich selbst zu verspüren. Es hörte nicht auf, dauerte an, ging immer weiter, wie der Schrei eines geschlachteten Tiers, und eine innere Stimme sagte zu Caterina: Geh vom Fenster weg, denk nicht mehr darüber nach, geh schlafen. Doch das war unmöglich. Nicht, ohne mehr zu wissen. Wieder ertönten die Schreie, und obwohl die Nacht sehr heiß war, fröstelte sie. Caterina verließ das Fenster, trat an den Tisch, auf dem Antonio seine Unterlagen verwahrte, öffnete die kleine Aktentasche und holte ein Fernglas heraus. Erneut erschollen die Schreie, und sie ging zum Fenster zurück. Sie hatte das Fernglas noch nie benutzt, aber gesehen, wie er damit spielte, ans Fenster trat und schweigend etwas am fernen Horizont beobachtete, was sie nur vermuten konnte. Zunächst war die Handhabung ein bißchen schwierig, doch dann fand sie sich zurecht. Schon bald konnte sie die Einzelheiten der Tore erkennen, die Details der Felsformationen in der Ferne. Ihre Blicke kehrten zum Lager zurück, suchten nach einem Spalt, durch den sie in das Lager hineinsehen könnte. Doch da gab es nirgendwo eine Lücke. Das Schreien wurde schwächer. Sie schwenkte vom Zaun nach links, zur Rinderweide. Dort standen ein paar dunkle Gestalten, reglos. Sie wandte ihre Blicke noch weiter nach links, zur Übungsarena. Die Umrisse von Männern und anderen Dingen nahmen Gestalt an, und sie hörte sich unwillkürlich 248
aufstöhnen. Wieder meldete sich ihre innere Stimme. Wieder hörte sie nicht auf sie. Sie konnte Antonio sehen. Vom Mondlicht beschienen saß er in den obersten Bänken der dreireihigen Tribüne. Unter und neben ihm saßen etwa zehn weitere Männer und beobachteten das Geschehen im Sand der Arena. Ihre Mienen konnte sie nicht erkennen. Sie bedauerte es nicht. Caterina richtete das Fernglas auf den Mittelpunkt der Arena. Ein Mann war an die Griffe des »Angreifers« gebunden. Der Mond beschien seinen Rücken, und sie nahm an, daß er bis zur Taille nackt war. Schlaff hing er über den Griffen, fast so, als würde er schlafen. Dann erschien von irgendwoher eine Gestalt mit kleinen Gegenständen in der Hand, an denen Bänder befestigt zu sein schienen. Die Gestalt lief auf den Mann zu, holte aus und schleuderte etwas von sich. Es flog durch die Luft und blieb im Rücken des Mannes stecken. Caterina sah den Kopf des Mannes hochzucken und bereitete sich auf den Schrei vor, der gleich darauf dünn durch die Nacht zu ihr drang. Von einer Seite der Arena näherte sich jemand auf einem kleinen Pferd. Er hielt eine Lanze in der Hand. Sie ragte über das Pferd hinaus, war zu groß, zu ungefügig, sah komisch aus. Sie hörte die Männer auf den Tribünenplätzen lachen. Langsam bewegte sich der Reiter auf die Mitte der Arena zu. Er sah gelangweilt aus. Er sah aus, als hätte er das bereits zu oft getan. Fast träge hob er die Lanze und stieß sie dem Mann zwei-, dreimal in die Seite. Der gehörnte 249
Karren bewegte sich einen halben Meter. Die Männer auf den Bänken begannen zu schreien. Die Lanze hob sich, stieß erneut zu, und der »Angreifer« rutschte noch ein Stück weiter, bevor die an ihn gefesselte Gestalt wieder in sich zusammensackte. Das Geschrei wurde lauter, ungeduldig, gereizt. Die Darbietung schien den Zuschauern nicht zu gefallen. Caterina betrachtete die Männer. Sie machten ihr angst. Dann sah sie, daß Antonio die Hand zu einer Geste hob, deren Bedeutung sie nicht verstand. Beifall klang auf. Einer der Männer vor Antonio stand auf und betrat das Rund der Arena. Er trug etwas Langes, Dünnes in der Hand. Sie schloß die Augen, riß sie aber fast zwanghaft wieder auf. Es war ein Degen. Jetzt schrien sie, tobten, aber die an den Karren gebundene Gestalt blieb reglos. Vielleicht ist er bereits tot, dachte sie. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn er bereits tot ist. Der Mann mit dem Degen trat vor den gehörnten Karren. Er betrachtete die Gestalt, schüttelte den Kopf, stach mit dem Degen in den Oberkörper. Der Mann bewegte sich leicht. Der Mann mit dem Degen zuckte mit den Schultern. Dann hob er den Kopf des Opfers an, sah in das Gesicht und ließ den Kopf hart auf den Karren zurückfallen. Er hob den Degen, hob ihn so, daß das kalte Mondlicht die Klinge von der Spitze bis zum Heft auffunkeln ließ, schrie auf und stieß zu, stach wie wahnsinnig in den Kopf, den Rücken, die Seiten und schrie, schrie, schrie. Doch das nahm Caterina kaum noch wahr. Auch 250
sie schrie, so laut, daß zwei Bewacher mit gezogenen Pistolen auf das Haus zugerannt kamen. Sie hatte das Gesicht des Mannes erkannt, das Gesicht des Mannes, der im Sand der Arena einen grauenhaften, qualvollen Tod starb. Es war das Gesicht ihres Vaters. Als sie gegen die Tür hämmerten und Antonio zuriefen, er solle ihnen den Schlüssel geben, zog sie sich langsam so weit wie möglich zurück, in die Küche, in der sie sie auf dem Boden hockend fanden: mit tränenverschwollenem Gesicht, die Arme um die Knie geschlungen, sprachlos vor Schrecken. Schreiend zerrten sie sie aus dem Haus, ein junges Mädchen in Todesangst. Sie erinnerten sich nicht mehr daran, daß es Caterina Lucena war, ahnten nicht, daß sie vor ihrem Eindringen geistesgegenwärtig genug gewesen sein könnte, in die Tischschublade zu greifen, das kleine scharfe Messer herauszuholen und tief in der Tasche ihres einfachen Hemdkleides zu verstecken. Antonio saß noch immer in der obersten Tribünenreihe, mit dem Rücken zum inzwischen riesengroßen Mond. Sie wünschte verzweifelt, in sein Gesicht sehen, es deuten zu können. Denn sie konnte es deuten. Das wußte sie inzwischen. »Laßt sie los«, sagte er aus dem Schatten heraus. »Sie kann nirgendwohin.« Dann kam er von der Tribüne herunter. Jetzt konnte sie sein Gesicht sehen. Es war kalt und ausdruckslos. Und plötzlich durchzuckte es sie: Es gibt zwei von ihnen, zwei Antonios unter derselben 251
Haut. Zwillinge: einer hell, einer dunkel. Im Haus, in dem es Liebe, Wärme und Leidenschaft gab, lebte der helle. Hier draußen, neben der Arena, dem Ort des Schreckens, herrschte der dunkle. Und den sah sie jetzt an, mitleidlos, mit keinem anderen Ausdruck als dem einer leichten Enttäuschung. Die Männer scharten sich um sie. »Sie hat es gesehen, Antonio«, sagte einer mit grober, unkultivierter Stimme. »Du mußt sie auch töten. Wir könnten alle ins Gras beißen, wenn sie das ausplaudert. Du hast deinen Spaß gehabt. Jetzt ist es damit vorbei.« Er stieß den Fuß in den Sand, ignorierte sie. Er hatte Macht über sie. Das war offensichtlich, spürbar. »Ich bin der Anführer. Ich sage, wann es vorbei ist.« »Sie hat es gesehen. Sie kann uns in große Schwierigkeiten bringen. Wenn man uns aus irgendeinem Grund schnappt und von diesen Dingen erfährt, sind wir tote Männer.« Er lachte. »Meinst du, das wären wir nicht bereits? Laßt uns allein. Bringt ihn weg. Ich werde mit ihr reden.« Murrend gingen sie in die Arena, auf die mondbeschienene, schlaffe Gestalt eines Menschen zu. Antonio beugte sich vor, strich ihr über die Wange. Sie erschauerte. »Kind, Kind. Ich habe es dir doch gesagt. Ich habe es dir gesagt. Warum hast du nur nicht auf mich gehört?« Sie weinte, die Tränen füllten ihre Augen, liefen ihr langsam über das Gesicht. »Es ist mein Vater.« 252
Sie wollte, daß er es verneinte, wußte aber, daß er es nicht tun würde. »Ja. Sie sind alle tot. Nur du nicht, du hast Glück gehabt. Die letzte Lucena. Das hier ist ein Todeslager, Caterina. Weißt du, was das heißt? Verstehst du das? Wir beseitigen unsere Feinde, um sicherzustellen, daß wir nicht wieder gegen sie kämpfen müssen. Sie tun das. Wir tun es. Wie ich schon sagte: Es ist Krieg.« Sie spürte, wie Zorn in ihr hochkam. »Feinde? Meine Brüder? Meine Schwester?« Er hob die Schultern. »Vielleicht heute noch nicht. Aber dies ist ein Krieg, der über die Zukunft entscheidet. Wer weiß, was morgen sein wird?« »Bin ich deine Feindin?« Sie bemerkte, daß er ihr nicht in die Augen sehen konnte. Antonio wandte sich halb ab und starrte zu den mondweißen Hügeln hinüber. »Du bist … Ich weiß auch nicht, was du bist. Du bist … eine Quelle des Trostes.« »Deine Hure?« Er drehte sich wieder zu ihr um. Sie sah die Verärgerung auf seinem Gesicht. »Was für ein Wort, von einer Dame deines Alters.« Er packte sie grob am Kleid und zerrte sie mit sich fort. »Komm mit, ich werde es dir zeigen.« Sie liefen hinter die Arena. Ein paar Männer luden die Leiche ihres Vaters auf einen Karren. Sie wandte sich ab, er ließ sie los. Sie folgte ihm schweigend. Es war noch eine Minute entfernt, aber der Geruch trieb ihr entgegen … Nie zuvor hatte sie Ähnliches gero253
chen. Ihr Magen revoltierte. Sie glaubte, sich erbrechen zu müssen. »Nicht weiter.« Er streckte den Arm aus, hinderte sie am Weitergehen, schien sich zu verwandeln. Das ist wieder der helle Antonio, dachte sie. Seine Stimme hörte sich weicher an. Sein Verhalten wirkte zugänglicher, sanfter. »Sieh hin.« Er deutete nach unten. Es war dunkel. Im Schatten vor ihnen erstreckte sich etwas Tiefschwarzes, Längliches, tief und unheilverkündend. Von dort kam der Geruch. »Hier.« Er griff in seine Jackettasche und streckte ihr etwas entgegen. Es war eine schmale, batteriebetriebene Taschenlampe. Sie fingerte nach dem Bakelitschalter, fand ihn, deutete mit dem Lichtstrahl in die Richtung, in die er zeigte, keuchte kurz auf und schaltete wieder aus. »Hast du es gesehen?« Sie fuhr sich mit der Hand an den Mund. Ihr war übel. »Hast du es gesehen?« »Ja«, sagte sie und konnte an nichts anderes mehr denken. Körper über Körper, mit verdrehten, verrenkten Gliedern, stumpfen, leeren Augen, aufgerissenen Mündern. Es war eine Totengrube, der Ort, an dem sie die Opfer ihres Gemetzels versteckten. »Ich möchte gehen«, sagte sie leise, mit ganz ruhiger Stimme. Er drehte sich um, und sie folgte ihm. Sie liefen bis fast zur Arena zurück. Der Geruch nahm ab, ver254
schwand aber nie ganz. Später glaubte sie, ihn noch wochenlang riechen zu müssen. Vielleicht sogar jahrelang. »Da liegen sechzig, vielleicht siebzig Menschen. Und ich weiß nicht, wie viele sie vor meiner Ankunft hier hineingeworfen haben.« Sie hustete, mußte sich übergeben, beugte sich über einen trockenen Strauch und weinte lautlos vor sich hin. Er gab ihr ein Taschentuch, damit sie sich den Mund abwischen konnte. Es roch nach Waffenöl. »Warum?« fragte sie. »Weil …« Er suchte nach einem Grund. »Weil es möglich ist. Diese Männer führen keinen Krieg, sie kämpfen gegen die Welt. Sie würden die ganze Welt verscharren, wenn sie es könnten. Ich bemühe mich, sie zurückzuhalten, soweit ich kann. Aber ich kann sie nicht ändern. Wenn ich es versuchen würde, würden sie mich ebenso töten, wie sie dich töten wollen. Meine Macht hier ist beschränkt. Aber ich tue, was ich kann. Sie haben nicht alle getötet. Sie haben dich nicht getötet.« »Noch nicht.« »Sie werden dich nicht töten.« Das sagt der helle Antonio, dachte sie, aber was wird der dunkle tun? Sie wischte sich noch einmal den Mund ab, stopfte das Tuch dann in ihre Tasche. »Als du … als du mich zum ersten Mal genommen hast, sagtest du, du wärst Arzt. Stimmt das?« »Ich sagte, daß ich in einem Krankenhaus gearbeitet habe.« 255
»Du … du hast in mir den Eindruck erweckt, daß du ein Arzt bist.« »Ich war Krankenträger. Ich trug Patienten von Raum zu Raum. Manchmal auch Tote. Jemand muß es tun. Jemand muß auch das hier tun.« Sie spürte seine Qual, spürte, daß er von La Soledad nicht unberührt blieb. »Du gehörst zu mir«, sagte er mit dumpfer, metallischer Stimme. »Du bist mein. Das mußt du begreifen. Dann werden wir beide überleben.« »Du hast eine Frau«, sagte sie, »in der Stadt.« »Sie ist in Madrid. Bei ihren Eltern.« »Ist sie hübsch?« Er musterte sie, versuchte ihre Gedanken zu lesen. »Sie sieht ein bißchen aus wie du. So, wie du jetzt aussiehst. Nicht vorher. Ja. Sie ist hübsch.« »Hast du Kinder?« »Nein. Keine Kinder.« »Und wir? Danach? Wenn es vorüber ist?« Er lachte. »Danach? Wer von uns kann an ein ›Danach‹ denken? Jetzt ist jetzt. Jetzt ist hier. Am Leben bleiben, Caterina, überleben. Ohne das gibt es kein ›Danach‹. Komm.« Sie folgte ihm ins Lager und zu den Männern, die sich am Zaun versammelt hatten. »Denk daran, was ich dir gesagt habe, Caterina. Du gehörst zu mir. Wenn du das nicht vergißt, werden wir beide überleben. Diese Männer sind aufgebracht. Sie möchten dich tot sehen.« Die neue Härte in seiner Stimme entging ihr 256
nicht. Es war, als käme er mit jedem Schritt, den er auf die Männer zu machte, den er sich von ihrer Zweisamkeit entfernte, dem anderen Antonio näher, dem dunklen Antonio. Sie blieben vor den Männern stehen, und Antonio lächelte sie an. »Juan«, sagte er. Ein junger Mann, der am Boden hockte und ein altes Gewehr putzte, blickte auf. Er konnte nicht älter als siebzehn sein, dachte Caterina. Seine Haare waren verfilzt und ungeschnitten, seine Kleidung zerlumpt. »Steh auf, Juan«, sagte Antonio. Sie spürte, daß die anderen sie nachdenklich musterten. Der Junge stand auf. Er war verblüffend dünn, mit hängenden Schultern. Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Señor.« Seine Stimme hörte sich bäuerlich an, einfach. Caterina konnte ihn riechen: Schweiß, dreckige Kleidung, Urin. »Juan«, sagte Antonio, »hast du schon einmal so etwas gesehen?« Er hob ihr Kleid an. Im Mondlicht wirkten ihre Beine wie sanft geschwungenes Elfenbein. Juan blickte entgeistert. »Keine Angst«, sagte Antonio. »Sieh hin.« Er hob das Kleid höher, über ihre Knie, noch höher, bis sie alle das kleine dunkle Dreieck zwischen ihren Beinen sehen konnten. Caterina zitterte vor Furcht und Scham. Ihre Augen waren geschlossen, Tränen quollen unter den Lidern hervor. »Warst du schon einmal mit einer Frau zusammen, Juan?« 257
Der Junge schüttelte den Kopf. Er wirkte leicht schwachsinnig. Antonio ließ ihr Kleid los. Sie spürte, wie es ihr über die Beine glitt. »Nimm sie. Da drüben. Im Stall. Nimm sie dir. Sie weiß, was zu tun ist. Sie kann dir ein paar Dinge beibringen.« Sie lachten. Es hörte sich grimmig an, unerbittlich. »Geh. Wenn du fertig bist, bring sie zurück ins Haus. Schließ die Tür gut ab. Vielleicht wird sie beim nächsten Mal tun, was man ihr sagt. Wenn nicht … kann sich vielleicht ein anderer mit ihr vergnügen. Geh!« Der Junge baute sich vor ihr auf, dann lächelte er. Seine Zähne waren gelb, unregelmäßig und schadhaft. Der Gestank, der in erregten Stößen seinem Mund entwich, verschlug ihr den Atem. Sie streckte die Hand nach Antonio aus, aber der ging bereits davon und rief den anderen Befehle zu. Sie blieben ein paar Schritte zurück, grinsten den Jungen breit an und machten obszöne Gesten. Lachend griff sich Juan in den Schritt und stieß sie leicht in den Rücken. Sie lief los, auf den Stall neben dem kleinen Bauernhaus zu. Hell hing der Mond über den fernen Hügeln, aber erste Wolken begannen bereits, ihn zu verschleiern. Er klatschte ihr wie einem Stück Vieh aufs Hinterteil, zog die Stalltür auf und schob sie hinein. Tiere sah sie nicht, nur Heu und Stroh, eine Futterkrippe, einen Wassertrog. Wieder stieß er sie, drängte sie in eine Ecke unter eine verschlissene Plane. 258
»Da hin. Ich will nicht, daß einer dieser Dreckskerle zusieht.« Seine Stimme klang rauh und guttural. Speichelfetzen flogen ihm über die Lippen, wenn er sprach. Sie lief hinüber, kniete sich aufs Stroh, streckte sich lang aus und legte sich auf den Rücken. Er zeigte auf ihr Kleid. Sie zog den Rock hoch, bis er nickte, spreizte die Beine ein wenig. Juan lachte kurz auf, fummelte an seinen Hosen und ließ sie bis zu den Knien fallen. Sein Penis stand blaß und halb steif im Neunziggradwinkel vor. Lachend ging er in die Knie und rutschte vor ihr herum. Sie machte die Beine breiter, und er kam näher. Sie konnte seinen Atem riechen, seinen ganzen Körper. Mit seinem Penis in der Hand sah er sie an, irgendwie ratlos. »Steck ihn für mich rein«, sagte er. »Du weißt, was zu tun ist.« Sie nickte und zog langsam die Hand aus der Tasche. Juan beschäftigte sich wohlig mit seinem Penis und lächelte sie an. Er lächelte noch immer, als die Messerklinge wie ein kurzer Blitz vor seinem Gesichtsfeld auftauchte, und dann fragte sich Juan, was mit seinem Hals passiert war. Dort verspürte er plötzlich ein heißes Gefühl, als wäre er gestochen worden. Er fuhr sich mit der Hand an die Stelle und zog sie schnell wieder fort. Etwas Warmes, Klebriges lief ihm durch die Finger. Sein Magen hob sich. Als er sich bewußt machte, was geschehen war, wollte er schreien, aber Caterina erkannte den Moment, erkannte, daß sie noch nicht fertig war. Sie glitt unter ihm hervor, drehte sich um, stützte sich auf einen 259
Ellbogen und stieß ihm das kleine, scharfe Küchenmesser tief in die Kehle. Er krallte beide Hände um seinen Hals, fiel nach vorn, und das Leben entströmte ihm, langsam, wie ein träger roter Fluß. Er würgte noch ein paarmal, dann lag er reglos zu ihren Füßen. Caterina wischte das Messer an ihrem Kleid ab und lauschte, aber sie hörte nur ungefährliche Geräusche: eine ferne Eule, Hundegebell, das Zirpen der Zikaden. Sie schnürte die Stiefel des Jungen auf, zerrte sie ihm von den übelriechenden Füßen und zog sie selbst an. Sie waren ihr zu groß, aber sie konnte wohl kaum barfuß durch die steinige Gegend laufen. Dann hastete sie zur Tür hinaus und blieb kurz stehen, um sich umzusehen. Die Männer beschäftigten sich in der Nähe der Arena. Ihre rotglimmenden Zigaretten verrieten sie.
26 Sie folgten ihr nicht, zumindest bemerkte sie nichts davon. Am nächsten Tag erwachte sie neben der Straße, in einem von Gestrüpp zugewachsenen Graben. Ihre Füße schmerzten, ihre Beine, ihr ganzer Körper. Sie hatte Durst, Hunger. Sie wußte nicht, wo sie sich befand, welcher Wochentag es war. Caterina begann auf die fernen Hügel zuzuwandern. Sie wirkten vertraut, wie die an der Straße nach Ronda. La Soledad erwies sich als gute Schule für die 260
nächsten beiden Wochen. Schon bald erkannte sie, daß sie allein nicht überleben konnte. Hin und wieder stieß sie auf ein Rinnsal von Wasser in einem arroyo. Hin und wieder fand sie Kräuter oder versuchte, eine Kaktusfeige zu pellen, ohne daß sich die feinen, lästigen Stacheln in ihrer Haut festsetzten. Aber sie blieb auf die Unterstützung anderer angewiesen, und diese mußte auf die eine oder andere Weise gefunden werden. Es waren Menschen, die am Krieg nicht direkt beteiligt waren. Sie hielten sich irgendwie aus dem Konflikt heraus und arbeiteten jeweils mit dem zusammen, der den höchsten Gewinn versprach. Es waren Menschen der Berge, zurückhaltend, schweigsam, mißtrauisch. Als sie an den Berghängen von einem kleinen weißen pueblo zum nächsten wanderte, lernte sie, sie zu nehmen. Manchmal wurden die kleinen Gefälligkeiten gratis gewährt: Wasser, Obst, ein Stück harte, fette Wurst. Manchmal konnte sie sich eine Mahlzeit erarbeiten, sogar ein Schlaflager in einem Schuppen, indem sie die Tätigkeiten übernahm, die sie ihr zuwiesen. Mitunter waren sie nötig, mitunter taten sie nur so. Sie fegte Ställe, spritzte Schweinekoben aus, rebelte trockenen Mais in der heißen Mittagssonne. Sie hatte es bald heraus, auf die richtige Weise zu fragen, nicht um Wohltätigkeiten zu bitten, sondern um Lohn. Sie gab ihnen zu verstehen, daß sie keine Bettlerin war, und wenn sie ihr in die Augen blickten und die stahlharte Entschlossenheit sahen, die neuerdings in ihrem Blick lag, wußten sie das für gewöhnlich zu schätzen. 261
Mitunter bekam sie das, was sie brauchte, auch auf andere Art. Die Entfernungen waren beträchtlich und die Temperaturen unter der sengenden Sonne kaum zu ertragen. Bald hatte sie sich die Geographie der Berge fest eingeprägt. Sie wußte, wo sie war, und sie wußte, wohin sie wollte: nach Westen, bis die sierra zur Ebene abfiel und Jerez nur noch wenige Kilometer entfernt war. Aber es würde Wochen dauern, bis sie zu Fuß dorthin gelangte. Also setzte sie sich eines Morgens, nachdem sie sich ein Lager und ein wenig Essen damit verdient hatte, die Wäsche einer alten Frau im Brunnen zu waschen, hinter dem letzten Haus an die Straße und wartete. Eine halbe Stunde später holperte ein alter Lastwagen heran. Der Fahrer sah sie, grinste und winkte sie in sein rostiges Fahrzeug. Sie wußte, daß für gewöhnlich ein Preis zu zahlen war. Von Antonio hatte sie Dinge gelernt, die sie ihnen mit ihren flinken, behenden Fingern zeigen konnte, Dinge, die alles zu einem schnellen Abschluß brachten. Danach fuhren sie weiter, nachdenklich, marginal befriedigt und verblüfft über das Mädchen auf dem Sitz daneben, das noch so jung zu sein schien und gleichzeitig so alt. Mitunter wollten sie weitergehen, weiter, als sie es wollte. Aber nur ein Mann kannte sie so. Nur ein Mann würde sie je so kennen. Und wenn sie allzu zudringlich wurden, hatte sie noch immer das Messer, klein und abgenutzt, aber scharf wie ein Dolch, und sie hatte keine Bedenken, es zu benutzen. Sie 262
wichen zurück, wenn sie es gegen sie zückte, wenn sie die tödliche Entschlossenheit in ihren Augen sahen. Das vierzehnjährige Mädchen in dem rosaweißen Batistkleid, das in einem alten Herrenhaus mit Marmorsäulen und kühlen, palmenbeschatteten Patios in ihrer eigenen Welt gelebt hatte, dieses Mädchen war tot und begraben. Jetzt war sie sehr viel älter und für immer gezeichnet vom Dunkel dieser Welt. Einen Monat nach dem Tod der alten Caterina fand eine junge Frau in ausgeblichenem bäuerlichen Hemdkleid, mit sonnenverbranntem Gesicht, in Medina Sidonia eine Mitfahrgelegenheit. Sie hatte auf dem Kirchhof geschlafen, im Schatten einer alten arabischen Festung. Als sie erwachte, fühlte sie sich merkwürdig: benommen, schwindlig und krank. Trotz ihres leeren Magens mußte sie sich übergeben, danach ging es ihr besser. Der Lastwagenfahrer war ein Bauer, der in Jerez Wein kaufen wollte. Der Mann war etwa Mitte Zwanzig und machte sich Sorgen über die Fahrt, Sorgen, daß die Kämpfe in der Ebene vielleicht doch noch nicht beendet waren, wie es die Gerüchte in der Stadt wissen wollten. Er verlangte von ihr nichts, nichts weiter, als daß sie ihm zuhörte, sich seine Befürchtungen anhörte, seine Schilderungen aus zweiter Hand über die Schrecken des Krieges, das Blutvergießen, die Schlachten, die Massaker. Als Caterina am Rand von Jerez aus der Fahrerkabine sprang, empfand sie für ihn nichts als Verachtung. Sie dachte nicht darüber nach, warum das so war. 263
Die Straßen der Stadt wirkten verlassen. Es war früher Nachmittag, aber die Stille war anders als während einer gewöhnlichen siesta. Jerez wartete ab, hoffte, das Schlimmste des Krieges hinter sich zu haben, hoffte daß er nicht zurückkehrte. Sie setzte sich auf den Bordstein und versuchte, sich zu orientieren. Es gelang ihr nicht, und so fragte sie einen Briefträger, der die Straße herunterkam, nach dem Weg. Er blieb stehen, sagte ihr, was sie wissen wollte, und war froh, wieder seiner Wege gehen zu können. Caterina hielt sich vom Zentrum fern, lief eine schattige Allee entlang, bog in eine Seitenstraße ein und erkannte das Haus wieder. Es war drei, vielleicht vier Jahre her, seit sie ihre Tante und ihren Onkel zum letzten Mal gesehen hatte. Das Haus, eine einstöckige Villa mit Bougainvilleen an der Fassade und blühenden Jacarandabäumen im Vorgarten, schien viel kleiner geworden zu sein. Sie sah es mit den Augen einer Erwachsenen, ihre Erinnerung war die eines Kindes. Caterina öffnete das eiserne Tor und ging auf die Haustür zu. Ein Mann kam um das Haus, sah sie an und begann sie anzuschreien. Sie blieb stehen. Es war ihr Onkel Ramón. »Verschwinden Sie«, sagte er. »Wir haben nichts für Sie. Jerez ist voll von Bettlern. Wir können sie nicht alle durchfüttern.« Fast hätte Caterina gehorcht. Sie fühlte sich seltsam. Die Welt um sie herum begann zu schwanken. Wurde ihr schon wieder schlecht? 264
»Ich muß einen Schluck Wasser trinken«, sagte sie. Ramón hielt eine Hacke in der Hand. Er klammerte sich an sie wie an eine Waffe. Links von sich hörte sie eine andere Stimme. Ihre Tante Francesca näherte sich. Sie trug einen geblümten Kittel von der Art, die Frauen zum Saubermachen anziehen. In ihrer Hand war ein Glas Wasser, in ihren Augen ein neugieriger, forschender Blick. Vor Caterinas Augen begann es zu flimmern. »Danke«, sagte sie und hob das Glas an die Lippen. Das Wasser schmeckte kalt, frisch, wundervoll, dennoch war ihr schlecht. Francesca starrte sie nachdenklich an. »Sie sind tot«, sagte Caterina. »Sie sind alle tot.« Ramón kam näher, versuchte zu sehen, was seine Frau sah. »Wer ist tot?« fragte Francesca. »Papa, Mama, alle. Sie haben sie umgebracht. In La Soledad.« Francesca legte eine Hand an ihre Wange, spürte die Trockenheit der Haut, ihre Rauheit. Sie sah das Mädchen in dem verschmutzten Kleid an. Es wirkte wie mindestens zwanzig. »Caterina?« fragte Francesca ungläubig. »Caterina? Bist du es?« Aber die Welt wurde schwarz, schwarz und spiralförmig. Sie kam auf sie zu, senkte sich wie ein dichter Vorhang auf sie, und schon bevor ihr Körper auf dem Boden aufschlug, war sie bereits bewußtlos.
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27 Die ersten Tage verschwanden hinter Nebelschleiern. Es gab ein Schlafzimmer, das zu ihrem Universum wurde. Sie konnte den Standort jeder Kerze bestimmen, jeder Verzierung, erinnerte sich an jede einzelne Blüte der Tapete, jedes Kruzifix, jedes religiöse Gemälde, das da hing, reglos und unveränderlich im dämmrigen Licht. Francesca und Ramón kamen und gingen wieder. Sie sah ihnen in die Gesichter und fragte sich: Glauben sie mir jetzt? Sie glaubten ihr. Glaubten ihr von Tag zu Tag mehr, als der Schmutz der Straße verschwand, sich die Falten ihres Gesichts fast unmerklich glätteten und sie ein wenig mehr von der Caterina von früher sehen konnten. Ein bißchen mehr. Ramón bemühte sich nach Kräften, sie die Kälte vergessen zu lassen, mit der er ihr begegnet war, als sie in ihrem Garten aufgetaucht war, abgerissen wie eine Bettlerin, die um Nahrung bat. Seit dem Krieg hatte es so viele von ihnen gegeben. Manche waren Waisen, manche einfach sich selbst überlassen worden. Als die Kämpfe ausbrachen, hatte er Francesca beiseite genommen. Sie hatten ernsthaft miteinander geredet und waren zu einem Entschluß gekommen: Wir kümmern uns nur um uns und die Familie. Und daran hielten sie sich. Und die Erkenntnis, daß er fast eine Verwandte, einen Menschen von seinem Fleisch und Blut abgewiesen hätte, kam für Ramón einer Sünde gleich. Einer Sünde, die er wiedergutmachen wollte. 266
Sie erinnerte sich an sie von Besuchen in Jerez und von Familienfesten in der Stadt her. Früher, vor dem Krieg, war ihr Ramón fast wie ein großer Bruder vorgekommen. Er hatte an ihren Spielen teilgenommen, sich mit den Kindern beschäftigt, während die anderen Erwachsenen sie am liebsten vergessen hätten. Warum? hatte sie sich damals gefragt, und Mama hatte etwas von »ihrer Tragödie« gemurmelt. Später hatte sie mehr darüber herausgefunden. Sie hatten ein Kind gehabt, das schon früh gestorben, kaum älter als ein Jahr geworden war. Weitere Kinder konnten sie nicht bekommen. Die Möglichkeit, mit Kindern zu spielen, in ihrer Nähe zu sein, gewährte Ramón, wenn auch nur kurz, Zugang zu einer Welt, die ihm, die ihnen verschlossen war, bevor sie noch das dreißigste Lebensjahr erreicht hatten. Die Nebel begannen sich zu lichten. Die Tage nahmen einen Rhythmus an. Sie fühlte sich noch immer krank. Anfälle von Übelkeit überkamen sie, üblicherweise morgens. Doch das ging vorüber. Nach einer Weile ging es ihr besser, ging es ihr wieder gut. Nein, mehr als gut. Sie fühlte sich kerngesund, voller Leben. Das Blut pulste mit einer Kraft, einer Vitalität durch ihre Adern, die sie fast mit den Händen greifen konnte. Sie fühlte sich lebendig, durch die Fleischlichkeit ihres Körpers gekräftigt und bestätigt. Doch das war nicht das gleiche wie Glück. Sie war nicht glücklich. Sie glaubte nicht, je wieder glücklich sein zu können. Sie war nicht sicher, in der Vergangenheit glücklich gewesen zu sein. Was Glück auch sein mochte, auf jeden Fall war es etwas, was 267
sich ihrer Erfahrung entzog. Genau wie manche Menschen nun einmal nicht pfeifen konnten. Sie war nicht fähig, naive, spontane Begeisterung zu empfinden. Das war ihr genommen worden, und sie vermißte es nicht. Überlebenswille, Stärke, mentale wie körperliche – darauf kam es an. Und das war erreichbar. Ihr Appetit war ungeheuer. Anfangs machten Francesca und Ramón ihre Scherze darüber. Dann begannen sie Blicke auszutauschen, und Caterina bemühte sich, hinter die Bedeutung dieser heimlichen Botschaften zu kommen. Sie aß alles, was man ihr vorsetzte: Milch, Eier, Schweinefleisch, Würstchen, Hühnchen, Kartoffeln. Unabhängig von der Kriegssituation gab es für sie offenbar keine Schwierigkeiten, Lebensmittel zu beschaffen. Entweder das, oder sie steckten ihr das Beste von dem zu, was sie besaßen. Später, als sie anfing, ihr Zimmer zu verlassen und im Haus herumzulaufen, als sie stundenlang im kühlen, schattigen Wintergarten lag, fand sie heraus, daß es letzteres war. Sie hatten nur das, was sie kaufen konnten, aber viel war das nicht. Ohne ein Wort darüber zu verlieren, verzichteten sie ihretwegen auf vieles. Eines Morgens, nachdem die Übelkeit so schnell verschwunden war wie gekommen, lag sie auf dem Bett und betastete ihren Bauch. Seine Form hatte sich verändert. Da war eine ganz neue Rundung, eine warme Ausbuchtung oberhalb des Haars, deren Berührung ein angenehmes Gefühl vermittelte. Sie schob die Hand unter das Nachthemd, legte die 268
Hand auf die Haut und verspürte einen Schauer der Befriedigung, den sie sich nicht erklären konnte. Es war ein trüber Tag. Der Herbst kündigte sich an. Francesca und Ramón hatten gesagt, daß die örtlichen Kampfhandlungen beendet waren und sich das weitere Kriegsgeschehen fern genug abspielte, so daß sich die Bauern mutig genug fühlten, ihre Ernte einzuholen. Schon bald würden alle wieder auf die Felder hinausgehen und sich, mit Strohhüten vor der Sonne geschützt, über die Reben beugen. Das alte Ritual konnte wieder beginnen. Wenn sie es nur oft genug wiederholten, würde vielleicht ein Wunder geschehen, würden die Wunden heilen, würde das Land zum Frieden zurückkehren und der Krieg beendet sein. Caterina strich sanft über die Rundung und fragte sich gerade, ob sie aufhören sollte, soviel zu essen, als sie ein anderer Gedanke durchzuckte: Ich blute nicht mehr. Aber es sagte ihr nichts. Die Zusammenhänge waren zu unklar, zu unerklärt. Aber Zusammenhänge gab es. Ich blute nicht mehr. Sie spürte die warme Haut unter ihren Fingern, und fast kam es ihr so vor, als wäre dort etwas, als würde sich etwas bewegen. Caterina merkte, daß sich ihr Gesichtsfeld verengte. Es war, als würden die Wände von allen Seiten auf sie eindringen. Sie konnte nichts anderes mehr sehen als ihren Körper auf dem Bett. Sie zerrte das Nachthemd hoch, über die Hüften, 269
spürte, wie es sich unter ihrem Rücken zusammenschob. Sie sah an sich hinunter. Da war eine eindeutige Rundung, direkt unter ihrem Magen. Ein kleiner Hügel rund um ihren Nabel, der sehr natürlich wirkte, sehr erwachsen. Vor einem Jahr erst hatten da unten Haare zu wachsen begonnen. Wenn sie sich jetzt betrachtete, sah sie wie eine erwachsene Frau aus, wie ein Torso in einem Museum, wie die Skulpturen, an denen sie immer verstohlen kichernd vorbeigeeilt waren. Wieder legte Caterina die Hand auf ihren Bauch, spürte die Wärme ihrer Haut, spürte, obwohl das natürlich unmöglich war, eine eindeutige Bewegung unter ihren Fingern. Sie kniff die Augen zu, hielt den Atem an. Aber als sie es nicht mehr aushalten konnte, als sie wieder an sich hinuntersah, als sie wieder atmete, blieb es das gleiche. Es war Wirklichkeit, es war Antonios Abschiedsgeschenk. Sie stand auf, verließ das Zimmer und fand Francesca in der Küche. Sie sahen einander an, und Caterina erkannte, daß sie es bereits wußte. In ihrem Blick lagen Zuneigung und Mitgefühl. Vielleicht sogar eine Spur Neid. Francesca kam auf sie zu, schlang die Arme um ihren Hals. Caterina spürte die Tränen ihrer Tante auf ihrer Haut, aber sie weinte nicht. Sie würde vor ihrem fünfzehnten Geburtstag Mutter sein. Für Tränen war kein Bedarf, kein Platz. Gegen Mitternacht des Karfreitag 1937 wurde das 270
Kind im kleinen Haus in Jerez geboren. Caterina hatte die Blumen an der Decke angestarrt. Sie hatte sich geweigert, zu weinen, zu schreien, aber letztendlich erwies sich das als unmöglich. Die Schmerzen waren zu groß. Sie hatte das Gefühl, auseinandergerissen zu werden. Nichts, was sie in La Soledad oder durch die Berge erlebt hatte, ließ sich mit der Intensität dieser physischen Qual vergleichen. Die Besorgnis auf dem Gesicht des Arztes entging ihr nicht. Das war keine gewöhnliche Entbindung, keine normale Geburt. Etwas, das Kind, bewegte sich in ihr, bewegte sich aber falsch, in eine bedenkliche Lage. Sie konnte spüren, wie es – er? sie? – in ihr kämpfte und doch nicht wußte, wie es ihren Körper verlassen sollte. Sie drückte, preßte, aber die Blockierung wurde nur massiver, solider, und die Qual größer, unerträglich. Sie biß hart auf den Lederriemen, den sie ihr zwischen die Zähne geschoben hatten, drückte erneut und verlor sich im Nichts. Dann blickte sie auf und sah im dämmrigen Schein des elektrischen Lichtes etwas silbern schimmern, zwei Arme wie Hörner, eine Form, die ihr vage bekannt vorkam, wie etwas aus einer Spielzeugkiste. Er kniete sich wieder auf das Bett. Mühsam hob sie den Kopf, versuchte, über die ungeheure Fülle ihres Bauchs zu blicken. Schweiß strömte ihr von der Stirn, stach in ihre Augen. Der Arzt hob die Zange, sein Gesicht war totenblaß. Dann bekreuzigte er sich, die silbernen Arme senkten sich, verließen ihren Gesichtskreis, und ein Schmerz überfiel sie, der 271
ungeheuerlicher war als alles, was sie je empfunden hatte oder je empfinden würde. Caterina riß den Mund auf, spürte, wie der Lederriemen fiel, spürte, daß ihr Schrei fast ihren Kopf durchtrennte wie ein rotglühendes Schwert aus Schmerzen und Wut. Und dann war es vorbei. Ein scharlachroter Nebel hüllte sie ein, der Raum löste sich auf und mit ihm der Schmerz. Das letzte, was sie hörte, war eine dünne, hohe Stimme. Sie weinte wie aus Mitleid. Dann hörte die Welt abrupt auf zu existieren, und alles, was sie in der Dunkelheit hören konnte, war das Rauschen des Bluts, das durch ihre Adern raste. Es verging eine Woche, bevor sie zu fragen wagte. Eine Woche, in der die Vergangenheit sie heimsuchte. Eine Woche voller Geister und Gespenster, eine Woche, in der die Toten, ihre Toten, auferstanden waren, sie angesehen und die Köpfe geschüttelt hatten, um dann wieder in die Dunkelheit zu entschwinden. Sie hatten von Fieber gesprochen. Aber es war mehr als das gewesen. In dieser Woche hatte sie zwischen zwei Welten geschwebt. Sie wollte nicht befolgen, was die Toten ihr gesagt hatten. Sie wollte ihrem Drängen nicht nachgeben. Als sie schließlich erwachte, wollte sie in ihrer eigenen Welt sein, nicht in ihrer. Vor dem Fenster hing noch immer die Fahne. Sie hatten keine Zeit gehabt, nicht daran gedacht, sie abzunehmen. Inzwischen war der Krieg fern genug, um die Semana Santa zu begehen, wenn auch auf 272
eine gedämpfte, sehr zurückhaltende Art. Der Arzt kam nur noch einmal am Tag. Ramón und Francesca kümmerten sich unablässig um sie, brachten ihr Suppe und Brot, Obst, mit ein wenig Wein vermischtes Wasser. Sie war jung, sie erholte sich schnell. Sie wartete, bis sie einmal mit Francesca allein war. Dann fragte sie, mit leiser, aber nachdrücklicher Stimme. Ihre Tante konnte sie nicht ansehen. Sie wandte sich ab, blickte zum Fenster hinaus. Caterina brauchte sie nicht anzusehen, um zu wissen, daß Tränen in ihren Augen standen. »Das Kind ist gestorben, Caterina«, sagte sie. »Der Arzt konnte nichts tun. Es war eine Steißgeburt.« Sie drehte sich um, trat ans Bett und nahm ihre Nichte in die Arme. Caterina fühlte sich merkwürdig abwesend. Das durch die Fenster einströmende Licht war grau, diffus. Es wirkte nicht real. »Es war ein Junge«, sagte Francesca. »Ein kleiner Junge. Er war kräftig, aber nicht kräftig genug. Du bist noch jung, sagt der Arzt, du bist gesund und kräftig. Es gibt keinen Grund, warum du keine Kinder bekommen solltest, wenn du erst einmal verheiratet bist.« Caterina lächelte in sich hinein. Aber da gab es einen Grund … »Abgesehen davon, Caterina … Selbst wenn er überlebt hätte … du bist noch nicht einmal fünfzehn Jahre alt. Du kannst doch nicht darauf gehofft haben, ihn allein aufzuziehen.« Sofort bereute Francesca, diese Worte ausgesprochen zu haben. Das Mädchen sah sie mit einer 273
Wildheit an, die sie erschreckte. Das war nicht das Gesicht einer Vierzehnjährigen. In ihm sah sie mehr Leid, mehr Erfahrung, mehr Härte als auf Gesichtern sehr viel älterer Frauen. »Er war mein Kind«, sagte sie. »Er gehörte mir.« Francesca griff nach dem Tablett mit dem leeren Geschirr. Dann sah sie ihre Nichte an. »Ja«, sagte sie. »Aber das alles ist etwas, was du vergessen mußt. Wir möchten, daß du in der nächsten Woche nach Cádiz fährst, um dich zu erholen. Dort führen Freunde von uns ein nettes Hotel. Wir zahlen natürlich für deinen Aufenthalt. Sie werden gut für dich sorgen. Die Seeluft und das Essen werden dich wieder auf die Beine bringen. Dort wohnen auch Verwandte von uns. Vielleicht kannst du dich nicht an sie erinnern, aber sie werden dich besuchen.« Caterina schüttelte den Kopf. »Ihr wollt mich nicht mehr bei euch haben?« Francesca schob das Geschirr auf dem Tablett zusammen. »Das alles ist auch an Ramón und mir nicht spurlos vorübergegangen. Auch wir müssen uns ein wenig erholen, Caterina. Vor einigen Jahren haben wir ein Haus in Melilla gekauft. Es liegt am Meer. Wenn du fort bist, werden wir von Algeciras aus mit der Fähre nach Melilla fahren. Wir haben mit den Anwälten gesprochen. Du erbst das Haus in der Stadt. Es ist ziemlich wertvoll, aber natürlich geht es erst mit deinem einundzwanzigsten Geburtstag in deinen Besitz über.« »Und bis dann …« Sie spürte, wie Ärger in ihr 274
hochkam. Francesca wollte sie einfach nicht ansehen. »Dann … wir müssen abwarten. Auf den Zeitpunkt, an dem wir alle Zeit genug hatten, über alles gründlich genug nachzudenken.« Genau sieben Tage später erschien ein Auto, um Caterina nach Cádiz zu bringen. Dort verbrachte sie die nächsten sechs Jahre, in demselben Raum, bei derselben distanzierten Familie, von niemandem besucht, mit Ausnahme der Anwälte, die sich bemühten, die Besitzübergabe zu regeln. Von Ramón und Francesca kam gelegentlich ein Brief, abgestempelt in Melilla. Für den Rest der Welt schien sie nicht mehr zu existieren. Dann, als ihr das Haus übertragen worden war, kehrte sie in die Stadt zurück und wurde zum Haus gefahren. Mit dem Gefühl eines zurückkehrenden Geistes drehte sie den Schlüssel im Schloß und betrat ihr Heim, ihr Zuhause. Überall lagen dichte Staubschichten, und in einer Ecke des ersten Stocks entdeckte sie Bombenschäden. Als sie in ihr Zimmer kam, fühlte sie sich einen Moment lang wieder wie vierzehn und hörte unten ihre Stimmen, leise, angespannt, aggressiv. Sie setzte sich aufs Bett. Staubwolken quollen vom Bettzeug hoch. Auf dem inzwischen grauen Kopfkissen lag ein aufgeschlagenes Buch. Sie griff danach und erinnerte sich mit verblüffender Deutlichkeit an den Inhalt, die handelnden Figuren, die Sätze, sogar die Worte auf diesen Seiten. Sie drehte das Buch um, obwohl sie wußte, was 275
sie da sehen würde. Die Goldbuchstaben des Einbands waren inzwischen leicht verblichen, dennoch war der Titel in halbfetter Serifen-Schrift deutlich lesbar: Entführt.
28 Erschöpft lehnte sich Caterina Lucena in ihrem Krankenhausbett zurück. Erschöpft, aber auch irgendwie von Genugtuung erfüllt. Maria versuchte ihren Gesichtsausdruck zu ergründen. Hinter den Falten des Alters, hinter der Blässe der Haut schien sie etwas zu befriedigen. Was? Maria versuchte auch, sich über ihre eigenen Gefühle klarzuwerden. Es kam ihr so vor, als wäre etwas weitergegeben, übertragen worden und als hätte sich dabei eine Last verlagert. Sie verstand nicht ganz, was sich zwischen ihnen beiden abgespielt, was die Übermittlung dieser alten Geschichten zu bedeuten hatte. Bis auf die Tatsache, daß ihr unbehaglich war. Sie kam sich sensationslüstern vor und irgendwie beschmutzt, zur Mitwisserin von Ereignissen geworden, die in der Stadt noch immer ihre Bedeutung hatten. Sie fühlte sich gebrandmarkt. Maria zog einen dicken Strich unter ihre Notizen, mit tiefblauer Tinte. Was sollte sie daraus machen? Was glauben? Sie sah auf ihre Uhr. Drei Stunden waren vergangen, ohne daß sie es bemerkt hätte. Sie 276
versuchte die Mauer zu durchdringen, die Caterina um sich gezogen hatte. Es gelang ihr nicht. »Sie müssen müde sein«, sagte sie. Caterina schloß die Augen. »Das Alter. Nur die Erschöpfung des Alters. Ich verabscheue sie.« Maria goß Wasser in ihre Gläser, dann half sie Caterina, sich aufzusetzen, damit sie trinken konnte. Von draußen drangen die blechernen Töne einer Blaskapelle herein, wurden lauter, verklangen wieder. Die Sirene eines Krankenwagens heulte auf, brach ab, jaulte erneut auf, nun schon ferner. »Antonio ist gestorben?« Sie schloß wieder die Augen. »Vor mehr als einem Jahrzehnt. Er war krank.« »Sie haben einander nicht wiedergesehen?« »Nein. Aber ich sah ihn. Er hat mich nicht bemerkt.« Maria wartete. Sie würde es schon erfahren. »Drei Jahre nach meiner Rückkehr. In der Arena. Inzwischen stellte er in der Stadt bereits etwas dar. Vom Skandal um La Soledad wurde nicht mehr gesprochen, andere hatten die Verantwortung übernommen. Und Antonio wußte den Leuten zu gefallen. Sie schätzten, sie mochten ihn. Er wußte, wie man ihnen ›nur Gutes‹ tat. Er machte Karriere in der Falange. Bekam einen Posten im Rathaus. Er brauchte keine Krankenhausbetten mehr herumzuschieben.« Die Worte kamen mit langsamer, methodischer Präzision über ihre Lippen. »Ich hatte lange darüber nachgedacht. Ich besaß 277
noch immer das Messer, das kleine Messer aus dem Haus in La Soledad. Ich habe es noch immer. Ich wartete bis zum Ende der Semana Santa, bis zum großen Stierkampf. Franco war erschienen, als Ehrengast. Tausende von Menschen jubelten, rissen sich darum, der Präsidentenloge so nahe wie möglich zu kommen. Das war die Zeit, in der die Falangisten wirklich die Sieger waren, bevor die Verbitterung, die Furcht einsetzte. Damals waren alle für die Falange. Etwas anderes existierte nicht. Ich mischte mich unter die Menge. Nach dem letzten Kampf drängten wir uns um die Loge, sprangen hinein, die Leute küßten den Caudillo, küßten seine Hände, segneten ihn. Auch Antonio stand in der Loge, sah schweigend in die Arena. Ich war hinter ihm. Ich hätte ihn töten können. Es wäre ganz leicht gewesen.« Maria bemerkte, wie sie nach Worten suchte. »Aber ich habe es nicht getan.« »Warum?« »Wie selbstverständlich Sie doch nach Gründen fragen. Glauben Sie denn, daß das Leben sich an Gründen orientiert? Aus einem Grund tun wir dieses, aus einem anderen nicht? Kein Leben verläuft so automatisch. Nicht einmal das Ihre.« Maria stellte fest, daß sie Caterina Lucena ablehnte, so intensiv, daß es ihr Schuldgefühle verursachte. »Über mein Leben sprechen wir nicht.« Die dünnen Lippen zuckten. »Nein. Warum? Vielleicht, weil ich ihn auf gewisse Weise liebte. Zumindest wußte ich, daß er der einzige Mensch war, den ich in diesem Leben lieben könnte. Ich sehnte mich 278
nicht mehr nach ihm. Aber ich dachte an ihn, an unsere gemeinsame Zeit. An die Echtheit dieser Zeit. Doch das war vorüber. Ihn zu töten, hätte nichts daran ändern können. Ich befühlte das Messer. Ich hätte ihn töten können. Aber es schien … es schien so sinnlos zu sein. Wäre ich ein Mann gewesen, hätte ich es natürlich getan. Männer werden von niedrigeren Instinkten getrieben: Eifersucht, Rachedurst, Haß. Ich empfand nichts davon.« »Was empfanden Sie?« Caterina sah sie mit einem Blick an, der Verachtung sehr nahekam. »Daß er mich verraten hatte. Was sonst?« »Und später?« »Später sah ich ihn hin und wieder in der Stadt. Stets zufällig. Aber nie von Angesicht zu Angesicht. Ich nehme an, daß er mich ohnehin nicht wiedererkannt hätte. Ich unterschied mich sehr von dem Mädchen, an das er sich vielleicht erinnert hätte. Ich ›verfolgte‹ ihn über die Jahre hinweg. Sein Bild war häufig in der Zeitung, dann gab es irgendeinen Skandal, und er zog sich aus der Politik zurück. Als ich ihn das nächste Mal sah, starb er bereits. Er war stets ein Mann voller Leben gewesen, voller Vitalität. Dann sah ich ihn eines Tages in der Nähe des Rathauses. Der Tod war ihm ins Gesicht geschrieben. Irgend etwas, eine Art Krebs, zehrte ihn von innen heraus auf. Ein Jahr später las ich in der Zeitung von seinem Tod. Einen kurzen Nachruf. ›Er lebte für seine Familie‹«, zitierte sie mit einer unangenehm abfälligen Geste. 279
Maria hätte sich lieber verabschiedet, ohne die Frage zu stellen. Aber das konnte sie nicht. Wenn sie ins Polizeipräsidium zurückkehrte, würden sie es wissen wollen. Und wenn sie nicht fragte, würde es ein anderer tun. »Doña Caterina …« Die alte Frau kniff die Lippen zusammen. Sie sah so ausgezehrt und hinfällig aus, als wäre sie ein Teil des Bettes, eine dünne Schicht Mensch zwischen gebleichtem Leinen. »Haben Sie das Grab des Kindes gesehen? Des Jungen? Sind Ihre Tante und Ihr Onkel mit Ihnen dorthin gegangen? Haben sie Ihnen gesagt, wo es sich befindet?« Sie schnaubte kurz auf, und Maria machte sich keine Illusionen über die Bedeutung. Es war unverhüllte Verachtung. »Grab? Grab? Es gab kein Grab. Halten Sie mich für eine Törin?« »Nein«, sagte Maria leise. »Nein, Doña Caterina. Keineswegs.«
29 Sie saßen in dem stickigen kleinen Raum: Rodríguez, Menéndez, Maria und Torrillo. Maria sah Rodríguez an und dachte an das, was Torrillo über ihn gesagt hatte, dachte an das unausgesprochene, unerschüt280
terliche Vertrauen, das sie alle in ihn zu haben schienen. Seine Zurückhaltung im Zusammenhang mit dem Fall schien von Stunde zu Stunde zu schwinden. Sie warteten auf Initiativen von ihm, warteten auf seine Folgerungen. Und mit seiner Distanziertheit war bis zu einem gewissen Grad auch seine Höflichkeit geschwunden. Sie fragte sich, wie sie ihn je für einen Akademiker hatte halten können. Er war ein Mann der Tat, mit offenkundigen Führungsqualitäten, mit Feingefühl, aber im Grunde seines Herzens war Rodríguez Polizist. Sie beobachtete, wie seine Blicke die Seiten auf seinem Schreibtisch überflogen. Ein zutiefst besorgter Polizist. Irgendwann während der Besprechung stießen Quemada und Velasco zu ihnen, die sich offensichtlich ins Unvermeidliche gefügt hatten: In diesem Fall arbeitete man den Bedürfnissen entsprechend, Schichtpläne waren erst einmal Makulatur. Eins nach dem anderen. Die Tafel war mit zahllosen Notizen bedeckt. Die Buchstaben verschwammen vor Marias Augen. In nur wenigen Stunden schien so vieles vom Dunkel ans Licht gekommen zu sein, aber ein Licht, das sie blendete. Zu viele Informationen mußten verarbeitet, in eine logische Beziehung zueinander gebracht werden. Menéndez fungierte als Koordinator, indem er die »bisherigen Erkenntnisse« an die Tafel schrieb. 1. Waren es gezielte Morde? Gibt es eine Verbindung zwischen ihnen – möglicherweise Homosexualität? 281
2. Geschichtsprofessor Luis Romero mögliches Opfer 3. Bruderschaft vom Blut Christi – welche Motive? 4. Antonio Alvarez? 5. El Guapo. Beziehungen zu Alvarez, den Brüdern Angel und Romero 6. Lebt Caterina Lucenas Sohn noch? Wo? Die Unterhaltung lahmte. So viele Informationen, so viele Spuren zu verfolgen … »Es kann nicht der Sohn sein«, sagte Maria. »Auf keinen Fall«, stimmte Menéndez zu. »Er wäre zu alt. Inzwischen an die sechzig. Alles weist auf einen jüngeren Täter hin.« »Er ist zu alt«, sagte Maria. »Sie müssen es ja wissen«, murrte Quemada. »Sie haben ihn offenbar gesehen.« Sie spürte, daß der Spott an ihr abperlte. »Wir müssen uns vergewissern«, sagte Menéndez. »Lebt er noch? Und wenn, wo? Quemada und Velasco, erkundigen Sie sich in Melilla. Fangen Sie dort an.« Velasco schrieb in sein Notizbuch und verzog das Gesicht. »Sicher. Das Problem ist nur – und damit will ich mich keineswegs in Ihre Kompetenzen einmischen, Hauptkommissar –, aber Sie wissen doch, wie das ist, wenn man an dieses Zeug aus dem Krieg heranwill. Damals waren sie sehr vorsichtig mit der Aktenführung. Ich habe es schon in anderen Fällen probiert, aber man erntet nur Schulterzucken. Keinerlei Unterlagen. Null.« 282
Rodríguez sah Quemada und Velasco einen Moment lang an. »Sie verfolgen diese Spur, selbst wenn sie ins Nichts führt. Sprechen Sie mit der Polizei in Melilla. Fliegen Sie notfalls hin. Das ist in einem Tag zu schaffen. Ich möchte diese Sache abhaken, damit wir uns auf wesentlichere Dinge konzentrieren können.« Die beiden sahen sich an, nickten und machten sich Notizen. »Sind neue Erkenntnisse aus den Unterlagen der Kontaktagentur zu erhoffen?« fragte sie Menéndez. Velasco wirkte mißmutig. »Das glaube ich kaum. Ein paar Leute überprüfen gerade die Namen. Jede Menge interessanter Leute, aber bisher keine Verbindung zu Romero. Romero scheint sich nur mit den Angel-Brüdern getroffen zu haben, dann verabredete er das Rendezvous mit unserem amerikanischen Freund. Allerdings war es nicht Romero. Es war unser Matador.« »Davon sind Sie überzeugt?« »Felsenfest«, erwiderte Quemada. »Ordoñez sagt, er hätte den angeblichen Romero zwar nie persönlich getroffen, aber jedesmal mit ihm gesprochen, wenn er anrief. Der Bursche hatte eine junge Stimme, sagte er. Eindeutig. In diesem Punkt war er sehr bestimmt.« »Warum ist er sich so sicher?« »Dieser Romero bezahlte nicht per Kreditkarte, Scheck oder Überweisung. Er steckte Bares in einen Umschlag, schickte ihn mit der Post oder steckte ihn nach Büroschluß durch die Tür der Agentur. Mitun283
ter tat er das erst nach dem Rendezvous. Also hatte unser Freund Ordoñez allen Grund, sehr pingelig zu sein. Er wollte sichergehen, daß er auch bezahlt wurde. Er achtete sehr genau auf die Stimme.« »Mit wem hat sich dieser angebliche Romero sonst noch getroffen?« fragte Maria. »Das ist das Komische«, sagte Quemada. »Er vereinbarte Zusammenkünfte mit drei anderen Typen, zahlte dafür, glänzte dann aber durch Abwesenheit. Die Namen sind uns bekannt. Ganz normale Burschen, keinerlei Beziehungen zum Stierkampf, dem Krieg, zur Bruderschaft, nichts dergleichen. Wir haben sie genauer unter die Lupe nehmen lassen, aber sie sind diesem Romero nie begegnet.« »Sie glauben, ihm nie begegnet zu sein«, sagte Maria. »Vermutlich«, meinte Quemada. »Worauf wollen Sie hinaus?« Sie sah zur Tafel, versuchte, ein paar Wahrheiten aus dem Gewirr der dort verzeichneten Fakten zu filtern. »Was ich meine ist … Es spricht doch bisher nichts für einen homosexuellen Hintergrund des Falls. Wenn der Mann wirklich homosexuell ist, wäre er doch sicher mit zumindest einem von ihnen zur Sache gegangen. Aber es sieht so aus, als wäre er überhaupt nicht auf Sex aus. Als wäre er auf etwas ganz anderes aus.« »Denken wir nach«, sagte Menéndez. »Er vereinbart Treffen, damit er sich die Leute ansehen kann. Ohne daß sie es merken, vermutlich. Erst dann trifft er seine Entscheidung. Irgend etwas an den Brüdern 284
Angel muß ihn gereizt haben. An Famiani ebenfalls.« »Das hat nur einen Schönheitsfehler«, wandte Quemada ein. »Unseren Freund von der Bruderschaft. Den hat er umgebracht, obwohl der mit Sicherheit keine Kontakte über eine Agentur gesucht hat. Castaneda war in etwa so schwul wie eine Kaffeetasse.« »Womit wir wieder bei der Bruderschaft wären«, meinte Quemada düster. »Und diesem ganzen Geschichtskram. Ich hasse Geschichte.« »Also haben wir es mit jemandem zu tun«, überlegte Menéndez laut, »der irgendeine direkte Beziehung zu diesen Ereignissen während des Krieges hat, vielleicht sogar zu La Soledad selbst. Jemand, der jetzt eine Art von Rachefeldzug führt.« »Bis auf die Tatsache, daß er für eine direkte Beziehung zu jung ist«, sagte Velasco. »Es muß jemand aus der zweiten Generation sein. Und warum passiert das alles ausgerechnet jetzt? Warum hat er nicht schon vor Jahren angefangen, die Leute umzubringen?« »Weil er noch keinen Anlaß sah«, sagte Menéndez. »Er wurde ihm noch nicht geliefert.« »Vielleicht war er auch nur zu jung«, meldete sich Torrillo. »Vielleicht wartete er noch ab.« »El Guapo«, sagte Quemada. »Wir müssen ihn uns unbedingt vornehmen. Er hat sich mit allen von ihnen getroffen, mit Ausnahme von Castaneda vielleicht. Aber Castaneda kannte ihn mit Sicherheit. Als Stierkämpfer weiß er genau, wie man Leute tötet. 285
Und wenn er Alvarez’ Sohn ist, wie der alte Knabe gesagt hat, dann könnte er vielleicht …« Er verstummte nachdenklich. »Vielleicht?« Rodríguez hatte Mühe, sich zu beherrschen. »Mit ›Vielleichts‹ läßt sich kein Fall konstruieren.« »Mist«, sagte Quemada ratlos. »Vielleicht ist er auch der nächste auf der Liste. Keine Ahnung. Aber wir müssen auf jeden Fall mit ihm reden.« »Das finde ich auch«, sagte Menéndez. »Wir treffen uns mit ihm um acht in seiner Wohnung, Sergeant?« Torrillo nickte. »Gut.« Irgend etwas spukte in Marias Kopf herum, vage, undeutlich, nicht zu greifen. Sie hob fast hilflos die Hand. »Aber warum … warum …« Sie spürte, wie sich ihre Stimme steigerte, der Hysterie näher kam. Caterina Lucenas blasses, graues Gesicht tauchte kurz vor ihr auf. »Warum hat er sich Luis Romero ausgesucht?« Quemada zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Es ist kein ungewöhnlicher Name. Der Mann war Historiker, mit besonderem Interesse für den Bürgerkrieg. Vielleicht hat er seine Bücher gelesen. Vielleicht hat er ihn irgendwann kennengelernt, vielleicht sogar über ein Kontaktbüro. Ihre Meinung, es ginge nicht um Sex, kaufe ich Ihnen nicht ab.« »Aber er kannte Romeros Adresse«, sagte Maria. »Er hat sie der Kontaktagentur genannt, bevor Rome286
ro starb. Das war kein Zufall. Er hat sich Romero bewußt als Pseudonym gewählt. Aus einem ganz bestimmten Grund.« Menéndez hob den Kopf. »Was könnte das sein? Welchen Grund könnte er gehabt haben?« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Haare wirkten noch wirrer als sonst. »Das weiß ich nicht. An den Unis erlauben sich Studenten manchmal Scherze. Dozenten auch. Sie ordnen Dinge unter den Namen anderer an. Vielleicht …« Quemada fuchtelte mit seiner kräftigen braunen Hand durch die Luft. »Er soll sich als Pseudonym für seine Taten ausgerechnet den Namen eines Mannes wählen, der ihm nahesteht? Dazu ist dieser Bursche viel zu schlau.« »Wir sollten es überprüfen«, sagte Torrillo. »Wir sollten uns unter seinen Studenten umsehen, seinen Kollegen an der Universität.« »Klar«, sagte Velasco. »Machen wir. Aber Quemadas Argument hat was für sich. Warum sollte jemand zur Verschleierung den Namen eines so Nahestehenden benutzen? Das macht keinen Sinn.« »An dieser Sache macht nichts Sinn«, murrte Quemada. »Dieser ganze Fall ist total irre.« »Nein«, sagte Maria überzeugt. »Es macht Sinn, aber den können wir noch nicht erkennen. Hinter all dem steckt eine eiskalte Logik. Seine Logik.« »Vielleicht die eiskalte Logik, daß er gern hin und wieder Menschen umbringt«, sagte Quemada. »Andere spielen Golf oder begeistern sich für Fußball, aber er zieht sich seine rote Kutte an, packt seine 287
Werkzeuge zusammen und marschiert los, um jemanden zu töten. Ganz einfach. Welchen Grund sollte es für ihn geben, Famiani umzubringen, den Marathonläufer? Der Typ lebt doch nicht einmal hier. Hat keinerlei Beziehungen zu Spanien. Er vereinbart ein Schwulentreffen, niemand erscheint, und dann schleudert unser Mann Pfeile auf ihn. Wo ist da die Logik?« Maria suchte nach einer Erklärung. Quemada hatte recht … und auch wieder nicht. Die Begründung entzog sich ihr. »Vielleicht hat es begonnen, wie Maria sagt. Eiskalt und logisch. Doch dann hat sich etwas geändert. Er stellte fest, daß es ihm Spaß macht. Daß er Gefallen daran findet, nicht nur seine ursprünglichen Opfer zu töten, sondern auch andere Leute. Vielleicht ist er ein bißchen wirr im Kopf. Er weiß nicht, ob er einen Grund dafür hat, die Leute zu töten.« »Na herrlich, Bär«, sagte Quemada. »Wenn du recht hast, sitzen wir wirklich in der Tinte.« Maria starrte aus dem Fenster. Grell und erbarmungslos strahlte die Sonne vom klarblauen Himmel. Mauersegler zischten durch die Luft. »Sie haben recht, Bär«, sagte sie. »Sie haben absolut recht. Er weiß es nicht mehr. Er kann nicht mehr differenzieren.« Etwas wie Mitgefühl flog sie an, wie eine vom Licht angezogene Motte. Fast unwillig schüttelte sie den Kopf. »Das wär’s«, sagte Menéndez. »Wir werden den Stierkämpfer besuchen. Sie beide erkundigen sich in 288
Melilla. Und überprüfen Sie auch die Akten. Im Hinblick auf Romero. Auf Ordoñez. Auf wen auch immer.« »Auf wen auch immer«, echote Quemada. »Was ist mit Alvarez?« fragte Maria. Die Worte kamen fast verträumt über ihre Lippen, ganz anders, als sie beabsichtigt hatte. »Könnte es auch über ihn irgendwelche Unterlagen geben?« Die beiden Kommissare tauschten Blicke aus. Sie rissen sich nicht danach, in verstaubten Aktenregalen zu wühlen. »Er ist tot, Señora«, sagte Velasco. »Tot und begraben.« »Dennoch …« Sie verstummte. Sie sahen Menéndez an. Er nickte. Murrend verließen die beiden den Raum. »Und was ist mit den Firmennamen, die bei Castaneda gefunden wurden?« fragte Maria. Menéndez schwieg. »Firmennamen?« Rodríguez wirkte überrascht. »Ich weiß nichts von Firmennamen. In keinem Ihrer Berichte haben Sie etwas davon erwähnt, Menéndez.« »Sie sind noch nicht überprüft«, sagte Menéndez. »Nicht einmal ansatzweise.« Der Capitán atmete tief durch. »Auch wenn sie noch nicht überprüft sind, Hauptkommissar, ich würde sie dennoch gern sehen. Sobald Sie an Ihren Schreibtisch zurückgekehrt sind.«. Dann sah er Maria an. Mit einem Blick, der mehr als eindeutig war. 289
Ich bin nicht Ihre Komplizin, dachte Maria. Auf gar keinen Fall. »Ich werde sie Ihnen sofort vorlegen«, sagte Menéndez. Rodríguez rieb sich die Augen. »In diesem Fall gebe ich Ihnen nicht die Unterstützung, die Sie verdienen, Hauptkommissar. Es ist nicht Ihre Schuld. In diesem Jahr scheint die Karwoche alle Dimensionen zu sprengen. Es sind mehr Besucher denn je in der Stadt, und unser Personal reicht kaum aus, die normalen Aufgaben zu bewältigen, von einem ungewöhnlichen Fall wie diesem ganz zu schweigen. Das kann ich aber in den nächsten Tagen nicht ändern, also muß ich mich darauf verlassen, daß Sie zunächst einmal allein mit den Ermittlungen fortfahren, dennoch ist es notwendig, daß mir ausnahmslos alle Erkenntnisse vorgelegt werden.« »Ja, Capitán«, erwiderte Menéndez spröde. Maria hatte den Eindruck, daß Menéndez’ ohnehin kühle Einstellung ihr gegenüber plötzlich um einige Grade frostiger geworden war.
30 Die Straßen waren mit Menschen überfüllt. Ihre erregten Stimmen drangen durch die Fenster herein, als das Auto versuchte, sich seinen Weg durch die Massen zu bahnen. Stumm saß Maria auf dem Rück290
sitz und hörte Torrillos Selbstgesprächen hinter dem Steuer zu. Auch Menéndez verhielt sich schweigsam, aber auf eine Art, die neu war. Sie bogen um eine Ecke, fuhren an einer Prozession vorbei, die vor den goldenen Mauern der Kathedrale ihre roten, gelben und grünen Fahnen schwenkte. Es war noch immer heiß, heißer, als sie es in dieser Stadt je erlebt hatte. Sie zog ein Tuch aus der Tasche und wischte sich über die Stirn. Als sie das Tuch in die Tasche zurückstecken wollte, stutzte sie. Irgend etwas fehlte da. Aber was? Sie schloß die Tasche und sah wieder aus dem Fenster. Das ruckartige Vorankommen des Wagens begann, ihr Übelkeit zu verursachen. »Große Verdiener, diese Stierkämpfer«, sagte Torrillo, als er auf die kiesbedeckte Einfahrt fuhr. Die hohen Eisentore standen offen. Sie hielten vor einem zweistöckigen Haus mit cremefarbener Steinfassade und hohen Fenstern. Einem Patrizierhaus. Aus El Viejo hierher ist es ein langer Weg, dachte Maria, öffnete die Wagentür und trat in die unbewegte Abendluft hinaus. Ein Diener mit niedergeschlagenen Augen und braunem, pockennarbigem Gesicht öffnete ihnen die Tür und führte sie in einen kühlen, eleganten Raum mit blaßgrünen Satinpolstermöbeln, dazu passenden Vorhängen und ein paar neoklassizistischen Kopien an den Wänden. Maria trat näher, um eines der Gemälde genauer zu betrachten: einen Murillo, die Jungfrau mit dem Kind. Dann sah sie sich auch die anderen an. Alle gehörten zur Schule von Sevilla. 291
»Was interessiert Sie so?« fragte Menéndez. »Die Bilder. Ein Valdés Leal ist nicht darunter, aber sie sind aus derselben Zeit, im gleichen Stil gemalt.« Torrillo warf einen Blick auf den Murillo. Es war nicht das beste Werk des Malers: eine Auftragsarbeit, die Körper zu üppig, die Gesichtszüge zu gefühlsselig. Ein Bild, das für gewöhnlich die Ateliermiete beglich. »Sie meinen, jemand, der diese Schinken mag, müßte auch das Gemälde kennen, daß Sie uns gezeigt haben? Das als eine Art Vorbild für den Mord an den Angel-Brüdern diente?« »Ich könnte es mir vorstellen. Viele Leute haben ein Faible für diesen Stil, besonders für Murillo. Aber hier stammt alles aus derselben Zeitperiode. Das kann kein Zufall sein.« »Hm«, brummte Torrillo. »Mir kommt das vor wie das Zeug, mit dem meine Mutter die Wände bepflastert hat. Man bekam es dazu, wenn man Seifenpulver kaufte: zehn Kartons, eine Madonna. Den Leuten aus dem barrio gefällt dieser Kram.« »Ja«, sagte sie, zu weiteren Diskussionen nicht aufgelegt. Die Tür öffnete sich, und Jaime Mateo betrat den Raum wie ein zweitklassiger Schauspieler die Bühne. Maria konnte ihre Blicke kaum von ihm losreißen. Er trug ein frischgebügeltes weißes Hemd, cremefarbene Leinenhosen und hatte eine Teetasse in der Hand. Seine Haare zeigten ein geradezu strahlendes Blond, sein Gesicht war von einer tiefen Bräune, die 292
zu perfekt wirkte, um echt sein zu können. In der Arena, selbst durch das relativ kritische Auge der Kamera, hatte Mateo so gewirkt, als verdiene er seinen Spitznamen El Guapo. Aber in der Realität, aus wenigen Zentimetern Entfernung betrachtet, schwand der schöne Schein schnell, und an seine Stelle trat etwas Künstliches, peinlich Übertriebenes. Maria dachte an ihre Theaterbesuche, bei denen sie den Schauspielern oft fasziniert zugesehen hatte, weil sie ihre Rollen so natürlich spielten, ohne Übertreibung, ohne gekünstelte Gesten. Aber dann, nach Ende des Stückes, wenn sie an die Rampe traten, um den Beifall entgegenzunehmen, fielen die Masken, und das Künstliche wurde sichtbar: Dann waren sie nur noch unreale Wesen, so dick und grob geschminkt, daß jedem unbegreiflich schien, das zuvor nicht bemerkt zu haben. Und genau das war Mateos Fähigkeit: aus der Entfernung so gut, so natürlich auszusehen. Der Preis, den er dafür bezahlte, bestand darin, daß er herumstolzierte wie ein Pfau, sobald die Corrida vorüber war. Er war nicht gutaussehend, er war grotesk. Das Goldblond der Haare, die makellose Bräune der Haut und das strahlende Blau der Augen kamen Maria vor wie die Grundfarben, mit denen ein Kind ein Porträt malen würde – zu vereinfachend und zu eindeutig, um der Wirklichkeit zu entsprechen. »Die Polizei, wie aufregend«, sagte er mit einer seltsam flachen Stimme, in der sich der Dialekt des barrio mit dem Bemühen mischte, liebenswürdig zu 293
sein. Dann setzte er sich auf einen hochlehnigen satinbezogenen Stuhl und sah sie mit unverhüllter Erheiterung an. »Sie wissen, warum wir hier sind, Señor Mateo.« Maria versuchte, Menéndez’ Miene zu deuten. Er schien über den Auftritt des Mannes ebenso schockiert zu sein wie sie. »Als Sie anriefen, sagten Sie irgend etwas über irgendeinen Fall. Genaues weiß ich nicht.« Mateo wedelte wild mit den Armen, während er sprach. Sie bemerkte, daß Torrillo ihn sehr genau musterte, ihm in die Augen sah. »Worum geht es eigendich? Warum belästigen Sie mich? Was wollen Sie von mir?« »Alles in Ordnung?« fragte Torrillo. »Was?« »Ich fragte, ob mit Ihnen alles in Ordnung ist. Ich habe den Eindruck, als würde es Ihnen nicht besonders gutgehen.« Mateo zwinkerte. Die Augen, dachte Maria. Bär hat etwas in seinen Augen gesehen, und das läßt er den Mann wissen. »Mit geht es blendend.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. »Aber so sehen Sie nicht aus«, sagte Torrillo. »Sie sehen aus wie ein Mann mit gesundheitlichen Problemen. Wenn Sie verstehen, was ich meine.« Weiße Flecken erschienen auf Mateos Lippen. Er sah Menéndez an. »Sind Sie deshalb hier, Hauptkommissar? Um mich zu schikanieren? Ich habe Freunde, müssen Sie 294
wissen. Ich könnte zu dem Telefon da drüben greifen und Leute anrufen, mit denen Sie bestimmt nicht gerne sprechen würden.« »Das glaube ich gern«, sagte Torrillo gelassen und musterte die Bilder an den Wänden. »Es sind mehrere Leute gestorben, die Sie kennen, Señor Mateo. Wir möchten in Erfahrung bringen, was Sie über sie wissen. Wann Sie sie zum letzten Mal gesehen haben. Das ist alles.« Mateo stürzte einen Schluck Tee hinunter. »Sie meinen die Brüder Angel?« Menéndez schwieg einen Moment lang. »Ja. Fangen wir mit ihnen an«, sagte er dann. »Die Brüder habe ich vor drei Monaten zum letzten Mal gesehen. In Madrid. Auf irgendeiner Party. Ich kannte sie kaum, wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Sie gehörten nicht unbedingt zu meinen Freunden.« »Was waren sie dann für Sie?« fragte Torrillo. Mateo kaute auf seiner Unterlippe. »Flüchtige Bekannte. Mehr nicht. Ich lerne alle möglichen Leute kennen. Sie protzen mit mir auf ihren Parties. Das wirkt sich positiv auf ihre Geschäfte aus, nehme ich an. Die Angels … Ich habe sie hin und wieder getroffen. Es waren interessante Leute. Stars.« »Haben Sie sich mit ihnen verabredet?« »Verabredet?« »Ja. Sie wissen schon, zu eindeutigen Zwecken. Sex beispielsweise.« Mateos Teint verfärbte sich unübersehbar gräulich. »Ob ich Sex mit den Brüdern hatte? Ist das Ihr 295
Ernst? Wollen Sie tatsächlich wissen, ob ich Sex mit ihnen hatte?« »Genau das«, erwiderte Torrillo gelassen. »Großer Gott.« Mateo wirkte fassungslos. »Hören Sie, in den Kreisen, in denen ich verkehre, begegnet man einer Menge Schwuler. Mir persönlich liegt das nicht. Ich komme aus dem barrio, müssen Sie wissen. Aber ich begegne ihnen, schüttle ihnen die Hand, frage ›Wie geht’s?‹. So läuft das ab. Das sind PR-Geschichten.« »Also treffen sie sich nicht privat mit ihnen, abseits von Parties? Von Freund zu Freund sozusagen?« »Sozusagen was? Halten Sie mich für schwul? Großer Gott. Wenn ich in der Arena kämpfe, kann ich mir unter den Zuschauern jede Frau aussuchen, die mir gefällt. Ist Ihnen das klar? Begreifen Sie das? Nach dem Kampf greife ich, was mir gefällt. Sie gehen nach Hause zu Ihrem braven kleinen Eheweib, Herr Polizist. Ich treffe meine Wahl für eine Nacht. So ist das.« »Gehört wohl zum Job, was? Nicht schwul zu sein, meine ich.« »Ja«, zischte Mateo. »Gehört zum Job. Wenn Sie es so nennen wollen, bitte.« Menéndez warf einen Blick in seine Notizen. »Bevor wir herkamen, haben wir uns schon ein bißchen über Sie informiert, Señor Mateo.« »Warum die Mühe? Lesen Sie denn keine Zeitungen?« »Da gab es einen kleinen Diebstahl, in Ihrer Jugend.« 296
»Ich wurde geschnappt. Die meisten anderen im barrio hatten mehr Glück. Lesen Sie Hola!? Da steht alles drin. Woche für Woche. Gute Serie: ›Aus dem Ghetto zum Ruhm‹.« »Vor zwei Jahren hat in Cádiz jemand Anzeige erstattet. Ein Mädchen.« »Na und? Aber aus Ihren Akten werden Sie wissen, daß nichts daraus geworden ist. Die Polizei hat nichts unternommen.« »Warum nicht?« erkundigte sich Torrillo. »Haben Sie Ihre Freunde angerufen?« »War nicht nötig. Die dumme Gans machte mich an, nach dem Kampf. Tut so, als wisse sie genau, um was es geht. Aber dann überlegt sie es sich plötzlich anders. Danach. Nachdem sie ein bißchen nachgedacht hat.« Erneut sah Menéndez in seine Notizen. »Sie warf Ihnen vor, sie vergewaltigt zu haben. Ihr ein Messer an die Kehle gedrückt und sie vergewaltigt zu haben.« »Sie ist eine verdammte Lügnerin. Was soll schon passieren, wenn man nachts um zwei jemandem aufs Zimmer folgt? Eine Partie Canasta?« »Sie war fünfzehn.« »Mag sein, aber sie wirkte wie einundzwanzig. Erst nachdem ihr einfiel, was Mama dazu sagen könnte, schrie sie Zeter und Mordio. Erst danach. Deshalb hat die Polizei die Sache auch nicht weiter verfolgt.« Menéndez schrieb etwas auf seinen Block, blätterte die Seite um. »Kannten Sie Luis Romero?« 297
Mateo starrte längere Zeit an die Decke. »Sagt mir nichts. Müßte ich ihn kennen?« »War Professor an der Universität. So sah er aus.« Er streckte ihm das Foto entgegen, auf dem Romero prostend in die Kamera lächelt. »Nun?« bohrte Torrillo. »Drängen Sie mich nicht«, wehrte sich Mateo. »Ihnen geht’s doch um die Wahrheit, oder nicht?« Er hielt die Aufnahme ins Licht. »Den habe ich schon irgendwo gesehen. Wußte aber nicht, wie er heißt.« »Und wo haben Sie ihn gesehen?« fragte Menéndez. »Mist, keine Ahnung. Auf irgendeiner Party. Irgendeinem Fan-Treffen. Wissen Sie, wie viele Leute zu so was zusammenströmen? Hunderte. Vielleicht sogar Tausende. Sie hängen sich an einen, klatschen einem vertraulich auf die Schulter, und dann gehen sie nach Hause und erzählen überall herum, daß sie mit einem Promi gefeiert haben. Sicher, den habe ich schon mal gesehen. Hing auf irgendeiner Fete rum. Aber fragen Sie mich nicht, wo.« »Auf einer Party bei den Brüdern Angel?« fragte Maria. »Waren Sie dort? Haben Sie ihn bei ihnen gesehen?« Mateo dachte nach. »Möglich. Vor vier oder fünf Monaten haben die Brüder eine Party gegeben. Ich ging hin, weil sie mir versprachen, daß sie nicht nur ihre Schwulenbande einladen würden.« »Und?« fragte sie. »Ausnahmsweise hatten sie tatsächlich die 298
Wahrheit gesagt. Es war eine stinknormale Fete. Ein paar Frauen, einige Geschäftsleute. Wenn sie wollten, bekamen sie solche Dinge durchaus ganz gut hin.« »Und Sie glauben, auch Romero könnte dort gewesen sein?« »Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber möglich ist es. Ich gehe ständig zu solchen Veranstaltungen. Mitunter zwei-, dreimal in der Woche. Ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wen ich wann getroffen habe. Das wäre zuviel verlangt.« »Das sehe ich ein«, sagte Menéndez. »Wie steht es mit Miguel Castaneda? Auch ein Fan von Ihnen?« »Nein«, erwiderte Mateo entschieden. »Sie wissen, daß er Sekretär der Bruderschaft war. An Veranstaltungen der Bruderschaft hat er natürlich teilgenommen. Aber ich erinnere mich nicht, ihn auf irgendwelchen Fan-Treffen gesehen zu haben. Der alte Knabe war ein ziemlicher Snob. Er mischte sich nicht unter den Pöbel.« »War«, sagte Torrillo. »Sie sagten ›war‹.« »Ich kann lesen. Es stand in allen Zeitungen, daß er in seinem Büro umgebracht wurde.« »Sie kennen es?« »Natürlich kenne ich es. Schließlich bin ich Mitglied. Haben Sie vergessen, sich ihre Unterlagen anzusehen? Ich mußte mich von Zeit zu Zeit bei ihren beschissenen Abenden zeigen. Auf Tradition machen. Das wurde erwartet.« »Warum?« fragte Maria. »Warum wurden Sie Mitglied?« 299
Mateo blickte in seine leere Teetasse. »Sagen wir, die Mitgliedschaft war eine Art Vermächtnis.« »Ihres Vaters. Von Antonio Alvarez«, sagte sie. Er wurde blutrot und umklammerte die Tasse so fest, daß Maria befürchtete, sie würde zerbrechen. »Alle Achtung. Sie waren aber fleißig, was?« »Ihr Vater hat Ihnen einen Platz in der Bruderschaft besorgt. Als Geschenk?« »Ein Geschenk?« Mateo lachte. »Ein Geschenk?« Das Strahlende, die Energie verschwand aus seinem Gesicht. Jetzt wirkten seine Augen stumpf und leer. »Ich habe von meinem Vater keine Geschenke erhalten. Er gab uns Geld. Um uns am Leben zu erhalten. Er bezahlte meine Ausbildung zum Stierkämpfer. Er hinterließ mir, was er für angemessen hielt – den richtigen Rahmen für mein Leben. Aber ich betrachte es nicht als Geschenk. Wenn man einen Zaun um seine Rinder errichtet, um sie am Fortlaufen zu hindern, wenn man sie gegen Krankheiten impft, dann sind das keine Geschenke, sondern Vorsichtsmaßnahmen. Etwas, was man aus Pflichtgefühl tut. So wie man Hunde vor Antritt einer Urlaubsreise in einen Zwinger bringt.« Sie schwiegen, warteten darauf, daß er noch etwas sagte. »Kannten Sie ihn? Hat er Sie besucht?« Mateo schloß die Augen. Sein Gesicht wirkte wie eine Totenmaske. »Einmal. Als ich noch klein war. Ich erinnere mich, daß ein Mann, ein großer, weißgekleideter Mann zu uns nach Hause gekommen ist. Er hat mit meiner Mutter geredet. Sie gingen nach 300
oben. Da waren Geräusche. Dinge, die ich nicht verstand. Sie kamen wieder herunter. Er strich mir über den Kopf. Ich erinnere mich an seine große, braune Hand in meinen Haaren, ein verlebtes, schmales Gesicht, gelbe Zähne. Er ließ Geld auf dem Küchentisch zurück, und meine Mutter sagte, ich dürfe auf keinen Fall jemandem erzählen, daß uns Señor Alvarez besucht habe. Damals dachte ich, mein Vater wäre vor meiner Geburt gestorben. Das hatte mir meine Mutter erzählt. Erst später, kurz vor ihrem Tod, fand ich die Wahrheit heraus. Ich glaube, ich war der letzte, der sie erfuhr. In der Schule verspotteten sie mich, nannten mich ›Antonios Bastard‹, aber ich wußte nicht, was das bedeutete. Als ich dahinterkam, war er bereits krank. Er weigerte sich, mich zu sehen, schickte aber weiter Geld. Ich nutzte es für meine Ausbildung in der Arena. Um kämpfen zu lernen. Um zu entkommen.« Ist eigentlich irgendein Mensch Antonio Alvarez wirklich entkommen? fragte sich Maria. »Als er starb, war er in Ungnade gefallen, aber es gab eine offizielle Aufbahrung. Ich habe ihn mir angesehen. Es war ein Gesicht, das ich nicht erkannte. So ausgezehrt, so verwüstet. Ich … ich konnte nichts für ihn empfinden. Auch heute nicht.« »Ihr Vater hat Ihnen also die Zugehörigkeit zur Bruderschaft hinterlassen?« »Neben anderen Dingen. Ein bißchen Geld. Ein paar Gemälde. Ich bin nicht sein einziger Bastard, müssen Sie wissen. Viele Krähen pickten am Kuchen. Aber ich bekam mehr als die meisten anderen. Aus 301
irgendeinem Grund, den ich nicht kenne, schien er mich den anderen vorgezogen zu haben.« »Kennen Sie Caterina Lucena?« fragte Maria. »Sagt Ihnen dieser Name irgend etwas?« Er schüttelte langsam den Kopf. »Nichts. Absolut nichts.« »Sie mögen Kunst«, sagte sie. Er hob die Schultern. »Ich habe Geld. Ich kaufe mir gern dies oder das.« »Haben Sie die Bilder bewußt ausgewählt? Diese Bilder, fast alle diese Gemälde entstammen einer Stilepoche. Einer Stadt.« »Ja«, sagte er. »Und einer Galerie. Ich kaufe diese Dinge en bloc. Meinen Sie, ich hätte die Zeit, die Einrichtungsgegenstände für mein Haus selbst auszusuchen?« »Wissen Sie, wer sie gemalt hat?« »Großer Gott. Was wollen Sie? Ist das eine Art Test? Nein. Es sind eben Bilder. Wie die, die bei uns zu Hause gehangen haben, als ich ein Kind war. Mir gefallen sie. Oder meinen Sie, ich hätte lieber die Scheiße kaufen sollen, die die Angels produziert haben?« Beredtes Schweigen. »Als Mitglied der Bruderschaft haben Sie vermutlich auch eine Kutte?« fragte Torrillo. »Ja«, erwiderte Mateo. »Irgendwo im Haus. Es ist lange her, seit ich sie das letzte Mal getragen habe.« »Wir müssen die mitnehmen. Um sie zu untersuchen.« Mateo zuckte mit den Schultern, verließ den 302
Raum, rief dem Diener etwas zu und kam zwei Minuten später mit der Robe über dem Arm zurück. Torrillo schnappte sie sich. Sie war leicht ausgeblichen, roch verstaubt und modrig. »Wissen Sie noch, wann Sie sie das letzte Mal anhatten?« »Nein«, antwortete Mateo gereizt. »Man zieht sie nur in der Semana Santa und zu den Proben an. Aber daran nehme ich nicht teil.« Torrillo warf die Kutte über eine Stuhllehne. »Die brauchen wir nicht mitzunehmen. Daran werden wir nichts entdecken.« »Wie Sie wollen«, sagte Mateo und ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. »Dauert es noch lange?« »Haben Sie etwas vor?« fragte Torrillo. »Nein. Aber ich möchte mich hinlegen. In der Woche vor einem Kampf gehe ich gern früh schlafen.« »Ja«, meinte Torrillo, »klingt nur vernünftig.« Menéndez stand auf. »Heute abend haben wir keine weiteren Fragen, Señor Mateo. Aber es ist nicht auszuschließen, daß wir noch einmal auf Sie zukommen.« »Bis Dienstag bleibe ich in der Stadt. Dann fahre ich nach Málaga, für einen Kampf am kommenden Wochenende.« »Gut. Dann werden wir jetzt gehen.« Er reagierte kaum noch. Torrillo verließ als erster das Haus, schloß das Auto auf und öffnete ihnen die Türen. Als er zum Tor hinausfuhr, drehte er sich um. »Ich nehme an, daß er jetzt einen Schuß setzt. Haben Sie die Augen gesehen?« 303
Maria nickte. »An was denken Sie?« »Heroin. Höchstwahrscheinlich. Ist das zu glauben? Ein Mann, der den Mut aufbringt, sich den Stieren in der Arena zu stellen, kommt nicht ohne Drogen durch den Alltag. Das macht einfach keinen Sinn.« »Für ihn schon«, sagte Menéndez. Es ist nicht die Corrida, die ihm angst macht, dachte Maria. Es ist etwas anderes, etwas Altes. Ein Vermächtnis. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Es war fast zehn Uhr. »Ich würde gern heimgehen. Ich bin hundemüde.« »Setzen Sie mich vor dem Präsidium ab«, sagte Menéndez. »Ich möchte noch ein bißchen Papierkram aufarbeiten.« Dann sah er schweigend aus dem Fenster, blickte auf die vorbeitreibenden Menschen, ohne sie wirklich zu sehen. »Heute hat er niemanden getötet«, sagte er vor sich hin. »Vielleicht wissen wir es nur nicht«, erwiderte Torrillo. »Nein. Er hat niemanden umgebracht. Er läßt es uns wissen, wenn er zugeschlagen hat. Er verheimlicht nichts. Wenn er heute jemanden getötet hätte, würden wir es wissen.« Jetzt sah auch Torrillo auf seine Uhr. »Noch zwei Stunden bis Mitternacht. Vielleicht geht er heute später ans Werk.« Es war noch immer warm, aber Maria lief es kalt über den Rücken. 304
31 »Wenn du mich fragst«, sagte Quemada, »ist das alles mal wieder typisch Frau.« Die beiden Kriminalpolizisten saßen sich an einem mit Kugelschreiber beschmierten grünen Metallschreibtisch ihres Dienstzimmers gegenüber. Es war kurz vor elf Uhr abends und das Büro verlassen. Von fern, vom Ende des Ganges, hörte man das übliche Getöse: Trunkenbolde räsonierten über Abtransporte in die Ausnüchterungszelle, Taschendiebe beteuerten ihre Unschuld, Prostituierte machten auf gekränkte Unschuld. Velasco sah seinen Kollegen an und hob die Brauen. »Typisch Frau?« »Klar.« Velasco schüttelte den Kopf und versuchte das Zeug loszuwerden, das sich auf Dauer in seinen Nasenhöhlen festgesetzt zu haben schien. »Typisch Frau? Wie lange bist du jetzt geschieden? Na bitte. Du hast doch keine Ahnung. Was du von Frauen verstehst, könntest du auf einen Zwerghuhnpimmel tätowieren lassen und hättest noch immer Platz für deine Steuererklärung.« »Meinst du?« »Meine ich.« »Nun, dann muß ich dich wohl aufklären, Partner. Ich verstehe genug von Frauen, um zu wissen, daß sie manchmal echt bescheuert reagieren. Anders als Männer. Richtig bescheuert. Nimm beispielswei305
se Dolores. Weißt du, warum es letztendlich mit uns auseinanderging? Weißt du das? Du wirst mir nicht glauben, das prophezeie ich dir jetzt schon. Monatelang hat sie an meiner Kleidung herumgenörgelt. ›Dein Anzug sieht aus, als hättest du ihn aus der Altkleidersammlung geangelt. Er hat ja mehr blanke Stellen als ein Datsun.‹ Sie ließ einfach nicht locker. Dann komme ich eines Tages an der Galería vorbei und sehe, daß sie Ausverkauf machen. Ich also rein und kaufe mir einen Anzug. Einen aus Leinen, Baumwolle – was weiß ich. Aus diesem hellen Zeug, das auch die Politiker tragen. Mußt beim Pinkeln zwar verdammt vorsichtig sein, damit du vorn keine Flecken kriegst, aber abgesehen davon ein echt starker Zwirn. Und dann auch noch zu einem echt passablen Preis. Ich also nach Hause und ziehe ihn an. Doch sie mustert mich nur, so von oben bis unten, und fragt dann: ›Seit wann kauft dir deine Freundin die Anzüge?‹ Aber ich explodiere nicht. Ich bleibe ganz ruhig und betone, daß ich ihn nur gekauft habe, um ihr einen Gefallen zu tun, nachdem sie mir in den letzten sechs Monaten ständig in den Ohren gelegen hatte, ich sähe aus wie ein Penner. Schließlich scheint sie sich ein wenig zu beruhigen, und ich habe den Eindruck, mit ein wenig Glück noch einmal davonkommen zu können. Aber dann sagt sie doch zu mir: ›Und wie wäscht man den?‹ Ich denke, ich höre nicht richtig. ›Entschuldige, aber wie macht man was?‹ frage ich. ›Du hast es dir also nicht angesehen, oder?‹ stellt sie fest. 306
›Du hast es nicht für nötig gehalten, auch nur einen Blick auf das Schildchen innen zu werfen, um zu erfahren, wie man ihn wäscht, wenn er schmutzig ist! Was bei dir nicht allzu lange dauern kann. Aber das ist dir ja egal. Du ziehst los und kaufst. Waschen kann ja jemand anderes.‹« Ich sehe sie an und sage: »Aber natürlich habe ich es mir angesehen, Dolores. Sehr genau sogar. Darauf stand: ›Waschanleitung. Geben Sie den Anzug Ihrer Frau und sagen Sie ihr: Wasch ihn, verdammt noch mal!‹ Und weißt du, was sie macht?« Velasco sah seinen Kollegen unter halbgeschlossenen Lidern an. »Laß mich raten. Sie sagt: ›Heilige Jungfrau, bin ich dankbar, einen so witzigen und bezaubernden Ehemann zu haben! Köpfen wir eine Flasche Champagner zur Feier des Tages!«‹ »Ha, das denkst du! Sie packt ihre Sachen und haut ab. Ist das zu fassen? Dabei hatte ich ihr in der Vergangenheit einige Gründe gegeben. Hin und wieder ein paar Freundinnen, aber wer hätte die nicht? Ein- oder zweimal habe ich sie auch ein bißchen hart angefaßt, worauf ich, weiß Gott, nicht stolz bin, aber immer ist sie geblieben. Bis ich irgendeinen dämlichen Anzug kaufe und nicht auf die Waschanleitung achte. Ist das zu fassen?« Velasco malte Männchen auf seinen Block. »Vielleicht kam einfach zuviel zusammen. Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, wie man sagt.« Quemada sah ihm direkt in die Augen. Manchmal, dachte Velasco, manchmal macht er mir direkt angst. 307
»Genau das, mein Freund, genau das ist der springende Punkt. Genau das. Du lebst mit ihnen unter einem Dach, schläfst im selben Bett, du denkst, du kennst sie, dann passiert irgendeine Lappalie und – peng! Du mußt feststellen, daß die Person, die in den letzten zehn Jahren neben dir geschlafen hat, der Schrecken vom Amazonas ist.« »Vielleicht tauscht man sie aus. Vielleicht nach der Trauung, nach der Hochzeit. Sie nehmen die weg, die man geheiratet hat, und tauscht sie gegen eine vom Mars aus. Und du bemerkst es nicht mal, weil du deinem Schwiegervater den ganzen Schnaps wegpichelst.« »Sehr witzig. Der Punkt, auf den ich hinauswill …« »Punkt? Punkt? Du meinst, es gibt einen Punkt bei der Sache?« »… ist folgender. Sieh dir die Männer an. Sie kriegen hin und wieder schlechte Laune. Sie werden gemein. Sie machen manchmal was, was nicht ganz richtig ist. Aber normalerweise sind sie ziemlich leicht zu durchschauen. Ein Dorfpastor betätigt sich in seiner Freizeit für gewöhnlich nicht als Fassadenkletter. Er rennt nicht rum und murkst Leute ab, es sei denn, mit ihm stimmt irgendwas nicht. Bei Frauen ist das anders. Ganz anders. Bei allen. Eine Kleinigkeit, etwas, was man nicht einmal mitbekommt, läßt sie durchdrehen. Sie verwandeln sich von der braven kleinen Frau, die zu Hause darauf wartet, dir dein Abendessen vorzusetzen, mir nichts, dir nichts, in den Schrecken vom Amazonas. Geh in 308
das Gefängnis, ziehe nicht viertausend Mark ein, wenn du über ›Los‹ kommst.« »Und das heißt?« »Was das heißt? Nimm die Tante dieser Lucena. Sie hätte sich das Kind schnappen und aufziehen können. Weil ihr gerade danach war. Sie sieht den Bauch dieses Mädels, die Vorhänge sind grün, auf dem Herd schmurgeln Bohnen, sie hat ihre Tage, was auch immer … Und prompt verwandelt sie sich von Mutter Teresa in Blaubart. Einfach so.« Velasco dachte nach. »Ich könnte es mir vorstellen. Ja, das wäre durchaus möglich.« »Ja, durchaus. Andererseits …« Quemada zierte sich mit dem Weitersprechen. »Andererseits?« hakte Velasco nach. »Andererseits kann uns die Lucena aber auch einen Riesenhaufen Scheiße aufgetischt haben.« »Mit allem?« »Nein. Nicht mit allem. Nur teilweise. Details. Die entscheidenden Details.« »Du meinst, daß das Kind vielleicht doch gestorben ist? Daß diese Leute einfach den Anblick der kleinen Lucena satt hatten und zu der Ansicht kamen, es wäre besser, sich auf der anderen Seite des Meeres zu befinden, als sich ständig anhören zu müssen, wie dieser Teufel in Menschengestalt ihre Familie getötet und mit ihr unaussprechliche Dinge getrieben hat?« »So ungefähr.« Velasco blickte auf den Stapel auf dem Schreibtisch. Es waren alte, verblichene Aktenumschläge aus 309
Manilapapier, beschrieben mit Tinte und fließenden, schwungvollen Buchstaben. Er griff zu einer Akte mit der Aufschrift »A. Alvarez« und warf sie über den Tisch. Als sie landete, stieg eine kleine Staubwolke hoch. »Ich nehme an, wir sollten uns vergewissern. Fangen wir an?« Quemada hatte eine tiefe Abneigung gegen Papierkram, daher warf er Velasco die Akte wieder zu und rief die Polizei in Melilla an. Er rechnete nicht mit Wundern. Es geschah auch keins. »Was wollen Sie?« fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Der Beamte hatte sich mit »Sergeant Flores« gemeldet und verströmte die Zugänglichkeit und Begeisterung, die Quemada von einem öffentlichen Bediensteten eine Minute vor Anbruch der Mittagspause erwartet hätte. »Es ist wichtig, Sergeant. Wir ermitteln in einer Mordsache. Wegen mehrfachen Mordes. Wir sind auf Ihre Unterstützung angewiesen.« Er hörte Flores schnaufen. »Sie verlangen also, daß ich zwei Menschen aufspüre, die kurz nach dem Krieg hier gelebt haben? Und feststelle, was aus ihnen geworden ist? Ihre Familienverhältnisse? Und das alles sofort?« »Ich weiß, der Zeitpunkt ist nicht unbedingt der beste …« »Sie wissen gar nichts, Kollege. Je hiergewesen?« »Nein«, sagte Quemada und hoffte, daß sich daran so schnell auch nichts ändern würde. »Nein, Kollege, noch nie.« 310
»Nun, dann will ich Ihnen mal was sagen. Ich kam aus Galizien hierher. Der Himmel mag wissen, warum, aber hier ist es nicht so, wie Sie es sich vielleicht vorstellen. Hier ist Afrika, verstehen Sie mich?« »Im Prinzip schon.« »Das bezweifle ich. Hier ist Afrika. Nicht Spanien. Jedenfalls nicht richtig. Afrika. Wissen Sie, was das heißt?« »Lassen Sie mich raten. Ihre Aktenablage ist nicht auf dem neuesten Stand.« »Heilige Muttergottes. Sie sind nicht existent. Ich kann hier auf keinen Knopf drücken, um Ihnen diese Informationen über die jetzigen Bewohner zu geben. Ganz zu schweigen von solchen, die vor vierzig, fünfzig Jahren hier gelebt haben.« »Das sehe ich ein. Aber irgendwelche Unterlagen müssen Sie doch haben.« »Aber ja. Ein ganzes Kellergeschoß voll, begraben unter Tausenden toter Käfer. Wenn Sie sich da selbst umsehen wollen – nur zu.« Das hörte Quemada gar nicht gern. »Da wüßte ich nicht, wo ich anfangen soll, Kollege.« »Ich auch nicht. Außerdem habe ich Wichtigeres zu tun. Drogen und ihre Dealer aufzuspüren, beispielsweise. Richtige Polizeiarbeit eben.« »Die Jagd auf jemanden, der herumläuft und Menschen umbringt, ist auch richtige Polizeiarbeit«, sagte Quemada mit einem leisen Klirren in der Stimme. »Soweit ich weiß, bringt er bei Ihnen im Moment noch niemanden um, aber bei uns tut er es, und das macht uns nun mal ein bißchen nervös.« 311
»Hm, nun ja, das sehe ich ein«, zeigte sich Flores versöhnlich. Als er einen Moment später weitersprach, hörte er sich eine Spur freundlicher an. »Aber Sie müssen auch Verständnis für mich aufbringen. Ich verfüge nun einmal nicht über die menschlichen Ressourcen, um derlei Dingen nachgehen zu können.« »Ist das das gleiche wie Leute, Personal, Männer, Polizisten?« erkundigte sich Quemada spitz. Er hörte sich an wie die Schneekönigin: knapp, kühl und sehr überlegen. »Richtig«, sagte Flores. »Der Punkt, den ich Ihnen begreiflich machen will, ist der: Wenn Sie herkommen wollen und sich die Akten selbst ansehen wollen, sind Sie uns jederzeit willkommen. Kommen Sie her und machen Sie sich an die Arbeit. Kein Problem. Aber wir werden es nicht für Sie tun.« »Ich werde Ihre Entscheidung meinem Capitán mitteilen.« »Tun Sie das. Und wenn er damit Probleme hat, kann er sich an meinen Capitán wenden. Unabhängig davon … Wenn Sie kommen wollen, lassen Sie es mich wissen. Wir werden für eine Unterkunft sorgen. Ich könnte mich sogar versucht fühlen, Ihnen ein Bier zu spendieren.« »Verbindlichsten Dank, Kollege«, sagte Quemada. »Das wäre wundervoll. Noch eine winzige Frage?« »Ja?« »Es muß bei Ihnen doch etliche Einwohner geben, Leute aus dem Mutterland, die seit vielen Jahren bei Ihnen ansässig sind. Vielleicht können Sie 312
mir einen von ihnen nennen? Vielleicht erspart es uns allen eine Menge Zeit, wenn Sie mir einfach eine Telefonnummer nennen? Dann rufe ich dort an und frage, ob sie sich an die Leute erinnern, um die es uns geht.« »Das ist eine gute Idee«, sagte Flores. »Finde ich auch.« »Lassen Sie mich nachdenken. Ich rufe Sie wieder an.« »Danke, Kollege. Schon eine Vorstellung, wann?« »Wenn wir zu Ende nachgedacht haben. Und je schneller Sie aus der Leitung verschwinden, desto schneller kann ich damit anfangen.« Die Verbindung brach ab. Quemada dachte sich einen schauerlichen Fluch aus und schrie ihn in den Hörer. »Unsere Jungs in den Kolonien waren wohl nicht besonders hilfsbereit?« erkundigte sich Velasco. »Dieser Mann ist ein komplettes Arschloch«, knirschte Quemada. »Ich verfüge nun einmal nicht über die menschlichen Ressourcen … Wo schnappen sie diesen Mist nur auf?« »Auf Seminaren. In diesen Fortbildungskursen. Ich habe vor Jahren selbst mal einen mitgemacht. Überhaupt kein Problem. Man muß sich nur des richtigen Kauderwelschs bedienen. Menschliche Ressourcen, Zielsetzung, Strategien und so weiter.« »Im Ernst?« »In Führungskreisen kommt das heutzutage ausgesprochen gut an.« »Prima. Hier sitzt eine menschliche Ressource, die 313
auf eine Strategie aus ist, die in etwa einer Stunde die Zielsetzung eines netten kalten Biers erfüllt. Hast du eine parat?« Velasco nahm ein paar Aktenunterlagen und warf sie quer über den Tisch. »Komisch, daß du das fragst«, sagte er. »Ja, ich hätte da unter Umständen eine.« Quemada blickte von den Unterlagen hoch und stieß einen langen Pfiff aus. »Wann ist dieser Bursche gestorben?« »Vor neun oder zehn Jahren. An Kehlkopfkrebs.« »Und keine Minute zu früh, wenn du mich fragst. Dieser Typ war nicht gerade eine Zierde der Menschheit. Keine Ahnung, was diese Lucena in ihm gesehen hat.« »Menschen ändern sich. Werden durch die Umstände verändert. Vielleicht war der Alvarez, den sie kennenlernte, ein ganz anderer als der, zu dem er dann wurde. Vielleicht …« »Vielleicht, vielleicht, vielleicht … Keinerlei Verwandte, stimmt’s?« »Keine gesetzlichen Verwandten, soweit ich weiß. Seine Frau ist fünf Jahre vor ihm gestorben. Keine Kinder. Keiner von ihnen scheint irgendwelche Geschwister gehabt zu haben. Die Unterlagen sind recht ausführlich. Sogar Presseausschnitte, ein paar Nachrufe und der Bericht über die Trauerfeier. Aber nirgendwo werden Verwandte erwähnt.« »Hm«, brummte Quemada und blätterte. »Aber 314
offenbar jede Menge kleiner, nicht ganz rechtmäßiger Antonios und Antonias. Das heißt, wenn die Angaben stimmen …« Die polizeiliche Akte begann mit einer Anzeige im Jahr 1947. Sie endete 1964. Insgesamt gab es dreizehn Polizeiberichte. Zwölf von ihnen betrafen Sexualvergehen, mit einer Ausnahme durchgängig an Minderjährigen. »Alles Mädchen, alle zwischen vierzehn und sechzehn. Ein falsch gewickelter Kinderfreund?« Velasco nickte. »Scheint so. Würde auch mit Señora Lucenas Erzählungen übereinstimmen.« »Dieser Bursche muß irgendwo ein paar Freunde gehabt haben. Gute Freunde. Jeder Fall wurde von einem Kollegen bearbeitet, aber alle kamen zum gleichen Schluß. Und keiner von ihnen kam je zur Anklage. An eine Falschanzeige wegen Vergewaltigung könnte ich glauben. An zwei vielleicht auch. Aber zwölf?« Velasco putzte sich die Nase und konnte nicht umhin, den Inhalt seines Taschentuchs zu inspizieren. »Vielleicht haben die Mädels seine Absichten nicht begriffen.« »Klar«, sagte Quemada. »Beispielsweise Inma Cuellas. Zur Tatzeit vierzehn Jahre alt. Sagt aus, daß Antonio sie wöchentlich dafür bezahlte, daß sie ihn besuchte. Der medizinische Bericht erwähnt Beweise für anale Verletzungen. Ein Augenzeuge sah, wie sie ihn im Park oral befriedigte. Schwanger. Allmächtiger. Sechs von ihnen sind zum Zeitpunkt der Anzeige schwanger. Vielleicht haben sie noch etwas ande315
res nicht begriffen. Nahmen an, er wollte Backebacke-Kuchen mit ihnen spielen.« »Sieh dir die Adressen an. Alle in El Viejo. Sie könnten alle junge Nutten gewesen sein. Unter Umständen hat er sie bezahlt, und sie erstatteten die Anzeigen, als er von ihnen nichts mehr wissen wollte. Als sie schwanger wurden. Wir wissen nicht, mit wem sie sonst noch gebumst haben könnten.« »Es interessiert mich nicht, ob sie Nutten aus dem barrio waren oder Novizinnen mit einer Adresse im Himmel. Gesetz ist Gesetz. Dafür hätte er vor Gericht gestellt werden müssen. Dafür hätte er hinter Gitter gehört.« »Vielleicht hat man damals den Leuten mehr Ermessensspielraum eingeräumt.« »Ermessensspielraum? Sieht das hier für dich wie Ermessensspielraum aus? Dieser Typ hatte Beziehungen. Das ist alles. Sieh dir die Art und Weise an, in der die Untersuchungen abgeschlossen werden: ›Unzureichende Beweise‹, ›Zeuge unglaubwürdig‹ – in allen Fällen? Sie wurden alle von irgendwelchen jugendlichen Hengsten in der Nachbarschaft angebumst und beschlossen dann ausnahmslos, dieses Mißgeschick dem armen Antonio in die Schuhe zu schieben?« »Du weißt nicht, was wirklich geschehen ist. Das alles ist schon sehr lange her.« »Nein? Ich sage dir, daß das nur die Fälle sind, von denen wir wissen. Die Spitze des Eisberges. In seiner besten Zeit hat der gute Antonio vermutlich die Hälfte aller Schulmädchen in El Viejo entjungfert, und das weißt du ebensogut wie ich.« 316
Velasco sah auf die Unterlagen vor sich, auf die dünnen, schwarzen maschinegeschriebenen Zeilen. Ihm gefiel seine Tätigkeit. Er arbeitete gern mit Quemada zusammen. Der Mann war zwar manchmal unerträglich, aber ebensooft konnte er hinter die Dinge sehen. Wenn er eine Ahnung hatte, dann für gewöhnlich eine gute. »Ja«, meinte Velasco zögernd. »Wahrscheinlich hast du sogar recht.« »Und das heißt, daß wir es mit einer ganzen Generation von Alvarez-Nachkömmlingen zu tun haben könnten. Mit jedem Recht der Welt, ihm und seinem Andenken gegenüber einen gewissen Groll zu empfinden. Nicht nur die Lucena. Kinder, die er gevögelt hat, Kinder, die er gezeugt hat.« »Sauber.« Quemada nickte. Er schlug die letzte Seite von Velascos Akte auf. »Und das haben sie ihm schließlich vorgeworfen? Aber verantworten mußte er sich natürlich auch dafür nicht.« »Er zog die Bruderschaft über den Tisch. Er war ihr Schatzmeister, frisierte die Bücher. Die Angaben sind ein bißchen vage, aber es sieht so aus, als hätte er im Verlauf von zwei oder drei Jahren fast zwei Millionen Pesetas in die eigene Tasche gewirtschaftet.« »Frage mich, wofür er sie ausgegeben hat. Wohltätige Spenden für die Kirche? Mickymaus-T-Shirts für seinen kleinen Harem?« »Deswegen hätten sie ihn vor Gericht stellen können. Soviel ist sicher.« 317
»Sie hätten ihn für jeden dieser Fälle vor den Kadi bringen können. Was steht da?« Quemada kniff die Augen zusammen. Die Tinte war so ausgeblichen, daß die Worte am Fuß der Seite kaum zu entziffern waren. »›Señor Alvarez ist aus der Bruderschaft ausgetreten. Eine Strafverfolgung wird nicht empfohlen.‹ Nicht empfohlen! Na, ist das nicht eine Überraschung?« »Und was machen wir jetzt?« fragte Velasco. »Wir müssen das Menéndez zeigen. Er wird verlangen, daß wir jedem Namen in diesen Polizeiberichten nachgehen.« »Er wird auch wissen wollen, was aus dem Ehepaar in Melilla geworden ist. Er wird alles wissen wollen.« Velascao seufzte tief auf. Er sah aus, als stünde der Weltuntergang unmittelbar bevor. »Schätze, das wär’s dann«, sagte Quemada. »Erlaubst du?« Er holte einen Kamm hervor, beugte sich über den Schreibtisch und tat so, als nutzte er Velascos Anzug als Spiegel, um die ihm verbliebenen Haarsträhnen sorgfältig über die Glatze zu legen. Dann sah er auf seine Armbanduhr. »Danke, Partner. Manchmal bist du echt nützlich. Da draußen ist heute nacht schwer was los, irgendeine besondere Prozession. Ich habe davon im Dienstbuch gelesen. Für das Einsammeln der Trunkenbolde sind mehr Männer eingesetzt als für die Jagd auf unseren Typen mit der roten Kutte. Schätze, der Herr weilt persönlich unter uns, und man ist 318
bemüht, einen guten Eindruck zu machen. Wir sollten uns beeilen. Man weiß nie, vielleicht treffen wir auf ein paar Damen – voll des Heiligen Geistes.« »Sicher«, sagte Velasco und fragte sich, warum er überhaupt darauf einging. »Innerhalb einer Sekunde wenden sie sich von Gott ab und uns zu.« Quemada nickte so heftig, daß die Hautlappen unter seinem Kinn erbebten. »Kapiert, Kollege. Uns bleibt eine Stunde, schätze ich. Wie viele Biere schaffen wir normalerweise in dieser Zeit?« Velasco stand auf, zog seinen Sakko an und dachte an den kalten, metallischen Geschmack, den Bier in der Kehle verursachte, wenn eine Erkältung im Anmarsch war. »Wer zählt, hat schon verloren«, sagte er und ging zur Tür hinaus.
32 Menéndez stieg aus, sagte, der Capitán erwarte sie alle morgen früh um acht Uhr, und ging ins Präsidium. Die Nacht war wie schwarzer Samt. Sogar die Flutlichtbeleuchtung der Kathedrale schien gegen sie machtlos zu sein. Ihre tiefgelben Strahlen wurden von der Dunkelheit verschluckt. Nur eine schwache, rötliche Lichtglocke wölbte sich über der Stadt. Oberhalb der überfüllten Straßen und der Geräusche der Prozessionen war die Welt dunkel und still. 319
Torrillo legte den ersten Gang ein und fuhr langsam los. Es waren zu viele Leute unterwegs, um schneller als im Kriechgang voranzukommen. »Was wird er morgen vorschlagen?« fragte Maria. »Was machen wir als nächstes?« Torrillo dachte nach. »Wir haben ein paar Anhaltspunkte«, sagte er. »Da ist Caterina Lucena. Alvarez. Romero. Dieses Gemälde, das Sie uns gezeigt haben. Wir müssen ein paar Dingen nachgehen. Und der Capitán hängt sich inzwischen mehr rein. Das konnte man heute sehen. Er hat viel zu tun, läßt sich aber über alles genau informieren.« Sie lauschte nach Zweifeln in seiner Stimme und glaubte, sie auch zu vernehmen. Ausgerechnet Torrillo, der bislang so überzeugt gewirkt hatte. Jetzt begann offenbar auch er sich zu fragen, wie es weiterging. »Wir warten ab, ist es nicht so? Wir alle.« Überrascht drehte er sich zu ihr um. »Was?« »Wir warten darauf, daß etwas passiert. Ein weiterer Mord. Weil der uns ihm näher bringen könnte. Es ist notwendig, daß er erneut zuschlägt, weil wir ihn nur so fassen können.« Torrillo umklammerte das Steuer und verzog das Gesicht. »Nein«, sagte er. »Das stimmt nicht. Wir bemühen uns nach Kräften. Wir haben Anhaltspunkte, verfolgen sie und kommen irgendwann ans Ziel. Und wenn Sie es recht überlegen, haben wir doch schon eine Menge in der Hand. Wir wissen, daß dieser Kerl Gemälde mag. Wir wissen, daß er in irgendwelchen Sexkreisen verkehrt, vielleicht sogar in der Drogen320
szene. Wir wissen, daß er mit dem Stierkampf zu tun hat. Und dann die Hinweise auf die Vergangenheit. Vielleicht bringen sie etwas, vielleicht auch nicht. So ist das nun eben manchmal. Man hat nicht immer sofort Erfolg. Das Leben ist ein Chaos, Maria. Polizisten spiegeln das nur wider. Man glaubt, meilenweit hinterherzuhinken, nie ans Ziel zu kommen. Aber dann kommt man plötzlich um eine Ecke – und sieht die Lösung direkt vor sich. Bingo!« »Ja«, sagte Maria. Sie bogen in ihre Straße ein. Im Schaufenster des Optikergeschäfts schaltete sich eine riesige Neonbrille ein und wieder aus: rot, grün, blau, gelb. Sie dachte über das System nach: Auslöser, Relais, Kabel, die in den Röhren tanzenden Ionen des Gases. Alles funktionierte, sobald sich ein Relais ein- und wieder ausschaltete. Wie wir, dachte sie. Anstoß, Reaktion, Anstoß, Reaktion. Torrillo hielt am Straßenrand und schaltete den Motor aus. »Alles in Ordnung?« fragte er. Sie nickte. »Sicher. Es war ein langer Tag. Das ist alles. Und die Unterhaltung mit Caterina Lucena war nicht gerade erbaulich.« »Das ist Polizeiarbeit. Wenn man Märchen lieber hat, sollte man sich eine Tätigkeit in einem Kindergarten suchen.« Maria lächelte. »Auch Märchen können ganz schön furchterregend sein, Bär. Denken Sie an Hänsel und Gretel, Rotkäppchen. Da gibt es Kannibalismus und kaum verhüllte sexuelle Anspielungen.« 321
»Ja.« Torrillo lächelte. »Als Kind haben mir diese Geschichten immer sehr gefallen. Je grusliger, desto besser.« »Warum?« »Warum? Ganz einfach. Wenn einem beim Anhören einer dieser kleinen Schauergeschichten das nackte Grauen über den Rücken läuft, kommt einem die Wirklichkeit so sicher vor, so behaglich. Ist es Ihnen als Kind nicht so gegangen?« Maria schüttelte den Kopf. »Das habe ich nie so empfunden, Bär. Sie leben mit diesen Dingen, aber mich erschrecken sie. Die Welt, die Wirklichkeit macht mir angst.« »Das geht uns allen so, Maria. Manchmal. Aber man kann nicht das ganze Leben lang Angst haben. Irgendwann müssen wir alle dran glauben, aber dafür lebt man doch nicht. Man lebt für das ›Davor‹. Was hätte das alles sonst für einen Sinn?« »Das Leben sollte sicher sein.« »Selbst wenn Sie nie vor die Tür treten, sind Sie nicht sicher, Maria. Es könnte ein Erdbeben geben. Oder Ihre Nieren beginnen zu faulen. Nennen Sie das Sicherheit?« Sie antwortete nicht. Ein Bild tauchte vor ihr auf. Sie konnte nicht älter als vier Jahre gewesen sein, und im Fernsehen gab es eine naturkundliche Sendung über den Dschungel. Auf dem Bildschirm erschienen Insekten, Schlangen, giftige Pflanzen, Dinge, die sie verabscheute. Alles Dinge, die einen stechen, beißen und töten wollten, nur weil man in ihre Nähe kam und weil sie so veranlagt waren. Und 322
mit vier Jahren hatte sie die Antwort darauf gefunden. Sie hatte sie aus einer anderen TV-Sendung: »Der Junge in der Blase«. Man brauchte nur in diesen großen, dichten Plastikanzug zu schlüpfen, der einen von allem Unangenehmen und Gefährlichen abschirmte. In diesen Anzug, der mit einem Verbindungsschlauch zur Außenwelt und jeder Menge Filter ausgerüstet war, die den Schmutz abwehrten. Darin lebte man behaglich, gefahrlos und sicher. Der Junge in der Blase. Die Frau im Kokon. Schon bald wirst du in deiner eigenen Pisse und Scheiße schwimmen, Maria. Und es wird niemand dasein, der dir hilft. Das weißt du doch, oder? Du bist schließlich nicht dumm. Die kleine Stimme in ihrem Kopf lachte häßlich, und sie wartete darauf, daß sie verklang. Sie wollte nach Hause, nach Salamanca. Wollte sicher sein, unbelästigt und allein. »Hören Sie, Maria«, sagte Torrillo, und sie wünschte sich nur einen Moment lang, er würde nicht so beharrlich sein, sie einfach in Ruhe lassen. »Sehen Sie die kleine Bar da an der Ecke? Ich würde Sie gern zu einem Bier einladen. Dann können wir uns unterhalten. Es ist noch früh.« »Früh, Bär? Es ist fast Mitternacht.« »In dieser Stadt ist das noch früh, glauben Sie mir. Heute veranstalten sie einen ihrer größten Umzüge. Den größten vor dem wirklich großen am Wochenende. Dann ist wirklich die Hölle los. Aber jetzt haben wir Zeit. Wir können miteinander reden.« »Über was?« 323
»Was Sie wollen. Ich rede, Sie hören zu. Auch umgekehrt, wenn Ihnen das lieber ist. Es hilft. Am Ende eines Arbeitstages. Deshalb trinken Polizisten. Um es loszuwerden. Man braucht dieses Ventil, sonst dreht man durch. Jeder, der Ihnen erzählt, wir würden nur in den Bars rumhängen, um uns einen auf die Lampe zu gießen, ist ein verlogener Kerl.« Maria bemühte sich um ein Lächeln. »Lieb von Ihnen, Bär. Aber ich glaube, mir würden die Augen zufallen, bevor Sie das erste Wort über die Lippen gebracht haben. Nichts für ungut. Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Es liegt an mir. Ich bin total erschöpft, und wenn ich morgen früh wieder einigermaßen klar denken will, brauche ich unbedingt ein bißchen Schlaf.« »Schlaf? Eine bürgerliche Unsitte. Die medizinische Wissenschaft hat nachgewiesen, daß die meisten von uns zwei oder drei Stunden pro Nacht benötigen. Mehr nicht. Alles andere ist selbstsüchtiger Luxus, Maria, und das wissen Sie auch.« »Wenn das so ist, werde ich mir ein wenig selbstsüchtigen Luxus gestatten. Aber lassen Sie sich von mir nicht abhalten, trinken Sie Ihr Bier. Ich werde es keinem erzählen.« Sie stieß die Autotür auf, verabschiedete sich und überquerte die Straße. Torrillo sah, wie sie die Schlüssel aus der Handtasche holte, sie ins Schloß steckte, die Haustür öffnete und hineinging. Ein paar Augenblicke später ging oben das Licht an, und dann sah er sie aus dem Fenster blicken, eine verschwommene, reglose Silhouette. 324
»Was für eine einsame, traurige Frau«, sagte Torrillo zu sich selbst, »der Himmel mag wissen, wer sie aus dieser Melancholie herausreißen kann.« Er sah auf die Uhr. Halb zwölf. Dann leckte er sich genüßlich die Lippen. Er kannte die Bar an der Ecke. Sie schenkte gutes Bier aus, nicht nur das übliche Cruz Campo, sondern auch einige Importbiere. Torrillo schloß die Augen und stellte sich ein hohes, kältebeschlagenes Glas vor und darin ein kühles, goldblondes Miller Genuine Draft, frisch aus der Flasche. »Nur eins, ein einziges«, sagte er. »Es sei denn, ich überlege es mir anders.« Er stieg aus und wartete am Bordstein, um ein paar Passanten vorbeizulassen: junge Leute in Jeans, ein Priester, einige Ministranten mit Kerzen. Es roch nach Weihrauch und billigen Zigaretten, und von fern drang das Summen der großen Umzüge an sein Ohr, der wirklich großen Prozessionen. Torrillo betrat den Bürgersteig und und lief etwa zwanzig Meter hinter der Gruppe auf die Tür der Bar zu. Erwartungsvoll lächelnd trat er ein. Irgendwas spukte ihm im Hinterkopf herum. Aber er konnte es nicht definieren. Als das Glas vor ihn hingestellt wurde, genauso verlockend aussehend, wie er es sich erträumt hatte, klickte es. In der Gruppe der Passanten, zwischen dem Weiß und dem Jeansblau, hatte sich eine rote Robe befunden. Eine Büßerkutte. Torrillo schüttelte den Kopf. »Scheiße«, murmelte er vor sich hin. »Offenbar hat sie mich angesteckt.« Dann kippte er das Bier mit einem einzigen Zug, 325
warf zwei Hundertpesetasmünzen auf den Tresen und trat wieder auf die Straße hinaus. Es muß am Bier liegen, dachte Torrillo. Es muß zu kalt gewesen sein. Plötzlich fröstelte er und spürte, wie das schweißnasse Hemd an seinem Oberkörper klebte. Maria drehte sich im Bett um und wollte den Schlaf herbeizwingen. Nackt lag sie unter einer dünnen Decke. Das Fenster stand einen Spalt offen, ein leichter, fast kühler Windhauch trieb herein. Aber der Schlaf wollte nicht kommen. Sobald sie die Augen schloß, trudelten Formen, Gestalten und Bilder durch die Dunkelheit. In ihrem Kopf drehte es sich, ihr wurde schwindlig. Hinter ihren Schläfen pochte es schmerzhaft. Fast kam es ihr so vor, als hielte ihre Erschöpfung sie vom Einschlafen ab. Sie setzte sich wieder auf, knipste die Nachttischlampe an, suchte unter dem Kissen nach ihrem zerdrückten Nachthemd und streifte es sich über den Kopf. Dann stand sie auf, ging in die Küche und trank ein Glas Wasser. Es war kurz vor Mitternacht. Mit ein wenig Glück blieben ihr fünf Stunden Schlaf, bis sie wieder aufstehen mußte. Vielleicht hatte Bär recht. Vielleicht brauchte sie gar nicht soviel Schlaf. Vielleicht gewöhnte man sich nach einer gewissen Zeit daran, und es machte nichts mehr aus. Sie ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. War es erst vierundzwanzig Stunden her, seit sie genau hier gesessen und an Paolo gedacht, in den Spiegel gesehen und sich gefragt hatte: Bin ich es noch? Bin ich noch dieselbe Person wie früher? Je 326
länger sie in der Stadt war, desto größer schien der Unterschied zwischen ihrem alten Ich, dem gelassenen, kühlen Akademiker-Ich, und dieser neuen Person zu werden, dieser fragilen Person, die für Verletzungen so anfällig schien, für all das Geschehen um sie herum. Bisher war ihr Leben von trostloser Einfachheit gewesen: Wenn man sich um nichts kümmerte, nicht einmal um sich selbst, konnte man auch nicht verletzt werden. Wenn man genügend Mauern und Barrieren zwischen sich und der Welt errichtete, konnte nichts durch die Ritzen dringen. Eine großartige Methode. Das Dumme war nur diese Stadt. Hier waren keine Mauern hoch genug, hier gab es keinen Platz, den man nicht einsehen konnte. Es lag an der Stadt … Maria war auf dem Sofa fast eingeschlafen, kerzengerade und mit offenen Augen. Träumte vor sich hin, als ein dumpfes Scheppern an ihrem Bewußtsein zerrte. Als sie das Geräusch hörte, brauchte sie einen Moment, um es zu orten, und einen weiteren, um es zu erkennen. Das Telefon klingelte. Sie ging zum Apparat, nahm den Hörer hoch. Die Stimme eines Mannes, die ihr bekannt vorkam, eine Männerstimme, jugendlich, aber nicht jung. »Sie wissen es noch immer nicht, was? Es ist kaum zu glauben. Sie wissen es noch immer nicht.« Maria versuchte nachzudenken, einen Sinn in die Worte zu bringen. Der Telefonanruf von gestern kam ihr ins Gedächtnis zurück. »Was soll ich nicht wissen? Wer sind Sie?« Die Stimme am anderen Ende der Leitung lachte. 327
»Müssen Sie das wirklich noch fragen«, sagte er, und Maria überlief es kalt. »Was wollen Sie?« »Erinnerung. Ich möchte, daß Sie sich an mich erinnern, Maria.« Aus seinem Mund hörte sich ihr Name irgendwie ungehörig an. »Ich lege jetzt auf«, sagte sie und hielt den Hörer vom Ohr weg, lauschte aber weiter, lauschte auf das, was er als nächstes sagen würde. »Sehen Sie in Ihrer Handtasche nach«, kam seine Stimme dünn und blechern aus der Muschel. »Sehen Sie nach, was Ihnen fehlt. Und dann versuchen Sie sich daran zu erinnern, wann und wo Sie es verloren haben. Dann …« Sie warf den Hörer auf die Gabel und verschränkte die Arme. Sie blickte zum Stuhl neben der Wohnungstür. Ihre Jacke und ihre Tasche lagen neben ihm auf dem Boden. Sehr schlampig, Maria, dachte sie. Sie griff in die Tasche. Papiertaschentücher, Schlüssel, eine Tüte Bonbons, ein Portemonnaie, ein paar vagabundierende Münzen, zusammengeknüllte Zettel, ein paar Tampons. Es war unmöglich, den Inhalt zu überprüfen, ihn wie auf einer Liste abzuhaken. Sie hob die Tasche hoch, drehte sie um und ging neben dem Inhalt in die Knie. Stück für Stück nahm sie die Gegenstände zur Hand und legte sie zur Seite. Als sie alles sortiert hatte, auch die letzte Büroklammer, die allerletzte Kugelschreiberhülle, sank sie, noch immer ratlos, auf die Fersen. 328
Die grüne Maske und die roten Samtwände. Es war nicht leicht, sich zu konzentrieren, aber mit einiger Anstrengung gelang es ihr. Jetzt hakte sie mental einen Gegenstand nach dem anderen ab. Ihr Adreßbuch war nicht mehr da. Es mußte aus ihrer Tasche gefallen sein, als sie sich in der Bruderschaft so erschreckt hatte. Und von dem Mann in der roten Kutte aufgehoben worden sein. Von dem Mann, der danach Miguel Castaneda getötet hatte. Das Telefon stand fünf Meter entfernt. Sie rannte hinüber, hob den Hörer ab und wählte den Polizeinotruf. Dann lauschte sie. Nichts. Die Leitung war tot. Erneut drückte sie auf die Tasten. Wieder nichts. Dann von irgendwoher ein Geräusch, eine Stimme. »Sie haben aufgelegt, Maria, nicht ich. Sie können nicht erneut anrufen, wenn noch jemand in der Leitung ist.« Sie rang nach Worten. »Wer sind Sie?« »Unwichtig«, sagte er. »Warum tun Sie so etwas?« »Meine Sache. In erster Linie.« »Sie töten Menschen. Ist Ihnen das bewußt? Wissen Sie, was das bedeutet?« »Aber ja«, sagte er. »Das ist mir sehr wohl bewußt.« Wieder drückte sie mit fliegenden Fingern auf die Tasten. »Das bringt nichts, Maria. Sie können die Verbindung nicht unterbrechen, solange ich noch in der Leitung bin. Wissen Sie das denn nicht?« »Sie brauchen Hilfe«, sagte sie. »Es gibt Ärzte, die 329
Ihnen helfen können. Sie sind krank. Die Mediziner können Ihnen helfen. Das ist nichts für die Polizei. Sie kommen in eine Klinik. Nicht ins Gefängnis.« Wieder lachte er, und sie war entsetzt, wie alltäglich er sich anhörte, wie normal. Zu normal. Zu beherrscht. »Ich komme nirgendwohin.« »Ich kann mich um Hilfe für Sie kümmern. Ich kann Ihnen helfen. Lassen Sie mich Ihnen helfen. Ich gehöre nicht zur Polizei.« »Sie können mir nicht helfen, Maria.« »Warum?« fragte sie. »Warum nicht?« »Weil Sie bereits tot sind«, sagte er mit ausdrucksloser, monotoner Stimme. Sie konnte sich vorstellen, was jetzt geschah, erkannte es an den Geräuschen, die aus dem Telefon drangen. Er legte irgendwo den Hörer neben den Apparat, der vielleicht auf einem Tisch stand, vielleicht auch auf dem Brett einer Zelle. Sie hörte, wie er den Hörer hinlegte, vernahm das Klacken von Kunststoff auf Kunststoff. Dann öffnete sich eine Tür. Andere Geräusche: Popmusik, Menschen plauderten, prosteten einander zu. Eine Bar. Er hatte von einer Bar aus angerufen. Von einem Telefon, das sich nicht im Schankraum befand. Vor den Toiletten vielleicht. Sie hörte, wie er davonging. Dann waren da nur noch Bargeräusche zu hören, trunkene Stimmen, billige Musik. Maria holte tief Luft und schrie. Schrie so laut sie konnte in die elfenbeinfarbene Sprechmuschel. 330
Aber noch während sie schrie, fragte sie sich, warum. Sie wußte, daß niemand sie hören konnte. Unvermittelt schienen die Straßen vor Menschen zu bersten. Eben noch hatte Torrillo auf dem Bürgersteig gestanden und fieberhaft nach rechts und links geblickt, jetzt schien er in einer Flut von Körpern und Stimmen unterzugehen. Wie eine ungeheure Menschenwoge waren die Teilnehmer der Prozession von einer breiten Avenue aus um die Ecke gebrandet und fanden sich nun in der schmalen Straße wieder, eingekeilt und zusammengeschoben wie Insekten in einem Trichter. In einiger Entfernung kam auf den Schultern von Männern das weiße Puppengesicht einer Madonna auf ihn zu, künstliche Schmucksteine funkelten auf ihrem Schleier, ruckten auf und ab. Die Träger waren vielleicht acht, neun Meter entfernt, aber es war schwer, etwas zu erkennen. Alles hatte sich verändert. Alles schwankte vor ihm auf und ab, von einer Seite zur anderen. Aufgepeitschte Erregung ließ die Luft vibrieren, Hysterie war zu spüren. Fluchend schob er Menschen beiseite. Sie reagierten mit zornigen Blicken. Jemand hob die Fäuste, ließ sie aber nach einem Blick auf Torrillo schnell wieder sinken, weil der riesengroß war, sich bärenstark seinen Weg durch die Menge zu bahnen versuchte und dabei wild um sich blickte. Aber er konnte keine roten Kutten entdecken. Nur Menschen in gewöhnlicher Kleidung. Einige in Schwarz, die Gesichter unter Kapuzen verborgen. 331
Die Ministranten, die er vorhin schon gesehen hatte, noch immer mit Kerzen in den Händen. Im Licht der Straßenlampen sahen ihre Gesichter jetzt fast unheimlich aus, bleich, ausgelaugt und leer. Torrillo fühlte sich von einem blinden, erregten Ungeheuer angegriffen, das alles niederwalzte, was sich ihm in den Weg stellte. Neben ihm war eine Straßenlaterne, gußeisern und schwarz lackiert. Er drängte darauf zu, suchte hinter ihr Schutz vor dem Ansturm der Massen und griff in seine Tasche. Das Gedränge war so heftig, daß er das Funkgerät erst beim dritten Versuch herausziehen konnte. Er sah auf das rote Signallicht und fragte sich, was er sagen sollte. Daß ihm etwas angst machte? Daß er eine böse Vorahnung hatte? Er drückte auf die Sprechtaste, versuchte zu verstehen, was der Mann in der Zentrale sagte, schrie dreimal etwas ins Mikrophon und gab auf. Er blickte auf die Notruftaste, überlegte es sich aber anders und steckte das Funkgerät wieder ein. Es würde ihm nichts nützen. Er blickte über die Straße zum Fenster im ersten Stockwerk hinauf. Maria stand am Fenster, die Straßenbeleuchtung warf einen gelblichen Schein auf ihr Gesicht. Sie hatte einen Telefonhörer in der Hand. Ihr Gesicht war verzerrt, eine Maske aus namenloser Angst, ihr Mund weit aufgerissen. Sie schrie – unhörbar, sinnlos – irgend etwas in die Dunkelheit. Er atmete tief durch, verließ den Schutz der Straßenlaterne und tauchte, um sich stoßend, in die Menge ein. Es war wie ein Sprung in einen reißen332
den Strom. Er stemmte sich mit der rechten Schulter der Masse entgegen, aber nicht die kleinste Lücke tat sich auf. Er spürte, wie er mitgerissen wurde, spürte, daß seine Füße den Halt verloren, und erinnerte sich an Ereignisse der Vergangenheit, bei denen Menschen gestolpert, gestürzt, niedergetrampelt worden waren. So passiert etwas, dachte Torrillo. Genau so. Die Menschen schrien ihn an, wütend zunächst, dann ängstlich, weil auch sie die nervöse Anspannung in der Menge erkannten, sich bewußt machten, daß sie am Rand einer Situation schwebten, die, von einem Moment zum anderen, zu einer tödlichen Gefahr werden konnte. »Polizei!« schrie Torrillo. Es gelang ihm, einen Arm zu recken, doch dann fühlte er sich hochgehoben und vom Menschenstrom davongeschwemmt. Er stellte fest, daß er rennen mußte, um aufrecht zu bleiben. Er blickte in die Gesichter und sah Angst in ihnen. Sie wollten flüchten, fort von hier, aber das war nicht möglich, denn immer neue Menschen blockierten ihren Weg. Er wußte nicht mehr, wo er sich befand. Mitten auf der Fahrbahn, nahm er an. Seit er in die Masse eingetaucht war, war er vielleicht drei, vier Meter abgedrängt worden. Er blickte nach rechts, sah die Neonreklame im Optikergeschäft aufblitzen. Er mußte aus der Mitte heraus, auf die andere Straßenseite, durfte sich nicht von der Menge mitreißen lassen. Rechts von ihm verlor jemand den Boden unter den Füßen. Hinter ihm sackte eine ganze Reihe von 333
Gesichtern ab, als ihre Besitzer über den Gestürzten stolperten. Torrillo griff in seine Tasche, fummelte am Funkgerät herum, versuchte sich an die Position der Notruftaste zu erinnern, drückte sie und hoffte inständig, daß er sich nicht geirrt hatte. Irgendwo links von sich hörte er Glas splittern. Im Bemühen, der Menschenmasse zu entkommen, schlug jemand auf Schaufensterscheiben ein. Die Menge war inzwischen zu einem gleichmäßigen Tempo übergegangen, halb laufend, halb rennend. Wenn man sich dem anpaßte, genau anpaßte, blieb man aufrecht. Sobald man zurückbleiben oder schneller sein wollte, ging man zu Boden und riß eine ganze Reihe Menschen hinter einem mit sich. Das Ganze wirkte so präzise wie ein tödliches Metronom, und Torrillo wußte nicht, wie er diese Gleichmäßigkeit durchbrechen konnte, um auf die andere Straßenseite zu gelangen, an eine Hausmauer gedrückt abzuwarten, bis die Prozession vorüber war, um dann zu Marias Wohnung zurückzukehren und … was? Dennoch schob er, drängte mit beiden Schultern auf die andere Straßenseite zu, weil alles andere noch unsinniger gewesen wäre. Der Druck hatte ein wenig nachgelassen, es war leichter, auf den Beinen zu bleiben. Vielleicht war das Schlimmste bald vorüber. Hinter sich hörte er laute, anhaltende Schreie. Aber er wollte sich nicht umdrehen. Sein Fuß stieß gegen die Bordsteinkante, er strauchelte, jemand drängte von hinten nach. Ein Bild 334
erschien vor seinem inneren Auge. Er stürzte, stürzte mit ausgestreckten Armen, fiel flach auf die Erde, um von der schreienden Menge zu Tode getrampelt zu werden. Dann schien sich eine Art automatischer Pilot einzuschalten. Seine Füße gehorchten ihm wieder. Sein Kopf schoß hoch, heiß und schmerzhaft drang Luft in seine Lungen. Er blickte hoch, sah etwas und stellte fest, daß er inmitten des Gedränges doch noch denken konnte. Es war die Art von Reklame, die man hin und wieder noch an altmodischen Eisenwarenhandlungen sehen konnte. Eine riesige Schere, vielleicht einen oder anderthalb Meter lang, aus Eisen gefertigt, schwarz und uralt. Die Schere war halb geöffnet, ihre Griffe, zwei große Kreise, verschwanden im Mauerwerk und wurden dort von etwas gehalten, was Torrillo nicht erkennen konnte. Von Schrauben vielleicht, vielleicht auch von etwas anderem. Torrillo dachte nicht lange darüber nach. Inzwischen befand er sich am Rand der engen Straße. Er schob seine Hand in eine plötzliche Lücke zwischen Menschenleibern und spürte, wie die Mauer die Haut seiner Knöchel abschürfte. Er drängte weiter. Einen Moment befand sich nichts mehr zwischen ihm und der Hausmauer. Hinter ihm drängten die Menschen weiter, unablässig, schiebend, stoßend. Irgendwo schluchzte jemand. Er wurde langsamer, gerade so langsam, daß die Körper hinter ihm energischer drängten, gerade so langsam, daß sich zwischen ihm und dem Mann vor ihm eine winzige Lücke auftat. Jetzt konnte er die 335
riesige Schere ganz deutlich vor und über sich sehen. Sie war noch größer, als er zunächst angenommen hatte. Und dafür war er dankbar. Etwas von dieser Größe war mit Sicherheit fest in der Hauswand verankert. Du hast nur eine Chance, sagte er sich, eine einzige Chance, als der dunkle Schatten über ihm schwebte. Dann federte er hoch, riß die Arme hoch und griff zu. Torrillos Finger schlossen sich um rostiges Metall, klammerten sich fest. Er fühlte, daß seine Füße gegen Köpfe und Schultern stießen, Menschen fluchten laut auf. Hastig versuchte Torrillo, sich hochzuziehen, um die Katastrophe nicht noch zu vergrößern. Das eiserne Firmenzeichen geriet in leichte, sehr bedenkliche Bewegung. Seine Muskeln schmerzten. Die Arme schienen ihm aus den Schultergelenken gezerrt zu werden. »Nicht abstürzen«, murmelte Torrillo vor sich hin. »Alles kannst du machen, aber nicht abstürzen.« Seine linke Hand löste sich vom unteren Griff, faßte höher, die Finger fanden den oberen Griff, umklammerten ihn. Jetzt war der Schmerz nicht mehr zu verdrängen. Er durchschoß seine Arme von der Schulter bis zum Ellbogen. Irgend etwas, vielleicht eine Sehne, schien gerissen zu sein. Er versetzte die Beine in schwingende Bewegung, zog die Knie an und setzte die Füße in den unteren Scherengriff. Sie hielt. Sie mußte auch weiterhin halten. Unter ihm strömte die Menge dahin. Niemand 336
schien durch seine erfolgreiche Flucht zu Schaden gekommen zu sein. Torrillo stellte sich bequemer, umklammerte mit einem Arm die Schere und sah sich um. Die Straße wirkte wie ein Schlachtfeld gegen Ende der Kampfhandlungen. Der größte Ansturm der Massen schien vorüber zu sein. In wenigen Sekunden würde er sich wieder hinunterwagen können. Er sah Menschen auf der Straße liegen. Manche bewegten sich, stießen leise Schmerzensrufe aus. Andere regten sich nicht. Weiter hinten, am Ende der Straße, entdeckte er etwas Weißes. Es rührte sich nicht. Die Ministranten, dachte er erschüttert. Dann veränderte er seine Position, fand besseren Halt und drehte sich um, um die gesamte Straße zu überblicken. Er befand sich gut drei Meter über dem Boden. Der Mond war hinter einer Wolke hervorgetreten und tauchte die Szenerie in sein kaltes silbriges Licht. Torrillo mußte an ein Bild denken, das er als Junge in einer Gemäldegalerie gesehen hatte. Vielleicht war es von Goya gewesen. Von wem auch immer, auf jeden Fall hatte er noch Wochen danach Alpträume gehabt. Das ist euer Ende, war seine Aussage, keiner von euch wird davon verschont bleiben. Er riß den Kopf ein wenig weiter nach links und spürte, wie es in seinem Nacken knackte. Vor Marias Haustür war die Straße inzwischen verlassen. Bis auf eine einsame, dunkle Gestalt. Torrillo wartete noch ein paar Sekunden, beobachtete, wie der Schein der Neonreklame im Schaufenster des Optikers über die Gestalt huschte, und ließ sich dann auf das Pflaster hinunter. 337
Irgendwo heulte eine Sirene auf, kam näher. Ein Krankenwagen, dachte Torrillo. Vielleicht hat die Notruftaste doch funktioniert. Aber selbst wenn nicht: Ein Ereignis dieser Art, eine derartige Massenpanik mußte sich einfach herumsprechen und den Alarmzustand auslösen. Das Fahrzeug bog um die Ecke, langsam, um die auf der Fahrbahn liegenden Menschen nicht zu überfahren. Seine Scheinwerfer leuchteten milchig. Torrillo folgte ihrem Licht und sah es ganz deutlich. Die Gestalt vor Marias Haus trug etwas Rotes, eine rote Büßerkutte. Und sie versuchte, die Tür zu öffnen. Ohne nachzudenken, rannte der Riese los. »Denk nach«, sagte Maria zu sich selbst. »Denk nach, verdammt noch mal!« Sie legte den Telefonhörer auf und trat vom Fenster zurück. Dann zog sie sich einen Morgenrock an und verknotete den Gürtel fest um die Taille. Plötzlich hörte sie Tumult auf der Straße. Sie blickte wieder hinunter und sah, wie sich ein unablässiger Strom von Menschen schreiend durch die Straße wälzte, halb im Delirium, halb zu Tode verängstigt. Damit konnte er nicht gerechnet haben. Er hatte von einer Bar aus angerufen. Die nächste befand sich gut zweihundert Meter entfernt, die Bar, in die Torrillo sie hatte einladen wollen. Wenn er dort gewesen war, hätte er die Straße rechtzeitig überqueren können. Aber es gab noch etliche andere Bars in der Umgebung. Wenn er von dort angerufen hatte, mußte ihm die aus den Fugen geratene Prozession den 338
Zugang zu ihrem Haus versperren. Wenn er sich in der Menge befand, konnte er sie kaum verlassen. Wenn nicht, mußte er warten, bis die Straße wieder leer war. Maria ging in die Küche und zog die Schublade neben der Spüle auf. Sie nahm ein mittleres Messer heraus und fuhr mit dem Daumen über die Schneide. Es war scharf. Scharf genug. Mit dem Messer in der rechten Hand kehrte sie ins Wohnzimmer zurück. Maria dachte über die Lage der Wohnung nach. An der Rückseite des Hauses war der Zugang zu den Fenstern im ersten Stock nicht leicht. Es gab keine Veranda, keine vorspringenden Simse. Um von dort aus einzudringen, brauchte er eine Leiter. Und von der Vorderfront aus war der Zugang ganz unmöglich. Sie lief ins Schlafzimmer und schlug das Fenster zu. Die Nacht hinter den Scheiben war schwarz und undurchdringlich. Sie versuchte sich zu erinnern, was hinter dem Haus lag. Ein Garten? Irgendwelche kleinen Schuppen? Es wollte ihr nicht einfallen. Sie ließ das Messer fallen und versuchte, die kleine Kommode neben dem Bett wegzuschieben. Sie war schwer. Unter Aufbietung aller Kräfte zerrte sie sie zum Fenster, wuchtete sie hochkant und schob sie so vor das Fenster, daß sie es in seiner ganzen Ausdehnung verstellte. Abhalten wird ihn das kaum, dachte sie, aber ihm das Eindringen erschweren. Und wenn er die Kommode überwunden hatte, wäre sie vorn längst zur Tür hinaus. Sie ging ins Wohnzimmer und sah aus dem Fens339
ter. Noch immer strömten die Menschen durch die enge Straße. Doch inzwischen schien da unten die nackte Panik zu herrschen. Sie beobachtete, wie Leute im Gewühl zu Boden fielen, sah das Chaos, das ihre Stürze unter den Nachfolgenden verursachte. Einen Moment lang fragte sie sich, ob er dafür verantwortlich sein könnte. War das möglich? Aber warum hätte er dann angerufen? Nein, diese Panik mußte für ihn so überraschend gewesen sein wie für alle anderen auch. Draußen schrien Menschen, andere versuchten, ihnen zu helfen, wurden aber von den Massen fortgespült. Sie sah, wie ein Mann von der Menge gegen eine Hauswand gedrückt wurde und wehrlos aufs Pflaster fiel. Die Menge wogte weiter, über ihn hinweg. Sie griff wieder nach dem Telefon, drückte auf den Tasten herum und wäre am liebsten in hilfloses Schluchzen ausgebrochen. Noch immer hörte sie am anderen Ende die Geräusche in der Bar: Popmusik, vielleicht aus einem Fernseher, den Klang von Stimmen. Genau wie zuvor. Aber das hieß, das die Bar nicht sehr nahe sein konnte. Das Getümmel auf der Straße war so laut, daß sie es mit Sicherheit auch aus dem Telefon hätte hören müssen. Sie blickte zur Wohnungstür und fröstelte. Das Schloß war nicht besonders kompliziert und nur mit ein paar Schrauben im Holz befestigt. Selbst sie könnte die Tür mühelos auftreten. »Unten«, sagte sie. »Wenn ich ihn unten aufhalte, kann er nicht herein.« 340
Sie öffnete die Wohnungstür und blickte die schmale Stiege hinunter. Es herrschte pechschwarze Dunkelheit. Sie drückte auf den Schalter, das Licht ging an, und sie hörte den Zeitmechanismus ticken. Sie versuchte sich an die Länge der Schaltphase zu erinnern. Man knipste unten das Licht an, kam die Treppe herauf, suchte nach den Schlüsseln, und noch bevor man sie herausgeholt hatte, ging das Licht schon wieder aus. Als sie hier eingezogen war, hatte sie noch einmal auf den oberen Schalter drücken müssen, um das Schloß finden zu können. Jetzt tat sie das schon ganz automatisch, schon beim Erreichen des Treppenabsatzes. Maria drückte ihre Fingernägel tief in die Handflächen. Sie befürchtete, sich die Haut aufgebohrt zu haben, aber das war ihr egal. Sie mußte hinunter zur Haustür, sie sichern. Das Küchenmesser fest in der Hand lief sie die steile Treppe hinab, den Blick auf die Haustür gerichtet. Dort rührte sich nichts. Da unten gab es auch keine Möglichkeit, sich zu verstecken. Wenn sie die Haustür abschließen, zweimal von innen abschließen konnte, kam er nicht herein, jedenfalls nicht so schnell. Und sobald sie die Tür abgesichert hatte, würde sie wieder hinauflaufen, zurück ins Wohnzimmer und darauf warten, daß draußen wieder Ruhe einkehren würde. Dann würde sie das Fenster aufreißen und schreien, bis die Polizei kam. Angesichts des Chaos auf der Straße konnte das nicht lange dauern. Maria erreichte den Fuß der Treppe, hörte das Ti341
cken des Zeitmechanismus langsamer werden und drückte schnell auf den unteren Schalter. Sofort begann er wieder aufgeregt zu ticken, und sie besah sich das Türschloß. Es war ein anständiges Schloß. Aus Messing, massiv und solide. Sie dachte an die Anweisungen, die sie erhalten hatte. Von außen mußte man den Schlüssel zweimal umdrehen, um das Einriegelschloß zu aktivieren. Von innen verschob man den kleinen Messingriegel, bis er einrastete. Sobald sie das geschafft hatte, war sie sicher. Sie schob das Messer in die Tasche ihres Morgenrocks und verschob den Messingknopf. Er bewegte sich einen Zentimeter nach rechts, und sie hörte es klicken. Dann sah sie zu ihrer Verblüffung, daß der Knopf in seine ursprüngliche Position zurückglitt. »Mist«, flüsterte sie und versuchte es noch einmal. Wieder verschob sie den Knopf, doch als sie ihn losließ, rutschte er zurück. Sie hielt den Knopf fest und versuchte, den Drücker des Schlosses zu öffnen. Er blieb blockiert. Sie ließ den Knopf in die Ursprungsposition gleiten, und der Drücker ließ sich öffnen. So leicht, daß man ihn mit dem kleinen Finger aufbekam. Sie betrachtete sich das Metall um den Knopf genauer. Und entdeckte Kratzer. Die Art von Kratzern, die ein Schraubenzieher verursachte. Maria schob den Knopf noch einmal zur Seite und hielt ihn fest. Sie konnte sich das Ganze nicht erklären. Das Schloß war nicht defekt. Es war manipuliert worden. Er hatte geplant, durch die Haustür zu ihr vorzudringen. Wollte es noch immer. 342
Sie hielt den Knopf mit der rechten Hand fest und zog mit der linken das Messer aus der Tasche. Aber sehr lange kann ich so nicht stehenbleiben, durchzuckte es sie. Das ist einfach nicht möglich. Hinter sich hörte sie etwas. Das Ticken der Lichtschaltung wurde langsamer, immer langsamer. Jetzt betrugen die Abstände schon eine halbe Sekunde, eine, zwei Sekunden. Das Licht erlosch. Maria stand in der Finsternis und spürte, daß ihr kalter Schweiß über die Stirn lief, in ihren Augen brannte. In ihrer dünnen Bekleidung fühlte sie sich nackt und wehrlos. Wenn sie nicht sofort etwas unternahm, würde sie in der Dunkelheit die Orientierung verlieren und den Lichtschalter überhaupt nicht mehr finden. Und er würde hereinkommen, durch die Tür eindringen, mit dem blendenden Licht von der Straße hinter sich, und er würde zuschlagen. Maria wischte sich mit dem Arm über die Stirn, konzentrierte sich auf die Position des Lichtschalters, ließ den Knopf los und schlug mit der Hand heftig gegen die linke Wand. Ihre Finger trafen auf Gips, und sie spürte, wie ihr Tränen der Wut in die Augen traten. Erneut schlug sie gegen die Wand, wieder traf sie den Schalter nicht. Je häufiger sie es versuchte, desto verwirrter wurde sie. Sekunden später sank sie schluchzend zu Boden und versuchte sich verzweifelt daran zu erinnern, wo rechts und links war, wo oben und unten. Die Welt um sie war zu einem schwarzen, undurchdringlichen Meer geworden, so groß wie der Kosmos, so winzig wie ein Atom. Blind 343
und vor Angst keuchend hockte sie auf dem Boden und strengte ihre Augen an, bis sie schmerzten, um etwas Erkennbares, Sinnvolles in der Dunkelheit auszumachen. Flüchtig, auch wenn es ihr vorkam wie eine Ewigkeit, wurde sie sich ihrer selbst und ihrer Umgebung bewußt, des Bluts, das durch ihre Adern pulste, in ihren Ohren rauschte, des Atems in ihren Lungen, des Speichels in ihrem Mund. Alles um sie herum war greifbar und real, ein kleiner Rest in einem komplexen Ganzen. Dann hörte sie nur noch Stille. Auch die Straße hinter der Tür schien zur Ruhe gekommen zu sein. Die Welt hielt inne, hörte auf zu atmen. Laut aufschreiend, halb vor Wut, halb vor Angst, ließ sie das Messer fallen, hämmerte mit beiden Fäusten gegen die Wand und suchte nach dem Schalter, bevor das Licht für immer von Finsternis verschluckt wurde. Der Schalter zerbarst unter ihrer Faust. Plötzliche, blendende Helle erfüllte den kleinen Raum zwischen Treppe und Tür. Und dann hörte sie das Geräusch, so vertraut, so erschreckend, das Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schloß dreht. Dann öffnete sich hinter ihr langsam, verstohlen, die Tür. Maria drehte sich um, blickte hoch und sah nur noch Rot.
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33 »Ich wußte, daß das nicht gutgehen konnte«, ächzte Quemada. »Das heißt, das Schicksal herausfordern. Man verläßt kurz das Büro, nimmt sein Funkgerät mit. Aber sie warten, bis ein Bier vor einem steht. Und dann rufen sie prompt an … Wir hätten uns unser Bier näher am Präsidium bestellen sollen.« Sie rannten mit flatternden Sakkos die Straße hinunter, durch eine Einkaufspassage auf die nächste Straße zu. Von dort kam das Sirenengeheul eines Krankenwagens. »Himmel«, keuchte Velasco außer Atem. »Kannst du endlich mit dem Gejammer aufhören? Woher sollte ich wissen, daß wir nur um die Ecke waren, als der Ruf durchkam?« Die beiden Männer erreichten das Ende der Passage und blieben wie angewurzelt stehen, blickten entgeistert auf das Bild, das sich ihnen bot, sahen auf die auf der Straße liegenden Menschen, hörten ihr Stöhnen. »Scheiße«, sagte Quemada. »Sieht glatt aus, als wäre hier eine Bombe eingeschlagen. Was haben sie über Funk gesagt? Was ist passiert?« »Eine Art Massenpanik. Mehr nicht.« Weitere Sirenen jaulten auf, vom anderen Ende der Straße her. »In Erster Hilfe war ich ein Versager«, sagte Quemada. »Überlassen wir das Feld lieber den Sanitätern.« 345
»Das würde einen echt guten Eindruck machen.« »Also gut. Fragen wir sie, was wir tun können. Aber in Situationen wie dieser neige ich zu der Ansicht, daß man es besser den Fachleuten überläßt.« »Ja …«, meinte Velasco gedehnt, aber seine Gedanken waren längst woanders. »Sag mal …« Er deutete die Straße hinunter. »Siehst du, was ich sehe?« Quemadas Blick folgte der angegebenen Richtung. Eine riesige Gestalt rannte über den Bürgersteig, schneller, als es seine Größe zuzulassen schien, mit rudernden Armen und hin und her zuckendem Kopf wie ein angreifender Stier. »Also wenn du mich fragst«, murmelte Velasco, »irgend etwas erinnert mich …« »Das ist Bär, verdammt noch mal. Das ist Torrillo.« Automatisch setzten sich die beiden Männer wieder in Bewegung, nahmen ihren linkischen Trott wieder auf. Schweiß stand auf ihren Stirnen, die Hemden klebten ihnen am Körper. Sie sahen, daß Torrillo in sein Jackett griff und eine.38er aus dem Holster zog. Ohne zu überlegen, tat Velasco das gleiche, und sie rannten, zügig, aber wachsam, weiter auf den Lichtschein zu, der Torrillo inzwischen umgab. »Hörst du das?« keuchte Quemada. »Ja«, erwiderte Velasco und hielt seine Waffe fester. Beide hörten sie, daß jemand schrie.
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Instinktiv rollte Maria herum, drückte sich flach auf den harten Fußboden des Hauseingangs. Die grüne Maske und die roten Samtwände. Sie hörte etwas an ihrem Kopf vorbeizischen, über sich gegen die Wand prallen und dachte: der Pfeil. Der erste hatte sein Ziel verfehlt. Es war hell jetzt, sehr hell, blendend hell. »Nein!« rief sie. »Nein!« Sie spürte seine Anwesenheit nur Zentimeter von sich entfernt, spürte seine Verwirrung. Als er durch die Tür gekommen war, als das Licht plötzlich anging, hatte sie ihn kurz gesehen, groß, sehr gerade, aber irgendwie formlos. Es war ihr vorgekommen, als befände sich kein Gesicht unter der Kapuze, kein Körper unter der Kutte. Der Eindruck des Rots war überwältigend, amorph, irgendwie bösartig. Dann war der Pfeil fehlgegangen, und sie konnte seine Verwirrung förmlich fühlen. Er trat nicht auf sie zu, unternahm keinen Versuch, sich ihr zu nähern. Er blieb einen knappen Meter entfernt und schien irgend etwas in seinem Umhang zu suchen. Da durchzuckte es sie: Er wird nicht näher kommen, bevor er mich auf irgendeine andere Weise verletzt hat. Da gibt es irgendeinen Verhaltenskodex, und an den wird er sich halten. Flüchtig hatte sie das Gefühl, in hysterisches Lachen ausbrechen zu müssen. Bis er die nächste Stufe des Rituals erreicht hatte, war sie sicher und konnte über Verteidigungsmaßnahmen nachdenken. Die Klinge des Küchenmessers funkelte auf dem Fußboden. Erneut rollte sie auf dem Linoleumboden her347
um, einmal um die ganze Achse, und blieb mit dem Gesicht nach unten vor der Tür liegen, nur einen Schritt von ihm entfernt. Das Messer lag wenige Zentimeter rechts von ihr. Sie streckte ihre Hand aus und fragte sich: Werde ich es wirklich benutzen? Mich damit verteidigen? Aber eine Antwort darauf war überflüssig. Ein Fuß schob sich in ihr Gesichtsfeld, stieß das Messer fort, und sie hörte ihn lachen – lachen? –, und plötzlich schien ihre rechte Schulter zu explodieren. Ein scharfer, stechender Schmerz durchzuckte sie, breitete sich wie eiskaltes Feuer über ihren ganzen Rücken aus. Sie schrie, lauter als je zuvor, lauter, als sie es für möglich gehalten hätte. Sie zog die linke Hand unter ihrem Körper hervor, griff nach hinten, betastete ihre Schulter. Dort steckte der Pfeil. Sie fühlte seine Bänder, spürte, wie tief der Schaft in ihrem Fleisch steckte. Sie riß sich zusammen, umklammerte den Pfeil und zerrte ihn heraus. Der schräge Ansatzwinkel vergrößerte die Wunde, und der Schmerz schnitt wie ein Messer durch ihren Kopf. Unvermittelt gewannen alle Ereignisse eine übernatürliche Klarheit. Jede Einzelheit prägte sich ihr ein wie auf einem Film. Sie sah, wie Schmutz vom Boden hochwirbelte, als sie sich wieder umdrehte, diesmal auf den Rücken. Jetzt konnte sie ihn auch riechen: Schweiß, Schuhcreme und ein vage säuerlicher Anflug von Urin. Die Geräusche der Nacht, ihres kleines, schrumpfenden Universums, drangen eindeutig, unverwechselbar zu ihr: das Widerhallen einer Autohupe von den Hauswänden, das leise Stöhnen der Verletzten und Ster348
benden auf der Straße, das Rascheln der Kutte des Mannes über ihr. Das Flattern von Flügeln, Nachtfalterflügeln, in der feuchten, klammen Luft. So ist es kurz bevor man stirbt, dachte sie. Diese Sensibilisierung der Sinne, diese momentane Konzentration auf die letzten, unmittelbaren Eindrücke des Daseins. Sie spürte ihr Leben wie eine Kerze im Windhauch flackern. Dann hörte sie auf, sich zu rühren, lag mit weit aufgerissenen Augen flach auf dem Rücken und starrte die Gestalt über ihr an. Er hatte die Kapuze zurückgeschoben: ein durchschnittliches Gesicht, dreißig, vielleicht auch älter, kurzgeschorene schwarze Haare, dunkle, funkelnde Augen, ein glatter, gebräunter Teint. Er lächelte. Seine rechte Hand hob einen Degen, umklammmerte ihn, die Klinge blitzte auf, und jetzt kam er näher, langsam, zielstrebig. »Ich kenne Sie nicht«, sagte Maria ganz ruhig, verdrängte den Schmerz in ihrem Rücken, sah zu ihm hoch, lauschte auf das wieder langsamer werdende Ticken, wartete, hoffte. »Ich kenne Sie nicht.« Ein weiterer Schatten schob sich in ihren Gesichtskreis. Groß, vertraut. Und eine Stimme, die sie erkannte, eine Stimme, die Hoffnung verhieß. Sie sah, wie die Klinge gehoben wurde, hörte kein Ticken mehr. Die Nacht war wieder dunkel, und Maria bewegte sich wieder, rollte herum, nach links, nach rechts, versuchte, dem Chaos über ihr zu entkommen, den Schreien, den Lichtern, dem Tumult. Weitere Stimmen, laute Rufe. Sie schrie gequält 349
auf, als jemand gegen sie stieß und die Wunde in ihrem Rücken wie unter einem Elektroschock aufzucken ließ, dann über sie hinwegtrat. Schritte poltern in der Finsternis die Treppe hinauf, ihre Wohnungstür schlägt zu. Ein Gefühl von Ruhe. Ein Gefühl von Frieden. Das Licht ging wieder an, blendete sie, zwang sie dazu, die Augen mit ihren Händen zu bedecken. Sie versuchte, ihren Körper zu erkunden, den Schmerz in ihrem Rücken. Ist da noch etwas anderes? Ist sie darüber hinaus noch verletzt? Aber da war nichts. Zumindest das schien sicher zu sein. Was waren das für Stimmen? Quemada? Velasco? Sie kommen die Treppe wieder herunter, brüllen einander an, brüllen Obszönitäten, die von den Wänden hallen wie die Schreie von Wahnsinnigen. Sie öffnete die Augen und sah ihnen entgegen. Mit ihren Waffen in den Händen kamen sie die Stufen heruntergeeilt. Im Hauseingang lag Torrillo. Der Degen steckte in seinem Jackett. Sein Gesicht war weiß wie Papier. Sein mächtiger Brustkorb hob und senkte sich langsam, flach. Sie kroch zu ihm hinüber und legte ihm eine Hand aufs Gesicht. Es war kalt und feucht. Im Umkreis der Klinge dunkles, geronnenes Blut. Sie beugte sich über ihn. »Stirb nicht, Bär«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Stirb nicht.« Und dann begann sie zu schluchzen, ihre Schul350
tern hoben sich, ihr ganzer Körper zuckte wie unter Krämpfen. »Ich hole einen Weißkittel«, rief Quemada und trat über sie hinweg auf die Straße. Eine halbe Ewigkeit später kehrte er mit einem dünnen jungen Mann in weißem Nylonanzug mit rotem Kreuz auf der Brust zurück. »Das hat ein Nachspiel«, knurrte der Sanitäter. »Ich werde da draußen gebraucht.« »Ja«, sagte Quemada und fuchtelte mit der Pistole vor ihm herum. »Hier werden Sie auch gebraucht.« »Steck das verdammte Ding ein«, schrie Velasco. »Bist du übergeschnappt?« Quemada ging zu seinem Kollegen und schob sein Gesicht so nahe an Velascos Nase, daß nur eine Bleistiftbreite sie voneinander trennt. »Anders wollte er nicht mitkommen. Kapiert, Partner? Es war die einzige Chance, ihn herzukriegen. Hast du eigentlich eine Ahnung, was da draußen los ist?« Velasco trat einen Schritt zurück, zog die Nase hoch und starrte zur Tür hinaus. Dann blickte er auf Maria. »Soweit in Ordnung?« fragte er. Sie lag neben Torrillo, sprach mit ihm, flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sie sieht okay aus, denkt Velasco. Mehr will er nicht fragen. Mehr will er nicht wissen. Er will hier weg. Der Mediziner beugte sich hinunter und betrachtete die Waffe im Körper des riesigen Mannes. »Himmelherrgott«, sagte er. »Was zum Geier …« 351
»Tun Sie doch was«, sagte Quemada. »Ziehen Sie das Ding da raus. Tun Sie was, irgendwas.« »Wenn ich es rausziehe, Mann, ist er bald darauf tot.« Er fühlte Torrillos Puls, betrachtete noch einmal die Verletzung. Dann griff er nach seinem Funkgerät. »Sie da. Sie Schwachkopf mit der Pistole«, sagte der Sanitäter. »Laufen Sie zu meinem Wagen. Lassen Sie sich die Versorgungstasche für Schwerverletzte geben. Die mit dem Plasma. Da draußen hat niemand vergleichbare Verletzungen. Sie wird also kaum gebraucht.« Quemada verschwand in der Dunkelheit. Maria lauschte auf Torrillos Atemzüge. Sie waren so flach, daß sie kaum genügend Sauerstoff in seine Lungen bringen konnten, um ihn am Leben zu erhalten. »Wird er es schaffen?« fragte Velasco. »Er ist Polizist. Ein guter Junge. Wird er überleben?« Der Sanitäter betrachtete die Verletzung, betrachtete das Blut, das langsam, aber stetig aus der Wunde sickerte. »Keine Ahnung«, sagte er. »Keine Ahnung.« Dann blickte er zu Maria hinüber. Sie hatte das Bewußtsein verloren und war auf die Seite gerollt. Ein Blutfleck breitete sich auf ihrem Schulterblatt aus, bildete einen dunklen, klebrigen Kreis auf ihrem Morgenrock. »Scheiße«, sagte der Sanitäter, stieg über Torrillo hinweg und fühlte nach ihrem Puls.
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34 Schwirren … Das Surren von tausend winzigen Flügeln. Schwirren … Sie schwärmen vor ihrem Gesicht herum, eine dichte Schicht roter, gelber, schwarzer Körper. Sie hält den Atem an, bis ihre Lungen vor Schmerzen glühen, bis sie das Gefühl hat, jeden Augenblick explodieren zu müssen. Aber noch immer atmet sie nicht. Sie schwirren so dicht vor ihr herum, daß sie Gefahr liefe, mit einem einzigen Luftholen Hunderte dieser winzigen, chitingepanzerten Kreaturen in ihren Körper, in ihre Lungen zu bekommen. Schwirren … Noch dichter, so dicht, daß sie beginnen, ihre Sicht zu verdunkeln. Sie spürt ihre Flügel, ihre harten, glänzenden Körper auf der Haut, fühlt, wie sie ihr mit dünnen, tastenden Beinen über das Gesicht kriechen. Sie will mit den Armen um sich schlagen, will sie mit den Händen vom Körper vertreiben, weiß aber, daß das unmöglich ist. Die Wespen sind jetzt das Universum, ein anderes existiert nicht mehr. Selbst die Luft gibt es nicht mehr. Die Welt ist ein undurchlässiger, endloser Schwarm bunter Insekten, der sie einhüllt. Das Licht schwindet, ihre Lungen sind am Bersten. Ein scharfer Schmerz, hart wie Stahl, schießt ihr das Rückgrat herauf, bohrt sich in ihren Hinterkopf. Ohne Sauerstoff kein Leben. Sie reißt den Mund auf, will schreien, aber schon drin353
gen sie ein, kriechen über ihre Lippen, über ihre Zähne, ihre Zunge, fliegen ihr in die Kehle, den Hals, tiefer, immer tiefer. Sie spürt, wie sie in ihr herumkriechen. Spürt ihre winzigen Beine in ihrer Luftröhre, ihrer Lunge, ihrem Magen. Sie ergreifen von ihr Besitz, wie sie von einem toten Organismus Besitz ergreifen würden, und irgendwo in ihrem Innern, in einem Bereich, den sie noch nicht vereinnahmt haben, fragt sich Maria: Ist das der Tod? Ist das das Sterben? Dann regt sich in ihrem Magen Brechreiz, ein simpler, rein körperlicher Reflex, der sich über die Furcht hinwegsetzt, die ihre Vernunft ausgelöst hat: Sie werden stechen, wenn sie gestört, wenn sie aus ihrem Körper vertrieben werden. Sie werden von innen winzige, giftige Stacheln in die Blutgefäße ihres gemarterten Körpers senken und sie mit Tausenden tödlicher Nadeln umbringen. Sie setzt sich auf, und der Brechreiz verstärkt sich. Ein Drängen ist in ihr, ein trockener, quälender Drang. Sie öffnet den Mund, und sie quellen heraus, der Schwarm wird in die Dunkelheit gestoßen, noch immer surrend, noch immer gereizt. Erneut übergibt sie sich, doch diesmal strahlt von irgendwoher ein Licht durch den Schwarm, ein grelles Licht, die Art Licht, die eine starke Glühbirne verströmt. Mit dem Entschwinden des Schwarms wird es immer heller. Jetzt kann sie Umrisse erkennen, vage vertraute Formen. Sie befindet sich in einem Raum, in dem Wände, Boden, alles, fast durchscheinend blaßviolett schimmern. Die grellgelbe Glüh354
birne schwebt über ihr, hängt an einem verdrehten Kordelkabel von der Decke. Sie blickt hinauf: Da gibt es keine Verbindung, keine Befestigung. Das Kabel hängt durch die Decke, schwingt sanft hin und her wie ein Pendel an einem Ritzel, hoch, sehr hoch über ihr. Sie sieht sich genauer um, und da ist ein Tisch, der zuvor nicht da war. Er ist aus dunklem, gemasertem Holz, sein Muster wiederholt sich auf der Tischplatte wie auf einer dieser Computergrafiken, mit denen sie an der Universität arbeiteten: ein Abklatsch von etwas Organischem, eine Fiktion, die die Realität zu einem mechanischen Algorithmus reduziert. An dem Tisch sitzt jemand. Mehr als einer? Sie kneift die Augen zu, blickt erneut hin und sieht sich selbst am Tisch sitzen, in ihrem Morgenrock. Ihre Arme, mit denen sie sich an ihren Stuhl klammert, sind blutüberströmt. Das Blut rinnt auf ihre Hände, und sie fragt sich, ob es je abgehen wird. Von der anderen Seite des Tisches lächelt sie jemand an. Sie spürt die Wärme, bevor sie den Kopf hebt. Sie weiß, wer es ist, bevor sie ihn ansieht. Luis sitzt dort, der alte Luis, der gesunde Luis, bevor der Krebs begann, ihn auszuzehren. Er sitzt in der vertrauten Haltung da, mit leicht vorgeschobenen Schultern, unter dem sonnengebräunten Hals sind die Schlüsselbeine zu sehen. Er trägt ein hellbraunes Baumwollhemd mit angeknöpftem Kragen. Sie erinnert sich daran, wie sie es für ihn gewaschen hat, erinnert sich, wie er lachte, wenn sie es bügelte, erinnert sich an seine 355
Worte: »Wir haben Jobs an einer Universität, was gibt es da auszubügeln?« Luis sieht sie an, und es ist der alte Luis. In seinen Augen ist das Leuchten, das gut sechs Monate vor dem Ende verschwand. Vielleicht schon bevor er wußte, daß er krank war. Der Körper beginnt zu sterben, bevor der Verstand es begreift. Das muß so sein, denkt sie. Wie sonst sollten wir damit fertig werden? Wieder lächelt er, und diesmal öffnet er die Lippen. Maria sieht ihn an, muß ihn ansehen, obwohl etwas in ihr aufschreit, um Gnade fleht. Luis öffnet den Mund. Wie schwärzliche Stümpfe schimmern seine früher so weißen, ebenmäßigen Zähne im grellgelben Licht. Verwesungsgeruch weht sie an: süßlich, übelkeiterregend. Wie eine stinkende Wolke hängt er in der Luft. Und noch immer öffnet er den Mund, weiter, als es einem Menschen möglich zu sein scheint. Maria will sich abwenden, kann den Kopf aber nicht bewegen. Der Geruch wird unerträglich. Sie atmet ihn ein, spürt den Geschmack auf der Zunge, in der Kehle. In seinem Mund bewegt sich jetzt etwas, etwas Dunkles, Lebendiges, Bedrohliches. Es wächst, verändert die Form, dringt aus seiner Kehle hoch, krabbelt ihm über die Zähne. Scharlachrot, gelb und schwarz kriechen sie ihm auf die Lippen, die Wespen, die blutigen Wespen. Sie quellen aus seinen Lungen und fangen an, sein Gesicht zu vernichten. Sie versucht zu schreien, aber ihre Stimme versagt. 356
Jetzt beginnen sie zuzustechen. Sie sieht, wie seine Lippen durch das Gift anschwellen. Sie werden zu aufgedunsenen, widerlichen Geschwülsten. Noch immer lächelt er, das Schwirren wird lauter. Sie hört dünne Klagelaute. Es ist ihre eigene Stimme. Irgend etwas entkommt dem Bann, der sie gefangenhält. Das weckt neue Energien in ihr. Sie sieht Luis an und denkt: Du bist nicht real. Sie will die Worte aussprechen, aber sie hören sich seltsam an. Wie Babygeplapper: Du nich ral. Das Schwirren läßt ein wenig nach, die Kreaturen auf der anderen Seite des Tisches verlieren an Bedeutung. Das grauenhaft aufgedunsene Gesicht wird verschwommener, unwirklicher. Das Licht schwächt sich ab, wird blasser, ätherischer, und die Gestalt ihr gegenüber hat nichts Menschliches mehr. Ich sehe den Teufel vor mir, denkt Maria. So sieht er aus, das sind seine Taten. Und ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst. Sie beugt sich vor und versucht, sich auf die Gestalt zu konzentrieren, aber es gelingt ihr nicht. Sie holt tief Atem. Die Luft ist stickig, heiß, schwül, riecht aber nicht mehr nach Verwesung. Das Schwirren ist fast verschwunden. Sie könnte glauben, glaubt, daß sie es sich nur eingebildet hat. »Du bist nicht real«, sagt sie, und diesmal kommen die Worte klar und deutlich über ihre Lippen. Es ist ihre Stimme, unverkennbar ihre Stimme. Sie setzt sich gerade hin, spürt den Schmerz in ihrer Schulter und schließt die Augen. Die Welt taucht in sanftes Dunkel, durchschossen vom blutroten 357
Muster der Adern, und der Raum füllt sich einen Moment lang mit dem Geräusch eines riesigen Insekts, dem Rauschen gigantischer Flügel. Sie spürt, wie sich die Flügel bewegen, fühlt die Luft auf ihrem Gesicht. Sie atmet nicht ein. Dann ist das Geräusch fort, die Luft frischer, kühler. Sie öffnet die Augen. Am Tisch gegenüber sitzt Torrillo. Er trägt ein weißes Hemd. Dunkelrote Flecken bedecken die untere Hälfte seines Brustkorbes. Die silberne Waffe steckt noch immer in seinem Bauch. Er lächelt. Es ist das alte Lächeln, das reale Lächeln. Auch seine Zähne sind real, obwohl Blut auf ihnen zu sehen ist, auch in seiner Kehle. Aber es ist Torrillo. Das weiß sie. »Bär …«, beginnt sie, doch dann entziehen sich ihr alle Worte, hängen irgendwie außer Reichweite im Raum. Er lächelt, breit und vertraut. »Hat er Sie verletzt, Maria? Er hat Sie verletzt, oder?« Sie nickt. Sie schüttelt den Kopf. »Ich … ich bin mir nicht sicher.« »Mich hat er glatt erwischt.« Torrillos Hand umfaßt das Heft der Waffe. Er versucht, es sich aus dem Körper zu ziehen. Er lächelt. »Hat zugestochen, Maria.« Die grüne Maske und die roten Samtwände. Die Stimme klingt dünn, ein wenig brüchig. Sie versucht, in seinen Augen zu lesen. Da ist etwas, etwas, was er nicht offenbaren will, ein winziger, kaum spürbarer Anflug von Angst. 358
»Sie haben mir das Leben gerettet, Bär.« »Habe ich das?« Er reißt die Augen weit auf. »Wirklich? Das freut mich.« »Kann ich …?« Sie wundert sich, warum sie das fragt, warum es nötig ist, das zu fragen. »Kann ich Ihnen helfen?« Er scheint darüber nachzudenken. »Ich weiß nicht, Maria. Wie ich schon sagte. Er hat mich wirklich gut getroffen.« »Aber ich möchte es. Will es.« Sie spürt, wie ihr Tränen in die Augen steigen. »Lassen Sie mich etwas für Sie tun.« Noch immer lächelt er, nachdenklich. »Haben Sie den Film über Woodstock gesehen, Maria?« »Woodstock?« »Ja. Auch Bullen sehen sich hin und wieder Filme an. Auch Bullen lieben Musik.« »Ich habe den Woodstock-Film gesehen, vor Jahren.« »Erinnern Sie sich an die Stelle, wo es zu regnen beginnt? Buchstäblich zu schütten anfängt?« »Ich glaube mich zu erinnern. Ja, ich erinnere mich.« »Erinnern Sie sich an den Bursche auf der Bühne? Ich glaube, er nannte sich Wavy Gravy oder so ähnlich? Er sieht, daß die Leute unruhig werden, unberechenbar. Er befürchtet, daß die ganze Sache aus den Fugen geraten könnte.« »Ja.« »›Vielleicht‹, sagte er, ›vielleicht hört der Regen auf, wenn wir uns alle auf ihn konzentrieren und es 359
uns ganz intensiv wünschen.‹ Und sie fangen an, sich zu konzentrieren. Schreien: ›Aufhören! Kein Regen, kein Regen!‹ Tausende. Hunderttausende. ›Kein Regen. Aufhören. Kein Regen!‹« »Hat es funktioniert? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Hat es geklappt?« Torrillo lacht. Blut rinnt ihm übers Kinn, tropft auf sein Hemd. »Das ist komisch, Maria. Ich kann mich auch nicht erinnern. Der Regen hörte auf, das ist sicher. Aber so schnell? Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Im Film war es nicht zu sehen.« »Das hier ist kein Film, Bär.« »Nein, Maria. Das ist es nicht.« »Also?« »Vielleicht haben wir diesen Glauben, dieses Vertrauen nötig. Ich weiß es nicht. Aber wenn, dann kann das nur von Ihnen kommen. Nicht von mir. Auch nicht vom Capitán oder einem der anderen Polizisten. Es muß von Ihnen kommen. Deshalb sind Sie hier. Fragen Sie mich nicht, woher ich das weiß. Ich weiß es eben.« »Von mir? Warum?« Er bläst die Wangen auf, sieht fast ein wenig aus wie Dizzie Gillespie, und läßt die Luft im Schwall entweichen. Er wirkt bleicher, denkt sie, erschöpft. Sein Gesicht, seine Gestalt werden verschwommener, sein breites Lächeln dünner. »Wenn ich es wüßte, Maria, würde ich es Ihnen auch sagen.« Dann verschränkt er die Arme vor der Brust, über 360
der in seinem Leib steckenden Waffe, schließt die Augen und scheint einzuschlafen. »Bär?« Keine Antwort. Schwirren … Sehr laut diesmal. Irgend etwas bohrt sich schmerzhaft in ihren Arm. Schwirren … Sie schreit auf. Der Brechreiz kehrt wieder, diesmal wirklich, real. Eine bittersaure Flüssigkeit steigt ihr in die Kehle, die Galle kommt ihr hoch, und sie übergibt sich, krampfhaft, würgend. Ein bitterer Geschmack bleibt in ihrem Mund zurück. Sie räuspert sich, schnieft, schluckt. Jemand hält sie fest. Eine Stimme spricht beruhigend auf sie ein. Das Licht ist grell. Die Dunkelheit ist laut: Sirenengeheul, Schreie, Schluchzen, Räderrollen auf Steinpflaster. Sie öffnet die Augen. Direkt über ihr, mit einem Arm um ihre Schulter, steht ein Sanitäter. In seiner anderen Hand hält er eine Spritze. Sein Gesicht wird deutlicher. Er sagt etwas, aber die Worte sind nicht synchron mit seinen Lippenbewegungen. »Bald wird es Ihnen wieder gutgehen«, sagt er. »Die Verletzung ist nicht allzu schlimm.« Sie dreht sich zur Seite, Schmerz zuckt in ihrem Rücken auf. »Bär?« fragt sie kaum hörbar. Aber er ist fort. Draußen ist die Nacht von hektischer Betriebsamkeit erfüllt. 361
»Bär?« fragt sie noch einmal. Dann umfängt sie wieder die Dunkelheit, senkt sich über sie wie eine bleischwere Decke, nimmt ihr das Bewußtsein, ohne daß sie sich dagegen wehren kann. »Kein Regen …«, flüstert Maria und versinkt in einem drogenvernebelten Schlaf.
35 Maria erwachte in einem harten Krankenhausbett. Ihr Kopf schien von einer Eisenklammer umspannt. Die Nachwirkungen der Beruhigungsspritze. Sie stützte sich mit den Händen ab, setzte sich auf. Sie trug ein weißes Krankenhaushemd. Auf ihrem Rücken saß eine Art Polster. Ein Verband. Die Wunde puckerte. Sie befühlte den Verband. Ein Polster von Eigröße bedeckte die Verletzung. Sie drückte dagegen, doch der Schmerz veränderte sich kaum. »Sie werden wieder gesund«, sagte Menéndez. Er saß in einer Ecke des Zimmers im Schatten, neben dem blendenden Licht, das durch das Fenster hereinströmte. Blinzelnd versuchte sie, sich auf ihn zu konzentrieren. Sie fragte sich, wie lange sie geschlafen hatte. Draußen, auf den Straßen, war alles ruhig. Eigenartig. Normalerweise müßte Verkehrslärm zu hören sein, ganz besonders in der Semana Santa. »Es ist so still …« 362
Menéndez beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie, rieb sich die Augen. Jetzt konnte sie ihn deutlicher erkennen. Er wirkte müde, erschöpft. »Die Stadt trauert. Für heute wurden alle Veranstaltungen abgesagt. Vermutlich bleiben alle zu Hause.« »Die Massenpanik? Ich habe von den Ereignissen kaum etwas mitbekommen.« »Es hätten bessere Vorkehrungen getroffen werden müssen. Es waren zu viele Menschen, sie bogen zu schnell um die Ecke, sie gerieten in Panik. Das war nicht das erste Mal. Bei Fußballspielen, Stierkämpfen und anderen riesigen Veranstaltungen kommt es immer wieder dazu. Es sollte nicht, aber …« Maria wartete, daß er weitersprach. »Neun Menschen wurden getötet. Zu Tode gedrückt und getrampelt. Eine große Zahl wurde verletzt, Gott sei Dank nur wenige schwer.« »Und Torrillo?« Menéndez lehnte sich zurück. Sie konnte sein Gesicht nicht mehr erkennen. »Er ist auch hier. Auf der Intensivstation.« »Kann ich zu ihm?« »Das müssen Sie die Ärzte fragen, Maria.« Ihre Erinnerung an die Ereignisse der Nacht war noch immer verschwommen, undeutlich. »Er hat mir das Leben gerettet. Ohne ihn wäre ich jetzt tot.« »Ja«, sagte Menéndez. »Das glaube ich auch.« »Wird er überleben?« 363
»Das weiß ich nicht. Auch die Ärzte wissen es nicht. Er ist noch nicht wieder bei Bewußtsein. Die Verletzung ist sehr ernst, heißt es. Er hat eine Menge Blut verloren. Selbst wenn er es übersteht …« »Ja?« »Selbst wenn er überlebt, könnte eine Lähmung zurückbleiben. Sie wissen es noch nicht.« Maria schloß die Augen, kämpfte gegen die Tränen. Mit Erfolg. »Er ist ein guter Mensch«, sagte sie. »Ein guter Mensch. Es geht so eine Ausstrahlung von ihm aus. In seiner Gegenwart fühlt man sich wie neben einem wärmenden Feuer.« »Ich weiß«, sagte Menéndez. »Er hat eine Abneigung gegen mich. Auch das ist mir bewußt. Nur wenige können mich leiden. Sie halten mich für zu ehrgeizig.« Das letzte Wort sprach er aus, als hätte es einen üblen Geschmack. »Maria?« Sie starrte ins Leere. »Ja?« »Sie haben noch gar nicht gefragt, was Ihnen zugestoßen ist.« »Nein«, erwiderte sie und dachte: Es interessiert mich nicht. Nicht besonders. »Es tut ein bißchen weh, aber nicht sehr. Es kann keine große Verletzung sein.« »Er hat einen Pfeil auf Sie geschleudert, Maria.« »Ich weiß«, sagte sie knapp. »Ich erinnere mich.« »Die Ärzte sagen, daß nur so viel …«, er hob die Hand, ließ nur wenige Millimeter Raum zwischen 364
Zeigefinger und Daumen, »… gefehlt hat, und der Pfeil hätte Ihre Lunge durchbohrt. Sie hatten Glück. Großes Glück.« Sie dachte an die Verletzung, und prompt begann sie zu schmerzen, wie aufs Stichwort. »Aber so war es nicht. Es ist mir kaum etwas passiert.« »Nein«, erwiderte er und bemühte sich, ihre Gleichgültigkeit zu begreifen. »Nein. Der Pfeil blieb im Muskelgewebe stecken, sagen sie. Vielleicht werden Sie schon heute abend entlassen. Aber zunächst einmal sollten Sie sich ausruhen.« »Ich möchte etwas tun. Ihnen helfen.« »Sie helfen uns, wenn Sie sich schnell wieder erholen.« »Nein. Es tut mir leid, aber das hört sich ziemlich gönnerhaft an. Ich kann doch nicht hier herumliegen, während Sie da draußen nach dem Menschen suchen, der das getan hat.« Die Entschlossenheit in ihrer Stimme entging ihm nicht, und er hoffte, daß es zwischen ihnen nicht häufiger Anlässe zu Auseinandersetzungen geben würde. »Haben Sie ihm gestern ins Gesicht sehen können? Quemada und Velasco meinten, er hätte die Kapuze nicht aufgehabt, als sie ins Haus kamen. Sie haben jedoch nicht viel erkennen können. Aber sie sind sich ziemlich sicher, daß er keiner von den Leuten ist, die wir in Erwägung gezogen haben.« »Ich habe ihn gesehen. Ohne Maskierung. Vielleicht nahm er an, es würde ganz einfach sein. Aber sein Gesicht sagte mir nichts. Ich kenne ihn nicht.« 365
»Wäre es Ihnen möglich, eine Beschreibung zu liefern, wenn ich Ihnen einen Fachmann für Phantomzeichnungen schicke?« Sie nickte. »Wann?« »Ich rufe gleich an und schicke Ihnen jemand.« Maria versuchte, die Ereignisse in eine zeitliche Abfolge zu bringen, ihrem Gedächtnis weitere Einzelheiten zu entlocken. Es gelang ihr nicht. Vielleicht gab es da auch nichts weiter zu entlocken. »Eins verstehe ich nicht. Quemada und Velasco waren dort? Warum wurde er dann nicht gefaßt?« »Vergessen Sie die Dunkelheit nicht, Maria. Sie waren verletzt, Torrillo war verletzt. Der Mann rannte die Treppe hinauf und scheint hinter dem Haus entkommen zu sein. Offenbar kannte er sich sehr genau aus. Sie saßen in einer Zwickmühle. Sollten sie ihn verfolgen oder sich um Sie kümmern? Schließlich wählten sie eine Art Mittelweg.« »Sie hätten ihn aufhalten müssen.« »Hätten Sie das in dieser Situation getan? Sie sind Polizisten, aber letztendlich auch nur Menschen.« »Es war unsere bisher größte Chance. Möglicherweise kommt sie so nie wieder.« »Vielleicht. Aber das weiß ich nicht. Und Sie auch nicht.« Er hörte sich fast zurechtweisend an. Offensichtlich strapazierte sie seine Höflichkeit, sein Mitgefühl. »Er hat mein Adreßbuch an sich genommen. Als mir bei Castaneda die Tasche herunterfiel. Er hat mich am Abend zuvor angerufen. Sondierte offenbar 366
das Terrain. Ich hielt ihn für einen zufälligen Anrufer. Von der Sorte, die gern Frauen belästigt.« »Und ich hatte mich schon gefragt …« »Er hatte einen Schlüssel. Einen Schlüssel. Wie ist das möglich?« »Keine Ahnung. Ich habe ein paar Männer losgeschickt, damit sie in der Umgebung Nachforschungen anstellen. Vielleicht finden sie etwas. Irgendwann und irgendwie finden wir mit Sicherheit etwas. Aber eins verstehe ich nicht … Warum wollte er ausgerechnet Sie töten?« Sie versuchte, sich an den Gesichtsausdruck des Mannes zu erinnern. »Können das vielleicht alles nur Zufälle sein?« fragte Menéndez. »Er findet ein Adreßbuch, sieht eine Gelegenheit und ergreift sie? Haben wir uns mit dieser Alvarez-Geschichte vielleicht nur selbst auf eine falsche Fährte gebracht?« »Sie haben also nichts herausgefunden?« »Nein. In Melilla gibt es keine Unterlagen. Alles, was wir zutage fördern konnten, sind ein paar alte Polizeiakten, die Alvarez belasten.« »In welcher Hinsicht?« »Es lagen eine Reihe Anzeigen wegen sexueller Beziehungen zu Minderjährigen gegen ihn vor. Vergewaltigung. Einige der Mädchen waren schwanger. Er wurde nie vor Gericht gestellt. Dafür waren seine Kontakte offenbar zu gut.« »Er hatte eine Schwäche für minderjährige Mädchen?« »Scheint so.« 367
»Vor Caterina Lucena oder danach?« »Die Anzeigen beginnen in den vierziger Jahren und setzen sich über einen Zeitraum von zwanzig Jahren fort. Danach, nehme ich an. Vielleicht hat Doña Caterina …« Er verstummte. Aus unbewußter Furcht, das Unaussprechliche auszusprechen? »Wollen Sie andeuten, sie könnte ihn auf den Geschmack gebracht haben?« »Man kann es nicht ausschließen.« Maria versuchte, einen Sinn in das Gehörte zu bringen. Es hatte irgendeine Bedeutung, aber sie wußte nicht, welche. »Haben Sie die Frauen schon aufgespürt, die damals die Anzeigen erstatteten? Die, die schwanger wurden?« »Noch nicht. Wir haben es vor.« »Und er wurde nie angeklagt?« »In allen Fällen wurden die Ermittlungen eingestellt, obwohl ein Blick in die Akten zeigt, daß eine Anklage in jedem gerechtfertigt gewesen wäre. In einigen der Fälle gibt es Hinweise auf Bezahlung für erwiesene Dienste, doch das ändert nichts an der Schwere der Vergehen. Letztendlich ist er über etwas sehr viel Simpleres gestolpert. Als Schatzmeister der Bruderschaft hat er Geld veruntreut.« »Große Summen?« »Wahrscheinlich an die zwei Millionen Pesetas, soweit wir bis jetzt wissen. Vielleicht auch mehr.« »Das ist viel Geld.« »Ja. Aber auch hier kam es zu keinen strafrechtlichen Konsequenzen, doch scheint der Fall zu seinem 368
politischen Abstieg geführt zu haben. Er schied aus dem Stadtrat und der Bruderschaft aus. Er war politisch und gesellschaftlich erledigt.« »Was war mit dem Geld? Mußte er es zurückzahlen?« »Davon sollte man ausgehen.« »Aber Sie wissen es nicht? Es ist nirgendwo schriftlich festgehalten?« »Nein. Aber das ist in derartigen Fällen nicht üblich. Wenn man eine Vereinbarung auf Treu und Glauben trifft, ist man bemüht, den Papierkram auf ein Minimum zu beschränken. Und da eine formelle Verpflichtung zur Rückzahlung einem Geständnis gleichkäme, wurde die Sache vermutlich unterderhand geregelt.« »In den Unterlagen der Bruderschaft …« »Dort müßte es vermerkt sein. Ich nehme es an. Allerdings sind die entscheidenden Akten verschwunden. Vielleicht, und das ist lediglich eine Vermutung, vielleicht wurden sie im Zusammenhang mit dem Mord an Castaneda gestohlen. Ich habe Ihnen da ein wenig vorgegriffen. Ich bin Polizist.« »Also könnten die Motive für einige der Morde nicht nur Rache sein, sondern auch Geld?« »Vorstellbar. Aber warum der Mordversuch an Ihnen?« Sie überlegte. »Denken Sie an das, was Bär gesagt hat. Was ist, wenn einige der Morde ein Motiv haben und andere reine Zufallstaten sind? Indem er einige scheinbar unmotivierte Taten begeht, will er uns dazu bringen, alle für zufällig zu halten. Daß es hinter seinem Vorgehen keine Logik gibt, kein System.« 369
Menéndez sah auf seine Uhr. »Ist er so schlau? Glauben Sie das wirklich?« »Ja«, erwiderte sie, ohne zu zögern. »Er ist so schlau. Und es gefällt ihm, genau wie Torrillo gesagt hat. Es macht ihm Spaß, Menschen zu töten. Das konnte ich sehen. Gestern nacht. Es bereitet ihm Vergnügen. Vermutlich ist es das einzige, was ihm Vergnügen bereitet.« »Ein sympathischer Zeitgenosse«, sagte Menéndez. »Ich kann es gar nicht erwarten, ihn hinter Gitter zu bringen.« Maria erinnerte sich an seine Worte: daß er sich unter keinen Umständen ins Gefängnis stecken lassen würde. »Es ist schon spät, Maria. Ich habe viel zu tun. Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich werde einen Phantomzeichner zu Ihnen schicken. Aber überanstrengen Sie sich nicht. Ruhen Sie sich aus. Rufen Sie bei uns an, wenn die Ärzte Sie entlassen wollen. Ich werde eine Beamtin in Ihre Wohnung schicken, damit sie Ihnen ein paar Sachen holt. Darüber hinaus werde ich die Wohnung rund um die Uhr überwachen lassen. Vielleicht sollten wir sogar eine andere Unterkunft für Sie suchen. Denken Sie darüber nach. In Ruhe, übereilen Sie nichts. Und in der Zwischenzeit versuchen Sie sich auszuruhen. Bitte! Ich werde darum bitten, daß man Ihnen etwas zu essen und zu trinken bringt.« Das machte ihr bewußt, wie ausgehungert sie war. »O ja. Ich würde gern etwas essen.« Menéndez schlurrte zur Tür hinaus wie ein Mann, 370
der seit Tagen nicht mehr geschlafen hatte. Zwei Minuten später kam eine Ordensschwester mit einem Tablett herein: Kaffee, Orangensaft, ein wenig Gebäck. Fast gierig langte Maria zu und spürte ihre Energien zurückkehren, spürte aber auch etwas anderes: die Gewißheit, daß die Dinge in Bewegung geraten waren. Auf diese oder jene Art würde es zu einer Lösung kommen. Und davon wollte sie sich nicht ausschließen lassen. Die Ordensschwester kam zurück, um das Tablett abzuholen. Sie wirkte kaum älter als zwanzig, war schlank, hatte ein unauffälliges Gesicht, strahlte Ruhe aus. Einen Augenblick lang konnte sie nicht verstehen, was jemanden dazu brachte, sich für ein solches Leben zu entscheiden. »Ich möchte entlassen werden«, sagte sie. »Ich möchte nach Hause.« Die Ordensschwester lächelte. »Zunächst muß der Arzt nach Ihnen sehen«, sagte sie. Ein Namensschild an ihrem Habit wies sie als »Schwester Alicia« aus. »Über Ihre Entlassung kann nur ein Arzt entscheiden. Aber ich denke, daß das am Nachmittag der Fall sein wird. Warum ruhen Sie sich bis dahin nicht ein wenig aus?« »Ich werde es versuchen«, sagte Maria und fügte dann hinzu: »Zwei Bekannte von mir sind ebenfalls hier. Ich würde sie vor meiner Entlassung gern besuchen. Ist das möglich?« »Der Polizist, der mit Ihnen zusammen eingeliefert wurde?« »Ja.« 371
Sie schüttelte den Kopf. »Er befindet sich auf der Intensivstation. Es geht ihm sehr schlecht. Ich werde die Ärzte fragen. Vielleicht können Sie einen Blick durch die Scheibe auf ihn werfen. Aber er ist bewußtlos. Er wird Sie nicht wahrnehmen.« »Das ist mir klar. Aber ich möchte ihn sehr gern sehen.« »Ich werde mich erkundigen. Und wer ist Ihr anderer Freund?« »Caterina Lucena.« »Ah, Doña Caterina.« Maria konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten. Sie ließ sich keinerlei Emotionen anmerken. »Sie ist doch noch hier?« »Ja. Sie macht ein paar Fortschritte, aber dann kommt es wieder zu Rückfällen.« »Darf ich sie besuchen?« »Ich werde fragen. Ganz bestimmt.« »Vielen Dank.« Zwanzig Minuten später klopfte es an die Tür, und gleich darauf führte Schwester Alicia einen schlanken jungen Mann im Jeansanzug ins Zimmer. Er hatte einen Laptop bei sich und stellte sich als Phantomzeichner der Polizei vor. Eine Stunde lang sahen sie sich auf dem kleinen Bildschirm Gesichter an. Maria prüfte Nasen, Augen, Stirnen, veränderte Frisuren, die Form der Brauen, die Wangenknochen, das Kinn. Und war dann überzeugt, ein ziemlich genaues Ergebnis erzielt zu haben. Von einem kleinen batteriebetriebenen Drucker ließ er einen Probeabzug ausdrucken, den sie sich noch einmal 372
genauer ansahen. Auf ihre Hinweise fügte er ein paar Veränderungen mit dem Bleistift hinzu. Die Ähnlichkeit wurde noch größer. Dann übertrugen sie das Ergebnis auf den Computer und druckten erneut aus. Noch zweimal wiederholten sie die Prozedur: Ausdruck, Korrekturen mit dem Stift, Übertragung in den Computer. Schließlich war Maria überzeugt, ihn genau getroffen zu haben. Das war der Mann. »Könnten Sie zwei Exemplare ausdrucken?« »Zwei?« fragte er überrascht. »Ja, ich hätte auch gern eins. Um es mir anzusehen. Um darüber nachzudenken.« .. »Gern.« Er nickte. Als er das Zimmer verlassen hatte, sah sie sich das Bild erneut an. Versuchte, es sich mit einem schmalen Schnurrbart und tief gebräunt vorzustellen. Dann legte sie es auf den Nachttisch, drehte sich um und schlief ein.
36 Menéndez warf einen Blick in die Akte, die ihm Quemada zugeschoben hatte, und verzog das Gesicht. Er konnte mit Unzulänglichkeiten bei der Polizeiarbeit leben. Mußte mit ihnen leben. Die Menschen waren nicht unfehlbar. Menschen übersahen mitunter etwas. 373
Aber hier handelte es sich nicht um Unzulänglichkeiten, hier handelte es sich um hochgradige Schlamperei. Es hätte sich schon viel früher jemand darum kümmern müssen. Es hätte jemandem sofort auffallen müssen. Er war auf Urlaub gewesen, als Romero tot aufgefunden worden war, aber es gab andere im Präsidium, die darüber hätten stolpern können. Am Morgen des 11. Januar war Luis Romeros Leiche im Alfabia-Park von einem Parkwächter entdeckt worden. Der Tote saß auf dem Fahrersitz seines goldfarbenen Mercedes mit aufgeschnittenen Pulsadern. Durch das offenstehende Beifahrerfenster führte ein Schlauch vom Auspuff ins Wageninnere. Das Auto lief die ganze Nacht lang im Leerlauf, bis kein Benzin mehr im Tank war. Bei der Autopsie wurde das Blut des Toten auf Kohlenmonoxyd überprüft. Es war kaum nachzuweisen. Der Blutverlust durch die offenen Pulsadern hatte zum Tod geführt. Beide Feststellungen gaben offensichtlich keinen Anlaß zu Nachfragen. Als Todesursache wurde Eigenverschulden festgestellt, der Fall abgeschlossen. Menéndez versuchte nachzuvollziehen, warum man auf Selbstmord gekommen war. Der mit dem Fall befaßte Polizist, ein blutiger Anfänger, war zu dem Schluß gekommen, daß Romero seinem Leben auf eine »todsichere« Art ein Ende gesetzt hatte. Manchmal, fast immer, waren Selbstmordversuche kein ernsthafter Todeswunsch. Die Menschen ließen sich Schlupflöcher offen: Schluckten genügend Tabletten, um krank zu werden, aber nicht genug, um zu 374
sterben. Manchmal gingen sie genau entgegengesetzt vor. Sie wollten der Welt deutlich machen, daß sie nicht zum letzten Mittel griffen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Und das taten sie, indem sie sich auf eine Weise umbrachten, die keinen Ausweg offenließ. Wenn man beispielsweise vom Glockenturm der Kathedrale sprang, konnte man sicher sein, nicht zu überleben. Und der untersuchende Polizist war zu der Ansicht gelangt, daß es Romero um die Sicherheit gegangen war. Er befestigte den Schlauch am Auspuffrohr, bestieg das Auto, zog den Schlauch durchs Fenster, kurbelte es bis auf einen schmalen Spalt zu und atmete die Abgase ein, während er sich die Pulsadern aufschnitt. Quemada entging Menéndez’ mißmutige Miene nicht. »Es stinkt«, sagte er. »Ich habe den Bericht gelesen. Zugegeben, mit der Autopsie waren zwei Leute befaßt. Einer hat die Blutanalyse durchgeführt, der andere die Leiche untersucht. Aber man sollte doch annehmen dürfen, daß sie miteinander reden. Man sollte doch davon ausgehen dürfen, daß sie den armen Kollegen ins Bild setzen.« Menéndez streckte ihm beide Hände entgegen, mit den Handflächen nach oben. »Wie würden Sie vorgehen, wenn Sie sich die Pulsadern durchschneiden wollen?« Quemada wünschte sich, Velasco hätte sich nicht abgemeldet, um sich ein paar weitere Akten vorzunehmen. Er verabscheute es, wenn Menéndez mit Theorien um sich warf. Dazu war Bär da. Und er hatte keine Lust, in dessen große Fußstapfen zu treten. 375
»In solchen Dingen bin ich nicht besonders gut, Hauptkommissar.« »Versuchen Sie es. Denken Sie nach. Überlegen Sie, wie Sie vorgehen würden.« Quemada blickte auf Menéndez’ ausgestreckte Arme. »Man braucht Platz. Bewegungsfreiheit. Das ist doch verrückt. Er geht nach hinten, befestigt den Schlauch am Auspuff, steigt ins Auto und setzt sich hinter das Steuer. Ergibt keinen Sinn. Haben Sie sich das Steuerrad des Mercedes angesehen? Gewaltig wie das eines Lastwagens. Es beengt einen. Man würde sich auf den Beifahrersitz setzen, soviel ist sicher. Nicht hinter das Steuer.« Menéndez ließ seine Arme auf den Schreibtisch fallen. »Er hätte sich auf dem Beifahrersitz die Pulsadern aufschneiden und dann auf den Fahrersitz rutschen können. Dort saß er immer. Vielleicht fühlte er sich dort wohler. Gewohnheit, wissen Sie?« »Ja, möglich. Die Zeit hätte er gehabt. Zumindest, wenn er tatsächlich im Auto gestorben wäre. So tief waren die Wunden nicht. Dieser Bursche von der Gerichtsmedizin hat mir gesagt, daß es bei derartigen Schnitten rund eine halbe Stunde dauern würde. Aber alles weist daraufhin, daß er nicht im Auto gestorben ist. Dort wurde nicht genug Blut gefunden. Und wenn er länger im Auto saß, sagen wir eine Stunde, hätte er an Vergiftung durch Kohlenmonoxyd sterben müssen. Was nicht der Fall war. In seinem Blut wurde kaum Kohlenmonoxyd gefunden. Auf jeden Fall saß er nicht lange genug im Auto – 376
lebend –, während der Schlauch die Abgase in den Mercedes leitete.« »Und das heißt?« »Das heißt, daß er sich die Handgelenke außerhalb des Wagens aufgeschnitten hat, irgendwo anders eine Menge Blut verloren hat, den Schlauch am Auspuff befestigte, dann ins Auto stieg und starb. Was sogar für einen Universitätsprofessor eine reichlich umständliche Vorgehensweise ist. Andererseits hätte ihm jemand, sagen wir, dabei helfen können. Jemand schnitt ihm die Pulsadern auf, setzte ihn – halbtot oder tot – hinter das Steuer und brachte dann den Schlauch am Auspuff an. Wenn Sie mich fragen, tippe ich auf das letztere.« »Und das sind alle Tatsachbestände, die wir kennen?« Quemada nickte. »Den Mercedes haben sie sich ziemlich flüchtig angesehen. Die Fotos befinden sich in der Akte. Sagen aber kaum mehr aus als das, was wir bereits wissen. Die Burschen, die den Fall bearbeiteten, sind von Anfang an von Selbstmord ausgegangen und haben ihn sehr schnell zu den Akten gelegt.« »Obwohl seine Frau sie darauf hingewiesen hat, daß sie das für unmöglich hält.« »Entschuldigen Sie, Hauptkommissar, wenn ich da die Partei der Kollegen ergreife, aber ich habe eine ganze Reihe von Selbstmordfällen bearbeitet. Das behaupten sie alle. Ganz automatisch. Vielleicht ist das ein Versuch, jede mögliche Schuld von sich zu weisen. Die meisten Selbstmordkandidaten bringen 377
sich aufgrund privater Probleme um. Vielleicht gibt es finanzielle Engpässe, vielleicht geht das treue Eheweib fremd. Welche Frau würde so etwas gern zugeben? Wenn sie behaupten, so etwas würde ihr Mann niemals tun, heißt das in Wahrheit: Er hat es getan, aber ich habe nicht die Absicht, das zuzugeben. So etwas ist nicht ungewöhnlich, glauben Sie mir.« Menéndez blätterte die Akte durch. Sie war dünn, erschreckend dünn. In ihr befanden sich kaum Informationen über Romeros Herkunft, seine berufliche Tätigkeit, sein Privatleben. »Mehr haben wir nicht über Romero? Persönliches, meine ich. Da muß doch etwas in der Sterbeurkunde stehen.« Quemada griff nach dem Papier. »Ganz schön dürftig, was? Ich kann nicht verstehen, warum sie es dabei belassen haben. Ich habe mir auch die Sterbeurkunde angesehen, Hauptkommissar. Nur das Nötigste vom Nötigen. Das machen sie immer so, wenn keine Geburtsurkunde auffindbar ist. Seine Frau sagte, er hätte nie eine gehabt. Führte zu Schwierigkeiten, als er einen Paß beantragte. Aber das geht vielen Leuten so, die im Krieg geboren wurden. Eine Menge Papierkram fehlt einfach.« »Haben wir seine Frau nach seiner Familie befragt?« »Gestern habe ich noch einmal ein paar Jungs zu ihr geschickt. Viel haben sie nicht herausbekommen. Offenbar hat ihr Romero erklärt, er wäre als Waise von irgendeiner Familie hier in der Stadt aufgezogen 378
worden. Über irgendwelche Verwandten konnte sie nichts sagen. Anscheinend hat er nicht gern über seine Kindheit gesprochen. War ein Gebiet, über das er sich ausgeschwiegen hat. Interessant, nicht? Denken Sie, was ich denke?« »Daß es eine Verbindung zu Caterina Lucena geben könnte? In dieser Stadt leben viele Waisen, vor allem aus diesen Geburtsjahrgängen. Eine sehr riskante Vermutung.« »Ja, und ich weiß nicht, wie wir es beweisen sollten. Aber vielleicht fördern die Burschen in Melilla ja doch noch etwas zutage.« »Was ist mit seinem beruflichen Umfeld? Haben Sie sich an der Universität umgehört?« »Ja. Dort waren die Jungs nach dem Besuch bei seiner Frau. Sie wissen doch, daß sie ihn als eine Art Playboy hingestellt hat, der ziemlich wahllos herumbumste? Nun, wenn das stimmt, dann tat er es sehr diskret. Für die Leute an der Universität war er ein ausgesprochen durchschnittlicher Typ. Fleißig, unauffällig, zurückhaltend. ›Kümmerte sich um seine Dinge.‹ – Sie kennen die Sprüche. Für sie war er kein Playboy, aber vielleicht ging er diesem Vergnügen in seiner Freizeit nach. Ein paar unserer Leute sind da dran. Bisher hat sich noch nichts ergeben.« »Haben seine Kollegen irgend etwas über seine Ehe erwähnt?« »Scheinen sie nicht für allzu glücklich zu halten. Sieht so aus, als wäre sie nie an der Universität aufgetaucht. Zeigte sich nie bei den diversen Veranstal379
tungen, den Kunstvorführungen und Gesellschaftsabenden. Himmel, diesen Uni-Typen bietet sich doch jeden Abend irgendeine Fete. An denen auch sehr reizvolle Frauen teilnehmen. Aber wir haben niemanden gefunden, der beobachtet hätte, daß er ihnen nachstellte. Dabei hätten sie es ihm wohl nicht übelgenommen. Sieht so aus, als hielten sie seine Frau für einen echt kalten Fisch. Sie ist ihnen nicht sympathisch. Ganz und gar nicht.« Menéndez sah auf seine Armbanduhr. Es war zwei Uhr nachmittags, und er hatte das Gefühl, daß sich der Fall unerträglich hinschleppte, ohne daß sich auch nur der geringste Ansatzpunkt ergab. Torrillo schwebte zwischen Leben und Tod. Und sie waren dem Mörder noch keinen Schritt näher gekommen, hatten keine Ahnung, wer sich hinter der Kuttenkapuze verbarg. »Haben die Abendzeitungen die Phantomzeichnung gebracht?« »Ja. Sie war auch in den Mittagsnachrichten des Fernsehens. Es gab bereits ein paar Anrufe. Wir gehen ihnen nach. Aber so wie er sehen eine Menge Leute aus. Phantomzeichnungen sind eine feine Sache, sobald man etwas Unverwechselbares vorweisen kann, eine Tätowierung oder so. Oder wenn man jemandem bereits dicht auf den Fersen ist. Aber so … Ich weiß nicht.« »Ich möchte, daß jeder Anrufer befragt wird. Ausnahmslos.« »Selbstverständlich. Dafür werde ich sorgen. Verzeihen Sie die Frage, aber gibt es irgendwas Neues 380
über Torrillo? Die Jungs werden das mit Sicherheit wissen wollen, wenn ich Ihr Büro verlasse.« Menéndez’ Miene war ausdruckslos. »Unverändert. Er ist noch bewußtlos. Er hat viel Blut verloren. Wenn er davonkommt, können Folgeschäden nicht ausgeschlossen werden. Aber es ist noch zu früh, darüber etwas zu sagen.« Quemada verschränkte die Arme vor der Brust und verzog das Gesicht. »Großer Gott. Wenn ich mir überlege, daß der Kerl entkommen konnte, obwohl ich ihn in Griffweite vor mir hatte … Ich kann es nicht fassen.« Menéndez schloß die Akte. »Denken Sie nicht mehr darüber nach. Das hätte jedem von uns passieren können. Sie hatten viel zu bedenken. Die Panik auf der Straße, Torrillo, Señora Gutierrez. Niemand darf erwarten, daß Sie das alles im Griff behalten und dann auch noch eine Festnahme vornehmen. Ich glaube nicht, daß es einer von uns hätte besser machen können als Sie.« »Vielleicht«, murrte Quemada verbittert. »Das Problem ist nur, daß ich immer wieder vor mir sehe, wie er diese Treppe hinaufrennt, ich höre seine Schritte und denke, wenn ich ihn doch da nur schon geschnappt hätte. Anstatt noch abzuwarten.« »›Wenns‹ bringen niemanden weiter …« »Nein. Das ist mir auch klar. Aber wissen Sie was? Als ich oben in die Wohnung kam, als ich ihn durch ein Fenster klettern und in den Hof springen sah, habe ich geschossen. Ich sah seinen Rücken und zielte auf ihn. Und eins sollten Sie wissen, Hauptkom381
missar. Ich mag vielleicht ein zweitklassiger Ermittler sein, aber ich bin ein erstklassiger Schütze. Ich hätte schwören können, daß ich ihn getroffen habe. Da waren diese Geräusche. Ein dumpfer Aufprall, eine Art Stöhnen. So hört es sich an, wenn man jemanden trifft. Das vergißt man nie wieder. Und genau das habe ich gehört. Das kann ich beschwören. Heute früh war ich noch einmal da und habe mich im Hof umgesehen. Aber da war nichts. Ein paar umgestoßene Müllsäcke, sonst nichts. Keine Blutspuren. Keine anderen Hinweise. Das begreife ich einfach nicht.« Quemada ging zur Tür, drehte sich aber noch einmal um. »Hauptkommissar?« Menéndez blickte vom Schreibtisch hoch. »Ja?« »Noch etwas läßt mir keine Ruhe. Im Zusammenhang mit Romeros Tod.« »Und das wäre?« »Wir gehen inzwischen doch von der Annahme aus, daß er umgebracht wurde, stimmt’s? Wir glauben, daß ihn jemand getötet hat, das Ganze dann aber auf Selbstmord frisiert hat?« »So sieht es zumindest aus.« »Und genau damit habe ich so meine Probleme. Wie macht man so etwas? Ich meine, wie schneidet man einem anderen Menschen die Pulsadern durch? Beide? Romero war kein kleiner Mann. Er hätte das kaum widerstandslos mit sich machen lassen. In seinem Blut wurden aber keine Drogen gefunden wie bei den Angel-Brüdern. Es gibt auch keinerlei Hinweise darauf, daß er gefesselt wurde. Also wie hat der Täter das hinbekommen?« 382
Menéndez sah Quemada an. Vielleicht war Torrillos Abwesenheit in beruflicher Hinsicht doch leichter zu ertragen als befürchtet. »Ich weiß es nicht. Leicht kann es jedenfalls nicht gewesen sein.« »Es sei denn …« »Es sei denn, was?« »Es sei denn, es waren zwei. Das hätte die Angelegenheit sehr erleichtert. Und wenn ich es mir recht überlege, hätte es auch die Sache mit den Angels erleichtert.« Menéndez sah Quemada erstaunt an. »Das ist eine hochinteressante Theorie, Quemada«, sagte er. »Lassen Sie uns gründlicher darüber nachdenken.«
37 »Das ist ein ausgesprochener mistiger Fall, echt mistig«, sagte Quemada. Sie durchkurvten den barrio in einem grauen Opel, in dem es nach altem Tabakqualm und Schweiß roch. Draußen herrschte eine seltsame Atmosphäre: Stille, gepaart mit spürbarer Anspannung. Da Feiertag war, gingen die Menschen nicht zur Arbeit. Aber sie unternahmen auch sonst nichts besonderes. Sie hockten entweder in Bars herum oder, stumm und mißmutig, auf Rohrstühlen vor ihren 383
Häusern im barrio. Selbst die Kinder kickten keine Fußbälle durch die Gegend. Quemada sah auf die Straße hinaus. »Himmel, es läuft einem ja kalt über den Rücken. Da ist es mir lieber, wenn sie alle sturzbetrunken sind und Prügeleien anzetteln. Da weiß man wenigstens, woran man ist.« Velasco schnippte eine Zigarettenkippe aus dem Fenster in den heißen, stickigen Nachmittag hinaus. »Wart’s ab. Morgen, beim Stierkampf, sind sie wieder ganz die alten. Sie werden sich kaum noch erinnern. Bis dahin …« »Bis dahin sollte der Capitán endlich mit etwas herausrücken. Ich sage es nicht gern, aber es ist die Wahrheit. Menéndez hat sich diesen Fall glatt unter den Nagel gerissen. Macht auf Chef. Der Alte lehnt sich einfach zurück, und ich verstehe nicht, warum.« »Das ist doch nicht neu. So hat er es schon Dutzende Male gemacht. Läßt uns im dunkeln herumtappen, um dann plötzlich die Lösung zu präsentieren. Vielleicht will er Menéndez auch vorführen. Schließlich ist es kein Geheimnis, wie scharf der Kriecher auf seinen Posten ist.« »Diese Spielchen nerven aber ziemlich. Wir müssen endlich vorankommen. Bär liegt immerhin im Krankenhaus. Es ist nicht nur der Abschaum, der dabei zu Schaden kommt.« »Nein«, sagte Velasco. »Glaubst du, daß der Alte sich endlich rührt? Auf Menéndez verlasse ich mich nicht. Der Typ ist doch ein Schaumschläger, wenn du mich fragst.« 384
»Denke schon«, meinte Velasco. »War es denn bisher nicht immer so?« »Vermutlich hast du recht«, sagte Quemada. »Aber wenn du mich fragst, halte ich es noch immer für einen echt mistigen Fall.« Velasco widmete sich wieder dem Wust von Unterlagen auf seinem Schoß und dachte über den nächsten Namen auf ihrer Liste nach. Sie hatten die zuletzt bekannten Adressen von drei der Frauen aufgesucht, die seinerzeit als Mädchen gegen Alvarez Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet hatten. Zunächst nahmen sie sich die vor, die schwanger geworden waren. Davon versprachen sie sich am meisten. Aber sie kamen nicht recht voran. Die erste Adresse entpuppte sich als brettervernagelte Bruchbude in Flußnähe. Das Dach fehlte, und die dunklen Fensterhöhlen wirkten wie Zahnlücken in einem faulenden Gebiß. In der Straße hatte man eine ganze Reihe von Häusern für Sanierungsmaßnahmen vorgesehen, doch dann war der Stadt das Geld ausgegangen, und die beklagenswerten Opfer derart weitblickender Stadtplanung rotteten vor sich hin, bis sich die Kassen wieder füllten. Das war vor rund zehn Jahren gewesen, berichtete der nächstwohnende Nachbar, den sie auftreiben konnten. Die ehemaligen Bewohner waren in eins der Hochhäuser am Stadtrand umgesiedelt worden. Quemada machte sich ein paar Notizen und zuckte mit den Schultern. Eine weitere Aufgabe für das ständig wachsende Unterstützungsteam im Präsidium. Man konnte Tage, wenn nicht gar Wochen da385
mit verbringen, in den gesichtslosen, anonymen Mietskasernen jemanden aufzuspüren. Dann fuhren sie zur anderen Seite des barrio und klopften an die Tür der zweiten Adresse. Da keine Reaktion erfolgte, störten sie einen Nachbarn auf, zückten ihre Dienstausweise und fragten nach dem Namen in ihren Unterlagen. Er war unbekannt. Offenbar hatte die Familie, die die Wohnung jetzt bewohnte, keinerlei Beziehung zu jener, die hier vor zwanzig Jahren zu Hause gewesen war. Wieder hatte eine Spur ins Nichts geführt. Bei der dritten Adresse hatten sie ein wenig mehr Glück. Gewissermaßen. Eine alte Frau mit Bärtchen auf der Oberlippe, in einem billigen rotgeblümten Kleid und Filzpantoffeln, klärte sie unumwunden auf: Die Frau war tot, vor gut fünf Jahren einem Verkehrsunfall zum Opfer gefallen. Und das Kind war tot zur Welt gekommen. Auf dem Weg zur nächsten Adresse überprüfte Velasco noch einmal seine Papiere. Mit Unterstützung ihrer Mutter hatte Magdalena Bartolomé im Juni 1960 gegen Alvarez Anzeige wegen wiederholter Vergewaltigung erstattet. Zu der Zeit war sie dreizehn Jahre alt gewesen. Den Unterlagen zufolge hatte Alvarez sie in regelmäßigen Abständen besucht und sie, mit ihr allein gelassen, zum Geschlechtsverkehr genötigt. Das Mädchen war schwanger geworden. Den handschriftlichen Anmerkungen des untersuchenden Beamten war zu entnehmen, daß Alvarez die Anschuldigung weit von sich gewiesen hatte. Er räumte ein, die Familie Bartolomé regelmäßig aufgesucht zu haben, jedoch ausschließlich 386
aus karitativen Gründen. Obwohl er der Bruderschaft offiziell nicht mehr angehöre, helfe er bedürftigen Familien noch immer mit Zuwendungen aus, wenn sie darum bäten. Bei seinen Besuchen sei nichts Ungewöhnliches vorgefallen, die Mutter hätte ihn nie mit dem Mädchen allein gelassen, und alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe seien absurd. Der untersuchende Beamte hatte sich im barrio umgehört und nichts erfahren, was darauf schließen ließ, daß er weitere sexuelle Beziehungen unterhielt. Er fand jedoch auch keine Beweise für das Gegenteil. Er schilderte das Mädchen als mürrisch, wenig hilfsbereit, unglaubwürdig und völlig unter dem Einfluß seiner Mutter stehend, die er bei der Erstattung der Anzeige für federführend hielt. Abschließende Bemerkung: »Aus Mangel an Beweisen wird von einer Strafverfolgung abgeraten.« »Was hältst du davon?« fragte Quemada und verlangsamte das Tempo, um die innere Umgehungsstraße zu verlassen und wieder in den barrio hineinzufahren. »Klingt ganz so, als hätte ihn die Mutter für sein Vergnügen berappen lassen. Als er die Zahlungen einstellte, wollte sie sich rächen.« »Wie oft hat er sie gebumst? Was steht da? Zehn-, zwölfmal?« »In etwa.« »Und erst dann erstattet sie Anzeige?« »Die Mutter behauptet, nichts gewußt zu haben.« »Klar. Mann taucht auf und bietet Geld an. Wird hereingebeten und mit der dreizehnjährigen Tochter 387
eine Stunde oder länger allein gelassen. Was haben die ihrer Meinung nach miteinander gemacht?« »Daran siehst du, warum der Fall nie zur Anklage kam.« Quemada starrte seinen Partner an. »Den Teufel sehe ich. Sie hätten Alvarez wegen Unzucht mit Minderjährigen einbuchten müssen und die Mutter wegen Zuhälterei.« »Hervorragend. Alvarez und die Mutter landen im Gefängnis, und das Mädchen kommt ins Armenhaus. Sieht so für dich die Gerechtigkeit aus?« »Ich rede nicht von Gerechtigkeit. Ich rede von Gesetzen. Wenn jemand die Konsequenzen erträglicher machen will, irgendein Politiker oder Richter – in Ordnung. Sollen sie es tun. Aber das ist nicht unsere Aufgabe. Wenn jemand die Gesetze übertritt, belangen wir ihn. Nicht mehr und nicht weniger. Es ist nicht unsere Aufgabe, mit den Folgen klarzukommen.« Er blickte auf das Straßenschild. Sie waren fast da. Die Zahlen auf den kleinen blauweißen Hausnummernschildern verliefen in abnehmender Richtung. Quemada parkte in einer Lücke zwischen einem Brotlieferwagen und einem verrosteten, auf den Achsen stehenden Seat. Es stank nach Abwässern und Katzenpisse. Die Bebauung der Straße bestand aus schmuddligweißen Reihenhäusern, hauptsächlich einstöckig, gelegentlich mit einer vermutlich illegalen zweiten Etage. Hier und da ein Balkon, ein paar Blumen, eine gestreifte Markise. Auf dem Bürgersteig Abfall, von streunenden Katzen, die reglos, aber 388
wachsam in jeder schattigen Ecke lagen, aus den schwarzen Müllsäcken gefleddert. »Einladende Gegend«, sagte Velasco. »Folgen«, murmelte Quemada. »Kaust du noch immer daran herum?« Stur blieb Quemada hinter dem Steuer sitzen und weigerte sich, den Wagen zu verlassen, bevor das Thema abgeschlossen war. »Ja, ich kaue noch immer daran herum. Überleg doch mal. Denk beispielsweise an diese Frau. Wir gehen da jetzt hinein und fragen sie, ob sie auf Geheiß ihrer Mutter vor mehr als dreißig Jahren die Beine breit machen mußte. Wollen von ihr wissen, an was sie sich erinnert, was sie empfindet. Was ist, wenn ihr Mann da ist? Was machen wir dann?« »Wir fordern ihn auf, uns allein zu lassen. Das ist eine der angenehmen Seiten des Polizistendaseins. Man kann den Leuten sagen, was sie tun sollen.« »Und dann? Was ist, wenn er zurückkommt? Wenn er die Wahrheit aus ihr herausprügelt? Was ist, wenn unser Auftritt zu etwas führt, was mit einer Scheidung endet?« »Du hast eine allzu blühende Phantasie. ›Was ist, wenn …?‹ Was soll der Schwachsinn?« »Vielleicht macht mir die Sache mehr zu schaffen als dir.« »Jaa«, sagte Velasco gedehnt. »Ich habe dich schon immer für einen hypersensiblen Typ gehalten. Willst du wissen, was mir zu schaffen macht? Bär. Bär und die anderen Menschen, die zu Opfern dieses Typen wurden oder werden. Die Schneekönigin. Wenn wir 389
bei unseren Bemühungen, ihm das Handwerk zu legen, einen kleinen Ehestreit heraufbeschwören, soll es mir recht sein. Darüber hinaus …« Velasco sah an dem Haus empor, vor dem sie geparkt hatten, und versuchte, eine mentale Schneise durch den Erkältungsnebel zu schlagen, der sich in seinem Schädel zusammenballte. »Darüber hinaus kann ich mir irgendwie nicht vorstellen, daß wir hier die von dir befürchtete Katastrophe auslösen. Du kennst diese Quartiere doch auch. Hier triffst du den gelegentlichen Einsteigedieb an, nach oben mobil. Also immer mit der Ruhe. Ich vermute vielmehr, daß der Zustand ihrer Ehe das letzte ist, um das sie sich sorgen.« Sie verließen das Auto, liefen auf das Haus zu und bemühten sich, die üblen Gerüche zu ignorieren. Velasco drückte energisch auf die Klingel. Nichts. Er legte ein Ohr an die Tür, drückte ein zweites, ein drittes Mal, hörte aber nichts als das ferne Schnattern eines Fernsehers und etwas, was wie Kindergeplärr klang. Er ballte die Fäuste und begann gegen die Tür zu hämmern.
38 Drüben, auf der anderen Seite der Stadt, schreckte Maria Gutierrez aus Alpträumen hoch. Irgendwo war eine kopflose, blutende Taube zu Boden gefallen. 390
Irgendwo war im Mondlicht eine Messerklinge silbern aufgezuckt. Sie lehnte sich in die Kissen zurück, schloß die Augen und versuchte, die Bilder in ihr Gedächtnis zurückzurufen. Jetzt, im wachen Zustand, schreckten die Bilder sie nicht mehr. Sie hatten etwas zu bedeuten. Aber nichts war in ihrer Erinnerung geblieben, nichts als ein Gewirr geisterhafter Farben. Sie öffnete die Augen wieder, setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Ihre Bewegungen ließen das Eisengestell quietschen. Sie atmete den typischen Krankenhausgeruch: nach frischer Bettwäsche, Aseptika, Medikamenten. Auf einem hochlehnigen Stuhl gegenüber dem Bett lag ein Stapel sorgsam gefalteter Kleidungsstücke. Ihrer Kleidungsstücke. Offenbar hatte Menéndez sie bringen lassen, während sie schlief. Also hatte jemand unhörbar das Zimmer betreten, eine Ordensschwester, und sich so verstohlen bewegt wie ein graues Gespenst. Maria war über ihre Empfindlichkeit überrascht und verdrängte den Gedanken schnell wieder. Sie drückte auf den Klingelknopf, und wenig später kam eine Schwester in einer ruhigen, selbstverständlichen Art herein. Ihr folgte ein Arzt: jung, sachlich, fachlich. Er bat sie, sich auf den Bauch zu legen, öffnete ihr Hemd und entfernte den Verband mit flinken, tüchtigen Fingern. Die Ordensschwester rieb die Verletzung sanft ein, bedeckte sie mit einem einfachen Pflaster und schloß die Bänder des Hemdes mit einer Schleife. Maria drehte sich um. Dem Ge391
sicht des Arztes war nichts zu entnehmen. Er unterzeichnete ein Papier, erklärte, sie könne am Nachmittag das Krankenhaus verlassen, verordnete eine aseptische Salbe und empfahl ihr Ruhe. »Warum darf ich nicht sofort gehen?« »Weil ich das nicht für gut halte«, gab er zurück. »Physisch ist alles in Ordnung. Aber Sie könnten noch unter Schock stehen, daher möchte ich Sie noch ein wenig hierbehalten. Außerdem müssen wir uns über einen Termin verständigen. Die Polizei will Sie abholen. Man möchte wissen, ob Sie in Ihre Wohnung zurückwollen oder ob man Ihnen eine andere Unterkunft besorgen soll.« »In die Wohnung. Das können Sie ihnen gleich sagen.« Er nickte. »Gern. Aber wenn Sie Ihre Meinung ändern …« »Das werde ich nicht.« »Nein«, sagte er, und die Spur eines Lächelns huschte über sein Gesicht. »Das kann ich mir gut vorstellen. Aber wie auch immer. Ich möchte, daß Sie sich noch ein paar Stunden ausruhen. Hier …« »Kann ich meine eigenen Sachen anziehen?« »Selbstverständlich. Die Schwester wird Ihnen das Bad zeigen und Ihnen dort behilflich sein, wenn Sie wünschen.« »Vielen Dank.« »Keine Ursache. Aber jetzt müssen Sie mich entschuldigen. Wir haben zur Zeit alle Hände voll zu tun. Ich bin sicher, daß Sie dafür Verständnis aufbringen.« 392
»Herr Doktor?« »Ja?« »Ich hatte darum gebeten, zwei Patienten besuchen zu dürfen. Den Sergeant, der mit mir zusammen eingeliefert wurde, und eine alte Dame in der geriatrischen Abteilung.« »Ja, ich weiß. Mit Doña Caterina ist alles geregelt. Wir haben sie gefragt, und sie ist mit Ihrem Besuch einverstanden.« »Geht es ihr gut?« Der Arzt runzelte die Stirn. »In ihrem Alter ist das schwer zu beurteilen. Da ändert sich das Befinden von Tag zu Tag. Im Augenblick geht es ihr gut. Aber ich sehe nicht, daß sie uns schon bald verläßt. Zumindest nicht in den nächsten Wochen.« »Und der Sergeant?« Sein Gesichtsausdruck gefiel ihr nicht. Er zeigte die Anmaßung der Mediziner, die sie gründlich verabscheuen gelernt hatte, die selbstherrliche Annahme, daß eine Lüge barmherziger war als die Wahrheit. »Sergeant Torrillos Zustand ist unverändert. Mehr kann ich nicht sagen. Er ist noch ohne Bewußtsein, seine Lebensfunktionen werden künstlich unterstützt. Sie können vom Flur aus einen Blick auf ihn werfen, mehr nicht.« »Sie wissen, warum ich ihn sehen möchte?« »Ja, ich habe die polizeilichen Unterlagen gesehen.« »Wird er es schaffen? Bitte, sagen Sie es mir. Es ist nicht nötig, daß Sie mich schonen.« 393
»Nein?« »Ich kann die Wahrheit vertragen.« »Die Wahrheit … Die Wahrheit ist, daß Sergeant Torrillo von uns künstlich am Leben erhalten wird. Wir können ihn eine ganze Zeitlang in diesem Zustand halten. Vielleicht sogar Jahre. Aber das wäre natürlich kein Leben, wie wir es kennen. Irgendwann müßten die Familie und die Gerichte darüber entscheiden, wann die Geräte abgeschaltet werden sollen.« Maria schloß die Augen und kämpfte gegen den Zorn an, der in ihr aufstieg. Der Gedanke, daß der lebensprühende Riese Torrillo zu einer derart reduzierten Existenz verdammt sein sollte, war ihr unerträglich, »Sie wollten die Wahrheit hören«, sagte der Arzt. »Und ich danke Ihnen, daß Sie sie mir gesagt haben. Gibt es denn gar keine Chance auf Besserung?« Der Arzt lächelte fein. »Eine Chance gibt es immer. Aber die Wahrscheinlichkeit ist nicht sehr groß. Er hat sehr schwere Verletzungen erlitten. Er hat so viel Blut verloren, daß sein Körper unter Umständen nicht in der Lage ist, die Funktionen wieder zu übernehmen, die im Augenblick die Geräte für ihn ausführen. Es ist möglich, aber nicht wahrscheinlich. Wir können nur abwarten.« Zehn Minuten später, nachdem sie kurz geduscht hatte, zog sie sich an und sah in den Spiegel. Die Sachen hingen mehr als locker an ihr herab. Sie hatte abgenommen. In den wenigen Tagen seit ihrer Ankunft in der Stadt etliche Pfunde. Sie hatte sich 394
verändert und veränderte sich noch. Auch ihr Gesicht wirkte älter. Sie entdeckte feine Linien, eine Trockenheit der Haut, die ihr noch nie aufgefallen war. Sie kämmte sich die Haare und suchte nach grauen Strähnen. Noch waren keine zu sehen, aber sie würden kommen. Dessen war sie sich sicher. Dann trat sie auf den Flur, fragte nach der Richtung und lief einen neonbeleuchteten Korridor entlang. Dann fuhr sie mit dem Fahrstuhl in das zweite Geschoß, erkundigte sich erneut nach der Richtung und durchquerte eine Falttür mit Sichtfeldern in Augenhöhe. Torrillo lag hinter einer verglasten Wand. Sie erkannte ihn kaum. Schläuche, Infusionsnadeln und Überwachungsinstrumente bedeckten seinen Körper. Sie erinnerte sich an einen Kupferstich in einer frühen Ausgabe von Gullivers Reisen: Der Held lag bewußtlos am Strand und wurde von winzigen Menschen gefesselt, die über seinen gewaltigen Körper wimmelten, Seile spannten, Gerüste errichteten, Taue verknoteten und festzurrten, um den gefangenen Riesen zu bändigen. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung seiner Brust. Nur der Anflug eines Atemzuges. Hinter ihm surrten und piepten elektronische Meßgeräte, lösten grünliche Signale auf kreisförmigen Bildschirmen aus, warfen Ziffern auf LCD-Schalttafeln. Ein Gewirr von Drähten, Kabeln, Verbindungsklammern. Pumpen und Ventilatoren hoben und senkten sich rhythmisch, täuschten organische Reflexe vor. War das alles, was ihn am Leben erhielt? Alles? 395
»Kein Regen«, sagte Maria. Mit den Lippen so dicht an der Scheibe, daß ihr Atem das Glas trübte. »Kein Regen, Bär. Bitte! Kein Regen.«
39 Quemada fuhr sich mit seiner schwieligen Hand über die schwitzende Halbglatze, sah sich um und seufzte. Das Zimmer sah aus wie das Innere einer Mülltonne. Schmutzige und saubere Kleidung lag auf dem Fußboden verstreut. In einer Ecke saß ein halbwüchsiges Mädchen und starrte vor sich hin: olivbraune Haut, dunkle Augen, nicht unhübsche, aber lethargische Züge. Ein kleines Kind, kaum älter als sechs Monate und mit dunklen Locken um ein Gesicht, das aussah, als wäre es seit Tagen nicht mehr gewaschen worden, spielte in dem chaotischen Durcheinander auf dem Boden. Quemada roch volle Windeln und Urin. Dem Mädchen schien es nichts auszumachen. An den Wänden ein Sammelsurium religiöser Symbole: ein paar Kruzifixe, Bilder von Christus und der Jungfrau Maria. Daneben moderne Idole: Popstars. Sie lächelten mit perfekt weißen Zähnen und trugen Kleidung, wie er es bei der Übertragung eines amerikanischen Baseballspiels im Fernsehen gesehen hatte. Quemada warf einen Blick auf das Baby und sagte: »Manchmal sind sie von Geburt an verloren.« 396
Velasco kratzte sich die Nase mit dem Zeigefinger. »Sind Sie die Mutter?« fragte er das Mädchen mit einer Stimme, der jede Wärme fehlte. Sie löste den Blick eine Sekunde lang vom Teppich und nickte. »Ist Ihnen bekannt, daß Sie Unterstützung für die Kinderpflege beantragen können?«, fragte Quemada. »Bei der Sozialfürsorge. Sie helfen Ihnen, geben Ihnen Ratschläge.« Ihr Gesicht verzog sich zu der höhnisch überheblichen Grimasse – einer Mischung aus Unverschämtheit und Dummheit –, die Polizisten überall auf der Welt hassen gelernt hatten. »Die Fürsorge? Die taucht doch ständig hier auf. Wissen Sie, was Maggi zu ihnen sagt? ›Haut ab! Um unsere Dinge kümmern wir uns selbst.‹« »Nun, wenn das stimmt, würden sie wohl kaum wiederkommen, oder? Um sich das Kind anzusehen, meine ich.« »Ihm fehlt nichts«, sagte sie und grinste wieder höhnisch. »Wir waschen ihn, wir füttern ihn. Seine Windeln müssen nur bald mal gewechselt werden, mehr nicht.« Quemada hob schnüffelnd die Nase. »Wäre schon jetzt dringend nötig, dem Geruch nach zu urteilen.« Das Mädchen starrte wieder auf den Teppich. »Sie sind allein?« »Ja«, sagte das Mädchen leise. »Und wer ist diese Maggi? Ihre Schwester?« »Himmel«, murmelte Velasco. »Wenn mich meine Kinder beim Vornamen rufen, bekommen sie eine 397
Schelle. Was ist aus der Welt nur geworden, frage ich dich.« »Ich nenne sie immer Maggi. Das machen alle.« »Wie alt sind Sie?« Die Augen bohrten Löcher in den Teppich. »Sechzehn.« »Ein bißchen früh angefangen, was?« Das Mädchen schwieg. »Wo ist Maggi?« »Sie arbeitet.« »Was tut sie? Beruflich, meine ich.« »Sie arbeitet in einer Bar.« »Auf welcher Seite der Theke?« Das Mädchen funkelte ihn böse an. »Fragen Sie sie selbst. Sie könnte Ihnen das Gesicht zerkratzen.« »Nette Familie«, sagte Quemada. »Wann kommt sie zurück?« »Bald. Eigentlich sollte sie schon zurück sein. Aber manchmal arbeitet sie länger.« »Davon bin ich überzeugt«, meinte Velasco. »Wir werden warten.« Die beiden Polizisten schoben ein paar Sachen von einem Sofa und setzten sich. Das Polster fühlte sich feucht an. »Wäre es möglich, daß Sie uns einen Kaffee machen?« erkundigte sich Quemada. »Verpissen Sie sich«, zischte sie. »Wenn ich es recht verstehe, ist die Antwort nein. Haben Sie jemals von einem Antonio Alvarez gehört?« 398
Sie sahen sie an, aber ihrer Miene war nichts zu entnehmen. Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht ein Freund Ihrer Mutter?« »Maggi hat eine Menge Freunde.« »Das glaube ich gern«, sagte Quemada. »Eine Bar ist ein geselliger Ort. Da macht man leicht Freunde.« Velasco wandte sich ihm zu. »Wir können noch Stunden herumsitzen«, flüsterte er. »Die Göre weiß nichts. Wir warten stundenlang auf die Mutter, und wenn sie dann endlich auftaucht, weiß auch sie nichts.« »Möglich«, meinte Quemada. »Ich mach dir einen Vorschlag. Wir bleiben noch eine halbe Stunde. Wenn sie dann nicht hier ist, ziehen wir ab.« Velasco sah ihn an. »Glaubst du, das lohnt sich?« »Ich halte es immerhin für besser, auf einem Sofa zu sitzen, selbst wenn es stinkt, anstatt mich im Auto zu Tode zu schwitzen. Immer mit der Ruhe Mann, entspann dich.« Aufstöhnend lehnte sich Velasco zurück, griff in die Tasche, zog eine Schachtel Zigaretten heraus und zündete sich eine an. Das Mädchen blickte ihn erwartungsvoll an. »Zu jung«, sagte er. »Zu jung für vieles.« Sie beobachteten, wie der Rauch träge durch die Luft trieb, hörten den Fliegen beim Summen zu. Gerade als Velasco die Kippe im überquellenden Aschenbecher auf dem Boden ausdrückte, hörten sie ein Geräusch an der Wohnungstür. »Sie ist da«, sagte die junge Mutter, und Quemada 399
glaubte, so etwas wie Angst über ihr Gesicht zucken zu sehen. Maggi Bartolomé war eine grobknochige, schlampige Frau Mitte Vierzig. Ihr Gesicht war übermäßig geschminkt, ihr Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengefaßt. Sie trug die übliche ProstituiertenUniform: einen engen roten Satinrock, der knapp oberhalb der Knie endete, eine gelbe Bluse mit tiefem Ausschnitt, der den Blick auf üppige, gebräunte Brüste freigab, und eine goldene Kette um den Hals, der erste Altersspuren zeigte. Sie warf einen Blick auf sie und fluchte. Quemada lächelte. Zwei Jahre zuvor hatte er bei der Sitte gearbeitet und kannte die Truppe. »Maggi«, sagte er. »Ihren richtigen Namen kenne ich nicht.« Sie blinzelte ihn kurzsichtig an, schnitt eine Grimasse, zog eine Schublade auf und setzte sich eine billige Brille aus Schildpattimitat auf. Die Brille veränderte sie völlig. Jetzt war sie eine Schuldirektorin, die sich für eine gewagte Rolle bei der jährlichen Theateraufführung verkleidet hatte. »Kenne ich Sie?« »Vermutlich sollte ich nicht gekränkt sein. In Ihrer Branche treffen Sie auf viele Polizisten.« »Zu viele«, korrigierte sie ihn und musterte ihn erneut. »Aber an Sie erinnere ich mich nicht.« »Vor drei oder vier Jahren haben wir Sie verwarnt. Sie waren vor der Kathedrale auf Freierfang aus. Im Prinzip habe ich nichts dagegen, daß Sie sich Freier angeln, aber Sie sollten sich dabei besser von Gott 400
fernhalten, verstehen Sie? Von Gott und den Touristen, obwohl man, wenn man die Stadtverwaltung so hört, sie für ein und dasselbe halten könnte.« »Sie haben mich verwarnt?« »Ja. Und dann gingen Sie Ihrer Wege.« »Und Sie haben keine Gefälligkeiten verlangt? Sie haben mich verwarnt und dann abziehen lassen?« »Ja.« »Daran müßte ich mich doch erinnern. Üblicherweise endet so was damit, daß ich mich gezwungen sehe, mich ein bißchen eurer Schwänze anzunehmen, bevor ich in Ruhe gelassen werde. Komisch. Wahrscheinlich werde ich alt.« Quemada lächelte, ein Könnte-sein-Lächeln. Er schwieg. »Könnten Sie zur Sache kommen, um dann so schnell wie möglich die Fliege zu machen? Sie haben kein Recht, uns zu schikanieren.« »Wir wollen Sie nicht schikanieren, Maggi. Wirklich nicht. Uns geht es nur um ein paar Informationen über einen Ihrer Kunden. Einen sehr frühen Kunden.« »Aber ich kenne doch nicht einmal ihre Namen. Das wissen Sie. Sie wissen, auf welche Weise ich mir mein Brot verdiene. Ich kenne nicht einmal ihre Namen.« »Diesen kennen Sie«, mischte sich Velasco ein. »Es geht um Antonio Alvarez.« Sie sah sie an, als kämen sie von einem anderen Planeten. Ihre Augen hinter den Brillengläsern wirkten wie große weiße Scheiben. 401
»Scheiße«, sagte sie, ging zu einer Anrichte, schraubte eine Weinbrandflasche auf und goß sich ein großzügiges Glas ein. »Ich hätte nie gedacht, daß ich diesen Namen je wieder hören würde. Wollte ihn nie wieder hören.« »Aber die Angelegenheit ist wichtig«, sagte Quemada. »Sie hat nichts mit Ihnen oder Ihrer jetzigen Tätigkeit zu tun. Wir haben nicht vor, Ihnen irgendwas anzuhängen. Wir möchten nur, daß Sie uns über Alvarez alles erzählen, was Sie wissen. Dann gehen wir sofort wieder.« »Können Sie mir das garantieren?« »Wir sind auf einen größeren Fisch aus als eine kleine Hure, Maggi. Einen sehr viel größeren Fisch.« »Einen toten Fisch. Sie wissen doch, daß er tot ist?« Velasco nickte. »Wir wissen es. Wir sind keine Blödmänner. Dennoch möchten wir Ihnen ein paar Fragen stellen.« Die Frau trank einen großen Schluck Weinbrand und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. Arbeiterangewohnheit, dachte Quemada. Sie sah das Mädchen an. »Nimm das Kind. Geh nach oben. Wechsle seine Windeln. Er stinkt. Wechsle die Windeln so, wie ich es dir gezeigt habe. Inzwischen solltest du es können. Und bleib oben. Komm erst wieder herunter, wenn ich es dir sage. Schalte das Radio ein. So laut, daß ich es hören kann. Ich möchte nicht, daß du lauschst. Verstanden?« Das Mädchen nickte. Es hob das Kind grob vom Boden hoch, ging in die Küche, kam mit einer Dose 402
Bier zurück und verließ das Zimmer Richtung Treppe. Sie hörten sie absichtlich laut die Stufen hinaufpoltern, dann ihre Schritte direkt über ihnen. Dann begann Popmusik aus dem Radio zu dröhnen. »Die dumme Gans dreht es immer auf, wenn ich endlich einmal ein wenig Ruhe haben will. Jetzt kann sie es zur Abwechslung mal hören, wenn ich es möchte.« Quemada sah sich auf dem Fußboden um. Jetzt wußte er, was ihm unbewußt durch den Kopf gegangen war. Es gab kein Spielzeug. Kein Stofftier, keine bunten Holzklötzchen. Nichts. Er sah zu, wie Maggi Bartolomé mit langen künstlichen Fingernägeln eine Zigarette aus einer Schachtel zog, sie ansteckte und mit blutrot geschminkten Lippen an ihr zog. »Manchmal sind sie einfach von Geburt an verloren«, sagte er leise.
40 Maria wußte nicht, wie lange sie Torrillo beobachtet, wie lange sie zugesehen hatte, wie sich sein Brustkorb kaum merklich hob und senkte, die Signale der Geräte flimmerten und flackerten. Hier im Krankenhaus schien die Zeit stillzustehen. Nichts veränderte sich, nichts bewegte sich. Das langsame, unnachgiebige Hinübergleiten aus der Welt ins Nichts war kaum wahrnehmbar, nur ein schwaches, mattes Po403
chen unter einer oberflächlichen, vergänglichen Normalität. Und doch war dieses Pochen da, zeigte mit urtümlicher Grausamkeit die Sekunden an, die Stunde, die Tage – in einem Nebel aus Desinfektionsmitteln, weißen Fliesen und dem rhythmischen Klappern von Absätzen auf blanken Steinfaßböden. Sie stand auf und kämpfte gegen ein leichtes Schwindelgefühl an. Sie war schweißgebadet. Die Kleider klebten unangenehm an ihrer Haut, wie eine schlechtpassende Körperschicht, eine erst halb abgeworfene Puppenhülle. Ver-än-de-run-gen sang eine Stimme irgendwo in ihrem Kopf, und zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage dachte sie an die alte Maria – die junge Maria – von vor fünfzehn Jahren und fragte sich: War ich das? War ich das wirklich? Und wenn: Was ist in der Zwischenzeit mit uns geschehen? Was geschieht zwischen meinem jetzigen Ich und dem, das ich werde? Wie wird mein künftiges Ich aussehen? Was wird mich formen? Was formt mich? Sie wischte sich die Handflächen an der Bluse ab und bemühte sich, tief und langsam zu atmen. Dieses Schwitzen, dieses Schwindelgefühl kam nicht nur von der Hitze, vom Aufenthalt im Krankenhaus. Die Verletzung war fast vergessen. Belästigte sie kaum mehr als ein Mückenstich. Sie fürchtete sich. Fürchtete sich, Caterina Lucena gegenüberzutreten. Fürchtete sich, dem gegenüberzutreten, was sich hinter ihrem alten, grauen Gesicht verbarg. Wieder wischte sich Maria die Hände ab, schloß die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Ro404
te, schwarze und violette Formen verschwammen vor ihren geschlos senen Lidern. Dann warf sie einen letzten Blick auf Torrillo und lief den Korridor entlang. Die Uhr zeigte drei. Bald würde sie das Krankenhaus verlassen. Bald würde der Polizeischutz kommen und sie nach Hause fahren. Aber zuvor mußte sie mit der alten Frau sprechen. Sie tastete in ihrer Hosentasche nach dem Stück Papier, spürte es zwischen den Fingern, orientierte sich an den Hinweisschildern über den Weg in die geriatrische Abteilung und lief mit zügigen Schritten die langen, hallenden Flure entlang. Es hing in der Luft wie die drückende Schwüle vor einem Gewitter, eine tiefe, unumstößliche Gewißheit: Lebend würde sie Bär nicht wiedersehen.
41 Maggi Bartolomé zog an der Zigarette, bis das Ende feurig rot aufglomm. Dann goß sie sich noch einen Weinbrand ein. »Etwas dagegen, wenn ich mir diesen Mist ausziehe?« Quemada hob eine Braue. »Sie sind doch nicht etwa so dumm, uns davonlaufen zu wollen? Es ist da draußen ziemlich heiß, und wir sollten uns den Streß eines Dauerlaufs wirklich schenken.« 405
»Ich habe nicht vor abzuhauen«, sagte sie. »Diesen Aufzug brauche ich, um mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen. Aber das heißt nicht, daß ich auch zu Hause so herumlaufen muß.« »In Ordnung«, sagte Quemada. »Aber beeilen Sie sich. Der Capitán unterschreibt nicht gern Anträge auf Bezahlung von Überstunden.« »Ihr Bullen zahlt für nichts gern«, sagte sie und lief die Treppe hinauf. Sie hörten, wie das Radio kurz leiser gedreht wurde, Stimmen, Bewegung. Irgendwo wurde eine Dusche aufgedreht. Sie warteten. Dann kam sie wieder herunter. In Jeans, einem Nylonoberteil, ohne Make-up. Sie wirkte wie ein total anderer Mensch. Älter, dachte Quemada, sicher, aber nicht schlechter. In einem anderen Leben … Was? Dann rief er sich innerlich zur Ordnung: Man hatte nur ein Leben. Sie griff zum Glas, drückte die Zigarette aus und steckte sich sofort eine neue an. »Warum?« fragte sie. »Warum kamen Sie ausgerechnet auf mich?« »Sie haben ihn angezeigt. Neunzehnhundertsechzig. Sie gaben an, er hätte Sie vergewaltigt. Darüber würden wir gern mehr erfahren.« »Das war vor mehr als dreißig Jahren. Der Mistkerl ist tot. Und Sie wollen mehr erfahren?« »Ich glaube, das habe ich gerade gesagt.« »Macht es Ihnen was aus, mir zu sagen, warum?« »Durchaus nicht, Maggi«, womit Quemada sich an die Methode hielt: Eine Hand wäscht die andere. »Haben Sie von den Mordfällen in der Stadt gehört?« 406
»Denen unter anderen diese Kunst-Knaben zum Opfer gefallen sind? Und fast auch einer Ihrer Kollegen?« »Genau die.« »Und was hat Antonio damit zu tun?« »Das wissen wir nicht. Vielleicht nichts, vielleicht doch etwas. Irgendwie gibt es da gewisse Verbindungen zwischen ihm und einigen der Opfer. Haben Sie je von La Soledad gehört?« »Nur Erzählungen. Jeder hat die Gerüchte gehört.« »Er hat nie davon gesprochen?« »Niemals. Glauben Sie etwa, wir hätten miteinander gesprochen?« »Was haben Sie dann getan, Maggie?« fragte Quemada. »Sie wollen die Details hören? Ihr braucht eine komische Einlage für die nächste Betriebsfeier, stimmt’s?« »Nein, es ist ernst. Sehr ernst. Der Wortlaut Ihrer Anzeige von damals ist uns bekannt. Aber wir müssen wissen, was wirklich geschehen ist. An wen er sich sonst noch herangemacht hat. Diese Dinge.« Sie drückte die Zigarette aus, ging zum Fuß der Treppe und schrie dem Mädchen oben zu, das Radio lauter zu stellen. Ein Popsänger begann zu grölen. »Wir geben es einfach weiter, wissen Sie? Die Mutter an die Tochter. Ich an sie. Jemand hängt einem ein Kind an, und das Leben ist im Eimer. Ganz automatisch.« Sie starrte ins Nichts. »Ohne Antonio hätte ich diesen ›Beruf‹ nicht er407
griffen. Ehrlich. Das ist die Wahrheit. Das hat mit mir angefangen. Meine Mutter arbeitete als Putzfrau in Hotels, in Privathäusern. Meinen Vater gab es nicht mehr. Vielleicht war er tot, vielleicht nicht. Genaueres hat sie mir nie gesagt.« »Ihre Mutter lebt nicht mehr?« Sie nickte. »Sie ist vor zehn oder fünfzehn Jahren gestorben. Fragen Sie mich nicht nach dem exakten Datum. Ich habe nicht viel mit ihr gesprochen, nachdem ich es durchschaut hatte.« »Nachdem Sie was durchschaut hatten?« Maggi Bartolomé füllte ihr Glas auf. »Daß sie mich mit Antonio verkuppelt hatte.« Quemada ließ den Stift sinken und sah sie an. Sie lehnte sich in dem schäbigen Sessel zurück, ihre Augen schimmerten verdächtig feucht. Er schüttelte den Kopf. »Ihre Mutter war eine Putzfrau, eine anständige Frau, aber dann fing sie an, Sie zu verkuppeln?« »Genau.« »Aber warum?« Sie lachte. Ein sympathisches Lachen, dachte Quemada und verdrängte den Gedanken schnell wieder. »Oh, mit so etwas kannte er sich aus. Er konnte alles und jeden um den kleinen Finger wickeln, wenn er etwas wollte. Er spielte die Musik, und die Welt tanzte. Und er besaß etwas, was niemand sonst hatte.« »Lassen Sie mich raten«, mischte sich Velasco ein. »Geld.« Sie nickte. »Geld. Viel Geld, Unmengen von Geld. Der Himmel mag wissen, woher er es hatte. Man 408
sagt, er hätte es bei einer Wohltätigkeitsorganisation veruntreut, bei der er tätig war, aber soviel Geld kann niemand veruntreuen. Er muß es jahrelang gescheffelt haben. Ich glaube, daß er ein Verbrecher war. Er hatte die Menschen im Griff. Jeden. Überall. Er konnte für alles bezahlen, was er sich wünschte, und das tat er auf eine sehr gerissene Art. So daß man gar nicht merkte, daß man gekauft wurde. Das war das Schlaue daran. Man merkte es erst, wenn es zu spät war.« »Wollen Sie damit sagen, daß Ihre Mutter gar nichts wußte?« Sie schob ihr Glas zur Seite und starrte sie an. »Sorgen Sie dafür, daß ich nichts mehr von diesem Mistzeug trinke. Wenn ich so weitermache, kann ich mich gegen acht nicht mehr rühren, und ich muß am Abend noch arbeiten. Für eine betrunkene Nutte zahlt niemand auch nur eine Peseta.« Quemada stand auf und goß den Inhalt des Glases in die Flasche zurück. »Wie liebenswürdig von Ihnen«, sagte sie. »Jeder selbstgerechte Scheißer hätte das Zeug weggekippt. Aber Sie denken ökonomisch. Ein angenehmer Zug.« »Ich will nur nicht, daß Sie noch härter arbeiten müssen, um sich neuen Stoff zu kaufen«, entgegnete Quemada. »Sieht ganz so aus, als würden Sie jetzt schon hart genug schuften.« »Ja«, sagte sie. »Aber ich putze nicht wie meine Mutter. Sie rutschte auf Händen und Knien herum, putzte und polierte und tat alles, was man ihr sagte. 409
Dann brachte sie gerade genug Geld nach Hause, damit wir uns ein Brot und ein wenig Gemüse kaufen konnten. Wenn wir Glück hatten. Ich bekomme ein bißchen mehr. Nicht viel. Aber es reicht. Und wenn ich auf Händen und Knien herumrutsche, dann nicht für lange.« »Sie hat also für ihn geputzt. So fing es an«, mutmaßte Quemada. »Ja. Sie hat ihm zwei- oder dreimal in der Woche das Haus saubergemacht. Etwa ein Jahr lang. Dann nahm sie mich eines Tages mit, damit ich ihr ein bißchen helfe. Ich muß damals elf oder zwölf Jahre alt gewesen sein.« »Und da haben Sie ihn gesehen?« »Nein. Er sah mich. Ein kleines Mädchen in einer Schuluniform, die mir meine Mutter genäht hatte. Damals war ich recht hübsch. Vielleicht ist das heute schwer zu glauben, aber so war es.« »Ich finde das nicht schwer zu glauben, Maggi«, sagte Quemada. »Wirklich nicht.« »Donnerwetter. Ein galanter Bulle. Ist das Kompliment ernst gemeint?« »Völlig ernst gemeint. Und wie fing es dann an?« »Nach zwei, drei Wochen. Langsam zunächst, auf seine sanfte Tour. ›Du kommst mit zu Señor Alvarez‹, sagte meine Mutter. ›Er hat dich gern um sich.‹ Also ging ich mit, und während meine Mutter putzte, beschäftigte er sich mit mir. Zeigte mir einen Plattenspieler, ein paar Bilder, seine Zimmer mit den eleganten Möbeln. Alles Dinge, die ich nie zuvor gesehen hatte. Ich kam mir vor wie in einer Traum410
welt. Ich war ein Kind. Ich war wie verzaubert. Wer wäre das nicht gewesen?« »Und zunächst ist nichts passiert?« »Nichts. Absolut nichts. Er benahm sich wie ein guter alter Onkel. Manchmal sah er irgendwie krank aus. Und er hatte einen Geruch an sich, wie Mundgeruch, aber schlimmer. Der gefiel mir nicht, und manchmal kam er mir so nahe, daß mir fast schlecht wurde. Aber meine Mutter sagte: ›Er ist ein guter Mann. Du solltest tun, was er sagt.‹ Und ich war nur ein kleines Mädchen. Ich gehorchte ihr, selbst wenn es mir falsch vorkam und es weh tat.« »Wußten Sie, daß er Ihrer Mutter Geld gab?« »Ich wußte, daß wir mehr Geld hatten. Mehr Lebensmittel, bessere Kleidung. Das wußte ich und auch, daß das auf irgendeine Weise mit mir zu tun hatte. Daß meine Gefügigkeit, mein Gehorsam eine Garantie dafür war, daß wir auch weiterhin Geld bekamen. Aber wirklich durchschaut habe ich alles sehr viel später. Eines Tages spielte er mir auf dem Plattenspieler Lieder aus Disney-Filmen vor, von denen ich bis dahin nur gehört hatte, und ich lauschte ihnen mit offenem Mund. Dann sagte er: ›Komm, hör dir noch ein paar mehr an. Setz dich auf meinen Schoß, dann ist es gemütlicher.‹ Ich setzte mich auf seinen Schoß, und er sagt: ›Faß das an, es wird angenehm sein. Faß es an, dann werden wir alle glücklich – du, deine Mama und ich.‹ Also fasse ich es an, dieses Ding, von dem ich gar nicht wußte, daß es so etwas gibt. Eins führte zum anderen. Danach kam er auch hier in dieses Haus, und ich be411
suchte ihn, wenn es ihm gefiel, und tat Dinge, die ihm gefielen. Dinge, die ich nicht verstand. Dinge, die mir weh taten. Aber als ich meiner Mutter sagte, daß es mir nicht gefiel, daß er mir Schmerzen zufügte, antwortete sie nur: ›Denk an das Essen, denk an die Kleidung, denk an unsere Ferien in El Puerto, unsere ersten Ferien überhaupt.‹ Soll ich Ihnen was sagen? Mit dreizehn kannte ich Dinge, die die meisten Ehefrauen heute noch nicht wissen, nie wissen werden. Und das habe ich ihm zu verdanken. Nur ihm. Ich habe es verabscheut. Verabscheue es noch immer. Sex ist für mich etwas rein Körperliches, etwas, womit ich Geld verdiene. Wie ein Metzger, der pfundweise Fleisch verkauft. Schon die Vorstellung, daß jemand Lust dabei empfinden könnte, bringt mich um. Und ich werde Ihnen noch etwas sagen. Wenn ich nachts unterwegs bin, kann ich die Männer, die mit mir vögeln wollen, schlicht und direkt vögeln wollen, an einer Hand abzählen. Was sie von mir wollen, überlasse ich Ihrer Phantasie. Aber es gibt nichts, absolut nichts, was Antonio nicht längst getan hätte. Für ihn waren wir etwas Unverdorbenes, etwas, was er ruinieren, kaputtmachen konnte. Daraus bezog er seine Befriedigung. Er ging nicht zu Huren. Er machte sich seine eigenen. Und dann, nach gewisser Zeit, wenn er der Meinung war, sie genug verdorben zu haben, ließ er sie fallen. Man wurde mit einer kleinen Geldsumme abgespeist, damit man den Mund hielt.« Velasco klopfte mit dem Stift auf seinen Notizblock. »Und warum haben Sie den Mund nicht gehalten?« 412
»Ich hätte es getan. Ich wußte doch nicht, was da vor sich ging. Ich wußte es nicht. Sie war es. Sie bekam das Geld. Sie wollte, daß es weiterhin floß. Für immer. Und so brachte sie mich dazu, Lügen zu erzählen. Über meine Perioden. Und dann waren es plötzlich keine Lügen mehr. Antonio versuchte, immer vorsichtig zu sein. Er benutzte Kondome, wenn er daran dachte. Es lag ihm nichts daran, daß die Mädchen schwanger wurden. Aber er wurde älter, er wurde vergeßlich. Ich glaube auch, daß er sich nicht immer erinnern wollte. Er tat nur das, was er wollte. Wenn ich zu ihm ging, wußte ich nie, was er wirklich wollte. Manchmal etwas, wovon man schwanger werden konnte, manchmal nicht. Und so brachte sie mich dazu, ihm Lügen über meine Periode aufzutischen – um die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft zu erhöhen. Und ich wurde schwanger. Mit dreizehn Jahren hatte ich einen von Antonios kleinen Bastarden im Bauch. Ich war nicht die erste. Aber das wissen Sie vermutlich.« »Wir haben uns die Polizeiberichte angesehen«, sagte Quemada. »Keiner der Fälle kam vor Gericht. Warum nicht?« »Jemand griff ein. Zahlte. Auch an meine Mutter. Mir kam nichts davon zugute. Mit einer Ausnahme.« »Welcher?« fragte Velasco. »Sie steckten mich in einen Bus nach Cádiz und erklärten, es ginge in die Ferien. Als ich dort ankam, gab mir jemand etwas zu trinken. Ich wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, blutete ich. Un413
ten. Sie hatten das Kind abgetrieben. Hatten mir vorher kein Wort davon gesagt. Aber ich hätte es ohnehin nicht verstanden. Offen gesagt wußte ich nicht einmal, daß in mir ein Kind heranwuchs. Ich war so jung. So jung.« »Haben Sie ihn danach wiedergetroffen?« »Nein. Ein- oder zweimal habe ich ihn auf der Straße gesehen, aber natürlich nie angesprochen. Vermutlich hätte er mich auch gar nicht wiedererkannt. Die Art und Weise, wie er uns behandelte … Ich weiß nicht, wie ich das am besten ausdrücken soll. Wenn wir bei ihm waren, tat er mit uns, was er wollte, als gäbe es sonst nichts anderes in seinem Leben. Manchmal denke ich, daß er uns echt geliebt hat. Er bemühte sich, einen nicht zu verletzen, bemühte sich, liebevoll zu sein. Aber sobald er mit uns fertig war, als er uns genügend verdorben hatte, existierten wir nicht mehr für ihn.« »Hat er noch irgendwelche Verwandte in der Stadt?« »Legale Verwandte meinen Sie? Nicht daß ich wüßte. Er hatte eine Frau. Manchmal hat er von ihr gesprochen. So als wäre sie eine alte, tote Person, als gehöre sie nicht zu seinem Leben. Aber soweit ich weiß, hatte er weder Brüder noch Schwestern. Jedenfalls hat er nie so etwas erwähnt. Er sagte häufig, ich sei seine Familie. Wahrscheinlich erzählte er das jeder. Er hatte einen ganzen Harem, aber das ist Ihnen sicher bekannt.« Quemada nickte. »Eine ganze Reihe davon haben Anzeigen erstattet. Wie gesagt, wir begreifen nicht, 414
warum er nicht vor Gericht gestellt wurde. Kennen Sie eins der anderen Mädchen?« Sie zündete sich eine neue Zigarette an. »Großer Gott, das ist so lange her. Ich kann mich nicht erinnern. Ich meine, wir sind nicht herumgezogen und haben Erfahrungen ausgetauscht. Über so etwas sprach man nicht gern.« »Hat er eine Beziehung beendet, bevor er eine neue begann?« »›Beziehung‹. Eine nette Bezeichnung. Nein. Ich glaube, er hielt sich mehrere Mädchen gleichzeitig. Er hatte sogar unsere Fotos in seinem Haus. In seinem Arbeitszimmer. Eine ganze Galerie von Mädchenporträts. Manchmal hing ein Foto eine Woche lang da und war in der nächsten verschwunden. Vermutlich ist das auch mit meinem Bild geschehen. Es hat mir sehr gefallen. Es war die beste Aufnahme, die je von mir gemacht wurde. Er hätte sie mir schenken können, darüber hätte ich mich gefreut.« »Kennen Sie Jaime Mateo? Den Stierkämpfer?« »Aber sicher. Er ist Antonios Sohn. Das sagt jeder im barrio. Jeder. Aber fragen Sie mich nicht nach der Mutter. Derlei Dinge verfolgen wir nicht. Wir fragen nicht gern. Warum auch? Es ist so lange her.« Quemada kratze sich mit dem Stift am Kinn. Er wirkte ratlos. »Mag sein. Aber irgend jemanden läßt es bis heute nicht los.« »Kann mir nicht vorstellen, wer das sein sollte. Haben Sie noch weitere Fragen, oder kann ich mich ein wenig aufs Ohr legen, bevor ich zum ›Dienst‹ 415
muß? Sie kennen doch den alten Witz: Ich war den ganzen Tag auf dem Rücken.« Quemada klappte seinen Block zu und steckte ihn ein. »Warum tun Sie das, Maggi? Sie sind intelligent. Sie könnten jederzeit eine andere Arbeit bekommen.« »Was für eine denn? Als Putzfrau? Sie begreifen es nicht, was? Bullen begreifen es nie. Es ist mein Job. Etwas, was ich freiwillig tue.« »Ein Scheißjob«, sagte Quemada. »Wie kann man den freiwillig tun?« »Ist Ihrer denn so viel besser? Prostituierte schikanieren? Betrunkene abschleppen? Ist das tatsächlich ein guter Dienst an der Öffentlichkeit? Ich schicke sie wenigstens zufrieden nach Hause, meistens zumindest.« Sie griff wieder nach einer Zigarette, und Quemada sah, wie sie wieder ihre Maske aufsetzte: hart, gewöhnlich und undurchdringlich. »Und Sie, Maggi? Gehen Sie auch zufrieden nach Hause?« »Das Verlangen danach habe ich vor langer Zeit aufgegeben. Wenn einem ein alter Kerl je nach Lust und Laune sein Ding in Öffnungen schiebt, die man anderen Körperfunktionen zuordnet, und das zu einer Zeit, in der man zur Schule gehen sollte, um Lesen und Schreiben zu lernen, gibt man das schnell auf.« »Ja«, sagte Quemada. »Das kann ich mir gut vorstellen.« »Können Sie das wirklich?« fragte sie, und Quemada brachte es nicht über sich, ihr in die Augen zu sehen. 416
»Nein«, erwiderte er ausdruckslos. »Ich kann es nicht. Aber es ist eine Schande, daß er Ihr Leben so gründlich ruiniert hat. Und vielleicht nicht nur Ihres. Was ist mit …« Er zeigte mit dem Daumen nach oben. »Schafft sie auch an?« Sie lachte. »Meine Tochter arbeitet in einem Supermarkt, Herr Kommissar. Oder hat gearbeitet, besser gesagt. Sie wurde vor einiger Zeit von einem Jungen angebumst, der die Regale auffüllte. Jetzt bläst sie zu Hause Trübsal und wartet darauf, daß ich zum Geldausgeben nach Hause komme. Es wird Ihnen vielleicht nicht gefallen, aber ich bin tatsächlich die Solide in der Familie.« Quemada lachte auf und war über sich selbst überrascht. »Laß uns gehen«, sagte Velasco unbehaglich. »Auf unserer Liste stehen noch eine Menge Namen.« »Kann ich die mal sehen?« »Selbstverständlich.« Velasco reichte sie ihr, und sie las die Namen hintereinander, ohne bei einem hängenzubleiben. »Kennen Sie jemanden?« fragte Velasco. »Einige der Namen kommen mir bekannt vor. Familien aus dem barrio. Wir kamen alle aus BarrioFamilien. Wir alle …« Sie verstummte. Die Polizisten ließen ihr Zeit. »Sie denken über irgend etwas nach, Maggi«, sagte Quemada, als sie sich noch immer nicht rührte. »Passiert hin und wieder. Bei Vollmond, in Schaltjahren. Manchmal denke ich sogar beim Gehen.« 417
»War es eine private Überlegung, oder dürfen wir an ihr teilhaben?« Sie sah sie an und ließ für einen Moment die Maske wieder fallen. »Ich habe Ihnen gerade etwas Falsches erzählt. Wir waren nicht alle aus dem barrio. Da gab es noch ein anderes Mädchen. Ein Foto. Das Mädchen war älter, ein wenig älter als wir anderen. Ich habe sie nie kennengelernt, nur ihr Bild gesehen. Manchmal sprach er von ihr, und das auf eine seltsame Weise. Er hat sie mit Sicherheit gebumst, weshalb hätte er ihr Foto sonst zu seinen anderen Trophäen gehängt? Dennoch hatte ich den Eindruck, daß sie etwas Besonderes war. Und sie kam nicht aus dem barrio. Ich erinnere mich, daß er so etwas erwähnt hat. Vielleicht lebte sie eine Zeitlang nicht einmal in der Stadt. Sondern in El Puerto oder Cádiz, irgendwo an der Küste. Verdammt, ich kann mich nicht erinnern. Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es mal war.« »Ihr Name steht nicht auf der Liste?« fragte Velasco. »Nein. Eindeutig nein. Das Mädchen kam woanders her.« Quemada holte eine Karte aus der Tasche und gab sie ihr. »Rufen Sie mich an, wenn Ihnen der Name wieder einfällt. Es könnte wichtig sein. Dieser Typ ist gefährlich. Er hat gemordet, aber wir kennen seine Motive nicht, vermuten aber, daß sie irgendwie mit Alvarez zu tun haben könnten. Alles, was Sie uns sagen können, könnte uns weiterhelfen.« 418
Sie blickte auf die Karte. »Quemada. Wofür steht das C?« »Carlos. Aber die meisten nennen mich einfach Quemada.« »Sie sehen nicht aus wie ein Carlos. Vielleicht deshalb.« »Verzeihen Sie, aber ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß Sie nicht unbedingt wie eine Magdalena aussehen.« »Sie lesen nicht oft in der Bibel, Carlos, was? Ich folge nur dem Beispiel meiner Namenspatronin.« »Hm«, grunzte er verlegen. »Nun, Sie haben ja meine. Nummer. Rufen Sie an, wenn Ihnen etwas einfällt. Wir werden jetzt gehen.« Velasco verließ bereits das Zimmer. »Hören Sie«, sagte Quemada, »dürfte ich Ihnen vielleicht einen kleinen Rat geben?« Sie zog ihre Augenbrauen hoch. »Kommt ganz darauf an.« »Nein, das nicht. Sie sollten ein bißchen sparsamer mit Ihrem Make-up umgehen. Eine Frau braucht das Zeug nicht, eine hübsche Frau. Es läßt sie hart und alt aussehen. Das habe ich meiner Exfrau immer wieder gesagt, aber sie läuft noch immer herum wie ein Tuschkasten. Männer wollen in ein Gesicht blicken, nicht in etwas, was aussieht wie ein neuer Anstrich im Badezimmer.« »Danke für den Tip«, sagte sie. »Wenn ich Männer kennenlerne, die mir ins Gesicht sehen wollen, werde ich darüber nachdenken. Im Moment …« Sie blickte nachdrücklich Richtung Tür. 419
Quemada murmelte ein Abschiedswort und trat in den grellen Sonnenschein hinaus. Es war noch genauso heiß wie vor ihrem Besuch bei Maggi Bartolomé. Schwüle lag in der Luft, und in der Ferne ballten sich Gewitterwolken zusammen. »Es hat dir Spaß gemacht, was?« fragte Velasco, als sie zum Auto zurückliefen. »Du unterhältst dich tatsächlich gern mit diesen Frauen, diesen Nutten, oder?« »Schien mir doch eine ganz nette Frau zu sein.« »Klar. Die pro Nacht mindestens zehn Kerle bedient. Wirklich nett.« Quemada blieb stehen. Velasco drehte sich zu ihm um. »Kannst du mir vielleicht eine Frage beantworten?« fragte Quemada. »Üblicherweise würde ich so was nicht wissen wollen, aber wir sind schließlich in keiner üblichen Situation, oder?« »Leg dir keinen Zwang an.« »Du warst doch auch bei der Sitte. Wenn du die Mädels angesprochen, wenn du sie verwarnt hast, hast du da jemals etwas angenommen? Du weißt schon. Eine kleine propina?« Velasco lief knallrot an und sah aus, als würde er jede Sekunde explodieren. »Willst du … willst du mir allen Ernstes unterstellen …« »Moment«, unterbrach Quemada. »Ich unterstelle gar nichts. Ich habe etwas gefragt. Mehr nicht.« »Was soll diese dämliche Frage? Was …?« Quemada setzte sich wieder in Bewegung, lief an ihm vorbei, steckte den Schlüssel ins Türschloß und 420
stieg ein. Als Velasco angeschnallt auf dem Beifahrersitz neben ihm saß, drehte er sich ihm zu und sagte: »Nun ja, weißt du, mir hat es auch nicht besonders gefallen.« Dann drehte er den Schlüssel im Zündschloß und fuhr los. Brave dreißig Kilometer die Stunde.
42 Sie sah älter aus. Im gefleckten Licht, das durch die Äste eines Eukalyptusbaums vor dem Fenster in das Privatzimmer fiel, wirkte sie sehr viel älter. Mit geschlossenen Augen lag Caterina Lucena in den Kissen. Die Falten um den Mund zuckten. Die vom Schlaf entspannte Haut ließ die Form des Schädels sichtbar werden. Leise trat Maria ein und setzte sich auf einen einfachen grünen Metallstuhl neben dem Bett und dachte: Sie stirbt. Langsam und direkt vor meinen Augen stirbt sie. Und dann fragte sie sich: Waren ihre Schilderungen, die Geschichte von La Soledad ein Bestandteil, eine Stufe ihrer Erlösung gewesen? Aus einem dieser unbegreiflichen Gründe, die zur Bürokratie des Krankenhausalltags zu gehören schienen, hatte man sie in ein anderes Zimmer verlegt. Aber der Raum, in dem sie erstmals über den Krieg und La Soledad gesprochen hatte, war in Marias Ge421
dächtnis eingebrannt. Sie erinnerte sich an seine Einrichtung, seinen Geruch, die schwere, schwüle Luft und die Art, wie das Licht durchs Fenster einfiel. Es war ein Augenblick in ihrem Leben gewesen, den sie nicht vergessen würde, der eine besondere, unerwünschte Bedeutung hatte. Sie blickte auf den hinfälligen Körper im Bett und fragte sich, ob die Zeit für Enthüllungen vorüber war. Ob Caterina Lucena eine Geschichte zu erzählen gehabt hatte. Und nun, da sie erzählt war, glaubte, nicht mehr leben zu müssen. Maria lehnte den Kopf an und schloß die Augen. Von draußen kamen der Gesang der Vögel und das ferne unablässige Rauschen des Verkehrs. Irgendwo im Krankenhaus wurden Betten mit quietschenden Rädern über Flure geschoben, wisperten Ärzte und Schwestern verschwörerisch miteinander, klapperten Gefäße und klirrten Instrumente. Sie dachte an das Hospiz, das Gemälde von Valdés Leal, den Frieden, den offensichtlichen Frieden, den sie dort verspürt hatte. Zwei Künstler auf künstlerische Weise getötet. Eine unerklärliche Attacke auf einen Amerikaner. Der Mord am Sekretär einer der Bruderschaften, einer besonders unheilvollen Bruderschaft. Ihre eigene Begegnung mit dem Tod. Die Stadt überfiel sie mit Geschehnissen, Begriffen und Theorien wie eine vielköpfige Hydra, alle ungeordnet, ohne Priorität, ohne Logik, aber alle kämpften um einen Platz in ihrem verwirrten, beunruhigten Verstand. Und nirgendwo ein geeignetes Werkzeug, um diesen gordischen Knoten mit einem Hieb zu durchtrennen und zum Wesentlichen vorzudringen. 422
Zum Wesentlichen vordringen, dachte Maria und erinnerte sich an das Vergnügen und die Befriedigung längst vergangener Debatten in philosophischen Lehrgängen, als die Welt vor allem ein Thema für gelehrte Diskussionen war. Flüchtig tauchte ein Bild vor ihr auf, das Bild einer scharfen, silbernen Klinge, die durch das Dunkel schnitt, Täuschung von Wahrheit trennte, das Wesentliche vom Belanglosen. Wie ein metallisches Leuchtfeuer blitzte sie auf, erhellte die Dunkelheit und war wieder verschwunden. Maria hielt die Augen fest geschlossen und hoffte auf ihre Wiederkehr, aber vergebens. Sie spürte den kühlen, distanzierten Blick von Caterina Lucena auf sich und öffnete die Augen. Reglos lag die alte Frau auf dem Bett. Sie schien selbst für Bewegungen zu schwach zu sein. Sie wirkte leblos, bis auf die Augen. Und die beobachteten Maria, grau und kalt, aber auch mit etwas wie Erheiterung in ihnen. Die Lippen verzogen sich zu einem winzigen, undeutbaren Lächeln, das schnell wieder verschwand. »Haben Sie ihn gefunden?« fragte sie, und ihre Stimme klang, als würde man mit den Füßen durch Herbstlaub rascheln. »Wen?« fragte Maria zurück und konnte nicht verhindern, daß sie abweisend klang. »Meinen Jungen. Meinen Sohn.« »Nein. Noch nicht.« Caterina Lucena hüstelte. Vielleicht versucht sie zu lachen, dachte Maria. »Noch nicht … Eine sehr fähige Polizei.« 423
Maria griff in ihre Tasche und zog die Phantomzeichnung heraus. Sie hatte den Schnurrbart hinzugefügt, so gut, wie er ihr aus den Schilderungen der alten Frau in Erinnerung war, und ein paar zusätzliche Striche und Linien. Jetzt sah das Gesicht irgendwie menschlicher aus, hatte die oberflächliche Attraktivität eines Filmschauspielers. Man konnte sich vorstellen, wie anziehend der Mann auf ein junges, unerfahrenes Mädchen gewirkt haben mußte. Sie streckte Caterina Lucena das Bild entgegen. »Kennen Sie diesen Mann?« Die alte Frau kniff die Augen zusammen und betrachtete den Computerausdruck. Schweigend preßte sie die Lippen aufeinander. Die Runzeln um ihren Mund zuckten. »Sie kennen ihn«, stellte Maria fest. Caterina Lucena atmete tief durch die Nase ein und starrte zur Decke. »Sie erlauben sich Scherze mit mir. Macht Ihnen das Spaß? Macht es Ihnen Spaß, eine alte Frau zu verhöhnen?« »Das ist kein Scherz, Doña Caterina. Dieser Mann hat mehrere Menschen umgebracht. Gestern abend hat dieser Mann versucht, auch mich zu töten. Einen Polizisten hat er so schwer verletzt, daß man nicht weiß, ob er überlebt. Und er wird wieder töten.« »Dieser, dieser …« Die alte Frau rang keuchend nach Atem. Maria beobachtete, wie sie sich quälte, und ihre eigene Grausamkeit überraschte sie. Stirb nicht, bevor ich es weiß, dachte sie. Stirb nicht zu früh … 424
»Dieser Mann«, sagte Caterina Lucena. »Dieser Mann wird niemanden töten. Dieser Mann ist Antonio Alvarez. Er ist seit langem tot.« Maria lächelte. »Ich weiß«, sagte sie. »Ich habe mir einen Scherz erlaubt.« Sie holte einen Radiergummi aus der Tasche und entfernte den Schnurrbart, die zusätzlichen Linien. »Das ist er. Das ist der Mann, der die Verbrechen begangen hat. Wer ist das? Sie wissen es. Sie können uns helfen, diese grauenhafte Mordserie zu beenden. Wer ist das?« Irgend etwas verblüffte sie an ihrer Stimme. Sie war zu laut, zu schrill. Etwas hatte sie dazu bewogen, zu weit zu gehen, und Caterina hatte sich wieder in sich selbst zurückgezogen, in ihr persönliches Fegefeuer. Hinter Maria raschelten Kleider. Sie hatte das Öffnen der Tür nicht gehört. Es roch nach Seife und Aseptika. Das Gesicht einer Schwester tauchte vor ihr auf. »Sie müssen jetzt gehen«, sagte eine energische Stimme. »Ich muß Sie bitten zu gehen. Doña Caterina ist eine alte Frau. Sie darf keinen derartigen Aufregungen ausgesetzt werden.« Maria spürte, wie Verärgerung in ihr hochkam. »Aufregungen? Diese Frau ist aus Eis. Nichts regt sie auf. Absolut nichts.« Sie entzog sich dem Griff der Ordensschwester und beugte sich über die alte Frau, die stumm und reglos auf dem Bett lag. Ihr Gesicht wirkte wie eine Totenmaske. »Es sterben Menschen, Doña Caterina. Sie sterben. 425
Wegen der Dinge, die damals in La Soledad geschehen sind. Aber Sie sind nicht bereit, uns zu helfen.« Die Schwester packte erneut ihren Arm, drehte ihn nach hinten, drückte damit schmerzhaft auf die Wunde. Sie wirkte, als würde sie jeden Moment um Hilfe rufen. Maria atmete tief durch, richtete sich auf. »Schon gut. Ich gehe.« Maria war fast an der Tür, als die alte Frau zu sprechen begann. Es waren die letzten Worte, die Maria von ihr hören würde. »Er hat mich geliebt«, sagte sie mit trockener, brüchiger Stimme. »Deshalb ist er so gestorben. An Krebs. Unter Schmerzen. Es war eine Verurteilung. Für ihn. Für mich.« Maria drehte sich um und lief über den Korridor, die Treppen hinunter und durch die Türen hinaus in den strahlenden Sonnenschein.
43 »Nichts«, sagte Rodríguez. »Nichts davon paßt zusammen. Es ergibt einfach keinen Sinn.« Menéndez sah den Capitán an und fragte sich, wie lange er seine Position noch halten konnte. Falten der Erschöpfung lagen auf seinem Gesicht. Die Müdigkeit zeigte sich an seiner Ungeduld, seiner Unfähigkeit zuzuhören. Er war ausgelaugt, und das begann man langsam zu merken. 426
»Nichts. Kein Bezug zur Alvarez-Geschichte. Auf keinen der Studenten an der Universität trifft die Beschreibung auch nur annähernd zu. Wir haben nur Nebensächlichkeiten: Er kannte Mateo, er scheint Kontakt zu dieser Agentur gehabt zu haben …« Auf Rodríguez’ Schreibtisch lagen die Morgenzeitungen. Sie hatten die Geschichte groß aufgemacht, denn sie schien von Stunde zu Stunde größere Ausmaße anzunehmen. »Wo sind Velasco und Quemada?« fragte Rodríguez. »Ich glaube, dieses Bohren in der Vergangenheit ist eine Sackgasse. Hier handelt es sich schlichtweg um einen Verrückten. Um irgendeinen Psychopathen. Wir sollten damit aufhören, unsere Kräfte an historische Nachforschungen zu verschwenden, und uns auf diesen Personenkreis konzentrieren.« »Vielleicht«, wandte Menéndez ein, »sollten wir das eine tun, ohne das andere zu vernachlässigen. Wir haben schon einiges Interessante in Erfahrung gebracht. Es könnte in einer Sackgasse enden, aber vielleicht auch nicht. Dennoch stimme ich Ihnen zu. Wir können unsere Augen nicht vor der Möglichkeit verschließen, daß unser Täter ein willkürlich handelnder Geisteskranker ist.« »Gut. Haben Sie dieses Zeug schon gelesen?« Er schob Menéndez die Zeitungen zu. »Ich stehe im Fadenkreuz der Medien, Hauptkommissar. Nicht Sie. Wenn sie den Eindruck gewinnen, daß nichts geschieht, werden sie sehr schnell meinen Kopf for427
dern. Sie machen weiter mit dem, was Ihnen zur Verfügung steht – Velasco, Quemada. Ich werde anhand der Phantomzeichnung eine Großfahndung durch unsere uniformierten Kollegen einleiten lassen und persönlich die Verantwortung dafür übernehmen. Wir werden Straßensperren errichten, alle greifbaren Personalpapiere überprüfen, und wer weiß, was mir sonst noch alles einfällt. Wenn wir schon dabei sind, können wir auch gleich ein paar von diesen Homo-Clubs unter die Lupe nehmen. Sie können allen da draußen sagen, daß sie sich auf permanente Überstunden gefaßt machen müssen, bis dieser Fall gelöst ist.« »Sehr wohl«, sagte Menéndez und fühlte sich irgendwie erniedrigt, gleichzeitig aber auch irgendwie erleichtert. Die Tür ging auf, und Maria kam herein. Sie trug die Sachen, die man ihr ins Krankenhaus gebracht hatte. Menéndez sah sie an und fand, daß sie etwas mitgenommen aussah. »Ich dachte, Sie wollten nach Hause.« »Ich habe meine Meinung geändert«, erwiderte sie. »Wir haben eine Beamtin zu Ihrer Bewachung abgestellt.« »Sie ist draußen. Vielen Dank. Ich weiß zwar nicht, was sie gegen unseren Mann bewirken kann, aber mir flößt sie einen Heidenrespekt ein.« Rodríguez hatte ihren Schutz einer zwei Zentner schweren Amazone namens Michaela Costas anvertraut. Sie trug eine Uniform, die eine Nummer zu 428
klein war, um ihren muskulösen Körperbau zu unterstreichen. Noch nie hatte Maria einen so blitzblanken Waffengürtel gesehen. Er glänzte wie ein Spiegel. Sie hatte ihre ganze Überzeugungskraft gebraucht, um die Beamtin dazu zu überreden, sie zur Polizei zu begleiten und nicht nach Hause. »Sie sollten nach Hause gehen und sich ausruhen«, sagte Rodríguez. Sie sah ihn an und bemerkte Veränderungen. Die Höflichkeit war fort. Er wirkte nervös, gereizt, und das deprimierte sie. Wie alle anderen auch erhoffte sie sich von ihm Inspirationen, die Ideen eines fähigen Mannes, der nicht hautnah mit den Dingen befaßt war. »Wir haben bislang kaum etwas in der Hand. Buchstäblich nichts für Ihren Bericht. Von jetzt an wird das Ganze eine großangelegte Fahndungsaffäre. Wir stellen die Stadt auf den Kopf, bis dieser Mistkerl endlich aus seinem Versteck kommt.« »Ich habe mich den ganzen Tag lang nur ausgeruht«, entgegnete sie. »Jetzt bin ich es leid. Der Fall geht mir unaufhörlich im Kopf herum. Das kann ich nicht nach Belieben einund ausschalten. Sie kennen meine Aufgabe: Ihre Arbeit hier detailliert zu verfolgen. Abgesehen davon …« »Abgesehen davon? Was?« fragte Menéndez. »Ich habe noch einmal mit Caterina Lucena gesprochen.« »Hat sie irgend etwas gesagt?« »Ich habe die Phantomzeichnung mit einem Schnurrbart versehen. Sie glaubte, es wäre Alvarez.« Menéndez befürchtete, Rodríguez könnte explo429
dieren. »Ich bitte Sie, Frau Professor. Sie ist eine alte Frau. In diesem Alter kommen sie auf die erstaunlichsten Einfälle. Sie haben Schweres durchgemacht. Gehen Sie nach Hause und überlassen Sie alles uns.« »Das stimmt nicht«, erwiderte Maria. »Sie kennen Caterina Lucena nicht. Aber ich. Sie ist alt, aber auf keinen Fall senil oder verwirrt. Also, was sagt uns das?« »Daß der Täter eine verblüffende Ähnlichkeit mit Alvarez hat«, sagte Menéndez. »Daß er vermutlich mit ihm verwandt ist.« »Unsinn«, sagte Rodríguez. »Wie häufig kommt eine derart frappante Ähnlichkeit vor? Wie oft? Die alte Dame hat ein paar Schrauben locker. Das ist alles.« »Es kommt vor«, sagte Maria. »Nicht oft, aber es kommt vor. Bei Familien, in denen auch entfernte Verwandte einander heiraten, häufiger als in anderen. Denken Sie an abgelegene ländliche Gebiete. Ist Ihnen noch nie aufgefallen, wie ähnlich sich dort Mitglieder einer Familie sehen können? Selbst Angehörige verschiedener Generationen?« Rodríguez schloß schmerzgequält die Augen. »Also gut. Sie wollen also sagen, daß es auch sein Enkelsohn sein könnte, wenn ein Sohn aus Altersgründen ausfällt. Wollen Sie darauf hinaus?« »Möglich wäre es«, sagte Menéndez. »Möglich. Möglich ist alles, aber wir können nicht alles verfolgen. Nehmen wir an, es ist ein Enkel. Ihm könnten Sie …«, Maria bemerkte, wie Menéndez auf das ›Sie‹ reagierte, »… ausschließlich über die Eltern auf die Spur kommen. Wie sonst?« 430
Menéndez zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Wir haben die Liste der Mädchen, die ihn seinerzeit anzeigten. Wir gehen ihnen gerade nach. Der Himmel mag wissen, wie viele keine Anzeige erstatteten, sondern mit Geld abgefunden oder zu einer Engelmacherin geschickt wurden – was auch immer.« Rodríguez schüttelte den Kopf. Sie spürten, daß er sich wider Willen für die Vorstellung zu erwärmen begann. »Hat sich aus dieser Liste schon etwas ergeben? Haben die Frauen Ihnen irgend etwas gesagt?« »Viel nicht. Das alles war vor langer Zeit. Und es ist nichts, woran man sich gern erinnert.« »Könnte Romero dabei irgendeine Rolle gespielt haben?« mischte sich Maria ein. »Irgendwie kommt es mir so vor.« Menéndez schüttelte den Kopf. »Wir haben versucht, seine Herkunft zu ergründen, aber es gibt keinerlei Dokumente. Es lassen sich keine Hinweise darauf finden, daß er irgend etwas mit der Familie Alvarez zu tun haben könnte. Wenn es da überhaupt eine Verbindung gibt, dann durch etwas, worauf er durch seine Arbeit an der Universität stieß.« »Sie sagten, er hätte bei der Bruderschaft Geld veruntreut?« fragte Maria Menéndez. »Ja. Sehr viel Geld. Zwei Millionen Pesetas oder noch mehr.« »Was hat er damit gemacht?« »Höchstwahrscheinlich ausgegeben. Den Aussagen der Mädchen zufolge war er ziemlich reich. Natürlich kamen sie alle aus dem barrio, das relativiert 431
ihre Vorstellung von Reichtum vielleicht ein wenig. Dennoch hörte es sich so an, als hätte er eine Menge Geld besessen und genau gewußt, wofür er es ausgab.« Rodríguez hörte ihnen zu. Er hatte die Hände flach auf dem Schreibtisch, machte sich keine Notizen. Dann sah er wieder in seine Unterlagen und schloß die Augen. Maria bemühte sich, klar und logisch zu denken. »Wir haben bisher kein Motiv für die Ereignisse, kennen keinen Grund für einen Rachefeldzug. Alvarez ist tot. Ist es denkbar, daß jemand ernsthaft versucht, sich an Menschen zu rächen, die ihn kannten, die in irgendeiner Beziehung zu ihm standen?« »Geisteskranke Menschen schon«, sagte Rodríguez. »Sie töten aus ›Gründen‹, die nur ihnen einsichtig sind.« »Aber dieser Mann ist nicht geisteskrank. Spüren Sie das denn nicht auch? Hinter seinen Taten steckt eine gewisse Logik, eine erbarmungslose Logik. Selbst wenn er scheinbar zufällig zuschlägt, handelt er nach einem Plan. Der Überfall auf mich. Das diente einem Zweck.« »Um uns von seiner Geistesverwirrung zu überzeugen«, sagte Menéndez ausdruckslos. »Also muß er ein Motiv haben. Ein logisches Motiv«, sagte sie. »Geld«, mutmaßte Menéndez. »Wer hat Alvarez’ Geld nach seinem Tod bekommen? Seine Frau nicht. Die ist vor ihm gestorben. Kinder gibt es nicht, auch keine anderen Verwandten. Einiges hat er seinen 432
Nachkömmlingen im barrio gegeben, aber auch wenn ihnen das viel vorkam, war es doch nichts im Vergleich zu dem, was fehlt. Wo ist der Rest geblieben? Wer hat das Geld bekommen?« »Werden derartige Erbschaften oder Vermächtnisse irgendwo festgehalten?« fragte Maria. »Wenn es legal geschieht, testamentarisch verfügt wird, schon«, erwiderte Rodríguez, und Menéndez nahm befriedigt zur Kenntnis, daß er sich jetzt an der Diskussion beteiligte. »UnterderhandZuwendungen oder Schenkungen sind schwerer zu verfolgen. Und wir müssen wohl davon ausgehen, daß das hier der Fall war. Was hätte es für einen Sinn, Geld zu stehlen und dann vor seinem Tod alle, einschließlich der Steuer, darauf aufmerksam zu machen?« »Da erlebt man die erstaunlichsten Überraschungen«, sagte Menéndez. »Buchstäblich jeder Gauner, den ich kennengelernt habe, hat ein Testament gemacht. Wenden wir uns an die Nachlaßgerichte. Vielleicht werden wir fündig.« Er machte sich eine Notiz. »So was kann dauern«, sagte Rodríguez. »Von heute auf morgen bekommen Sie von denen nichts. Vergessen Sie nicht, was ich gesagt habe. Sie müssen mit den bisherigen Kräften auskommen. Zusätzliches Personal gibt es nicht. Und wenn sich etwas ergibt, möchte ich darüber informiert werden. Unverzüglich.« Maria konnte gar nicht mehr aufhören zu reden. »Wenn es um Geld geht, müssen die eigentlichen 433
Opfer zwischen ihm und dem Geld gestanden, seinen Zugang dazu irgendwie behindert haben.« »Auf welche Weise?« fragte Rodríguez. »Wenn das Geld legal vererbt wurde, könnten vielleicht entfernte Verwandte Anspruch darauf gehabt haben. Wenn nicht, könnten Menschen, die von seiner Existenz wußten, diese Kenntnisse ausgenutzt haben. Erpressung. Was auch immer. Die Brüder Angel kannten eine Menge Kriminelle. Vielleicht haben sie davon erfahren. Auch Castaneda könnte davon gewußt haben. Schließlich hatte er Zugang zu den Unterlagen der Bruderschaft.« »Und Romero?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.« Menéndez verzog nachdenklich das Gesicht. »Eine dieser Frauen sagte, zu seinem Mädchen-Harem hätte auch ein Mädchen gehört, das nicht aus dem barrio kam. Ein Mädchen, mit dem ihn besondere Gefühle zu verbinden schienen. Wir kennen den Namen nicht. Auch keine Details, denen man nachspüren könnte. Aber sie versicherte, dieses Mädchen wäre etwas Besonderes gewesen.« »Warum gehen wir nicht noch einmal zu ihr und fragen sie, ob sie sich nicht doch an ein bißchen mehr erinnern kann?« regte Maria an. »Geld als Motiv macht Sinn. Mehr Sinn als alle bisherigen Theorien.« »Nichts macht Sinn«, erklärte Rodríguez, zum ersten Mal zeigte sich so etwas wie Farbe auf seinen Wangen. »Die ganze Sache zeichnet sich durch absolute Unlogik und Unberechenbarkeit aus. Ich habe Sie 434
diese Spur bereits zu lange und zu intensiv verfolgen lassen, und vielleicht sehen wir uns beide in einer Woche bereits einer internen Untersuchung ausgesetzt, Menéndez. Auf diese Möglichkeit sollten wir uns jedenfalls gefaßt machen. Wir können nur hoffen, daß dieser Geisteskranke, dieser Irre, den uniformierten Fahndern möglichst bald in die Fänge gerät, damit wir uns vor der Presse damit brüsten können.« Menéndez nickte. In diese Richtung gingen auch seine Überlegungen. Es hatte der Fall werden sollen, der ihm den Sessel des Capitán einbrachte. Aber statt dessen sah alles danach aus, als würde er sie beide beruflich zurückwerfen. Vielleicht endgültig. »Sie haben gut nicken«, sagte Rodríguez. »Aber seit vier Tagen stöbern Sie durch die Geschichtsbücher, ohne etwas zutage zu fördern. Ich möchte, daß Sie von jetzt an Ihre Aufgaben sachlicher erledigen.« »Das stimmt so nicht«, wandte Maria ein. »Wir wissen etwas. Vielleicht erkennen wir es nur nicht. Vielleicht …« Der Gedanke überfiel sie so abrupt, daß sie unwillkürlich erschauerte. »Maria?« hakte Menéndez nach. »Ich mußte nur gerade an etwas denken. Vielleicht wollte er mich umbringen, bevor wir durchblicken. Vielleicht ist ihm klar, daß wir etwas wissen. Er wollte mich töten, bevor ich dahinterkomme, was das ist.« »Allmächtiger«, stöhnte Rodríguez auf, und die Heftigkeit seiner Reaktion ließ sie zusammenzucken. »Hier ist weder der Platz noch die Zeit für akademi435
sche Überlegungen, Frau Professor. Menschen werden ermordet, und die Sache gleitet uns langsam, aber sicher aus den Händen. Und jetzt lassen Sie sich von mir als Leiter dieser Abteilung und als Mann, der mehr Zeit auf den Straßen verbracht hat als sonst jemand, eins sagen: Wir haben es hier mit einem Geisteskranken zu tun. Mit einem unzurechnungsfähigen, gemeingefährlichen Irren. Wenn wir Glück haben, wenn wir die Stadt unverzüglich mit einer Rasterfahndung überziehen, können wir ihn unter Umständen fassen. Wenn nicht, sieht alles danach aus, daß er in seinen normalen Alltag zurückkehrt, sobald dieser zwanghafte Zyklus beendet, sobald die Semana Santa vorüber ist. Sie können Ihre kleinen Spielchen spielen, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Und der ist erreicht.« Menéndez sah seinen Chef schweigend an. »Vielleicht haben Sie recht, daß es aufhört, auch wenn Sie ihn nicht fassen. Bis zum nächsten Jahr«, sagte Maria und bereute ihre Worte sofort. Die Atmosphäre entkrampfte sich, als Velasco anklopfte und gleich darauf eintrat. Sie drehten sich zu ihm um. »Zwei Anrufe«, sagte er zu Menéndez. »In der letzten halben Stunde erhielten wir zwei Anrufe.« »Und?« »Die Polizei aus Melilla teilte mit, daß sie etwas über das Ehepaar in Erfahrung bringen konnte. Die beiden sind zwar längst wieder fortgezogen, aber irgend jemand konnte sich an sie erinnern. Auch an das Kind.« 436
»An das Kind«, sagte Maria. »Also gab es ein Kind.« »Ja. Das wissen wir jetzt, aber viel mehr nicht. Es gab ein Kind, aber ein Mädchen, keinen Jungen. Ein Mädchen. Ein sonderbares, stilles Kind, das sich bereits mit sechs Jahren die Haare blond färbte und mit keinem sprach, sagte der Sergeant. Niemand lernte sie näher kennen. Niemandem war sie sympathisch.« »Haben sie gesagt, was aus dem Kind geworden ist?« »Nein. Sie ist mit dem Ehepaar nach Spanien gezogen. Wohin genau wußte keiner.« »Hat man Ihnen einen Namen genannt?« »Ja, dazu komme ich noch. Aber da gab es noch einen Anruf. Von Quemadas Freundin, dieser Maggi. Sie meldete sich aus einer Bar irgendwo, einem ganz zauberhaften Ort, wie es sich anhörte, und erklärte, sich an den Namen von Alvarez’ Lieblingsmädchen erinnert zu haben. Und wissen Sie was? Derselbe Name. Der Kollege in Melilla und die Nutte nannten mir denselben Namen. Ist das zu fassen?« Menéndez starrte ihn an. »Und?« »Teresa. Sie hieß Teresa, sagten sie. Mehr nicht.« Menéndez schloß die Augen und spürte, wie sich seine Fäuste automatisch schlossen und öffneten. Maria sah ihm die Anspannung an. »Teresa«, wiederholte der Hauptkommissar. »Da gibt es eine Teresa, die in Frage käme.« »Sie meinen, das Kind war nicht Romero? Es war seine Frau?« fragte Velasco von der Tür her. 437
»Es wäre denkbar.« »Und Sie meinen …« Velasco addierte alle Details im Kopf wie auf einer Rechnung. »Grundgütiger. Er vögelte seine eigene Tochter. Das Foto an der Wand zeigte seine Tochter.« Maria dachte nach. War es so einfach? Wie das fehlende Teil eines Puzzles? Ein Kreis schloß sich mit erschreckender, grauenhafter Symmetrie. Sie verließ das Zimmer, ging die Treppen hinunter, auf den Parkplatz, stieg ins Auto, ohne etwas wahrzunehmen. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Der Damm schien zu bersten. Oben im Büro blickte Rodríguez noch einmal in seine Unterlagen, dann wählte er leise fluchend die Nummer der Einsatzleitung der uniformierten Polizei. Eine Großfahndung umfaßte Durchsuchungen öffentlicher Gebäude, Straßensperren, willkürliche Identitätsüberprüfungen – kurzum eine Vielfalt sehr offenkundiger polizeilicher Maßnahmen, die dafür sorgen würden, daß diese Semana Santa niemand vergaß. »Als könnte das jetzt noch jemand«, murmelte er vor sich hin. Eine Viertelstunde später bahnte sich ein Konvoi von Polizeifahrzeugen mit Blaulicht und jaulenden Sirenen seinen Weg durch die Menge und in Richtung Plaza. Jedes verfügbare Mitglied der Polizei war unterwegs, und schon bald würde es in der Stadt kaum noch eine Menschenseele geben, die das nicht mitbekam.
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44 Die Phase benommener Trauer war vorüber, die Stadt erwachte wieder zum Leben. Sie fuhren an Menschenmengen vorbei, ruhigen Menschenmengen, die erneut die Straßen bevölkerten. In den weihrauchschwangeren Kirchen glommen düster die versilberten Leuchter. Riesige Katafalke wurden durch die Straßen gezogen oder getragen. Morgen war der letzte Tag: der abschließende Gottesdienst, dann begann die feria mit der großen Corrida als Schlußpunkt der Semana Santa. Maria schloß die Augen und wünschte sich, es wäre schon vorüber, wünschte sich ein Ende ohne weiteres Blutvergießen. Quemada und Velasco überprüften ihre Waffen, schwere, graue Revolver, die nach Waffenöl rochen. Im Fahrzeug war es heiß, eng und übelriechend, obwohl die Fenster halb offen standen. Sie schwitzten, sie waren nervös, erregt und auch ein wenig ängstlich. Quemada schnitt eine Kurve zu eng, und die Reifen quietschten auf dem Kopfsteinpflaster. Maria sah, wie sich in der Menge Köpfe reckten, hörte empörte Rufe. Dann ließen sie den barrio hinter sich und bogen in die breiten Alleen von Carmona ein, fuhren unter einem Baldachin aus Palmen dahin, die ihre Wedel träge in der warmen, dunklen Abendluft wiegten. Schmiedeeiserne Straßenlaternen warfen gelbliche Lichtkegel in die Nacht. Menéndez saß in sich gekehrt auf dem Rücksitz. 439
»Er ist nicht da«, sagte sie. »Er ist nicht bei ihr.« »Woher wissen Sie das?« fragte Velasco und fummelte noch immer an der Waffe herum. »Ich weiß es«, erwiderte sie. »Ich weiß es eben.« Er bewegte den Revolver. Mit einem metallischen Klicken rastete der Lauf ein. »Egal«, sagte Velasco. »Reine Vorsichtsmaßnahme. Dieser Kerl liebt Polizisten nicht besonders.« Quemada nahm das Tempo zurück, bog von der Fahrbahn und hielt vor den geschlossenen Toren. Velasco stieg aus, öffnete sie und folgte dem Auto zu Fuß zur Haustür. Es war kurz nach Mitternacht, im Erdgeschoß brannte schummriges Licht. Die Luft roch schwer nach Oleanderblüten. Menéndez drückte auf die Klingel. Maria sah, daß Velasco seine Waffe griffbereit unter dem Sakko verwahrte. Quemada stand reglos, Hände in den Hosentaschen. Er sah sie an und flüsterte: »Sie haben recht. Er ist nicht da. Dennoch bin ich froh, daß wir hier sind.« Geräusche hinter der Tür. Ein Licht ging an, das Rasseln von Schlüsseln im Schloß. Die Tür schwang auf, und Teresa Romero stand vor ihnen. Sie trug leichte Hosen, ein dünnes Oberteil. Ihre Haare wirkten grau. Die schmale Goldkette um ihren Hals funkelte im Lampenlicht. »Sie sind allein?« fragte Menéndez. Sie musterte sie, vor allem Maria. »Ist das die Frau?« wollte sie wissen. »Die Frau, die überfallen wurde? Ich habe davon in der Zeitung gelesen.« »Ja«, sagte Menéndez. 440
Teresa Romero seufzte. »Ja«, sagte sie. »Ich bin allein.« »Wir müssen unbedingt miteinander reden«, sagte Menéndez. »Wenn Sie meinen«, gab sie zurück, drehte sich um und ging ins Haus, in das große Wohnzimmer. Sie folgten. Velasco umklammerte noch immer seine Waffe wie ein Amulett gegen das Unvorhersehbare. »Weinbrand?« fragte sie, als sie in den weichen Ledersesseln Platz genommen hatten. »Nein? Nun, ich werde ein Glas trinken.« Sie goß sich ein großzügiges Quantum ein und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Sie wirkte wie eine Frau kurz vor dem Zusammenbrechen, dachte Maria. Das Gesicht unter den blondierten, für ihr Alter zu kurz geschnittenen Haaren sprach trotz aller Erschöpfung von verblichener Schönheit. Aber sie konnte keine Ähnlichkeit mit Caterina Lucena entdecken. Mit Alvarez auch nicht. Aber Leid, noch immer Leid. »Sie wissen, warum wir hier sind?« fragte Menéndez. »Sollte ich?« Sie umfaßte ihr Glas. Fast so etwas wie Erheiterung zeigte sich in ihrem Gesicht. »Wir glauben, daß die Morde, vor allem der an Ihrem Mann, in irgendeinem Zusammenhang stehen mit Antonio Alvarez, einem früheren Mitglied des Stadtrats. Ist Ihnen der Name bekannt?« Sie nickte. »Hatten Sie eine sexuelle Beziehung zu ihm?« fragte Menéndez. 441
»Wie zurückhaltend Sie sich ausdrücken. Wie Sie es ausdrücken, klingt es fast wie ein Flirt.« »Wir sind nicht aus Sensationsgier hier«, sagte Maria. »Oder um unsere Neugierde zu befriedigen. Es geht um Mord. Ich wäre fast umgebracht worden.« Ein Anflug von Trauer huschte über Teresa Romeros Züge. Die gelassene Fassade war hauchdünn. »Sie werden es nie begreifen«, sagte sie zu Maria. »Sie können es nicht. Ich wurde Antonio Alvarez übereignet. Ich war ein Geschenk. Meine Eltern haben das arrangiert. Damals war ich dreizehn. Sie stellten mich ihm vor. Sie befahlen mir, alles zu tun, was er von mir verlangte. Und sie waren keine Menschen, deren Anordnungen man sich widersetzte. Jedenfalls nicht in diesem Alter und nicht, wenn man in allen Dingen von ihnen abhängig ist.« »Ihre Eltern?« fragte Menéndez. Sie sah ihn verständnislos an. »Ja. Warum betonen Sie das so?« »Nach allem, was wir wissen …«, begann Velasco, aber Menéndez fiel ihm ins Wort. »Unseren Informationen zufolge wurden Sie von Pflegeeltern aufgezogen. In Melilla. Und kamen erst später nach Spanien.« Sie schüttelte den Kopf. »Dann sind Sie Fehlinformationen aufgesessen. Schon wieder. Woher beziehen Sie Ihre Informationen eigentlich? Meine Eltern stammen aus der Stadt. Meine Mutter lebt noch immer hier. In Carmona. Sie haben in den Diensten der Stadt gestanden. Immer.« 442
Menéndez blinzelte und wirkte leicht verwirrt. »Warum haben Ihre Eltern Ihnen das angetan?« wollte Maria wissen. »Aus finanziellen Gründen? Was bringt Menschen dazu, so etwas zu tun?« Teresa Romero sah sie an. »Damals nahm ich an, es ginge um Geld. Zum Teil war das wohl auch der Fall. Antonio war ein überzeugender Mann, ein einflußreicher Mann. Er hatte Macht über Menschen, besonders über jene, die etwas mit der Stadtverwaltung zu tun hatten wie meine Eltern. Können Sie das verstehen? Nein. Sie haben ihn nie kennengelernt. Er konnte einen zu Dingen überreden, die man selbst gar nicht tun wollte. Ohne direkt zu drohen, ohne eine offensichtliche Unannehmlichkeit. Er besaß eine Art Charme, einen unheilvollen Charme, und brachte einen dazu, alles zu tun, was er wollte. Ohne nachzudenken.« »Sie bekamen ein Kind«, sagte Menéndez. Sie leerte ihr Glas. »Als ich fünfzehn Jahre alt war, begriff ich, was er mir antat. Ich erkannte, daß ich schwanger war. Ich versuchte, es zu verheimlichen. Das kann man eine Weile lang tun, aber irgendwann wird es unmöglich. Als sie es merkten, als meine Eltern meinen Zustand erkannten, erzählten sie ihm davon. Dann sagten sie zu mir, daß ich zu ihm gehen müsse, um mit ihm darüber zu sprechen.« »Wollen Sie damit andeuten, daß ihm die Entscheidung überlassen wurde? Daß er darüber entschied, was geschah und was nicht?« »Alles war Antonios Entscheidung. Einfach alles. Er kontrollierte alles und jeden.« 443
»Und was sagte er?« Sie schloß die Augen. Ihre Haut war durchscheinend blaß. »Ich dachte, er würde mich zu einer Abtreiberin schicken. Das hatte er zuvor schon getan. Mit anderen Mädchen. Meine Mutter hat es mir erzählt. Sie sagte, es würde sehr weh tun. Aber dazu kam es nicht. Ich sei etwas Besonderes, sagte er. Er schickte mich in eine Klinik in Cádiz. Dort blieb ich bis zur Geburt des Kindes. Die Niederkunft war problematisch. Sie haben mich irgendwie verpfuscht. Seither konnte ich keine Kinder mehr bekommen. Danach blieb ich noch zwei, vielleicht drei Monate dort, um mich zu erholen.« »Und das Kind?« Ihr Gesicht wurde zornrot. »Das Kind? Das Kind war Antonios Kind! Seins. Verstehen Sie? Ich hatte keinen Anspruch auf ihn. Ich war nur der Brutapparat, der ihn zur Welt gebracht hatte. Sie nahmen ihn mir weg. Sobald das möglich war, nahmen sie ihn mir fort. Und wissen Sie, was sie zu mir sagten?« Sie sah sie an, etwas Wahnhaftes flackerte in ihren Augen. »Sie sagten, damit täten sie mir einen Gefallen. Ich sollte dankbar sein, Antonio dankbar sein, daß er mich vor dem Makel bewahrte, mit fünfzehn Mutter zu sein.« »Und was ist mit dem Kind geschehen?« »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Als ich in die Stadt zurückkehrte, wartete Antonio noch ein paar Monate ab. Dann sagten sie mir, ich solle ihn besuchen. Wissen Sie, was er wollte? Die alten Gewohnheiten wiederaufnehmen. Er wollte, daß ich 444
wieder mit ihm schlief. Das Kind hat er mit keinem Wort erwähnt. Ganz so, als wäre es nie geboren worden. Ich sollte wieder alles tun, was er von mir verlangte.« »Was haben Sie getan?« »Ich habe ihm ins Gesicht gespuckt und gesagt: ›Wenn du mich anrührst, bringe ich dich um.‹ Er sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Ich befürchtete, er könnte mich umbringen. Dazu wäre er durchaus in der Lage gewesen. Er war ein Gangster, falls Sie das noch nicht wissen. Das Geld, das Geld, das er gestohlen hatte, setzte er skrupellos zur Vermehrung seines Reichtums ein. Er beherrschte alle, die Polizei, die Politiker, die Menschen seiner Umgebung – nur durch sein Geld. Was meinen Sie, warum er sonst so ungeschoren davonkam?« »Hat er sich damit abgefunden?« »Abgefunden? Antonio fand sich mit nichts ab, was ihm nicht paßte. Er nahm mich in die Arme, sagte, daß er mich liebe, daß ich für ihn etwas ganz Besonderes wäre. Aber dann, als ich nicht reagierte, ließ er von mir ab. In diesem Moment war ich für ihn gestorben. Ich existierte nicht mehr für ihn. Als ich nach Hause zurückkehrte, waren meine Eltern weiß wie die Wand. Sie brachten mich in eine kleine Wohnung, für die er die Miete zahlte, wie sie sagten. Sie schickten mir täglich ein Mädchen, das putzte und Besorgungen machte. Dort blieb ich, allein und ausgehalten. Schließlich bekam ich eine Anstellung als Sekretärin an der Universität. Ich zog aus der Wohnung aus und suchte mir eine eigene Unter445
kunft. Ich wollte sein Geld nicht. An der Universität lernte ich Luis kennen. Den Rest kennen Sie. Es wurde keine glückliche Ehe. Aber daran gebe ich Luis keine Schuld.« Sie stellte das Glas auf den Tisch, schien auf Fragen zu warten. »Und dann meldete sich jemand bei Ihnen. Vor nicht allzu langer Zeit. Jemand, der von alldem wußte.« Teresa Romero spreizte die langen, schmalen Finger auf der Tischplatte, betrachtete sie einen Moment lang und sagte dann: »Vor rund sechs Monaten bekam ich hier einen Anruf. Jemand wollte Luis sprechen. Als ihm bewußt wurde, daß ich am Apparat war, begann er auf mich einzureden und bat mich, mich mit ihm zu treffen.« »Um wen hat es sich Ihrer Meinung nach gehandelt?« fragte Maria. Sie wandte den Blick ab, sah zum dunklen Fenster. »Ich dachte … ich dachte, er wäre unter Umständen jemand, den ich kennenlernen sollte. Luis ignorierte mich seit Jahren. Tat so, als würde ich nicht mehr existieren. Und dann ruft jemand an, ein junger Mann. Flüstert mir mit angenehmer Stimme Nettigkeiten ins Ohr. Erklärt, er hätte mich auf der Straße gesehen, aber nicht gewagt, mich anzusprechen. Und daß er mich kennenlernen wolle. Kennenlernen müsse.« Sie sah Maria offen an. »Sie sind eine Frau. Was hätten Sie angenommen?« 446
Maria spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. »Daß da jemand auf eine Affäre mit mir aus ist.« »Ja«, sagte Teresa Romero, griff nach der Flasche und füllte ihr Glas auf. »Ich kaufte mir ein neues Kleid, ging zum Friseur und machte mich so attraktiv wie möglich. So etwas hatte ich seit Jahren nicht mehr getan. Mich für einen Mann herausgeputzt. Und dann traf ich mich mit ihm. Im Park. Wir saßen an einem der Tische, tranken Kaffee und unterhielten uns. Und ich fühlte sein Interesse, fühlte, daß er mich auf irgendeine Weise wollte. Daß ich ihm etwas geben konnte. Mich selbst. Schockiert Sie das?« »Nein«, erwiderte Maria. »Er sah mich an und … es war merkwürdig. Ich glaube, er wollte mich nach Hause begleiten. Auf der Stelle. Er fand mich attraktiv. Aber dann mußte er es sagen. Bevor wir uns trennten. Mußte diesen Unsinn sagen, diesen hanebüchenen Unsinn. Daß er mein Sohn sei.« Sie brach ab, schien einen Moment lang nicht weitersprechen zu können. »Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Es kam mir vor wie ein mieser Scherz. Nach all der Zeit und den Anstrengungen, die ich für dieses Treffen aufgewandt hatte. Ich hatte mich doch förmlich angeboten. Und alles, damit ich das zu hören bekommen. Aber noch immer wollte er es, noch immer wollte er mit mir ins Bett gehen.« Maria sah, wie schwer ihr die Schilderung fiel, wie sehr sie sich bemühte, sie verständlich klingen zu lassen. 447
»Wie war er?« erkundigte sie sich. »Wie? Wie Antonio. Äußerlich. Aber auch in anderer Hinsicht. Er schien von irgend etwas besessen. Etwas, worauf er keinen Einfluß hatte. Als er es sagte, konnte ich nicht klar denken. Eine Weile lang sagte ich gar nichts. Dann wollte er ein Taxi kommen lassen. Um zu mir nach Hause zu fahren. Aber ich lehnte das ab. Erklärte ihm, daß das für mich absolut unvorstellbar wäre.« Menéndez hielt ihr die Phantomzeichung hin. »Ist er das?« Sie nickte. »Ja. Diese Zeichnung habe ich schon im Fernsehen gesehen. Ich hätte Sie auch angerufen. Irgendwann. Aber das ist … nicht so einfach.« »Wie hat er Sie gefunden?« fragte Maria. »Nach dieser langen Zeit?« »Über Luis. Vor etwa zehn Jahren kam unsere Ehe in eine Krise. Vermutlich hatte er mich satt. Jedenfalls tat er nur noch das, was ihm paßte. Er war ein sehr entschlossener Mann. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er nicht locker. Er stürzte sich in dieses Projekt, in diese Untersuchung über die Stadt zur Zeit des Bürgerkriegs. Wenn er abends nach Hause kam, konnte er über nichts anderes sprechen als die Dinge, die er über die Falange und die Vorgänge in einem Lager in der Nähe herausfand. Vorgänge, über die Stillschweigen bewahrt worden war, obwohl viele Menschen von ihnen gehört hatten. Ich wollte ihn dazu überreden, das Projekt aufzugeben, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Aber davon wollte Luis nichts hören. Je mehr ich ihn drängte, 448
desto mehr kniete er sich in die Sache hinein. Eines Tages kam er ganz besonders begeistert zurück. Er sagte, er hätte eine Familie aufgetan, die für eine Gestalt aus dem kriminellen Milieu Botengänge übernahm und Aufträge erledigte. Die Familie wollte zwar nichts mit ihm zu tun haben, aber einer ihrer Söhne sei recht redselig. Und er kannte sich offenbar über die Zeit des Bürgerkriegs aus, wußte von Verbindungen und Beziehungen im Zusammenhang mit dem Thema, das Luis besonders interessierte. Während der nächsten Wochen verbrachten sie viel Zeit miteinander, tauschten sich aus, fügten die Teile des Puzzles zusammen. Luis kannte kein anderes Gesprächsthema mehr, so begeistert war er.« »Und dieser ›Sohn‹ war der Mann, der Sie dann angerufen hat?« »Ja.« »Und als Sie sich mit ihm trafen …« Teresa Romero faltete die Hände auf dem Schoß, lange, feingliedrige Hände. »Und als ich mich mit ihm traf … konnte ich es nicht glauben. Nichts. Sicher, er war Antonios Sohn. Um das zu wissen, brauchte man ihn nur anzusehen. Aber meiner? Ich sagte mir, daß ich doch etwas empfinden müsse, wenn er mein Sohn sei. Aber da war nichts. Kein Gefühl, keine Ahnung. Nichts. Er saß da, nannte mich mit seiner ungeschliffenen Stimme ›Mutter‹ und erzählte mir, wie sehr er mich liebe, wie sehr ich ihm gefehlt habe, wie wichtig ich für ihn sei. Der Mann, dieser erwachsene Mann verhielt sich wie ein Kind. Er benahm sich, als könnten wir alles verges449
sen, was inzwischen geschehen war, und wieder bei Null anfangen. Ich blickte ihn an und sah Antonio vor mir, hörte ihn sagen, wie sehr er mich liebe und daß wir zueinander gehörten. Für immer. Auf ewig. Ohne auch nur zu fragen, was ich darüber dachte. Er war genau wie sein Vater. Er tauchte auf, verlangte etwas und erwartete, daß ich es ihm wie selbstverständlich gab. Da wäre Geld, sagte er, Geld, das er sich beschaffen könne. Davon würden wir leben. Ich könnte Luis verlassen, wir könnten für immer zusammenbleiben. Mit all dem überfiel er mich, ohne jede Vorwarnung, in diesem Café im Park, und ich dachte: Wenn er nicht gleich aufhört, drehe ich noch durch. Ich will nur hier weg und ihn nie wiedersehen.« »Und haben Sie ihm das gesagt?« »Ich sagte ihm, daß es mir leid täte, nie die Möglichkeit gehabt zu haben, ihm eine richtige Mutter zu sein – falls er tatsächlich mein Kind sei. Daß das aber nicht meine Entscheidung gewesen sei. Oder seine. Uns sei etwas vorenthalten worden, was wir nicht ersetzen, was wir nicht zurückholen könnten. Weil es nie bestanden hätte. Ich riet ihm, nach Hause zu gehen, die Vergangenheit zu vergessen und sein eigenes Leben zu leben, und nicht eins, das sich an dem Traum orientierte, wie es hätte sein können.« Menéndez verzog das Gesicht. »Sie haben ihn freundlich, aber bestimmt zurückgewiesen?« »So freundlich wie möglich. Bis er die Beherrschung verlor. Er ist Antonios Sohn. Ohne jeden 450
Zweifel. Antonio hatte auch den Teufel in sich, war besessen, aber das lebte er im Sex aus und das zeigte sich an der Art, wie er Frauen und Mädchen behandelte: als reine Werkzeuge zur Befriedigung seiner Lust. Sein Sohn hat auch den Teufel in sich, aber anders. Antonio widerte mich an. Aber dieser Mann machte mir angst.« »Hat er Sie angegriffen, bedroht?« »Nicht direkt. Als er die Kontrolle verlor, sagte er, er würde Luis vernichten, unser gemeinsames Leben zerstören. Ich nahm an, hoffte, daß das eine Äußerung aus der Erregung heraus war. Er fühlte sich zurückgewiesen, das konnte ich bis zu einem bestimmten Punkt sogar verstehen. Aber ich konnte mich nun einmal nicht zu etwas zu zwingen, was ich nicht empfand. Ich war nie Mutter, und bei unserer Unterhaltung erkannte ich, daß das mehr beinhaltet als die biologischen Funktionen. Und das kann man nicht aus dem Nichts schaffen.« »Hat er sich noch einmal bei Ihnen gemeldet?« »Drei Monate lang geschah gar nichts. Und dann, eines Abends, als Luis nicht da war, rief irgendeine Kontaktagentur für Homosexuelle an und wollte ihn sprechen. Luis? Ich konnte es nicht glauben. Und es stimmte auch nicht. Das gehörte zu seinen Plänen, unser Leben zu ruinieren. Später rief er selbst an und erklärte, er würde Gerüchte ausstreuen, Luis in Situationen bringen, die seinem Ruf schadeten. Sie trafen sich noch immer, müssen Sie wissen. Sie unterhielten sich über Luis’ Arbeit, und er brachte ihn mit Leuten zusammen, die ihm vom Bürgerkrieg erzählten. 451
Ich forderte ihn auf, uns in Ruhe zu lassen. Ich sagte ihm das gleiche wie zuvor. Aber es nutzte nichts. Es nutzte absolut nichts. Eine Woche später … eine Woche später rief er erneut an und sagte mir, was geschehen sei, was gerade geschehen sei. Und das alles sei meine Schuld. In dieser Nacht fand man Luis tot in seinem Auto auf. Er hatte Luis ermordet, um mir zu schaden.« »Wir müssen den Namen erfahren«, sagte Menéndez nach längerem Schweigen. »Hat er sich seither noch einmal an Sie gewandt?« »Das war das letzte Mal, daß ich mit ihm sprach. Er nannte sich Antonio und sagte, er wohne in El Viejo. Das ist alles, was ich weiß.« »Aber in den Arbeitsunterlagen Ihres Mannes müssen doch sicher Hinweise auf ihn zu finden sein.« »Nach seinem Tod ging ich in die Universität. Alles war fort. Gestohlen. Offenbar gab es da einen Einbruch. Von den Unterlagen für Luis’ Projekt war nichts mehr aufzufinden.« Maria wollte ihr direkt in die Augen sehen, doch das war unmöglich. »Er wollte mich umbringen, Señora Romero. Andere Menschen hat er getötet. Die Brüder Angel. Señor Castaneda. Warum, was könnte ihn dazu bewogen haben?« »Ich habe keine Ahnung.« »Könnte es vielleicht um das Geld gegangen sein, von dem er gesprochen hat?« »Von Geld hat er gesprochen. Von viel Geld. Was die Opfer anbelangt … Ich weiß nicht. Den Brüdern Angel ist Luis bei irgendeinem gesellschaftlichen 452
Anlaß begegnet, glaube ich. Er hat so etwas erwähnt. Und dieser Stierkämpfer Mateo? Sie schienen in den gleichen Kreisen zu verkehren. Aber warum …?« Sie dachte einen Moment lang nach und sagte dann: »Nein, es ging ihm nicht um Geld. Er war von etwas anderem besessen. Ihm ging es um Legitimität. Er wollte Normalität, eine Familie. Aber die konnte ich ihm nicht geben. Deshalb habe ich Ihnen nie etwas davon gesagt. Nach Luis’ Tod nicht und auch nach den anderen Morden nicht. Ich wartete darauf, ich flehte darum, daß Sie selbst dahinterkommen würden. Aber ich selbst konnte es Ihnen nicht sagen.« »Warum nicht?« fragte Menéndez. Teresa Romero sah ihn erstaunt an. »Warum nicht? Eine solche Frage kann nur ein Mann stellen. Meiner Schuld wegen. Weshalb sonst?«
45 »Reizende Frau«, bemerkte Velasco, als er das Auto ins Stadtzentrum zurücksteuerte. »Da taucht der Junge nach dreißig Jahren auf, sagt: ›Hallo, Mama, ich bin dein verlorener Sohn‹, und sie erklärt ihm, er solle sich zum Teufel scheren. Sauber.« Maria mußte sich zusammenreißen, um ihn nicht anzuschreien. »Sie hatte recht«, sagte sie schließlich. »Aber das können Sie nicht verstehen.« »Aber klar«, erwiderte Velasco. »Sie hatte recht. 453
Dieser ganze Mist, diese ganze verdammte Scheiße ist nur entstanden, weil sie sich nicht zusammenreißen konnte. Weil sie sich nicht dazu überwinden konnte, ein bißchen zugänglicher zu sein. Sicher, man kann nicht von ihr erwarten, daß sie ihn hocherfreut bei sich einziehen läßt und fragt, was er am liebsten ißt. Aber es bestand auch kein Grund, ihn derart vor den Kopf zu stoßen. Absolut keiner.« »Unsinn«, sagte Quemada ruhig. »Die Frau braucht sich keine Vorwürfe zu machen. Diesem Jungen paßte es nicht, daß sie mit ihm nichts zu tun haben wollte. Das kann ich verstehen. Aber deshalb braucht er doch nicht losrennen und Menschen umbringen. Er muß zuvor schon nicht ganz bei sich gewesen sein. Ihm hat nur noch ein Auslöser gefehlt. Aber …« Er verstummte. »Aber was?« fragte Maria. »Woher wußte sie, daß er die Wahrheit sagt? Welche Beweise haben wir außer der Tatsache, daß er so aussieht wie sein Vater? Vielleicht ist er sein Sohn, vielleicht auch nicht. Sicher können wir nicht sein.« »Ich glaube«, sagte Maria, »ich glaube, daß sie uns das sagen wollte. Daß sie es wußte. Daß er es nicht ist.« »Woher wollte sie das denn wissen?« erkundigte sich Velasco ruppig. »Wie wollen Sie es wissen?« Seufzend fragte sich Maria, ob diesem Mann irgend etwas begreiflich gemacht werden konnte. »Manchmal bist du ein ausgemachter Blödmann. Weißt du das eigentlich, Partner?« Quemada wirkte aufrichtig verärgert. »Frauen kennen sich in diesen Dingen nun einmal aus.« 454
»Und das glaubst du?« »Natürlich. Wie ich dir schon mehrmals gesagt habe: Sie sind anders. Der Kerl muß tatsächlich verrückt sein, wenn er annahm, seine Ziele zu erreichen.« Im bläßlichen Schein der Straßenlaternen kurvte der Wagen durch leere Straßen, das Geräusch der Reifen hallte von den Hauswänden wider. »Jemand muß es wissen«, sagte Menéndez. »Irgend jemand. Im barrio. Wenn Alvarez von einer Familie Kinder aufziehen ließ, muß das doch jemand wissen.« »Ja«, entgegnete Quemada. »Die Frage ist nur, ob man uns das auch sagt. Diese Leute halten zusammen. Wie Zigeuner. Die würden sich lieber die Zunge abbeißen, als uns etwas zu sagen.« »Dann an der Universität. Sie erklärte, die Unterlagen wären verschwunden. Das kann stimmen, muß aber nicht. Wir müssen es überprüfen.« »Schon geschehen«, sagte Velasco. »Sie haben sein Zeug zusammengepackt und in einer Art Lagerraum verstaut. In Pappkartons. Einer der Kollegen hat es sich kürzlich angesehen, aber nichts gefunden.« »Dann lassen Sie uns noch einmal nachsehen.« Quemada zog ein Mobiltelefon hervor, wählte die Nummer des Präsidiums und erreichte jemanden von der Nachtschicht. »Ja«, knurrte er in die Muschel, »ich weiß, daß morgen« – er sah auf seine Uhr – »heute Sonntag ist. Ich weiß, daß die feria beginnt. Aber es muß dort doch eine Art Stallwache geben. Holen Sie den 455
Mann aus dem Bett. Durchforsten Sie alles, was sie von Romero aufbewahrt haben, jedes einzelne Stück-Papier. Uns interessiert alles, was mit dem Bürgerkrieg zusammenhängt, vor allem Namen von Leuten, mit denen er darüber gesprochen hat. Suchen Sie nach Notiz- und Adreßbüchern. Notieren Sie sich alle Namen, die Sie finden können. Alle. Nein. Jetzt.« Er drückte auf eine Taste und steckte sich das Gerät wieder in die Tasche. »Warum ist das so kompliziert?« fragte er. »Dieser Typ ist in der Stadt aufgewachsen. Er lebt hier. Alvarez muß jemanden für seine Unterbringung bezahlt haben. Warum müssen wir derart im Nebel herumstochern?« »Genau wie sie sagte«, erwiderte Maria. »Er war ein Gangster. Er hat die Stadt gekauft, die Polizei gekauft.« »Und keine Spuren hinterlassen«, meinte Menéndez. »Mit Ausnahme seiner Kinder«, sagte Maria.
46 Irgendwo im anderen Teil der Stadt saß der Mann, den sie als Antonio kannten, mit hochrotem Kopf in seiner Wohnung und sprach langsam und betont auf das Telefon ein. Die Sehnen an seinem Hals standen 456
vor wie aus Holz geschnitzt. Mit durchgedrückten Schultern saß er an einem einfachen Küchentisch, vor einem abgegessenen Teller und sauberem Besteck. Alle Fenster der Wohnung standen offen. Fliegen, Mücken und Nachtfalter umschwirrten die Glühbirne über ihm. Er bemerkte sie nicht. Rhythmisch, in regelmäßigen Abständen ballte er seine rechte Hand und öffnete sie wieder, sah zu, wie sich die Muskeln spannten und wieder entspannten, spürte die Kraft in seinem Arm, seine Stärke, seine körperliche Macht. Während er der drängenden, jammernden Stimme in der Leitung zuhörte, drehte er sich um, um das einzig Schmückende in diesem Raum zu betrachten. An der Wand, neben dem Zinkwaschbecken war ein Plakat an die abbröckelnde weiße Wand gepinnt, hundert mal sechzig Zentimeter groß. Ein Poster, das er sich in der Stadt gekauft hatte: Die beiden Ritter von Calatrava von Juan de Valdés Leal. Antonio hob die Stimme nicht. Andere hätten ihn durch die papierdünnen Wände hören können. Er wußte, daß sie versuchten zu lauschen. Er spürte ihre Zudringlichkeit, spürte, wie die schwachen Ausstrahlungen ihrer miesen kleinen Existenzen an seinem harten, unerschütterlichen Äußeren abprallten. Erst kürzlich hatte er daran gedacht, einen von ihnen zu töten. Um ihnen eine Lehre zu erteilen. Um ihnen begreiflich zu machen, daß sie einer anderen Rangordnung angehörten. Daß sie ihren Platz erkennen mußten, um zu überleben. 457
Doch das hätte unnötige Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt. Heutzutage behandelte die Polizei, die törichte Polizei ja alle gleich. Ihnen fehlte die Ermessensgrundlage, die Fähigkeit, die Realitäten des Lebens zu erkennen, seine Ordnung, seine Prioritäten. Als sein Vater noch lebte, war das anders gewesen. Einen von diesem Ungeziefer zu töten, eine dieser winzig kleinen Flammen auszulöschen, hätte sie in seine Nähe gebracht. Möglicherweise sogar in sein Leben. Das wollte er nicht. Sein Leben war zu angenehm, als daß er Änderungen gewollt hätte. Und da war auch noch diese andere Sache. Es gefiel ihm nicht, zu oft Dinge zu tun, die ihm nicht nahegelegt wurden. Manchmal drehte der Alte durch. Manchmal drohte ihm der Alte. Und er konnte ziemlich furchterregend sein. Die Stimme am anderen Ende der Leitung quengelte noch immer. Sie hörte sich an wie eine in einem Glas gefangene Wespe, und Antonio merkte, daß er die Worte nicht mehr verstand. Sie verschwammen zu einem unablässigen Summen, einem konstanten Surren, ohne Silben, ohne Bedeutung. Eine Erinnerung kam ihm ins Gedächtnis. Bei einem seiner seltenen Besuche hatte sein Vater eine Wespe auf dem Fensterbrett beobachtet, hatte beobachtet, wie sie die anderen im Raum nervös machte, wie sie sie besorgt aus den Augenwinkeln verfolgten, damit sie ihnen bloß nicht zu nahe kam. Sein Vater hatte ein paar Minuten lang gewartet, bis das winzige Insekt buchstäblich alle außer Fassung gebracht hatte. Dann war er wortlos vom alten Armses458
sel aufgestanden, aus dessen Sitzfläche ständig das schwarze Roßhaar quoll, war zum Fenster gegangen und hatte das Tier blitzschnell zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückt und auf den Boden fallen lassen. Antonio erinnerte sich an seinen Schock, erinnerte sich, im Gesicht seines Vaters nach irgendeinem Anflug von Schmerz gesucht zu haben, denn sie hatte ihn mit Sicherheit gestochen. Doch da war nichts gewesen. Schmerz hatte auf dem Gesicht seines Vaters ebensowenig Platz wie andere Gefühle. Am nächsten Tag, als sein Vater fort und das alte Haus leer war, hatte Antonio in allen Zimmern gesucht, bis er eine Wespe gefunden hatte. Er hatte sie zwischen Daumen und Zeigefinger zerdrückt, genau wie sein Vater, und dann versucht, seine Tränen zurückzuhalten. Erfolglos. Mit vor Schmerzen dunkelrotem Gesicht sah er hilflos zu, wie seine Hand auf das Doppelte ihrer Größe anschwoll. Er setzte sich in die Küche und steckte die Hand in eine Schüssel Wasser, bis das Ärgste vorüber war. Dann hatte er sich auf die Suche nach der nächsten Wespe gemacht. Und damit fuhr er fort, bis er die Tränen zurückhalten konnte, bis sein Körper gegen das Gift so immun geworden war, daß sich nach dem Stich nur noch eine winzige rote Stelle zeigte. Damals war er sieben Jahre alt gewesen. Die Stimme summte weiter, und Antonio fragte sich, wie lange er sie noch ertragen konnte. Wo war die Stärke? Wo die Willenskraft? Ein Halbbruder, sagte er sich. Ein richtiger Bruder würde nie so quengeln. 459
Dann veränderte sich die Stimme, wurde normal, und das einzige Summen im Raum kam von den Insekten, die um die Lampe flogen. »Antonio«, sagte die Stimme. »Das muß aufhören. Das kann nicht so weitergehen. Sie werden uns auf die Spur kommen. Vielleicht sind sie uns bereits auf den Fersen!« Er spürte, wie Zorn in ihm hochkochte, riß sich zusammen, beherrschte sich, kontrollierte sich durch den Verstand. Kürzlich hatte er begriffen, daß ihn diese Selbstbeherrschung noch stärker machte. »Du hörst dich an wie ein Weib, Bruder. Oder ein Feigling. Du hörst dich an wie Romero.« Seine Stimme veränderte sich, wurde hoch und schrill. »›Bitte, bitte! Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen, aber tun Sie mir nichts. Nehmen Sie dieses Messer fort!‹ Gehört sich diese Jammerei für einen von uns?« »Antonio, ich flehe dich an. Hör auf. Wir sind weit genug gegangen. Ich habe keine Lust, im Gefängnis zu landen.« Seine Augen wurden stahlhart vor Wut. »Du flehst mich an? Mein Bruder fleht?« Schweigen in der Leitung. »Mein Bruder fleht nicht«, fuhr der Mann am Tisch fort. »Du kannst nicht mein Bruder sein.« Er legte den Hörer auf und betrachtete das Poster an der Wand. Er lächelte. Er beugte sich vor und griff nach einem der Messer, einem großen, langen Cabatier. Er fuhr mit dem Daumen über die Klinge. Ein dünner Blutsfaden blieb auf der Haut zurück. 460
47 Die Polizistin saß auf einem der Ledersessel und quoll fast über die Seiten hinaus. Ihre Haare waren zu einem strengen Knoten zusammengefaßt und glänzten unter dem künstlichen Licht. Ihr Gesicht war breit und flach, der Teint braun und lederartig. Sie lächelte, zeigte kräftige, schneeweiße Zähne, streckte eine breite, paddelähnliche Hand aus und sagte: »Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt. Das müssen Sie entschuldigen, aber in Krankenhäusern läuft es mir immer kalt über den Rücken. Ich heiße Michaela, aber alle Welt nennt mich Mike.« Maria ergriff die Hand. Sie war kräftig, trocken, muskulös und knetete ihre Finger ordentlich durch. »Und wie möchten Sie genannt werden?« »Mike ist schon in Ordnung. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich rauche?« Maria schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Tut mir leid. Aber der Geruch …« »Ja.« Die Polizistin lächelte. »Vermutlich sollte ich es ein wenig einschränken. Da gibt es nur ein kleines Problem. Wenn ich ganz aufhöre, gehe ich auf wie ein Hefekloß. Irgendwann sehe ich dann aus wie ein Sumoringer.« Sie musterte Maria von Kopf bis Fuß. »Sie haben damit offenbar gar keine Probleme.« »Eigentlich nicht.« »Halten Sie irgendeine Diät ein?« »Eigentlich nicht. Veranlagung vermutlich.« 461
»Da können Sie sich glücklich schätzen. Die Jungs auf dem Revier spotten, ich hätte wohl eine ganz neue Diät entdeckt. Die Bier-und-Speck-Diät. Sie haben gut lästern.« Maria lächelte. »Sind Sie allein für mich zuständig?« »Hin und wieder fährt eine Streife durch die Straße und observiert. Aber ich denke nicht, daß Sie etwas zu befürchten haben. Wir hatten die Kollegen von der Verbrechensvorsorge hier, und sie haben einige Veränderungen vorgenommen. Kommen Sie, ich werde es Ihnen zeigen.« Sie ging ins Schlafzimmer. An den Rahmen der geschlossenen Fenster waren neue Metallsicherungen angebracht. »Eine Art Fensterschloß. Die Schlüssel sind in der Küchenschublade. Sobald man sie verschließt, kommt niemand herein, ohne das gesamte Fenster herauszubrechen. Sie haben die Schlösser auch an ein paar anderen Fenstern angebracht, obwohl ich glaube, daß hier der einzig mögliche Zugang ist. Woanders müßte er schon Spiderman sein.« »Er hatte einen Schlüssel.« »Ja, das hörte ich. Wir haben alle Türschlösser durch bessere ausgetauscht. Ich werde Ihnen die Schlüssel geben. Durch die Tür kommt er nicht herein. Was sage ich? Er wird gar nicht wiederkommen.« »Sind Sie da sicher?« »Sonst müßte er doch mehr als dumm sein, oder? Warum sollte er das Risiko eingehen?« 462
Ich weiß ja nicht einmal, warum er das erste Mal gekommen ist, dachte Maria. »Wie auch immer. Ich bleibe über Nacht. Im Wohnzimmer. Wenn er die Treppe heraufkommt, nehme ich ihn gebührend in Empfang. Keine Angst. Es kann gar nichts passieren.« Maria holte sich ein Glas Mineralwasser und setzte sich auf das Sofa. Überrascht stellte sie fest, daß sie überhaupt nicht müde war. »Noch immer überdreht?« wollte die Polizistin wissen. »Vermutlich.« »Geht mir auch so. Wenn mich etwas aufregt, dauert es Stunden, bis ich einschlafen kann. Echt schlimm. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, trinken Sie auf gar keinen Fall Kaffee. Sobald Sie das tun, schlafen Sie vor Montag nicht ein.« Draußen waren die gedämpften Klänge einer Kapelle zu hören, Rufe, der Lärm einer Menschenmenge. »Da geht es wieder hoch her«, sagte die Polizistin. »Sie packen ihren Kram zusammen, winken allen zum Abschied zu, und dann hinaus auf die Straße. Kann es ihnen nicht übelnehmen. Einmal im Jahr können sie eine Woche lang verrückt spielen. Morgen nach dem Gottesdienst gehen sie alle in die Arena, lassen sich vollaufen, schlafen ihren Rausch aus, und dann geht es wieder an die Arbeit. Zurück zur Normalität. Gott sei Dank. Für einen Polizisten ist das die grauenhafteste Zeit des Jahres. Wenn es möglich wäre, während der Semana Santa Urlaub zu nehmen, wäre ich längst über alle Berge.« 463
»Sie meinen, es ist immer so schlimm?« Sie lachte, daß ihre Schultern bebten. »So schlimm nicht. Nein. Dieses Jahr bricht alle Rekorde. Morde. Unfälle. Ich habe schon ruhigere Zeiten erlebt. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Der Capitán hat buchstäblich alle auf die Suche nach diesem Kerl geschickt. Abgesehen von Menéndez, den anderen beiden Burschen und mir ist kaum noch jemand vor Ort.« Maria trank ihr Glas aus. »Jetzt sollte ich wirklich ins Bett gehen. Vielleicht schlafe ich ein.« Die Polizistin musterte sie. »Der Hauptkommissar hat sich gemeldet. Als Quemada Sie vom Präsidium nach Hause brachte. Die alte Dame, Caterina Lucena, ist kurz vor Mitternacht gestorben. Das Krankenhaus hatte angerufen.« Maria versuchte zu ergründen, was sie empfand. Aber da war nichts, keinerlei Gefühle. »Hat sie noch irgend etwas gesagt? Zu den Schwestern?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Hatten Sie denn damit gerechnet?« »Ich hatte gehofft, daß sie uns vielleicht noch mehr mitteilen könnte. Vielleicht wollte sie es nicht.« »Ich habe den Hauptkommissar auch nach Torrillo gefragt.« »Und?« »Keine Veränderung. Er ist noch immer auf der Intensivstation. Das liebe ich an Krankenhäusern. Daß sie so auskunftsfreudig sind. ›Keine Veränderung.‹ Was zum Teufel soll das denn heißen?« »Daß man Geduld aufbringen muß, vermutlich.« 464
»Geduld aufbringen! Ich liebe Bär. Wie einen Bruder, bevor Sie auf falsche Gedanken kommen. Ich kenne jede Menge miese Figuren bei der Polizei, aber er ist anders. Ein Ritter. Himmel, was für eine verdrehte Formulierung, aber Sie wissen, was ich meine?« Maria nickte. »Er strahlt etwas Feines aus, etwas, das die meisten Männer bedauerlicherweise vermissen lassen. Ich habe nicht viel übrig für Männer. Wahrscheinlich haben Sie das schon vermutet. Großer Gott, ausgerechnet er. Letzten Endes …« »Letzten Endes?« »Letzten Endes sterben wir alle. Hat das nicht irgend jemand gesagt? Letzten Endes sterben wir alle.« »Irgend jemand«, sagte Maria und ging ins Bad. Sie zog sich aus und legte sich, nur mit einem Baumwollslip bekleidet, ins Bett. Aus einem der Nebenhäuser hörte sie laute Rockmusik und Gelächter. Sie schloß die Augen und schlief irgendwann ein. Das nächste, was sie wahrnahm, war das Telefon neben dem Bett. Es klingelte, laut und beharrlich. Verstummte. Maria hörte die erregte Stimme der Polizistin aus dem Wohnzimmer. Die Tür ging auf, und sie trat lächelnd über die Schwelle. »Das war der Hauptkommissar. Sie wissen, wer es ist. Er will, daß ich Sie so schnell wie möglich zu ihm bringe.« Maria stolperte aus dem Bett und sah auf die Uhr auf dem Nachttisch. Sieben Uhr morgens. Sie hatte gerade vier Stunden geschlafen. 465
48 Jaime Mateo hockte im Befragungsraum und zitterte am ganzen Leib. Ihm gegenüber am zerkratzten grünen Metalltisch saßen Menéndez, Quemada, Velasco und Maria. Sie wußte nicht, wer übernächtigter aussah, die Polizisten oder Mateo. Keiner von ihnen schien auch nur eine Minute geschlafen zu haben. Im Raum staute sich der Gestank nach Schweiß, schlechtem Atem und Zigarettenqualm. Sie hätte gern frische Luft hereingelassen, aber das einzige Fenster, eine knapp einen Quadratmeter große Öffnung hoch in der Wand, war von innen vergittert. Menéndez schaltete das Tonbandgerät ein, sprach ein paar einleitende Worte und wandte sich dann an den Stierkämpfer. »Señor Mateo, Sie sind ohne Aufforderung hier erschienen und machen diese Aussage auf eigenen Wunsch. Trifft das zu?« »Ja«, erwiderte Mateo und zog heftig an seiner Zigarette. »Ich …« »Señor Mateo ist heute früh kurz vor sieben hier erschienen«, sagte Menéndez ins Mikrophon. »Und erklärte, über wichtige Informationen im Zusammenhang mit dem Mord an den Brüdern Angel sowie den mutmaßlichen Täter zu verfügen.« Menéndez griff nach der Phantomzeichnung und schob sie ihm zu. »Kennen Sie diesen Mann?« Mateo nickte. »Wie heißt er?« »Antonio Mateo.« 466
»Ihr Bruder?« fragte Quemada. Mateo verzog schmerzlich das Gesicht. »Nicht unbedingt.« »Wie meinen Sie das?« »Er ist mein Halbbruder. Er hat eine Weile bei uns gelebt. Er war nicht …« Ihm schien die Stimme zu versagen. »Er war nicht mein Bruder in dem Sinn, den Sie wahrscheinlich meinen.« »Wo hält er sich zur Zeit auf?« fragte Menéndez. »Keine Ahnung. Gestern abend hat er mich angerufen. Von wo aus weiß ich nicht. Er zieht häufig um. Mietet Wohnungen, zieht nach wenigen Wochen wieder aus. Ich weiß nicht, von wo aus er angerufen hat. Darüber hat er nichts gesagt.« »Was war seine letzte Ihnen bekannte Adresse?« wollte Quemada wissen. »Bruder oder Halbbruder – ich meine, irgend etwas müssen Sie doch über seinen Aufenthaltsort wissen.« »Calle Leon. Im barrio. Nummer dreizehn. Aber das war vor Monaten. Wenn er mich sprechen will, ruft er an. Ich rufe ihn nie an.« »Und gestern abend? Was hat er gesagt?« »Er ist wahnsinnig. Er ist in den letzten paar Monaten glatt durchgedreht. Er ruft mich an, tobt und schreit. Gestern abend hat er mir gedroht. Mir gedroht. Ausgerechnet dieser dämliche kleine Scheißer.« Quemada drückte seine Zigarette aus. »Haben Sie Angst? Fürchten Sie sich vor Ihrem Bruder?« Mateo funkelte ihn über den Tisch hinweg an. »Er ist verrückt. Hören Sie nicht, was ich sage? Der Mann 467
hat den Verstand verloren. Denken Sie daran, was er getan hat. Dann wissen Sie, daß er durchgeknallt ist. Ich möchte mich schützen. Das ist alles. Ich will, daß Sie ihn schnappen und einsperren. Ob ich Angst vor ihm habe, wollen Sie wissen? Nein. Ich bin nur beunruhigt.« »Und aus diesem Grund sind Sie hier. Wann müssen Sie in die Arena? In sechs Stunden? Acht? Und jetzt sitzen Sie hier und erklären, Sie seien beunruhigt? Nur wenige Stunden vor Ihrem wichtigsten Kampf des Jahres?« »Beunruhigt. Ängstlich. Was macht das schon aus? Ist das so wichtig?« Menéndez hielt ihm die Phantomzeichnung vor die Augen. »Warum haben Sie sich nicht schon früher bei uns gemeldet? Sie haben diese Zeichnung gesehen. Wir haben persönlich mit Ihnen gesprochen. Warum haben Sie so lange gewartet?« »Ich war mir nicht sicher. Wie sollte ich? Was sagt eine solche Zeichnung schon aus? Könnte doch jeder sein.« »Sie könnten es nicht sein«, entgegnete Quemada. »Der Papst auch nicht. Oder Michael Jackson.« »Ich war mir nicht sicher. Reicht das?« »Aber seit gestern abend, seit er Sie bedroht hat, sind Sie sich plötzlich sicher?« »Ja.« »Hat er eine Art Geständnis abgelegt? Sagte er vielleicht: ›Hör mal, Bruder, dieser Typ in den Zeitungen, nach dem sie alle suchen – das bin ich. Ehrlich. Das ist kein Witz. Ich bin es tatsächlich!‹?« 468
»Nicht so eindeutig.« »Woher wollen Sie dann wissen, daß er es getan hat? Hat er irgendwann vorher über die Morde gesprochen?« »Er hat sich gewissermaßen auf sie bezogen.« »Gewissermaßen auf sie bezogen. Wie gewählt ausgedrückt. Dieser Typ rennt also durch die Gegend und schlußfolgert, daß er Menschen umzubringen hat. Was ist denn Ihr Bruder? Professor der Philosophie oder was?« »Ich weiß es nicht.« »Sie wissen es nicht?« Mateo zuckte zusammen und griff wieder nach seiner Zigarettenschachtel. »Er ist ein Krimineller. Ein kleiner Krimineller.« »Auf welchem Gebiet? Diebstahl?« »Mitunter.« »Drogen?« »Davon weiß ich nichts.« »Ach nein? Ich vermute eher, daß Ihr Bruder angerufen hat, um Ihnen Stoff zu verkaufen. Stimmt das?« Mateo ließ den Kopf sinken. »Nein.« »Wie Sie meinen. Ist er mit dem Gesetz in Konflikt gekommen?« »Mehrmals. Aber nichts Ernsthaftes.« »Hier? In der Stadt?« »Ich glaube schon.« Menéndez schrieb den Namen auf einen Zettel, ging zur Tür und rief nach jemandem, damit er ihn überprüfte. 469
»Vielleicht haben wir ihn in unseren Akten. Falls Sie die Wahrheit gesagt haben.« »Was erwarten Sie von uns, Señor Mateo?« fragte Menéndez. »Im Ernst: Was sollen wir Ihrer Meinung nach unternehmen?« »Ich möchte, daß Sie mich beschützen. Solange ich noch hier bin. Heute nachmittag habe ich diesen Kampf. Ich muß in die Arena, verstehen Sie? Danach gehe ich außer Landes. Verschwinde für eine Zeitlang. Bis sich das alles gelegt hat.« »Gelegt hat«, wiederholte Quemada. »Das gefällt mir. Klingt so, als handele es sich um eine Grippewelle.« »Bekomme ich Personenschutz?« Quemada grinste. »So wie ich die Sache sehe, Señor, sind Sie gekommen, um uns zu erzählen, daß Sie mit Ihrem Bruder, nach dem wir suchen, dem Bruder, der Sie mit Stoff beliefert, Zoff haben. Den Grund wollen Sie uns nicht nennen. Und nun verlangen Sie von uns, daß wir in der hektischsten Zeit des Jahres wertvolle Polizeikräfte abstellen, um Sie zu schützen. Ich kann Ihnen nur den guten Rat geben, einen Leibwächter oder so etwas anzuheuern. Geld genug haben Sie ja. Meiner Ansicht nach haben Sie bislang nichts vorbringen können, was Personenschutz durch uns rechtfertigen würde. Vielleicht ist es Ihnen entgangen, Señor, aber neunundneunzig Prozent der Polizisten in dieser Stadt sind draußen auf den Straßen und belästigen unschuldige Bürger – auf der Suche nach dem Burschen, von dem Sie nicht wissen wollen, wo er ist. Sollen wir sie von der 470
Fahndung nach ihm abziehen, damit sie sich statt dessen um Sie kümmern können? Aber falls sich Ihr Gedächtnis bessern sollte, könnte das die Situation natürlich ändern.« »Ich weiß wirklich nicht mehr.« »In diesem Fall«, sagte Menéndez, »können wir alle Ihnen nur einen guten Kampf in der Arena wünschen.« Mateo steckte Zigaretten und Feuerzeug ein. »Ich fasse es nicht. Echt nicht. Wenn sich dieser Irre auch nur auf Sichtweite in meine Nähe wagt, sorge ich dafür, daß er es bereut.« »Davon bin ich überzeugt«, antwortete Quemada. »Aber vielleicht können Sie uns noch eine Frage beantworten, bevor Sie gehen. Es geht um Luis Romero. Sie erinnern sich doch sicher an den guten alten Luis? Den Burschen, den wir in seinem Auto tot auffanden? Der sich allem Anschein nach die Pulsadern aufgeschnitten hatte oder auch nicht?« »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Ich kenne ihn nicht. Bin ihm nie begegnet. Was wollen Sie denn noch?« »Sie erinnern sich nicht zufällig daran, wo Sie in der Nacht seines Todes waren?« »Wissen Sie noch, wo Sie vor Monaten waren? Nennen Sie mir das Datum, dann sehe ich in meinem Kalender nach.« »Das Dumme ist nur, Señor, daß Sie uns vielleicht glauben machen wollen, Ihr Bruder hätte das dem armen Romero angetan. Allein. Aber so war das nicht. Er kann es nicht allein getan haben. Und 471
wenn ich so darüber nachdenke, kann er auch die Angel-Brüder nicht allein umgebracht haben. Sicher, in ihrem Blut wurden Betäubungsmittel gefunden, aber dennoch glaube ich, daß ihm jemand bei der Tat geholfen haben muß. Mindestens in diesen beiden Fällen. Jemand, der körperlich fit ist, kräftig. Jemand, den die Opfer kannten, damit sie nicht auf den Verdacht kamen, Antonio könnte Böses mit ihnen vorhaben.« Mateo wurde totenblaß. Er sagte kein Wort. »Unter Umständen ging dieser Jemand davon aus, daß es für diese ersten Morde einen ›Grund‹ gab. Er war damit einverstanden. Aber dann, als Antonio durchdrehte, wie Sie sagten, als er die Leute nur so zum Spaß umbrachte, wurde es seinem Helfer zuviel. Damit wollte er nichts zu tun haben. Da wollte er nicht mehr mitmachen. Und das war etwas, was Antonio bestimmt nicht gern hörte. Es machte ihn wütend. Richtig wütend. Verstehen Sie, worauf ich hinaus will?« »Reine Vermutungen«, erwiderte Mateo. »Sie sitzen hier herum und denken sich die haarsträubendsten Geschichten aus. Aber er ist da draußen und überlegt sich, was er als nächstes anstellen kann, und Sie blödeln hier herum, als ginge Sie das alles nichts an.« »Ist das so?« fragte Menéndez. »So ist es«, sagte Mateo und stand auf. »So ist es, und für mich wär’s das. Mir reicht’s. Ich habe versucht, Ihnen zu helfen, aber Sie sind offensichtlich zu begriffsstutzig, um das zu verstehen. Und jetzt muß ich mich dringend auf den Kampf vorbereiten.« 472
Ein Polizist in Zivil kam zur Tür herein und warf eine Akte vor Quemada auf den Schreibtisch. »Antonio Mateo« stand in Maschinenschrift auf dem Umschlag. »Viel Spaß mit den Stieren«, rief Quemada, als Mateo den Raum verließ. Dann schlug er die Akte auf.
49 »Was für ein Tag«, stöhnte Quemada auf. »Was für ein abgrundtief beschissener Tag. Und dann meldet sich Velasco auch noch krank. Besser könnte es gar nicht kommen.« Wie eine feuchte Decke legte sich die Hitze auf ihre Gesichter, als sie das Gebäude verließen. Bereits kurz nach acht Uhr war die Schwüle nahezu unerträglich. Am Horizont zeigte sich eine noch flache Front von Gewitterwolken. Aber schon blähten sich ihre Spitzen zu Pilzen auf, schimmerten im unteren Bereich dunkel. Die Luft war geladen mit atmosphärischem Druck. Es schien, als wollte sie explodieren, sich entladen, um wieder zur Normalität zurückkehren zu können. Auf dem ummauerten Parkplatz staute sich rund ein Dutzend Einsatzfahrzeuge und wartete darauf, auf die Straße hinausfahren zu können. Überhitzte Luft waberte über ihre Kühlerhauben. 473
Quemada verzog angewidert das Gesicht. »Vor drei oder vier Uhr nachmittags kommen wir nirgendwohin. Soviel ist sicher. Wir sitzen fest.« »Heißt das, daß wir kein Auto nehmen können?« fragte Maria. »In jedem Jahr das gleiche. In den ersten acht Stunden des Ostersonntags sind Fußmärsche angesagt. Uns bleibt keine andere Wahl. Die ganze Stadt, fast eine Million Menschen ist unterwegs. Am Vormittag beschluchzen sie ihre Sünden, um nachmittags ein paar neue fürs nächste Jahr anzusammeln. Schön, in gewöhnlichen Jahren ist es das absolute Chaos. Aber die Fahndung des Capitán macht alles noch sehr viel schlimmer. Eins kann ich Ihnen versichern: Heute käme nicht einmal der Papst hier über irgendeine Straße, ohne seinen Ausweis zu zeigen.« Menéndez betrachtete den Stau nachdenklich. »Lassen wir Jaime Mateo zu Fuß verfolgen?« »Ja. Dazu habe ich einen Neuling von der Sitte zwangsverpflichtet, der so aussah, als hätte man ihn in der Eile vergessen. Mateos Wohnung ist nicht allzuweit entfernt, und ohnehin hörte es sich so an, als wollte er gleich in die Arena. Es sollte nicht schwer sein, ihm auf den Fersen zu bleiben.« »Und die Adressen aus Antonio Mateos Akte? Wer überprüft die?« »Dafür habe ich mir vier Jungs von der Tagesschicht gekrallt. Dazu noch zwei für die Überwachung der Mutter. Sicherheitshalber. Wenn der Capitán das erfährt, zieht er Ihnen das Fell über die Oh474
ren. Das ist Ihnen hoffentlich bewußt, Hauptkommissar, oder?« Menéndez reagierte nicht. »Glauben Sie, daß er tatsächlich gefährdet ist? Der Bruder?« erkundigte sich Maria. »Was glauben Sie denn?« fragte Menéndez zurück. »Ich glaube, daß er ein schlechter Lügner ist. Daß er tatsächlich Angst hat, uns aber nicht sagen will, wovor.« »Das sehe ich auch so«, sagte Quemada. »Ich begreife nur nicht, daß alle Welt ihn für einen Helden hält. Wenn die Leute gesehen hätten, wie er bei uns gezittert hat wie Espenlaub … Was würden sie dann wohl sagen?« »Sie würden ihn noch immer für einen Helden halten«, sagte Menéndez. »Es kommt nicht darauf an, was er ist. Sondern auf das, was er tut. Für sie jedenfalls.« »Und was hat er getan?« fragte Maria. »Vielleicht nichts, vielleicht doch etwas. Er glaubt, er sei in Gefahr, also ist er es möglicherweise auch. Und er glaubt gleichermaßen, bis nach dem Kampf einigermaßen sicher zu sein. Sonst wäre er jetzt schon verschwunden. Sonst …« Menéndez verstummte. Er blickte zur Ausfahrt hinüber. Es sah so aus, als hätte der Verkehrspolizist jede Hoffnung aufgegeben, die Polizeifahrzeuge auf den Platz herauswinken zu können. Motoren wurden abgestellt, auch die der Motorräder neben dem Kontrollraum. Uniformierte kletterten von ihren Maschinen, schoben die Hände in die Taschen und fluchten. 475
»Es bringt nichts. Wir könnten noch Ewigkeiten warten. Sagen Sie ihnen, daß wir uns auf die Strümpfe machen, Quemada. Melden Sie uns am Tor ab.« Quemada nickte und setzte sich in Bewegung. Seine Halbglatze leuchtete zwischen den dunklen Dienstmützen der Polizisten. »Warum hat Quemada Mateo vorhin diese Fragen nach Romero gestellt?« fragte Maria. Menéndez sah sie nicht an, er schien mit den Gedanken ganz woanders zu sein. »Wir halten es nicht für ausgeschlossen, daß er daran beteiligt war. Ich begreife noch immer nicht, daß sich ein Mensch von einem anderen so einfach die Pulsadern aufschneiden lassen soll. Ohne Gegenwehr? Und dann die Brüder Angel. Der Capitán verweist auf die in ihrem Blut gefundenen Drogen. Aber wann wären sie je clean gewesen? Für einen Täter kann es nicht leicht gewesen sein, zwei Männer dieser Körpergröße zu töten. Auf diese Art. Dazu braucht man schon eine Menge unverfrorener Selbstsicherheit. Oder einen Helfer.« Er sah zum Tor hinüber. Quemada war in eine angeregte Unterhaltung mit dem diensthabenden Beamten vertieft. Der kritzelte etwas in sein Buch. Sanft ergriff Menéndez ihren Ellbogen und zog sie ein wenig zur Seite, fort vom Strom der über den Parkplatz wimmelnden Polizisten. Überrascht sah sie ihn an. Seine Miene war angespannt. Fast zärtlich drückte er ihren Arm, und für einen Moment ließ er seine Maske fallen. Sie sah Beunruhigung in seinem Gesicht, vielleicht sogar Furcht. 476
»Erinnern Sie sich an die Liste, die wir in Castanedas Büro gefunden haben?« fragte er leise. »An die Namen?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe nur einen flüchtigen Blick darauf geworfen. Handelte es sich nicht um Jahresbilanzen? Über eingegangene Spenden?« »Etwas in der Art«, erwiderte Menéndez. »Ich habe die Liste mit nach Hause genommen. Sie ein wenig studiert.« »Ist so etwas denn gestattet?« fragte sie erstaunt. »Es gibt da bestimmte Vorschriften.« »O ja«, lachte Menéndez trocken auf. »Vorschriften gibt es für viele Dinge.« Maria fand die Vorstellung, daß ein auf Formen bedachter Mann wie Menéndez derartiges tun konnte, zutiefst befremdend. »Und haben Sie etwas entdeckt?« Er dachte einen Moment lang nach. »Ich weiß es nicht. Ehrlich, Maria, ich weiß es nicht. Da gibt es Einträge, die keinen Sinn machen, zumindest nicht ohne zusätzliche Informationen. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich die bekommen kann.« Er blickte über die Menge hinweg zum Tor. Quemadas Halbglatze schob sich wieder auf sie zu. Maria spürte, wie sich Menéndez’ Griff um ihren Arm fast schmerzhaft verstärkte. Dann beugte er sich vor und sah ihr direkt in die Augen. »Was heute auch geschieht, Maria, was immer geschieht, Sie müssen mir vertrauen, bitte. Vielleicht irre ich mich, ich hoffe, daß ich mich irre, aber ich 477
glaube nicht, daß es schon vorüber ist. Ich glaube nicht, daß es mit den Prozessionen und der Corrida vorüber ist. Es ist erst vorüber, wenn es ein Ende gefunden hat. Und bis dahin ist es wichtig, daß wir zusammenstehen. Es ist wichtig, daß Sie mir vertrauen.« Sie sah Quemada entgegen. Auch Menéndez ließ ihn nicht aus den Augen. Er drängte durch die Menge und war sich nicht bewußt, daß sie sich ein paar Schritte weiterbewegt hatten. Er konnte sie nicht sehen und wirkte besorgt. »In Ordnung«, sagte sie beiläufig. Menéndez zog sie am Arm in den Strom der Menschen zurück, gab Quemada ein Zeichen, und sie zwängten sich in Richtung Tor. »Viel Glück«, sagte der Sergeant am Ausgang. »Sie werden es brauchen.« Dann zerrte er am schweren Eisenriegel, schob das Tor zur Seite, öffnete den Zugang zur Außenwelt. »Zusammenbleiben«, rief Menéndez. »Mir nach. Ich kenne da einen Ort, von dem aus wir alles im Blick haben.« Maria hatte den Platz unzählige Male gesehen, aber jetzt erkannte sie ihn nicht wieder. Menschen, wohin sie auch blickte, ein ganzes Meer von Menschen wogte hin und her, schien sich in jede Richtung auszubreiten, so dicht gedrängt, daß ein Durchkommen unmöglich erschien. Hinter ihnen wurde das Tor geschlossen, und sofort drückte sie die Wucht der Menge gegen die Bret478
tertür zurück. Verzweifelt rang Maria nach Atem und befürchtete einen Augenblick lang, ohnmächtig zu werden. Sofort schob sich Quemada vor sie und fing, so gut es ging, mit seinem Rücken den Druck ab. Menéndez packte ihren Arm. »Halten Sie sich an mir fest«, schrie er über das Getöse hinweg. Sie begannen, sich dicht an den Häusern vorwärtszukämpfen. Innerhalb von Sekunden verlor Maria jeden Orientierungssinn. Sie hatte angenommen, daß sie sich vom Präsidium aus nach Westen mühten, zum Fluß. Aber anhand der Gebäude, die sie über den Köpfen sehen konnte – der Turm der Kathedrale tauchte kurz vor ihr auf –, stellte sie fest, daß sie sich irrte. Sie schienen in die entgegengesetzte Richtung zu streben. Der Geräuschpegel war unbeschreiblich. Das Menschenmeer schien mit eigener Sprache zu sprechen, zu rufen, zu klagen, zu stöhnen. Es wirkte wie ein einziges Wesen, beseelt von einem monomanischen Geist. Jede Individualität war vorübergehend aufgehoben. Die Menschen hatten sich zu einer Einheit verschmolzen, die ein vorübergehendes Eigenleben führte. Und darin lag eine gewisse Sicherheit. Der Lärm schwoll an. Farbige Schneisen durchzogen die Menge: das kirchliche Weiß und Gold, die schwarzen, gelben und roten Kapuzen der Büßer – ein Wald von spitzen Kegeln, der hin und her schwankte, sich bewegte wie unter den unsichtbaren Schnüren eines Puppenspielers. Hinter ihr wurde der Druck der Menge stärker, unangenehmer. Menéndez 479
zerrte sie noch immer am Arm mit und bahnte sich rücksichtslos mit dem Ellbogen einen Weg durch die Menschen. Maria fragte sich, wohin das alles führen würde. Welche Logik dahinterlag. Alles kam ihr zu unbestimmt, zu laut, zu dicht vor, um irgendeinen Sinn zu ergeben. Es war, als säße man in einem Kino allzu dicht vor der Leinwand. Die Geräusche, die Farben überwogen alles andere. Es war unmöglich, dahinter die eigentlichen Abläufe zu erkennen. Menéndez blieb vor ihr stehen, stützte sich mit einer Hand an einer schmalen Holztür ab und bedeutete ihr, dicht neben ihn zu treten. Quemada schloß sich ihnen an. In Menéndez’ Hand war ein Schlüssel. Er steckte ihn in das Messingschloß und sagte: »Ich zähle bis drei, dann öffne ich die Tür … eins, zwei, drei.« Die Tür flog auf, und sie fühlte sich von der Menge in die Dunkelheit gepreßt wie ein Champagnerkorken aus der Flasche. Quemada folgte ihr, dann Menéndez. Er warf die Tür mit der Schulter zu, und sie standen schwer atmend im Dunkeln. Menéndez knipste das Licht an, und sie sahen, daß sie sich im Eingangsbereich eines offenbar alten Hauses befanden, dessen Räume zu kleinen Apartments ausgebaut worden waren. Neben den Türen im Erdgeschoß sah sie Namensschilder mit Klingeln. Abgetretener roter Teppich bedeckte den Boden und die Treppe. Menéndez drückte auf einen weiteren Schalter, und oben ging Licht an. Sie folgten ihm die Stufen hinauf ins erste Stockwerk. Vom breiten Korridor 480
führten etliche Türen ab. Menéndez ging zur letzten Tür auf der zur Straße gelegenen Seite, steckte den Schlüssel ins Schloß und drückte die Tür auf. Er lächelte, fast beschämt. »Entschuldigen Sie die Unordnung«, sagte er. »Aber Sie wissen ja, wie Junggesellen leben.« Maria und Quemada betraten einen weißgetünchten Raum mit einem Tisch, einem niedrigen Schrank und Wandregalen – alles aus Pinienholz. Die ins tiefe Mauerwerk eingelassenen Flügelfenster führten auf den Platz. Vor ihnen waren Leinensessel aufgereiht. »Setzen Sie sich«, sagte er. »Ich mache uns Kaffee.« Quemada nahm als erster Platz, dann Maria. Sie sahen ihm nach, als er in der Küche verschwand. »Ich hatte keine Ahnung«, wisperte Quemada, »daß er hier wohnt, so nahe am Präsidium.« Er überlegte einen Moment lang. »Im Grunde hatte ich keine Ahnung, daß er überhaupt irgendwo wohnt.« Maria spürte, daß ihre Sinne zurückkehrten. Sie konnte wieder nahezu normal hören. Sie sah zum Fenster hinaus. Aus dieser Entfernung wirkte die Menschenmasse faßbarer, nicht so bedrohlich. Sie konnte sie betrachten und dabei ihre Distanz wahren. »Was meinten Sie denn, wo er lebt?« »Ich gebe nur die gängige Theorie wieder: in irgendeinem Sarg irgendwo auf dem Friedhof.« Ihr Unbehagen entging ihm nicht. »Das war ein Scherz. Menéndez ist nicht sonderlich beliebt. Zu zurückhaltend. Zu hochnäsig. Zu ehrgeizig. Gut, er ist auf den 481
Stuhl des Capitán erpicht, aber das läßt er einen ein wenig zu deutlich spüren.« »Ich verstehe, was Sie meinen.« »Und hier wohnt er also. Sehen Sie sich um. Keine Bilder. Kein Schnickschnack. Keine Farben. Nichts. Dieser Bursche hat nichts in seinem Leben. Keine Frau, keine Kinder, kein Privatleben. Nur die Polizei. Warum würde er sonst so nahe an seiner Arbeitsstelle wohnen?« »Aber er ist ein guter Polizist. Sie vertrauen ihm.« »Er ist ein guter Polizist, zugegeben. Aber vertrauen? Jemandem wie dem vertraue ich so weit, wie ich spucken kann.« Ein Geräusch hinter ihnen, halb übertönt vom Lärm auf dem Platz. Menéndez stellte eine gläserne Kaffeekanne auf den Tisch und sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, den sie nicht deuten konnten. Quemada betrachtete die braune Flüssigkeit in der Kanne. »Was dagegen, wenn ich Sie um ein Bier bitte?« »Ja«, entgegnete Menéndez. »Dagegen habe ich etwas. Vor uns liegt ein anstrengender Tag. Bier macht schläfrig.« »Mich regt es an«, sagte Quemada. »Ehrlich.« »Ich habe kein Bier.« »Sie haben kein Bier? Dann muß ich mich wohl mit Kaffee begnügen. Was sollen wir tun?« »Sehen Sie aus dem Fenster. Beobachten Sie die Vorgänge auf dem Platz. Da drüben. Sehen Sie?« Er zeigte zum anderen Ende des Platzes, wo eine große Statue auf goldsilberner Plattform langsam näher schwankte. 482
»Dort hat die Bruderschaft ihren Auftritt. Ihre Mitglieder folgen den Priestern und Ministranten. Es ist ihre Kirchengemeinde, ihre Jungfrau.« »Ja«, sagte Quemada. »Das weiß ich auch.« »Dann ist es ja gut«, erwiderte Menéndez und reichte ihnen ihre Tassen. »Und was sollen wir nun wirklich tun?« »Sie im Auge behalten. Auf alles Ungewöhnliche achten. Ich muß nebenan kurz telefonieren. Konzentrieren Sie sich auf die Leute in Rot. Vielleicht ist unser Mann dabei, vielleicht auch nicht. Achten Sie auch auf andere Vorgänge auf dem Platz.« »Ich bitte Sie, Hauptkommissar, selbst wenn unser Mann eine Maschinenpistole zieht und da unten verrückt spielt, haben ihn die uniformierten Jungs schneller als wir. Das ist doch sinnlos. Sollen wir uns nicht lieber unter die Menge mischen?« »Und wo genau?« mischte sich Maria ein. »Da unten sind doch mindestens fünfzigtausend Menschen. Sie können nicht an allen Stellen zugleich sein.« »Genau«, sagte Menéndez. »Und abgesehen davon wird er so etwas kaum tun. Wenn Sie mich fragen, wird er überhaupt nichts tun. Nicht da unten. Vielleicht ist er nicht einmal da. Es ist nicht …« Menéndez riß sich zusammen. Sie bemerkten es beide. »Was ist es nicht?« fragte Quemada. »Ich fürchte, den Rest habe ich nicht ganz mitbekommen.« »Es ist nicht so, wie es scheint«, sagte Menéndez. »Würden Sie jetzt bitte tun, was ich Ihnen gesagt habe? Wie ich schon sagte, muß ich kurz telefonie483
ren. Da!« Er warf Quemada ein Fernglas zu. Ein kleines Taschenfernglas, ein Pentax. »Das ist aber ein klasse Fernglas, Hauptkommissar. Beobachten Sie damit Vögel?« »Heute kommen Sie mir aber auch hinter all meine Geheimnisse, Kommissar. Planen Sie einen amüsanten Vortragsabend in der Kantine, wenn das alles hier hinter uns liegt?« »Sie sind der Chef«, murrte Quemada und hob das Glas vor die Augen. »Kann man dadurch eigentlich was sehen, ohne zu blinzeln?« Aber Menéndez hatte den Raum bereits verlassen. »Probieren Sie es mal«, sagte Quemada. »Scheint mir mehr eine Damengröße zu sein.« Marias Finger schlossen sich um das matte Metall und suchten nach dem Einstellungsring. Es dauerte eine Sekunde, bis sie die richtige Schärfe gefunden hatte, doch dann stand ihr die Szenerie mit verblüffender Deutlichkeit vor Augen. Sie überflog die Menge: die hingerissen verzückten Gesichter der Priester, die Leidensmienen der Plattformträger, die unter ihrer Last eine Spur mehr schwankten als vielleicht nötig. Und dahinter, in Weiß, Rot und Schwarz, die maskierten Büßer, die Spitzen ihrer Kapuzen bewegten sich leicht im heißen Wind. Maria wanderte mit dem Fernglas über die Vielzahl hochroter Gesichter und hörte plötzlich von irgendwoher ein Geräusch: fernes Donnergrollen. Es kam ihr so vor, als würde sie ein ungeheures, lebendiges Panoramabild betrachten, eine Leinwand, die sich vor ihr bewegte, atmete und brodelte. 484
»Können Sie irgendwas sehen?« fragte Quemada, und sie zuckte unwillkürlich zusammen. Irgend etwas an der Szene vor ihr, ihre faszinierende Ursprünglichkeit, hatte sie in ihren Bann gezogen, aus einer Betrachterin eine Teilnehmerin gemacht. Langsam schüttelte sie den Kopf. »Nichts. Nur Menschen.« »Viele Menschen«, sagte Quemada. »Zu viele Menschen.« Wie ein langer breiter Strom schwemmten die roten Kutten der Büßer hinter der Madonnenfigur auf den Platz. Menéndez irrt sich, dachte sie. Irgendwo, irgendwo da unten in der Menge ist der Mann, der mich töten wollte. Vielleicht trägt er keine rote Robe, aber er ist da irgendwo. Und er war noch nicht fertig. Noch nicht. Diese Gewißheit lag ihr im Magen wie unverdautes Essen. »Sie sehen aus, als ginge es Ihnen nicht besonders«, sagte Quemada besorgt. »Tatsächlich?« »Ja. Sie sind ganz blaß geworden. Alles in Ordnung?« »Ich muß unbedingt etwas Kaltes trinken«, sagte sie. »Ich hole mir Wasser aus der Küche.« Die kleine Küche war makellos. Nirgendwo ein Messer oder ein nicht fortgeräumter Teller. Sie öffnete einen Schrank, nahm ein Glas heraus, eine Flasche Lanjarón aus dem Kühlschrank. Die Kohlensäure schäumte im Glas hoch. Sie hörte Menéndez’ Stimme aus dem Nebenraum, leise, aber so nachdrück485
lich, daß sie die Worte fast verstehen konnte. Er verstummte, und sie stürzte das Wasser so schnell hinunter, daß ihr fast schlecht wurde. Er kam herein, seine Augen funkelten. »Haben Sie gelauscht?« fragte er leise. »Ich … ich wollte mir ein Glas Wasser holen. Plötzlich war mir ein bißchen übel.« »Haben Sie gelauscht?« »Nein.« Er wirkte nicht überzeugt. »Gehen Sie zu Quemada zurück. Sagen Sie ihm, daß wir aufbrechen, sobald sie in der Kirche sind. Wir gehen in die Arena. Ich möchte vor dem Beginn des ersten Kampfes dort sein.« Maria nickte und verließ die Küche. Wie gebannt hockte Quemada vor dem Fenster, das Gesicht dicht an der Scheibe. Als sie sich setzte, sah er sie an. »Sie haben es verpaßt.« »Was?« »Das Vorbeikommen der Jungfrau. Sie sind alle vorbeigezogen, vorbei am Bischof, oder wer der Kerl dort auf den Stufen der Kathedrale auch sein mag. Himmel, als Kind habe ich an dem ganzen Theater teilgenommen. Jetzt könnte ich kaum noch ein AveMaria aufsagen.« »Und was geschieht jetzt?« »Was immer bei diesen religiösen Anlässen passiert. Mehr vom bereits Gehabten. Alle Gemeinden schleppen ihre Madonnen auf den Platz, drängen sich nach vorn durch, erweisen der Kathedrale ihre Ehrerbietung und kämpfen sich wieder nach Hause. 486
Es dauert Stunden, aber offensichtlich haben sie Freude daran.« »Wann beginnt der Gottesdienst?« »Wenn die letzte Jungfrau vorbeigetragen wurde. Die Leute, die sie begleiten, ziehen mit der Prozession weiter. Die anderen gehen entweder in die Kathedrale oder sofort etwas essen und dann in die Arena. Das ist immer so.« »Tradition, meinen Sie?« »Das ist doch das gleiche, oder?« Maria sah zu, wie der rote Strom am anderen Ende des Platzes verschwand, der goldene Kopf der Jungfrau in eine Nebenstraße einschwenkte, die in den barrio führte. »Sobald der Gottesdienst anfängt, gehen wir. Er möchte mit uns in die Arena.« Quemada nickte. »Aber glauben Sie, daß er dann schon mit seinen Anrufen fertig ist? Ich kenne keinen Menschen, der derart telefonvernarrt ist.« »Ich bin mit meinen Anrufen fertig«, sagte Menéndez mit einer Stimme, die Maria zusammenfahren ließ. Hier, auf seinem eigenen Territorium, bewegte er sich sehr leise und ungemein selbstsicher. »Kleiner Scherz, Hauptkommissar«, lächelte Quemada entwaffnend. »Spricht etwas dagegen, daß wir unterwegs einen Happen essen? Ich habe so das Gefühl, daß es ein langer Tag wird.«
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50 Die Arena war einen knappen Kilometer entfernt, aber sie brauchten länger als eine Stunde, um dorthin zu gelangen. Die Menschen strudelten förmlich durch die Straßen. Sobald sie von einem Strom aufgenommen waren, der sich in ihre Richtung bewegte, schwammen sie mit. Bis zur nächsten Kreuzung, an der sie nur hoffen konnten, von der richtigen Woge aufgenommen zu werden. An einem Punkt wurden sie fast von den Füßen gerissen und in eine Bar voller Betrunkener geschwemmt, die mit hochroten Köpfen und laut singend die Gläser schwenkten. Sie klammerten sich hilflos am Zigarettenautomaten neben der Tür fest, warteten darauf, daß der Druck einen Moment lang nachließ, und drängten sich wieder auf die Straße hinaus. Im Stadtzentrum herrschte blanke Anarchie. Irgendeine Einflußnahme auf das Geschehen war unmöglich. Die Stimmung der Menschen um sie herum hatte sich verändert. Irgendeine Katharsis hatte auf dem Platz stattgefunden. Die bedrückte, beklommene Bußfertigkeit war ungehemmtem, fast manischem Frohsinn gewichen. Eine hysterische Atmosphäre schwappte durch die Straßen, mischte sich mit der drückenden Schwüle des aufkommenden Gewitters. Nach rund zwanzig Minuten verlor das Menschengewimmel seine verwirrende Ziellosigkeit, wurde übersichtlicher. Sie näherten sich der Arena, kamen durch schmale, mittelalterliche Straßen. Ro488
sen, Pelargonien und Lilien schmückten schmiedeeiserne Balkone, Gesichter spähten hinter Gardinen hervor. Eiserne Gitter versperrten die Zugänge zu den alten, herrschaftlichen Häusern, bewahrten sie vor dem Ansturm der Massen. Die Menschen strömten an schattigen Innenhöfen mit kühlenden Brunnen vorbei, die heute, am größten Tag der Stadt, verlassen waren. Und dann, unter einem letzten, energischen Schub von hinten, ließen sie die engen Gassen des barrio hinter sich und wurden in die Sonnenglut und in den kleinen Park hinausgeschwemmt, der den Eingang zum weißen Rund der Arena umgab. Auch hier Himmel und Menschen, die sich an Ständen und von fliegenden Händlern Eßbares kauften und aus Weinflaschen tranken, die ohne große Umstände weitergereicht wurden. Vor den Eingängen – sombra oder sol – bildeten sich die ersten Schlangen: Schatten für jene, die ihn sich leisten konnten, Plätze in der Sonne für die anderen. Irgendwo spielte eine Blaskapelle, aber die dünnen, metallischen Töne verloren sich im gutturalen, geschwätzigen Lärm der Menge. So viele Menschen und so wenig Individualität, dachte Maria. Es war, als hätten sie sich für das Ritual zu einem einzigen vielzelligen Geschöpf zusammengefügt und als wäre die Anwesenheit der Polizei, der Autorität, nicht mehr als eine den Stier umsurrende, lästige Fliege. Menéndez drängte sich durch eine der Schlangen, und sie folgten in seinem Kielwasser. Neben ihnen ragten die kreisförmigen Wände der Arena auf, weiß 489
gestrichen, strahlend, blendend, mit steinernem Schnörkelwerk über den Eingängen. Sie kamen zu einem kleineren, unauffälligeren Zugang. »Verwaltung« stand darüber, und davor haderte eine kleine Gruppe mit dem Türwächter: Freikarten, Presseausweise, Gefälligkeiten für einen Freund. Menéndez zeigte seinen Dienstausweis. Der Abfertiger, ein kleiner dünner Mann in mittleren Jahren, begutachtete das Foto, sah sie an und winkte sie weiter. Sie gingen durch die Tür und wechselten in einem Moment von brütender Hitze und Menschenmassen in pechschwarze Dunkelheit und klamme Kühle. »Warten Sie«, sagte Menéndez. Sie taten es und bemühten sich, ihr Sehvermögen den plötzlich veränderten Lichtverhältnissen anzupassen. Nach einer halben Minute, als die schwache Beleuchtung der Gänge das Innere der Arena zumindest halbwegs erhellte, bedeutete er ihnen zu folgen. Sie wandten sich nach rechts und liefen einen schmalen, kaum zwei Meter breiten Gang entlang. Dann erreichte Menéndez eine breite Passage: Rechts von ihnen, mit den Händen an den hohen Eisentoren, warteten die Menschen darauf, in die Arena gelassen zu werden. Links lag die Arena im Sonnenschein, ein paar Helfer harkten sorgsam die Sandfläche. »Hinter der nächsten Passage«, sagte Menéndez. Sie folgten ihm durch einen weiteren Gang unter den Sitzplätzen des Stadions, durchquerten eine weitere Passage, liefen in einen dritten Gang hinein und blieben vor einer Tür mit der Aufschrift »Polizei« stehen. Menéndez öffnete die Tür. Sie traten ein. 490
Rodríguez saß an einem schlichten alten Holztisch und blätterte in einem Papierstapel. Drei gelangweilte Männer in blauer Uniform standen an der Seite der Loge und rauchten. Rodríguez blickte von seinen Unterlagen hoch, lächelte ebenso kühl wie flüchtig und forderte sie auf, sich zu setzen. »Er ist hier«, sagte der Capitán. »Das spüre ich. Er ist hier. Und bei den Kräften, die ich in diesem Rund zusammengezogen habe, gibt es für ihn kein Entkommen.« Er sah auf seine Armbanduhr. In einer Stunde sollte die Corrida beginnen, mit Mateo als erstem Matador. »Wir haben Leute unter den Zuschauern«, sagte Rodríguez. »Auf dem Dach sind Einsatzkräfte mit Feldstechern postiert. Er kann nicht entwischen.« »Warum sind Sie so sicher?« fragte Menéndez. »Sie wissen, daß er hier ist?« Rodríguez nickte, und Maria spürte einen neuen Zug an Menéndez: eine Ungeduld mit dem Capitán, eine Ungeduld, die in Torrillos Anwesenheit nie deutlich geworden war, da er Rodríguez mit Loyalität und Zuneigung überschüttet hatte. Sie fühlte, daß Menéndez dagegen ankämpfte, seine Gedanken laut auszusprechen, daß der ältere Mann erschöpft war, ausgelaugt und damit möglicherweise auch am Ende seines Lateins. »Wie ich Ihnen bereits erklärte«, sagte Rodríguez, und die Heftigkeit, mit der er den Kopf schüttelte, ließ Maria vermuten, daß auch er die Veränderung 491
bemerkte, »wie ich Ihnen bereits mehrfach sagte, ist er ein Wahnsinniger. Ein Wahnsinniger, der vielleicht durch diese vergangenen Dinge animiert wurde, aber nichtsdestotrotz ein Verrückter. Wenn wir ihn haben, ist die Sache erledigt. Aus und vorbei. Vor einer Stunde haben wir seine Adresse in Erfahrung gebracht. Allzu schwer war es nicht. Antonio Mateo ist Drogenhändler. Wir konnten ihm über Kontakte aus dem Drogenmilieu auf die Spur kommen. Er hat eine Wohnung im barrio. Wir haben die Waffen gefunden, die Kutte. Das sollte für eine Verurteilung reichen, selbst wenn wir weiter nichts finden. Und diesen Mistkerl von einem Stierkämpfer kriege ich auch dran. Können Sie sich vorstellen, was uns das für Schlagzeilen bringt?« »Aber woher wissen Sie, daß er hier ist?« fragte Maria. »Es stand an seiner Wand. Er hatte einen dieser Kalender, von einer Brauerei. Dort hat er es eingetragen. Die Zeit, den Ort. Er ist hier.« Menéndez blinzelte, sah sie kurz an und sagte: »Er hat sich das im Kalender eingetragen?« »Wie ich gesagt habe«, murmelte Rodríguez. »Ein Verrückter. Oder wollen Sie das auch bezweifeln, Hauptkommissar?« »Nein, Capitán. Was sollen wir tun?« Rodríguez überreichte ihnen drei Ferngläser. »Nehmen Sie die. Hinter den Schattenplätzen gibt es ein Überwachungsdeck. Kennen Sie es? Gut. Von dort aus haben Sie einen guten Überblick. Alle Einsatzkräfte stehen miteinander in Funkverbin492
dung. Es wird nicht einfach, aber ich möchte, daß Sie sich jeden einzelnen Zuschauer vornehmen. Gesicht für Gesicht. Sie haben ihn gesehen, Maria. Sie wissen, wie er aussieht. Beginnen Sie mit der ersten Reihe der Sonnenplätze, von rechts nach links, von unten nach oben. Sobald Sie ihn gefunden haben, melden Sie sich über Funk. Auf der anderen Seite sitzen Leute, die das gleiche tun. Wenn Sie ihn von der Überwachungsloge aus nicht entdecken, bringen wir sie in einer Pause zwischen den Kämpfen auf der Gegenseite unter. Zeit haben wir genug. Die Arena ist ausverkauft. Sobald die Türen geschlossen sind, kommt niemand hinaus, bis man sie wieder öffnet. Und das geschieht erst, wenn ich es sage.« »Perfekte Planung«, sagte Menéndez. Rodríguez lächelte. »Danke, Hauptkommissar. Sind Sie bereit?« Menéndez nickte, und sie verließen die Loge. »Kennen Sie sich in der Arena aus?« fragte Menéndez, als sie sich unter ein paar niedrigen Deckenbalken in einem spärlich beleuchteten Gang duckten. Maria folgte ihm, ein paar Schritte hinter ihnen Quemada. »Nein, ich würde mich hier nie zurechtfinden. Und es gefällt mir auch nicht. Ich verabscheue enge Räume.« Menéndez bog um die Ecke und öffnete eine Tür, die in der Dunkelheit kaum zu sehen war. Blendendes Licht strömte herein. Am Ende eines schmalen Gangs führte eine Leiter nach oben in die Arena. Me493
néndez ließ ihr den Vortritt. Sie kletterten sechs oder sieben Meter in die Höhe und betraten eine durch ein niedriges Eisengitter gesicherte Plattform. Fünf Metallstühle standen im Hintergrund der Plattform. Maria trat nach vorn an das Gitter. Der Ausblick verschlug ihr nahezu den Atem. Sie befanden sich direkt unter dem Dach der hohen Arena. Unter ihr verliefen die Zuschauerbänke in konzentrischen Kreisen, halb in der Sonne, halb im Schatten. Verglichen mit den Ausmaßen des Rundbaus wirkte die Sandfläche der Arena geradezu winzig. »Ich hatte keine Ahnung, wie hoch wir hier sind«, sagte sie, noch halb schockiert. Menéndez wartete, bis Quemada die Leiter heraufgeklettert war und auf einen der Stühle sank. Dann trat er neben sie an das Geländer. »Beim ersten Mal ging es mir ähnlich. Wenn man die Arena von außen betrachtet, sieht man nichts als die Wände. Von innen, als Zuschauer, konzentriert man sich auf die Kämpfe. Es ist ein gewaltiges Gebäude. Unter den Sitzreihen gibt es jede Menge Platz, der zum Teil als Lagerraum genutzt wird. Dann gibt es noch die Garderoben, die Räume für die Tiere. Verwaltungsbüros. Zu ihnen gelangt man fast ausnahmslos über kleine Gänge, wie die, über die wir gekommen sind. Viel Fläche bleibt aber noch ungenutzt. Das Gebäude ist fast zweihundert Jahre alt. Man begann es zu bauen, stellte einen Teil fertig, nahm den nächsten in Angriff. Mit Polizeiausweisen können wir überall hin, aber marschieren Sie nicht einfach los. Es ist ein wahrer Irrgarten.« 494
»Wie das Labyrinth des Minotaurus?« fragte sie leise. Er lächelte. »Ja, wenn Sie so wollen. Als Kind war ich wie besessen von der Arena. Ständig hing ich hier herum und bot jedem meine Hilfsdienste an, der sie haben wollte. Alles nur, um Freikarten zu bekommen. Ich kenne mich verhältnismäßig gut aus, dennoch bin auch ich vorsichtig. Also ziehen Sie nicht auf gut Glück los. Was auch geschieht: Bleiben Sie in den gutbeleuchteten Bereichen. Dann sollte es keine Probleme geben.« Sie sah sich in der Arena um. Inzwischen begannen die Zuschauer hereinzuströmen: Männer in schwarzen Anzügen, Frauen in farbenfrohen festlichen Kostümen mit Mantillas aus Spitze. Sie wirkten alle so winzig, wie bunt angemalte Ameisen. Am Horizont ballten sich die ersten dunklen Wolken. »Wie viele Zuschauer faßt es?« »Rund fünfundsiebzigtausend Menschen. Und die sind heute mit Sicherheit hier.« »Und da soll ich ein einziges Gesicht herausfinden?« Menéndez hob die Schultern. »Das ist leichter, als Sie möglicherweise glauben. Sie müssen methodisch vorgehen, Reihe für Reihe. Neunundachtzig Prozent können Sie fast sofort ausschalten. Dann konzentrieren Sie sich auf den Rest. So betrachtet brauchen Sie lediglich tausendfünfhundert Leute zu überprüfen. Das sind nicht übermäßig viele.« »Und wenn er sich verkleidet hat?« Menéndez sah sie an, und Maria stutzte. Was lag in diesem Blick? Tatsächlich so etwas wie Bewunderung? »Wenn er sich verkleidet hat … Nun, dann ver495
schwenden wir vermutlich nur unsere Zeit. Aber Anordnung ist Anordnung.« »Ja«, meldete sich Quemada. »Und ein Polizist befolgt stets seine Anordnungen. Also sollten wir endlich anfangen.« Er schnappte sich ein Fernglas, hob es an die Augen und stellte die für ihn geeignete Schärfe ein. Gegenüber begannen sich die Zuschauerränge zu füllen. Auch Maria nahm ein Glas und richtete es auf die Gesichter in den Reihen: Ganz normale, durchschnittliche Leute, ein wenig gelangweilt, mehr als ein wenig erschöpft, freuten sich auf ein Spektakel zum Abschluß der Woche. Niemand kam ihr bekannt vor. Sie waren nichts als eine Menge fremder Gesichter. Sie ließ das Glas sinken. »Das wird nicht leicht«, sagte Maria und spielte am Einstellungsring. »Was ist schon leicht«, knurrte Quemada. »In der Semana Santa nichts. Absolut nichts. Aber in der nächsten Woche … In der nächsten Woche können wir uns ein bißchen erholen.« Er lachte, setzte das Fernglas ab und deutete auf die andere Seite der Arena. »Sehen Sie den Typen da. Dritter Sitz links in der zweiten Reihe unter dem obersten Zugang? Den kenne ich. Er hat den Lebensmittelladen neben dem Haus meiner Schwester. Und das ist nicht seine Frau, die neben ihm sitzt. Soviel ist sicher. Diese Typen widern mich an.« Menéndez blickte auf seine Uhr. »Noch fünfzehn Minuten«, sagte er. »In einer Viertelstunde beginnt der erste Kampf. Wir sollten die Zeit nutzen.« 496
»In Ordnung«, sagte Maria und richtete ihr Fernglas wieder auf die Zuschauerreihen.
51 Zwei Etagen unter und vierhundert Meter westlich von ihnen, in einer kleinen Garderobe mit einem von Glühbirnen eingefaßten Spiegel, wie man ihn für gewöhnlich in Theatern antrifft, blickte auch Jaime Mateo auf die Uhr, sah die Sekunden verrinnen und spürte seine Angst kalt und unerbittlich in der Magengrube. Er trug einen silberglänzenden Anzug, der seinen Körper eng umspannte, weiße Kniestrümpfe und schwarze Halbschuhe. Vor ihm auf dem Ankleidetisch lag die samtene Matadorenkappe. Er setzte sie immer zum Schluß auf, kurz bevor er den Sand der Arena betrat, und schleuderte sie stets von sich, bevor er den Stier tötete. Die Corrida war ein öffentliches Ritual, aber eins, das Raum für private Rituale ließ. Dinge, die er stets tat, Gewohnheiten, die ihn am Leben hielten. Kein Sex in der Nacht vor dem Kampf, kein Alkohol, keine Drogen. Die Uhr, die alte billige Timex, die er besaß, seit er als Halbwüchsiger den Touristen die Handtaschen vom Arm gerissen hatte, umspannte wie immer sein Handgelenk, obwohl der Mechanismus längst den Geist aufgegeben hatte. Mateo überprüfte die Einzelheiten seines persön497
lichen Rituals, überzeugte sich davon, daß alles so war wie stets. Aber immer noch schwitzte er. Er blickte in den Spiegel, sah die Aufdringlichkeit seines Make-ups. Aber so wollten sie ihn: Als jugendliches Wunder, als jungen, gutaussehenden Helden. Das Gesicht hinter der Maske … dafür hatten sie nicht bezahlt. Das brauchten sie nicht zu sehen. Er blickte konzentrierter in den Spiegel, fragte sich, ob die Maske überzeugend genug war. Fragte sich, wie lange sie noch aufrechterhalten werden konnte. Wie viele Kämpfe ihm noch blieben, wie viele Jahre, bevor die Täuschung allzu sichtbar wurde. In der vergangenen Nacht, der langen Nacht nach dem Anruf, hatte er, als es ihm gelang, für kurze Zeit einzuschlafen, von der Arena und dem bevorstehenden Kampf geträumt, einen sonderbaren, beunruhigenden Traum. Er hatte geträumt, daß er den Kampf, den wirklichen Kampf, nicht mit dem Stier, sondern mit den Zuschauern austrug, den Menschen. Das Tier war ein stellvertretender Gegner. Wogegen er mit Messern, Degen und allem, was verletzen und töten konnte, ankämpfte, war die versammelte, vereinigte, primitive Menschenmasse, die gekommen war, um ihn zu sehen, herauszufordern, seine menschlichen Fähigkeiten zu testen, seinen Überlebenswillen. Nachdem er im Traum den Stier getötet hatte, als sein blutender Körper besiegt im gelben Sand der Arena lag, waren sie von ihren Sitzen gesprungen, hatten applaudiert, laut geklatscht und geschrien und waren breit grinsend auf ihn zugeströmt. Reihe für Reihe hatten sie die Bänke verlas498
sen – in seiner fiebrigen Traumphantasie Reihen und Reihen von Gräbern –, waren langsam und zielstrebig die Mittelgänge heruntergekommen, über die Brüstungen geklettert, die den Sand der Arena von den Zuschauern trennten, unablässig lächelnd, freudig erregt, ekstatisch – siegesberauscht. Er hatte sie kommen sehen und sich die Ohren zugehalten, um ihr Getöse nicht zu hören, ihren Begeisterungstaumel. Vergeblich. Er hatte beobachtet, wie sie sich darum rissen, ja miteinander kämpften, um die Waffen vom Sand aufheben zu können, wie sie den Degen aus dem Stierkörper zerrten und die blutige Silberklinge in die Sonne reckten. Er hatte gesehen, wie eine Frau in einem eleganten Kleid aus weißer Spitze, eine reife Frau mit feinen, aristokratischen Gesichtszügen das Blut vom Degen leckte, die scharfe Klinge mit ihrer Zunge liebkoste, sich ins Fleisch schnitt und lachte, mit Tränen in den Augen über den Schmerz lachte. Und dann waren sie über ihn hergefallen, hatten ihn Stück für Stück zerschnitten. Er hatte gesehen, wie seine Körperteile, die Glieder, die Organe, abgetrennt und blutend zu Boden fielen. Sie hatten ihn zerstückelt, und seine letzte Erinnerung, die letzte Empfindung vor dem Erwachen war das Geräusch, mit dem sich ihre scharfen Zähne in seine Fleischteile senkten und Muskeln und Fett von den Knochen rissen, das Geräusch ihrer mahlenden Kiefer, ihrer schmatzenden Lippen. Mateo öffnete die Augen und sah sich im Spiegel, starrte sein Abbild an und rang um Fassung. Als sein 499
Zittern aufhörte, als er sich davon überzeugt hatte, wie dumm es wäre, die kleine Silberdose mit dem weißen Pulver aus seinem Koffer zu holen, stand er auf, drehte sich um und betrachtete die Rückwand der Garderobe. Überall war es das gleiche. In Madrid oder Sevilla, Barcelona oder Cádiz. In jeder Garderobe war ein einfaches Kruzifix an die Wand genagelt. Aber in dieser Stadt, und nur hier, gab es noch etwas anderes. Neben der gemarterten Gestalt des Gekreuzigten hing ein kleines Porträt der Jungfrau von Murillo, ein blasses Gesicht mit durchdringenden, furchtlosen Augen, Augen, die den Schmerz und das Elend dieser Welt kannten und doch unerschrocken blicken konnten. Mateo sah die Jungfrau an und hatte das Gefühl, sich in ihrem Gesicht verlieren zu können. Es strahlte unendliche Ruhe aus, Ruhe, Frieden und Erlösung. Ohne zu wissen, was er tat, schloß Mateo die Augen, faltete die Hände und versuchte zu beten: Laß mich leben! Laß mich leben, und ich werde alles wiedergutmachen. Als er die Augen öffnete, blickte ihn das Gesicht distanziert und skeptisch an. Er wandte sich von der Wand ab und fuhr sich mit der Hand über seine Jacke. Dann griff er in den Koffer, holte die kleine silberne Dose heraus, schüttete ein wenig weißes Pulver auf den Deckel und schnupfte es durch ein dünnes Metallröhrchen. Ein Brausen durchströmte seinen Kopf, ein Brausen, das früher einmal reine Ekstase ausgelöst hatte, inzwischen jedoch nur noch die 500
allgegenwärtige Pein linderte. Er schnupfte noch einmal, und Tränen liefen ihm die Wangen hinunter. Er trat an den Tisch, nahm ein Zellstofftuch und wischte sie ab. Dann setzte er sich und wartete. Darauf, daß er sich besser fühlte, leistungsfähiger. Von draußen, durch die Wände der kleinen Garderobe, drang das Gemurmel der Zuschauer, untermalt von den Klängen einer Blaskapelle. Er war El Guapo. Er hatte in Spanien zahllose Stiere getötet, ohne jemals ernsthaft verletzt worden zu sein. Seine Leistungen in der Arena ließen sich mit denen der besten Matadore vergleichen, mit El Cordobes, vielleicht sogar mit Manolito. Jaime Mateo ging zur Garderobentür, lief über den langen schmalen Gang auf das Licht an seinem Ende zu, trat in die Sonne hinaus. Die Zuschauermenge explodierte. Sie sprangen hoch, schrien und winkten. Die Frauen warfen Blumen, Taschentücher, Strumpfbänder über die Brüstung. Ohrenbetäubend brandete der Beifall auf, hallte von den Rängen wider, brauste von sol zu sombra und wieder zurück. Rechts und links von ihm zogen sich banderilleros und picadores, die Nebendarsteller des Dramas, ein paar Schritte zurück, überließen ihm die Bühne. Er konnte die Pferde riechen, scharf hing der Geruch der Pferdeäpfel in der heißen, gewittrigen Nachmittagsluft. Das war sein Moment, der Moment, der seine Existenz rechtfertigte, der Fokus seines Lebens. Die Fernsehkameras fingen ihn ein, und er lächelte das strahlende Lächeln, das am Abend die TV501
Schirme und morgen die Titelseiten der Zeitung beherrschen würde. Das Lächeln der Zuversicht und Siegesgewißheit. Das Lächeln der Herrschaft über die primitive, begrenzte Welt der Arena. Hoch über ihm, über den ekstatisch wogenden Zuschauermassen, begannen die Fernsehkommentatoren mit ihren Schilderungen, erklärten das Ritual. Sie waren gut informiert. Keiner von ihnen vergaß zu erwähnen, daß El Guapo zum ersten Mal in seiner Karriere seine Gewohnheiten verändert und die Arena barhäuptig betreten hatte.
52 Quemada deponierte das Fernglas auf seinen Knien und rieb sich mit beiden Händen die Augen. »Ziemlich zeitraubende Weise, zu einem Steak zu kommen«, sagte er. Unten im Rund der Arena näherte sich der Kampf seinem Ende. Die banderilleros und picadores hatten ihre Arbeit getan, und Mateo lockte den Stier verspielt seinem Tod entgegen. Selbst aus dieser Höhe, selbst ohne Fernglas konnten sie die bebänderten Pfeile im Körper des Tieres sehen, das Blut, das ihm über den Rücken und aus dem Maul floß. »Jedes Jahr muß ich hier Dienst schieben, und jedes Jahr ist es das gleiche. Was finden die Menschen nur daran? Mir ist das unbegreiflich.« 502
Maria ließ das Fernglas sinken und hakte eine weitere Reihe auf ihrem Notizblock ab. »Wieder nichts, oder?« fragte Quemada. Sie schüttelte den Kopf. »Einige Männer sehen ihm vage ähnlich, bis ich sie mir genauer angesehen habe. Er war nicht darunter.« »Sind Sie sich sicher?« wollte Menéndez wissen. »Sollten wir sie uns nicht schnappen, um sie später ein wenig zu befragen?« »Ich habe mir notfalls ihre Platznummern notiert. Aber ich bin fast überzeugt, daß keiner von ihnen in Frage kommt.« Quemada knurrte, als wollte er sagen: Was haben Sie denn erwartet? »Haben Sie auf dem anderen Beobachtungsdeck schon etwas entdeckt?« fragte Maria. »Nein. Nichts, was der Erwähnung wert wäre. Es scheint eine sehr ruhige Corrida zu werden«, sagte Menéndez. »Sonst haben wir es zu diesem Zeitpunkt bereits mit etlichen Betrunkenen und diversen Streithähnen zu tun. Heute sind mehr Polizisten als je vor Ort, und wir brauchen lediglich die Arena zu beobachten.« »Wenn Ihnen das Vergnügen bereitet«, murrte Quemada. »Wenn er fertig ist, gibt es eine Pause. Dann wechseln wir auf die andere Seite hinüber.« »Wenn Sie glauben, daß das etwas bringt«, maulte Quemada. »Haben Sie einen Blick zum Himmel geworfen? Ich für meinen Teil glaube kaum, daß wir das Ende der Kämpfe erleben. Da braut sich was zusammen.« 503
Menéndez und Maria blickten von den Zuschauerreihen hoch, auf die sie sich während der vergangenen Stunde konzentriert hatten, und erkannten, was er meinte. Der Himmel hatte sich tiefschwarz bezogen, nur noch ein kleiner Streifen Blau war zu sehen, und selbst der schwand schnell. Heiße, statisch aufgeladene Luft begann durch die Arena zu wirbeln, und aus nicht allzu weiter Ferne war Donnergrollen zu hören. »Mist«, sagte Menéndez, als ein erster Blitz durch die Wolkenwand zuckte. »Das hat uns gerade noch gefehlt.« »Nun, das ist nicht zu ändern. Aber vielleicht sollte das jemand unserem Stierkämpferfreund da unten sagen. Er tut so, als hätte er den ganzen Tag Zeit.«
53 Mateo unten in der Arena fühlte sich wohl. Richtig gut. Aus dem Stier hatte er herausgeholt, was in ihm steckte. Viel war das nicht. Üblicherweise stellte man ihm besseres Material zur Verfügung, gute, kämpferische Stiere aus den Ebenen um Jerez oder Cádiz. Aber das hier war ein Tier, das die Mühe kaum lohnte, träge, schwerfällig und stupide. Sie hatten es angestachelt, gereizt, aber noch immer weigerte es sich, irgendwelche Reaktionen zu zeigen, den wutschnaubenden Zorn, das plötzliche Aufwallen von Mord504
lust, das dem Kampf seine Würze verlieh, ihm seine Bedeutung gab. All seine Zweifel waren inzwischen vergessen, und das hatte mit dem Kokain wenig zu tun. Er beherrschte die Situation, war Herr der Arena und in der Lage, das dumme, einfältige Tier zu allem zu verlocken, was er von ihm wollte – bevor er es tötete. Aber die Leistungen eines Matadors hing von dem Material ab, mit dem er arbeiten mußte, und das hier war Schund. Das spürte er, wie jeder fähige Matador, an der verdrossenen, enttäuschten Stimmung der Zuschauer. Dieser Tag war der Höhepunkt der Woche, aber sie bekamen für ihr gutes Geld nichts Ordentliches geboten. Vielleicht war der nächste Stier – es standen ihm noch drei weitere Kämpfe bevor –, vielleicht war der besser. Doch zunächst mußte er aus diesem hier das Beste machen. Erschöpft stand das Tier vor ihm. Sein Rücken war von Wunden bedeckt. Blut floß ihm von den Schultern und vermischte sich mit dem Schleim aus seinem Maul. Es mußte seine ganze Kraft aufbieten, um sich auf den zitternden Beinen zu halten. Seine Augen … Er konnte seine Augen nicht erkennen. Sie waren zu klein und zu dunkel. Er sah ihnen gern in die Augen. Sie sagten viel über das Tier aus. Er konnte in ihnen lesen. Aber dieser Stier taugte nicht für die Arena. Er stand ergeben vor ihm, zitterte vor Erschöpfung und wartete auf den Tod. Er warf die Muleta und den Degen zur Seite und ging in die Knie. Müder Applaus von den Rängen. Mateo hob die Hände über den Kopf und bewegte sie elegant wie ein Ballettänzer. 505
Er schloß die Augen und begann langsam auf den Knie vorwärts zu rutschen, improvisierte, spielte mit dem Stier vor ihm. Es gab einen Moment, stets gab es einen Moment, an dem das Spiel endete und der Tanz mit dem Tod Wirklichkeit wurde. Wenn er nicht mehr an die Zuschauer, Fernsehkameras denken konnte, auch nicht daran, was die Zeitungen am nächsten Tag schreiben würden. Wenn er aus dem Instinkt heraus kämpfte, ohne nachzudenken. Das waren die unverfälschtesten, intensivsten Augenblicke seines Lebens. Er sehnte sich nach ihnen, genoß jede einzelne Sekunde, vom langsamen Ausblenden der Außenwelt bis zur Tat, dem Degenstoß, der alles beendete. Es war der absolute Höhepunkt seines Seins, und alles andere, alles Äußerliche im Vergleich dazu ohne Belang. Mateo schob sich noch näher an das Tier heran, spürte, daß die Luft heißer wurde, spürte einen animalischen Geruch, der ihn nicht störte, und öffnete die Augen. Schnaufend stand der Stier über ihm, blutiger Speichel tropfte auf seine Knie. Seine Augen … Noch immer wirkten die Augen undurchdringlich, waren selbst aus dieser Nähe kleine schwarze flüssige Punkte, die sich jeder Deutung entzogen. Blind für alles außer der Körperlichkeit des Stiers vor ihm, schüttelte er den Kopf, nahm die zunehmende Unruhe der Zuschauer wahr – und noch etwas anderes? Das Tier sah ihn nicht an, sondern durch ihn hindurch. Es war dem Kampf, der Arena entrückt. Es war irgendwo anders, wartete auf Erlösung. Auf den Tod. 506
Er kniff die Augen zusammen, hob die Hände und berührte die Wangen des Tieres. Die Muskeln zuckten unter seinen Fingern, das Fell, das samtweiche Fell, war heiß und feucht von Schleim. Langsam strich er über das Maul des Tieres, seinen Kopf, seine Brauen. Der Stier senkte leicht den Kopf, aber es reichte, daß er die Hörner berühren konnte. Er streichelte sie zärtlich, liebevoll, fühlte den Schaft, fühlte die Spitze, genoß die Ekstase der Erregung in seiner ganz persönlichen dunklen Welt. Was außerhalb lag, existierte nicht mehr. Er konnte ihre nachempfundene Erregung nicht wahrnehmen, das wortlose Aufstöhnen ihrer Zustimmung nicht hören. Er war eins mit dem Geschöpf, das er vernichten würde, und mit diesem Wissen begann und endete sein Sein, seine Existenz. Er strich über die heißen, zuckenden Wangen und sah das Tier wieder an. Jetzt erwiderte der Stier seinen Blick. Seine Augen waren nicht länger unergründlich schwarz und ausdruckslos, sondern tief und leuchtend. In ihnen sah er sein Spiegelbild, das leicht verzerrte Bild eines Mannes in einem silberglänzenden Anzug, der im Sand einer großen Arena kniete, fasziniert und im Bann eines geheimnisvollen Rituals, das ihn, das Tier und die Tausende um sie herum vereinte in einem Mysterium von Leben, Blut und Tod. Ein fast schmerzhaftes Glücksgefühl durchfuhr Mateo, als er dem Tier in die Augen starrte. Dann, unbewußt, ohne nachzudenken, streckte er die Arme aus, umschloß den majestätischen Kopf mit beiden 507
Händen und drückte seine Lippen auf das Maul, schmeckte das Blut und den Speichel, öffnete den Mund, leckte ihm das geronnene Blut von den Wangen, seinen Nüstern, und packte sein Fell so fest, daß es sich zwischen seinen Fäusten anfühlte wie zerknüllter Stoff. »Wir sind eins«, sagte Mateo durch das Blut und den Schleim, und das Kokain raste durch seine Adern. »Wir sind eins.« Nicht allzuweit entfernt machte sich ein Mann bereit. Dreißig Meter höher setzte Quemada das Fernglas ab und sagte: »Verdammt. Diesmal gibt dieser Irre seinen Affen aber wirklich Zucker.« Blitze zuckten über den Himmel, Donner dröhnte, die Welt verdunkelte sich. »Ich sage Ihnen, er ist durchgedreht«, rief Quemada. »Um Himmels willen, sehen Sie hin. Er küßt das verfluchte Biest!« Menéndez und Maria richteten ihre Gläser in das Zentrum der Arena. Dort kniete Mateo noch immer, den Kopf des Stiers zwischen den Händen, die Finger um die Hörneransätze verkrallt. Seine Lippen bewegten sich wie verzückt über das Maul des Tieres. Unwillige Rufe waren von den Rängen zu hören, das anschwellende Grollen der Unzufriedenheit. Erneut erdröhnte der Himmel, und jetzt begann es zu regnen, ein paar sporadische Tropfen zunächst, aber dann, innerhalb von Sekunden, begann es zu schütten. Wahre Regenfluten trommelten auf das 508
Dach ihres Beobachtungsdecks und verwandelten den Ring der Arena in ein schwimmendes Sandmeer. Aber noch immer kniete Mateo da unten. Der Kopf des Tieres in seinen Händen begann leicht zu zucken. »Sehen Sie? Jetzt holt man ihn da raus«, sagte Quemada. Am Rand der Sandfläche bewegte sich einer der banderilleros, eine Gestalt in stumpfgoldenem Anzug, zügig auf Mann und Tier zu. »Er ist verrückt. Sie müssen ihn rausbringen.« Maria beobachtete die Gestalt, die durch den strömenden Regen lief, und ihr wurde ganz kalt. Sie drückte sich das Fernglas so fest ans Gesicht, daß es schmerzte, und ließ ihn nicht aus den Augen. Er hatte noch gut zehn Meter zu überwinden und schien keine Eile zu haben. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht, und sie wußte, was er tun würde. Sie sah, daß er sich bückte, die Muleta aufhob, den Degen aufhob, und sie sagte, ohne das Glas abzusetzen: »Das ist er. Menéndez, das ist er!« Und sie sah zu, wie die Gestalt auf den Mann vor dem Stier zutrat, direkt hinter ihm stehenblieb, seinen Arm zurückriß und ihm die Klinge des Degens mit einer einzigen Bewegung tief in die Brust stieß. Durch das Gewitter, durch den Regen hörte sie keinen Schrei, wußte aber, daß er geschrien haben mußte. Sie sah, wie Mateo mit weit aufgerissenem Mund nach hinten kippte, sah den Stier zurückzucken. Blut floß aus seinem Maul, das der Degen zerfetzt hatte, nachdem er den Körper des Stier509
kämpfers durchbohrt hatte. Und sie sah zu, wie der Mann in Gold die Klinge fallen ließ, sich umdrehte und losrannte. Schnell und zielbewußt direkt unter ihnen davonrannte und verschwand. Unbehelligt von der Armee von Polizisten, die im Chaos des Unwetters nicht wußten, was sie als erstes machen sollten. Als sie das Fernglas sinken ließ, eilte Menéndez bereits die Leiter vom Beobachtungsdeck hinunter. Sprachlos, ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, folgte sie den beiden Männern Stufe um Stufe in die dunklen, feuchten Gewölbe der Arena.
54 Unten am Ende der Leiter angekommen, hieb Menéndez auf die Tasten seines Funkgeräts ein, hielt es sich ans Ohr und fluchte. Aus dem Hörer kamen nur Knistern, Rauschen und unverständliche Wortfetzen. Inzwischen begannen Leute die Brüstungen zu überklettern, liefen durch den nassen Sand auf den am Boden Liegenden zu. Ein Angestellter der Arenaverwaltung richtete eine Pistole auf den Kopf des Stiers. Langsam, aber sicher geriet das Geschehen außer Kontrolle. Menéndez drängte sich durch das Menschengewimmel im Gang neben der Leiter, entdeckte einen Angestellten, einen kleinen Mann mit Schnurrbart, und drückte ihn gegen die Wand. 510
»Polizei«, knurrte Menéndez und wies seine Dienstmarke vor. »Haben Sie gesehen, wohin er gelaufen ist? Der Mann aus der Arena?« Der Mann nickte, Furcht und Entsetzen standen in seinen Augen. »Da entlang.« Er zeigte auf einen der drei schmalen Zugänge, die unter den Ostflügel führten, den ältesten und verwinkeltsten Bereich der Arena. »Das ist doch noch immer der Bereich für die Tiere, stimmt’s?« wollte Menéndez wissen. »Dort werden die Stiere untergebracht, bevor man sie in die Arena läßt?« »Ja.« »Hält sich dort im Moment noch jemand auf?« Der Mann schüttelte heftig den Kopf. »Meines Wissens nicht. Die Stiertreiber halten sich bis zum Beginn eines Kampfes außerhalb auf. Es ist ein Bereich, den man lieber meidet.« »Gut«, sagte Menéndez. »Gibt es irgendwo ein Haustelefon?« »Da an der Wand hängt eins.« »Rufen Sie Capitán Rodríguez an. Er ist in der Polizeiloge. Sagen Sie ihm, Sie hätten mit Hauptkommissar Menéndez gesprochen und der ließe ihm ausrichten, daß die Tore geöffnet werden müssen. Haben Sie das verstanden? Wir müssen die Tore öffnen. Die Leute werden unruhig. Wenn sie nicht wissen wohin, kann es sehr schnell zu einer weiteren Massenpanik kommen.« Der Angestellte warf einen Blick auf die Menschenmenge in der Passage, die nervös nach einer 511
Möglichkeit zum Verlassen der Arena suchte. »Ich rufe ihn sofort an.« Menéndez zeigte auf eine kleine ramponierte Tür und fragte: »Da hindurch?« »Ja.« Der Mann nickte. »Wollen Sie da etwa hinein?« »Irgend jemand muß es tun«, erwiderte Menéndez grimmig. »Wissen Sie, wie es dahinter aussieht? Einmal in die falsche Richtung, und Sie finden sich stundenlang nicht mehr zurecht.« »Ich werde ein Wollknäuel mitnehmen«, murmelte Menéndez. »Sie können die hier haben«, sagte der Mann und löste eine Taschenlampe von seinem Gürtel, knipste sie kurz an, wieder aus und streckte sie ihm entgegen. Menéndez nahm sie, überprüfte ihr Gewicht und gab sie an Maria weiter. »Danke«, sagte er und drängte sich durch die Menge. Quemada und Maria folgten ihm auf den Fersen. Als er vor der Tür stand, holte er die automatische Pistole aus seinem Schulterholster, überprüfte sie, steckte sie wieder ein und forderte Quemada auf, das gleiche zu tun. Die Menschen hinter ihnen wurden zunehmend unruhiger, die Atmosphäre war aufgeladen mit Verunsicherung, Nervosität und unbewußter Angst. »Wenn wir da drin sind, bleiben wir eng beieinander. Und Sie tun genau das, was ich sage«, befahl Menéndez. »Verstanden?« »Sie sind der Chef,« erwiderte Quemada. 512
»Wegen der Dunkelheit werden wir uns nur schwer orientieren können. Es gibt lediglich zwei Möglichkeiten, diesen Bereich zu betreten und zu verlassen. Wir müssen darauf vertrauen, daß er nicht am anderen Ende entkommt, daß dort der Capitán Position bezogen hat. Wir müssen Abschnitt für Abschnitt gründlich durchkämmen. Maria, Sie halten sich direkt hinter uns. Schalten Sie die Lampe ein, wenn wir nicht gut genug sehen können. Ich möchte, daß auch Sie sich aufmerksam umsehen. Wir brauchen alle Augen.« »Das Spiel kenne ich«, grinste Quemada. »Das habe ich gespielt, als ich frisch zur Armee kam.« »Wie gut für Sie. Aber jetzt ist es kein Spiel.« Er öffnete die Tür, sie gingen unter einem schmalen Torbogen hindurch und betraten eine Welt absoluter Finsternis. »Licht«, zischte Menéndez. Maria fummelte nach dem Schalter, und gleich darauf zitterte ein schmaler, gelblicher Lichtstrahl durch die Düsternis. »Moment«, flüsterte Menéndez. »Gewöhnen wir unsere Augen ein wenig an die Dunkelheit.« Sie warteten, atemlos, mit den Rücken zur feuchtkalten Innenwand des Ganges. Links von ihnen fiel durch die offenstehende Tür ein schwacher Lichtschein auf den Boden. Über sich hörten sie das Getrampel der Zuschauer, die ihre Plätze verließen. Es hörte sich an wie eine Herde auf der Flucht. Regenwasser tropfte unablässig von der Decke, platschte auf den Steinboden, ließ sie erschreckt zusammen513
zucken, wenn es ihnen ins Gesicht oder auf die Hände fiel. Zunächst schien es drinnen ganz still zu sein, doch dann konnten sie Geräusche in der Dunkelheit ausmachen. Das Scharren von Hufen auf Stroh, leises, keuchendes Atmen, Grunzen und Muhen. Sie konnten die Tiere auch riechen, den warmen, erdhaften Geruch von Rindern und ihrem Dung. »Suchen wir nach dem Lichtschalter«, sagte Menéndez leise. »Er muß gleich neben der Tür sein.« Er trat in den schmalen Lichtkegel und wanderte mit der Hand über die Wand. Nichts. Auf der anderen Seite des Ganges tasteten Quemada und Maria. Die Steine fühlten sich kalt und feucht an. Sie spürten die ölige Glätte von Lackfarbe, die aufgesprungenen Umrisse der Ziegel. »Hier ist er«, sagte Maria. Ihre Finger betasteten das Rund eines altmodischen Bakelitschalters. Sie hörten es knacken, dann noch einmal. »Er funktioniert nicht.« Menéndez trat neben sie und versuchte es selbst. »Da muß es noch einen anderen geben. Der hier ist uralt.« Gewissenhaft suchten sie die Umgebung der Tür ab. »Es gibt keinen weiteren Schalter, Hauptkommissar«, sagte Quemada. »Der hier muß es sein. Entweder ist er altersschwach, oder er hat ihn irgendwie außer Betrieb gesetzt.« »Mist!« fluchte Menéndez, und in seiner Stimme klang eine zusätzliche Verbitterung mit, die keiner 514
von ihnen recht verstand. Er schwieg einen Moment lang, dann murmelte er etwas vor sich hin, drehte sich um und schrie aus Leibeskräften in die Dunkelheit hinein. »Polizei! Wir sind bewaffnet. Kommen Sie heraus, stellen Sie sich. Unverzüglich!« Die Worte hallten in der Finsternis wider, spalteten sich in einen ganzen Chor von Stimmen auf, der langsam schwächer wurde, erstarb. Als die letzten Reste von Menéndez’ Stimme verklungen waren, lauschten sie, lauschten so angestrengt, daß sie glaubten, ihren eigenen Atem zu hören, das Pulsieren des Bluts in ihren Adern. Doch da war nur das zu vernehmen, was sie zuvor schon gehört hatten. Nichts als das nervöse Scharren der Tiere, ihr leises Schnaufen, das unablässige Tropfen des Wassers und das Fußgetrampel über ihren Köpfen. Aber dann hörten sie es, schwach zunächst, dann ein wenig lauter. Ein leises, bedächtiges, überlegenes Lachen. Einen Moment lang glaubte Maria, ihren Sinnen nicht trauen zu dürfen, glaubte, daß sich die ganze Welt in Wahnsinn verlor. Das klang so gar nicht nach einem Mann in der Falle, das war kein Lachen der Kapitulation. Menéndez griff in seinen Sakko, zog die Pistole hervor. Quemada hörte das Geräusch und brachte seine Waffe in Anschlag. »Antonio Mateo«, dröhnte die Stimme des Hauptkommissars durch die Dunkelheit. »Wir kennen Ihren Namen. Wir kennen Ihre Adresse. Wir wissen, was Sie getan haben. Von hier gibt es keinen Ausweg, den wir nicht umstellt hätten. Es ist vorbei.« 515
Wieder lachte er auf, noch ein bißchen lauter. Das Lachen brach sich an den Wänden, schien sie zu verspotten. Und dann sagte er etwas: »Verfluchte Bullen.« Die Worte riefen ihr alles in Erinnerung. Die Anrufe. Die Nacht, in der er sie töten wollte. Beim Klang seiner Stimme tauchte sein Gesicht vor ihr auf, überdeutlich. »Verfluchte Bullen. Ihr wißt nichts. Gar nichts.« Etwas bewegte sich. Etwas Massives. Die Tiere begannen zu muhen, wurden unruhiger. »Er ist bei den Stieren«, sagte Quemada. »Er muß da drinnen bei ihnen sein. Der Capitán hat recht. Der Typ ist wahnsinnig.« »Licht, Maria. Die Lampe. Leuchten Sie nach vorn.« Zunächst zuckte der dünne gelbe Strahl wild durch die Dunkelheit, doch dann leuchtete sie die angegebene Richtung strichweise aus. Etwa zehn Meter vor ihnen bewegten sich dunkle Schatten unruhig hin und her. Als das Licht auf sie fiel, funkelten die Augen der Tiere auf wie Spiegel. Vor ihnen war die Umzäunung auszumachen. Es sah aus, als wären sie eine kleine, für den Verkauf eingepferchte Herde. Ihre Umrisse, die Kurven ihrer Hörner, die langen, gewölbten Linien ihrer Rücken verschoben sich in ihrer Rastlosigkeit unablässig. Flüchtig tauchte eine andere Gestalt im Lichtstrahl auf und war wieder verschwunden, von anderer Form, anderer Farbe: die Gestalt eines hockenden Mannes. »Haben Sie ihn gesehen?« fragte Quemada. 516
»Ja«, erwiderte Menéndez. »Maria, halten Sie die Lampe auf die Tiere gerichtet. Er benutzt sie als Deckung.« »Reizende Deckung«, murmelte Quemada. »Wie zum Teufel sollen wir ihn da rauskriegen?« »Wir warten ab. Er kann nicht an uns vorbei.« Geräusche am anderen Ende des Ganges, plötzlicher Lichteinfall. Schatten verdunkelten die Tür, ihre Stimmen hallten durch die nachtschwarze Finsternis. »Capitán?« rief Menéndez. »Haben Sie ihn, Hauptkommissar?« Rodríguez’ Stimme klang verspannt. »Sind Sie sicher, daß er hier drinnen ist?« »Wir haben ihn gesehen. Er ist im Gatter bei den Stieren.« Kurzes Schweigen, dann sagte Rodríguez: »Sind Sie in der Nähe der anderen Tür? Er kann also nicht entkommen?« »Nein, er kann nicht hinaus. Wir brauchen nur zu warten. Aber wir benötigen mehr Licht, ein paar Scheinwerfer. Er kann uns nicht entkommen.« »Gut. Ich habe jede Menge Männer bei mir, uniformierte und bewaffnete Polizisten. Er sitzt in der Falle.« Rodríguez’ Stimme wurde lauter, hörte sich fast bühnenreif an. »Können Sie uns hören? Haben Sie das alles verstanden?« »Warum haut ihr nicht einfach ab?« kam eine mürrische Stimme von irgendwoher aus der Dunkelheit. »Einen von euch habe ich bereits erledigt, habe ihn abgestochen wie ein Schwein. Wollt ihr wissen, wie er sich angehört hat?« 517
Ein hohes, schrilles Quieken durchschnitt die Düsternis, gefolgt von spöttischem Gelächter. Quemada zog pfeifend den Atem ein. »Eins muß ich Ihnen sagen, Hauptkommissar«, wisperte er Menéndez zu. »Den kriegen wir nie hinter Gitter. Der verschwindet gleich in der Klapsmühle.« »Hauptkommissar?« dröhnte Rodríguez. »Er ist also bei den Tieren, sagten Sie? Im Gatter?« »Ja. Wir haben ihn einige Male gesehen, aber er versteckt sich immer wieder hinter ihnen. Vermutlich glaubt er, wir würden uns nicht trauen, ihn da rauszuholen.« »Und damit hat er verdammt recht«, flüsterte Quemada. »Verstehe«, schrie Rodríguez. »Na, dann werden wir ihn eben eines Besseren belehren.« Menéndez hörte das unmißverständliche metallische Klicken und hörte sich sagen: »Aber er ist nicht bewaffnet … Er hat keine Pistole …« Dann löschte das Aufdröhnen einer Waffe jedes andere Geräusch aus, so laut, daß sie um ihre Trommelfelle fürchteten. Eine gelbe Flamme schoß durch die Dunkelheit, beleuchtete für einen Moment lang den gesamten höhlenartigen Raum. Die Szene prägte sich Maria ein wie eine Fotografie: die verschreckten Stiere im Gatter, zwischen ihnen eine hingestreckte – hingestreckte? – Gestalt, Quemada und Menéndez, die sich mit verzerrten Gesichtern die Ohren zuhielten. Und weiter hinten, als undeutliche Umrisse vor dem durch die Tür einfallenden Licht, scharten sich drei oder vier Männer 518
um den Capitán, der mit der Pistole in die Luft zielte. Dann wieder Dunkelheit. Ein weiterer Schuß. Irgend etwas prallte von Steinwänden ab, pfiff durch den Gang. »Hinlegen!« schrie Menéndez, und sie warfen sich auf den Boden. Vor ihnen erwachten die Stiere aus ihrer Erstarrung, begannen auszukeilen und zu brüllen. »Er bringt ihn um«, sagte Quemada, flach auf dem Steinfußboden liegend. »Der Capitán hat den Verstand verloren. Er will die Stiere so rasend machen, daß sie ihn töten.« Sie waren sich so nahe, daß sie einander in die Augen sehen konnten. In Menéndez’ starrem Blick lag etwas, was sie nicht wiedererkannte, was ihr nicht gefiel. Das Getöse der Stiere nahm unerträgliche Ausmaße an. Von der Selbstsicherheit des Mannes und seiner Arroganz war nichts mehr zu spüren. Er schrie und verlangte, gerettet zu werden. Mit einem Satz sprang Menéndez hoch und trat in den Gang. Seine Silhouette zeichnete sich vor dem einfallenden Licht ab. Seine Stimme hallte vom Mauerwerk wider. »Antonio Mateo! Kommen Sie auf mich zu. Kommen Sie auf die Tür zu. Ihnen wird nichts geschehen. Sie werden …« Nichts bewegte sich im Gatter. Jedenfalls kein Mensch. Sie hielt den Lichtstrahl der Lampe konzentriert auf das Gatter gerichtet, wollte genau sehen, verstehen, was da geschah, aber nichts Menschenähnliches bewegte sich auch nur einen Zentimeter. 519
»Menéndez …«, sagte sie. »Da ist …« Und dann ging die Welt erneut in der Explosion eines Schusses unter, lauter als je zuvor. Brüllend hoben die Stiere die Vorderläufe, versuchten in ihrer Panik, einander zu überklettern. Und zwischen ihnen wurde die Gestalt eines Mannes niedergetrampelt. Dunkle Flecken breiteten sich auf seinem Oberkörper aus. »O mein Gott«, sagte Quemada, und Maria spürte, wie neben ihr etwas dumpf auf dem Boden aufschlug. Sie leuchtete mit der Taschenlampe links neben sich. Dreißig Zentimeter von ihr entfernt lag Menéndez, zusammengekrümmt, mit offenem Mund, offenen Augen. Die Hälfte seines Kopfes war fort, und der gelblich düstere Schein der Lampe verlieh der zerfetzten Hirnmasse, den zersplitterten Schädelknochen eine surreale, filmeske Qualität. Die Entfernung zur Tür war nicht groß, sie bewältigte sie mit einem Satz, und dann stützte sie Quemada, während sie hilflos würgte, ihren gesamten Mageninhalt auf den nassen, sandigen Boden entleerte.
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55 Das Gewitter war vorüber. Es hatte sich verzogen und die unerträgliche Schwüle mit sich genommen. Feiner, warmer Regen nieselte vom bewölkten Himmel. Maria saß auf den Stufen zwischen den Bankreihen. Kalter Schweiß klebte auf ihrer Haut, ein bitterer Geschmack in ihrem Mund. Quemada zog eine silberne Taschenflasche aus seinem Jackett und streckte sie ihr entgegen. Sie schüttelte den Kopf. »Wenn Sie gestatten«, sagte er, schraubte den Verschluß auf und nahm einen tiefen Schluck. Weinbrandgeruch drang ihr in die Nase. Sie besann sich anders, streckte die Hand nach der Flasche aus und setzte sie an die Lippen. Wie flüssiges Feuer brannte der Alkohol in ihrer Kehle. Es war ein schmerzhaftes, aber gutes Gefühl. Es klärte ihr den Kopf, ließ sie wieder logisch denken, eine gewisse Ordnung in das Durcheinander ihrer Überlegungen und Erinnerungen bringen. »Ich möchte ihn sehen«, sagte sie. »Menéndez? Sie haben ihn fortgebracht.« »Nein«, sagte sie. »Ihn.« Quemada sah sie an und schüttelte den Kopf. »Der Hauptkommissar war schon kein besonders schöner Anblick, aber dieser Kerl … Ich sage Ihnen, das ist kein Vergnügen.« 521
»Ich will ihn sehen.« Ihr Gesicht schien wie aus Stein gemeißelt, blassem, hartem Stein. Eine Schneekönigin läßt sich nun einmal nichts sagen, dachte Quemada. »Halten Sie sich an mich. Sonst könnte es vielleicht Probleme geben. Die Leute von der Spurensicherung wimmeln bereits überall herum. Es kommt mit Sicherheit zu einer Untersuchung darüber, warum der Capitán so herumgeballert hat. Ganz gleich, was der Kerl auch über Torrillo gesagt hat. So etwas tut man einfach nicht. Also bleiben Sie in meiner Nähe.« Sie standen auf und liefen zur kleinen Tür zurück. Die Gewölbe dahinter waren jetzt taghell erleuchtet. Eine ganze Reihe nackter Glühbirnen zog sich die Wände entlang. »Was war vorhin mit der Beleuchtung?« fragte Maria. »Warum hat sie nicht funktioniert?« »Der Kerl hatte die Sicherung herausgeschraubt. War verdammt gut vorbereitet. Hat sich mit einem fremden Ausweis Zugang verschafft, als banderillero verkleidet. Hatte vermutlich alle Zeit der Welt für die Ausführung seiner Pläne.« Ein paar Männer in Zivil bewegten sich im zentralen Bereich um das Gatter, fotografierten, machten Notizen. Die Stiere waren inzwischen fortgeschafft worden. Der Boden war mit Stroh, Pisse und Dungfladen bedeckt. Es roch wie in einem Kuhstall. Quemada schlenderte auf die Männer zu, Maria folgte ihm. »Entschuldigung«, sagte Quemada, schob sich 522
nach vorn durch und stützte sich mit den Händen auf das Metallgitter des Gatters. »Die Dame hier kann ihn identifizieren, wenn ihr wollt, Jungs.« Ein mürrischer Mann mit sauber gestutztem Spitzbart grinste. »Tatsächlich? Na, das wär doch mal was.« Sie trat neben Quemada an das Geländer. Der Mann lag in der Mitte der Einfriedung. Er trug denselben stumpfgoldenen Anzug wie in der Arena, doch jetzt war er zerrissen und blutbefleckt. Ein Knie war zerschmettert, das Schienbein total verdreht. Knochensplitter und Knorpelgewebe drangen aus dem Fleisch. Dunkle Blutflecken zeigten sich auf Unterleib und Torso, wo ihn vermutlich die Hufe getroffen hatten. Das Genick war eindeutig gebrochen, der Kopf grotesk zur Seite gedreht. Sie starrte das Gesicht an. Unterhalb der dunklen, gewellten Haare, knapp unter der Stirn war es aufgerissen. Vom Mund über die Nase bis zum linken Auge war ein riesiger Fetzen Fleisch herausgerissen, klappte nach hinten, ließ Knochen und Hirnmasse sehen. Fliegen summten aufgeregt herum, taten sich an Blut und Gewebe gütlich. »Haben Sie genug gesehen?« fragte Quemada. »Glauben Sie mir, dieser Mann ist tot.« Bewegung durchlief die kleine Gruppe. Rodríguez trat nach vorn und stellte sich neben sie. Seine Miene war ausdruckslos, leer. Er warf einen Blick auf den zerfetzten Körper auf dem Boden, und sein Kinn sackte herab. »Sie haben ihn umgebracht«, sagte sie mit einer 523
Stimme, die ihr ganz fremd vorkam. »Sie haben sie beide getötet, dabei hätten Sie nur abzuwarten brauchen.« Rodríguez schloß die Augen. Sie sah, wie sich seine Hände um das schmutzige Metallgeländer krampften, und versuchte, seine Gedanken zu lesen. Versuchte, so etwas wie Mitgefühl für ihn aufzubringen. »Ich habe einen Fehler begangen«, sagte er, und sein Gesicht schien wie aus Stein gehauen: starr, zu keinem Gefühlsausdruck fähig. »Als er von … von Torrillo zu sprechen begann, habe ich einen Fehler begangen. Ich dachte, ich könnte ihn zur Aufgabe zwingen. Ich habe mich geirrt. Diese Leute …« Er hob die Hand, deutete mit dem Daumen hinter sich. »Haben Sie sie gesehen? Wissen Sie, wer sie sind? Sie waren bereits hier. Ich hatte sie zur Unterstützung angefordert. Darin liegt eine gewisse Ironie, Frau Professor. Sie werden mich um meinen Posten bringen, wenn ich nicht vorher zurücktrete. Man begeht einen Fehler, und man bezahlt dafür. Menéndez … war ein guter Mann. Es ist eine Tragödie. Für ihn. Für mich. Und wofür? Für das da!« Sichtlich angewidert deutete er auf den Toten. Maria spürte das Blut in ihrem Kopf rauschen, fühlte sich auf einem schmalen Grat zwischen klarem Bewußtsein und Wahnsinn balancieren. »Das da«, wiederholte sie und schwang sich auf das Geländer. Es dauerte einen Augenblick, bis sie begriffen, dann schrien sie ihr zu, gefälligst zurückzukommen. Sie hob ein Bein über das Geländer, dann das ande524
re, sprang in das blutige Stroh und trat auf den Toten zu. Ganz langsam und sehr bedacht bückte sie sich, griff nach dem blutigen Fleischfetzen und legte ihn wieder über das Gesicht des Toten. Doch selbst jetzt war es kein Gesicht mehr. Es war Fleisch, zerrissenes, zerfetztes Gewebe. Ein auf seine organischen Bestandteile reduzierter Mensch. Sie betrachtete das Gesicht, starrte es an, starrte immer intensiver, bis irgend etwas in ihr leise zu summen begann wie ein kleines, lebendiges Wesen, und dann packten sie die Arme, schüttelten sie, zerrten sie fort, hinaus in das milchige Licht, den feinen, warmen Regen, die Welt. Maria Gutierrez machte sich bewußt, daß Tränen über ihr Gesicht strömten. Sie wischte sie mit ihrem Ärmel fort, wischte sich über die Nase, lief durch das offene Tor der Arena in den Park hinaus, durch den Schmutz, durch den Abfall, der vom leichten Wind hochgewirbelt wurde, und dachte unablässig, unaufhörlich … Kein Regen, Bär. Wir waren uns einig. Kein Regen.
56 Von Freude, von Begeisterung war nichts zu spüren. Die Straßen hätten vor Menschen, Geräuschen und Farben überschäumen müssen. Aber die Menschen hielten sich hinter Türen und Mauern auf, dorthin 525
getrieben vom Regen und der Atmosphäre, der seltsam düsteren Stimmung, die seit Tagen über der Stadt gelegen und sich in der Arena gewaltsam entladen hatte. Gerüchte über Mord, Verrat und Tragödien machten die Runde, vor allem in den kleinen Bars des barrio, die bis an den Rand ihres Fassungsvermögens mit gereizten, aufsässigen jungen und alten Männern gefüllt waren, die sich getäuscht und betrogen fühlten. Sie tranken billigen Rotwein, mit Weinbrand versetzten Kaffee, sprachen wenig und starrten auf Fernsehschirme, sahen sich immer wieder Mateos Tod an, erst auf dem einen Kanal, dann auf einem anderen, erlebten jede einzelne Sekunde wieder und wieder, suchten nach Antworten, die es nicht zu geben schien. Die Woche hatte mit einer Schändlichkeit geendet, einer Schändlichkeit, die sie alle infiziert hatte. Und die Tatsache, daß sie ihre Infektion kannten, den Virus in sich spüren konnten, machte alles noch ärger. Sie wußten, daß sie im Grunde sich selbst verabscheuten. Ohne stehenzubleiben, ohne sich bewußt zu werden, wo sie war, lief Maria durch schlammige Straßen, durch Haufen verwehten Abfalls. Die Haare klebten ihr strähnig am Kopf. Ihre Kleidung war durchnäßt und schmutzig. Ihre Beine schmerzten, ihre Füße fühlten sich aufgerieben und wund an. Schließlich blieb sie vor einem unbeleuchteten Hauseingang stehen, wischte sich mit dem Armel über das Gesicht und starrte blicklos auf das dunkle Türfenster. In ihm blitzte es rot, grün, blau und gelb auf. Sie drehte sich um und blickte auf die andere 526
Straßenseite hinüber. Die Neonreklame im Schaufenster des Optikergeschäfts. Rechts von ihr, an der Ecke, war die kleine Bar, in die Torrillo sie auf ein Bier eingeladen hatte. Maria schleppte sich über die Straße, steckte den Schlüssel ins Schloß und lief die Treppe hinauf.
57 Im Keller des Polizeipräsidiums, in der Gerichtsmedizin, hustete Quemada Schleim in ein schmuddeliges Taschentuch und fluchte. Das Wetter machte ihm zu schaffen. Sein Kopf schmerzte, und er fühlte Velascos Erkältung auf sich zukommen. Er warf einen Blick auf die Leiche auf dem schimmernden Metalltisch und dachte: Was für ein lausiger Tag, was für ein verdammt lausiger Tag. Der Körper war nackt, und die Haut hatte, wo unversehrt, die graue Blässe des Todes. Die verschorften Verletzungen wirkten fast wie winzige, ausgetrocknete Ölbohrlöcher. Das geronnene Blut um die Wunden wurde vom Gerichtsmediziner sorgfältig entfernt. Castares. Quemada kannte ihn flüchtig. Grusel-Castares nannten sie ihn, auch wenn er zuhörte. Er sah selbst aus wie ein Kadaver: groß, dürr, mit käsebleichem Gesicht und ständig in eine Alkoholwolke gehüllt. Quemada hatte einmal mit ihm gebechert, nach 527
einer besonders schaurigen Autopsie. »Warum machen Sie diesen Scheißjob eigentlich?« hatte er ihn, schon ziemlich angetrunken, gefragt. »Ich meine, es gibt schließlich angenehmere Tätigkeiten. Beispielsweise als Dentist oder Gynäkologe? Dann könnten Sie den ganzen Tag in anderer Leute Hinterteilen herumfummeln oder in ihren Hälsen. Und eine kleine Spielerei mit den O-lalas der holden Weiblichkeit muß doch sehr viel reizvoller sein, oder?« Grinsend hatte sich Grusel-Castares einen tiefen Schluck genehmigt. »Schon möglich, Quemada, aber offenbar wissen Sie nicht, daß ich bei meiner jetzigen Tätigkeit meine Finger in alle diese Bereiche stecken kann. Und in einige weitere.« Quemada hatte ihn verdutzt angezwinkert und wußte nicht recht, ob der Typ scherzte. »Aber Castares, diese Leute sind tot. Sie sind tot.« »Ich weiß.« Breit grinsend hatte Castares seine tabakfleckigen Zähne dem schummrigen Licht der Bar preisgegeben. »Und Sie wissen doch, was man in meiner Branche sagt: ›Tote beschweren sich nicht.‹« Danach machte Quemada mit Castares keine Scherze mehr. Danach verkniff er es sich auch, mit ihm irgendeine Bar aufzusuchen. Jetzt sah er ihm zu, wie er sich um die Leiche auf dem Untersuchungstisch herumbewegte und seiner Assistentin Feststellungen diktierte, die sie in einem Ringbuch notierte. Er ließ sich Zeit. Es gab viel zu sehen. »Hören Sie, Grusel-Castares …«, begann Quemada. 528
Der Gerichtsmediziner bedachte ihn mit einem giftigen Blick. Außer Dienst, an Orten, die er als ungezwungen einstufte, hatte er gegen seinen Spitznamen nichts einzuwenden. In der Pathologie und besonders in Anwesenheit seiner ansehnlichen neuen Assistentin erwartete er schon ein wenig mehr Respekt. »Entschuldigung, Doktor Castares.« »Was wollen Sie?« »Irgend etwas stört mich an dem Burschen, und ich dachte, vielleicht können Sie mir helfen.« »Was stört Sie?« »Diese Gesichtsverletzung. Ihm wurde doch fast das ganze Gesicht weggerissen. Glauben Sie, daß das ein Stier getan haben könnte?« »So weit bin ich noch nicht. Ich arbeite von unten nach oben.« »Reine Geschmackssache, nehme ich an«, erwiderte Quemada. »Aber wir haben nun mal nicht gesehen, was geschah. Wir haben es nur gehört. Und es war sehr dunkel. Es wurde geschossen. Aber eine Gesichtsverletzung wie die da habe ich noch nie gesehen. Und ich frage mich …« Castares verzog das Gesicht. Es war kein angenehmer Anblick. »Ich hasse diese Unterbrechungen«, zischte er. »Ich gehe methodisch vor, wissen Sie? Wenn Sie mich aus dem Konzept bringen, ist die Methode zum Teufel.« »Mir geht es lediglich um Ihre Meinung. Mehr nicht. Sie sind der Fachmann.« Der Pathologe blickte auf das Gesicht des Toten, 529
hob den Fleischfetzen hoch und warf einen Blick darunter. »Dieser Mann befand sich in einem Verschlag mit tobenden Stieren. Das wissen wir, weil wir ihn später dort gefunden haben. Und Sie sehen die Verletzungen in den anderen Bereichen seines Körpers. Aber nehmen wir einmal an, er wäre nur mit dieser Kopfverletzung auf Ihrem Tisch gelandet. Ohne alle anderen Wunden. Wie würde Ihre Diagnose lauten? Daß ihm das Gesicht von einem Stier aufgerissen wurde?« Castares tätschelte den Fleischfetzen wie eine Hausfrau auf dem Markt einen Fisch. »Ich würde sagen, daß die Verletzung durch einen wuchtigen Schlag mit einem breiten, stumpfen Instrument verursacht wurde. Vielleicht mit einem der Werkzeuge, wie sie Straßenbauarbeiter benutzen. Unter Umständen mit dem Stiel einer Spitzhacke.« »Also nicht durch das Horn eines Stiers?« »Keinesfalls. Eine durch so etwas Scharfes verursachte Verletzung ist leicht zu identifizieren. Selbst Sie könnten das.« »Danke für das Kompliment«, sagte Quemada. »Keine Ursache. Aber Sie sagten, der Mann hätte sich unter wild gewordenen Stieren befunden. Haben Sie schon mal die Möglichkeit erwogen, daß er getreten, zu Tode getrampelt worden sein könnte?« »Würde das die Wunde erklären?« Castares zuckte mit den Schultern. »Nicht auszuschließen. Aber mehr möchte ich nicht sagen, bevor ich es mir näher angesehen habe. Wenn ich es mir näher angesehen habe.« 530
Erneut hob er den Fleischfetzen an und schaute darunter. »Andererseits …« Mit einer Kopfbewegung forderte Castares seine Assistentin auf, ihm ein Instrument zu reichen. Eine Art Pinzette. Er schob sie in den Kopf, ungefähr in Höhe der ehemaligen Augenhöhle. Dann zog er sie wieder heraus. Ein kleiner, glänzender Gegenstand befand sich zwischen den Pinzettengreifern. »Andererseits stammt das mit Sicherheit nicht von einem Stier.« Quemada trat neben ihn, hielt die Luft an, um den Fleischgeruch nicht einzuatmen, und betrachtete die Pinzette. »Auf diesem Gebiet sind Sie der Experte, Kommissar. Für was halten Sie das?« »Für eine kleinkalibrige Kugel.« »Ja«, meinte Castares knapp und beschäftigte sich wieder mit dem Schädel des Toten. Er justierte den Schein der Operationslampe und griff nach einem Skalpell. Quemada sah, daß etwas durchschnitten wurde, und drehte sich schnell um. Castares schnippelte noch eine Weile vor sich hin, schnalzte ein paarmal mit der Zunge und legte die Instrumente zur Seite. »Macht es Ihnen etwas aus, mich an Ihren Erkenntnissen teilhaben zu lassen?« erkundigte sich Quemada beiläufig. »Ich nehme in diesen Fällen stets das Hirn heraus. Das sehe ich mir ausnahmslos an. Auch ohne Sie.« »Klar«, sagte Quemada. »Sie sind eine Kanone.« 531
»Meine Vermutung, und das bleibt bis zur genaueren Untersuchung eine Vermutung … Meine Vermutung ist, daß die Kugel ihn getötet hat. Das entnehme ich der Beschaffenheit des Blutes um die Einschußwunde. Er lebte noch, als auf ihn geschossen wurde.« »Also wurde er in der Dunkelheit vielleicht von einem unglücklichen Querschläger getroffen? Wie komme ich eigentlich auf ›unglücklich‹? Und der hat ihn getötet. Meinen Sie das?« »Ich habe lediglich die Vermutung geäußert, daß die Schußverletzung ihn getötet haben könnte. Und daß zwischen dem Schuß und den anderen Verletzungen einige Zeit vergangen sein muß. Das würde seine Blutungen erklären. Wenn das Herz noch schlug, als er die anderen Verletzungen erlitt, hätte er heftiger bluten müssen. Die Gesichtsverletzung ist eine andere Sache. Die wurde ihm kurz nach dem Schuß zugefügt.« »Er wurde also erschossen. Dann bearbeitete jemand sein Gesicht mit einer Spitzhacke. Und dann, einige Zeit später, wurde er von den Stieren herumgeschubst. Als er bereits tot war.« »So ungefähr«, sagte Castares. »Unter Vorbehalt.« »Verstehe«, sagte Quemada. »Haben Sie schon Fingerabdrücke genommen?« Der Gerichtsmediziner zog eine Grimasse. »Selbstverständlich. Das meinte ich vorhin, als ich sagte, ich würde von unten nach oben arbeiten. Das gehört zu meiner Methode.« »Ich würde sie mir gern ansehen.« 532
Die Assistentin ging zu einem Tisch am anderen Ende des Raums, entnahm einer braunen Akte zwei Papierbögen und reichte sie Quemada. Er setzte sich damit an den Schreibtisch neben den Untersuchungstisch, öffnete eine Akte mit der Aufschrift »Antonio Mateo« und schüttete den Inhalt auf die Tischplatte. Eine Reihe alter Polizeiberichte lag vor ihm: kleinere Diebstähle, Drogenvergehen, ein Raub, der aus irgendeinem Grund nie zur Anklage gelangt war. Er suchte alte Fingerabdrücke aus dem Stapel und legte sie neben die neuen, dem Toten abgenommenen. »Haben Sie vielleicht eine Lupe für mich?« Die Assistentin brachte sie ihm. »Hören Sie, Sie sind jung. Ihre Augen sind besser als meine. Vergleichen Sie diese Abdrücke miteinander, und sagen Sie mir, ob Ihnen etwas auffällt.« Das Mädchen stellte sich neben ihn und beugte sich über die Seiten. Er konnte ihr Eau de Cologne riechen, irgendeinen teuren, exotischen Duft unter dem weißen Nylonkittel mit den Blutflecken und noch unappetitlicheren Spuren auf dem Ärmel. Sie trug eine Brille, und ihre Haare waren im Nacken zu einem Knoten zusammengefaßt. Aber alles in allem konnte er verstehen, warum der Pathologe in ihrer Gegenwart nicht gern Grusel-Castares genannt wurde. »Fällt Ihnen etwas auf?« »Sie unterscheiden sich voneinander.« Er nahm ihr das Vergrößerungsglas ab und begutachtete die Abdrücke selbst. »Eindeutig unterschiedlich«, sagte Quemada. 533
Castares betrachtete ihn verdutzt. »Sie meinen, das ist nicht der, für den er gehalten wurde?« Quemada legte die Lupe fort und sammelte die Unterlagen ein. »Er ist nicht der, für den ich ihn gehalten habe. Andere sehen das vielleicht anders. Doktor Castares, könnten Sie mir einen Gefallen tun?« »Wenn er rechtlich und moralisch vertretbar ist und mich kein Geld kostet.« »Kehren Sie einfach zu Ihrer Methode zurück und arbeiten Sie sich von unten nach oben. Fühlen Sie sich in keiner Weise unter Zeitdruck gesetzt. Morgen, morgen ist das alles geklärt. So oder so. Aber ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet, wenn Sie die Sache erst einmal für sich behalten würden.« »Zwei meiner Bedingungen haben Sie erfüllt, aber ist es auch moralisch vertretbar?« Quemada mußte niesen und fragte sich, ob er wirklich eine Erkältung bekam oder ob sein Unwohlsein an dem medizinischen Zeug lag, das durch diese Räume waberte. »Beantworten Sie sich diese Frage selbst. Ich fordere von Ihnen nicht, etwas zu verschweigen. Ich bitte Sie nur darum, daß Sie Ihre Arbeit fortsetzen, auf die Ihnen eigene, gründliche Art, und mir einen kleinen Vorsprung einräumen. Nur heute. Mehr nicht.« Castares machte ein langes Gesicht, es reichte fast bis auf den Boden. »Es gefällt mir nicht, wenn Ihr Kommissare diese Spielchen mit mir spielt. Ich hasse das. Dafür müssen Sie einen ausgeben.« 534
Quemadas Laune sank. »In Ordnung. Unter der Bedingung, daß wir ausschließlich über Fußball, gutes Essen und Sex sprechen. Moment, vergessen Sie den Sex. Ich bin mir nicht sicher, daß mein Magen das aushält.« »Grusel-Castares?« fragte die Assistentin, nachdem Quemada gegangen war. »Ich finde, das ist ein sehr netter Spitzname.« »So?« fragte er grinsend. Im Schein der Operationslampe zeigte sein Gebiß die unterschiedlichsten Brauntöne.
58 Eine halbe Stunde später rückte Quemada im Einsatzraum des Polizeipräsidiums dem verschlossenen Schrank neben Menéndez’ Schreibtisch mit einem Stemmeisen zu Leibe. Er drückte es in den Spalt zwischen Schublade und Gehäuse und drückte kräftig zu. Knirschend brach der Schloßzapfen aus dem Holz. Er griff hinein und angelte drei Akten heraus. Auf jedem hatte der verblichene Hauptkommissar mit seiner krakeligen Handschrift »Privat« vermerkt. Quemada setzte sich und begann zu lesen. Er stapelte die Papiere, fügte seine persönlichen Anmerkungen hinzu und legte sie in einen Aktendeckel. Dann umschlang er ihn mehrfach mit Gummi535
band, schrieb ein paar Worte auf den Vorderdeckel und entdeckte danach einen Adressenvordruck für die Hauspost. Er betrachtete sich das Formular, grübelte über der »An«-Zeile. Dann knüllte er es zusammen und warf es in den Papierkorb unter dem Schreibtisch. Quemada nahm den Telefonhörer ab und wählte die Nummer seines Bruders. Es klingelte sechsmal, bis sich eine mufflige Männerstimme meldete. »Miguel? Ich bin’s, Carlos«, sagte Quemada. »Ja. Ja, mir geht’s gut. Nein. Ich will nichts Besonderes. Was? Nun ja, etwas will ich doch. Es ist wichtig. Könntest du herkommen? Ich muß mit dir sprechen. Vor dem Präsidium, auf dem Platz. In einer Viertelstunde, in Ordnung? Ich habe doch gesagt, daß es wichtig ist, oder? Würde ich dich sonst darum bitten?« Er verspätete sich. Er kam immer zu spät. Eine halbe Stunde später fuhr ein neuer Mercedes auf den Platz, und ein junges Gesicht blickte ernst aus dem Fahrerfenster. Quemada ließ einen anerkennenden Pfiff hören. »Diese Versicherungsleute scheinen dich ja blendend zu bezahlen. Wenn ich ein Jahr lang spare, vielleicht auch zwei, kann ich mir unter Umständen eine Werkstattstunde für eine dieser Kutschen leisten.« »Was willst du, Carlos? Ich habe zu tun.« »Ich möchte, daß du das da für mich aufbewahrst«, sagte Quemada, schob die Akte durchs Fenster, über seinen Bruder hinweg und ließ sie auf den Beifahrersitz fallen. 536
»Allmächtiger, Carlos«, ächzte sein Bruder. »Wie ich es hasse, wenn du mir so etwas aufs Auge drückst. Was zum Geier ist das?« »Nur ein paar Unterlagen, die ich ungern im Präsidium hätte.« »Ist das wieder eins deiner faulen Geschäfte, Carlos? Darf ich das überhaupt?« »Du brauchst sie nur für einen Tag aufzubewahren. Höchstens zwei. Wenn ich einen Unfall erleide oder sonst etwas in der Art, gib die Sachen dem Fernsehen oder der Presse. Du kannst sie auch fotokopieren und auf der Straße verteilen, wenn dir das lieber ist.« »Tod und Teufel. Ich habe eine Frau und Kinder. Für derartige Mätzchen habe ich weder Zeit noch Lust.« »Es sind keine Mätzchen, Miguel. Liest du keine Zeitungen? Weißt du nicht, was sich in der vergangenen Woche hier abgespielt hat?« »Natürlich weiß ich das. Deshalb will ich ja nichts damit zu tun haben.« »Nun, du hast etwas damit zu tun. Über mich. Und nun sei ein braver kleiner Bruder und mach, was ich dir sage, ja? Niemand weiß, daß ich dir dieses Zeug gebe, und niemand wird es je erfahren. Fahr einfach nach Hause, schalte dein Stereogerät und dein Satellitenfernsehen an, versuche, soviel Geld wie möglich zu machen, und in ein paar Tagen können wir alle wieder normal werden.« Miguel trat aufs Gaspedal und ließ den Motor gereizt aufheulen. »Du bist ein Mistkerl, Carlos. Ein echter Mistkerl.« 537
»Ja, vielleicht hast du recht. Aber jetzt schramm ab und paß gut auf dein Auto auf. Oh, vielen Dank auch.« Mit quietschenden Reifen schoß der Mercedes davon. Quemada sah ihm nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Fahren sie den Wagen so, weil sie glauben, es diesem Wagen schuldig zu sein, oder fahren sie so, weil es ihnen Spaß macht, fragte er sich. Er wies am Tor seinen Ausweis vor und ging in den dritten Stock hinauf. Sein Schreibtisch war so, wie er ihn verlassen hatte. Er griff zum Telefon, wählte die drei Zahlen eines Hausanschlusses und hörte gleich darauf Rodríguez’ müde, leicht heisere Stimme. »Capitán? Hier Quemada. Ich habe mich gefragt, ob ich Sie vielleicht kurz sprechen könnte. Ich sehe mich einigen Problemen gegenüber. Ernsthaften Problemen. Ich weiß, daß man Sie von dem Fall entbunden hat. Nach Menéndez’ Tod. Dennoch frage ich mich, ob Sie mir vielleicht helfen könnten. Schließlich haben Sie Ihre Erfahrung, sind der Chef. Mit wem sollte ich sonst sprechen, wenn nicht mit Ihnen? Möglichst gleich, wenn es Ihnen recht ist.« Quemada lauschte der Stimme am anderen Ende der Leitung. Er erkannte sie kaum wieder. »Gut«, sagte er, als Rodríguez zu Ende geredet hatte. »In einer Minute bin ich bei Ihnen.«
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59 Maria betrat ihre Wohnung. Das Licht brannte. Die Waffe der Polizistin lag auf dem Tisch. Hatte man die Frau inzwischen abgezogen? Wahrscheinlich. Sie versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern. Er fiel ihr nicht ein. Sie ging in das Bad, zog sich die nassen Sachen aus, wischte sich das Gesicht ab und sah in den Spiegel. Ihre Augen wirkten doppelt so groß wie sonst: riesig, weiß und verängstigt. Ihr Teint war blaß, blutlos. Sie streifte die Unterwäsche herunter, rieb ihren Körper mit einem Frottiertuch ab und spürte langsam, daß so etwas wie Leben in sie zurückkehrte. Sie fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, griff mit der anderen hinter den Duschvorhang, tastete nach dem Hahn und fühlte plötzlich einen Kopf, dichte, nasse Haare. Ihre Hand zuckte zurück. Ihre Finger waren rot mit Blut. Langsam tropfte es auf die Bodenfliesen. Maria zog den Vorhang ein Stück zur Seite. In der Wanne lag die Polizistin, auf dem Rücken, die leeren Augen starrten zur Decke. Unter ihrem Kinn, von einem Ohr zum anderen, verlief ein tiefroter Schnitt, ihre Lippen waren zu einer bizarren Grimasse verzogen, die Zähne rot gefleckt wie von verlaufenem Lippenstift. Maria zog den Vorhang weiter auf. Die Polizistin trug noch ihre Uniform. Ihre Knie waren gebeugt, damit ihr ganzer Körper in die Wanne paßte. Um ihre Taille hing ihr Funkgerät. Ohne erkenn539
baren Anlaß schaltete es sich ein, zischte und rauschte sinnlos vor sich hin. Hinter ihr erklang eine leise, fast sanfte Stimme. »Er hat mir gesagt, daß ich sie töten soll. Er hat es mir befohlen. Also habe ich es getan.« Sie drehte sich um, griff automatisch nach einem Handtuch und hielt es vor sich. Er stand an der Tür, in einem zerrissenen T-Shirt, ausgeblichenen Jeans, mit halbgeöffnetem Mund, und seine Augen, tote Augen, sahen sie an. Das lange, blutige Messer in seiner linken Hand entglitt fast seinen Fingern. Er hatte etwas Lethargisches an sich, etwas Erschöpftes. Sie starrte ihn an, und langsam, ganz langsam wurde es ihr bewußt: Sie hatte keine Angst. »Hat er Ihnen auch befohlen, mich zu töten?« fragte sie. Er nickte, sehr langsam, zögernd. »Ja. Er benutzt mich. Er sagt, daß ich ihm gehöre. Mein Vater. Verstehen Sie?« »Ihr Vater ist tot, Antonio. Er kann Ihnen nichts befehlen.« Lachend schüttelte der Mann den Kopf. »Sagen Sie das nicht. Das hört er nicht gern. Mein Vater lebt. Er spricht mit mir. Er weiß, was ich tue. Er weiß es ganz genau.« Seine Augen wirkten leer. Vielleicht hatte er Drogen genommen. Vielleicht war er auch nur zu Tode erschöpft. »Er weiß alles. Er wußte auch, daß ich diesem Typen von der Universität zu viele Geheimnisse verriet. Woher? Ich habe es ihm nicht gesagt. Mein Bruder 540
hat es ihm nicht gesagt. Er würde es einfach wissen, wenn ich Sie nicht töte. So wie er erfahren hätte, wenn ich Jaime nicht getötet hätte. Und dann hätte er mich getötet. Aber er liebt mich auch. Deshalb haben wir das Ding gedreht. Während der Corrida. Wir haben Sie alle zum Narren gehalten. Gibt da jede Menge Fluchtmöglichkeiten, von denen die Bullen nichts wissen, besonders, wenn man ein wenig Hilfe hat, besonders, wenn es dunkel ist. Was mußten wir über Sie lachen. Wußten Sie das? Ich war so schnell draußen, daß Sie mich gar nicht bemerkten. Bevor die Schießerei losging. Bevor Sie die Stiere in Erregung versetzten. Sehr schlau eingefädelt. Aber die Bullen machen es einem ja auch echt leicht. Dumm, wie sie sind.« »Mit Ausnahme von ihm, meinen Sie.« »Ja«, erwiderte er, eine Spur verwirrt. »Mit Ausnahme von ihm. Woher wissen Sie das? Vielleicht will er deshalb, daß ich Sie töte. Ja, sehr wahrscheinlich.« »Er ist nicht Ihr Vater.« »Das wissen Sie nicht. Sie wissen es verdammt noch mal nicht. Er kann Sie hören, wenn Sie so etwas sagen. Überall. Manchmal tue ich Dinge, Dinge, die niemand sehen kann. Und er erfährt sie doch.« »Wie war das mit den Brüdern?« Er lachte, Speichel sprühte über seine Lippen. »Ja, die Brüder. Jaime und ich haben es ihnen besorgt. Sie haben mir zuviel herumgebumst, da habe ich sie erledigt. So wie Jamie es mir gezeigt hat, als ich ihn mit Stoff abfüllte. Der Alte denkt, er brauche nur zu 541
befehlen. Er will, daß ich nur mache, was er will. Wie bei dem Typen von der Uni. Und dem alten Mann bei der Bruderschaft. Wenn ich mir selbst einen kleinen Spaß erlaube, regt er sich auf.« »Wußte er von Ihrer Mutter? Von der Frau, die Sie für ihre Mutter hielten?« Er trat einen Schritt vor, hob das Messer. »Was zum Teufel meinen Sie mit ›hielten‹? Ich wußte, daß die Schlampe meine Mutter ist, nachdem ich mit ihrem idiotischen Mann gesprochen hatte. Der Alte hat es mir gesagt. Deshalb war es ja so leicht, echt leicht, ihn in Jenseits zu befördern. Sie hätten ihn kreischen hören sollen. Diese Schlampe. Ich treffe mich mit ihr, und sie taucht da auf … wie sofort zum Sprung ins Bett bereit. Mit mir? Ausgerechnet mit mir? Aber als ich sage, in Ordnung, läßt sie mich abblitzen, zeigt mir die kalte Schulter. So wie Sie. Wie alle.« Er fuchtelte mit dem Messer vor ihr herum. Seine rechte Hand faßte in seinen Schritt. Über seinem rechten Auge zuckte es krampfhaft. Maria hatte Mühe, den Blick abzuwenden. »Geh ins Schlafzimmer«, sagte er. »Ich habe dich im Fernsehen gesehen. Neben ihm. Gesagt hast du nichts, nur beobachtet, und du hast mich direkt angesehen. Da wußte ich, daß ich es tun würde. Irgendwann. Ich wußte, daß es dazu kommen würde. Er hat mir gesagt, daß ich dich töten soll. Nicht mehr und nicht weniger.« Er trat von der Badezimmertür zurück, das Messer fest in der Hand. Hinter ihm stand der Tisch, auf 542
dem die Pistole lag. Maria sah zu dem Metallgegenstand in wenigen Metern Entfernung hinüber, blickte wieder auf das Messer. »Geh in das verdammte Schlafzimmer.« Sie verließ das Bad, mit dem Rücken zur Wand, und ging in das Schlafzimmer. Das große Doppelbett war gemacht: schneeweiß, ordentlich, sauber. Die Polizistin, dachte Maria. Die Polizistin muß sich gelangweilt haben. Und was hat ihr ihre Hilfsbereitschaft gebracht? »Aufs Bett. Ohne das Handtuch.« Nackt legte sie sich auf das Bett, mit zusammengedrückten Knien, vor der Brust verschränkten Armen. Antonio Mateo beugte sich über sie und strich ihr mit dem Messer über das Schienbein. Sie spürte, wie Blut an ihrer Haut klebenblieb, und erschauerte. »Mach die Beine breit. Mach sie breit. Ich will es sehen.« Maria streckte die Beine zu einem breiten V, legte die Hand auf das dunkle Dreieck, streichelte sich. Er verfolgte ihre Finger mit den Augen, hielt den Atem an, seine Lippen öffneten sich. »So?« fragte sie und schob ihren Finger tief hinein. »Du geile kleine Schlampe«, keuchte er. »Du mieses geiles Dreckstück!« Sie liebkoste sich mit zwei Fingern. Wie gebannt starrte er auf ihre Finger und löste seinen Gürtel. Die Jeans rutschten ihm auf die Knöchel. Das Messer fest in der linken Hand, streifte er sich mit der rechten die Unterhosen hinunter. Schlaff hing sein Penis aus 543
der wirren schwarzen Behaarung. Er griff zu, begann ihn zu reiben. »Mist«, fluchte er, wieder flog Speichel aus seinem Mund. »Verdammtes Ding, komm, komm schon …« Maria beobachtete ihn, sah seinen vergeblichen Bemühungen zu. Er bückte sich, griff in seine Tasche, holte eine kleine Flasche heraus und schnüffelte daran. Nagellack, dachte sie. »Das brauchst du nicht. Zieh dich aus«, sagte sie. »Zieh dich ganz aus. Ich werde dir helfen.« »Du wirst mir helfen?« Jetzt zerrte er an seinem Glied, aber noch immer regte es sich nicht. »Aber du bleibst, wo du bist.« Sie legte ihre Hände neben sich auf die Bettdecke und wartete. Hastig zog er sich in der Ecke aus. Sie roch seinen Schweiß. Er kam zu ihr auf das Bett, zwischen ihre Beine, und drückte ihr das Messer an die Kehle. Sie spürte die Klinge kalt und bedrohlich auf ihrer Haut. Wieder zerrte er hilflos an seinem Glied. »Tu etwas«, sagte er. Er legte seinen Kopf auf ihre Brust. »Tu etwas, verdammt noch mal, oder ich bring dich gleich um.« Lippen wanderten über ihre Brustwarze, Bartstoppeln kratzten auf ihrer Brust. Ihre linke Hand umfaßte ihre Brust, schob sie zwischen seine Lippen. Er begann zu saugen. Mit der anderen Hand tastete sie nach unten, fühlte seinen Penis schlaff zucken. »Tu etwas«, sagte er wieder, und sie spürte etwas Feuchtes, wie Tränen, auf ihrer Brust. »An wen denkst du, Antonio?« flüsterte sie ihm 544
ins Ohr und griff nach seinem langsam steif werdenden Glied. »Wenn du kommst? An wen denkst du? Wessen Gesicht siehst du vor dir?« Er hob den Kopf. Speichel tropfte ihm von den Lippen, fiel auf ihre Brust. Seine Augen starrten ins Nichts, die Pupillen weiteten sich, wurden größer, dunkler, tiefer. Er spürte, daß er in ihrer Hand steifer wurde, hob seine Hüften, stieß in ihren Griff hinein. Schnell, schneller. »Nein. Nein! Langsam, ganz langsam. Wenn du es übereilst, bringt es nichts.« Ihre Hand löste sich von seinem Penis, wanderte über seinen Bauch zu seinem Oberkörper. Sie streckte die Hand aus, fuhr mit den Fingern, den Innenseiten der Fingerspitzen sanft über seine Brust. »Langsam, ganz langsam«, wiederholte sie. »Denk nach, Antonio. Denk nach. An wen denkst du? Wessen Gesicht siehst du?« Er überließ sich jetzt ganz ihren Händen, bewegte sich in ihrem Rhythmus und spürte, daß mit ihm etwas geschah, was er noch nie erlebt hatte. In seinem Kopf tauchte etwas auf, etwas Strahlendes, Schimmerndes. Er kniff die Augen zu, fest, ganz fest, starrte in die Dunkelheit und sah das Bild, sah ihr Gesicht … von blonden Haaren umrahmt, lächelnd, lockend. Genau wie im Park. Genau wie an jenem Tag im Park. Als er sie gesehen hatte, als er es ihr gesagt hatte, als er sich ihr angeboten hatte – als Sohn, als Liebhaber, als alles, was sie nur wollte. Er hielt die Augen geschlossen und sah, wie sich ihr Mund bewegte, wie sich die roten Lippen öffneten, 545
groß wurden, riesig wurden in der purpurfarbenen Dunkelheit und drohten, ihn zu verschlingen. Und dann war er steinhart. Er fühlte sich eigenartig, übermenschlich, vollkommen. Maria berührte wieder seinen Penis, berührte sein steifes Glied und bewegte sich unter ihm, machte die Beine breiter. Ihr Gesichtsausdruck war hart, fest entschlossen. »Nimm meine Hände«, sagte sie. Rhythmisch bewegte er sich über ihr, qualvoll langsam. Sie schrie auf, streckte ihm die Hände entgegen, drängte sich dem steifen Glied entgegen. »Jetzt! Jetzt! Nimm meine Hände!« Dann drang er in sie ein. Fast schmerzlich stöhnte er auf. Seine Augen öffneten sich wie dunkle, tiefe Seen, richteten sich ins Nichts. »Nimm meine Hände!« Das Verlangen brandete in ihm hoch. Sie streckte ihm die Handflächen entgegen, spürte den glatten Holzgriff, spürte, als er die Finger öffnete. Tief, ganz tief nahm sie ihn in sich auf, hörte ihn keuchen, beobachtete ihn und wartete, wartete. Die Welt begann zwischen ihren Körpern zu kreisen, in einem langsamen, lieblosen Tanz, um dann in hilfloser Wut zu explodieren. Er schluchzte, schüttelte sich wie im Fieber, entlud sich in Schweiß und Samen. Er verdrehte die Augen und brach zusammen, mit dem Kopf auf ihrer Brust. Die Bartstoppeln kratzten auf ihrer Haut wie Sandpapier. Fast sofort und wie angewidert zog er sich aus ihr heraus, blieb schwer atmend auf ihr liegen, stützte sich auf einen 546
Ellbogen und betrachtete sie, betrachtete die sanfte Bauchwölbung, das dunkle Dreieck der Haare darunter. Ohne nachzudenken öffnete er den Mund und tastete mit den Lippen sanft nach ihrer Brustwarze. Sie schob sie ihm in den Mund, spürte sein zärtliches, beharrliches Saugen. Dann fühlte sie mit der ausgestreckten Hand über die Bettdecke, fand, was sie suchte, und schloß die Finger um den Griff. Sie ließ ihn saugen und bewegte die Schulter so, daß die Berührung von ihm als Zärtlichkeit empfunden werden konnte. Langsam drängte sie sich näher an ihn heran, bewegte den Arm, den Oberarm, hob das Messer, höher und höher, bis die Klinge silbern hinter seinem Kopf aufblitzte. Sie sah das Messer an und hatte das Gefühl, daß die Welt zum Stillstand gekommen war, daß es nichts anderes gab als diese seltsame, lieblose Paarung. Es dauerte zu lange. Sie wußte, daß sie zu lange wartete, konnte aber nichts dagegen tun. Sie schloß die Augen, öffnete sie wieder und zwang sich zum Handeln, sagte sich: Ich will leben. Und noch immer schwebte das Messer da über ihnen, ihr Arm wurde müde, schwach, kraftlos. Seine Atemzüge veränderten sich, wurden kürzer, flacher. Das Saugen, der Druck auf ihrer Brust ließ nach. Sie tat, was sie nicht tun wollte. Und sah ihn an. Ein schwarzes Auge starrte sie an, dunkel, unergründlich – voller Qual, leben zu müssen. Seine Arme schlossen sich um ihren Körper. Hart, fest und schmerzhaft. 547
»Zu spät«, flüsterte er. »Zu …« Maria senkte den Kopf, sah sein Gesicht, sah das Zimmer. Die grüne Maske und die roten Samtwände. »Geh zum Teufel«, sagte sie. Und die silberne Klinge fuhr herab wie ein Blitz.
60 In der nächtlichen Ruhe des Präsidiums ordnete Quemada seine Unterlagen. Er kam sich alt und erschöpft vor. Ausgelaugt. In der nächsten Woche, die ihm noch Lichtjahre entfernt schien, würde er vierundvierzig. Nur rund fünfzehn Jahre jünger als der Capitán. Der »Alte«. Er wußte noch, wie das früher gewesen war, kurz vor Francos Tod, vor den Reformen, vor den Sozialisten. Damals war die Polizeiarbeit leichter gewesen, klarer definiert. Man wußte, wen man zu beschützen hatte, man wußte, wen man hinter Gitter bringen mußte. Die Maschine lief wie geschmiert, und das, weil oben jemand die Räder entsprechend ölte. Erst in den letzten zwanzig Jahren, seit es diese Abstimmungen, Ausschüsse und »Verantwortlichkeiten« gab, waren die Verhaltensregeln unscharf und verschwommen geworden. Inzwischen konnten sich vielleicht noch zehn Prozent der Leute bei der Polizeitruppe an die alte Zeit erinnern, an die Zeit, in der man gewisse Dinge mit einem 548
Anruf erledigte und nicht mit einem Haftbefehl, in denen eine Frau über die Calle Mayor gehen konnte, ohne daß ihr jemand die Handtasche wegschnappte oder irgendein Abhängiger sie um Geld anschnorrte. Und mit jedem Monat nahmen weitere ihren Abschied, nahmen die Pension, kauften sich eine kleine casita an der Küste und verbrachten einen vorgezogenen Ruhestand damit, die blauen Atlantikwogen zu beobachten, einen morgendlichen Manzanilla zu trinken und zu denken: Das wäre überstanden. Und was machte es schon aus, wenn man sich den Lebensabend mit ein paar Extras aus dem Schmiergelderfonds eines alten Topgangsters versüßte? Jetzt lieferte man das Geld statt dessen bei der Regierung ab. Ein Drittel davon landete direkt in den Taschen der Bürokraten, und der Rest ging für die Steuern und Sozialabgaben drauf. Das Geld, dachte Quemada, das Geld war im Grunde nicht wichtig. Aber Menschen dafür umzubringen, und dann auch noch Polizisten, das war eine ganz andere Sache. Quemada fragte sich, wie oft er im letzten Vierteljahrhundert die Räder geölt hatte, ohne es überhaupt zu wissen. Fragte sich nach seiner Reaktion, wenn ihn der Capitán eines Tages zu sich gerufen, ihm ein paar Dinge erklärt und dann aufgefordert hätte, ein paar weitere zu schmieren. Dann verdrängte er diesen Gedanken schnell wieder. Man kam, erledigte seine Arbeit und ging wieder. Man schleppte es nicht mit sich nach Hause – weder das Gute noch das Schlechte. Man schaltete den Fernseher an, 549
knackte eine Dose Bier, gönnte sich einen kleinen Weinbrand und vergaß das Ganze. Wenn man es mit nach Hause nahm, setzte es sich nur fest, und irgendwann begann es, einen zu verfolgen. Und es gab bereits zu viele derart Verfolgte, zu viele Gespenster lauerten in dunklen Ecken. Besessene. Wie die Schneekönigin, dachte er. All diese Leute, die sich nicht damit abfinden, sich nicht gelassen zurücklehnen konnten. Und statt dessen davon aufgefressen wurden. Der Gedanke löste irgend etwas in seinem Kopf aus, irgendeine bohrende Überlegung, aber er kam ihr trotz aller Bemühungen nicht näher, konnte sie nicht fassen. Und Quemada wünschte sich, daß Velasco hier wäre und ihm auf die Sprünge helfen würde, irgend etwas absondern würde, selbst wenn es nur eine unbegründete Beleidigung wäre. »Wofür sind Freunde schließlich da?« fragte er laut in den leeren Raum hinein. Und dann dämmerte es ihm. Zwei Anfangsbuchstaben, deutlich und unverkennbar, in einer zierlichen, weiblichen Handschrift. Unten auf einer Seite, auf der belastendsten Seite, wenn Menéndez recht hatte, gleich neben den Notizen des Hauptkommissars. Zwei kleine Buchstaben. MG. MG. Maria Gutierrez. »O Scheiße«, murmelte Quemada. »Nur das nicht.« Er wirbelte mit seinem abgesessenen Bürostuhl herum. Schweiß trat auf seine Stirn, und in seinen Augen stand etwas, was an Panik grenzte. Er rannte 550
den Flur hinunter und warf einen Blick in Rodríguez’ Büro. Leer. Jetzt brach ihm am ganzen Körper Schweiß aus. Quemada lief zu Menéndez’ Schreibtisch zurück, nahm das Mobiltelefon des toten Hauptkommissars aus der Schublade, griff nach der kleinen Leinentasche mit der Notausrüstung und rannte wieder zur Tür hinaus, die Treppen hinunter, über den Hof des Präsidiums und drückte beim Laufen mit fliegenden Fingern auf die Tasten des Telefons.
61 Sie kauerte neben der Tür des Schlafzimmers, hielt sich mit einer Hand ein hellgraues, blutbeflecktes Handtuch vor den Körper, die andere umklammerte das Messer. Sie gab keinen Laut von sich. Quemada hatte einen gallebitteren Geschmack in der Kehle. Der Anblick im Schlafzimmer war schon übel genug gewesen. Ganz automatisch war er ins Bad gegangen, um ihr etwas zu holen, womit sie sich das Gesicht, die Hände abwischen konnte. Was er dort sah, war zuviel für ihn gewesen. Er hatte sich erbrochen, gewürgt, immer wieder gewürgt, bis er glaubte, seine Eingeweide auszuspucken. Quemada ging vor ihr in die Knie, streckte ihr die Hände entgegen, wagte es aber nicht, sie zu berühren. 551
»Señora«, begann er hilflos. »Maria. Bitte. Wir müssen hier weg. Der Kerl ist tot. Mike ist tot. Wir können nichts mehr tun. Wir müssen hier verschwinden.« Er ging wieder ins Bad, versuchte, keinen Blick auf die Wanne zu werfen, schnappte sich ein Handtuch, machte es naß, ging wieder zurück und wischte ihr Gesicht ab. Sie zuckte heftig zurück und bedrohte ihn mit dem Messer. »Großer Gott.« Quemada ließ sich auf einen Rohrstuhl fallen, beugte sich vor und schlug die Hände vors Gesicht. »Sie müssen mir vertrauen, Maria. Ich habe keine Ahnung, wo der Alte ist, und bevor ich das nicht weiß, wage ich nicht, irgend jemanden herzuholen. Wir werden ihn uns kaufen, werden ihn fassen. Aber jetzt muß ich Sie erst einmal hier rausbringen. Ich muß es tun.« Sie starrte ihn an, und in ihren Augen stand eine Härte, eine Entschlossenheit, die in ihm den dringenden Wunsch weckte, einfach davonzulaufen, alles den Jungs von der Spurensicherung zu überlassen, ganz gleich, ob der Capitán direkt um die Ecke auf der Lauer lag. Ihm reichte es. Quemada sah sie wieder an, und ihm wurde innerlich ganz kalt. »Maria, ich könnte versuchen, Sie geduldig zu überreden, Ihnen mein Mitgefühl zu zeigen. Aber darin bin ich nun einmal nicht besonders gut. Ich muß Sie hier wegbringen. Ich weiß nicht, was dieser verdammte Kerl vorhat. Wir müssen los. Bevor einer von uns entweder total verrückt oder tot ist.« 552
Sie schloß die Augen, und einen Moment lang fragte er sich, ob sie bereits jenseits von Gut und Böse war, ob er ihr nicht einfach das Messer entwinden und sie kurzerhand wegschleppen sollte. Doch dann schämte er sich für diesen Gedanken. Sie öffnete die Augen wieder, und in ihnen standen Tränen. »Gott sei Dank«, entfuhr es Quemada und empfand das dringende Bedürfnis, gleichfalls zu heulen. »Wohin wollen wir?« fragte sie langsam und überdeutlich. »Wohin können wir? Wo ist es überhaupt sicher?« »Das habe ich mir bereits überlegt. Keine Angst, Maria. Das habe ich mir sehr genau überlegt. Sie brauchen nichts mitzunehmen. Keine Kleidung. Nichts. Dafür wird gesorgt. Wir müssen nur endlich weg von hier. Sofort.« Er ging zu ihrem Schrank, holte einen langen, braunen Regenmantel heraus und hielt ihn ihr hin. Sie stand auf, ließ zu, daß er sie anzog. Er spürte, wie sie zitterte. Er griff nach dem Gürtel, schlang ihn um ihre Taille und öffnete die Tür. Sie sah ihm nicht in die Augen. Er erwartete es auch nicht. »Alles wird wieder gut, Maria. Glauben Sie mir. Vertrauen Sie mir. Alles wird wieder gut.« Langsam lief sie die Treppe hinunter, zog die Haustür auf, drehte sich auf der Schwelle um und sah ihm entgegen. Quemada wankte die Stufen hinunter wie ein desorientierter Pinguin, hielt die 553
Tür auf, starrte in die nächtliche Dunkelheit hinaus, in die Dunkelheit der Stadt, die ihm so vertraut war, und fragte sich, was sie da draußen erwartete.
62 »Sie haben Glück, daß ich noch da bin.« Halb überrascht, halb mißtrauisch blitzte Maggi Bartolomé sie an. Sie steckte in einem engen, roten Satinkleid. »Eine Viertelstunde später, und ich wäre auf und davon.« Quemada sah sie an und wünschte sich, gegen jede Vernunft, sie noch ein wenig zu Hause festhalten zu können. »Ihre Tochter hätte uns hereinlassen können.« Sie schüttelte den Kopf. »Die ist heute früh ausgezogen. Hat irgendeinen Dummen gefunden, der versprochen hat, für sie zu sorgen. Ich habe nicht gefragt, was sie dafür tun muß.« »Das tut mir leid.« »Braucht es nicht. Mir tut es nicht leid.« Sie machte eine Kopfbewegung nach oben, wo im Bad Wasser rauschte. »Sie sieht aus wie tot.« »Ja«, erwiderte Quemada. »Viel hat nicht gefehlt.« »Und das hat alles mit der Sache zu tun, über die wir gesprochen haben? Mit unserem Freund aus der Vergangenheit?« 554
»Es wird Ihnen nicht gefallen, womit das alles zusammenhängt, Maggi.« »Ich will es aber hören. Ich tue Ihnen einen großen Gefallen. Ein paar Informationen habe ich schon verdient.« Quemada überlegte, inwieweit sie bereits in die Geschichte verwickelt war, und versuchte zu orten, was schließlich ans Tageslicht kommen, was verborgen bleiben würde. Fragte sich auch, ob das letzten Endes nicht egal war. »Es war Ihre Schuld.« »Meine Schuld?« Sie wirkte verblüfft. »Gewissermaßen. Sie erzählten uns von diesem blonden Mädchen, dem Antonio Alvarez so besondere Gefühle entgegenbrachte. Wir dachten, es könnte sich vielleicht um seine Tochter handeln. Nahmen an, daß sie vielleicht irgendwie mit allem zu tun haben könnte.« »Aber so war es nicht?« »Nein. Sie war lediglich … Nun, Sie wissen, was sie war.« Stumm, abwartend sah sie ihn an, bis das Schweigen zwischen ihnen unerträglich wurde. »Wir haben nach einer Tochter gesucht, hätten aber nach einem Sohn suchen sollen. Einem Sohn, auf den er sehr stolz war. Sogar so stolz, daß er ihm etwas übertrug, was ihm sehr wichtig war.« »War er ein Polizist?« »Sagte ich ›war‹?« »Er ist Polizist.« »Nicht mehr lange. Er hat versucht, alles zu vertu555
schen, aber das ist ihm nicht besonders gut gelungen. Manchmal setzt man die falschen Leute an. Und dann gerät alles irgendwie außer Kontrolle.« »Aha.« »Das ist das Problem heutzutage. Man bekommt einfach keine guten Handwerker mehr. Aber mehr brauchen Sie nicht zu wissen. Ich habe meine Verbindlichkeiten beglichen.« »Finde ich nicht.« »Ich bin nicht hier, um Geschichten zu erzählen, Maggi, sondern wegen einer Frau, der ein Mistkerl übel mitgespielt hat, die Hilfe braucht. Ich dachte, auf Ihr Mitgefühl zählen zu dürfen.« Sie lächelte. »Sie sind nicht dumm. Ich begreife nicht, wie Sie bei der Polizei landen konnten.« »Ich kann es mitunter gut verstecken.« »Ja.« Sie griff nach einer Lederjacke, die über einer Sessellehne hing. »Aber jetzt muß ich etwas für meinen Lebensunterhalt tun.« »Ich brauche noch etwas von Ihnen. Ihre Autoschlüssel.« »Allmächtiger. Kann ich Ihnen vielleicht auch noch mit Geld aushelfen?« »Nein. Die Autoschlüssel reichen.« »Da. Die Fahrerlaubnis läuft im Januar aus, und der Zustand der Reifen würde Ihnen die Haare zu Berge stehen lassen. Handeln Sie mir bloß keine Strafzettel ein.« »Danke.« »Tun Sie mir einen Gefallen, Quemada?« »Welchen?« 556
»Gehen Sie nachsichtig mit ihr um, wenn sie herunterkommt. Ich habe schon etliche Frauen in diesem Zustand gesehen. Wenn sie auf einen miesen Kerl treffen. Zusammengeschlagen werden. Und noch Schlimmeres. Frauen, die derartige Dinge nie für möglich hielten. Sie mußte eine Tür zu etwas öffnen, von dem sie nicht einmal wußte, daß es existiert, und braucht jetzt liebevolle Nachsicht. Verstehen Sie? Liebevoll.« Quemada schluckte, schmeckte noch immer die Galle in seiner Kehle. »Liebevolle Nachsicht. Ja, ich werde mich bemühen. Aber das ist etwas, was wir nicht allzugut können.« »Polizisten, meinen Sie? Oder Männer ganz allgemein?« »Als Scherz geht das kaum durch.« »Vielleicht. Unter dem Spülbecken steht eine Flasche Weinbrand. Ich bewahre sie für besondere Anlässe auf. Sie wird ihn brauchen. Sie beide haben ihn nötig, wenn Sie mich fragen. Sie sehen grauenhaft aus.« »Vielen Dank«, sagte Quemada, ging in die kleine Küche, fand die Flasche, nahm zwei Gläser vom Abtropfbrett, setzte sich ins Wohnzimmer und wartete. Wenig später hörte er, daß die Haustür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Er holte Menéndez’ Mobiltelefon heraus und wählte Velascos Nummer. Schließlich kam jemand an den Apparat. »Ich hätte im Bett bleiben sollen«, sagte Velasco und hörte sich an, als spräche er vom Mars. »Ich habe Fieber, meine Nase läuft wie ein Wasserhahn, und ich fühle mich hundeelend.« 557
»Haben sie ihn schon aufgespürt?« »Nein. Nada. Vermutlich ist er längst auf dem Weg nach Brasilien. Bist du dir auch sicher? Glaubst du wirklich, daß der Capitán etwas mit dem Tod der Polizistin zu tun hat? Mit Menéndez? Herr im Himmel, ich kann es schlichtweg nicht glauben. Ich habe mit dieser Kollegin früher mal zusammengearbeitet. Eine Pfundsfrau. Du solltest dir wirklich sicher sein. Sonst könnten wir sehr schnell in Teufels Küche landen. Oder noch schlimmer.« »Ja«, grunzte Quemada. Das »noch schlimmer« war es, was ihm die größten Sorgen bereitete. »Ich bin mir sicher. Und ich glaube nicht, daß der Capitán sich abgesetzt hat. Das überzeugt mich irgendwie nicht. Mach zunächst so weiter, wie wir es besprochen haben. Nur zu meiner Beruhigung.« Velasco zog hörbar die Nase hoch, dann beendete er das Gespräch. Als sie schließlich die Treppe wieder herunterkam, trug sie hellblaue Jeans und ein rotes Nylonhemd. Maggi Bartolomés Tageskleidung: unaufwendig, aber nicht ohne Geschmack, und für sie eine Spur zu groß. Marias Augen waren rot gerändert und starr, ihre feuchten langen Haare verdeckten die Hälfte ihres Gesichts. Er goß ihr ein großes Glas Weinbrand ein, reichte es ihr schweigend. Sie trank es fast auf einen Zug aus und sagte: »Ich kann nicht hierbleiben. Bringen Sie mich irgendwo anders hin. Bringen Sie mich zu Torrillo. Irgendwohin.« 558
»Großer Gott.« Quemada konnte es nicht glauben. »Es heißt, daß es Bär bessergeht. Sie sagen, er wird es wahrscheinlich schaffen. Er kann uns jetzt nicht brauchen.« »Ich muß aber …« Sie sprach mit langsamer, betonter Stimme, und das gefiel ihm ganz und gar nicht. Sie fragte sich, ob er sie verstand. Sie fragte sich, ob sie sich selbst verstand. Sie verabscheute diese Wohnung mit ihrer Fremdheit, ihrer billigen Kunststoffeinrichtung. Aber mehr als das wollte sie etwas tun, wollte davonlaufen, bis alles hinter ihr lag, sehr weit hinter ihr. Quemada stellte fest, daß er die Hände rang. »Hier sind Sie sicher, Maria. Niemand kennt diese Wohnung, nicht einmal bei …« Fast hätte er es tatsächlich gesagt. »Nicht einmal bei der Polizei. Das wollten Sie doch sagen, oder?« Er griff zu seinem Glas und trank den Weinbrand aus, obwohl er widerlich schmeckte. »Ja«, sagte er und ärgerte sich über den gereizten Unterton in seiner Stimme. »Das wollte ich sagen. Ich muß mich damit herumschlagen, daß Bär im Krankenhaus liegt. Menéndez tot ist. Und diese arme Mike absolut grundlos umgebracht wurde. Sie leben. Sehen Sie es doch mal so.« Maria dachte an die Polizistin, die sie nie wirklich kennengelernt hatte, die selbstverständliche Stärke, die Gelassenheit, die ruhige Würde, die von ihr ausgegangen war. »Wäre mir die Wahl überlassen worden, hätte ich 559
ihre Stelle eingenommen, wäre für sie gestorben«, sagte sie mit kleiner, aber fester Stimme, die tief aus ihrem Inneren kam, und sie fragte sich, ob das stimmte. Quemada bedeckte seine Halbglatze mit den Händen und sah aus, als würde er jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Tut mir leid. So habe ich es nicht gemeint. Verzeihen Sie. Die Sache überfordert mich. Uns alle. Wir verlieren Freunde da draußen. Echte Freunde. Es gibt da einen Polizisten, den wir für einen Helden hielten, der nun aber durch die Gegend rennt und weiß Gott was anstellt. Deshalb werden wir uns hier nicht von der Stelle rühren, bis wir wissen, was da eigentlich vor sich geht.« Immer noch hörte es nicht auf, sich zu drehen. In ihrem Kopf. Kreiste und kreiste. »Der Alte«, sagte sie. »So hat er ihn genannt. Den ›Alten‹«. Sie sah ihn auf eine Weise an, die ihm gar nicht gefiel. »Genau wie Sie. Den ›Alten‹. Antonio Mateo war überzeugt davon, daß sein Vater lebt. Daß er mit ihm durch jemanden spricht. Durch den ›Alten‹«. Quemada ließ sie nicht aus den Augen und dachte: Ich kenne diese Person nicht. Ich verstehe sie nicht. »Sie brauchen nicht zu reden, Maria. Sie brauchen gar nichts zu sagen. Was Sie durchgemacht haben, kann ich nur vermuten. Man braucht seine Zeit, um über so etwas hinwegzukommen. Sie brauchen nichts zu sagen. Morgen, bei Tageslicht, werde ich Ihnen jemanden besorgen. Menschen, bei denen Sie 560
sich aussprechen können. Fachleute auf diesem Gebiet. Jetzt haben Sie nur mich, und ich kenne mich mit derlei gar nicht gut aus.« »Aber ich möchte darüber reden. Ich will es.« Sie sah ihn an und stellte fest, daß sie nichts zu sagen hatte. »Dann reden Sie«, sagte Quemada. »Fangen Sie an, verdammt noch mal. Reden Sie über alles, was Ihnen durch den Kopf geht.« »Ich …« Aus dem Nichts tauchte ein Bild vor ihr auf und setzte sich fest, strahlend und leuchtend, in den Farben des Todes. Das Gemälde in dem Hospiz, der Valdés Leal, und vor ihrem inneren Auge triumphierte es förmlich. »Als ich herkam, Quemada, konnten Sie mich auf den Tod nicht ausstehen.« »Ich bitte Sie, Maria. Ich habe ein paar Sprüche geklopft. Mehr nicht. Ich klopfte ständig dumme Sprüche. Das gehört zu mir. So bin ich nun mal eben. Aber ich Sie nicht ausstehen? Das ist Unsinn.« »Als ich in den Raum kam, sahen Sie mich an und dachten, da schneit eine hochnäsige, frigide Schlampe aus dem Norden herein, um uns zu sagen, wie wir unsere Arbeit zu erledigen haben. Das haben Sie in mir gesehen, und das haben Sie verabscheut.« Quemada holte tief Luft. »Was soll das?« fragte er. »Bringt uns das irgendwie weiter?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, und tief beunruhigt sah er, wie sie sich langsam und rhythmisch vor und zurück bewegte. »Was haben Sie damals gesehen, Quemada? Was?« 561
»Also gut. Ich habe eine Art zickiger Schneekönigin über die Schwelle treten gesehen. Wollten Sie das hören? Ich sah eine kalte Gouvernante, die aussah, als liefe sie vor allem davon, was auch nur einen Zentimeter an sie herankommen könnte.« »Davonlaufen.« Sie schloß die Augen und sah tausend Bilder vor sich: Luis mit einem dunklen Schatten über sich, Bär Torrillo und die Wunde in seinem Leib, die tote Polizistin in der Wanne, ein Chaos aus Fleisch, Blut und Haaren. Und dann trieben die Gesichter, junge Gesichter, Kindergesichter an ihr vorbei, in einem zunehmenden, nicht nachlassenden Strom. Ihre Stimme hörte sich erschreckend an, erschreckend endgültig. Sie hörte ihre Worte, als kämen sie von einem anderen Menschen. »Sie haben gesehen, daß keine Liebe in mir war. Kein Mitgefühl. Nichts als Angst. Daß ich so kalt war, daß ich nicht einmal mehr hassen konnte.« Sie saß jetzt still und betrachtete ihre Hände. Im Zimmer war es totenstill bis auf das behäbige, fast holpernde Ticken irgendeiner alten Uhr an der Wand. »Fast hätte ich …«, sagte sie und verstummte. »Heute hätte ich mich fast von ihm töten lassen. Irgend etwas in mir wollte, daß es passierte. Mir war alles, alles absolut gleichgültig.« Quemada brach kalter Schweiß aus. Er wünschte sich dringend und meilenweit fort. »Sie haben bereits mehr als genug mitgemacht, Maria. Machen Sie es nicht noch schlimmer.« 562
»Ich habe versucht …« Sie bemühte sich um Worte. Es war nicht leicht. Sie schüttelte den Kopf, streckte ihm das leere Glas entgegen, ließ sich eingießen, trank einen tiefen Schluck, begann noch einmal von vorn. »Da gibt es ein Bild, ein Gemälde, das sie als eine Art Inspiration für den Mord an den Angels nutzten. Das erkannte ich sofort, als wir dort waren. Ich erinnerte mich an Menéndez’ Erstaunen. Ich hatte das Bild vor vielen Jahren gesehen und immer angenommen, es handele vom Tod. Immer. Das schien so offensichtlich zu sein. Aber ich irrte mich. Es handelt vom Leben. Von allem hier. Von der Stadt. Von den Ritualen. Es ist ein Spiegel. Aber ich konnte nur die andere Seite sehen. Und das will ich auch, Quemada. Ich will es.« Sie sah ihn an, und auf ihrem Gesicht lag eine Klarheit, eine Festigkeit, die er nie zuvor bemerkt hatte. Zwei Tränen rannen langsam die Wangen herunter. »Ergibt das einen Sinn, Quemada? Drücke ich mich verständlich aus?« Er dachte darüber nach. »Großer Gott, Maria. Das macht mehr Sinn als alles, was ich Sie je sagen hörte.« Ein kleines Geräusch kam aus ihrer Kehle, leise und erstickt, das so etwas wie ein Versprechen enthielt. Eines Tages, dachte er, eines Tages könnte es vielleicht zu einem richtigen Lachen werden. »Ich möchte zu Torrillo«, sagte sie. »Jetzt gleich. Und davon können Sie mich nicht abbringen.« Die Uhr hinter ihrem Rücken tickte lauter, immer lauter. 563
»Sie halten mich hin, Quemada.« »Vielleicht. Aber zunächst muß ich ein wenig telefonieren. Und wir sollten über ein paar Punkte sprechen. Ich möchte erfahren, was Sie wissen, Maria. Diese Sache ist noch nicht ganz wasserdicht.« »Die Ereignisse heute nachmittag. Das nicht funktionierende Licht. Die Leiche. Das konnte Antonio Mateo nicht allein bewerkstelligen. Er war bereits halb wahnsinnig. Und Menéndez …« »Ja, Menéndez.« Sie goß sich einen weiteren Weinbrand ein, stellte das Glas auf den Tisch. »Klären Sie mich auf?« Quemada fuhr sich mit der Hand über den Mund und seufzte. »Sie wissen es längst, nicht wahr? Sie haben die Unterlagen gesehen. Zumindest nahm der Capitán an, Sie hätten sie gesehen.« »Welche meinen Sie?« »Diese behördlichen Unterlagen, in denen wir nach irgendwelchen Erben von Alvarez forschten, um uns darüber zu informieren, ob irgend jemand Ansprüche auf sein Vermögen geltend gemacht hat.« Sie dachte an die Berge von Unterlagen, die sie gesehen hatte. »Sie haben ein Schriftstück abgezeichnet, Maria. Mit Ihren Initialen, unten auf einer Seite. Das habe ich heute abend entdeckt, als ich Menéndez’ Schreibtisch aufbrach. Der Capitán hat das Zeug auch gesehen. Und damit standen auch Sie auf der Liste. Zusammen mit Menéndez.« Sie versuchte sich zu erinnern, aber es gelang ihr nicht. Das Schriftstück, das für sie, und noch endgül564
tiger für Menéndez zum Verhängnis geworden war, entzog sich ihrem Gedächtnis. »Es ging um viel Geld«, sagte Quemada. »Um wieviel letztendlich, mag der Himmel wissen. Und Alvarez hinterließ es keiner Person. Er verteilte es auf Unternehmungen, Treuhandvermögen, Stiftungen. Schwer zu verfolgen. Schwer dranzukommen.« »Wohin ist es geflossen?« »Wer weiß? Die Señora, der dieses Haus gehört, sagte etwas, dem wir mehr Beachtung, dem ich mehr Beachtung hätte schenken sollen. Antonio Alvarez sei ein wirklicher Gangster gewesen, sagte sie, nicht nur irgendein gescheiterter Politiker, der eine verhängnisvolle Vorliebe für kleine Mädchen hatte. Er war ein Verbrecher großen Stils. Wenn man das weiß, bekommt alles einen Sinn. Politiker. Polizisten. Und Geld für seine unehelichen Nachkommen. Seine Kinder, Antonio und auch Jaime, müssen regelmäßige Zuwendungen von ihm bekommen haben. Nicht zuviel, da sie es sonst doch nur für Drogen rausgeworfen hätten. Aber auch nicht zuwenig.« Langsam begann das Bild in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen. »Weiter, Maria«, sagte Quemada und wirkte aufrichtig interessiert. »Sagen Sie mir, was Sie wissen.« »Alles ging gut, bis Luis Romero Jaime kennenlernte. Eins führt zum anderen, und Jaime macht ihn mit Antonio bekannt, der seinen Mund nicht halten kann.« »Das ist auch meine Vermutung. Vielleicht war Romero irgendwie an den Sex- und Drogengeschich565
ten der Brüder Angel beteiligt. Ich weiß es nicht. Aber auf jeden Fall fängt Antonio schon bald an, seine Vergangenheit auszuplaudern, ihre Vergangenheit, beginnt vom Krieg zu erzählen, von geheimen Konten, und Luis Romero hakt nach, bohrt weiter und weiter. Schließlich gewann der Alte den Eindruck, es könne sich nur noch um eine Frage der Zeit handeln, bis Romero hinter alles kommen und es auf der Titelseite von El Día erscheinen würde.« »Antonio hielt Romeros Frau tatsächlich für seine Mutter.« »Da haben Sie den Capitán, wie er leibt und lebt. Er ist doch wirklich ein verläßlicher Typ, oder? Er drückt auf den Auslöser, ohne dabeizusein. Sehr schlau. Aber Bär hatte recht. Antonio begann es Spaß zu machen. Ich nehme an, wie wohl Menéndez auch, daß er und Jaime miteinander durch die Gegend zu ziehen begannen, sich mit Stoff vollpumpten, vielleicht auch herumgebumst haben, und so die Angels kennenlernten. Was für ein Bild brüderlicher Liebe die beiden doch gewesen sein müssen. Dann tun sie ein- oder zweimal des Guten zuviel. Vielleicht nehmen sie so viel Stoff, daß sie nicht mehr genau wissen, was sie da eigentlich tun. Bei den Angels sind die Dinge eventuell ein bißchen außer Kontrolle geraten. Auch bei diesem amerikanischen Marathonläufer, Famiani, den Bär ein bißchen hart anpackte. Einem von ihnen, Antonio, nehme ich an, hat es wirklich Spaß gemacht. Und einoder zweimal setzt der Alte sie noch zur Verwirklichung seiner Pläne ein. Beschränkt die Dinge aufs Geschäft566
liche. Läßt Leute beseitigen, die über seine Gelder ein bißchen zuviel wußten. Wie Romero. Wie Castaneda. Wie …« »Wie ich«, sagte sie. »Wie Menéndez.« »Ja, aber das geht nur gut, solange wir den Täter für geistesgestört halten. Für einen Irren, der in roter Kutte herumläuft. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Alte nicht doch seine Hände im Spiel gehabt hat, beispielweise bei den Angels, damit das Bild stimmt. Überlegen Sie doch mal. Wie hat das alles eigentlich angefangen? Damit, daß irgend jemand das Nachmittagsschläfchen der alten Caterina Lucena störte. Sie entdeckt die beiden Typen, die über ihrem Kopf vermodern, ohne daß sie eine Ahnung davon hat. Vielleicht hat da jemand ihrem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen, damit sie uns auf eine falsche Fährte setzt? Vielleicht hielt jemand den Zeitpunkt für optimal, weil für den nächsten Tag Castanedas Tod geplant war und alles dem Kerl mit der roten Robe in die Schuhe geschoben werden sollte. Das gleiche gilt für Famiani. Auch das bot sich zur Unterstützung des Märchens geradezu an. Aber genau werden wir das vermutlich nie erfahren, wenn der Capitán es uns nicht erzählen wird.« Maria sah sich in dem kleinen Wohnzimmer um. Es wirkte zu bewohnt, zu normal. Die Uhr zeigte fast Mitternacht, und plötzlich fröstelte sie. »Wissen Sie, was ich glaube?« fuhr Quemada fort. »Daß der Alte nur ein überlebtes Einmannunternehmen ist. Der Rest seiner Jungs, die alten Gauner aus Francos Tagen, sind den Weg alles Irdischen ge567
gangen. Sie sind alt geworden oder sogar schon gestorben. Sie haben ihre Pensionen und einen Extraschluck aus Alvarez’ Schmiergelderpulle genommen und sich in nette alte Jungs verwandelt, die das alles am liebsten vergessen würden. Und können Sie es ihnen verdenken? Die Zeiten haben sich geändert. Man kann heutzutage nicht mehr so einschüchtern und drohen. Wir haben es mit Dinosauriern zu tun, und nicht einmal Geld, nicht einmal diese Menge Geld, kann sie am Leben erhalten.« Maria dachte an Rodríguez’ feinen, entwaffnenden Charme und daran, wie sehr sie sich in der Rauhbeinigkeit des Polizeialltags zu ihm hingezogen gefühlt hatte. Dachte daran, wie sie sich, wenn auch zögernd, von ihm in eine kleine, versteckte Verschwörung hineinziehen ließ, als sei das etwas ganz Natürliches, Selbstverständliches. Sie konnte sich sehr gut vorstellen, sah es förmlich vor sich, wie er beharrlich auf die Brüder Mateo einwirkte, ihnen genau sagte, was sie zu tun hätten, und sie davon überzeugte, daß es genau das war, was sich ihr Vater von ihnen gewünscht hätte. »Wie verhaftet man einen Capitán?« fragte sie. »Wie wollen Sie das eigentlich in die Wege leiten?« »So, wie wir jeden anderen auch verhaften. Noch sind wir nicht soweit. Aber es gibt da Mittel und Wege.« Maria stutzte. »Sie sind noch nicht soweit? Wie meinen Sie das? Was brauchen Sie denn noch …« Quemada hob die Hände. »Moment, Moment. Ich denke, man kann Dinge tun oder sie auch sein lassen.« 568
»Er hat getötet, Quemada. Er hat Menschen getötet.« »Nein. Wir glauben, daß er getötet hat. Das ist ein Unterschied. Das auch zu beweisen, ist schwerer geworden. Jetzt, wo die Männer tot sind, die er unserer Überzeugung nach dafür benutzt hat. Die Untersuchung im Zusammenhang mit Menéndez’ Tod ist ein Anfang. Seine Tage sind gezählt. Das weiß er. Aber ihm alles nachzuweisen … ist nicht gerade leicht. Es sei denn, er macht erneut einen Fehler.« »Und morgen hat er vielleicht das Land schon verlassen. Sitzt im Flugzeug nach Kolumbien. Oder sonstwohin. Mit dem ganzen Geld. Jedem Zugriff entzogen.« Quemada zupfte sich am Ohrläppchen, suchte nach der besten Formulierung für das, was er sagen wollte. »Verstehen Sie mich nicht falsch, Maria. Er hat Verbrechen begangen, aber für ihn ergeben sie durchaus einen Sinn. Diese Menschen haben ihre eigene Logik, das dürfen Sie nicht vergessen. Und diese Logik sagt dem Alten, daß es vorbei ist, daß er sein Spiel verloren hat. Und meiner Einschätzung nach gibt es niemanden, der seine Nachfolge antreten könnte, der seine ›Aufgaben‹ weiterführen würde. Warum wäre er sonst diese Risiken eingegangen? Warum hätte er sich sonst überhaupt an die MateoBrüder gehalten? Vor zehn, fünfzehn Jahren wäre so etwas intern geregelt worden. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?« »Sie waren vor zehn, fünfzehn Jahren bereits bei 569
der Polizei. Haben Sie solche Dinge intern geregelt?« »Nicht auszuschließen. Aber wenn, war ich mir dessen nicht bewußt. Ich tat, was mir gesagt wurde. So reagiert man nun einmal als Polizist. Man fragt nicht erst groß. Inzwischen sind wir da vorsichtiger. Und was den Capitán anbelangt, so ist ihm bewußt, daß wir etwas wissen, ist sich klar darüber, daß er im besten Fall entlassen wird und wir ihm, wenn wir ein bißchen Glück haben, all das auch nachweisen können. Aber bis dahin sind uns die Hände gebunden.« »Ich möchte zu Torrillo.« »Großer Gott. Ich hoffte, Sie hätten das vergessen.« »Sie sagten, daß es ihm bessergeht. Ich möchte ihn sehen.« Quemada griff sich an die Nase und dachte angestrengt nach. »Ich gehe jetzt ins Bad, Quemada. Wenn ich zurückkomme, suche ich mir einen Mantel und werde es irgendwie ins Krankenhaus schaffen. Es würde mich freuen, wenn Sie mitkommen. Wenn nicht …« Er sah ihr nach, wie sie die Treppe hinaufging, griff dann zum Telefon und rief zwei Nummern an.
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63 Sie holperten in Maggi Bartolomés betagtem R5 durch die Nacht. Sie sah ihn an. »Quemada?« »Ja?« »Dieser Anruf aus Melilla. Der uns auf den Gedanken brachte, Teresa Romero könnte seine Tochter sein. Haben Sie ihn entgegengenommen?« Er musterte sie, versuchte zu ergründen, ob sie noch immer skeptisch war, und schüttelte dann den Kopf. »Was sind Sie doch für ein schlaues Mädchen. Vielleicht sollten Sie ganz zu uns kommen. Nein, Maria. Aber heute abend habe ich in Melilla angerufen und wollte wissen, mit wem sie bei uns gesprochen hatten. Sie fielen aus allen Wolken. Sie haben nie hier angerufen. Wer und von wo aus immer im Büro anrief, tat das auf Anordnung des Capitán.« »Und Sie haben nichts damit zu tun? Absolut nichts?« Er verzog das Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. »Dieser Mann ist schlau, Maria. Wir tun, was wir können, aber er kennt sein Handwerk. Er hat die meisten von uns ausgebildet. Was wir im Augenblick gegen ihn in der Hand haben, ist sein Verhalten im Zusammenhang mit Menéndez’ Tod. Das ist ein Dienstvergehen, kein Verbrechen. Mehr können wir ihm im Moment nicht beweisen. Vielleicht niemals. Sie sollten beginnen, sich mit dieser Möglichkeit vertraut zu machen.« Sie wandte den Blick ab, aber Quemada bemerkte 571
es nicht. Eine verrückte Idee schwirrte ihm im Kopf herum. »Wissen Sie, was mir Genugtuung bereiten würde?« fragte er beiläufig. Sie antwortete nicht. »Ich würde dem Alten zu gern unter die Nase reiben, daß Sie davongekommen sind. Ihm mehr als deutlich machen, daß er verloren hat.« Er nahm eine Hand vom Steuer, holte das Telefon aus der Jackettasche und suchte im Speicher nach Rodríguez’ Nummer. Als sie auf dem kleinen Sichtfeld erschien, drückte er auf die grüne Ruftaste. Es klingelte dreimal. »Dígame«, meldete sich eine bekannte Stimme. Quemada räusperte sich, lauschte auf irgendwelche typischen Hintergrundgeräusche und meldete sich dann mit seinem Namen. Die Stimme am anderen Ende schwieg. »Capitán?« fragte Quemada. »Sind Sie noch da? Wir haben etwas zu besprechen.« Er hörte ein Rauschen, schließlich knurrte Rodríguez: »Das glaube ich kaum.« »Sehen Sie, Capitán, ich bin gerade mit Maria zusammen. Sie ist zwar ein bißchen durcheinander, aber sonst ganz in Ordnung. Dachte, das würden Sie gern erfahren. Sieht alles danach aus, als hätte es unser Mann, von dem wir annahmen, er wäre in der Arena getötet worden, noch einmal versucht. Sieht so aus, als wäre die Leiche aus der Arena ein anderer. Irgendein armer Teufel, der dort die Konzession für einen Imbiß hatte, wurde als vermißt gemeldet. Ein 572
treusorgender Familienvater. Weist vieles darauf hin, daß Antonio Mateo und sein Komplize diesen Burschen umgebracht, ihn irgendwie zu den Stieren in den Verschlag geschafft haben, und danach hat sich Mateo aus dem Staub gemacht. Ich weiß zwar noch nicht wie, aber in diesem Bereich ist die Arena ein wahres Labyrinth, und wir ließen uns von der Annahme täuschen, man könne nur durch die Türen hinaus. Dann begab sich Mateo zu Maria. Aber seine Rechnung ging nicht auf. Ich habe den Erkennungsdienst an den Tatort geschickt, damit er sich um die Leiche kümmert. Wir haben auch die Polizistin zu beklagen. Sie war eine fähige Kollegin. Zwei gute Polizisten an einem Tag. Ein großer Verlust und eine echte Schande. Ich nehme an, Sie stimmen dem zu.« Wieder hörte er nur Rauschen, aber die Leitung war keineswegs unterbrochen. Maria entriß Quemada das Telefon, überwältigt von Abscheu und Haß. »Ich lebe, Sie Mistkerl«, sagte sie. »Er hat Ihre Polizistin getötet. Ihre Polizistin. Torrillo hat er auch so gut wie getötet. Für wen halten Sie sich eigentlich, daß Sie glauben, Menschen so etwas antun zu können? Sie wie Gegenstände zu behandeln, derer Sie sich nach Belieben entledigen können?« Sie hörte ihn irgendwo in der Dunkelheit lachen. Die Stimme, die aus dem Hörer drang, klang fern und alt. Und sie verhöhnte sie. »Ah, die gescheite kleine Frau Professor von der Universität, vollgestopft mit Fakten, Theorien und Überzeugungen. Menschen wie Sie wachsen mit 573
Überzeugungen auf. Das muß sehr angenehm sein. In meiner Jugend war es in dieser Stadt noch sicher. Die Gauner und Huren, der Abschaum, alle kannten ihren Platz. Aber sehen Sie sich jetzt um. Sehen Sie sich das absolute Chaos an. Haben Sie nicht eine hübsche kleine, aber lebensferne Theorie, die das alles erklärt, Frau Professor?« Sie hörte die Worte und konnte sie nicht glauben. Konnte es nicht. War das alles, worauf es hinauslief? »Es geht um den Verlust von Macht, ist es nicht so?« fragte sie. »Es geht gar nicht um das Geld. Sondern um den Verlust von Macht, Ansehen, Einfluß, Stellung. Was zum …?« Wieder wurde der Empfang gestört, als sie sich dem Eingang des Krankenhauses näherten, und sie mußte den Hörer vom Ohr nehmen, weil ein Krankenwagen mit heulenden Sirenen an ihnen vorbeiraste. »Sie reden Unsinn«, zischte Rodríguez. »Ich höre mir das nicht länger an.« Quemada riß ihr den Apparat aus der Hand. »Noch eine Kleinigkeit, Capitán. Nur noch eine winzige Kleinigkeit, bevor Sie auflegen.« Nur Knistern in der Leitung, wie Zellophanpapier, das Feuer fängt. »Capitán?« Quemada sprach noch betonter, klang wie ein Tonband, das zu langsam läuft. Klar und deutlich kamen die Worte über seine Lippen. »Ich wollte Ihnen nur noch eines sagen. Das – mit – Ihrer – Mutter – tut – mir – sehr – leid.« 574
Die Stimme am anderen Ende war nicht mehr als ein Flüstern. »Der Hofnarr versucht es mit einem letzten Scherz.« Ein Klicken, die Leitung war tot. Quemada nickte und steckte das Telefon wieder in die Tasche. »Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, aber das habe ich genossen. Hat er zu Ihnen irgend etwas gesagt, was ich wissen sollte?« »Nichts.« Maria merkte, daß sie zitterte. »Glauben Sie, daß es irgendeinen Eindruck auf ihn gemacht hat, Quemada? Er war so … ohne jede Reue. Da sind Menschen gestorben, mit denen er zusammengearbeitet hat, Menschen, die ihn respektiert haben, aber er empfindet keine Reue? Kein Bedauern?« »Erwarten Sie etwa, daß er Asche auf sein Haupt streut? So ein Typ ist er nicht. Er gehört einer anderen Generation an. Ich vermute, daß er unverfroren genug ist, eine Entlassung aus dem Dienst anzustreben. Es sei denn, wir haben Glück, und er tut das einzig Anständige. Polizisten tendieren dazu, sich das Leben zu nehmen. Passiert immer wieder. Normalerweise reagiere ich mit Bedauern, selbst wenn der Bursche ein echtes Stinktier war. Aber ich denke, beim Alten mache ich eine Ausnahme.« Der Krankenhauseingang tauchte vor ihnen auf. »Als Sie im Bad waren, habe ich mit den Ärzten gesprochen. Sie sagten, es wäre eine spürbare Veränderung eingetreten.« »Eine Besserung?« »Wir sind keine Verwandten. Würden sie es uns 575
sagen, wenn es eine Veränderung zum Schlechteren wäre?« »Sind Sie überzeugt, daß es ihm wirklich bessergeht?« fragte sie, noch immer ein wenig ungläubig. »Sie kennen Bär doch. Der Mann ist gebaut wie ein Schrank. Überrascht es Sie?« Sie zögerte nur kurz. »Nein«, sagte sie. Er hielt sich rechts, fuhr an den freigehaltenen Flächen für Krankenwagen vorbei, auf den Eingang zu, und parkte auf einem Platz mit dem Schild »Nur für Ärzte«. »Quemada?« »Ja?« »Wird man irgendwann so unempfindlich? Man legt sich einfach eine harte Schale zu und läßt alles an sich abprallen? Ich habe heute einen Menschen getötet. Ich habe diese arme, ermordete Polizistin gesehen. Es war … es war ein Alptraum. Aber ich empfinde nichts. Und fühle mich nur benommen. Und innerlich irgendwie tot.« Quemada blickte durch die Windschutzscheibe, sah sich auf dem leeren Vorplatz um. »Es läßt Sie nicht kalt. Glauben Sie mir. Es schleicht sich an und schlägt zu, wenn Sie es am wenigsten erwarten. Es gibt da Hilfsprogramme. Bei der Polizei. Menschen, mit denen man sich aussprechen kann, Menschen, die einem helfen. Sie sollten sich an sie wenden. Im allgemeinen halte ich nicht sonderlich viel von derlei Mätzchen, aber ich glaube, diese Leute haben einiges für sich.« 576
Sie sah am Krankenhaus hoch, sah hinter einigen Fenstern Licht aufflackern. »Nein, tun Sie nicht«, sagte sie. »Bitte?« »Sie glauben: Sie ist eine Frau, sie braucht einen Nervenklempner. Wäre ich ein Mann, würden Sie mir auf den Rücken klopfen, mir gratulieren und mich zu einem Bier einladen.« Quemada schwieg. »Ja, stimmt. Klar. Die Schneekönigin weiß alles. Vergessen Sie Bär. Wollen Sie ein Bier?« »Jetzt nicht.« »Ah.« »Und ich will auch keinen verdammten Nervenklempner.« »Ah.« Sie stiegen aus, fröstelten in der kalten Nachtluft. »Wissen Sie was, Frau Professor? Sie nehmen es mir doch nicht übel, wenn ich das sage? Aber offen gestanden läßt es mich kalt, ob Sie es mir übelnehmen oder nicht. Ihr nervt mich. Ihr Leute aus dem Norden. Ihr kommt hier herunter und sagt: Donnerwetter, wie heiß es hier ist, wie spannungsgeladen, wie authentisch. Und für einen Besuch ist es reizvoll; es ist reizvoll, ein wenig Lokalkolorit zu schnuppern. Aber es ist einfach zu unheimlich, um hier wirklich zu leben, ein bißchen zu unheimlich, das alles zu nahe an sich heranzulassen. Diese Stadt. Diese Stadt ist ein bißchen zu sehr durch den Wind. Und so eilen Sie wieder zurück, nehmen Ihre isolierten kleinen Leben wieder auf, gehen zu Ihren 577
Abendgesellschaften und reden, reden, reden. Innerlich sagen Sie sich: Es mag ja langweilig sein, nein, seien wir ehrlich, es ist öde, so öde, wie Schafen beim Bumsen zuzusehen, aber immerhin ist es sicher. Man sieht das Abgründige nicht. Sie können das nervöse Ticken im Kopf nicht spüren, das Ihnen sagt: Die Zeit vergeht, Mädchen, mit jedem Tag, mit jeder Minute. Ja. Fahren Sie zurück. Hüllen Sie sich wieder in Ihren Kokon. Ich kann nur hoffen, daß er dicht genug ist. Sie werden ihn brauchen.« Maria blickte zum Lichtschein über dem Stadtzentrum zurück. Das Gewitter hatte sich längst verzogen. Die Nacht war klar, der Himmel ein funkelnder Sternenvorhang. In den Gärten schwankten und flüsterten Palmen im Wind. Schwer wie der Geruch einer Rotlichtbar hing Oleanderduft in der Luft. Sie hörte Quemada schnaufen wie eine Dampflok, der das Wasser ausgegangen war. »Das waren die meisten Worte, die ich Sie je im Stück aneinanderreihen hörte, Quemada. Passiert Ihnen das öfter?« Er wirkte erschöpft. Erschöpft und sehr, sehr bekümmert. Sie bedauerte, ihn so weit getrieben zu haben. »Zum letzten Mal siebenundachtzig. Irgendwann im Oktober. Kurz vor meiner Scheidung. Zwischen beiden Ereignissen könnte durchaus ein Zusammenhang bestehen. Tut mir leid, Maria. Wirklich. Es tut mir leid, daß Sie in diesen Mist hineingezogen worden sind. Ich bedauere, daß Ihnen Leid zugefügt wurde. Und ich wünschte, ich könnte etwas dagegen tun. Aber das kann ich nicht. Sie sind nicht 578
die einzige, die noch immer Unterricht im Menschsein nimmt. In diesem Beruf ist das ein echt gefragter Lehrgang. In Ordnung?« Sie sah den dicklichen Mann an und fragte sich, wie man diese Vielschichtigkeit in einem so kleinen Körper verbergen konnte. »In Ordnung«, sagte sie. »Gehen wir jetzt zu Bär?« Quemada befühlte die Ausbeulung an seinem Sakko. »Deshalb sind wir hier.« Hinter ihnen, in der Dunkelheit, rollten Reifen über den Asphalt, ein Auto bog in die Einfahrt, seine Scheinwerfer beleuchteten die breite, jahrhundertealte Freitreppe des Krankenhauses. Sie liefen die Stufen hinauf, meldeten sich am Empfang, durchquerten die Drehtür und machten sich auf den Weg zur Intensivstation. Bis auf ihre Schritte über den gebohnerten Linoleumfußboden war alles still. Irgendwo, dachte Maria, hier irgendwo liegt Caterina Lucena. Unbesucht, unbeweint. Und irgendwo in der Stadt fragt sich ihr Sohn, was ihm vom Leben bleibt. Maria blickte durch die Glasscheibe, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Das Bett des Hünen war von Weißkitteln umstanden. Ärzte und Schwestern beugten sich über ihn. Durch die Abtrennung hörten sie das Piepen der Monitore, aber jeder Blick auf Torrillo war ihnen durch die Wand weißer Rücken verwehrt. »O Scheiße«, sagte Quemada. »Verfluchte Scheiße. Tu uns das nicht an, Bär. Tu uns bloß das nicht an.« Dann trat ein weißer Kittel zurück, noch einer. 579
Klemmbretter und Stifte wurden gezückt, ein Sammelsurium medizinischer Instrumente verschwand in Kitteltaschen, wurde auf Metallschalen neben dem Bett abgelegt. Aufgerichtet saß Torrillo in den Kissen, seine breite Brust in Verbände gewickelt. Er sah die Ärzte und Schwestern höflich und gelangweilt an, unterdrückte ein Gähnen, und sein Blick fiel zufällig durch die Scheibe. Ein ungeheures Grinsen überzog sein Gesicht, und er formte mit Daumen und Zeigefinger ein gewaltiges O. Maria blinzelte wie wild, um die Tränen zurückzudrängen, und sah, daß Quemada das gleiche tat. »Du Mistkerl«, murmelte der Kommissar. »Du unmöglich fetter Mistkerl.« Einer der Ärzte folgte Torrillos Blickrichtung und sah sie hinter der Scheibe stehen. Seine Miene fiel unter Null, und er kam aus dem Raum gefedert. »Wer zum Teufel sind Sie?« Er trug eine dicke Hornbrille nebst Glatze und jede Menge Unmut zur Schau. »Polizei«, sagte Quemada und zeigte seine Dienstmarke. »Kollegen. Wir sind nur vorbeigekommen, um nach ihm zu sehen.« Der Arzt betrachtete erst die Marke, musterte sie dann von Kopf bis Fuß. »Es geht ihm besser. Er wird es überleben. Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob er es verdient hat. Hätte er nicht genügend Muskelfett an sich, um einen Wal über Wasser zu halten, wäre es aus gewesen mit ihm.« »Aber er wird wieder ganz gesund?« »Soweit ich erkennen kann, werden keine dauer580
haften Schäden zurückbleiben. Wahrscheinlich wird er noch einen Monat hierbleiben müssen, dann bekommen Sie ihn wieder.« »Er ist ein …« »Verschonen Sie mich. Ich will es gar nicht wissen.« Maria lächelte ihn an und hatte das Gefühl, ein Glas lauwarmes Wasser über einen Eisberg zu schütten. »Können wir ihn sehen?« »Ihn sehen? Selbstverständlich können Sie ihn sehen. Da ist er. Hinter der Scheibe.« »Können wir ihn besuchen, meine ich.« »Gehen Sie hinunter. An der Wand neben der Anmeldung sind die Besuchszeiten angeschlagen. Zu denen können Sie ihn besuchen.« »Eine kleine Ausnahme ist nicht möglich?« erkundigte sich Quemada. »Immerhin sind wir Polizisten …« Der Arzt musterte sie vernichtend, kein Basilisk hätte es besser gekonnt. »Sehen Sie zu, daß Sie endlich verschwinden. Es ist bereits eine Ausnahme, daß ich zu dieser Stunde mit Ihnen spreche.« Quemada sah durch die Scheibe, fing Torrillos Aufmerksamkeit ein, deutete mit dem Daumen auf den Arzt und zeigte ein Gähnen. »Sagen Sie ihm, daß wir wiederkommen.« Maria lächelte noch immer. »Sagen Sie ihm, daß wir morgen wiederkommen.« »Ja«, äußerte der Basilisk gereizt. »Und sagen Sie ihm noch etwas«, fügte Quemada hinzu. »Es ist sehr wichtig. Dann wird es ihm sehr 581
schnell noch sehr viel besser gehen. Sagen Sie ihm, es sei vorbei. Haben Sie das verstanden? Es ist vorbei.« Etwas in Quemadas Tonfall durchdrang die Grobheit des Arztes. »Ich werde es ihm ausrichten.« »Gut«, meinte Quemada, und sie winkten Torrillo ausgiebig zu. »Dann werden wir jetzt gehen. Wie steht es eigentlich mit der ärztlichen Versorgung hier, Doc? Gut?« »Wir geben uns alle Mühe.« »Jaaa, vermutlich. Aber Ihr Charme war nicht Anlaß für seine Besserung, oder?« Etwas wie Röte zeigte sich auf dem Gesicht des Basilisken, und Maria schoß Quemada einen warnenden Blick zu. Er versenkte die Hände in den Jackettaschen und setzte sich lächelnd in Bewegung. Sie folgte ihm, und sie liefen die große, marmorverkleidete Eingangshalle hinunter. Quemada schüttelte den Kopf. »Wenn wir Bär sagen, daß es der Capitán war, wirft ihn das um Wochen zurück. Das ist Ihnen hoffentlich klar, oder? Er hat den alten Knaben angebetet. Wir alle, aber nicht so wie Bär.« »Er wird darüber hinwegkommen«, sagte sie. »Ja, Bär ist ein Meister im Bewältigen. In Sachen Bewältigung ist Bär ein Schulbeispiel für uns alle.« Er sah ihr ins Gesicht. »Sie hören sich besser an. Sie klingen so, als könnten wir jetzt miteinander reden. Hier können Sie nicht bleiben. Das wissen Sie. Er kommt wieder in Ordnung. Und woanders haben wir Sie besser unter Kontrolle.« 582
Einen Moment lang brachte sie keinen Ton heraus. »Quemada?« »Ja?« »Bringt Sie Ihr Mundwerk eigentlich häufig in Schwierigkeiten?« »Häufig. Sehr häufig. Der Capitán hat mir mal gesagt, wenn ich mein Mundwerk zügeln würde, könnte ich es unter Umständen zum Sergeant bringen.« Er sah sie nachdenklich an. »Ob das als Ansporn gemeint war, habe ich ihn gefragt.« Maria lachte, es tat ihr gut. »Sie sind ein unmöglicher Mensch.« »Diese Feststellung höre ich nicht zum ersten Mal, muß ich zu meiner Schande gestehen. Aber darf ich vielleicht eine Bitte äußern, bevor wir diese Diskussion fortsetzen? Ich habe Hunger, ich habe Durst, ich bin müde. Und ich muß Sie irgendwo unterbringen, bevor ich erkunde, wie der Rest unserer fidelen Truppe die letzten Stunden verbracht hat. Darf ich Sie vielleicht in ein Hotel bringen?« »Das halte ich für eine sehr gute Idee.« »Ja«, sagte er, und sie traten in die frische, duftende Nacht hinaus. Maria holte tief Atem und spürte, wie die frische Luft belebend auf sie wirkte. Heute nacht werde ich gut schlafen, dachte sie. Ohne schwere Träume, ohne alptraumhafte Besuche in La Soledad. Oder sonstwo. Quemada ging hinten um den Wagen herum und setzte sich auf den Fahrersitz. Sie zog die Tür auf und ließ sich in die Polster fallen. 583
»Ich kann nur hoffen, daß es ein gutes Hotel ist, Quemada. Ich verlange wenigstens ein erstklassiges Haus.« Er sagte kein Wort, und sie drehte sich ihm zu. Die Waffe war durchs Fenster auf Quemadas rechte Schläfe gerichtet. Dahinter starrte sie Rodríguez’ bleiches, verspanntes Gesicht an. Sein Mund war halb geöffnet, er atmete keuchend. Mit der freien Hand griff er in Quemadas Jackett, holte den Revolver aus dem Holster und steckte ihn in seine Tasche. »Ich werde jetzt hinten einsteigen«, sagte er, und seine Stimme klang fremd, als würde sie einem ganz anderen Menschen gehören. »Dann werden Sie zum Fluß fahren. Zum alten Hafen. Dort, wo die Ausflugsboote anlegen. Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen aussteigen, steigen Sie aus. Sobald Sie irgend etwas tun, was mir nicht gefällt, erschieße ich Sie. Verstanden?« »Bekomme ich die Überstunden bezahlt, Capitán?« fauchte Quemada. »Ich habe ja nichts dagegen, den Taxichauffeur zu spielen. Aber ich möchte es zumindest wissen.« Der große Dienstrevolver blitzte in der Dunkelheit auf und wurde ihm gegen die Schläfe geschlagen. Sie sah, wie die Haut aufplatzte, wie ihm Blut über die Stirn lief, dunkle Flecken auf seiner Wange hinterließ. »Ich mußte mir Ihr Geschwätz zwanzig Jahre lang anhören, Quemada. Ich habe keine Lust, es auch jetzt noch zu hören. Fahren Sie los.« 584
Quemada wischte sich mit dem Armel das Blut ab. Hinter ihm wurde die Tür geöffnet und geschlossen. »Los«, sagte Rodríguez. »Aber langsam. Die Avenida hinunter, über die Umgehungsstraße. Kennen Sie den Weg?« »Ich kenne den Weg.« »Dann fahren Sie.« Sie fuhren auf die breite, fast leere Allee hinaus. Nur ein paar Taxis waren auf Kundenfang, hofften auf Nachtschwärmer, die nach Hause wollten. »Das ist doch Wahnsinn«, sagte Quemada. »Halten Sie den Mund.« »Es ist Wahnsinn, Capitán. Die Beweise in den Unterlagen sind erdrückend. Was haben Sie vor? Morgen oder übermorgen wird man Sie am Kanthaken packen. Sie machen alles nur noch schlimmer.« »Unterlagen? Sie haben die Unterlagen gelesen, Quemada?« »Einige von ihnen.« »Das sind nur Namen, Namen von Unternehmen, Organisationen. Die lassen sich ändern. Der Rest ist ein Kinderspiel. Wären Sie ein guter Polizist, würden Sie das wissen. Wären Sie ein guter Polizist, würden Sie nicht im Umkreis von Krankenhäusern anrufen. Mit diesen Sirenen im Hintergrund, die jedem verraten, wo Sie gerade sind. Dumm von Ihnen.« »Klar. Ich bin ja auch nur ein dummer Kommissar. Menéndez war schlau. Er hat sich die Unterlagen noch einmal vorgenommen. Er kam dahinter, wer vor so langer Zeit die Anzeigen gegen Alvarez nie585
dergeschlagen hat. Lange Zeit waren das Leute, die inzwischen längst tot sind. Aber dann, um neunzehnhundertsechzig herum taucht ein neuer Name auf. Ein gewisser Sergeant Rodríguez. Und er macht es sich buchstäblich zur Lebensaufgabe, alle Beschuldigungen gegen Alvarez als gegenstandslos abzutun. Menéndez fand auch heraus, wessen Name hinter einigen der Unternehmen steckt, deren Liste in Castanedas Büro gefunden wurde. Derselbe Name. Sie haben in dieser ganzen Zeit abgesahnt.« »Ja, Menéndez war schlau. Und nun überlegen Sie zur Abwechslung mal. Man weiß, daß jemand bei der Polizei auf irgendeine Weise Geld abgeschöpft hat. Man weiß, daß Sie verschwunden sind, spurlos, und Ihr Name ist in den Unterlagen.« »Ist er das?« höhnte Quemada. »Wenn sie sie sehen, wird er es sein.« »Und Maria? Hat sie sich auch bedient?« »Denken Sie nach, Quemada. Ich weiß, wie schwer Ihnen das fällt. Aber vielleicht gelingt es Ihnen zum Schluß ja doch noch. Ein mit diesen Morden befaßter Polizist verschwindet mit einer großen Menge Bargeld. Zusammen mit einer Frau, die eng mit ihm zusammengearbeitet hat. Selbst Ihnen sollte klar sein, was das bedeutet.« »Sie kennen mich. Ich bin nur ein dummer Kommissar. Schätze, sie ist einfach nicht mein Typ. Was meinen Sie, Maria?« Sie sah zum Fenster hinaus, sah die Straßenlaternen vorbeifliegen, das silberne Band des Flusses immer näher kommen. 586
»Ich denke, Maria stimmt mir zu, Capitán, ist aber zu höflich, es zu sagen. Warum bringen wir die Sache nicht anständig zu Ende? Ich wollte Ihnen eine Chance geben, als ich Sie anrief, eine Chance, diesen ganzen Mist mit einem Rest von Würde zu beenden. Um trotzdem in geweihter Erde bestattet zu werden, Sie wissen, was ich meine. Sie hätten sich ins Jenseits befördert, aber Ihrer Frau bliebe die Pension erhalten.« »Großer Gott, sind Sie dämlich.« Rodríguez fuchtelte mit der Waffe nach rechts. »Fahren Sie die Parallelstraße da hinunter.« Der Wagen holperte unter Bäumen eine enge kopfsteingepflasterte Straße entlang, bog hinter einem dunklen, aufgegebenen Lagergebäude ab. Wie Zahnstümpfe in einem verrottenden Gebiß ragten die Silhouetten von Kränen am Horizont auf. Leer und verlassen lagen die Kaianlagen im hellen Mondschein. Maria blickte auf den Fluß und erschauerte. Das Auto rumpelte auf das Dock. Hohe, verfallene Lagerhäuser schoben sich vor den Mond. Träge trieb der Fluß dahin. Hier wäre er selbst für große Frachter tief genug, wenn Nachfrage danach bestünde. Die Oberfläche wirkte wie zähflüssiges Öl, hin und wieder schwamm Treibgut vorbei. Rodríguez befahl Quemada, den Wagen anzuhalten. Er kam an einem schmalen, baufälligen Anlegesteg zum Stehen, der sich gut zehn Meter ins Wasser erstreckte. Die Planken wirkten brüchig und löchrig. 587
»Sie gehen mit der Flut hinaus«, sagte Rodríguez. »Eine halbe Stunde später schwimmen Sie im Atlantik – als Fischfutter.« Er stieß Quemada mit der Waffe in den Rücken. »Sie als erster. Steigen Sie aus. Stellen Sie sich vor das Auto. Und Sie …«, er schob ihr den Revolverlauf in den Rücken, »klettern ans Steuer. Damit ich Sie sehen kann. Dann steigen Sie aus und leisten ihm Gesellschaft.« »Capitán, Capitán …« Quemadas Stimme hatte ihren ironischen Unterton noch immer nicht verloren, und Maria war nicht klar, ob er sie umbringen würde. Gleich hier. »Die Zeit Ihres Schandmauls ist abgelaufen, Quemada.« Der kleine Kommissar drehte sich um, legte die Arme um das Rückenpolster und sah Rodríguez an. »Was dagegen, wenn ich doch noch etwas sage? Nur noch eine winzige Kleinigkeit?« Rodríguez richtete den Revolver direkt auf sein Gesicht und lächelte, lächelte mit ebenmäßigen, weißen Zähnen, die wie kleine Spiegel durch die Dunkelheit blitzten. »Sie sind doch ein kluger Kerl, Capitán. Sie wissen über so vieles Bescheid. Die Flut beispielsweise. Das ist hochinteressant. Ich hätte das nicht gewußt. Und diese Zahlen all dieser Konten, die wir aufgespürt haben. Menéndez ist Ihnen dicht auf die Spur gekommen, aber nicht dicht genug. Nicht für einen Mann Ihres Formats. Immerhin sind Sie ein Capitán und das alles. Sie sind ein echt schlauer Kopf.« 588
Rodríguez sah ihn über den Sitz hinweg an, seine Augen wirkten leer. »Das Problem ist nur, daß Sie sich in einem verschätzt haben.« »Tatsächlich?« »In mir.« Sie glaubte, Rodríguez würde schallend auflachen. Oder sie töten. Oder beides. »Wissen Sie«, fuhr Quemada fort. »Wissen Sie, ich habe vielleicht einen großen Mund, keinen allzu guten Geschmack in Modefragen, und auch meine Glatze ist nicht sonderlich kleidsam. Aber …« Sie hielt es nicht für möglich, vermochte nicht zu glauben, daß sich seine Lautstärke derart steigern konnte, daß er Rodríguez buchstäblich anbrüllte: »… ich bin nicht dämlich, verdammt noch mal!« Wie Donnergrollen hallten seine Worte im Auto wider. »Ganz und gar nicht.« Er neigte den Kopf und klopfte auf seine Taille. »Stimmt’s, Jungs? Stimmt doch, oder? Habt ihr das gehört?« Rodríguez zwinkerte. Abrupt wich ihm das Blut aus dem Gesicht. »Nur ein kleiner Trick, Capitán. Diese Funkgeräte funktionieren nur in einer Richtung, wie Sie wissen. Im Gegensatz zu mir geben sie keine Widerworte.« Rund um das Auto tauchten Gestalten auf, es wurde heller. Füße liefen über das Kopfsteinpflaster. Eine Hand fiel schwer aufs Wagendach, an den Fenstern erschienen Gesichter. Velasco blickte durch die 589
Scheibe, seinen Revolver in einer Hand, die andere drückte ein Taschentuch an seine Nase. »Sie waren ständig in unserer Nähe, Capitán. Seit wir das Haus verlassen haben. Ich hatte gehofft, Sie würden meinen Hinweis verstehen und ihm auf die eine oder andere Weise folgen. Aber ich mußte mich für den Fall vorbereiten, daß Sie das nicht tun. Das Funkgerät einzustecken schien mir nur vernünftig zu sein. Zur Sicherheit. Sie würden nicht glauben, welche Spielzeuge ich in Menéndez’ Schreibtisch gefunden habe. Neben dem ganzen anderen Zeug.« Rodríguez hob die Waffe, und einen Moment lang verschlug es Quemada die Sprache. Er fragte sich, ob er diesmal vielleicht doch zu weit gegangen war. Dann bewegte sich der Lauf weiter nach oben, und Rodríguez schob ihn sich in den Mund. »Raus aus dem Auto, Maria«, sagte Quemada. »Aber schön vorsichtig. Verlassen Sie das Auto.« Sie drückte die Tür auf und stieg auch aus. Die frische Nachtluft ließ den Schweiß auf ihrem Körper eiskalt werden. Rund um den Wagen standen Polizisten, ihre Waffen im Anschlag. Quemada blickte nach hinten, öffnete den Mund, besann sich dann aber anders und stieg aus. Er lief um das Auto herum, ergriff ihren Arm und ging mit ihr zum Fluß. Am anderen Ufer, unter bunten Lichterketten, tanzten Paare zur Musik einer kleinen Kapelle. Einschmeichelnd schwangen sich die Klänge über das Wasser. Ein Saxophon, ein Keyboard, die rauchigweiche Stimme einer Sängerin. 590
Maria lauschte der Musik, dem belanglosen, banalen Text, und plötzlich begann sie zu weinen. Warm liefen die Tränen über ihre Wangen, sie schmeckte sie salzig in ihrem Mund. Behutsam glitt Quemadas Arm um ihre Schulter. Geräusche hinter ihnen, ein kurzer, dumpfer Knall, und dann führte Quemada sie wortlos am Ufer entlang zu einem Einsatzwagen und schob sie auf den Rücksitz. Sie blickte durchs Fenster zu ihm auf. »Es ist vorbei«, sagte sie. Quemada nickte, suchte nach Worten, verblüfft über seine plötzliche Sprachlosigkeit, und ging dann zu den Männern hinüber, die ernst und schweigend das Auto am Anlegesteg umstanden. Im Einsatzwagen legte sich Maria lang auf den durchgesessenen, schmuddeligen Rücksitz und ließ sich von der Dunkelheit umfangen.
Epilog Sechs Wochen später sitzt sie im kleinen Bad ihrer neuen Wohnung. Sie trägt ein leichtes, cremefarbenes Nachthemd. Ihre Haare sind zu einem kurzen Pagenkopf geschnitten, der knapp ihre Ohren bedeckt. Die Fältchen um ihren Mund, ihre Augen, sind deutlicher geworden. Sie sieht anders aus, älter. Es ist acht Uhr morgens, und nichts stört ihre Ruhe, die Gedanken, die ihr durch den Kopf wirbeln. Ma591
ria fühlt sich von gegensätzlichen Empfindungen überwältigt, einer großen Kraft, aber auch von einer großen Hilflosigkeit. In der Hand hält sie ein kleines Plastikröhrchen mit einer Flüssigkeit, deren Farbe von Gelb nach Blau wechselt. Es ist ein klares Pfauenblau, ein Blau voller Wunder, Leben und Hoffnung. Ein Blau, das sie schon einmal gesehen hat, sich dann aber nehmen ließ. Sie steht auf, legte das Röhrchen auf die Ablage über dem Becken, wäscht sich die Hände, wäscht sich das Gesicht und geht in den Wohnraum. Er ist ein geräumiges, luftiges Zimmer, mit einem großen Teakholztisch in der Mitte, einem Tisch, an dem sich Menschen gern zusammenfinden, um bis spät in die Nacht zu essen, zu trinken und zu plaudern. Sie setzt sich an den Tisch und streicht mit der Hand über das Holz, genießt seine Glätte, seine Massivität, seine Verläßlichkeit. Auf dem Tisch liegt ein Taschenkalender, und sie zieht ihn zu sich heran. Es ist ein Geschäftskalender, ein Kalenderbuch, mit dem Namen einer Immobilienfirma auf dem Umschlag. Ein Kalender, wie man sie bekommt, wenn man Grundbesitz kauft oder verkauft, wenn das Geld über den Tisch geht, wenn die Umzugswagen rollen. Sie betrachtet die Eintragung für den kommenden Dienstag und unterstreicht sie, nimmt der Verabredung das Provisorische. Dann beginnt sie zu zählen, Woche für Woche, langsam, sorgfältig, denn es ist wichtig. Während sie die Seiten umblättert, spürt sie, wie ein leichtes Schwindelgefühl in ihr aufsteigt, stärker wird, als ihre Finger wei592
terblättern. Bei der fünfundzwanzigsten Woche hält sie inne, und die Erinnerungen kommen wieder, an Termine, Entscheidungen, Notwendigkeiten. Dann blättert sie weiter, kommt zur dreißigsten, vierzigsten Woche. Der Tag der Empfängnis steht fest, das macht das Zählen leicht, und als sie fertig ist, kreist sie einen Dreiwochenspielraum ein, in gut acht Monaten, und fragt sich, wie sich das alles mit ihrer Arbeit vereinbaren lassen wird. Aber das wird sich klären, in dieser neuen Wohnung, ihrem neuen Leben. Maria tritt an das Fenster, an das große Panoramafenster der hellen, neuen Wohnung im siebten Stock, hoch über dem Lärm, den Abgasen und dem Schmutz der Straße. Sie blickt auf die Silhouette der Stadt, die inzwischen vertraute Silhouette mit der Kathedrale, dem Torre del Oro, dem alten Platz, dem barrio und dem breiten, silbernen Schlängelband des Flusses in der Ferne. Ein Bild taucht vor ihr auf. Von gestern abend, im Krankenhaus. Sie sieht Torrillo, vorsichtig, noch ein bißchen unsicher, die ersten Schritte durchs Zimmer machen, sieht, wie sich das Lächeln auf seinem Gesicht immer mehr ausbreitet, bis es von einem Ohr zum anderen reicht. Seine Haare sind länger, aus dem Gesicht genommen. Ein Pferdeschwanz mit einem gelben Gummiband fällt ihm auf die Schulter. Irgendwie sieht er jünger aus. »Vielleicht noch nicht morgen«, sagte er, mit großen, glücklichen Augen. »Auch noch nicht in der nächsten Woche. Aber bald. Bald bin ich wieder da.« 593
Sie sieht ihn an, überlegt sich ihre Frage genau. »Bär, haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen eine Frage stelle?« Er steht neben dem Bett, stützt sich mit beiden Händen auf den weißen Metallnachttisch, neben die Vase mit den welkenden Blumen, und wartet. »Es hört sich bestimmt verrückt an«, sagte sie. »Aber das ist mir egal.« Seine Augen funkeln sie an, etwas wie Erheiterung blitzt in ihnen auf. »Es geht um Woodstock. Den Film. Über das RockFestival. Haben Sie den eigentlich je gesehen? Ich weiß, wie absurd es ist, einen Polizisten so etwas zu fragen, aber …« Eigentlich unwahrscheinlich, doch das Lächeln wird noch breiter, und Torrillo beugt sich zu ihr, vertraulich. »Das ist eine ganz komische Sache, Maria«, flüstert er. »Aber ich werde Ihnen die Wahrheit sagen, wenn Sie mir versprechen, Sie für sich zu behalten. Sobald das Großmaul Quemada davon Wind bekommt, werde ich meines Lebens nicht mehr froh.« Ein kaum spürbarer Schauer läuft ihr über den Rücken. »Ich verspreche es«, haucht sie. »Ich habe den Film nie gesehen, Maria. Ich war dabei. Vor Ort. Drei Tage lang. Von Anfang bis Ende.« Er mustert sie. »Alles in Ordnung?« Sie nickt. Ihr Hals ist ganz trocken, in ihren Ohren rauscht es. »Weiter«, ächzt sie. »Ein Cousin von mir, aus Miami, hat für Santana 594
Instrumente transportiert. Er setzte mich als Hilfskraft ein, der Rest ergab sich. Ein anderer Bär. Wenn Sie sich den Film ansehen, da, wo Country Joe and the Fish auftreten, komme ich ins Bild. Ganz vorn, direkt an der Bühne. Mehr Haare, weniger Pfunde. Aber eindeutig ich.« Sie starrt ihn an, und das Licht spielt ihr einen Streich: Um seinen Kopf beginnt die Luft zu leuchten, zu strahlen. »Kein Regen«, sagt sie. Und er lacht, ein tiefes, warmes Lachen. »Kein Regen, Maria. Kein Regen.« Inzwischen läßt die morgendliche Übelkeit nach. Sie sieht aus dem Fenster, legt eine Hand auf den Bauch und spürt die Wärme neuen Lebens.
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