Ba Jin
Shading
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band 725 der Bibliothek Suhrkamp
Ba Jin Shading Erzählung
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Ba Jin
Shading
Bibliothek Suhrkamp
SV
Band 725 der Bibliothek Suhrkamp
Ba Jin Shading Erzählung
Suhrkamp Verlag
Titel der Originalausgabe: Shading Aus dem Chinesischen übertragen von Helmut Forster-Latsch unter Mitarbeit von Marie-Luise Latsch und Zhao Zhenquang
Erste Auflage 98 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 98 Deutsche Erstausgabe Alle Rechte vorbehalten Satz: LibroSatz, Kriftel Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
Shading
Kapitel I Die Dämmerung brach herein. In dem noch grauen Mondlicht wurde ein schmaler, erdiger Pfad sichtbar, der geradewegs zum Fluß führte. Am Ufer entlang standen hüfthohe Schilfreihen. Vom Wind niedergedrückt, stießen sie tiefe Seufzer aus. Am Himmel hing ein Halbmond mit einigen Sternen. Die Luft roch nach Gras und Erde. Langsam kam die Nacht heran. Ein sanfter und schöner Abend! Auf dem Weg tauchte plötzlich ein Mädchen auf. Ihr hellgrünes Kleid war silberweiß überstrahlt, ein Zopf hing den Rücken hinab. Sie lief schnell, hielt aber manchmal inne, als ob sie vor irgend etwas Angst hätte. Kurz bevor sie an den Fluß gelangte, verlangsamte sie ihren Schritt und drehte den Kopf nach allen Seiten, als suchte sie etwas. Da sie offenbar nichts bemerkte, ging sie weiter und blieb schließlich neben einem grünblauen Felsen stehen. Nur einige Büsche wuchsen hier, davor Schilf. Wenn man genauer hinschaute, konnte man im Schilf einen schmalen Weg unterscheiden, der durch Moor zum Fluß führte. Kein Mensch war zu sehen oder zu hören. Nur einige Wasservögel schienen im Schilf mit den Flügeln zu schlagen. Vorsichtig schaute sie hin und pfiff plötzlich ganz leise. Einmal, zweimal … dreimal pfiff sie, jedes Mal etwas lauter. Dann 7
schloß sie den Mund, und es schien, als wartete sie auf jemanden. Es war so, als ob ein Wasservogel aufflöge, aber kein Wasservogel kam aus dem Schilf, sondern ein Mann, der die Gräser mit den Händen zur Seite streifte. »Yin«, sagte er mit freudigem Ausdruck. »Shengyi«, antwortete das Mädchen und heftete den Blick auf das Gesicht des Mannes. Der Mann trat neben das Mädchen und drückte ihr fest die Hände. Seine strahlenden Augen waren auf das Gesicht des Mädchens gerichtet. Noch einmal sagte er: »Yin!« Lange fiel kein Wort mehr. Plötzlich riß sie die Hände aus den seinen. »Du bist wieder hierhergekommen«, sagte sie vorwurfsvoll und fuhr fort: »Habe ich dir nicht schon das letzte Mal gesagt, daß wir uns diesen Monat nicht mehr treffen dürfen? Wenn ich zu oft weggehe, werden meine Herrin und ihre Töchter Verdacht schöpfen. Und die Augen der alten Hausgehilfinnen sind noch schärfer. Es ist wirklich nicht leicht, einen Vorwand zu finden, um wegzukommen! Wenn meine Herrschaft über unser Verhältnis etwas erfahrt – nicht auszudenken! Was willst du mir sagen?« Ihre glitzernden Augen ließen dabei die ganze Zeit nicht von seinem Gesicht ab. Einen Moment war er starr vor Schrecken, ließ den Kopf sinken und schwieg, aber dann schaute er auf und sagte freudig erregt: »Yin, ich will nach X gehen! … ich werde auf alle Fälle dorthin 8
gehen!« »Nach X? Was willst du denn dort?« fragte sie erstaunt, trat einen kleinen Schritt zurück und faßte sich an die Haare. »Ich habe dort etwas zu erledigen. Ich habe mich heute mit dir verabredet, um mit dir zu sprechen und dann von dir Abschied zu nehmen!« Seine Stimme zitterte, aber es war keine Trauer darin, sondern Freude. »Du hast mich an der Nase herumgeführt«, stieß das Mädchen hervor und sah ihn starr an, dann schwieg sie wieder. »Yin, du hast mich nicht verstanden«, antwortete er erschrocken, begann sie dann aber mit sanfter Stimme zu beruhigen und legte eine Hand auf ihre Schulter. Sie wandte sich zur Seite und stieß seine Hand herunter. Ärgerlich sagte sie: »Du willst weggehen, du willst mich allein lassen. Ich weiß, du willst …« Hastig unterbrach er sie und verteidigte sich: »Du hast mich mißverstanden! Erinnerst du dich nicht mehr an die dreihundert Silberdollar, die deine Tante einmal erwähnte? Mit dreihundert Silberdollar können wir dich loskaufen.« »Ach …« Sie brachte als Antwort nur einen Seufzer heraus und nickte dann schweigend mit dem Kopf. »Ja, mit dreihundert Silberdollar können wir dich freikriegen. Aber woher nehmen?« Plötzlich hielt er inne. Die Hauptsache wollte ihm nicht über die Zunge. »Dreihundert Silberdollar …«, murmelte das Mädchen. Langsam veränderte sich ihre Miene, eine Kummerwolke über9
zog ihr junges, schönes Gesicht. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, und ihre Lippen zitterten. »Seit acht Jahren bediene ich die Herren und Damen … seit acht Jahren … Jeder Tag kommt mir wie ein Jahr vor … wer weiß, wie lange ich dort noch schuften muß.« Kraftlos setzte sie sich auf den Stein und hob den Kopf, um ihn anzuschauen. Ihre glitzernden Augen standen voller Tränen. Er trat zu ihr und tröstete sie: »Yin, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Die Sache läßt sich lösen. Ich weiß auch wie: Dreihundert Silberdollar … gerade deswegen will ich nach X.« »Nach X. Was willst du denn dort machen? Kann man dort leicht Geld verdienen? Wann wirst du zurückkommen?« fragte das Mädchen sorgenvoll und fügte hinzu: »Kannst du nicht bleiben? Wir werden die dreihundert Silberdollar doch bestimmt auch anders zusammenkriegen. Dein Meister behandelt dich gut. Und woanders wirst du wahrscheinlich nicht so gute Menschen wie ihn finden.« »Yin, so klug du auch bist, hast du jetzt doch wieder nichts verstanden. Ich muß bei meinem Meister noch ein Jahr bleiben, bis meine Lehre zu Ende ist. Denk mal nach, wie kann ich als Lehrling bei diesem Tischler Geld verdienen? Auch in den ersten Jahren nach meiner Lehre werde ich nur schwer zu Geld kommen. Bis ich als Tischlermeister die dreihundert Silberdollar zusammenhabe, um dich loszukaufen, wirst 0
du graue Haare haben. Und selbst wenn du so lange warten willst, deine Herrschaften werden dies nicht wollen.« Der Mann redete eifrig auf das Mädchen ein, um sie zu überzeugen. Er schien großen Mut zu haben und sich einer besseren Zukunft vollkommen sicher zu sein. »Kümmere dich nicht darum. Wenn ich noch einige Jahre bei meiner Herrin aushalten muß, so liegt dies an meinem schlechten Schicksal …« Ihre Worte verrieten ihre heftigen Gefühle. Sie rückte ein bißchen zur Seite, ließ ihn neben sich auf dem Felsen Platz nehmen und fuhr dann fort: »Was willst du denn in X? Das ist doch sicher weit weg? Geht noch jemand außer dir?« »Es ist nicht so weit. Man braucht nur zwei Tage«, antwortete er. »Viele kommen mit. Auch Wu Hongfa, der bei uns in der Straße wohnt, wird mitgehen.« »Sag mal, was willst du eigentlich dort?« fragte sie interessiert mit etwas lauterer Stimme. »Leise!« mahnte er, ihre Hand festhaltend, »sonst wird uns vielleicht jemand hören.« Dann setzte er ernst hinzu: »Ich will dort als Bergmann arbeiten.« »Was? Drück dich deutlicher aus. Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte das Mädchen, und ihre Stimme klang sorgenvoll. »Bergmann – das heißt in Gruben nach Zinn graben.« »Nach Zinn graben?« schrie sie ängstlich. »Bist du verrückt?« schrie sie nochmals. »Willst du das wirklich? Sag, Shengyi, willst du wirklich dorthin?«
Er war etwas verlegen. Er verstand nicht, was sie meinte, brachte aber den Mut auf zu einer Erklärung. »Yin, es ist doch wegen der dreihundert Silberdollar. Dort ist es leicht, Geld zu verdienen.« »Ich habe gehört, daß es schlimmer ist, nach Zinn zu graben, als in der Verbannung Zwangsarbeit zu leisten«, sagte sie bedrückt. »Das ist doch gelogen. Glaub doch so was nicht! jedes Jahr gehen viele Leute dorthin. Herr Zhang, der Anwerber, hat uns erzählt, daß viele Leute, die von auswärts kamen, dort reich geworden sind. Die Löhne sind hoch. Man kann dort leicht zu Geld kommen und sparen. Es ist möglich, achtzigtausend oder hunderttausend Silberdollar zu verdienen. Auch diesmal gehen ziemlich viele.« »Ich bin dagegen. Ich mach mir Sorgen! Und wenn du noch so schöne Worte machst: wenn du gehst, werde ich mir Sorgen machen«, beharrte das Mädchen. »Was machst du dir denn Sorgen? Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Nach höchstens zwei Jahren komme ich wieder zurück. Herr Zhang war doch so überzeugend. In einem Jahr kann man mindestens dreihundert bis fünfhundert Silberdollar verdienen. Nach zwei Jahren werde ich so viel Geld nach Hause bringen, daß ich eine Familie gründen kann. Ist das etwa nicht schön?« Offensichtlich hatte er überhaupt keine Zweifel mehr. »Ich bin dagegen. Ich will nicht.« Sie schüttelte den Kopf und hörte ihm nicht zu. 2
»Was bringt es denn, unter der Erde nach Zinn zu graben. Wenn du unter der Erde hin- und herkriechst und die Sonne nicht mehr sehen kannst, werden deine Augen schlecht werden. Und wenn du dann zurückkommst, wer will dich dann noch heiraten?« Dabei errötete sie leicht, ob aus Scham über ihren letzten Satz oder aus anderem Beweggrund, wußte man nicht. »Yin, du machst dir zuviel Gedanken!« tröstete er sie mit sanfter Stimme, aber er war bereits nicht mehr so voller Zuversicht und Freude. »Mir wird schon nichts passieren. Schau mal, ich bin sehr kräftig. Meine Augen sind sehr gut. Wie können sie schlecht werden? Warum schimpfst du mit mir?« sagte er und lächelte dabei unnatürlich, denn ihm war gar nicht zum Lächeln zumute. »Die Arbeit unter Tage ist außerdem noch leicht. Herr Zhang „hat gesagt, daß die Bedingungen in den Gruben gut sind, daß die Arbeit den Augen nicht schadet. Und er hat auch gesagt, daß die Arbeiter sehr gut behandelt werden.« Auf ihrem Gesicht war nach wie vor kein Lächeln zu sehen, offenbar glaubte sie ihm nicht. Kopfschüttelnd fragte sie: »Was für ein Mensch ist dieser Herr Zhang? Vielleicht ist er ein Betrüger? Du bist zu vertrauensselig.« »Und du bist zu mißtrauisch! Kein Wunder, daß es immer heißt, daß Frauen mißtrauischer als Männer sind«, begann er zu lachen. »Der Herr Zhang ist ein guter Mensch. Er 3
ist über vierzig, hat einen Schnauzbart in Form des Schriftzeichens acht* und ein rundliches Gesicht. Er redet immer ehrlich und offen. Ich könnte schworen, daß er noch nie jemanden betrogen hat. Schau, diese fünf Silberdollar hat er mir gegeben. Nimm sie und heb sie gut für mich auf.« Dabei zog er aus der Tasche seines blauen Hemdes fünf wie Schnee glitzernde Silberdollar und gab sie ihr. Sie nahm sie, legte sie auf ihre Handfläche und drehte sie mit der anderen Hand leicht um. Er schlang den Arm um ihren Hals und schmiegte seinen Kopf an den ihren. »Geld … Geld«, seufzte sie. »Nur wegen dieses Geldes«, fuhr sie kopfschüttelnd fort, während sie die Silberdollar in ihren Ausschnitt steckte. Dann wandte sie ihm wieder ihr Gesicht zu und sagte traurig: »Du hast also dem Herrn Zhang schon fest zugesagt? Du willst mich also wirklich verlassen!« Sie warf sich an seine Brust, zitterte stark und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Gewiß weinte sie. Wenn er fortginge, würde ihr Leben noch einsamer und elender sein. »Yin, sei nicht traurig!« Als er sie so sah, fühlte er sich bedrückt, und der bevorstehende Abschied ging ihm sehr zu Herzen. War es schon nicht leicht, das Mädchen, das er liebte, in Tränen zu sehen, so würde es noch schwieriger sein, dieses *
4
Das Schriftzeichen acht:
junge und schöne Gesicht gar nicht mehr zu sehen und die sanfte, wohlklingende Stimme nicht mehr zu hören. Er würde an einen unbekannten Ort gehen und eine Arbeit verrichten, mit der er nicht vertraut war. Er würde Yin bei ihrer Herrschaft lassen, wo sie zu leiden hatte. Das Mädchen murmelte: »Shengyi, du darfst nicht weggehen. Du darfst mich nicht allein lassen!« Sie wollte ihn nicht weglassen, und sie hatte ihren Grund hierfür. Zwei Jahre, das sind über siebenhundert Tage – keine kurze Zeit, besonders nicht für sie, die, obwohl noch so jung, ein so schweres Leben führte. Wie oft würde sie in diesen siebenhundert Tagen geprügelt und beschimpft werden? Vielleicht geschähe etwas, das seinen Plan zum Scheitern brachte? Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden. Den Halbmond verdeckten graue Wolken, und graues Licht zitterte auf dem Boden. Das Schilf bewegte sich im Wind und seufzte weinerlich. Im dichten Gras zirpten Zikaden. Plötzlich hörte man ein peitschendes Geräusch, ein Wasservogel flog aus dem Schilf zum Wasser. Der Mond tauchte, kaum aus den Wolken hervorgekrochen, schon wieder in sie hinein. Er wußte nicht, warum ihm zum Weinen war. Er wünschte, alles aufzugeben und mit ihr in eine menschenleere Gegend zu gehen. Dann wäre sie nicht länger Prügeln, Beschimpfungen und harter 5
Arbeit ausgesetzt. Er müßte nicht wegen dreihundert Silberdollar in Gruben nach Zinn graben. Sie könnten gemeinsam ein glückliches Leben führen, und niemand würde sie stören. Liebesgeschichten fielen ihm ein, die er in alten Romanen und Liederbüchern gelesen hatte; wie ein junger Mann und ein Mädchen einander liebten, in Unglück gerieten, getrennt wurden und zuletzt wieder zusammenkamen. Solche Geschichten kannte er viele. Er dachte oft über die Beziehung zwischen Mann und Frau nach, und unwillkürlich dachte er dann immer an jene alte Art von Liebe und deren Ausgang. Jedesmal bewegte es ihn aufs neue, wenn die getrennten Liebenden wieder glücklich vereint wurden. Und auch erfaßte ihn allmählich wieder der Glaube, daß auf Leid immer Glück folgt. »Yin, du brauchst nicht traurig zu sein. Zwei Jahre sind kurz und gehen schnell vorbei. Ich weiß, daß die Tage für dich sehr schwer sein werden, wenn ich dich allein zurücklasse. Aber was für eine Zukunft habe ich denn als Tischlerlehrling? Geben wir deinem Herrn keine dreihundert Silberdollar, wird er dich nicht freilassen, und die Tage in seinem Haus werden dann noch schwerer sein als jetzt. Ich denke, besser kurze als lange Schmerzen. Laß mich also lieber weggehen! Yin, du bist doch vernünftig; was ich meine, das solltest du doch begreifen.« Jeder Satz kam sanft 6
heraus, als ob er sich tief in ihr Herz prägen sollte. Sie hörte auf zu weinen. Immer noch lag sie an seiner Brust und schaute nach oben, zu den Blättern der Bäume, zum Himmel. Sie hörte ihm aufmerksam zu, und jeder Satz bewegte ihr Herz. »Yin, ich muß gleich gehen. Hast du mir noch etwas zu sagen?« Ihr Körper zuckte, ihre Lippen bebten. »Shengyi«, sagte sie mit schwacher Stimme, »mir ist alles klar. Meinetwegen gehst du so weit weg, um nach Zinn zu graben! Ich mache mir ganz einfach Sorgen. Daß es mir so schlecht geht, ist nun einmal mein Schicksal. Das sollte dich nicht kümmern.« »Yin, warum redest du zu mir wie zu einem Fremden? Warum sollten wir uns trennen? Daß dein Schicksal schlecht ist, ist doch nicht deine Schuld. Aber ich denke, ich muß mich bei dir entschuldigen, da ich weggehe und dich allein zurücklasse.« »Du entschuldigst dich bei mir? Shengyi, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll! Du willst mich aus dem Elend befreien. Daß ich einen so guten Menschen wie dich getroffen habe, wie sollte ich damit nicht zufrieden sein?« sagte das Mädchen und wandte ihm den Kopf zu. Sie sahen einander an, ein Gesicht oben, ein Gesicht unten. Der Mond kroch wieder aus den Wolken hervor. Alles war von silberweißem Licht überflutet. Das reine Mondlicht fiel auf die Bäume, das Schilf und die Wasseroberfläche. Sie konnten ihre Gesichter und 7
Augen deutlich sehen. Die Augen des Mädchens glänzten, waren aber ohne Tränen. Ihr Gesicht war noch verweint, zeigte aber wieder einen anderen Ausdruck. Zuerst lächelte er ein wenig, dann lächelte auch sie. »Übermorgen früh werde ich gehen«, flüsterte er, scheinbar zu sich selbst sprechend. »Übermorgen? So bald?« fragte sie erschrocken. Ihr Lächeln verschwand, als erwachte sie aus einem schönen Traum. »Ich muß unbedingt übermorgen gehen. Ich habe schon alles vorbereitet. Vielleicht brechen wir sogar schon morgen früh auf!« Plötzlich fiel es ihm schwer, von ihr Abschied zu nehmen. Aber er bemühte sich mit aller Kraft, dieses Gefühl zu unterdrücken. »Übermorgen werde ich dich hier nicht mehr treffen können. Man wird dich nicht mehr in der Schreinerwerkstatt sägen sehen«, seufzte sie. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Mein Herz wird zurückkommen. Im Traum können wir einander noch treffen«, tröstete er sie. »Muß man, um dorthin zu gelangen, Berge und Flüsse überqueren?« fragte sie plötzlich ernst. »Aber natürlich – « »Man sagt, wenn man durch Berge und Flüsse getrennt ist, kann man auch im Traum nicht zurückkommen. Ich werde dich im Traum nicht sehen können«, unterbrach sie ihn verzweifelt. »Wer hat das gesagt? Selbst wenn man durch das Meer getrennt ist, erscheint man einander im 8
Traum! Bevor ich abends zu Bett gehe, werde ich dich rufen. Dies werde ich täglich machen, dann kann ich dich im Traum sehen«, sagte er ernsthaft, so als wäre er sich dessen ganz sicher, »Ich werde es auch so machen«, sagte sie sanft. »Jeden Tag werde ich beten, daß Gott dich beschützt. Jeden Tag werde ich, wenn ich Zeit habe, an dich denken. Ich werde dich niemals vergessen. Beim Essen werde ich daran denken, daß du auch gerade ißt, und wenn ich zu Bett gehe, werde ich daran denken, daß du auch gerade schlafen gehst. Gott wird Erbarmen mit mir haben. Er wird dich mir zurückbringen.« »Yin, so sehr liebst du mich! Ich würde mein Leben für dich opfern. Daß ich ein so gutes Mädchen wie dich getroffen habe, das ist wirklich mein Glück!« sagte er gerührt und umschlang sie noch fester. »Shengyi, warum übertreibst du so? Du bist mein Retter. Wenn ich dich nicht getroffen hätte, wäre ich bestimmt schon zugrunde gegangen. Ich liebe dich unendlich und habe Angst davor, dieses Glück zu verlieren!« sagte sie und strich zärtlich über seine Hände, die ihren Körper umfangen hielten. Sie legte sich schräg in seinen Schoß, ihr Kopf ruhte an seiner Brust. Plötzlich hörten sie in der Ferne, das traurige Zirpen der Zikaden übertönend, Hunde bellen. Hundegebell scheint in stillen Nächten immer besonders furchtbar. »Ah, ich muß zurück«, sagte sie. Als erwachte sie 9
aus einem Traum, kam ihr plötzlich wieder alles in den Sinn: die gnädigen Damen und Herren, deren Söhne und Töchter, die alten Dienstfrauen und all die anderen, die Arbeit, die vor Zorn verzerrten, furchteinflößenden Gesichter der Damen, wenn sie böse waren und schimpften. Ohne zu zögern, riß sie sich aus seinen Armen, stand auf und sagte: »Ich muß zurück, sonst werden sie mich heute nacht nicht in Ruhe lassen.« »Wart noch ein bißchen, es ist noch früh! Geh nicht so schnell weg! Yin, ich muß dir noch etwas sagen«, sagte er, packte das Mädchen an der Hand und ließ sie sich wieder auf den Felsen setzen. »Es ist schon spät. Wenn ich nicht bald zurück bin, werden sie argwöhnisch werden. Und wenn sie über unsere Beziehung etwas erfahren, werden sie mich prügeln«, sagte sie ängstlich. Ihr Gesicht und ihre Stimme verrieten ihre inneren Kämpfe. Kurze Zeit saßen sie schweigend, aneinander gelehnt. Dann half er ihr beim Aufstehen und sagte entschlossen: »Gut, geh! Ich habe nichts mehr zu sagen. Morgen abend bin ich wieder hier. Wenn du Zeit hast, komm!« »Gut, ich komme. Was sie mir auch antun, ich werde kommen«, sagte sie mutig. »Es ist schon die Stunde der zweiten Nachtwache«, sagte er leise, und tatsächlich hörte man den Nachtwächter mit seinen hölzernen Klappern. Der Rhythmus der Klappern und das Gebell der Hunde gingen, wie Frage und Ant20
wort, zweimal hin und her. In geringer Ferne wurde ein Armeehorn geblasen. »Ich begleite dich nach Hause. Ich weiß, daß du Angst hast. Ich gehe mit dir bis zur Straße. Niemand wird uns sehen«, sagte er und ging mit ihr, sie an der Hand führend, den schmalen erdigen Weg zurück. Obwohl sie rasch ausschritten, waren ihre Schritte unhörbar, denn der Mann trug Strohsandalen und sie trug Stoffschuhe. Zwei Schatten nur bewegten sich, Kopf an Kopf gelehnt, ununterbrochen vorwärts. Unterwegs sprachen sie noch leise miteinander. Beim Abschied legte sie ihren Mund an sein Ohr und fragte: »Hast du noch etwas zu sagen?« »Bleib gesund!« Er sagte nur diesen Satz. Am darauffolgenden Abend kam das Mädchen wieder zum Fluß, aber Shengyi war nicht da. Sie wartete eine gute Weile, doch vergebens. Sie wußte nicht, war er schon dagewesen und schon wieder gegangen oder war er überhaupt nicht gekommen. Auf dem Felsen sitzend blickte sie zum Himmel, zu den Bäumen und zum Schilf. An diesem Abend schien der Mond nicht, der Himmel war mit finsteren Wolken bedeckt, und der Wind blies so kräftig, daß das Schilf laut aufseufzte. In der Ferne bellten ununterbrochen die Hunde. Sie bekam Angst. Nach einer kurzen Weile ging sie nach 2
Hause. Auf der Straße sprach ein Mann darüber, daß die Bergarbeiter bereits am frühen Morgen aufgebrochen seien. Aber sie wußte nicht, ob von Shengyi und seinen Kameraden die Rede war. In der Nacht hatte sie einen Traum. Sie sah Shengyi in einer Grube hin- und herkriechen, seine Augen waren blind geworden und ein böser Mann, den er Herr Zhang nannte, peitschte ihn. Noch bevor der Traum zu Ende war, erwachte sie weinend.
Kapitel II Die Tote Stadt lag zwischen zwei großen Bergen. Natürlich hieß sie nicht Tote Stadt, aber die Bergarbeiter nannten sie so und hatten sogar ihren ursprünglichen Namen vergessen. Frühmorgens herrschte tiefe Stille. Nur ab und zu sah man auf den mit Kieselsteinen belegten Straßen einige müde aussehende, einsilbige Fußgänger in blauen Jacken schnell vorbeigehen. Sonnenschein war hier selten. Der Himmel war oft mit grauen Wolken bedeckt. Aber da die Menschen ein solches Wetter gewöhnt waren, ärgerten sie sich nicht darüber. Schien die Sonne einmal, ging es auf den Straßen selbstverständlich lebhafter zu, und die Einwohner schienen besserer Stimmung als gewöhnlich. Aber das war selten so, weswegen Neuankömmlinge auch oft mit einem Seufzer sagten: »Ach, diese Stadt ist wie tot.« Nachmittags begann die Stadt aus einem Traum zu erwachen. Auf der Straße wimmelte es von Menschen, die meisten in blauen Baumwollstoffanzügen oder in heller Sämischlederkleidung, auf dem Kopf einen Filzhut. Viele mit Waffen. Oft kam es zu Streit auf einer Straße, auf deren beiden Seiten es Geldspielstände gab. Das heißt, da waren eine Schüssel, eine Bambusmatte, zwei Würfel und viele Menschen ringsum, die sich so die Zeit 23
vertrieben. Es ist unnötig zu sagen, daß die östliche und die westliche Straße die besten und belebtesten der ganzen Stadt waren. In der Oststraße befanden sich viele große Läden, bautechnisch die besten der Stadt. Hier wurden jeden Tag beträchtliche Umsätze gemacht, viele ausländische Waren gingen hier über den Ladentisch. Täglich kamen Leute, die beim Geldspiel gewonnen hatten, in die Oststraße, um einige neue Waren zu kaufen und sie mit nach Hause zu nehmen. Die Geldspielstände konzentrierten sich in der Weststraße. Dort gab es keine schönen Bauten. Ein alter Vorhang, eine Bambusmatte oder ein Zelt genügten schon, um einen Geldspielstand aufzumachen. Auf dem Boden, auf der Bambusmatte hockten und saßen die Leute. Über ihnen hing eine Petroleumlampe, die Tag und Nacht brannte. Das war die Weststraße. Shengyi und seine Gefährten trafen zu der Zeit in der Toten Stadt ein, als dort reges Leben herrschte. Es hatte gerade zu dämmern begonnen, aber der Himmel war schon dunkel. Etwa ein Dutzend Männer schritten sie in einer Reihe hintereinander auf der schmalen, mit Kieselsteinen belegten Straße. Die schweren Bündel drückten schmerzhaft auf ihre müden Rücken, so daß sie gebückt gingen. Doch das Neue ließ sie die Köpfe heben und erstaunt überall hinschauen. »Schau mal!« sagte Wu Hongfa plötzlich zu 24
Shengyi, der vor ihm ging, dabei klopfte er ihm auf die Schulter und zeigte auf eine Frau, die ihnen entgegenkam. Shengyi hatte sie bereits erblickt. Es schien keine Sonne, und es regnete auch nicht, aber sie hielt einen aufgespannten Schirm in der Hand, an dem ringsum saumartig ein Netz befestigt war, das ihren ganzen Oberkörper verdeckte. »Wirklich seltsam, was es hier für Schirme gibt«, dachte Shengyi und lächelte unbewußt. Doch sofort kehrten seine Gedanken wieder zu Yin zurück. »Was Yin wohl gerade macht? Ob sie sich nach mir sehnt?« Unwillkürlich entfuhr ihm ein Seufzer. »Wie? Denkst du wieder an deine Freundin?« spottete hinter ihm Wu Hongfa, als er merkte, daß Shengyi nicht antwortete. »Pah! Du denkst doch selbst an deine Freundin!« sagte Shengyi plötzlich, seinen Kopf zu Wu Hongfa umwendend, so heftig, als wollte er ihm ins Gesicht spucken. »Wenn du so an ihr hängst, warum hast du sie dann allein gelassen?« fuhr Wu Hongfa fort, und ohne Shengyi eine Gelegenheit zur Antwort zu geben, begann er mit rauher Stimme gedämpft ein Liebeslied zu singen. »Um reich zu werden!« antwortete ein Mann mittleren Alters an Shengyis Stelle. Die anderen vor und hinter ihnen lachten. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Die Strapazen der letzten beiden Tage waren vergessen. Jeder von ihnen betrachtete die eigenartige Stadt mit den seltsamen Sitten. 25
Die Männer trugen helle Sämischlederkleidung, die Frauen hielten Schirme, an denen saumartig Netze befestigt waren, aufgespannt. Links und rechts der Straße waren Geldspielstände, umringt von vielen lärmenden Menschen. Die Silberdollar der Glücksspieler klangen hell. Überall brannten Petroleumlampen, die nur schwaches Licht ausstrahlten. Den Kopf erhoben, schlenderten Fußgänger vorbei, viele mit einer Pistole oder einem Gewehr und die Sämischledertaschen voller Munition. Dies alles wirkte sehr interessant. Die Stadt schien die Neuankömmlinge zu begrüßen, und insbesondere die hell klingenden Silberdollar schienen zu jedem von ihnen zu sagen: »Wir heißen euch, die ihr hier reich werden wollt, willkommen.« »Guckt mal, Shading, neuangekommene Shading«, schrie ein schwarzgesichtiges Kind und zeigte auf sie. Schnell kamen fünf oder sechs Kinder herbei, liefen ihnen nach, auf sie zeigend und lachend, mit neugierigem Ausdruck in den Gesichtern. Shading! Wie sonderbar diese Anrede war! Da sie meinten, daß dies ein Gruß sei, lächelten sie den Kindern zu und gingen etwas langsamer. »Schneller! Gafft nicht überall herum!« sagte der Aufseher; ein böser Ausdruck lag auf seinem kantigen Gesicht. Alle erschraken und waren betroffen über diese Worte, aber sie sagten nichts und gin26
gen ein bißchen schneller. Nur Wu Hongfa sagte halb im Spaß: »Was denn? Läßt er uns jetzt seinen Hochmut spüren? Wir sind gekommen, um hier nach Zinn zu graben, aber nicht, um uns ein solches Gesicht anzuschauen.« Alle lachten. Der Aufseher geriet in Wut. Die Röte stieg ihm in sein Dreiecksgesicht. Er ging auf Wu Hongfa zu und beschimpfte ihn laut: »Du Scheißkerl! Hier könnt ihr nicht machen, was ihr wollt, wie bei euch zu Hause. Was ich sage, das wird gemacht. Wer sich Freiheiten herausnimmt, der wird meine Methoden zu schmecken bekommen!« »Du bist doch hier nicht der Boß. Warum soll ich Angst vor dir haben?« Wu Hongfa gab sich nicht geschlagen und beschimpfte seinerseits den Aufseher. »Für dich würde ich nicht arbeiten, selbst wenn du mein Boß wärst, selbst wenn du mir den Schwanz abbeißt!« »Du willst nicht für uns arbeiten? Jetzt hast du keine Wahl mehr. Jetzt bist du hier und kannst nicht mehr zurück!« sagte der Aufseher mit dem kantigen Gesicht grinsend. Er krempelte sich die Ärmel hoch und machte Anstalten, Wu Hongfa zu schlagen. Der junge Mann wollte ebenfalls auf ihn losgehen, aber Shengyi schritt ein und trennte sie. Die anderen traten dazu und redeten ihnen gut zu, mit dem Streit aufzuhören. Das Dreiecksgesicht spuckte Wu Hongfa ins Gesicht. Der wollte sich von seinen Kameraden losreißen und auf ihn stürzen. Einige neu Hinzuge27
kommene warfen dem Aufseher ärgerliche Blicke zu und brummten unzufrieden vor sich hin. Viele Leute standen um sie herum, und einige Kinder riefen: »Schaut, die Shading schlagen sich!« Nach vielen Beschwichtigungsversuchen wurde der Streit allmählich beigelegt. Kurz danach machten sie sich wieder auf den Weg, um noch das letzte Stück hinter sich zu bringen. Natürlich machten der Aufseher und Wu Hongfa nach wie vor böse Gesichter, und auch den anderen war nicht sehr wohl zumute. Keiner sprach, schweigend gingen sie. Unterwegs riefen ihnen Kinder noch oft »Shading, Shading« nach. Aber jetzt empfanden sie es bereits als unangenehm, mit Shading angeredet zu werden, obwohl sie noch nicht wußten, was damit gemeint war. Die Nacht kam. Nachts war es hier oft stockfinster. Der Himmel war dann schwarz wie Tusche. Einige Sterne waren darin eingetaucht, aber sie hingen sehr hoch. Die beiden Berge, die man bei Nacht zu beiden Seiten erhaben und schroff aufragen sah, warfen zwei schreckliche Schatten auf die Tote Stadt. Sie gingen durch zwei dunkle und schmale Gassen, dann über einige mit Kieselsteinen belegte Wege und erreichten schließlich den Eingang einer Herberge. Zwei Männer standen dort. Unter dem vorgezogenen Dach des Toreingangs hingen zwei Lampions. Hinter dem Tor brannte 28
eine Petroleumlampe. Als die Kolonne sich dem Eingang näherte, lief das Dreiecksgesicht sofort nach vorne an die Spitze. Ein in ein langes Gewand gehüllter Mann rief ihm laut zu: »Hallo! Sind alle gekommen? Wieso kommt ihr erst so spät?« Shengyi erkannte die sanfte Stimme von Herrn Zhang. Er sah dessen rundes, lächelndes Gesicht mit dem Schnauzbart in Form des chinesischen Schriftzeichens acht (A). Durch das Lächeln wurden die kleinen Augen noch kleiner. Als Shengyi dieses Gesicht sah, war ihm, als ob er einen Verwandten träfe, und seine trüben Gedanken wurden hinweggefegt. Und als er an ihm vorbeiging, hob er den Kopf und sagte mit naivem Lächeln: »Herr Zhang!« »Shengyi, schön, daß du gekommen bist! Du bist jung und kräftig, stark und sehr gesund«, erwiderte der lächelnd, Shengyi dabei auf die Schulter klopfend, ganz wie ein Vater seinen Sohn. »Schön, arbeite fleißig! Sei nicht faul! Nach ein paar Jahren, das versichere ich dir, wirst du mit einem Berg von Gold nach Hause zurückkehren!« Er lächelte wieder. Neidisch blickten die anderen Shengyi an, und er selbst fühlte sich glücklich. Er dachte: »Wie froh wird Yin sein, wenn ich wirklich mit einem Berg von Gold nach Hause komme!« Vor seinen Augen tauchte ein strahlender goldener Berg auf. Man brauchte nur eine Hacke niedersausen zu lassen, und schon hatte man ein großes Stück 29
davon. »Shengyi, was ist los?« fragte Wu Hongfa plötzlich, als alle in ein Zimmer hineingingen, und ahmte dabei Herrn Zhang nach. »Du tust gerade so, als ob du bereits einen Berg von Gold ausgegraben hättest!« Er lachte, und die anderen lachten auch. Shengyi riß die Augen auf, und was er sah, war das lächelnde, gerötete Gesicht von Wu Hongfa, der ihm gerade ein lustiges Gesicht schnitt. Es gab keinen Goldberg, sondern alle drängten sich in einem engen Zimmer zusammen, das so gut wie nicht möbliert war. In einer Ecke stand ein schmaler Tisch mit einer Teekanne aus Ton und einigen beschädigten Schalen. Eine Öllampe strahlte schwaches Licht aus. Der Fußboden bestand aus Ziegeln, Betten gab es nicht, lediglich mit Stroh war ein Teil des Fußbodens bedeckt. Sie legten ihr Gepäck in eine Ecke. Manche setzten sich seufzend auf das Stroh, manche gingen an den schmalen Tisch, um Tee zu trinken, wieder andere gingen an die Tür, nahmen ein Tuch aus der Tasche und wischten den Schweiß von der Stirn. Dann kam Herr Zhang mit dem Dreiecksgesicht ins Zimmer. Er zählte die Neuangekommenen und wiederholte mehrmals: »Gut! Gut!« Dann sagte er: »Morgen früh gehen wir ins Bergwerk. Gleich wird Meister Wang von der Verwaltung kommen, der euch morgen früh einführen wird. 30
Wenn ihr wollt, geht doch nach dem Essen noch etwas spazieren. Hier kann man sich gut vergnügen. Shengyi, hast du unterwegs die Geldspielstände gesehen? Geh doch zum Glücksspiel! Ich kann dir garantieren, daß du gewinnen wirst. Dir steht heute das Glück ins Gesicht geschrieben!« Dann wandte er sich dem Dreiecksgesicht zu und sagte ihm etwas ins Ohr. Alle lachten. Vor der Zimmertür rief sie jemand zum Essen. Das Dreiecksgesicht führte sie hinaus. In einem düsteren Raum standen zwei alte schadhafte Tische mit einer Schüssel Sojabohnensuppe und einer großen Schüssel Gemüse. Auf einem kleineren Tisch lag ein Stapel Eßschüsseln, und auf dem Fußboden stand ein großer hölzerner Topf Reis. Die Männer drängten sich zum Reistopf, um ihre Schüsseln zu füllen. Shengyi blieb ganz hinten, er wollte sich nicht vordrängen. Als letzter füllte er seine Schüssel mit Reis und aß gierig. Es gab keine Stühle. Alle standen um die Tische herum. Es war grober Reis. Manche von ihnen waren gewohnt, solchen Reis zu essen, und den anderen, die es nicht gewohnt waren, schmeckte er allein schon wegen ihres Hungers. Schnell war fertiggegessen. Sie legten die Eßstäbchen hin, wischten sich mit der Hand den Mund ab und verstreuten sich. Als sie ins Zimmer zurückkehrten, sahen sie Herrn Zhang mit einem Mann sprechen, der et3
was über vierzig Jahre sein mochte – ein Mann mit einem mageren Gesicht, einer Glatze, einem Kinnbart, einer roten Nase, zwei dünnen Lippen und zwei funkelnden Augen. Wenn man ihn sah, wußte man sofort, daß er ein harter und strenger Mensch war. Zwei Männer in heller Lederkleidung, mit Sommermützen und am Gürtel eine Pistole, waren seine Begleitung. Sie hatten narbige Gesichter. Herr Zhang stellte sie ihnen vor: Der Mann mit dem mageren Gesicht war Wang, der Verwalter der Kompanie. Der sagte nichts, sondern sah alle nur lange schweigend, böse und durchdringend an, bis es schien, daß er jeden von ihnen nun genau kenne. Sein Blick war so schrecklich, daß er sie fast zittern machte. Dann wandte er sich ab, sagte kühl und gleichgültig: »Schön!« und ging mit Herrn Zhang hinaus. Ihnen folgten die beiden anderen. Als ob sie die gespannte Atmosphäre im Zimmer ebenfalls mitgenommen hätten, zogen sich einige aus und legten sich aufs Stroh, andere setzten sich. Sie plauderten. Zwei, drei, vier oder fünf Leute bildeten jeweils eine Gruppe. Sie sprachen über ihr bisheriges Leben, über die Vorzüge ihrer Frauen oder über ihre Hoffnungen. Manche unterhielten sich auch über die seltsamen Dinge, die sie hier gesehen hatten. »Was ist los, Shengyi?« fragte Wu Hongfa, schlüpfte neben ihn, zog ihn an der Jacke und 32
sagte leise: »Wollen wir noch ein bißchen weggehen?« Shengyi, der gerade einem noch nicht lange verheirateten Mann mittleren Alters zuhörte, der die Vorzüge seiner Frau pries, drehte sich um und sagte: »Ich geh nicht mit.« »Laß uns zu den Geldspielständen gehen! Da ist bestimmt was los. Vielleicht gewinne ich und komme mit einer Tasche voll Silberdollar zurück«, sagte Wu Hongfa verführerisch. Shengyi drehte jetzt nicht einmal mehr den Kopf um. Doch der Mann mittleren Alters hatte Wu Hongfas Worte gehört, brach sofort seinen Bericht ab, stand auf und sagte laut: »Ich will dorthin. Ich habe Geld!« Er schlug gegen seine Jackentasche, und wirklich klangen dort Silberdollar. »Aber du hast noch nicht zu Ende erzählt!« sagte Shengyi, der ebenfalls aufgestanden war, und wollte ihn veranlassen zu bleiben. »Dann komm doch mit. Unterwegs werde ich weitererzählen«, sagte der Mann, knöpfte seine Jacke zu, setzte seine Mütze, die er gerade abgenommen hatte, wieder auf und ging hinaus. Ein anderer junger Mann stand ebenfalls auf und sagte laut: »Lao Zhang, ich komme auch mit.« Lao Zhang hieß der Mann mittleren Alters. So waren sie zu viert. Sie gingen mit großen Schritten, und jeder von ihnen trug eine Art Hoffnung in seiner Brust. Lao Zhang erzählte Shengyi weiter von seiner Frau. Obwohl es schon spät war, herrschte auf den 33
Straßen noch ein so reges Leben wie am frühen Abend. Überall gab es Geschrei. Viele Männer in Sämischlederkleidung, jeder mit einer Pistole, und viele Männer in blauen Jacken mit einem Gewehr auf der Schulter gingen hastig an ihnen vorbei. In den Läden brannten hell die Petroleumlampen. Die Verkäufer hinter den Ladentischen unterhielten sich oder scherzten miteinander. Viele Läden hatten geschlossen, vor ihnen waren Geldspielstände aufgeschlagen worden, alle von Glücksspielern dicht umlagert. Wer neu hinzukam, gelangte nicht mehr zum Zuge. Lao Zhang führte die anderen drei zu einem Geldspielstand, an dem mit lautem Geschrei gesetzt wurde. Er wurde einige Schritte zurückgedrängt und stieß dabei versehentlich gegen den Arm von irgend jemandem, der ihm sofort drohende Blicke zuwarf und gleichzeitig vor seinen Augen mit etwas herumfuchtelte. Lao Zhang erkannte ein spitzes Messer. Als er noch einmal genauer hinsehen wollte, wurde er von Shengyi weggezerrt. »Die Leute hier sind wirklich merkwürdig. Alle tragen sie Waffen bei sich. Wozu?« sagte Shengyi und streckte die Zunge heraus. »Bestimmt, weil es hier viele Räuber gibt. Wir müssen uns in acht nehmen!« sagte Wu Hongfa ernst. Er warnte Lao Zhang: »Lao Zhang, deine Silberdollar klingen in der Tasche. Ich fürchte, das gibt noch ein Unglück. Sei vorsichtig!« »Was denn? Du bist so 34
furchtsam wie eine Maus. Eben hast du noch groß geredet, daß wir gehen sollen«, spottete Lao Zhang, auf den Boden spuckend. Dann fragte er die beiden anderen: »Wohin gehen wir zum Glücksspiel?« »Na schön, da du Mut hast, gehen wir in die Weststraße«, sagte Wu Hongfa. »Ja, die Weststraße ist besser. Laßt uns dorthin gehen«, sagte Lao Zhang. Auf dem Weg zur Weststraße stritten sie sich. An beiden Seiten der Straßen waren, nur durch Baumwollvorhänge oder Bambusmatten voneinander abgetrennt, viele Geldspielstände in Betrieb. Bei jedem dieser Glücksspielstände wimmelte es von Menschen. »Wie? Traust du dich nicht?« sagte Wu Hongfa ironisch zu Lao Zhang, als der an mehreren Geldspielständen vorbeigegangen war, ohne einzutreten. Lao Zhang antwortete nicht. Seine Aufmerksamkeit war auf die Spielstände zu beiden Seiten der Straße gerichtet. Plötzlich bemerkte er, daß zwei oder drei Männer einen Geldspielstand verließen, so daß es dort etwas Platz gab. Schnell drängte er sich hinein. Wu Hongfa und den anderen gelang es ebenfalls, sich hineinzudrängen. »Werden Sie reich! Gut! Nur schnell gesetzt! Wieviel wollen Sie setzen?« sagte der Spielmacher, wobei er ihnen lächelnd zunickte. Lao Zhang wurde rot im Gesicht, und anstatt zu antworten, lächelte er. Er nahm einen Silberdollar 35
aus der Tasche und setzte ihn auf eine ungerade Zahl. Wu Hongfa zog seine Jacke aus und flüsterte: »Ich fürchte, es wird eine gerade Zahl.« Die Würfel wurden aufgedeckt. Vier rote Punkte – eine gerade Zahl. Lao Zhang hatte seinen Silberdollar verloren. »Genau wie ich gesagt habe, eine gerade Zahl«, sagte Wu Hongfa, der hinter Lao Zhang stand, mit einem Seufzer. Schweigend nahm Lao Zhang einen weiteren Silberdollar aus der Tasche und setzte wieder auf eine ungerade Zahl. Die Würfel zeigten zum zweiten Mal zwei gerade Zahlen. Lao Zhang hatte abermals einen Silberdollar verloren. Wu Hongfa murmelte wieder etwas. Shengyi klopfte Lao Zhang auf die Schulter und flüsterte: »Laß uns gehen! Spiel nicht weiter! Du wirst nicht gewinnen.« Lao Zhang nahm zum dritten Mal einen Silberdollar und setzte ihn nach wie vor auf eine ungerade Zahl. Der Gewinn ging an die Bank. »Eine gerade Zahl, diesmal ist es bestimmt eine gerade Zahl«, behauptete Wu Hongfa fest. Lao Zhang nahm, immer noch schweigend, drei Silberdollar aus der Tasche und setzte auf eine gerade Zahl. Diesmal zeigten die Würfel neun. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Lao Zhang auf seine Silberdollar, die unter dem Fuß des Spielmachers lagen. »Gehen wir«, drängte Shengyi von neuem. »Gehen wir zurück! Fällt es dir denn nicht schwer zu verlieren?« Wu Hongfa seufzte nur. Das vierte 36
Spiel begann. Die Spieler setzten. Ein junger Mann, der schon viel Geld verloren hatte, setzte diesmal nicht, sondern nahm seine Pistole, die unter seinem Fuß gelegen hatte, in die Hand und spielte mit ihr. Shengyi hatte dies beobachtet und empfand es als sehr merkwürdig. Als er jetzt aufmerksam umherblickte, bemerkte er, daß fast jeder eine Waffe bei sich trug. Der Spielmacher hatte eine schwarze Pistole unter den Silberdollar liegen. Hinter ihm hockten zwei Männer auf dem Boden, die jeder ein Gewehr trugen. Einige Glücksspieler hatten ihre Waffen auf den Oberschenkeln liegen, manche im Schoß. Dann war da noch ein merkwürdiger Mann, der ein blankes, spitzes Messer zwischen den Zähnen hielt. Er setzte nur selten Geld, sagte nichts, seinen Kopf hielt er gesenkt. Niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit. Shengyi war sehr überrascht. Von allen Glücksspielern waren nur er und seine drei Freunde nicht bewaffnet. Er zerrte Lao Zhang heftig an der Jacke und flüsterte ihm zu: »Spiel nicht weiter! Laß uns zurückgehen!« Aber Lao Zhang hörte gar nicht zu. Er beobachtete schweigend, auf welche Zahlen die Glücksspieler setzten. Als alle gesetzt hatten, setzte er sein ganzes Geld auf eine gerade Zahl. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, und er sah sehr ernst aus. Alle Anwesenden, einschließlich des Spielma37
chers, warfen ihm erstaunte Blicke zu. Wu Hongfa machte sich Sorgen um Lao Zhang und versuchte mehrmals, ihn umzustimmen, indem er ihm ganz leise zuflüsterte: »Lao Zhang, was soll das? Bist du verrückt? Es wird um mehrere Dutzend Silberdollar gespielt. Hast du denn so viel Geld?« Lao Zhang schien ihn nicht zu hören. Er wandte seinen Kopf nicht um. Mit rotem Kopf schaute er erwartungsvoll auf den Becher, der die beiden Würfel zudeckte. Als der Becher hochgehoben wurde, veränderte sich vor allem der Gesichtsausdruck des Spielmachers. Anschließend schrien alle überrascht auf. Dann brachen Wu Hongfa, Shengyi und der andere junge Mann in Jubelrufe aus. Aber Lao Zhang hockte nach wie vor am Boden und starrte auf die beiden Würfel, die insgesamt acht Punkte, also eine gerade Zahl ergaben. Diesmal hatte Lao Zhang gewonnen. Eine ganze Weile herrschte im Geldspielstand peinliche Stille. Dann steckte Lao Zhang das gewonnene Geld in die Tasche und stand auf. Aber als er weggehen wollte, rief der Spielmacher: »Halt!«, nahm seine Pistole, die unter den Silberdollar lag, und setzte sie Lao Zhang auf die Brust. Die beiden Männer hinter ihm standen sofort auf und zielten mit ihren Gewehren auf den Kopf von Lao Zhang. »Freund, sei vernünftig! Wenn du das Geld rausrückst, kannst du gehen!« drohte der Spielmacher. Lao Zhang zögerte. Wu Hongfa, 38
Shengyi und der andere junge Mann, der mitgekommen war, wandten sich zu ihm und rieten: »Gib das Geld her! Es lohnt sich nicht, wegen dieser paar Silberdollar zu sterben!« Der junge Mann, der mit seiner Pistole gespielt hatte, zielte damit schweigend auf den Kopf des Spielmachers und sagte dann grinsend: »Aha, wer gewinnt, darf nicht weggehen. Dieser Geldspielstand wird also von Betrügern betrieben. Ihr verlangt, daß er das gewonnene Geld herausrückt, und ich verlange, daß ihr mein Geld herausrückt!« Plötzlich war ein furchtbarer Schrei zu hören. Einer der beiden Männer, die hinter dem Spielmacher standen, hatte auf den jungen Spieler zielen wollen, aber der merkwürdige Mann, der ein Messer zwischen den Zähnen hatte, hatte sein Messer nach ihm geworfen und ihn am Arm getroffen. Blut schoß heraus, und er fiel um. Eine Kugel flog durch die Luft. Gleichzeitig sprang Lao Zhang zur Seite. Der Spielmacher hatte auf ihn gezielt, traf aber einen Mann hinter ihm. Der junge Glücksspieler schoß auf den Spielmacher. Es gab ein großes Durcheinander. Alle zogen ihre Pistolen und schössen aufeinander. Silberdollar rollten auf den Boden, Kugeln flogen durch die Luft. Verwundete stöhnten und schrien. Plötzlich ging das Licht aus. Einige kämpften miteinander, um hinauszukommen. Zu den ersten, denen es 39
gelang, gehörten auch Lao Zhang, Shengyi und Wu Hongfa. Der junge Mann, der bei ihnen gewesen war, aber fehlte. Am Ende der Weststraße warteten sie lange auf ihn, doch er kam und kam nicht. Schließlich glaubten sie, daß ihn eine Kugel getroffen hatte. Aber sie fanden nicht den Mut, zum Geldspielstand zurückzugehen, um ihn zu suchen. Hastig liefen sie zu ihrer Herberge zurück. Lao Zhangs Jackentaschen waren voll mit Silberdollar. Aber er war darüber nicht froh, denn er konnte nicht vergessen, daß sie zu viert gegangen waren und zu dritt zurückkehrten.
Kapitel III Als Shengyi wach wurde, war es im Zimmer noch dunkel, so dunkel, daß man die Hand nicht vor den Augen sah. Viele Männer schnarchten laut. Um noch ein bißchen Schlaf zu finden, wälzte er sich auf dem trockenen Stroh auf die andere Seite und stieß dabei an Wu Hongfa. Es war zu wenig Platz da, um sich bequem auszustrecken, und es war im Zimmer schwül und stickig. Er konnte nicht mehr schlafen. »Xiao Wu«, sagte Shengyi mehrmals leise und schüttelte ihn am Arm, Xiao Wu aber rührte sich nicht. Er rief: »Lao Zhang«, bekam aber keine Antwort. Er schwieg eine Weile. Dann rief er zweimal: »Wu Hongfa.« Der aber lag in tiefem Schlaf. Shengyi versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf den Hintern und zog dann die Hand zurück, wobei er ein Grinsen nicht unterdrücken konnte. »Was ist los?« schrie Wu Hongfa, wälzte sich plötzlich herum und hielt sich den Hintern. »Xiao Wu, du hast geschlafen wie ein Klotz. Ich habe mehrmals gerufen, konnte dich aber nicht wachkriegen«, spottete Shengyi. »Shengyi, du!« murmelte Wu Hongfa. »Ist es schon hell?« »Noch nicht, ich habe die Hähne noch nicht krähen hören«, antwortete Shengyi. »Merkwürdig! Ist Xiao Wang zurück?« Xiao Wang war der junge Mann, 4
den sie am Abend zuvor aus den Augen verloren hatten. »Was? Ich habe ihn nicht gesehen! Wahrscheinlich hat er den Löffel schon weggeschmissen!« Während Shengyi dies sagte, war er plötzlich ganz bestürzt. Vor seinen Augen tauchten Szenen vom Vorabend auf. Böse Gesichter, Feuerwaffen, die Augen zu haben schienen, blanke Messer, Blut, das aus Wunden hervorquoll. Sein Traum vom goldenen Berg war zerstört. Er sah das Gesicht von Xiao Wang vor sich. Xiao Wang, der so oft lächelte. Eine Kugel traf ihn an der Nase, und an ihrer Stelle war nur noch ein Loch. Das ganze Gesicht war sogleich mit Blut beschmiert. Bei dieser Vorstellung begann Shengyi nervös zu zucken. »Nichts wie nach Hause! Hier kann man nicht leben!« dachte er und stieß einen Seufzer aus. Aber nach ein paar Minuten dachte er schon wieder anders, denn Yin und die dreihundert Silberdollar fielen ihm ein. Wie anders könnte er sich das Geld verschaffen? Dreihundert Silberdollar waren kein Pappenstiel. Ihm blieb nur das Bergwerk. Als er so hin und her überlegte, fühlte er wieder größeren Mut. Er sagte sich: »Wovor soll ich denn Angst haben? Ich bin doch nicht der einzige, der dorthin geht. Die anderen haben doch auch keine Angst. Warum dann ich?« Draußen krähten die Hähne. »Es wird bald däm42
mern!« dachte Shengyi. In einer Ecke begann Lao Zhang zu seufzen. »Lao Zhang«, rief Shengyi. »Bist du wach?« Der fragte zurück: »Wie geht es Xiao Wang? Ist er zurück?« »Das weiß der Teufel!« antwortete Shengyi grob. »Wir sollten ihn suchen gehen. Wenn er wirklich tot ist, können wir von dem Geld, das wir beim Spiel gewonnen haben, Bretter kaufen und ihm daraus einen Sarg zimmern. Er ist für uns gestorben«, seufzte Lao Zhang. »Gut!« antwortete Shengyi mitleidig. Wu Hongfa lag neben Shengyi und schwieg die ganze Zeit. Shengyi glaubte, daß er wieder eingeschlafen sei. Aber Wu Hongfa schlief nicht, er dachte an die Vorfälle des vergangenen Abends. Plötzlich sagte er mit bebender Stimme zu Shengyi: »Shengyi, ich will nach Hause.« »Nach Hause? Du bist doch noch kaum hier. Wieso willst du denn da zurück?« fragte erstaunt Lao Zhang, der ihnen gegenüber lag. »Ich habe Angst, daß ich hier sterben werde«, sagte Wu Hongfa plötzlich mit weinerlicher Stimme. Shengyi schwieg. Er dachte, »das wollte ich gerade selbst auch sagen«. »Angst hast du? Wovor denn? Ihr jungen Leute seid wirklich feige, habt keinen Mumm in den Knochen. Es ist gerade zwei Tage her, daß wir von zu Hause weggegangen sind, und schon redet ihr ständig davon, zurückzukehren. Wollt ihr denn das ganze Leben hindurch zu Hause bleiben?« sagte Lao Zhang in jenem Tonfall, in dem 43
ein Mann der älteren Generation die jüngere Generation belehrt. Als Shengyi das hörte, überlegte er: »Der hat doch erst vor kurzem geheiratet und sagt doch auch, daß seine Frau sehr gut, schön und fürsorglich ist. Er hat sie zu Hause gelassen, damit sie für seine Mutter sorgt, ist allein hierhergekommen und will jetzt anscheinend nicht zurück.« Und so fragte er plötzlich: »Lao Zhang, denkst du denn überhaupt nicht an zu Hause? Deine Frau ist doch so gut, und ihr seid auch noch nicht lange verheiratet!« Kaum hatte er dies ausgesprochen, dachte er wieder an Yin. »Was hilft es denn, wenn man an zu Hause denkt? Jeder denkt an zu Hause. Und jeder will seine Familie verlassen. Ein richtiger Mann ist es gewohnt, überall hin zu reisen. Hat er dann keine Lust mehr, weiter zu reisen, kehrt er nach Hause zurück. Seine Frau bleibt währenddessen daheim, und seine alte Mutter überwacht sie. Warum sollte er fürchten, daß sie mit einem anderen Mann wegläuft? Meine Frau ist sehr ehrlich und treu. Sie ist nicht wählerisch. Wir älteren Leute sind ganz anders als ihr. Wenn ihr jungen Leute eine Frau heiratet, überwacht ihr sie streng und betrachtet sie als Eigentum! Wir dagegen können heute eine Familie gründen und uns morgen auf den Weg machen, ohne eine Träne zu vergießen.« Lao Zhang sprach im Predigerton, ernsthaft und gleichzeitig ein bißchen überheblich. 44
Draußen krähten die Hähne zum zweiten Mal. Im Zimmer begannen die Farben sich zu ändern. »Ich kann nicht so handeln wie du … Lao Zhang! Du hast Geld. Leih mir fünf Silberdollar. Ich werde dir das Geld zurückgeben. Ich will nach Hause …!« beharrte Wu Hongfa mit abweisendem Gesicht. »Dir fünf Silberdollar zu leihen ist kein Problem. Das Problem ist aber, daß sie dich nicht fortlassen werden«, gab Lao Zhang zurück. Shengyi dachte wieder zärtlich an seine Yin. »Yin ist jetzt schon aufgestanden. Sie muß jetzt die Nachttöpfe ausleeren und muß saubermachen, kehren und Wäsche waschen. Sie hat viel Arbeit … Ich will zurück. Wie lange muß ich warten, bis ich sie wieder sehe? Zwei Jahre? Das heißt mehr als siebenhundert Tage. Zu lang! … Yin, ich rufe dich jetzt. Kannst du mich hören? Denkst du auch an mich? …« Er sprach mit sich selbst und hatte kein Interesse an dem, was Wu Hongfa fragte und was Lao Zhang antwortete. Die Hähne krähten zum dritten Mal. Ein Teil der Leute war schon aufgestanden. Der mit dem kantigen Gesicht kam ins Zimmer und weckte die übrigen. Er sagte, bald gäbe es Frühstück, danach sollten sich alle auf den Weg zum Bergwerk machen. Dann trat jemand in die Tür des Zimmers und rief laut, alle sollten essen gehen. Es fehlte an Wasser. Über ein Dutzend Leute 45
erhielten nur eine Schüssel schmutziges Wasser und wuschen sich darin nacheinander nur oberflächlich. Es gab kein Trinkwasser. Und weil sie sich gewaschen, also Wasser verbraucht hatten, gab es auch keine Suppe. Kaum waren sie mit einer Schüssel Reis fertig, drängte sie der mit dem kantigen Gesicht schon zum zweiten Mal, mit dem Frühstücken voranzumachen. Dann kam der Verwalter Wang, der Mann mit dem mageren Gesicht, mit den zwei böse aussehenden Männern, jeder von ihnen trug eine Feuerwaffe. Er erteilte ihnen einen Befehl. Wu Hongfa sagte sogleich, daß er heimkehren wolle. Der Verwalter Wang warf ihm daraufhin einen stechenden Blick zu und antwortete hart: »Das geht nicht. Du kannst dich im Bergwerk an Herrn Zhang wenden. Ich bin dafür nicht zuständig. Ich bin nur beauftragt, euch ins Bergwerk zu führen.« »Ist Herr Zhang denn nicht hier? Gestern abend war er doch hier«, fragte Wu Hongfa, und vor Aufregung wurde er ganz rot im Gesicht. »Er ist heute morgen schon früh mit der Seilbahn ins Bergwerk gefahren«, sagte Verwalter Wang mit nach wie vor finsterem Gesicht. Dann wandte er den Kopf zu den zwei böse aussehenden Männern mit den Feuerwaffen und sagte: »Kümmert euch darum, daß sie sich sofort auf den Weg machen. Ihr dürft nicht zu spät kommen.« Und ehe Wu Hongfa noch etwas fragen konnte, ging er. 46
Voll Mitgefühl sah Shengyi zu Wu Hongfa hinüber. Der junge Mann war zugleich aufgebracht, fassungslos und ängstlich. Er ließ den Kopf sinken, kratzte sich hastig und sprach wiederholt vor sich hin: »Na schön, im Bergwerk werde ich es sagen. Ich will unbedingt zurück. Ich habe mich doch nicht an sie verkauft. Wovor sollte ich denn Angst haben!« »Shengyi!« rief da Lao Zhang. »Ja«, antwortete Shengyi mit kraftloser Stimme. »Wollen wir nicht Xiao Wang suchen gehen?« drängte Lao Zhang. Shengyi zögerte mit der Antwort. Da sagte der neben ihnen stehende der beiden böse aussehenden Männer: »Jetzt darf keiner hinaus. Wir müssen uns gleich auf den Weg machen. Verwalter Wang hat es so angeordnet!« Das Gesicht des Sprechenden war hart und seine Stimme sehr entschieden. »Wir wollen Xiao Wang suchen gehen. Er ist die ganze Nacht nicht zurückgekommen. Vielleicht ist er erschossen worden. Wir wissen nicht, wie es ihm geht. Wir können ihn doch nicht allein zurücklassen!« gab Lao Zhang zu bedenken. »Kümmere dich nicht um das, was dich nichts angeht«, war die Antwort, und dabei spielte der Mann mit seiner Waffe. »Wenn er erschossen wurde, wurde der Leichnam schon weggeschafft. Du brauchst ihn nicht zu suchen. Er lebt bestimmt nicht mehr. Daß er weg ist, ist doch egal.« Der mit dem 47
kantigen Gesicht erschien wieder und befahl ihnen, schnell aufzubrechen. Lao Zhang wollte nicht weiter streiten. Er begriff, daß es zwecklos war, Schießereien und Tote gab es hier offenbar oft. Es war nicht so, daß er keinen Mut hatte, aber er besaß eine ziemlich gute Menschenkenntnis. Sie brachen auf. Ein Mann fehlte, aber zwei neue schlossen sich an. Xiao Wang war nicht da, und die beiden neuen waren die böse aussehenden Männer. Es war noch früh, und auf der Straße bot sich ein ganz anderes Bild als am Abend zuvor. Ein Bild der Ruhe, ohne Glücksspielstände und mit nur wenigen Bewaffneten in Lederkleidung. Der rote Sonnenball wurde noch von dem großen Berg im Osten verdeckt, aber dessen Gipfel war bereits golden überstrahlt. Der Himmel über dem Berg färbte sich hellrot und glich einem Stück Brokat, das auf einem grünen Meer treibt. Der Morgenwind streichelte die Gesichter. Der jetzt klare und blaue Himmel, der Wind und die frische Luft schienen den Leuten Kraft und Mut einzuflößen. Das Gepäck auf ihren Rücken drückte sie nicht länger, ihre Schritte wurden leicht und beschwingt. Sie blickten zum Himmel auf, unterhielten sich und lächelten. Der Weg verlief fast gradlinig. Beiderseits ragten die beiden hohen Berge empor, die sich vor dem klaren Himmel jetzt noch deutlicher abhoben. Sie zeigten keinen einzigen Baum, keinen Weg, kein 48
Haus, nur schroffe Felsen von furchterregenden, merkwürdigen Raubtieren gleichenden Formen. Der mit dem kantigen Gesicht sagte, das Bergwerk liege dort. Aber sie glaubten ihm nicht. Dort gab es nichts anderes als Felsen, wie könnte man dort leben? Ohne Unterlaß ging es vorwärts. Allmählich stieg der Weg an. Immer weniger Häuser waren zu sehen, immer weiter ging es bergauf. Nun begannen sie zu glauben, daß das Bergwerk dort war und fragten sich verzweifelt: Wie sollten sie auf diesen öden Bergen längere Zeit leben und arbeiten? Nach mehr als einer Stunde waren sie auf dem Berggipfel und sahen in der Ferne einen großen Tempel. »Zu welcher Religion gehört denn der Tempel? Machen wir dort doch eine Pause! Und es wäre gut, wenn es dort Trinkwasser gäbe«, sagte Wu Hongfa. »Was – das weißt du nicht? Das ist doch der Tempel zur Verehrung des Ahn Zhao des Zweiten. Viele Leute gehen dorthin«, sagte der mit dem kantigen Gesicht und warf sich in die Brust, weil er so viel wußte. Dann trieb er sie an: »Macht voran, wir machen dann eine Pause.« »Der Ahn Zhao der Zweite? Das ist aber ein komischer Name!« sagte Shengyi neugierig. »Du weißt nichts vom Ahn Zhao dem Zweiten und kommst hierher, um Zinn zu graben. Das ist doch unmöglich!« sagte Lao Zhang. »Der Ahn Zhao der Zweite ist doch der Ahn aller Zinnbergleute!« 49
»Und warum hat man für ihn einen Tempel errichtet? Weißt du etwas darüber?« drängte Shengyi Lao Zhang. »Ich habe keine Ahnung, aber ich habe gehört, daß er ein guter und aufrichtiger Mann war«, antwortete der. »Macht voran, und wenn wir dann dort sind, wißt ihr mehr!« drängte der mit dem kantigen Gesicht. Sie erfuhren, daß sie dort eine Pause einlegen, etwas Trinkwasser bekommen und außergewöhnliche Dinge sehen könnten. Der mit dem kantigen Gesicht behandelte sie jetzt höflicher. Und so fühlten sie sich froher und schritten weiter aus. Nach kurzem standen sie vor dem Tempel, der frisch lackiert war und neu wirkte. Sein Tor sah aus wie die Tore anderer Tempel, aber im Tempel standen nicht, wie üblich, die vier Bodhisattwas. Es war ein Bau einfachen Stils, ohne eine einzige Buddhastatue. In einer Nische der Haupthalle befand sich statt dessen ein gemaltes Porträt des Ahn Zhao des Zweiten, und von den Balken und Wänden herab hingen von Gläubigen gestiftete Tafeln mit Inschriften. »Jeder Wunsch der Gläubigen wird erfüllt … Wahrhaftiger Gott!« las Shengyi und fragte den mit dem kantigen Gesicht: »Was für ein Gott ist denn der Ahn Zhao der Zweite? Kümmert er sich um alles?« »Der Ahn Zhao der Zweite ist am hilfreichsten. Wenn du aufrichtig zu ihm betest, beschützt er dich, wie schwierig deine Lage auch 50
sein mag«, unterbrach der Tempelwächter, ein Mann von mittleren Jahren, ihr Gespräch. »Shengyi, bete zu ihm! Bete um einen Berg von Gold!« sagte Wu Hongfa lächelnd und klopfte Shengyi auf die Schulter. »Ihr alle sollt euch vor ihm auf die Knie niederlassen und zu ihm beten. Diejenigen, die hierherkommen, um Zinn zu graben, gehen vor allem zum Ahn Zhao dem Zweiten und beten um seinen Schutz«, sagte der mit dem kantigen Gesicht, ging als erster zum Altar, verbeugte sich dreimal ehrfurchtsvoll vor dem Bild des Ahn Zhao des Zweiten, fiel dann auf die Knie und beugte den Kopf dreimal zu Boden. Dabei betete er so leise, daß man nichts verstehen konnte. Wu Hongfa trat gleichfalls vor den Altar, blieb stehen, wandte den Kopf und sagte lächelnd zu Shengyi: »Shengyi, komm doch auch! Bete darum, daß er dich und Yin beschützt …« Dann blickte er wieder zu dem Bild, fiel auf die Knie und betete ehrfurchtsvoll. Auf dem Hof vor der Haupthalle wurden an Ständen Kuchen, Nudeln und Tee verkauft. Jeden Stand schützte ein großer Papierschirm, und unter den Schirmen waren für die Gäste Plätze reserviert. Einige Leute saßen dort, aßen, tranken, unterhielten sich und lachten. Nachdem sie genug gegessen und getrunken hatten, gingen sie in die Haupthalle, um zum Ahn Zhao dem Zweiten zu 5
beten. Anfangs hatten manche Leute nicht beten wollen. Später aber, als sie die Geschichte des Ahn Zhao des Zweiten gehört hatten, beteten sie gläubig. Die Geschichte des Ahn Zhao des Zweiten wurde von dem mit dem kantigen Gesicht erzählt. Shengyi und auch andere hatten ihn darum gebeten. Und um zu zeigen, daß er viel wußte, geizte er nicht mit Worten. Ein reicher Mann namens Zhao hatte hier einst gelebt. Man nannte ihn Ahn Zhao der Zweite. Niemand wußte, was ihn plötzlich veranlaßt hatte, nach Zinn zu suchen. Er hatte viele Männer angeworben, die Tag für Tag arbeiteten. Jahre vergingen. Er wechselte die Stellen der Grabungen – doch nichts wurde gefunden. Ahn Zhao der Zweite hatte immer weniger Rücklagen, aber er verzweifelte nicht. Er verkaufte seinen Landbesitz und seine Häuser und gab das ganze Geld für die Suche nach Zinn aus. Wieder wurde nichts gefunden. Er ging fast bankrott, behandelte aber die Arbeiter gut. Was sie aßen, aß er auch. Anfangs hatten die Arbeiter Fleisch erhalten, später bekamen sie nur Gemüse. Aber auch das konnte seinen Betrieb nicht retten. Bald war sein letztes Geld verbraucht. Er sorgte sich Tag und Nacht, und täglich suchten die Arbeiter nach Zinn, aber es war vergebens. Eines Tages, nach dem Mittagessen, kamen die Arbeiter auf Ahn Zhao den Zweiten zu sprechen: »Wir essen 52
jetzt nur noch Gemüse, wissen aber nicht, was Ahn Zhao der Zweite ißt. Wir sollten einmal nachsehen gehen.« Damals wohnte Ahn Zhao der Zweite dort am Abhang in der Nähe des Orts, wo die Arbeiter wohnten. Und als die Arbeiter eines Tages erfuhren, daß er ins Tal gegangen war, schickten sie einige Leute heimlich in sein Haus. Es war einfach möbliert; das hatten sie schon gewußt. In einer Ecke stand auf dem Lehmboden ein Ofen. Darauf stand ein Krug aus Ton. Und als sie den Deckel abhoben, sahen sie, daß der Krug zur Hälfte mit Gemüsewurzeln gefüllt war. Offensichtlich war Ahn Zhaos des Zweiten Nahrung noch schlechter als ihre! Einige Zeit später merkte Ahn Zhao der Zweite eines Abends, daß er nur noch etwa ein Dutzend Schnürchen mit Kupfermünzen besaß. Alle Pläne waren gescheitert, seine letzte Hoffnung war zunichte. Er war am Ende. Tief in der Nacht, als alle schliefen, ging er in die Strohhütten der Arbeiter und verteilte sein letztes Geld. Jedem legte er seinen Anteil aufs Kopfkissen. Dann ging er zurück, packte das Nötigste zusammen und stieg in der Morgendämmerung bergab. Als die Arbeiter wach wurden, sahen sie das Geld auf ihren Kopfkissen. Sofort liefen sie zu Ahn Zhaos des Zweiten Strohhütte, konnten ihn aber nicht finden. Was tun? Sie versammelten sich und berieten. Niemand war dafür, einfach das 53
Geld zu nehmen und fortzugehen. So begannen alle mit noch größerem Eifer nach Zinn zu graben. Und merkwürdig, gerade an diesem Tag, und zwar noch am Morgen, wurden sie fündig. Ihre Freude war unvorstellbar. Alle brachen in Jubelrufe aus: »Gehen wir sofort Ahn Zhao den Zweiten holen, damit er unser aller Glück teilt!« Einige Arbeiter liefen bergab und schlugen verschiedene Wege ein, um ihn zu suchen. Der Abend dämmerte schon, da fanden sie ihn am Ufer eines Flusses. Als er die Arbeiter sah, verbeugte er sich vor ihnen und sagte: »Verzeiht, ich kann euch nicht mehr helfen. Ich kann euch mit dem wenigen Geld nur eure Rückreise finanzieren. Es ist sinnlos, daß ich nochmal auf den Berg gehe.« Die Arbeiter teilten ihm daraufhin die gute Nachricht mit, aber er wollte sie nicht glauben. Endlich gelang es ihnen, ihn auf den Berg mitzuschleppen – er wurde reich, und die Arbeiter wurden ebenfalls reich. Nach wie vor blieb er mit den Arbeitern zusammen und lebte genau wie sie. Seinen ganzen Besitz wandte er auf, um anderen zu helfen, bis er schließlich wieder ohne eine Kupfermünze dastand. Nicht wenige Leute waren ihm dankbar und errichteten nach seinem Tod einen Tempel, um ihn als Gott zu verehren. Und nun ist er zu einem wirklichen Gott geworden. Wenn in der Umgebung etwas vorfällt oder einer 54
krank wird, kommen die Leute hierher zu diesem Tempel und beten zu Ahn Zhao dem Zweiten, damit er ihnen helfe. Man sagt, daß er sehr gut ist. Was die Herren der Zinnbergwerk-Gesellschaft betrifft, so kommen sie jährlich einige Male hierher und beten zum Ahn Zhao dem Zweiten, damit er ihnen hilft, noch reicher zu werden. Die Arbeiter, die hier nach Zinn graben, kommen ebenfalls oft in den Tempel, um zu ihm zu beten. Hier wird viel Weihrauch verbrannt! Die Erzählung bewegte alle Anwesenden, besonders Shengyi. Er dachte: »Wenn es unter den Herren der Zinnbergwerk-Gesellschaft nur einen so ehrlichen Mann gibt, kann die Arbeit unter der Erde keine harte Arbeit sein. Es ist sicher leicht, hier Geld zu verdienen … Wahrscheinlich«, dachte er, »ist mein Herr ein Mensch wie der Ahn Zhao der Zweite. Das künftige Leben ist gewiß leicht.« Er begann zu glauben, daß Ahn Zhao der Zweite ihm helfen könne, trat vor den Altar, sprach leise seine Hoffnung aus und kniete ehrfurchtsvoll nieder. Nach dem Gebet blieb er vor dem Altar stehen, hob den Kopf und blickte in die Nische. Vor seinen Augen erschien das freundliche Gesicht eines Mannes mittleren Alters, ein rundes Gesicht mit Schnauzbart und kleinen Augen, das ein sanftes Lächeln zeigte. »Wirklich ein guter Mann! Ähnelt er nicht Herrn Zhang?« schoß es ihm 55
durch den Kopf. Voller Freude lief er zu Wu Hongfa und sagte, als ob er soeben eine besondere Entdeckung gemacht hätte: »Da willst du noch heimkehren! Hast du immer noch Angst, daß es zu deinem Nachteil sein könnte, jetzt, da du einem so guten Mann begegnet bist?« Und dabei glaubte er, daß zwischen dem Ahn Zhao dem Zweiten und Herrn Zhang gewisse Beziehungen bestehen müßten. Nachdem sie sich erholt, getrunken, Nudeln oder Kuchen gegessen und zum Ahn Zhao dem Zweiten gebetet hatten, gingen sie weiter. Die Geschichte des Ahn Zhao des Zweiten beruhigte unterwegs ihre von Sehnsucht erfüllten Herzen. Jeder von ihnen fühlte sich leicht und froh. Die Sonne hatte jetzt den Berggipfel erreicht, so daß der Weg hell vor ihnen lag, brannte aber nicht auf sie herunter. Am Wegrand standen einige alte Bäume und warfen Schatten auf den sanft abfallenden Pfad. In der Schlucht standen vereinzelte Strohhütten, von denen grauer Rauch aufstieg. In der Ferne bellten einige Hunde. Es war so still, daß ihnen ein künftiges verdrießliches Ereignis unmöglich schien. Gegen drei oder vier Uhr nachmittags gelangten sie ans Ziel.
Kapitel IV »Name?« »Wu Hongfa.« »Alter?« »Fünfundzwanzig.« Diese Fragen stellte in einem Büro der Zinngrubengesellschaft ein magerer, hochgewachsener Mann an die fünfzig, mit großen Augen und großem Mund und einer Stirnglatze. Beim Sprechen zeigte er keine Gefühle, seine Stimme blieb immer gleich. Das Zimmer war nicht klein, aber spärlich ausgestattet. Der Magere wurde Verwalter Pan genannt, er saß hinter einem Schreibtisch und blätterte, während er sprach, in einem Stoß Papiere. Zu seinen beiden Seiten standen über zehn bewaffnete Kerle. Plötzlich hob er seinen Kopf und, in das starre Gesicht von Wu Hongfa schauend, sagte er mit einem listigen Lächeln, wobei seine gelben Zähne zu sehen waren: »Gut! Du freust dich darauf, in der Grube zu arbeiten? Sehr gut! Du hast fünfhundert Silberdollar Vorschuß bekommen. Die mußt du in fünf Jahren abarbeiten!« »Was? Ich soll Geld bekommen haben? Der Himmel sei mein Zeuge! Ich habe von Herrn Zhang fünf Silberdollar angenommen! Das kann ich beschwören!« 57
»Es ist ganz eindeutig, daß du fünfhundert Silberdollar bekommen hast. Herr Zhang hat einen Beleg. Da wagst du noch, es abzustreiten! Die Arbeiter, die von unserem Bergwerk eingestellt werden, bekommen immer den Lohn für einige Jahre im voraus. Für dieses Geld mußt du jetzt arbeiten!« »Das werde ich nicht! Kein Schwanz hat von Herrn Zhang fünfhundert Silberdollar bekommen. Herr Zhang hat unmißverständlich gesagt, daß man in einem Monat mehr als dreißig Silberdollar verdienen kann. Wer will denn schon umsonst arbeiten!« »Das Bergwerk hat dir Geld gegeben! Das mußt du jetzt abarbeiten. Ehe die fünf Jahre um sind, kommst du hier nicht weg. Hier kommt man zwar lebend herein, aber nicht einmal tot mehr hinaus!« »Wo ist Herr Zhang? Holt ihn her, und laßt uns von Angesicht zu Angesicht klären, wer euer Geld genommen hat. Ich kann beschwören, daß ich von euch nur fünf Silberdollar bekommen habe.« »Herr Zhang – hm, daß du ihn siehst, wird nicht möglich sein. Er ist nicht hier.« »Wo ist er denn? Euer Meister Wang hat doch heute früh gesagt, daß er hier auf uns wartet. Ihr seid alle Betrüger. Ich werde nicht arbeiten! Ich habe keine Angst vor euch üblen Betrügern.« »Was, kommst du mir jetzt mit Beschimpfungen! 58
Ich hab keine Zeit, mich mit dir herumzustreiten … He, schafft ihn mir vom Hals. Mal sehen, ob er es später noch wagt, Beschimpfungen loszulassen!« »Ich werde nicht arbeiten! Oder gelten für euch etwa nicht die Gesetze? Könnt ihr vielleicht einfach nach Belieben das Leben eines Menschen zerstören? Ich werde nicht arbeiten. Mal sehen, was ihr mit mir macht …«, sagte Wu Hongfa, das Gesicht rot vor Anstrengung, doch vollkommen seiner Sache sicher und überzeugt davon, im Recht zu sein. »Schafft ihn weg!« befahl Verwalter Pan mit bösem Gesicht. Die mehr als zehn bewaffneten Kerle umringten ihn. »Betrüger! Ich gehe nicht. Ich will doch mal sehen, was ihr mit mir macht! … Schlagt zu, schlagt zu … schlagt zu … schlagt doch zu!« Wu Hongfa wehrte sich und schimpfte, aber schließlich wurde er von zweien der bewaffneten Kerle weggeschleppt. »Bringt den nächsten«, befahl Verwalter Pan ruhig, als ob nichts geschehen wäre. Shengyi wurde hereingebracht. »Name?« »Wang Shengyi.« »Alter?« »Zweiundzwanzig.« »Du bist wirklich sehr kräftig. Du hast von Herrn 59
Zhang fünfhundert Silberdollar bekommen. Du mußt fünf Jahre im Bergwerk arbeiten.« »…« Shengyi wurde von zweien der bewaffneten Kerle weggeschleppt, genauso wie vorher Wu Hongfa. »Der dritte soll hereinkommen«, sagte Verwalter Pan in gleichbleibendem Ton. Am Abend dieses Tages waren in die Baracke auf halber Höhe des Berges noch weitere zehn Fremde gekommen. Der feuchte Erdboden im Innern war mit trockenem Stroh bedeckt. Darauf lagen sie ausgestreckt unter fadenscheinigen alten Baumwolldecken. An der Tür hing ein eisernes Schloß, und draußen standen einige bewaffnete Kerle Wache. In der Baracke war es stockfinster; sie hatte keine Fenster. Durch die Ritzen blies von Zeit zu Zeit kalter Wind. Shengyi erwachte jäh. Er hörte ein Stöhnen und merkte, daß Wu Hongfa noch nicht schlief. »Xiao Wu, du schläfst noch nicht?« »Ah, ich habe Schmerzen«, gab der zur Antwort, drehte sich um und sagte noch einige Male: »Schmerzen« … »Schmerzen.« »Geht es dir denn jetzt nicht etwas besser?« fragte Shengyi teilnahmsvoll. »Besser? Schlechter!« stöhnte Wu Hongfa. »Überleg doch mal! Diese Hunde haben mit den Fäusten mit aller Kraft auf mich eingeschlagen! Jetzt 60
scheinen tausend Nadeln in meinem Rücken zu stecken. Wird es bald hell?« »Hell? Ich fürchte, es ist noch zu früh! Gerade hörte ich die Stundenzeichen der dritten Nachtwache.« »Die dritte Nachtwache? Du Heber Himmel! Dann dauert es ja noch eine Ewigkeit, bis es hell wird.« »Am besten machst du die Augen zu und schläfst noch ein bißchen.« »Noch ein bißchen schlafen? Du hast Nerven! Sobald ich die Lider schließe, zittern viele goldene Sterne vor meinen Augen, und mein Rücken brennt wie Feuer«, sagte Wu Hongfa, und stöhnte wieder vor Schmerzen. »Xiao Wu, das ist doch nicht so schlimm. In drei Tagen sind deine Wunden verheilt. Und wovor solltest du Angst haben?« beruhigte Shengyi ihn sanft. »Was nützt es mir, wenn es besser wird? Ich kann ja doch nicht nach Hause zurück. Shengyi – fünf Jahre! Fünf Jahre! Wie furchtbar! In fünf Jahren bin ich dreißig. Und bist du sicher, daß diese gewissenlosen Betrüger uns dann gehen lassen? Ich werde mein Leben lang hier wegen fünf Silberdollar begraben sein. Ach ja …«, Wu Hongfa redete, seufzte und stöhnte. »Ach ja, fünf Jahre! Für dich ist das nicht so schlimm. Aber ich, was soll ich tun? Yin kann 6
nicht fünf Jahre warten! Ihre Herrschaft wird sie verkaufen. Fünf Jahre! Nach fünf Jahren ist für mich alles zu Ende!« Shengyi war dem Weinen nahe. Die beiden Männer schwiegen. Aber ihr Stöhnen und Seufzen hörte nicht auf, dazu kamen noch Schnarchlaute und das Pfeifen des Windes. Nach mehr als zwanzig Minuten rief Shengyi plötzlich leise: »Yin!« Und er sagte zu sich selbst: »Yin wartet auf mich … Fünf Jahre kann sie nicht warten!« Wu Hongfa sagte nichts, er seufzte und stöhnte nur leise. »Xiao Wu!« rief Shengyi nach kurzem Schweigen plötzlich erregt, worauf der undeutlich etwas murmelte. »Wir beide fliehen, was meinst du?« sagte Shengyi jetzt sehr leise. »Fliehen? Du träumst wohl!« gab Wu Hongfa ebenso leise zurück. »Sie bewachen uns scharf. Überleg doch mal! Wohin willst du?« »Das ist doch einerlei. Wenn man sich immer nur fürchtet, wird man sich nie ein Herz fassen. Auch wenn es schwierig aussieht, gibt es doch einen Weg.« Shengyi dachte an Yin und bekam Mut. »Leicht gesagt, aber schwer getan. Wenn sie schießen, dann ist doch alles aus. Von Xiao Wang ist nicht einmal mehr ein Schatten zu sehen.« »Schießen. Davor fürchten sich nur Leute ohne 62
Mumm in den Knochen. Untätig zuschauen, wie Yin an irgend jemand verkauft wird, ist schrecklich, schrecklicher als erschossen zu werden«, kam es sehr schnell aus Shengyis Mund. Doch in Wirklichkeit war er keineswegs so entschlossen. In seinem Innern überwog der Ärger vor dem Kummer. Er glaubte zu sehen, wie Yin von einem schwarzgesichtigen Kerl umfaßt wurde. Weinend versuchte sie freizukommen, doch vergeblich. Sein harter Bart zerstach ihre zarten Wangen. Der Mann war kein Fremder, sondern ihr Herr, wie er nun erkannte. »Ich muß unbedingt fliehen. Sterben werde ich sowieso. Da kann ich auch draußen sterben«, sagte Shengyi entschlossen. Einige wälzten sich von einer Seite auf die andere, zwei redeten im Traum, und zwei oder drei husteten, halb wach, halb träumend. Wu Hongfa seufzte und stöhnte wie zuvor. »Shengyi, denk doch mal an Ahn Zhao den Zweiten. Ich habe heute dreimal vor ihm Kotau gemacht«, sagte Wu Hongfa plötzlich, und in seiner Stimme klang schwache Hoffnung. »Ahn Zhao den Zweiten? … Ah«, wiederholte Shengyi freudig und überrascht. »Er wird kommen und uns retten. Er ist ein hilfreicher Gott. Er wird bestimmt etwas für uns tun«, sagte Wu Hongfa beruhigt zu sich selbst. Er fühlte seine Rückenschmerzen nun weniger stark. 63
Shengyi dachte eine Weile nach und sagte, plötzlich zornig: »Pfui Teufel noch mal! Ahn Zhao der Zweite, das ist doch ein Betrüger! Gleicht er nicht sehr Herrn Zhang? Herr Zhang sieht ehrlich und freundlich aus, handelt aber gemein. Wir sind von ihm betrogen worden. Und ich habe ihn die ganze Zeit als guten Menschen gepriesen!« Wu Hongfa gab keine Antwort. Lao Zhang war von ihren Stimmen wach geworden: »Wrer redet da noch? Wir müssen schlafen«, murrte er undeutlich, schlief aber sofort wieder ein. Shengyi glaubte, in der Dunkelheit jenes runde lächelnde Gesicht vor sich zu sehen, die kleinen Augen, den Schnauzbart in Form des Schriftzeichens acht. Je länger er nachdachte, desto stärker wurde seine Empörung. Er schloß die Augen, konnte aber nicht schlafen. Erst als man die Stundenzeichen der vierten Nachtwache hörte, fiel er in tiefen Schlaf. Im Traum war er weggelaufen und ohne Schwierigkeiten nach Hause zurückgekehrt, wo Yin bereits auf ihn wartete. Sie umarmten sich, lachten, lachten, lachten – bis ein Schuß ihn weckte. Er hörte in der Ferne Rufe, dann war wieder alles still. Es dämmerte noch nicht. Er hörte viele schnarchen. »Was ist los?« sagte einer, aus einem Traum erwachend, gleichsam zu sich selbst. Shengyi antwortete nicht, und der Mann sagte nichts mehr. 64
Shengyi wollte seinen Traum zu Ende träumen, aber er sah nur ein rundes Gesicht mit einem Schnauzbart und kleinen Augen. Dieser Mann nannte sich Ahn Zhao der Zweite und sagte, daß er gekommen sei, um ihn zu retten. Er fragte, wie er ihn denn retten wolle. Der Mann sagte, daß er zunächst geduldig abwarten müsse, dann würden sie noch einmal darüber reden. Der Mann versprach ihm noch dreihundert Silberdollar – aber dann wurde Shengyi geweckt. Es war gerade hell geworden. Die Tür wurde weit geöffnet, und zwei Bewaffnete kamen herein. Draußen standen viele starke Männer in einem Haufen. »Habt ihr gestern abend den Schuß gehört?« sagte der jüngere, der in seinen Händen Fesseln hielt. »Ja, was war los?« fragte Shengyi sofort. »Aus der anderen Baracke wollte ein Shading abhauen, er wurde von unserer Grubenpolizei erschossen. Seine Leiche liegt noch dort. Wenn ihr hinausgeht, könnt ihr sie sehen.« Nachdem er dies gesagt hatte, zeigte sich auf seinem Gesicht ein verschlagenes Lächeln, und er fuhr fort: »Freunde, seid vernünftig! Nun müssen alle Fußfesseln tragen. Redet nicht zuviel! Das Gewehr kennt kein Erbarmen mit Menschen.« Einige Alte ließen sofort vor Angst die Zunge heraushängen und zogen sie eine ganze Weile nicht mehr zurück. Andere verfärbten sich. 65
»Auf! Du kommst zuerst dran.« Ein junger Grubenpolizist nahm eine Fußfessel, ging zu Shengyi und hockte sich neben ihn. »Ich werde sie dir zuerst anlegen.« Shengyi leistete keinen Widerstand, er streckte schweigend die Beine aus, damit der Mann die Fesseln um seine Knöchel legen konnte. Alle erhielten Fußfesseln. Als die Reihe an Wu Hongfa kam, rief er schrill: »Gerechter Himmel!« Shengyi biß die Zähne fest zusammen, er wagte nichts zu sagen. Lao Zhang stieß einen Seufzer aus, kniete nieder, legte Kopf und Hände auf den Boden und murmelte etwas vor sich hin, stand dann auf, trat neben Wu Hongfa, setzte sich, streckte beide Beine aus, ließ sich die Fesseln anlegen und sagte zu dem wimmernden jungen Mann: »Flehe doch zu Ahn Zhao den Zweiten, er sieht alles, er wird kommen und dich retten. Gute Menschen haben ein gutes Schicksal.« »Gute Menschen haben ein gutes Schicksal? Das hab ich noch nie erlebt. In der heutigen Welt sind diejenigen, die Geld und Gewehre haben, Wölfe«, sagte ein Grubenpolizist neben ihm höhnisch.
Kapitel V Es wurde allmählich kälter, und es wurde später hell. Morgens lagen auf halber Höhe des Berges oft dunstige Schwaden. Die zerstreut liegenden Baracken waren im Nebel nur undeutlich zu erkennen, die Grubenpolizisten auf dem Bergpfad oft vom Nebel verborgen, man konnte nur ihre Schritte, einen Wortwechsel oder hin und wieder ein Pfeifen hören. Das Krähen eines Hahns klang laut und deutlich durch den Nebel herüber. Ein sich lang hinziehender, schriller Ruf folgte: »Aufstehen! … Aufstehen! … Aufstehen! …« In den Baracken hörte man daraufhin Stimmen und wenig später Lärm. Von den über zehn Shading, die eine Baracke bewohnten, nahm ein jeder unter dem Kopfkissen ein schmutziges, stinkendes Handtuch hervor und ging sich schnell das Gesicht waschen. Dann rief draußen ein Grubenpolizist, und aus allen Baracken kamen die Shading einer nach dem anderen herausgelaufen. Alle hatten die gleiche grobe Kleidung aus Hanfstoff an, alle trugen die gleichen groben Hanfmützen und einen Hanfbeutel auf dem Rücken. An ihren Füßen waren Fesseln. Die Shading von jeweils einer Baracke bildeten eine Reihe, und von den Grubenpolizisten, die den einzelnen Baracken zugeteilt waren, bewacht, gingen sie 67
auf dem in Nebel gehüllten Bergpfad zur Arbeit. Schweigend schritt die Kolonne voran. Diese Shading waren alle Neuankömmlinge, und obwohl bereits mehr als einen Monat hier, mit der Umwelt und dem Leben noch nicht vertraut. Sie hatten ihre Hoffnungen noch nicht zu Grabe getragen, ihre Herzen sehnten sich noch nach Freiheit. Sie hatten die Welt draußen noch nicht vergessen, die Menschen und Dinge, die sie liebten. Aber da bewaffnete Polizisten sie bewachten, konnte sich dies alles nur in Seufzern äußern. Täglich gingen sie zur selben Zeit dieselbe Strecke, und alle stießen die gleichen Seufzer aus, die wie Frage und Antwort hin- und hergingen. Denn so konnten sie ihre Herzensangelegenheiten besser ausdrücken, und zudem konnten die Grubenpolizisten sie so weder verstehen noch sich einmischen. Die Tage glitten vorbei, aber sie merkten nichts davon. Sie merkten nur, daß es langsam kälter und daß der Nebel immer dichter wurde. Dies ließ sie noch mehr an zu Hause denken, und sie wurden noch schwermütiger. Der Nebel hüllte sie auf dem kleinen Bergpfad ein. Alle hielten die Köpfe gesenkt und seufzten ein Haufen gespenstiger Schatten. Am Tag zuvor hatte es geregnet, und so war der Weg, auf dem sie sich in ihren Strohschuhen fortbewegten, naß und schlüpfrig. Die Fußfesseln drückten, die Eisen68
ketten hielten die Füße so eng zusammen, daß jeder Schritt Mühe machte. Ununterbrochen und überall war das Klirren der Ketten zu hören. Die Fußfesseln hatten ihr trauriges Lied begonnen. Oft pfiffen die Grubenpolizisten, die sie begleiteten, noch dazu – nicht allzu laut, doch eindringlieh und furchteinflößend. Manchmal hustete vorn plötzlich einer trocken und begann dann zu würgen. Sofort verstummten alle Fußfesseln. Die ganze Kolonne hielt an, alle schauten mitleidsvoll zu ihm hin. Alle hörten sein Husten, doch im dichten Nebel konnte man ihn nicht erkennen. »Xiao Wu, was ist los?« fragte vorne jemand leise, wurde aber sofort von einer groben Stimme unterbrochen: »He, willst du dich hier zum Sterben niederlegen? Warum gehst du nicht weiter?« Das Husten hörte auf, und die Fußfesseln begannen wieder zu klirren. Aber fünf Minuten später begann das Husten von neuem. »Xiao Wu, bist du müde? Ruh dich etwas aus«, sagte Shengyi leise. »Wang Shengyi, es ist verboten zu sprechen! Wu Hongfa, geh weiter! Du spielst nur Theater, das sehe ich. So ein junger Kerl holt sich den Husten eines alten Mannes – wer glaubt denn das? Wenn du jetzt nicht weitergehst, wirst du dran glauben müssen!« sagte ein Grubenpolizist grob und spannte den Hahn seiner Pistole. Mit aller Kraft unterdrückte Wu Hongfa seinen 69
Husten, aber kurz darauf wurde es um so schlimmer. »Herr, habt Erbarmen. Ihr seht doch, daß er wirklich nicht mehr kann«, bat Shengyi den Grubenpolizisten. »Seit über einem Monat, seit dem Tag, an dem er geschlagen wurde, ist es so. Er war deswegen auch schon bei Verwalter Pan, aber der hat sich nicht darum gekümmert. Herr, habt Erbarmen mit ihm.« »Erbarmen!« Der Polizist begann grob zu lachen. »Wenn ich mitleidig wäre, wäre ich nicht hier. Egal, ob krank oder nicht, genug geredet, weiter, los!« »Herr, verschont ihn doch dieses Mal. Laßt ihn einen Tag ausruhen. Ich werde für zwei arbeiten. Laßt ihn zurückgehen. Er kann wirklich nicht mehr laufen. Wenn er jetzt nach unten geht, kann er überhaupt nichts leisten. Habt Erbarmen!« Während er redete, hängte Shengyi sich so an den Arm des Polizisten, als ob er sich hinknien wollte. Einige pflichteten seinen Bitten bei, andere seufzten dazu. »Du Hund! Das ist ja die Höhe! Los jetzt! Ich kann mich nicht um jeden Kram kümmern!« antwortete der Mann grob und stieß Shengyi zu Boden. Eine Menschenmenge umringte sie. Die Shading flehten den Polizisten an – doch die anderen Polizisten kamen dazu und stießen sie weg. Shading zu verprügeln, das war ihre tägliche Arbeit. 70
Das Husten hörte auf. Wu Hongfa rief plötzlich heiser: »Wovor Angst haben? Wenn ihr sagt, geh, dann gehe ich. Wenn ich von euch etwas früher zu Tode gequält werde, macht das auch nichts. Shengyi, steh auf] Du brauchst nicht alle und jeden anzuflehen! Was sie wollen, ist nichts anderes als mein Leben, mein Leben! Voran! Los!« In seiner Stimme schwangen Wut und Kummer. Er kämpfte sich vorwärts, und die anderen folgten ihm. »Ich habe keine Angst! Ich habe vor nichts Angst!« Wie ein Verrückter stieß Wu Hongfa diese Worte aus. Er lachte und weinte zugleich, manchmal hustete er hart, aber er hielt nicht mehr im Laufen inne. Die Grubenpolizisten rechts und links von ihnen pfiffen ruhig weiter. Allmählich löste sich der Nebel auf. Als sie am Arbeitsort angekommen waren, holten sie die Spitzhacken und die Grubenlampen und gingen zum Eingang. Es war bereits hell geworden, es war ein trüber Tag. Am Grubeneingang standen vier oder fünf Gruppen, eine nach der anderen ging hinein, eine folgte dicht auf die andere. Die Grubenöffnung war nicht groß, nur zwei Fuß hoch und ein Fuß breit. Der Boden war rot gefärbt, innen aber war es pechschwarz. Von außen konnte man lediglich die ersten Treppenstufen erkennen, aus Stein gemauert und weiß. Der Grubeneingang glich einem großen Maul, mit roten 7
Lippen und weißen Zähnen. Jeder, der hinunterging, schien verschluckt zu werden. Einige Gruppen waren bereits in die Grube gegangen, eigentlich müßte man sagen, sie waren gekrochen. Langsam setzten sie einen Schritt vor den anderen, alle mit gesenkten Köpfen und gebückt, alle in der gleichen Hanfstoffkleidung. Da diese Männer bereits viele Arbeitsjahre hinter sich hatten, waren ihnen die Fußfesseln abgenommen worden, aber weil sie an das Tragen der Fesseln gewöhnt waren, schwankten sie beim Gehen wie früher. Dann wrar die Gruppe, zu der Shengyi gehörte, an der Reihe. Wie die anderen beugten sie die Köpfe, bewegten sich mechanisch vorwärts, mit den anderen verglichen allerdings unter größeren Schwierigkeiten. Die Fußfesseln klirrten regelmäßig. Genauso wie die anderen Shading trugen sie Grubenlampen in der Form einer Wasserkanne aus Ton. Aus der Kannenöffnung leuchtete das Feuer, und ein schwer erträglicher Gestank drang direkt in die Nase. Der Feuerschein blendete. Sie unterdrückten das Atmen und gingen mit halbgeschlossenen Augen. Aber das hielten sie nicht lange aus, und so atmeten sie schließlich die stinkende Luft aus den Gaslampen wieder ein. Die meisten würgten und mußten husten. Wu Hongfa krümmte sich oft beim Würgen zusammen. 72
Nun waren alle unten. Hier gab es kein Sonnenlicht, keinen Wind, die Luft stank so sehr, daß sie zum Husten reizte, und es war schwül. Die Treppe führte schräg nach unten, dann wurde der Weg schmal, und viele kleine Höhlen öffneten sich nach verschiedenen Richtungen. Die Gruppe, zu der Shengyi gehörte, ging in eine nach Osten Hegende kleine Höhle, die sehr schmal war und in der man nur gebückt weiterkriechen konnte. Der Weg fiel noch steiler ab, aber da die Männer auf dem Boden krochen, spürten sie dies nicht. Ein jeder hielt eine Lampe. Sich mit den Handgelenken auf die Erde stützend, krochen sie mühsam weiter. Die Beine des einen stießen an den Kopf des nächsten, eine lange Kette bildend, einem Wurm gleich mit hundert Gliedern, an jedem Glied eine brennende Lampe. Und bei jeder Bewegung nach vorn gab jedes Glied ein Klirren von sich. Der Weg wurde allmählich breiter, bis er plötzlich endete. In dieser Höhle konnte man stehen. Alle hängten ihre Lampen an die Wand, seufzten, setzten sich auf den feuchten Boden, ruhten sich etwas aus und begannen dann mit den kranichschnabelartigen Spitzhacken zu arbeiten. Die Kräftigeren hatten mit einigen Schlägen ein großes Stück herausgebrochen und legten es in den Hanfsack. Wenn die vordere Hälfte des Sackes voll war, drehten sie ihn auf der Schulter um. 73
Wenn die andere Hälfte des Sackes ebenfalls voll war, durften sie hinausgehen, ihn abgeben und sich einen neuen holen. Aber dazu brauchten sie ebenfalls ziemlich lange, und für die Schwächeren war dies eine noch schwierigere Sache. An diesem Tag fühlte Wu Hongfa sich noch schwächer als sonst. Wenn er die Hacke hob, keuchte er, und wenn er sie herunterließ, hustete er. Alle ermahnten ihn, sich etwas auszuruhen, und er gab gezwungenermaßen nach. Nachdem er sich etwas ausgeruht hatte, hackte er weiter, konnte aber kein Stück herausholen. »Xiao Wu, du bist noch so ein junger Kerl, aber bei dir klappt es wirklich nicht mehr!« sagte Lao Zhang seufzend. »Die haben dich schon soweit ruiniert, daß du dabei noch dein Leben lassen wirst.« Er hörte auf zu hacken und schaute den jungen Mann voller Mitleid an. »Grabt! Ich bin dabei, mein eigenes Grab zu schaufeln, mein eigenes Grab zu schaufeln!« fing Wu Hongfa plötzlich wild mit hoher Stimme an zu schreien, das Gesicht rot, die Augen rot unterlaufen. Er achtete nicht darauf, daß die anderen mit dem Hacken aufhörten und ihn anschauten, sondern hob mit höchster Anstrengung seine Hacke, ließ sie nach unten sausen, hob sie wieder hoch. Er hatte keine Kraft mehr. Die Hacke fiel aus seinen Händen. Er selbst fiel mehr, als daß er sich setzte, vergrub das Gesicht in beiden Händen 74
und begann zu weinen. Die anderen schauten bestürzt zu ihm hin. Shengyi trat schweigend neben ihn, nahm plötzlich aus seinem eigenen Sack einige große Stücke Zinnstein und steckte sie in Wu Hongfas Sack. Dann beruhigte er ihn: »Ruh dich doch ein bißchen aus. Keine Sorge! Ich hab schon gesagt, daß ich für zwei arbeiten kann.« Daraufhin hob er den Kopf und sagte zu Lao Zhang: »Du weißt genau, daß man jeden Tag Zinnstein abliefern muß! Aber du kannst nur dummes Zeug reden. Ihr Alten, was könnt ihr schon außer dummes Zeug reden!« Lao Zhang blies seine Backen auf, blieb aber stumm, warf dann plötzlich seine Hacke zu Boden, lief zu Wu Hongfa und sagte zu Shengyi: »Du hast recht, du hast recht! Wir können nichts als schwätzen!« Er nahm aus seinem Hanfsack einige Stücke Zinnstein und legte sie in Wu Hongfas Sack. »Wenn ihr das alle tut, wie könnte ich da zurückstehen? Ich habe auch ein Gewissen!« Ein anderer Shading kam bewegt herübergelaufen, um allen zu erzählen, daß er Wu Hongfa auch einige Stücke Zinnstein gegeben hatte. Die übrigen bildeten einen Kreis. Jeder gab Wu Hongfa etwas Zinnstein, und bald war sein Sack voll. Einige Stücke Zinnstein lagen vor ihm auf dem Boden. »Genug, genug, nehmt das zurück, ich brauche es nicht«, sagte Wu Hongfa abwinkend, lachend und 75
weinend. Dann hielt er ein Stück in seinen Händen und schaute es ganz starr an. »Gut. Lassen wir ihn jetzt ausruhen. Niemand darf ihn stören«, sagte Shengyi erleichtert, Freudentränen in den Augen. Alle gingen wieder auseinander, zurück an ihre ursprünglichen Plätze, und gruben eifrig weiter nach Zinnstein. Als die Säcke voll waren, waren alle todmüde. Der Zinnstein drückte schwer auf ihre Rücken, und als sie zum Grubeneingang krochen, empfanden sie es als doppelte Mühsal. Sie stiegen die Treppe hinauf, gebeugt und die Hacken als Stütze benutzend. Sie schwankten bei jedem Schritt. Die Säcke über den Schultern zogen nach vorne und hinten. Nachdem sie den Stollen verlassen hatten, luden sie die Säcke ab, übergaben sie und bekamen dafür wieder leere sowie Bambusstäbchen. Sie warfen die Hacken auf den Boden. Die Gesichter grünlich, die Augen fast geschlossen, beinahe ohne Atem, streckten sie sich auf dem Rücken aus. Arme und Beine bewegten sich nicht. Wie tot lagen sie einige Minuten, bis die Grubenpolizisten kamen, um sie wieder in den Stollen zu treiben.
Kapitel VI Nachdem es ein paar Tage genieselt hatte, war mehr als einen halben Monat lang sonniges Wetter. Die Shading arbeiteten wie gewöhnlich. Die Tage wurden kürzer, doch sie bemerkten es nicht. Für sie waren die Tage immer lang, so lang, als ob sie kein Ende nähmen. Die Arbeit war eintönig, und auch sonst gab es keinerlei Abwechslung. Die zum Ersticken schwüle Grube, die feuchte und dunkle Baracke, das schwere, erzhaltige Gestein, die Bergwerkspolizisten mit den bösen Gesichtern, der graugelbe, unpolierte Reis, die gesalzenen, gekochten Sojabohnen, das war ohne irgendeine Änderung ihr ganzes Leben. Was sich ein wenig änderte, war das Wetter. Manchmal war es bewölkt, dann wieder sonnig, dann regnerisch. Aber auch bei sonnigem Wetter gab es keine Blumen, kein Lachen und keine Frauen. Und die Tage waren nicht weniger lang. Wenn die Sonne schien, aber war Wu Hongfa bei besserer Gesundheit. Eines Morgens wachte Wu Hongfa auf dem Stroh auf, noch bevor es dämmerte. Sofort rüttelte er den neben ihm schlafenden Shengyi wach und sagte: »Ich hatte eben einen Traum.« »Traum? Mein Traum ist noch nicht zu Ende!« murmelte Shengyi. »Du hast einen Traum gehabt? Was für einen Traum?« 77
»Ich träumte von meiner Heimkehr. Ich hatte mir viele Reichtümer erworben und wurde in einer großen Sänfte zum Tor meines Hauses getragen«, sagte Wu Hongfa aufgeregt. »Tor?« Shengyi, der einen ziemlich klaren Kopf hatte, lachte spöttisch. »Das ist doch in jener engen Gasse, die einem Schlammtopf gleicht? Und ist das nicht jener niedrige, enge und schmutzige Eingang …?« »Hör doch mal zu! Das ist doch ein Traum!« erklärte Wu Hongfa hastig. »Meine Familie wohnte in einem großen, modernen Haus. Viele Leute kamen heraus, mich zu begrüßen, und meine Frau war sehr hübsch zurechtgemacht. Sie geleiteten mich hinein. Vergnügt sagte ich zu ihnen: ›Ich bin jetzt reich, ich bin jetzt reich.‹ Ich sah in den Zimmern und Sälen Gold aufgehäuft. Meine bereits verstorbene Mutter war auch noch am Leben. Sie lachte, meine Frau lachte ebenfalls und auch ich lachte – « Als er bis hierher erzählt hatte, schloß er den Mund. »Schön, das ist ein sehr guter Traum!« sagte Shengyi lachend. »Aber ich habe einen Zahn verloren«, sagte Wu Hongfa ernst. »Einen Zahn verloren? Hast du Schmerzen?« fragte Shengyi beiläufig. »Aber das war doch auch im Traum!« kam ungeduldig die Antwort. »Man sagt, wer träumt, daß 78
er einen Zahn verliert, der wird einen Verwandten verlieren. Ist das wirklich so?« fragte er besorgt. »Wer weiß? Sprich nicht weiter über deinen Traum. Es ist noch nicht Tag. Schlafen wir noch ein bißchen. Wenn der Tag anbricht, müssen wir aufstehen und in die Grube gehen.« »Man sagt, daß ein solcher Traum voll und ganz Wirklichkeit wird«, beharrte Wu Hongfa. Shengyi hörte ihm nicht mehr zu. »Ich habe Angst … Meine Frau wird …«, sagte Wu Hongfa voller Angst zu sich selbst. Shengyi wälzte sich auf die andere Seite und redete ihm zu: »Xiao Wu, ich schlage vor, du schläfst noch etwas. Denk nicht über den Traum nach. Träume sind Schäume. Ich glaube nicht an Träume!« »Man kann nicht anders, man muß an Träume glauben. Erinnerst du dich nicht daran, daß Xiao Chen, der in unserer Straße wohnt, träumte, daß er einen Schneidezahn verlor, und dann starb wirklich seine Mutter? Das stimmt hundertprozentig … Meine Frau wird bestimmt sterben«, sagte Wu Hongfa, den Tränen nahe. Lao Zhang, der ihnen gegenüber lag, wurde wach. Er fragte mit rauher Stimme: »Xiao Wu, was ist los? Du machst einen solchen Lärm, daß man nicht schlafen kann!« »Meine Frau war so gut!« sagte Wu Hongfa mit 79
weinerlicher Stimme. »Sie wartete täglich und fragte immer: ›Warum hat mein Mann so lange nicht geschrieben?‹ Sie wartete und wartete, bis sie sich schließlich niederlegte und starb.« »Was? Deine Frau ist gestorben? Woher hast du diese Nachricht?« fragte Lao Zhang erstaunt. »Er hat geträumt, daß ihm ein Zahn ausfiel«, sagte Shengyi spöttisch. »Pah!« Lao Zhang wälzte sich auf die andere Seite und spuckte an die Wand. »Geh doch zum Teufel! Das ist auch wieder so was. Da hast du geträumt, daß dir ein Zahn ausfällt, und schon denkst du, daß deine Frau gestorben sei und weinst deswegen. Das ist doch nur ein Traum. Wenn man die Augen aufmacht, ist das doch alles nicht wirklich. Nur Frauen glauben an Träume … Schau, hier bist du doch weder tot noch lebendig. Heute lebst du, aber morgen vielleicht schon nicht mehr. Wenn irgendwann dein Leben gefordert wird, wirst du dich hinlegen und die Beine strecken. Und dann ist alles aus. Kannst du dich so schwer von deiner Frau trennen? Frauen! Wer hat keine Frau? Meine Frau ist besser als alle anderen Frauen, aber ich habe ihretwegen niemals gestöhnt. Warum machst du so einen Lärm, daß wir nicht mehr schlafen können? Wir Männer sollen, wenn wir sterben müssen, keine Träne vergießen.« Wu Hongfa antwortete nicht. Shengyi fand, daß 80
Lao Zhangs Worte zu hart gewesen seien, und so sagte er: »Alle haben solchen Kummer. Aber du willst nur angenehm schlafen. Hier werden wir nicht einmal wie Schweine und Hunde behandelt. Aber du willst es nur bequem haben. Etwa, weil du denkst, daß die anderen sich dann, wenn du fett geworden bist, besser an dir mästen können?« »Warum soll ich es nicht angenehm haben wollen?« Lao Zhang wurde ein wenig ärgerlich. »Wenn man schläft, soll man auch genug schlafen. Ich fürchte mich nicht. Sogar den Tod fürchte ich nicht. Wenn ich an Erschöpfung sterbe, werde ich nach zwanzig Jahren als lebendiger und kräftiger Mann wieder geboren werden. Die Tränen eines Mannes sind kostbarer als Gold. Ich habe noch keine Träne vergossen, seit ich hier bin. Wie könnt ihr weiterleben, wenn ihr wie jetzt täglich weint? … He! Ich soll fett und dick werden wollen, damit die anderen sich an mir satt fressen können? Du kannst reden. Steh doch auf und kämpf gegen die Bergwerkspolizisten, wenn du kannst. Hier als Shading haben wir doch alle kein Gesicht und sind verachtet!« Lao Zhang schimpfte weiter, war aber nicht ärgerlich auf Shengyi, sondern auf die Bergwerkspolizisten, die Bergwerksgesellschaft, auf das ganze Bergwerk. Natürlich war Shengyi auch ärgerlich geworden. Lao Zhangs Worte verletzten ihn. Er dachte darüber nach: Als Shading war man verachtet. Wenn 8
man es konnte, sollte man gegen die Bergwerkspolizisten kämpfen. Irgend jemand hatte einmal gesagt: Wer jung, gesund und kräftig ist, fürchtet weder den Himmel noch die Gesetze. Hier wurde er betrogen und wie ein Schwein oder ein Hund behandelt. Wie beschämend das war! An jenem fernen Ort, den man in etwas mehr als zwei Tagen erreichen konnte, glaubte Yin noch immer, daß Shengyi viel Geld verdienen und sie dann freikaufen würde. Sie hatte gesagt: Du bist ein guter Mensch! Sie hielt ihn für einen großartigen Menschen! Wer wußte schon, daß er nun den ganzen Tag hier nach Zinnstein grub und kein Geld dafür bekam. Er wurde mißhandelt und beschimpft. Er stand als Sklave zur Verfügung. Shading – war ein Shading in den Augen der Bergwerkspolizisten überhaupt ein Mensch? Ein junger Mann jedoch hat heißes Blut. Er dachte daran, daß ein so kräftiger Bursche wie er sich mißhandeln ließe, gleichzeitig glaubte er, Yins Augen vor sich zu sehen. Ihr feuchtglänzender Blick war auf ihn gerichtet, als ob sie ihn tadeln wollte: Pfui, schäm dich! Ein Mann läßt sich in Fesseln legen, ist gehorsam wie eine Frau und zieht wie eine Schildkröte den Kopf ein. Kannst du nicht aufstehen und dich wehren? Er fühlte, daß ihm das Blut ins Gesicht schoß. Wie glühendes Eisen waren die Fußfesseln. Das trockene Stroh stach ihn. 82
»Ich habe keine Angst! Ich will fliehen! Ich will nach Hause, um meine Frau zu sehen. Wovor sollte ich mich fürchten? Mein Leben gehört mir! Ich bin bereit zu sterben! Nach zwanzig Jahren werde ich als lebendiger und frischer Mann wiedergeboren werden. Dann werde ich mich an euch rächen.« Hysterisch schreiend sprang Wu Hongfa plötzlich vom trockenen Stroh hoch, fiel um und sprang wieder auf. Er stolperte über einige Schläfer und lief hastig zur Tür. »Flucht!« Wie ein Funke schoß dieser Gedanke Shengyi durch den Kopf. Erregt, aber schweigend beobachtete er die unsinnigen Bewegungen Wu Hongfas. Als er nun sah, wie Wu Hongfa auf die Tür zusprang und mit aller Kraft daran rüttelte, stand Shengyi unverzüglich auf und rannte zu ihm. Plötzlich hörte man einen Schuß. Ein heller, harter Knall traf ihre Ohren. Dann wieder ein Schuß. Wu Hongfa fiel um. Vor Angst krochen alle im trockenen Stroh zusammen. Die Tür wurde geöffnet, und ein paar Bergwerkspolizisten kamen herein. Die Baracke wurde von einer Grubenlampe ausgeleuchtet. Sie trugen Wu Hongfa hinaus, und die Tür wurde wieder verschlossen. Wieder lagen alle im Halbdunkel. Sie wußten nicht, was geschehen war und überlegten, ob sie vielleicht schlecht geträumt hätten. Die mehr als ein Dutzend Shading in dieser Ba83
racke konnten nicht mehr schlafen. Sie fragten einander und gaben einander Erklärungen für den Vorfall. Ihre Aufregung und Panik unterdrückten sie. In der Morgendämmerung kamen Bergwerkspolizisten und machten bekannt, daß in der Nacht ein Shading auf der Flucht mit zwei Schüssen getötet worden sei. Alle ließen die Zunge heraushängen. Wo war Wu Hongfa? Die Bergwerkspolizisten antworteten: »Wu Hongfa ist schwer krank und braucht ärztliche Behandlung.« Shengyi und Lao Zhang wollten wissen, wo das Krankenzimmer war. Sie baten um Erlaubnis, den Kranken zu besuchen. Aber die Bergwerkspolizisten grinsten und antworteten: »Nicht so schlimm. Er wird gepflegt. Und wenn er stirbt, wird man ihn begraben.« Shengyi und Lao Zhang fragten weiter, bekamen aber keine Antwort. Und bald mußten sie wieder zur Grube gehen. Der Tag war klar, ein leichter Wind wehte. Am Horizont war gerade die Sonne aufgegangen. Der schmale Bergpfad schlängelte sich vor ihren Füßen dahin, und sie konnten ihre Umgebung deutlich erkennen. Alles ödete sie an, und ihre Herzen waren schwer. Sie gelangten zu einer anderen Baracke. Auf dem erdigen Weg waren plötzlich viele schwarzrote Spuren sichtbar, ein paar 84
Schritte weiter größere, dunklere Flecken. Zum Wegrand hin wurden es immer mehr. Sogar an den Felsen unten waren Blutflecken zu sehen. Alle waren sich klar darüber, daß hier ein Mensch von einem Schuß getroffen worden und dann noch einige Schritte weitergelaufen war. Als der zweite Schuß ihn traf, mußte er kurz am Wegrand stehengeblieben, dann umgefallen und den Berg hinabgestürzt sein. Welch bitterer Todeskampf! Beim Anblick dieser Blutspuren erfaßte jeden von ihnen Panik. Mit gesenkten Köpfen und zitternd gingen sie vorüber. Sie hatten keinen Mut, noch einmal zurückzuschauen, obwohl die Bergwerkspolizisten sagten: »Seht, das ist das Blut jenes Shading. Genau hier wurde er erschossen.« Dann waren alle wieder im Bergwerk und gruben wie an den anderen Tagen nach Zinnstein. Einige unterhielten sich auch dabei. Aber alle empfanden, daß etwas fehlte. Natürlich war es Wu Hongfa, der fehlte. Sein Husten und sein schneller Atem, seine manchmal verrückten, manchmal traurigen Worte und seine Handlungen, durch die er zum Mittelpunkt geworden war, fehlten. Zwar waren sie erst kurze Zeit hier, aber sie fühlten bereits, daß das Leben der Shading von Tag zu Tag elender wurde. Am Abend kehrten sie müde in die Baracke zurück. Manche unterhielten sich noch, Shengyi aber legte sich in das trockene Stroh und schwieg. 85
Er schloß die Augen und sah und hörte nichts mehr. Er murmelte nur: »Yin, erscheine mir im Traum und treffe dich mit mir!« In dieser Nacht hatte er in der niederdrückenden Atmosphäre der Baracke wirklich einen langen Traum. Aber er sah nicht Yin, sondern Wu Hongfa. Dieser lief zusammen mit jenem Shading weg. Schon nach einer kurzen Strecke folgten die Bergwerkspolizisten ihnen auf den Fersen. Ein Schuß traf Wu Hongfa am Arm, ein zweiter traf seine Brust. Dann rollten die beiden bergab. Merkwürdigerweise rollten sie vor das Tor des Tempels für Ahn Zhao den Zweiten. Dort war niemand. Auf den anderen Mann gestützt, trat Wu Hongfa ein, und, vor dem Altar angekommen, stieß er einen jämmerlichen Schrei aus und fiel um. Er richtete sich wieder auf und sah, daß jener Mann bereits tot war, daß sein Körper blutüberströmt und seine Hände beschmutzt waren. Traurig hob Wu Hongfa den Kopf. Um ihn herum standen Bergwerkspolizisten. Alle richteten ihre Pistolen auf ihn … Shengyi fuhr aus dem Schlaf. In der Baracke war es dunkel. Sein Herz klopfte heftig. Er dachte nach, verstand aber nicht, was dieser Traum bedeuten sollte. Zwei Menschen flohen, der eine starb im Tempel des Ahn Zhao des Zweiten, und der andere wurde dort festgenommen und zurückgeholt. Was sollte das bedeuten? 86
Zwischen den bedrückenden Schnarchlauten war plötzlich eine bebende, schwache Stimme zu hören: »Das ist doch auch ein Menschenleben!« Nur dieser eine Satz wurde gesprochen. Shengyi erkannte, daß es ein Mann mittleren Alters namens Zhou war, nein, nicht mittleren Alters, seine Haare waren schon grau. Gewöhnlich war er kummervoll, verschlossen und hatte keine Lust zu sprechen. Jetzt aber brachte er endlich etwas hervor. »Schont ihn doch! Er ist doch auch von seiner alten Mutter großgezogen worden!« Er murmelte noch ein paar unverständliche Worte. Seine Stimme war jetzt so leise, daß Shengyi ihn nicht verstehen konnte. Der Mann wälzte sich auf die andere Seite, stieß einen Seufzer aus und sagte dann nichts mehr. Er lag wohl wieder in tiefem Schlaf. In der Baracke war nichts Besonderes vorgefallen. Zweifellos hatte der Mann im Traum gesprochen. Aber die zwei Sätze reichten aus, um Shengyi mit Angst zu erfüllen. Er begann sich vorzustellen, was jener Mann im Traum erlebt haben mochte. Er drückte beide Hände fest auf seine Brust, denn sein Herz schlug heftig. Er konnte sich nicht bewegen. Es war, als wäre er schon gestorben. Er lag lange wach. Mit weit aufgerissenen Augen blickte er in der Finsternis zur Decke. Dort erschien plötzlich Wu Hongfas trauriges Gesicht. Shengyi streckte seine Hand nach links aus und 87
tastete herum, aber dort lag niemand. Seine Hand berührte nur hartes Stroh. »Xiao Wu, lebst du noch unter den Menschen?« fragte er sich selbst voller Kummer. Dann dachte er wieder über seinen Traum nach. Vielleicht war er ein schlechtes Vorzeichen. Aber der Gedanke an Flucht war bereits einmal wie ein Blitz durch seinen Kopf gezuckt.
Kapitel VII Wu Hongfa kehrte nicht mehr zurück. Die anderen erkundigten sich nach ihm, erhielten aber keine Antwort. Nach einigen Tagen kam ein Mann, der ihn ersetzen sollte. Es war ein großer Mann von fast vierzig Jahren. Er hatte keinen Namen und wurde Kopfgrind-Mönch genannt. Er trug keine Fußfesseln. Der Kopfgrind-Mönch war ein geschwätziger Mann. Er sprach mehr als alle anderen. Kaum war er da, ging es in der Baracke lebhaft zu. Er lebte schon lange hier, wußte viel und redete über alles. Frauen waren sein Lieblingsthema. Als er auf Wu Hongfa zu sprechen kam, spuckte er aus und sagte: »Pah! Ihr glaubt immer noch, daß der noch lebt? Vielleicht wurde er schon von den wilden Hunden gefressen. Drüben in der Schlucht gibt es viele wilde Hunde. Wenn hier jemand stirbt, wird er den Hunden in der Schlucht zum Fraß vorgeworfen. Keiner entgeht dem. Wenn ich eines Tages sterbe, werde ich auch so enden.« Beim Sprechen sah er sehr selbstgefällig aus. Mehrere Leute ließen ihre Zungen heraushängen, mehrere schüttelten den Kopf und knirschten mit den Zähnen. »Wovor fürchtet ihr euch? Wenn ein Mensch stirbt, schließt er die Augen, und alles ist vorbei. 89
Nagt dann ein Hund an meinen Knochen, fühle ich nichts mehr. Ich habe keine Angst, ich fürchte mich vor nichts! Ich bin nicht hierhergekommen, weil ich Geld verdienen will Ich arbeite freiwillig als Shading. Deshalb trage ich auch keine Fußfesseln.« Nach diesen Worten lächelte er selbstzufrieden und zeigte dabei zwei Reihen unregelmäßiger, gelb-schwarzer Zähne. Freiwillig als Shading arbeiten! Shengyi hielt dies für einen Scherz. Ein großer Mann mit zwei kräftigen Fäusten konnte doch überall hingehen. Und er sollte ausgerechnet hierhergekommen sein, um als Shading zu arbeiten? Das war doch unmöglich. »Glaubt ihr mir nicht?« sagte der KopfgrindMönch laut und spuckte wieder aus. »Wirklich! Ich bin freiwillig hierhergekommen. Jährlich bekomme ich etwas Lohn, dann bitte ich um zwei Tage Urlaub und gehe zu einem Glücksspielstand in der Stadt. In zwei bis drei Tagen verliere ich dann mein ganzes Geld. Dann komme ich wieder zurück und grabe wieder nach Zinnstein …« »Um Urlaub bitten?« fragte Shengyi erstaunt und froh. »Urlaub ist hier eigentlich nicht vorgesehen. Aber die Bergwerkspolizisten und ich sind gut miteinander bekannt. Sie wissen, daß ich nicht weglaufe, und so erlauben sie mir ohne weiteres, daß ich für zwei bis drei Tage weggehe. Sie wissen auch, daß 90
meine Fäuste kräftig sind, und so wollen sie sich mit mir gut stellen.« Er lächelte selbstzufrieden. Shengyi behielt die Worte des Mannes genau im Kopf und dachte: Seine Fäuste sind so kräftig, und die Bergwerkspolizisten wollen ihm zeigen, daß sie ihm freundlich gesonnen sind. Warum kehrt er immer wieder zurück? Wäre ich an seiner Stelle, käme ich bestimmt nicht mehr zurück. Die Welt ist groß. Wohin kann man nicht überall gehen! Selbst wenn man kein Geld will, will man doch in Freiheit leben! Man will an einem Ort, wo es Freiheit gibt, mit der Frau, die man liebt, zusammen sein. Bei diesen Gedanken wurde ihm warm ums Herz. Er wünschte, es wüchsen ihm sofort Flügel, damit er nach Hause fliegen könnte. »Das Leben hier hat auch seine Vorteile. Du vergißt, was du anderswo erlebt hast. Sogar deinen eigenen Namen vergißt du. Man nennt mich Kopfgrind-Mönch. Was soll denn an diesem Spitznamen nicht gut sein? Jeden Tag grabe ich nach Zinnstein, abends lege ich mich hin, ich brauche mich um nichts mehr zu kümmern. Das ist doch sehr bequem! Manchmal vergesse ich sogar, wer ich bin. Ich weiß nur, ich bin der Kopfgrind-Mönch. Meinen Namen kennt niemand, sogar ich selbst weiß ihn nicht mehr.« Dabei klopfte der Kopfgrind-Mönch sich auf die Brust. 9
Lao Zhang seufzte. Er war anderer Meinung. »Wir Männer gehen doch ausschließlich deswegen in die weite Welt, um etwas zu vollbringen, das einen guten Namen hinterläßt. Wozu nützt es dir da, deinen eigenen Namen zu vergessen und nur deinen Spitznamen zu wissen? Wenn dich ein Schuß trifft, tritt doch auch bei dir Blut aus. Wenn du geschlagen wirst, hast doch auch du Schmerzen. Wenn du in der Grube nach Zinnstein gräbst, mußt doch auch du Strapazen ertragen …« Lächelnd unterbrach ihn ein Mann mittleren Alters namens Lao Wang: »Wie kann man nur den eigenen Namen vergessen? Was willst du antworten, wenn deine Frau dich später bei eurem Wiedersehen zu Hause nicht mehr erkennt und dich fragt: ›Wie heißen Sie denn?‹ Willst du dann antworten: ›Ich heiße Kopfgrind-Mönch‹?« Alle lachten und hörten gleich wieder auf zu lachen. So wurde hier gewöhnlich gelacht. Ein Schatten lastete auf ihren Seelen, den sie selbst bei einem kurzen Gespräch oder einem kurzen Lachen nicht vergessen konnten. »Nach Hause zurück? Ihr wollt nach Hause zurück? Wenn ihr hier lebend wieder raus wollt, müßt ihr zu Ahn Zhao dem Zweiten um Beistand beten! Selbst kräftige Männer können hier kaum zehn Jahre leben. Ich bin erst sechs oder sieben Jahre hier, habe aber schon über hundert Leute sterben sehen. Mehrere Dutzend wurden auf der 92
Flucht erschossen. Nur einigen gelang es, wegzulaufen. Man weiß nicht, wie viele Leichen in die Schlucht drüben geworfen wurden. Sie wurden von wilden Hunden gefressen. Ich habe Knochen mit Blut und Staub gesehen, die Hunde sich geschnappt und dann am Wegrand verloren hatten. Und da denkt ihr, ihr kommt noch einmal nach Hause?« Der Kopfgrind-Mönch lachte bitter und redete dann energisch weiter, wobei er selbstzufrieden lächelte. Er brachte seine Zuhörer zum Zittern, ihm aber klapperten nicht einmal die Zähne. Manche schrien auf. Manche dachten still bei sich: Ist das Leben so wenig wert? Andere dachten: Wann wird die Reihe an mich kommen? Alle hatten Angst und keiner wollte sich weiter unterhalten. Doch der Kopfgrind-Mönch sagte: »Hier fehlt nur eines, und das sind Frauen. Frauen sind zwar gemein, aber gleichwohl ein Vergnügen. Immer lächeln sie. Außerdem … ach, Sch …« Plötzlich schloß er die Augen und schwieg. Sobald er auf Frauen zu sprechen gekommen war, entspannte sich die Atmosphäre in der Baracke. Jeder dachte an die Frau, die er liebte. Manche seufzten, manche versanken mit geschlossenen Augen in Träume. Shengyi erinnerte sich an den Schwur, den er Yin geleistet hatte. Er rief heimlich und leise ihren Namen. 93
Lao Zhang erwähnte wieder den guten Charakter seiner Frau, aber niemand hörte ihm zu. Kurz darauf schliefen alle ein. Am nächsten Morgen, als alle wach wurden, entdeckten sie, daß ein Mann an einem Balken hing. Seine Augen waren hervorgetreten, seine Zunge hing halb heraus. Sein Körper war schon kalt. Er war etwas über dreißig Jahre alt, schweigsam und verschlossen gewesen. Niemand wußte, woher er stammte. Er hatte sich mit seinem Gürtel erhängt. Aber wie er in der Finsternis den Gürtel über den Balken hatte werfen und daran befestigen können, darauf wußte niemand eine Antwort. Alle redeten laut durcheinander. Zwei Bergwerkspolizisten kamen, um den Leichnam wegzuschaffen. Als sie den Toten sahen, machten sie angeekelte Gesichter. Und als sie ihn hinaustrugen, fragte der ältere den jüngeren: »Lao Wu, sag mal, wie viele sind in diesem Monat gestorben?« »Mindestens zehn. Wer kann schon die Zahlen behalten?« antwortete der jüngere teilnahmslos, drehte den Kopf und spuckte auf das trockene Stroh. »So kann das nicht weitergehen!« sagte Shengyi, der zusah, leise zu Lao Zhang. Diese Worte hatten für ihn eine ganz bestimmte Bedeutung. Lao Zhang blickte ihn kurz und forschend an und sagte dann kühl: »Wart ab!« 94
»Lao Zhang, bist du noch immer nicht da? Es geht gleich los!« rief draußen vor der Tür ein Bergwerkspolizist. Lao Zhang antwortete, dann murmelte er: »Heute ruft man Lao Zhang, morgen ruft man Lao Zhang, aber eines Tages wirst du mich nicht mehr zu Gesicht bekommen.« Dann ging er hinter Shengyi hinaus. In der Baracke nebenan wurde bald darauf ein Shading fast wahnsinnig. Aber die Bergwerkspolizisten zwangen ihn, weiterhin in die Grube zu gehen. Am Eingang der Grube traf Shengyi ihn. Er war noch jung. Sein Gesicht war mit Schlamm und Nasenschleim beschmiert, und wenn er lachte, sah es aus, als weine er. Er stand lange vor dem Grubeneingang und ging nicht hinunter, blickte in die Öffnung und lachte. »Xiao Huang, geh hinunter!« drängte ihn der Bergwerkspolizist, der hinter ihm herging, mit strenger Stimme. »Xiao Huang. Dein Vater ist Xiao Huang! Ich heiße Huang. Dein Vater ist Xiao Huang. Gib mir deine Mutter als …« Mit vor Zorn geröteten Augen sah er den Bergwerkspolizisten an und beschimpfte ihn. Der war wütend, lief auf Xiao Huang zu, nahm ihm, ohne ihn ausreden zu lassen, die Lampe ab und löschte sie. Dann schlug er ihm mit seinem Gewehrkolben auf den Kopf. Xiao Huang fiel um, stand aber wieder auf und begann mit dem Bergwerkspolizisten zu raufen. 95
Ein Teil der Leute, die in ihrer Nähe standen, traten herzu, die anderen liefen in alle Richtungen davon, kamen jedoch nur langsam voran, weil sie Fußfesseln trugen. Die Bergwerkspolizisten verstärkten die Bewachung und feuerten ein paar Warnschüsse in die Luft ab, so daß die davongelaufenen Leute vor Schreck stehenblieben. Der wahnsinnig gewordene junge Mann wurde halbtot geschlagen und dann fortgeschafft. Die Bergwerkspolizisten führten die Leute zur Grube und verspotteten und beschimpften sie unterwegs. Niemand wagte Widerstand zu leisten. Einer nach dem anderen kroch in den Schacht. Abends kehrten sie in die Baracke zurück und legten sich erschöpft hin. Shengyi rief heimlich den Namen von Yin und wartete auf einen Traum, der ihn mit Yin zusammenführen würde. In der Baracke nebenan ächzte und stöhnte einer, dann rief er: »Ich heiße Huang, ich bin Xiao Huang. Ich bin dein Vater! … Ich will zurück. Ich habe eine alte Mutter, eine Frau, ich habe Kinder! Du schlägst mich! Ich will dich auch schlagen! Du Schweinehund! … Ich bin dein Vater! Du wagst, deinen Vater zu schlagen? Schau nur, ich habe viele Leute! He! Schießt doch! Stürmt vorwärts! Vorwärts! Ha, ha, ha! He! Du bist Verwalter Pan und du Verwalter Wang. Liegt 96
ihr alle schon auf den Knien? … Ich gehe nicht mehr hinunter in den Schacht. Geht doch selber und grabt nach Zinnstein! … Haut ab! Wer will euch denn um Gnade bitten? Schlagt mich! Schlagt mich noch einmal! Ha, ha, ha. Haut nur lustig zu. Ich, ich bin Xiao Huang. Ich bin kein Shading. Schießt doch! … Schmerzen. Ihr fühlt also auch Schmerzen? Ihr habt auch Blut?… Schön … Ich will nach Hause! …« Die Rufe waren nicht laut, aber Shengyi und seine Gefährten hörten sie deutlich. Die Stimme verstummte. Aber lange noch dachten sie über die Worte nach und konnten nicht einschlafen. Am nächsten Morgen hörten sie bei Tagesanbruch in der Baracke nebenan jemanden weinen. Diesmal war es ein anderer Mann; vielleicht weinten auch mehrere. Später erst erfuhren sie, daß der irrsinnig gewordene Mann sich abends zuvor erhängt hatte. Er hatte ebenfalls seinen Gürtel benutzt. »Schon wieder einer tot!« sagte Lao Zhang bedrückt. »Ich werde vielleicht eines Abends auch so sterben!« Shengyi erschrak und dachte: Lao Zhang hat sich in der kurzen Zeit aber sehr verändert doch er hatte keinen Mut, weiterzudenken. »Oh, ich fürchte, hier spuken die Geister der Erhängten. An zwei aufeinanderfolgenden Abenden hat sich jemand erhängt! Wer weiß, wer 97
heute an die Reihe kommt«, sagte der Mann namens Zhou entsetzt, und sein Gesicht wurde aschfahl. »Vielleicht kommst du an die Reihe. Wenn heute abend wirklich die Geister der Erhängten kommen, werde ich mit ihnen kämpfen!« sagte der Kopfgrind-Mönch wütend und schwang die geballten Fäuste durch die Luft, Shengyi beneidete diesen Mann aufrichtig. Später dachte er aber: Warum tritt er mit solchen Fäusten nicht den Bergwerkspolizisten entgegen?
Kapitel VIII Drei Tage regnete es ununterbrochen. Schwarze Wolken hingen über dem Bergwerk, jeden Morgen gingen die Shading in ihren Strohschuhen und mit ihren Beinfesseln auf dem schlammigen Weg durch die dunkelgraue Luft, eine Gruppe nach der anderen, mit gesenkten Köpfen. Niemand lachte, niemand sprach. Sie zogen wie Spukgestalten dahin. Unter der Erde krochen und gruben die Shading wie zuvor. Aber ihre Arbeit war viel mühsamer als sonst, denn im Schacht sammelte sich das Regenwasser an, und der Boden war zu Schlamm geworden. So krochen sie im Schlamm. Die Bergwerksgesellschaft erlaubte nicht, die Arbeit einzustellen. Die Shading sehnten sich jetzt mehr als nach allem anderen nach schönem Wetter. Alle beklagten sich über den Regen, alle verfluchten ihn. Endlich hellte sich die Witterung wieder auf, und alle waren froh gestimmt. Die Sonne ging auf. Und da alle dies mit eigenen Augen sahen, glaubten sie, tatsächlich habe sich das Wetter gebessert. Der Weg trocknete, sie konnten wieder besser gehen. Sie hoben die Köpfe und ließen sich von der frischen, linden Luft, die wie eine sanfte Frauenhand war, die Gesichter streicheln. Der Kopfgrind-Mönch begann plötzlich ein Liebeslied zu summen. Viele lächelten, als sie es hörten, und 99
dachten an ihre Frauen. Dabei wurde ihnen weich ums Herz. Sogar die Bergwerkspolizisten zeigten heute lächelnde Gesichter. Später in der Grube rissen sie Witze. Sie redeten über Frauen. »Wie meine Frau lächelt, geht und redet, da wird man wirklich verrückt! Außerdem … ja, es läßt sich gar nicht alles aufzählen. Aber Frauen sind rückgratlose Kreaturen. Ha, ha, ha!« sagte der Kopfgrind-Mönch und lachte mehrmals laut. »Wo ist deine Frau jetzt? Denkst du nicht oft an sie? Warum hast du sie verlassen und bist allein hierhergekommen?« fragte Shengyi, der jetzt wieder an seine Yin dachte … wie sie lächelte, ging, redete … Er sah dies alles vor sich. »Sie ist mit einem anderen Mann davongelaufen!« antwortete der Kopfgrind-Mönch. Dabei blieb seine Gesichtsfarbe unverändert. »Mit einem anderen Mann davongelaufen? Ha, ha, ha …!« Alle lachten. »Das glaube ich nicht! Warum sollte sie mit einem anderen Mann davonlaufen, wo sie einen Ehemann wie dich hat, der groß ist, gut aussieht und dessen Fäuste kräftig sind. Ist das denn nicht genug?« fragte Shengyi spöttisch. »Ja! Ich bin derselben Meinung. Aber der Mann hatte Geld! Geld!« sagte der Kopfgrind-Mönch. Sein Verhalten änderte sich nicht, aber in seinen Augenbrauen keimte Zorn. 00
»Welche Wunder soll denn Geld bewirken? Du hast doch deine Fäuste!« sagte Lao Zhang spöttisch lächelnd. »Fäuste? Ja, ich habe Fäuste!« sagte der Kopfgrind-Mönch, ballte seine Hände zu Fäusten und schwang sie durch die Luft. »Ich hatte außerdem ein Messer!« Er biß die Zähne aufeinander. Alle schwiegen und blickten nun aufmerksam zu ihm hin. Sie ahnten, daß ihm in seinem Leben etwas Furchtbares zugestoßen sein mußte, etwas, das sich nicht vergessen ließ. »Meine Frau war sehr schön. Tagsüber war ich nicht zu Hause. Und reiche Leute fanden Gefallen an ihr und versuchten mit allen Mitteln, sie zu verführen. Und schließlich gab sie nach. Sie hat mich verlassen und ist zu einem anderen Mann gelaufen. Was kann man da machen? Ich reichte bei Gericht Klage ein, verlor den Prozeß aber. Der andere hatte Geld und Einfluß. Natürlich sprachen sich die Beamten, die von ihm Geld bekommen hatten, für ihn aus.« Dabei schlug der Kopfgrind-Mönch mit der Faust in die Luft. »Ich habe keine Angst, ich habe vor nichts Angst. Ich hatte ein Messer. Ich lief mit meinem Messer in sein Haus und tötete die beiden. Niemand wagte, mich festzunehmen. Ich lief weg. Die Polizei setzte einen Preis von fünfhundert Silberdollar auf mich aus. Ich bin hierher gelaufen und niemals wieder heimgekehrt. Ich weiß nicht, ob die Sache 0
heute eingestellt ist.« Er hatte keine Furcht, er bereute nichts, seine Augen funkelten vor Haß. »Hast du die beiden wirklich getötet?« fragte Shengyi erschrocken und etwas ungläubig. »Warum denn nicht? Danach habe ich das Messer aufgehoben und das Blut meiner Frau und jenes Mannes abgeleckt«, sagte der Kopfgrind-Mönch und biß die Zähne aufeinander. Auf seinem Gesicht zeigte sich ein böses Grinsen. Zwei Menschen getötet, die eigene Frau getötet und dann noch das Blut abgeleckt, das war doch einfach nicht möglich! Aber der Mann stand leibhaftig vor ihnen. Das war nicht zu leugnen, und ein Angeber war der sicher nicht. Seine Gesichtsfarbe, seine Stimme und seine Gestalt verrieten, daß er einer war, der auch tat, was er sagte. Er war ein Shading und führte ein Leben wie die Schweine und Hunde. Aber er war noch grausamer als die Bergwerkspolizisten. Er tötete zwei Menschen, als ob sie Hühner wären, und bereute es nicht, war nicht einmal erschrocken darüber. »Menschen töten! Wie konntest du das tun! Menschen töten ist doch etwas anderes als Hühner schlachten! Ich habe noch nie ein Huhn geschlachtet!« sagte der Mann namens Zhou furchterfüllt. »Pah!« Der Kopfgrind-Mönch spuckte gegen die Wand. »Menschen töten ist viel leichter als Hühner schlachten! Wenn du vor Wut kochst, dann 02
kannst du alles! Nimmt der Haß von dir Besitz und du tötest jemanden mit einem Messer, so denkst du nicht mehr, du handelst wie im Traum!« »Fühlst du gar keine Reue?« fragte Shengyi. »Reue? Warum sollte ich bereuen? Ich fühle nur Haß! Hat es mir etwa etwas gebracht, daß ich sie getötet habe? Sie liegen bequem in ihrem Grab, ich aber verstecke mich hier als Shading, ein Leben lang als Shading, ohne Aussicht auf ein Ende. Ich fühle nur Haß! Bis zum Tod hasse ich alles!« Der Kopfgrind-Mönch begann zu grinsen und schlug mit seiner Spitzhacke gegen die Wand, als ob er auf einen Menschen einschlagen wollte. So tief saß sein Haß! Seit dem Tod der beiden waren Jahre vergangen, aber sein Haß war nicht erloschen. Der Gleichmut dieses Mannes trog. Noch heute fand er das Leben als Shading unerträglich. Dieser Haß, dieser abgrundtiefe Haß! Bei diesen Gedanken fühlte Shengyi sich sehr niedergeschlagen. Inzwischen hatte das Wetter sich bereits wieder geändert. Regen prasselte nieder. Sie waren in der Grube und merkten noch nichts davon. Alle arbeiteten mit voller Kraft, denn durch die Unterhaltung hatten sie viel Zeit verloren. Ihre Säcke waren noch nicht zur Hälfte gefüllt. Plötzlich sagte ein Mann erstaunt vor sich hin: »Merkwür03
dig, der Boden ist so schlüpfrig! Und so viel Wasser!« »Nach drei Tagen Regen ist der Boden natürlich schlüpfrig. Vernünftigerweise sollte heute niemand in die Grube hinunter, wenn es hier so viel Wasser gibt … Aber zum Glück ist heute schönes Wetter. Wenn es wieder stark regnen würde, wäre es aus mit uns. Verflucht noch mal! Sie sorgen sich nur darum, reich zu werden. Wann versuchen sie je, sich das Leben von uns Shading vorzustellen?« sagte der Kopfgrind-Mönch und begann dann zu schimpfen. Er legte seine Spitzhacke hm, spuckte in die Hände, rieb sie gegeneinander, nahm wieder die Hacke und grub weiter. »Was nützen Phrasen? Du hast Fäuste, du hast kräftige Fäuste! Warum gebrauchst du sie nicht? Du kannst nur nach Zinnstein graben. Du kannst nur mit allen Kräften graben. Und wenn du dann viel gegraben hast, ist das gut für sie und sie werden noch reicher!« sagte Lao Zhang böse, hörte auf zu arbeiten, machte seine blutunterlaufenen Augen weit auf und blickte den Kopfgrind-Mönch an. »Halts Maul!« schrie der und warf ihm wütende Blicke zu. »Paß auf, was du sagst. Meine Fäuste kennen kein Erbarmen! Du sagst, ich habe Angst vor ihnen. Pah! Warte nur ab! Die Verwalter! Der Generaldirektor! Eines Tages werde ich sie niederschlagen! Ich habe keine Lust, mein Leben 04
lang ein Shading zu sein. Wenn sie reich werden wollen, sollen sie doch selber graben! Du meinst vielleicht, ich weiß nicht, wer jedes Jahr mehrere zehntausend Silberdollar einsteckt. Das Geld ist mit Blut beschmiert. Mit unserem Blut! Ich werde noch mit ihnen abrechnen! Meine Fäuste kennen da nichts!« Je mehr er redete, desto grimmiger wurde er, desto schneller grub er. »Ich grabe, ich hebe Gräber für sie aus!« »Das hast du gut gesagt!« lobte Lao Zhang den Kopfgrind-Mönch und legte seine Spitzhacke hin. »He! Hört doch mal! Was ist das für ein Geräusch?« sagte Shengyi plötzlich erstaunt. »Wasser, Wasser, woher kommt das Wasser?« schrie Lao Wang und warf seine Spitzhacke weg. Das Wasser umspielte die Füße der Leute. Der Boden bedeckte sich mit Schlamm. »Das schadet nichts. Ihr seid feige. Ihr macht aus einer Mücke einen Elefanten! Heute ist das Wetter schön. Fürchtet ihr, daß das Wasser steigt? Grabt! Grabt! Hebt ein Grab für sie aus! Ein großes Grab, groß genug für die Verwalter und den Generaldirektor!« Der Kopfgrind-Mönch kümmerte sich nicht darum, daß die anderen vor Angst schrien, er grub mit ganzer Kraft und wollte nicht einmal zu Boden blicken. »Das sieht nicht gut aus! Schau doch, das Wasser steigt. Auch von oben kommt Wasser. Kopfgrind-Mönch, schau doch mal! Macht das wirk05
lich nichts?« fragte Shengyi, wobei er seine Spitzhacke wegwarf und den Kopfgrind-Mönch am Ärmel zog. Der hielt seine Spitzhacke fest und sah jetzt zu Boden. »Ah! Gefahr! Das Wasser kommt!« Er stieß einen schrecklichen Schrei aus. »Nehmt eure Spitzhacken! Lauft um euer Leben! Der Grubeneingang wird bald zu sein. Wir müssen unsere Spitzhacken gebrauchen!« brachte er abgehackt hervor. Er war erschrocken, machte ein finsteres Gesicht, geriet aber nicht in Panik. Alle begriffen, daß die Lage kritisch war. Das Wasser floß unablässig langsam durch die Öffnung herab und führte viel Schlamm mit sich. »Lauft! Paßt auf eure Lampen auf! Sie sind wichtig!« Alle schrien und drängten nach vorn. Es war schwer, mit Fußfesseln durch den Schlamm zu kriechen. »Voran! Los! Kümmert euch nicht um mich!« drängte der Kopfgrind-Mönch mit lauter Stimme. »Werft eure Spitzhacken nicht weg! Ihr braucht sie noch!« Aber bis auf zwei oder drei hatten alle sie längst weggeworfen. Und keiner hob sie wieder auf. Alle hatten nur einen Gedanken: Weg von hier. Nichts als hinaus. Einige hatten den Weg, der direkt zur Öffnung führte, schon erreicht. Der erste war Lao Zhang. Er kroch vor allen anderen, hob die Lampe über 06
das Wasser und beleuchtete so den Weg. Aber außer trübem Wasser konnte er nichts sehen. Das Wasser schlug ständig schmerzhaft gegen sein Gesicht. Er hob den Kopf, um nicht zu versinken, denn fast sein ganzer Körper steckte schon im Schlamm. Mit großer Kraftanstrengung kroch er einige Schritte vorwärts. Wasser kam herangeströmt und zwang ihn einen Schritt zurück. Da war er unvorsichtig, lockerte den Griff seiner Hand; die Lampe fiel ins Wasser und erlosch. Sein Kopf tauchte unter Wasser, vor seinen Augen wurde es dunkel, in seinen Ohren klang es wie Glockengeläut. »Lao Zhang, kriech schneller!« Jemand hinter ihm stieß gegen seine Füße und schrie aufgeregt. »Lao Zhang, mach schnell!« Lao Zhang hob wieder den Kopf und kroch mit äußerster Kraftanstrengung einige Schritte vorwärts. Die anderen hinterher. »Paßt auf die Lampen auf! Sie sind wichtig!« Einige Leute hinter ihm schrien. Wieder fielen einige Lampen ins Wasser und erloschen. »Kriecht schneller! Kriecht schneller!« »Hilfe!« »Kriecht schneller!« »Paßt auf die Lampen auf!« »Meine alte Mutter!« »Meine Frau! Dein Mann kommt nicht mehr nach Hause zurück!« 07
»Gott im Himmel. Du hast doch Augen. Du siehst doch alles. Du weißt doch, wer sterben wird und wer nicht sterben wird!« – so jammerten viele. »Nur keine Panik! Immer mit der Ruhe! Was nützt das Geschrei! Kriecht schneller!« schrie lautstark der Kopfgrind-Mönch. Er blieb hinten und ließ diejenigen, die sich vor Angst kaum rühren konnten, vor. Er hielt den Kopf hoch über das Wasser, hatte in der einen Hand die Lampe und stützte sich mit der anderen auf den Boden. Seine Spitzhacke trug er auf dem Rücken. Nur seine Lampe brannte noch. Lao Zhang fühlte plötzlich die letzten Kräfte zurückkehren, meinte aus einem Traum zu erwachen, faßte wieder Mut und begann vorne laut zu rufen: »Hilfe! Laßt uns doch alle zu Ahn Zhao dem Zweiten beten, damit er uns behüte! Gute Menschen haben ein gutes Schicksal.« Damit zeigte sich, daß er bis zuletzt an die Gerechtigkeit glaubte. Er hob den Kopf über das Wasser, stützte sich mit den Händen fest auf den Boden und bewegte sich mit aller Kraft nach vorn. So kroch er einige Zeitlang. Mitunter wurde er sehr matt, das Wasser strömte ihm entgegen, seine Hände verloren den Halt, und er rutschte nach hinten zurück. Aber er stützte sich so schnell wie möglich wieder mit den Händen auf den Boden und kroch von neuem vorwärts. Hinter ihm mühten 08
sich Zhou, dann Shengyi und dann die anderen. »Kopfgrind-Mönch, du verstehst doch mehr als wir. Sag, haben wir noch eine Chance? Sag doch!« fragte Shengyi laut. Die anderen hinter ihm wiederholten die Frage. Jeder brannte darauf, die Antwort zu hören. »Das weiß nur der Himmel!« antwortete der Kopfgrind-Mönch beunruhigt. Vorne kämpfte Lao Zhang mit letzter Kraft. Er fühlte, daß er schwächer wurde. Gerade in diesem Augenblick stürzte eine Wassermasse herab, die große Mengen Schlamm und Steine mit sich führte. Lao Zhang war am Ende. Er konnte sich nicht mehr auf den Boden stützen, seine Hände tauchten aus dem Wasser empor. Er war so schwer am Kopf verletzt, daß er das Bewußtsein verlor. Die Wasserflut drang nach hinten, riß Lao Zhangs Körper, der auf dem Wasser schwamm, mit sich, und als er an den Mann namens Zhou stieß, stieß der einen schrecklichen Schrei aus und wurde von der Strömung verschlungen. Hinten war ein mächtiger Lärm zu hören. Felsbrocken und Erde stürzten herab und schnitten den Rückzug ab. »Lao Zhang ist tot! Lao Zhou ist auch tot!« schrie Shengyi angsterfüllt. Das Wasser toste um seinen Kopf und seinen Körper. Er war völlig durchnäßt. Der Kopfgrind-Mönch kroch beharrlich vor09
wärts. Wasser strömte ihm entgegen, ohne die geringste Furcht kämpfte er gegen es an. Er schien entschlossen, es aufzuhalten. Aber als er einmal im Kampf nachließ und unvorsichtig war, fiel seine Lampe ins Wasser. Alle anderen gerieten in panische Angst, denn nun war es vollkommen dunkel. Sie konnten nichts mehr sehen, spürten aber, daß das Wasser ihnen bald bis an den Scheitel reichen würde. »Lao Zhang!« »Lao Wang!« »Shengyi!« »Ich bin hier. Mit Lao Zhang ist’s zu Ende!« »Ahn Zhao der Zweite behüte uns! Wir sind alle ohne Sünde!« »Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben!« »Hilfe!« Ihr Schluchzen und Jammern wurde von dem reißenden Wasser übertönt. Tastend krochen sie in der Finsternis vorwärts. Plötzlich erschütterten ringsum starke Explosionen die ganze Grube. Eine kurze Weile herrschte Schweigen. Alle dachten, der Tod habe sie schon ereilt. Jetzt war es drückend heiß und es stank. Alle konnten nur noch kurz und schwer atmen. »Kopfgrind-Mönch, was war das? Ist der Schacht eingestürzt? Können wir noch gerettet werden?« fragte einer, der immer noch hoffte. 0
»Aus, alles ist aus. Die Grube ist zusammengestürzt. Der Eingang ist zu. Wir sind lebendig begraben! Ich habe euch vorher ermahnt, daß ihr eure Spitzhacken mitnehmen sollt. Wo habt ihr sie?« schrie der Kopfgrind-Mönch ängstlich. Seine Stimme war viel schwächer als sonst. Er kroch mit aller Kraft vorwärts. »Spitzhacken nutzen gar nichts*. Wir haben alle keine Kraft mehr«, sagte ein Mann bebend. »Gibt es denn keine andere Lösung? Kann uns denn nicht jemand hören, wenn wir laut rufen?« fragte Shengyi unruhig. »Uns hören? Du träumst! Weißt du, wie tief diese Grube ist? Ich habe keine Angst vor dem Tod! Wenn ich sterbe, kann ich mit dem reichen Mann, der meine Frau verführte, abrechnen!« Auch jetzt war der Kopfgrind-Mönch noch nicht unterzukriegen. »Kopfgrind-Mönch, sag mal, haben wir denn gar keine Aussicht zu überleben?« fragte einer. »Du willst überleben? Das hängt von dir selbst ab!« sagte der Kopfgrind-Mönch und spuckte ins Wasser. Er kroch mit aller Kraft vorwärts. »Hilfe!« Manche schrien, doch nur noch schwach. Am Leben hängt jeder, auch dann, wenn er weiß, daß der Tod schon an der Tür steht. »Wovor habt ihr Angst? Warum fürchtet ihr euch vor dem Tod? Beeilt euch und kriecht mit aller
Kraft vorwärts! Was nützt dieses Jammergeschrei!« schimpfte der Kopfgrind-Mönch aufgebracht. »Ich will nicht sterben! Ich bin noch jung. Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben!« schrie ein junger Mann verzweifelt und begann zu weinen. »Pah! Du willst nicht sterben! Du bist jung. Aber du Hegst auf dem Boden, anstatt etwas zu tun, und heulst. Mit dir ist wirklich nichts los!« Der Kopfgrind-Mönch wollte sich das Jammergeschrei nicht länger anhören und begann wieder zu schimpfen, weil er seinen Ärger nicht mehr unterdrücken konnte. Er kroch mit ganzer Kraft durch den Schlamm. Es war schwer, mit den Händen Halt zu finden. Jedesmal, wenn er zwei Schritte vorwärts gekrochen war, hielt er inne, um nicht wieder nach hinten zu rutschen. Langsam gelangte er voran. Obwohl es kein Licht gab, fand er sich gut zurecht. Täglich ging er viele Male durch die Grube, und jeder Weg war ihm vertraut. Je weiter er vorwärts kam, desto mehr Kraft fühlte er in sich, der Boden schien allmählich anzusteigen. Sein Mut wuchs, obwohl er noch keine Gewißheit hatte. Aber er hatte jetzt wieder ein wenig Hoffnung. Er tastete den Weg mit seiner Spitzhacke ab. Hinter sich hörte er einige schwache Stimmen. Er hörte auch Shengyis Jammergeschrei. 2
Shengyi dachte an Yin und schrie voller Kummer: »Yin, wo bist du? Ich bin hier und rufe dich. Kannst du mich hören?« »Pah, jetzt denkt der noch an seine Frau!« Der Kopfgrind-Mönch war voller Verachtung. Er wollte weitersprechen, doch da toste plötzlich Wasser mit Schlamm heran. Er drehte sich zur Seite, schmiegte sich fest an die Wand, zog seinen Kopf ein, schloß die Augen und hielt den Atem an. Das Wasser floß an ihm vorbei nach hinten. Nach einer Weile hob er wieder den Kopf, wischte sich das Wasser vom Gesicht und öffnete die Augen. Er entdeckte vorne einen schmalen Lichtstreifen. Erstaunt und froh wäre er fast in Jubelrufe ausgebrochen. Er kroch noch zwei Schritte weiter. Vor ihm öffnete sich ein Seitenweg. Sie konnten diesen Weg entlang langsam hinauskriechen und brauchten nicht mehr zu fürchten, von Schlamm und Wasser verschlungen zu werden. Jetzt war er sehr froh. Seine Gefährten fielen ihm ein, er wandte den Kopf und rief: »Shengyi, es gibt einen Weg ins Freie …« Aber er hatte noch nicht ausgesprochen, als ein unheimliches Getöse hinter ihm losbrach. Vor seinen Augen wurde es dunkel und rauchig und er konnte nichts mehr hören. Als er aus diesem Zustand wieder zu sich kam, war hinter ihm nichts mehr, kein Mensch und auch kein Jammergeschrei. Das Wasser kam weiter herangeflossen, 3
doch seine Wucht nahm ab. In der Grube war es äußerst still. »Nach allem ist es mir wohl bestimmt, lang zu leben.« Der Kopfgrind-Mönch atmete erleichtert aus. Dann kroch er kräftig vorwärts.
Schluss Bald hörte es auf zu regnen, und im sonnigen Wetter trocknete die Erde. Der KopfgrindMönch kroch wieder mit anderen in die Grube und grub nach Zinnstein. Die Zinnberggesellschaft hatte keinen Schaden davongetragen. Sie hatte neue Shading angeworben. Nach wie vor nahm sie jährlich Unmengen an Silberdollar ein. Die Herren erwarben Reichtümer und legten auf den Banken in den großen Städten ihre Gelder an. Die Verwalter erhielten einen Teil des Gewinns und überwiesen die Gelder an ihre Frauen. Die Bergwerkspolizisten erhielten Prämien, liefen zu Glücksspielständen in der Stadt und verbrauchten so ihr Geld. Auf den Gesichtern all dieser Leute war ein Lächeln zu sehen, und dieses Lächeln hält bis heute an, denn das Unternehmen gedeiht von Tag zu Tag. Die Tote Stadt blüht wegen des Bergwerks und der Glücksspielstände wie eh und je. In einer anderen Stadt, mehr als zwei Tage Wegstrecke von der Toten Stadt entfernt, war ein Mädchen namens Yin im Hause ihrer Herrschaft Tag und Nacht beschäftigt und litt unter der schweren Arbeit. Aber nie vergaß sie, Gott um Beistand zu bitten, damit Shengyi schnell reich werden, heimkehren und sie erlösen könne. Natürlich hielt ihr Beten nicht lange an, denn nach 5
kaum einem Jahr starb sie infolge der schweren Arbeit, infolge des Wartens auf ihren Geliebten und der unerträglichen Einsamkeit. Kurz vor ihrem Tod rief sie verzweifelt und leise den Namen eines Mannes. Niemand hörte ihr schwaches Rufen. Und hatte jemand es gehört, er hätte über ihr Unglück keine Träne vergossen. Die Tage verstrichen eintönig, ohne sichtliche Veränderungen – bis heute. Und dies wird so bleiben, bis zu jener Zukunft, da alles umgewälzt wird. Diese Zeit wird kommen, aber Yin, Shengyi und die unzähligen Shading werden dann längst verwest sein.
Nachwort ERINNERUNGEN AN GEJIU … Bereits vor dreißig Jahren habe ich Leute über Gejiu sprechen hören. In Shanghai hatte ich aus Yunnan stammende Freunde, und beinahe alle kannten diese Stadt. Unter ihnen war ein Student, der älter als ich war und in Japan studiert hatte. Er hatte eine Zeitlang in Gejiu gelebt und beschrieb zornig und haßerfüllt die höllischen Zustände dort. Ich sammelte jedes Bruchstück dessen, was man mir erzählte, verband damit meine eigene Phantasie, und so entstand in meinem Kopf ein Bild der »Toten Stadt«. Früher war Gejiu nämlich »Tote Stadt« genannt worden, denn diese Stadt war wirklich eine Hölle. Dort ging es übel zu … Rechtschaffene und ehrliche Bauern wurden von Arbeitsvermittlern betrogen. Sie kamen in die Bergwerke, dort wurden ihnen Fußfesseln angelegt, und von Grubenpolizisten bewacht, krochen sie dann in den Schächten umher und mußten nach Zinnstein graben … Zum anderen gab es Leute, die zwar freiwillig zu den Bergwerken gingen, dann aber gefangengenommen und als Kumpels in Baracken gesperrt wurden. Einmal beispielsweise kamen zwei Leute, die Eier verkauften, an einem Bergwerk vorüber. Sie wur7
den von Männern, die ein Boß namens Huang geschickt hatte, weggeschleppt. Die Eier nahm man ihnen weg, und die beiden wurden Kumpels. Ein alter Mann namens Tang kam eines Tages, weil er seit zwei Jahren keine Nachricht mehr von seinen beiden Söhnen hatte, zum Bergwerk, um sie zu sehen. Dort traf er auf einen Boß namens Li. Dessen Helfershelfer fielen über ihn her, legten ihm Fußfesseln an, und er mußte ein volles Jahr dort arbeiten. Man könnte viele solche Geschichten erzählen. Ja, das wirkliche Leben übertrifft unsere Phantasie bei weitem … In meiner 932 geschriebenen Erzählung ist Gejiu eine leblose Stadt, ganz und gar in Nebel gehüllt. Was ich kürzlich sah, war hingegen ein klarer, endloser Himmel, überall Sonnenschein, die Straßen voller Parolen … Die von Streit und Rufen erfüllten Spielstände gibt es nicht mehr. An ihren Plätzen stehen große Geschäfte für den täglichen Bedarf und Buchläden. Die früheren Baracken gibt es ebenfalls nicht mehr, wo sie waren, stehen dreistöckige Wohnhäuser für Arbeiter. Jene »Schlangenhöhlen« im Bergwerk gibt es auch nicht mehr, statt dessen wird in breiten Stollen und im Tagebau in großem Ausmaß Zinn abgebaut. Die Kumpel von früher … gibt es auch nicht mehr … Ich bin in allen Bergwerken herumgelaufen. Aber 8
nur in der gemischt staatlich-privaten »AufbauGrube« habe ich noch einige Überbleibsel aus der Vergangenheit gesehen. Doch auch sie werden bald verschwinden … Hangzhou, November 960
725 Die Tote Stadt lag zwischen zwei großen Bergen. Natürlich hieß sie nicht Tote Stadt, aber die Bergarbeiter nannten sie so und hatten sogar ihren ursprünglichen Namen vergessen.