Chimba by manoz
Inhalt Prolog März April Mai Juni Juli Epilog
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Prolog
Eigentlich s...
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Chimba by manoz
Inhalt Prolog März April Mai Juni Juli Epilog
9 13 65 123 181 319 369
Prolog
Eigentlich sollte dies kein Roman werden, sondern vielmehr so etwas wie ein persönliches Tagebuch. Ein Tagebuch, worin ich meine Reise nach Kolumbien festhalten konnte, um dann selbst nach Jahren noch darin zu blättern und vergessene Details wieder in Erinnerung zu rufen. Doch zu Beginn wusste ich noch nicht, was mich in Kolumbien erwarten würde, darum wurde aus einem Tagebuch plötzlich eine Geschichte. Eine Geschichte, die ich auch nicht glauben würde, hätte ich sie nicht selber erlebt. Meine Reise sollte mich also für ein halbes Jahr durch Kolumbi- en führen. Ich kündigte meinen Job und meine Wohnung, ver- kaufte mein Auto und alle Möbel, die ich nicht mehr brauchte. Den Rest stellte ich bei einem Freund in den Keller. Ich nahm mein ganzes Geld, kaufte ein Flugticket nach Bogotá, einen Rucksack, ein Wörterbuch Spanisch-Deutsch und die 71. Edition des Southamerican Handbook. Am 1. März 1995, morgens um acht Uhr, setzte ich mich in das Flugzeug nach Bogotá.
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März
Flug nach Bogotá
»Beef or Chicken, Sir?« fragte mich die Stewardeß. Während der Fußball Weltmeisterschaft 1994 in den USA hat- ten wir auch so einen Spruch drauf. Als Italien gegen Nigeria im Achtelfinale spielte, saßen wir alle bei Mike zu Hause, hatten schon tüchtig gekifft und schauten uns das Spiel an. Als Nigeria das er- ste Tor schoss dachten wir alle, Italien holt das noch locker auf. Doch als allmählich die Zeit verging und die neunzigste Minute immer näher kam, waren auch wir nicht mehr so sicher, ob es noch reichen würde. Wir hatten während des Spiels soviel Hasch geraucht, dass un- sere Trauer sich langsam in Galgenhumor wandelte. Wir fingen an, uns zu fragen, wie es den Italienern wohl zumute sein musste, mit einem Bein schon aus dem Turnier. Die Vorstellung, dass sie morgen bereits im Flieger nach Rom sitzen könnten, brachte uns dazu, solche Sprüche zu klopfen wie: »Last call for passengers to Rome, please go immediately to gate number 12.« »Smoking or non smoking, Sir?« sagte Mike. »Beef or Chicken, Sir?« war mein Spruch. Danach brach großes Gelächter aus und wir verpassten fast, wie Roberto Baggio in der neunzigsten Minute das Ausgleichstor er- zielte. Als die Verlängerung des Spiels lief und wir wieder ruhig und gespannt in die Glotze starrten, gingen mir erneut die Sprüche durch den Kopf. Doch Italien war nun wieder im Rennen und nicht mehr mit einem Fuß im Flugzeug. 14
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»Flight delayed...Flight delayed«, sagte ich. Die Stewardeß schaute mich immer noch an und wartete auf meine Antwort. Die Versuchung war nun groß, ihr Flight delayed zu ant- worten, doch vermutlich wäre ich danach ziemlich dumm da ge- standen, oder gesessen, wie mans nimmt. Ich nahm also Huhn, fing an zu essen und schaute aus dem Fenster auf die Wolken. Wir waren seit etwas mehr als vier Stun- den in der Luft. Mir war das recht so, denn somit würde der Flug noch ungefähr acht Stunden dauern. Eilig hatte ich es nicht, in Kolumbien anzukommen, zumal ich gar nicht wusste, was mich dort erwarten würde. Weshalb ich als Ziel für meine Reise Kolumbien ausgesucht hatte, wusste ich auch nicht, ich musste einfach weg. Ich brauchte etwas Abstand von allem, musste zu mir finden, wie man so schön sagt. Vielleicht suchte ich gar nach dem Sinn des Lebens, ich weiss es nicht mehr. Ich hatte mir vorgenommen - gleich nach der Ankunft in Bogo- tá - weiter nach Santa Marta zu reisen, um von dort aus meine Reise durch das ganze Land zu starten. Doch vermutlich musste ich die erste Nacht in Bogotá verbringen. Also holte ich mein Southamerican Handbook aus dem Ruck- sack und machte mich auf die Suche nach einem Hotel in Bogotá. Doch wonach sollte ich suchen? Beim Überfliegen der verschie- denen Hotels, stach mir eines mit einem deutschen Namen ins Auge: Plattfuß. Wer kommt denn auf die Idee, in Kolumbien ein Hotel Plattfuß zu nennen? Dieses ist ok, dachte ich, in der Hoff- nung, dort deutschsprechende Leute zu finden, denn mit Spanisch konnte ich nichts anfangen, oder noch nicht zumindest.
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In Bogotá angekommen, durfte ich zuerst das Übliche erledigen: Passkontrolle, Körperkontrolle, Gepäck abwarten und Zollkon- trolle. Bei der Zollkontrolle, wollte es der Typ ganz genau neh- men. Er durchsuchte meinen Rucksack bis ins letzte Täschchen, öffnete jeden Reißverschluss, sogar meine Zahnbürste nahm er genau unter die Lupe. Als er mein Rasierwasser entdeckte, riss er an der Etikette und leckte dann kurz daran. Ich schaute ihn völlig erstaunt an und fragte mich, wie weit das alles noch gehen würde. Danach hatte er anscheinend genug und ließ mich gehen. Ich packte wieder alles in meinen Rucksack und verließ das Flughafengebäu- de. Draußen war es erstaunlich kühl. Ungewöhnlich für südameri- kanische Verhältnisse. Vermutlich lag es daran, dass Bogotá auf 2600 Meter Höhe liegt. Die Luft roch nach Feuchtigkeit, so wie es in einem alten Haus riecht, anders kann ich es nicht beschreiben. Die Uhr zeigte kurz vor sechs und die Sonne stand sehr tief, kurz vor dem Untergang. Ein Taxifahrer kam gleich auf mich zu. »He Mono, brauchst du ein Taxi?« fragte er mich. Ich schmiss meinen Rucksack in den Kofferraum, setzte mich auf den Beifahrersitz und zündete mir eine Zigarette an. Die erste seit der Landung. »Wo solls denn hin gehen, Mono?« fragte der Taxifahrer. »Hotel Plattfuß, bitte.« »Wohin?« »Plattfuß«, wiederholte ich laut und deutlich. »Ah, Platibus«, meinte er und fuhr los. Platibus! So wird es wohl hier ausgesprochen, dachte ich. Ich überlegte, wie mich der Typ genannt hatte. Mono. Was sollte das 17
denn bedeuten? Aber eigentlich war es mir egal, Hauptsache, er fuhr mich ins Platibus. Während der Fahrt ins Hotel wurde es dunkel. Lichter gingen an, und die Stadt veränderte sich langsam, sie zog ihr Nachtge- wand an. Leute rannten, Kinder bettelten auf der Straße, Straßen- verkäufer boten alles Erdenkliche an, und der Verkehr kam fast zum Stillstand. Mein erster Eindruck von Kolumbien war also eher von Hektik, als von Ruhe und Erholung geprägt. Irgendwie hatte ich es mir anders vorgestellt. Ich dachte an einen Strand mit Palmen und die untergehende Sonne. Was ich aber zu sehen bekam war nur letzte- res. Kein Wunder, wenn man berücksichtigt, dass Bogotá sieben Millionen Einwohner hat: soviel wie die ganze Schweiz. Nach einer halben Ewigkeit, kam ich dann doch noch im Hotel Plattfuß an.
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Hotel Plattfuß
Eine Horde Rucksackreisende aus aller Welt saß im Innenhof. Man hörte sie in allen möglichen Sprachen reden, was mir den Ein- druck gab, hier am richtigen Ort gelandet zu sein. Ich schleppte meinen Rucksack bis zur Rezeption, um nach einem Zimmer zu fragen. »Tag, haben sie ein Zimmer frei?« fragte ich den Mann hinter dem Schreibtisch. Er sah aus wie der Chef hier. »Hola Mono«, begrüßte auch er mich. Was soll das, fragte ich mich. Hab ich irgendwo ein Schild hän- gen, auf dem Mono steht, oder was? Na ja, ich bekam also mein Zimmer, schmiss meinen Rucksack in eine Ecke und ließ mich aufs Bett fallen. Ich war hundemüde, denn ich hatte seit über 40 Stunden nicht mehr geschlafen, doch ich wollte zuerst etwas es- sen. Bevor ich aufstand, wollte ich noch unbedingt wissen, weshalb die mich hier Mono nennen. Ich nahm mein kleines Wörterbuch aus dem Rucksack und schaute nach. Da stand Mono:Affe, das konnte doch nicht wahr sein. Doch dann las ich, dass Mono - in Kolumbien - blonder Junge bedeutet. Ich war also ein blonder Junge. Ich habe zwar keine blonden Haare, doch wie ich später erfahren durfte, sind in Kolumbien alle die, die keine schwarzen Haare haben, blond. Ein Mono eben. So, nun musste der Mono etwas zwischen die Zähne bekom- men, sonst wäre er bald ein verhungerter Mono gewesen. Ich nahm
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mein Überlebens-Täschchen und zog es wie ein Gürtel um den Bauch herum. Ich nannte es mein Überlebens-Täschchen, weil ich darin alles hatte, was ich zum Überleben brauchte. Meine Kre- ditkarte, meinen Pass, mein Flugticket und mein Geld. Das war so ein flaches Täschchen, was unter den Kleidern nicht zu sehen war. Ich trug es immer bei mir, wenn mir ein Hotel nicht ganz sicher schien. Da ich im Plattfuß erst angekommen war, wusste ich noch nicht wie sicher es hier sei. Ich schlenderte runter zum Restaurant an der Straßenecke und bestellte mir etwas Warmes zu essen, ich glaube Speck mit Boh- nen oder sowas. Während ich auf das Essen wartete, kam ein klei- ner Junge zu mir. Er wollte mir die Schuhe putzen. Da meine Turnschuhe aber keine Reinigung nötig hatten, musste ich ihn lei- der enttäuschen. Er sah mich aber mit seinen großen dunklen Augen an. »Ich habe Hunger«, sagte er. Ich sagte ihm, er solle sich hinsetzen und bestellte das gleiche auch für ihn. Während wir auf das Essen warteten, unterhielten wir uns ein wenig. Dem Jungen gefielen meine Turnschuhe. Er kenne die Mar- ke aus der Fernsehwerbung, sagte er, die gäbe es aber in Kolumbi- en nicht. Ich trug ein Paar durchschnittliche Lotto Turnschuhe, schwarz mit grüner Aufschrift. Selbst wenn ich sie ihm hätte schenken wol- len, konnte ich es nicht. Erstens hatte er viel zu kleine Füße und zweitens hatte ich nur dieses Paar Schuhe dabei. Nach dem Essen bedankte sich der Junge, nahm sein Kistchen und zog weiter. Ich zündete mir eine Zigarette an und machte mich auf den Weg zum Hotel. 20
Dort angekommen, es war so gegen acht, wollte ich noch ein Bier trinken und mich ein wenig zu den anderen Trampern sitzen. Die Müdigkeit war verschwunden. Ich nahm mir ein Bier aus dem Kühlschrank in der Küche und notierte es auf der Liste, die daran klebte. Danach setzte ich mich auf eine Bank im Innenhof, gleich neben einem Tisch mit zwei Jungs. »Hallo«, grüßte ich und nahm einen Schluck aus meiner Flasche.
»Hallo«, erwiderte der eine.
»Bist erst angekommen, was?« fragte der andere.
»Ja, vor ein paar Stunden.«
»Woher kommst du?«
»Aus der Schweiz und ihr?«
»Aus Israel.«
»Seid ihr schon lange unterwegs?«
»Seit acht Monaten. Doch jetzt ist bald Ende, in zwei Wochen
gehen wir wieder nach Hause. So eine Scheiße. Und du, wie lange bleibst du?« »So ein halbes Jahr hoffe ich, wenn das Geld reicht.« »Ach das Geld, dieses Problem haben wir alle hier. Ich heiße übrigens Arthur und er ist Samuel.« Ich sah sie an, sie hatten beide schwarze Haare. »Ich bin Mono«, sagte ich. »Warst du schon mal in Kolumbien?« »Nein, ist das erste Mal.« »Hast du schon ungefähr eine Idee, was du alles sehen willst?« »Ich dachte, ich fahre mal nach Santa Marta, um dann von dort aus durch das ganze Land zu ziehen.« »In Santa Marta waren wir auch, im Hotel Explorador. War echt gut und vor allem günstig.« 21
»Wisst ihr, ob morgen ein Bus nach Santa Marta fährt?« »Ja, immer morgens um sieben fährt einer vom Terminal de Transportes aus.« Plötzlich hörten wir einen riesigen Krach, vier oder fünf Män- ner standen im Innenhof. Sie waren alle bewaffnet. Ich weiß gar nicht wie, doch wir lagen plötzlich alle auf dem Boden mit dem Gesicht nach unten. Einige der Männer verteilten sich im ganzen Hotel. Einer blieb im Innenhof und passte auf uns auf. Mir wurde gleich klar, dass das ein Überfall war und ich war froh, mein Überlebens-Täsch- chen nicht im Zimmer zu haben. Totenstille, alle lagen am Boden, bewegten sich kaum. Der Typ, der auf uns aufpassen sollte, stand direkt neben mir, ich konnte genau auf seine Schuhe sehen. Dann sagte er zu mir, ich solle meine Schuhe ausziehen. Ich musste sofort an den jungen Schuhputzer vom Restaurant den- ken, dem meine Turnschuhe auch gefallen hatten. Er war anschei- nend nicht der einzige. Ich setzte die rechten Zehenspitzen an die linke Ferse an und zog mir den linken Schuh aus. Das gleiche tat ich mit dem anderen Schuh. Nun lagen meine Schuhe zu meinen Füßen und ich hoffte, der Typ würde sie selber nehmen, ohne dabei meine Hilfe wieder in Anspruch zu nehmen. Er rührte sich von meiner Seite und ging zu meinen Schuhen. Ich nutzte diese Gelegenheit, um meinen Kopf nach hinten zu drehen und zu ihm zu schauen. Er zog seine Schuhe aus und woll- te in meine schlüpfen, dabei musste er sich aber mit einer Hand helfen. Ich konnte eine Tätowierung an seiner linken Hand sehen. So etwas wie eine Schlange um ein Kruzifix. Eine schlechte Täto- 22
wierung, so eine billige, verwaschene, keine schöne. Sein Gesicht konnte ich allerdings nicht sehen. Er lief ein zwei Schritte mit meinen Schuhen, als wäre er in einem Schuhladen und würde ein Paar neue Schuhe probieren. Danach kamen seine Kumpels wieder runter, schrien etwas Un- verständliches, vermutlich eine Drohung und verschwanden. Keiner rührte sich, alle waren noch zu verängstigt und geschockt, um etwas unternehmen zu können. Im Hotel herrschte eine To- tenstille. Etwa drei Meter vor mir lag Arthur, er hatte vor Angst in die Hosen gepisst. Man konnte richtig einen nassen Kreis an seine Jeans erkennen und eine Lache zwischen seinen Beinen ausma- chen. Der arme Kerl. Ich raffte mich langsam hoch und schaute vorsichtig in der Ge- gend herum, ob die Typen wirklich schon weg waren. Langsam stand einer nach dem anderen auf und die Stille verschwand im- mer mehr. Viele suchten gleich den Hotelbesitzer und wollten wis- sen, was passiert war, was sie jetzt tun sollten. Einige sagten, man müsse sofort die Polizei verständigen, was der Besitzer jedoch nicht unbedingt wollte. Dies würde seinen Ruf schädigen, sagte er, doch er konnte unmöglich alle aufhalten. Einige waren bereits auf die Straße gerannt und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis hier die Bullen auftauchen würden. Mittlerweile waren etwa zehn Minuten vergangen. Im Hotel herrschte nun ein richtiges Chaos. Einige rannten umher, wollten sich vergewissern, dass ihnen nichts gestohlen wurde. Andere such- ten ihre Bekannten, um zu sehen, ob es ihnen gut ginge. Ich stand immer noch an der selben Stelle, an der ich aufgestan- den war. Ich hatte mich nicht vom Fleck bewegt und schaute dem 23
Geschehen zu. Irgendwie hatte ich das Gefühl, das Ganze wäre nicht wirklich passiert. Doch als ich bemerkte, dass ich keine Schuhe an hatte, wusste ich, es war doch wahr. Neben mir lagen immer noch die Schuhe von dem Typen. Geistesabwesend zog ich sie an. Ich lief zur Küche, nahm mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich auf einem Hocker, ohne das Bier auf der Liste zu notieren. Langsam realisierte ich, was da eigentlich passiert war. Ich schaute runter zu meinen Füßen, sah die braunen Turnschuhe und musste schmunzeln. Ich zündete mir eine Zigarette an, die letzte, das Päckchen war leer. Ich stand auf und ging langsam auf die Straße, um mir Zigaretten zu kaufen. Die Schuhe waren bequem, genau meine Größe. Ich spürte noch mein Überlebens-Täschchen auf der Haut. Eigentlich hatte ich riesiges Glück gehabt. Ich meine, andere hatten sicher mehr ver- loren, als nur ein Paar Schuhe. Ich hatte wenigstens noch mein Geld und meine Ausweise, konnte also meine Reise fortsetzen. In meinem Rucksack war eh nichts wichtiges drin. Einige T-Shirts, ein paar Jeans, Toilettenartikel und ein paar Bücher. Ich kaufte mir ein Päckchen Belmont und zündete mir gleich eine Zigarette an. Während ich rauchte, dachte ich an den Über- fall. Eigentlich wollte ich nicht weiter in diesem Hotel übernach- ten. »Wie oft fahren Busse nach Santa Marta?« fragte ich den Zigarettenverkäufer. »Viermal täglich.« »Wissen sie auch, um welche Zeit?« »Zwei fahren nachts und zwei fahren tagsüber. Die Zeiten weiß ich nicht.«
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Ich schaute auf die Uhr, es war kurz vor zehn. Ich lief zurück zum Hotel. Dort waren bereits die Bullen eingetroffen und be- fragten alle Anwesenden. Ich schlich mich ungesehen auf mein Zimmer, legte mich aufs Bett und überlegte. Meine Sachen waren noch alle da, anscheinend hatten die Diebe - bei mir - nichts Inter- essantes gefunden. Die Polizei würde vermutlich auch bald an meiner Tür klopfen, dachte ich. Ich war hundemüde, doch ich wollte nicht in diesem Hotel schlafen. Vielleicht konnte ich noch den Nachtbus kriegen. Ich stand auf und packte meinen Rucksack. Doch wo war mein Rasierwasser? Weg, verschwunden. Die Typen hatten also doch was zum Mitge- hen lassen gefunden. Ich nahm meinen Rucksack und ging runter. Die Eingangshalle wimmelte nur so von Bullen. Der Hotelbesitzer saß auf einem Sofa und trocknete sich mit einem Handtuch den Schweiß vom Nacken. Soll ich einfach verschwinden, überlegte ich. Da sah ich, auf einem Möbelstück, mein Rasierwasser. Die Etikette halb abgeris- sen, unverkennbar. Zuerst war ich überrascht, dann dachte ich einen kurzen Augenblick nach, ob ich das Fläschchen nehmen sollte, doch das war zu riskant. Ich schlich mich unauffällig bis zur Tür, verschwand auf die Straße und nahm ein Taxi zum Terminal de Transportes.
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Reise nach Santa Marta
kenlehne meines Sitzes nach hinten klappte. Kurz nach der Ab- fahrt schlief ich ein.
Am Terminal angekommen, kaufte ich mir ein Busticket nach Santa Marta und setzte mich in ein Restaurant. Bis zur Abfahrt, hatte ich noch eine gute halbe Stunde Zeit. Ich konnte also gemütlich noch etwas trinken, bevor die über zwanzigstündige Busfahrt be- ginnen würde. Ich zündete mir eine Belmont an und bestellte einen Kaffee. Als ich da saß und auf meinen Kaffee wartete, dachte ich nochmals über das Geschehene nach. Warum lag mein Rasierwasser auf die- sem Möbelstück? War das Ganze etwa eine abgemachte Sache? Steckten die Räuber und der Hotelbesitzer unter einer Decke, oder war das nur ein Zufall? Ich war ja schließlich nach dem Überfall nicht direkt auf mein Zimmer gegangen, sondern erst nach einer guten halben Stunde. Konnte also auch jemand nach dem Über- fall gewesen sein. Mittlerweile hatte das Mädchen den Kaffee gebracht, und ich warf meine Zigarette auf dem Boden. Dabei sah ich wieder mei- ne Schuhe. Der kleine Schuhputzer hatte gesagt, Lotto gäbe es hier nicht. Sollte ich also jemanden mit solchen Schuhen sehen, müsste dieser eigentlich der Täter sein. Ich blickte mich um und schaute allen Leuten auf die Schuhe, doch keiner hatte solche Schu- he an. Ich trank meinen Kaffee, nahm meinen Rucksack und setzte mich in den Bus. Die Reise würde die ganze Nacht und den gan- zen Tag dauern, also machte ichs mir bequem, indem ich die Rük-
Ich wachte auf, als der Bus an einen Estadero Rast machte. Drau- ßen schienen bereits die ersten Sonnenstrahlen und die Leute stie- gen aus, um etwas zu essen. Ich hatte keinen Hunger und nutzte die Zeit, um ein wenig die Beine zu vertreten. Als ich neben einem Tisch vorbeilief, hörte ich, wie sich einige Männer über den Über- fall von gestern abend im Plattfuß unterhielten. Anscheinend war die Nachricht bereits in aller Munde. Ich bekam mit, dass die Räu- ber nicht aus Bogotá waren, sie mussten also extra für den Über- fall dorthin gefahren sein. Irgendwie hatte ich ein bindendes Glied mit diesen Räubern, oder zumindest mit einem von ihnen. Er hatte meine Schuhe, ich hatte seine. Er kannte mich nicht, ich kannte ihn nicht. So wie ich sein Gesicht nicht sehen konnte, konnte er auch meines nicht se- hen, denn ich lag die ganze Zeit mit dem Gesicht nach unten. Ich wusste aber, dass er eine Tätowierung an der linken Hand hatte, und die Schuhe die er trug, waren eher seltene Ware in Kolumbi- en. Mein Blick ging wieder zu den Füßen, doch keiner der Anwe- senden trug meine Schuhe. Der Busfahrer stieg wieder in den Bus ein. Dies bedeutete für alle, dass die Fahrt weitergehen würde. Ich machte es mir wieder auf meinem Sitz bequem und schaute während der Fahrt aus dem Fenster. Der Bus hielt, so gegen Mittag, erneut an einen Estadero an. Die Leute stiegen wieder aus, um etwas Warmes zu essen. Er- staunlich, doch ich hatte immer noch keinen Hunger und blieb im Bus sitzen.
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Als es schon seit etwa zwei Stunden dunkel war, kamen wir in Santa Marta an. Die Luft war um einiges feuchter als in Bogotá. Ich merkte gleich, dass wir am Meer waren. Ich nahm meinen Rucksack und setzte mich auf eine Bank. Ein kühler Wind trock- nete ein wenig den Schweiß an meinem T-Shirt. Ich war seit 24 Stunden in Kolumbien und hatte bereits einen Überfall erlebt. Nicht gerade das, was man einen guten Start nen- nen kann. Eigentlich sollte ich mich in den nächsten Flieger set- zen und nach Hause fliegen, doch irgendwie hatte ich keine Angst. Vermutlich dachte ich, dass das Schlimmste nun vorbei war und ich nur noch die angenehme Seite Kolumbiens kennenlernen wür- de. Doch ich sollte mich irren. Was ich nun brauchte war ein Hotel. Arthur hatte ein günstiges erwähnt, doch ich konnte mich nicht mehr an den Namen erin- nern. Ich nahm mein Handbook zur Hilfe. Wenn ich es gelesen hätte, wäre es mir sicher wieder eingefallen, dachte ich. Mirador, das war es. Ich nahm ein Taxi und ließ mich dort hin fahren.
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Fredo
Ein junges Mädchen war dabei, den Boden nass aufzuziehen. Im Hof saßen junge Leute. Ein Typ mit Rastazöpfen stand vor einem Spiegel, das Gesicht voller Rasierschaum. Aus der Gemeinschafts- dusche kam ein Mädchen in ein Handtuch gehüllt und verschwand anschließend in einem der Zimmer. Viele unterhielten sich ein- fach nur, andere hörten Musik oder lasen. Zwei Typen spielten Schach. Aus zwei Lautsprechern tönte Salsamusik und ich roch Marihuana. »Habt ihr noch Zimmer frei?« fragte ich das junge Mädchen. Sie zeigte auf einem der zwei Typen, die Schach spielten. »Frag den da, er ist hier der Chef.« Ich lief zu den beiden rüber und fragte erneut. »Habt ihr Zimmer frei?« »Ja«, antwortete der Chef. »Darf ich zuerst das Spiel zu Ende spielen, oder hast dus eilig?« »Kein Problem. Wo kann ich hier Zigaretten kaufen?« »Da, an der Bar.« Eine Bar? Die hatte ich ja völlig übersehen. Von einer Bar zu reden, war ja auch übertrieben. War mehr so etwas, wie eine Empfangstheke einer Versicherungsfiliale. Ich lief also zur Bar und fragte den Jungen - der dahinter stand - ob er Zigaretten hät- te. »Ja, welche willst du?«
»Belmont.«
»Haben wir nicht. Nur Hollywood und Royal.«
»Dann nehme ich Hollywood.«
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Ich hätte auch Royal nehmen können, denn ich kannte beide Marken nicht. Ich zündete mir eine an, nahm noch ein Bier, und setzte mich zu den Schachspielern. Das Bier schmeckte gut. Die zwei Typen waren in ihr Spiel ver- tieft. Anscheinend ging es darum, wer zuerst zehn Spiele gewin- nen würde, und es stand neun zu neun. Ich beobachtete sie ein wenig. Der Hotelbesitzer war um die fünfzig, hatte schütteres Haar und einen Bierbauch. Sein Gegenüber hingegen, war ein Tramper wie ich. Er war braungebrannt von der Sonne, was mich vermu- ten ließ, dass er schon längere Zeit unterwegs sein musste. Ich schaute ein wenig umher, keiner hatte meine Schuhe an. Plötzlich fluchte der Tramper und stiess, mit einer Handbewe- gung, die Schachfiguren um. Der Chef hatte gewonnen. »Das war ein knappes Spiel«, sagte der Chef zu seinem Gegen- über. »Das war verdammt knapp«, erwiderte der Junge mit französi- schen Akzent. Der Chef stand auf und lief zu einem Schreibtisch am Eingang. Da er nichts gesagt hatte, blieb ich sitzen und wartete darauf, dass er mich rufen würde. »Kann ich eine Zigarette haben?« fragte mich der Junge, als er sich von der Niederlage erholt hatte. »Sicher, nimm nur.« »Woher kommst du?« »Aus der Schweiz. Und du, bist du Franzose?« »Ja, hört man das.« »Ein wenig«, lächelte ich. »Bist erst angekommen, was?«
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»Ja. Ich war zuerst in Bogotá. Und du, bist du schon lange hier?« »In Kolumbien seit vier Wochen, in Santa Marta bin ich erst heute morgen angekommen. Sag mal, hast du Hunger?« »Ja, ich habe den ganzen Tag nichts gegessen.« »Wollen wir was essen gehen?« »Klar. Muss nur kurz mein Zimmer beziehen und den Rucksack versorgen.« »Ich bin alleine in einem Doppelzimmer. Wenn du willst, kön- nen wir es teilen.« »Geht klar, kein Problem.« »Ich heiße übrigens Fredo.« »Ich bin Mono.«
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Das erste Mal Marihuana gekauft
Ich stellte den Rucksack ins Zimmer und wir liefen runter Rich- tung Meer. Immer wenn ich irgendwo am Meer bin, muss ich Fisch essen. Das gehört für mich dazu. Ich bestellte einen Sancocho de Pescado, eine Fischsuppe, köstlich. Wir saßen also da, warteten auf das Essen und unterhielten uns ein wenig. Ein Mann mit einem Ordner unter dem Arm kam zu uns und versuchte uns irgend einen Trip zu verkaufen. Er stellte sich als Alfonso vor. Er fing an, von einem sechstägigen Trip nach Ciudad Perdida zu erzählen, einem dreitägigen Trip nach sonstwo und von einem Nationalpark, den man unbedingt hätte sehen müssen. Wir hatten eigentlich keinen Bock auf irgend einen Trip durch den Urwald, aber wir ließen ihn dennoch erzählen. Er blätterte in seinem Ordner, zeigte uns Fotos von wunderschönen Stränden, abgelegenen Lagunen und sonstigen Schwärmereien. Doch irgend- wann merkte auch er, dass es bei uns nichts zu holen gab. Er schloss seinen Ordner, schaute uns einige Sekunden schweigend an und sagte dann mit einem zweideutigen Blick. »Braucht ihr sonst was?« Fredo und ich schauten uns fragend an. »Was hast du denn so?« fragte ich vorsichtig. »Braucht ihr etwas Marihuana, Kokain oder sonst was?« sagte er ganz direkt, direkter ging es fast nicht.
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Fredo und ich schauten uns erneut an. Wir kannten uns noch nicht so gut, somit traute sich keiner, den anderen in irgend wel- che Drogengeschichten mit Dealern reinzuziehen. »Brauchen wir Marihuana?« fragte ich Fredo im selben direkten Ton wie Alfonso. »Von mir aus«, war seine Antwort. Dies war ein eindeutiges Zeichen, dass wir in Sachen Marihuana die gleiche Meinung hatten. »Marihuana wäre nicht schlecht«, sagte ich also zu Alfonso. »Wieviel braucht ihr?« war seine nächste Frage. Wieviel brauchten wir denn? Ich hatte keine Ahnung, in wel- chen Mengen hier gehandelt wurde. Bei mir zu Hause hätte ich gewusst, wieviel man so kauft und wie die Preise sind. Doch hier hatte ich keine Ahnung. »Wieviel kannst du uns denn geben?« fragte ich ihn und ver- suchte so einerseits ihm das erste Wort zu überlassen, andererseits etwas über seine Gewohnheiten zu erfahren. »Eine Libra?« fragte er. Schon wieder so ein Wort. Wieviel um alles in der Welt ist eine Libra? Fredo und ich schauten uns wieder an. Er hatte auch keine Ahnung, wieviel eine Libra sei. »Wieviel ist eine Libra?« fragte ich Alfonso. »Eine Libra ist eine Libra«, war seine Antwort. Logisch oder? Seine Handbewegung ließ mich aber vermuten, dass es sich um eine größere Menge handeln musste. »Wieviel kostet denn eine Libra?« »10.000 Pesos.« »Ok, bring uns eine halbe Libra.«
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Ich dachte somit einen guten Mittelweg gefunden zu haben. Alfonso versprach, in einer Viertelstunde wieder zurück zu sein und verschwand. In der Zwischenzeit war das Essen serviert worden. Fredo und ich versuchten noch - durch das Personal des Restaurants - etwas über diese Libra in Erfahrung zu bringen. Doch keiner konnte uns genau sagen, wieviel denn für uns Europäer eine Libra sei. Wir hatten schon seit einer Weile fertig gegessen und dachten, Alfonso hätte uns verschaukelt. Wir bezahlten, standen auf und liefen zur Tür. Draußen stand jedoch Alfonso mit einer Einkaufs- tüte in der Hand. »Endlich. Ich dachte schon, ich müsste ewig hier draußen war- ten.« »Weshalb bist du nicht reingekommen?« fragte ich ihn. »Ich wollte nicht mit soviel Marihuana ins Restaurant.« Er gab mir die Einkaufstüte. Sie war rammelvoll mit Marihuana, man konnte den Geruch meterweit riechen. Eine halbe Libra war verdammt viel, unvorstellbar. Zum Glück hatte ich keine ganze Libra bestellt. Ich wusste nicht wie ich die Tüte verstecken sollte, denn in der Hand konnte ich sie kaum spazieren tragen. Das Hotel war nicht weit weg. Ich versteckte die Tüte unter meinem T-Shirt, drückte Alfonso 5.000 Pesos in die Hand und wir rannten ins Hotel. Da es dunkel war, fielen wir nicht groß auf. Im Hotel angekommen verkrochen wir uns schnell ins Zimmer, stellten die Tüte auf dem Boden und schauten uns an. Ich hatte noch nie zuvor eine solche Menge Marihuana auf einem Haufen
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gesehen. Für mich alleine hätte es mindestens ein Jahr lang ge- reicht. Wir leerten die Tüte auf das Bett, plötzlich sah es nach noch mehr aus. Ich nahm mein Wörterbuch und suchte nach einer Libra. Ein Pfund! Wir hatten ein halbes Pfund Gras gekauft. Scheiße, was sollten wir mit so viel Gras tun? Nach einer kleinen Überlegungspause kamen wir auf die Idee, mal etwas davon zu rauchen. Schließlich hatten wir es ja dafür gekauft. Ich riss ein Büschel von einem Ast ab und fing an, es zu verkleinern. »Hast du Papers, Fredo?« »Nein. Du auch nicht?« »Nein. Shit!« Womit sollten wir nun rauchen? Wir könnten eine Zigarette neh- men, sie leeren und mit Marihuana füllen, aber das war zu müh- sam. Wir suchten nach einer anderen Lösung. Ich schaute mich ein wenig um und fand im Nachttisch eine Bibel. Die Seiten wa- ren sehr dünn, dünner als die eines Telefonbuchs. »Das würde doch gehen«, sagte ich zu Fredo. »Und womit willst dus kleben, das hält doch nicht zusammen.« »Doch, doch. Wenn wir es ordentlich feucht machen, dann kön- nen wir es rauchen bevor es trocknet. Sonst können wir immer wieder daran lecken.« Fredo war nicht so begeistert, aber während er nach einer ande- ren Lösung suchte, konnte ich ja mal probieren. Ich nahm die Bibel und riss eine Seite raus. Darauf stand etwas von Petrus 5. Ich rollte etwas Marihuana darin. Mit meiner Spuk- ke nässte ich das Papier solange, bis es zusammenhielt. Danach steckte ich den Joint zwischen die Lippen und zündete ihn an. Ich
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musste rasch daran ziehen, denn mit der Wärme trocknete das Papier schnell aus. Die Wirkung ließ nicht lange auf sich warten. In wenigen Minu- ten hatte ich eine göttliche Scheibe, die erste in Kolumbien. Fredo überzeugte sich schnell davon, dass meine Methode zwar rudi- mentär aber wirkungsvoll war und holte sich auch eine biblische Scheibe ab. Danach versteckten wir die Einkaufstüte im Badezimmer. Die Decke war mit viereckigen Kartonplatten versehen, und eine da- von ließ sich mit der Hand ein wenig heben. Wir verstauten die Tüte in den Zwischenraum zwischen Decke und Kartonplatten und stellten alles wieder wie ursprünglich hin. Im Zimmer wurde es langsam warm. Wir gingen in den Hof und setzten uns auf eine Couch. Im Dunkeln dachten wir es wäre niemand da. Doch als sich unsere Augen langsam der Dunkelheit angepasst hatten, konnten wir das junge Mädchen erkennen, das bei meiner Ankunft den Boden sauber gemacht hatte. Sah aus, als würde sie sich von ei- nem anstrengenden Tag erholen, denn sie saß auf einem Stuhl und hatte ihre Beine auf einem Hocker. Als sie sah, dass wir sie bemerkt hatten, grüßte sie. »Hallo.« »Hallo«, antworteten wir. »Ihr seid doch heute angekommen, nicht wahr?« »Ja, sind wir«, sagte Fredo. »Seid ihr das erste Mal in Santa Marta?« »Ja.«
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»Dann müsst ihr unbedingt ins Parque Tayrona gehen. Das ist ein Nationalpark, dort ist es wunderschön.« Auch Alfonso hatte was von einem Nationalpark erzählt, den man unbedingt hätte sehen müssen. Ich wollte mehr darüber wis- sen. »Wie kommt man dorthin?« fragte ich sie. »Jeden Morgen fährt ein Bus bis zum Eingang des Parks. Von dort aus muss man dann laufen«, sagte sie. Laufen? Das brauchte ich nicht unbedingt. »Laufen? Wie lange denn?« »Das kommt drauf an, wohin ihr wollt. Im Park gibt es zum Beispiel mehrere Strände, der nächste ist eine Stunde zu Fuß ent- fernt. Doch es lohnt sich, kann ich euch sagen. Ich gehe so oft ich kann. Dort gibt es ein kleines Restaurant für die Verpflegung und einige Duschen, ansonsten ist alles ziemlich ursprünglich. Kein elektrischer Strom, kein Telefon, nichts. Und schlafen kann man in Hängematten. Idyllisch.« Das hörte sich wirklich gut an. Fredo und ich entschieden uns, einen Trip zu diesem Park zu starten. »Wo können wir den Bus nehmen?« fragte Fredo. »Ihr könnt euch beim Chef hier im Hotel melden, er organisiert den Rest. Der Bus klappert alle Hotels ab und fährt dann die Leu- te zum Park.« »Und wie kommen wir wieder zurück?« fragte ich. »Wenn ihr genug vom Park habt, müsst ihr wieder bis zum Ein- gang laufen und dort auf den Bus warten, der die Leute zum Park bringt. Der fährt euch dann auch zurück.«
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Wir waren einverstanden. Am nächsten Morgen würden Fredo und ich in den Parque Tayrona fahren, oder besser gesagt laufen. Das Mädchen verabschiedete sich, denn sie war müde und woll- te schlafen gehen. Fredo und ich gingen wieder ins Zimmer und besprachen das morgige Vorgehen. Bald merkten wir aber, dass das Marihuana an Wirkung verloren hatte. Fredo holte unsere Tüte aus dem Bad und ich holte die Bibel aus dem Nachttisch. Diesmal musste der Apostel Matthias dran glauben. Als wir wieder unsere himmlische Scheibe hatten, überlegten wir, wie wir das Gras mitnehmen sollten. Mit solch einer Tüte im Ge- päck, konnten wir unmöglich reisen. Bei der ersten Polizeikon- trolle würden wir sofort auffliegen, schon wegen des Geruchs. Wir fingen an, die Ästchen und die Samen vom Gras zu tren- nen, dies würde zumindest die Menge reduzieren. Danach war die Frage, worin wir das Gras tun sollten. Fredo hatte einige Filme für seinen Fotoapparat auf dem Bett. Ich nahm einen Film aus dem schwarzen Plastikröhrchen heraus und sagte zum Spaß. »Wir könnten ja das Zeug hier in so ein Röhrchen tun.« Dass solch eine Menge Marihuana nicht in so einem Behälter gepasst hätte, war uns beiden klar, doch das war ja eben der Joke. Fredo fing an, hastig das Gras in das Röhrchen zu stopfen. Ver- mutlich nur, um auch seinen Teil am Joke beizutragen. Doch das Ding schien nie voll zu werden. Durch das Pressen mit dem Dau- men, wurde das Gras immer mehr komprimiert, so dass eine Art Riesentablette entstand. Mir kamen Bilder von Polizeirazzien in den Sinn. Von Riesen- mengen an beschlagnahmtem, zusammengepresstem Marihuana.
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Die Packungen, die ich in den Nachrichten gesehen hatte, waren kleiner als eine Schuhschachtel und man sprach von Kilos von Marihuana. Schien mir also gut möglich, dass das Zeug tatsächlich in dieses Röhrchen gepasst hätte. Als wir ungefähr die Hälfte des Grases in das Röhrchen gepresst hatten, wurde es langsam voll. Das ganze fühlte sich sehr hart an, man konnte es fast nicht mehr rauskratzen. Wir füllten ein zweites Röhrchen und von unserer Lieferung war nichts mehr zu sehen. Da standen nun zwei Kodak Filmröhrchen mit 250 Gramm Ma- rihuana drin. Dachten wir zumindest, denn wir konnten es kaum auf eine Waage stellen. Spielte auch keine Rolle, wieviel es tat- sächlich war, es war einfach viel. Nun sah es aber nicht mehr nach so viel aus, vor allem sah es nicht mehr so gefährlich aus. Der Geruch war auch nicht mehr so stark, oder hatten wir uns bereits daran gewöhnt? Beruhigt, das Problem endlich gelöst zu haben, legten wir uns schlafen. Die lange Busfahrt von Bogotá nach Santa Marta und die beiden Joints, hatten mich richtig geschlaucht und ich schlief sofort ein. Irgendwann, mitten in der Nacht, musste ich kurz aufs Klo. Ich stand auf und tastete mich im Dunkeln zum Bad. Dort zündete ich das Licht an und verrichtete mein Geschäft. Mein Blick ging zur Decke. Fredo hatte die Kartonplatte nicht wieder in Ordnung gebracht. Ich wollte ihm einen kleinen Streich spielen und ver- steckte die zwei Filmröhrchen in unserem Versteck. Morgen wür- de ich dann als erstes das Gras vermissen, dachte ich, um zu be- obachten, wie er reagieren würde. Danach legte ich mich wieder schlafen. 39
Trip zum Parque Tayrona
Die Sonne schien bereits durchs Fenster, als ich plötzlich einen Riesenkrach hörte. Viele Stimmen, die laut durcheinander brüll- ten. Man konnte nicht verstehen, worum es ging. Für mich hörte sich das Ganze wie beim Überfall im Plattfuß an. »Nicht schon wieder«, schrie ich. »Schon wieder was?« fragte Fredo, der mittlerweile auch vom Krach wach geworden war. Da klopfte es bereits an der Tür. »Polizei. Sofort aufmachen.« Fredo und ich schauten uns fragend an, doch wir hatten kaum Zeit zum überlegen. »Aufmachen, sofort!«, tönte es erneut. Ich öffnete die Tür und zwei Bullen stürmten ins Zimmer. Das ganze Hotel wimmelte nur noch von Bullen. Eine Razzia! Wir mussten uns an die Wand stellen und wurden durchsucht. An- schließend wurde das ganze Zimmer, samt unserem Gepäck, durch- sucht. Einer der Bullen nahm Fredos Filmröhrchen vom Nacht- tisch, öffnete sie und sah rein. Fredo wurde schon ganz bleich, doch ich konnte ihm unmöglich sagen, wo die echten Röhrchen waren. Das ganze dauerte etwa eine halbe Stunde, danach zogen die Bullen wieder ab. Etwas hatten sie allerdings doch gefunden, denn der Typ mit den Rastazöpfen und ein anderer, wurden abgeführt. »Wo ist das Gras?« fragte mich Fredo, als die Luft wieder rein war. »Im Bad, unterm Dach, wo sonst.« 40
Er kam auf mich zu und umarmte mich kräftig. Ich begriff zwar nicht, was das sollte, aber ich ließ ihn machen. Damals dachte ich, dass wir ungeheures Glück gehabt haben. Doch heute bin ich anderer Meinung. An jenem Tag konnten wir einfach nicht verhaftet werden, weil es so sein musste. Als wir uns wieder beruhigt hatten, erinnerten wir uns, dass wir zum Parque Tayrona wollten. Wir gingen zum Chef und fragten erstmal, was die Razzia sollte. »Das ist nichts Neues«, sagte er. »Die kommen ab und zu, weil sie wissen, dass hier fast nur Ausländer sind. Sie schnappen sich die Typen mit Drogen, drohen ihnen mit einigen Jahren Knast und verlangen dann Geld für die Freilassung. Da die Ausländer sich sowieso in die Hosen machen, sobald sie das Wort Knast hören, haben die Bullen leichtes Spiel. Ihr seid allerdings auch selber Schuld, wenn ihr euch mit Drogen erwischen lasst. Immer, wenn ich hier jemand mit Drogen erwische, schmeiße ich ihn gleich raus.« »Wir wollen zum Parque Tayrona. Können sie uns helfen?« sag- te ich und wechselte gleich das Thema. »Kein Problem. Die Busfahrt kostet 2500 Pesos hin und zurück, die Tickets könnt ihr bei mir kaufen.« Fredo gab ihm 5000 Pesos. »Zwei Tickets bitte.« »Wann fährt der Bus?« fragte ich. »So um neun.« Wir hatten also noch Zeit zum frühstücken und Sachen besor- gen. So wie es uns das Mädchen geschildert hatte, brauchten wir Bargeld, Batterien, Zigaretten, Kerzen. Vor allem aber brauchten wir Papers, sonst hätten wir alle Apostel durchrauchen müssen. 41
Punkt neun Uhr waren wir wieder im Hotel, doch ich musste hier schnell lernen, dass es die Kolumbianer - was die Pünktlichkeit angeht - nicht so genau nehmen. Der Bus kam erst um halb elf. Der Bus war so, wie man ihn von den Postkarten her kennt. Keine Fenster und keine Türen, nur etwa zehn Reihen Holzbänke. Er war noch halb leer, als er uns abholte. Danach klapperten wir noch einige Hotels ab und so gegen elf waren wir dann komplett. Die Fahrt zum Parque Tayrona würde etwa eine Stunde dauern. Doch wir hatten nicht einmal Santa Marta verlassen, als unter der Motorhaube ein weißer Qualm hervor stieg. Der Fahrer fuhr rechts ran, schaute in den Motorraum und fluchte laut. So wies aussah, würde die Fahrt mehr als eine Stunde dauern, dachte ich. Der Fahrer sagte uns, dass wir unmöglich mit diesem Bus wei- terfahren könnten, er müsse einen Ersatzbus besorgen. Wir stie- gen alle aus und suchten uns einen Platz im Schatten. Die Sonne stand schon ziemlich hoch und es waren sicher schon über dreissig Grad. Der Fahrer verschwand in ein Restaurant und versuchte telefonisch einen Ersatzbus zu organisieren. Fredo und ich setz- ten uns auch ins Restaurant, bestellten zwei kühle Bier und schau- ten dem Geschehen zu. Ich schaute allen auf die Füße, doch kei- ner trug meine schwarzen Turnschuhe. Einige der Fahrgäste waren schlecht gelaunt. Die Hitze und der Zwischenfall mit dem Bus kosteten Nerven. Als nach einer guten Stunde ein Ersatzbus kam, waren einige von ihnen nicht mehr da, sie hatten anscheinend keine Geduld gehabt. Dies war dem Fahrer mehr als recht, denn der Ersatzbus ver- diente nicht einmal den Namen Bus. War mehr so etwas wie ein
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größeres Auto. Genauer gesagt, sah es vorne aus, wie ein Auto und hinten, wie ein Wagen aus dem wilden Westen. Vorne neben dem Fahrer zwängten sich drei Leute rein. Hinten fanden alle Rucksäcke und die restlichen Passagiere Platz. Bis auf drei, die hatten keinen Platz mehr, unter diesen waren Fredo und ich. Der Fahrer meinte, wir sollten auf die hintere Stossstange stehen und uns mit beiden Händen am Autodach festhalten. In unserem Größenwahn dachten wir, dies wäre kein Problem. Da das Auto nicht allzu schnell fahren konnte, dauerte die Fahrt unendlich lange. Unsere Köpfe schauten über das Autodach hin- aus, so dass der Fahrtwind uns direkt ins Gesicht blies. Wir hatten mit tränenden Augen und allerlei Insekten zu kämpfen. Von Zeit zu Zeit ging ich in die Hocke, um mich ein wenig zu erholen. Doch in dieser Position konnte ich auch nicht lange ver- weilen, weil die Beine weh taten. Durch das auf und ab, entstand ein Kampf zwischen Fliegen im Gesicht und Krämpfen in den Beinen. Ich erinnerte mich dabei an einen Witz, der sagte, man würde den freundlichen Motorradfahrer an den Fliegen zwischen den Zähnen erkennen. Ich kam mir ungefähr so vor. Nach einer unbeschreiblich langen Fahrt, kamen wir endlich im Parque Tayrona an, oder zumindest an dessen Eingang. Nun kam ja noch der Fußmarsch. Wir gingen also zum Eingang, bezahlten die Eintrittsgebühren von 10.000 Pesos, erkundigten uns über den Weg und liefen los. Nach wenigen Minuten, als vom Eingang nichts mehr zu sehen war und die meisten Leute schon weit vor uns waren, machten wir
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eine kurze Pause. Die Busfahrt, oder wie man sie auch nennen mag, hatte uns reichlich geschwächt. Wir brauchten zuerst ein wenig Erholung, bevor wir den Fußmarsch in Angriff nahmen. Ich setzte mich auf einen Felsen, während Fredo die Papers aus seinem Rucksack holte und einen Joint drehte. Wir saßen mitten im Urwald. Von oben konnte man die Sonne fast nicht sehen, weil die Bäume ineinander verflochten waren. Man hörte die unter- schiedlichsten Tiergeräusche, konnte sie aber keinem Tier zuord- nen. Auch die Vegetation war ein wundervoller Anblick. Pflan- zen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen hatte. Eine Farben- vielfalt, die jede Grafikkarte zum Abstürzen gebracht hätte. »Hast heute morgen recht bleich ausgeschaut, als die Bullen dei- ne Filmröhrchen öffneten«, sagte ich zu Fredo. »Hör mir auf damit, ich hab mir fast in die Hosen gemacht.« Er zündete den Joint an, nahm einige Züge und gab ihn mir rüber. Ich nahm auch einige Züge. Endlich ein anständiger Joint mit richtigen Papers. »Weißt du, heute morgen als ich dich umarmte,«, sagte Fredo, »das darfst du nicht falsch verstehen.« »Was meinst du mit falsch verstehen?« »Na ja, es ist nicht so, dass ich auf Männer stehe. Ich steh schon auf Frauen.« Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich wusste schon gar nicht, was er damit meinte, also schwieg ich. »Das war nur aus Freude, aus Erleichterung«, fuhr er fort. »Weißt du, ich war mal in Thailand und hatte dort auch Marihuana ge- kauft. Na ja, das ganze ist ziemlich dumm gelaufen und die Bullen erwischten mich damit. Das war eine echt schlimme Erfahrung,
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ich musste vier Monate in den Knast. Dann kam ich mit Hilfe der französischen Botschaft wieder raus. Ich kann dir sagen, die Mo- nate im Knast waren ein Alptraum. Seitdem leide ich an Platz- angst, ich halte es in engen Räumen nicht lange aus. Ich kann nicht mal Lift fahren. Heute morgen, als die Bullen die Film- röhrchen öffneten, sah ich mich wieder im Knast. Verstehst du jetzt?« »Weshalb hast du dann gestern zugestimmt, als ich dich fragte, ob wir Marihuana brauchen?« »Na ja, ich wusste doch nicht, wieviel eine Libra sei. Ich dachte, ein wenig Marihuana würde nicht schaden. Du wusstest ja auch nicht, wieviel eine Libra war. Hast du vergessen, wie du ins Hotel zurück gerannt bist?« Er hatte Recht. »Wollen wir das Zeug fortwerfen?« fragte ich. »Nein, hier im Parque Tayrona können wir es gut brauchen. Und ich glaube nicht, dass die Bullen eine Stunde zu Fuß durch den Urwald laufen, um an Kiffbrüder zu kommen.« »Ja, das macht Sinn. Also komm, gehen wir, wir haben minde- stens noch eine Stunde Fußmarsch vor uns. Und so wie ich laufe, werden es bestimmt zwei Stunden.« Wir liefen los und folgten der Wegweisung nach Arrecife, so hieß nämlich der erste Strand. Am Anfang waren wir noch ziem- lich schnell unterwegs, doch mit der Zeit kam die Müdigkeit und wir wurden immer langsamer. Mittlerweile war es etwa drei Uhr und ich dachte, wir kämen nie an. Die Sonne konnte nicht direkt auf unsere Köpfe scheinen, was wenigstens von der Hitze her eine Erleichterung war. Zuerst
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gings bergauf, dann steil bergab. Dies machte den Marsch noch anstrengender, denn der Rucksack wurde somit immer schwerer. Doch je mehr wir bergab liefen, um so mehr näherten wir uns dem Meer. Manchmal konnte man es sogar hören. Plötzlich hörten wir, wie sich von hinten Pferde näherten. Drei Pferde, voll beladen mit Lebensmitteln und geführt von einem Mann. Er war auch auf dem Weg nach Arrecife, um Proviant für die nächsten Wochen zu bringen. Er sagte uns, es sei nicht mehr weit, nur noch zehn Minuten. Tatsächlich, kurz danach konnten wir schon das Meer sehen. Je näher wir kamen, um so mehr nahm das Ganze eine Form an. Wir konnten ein Haus ausmachen, davor mehrere Stühle und Ti- sche. Das musste das Restaurant sein. Weiter rechts mehrere Hüt- ten, so drei oder vier. Dies war vermutlich, wo man die Hänge- matten aufhängen konnte, um vom Regen geschützt zu sein. Wei- ter sah man einen Beachvolley Platz, unendlich viele Palmen und eine Menge Leute. Sahen alle wie Rucksacktouristen aus. Man hörte sie in allen Sprachen reden. Und das Ganze war mit einem weißen Strand dekoriert. Idyllisch, wie das Mädchen gestern abend gesagt hatte. Wir gingen zum Restaurant und ließen uns zuerst mal auf zwei Stühle nieder. Ich war verschwitzt, durstig, müde und voller Staub. Der Fußmarsch hatte Kraft gekostet. Wir hatten über zwei Stun- den gebraucht, um nach Arrecife zu gelangen. Ich bestellte ein Bier, zündete mir eine Zigarette an und genoss vorerst die Aus- sicht.
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Das Leben in Arrecife
Als wir uns ausgeruht hatten, ging es darum, Hängematten zu beziehen, um sich anschließend in einer der Hütten niederzulas- sen. Das Restaurant war zugleich Einkaufsladen und Wäscherei. Man konnte dort alles bekommen, was in Arrecife gebraucht wur- de. Wir gingen also an die Rezeption, um uns Hängematten zu be- sorgen. Fredo hatte seine schon bezogen und war dabei, sich ins Gästebuch einzutragen. Da kamen drei Mädchen an, auch sie völ- lig verschwitzt und verstaubt. Sie sprachen Schweizerdeutsch und sahen aus, wie solche Mädchen, die zum ersten Mal das Dorf ver- lassen und in die Stadt gehen. Sie lästerten über alles und hatten an allem was auszusetzen. Auch an Fredo und mir passte ihnen etwas nicht, ich weiß aller- dings nicht mehr was es genau war. Fredo und ich unterhielten uns schon die ganze Zeit auf Französisch, darum dachten die Mädchen vermutlich, wir würden sie nicht verstehen. Als ich meine Hängematte bezog und mich auch ins Gästebuch eintrug, sah ich, dass man das Herkunftsland angeben musste. Ich weiß nicht weshalb, aber ich schrieb nicht Schweiz, sondern Itali- en rein. Vermutlich, weil ich dachte, dass anschließend die drei Mädchen dran kämen und meine Herkunft lesen könnten. Wäre eigentlich auch egal gewesen, doch ich wollte ihnen nicht zeigen, dass ich sie verstehen konnte. Kompliziert, oder? Wie dem auch sei, ich hatte Italien rein geschrieben, was ja auch nicht so falsch ist. Meine Mutter stammt nämlich aus Italien.
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Zu diesem Zeitpunkt wusste ich aber noch nicht, dass ich somit eine Kettenreaktion ausgelöst hatte, die mich - mehrere Tage spä- ter - in eine äußerst peinliche Situation bringen sollte. Ist halt nicht immer von Vorteil, wenn man mehrere Sprachen spricht. Manch- mal wirds zum Nachteil, wie bei mir. Aber gehen wir der Reihe nach. Wir bezogen also die Hängematten und suchten uns eine Hütte aus. Auf dem Weg zur Hütte erzählte ich Fredo von den Mäd- chen, denn er hatte nichts von dem verstanden, was sie über uns geredet hatten. Ich sagte ihm auch, was ich ins Gästebuch ge- schrieben hatte. In der Hütte hatten sich schon etwa fünf, sechs Leute eingerich- tet, das konnte man an der Anzahl Hängematten erkennen, die bereits hingen. Doch die Hütte war fast leer, bis auf zwei Jungs, die in ihren Hängematten lagen und kifften. Die Hütten waren ziemlich einfach gebaut. Rund, mit einem großen Mast in der Mitte. Rundherum eine etwa eineinhalb Meter hohe Wand aus Bambusrohren und kleineren Pfählen. Als Dach hatte man Palmenblätter zusammen geflochten. Die Hängemat- ten hingen, vom mittleren Mast aus sternförmig - nach außen. Da nur wenige Hängematten hingen, gab es noch genügend Platz für unsere zwei. Wir näherten uns den zwei Jungs, die Marihuana rauchten und begannen - gleich neben ihnen - unsere Hängemat- ten auszurollen. »Hallo«, grüßte ich die zwei, wie man unter guten Nachbarn halt so macht. »Hallo«, antworteten beide. »Riecht gut, was ihr da raucht«, sagte ich.
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»Willst du ein wenig?« »Hmm, gerne«, sagte ich lächelnd und nahm einen Zug von ih- rem Joint. In diesem Moment kamen die drei Mädchen in unsere Hütte, ihre Hängematten unter dem Arm. »Schau, dort sind die zwei Typen wieder«, sagte eine zu der an- deren. »Ja, ich hab sie gesehen. Schöne Scheiße«, antwortete die ande- re. Ich weiß bis heute nicht, was die Mädchen an uns auszusetzen hatten. Wir hatten sie nicht dumm angemacht und schon gar nicht mit ihnen geredet. Genau in diesem Moment fragte einer der zwei Jungs. »Woher kommt ihr?« »Ich aus Frankreich«, antwortete Fredo und schaute zu mir. Ver- mutlich fragte er sich - da die Mädchen auch in der Hütte waren - was ich nun antworten würde. »Ich aus Italien«, sagte ich und lächelte Fredo zu. »Wir sind aus Israel. Ich heiße Koby«, sagte der neben mir. »Ich bin Asi«, sagte der neben Koby. Wir stellten uns ebenfalls vor. Meine Hängematte hing auch schon und ich testete sie gleich mal aus. Fredo holte eines unserer Filmröhrchen aus seinem Rucksack und ich drehte einen Joint. Wir wollten schließlich nicht weniger gastfreundlich, als unsere Nachbarn sein. »Ich hab in Bogotá auch zwei Israelis getroffen«, sagte ich zu Koby, der seine Hängematte gleich neben meine gehängt hatte.
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»Ja, das ist gut möglich. Sind immer viele Israelis unterwegs, vor allem in Südamerika. Weißt du, bei uns gehen alle ins Militär, so- wohl Männer, wie Frauen. Männer drei Jahre und Frauen zwei Jahre. Nach dieser Zeit geht man dann oft mehrere Monate auf Reisen, bevor man ins Berufsleben einsteigt. Wie heißen denn die zwei, die du angetroffen hast?« »Arthur und Samuel.« »War das im Plattfuß?« »Genau. Kennst du sie?« »Nein, aber ich habe gehört, dass im Plattfuß ein Überfall war und dass ein Israeli vor Angst in die Hosen gepisst hat.« Er lachte. Ich fand es aber nicht so lustig, vielleicht, weil ich es miterlebt hatte. Aber Koby war bekifft und er war beim Überfall nicht dabei gewesen. Ich glaube, ich hätte an seiner Stelle auch gelacht. »So, jetzt geh ich baden«, sagte Fredo. »Ich auch.«
gereist waren. Da ich mich mit Asi und Koby gut verstand, wollte ich ihnen nicht erzählen, dass ich sie die ganze Zeit angelogen hatte. Auch alle anderen, die ich kennenlernte, meinten ich wäre aus Italien. Leider auch Cristina.
Das Leben in Arrecife war ziemlich ruhig. Ich verbrachte den gan- zen Tag mit Faulenzen. Morgens stand ich früh auf, weil die Son- ne mir schon um sechs ins Gesicht schien. Abends ging ich früh schlafen, weil wir kein Licht hatten. Ich aß nur einmal pro Tag, weil mein Körper nicht nach mehr verlangte und ich kiffte viel, wir hatten ja genug dabei. Mit der Zeit lernte ich fast alle Leute in Arrecife kennen. Da wir alle in drei vier Hütten lebten und im selben Restaurant aßen, war das eigentlich selbstverständlich. Ich zog mein Spiel als Italiener durch, obwohl die drei Mädchen schon am nächsten Morgen ab-
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Man spricht Deutsch
Cristina war aus Deutschland, doch ich konnte mich mit ihr nicht auf Deutsch unterhalten. Ich hätte ihr zwar die Wahrheit sagen können, doch wie bei Asi und Koby, wollte ich auch sie nicht ver- letzen. Ich dachte, sie würde mir dann überhaupt nichts mehr glau- ben, was eigentlich verständlich gewesen wäre. Wer traut einem, der zugibt, gelogen zu haben? Der könnte ja immer wieder lügen. Zumal hatte sich zwischen Cristina und mir eine Sympathie ent- wickelt, die ich nicht zerstören wollte. Wir verbrachten viel Zeit zusammen. Cristina sprach perfekt Spanisch. Sie konnte allerdings nicht so gut Italienisch und ich konnte noch nicht so gut Spanisch. Deshalb vereinbarten wir, dass ich mit ihr Italienisch reden würde und sie mit mir Spanisch. So- mit konnten wir beide voneinander profitieren. Ich hatte oft Mühe damit, die deutsche Sprache zu unterdrük- ken, denn sie war quasi meine Muttersprache. In einigen Situatio- nen, unterhielt sich Cristina mit anderen Leuten auf Deutsch und dachte dabei sicher, ich könnte sie nicht verstehen. Mir war es manchmal richtig peinlich, denn sie redeten zum Teil über sehr persönliche Dinge. Eines Nachmittags unterhielt sich Cristina mit Susanne, auch ein Mädchen aus Deutschland. Susanne erzählte ihr, wie sie in Brasilien einen Typ kennengelernt hatte. »Weißt du, der Typ sah so süß aus«, sagte sie. »Er hatte so schö- ne blaue Augen. Na ja, ich verliebte mich und zog bei ihm ein. Wir lebten eine Weile zusammen, dann wurde ich schwanger. Als ich
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es ihm sagte, verschwand er plötzlich und ließ mich sitzen. Ich wusste nicht mehr weiter und entschloss mich zu einer Abtrei- bung.« Ich hielt es nicht mehr aus und ging zum Strand. Ich kam mir so erbärmlich vor. Nach einer Weile kam Cristina. Sie merkte, dass etwas nicht stimmte. »Was ist mit dir los?« fragte sie. »Ach nichts.« Ich konnte es ihr nicht sagen. Je besser wir uns kannten, um so schwieriger wurde es. Ich hatte ungewollt so viel über sie erfah- ren, ohne dass sie es wusste. Sie hätte mich bestimmt geohrfeigt, was eigentlich noch harmlos gewesen wäre. Aber ich hätte ihren Hass nicht ertragen können, denn sie hätte mich bestimmt gehasst. Ich hatte sie die ganze Zeit hintergangen. »Rauchen wir einen Joint?« fragte ich sie, um das Thema zu wech- seln. »Ok, gehen wir zu mir.« Sie schlief nicht in einer Hütte, da bei ihrer Ankunft alle Hütten voll belegt waren. Sie hatte es sich - mit ein paar anderen - unter einigen Palmen gemütlich gemacht. Klar, wenn es geregnet hätte, wären sie alle nass geworden, doch in den Wochen, in denen wir in Arrecife lebten, hatte es nicht einmal geregnet. Wir hatten die ganze Zeit das schönste Wetter, das man sich am Meer wünschen kann. Fredo hatte in der Zwischenzeit Inbar kennengelernt, ein Mäd- chen aus Tel Aviv. Ich glaube, zwischen den beiden hatte es gleich tüchtig gefunkt. Sie klebten die ganze Zeit zusammen wie Pech und Schwefel.
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Fredo, der gerne Schach spielte, lieferte sich erbitterte Partien gegen Asi, der auch nicht schlecht spielte. Ich hingegen hatte ge- gen keinen von beiden eine Chance. Bei mir war die Frage nur, wie lange ein Spiel dauern würde; Der Sieger stand schon vor Be- ginn fest. Eines Nachmittags waren Asi und ich am Schachspielen. Cristina saß daneben und las ein Buch. Asi hatte mich ziemlich in die De- fensive gedrückt, ich konnte kaum einen Angriff starten, musste mich immer gegen seine Angriffe wehren. Mit einem letzten Zug setzte er mich schachmatt. »Schachmatt!«, sagte er. Cristina unterbrach ihre Lektüre und blickte auch auf das Schach- brett. Ich schaute, ob ich nicht doch noch einen Zug machen könn- te, aber es was zwecklos. Ich war tatsächlich schachmatt, auch Cristina merkte es. »Its over!«, sagte ich. »Its over!«, bestätigte Cristina. »Wie sagt man its over auf Deutsch?« fragte ich Cristina. »Es ist vorbei«, antwortete sie. »Es ist vorbei«, wiederholte ich. Von da an, benutzte ich immer nur diesen Satz, wenn ich beim Schachspielen verlor, und ich verlor oft. Ich glaube, dass somit etwas wie ein Spiel zwischen uns zweien begann. Ich fragte sie nämlich immer wieder nach Wörtern - egal welche - die sie dann auf Deutsch übersetzte. War mir schon klar, dass ich sie dabei jedesmal verarschte. Dass dies die Situation kei- neswegs verbesserte, wusste ich auch. Im Gegenteil, es wurde da- mit immer schwieriger, ihr die Wahrheit zu sagen.
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Ich stellte mir manchmal vor, wie es wäre, wenn sie die Wahrheit wüsste. Wie sie sich fühlen müsste, plötzlich zu realisieren, dass ich sie immer verstanden hatte. All die Situationen, in denen ich sie hochgenommen hatte. Manchmal benutzte ich sogar deutsche Wörter, aber nur die, die sie mir angeblich beigebracht hatte. Sie war auch immer überrascht, wie gut ich mir diese Wörter merken konnte und wie perfekt und akzentfrei meine Aussprache war. Einmal fragte ich sie, was das Wort Geil bedeutete, denn es war das Wort, was unter den Deutschsprechenden am meisten ge- braucht wurde. »Na ja, es heißt soviel wie gut, super, klasse und so«, sagte sie. »Ich verstehe. Man benutzt dieses Wort, um etwas als gut zu bezeichnen. Aber das Wort Geil als Solches hat sicher eine eigene Bedeutung, oder?« Sie wurde ein wenig verlegen und suchte nach Wörtern, womit sie es mir erklären konnte. Ich war wieder dran sie zu verarschen. Doch irgendwie erklärte sie es mir, und ich drängte nicht weiter. Ich wollte sie nicht weiter in Verlegenheit bringen. Nach einer Weile kam Susanne angerannt. »He Cristina, dort drüben hab ich einen Strand entdeckt, ich sag dir, wunderschön. Das Wasser ist richtig grün, traumhaft. Das musst du sehen.« »Geil!«, sagte ich. Beide guckten mich verdutzt an. Wie komm ich bloß auf die Idee Geil zu sagen? Hatte ich vielleicht verstanden, was Susanne da gesagt hatte? Ich tat so, als wäre nichts gewesen und sagte:
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»Was ist? Man sagt doch Geil, wenn man etwas gut findet, oder? Hat Cristina mir gesagt. Und so, wie Susanne gestrahlt hat, kann sie nur über etwas gutes geredet haben.« »Ja, schon. Aber deine Reaktion war so treffend, das hörte sich fast an, als hättest du Susanne verstanden«, sagte Cristina. »Du bist halt eine gute Lehrerin«, lobte ich sie und versuchte damit, von diesem Zwischenfall abzulenken.
Zeit zu gehen
Die Tage vergingen schnell. Fredo und ich waren schon seit fast vier Wochen in Arrecife und obwohl wir sehr preisgünstig gelebt hatten, wurde das Geld langsam knapp. Wir mussten uns also Ge- danken über die Abreise machen. So wies aussah, würden Fredo und Inbar zusammen abreisen und auch zusammen weiterreisen. Mit Cristina hatte ich das The- ma noch nicht angesprochen. Ich wusste also überhaupt nicht, ob sie sich Gedanken über ein gemeinsames Weiterreisen gemacht hatte. Eines Nachmittags, als wir wie üblich faul in unseren Hängemat- ten lagen und Gras rauchten, fragte ich sie. »Wie lange hast du eigentlich vor, noch hier zu bleiben?« »Nicht mehr lange, und du?« »Bei mir wird das Geld langsam knapp. Ich kann höchstens noch ein paar Tage bleiben, dann muss ich weg.« »Und was ist mit Fredo? Kommt er auch mit?« »Ja, aber so wie es ausschaut, geht er mit Inbar weg. Ich ziehe alleine weiter, außer du hättest Lust, ein wenig mit mir zusammen zu reisen?« »Ja, wieso nicht. Wo willst du denn als nächstes hin?« »Zuerst zurück nach Santa Marta um Geld zu holen. Dann wei- ter nach Barranquilla.« »Barranquilla war ich schon, ist nichts spezielles, eine Industrie- stadt. Ich wollte eigentlich nach Cartagena.« »Auch gut.«
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»Wann wollen wir denn abreisen?« Fredo und Inbar wollten nächsten Dienstag abreisen. Ich wollte nicht mit ihnen gehen, sondern lieber alleine mit Cristina. Viel- leicht hätte ich die Möglichkeit nutzen können, um ihr die Wahr- heit zu sagen. »Wie wärs mit nächsten Mittwoch?« fragte ich. »Wenn Cartagena für dich ok ist, dann ist Mittwoch für mich auch ok.« Am Dienstag verabschiedeten sich Fredo und Inbar, sie gingen auch zuerst nach Santa Marta. Fredo wusste, dass ich noch eine Nacht länger bleiben wollte, um alleine mit Cristina zu sein. »Wir sehen uns dann vielleicht morgen in Santa Marta«, sagte er. »Ja, im Hotel Explorador. Machts gut ihr zwei.« Nun war in unserer Hütte ein Platz frei und Cristina zog für die letzte Nacht bei uns ein. Am nächsten Morgen standen wir wie gewohnt früh auf, nah- men ein großzügiges Frühstück und machten uns auf den Weg. Ich hatte die Strecke von Arrecife bis zum Eingang des Parks nicht mehr so gut in Erinnerung. Nach einer halben Stunde war ich schon völlig verschwitzt und außer Atem. Wir hielten an, um eine kleine Pause einzulegen und eine Ziga- rette zu rauchen. Endlich waren wir alleine. In Arrecife waren wir zwar oft alleine, aber hier waren wir ganz alleine, kein Mensch weit und breit. Ich wusste, dass wir von nun an oft alleine sein würden, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis zwischen uns etwas passie- ren würde. Doch ich hätte sie nicht mit einem Finger anfassen
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können, ohne ihr zuerst die Wahrheit gesagt zu haben. Ich hatte sie schon genug verarscht und hintergangen, doch dies hätte ich nicht fertig gebracht. Wie sollte ich es ihr aber sagen? Womit sollte ich beginnen? Sollte ich vielleicht sagen: Pass auf, ich bin nicht der, für den du mich hältst. Nein, ich musste es ihr sehr schonend beibringen. Wir hatten unsere Zigaretten fertig geraucht und nahmen den Fußmarsch wieder auf. Nach einer guten Stunde erreichten wir den Eingang des Parks. Der Angestellte des Parks sagte uns, der nächste Bus würde in etwa einer Stunde vorbeifahren. Wir liefen also bis zur Straße, suchten uns ein Plätzchen im Schatten und warteten. Eine Stunde wäre eigentlich genug Zeit gewesen, um dem Ganzen ein Ende zu setzen und es ihr zu sagen. Ich drehte einen Joint, nahm ein paar Züge und gab ihn ihr rüber. Bekifft, dachte ich, hätte ich sicher die richtigen Worte gefunden. Ich holte weit aus. »Welche Sprache möchtest du als nächste lernen?« »Italienisch«, sagte sie. »Ich versteh zwar viel, aber ich spreche es nicht sehr gut. Und du?« Ich überlegte, was ich nun sagen sollte. Dies wäre eigentlich die Möglichkeit, um es ihr zu sagen. »Deutsch«, war meine Antwort. Sie schaute mich überrascht an. Vermutlich fragte sie sich, wes- halb ich gerade ihre Sprache lernen wollte. War es, weil sie meine lernen wollte? »Deutsch ist zu kompliziert«, sagte sie. »Wetten, dass ich Deutsch lerne noch bevor du Italienisch lernst?« Sie lachte.
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»Pass auf, ich bin voller Überraschungen«, fügte ich hinzu. Sie sagte nichts. Ich glaube, sie wusste nicht genau, was ich da- mit gemeint hatte. »Du hast selber gesagt, dass ich ziemlich schnell Spanisch ge- lernt habe«, sagte ich. »Das stimmt, du sprichst schon ziemlich gut Spanisch. Aber Deutsch...« Danach folgte eine längere Pause. Jetzt muss ich es ihr sagen. Ich rede einfach auf Deutsch drauf los und schaue mal, wie sie reagiert. Doch da kam schon der Bus angefahren. Scheiße. Während der Fahrt nach Santa Marta redeten wir kaum, im Bus war es zu laut dafür. Nur soviel. »In welches Hotel gehen wir in Santa Marta?« fragte ich. »In welches warst du denn?« »Fredo und ich waren im Mirador.« »Ich war im Hotel Barinas, gleich gegenüber.« »Dann schauen wir mal, wo noch Zimmer frei sind.« In Santa Marta angekommen, schauten wir zuerst im Hotel Explorador vorbei, doch da waren weder Zimmer frei, noch wa- ren Fredo und Inbar zu sehen. Wir überquerten die Straße und fragten im Hotel Barinas. Hier waren Fredo und Inbar auch nicht und Zimmer waren auch keine frei, bis auf eines. In einem Vierer- zimmer, waren noch zwei Betten frei. Cristina machte es nichts aus und mir war es eh egal. Mir war es sogar recht. Ich hätte somit kaum die Möglichkeit gehabt, mit ihr unter vier Augen zu reden und ihr die Wahrheit zu sagen. Ich konnte mir also noch ein wenig Zeit lassen.
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Wir bezogen das Zimmer, duschten und trennten uns für den Rest des Nachmittags. Jeder hatte einiges zu erledigen. Ich brauchte zum Beispiel Bargeld, Zigaretten, Papers und musste endlich mal zu Hause anrufen. Seit meiner Ankunft hatte ich mich nicht mehr gemeldet. Meine Eltern wussten gar nicht, dass ich mehrere Monate wegbleiben wollte. Sie dachten, ich würde für zwei drei Wochen in die Ferien reisen. Ich hatte es meinem Bruder gesagt, er hätte es dann - in meiner Abwesenheit - schonend meinen Eltern beibringen sollen. Nach fast einem Monat am Meer, kam mir Santa Marta nun groß und chaotisch vor. Vor allem der Asphalt unter den Füßen fühlte sich sehr hart an. Wie schnell man sich die Stadt abgewöh- nen kann, wenn man nur wenige Wochen Abstand davon nimmt. Merkwürdig, denn eigentlich bin ich in einer Großstadt aufge- wachsen. Ich ging also zur Telecom, um meine Eltern anzurufen. Das ist allerdings in Kolumbien nicht so einfach wie bei uns. Du kannst nicht in eine Telefonkabine rein spazieren, den Hörer abnehmen, Geld einwerfen und die Nummer wählen. Nein, hier musste man zuerst sagen, in welches Land man telefonieren wollte, dann wie lange man vor hatte zu reden, und anschließend musste man den entsprechenden Betrag im voraus bezahlen. Vor mir stand ein Typ, der konnte kein Wort Spanisch. Das Fräu- lein am Schalter wollte wissen, wohin er telefonieren wollte, doch der Typ verstand kein Wort. Plötzlich streckte er seinen Zeigefin- ger in die Luft und sagte: »E.T. nach Hause telefonieren.« Ich musste laut lachen und der Typ drehte sich um. »Soll ich dir helfen?« fragte ich ihn. 61
»Ja bitte. Ich möchte nach England telefonieren, aber ich ver- steh die Frau hier nicht.« Ich half ihm beim Übersetzen. Danach war ich an der Reihe. Ich rief meine Eltern an, meine Mutter nahm das Telefon ab. Ich dachte schon, sie würde einen hysterischen Anfall bekommen, doch sie war überraschend ruhig. Sie sagte, ich solle auf mich aufpassen und mich von Zeit zu Zeit melden. Ich war richtig überrascht, das hatte ich nicht erwartet. Ich hatte schon seit längerer Zeit anrufen sollen, doch ich hatte es immer wieder verdrängt. Jetzt, als ich es endlich hinter mich gebracht hatte, fühlte ich mich richtig erleichtert. Dies gab mir, hinsichtlich Cristina, Mut. Ich wollte es auch endlich hinter mich bringen. Die zwei Typen, die das Zimmer mit uns teilten, waren aus Kroa- tien. Sie wollten am nächsten Morgen nach Hause fliegen und hatten - für diesen Abend - eine kleine Abschiedsparty organi- siert. Da Cristina und ich im selben Zimmer wohnten, durften wir selbstverständlich mitfeiern. Davor, einer von ihnen, hatte reichlich Alkohol gekauft. Ich muss zuviel davon getrunken haben, denn ich kann mich an fast nichts mehr erinnern. Nur eines weiß ich noch. Davor hatte ein Diktier- gerät dabei und redete die ganze Zeit da rein. Vermutlich wollte er somit eine akustische Erinnerung an seinen letzten Abend in Ko- lumbien haben. Ich glaube, ich habe ihm auch was reingeredet, ich bin mir aber nicht ganz sicher.
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April
Noch eine Dusche, und ich spreche Deutsch Am nächsten Morgen, es war der 1. April, fuhren Cristina und ich nach Cartagena. Von Fredo und Inbar hatten wir in Santa Marta keine Spur gesehen, vermutlich waren sie auch nach Cartagena gefahren. Die Busfahrt dauerte etwas mehr als vier Stunden, doch wir re- deten in dieser Zeit nicht viel. Wir hatten noch einen Kater vom Vorabend. Sie fragte mich nur, was ich gestern nachmittag ge- macht hatte. Ich sagte ihr, dass ich nach Hause telefoniert hatte. Sie meinte, sie müsste auch schon seit langem ihre Eltern anrufen. Danach schlief ich. Als wir in Cartagena ankamen, war es bereits Nachmittag. Wir suchten uns ein Hotel, das Colombia, was in der Media Luna lag. Ein Viertel, was man laut Handbook lieber meiden sollte. Wir nahmen zusammen ein Doppelzimmer. Jetzt wurde die Sa- che ernst, heute musste ich es ihr sagen. Wir legten unsere Ruck- säcke ins Zimmer und erholten uns ein wenig von der Reise. »Ich brauche sofort eine Dusche«, sagte ich. »Und ich muss zuerst meine Eltern anrufen und sonst noch ei- niges erledigen.« Sie nahm ihr Portemonnaie aus dem Rucksack und gab mir ein Küsschen auf die Wange. »Bis später«, sagte sie und verschwand. »Oh Scheiße, jetzt ist aber höchste Eisenbahn. Wenn sie zurück- kommt, sag ichs ihr«, murmelte ich. Ich rauchte noch eine Zigarette und ging ins Bad. Eine kalte Dusche war das, was ich nun unbedingt brauchte. Die lange Reise, 66
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die Hitze und die bevorstehende Mutprobe verlangten förmlich danach. Ich stand richtig lange unter dem kalten Wasserstrahl, etwa eine halbe Stunde. Danach zog ich ein Paar Shorts an und legte mich aufs Bett. Der Ventilator an der Decke erzeugte einen kühlen Wind. Ich war so nervös, dass ich einen Joint brauchte. Ich nahm das Filmröhrchen aus meinem Rucksack und fing an, einen Joint zu drehen. In diesem Moment kam Cristina zurück. »Hast du schon geduscht?« fragte sie mich. »Ja. Ich fühl mich wie neu.« »Ich brauch jetzt auch eine Dusche.« »Beeil dich, dann bekommst du noch was vom Joint«, lächelte ich. »Du willst ihn hoffentlich nicht alleine rauchen?« Sie lächelte zurück und verschwand unter die Dusche. Ich zündete den Joint an und nahm ein paar Züge davon, um mich zu beruhigen. Der Moment war gekommen. Nun musste ich es ihr sagen. Aber wie? »Hast du deine Eltern angerufen?« fragte ich sie. »Ja«, antwortete sie aus dem Bad. »Alles ok zu Hause?« »Ja, alles ok, danke.« Danach kam sie aus dem Bad, sie war in ein Handtuch gehüllt. Sie setzte sich zu mir aufs Bett, und ich reichte ihr den Joint rüber. »Nach so einer Dusche fühlt man sich wie ein neuer Mensch«, sagte sie. »Ja, das stimmt. Wenn ich noch einmal dusche, dann spreche ich sogar Deutsch.«
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Sie lachte auf diese Anspielung, was mir Mut gab. Während sie einige Züge vom Joint nahm, überlegte ich, wie ich anfangen sollte. Ich erinnerte mich, dass sie in Australien geboren war. Ich holte wieder weit aus, doch dieses Mal durfte unsere Un- terhaltung nicht in die falsche Richtung gehen. »Weißt du eigentlich, wo ich geboren bin?« fragte ich sie.
»In Italien, wo sonst?«
»Nein.«
»Nein? Wo denn?«
»Rate mal.«
»Auch in Australien?«
»Nein.«
»In Amerika?«
»Nein. Denk nicht so weit.«
Sie schaute mich an und wurde ernster.
»In Deutschland?«
»Fast. Ein wenig südlicher.«
»In der Schweiz?«
»Genau.«
»Lustig. Wieso denn in der Schweiz?« Irgendwie hatte sie noch
nicht ganz verstanden. »Weil - bei meiner Geburt - meine Eltern in der Schweiz waren.« »Und wo sind sie heute?« »Immer noch in der Schweiz.« »Und wo lebst du?« »Auch in der Schweiz.« »Du sprichst also Deutsch?« fragte sie auf Deutsch. Ich nickte.
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»Soll das ein Aprilscherz sein?« »Nein«, sagte ich ernst. »Und weshalb sagst du mir das erst jetzt?« fragte sie wieder auf Spanisch. Was danach kam, war der Versuch einer Erklärung. Eine Erklä- rung, wann und wie ich mit diesem Spiel begonnen hatte und wie sie da reingezogen wurde. Ich erklärte ihr, dass ich keine Absicht hatte, sie zu hintergehen oder zu verarschen. Sie sagte kein Wort. Sie saß da, schaute auf den Boden und war wie geistesabwesend. Ich wusste genau, woran sie dachte. Sie dachte an all die Situationen, in denen sie Deutsch gesprochen hatte und ich sie verstehen konnte. Was hatte sie alles gesagt? Was hatte ich verstanden, was ich aber besser nicht verstehen sollte? Und all die Spiele mit deut- schen Wörter, die ich angeblich von ihr gelernt hatte. All die Geil, die Es ist vorbei und andere Bemerkungen, die ich immer tref- fend zu benutzen wusste. Was für ein großes Arschloch musste ich für sie sein. Sie hatte Recht, und ich war selber schuld. Wir saßen nun beide da, schweigend. Ich wusste nicht mehr, was ich sagen sollte. Weitere Erklärungen wären zwecklos gewe- sen, denn darum ging es ja überhaupt nicht mehr. Ich musste ihr nicht mehr erklären, wie das Ganze zustande gekommen war, das wusste sie bereits. Hier ging es um das Vertrauen, das sie mir ge- genüber nicht mehr hatte. Was folgte, war ein langes Schweigen. »Gehen wir etwas essen?« fragte ich sie, um die Stille zu bre- chen.
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Sie nickte. Mittlerweile war es schon fast Abend. Ich schlüpfte schnell in meine Jeans, schnappte mir ein T-Shirt und wartete drau- ßen. Sie wollte sicher ein wenig alleine sein, dachte ich. Draußen versuchte ich mich zu entspannen. Eigentlich hätte ich erleichtert sein sollen, doch ich wars nicht.
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Black Out
Nach kurzer Zeit kam Cristina aus dem Zimmer und wir verlie- ßen das Hotel. Wir schlenderten ein wenig durch die Altstadt, setz- ten uns in irgendein Restaurant und bestellten etwas zu essen. Wir hatten die ganze Zeit nichts geredet. Auch während des Essens unterhielten wir uns nicht. Dann, plötzlich, als ob die Situation nicht schon unerträglich genug wäre, ging das Licht aus. Wir hat- ten einen Stromausfall im ganzen Viertel. Auf einen Schlag wurde es stockdunkel, man konnte überhaupt nichts mehr sehen. Da saßen wir nun und schwiegen weiter. Sie saß einen halben Meter entfernt von mir, doch wir konnten uns nicht sehen. Passte haargenau, es war wie symptomatisch für unsere Geschichte. Zwi- schen uns beiden war das Licht ausgegangen. Ein unbeschreibli- ches Gefühl. Der Strom blieb eine halbe Stunde aus, eine verdammt lange Zeit. Durch die Dunkelheit und das Schweigen hatte ich mich dermaßen von allem isoliert, dass ich das Gefühl hatte, alleine zu sein. Mit der Zeit empfand ich es sogar als angenehm. Als es wieder hell wurde und ich sie sah, kam sie mir wie fremd vor. Die ganze Zeit war ich alleine gewesen und plötzlich saß da mir jemand gegenüber. Wir verließen das Restaurant und schlenderten weiter - schwei- gend - durch die Altstadt, bis ich endlich das Wort ergriff: »Worüber hast du die ganze Zeit nachgedacht?« Sie überlegte eine Weile. »Ich möchte morgen nach Medellín fahren«, sagte sie.
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»Alleine?« fragte ich. Ich verstand nicht recht, was sie damit meinte. Wollte sie von mir weg, oder wollte sie von hier weg? Sie schwieg einen Moment, zögerte fast. »Lass mich noch eine Nacht drüber schlafen«, sagte sie schließ- lich. Das hörte sich wie eine Ausrede an, doch ich wollte nichts mehr hinzufügen. Ich begleitete Cristina ins Hotel und ging anschlie- ßend noch ein wenig spazieren. Ich wollte alleine sein. Und wenn sie Zeit zum Überlegen brauchte, dann wollte sie sicher auch allei- ne sein. Aus einer Terrasse im ersten Stock, hörte ich laute Musik. Es war eine Bar, die Tu Bandera Bar. Ich ging hoch, nahm mir einen Drink und ging auf die Terrasse raus. Von hier aus konnte man das Meer sehen. In meinem Zigarettenpäckchen hatte ich noch einen angefangenen Joint. Ich zündete ihn an und nahm ein paar Züge. Ich dachte eine Weile über das Ganze nach. Eigentlich hatte - zwischen Cristina und mir - alles völlig falsch angefangen. Nun war es zu spät, um irgend etwas zu korrigieren. Selbst wenn sie morgen gesagt hätte, dass sie weiterhin mit mir reisen möchte, wäre die Stimmung nicht besser geworden. Wäre also doch bes- ser, einen Schlussstrich zu ziehen. Alles andere wäre sinnlos. Ei- gentlich wollte ich auch alleine weiterreisen, schließlich war ich ja auch alleine nach Kolumbien gekommen. Ich nahm noch ein paar Drinks, rauchte mein Päckchen Ziga- retten fertig und ging ins Hotel.
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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Cristina nicht im Zim- mer. Ihr Rucksack war aber noch da. Ich stand auf und ging unter die Dusche. Als ich rauskam, war sie wieder da. »Guten Morgen«, begrüßte sie mich. Sie schien mir guter Laune. »Guten Morgen. Schon so früh auf ?« fragte ich. »Ja, ich wollte noch einiges erledigen. Und du? Hast du dich gestern abend noch amüsiert.« »Geht so. Ich habe nachgedacht.« »Ich habe auch nachgedacht. Ich glaube es wäre besser, wenn ich alleine weiterreise.« »Ja, das glaube ich auch.« »Du bist mir nicht böse?« »Wieso? Wenn hier jemand böse sein sollte, dann bist du es.« »Ich bin dir nicht böse.« »Wann fährst du?« »Um zehn Uhr fährt der Bus.« Ich schaute auf die Uhr, es war neun. »Hast du schon gefrühstückt?« fragte ich. »Ja.« »Wie sagt man Frühstück auf Deutsch?« fragte ich sie. Aus lauter Gewohnheit wollte sie schon übersetzen. Da merkte sie, dass ich sie wieder hochnahm und lachte. Sie packte ihren Rucksack, während ich mich anzog. Dann begleitete ich sie noch bis zum Ausgang. »Es ist vorbei«, sagte ich lächelnd auf Deutsch. Sie lachte. »Vielleicht sieht man sich ja wieder«, sagte sie auch auf Deutsch. »Ja, vielleicht.« 74
Sie stieg ins Taxi und schaute noch einmal zu mir. »Du bist wirklich voller Überraschungen. Pass auf dich auf«, sagte sie. Seltsam, auch nachdem ich ihr die Wahrheit gesagt hatte, unter- hielten wir uns nicht auf Deutsch. Wir hatten zwar danach nicht mehr viel geredet, aber das wenige, was wir noch gesagt haben, war nicht auf Deutsch. Wir hatten uns anscheinend dermaßen daran gewöhnt, dass wir weiterhin zwischen Spanisch und Italie- nisch redeten. Als wäre die deutsche Sprache Tabu. Bis auf die letzten zwei Sätze, die sagten wir auf Deutsch. An ihre letzten Worte kann ich mich noch ganz genau erinnern. Vielleicht sieht man sich ja wieder, hatte sie gesagt. Überhaupt alles, was ich während meiner Reise in Kolumbien gesehen hatte, oder noch sehen sollte, würde ich irgendwann wie- dersehen. Menschen, Orte, Dinge und sogar Situationen, würden zurückkehren. Alle Fragen würden eine Antwort erhalten. Nach und nach würde sich alles wiederholen, wie ein Kreis, der sich langsam schließt. Dieser Kreis, der mit meiner Ankunft in Ko- lumbien angefangen hatte, sich zu öffnen - und sich immer noch öffnete - würde irgendwann anfangen, sich langsam zu schließen.
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Edi el Calvo
Das Taxi fuhr los und weg war sie. Ich nahm ein paar Pesos und ging frühstücken. Ich lief einige hundert Meter, bis ich ein kleines Restaurant entdeckte, das Algo Diferente. Das Restaurant war prak- tisch leer, nur ein Typ saß vor einer Flasche Bier, ansonsten waren alle Tische frei. Ich setzte mich an einen freien Tisch und überlegte, was ich essen sollte. Auf der Karte stand etwas von Pancake mit Früch- ten, zart und saftig. Ich bestellte so einen Pancake und wollte mir eine Zigarette anzünden, doch ich hatte das Feuerzeug im Hotel vergessen. Der einzige, den ich nach Feuer fragen konnte, war der Typ mit der Bierflasche. Er sah ziemlich besoffen aus, doch ich stand auf, ging zu ihm rüber und fragte ihn: »Hast du Feuer?« Der Mann nahm mit der linken Hand sein Feuerzeug und zün- dete es an. Gleichzeitig hob er auch seine rechte Hand und formte - mit Zeigefinger und Daumen - eine Pistole. So wie es die Kinder beim Spielen tun. Er hielt beide Hände hoch. »Welches Feuer meinst du?« fragte er mich. Ich war überrascht und musste mich zuerst kurz erholen, bis ich auf seine linke Hand zeigte. »Dieses Feuer meinte ich.« Er gab mir das Feuerzeug, ich zündete mir meine Zigarette an und gab ihm das Feuerzeug zurück. »Danke«, sagte ich.
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»Bitte. Du bist nicht von hier, was?«
»Nein.«
In diesem Moment kam das Essen. Da ich immer noch neben
dem Mann stand, wusste das Mädchen nicht, wo sie das Essen hinstellen sollte. Sie fragte mich, wo ich sitzen wollte. »Setz dich doch zu mir«, sagte der Typ. Ich setzte mich ihm gegenüber, und das Mädchen stellte das Essen auf den Tisch. »Ich heiße Eduardo.« »Ich bin Mono.« »Ha ha, das passt zu dir«, lachte er. »Woher kommst du?« »Aus der Schweiz.« Eduardo sah irgendwie interessant aus. Er war dunkelhäutig aber nicht schwarz. Seine Stimme war sehr rauh, er hörte sich fast wie heiser an. Dann war da noch seine Glatze, die er unter einer grü- nen Baseballmütze versteckte. Das Ganze gab ihm ein gewisses etwas, das ich als angenehm empfand. Er musste allerdings schon einige Bier getrunken haben, denn er wirkte nicht mehr so nüch- tern. »Noch ein Bier«, sagte er zum Mädchen. »Zwei«, sagte ich. »Was machst du in Kolumbien?« »Reisen. Ich ziehe von Stadt zu Stadt und lerne das Land ken- nen.« »Wo warst du schon?« »Bis jetzt war ich nur in Bogotá, Santa Marta, im Parque Tayrona und nun hier in Cartagena.« »Du warst also noch nicht in Medellín?« »Nein.« 77
»Dort musst du unbedingt hin. Eine wunderschöne Stadt, über- haupt nicht typisch kolumbianisch, irgendwie speziell. Ich lebe dort.« »Was machst du denn hier in Cartagena?«
»Ich hatte hier geschäftlich zu tun.«
»Was arbeitest du denn?«
»Alles und nichts.«
»Und dafür kommst du von Medellín nach Cartagena?«
»Ja, ich musste etwas bringen.«
»Bist du ein Chauffeur?«
»Nicht ganz. Weißt du, hier macht man alles, um etwas Geld zu
verdienen. Hier in Kolumbien haben wir so viel Armut und Ar- beitslosigkeit, dass die Leute jeden Job annehmen, nur um etwas Geld zu verdienen.« »Verstehe. Hast du Familie in Medellín?«
»Meine Mutter. Mein Vater und meine zwei Brüder sind tot.«
»Das tut mir leid.«
»Jetzt muss ich für meine Mutter sorgen. Egal wie.«
»Was meinst du mit egal wie?«
»Na ja, man macht halt gewisse Dinge für gewisse Leute.«
»Und diese Leute bezahlen dich dafür?«
»Genau.«
»Hast du nicht Angst?«
»Weißt du, wenn man dir deinen Vater und deine Brüder tötet,
dann hast du keine große Wahl mehr. Entweder du machst mit, oder du bist erledigt.« »Die haben deine Familie umgebracht und du arbeitest für sie? Wie kannst du nur so etwas tun?«
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»Das ist nicht so einfach zu erklären. Wenn du einmal drin bist, kommst du nicht so einfach wieder raus. Die lassen das nicht zu, doch ich versuchs.« »Und wie?«
»Ich schreibe.«
»Du schreibst? Was denn?«
»Was ich erlebt habe, welche Leute ich kenne und so weiter. Sa-
chen, die ich halt weiß.« »Verstehe. Willst du dich mit deinem Buch freikaufen?« »Ich weiß noch nicht, was ich damit mache.« Er überlegte kurz. »Weißt du, ein Mann ist erst ein richtiger Mann, wenn er entwe- der einen Sohn gezeugt, oder ein Buch geschrieben hat«, sagte er. »Und du? Hast du einen Sohn?« »Nein.« »Darf ich fragen, wie alt du bist?« »29.« Mittlerweile hatte ich fertig gegessen und zündete mir eine Zi- garette an. Ich nahm einige Züge und überlegte ein wenig. Wieso erzählt der Edi mir all das Zeug, obwohl er mich überhaupt nicht kennt? »Du bist erst die dritte Person, der ich das erzähle«, sagte er, als könne er Gedanken lesen. »Die dritte? Wer sind die anderen zwei?« »Meine Mutter und meine Freundin.« »Du hast eine Freundin? Lebt sie auch in Medellín?« »Nein, leider in Cali.« »Wieso leider?«
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»Na ja. Immer, wenn ich nach Cali fahre, muss ich aufpassen. Die haben es dort nicht so gerne, wenn einer aus Medellín kommt.« »Redest du von den verschiedenen Kartellen?« »Genau, von denen rede ich.« »Sag mal Edi. Ich darf dich doch Edi nennen?« »Klar. Alle meine Kumpel nennen mich Edi. Edi el Calvo.« »Sag mal Edi. Du lebst gerne gefährlich, was?« »Ich habs mir nicht aussuchen können. Schon als kleiner Junge musste ich kämpfen, um zu überleben. Meine Brüder und ich mussten jeden Tag etwas Geld nach Hause bringen. Mein Vater alleine konnte uns nicht ernähren.« Er redete eine Weile von seiner Kindheit und trank dabei tüch- tig Bier. Die Biere, die ich gezählt hatte, waren fünf, doch er hatte sicher schon einige vorher getrunken. Erstaunlich, dass er noch nicht vom Stuhl gefallen war. Vor allem musste er nie pissen ge- hen, ich muss schon nach zwei Bier aufs Klo. »Ich muss noch etwas erledigen. Willst du mich begleiten?« frag- te er mich nach einer Weile. »Kommt drauf an, wie gefährlich dein etwas erledigen ist.« »Ich muss in einigen Läden etwas Geld einsammeln. Nichts Schlimmes.« Ich weiß bis heute nicht, weshalb ich sein Angebot angenom- men habe. Ich hatte irgendwie keine Angst. Vielleicht war es eben dieses Gefährliche daran, oder meine Sehnsucht nach Abenteuer, was mir Mut gab. Ich weiß es nicht, auf jeden Fall folgte ich ihm. Wir verließen das Algo Diferente und liefen ein wenig durch die Altstadt.
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»Ich fahre morgen nach Medellín, wenn du willst, nehme ich dich mit«, sagte Edi. »Was bringst du nach Medellín?« Ich wusste nicht, ob ich mich mit dieser Frage zu weit gewagt hatte. »Waffen«, sagte er ganz cool. »Das ist mir zu gefährlich. Ich glaube, ich bleibe lieber noch eine Weile hier in Cartagena.« »Das kann ich gut verstehen.« Seine Art, mich überhaupt nicht zu drängen, gab mir Vertrauen. Ich fürchtete mich nicht mit ihm. Ich hatte den Eindruck, er wolle mich zu nichts zwingen und zu nichts überreden. Nach einer Weile betraten wir einen Laden, der voll mit Souve- nirs war. So richtig was für Touristen. Edi verschwand mit dem Besitzer hinter einem Vorhang, während ich mir die Souvenirs anschaute. Kurze Zeit später kam Edi wieder raus und wir verlie- ßen den Laden. Das Ganze wiederholte sich vier oder fünf Mal in verschiedenen Läden. Eigentlich stellte ich mir alles viel spannender vor. So wie im Fernsehen, wenn man Schutzgelder einsammelt, doch es war nichts Spezielles.
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Zufälle gibts im Leben
Nach einer guten Stunde hielten wir an einer Bar. Edi nahm zwei Bier und wir setzten uns auf die alte Stadtmauer. Von hier aus konnte man auf s Meer sehen. Unter uns lag der Sandstrand mit Palmen. Eine wunderschöne Aussicht. Das ganze erinnerte mich an Arrecife und an Cristina. Wie dumm es doch zwischen uns zwei gelaufen war. Na ja. »Woran denkst du?« fragte mich Edi. »Woran ich denke?« Ich überlegte eine Weile. »Ich war mit einem Mädchen unterwegs, doch heute morgen trennten sich unsere Wege. Seltsam, doch wäre sie nicht gegan- gen, hätten wir uns nicht kennengelernt. Dann würden wir jetzt nicht hier sitzen und die Aussicht genießen. Zufälle gibts im Le- ben.« »Es gibt keine Zufälle im Leben, Mono.« »Wie, keine Zufälle?« »Alles was uns passiert, hat einen Sinn. Wir meinen nur, dass es sich um Zufälle handelt, doch in Wirklichkeit hat alles einen Grund. Auch wenn man den Grund nicht gleich sieht, früher oder später kommt man darauf.« »He?« »Pass auf. Alles, was du im Leben erlebst, entscheidest du selbst. Es gibt keine Zufälle.« »Ich fürchte, ich komme nicht ganz mit.«
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»Du hast dich nicht zufällig von diesem Mädchen getrennt. War es vielleicht ein Zufall, dass du das Mädchen kennengelernt hast? War es nicht vielleicht die Folge einer Entscheidung von dir? Wo hast du sie kennengelernt? Wann hast du dich entschieden, dort- hin zu fahren? Weshalb wolltest du dorthin? Wenn du genau über- legst, hast du das Mädchen bereits kennengelernt, als du noch gar nicht wusstest, dass es sie gibt.« Seiner Meinung nach, kannte ich also Cristina bereits seit mei- ner Ankunft in Kolumbien. Irgendwie hatte er Recht. Im Plattfuß hatte ich Arthur kennengelernt. Von Bogotá aus fuhr ich nach Santa Marta ins Hotel Explorador, weil Arthur es zufällig erwähnt hatte. Die Entscheidung dorthin zu fahren, hatte ich zwar selber getroffen, doch wo wäre ich sonst gelandet? Hätte ich Fredo ken- nengelernt? Wäre ich ins Parque Tayrona gereist? Hätte ich Cristina kennengelernt? Wäre ich nach Cartagena gekommen? Und was wäre mit Edi? Waren es also doch keine Zufälle? »Verstehst du nun?« fuhr er fort. »Jeden Tag, in jedem Moment, müssen wir Entscheidungen treffen. Gehen wir nach links oder nach rechts? Nach A oder nach B? Und nach jeder Entscheidung, die wir getroffen haben, gibt es kein Zurück. Eine Entscheidung kannst du nicht mehr rückgängig machen. Wärst du heute mor- gen nicht ins Algo Diferente gegangen, würden wir uns jetzt nicht kennen. Wärst du bereits Gestern ins Algo Diferente gegangen, würdest du jetzt jemand anderes kennen. Doch die Entscheidung, heute ins Algo Diferente zu gehen, hast du ganz alleine getroffen. Somit entscheidest du dein ganzes Leben. Meinst du immer noch, dass das heute morgen ein Zufall war? Die Entscheidung zu ge-
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hen, die hat schon das Mädchen getroffen, doch du hast auch deinen Teil dazu beigetragen.« Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. »Du meinst, was ich morgen erleben werde, habe ich heute schon entschieden? Und was ich übermorgen erleben werde, habe ich schon vorgestern entschieden? Meine ganze Reise ist also bereits entschieden, und ich muss sie nur noch erleben? Das ganze hört sich fatalistisch an.« »Nicht ganz. Hängt davon ab, nach welchen Kriterien du deine Entscheidungen triffst. Ob du streng nach deiner Meinung gehst, oder ob du dich von anderen beeinflussen lässt. Du kannst mor- gen mit mir nach Medellín fahren oder hier bleiben. Wie du dich entscheidest, das hängt allerdings von dir ab. Bei jeder Entschei- dung sagst du A oder B und du gehst einen Schritt weiter, zur nächsten Entscheidung. Du hast mich nicht zufällig kennenge- lernt, Mono, du hast es bereits entschieden, als du zur Welt kamst. Das ist das Schöne am Leben, man muss es nur leben, ohne sich Sorgen zu machen.« Jetzt war er völlig abgespaced. Keine Zufälle. Entscheidungen. Leben. A und B. Ich kam fast nicht mehr nach. »Ohne Sorgen leben? Das können nicht alle«, sagte ich. »Das stimmt. Für bestimmte Leute ist es ein Problem, sich zu entscheiden. Leute, die sowohl nach A, als auch nach B wollen.« »Wie meinst du das?« »Stell dir mal vor, sowohl A wie auch B wären eine gute Wahl. Ok?« »Ja.«
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»Nun gibt es Leute, für die ist es kein Problem, sich zu entschei- den. Wenn A sowie B gut sind, dann nehmen sie einfach eines davon, egal welches. Ok?« »Soweit schon.« »Nun gibt es aber Leute, die können sich nicht für A entschei- den, weil sie nicht auf B verzichten wollen. Und sie können sich auch nicht für B entscheiden, weil sie sonst auf A verzichten müssten.« »Jetzt versteh ich. Einige Leute sind froh darüber, dass sie zwei gute Möglichkeiten haben. Für andere aber, ist es ein Problem, zwei gute Möglichkeiten zu haben, weil sie sich nicht entscheiden können.« »Oder entscheiden wollen.«
»Weißt du, wie man diese Leute bei uns nennt?«
»Wie?«
»Das sind Leute, die sowohl die Münze, als auch das Brötchen
wollen.« »Wie Brötchen und Münze?« »Stell dir vor, jemand hat eine Münze und möchte sich ein Bröt- chen kaufen. Ok?« »Ja.« »Doch er kann sich nicht von seiner Münze trennen, obwohl er unbedingt das Brötchen will.« »Jetzt versteh ich. Er will sowohl das Brötchen, als auch die Mün- ze.« »Sag mal Edi. Wenn A und B beide schlecht sind, was denn?« »Dann muss man sich nicht für das Bessere von beiden ent- scheiden, sondern für das weniger Schlechte von beiden.«
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»Was eigentlich dasselbe ist, oder?« »Genau.« »Sag mal Edi. Nach welchen Kriterien entscheidest du dich denn? Hörst du lieber auf die anderen, oder triffst du deine Entschei- dungen immer alleine?« »Ich höre auf die Zeichen, die das Leben mir gibt.« »Was soll das bitte bedeuten? Welche Zeichen gibt dir das Le- ben?« »Das ist nicht so einfach zu erklären. Nicht alle sehen diese Zei- chen. Man muss schon offen genug dafür sein, sonst gehen sie an einem vorbei, ohne wahrgenommen zu werden.« »Kannst du mir wenigstens ein Beispiel nennen?« Er überlegte eine Weile. »Ich wollte einmal von Medellín nach Cali, zu meiner Freundin. Der Bus wäre Abends um neun losgefahren. Ich nahm so gegen halb neun ein Taxi, um ans Terminal de Transportes zu fahren. Kaum waren wir losgefahren, hatte das Taxi einen Platten. Ich musste ein anderes Taxi nehmen, doch es fuhr eine ganze Weile keines mehr vorbei. In Medellín wimmelt es nur von Taxi. Wenn du auf die Straße schaust, sind drei Viertel aller Autos gelb, doch an diesem Abend fuhr lange Zeit kein Taxi vorbei. Endlich kam dann eins und ich stieg ein. Zehn Minuten später, standen wir im Stau. Als ich endlich am Terminal de Transportes ankam, war der Bus schon weg. Ich rief meine Freundin an und sagte ihr, dass ich den Bus verpasst hatte, und dass ich erst am Tag danach fahren konnte. Am nächsten Morgen fuhr ich ans Terminal de Transpor- tes, diesmal ohne irgend einen Zwischenfall. Ich kaufte mir eine Zeitung und setzte mich in den Bus. In der Zeitung stand, dass
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gestern der Nachtbus von Medellín nach Cali verunglückt war. Alle Passagiere waren gestorben, keiner konnte gerettet werden.« Er schaute mich schweigend an. »Verstehst du nun, welche Zeichen ich meine? Das Leben wollte mich schon die ganze Zeit warnen, diesen Bus nicht zu nehmen. Zuerst der platte Reifen, dann kam lange Zeit kein Taxi und zu- letzt standen wir im Stau. Das waren alles Zeichen, die das Leben mir gegeben hatte. Ich nahm sie damals nicht wahr, doch heute habe ich daraus gelernt. Heute will ich in meinem Leben nichts mehr erzwingen. Die Geschehnisse haben ihren eigenen Lauf, man kann sie nicht beeinflussen, ich lasse mich dabei nur vom Leben führen. Versuchs auch mal, du musst nur die Augen offen halten.« Seine Story war nicht schlecht. Ich überlegte, ob mir auch schon mal so etwas passiert war. Ob ich auch schon Zeichen erhalten hatte, die ich nicht wahrgenommen hatte, doch ich konnte mich an keine ähnliche Situation erinnern. Wir saßen beide schweigend da und schauten auf das Meer, als Edi wieder etwas von sich gab. »Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.« Jetzt wurde er auch noch philosophisch, oder was? Hatte er doch zuviel Bier getrunken? »Was hast du gesagt?« fragte ich. »Kennst du das Buch nicht?« »Welches Buch? Hast du etwas von einem Buch gesagt?« »Ja. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins.« »Ist doch von Milan Kundera, oder?« »Genau. Hast du es auch gelesen?« »Nein, noch nicht.«
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»Empfehle ich dir. Dort wird das Thema auch beschrieben.« »Muss ich mir merken.« Danach schwiegen wir eine Weile und genossen die Aussicht. Ich dachte über all das nach, was Edi mir erzählt hatte. Er zündete sich eine Zigarette an und gab mir auch eine. »Ich schenke dir diese Aussicht«, sagte Edi. »Wie schenken?« »Ja. Ich schenke dir diese Aussicht, damit du dich an diesen Tag erinnerst. Immer, wenn du an diese Aussicht denkst, wirst du dich an Edi el Calvo und an diesen Tag erinnern.« »Danke Edi.« »Ich danke dir, Mono.«
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Perico
Mittlerweile war es bereits Mittag. Ich hatte schon drei Stunden mit Edi verbracht und es kam mir vor, als wären es drei Minuten gewesen. Gleichzeitig hatte ich aber auch das Gefühl, ihn schon seit drei Jahren zu kennen. »Hast du Hunger?« fragte ich. »Nein. Du?« »Ich könnte etwas vertragen.« »Gehen wir doch wieder ins Algo Diferente.« »Gute Idee. Ich muss aber zuerst pissen.« Ich erledigte mein Geschäft an der alten Stadtmauer, danach liefen wir zum Algo Diferente zurück. Dort angekommen setzten wir uns an den selben Tisch wie am Morgen. Edi bestellte gleich zwei Bier, während ich die Menukarte studierte. Auf einem Tisch stand ein Schachbrett. »Spielst du Schach?« fragte ich Edi. »Ja.« »Hast du Lust auf ein Spiel?« »Ich bin nicht so gut.« »Ich auch nicht.« Ich nehme es gleich vorweg. Das war das einzige Schachspiel, das ich in Kolumbien gewonnen habe. Doch ich brauchte über eine Stunde dafür. Wir spielten vor, während und nach dem Es- sen. Edi trank dabei mindestens noch vier Bier, ohne einmal aufs Klo zu gehen. »Ich sagte ja, ich wäre nicht so gut«, meinte Edi nach dem Spiel.
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»Dafür warst du aber eine harte Nuss. Was kannst du denn gut?«
»Ich spiele Saxophon. Soll ich dir was vorspielen?«
»Wieso? Hast du ein Saxophon dabei?«
»Nein.«
»Und wie willst du mir etwas vorspielen?«
»Ich weiß nicht.«
»Ich glaube, du hast zuviel Bier getrunken. Komm, lass uns Kaf-
fee trinken.« »Gut.« Ich bestellte zwei Kaffee, danach verschwand Edi kurz aufs Klo. Endlich, dachte ich. Er hatte mindestens zehn Bier getrunken. Ich wäre in der Zwischenzeit sicher fünf Mal aufs Klo gegangen. Das Mädchen brachte den Kaffee. »Guten Kaffee habt ihr hier in Kolumbien.», sagte ich zu Edi. »Ich weiß. Wir haben einige gute Sachen hier in Kolumbien.« »Ja, Marihuana zum Beispiel«, sagte ich lächelnd. »Das beste Marihuana kommt aus Medellín. Heißt Punto Rojo.« »Wieso aus Medellín? Weil es eine wunderschöne Stadt ist und du dort wohnst?« »Nein, nein. Das hat damit nichts zu tun. Das hat was mit dem Klima zu tun. Weißt du, dadurch, dass Medellín auf 1500 Meter Höhe liegt, ist die Temperatur dort immer so um die 21 Grad. Darum wird sie auch die Stadt des ewigen Frühlings genannt. Bei uns wird es nie extrem heiß, oder extrem kalt. Wir haben immer Frühling, das ganze Jahr. Aus diesem Grund wächst bei uns das beste Marihuana. Hier unten an der Küste, ist es zu heiß und in Bogotá, wäre es zu kalt.« »Wie heißt es?«
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»Was?«
»Das Marihuana aus Medellín.«
»Punto Rojo.«
»Muss ich mir merken.«
Er trank seinen Kaffee und zündete sich eine Zigarette an. Da-
nach fuhr er fort. »In Kolumbien haben wir auch schöne Frauen, Perico...« »Perico?« »Ja, Perico. Kokain.« »Ach so.« »Hast du schon mal probiert?« »Nein.« »Und Frauen?« »Meinst du Frauen hier in Kolumbien?« »Ja.« »Nein. Ich hatte noch nicht das Vergnügen.« »Wenn du willst, kann ich dir Frauen und Perico besorgen.« Das war ziemlich direkt. Was sollte ich nun sagen? Frauen ok, aber Perico? Ich hatte noch nie Kokain probiert, und ich hatte ziemlichen Respekt davor. Doch die Neugier war groß. Der ganze Tag mit Edi war ein einziges Abenteuer gewesen. Er war wie eine Wundertüte, voller Überraschungen. Wie ich schon vorhin sagte, hatte ich mit ihm überhaupt keine Angst. Aus wel- chem Grund auch immer traute ich ihm. Und nun hatte ich die Möglichkeit, Kokain zu probieren. »Gehen wir«, sagte ich Er stand auf und bezahlte. Ich folgte ihm und versuchte nur noch mein Adrenalin zu kontrollieren. Wir schlenderten durch
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das Media Luna Viertel, bis wir vor einer großen Toreinfahrt hiel- ten. Im Innenhof standen einige Frauen. Man konnte gleich er- kennen, dass es sich um Huren handelte. »Komm«, sagte Edi.
»He Edi. Ich bezahle nicht für Sex.«
»Wer hat denn was von bezahlen gesagt?«
Wir betraten den Hof. Einige Frauen erkannten Edi. Sie näher-
ten sich uns und umarmten Edi. »He Edi, wie geht es dir?« sagte eine und streichelte ihm die Wange. Eine andere nahm ihm die Baseballmütze ab und küsste ihn auf seine verschwitzte Stirn. »He Calvo, du alte Sau. Wieder mal an der Küste?« »Hallo ihr Schönen, das ist Mono, ein Freund von mir«, sagte Edi und stellte mich vor. Die Frauen waren überhaupt nicht schön. Sie lächelten freund- lich und fingen an, auch mit mir zu spielen. »Na Mono, willst du ein bisschen Spaß?« sagte eine zu mir. Ich lächelte und schaute kurz zu Edi. »Such dir eine aus«, sagte Edi. Sie sahen alle gleich aus. Alle gleich schlecht, meine ich. Am liebsten wäre ich wieder gegangen, doch ich hatte schon lange nicht mehr gevögelt. Mein Verstand kämpfte gegen meine Ho- den, während ich versuchte, die am wenigsten hässliche zu finden. War genau so eine Situation, wie Edi sie am Morgen beschrie- ben hatte. Man muss sich entscheiden, doch alle Möglichkeiten die man hat, sind schlecht. Ich musste mich also für die weniger schlechte entscheiden.
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Ich entschied mich für ein junges Mädchen mit blonden Haa- ren. Sie nahm mich an der Hand und führte mich in ein Zimmer. Bevor ich in das Zimmer verschwand, schaute ich noch kurz zu Edi. Er winkte mir zu, als wollte er mir viel Spaß wünschen. Das Mädchen schloss die Tür hinter sich zu und zündete das Licht an. »Komm, zieh dich aus«, sagte sie und zog ihr T-Shirt aus. Da sah ich, dass sie schwanger war. Sie hatte einen ziemlich dik- ken Bauch, den ich unter ihrem T-Shirt nicht bemerkt hatte. »Bist du schwanger?« fragte ich völlig überrascht. »Ja, im sechsten Monat.« »Und du gehst mit fremden Männern ins Bett?« »Na und?« »Ist das nicht gefährlich für das Kind.« »Ich pass schon auf. Und ich brauch das Geld.« »Was meint der Vater dazu? Weißt du überhaupt, wer der Vater ist?« »Was ist? Willst du vögeln oder Fragen stellen?« »Ich will dir nur einen guten Rat geben. Hör damit auf, wenn du dein Kind liebst.« Ich nahm 10.000 Pesos und drückte sie ihr in die Hand. »Hier. Du brauchst dich nicht auszuziehen. Du solltest dich über- haupt nie mehr ausziehen.« Ich öffnete die Tür und verließ das Zimmer. »Schon fertig?« fragte Edi. »Ja«, antwortete ich leicht genervt. »Das ging aber schnell.« »Ich hatte auch schon lange nicht mehr gevögelt.«
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Wir gingen wieder auf die Straße und meine Laune wurde gleich besser. Mein Verstand hatte doch noch über meine Hoden ge- siegt. Edi hatte was von Frauen und Koks gesagt. Nun wäre also Koks an der Reihe gewesen, doch ich traute mich nicht zu fragen. Ich wollte nicht wie ein kleiner Schuljunge aussehen, der es kaum ab- warten kann, sein neues Fahrrad zu sehen. Ich versuchte mich so cool wie möglich zu verhalten, doch die Neugier war zu groß. Wie ist es? Wie schmeckt es? Was spürt man? Wir liefen etwa zehn Minuten, als Edi mir sagte, ich solle doch bitte etwas langsamer laufen und ein wenig hinter ihm bleiben. Ich stellte keine dummen Fragen und verlangsamte meinen Gang. Vermutlich wollte er nicht in meiner Anwesenheit Koks besor- gen. Edi lief also so etwa zwanzig Meter vor mir her, ich verlor ihn nicht aus den Augen. Wir liefen einige Minuten, doch es tat sich nichts. Ich dachte schon, er wollte mich verarschen, oder er wollte sich nur ein wenig brüsten. Er hielt kurz an einem offenen Fenster im Erdgeschoss an und grüßte jemanden. Ich glaubte, er würde jemanden grüßen, denn er winkte kurz mit der Hand. Danach lief er weiter. Das wird nie etwas, dachte ich. Wir liefen schon seit fast zehn Minuten, er vor mir her, oder ich hinter ihm her, wie mans nimmt. Er drehte sich um und gab mir ein Zeichen, ich solle wieder zu ihm aufschließen. Scheiße, das ging in die Hose, dachte ich. Als ich zu Edi aufgeschlossen war, sagte er: »Also, wo wollen wir es uns reinziehen?« 94
»Hast du es?« »Klar.« Wie hat er das gemacht? Das muss dort gewesen sein, als er an diesem Fenster anhielt und winkte. Anders konnte es nicht gewe- sen sein. Was für ein Schlitzohr, oder war ich vielleicht zu blöd? »Gehen wir ins Hotel?« fragte ich ihn. »Ok.« Für mich war es das erste Mal. Ich wollte nicht irgendwo auf der Straße, oder in einer Toilette, das Zeug reinziehen. Ich wollte si- cher gehen, keinen Bullen zu begegnen. Wir gingen also ins Hotel. Als wir das Hotel betraten, merkte ich, wie die Chefin den Edi seltsam anschaute. Danach warf sie einen vorwurfsvollen Blick zu mir. Ich dachte mir nichts dabei und wir gingen auf mein Zim- mer. Ich schloss die Tür und Edi packte das Koks aus. Es war in einem kleinen Papierumschlag verpackt, so etwa drei Zentimeter klein. »Hast du einen Spiegel?« fragte mich Edi. »Nein.« »Hast du sonst etwas flaches und hartes?« Ich schaute mich um und sah mein Handbook. Das war doch flach und hart. »Geht das auch?« »Das ist ok.« Er leerte ein wenig Koks auf das Handbook und formte - mit Hilfe einer Messerklinge - zwei kleine Linien. Danach nahm er eine Banknote und rollte sie zu einem Röhrchen zusammen. Er steckte sich - mit der einen Hand - ein Ende des Röhrchens in ein Nasenloch und hielt sich - mit der anderen Hand - das andere 95
Nasenloch zu. Er beugte sich über das Handbook und mit einem Zug, zog er sich eine Linie in die Nase. Danach gab er mir das Handbook rüber. Jetzt war ich an der Reihe. Ich war völlig aufgeregt aber neugie- rig, wie ein kleines Kind. Ich suchte mir die sauberste Banknote aus und machte es auf die gleiche Weise wie Edi. Erstaunlich, aber es kitzelte nicht einmal. Ich dachte, es würde in der Nase beißen, aber das tat es nicht. Danach wartete ich auf die Wirkung. Vom Marihuana, kannte ich die Wirkung, doch von Koks hatte ich keine Ahnung. Ich hatte schon Verschiedenes gehört. Dass man völlig aufgedreht ist, dass man völlig wach ist, dass man nie müde wird, dass man sich sehr stark fühlt und so weiter. Ich wartete eine Weile, doch es tat sich nichts. Edi erzählte ir- gendwas, aber ich hörte ihm nicht richtig zu. Ich war völlig darauf konzentriert, endlich etwas zu spüren. »Gut nicht?« fragte Edi. »Ist zwar nicht wie das von Medellín, aber es ist trotzdem gut.« »Ich spüre nichts.« »Das kommt noch, keine Panik. Komm wir nehmen noch eine Linie.« Wir wiederholten das Spiel und ich wartete erneut auf irgend eine Wirkung, aber nichts geschah. Mittlerweile hatten wir das ganze Koks reingezogen und ich spür- te immer noch nichts. Edi war ganz aufgedreht und redete wie ein Buch. Ich überlegte, ob er nicht nur glauben würde, high zu sein. Ob es nicht, wie bei einer psychosomatischen Krankheit sei. Wo
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der Patient denkt er sei krank, weil er eben überzeugt ist, dass er krank sei. Vielleicht war Edi high, weil er das Gefühl hatte, high sein zu müssen. Ich spürte auf jeden Fall nichts. Nur soviel: Das war das erste und auch das letzte Mal, dass ich Koks genommen habe. Ich verbrachte die nächsten drei Tage auf dem Klo. Ich hatte fürchterliche Bauchkrämpfe und einen Durch- fall Marke Niagara Falls. Einige sagten mir, das wäre nur beim ersten Mal so, weil der Körper das nicht gewohnt ist, doch mir hatte es gereicht. Ich blieb lieber beim Marihuana, da wusste ich, was ich hatte. Koks konnte mir von da an gestohlen bleiben. Nun zurück zu Edi. »Ich dreh mir einen Joint«, sagte ich zu ihm. »Gute Idee.« Wenn ich schon nichts spüre, dann hol ich mir wenigstens mit etwas Gras eine Scheibe. Ich holte mein Filmröhrchen und kratz- te ein wenig Marihuana raus. Mit dem Filmröhrchen in der Hand, kam mir Fredo in den Sinn. Er hatte das zweite Filmröhrchen, denn als wir uns in Arrecife trennten, teilten wir uns das Gras. Wo konnte Fredo nur sein? In Santa Marta war er nicht und hier in Cartagena hatte ich ihn auch nicht gesehen. Vermutlich war er mit seiner Inbar untergetaucht, wie zwei frisch verliebte Täubchen. Ich merkte, dass ich keine Papers mehr hatte und eine Bibel gab es im Zimmer auch nicht. »Hast du Papers?« fragte ich Edi. »Papers? Wofür?« »Um einen Joint zu drehen.« »Nein, ich nehme immer Brotpapier, das geht auch.«
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»Ich nehme Bibelseiten, das geht auch gut.« Edi erschrak und kreuzigte sich gleich mehrmals. Ich war über- rascht, ich dachte nicht, dass er so religiös sei. Ich schaute umher und sah mein Handbook, dessen Seiten eben- falls so dünn waren, wie die einer Bibel. Aber ich konnte doch meinen Reiseführer nicht rauchen, den brauchte ich noch. Ich blät- terte ein wenig darin und kam auf die Idee, die Indexseiten zu benutzen. Die würde ich eh nicht brauchen. Ich riss ein Drittel einer Seite raus und drehte einen Joint. Edi meinte, das Marihuana sei zwar gut, aber niemals so gut wie Punto Rojo. Das überraschte mich überhaupt nicht. Mittlerweile war es so gegen sechs Uhr und ich spürte langsam ein wenig Hunger. »Hast du Hunger?« fragte ich Edi. »Ein wenig.« »Du hast heute noch gar nichts gegessen.« »Ich esse nicht so viel.« »Ich möchte dich zum Essen einladen. Hast du Lust oder hast du schon etwas vor?« »Ich würde mich sehr freuen, mit dir zu essen.« »Oder noch besser, ich werde für dich kochen. Ich koche für uns zwei.« »Wie du willst.« »Auf was hast du Lust?« »Ist mir egal. Was du magst.« Ich hatte schon seit meiner Ankunft in Kolumbien keine Pasta mehr gegessen. So richtig mit Tomatensauce und Parmesankäse. »Ich koche dir etwas italienisches, magst du?«
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»Ok. Gerne.« »Wir müssten allerdings zuerst einkaufen gehen. Weißt du, wo es hier ein Supermarkt gibt?« »Ja klar.« »Also, gehen wir.« Wir verließen das Zimmer, um einkaufen zu gehen. Die Chefin schaute uns wieder seltsam an, irgendwie passte ihr Edis Visage nicht. Der Supermarkt lag in der Nähe des Algo Diferente. Dort ange- kommen nahm ich einen Einkaufswagen und fing an, ihn mit Le- bensmitteln zu füllen. Ich kaufte eine Schachtel Nudeln, zwei Fla- schen Rotwein, etwas Hackfleisch für die Tomatensauce und Oli- venöl ein. »Soll ich dir helfen?« fragte mich Edi. »Gerne. Wenn du willst, kannst du schon mal Tomaten holen.« »Wieviele brauchst du?« »Eine Libra«, sagte ich und konnte dabei ein leichtes Schmun- zeln nicht unterdrücken. Wir kauften noch ein wenig Fleisch, Nachtisch, Parmesankäse und sonst noch so Zeug ein. Der Einkaufswagen war ziemlich voll, doch der Anlass schien mir treffend dafür. Ich hatte mit Edi einen wunderschönen Tag verbracht und wollte - zur Krönung - diesen Tag mit einem schönen Nachtessen abschließen. Ich be- zahlte und wir verließen den Supermarkt. »Trinken wir noch ein Bier im Algo Diferente?« fragte Edi. »Warum nicht?« Wir setzten uns an den selben Tisch wie am Morgen und am Nachmittag. Das Restaurant war immer noch leer. Ich konnte mich
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nicht erinnern, heute jemanden gesehen zu haben. Den ganzen Tag waren Edi und ich die einzigen Kunden gewesen. Wenn es so weiter geht, können die hier bald dicht machen, dachte ich. Wir bestellten zwei Bier. Das Koks hatte überhaupt keine Wir- kung gezeigt. Ich war ein wenig enttäuscht, doch irgendwie war ich auch froh darüber. Wenn jemandem etwas gefällt, dann will er es immer wieder haben. Ich wollte das Koks aber nur ausprobie- ren, somit war ich froh, keine Lust daran verspürt zu haben. Wir tranken unsere Biere. Edi war erstaunlich ruhig. Er hatte sonst den ganzen Tag viel geredet, doch nun war er ganz still. »Was hast du?« fragte ich ihn. Er antwortete nicht und schaute - über meine Schulter hinweg - auf die Straße. Plötzlich stand er auf und rannte aus dem Restau- rant. Ich packte die Einkaufstasche und rannte ihm hinterher. Als ich ihn draußen eingeholt hatte, war er immer noch ganz aufgeregt. »Was ist passiert?« fragte ich ihn erneut. »Entschuldige mich, aber ich fühlte mich in dem Restaurant nicht sicher.« »Was war in dem Restaurant?« »Ich sah, wie ein Auto zweimal vorbeifuhr.« »Na und?« fragte ich. Ich konnte nichts schlimmes daran sehen. »Ich kenne die Typen im Auto, die haben mich gesucht.« »Bist du sicher?« »Ja, ich bin sicher. Doch jetzt ist alles wieder ok. Die Typen sind weg.« »Und wie weißt du, dass die Typen weg sind?« »Das hat mir jemand gesagt.« 100
Ich hatte weder ein Auto gesehen, noch hatte ich irgend jemand mit ihm reden gehört. Irgendwie war es mir mit Edi nicht mehr so wohl. Entweder wurde er langsam gefährlich, oder ich wurde lang- sam paranoid. Zurück im Hotel ging ich gleich in die Küche, um mit dem Ko- chen anzufangen. Edi half mir beim Auspacken, als die Chefin mich rief. »He Mono, kannst du mal kurz kommen?«
Ich folgte ihr zum Hoteleingang.
»Ja, was ist?«
»Ich mag keine Fremden im Hotel. Sag deinem Freund, er soll
bitte gehen.« »Sorry, das wusste ich nicht. Wir wollten nur etwas essen.« »Tut mir auch leid.« Scheiße. Wie sollte ich das nun Edi sagen? Ich hatte keine Ah- nung. Ich lief zurück zur Küche und hoffte, irgendwie die richti- gen Worte zu finden. »Ich glaube es ist besser, wenn ich gehe«, überraschte mich Edi. »Wieso denn?« »Ich bin hier nicht willkommen.« Ich schwieg. Er musste es irgendwie gemerkt haben. War ja auch nicht schwierig, so wie die Chefin ihn angeschaut hatte. Ich wusste nichts zu sagen, irgendwie war es mir recht so. Ich begleitete ihn bis zum Ausgang. »Was machst du nun?« fragte ich ihn. »Ich weiß nicht. Nach Hause kann ich nicht, die warten dort sicher auf mich.« »Wo wirst du schlafen?« »Ich werde schon etwas finden.« 101
»Pass auf dich auf, Calvo.« »Keine Sorge.« »Danke für den schönen Tag.« »Ich danke dir, Mono.«
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Fabio
Edi verschwand und ich kehrte zurück in die Küche. Welch ein merkwürdiger Tag! Ich konnte es fast nicht glauben. Ich hatte so- viel erlebt, so viele Situationen, Emotionen, Überraschungen. Kam mir vor, als wäre dieser Tag ein einziger, langer Traum gewesen. Doch als ich die Einkaufstasche auf dem Küchentisch sah, wusste ich, dass es kein Traum gewesen war. Was soll ich nun mit all dem Essen machen, fragte ich mich. Ich öffnete eine Weinflasche und schenkte mir erstmal ein Glas Rot- wein ein. Anschließend ging ich auf mein Zimmer und drehte mir einen Joint, um mich zu entspannen und den Tag Revue passieren zu lassen. Ich konnte es immer noch nicht fassen, welch unterschiedliche Situationen ich innert knapp zwölf Stunden erlebt hatte. Ich nahm mein Tagebuch und fing an alles aufzuschreiben, um keine De- tails zu vergessen. Danach nagte der Hunger und ich ging wieder in die Küche. Meine Einkaufstasche stand immer noch auf dem Küchentisch. Ich packte alles aus und fing an zu kochen. Als erstes, fing ich an die Tomaten zu schneiden und aufzuko- chen. Dies nimmt nämlich am meisten Zeit in Anspruch. Danach setzte ich Wasser auf, um die Nudeln darin zu kochen. Ich saß nun da in der Küche und wartete bis das Wasser kochte, um die Nudeln in die Pfanne zu werfen. In der Zwischenzeit zün- dete ich mir eine Zigarette an und trank ein wenig Rotwein. »Mhm, das schmeckt aber fein«, sagte ein Typ, der seinen Kopf in die Küche gestreckt hatte. 103
»Danke.«
»Was kochst du?«
»Pasta mit Tomatensauce.«
»Ich wusste doch, dass es italienisch riecht.«
»Hast du italienisches Essen gerne?«
»Ich bin Italiener, ich liebe italienisches Essen.«
»Du darfst gerne mit mir essen.«
»Nein, nein. Ich will nicht stören.«
»Du störst überhaupt nicht. Ich habe eh viel zu viel eingekauft.
Ich kann nicht alles essen.« »Wenn es so ist. Ich heiße Fabio.« »Ich bin Mono. Du bist Italiener? Meine Mutter kommt auch aus Italien.« »Ach ja? Du sprichst also Italienisch?« »Ja. Aber wie ich höre, sprichst du sehr gut Spanisch.« »Ja, ich habs hier gelernt.« »Du bist also schon lange unterwegs?« »Ich lebe hier.« »Du lebst hier? Cool. Wie lange schon?« »Seit zwei Jahren.« Das Wasser fing an zu kochen und ich leerte die Nudeln in den Kochtopf. Die Tomatensauce war auch schon gut. Ich nahm et- was Zucker und mischte es der Tomatensauce bei. »Was machst du da?« fragte Fabio. »Ich mische etwas Zucker bei.« »Wofür ist das gut?« »Das gibt der Tomatensauce das gewisse Etwas. Sie schmeckt danach ein wenig süß, was ihr einen sehr guten Geschmack gibt. Das hat mir meine Mutter beigebracht.« 104
»Das wusste ich nicht.«
»Das ist noch nicht alles, pass auf.«
Ich nahm die Flasche Wein und leerte ein Glas Rotwein in den
Kochtopf. »Und das gibt der Tomatensauce den Rest. Damit schmeckt sie vorzüglich.« »Hast du das auch von deiner Mutter?« »Nein, von einer Freundin. Möchtest du auch ein Glas Rotwein?« »Ja gerne. Soll ich anfangen, den Tisch zu decken?« »Das ist eine sehr gute Idee, die Pasta ist nämlich fast soweit, dass man sie essen kann.« »Ist das hier dein Joint auf dem Tisch?« »Ja. Du kannst ruhig davon rauchen, wenn du willst.« »Womit hast du den gedreht?« »Mit Marihuana.« »Nein. Ich meine das Papier. Was ist das?« »Eine Seite aus meinem Handbook.« »Hast du keine Papers?« »Nein. Sind mir ausgegangen.« »Kein Problem, ich hab noch. Ich gib dir nach dem Essen wel- che.« Wir setzten uns an einen Tisch im Innenhof und ließen uns das Essen schmecken. Nach der Pasta gab es noch ein Stück Fleisch für jeden von uns und danach aßen wir noch die Früchte, die ich für Edi gekauft hatte. »Das Essen hat vorzüglich geschmeckt, ich danke dir recht herz- lich«, sagte Fabio. »Nichts zu danken. Ich habe es gerne getan. Öffnen wir noch eine Flasche Wein?« 105
»Von mir aus.« Ich öffnete die zweite Flasche Wein und schenkte uns beiden etwas Rotwein ein. »Oh. Der schmeckt aber scheußlich«, meinte Fabio. Ich probierte etwas Wein und musste zugeben, dass der Ge- schmack nicht unbedingt der Beste war. »Stimmt.« »Der ist ja unerträglich.« »Ja. Die unerträgliche Schlechtigkeit des Weins«, murmelte ich auf Deutsch. »Was sagst du da?« »Ach nichts.« »Möchtest du noch einen Kaffee?« »Gerne.« Ich nahm die leeren Teller und begleitete Fabio in die Küche. Während ich das Geschirr abwaschte und Fabio den Kaffee koch- te, unterhielten wir uns weiter. »Was machst du denn hier in Cartagena? Wovon lebst du, wenn ich fragen darf ?« fragte ich. »Ich lebe nicht in Cartagena. Ich lebe auf Playa Blanca. Das ist eine Insel gleich gegenüber von Cartagena, nur zehn Minuten mit dem Boot entfernt. Ich habe dort eine kleine Hütte und ein klei- nes Boot. Damit fische ich ein wenig und verkaufe dann den Fisch an die Fischverkäufer hier im Hafen.« »Davon kannst du leben?« »Ja. Ich habe auch noch eine Wohnung in Rom. Die habe ich vermietet. Von dem Geld und von der Fischerei, kann ich hier gut leben. Das Leben ist hier nicht so teuer und ich lebe nicht im Luxus.« 106
»Was machst du denn hier in diesem Hotel?« »Ich komme von Zeit zu Zeit wieder nach Cartagena und ver- bringe hier ein paar Tage. Immer wenn ich Lust nach Großstadt und nach Nachtleben habe, dann wohne ich hier in diesem Ho- tel.« »Wann gehst du wieder auf Playa Blanca zurück?« »Am Montag. Wenn du willst, bist du herzlich eingeladen einige Tage auf Playa Blanca zu verbringen. Der Name sagt schon alles. Der Strand ist weiß, wie auf den Postkarten, und das Wasser ist so klar, dass du die Fische bis auf einige Meter Tiefe mit bloßem Auge sehen kannst.« »Das hört sich gut an. Zumal ich lieber an einen Strand, als in einer Großstadt lebe. Ich werde es mir noch überlegen. Wir haben ja erst Freitag.« »Klar. Kein Problem.« Wir tranken den Kaffee und unterhielten uns noch ein wenig. Danach erinnerte sich Fabio, dass er mir einige Papers verspro- chen hatte und lud mich auf sein Zimmer ein. In seinem Zimmer angekommen, bekam ich die ersten Bauchkrämpfe. »Was hast du?« fragte Fabio. »Ich habe schreckliche Bauchkrämpfe. Muss von dem Scheisskoks sein, das ich genommen habe.« »War es das erste Mal?« »Ja.« »Das ist normal. Beim nächsten Mal gehts besser.« »Ich fürchte, es wird kein nächstes Mal geben.« Danach musste ich aufs Klo rennen. Ich schaffte es noch bis zur Schüssel, bevor ich einen Dünnpfiff-Anfall bekam.
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Fabio hatte in der Zwischenzeit einen Joint gedreht und ange- zündet. Als ich aus dem Bad kam, reichte er ihn mir gleich rüber. »Wie gehts?« »Geht so.« »Hier nimm, das tut zwar nicht gut, aber es fährt ein.« Ich nahm den Joint und legte mich aufs Bett. Fabio zündete eine Kerze an und schaltete das elektrische Licht aus. Danach holte er seine Gitarre und fing an zu spielen. Er spielte einige kolumbiani- sche Lieder, die typisch für die Küste waren. Er nannte sie Vallenatos und sang auch noch den Text dazu. Die Stimmung war genial. Ich habe diesen Abend immer noch gut in Erinnerung. Fabio - mit seiner Gitarre - singend im Kerzen- licht und ein guter Joint mit echten Papers. Quasi der goldene Abschluss eines aufregenden Tages. Fabio und ich verbrachten das Wochenende zusammen. Er zeigte mir Cartagena und erzählte mir einiges über die Gewohnheiten der Costeños. Die Costeños sind die Kolumbianer, die an der Küste leben. Genauer gesagt, an der Costa, darum Costeños. Abends gingen wir meistens tanzen. Das heißt Fabio tanzte und ich schaute zu. Er konnte sehr gut Salsa tanzen, während ich das noch nicht so beherrschte. Er lud immer wieder eine andere Frau zum Tan- zen, ein und keine gab ihm je einen Korb. Man merkte schon, dass er seit längerer Zeit hier lebte. Er hatte richtig alles drauf, was die Costeños auch drauf hatten. Ich habe viel von ihm gelernt. Er erzählte über das Essen, das Land, die Mentalität, die Kriminalität, die Armut, die Guerrilla, die Paramilitares und die Stadtmiliz.
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Die kolumbianische Bevölkerung leidet unter den Folgen eines vierzigjährigen Guerrillakriegs. Die Regierung wollte dem ein Ende setzen und gründete eine Gegenbewegung: die Paramilitares. Die- se Paramilitares sollten eigentlich die Guerrilla bekämpfen, doch die Regierung stritt seit Beginn jegliche Beziehung zu den Paramilitares ab. Die Paramilitares wurden mit der Zeit immer selbständiger und die Bevölkerung hat nun zwei Kriegsgruppen zu fürchten. Er erzählte mir Geschichten von Familien, die von den Paramilitares ermordet wurden, weil sie angeblich der Guerrilla geholfen hatten. Man musste nur einem Guerrillero ein Glas Was- ser geben und man war schon auf der schwarzen Liste der Paramilitares. Die Guerrilleros ihrerseits rächten sich an den Leu- ten, die angeblich die Paramilitares unterstützten; Ein Teufelskreis. Die Kolumbianer sagen, dass man lieber einem Guerrillero, als einem Paramilitar begegnet. Mit einem Guerrillero hat man we- nigstens noch eine kleine Chance zu überleben, der Paramilitar macht dich gleich fertig. Die Guerrilleros haben auch die Gewohnheit, Massen- entführungen durchzuführen. Sie entführen gleich ganze Auto- busse, in der Hoffnung, unter all den Passagieren einige reiche Leute zu finden. Fast wie eine Lotterie. Von diesen reichen Leu- ten verlangen sie dann ein hohes Lösegeld. So finanzieren sie sich und können Waffen und Munition kaufen. Am liebsten haben sie ausländische Touristen, die haben meistens genug Geld. In den Städten regiert die urbane Miliz, weil die Regierung nicht fähig ist, Sicherheit zu garantieren. Darum tun sich Straßenbanden zusammen und befehlen über ihre eigenen Viertel. Die Polizei traut sich meistens gar nicht in solche Viertel zu gehen, weil sie 109
sonst von der Miliz bekämpft wird. Die Miliz kennt dabei kein Erbarmen. Selbst die Einwohner solcher Viertel müssen sich ih- ren Gesetzen beugen. Fabio erzählte mir von einem Mann, der ständig seine Frau ver- prügelte, wenn er zu viel getrunken hatte. Die Miliz hatte ihm schon mehrmals gesagt, er solle damit aufhören. Eines Tages wurde er von der Miliz abgeholt und weggebracht. Die Frau weinte und flehte sie noch an, ihren Mann in Ruhe zu lassen, doch es war zwecklos. Danach sammelte die Miliz im ganzen Viertel Geld ein und übergab es der Frau, damit sie ihre Kinder durchbringen konn- te. Von ihrem Mann weiß man bis heute nicht, wo er ist.
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Playa Blanca
Am Sonntagabend entschied ich mich, mit Fabio nach Playa Blanca zu gehen. Wir verstanden uns sehr gut, und das Leben am Strand hatte mich schon immer fasziniert. Schon in Arrecife konnte ich nie genug davon kriegen. Am Montagmorgen gingen wir zum Hafen und ließen uns von einem Fischerboot nach Playa Blanca bringen. Die Überfahrt dau- erte etwa eine halbe Stunde, obwohl Fabio etwas von zehn Minu- ten gesagt hatte. Anscheinend hatte er bereits die kolumbianische Lebensweise angenommen. Auf Playa Blanca angekommen, wurde Fabio gleich von mehre- ren Leuten begrüßt. Wir setzten uns an einer Bar und bestellten zwei kühle Bier. »Das ist die einzige Bar auf Playa Blanca. Hier trifft man sich abends, wenn man ausgeht.« »Und wo wohnst du?« »Ich habe eine Hütte einige Meter weiter drüben.« »Ist da Platz für uns beide?« »Sicher. Ich habe eine Hängematte und ein kleines Bett darin. Wo möchtest du schlafen?« »Eigentlich lieber in der Hängematte.« »Das ist ok. Ich schlafe lieber im Bett.« Wir tranken die Bier und liefen gemütlich zu seiner Hütte. Die Hütte war wirklich klein. Drinnen konnte man nur schlafen, den Rest der Zeit musste man draußen verbringen. Das war mir aber egal, da man an einem Strand sowieso die ganze Zeit draußen rumhängt. 111
Vor seiner Hütte war ein kleines Boot im Wasser. Als Fabio et- was von einem kleinen Boot gesagt hatte, meinte er anscheinend wirklich klein. Passten sicher nicht mehr als drei Leute rein und selbst das wäre ziemlich eng gewesen. »Ist das dein Boot? Gehst du damit fischen?« »Ja.« »Ohne Motor?« »Ja, ohne Motor. Ich paddle.« »Ach so.« Ich verbrachte eine sehr schöne Zeit auf Playa Blanca. Ab und zu gingen wir morgens fischen, doch das tat ich nicht so gerne. Das bedeutete nämlich, früh aufstehen, paddeln und schwere Netze ins Boot ziehen. Doch ich konnte mich nicht davor drücken, weil Fabio so gastfreundlich zu mir war. Das Fischen dauerte aber nie lange und so gegen zehn waren wir meistens wieder zurück und hatten die Fische schon verkauft. Fabio kochte oft Fisch für uns beide. Er tat dies auf eine ganz einfache Art. Zuerst legte er etwas Aluminiumpapier aufs Feuer, anschließend ließ er ein großes Stück Butter darin zergehen und legte danach die Fische in die flüssige Butter. Das Ganze ließ er einige Minuten auf dem Feuer braten und servierte es danach auf einem Palmenblatt. Schmeckte göttlich. Dabei kam mir jedesmal die Werbung von Baccardi in den Sinn, es fehlte nur noch die Musik dazu. Die einzige Musik, die wir aber tagsüber hatten, war Fabios Gi- tarre. Mit der Zeit hatte ich seine Lieder so oft gehört, dass ich den ganzen Text mitsingen konnte.
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Abends gingen wir oft zur Bar, an der wenigstens etwas Salsa und Vallenato zu hören war. An der Bar waren nur die Inselbe- wohner unter sich. Tagsüber waren mehrere Touristen auf der Insel. Weil es aber auf Playa Blanca keine Hotels gab, fuhren sie abends alle wieder nach Cartagena zurück. Außer an einem Abend. Ein Mädchen hatte sich tagsüber so besoffen, dass sie das letzte Boot verpasste. Abends, als wir zur Bar gingen, sahen wir sie mit den Einheimischen tanzen. Sie war immer noch dermaßen besof- fen, dass sie mit jedem tanzte, der in ihrer Nähe kam. Jeder wollte natürlich mit ihr tanzen und sie betatschen. Alle rechneten sich ihre Chancen aus. Als wir uns an der Bar setzten, sah sie Fabio. »He, komm doch tanzen«, sagte sie zu Fabio auf Englisch. Fabio ließ es sich nicht zweimal sagen und sprang auf die im- provisierte Tanzfläche. Er sah aus wie John Travolta in Saturday Night Fever, es fehlte nur noch der weisse Anzug. Ich zündete mir den mitgebrachten Joint an und genoss die Sze- ne. Die anderen Männer fühlten sich von Fabio irgendwie ver- drängt und fingen an, das besoffene Mädchen noch mehr zu betatschen. Als wollten sie sagen, ich war doch vor dir da. Das Mädchen war so voll, dass sie nicht einmal mehr wahrnahm, wer sie berührte. Sie schaute nur noch zu Fabio. Sie war mit einem Bikini bekleidet, den sie mit einem fast durchsichtigen Tuch zu bedecken versuchte. Ich muss zugeben, dass sie richtig anmachend aussah. Doch mit all den geilen Männern um sie, wollte ich sie nicht noch mehr belästigen. Obwohl sie das Ganze kaum als Belä- stigung empfinden musste, so wie sie tat. Nach einer Weile legte der DJ ein langsames Lied auf. Das Mäd- chen packte Fabio an einer Hand und zog ihn zu sich. Sie fingen 113
an, eng umschlungen zu tanzen. Die anderen Männer kochten fast vor Wut. Man konnte förmlich sehen, wie sie Fabio beneide- ten und gleichzeitig hassten. Fabio packte die Chance, nahm das Mädchen an einer Hand und lief mit ihr zum Strand runter. Die Männer folgten ihnen, als wollten sie ihre Beute nicht aus den Augen lassen. Der arme Fabio. Die gönnen ihm nicht einmal einen Fick. So wies aussah, würden die ihn nicht aus den Augen lassen und ihm schon gar nicht erlauben, dass er das Mädchen vögeln würde. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Mittlerweile war ich alleine geblieben. Alle, auch der DJ, waren Fabio hinterhergelaufen. Die Musik blieb aus, denn die richtige Musik spielte nun unten am Strand. Ich musste irgendwie die Männer ablenken, aber wie? Etwa zwan- zig Meter neben der Bar, stand eine Hütte. Ich wusste nicht, wem sie gehörte. Ich schlich mich bis zur Hütte und schaute rein. Sie war leer. In meinem Vollkiff, kam ich auf die Idee, die Hütte an- zuzünden. Ich weiß bis heute nicht, was ich mir dabei gedacht habe, doch ich tat es. Ich zündete sie an einer Seite an und versteckte mich im angren- zenden Wald. In wenigen Minuten stand die ganze Hütte unter Feuer. Alle Männer rannten sofort zur Hütte und versuchten das Feuer zu löschen, außer Fabio. Ihn konnte ich nicht sehen. Opera- tion gelungen, dachte ich, und half bei der Feuerwehrübung. Nach einer guten Stunde, war das Feuer gelöscht. Die Männer diskutierten noch lange Zeit, wie das passieren konnte. Ich sagte, ich wäre müde und zog mich zurück. Einige bedankten sich noch bei mir für meine Hilfe. Wie sie das wohl gemeint haben?
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Zurück in Fabios Hütte, hörte ich ein leises Stöhnen. Ich schaff- te es, ungesehen die Hängematte zu nehmen. War ja auch nicht schwer, so voll wie die beiden waren. Ich hing die Hängematte zwischen zwei Palmen und ließ mich reinfallen. Kurz darauf schlief ich ein. Am nächsten Morgen, als ich aufwachte, war Fabio immer noch in der Hütte. Das konnte man am Guckloch erkennen, das nachts immer geschlossen wurde. Ich nahm ein Bad und ließ mich von der Morgensonne wärmen. Nach einer guten Stunde, kam Fabio aus der Hütte.
»Guten Morgen«, sagte ich.
»Guten Morgen. Hast du hier draußen geschlafen?«
»Ja, drinnen war ja kaum Platz.«
»Sorry.«
»Wieso sorry, es ist deine Hütte.«
»Auch wahr. Willst du Kaffee?«
»Ja, gerne.«
»Was war eigentlich gestern abend los? Hat da was gebrannt?
Ich habe Feuer gesehen.« »Ja, eine Hütte hat gebrannt.« »Wie konnte das passieren?« »Keine Ahnung.« »Welche war es denn?« »Die erste neben der Bar, die mit der kleinen Veranda.« »Shit. Das ist die von Pedro.« »Das war die von Pedro.« Fabio ging Kaffee kochen und ich ließ mich weiterhin von der Sonne wärmen. Ich hatte also Pedros Hütte angezündet. Pedro 115
war quasi der Inselboss. Wenn zwei sich stritten, wurde er immer nach seiner Meinung gefragt. Überhaupt wollte er immer das letz- te Wort haben und alle ließen ihm auch das letzte Wort. Vermut- lich weil er groß wie ein Kleiderschrank und stark wie ein Ross war. Er war gestern abend auch der Anführer der Männerschar ge- wesen. Ich glaube, dass er es Fabio sehr übel genommen hat, we- gen des Mädchens. Und ich hatte ausgerechnet ihm die Hütte an- gezündet. Welch Zufall, dachte ich, doch Edi el Calvo wäre hier anderer Meinung gewesen. Fabio kam mit zwei Tassen Kaffee und setzte sich zu mir.
»Schläft sie noch?« fragte ich.
»Wer?«
»Das Mädchen von gestern abend.«
»Die ist schon weg.«
»Was, schon weg? Ich hab sie nicht gehen sehen.«
»Sie ging ziemlich früh, mit einem der ersten Boote.«
»War sie Engländerin?«
»Keine Ahnung.«
»Weißt du wenigstens, wie sie heißt?«
»Keine Ahnung.«
Wir schauten eine Weile schweigend in die Ferne.
»Die Männer gestern abend, die haben es dir ziemlich übel ge-
nommen«, sagte ich. »Was?« »Dass du ihnen das Mädchen ausgespannt hast.« »Ich hab doch keinem das Mädchen ausgespannt. Sie kam frei- willig mit mir.«
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»Ich weiß, aber versuchs mal den anderen zu erklären. Hast du nicht gesehen, wie sie euch gefolgt sind.« »Wer ist uns gefolgt? Uns ist doch keiner gefolgt?« Er hatte anscheinend überhaupt nicht mitbekommen, was da abgegangen war. Er musste dermaßen auf das Mädchen abgefah- ren sein, dass er kaum etwas wahrgenommen hat. Selbst das Feuer sah er kaum und es war ein großes Feuer. »Heute ist wohl nichts mit fischen gehen, oder?« fragte ich. »Nein.« »Sehr gut.« Abends - an der Bar - war das Mädchen kein Thema mehr. Man sprach nur noch über das Feuer in der Hütte. Keiner wusste ge- nau, wie es passieren konnte. Einige waren der Meinung, es sei durch eine Zigarettenkippe entfacht, andere waren da nicht ganz einverstanden. Doch keiner vermutete Brandstiftung, schon gar nicht durch mich. Im Gegenteil, bei mir bedankten sich alle für mein Hilfe. Nur Fabio nicht, aber er musste sich auch nicht be- danken. Die Zeit verging schnell und die Leute auf Playa Blanca halfen Pedro, eine neue Hütte zu bauen. Innerhalb von einer Woche stand seine Hütte schon wieder, fast schöner als die alte. Eines Morgens standen Fabio und ich früh auf, um fischen zu gehen. Wir nahmen das Boot und paddelten einen Weile, bis wir weit genug waren, um die Netze über Bord zu werfen. Danach warteten wir meistens eine gute Stunde, bis wir die Netze wieder einsammelten.
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Ich nahm immer mein Filmröhrchen mit, um diese Zeit gemüt- lich zu genießen. Morgens früh war die Sonne noch nicht so heiß, und ich konnte im Boot ein wenig weiterschlafen. An diesem Morgen war Fabio ziemlich gut drauf und hatte kei- ne Lust zum Schlafen. Er nahm seine Gitarre und fing an zu spie- len. »Du vertreibst noch die Fische damit«, sagte ich. »Im Gegenteil, das zieht sie an.« »Wenn du meinst«, sagte ich mit verschlossenen Augen. »Sei doch ehrlich. Du willst schlafen und ich störe dich mit mei- ner Musik, nicht wahr?« meinte Fabio lächelnd. »Genau. Rauch doch lieber ein wenig Gras, dann kannst du dich relaxen.« »Ich will mich nicht relaxen, ich nehme jetzt ein Bad.« Er zog sein T-Shirt aus und sprang - Kopf voran - ins Wasser. Ich schaute ihm hinterher und wartete, bis das glasklare Wasser sich wieder beruhigen würde und ich seine Silhouette erkennen konnte. Das Wasser wurde wieder ruhig, doch ich konnte ihn nicht erkennen. Nach einigen Sekunden, sah ich etwas rotes unter der Wasser- oberfläche. Blut! Ich sprang sofort ins Wasser und suchte nach Fabios Körper. Er lag auf dem Meeresgrund, auf etwa vier Meter Tiefe. Ich packte ihn unter den Armen und brachte ihn an die Wasser- oberfläche. Danach stieg ich ins Boot und zog ihn mit letzter Kraft auch ins Boot. Er blutete am Kopf. Er musste irgendwo seinen Schädel angeschlagen haben, vermutlich an einem Felsen oder sowas. Er war bewusstlos und ich konnte ihn nicht beleben. Ich bekam überhaupt keine Reaktion von ihm. 118
Ich fing an zu paddeln, so schnell ich nur konnte. Nach wenigen Minuten war ich bereits an Land. Ich schrie schon nach Hilfe, noch bevor ich aus dem Boot war. Einige Männer rannten gleich zu uns, um zu schauen was passiert war. Auch Pedro kam ange- rannt. Er nahm gleich die Situation in die Hand und packte Fabio, um ihn aus dem Boot zu heben. »Helft mir. Wir bringen ihn mit meinem Boot nach Cartagena«, sagte er. Alle packten an und hoben Fabio in die Luft. Sie rannten zu Pedros Boot, das hatte nämlich einen Motor und konnte somit schneller nach Cartagena gelangen. Die Männer legten Fabio in Pedros Boot, doch sie blieben an Land. Für alle hatte es kaum Platz, und selbst dann wäre das Boot zu langsam gewesen. Wir mussten uns aber beeilen. Ich stieg ins Boot und Pedro fuhr gleich los. Wir hatten keine zehn Minuten bis Cartagena, so wie Fabio einmal gesagt hatte. Während der Fahrt, schaute ich Pedro an und überlegte. An dem Abend, als das besoffene Mädchen auf der Insel geblieben war, war Pedro der größte Verlierer gewesen. Zuerst spannte ihm Fabio das Mädchen aus, danach zündete ich ihm die Hütte an. Und jetzt? Jetzt war er unser großer Retter. Er hatte sofort reagiert und die richtigen Maßnahmen getroffen, um Fabio zu helfen. Verkehrte Welt. In diesem Moment hatte ich ein schlechtes Gefühl, so etwas wie Gewissensbisse. Aber das dauerte nicht lange, denn wir waren bereits in Cartagena angekommen. Ich stoppte ein Taxi, während Pedro den immer noch bewusstlosen Fabio auf die Schulter nahm. Wir legten Fabio auf den Rücksitz und fuhren ins Spital. Ich saß hinten und hatte Fabios
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Kopf auf meine Beine gelegt. Er blutete stark und war immer noch nicht ansprechbar. Im Spital angekommen, wurde er gleich von einigen Ärzten auf eine Bare gelegt und weggebracht. Pedro stieg wieder ins Taxi und fuhr zurück zum Hafen. Er war besorgt um sein Boot, sagte er. Ich wurde anschließend ausgefragt, was genau passiert war. Da- nach blieb ich den ganzen Tag im Spital, bis die Ärzte mir etwas über Fabios Zustand sagen konnten. So gegen Abend kam dann ein Arzt zu mir und fragte mich, ob ich ein Verwandter von Fabio sei. »Nein, ich bin ein Bekannter. Ich war dabei, als der Unfall pas- sierte.« »Sein Zustand ist stabil, aber er hat sehr viel Blut verloren.« »Ist er in Lebensgefahr?« »Das können wir noch nicht sagen. Wir müssen abwarten, wie er die Nacht übersteht.« »Kann ich ihn sehen.« »Er ist immer noch bewusstlos. Wir halten ihn in einem künstli- chen Schlaf, solange wir nicht genau wissen, welche Schäden er davongetragen hat.« »Verstehe.« Ich nahm ein Taxi und fuhr zum Hafen, um wieder nach Playa Blanca zu gelangen. Doch um diese Zeit fuhren keine Boote mehr nach Playa Blanca. Ich ging also ins Hotel Colombia und verbrachte die Nacht dort. Am nächsten Morgen stand ich sehr früh auf und fuhr nach Playa Blanca, um meine und Fabios Sachen zu holen. Alle erkun- digten sich nach Fabios Zustand und ich erzählte ihnen, was der
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Arzt mir gesagt hatte. Ich bedankte mich bei Pedro für seine Hilfe und verließ die Insel. In Cartagena angekommen, ging ich gleich ins Spital, um mich nach Fabios Gesundheit zu erkundigen. Er war immer noch bewusstlos und die Ärzte konnten mir nicht sagen, wie lange er noch in diesem Zustand bleiben würde. Ich blieb noch etwa eine Woche in Cartagena und besuchte Fabio täglich. Danach sah ich keinen Sinn mehr darin, hier zu bleiben. Fabio hatte in einer Woche keine Anzeichen zur Besserung ge- macht und ich konnte ihm mit meiner Anwesenheit auch nicht weiterhelfen. In dieser Woche hatte ich genug Zeit, um über alles nachzuden- ken. Seit meiner Ankunft in Kolumbien hatte ich mehrere Leute kennengelernt und mit allen hatte ich etwas Trauriges zu verbin- den. Fredo war in Thailand im Knast gewesen und ich hatte ihn wie- der daran erinnert. Cristina hatte - vermute ich mal - eine Liebes- enttäuschung erlitten und ich war daran Schuld. Edi el Calvo hatte durch mich zwar nichts Trauriges erlebt, doch sein Leben war schon so genug gefährlich und somit irgendwie traurig. Pedro verlor durch mich seine Hütte und vermutlich auch eine Liebesnacht mit einer Touristin. Und zuletzt noch Fabio. Hätte ich Fabio nicht gesagt, er solle mit seiner Gitarre aufhören, wäre er vielleicht nicht ins Wasser gesprungen. Hätte, wenn und aber. Das nützte nun alles nichts. Ich durchsuchte Fabios Sachen, bis ich die Adresse seiner El- tern fand. Ich rief seine Mutter an und erzählte ihr, was gesche-
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hen war. Sie sagte, sie würde gleich nach Cartagena fliegen und in ein zwei Tagen hier sein.
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Mai
Medellín
Ich hatte genug von Cartagena. Am 1. Mai war es an der Zeit, Medellín zu sehen. Edi el Calvo hatte mir schon davon erzählt und Fabio hatte mir ebenfalls davon berichtet. Ich kaufte mir also ein Busticket nach Medellín und nahm den Nachtbus. Obwohl nachts die Gefahr einer Busentführung durch die Guerrilla größer war, wollte ich nicht tagsüber reisen. Die Hitze und der verlorene Tag waren für mich Grund genug, eine Nacht- fahrt einzulegen. Weil ich nachts - während der Fahrt - gut schla- fen konnte, kam mir die Reise nicht so lang vor. Die Busfahrt von Cartagena nach Medellín dauerte immerhin vierzehn Stunden. Ich machte es mir wieder bequem, indem ich die Rückenlehne nach hinten klappte. Während der Fahrt musste ich an Fabio denken. Hoffentlich würde er es überleben. Vielleicht würde ihm die Ankunft seiner Mutter gut tun. Ich konnte nur hoffen. Fabio hatte mir einiges von Medellín erzählt. Da gab es zum Beispiel ein Hotel in der Carrera 45, was er mir empfohlen hatte. Hotel Floris hieß es. Ich musste auch an Edi denken, der angeblich in Medellín lebte. Würde ich ihn wiedersehen? Er hatte mir keine Adresse oder Te- lefonnummer gegeben, was bei so einem plötzlichen Abschied auch praktisch unmöglich gewesen wäre. Ich dachte über seine Theorien nach. Seine Geschichten über Zufälle, die gar keine sind. Seine Lebenszeichen, die man wahr- nehmen sollte. Die Entscheidungen, die man zwischen sachlicher
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Objektivität und gesundem Menschenverstand treffen sollte. All das und mehr. Hatte ich in den letzten Tagen etwas davon gemerkt? Hatte ich auf Playa Blanca irgendwelche Lebenszeichen oder Zufälle erlebt? Hatte ich Entscheidungen getroffen, die mein Leben beeinflusst haben? Eigentlich ging es bereits los, als ich mich entschied, mit Fabio nach Playa Blanca zu fahren. Wo wäre ich sonst heute? Und wie lange ich auf Playa Blanca bleiben wollte, wusste ich damals auch nicht. Doch mit Fabios Unfall, wurde meine Abreise eigentlich bereits entschieden und ich, ich hatte auch meinen kleinen Teil dazu beigetragen. Dann war noch die Geschichte mit Pedros Hütte. Wer gab mir die Idee dazu? Als ich die Hütte entdeckte, wusste ich noch nicht, dass ich sie anzünden würde. Erst als ich sah, dass sie leer war, kam mir die Idee. War das nicht ein Zeichen des Lebens? Ich wusste es nicht genau und Edi konnte ich auch nicht fragen. Edi, was mag nur aus ihm geworden sein. Wie hatte er jene Nacht ver- bracht, fragte ich mich. Ich erinnerte mich an dieses Buch, das Edi erwähnt hatte. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Ich wollte es lesen und nahm mir vor, in Medellín danach zu suchen. In irgend einer Buchhand- lung würde ich es sicher finden. Danach schlief ich ein. Die Reise verlief ruhig, ohne irgendwelche Guerrilla Entführun- gen. In Medellín angekommen, es war so gegen zehn, nahm ich ein Taxi und fuhr zum Hotel Floris. Medellín: eine zwei Millionen Stadt. Die Straßen waren über- füllt mit Menschen. Fast alle Autos waren gelbe Taxis, wie Edi 128
damals gesagt hatte. Und der Verkehr stand dem von Bogotá in nichts nach. Aber sauber war Medellín. Nicht so sauber wie eine Schweizer Stadt, aber immerhin sauberer als Cartagena oder Bo- gotá. Manchmal hatte ich den Eindruck, als sei ich in Genf oder Zü- rich. An manchen Kreuzungen konnte man bis zu fünf Banken sehen, alle im Umkreis von wenigen Metern. Endlich kamen wir im Hotel Floris an. Das Hotel Floris war so ein Stundenhotel. Die Pärchen kamen und gingen die ganze Zeit. Da kamen Typen mit ihrer Freundin, da sie sonst nicht gewusst hätten, wohin mit ihr. Dann kamen solche mit ihrer Geliebten, sie war dabei meistens sehr schüch- tern. Und dann waren noch die Huren, die gelegentlich ihre Freier ins Hotel brachten. Solche Typen wie ich - die über längere Zeit ein Zimmer nah- men - gab es fast nicht, bis auf zwei Ausnahmen. Ein älterer Herr und eine Hure wohnten im Hotel. Sie hatten sich so eingerichtet, dass ihre Zimmer wie Wohnungen aussahen. Die Hure hatte so- gar einen Fernseher in ihrem Zimmer. Woher ich das weiß? Dazu später, gehen wir der Reihe nach. Ich kam also im Hotel an und nahm ein Zimmer. Das Hotel hatte neunzehn Zimmer, zehn im Erdgeschoss und neun im Obergeschoss. Im Obergeschoss war ein Zimmer weniger als im Erdgeschoss, weil dieser Platz für eine große Terrasse geopfert wurde. Mein Zimmer war die Nummer neunzehn, das letzte Zim- mer also, vor der großen Terrasse. Da sich keine Gäste im Hotel bis zur Terrasse verliefen, war ich der einzige, der sie in Anspruch nahm. Sie gehörte fast zu meinem Zimmer, wie ein kleiner Garten zu einem Haus gehört. 129
Ich bekam also das Zimmer und richtete mich darin ein. Da- nach machte ich mich auf die Suche nach einer Buchhandlung. Ich klapperte mehrere Buchhandlungen ab, aber keine hatte das Buch in ihrem Sortiment. Ich erkundigte mich jeweils, ob es viel- leicht andere Buchhandlungen gäbe, in denen ich das Buch finden könnte. Doch alle Buchhandlungen, die man mir angegeben hatte hatten dieses Buch nicht. Ich gab es langsam auf und verbrachte den Rest des Nachmittags damit, die Stadt besser kennenzuler- nen. Abends ging ich dann wieder zurück ins Hotel. Ich war sehr müde, weil ich den ganzen Nachmittag zu Fuß unterwegs gewe- sen war. Gleich neben dem Hotel, war eine kleine Bar, Las Copitas hieß sie. Die Bar war wirklich klein, und die meisten Leute hatten darin keinen Platz. Sie standen meistens auf der Straße rum. Ich nahm noch ein Bier in dieser Bar und ging dann auf mein Zimmer. Den Abend verbrachte ich auf meiner Terrasse mit Musik und Gras. Ich dachte über die letzten zwei Monaten nach. Was ich alles schon erlebt hatte. Was ich noch alles erleben würde. Was mir auffiel war, dass mich fremde Leute nicht mehr Mono nannten. Vielleicht, weil meine Haare länger wurden und ich nicht mehr wie ein Junge aussah. Als es ziemlich spät war, kam eine Frau zu mir hoch. »Ich dachte doch, dass es hier nach Marihuana riecht«, sagte sie. »Willst du ein wenig?« »Gerne.« »Arbeitest du hier im Hotel?« »So zu sagen.«
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»Was heißt so zu sagen?«
»Ich bin eine Hure und wohne hier. Das meinte ich.«
»Ach so.«
»Das Marihuana schmeckt echt gut.«
»Ist von der Küste. Ich habe aber gehört, dass ihr hier noch
besseres habt.« »Keine Ahnung, für mich schmeckt alles gleich.« »Wie heißt du?« »Luz und du?« »Mono.« »Willst du vögeln, Mono?« »Du meinst für Geld?« »Ja, wie denn sonst?« »Nein. Ich bezahle nicht für Sex.« »Und ich kann es dir nicht gratis machen, Geschäft ist Geschäft. Schade, du gefällst mir nämlich.« Ihre Anmache konnte man meterweit erkennen, denn für sie sahen eh alle Männer gut aus. Für sie war nur das Geld wichtig. Doch damit will ich nicht sagen, dass ich nicht gut ausgesehen habe. Wir plauderten danach noch eine Weile, dann ging sie Schlafen, oder sagte sie zumindest. Luz war so um die vierzig, ziemlich ungepflegt und reichlich naiv. In Zukunft kam sie immer zu mir hoch, wenn sie Lust auf Marihuana hatte. Mit ihr habe ich die lustigsten Momente ver- bracht, denn sie glaubte mir alles, was ich ihr erzählte.
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José
Am nächsten Morgen wollte ich weiterhin dieses Buch suchen. Ich klapperte noch einige Buchhandlungen ab, bis es keine mehr gab, die ich nicht bereits besucht hatte. Ich setzte mich auf eine Bank in der Plaza San Antonio. Auf der Bank gegenüber, saß ein Typ mit einem Buch in der Hand. Ich schaute auf das Buch und versuchte den Titel zu erkennen. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins? Das konnte doch nicht wahr sein. Ich würde es mir nur einbilden, weil ich seit zwei Tagen die- ses Buch gesucht habe, dachte ich. Und der Typ saß viel zu weit von mir entfernt, dass ich den Titel erkennen könnte. Doch ich fand keine Ruhe. Ich stand auf und ging auf ihn zu. Je näher ich kam, um so klarer wurde der Titel. Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins! Ich war völlig überrascht. Die ganze Zeit hatte ich dieses Buch gesucht und nicht gefunden. Und nun - plötz- lich - hatte es dieser Typ. Mir kam sofort Edi in den Sinn, mit seiner Geschichte über Zufälle und Lebenszeichen. War das nun so eine Situation? Wenn es nach Edi gehen würde, musste ich jetzt diesen Typ ansprechen und fragen, wo er das Buch gekauft hat. Edi würde sogar sagen, dass dieser Typ mein Leben verändern könnte. Was Edi aber nicht wusste war, dass er selbst angefangen hatte, mein Leben zu verän- dern und zwar in dem Moment, als er mir gegenüber dieses Buch erwähnte. Bizarr. »Entschuldige, darf ich dich was fragen?« sagte ich zu dem Typ. »Ja, bitte.« »Kannst du mir sagen, wo du dieses Buch gekauft hast?« 132
»Ja. In einer Buchhandlung in der Carrera 46.« In der Carrera 46? Mein Hotel war in der Carrera 45, ein Kat- zensprung davon entfernt. Ich konnte es nicht glauben, die ganze Zeit hatte ich fast die ganze Stadt abgesucht, und dabei war es gleich um die Ecke. »Wieso?« fragte mich der Typ. »Ich suche es schon seit zwei Tagen, ohne Erfolg. Und nun setz ich mich auf diese Bank da und sehe, wie du ausgerechnet dieses Buch liest. Wie findest du das?« »So ist das Leben. Bist du nicht von hier?« »Nein. Ich bin auf der Durchreise.« »Setz dich. Ich heiße José.« »Ich bin Mono.« Wir plauderten eine Weile und ich vergaß völlig, dass ich eigent- lich dieses Buch kaufen wollte. Nach einer guten Stunde, fragte mich José ob ich ihn begleiten wollte. Er musste einiges im Zen- trum erledigen und könnte mir dabei etwas von Medellín zeigen. Ich nahm an, und wir zogen los. Er zeigte mir verschiedene Einkaufspassagen, erzählte mir Ge- schichten über alte Gebäude und zeigte mir sogar das älteste Café von Medellín. War so ein Eckcafé mit einer grauen Fassade. Das Haus war etwa 150 Jahre alt, meinte José. Wir gingen in zwei Mu- seen, ins Museo de Arte Moderna und in ein anderes, dessen Name ich nicht mehr weiß. Er klärte mich über kolumbianische Künst- ler auf. Einige waren auch aus Medellín, wie zum Beispiel Fernando Botero. Er erzählte mir von drei Bronzeskulpturen auf der Plaza San Antonio, die ich unbedingt sehen müsste. Wir hatten uns zwar auf der Plaza San Antonio kennengelernt, doch ich hatte die Skulp- turen nicht wahrgenommen. 133
José war ein Kulturfanatiker. Er wusste alles über Kunst, Male- rei, Geschichte. Er bemühte sich immer, korrekt und geschwollen zu reden und erkundigte sich immer, ob ich ihn auch verstanden hätte. Die Kleider die er trug, waren vom Feinsten. Beige Bund- faltenhosen, schwarze Lackschuhe und ein dunkelblaues Seiden- hemd. Seine Frisur war perfekt, wie frisch vom Coiffeur. Für ei- nen kurzen Moment dachte ich, ich könnte ihn fragen ob er mir Punto Rojo besorgen könne. Doch ich ließ diese Idee gleich fal- len. Er war nicht der Typ, der sich mit solchen Sachen abgibt, dachte ich. Wir plauderten über alles: Autos, Sport, Frauen usw. Beim The- ma Frauen schien es mir aber, als würde er nicht mehr so selbstbewusst reden, doch vielleicht irrte ich mich. Er sagte, dass am Abend ein Fußballspiel stattfinden würde und ob ich nicht Lust hätte, ins Stadion zu gehen. Ich war begeistert von der Idee. Ich erinnerte mich, dass während der letzten Fußball Weltmei- sterschaft in den USA ein kolumbianischer Fußballspieler ermor- det wurde. »Wie hieß der kolumbianische Fußballspieler, der letztes Jahr ermordet wurde?« fragte ich José. »Andrés Escobar.« »Weiß man, was da eigentlich genau abgegangen ist? Ich meine, weiß man wer ihn umgebracht hat und weshalb?« »Wer ihn umgebracht hat, weiß man schon, den hat man ja gleich nach der Tat festgenommen. Doch der war nur ein armes Schwein, der die Tat ausgeführt hat. Die eigentlichen Auftraggeber hat man nicht erwischt.«
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»Und wieso musste er sterben? Sicher nicht wegen eines Eigen- tors, oder?« »Das mit dem Eigentor war nur eine Ausrede. Die Hintergrün- de sind andere. Nachdem sich Kolumbien mit einem 5:0-Sieg ge- gen Argentinien für die Weltmeisterschaft qualifiziert hatte, dach- ten viele, sie würden auch gleich die Weltmeisterschaft gewinnen. Zumal Argentinien immer unser größter Erzrivale gewesen ist und wir sie in Buenos Aires geschlagen haben. Du kannst dir nun vor- stellen, dass einige reiche Mafiabosse sehr viel Geld auf Kolumbi- en gewettet haben. Um sich dagegen abzusichern, hat die Gegen- seite den Spielern gedroht, ihre Familien zu töten, wenn Kolum- bien doch Weltmeister geworden wäre. Darum hat ja Kolumbien so schlecht gespielt, die Spieler hatten Angst. Und als Kolumbien nicht einmal die erste Runde überstand, musste halt irgend ein Sündenbock her, und das war Andrés wegen seines Eigentors ge- gen die USA.« Eine verrückte Geschichte. Ich erinnerte mich, dass Kolumbien bei der Weltmeisterschaft gegen die Schweiz gespielt hatte. Ko- lumbien gewann damals hoch überlegen mit 2:0, doch der Sieg nützte ihnen nichts mehr. Als wollten sie allen zeigen, dass sie doch Fußball spielen können, wenn man sie nur lässt. Wir gingen also abends ins Stadion, ins Estadio Atanasio Girardot von Medellín. Ein riesiger Menschenauflauf - etwa 40.000 Leute - füllte das Stadion. Vor dem Spiel entschuldigte sich José einen kurzen Moment und näherte sich einigen Jungs. Er kam wenige Minuten danach wieder zu mir und wir betraten das Stadion.
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Eine Riesenstimmung. Alle sangen und tanzten und alles war grünweiss bemalt, die Farben des Atlético National. Sie spielten gegen Envigado, eine Mannschaft aus einem Vorort von Medellín. José erklärte mir, dass es sich um ein Meisterschaftsspiel handel- te. Dass aber am nächsten Mittwoch ein viel wichtigeres Spiel statt- finden würde. Das Achtelfinale der Copa Libertadores. Die Copa Libertadores entspricht unserer Champions League in Europa. Dort spielen alle Meister aus den verschiedenen Ländern gegen- einander. Atlético National musste nächsten Mittwoch gegen Peñarol aus Uruguay spielen. Ich fragte José, ob wir dann wieder ins Stadion gehen würden, und er hatte nichts dagegen. Als das Spiel begann, holte José einen Joint aus seiner Jacke und zündete ihn an. Ich war ziemlich überrascht, weil ich ihn nicht als Kiffer eingeschätzt hatte, doch ich hatte mich anscheinend geirrt. »Woher hast du den?« »Den hab ich draußen gekauft, vor dem Stadion.« »Kann man die so kaufen, schon fertig gedreht?« »Ja, die heißen Barreticos, weil sie wie eine kleine Stange ausse- hen.« Er nahm einige Züge und gab ihn mir rüber. So einen Joint hatte ich noch nie gesehen, er sah wirklich wie eine kleine Stange aus. Er war gerade und nicht zylindrisch, sehr hart und aus purem Marihuana. Er sah aus wie eine Gauloise ohne Filter. Ich nahm einige Züge und gab ihn José wieder zurück. »Ist das Punto Rojo?« fragte ich. »Ja.« »Was kostet so ein Ding?« »200 Pesos.« 136
Danach schaute ich auf das Spiel und genoss mein erstes Punto Rojo. Nach wenigen Minuten, war ich bereits völlig abwesend. José gab mir wieder den Joint rüber, doch ich musste passen. Ich hatte eine geniale Scheibe. Das war also Punto Rojo. Edi hatte Recht, es war wirklich etwas Spezielles. Ich hatte nur diese zwei Züge ge- nommen, doch ich hatte eine zweistündige Scheibe. Vom Spiel habe ich überhaupt nichts mitbekommen, nicht einmal wer ge- wonnen hat. Ich war einfach zwei Stunden lang in einer grünweis- sen, lauten und tobenden Arena. Nach dem Spiel gab ich José die Telefonnummer des Hotels und wir verabredeten uns für nächsten Mittwoch, um das nächste Spiel zu sehen. Anschließend nahm ich ein Taxi und fuhr ins Ho- tel. Dort angekommen, nahm ich noch ein Bier im Las Copitas, mittlerweile war es für mich fast wie eine Gewohnheit geworden. Die Leute, die auch am Vorabend da waren, erkannten mich und grüßten beiläufig. Ich grüßte zurück und trank mein Bier auf der Straße. Danach bestellte ich noch eins und nahm es mit aufs Zim- mer. Meine Scheibe war allmählich verschwunden. Ich duschte und ging auf die Terrasse. Das Radio im Zimmer spielte Salsamusik und ich genoss das Bier, das ich aus der Bar mitgebracht hatte. Nach kurzer Zeit kam Luz hoch, sie hatte anscheinend wieder Lust auf Gras. Ich drehte für sie einen Joint und verbrauchte da- bei mein letztes Gras. Nicht zu glauben, aber ich hatte über zwei Monate lang von dem Gras geraucht, das Fredo und ich in Santa Marta gekauft hatten. Fredo hatte zwar gut die Hälfte davon mitgenommen - als 137
wir uns in Arrecife trennten - doch es war allemal viel Gras. Ich hatte auch immer schön großzügig mit meinen Bekanntschaften geraucht. Luz wollte zuerst nicht, dass ich mein letztes Gras für sie opfern würde, doch ich beruhigte sie. Hier in Medellín, sagte ich, gäbe es den Punto Rojo und seitdem ich es probiert hatte, schmeckte mir mein Gras eh nicht mehr. Luz war so richtig naiv, ich konnte ihr alles mögliche erzählen und sie glaubte es. Sie fragte mich zum Beispiel aus, wie die Men- schen in Europa seien. Ich erzählte ihr, dass die Menschen in Eu- ropa viel größer wären, als diejenigen in Südamerika. Je nördli- cher, um so größer, sagte ich. In Skandinavien wären die Men- schen über drei Meter groß. Ich sei für europäische Verhältnisse ein richtiger Zwerg, sagte ich. Sie hörte mir sehr aufmerksam zu und staunte immer über meine Geschichten. Wir saßen also auf der Terrasse und plauderten. Nach dem Du- schen hatte ich etwas Deo unter die Achseln gestrichen und dabei ein wenig verschüttet. War so ein Pulverdeo. Sie zeigte auf die Pulverreste auf dem Tisch und fragte: »Was ist denn das?« »Was meinst du, was das sein könnte?« Sie überlegte eine Weile, danach sagte sie völlig empört: »Nein! Das ist doch nicht...« »Nicht was?« »Na ja. Du weißt schon.« »Du meinst Perico?« »Ja.« »Klar ist das Perico.« »Du nimmst davon?« 138
»Sicher. Immer wenn du kommst, nehme ich Perico.« »Wieso immer wenn ich komme?« »Damit ich bereit bin, falls du dich doch entscheiden solltest, gratis mit mir zu vögeln.« »Ich machs nicht gratis, das weißt du doch.« »Und ich bezahle nicht für Sex.« »Im Ernst. Hast du davon genommen?« »Nein. Ich habe es nach Europa verschickt.« »Nach Europa. Wie denn?« »Mit der Post.« »Wie mit der Post? Die öffnen doch alle Briefe und Pakete und setzen dabei auch noch Spürhunde ein. Das Zeug kommt doch niemals an.« »Ich stecke es ja auch nicht in Briefe oder Pakete.« »Nicht? Wohin denn?« »Ich klebe es unter die Briefmarken.« »Unter die Briefmarken?« »Ja klar. Wenn meine Kumpel dann die Postkarten erhalten, rei- ßen sie die Briefmarken ab und lecken daran.« »Im Ernst?« »Klar. Hast du schon was von Briefmarkensammlern gehört?« »Ja.« »Die sind alle kokainsüchtig.« »Nein!« »Wieso meinst du, sammeln die gerne Briefmarken? Wegen den schönen Bilder vielleicht? Wohl kaum. Die lecken daran. Die sind alle auf Koks.« »Nein!«
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»Doch. Alle Briefmarkensammler sind kokainsüchtig. Überhaupt jeder, der etwas sammelt, ist süchtig.« »Zum Glück sammle ich nichts.« »Ich auch nicht.« »Aber das Zeug klebt ja an der Briefmarke fest. Wie kann man es dann ablecken? Man leckt ja auch den Leim ab, oder?« »Nein. Da gibts eine spezielle Verpackungskunst.« »Eine spezielle was?« »Verpackungskunst.« »Zeigst du sie mir?« »Das würde ich gerne, aber ich hab kein Perico mehr. Ich habe alles schon auf die Post gebracht.« »Schade.« So ging es jedes Mal. Sie fing an zu fragen, und ich hängte gleich ein. Ich erfand die unmöglichsten Storys, immer improvisierend auf ihre Fragen. Wir hatten immer einen Höllenspaß zusammen, oder ich zumindest.
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Gregorio
Am nächsten Morgen war ich fest entschlossen, endlich dieses Buch zu kaufen, wonach ich nun bereits seit zwei Tagen gesucht hatte. Ich ging also in die Carrera 46. Dort war tatsächlich eine kleine Buchhandlung, die ich fast übersehen hätte. Seitdem Edi in Cartagena dieses Buch erwähnt hatte, wollte ich es unbedingt lesen, aber ich konnte es nirgends finden. Doch was ich nicht wusste war, dass durch dieses Nichtfinden des Buches, der Zweck des Ganzen bereits erfüllt wurde. Das mag an dieser Stelle etwas verwirrend klingen, aber in den nächsten Tagen sollte alles eine Erklärung bekommen. Ich betrat also die Buchhandlung und suchte nach dem Buch, konnte es aber nicht finden. Musste irgendwie ausverkauft sein, oder so. Der Besitzer wusste auch nicht recht, ob er es je gehabt hatte. Ich schaute mich ein wenig um und sah ein Regal mit deutschen Bücher. Mal schauen, ob ich da was interessantes zum Lesen fin- de, dachte ich. Während ich mir die Bücher ansah, näherte sich ein Junge. Ich hatte den Eindruck, als wollte er mir etwas sagen, aber nicht den Mut dazu fand. Zuerst tat ich so, als hätte ich ihn nicht bemerkt, doch als er anfing mich ununterbrochen zu beobachten, schaute ich zu ihm. »Ist was?« fragte ich ihn. »Sprichst du Deutsch?« fragte er schüchtern. »Ja. Wieso?«
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»Ich lerne nämlich gerade Deutsch.«
»Schön.«
»Ich heiße Gregorio«, sagte er und streckte mir seine Hand ent-
gegen. »Ich bin Mono«, sagte ich und gab ihm ebenfalls die Hand. »Kannst du wirklich gut Deutsch?« fragte er mich erneut. »Ich glaube schon.« »Würdest du mir einen Gefallen tun?« »Kommt drauf an. Um was gehts denn?« »Ich studiere Medizin. Nun habe ich einen Artikel aus einer deut- schen Medizinzeitschrift, den ich aber nicht ganz verstehe. Nun, da mein Deutsch halt nicht so gut ist, wollte ich dich fragen, ob du mir beim Übersetzen helfen könntest.« »Ich weiß nicht, ob mein Spanisch gut genug ist, um einen deut- schen Text zu übersetzen.« »Du musst den Text nicht wortwörtlich übersetzen. Reicht schon, wenn du mir den Inhalt erklärst. Ich habe sonst noch mein Wör- terbuch dabei, wenn es dir weiterhilft.« »Ok, wenn du meinst. Ich kann dir aber nichts versprechen.« »Musst du auch nicht.« Gregorio war so um die achtzehn und sehr schüchtern. Ich kam mir vor wie sein größerer Bruder, der ihm bei den Hausaufgaben helfen musste. Wir setzten uns in ein Fastfood Restaurant und fingen an, sei- nen Artikel zu übersetzen. Das ganze dauerte fast drei Stunden. Die ganze Zeit trank er nur einen einzigen Apfelsaft. Weil ich weiß, dass Studenten nie Geld haben, lud ich ihn ein. Vielleicht trank er
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deswegen nur ein Glas, weil es ihm peinlich war. Er war äußerst schüchtern, wie ich schon sagte. Mittlerweile war es schon Mittag und ich hatte mein Buch immer noch nicht gefunden. Wir waren mit der Übersetzung soweit fer- tig, und Gregorio musste wieder zur Uni. Bevor er ging sagte er mir, dass in der Uni eine Fotoausstellung wäre. Wenn ich sie sehen möchte, würde er mich gerne begleiten. Ich fand die Idee gut, zumal ich gerne eine Uni in Kolumbien gesehen hätte. Und die Fotoausstellung wäre sicherlich auch interessant gewesen. Ich gab ihm die Telefonnummer des Hotels und wir vereinbarten, dass er mich anrufen würde, sobald er etwas Zeit habe.
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Begegnung einer anderen Art
So gegen zwei Uhr nachmittags, rief mich José im Hotel an. Er fragte mich, was ich am Nachmittag vorhatte und ob wir uns nicht sehen könnten. Ich sagte, dass ich nichts vorhatte und lud ihn ins Hotel ein. Fünf Minuten später stand er bereits vor meiner Tür. Ich war ein wenig überrascht, doch ich dachte mir nichts weiter dabei, ver- mutlich hatte er von einem Telefon in der Nähe angerufen. »Hallo«, sagte er.
»Hallo José.«
»Bist du gestern noch gut im Hotel angekommen?«
»Ja danke, trotz Punto Rojo.«
»Hats dir geschmeckt?«
»Ja, sehr.«
»Ich hab noch ein wenig mitgebracht. Möchtest du?«
»Wieso nicht.«
Er holte einen Barretico aus seiner Tasche und zündete ihn an.
Seine Hände waren zittrig und nass. Er nahm einige Züge und gab mir den Joint rüber. Ich erinnerte mich an die Megascheibe von gestern abend und ging vorsichtig damit um. Nach nur einem Zug, gab ich ihm den Joint wieder zurück. »Schon genug?«
»Ja. Das Zeug ist sehr stark.«
»Ich wollte dich was fragen.«
»Was denn?«
»Weißt du, ich zeichne.«
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»Ach ja? Was zeichnest du denn?« »Am liebsten zeichne ich Menschen.« »Menschen? Wie meinst du das?« »Ich zeichne Menschen. Besser gesagt, ich zeichne Teile des menschlichen Körpers.« »Welche Teile meinst du?« »Augen, Nase, Hände, Füße. Na ja, solche Teile, verstehst du? Ich finde, die lassen sich sehr schön darstellen. Vor allem, wenn man sie mit Bleistift zeichnet.« »Wolltest du mich nicht etwas fragen?« »Na ja. Ich wollte dich fragen, ob ich dich zeichnen dürfte.« »Mich zeichnen? Wie soll ich das verstehen? Was soll ich denn dabei tun?« »Du müsstest gar nichts tun, einfach nur dasitzen, sonst nichts.« Ich dachte mir nichts schlechtes dabei, zumal ich ja nichts tun musste, außer stillsitzen. Und da José eh ein künstlerischer Typ war, wollte ich mich kooperativ zeigen. Er packte sein Werkzeug aus und fing an zu zeichnen. Ich saß dabei auf dem Bett und las. Zuerst fing er an, meinen Fuß zu zeichnen, danach meine Hand. Anschließend kam er näher und zeichnete zuerst meine Nase, danach ein Auge. Dann fragte er, ob ich mein T-Shirt ausziehen würde, damit er meinen Oberkörper zeichnen konnte. Auch dabei dachte ich mir nichts und zog mein T-Shirt aus. Er fing wieder an zu schwitzen und seine Hände zitterten erneut. Als er mich fragte, ob er mich nackt zeichnen durfte, musste ich echt staunen. Doch irgendwie, wollte ich ihn nicht enttäuschen. Vielleicht war er ja wirklich nur künstlerisch an mir interessiert.
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Wie dem auch sei, ich zog meine Shorts aus und lag nackt auf dem Bett. José fing an, meinen Penis zu zeichnen. Ich hatte zwar ein komi- sches Gefühl dabei, doch ich wollte kein Spielverderber sein. Plötz- lich nahm er aber meinen Penis in die Hand. Blitzartig packte ich seine Hand. »Was machst du da?« fragte ich. »Ich möchte deinen Penis in erregtem Zustand zeichnen.« »Nein, das möchte ich aber nicht«, sagte ich energisch und ließ seine Hand wieder los. Ich zog mich wieder an, während er schnell seine Sachen packte und gehen wollte. Ich wollte ihn nicht verletzen, doch er war ent- schieden zu weit gegangen. »Du musst nicht gehen«, sagte ich zu ihm. »Doch, ich muss. Ich habe eine Verabredung.« »Treffen wir uns am Mittwoch für das Spiel?« Ich wollte ihm zeigen, dass ich trotz allem kein Problem mit ihm hatte, doch er hatte es plötzlich sehr eilig. »Ja. Wir sehen uns am Mittwoch.« »Rufst du mich an?« »Ja.« »Ich besorg schon mal die Tickets, ok?« »Ist gut«, sagte er und verschwand. Ich blieb noch eine Weile stehen und konnte nicht glauben, was sich da in den letzten Minuten abgespielt hatte. Dass José homosexuelle Neigungen haben konnte, hatte ich be- reits vermutet. Seine Art, sein Verhalten und seine Bemerkungen
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über Frauen hatten mich schon gestern gewundert. Doch dass er so weit gehen würde, hätte ich nicht gedacht. Eigentlich habe ich mit homosexuellen Männern keine Proble- me, im Gegenteil. Ich habe viele Kollegen, die homosexuell sind, mit denen ich mich sehr gut verstehe. Aber Körperkontakt hatte ich noch mit keinem. Ich hatte versucht, José nicht das Gefühl zu geben, dass er etwas falsches getan hatte, obwohl er - in meinen Augen - reichlich über- trieben hatte. Komisch, eigentlich war ich das Opfer, doch ich fühlte mich schuldig. Ich setzte mich wieder hin und erholte mich langsam vom Schock. José hatte in seiner blitzartigen Flucht seinen Barretico liegen las- sen. Ich zündete ihn an und nahm einen Zug. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich auf der Terrasse. So gegen sieben, als es schon dunkel war, ging ich ins Kino. Der Film hieß Stargate, auf Spanisch war der Titel La Puerta del Tiempo. Nach dem Kino ging ich ins Hotel und legte den gewohnten Zwischen- stop im Las Copitas ein. Die Jungs auf der Straße kannten mich bereits und grüßten freundlich. Ich grüßte auch und wir fingen an, ein wenig zu plau- dern. Das übliche Gelaber wenn man sich kennenlernt: Woher kommst du? Was machst du? Wie heißt du? Und so weiter. Sie waren so eine Art Straßenbande und die Bar war ihr Treff- punkt. Die Gruppe bestand aus etwa einem Dutzend Jungs und zwei Mädchen, alle so um die zwanzig.
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Nachdem wir einige Zeit geplaudert hatten, nahm ich mein üb- liches Bier, kaufte noch eine Tafel Schokolade und ging auf mein Zimmer. Ich saß auf der Terrasse und dachte schon, dass bald Luz kom- men würde, um etwas Marihuana zu rauchen. Leider müsste ich sie enttäuschen, denn ich hatte kein Gras mehr. Kurze Zeit später kam sie tatsächlich und hatte eine Überra- schung für mich. Nein, sie wollte nicht gratis mit mir vögeln, ihre Überraschung war eine andere. Sie hatte Marihuana gebracht und wollte mit mir rauchen. Gestern habe sie mein letztes Gras ge- raucht, sagte sie, darum habe sie heute selber welches mitgebracht. Doch die Überraschungen waren noch nicht fertig. Ich drehte einen Joint und zündete ihn an. »Ich habe auch Perico mitgebracht«, sagte Luz. »Perico? Was ist, willst du mit mir vögeln?« »Nein. Damit du mir deine spezielle Verpackungskunst zeigen kannst.« »Welche spezielle Verpackungskunst?« »Na die vom Kokain, das man hinter den Briefmarken klebt.« »Ach die. Die kann ich dir aber nicht zeigen.« »Wieso?« »Weil ich keine Briefmarken mehr habe.« »Ich hab auch einige Briefmarken mitgebracht und Postkarten auch. Also zeigs mir.« Scheiße. Ich wusste keine Ausrede mehr. Nun musste ich mir etwas einfallen lassen. Schließlich war ich ja selber Schuld. Ich nahm die Briefmarken und das Perico und überlegte.
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Auf dem Tisch stand die angefangene Tafel Schokolade. Ich riss ein Stück Aluminiumfolie ab und wischte die Schokoladenreste davon ab. Dann schnitt ich ein kleines Viereck Folie ab, so etwa vier auf vier Zentimeter groß. Ich glättete die Folie mit einem Finger und legte etwas Kokain drauf. Anschließend faltete ich die Folie vorsichtig zusammen, so dass ein kleiner Umschlag entstand. Nun hatte ich ein Umschlag aus Aluminiumfolie, der etwa zwei auf zwei Zentimeter groß und mit Kokain gefüllt war. Der Um- schlag war so flach, dass man ihn unter einer Briefmarke nicht erkennen konnte, zumal die Folie extrem dünn war. Jetzt musste ich nur noch eine Briefmarke nehmen - die größer als der Um- schlag war - um den Umschlag in der ganzen Größe darunter zu verstecken. Ich nahm also eine große Briefmarke, leckte sie zuerst ab, klebte den Umschlag auf die Briefmarke und klebte anschlie- ßend die Briefmarke auf eine Postkarte. Fertig. Dank Luz war ich auf eine clevere Idee gekommen und sie war völlig aus dem Häuschen. »Wo hast du das gelernt?« »Im Knast.« »Was? Du warst im Knast?« »Ja, in Thailand. Vier Monate.« »Was hast du angestellt?« »Ich habe mit Drogen gedealt.« »Mit Drogen gedealt?« »Ja. Ich habe Päckchen mit Drogen nach Europa geschickt, bis sie mich auf der Post erwischt haben. Danach kam ich in den Knast, wo ich diese Verpackungskunst gelernt habe. Seitdem schik- ke ich nur noch Drogen unter Briefmarken nach Europa. Ist ein
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gutes Geschäft, weißt du. Man kann sehr gut davon leben. Weißt du, wieviel ein Gramm Perico in Europa kostet?« »Nein.« »100.000 Pesos.« »100.000 Pesos? Hier kostet es keine zweitausend.« »Siehst du? Darum lohnt es sich, hier einzukaufen und nach Europa zu schicken. Wenn ich die Kosten für die Postkarten und die Briefmarken abziehe, bleibt mir immer noch ein Haufen Geld übrig.« »Kann ich das auch tun?« »Wie stellst du dir das vor? Wem möchtest du das Zeug denn schicken und wer soll dir das Geld dafür überweisen? Du kannst ja schlecht nach Europa fliegen, oder?« »Ich könnte es dir schicken und du schickst mir dann das Geld.« »Meinst du, du würdest mir regelmäßig Postkarten schicken und ich würde dir dann Geld dafür schicken?« »Ja.« »Hast du denn ein Bankkonto?« »Nein.« »Da bräuchtest du erst mal ein Bankkonto, auf dem ich dir das Geld überweisen könnte.« »Ich kann eins eröffnen.« »Dann müsstest du die Verpackungskunst beherrschen.« »Das kann ich schon.« »Gut. Als nächstes müsstest du aufpassen, dass du mir nicht zu viele Postkarten auf einmal schickst, sonst schöpft der Postmann Verdacht.« »Alles klar. Wie viele soll ich dir schicken?«
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»Eine am Tag, nicht mehr.«
»Kein Problem.«
»Wieviel Geld möchtest du denn pro Postkarte verdienen?«
»Ich weiß nicht. 10.000 Pesos?«
»10.000 Pesos sind viel Geld. Da bleibt mir nicht mehr viel üb-
rig.« »Machen wir 8.000?« »8.000 ist gut. Das könnte passen. Wenn du die Kosten für die Postkarte und die Briefmarke abziehst, dann bleiben dir etwa 6.500 Pesos übrig. Eine Postkarte pro Tag, das macht 365 Postkarten in einem Jahr. 365 mal 6.500 Pesos, macht etwas mehr als zwei Mil- lionen Pesos in einem Jahr. Was meinst du?« »Genial!« »Also. Sobald ich wieder in Europa bin, schreibe ich dir und gebe dir eine Adresse, an die du die Postkarten schicken sollst, ok?« »Ok!« »Jetzt musst du mir nur noch deine Adresse geben. Oder soll ich dir hier im Hotel schreiben?« »Nein. Nicht hier im Hotel. Die würdens mir nie geben. Ich gebe dir die Adresse meiner Tante.« »Ok.« »Wo soll ich sie dir aufschreiben?« »Hier, schreib sie mir in mein Tagebuch rein.« Sie nahm einen Kugelschreiber und fing an, in mein Tagebuch zu schreiben. »Endlich kann ich mit diesem Beruf aufhören«, sagte sie.
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In diesem Moment merkte ich, dass ich zu weit gegangen war. Die arme Luz hatte es anscheinend leid die Hure zu spielen und träumte von einem anderen Leben. Durch meine Witze hatte ich in ihr die Illusion geweckt, dieses andere Leben endlich verwirkli- chen zu können. Ich wollte sie nicht enttäuschen und auch nicht mehr verarschen, doch ich musste sie wieder davon abbringen. »Du weißt aber, dass es gefährlich ist?« fragte ich sie. »Wieso gefährlich? Du machst das doch auch, oder?« »Ja. Aber ich war schon mal dafür im Knast.« »Meinst du, ich könnte auch in den Knast landen?« »Schon möglich. Wenn die draufkommen und dich beschatten. Wenn sie dich erwischen, während du die Postkarte abschickst, dann bist du dran.« »Meinst du?« »Ich meine nicht nur, ich bin mir sogar sicher. Dann ist die Kacke am dampfen, sag ich dir.« »Scheiße. Weißt du was? Ich überlegs mir noch, ok?« »Wie du willst.« Ich hoffte, dass ich Luz damit von der Idee abbringen konnte. Wir plauderten noch eine Weile, bis sie ging. Ich nahm mir vor, Luz nie mehr dermaßen zu verarschen. Ein bisschen Spaß war ja ok, aber nicht soweit, dass sie sich Illusionen über ihre Zukunft machen würde. Sie hatte das Perico liegengelassen, doch sie würde es sicher nicht vermissen. In diesem Moment merkte ich, dass ich die Möglich- keit hatte, erneut etwas Kokain zu probieren. Doch die Erinne- rung an die drei Tage mit Bauchschmerzen und Durchfall ließ mir
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jegliche Lust vergehen. Irgendwie war ich ein bisschen stolz auf mich. Ich hatte der Versuchung widerstehen können. Die spezielle Verpackungskunst war allerdings nicht schlecht. Ich bastelte weitere drei Umschläge aus Folie und dachte, ich konnte sie an einige Kumpel in die Schweiz schicken. So als kleine Über- raschung aus Kolumbien wären sie sicher gut willkommen gewe- sen. Morgen würde ich Postkarten und Briefmarken kaufen.
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Pech im Spiel, Glück in der Liebe
Am nächsten Morgen weckte mich Gregorio mit seinem Anruf. Er hatte Zeit, mir die Fotoausstellung zu zeigen. Wir vereinbarten uns um zehn im Parque Bolívar. Vorher ging ich noch kurz zur Post und kaufte drei Postkarten und drei große Briefmarken. Die Briefmarken mussten groß ge- nug sein, damit sie die Umschläge aus Folie ganz abdecken konn- ten. Ich klebte die Umschläge unter die Briefmarken und schrieb auf jeder Postkarte nur soviel: Grüße aus Kolumbien. Bitte diese Postkarte nicht wegwerfen! Surprise!!! Danach warf ich die Postkarten ein und verließ mit einem breiten Grinsen die Post. Soviel kann ich euch schon verraten. Die Karten kamen etwa zwei Wochen später an und meine Kumpels warfen sie tatsächlich nicht fort. Nach meiner Rückkehr war die Überraschung groß, das könnt ihr mir glauben. Seitdem gilt die spezielle Verpackungs- kunst als Kult und ist für sämtliche Reisen nach Südamerika ein Muss. Wer keine Kokskarte nach Hause schickt ist ein Spielver- derber. Bis jetzt ist jede angekommen. Doch zurück zu Gregorio. Wir hatten uns also verabredet und ich ging ins Parque Bolívar, wo er bereits auf mich wartete. Wir nahmen den Bus und fuhren zur Universidad de Antioquia.
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Ohne Studentenausweis würde ich nicht reinkommen, sagte der Wächter am Haupteingang. Nur wenn ich einen Ausweiß an der Porte hinterlegen würde, sagte er, könnte ich das Universitätsareal betreten. Ich gab ihm eine Fotokopie meines Passes - die ich bei mir hatte - und wir betraten die Universität. Die Uni bestand aus mehreren Gebäuden, die im Kreis verteilt waren. In der Mitte ein großer Sportplatz und eine Cafeteria gleich daneben. Aus allen Gebäuden strömten Studenten rein oder raus, sahen aus wie lauter Ameisen. Gregorio und ich begaben uns in das Gebäude, in dem die Fotoausstellung war. Eigentlich waren es zwei Ausstellungen in einer, und alle Fotos waren schwarzweiß. Eine Seite des Zimmers war voll mit Fotos von toten Menschen. Leute, die bei einem Bombenanschlag ge- storben waren. Solche, die bei einer Schiesserei umgekommen waren, oder andere, die sonst durch Gewalttaten ihr Leben verlo- ren hatten. Die andere Seite des Zimmers zeigte Bilder von Leu- ten, die durch Anschläge oder sonstige Angriffe, ihre Angehöri- gen verloren hatten. Die Fotos waren sehr beeindruckend. Das Ziel der Fotoaus- stellung war, die Menschen auf die Gewalt in Kolumbien hinzu- weisen. Die Leute soweit zu bringen, dass sie ihr Schweigen bre- chen und mit der Regierung kooperieren würden. Nach der Fotoausstellung fragte mich Gregorio, ob ich das Obitorium sehen wollte. Da er Medizinstudent war, war es für ihn kein Problem, Leute ins Obitorium mitzunehmen. Ich hatte zwar ein komisches Gefühl - denn ich hatte noch nie einen Toten gese- hen - doch ich fand die Idee trotzdem interessant.
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Wir verließen die Fotoausstellung und begaben uns in ein ande- res Gebäude. An der Eingangstür stand ein Mann mit einer wei- ßen Schürze. Gregorio sprach kurz mit ihm und gab mir anschlie- ßend ein Zeichen. Ich folgte ihm durch einen langen Korridor, bis wir einen großen Saal betraten. In diesem Saal war es sehr kalt. Die Leichen lagen auf mehreren Tischen und waren mit grünen Plastikfolien zugedeckt. Gregorio lief zu einem Tisch und hob eine Plastikfolie hoch. Der Anblick war schockierend. Der Tote hatte eine Schusswunde an der Stirn. Ich dachte nicht, dass ein toter Körper so bleich sein konnte. Bleich ist fast das falsche Wort, er war hellblau. Mir kam sofort eine Szene in den Sinn, die ich im Fernsehen mehrmals gesehen hatte: Als man die Leiche von John F. Kennedy zeigte. Er lag auch auf dem Rücken, mit offenem Mund und zerfetztem Schä- del. Danach verließen wir das Obitorium. Ich hatte genug gesehen und brauchte jetzt frische Luft. Mittlerweile war es fast Mittag und draußen schien die Sonne sehr heiß. Gregorio schlug vor, in die Cafeteria zu gehen. Die war zu dieser Uhrzeit schon ziemlich voll. Wir standen eine Weile an und holten etwas zu trinken. Ich nahm eine Cola und eine kleine Tafel Schokolade, danach setzten wir uns an einen Tisch. Ich trank gemütlich meine Cola, aß meine Schokolade und schau- te auf die Leute in der Warteschlange, die auf ihr Essen warteten. Dabei fiel mir ein hübsches Mädchen auf. Ich beobachtete sie eine Weile, als sie ihr Essen nahm, an unserem Tisch vorbeilief und sich zwei Tische weiter hinsetzte. Sie hatte auch zu mir geschaut,
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oder ich glaubte es wenigstens. Von Zeit zu Zeit, warf ich einen Blick zu ihr rüber, um zu sehen ob sie mich auch anschaute. Zwei Jungs setzten sich mit ihrem Essen ausgerechnet an den Tisch, der genau zwischen dem Mädchen und mir war. Nun konnte ich das Mädchen nicht mehr sehen und sie mich ebenfalls nicht. Um sie wieder ins Blickfeld zu bekommen, fing ich an unauffällig mit meinem Stuhl zu schaukeln. Als ich sie wieder im Blickfeld hatte sah ich, dass sie ebenfalls mit ihrem Stuhl schaukelte und mich ansah. Sie hatte mich also doch bemerkt, ich bekam gleich Gänsehaut. Wir schaukelten einige Minuten so weiter und ich überlegte, wie ich sie ansprechen könnte. In der Zwischenzeit hatte ich meine Cola ausgetrunken und Gregorio fragte mich, ob wir nicht gehen wollten. Scheiße. Ich wollte Gregorio nichts vom Mädchen sagen, doch wenn ich jetzt gegangen wäre, dann hätte ich sie nie wieder gesehen. Was tun? Da sah ich die Schokolade auf dem Tisch. Ich nahm das Ver- packungspapier der Schokolade und schrieb die Telefonnummer des Hotels und meinen Namen drauf. Danach standen Gregorio und ich auf. Wir mussten zwingend an ihrem Tisch vorbei, doch auch wenn wir dies nicht hätten tun müssen, hätte ich diesen Weg gewählt. Ich lief direkt auf sie zu und schaute ihr in die Augen. Sie sah mich ebenfalls an. Ich gab ihr das Papier und sie nahm es mit einem Danke und mit einem überraschten Ausdruck in ihrem Gesicht entgegen. Anschließend ging ich, ohne mich umzudre- hen.
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Gregorio und ich liefen wieder zum Haupteingang, wo ich die Fotokopie meines Passes bekam. Danach trennten wir uns und ich nahm den Bus zum Zentrum. Während der Fahrt dachte ich an das Mädchen. Würde sie anru- fen, fragte ich mich, oder würde sie die Telefonnummer einfach wegwerfen. Hatte sie mich tatsächlich auch angeschaut, oder hat- te ich es mir nur eingebildet? Ich war mir nicht mehr so sicher. Ich schlenderte durch die Straßen des Zentrums. In einer kleinen Seitenstraße sah ich eine Gruppe von Menschen, die um eine Kartonschachtel herum standen. Ich näherte mich der Gruppe, um zu schauen was da so Wichtiges zu sehen war. Da stand ein Mann hinter der Kartonschachtel und hielt drei Tassen in der Hand. Er hatte eine kleine Kugel unter einer der drei Tassen versteckt und bewegte alle drei Tassen schnell über die Kartonschachtel. Ich erkannte das Spiel. Es ging darum herauszufinden, unter wel- cher Tasse sich die Kugel versteckte. Einige Männer wetteten abwechselnd auf irgend eine Tasse und gewannen von Zeit zu Zeit etwas Geld. Ich begriff schnell, dass die Männer alle unter einem Hut steckten, dass sie nur als Köder für andere Leute gedacht waren. Dadurch, dass diese Männer tat- sächlich etwas gewannen, sollten sich andere Leute animiert füh- len, auch ihr Glück zu versuchen. Ich beobachtete das Ganze aus einer sicheren Entfernung und versuchte herauszufinden, wie sie ihr Spiel durchzogen. Würden die Männer einfach wahllos auf eine der Tassen tippen und somit rein zufällig gewinnen, fragte ich mich. Oder würden sie gezielt
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auf Sieg oder Niederlage tippen, vielleicht mit Hilfe des Tassen- schiebers. Einige Leute hatten sich tatsächlich zum Spielen überreden las- sen und hatten prompt jedes Mal verloren. Ich muss zugeben, dass ich auch jedesmal auf dieselbe Tasse getippt hätte. Musste also irgendwo einen Trick geben, den ich übersehen hatte. Doch auch nach langem Beobachten konnte ich nichts herausfinden. Die Tasse, unter der ich die Kugel vermutete, war systematisch immer leer. Was es auch immer war, der Tassenschieber konnte es wirklich gut. Nach einer Weile kam ich zum Entschluss, dass es sich lohnen würde, auf eine der anderen zwei Tassen zu setzen und die ver- meintlich richtige zu ignorieren. Somit hatte man immerhin eine 50% Chance, auf die richtige zu tippen. Nachdem ich mich zu diesem Vorgehen entschlossen hatte, tippte ich geistig immer auf eine der anderen zwei Tassen. Die Leute die tatsächlich spielten und auf die vermeintlich richtige Tasse tippten, verloren immer. Doch ich, ich hätte mit meinem Vorgehen einige Male gewonnen. Nach einer Weile bemerkte der Tassenschieber, dass ich ihn be- obachtete. Er sprach mich an und wollte mich zum Spielen ani- mieren, doch ich wollte nicht. Der Einsatz war 15.000 Pesos und ich hatte nicht soviel Geld bei mir, was ich ihm auch sagte. Er ließ aber nicht locker und bot mir an, meine Uhr dagegen zu setzen. Ich trug eine schwarze Swatch. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich es nicht riskieren sollte. Mit 15.000 Pesos könnte ich mir einen ganzen Tag finanzieren, dachte ich, Hotel inbegriffen. Und sollte ich die Uhr verlieren, wäre das nicht so schlimm. Also entschloss ich mich zu spielen.
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Der Tassenschieber legte das Geld auf die Kartonschachtel und ich legte meine Uhr drauf. Dann legte er mit seinen Tassen los und ich versuchte mich auf die Tasse mit der Kugel zu konzen- trieren. Als seine Hände zum Stillstand kamen war die angeblich richtige Tasse die in der Mitte, doch ich wusste, dass es diese nicht sein konnte. Ich hatte also zwei Möglichkeiten, entweder rechts oder links. Ich entschied mich für die rechte und gewann prompt. Der Typ schaute mich überrascht an und dachte sicher, ich hätte die Orientierung verloren und einfach zufällig auf eine Tasse ge- tippt. Ich nahm das Geld und die Uhr und wollte gehen, doch der Typ meinte, ich solle doch nochmal spielen. Die Männer rundherum waren auch der Meinung, ich solle doch spielen, was mich eigent- lich überhaupt nicht wunderte. Ich merkte, dass ich keine Chance hatte, die hätten mich nicht mit dem Geld gehen lassen. Der Tassenschieber fing also erneut an, seine Tassen zu schwin- gen und ich schaute ihm auf die Hände. Danach lagen die Tassen wieder ruhig und ich hatte mir die linke gemerkt. Also musste ich mich zwischen der mittleren, oder der rechten Tasse entscheiden. Ich überlegte kurz und erinnerte mich, dass ich vorhin auf die Tasse die rechts neben der angeblich richtigen lag getippt hatte. Nun war die angeblich richtige Tasse die linke, also musste ich auf die rechts davon tippen, das heißt die mittlere. Ich gewann erneut. Das gleiche Spiel wiederholte sich ein drittes Mal und der Tassen- schieber - sowie seine Leute - wurde ziemlich sauer. Ich versuchte ihm klarzumachen, dass es besser für ihn sei, wenn ich gehen wür- de, sonst würde er noch sein ganzes Geld verlieren. Doch was er
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mir sagte, war noch eindeutiger. Ich solle doch bitte weiter spie- len, es sei besser für mich, meinte er. In diesem Moment musste ich an eine Szene aus dem Film der Pate mit Al Pacino denken. Al Pacino hatte auf die Frage: Bist du sicher, dass er akzeptieren wird?, mit dem Satz geantwortet: Wir haben ihm eine Offerte gemacht, die er nicht ablehnen kann. Der Tassenschieber hatte auch mir eine Offerte gemacht, die ich nicht ablehnen konnte, und die Männer rundherum bestätig- ten meine Befürchtungen. Ich entschied mich also, weiter zu spie- len und das gewonnene Geld absichtlich zu verlieren. Somit könnte ich mich wenigstens freikaufen. Wir spielten weitere drei Mal und ich verlor die 45.000 Pesos, danach wollte aber der Tassenschieber auch noch meine Uhr. Ich versuchte zu gehen, aber die anderen Männer hinderten mich dar- an. Sie taten dies ganz unauffällig, keiner merkte etwas, sie stan- den mir einfach nur im Weg und gingen nicht zur Seite. Ich spielte also erneut, verlor meine Uhr und durfte endlich gehen. Unnötig zu erwähnen, dass ich richtig sauer war. Ein Mann, der das Ganze beobachtet hatte, folgte mir. Als wir von den Tassenschiebern weit genug entfernt waren, sagte er zu mir, ich solle mich bei der Polizei melden. Diese Männer wären Verbrecher, sagte er, und die Polizei könnte sie dazu zwingen, mir die Uhr zurück zu geben. Ich sagte ihm, dass ich keine Polizei brauchte, doch da hielt er schon einen Polizisten an und erzählte ihm von meinem Schicksal. Der Polizist fragte mich, ob er etwas unternehmen sollte, doch ich winkte ab. Der fremde Mann gab nicht nach und ich sah mich gezwungen, ihn zum Teufel zu schik- ken.
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Ich wollte mit diesen Männern nichts mehr zu tun haben und ich wollte schon gar nicht meine Uhr zurück erzwingen. Sonst hätte ich nicht mehr sicher durch Medellín spazieren können. Die Bilder der Fotoausstellung von heute morgen und der Anblick im Obitorium, hatten mir schon gereicht. Ich wollte nur noch meine Ruhe und ging ins Hotel zurück. Ich verbrachte den Rest des Nachmittags auf meiner Terrasse mit Musik und Bier, denn Gras hatte ich ja keines mehr. Jedes Mal wenn das Telefon klingelte, dachte ich es wäre das Mädchen aus der Universität, doch sie rief nicht an. Als es dunkel wurde, ging ich ins Las Copitas, um die Jungs zu treffen. Sie waren alle da, pünktlich wie Weihnachten und Ostern. Wir plauderten ein wenig und ich fragte einen von ihnen - den Andrés - ob er mir nicht etwas Gras besorgen konnte. »Wieviel brauchst du denn?« fragte er mich. »Für 1.000 Pesos«, sagte ich, denn ich wollte nicht wieder mit einer Libra rumlaufen. »Ok. Gib mir das Geld.« Ich gab ihm das Geld und er rief den Mexicano zu sich. »He Mexicano, hol dem Mono einen Tausender Marihuana.« »Kommt er auch wieder zurück, oder verschwindet er mit dem Geld?« fragte ich Andrés. »Keine Angst Mono. Der Mexicano verarscht uns nicht.« »Wenn du das sagst...« »Übrigens. Wo ist deine Uhr?«
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Aufmerksamer Junge. Anscheinend war ihm meine Uhr aufge- fallen. Ich erzählte ihm von meinem Zwischenfall am Nachmit- tag. »Ja das sind halt Schlitzohre, mit denen muss man aufpassen. Leider ist das dort nicht unser Revier, sonst hättest du deine Uhr jetzt wieder. Dort können wir uns leider nicht einmischen.« »Das ist schon ok. Ich bin ja auch selber schuld, ich hätte nicht spielen sollen.« »Wenn du in Zukunft wieder in so eine Situation kommst, dann sag denen, dass du in der 45. zu Hause bist. Die lassen dich dann in Ruhe. Verstanden?« »Ja, ich glaube ich verstehe. Danke.« Mittlerweile war der Mexicano wieder da und hatte mir tatsäch- lich Marihuana gebracht. Er brachte mir fünf Barreticos und ich zündete gleich einen an. Ich gab dem Mexicano einige Pesos Trink- geld und er hüpfte gleich ins Las Copitas, um sich ein Glas Aguardiente zu kaufen. Der Mexicano war ein lustiger Vogel. Er war ein Straßenpenner, der immer in der 45. rumhing. Er war so um die 50 Jahre alt, hatte keine Vorderzähne mehr, war stets unrasiert, hinkte sichtlich und lief immer mit einem Stock herum. Für ein paar Pesos besorgte er alles mögliche und die Jungs wussten das. Sie schickten ihn Mari- huana holen, oder bestellten bei ihm etwas zu essen. Der Mexicano erledigte alles für ein kleines Trinkgeld, das er prompt in Alkohol ausgab. Sein Lieblingsgetränk war Aguardiente, denn es war das günstigste Gesöff, das er bekommen konnte. Er war ständig stock- besoffen und fröhlich. Immer wenn ich ihn sah pfiff er irgend ein Lied und jonglierte mit seinem Stock. Er erzählte mir einmal, dass
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er früher in einem Zirkus als Jongleur gearbeitet hatte. Doch dann trat ihm ein Pferd gegen sein Bein und er verlor seinen Job, weil er nicht mehr gerade laufen konnte. Seitdem lebte er auf der Straße. Weshalb man ihn Mexicano nannte, wusste er auch nicht, denn eigentlich war er aus Medellín. Die Jungs und ich rauchten den Barretico fertig und plauderten noch eine Weile. Danach kaufte ich mein Gutenacht-Bier und ver- abschiedete mich. Bevor ich auf mein Zimmer ging, fragte ich Edilma noch, ob jemand für mich angerufen hatte, doch sie schüttelte den Kopf. Edilma war die Frau, die an der Rezeption arbeitete. Ich lief zur Treppe und sang vor mich hin: Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich... Da sah ich Luz, wie sie in ihrem Zimmer die spezielle Verpackungskunst übte. »He Luz, was machst du denn da?« »Ich versuch diese Scheiße hier einzupacken.« »Mit offener Tür?« »Na und, ich wohne hier. Hier kennt mich jeder.« »Und wenn mal ein Bulle kommt um seine Freundin hier zu vögeln und dich dabei sieht, was dann?« »Na, dann mach halt die Tür zu.« Anscheinend war sie schlecht gelaunt. »Darf ich reinkommen?« »Wenn du willst.« »Ich hab dir etwas mitgebracht.« »Was denn?« fragte sie, ohne ihren Kopf zu drehen. »Hier nimm, ich schenk dir einen Barretico.«
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»Danke. Zünd ihn doch an.« »Nein danke, ich habe schon genug gehabt. Ich trink lieber mein Bier. Sag mal, du hast sogar einen Fernseher?« »Ja. Den hat mir ein Kunde geschenkt.« »Muss aber ein guter Fick gewesen sein, wenn er dir gleich einen Fernseher schenkt.« »Wenn du willst, kannst dus ausprobieren.« »Was den Fernseher?« »Nein du Arsch, vögeln.« »Gratis?« »Nein. 15.000 Pesos!« »Danke. Ich habe heute bereits etwas für 15.000 Pesos auspro- biert. Das hat mir gereicht.« »Weil dus bist, mach ichs dir für 10.000.« Luz war mit ihrer Arbeit beschäftigt und hatte die ganze Zeit auf die Aluminiumfolie geschaut. Nun schaute sie aber kurz hoch und ich konnte einen großen blauen Fleck unter ihrem rechten Auge sehen. »Was ist mit deinem Auge passiert?«
»Arbeitsunfall.«
»Hat dich einer geschlagen?«
»Sozusagen.«
»Was heißt sozusagen? Hat dich einer geschlagen oder hat dich
keiner geschlagen?« »Ja.« »Und was hast du getan?« »Was sollte ich wohl deiner Meinung nach tun?« »Zum Beispiel zur Polizei gehen und ihn anzeigen.«
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»He Mono, wach auf. Wir sind hier nicht in Europa, wo eine Hure ihre Freier anzeigen kann. Hier hilft uns keiner. Hier sind wir Freiwild, verstehst du?« »Weißt du wenigstens wer es war? Weißt du wie er heißt?«
»Keine Ahnung. Ich glaube sie nennen ihn Mola.«
»Hat er dich wenigstens bezahlt?«
»Träum weiter Mono.«
Die arme Luz, sie hatte immer so viel Pech. Ich wollte ihr gerne
helfen, aber ich wusste nicht wie. Wir plauderten noch ein wenig, danach ging ich schlafen. Ich wollte eigentlich schlafen gehen, doch als ich die Stimmen der Jungs draußen hörte, kam mir eine Idee. Ich ging auf die Stra- ße und suchte Andrés, der mir wie ein kleiner Boss vorkam. »He Andrés, hör mal.«
»Was ist los, Mono?«
»Kennst du einen gewissen Malo?«
»Du meinst Mola?«
»Ja Mola, kennst du den?«
»Kommt drauf an.«
»Er hat eine Bekannte von mir überfallen und brutal zusam-
mengeschlagen. Kennst du ihn jetzt?« »Ja, ich kenne ihn.« »Kannst du da was machen?« »Wieviel hat er ihr denn gestohlen?« »Sie sagt, sie hätte 100.000 Pesos bei sich gehabt, als dieser Mola sie überfiel.« »Gib mir einige Tage Zeit.« »Ok. Du sagst mir dann Bescheid.«
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Danach ging ich definitiv schlafen.
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Zufälle, oder Zeichen des Lebens?
Als ich aufwachte, war es fast Mittag. Ich duschte und wollte et- was essen gehen, da rief mich Edilma. »Mono, Telefon für dich.« »Wer ist es?« »Keine Ahnung.« »Mann oder Frau?« »Frau.« Für mich war es ganz klar wer es war, schließlich hatte nur eine Frau meine Telefonnummer. Ich rannte runter und nahm das Te- lefon. »Hallo?« sagte ich. »Hallo. Weißt du wer ich bin?« »Klar weiß ich wer du bist, ich geb ja nicht allen meine Telefon- nummer. Du bist das Mädchen, das ich gestern in der Cafeteria der Universität gesehen habe, oder?« »Genau. Ich heiße Manuela.« »Mein Name weißt du ja schon.« »Ja.« »Was machst du?« »Ich arbeite.« »Wo? In der Uni?« »Ja, in der Bibliothek.« »Wann hast du denn Feierabend?« »Um vier.« »Sehen wir uns dann?«
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»Ja, können wir.« »Soll ich dich abholen?« »Gerne.« »Also, bis dann Manuela und danke für den Anruf.« »War mir ein Vergnügen.« Ich schwebte auf mein Zimmer zurück und legte mich aufs Bett. Sie hatte also doch angerufen, ich konnte es nicht glauben. Ich schaute auf die Uhr, es war Mittag. Ich musste noch vier Stunden warten, bis ich sie sehen würde, eine verdammt lange Zeit. Ich fragte mich, ob ich sie wiedererkennen würde. Ich versuchte mir ihr Gesicht vorzustellen, doch ich hatte Mühe damit. Wir hatten uns nur kurze Zeit gesehen und das erst noch zwischen schau- kelnden Stühlen. Ich zog mich an und ging etwas essen. Danach entschied ich mich, die restliche Zeit mit der Suche meines Buches zu verbrin- gen. Der Erfolg war der gleiche, wie in den letzten Tagen: Ich konnte das Buch nirgendwo finden. Doch dieses Mal war es mir ziemlich egal. Um halb vier stieg ich vor dem Haupteingang der Uni aus dem Bus. Nachdem ich dem Wächter wieder die Fotokopie meines Passes gegeben hatte, durfte ich die Uni betreten. Ich fragte nach der Bibliothek und der Wächter zeigte auf ein Gebäude, gegen- über des Sportplatzes. Ich war viel zu früh dran, aber ich betrat trotzdem die Bibliothek, weil ich neugierig war, ob ich Manuela wiedererkennen würde. Ich ließ mich von meinem guten Geschmack führen und suchte nach dem hübschesten Mädchen im ganzen Raum. Als ich sie sah,
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war ich nicht ganz sicher, ob sie mich auch erkannt hatte. Sie hatte mich aber erkannt, denn sie lächelte. Sie saß hinter einem Schreibtisch und sortierte einige Bücher. Ich näherte mich ihr. »Hallo. Ich bin zu früh, nicht wahr?« »Macht nichts, ich bin bald fertig.« »Soll ich draußen warten?« »Ok.« »Bis nachher.« Ich verließ die Bibliothek und setzte mich auf eine Bank, drau- ßen neben dem Sportplatz. Manuela hatte noch eine Viertelstun- de zu arbeiten, also schaute ich den Jungs beim Fussballspielen zu. Sie spielten Mikrofútbol. Mikrofútbol ist eine Sportart, die man in Kolumbien oft auf der Straße spielt. Die Tore sind nur etwa einen Meter breit und das Spielfeld ist nicht mehr als zehn Meter lang. Der Ball ist ziemlich klein, wie ein Handball und man spielt vier gegen vier, ohne Tor- hüter. Da die Spielfläche sehr klein ist, wird sehr viel Wert auf die Technik der einzelnen Spieler gelegt. Ich hatte den Spielern bereits eine Weile zugeschaut, da kam Manuela aus der Bibliothek. Sie hatte ein Buch in der Hand, was mich nicht weiter überraschte, da sie ja in einer Bibliothek arbeite- te. Sie setzte sich neben mich und wir fingen an zu plaudern. Ich fragte sie, welches Buch sie da in der Hand hätte und sie zeigte es mir. Ihr könnt euch vorstellen, welches Buch es war: Die unerträgli- che Leichtigkeit des Seins. Mir wurde gleich kalt und warm und ich bekam eine Gänsehaut. In genau dieser Sekunde, kam mir alles wie ein Film vor. Ein Film
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den ich bereits gesehen hatte. Wie ein Déjà vu. Ich musste sofort an Edi denken und an seine Geschichten über Lebenszeichen und Zufälle. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie eine solche Situation erlebt, doch in diesem Moment wusste ich, dass Edi Recht gehabt hatte. Seit jenem Tag in Cartagena, an dem Edi dieses Buch erwähnt hatte, konnte ich keine Ruhe mehr finden. Wegen dieses Buches hatte ich José in der Plaza San Antonio angesprochen. Wegen José war ich in diese kleine Buchhandlung in der Carrera 46 gegangen, in der ich Gregorio kennengelernt hatte. Wegen Gregorio besuchte ich die Fotoausstellung in der Universität und hatte dort Manuela gesehen. Und nun treffe ich Manuela und sie hat ausgerechnet dieses Buch bei sich. Eine Kette von Zufällen. Waren dies alles Lebenszeichen, wie sie Edi mir beschrieben hatte, oder waren es doch bloß Zufälle? Musste ich vielleicht Manuela unbedingt treffen? War dies bereits seit langer Zeit entschieden? Ich wusste es nicht und ich war sprachlos. Zu diesem Zeitpunkt war ich ziemlich genau seit drei Monaten unterwegs. Ich war also in der Halbzeit meiner geplanten Reise- dauer. Was sich mit Edi, José, Gregorio und Manuela abgespielt hatte, war wie ein kleiner Kreis der sich wieder geschlossen hatte. Die Tatsache, dass Edi dieses Buch erwähnt hatte, bekam späte- stens jetzt einen Sinn. So wie Edi es mir beschrieben hatte. An- scheinend sollte ich dieses Buch nicht finden, weil Manuela es mir geben musste, so war es entschieden und daran hatten sich alle zu halten. Edi, José, Gregorio, Manuela und auch ich.
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Denn von nun an, würde alles was ich in den letzten drei Monaten erlebt hatte, auch einen Sinn bekommen. Alles würde zu einem Abschluss kommen und ein Ende finden, egal ob gut oder schlecht. Jetzt, wo ich bei Halbzeit angelangt war, würden sich alle Kreise langsam wieder schließen. Wie ein Film, den man bis zur Mitte abspielt und anschließend wieder rückwärts laufen lässt, sollten sich auch hier die Geschehnisse wiederholen, jedoch in umgekehr- ter Reihenfolge.
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Das verrückteste Fußballspiel
Manuela und ich plauderten noch eine Weile. Danach erinnerte ich mich, dass ich die Tickets für das morgige Fußballspiel noch kaufen wollte. »Morgen ist ein wichtiges Fußballspiel, wusstest du was davon?« fragte ich Manuela. »Ja. Hat mit der Copa Libertadores zu tun, oder?« »Genau. Ich gehe mit einem Freund ins Stadion. Möchtest du auch mitkommen?« »Ja, gerne.« »Ich möchte schon heute die Tickets besorgen. Weißt du, wo man die kaufen kann?« »Ich glaube im Zentrum gibts einen Laden dafür.« Wir spazierten Richtung Zentrum, um diesen Laden zu suchen. Irgendwo zwischen Parque Berrío und Plaza San Antonio war tat- sächlich ein kleiner Laden, in dem man Tickets für das Fußball- spiel kaufen konnte. Ich kaufte drei Tickets, obwohl ich das Ge- fühl hatte, dass José sich nicht mehr melden würde. Nach dem Zwischenfall im Hotel hätte er keinen Mut mehr gehabt sich zu zeigen, dachte ich. Danach schlenderten Manuela und ich plaudernd durchs Zen- trum und lernten uns ein wenig besser kennen. Wir kamen zur Plaza San Antonio und ich bemerkte die drei Skulpturen, die José erwähnt hatte. Drei große Bronzeskulpturen, alle mehrere Meter groß. Die er- ste Skulptur hieß El Gordo Botero, weil es einen dicken Mann dar-
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stellte. An den Namen der zweiten Skulptur, kann ich mich nicht mehr erinnern, doch ich weiß noch, dass es eine dicke liegende Frau darstellte. Die dritte Skulptur, die gefiel mir am besten. Ein dicker Vogel, El Pájaro genannt. Dieser Pájaro sollte noch eine kleine Rolle in meinem Leben spielen. Manuela und ich setzten uns auf eine Bank und plauderten über eine Stunde lang weiter. Manuela war eine sehr interessante Frau und ich war gerne mit ihr zusammen. Auch sie fühlte sich wohl mit mir, hatte ich den Eindruck. So gegen acht Uhr musste sie dann gehen und wir verabredeten uns für das morgige Fußballspiel. Sie müsse zwar bis um acht Uhr abends arbeiten, sagte sie, doch das war kein Problem. Da das Spiel erst um Viertel vor neun beginnen würde, hatte sie noch genügend Zeit, um ins Stadion zu fahren. Ich würde sie an der Uni abholen, sagte ich, um anschließend zum Stadion zu fahren. Danach verabschiedete sie sich mit einem Küsschen auf die Wan- ge. Das letzte Mal, das mir ein Mädchen ein Küsschen auf die Wan- ge gab, gings schlecht aus, erinnerte ich mich. Hoffen wir das Beste. Anschließend traf ich mich mit den Jungs im Las Copitas. Alle redeten vom morgigen Spiel und waren sehr aufgeregt. Anschei- nend war es das Thema Nummer eins in der Stadt, denn Atlético National hatte sich nach langer Zeit wieder einmal für das Achtel- finale der Copa Libertadores qualifiziert. Wir redeten den ganzen Abend über Fußball. Die Jungs wollten morgen selbstverständ- lich auch ins Stadion gehen, um ihren National zu unterstützen.
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Nach einiger Zeit, als alle reichlich Alkohol getrunken hatten, fingen sie an, ihre Stadionlieder zu singen. Ich hörte eine Weile zu, danach ging ich schlafen. An diesem Abend kaufte ich mir kein Gutenacht-Bier, da ich schon genügend mit den Jungs getrunken hatte. Ich hatte aber den ganzen Tag kein Gras geraucht und drehte mir deshalb einen Joint. Nach kurzer Zeit kam Luz hoch. Sie musste einen verdammt guten Riecher haben, denn sie kam immer, wenn der Joint schon brannte. »Hallo Luz, wieder mal Lust auf Marihuana?«
»Ach, ich kann danach besser schlafen, weißt du.«
»Das kenne ich. Wie geht es deinem Auge?«
»Geht so. Aber rate mal, was mir heute passiert ist.«
»Was?«
»Der Typ der mich geschlagen hat, weißt du noch?«
»Dieser Malo?«
»Mola, nicht Malo. Der kam heute, entschuldigte sich bei mir
und gab mir 100.000 Pesos. Wie findest du das?« »Schön. Vielleicht hatte er Gewissensbisse.« »Die Nummer kostete zwar nur 15.000 Pesos, doch er gab mir 100.000 Pesos.« »Betrachte es doch wie ein Schmerzensgeld.« Andrés hatte mir zwar diesbezüglich nichts gesagt, doch es roch sehr danach, als hätte dieser Mola eine Warnung oder sowas be- kommen. Ich konnte mir sonst nicht erklären, weshalb dieser Kerl ausgerechnet 100.000 Pesos locker machte, wo er Luz eigentlich nur die 15.000 Pesos einer Nummer schuldete. Na ja. Ende gut, alles gut.
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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, regnete es sehr stark. Ich blieb lange im Bett liegen, weil ich nicht auf die Terrasse gehen konnte. So gegen Mittag zog ich mich dann an, um etwas essen zu gehen. Der Regen fiel immer noch und ich dachte ans Fußball- spiel. Bei diesem Wetter, wäre es im Stadion kaum lustig gewesen. Es regnete ununterbrochen und ich verbrachte den ganzen Nach- mittag in meinem Zimmer. José hatte sich nicht gemeldet, wie ich befürchtet hatte. So gegen sieben machte ich mich bereit, um Ma- nuela abzuholen. Der Regen hatte zwar nicht ausgesetzt, doch ich hoffte auf ein kleines Wunder. Als ich das Hotel verlassen wollte, klingelte das Telefon. Jemand verlangte nach mir. »Hallo.«
»Hallo, hier spricht José.«
»Hallo José. Ich dachte schon, du würdest dich nicht mehr mel-
den.« »Tut mir leid, aber ich hatte viel zu tun.« »Ich habe die Tickets gekauft. Kommst du?« »Ja, aber ich kann jetzt nicht kommen. Ich muss bis acht Uhr arbeiten.« »Und wo soll ich dir dein Ticket geben? Im Stadion wird es un- möglich sein, sich zu treffen.« »Kannst du mir das Ticket bringen?« »Wie stellst du dir das vor? Ich wollte soeben gehen. Ich habe keine Zeit mehr, dir das Ticket zu bringen.« »Das geht nicht lange, ich bin ganz in der Nähe.« »Dann komm doch du hier im Hotel vorbei.« »Das geht schlecht. Ich bin bei der Arbeit und kann nicht weg. Bring es mir bitte vorbei.«
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»Ich sagte doch, dass ich keine Zeit habe.« »Du musst nicht weit gehen. Ich bin gleich nebenan.« »Nebenan? Wo nebenan?« »Gleich die nächste Tür, neben dem Hotel.« »Neben dem Hotel? Da ist doch nur Las Copitas, sonst nichts.« »Nein, zwischen Las Copitas und dem Hotel ist noch eine Tür. Dort arbeite ich.« »Bist du sicher? Ich habe dort noch nie eine Tür gesehen. Und was für ein Geschäft ist denn das, in dem du arbeitest?« »Das ist eine Sauna, du kannst es nicht verfehlen. Kommst du also?« »Ok. Wenn es wirklich nebenan ist, dann komme ich schnell.« »Gut, bis nachher.« Dieser José wurde jedesmal merkwürdiger, dachte ich. Eine Sauna nebenan hatte ich noch nie bemerkt, obwohl ich jeden Abend vor dem Hotel verbrachte. Ich fragte Edilma: »He Edilma. Gibt es hier nebenan eine Sauna?« »Ja. Aber geh nicht dort rein!« »Wieso?« »Dort sind alles Schwule drin.« »Na und?« »Das ist gefährlich.« »Beruhige dich, die machen nichts. Frauen sind da manchmal gefährlicher.« Ich ging auf die Straße und sah tatsächlich eine Tür zwischen Las Copitas und dem Hotel. Die Jungs und ich setzten uns sogar oft auf die Tritte davor, doch ich hatte sie nie bemerkt. Vielleicht dachte ich, sie würde zum Hotel oder Las Copitas gehören.
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Wie auch immer. Ich läutete und die Tür ging auf. Vor mir war eine steile Treppe, die zum ersten Stock führte. Obwohl ich ein komisches Gefühl hatte, ging ich die Treppe hoch. Oben stand José hinter einer großen Gittertüre. Ich begrüßte ihn und reichte ihm sein Ticket durch das Gitter. Er sagte nicht viel, nicht einmal danke. Anscheinend war es ihm sehr peinlich. Danach ging ich und nahm gleich ein Taxi, um zu Manuela in die Uni zu fahren. Im Taxi dachte ich noch eine Weile über José nach. Ich erinnerte mich an jenen Nachmittag, als er im Hotel anrief, um mich zu zeichnen. Damals stand er nach wenigen Minuten bereits vor meinem Zimmer. Jetzt begriff ich, wieso er so schnell bei mir war, weil er in der Sauna nebenan arbeitete. Mir hatte er erzählt, er würde in irgend einer Parfümerie arbeiten. Was für ein Schlitzohr dieser José. Mittlerweile war ich in der Uni angekommen und es regnete immer noch. Ich gab langsam die Hoffnung auf, dass es noch vor dem Spiel aufhören würde. Punkt acht Uhr kam Manuela aus der Bibliothek und wir fuhren zum Stadion. Der Menschenauflauf vor dem Stadion war riesig. Viele rannten herum und versuchten sich irgendwie vor dem Re- gen zu schützen. Andere hatten zwar einen Regenschirm, doch der Regen war in der Zwischenzeit stärker geworden und auch diese Leute wurden nass. Manuela und ich hatten keinen Regen- schirm und wurden dementsprechend durchnässt. Wir betraten das Stadion und suchten uns unsere Plätze. Was mir dabei auffiel war, dass das Wasser an den Sitzplätzen runter floss, als wären es lauter kleine Wasserfälle. Wir setzten uns auf unsere Plätze, und das Wasser floss an unseren Arschbacken vor-
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bei runter. Ich kam mir vor, wie ein kleiner Fels in einem Bach, an dem das Wasser permanent vorbeifliesst. Die Stimmung im Stadion war trotz allem super. Die Leute wa- ren schon reichlich besoffen, noch bevor das Spiel angefangen hatte. Auch Manuela und ich waren guter Laune, trotz des Regens. Mittlerweile waren wir schon dermaßen nass, dass es uns nichts mehr ausmachte. Die Temperatur war trotz des Regens ziemlich hoch, und somit war es uns nicht kalt. Das Wasser fiel die ganze erste Halbzeit, die ganze Pause und die ganze zweite Halbzeit. Ich könnte auch sagen, dass es das gan- ze Spiel geregnet hat, doch das würde nicht den gleichen Ein- druck rüberbringen. Wir standen über zwei Stunden unter einem Regen Marke Wasserfall. Das waren keine Tropfen, die vom Him- mel fielen, nein, es war ein einziger Wasserfall, der uns permanent nässte. Atlético National gewann das Spiel mit 3:1 und alle waren glück- lich und zufrieden. Auch Manuela und ich hatten einen riesen Spaß, obwohl wir uns ein etwas trockeneres Spiel gewünscht hatten. Nach dem Spiel wollten alle ein Taxi. Stellt euch mal vor, 60.000 Leute rufen Taxi und die Taxis sind alle voll. Auch Manuela und ich wollten ein Taxi nehmen, denn es regnete immer noch. Ich glaube ich weiß jetzt, was man unter Regenzeit versteht. Wir hatten zwei Möglichkeiten. Entweder wir schützten uns in einer Einfahrt vor dem Regen und würden somit unmöglich ein Taxi bekommen, oder wir würden am Straßenrand unter dem Re- gen stehen, in der Hoffnung dort wenigstens doch noch an ein Taxi zu kommen. Wir entschieden uns selbstverständlich für den Straßenrand und winkten jedem Taxi zu. Doch entweder waren
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alle Taxi schon besetzt, oder die wenigen freien wurden uns von anderen Leuten vor der Nase weggeschnappt. Nach einer verdammt langen Zeit - sicher eine halbe Stunde - hatten wir dann doch das Glück und konnten ein Taxi anhalten. Ich öffnete die Hintertür und ließ Manuela einsteigen. Anschlie- ßend stieg ich auch ein und schloss - mit einem festen Ruck - die Tür zu. Der Taxifahrer sagte zu mir, ich solle bitte die Tür nicht so fest zuschlagen, doch ich verstand, ich solle bitte die Tür fester zuschlagen. Ich sagte einen Moment bitte, öffnete erneut die Tür und schloss sie noch fester zu. Manuela und der Taxifahrer schau- ten mich verdutzt an und ich fragte was los sei. Der Taxifahrer hatte doch gesagt, ich solle die Tür fester zuschlagen oder? Doch der Taxifahrer war schon mächtig böse und sagte uns, wir sollten bitte aus seinem Taxi aussteigen. Manuela versuchte ihm noch zu erklären, dass ich ihn falsch verstanden hatte, dass ich nicht so gut Spanisch konnte, doch der Taxifahrer wollte nichts davon wissen. Er wiederholte, dass wir bitte aus seinem Taxi aussteigen sollten und wir stiegen halt aus. Nun standen wir erneut im Regen. Ich hatte mich ja mittlerweile dermaßen ans Wasser gewöhnt, dass ich in den wenigen Augen- blicken im Taxi direkt etwas vermisst hatte. Doch nun hatte ich es wieder und wir konnten erneut auf die Taxisuche gehen. Nach einer, na sagen wir mal undefinierbaren langen Zeit, hielt dann endlich wieder ein Taxi an. Mittlerweile war es auch kein Wunder mehr, da fast kein Mensch mehr ein Taxi brauchte. Ich öffnete wieder die Hintertür und stieg diesmal als erster ein. An- schließend durfte Manuela einsteigen und die Tür selber zuschla- gen, denn ich würde an diesem Abend keine Tür mehr anfassen,
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außer die meines Hotelzimmers, sagte ich. Der Taxifahrer fuhr los und ich konnte es fast nicht glauben, dass wir es doch noch ge- schafft hatten. Wir fuhren zuerst zu Manuela. Dort angekommen, verabschie- dete sie sich mit einem Küsschen, diesmal aber auf die Lippen. Ich musste anscheinend - trotz Zwischenfall mit der Taxitür - nicht den schlechtesten Eindruck auf sie gemacht haben. Danach fuhr ich ins Hotel, ohne diesmal einen Zwischenstopp in Las Copitas einzulegen. Die Jungs waren sowieso nicht auf der Straße. Ver- mutlich waren sie immer noch irgendwo in der Stadt und feierten den Sieg ihres Atlético National. Ich ging auf mein Zimmer und zog die nassen Kleider aus. Zu- erst zog ich mein blaues T-Shirt aus, anschließend die schwarzen Jeans. Ich schaute in den Spiegel, doch ich hatte den Eindruck, als wäre ich immer noch angezogen. Durch das Wasser hatten die Kleider dermaßen abgefärbt, dass meine Haut die Farbe aufge- nommen hatte. Ich sah aus, als hatte ich immer noch Jeans und T- Shirt an. Eine gründliche Dusche würde helfen, dachte ich, als ob ich nicht schon genug Wasser abbekommen hatte. Danach legte ich mich sauber und trocken ins Bett. Draußen regnete es mittler- weile nicht mehr. Kunststück. In Medellín verbrachte ich noch weitere drei Wochen. Manuela und ich verstanden uns sehr gut und verliebten uns ineinander. Eine sehr schöne Zeit. Doch ich machte mir Sorgen darüber, dass wir uns früher oder später wieder trennen müssten. Ich wollte mich nicht zu sehr verlieben, doch mit Manuela war es unmöglich. Sie war ein so wunderbarer Mensch, man konnte sie nur lieben.
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An den Wochenenden fuhren wir immer fort, um aus der Groß- stadt zu flüchten und ein paar Tage Zweisamkeit zu genießen. Gregorio sah ich noch ein paar Mal, doch José ließ sich nicht mehr blicken. Alles in allem eine sehr ruhige Zeit, fast die ruhigste während meiner ganzen Reise. Doch das sollte sich noch ändern. Und wie. So gegen Ende Mai verspürte ich den inneren Drang, meine Reise fortzusetzen. Obwohl ich gerne mit Manuela zusammen war, wollte ich nicht hier in Medellín hängen bleiben, sondern noch mehr von Kolumbien sehen und erleben. Dafür war ich ja schließlich auch nach Kolumbien gekommen. Ich versuchte es Manuela schonend beizubringen. Ich erklärte ihr, dass ich noch zwei Monate weiterreisen wollte, bevor ich dann das Ende meiner Reise mit ihr in Medellín verbringen würde. Sie hatte erstaunlich gut darauf reagiert. Sie meinte es sei normal, dass ich noch mehr von Kolumbien sehen wolle, doch ihre Augen verrieten mir das Gegenteil. Ich hatte das Gefühl, dass sie mir nicht glaubte. Sie dachte si- cher, dass ich nur eine Ausrede brauchte, um mich von ihr zu trennen. Ich konnte sie zwar verstehen, doch ich konnte ihr un- möglich beweisen, dass ich es ernst meinte. Wie sollte ich ihr denn zeigen, dass ich tatsächlich vor hatte, die letzten Tage meiner Rei- se mit ihr zu verbringen? Nur durch meine Rückkehr nach Medellín, hätte ich es ihr beweisen können, und dafür musste sie sich etwa zwei Monate gedulden.
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Juni
Ein merkwürdiger Traum
Am Abend des 1. Juni nahm ich den Nachtbus nach Cali. Ich schlief praktisch während der ganzen Fahrt, doch am Morgen - als ich in Cali ankam - fühlte ich mich sehr müde. Ich hatte kalt und es war mir schwindlig. Vermutlich hatte ich in letzter Zeit zuviel Gras geraucht, dachte ich und nahm mir vor, in dieser Hin- sicht eine Pause einzulegen. Ich nahm mein Handbook und suchte mir ein Hotel aus. Wie in Cartagena, gab es auch hier in Cali ein Hotel Colombia. Da ich mich in Cartagena wohl gefühlt hatte, entschied ich mich erneut für das Colombia. Im Hotel angekommen, fühlte ich mich immer noch schlecht. Ich nahm ein Zimmer und legte mich gleich ins Bett. Ich schlief den ganzen Tag und als ich abends aufwachte, war ich in Schweiß gebadet. Alle Gelenke taten mir weh und ich konnte kaum aufste- hen. Ich musste sehr hohes Fieber haben, doch ich hatte kein Ther- mometer um es zu messen. Nachdem ich mir trockene Kleider angezogen hatte, legte ich mich wieder ins Bett und schlief ein. Ich hatte einen seltsamen Traum. Ich stand auf einer Bühne und mehrere Leute unter mir jubelten mir zu. Alle tanzten und hatten Spaß, obwohl keine Musik zu hören war. Die Leute waren mir nicht fremd. Alles Leute, die ich während meiner Reise durch Kolumbien kennengelernt hatte, oder zumindest kurz gesehen hatte. Da war Arthur mit seinen nassen Jeans. Auch der Chef des Hotel Plattfuß war da und strich sich mein Rasierwasser ins Gesicht.
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Das Zimmermädchen vom Hotel Explorador in Santa Marta tanzte mit dem kleinen Schuhputzer von Bogotá. Die drei Mädchen - die im Parque Tayrona Schweizerdeutsch geredet hatten - waren auch da, und ich hatte das Gefühl, sie würden weiterhin über mich lä- stern. Asi und Koby rauchten Marihuana, während Alfonso ihnen seinen Ordner zeigte. Davor streckte sein Diktiergerät in die Luft, als wollte er mir etwas abspielen, doch ich konnte nichts hören. Fabio und Edi standen nebeneinander, dabei trug Fabio Edis grü- ne Baseball Mütze. Fabio hatte eine blutige Stirn und Edi hatte einen schwarzen Koffer in der Hand. Pedro und das besoffene Mädchen von Playa Blanca umarmten und küssten sich. Auch José war da und was mich am meisten überraschte war, dass José seine Hosen runter gelassen hatte und Luz ihm einen runter holte. Gregorio stand abseits, als würde ihn die Menschenmenge stören. Er trank seinen Apfelsaft. Manuela winkte mir von ganz weit hin- ten. Sie gab mir Zeichen, als wollte sie mir sagen, ich solle anru- fen. Die Jungs von Las Copitas waren auch da, alle grünweiss an- gezogen. El Mexicano hatte eine Flasche Aguardiente in der Hand und jonglierte mit seinem Stock. Er trug aber nicht seine alten und dreckigen Klamotten, sondern hatte neue und saubere Klei- der an. Auch seine Schuhe waren neu, er trug nämlich meine schwarzen Lotto Turnschuhe. Da waren noch mehr Leute, die ich aber nicht persönlich kann- te. Leute, die mir während meiner Reise nur kurz begegnet waren. Da waren zum Beispiel Busfahrer, Kellner, Zimmermädchen, Ta- xifahrer und so weiter. Alle tanzten und waren fröhlich. Unter all den Leuten, vermisste ich aber jemanden. Ich konnte weder Fredo noch Cristina sehen. Ich warf einen Blick über den
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ganzen Raum, doch ich konnte sie nirgends sehen. Da hörte ich plötzlich Stimmen, wie Hilferufe. Ich schaute runter und sah un- ter mir auf dem Boden vier Leute sitzen, die ihre Arme zu mir streckten. Einer von ihnen war Fredo, anschließend erkannte ich auch Inbar und Cristina. Den Vierten kannte ich nicht, obwohl mir sein Gesicht irgendwie bekannt vorkam. Danach wachte ich auf, es war bereits Morgen. Fünf Tage lang, war es mir schlecht. Ich hatte Fieber und lag den ganzen Tag im Bett. Nur zum essen, konnte ich mich aufraffen und ins Restaurant laufen. Von Cali habe ich nichts gesehen, au- ßer das Hotel und das Restaurant gegenüber. Am sechsten Tag konnte ich wieder einigermaßen laufen und ich entschied mich weiterzureisen. Von Cali hatte ich zwar nichts gesehen, doch wegen meiner Krankheit hatte ich soviel Zeit in diesem Hotel verbracht, dass ich nun genug davon hatte und weg wollte. Ich war noch nicht ganz bei Kräften und wollte nicht wieder eine über zwölfstündige Busfahrt auf mich nehmen. Popayán war nur etwa drei Stunden Busfahrt entfernt, also entschied ich mich für diese Stadt und fuhr diesmal tagsüber. Ich nahm den Mittags- bus und kam so gegen drei Uhr Nachmittags in Popayán an.
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Der Paisa
In meinem Handbook stand wieder etwas von einem Hotel Colombia. Mittlerweile war es fast eine Gewohnheit und ich ent- schied mich erneut für dieses Hotel. Ich nahm also ein Taxi und fuhr ins Colombia. Das Colombia war ein kleines Hotel mit nur sechs Zimmer. Das Bad war im Hof und die Toilette hatte eine Klobrille auf der Schüs- sel. Das war das erste Mal, dass ich in Kolumbien eine Klobrille auf einer Schüssel sah. Endlich konnte ich scheißen, ohne einen kalten Arsch zu bekommen. Ich legte meinen Rucksack ins Zim- mer und ging spazieren. Nach einer Woche im Bett, hatte ich rich- tig Lust, wieder auf meine Beine zu stehen. Was mir auffiel, war dass in Popayán alle Gebäude nicht höher als zwei Stockwerke waren. Die Häuser waren alle weiß angestri- chen und hatten Balkone aus Holz. Sah alles aus wie in einem mexikanischen Dorf aus einem Western. Wie ich aber später er- fuhr, hatte dies einen Grund. Popayán wurde nämlich im Jahre 1983 von einem Erdbeben zerstört. Seitdem wurden alle Häuser nicht höher als zwei Stockwerke gebaut, damit diese ein erneutes Erdbeben überstehen könnten. Ich war fast einen Monat in Medellín gewesen, eine zwei Millio- nen Stadt. Nun kam mir Popayán, mit seinen rund 200.000 Ein- wohnern wie ein kleines Dorf vor. Die Straßen so klein, fast keine Autos und alles so ruhig. Genau das, was ich nach meiner Krank- heit brauchte: Ruhe und Erholung.
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Ich erinnerte mich, dass ich schon lange nicht mehr nach Hause telefoniert hatte. An einer Ecke war eine kleine Telecom und ich rief zu Hause an. Anschließend rief ich Manuela an, um ihr zu zeigen, dass ich sie nicht vergessen hatte. Sie war sehr froh, meine Stimme zu hören und mir tat es auch gut, ihre Stimme zu hören. Ich vermisste sie bereits ein wenig, was mich eigentlich ziemlich störte. Ich war nämlich nicht nach Kolumbien gekommen, um mich zu verlieben, sondern um das Land kennenzulernen und eine schöne Zeit zu haben. Doch was wollte ich dagegen tun? Musste anscheinend so sein. Danach spazierte ich durch die Straßen und entdeckte dabei ein Schweizer Restaurant. Erstaunlich, dass im Süden von Kolumbi- en - in einer Kleinstadt - ein Schweizer Restaurant stand. Da ich eh Hunger hatte, betrat ich das Restaurant und setzte mich an einen Tisch. Um diese Zeit - es war so gegen fünf Uhr - war das Restaurant noch fast leer »Hallo. Möchtest du was essen, oder nur etwas trinken?« fragte mich ein Mädchen. »Hallo. Ich möchte etwas essen, danke. Sag mal, ist der Chef hier ein Schweizer.« »Ja. Sind aber zwei Chefs, eine Frau und ein Mann.« »Weißt du, woher sie sind?« »Nein. Ich weiß nur, dass er Deutsch und sie Französisch spricht.« »Und die sind nicht da?« »Nein, im Moment noch nicht, da wir soeben geöffnet haben. Sie kommen meistens etwas später, so gegen sechs Uhr.« Ich bestellte Medaillons an Weißweinsauce und genoss wieder mal die Schweizer Küche. Kurz nach sechs Uhr kam dann tat-
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sächlich der Chef. Er grüßte mich auf Spanisch und ich grüßte auf Schweizerdeutsch zurück. Der Chef lächelte und kam zu mir an den Tisch. »Schön, wieder mal jemanden aus der Schweiz zu sehen«, sagte er. »Geht mir ebenso.« »Bist du schon lange hier?« »In Popayán bin ich erst heute angekommen, aber in Kolumbi- en bin ich schon seit über drei Monaten.« »Und, gefällt es dir hier?« »Ja, sehr. Und du, wie lange lebst du schon hier?« »Seit zwei Jahren. Ich kam mal so wie du nach Kolumbien und bin hier in Popayán hängen geblieben. Ich hab dann mit einer Kollegin aus Nion dieses Restaurant aufgezogen und nun klebe ich hier fest.« »Festkleben?« »Ja. Ich komme nicht mehr weg, weil es mir hier sehr gut ge- fällt.« »Kann ich gut verstehen. Popayán ist eine echt ruhige Stadt.« »Ich heiße übrigens Gerry.« »Ich bin Mono.« »Bleibst du lange in Popayán?« »Ich weiß noch nicht, das hängt immer davon ab, was mir alles passiert.« »Dann hoffen wir, dass dir eine Menge passiert. Im Guten, mei- ne ich.« »Ja, das hoffe ich auch.«
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Durch Gerry lernte ich in Popayán eine Menge Leute kennen. Ich aß täglich in seinem Restaurant und half sogar an einem Wochen- ende aus, als er knapp an Personal war. Ich nahm die Bestellungen auf, servierte das Essen und durfte auch die Teller waschen. Dafür gab es Essen gratis. Abends ging ich meistens in irgend eine Bar, in der Salsa ge- spielt wurde. Eines Abends lernte ich in der Lomatondra Fercho kennen. Fercho war aus Medellín, doch er lebte schon seit mehre- ren Jahren in Popayán. Weil die Einwohner von Medellín Paisas heißen, nannten ihn alle den Paisa. Auch ich nannte ihn liebevoll Paisa. Der Paisa wollte in einer Woche auch eine Bar eröffnen. Todo Listo sollte die Bar heißen und er war dabei, sie einzurichten. Am nächsten Samstag sollte die Eröffnung sein. Ich bot ihm an, bei der Einrichtung behilflich zu sein. Da ich schon seit Monaten nichts mehr gearbeitet hatte, würde dies sicher eine schöne Abwechs- lung sein. Er arbeitete jeden Tag bis spät am Abend. Ich half ihm mei- stens am Nachmittag. Wir strichen die Wände, bemalten Lampen, hingen Bilder auf oder stellten Tische und Stühle rein. Ab und zu kamen einige Kollegen vom Paisa und halfen mit, doch meistens waren wir alleine. Wir hörten Musik, unterhielten uns und manch- mal rauchten wir auch einen Joint. Der Paisa war äußerst nett und sehr hilfsbereit. Ich hatte nun bereits die ganze Woche in seiner Bar gearbeitet und der Tag der Eröffnung stand bevor. Am Samstag, den 17. Juni, wäre es soweit gewesen. Punkt neun Uhr, wollte der Paisa seine
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neue Bar eröffnen. Alle Leute wussten davon und konnten es kaum abwarten. Der Paisa rechnete gleich am ersten Abend mit sehr vielen Leu- ten und fragte mich, ob ich nicht hinter der Theke mithelfen woll- te. Ich war von der Idee begeistert. Wieder mal Partystimmung, wäre sicher nicht schlecht gewesen. Am Donnerstag Abend wollten wir noch die letzten Wände strei- chen. Wir arbeiteten bis spät und als alles mehr oder weniger fer- tig war, setzten wir uns an einen Tisch und wollten uns einen Drink gönnen. Während der Paisa etwas zu trinken holte, zündete ich mir eine Zigarette an. Ich nahm eine alte Zeitung, die wir als Un- terlage benutzt hatten und blätterte ein wenig darin. Eine Schlag- zeile stach mir ins Auge: Vier Touristen von der Guerrilla entführt. Ich schaute auf die Fotos. Auf einem erkannte ich Fredo. Das kann doch nicht wahr sein, dachte ich. Doch unter dem Foto stand sein Name. Auf einem anderen Foto erkannte ich Inbar und schließlich auch noch Cristina. Auch ihre Namen standen unter den Fotos. Den Typ auf dem vierten Foto kannte ich nicht, ob- wohl mir sein Gesicht bekannt vorkam. Ich las den Artikel. Vier ausländische Touristen wurden gestern, in der Nähe von Montería, von der Guerrilla entführt. Die Touristen waren von Cartagena nach Medellín unterwegs, als die Guerrilla den Bus anhielt und die vier Unglücklichen ent- führte. Bis zum jetzigen Zeitpunkt fehlt jede Spur der Vermissten. Die Fa- milien der Touristen...
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Die Zeitung war vom 3. April, das war vor über zwei Monaten. Ich suchte nach einer neueren Zeitung, doch die Zeitungen die da rum lagen, waren alle ziemlich alt. Die neueste die ich finden konn- te, war vom 13. Mai. Ich blätterte sie durch, um mehr über diese Entführung zu erfahren, doch ich konnte nichts weiteres darüber finden. Bis auf der zweitletzten Seite, da stand ganz klein: Die vier Touristen, die anfangs April von der Guerrilla entführt wurden, sind immer noch in der Gewalt ihrer Entführer. Die Familien der Opfer sind bemüht, das geforderte Lösegeld von 600.000 US Dollar... Sie waren also immer noch in den Händen der Guerrilla. Die Zei- tung war zwar über drei Wochen alt, doch ich hatte das komische Gefühl, dass die vier noch nicht frei waren. Der Paisa fragte mich, was mit mir los sei und ich erzählte ihm, was ich gelesen hatte. Das tat ihm sehr leid und er schämte sich für seine Landsleute. Irgendwie fühlte er sich mitschuldig, sagte er, weil er auch Kolumbianer sei. Der Paisa und ich plauderten noch eine Weile über die Entfüh- rung, danach ging ich. Ich wollte alleine sein. Ich lief durch die Straßen und dachte über Fredo, Inbar und Cristina nach. So wie es aussah, hatten sie sich damals doch noch getroffen und wollten anscheinend zusammen von Cartagena nach Medellín fahren. Ich dachte an Fredo, der arme Kerl würde si- cherlich am meisten leiden. Er, der seit seiner Gefangenschaft in Thailand keine engen Räume mehr vertragen konnte. Und Cristina, für sie fühlte ich mich irgendwie mitschuldig. Hätte ich sie nicht verarscht, wäre sie vermutlich mit mir in Cartagena geblieben und
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nicht nach Medellín gefahren. Doch alle Wenn und Aber nützten nun überhaupt nichts. Das einzige, was den vier nun helfen könn- te, wären 600.000 US Dollar. Vorausgesetzt, sie würden noch le- ben. Ich ging ins Hotel und schloss mich in mein Zimmer ein. Die ganze Nacht konnte ich kein Auge zu kriegen. Meine Gedanken waren ständig bei Fredo, Inbar und Cristina. Ich wollte ihnen hel- fen, wusste aber nicht wie. Mir kam überhaupt nichts in den Sinn, was ich hätte tun können. Dieser Zustand brachte mich fast um den Verstand. Ich fragte mich ständig, wieso ich ausgerechnet diese Zeitung lesen musste. Ich meine, im Todo Listo lagen so viele Zeitungen herum, wieso ausgerechnet diese? Hätte ich nicht diese Zeitung gelesen, würde es mir jetzt nicht so schlecht gehen. Ich erinnerte mich wieder an Edi und an seine Lebenszeichen. War dies so ein Zeichen? Musste ich von der Entführung erfahren?
Identität der vier feststellen und ihre Fotos veröffentlichen. Seit- dem waren die vier in Gefangenschaft. Die letzte Zeitung, die von ihnen berichtete, war fünf Tage alt und da waren sie noch in Gefangenschaft. Die Familien der Ent- führten waren bemüht, das nötige Lösegeld zu besorgen. Mehr konnte ich nicht erfahren. Meine Laune wurde immer schlechter. Ich hatte keine Lust mehr, morgen bei der Eröffnung des Todo Listo dabeizusein. Ich wollte nur noch weg und alleine sein. Das letzte, was ich in diesem Mo- ment brauchte, war so etwas wie Partystimmung. Ich suchte den Paisa und berichtete ihm von meinen Sorgen. Er hatte vollstes Verständnis für meinen Gemütszustand und wünsch- te mir noch viel Glück bei meiner Weiterreise. Danach ging ich wieder ins Hotel und packte meinen Rucksack.
Am Morgen stand ich sehr früh auf und fragte die Chefin des Hotels, wo ich alte Zeitungen finden konnte. Sie gab mir eine Bi- bliothek an, die angeblich alle Ausgaben der örtlichen Tageszei- tung in ihrem Archiv hatte. Ich suchte die Bibliothek und ver- brachte den ganzen Morgen damit, die Zeitungen der letzten Wochen zu lesen. Alles was ich erfahren konnte war, dass die vier aus dem Bus gezerrt und mit einem Jeep weggebracht wurden. Ihre Rucksäcke blieben dabei im Bus. Durch die Rucksäcke konnte die Polizei die
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Nachts auf der Straße
Ich hatte etwas von einem Dörfchen namens San Agustín gehört. Dort wäre es angeblich sehr ruhig und erholsam, da die einzigen Sehenswürdigkeiten einige Indiogräber seien. Ein Friedhof ist zwar kein Platz zur Erholung, doch was ich nun brauchte, war etwas Ruhe und vor allem nicht viele Leute um mich. Ich nahm also meinen Rucksack, bezahlte die Hotelrechnung und fuhr zum Ter- minal de Transportes. Dort kaufte ich ein Busticket nach San Agustín und fragte den Verkäufer, wo ich den Bus nehmen konnte. Er sagte mir etwas, doch ich passte nicht richtig auf. Ich konnte mich nicht richtig konzentrieren und verstand daher nur etwa die Hälfte. Der Mann sagte zwar etwas von San Agustín, doch er nannte auch noch mehrere Dörfer, die ich nicht kannte. Ich setzte mich in den Bus und schaute aus dem Fenster. Ich hatte mich überhaupt nicht erkundigt, wie lange die Fahrt dauern würde. Irgendwie war es mir egal. Alles, was sich um mich abspiel- te, war mir egal. Ich war wie geistesabwesend, nur in meine Ge- danken vertieft. Die Sache mit Fredo, Inbar und Cristina hatte mich ziemlich mitgenommen. Gegen Mittag fuhr der Bus los. Wir hatten kaum Popayán ver- lassen, als die Straße bereits schlechter wurde. Der Asphalt wurde nach und nach von Sand und Steinen abgelöst und der Bus fing reichlich an zu holpern. Nach einer guten halben Stunde war die Straße in einem dermaßen schlechten Zustand, dass der Bus nicht schneller als etwa zwanzig Stundenkilometer fahren konnte.
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Nach etwa zwei Stunden, wurde die Straße immer noch nicht besser. Viele Leute - vor allem Kinder - hatten sich schon reichlich übergeben. Einige schafften es nicht mehr, ihren Kopf in eine Kotztüte zu stecken, oder sich aus dem Fenster zu lehnen und kotzten deshalb unter die Sitze. Eine Frau hatte eine Holzkiste mit zwei Hühnern dabei. Als der Bus über einen großen Stein fuhr und etwas mehr als gewöhnlich holperte, brach die Kiste auseinander. Die zwei Hühner sprangen aus der Kiste und die Frau versuchte sie gleich wieder einzufan- gen, doch in diesem Gerüttle und Geschüttle war es praktisch unmöglich. Die arme Frau stürzte und holte sich eine Schürfwun- de am Knie. Der Anblick war filmreif, doch ich brachte nicht ein- mal ein Schmunzeln raus. Ich war nicht in der Stimmung. Ein kleiner Junge weinte, weil er dringend pissen musste. Seine Mutter zog ihm die Hosen runter und lies ihn ebenfalls unter den Sitz pissen. In dem Gestank von Kotze und Pisse, musste ich mich enorm zusammenreißen, um nicht auch eine Pizza unter den Sitz zu legen. Mittlerweile wurde es langsam dunkel und ich fragte mich, wie lange es noch bis San Agustín dauern würde. Wir hatten unter- wegs zwar mindestens schon zwanzig Mal angehalten, aber keines der Dörfer war San Agustín. Ich fragte die Frau neben mir, doch die hatte keine Ahnung. Ich streckte meine Nase aus dem Fenster und versuchte ein wenig frische Luft zu atmen. So gegen acht Uhr war der Bus nur noch halbvoll. Die rest-p lichen Passagiere schliefen bereits und von San Agustín warp immer noch nichts zu sehen. Ich war mir nicht mehr so sicher,p 199
ob ich überhaupt in den richtigen Bus gestiegen war. Der Typ am Terminal de Transportes hatte zwar etwas von San Agustínp gesagt, doch er hatte auch noch einiges mehr gesagt, was ichp nicht ganz verstanden hatte. Ich stand also auf und ging zump Busfahrer.p »Entschuldigen Sie. Fährt dieser Bus nach San Agustín?« »Nein, nach Florencia.« »Was? Und wie komme ich nach San Agustín?« »Da musst du in Altamira aussteigen und dort den Bus nach San Agustín nehmen.« »Und wie lange gehts noch bis Altamira?« »So gegen elf Uhr sollten wir da sein.« Ich war also in den falschen Bus gestiegen. Oder dies war der einzige Weg von Popayán nach San Agustín und der Typ vom Terminal de Transportes hatte versucht, es mir zu erklären. Wie dem auch sei, ich musste nun bis Altamira fahren, und dort um- steigen. Schöne Scheiße. So um halb zwölf sagte mir der Busfahrer, dass wir in Altamira seien und ich aussteigen müsse. Ich nahm meinen Rucksack und stieg aus. Der Bus fuhr gleich wieder weiter und ich blieb am Stra- ßenrand stehen. Ich zündete mir eine Zigarette an, während der Boden unter meinen Füßen immer noch holperte. Die Fahrt hatte fast zwölf Stunden gedauert und ich war immer noch nicht angekommen. Ich setzte mich auf meinen Rucksack und genoss erstmal die Zi- garette.
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Ich saß unter einer Straßenlampe, die eine Bushaltestelle beleuch- tete. Von Altamira aber war nichts zu sehen. Ich dachte, ich würde in einem Dorf umsteigen, doch nun realisierte ich, dass ich mich auf einer Landstraße befand. Dies war vielleicht die Abzweigung nach Altamira, doch von einem Dorf war hier nichts zu sehen, geschweige denn von einem Bus. Ich blieb sicher eine halbe Stun- de sitzen und wartete geduldig auf den Bus, doch der kam nicht. Es fuhr auch kein Auto oder sonstwas vorbei. Einfach nichts. So um Mitternacht merkte ich dann, dass hier kein Bus mehr vorbeifahren würde, zumindest nicht heute. Ich kam zu dem Entschluss, dass ich nicht die ganze Nacht hier warten konnte. Ich stand auf und zog meinen Rucksack an. Die einzige Möglich- keit, nach Altamira zu kommen, war zu Fuß. Da der Bus - der mich bis hierher gebracht hatte - der Landstraße entlang weiterge- fahren war, musste ich nun logischerweise rechts abbiegen, dachte ich und fing an zu laufen. Ich hatte keine Ahnung wo ich genau war. Durch die lange Bus- fahrt hatte ich völlig die Orientierung verloren und wusste nicht mal, wie weit es überhaupt noch bis Altamira wäre. Ich konnte auch nicht in mein Handbook schauen, denn mittlerweile war ich so weit von der Bushaltestelle entfernt, dass das Licht nicht mehr zu sehen war und ich im Dunkeln lief. Dank des Vollmonds konn- te ich wenigstens noch halbwegs sehen wo ich hin lief. Der Film American Werewolf kam mir in den Sinn. In dem Film, waren zwei junge Rucksacktouristen von Amerika nach England gereist und verirrten sich dort nachts auf einer Landstra- ße. Sie fragten in einem Pub nach der Richtung. Die Leute im Pub zeigten ihnen den richtigen Weg und warnten sie, nicht die Straße
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zu verlassen und sich vor dem Moor zu hüten. Doch die Jungs gaben nicht acht und kamen prompt von der Straße ab. Was da- nach passierte ist Geschichte: Der Werwolf griff sie an und der Film nahm seinen Lauf. Nun lief ich auch - nachts - auf einer Landstraße und musste aufpassen, dass ich nicht von der Straße abkam. Ein Satz spukte mir immer wieder durch den Kopf: Bleibt auf der Straße! Hütet euch vor dem Moor! Dieser Satz aus dem Film blieb mir hängen und kam mir immer wieder in den Sinn. Ich bekam langsam Schiss und fing an zu pfeifen. Dann dachte ich, dass mich jemand hören könnte und ich schwieg wieder. Doch die Stille war noch unerträglicher und ich fing wieder an zu pfeifen. Langsam wurde ich müde und legte eine kurze Pause ein. Ich setzte mich auf meinen Rucksack. Wo war ich nur gelandet, fragte ich mich. Heute morgen war ich noch in Popayán und nun war ich dank meiner Dummheit irgendwo am Arsch der Welt. Scheiße! Ich lehnte mich an einen Pfosten und versuchte mich zu beruhi- gen. Was das wohl für ein Pfosten sei fragte ich mich. Ich schaute hoch und erkannte, dass es sich um einen Wegweiser handelte. Da man im Dunkeln nichts lesen konnte, nahm ich mein Feuerzeug und zündete es an. Auf dem Schild stand: Pitalito 21 Km. Pitalito? War ich denn nicht auf dem Weg nach Altamira? Und wo war Pitalito? Noch mal Scheiße. Plötzlich hörte ich in der Ferne das Geräusch eines Auto. Ich sah die Scheinwerfer immer größer werden und ich wusste nicht,
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ob ich froh darüber sein sollte, oder ob ich noch mehr Schiss haben musste. Das Auto kam immer näher und ich war mir nicht sicher, ob ich den Daumen raus strecken oder mich lieber verstek- ken sollte. Ich blieb regungslos stehen, als das Auto an mir vorbeifuhr. Ein großer weißer Toyota. So ein 4x4 mit großen Reifen und einem riesigen Kofferraum. Vermutlich hatte mich der Fahrer gar nicht bemerkt. Irgendwie war es mir recht, denn ich wusste nicht, was in dieser Situation gefährlicher gewesen wäre: Mit einem Fremden mitfahren, oder alleine auf der Landstraße stehen bleiben. Plötzlich leuchteten die Bremslichter auf und das Auto wurde langsamer. Nach etwa dreissig Metern kam es zum Stillstand. Mein Herz fing an schneller zu schlagen, und ich bewegte mich über- haupt nicht. Ich wusste nicht, ob der Fahrer mich tatsächlich ge- sehen hatte. Wenn ich ruhig stehenbleibe, dachte ich, würde er mich vielleicht im Dunkeln nicht bemerken und weiterfahren. Nach wenigen Sekunden leuchtete ein weißes Licht am Auto auf; er hatte den Rückwärtsgang eingelegt. Als das Auto sich rück- wärts bewegte, fing mein Herz noch schneller an zu schlagen. Das Auto fuhr sehr langsam in meine Richtung zurück. Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, bis es auf meiner Höhe war, doch ich konnte mich vor Angst nicht bewegen. Eigentlich wollte ich flüchten, doch ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Das Auto hielt genau vor meiner Nase an und der Mann hinter dem Lenkrad schaute mich an. Ich konnte ihn nicht erkennen, da es wirklich sehr dunkel war. Die Scheinwerfer beleuchteten nur die Straße. Ich stand auf der Seite des Beifahrers und versuchte, so ruhig wie nur möglich zu bleiben. Arthur hatte damals vor Angst
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in die Hosen gepisst und ich war nun sehr nahe dran, es ihm nach- zumachen. Der Fahrer ließ langsam das Fenster auf meiner Seite runter und lehnte sich mit dem Oberkörper über den Beifahrersitz. »Mono?« fragte der Mann. »Edi?« staunte ich. Das konnte doch nicht wahr sein! Das war Edi, Edi el Calvo. Verdammte Scheiße, was geht hier ab, fragte ich mich. Das kann doch nicht sein, dass ausgerechnet jetzt und hier Edi mir über den Weg läuft. Doch ich war so froh. »Was machst du denn hier?« fragte Edi.
»Das gleiche kann ich dich fragen.«
»Komm, steig ein.«
»Und ob ich einsteige, Alter.«
Ich warf meinen Rucksack auf die Rückbank und setzte mich
vorne neben Edi. Anschließend fuhr er los. »Mann bin ich froh, dich zu sehen. Ich habe so oft an dich ge- dacht, weißt du? Ich habe dir eine Menge zu erzählen.« »Das freut mich. Nun sag, was machst du mitten in der Nacht alleine auf einer gottverlassenen Landstraße?« »Ach, eine lange Geschichte. Ich wollte nach San Agustín, bin aber in den falschen Bus gestiegen. Danach sagte mir der Busfah- rer, ich sollte in Altamira umsteigen, doch dort kam kein Bus mehr vorbei. Also fing ich an zu laufen, und hier bin ich nun. Und du, wo fährst du hin?« »Ich weiß nicht, ich fahr einfach durch die Gegend.«
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»Was? Wie bitte? Du fährst mitten in der Nacht einfach rum und fährst ausgerechnet dort vorbei, wo ich seit Stunden rum- stehe? Wie nennst du das, Zufall oder ein Zeichen des Lebens?« »Du hast aufgepasst, wie ich sehe?« »Nicht nur das. Ich muss dir einiges erzählen. Du kannst dir nicht vorstellen, was mir in Medellín passiert ist. Du hast doch dieses Buch erwähnt, weißt du noch?« Edi antwortete nicht. Er schaute geradeaus auf die Straße und war wie abwesend. »Edi? He Edi, hörst du mir zu?« Er antwortete immer noch nicht. Dann sah ich, wie er die Au- gen schloss und seinen Kopf an das Fenster lehnte. Ich rüttelte ihn und schrie ihn an: »Edi wach auf verdammt. Willst du uns umbringen?« Er reagierte nicht. Ich packte mit meiner rechten Hand das Lenk- rad, um das Auto auf der Straße zu halten. Mit der anderen Hand riss ich an seinem rechten Hosenbein, um seinen Fuß vom Gas- pedal zu lösen. Ich schaffte beides und das Auto wurde langsa- mer. Danach zog ich mit meiner linken Hand ganz vorsichtig die Handbremse, bis das Auto zum Stillstand kam. Ich stellte den Schalthebel auf P und drehte am Zündschlüssel, anschließend war Totenstille. Edi hatte immer noch die Augen zu und bewegte sich nicht. Ich rüttelte ihn erneut, doch er zeigte immer noch keine Reaktion. Im ersten Moment war ich ratlos, doch dann stieg ich aus und rannte auf die Fahrerseite des Autos. Als ich die Tür öffnete, fiel Edi fast aus dem Auto. Ich konnte ihn gerade noch rechtzeitig packen, ehe
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er auf die Straße aufgeschlagen wäre. Danach legte ich ihn vor- sichtig auf den Boden. Erst jetzt bemerkte ich, dass er an seiner linken Seite oberhalb der Hüfte stark blutete. Im Auto hatte ich es nicht gesehen, da ich rechts von ihm gesessen hatte. Ich legte ihm zwei Finger auf dem Hals, um seinen Puls zu fühlen, doch ich spürte nichts. Er atmete auch nicht. »Scheiße und noch mal Scheiße. Edi wach auf, verdammt noch mal. Du darfst nicht sterben. Edi!«, schrie ich. Doch Edi bewegte sich nicht. Er war tot. Ich war mit den Ner- ven völlig am Ende und fing an zu weinen. Keine Ahnung, wie lange ich da vor Edi gekniet und mich ausge- weint habe. Irgendwann realisierte ich aber wieder, was passiert war. Ich sah Edis Körper auf der Straße, die offene Autotür, das Licht der Scheinwerfer, und ich konnte langsam wieder klar den- ken. Ich stand auf und versuchte mich zu beruhigen. Was solltep ich jetzt tun? Irgendwie musste ich doch etwas tun, dachte ich,p denn ich konnte kaum die ganze Nacht mit einer Leiche auf derp Straße stehen bleiben.p Edi musste wieder ins Auto, das war das erste was ich machen musste. Danach wäre ich vermutlich weitergefahren, denn hier konnte ich nicht bleiben. Ich entschied mich, Edi in den Kofferraum zu tun, denn auf dem Beifahrersitz wäre er eine schlechte Reisebegleitung gewe- sen. Ich packte ihn an seinen Handgelenken und zerrte ihn bis
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zum hinteren Teil des Autos. Danach öffnete ich den Kofferraum. Was ich im Kofferraum zu sehen bekam, stockte mir den Atem. Ich war mittlerweile auf alles gefasst, doch bei diesem Anblick musste auch ich vor Schreck laut aufschreien. Im Kofferraum lag ein weiterer toter Mann. Er war voller Blut und hatte überall auf dem Körper Einschusswunden. Ein unbe- schreiblicher Anblick. Mein Magen zog sich zusammen und droh- te aufzustoßen. Ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen und musste mich übergeben. Erstaunlich, was einem in extremen Situationen alles durch den Kopf geht. In diesem Moment musste ich an meine Tage in Arrecife denken. An die schönen, ruhigen Nachmittage in meiner Hängematte mit einem Joint zwischen den Fingern. Ich schloss die Augen und versuchte mir den Strand von Arrecife vorzustel- len. Das Restaurant mit all den Stühlen, die Palmen, all die Leute. Sogar das Meer konnte man hören. Doch das einzige was ich sah, als ich die Augen wieder öffnete, war meine Kotze. Daneben Edis Leiche und eine Blutspur. Kein Strand, keine Palmen, kein Meer. Vor einer halben Stunde, da stand ich noch alleine auf der Land- straße und dachte, ich hätte ein Problem. Was hatte ich denn nun? Waren es zwei Probleme, oder sogar deren drei? Konnte ich diese Probleme überhaupt noch lösen, oder war die Situation aussichts- los? Fragen über Fragen, auf die ich keine Antworten wusste. Ich riss mich zusammen und war fest entschlossen, meine Num- mer durchzuziehen und Edi ebenfalls in den Kofferraum zu pak- ken. Edi war verdammt schwer, doch ich schaffte es, ihn über die Leiche des unbekannten Toten zu legen. Dabei bemerkte ich, dass
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der andere Tote eine Tätowierung an seiner linken Hand hatte. Ein Kruzifix mit einer Schlange herum. Die gleiche Tätowierung, die der Typ damals im Hotel Plattfuß hatte. Ich war sogar über- zeugt, dass es die selbe Tätowierung war und ich schaute sofort auf seine Füße. Er hatte aber nicht meine schwarzen Turnschuhe an. Unter seinen Füßen lag aber ein schwarzer Koffer. Ich riss den Koffer hervor und öffnete ihn. Die nächste Überraschung war ebenfalls groß, der Koffer war nämlich voller Geld. Ich kam mir langsam, wie in einem Hollywood Film vor. Fehlte nur noch ein zweiter Koffer voller Drogen, dann wäre die Szene perfekt gewe- sen, doch da war leider kein zweiter Koffer. Oder zum Glück. Im Koffer war verdammt viel Geld. Ich wusste nicht wieviel es sein konnte, doch ich hatte noch nie soviel Geld auf einmal gese- hen. Das wäre doch der Traum eines Jeden gewesen, einen Koffer voller Geld zu finden. Eigentlich hätte ich vor Freude aufspringen müssen, aber mit zwei Toten im Kofferraum konnte mich sogar das viele Geld nicht glücklich stimmen. Die Story mit dem Marihuana und der Libra damals in Santa Marta kam mir in den Sinn. Damals hatte ich auch eine große Menge Marihuana, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Nun hatte ich eine große Menge Geld, die ich auch noch nie zuvor gesehen hatte. Weshalb mir ausgerechnet dieser Vergleich einfiel, wusste ich auch nicht. Vermutlich, weil beides - Geld und Gras - grün waren. Ich ließ den Koffer im Kofferraum, setzte mich ans Steuer und fuhr weiter in Richtung Pitalito. Ich versuchte, ein wenig einen klaren Kopf zu bekommen. Irgendwie musste ich aus dieser Si-
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tuation rauskommen. Am besten, ohne dabei in den Knast zu kommen, denn mit zwei Toten und einem Koffer voller Geld im Kofferraum wäre jeder Versuch einer Ausrede zwecklos gewesen. Und das Auto war vermutlich auch noch geklaut, was die Sache nicht unbedingt einfacher machte. Verrückt, was mir mit Edi passiert war. Zweimal hatte ich ihn getroffen und beide Male hatte er meinen Alltag durcheinander gebracht. Was sollte das bedeuten? War da ein Sinn dahinter, oder war es wirklich nur Zufall? Warum musste er ausgerechnet hier und um diese Zeit vorbeifahren und mir begegnen? Ich meine, Kolumbien ist doch so verdammt groß und er fährt genau dort vorbei, wo ich stehe. Und auch noch zum richtigen Zeitpunkt. Oder war es der falsche Zeitpunkt? Und in welche Sache hatte sich Edi diesmal verstrickt? Ich hatte keine Ahnung, aber allem Anschein nach, war es für ihn eine Nummer zu groß gewesen. Und dann noch dieser andere tote Mann. Er war der, der mir die Turnschuhe geklaut hatte. Ich hatte den Zwischenfall schon fast vergessen, da tauchte dieser Typ wieder auf und erst noch ohne Schuhe. War das auch nur ein Zufall, oder hatte das einen Sinn? Das war irgendwie zu viel. Langsam drohte ich durchzudrehen. Doch was ich nicht wusste, war, dass dies bereits ein weiterer klei- ner Kreis war, der sich geschlossen hatte. Meine Gedanken spielten verrückt. Ich konnte keinen klaren Kopf bekommen und mich schon gar nicht konzentrieren. Die unmöglichsten Szenen kamen mir in den Sinn. Edi, blutend am Boden. Der fremde Tote im Kofferraum. Der Koffer voller Geld. Geld! Bei diesem Stichwort, kam mir Fredo in den Sinn. Er war
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immer noch in den Händen der Guerrilla und die verlangten auch Geld. Ich hatte nun Geld, doch wieviel Geld hatte ich überhaupt? Könnte ich damit vielleicht die vier freikaufen? Ich hielt an, stieg aus dem Auto und ging zum Kofferraum. Der Koffer war während der Fahrt nach hinten gerutscht und ich musste mich auf die zwei Toten stützen, um ans Geld zu kom- men. Fast musste ich wieder kotzen, so scheußlich war der An- blick. Ich öffnete den Koffer und nahm ein Büschel Geld raus. Alles 100er US Dollarnoten. Ich zählte sie, es waren 100 Stück. In einem Büschel waren also 10.000 US Dollar. Im Koffer waren 72 Büschel Geld, das machte 720.000 US Dollar. Ich vermutete, dass es viel Geld war, doch ich dachte nicht, dass es soviel war. Ein komisches Gefühl, fast wie Angst, überkam mich. Ich hätte nicht gedacht, dass viel Geld einem Angst machen konnte, doch das tat es. Und was ich in diesem Moment überhaupt nicht brauchte, war noch mehr Angst. Ich riss mich erneut zusammen, nahm meinen Rucksack und verstaute das Geld darin. Den Koffer ließ ich im Kofferraum. Danach fuhr ich weiter. Während der Fahrt überlegte ich. Nun hatte ich noch ein Problem. Ich hatte zwar genügend Geld, um die vier Entführten freizukaufen, doch ich hatte überhaupt keine Ahnung, wie ich das anstellen sollte. Wo sollte ich anfangen? Wie komme ich an die Guerrilleros ran? Und wo finde ich die? Die laufen ja kaum auf der Straße rum und erzählen sie wären Guerrilleros. Und was mache ich mit den zwei Leichen? Und das Auto? Die Sache sah überhaupt nicht gut aus. Ich zündete mir eine Zigarette an, es war meine letzte. Danach drehte ich am Radio, um etwas Musik zu hören. Ich musste mich
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entspannen und ein wenig Musik würde sicherlich gut tun. Das Radio spielte ein Lied, das Fabio immer auf seiner Gitarre ge- spielt hatte. Hörte sich zwar anders an, doch ich erkannte das Lied trotzdem. Fabio. Was war bloß aus ihm geworden? Hatte er den Unfall überlebt? Ich erinnerte mich, wie ich ihn damals aus dem Wasser fischte und an Bord zog. Er hatte eine blutige Stirn, wie in diesem Traum. Dieser Traum! Da wurde mir plötzlich einiges klar. Im Traum hatte Edi auch einen schwarzen Koffer in der Hand. So ein Koffer lag nun in Edis Auto. War das ein Zeichen? War dieser Traum so etwas wie eine Warnung? Im Traum hatten Fredo, Inbar und Cristina nach Hilfe geschrien. Doch damals wusste ich noch nicht, dass sie ent- führt worden waren. Sollte dies ebenfalls eine Botschaft sein? Ich erinnerte mich auch, dass der vierte Entführte - der mir an- fangs unbekannt war - auch in meinem Traum vorgekommen war. Damals kannte ich ihn zwar noch nicht, doch ich träumte trotz- dem von ihm. Aber das konnte doch nicht wahr sein. Nein, das muss anders gewesen sein, dachte ich, denn schon im Traum kam er mir bekannt vor. Ich musste ihn also schon von früher kennen. Aber woher kannte ich diesen Mann? Irgendwo musste ich ihm schon begegnet sein, doch ich konnte mich nicht erinnern. Was um alles in der Welt war da los? Was sollte diese Geschichte? Wa- ren diese Dinge wirklich alles nur Zufälle, oder hatte da jemand mächtigeres die Finger im Spiel? Das Ganze drohte langsam aus den Fugen zu geraten, und ich den Verstand zu verlieren.
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So gegen vier Uhr früh, kam ich in Pitalito an. Pitalito war ein kleines Dorf und um diese Zeit war keine Menschenseele auf der Straße. Ich hielt neben einer Tankstelle an und stellte den Motor ab. Danach blieb ich sitzen und überlegte. Die Tankstelle erinner- te mich daran, dass ich vielleicht Benzin brauchen würde. Ich drehte den Zündschlüssel und schaute auf die Benzinanzeige. Die Nadel stieg langsam höher und hielt über die Mittellinie an. Ich hatte also noch einen halben Tank Benzin, das durfte eine Weile rei- chen. Hier in Pitalito konnte ich nichts tun, zumal um diese Zeit alles geschlossen war. Doch wo sollte ich hinfahren? Wenn ich nicht weiß, wie ich zu den Guerrilleros komme, dann muss ich jeman- den fragen, dachte ich. Der einzige der in Frage kam, war der Paisa. Ich musste also zurück nach Popayán. Ich nahm mein Handbook aus dem Rucksack und schaute nach, wo ich denn genau war. So wie es aussah, war Popayán gar nicht so weit von Pitalito entfernt. Der Bus war gestern eine andere Strecke gefahren, darum kam es mir so entfernt vor. Doch wenn ich nun bis San Agustín weiterfahren würde, dann wäre es von dort aus nicht mehr so weit. Und die Straße schien sogar besser, als die von gestern zu sein. Zumindest im Handbook, war diese Strecke dicker eingezeichnet, als die Strecke die der Bus gestern gefahren war. Ich drehte den Zündschlüssel und fuhr los. Die Straße war bes- ser als ich dachte und ich konnte ziemlich schnell fahren. Nach etwas mehr als einer Stunde kam ich in San Agustín an. San Agustín war noch kleiner als Pitalito. Auf den Straßen war nicht einmal eine Katze zu sehen.
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Da es in Kürze hell werden musste, wollte ich nicht mehr wei- terfahren. Mit zwei Toten im Auto wäre es tagsüber um einiges gefährlicher gewesen, dachte ich, also musste ich das Auto loswer- den. Ich fuhr einige hundert Meter aus dem Dorf und stellte das Auto in einem Waldstück ab. Danach zog ich meinen Rucksack an, schloss das Auto ab und lief ins Dorf zurück. Kleine Regen- tropfen fielen vom Himmel. Ich würde mit dem Bus nach Popayán fahren, dachte ich, dies wäre sicherer gewesen, als mit zwei Leichen im Auto. Als ich an einem kleinen Flüsschen vorbeikam, warf ich die Autoschlüssel ins Wasser. Langsam wurde es hell, und ich konnte bereits die ersten Häuser von San Agustín sehen. Ich hatte es also geschafft. Gestern wollte ich nach San Agustín und nun war ich da und wollte gleich wieder weg. Verrückte Welt. »Bleibt auf der Straße! Hütet euch vor dem Moor!«, sagte ich vor mich hin und musste dabei schmunzeln.
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San Agustín
Ich lief gleich zur einzigen Busstation im Dorf und setzte mich auf eine Bank. Ein Mann öffnete sein Eckcafé und ich fragte ihn, ob ich etwas frühstücken konnte. Er nickte freundlich und lud mich ein, an einem der Tische zu sitzen. »Wissen sie, wann der nächste Bus nach Popayán fährt?« fragte ich ihn. »Um halb zehn.« »Wie spät ist es jetzt?« »Kurz nach sechs.« »Danke. Bringen sie mir bitte einen Kaffee und ein paar gerühr- te Eier?« »Gerne.« »Haben sie eine Tageszeitung?« »Wir haben El Tiempo und El Colombiano. Welche möchten Sie?« »Bringen sie mir bitte beide.« Ich hatte also noch über drei Stunden zu warten. Der Mann brachte mir die Zeitungen und ich suchte darin nach Informatio- nen, die mir mehr über die Entführung meiner Freunde verraten würden. Ich konnte aber nichts finden. Die Entführung lag nun bereits zweieinhalb Monate zurück, sie war kein Tagesthema mehr. Auch der Mann vom Eckcafé konnte sich nicht mehr daran erin- nern. Ich blätterte die Zeitungen durch und behielt dabei immer mei- nen Rucksack im Auge. Der teuerste Rucksack, den ich je gesehen
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hatte. Langsam realisierte ich wieder, wieviel Geld ich bei mir hat- te und bekam zittrige Hände. Ich zündete mir eine Zigarette an und blätterte weiter die Zei- tung durch, um mich zu beruhigen. Erst jetzt sah ich, was auf der Titelseite stand. Gestern abend wurde in Cali ein Überfall auf einem Geldtransport verübt. Die Täter - zwei maskierte Männer - erbeuteten insgesamt etwas mehr als 700.000 US Dollar und flüchteten anschließend an Bord eines weißen Toyota. Während der Verfolgung durch die Polizei gab es einen Schusswechsel, bei dem ein Polizist getötet und mindestens einer der Täter verletzt wurde. Die Täter konnten jedoch fliehen und zur Zeit fehlt von ihnen jede Spur. Zeugen sind gebeten, sich... Daher stammte also das Geld. Die Sache wurde ja immer beschissener. Nun war ich Polizistenmörder und Bankräuber zu- gleich. Wenn ich in die Hände der Polizei gerate, dann kann ich mich gleich selber umbringen, dachte ich. Ich bekam es noch mehr mit der Angst zu tun. Ich musste unbedingt von San Agustín weg, hier war es zu gefährlich, so nahe beim Auto. Doch wie komme ich hier weg? Der Mann brachte mir das Frühstück und ich fragte ihn: »Wie kann ich früher nach Popayán kommen, als erst um halb zehn?« »Das wird schwierig. Da müssten sie schon ein Auto haben.« »Ich habe aber kein Auto.«
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»Es gibt hier ein älterer Herr, der hat so etwas wie ein Taxi. Sie könnten ihn mal fragen, aber das wird sicher teuer. Popayán ist etwa sechs Stunden von hier entfernt.« »Wo kann ich diesen Herrn finden?« »Der kommt meistens hierher und wartet bei der Busstation auf Kunden. Aber jetzt ist es noch zu früh, der kommt erst so gegen sieben Uhr.« Ich hoffte, dass der Typ pünktlich kommen würde. Ich musste hier zwar weg, doch ich wollte nicht zu sehr Aufsehen erregen. Wenn die Polizei das Auto mit den zwei Leichen findet, dann wird das ganze Dorf ausgefragt. Und je weniger Leute sich an mich erinnern, um so besser ist es für mich. Vor allem, wenn das Geld nirgends zu finden ist. Ich versuchte mein Frühstück zu genießen, doch die Anspan- nung und die Müdigkeit waren zu groß. Ich hatte die ganze Nacht nicht geschlafen und war seit über 24 Stunden auf den Beinen. Um zehn vor sieben kam ein hellblaues Auto angefahren und hielt direkt vor dem Eckcafé an. Ein älterer Herr, so um die siebzig, stieg aus und betrat das Café. Er unterhielt sich eine Weile mit dem Besitzer, danach schaute er zu mir rüber. »Bist du der, der nach Popayán muss?« fragte er mich. »Ja. Können sie mich fahren?« »Hmm... Popayán ist weit weg. Mit meinem Auto wäre ich erst abends wieder zurück. Ich glaube nicht, dass ich mir das antun möchte.« »Nicht einmal für Geld?« »Geld ist nicht alles im Leben.«
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»Nicht einmal viel Geld?« »Kommt drauf an, was du mit viel Geld meinst.« »Was verstehen sie denn unter viel Geld?« »Hmm... 100.000 Pesos ist für mich viel Geld.« »Wenn wir sofort losfahren, dann gebe ich ihnen 200 US Dol- lar.« »Hmm... Was hast du denn so wichtiges in Popayán zu tun?« »Ich habe um halb zwei einen Flug nach Bogotá, den ich nicht verpassen darf.« »Um halb zwei? Das könnte knapp werden.« »Nicht, wenn sie mich fahren lassen.« »Bist du verrückt? Ich brauche mein Auto noch.« »Ok, dann fahren sie halt. Aber wir müssten gleich losfahren, sonst reicht es nicht mehr.« »200 US Dollar sagtest du?« »Bar auf die Hand, jetzt sofort.« »Ok, her damit.« Er nahm das Geld und wir gingen zum Auto. Eines hatte ich in Kolumbien gelernt, dass man mit Geld alles erreichen konnte. Al- les war immer nur eine Frage des Preises. Ich legte meinen Rucksack in den Kofferraum und setzte mich auf den Beifahrersitz. Das Auto war ein alter Dodge mit einer großen Dreiersitzbank vorne und dem Schalthebel am Lenkrad. Mit dem Auto hätten wir sicherlich mehr als sechs Stunden ge- braucht. Ich schloss vorsichtig die Tür, denn mit einem Ruck Marke Fußballspiel im Regen hätte ich ihm sicherlich die Tür ausgehängt. Wir fuhren gleich los und nach kurzer Zeit schlief ich ein.
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Nach etwa drei Stunden, es war so gegen zehn Uhr, wachte ich auf. Ich zündete mir eine Zigarette an und bot dem Fahrer auch eine an. »Nein danke, ich rauche nicht.«
»Stört es sie, wenn ich rauche?«
»Nein.«
»Ich bin übrigens Mono.«
»Mein Name ist Orlando.«
»Fahren sie schon lange Taxi, Don Orlando?«
»Schon seit fünfzig Jahren.«
»Immer mit dem selben Auto?« ich lächelte, da sein Auto wirk-
lich alt aussah. »Nein. Zuerst hatte ich einen anderen Wagen. Den hier habe ich erst seit 1967.« »Erstaunlich.« »Hast du gut geschlafen?« »Geht so, danke.« »Hattest du einen Alptraum?« »Wieso?« »Du hast im Schlaf geredet.« »Geredet? Und was habe ich gesagt?« »Keine Ahnung, ich hab kein Wort verstanden. Du hast nicht Spanisch geredet, sondern irgendwas Ausländisches. Hörte sich an, als würdest du immer wieder spucken wollen.« »Wie spucken?« »Na ja. Wie, wenn jemand spucken will und zuerst seine Spucke im Mund zusammenzieht.«
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So wie er es schilderte, musste ich anscheinend Schweizerdeutsch geredet haben. Doch ich konnte mich nicht erinnern, etwas ge- träumt zu haben. Komisch. »Haben sie denn wenigstens einzelne Wörter oder Namen ver- standen?« »Du sagtest mehrmals etwas wie Schaische, oder sowas.« »Sie meinen Scheiße?« »Ja genau, das wars.« »Und sonst noch was?« »Ich weiß nicht mehr genau. Vielleicht etwas von einer Bar, glaube ich.« »Todo Listo?« »Nein, du hast Bar gesagt.« »Inbar?« »Ja, das wars.« »Und Fredo vielleicht auch?« »Kann gut sein, ja.« »Sagen sie mal, wie lange haben wir noch bis Popayán?« »Ich schätze, so gegen Mittag sollten wir da sein. Mach dir keine Sorgen wegen deines Flugs. Den erwischst du schon noch. Der Flughafen von Popayán ist kurz vor der Stadt, somit sparen wir uns etwa eine Viertelstunde, da wir nicht zuerst durch die ganze Stadt fahren müssen.« »Sehr gut.«
»Weißt du nun, was du geträumt hast?«
»Ich vermute es, ja. Ich kann mich aber nicht mehr daran erin-
nern.«
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»Wie kannst du denn wissen, was du geträumt hast, wenn du dich nicht mehr daran erinnern kannst?« »Weil es etwas ist, was mich schon seit Tagen beschäftigt. Einige Freunde von mir sind von der Guerrilla entführt worden. Nun mache ich mir Sorgen um sie. Ich möchte ihnen helfen, aber ich weiß nicht wie.« »Ja, das mit der Guerrilla ist ein großes Problem. Seit ich denken kann, haben wir immer darunter gelitten. Wenn man Leute fragt, was sie über Kolumbien kennen, dann sagen sie meistens Guerrilla, Drogen und Bürgerkrieg. So sieht die Welt Kolumbien. Das Schö- ne an diesem Land, das kennt keiner. Das Klima, die Strände, das Essen, die Leute, die Kulturen. Und wenn dann solche Leute wie deine Freunde entführt werden, dann wird der Rest der Welt in seiner Vermutung bestätigt.« »Ja, da haben sie Recht. Kolumbien ist nicht nur Guerrilla und Drogen, doch das wissen die wenigsten.« »Deinen Freunden hilft nur das Geld. Die Guerrilla will nur Geld, damit sie sich Waffen kaufen können.« »Die Familien der Entführten wären bereit, das Lösegeld zu zah- len, doch sie wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Haben sie eine Ahnung, an wen man sich in solchen Fällen wenden kann?« »Ich hab schon von Fällen gehört, bei denen die Kirche als Ver- mittler geholfen hat. Aber in letzter Zeit hörte ich öfters von ei- nem Ehepaar, das bei der Befreiung von entführten Ausländern eine wichtige Rolle gespielt haben soll.« »Wissen sie etwas genaueres über dieses Ehepaar? Einen Na- men, oder einen Ort, wo man sie finden kann?«
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»Nein, nichts genaues. Ich glaube, dass es sich um Deutsche handelt, aber ich weiß die Namen nicht. In solchen Fällen werden keine Namen genannt, weil das Gesetz keine Lösegeldzahlungen erlaubt. Das Ganze geht meistens sehr geheim über die Bühne. Erst wenn die Entführten wieder frei sind, erfährt man, wie sie freigekommen sind.« Während der restlichen Fahrt, redeten wir nicht mehr. Ich dach- te über das nach, was Don Orlando mir gesagt hatte. Wenigstens hatte ich eine Spur, dachte ich, aber wie sollte ich dieses deutsche Ehepaar finden? Ohne einen Namen oder einen Ort, wäre es schwierig gewesen und die Zeit wurde langsam knapp. Ich wollte nicht ewig mit soviel Geld herumfahren. So gegen halb eins kamen wir in Popayán an. Don Orlando fuhr direkt zum Flughafen und lud mich vor dem Haupteingang ab. Der Flughafen lag genau neben dem Terminal de Transportes, wo ich vor einer Woche angekommen war. Ich bedankte mich bei Don Orlando, nahm meinen Rucksack und verabschiedete mich von ihm. Er fuhr wieder los und ich nahm gleich ein Taxi. Nur schnell weg von hier, dachte ich, denn am Flughafen wimmelte es nur so von Polizei und Militär.
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Auf der Suche nach dem Ehepaar
Ich fuhr zum Paisa, ins Todo Listo. Heute ist Samstag, erinnerte ich mich, und heute wollte er seine neue Bar eröffnen. Ich würde ihn sicher bei den Vorbereitungen treffen. Während der Fahrt dorthin überlegte ich, dass es gar nicht so falsch war, mich von Don Orlando zum Flughafen fahren zu las- sen. Sollte jemand auf meine Spuren kommen, würde man mich in Bogotá vermuten und nicht hier in Popayán. Im Todo Listo angekommen, war niemand da. Die Bar war ge- schlossen und vom Paisa keine Spur. Ich wartete eine Weile, da- nach ging ich zu Gerry etwas essen. Vielleicht war der Paisa auch dort. Ich hatte einen riesigen Hunger, denn ich hatte gestern kaum gegessen und die ganze Nacht nicht geschlafen. Ein Wunder, dass ich noch stehen konnte. Bei Gerry war der Paisa auch nicht. Weder Gerry noch seine Angestellten wussten, wo der Paisa hätte sein können. Ich bestell- te etwas zu essen und plauderte ein wenig mit Gerry. »Willst du schon verreisen?« fragte mich Gerry.
»Wieso?«
»Wegen deines Rucksacks. Willst du schon weg?«
»Nein, ich bin eben angekommen.«
»Angekommen? Ich wusste gar nicht, dass du weg warst.«
»Ich war ein paar Tage in San Agustín.«
»Und, wie wars?«
»Nichts besonderes. Hat die ganze Zeit geregnet.«
»Ja, hier hat es heute morgen auch geregnet.«
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»Sag mal Gerry, hast du als Ausländer noch nie Probleme mit der Guerrilla gehabt? Ich meine, hat man dich nie erpresst, oder sowas? Du hast schließlich ein gutgehendes Restaurant, wäre ei- gentlich Grund genug?« »Was ist, willst du mich erpressen?« er lächelte. »Nein, im Ernst. Hattest du noch nie mit der Guerrilla zu tun?« »Nein, zum Glück noch nie. Wieso fragst du?« »Hast du von den vier Touristen gehört, die Anfang April von der Guerrilla entführt wurden?« »Ich glaube, dass ich was darüber gelesen habe.« »Nun, das waren Freunde von mir.« »Das tut mir leid.« »Die Familien meiner Freunde wären nun bereit, das geforderte Lösegeld zu bezahlen. Aber sie wissen nicht, an wen sie sich wen- den sollen. Hast du eine Ahnung, was man machen könnte? Ich habe da etwas von einem deutschen Ehepaar gehört, das in sol- chen Fällen behilflich sein könnte. Weißt du was davon?« »Von einem deutschen Ehepaar? Das höre ich zum ersten Mal. Aber vielleicht wissen meine Angestellten etwas davon. Die Ein- heimischen wissen meistens mehr, als wir Ausländer. Warte, ich frag sie mal.« Er ging in die Küche und kam danach mit einem der Mädchen zurück. Sie wusste anscheinend etwas über dieses Ehepaar. »Er möchte etwas über dieses Ehepaar wissen«, sagte Gerry zu dem Mädchen. »Ich weiß nicht viel. Ich habe nur mal etwas darüber gelesen«, sagte sie. »Weißt du die Namen dieser Leute?« fragte ich sie.
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»Nein. Ich habe es zwar schon mal gelesen, aber ich kann mich nicht mehr erinnern.« »Wo hast du davon gelesen?« »In der Zeitung.« »Wie lange ist das schon her?« »Vielleicht ein halbes Jahr, glaube ich.« »Danke, du hast mir sehr geholfen.« Nach dem Essen ging ich gleich in die Bibliothek, in der ich schon gestern gewesen war. Ich suchte in allen Zeitungen, die äl- ter als fünf Monate waren. Nach fast drei Stunden, fand ich end- lich etwas über dieses Ehepaar. Der Mann hieß Kerner Rauss, während die Frau immer nur als Ada erwähnt wurde. Man wusste nicht genau wo sie sich aufhielten und wie sie, bei den Freilassun- gen, mitgewirkt hatten. Alles ging immer mit großer Geheimhal- tung über die Bühne. Das Ehepaar Rauss wurde immer erst er- wähnt, als die Entführten bereits frei und in Sicherheit waren. Wie der Kontakt zwischen den Familien der Entführten und das Ehe- paar zustande kam, war auch unklar. Nach der Freilassung, waren die Entführten meistens gleich nach hause geflogen, was die Er- mittlungen der Behörden zusätzlich erschwerte. So gegen vier Uhr verließ ich die Bibliothek und ging erneut ins Todo Listo. Der Paisa war nun da und damit beschäftigt, die letz- ten Vorbereitungen für die Eröffnung zu treffen. »Hallo Mono. Schon wieder zurück?« »Ja, ich wollte die Eröffnung nicht verpassen.« »Wie wars in San Agustín?« »Verschissen. Ich muss dringend mit dir reden. Du musst mir helfen.«
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»Was ist passiert?« »Die Familien meiner Freunde wären bereit, das geforderte Lö- segeld zu bezahlen. Doch sie wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen. Nun habe ich erfahren, dass hier in Kolumbien ein Ehe- paar lebt, das in solchen Situationen als Vermittler auftreten soll.« »Und wie soll ich dir helfen?« »Ich muss dringend dieses Ehepaar finden, aber ich weiß nicht, wo sie sich aufhalten. Ich dachte, du hättest vielleicht Beziehun- gen oder Bekanntschaften, die mir helfen könnten. Ich weiß sonst nicht, zu wem ich gehen könnte.« »Wie heißt dieses Ehepaar?« »Er heißt Kerner Rauss, sie heißt Ada, mehr weiß ich nicht.« »Ich habe noch nie von ihnen gehört. Aber vielleicht weiß Orlando etwas.« »Welchen Orlando meinst du? Der mit dem Taxi?« »Taxi? Nein, Orlando hat kein Taxi.« »Na, dann ist es nicht der selbe Orlando, den ich meine. Wo ist dein Orlando?« »Er sollte heute abend auch kommen, hat er mir zumindest ver- sprochen.« »Kann ich solange hier bleiben?« »Klar. Wenn du heute abend mithelfen willst, das Angebot steht immer noch.« »Ok.« Ich stellte meinen Rucksack hinter die Bar und half dem Paisa bei seinen letzten Vorbereitungen.
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So gegen acht Uhr, kamen bereits die ersten Leute und um neun war der Laden rammelvoll. Die Musik war sehr laut, und ich hatte eine Menge zu tun. Die Leute stürmten an die Bar und bestellten massenweise Drinks. Manchmal konnte ich sie wegen der lauten Musik kaum verstehen, was die Arbeit noch mehr erschwerte. Ich hatte mir das Ganze zwar etwas weniger laut vorgestellt, doch da musste ich nun durch. So gegen halb elf wurde es dann ruhiger. Die meisten Leute hatten schon genug getrunken und stürmten nicht mehr so oft an die Bar. Ich konnte mir sogar eine Zigarette anzünden und selber einen Drink rühren. Mein Rucksack war immer noch unter der Theke. Ich hatte ihn die ganze Zeit im Auge behalten, trotz Stress. Ein Junge kam an die Bar. Er war keine sechzehn Jahre alt und benahm sich trotzdem wie ein Erwachsener. Er rauchte eine Zi- garette, aber er schaffte es nicht, den Rauch zu inhalieren. Im Gesicht hatte er nicht einmal einen Stoppel Bart und unter seiner Nase kam so etwas Flaumiges hervor. Mit seiner Sonnenbrille und seinen Pickeln auf der Stirn, sah er richtig lächerlich aus. Als er sah, dass ich ihn anschaute, pfiff er mich zu sich, wie man einen Hund zu sich pfeift. »He Bedienung. Krieg ich hier was zu trinken?« fragte er in ei- nem angeberischen Ton. »Was möchtest du denn trinken?« »Whisky«, antwortete er großkotzig. »Pur, oder mit Eis?« »Pur«, sagte er und versuchte dabei ein cooles Gesicht aufzuzie- hen.
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Ich stellte ihm ein Glas vor die Nase und füllte es mit Whisky auf. Dieser Typ ging mir richtig auf die Nerven. Das letzte, was ich in meiner Situation noch brauchte, war ein pubertierender Jun- ge, der mich herumkommandierte. »Wir feiern heute Neueröffnung. Nach dem vierten Getränk ist der Rest gratis«, sagte ich. »Was soll das heißen?« »Die ersten vier Drinks bezahlst du, der Rest ist gratis.« Er schaute mich mit seinem pseudocoolen Blick an und leerte anschließend seinen Whisky mit einem Schluck. »Noch einen«, sagte er mit einer Fresse Marke Clint Eastwood. Ich füllte ihm erneut das Glas und kassierte die beiden Whisky ein. Danach sah ich ihn eine Weile nicht mehr. Vermutlich hatte er sich ein wenig überschätzt. Mal schauen, wie viele Whisky dieser kleine Junge verträgt, dachte ich. Ich fragte den Paisa, ob Orlando schon gekommen sei, doch er hatte sich noch nicht blicken lassen. Der Paisa meinte, ich solle ruhig bleiben, der Orlando würde schon noch kommen. Mittler- weile war es schon elf Uhr. Der Junge mit dem Milchgesicht kam wieder an die Bar. Sein Gang war nicht mehr so cool und seine Sonnenbrille hing auch bereits schief. »Noch einen Whisky«, sagte er mit einer leicht feuchten Aus- sprache. »Bist du sicher?« »Gib mir einen Whisky und stell keine dummen Fragen.« »Das wäre dann der dritte.« »Na und?«
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»Noch einen und der Rest ist dann gratis.« »Ich weiß, Alter. Ganz ruhig.« Ich gab ihm seinen dritten Whisky und er verschwand wieder. Der Paisa kam zu mir und sagte, dass Orlando gekommen sei. Ich wollte ihn sofort sprechen. Orlando war so um die fünfzig, hatte wenig Haare und war ele- gant gekleidet. »Du wolltest mich sprechen?« fragte er mich. »Ja. Ich suche ein Ehepaar namens Rauss. Er heißt Kerner Rauss, sie heißt Ada.« »Weshalb suchst du diese Leute?« »Vier Freunde von mir wurden vor über zwei Monaten von der Guerrilla entführt. Nun möchten die Familien meiner Freunde das Lösegeld bezahlen, doch sie wissen nicht, an wen sie sich wen- den sollen. Dieses Ehepaar soll angeblich als Vermittler zwischen der Guerrilla und den Familien der Opfer auftreten.« »Und wenn du diesen Rauss gefunden hast, was willst du dann tun?« »Dann werde ich die Familien der Opfer benachrichtigen, damit sie ihm das Geld übergeben können.« »Traust du diesem Rauss?« »Hast du einen anderen Vorschlag?« »Nein.« »Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als diesem Rauss zu trau- en. Vorausgesetzt ich finde ihn.« »Genau.« »Kannst du mir also helfen?«
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»Lass mich zuerst mit einigen Freunden reden. Wir sehen uns dann nachher.« Ich hatte den Eindruck, dass Orlando diesen Rauss kannte. Wäh- rend unserer Unterhaltung sagte ich ihm, dass ich ein Ehepaar suche. Doch Orlando hingegen erwähnte immer nur den Kerner Rauss, seine Frau Ada aber nicht. Das kam mir seltsam vor. Der Abend verlief immer ruhiger und so gegen zwei Uhr waren nur noch wenige Leute in der Bar. Einer von ihnen war der Junge mit dem Milchgesicht. Er saß an einen Tisch, hatte seinen Kopf auf die Tischplatte gelegt und schlief. Drei Whisky hatte er ge- schafft, Clint Eastwood wäre überhaupt nicht stolz auf ihn gewe- sen. Unter den anderen Leuten war auch noch Orlando. Er kam zu mir und bot mir eine Zigarette an. »Ich habe mit einigen Freunden über dein Problem geredet«, sagte er. »Und? Kannst du mir helfen?« »Ich kann dir nicht helfen. Aber da ist ein Mann in Valledupar, der könnte dir weiterhelfen.« »Wie heißt dieser Mann?« »Man nennt ihn Don Enrique.« »Und wie kann ich ihn finden?« »Du musst in ein Restaurant namens Las Acacias gehen, dort fragst du dann nach ihm.« »Wo liegt Valledupar?« »Im Norden, nahe der Grenze zu Venezuela.« »Hoffentlich gibts diesen Don Enrique wirklich.« »Das ist leider alles, was ich dir sagen kann.«
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»Ich danke dir Orlando.« »Wie heißt du?« »Man nennt mich Mono.« »Machs gut Mono, und pass auf dich auf.« »Mach ich.« Valledupar also. Ich holte mein Handbook und schaute nach, wo Valledupar genau lag. Orlando hatte recht, es lag nahe der Grenze zu Venezuela. Das war verdammt weit, denn ich befand mich im Süden von Kolumbien. Mit dem Flugzeug, wäre ich zwar schnell dort gewesen, doch die Gefahr war zu groß. An den Flug- häfen wimmelte es von Polizisten und eine Gepäckkontrolle war selbst für Inlandflüge selbstverständlich. Ich konnte also nicht mit all dem Geld fliegen. Von Popayán aus gab es keine direkten Busse nach Valledupar. Ich musste also entweder nach Medellín oder nach Bogotá fah- ren, um von dort aus den nächsten Bus nach Valledupar zu neh- men. Das Beste schien mir, zuerst nach Bogotá zu fahren. Von der Hauptstadt aus würde ich sicher einen Bus nach Valledupar kriegen. Im Handbook konnte ich zwar keine Busverbindungen von Bogotá nach Valledupar finden, aber ich war trotzdem zuver- sichtlich. Vielleicht hatte ich ja die entsprechende Seite des Handbooks geraucht. Ich musste also durch ganz Kolumbien fahren, von Süden nach Norden. Eine verdammt lange Fahrt. Ich würde mindestens zwei Tage brauchen, um nach Valledupar zu gelangen, aber es blieb mir nichts anderes übrig, wenn ich meinen Freunden helfen wollte.
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Der Paisa bot mir an, bei ihm zu schlafen und erst am nächsten Morgen zu fahren. Da um diese Zeit keine Busse mehr fuhren, nahm ich sein Angebot an und fuhr erst am nächsten Tag.
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Fahrt nach Valledupar
Am Morgen des 18. Juni, um sechs Uhr früh, verabschiedete ich mich vom Paisa und nahm den Bus nach Bogotá. Da es Sonntag war, war der Bus wieder mal rammelvoll. Die Fahrt dauerte fast sechzehn Stunden und wir hatten glücklicherweise keine größeren Zwischenfälle. So gegen zehn Uhr abends kam ich in Bogotá an. Ich wusste, dass ein Nachtbus nach Santa Marta fahren würde. Den gleichen hatte ich bei meiner Ankunft in Kolumbien genom- men, als ich nach dem Überfall im Plattfuß weg wollte. Da Valledupar in der selben Richtung wie Santa Marta liegt, lief ich zu diesem Bus und fragte den Busfahrer, ob ich auch mit ihm nach Valledupar käme. Er sagte mir, dass ich bis Chiriguaná mit- fahren könnte und dort dann den Bus nach Valledupar nehmen müsste. Hoffentlich gibt das nicht so eine Geschichte, wie mit Altamira und San Agustín. Ich rechnete aus, dass ich morgen so gegen vier Uhr nachmittags in Chiriguaná ankommen würde. Um vier Uhr wäre ich sicherlich nicht auf einer Landstraße stehen geblieben, darum entschied ich mich, mit diesem Bus zu fahren. Wir fuhren los und ich versuchte zu schlafen, doch die Anspan- nung war groß. Ich überlegte, wie ich in Valledupar vorgehen soll- te. Von nun an war höchste Vorsicht angesagt, denn ich hatte nur eine einzige Chance, meine Freunde zu befreien. Ich durfte also nicht versagen. Wenn ich versagte, könnte ich nicht wie bei einem Videospiel erneut eine Münze einwerfen. Also keinem trauen und
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schon gar nicht erzählen, dass ich das Geld bei mir habe. Das war mein Vorsatz. Wir waren nun seit einiger Zeit unterwegs. Ich hatte bereits ge- schlafen, als der Bus anhielt und der Busfahrer uns mitteilte, dass wir eine längere Pause einlegen müssten. Wir befanden uns in ei- ner Gegend, die von der Guerrilla besetzt war. Eine Weiterfahrt wäre um diese Zeit sehr gefährlich gewesen. Der Busfahrer wollte warten, bis es wieder hell wurde. Andere Busfahrer waren anschei- nend gleicher Meinung, denn so wie wir standen mehrere Linien- busse auch am Straßenrand und warteten darauf, dass es hell wur- de. Die meisten Leute schliefen und hatten überhaupt nichts mitbe- kommen. Ich konnte nicht mehr einschlafen und stieg aus. Drau- ßen standen mehrere Leute, die anscheinend wie ich nicht schla- fen konnten. Auch der Busfahrer stand draußen und rauchte. »Ist die Gegend hier wirklich so gefährlich?« fragte ich ihn. »Ja. In letzter Zeit gab es hier mehrere Zwischenfälle. Seitdem warten wir lieber bis es hell wird, dann fahren wir weiter.« »Welche Art Zwischenfälle waren es denn?« »Verschiedene. Manchmal wurden Busse angehalten, die Leute wurden ausgeraubt und anschließend wurde der Bus angezündet.« »Mit den Leuten drin?« »Nein. Die Leute lässt man einfach auf der Straße stehen. An- dere Male wurden auch Leute entführt. Einmal wurde sogar ein Bus in die Luft gesprengt.« »Anfang April gab es eine Entführung zwischen Cartagena und Medellín. Haben sie davon gehört?«
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»Zwischen Cartagena und Medellín? Ja, ich glaube, dass ich et- was darüber gelesen habe.« »Das waren Freunde von mir, die entführt wurden.« »Sind sie wieder frei?« »Nein, noch nicht. Die Familien möchten zwar gerne bezahlen, doch sie wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen.« »Dann sollen sie in der Zeitung inserieren.« »Wie, in der Zeitung inserieren?« »Ja, inserieren. Die Guerrilleros lesen doch auch Zeitung, oder? Wenn sie lesen, dass die Familie das Geld hat, dann melden die sich schon.« »Und wo melden die sich?« »Das kommt drauf an, was man inseriert. Eine Telefonnummer ist meistens die einfachste Lösung.« »Und welche Zeitung eignet sich dafür?« »Am besten eine Zeitung, die im ganzen Land erscheint. El Tiempo oder El Colombiano zum Beispiel.« »Ja, das macht Sinn.« Was der Busfahrer gesagt hatte, machte tatsächlich Sinn. Ein Inserat, um die Guerrilleros zu warnen. Ihnen mitzuteilen, dass das Geld bereit wäre. Was sollte ich nun tun? Ich konnte zwar sowohl inserieren, als auch Don Enrique suchen, doch was sollte ich in das Inserat schreiben? Ich hatte ja keine Telefonnummer, wo ich erreichbar gewesen wäre. Ich überlegte, wie ich am besten vorgehen sollte. Ein Postfach wäre ideal gewesen, doch ein solches hatte ich auch nicht. Da er- innerte ich mich, dass in meinem Handbook etwas über Postfä-
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cher stand. Ich holte mein Handbook aus meinem Rucksack und blätterte es durch. Da stand tatsächlich, dass man bei jeder Poststelle in Kolumbi- en postlagernd Korrespondenz erhalten konnte. Doch um die er- haltene Korrespondenz danach zu lesen, musste man persönlich bei der Poststelle vorbei gehen und sich ausweisen. Und da hatte ich erneut ein Problem. Ich wollte nicht meinen richtigen Namen inserieren, weil ich den Guerrilleros nicht meine Identität preisgeben wollte. Einen falschen Namen hätte ich auch nicht benutzen können, weil ich mich sonst im Nachhinein nicht würde ausweisen können. Ein verflixter Teufelskreis. Die einzige Lösung wäre ein falscher Ausweis gewesen. Doch woher einen solchen nehmen ohne ihn zu stehlen? Denn ein ge- stohlener Ausweis durfte es natürlich auch nicht sein. Ich konnte ja nicht jemandem seinen Ausweis stehlen und danach unter des- sen Namen inserieren. Hätte der Bestohlene das Inserat gelesen, wäre er vermutlich zur Polizei gegangen und die hätten mich bei der Übergabe der Post gleich festgenommen. Ich brauchte also einen Ausweis, der weder auf meinem Namen lautete noch gestohlen war. Nebst meinem Reisepass hatte ich noch meinen Führerschein dabei. Ich holte ihn aus meinem Über- lebens-Täschchen und schaute ihn an. Mit etwas Geschick, würde ich vielleicht den Namen ändern können. So, dass man die Fäl- schung nicht bemerken würde. Seit meiner speziellen Verpackungs- kunst traute ich mir mittlerweile alles zu. In Valledupar wollte ich es versuchen.
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So gegen sechs Uhr morgens ging dann die Fahrt weiter. Ich ver- suchte ein wenig zu schlafen, doch in meinem Kopf fuhren die Gedanken Achterbahn. Sollte ich zu Don Enrique, oder sollte ich nur inserieren? Und wenn das Inserat nicht funktioniert? Lieber beides versuchen? Sollte ich auch das deutsche Ehepaar per Inse- rat suchen? Ich wusste nicht was ich tun sollte. Endlich schlief ich ein. Ich wachte so gegen Mittag auf, als der Bus anhielt, um die Mit- tagspause einzulegen. Wir aßen kurz etwas, um anschließend gleich wieder loszufahren. Der Busfahrer wollte die verlorene Zeit auf- holen, die wir heute Nacht abwarten mussten. Kurz vor sechs Uhr kamen wir in Chiriguaná an. Ich stieg aus, nahm meinen Rucksack und erkundigte mich, wo ich den Bus nach Valledupar nehmen konnte. Mittlerweile war ich seit über 36 Stunden unterwegs, doch ich wollte es endlich hinter mich brin- gen. Nur noch wenige Stunden und ich bin in Valledupar. Und was dann? Der Bus nach Valledupar fuhr um sieben Uhr ab. Um Mitter- nacht kam ich dort an. Ich suchte mir ein Hotel aus dem Handbook aus. Das Hotel hieß Villa Claret. Das Zimmer hatte ein Fenster zur Straße und ein kleines Bade- zimmer. Im Badezimmer war die Decke aus den gleichen vierecki- gen Platten wie in Santa Marta. Ich löste mit meinem Sackmesser eine Platte aus der Fassung und versteckte das Geld dahinter. An- schließend legte ich die Platte in ihre ursprüngliche Position zu- rück, so dass man nichts davon merken konnte. Ich war hundemüde, doch bevor ich schlafen ging, wollte ich unbedingt noch wissen, wo dieses Restaurant war. Las Acacias
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hieß es, so hatte zumindest Orlando gesagt. Ich ging runter zur Rezeption und fragte den Herrn am Empfang. Er sagte, das Re- staurant sei nicht weit vom Hotel entfernt, nur die Straße runter und dann rechts. Die Neugier war viel zu groß, um noch zu warten, und so lief ich die Straße runter. Am Ende der Straße war tatsächlich ein Re- staurant mit der Aufschrift Las Acacias. Das Restaurant hatte noch offen und ich entschied mich, einen Blick reinzuwerfen. Das Re- staurant war fast leer. »Kann ich noch etwas essen?« fragte ich den Kellner. »Ja, sicher. Setzen sie sich bitte, Señor.« Ich setzte mich an einen Tisch und schaute mich ein wenig um. Das Restaurant war sehr schön und groß. Der Kellner brachte mir die Menukarte. »Was empfehlen sie mir?« fragte ich. »Wir haben sehr gutes Rindfleisch, Señor.« »Gut, dann bringen sie mir Rindfleisch-Señor«, ich lächelte. »Gerne«, sagte der Kellner. Vermutlich hatte er den Joke nicht verstanden. »Sagen sie mal. Kennen sie einen Don Enrique?« »Nein. Tut mir leid, Señor.« »Schade. Man hat mir gesagt, dass ich ihn hier finden könnte.« »Wer hat ihnen das gesagt, Señor?« »Das spielt doch keine Rolle, oder?« »Nein, Señor.« Der Kellner verschwand in die Küche und ich schaute mich er- neut um. Da lag eine Zeitung auf einem Tisch. Ich holte sie und
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fing an zu lesen. Vielleicht würde ich etwas Interessantes finden, was mir weiterhelfen könnte. Nach etwa zehn Minuten kam der Kellner zu mir. »Señor. Ein Telefonat für sie.« »Für mich?« »Ja, Señor.« »Wer ist es?« »Jemand, der sie sprechen möchte, Señor.« Ich stand auf und ging zum Telefon. »Hallo«, sagte ich. »Sie wollten mich sprechen?« »Ich? Ich dachte, sie wollten mich sprechen.« »Man hat mir gesagt, sie hätten nach mir gefragt.« »Don Enrique?« »Wer sind sie?« »Ich bin Mono.« »Und was wollen sie von mir, Mono?« »Ich muss sie sprechen.« »Na, dann reden sie.« »Nicht am Telefon, Don Enrique.« »Um was gehts denn?« »Um eine Entführung.« »Eine Entführung?« »Ja, eine Entführung. Und sie könnten mir angeblich helfen, die Entführten wieder frei zu bekommen.« »Und wer hat ihnen gesagt, dass ich ihnen helfen kann?« »Ein Freund aus Popayán.« »Ich habe keine Freunde in Popayán.«
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»Hören sie Don Enrique. Ich brauche ihre Hilfe und ich muss sie unbedingt sehen.« Don Enrique schwieg einen Moment. »Kommen sie morgen um neun Uhr ins Las Acacias und warten sie dort«, sagte er anschließend. »Ich bin ihnen sehr dankbar, Don Enrique.« »Warten sie zuerst ab, bevor sie mir danken.« »Gute Nacht, Don Enrique.« Morgen also. Mal schauen, was dabei raus kommt. Ich aß mein Rindfleisch-Señor und ging zurück ins Hotel. Dort duschte ich und legte mich aufs Bett. Durch das Fenster sah ich den Voll- mond. Wir hatten immer noch Vollmond, wie vorgestern Nacht in Altamira. Ein Lied, das Fabio öfters auf seiner Gitarre spielte, kam mir in den Sinn. Genauer gesagt, kam mir nur ein Satz in den Sinn. Con todo el alma le cantaré a la mujer más linda, en una noche de luna llena en Valledupar. Was ungefähr soviel heißt wie: Mit der ganzen Seele werde ich für die schönste Frau singen, in einer Vollmondnacht in Valledupar. Dieser Satz passte genau; Vollmondnacht in Valledupar. Ichp summte es mehrmals vor mich hin, bis ich einschlief.p
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Don Enrique
Am nächsten Morgen, es war der 20. Juni, stand ich erneut sehr früh auf. Mittlerweile war es fast eine Gewohnheit geworden und die Situation verlangte sowieso förmlich danach. Um neun Uhr sollte ich mich mit Don Enrique treffen, und vorher wollte ich noch einiges erledigen. Zuerst begann ich damit, meinen Führerschein zu fälschen, doch dies erwies sich als schwierig. Auf dem Führerschein war mein Name mit Schreibmaschine geschrieben und ich wusste nicht ge- nau, wie ich diesen löschen sollte, um einen neuen Namen einzu- tragen. Da entdeckte ich plötzlich die Fotokopie meines Reisepas- ses. Genau, dachte ich, das müsste gehen. Im Reisepass war mein Name von Hand geschrieben, was die Sache erheblich erleichter- te. Ich nahm ein Blatt Papier und versuchte die gleichen Buchsta- ben nachzuschreiben, wie sie in meinem Reisepass standen. Das gelang mir ziemlich gut. In gleich großen Buchstaben schrieb ich zuerst Brando und dann Marlon. Anschließend schnitt ich die zwei Namen aus und klebte sie sorgfältig in meinem Reisepass, genau über meinen richtigen Namen. Ich klebte die Papierstreifen so ein, dass man sie leicht entfernen konnte ohne dabei Spuren zu hinterlassen. Über meinen Familiennamen klebte ich das Wort Brando und über meinen Vornamen klebte ich das Wort Marlon. Perfekt, dachte ich, schon bin ich Marlon Brando. Danach ging ich in eine Buchhandlung und machte mir einige Fotokopien meines Reisepasses. Ich musste zwar ein wenig mit
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der Helligkeit des Kopierers spielen, doch was als Resultat raus kam, war durchaus sehenswert. Auf der Fotokopie sah man von der Fälschung überhaupt nichts. Ich entfernte noch die Papier- streifen aus meinem Reisepass, fertig war das Ganze. So, nun hatte ich den Fälschungsteil hinter mir. Jetzt musste ich noch das Inserat aufgeben. Zuerst ging ich auf die Post und er- kundigte mich, auf welche Adresse ich postlagernd Briefe erhal- ten könnte. Die Dame sagte mir, dass die Briefe mit meinem Na- men versehen sein sollten und dass man diese an Apartado Aéreo in Valledupar schicken sollte. So weit, so gut. Nun musste ich nur noch das Inserat aufgeben, aber wo? Ich fragte ebenfalls die Dame hinter dem Postschalter. Sie sagte, dass zwei Straßen weiter eine Filiale der Tageszeitung El Tiempo sei. Ich lief die zwei Straßen runter und fand tatsächlich ein kleines Büro mit der Aufschrift El Tiempo. Im Büro saß ein Mann hinter einem Schreibtisch. »Guten Tag«, grüßte ich. »Guten Tag. Womit kann ich ihnen helfen?« »Ich möchte ein Inserat aufgeben.« »Gerne. Welche Art Inserat möchten sie denn aufgeben? Möch- ten sie etwas verkaufen, oder suchen sie etwas zum kaufen?« »Weder noch. Ich möchte einen Aufruf publizieren.« »Einen Aufruf ?« »Ja. Ich suche eine Person, aber ich weiß nicht wie sie heißt. Vielleicht erkennt sie sich im Inserat und schreibt mir zurück.« »Verstehe. Das ist kein Problem. Wir haben eine Rubrik für sol- che Mitteilungen.«
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»Wie heißt die Rubrik?«
»Bekanntschaften.«
»Wann kann das Inserat publiziert werden?«
»Bis es erscheint, vergehen mindestens zwei Tage.«
»Und was kostet es?«
»200 Pesos pro Wort.«
»Erscheint das Inserat nur in El Tiempo, oder auch in anderen
Zeitungen?« »Sie können auch in El Colombiano inserieren, das geht aller- dings mindestens vier Tage, weil wir es der Redaktion des Colombiano weiterleiten müssten.« »Kostet El Colombiano auch 200 Pesos pro Wort?« »Nein, das kostet 400 Pesos pro Wort. Eine kleine Zusatzgebühr, weil wir es an die Konkurrenz weiterleiten müssen«, lächelte der Mann. »Ok. Was muss ich tun?« »Schreiben sie hier den Text auf, den sie inserieren wollen.« Ich nahm das Blatt und fing an zu überlegen. Was sollte ich schreiben? Wie sollte ich die Guerrilla aufmerksam machen, ohne dabei die Bullen zu wecken? Musste etwas wie eine Metapher sein. Etwas, was die Guerrilla verstanden, die Bullen aber nicht interes- siert hätte. Ich überlegte eine Weile, danach schrieb ich. An die Freunde von Fredo, Cristina, Inbar und Deven: Das Geld ist da. Meldet euch bei Marlon Brando, Apartado Aéreo, Valledupar. Ich gab dem Mann das Blatt zurück und bezahlte die verlangten Gebühren. So, nun blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten.
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Hoffentlich würden die Entführer meine Mitteilung lesen und diese auch verstehen. Danach war langsam Zeit, sich mit Don Enrique zu treffen. Ich ging ins Las Acacias und setzte mich an einen Tisch. Gegen- über hing eine Uhr an der Wand, sie zeigte auf Viertel vor neun. Der Kellner, der schon gestern abend serviert hatte, kam an mei- nen Tisch. »Guten Morgen, Señor.« »Guten Morgen. Kann ich noch etwas frühstücken, oder ist es schon zu spät?« »Nein Señor, wir servieren noch Frühstück. Was möchten sie gerne?« »Gerührte Eier und Kaffee bitte. Sagen sie, ist Don Enrique schon gekommen?« »Ich sagte ihnen bereits gestern, dass ich keinen Don Enrique kenne, Señor.« »Ok.« Wenig später brachte mir der Kellner das Frühstück. In der Zwi- schenzeit hatte ich mir eine Zeitung besorgt, und ich suchte darin nach weiteren Neuigkeiten über die Entführung meiner Freunde. Ich konnte nichts Interessantes finden, obwohl ich jeden einzel- nen Artikel, sei er noch so klein, angeschaut hatte. Auf der letzten Seite sah ich dann die Rubrik Bekanntschaften. Ich las alle Insera- te durch, um eventuell auf ein ähnliches Inserat wie meines zu stoßen, doch ich konnte nichts finden. Alle Inserate bezogen sich ausschließlich auf Freundschaften oder Liebhaber, aber keine vermissten Personen. Mittlerweile war es schon Viertel nach neun und Don Enrique ließ sich immer noch nicht blicken.
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Ich wartete bis halb elf, danach entschied ich mich zu gehen. Eineinhalb Stunden Verspätung, das war selbst in Kolumbien zu viel. Ich ging ins Hotel und schaute nach, ob das Geld immer noch im Bad war. Seit meiner Ankunft gestern abend, hatte ich nicht mehr nachgeschaut. Das Geld war noch da. Ich holte es runter und legte es aufs Bett. Wie damals in Santa Marta mit dem Marihuana, lag nun das Geld auch auf dem Bett und es sah nach verdammt viel aus. Ich zählte es erneut und ich kam auf 719.500 US Dollar. 500 Dollar hatte ich mittlerweile selber ausgegeben. Don Orlando, der Taxifahrer aus San Agustín, kostete mich bereits 200 Dollar. Dann kam noch die lange Busfahrt von Popayán bis Valledupar und nun noch das Inserat und die Unterkunft. Ich nahm weitere 500 Dollar und versteckte das restliche Geld wieder im Badezimmer. Danach legte ich mich aufs Bett und über- legte, weshalb Don Enrique nicht gekommen war. Hatte er mich verarscht? Nein, das konnte nicht sein. Was hatte er davon, mich sitzen zu lassen. Zumal er mich angerufen hatte und nicht ich ihn. Nein, das musste einen anderen Grund haben. Ich überlegte wei- ter. Don Enrique hatte doch gesagt, ich solle heute um neun in Las Acacias warten. Hatte er vielleicht neun Uhr abends gemeint? Gestern war es auch abends, als wir zusammen telefonierten. Kann also durchaus sein, dass er abends gemeint hat. Die einzige Mög- lichkeit das rauszufinden, war bis zum Abend zu warten. Ich schlief ein und wachte erst gegen sechs Uhr auf. Die letzten Tage mussten anscheinend sehr kräftezehrend gewesen sein, an-
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sonsten hatte ich noch nie tagsüber so lange geschlafen. Ich duschte und fühlte mich wie neu. »Noch eine Dusche, und ich spreche Deutsch«, sagte ich lächelnd vor mich hin. Deutsch. Ich hatte schon seit langem nicht mehr Deutsch gere- det. Genauer gesagt, seit Cristinas Abreise in Cartagena. Wir hat- ten zwar nur wenige Sätze auf Deutsch geredet, aber es waren dennoch meine letzten Worte, die ich auf Deutsch gesagt hatte. Ich schrieb zwar schon die ganze Zeit auf Deutsch, doch ich konnte mich mit keinem auf Deutsch unterhalten. Plötzlich kam mir eine Idee. Sollte es tatsächlich zu einem Tref- fen mit den Guerrilleros kommen, dann könnte ich behaupten, ich würde kein Spanisch verstehen. Wenn die Guerrilleros etwas Deutsch oder Englisch reden würden, dann könnten wir wenig- stens miteinander kommunizieren, und ich könnte zusätzlich ver- stehen, was sie untereinander reden. Wäre wenigstens ein kleiner Vorteil für mich. Vielleicht würde ich etwas verstehen, was mir nützlich sein könnte, wer weiß. Doch mit Don Enrique hatte ich bereits Spanisch geredet. Soll- te ich diesen Mann also doch noch sehen und würde er mir tat- sächlich helfen können, dann müsste ich mir irgendwie eine Lö- sung einfallen lassen. Warten wirs ab. Auf jeden Fall wollte ich mir mehrere Möglichkeiten offen lassen. Wie ein Pokerspieler, der zu gegebenem Zeitpunkt eine Karte aus dem Ärmel zieht, wollte auch ich mehrere Karten zur Verfügung haben, um im richtigen Moment die entsprechende zu ziehen. Ich zog mich an und ging ein wenig durch die Straßen von Valledupar spazieren. So gegen halb neun ging ich ins Las Acacias.
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Das Restaurant war nun ziemlich voll, doch ich fand noch einen Platz. Der Kellner sah mich und kam prompt an meinen Tisch. »Guten Abend, Señor.« »Guten Abend.« »Möchten sie etwas essen, Señor?« »Ja. Bringen sie mir bitte Rindfleisch-Señor.« »Gerne, Señor.« Komischer Typ dieser Kellner. Entweder verstand er die Verarschung nicht oder es war ihm egal. Das Essen kam prompt und ich aß gemütlich mein Stück Fleisch. Ein älterer Herr betrat das Restaurant und blieb am Eingang ste- hen. Er schaute sich um, als würde er jemanden suchen. Ist das Don Enrique, fragte ich mich. Ich wollte ihm schon zuwinken, als ich eine Stimme hinter mir hörte. »Schmeckt ihnen das Essen?« Ich drehte mich um. Da stand ein Herr, so um die sechzig Jahre alt. Vornehm gekleidet, mit einer blauen Jacke, ein weißes Hemd und ein Foulard um den Hals. Seine Haare waren weiß und fettig nach hinten gekämmt. »Ja, danke«, antwortete ich.
»Darf ich mich zu ihnen setzen?«
»Bitte. Nehmen sie Platz.«
»Sie sind Mono?«
»Und sie sind Don Enrique?« fragte ich, obwohl ich seine Stim-
me erkannt hatte. »Sie wollten mich sprechen?«
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»Ja. Vier meiner Freunde wurden von der Guerrilla entführt. Man hat mir gesagt, dass sie mir helfen könnten, diese wieder frei zu bekommen.« »Die Guerrilla entführt keine Leute.« »Hören sie Don Enrique. Das war die Guerrilla. Stand sogar in der Zeitung. Also, versuchen sie mich bitte nicht irgendwie zu verarschen, oder auf die Probe zu stellen. Hier gehts um das Le- ben meiner Freunde und ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich su- che ein deutsches Ehepaar, das mich angeblich zu den Entführer führen kann. Man hat mir gesagt, dass sie mir dabei behilflich sein könnten. Können sie mir nun helfen, oder verliere ich wirklich nur meine Zeit?« Don Enrique schaute mich schweigend an. Ich wusste nicht, ob ich mich im Ton vergriffen hatte. Aber es ging um das Leben meiner Freunde, und ich hatte keine Lust mehr, mir irgendwelche Storys anzuhören, nur um zu sehen, wie ernst ich es meinen könnte. All die Reisen und die geheimen Treffen, die Angst und das Unge- wisse, hatten Nerven gekostet. Ich war mit meiner Geduld lang- sam am Ende. »Das deutsche Ehepaar befindet sich im Moment nicht in Ko- lumbien«, sagte Don Enrique trocken. »Das heißt, sie können mir nicht helfen?« »Wieviel Geld wollen die Entführer?« »In der Zeitung stand etwas von 600.000 US Dollar, doch wir hatten noch keinen Kontakt mit den Entführern.« »Wer sind wir?« »Die Familien der Entführten.« »Haben sie das Geld?«
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»Ich habe es nicht bei mir. Aber ich muss nur einen Anruf ma- chen und das Geld ist da.« »Sie sind sehr vorsichtig. Schreiben sie mir bitte die Namen ihrer Freunde hier auf.« Ich nahm das Blatt Papier und schrieb die Vornamen und Nach- namen der vier auf. Ich wusste sie noch aus der Zeitung, die ich aus Popayán mitgenommen hatte. Danach gab ich das Blatt Don Enrique zurück. »Kommen sie morgen um neun Uhr wieder hierher und warten sie.« »Um neun Uhr morgens, oder abends?« »Abends.« »Gut.« Don Enrique stand auf und verschwand durch die Küche, durch die er vermutlich auch gekommen war. Ich bezahlte meine Rech- nung und ging ins Hotel zurück. Ich lag auf dem Bett und überlegte. Irgendwie hatte ich das Ge- fühl, dass Don Enrique mir helfen konnte. Ich hatte den Ein- druck, dass er ziemlich ehrlich war. Ich hatte schon immer ein Gespür dafür, die Leute gleich einschätzen zu können, und ich lag damit meistens richtig. Das deutsche Ehepaar war also nicht in Kolumbien, das hatte zumindest Don Enrique behauptet. Also musste er mir den Kon- takt zu den Guerrilleros verschaffen. Seine Aussage, dass die Guerrilleros keine Leute entführen, ging mir immer noch durch den Kopf. Was wollte er damit sagen? War es nur, um mich zu prüfen, oder versuchte er die Guerrilleros in
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Schutz zu nehmen? Auf welcher Seite würde Don Enrique wohl stehen? Ich wusste es nicht. Obwohl ich das Gefühl hatte, dass Don Enrique mir helfen könnte, hätte er durchaus auch auf der Seite der Guerrilleros stehen können. So quasi wie ein Vermittler in Sachen Touristenentführungen. Ein weiterer Rauss sozusagen. Mittlerweile war es fast Mitternacht und ich war immer noch wach. Ich bekam wieder mal Lust auf Marihuana. Seit fast einer Woche hatte ich nichts mehr geraucht. Ich hatte zwar noch ein wenig Punto Rojo von den Barreticos die ich aus Medellín mitge- bracht hatte, doch ich hatte keine Papers mehr. Kein Problem, dachte ich, denn ich hatte ja mein Handbook dabei. Ich riss eine halbe Seite aus dem Index und drehte mir einen Joint. Mein Handbook. Hatte schon einiges mitgemacht und war mir schon oft behilflich gewesen. Ich schätze, wenn mein Handbook reden könnte, hätte es die ganze Zeit geschrien, so alt sah es aus. Ich zündete den Joint an und genoss es, wie das Marihuana sich in meinem Gehirn einnistete. Meine Anspannung verschwand lang- sam und ich konnte wieder an andere Dinge denken, als immer nur an das eine, was mich schon seit Tagen beschäftigte. Ich erinnerte mich an Luz. Sie kam doch immer, wenn ich rauchte. Diesmal kam sie aber nicht. Ich vermisste sie fast ein wenig. Auch Manuela kam mir in den Sinn. Sie vermisste ich am mei- sten. Hatte ich mich doch in sie verliebt? Ich fürchte schon. Ein paar Tage mit Manuela ans Meer fahren, das wäre schön. So rich- tig ausspannen und genießen. Ich war schon verdammt lange nicht mehr am Meer gewesen. Seit Fabios Unfall, genauer gesagt. Und ich wollte endlich wieder mal Fisch essen. Doch! Wenn das Ganze
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vorüber ist, gehe ich mit Manuela ans Meer, wiederholte ich in meinen Gedanken. Danach muss ich eingeschlafen sein.
Das große Treffen
Als ich aufwachte, war es schon hell. Ich schaute auf die Uhr: Viertel vor zehn. Ich duschte und ging frühstücken. Während des Essens überlegte ich, wie ich mich bei einem eventuellen Treffen mit der Guerrilla verhalten sollte. Ich durfte auf keinen Fall das Geld mitnehmen, ansonsten würde die Guerrilla die Knete neh- men und mich womöglich auch einsperren. Nein, ich musste mir etwas einfallen lassen. Etwas, was den Entführern zwar beweisen könnte, dass das Geld wirklich existierte, ohne es ihnen jedoch unter die Nase zu setzen. Aber wie? Dann kam mir eine Idee. Nach dem Frühstück ging ich in ein Fotogeschäft und kaufte mir eine Sofortbildkamera. So eine, die das Foto gleich rausspuckt und nach wenigen Minuten entwickelt hat. Danach kaufte ich eine Zeitung, El Tiempo genauer gesagt. Schließlich ging ich wieder ins Hotel. Als ich vor der Tür meines Zimmers stand, bemerkte ich gleich, dass was nicht stimmte. Die Tür sah irgendwie anders aus. Je- mand hatte anscheinend versucht, sich mit Gewalt Zutritt in mein Zimmer zu verschaffen. Ich stieß mit meinem Zeigefinger lang- sam die Tür auf. Was ich sah, glich einer Party am Tag danach. Alles lag im Zim- mer verstreut. Mein Rucksack war auf dem Bett ausgeleert wor- den und meine Sachen lagen überall im Zimmer verstreut. Irgend jemand hatte anscheinend etwas gesucht, und ich wusste genau, was dieser Jemand gesucht hatte.
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Ich ging ins Bad und schaute zur Decke. Die Platten waren noch alle an der richtigen Stelle. Sie hatten das Geld also nicht gefun- den, das war mir sofort klar. Ansonsten hätten sie sich kaum die Mühe gemacht, die Decke wieder in Ordnung zu bringen. Ich setzte mich auf die Bettkante und erholte mich von der Überraschung. »Hotel Plattfuß lässt grüßen«, murmelte ich vor mich hin. Wer konnte das gewesen sein? War da Don Enrique im Spiel, oder waren es bereits die Entführer, die von meiner Ankunft er- fahren hatten? Oder waren es vielleicht gar beide, Don Enrique und die Guerrilla? Wie dem auch sei, das Geld hatten sie nicht gefunden. Wenn sie das Geld nicht gefunden hatten, dann hieß das, dass es gut versteckt war. Also hatte ich nichts zu befürchten. Ich entschloss mich, weiterhin in diesem Hotel zu bleiben. Wenn die hier nichts gefunden haben, dann kommen sie bestimmt nicht wieder. Ich ging zur Rezeption und erzählte dem Jungen, was sich in meinem Zimmer abgespielt hatte. Der Junge war völlig überrascht und versicherte mir, dass er keinen gesehen hatte. Niemand war an der Rezeption vorbeigekommen, sagte er. Ich sagte ihm, dass mir nichts gestohlen wurde und dass ich ein anderes Zimmer wolle, da meines sich nicht mehr abschließen ließ. Der Junge gab mir prompt einen anderen Schlüssel und fragte mich, ob er mir beim Umziehen helfen sollte, was ich aber dankend ablehnte. Ich ging also wieder in mein Zimmer, nahm meinen Rucksack und schloss mich im Badezimmer ein. Ich holte das Geld runter und verstaute es in meinen Rucksack. Danach sammelte ich mei- ne Sachen ein und ging ins andere Zimmer. Zuerst verriegelte ich
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die Tür, anschließend setzte ich mich hin und zündete mir erstmal eine Zigarette an. Während meiner Umzugsarbeit hatte ich Zeit, über den versuch- ten Überfall nachzudenken. Sie suchten das Geld, das war mir klar. Dies bedeutete also, dass sie mir glaubten. Doch sie hatten es nicht gefunden, was andererseits bedeuten könnte, dass sie mir nun nicht mehr glaubten. Höchste Zeit also, meine Idee zu ver- wirklichen. Ich nahm das Geld und stapelte es auf den Tisch. Die Foto- kamera stellte ich auf den Nachttisch, so dass nur das Geld im Bild gewesen wäre. Ich gab acht, dass man auf dem Foto nur das Geld sehen konnte, ohne zu erkennen, wo die Aufnahme gemacht wurde. Ich nahm die Zeitung, betätigte den Selbstauslöser und setzte mich schnell hinter den Tisch, mit der Zeitung vor der Brust. Der Fotoapparat knipste wenige Sekunden später und spuckte das Bild aus. Ich nahm das Foto und schaute es an. Das Bild wurde immer schärfer und ich erkannte mich wieder. Das Resultat war sehr gut. Man sah mich im Hintergrund mit der Zeitung vor der Brust und das Geld auf den Tisch. Das Foto erinnerte mich an eines dieser Fotos, die man von Entführten her kannte. Solche Fotos, die man im Fernseher sieht, auf denen die Entführten eine Zeitung in der Hand halten, um zu beweisen, dass sie an einen bestimmten Tag noch gelebt haben. Ich machte mehrere Fotos, so etwa vier Stück und alle kamen sehr gut. Auf allen sah man das Geld, konnte aber nicht erken- nen, wo das Foto aufgenommen wurde. Danach nahm ich den Schlüssel meines Zimmers und legte ihn auf den Tisch. Auf dem
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Schlüsselanhänger konnte man ganz klar Hotel Villa Claret und die Zimmernummer erkennen. Ich machte eine erneute Aufnahme, diesmal aber nur vom Geld, der Zeitung und dem Schlüssel. Auf diesem Foto konnte man ganz klar erkennen, wo sich das Geld befand. Nun hatte ich mehrere Fotos, die beweisen würden, dass ich heute tatsächlich das Geld bei mir hatte. Zusätzlich hatte ich ein Foto, was den genauen Standort des Geldes verriet. Ich nahm alle meine Ausweise aus meinem Überlebens-Täschchen und steckte anschließend nur das letzte Foto - jenes mit dem Schlüsselanhänger und dem Geld - in das Täschchen. Anschließend zog ich das Täsch- chen um den Bauch herum. Ich stand vor dem Spiegel, um zu sehen ob man etwas erkennen konnte. Aber das Überlebens-Täschchen lag so tief, dass es unter den Jeans nicht zu sehen war. Die restlichen Fotos steckte ich in meine Gesäßtasche. Ich nahm das Geld, zählte 700.000 Dollar ab und versteckte sie wieder im Badezimmer. Das restliche Geld, es waren so ungefähr 19.000 Dollar, steckte ich in meinen Rucksack. Danach nahm ich die Zeitung und verließ das Zimmer. Nach dem versuchten Über- fall fühlte ich mich auf der Straße sicherer. Ich setzte mich auf eine Bank in einem Park und las die Zeitung. Auch heute war von meinen Freunden nichts zu lesen. In der Rubrik Bekanntschaften aber entdeckte ich plötzlich mein Inserat. Der Mann von El Tiempo hatte zwar gesagt, dass es min- destens zwei Tage dauern würde, bis das Inserat erschienen wäre, doch es war schon heute erschienen. War dies der Grund, weshalb jemand versucht hatte das Geld zu finden? Hatte jemand das In-
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serat gelesen und danach gedacht, dass ich das Geld bei mir haben könnte? Unmöglich, dachte ich, es konnte ja keiner wissen, dass ich Marlon Brando war. Doch mittlerweile war alles möglich. Nun war also noch mehr Vorsicht angesagt, nun konnten mehrere Leute von meinem Vor- haben wissen. Die Zeit schien überhaupt nicht vorbei zu gehen, und der Nach- mittag kam mir ewig vor. Ich nutzte die Zeit, um wieder mal nach Hause anzurufen. Anschließend rief ich Manuela an. Sie dachte, ich hatte sie schon vergessen, doch ich konnte sie beruhigen. Ich fragte sie, ob sie gerne mit mir eine Woche ans Meer fahren wür- de. Sie war von der Idee begeistert und wollte gleich bei der Bi- bliothek fragen, ob sie eine Woche frei nehmen könnte. Ich konn- te ihr allerdings noch nicht sagen, wann ich wieder in Medellín sein würde. Endlich war es dann soweit. Kurz vor neun ging ich ins Las Acacias. Die Tische waren wieder ziemlich voll, doch derselbe Tisch, an dem ich gestern schon gesessen hatte, war frei. Sah aus, als hätten sie den Tisch für mich reserviert. Der Kellner kam auch prompt. »Guten Abend, Señor.« »Guten Abend.« »Rindfleisch, Señor?« »Ja, Rindfleisch-Señor.« »Gerne, Señor.« »Don Enrique kennen sie immer noch nicht, oder?« »Nein, Señor.«
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»Auch gut.« Ich war schon fast fertig mit dem Essen, als Don Enrique wie- der wie aus dem Nichts erschien. Er setzte sich zu mir und fragte mich dasselbe wie beim ersten Treffen. »Hat ihnen das Essen geschmeckt?« »Ja, danke. Haben sie Neuigkeiten für mich?« fragte ich und ging direkt zum Wesentlichen über. »Ja. Aber schlechte, fürchte ich.« »Und die wären?« »Sie haben das Geld überhaupt nicht.« »Woher wissen sie das?« »Das ist unwichtig.« Also hatte doch Don Enrique mein Zimmer durchsuchen las- sen. Ich zog eines der Fotos aus meiner Gesäßtasche und legte es auf den Tisch. »Sie glaubten doch nicht wirklich, dass ich das Geld in meinem Hotelzimmer versteckt habe, oder? Für wie dumm halten sie mich eigentlich?« Don Enrique schaute das Foto schweigend an. Ich wusste nicht recht, ob es 1:0 für mich stand, oder ob ich nur einen Elfmeter gehalten hatte. »Also, Don Enrique. Das Geld war heute da, das sehen sie an der Zeitung. Können sie mir nun helfen, oder sind wir immer noch genauso weit wie gestern?« Don Enrique überlegte kurz, stand danach auf und lief zum Telefon. Er nahm den Hörer ab und stellte eine Nummer ein. Der Kellner kam an meinem Tisch vorbei, und ich zupfte ihn kurz am Ärmel.
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»Der da ist Don Enrique«, sagte ich mit einem Grinsen zum Kellner. »Ja, Señor«, antwortete er und lief weiter. Don Enrique kam wieder zu mir und setzte sich hin. »Kommen sie morgen um neun Uhr wieder hierher und warten sie.« »Hören sie Don Enrique. Ich habe langsam die Nase voll von neun Uhr. Entweder sie helfen mir jetzt gleich oder wir blasen das Ganze ab und ich suche mir einen anderen Vermittler. Auf dem Foto sind 700.000 US Dollar, das sind 100.000 mehr, als die Guerrilla verlangt hat. Sie können sich von mir aus etwas davon einstreichen, aber ich will heute noch eine Antwort.« Don Enrique überlegte eine Weile, danach stand er wieder auf und ging erneut zum Telefon. Der Kellner querte wieder meinen Breitengrad, und ich bestellte einen Kaffee. Als der Kaffee ser- viert wurde, setzte sich Don Enrique wieder hin. »Warten sie um Mitternacht vor ihrem Hotel.« »Woher wissen sie, in welchem Hotel ich wohne?« fragte ich lächelnd. Der ironische Unterton war kaum zu überhören. »Das ist unwichtig«, antwortete Don Enrique mit einem ähnli- chen Unterton. Don Enrique verschwand wieder durch die Küche. Er hatte das Foto mitgenommen. Ich trank meinen Kaffee, bezahlte das Es- sen und ging ins Hotel zurück. Ich wusste genau, dass heute Nacht das Treffen stattfinden wür- de. Vermutlich würde ich nicht mehr ins Hotel zurückkehren. Dar- um packte ich meinen Rucksack und machte mich für die Abreise
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bereit. Das Geld würde ich hierlassen. Wenn die Leute von Don Enrique es hier nicht finden konnten, dann wäre es hier wohl am sichersten gewesen. Zumal nun keiner mehr vermutete, dass ich das Geld tatsächlich im Hotel versteckt hatte. Ich legte mich aufs Bett und versuchte, mich zu entspannen, doch die Aufregung war sehr groß. Ich hatte Angst und war gleich- zeitig neugierig, doch da musste ich nun durch. Darum war ich ja schließlich nach Valledupar gekommen. Ich zündete mir eine Zi- garette an und versuchte mit dem Rauch kleine Ringe in der Luft zu bilden, was mir aber nicht gelang. War mir noch nie gelungen, selbst in ruhigeren Momenten nicht, geschweige denn jetzt. Ich versuchte nicht einzuschlafen. Kurz vor Mitternacht nahm ich meine Sachen und verließ das Zimmer. Bevor ich die Tür schloss, schaute ich noch einmal auf die Decke im Badezimmer. Alles sah perfekt aus, vom Versteck war nichts zu sehen. Ich bezahlte die Hotelrechnung und lief auf die Straße. Drau- ßen war die Straße menschenleer. Ich legte meinen Rucksack auf den Boden und zündete mir eine Zigarette an. War wieder mal die letzte. Ich konnte mir noch nie angewöhnen, Zigaretten zu kau- fen, bevor das Päckchen leer war. Doch nun war es zu spät, um noch irgendwo Zigaretten zu kaufen. War mir auch egal. Im Mo- ment hatte ich andere Sorgen. Von links näherte sich plötzlich ein Auto; ein schwarzer Luxus- schlitten. Ich weiß nicht mehr welche Marke es war, aber es sah aus wie ein Präsidentenauto. Fehlten nur noch die kleinen Fähn- chen an den Kotflügeln. Das Auto hielt genau vor mir an und die Hintertür öffnete sich. Ich erkannte Don Enrique. Er sagte mir, ich solle bitte einsteigen.
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Eines muss ich Don Enrique lassen: Er war immer sehr höflich und vornehm, trotz allem. Ich legte meinen Rucksack zwischen Vorder- und Hintersitz und setzte mich neben Don Enrique. Das Auto fuhr los und wir rede- ten kein Wort. Wir verließen die Stadt und ich verlor schnell mal die Orientierung. Ich wusste nicht, ob wir Richtung Venezuela, oder Richtung Landesinnere fuhren. Schon nach kurzer Zeit wusste ich überhaupt nicht mehr, wo wir waren. Wir fuhren schon seit über einer Stunde, als das Auto plötzlich rechts in eine schmale Landstraße abbog. Danach fuhren wir etwa zwanzig Minuten diese Landstraße entlang, bis das Auto erneut rechts abbog. Diesmal war die Straße in sehr schlechtem Zustand. Sie erinnerte mich an meine Kotzfahrt nach San Agustín. Erstaun- lich, dass Don Enrique mit seinem Luxusschlitten auf solch einer Straße fuhr. Dann hielten wir plötzlich an. Der Fahrer stellte den Motor ab, anschließend schaltete er auch die Scheinwerfer aus und wir saßen in der perfekten Dunkelheit. Wir blieben einige Minuten sitzen, bis Don Enrique seine Tür öffnete und das kleine Licht im Autoinnern anging. Ich hatte mich bereits dermaßen an die Dunkelheit gewöhnt, dass das kleine Licht mich blendete. Don Enrique stieg aus und lud mich ebenfalls zum Aussteigen ein. Ich nahm meinen Rucksack und stieg aus. Wir entfernten uns einige Meter vom Auto und blieben dann stehen. Ich wollte keine Fragen stellen und wartete erst mal ab. Ich hatte Lust auf eine Zigarette, aber ich hatte keine mehr. Don Enrique wollte ich nicht
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nach einer Zigarette fragen, und der Fahrer war im Auto sitzen geblieben. Mittlerweile konnte ich erkennen, dass wir auf einer Lichtung standen und rund herum Wald war. Ein Auto näherte sich. Sie kommen! Jetzt wurde es ernst. Mein Herz fing an, schneller zu schlagen. Zum Glück war es dunkel, ansonsten hätte man mein bleiches Gesicht sehen können. Ich hatte Angst. Das Auto näherte sich. Ein großer Jeep, ohne Dach und ohne Scheiben. Mit einer Dreierbank vorne und zwei Sitzbänken hin- ten. Vorne saßen drei Männer, hinten war der Jeep leer. Das Fahr- zeug hielt etwa zwanzig Meter von uns entfernt an und stellte ebenfalls Motor und Scheinwerfer ab. Danach war erst mal Ruhe. Keiner bewegte sich, keiner sagte etwas, einfach Stille. Dann stieg doch noch jemand aus dem Jeep aus. Genauer ge- sagt stiegen alle drei Männer aus. Einer kam langsam in unsere Richtung und blieb auf etwa fünf Meter Entfernung stehen. Er trug einen Kämpferanzug, so einen, wie man ihn im Militär trägt. Er hatte dunkle Stiefel an und ein Gewehr über seine Schulter hängen. Er trug einen schwarzen Vollbart und sah aus, wie eine schlechte Che Guevara Imitation. »Bist du Mono?« fragte mich der Mann im Kämpferanzug. »Ja.« »Hast du das Geld?« »Nicht hier.« »Dann kannst dus vergessen.« »Hören sie. Meinen sie wirklich, dass ich mit dem Geld hierher komme, ohne zu wissen, ob meine Freunde noch leben? Zuerst
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will ich meine Freunde sehen, danach sag ich ihnen wo das Geld ist.« »Meinst du wirklich, dass du in der Lage bist, Forderungen zu stellen?« »Was ich meine ist, dass sie etwas haben, was ich will, und dass ich etwas habe, was sie wollen. Doch solange sie mir nicht zeigen, was ich will, zeige ich ihnen nicht, was sie wollen. Also, kommen wir ins Geschäft, oder nicht?« »Wie weiß ich, dass du das Geld wirklich hast? Was ist, wenn du nur bluffst?« Ich schaute kurz zu Don Enrique. Er stand regungslos neben mir und sagte kein Wort. Don Enrique hatte dem Guerrillero be- stimmt vom Foto mit dem Geld erzählt, aber wahrscheinlich wollte sich Che Guevara selber davon überzeugen. Ich nahm ein Foto aus meiner Gesäßtasche und hielt es in die Luft. »Darf ich zu ihnen kommen?« fragte ich vorsichtshalber den Che. »Was hast du da?« »Der Beweis, dass ich das Geld wirklich habe.« »Was ist das?« »Ein Foto. Auf dem Foto können sie sehen, dass ich das Geld wirklich habe.« »zeigs mir.« Ich lief ein paar Schritte und gab ihm das Foto. Er leuchtete mit seiner kleinen Taschenlampe auf das Foto und schaute es an. Ich lief wieder zurück zu Don Enrique. »Die Zeitung ist von heute und der Typ da, der bin ich. Was auf dem Tisch liegt, sind 700.000 US Dollar«, sagte ich zum Che.
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Beim Wort 700.000 schaute er überrascht zu mir und anschlie- ßend zu Don Enrique. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Don Enrique ihm nicht alles gesagt hatte. Der Che schaute einige Se- kunden Don Enrique an, keiner sagte etwas. »Können sie mir nun beweisen, dass meine Freunde noch le- ben?« Der Che wandte seinen Blick von Don Enrique ab und schaute wieder zu mir. Er schaute mich eine Weile schweigend an, danach sagte er: »Nimm deinen Rucksack und komm mit.« Ich nahm meinen Rucksack und schaute zu Don Enrique. »Danke, dass sie mich hierher gebracht haben«, sagte ich zu ihm. »Nichts zu danken, junger Mann. War mir ein Vergnügen.« Ich folgte dem Che zu seinem Jeep. Einer der anderen zwei Män- ner durchsuchte mich, bevor ich in den Jeep einsteigen durfte. Das wenige Geld in meinem Rucksack, interessierte ihn anschei- nend überhaupt nicht, vermutlich suchte er nur nach Waffen. Mein Überlebens-Täschchen hingegen hatte er überhaupt nicht gese- hen. Don Enrique stieg in sein Auto und fuhr los. Er fuhr in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Wir hingegen fuhren bergauf, in die andere Richtung. Im Jeep herrschte Totenstille, keiner sagte ein Wort. Nichts zu danken, junger Mann. War mir ein Vergnügen. Das waren die letzten Worte von Don Enrique. Er war eben in jeder Situation ein Gentleman.
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Wo fuhren wir hin, fragte ich mich. Fahren wir zu Fredo, oder hatten diese Typen etwas anderes im Sinn? Blieb mir nichts ande- res übrig, als abzuwarten. Ich hatte mir vorgenommen, mit den Guerrilleros kein Spanisch zu reden, doch das konnte ich mir jetzt abschminken. Da ich mit Don Enrique gekommen war, musste ich gezwungenermaßen Spa- nisch reden. Nun hatte ich ein Ass weniger im Ärmel, dachte ich, aber ich hatte ja noch ein Foto im Täschchen. Bevor ich dieses Foto hervorzaubere, will ich die Sicherheit haben, dass Fredo und die anderen gesund sind, und dass wir gehen dürfen, sagte ich zu mir. Die Fahrt dauerte etwa eine halbe Stunde. Wir kamen an einer Stelle im Wald an, an der drei Holzhütten standen. Der Che stieg aus und sagte mir, ich solle ihm folgen. Ich nahm meinen Ruck- sack, stieg aus und folgte ihm. Er lief zu einer der drei Hütten und klopfte an die Tür. Ein verschlafener Junge öffnete die Tür und rieb sich die Au- gen. Drinnen war es dunkel, man konnte nichts sehen. Der Junge zündete eine Kerze an und ich konnte vier Körper sehen, die auf dem Boden lagen. Sah so aus, als würden sie schlafen. Der Che zeigte mit dem Finger auf die schlafenden Leute. »Das sind deine Freunde.« »Geht es ihnen gut?« »Heute ging es ihnen noch gut.« Ich näherte mich einem der vier und hob die Decke. Darunter lag Inbar, sie schlief. Ihr Gesicht war dreckig und abgemagert. »He, Inbar. Wach auf. Ich bins Mono.«
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Inbar sagte etwas und schlief weiter. Ich konnte nichts verste- hen, vermutlich war es Hebräisch. Ich schaute unter einer ande- ren Decke, dort lag Deven, der unbekannte vierte. Danach ent- deckte ich auch Fredo und Cristina. Sie waren alle sehr dreckig und ziemlich abgemagert, aber sie lebten. Ich rüttelte Fredo, bis er die Augen aufmachte. »He, Fredo, ich bins, Mono.« »Lass mich schlafen«, sagte Fredo auf Spanisch. Er hatte mich nicht erkannt. Vermutlich dachte er, ich sei einer der Guerrilleros. Ich rüttelte ihn nochmals, bis er die Augen öff- nete. »He Fredo, wach auf. Wir gehen nach Hause. Du bist frei.« Cristina war inzwischen auch aufgewacht und hatte mich erkannt. »Mono? Was machst du denn hier? Wie bist du hierher gekom- men?« sagte sie ebenfalls auf Spanisch. »Ich bringe euch nach Hause. Komm, steh auf.« »Wie nach Hause?« »Ja, nach Hause. Ihr seid frei.« Cristina schloss wieder die Augen und schlief weiter. Sie mussten alle ziemlich verstört sein. Sie begriffen überhaupt nicht mehr, was um sie herum geschah. Sie wurden ja auch fast drei Monate gefangen gehalten. Nach so einer langen Zeit, würde jeder anfan- gen durchzudrehen. Ich musste also sorgfältig an die Sache ran gehen. Die Freiheit durfte für sie kein weiterer Schock sein, dach- te ich. »Jetzt sag uns wo das Geld ist«, sprach der Che. »Zuerst will ich wissen, wie wir in die nächste Stadt kommen.«
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»Wir fahren euch bis zu einer Landstraße, danach müsst ihr sel- ber weiterschauen.« Ich wusste nicht, ob ich ihm trauen konnte, doch was blieb mir anderes übrig. Wir mussten hier weg und jedes Angebot seitens der Guerrilla, konnte ich nur noch annehmen. Ich holte das Foto aus meinem Täschchen und gab es dem Che. Er schaute vorwurfsvoll zu einem seiner Männer, genauer gesagt zu dem, der mich durchsucht hatte. Anscheinend hatte er mich doch nicht so gründlich durchsucht. Danach schaute der Che das Foto an, aber er verstand anscheinend nicht, was dieses Foto sa- gen wollte. »Das hast du mir schon mal gezeigt. Ich will wissen wo das Geld ist.« »Sie sehen es ja auf dem Foto. Hotel Villa Claret in Valledupar, Zimmer 13.« »In einem Hotelzimmer?« »Ja, genau.« »Du hast das Geld einfach in einem Hotelzimmer liegen las- sen?« »Nicht liegen lassen. Versteckt!« »Und wo ist es versteckt?« »Im Badezimmer, unter der Decke.« Ein Lächeln kam aus dem schlafenden Quartett. Fredo war in der Zwischenzeit aufgewacht und murmelte etwas vor sich hin. »Unter der Decke, wie damals in Santa Marta«, sagte er, danach schlief er wieder ein. »Unter der Decke?« fragte der Che.
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»Ja. Sie brauchen nur die Kartonplatten zu heben und dann se- hen sie auch schon das Geld. 700.000 US Dollar, wie ich ihnen schon sagte.« Der Che schaute wieder auf das Foto. Er überlegte eine Weile, danach schaute er wieder zu mir. »Willst du mich verarschen?« »Ich will sie nicht verarschen. Das Geld ist wirklich in diesem Hotel, das können sie mir glauben. Schicken sie doch einen ihrer Männer, um nachzuschauen. Wenn das Geld dort ist, lassen sie uns gehen.« Er überlegte wieder eine Weile, danach rief er einen der zwei Männer, die mit uns gekommen waren. Er sagte ihm etwas, und der Mann stieg in den Jeep und fuhr davon. Danach kam der Che wieder zu mir. »Du kannst nur hoffen, dass das Geld wirklich da ist.« Ich ging wieder zu meinen Freunden und versuchte sie scho- nend aus dem Schlaf zu holen. Mittlerweile war es fast vier Uhr, in zwei Stunden würde es hell werden. Bis dahin würde der Guerrillero das Geld gefunden haben und wir würden frei sein. Dachte ich zumindest. Ich rüttelte wieder Fredo, bis er aufwachte. »Fredo, wach auf. Wir gehen nach Hause. Deine Eltern warten auf dich. Komm, steh auf.« »Lass mich schlafen, ich bin müde«, sagte Fredo, aber diesmal auf Französisch. Immerhin ein kleiner Fortschritt. Nun hatte er gemerkt, dass ich kein Guerrillero war. Doch er schlief wieder ein. In der Zwischen- zeit war Deven aufgewacht. Sein Gesicht war mir mittlerweile nicht
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mehr so fremd, doch ich konnte mich immer noch nicht erinnern, wo ich ihn schon mal gesehen hatte. »He Deven.« »Was? Wer bist du?« »Ich bin Mono. Ich bringe euch wieder nach Hause. Steh auf und hilf mir.« »Mono? Wer bist du?« »Das ist jetzt nicht wichtig. Steh auf und hilf mir. Wir müssen die anderen wecken. In ein paar Stunden dürfen wir gehen.« »Bist du sicher?« »Ja glaube schon. Ich erkläre dir alles später. Hilf mir jetzt.« Deven stand auf und rieb sich die Augen. Er war anscheinend der am wenigsten geschockte von den vier. Er zog seine Schuhe an. Danach kam er zu mir und gab mir seine Hand. »Danke Mono«, sagte er. »Ist schon ok. Du kannst mir später danken. Hilf mir jetzt, die anderen drei wachzukriegen, sonst kommen wir hier nie weg. »Das wird nicht leicht sein.« »Wieso?« »Die sind alle drei ziemlich am Ende. Selbst tagsüber habe ich manchmal das Gefühl, dass sie nicht ganz da sind.« »Wie meinst du das?« »Na ja. Sie reden nicht, sie essen fast nichts, und sie sitzen die ganze Zeit nur rum.« »Und du, wie geht es dir?« »Mir geht es soweit gut.« »Und wieso bist du nicht am Ende?«
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»Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich versucht habe das Ganze zu verdrängen.« »Verdrängen? Und wie hast du das gemacht?« »Ich hab viel geraucht, das hat mir geholfen.« »Geraucht? Marihuana meinst du?« »Ja. Ich dachte, mit einer Scheibe lässt sich die Situation besser überstehen. Man sieht alles ein wenig lockerer, nicht so schlimm.« »Wie waren die letzten Monate? Haben sie euch gut behandelt?« »Geht so.« »Haben sich eure Familien nie gemeldet?« »Nein. Bis heute nicht. Ich weiß auch nicht, wieso das so lange dauert.« »Das ist nicht so leicht, mit den Guerrilleros in Kontakt zu kom- men. Vermutlich versuchen eure Eltern über die Behörden mit euch in Kontakt zu kommen, doch das ist der falsche Weg. Das Gesetz hier erlaubt keine Lösegeldzahlungen.« »Und wie hast du uns gefunden?« »Das ist eine lange Geschichte, ich erzähl sie dir gerne später. Wie war das mit der Entführung? Ich meine, wie hat sich alles abgespielt?« »Wir waren unterwegs nach Medellín, als die Guerrilleros den Bus anhielten. Danach mussten wir vier aussteigen und mit ihnen mitfahren. Wir fuhren in einem Jeep durch die Berge, bis wir an einer Hütte ankamen.« »Diese Hütte hier?« »Nein. Hier sind wir erst seit einer Woche. Wir wechselten stän- dig unseren Standort. Ich glaube, damit man uns nicht so leicht finden kann.«
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»Habt ihr nie daran gedacht zu flüchten?« »Doch. Aber am Anfang hielten sie uns gefesselt, eine Flucht wäre fast unmöglich gewesen. Mit der Zeit haben sie uns nicht mehr gefesselt. Ich glaube, weil wir nicht mehr in der Lage waren, eine Flucht zu versuchen.« »Wieso nicht mehr in der Lage?« »Na ja. Schau dir die drei an. Die sind nicht einmal in der Lage zu laufen, wie soll man da an Flucht denken.« »Und du? Hast du nie daran gedacht, alleine zu flüchten und eventuell Hilfe zu holen?« »Hab ich schon. Aber irgendwie hatte ich den Mut nicht dazu. Und ich hoffte immer, dass wir irgendwann frei kämen.« »Jetzt müssen wir aber endlich die anderen wecken.« »Ich mach zuerst mal Licht.« Deven nahm eine Öllampe und zündete sie an. Anschließend streckte er seinen rechten Arm nach oben, um sie an die Decke zu hängen. Diese Bewegung erinnerte mich an etwas. Die gleiche Be- wegung hatte der Engländer in Santa Marta gemacht, als er in der Telecom nach Hause telefonieren wollte. Jetzt erinnerte ich mich plötzlich, woher ich Deven kannte. Er war der E.T. aus der Telecom von Santa Marta. »E.T. nach Hause telefonieren«, sagte ich. Deven schaute mich zuerst überrascht an, danach erinnerte er sich anscheinend auch an die Story. »Ja, genau. E.T. nach Hause telefonieren.« »Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne.« »Ich hatte auch das Gefühl, ich hätte dich schon irgendwo gese- hen.«
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»Die Welt ist eben klein, E.T.« Draußen wurde es langsam hell und die drei schliefen immer noch. Wir schafften es, sie wach zu kriegen, doch sie begriffen anschei- nend überhaupt nicht, was da abging. Sie saßen auf einer Bank, hatten Decken über die Schultern und starrten vor sich hin. Ich versuchte mit ihnen zu reden, doch es war zwecklos. Sie gaben zwar Antwort, doch ihre Blicke schauten an mir vorbei ins Leere. Plötzlich klingelte ein Telefon. Ein Feldtelefon, wie man es vom Militär her kennt. Der Che nahm ab und hörte nur zu, ohne ein Wort zu reden. Danach stand er auf und kam zu uns rüber. »Du hattest Recht, Mono. Das Geld war im Hotel.« »Können wir jetzt gehen.« »Nein. Wir müssen warten bis der Jeep zurück kommt, danach können wir euch bis zur Straße fahren. Jetzt wird gefrühstückt.« »Habt ihr denn nur einen Jeep?« »Ja.« Irgendwie hatte ich das komische Gefühl, dass dieser Typ uns verarschen wollte. Wollten diese Typen uns etwa nicht frei lassen? Wollten sie nur das Geld kassieren und uns weiterhin gefangen halten? Das machte zwar nicht sehr viel Sinn, doch mittlerweile rechnete ich mit allem. »He Deven. Ich hab irgendwie das komische Gefühl, dass die uns verarschen wollen.« »Wie meinst du das?« »Na ja. Ich glaube, die wollen uns doch nicht freilassen.« »Bist du sicher?« »Nein. Aber ich würde trotzdem vorsichtig sein.«
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»Und was willst du tun, wenn es so ist?« »Ich weiß nicht. Ich hoffe, dass ich mich täusche, ansonsten müs- sen wir uns etwas einfallen lassen.« Die Männer des Che bereiteten das Frühstück vor, während Deven und ich versuchten, die anderen drei an den Tisch zu be- kommen. Danach holte ich meinen Rucksack und tastete, ob mein Geld noch drin war. War noch alles drin. Wir aßen etwas Brot mit Käse und tranken Kaffee. Fredo, Cristina und Inbar aßen sehr wenig. Sie waren ziemlich abgemagert. Sie begriffen anscheinend immer noch nicht, was geschehen war. Ver- mutlich meinten sie, dass heute ein weiterer Tag ihrer Gefangen- schaft war und dass sie sich dem üblichen Ritual unterziehen mussten. Dass sie nun in den Jeep einsteigen müssten, um in eine andere Hütte zu fahren. Während wir auf dem Jeep warteten, wollte ich mir ein Bild davon machen, wo wir eigentlich waren. Durch die lange Fahrt heute Nacht hatte ich völlig die Orientierung verloren. Ich holte mein Handbook aus dem Rucksack und schaute nach. »Weißt du, wo wir sind?« fragte ich Deven. »Ja. In FARC-Landia.« »Nein, im Ernst.« »Keine Ahnung. Vermutlich irgendwo zwischen Cartagena und Medellín.« »Kaum. Ich bin aus Valledupar hierher gefahren, das ist nahe der Grenze zu Venezuela. Wir können also nicht allzu sehr im Westen Kolumbiens sein. Dazu kommt noch, dass es hier ziem- lich kalt ist, was heißen muss, dass wir recht hoch oben sein müs-
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sen. Wir müssen irgendwo in der Sierra Nevada de Santa Marta sein, denke ich.« »Santa Marta? Dann kann ja die Stadt nicht sehr weit sein, oder?« »Doch, das kann sehr wohl sein. Wenn wir auf der Südseite der Sierra sind, dann ist Santa Marta ziemlich weit weg. Wir sind heu- te Nacht mehrere Stunden mit dem Auto gefahren. Wenn wir in Richtung Venezuela gefahren wären, dann müssten wir jetzt schon längst über die Grenze sein, doch das sind wir nicht. Also sind wir sicherlich Richtung Landesinnere gefahren, darum denke ich, dass wir in der Sierra Nevada sind. Hier, schau auf die Karte. Ich schätze, dass die nächsten Ortschaften entweder Aracataca oder Fundación sein müssen.« »Du kannst gut Karte lesen. Warst du bei den Boy Scouts?« »Nein. Ich bin in letzter Zeit viel Bus gefahren.« Plötzlich hörte ich, wie sich ein Auto näherte: Der Jeep. Endlich können wir gehen, hoffte ich. Der Jeep kam immer näher. In ho- her Geschwindigkeit, ungewohnt für dieses Gelände. Schien mir, als hatte es der Fahrer ziemlich eilig. Der Jeep kam mehrere Meter vor uns zum Stillstand. Der Mann stieg schreiend aus und rannte in unsere Richtung. »Die Paramilitares. Sie kommen hierher. Ich hab sie gesehen. Wir müssen weg hier, schnell.« »Wo hast du sie gesehen?« fragte ihn der Che. »Unten, auf der Landstraße.« »Wie haben sie uns gefunden?« »Keine Ahnung. Als ich kam, standen sie schon da. Ich musste einen anderen Weg nehmen, ansonsten hätten sie mich gesehen. Sie sind auf dem Weg hierher.«
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»Scheiße. Schnell, nehmt eure Waffen und folgt mir«, befahl der Che seinen Männern. Ein kleines Chaos brach aus. Alle rannten wild umher, packten Waffen, Rucksäcke, Taschenlampen, Messer und alles, was sonst noch herumlag. Danach rannten sie alle den Berg hoch, in die entgegengesetzte Richtung, aus der der Jeep gekommen war. Um uns kümmerte sich keiner, alle waren damit beschäftigt, ihren Arsch in Bewegung zu setzen. Von unten, Richtung Tal, hörte man bereits Stimmen. Wir müs- sen auch weg, dachte ich, wir können nicht hier bleiben. Nur Deven und ich hatten mitbekommen, was passiert war. Die anderen drei saßen immer noch da, mit ihren Decken über den Schultern und mit ihren Blicken ins Leere starrend. »Komm, Deven, hilf mir. Wir müssen hier weg.« »Wo willst du hin? Wir können mit diesen drei hier nicht ren- nen.« »Wir verstecken uns in der Hütte.« »Dort werden sie uns finden.« »Die sind doch nicht hinter uns her.« Deven nahm den Arm von Cristina um seinen Hals, während ich das gleiche mit Inbar machte. Fredo konnte alleine laufen, doch wir mussten ihn trotzdem an seinem Arm ziehen. Wir schleppten uns so bis zur Hütte. Dort legten wir die drei auf den Boden und verriegelten die Tür. Die Stimmen draußen wurden immer lauter. »Schaut in alle Hütten!« schrie einer. »Hier ist niemand«, schrie eine andere Stimme. »Hier, in dieser Hütte ist jemand«, hörte man eine weitere Stim- me schreien.
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Doch diese letzte Stimme hörte sich nicht nahe an. Unsere Hüt- te konnte er also nicht gemeint haben. War da also noch jemand in einer anderen Hütte? Die Guerrilleros waren doch alle geflüch- tet, wer konnte es sein? »Sind noch mehr Gefangene hier?« fragte ich flüsternd Deven.
»Nein, nicht dass ich wüsste.«
»Wer kann es denn sein?«
»Keine Ahnung, Mann.«
»Hier sind welche. Kommt her«, schrie einer, der seinen Kopf
durch das Fensterloch unserer Hütte gestreckt hatte. Die Tür wurde aufgebrochen und mehrere Männer mit Geweh- ren betraten die Hütte. Sie hatten alle helle Uniformen und schwar- ze Stiefel an. Einer, der wie der Anführer aussah, trat einen Schritt näher. »Wer seid ihr?« fragte er. Anscheinend hatte er gemerkt, dass wir keine Guerrilleros sein konnten. Kein Wunder, denn man sah uns den Ausländer meter- weit an. »Wir wurden von der Guerrilla entführt«, sagte ich.
»Und wo sind die hin?«
»Sie sind vor wenigen Minuten geflüchtet.«
»In welche Richtung?«
»Den Berg hoch.«
»Hol die andere hierher und pass auf sie auf«, sagte er zu einem
seiner Leute. »Und ihr folgt mir. Holen wir uns diese Hurensöhne«, sagte er zu den anderen.
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In einem Augenblick waren alle weg. Nur einer blieb da, um auf uns aufzupassen. Er verriegelte die Tür von außen und lief zu einer der anderen zwei Hütten. Nach wenigen Sekunden kam er mit einem Mädchen raus und brachte sie in unsere Hütte. An- schließend verriegelte er wieder die Tür und blieb mit seinem Gewehr in der Hand vor der Hütte stehen. Das Mädchen saß auf dem Boden. Sie weinte und zitterte vor Kälte. Deven legte ihr eine Decke über und versuchte sie zu beru- higen. Sie sah recht mitgenommen aus. Die Angst war ihr förm- lich ins Gesicht geschrieben. »Wer bist du?« fragte ich das Mädchen auf Englisch. »Elena«, seufzte sie. »Und wie bist du hierher gekommen?« »Die haben mich entführt und hierher gebracht.« »Wann war das?« »Heute Nacht.« »Heute Nacht?« »Ja.« »Um welche Zeit?« »Ich weiß nicht mehr.« Das muss vor vier Uhr passiert sein, dachte ich, denn so gegen vier Uhr bin ich mit den Guerrilleros angekommen. Danach habe ich niemand kommen sehen. Doch ich wollte das Mädchen nicht mit weiteren Fragen belästigen, sie war schon so am Ende. Da saßen wir nun, erneut gefangen. Diesmal jedoch von den Paramilitares. Schöne Scheiße. Und was nun? Ich bin doch nicht die ganze Strecke hierher gefahren, um in einer Hütte zu sitzen, dachte ich. In der Ferne hörte man bereits die ersten Schüsse.
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»Wir müssen etwas tun«, sagte ich zu Deven. »Und was? Hast du eine Idee?« »Nein. Aber wir müssen hier raus.« Fredo, der in der Zwischenzeit etwas wacher geworden war, mur- melte wieder etwas vor sich hin. »Wieso sitzen wir wieder hier drinnen? Sollten wir nicht mit dem Jeep weg? Wir mussten doch in eine andere Hütte, nicht wahr Deven? Heute ist doch wieder soweit, nicht wahr Deven? Deven? Warum antwortest du nicht? Deven? Ich will hier raus! Lasst mich hier raus!« Fredo fing nun richtig an zu schreien. Der Typ draußen wurde langsam nervös. Er sagte, wir sollten Ruhe geben, sonst würde er uns das Maul stopfen. Deven versuchte Fredo zu beruhigen. »Lass ihn schreien«, sagte ich zu Deven. »Bist du verrückt. Hast du nicht gehört, was der Typ gesagt hat? Willst du uns umbringen, oder was?« »Nein, lass ihn schreien. Ich will, dass der Typ reinkommt, ver- stehst du?« »Und dann?« Ich nahm einen Hocker in die Hand und stellte mich in die Ecke hinter der Tür. »Wenn der Typ reinkommt, schlage ich ihm den Hocker über die Birne.« Fredo schrie weiter und Deven fing ebenfalls an zu schreien. »Lasst mich raus! Ich will hier raus! Hilfe!« Ich sah, wie die Tür aufging und ein Mann rein kam. Ich hob meine Arme, um dem Mann aus vollem Schwung eine über den Schädel zu schlagen. Da bemerkte ich, dass er keine helle Uni-
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form trug, doch es war zu spät. Als ich realisierte, dass es sich nicht um den Paramilitar handelte, war der Hocker bereits auf dem Weg zu seinem Hinterkopf. Was ich instinktiv noch machen konnte, war etwas Schwung aus meiner Bewegung zu nehmen, doch ich traf den Mann trotzdem. Er brach zusammen und fiel bewusstlos auf den Boden, mit dem Gesicht nach oben. Ich er- kannte ihn. »Fabio?« stotterte ich. Ich begriff die Welt nicht mehr. Was sollte das bedeuten? Was machte Fabio hier? Und woher tauchte er plötzlich auf? Ich mei- ne, er lag doch im Spital, war mehr tot als lebendig. Wie kam er hierher? Steckte er vielleicht mit den Paramilitares unter einer Decke? Oder gar mit den Guerrilleros? Ich starrte ihn einfach an und brachte kein Wort raus. Ich stand da, immer noch mit dem Hocker in der Hand und schaute auf den bewusstlosen Körper. »Kennst du ihn?« fragte mich Deven. »Ja.« »Komm, hauen wir ab.« Deven hatte Recht. Wir hatten keine Zeit zu verlieren. Wir mussten schnellstens hier weg. Wir packten wieder unsere drei Freunde und schleppten uns bis zum Jeep. Elena konnte alleine laufen und sprang gleich auf die vordere Sitzbank des Jeeps. Drau- ßen lag der Paramilitar auf dem Boden und blutete am Kopf. Hatte Fabio ihm eine über die Birne geschlagen? Fabio! Anscheinend hatte er doch nichts mit den Paramilitares zu tun. Doch ich konn- te mir sein Erscheinen dennoch nicht erklären.
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Wir konnten Fabio nicht zurücklassen. Er musste unbedingt auch weg. Wir setzten Fredo, Inbar und Cristina auf die hinteren Sitz- bänke. Danach half mir Deven, Fabio ebenfalls in den Jeep zu bringen. Anschließend sprang Deven auf den Beifahrersitz, wäh- rend ich schon den Motor anließ. »Der erste Gang ist unten links, nicht oben. Das ist ein Jeep, nicht ein Auto«, meinte Deven. »Woher weißt du das?« fragte ich. »Ich hab den Guerrilleros schon oft zugeschaut.« »Komm. Fahr du das Ding.« Ich sprang aus dem Jeep, während Deven auf den Fahrersitz wechselte. Während ich um den Jeep herum rannte, sah ich mei- nen Rucksack unter dem Frühstückstisch. Ich rannte zum Tisch, nahm meinen Rucksack und rannte zum Jeep zurück. »Fahr los«, sagte ich zu Deven. »Was ist das?« fragte er mich, während er den Jeep in Bewegung setzte. »Mein Rucksack.« »Das seh ich. Und wofür brauchst du deinen Rucksack? Wir haben unsere auch nicht. Wir haben überhaupt nichts mehr. Ich weiß gar nicht, wie ich wieder nach Hause kommen soll. Voraus- gesetzt, wir kommen hier heil raus.« »Darum. Hier drinnen ist unsere Reiseversicherung.«
»Unsere Reiseversicherung?«
»Ja. Unsere Reiseversicherung.«
»Drehst du jetzt auch langsam durch?«
»Nicht ganz.«
»Sag mir lieber, wo wir hinfahren sollen, Starsky.«
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»Bergab, würde ich sagen. Auf keinen Fall den Typen hinterher, Hutch.« Deven fuhr ziemlich schnell. Er hatte es richtig im Griff mit dem Jeep, anscheinend hatte er gut aufgepasst. Wir fuhren über eine holprige Landstraße, wobei von Landstraße zu reden über- trieben wäre, es war mehr ein Feldweg. Ich schaute zu Fabio. War er tatsächlich da, oder träumte ich? Er lag doch fast im Sterben? Was machte er hier? Und wie hatte er mich gefunden? Fabio kam langsam wieder zu sich. Er schaute sich um und sah mich. »He Mono mein Freund. Endlich hab ich dich gefunden. Wo sind wir? Was ist passiert? Mann, hab ich Schmerzen.« »Woher tauchst du plötzlich auf ? Du warst doch im Spital?« »Stimmt. Doch dann bin ich wieder aufgewacht.« »Wann?« »Muss so gegen Ende Mai gewesen sein.« »Und es geht dir gut?« »Eigentlich dachte ich schon. Doch jetzt tut mir alles weh.« »Das war ich. Ich hab dich mit einem Hocker geschlagen. Sorry.« »Du? Warum?« »Ich dachte, du wärst der Paramilitar.« »Der Paramilitar? Den hab ich doch niedergeschlagen.« »Ich weiß. Was war, als du im Spital aufgewacht bist? Hast du deine Mutter gesehen?« »Ja. Sie hat mir alles erzählt. Auch Pedro hat mir alles erzählt. Wie du mich aus dem Wasser geholt hast und mit ihm ins Spital
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gebracht hast. Darum hab ich dich gesucht, ich wollte dich wie- dersehen. Dir dafür danken, dass du mir das Leben gerettet hast.« »Wie hast du mich gefunden?« »Zuerst bin ich nach Medellín gefahren, ins Hotel Floris. Ich wusste, dass du dort hinwolltest. Ich habs dir doch empfohlen, weißt du noch?« »Stimmt. Wann war das?« »Das war vor etwa zehn Tagen.« »Da war ich aber nicht mehr in Medellín.« »Ich weiß. Edilma hat mir gesagt, dass du nach Cali wolltest. Also bin ich nach Cali gereist. Dort hab ich im Hotel Colombia rausgefunden, dass du nach Popayán weiterreisen wolltest.« »Woher wusstest du, dass ich im Hotel Colombia war?« »Ich wusste es nicht. Aber nachdem ich dich mehrere Tage er- folglos in einigen Hotels gesucht habe, erinnerte ich mich, dass du in Cartagena auch im Hotel Colombia warst. Darum hab ichs dort versucht. Die Frau vom Hotel sagte mir, dass du krank warst und dass du danach nach Popayán gefahren bist.« »Hotel Colombia. Genau darum bin ich ja auch in dieses Hotel, weils mir in Cartagena gut gefallen hat. Das muss ja erst vor kur- zem gewesen sein.« »Das war letzten Sonntag.« »Letzten Sonntag? Da bin ich von Popayán nach Valledupar ge- reist.« »Auch das weiß ich.« »Und woher?« »Ich hab dich auch in Popayán im Hotel Colombia gesucht. Schien mir am logischsten. Dort sagte mir die Frau vom Hotel,
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dass du schon weg warst, sie wusste aber nicht wohin. Sie meinte, ich solle mal im Schweizer Restaurant oder im Todo Listo fragen, denn du hättest dich oft dort aufgehalten. Im Todo Listo erfuhr ich dann vom Paisa, was mit deinen Freunden passiert ist und dass du nach Valledupar wolltest, um dich dort im Restaurant Las Acacias mit einem gewissen Don Enrique zu treffen.« »Also bist du nach Valledupar gereist?«
»Genau.«
»Und wann bist du in Valledupar angekommen?«
»Heute Nacht.«
»Heute Nacht? Um welche Zeit?«
»Kurz vor Mitternacht.«
»Da war ich aber noch dort.«
»Ich weiß, doch ich wusste nicht, in welchem Hotel du wohn-
test.« »Und wie bist du hierher gekommen? Ich meine, hier oben, im Wald.« »Das war nicht so einfach. In Valledupar bin ich zuerst ins Re- staurant Las Acacias, doch dort konnte ich nichts über dich erfah- ren.« »Nicht einmal von diesem Kellner? Dieser große, schlanke?«
»Nein.«
»Typisch.«
»Aber ein Mann, der im Restaurant aß, hat mich danach auf der
Straße angesprochen und mir gesagt, dass du im Hotel Villa Claret wohnst.« »Wer war dieser Mann?« »Keine Ahnung. Er sagte, dass er für eine Zeitung arbeite.«
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»Das muss der Mann sein, bei dem ich das Inserat aufgegeben habe.« »Welches Inserat?« »Das ist eine andere Geschichte. Erzähl du zuerst weiter.« »Na ja. Dann bin ich ins Villa Claret, aber du warst schon weg. Der Junge vom Hotel sagte mir, dass du erst vor kurzem abgereist wärst. Danach wusste ich nicht mehr weiter und bin halt im Hotel geblieben. Ich nahm ein Zimmer, denn es war bereits sehr spät. Genauer gesagt bekam ich das Zimmer 12. Doch als ich in mei- nem Bett lag, hörte ich komische Geräusche aus dem Zimmer nebenan. Ich stand auf und öffnete vorsichtig meine Tür. Danach hab ich mich leise ans andere Zimmer geschlichen. Dort habe ich einen Mann in einem Militäranzug gesehen, der etwas aus der Bad- zimmerdecke holte. Eine Papiertüte, oder sowas. Etwas sagte mir, dass dies mit dir und deinen Freunden zu tun hatte. Ich schlich mich an der offenen Tür vorbei und ging zum Jungen an der Re- zeption. Dort erkundigte ich mich, in welchem Zimmer du ge- wohnt hast. Der Junge sagte mir, dass du zuerst im Zimmer 11 warst. Doch nachdem man bei dir eingebrochen hatte, bist du ins Zimmer 13 umgezogen. Und genau in diesem Zimmer, hatte ich kurz zuvor den Mann gesehen. War mir also klar, dass es unbe- dingt etwas mit dir zu tun haben musste.« »Das war der Guerrillero, der das Geld geholt hat.« »Das war Geld? Woher hast du das denn?« »Erzähl ich dir alles nachher. Aber sag, was hast du danach ge- macht?« »Ich stand also bei der Rezeption, als ich den Mann runterkommen hörte. Ich lief auf die Straße und sah einen Jeep
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vor dem Hotel. Und als ich den Mann hörte, wie er dem Jungen vom Hotel sagte, dass er die Schnauze halten solle, falls ihn je- mand etwas fragen würde, war für mich alles klar: Dieser Mann würde mich zu dir bringen. Ich versteckte mich unter dieser Sitz- bank, auf der du gerade sitzt und bin mit ihm mitgefahren.« »Du warst in diesem Jeep, als der Guerrillero vorhin ankam?« »Genau. Ich hab alles mitbekommen. Wie er geschrien hat, dass die Paramilitares kommen. Darum bin ich versteckt geblieben. Doch als auch die Paramilitares weg waren und nur noch der Typ geblieben ist, bin ich rausgekommen und hab ihm mit einer Keule eine über die Birne geschlagen. Euer Geschrei hat ihn dermaßen abgelenkt, dass es nicht schwer war, ihm eine zu verpassen. Da- nach betrat ich die Hütte und plötzlich wurde es dunkel.« Ich konnte es fast nicht glauben. Fabio war mir die ganze Zeit gefolgt. Und als er mich gefunden hatte, befreite er mich. Welch ein Glück. Oder war es nur Zufall? Kaum. Spätestens jetzt bekam auch sein Tauchunfall einen Sinn. Anscheinend musste es so sein. »Mann Fabio, bin ich froh, dich zu sehen. Ich hab mich schon so oft gefragt, ob du dich vom Unfall erholt hast.« »Wie du siehst. Danke, dass du mich damals gerettet hast.« »Danke, dass du mich jetzt gerettet hast.« Danach schwiegen wir alle. Ich war völlig in meine Gedanken versunken. Was da mit Fabio passiert war, kam mir zwar seltsam vor, doch es überraschte mich nicht sehr. Nach dem, was mir mit Edi passiert war, konnte mich nichts mehr so schnell überraschen. Auch dies nicht. Fredo, Cristina und Inbar saßen da und schauten in der Gegend herum. Ich hatte das Gefühl, sie hatten immer noch nicht reali-
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siert, dass wir auf der Flucht waren. Sie dachten sicher, wir wür- den sie in eine andere Hütte bringen. Sie saßen da wie Touristen, die bei einer Tour die Landschaft genießen. Keiner sagte etwas. Elena hatte sich mittlerweile ein wenig erholt und weinte nicht mehr. Auch sie starrte auf die Straße und schien wie geistesabwe- send. Sie saß zwischen Deven und mir. »Gehts dir besser?« fragte ich. »Ja, danke.« »Woher kommst du?« »Aus Griechenland.« »Was ist gestern abend passiert?« »Ich weiß nicht mehr genau.« »Willst du nicht darüber reden?« »Nein, lieber nicht.« »Wo sind deine Sachen? Hattest du kein Gepäck?« »Doch. Ich weiß aber nicht, wo es geblieben ist.« Sie wollte nicht reden, was ich auch verstehen konnte. Ich weiß nicht, wie ich in ihrer Situation reagiert hätte. Ich schaute zu Cristina. Ihr Blick war ins Leere gerichtet. Als sie Cartagena verlassen hatte, hatte ich die ersten Tage gehofft, sie wiederzutreffen. Mit der Zeit aber hatte ich sie vergessen. Erst als ich über die Entführung gelesen hatte, erinnerte ich mich wieder an sie. Und nun saß sie da und hatte mich womöglich überhaupt nicht erkannt. Sie hatte mich zwar vor einigen Stunden gefragt, was ich hier machen würde, doch ich glaube nicht, dass sie reali- siert hatte, dass ich wirklich da war. Vermutlich dachte sie, sie würde träumen. Überhaupt sahen alle drei so aus, als würden sie perma- nent träumen. Hoffentlich erholen sie sich bald, dachte ich.
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Inbar kannte ich nicht so gut. In Arrecife war sie immer mit Fredo zusammen gewesen, und wir hatten nie die Möglichkeit gehabt, uns besser kennenzulernen. Sie war schon damals eine sehr ruhige Person gewesen, erinnerte ich mich. Fredo sah am schlechtesten von allen drei aus. Er war ziemlich abgemagert. Er hatte dermaßen abgenommen, dass man im Ge- sicht seine Backenknochen erkennen konnte. Der arme Kerl. Das war seine zweite Gefangenschaft, hoffentlich auch seine letzte. Mittlerweile wurde die Straße besser und der Jeep holperte nicht mehr so stark. Deven fragte mich, wie ich zu ihnen gefunden hat- te und wie ich an das Lösegeld gekommen war. Ich erzählte in groben Zügen, wie ich Fredo, Cristina und Inbar kennengelernt hatte, und wie ich von der Entführung erfahren hatte. Wie ich an das Geld gekommen war, und wie ich den Kontakt zu den Guerrilleros herstellen konnte. Er konnte es fast nicht glauben. Auch Fabio staunte nicht schlecht. »So ein Glück. Ich meine, dass du ausgerechnet diesen Edi mit dem Geld antriffst, das ist unglaublich«, sagte Deven. »Ja. Das dachte ich zuerst auch.« »Und wie konntest du die Guerrilleros überzeugen, dass du das Geld wirklich hattest? Wie ich mitbekommen habe, hattest du ja das Geld nicht dabei.« »Ich zeigte ihnen das hier.« Ich nahm eines der zwei letzten Fotos die ich noch hatte und gab es Deven. Er schaute es an und musste laut lachen. »Verdammt. Wie im Film. Du hast vielleicht Ideen, Mann.« »Die Idee hatte ich ja auch aus einem Film.« »Aus einem Film? Aus welchem denn?«
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»Fünf Freunde in Kolumbien.« »Fünf ? Sechs, meinst du? Sogar sieben.« »Pardon, sieben mittlerweile.« Wir mussten alle lachen. Auch Elena lächelte, es ging ihr also ein wenig besser.
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Endlich frei
Wir fuhren schon seit über zwei Stunden, als der Jeep anfing zu stottern und kurz darauf stehen blieb. Das Benzin war alle. »Und was jetzt?« fragte Deven. »Laufen«, antwortete ich. Ich wusste nicht, wo wir genau waren. Vermutlich irgendwo zwi- schen Barranquilla und Cartagena, grob geschätzt, denn wir wa- ren die ganze Zeit in westlicher Richtung gefahren. Ich hatte zwar keinen Kompass dabei, aber ich hatte einen kleinen Sonnenbrand am Nacken. Das konnte nur bedeuten, dass wir nach Westen fuh- ren, da die aufgehende Sonne immer hinter uns gestanden hatte. Blieb uns also nichts anderes übrig, als zu laufen. Während der Fahrt, hatten wir nicht ein einziges Fahrzeug gesehen. Die Hoff- nung, dass ein Auto vorbeifahren würde und uns mitnehmen könn- te, war somit ziemlich klein. Mittlerweile war es schon fast zehn Uhr und die Sonne stand bereits ziemlich hoch. Wir stiegen alle aus und fingen an zu lau- fen. Ich zog meinen Rucksack an, die Decken ließen wir im Jeep liegen. Wir brauchten sie nicht mehr, denn es war schon recht warm. Fredo, Cristina und Inbar konnten schon alleine laufen, wir mussten lediglich aufpassen, dass sie in die richtige Richtung gin- gen. Darum lief Deven vorneweg, während Elena, Fredo, Inbar und Cristina ihm folgten. Fabio und ich liefen als letzte hinterher. Fabio erzählte mir noch im Detail, wie sich seine Genesung abge-
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spielt hatte. Wie seine Mutter wieder nach Italien flog und wie er sich danach entschloss, mich zu suchen. Ich erzählte ihm, was ich nach seinem Unfall unternommen hatte. Auch wie ich eine Woche danach von Cartagena verreiste und was mir danach alles passierte. Nach einer Weile hörte ich, wie sich von hinten ein Auto näher- te. Ich streckte den Daumen raus, doch das Auto fuhr an uns vor- bei. Kunststück, dachte ich, sieben Leute hätten unmöglich in ein Auto gepasst. Doch die Tatsache, dass überhaupt ein Auto vor- beifuhr, gab mir wenigstens Mut. Vielleicht hatten wir ja während unserer Fahrt kein Fahrzeug gesehen, weil es einfach noch ziem- lich früh war. Als wir an einen Fluss kamen, war es an der Zeit eine kleine Rast einzulegen. Wir waren alle ziemlich durstig und stürzten uns gleich aufs Wasser. Danach setzten wir uns auf einige Steine und ruhten uns ein wenig aus. Ich hatte Lust auf eine Zigarette, aber keiner von uns hatte welche dabei. Auch Fabio nicht. Ich sah, wie sich Fredo und Inbar unterhielten. Ein gutes Zei- chen, dachte ich, langsam kehrt doch die Normalität zurück. Auch Cristina und Elena wechselten einige Sätze aus, was mich eben- falls beruhigte. Deven lag auf dem Rücken und schaute zum Him- mel. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es ihm schlecht ging. Im Gegenteil, er sah aus, als würde er sich nach einem Picknick ein Nickerchen gönnen. Fabio warf kleine Steine ins Wasser und be- obachtete die sich darin formenden Ringe. Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Etwas wie ein Fahrzeug, je- doch viel lauter als gewöhnlich. Der Lärm kam immer näher. Ich stand auf und lief die paar Schritte bis zur Straße.
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Aus der Ferne näherte sich eine Staubwolke. Nach der Größe zu beurteilen, musste es ein sehr großes Fahrzeug sein. Ein Lastwa- gen oder sowas. Das Ding kam immer näher und bald erkannte ich, dass es sich um einen Traktor handelte. Ein Traktor mit ei- nem großen Anhänger. Fabio stand ebenfalls auf und kam zur Straße. Der Fahrer sah uns schon von weitem und winkte uns zu. Als er auf unser Höhe war, hielt er an. »Guten Morgen«, begrüßte ich ihn. »Guten Morgen. Was macht ihr alleine hier draußen?« »Wir sind nicht alleine. Wir sind mit unseren Freunden. Wir hat- ten eine Panne mit dem Wagen.« Der Mann schaute zum Fluss runter und sah die anderen. Da- nach schaute er wieder zu mir. »Meinst du den Jeep, der da ein paar Kilometer weiter hinten am Straßenrand steht?« »Genau.« »Was ist passiert?« »Kein Benzin mehr.« »Wo wolltet ihr denn hin?« »In die nächste Stadt.« »Nach Cartagena?« »Ja.« »Das ist aber noch weit.« »Wie weit noch?« »Keine Ahnung, aber ziemlich weit.« »Können sie uns ein Stück mitnehmen? Vielleicht bis ins näch- ste Dorf, dann könnten wir einen Bus nehmen.«
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»Ich kann euch nur bis San Jacinto mitnehmen, weiter geht mei- ne Reise nicht.« »Das wäre sehr nett von ihnen.« »Ihr könnt hinten auf dem Anhänger sitzen.« »Danke.« Ich rief die anderen und wir stiegen schnell auf den Anhänger. Anschließend fuhr der Mann weiter. Cartagena. Ich lag mit meiner Vermutung also doch nicht so schlecht. Ich holte mein Handbook aus meinem Rucksack, um zu schauen wo San Jacinto lag. Auch Fabio hatte keine Ahnung, wo dieses Dörfchen war. San Jacinto lag etwa zwei Busstunden von Cartagena entfernt, schätzte ich. Und der Fluss, bei dem wir Rast gemacht hatten, musste der Rio Magdalena gewesen sein. Die Fahrt mit dem Traktor verlief ziemlich ruhig. Auf jeden Fall gemütlicher als zu Fuß. Außer, dass wir mitten in einer Staub- wolke saßen und die ganze Zeit Sand im Gesicht hatten. Doch keiner wollte sich beklagen. Gegen Mittag kamen wir in San Jacinto an. Wir setzten uns in ein Restaurant und bestellten eine warme Mahlzeit. Während wir auf das Essen warteten, erkundigte ich mich, wann der nächste Bus nach Cartagena fahren würde. Um ein Uhr fuhr ein Colectivo. Ein Colectivo ist ein kleiner Bus, in dem nur etwa ein Dutzend Leute passen. Ich kaufte sieben Tickets nach Cartagena und ging zurück zu meinen Freunden. Nachdem ich die anderen über die baldige Weiterfahrt infor- miert hatte, kam auch schon das Essen. Ich sah mit Freude, dass
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Fredo, Inbar und Cristina alles aßen. Sie hatten vermutlich schon lange nichts richtiges mehr zwischen die Zähne bekommen. »Was haben die euch eigentlich zu essen gegeben?« fragte ich Deven. »Irgend so eine Brühe und ein Stück Brot. Scheußliches Zeug. Wenn ich nur dran denke wird mir schon schlecht.« »Jeden Tag das gleiche?« »Jeden scheissverdammten Tag.« Nach so einer langen Gefangenschaft, dachte ich, hätten sie si- cherlich eine Untersuchung nötig gehabt. Ich nahm mir vor, in Cartagena zu einem Arzt zu gehen. Am besten bringe ich gleich alle ins Spital, dachte ich. »Ich sollte meine Eltern benachrichtigen«, sagte Deven. »Nicht nur du. Ich schau mal nach, wo man hier telefonieren kann. Das ist ja nicht immer so einfach, wie du weißt.« »Ja, ich weiß.« »Pass du mit Fabio solange wieder auf die anderen auf. Ich kom- me gleich zurück.« Der Kellner sagte mir, dass im Dorf eine Telecom sei. Ich lief zur angegebenen Stelle und fand tatsächlich eine. Zwar nur ein kleiner Laden mit einem Telefonapparat auf einem Schreibtisch, aber immerhin. Ich erkundigte mich, ob man von hier aus Fernge- spräche führen konnte. Die Dame meinte, es sei kein Problem. Ich lief zurück zum Restaurant und informierte die anderen. Danach gingen wir alle zur Telecom. Dort angekommen, drückte ich Deven 100 Dollar in die Hand. »Hier. Sorg dafür, dass alle nach Hause telefonieren können«, sagte ich zu ihm.
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Deven streckte wieder seinen Zeigefinger in die Luft. »Nach Hause telefonieren«, er lächelte. »Ja, genau. Du weißt ja jetzt wie es geht. Ich geh solange Ziga- retten kaufen. Brauchst du auch welche?« »Ja, gerne. Schau mal, ob du Belmont findest.« »Mach ich.« Fabio begleitete mich. In einem kleinen Laden kaufte ich Ziga- retten, Schokolade und ein paar Flaschen Wasser. Danach gingen wir zurück zu den anderen. Deven hatte sich soeben von seiner Mutter verabschiedet und nun war Inbar an der Reihe. Sie war in Tränen aufgelöst und bekam fast kein Wort aus ihrem Mund. Fredo versuchte, sie zärtlich zu trösten. Ich setzte mich auf einen Stuhl und zündete mir eine Zigarette an. Einer nach dem anderen telefonierten sie alle nach Hause. Ein unvergesslicher Anblick. Alle redeten in ihrer jeweiligen Mutter- sprache: Englisch, Hebräisch, Deutsch, Griechisch und Franzö- sisch. Und alle weinten. Wie gleich sind wir doch alle auf dieser Welt, dachte ich, egal wo und wie wir leben. Wir reden zwar unterschiedliche Sprachen, kom- men aus verschiedenen Kulturen und haben andere Bräuche, aber im Innersten sind wir doch alle genau gleich. Alle wollten mit ih- ren Eltern reden und sich ausweinen. Alle hatten das Bedürfnis, eine vertraute Stimme zu hören, und sei es nur durch das Telefon. Als alle telefoniert hatten, rief ich auch zu Hause an und sagte meiner Mutter, dass es mir gut ginge. Ich sagte ihr, ich sei am Meer und würde das schöne Wetter genießen. Anschließend rief ich Manuela an. Sie hatte sich schon Sorgen gemacht, weil ich seit langem nicht mehr angerufen hatte. Doch ich konnte sie beruhi-
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gen und ihr versprechen, dass wir uns bald wieder sehen würden. Danach war Schluss mit telefonieren und wir setzten uns in den Colectivo, um nach Cartagena zu fahren. Ich dachte an Manuela. Ihre Stimme zu hören tat mir gut. Ich vermisste sie sehr und freute mich, sie bald wieder zu sehen. Die- se Frau hatte es mir anscheinend angetan. Ich glaube sogar, dass sie mir die Kraft gab, um das alles durchzustehen. Die Fahrt dauerte etwa zwei Stunden. In Cartagena angekommen wollten wir zuerst mal ins Hotel Colombia fahren. Wir brauchten alle dringend eine Dusche, vor allem die anderen. Fabio hingegen wollte gleich nach Playa Blanca weiterreisen und verabschiedete sich von uns. Er versprach, am nächsten Morgen ins Hotel Colombia zu kommen. Ich versuchte ein Taxi anzuhalten, doch kein Taxifahrer wollte sechs Leute ins Auto nehmen. Sie hatten alle Angst, in eine Poli- zeikontrolle zu kommen und ihre Taxilizenz zu verlieren. Nach etwa einer halben Stunde verlor ich langsam die Geduld. Ich hielt ein Taxi an und noch bevor der Taxifahrer mir seine Story über Taxilizenz und Polizei erzählen konnte, streckte ich ihm eine 100 Dollar Note ins Gesicht. Nur fünf Sekunden später, hatten wir uns alle sechs in das Taxi gezwängt und waren bereits unterwegs zum Hotel. Im Hotel Colombia angekommen, fragte ich die Chefin, ob sie noch freie Zimmer habe. Sie hatte noch drei Doppelzimmer frei. Eines nahmen Fredo und Inbar, ein anderes teilten sich Cristina und Elena und das letzte Zimmer war für Deven und mich.
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Wir bezogen unsere Zimmer und ruhten uns erstmal ein wenig aus. In einer Stunde wollten wir uns wieder treffen, um ins Spital zu fahren. Ich duschte und gönnte mir, mit Deven zusammen, einen Joint. Den hatte ich mir redlich verdient. Danach legte ich mich aufs Bett und schlief ein wenig. Als ich aufwachte war es schon fünf Uhr. Ich stand auf und woll- te die anderen wecken, da sie sonst sicherlich durchgeschlafen hätten. Zuerst klopfte ich an Fredos Tür, doch er antwortete nicht. Ich klopfte nochmals und rief ihn. »He, Fredo. Wach auf.«
»Ja. Ich komme.«
Er öffnete die Tür und rieb sich die Augen. Danach schaute er
mich ein Weile überrascht an. »Mono?« fragte er. »Sicher bin ich Mono. Hast dus schon vergessen?« »Woher kommst du?« »Aus meinem Zimmer.« »Du siehst irgendwie anders aus.« »Wie anders? Was soll denn an mir anders sein?« »Ich weiß nicht. Dein Haar.« »Was ist mit meinem Haar?« »Es ist plötzlich länger.« »Länger?« Er hatte mich anscheinend erst jetzt wirklich wahrgenommen. Wir waren zwar seit fast einem Tag zusammen, doch er schien erst jetzt zu realisieren, was um ihn abging. Klar, dass für ihn mei-
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ne Haare länger waren. Er hatte mich ja seit fast drei Monaten nicht mehr gesehen. »Komm, wir müssen gehen. Sags auch Inbar. Ich hole in der Zwischenzeit Cristina und Elena.« »Elena? Wer ist Elena?« »Vergiss es. Beeil dich jetzt.« Ich klopfte auch bei Cristina, aber die waren schon bereit. Kur- ze Zeit später, standen wir alle auf der Straße und suchten ein Taxi. Die Story kennt ihr ja schon. Der Fahrer wollte seine Lizenz nicht verlieren, doch die Visage von Benjamin Franklin überzeug- te ihn, das Risiko dennoch einzugehen. Wir fuhren also ins Spital. Dort erklärte ich einem Arzt, dass meine Freunde längere Zeit im Urwald gelebt hätten, und dass sie nun eine gründliche Untersuchung bräuchten. Er sagte natürlich, dass es teuer sei, doch ich hatte noch genügend Franklins dabei und bezahlte deshalb gleich im voraus. Die Untersuchung würde eine gute Stunde dauern, sagte der Arzt. Ich zündete mir eine Zigarette an. Der Arzt meinte, dass ich hier nicht rauchen dürfe und ich ging auf die Straße. Draußen setzte ich mich auf eine Mauer und genoss meine Zigarette. Langsam wurde es dunkel. Ich überlegte, was ich mit meinen Freunden machen sollte. Sie mussten schnellstens nach Hause, das war klar. Doch sie hatten nichts mehr, keine Pässe, keine Flugtickets und kein Geld. Das Geld und die Flugtickets waren kein Problem, denn ich hatte noch etwas mehr als 18.000 Dollar, doch die Pässe mussten sie sich selber besorgen. Dafür müssten sie nach Bogotá in die Haupt-
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stadt fahren und in den jeweiligen Botschaften danach verlangen. Anschließend stünde ihrer Heimreise nichts mehr im Wege. Gegenüber dem Spital war ein Reisebüro und ich wollte die War- tezeit nützen, um meinen Freunden die Flugtickets zu besorgen. Die Dame im Reisebüro erklärte mir aber, dass sie sämtliche Vor- und Nachnamen aller fünf Passagiere brauchte. Vier kannte ich noch aus der Zeitung, aber Elenas Nachnamen wusste ich nicht. Ich ging zurück ins Spital und fragte Elena. Ihr Nachname war so lang und kompliziert, dass ich es auf mein Zigarettenpäckchen notieren musste. Anschließend kehrte ich ins Reisebüro zurück. Zuerst brauchte ich für jeden ein Ticket nach Bogotá, weil dort alle Botschaften waren und weil fast alle Überseeflüge nach Euro- pa von Bogotá aus starten. »Haben sie alle Namen?« fragte mich die Dame. »Ja.« »Also. Was brauchen sie genau?« »Zuerst fünf Flugtickets nach Bogotá.« »Wann möchten sie reisen?« »Wann ist der nächste Flug nach Bogotá?« »Der nächste wäre morgen früh um neun Uhr.« »Ok. Machen wir morgen.« »Also. Fünf Mal CartagenaBogotá am 23. Juni. Mal schauen, ob es noch Plätze gibt... Ja, das geht. Geben sie mir die Namen, bitte?« Ich hatte die Namen auf ein Blatt Papier notiert und gab es ihr. Sie tippte fleißig auf ihre Tastatur, danach holte sie die Tickets und gab sie mir. Nun brauchte ich nur noch die Tickets für nach Hause.
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»So, Señor. Was kann ich sonst noch für sie tun?« »Jetzt brauche ich noch für jeden ein Flugticket nach Hause. Schauen sie, ich habe hinter jedem Namen das entsprechende Reiseziel notiert. Für Fredo BogotáParis. Für Inbar BogotáTel Aviv. Für Cristina BogotáFrankfurt. Für Deven BogotáLondon. Und für Elena BogotáAthen.« »Und für welches Datum müssten die sein?« »Eine Woche später.« »Mal schauen... Das wäre ab dem 30. Juni.« »Ja, das sollte reichen.« Meine Freunde würden somit eine Woche Zeit haben, um sich in Bogotá ihre Pässe zu besorgen. Die Dame tippte wieder fleißig an ihrem PC und gab mir nach einigen Minuten die fünf Tickets. »So, Señor. Brauchen sie sonst noch was?« »Wenn sie mir noch fünf Umschläge schenken würden, dann wäre ich ihnen sehr dankbar.« »Gerne, Señor.« Ich nahm die fünf Umschläge und schrieb sie mit den Namen meiner Freunde an. Anschließend steckte ich in jeden Umschlag das entsprechende Ticket CartagenaBogotá und das entsprechen- de Ticket für nach Hause. Der ganze Spaß kostete 7350 US Dol- lar. Mir blieben noch etwas mehr als 11.000 Dollar übrig. Meine Freunde bräuchten - in Bogotá und unterwegs - sicherlich noch etwas Bargeld. Ich steckte zusätzlich noch 2.000 Dollar in jeden Umschlag und klebte alle Umschläge zu. Nun blieben mir noch genau 1350 US Dollar übrig. Erstaunlich, wie schnell man sehr viel Geld ausgeben kann, doch ich war über-
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zeugt, es gut ausgegeben zu haben. Edi wäre stolz auf mich gewe- sen. Sein Tod war wenigstens nicht ganz umsonst gewesen, dach- te ich. Ich bat die Dame, mir noch einen weiteren Umschlag zu schen- ken, steckte das restliche Geld rein und ging zurück zu meinen Freunden. Der Arzt war mit der Untersuchung noch nicht fertig. Ich setzte mich in ein Wartezimmer, dort konnte man wenigstens rauchen. Ich hatte mir soeben eine Zigarette angezündet, als ein Mädchen mit einem neugeborenen Kind im Arm rein kam. Ich wollte dem Baby mit dem Rauch nicht schaden, und drückte deshalb die Zi- garette gleich wieder aus. »Du kannst ruhig weiterrauchen. Er soll sich dran gewöhnen«, sagte das Mädchen zu mir. »Ist es für Kleinkinder nicht schädlich?« »Was solls. Er wird in seinem Leben eh noch vieles durchma- chen müssen, dann soll er am besten gleich damit anfangen. Hast du für mich auch eine Zigarette?« »Klar, hier.« »Danke.« »Ist es ein Junge?« »Ja.« »Wann ist er geboren?« »Gestern morgen.« »Und wie heißt er?« »Er hat noch keinen Namen. Ich muss mir noch einen ausden- ken.« »Sag mal. Kennen wir uns?«
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»Kann sein. Mich kennen viele Männer.« »Viele Männer? Wie darf ich das verstehen?« »Na ja. Ich bin eine Nutte, darum kennen mich halt viele Män- ner.« »Aha. Jetzt weiß ich, woher ich dich kenne. Ich war mal mit Edi el Calvo bei dir, damals warst du noch schwanger. Erinnerst du dich noch?« »Mit Edi? Weiß ich nicht mehr. Das muss aber schon lange her sein, ich habe Edi nämlich eine ganze Weile nicht mehr gesehen.« »Ja, das war Anfang April.« »Wie geht es denn dem Edi?« »Keine Ahnung. Ich habe ihn seitdem auch nicht mehr gese- hen.« »Und? Hat es dir damals mit mir gefallen?« »Ehrlich gesagt haben wir gar nicht zusammen gevögelt. Ich sagte dir damals, du solltest in deinem Zustand nicht mit fremden Män- nern vögeln. Kannst du dich wenigstens daran erinnern?« »Klar kann ich mich daran erinnern. Du gabst mir sogar noch Geld dafür. Ich hätte dich aber nicht mehr erkannt. Du siehst anders aus. Deine Haare sind länger.« »Ja. Das hat mir heute schon mal jemand gesagt.« »So, nun muss ich gehen. Der Kleine hat Hunger. Hat mich ge- freut dich wiederzusehen. Wie war dein Name nochmal?« »Mono. Und wie heißt du?« »Letizia. Also, machs gut Mono.« »Du auch.« Und weg war sie. Ich hatte also wieder jemanden getroffen, den ich schon vorher kannte. Das fing bereits an, als ich jene Nacht
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Edi wieder traf. Danach Fredo, Cristina, Inbar und Deven. Nun Letizia. Wieder ein kleiner Kreis, der sich geschlossen hatte. Das gleiche betraf auch Fabio und dessen Tauchunfall. Was wie ein zufälliges Unglück aussah, bekam im Nachhinein einen Sinn. Hätte Fabio keinen Unfall erlitten, wäre er niemals auf die Idee gekommen, mir durch ganz Kolumbien zu folgen. Sollte das so weitergehen? Musste ich tatsächlich alle wiedersehen? Musste ich auf jede noch offene Frage eine Antwort erhalten? Kam mir vor, als müsste ich alles erneut erleben, um irgendwie etwas in Ord- nung zu bringen. Als hätte ich eine Aufgabe zu erfüllen. Ich blieb noch eine Weile sitzen und dachte über Letizia nach. Mit dem Job den sie hatte, konnte sie ihrem Kind nicht unbedingt eine rosige Zukunft garantieren. Wer der Vater des Kindes ist, wusste sie bestimmt auch nicht. Das arme Kind hatte noch nicht einmal einen Namen. Ich ging zur Aufnahme und erkundigte mich, in welchem Zim- mer Letizia war. Danach ging ich zu ihr. Sie war gerade dabei, den Kleinen zu stillen. »Entschuldige. Ich wollte nicht stören.« »Komm nur rein. Du störst überhaupt nicht.« »Ich wollte dir noch etwas geben. Ein kleines Geschenk, zur Geburt deines Sohnes.« Ich nahm den Umschlag mit den restlichen Dollars und legte es aufs Bett. Sie öffnete es mit einer Hand, während sie mit der an- deren Hand ihr Baby hielt. Anschließend schaute sie mich über- rascht an. »Was ist das?« »Geld.«
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»Das sehe ich. Aber wofür?«
»Für dich und deinen Sohn.«
Sie schaute wieder auf das Geld und schwieg. Der kleine lag
friedlich in ihren Armen und lutschte an ihrer Brust. Danach schau- te sie wieder zu mir. »Danke«, sagte sie. »Bitte.« Ich öffnete die Tür und wollte gehen. »Mono?« »Ja.« »Wie heißt du wirklich?« »Was meinst du mit wirklich?« »Na ja. Man nennt dich bloß Mono, wie ist dein richtiger Name?« Ich flüsterte ihr meinen Namen ins Ohr. Sie schaute ihren Sohn an und streichelte ihn zärtlich auf die Wange. »Ein schöner Name«, sagte sie fast lautlos. Ich öffnete die Tür und ging. Mittlerweile war die Untersuchung fertig. Der Arzt erklärte mir, dass meine Freunde zwar ein wenig Untergewicht hatten, aber dass es ihnen im großen und ganzen gut ging. Danach verließen wir das Spital. Wir spazierten durch die Altstadt und plauderten ein wenig. Da- nach entschieden wir uns, etwas essen zu gehen. Ich wollte gerne ins Algo Diferente. Dort hatte ich damals Edi kennengelernt. Der ideale Ort, um der ganzen Story ein Ende zu setzen, dachte ich. Doch als wir vor dem Algo Diferente standen, war alles dunkel. Kein Algo Diferente mehr. Die hatten dicht gemacht, wie ich da- mals befürchtet hatte.
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Einen kurzen Moment lang fragte ich mich, ob es dieses Algo Diferente überhaupt mal gegeben hat, oder ob ich es mir nicht nur eingebildet hatte. Ob selbst Edi nicht nur eine Halluzination gewesen war. Jemand, der kurz in mein Leben eingedrungen war, um mir die Augen zu öffnen und danach wieder zu verschwinden. War Edi vielleicht gar ein Engel? Wir spazierten weiter und suchten uns ein anderes Restaurant aus. Auf einmal standen wir vor dem Restaurant, in dem Cristina und ich damals gegessen hatten, als plötzlich das Licht ausgegan- gen war. Hier hatte eigentlich alles angefangen. Hier hatte Cristina ent- schieden, alleine weiterzureisen. Hier musste also alles enden. Wie- der ein kleiner Kreis, der sich schloss? Wir setzten uns an einen großen Tisch und bestellten etwas zu essen. »Weißt du noch?« fragte mich Cristina. »An dem Abend, als das Licht ausging?« fragte ich sie. »Ja. Das war ein schöner Abend.« »Trotz allem?« »Ja, trotz allem.« »Wärst du nur nicht gegangen...« »Ich weiß. Dann wäre es nicht passiert. Dann wäre ich nicht in diesem Bus nach Cartagena gewesen. Dann wäre ich nicht ent- führt worden.« »An dem Tag, an dem du abgereist bist, habe ich zwei Männer kennengelernt. Einer hieß Edi, der andere ist Fabio. Dank ihnen konnte ich euch heute befreien. Wärst du also nicht abgereist, wäre dir zwar nichts passiert, doch ich hätte vermutlich weder Edi noch
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Fabio kennengelernt. Und ohne Edi und Fabio, hätte ich die an- deren nicht befreien können. Somit hat es sich doch noch ge- lohnt, dass du abgereist bist. Zumindest für Fredo und Inbar.« »Ja, aber nur für sie.« »Du hast dich sozusagen für sie geopfert. Siehs mal von der Seite. Du bist der größte Held in dieser ganzen Geschichte.« »Schwacher Trost.« »Siehst du? War also doch richtig, dass ich in Arrecife kein Deutsch sprechen konnte, oder? Sonst wärst du ja nicht abge- reist.« »Du brauchtest mich damals nur darum zu bitten, und ich wäre geblieben.« »Du wolltest ja gehen.« »Ja, aber...« »Das spielt jetzt keine Rolle mehr, Cristina.« »Ja, du hast Recht...« Danach schaute sie nachdenklich auf das Tischtuch und spielte mit der Serviette rum. »Als ich gefangen war und nachts im Dunkeln lag, da hab ich mir vorgestellt, ich wäre hier mit dir und das Licht wäre plötzlich ausgegangen. Ich hab dann die Arme ausgestreckt und mir einge- bildet, dass ich dich berühren würde. Das hat mir Mut gegeben. Ich wünschte mir, dass auch heute das Licht ausgehen würde.« »Du musst nur die Augen schließen und dir vorstellen, dass es dunkel ist.« Sie schloss ihre Augen und streckte ihren Arm aus. Fast hätte sie dem Kellner die Teller aus der Hand gekippt, denn das Essen wurde soeben serviert. Sie öffnete ihre Augen und entschuldigte sich mit
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einem Schmunzeln beim Kellner. Die magische Atmosphäre war somit verpufft, und wir fingen an zu essen. Nach dem Essen verteilte ich die Umschläge. Sie waren alle ziem- lich überrascht und konnten es fast nicht glauben. »Woher hast du eigentlich all das Geld?« fragte Cristina. »Er hat eine Bank ausgeraubt«, sagte Deven. »Ja genau. Ich habe eine Bank ausgeraubt.« »Ganz alleine?« fragte Inbar. »Klar. Ich musste euch doch befreien, also hab ich eine Bank ausgeraubt.« »Er nimmt uns doch nur hoch«, sagte Fredo. Wir lachten alle. Als wir uns wieder beruhigt hatten, erklärte ich allen, was sie morgen zu tun hatten. »Passt auf. Ihr fliegt morgen nach Bogotá. Dort habt ihr eine Woche Zeit, um in eure Botschaften zu gehen und dort neue Päs- se zu verlangen. Danach könnt ihr nach Hause fliegen. Die 2.000 Dollar sollten euch reichen, falls ihr in dieser Woche noch Geld braucht. Ich weiß ja nicht, ob die Leute in der Botschaft Geld verlangen, um euch neue Pässe zu geben.« »Und was machst du?« fragte mich Deven. »Ich fahre zuerst nach Medellín. Danach gehe ich eine Weile ans Meer. Ich brauche ein wenig Erholung.« »Bleibst du noch lange in Kolumbien?« fragte Elena. »Noch ein oder zwei Monate. Mal schauen, wie lange das Geld noch reicht.« »Geld? Du hast ja genug davon, oder?« fragte Deven.
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»Ich hatte genug davon. Jetzt ist es alle. Das letzte habe ich heute ausgegeben. Jetzt bin ich wieder auf meine eigenen Ersparnisse angewiesen.« »Sollen wir dir etwas von unserem Geld geben? Wir brauchen keine 2.000 Dollar für eine Woche«, sagte Fredo. »Nein danke. Ich will nichts von dem Geld. Kauft euch damit ein Andenken an Kolumbien.« »Ich brauche kein Andenken an Kolumbien. Ich will mich nicht mehr an Kolumbien erinnern«, sagte Cristina. »Du darfst nicht so denken. Kolumbien ist nicht Schuld daran, dass einige Leute dich entführt haben. Das Volk leidet unter der Guerrilla genauso wie du darunter gelitten hast. Die Leute kön- nen nichts dafür. Man darf sie nicht bestrafen, indem man ihnen die Schuld daran gibt.« »Vermutlich hast du Recht. Aber würdest du so denken, wenn man dich entführt hätte?« »Ich weiß nicht. Ich hoffe schon.« »Ja, du hoffst...« Wir unterhielten uns noch eine Weile über Kolumbien und über das, was wir hier erlebt hatten. Danach gingen wir ins Hotel zu- rück. Am nächsten Morgen mussten wir früh aufstehen, und eini- ge waren bereits müde. Alle zogen sich in ihre Zimmer zurück. Deven und ich blieben noch eine Weile im Innenhof des Hotels sitzen, da es im Zimmer ziemlich warm war. Im Rucksack hatte ich noch ein wenig Mari- huana, und ich zeigte Deven, was man mit den Seiten des Southamerican Handbook alles machen konnte. Deven hatte noch zwei Bier besorgt und wir genossen das Punto Rojo.
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»Nun braucht ihr mich nicht mehr. Ab jetzt seid ihr auf euch selber angewiesen«, sagte ich zu Deven. »Ja, ich weiß. Mach dir keine Sorgen.« »Passt du ein wenig auf die anderen auf ? Ich möchte nicht, dass euch in der letzten Woche noch was passiert.« »Mach ich. Du kannst beruhigt sein.« »Cristina spricht perfekt Spanisch. Wenn ihr also Probleme mit der Sprache habt, dann kann sie euch helfen.« »Alles klar.« Wir plauderten noch etwa eine Stunde, bis das Marihuana uns so breit gemacht hatte, dass wir es nur noch bis ins Bett schafften. Am nächsten Morgen standen wir früh auf, frühstückten und fuhren zum Flughafen. Fabio war nicht gekommen, obwohl er es gestern versprochen hatte. Da ich keine Benjamin Franklins mehr hatte, mussten wir diesmal zwei Taxis nehmen. Am Flughafen angekommen, begleitete ich meine Freunde bis zum Einchecken. Danach mussten wir Abschied voneinander neh- men. Wir tauschten noch schnell unsere Adressen aus, danach war Zeit zu gehen. Der Abschied fiel eigentlich allen ziemlich leicht, da sie sich freuten, endlich wieder nach Hause zu kommen. Aber dennoch flossen einige Tränen. Ich schaute ihnen noch nach, bis sie definitiv hinter einer gro- ßen Tür verschwunden waren. Ein großer Stein war mir vom Herzen gefallen, und ich fühlte mich erleichtert. Ich wusste, dass sie nun in Sicherheit waren und dass ihnen nichts mehr passieren konnte. Wieder so ein kleiner Kreis, der sich geschlossen hatte. Eigentlich ein ziemlich großer.
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Zurück nach Medellín
Ich verließ den Flughafen und wollte gleich nach Medellín fahren. Draußen kam mir Fabio entgegen. »Sind sie schon weg?« fragte er. »Ja. Woher wusstest du, dass wir hier sind?« »Ich ging ins Hotel, doch ihr wart schon weg. Die Frau vom Hotel sagte mir, dass ihr zum Flughafen gefahren seid.« »Du bist ja mittlerweile direkt ein Spezialist im Leute-Aufspü- ren.« »Nur wenn ich Lust habe. Was machst du nun? Bleibst du noch eine Weile in Cartagena?« »Nein. Ich will zu Manuela nach Medellín.« »Na dann, Alter, pass auf dich auf.« »Du auch, mein Freund.« Fabio umarmte mich kräftig, wie damals Fredo. Danach ging er, ohne sich umzudrehen. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, dass er eine kleine Träne im Gesicht hatte. Auch ich war dem Weinen nahe. Am Straßenrand stand ein Taxi und ich fuhr gleich zum Termi- nal de Transportes. Der nächste Bus nach Medellín fuhr um zehn Uhr. Ich erinnerte mich, dass Cristina damals auch um zehn Uhr nach Medellín gefahren war. Der gleiche Bus also, aus dem meine Freunde entführt wurden. Wieder ein Zufall, oder musste das so sein? Musste ich ausgerechnet mit diesem Bus fahren, um irgend- wie etwas nachzuholen, was ich verpasst hatte? Ich wusste es nicht,
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aber eine innere Stimme sagte mir, dass ich unbedingt diesen Bus nehmen sollte. Ich kaufte eine Zeitung und setzte mich in den Bus. Diesmal stand nichts Interessantes in der Zeitung. Im Sportteil stand, dass Atlético National - im Halbfinale der Copa Libertadores - ausge- schieden war. Schade, dachte ich. In der Crónica regional jedoch stand eine kleine aber interessante Nachricht. In Valledupar war ein Mann auf offener Straße von der Guerrilla erschossen worden. Der Name des Toten sagte mir zwar nichts, aber ich erkannte ihn auf dem Foto. Der Kellner von Las Acacias. Der mit dem Rindfleisch-Señor. Seltsam. Er wurde von der Guerrilla erschossen. Hatte er sich tatsächlich mit der Guerrilla angelegt, dass die ihn einfach auf der Straße erschossen haben? Das sah auf jeden Fall ganz nach einer Abrechnung aus. War es sogar er, der die Guerrilleros an die Paramilitares verpfiffen hatte? Konnte gut sein, da er die ganzen Verhandlungen zwischen Don Enrique und mir mitbekommen hatte. Wie dem auch sei, nun war er tot. Die Reise nach Medellín verlief ziemlich ruhig. Als ich in der Nähe von Montería war, musste ich wieder an die Entführung meiner Freunde denken. Hier passierte es also. Ich schaute aus dem Fen- ster und versuchte mir vorzustellen, an welcher Stelle der Bus an- gehalten wurde. Danach muss ich eingeschlafen sein. Als ich in Medellín ankam, war es bereits Mitternacht. Ich nahm ein Taxi und fuhr ins Hotel Floris. Vor dem Hotel standen die Jungs. Sie erkannten mich sofort und luden mich gleich zu einem Drink ein. So gegen ein Uhr ging ich dann schlafen.
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Am nächsten Morgen stand ich früh auf und rief gleich Manuela an. Ich sagte ihr aber nicht, dass ich schon in Medellín sei, es sollte nämlich eine Überraschung werden. Manuela arbeitete entweder von zwölf bis vier Uhr, oder von vier bis acht Uhr. Ich wusste, dass sie heute bis vier Uhr arbeiten würde und wollte sie in der Bibliothek überraschen. Ich duschte und wollte frühstücken gehen. Beim Runterlaufen bemerkte ich, dass Luz nicht mehr da war. Ihr Zimmer war leer. Ich fragte Edilma, die Frau an der Rezeption, was mit Luz los sei. »He Edilma. Was ist mit Luz? Ist sie weg?« »Ja. Sie ist vor zwei Wochen ausgezogen.« »Und wo ging sie hin?« »Keine Ahnung. Eines Tages hat sie plötzlich ihre Sachen ge- packt und ist gegangen.« »Hat sie dir denn nichts gesagt? Ich meine, hat sie sich nicht verabschiedet?« »Doch. Aber sie hat mir nicht gesagt, wo sie hinwollte.« »Auch nicht, was sie vor hatte?« »Sie hat etwas von einem Job gesagt.« »Von einem Job?« »Ja. Sie hat angeblich einen Job gefunden.« »Weißt du wo?« »Keine Ahnung. Ich sagte ja, dass sie ganz plötzlich gegangen ist.« Hatte Luz tatsächlich einen Job gefunden? Ich hoffte es für sie. Somit hätte sie endlich mit dem Nuttenjob aufhören können. Doch irgendwie vermisste ich sie trotzdem. Ich hatte mich schon dar-
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auf gefreut, mit ihr abends Marihuana zu rauchen und dummes Zeug zu reden. Wen sollte ich denn jetzt hochnehmen? Na ja. Ich verbrachte den Rest des Morgens in der Stadt. Im Parque Bolívar setzte ich mich auf eine Bank und schaute den Leuten zu. Im Parque Bolívar waren immer viele Leute. Maler, Zauberer, Stra- ßenverkäufer, Schuhputzer, Clowns. Da gab es immer viel zu se- hen. Auf meiner Bank lag eine Zeitung, die gestrige Ausgabe des Colombiano. Ich blätterte ein wenig darin. Da fiel mir in der Ru- brik Bekanntschaften mein Inserat auf. Das hatte ich ja völlig ver- gessen. Ich musste schmunzeln. Marlon Brando... so ein Quatsch. Ich fragte mich, ob jemand auf das Inserat geantwortet hatte. Nun nützte es mir zwar nichts mehr, doch die Neugier war den- noch groß. Aber wie sollte ich es erfahren? Die Post war ja in Valledupar? Was konnte ich nur machen? Ich wollte mich erkun- digen und suchte deshalb eine Poststelle in Medellín. In der Calle 51 wurde ich endlich fündig. »Guten Tag«, begrüßte ich die Dame. »Guten Tag. Womit kann ich ihnen helfen?« »Ich glaube, dass ich in Valledupar einen Brief auf Apartado Aéreo bekommen habe. Ich bin mir allerdings nicht ganz sicher. Ist es möglich, in Valledupar nachzufragen, ob etwas für mich angekommen ist? Und wenn ja, ist es dann möglich diesen Brief nach Medellín zu schicken? Ich kann nämlich unmöglich nach Valledupar reisen.« »Das geht schon. Aber sie müssten die Versandkosten dafür über- nehmen.« »Und wieviel ist das?«
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»Das macht für jeden Brief 500 Pesos.« »Das ist kein Problem. Können sie bitte nachfragen, ob etwas für mich da ist?« »Gerne. Wie ist ihr Name?« »Marlon Brando.« »Ja ja, und ich bin Brigitte Bardot.« »Nein, im Ernst. Mein Name ist Marlon Brando.« »Zeigen sie mir bitte ihren Ausweis?« Ich nahm meine gefälschte Fotokopie und gab sie ihr. Sie schau- te sie genau an und überlegte eine Weile. Danach schaute sie mich wieder an. »Das ist aber nur eine Fotokopie. Ich brauche ein Original.« »Ich habe aber nur diese Fotokopie bei mir. Das Original ist im Hotel.« »Tut mir leid. Dann müssen sie halt ihren Pass holen.« »Ach bitte. Seien sie so lieb...« »Tut mir leid.« Ich nahm eine 10.000 Pesos Note und schob sie unauffällig un- ter ihrem Schalter durch. »Geht das auch?« fragte ich frech. Die Dame nahm das Geld und schaute es an. Danach schaute sie mich an. Anschließend schaute sie erneut das Geld an. Schließ- lich schaute sie wieder mich an. »Auf diesem Foto hatten sie aber lange Haare«, meinte sie iro- nisch. Die Dame hatte auch noch Humor. Auf der Geldnote war näm- lich eine Indiofrau mit langen Haaren abgebildet. »Ja, ich weiß. Aber kurzes Haar steht mir besser, oder?«
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»Viel besser.«
»Also, wann kann ich meinen Brief abholen?«
»Ungefähr in einer Woche.«
»Danke.«
»Auf Wiedersehen, Mister Brando.«
»Au revoir, Madame Bardot.«
Ich sagte ja, dass man in Kolumbien mit Geld alles erreichen
kann. So, nun musste ich mich nur noch eine Woche gedulden, um zu wissen, ob mir tatsächlich jemand geantwortet hatte. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich im Zentrum. So gegen vier Uhr ging ich dann zur Universität. Ich betrat die Bibliothek und lief zu Manuelas Arbeitsplatz. Manuela war fleißig bei der Arbeit und hatte mich gar nicht bemerkt. Ihre Arbeitskollegin, die sie ablösen sollte, sah mich aber und gab Manuela prompt einen Stups. Manuela schaute überrascht auf. Als sie mich sah, sprang sie gleich hoch und rannte zu mir. »Wann bist du angekommen?«
»Gestern Nacht.«
»Und wieso hast du heute morgen gesagt, du wärst nicht in
Medellín?« »Ich wollte dich überraschen.« »Das hast du auch.« »Hast du schon gefragt, ob du eine Woche frei nehmen kannst?« »Nein, noch nicht. Ich wusste ja nicht, wann du kommen wür- dest.« »Frag doch mal, ob du nächste Woche freinehmen kannst.«
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»So kurzfristig wird es schwierig sein. Ich muss zuerst jemanden finden, der mich in meiner Abwesenheit ersetzen kann.« »Das heißt frühestens übernächste Woche, oder ?« »Falls ich jemanden finde, der mich ersetzen kann.« »Was ist mit deiner Kollegin? Sie kann ja für eine Woche die volle Schicht übernehmen und verdient dabei auch noch doppelt.« »Ich muss sie fragen.« »Frag sie doch jetzt. Vielleicht klappt es doch noch mit nächster Woche.« »Nein, das geht nicht. Ich müsste es auch dem Chef sagen. Das ist zu knapp.« »Schade. Dann eben übernächste Woche.« »Kannst du denn nicht noch eine Woche warten?« »Doch, kann ich schon. Ich wollte halt ans Meer fahren, dar- um.« »Wir können ja übers Wochenende verreisen.« Ich stellte mich also darauf ein, eine weitere Woche in Medellín zu verbringen. So schlimm war es ja auch wieder nicht. Den gan- zen Tag mit Manuela und nachts mit den Jungs auf der Straße. Das konnte man noch überleben, dachte ich. Manuela und ich verbrachten das Wochenende in Santa Fe de Antioquia, ein Dörfchen oberhalb von Medellín. Am Montag fragte dann Manuela ihre Arbeitskollegin, ob sie eine Woche frei neh- men könnte. Ihre Kollegin hatte nichts dagegen, für Manuela eine Woche einzuspringen. Der Chef war ebenfalls einverstanden. Ma- nuela war so froh darüber, dass sie mich gleich anrief und mir die Neuigkeit berichtete.
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Nun hatte ich die Gewissheit, dass wir nächste Woche ans Meer fahren würden. Ich nahm mein Handbook und suchte mir ein geeignetes Reiseziel aus. Kolumbien ist das einzige Land in Südamerika, das sowohl eine atlantische als auch eine pazifische Küste hat. Die atlantische Kü- ste kannte ich bereits. Nun wollte ich also die pazifische Küste sehen. Buenaventura schien mir eine gute Wahl, zumal die Busfahrt dorthin nur etwa neun Stunden dauern würde. Einen Katzen- sprung, für kolumbianische Verhältnisse. Die Busse nach Buenaventura fuhren immer zweimal täglich. Der eine fuhr tagsüber, der andere fuhr nachts. Da ich so schnell wie möglich ans Meer wollte, entschied ich mich, gleich am Samstagabend zu fahren. Manuela arbeitete samstags immer bis vier Uhr, und der Bus würde erst um neun Uhr fahren. Perfekt, dachte ich. Durch die Nachtfahrt würden wir einen Tag gewin- nen, den wir länger am Meer genießen könnten. Somit würden wir fast ganze acht Tage am Meer verbringen können, das schien mir ideal. Als ich mich abends mit Manuela traf, wollte ich ihr meine Pläne erklären. »Was hältst du von Buenaventura? Warst du schon mal dort?« fragte ich sie »Buenaventura? Nein, dort war ich noch nie. Eine super Idee.« »Die Fahrt dorthin dauert etwa neun Stunden. Wenn wir also gleich am Samstagabend fahren, dann wären wir am Sonntagmor- gen da.«
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»Am Samstagabend? Ach, am Samstag wollte ich aufs Vallenato Konzert auf der Plaza San Antonio. Können wir nicht erst am Sonntag fahren?« »Am Sonntag? Das bedeutet einen Tag weniger am Meer. Muss das sein?« »Ich wollte doch so gerne aufs Vallenato Konzert. Du nicht?« »Nein. Ich will ans Meer und zwar schnell. Ich habe die Nase voll von der Stadt. Ist denn dein Konzert so wichtig? Ich dachte, du wolltest eine Woche mit mir alleine sein.« »Ja, sicher. Aber auf diesen einen Tag mehr oder weniger, kommt es doch nicht an, oder?« »Für mich schon. Ich hatte mich schon so darauf gefreut, dass wir eine Woche am Meer verbringen würden. Nun muss ich noch einen weiteren Tag warten, nur wegen diesem Konzert. Und Vallenato hängt mir eh schon fast aus den Ohren.« »Aber das Konzert ist gratis. Es werden sicher sehr viele Leute da sein, und die Stimmung wird super. Willst du wirklich nicht noch einen Tag warten?« »Ehrlich gesagt nicht. Und du? Willst du wirklich nicht fahren? Mach es doch mir zuliebe.« »Du machst es mir aber schwer.« »Bitte...« »Also gut. Du hast gewonnen.« »Du wirst es nicht bereuen.« »Bist du sicher?« »Ganz sicher.« »Na ja. Lieber fahren wir am Samstag, als dass du hier bleibst und eine schlechte Laune hast.«
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»Das stimmt auch.« Ich wollte auf keinen Fall dickköpfig sein, aber ich hatte tat- sächlich die Nase voll von der Stadt. Und die letzten Wochen wa- ren dermaßen anstrengend gewesen, dass ein einziger Tag mehr - für mich - eine Ewigkeit bedeutet hätte. Doch nun hatte ich es ja geschafft. Den Rest der Woche verbrachte ich eigentlich ziemlich ruhig. Ich zählte zwar die Tage bis Samstag, doch ich genoss trotzdem mei- nen Aufenthalt in Medellín. Tagsüber war ich mit Manuela zu- sammen, und nachts verbrachte ich noch einige Stunden mit mei- nen Freunden von Las Copitas. Am Freitagabend hatte ich mich wie gewöhnlich mit Manuela verabredet. Ich verließ das Hotel kurz vor acht Uhr, um in die Universität zu fahren. Draußen standen bereits die Jungs. Freitags trafen sie sich immer früher, um das bevorstehende Wochenende in seiner vollen Länge zu genießen. Freitags blieben sie auch im- mer bis sehr spät draußen und tranken dabei auch gerne einen zuviel. »He Mono?« rief mich Andrés. »Ja?« »Kannst du uns 2.000 Pesos schenken?« »2.000 Pesos? Wofür denn?« »Na ja...Wir möchten eine Flasche Whisky kaufen, doch uns feh- len noch 2.000 Pesos.« »Wieviel kostet denn eine Flasche Whisky?« »4.500 Pesos.«
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»Das heißt, dass ich euch fast eine halbe Flasche spendieren soll?« ich lächelte und gab ihm das Geld. »Danke Mono.« »Schon gut, Jungs.« »Warte. Mein Bruder geht gleich die Flasche kaufen, dann kannst du mit uns einen Schluck trinken.« »Nein danke. Ich bin mit meiner Freundin verabredet, sonst kom- me ich noch zu spät.« »Eine Freundin lässt man nie warten. Vor allem, wenn man eine hat.« »Du sagst es. Also, machts gut.« »Du auch, Mono. Wir lassen dir einen Schluck übrig.« »Das bezweifle ich.« »Wir auch...« Ich nahm ein Taxi und fuhr zu Manuela. Wir verbrachten den Abend im Spielkasino. Manuelas Bruder war der Sicherheitschef des Spielkasinos Mall Place Poblado. Er erklärte mir alle Sicherheitsvorkehrungen, die das Kasino ge- troffen hatte. Die Überwachungskameras, die Metalldetektoren und noch vieles mehr. Danach schaute ich ein wenig den spielenden Leuten zu. Da ich von Natur aus ein Zocker bin, konnte ich der Versu- chung nicht widerstehen und ließ mich zum Spielen animieren. Zuerst versuchte ich mein Glück am Black Jack Tisch, doch ich ließ dort mindestens 30.000 Pesos liegen. Danach versuchte ich es am Roulett Tisch. Ich hatte mal von einer Strategie gelesen, mit der man beim Roulettspielen sicher gewinnen konnte. Diese Strategie ermög-
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lichte allerdings keine großen Gewinne, benötigte jedoch einen großen Einsatz an Geld und Zeit. In Europa hatte ich diese Stra- tegie nicht testen können, weil ich nicht die dazu benötigte Menge Geld besaß. Doch hier in Kolumbien wo die Mindesteinsätze nied- riger waren konnte ich es ja mal probieren. Die Strategie besteht darin, einen kleinen Startbetrag auf schwarz und einen kleinen Startbetrag auf rot zu setzen. Wenn eine rote Zahl gewinnt, dann muss man den schwarzen Einsatz verdop- peln. Wenn hingegen eine schwarze Zahl gewinnt, wird der rote Einsatz verdoppelt. Somit gewinnt man bei jeder Ziehung den Startbetrag einer Farbe. Man muss allerdings genügend Geld ha- ben, um eine vier- oder fünffache Verdoppelung des Einsatzes zu finanzieren, falls vier oder fünf Mal hintereinander die gleiche Farbe gewinnt. War mir also klar, dass ich lange hätte spielen müssen, und dass ich nicht unbedingt viel hätte gewinnen können. Der Mindestein- satz für rot oder schwarz, war 2.000 Pesos. Ich brauchte also, an- genommen ich müsste sechsmal verdoppeln, 126.000 Pesos. Sechs- mal verdoppeln bedeutet, dass sechsmal hintereinander die glei- che Farbe gewinnen würde und dies schien mir wirklich sehr un- wahrscheinlich. Das Ganze galt sowohl für schwarz, als auch für rot. Also brauchte ich mindestens 252.000 Pesos Startgeld. Dies war für kolumbianische Verhältnisse zwar sehr viel Geld, doch ich wollte es unbedingt wissen. Ich sagte ja, dass ich eine Zockernatur bin. Ich wechselte also 300.000 Pesos in Chips und setzte mich an den Roulett Tisch. Zuerst setzte ich 2.000 Pesos auf rot und 2.000 Pesos auf schwarz, dies war der Startbetrag. Der Croupier schaute
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mich überrascht an. Vermutlich dachte er, ich wäre nicht ganz dicht im Kopf. Denn wenn ich sowohl auf rot, als auch auf schwarz setzen würde, dann müsste ich gezwungenermaßen einmal gewin- nen und einmal verlieren. Das dachte er, aber er wusste ja nicht, was ich vorhatte. Die erste Zahl, die gezogen wurde, war schwarz. Ich nahm also den Gewinn von schwarz und setzte anschließend wieder den Start- betrag von 2.000 Pesos drauf. Den Betrag auf rot hingegen, ver- doppelte ich auf 4.000 Pesos. Der Croupier schaute mich wieder überrascht an, doch diesmal war sein Gesichtsausdruck etwas an- ders. Die nächste Zahl war wieder schwarz. Ich nahm also erneut den Gewinn von schwarz, setzte den Startbetrag von 2.000 Pesos drauf und verdoppelte den roten Einsatz auf 8.000 Pesos. Diesmal schien der Croupier allmählich zu verstehen. Danach wurde endlich eine rote Zahl gedreht. Ich strich den roten Gewinn ein und startete diesmal wieder mit dem Startbetrag von 2.000 Pesos. Auf schwarz musste ich diesmal verdoppeln, das hieß 4.000 Pesos. Das ganze wiederholte sich ständig und nach einer Stunde hatte ich bereits 60.000 Pesos gewonnen. Kein Riesenbetrag, doch im- merhin. Natürlich hatte ich auch das Glück, dass eine Farbe nie mehr als fünfmal hintereinander gezogen wurde. Ansonsten hätte ich nicht genügend Geld zum Verdoppeln gehabt. Einmal gewann sogar die Zahl Null und die ist ja bekanntlich grün. Dies bedeutete für mich, dass ich in dieser Runde halt beide Einsätze verdoppeln musste, sowohl rot als auch schwarz. Doch
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schon beim nächsten Dreh konnte ich wieder einen Gewinn ein- streichen. Ich spielte etwas mehr als zwei Stunden und gewann dabei 150.000 Pesos. Genug, um morgen die Busfahrt nach Buenaventura zu bezahlen und dort eine Woche Hotel zu finanzieren. Hatte sich also doch gelohnt, oder? Ich hatte zwar nur die Hälfte meines Startkapitals gewonnen, doch ich wusste schon zu Beginn, dass man damit nicht sehr viel Geld gewinnen konnte. Der Croupier hatte sich mit der Zeit auch schon daran gewöhnt, mir nach jeder Runde einige Chips rüber zu schieben. Sein über- raschter Blick wurde auch immer gleichgültiger, bis er mich zum Schluss schon gar nicht mehr beachtete. So gegen Mitternacht verließen Manuela und ich dann das Kasi- no. Diesmal konnte ich ohne Probleme gehen und meinen Ge- winn mitnehmen. Nicht wie damals auf der Straße, als die Tassen- schieber mir noch das letzte Hemd abziehen wollten. An der Garderobe sah ich, wie eine Frau fleißig den Leuten in ihre Jacken half. Es war Luz. Ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen und verließ daher schnell das Kasino. Luz hatte also doch einen Job gefunden. Ich freute mich für sie. Aber dass sie ausgerechnet in diesem Kasino arbeitete, überrasch- te mich trotzdem ein wenig. Ich meine, Medellín ist so groß und sie arbeitete ausgerechnet in diesem Kasino. War das Zufall, oder musste ich sie wiedersehen? Draußen nahmen wir ein Taxi und fuhren zu Manuela, anschlie- ßend fuhr ich ins Hotel.
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Die Jungs waren noch tüchtig am festen. Sie hatten mir tatsäch- lich ein wenig Whisky übriggelassen, kaum zu glauben. Und Punto Rojo hatten sie auch noch, einfach genial. Ich setzte mich auf die Treppe vor dem Saunaeingang und genoss ein wenig Marihuana. »Gehst du morgen auch aufs Vallenato Konzert, hier auf der Plaza San Antonio?« fragte mich Andrés. »Nein. Ich fahre morgen abend mit meiner Freundin nach Buenaventura. Wir gehen eine Woche ans Meer.« »Buenaventura ist ok. Dort war ich auch schon mal.« »Kannst du mir einen schönen Strand empfehlen?« »Von Buenaventura aus kann man mit dem Boot auf kleinere Inseln fahren. Eigentlich sind es keine Inseln, sondern Strände, die sich auf dem Festland befinden. Doch man kann sie nur mit dem Boot erreichen, darum redet man gewöhnlich von Inseln.« »Und wie heißen diese Inseln?« »Ich war schon auf Juanchaco. Da gibt es aber noch La Bocana, oder Ladrilleros.« Während Andrés mir von den Stränden erzählte, bemerkte ich an seinem Arm meine Uhr. Meine schwarze Swatch, die ich bei den Tassenschiebern verloren hatte. Warum hatte sie jetzt plötz- lich Andrés an? Was sollte das? Ich wollte ihn fragen, doch ich fand den Mut nicht. Ich wusste nicht genau, was dies zu bedeuten hatte. Wir plauderten noch eine Weile, doch ich musste immer nur an meine Uhr denken. Nachdem ich die Whiskyflasche geleert und genügend Punto Rojo inhaliert hatte, fand ich endlich den Mut, ihn zu fragen: »He Andrés. Was machst du eigentlich mit meiner Uhr am Arm?« 321
Ein Riesengelächter ging los. Alle krümmten sich vor lachen und konnten sich fast nicht mehr erholen. Vermutlich hatten sie zuviel Marihuana geraucht und mussten deshalb so lachen, ich konnte aber nichts Lustiges daran erkennen. »Was gibts da zu lachen?« »Wir fragten uns schon die ganze Zeit, wie lange du noch brauchst, bis du es merkst«, sagte einer der Jungs. »Bis ich was merke?« »Na, dass Andrés deine Uhr hat, Mann. Was denn sonst?« sagte Andrés Bruder. »Und woher hast du sie?« fragte ich Andrés. »Ich habe sie heute abend für dich besorgt, weil du ein guter Kumpel bist.« »Für mich?« »Ja, für dich. Hier, nimm sie. Sie gehört dir.« Andrés zog die Uhr ab und gab sie mir. Ich nahm sie in meine Finger und schaute sie an. Die hatte ich schon ganz vergessen. Mittlerweile hatte ich mich schon dermaßen daran gewöhnt, ohne Uhr zu sein, dass sie mir richtig fremd vorkam. Die Überraschung war allerdings riesig. Ich hätte niemals ge- dacht, dass Andrés mir meine Uhr wieder besorgen könnte. Der Typ war voller Überraschungen und ein echter Kumpel noch dazu. »Vielen Dank, Mann. Das hätte ich nicht erwartet.«
»Schon gut, Mono.«
»Ich hatte sie schon längst vergessen.«
»Ich aber nicht, wie du siehst.«
»Gefällt sie dir?«
»Und wie Mann. Das ist eine Swatch. Von denen gibts hier nicht
viele. Eine Chimba.«
»So so. Und du durftest sie eine ganze Weile tragen und damit angeben, nicht wahr?« »Na klar.« »Hier, ich schenk sie dir.« »Mir?« »Ja, dir.« »Das kann ich nicht annehmen, Mann.« »Doch, das kannst du. Nimm, kommt von Herzen.« »He, danke Mann. Das wäre nicht nötig gewesen. Chimba Mann.« »Das ist schon ok. Ich hab mich bei euch immer wohl gefühlt. Siehs als kleines Dankeschön.« »Ein Scheissglück hast du wieder, Mann«, meinte Andrés Bru- der. »Qué Chimba«, meinte einer der anderen Jungs. Chimba. Dieses Wort hatte ich schon oft gehört, jedoch immer nur hier in Medellín. Musste also etwas typisch paisa sein, dachte ich, doch ich war zu müde, um nach dessen Bedeutung zu fragen. Ich verabschiedete mich von den Jungs und ging schlafen. Bevor ich mich schlafen legte, musste ich aber noch etwas erle- digen. Ich musste mein Punto Rojo verstecken, denn nach Buenaventura wollte ich es nicht mitnehmen. Ich hatte keinen Bock darauf, mit Manuela in irgend eine Polizeirazzia zu kommen und mit Marihuana erwischt zu werden. Und eine ganze Woche ohne zu rauchen, würde mir eh gut tun, zumal ich in Manuelas Anwe- senheit überhaupt keine Lust auf Gras verspürte. Ich versteckte also das wenige Gras was mir noch übrig geblieben war unter der Decke und legte mich schlafen.
Ich legte mich aufs Bett und musste immer noch an meine Uhr denken. Die hatte ich schon vollkommen vergessen und nun tauch- te sie wieder auf. Merkwürdig. Das war wieder so ein kleiner Kreis, der sich geschlossen hatte. Wieder ein Erlebnis, das sich irgendwie wiederholte und zum Abschluss kam. Mittlerweile hatte ich mich an solche Boomerang- Effekte gewöhnt und ich sah sie sogar als selbstverständlich an. Doch was wäre als nächstes passiert? Viel blieb ja nicht mehr üb- rig.
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Juli
Und es hat BOOM gemacht
Am nächsten Tag, es war Samstag der 1. Juli, fuhren Manuela und ich nach Buenaventura. Der Bus fuhr um neun Uhr abends von Medellín los und sollte am nächsten Morgen um sechs Uhr in Buenaventura ankommen. Wir schliefen praktisch die ganze Nacht durch und wachten erst auf, als der Bus kurz vor Buenaventura war. Draußen wurde es langsam hell und auf der Straße konnte man schon die ersten Frühaufsteher sehen. In Buenaventura angekommen, erkundigte ich mich gleich, ob es Boote gab, die auf diese sogenannten Inseln fuhren. Wir ka- men mit einem älteren Mann ins Geschäft, der uns auch noch ein günstiges Hotel auf La Bocana vermitteln konnte. La Bocana lag nur etwa eine halbe Stunde Bootsfahrt entfernt. Dort angekommen, bezogen wir zuerst unser Zimmer und gin- gen anschließend frühstücken. Wir gingen in ein Strandcafé und setzten uns an die Bar. Auch der Dorfpolizist von La Bocana saß da und trank seinen Kaffee. Wir begrüßten ihn freundlich und kamen ins Gespräch. »Seid ihr soeben angekommen?« fragte uns der Polizist. »Ja«, antwortete Manuela. »Woher seid ihr gekommen?« »Aus Medellín.« »Aus Medellín? Dort hat es gestern abend mächtig gekracht.« »Was meinen sie damit?« »Habt ihr denn nichts darüber gehört?«
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»Worüber? Wir sind die ganze Nacht Bus gefahren und haben nichts gehört.« »Da war ein Bombenattentat während eines Konzerts. Gab vie- le Tote und Verletzte.« »Das ist ja schrecklich.« »Wissen sie, um welches Konzert es sich handelte?« fragte ich den Polizisten. »Ich weiß nicht mehr genau, aber es steht hier in der Zeitung.« »Darf ich mal lesen.« »Ja, bitte.« Ich nahm die Zeitung, und das erste was ich sah, war das Foto. Ein fürchterliches Szenario. Man sah Leute auf dem Boden, vol- ler Blut. Andere versuchten zu fliehen oder zu helfen. Anschlie- ßend las ich die Schlagzeile. Eine Bombe beim Vallenato Konzert auf der Plaza San Antonio in Medellín fordert mindestens 30 Tote und hunderte von Verletzten. Im Artikel stand, dass Unbekannte zehn Kilo Dynamit in der Skulptur El Pájaro versteckt hatten, um es während des Konzerts in die Luft zu jagen. Die Leute, die sich unmittelbar in der Nähe, oder sogar auf der Skulptur befanden, wurden in Stücke zerrissen und meterweit durch die Luft geschleudert. Die Attentäter seien zwar noch unbekannt, doch als Motiv vermutet man einen Rache- akt zwischen verfeindeten Drogenkartellen. Mir fror das Blut in den Adern. Ausgerechnet dieses Konzert. Wären wir nicht nach Buenaventura gefahren, dann wären wir mit höchster Wahrscheinlichkeit auch auf dieses Konzert gegangen.
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Und Manuela hatte noch versucht, mich zu überreden. Welch ein Glück! Oder musste es so sein? Nach dieser Nachricht wollte Manuela sofort zu Hause anrufen. Sie wusste, dass einige aus ihrer Familie auf das Konzert wollten. Wir gingen zur einzigen Telecom von La Bocana und telefonier- ten nach Medellín. Während Manuela mit ihrer Mutter redete, las ich den Artikel zu Ende. Unfassbar, was da passiert war. Ich erinnerte mich an Edi und an seine Geschichte mit dem Bus, den er verpasst hatte. Edi hatte damals den Bus verpasst, weil das Taxi mehrere Probleme hatte. Doch genau diese Tatsache hatte ihm das Leben gerettet. Das war sein Beispiel von Lebenszeichen gewesen. Spätestens jetzt hatte auch ich mein Erlebnis mit Lebenszeichen. Ich wollte nämlich nicht mehr in Medellín bleiben, sondern ans Meer fahren. Die Gründe dafür lagen bei der Entführung meiner Freunde und den anstrengenden Wochen, die hinter mir lagen. Manuela wollte zwar unbedingt zum Konzert, doch ich wollte mich nicht dazu überreden lassen. Irgendwie wehrte sich mein Verstand dagegen. Nun wusste ich wieso. Was mich auch noch nachdenklich machte, war die Dynamik des Attentats. Man hatte zehn Kilo Dynamit ausgerechnet in El Pájaro gesteckt. Die Skulptur, die mir besonders gefiel. Ich wäre nämlich mit Sicherheit in der Nähe dieser Skulptur gestanden, wenn nicht sogar drauf gesessen. Zufall, oder nicht? Verrückt, was da passiert war. Ich konnte es immer noch nicht fassen. Manuela hatte mittlerweile mit ihrer Mutter telefoniert und
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sich beruhigt. Ihrer Familie war nichts passiert, sie befanden sich nämlich alle auf der anderen Seite der Plaza San Antonio. Manuela und ich verbrachten dennoch eine schöne Woche in La Bocana. Jeden Tag kauften wir die Zeitung, um nähere Details über das Attentat zu erfahren. Gegen Ende der Woche war die Anzahl der Toten bereits auf 40 gestiegen und die der Verletzten auf 200. Ich fragte mich, ob die Jungs von Las Copitas auch unter den Opfern waren. Sie wollten doch auch zum Konzert, so hatte zu- mindest Andrés gesagt. Hoffentlich ist ihnen nichts passiert, dachte ich. Doch spätestens am Sonntag abend, hätte ich es erfahren. In La Bocana fand ich auch endlich die Zeit und die Ruhe, die unerträgliche Leichtigkeit des Seins zu lesen. Manuela hatte mir das Buch geschenkt, nachdem wir uns kennengelernt hatten, doch ich war noch nicht dazu gekommen, es zu lesen. Einerseits, weil ich mit der Entführung meiner Freunde genug um die Ohren ge- habt hatte, andererseits, weil mein Spanisch noch nicht so gut war, um ein Buch alleine zu lesen. Hier hatte ich aber mit Manuela eine kompetente Lesehilfe dabei, die mir bei Unklarheiten helfen konnte. Ich hatte kaum die erste Seite des Buches gelesen, da kam auch schon die erste Überraschung. Milan Kundera erwähnt eine Theorie von Friedrich Nietzsche, die er als ewige Rückkehr bezeichnete. Nietzsche behauptete, dass das Leben ein ewiges Wiederholen von Geschehnissen sei. Alles, was man im Leben erlebt hat, würde sich irgendwann wiederholen, wie eine ewige Rückkehr eben. Das war doch genau das, was mir schon seit einigen Monaten passierte, oder? Eine Rückkehr bereits erlebter Situationen. Oder
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hatte ich es erst in den letzten Monaten wirklich wahrgenommen? Vielleicht war ich schon das ganze Leben ein Opfer der ewigen Rückkehr gewesen und hatte es nur noch nie bemerkt. Wie dem auch sei, das Buch versprach interessant zu werden. Auch nach dem ersten Kapitel erkannte ich eine Parallele zu meiner Geschichte. Die zwei Darsteller des Buches - Thomas und Teresa - hatten sich zufällig kennengelernt. Thomas arbeitete als Arzt in einem Prager Spital. Eines Tages sollte sein Chef zufällig in eine kleine Stadt fahren, um dort einer Operation zu assistie- ren. Doch am Abend vor der Abreise bekam der Chef zufällig einen Hexenschuss, so dass Thomas für ihn einspringen musste. In der kleinen Stadt gab es fünf Hotels, doch Thomas landete zufällig in jenem Hotel, in dem Teresa arbeitete. Am Abend nach der Operation hatte Thomas zufällig noch Zeit, ein Bier zu trin- ken, bevor er zum Zug musste. Teresa bediente an diesem Abend zufällig den Tisch, an dem Thomas saß. Somit kamen die beiden ins Gespräch und lernten sich kennen. Laut Milan Kundera mussten sich also sechs Zufälle ereignen, damit sich Thomas und Teresa kennenlernen konnten. Wie bei Manuela und mir. Auch wir lernten uns erst kennen, als sich eine ganze Reihe von Zufällen ereignete. Doch laut Edi waren dies keine Zufälle, sondern Dinge, die passieren mussten, weil sie ei- nen bestimmten Sinn hatten. Ich glaubte langsam auch daran, dass es sich nicht um Zufälle handelte. Ich musste Manuela kennenler- nen, so wie Thomas Teresa kennenlernen musste. Tja, wenn Mi- lan nur wüsste. Das ganze Buch erwähnte immer wieder die Zufälle des Lebens. Es schilderte die unmöglichsten Situationen, die sich im alltägli-
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chen Leben ereignen können, nur weil eine Reihe von Zufällen es so will. Von Leuten, die solche Zufälle gar nicht wahrnehmen und am Leben vorbeischauen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Und andere hingegen, die solche Zeichen aufnehmen und bewusst da- nach leben. Auch ich erkannte diese Zeichen zu Beginn nicht, bis mich Edi darauf aufmerksam machte. Danach versuchte ich meine Entschei- dungen so zu treffen, wie es das Leben mir vorschlug, obwohl es nicht immer leicht war. In dieser Woche in La Bocana passierte mir etwas Lustiges. Eines Tages lagen Manuela und ich am Strand. Manuela fragte mich, wo ich im letzten Monat gewesen sei und was ich alles erlebt hätte. Ich erzählte ihr von der Entführung meiner Freunde, von Edi auf der Landstraße, vom Toten im Kofferraum, vom Koffer voller Geld und von der Befreiung meiner Freunde. Manuela glaubte mir natürlich kein Wort und war der Meinung, ich hatte mir alles nur erfunden, um ihr zu imponieren. Sie sagte sogar, dass ich mich auf Kosten ihrer Gutmütigkeit vergnügte und ihr nur dummes Zeug erzählte. Ich konnte und wollte ihr die Wahrheit nicht be- weisen und beließ es dabei. Als wir so gegen fünf Uhr ins Hotel zurückkehrten, wollte Ma- nuela unsere Badekleider waschen. Sie fragte mich, ob sie meine Jeans auch gleich waschen sollte. Da meine Jeans seit vier Mona- ten keine Seife mehr gesehen hatten, war ich natürlich sehr froh darüber. Bevor Manuela die Hose ins Wasser eintauchte, leerte sie zuerst die Taschen. Sie steckte ihre Hand in die Gesäßtasche meiner Jeans
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und fischte dabei ein Foto raus. Das Foto vom Geld, von der Zeitung und von mir. Ich hatte schon völlig vergessen, dass noch ein letztes Foto in meiner Hose war. Ich beobachtete Manuela, wie sie das Foto anschaute. Ich wusste genau, was ihr in diesem Moment durch den Kopf ging und ich musste schmunzeln. Sie schaute zu mir und lächelte ebenfalls. An- schließend umarmte sie mich liebevoll und bat mich um Verzei- hung dafür, dass sie mich einen Lügner genannt hatte. Die Zeit in La Bocana verging schnell und der Tag der Abreise kam. Am Sonntagmorgen, den 9.Juli, fuhren wir zurück nach Medellín. Ich war neugierig zu wissen, was mit den Jungs von Las Copitas passiert war. Ob ihnen beim Attentat auf der Plaza San Antonio etwas zugestoßen war. Als Manuela und ich in Medellín ankamen, war es schon fast Mitternacht. Ich begleitete Manuela nach Hause und fuhr anschlie- ßend ins Hotel. Die Jungs waren nicht auf der Straße, was mich aber nicht weiter beunruhigte. Um diese Zeit waren sie selten noch auf der Straße, zumal es Sonntag war und morgen ein Arbeitstag gewesen wäre. Ich fragte Edilma, ob sie in der letzten Woche die Jungs vor dem Hotel gesehen hatte. Sie meinte, dass sie den einen oder anderen gesehen hatte, doch mit Sicherheit konnte sie es mir nicht sagen. Ich bezog also mein gewohntes Zimmer und legte mich schlafen. Die lange Busfahrt hatte mich richtig fertig gemacht. In den letzten Monaten war ich verdammt viel Bus gefahren. Da ich alles in mein Tagebuch notiert hatte, nahm es mich Wun- der wie viele es denn genau waren. Ich zählte nach und kam auf
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über 150 Stunden Busfahrt. Das waren mehr als sechs Tage, oder eine ganze Woche, wie mans nimmt.
Post aus Valledupars Am nächsten Morgen ging ich gleich zur Plaza San Antonio, um mir die Folgen des Attentats anzuschauen. Der Anblick war schok- kierend. Die Skulptur des Pájaro, die etwa zwei Meter hoch war, wurde durch die Wucht der Explosion in der Mitte getrennt. Die untere Hälfte der Skulptur befand sich immer noch im Betonsockel, wäh- rend die obere Hälfte einen Meter weiter auf dem Boden lag. Durch die Hitze, die bei der Explosion entstanden war, schmolz die Bron- ze dermaßen, dass lauter kleine Löcher darin entstanden waren. Das Ganze sah aus wie ein riesengroßes Sieb. Im Umkreis von zwei Metern hatten die Leute lauter Blumen verteilt. Sollte ein Andenken an die Opfer sein, schätze ich. Auf den Pflastersteinen konnte man sogar noch Blutspuren erkennen. Die Stadt von Medellín entschied sich, nach dem Attentat die Skulptur so zu lassen wie sie war. Sie sollte stets an die Opfer des Attentats erinnern, die in jener Nacht den Tod gefunden hatten. Wenn ihr jemals nach Medellín reisen solltet, dann schaut euch mal die Skulptur an. Der Anblick ist unbeschreiblich. Ich hätte mir niemals vorstellen können, dass zehn Kilo Dynamit in der Lage wären, eine solche Wucht zu entfachen. Ich setzte mich danach auf eine Bank und ließ mir erneut durch den Kopf gehen, wie ich dem Attentat entkommen war. Ich war mir nicht mehr so sicher, ob ich nur Glück gehabt hatte, oder ob es nicht einfach so sein musste. 336
Nach einer Weile erinnerte ich mich, dass ich noch Post aus Valledupar erwartete. Ich ging also zur Poststelle, in der Brigitte Bardot arbeitete. Die Dame hatte anscheinend keinen Dienst, doch ich kümmer- te mich nicht groß darum und fragte einen Mann, ob etwas für mich angekommen sei. »Guten Tag. Können sie mir sagen, ob Post für mich angekom- men ist?« »Gerne. Wie ist ihr Name?« »Marlon Brando.« »Sind sie sicher?« »Klar bin ich sicher.« »Können sie mir bitte einen Ausweis zeigen?« »Sicher. Hier.« »Das ist aber nur eine Fotokopie.« »Na und?« »Wir nehmen nur Originale an.« »Hören sie. Ich war vor zwei Wochen schon hier und damals hat ihre Kollegin die Fotokopie angenommen.« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Doch, das stimmt aber.« »Wie hieß denn die Dame?« »Brigitte Bardot.« »Hören sie. Ich habe keine Zeit für Späße.« Die Situation war wirklich nicht einfach. Ich versuchte den Mann mit einer 10.000 Pesos Note zu bestechen, doch der wollte nichts davon wissen. Ein außergewöhnlicher Beamter. Fast wie in der
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Schweiz, dachte ich. Doch plötzlich sah ich die Frau, die mich vor zwei Wochen bedient hatte. »Schauen sie. Da ist die Dame, die ich meine.« »Die? Die heißt aber nicht Brigitte Bardot.« »Nicht? Das hat sie mir aber gesagt.« »Dann hat sie ihnen nicht die Wahrheit gesagt.« »Wie heißt sie denn?« »Das ist Señora Córdoba.« »Ach so? Na, dann kann man nichts machen.« »Nein, tut mir leid.« Ich verließ die Poststelle und ging in das Restaurant gegenüber. Dort trank ich gemütlich ein Bier und kehrte nach einer Weile wieder zurück zur Post. Diesmal ging ich an einen anderen Schal- ter und verlangte gleich nach der Señora Córdoba. Kurz darauf kam die Señora. »Sie haben nach mir gefragt?«
»Ja. Erinnern sie sich noch an mich?«
»Nein.«
»Ich bin Marlon Brando. Und sie sagten, sie wären Brigitte
Bardot.« »Ah, ja. Jetzt erinnere ich mich.« »Wissen sie, ob Post für mich da ist?« »Ja, es ist etwas für sie da.« »Sehr gut. Kann ichs haben?« »Einen Moment bitte«, sagte sie und verschwand kurz. Jemand hatte also doch auf mein Inserat geantwortet. Ich war sehr neugierig zu wissen, wer mir geschrieben hatte. War es viel- leicht der Che höchstpersönlich, oder nur Don Enrique? Oder
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war es sogar Kerner Rauss? Bald würde ich es wissen, denn die Dame kam wieder zurück. »Das macht 24.000 Pesos«, sagte sie. »Wie bitte? Sie sagten doch etwas von 500 Pesos?« »Ja, pro Brief.« »Was? Wieviele Briefe hab ich denn bekommen?« »48, Señor Brando.« »48?« »Genau.« »Sind sie sicher?« »Sie sind doch Señor Marlon Brando, oder?« fragte sie mit ei- nem Schmunzeln. »Können sie mir die Briefe zeigen?« »Hier.« Sie hob eine Schachtel unter ihrem Schalter hervor. Die Schach- tel war voll mit Briefen und alle waren für Marlon Brando, Apartado Aéreo, Valledupar. Ich war sprachlos. Wer sollte mir denn so viele Briefe schreiben? Und wieso? Ich wusste nicht, was ich machen sollte. 24.000 Pesos waren viel Geld, doch die Neugier war eben- falls sehr groß. Ich wollte es mir zuerst überlegen und ich sagte der Dame, dass ich nicht genug Geld dabei hatte. Danach ging ich wieder ins Re- staurant gegenüber und bestellte mir ein Bier. Was sollte ich tun? Sollte ich tatsächlich 24.000 Pesos den Ha- sen geben, nur um meine Neugier zu stillen? Oder sollte ich das Ganze vergessen, da meine Freunde sowieso frei waren? Und wer hatte mir geschrieben? Was hatte man mir geschrieben? Und vor allem in dieser Menge. 48 Briefe, das machte doch überhaupt kei-
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nen Sinn. Meine Freunde wurden doch nicht von 48 verschiede- nen Guerrillas entführt? Wer hatte Interesse daran, mir so viele Briefe zu schreiben? Wie dem auch sei. Meine Neugier war größer, als die Kaufkraft von 24.000 Kolumbianische Pesos. Ich ging zur Post und holte mir die Schachtel mit den Briefen. Danach ging ich ins Hotel und leerte die Schachtel auf dem Bett aus. Eine Riesenmenge. Ein großer Papierberg lag auf meinem Bett. So etwas hatte ich doch schon mal erlebt. Genauer gesagt schon zweimal. Einmal mit Marihuana und einmal mit Geld. Nun waren es Briefe. Ich zündete mir eine Zigarette an und nahm einen Brief. Der Absender war jemand aus Bogotá. Als ich den Brief öffnete, wur- de mir gleich alles klar. Schon nach den ersten Zeilen begriff ich, was all die Briefe waren: Fanpost. Ich öffnete rasch noch einige Briefe mehr, doch der Inhalt war immer gleich. Da hatten also doch mehrere Leute geglaubt, sie würden tat- sächlich dem echten Marlon Brando schreiben. Unglaublich. Alle wollten Autogramme, Fotos, Grüße oder sonst etwas, was mit mir zu tun hatte. Einige legten sogar ihre Fotos bei, damit ich ihnen etwas widmen konnte. Und dieser Scheiß hatte mich sogar noch 24.000 Pesos gekostet. Na ja, dumm gelaufen. Ich hatte bereits etwa zehn Briefe gelesen und alle waren ungefähr gleich. Die restlichen Briefe versprachen also nichts besseres. Ich holte mein Punto Rojo aus dem Bad und drehte mir einen Joint. Wieder musste eine Seite aus meinem Handbook dran glauben, denn keiner meiner Fans war auf die Idee gekommen, mir einige
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Papers zu schicken. Dachten die alle, Marlon Brando würde nicht kiffen? Doch, doch, dieser Marlon Brando kiffte, und wie. Mittlerweile lagen die Briefe im ganzen Zimmer verstreut. Ab und zu öffnete ich wieder einen, um ihn danach enttäuscht wieder durch die Luft zu werfen. Ich bastelte Flugzeuge, Schiffe, Maler- hüte, Scherenschnitte, Wasserbomben und sonst noch lauter Din- ge, die ich seit meiner Kindheit nicht mehr gemacht hatte. In mei- nem Zimmer sah es aus, als hatte eine Klasse Primarschüler einen Geburtstag Marke McDonalds darin gefeiert. Als ich keine Briefe mehr fand, die ich nicht bereits gelesen hat- te, fing ich an aufzuräumen. Ich sammelte alles ein und stopfte es in den Papierkorb. Da fiel mir ein kleiner Brief auf, den ich noch nicht geöffnet hatte. Aha, doch noch einer, dachte ich und riss das Papier auf. Doch diesmal war der Inhalt anders, ganz anders so- gar. Auf einem Stück Karton standen einige Zahlen. Sah aus wie eine Telefonnummer. Was war denn das? War das vielleicht doch keine Fanpost? Ich schaute in meinem Handbook nach, um wel- che Vorwahl es sich bei der Telefonnummer handelte, doch ich konnte keine Stadt finden, die der Vorwahl entsprach. Wem gehörte diese Telefonnummer? Wie die eines Fans sah sie nicht aus, denn neben der Nummer stand überhaupt nichts auf dem Karton. Merkwürdig. Und die Anzahl der Ziffern war auch seltsam. Normalerweise bestand eine Telefonnummer aus sieben Ziffern, mit Vorwahl aus neun oder zehn. Doch diese bestand aus 15 Ziffern. War es überhaupt eine Telefonnummer, oder irrte ich mich?
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Ich wollte es sofort wissen und fragte Edilma, ob ich kurz das Telefon benutzen dürfte. Edilma hatte nichts dagegen und ich stell- te die Nummer ein. Schon nach den ersten Ziffern ertönte eine Stimme im Telefonhörer und sagte, dass die Nummer ungültig sei. »Hast du eine Ahnung, ob das hier eine Telefonnummer ist?« fragte ich Edilma und streckte ihr das Stück Karton hin. »Keine Ahnung. Wieso?« »Hier sagt jemand, die Nummer wäre ungültig.« »Das kann gut sein. Von diesem Apparat aus kann man nur Orts- gespräche führen.« »Du meinst, ich sollte es in der Telecom versuchen?« »Oder von einem öffentlichen Apparat aus.« »Alles klar. Danke.« Ich lief gleich runter zur Straßenkreuzung und versuchte es von einem öffentlichen Telefon aus. Doch auch hier meinte eine Stim- me, dass die Nummer ungültig sei. Also blieb mir nichts anderes übrig, als es bei der Telecom zu versuchen. Danach hätte ich es vermutlich aufgegeben, denn die Sache war es eh nicht wert, noch mehr Zeit und Geld zu verlieren. So, hatte ich bereits 24.000 Pesos und einen ganzen Nachmittag versaut, um irgendwelche nutzlosen Fanbriefe zu lesen. Bei der Telecom hatte ich jedoch mehr Glück. Die Dame mein- te, dass es sich vermutlich um ein Handy handeln könnte. Aber die Telefongebühren - um auf ein Handy anzurufen - waren etwa so hoch wie die für die Schweiz. Also wieder ein Problem. Sollte ich noch mehr Geld ausgeben für etwas wofür es sich vielleicht gar nicht lohnte? Und wenn es
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doch nur ein weiterer Fan war, der sich etwas ausgefallenes ausge- dacht hatte, um Marlon Brando ans Telefon zu bekommen? Meine Neugier ließ mich aber nicht in Ruhe. Frei nach dem Motto Curiosity killed the cat, entschied ich mich, den Versuch zu wagen, trotz des Risikos noch mehr Geld in den Sand zu setzen. Die Dame verlangte logischerweise die entsprechenden Gebühren gleich im voraus. Danach durfte ich in die erste Kabine rein. Ich nahm den Hörer ab und fing an, die Nummer zu wählen. Nach den ersten Ziffern kam aber diesmal keine Stimme, die mich zum Teufel schickte. Und als ich die ganze Nummer gewählt hat- te, hörte man nichts mehr. Höchstens ein leises Rauschen war noch zu hören, sonst nichts. Plötzlich aber hörte es sich so an, als würde es am anderen Ende läuten. Jetzt wurde ich ganz nervös. Obwohl ich eigentlich nichts zu befürchten hatte, bekam ich feuchte Hände. Dann nahm end- lich jemand ab, doch er sagte kein Wort. Im Hintergrund hörte man Geräusche. »Hallo!« sagte ich. »Wer spricht da?« fragte der Mann am anderen Ende. »Wer sind sie?« »Woher hast du diese Nummer?« »Die haben sie mir geschickt.« »Ich?« »Ja, mit der Post.« »Und wer bist du?« »Marlon Brando.« Ich hatte seine Stimme erkannt und beruhigte mich ein wenig. Am anderen Ende war der Che höchstpersönlich. Er hatte also
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mein Inserat gelesen und darauf geantwortet. Doch wieso hat er nichts davon gesagt, als wir uns getroffen haben? Dachte er viel- leicht, dass dieser Marlon Brando ein anderer sei? »Und weshalb rufst du an?« fragte er. »Na ja. Ich wollte wissen, wem diese Nummer gehört.« »Mir.« Anscheinend hatte auch er mich erkannt. »Ja, das höre ich. Doch nun nützt sie mir nichts mehr.« »Nein. Nichts mehr«, sagte er, als wolle er das Gespräch somit beenden. »Darf ich sie was fragen?« »Mich was fragen? Was denn?« »War es der Kellner von Las Acacias, der euch bei den Paramilitares verpfiffen hat?« »Woher weißt du denn, dass uns jemand verpfiffen hat?« »Na ja. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass der Kellner auf offener Straße erschossen wurde. Und dann hab ich halt eins und eins zusammengezählt.« »Du kannst gut zählen, Mono.« »Sie aber auch, oder?« »Wie meinst du das?« »Na ja. 700.000 US Dollar muss man auch zuerst zählen, oder?« Er musste lachen. »Du hast auch noch Humor, was?« sagte er. »Muss man. Haben sie übrigens ihren Jeep wieder gefunden?« »Nein. Wieso, hattest du den Jeep genommen?« »Klar. Was meinen sie denn? Dass wir durch den Wald spaziert sind?« »Ich dachte, das waren die Paramilitares?«
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»Kaum. Wir haben uns erlaubt den Jeep zu benutzen. Danach mussten wir ihn aber am Straßenrand lassen, weil der Sprit ausgegangen war. Hören sie, ich muss jetzt Schluss machen, sonst wirds zu teuer. Ich hab nämlich nicht mehr so viel Geld. Oder nehmen sie die Anrufkosten auf sich?« »Du bist vielleicht ein Spaßvogel. Leb wohl, Mono.« »Adiós, Señor Che Guevara.« Also hatte der Che mir geschrieben. Ich hätte somit damals auch auf Don Enrique verzichten können, wenn ichs nur gewusst hät- te. Na ja. Ende gut, alles gut. Schade nur, dass mich dieser Spaß 36.000 Pesos gekostet hatte. 24.000 für die Briefe und 12.000 nun für das Telefongespräch. Mit dem Geld hätte ich in Kolumbien zwei Tage gelebt. Apropos Geld. Meines wurde immer weniger und ich musste langsam ans Heimreisen denken. Mein Geld hätte höchstens noch bis Ende Juli gereicht. Also noch knapp drei Wochen.
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Abschied
In den nächsten drei Wochen verbrachte ich viel Zeit mit Manue- la. Ich war den ganzen Tag mit ihr zusammen und wir verstanden uns immer besser. Der Gedanke, dass ich bald gehen musste stimm- te uns beide ein wenig traurig. Doch wir hatten beide gewusst, dass es so enden würde. Wir versuchten, die Zeit, die uns noch übrig blieb, so schön wie möglich zu verbringen und zu genießen. Den Jungs von Las Copitas war beim Attentat nichts passiert. Spätabends verbrachte ich meistens noch ein paar Stunden mit ihnen. Manuela sagte zwar, dass diese Jungs nicht zu mir passten, dass sie gefährlich seien, doch ich fühlte mich mit ihnen wohl. Zurecht sogar. Eines Abends, es war der 20. Juli, spazierten Manuela und ich durch die Stadt. Dieser Tag war der Nationalfeiertag Kolumbiens und die Leute hatten den ganzen Tag gefeiert. Am 20. Juli wurde nämlich Kolumbien einst von der spanischen Inquisition befreit. Für einige Leute war dies ein Grund, um den ganzen Tag zu sau- fen. Wir spazierten also durch die Stadt, als uns drei Typen entgegen kamen. Sie stellten sich vor uns hin und versperrten uns den Weg. »He Monito, rück die Kohle raus, sonst gibts was«, sagte einer der drei zu mir und hielt mir dabei ein Messer unter die Nase. Manuela wurde ganz nervös und flehte mich an, ihnen das Geld zu geben. Doch ich wollte nicht ohne weiteres mein letztes Geld hergeben.
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»Bist du dir bewusst, was du da machst?« fragte ich.
»Red kein Scheiß und gib das Geld her.«
»Na schön, doch der Andrés wird keine Freude haben.«
»Was interessiert mich Andrés. Mach schon.«
»Du kennst Andrés nicht? Der aus der 45?«
»Was ist mit dem?«
»Der ist ein guter Freund von mir.«
»Na und? Mach jetzt, sonst gibts was.«
Ich konnte ihn anscheinend nicht davon überzeugen. Vermut-
lich, weil man mir den Ausländer meterweit ansah, oder weil ich nicht unbedingt einen Medellín-Akzent drauf hatte. Ich wusste nicht mehr weiter und holte mein Geld aus der Hosentasche. Die Situation hatte sich schon genug zugespitzt und ich wollte mich nicht noch mehr in Schwierigkeiten bringen. Vor allem aber woll- te ich Manuela nicht in Gefahr bringen. »He, lass das lieber«, sagte einer auf der anderen Straßenseite. »Misch du dich nicht ein, sonst bekommst du auch was ab«, antwortete der Typ mit dem Messer. »Lass das lieber. Der Typ ist in der 45. zu Hause. Oder willst du Probleme mit den Jungs dort drüben?« Der Typ mit dem Messer schaute mich an. »Du bist wirklich in der 45. zu Hause?« »Sagte ich doch.« »Verschwinde, und lass dich in dieser Gegend nicht mehr blik- ken.« »Alles klar.« Ich steckte mein Geld wieder ein und wir machten uns auf die Socken. Der Typ auf der anderen Straßenseite folgte uns und hol-
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te nach wenigen Metern auf. Ich blieb stehen, um mich bei ihm zu bedanken. Vor allem aber wollte ich wissen, woher er mich kann- te. Als er nahe genug war, dass ich sein Gesicht sehen konnte, erkannte ich ihn: José. »He, José. Was machst du denn hier? Das nennt man vielleicht Glück.« »Hallo, Mono. Alles klar?« »Jetzt schon. Das war recht mutig von dir vorhin.« »Ich weiß, aber ich konnte nicht tatenlos zusehen, wie sie dich überfallen hätten.« »Danke, Mann.« »Hab dich schon lange nicht mehr gesehen. Warst du weg?« »Ja. Ich war noch ein wenig unterwegs. Und du? Wir haben da- mals im Stadion auf dich gewartet, aber du bist nicht gekommen.« »Ja, ich weiß. Ich konnte nicht mehr kommen.« »Das ist übrigens Manuela, meine Freundin.« »Das ist José«, sagte ich zu Manuela. »Ich hab dir von ihm er- zählt. Er wollte mit uns ins Stadion kommen, weißt du noch?« »Ja, ich erinnere mich.« Manuela und José schüttelten sich die Hand. Dann hatte es José wieder mal eilig und verabschiedete sich von uns. Vielleicht dach- te er, dass ich Manuela von unserer Kunstmalerei erzählt hätte und es war ihm deswegen peinlich. Wie dem auch sei. Er hatte mich vor einem Überfall gerettet und, wer weiß, vielleicht auch vor etwas schlimmerem. Manuela und ich nahmen danach ein Taxi, denn wir hatten kei- ne Lust mehr, zu Fuß durch die Stadt zu laufen. Ich fragte Manue- la, ob sie immer noch der Meinung sei, dass die Jungs von der 45.
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nicht zu mir passten. Sie meinte, dass ich nicht mit solchen Din- gen scherzen sollte. Dass wir verdammt viel Glück gehabt hätten. Ich musste noch kurz an José denken. So plötzlich wie er damals verschwunden war, war er jetzt wieder aufgetaucht. Er kam wie aus dem Nichts, um mir zu helfen. Zufall, oder musste das so sein? Die nächsten Tage vergingen schnell und der Tag der Abreise kam immer näher. Mein Rückflug wäre zwar erst für den 30. August geplant gewesen, doch ich musste mein Flugticket umbuchen. Mein Geld erlaubte es mir nicht mehr, einen weiteren Monat in Kolum- bien zu bleiben. Am Sonntag, den 30. Juli, hatte ich also meinen Flug nach Hau- se. Ich musste um neun Uhr abends im Flughafen in Bogotá sein. Grund genug also, erst am Sonntagmorgen von Medellín nach Bogotá zu fahren. Der Bus würde um sechs Uhr früh losfahren und wäre um sechs Uhr abends in Bogotá gewesen. Das reicht, dachte ich. Ich verbrachte den ganzen Samstag mit Manuela. Als ich gegen zwei Uhr nachts ins Hotel fuhr, waren die Jungs immer noch auf der Straße. Da es sich eh nicht mehr lohnte ins Bett zu gehen, entschied ich mich, meinen Abschied mit den Jungs zu feiern. Ansonsten wäre ich vielleicht gar nicht mehr aufgewacht und ich hätte noch den Bus verpasst. Bei einer richtigen Abschiedsparty durfte natürlich ein wenig Punto Rojo nicht fehlen. Ich gab dem Mexicano 1.000 Pesos und bat ihn, mir fünf Barreticos zu besorgen. Danach spendierte ich noch eine Flasche Whisky, damit auch die Jungs etwas davon hat-
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ten, die kein Gras rauchten. Das gibts nämlich auch in Kolumbi- en. Leute, die kein Marihuana rauchen. Unglaublich. Nach einer Weile kam der Mexicano zurück und brachte mir die Barreticos. Diesmal zeigte ich mich sehr dankbar und gab ihm 2.000 Pesos Trinkgeld. Normalerweise gab ich ihm immer 200 Pesos, doch es war meine letzte Nacht in Medellín und es sollten alle Spaß an meiner Abschiedsparty haben. Also auch der Mexicano. Er nahm das Geld und verschwand gleich um die Ecke. Ver- mutlich wollte er sich gleich eine ganze Flasche Aguardiente kau- fen. Ich zündete einen Barretico an und nahm ein paar Züge. Da- nach gab ich den Joint Andrés und er nahm auch ein paar Züge. »Qué Chimba«, sagte er. »Sag mal. Was heißt eigentlich Chimba?« »Chimba? Dieser Barretico zum Beispiel ist Chimba.« »Auch der Whisky ist Chimba«, sagte ein anderer Junge. »Siehst du die Frau dort drüben?« fragte mich Andrés Bruder. »Die ist auch Chimba.« »Die ist sogar Re-Chimba«, meinte ein anderer Junge. »Chimba heißt also soviel wie gut, oder?« fragte ich. »So ungefähr. Eigentlich heißt es mehr wie nur gut. Es heißt eben Chimba«, sagte Andrés. Nun wusste ich, was Chimba bedeutete. Es bedeutete soviel wie Geil. Wie damals mit Cristina, im Parque Tayrona. Damals hatte ich sie auch gefragt, was Geil bedeutete und Cristina hatte ver- sucht, es mir zu erklären. Und nun war aus Geil ein Chimba ge- worden. Merkwürdig. Mit Geil hatte meine Reise angefangen und mit Chimba würde sie enden. War das auch ein kleiner Kreis, der
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sich schloss? Oder war ich bereits dermaßen bekifft, dass ich nur noch Kreise, Zufälle und Lebenszeichen sah? So gegen vier Uhr kam der Mexicano mit einer fast leeren Fla- sche Aguardiente in der Hand. Was mir aber am meisten auffiel, war dass er ein sauberes T-Shirt anhatte. Mit den 2.000 Pesos, die ich ihm gegeben hatte, konnte er sich kaum eine Flasche Aguardiente und ein neues T-Shirt kaufen. Nur die Flasche Aguardiente kostete nämlich bereits 2.000 Pesos. Woher hatte er also das neue T-Shirt? Ich war aber zu bekifft, um mich mit solchen Fragen auseinan- der zu setzen. Darum saß ich weiterhin gemütlich vor dem Sauna- eingang und genoss meine Scheibe. »He Mexicano. Woher hast du das neue T-Shirt?« fragte ihn Andrés. »Das hab ich dort drüben einem Toten abgenommen.« »Einem Toten?« fragte Andrés erstaunt. »Ja. Da lag ein Toter und ich hab ihm das T-Shirt und die Schu- he abgenommen, bevor die Polizei kam.« »Die Schuhe auch noch? Mann, die sind aber Chimba.« Ich schaute auf seine Schuhe und bekam fast einen Hustenan- fall. Er hatte meine Lotto an. Der Anblick traf mich wie ein Blitz. Plötzlich kam mir mein Traum wieder in den Sinn. Ich sah wieder den Mexicano, wie er vor mir stand und saubere Kleider anhatte. Wie er mit seinem Stock jonglierte und meine Lotto an den Füßen trug. Ich muss dermaßen bekifft gewesen sein, dass ich nicht mehr wusste, ob ich wach war, oder ob ich träumte. Was da abging war
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jenseits des Fassbaren. Ich starrte nur noch auf meine Schuhe und war wie abwesend. Genau wie im Traum, dachte ich. Der Mexicano war zufällig an einem Toten vorbeigekommen, der meine Lotto trug. Das konnte doch nicht wahr sein. Hätte ich also dem Mexicano die 2.000 Pesos nicht gegeben, dann wäre er sicher nicht losgezogen und hätte auch meine Schuhe nicht ge- funden. Also hatte ich indirekt die Schuhe gefunden? Oder war das Ganze wirklich nur ein Zufall? Zu schön, um wahr zu sein. Nein, das hatte seinen Sinn. Die Schuhe wurden mir am ersten Tag in Kolumbien geklaut und nun wurden sie an meinem letzten Tag gefunden. Das war anscheinend der letzte Kreis, der sich noch schließen musste. Konnte ich nun also definitiv nach Hause flie- gen? Mittlerweile hatte ich mich ein wenig erholt und ich konnte wie- der die Stimmen der anderen wahrnehmen. Ich hörte, wie alle die Schuhe vom Mexicano bewunderten. Die Schuhe sahen zwar sehr mitgenommen aus, doch es waren halt immer noch Lotto und die waren sehr selten in Kolumbien. Was hatten die Schuhe alles mitgemacht? Wer hatte sie getra- gen? Wieviele Besitzer hatten sie gewechselt? Diesen Leuten hat- ten die Schuhe anscheinend kein Glück gebracht, denn sie mussten alle mit ihrem Leben dafür zahlen. Zuerst der Tote im Koffer- raum und nun ein unbekannter in Medellín. Und wer weiß, viel- leicht sogar noch einige mehr. Und nun kamen sie wieder zu ih- rem ursprünglichen Besitzer zurück. »He Mexicano. Du solltest dich besser von diesen Schuhen tren- nen«, sagte ich. »Trennen. Bist du nicht ganz dicht? Die sind Chimba.«
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»Genau darum. Oder willst du, dass man dich noch umbringt, um dir deine Schuhe zu klauen?« »Hör auf damit. Mir klaut keiner die Schuhe.« »Da wäre ich mir aber nicht so sicher. Gib sie lieber dem Bruder von Andrés und er gibt dir dafür seine.« »Ja, genau. Ich gib dir meine«, sagte Andrés Bruder. »Nein. Ich gebe meine Schuhe nicht her.« »Ich gebe dir 10.000 Pesos, wenn du die Schuhe mit ihm tauschst«, sagte ich. »10.000 Pesos?« »Sofort auf die Hand.« »Mann. Für 10.000 Pesos tausche ich sogar meine Unterhosen mit ihm.« »Nein. Die kannst du behalten«, meinte Andrés Bruder. Der Mexicano und Andrés Bruder tauschten die Schuhe und ich gab dem Mexicano das Geld. Danach blitzte er wieder ab. »He Mexicano. Dort drüber liegen wieder zwei Tote«, schrie ihm Andrés hinterher. »Ja, genau. Bring mir auch ein Paar Schuhe mit«, schrie ein ande- rer Junge. »He, danke Mono«, sagte Andrés Bruder. »Ist schon gut. Ich glaube, ich habe eher dem Mexicano als dir einen Gefallen getan.« »Meinst du?« »Den hätte jemand schon an der nächsten Straßenecke umge- legt, nur um ihm die Schuhe abzunehmen.«
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Für mich wurde es langsam Zeit aufzubrechen. Ich wollte noch duschen, bevor ich zum Terminal de Transportes fuhr. Ich verab- schiedete mich von den Jungs und wünschte ihnen alles Gute. Auch sie brachen auf und gingen nach Hause. Ich ging auf mein Zimmer und duschte. Danach fing ich an, meine Sachen zusammenzupacken, als plötzlich jemand an mei- ner Tür klopfte. »Wer ist da?« »Ich bins, Manuela.« »Manuela? Was machst du um diese Zeit hier?« »Ich wollte dich noch zum Terminal de Transportes begleiten. Hast du was dagegen?« »Sicher nicht. Im Gegenteil.« Ich zog mich an und packte die restlichen Sachen in meinen Rucksack. Danach bezahlte ich die Hotelrechnung und verabschie- dete mich von Edilma. Draußen waren die Jungs alle schon weg. Manuela und ich mussten fast eine Viertelstunde warten, bis end- lich ein Taxi vorbeifuhr. Danach gings Richtung Terminal de Trans- portes. Am Terminal angekommen, kaufte ich gleich ein Ticket nach Bogotá. Danach legte ich meinen Rucksack in den Bus. Bis zur Abfahrt fehlten noch zwanzig Minuten und ich ging mit Ma- nuela in ein Café. »Rufst du mich an, wenn du in der Schweiz ankommst?« »Mach ich.« »Sicher?« »Ganz sicher.« »Du vergisst mich nicht?« »Wie könnte ich?«
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»Ich werde dich vermissen.« »Ich auch. Aber wir wussten es von Anfang an, dass ich eines Tages gehen muss.« »Ich weiß, aber...« »Ich ruf dich an. Bestimmt.« Danach war Zeit zu gehen und ich stieg in den Bus. Der Busfah- rer fuhr los und Manuela winkte mir noch einen Moment nach, bis der Bus das Terminal verließ.
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Wiedersehen mit alten Bekannten
Für Manuela war die Trennung anscheinend schlimmer, als für mich. Mir tat es zwar auch leid, sie zu verlassen, doch was konnte ich anderes tun. Mein Geld war alle, und ich konnte unmöglich länger bleiben. Zudem hatte ich auch langsam Heimweh. Fünf Monate waren eben doch eine lange Zeit. Ich klappte die Rückenlehne nach hinten und machte es mir bequem. Mir kamen lauter Bilder meiner Reise in den Sinn. Wie ich zum Beispiel das erste Mal in Medellín ankam. Damals war ich seit fast drei Monaten unterwegs gewesen und hatte schon jede Menge erlebt. Ich weiß noch, wie ich damals dachte, dass ich noch weitere drei Monate vor mir hatte. Das war ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit. In meinen Gedanken vertieft, schlief ich ein. Ich muss sehr tief geschlafen haben, denn als ich die lauten Stim- men wahrnahm, war der Bus bereits leer. Ein Mann in einem grü- nen Kämpferanzug stand neben meinem Sitz und schaute mich an. Alle anderen Passagiere standen draußen auf der Straße. »Aussteigen, schnell«, befahl der Mann. »Was ist los?« »Aussteigen hab ich gesagt. Stell keine Fragen.« »Wo sind wir?« fragte ich noch ziemlich verschlafen. Die Antwort war ein Schlag auf den Hinterkopf. Ich sah, wie sich alles um mich drehte, danach wurde es wieder dunkel.
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Als ich wieder aufwachte, saß ich in einem Jeep. Neben mir saß der Mann mit dem grünen Kämpferanzug. Vorne zwei weitere Männer. Wir fuhren auf einem Feldweg. Ich hatte keine Ahnung was passiert war. Ich wusste auch nicht, wo ich mich befand und wieviel Zeit seit meiner Abreise vergan- gen war. Nur eines wusste ich mit Sicherheit, dass die Situation nicht gut aussah und dass ich verdammte Kopfschmerzen hatte. »Wo fahren wir hin?« fragte ich den Mann neben mir. Er antwortete nicht. Auch von den zwei Männern, die vorne saßen war nichts zu hören. Ich schaute den Mann neben mir an und erkannte seinen Kämpferanzug. Der gleiche, wie ihn damals der Che trug. Musste sich also um Guerrilleros handeln. »Hören sie. Sie machen einen großen Fehler«, sagte ich. »Halts Maul«, sagte dann doch der Mann neben mir. »Ich glaube ihr Chef wird nicht sehr erfreut sein, dass ihr mich entführt habt.« »Ich hab gesagt halts Maul. Wir haben keinen Chef.« »Nicht? Ich habe aber letztens mit ihm telefoniert.« Die drei Männer fingen an zu lachen. Anscheinend dachten sie, ich würde irgendwas erfinden, um meinen Arsch zu retten. Ich hatte noch die Telefonnummer vom Che in meinem Ruck- sack. Doch wo war mein Rucksack? Ich schaute mich um und sah, dass er hinter mir lag. Zum Glück hatten sie ihn mitgenommen. Bei meinen Freunden damals hatten sie die Rucksäcke zurück ge- lassen. »Sie glauben mir nicht, was? Soll ichs ihnen beweisen?« »Halts Maul hab ich gesagt und ich will es nicht mehr wiederho- len müssen.«
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»Ich habe die Telefonnummer eures Chefs in meinem Ruck- sack.« Ich hatte kaum den Satz zu Ende gesprochen, da traf mich be- reits ein Schlag in die linke Hüfte. Der Schmerz war so stark, dass ich kaum noch atmen konnte. Ich schnappte nach Luft und ver- suchte den Schmerz zu ignorieren. Nicht aufgeben, Mono, dachte ich. »Verdammt noch mal. Ich sage die Wahrheit. Ich habe die ver- dammte Telefonnummer eures Che Guevara im Rucksack«, schrie ich. Ich weiß nicht weshalb, aber der Mann schaute mich mit großen Augen an. Hatte ich etwas gesagt, was ihn neugierig gemacht hat- te? Ich hatte doch nur gesagt, dass ich die Nummer von... Der Name wars! Ich hatte Che Guevara gesagt. Sein Chef sah nämlich tatsächlich aus, wie der Che. Also musste ich ihn wirklich kennen. »Du bluffst«, sagte der Mann. »Nein. Das ist die Wahrheit. Rufen sie ihn an und sagen sie, der Mono wäre hier. Dann sehen sie, dass ich nicht bluffe.« »Wir haben kein Telefon. Du bluffst. Halts Maul.« »Was? Kein Telefon? Euer Che hat ein Feldtelefon, so groß wie ein Koffer.« Er schaute mich erneut überrascht an. Er wollte mich anschei- nend testen, doch jetzt hatte er sichtliche Zweifel. »Zeig mir diese Telefonnummer.« Ich griff zu meinem Rucksack und holte das Stück Karton raus. Er schaute es an und überlegte. Anscheinend hatte er die Telefon- nummer erkannt. Danach reichte er das Stück Karton seinen Vor-
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dermännern. Die schauten es ebenfalls an und setzten eine nachdenkliche Visage auf. Der Mann neben mir befahl dem Fahrer anzuhalten. Dieser bremste brüsk und stoppte den Jeep. Der Mann neben mir stieg aus und entfernte sich einige Schritte vom Jeep. Danach holte er etwas aus seiner Tasche, vermutlich ein Handy, aber ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Er drehte mir seinen Rücken zu und stand da. Ich hatte keine Ahnung was er tat. Wenige Minuten später kehrte er zum Jeep zurück »Steig aus«, befahl er mir. »Was hier? Mitten im Wald?« »Bist du schwerhörig?« »Schon gut. Alle klar.« Kaum war ich aus dem Jeep gesprungen, fuhr der Fahrer wieder los. Der Mann mit dem Kämpferanzug warf mir noch meinen Rucksack hinterher. Danach verschwand der Jeep in einer kleinen Staubwolke. Da stand ich nun. Ich wusste nicht, ob ich froh sein sollte, dass ich wieder frei war, oder ob ich besorgt sein sollte, weil ich nicht wusste, wo ich überhaupt war. Ich zündete mir eine Zigarette an und setzte mich auf meinen Rucksack. Scheiße, das musste ich nun wirklich nicht haben. Wo war ich überhaupt? Wie spät war es? Die Sonne schien jedenfalls noch. Dunkel wurde es immer so gegen sechs Uhr, also konnte es nicht sehr spät sein. Doch wie komme ich nach Bogotá? Ich saß da und überlegte, was ich machen sollte. Ich dachte dar- über nach, was mir soeben passiert war. Ein kleines Stück Karton
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hatte mir womöglich das Leben gerettet. Spätestens jetzt also hat- te sich die Investition rentiert. Die 24.000 Pesos für die Briefe und die 12.000 Pesos für den Anruf waren also doch nicht für die Katze gewesen. Musste das so sein? Ja, es musste so sein! Als ich die Zigarette fertig geraucht hatte, zog ich meinen Ruck- sack an und begann zu laufen. Ich lief bergab, weil mir dies am logischsten schien. Und auch, weil bergauf sehr anstrengend ge- wesen wäre. Nach einer guten Stunde hörte ich Geräusche. Fahrzeuge. Ich musste also in der Nähe einer Straße sein. Ich fing an zu rennen und folgte den Geräuschen. Nach wenigen Minuten kam ich an einer geteerten Straße an. Eine geteerte Straße bedeutet in Kolumbien gleichviel wie eine sechsspurige Autobahn in den USA. Ich war also an einer viel befahrenen Straße angekommen. Ich stellte mich an den Straßenrand und versuchte ein Fahrzeug anzuhalten, doch keiner schien mich zu bemerken. Alle Autos fuh- ren an mir vorbei. Langsam wurde es dunkel und ich wusste, dass es kurz vor sechs Uhr war. Dann endlich, fuhr ein Linienbus vor- bei und hielt an. Der Fahrer öffnete die vordere Tür und ließ mich einsteigen. Danach fuhr er weiter »Danke«, sagte ich zum Fahrer. »Wo musst du hin?« »Ich muss nach Bogotá. Wo sind wir hier überhaupt?« »In der Nähe von Honda.« »Fahren sie nach Bogotá?« »Ja.«
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»Wann kommen wir dort an?«
»So gegen Mitternacht.«
»Scheiße.«
»Was ist?«
»Ich muss spätestens um neun Uhr am Flughafen in Bogotá
sein.« »Das reicht nie.« »Das fürchte ich leider auch.« »Konntest du denn nicht früher abfahren?« »Doch. Ich hatte aber einen Zwischenfall. Woher kommt dieser Bus eigentlich?« »Aus Manizales.« »Na, dann kann man nichts machen. Danke trotzdem.« »Fährst du also bis Bogotá?« »Ja. Bleibt mir nichts anderes übrig.« »Das macht 14.000 Pesos.« »Ach ja, stimmt. Hier.« Ich nahm meinen Rucksack und setzte mich hin. Scheiße. Den Flug konnte ich mir abschminken, dafür reichte es nicht mehr. Blieb mir also wirklich nichts anderes übrig, als vorerst mal nach Bogotá zu fahren. Danach musste ich weiter schauen. Vielleicht kriege ich ja noch einen anderen Flug, dachte ich. So gegen Mitternacht kam ich endlich in Bogotá an. Ich nahm gleich ein Taxi und fuhr zum Flughafen. Doch dort war alles zu. Die letzten Flüge waren schon weg und die Wächter ließen nie- manden in den Flughafen.
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Schöne Scheiße, dachte ich. Und was nun? Ich musste wohl hier übernachten, denn vor morgen früh konnte ich eh nichts machen. Aber wo schlafen? Ich hatte keinen Bock darauf, irgendwo auf der Straße zu pennen. Das war mir zu gefährlich und von Gefah- ren hatte ich langsam die Nase voll. Ich brauchte also ein Hotel. Ich holte mein Handbook aus dem Rucksack und wollte mir ein Hotel suchen. Da stach mir wieder das Plattfuß ins Auge. Ich hatte es damals bei meiner Ankunft unterstrichen, damit ichs nachher leichter finden konnte. Und jetzt hatte ich es leicht gefunden. Ich überlegte kurz, ob ich nicht doch ins Plattfuß gehen sollte. Wenn tatsächlich alles dort seinen Lauf genommen hatte, dann müsste doch auch alles dort enden. Und ich wollte auch noch wissen, ob der Chef nun doch am Überfall beteiligt war, oder ob ich mir das ganze nur eingebildet hatte. Doch, das Plattfuß musste es sein! Der Taxifahrer hielt genau vor dem Hotel an. Nirgends brannte mehr Licht und die Tür war verriegelt. Ich klopfte und wartete, ob sich was tat. Nach mehrmaligem Klopfen kam dann endlich je- mand zur Tür. »Wer ist da?« fragte eine Stimme hinter der Tür. »Guten Abend. Ich brauche ein Zimmer.« »Kommen sie morgen wieder. Jetzt ist es zu spät.« »Ich brauche aber ein Zimmer für diese Nacht.« »Kommen sie morgen, hab ich gesagt.« »Hallo, hören sie... Hallo... sind sie noch da?« Er war weg. Verdammt. Ich brauchte aber ein Zimmer. Ich fing wieder an zu klopfen und hörte nicht auf, bis der Typ wieder zur Tür kam.
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»Was wollen sie? Ich sagte ihnen doch, dass sie morgen kom- men sollen.« »Hören sie. Ich brauche unbedingt ein Zimmer für diese Nacht. Wenn sie mich nicht reinlassen, dann klopfe ich solange, bis das ganze Hotel wach wird.« »Verdammt. Sie sind aber eine Nervensäge.« Ein Junge, so um die sechzehn, öffnete die Tür und ließ mich rein. Der Chef war anscheinend nicht da, oder er schlief bereits. Der Junge gab mir ein Zimmer und notierte meine Personalien ins Gästebuch. Ich schaute auf das Möbelstück, auf dem damals mein Rasier- wasser gestanden hatte. Unglaublich, aber es stand immer noch da. Mit der selben verrissenen Etikette. »Wem gehört das Rasierwasser dort?« fragte ich den Jungen. »Keine Ahnung. Das steht schon seit einiger Zeit da.« »Und du weißt nicht, wem es gehört.« »Nein. Sagte ich doch.« Ich nahm den Schlüssel und ging auf mein Zimmer. Mittlerwei- le war es schon fast zwei Uhr und ich war hundemüde. Ich legte mich aufs Bett und überlegte noch eine Weile, weshalb mein Ra- sierwasser immer noch da stand. Die Flasche war noch genau so voll, wie vor fünf Monaten. Merkwürdig. Danach schlief ich ein. Am nächsten Morgen stand ich früh auf. Ich wollte so schnell wie möglich zum Flughafen fahren, um meinen Rückflug in Ordnung zu bringen. Hoffentlich ist mein Ticket noch gültig, dachte ich, ansonsten wäre ich aufgeschmissen.
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Ich packte meine Sachen und lief runter. Der Chef war mittler- weile auch schon da. Ich lief zu ihm und bezahlte meine Nacht. »Wem gehört eigentlich das Rasierwasser dort drüben?« fragte ich ihn. »Das da? Keine Ahnung. Das steht schon seit Monaten dort. Ich weiß gar nicht, wie es dorthin gekommen ist.« »Nicht? Ich schon.« »Sie? Woher wollen sie denn das wissen?« »Weil es mein Rasierwasser ist.« »Das ist ihr Rasierwasser? Sie waren also schon mal hier?« »Ja. Genau am Abend des 1. März. Sagt ihnen dieses Datum etwas?« »1. März sagten sie? Nein. Was soll denn am 1. März gewesen sein?« »Damals stürmten mehrere Männer hier rein und überfielen die Gäste. Erinnern sie sich jetzt?« »Verdammt, sie haben Recht. Das war am 1. März. Und sie wa- ren also damals auch hier? Wurde ihnen was gestohlen?« »Nein, außer mein Rasierwasser.« »Ihr Rasierwasser? Das wurde aber nicht gestohlen. Steht doch dort drüben. Sie können es nehmen, wenn sie wollen.« »Und sie wissen nicht, wie es dorthin gekommen ist?« »Nein, Señor. An dem Abend herrschte ein riesiges Durchein- ander. Ich kann mich beim besten Willen nicht mehr erinnern.« Wusste er tatsächlich nichts davon? Hatte ich es mir wirklich nur eingebildet? Da das Rasierwasser noch immer dort stand, wo ich es das letzte Mal gesehen hatte, könnte es also durchaus sein, dass der Typ wirklich nichts damit zu tun hatte. Aber eines störte
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mich noch. Er siezte mich. Das letzte Mal hatte er mich noch geduzt. Ich hatte den Eindruck, als wollte er besonders nett zu mir sein. Als hätte er ein schlechtes Gewissen. »Señor. Wollen sie nun ihr Rasierwasser, oder nicht?«
»Nein. Sie können es behalten.«
Ich nahm ein Taxi und fuhr zum Flughafen.
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Flug nach Hause
Um acht Uhr war ich am Flughafen. Mein Ticket war von der British Airways. Ich ging darum gleich zum Schalter der entspre- chenden Fluggesellschaft. Dort versuchte ich der Dame zu erklä- ren, weshalb ich gestern meinen Flug verpasst hatte. Glücklicherweise konnte sie mich, ohne Aufpreis, auf eine an- dere Maschine umbuchen. Einen Aufpreis hätte ich auch gar nicht bezahlen können, denn ich war fast pleite. Ich hatte vielleicht noch etwa 60.000 Pesos und 50 US Dollar in meiner Hosentasche. Meine neue Abflugzeit war um fünf Uhr nachmittags. Ich musste also noch mehrere Stunden warten. Den Flughafen wollte ich auf keinen Fall verlassen, sonst wäre ich womöglich noch in irgend- was reingeraten und ich hätte meinen Flug erneut verpasst. Zuerst ging ich gemütlich frühstücken. Danach kaufte ich mir eine Zeitung und setzte mich auf eine Bank. Ich blätterte durch die Seiten und las hier und da einen Artikel. Ab und zu schaute ich auch dem Geschehen um mich herum zu. In der Ferne sah ich den jungen Schuhputzer, der mir bei mei- ner Ankunft die Schuhe putzen wollte. Er versuchte es nun an- scheinend am Flughafen, vielleicht hatte er in der Stadt nicht so viel zu tun, dachte ich. Ich schaute auf meine Schuhe. Sie sahen richtig schlecht aus. Sie waren bereits alt, als ich sie geerbt hatte, doch nun sahen sie noch älter aus. Die brauchten keinen Schuh- putzer, die brauchten einen Abfallsack. Hoffentlich halten sie noch einen Tag, dachte ich.
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Der junge Schuhputzer war mittlerweile in meine Nähe gekom- men. Er lief an mir vorbei, warf einen beiläufigen Blick auf mei- ne Schuhe und zog weiter. Anscheinend war auch er der Meinung, dass man meinen Schuhen nicht mehr helfen konnte. Er hat auch kurz zu mir aufgeschaut, doch vermutlich hat er mich nicht mehr erkannt. So gegen Mittag rief ich Manuela an und erzählte ihr, was mir passiert war. Komisch, aber diesmal glaubte sie mir auf Anhieb. Danach rief ich meinen Kumpel in der Schweiz an und fragte ihn, ob er mich morgen am Flughafen abholen würde. Meinen Eltern hatte ich hingegen nicht gesagt, dass ich morgen ankommen wollte. Ich hasse nämlich große Empfangsorgien am Flughafen. Wenn ich meiner Mutter gesagt hätte, dass ich morgen ankäme, wäre sie mit der ganzen Belegschaft am Flughafen ge- standen, als käme der König von Zamunda wieder heim. Nach dem Telefonieren ging ich etwas essen. Ich setzte mich in ein Restaurant und bestellte eine warme Mahlzeit. Einige Tische weiter saßen drei Mädchen. Ich fragte mich kurz, woher ich sie kannte, doch dann erinnerte ich mich wieder: Die Schweizer Mäd- chen aus dem Parque Tayrona. Schien, als wäre ihre Reise auch zu Ende. Sie schauten zu mir rüber, erkannten mich aber nicht. Ich glaube zumindest, dass sie mich nicht erkannt hatten, denn sie zeigten null Reaktion. Ich erinnerte mich an Cristina und an unser Spiel mit der deut- schen Sprache. Damals hatte alles angefangen, weil die drei Mäd- chen über mich gelästert hatten. Hätte ich mich wegen diesen drei Mädchen nicht als Italiener ausgegeben, hätte meine Reise viel-
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leicht einen ganz anderen Lauf genommen. Ich hätte meine Freun- de nicht befreit, ich hätte Edi und Fabio nicht kennengelernt und vor allem hätte ich Manuela nicht kennengelernt. Eigentlich sollte ich den Mädchen dankbar sein dafür, dass sie mich damals für ein Arschloch hielten. Das Leben ist manchmal schon seltsam. Nach dem Essen kaufte ich mir Zigaretten und spazierte ein wenig durch den Flughafen. Ich schlenderte durch die Läden und langweilte mich mächtig. Da erinnerte ich mich, dass ich noch etwas Punto Rojo in meinen Rucksack hatte. Doch damit konnte ich unmöglich durch die Zollkontrolle. Das letzte was ich noch brauchte, wäre eine Verhaftung gewesen. Ich musste mich also vom Gras trennen und zwar sofort. Die beste Idee schien mir, das Gras einfach in die Toilette zu werfen. Ich nahm also meinen Rucksack und ging aufs Männer- klo. Ich schloss mich in einer Toilette ein und nahm das Gras aus meinen Rucksack. Danach leerte ich es in die Schüssel und drück- te die Spülung. Und weg war es. Ich wollte schon die Tür aufschließen, als ich laute Stimmen hörte. Mehrere Männer waren ins Männerklo gerannt und unter- hielten sich laut. Sie waren anscheinend gut aufgelegt, denn sie lachten laut und redeten alle durcheinander. Ich blieb in der Toi- lette und wollte warten, bis sie wieder verschwunden wären. Die Typen blieben aber stehen und unterhielten sich weiter. An den unterschiedlichen Stimmen konnte ich erkennen, dass es sich um drei Männer handelte. Sie hatten anscheinend etwas vor, doch ich konnte nicht verstehen, worum es sich handeln könnte. Hörte sich aber ziemlich verbrecherisch an.
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Mit der Zeit bekam ich mit, dass sie über irgend welche Mäd- chen redeten. Sie hatten anscheinend vor, die Mädchen zu über- fallen, oder sie sonstwie übers Ohr zu hauen. Doch ich konnte keine Details mitbekommen. Die Männer redeten einen Slang, den ich nicht ganz verstand. Sie benutzten Ausdrücke, die anschei- nend typisch für Bogotá sein mussten. Nun konnte ich erst recht nicht mehr aus der Toilette raus. Sonst hätten die drei Typen gleich begriffen, dass ich alles mitbekom- men hatte. Scheiße. Was mache ich nun? Ich konnte doch nicht den ganzen Tag hier drinnen bleiben. Hoffentlich sind die drei Typen bald fertig, dachte ich. Endlich schienen sie alle Details besprochen zu haben und ver- ließen das Klo. Danach öffnete ich gleich die Tür und verließ eben- falls das Klo. Ich sah drei Typen Richtung Ausgang laufen. Ich erkannte gleich ihre Stimmen und folgte ihnen aus sicherer Entfernung. Sie liefen zu einem Auto und öffneten den Kofferraum. Ich konnte nicht genau sehen was sie machten, doch ich sah, wie einer etwas aus dem Kofferraum nahm und es unter seine Jacke versteckte. Da- nach liefen sie wieder zum Flughafen zurück. Wenn es eine Waffe ist, dachte ich, dann wären die drei Typen unmöglich an den Wächtern vorbeigekommen. Doch die drei Män- ner liefen an den Wächtern vorbei, ohne von ihnen kontrolliert zu werden. Merkwürdig, dachte ich. Stecken die Wächter mit denen unter einer Decke? Oder litt ich mittlerweile schon unter Paranoia und hatte mir alles nur eingebildet? Ich folgte wieder den drei Typen. Sie gingen ins Restaurant und setzten sich an einen Tisch. Ich setzte mich einige Tische weiter,
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so dass ich sie weiterhin im Auge behalten konnte. Sie bestellten etwas zu trinken und unterhielten sich weiter. Ich bestellte eben- falls ein Bier. Nach einer Weile kamen wieder die drei Schweizer Mädchen und setzten sich ebenfalls an einen Tisch. Ich sah, wie die drei Männer zu den Mädchen schauten. Danach gaben sie sich gegen- seitig Zeichen, als wollten sie sich ans Werk machen. Die drei Männer standen auf und liefen zu den drei Mädchen rüber. Sie setzten sich an deren Tisch und fingen an zu quatschen. Sah so aus, als würden sie die Mädchen anmachen wollen, als wür- den sie mit ihnen flirten. Die Mädchen reagierten freundlich dar- auf und ließen sich von den drei Männern anmachen. Ich beobachtete eine Weile ihren Tisch. Danach musste ich drin- gend aufs Klo. Diesmal aber wirklich und nicht um irgendwelches Gras zu versenken. Ich versuchte es zu unterdrücken, doch nach einer Weile konnte ich nicht mehr. Ich nahm meinen Rucksack und ging aufs Klo. Als ich zurückkam, waren die sechs weg. Ich schaute mich um, doch ich konnte sie nirgends sehen. Das Auto der drei Männer stand aber immer noch draußen, also mussten sie noch im Flug- hafen sein. Ich setzte mich auf eine Bank und zündete mir eine Zigarette an. Nach einer Weile sah ich den jungen Schuhputzer wieder. Er war aber nicht alleine. Ein Mädchen war mit ihm. Das Mädchen kam mir irgendwie bekannt vor. Ich hatte sie schon irgendwo ge- sehen, doch ich konnte mich nicht mehr erinnern. Als sie bei mir vorbei kamen und ich das Mädchen aus der Nähe sehen konnte, erinnerte ich mich wieder: Das Mädchen aus dem Hotel
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Explorador in Santa Marta. Sie hatte doch Fredo und mir den Tipp gegeben, ins Parque Tayrona zu fahren? Seltsam, dass sie nun hier in Bogotá war. Plötzlich erinnerte ich mich an meinen Traum. Da tanzte doch der junge Schuhputzer mit dem Mädchen aus Santa Marta? Und nun waren beide hier am Flughafen. Kannten sie sich also doch? Verrückt, dachte ich. Genau wie im Traum. Dieser Traum! Alles, was darin vorgekommen war, erwies sich im Nachhinein als Wahrheit. Obwohl ich damals vieles noch gar nicht wissen konnte, träumte ich dennoch davon. Sigmund Freud würde wahrscheinlich die hellste Freude daran haben, meinen Traum zu analysieren, nachdem er sich eine Linie Perico rein- gezogen hätte, wohlgemerkt. Das Mädchen und der Junge liefen an mir vorbei und ich schau- te ihnen nachdenklich nach. Da sah ich plötzlich im Hintergrund wieder die drei Typen mit den drei Mädchen. Sie kamen in meine Richtung. Ich beobachtete sie eine Weile, bis sie an mir vorbei waren. Vielleicht hatten die drei Typen ja gar nichts Böses vor. Viel- leicht bildete ich mir wirklich nur alles ein. Doch was wäre, wenn sie doch etwas Böses im Sinn hatten? Wie konnte ich es bloß raus- finden? Da kam ich auf eine Idee und ich rief den jungen Schuh- putzer. »Soll ich ihnen die Schuhe reinigen, Señor?« fragte er. »Nein, danke. Die würden es nicht überleben. Du kannst dir aber trotzdem ein paar Pesos verdienen.« »Und was müsste ich tun?«
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»Siehst du die drei Typen dort drüben? Die neben den drei Mäd- chen?« »Ja, Señor.« »Du brauchst nur zu ihnen zu gehen und ihnen unauffällig zu sagen, dass du gesehen hast, wie die Polizei sie schon seit langem beobachten würde.« »Nur das? Sind sie sicher, Señor?« »Ja. Du darfst aber auf keinen Fall sagen, dass ich dich geschickt habe. Und du darfst nachher nicht zu mir kommen, sonst merken die, dass ich dich geschickt habe. Alles klar?« »Alles klar, Señor.« »Hast du auch wirklich alles verstanden?« »Alles, Señor.« »Also geh. Danach bekommst du dein Geld. Aber komm erst, wenn die drei Typen weg sind.« Der Junge zog los und lief unauffällig zu den drei Typen rüber. Das Mädchen blieb neben mir stehen und schaute ihm nach. Sie hatte mich anscheinend auch nicht erkannt. »Woher kennst du den Jungen?« fragte ich sie. »Er ist mein Bruder.« »Dein Bruder? Warst du nicht mal in Santa Marta im Hotel Explorador?« »Ja, wieso?« »Ich war auch mal dort. Kannst du dich noch an mich erin- nern?« »Nein, tut mir leid.« »Macht nichts. Hat es dir in Santa Marta nicht mehr gefallen?«
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»Doch, aber mein Bruder war hier alleine in Bogotá. Ich kam hierher, um aufzupassen, dass er nicht in schlimme Kreise kommt.« »Und wo sind eure Eltern?« »Die sind schon lange tot.« »Das tut mir leid.« Der Junge war mittlerweile bei den drei Typen angekommen und versuchte, ihnen zuerst mal seine Dienste anzubieten. Doch die wollten nichts davon wissen, sich die Schuhe putzen zu lassen. Sie gaben dem Jungen zu verstehen, dass er sich verziehen sollte. Danach sah ich, wie der Junge beiläufig etwas zu einem der drei Typen sagte und danach weiter lief. Der Typ war anscheinend ziemlich überrascht darüber und schau- te dem jungen Schuhputzer nachdenklich nach. Ein anderer frag- te ihn, was los sei. Dieser flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die zwei fingen an, sich nervös umzuschauen. Auch der dritte Typ hatte mittlerweile mitbekommen, dass etwas nicht stimmen konnte und erkundigte sich. Anschließend schauten alle drei recht nervös umher. Das Ganze ging etwa zwei Minuten so weiter. Danach verab- schiedeten sich die drei Typen eilig von den Mädchen und verlie- ßen den Flughafen. Durch die Glasfront sah ich sie ins Auto stei- gen und davonfahren. Die Jungs waren also doch nicht ganz sau- ber. Die drei Mädchen wussten vermutlich gar nicht, was ihnen vor- schwebte. Doch nun waren sie ja wieder außer Gefahr. Ich hatte ihnen sozusagen meine Dankbarkeit gezeigt, indem ich sie vor den drei Typen rettete.
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»War das ok so?« fragte mich der junge Schuhputzer, der mitt- lerweile hinter mir stand. »Das war sehr gut so, Kleiner. Hier hast du 500 Pesos.« »Nur 500 Pesos?« »He, was ist? Für eine Schuhreinigung verlangst du 1000 Pesos. Und um eine Mitteilung zu überbringen, willst du genauso viel?« »Geben sie mir wenigstens noch eine Zigarette.« »Eine Zigarette? Wie alt bist du eigentlich?« »Zehn.« »Und du rauchst schon?« »Klar. Ich bin doch kein Kind mehr.« »Pass auf. Nimm deine 500 Pesos und verzieh dich. Und wenn ich dir noch einen guten Rat geben darf: Hör auf zu rauchen!« »Keine Zigarette also?« »Nein. Keine Zigarette.« Danach passierte nichts aufregendes mehr. So gegen vier Uhr durfte ich dann endlich einchecken. Ich gab meinen Rucksack ab und fragte die Dame, ob ich einen Raucherplatz haben könnte. An- schließend gings zum Gate. »Last call for passengers to Rome«, murmelte ich schmunzelnd vor mich hin. Endlich war es soweit und wir konnten einsteigen. Die drei Mäd- chen waren ebenfalls in der selben Maschine wie ich. Sie saßen einige Reihen weiter vorne, in der Nichtraucherzone. Ich machte es mir bequem und holte mein Tagebuch hervor. Die Zeit war gekommen, die letzten Eindrücke meiner Reise zu notieren, denn ich hatte bisher alles minutiös aufgeschrieben. Jede Situation, jeden Ort, jede Person, einfach alles. 374
Nach einer Weile war ich fertig mit dem Schreiben. Ich klappte das Tagebuch zu und schaute es nachdenklich an. Danach schlug ich die erste Seite auf, als würde ich anfangen, ein Buch zu lesen. In den letzten fünf Monaten hatte ich es nie gelesen. Ich hatte immer nur geschrieben und höchstens jeweils die zuletzt geschrie- benen Seiten gelesen. Aber nie das Ganze. Ich fing an zu lesen und konnte nicht mehr aufhören. Das Tage- buch war so spannend, dass ich mich manchmal fragte, ob ich das ganze tatsächlich erlebt hatte. Vieles kam mir so fremd und weit weg vor, dass ich mich kaum daran erinnern konnte. Aber zum Glück hatte ich ja alles aufgeschrieben. Ich war so richtig in meine Lektüre vertieft, als mich eine weib- liche Stimme ansprach. »Möchten sie Beef oder Chicken, Sir?« »Flight delayed«, antwortete ich. »Wie bitte, Sir?« »Ich sagte Chicken.« »Gerne, Sir.« Sorry, aber ich konnte es mir nicht verklemmen. Kam einfach spontan. So gegen neun Uhr wurde ich langsam müde. Da ich in der mitt- leren Reihe saß und die restlichen drei Sitze frei waren, machte ich es mir auf der gesamten Länge bequem und schlief ein. Als ich aufwachte waren wir kurz vor der Landung in Madrid. In Madrid stieg ich in den Flieger, der mich in die Schweiz bringen sollte. Ein paar Stunden später war ich dann endlich in der Schweiz. Ich spürte langsam die Nervosität. Nach fünf Monaten wieder zu 375
Hause. Obwohl ich eine schöne Zeit hinter mir hatte, freute ich mich dennoch. Nach der Landung wollte ich mein Gepäck holen, doch es kam nicht. Ich stand vor dem Fliessband und wartete auf meinen Ruck- sack, doch der ließ sich nicht blicken. Mittlerweile hatten alle Passagiere ihr Gepäck genommen und waren bereits durch den Zoll gelaufen. Nur ich stand noch da und hoffte auf ein kleines Wunder. Irgendwann begriff ich, dass mein Gepäck nicht angekommen war. Ich ging zum Informationsstand und erkundigte mich. Die Dame meinte, dass sowas in der Ferienzeit oft passiere. Vermut- lich sei mein Gepäck in ein falsches Flugzeug gekommen und wäre jetzt irgendwo auf dieser Welt gelandet. Sie ließ mich ein Formu- lar ausfüllen und versprach mir, dass spätestens in zwei Tagen mein Gepäck wieder da sei. Danach durfte ich endlich gehen. Die Dame hatte etwas von Ferienzeit gesagt. Tatsächlich, in Eu- ropa war es Sommer. Für mich war allerdings die Ferienzeit be- reits vorüber. Es war der 1. August, Schweizer Nationalfeiertag. Treffender Tag, um wieder nach Hause zu kommen, dachte ich. Draußen wartete schon ungeduldig mein Kumpel »He, Alter. Schön dich wieder zu sehen. Wo ist denn dein Ge- päck?« »Weiß nicht. New York? Sydney? Tokio?« »Hauptsache du bist da. Wie gehts dir? Wie wars denn in Ko- lumbien?« »Kolumbien? Chimba!«
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Epilog
Nach einigen Tagen kam dann mein Gepäck tatsächlich an. Da- nach wurde mein Leben bedeutend ruhiger. Keine Abenteuer mehr, keine Entführungen, keine Lösegelder. Nur lauter Zufälle und Le- benszeichen. Mittlerweile habe ich sogar mit dem Rauchen aufge- hört, Zigaretten meine ich. Was aus meinen Freunden wurde? Ein paar Monate nach meiner Rückkehr rief ich Fredo an. Er erzählte mir, dass sie damals alle nach Bogotá geflogen sind und dort mit Hilfe der Botschaften neue Pässe bekommen haben. Danach flogen sie alle nach Hause. Seitdem telefonieren wir ab und zu miteinander. Auch mit den anderen habe ich noch Kontakt. Mit Deven, Elena und Inbar tau- sche ich regelmäßig E-mails aus. Cristina habe ich seither nicht mehr gesehen, doch wir haben ein paar Mal miteinander telefo- niert. Fabio hingegen sehe ich oft. Mittlerweile lebt er wieder in Rom und kommt von Zeit zu Zeit in die Schweiz, oder ich fahre zu ihm nach Rom. Und Manuela? Zwei Tage nach meiner Rückkehr habe ich mit ihr telefoniert. Zwei Wochen danach vermisste ich sie bereits sehr. Und zwei Monate später kam sie in die Schweiz. Heute sind wir glücklich verheiratet und haben drei wunderschöne Töchter. Seitdem bin ich mehrmals wieder in Kolumbien gewesen, vor allem in Medellín. Doch es war nie wieder so aufregend wie das erste Mal. Las Copitas gibt es nicht mehr und auch die Jungs sind nicht mehr da. Vermutlich haben sie einen neuen Treffpunkt, oder sind, wie ich, ganz einfach älter geworden. Auch Gregorio und
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José habe ich nie mehr gesehen. Doch Kolumbien ist trotzdem immer wieder eine Reise wert. In Popayán bin ich seither nie wieder gewesen. Schade eigentlich, denn ich wüsste gerne, was aus dem Paisa geworden ist. Ob er das Todo Listo noch hat, oder ob er es schon dicht machen musste. Ich glaube, ich muss doch wieder Mal nach Popayán. Im Sommer 1996 hörte ich in den Nachrichten, dass am Flughafen von Medellín ein gewisser Kerner Rauss verhaftet worden war. Man erwischte ihn dabei, wie er mit seiner Frau und einem entführten Mädchen das Land verlassen wollte. Mehrere Monate später wurde er aber wieder freigelassen. Anscheinend war er doch der Vermittler, den ich nie finden konnte. Weshalb ich aus meiner Geschichte ein Buch gemacht habe? Einige werden jetzt sagen, weil ich es nicht geschafft habe, einen Sohn zu zeugen. Nein, die muss ich leider enttäuschen. Obwohl Edi damals gesagt hatte, dass ein Mann erst ein Mann ist, wenn er entweder ein Buch geschrieben, oder einen Sohn gezeugt hat, war meine Motivation eine andere. Letzten Sommer kamen meine Eltern aus ihren Ferien zurück und ich holte sie am Flughafen ab. Das Flugzeug hatte aber zufällig eine Stunde Verspätung und ich musste solange am Flughafen warten. Um nicht in Langeweile zu verfallen, kaufte ich mir die erstbeste Zeitschrift, die mir zufällig in die Finger kam. Darin las ich zufällig einen Artikel über The Beach, ein Buch von Alex Garland. Die Geschichte versprach interessant zu sein und ich nahm mir vor, das Buch zu kaufen.
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The Beach erzählt von einem jungen Engländer, der mit dem Rucksack nach Thailand reist. Dort angekommen, erfährt er auf mysteriöse Weise von einem Strand, der angeblich unmöglich zu finden sei. Er beschließt, zusammen mit einem Pärchen aus Frankreich, diesen Strand zu finden. Auf der Suche nach dem Strand erleben die drei mehrere Abenteuer, die mich immer wieder an meine Reise durch Kolumbien erinnerten. Situationen, die ich damals in ähnlicher Weise auch erlebt hatte. Gefühle, die ich damals auch hatte. Ängste, gegen die ich damals auch kämpfen musste. Während ich das Buch las, hatte ich zeitweise das Gefühl, als sei ich mit den drei Darstellern in Thailand. Ich durchlebte geistig wieder meine Reise durch Kolumbien. In drei Tagen hatte ich The Beach gelesen und drei Tage lang war ich wieder im Jahr 1995. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, erinnerte ich mich wieder an mein Tagebuch. Mittlerweile verstaubte es, versteckt in einem Bücherregal. Eines Abends habe ich es wieder gelesen. Danach kam mir die Idee, dieses Buch zu schreiben. Es mussten sich also gleich mehrere Zufälle ereignen. Edi würde sogar sagen, dass ich dieses Buch bereits schreiben wollte, als ich zur Welt kam. Ein perfektes Beispiel von Lebenszeichen, oder?
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