Michael Hartland
Sieben Schritte
zum Verrat
Action-Thriller
Deutsche Erstveröffentlichung
GOLDMANN VERLAG
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Michael Hartland
Sieben Schritte
zum Verrat
Action-Thriller
Deutsche Erstveröffentlichung
GOLDMANN VERLAG
Aus dem Englischen übertragen von Martina Taylor
Titel der Originalausgabe: Seven Steps to Treason
Originalverlag: Hodder & Stoughton Ltd. 1985
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der
Verlagsgruppe Bertelsmann
Made in Germany • 3/89 • Sonderausgabe
© der Originalausgabe 1985 by Michael Hartland
© der deutschsprachigen Ausgabe 1987
by Wilhelm Goldmann Verlag, München
Umschlaggestaltung: Design Team München
Umschlagfoto: The Image Bank, Trent V. Faint
Satz: Fotosatz Glücker, Würzburg
Druck: Elsnerdruck, Berlin
Verlagsnummer: 68838
Lektorat: Ursula Walther/UK
Herstellung: Peter Papenbrok/Voi
ISBN 3-442-08838-0
Bill Cable wurde vor langer Zeit aus dem britischen Geheimdienst entlassen und in die diplomatische Provinz – als UNO-Botschafter nach Wien – versetzt. Die Russen haben ihn aufgrund eines Dokuments, das er als Gefangener in Asien vor dreizehn Jahren unterzeichnet hat, in der Hand. Sie erpressen ihn und verlangen Informationen über geplante Waffenund Truppentransporte nach Polen. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, entführen die Sowjets Cables Tochter Sarah und bedrohen ihr Leben. Cable, der sich von Verrätern umgeben und von seiner Regierung im Stich gelassen glaubt, unternimmt die ersten Schritte zum Verrat… Michael Hartland wurde in Cornwall geboren und studierte an der Universität von Cambridge. Bevor er sich als Schriftsteller etablierte, arbeitete er zwanzig Jahre lang im Dienst der britischen Regierung. Er unternahm als Diplomat viele Reisen ins Ausland, wirkte und arbeitete als Direktor einer Niederlassung der Vereinten Nationen und in der Terrorismusabwehr. Michael Hartland ist verheiratet und hat zwei Töchter; er lebte mehrere Jahre lang in Wien, bevor er nach England zurückkehrte und sich in der Grafschaft Devon niederließ.
Für meine Töchter Ruth und Susanna
Alle in diesem Buch beschriebenen Personen
(mit Ausnahme von Raoul Wallenberg),
Regierungsbehörden und Ereignisse
entspringen der Phantasie des Autors
und beziehen sich in keinster Weise
auf richtige Personen, Regierungsbehörden oder Ereignisse.
Burgenland
Sie stellte ihr Fahrrad im Schatten einer Fichte ab und ging zum See hinunter, wobei ihr bewußt war, daß der junge Mann auch angehalten hatte. Ein paar Stunden lang war er im Abstand von ein paar hundert Metern hinter ihr hergeradelt – eigentlich hatte er sich seit gestern abend, als sie in derselben Pension in Podersdorf übernachtet hatten, in ihrer Nähe aufgehalten. Er hatte sie nicht angesprochen, und sie hatte ihn auch am Morgen, als sie ihr Frühstück allein auf der Terrasse einnahm, nicht gesehen. Allerdings war ihr erst später, als sie auf ihrem Fahrrad den engen Weg durch das Schilfgewächs am Seeufer entlangfuhr, klargeworden, daß er ihr folgte – und jetzt schlenderte er mit berechneter Lässigkeit durch die Bäume auf sie zu. Sie empfand keine Unruhe, geschweige denn Angst, denn sie befand sich ja im friedlichen Österreich, das in warme Mittseptembersonne getaucht war. Sie hatte Lust auf ein Abenteuer, und während sie vorgab, voller Interesse die auf dem blauen Wasser vorbeiflitzenden Motorboote zu beobachten, lief ihr ein leiser Schauer der Erwartung über den Rücken. Jetzt stand er sehr nahe neben ihr, und ein Blick aus den! Augenwinkeln sagte ihr, daß er gut aussah, dunkle Locken und ein freundliches Lächeln hatte und daß auf seiner Brust unter dem geöffneten Hemd eine goldene Medaille funkelte. Sie widmete sich weiterhin der Aussicht auf den See. Der Neusiedler See erstreckte sich nach beiden Seiten. An den schilfbewachsenen I Ufern waren kaum Menschen zu sehen – nur hin und wieder konnte man in der Ferne Campingplätze mit bunten Zelten erkennen. Der größte Teil des Sees lag in
Österreich, aber im Süden – zu ihrer Linken – verlief er über die Grenze nach Ungarn. Hinter dieser unsichtbaren Linie gab es keine Motorboote und keine fröhlichen Farben mehr; das Ufer war von Wachtürmen, die in Abständen von 500 Metern standen, eingesäumt. »Ist das nicht ein wunderschöner See?« sagte der Fremde schließlich; er sprach englisch in einem leicht gutturalen Tonfall. Sie lächelte kühl. »Wie bitte?« fragte sie auf deutsch. Mal sehen, wie lange er sie mit ihrer Sonnenbräune und ihren langen, blonden Haaren für eine Österreicherin halten würde. Es funktionierte nicht. »Ich störe Sie doch hoffentlich nicht?« fragte er. »Wie heißen Sie bitte?« Er sah sie prüfend an – sie war schön, ein schlankes Mädchen von etwa neunzehn oder zwanzig. Ihre grauen Augen in dem ovalen Gesicht waren charaktervoll und strahlten einen gewissen Ernst aus, der einen auffallenden Kontrast zu ihren fohlenhaften, langen braunen Beinen und ihren ausgefransten Jeansshorts bildete. Sie zögerte. »Ich heiße Sarah – Sarah Cable –, aber woher wußten Sie, daß ich Engländerin bin?« »Für eine Österreicherin sind Sie zu schlank – ich dachte mir, daß Sie entweder Engländerin oder Schwedin sein müssen.« Trotz des plumpen Kompliments lachte er gewinnend. »Sind Sie hier auf Urlaub?« »Ja.« »Ich heiße Rudolf – oder lieber Rudi.« Er hielt inne, als ob er nach den richtigen englischen Worten suchte, aber sie sagte nichts, also fuhr er ungeschickt fort. »Ich arbeite bei einer Bank in Wien. Ich bin nur für einen Tag an den Neusiedler See gefahren, um Vögel zu beobachten.« Er deutete auf einen weiter südlich gelegenen verlassenen Uferabschnitt. Auf Sarahs Landkarte wurde er als Naturschutzgebiet bezeichnet. Sie schlenderten ganz artig, ohne sich zu berühren, ein wenig
am Ufer entlang. Dann versuchte er es wieder: »Wohnen Sie in Wien?« »Ja.« Ihr plötzliches breites Lächeln und die Sommersprossen auf ihrer Nase ließen sie einnehmender und etwas weniger kühl und distanziert wirken. »Wir leben seit zwei Jahren hier. Davor wohnten wir in London – und davor in Stockholm. Ich fühle mich sehr geschmeichelt, daß Sie mich für eine Schwedin gehalten haben! Im Oktober gehe ich nach England zurück – ich möchte an der Universität studieren.« Er sah bei diesen Worten ein wenig niedergeschlagen aus. »Ich hätte auch gerne die Möglichkeit gehabt zu studieren. Wohnen Sie bei Ihren Eltern?« »Bei meinem Vater – meine Eltern sind geschieden.« Und Vati ist zu sehr von mir abhängig, seit Lucy gestorben und Mutti abgehauen ist, dachte sie. Ich hätte schon vor einem Jahr eine Arbeitsstelle annehmen oder zur Uni gehen sollen, anstatt herumzuhängen, seine Wirtschafterin zu spielen und zu all diesen gräßlichen Diplomatenpartys zu gehen. Aber ich bin selbst daran schuld. Er hat mich nie dazu gezwungen, bei ihm zu bleiben – und sieh mal einer an, wie eifersüchtig ich plötzlich war, als er sich mit dieser kleinen jüdischen Zicke einließ, die halb so alt wie er und nur ein paar Jahre älter ist als ich. »Ich habe meine eigene Wohnung.« Er sagte es voller Stolz, was angesichts der österreichischen Gehälter verständlich war. »Wie schön für Sie«, antwortete Sarah abwesend. Sie dachte immer noch über ihren Vater nach… und jetzt bestrafte sie ihn damit, daß sie eine Woche lang allein verreist war. »Ich mache eine Tour durchs Burgenland, Vati«, hatte sie bewußt vage gesagt; er wußte nicht einmal, wo sie jetzt war. »Ich brauche etwas Zeit für mich, um mir über einiges klar zu werden.« Aber das hatte sie schon nach einer Nacht geschafft. Im Innersten war Sarah froh, daß er Naomi gefunden hatte,
obwohl sie sie immer noch nicht mochte. Mit ihrer Mutter war er schrecklich unglücklich gewesen, und die Scheidung war für alle eine Erleichterung gewesen; sie hatte einen Schlußpunkt hinter jahrelange, bohrende Bitterkeit gesetzt. Wenigstens war ihr Vater jetzt nicht mehr allein, und das machte es Sarah leichter, ihn zu verlassen und sich ihr eigenes Leben aufzubauen. Und das war wohl die beste Lösung. Ihr Begleiter sagte etwas. Sie lächelte ihn an. »Tut mir leid – ich war mit meinen Gedanken ganz woanders. Was haben Sie gesagt?« »Hätten Sie Lust, mit mir die Sumpfvögel zu beobachten? Sie sind äußerst interessant.« Es klang sehr mitteleuropäisch. »Wir können uns meinen Feldstecher – und mein Mittagessen – teilen. Ich habe auch etwas Bier dabei.« Sie lächelte wieder, zögerte aber ein bißchen. Es war eigentlich nicht ihre Art, mit fremden Männern loszuziehen – und er hatte sie so offensichtlich »aufgerissen«. Aber irgend etwas an ihm faszinierte sie. Ihr plötzliches Gefühl von Achtsamkeit wurde von Neugierde und der Lust auf ein Abenteuer überrollt. »Das wäre phantastisch – eine gute Idee«, hörte sie sich sagen. Als sie mit den gleichen langen Schritten – denn sie waren beide groß – den Weg entlanggingen, brannte die Sonne ihnen auf den Rücken, und sie verspürte plötzlich ein unbeschreibliches Glücksgefühl. Sie war erst eine Nacht unterwegs gewesen und sah die Dinge bereits in der richtigen Perspektive. Es war unvernünftig gewesen, mit ihrem Vater Streit anzufangen; trotzdem hatte sie vor, ihn eine Woche lang in seinem kalt anmutenden Haus in Grinzing allein zu lassen. Das verdiente er dafür, daß er ihr nicht schon früher von Naomi erzählt hatte. Und mit mehr Glück als Verstand hatte sie für diesen Nachmittag einen Gefährten gefunden, mit dem sie sicher eine Menge Spaß haben würde. Sie fuhren auf ihren
Fahrrädern weiter südlich und aßen in der Kuhle einer Sanddüne am Wasser zu Mittag. Rudi hatte ein königliches Mahl mitgebracht: knuspriges Weißbrot, ungarische Salami, milden Schafskäse und knackige gelbe Peperoni. Es war seltsam, sich vorzustellen, daß er all das in der Hoffnung eingepackt hatte, sie aufzugabeln – vielleicht war er aber auch romantisch. Sie lagen faul in der Sonne und unterhielten sich. Rudi bestand darauf, sein mühsames Englisch zu üben – was ihr lieb war, da sie es immer noch recht schwierig fand, deutsch zu sprechen – und je leichter ihm die Worte über die Lippen kamen, desto unterhaltsamer wurde er. Sie beobachteten keine Vögel. Nach dem Mittagessen und einigen Flaschen Bier schwammen sie im See: sie in dem Bikini, den sie unter ihrem blauen Hemd und ihren Shorts getragen hatte, er in einer schwarzen Badehose. Danach fanden sie nichts dabei, ihr Schwimmzeug zum Trocknen an einen Busch zu hängen, während sie nebeneinander auf einem großen Badetuch nackt in der Sonne lagen. Als er begann, sie von den Schultern bis zum Ansatz ihrer schlanken Schenkel zart zu streicheln, wand sie sich vor Wonne. Dann drehte sie sich auf den Rücken und sah ihn schläfrig durch ihre halbgeschlossenen Lider an. Er kniete und lächelte auf sie herunter. Ihre Augen wanderten von seiner behaarten Brust unwiderstehlich nach unten. Sein Glied war nicht wie die anderen, die sie gesehen hatte – und das waren nicht so viele gewesen –, sondern steif und braun wie das Ende eines dicken Taus. Sarah fühlte, wie sie errötete, dann seufzte sie vor Erregung, als er ihre Brüste liebkoste. Sie wußte, daß sie einen schönen Busen hatte. Die Hitze hatte sie schläfrig gemacht, und sie versuchte, sich vorzustellen, was passieren würde. Einerseits wollte sie mit ihm schlafen, aber sie empfand auch Schuldbewußtsein – und ein bißchen Angst.
Sie ließ sich in seine Arme sinken, ohne zu einem Entschluß gekommen zu sein, und fühlte seine Zunge zwischen ihren Zähnen und seine Hand zwischen ihren Schenkeln. Sie legte sich über ihn und erwiderte seinen Kuß, und ihr ganzer Körper war plötzlich wie entflammt. Sie schloß die Augen, aber er drang nicht in sie ein, wie sie es erwartet hatte. Statt dessen verspürte sie einen plötzlichen stechenden Schmerz am linken Oberschenkel. Ihre Augen öffneten sich vor Überraschung. »Au! Ich bin von einem Moskito gestochen worden.« Sie lächelte ihn schelmisch an. »In den Po.« Als sie die schmerzende Stelle reiben wollte, wurde ihr bewußt, daß sie ihren Arm kaum bewegen konnte. Und dann fühlte sie ein schreckliches, lähmendes Gefühl, das von ihrem Bein heraufkroch. Er stieß sie grob von sich weg und sprang auf; seine Augen waren kalt, und keine Zuneigung war mehr darin zu lesen. Während sie sich im Sand wand, sah sie das metallische Instrument in seiner Hand glitzern, und sie wurde von einer Welle von Angst überschwemmt, als sie begriff, was geschehen war. Sie versuchte, ihre Furcht unter Kontrolle zu halten, aufzustehen und wegzulaufen – aber ihre Beine gaben unter ihr nach, und sie fiel erschöpft von der Anstrengung in den Sand zurück. Lieber Gott, sie verspürte überall Schmerzen, sie konnte ihre Glieder nicht mehr bewegen! Sie öffnete den Mund, um zu schreien, aber ihre Kiefer waren wie gelähmt und sie brachte keinen Ton heraus. Dann ließ der Schmerz nach, und in einem Moment der Klarheit erinnerte sie sich daran, daß niemand, aber auch niemand sie zusammen mit diesem Mann gesehen hatte. Dann wurde der Schein der Sonne immer greller, alles verschwamm ihr vor den Augen, und sie verlor das Bewußtsein.
Der Mann, der sich Rudi nannte, zog sich wieder an. Er steckte die winzige Stahlnadel sorgsam in eine Metallhülse und nahm eine große Spritze aus der Satteltasche seines Fahrrads. Er kniete sich neben das Mädchen, hob ihren Arm auf und spritzte die Flüssigkeit vorsichtig in eine Vene. Jetzt würde sie mindestens vierundzwanzig Stunden lang schlafen. Ihre Haut fühlte sich kalt und feucht an, und er blickte besorgt um sich, bis er mit Erleichterung sah, daß ein anderer Mann mit einer Decke zwischen den Bäumen hervorkam. Sie durfte unter keinen Umständen sterben. Sie wickelten sie in die Decke und legten sie in den Schatten; sie arbeiteten schnell und ohne viel Worte zu verlieren, als ob sie in solchen Angelegenheiten schon Übung hätten. Einer von ihnen watete zwischen den Schilfgewächsen ins Wasser und versenkte die beiden Fahrräder. Aus einem Lieferwagen, der etwa hundert Meter entfernt auf dem Weg geparkt hatte, wurde ein Gummiboot ausgeladen, dann fuhr der Wagen fort. Alle Dinge, die ihren Aufenthalt hätten verraten können, wurden sorgfältig im Wasser versenkt. Dann luden die beiden Männer das bewußtlose Mädchen zusammen mit ihrem Bündel Kleider in das Gummiboot und strichen mit einem Stück Treibholz den Sand glatt, um letzte Spuren zu verwischen. Sie paddelten schweigend zu einer Sandbank hinaus, wo sie in den hohen Schilfgewächsen verschwanden. Nachdem sie das Gummiboot aufs Trockene gebracht hatten, streckten sie sich auf dem Sand aus und warteten auf die Dunkelheit. Sie waren für jeden vorüberfahrenden Motorbootfahrer unsichtbar, aber an diesem Nachmittag kam sowieso niemand vorbei. In dieser Nacht gab es keinen Mond. Niemand sah die schwarze Silhouette des Gummiboots, während es langsam, mit tiefen Ruderschlägen, die wenig Plätschergeräusche verursachten, den dunklen See hinunterglitt und auf ungarischem Territorium verschwand. Am Morgen würden sie in Budapest sein.
Wien
Es war schon halb elf Uhr nachts, als das Gummiboot schließlich das ungarische Ufer erreichte. Zu dem Zeitpunkt saß seine Exzellenz Mr. William Cable in der Dunkelheit einer Loge in der Wiener Staatsoper. Er balancierte seinen hochgewachsenen Körper auf dem winzigen, samtbezogenen Sitz, während er zwischen den Köpfen der beiden Chinesen in der vordersten Reihe hindurchspähte. Normalerweise mochte Cable Opern gerne, aber diese Aufführung von »Madame Butterfly« war leidenschaftslos, beinahe langweilig, und er unterdrückte ein Gähnen, als endlich der letzte Vorhang fiel. Langsam gingen die Lichter an und enthüllten die fünf weiß- und goldverzierten Reihen von Logen und Galerien und schließlich die gleißende Kristallkuppel. Die unteren Logen waren von bürgerlichen Wienern in Abendrobe besetzt; von den Galerien ertönte Stampfen und Buhrufe, als der Dirigent mit den Hauptdarstellern auf der Bühne erschien. Die kleine Gesellschaft in der Loge erhob sich; die beiden Chinesen blickten verwirrt um sich und wirkten in ihren trübseligen grauen Uniformen etwas fehl am Platze. Der französische Botschafter und seine Frau geleiteten sie in das prächtige Treppenhaus, dessen Marmorballustrade sich bis zu den Kronleuchtern im Foyer schwang. Cable schüttelte den Gästen die Hand und ließ ihnen durch ihren Dolmetscher eine gute Nacht wünschen. Die beiden Chinesen lächelten und verneigten sich. Weiß der Teufel, warum Delacroix ihn dazu eingeladen hatte, diesen Abend mit Pekings Drittem Stellvertretenden Wirtschaftsminister, der sich
für Schwerindustrie interessierte, zu verbringen, aber zweifellos hatte er einen wichtigen Grund dafür, der erst später zutage kommen sollte. Cable lehnte eine Einladung zu dem unweigerlichen »letzten Gläschen« in der französischen Residenz ab und entfloh über eine Seitentreppe. Beim Weggehen bemerkte er, daß einer der schweren Jungs der sowjetischen Botschaft ihn neugierig anstarrte; aber als Cable ihn anblickte, drehte er sich abrupt um und interessierte sich angelegentlich für eine schwarze Marmorbüste von Gustav Mahler – »Operndirektor von 1897 1901«. Draußen wartete Fritz mit dem Wagen. Er öffnete die Tür, und Cable streckte sich genüßlich auf dem Rücksitz aus. Sie schlängelten sich durch den Verkehr, und am Ring beschleunigte der Fahrer und fuhr in Richtung Schottentor. Es hatte geregnet; als sie an den klappernden roten Trambahnen vorbeifuhren, spiegelten sich die Straßenlaternen auf den nassen Bürgersteigen unter den Bäumen der Allee wider. Der Wagen war ein Ford Minster-Modell, passend für einen Diplomaten vierten Ranges – der eigentliche, akkreditierte Botschafter für Österreich fuhr einen Rolls Royce. Cable war nur der britische Beauftragte für die Organisation der Vereinten Nationen, dessen Hauptquartier sich momentan in Wien befand. Aber während sie unter den gelben Straßenlampen nach Grinzing fuhren, lächelte er zufrieden – schließlich war es besser, als Mülltonnen zu leeren. Nach einem stürmischen Leben war es kein schlechter Zufluchtsort. Der Wagen hielt vor dem großen Haus in der Himmelstraße an. Er stieg die Treppe zur Eingangstür hoch, während Fritz den Wagen zur Botschaftsgarage zurückfuhr. In der Diele hatte Cables Wirtschafterin die Post und eine Liste von Anrufern zurechtgelegt. Einige weiße Umschläge waren an »Seine Exzellenz Mr. William Cable« adressiert –
höchstwahrscheinlich Einladungen. Er legte sie beiseite und widmete sich einer fröhlichen Ansichtskarte von Sarah. Sie endete mit »Mit Liebe an Schweinerüssel von Springinsfeld«. Er lächelte erfreut, daß sie die alten Kosenamen aus ihren Kindertagen benutzte, und hoffte, daß ihr Ärger etwas verflogen war, nachdem sie so beleidigt abgezogen war. Auf dem Poststempel der Karte stand Eisenstadt, also war sie bereits im Burgenland. Cable war seit neun Jahren geschieden und ans Alleinsein gewöhnt, aber er würde Sarah während ihrer Reise vermissen. Sein Gesicht sah weniger ernst aus, als er versuchte, sich vorzustellen, wo sie heute nacht war und was sie gerade tat. Das Haus war leer und seine Fußschritte hallten von den Wänden wider. Das Wohnzimmer hatte keine persönliche Atmosphäre. Auf dem polierten Parkettboden lagen einige Orientbrücken zwischen den chintzbezogenen Sesseln, die das Auswärtige Amt gestellt hatte: Hier konnte man zwar Leute empfangen, der Raum hatte jedoch nichts Wohnliches an sich. Er öffnete die Terrassentüren, aber bevor er Zeit hatte hinauszugehen, läutete das Telefon. Es war sein Erster Sekretär, Paul Skilbeck. »Tut mir leid, Sie zu so später Stunde stören zu müssen, Bill.« Skilbecks immer etwas hochnäsiger Ton verriet ihm, daß es ihm eigentlich scheißegal war. »Aber ich bin in die Botschaft gerufen worden. Von der anderen Abteilung ist gerade ein Telegramm eingetroffen…« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Wir sollten morgen darüber sprechen.« »Okay. Ich bin den ganzen Tag im Büro.« Cable runzelte die Stirn. Skilbeck war ein Geheimdienstbeamter, dessen diplomatische Stellung als Deckung benutzt wurde – eigentlich gehörte er nur zeitweise zu Cables Angestellten.
Die Beziehung zwischen ihnen war etwas gestört, da Cable über die meisten anderen Aktivitäten Skilbecks im Ungewissen gelassen wurde, obwohl er selbst einmal Beamter des Geheimdienstes gewesen war, bevor er »seßhaft wurde«, wie Skilbeck es herablassend bezeichnete. »Ja, ich weiß, Bill, aber ich bin morgen den ganzen Tag über im UNO-Zentrum. Könnten wir uns nicht dort treffen? Wir könnten zusammen im Napoleon zu Mittag essen.« »Geht leider nicht, Paul. Ich treffe mich schon mit Laszlo Kardos in der Stadt. Bei der UNO fängt niemand vor zehn Uhr morgens an; ich schlage vor, wir treffen uns um neun in der Botschaft, bevor Sie weg müssen. Paßt Ihnen das?« »Na gut, Bill – bis morgen dann.« Skilbeck klang verärgert, und er legte den Hörer recht scharf auf: Er konnte es nicht ausstehen, wenn Cable sich benahm, als ob er sein Chef wäre. Cable zuckte mit den Schultern und schenkte sich ein Bier ein. Im Garten hatte sich die Luft nach einem heißen Tag abgekühlt. Das Haus stand auf einem Hügel nördlich von Wien, und von der Terrasse aus konnte man die Stadt überblicken, ein Panorama von silbern glänzenden Lichtern. Direkt unterhalb der Ballustrade verlief ein steiler Weinberg, der nachts nur als riesige dunkle Fläche zu sehen war. Von der linken Seite drangen Stimmen und Gelächter des nächsten Heurigenlokals, das hinter den Bäumen versteckt lag, herüber: Es war jetzt voller Touristen, die Schweinebraten aßen und ihn mit Vierteln des neuen Weines begossen. Irgendwo spielte jemand auf der Ziehharmonika. Cable setzte sich auf eine Gartenbank und starrte in die Dunkelheit. Er wollte Naomi. Er hatte einen unangenehmen Tag hinter sich und wünschte sich nichts mehr, als in diese unglaublich unergründlichen Augen zu schauen, ihr seine Sorgen zu erzählen und mit ihr über den lustigen Teil des Abends – die beiden verwirrten Chinesen in der Oper – zu lachen. Dann würde ihr kühler Körper sich um
den seinen schlingen… aber nicht heute nacht. Sie war für zwei Tage weggefahren, und die kleine Wohnung im Dritten Bezirk war leer. Plötzlich wurde die Stille durch ein kurzes metallisches Klicken durchbrochen, und Cable drehte sich abrupt um. Hinter ihm stand ein schwarzgekleideter Mann; in der Dunkelheit waren nur sein weißes Gesicht und eine großkalibrige Pistole, die er direkt auf Cables Brust gerichtet hielt, zu sehen. Cable zuckte zusammen, und sein Glas zerschellte auf dem Boden. »Seien Sie ruhig, und bewegen Sie sich nicht«, sagte der Eindringling leise. »Sonst erschieße ich Sie.« Cable konnte seine Augen nicht von der Pistole abwenden. Es war eine Wolkow mit einem Schalldämpfer, eine Kugel würde ein dreißig Zentimeter großes Loch in seinen Körper reißen. Er saß absolut still und versuchte, seine Hände ruhig zu halten. Aus der Dunkelheit kamen zwei ebenfalls schwarzgekleidete Männer, die sich hinter ihn stellten. »Stehen Sie ganz langsam auf, kreuzen Sie die Arme, und legen Sie die Hände auf Ihre Schultern.« Cable gehorchte, aber sein Verstand suchte in Windeseile nach einer Möglichkeit des Widerstands. Schreien nutzte nichts – das nächste Haus war außer Hörweite. Niemand konnte ihn sehen, denn die Terrasse war dicht von Bäumen eingesäumt. Wo befand sich der Polizist, der eigentlich am Tor hätte stehen sollen… und warum, zum Teufel, war er nicht dagewesen, als Fritz ihn vor einer halben Stunde abgesetzt hatte? Innerlich verfluchte er sich – er hätte sofort reagieren und die Polizei im Dorf anrufen sollen. Jetzt wurde er entführt, und er hatte absolut keine Möglichkeit, etwas dagegen zu unternehmen. Diese Männer würden ihn nicht erschießen, wenn er versuchte zu entkommen, aber sie würden ihn mit
Gewalt festhalten, zusammenschlagen und alles in Bewegung setzen, damit er es nicht noch ein zweites Mal täte. Die Eindringlinge umringten ihn, und seine Arme wurden nach hinten gerissen. Er fühlte das kalte Metall von Handschellen an seinen Handgelenken, und dann wurde ihm eine Decke über den Kopf geworfen. »Gehen Sie«, sagte eine Stimme, und er stolperte vorwärts, während seine Arme von Händen ergriffen wurden, die ihn führten. Er fühlte Kieselsteine unter seinen Schuhen, und ihm wurde klar, daß er zum Hintertor, zu dem Weg hinter dem Haus gebracht wurde. Dann drückte jemand seinen Kopf herunter, und er wurde grob in ein Auto gestoßen; die Decke verhinderte noch immer seine Sicht. Er fühlte, wie sich von beiden Seiten Schultern an seine drängten, und lehnte sich erschöpft zurück, während das Auto startete.
Die Fahrt dauerte etwa zwanzig Minuten. Als sie anhielten, wurde ihm die Decke vom Kopf gezogen, und er wurde aus dem Auto geschubst. Es hatte auf einem Feldweg angehalten, der zu einer Kaimauer führte, an der Wasser vorbeirauschte. Sie befanden sich im Schatten eines riesigen Lagerhauses an der Donau, und die Dunkelheit wurde nur durch einen fahlgelben Lichtstrahl, der durch einen Spalt in den hohen Eingangstoren drang, etwas erleuchtet. »Gehen Sie«, sagte die gleiche Stimme. Cable stolperte unbeholfen durch das Eingangstor, denn seine Handgelenke waren noch immer hinter seinem Rücken gefesselt, und tastete sich durch das Dunkel zwischen Holzkisten hindurch. Das kleine, hellerleuchtete Büro war mit billigem Stahlmobiliar eingerichtet. Niemand hatte es für nötig gehalten, den kyrillisch beschrifteten Wandkalender abzudecken; das Lagerhaus gehörte offensichtlich einer russischen
Handelsgesellschaft. Auf dem Schreibtischrand saß ein jüngerer Mann, der die Beine baumeln ließ. Er hatte ein breites, slawisches Gesicht, eine Stirnglatze und sah Cable voll ins Gesicht. »Guten Abend, Exzellenz. Sie sind nicht entführt worden, wie Sie vielleicht annehmen. Sie können sehr bald wieder gehen, aber zunächst möchte ich Ihnen eine Nachricht übermitteln. Sie lautet Golitsyn, Hanoi, 1971.« Er machte eine Pause und beobachtete Cables Gesicht, das plötzlich zusammengefallen war. »Die Nachricht kommt von einem höheren Beamten meiner Regierung. In der Nachricht steht weiterhin, daß jetzt die Zeit gekommen ist, zu der wir Ihre Mithilfe brauchen – wenn wir Sie nicht den Sicherheitsbehörden Ihrer Regierung ausliefern sollen.« Er brachte ein halbes Lächeln zustande und schien eine Antwort zu erwarten. »Wer sind Sie? Das haben Sie mir meines Wissens nach noch nicht verraten.« Cables Ärger verdrängte die Furcht, die er empfand. Die Augen des jungen Mannes verengten sich, während er sich eine Zigarette anzündete. Er blies Cable den Rauch direkt ins Gesicht. »Ich bin nicht hier, um mich mit Ihnen zu unterhalten, Cable. Sie wissen ganz genau, wer ich bin und wovon ich spreche.« Cable fauchte, »Scheren Sie sich zum Teufel!« »Machen Sie keine Dummheiten!« Er seufzte. »Muß ich Ihnen alles noch einmal kleinkauen? Vor dreizehn Jahren mißbrauchten Sie das Vertrauen, das in Sie gelegt wurde, und dafür haben wir Beweise. Wenn wir die offen auf den Tisch legen, könnte es das Ende Ihrer Karriere bedeuten – Sie würden in Ungnade fallen, und man könnte Sie für lange Zeit ins Gefängnis sperren.« Cables Herz pochte schmerzhaft. Die Fassade, die sein Ärger geschaffen hatte, war dabei, seiner Furcht zu weichen, aber er
zwang sich, seiner Stimme Überzeugungskraft zu geben. »Ich habe vor dreizehn Jahren nichts verraten – absolut nichts –, und das wißt ihr Kerle verdammt gut. Und jetzt machen Sie meine Hände los und bringen Sie mich nach Grinzing zurück! Sie haben nicht das geringste Recht, mich hier festzuhalten.« Der Slawe machte eine ungeduldige Bewegung. »Quatsch, Cable, benehmen Sie sich wie ein Erwachsener. Erinnern Sie sich daran, was im Jahre 1971 mit Golitsyn und im Jahr darauf mit Ihnen geschah. Sie möchten vielleicht dafür plädieren, daß Sie – wie man bei Ihnen sagt – übers Ohr gehauen wurden, aber…« »Übers Ohr gehauen?« schrie Cable mit heiserer Stimme. »Übers Ohr gehauen? Die ganze verdammte Sache war eine Lüge!« »Unsere Beweise sind überzeugend genug, denken Sie immer daran, Cable.« Die Stimme des jungen Mannes hatte plötzlich einen unüberhörbaren, drohenden Unterton. »Und Sie haben noch eine Menge Feinde in Whitehall, die Sie gerne am Boden sehen würden – es gibt auch Leute in Ihrer Abteilung, die nichts lieber täten, als Ihr Blut zu lecken…« Er machte eine Pause, seine Augen zwinkerten spöttisch. »Schrecklich, nicht wahr? Wissen Sie, intelligente und erfolgreiche Menschen haben immer Feinde – sie haben eine gewisse Fähigkeit, Haß zu erwecken, besonders dann, wenn sie wie Sie nicht der geborene Führer sind.« Cable zuckte zusammen, als er die Wahrheit in den Worten erkannte. Er dämpfte seinen Zorn. »Was wollen Sie von mir?« »Das klingt schon vernünftiger – viel vernünftiger.« »Ich fragte, was, zum Teufel, Sie wollen!« Cables Ton war noch immer aggressiv, aber es war klar, daß er Angst hatte. »Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen, aber in ein paar Tagen werden wir wieder Kontakt mit Ihnen aufnehmen.
Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, werden wir Sie für den Rest Ihres Lebens in Frieden lassen.« Sein Blick durchbohrte Cables Augen. »Wenn nicht, ruinieren wir Sie.« »Und wenn ich wirklich mitarbeite?« hörte Cable sich zu seinem Entsetzen sagen – aber es ging ihm nur darum, aus diesem Lagerhaus herauszukommen. »Wie können Sie mir garantieren, daß Sie mich nicht den Rest meines Lebens erpressen?« Seine Worte waren beinahe nicht zu hören. »Ich bin dazu bevollmächtigt, Ihnen zu versichern, daß das nicht geschehen wird. Wir haben Sie jahrelang für etwas Wichtiges aufgespart. Wenn die Sache gelaufen ist« – er machte eine abschließende Geste mit der Hand – »dann ist Schluß. Sie haben mein Ehrenwort als Offizier. Sie haben das Ehrenwort meines Vorgesetzten. Wofür halten Sie uns eigentlich – für Tiere?« Cable dachte an Golitsyn. »Ja«, sagte er ruhig. Der Mann schwang sich vom Schreibtisch herunter und trat Cable mit voller Macht in den Unterleib. Der plötzliche Schmerz bereitete ihm Übelkeit, und er versuchte, seinen Leib zu umklammern, wobei ihm die scharfen Kanten der Handschellen in die Gelenke schnitten. »Raus!« schrie der Slawe. »Sie werden noch von uns hören – und treiben Sie in der Zwischenzeit bloß keine Spielchen, von wegen, mit Ihren Sicherheitsleuten in Verbindung zu treten oder so.« Sein Gesicht verzog sich verächtlich. »Wir können dich ruinieren, Cable. Vergiß das nicht! Und jetzt geh los und bums deine jüdische Nutte – das ist noch etwas, das wir gegen dich verwenden können. Wissen die in London über sie Bescheid?« Er spie eine Reihe von russischen Obszönitäten aus und verließ den Raum. Jemand klopfte Cable leicht auf die Schulter, und dann wurde er wortlos durch das Lagerhaus geführt und in das Auto gestoßen. Als sie abfuhren, drehte er sich um und erkannte
durch das Autofenster die schwarze Silhouette eines Schleppkahns und eine Reihe von Booten, die am Ufer festgemacht waren. Er war sich sicher, daß er bei Tageslicht die rot-goldene Flagge hätte erkennen können. Dann warf man ihm wieder die Decke über den Kopf. Als ihm die Decke wieder abgenommen wurde, sah er, daß das Auto an einer einsamen Stelle der Höhenstraße am Waldrand, etwa zwei Kilometer von seiner Wohnung entfernt, gehalten hatte. Man nahm ihm eilig seine Handschellen ab und stieß ihn aus dem Wagen; er landete schmerzvoll am Straßenrand. Es überraschte ihn nicht, daß das Auto ein Wiener Nummernschild und eine Diplomatenplakette hatte. Cables Glieder waren steif, trotzdem schritt er automatisch die Straße nach Grinzing hinunter. Seine Gedanken wirbelten durcheinander, und er versuchte, sich die Realität dessen, was gerade passiert war, bewußtzumachen. Während er an den luxuriösen Wiener Villen, die alle von hohen Stahlzäunen eingefaßt waren und in deren Parks teure BMW und Mercedes parkten, vorbeischritt, kam ihm sein ganzes Erlebnis wie ein Traum, wie ein Alptraum vor. Als er zu Hause in der Himmelstraße ankam, bemerkte er, daß das Eingangstor unversperrt war und in der leichten Brise hin und her schwang – und draußen stand immer noch kein Polizist.
Budapest und Leningrad
Sarah erwachte mit rasenden Kopfschmerzen. Das Schlafmittel zirkulierte noch immer durch ihr Blut, also sprang sie nicht voller Panik auf. Statt dessen drehte sie sich mühsam auf die Seite, zwinkerte mit den Augen gegen das grelle Licht und versuchte, ihre Umgebung wahrzunehmen. Sie sah alles nur verschwommen, aber ihr war bewußt, daß sie auf einer dünnen Schaumgummimatratze auf einem grauen Betonboden lag. Die weißgekachelte Zelle war schmal und fensterlos. Das Licht strömte von einer Glaskuppel, die in die Decke eingelassen war, auf sie herunter. An einem Ende der Zelle befand sich eine in ekelhaftem Grün gestrichene Tür, am anderen ein Metalleimer. Ihr Kopf schmerzte höllisch, und ihre Kehle war knochentrocken. Sarah setzte sich mit angezogenen Knien auf, zog die Decke um sich herum, denn sie war noch immer nackt, und dachte über den jungen Mann am See nach. Sie war wütend auf sich selbst, daß sie auf so einen billigen Trick hereingefallen war, aber auf der anderen Seite fühlte sie sich seltsam ruhig, so, als ob sie keine Nerven besäße. Sie wollte weinen, aber die Tränen kamen nicht. Dann hörte sie ein klickendes Geräusch und sah durch ein Guckloch in der Tür ein Auge auf sich gerichtet. Ihre Ruhe verschwand im Nichts, sie sprang mit unsicheren Beinen auf, taumelte auf die Tür zu und hämmerte mit beiden Fäusten dagegen. »Hilfe – wo bin ich? Laßt mich raus, wer auch immer ihr seid! Ich bin britische Staatsbürgerin und habe Diplomatenstatus. Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten!« Hier bemerkte sie, daß ihre Stimme brach. »O Gott, bitte laßt mich raus, bitte.«
Das Guckloch wurde wieder geschlossen, aber die Tür blieb weiterhin zu. Sarah trommelte minutenlang dagegen, ohne eine Antwort zu bekommen. Ihre Augen füllten sich mit heißen Tränen der Ohnmacht und Angst, und schließlich sank sie leise schluchzend auf den Boden nieder.
Die Aussicht auf die Inselburg Peter und Paul erschien aus irgendeinem Grund immer überlebensgroß. Generalmajorin Nadja Alexandrowna Kirow trat auf den Balkon ihres Büros im Norden und blinzelte im hellen Sonnenlicht. Unter ihr flutete die graublaue Newa vorbei, die an dieser Stelle etwa 500 Meter breit war und deren Fluten unter weißen Tragflächenbooten, die den Fluß hinunter nach Petrodworetz und Kronstadt pflügten, aufgewühlt wurden. Gegenüber ragte der Turm des Peter- und Paul-Doms hoch über den massiven Bastionen und niedrigeren Türmen auf. Unterhalb der Wälle der Burg war der Fluß von einem schmalen Sandstreifen eingesäumt, auf dem dicht nebeneinander gedrängt die Sonnenanbeter lagen. Bald würde der Herbst hereinbrechen, aber am heutigen Tag war es immer noch heiß, und die bunten Badetücher und abgelegten Sommerkleider bildeten einen lustigen Kontrast zu dem grauen Mauerwerk. Die Generalin blickte wehmütig über den Fluß: Wie oft war sie als Kind an diesem Strand im Fluß geschwommen! Sie liebte Leningrad, besonders dann, wenn sie es fertigbrachte, dorthin der erstickenden Hitze Moskaus zu entkommen. Sie seufzte, setzte ihre Sonnenbrille auf und öffnete die Akte auf ihrem Stahlschreibtisch. Sie hatte gerade ein Telex aus Budapest bekommen, in dem stand, daß das Mädchen mit Erfolg über die Grenze gebracht worden war. Jetzt mußte sie ihr Augenmerk auf den Vater richten.
Seit Breschnews Tod war das Leben für die Generalin nicht leicht gewesen. Als ihr früherer Vorsitzender Juri Andropow die Leitung des Staates übernahm, hatte sie gehofft, ihre Stellung zu sichern oder sogar befördert zu werden; schließlich war sie eine seiner Stellvertretenden Vorsitzenden, obwohl sie die Jüngste war. Aber der Zeitpunkt war katastrophal gewesen. Gerade als sie Rückhalt für den beginnenden Machtkampf benötigte, hatten sich die Mißerfolge eingestellt. In Großbritannien hatte man einen Agentenkreis, der unter ihrer Leitung im britischen Kommunikationszentrum Cheltenham jahrelang gute Dienste geleistet hatte, gesprengt. Ihr wichtigster Agent, der fünfzehn Jahre lang dort gearbeitet hatte, war für fünfunddreißig Jahre ins Gefängnis gewandert, und zwei andere waren später zusammen mit einem LangzeitAgenten bei der NATO in Brüssel ohne großes Aufhebens verurteilt worden. Plötzlich war ihr der Zugang zu dieser unbezahlbaren Informationsquelle – und mit ihr der zu der amerikanischen Agentur für Nationale Sicherheit – verschlossen worden. Das Ergebnis einer zwanzigjährigen Infiltration war zunichte gemacht worden. Dann war Andropow gestorben, und Nadja Kirow hatte darum kämpfen müssen, ihre Stellung zu behalten; es war nicht mehr daran zu denken, daß sie je mehr Macht ausüben würde. Unter Tschernenko und Gorbatschow wurde sie mehr und mehr zur Seite geschoben. Jetzt war sie in großer Gefahr – genauso wie die Praktiken, für die sie einstand, denn Nadja Kirow wurde nicht mehr nur von persönlichem Ehrgeiz angetrieben. Als sie zum Stellvertretenden Vorsitzenden befördert wurde, hatte sie sich den äußeren Anschein einer Staatsmännin zugelegt: Irgendwie hatte sie sich auch innerlich verändert. In Washington und Moskau gab es zu viele Verrückte, die dazu bereit waren, offen Konflikte einzugehen, und das jagte Kirow Angst ein. Sie ballte die Fäuste. Sie benötigte ein
Erfolgserlebnis – einen wirklichen Erfolg. Nadja seufzte, und ihre Augen wanderten wieder über die beruhigende Aussicht auf den Fluß. Sie war beinahe sechzig, aber ihr Gesicht unter den gutgeschnittenen grauen Haaren war das einer fünfzigjährigen Frau. Rechts lag der Dampfer »Aurora«, der während der Revolution den Winterpalast bombardiert hatte und jetzt ein Museum war, verankert. Auf beiden Seiten des Balkons war die Uferpromenade mit den riesigen Gebäuden Peters des Großen bebaut – Kaiserpaläste, die Eremitage, das Marineministerium. Als sie sich wieder der Akte widmete, verengten sich ihre Augen. Zum Glück hatte Michaelow auch keinen großen Erfolg. Seine Bemühungen, westliche Operationen zu unterwandern, um nationalistische Bewegungen zu unterstützen, war von Mißerfolgen begleitet: Afghanistan, Armenien, die Tschechoslowakei, Polen. Diese Tätigkeiten waren Nadja schon immer ein Dorn im Auge gewesen, aber jetzt bedeuteten sie große Gefahr. Die Generalin hatte vor, Michaelow mit seinen Mißerfolgen bloßzustellen und loszuwerden; und Seine Exzellenz Mr. William Cable, der Abgesandte seiner Majestät bei den Vereinten Nationen in Wien, würde ihr dabei behilflich sein. Natürlich hatte er keine Ahnung davon, aber Cable würde ohne sein Wissen dabei mithelfen, daß die Generalin verlorenes Terrain zurückgewann. Sie nahm eine andere Akte auf und begann, sie zu lesen. Sie hatte einen roten Diagonalstreifen auf der Vorderseite, der »Geheim« bedeutete, und war mit Cables Namen bezeichnet. Sie kannte die Akte schon beinahe auswendig. John William Cable war vor 49 Jahren in Portsmouth, einer Hafenstadt im Süden von England, geboren worden. Seine Eltern waren arm, aber sie gehörten nicht der Arbeiterklasse, sondern der unteren Mittelschicht an. Nadja Kirow
schmunzelte, als sie diese für das britische Klassensystem typische Unterscheidung bemerkte. Sein Vater hatte in der Verwaltung eines Krankenhauses gearbeitet, und die Familie wohnte in einem schäbigen Reihenhaus; das machte die Sache noch klarer. Cable war das älteste von drei Kindern, aber die anderen zwei waren erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Sein Vater war 1940 eingezogen worden und 1946 zurückgekommen; während dieser sechs Jahre hatte er sich ausschließlich im Ausland aufgehalten, erst in Nordafrika und dann im Fernen Osten. Bis er zehn war, hatte Cable seinen Vater kaum zu Gesicht bekommen und nur mit seiner Mutter zusammengelebt, die ihr Leben mit dem mageren Sold ihres Mannes fristete, den sie durch Schichtarbeit in einer Munitionsfabrik etwas aufbesserte. Cable hatte das Gymnasium besucht und später an der Londoner Universität sein Abschlußexamen für Sprachwissenschaften bestanden. Anschließend leistete er seinen Wehrdienst in der Marine ab; und plötzlich verbesserten sich seine Aussichten. Man erkannte seine intellektuellen Fähigkeiten, und er wurde Offizier, aber er verbrachte nur einen Monat auf See. Unterleutnant Cable wurde schleunigst ins Geheimdienstgeschäft eingeschleust und als Kryptoanalytiker – jemand, der chiffrierte Nachrichten entschlüsselt – angelernt; er mußte also abgefangene militärische und diplomatische Nachrichten aus anderen Ländern entziffern. Es stellte sich heraus, daß er seine Arbeit vorzüglich verrichtete, was dem Abteilungschef, David Nairn – der unter anderem ein ausgezeichneter Schachspieler war und für eine Sonntagszeitung regelmäßig Artikel über Schach veröffentlichte – zu Ohren kam. Als Cable seine zwei Jahre Wehrdienst abgeleistet hatte, arrangierte Nairn es, daß er im Geheimdienst regulär angelernt wurde. Er widmete sich zwar immer noch der gleichen Aufgabe in seinem Büro in
Cheltenham, aber jetzt trug er anstatt seiner Uniform Zivilkleidung. In den frühen sechziger Jahren arbeitete er in einer Abfangstation in Australien in den Bergen hinter Sydney. In der Akte befand sich das Foto eines Mannes Ende Zwanzig; er war mittelgroß, breitschultrig und sein Gesicht wirkte männlich und selbstbewußt. Er hatte es weit gebracht: Seine Beurteilungen bestätigten ihm ausgezeichnete technische Kompetenz und ein gutes Verhältnis zu seinem kleinen Stab von Untergebenen. Er wurde respektiert, hatte gute Führungsqualitäten. Sein Klassenbewußtsein war seine schwache Stelle – er unternahm freiwillig Arbeit für eine Gruppe in der Nähe von Circular Bay, wo er sich mit Pennern und Trinkern anfreundete –, aber es fiel ihm überhaupt leicht, Freunde zu finden. Seine gastfreundlicheren Kollegen luden ihn zu sich nach Hause ein, und er gewöhnte sich schnell an Grillpartys, Schwimmen im Pool seiner Gastgeber und Feiern am Strand. Die Generalin sah sich noch einmal genau das verblichene Foto an: Es zeigte ein starkes, intelligentes Gesicht mit nachdenklichen Augen. Sie seufzte. Ihr Vorhaben würde ihn ruinieren, aber je mehr sie sich in die Akte einlas, desto mehr gefiel ihr der Mann. Und, zum Teufel noch mal, wie schlecht hatten ihn die Leute in seinem eigenen Land behandelt! Zunächst wurde er ungerechterweise aus einer erfolgversprechenden Karriere bei ihrem Geheimdienst ausgestoßen und verbrachte dreizehn Jahre lang in Stellungen, die seinen Fähigkeiten nicht gerecht wurden, und landete schließlich als untergeordneter Abgesandter in der diplomatischen Provinz. Nadja Kirow war sich darüber klar, daß die Stellung eines solchen Diplomaten die wildesten Erwartungen der meisten normalen Leute wahrscheinlich übertraf – aber darum ging es nicht. Cable war nicht weniger
normal als sie: Er war auf dem Weg nach oben gewesen. Er hatte den Erfolg gekostet, den er auch verdient hatte; und plötzlich hatte er den Mißerfolg kennengelernt und wußte nicht, an wen er sich wenden sollte, denn er hatte eine Familie zu versorgen, und an Ex-Geheimdienstagenten hatte niemand Interesse. Niemand außer… aber trotzdem schien er äußerst loyal zu sein. Er verspürte sicher Bitterkeit – aber reichte sie aus? Genau dieser Zweifel hatte sie dazu gezwungen, seine Tochter mit ins Spiel zu bringen… Jetzt kam sie zu den Berichten ihrer Agenten aus Großbritannien und Australien, in denen sich Ausschnitte von Cables Verhören, die zehn Jahre später stattgefunden hatten, befanden. Von besonderem Interesse waren die Aussagen, die er unter der Wirkung von Sodium Pentathol, der sogenannten Wahrheitsdroge, gemacht hatte, die ihn frei und ohne die Zensur seines Gewissens und seiner Moralgefühle sprechen ließ. In Australien hatte er Judith kennengelernt – sie war schlank, dunkel, ernst und sexy und sehr unsicher. Sie empfand ihn als »Fels«, jemanden, an den sie sich lehnen konnte, und viele Jahre später schenkte sie ihm zu ihrem Hochzeitstag die Schallplatte »Bridge Over Troubled Water« von Simon and Garfunkel als Erinnerung an ihre frühen gemeinsamen Monate. Wegen der unendlichen Zuversicht, die er während seiner späten Zwanziger verspürte, kümmerte er sich wenig um die immer größere Distanz, die zwischen ihnen auftrat, oder um den bekümmerten Ausdruck in ihren Augen, wenn ihr Gesicht entspannt war. Bevor sie nach England zurückkehrten, machten sie einen Monat lang am weißen, tropischen Strand von Queensland Urlaub. Als sie Hand in Hand bei Mondschein unter den Palmen spazierengingen, hatte Judith sich an ihn geschmiegt und vor Glück geweint. Sarah wurde acht Monate später in Cheltenham geboren – sie war ein winziges, zu früh geborenes Baby, das seiner
besorgten Mutter viel Kummer bereitete. Dann wurde Cable nach Paris versetzt, wo er unter dem Deckmantel des Ersten Sekretärs bei der Botschaft arbeitete. Drei Jahre lang ging alles gut, besonders, als Lucy geboren wurde. Er hatte eigentlich auf einen Sohn gehofft, aber als er das wunderschöne Kind, das ihm kurz nach der Geburt, in ein Handtuch gewickelt, gezeigt wurde, verliebte er sich sofort in das kleine Wesen. Zunächst war Sarah, die jetzt drei Jahre alt war, etwas eifersüchtig gewesen – aber nach ein paar Wochen hörte er sie aus dem Schlafzimmer rufen, wo sie am Kinderbettchen stand. »Oh Mami, Papi. Unser Baby lächelt. Sie hat mich angelächelt.« Durch Lucy war die ganze Familie Cable wie verwandelt. Erst als Baby, dann als Kleinkind beeinflußte ihr sonniges, freundliches Gemüt die häusliche Atmosphäre. 1969 kehrten sie nach London zurück; Cable kaufte ein Haus im Vorort Teddington. Es was sehr günstig gelegen, und er mußte jeden Morgen nur eine kurze Zugfahrt zu seinem neuen Büro in der Nähe des Bahnhofs Waterloo zurücklegen. Das Büro befand sich im Hauptquartier des Geheimdienstes, das von allen Eingeweihten als »der Cut« bezeichnet wurde, weil es sich in der Nähe des Straßenmarktes mit demselben Namen befand. Er hatte dort erst ein halbes Jahr lang gearbeitet, als der magere David Nairn, der jetzt Direktor der Abteilung Südostasien war, ihn zu sich rufen ließ. Nairn hatte ihm einen zweijährigen Auftrag in Vietnam angeboten – dieses Land verblutete langsam während des Krieges, wobei sich die kommunistische Machtübernahme allmählich vollzog. »In Paris haben Sie es leicht gehabt, Bill, und es ist an der Zeit, daß Sie mehr Verantwortung übernehmen – entweder etwas Größeres hier im Cut oder etwas im Ausland. Nach dem ganzen elektronischen Kram sollten Sie sich mal die altmodische Agentenszene genauer
ansehen – darüber hinaus wird es Zeit, daß unsere Alliierten Sie kennenlernen.« Cable hatte nicht die geringste Lust, fortzugehen. Judith litt unter depressiven Zuständen, und der Umzug nach London hatte ihrer Verfassung ganz und gar nicht gutgetan. Plötzlich gab es keine gemütliche Diplomatenwohnung und großzügige finanzielle Unterstützung mehr, die es ihr erlaubte, Dienstboten einzustellen. Judith hatte sich noch nie mit zwei ausgelassenen Kindern in einem Durchschnittshaus, das darüber hinaus auch noch spärlich möbliert war, zurechtfinden müssen. Es war das erste Mal, daß Cable in London arbeitete; und ihm wurde klar, daß es beim Geheimdienst die gleichen Eifersüchteleien und Intrigen wie bei anderen Organisationen gab. Eine Menge Leute nahmen Cable seine kometenhaft ansteigende Karriere übel; Menschen, denen er noch nie begegnet war, wurden seine Gegner, und er hatte Feinde, die ihn wegen seines unbedarften Geschicks beneideten und die es ihm übelnahmen, daß Nairn ihn förderte. Cable war sich der Gefahren, die ihm von seinen Kollegen drohten, bewußt und versuchte zum ersten Mal in seinem Leben, abzuspringen und sein Leben in die eigene Hand zu nehmen. Aber Nairn erwartete von seinen Mitarbeitern – jedenfalls von denen, auf die er sich verlassen konnte –, daß sie sich ohne Fragen zu stellen auf seinem riesigen Schachbrett herumschieben ließen. Er hatte dem CIA Cable als britisches Wunderkind, das ein schwaches und entmutigtes amerikanisches Team stärken sollte, angepriesen – eine Leihgabe, die er später mit Zins und Zinseszins zurückbezahlt haben wollte. Für familiäre Probleme hatte er kein Verständnis. Nairn war seit sechzehn Jahren verwitwet und hatte sein Leben dem Geheimdienst gewidmet – das ließ sich nicht verleugnen. Was die anderen Zweifel Cables anbetraf, so wußte Nairn am besten über Karrieren Bescheid, und Cable
wurde in Saigon offensichtlich benötigt. Das war ein Befehl und damit war die Sache erledigt. Nadja Kirow hatte schon früher eine skrupellose Ader in Nairn entdeckt und wußte, daß er menschlichen Faktoren gegenüber manchmal blind war. Es war nicht recht von ihm gewesen, Cable seine neue Stellung aufzuzwingen; und für die Konsequenzen war Nairn allein verantwortlich. Cables Familie blieb in London, da Saigon schon jetzt ein gefährliches Pflaster war, denn der Vietcong befand sich schon an den Grenzen der Stadt. Cable erhielt vorübergehend den Titel eines Oberstleutnants der australischen Armee. Er benötigte zu seinem eigenen Schutz einen militärischen Rang, für den Fall, daß er in die Hände des Feindes fiel, und britische Streitmächte waren in diesen Krieg nicht verwickelt, während Australien und Neuseeland einige Verpflichtungen hatten. In Saigon tat Cable, was von ihm erwartet wurde, und baute sich in den Dörfern in der Nähe der belagerten Stadt schnell einen Ring von Informanten auf, durchdrang dann die Kader des Vietcong und versuchte, an das höchste Kommando in Hanoi heranzukommen. Er hatte schon Kontakt zu den Mitarbeitern von General Vo Nguyen Giap. Nadja Kirow blätterte eine Seite um und bewunderte Cables beruflichen Erfolg. 1971 war Cables Ruf über jeden Zweifel erhaben gewesen. Innerhalb der Geheimdienstzirkel in London und Washington ging das Gerücht herum, daß Cable auf der Erfolgsleiter weit gekommen sei. Vielleicht würde er einmal Chef werden – auf jeden Fall würde er sich ganz an die Spitze hinaufarbeiten. Und dann wurde alles auf einen Schlag zerstört: Das schreckliche, tragische Ende einer Karriere kam plötzlich. Während sie den leidenschaftslosen Bericht noch einmal durchlas, überlegte Nadja Kirow, wer Cable hereingelegt hatte. Das wurde in dem Bericht nicht erwähnt. Er war aus Akten des militärischen Geheimdienstes zusammengestellt worden, und
als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, war selbst so einer abgebrühten Frau, wie Nadja Kirow es war, ein Schauer über den Rücken gelaufen. Jetzt kannte sie die Akte in- und auswendig, aber sie fand sie noch immer scheußlich und widerlich. Sie wandte sich ab und blickte über den Fluß. Am anderen Ufer stand der Finnische Bahnhof, an dem Lenin 1917 angekommen war, um die Oktoberrevolution vorzubereiten. Außerhalb der Stadt in der anderen Richtung hatte Nadja Kirow 1942 mit einer Spitzhacke in der gefrorenen Erde unter Granatfeuer Gräben ausgehoben. Zu Beginn der dreijährigen Belagerung durch die Deutschen war sie noch im Schoß der Familie geborgen gewesen, am Ende dieser schrecklichen Zeit war sie Parteimitglied und vollkommen auf sich allein gestellt. Nadja Alexandrowna hatte ein hartes Leben hinter sich, aber sie hatte zu jeder Zeit an ihrer puritanischen marxistischen Einstellung festgehalten. Unter Stalin hatte sie diese Standhaftigkeit beinahe das Leben gekostet. Sie hatte Prinzipien – und manche Dinge verursachten ihr Abscheu, auch wenn sie es nötig fand, auf diese Dinge zu bauen. Die Generalin las sich noch einmal den Schluß der Akte durch. »Barbaren«, flüsterte sie, warf den Ordner auf einen Seitentisch und wischte sich mit einem Taschentuch die Finger ab, als ob sich an ihnen Blut befände.
Wien
Am nächsten Morgen strömte die Sonne durch Cables Schlafzimmerfenster. Er wandte sich von ihren Strahlen ab und starrte an die Decke. Er hatte schlecht geschlafen, sich die ganze Nacht ruhelos herumgewälzt und war einige Male schweißgebadet aufgewacht. Jetzt stand er auf, duschte und zog sich automatisch an. Durch das Fenster konnte er den Zwiebelturm der Grinzinger Kirche, der hoch über die Baumspitzen ragte, und dahinter die Hitzeschwaden, die über der Stadt lagen, sehen. Zu seiner Linken flutete die breite, schlammige Donau vorbei. Um etwa halb neun fuhr Fritz ihn durch die Grinzinger Dorfstraße, in der zur Ankündigung des neuen Weines jedes zweite Haus mit einem Tannenzweig geschmückt war, und dann am Kanal entlang zur Botschaft. Die Botschaft befand sich in einem grauen Stuckgebäude im Dritten Bezirk in der Reisnerstraße. Über dem Tor hing schlaff die britische Flagge. Die Botschaft beherbergte drei Abgesandte: den Botschafter für Österreich, den für die ständigen Wiener Verhandlungen über die Reduzierung der Waffen – und Cable. Ihm kam oft der Gedanke, daß die Tatsache, drei Abgesandte in einer Hauptstadt zu haben, sozusagen wie eine Inflation war. Er nahm den Aufzug zu seinem Büro im dritten Stock, wobei er noch immer versuchte, nicht an die Ereignisse der letzten Nacht zu denken, aber immer wieder drängten sie sich in den Vordergrund. Er sollte die Geschehnisse melden – und das sofort. Er könnte natürlich mit Barron, dem Botschafter, der dem Rang nach über ihm stand, sprechen; oder er könnte mit dem Sicherheitsdienst in London in Verbindung treten. Aber
irgend etwas hielt ihn davon ab. Dreizehn Jahre lang hatte er Vergessen gesucht, und er wollte auch jetzt nicht über das, was damals passiert war, nachdenken, aber die Umstände zwangen ihn dazu. Tatsache war, daß Moskau ein Dokument besaß, das ihn vernichten würde – und daß es in London einige Leute gab, die sich darüber nur sehr freuen würden. Die Entscheidung war nicht leicht. Wenn er alles beichtete, wäre er innerhalb eines Monats von Wien weg und von seinem Job beim Geheimdienst suspendiert, und – der junge Russe hatte recht – er würde vielleicht sogar im Gefängnis landen. Arme Sarah – keine Mutter, keine Schwester und jetzt zu guter Letzt ein Vater, der am Rande seiner Existenz stand… es war für ihn undenkbar, mit den Sowjets zusammenzuarbeiten. Oder war es vielleicht gar nicht so unmöglich? Eine schwarze Wolke der Depression umgab ihn, als er die Tür zu seinem großen Büro öffnete. Seine Stimmung sank noch tiefer, als er Skilbeck dort sitzen sah; er hatte vergessen, daß er ihn um neun Uhr hier treffen wollte, und jetzt war es schon zehn nach neun. Skilbeck war klein und hatte rote Haare. Für manche besaß er einen gewissen jungenhaften Charme, der die meisten dazu brachte, ihm mehr über sich zu erzählen, als gut für sie war, aber innerhalb der Botschaft zeigte er sich unnachgiebig und mißtrauisch. Er war der höchste Geheimdienstbeamte in Wien – der Chef der hiesigen Station. »Morgen, Bill«, sagte er. »Viele Staus heute morgen?« »Ja, war schwer durchzukommen. Tut mir leid, daß ich so spät dran bin.« »Macht nichts«, lächelte Skilbeck kühl: Er besaß kein Auto mit Chauffeur und kam mit der Straßenbahn zur Arbeit. »Meine UNO-Sitzung fängt erst um halb elf an.« Cable setzte sich an seinen Schreibtisch, auf dem sich die Post stapelte, Briefe und Telegramme, die er geistesabwesend durchsah. »Nun, Paul, – was kann ich für Sie tun?«
Skilbeck blickte sich um, um sich zu vergewissern, daß die Tür verschlossen war. »Ich fürchte, daß Sie einen Monat lang oder sogar länger ohne mich auskommen müssen, Bill.« Er sprach leise, aber seine Stimme hatte eine Art Befehlston an sich. »Ich bin mit einer riesigen Geheimaktion beschäftigt. Es tut mir leid, aber die Anweisung kommt von ganz oben. Und ich muß die Sache von hier aus dirigieren.« Cable runzelte die Stirn. »Arbeitsmäßig sollte das kein großes Problem sein – dann muß der junge Holt halt etwas fester zupacken als sonst. Aber warum erzählen Sie mir das alles, Paul? Die meiste Zeit weiß ich sowieso nicht, was Sie gerade tun.« Skilbeck wich seinem Blick aus. »Das ist der ganz große Job, Bill. Wenn etwas schiefgeht, könnte das große Wellen schlagen. Ich habe Anweisung von London, Sie darüber zu informieren – ich nehme an, die wollen, daß Sie Bescheid wissen.« Er hatte sichtlich keine Lust, Cable in sein Geheimnis einzuweihen. Das machte Bill wütend, und er rief: »Bescheid wissen? Ich weiß von gar nichts Bescheid! Sie haben mir lediglich gesagt, daß es sich um eine Geheimaktion handelt. Um was für eine Art von Operation geht es, Paul?« »Ich bin nicht befugt, Ihnen das mitzuteilen«, erwiderte Skilbeck frostig. »Aggressiv oder defensiv?« »Die andere Seite könnte sie möglicherweise als aggressiv auslegen – ich bin der Meinung, daß sie eher defensiv ist.« »Haben Sie Barron davon unterrichtet?« Skilbeck schwieg, und ein Blick sagte Cable, daß der Botschafter schon informiert war. Er hörte wieder die drohende Stimme des jungen Russen in dem Lagerhaus und die Worte, die seitdem immer wieder in seinem Kopf umhergingen: »In ein paar Tagen werden wir wieder Kontakt mit Ihnen aufnehmen.
Wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, werden wir Sie für den Rest Ihres Lebens in Frieden lassen. Wenn nicht, ruinieren wir Sie.« – Er stand auf und ging zum Fenster, wobei er einen Konvoi von schwarzen Autos an der russischen Botschaft, die sich ein bißchen weiter auf der anderen Straßenseite befand, auffahren sah. »Hören Sie mal, Paul«, er täuschte Ärger vor, »wollen Sie damit sagen, daß meine Mission – nicht Barrons – damit zum Hauptquartier einer subversiven, gegen den Osten gerichteten Operation werden soll?« »Mehr oder weniger – ja.« Cable wandte sich abrupt um und fixierte den anderen. »Und wenn etwas schiefgeht, gibt es große Schwierigkeiten, oder nicht? Wie Sie wissen, ist dieses Land neutral. Es ist sozusagen die Schweiz des kleinen Mannes. Wollen Sie vielleicht aus Österreich hinausgeworfen werden? Als Chef in diesem Amt werde ich das bestimmt – und darüber hinaus wird mir die ganze Verantwortung zugeschoben.« Skilbeck rutschte voller Unbehagen auf seinem Stuhl hin und her. »Die Möglichkeit besteht natürlich, Bill. Aber natürlich wird nichts schiefgehen.« »Mein Gott – das ist ja nicht das erste Mal, daß ich das höre! Jetzt passen Sie mal gut auf.« Cable sprach jetzt ruhig, aber eindringlich. »Als Chef dieses Amtes muß ich über jede hirnverbrannte Operation, die Sie vorhaben, Bescheid wissen. Erst dann kann ich das mögliche Risiko für Großbritannien einschätzen und auf die Niederlage vorbereitet sein, wenn Sie keinen Erfolg haben.« Mein Gott, dachte er, das klingt schön hochgestochen. »Ich kann Sie nicht informieren«, fauchte Skilbeck. »Ich habe es Ihnen schon gesagt – dazu fehlt mir die Genehmigung.« »Dann sehen Sie zu, daß Sie sie bekommen!« donnerte Cable. »Ich setze meine Stellung nicht für euch aufs Spiel,
bevor ich nicht weiß, um was, zum Teufel, es geht. Ist Ihnen das klar?« »Ich werde meinen Bericht an Century House weitergeben.« Skilbeck stand langsam auf. »Wenn Sie darauf bestehen.« »Ich bestehe nicht darauf, Paul. Sie haben hier den Posten als Erster Sekretär in meinem Amt inne, und ich gebe Ihnen, verflucht nochmal, den Befehl dazu.« Er machte eine Pause, um seinem Fluch und seinem Ärger etwas Nachdruck zu verleihen. »Ich erwarte innerhalb von vierundzwanzig Stunden eine Antwort von Ihnen, und Sie werden sie mir geben, wenn Sie nicht wollen, daß ich ein Telegramm an den Generaldirektor schicke. Also gehen Sie jetzt. Und kümmern Sie sich sofort darum.« »Wie Sie wünschen.« Skilbeck ging mit vor Wut gerötetem Gesicht hinaus und schlug die Tür hinter sich zu, so daß sie in den Angeln bebte. Cable drehte sich wieder dem Fenster zu. Warum hatte er sich so benommen? Mit Sicherheit wollten sie Details über Skilbecks Operation wissen – warum, zum Teufel, hatte er es so arrangiert, daß er in der Lage sein würde, sie ihnen zu übergeben? In der letzten Viertelstunde hatte er den ersten Schritt zum Verrat begangen. Es war erschreckend. Er sollte alles zurücknehmen, bevor es zu spät war. Statt dessen starrte er gedankenlos auf die verstreuten Akten auf seinem Schreibtisch, die das Chaos seiner Gedanken nur noch verstärkten. Er hatte noch immer das Echo der Stimme des jungen Russen im Ohr: »Golitsyn, Hanoi 1971.« Er nahm den Hörer eines seiner Telefone auf, von denen aus er direkt wählen konnte, und rief den Kunsthändler an, für den Naomi arbeitete. Sie war nicht da. »Nein, mein Herr«, erklang die hohe, jüdische Stimme des Inhabers. »Fräulein Reichmann ist bei einer privaten Hausbesichtigung, und danach bewertet sie
für mich einige Bilder in einem Haus in der Nähe des Zentralfriedhofes. Ich erwarte sie heute nicht mehr zurück.« Cable bedankte sich und hinterließ keine Nachricht. Er konnte also bis zum Abend nicht mit Naomi sprechen – aber konnte er überhaupt mit irgend jemandem über sein Problem sprechen?
Sie war vor sieben Monaten buchstäblich mit einem großen Knall in Cables Leben getreten – nämlich dann, als die PLO den Auersperger Palast in die Luft sprengte. Der israelische Botschafter gab einen Empfang für Mosche Kagan, seinen Stellvertretenden Außenminister, der sich für sogenannte »Wirtschaftsverhandlungen« in Wien aufhielt. Es bestanden allerdings hartnäckige Gerüchte, daß der Kanzler von Österreich Vermittler in geheimen Treffen zwischen Mitarbeitern der PLO und Unterhändlern von Israel, die zu einer Übereinkunft kommen wollten, bevor wieder ein offener Krieg ausbrach, gewesen war. Die Verhandlungen wurden dadurch erschwert, daß sowohl innerhalb der PLO als auch in der israelischen Regierung interne Zwistigkeiten bestanden. Kagan war ein junger liberaler Politiker, der schon in kurzer Zeit Israels Friedensfraktion anführte und sich internationalen Respekt verschafft hatte. Er brachte es sogar fertig, seinen ältlichen, aber noch immer verbitterten und kriegerischen Premierminister auf seine Seite zu ziehen. Alle Hoffnungen der ansteigenden Zahl von verängstigten Menschen im Mittelosten richteten sich auf Mosche Kagan. Der Empfang fand in einem Saal im ersten Stock statt. Unter den Kristalleuchtern drängten sich Kellner in weißen Jacketts mit Tabletts voller verwässertem Gin und Campari durch die Menge der Diplomaten. An der Tür schüttelte Cable dem Ehrengast Kagan die Hand und machte dann die Runde bei den
Gästen. Er sprach eine Weile mit seinem Freund Laszlo Kardos, einem Monsignore, der schon in verschiedenen Niederlassungen der Vereinten Nationen, jetzt in Wien, den Vatikan vertrat. Kardos war charmant und besaß einen manchmal beißenden Humor, was durch seine freundlichen und intelligenten Augen, die über seinem schwarzen Bart zwinkerten, wiedergutgemacht wurde. »Hier gibt es eine Menge Leute, die ich nicht kenne.« Cable mußte beinahe schreien, um sich über den Lärm hinweg hörbar zu machen. »Wer sind die alle?« »Das muß die jüdische Gemeinschaft Wiens sein – sie ist immer noch sehr groß. Natürlich nicht so groß wie 1938.« »Wahrscheinlich nicht.« Cable nahm sich noch ein Glas von dem Tablett eines vorübereilenden Kellners und drehte sich um. Neben ihm stand Skilbeck, der neugierig eine Gruppe von Leuten in einer Ecke anstarrte. Im Mittelpunkt stand ein kleiner, gedrungener Mann in einem eleganten, hellgrauen Anzug, der in eine ernste Unterhaltung mit dem obersten Rabbi von Wien vertieft zu sein schien. Durch sein gewelltes, silbergraues Haar, das streng aus seiner hohen Stirn gekämmt war, und sein Gesicht, das von einer fleischigen Adlernase beherrscht wurde, wirkte er beinahe wie eine Karikatur des typischen Juden. »Wer ist denn der Typ, den Sie da beobachten?« fragte Cable. Der Lärm um sie herum war so laut, daß man sich ohne Mühe über alles mögliche unterhalten konnte; trotzdem kam Skilbeck näher heran und flüsterte ihm ins Ohr! »Ich glaube, es ist Aaron Yadin.« »Yadin – wer ist denn das?« »Er ist der Chef der Mossad.« Skilbecks Stimme klang uncharakteristisch feierlich, beinahe ehrfürchtig. »Sie haben seinen Codenamen Melchior sicher schon gehört.«
»Ich glaube nicht. Die Mossad? Wollen Sie damit sagen, daß er bei ihrer Botschaft ist – warum habe ich ihn noch nie vorher gesehen?« Skilbeck schüttelte den Kopf und schaute noch ehrfürchtiger drein. »Nein, Bill. Doch nicht hier in Wien. Er dirigiert den ganzen Kram zu Hause, er ist der Chef des israelischen Geheimdienstes.« »Mein Gott – und was, zum Teufel, macht er hier?« »Das habe ich mich auch gerade gefragt.« Cable ging weiter herum und verließ den Empfang nach etwa einer halben Stunde, denn er hatte eine Verabredung mit dem pakistanischen Botschafter zum Abendessen und wollte vorher noch nach Hause fahren. Er war schon halb die große Treppe hinuntergegangen, als die Explosion das Gebäude erschütterte. Er hörte etwas wie einen Donnerschlag hinter sich, und dann schlug eine Welle heißer Luft aus dem Empfangssaal. Von der Decke hagelte der Verputz herunter; dann brach die Marmorbalustrade in Stücke, krachte herunter und begrub zwei schreiende Menschen unter sich. Nach kurzer Bewußtlosigkeit fand Cable sich am Boden wieder; auf ihm lag eine Frau in einem grünen Kleid. Ein paar Sekunden lang herrschte Stille – dann erklangen von oben Schreie und das Knistern von Feuer. Er wand sich unter seiner Last hervor und stellte die junge Frau auf die Füße. Sie schwankte, als ob es ihr schwindelig sei, also hob er sie kurzerhand auf und trug sie auf die Straße. Mittlerweile kamen Krankenwagen und Feuerwehrautos an; Polizisten in grünen Uniformen bildeten eine Kette, um die neugierige Menschenmenge zurückzuhalten. Cable setzte die junge Frau ab, sie wandte sich ihm zu und brachte ein halbes Lächeln zustande, obwohl er sehen konnte, daß sie noch immer unter Schockeinwirkung stand. Sie war nicht sehr viel größer als 1,60 Meter und hatte dichtes, schwarzes Haar, das ihr
immer wieder über die Stirn fiel. Sie strich es mehrmals mit ihrer rechten Hand zurück – mit einer Geste, die er später als für sie charakteristisch beschreiben würde. Ihr Gesicht war einmal schön gewesen; jetzt war es etwas verhärmt, aber noch immer attraktiv, mit ehrlichen braunen Augen, die durch das plötzliche Lächeln verschönt wurden. »Ich danke Ihnen«, sagte sie ruhig. »Sie haben mir das Leben gerettet.« »Nein, Sie hätten es auf jeden Fall geschafft, herauszukommen – aber je eher, desto besser. Schauen Sie sich das Haus jetzt mal an.« Aus den oberen Fenstern züngelten Flammen, und nicht weniger als drei Teams von Feuerwehrmännern standen auf hohen Leitern und waren dabei, den Brand mit Wasser zu löschen. Eine Masse von Leuten wartete darauf, in ärztliche Notwagen geschafft zu werden. Die junge Frau trug ein kurzes, schulterloses Cocktailkleid und klammerte ihre bloßen Arme um sich, denn in dieser Februarnacht fegte ein bitterkalter Wind, und die Straßen waren noch schneebedeckt. »Ihnen muß ja eiskalt sein«, sagte er. »Hier, nehmen Sie mein Jackett – unsere Mäntel kriegen wir hier sowieso nicht mehr heraus. Wenn ich mein Auto finden kann, bringe ich Sie nach Hause.« Sie gingen zusammen die mit Trümmern bedeckte Straße entlang, während die junge Frau sein Jackett eng um sich herumzog. Die Feuerwehrautos, der Lärm und die von Decken eingehüllten Leichen auf dem Bürgersteig erinnerten Cable an den Angriff auf Portsmouth, als er noch ein Kind gewesen war. Cable ging auf einen Polizeibeamten zu, der jede Menge Abzeichen an seinem Mantel trug. »Ich bin von der britischen Botschaft«, sagte er auf deutsch. »Befinden sich unter den Verletzten Briten – kann ich irgend etwas tun?« Aber der Polizeibeamte winkte ab. »Die Verletzten werden alle ins Städtische Krankenhaus gebracht – Sie müssen sich
dort nach Ihren Leuten erkundigen. Alles ist unter Kontrolle, das Beste, was Sie für uns tun können, ist, nach Hause zu gehen.« Cable zögerte. »Um Gottes willen – so gehen Sie doch endlich!« Den Ford Minster fanden sie ein paar Minuten später. Fritz half ihnen und einem der Dritten Botschaftssekretäre und seiner Frau hinein; sie schienen beide unter Schock zu stehen, und Cable gab Fritz die Anweisung, sie zuerst nach Hause zu bringen.
Sie hatte eine Wohnung in der Bayerngasse, die nur anderthalb Kilometer weit entfernt lag und innerhalb einer halben Stunde waren sie da. »Wollen Sie nicht kurz hereinkommen?« fragte sie. »Danke, das ist sehr nett von Ihnen – darf ich vielleicht Ihr Telefon benutzen? Ich muß den pakistanischen Botschafter anrufen; ich war nämlich bei ihm zum Abendessen eingeladen.« Die Wohnung befand sich im vierten Stock eines modernen Wohnblocks, aber es gab keinen Aufzug; sie gingen an der üblichen Ansammlung von Briefkästen vorbei und stiegen die schlecht beleuchtete Treppe hinauf. Ihre Wohnung war klein, aber komfortabel und gemütlich eingerichtet. Im Wohnzimmer war Platz genug für drei moderne Sessel, eine Couch, viele bunte Kissen und eine Regalwand, die mit Büchern vollgestellt war. Cable wollte keinen Kaffee, also goß sie Bier in zwei Gläser. Sie schaltete ein Transistorradio ein, und sie konnten gerade noch das Ende der Durchsage über den Bombenanschlag hören. Der Ansager berichtete, daß acht Menschen getötet worden wären, »… unter ihnen der Stellvertretende Außenminister Israels, Mosche Kagan, der um halb acht im Städtischen Krankenhaus seinen Verletzungen erlegen ist.«
Dann widmete sich der Sender sofort wieder dem lärmenden Treiben bei einem Fußballspiel zwischen Österreich und Schottland, das aus Glasgow übertragen wurde. Die junge Frau wandte sich ab, und Cable sah, daß ihr die Tränen in den Augen standen. Er legte ihr den Arm um die Schultern. »Kommen Sie, setzen Sie sich – Sie haben einen Schock erlitten, ist Ihnen das klar?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein – das glaube ich nicht. Ich komme aus Israel, und ich bin schon einmal fast in die Luft geblasen worden. Ich bin nur Kagans wegen schrecklich traurig. Unser Land befindet sich in einem fürchterlichen Zustand, und Kagan war für uns eine Art Retter.« »Ich nehme an, daß sich genau aus dem Grund jemand die Mühe gemacht hat, die Bombe zu legen. Wer hat es Ihrer Meinung nach getan?« »Oh – die PLO. Eine ihrer Fraktionen.« Sie unterhielten sich über eine Stunde lang. Ihr Name war Naomi Reichmann, und sie war eine »sabra«, eine Israelin, die in Israel geboren war, wohin ihre Eltern nach dem Zweiten Weltkrieg aus Ungarn geflohen waren. Ihre Mutter war tot, und ihr Vater lebte in Tel Aviv. Sie arbeitete für einen Kunsthändler im Ersten Bezirk und hatte feste, sogar radikale Ansichten über die Politik im Mittleren Osten. »So kann es einfach nicht weitergehen, wissen Sie – wir müssen einen Weg finden, um den Palästinensern ihr eigenes Stück Land zu geben. Die beiden Völker können sich nicht für alle Ewigkeit im Krieg befinden.« Cable fand sie sehr anziehend. Sie saß mit untergeschlagenen Beinen in einem der Sessel, und ihr grünes Kleid verdeckte ihre Knie. Aber durch den dünnen Stoff konnte er die sanften Konturen ihres Körpers erkennen, und er war sich sicher, daß sie nackt wunderschön aussehen würde. Dann erinnerte er sich, daß Fritz noch immer draußen im Auto wartete; von britischen
Diplomaten erwartete man im allgemeinen nicht, daß sie sich über alleinstehende Frauen, die sie kaum kannten, hermachten. Sie schien seine Gedanken zu lesen. »Wissen Sie, daß Ihr Fahrer immer noch auf Sie wartet?« fragte sie mit einem Lächeln. »Ich danke Ihnen, daß Sie sich um mich gekümmert haben. Ich wünschte, ich hätte Ihnen mehr als eine Dose Budweiser anbieten können. Würden Sie kommen, wenn ich Sie und Ihre Frau zum Essen einladen würde? Es wäre keine große Sache – nicht das, woran Sie gewöhnt sind.« »Ich habe keine Frau, ich bin geschieden – aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, komme ich gerne allein.« Sie schaute etwas verwirrt und erwiderte dann zögernd: »Nächsten Sonntag also? Acht Uhr?« Sie küßte ihn leicht auf die Wange. »Gute Nacht.« Cable war zu vorsichtig, um sich auf etwas einzulassen, dem er nicht gewachsen war. Naomi war eine attraktive und angenehme Begleiterin, aber jeder Diplomat, der sich mit einer jungen Frau, die halb so alt war wie er, einließ, mußte damit rechnen, daß sie eine feindliche Agentin war. Trotzdem scheute er sich davor, Skilbeck darum zu bitten, sie zu überprüfen – denn das erschien ihm sehr niederträchtig. Zwei Monate lang traf er sich öfter mit ihr, und sie gingen in Konzerte oder besuchten Kunstausstellungen außerhalb Wiens. Manchmal gingen sie zum Abendessen aus, aber immer in Restaurants auf dem Land, wo sie mit Sicherheit keinem Diplomatenkollegen Cables begegnen würden. Als der Mai kam, waren sie schon sehr vertraut miteinander. Cable fühlte sich nach den einsamen Jahren, die auf seine Scheidung gefolgt waren, wie erlöst; und Naomi schien ihn auch zu brauchen, aber ihre Verabredungen verliefen noch immer diskret. Cable war überrascht, daß sich eine so lebhafte und unabhängige Frau wie Naomi damit abfand; aber ihm wurde auch klar, daß seine anfänglichen Sorgen grundlos gewesen
waren. Naomi war ganz offensichtlich das, was sie zu sein schien – ein nettes jüdisches Mädchen, das ein paar Jahre in Mitteleuropa arbeitete. Sie stellte ihm keine Fragen und schien sich, abgesehen von den festen Meinungen, die sie über das palästinensische Problem hegte, kein Interesse an Politik zu haben. Eines Abends suchte er nach einem Diner im Interkontinental nach Fritz, als er beinahe mit Delacroix zusammenstieß, der Arm in Arm mit einem atemberaubenden Wiener Mädchen laut lachend und deutsch schwatzend den Bürgersteig entlangschlenderte. Cable war das peinlich, und er verbarg sich im Schatten einer Mauer, während sie die Straße überquerten und ein Appartementhaus betraten. Ein paar Minuten später gingen die Lichter in einem oberen Stockwerk an, und das Mädchen war durch das linke Fenster zu sehen, während es sich niederbeugte – offensichtlich, um eine Bettdecke zurückzuschlagen –, bevor es die Vorhänge zuzog. Dann ging das andere Licht aus. Nachdem Fritz ihm den Wagenschlag geöffnet hatte, lehnte Cable sich nachdenklich in seinem Sitz zurück. Wenn Delacroix das in aller Öffentlichkeit tun konnte… warum, zum Teufel, war er selbst so vorsichtig? Er war schließlich alleinstehend. Es gab keine Vorschrift, die es ihm verbieten konnte, eine Freundin zu haben, wenn ihm danach war – er verpaßte etwas und Naomi auch. An einem Wochenende waren sie in die Berge ins Salzkammergut gefahren und hatten in getrennten Zimmern in einer Pension in der Nähe des Hallstätter Sees übernachtet. Für den nächsten Ausflug schlug Naomi etwas total anderes vor, und sie fuhren in die flache Ebene östlich von Wien, die schon den Anfang der ungarischen Puszta bildete. Dies war nicht das Österreich für Touristen – es war ein Streifen von Feldern, die sich bis zur Grenze erstreckten und nur hie und da mit staubigen Dörfern und Brunnen mit wackeligen
Pumpmechanismen durchsetzt waren. Sie aßen in einem Gasthaus in Marchegg, einer verschlafenen kleinen Stadt, zu Mittag, deren Häuser sich um die beiden Symbole der österreichischen Provinz drängten: die Halle der Freiwilligen Feuerwehr und den Lebensmittelladen. Nach einer leichten Mahlzeit, bestehend aus Forelle und Weißwein, fuhr Cable mit Naomi eine enge Straße entlang, die vom Marktplatz aus einen Hügel hinab zum Ufer des breiten Flusses führte, der die Grenze zwischen Österreich und der Tschechoslowakei bildet. Die Fluten waren reißend; das Wasser war grau und von sumpfigen Riedgrasbeeten eingesäumt. Naomi drehte sich um und blickte zu der kleinen Stadt mit ihren einstöckigen Häusern, die rosa oder in dunklem Gelb gestrichen waren, zurück. Auf einem Zwiebelfeld arbeitete ein Mann in Bauernkleidung mit einer Hacke; hin und wieder hielt er inne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie umklammerte Cables Arm. »Es ist unheimlich, Bill. So ein ruhiges, schönes Städtchen – und nur ein paar hundert Meter von der anderen Seite, von der anderen Hälfte der Welt entfernt.« Außer einem verrosteten Schild auf der österreichischen Seite mit der Aufschrift »Achtung! Staatsgrenze!« und einem schwarzen, stählernen Wachturm auf der tschechischen Seite gab es keine Anzeichen dafür, daß es sich um eine Grenze handelte. Auf der anderen Seite war kein Lebenszeichen zu sehen – selbst der Wachturm sah verlassen aus. Auf der anderen Seite des Flusses, der tschechoslowakischen Seite, war Sumpfland, das von gelegentlichen, blaugrauen Tümpeln unterbrochen wurde, dann verdorrtes Grasland und, weiter entfernt, in Dunst gehüllte Hügel. »Großer Gott, sieht das öde aus«, flüsterte sie. »Leben denn dort überhaupt keine Menschen?« »Wahrscheinlich ist der Grenzbezirk – etwa vier oder fünf Kilometer breit – gesperrt. Wem gilt denn dieses Denkmal?
Flüchtlingen?« Cable deutete auf eine, ein paar Meter entfernte Steinsäule, die von einem Adler gekrönt wurde. Naomi sah sich die Inschrift an. »Nein«, kicherte sie. »Es handelt sich um ein Denkmal des hundertfünfundzwanzigsten Jubiläums des österreichischen Zollgrenzdienstes, 1830 bis 1955. Was ist das nur für eine Nation von Bürokraten! Sie muß die einzige in der Welt sein, die es für nötig hält, ihren Grenzbeamten ein Denkmal zu setzen!« »Benimm dich nicht respektlos, mein Mädchen«, lachte Cable und klatschte ihr kräftig auf den Po. »Du Bestie!« Sie rannte vor ihm den Treidelpfad hinunter, grinste ihn über die Schulter hinweg an und zog die Nase kraus. Sie gingen ein paar Kilometer am Fluß entlang, bevor sie wieder zum Auto liefen und weiter nördlich auf eine Hügelkette zufuhren. Am Abend stellten sie das Auto auf dem Marktplatz vor einem Gasthaus in einem hübschen kleinen Dorf namens Michelstetten ab. Nach dem Abendessen fragte Cable den Besitzer, ob sie dort übernachten könnten.
Das Zimmer war typisch österreichisch – blitzsauber und mit schweren Bauernmöbeln vollgestellt. Es hatte ein Mansardenfenster mit fröhlichen, rotweiß karierten Vorhängen, und an der Wand hing ein Hirschgeweih und ein religiöses Bild. Das hölzerne Bett war riesig, und auf ihm türmte sich ein Gebirge von Federbett. Naomi gab ihm einen flüchtigen Kuß und fing an, sich auszuziehen, als ob sie schon seit Jahren miteinander geschlafen hätten. Sie hatte ein graublaues Sommerkleid getragen, das sie zerbrechlich und feminin erscheinen ließ. Jetzt war sie nackt und wunderschön, aber ihr Körper erinnerte Cable eher an den eines weiblichen Soldaten. Er war geschmeidig und athletisch – ein praktischer Körper. Ihre Haut
war goldbraun getönt, und nur zwei Streifen auf beiden Seiten des Dreiecks, das ihre Schamhaare bildeten, waren etwas weißer. Ihre Arme und Beine waren schlank, wiesen aber kräftige Muskeln auf. Sie stand am Fenster, und als sie ihm den Rücken zudrehte und hinaufreichte, um einen Spalt im Vorhang zu schließen, sahen ihre Pobacken unter der schmalen Taille fest und rund, beinahe knabenhaft, aus. Cable lächelte ironisch über seine eigene bleiche Haut und den Ansatz eines Bauches; aber seine Unsicherheit war wie weggeblasen, als sie ihm die Arme um den Hals schlang und kleine, feste Brüste sich an ihn schmiegten. Sie trug ein mit Moschus durchsetztes Parfüm, und er konnte nicht aufhören, ihre zarte Haut zu streicheln. Sie zog ihn aufs Bett und blickte ihn zunächst ernst an, aber als sie ihre Beine um ihn schlang, lächelte sie zaghaft. Sie liebten sich, zunächst zart und dann mit wachsender Leidenschaft. Während sie sich mit geschlossenen Augen an ihn klammerte, fühlte er wie sie sich aufbäumte und ihr Körper in einer Reihe von Höhepunkten erschauderte. Trotzdem hatte er das Gefühl, daß zwischen ihnen eine seltsame Art von Distanz bestand, obwohl sie sich so nahe gewesen waren. Ihr Liebesakt hatte etwas Unerfülltes an sich, und als sie später neben ihm lag und sein Gesicht streichelte, hatte er das Gefühl, daß sie weinte.
Budapest und Wien
Die Zelle war zum Ersticken heiß, trotzdem wachte Sarah zitternd auf. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon eingesperrt war. In regelmäßigen Abständen wurde eine Luke in der Tür geöffnet und ein kleines Metalltablett hereingeschoben – es enthielt immer das Gleiche: einen Plastikbecher mit Wasser, Schwarzbrot und ein Stück Wurst. Alle paar Stunden wurde das Licht angeknipst und wieder gelöscht, dann schlief sie ein. Sie hatte den Verdacht, daß das Licht mehrmals am Tag ausging, um es ihr unmöglich zu machen, die Zeit einzuschätzen; und es gab kein Fenster in der Zelle, also hatte sie keine Möglichkeit, herauszufinden, ob es Tag oder Nacht war. Hin und wieder brach sie zusammen und weinte, aber einen Großteil der Zeit wunderte sie sich selbst über die Ruhe, die sie empfand. Während sie auf der grauen Schaumgummimatratze lag, verbrachte sie die Zeit damit, sich Gedichte ins Gedächtnis zu rufen oder sich im Kopfrechnen zu üben. Manchmal starrte sie einfach an die Decke. Nachdem sie ihrer Berechnung nach etwa zwei Tage in ihrem Gefängnis verbracht hatte, gewöhnte sie sich langsam an die Routine, die Langeweile und das langsame Verstreichen der Zeit. Sie hörte ein metallisches Klappern vor der Zellentür und sah in der Erwartung auf, ihre Mahlzeit zu bekommen. Ihre Ruhe verschwand allerdings, als die Zellentür aufgestoßen wurde und zwei kräftige Frauen in blauen Uniformen eintraten. Eine hatte die Winkel eines Feldwebels am Ärmel. Sarah wich voller Panik zurück; endlich passierte etwas, aber was auch immer es war, sie hatte schreckliche Angst.
Die Frauen schlossen mit unbeweglichen Gesichtern die Tür hinter sich ab und reichten Sarah ein Kleiderbündel. Dann traten sie wieder zurück, und ihr war klar, daß sie den Befehl erhalten hatte, sich anzukleiden. Es war ihr peinlich, von den beiden Wärterinnen angestarrt zu werden, und als sie einen weißen BH, Höschen und ein blaues Baumwollkleid anzog, zitterten ihre Glieder vor Angst. Das Kleid war seltsam bieder, es hatte lange Ärmel, war hochgeschlossen und am Kragen mit einer Spitzenbordüre eingefaßt – aber es paßte sehr gut. Die eine Wärterin reichte ihr einen kleinen Handspiegel und eine Haarbürste; Sarah strich sich ein paarmal durch ihr blondes Haar und fand, daß sie, obwohl sie sich nach einer Badewanne sehnte, recht präsentabel aussah. Sie wurde über einen Korridor in ein Büro geführt, und durch die hohen Fenster konnte man einen Hof überblicken. Es war ein hübscher Raum, in dessen Mitte sich ein Tisch befand, der mit einer altmodischen, bestickten Tischdecke, einer Vase mit Blumen, einer Kaffeekanne und einem Teller mit Schokoladenplätzchen bedeckt war. Sarah wurde befohlen, sich an den Tisch zu setzen, und ein älterer, weißhaariger Mann, dessen Augen sie freundlich anblinzelten, setzte sich ihr gegenüber. Plötzlich flammte ein Blitzlicht auf und Sarah blickte sich instinktiv danach um, als es erneut aufblitzte. Dann wurde ihr klar, daß man gerade ein Foto von ihr gemacht hatte, während sie in einem hübschen Kleid in einem Zimmer, das wie ein gemütliches Wohnzimmer wirkte, saß, nachdem sie etwa zwei Tage nackt in einer Zelle verbracht hatte – die Schweinehunde hatten es noch nicht einmal für nötig gehalten, ihr Schuhe zu geben, da sie wußten, daß ihre nackten Füße unter dem Tisch auf dem Foto nicht sichtbar waren. Sie sank verwirrt in ihrem Stuhl zurück und fühlte heiße Tränen der Ohnmacht und Angst in ihren Augen aufsteigen. »Wo bin ich?« Ihre Stimme kam als heiseres
Flüstern heraus. »Ich verstehe nicht, was hier vor sich geht. Um Himmels willen, was haben Sie denn mit mir vor?« Der weißhaarige Mann lächelte freundlich. »Nennen Sie mir zunächst bitte Ihren Namen.« »Sarah – Sarah Cable.« »Und Ihre Adresse?« »Ich wohne in der Himmelstraße 49 in Grinzing im Neunzehnten Bezirk in Wien.« Sie wünschte, sie könnte zu weinen aufhören. »Und Ihr Vater ist ein britischer Diplomat bei den Vereinten Nationen in Wien, Sir William Cable?« »Mr. William Cable – ja.« Der ältere Herr lächelte wieder. »Ich danke Ihnen.« Er schob ihr ein mit Maschine beschriebenes Stück Papier und einen Stift zu. »Vielleicht wären Sie jetzt so freundlich, dieses Schriftstück zu unterzeichnen – möchten Sie vielleicht etwas Kaffee?« Sie starrte auf das Stück Papier, das vor ihren mit Tränen gefüllten Augen verschwamm, und fühlte, wie ihre Hände zitterten. »Was soll ich denn da unterzeichnen?« Der weißhaarige Mann schüttelte traurig den Kopf. »Das Schriftstück ist auf englisch geschrieben«, sagte er. »Sie können es ruhig durchlesen. Es enthält Ihre Aussage, daß Sie das Land illegal betreten haben und daß Sie gestehen, Heroin mit sich geführt zu haben und den Versuch unternommen haben, es an Studenten hier in Budapest zu verkaufen.« Sarah zitterte noch immer, aber plötzlich wich ihre Angst einem unmäßigen Zorn. »Ihr Schweine«, keuchte sie. »Ich bin also in Budapest, wie? Illegaler Grenzübergang? Ich bin, verdammt noch mal, entführt worden. Heroin? Was für eine absurde Idee!« »Unterschreiben Sie es!« schrie er.
Das war ein Fehler von ihm. Sie wehrte sich entrüstet und zerfetzte das Papierstück, wobei sie sich über ihre eigene Wut wunderte. »Ich unterschreibe gar nichts, und Sie haben nicht das geringste Recht, mich hier festzuhalten!« Der Mut verging ihr etwas, als die zwei Frauen hinter sie traten. »Ich verlange, jemanden von der britischen Botschaft zu sehen – und zwar sofort!« »Bevor Sie das Schriftstück nicht unterzeichnet haben, sehen Sie gar niemanden. Sie sind machtlos, Kind – niemand weiß, wo Sie sich aufhalten. Wir können mit Ihnen machen, was wir wollen.« Er packte sie schmerzhaft am Arm, und sie fühlte, wie sich ihr Magen vor Furcht umdrehte. Plötzlich schnürte die Angst ihre Kehle zu. »Unterschreiben Sie es – oder wir müssen Sie auf andere Art dazu zwingen.« Er sprach mit leiser Stimme, aber sie hatte einen drohenden Unterton. »Sie gewinnen nicht das geringste damit, wenn Sie uns zeigen wollen, wie tapfer Sie sind, Miss Cable, und ich rate Ihnen ernstlich an, sich Unannehmlichkeiten zu ersparen. Sie sind erst neunzehn Jahre alt und besitzen wenig Lebenserfahrung. Diese beiden Frauen sind viel stärker als Sie und nicht so jung und hübsch – ich könnte mir vorstellen, daß es ihnen Vergnügen bereiten würde, ein bißchen Gewalttätigkeit auf ein junges Mädchen auszuüben, das so gebaut ist wie sie.« »Scheren Sie sich zum Teufel.« Sie stieß die Worte durch ihre trockenen Lippen aus. Sie wurde zurückgerissen und durch die Tür gezerrt, während sie schrie! »Hört auf, ihr Schweine! Laßt mich los!« Sie wehrte sich wild, aber die beiden Frauen waren zu kräftig für sie. Sie wurde eine Treppe heruntergeschleppt, wobei ihre Fersen schmerzhaft gegen jede Betonstufe stießen. Außerhalb einer Stahltür warfen die beiden Wärterinnen sie zu Boden, gingen ein paar Schritte zurück und sahen mit
verschränkten Armen auf sie nieder. Sarahs Körper schmerzte, und sie stand langsam und unbeholfen auf. Der Mund der einen Frau verzog sich zu einem schiefen Grinsen. Dann packten sie sie und rissen ihr alle Kleider vom Leibe. Sie war wieder nackt, und eine der Frauen hielt sie fest, während die andere die Tür aufschloß. Man bog ihr die Arme schmerzhaft hinter dem Rücken zurück, und als sie sich nach vorn beugte, um den Schmerz etwas zu erleichtern, fühlte sie einen harten Schlag in den Rücken und flog kopfüber in eine verdunkelte Zelle. Als sie landete, schien ihr der Boden die Arme und Beine zu verbrennen, und als sie sich hastig aufrichtete, stieß sie mit dem Kopf an die Decke der Zelle, die höchstens einen Meter fünfzig hoch war. Die Tür schlug zu, und Sarah befand sich allein in totaler Dunkelheit. Sie kniete sich vorsichtig wieder hin, und als ihre Knie den Boden berührten, wurde ihr klar, daß er aus eiskaltem Stahl war und bei der geringsten Berührung Schmerzen verursachte – das hatte ihr den Eindruck gegeben, sich verbrannt zu haben. Sie seufzte und atmete scharf ein. Als sie sich im Dunklen zur Wand herübertastete, fand sie heraus, daß auch sie aus Stahl war. Nach ein paar Minuten fing sie an zu frösteln und fühlte, wie ihr Körper immer kälter wurde. Sie hatte entsetzliche Angst. Sicherlich konnte man an so einem Ort sterben? Jede Stellung, die sie ausprobierte, wurde nach ein paar Minuten zur Qual. Die am wenigsten schmerzvolle Position bestand darin, mit aufgestützten Ellbogen auf dem Boden zu knien, aber sie wußte, daß sie das nicht lange aushalten konnte. Sie biß die Zähne zusammen, um zu vermeiden, daß sie vor Kälte klapperten. Irgend etwas in ihr befahl ihr, nicht die Nerven zu verlieren, weil das ihren Niedergang bedeuten würde, aber dann begann ein schmerzhafter Krampf durch ihre Arme und Beine zu ziehen und ihre Ellbogen gaben nach. Sie brach auf
dem Boden zusammen, schluchzte hilflos und wimmerte vor Schmerz.
Nachdem Skilbeck verärgert abgezogen war, verbrachte Cable den Großteil des Tages in seinem Büro in der Botschaft. Es war ein großes Zimmer mit Ausblick auf die Reisnerstraße, das mit einem Mahagonischreibtisch und sechs grünen Ledersesseln, die um einen Kaffeetisch gruppiert waren, ausgestattet war. Das Mobiliar wirkte wuchtig und einem Diplomaten angemessen; es wäre ein eindrucksvolles Büro gewesen, wenn nicht alles darin so heruntergekommen und schäbig ausgesehen hätte. Meistens empfand Cable es als angenehm, in dieser Umgebung zu arbeiten, besonders dann, wenn die Sonne durch die hohen Fenster strömte, wie sie es heute tat. Seine Protzigkeit amüsierte ihn, denn in Wirklichkeit war er nicht mehr als ein Berater; aber heute kam ihm sein Arbeitszimmer wie eine Gefängniszelle vor, während er automatisch Dokumente durchlas, seine Sekretärin unfreundlich anfuhr und ein Telegramm anstarrte, ohne dessen Inhalt zu registrieren. Was, zum Teufel, hielt ihn davon ab, die Ereignisse der letzten Nacht anzuzeigen? Es war ein Skandal, und jeder andere wäre sofort schnurstracks zur Polizei gegangen. Er stand am Fenster und beobachtete die Paare der Polizeibeamten, die in diesem Diplomatenviertel Patrouille liefen. Ihre grünen Uniformen waren formlos geschnitten und erinnerten einen ständig an die fersenzusammenschlagende Nazivergangenheit dieses Landes, aber die Polizisten hielten ihre Rücken gerade und ihre Maschinenpistolen in dem Bereitschaftswinkel, der ihnen allen beigebracht worden war. In Wahrheit fürchtete Cable sich, eine Meldung zu machen. Seit seiner Gefangennahme in Vietnam und der groben
Behandlung seines Falles durch Stuart hatte immer ein Fragezeichen neben seinem Namen gestanden. Es existierte zwar nicht zu Recht, aber es stand da – und diese Tatsache war nicht wegzuschieben. Wenn er diese Ereignisse der letzten Nacht meldete, würde das zweifellos auf irgendeine Weise gegen ihn verwendet werden. Es würden sich sofort alte Feinde finden, die alte Fragen aufbrächten, und in Nullkommanichts würden die Verhöre wieder beginnen. Er hatte beinahe dreizehn Jahre gebraucht, um sich zu rehabilitieren – und sich wieder einen guten Ruf zu verschaffen, der allerdings so verletzlich war, daß er über Nacht wieder zerstört werden konnte. Daß er immer loyal gewesen war, besagte gar nichts; nach Vietnam hatte er gelogen, um seinen guten Ruf und seine Karriere zu retten – und es gab jemanden in Moskau, der den Beweis dafür hatte. Die Schweine hatten ihn in der Hand. Jede weitere Stunde, die verging, machte es schwerer, sich für den geraden Weg zu entscheiden, denn er hätte seine Entführung sofort nach seiner Freilassung anzeigen sollen. Es würde sehr seltsam wirken, wenn er dies erst nach Stunden, nach einem oder vielleicht sogar erst nach zwei Tagen tun würde. Und dann hatte dieser Streit mit Skilbeck stattgefunden, der dann sicher noch mehr Wellen schlagen würde. Er hatte schließlich Informationen verlangt, die ihm nicht zustanden – Informationen, die jedem Feind sehr nützlich wären. Er hatte zwei Schritte zum Verrat getan, und es war erschreckend leicht gewesen, so weit zu kommen. Seine Grübelei wurde durch ein Mittagessen mit Laszlo Kardos unterbrochen. Cable fuhr mit seinem Wagen in die Altstadt durch ein Labyrinth von kopfsteingepflasterten Straßen im Ersten Bezirk, die den Dom umgaben, wo Kardos einen Tisch im »Salut«, einem kleinen französischen Restaurant, bestellt hatte. Kardos war schon da und saß an einem weißgeschrubbten Holztisch mit einem kleinen rotweiß
karierten Deckchen. Mit seinen fröhlichen Augen und seinem dichten schwarzen Bart sah er wie der Maître des Bistros irgendwo in der Provinz in Frankreich aus, nicht wie ein Jesuit, der den Diplomatendienst des Vatikans vertrat. Die beiden Männer hatten sich bei einem Empfang, der während Cables ersten Monats in Wien stattfand, kennengelernt und sofort gut verstanden. Vielleicht lag es daran, daß beide eine Vergangenheit hatten, die ihnen sehr viel abverlangt hatte, und daß sie dadurch mehr Verständnis für verschiedene Dinge aufbrachten. Diplomatisch gesehen, war Wien tiefste Provinz; Österreich ist ein kleines Land, und die Enklave der Vereinten Nationen in seiner Hauptstadt ist bedeutend kleiner, als das UNO-Hauptquartier in New York. Was auch immer die Gründe waren, Cable mochte Kardos gern und betrachtete ihn als seinen Freund. Er war Ungar, Überlebender eines Konzentrationslagers, der während der stalinistischen Besetzung kurz nach dem Krieg zum Priester geweiht worden war. Er hatte in einem Armenviertel in Budapest gearbeitet, bis er von der AVO festgenommen und gefoltert worden war, die ihn unter übelsten Bedingungen fünf Jahre lang gefangenhielt. Sein Leben wurde durch die Revolution im Jahre 1956 gerettet, als er von seinen Wärtern freigelassen wurde, damit er für ihr Leben einstehen konnte. Es hatte keinen Erfolg: Als Kardos von der jubelnden Menge davongetragen wurde, baumelten die meisten seiner Wärter bereits an den Laternenpfählen vor dem Gefängnis. Zwei Tage später war er bei Andau inmitten eines Stroms von Flüchtlingen über die Grenze nach Österreich getaumelt – als ausgemergelter Dreißigjähriger in einer zerrissenen Soutane, der den russischen Panzern nur um Stunden entkommen war. Und jetzt saß er hier, fast dreißig Jahre später: ein weltlicher Monsignore, der dem Heiligen Rom in Washington und Brasilien gedient hatte, bevor er vor zehn Jahren nach Europa
zurückgekehrt war. Er strahlte Cable an und schenkte ihm ein Glas Rotwein ein. »Ein Bordeaux, mein Freund, leicht und fruchtig – er würde sehr gut zu dem Entrecote Bordelaise passen.« Sie unterhielten sich während einer ausgezeichneten Mahlzeit, die Kardos ausgesucht hatte, weiter, aber Cable war mit seinen Gedanken woanders und sprach und aß wenig. Er hörte höflich zu, während Kardos ihm die Besorgnis des Vatikans um das Schicksal der Menschen in Osteuropa auseinandersetzte. »Obwohl ich bei der UNO akkreditiert bin, Bill, muß dir klarsein, daß ein Hauptteil meiner Arbeit in der Verbesserung der Bedingungen in den sowjetischen Satellitenstaaten liegt. Sonst wäre ich nicht hier; dann wäre ich lieber ein Dorfpriester als ein Diplomat.« Cable verschluckte sich beinahe. »Meinst du das wirklich, Laszlo? Ich kann mir nicht vorstellen, daß es viele Priester in Wien gibt, die im Salut zu Mittag essen können.« Kardos lachte so laut, daß einige Gäste sich nach ihm umdrehten. »Wenn ich eine Pfarrei hätte, würde ich das Salut nicht so sehr vermissen. Meine Belohnungen beständen aus anderen Dingen. Aber jetzt zum Geschäft, mein Freund – ich gebe St. Peters Pfennige nicht aus Menschenfreundlichkeit für dich aus.« »Das tust du nie, Laszlo. Was kann ich heute für deine geheimnisvollen Meister im Vatikan tun?« »Wie du weißt, haben sie starke Bedenken wegen der Verbreitung von Atomwaffen in der Welt.« »Das hast du schon immer sehr klar ausgesprochen; aber es gibt doch nur fünf Mächte, die welche besitzen.« »Und was ist mit Pakistan, Bill? Man kann in allen Zeitungen lesen, daß auch andere Mächte sich mit der Entwicklung dieser Waffen beschäftigen – und daß Pakistan so gut wie dabei ist, seine erste Atomwaffe explodieren zu lassen. Stimmt das?« »Ich weiß auch nicht mehr, als in den Zeitungen zu lesen ist.«
»Also Bill – das glaube ich dir nicht. Du bist ein britischer Diplomat, und ich frage dich nicht nur aus reiner Neugierde. Wenn der Heilige Thron seinen Einfluß ausüben soll, müssen wir genauer informiert sein – so gut wie ihr, die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion.« Cable kaute auf einem Stück Fleisch herum und beschäftigte sich in Gedanken noch immer mit seinen eigenen Problemen, aber er versuchte sich zu konzentrieren. Trotz Cables Schweigen fuhr Kardos mit seiner Ansprache fort. »Der Vatikan hat keinen Geheimdienst. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß eure Quellen und die der Vereinigten Staaten – ganz zu schweigen von Australien, Kanada und Neuseeland – euch nicht einen klaren Bericht von dem Punkt, an dem Pakistan jetzt angekommen ist, gegeben haben. Sind sie schon halbwegs am Ziel oder beinahe – und können sie eine Atomwaffe tatsächlich hochgehen lassen?« »Ich bin nur unser Mann bei der UNO, Laszlo – über derartige Dinge informiert man mich nicht.« »Das möchte ich bezweifeln, Bill – aber wir wollen nicht darüber streiten. Wir würden ganz einfach gern wissen, inwieweit ihr und eure Alliierten bereit sind, uns etwas zu erzählen. Nicht mehr und nicht weniger.« »Hast du schon einmal darüber nachgedacht, den pakistanischen Botschafter zu fragen?« lächelte Cable verschmitzt. »Oder Chima, seinen zwielichtigen Atomattache – den die Amerikaner Chima die Bombe nennen?« »Mir ist nicht zum Spaßen zumute, Bill. Wärest du so freundlich, London zu konsultieren und herauszufinden, wieviel man uns enthüllen kann?« »Das will ich gern tun – aber ich kann dir jetzt schon sagen, daß man euch nicht viel berichten wird. Es handelt sich schließlich um militärische Informationen.«
Kardos zuckte mit den Schultern. »Das wird sich herausstellen. Zumindest kannst du deinen Vorgesetzten versichern, daß der Vatikan nicht vorhat, mit Pakistan einen Krieg anzufangen – unsere Pläne sind ausgesprochen ehrenhaft.« Er lachte tief und grollend. »Wir haben sogar den Atomsperrvertrag unterzeichnet!« Cable lächelte freudlos, sagte aber nichts. »Ich habe also mein Anliegen überbracht, Bill. Und was hast du zu berichten?« Er betrachtete Cable mit sorgenvollem Blick. »Mit deiner Erlaubnis, mein Freund, du siehst nicht so gut aus wie sonst.« Cable nippte nervös an seinem Wein und war nahe daran, Kardos seine Probleme anzuvertrauen, denn er hatte das überwältigende Bedürfnis, sich jemandem mitzuteilen – und er hatte schon oft das Gefühl gehabt, daß er dem Priester mehr als seinen Kollegen in der Botschaft vertrauen konnte. Aber er hielt sich zurück und sprach statt dessen über alltägliche Dinge, bis es an der Zeit schien, sich zu verabschieden. Während er zur Botschaft zurückgefahren wurde, kam ihm ein neuer Gedanke: Zwar hielt er sich sehr gerne in der Gesellschaft Kardos’ auf, aber der Priester hätte seine Nachricht auch in einem kurzen Telefongespräch übermitteln können, und Cable überlegte sich, aus welchem Grund er tatsächlich so extravagant bewirtet worden war. Er beschloß, sein Büro früh zu verlassen, um vor dem Dinner mit den Japanern, das an diesem Abend stattfand, noch ein paar Stunden für sich selbst zu haben. Die Zeit wurde knapp, und er mußte einen Entschluß über seine zukünftigen Handlungen fas sen. Um vier Uhr war er gerade dabei, Dokumente in seinem Aktenkoffer zu verstauen, als Skilbeck eintrat. Er war kurz angebunden. »Könnten wir uns wohl unten unterhalten, Bill?«
»Unten« bedeutete ein kleines, stickiges Zimmer zwei Stockwerke tiefer, das von den Mitgliedern des Geheimdienstes benutzt wurde. Es hatte eine gepolsterte Doppeltür, war fensterlos und garantiert abhörsicher. Sie ließen sich auf den beiden Stühlen am Stahltisch nieder, und Cable hörte, wie ein Sicherheitsbeamter die äußere Tür verschloß. »Ich habe getan, was Sie von mir verlangt haben, Bill.« Skilbecks Gesicht war unergründlich, und er klang weder verärgert noch devot. »Der Generaldirektor ist damit einverstanden, daß Sie über meine Operation informiert werden.« Cable nickte. »Na gut.« »Nun – das wollten Sie doch, oder? Sie werden einer sehr ausgewählten Gruppe hier in Wien angehören – außer den beteiligten Agenten wissen nur Barron, ich, ein Vertreter des CIA und noch jemand Bescheid.« Cable nickte wieder, sagte aber nichts. »Ich kann Ihnen jetzt noch nicht sehr viel sagen – ehrlich gesagt, warte ich selber noch auf ein paar Details –, aber könnten Sie sich morgen den ganzen Tag freinehmen?« »Den ganzen Tag? Ja, das ginge schon.« »Gut, dann tun Sie das. Wir haben eine Planungskonferenz vor, und Sie können daran teilnehmen; dann wissen die anderen über Ihre Beteiligung Bescheid, und Sie sind sofort auf dem laufenden. Die Konferenz findet nicht hier statt, sondern in Salzburg; deswegen brauchen Sie den ganzen Tag.« »In Salzburg? Warum? Wann?« »Um zwei Uhr nachmittags. Wir haben Salzburg nur gewählt, weil wir uns nicht in Wien aufhalten wollen. Aus keinem anderen Grund.« »Und wo?« »In einem Sicherheitshaus in der Nonberggasse-Nummer 13 – ich sage Ihnen, wie Sie es finden. Ihnen ist hoffentlich klar,
daß Sie nicht mit Ihrem Geschäftswagen dort hinfahren können?« »Ja, kann ich meinen eigenen benutzen?« »Er hat die WD.25er Diplomatenplakette, die auf die britische Botschaft hinweist, nicht wahr?« »Ja, natürlich.« »In dem Fall können Sie ihn nicht benutzen. Nehmen Sie einen Mietwagen, oder fahren Sie mit dem Zug. Versuchen Sie, sich wie ein Tourist zu benehmen.« Eine Stunde später, als er nach Grinzing zurückgekehrt war, zog Cable ein Paar alte Hosen und ein Sporthemd an und machte sich auf einen Spaziergang durch die Wälder auf dem Kahlenberg, der hoch über das Dorf aufragte. Seine Schuhe knirschten auf den Tannennadeln, als er einen steilen Pfad hinaufschritt, der von Bäumen beschattet wurde, durch die die schon untergehende Sonne nur noch müde blinzelte. Seine Gedanken befanden sich noch immer in Aufruhr. Jetzt ging er zu Skilbecks Konferenz, und obwohl er sich den ganzen Tag damit herumgeplagt hatte, hatte er sich nicht dazu durchringen können, eine Meldung über die Ereignisse der letzten Nacht zu machen: der dritte Schritt in der falschen Richtung. Im Innersten wußte er, daß es jetzt an der Zeit war, alles einzugestehen und die Konsequenzen zu tragen, aber vielleicht konnte er die Sache auch gelassen angehen. Keine dramatischen Telefongespräche – er könnte statt dessen einen Bericht schreiben und ihn an die Abteilung für Sicherheit in London schicken. Das würde ihm ein unangenehmes Gespräch mit Barron ersparen und die Verspätung erklären. Warum, zum Teufel, schob er es noch immer hinaus? Er scheute vor dieser Frage zurück. Er kam am Waldrand an und blickte auf Grinzing hinunter, das sich am Fuße der Weinberge an die Kirche mit dem Zwiebelturm schmiegte. Dahinter lag die Stadt, deren alter Teil
von den Türmen des Stephansdoms und der Votivkirche markiert wurde, die wiederum von den hohen modernen Wohnblöcken am Stadtrand überragt wurden. In der Stille des Waldes hörte er wieder die drohende Stimme des Russen… »wenn Sie mit uns zusammenarbeiten, werden wir Sie für den Rest Ihres Lebens in Frieden lassen. Wenn nicht, ruinieren wir Sie… Golitsyn, Hanoi, 1971.«
Vietnam – 1970
Cables Villa in Saigon war ein niedriges, weißes Gebäude im französischen Kolonialstil. Es stand an einer von Bäumen gesäumten Straße, und hinter dem Haus befand sich eine breite, schattige Veranda, die zu einem üppig bewachsenen grünen Garten führte. Die Illusion dieses Vorstadtfriedens wurde nur durch einen hohen Kettenzaun, an dessen oberem Ende Stacheldraht angebracht war und der die Villa umgab, und durch das Gewehrfeuer und die Explosionen, die ständig in der Ferne zu hören waren, gestört. Er kam im Juni an, als die Hitze und die Luftfeuchtigkeit fast unerträglich waren. Es war ein seltsames Gefühl, so plötzlich von Judith und den Kindern getrennt zu sein. Er vermißte sie – wie er traurig feststellte, die beiden Mädchen mehr als ihre Mutter –, aber er gewöhnte sich erstaunlich schnell an sein Strohwitwerdasein. Zwei annamitische Mädchen kümmerten sich um die Villa. Es waren winzige Wesen, so zerbrechlich wie Vögelchen, mit zarten, olivfarbenen Gesichtszügen über ihren weißen Kitteln. Sie hielten das Haus blitzsauber, kochten, versorgten ihn mit eisgekühlten Getränken und lasen ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Hätte er es sich einfallen lassen, eine von ihnen mit ins Bett zu nehmen, hätte sie ihn zweifellos mit der üblichen leidenschaftslosen, orientalischen Tüchtigkeit befriedigt. Die australische Botschaft kümmerte sich um die Rechnungen, und Cable wurde in einem klimatisierten Chevrolet zur Arbeit gefahren, wie es einem Oberstleutnant auf Zeit zukam.
Abgesehen von der ständigen Gefahr, verlief sein Leben recht angenehm. Das Büro, in dem er arbeitete, lag in einem Betonklotz am Rande der Botschaft. An der Tür befand sich kein Namensschild, und jeder wußte, daß es dem CIA gehörte. Cables Zimmer war mit furnierten Mahagonimöbeln eingerichtet; sein vietnamesischer Assistent Tho Hang arbeitete in einem Raum nebenan. Tho war zäh und drahtig, intelligent und hatte sehr ernste Augen. Er war Offizier in der südvietnamesischen Armee und Befehlshaber einer Garnison in einer kleinen Grenzstadt gewesen, bevor die nordvietnamesische Volksarmee sie vor drei Jahren einnahm. Seine vier Kinder waren während der Bombardierung umgekommen, und die Männer, die ihn gefangennahmen, ließen ihn dabei zusehen, wie seine junge Frau sich hinknien mußte, um enthauptet zu werden, bevor er zum Verhör gebracht wurde. Ein paar Tage später war die Kolonne von südvietnamesischen Truppen aus dem Hinterhalt überfallen worden. Tho wurde freigelassen und in den Süden gebracht. Da er englisch sprach, wurde er zum Geheimdienstbeamten gemacht. Tho lächelte selten, wodurch er sich von den meisten Vietnamesen unterschied. Jetzt schritten er und Cable langsam, um Schweißausbrüche zu vermeiden, in der Hitze durch ein Armenviertel von Saigon. Auf beiden Seiten der Straße ragten hohe Mietshäuser auf, zwischen denen Leinen mit Wäsche gespannt waren, die über den Köpfen der sich drängenden Menge flatterten. An den Türen saßen kleine Gruppen schnatternder Vietnamesen, eine in Lumpen gekleidete Frau hockte dort und bettelte, und das dicke, bräunliche Wasser, das durch die offenen Kanalisationsrohre lief, verbreitete einen übelkeiterregenden Gestank. Die belebte Straße führte auf einen breiten Boulevard, und die beiden Männer setzten sich in ein Straßencafe, dessen
Tische von einer roten Markise vor der Sonne geschützt wurden. Cable wollte etwas besprechen – er war sich sicher, daß sich in seinem Büro Abhörgeräte befanden, wahrscheinlich von den Südvietnamesen und den Amerikanern installiert oder auch vom Vietcong. Die Unterhaltung im Café war durch den Verkehrslärm und den gelegentlichen Ausbruch von Maschinengewehrfeuer, das von einer zerbombten Stelle am Boulevard herüberdrang, für andere unhörbar. Der Himmel wußte, wer diesmal wen beschoß; wenn sich solche Gefechte mehr als hundert Meter entfernt abspielten, ignorierte man sie meistens. Der Vietnamese nippte an seinem Pastis und wartete, während er den breitschultrigen Europäer betrachtete. Tho Hang mochte, ja, bewunderte ihn. Cable lehnte sich zurück; sein weißes Hemd zeigte bereits Schweißflecken auf der Brust. »Wir haben zu wenig Erfolg, Sam, viel zu wenig.« Tho war von seinem früheren, amerikanischen Chef »Sam« getauft worden; er schien deshalb nicht beleidigt, eher geschmeichelt zu sein, also hatte Cable diese Anrede auch benutzt. »Wir hatten Phan Van Tien«, widersprach Tho. »Er kam ziemlich nahe an das höchste Kommando in Hanoi heran.« »Und dafür haben sie ihn erschossen. Er hat nur sieben Wochen standgehalten.« Tho nickte schweigend. Es war wahr. Sechs Monate lang hatten Cable und er nur auf ein Ziel hingearbeitet: in das höchste militärische Kommando in Hanoi einzudringen. Es gab fast keine guten Geheiminformationen über das, was die beiden Feinde, der Vietcong und die Volksarmee Nordvietnams, für ihre nächste Offensive planten. Im Innersten wußte Cable, daß der Krieg verloren war. Die Amerikaner hatten das in sie gelegte Vertrauen gebrochen und würden Vietnam den Rücken kehren, aber die südvietnamesische Armee kämpfte noch immer. Waren die Kommunisten auf
einen schnellen Tod oder ein langsames Erwürgen aus? Die Antwort auf diese Frage war militärisch und politisch gesehen sehr entscheidend. »Chef«, sagte Tho langsam. »Ich glaube, wir packen’s nicht richtig an. Wir versuchen, unsere Agenten bei der Verteidigung einzusetzen, als Kader, die sich in der Nähe von Giap aufhalten. Wir haben sowieso nicht genug Agenten – und die wenigen, die wir haben, haben einfach nicht ausreichend Zeit, irgend etwas in Erfahrung zu bringen.« Cable nickte. »Es dauert einfach zu lange, Chef. Bis unsere Jungens endlich akzeptiert werden, ist dieser verdammte Krieg gelaufen.« »Und was soll ich statt dessen tun?« »Weiß nicht, Chef. Wenn ich es wüßte, würde ich vielleicht diesen großen Amischreibtisch bekommen und Sie meinen Blechtisch.« Beide lachten, und Cable bestellte noch etwas zu trinken. Auf dem Rückweg ins Büro kamen sie an einer Reihe von Läden vorbei, die der Vietcong gerade mit einer Bombe in die Luft gesprengt hatte. Während der letzten paar Wochen war der Krieg bis in die Stadt vorgedrungen. Die Trümmer rauchten noch und waren mit Leichen übersät: blutige Bündel, deren Glieder in allen möglichen Verrenkungen ausgestreckt waren; manche waren von herabgefallenen Holzbalken erschlagen worden. Der Bürgersteig war mit zersplittertem Glas, zerquetschten Mangos und verkohlten Hühnerkadavern, wo die Marktstände zerstört worden waren, bedeckt. Schwitzende Vietnamesen rannten mit Tragbahren aus Krankenwagen herbei, in der Hoffnung, noch Lebende zu finden, und das Heulen der Sirenen war ohrenbetäubend. Ein älterer Mann taumelte schluchzend auf die Beine; er trug ein kleines Mädchen in den Armen. Ihre Beine waren bis
oberhalb der Knie weggerissen worden. Sie waren nur mehr zwei winzige Stümpfe aus verbranntem und zerfetztem Fleisch und Knochen, aus denen dunkelrotes Blut spritzte, das die weißen Hosen des Mannes rot färbte.
Unmittelbar innerhalb des Betongebäudes wurde Cable von einem Wachtposten der US-Marine angehalten, der lässig salutierte. »Oberst Cable, Sir. Unten im Verhörzimmer sitzt ein Gelber. Major Maxton meinte, daß Sie ihn vielleicht sehen möchten.« Der Vietcong-Junge war sehr jung, vielleicht siebzehn. Man hatte ihn nackt ausgezogen und seine knochigen Glieder ließen ihn noch jünger erscheinen. Sein Körper war mit Fleischverletzungen und blauen Flecken besät – er war von einer südvietnamesischen Einheit, die ihn schlimm verprügelt hatte, vom Delta herübergebracht worden. Unter seinem kurzgeschorenen Haar blickten seine schmalen Augen mit unverhohlenem Abscheu hervor. Der Keller war unerträglich heiß, und der Gestank nahm einen den Atem. Die Marinewachtposten schwitzten stark, und der Gefangene stank nach Urin und Angst. Cable zündete sich eine Zigarette an, um den Geruch zu übertreffen. »Was hat das denn mit mir zu tun?« schnauzte er den amerikanischen Major, einen Neger mit randloser Brille, an. »Dieser Typ hier ist ein Kurier, Oberst. Kam den ganzen HoTschi-Minh-Pfad mit Befehlen für diese Schweine auf den Reisfeldern herunter. Vor zwei Wochen war er in Hanoi und sagt, daß Giap neue Berater hat. Europäer.« »Russen?« Der Major zuckte mit den Schultern. »Nehm’ ich an. Irgendwelches Interesse?«
»Das ist sehr interessant, ja, aber ich glaube nicht, daß ich viel dabei unternehmen kann. Ich lasse Tho Hang holen, damit er ihn verhört.« Der Major brummte und goß aus einer grünen Flasche etwas eisgekühltes Wasser in ein Glas. Die Augen des Jungen sahen ihn bittend an; er war vierundzwanzig Stunden ohne Essen und Trinken in der glühenden Hitze gefangengehalten worden. Der Major sprach ein paar sanfte Worte auf Vietnamesisch. Der Junge nickte lebhaft und begann zu weinen. Der Major schob ihm ein halb mit Wasser gefülltes Glas zu und wandte sich an Cable. »Also bringen Sie Tho herunter – der Junge wird jetzt reden.«
Cable ließ sich Thos Bericht mehrere Tage lang durch den Kopf gehen, bevor ihm eine Idee kam. Dann schickte er ein chiffriertes Telegramm nach London, und eine Woche später traf er sich mit David Nairn in Singapur. Nairn war noch immer der Direktor der Division für Südostasien. Er begrüßte Cable freundlich; der Streit, den er mit ihm vor seiner Versetzung nach Saigon gehabt hatte, war offensichtlich vergessen. Sie waren wieder bei ihrem alten Einverständnis angelangt – sie verstanden sich gut, benahmen sich aber trotzdem distanziert. So gut man David Nairn auch kennen mochte, es bestand immer ein gewisser Abstand, obwohl Cable herausgefunden hatte, daß sich hinter der kalten Fassade ein gutes Herz verbarg – wie gut, das sollte er erst Jahre später am eigenen Leibe erfahren. Nairns Haar war eisengrau und sein Gesicht mager; über hervorstehende Knochen spannte sich eine vom Wetter gegerbte Haut, und seine Magerkeit wurde durch die buschigen schwärzen Augenbrauen, die über tiefliegenden Augen
hervorwuchsen, nur noch betont. Cable kam es vor, als ob er immer müde und krank aussähe. Sie aßen in einem europäischen Club zu Mittag und gingen dann durch den Park zum Hochkommissariat, wobei sie sich im Schatten der Bäume hielten – obwohl Singapur bedeutend kühler als der Glutofen Vietnam war. Als sie das Büro betraten, begann Nairn ohne Umschweife. »Bill, ich fand Ihr Telegramm hochinteressant. Ich habe darüber nachgedacht – es besteht die Möglichkeit, daß ich einen Agenten für Sie habe.« »Was für eine Art von Agenten? Ist er wichtig? Meine meisten wurden bereits nach sechs Wochen erschossen.« »Er ist sehr wichtig.« Nairn warf Cable einen scharfen Blick zu. »Sie müssen sehr auf ihn aufpassen. Er ist so wertvoll, daß ich mir noch nicht einmal sicher bin, ob ich ihn für einen Krieg riskieren soll, der schon vor Jahren verloren wurde…« Seine sanfte schottische Stimme war leise. »Sagen Sie es mir, David.« »Sie haben verdammt hart versucht, zu dem höchsten Kommando in Hanoi vorzudringen, aber Sie haben nicht mehr Erfolg gehabt als ihr Vorgänger vom CIA. Um es ganz klar auszudrücken: Ihre Operation ist ein totaler Mißerfolg.« Cable nickte zustimmend. »Ja, das stimmt – es tut mir leid.« »Niemand versucht, Ihnen die Schuld zuzuschieben – Sie haben sich redlich bemüht. Aber ich glaube, daß die Antwort bei diesen neuen sowjetischen Beratern zu suchen ist. Bis jetzt lag das Problem immer darin, vietnamesische Agenten anzulernen, die bis zum höchsten Rat vordringen können. Der Zeitfaktor erschwert unsere Bemühungen aufs äußerste – sie ziehen sich ihre Kader langsam heran, praktisch von Kindesbeinen an, so daß jeder, der es bis zur Spitze schafft, auf jeden Fall loyal ist, sonst wäre er schon eher eliminiert worden. Aber ich bin Ihrem Rat gefolgt, und Sie haben recht – es gibt tatsächlich eine Handvoll Russen, die jetzt in Hanoi mit Giap
und seinen Beratern am letzten Plan arbeiten. Wenn wir einen von ihnen bekommen könnten, hätten wir sofort Zugang. Wenn wir dann noch mit Abhöranlagen arbeiten, können wir uns nur noch ins Fäustchen lachen.« »Und wie kriegen wir einen von denen? Wer sind denn diese Leute überhaupt? Sind sie hohe Offiziere in der russischen Armee? Oder KGB-Männer? Haben Sie noch einen Penkowsky, der wunderbarerweise nach Hanoi versetzt werden kann?« Nairn ging zum Fenster hinüber, betrachtete die Menge von Chinesen, die sich die Straße entlang zum Hafen drängte, und zündete seine Pfeife an. »Ich habe einen Mann in Hanoi, Bill. Er war zwölf Jahre in Moskau. Ich hatte nicht vor, ihn in Vietnam einzusetzen… aber es scheint, daß wir keine andere Wahl haben.« Er drehte sich um und fixierte Cable mit einem durchdringenden Blick. »Mir wäre es noch immer lieber, wenn ich es nicht tun müßte. Könnten Sie mit Ihren Leuten in, sagen wir, sechs Monaten zum Erfolg kommen? Ich nehme an, daß dieser Krieg nicht mehr länger als zwei Jahre dauert. Wir bekommen sowieso geheime militärische Informationen – wichtig ist jetzt die letzte Strategie. Aber es ist nicht unser Krieg, Bill. Vergessen Sie nicht, daß Sie nur vorübergehend Australier sind – und es ist ja noch nicht einmal Australiens Krieg. Die Amis haben sich da in eine ganz schön beschissene Sache hereingeritten.« »Dazu kann ich nichts sagen. Vielleicht gelingt mir der Durchbruch – aber im Moment sieht es nicht so aus. Es ist sogar ziemlich unwahrscheinlich. Ist der Mann, von dem Sie sprechen, in sechs Monaten noch da?« Nairn schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Hören Sie – ich gebe Ihnen ein paar Tage Zeit. Ich riskiere es, wenn Sie ehrlich glauben, daß die Notwendigkeit besteht, aber es ist Ihre Entscheidung.«
Eine Woche später trafen sie sich erneut in Singapur, wo Nairn von Cable verlangte, ein spezielles Indoktrinationsdokument zu unterzeichnen, das danach sofort in einem Safe verschlossen wurde. »Von diesem Moment an, Bill, ist jedes Wort streng geheim – und nur für britische Augen und Ohren bestimmt.« Und so wurde Cable der vorübergehende Kontrolleur von Oberst Igor Golitsyn der GRU, dem russischen Militärgeheimdienst. Golitsyn hatte dem britischen Geheimdienst im Jahre 1958 in Berlin seine Dienste angeboten, indem er einen Brief in das Auto eines Diplomaten schmuggelte. Sein erstes Angebot waren die Decknamen von 370 »illegalen russischen Einwanderern« im Westen gewesen – und seitdem hatte er den Briten unbezahlbare Dienste geleistet. Vor drei Monaten war er in seiner Stellung als höherer Geheimdienstbeamter mit dem Auftrag nach Hanoi geschickt worden, Moskau über die Lieferung von Waffen und Ausrüstungsgegenständen für die Kampagne, die den Krieg beenden sollte, auf dem laufenden zu halten. Er war jetzt schon ein Vertrauter von General Giap und seinen Kollegen – und sobald er aktiviert worden war, stellte sich heraus, daß er Cable mit äußerst wertvollen Informationen dienen konnte. Beinahe ein Jahr lang tat Cable nichts anderes als Routinearbeit. Jeden Tag empfing er dechiffrierte, abgehörte Nachrichten von Little Sai Wan in Hongkong. Etwa einmal pro Woche kamen Funksprüche von Golitsyn, manchmal auch Kopien von Dokumenten, die von Fischern, denen er vertraute, in den Süden gebracht wurden. Cable war inzwischen voll in die CIA-Hierarchie von Saigon aufgenommen worden. Sein Lieferant war unbezahlbar, und der Vorrat an Informationen ging nicht aus. Man gab Golitsyn den Spitznamen »Popeye«.
Tokio
Der Erfolg konnte nicht ewig andauern. Zehn Monate lang arbeitete Cable sieben Tage in der Woche mit Tho Hang daran, Golitsyns Berichte zu analysieren und sie mit anderen Quellen, hauptsächlich abgefangenen Funksprüchen und Informationen kleinerer Agenten, zu vergleichen. Cable hatte das Gehirn eines Schachspielers, etwas, was die meisten großen Drahtzieher beim Geheimdienst gemeinsam haben. Während er in die Nervenzentren des Feindes in Hanoi vordrang, gelang es ihm, den Lärm der Kämpfe, die in den Vorstädten von Saigon tobten, und den Gestank der Leichen, die zerfetzt auf den Straßen lagen, zu vergessen. Seine Briefe an seine Familie wurden immer seltener: Er war völlig damit beschäftigt, die Pläne des Feindes kennenzulernen. Und plötzlich drückte Golitsyn ohne Vorwarnung den Alarmknopf. Am Ende einer seiner Funksprüche kam eine Nachricht: Sie lautete »Schweigender Buddha 71«. Es bedeutete, daß Golitsyn am Siebzehnten des Monats seinen Kontrolleur persönlich treffen wollte – und daß es ihm möglich war, dafür nach Japan zu reisen. Cable empfand Erleichterung bei dem Gedanken, daß Golitsyn, selbst wenn er Ärger hatte, sich immer noch frei bewegen konnte. Es gab zwölf festgelegte Rendezvousorte und Zeiten für diese Rendezvous – einer davon befand sich in Hanoi selbst. Aber für einen Geheimdienstbeamten aus dem Westen war die Möglichkeit sehr gering, zu diesem Ort zu gelangen, genauso, wie es für Golitsyn schwer gewesen wäre, das Einreiseverbot für russische Beamte in Hongkong oder Singapur zu umgehen. Japan war das nächste neutrale Gebiet.
Cable nahm ein amerikanisches Militärflugzeug nach Taiwan und von dort aus eine Cathay Pacific zum Flughafen Haneda außerhalb von Tokio. Er übernachtete im »Fairmont«, einem kleinen, gemütlichen Hotel, am Burggraben des kaiserlichen Palastes und in der Nähe der britischen Botschaft gelegen. Der Treffpunkt war mit großem Bedacht ausgesucht worden. Er lag zwar außerhalb des Stadtzentrums, war aber ein Anziehungspunkt für Touristen aus dem Westen, so daß zwei Europäer nicht viel Aufmerksamkeit erregen würden. Cable drängte sich durch den Stoßverkehr im Tokioer Hauptbahnhof und durch die Sperre, die von grauuniformierten Beamten besetzt war, deren unaufhörlich klickende Lochzangen sich wie eine Zikadenplage anhörten, und erreichte den Eilzug nach Kamakura. Er stieg von dem feuchtheißen Bahnsteig aus in die Eiseskühle eines klimatisierten »Grünen Waggons« erster Klasse und lehnte sich in seinem roten Plüschsitz zurück; die Fahrt würde etwa eine Stunde dauern. Nach dem Lärm in Tokio erschien der kleine Ferienort beinahe unheimlich ruhig. Cable verließ den Bahnhof und ging zum Meer hinunter, wobei er hin und wieder unter den Bäumen eine Pause einlegte, um sicherzugehen, daß er nicht beschattet wurde – aber die Straße hinter ihm blieb leer. An der Uferpromenade bog er rechts ein und lief an Gruppen junger Männer, die am Strand Handball spielten, und den von ihnen getrennten japanischen Mädchen in Bikinis, die in der Frühlingssonne faulenzten, vorbei. Die Wellen des Pazifik brachen sich in kleinen Schaumflocken auf dem Sand. Der Schrein des Daibutsu, des Großen Buddha, befand sich in einem grün bepflanzten Hain, der etwas vom Meer entfernt lag. Cable ging unter dem gewellten orientalischen Dach des Eingangstores hindurch und einen von Kirschbäumen gesäumten Weg entlang, deren Zweige mit dicken rosa und weißen Blüten bedeckt waren. Am Ende saß der meditierende
Buddha auf einem Steinpodest: eine große, grünlich schimmernde Bronzefigur, die etwa dreizehn Meter hoch war und mit halbgeschlossenen Augen auf ihn herabsah. Er erkannte Golitsyn von den Fotos, die er gesehen hatte – er war ein großer, dürrer Mann in einem blauen Tropenanzug. Er saß auf einer Bank im Schatten einer hohen japanischen Fichte und wartete geduldig. Cable setzte sich neben ihn und rezitierte leise ein Sutra: »Das Licht durchströmt Die ganze Welt…« Der Russe wandte sich ihm zu: »Und alle, die es sehen, Wird Buddha retten.« Cable lächelte. »Es ist schön, Sie nach dieser langen Zeit endlich kennenzulernen, Popeye.« Er sprach russisch. »Ich bin Peter. Ist man Ihnen hierher gefolgt?« Golitsyn sah aufgeschreckt auf. »Mein Gott, hoffentlich nicht. Wenn das der Fall wäre, bin ich ein toter Mann.« Er hatte ein schmales, müdes Gesicht, und in seinen Augen hinter den randlosen Brillengläsern war Furcht zu erkennen. »Ich glaube, hier sind wir in Sicherheit.« Es machte Cable unruhig, daß sein wertvollster Agent so verängstigt wirkte. »Sie haben gute Arbeit geleistet, Igor, sehr gute Arbeit. Das Material, das Sie uns schicken, ist sehr wertvoll, und London ist sehr eingenommen von Ihnen.« Er wollte beruhigend klingen, fühlte aber, daß seine Worte banal klangen. »Gut.« Der Russe blickte an Cable vorbei, wirkte plötzlich distanziert. »Peter – wenn Sie darauf bestehen, daß ich Sie so nenne –, ich habe noch niemals vorher um so ein plötzliches
Treffen gebeten. Ich bin ein großes Risiko eingegangen – das verstehen Sie doch?« »Natürlich. Uns ist klar, daß Sie ein Problem haben.« »Das stimmt. Ich habe ein sehr ernstes Problem, wie Sie es nennen, so ernst, daß ich vielleicht nicht nach Hanoi zurückkehren sollte.« Cable war verblüfft. »Was ist denn los – Sie stehen doch nicht etwa unter Verdacht?« »Das könnte sein. Ich habe das Gefühl, daß mein Zugang zu bestimmten Akten eingeschränkt wird – und das ist nicht das einzige Anzeichen.« »Ist das eine plötzliche Entwicklung? Ist Ihnen das während der zwölf Jahre, die Sie für uns gearbeitet haben, noch nie passiert?« »Nein – natürlich habe ich oft Angst gehabt, aber es gab nie einen Grund dafür, anzunehmen, daß ich unter Verdacht stand. Aber jetzt habe ich ein bestimmtes Gefühl.« »Geraten Sie nicht noch mehr in Verdacht dadurch, daß Sie eine Reise unternehmen?« Golitsyn schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte eine offizielle Sache bei unserer Botschaft in Tokio zu erledigen – deswegen habe ich diesen Ort ausgesucht. Ich hatte ein Treffen mit meinem GRU-General.« Zum ersten Mal lächelte er, aber ironisch. »Wie so viele der nachalstwo, der fetten Katzen, weiß er die Bequemlichkeiten Tokios mehr zu schätzen als ein hartes Leben in Hanoi.« »Was war der Anlaß für Ihr Treffen?« »Das ist der andere Grund, warum ich so besorgt bin – er sagt, daß ich vielleicht nach Moskau zurückbeordert werde. Aber warum sollte man mich gerade jetzt versetzen, wo der Krieg dem Höhepunkt zustrebt und das sowjetische Verbindungsteam in Hanoi so bedeutend für das Vorhaben, der Armee und dem Vietcong militärische Ausrüstung zukommen
zu lassen, ist? Mir gefällt das nicht. Mir gefällt das kein bißchen.« Cable stellte ihm noch einige Fragen, und sie unterhielten sich im Schatten der Bäume – wie ein ehemaliges Liebespaar, das sich zufällig getroffen hat oder ein geschiedenes Ehepaar, das sich um die Unterhaltszahlungen streitet. Bill konnte sich nicht klar darüber werden, ob Golitsyns Befürchtungen berechtigt waren oder ob seine Nerven dem Streß des Doppellebens, das er seit zwölf Jahren führte, nicht mehr gewachsen waren. Es war lebenswichtig, die richtige Entscheidung zu treffen. Wenn Golitsyn wirklich aufflog, mußte man ihm Zuflucht im Westen bieten. Auf der anderen Seite würde er damit als Quelle versiegen – und er war ein angesehener Topagent. Es war an Cable, ihn dazu zu bringen, solange er sich noch in Sicherheit befand, seinen Job auszuführen. Schließlich sagte er. »Igor, Sie haben in Moskau Familie, nicht wahr?« »Ja. Jelena und die beiden Kinder. Was werden diese Schweine mit ihnen tun, wenn ich hierbleibe?« »Wollen Sie wirklich hierbleiben und nicht nach Hanoi zurückkehren?« Golitsyn blickte verstohlen über die Schulter auf den leeren Weg. Plötzlich war seine Ruhe wie verflogen, und seine Stimme erhob sich beinahe zu einem Kreischen. »Natürlich will ich nicht zurückkehren – meine Nerven sind total kaputt, und ich muß jede Stunde mit meiner Verhaftung rechnen! Aber ich mache mir Sorgen, schreckliche Sorgen um meine Familie.« Er wandte sich Cable zu, seine Augen waren verletzlich und bittend. »Ihr Schweine habt mir zwölf Jahre meines Lebens genommen. Ich kann es nicht mehr länger aushalten, und ich glaube, daß jemand hinter mir her ist. Sie schulden mir einen Teil meines Lebens, um Gottes willen! Können Sie uns nicht herausholen? Uns alle?«
»Moment mal, Igor«, sagte Cable besänftigend. »Ich kenne erst seit einer knappen halben Stunde Ihre Schwierigkeiten. Weiß Ihre Frau…?« Eine unbehagliche Pause entstand. »Daß ich ein Verräter bin?« Golitsyn spie das Wort beinahe aus. »Nein, sie weiß es nicht. Und wenn sie es wüßte, würde ihre Angst uns alle verraten. Wir sind beide heimliche Christen, aber sonst nichts.« »Können Sie sich mit ihr in Verbindung setzen? Auf sichere Weise, selbstverständlich.« »Wir schreiben uns Briefe – aber ich nehme an, daß sie geöffnet werden. Telefonate sind noch schwieriger – und wahrscheinlich ist das Telefon angezapft. Ich könnte einem Freund einen Brief übergeben, den er persönlich abliefern würde. Aber vielleicht würde er ihn dem Sicherheitsdienst der GRU übergeben…« »Ich verstehe. In diesem Fall ist es wahrscheinlich besser, wenn unsere Leute in Moskau direkt mit ihr in Kontakt treten… so etwas läßt sich arrangieren. Es ist Frühling, und sie könnte die Kinder zu einem Badeort, wie zum Beispiel nach Sotschi, mitnehmen. Von dort aus könnten wir ihr möglicherweise in einem Boot zur Flucht verhelfen. Dazu müßte ich natürlich erst die Erlaubnis aus London bekommen.« »Möglicherweise?« Golitsyns Stimme bebte vor Bitterkeit und Zorn. »Möglicherweise? Es muß schon mehr als nur möglich sein – und die Erlaubnis aus London können Sie sich sonstwo hinstecken! Ich habe Nairn einmal in Helsinki getroffen – er sagte, sein Name sei Maxwell, aber ich wußte trotzdem, daß es Nairn war – und er sagte: Wenn es an der Zeit ist, Igor, fragen Sie uns einfach, und dann holen wir Sie raus. Also, es ist an der Zeit – jetzt halten Sie Ihr Versprechen ein, und holen Sie uns raus. Holen Sie uns alle raus!«
Cable legte seine Hand auf die Schulter des Mannes. »Bitte schreien Sie nicht, Igor, sonst erregen Sie noch Aufmerksamkeit. Ich habe verstanden, was Sie gesagt haben. Bitte bleiben Sie jetzt ruhig und vernünftig. Was ist mit Ihnen? Ist es noch immer leicht für Sie, Hanoi zu verlassen? Dieses Mal wurden Sie nach Tokio gerufen, aber wie sieht es aus, wenn Sie keinen offiziellen Grund haben?« Golitsyns Zorn schien nachgelassen zu haben, und plötzlich klang er wieder verzweifelt. »Ich – im Moment kann ich kommen und gehen, wie es mir paßt. Wenn man mich verhaftet…« Er zuckte mit den Schultern. »Es wäre mir immer noch lieb, wenn Jelena und die Kinder in Sicherheit wären.« »Aber Sie können doch immer noch jederzeit zum Flughafen gehen und einen Linienflug nehmen?« »Im Moment ja. Von Hanoi aus gibt es nicht sehr viele Linienflüge, aber ich glaube, ich könnte leicht einen Flug nach Vientiane oder Bangkok bekommen.« »Und wie sicher ist es für Sie, zurückzukehren?« »Wie, zum Teufel, soll ich das wissen? Ich riskiere es, meine Familie herauszuholen. Ich nehme an, daß ich unter Beobachtung stehe, ohne daß man zu der Folgerung gekommen ist, daß ich ein Agent bin – in diesem Fall kann ich mich noch einige Wochen lang frei bewegen.« Er zuckte wieder mit den Achseln. »O.k.« Cable stand entschlossen auf und ging auf das Eingangstor des Schreins zu; Golitsyn lief neben ihm her. »Fliegen Sie zurück, und halten Sie es noch zwei Wochen lang aus. Ihre Familie überlassen Sie uns. Wir geben Ihnen per Funk Bescheid, an welchem Tag Sie das Land verlassen sollen, und holen zum gleichen Zeitpunkt Ihre Familie heraus. Bis dann müssen Sie sich wie immer benehmen.« »Können Sie das schaffen?« »Ja – ich habe dazu alle Befugnisse.«
»Und man bietet uns eine neue Heimat in England oder Amerika? Ein Einkommen? Schutz?« »Sie wissen, daß wir das tun. Das wurde Ihnen schon von Anfang an versprochen.« Als sie sich die Hände schüttelten, waren die Augen des Russen feucht. »Ich danke Ihnen«, sagte er zu dem Mann, der ihn retten oder zum Sterben verurteilen konnte. »Ich weiß nicht einmal Ihren wirklichen Namen – sind Sie einfach Peter?« »Es reicht aus. Sie können uns vertrauen.« Cable beobachtete, wie der Russe die grüne Straßenbahn zurück zum Bahnhof betrat; seine dünne Gestalt überragte die kleingewachsenen Japaner, zwischen denen er stand. Bill hoffte, daß er selbst einmal so viel Mut haben würde, wenn er ihn nötig hatte.
Cable nahm einen Pan-America-Flug nach Taipei, wo er sich zum Büro der amerikanischen Luftwaffe begab, um einen Flug nach Saigon zu arrangieren. Der Major vom Dienst überprüfte seinen Personalausweis. »Okay, Oberst Cable, in einer halben Stunde haben wir eine Galaxy, die mit ein paar anderen Typen rüberfliegt.« Das ausgesprochen häßliche Verkehrsflugzeug hob spät abends mit sechs amerikanischen Offizieren, einem neuseeländischen Journalisten und Cable, die allesamt auf Postsäcken und Tankkanistern im Laderaum des Flugzeugs kauerten, ab. Nach einiger Zeit machten alle ein Nickerchen, denn das Licht war zu düster zum Lesen, und der Fluglärm machte jegliche Unterhaltung unmöglich. Cable konnte lange Zeit nicht einschlafen, da seine Gedanken um das Treffen mit Golitsyn kreisten. Hatte er richtig daran getan, ihn nach Hanoi zurückzuschicken? Das würde sich erst später herausstellen. Schließlich wurde auch er müde, und er schloß die Augen.
Er wurde aus dem Schlaf gerissen, als das Flugzeug plötzlich schwankte. Dann neigte sich der Bug erneut, als die Galaxy eine scharfe Kurve flog, und Cable mußte sich an einen Träger an der Seite des Laderaums klammern, um nicht von seinem Sitz zu fallen. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die bläuliche Dunkelheit. Vorne hockte ein Mitglied der Flugmannschaft auf einer Leiter, die vom Pilotenraum herunterführte, und wurde von dem Neuseeländer, der sich gegen einen Haufen von am Boden befestigten Kisten lehnte und mit dem schwankenden Flugzeug hin und her rutschte, beschimpft. »Was meinen Sie damit – Golf von Tonkin?« schrie der Neuseeländer. »Was, zum Teufel, haben wir über dem Golf von Tonkin zu suchen? Wir sind Hunderte von Meilen vom Kurs ab. Verdammt noch mal, wir befinden uns auf nordvietnamesischem Luftgebiet – und wir haben nicht einmal Waffen an Bord!« Der Mann der Flugmannschaft zuckte mit den Schultern in seinem gefütterten Fluganzug, breitete die Arme aus und sagte etwas, das aber wegen des Lärms unhörbar war. »Kameras?« brüllte der Neuseeländer. »Was, zum Teufel, meinen Sie mit Kameras? Wollen Sie damit sagen, daß diese Idioten vom CIA ihren infraroten Mist unter dieser Kiste verborgen haben? Dies ist ein Spionagetrip und keiner von euch Schweinen hat es für nötig gehalten, mir das zu sagen? Verdammte Scheiße!« Cable und ein Amerikaner brachten es fertig, sich zu den Leitern herüberzuziehen. »Was ist los?« fragte Cable ruhig. Der amerikanische Offizier war jung, kaum zwanzig Jahre alt und hatte einen kurzgeschorenen Haarschnitt. »Wir werden von nordvietnamesischen Kampfflugzeugen attackiert, Sir. Der Kapitän versucht, uns aus der Gefahrenzone zu bringen.« Bevor Cable noch eine weitere Frage stellen konnte, kletterte
der Offizier wieder die Leiter hinauf. In diesem Moment wurde das Flugzeug erneut erschüttert, als es von einem Geschoß ins Heck getroffen wurde. Alle Lichter erloschen, aber das Flugzeug beschrieb wieder eine Kurve und fing an, zu steigen. Der Motorenlärm war ohrenbetäubend, aber Cable konnte durch den Lärm hindurch das Geknatter der Geschosse hören. Er stemmte die Füße gegen eine Kiste und klammerte sich an einen Träger, während das Flugzeug auf übelkeiterregende Weise hoch- und niederschwankte. Es war fürchterlich, sich mit dem Wissen, daß die Schlacht, die draußen tobte, sie jederzeit zerstören konnte, in totaler Dunkelheit zu befinden. Noch eine Explosion. Ein Bogen von glühendheißen Splittern erleuchtete die Kabine ein paar Sekunden lang und damit die bleichen Gesichter der anderen, in denen die Angst geschrieben stand. An Cables Kopf flogen abgerissene Metallsplitter vorbei. Die nächste Explosion, der ein Todesschrei und durchdringender Brandgeruch folgten, kam aus nächster Nähe. Plötzlich war der Laderaum mit beißendem Rauch erfüllt. Der Bug senkte sich nach unten, und Cable spürte, wie das beschädigte Flugzeug auf seinem Weg nach unten Geschwindigkeit aufnahm. Er spürte den Stoß einer weiteren Explosion, und seine Augen tränten wegen des Rauchs, der auch in seiner Kehle schmerzhaft spürbar war. Irgendwo in der Nähe stöhnte ein Mann. Die Motoren funktionierten nicht mehr, und der Lärm des Windes draußen kreischte ihm in den Ohren. Cable wurde durch die Macht des Absturzes zurückgedrückt und betete, daß er vor dem Aufprall ohnmächtig werden würde. Als das beschädigte Flugzeug seinen Sturzflug plötzlich unterbrach und langsamer wurde, fühlte es sich an, als ob sein Körper in Stücke gerissen würde. Wie durch ein Wunder hatte der Pilot wieder Gewalt über die Maschine gewonnen. Zwei Minuten später kam ein schmerzhafter Aufprall, dann noch einer und
dann war das Kreischen von zersplitterndem Metall zu hören, als das Flugzeug auf weichem Boden zum Stehen kam. Jemandem gelang es, die Tür des Frachtraums zu öffnen, Cable sprang mit den anderen hinaus und landete mit einem Platsch in seichtem Wasser. Während er von dem Wrack wegrannte, drehte er sich um und sah, daß die Galaxy in einem Reisfeld gelandet war; aus ihrem Schwanzende züngelten bereits gelbe Flammen. Das sich ausbreitende Feuer verbrannte ihm fast das Gesicht, und der Schein fiel auf die kleine Gruppe von Europäern, die zusammengekauert auf einem Damm des Reisfeldes hockte. An dem schwarzen Himmel, der sich über ihnen erstreckte, war kein anderes Flugzeug zu sehen, aber das Krachen eines Getriebes und zwei gelbe Scheinwerfer, die unter Verdunklungskappen schwach leuchteten, kündigten an, daß sich ihnen ein Lastwagen näherte. Ein großer Mann in einem Fliegeranzug sagte etwas. »Sieht so aus, als ob wir diesen dummen Polacken Jablonski und den Neuseeländer da drin verloren haben.« Er zeigte mit dem Daumen auf das Flugzeug, durch das orangefarbene Flammen wüteten. »Hier kommen die Jungs von der Armee. Also ergebt euch, ohne Schwierigkeiten zu machen. Seid höflich, aber erspart euch den Rest. Ich bin der Kapitän und übernehme das Reden, wenn einer von ihnen Englisch spricht. Laßt keine Panik aufkommen und wartet, bis Onkel Sam uns rausholt. Alles klar?« Der Lastwagen hielt an, und eine Reihe von Soldaten mit Bambushelmen und Gewehren mit aufgesetzten Bajonetten kletterten heraus. Zwei trugen altmodische Petroleumlampen, aber das Reisfeld wurde noch immer von dem brennenden Flugzeug erleuchtet. Und so kam es, daß Cable Gefangener der Nordvietnamesen wurde.
Hanoi
Das Lager bestand aus einer Ansammlung von Holzhütten, deren Dächer aus Palmenblättern bestand und die von einem doppelten Drahtzaun und Wachtürmen umgeben waren. Die zwölf Gefangenen wurden vor einem Tisch im Freien, an dem eine junge Frau in einer hochgeschlossenen grauen Uniform saß, aufgereiht; ein schwarzer Schirm, der an einem Pfahl befestigt war, schützte sie vor der glühendheißen Sonne. Als Cable an der Reihe war, sah sie ihn mit ihren unbeweglichen Schlitzaugen unter ihrem Schiffchen mit unverhohlener Feindseligkeit an und streckte ihre Hand aus. »Ihre Ausweispapiere.« Sie hatte eine grelle, hohe Stimme und sprach englisch mit der gespreizten Genauigkeit von jemandem, der es aus den Büchern gelernt hat. Cable zog das feuchte Bündel aus seiner Hemdentasche und reichte es ihr. Er hatte sein Jackett in dem brennenden Flugzeug gelassen, weil er fürchtete, daß er, wenn er in Zivilkleidung erschien, auf der Stelle als Spion erschossen werden würde. Glücklicherweise konnten sein weißes Hemd und seine hellbraunen Hosen für Teile einer Uniform gehalten werden. Die Frau schrieb seinen Namen, seinen Rang und seine Nummer auf eine Liste. »Cable?« fragte sie. »Ist das ein australischer Name? Sie sind Oberstleutnant der australischen Armee – ja?« »Das ist richtig.« Sie kritzelte etwas in vietnamesischer Schrift neben seinen Namen und deutete auf eine Hütte, in der die anderen Gefangenen vor ihm verschwunden waren. »Gehen Sie dort hin.«
»Könnte ich bitte meine Papiere zurückhaben?« »Nein.« Cable zuckte mit den Schultern und ging zu der Hütte, wobei zwei Soldaten, die drohend ihre AK-47er Sturmgewehre schwangen, ihm folgten. Bei einem Hocker stand ein älterer Mann in einer weißen Schürze. Er machte eine Geste, die Cable zu verstehen gab, daß er sich hinsetzen sollte. Als er es tat, machten ihm seine angespannten Muskeln klar, daß dieser Hocker für Leute bestimmt war, die mindestens einen halben Meter kleiner waren als er. Er spürte, wie der Mann ihm mit einer stumpfen Schere die Haare abschnitt, wobei er schmerzhaft an seiner Kopfhaut zog. Er versuchte, sein Gesicht unbeweglich zu halten, zuckte aber zusammen, als der Barbier seinen Kopf mit lauwarmem Wasser und Seife einschäumte und anfing, ihn mit einem Rasiermesser zu scheren. Cable hörte die Wachtposten weggehen, wahrscheinlich, um den nächsten Gefangenen zu holen, und der alte Mann begann auf Französisch zu sprechen, während er das Rasiermesser an seiner Schürze abwischte und zurücktrat, um sein Werk zu betrachten. »Früher habe ich das für den Kommandanten der Sûreté gemacht, als die Franzosen noch hier waren, wissen Sie – immer den Kopf, manchmal auch den Hals für die, die zur Guillotine verurteilt waren.« Er kicherte leise. »Es bleibt eben alles beim alten.« Cable sah die Männer, mit denen er gelandet war, nie wieder. Zwei Tage lang sperrte man ihn in einer engen Zelle ein und gab ihm nichts zu essen, außer ein paar Körnern Reis, die er mit den Händen aß und eine Tasse schmutziges Wasser. Am dritten Tag holten zwei Wachtposten ihn aus seiner Zelle und führten ihn in einen Hof, in dem schon eine Schlange von etwa dreißig anderen Gefangenen, die in Paaren mit Handschellen aneinandergekettet waren, stand. An die Stahlglieder jeder Handschellen war eine lange Kette geschmiedet, so daß alle
Paare in einer Reihe zusammengekettet waren. Sie trugen die zerlumpten Überreste von amerikanischen Luftwaffen- und Marineuniformen, und ihre Fußknöchel waren mit Fußschellen versehen. Die meisten von ihnen erschienen eingefallen und ausgemergelt und das kalkigweiße Aussehen ihrer Haut zeugte von einer langen Gefangenschaft. Man legte Cable und dem letzten Gefangenen Handschellen an, und Bill fühlte, wie die Fußfesseln um seine Knöchel zuschnappten. Er versuchte, den Mann, mit dem er jetzt zusammengekettet war, einen kleinen, etwa dreißigjährigen Kerl mit einer Hornbrille, anzulächeln. »Was meinen Sie, wo sie uns hinbringen?« »Darüber möchte ich lieber nicht nachdenken, mein Freund, nein, lieber nicht.« Er sprach leidenschaftslos, ohne Hoffnung. »Wenn’s nicht nach New York geht, habe ich kein Interesse.« »Wie heißen Sie?« »Chuck.« Er fragte nicht nach Cables Namen. »Ich bin Bill.« »Echt? Ich hoffe, du amüsierst dich gut, Bill.« Ein alter tschechischer Tatra-Lastwagen, durch dessen gelbe und braune Tarnfarbe sich Rostflecken zeigten, wurde in den Hof gefahren, und die Schlange der gefesselten Männer stieg unbeholfen ein. Die Wachtposten trieben sie mit ihren Bajonetten zur Eile an, wobei sie so manche blutige Wunde erzeugten, was ihnen Spaß zu machen schien. Die Gefangenen kauerten auf dem Boden des offenen Lastwagens, der durch die Tore und über Wege aus getrampelter Erde fuhr, durch die Reisfelder, und Cable blickte neugierig auf die Gestalten der Frauen in schwarzen Baumwollanzügen, die bis zu den Knien im Wasser standen und sich tief herunterbeugten. Ihre Köpfe wurden von breitkrempigen Strohhüten geschützt, und er wünschte sich eine ähnliche Bedeckung für seinen Kopf, denn es war drückend heiß, und die Sonne begann, seine geschorene
Kopfhaut zu verbrennen. Die Luft war zum Ersticken und so schwül, daß ihm der Schweiß am Körper herunterlief und sein Hemd und seine Hosen in kürzester Zeit durchnäßte. Sie fuhren durch ein Dorf, dessen Häuser auf Pfählen standen, und einige Wasserbüffel zogen Pflüge durch die Reisfelder, die noch nicht bepflanzt worden waren. Abgesehen von den rotbraunen Hügeln, die in der Entfernung zu sehen waren, war die Gegend der des Südens sehr ähnlich. Bill nahm an, daß die anderen Gefangenen aus Mannschaften abgeschossener Bomber bestanden, denn die Amerikaner hatten während der letzten Monate Hanoi und Haiphong stark bombardiert. Die Männer schienen sich gegenseitig nicht zu kennen – wahrscheinlich waren sie genau aus diesem Grund ausgewählt worden, um die Solidarität auf einem Minimum zu halten – und während der Lastwagen weiter rumpelte, unterhielten sie sich nur wenig. Als sie den Rand einer Stadt erreichten, breitete sich Schweigen aus, und sie schraken vor den feindseligen Blicken der vorübergehenden Passanten zurück. Jeder war mit sich und seiner Furcht allein. Bald waren die kopfsteingepflasterten Straßen von einer lärmenden Menschenmenge bevölkert: Bauern, die mit leeren Handwagen vom Markt zurückkehrten, wo sie ihre Erzeugnisse verkauft hatten, und in Eile waren, nach Hause zu kommen, bevor die glühende Mittagshitze hereinbrach; Soldaten auf Fahrrädern; winzige vietnamesische Schulkinder mit Strohhüten; Träger mit gebogenen Bambusstöcken, die sich in ihre Schultern drückten und an deren Enden Körbe mit Hühnern oder Gemüse baumelten. Der Lastwagen fuhr an einem See vorbei, der zwei Inseln, auf denen sich Tempel befanden, umgab. »Meinen Sie, daß das der See des Zurückgegebenen Schwertes ist«, rief Cable dem Mann, an den er gefesselt war, über den Lärm der Menschenmassen und des Verkehrs zu. »Wenn er das ist, sind wir in Hanoi.«
»Ja, ich glaub schon, daß dies Hanoi ist.« Seine panische Angst ließ ihn uninteressiert und beinahe phlegmatisch erscheinen. Dann fuhren sie durch eine Gegend, die von Bomben zerstört worden war. Die B-52er hatten nichts als haufenweise Trümmer und verkohlte Überreste von Holzhütten zurückgelassen. Zwischen den Ruinen hatte man Nissenhütten aus Ölfässern und Zeltplanen gebaut, die sich alle in der Nähe von EinMann-Bunkern befanden; sie bestanden aus Betonfässern, die in regelmäßigen Abständen am Rande der einst so belebten Straßen in den Boden eingelassen worden waren. Es stank penetrant nach Abwässern und Verwesung, als ob immer noch Leichen unter den Trümmern vergraben lägen. Sie hielten in einer modernen Einkaufsstraße an, die von einer großen, schweigenden Menschenmenge gesäumt war. In regelmäßigen Abständen waren Schafotte aus Bambus aufgebaut worden. Die Soldaten stießen jedes Paar der Gefangenen mit ihren aufgesetzten Bajonetten aus dem Lastwagen, bis alle dahinter aufgereiht standen. Dann wurde die Kette an einem Ring, der sich am Heck befand, befestigt. Der Lastwagen fuhr langsam an, und die Schlange von Gefangenen schlurfte hinterher. Cable fühlte die Welle des Hasses, die von der Menge her auf sie zuströmte, und die Stille war unheimlich. Plötzlich wurde auf das erste Paar der Gefangenen ein Stück Beton geschleudert, das einen von ihnen am Kopf traf. Der Mann stolperte, Blut lief aus einer Kopfwunde, und er fiel hin – wurde aber von der am Lastwagen befestigten Kette über das Kopfsteinpflaster weitergeschleift. Das war das Signal. Truppen begannen, in gespreiztem Amerikanisch Parolen durch Megaphone zu schreien, die die Menge nachbrüllte. »Schweine! Mörder! Hängt die imperialistischen Mörder!« Das Gebrüll steigerte
sich zu dem wilden, haßerfüllten Wutschrei einer Menge, die nach Blut dürstete. »Erhängt die Schlächter unserer Frauen und Kinder! Sollen sie ihre Köpfe in Scham senken!« Mehr Geschosse hagelten auf die Schlange der Gefangenen hernieder – Backsteine, Abfall, zerbrochene Flaschen. Ein paar mehr fielen zu Boden, die Soldaten rannten neben ihnen her und stießen ihnen ihre Bajonette in den Leib, während sie weitergezerrt wurden und das Pflaster ihnen die Haut abschürfte. Cable fühlte etwas Weiches in seinem Gesicht landen und erkannte an dem Geruch, daß es sich um ein menschliches Exkrement handelte. Dann flog ein harter Gegenstand mit so einer Wucht an seine Schläfe, daß er auf die Knie fiel und außer seinem herabrinnenden Blut nichts mehr sah. Als er unter dem ohrenbetäubenden Grölen der Menge versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, stieß ihm einer der Wachtposten den Lauf seines Gewehrs so heftig in den Magen, daß er sich keuchend wieder zusammenkrümmte. »Kotau, Yankee«, kreischte die Menge. »Kotau, ihr Kinderschlächter! Senkt die Köpfe vor Scham!« Als Cable sich wieder aufrichten wollte, stieß ihm jemand ein Bajonett zwischen die Schulterblätter. Er fühlte, wie es sich in sein Fleisch bohrte, also blieb er in gekrümmter Haltung stehen, während das Blut über seinen Rücken sickerte. Als das Bajonett herausgezogen wurde, schrie er vor Schmerz auf. Als fast alle Gefangenen auf dem Boden lagen, stieg das Heulen zu einem ohrenbetäubenden Crescendo an, und die Menge machte sich über sie her – sie stieß sie mit den Füßen, trampelte auf ihnen herum, stach nach ihnen und zerkratzte sie. Cable sah voller Entsetzen, daß sich unter ihnen Frauen und Kinder befanden, die sie anspuckten, sie kratzten und ihnen die Kleider vom Leibe zu reißen versuchten. Dann fiel er wieder hin und wand sich auf dem Boden, als ein Dutzend Füße ihn in
den Magen und den Unterleib traten, der in unbeschreiblichem Schmerz zu explodieren schien. Nach und nach beruhigte sich die Menge und verlief sich, als ob jemand den Befehl dazu gegeben hätte. Cable lag keuchend und blutend am Boden und sah zum ersten Mal den Stand, auf dem die europäischen Fernsehreporter ihre Kameras einpackten. Alle Gefangenen lagen oder hockten im Staub; manche schluchzten, andere stöhnten, jeder war verletzt und mit seinem Schmerz und seiner Demütigung allein. Cable kniete sich hin und griff zu dem jungen Mann von der Luftwaffe herüber, mit dem er noch immer zusammengekettet war. Der Mann lag mit angezogenen Beinen regungslos da, aber als Cable ihn berührte, zuckte er zusammen und schrie vor Schmerz auf. Er drehte sich um, und Cable fuhr bei dem Anblick seines Gesichts vor Entsetzen zurück. Die Hornbrille war zerschmettert und die scharfen Glasstückchen in seine Augen gestoßen worden, die jetzt nur noch aus blinden, blutigen Höhlen bestanden.
Hanoi
»Tut mir ja so leid«, sagte der Soldat mit hoher Fistelstimme. »Sie sind ein australischer Soldat, kein amerikanischer Luftpilot – es war ein Irrtum, daß Sie mit dabei waren.« Cable nickte, wobei ihm voll bewußt war, daß es sich nicht um einen Irrtum gehandelt hatte. Nachdem er auf der Straße zusammenschlagen worden war, hatte man ihn getrennt von den anderen zu dem alten Gefängnis der französischen Sûreté im Zentrum von Hanoi gebracht. Er wurde mit seinen Hand- und Fußfesseln in einen Keller geworfen, wo er keine ärztliche Behandlung erfuhr und nichts zu essen bekam. Auf dem Boden stand eine Schale mit Wasser, aus der er wie ein Tier trinken mußte. Er verbrachte dort nach seinen Berechnungen zwei oder drei Tage in der Dunkelheit, während der der Geruch seines schmutzigen Körpers ihm Übelkeit bereitete. Einen Teil der Zeit war er bewußtlos, aber wenn er aufwachte, schmerzte sein mit Wunden bedeckter Körper, und des öfteren bekam er Krämpfe. Und dann änderte sich alles plötzlich. Die Tür zu seiner Zelle öffnete sich, und er wurde ans Licht geführt, an das er sich mit blinzelnden Augen erst wieder gewöhnen mußte. Er wurde in einen Verhörraum im Obergeschoß geschleppt, wo der Soldat, der mit einer untadeligen, grauen Uniform bekleidet war, auf ihn wartete. Trotz seiner grauen Augen und den Bewegungen eines fünfzig oder sechzig Jahre alten Mannes hatte er ein rundes, jugendliches Gesicht, das beinahe weibisch wirkte. Er starrte Cable eine Weile lang bewegungslos an, dann lächelte er. »Mein Name ist Tran Van
Thieu. Möchten Sie eine Dusche nehmen und dann etwas essen?« Eine Woche später lustwandelten sie in dem Garten eines Tempels, der einige Autostunden von Hanoi entfernt lag und mit üppigen Palmen, Banyan- und Orangenbäumen bewachsen war. Der Tempel war von einem Burggraben umgeben, über den sich wackelige Holzbrücken spannten, und hatte ein gewelltes chinesisches Dach, das von rotlackierten Säulen gestützt wurde. Thieu pflückte eine grüne Papayafrucht und reichte sie Cable. Bis jetzt war sein Verhör auf sanfte Weise durchgeführt worden, aber nun wurde es immer mehr vorangetrieben. Den größten Teil des Tages verbrachten beide auf der Veranda der Gastvilla der Regierung sitzend, die sich auf dem Tempelgelände befand, während sich die Wachtposten in ihren Khakiuniformen, grünen Schiffchen und AK-47ern diskret in angemessener Entfernung hielten. Thieu sprach gutes, wenn auch ein wenig zischendes Englisch. Er sagte, daß er einst in London Wirtschaftswissenschaften studiert habe, während er in der Küche des Strand Palace Hotels arbeitete. »Oberst Cable.« Er pflückte sich selbst eine Papaya und biß behutsam hinein. »Sie müssen wirklich ein bißchen mehr Bereitschaft zur Mitarbeit zeigen. Dieser Krieg blutet Vietnam aus, und je eher er beendet wird, desto besser. Durch einen höchst unglücklichen Irrtum haben Sie selbst die Wut unserer Leute miterlebt, auf deren Frauen und Kinder dieser barbarische Nixon und Kissinger haben Bomben regnen lassen… die Amerikaner haben ein Land bombardiert, das kaum genug Flugzeuge besitzt, um sich zu verteidigen.« »Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich bin ein Kriegsgefangener – Sie haben kein Recht, mich zu befragen.« Thieu lächelte wieder. »Ich bitte Sie, Oberst Cable – darf ich Sie Bill nennen? Wir gehen jetzt schon seit mehreren Tagen in
diesem hübschen Garten spazieren. Sie sind ein Beamter des britischen Geheimdienstes, der sich als australischer Oberst ausgibt. Nach dem Kriegsrecht könnte man Sie hinrichten.« Er breitete seine Arme in einer graziösen Geste aus. »Aber sprechen wir lieber nicht über solche Dinge. Sie haben uns große Probleme bereitet, und Sie schulden mir etwas dafür, daß ich Sie aus diesem verdreckten Keller herausgeholt habe.« »Ich bin ein Kriegsgefangener – man hätte mich gar nicht in diesen verdreckten Keller werfen dürfen.« Sie waren stehengeblieben, um zwei langhalsige Kormorane zu beobachten, die in dem Wassergraben nach Fischen tauchten. Normalerweise besaß Thieu die für Vietnamesen typische Höflichkeit, die verbot, jemanden direkt anzusehen, aber plötzlich blickte er Cable gerade in die Augen und knurrte gehässig: »Welcher Russe ist der Verräter?« »Ich verstehe Ihre Frage nicht.« »O ja, die verstehen Sie sehr gut.« Nach dem kurzen Augenblick, in dem sich die unterdrückte Brutalität Thieus, die sonst von seiner orientalischen Unbeweglichkeit verdeckt wurde, zeigte, war er wieder ruhig. »Um Himmels willen, hören Sie doch mit Ihren Spielchen auf. Wir haben eine Delegation, bestehend aus zwanzig sowjetischen Beamten und Militäroffizieren, in Hanoi, die unser oberstes Kommando unterstützen. Einer von ihnen ist Ihr Mann. Sein Codename lautet Popeye – das wissen wir. Wer ist es?« »Ich kenne keine sowjetischen Agenten in Hanoi. Es tut mir leid – Sie haben keine Ahnung, welch niedriger Art meine Pflichten in Saigon waren.« »Sie streiten also nicht ab, daß es solch einen Agenten gibt?« »Das habe ich nicht gesagt. Ich habe ganz einfach keine Ahnung.« »Zum tausendsten Mal, Cable – was war der Grund Ihres Besuches in Tokio?«
»Offizielle Kriegsbesprechungen – mehr kann ich Ihnen nicht sagen, aber es hat sich um nichts Lebenswichtiges gehandelt.« Thieus normalerweise unbewegte Gesichtszüge zeigten mehr als einen Anflug von Ärger, und Cable bemerkte, daß über einem seiner Mandelaugen ein Muskel zuckte. »Sie benehmen sich sehr töricht«, fauchte er und führte ihn plötzlich über eine hölzerne Brücke in einen Tempel, dessen Tür von zwei Steinlöwen bewacht wurde. Cable folgte ihm in den Innenraum – und zuckte vor Entsetzen zurück. Danach bemühte er sich, keine Gefühle mehr zu zeigen. Der Tempel war leer und enthielt nichts als einen Stuhl in einer Ecke. Auf dem Stuhl hockte ein Mann, der von zwei Wachtposten festgehalten wurde. Er trug einen langen, weißen Kittel, und obwohl sein Gesicht, das nur noch aus Blut und Wunden bestand, nicht erkenntlich war, wußte Cable, daß es sich um Golitsyn handelte. Seine grauen Haare waren schneeweiß geworden, und in seinen Augen, die durch Schlitze in seinem geschwollenen Gesicht sahen, war Todesangst zu erkennen: Er war auf entsetzliche Weise gefoltert worden, aber er besaß noch immer genügend Kontrolle über sich, kein Erkennungszeichen preiszugeben. »Ich glaube, Sie sind alte Freunde?« sagte Thieu fast unhörbar. Cable schluckte und fühlte sich plötzlich unsicher auf den Beinen. »Wer ist dieser Mann? Warum haben Sie ihn hierhergebracht?« »Sie wissen, wer er ist. Wir wissen, daß Sie es wissen. Hören Sie auf zu lügen.« »Wenn Sie soviel wissen, warum stellen Sie mir dann überhaupt noch Fragen?« Cable zwang sich, seine Augen von dem Verwundeten in der Ecke fernzuhalten, von diesem tapferen Mann, dessen Körper und Verstand mit Hilfe von Strom und Zangen und Daumenschrauben und weiß Gott was
für anderen Folterwerkzeugen auseinandergerissen worden war, während er, Cable, in dem grünen Garten spazierengegangen war. Aber wenn er jegliches Wissen ableugnete, gab es dann vielleicht eine winzige Chance, genügend Zweifel aufkommen zu lassen…? »Hören Sie auf zu lügen!« Thieu erhob die Stimme zum zweiten Mal. »Ich benötige lediglich Ihre Bestätigung – er hat schon gestanden.« Cable spürte, daß das nicht stimmte. »Ich kenne diesen Mann nicht.« Er drehte sich um, um den Tempel zu verlassen, aber zwei Posten mit AK-47ern bewachten die Tür. Tran Van Thieu sah Cable voller Verachtung an. »Sie helfen Ihrem russischen Verräter in keinster Weise. Wir kennen die Wahrheit, und wenn unsere sowjetischen Freunde sich über das volle Ausmaß seines Verrats klargeworden sind, werden wir ihn auf traditionelle vietnamesische Art beseitigen.« »Ich sagte bereits, daß ich diesen Mann nicht kenne.« »Es ist Oberst Igor Golitsyn«, kreischte Thieu. »Und Sie sind sein Verbindungsmann! Gestehen Sie, und dann können wir uns auf zivilisierte Weise darüber unterhalten, was zu tun ist. Ich garantiere, daß zumindest Sie freigelassen und sehr schnell nach Saigon zurückgebracht werden.« Aber Cable widerstand dieser plötzlichen Änderung der Taktik und klammerte sich an die Regel »Widerstand während eines Verhörs«, die er vor Jahren in Edge kennengelernt hatte. Zu Thieus Wut blieb er teilnahmslos und schwieg. »Nun gut – bringt beide hinaus!« Cable wurde von einem der Wachtposten ergriffen und nach draußen gezerrt. Als er Golitsyn einen letzten Blick zuwarf, wurde er gerade von seinen Wächtern auf eine Bahre gehoben, sein Kittel öffnete sich und Cable sah seinen zerfetzten Körper. Er sollte ihn nur noch einmal wiedersehen.
Golitsyn wurde in das Gästehaus gebracht und auf den Fußboden eines Schlafzimmers gelegt, wo er von zwei Soldaten bewacht wurde. Im Laufe des Nachmittags kam eine große russische Limousine mit zwei Europäern an, die sich einige Zeit mit Thieu unterhielten. Um etwa fünf Uhr schüttelten sie sich gegenseitig die Hände und trennten sich mit der ambivalenten Miene zweier Priester der Inquisition, die einen Ketzer der weltlichen Obrigkeit übergeben. Als das Auto über die mit rötlichem Staub bedeckte Straße rumpelte, öffnete einer von ihnen seinen Aktenkoffer und holte eine Flasche Wodka heraus. Der Tempel war auf einer Insel in einem kleinen See gelegen und von einem mit Mauern eingefaßten Garten umgeben. Das Gästehaus war ein Gebäude, dessen Dach aus roten Ziegeln bestand. Die Ecken der Giebel waren mit fauchenden Drachen verziert. Einst hatten dort buddhistische Mönche gewohnt. Hinter dem Tempel war ein Garten, mit Büschen und Kieswegen in Form des chinesischen Symbols für die Ewigkeit, angelegt. Hier stand ein schmuckloses Gebäude, das viele Jahre lang nicht benutzt worden war. Es war quadratisch, hatte graue Steinmauern, ein goldenes Dach und, was für Vietnam ungewöhnlich war, einen Schornstein. Das Innere bestand aus einem einzigen kahlen Raum, in dessen Mitte sich ein großer rechteckiger Block mit gefliester Oberfläche befand. An einem Ende befand sich eine Tür aus Bronze. Es handelte sich um ein buddhistisches Krematorium. Im Verlauf des Abends ging die Sonne hinter der weit entfernten Silhouette des annamitischen Gebirges unter, dessen gezackte Gipfel hoch in den sich verdunkelnden, purpurfarbenen Himmel ragten. Es war noch immer warm, und die Wächter schwitzten, während sie Holz und Holzkohle in den Ofen warfen. Sie entfachten das Feuer, das sofort anfing
zu prasseln, während wilde, orangefarbene Flammen hochzüngelten, und wichen vor der glühenden Hitze zurück. Vier Soldaten trugen Golitsyn aus dem Gästehaus; er hatte immer noch den blutverschmierten Kittel am Leib und war mit Seilen an seiner Bahre festgebunden. Die Träger hielten vor der Tür des Krematoriums inne, aber als Thieu nickte, gingen sie langsam weiter. Golitsyns Augen weiteten sich in Todesangst, und als er die offenen Bronzetüren und das prasselnde Feuer im Ofen sah, fing er an zu schreien. Cable starrte voller Entsetzen von seinem Platz in der Ecke aus, und sein Körper wand sich unter den Seilen, die ihn an eine ähnliche Bahre, die an die Wand gelehnt worden war, fesselten. Vor einer Stunde war er aus seinem Zimmer gebracht, nackt ausgezogen und eine halbe Stunde lang mit Gewehrkolben verprügelt worden. Dann hatte man ihm einen weiten, weißen Kittel angezogen, ihn an die Bahre gefesselt und in die Hitze des Krematoriums getragen. Er wollte Golitsyn etwas zurufen, um ihm zu versichern, daß er im Sterben nicht allein sei, aber sobald er seinen Mund öffnete, versetzte einer der Wächter ihm einen heftigen Schlag ins Gesicht. Cable schloß vor Schmerzen die Augen. Als er sie wieder öffnete, war der kleine Raum vom Toben der Flammen erfüllt, deren unheimlich gelber Widerschein an den Wänden tanzte. Golitsyns Wimmern ging in einen schrillen Schrei über, als er, mit den Füßen zuerst, langsam in die glühendheiße Holzkohle geschoben wurde, und sein Körper bäumte sich auf. Als seine Haare Feuer fingen, stieß er einen langen, fürchterlichen Schrei und das unmenschliche Gelächter eines Wahnsinnigen aus, bevor die Luft aus seinen gepeinigten Lungen gepreßt und die Bronzetüren hinter ihm geschlossen wurden. Der Raum erfüllte sich mit dem Gestank von verbranntem Fleisch, und Cable spürte, wie die Griffe seiner Bahre gepackt wurden. Thieus Gesicht blickte mit seinem
ausdruckslosen Lächeln auf ihn nieder. »Und jetzt, Cable, sind Sie an der Reihe.«
In England verließ ein großer, magerer Mann in einem dunklen Anzug den Bahnhof von Teddington und ging langsam weiter, als ob er sich an dem milden Frühlingsabend erfreuen wollte. In der Langham Road angekommen, spazierte er unter den Limonenbäumen einher, bis er zu einem Haus kam, das dringend einen Anstrich benötigte, und klingelte. Die Frau, die die Tür öffnete, war in den Dreißigern und sprach mit der leichten Spur eines australischen Akzents. Ihre Augen waren trübe vor Müdigkeit und ihr Benehmen aufsässig. »Ja – was wollen Sie? Ich bringe gerade die Kinder ins Bett.« »Sie müssen Mrs. Cable sein.« »Na und?« »Ich bin David Nairn aus Bills Büro.« »O Gott – was ist passiert?« »Darf ich hereinkommen?« Sie setzten sich in die unordentliche Küche und tranken Nescafé aus großen Tassen, während die beiden Mädchen sich zu ihren Füßen zankten. »Es tut mir leid, daß es hier so schlimm aussieht«, sagte Judith aggressiv. »Ich werde damit alleine nicht fertig. Was sagten Sie – Bill ist gefangengenommen worden? Ich dachte, er arbeitet in einem Büro. Er ist doch kein verdammter Soldat.« Sie zeigte nicht besonders viel Interesse, und Nairn fragte sich, ob selbst die Nachricht von Cables Tod ihre Gleichgültigkeit hätte durchdringen können. Sie hörte mit halbem Ohr zu, während er ihr erklärte, was geschehen war, und berichtete, daß das Auswärtige Amt mehr Informationen aus Hanoi verlangte, aber daß ihr Mann vielleicht bis zum Ende des Krieges in Gefangenschaft bleiben würde. Alle paar Minuten schrie sie
die Kinder an. »Lucy! Sarah! Um Himmels willen, hört endlich auf zu streiten. Wenn ihr euch das verdammte Puppenhaus nicht teilen könnt, gebe ich es weg!« Nach einer halben Stunde verabschiedete Nairn sich, gab ihr seine private Telefonnummer und die seines Büros und fragte, ob er nach ein paar Tagen wiederkommen könne, um sich zu erkundigen, was man zu ihrer Unterstützung tun könne. Judith schüttelte den Kopf. »Die Mühe würde ich mir nicht machen – ich bekomme doch noch jeden Monat mein Geld, oder?« »Natürlich – und wenn die Zuwendung nicht ausreicht, erhöhen wir sie oder versuchen, auf andere Weise auszuhelfen. Wir wollen alles für Sie tun, was in unserer Macht steht, solange Bill Kriegsgefangener ist.« »Ich komme schon zurecht. Das mußte ich die ganze Zeit, seit er weg ist. Gott – was ist das für ein Ehemann, der weggeht und uns in diesem Dreckloch zurückläßt? Ich glaube, er verschwendet nicht einen Gedanken an mich oder die Mädchen. Er lebt für seine verdammte Arbeit, nicht für uns, und das hasse ich.« Als sie ihm die Eingangstür öffnete, brach sie in Tränen aus.
Cable starrte ungläubig auf das Feuer, als man ihn auf die prasselnden Flammen zutrug, und seine Lippen waren zu einem dünnen Strich zusammengepreßt. Als das Feuer um seine Beine spielte und Brandblasen an seinen Fußsohlen entstanden, verkrampfte sich jeder Muskel in seinem Körper. Er schloß die Augen. Aber dann ließ die Hitze nach, und er hörte Rufe, die über ihm ausgetauscht wurden. In einem verzweifelten Anfall von Hoffnung öffnete er die Augen und sah sich um. Die Bronzetüren waren geschlossen worden, und Thieu stand über ihn gebeugt. Zunächst verstand Cable kein einziges Wort, denn
seine Gedanken bestanden nur noch aus Todesangst und Verwirrung. Langsam registrierte er, daß die erwartete Qual nicht kam, daß er noch immer am Leben war und daß Thieu ihm spöttische Fragen stellte. »Wollen Sie sich retten, Cable? Oder wollen Sie lieber verbrennen?« Cable brachte keinen Laut hervor, aber seine Augen antworteten für ihn. Auf Thieus Gesicht breitete sich ein sieghaftes Lächeln aus. »Aber das hat seinen Preis.«
Es dauerte nicht lange. Cable saß an einem roten Lacktisch – er trug noch immer seinen weißen Kittel, auf dem sich Blutflecke, die von seiner Prügel herrührten, zeigten – und las langsam die beiden maschinebeschriebenen Seiten durch. Sie waren auf englisch verfaßt: eine einfache Aussage, die Golitsyn als britischen Agenten identifizierte, und Details seiner Anstellung und Dienste, die er geleistet hatte, enthielten. Es stand sogar darin, daß Golitsyns Frau nichts damit zu tun habe, und es wurde darum gebeten, sie nicht zu mißhandeln. »Was geschieht, wenn ich dieses Dokument unterschreibe?« »Sie werden am Leben bleiben.« Thieu lächelte verächtlich. »Ich dachte, das wäre Ihnen klar.« »Aber wie kann ich Ihnen trauen? Angenommen, ich unterschreibe es, und Sie…« Cables Hände, die die Blätter hielten, zitterten. »Tot sind Sie von keinerlei Nutzen für uns. Ich habe Anweisungen von einem Offizier in Moskau, Sie haben nichts zu befürchten. Sie brauchen nur zu unterschreiben. Man wird Sie nach Hanoi zurückbringen und dann in ein Lager, in dem Sie in der Sonne ein wenig Straßenarbeiten verrichten – aber innerhalb eines Jahres wird man Sie entlassen, und dann können Sie sich wieder Ihrem Leben im Westen und Ihrer
höchst erfolgreichen Karriere bei Ihrem Geheimdienst widmen.« »Und…?« »Und eines Tages werden wir oder unsere Freunde in der Sowjetunion um Ihre Mitarbeit bitten.« »Angenommen, ich weigere mich, mitzuarbeiten?« Thieus Gesicht verzog sich zu einer gemeinen Fratze. »Dann werden wir dafür sorgen, daß Sie als der Verräter, der Golitsyn ausgeliefert hat, um seine eigene Haut zu retten, bloßgestellt werden! Ihre Leute haben gerade einen wertvollen Agenten verloren, Cable, aber sie haben keinen Grund, Sie zu verdächtigen. Solange Sie den Mund über die heutigen Ereignisse halten, kann Ihnen nichts passieren. Es wird nur Ärger geben, wenn Ihre Leute das Dokument in die Hände bekommen – dann ist Schluß mit Ihnen.« Er lächelte wieder. Seine plötzlichen Stimmungsänderungen wären sogar dann erschreckend gewesen, wenn Cable sich nicht in einem Zustand entsetzlicher Verwirrung befunden hätte. »Sie werden dafür sorgen, daß es ein Geheimnis bleibt, nicht wahr?« Cable hob zögernd den Stift und legte ihn wieder hin. »Der Ofen ist immer noch an«, zischte Thieu. Kurz nachdem er die Aussage unterschrieben hatte, wurde Cable auf den Rücksitz eines rostigen Wagens gestoßen, wo er zwischen zwei Wachtposten mit Sturmgewehren saß. Der Wagen fuhr im fliederfarbenen Licht der Morgendämmerung die Küste entlang in Richtung Norden. Die Sonne ging schnell auf, und bald kamen sie an leeren weißen, von Kokospalmen gesäumten Stränden vorbei. Auf dem azurfarbenen Meer schaukelten leise Sampans und chinesische Dschunken mit Fledermaussegeln. Cable starrte durch das offene Wagenfenster und klammerte sich an die vorübergehende Schönheit, um seinen Verstand nicht zu verlieren.
Er wußte, daß er sich innerhalb von ein paar Stunden wieder in der Realität des Hungers, der Qual und der Angst befinden würde. In diesem Moment verabscheute er sich selbst.
London
Es verging fast ein Jahr, bevor Cable Hanoi verlassen konnte. Er sollte in einem amerikanischen Militärflugzeug zurückfliegen, das geschickt worden war, um einen Trupp kranker und verwundeter GI-Gefangener abzuholen, die nach Verhandlungen des Roten Kreuzes entlassen worden waren. Der Abflug war für Mitternacht angesetzt, damit er nicht von nordvietnamesischen Truppen oder Zivilisten beobachtet werden konnte, und der Flugplatz lag in totaler Dunkelheit, die nur von gelben Leuchtfeuern in der unmittelbaren Nähe des Flugzeugs ein wenig erhellt wurde. In ihrem schwachen Licht war eine traurige Prozession von Männern mit Krücken zu sehen; manche wurden auf Tragbahren in die Kabine verfrachtet. Ihre Kleider bestanden aus den zerlumpten Überresten von Kampfanzügen, und die meisten wirkten unbeteiligt und verstört – ihre leeren Augen verrieten nichts über die Qual, die Entbehrungen und die Erniedrigung, die sie erlitten hatten. Während des Fluges nach Taiwan sprach fast niemand. Die Flugmannschaft verteilte Zigaretten und Schokolade, die manche der Ex-Gefangenen zum Erbrechen brachte, weil sie sie nach ihrer jahrelangen, hauptsächlich aus Reis bestehenden Diät nicht vertrugen. Cable wurde nicht wie ein Held empfangen. Am Flughafen Tschiang Kai Schek in Taipei wurde er von den anderen getrennt. Ein ihm unbekannter Mann, der sagte, daß sein Name Ryder sei und daß er den Geheimdienst repräsentiere, holte ihn ab und geleitete ihn durch einen Seiteneingang, der von chinesischen nationalistischen Polizeibeamten mit
undurchdringlicher Miene bewacht wurde, zu einer privaten Suite im Flughafengebäude. Er führte Cable zu einem Zimmer, in dem auf einem Sofa westliche Kleidung ausgebreitet lag; durch die Verbindungstür war ein Duschraum sichtbar. »Ich hoffe, daß die Klamotten passen, Boß. Sie können sich jetzt ein paar Stunden lang ausruhen. Um zehn Uhr nachts fliegen wir nach London weiter.« Cable fühlte sich nach dem langen Marsch zum Flugplatz und dem ungemütlichen Flug erschöpft. »Wissen Sie, Ryder, ich würde den Flug lieber um vierundzwanzig Stunden verschieben – ich muß mich erst mal wieder etwas sammeln, bevor ich der Familie entgegentrete. Würden Sie bitte umbuchen und uns Hotelzimmer besorgen?« »Geht nicht, Boß. Meine Anweisungen lauten, Sie schnurstracks nach London zu bringen.« Cable wehrte sich. »Warum denn diese ganze Eile? Ich war zehn Monate lang in diesem verdammten Lager eingesperrt, also kann doch eine einzige Nacht nicht so viel ausmachen?« Ryder zuckte mit den Schultern. »Vielleicht möchte man Sie ärztlich untersuchen – oder Ihnen einen Orden überreichen.« Sein Tonfall war ironisch, beinahe frech, und er verließ das Zimmer, bevor Cable etwas erwidern konnte, wobei er die Tür hinter sich zuknallte. Cable blieb verwirrt stehen. Was, zum Teufel, bildete sich dieser Ryder eigentlich ein? Während seines raschen Aufstiegs innerhalb des Geheimdienstes hatte Cable nie Standesbewußtsein empfunden, aber plötzlich fühlte er sich bedroht; er wollte diesem Rüpel klarmachen, daß er es mit dem Stellvertretenden Direktor der Abteilung, einem Oberstleutnant auf Zeit, zu tun hatte, der gerade zehn Monate Hölle in den Händen des Feindes überlebt hatte – mit jemandem, der, verdammt noch mal, etwas zu sagen hatte. Er ging zur Tür, und sein Zorn steigerte sich noch mehr, als er bemerkte, daß sie
verschlossen war. Dann sah er sich zum ersten Mal im Wandspiegel: eine hohlwangige, abgemagerte Gestalt mit geschorenem Kopf, deren Augen ihn aus tiefliegenden Höhlen anstarrten. Aus den rauhen Gefängnishosen ragten dürre Knöchel, und er trug noch immer die Holzsandalen, deren Sohlen aus Streifen von alten Gummireifen bestanden. Er sank zitternd auf das Bett nieder und fühlte sich den Tränen nahe.
Nach einem fünfzehnstündigen Flug landeten sie um sieben Uhr morgens am Flughafen Heathrow, wo sie von zwei schweigenden Männern erwartet und zu einem Sicherheitshaus in der Nähe von Box Hill in der Grafschaft Surrey gefahren wurden. Cable war zu müde, um Einspruch zu erheben, und als er sich auf das Bett des ihm angewiesenen Zimmers legte, schlief er sofort mit dem beruhigenden Gedanken ein, daß er Judith anrufen und nachmittags nach Teddington fahren würde. Nach seinem Erwachen nahm er eine Dusche und kleidete sich mit sauberen Sachen aus dem Schrank an; den schlechtsitzenden blauen Anzug, den er seit Taipei getragen hatte, mußte er allerdings anbehalten. Er sah durchs Fenster, daß sich draußen ein schöner, gepflegter Garten befand. Dann flog ohne Klopfen die Tür auf, und Ryder trat ein. Cable verspürte einen Anflug von Ärger – wie, zum Teufel, konnte dieser Trottel wissen, daß er wach war? Wurde er etwa beobachtet? Dieses Mal hatte er genug Geistesgegenwart, um sich zu behaupten. »Ach, da sind Sie ja, Ryder. Vielleicht könnten Sie mir jetzt einen Wagen besorgen. Ich möchte meine Frau anrufen und nach Hause fahren.« »Das geht nicht.« Ryders Stimme klang dreist, um nicht zu sagen, unverschämt. »Stuart ist hier und möchte Sie sehen.« Cable war verblüfft. »Stuart? Warum? Was hat denn meine Rückkehr mit ihm zu tun?«
»Er ist seit beinahe einem Jahr der Chef der Personalabteilung.« »Mein Gott, hat er – das wußte ich nicht.« Cable konnte Clive Stuart nicht ausstehen. Er war ein Mann von kleinem Wuchs, der kurz nach Cable dem Geheimdienst beigetreten war und sich trotz seiner Ausbildung an einer Privatschule nur mühsam hocharbeitete – eine Tatsache, die in starkem Kontrast zu Cables angeborener, hervorragender Intelligenz und seiner Abstammung aus der Arbeiterklasse stand. Vor sieben Jahren hatte Cable eine Zeitlang geglaubt, daß sie Freunde seien, als er seine Beziehungen zu Nairn hatte spielen lassen, um Stuart zu schützen. Stuart hatte damals eine katastrophale Scheidung mit anschließenden Depressionen, die psychiatrische Behandlung erforderten, hinter sich, was seine Karriere in Gefahr brachte. Etwa ein Jahr später hatte Nairn Cable in den »Spanischen Patrioten«, eine Kneipe in der Nähe des Büros, eingeladen. »Seien Sie vorsichtig, Bill, dieser Mann ist niederträchtig. Er hat Sie ausgenutzt, als es ihm in den Kram paßte. Aber jetzt sieht er in Ihnen seinen Rivalen auf dem Weg nach oben und läßt sich keine Chance entgehen, um Ihnen in den Rücken zu fallen. Er hat es viel eiliger, nach oben zu kommen, als Sie, viel, viel eiliger – und er würde Sie zu Fall bringen, um das zu erreichen.« Cable sah an Ryder vorbei und betrachtete einen Rosenstrauch im Garten. Während er selbst Kriegsgefangener gewesen war, hatte Stuart es also fertiggebracht, sich befördern zu lassen. Warum, zum Teufel, sollte dieser Schweinehund ihn so sehen – mit seinem geschorenen Kopf und einem billigen Anzug, der um seinen abgemagerten Körper schlotterte? Sollte er einfach abhauen? Nein, lieber wollte er Stuart seine Meinung über die schlechte Behandlung, die er seit Taiwan erfahren hatte, sagen. »In Ordnung«, fauchte er. »Bringen Sie
mich zu Stuart. Ich habe eine halbe Stunde Zeit für ihn, bevor ich abfahre.« Ryder lächelte ihn schief an. »Diese Richtung, Boß.« Er ging ihm voran einen Korridor entlang und öffnete eine getäfelte Tür. Cable schritt entschlossen über die Schwelle und blieb dann abrupt stehen. Er befand sich in einem großen Raum, in einer Bibliothek, die mit einem langen Eichentisch ausgestattet war. Hinter dem Tisch hockte die gedrungene Gestalt Stuarts, und rechts und links neben ihm saßen je zwei Männer. Auf dem Tisch standen Wasserkaraffen, Stöße von Schreibpapier mit blauem Wappen lagen herum. Auf Cables Seite stand ein einzelner Stuhl. Stuart blickte auf, ohne zu lächeln. »Hallo, Bill. Es handelt sich hier um einen Untersuchungsausschuß, der Erkundigungen über dein Verhalten während deiner Zeit als Oberst der australischen Armee in Südvietnam und als Kriegsgefangener in der Sozialistischen Republik von Nordvietnam einziehen möchte. Bitte setz dich.« Cable blieb stehen und stützte sich auf die Stuhllehne vor ihm. Er hatte vorgehabt, entschlossen aufzutreten, aber er verspürte Hunger und war erschöpft, außerdem war er schockiert über diesen Empfang. »Untersuchungsausschuß? Was, zum Teufel, soll das heißen? Ich habe gerade zehn Monate als Kriegsgefangener verbracht. Ich bin krank und müde und möchte nach Hause, um meine Familie wiederzusehen. Ich habe über nichts Rechenschaft abzulegen – ich werde mich in ein, zwei Tagen beim Chef melden.« Er drehte sich abrupt um, um das Zimmer zu verlassen, aber die Tür war verschlossen. Er wandte sich wütend Stuart zu. »Was soll das ganze verdammte Spiel? Dieser Mist fing schon an, als ich in Taiwan ankam – und jetzt habe ich ihn satt. Mach sofort diese
verdammte Tür auf und such dir jemand anderen für deine Spielchen!« »Ich sagte, daß du dich setzen sollst, Bill«, knurrte Stuart ungeduldig, aber streng. Er spielte seine Rolle ausgezeichnet und gab Cable jetzt schon das Gefühl, im Unrecht zu sein. »Wir wollen dir alle helfen, Bill, aber es muß ein Bericht angefertigt werden. Der Chef hat nicht vor, dich zu sehen – er hat mich dazu beauftragt, eine Untersuchung durchzuführen, die sich im Besonderen mit der Festnahme und Hinrichtung von Igor Golitsyn, der jahrelang einer unserer wertvollsten Agenten war, beschäftigen soll. Wir wollen ganz einfach die Wahrheit wissen, Bill.« Er lächelte so freundlich wie ein hungriges Krokodil. Cable, der vor Zorn bebte, setzte sich langsam auf den Stuhl. »Dieses ganze Verfahren ist eine einzige Schande«, krächzte er mit trockener Kehle. »Wenn man es wirklich für nötig befand, daß ich mich für etwas rechtfertigen soll, hätte man mir vorher Bescheid geben müssen. Man kann nicht einfach Knall auf Fall eine Untersuchung durchführen. Ich habe das Recht, einen Berater zur Seite zu haben – und ich weigere mich, dich als Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses anzuerkennen.« »Ist die Tatsache, daß du vorher nicht Bescheid gewußt hast, wirklich so erschreckend für dich, Bill?« Stuart lächelte höhnisch. »Brauchst du wirklich einen Berater – einen Advokat? Vielleicht einen Rechtsanwalt? Was hast du zu verbergen? Wenn du wirklich darauf bestehst, kannst du weiterhin inhaftiert bleiben.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Bis wir jemanden gefunden haben, mit dem du Händchen halten kannst.« Cable erwiderte nichts. Er wußte, daß Stuart ihn mit der Verwirrungstaktik dazu bringen wollte, sich zu fügen. Jede Sekunde, die er sich in diesem Raum aufhielt, machte es ihm schwerer, wieder von hier fortzukommen, aber er fühlte sich
zu müde, um sich zu widersetzen. »An meiner linken Seite«, erklärte Stuart in förmlichem, ehrfurchtsvollem Ton, »befinden sich Vertreter des Sicherheitsdienstes und des Verteidigungsministeriums. Zu meiner Rechten sitzt ein Vertreter des Auswärtigen und des Commonwealth Amtes und John Leslie, Mitglied unseres Geheimdienstes.« »Haben die anderen keine Namen?« »Die brauchst du nicht zu wissen.« »Warum nicht? Was haben sie denn zu verbergen?« Stuart schlug plötzlich mit der Faust auf den Tisch. »Es handelt sich hier um einen offiziellen Untersuchungsausschuß, Cable« – plötzlich nannte er ihn nicht mehr Bill und schuf mit der förmlichen Anrede eine bedeutende Distanz – »und ich möchte Sie bitten, ihn mit Respekt zu behandeln. Halten Sie jetzt bitte Ihren Mund, während Leslie den Fall gegen Sie vorträgt. Unterbrechen Sie ihn nicht – Sie haben später genügend Zeit, Fragen zu stellen.« Cable verspürte große Lust, Stuarts kleinem Rattengesicht einen Schlag zu versetzen. Aber er beherrschte seine Wut und schwieg, während der Alptraum weiterging; Leslie, der, wie er sich erinnerte, ein Freund Stuarts war, ordnete seine Papiere und begann zu sprechen. Cable hörte sich mit Entsetzen die lange Liste der falschen Aussagen und Beschuldigungen an, die gegen ihn gerichtet waren: »Inkompetentes Handeln in einer Schlüsselposition… verhängnisvolle Beurteilungsfehler… unnötige, hohe Ausgaben… einen Topagenten, der jahrelang sein Leben für uns riskiert hat, in Gefahr zu bringen… Verrat des genannten Agenten bei der eigenen Gefangennahme… wie konnte man sich Golitsyns Schicksal sonst auslegen… wie könnte man sich sonst Cables Freigabe vom Feind erklären… wir haben zu keinem Zeitpunkt um eine verfrühte Entlassung und gute Behandlung für Sie gebeten…«
Die Art, in der Leslie all das vorbrachte, klang so, als ob zehn Monate Gefangenschaft und miserable Ernährung, die einen von 75 Kilo auf 52 Kilo gebracht hatte, so etwas wie ein Privileg sei. »Und warum wurden Sie vorzeitig entlassen, Cable?« Seine Stimme wurde lauter und klang höhnisch. »Vielleicht noch so ein Fall wie George Blake? Er befand sich bedeutend länger in den Händen der Kommunisten, aber das ist schon zwanzig Jahre her. Seitdem haben sich die Bekehrungstechniken zweifellos etwas geändert. Erzählen Sie uns doch etwas über den geheimen Auftrag, den Sie von Ihren neuen Freunden bekommen haben. Blake hat damals zwanzig Jahre aufgebrummt bekommen – erinnern Sie sich?« Er machte eine drohende Pause. »Wenn Sie alles gestehen, werden wir unter Umständen von einer Anklage wegen krimineller Handlungen absehen.« Cable stand auf. »Das reicht, Stuart«, sagte er ruhig und hielt sich nun auch an die distanzierte Anrede. »Ich kann hier nicht ruhig sitzenbleiben, während Sie mich beleidigen und dieser Mist meine Loyalität in Zweifel stellt, nach allem, was ich durchgemacht habe, während Sie gemütlich zu Hause saßen.« »Nun gut, Cable.« Stuarts Stimme klang ungehalten und hoheitsvoll. »Natürlich hilft es Ihnen in keinster Weise, wenn Sie Beleidigungen gegenüber dem Ausschuß aussprechen, aber ich bin bereit, das Verhör auf morgen früh neun Uhr zu verschieben.« Er drückte einen Knopf auf seinem Schreibtisch, und zwei starkgebaute Männer betraten den Raum. »Man wird Sie wieder hierherbringen.« Cable verließ das Zimmer, flankiert von seinen beiden Wärtern. Er wußte, daß es nutzlos war, sich aufzulehnen.
Das Ritual setzte sich am nächsten Tag fort, als Leslie die Ereignisse der letzten zwei Jahre in minutiöser Genauigkeit durchging und bei jeder Gelegenheit andeutete, daß Cable bestenfalls verdächtig – schlimmstenfalls ein Verräter, sei. Cable verlangte einige Male, den Generaldirektor sprechen oder das Telefon benutzen zu dürfen. Jedesmal lehnte Stuart sein Anliegen kurzangebunden ab. Obwohl Cable eine Nacht durchgeschlafen hatte, fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Seine Gedanken waren ständig in Bewegung. Schon während des langen Fluges von Taiwan hatte er beschlossen, offen über die Unterschrift, die er unter Thieus Schriftsatz gesetzt hatte, zu sprechen und zu erklären, wie es dazu gekommen war. Sicherlich würde ihm niemand einen Vorwurf machen, und wenn er alles zugab, könnte er auch nicht mehr erpreßt werden. Aber die Realität sah anders aus; als er mit einer Untersuchung, die ihm so offensichtlich feindlich gesinnt war, konfrontiert wurde, geriet sein Entschluß bereits ins Wanken. »Haben Sie nach Ihrer Festnahme Golitsyn gesehen?« »Ja.« »Wo?« »In einem unbenutzten Tempel außerhalb von Hanoi.« »In einem Tempel?« Cable zuckte mit den Achseln. »Die kommunistischen Sicherheitsleute hatten ihn unter Beobachtung, später nahmen sie ihn gefangen. Er ist fürchterlich gefoltert worden, bevor sie mich mit ihm zusammenbrachten.« »Hatte er gestanden?« »Das glaube ich nicht.« »Und warum glauben Sie das nicht?« »Weil Thieu mich so sehr drängte zuzugeben, daß Golitsyn unser Mann war.« »Und das taten Sie dann auch, oder etwa nicht?«
»Ich tat überhaupt nichts«, schrie Cable ärgerlich. »Ich rechnete mir eine geringe Chance aus, ihn zu retten, wenn ich darauf bestand, daß ich ihn nicht kenne. Ich habe niemals zugegeben, daß er als Agent für uns arbeitete – ich gab auch nicht zu, daß ich einer bin.« »Und Sie sind ganz sicher, daß Sie ihn bei Ihrem Verhör nicht als unseren Mann identifiziert haben? Vielleicht in guter Absicht – um ihm weitere Folterungen zu ersparen. Das wäre verständlich und sogar menschlich. Deshalb könnte Ihnen niemand Vorhaltungen machen. Wir wollen nur die Wahrheit erfahren.« Jesus Christus, dachte Cable, sie müssen mich wirklich für naiv halten. Er lehnte sich vor und sprach sehr langsam, während er gegen eine Welle von Müdigkeit ankämpfte. »Ich habe nie – ich wiederhole nie – zugegeben, daß er einer unserer Agenten war.« »Sie hielten also den Mund und ließen zu, daß er gefoltert wurde?« »Er war schon gefoltert worden, bevor ich überhaupt von seiner Festnahme erfuhr. Nachdem sie mich mit ihm zusammengebracht hatten, folterten sie ihn nicht mehr.« In diesem Moment unterbrach Stuart. »Darf ich etwas klarstellen?« Leslie legte seine Papiere hin, Cable drehte sich langsam seinem Feind zu und blickte ihm geradewegs in die Augen. Stuart hatte ein kleines, dünnes Gesicht, dunkle Haut und schwarzes Haar, was ihn wie einen Südländer erscheinen ließ. »Golitsyn wurde also gefoltert?« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Wurden Sie jemals gefoltert, Bill?« Er stellte die Frage mit sanfter Stimme, aber in seinen starr auf Cable gerichteten Augen blitzte ein Funken Triumph auf. Cable brachte kein Wort heraus. Es war eine Fangfrage, die nach einer positiven Antwort verlangte. »Ja«, wollte er schreien. »Ich wurde von einer hysterischen Menschenmenge
auf der Straße zusammengeschlagen, die dem Mann, an den ich gefesselt war, mit den Scherben der eigenen Brille die Augen ausstachen. Ich wurde mit Gewehrkolben verprügelt, bis ich nicht mehr stehen konnte, und dann brachten sie mich dazu, zuzuschauen wie Golitsyn verbrannt wurde. Wenn Sie das nicht Foltern nennen, dann probieren Sie es doch selbst einmal aus. Ich habe im letzten Jahr mehr Qual und Angst ertragen müssen, als Sie in Ihrem ganzen verdammten Leben kennenlernen werden.« Aber irgendein tiefes, unerbittliches Gefühl von Stolz hielt ihn davon ab. Er brachte es nicht fertig, diesem kleinen Giftzwerg von den Demütigungen, die er erlitten hatte, zu erzählen, nur damit er weiterbohren und sich daran weiden konnte. Cable wußte, schon bevor er den Mund öffnete, daß es Wahnsinn war, aber dann hörte er sich schon mit klangloser, bestimmter Stimme sagen. »Nein – ich wurde nicht gefoltert.« Stuart wirkte enttäuscht. »Gab man Ihnen jemals Drogen?« »Nein.« Cable zögerte und ergriff dann die Gelegenheit, sich ein mögliches, zukünftiges Hintertürchen zu schaffen. »Das heißt, ich glaube nicht.« »Sie glauben nicht?« Die Frage triefte nur so vor Mißtrauen und Verachtung. »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich wurde nicht gefoltert, aber manchmal schlug man mich besinnungslos. Bei einer solchen Gelegenheit hätte man mir Pentathol geben und mich nach meinem Erwachen ausfragen können. So etwas ist an der Tagesordnung, und ich würde mich daran natürlich nicht erinnern.« Stuart schnaufte ungläubig. »Um Himmels willen – geben Sie mir endlich eine klare Antwort. Wollen Sie damit sagen, daß Sie nicht preisgaben, daß Golitsyn unser Agent war? Zu keinem Zeitpunkt? Weder schriftlich noch mündlich?« »Ja – das will ich damit sagen.« Cable war sich vage bewußt, daß er dazu gebracht worden war, eine verhängnisvolle Lüge
auszusprechen, aber war zu verwirrt und erschöpft, um sich darüber Sorgen zu machen. »Niemals?« »Nein, niemals.«
Am Abend wurde Cable wieder in sein Zimmer gesperrt und nach etwa einer Stunde brachte Ryder ihm das Abendessen auf einem Tablett. Cable konnte hören, wie Autoreifen auf dem Kiesweg knirschten und Wagen wegfuhren; er nahm an, daß Stuart und seine Handlanger nachts nach Hause fuhren. Eine Stunde verging, bis er sich im klaren war, was er tun sollte. Das Fenster war, wie nicht anders zu erwarten, fest von außen verschlossen, aber die Scheiben waren groß. Das Zimmer befand sich im oberen Stockwerk des Hauses, das Fenster jedoch führte auf das leicht geneigte Dach eines Anbaus hinaus. Cable zog die Decken vom Bett, rieb mit einem feuchten Stück Seife die untere Fensterscheibe ein und drückte die Decken fest dagegen. Dann schlug er mit seinem Schuh kräftig gegen die Ränder der Scheibe. Sie zerbrach, ein paar Scherben klirrten – mit einem Geräusch, das auf seine angespannten Nerven wie ein Einbrecheralarm wirkte – auf die Dachziegel unterhalb seines Fensters, aber die meisten blieben an den Fasern der Decken hängen. Er ließ die Decken und das Glas auf den Boden fallen und kletterte durch den leeren Rahmen. Als eine spitze Scherbe sich in seine Wade bohrte, fühlte er, wie das warme Blut an seinem Bein herunterrann. Er rutschte die Ziegel herunter, fiel eine kurze Strecke durch die Luft und landete dann auf der weichen Erde eines Blumenbeetes. Ohne auf den Schmerz in seinem Bein zu achten, rannte er quer über den Rasen. Er vernahm keine Geräusche von Verfolgern, und das Haus hinter ihm lag zum größten Teil in Dunkelheit. Er erreichte eine hohe Mauer, und
im Mondlicht konnte er sehen, daß sie zu hoch für ihn und darüber hinaus an der Oberseite mit Stacheldraht versehen war. Er stieß einen leisen Fluch aus und lief den Pfad neben der Mauer entlang, bis er an ein hohes Holztor kam, neben dem ein kleines Häuschen, in dem Licht brannte, stand. Bevor Cable einen Entschluß fassen konnte, was zu tun war, sprang eine Gestalt mit einem Revolver aus dem Häuschen und schrie! »He – halt! Wie, zum Teufel, bist du da herausgekommen?« Cable warf sich blitzschnell mit dem ganzen Gewicht seines abgemagerten Körpers auf den Mann und hieb ihm seine geballte Faust mit aller Kraft ins Genick. Ein kurzer Aufschrei, und der Mann sank zu Boden. Cable trat, keuchend vor Anstrengung, zurück – ihm war klar, daß er nicht die Kraft gehabt hätte, einen solchen Schlag zu wiederholen, wenn er beim ersten Mal danebengegangen wäre. Er bemerkte, daß der bewußtlose Mann Ryder war. Das Glück war auf seiner Seite – in dem Tor steckte ein großer Eisenschlüssel, und es schwang an gutgeölten Angeln lautlos auf. Cable ging hindurch, drehte sich um, um es abzuschließen und warf den Schlüssel in ein Gebüsch am Straßenrand. Er befand sich auf einer Dorfstraße, die zu einer beleuchteten, belebten Straße, der Dorkinger Umgehungsstraße, führte. Er hörte noch immer keine Verfolger, als er an der Hauptstraße angekommen war, die in nördlicher Richtung nach Leatherhead führte. In der Hoffnung, von einem Autofahrer mitgenommen zu werden, streckte er im Gehen den Daumen aus. Nach etwa fünf Minuten hielt ein Sattelschlepper am Straßenrand, und der Fahrer streckte den Kopf aus dem Fenster. »Wohin soll’s denn gehen, Kumpel?« brüllte er über den Verkehrslärm hinweg. »London.«
»O.k. – ich nehm’ dich bis nach Kingston mit. Rein mir dir.« Cable kletterte in das große Führerhäuschen, das mit blauem Tabakdunst und Radiolärm erfüllt war. Trotz des Getöses schlief er unruhig, bis der Fahrer ihn eine halbe Stunde später wachrüttelte. Sie standen an den Toren eines Sägewerks in der Nähe der Kingston Brücke. Cable winkte dem Fahrer einen Gruß zu, und stolperte über die Brücke und überlegte, wie er seine Flucht ohne Geld fortsetzen konnte. Er hielt ein vorbeifahrendes, freies Taxi an und ließ sich auf den Rücksitz fallen, bevor der Fahrer irgendwelche Fragen wegen des Fahrgeldes stellen konnte. »Hartington Road in Chiswick«, sagte er mit fester Stimme.
Das Taxi wartete mit laufendem Taxameter vor dem Appartementhaus am Flußufer, während Cable die Betonstufen zu der Wohnung, die er suchte, hinaufstieg und an der Türklingel läutete. Eine lange Weile verstrich, bevor die Tür von einem mageren Mann mittleren Alters, der eine schäbige grüne Strickjacke trug, geöffnet wurde; er spähte erstaunt über den Goldrand seiner halbmondförmigen Lesebrille hinweg. »Ach, du lieber Gott – Bill Cable. Was, um Himmels willen, machen Sie denn hier? Ich dachte, Sie ruhen sich noch immer in Taiwan aus. Sie bluten ja – haben Sie eine Schlägerei gehabt?« Cable blickte an seinem zerrissenen Hosenbein herunter und bemerkte den Blutflecken. »Kann ich hereinkommen, David?« fragte er David Nairn.
London
Nach Nairns Eingreifen wurde die Untersuchung zwar weitergeführt, aber die Atmosphäre während der Verhöre änderte sich drastisch. Stuart erhielt eine Verwarnung vom Generaldirektor dafür, daß er hinter Nairns Rücken seine Kompetenz überschritten hatte – denn Nairn war noch immer der Direktor für Operationen in Südostasien – und daß er Cable ohne Befugnis in Box Hill festgehalten hatte. Nairn wurde befohlen, der Untersuchung als persönlicher Vertreter des Chefs beizuwohnen. Es war nicht überraschend, daß eine Woche später ein Bericht erstellt wurde, in dem Cable rehabilitiert wurde. Wie darin zu lesen war, bestand Cable beharrlich darauf, daß er sich als Kriegsgefangener allen Befragungen widersetzt habe, obwohl er nicht wußte, ob man ihm, während er bewußtlos war, Drogen verabreicht habe, die ihn möglicherweise zum Sprechen gebracht hätten. Es stand auch darin, daß von den Botschaften des Ostblocks Informationen durchgesickert waren, die andeuteten, daß Cable Golitsyn verraten hatte. Stuart stürzte sich voller Schadenfreude darauf. Nairn verteidigte ihn: Warum hätte Cable, wenn er wirklich zur anderen Seite übergelaufen wäre, seiner Organisation diese Information mitteilen sollen – er wäre doch mit Sicherheit in Zukunft von mehr Nutzen, wenn er sich noch immer in einer Vertrauensstellung befände? Aber wenn mit Schmutz geworfen wird, bleibt immer etwas hängen, wie ungerecht es auch sein mag. Neben Cables Namen würde immer ein Fragezeichen stehen, weil er vom Feind einem Verhör unterzogen worden war; als
Geheimdienstbeamter war er nicht mehr zu gebrauchen. Es war unmöglich, daß man ihn weiter als Agenten beschäftigte, und einen Monat nach seiner Rückkehr ließ ihn der Chef zu sich rufen, um ihm das mitzuteilen. Sie saßen unbehaglich in den Sesseln in der Sitzecke des Büros des Generaldirektors, das mit antiken Möbeln aus Rosenholz eingerichtet war und Aussicht über den Fluß auf das Parlamentsgebäude bot. Sir Ian Walker war wie Nairn Schotte und bekannt für seine direkte und schonungslose Art. »Die ganze Sache tut mir leid, Bill«, sagte er, während er aus dem Fenster sah. »Aber Sie sind entlassen.« »Ian, ich habe fast sechzehn Jahre für Sie gearbeitet – es ist der einzige Beruf, den ich ausüben kann.« »Na, Bill – vielleicht nicht der einzige. Ich habe vor, Sie in den regulären Diplomatendienst einzuschleusen; dieses Leben kennen Sie nur zu gut. Damit verlieren Sie leider Ihre Beförderung zum AD – Sie werden als Erster Sekretär eingestellt –, aber Sie sind erst achtunddreißig. Wenn Sie sich bemühen, können Sie sich eine neue Karriere schaffen.« Cables Gesichtsausdruck war unbewegt. »Und wann ist es so weit?« »Sie verlassen diese Firma heute und werden einen Monat lang freigestellt – das gibt Ihnen Zeit, sich wieder zurechtzufinden. Am 1. März melden Sie sich in der Personalabteilung der FCO – ich nehme an, daß Ihr erster Posten in London ist.« Cable nickte; er konnte es nicht fassen, daß der Lebensstil, die Karriere, die er sich in so vielen Jahren aufgebaut hatte, in ein paar Stunden nicht mehr von Bedeutung sein sollte. »Oh – noch etwas, Bill…« »Ja, Chef?« »Die Australier haben vorgeschlagen, Ihnen für das, was Sie vor und nach Ihrer Gefangennahme in Vietnam geleistet
haben, einen militärischen Orden zu verleihen – aber das mußte ich natürlich ablehnen.« Cable war wie vor den Kopf geschlagen. »Warum natürlich? Das verstehe ich nicht.« »Wenn Sie darüber nachdenken, werden Sie es sicher verstehen, Bill. Wissen Sie, daß Sie sehr viel Glück gehabt haben? Jetzt wünsche ich Ihnen einen schönen Urlaub – und viel Erfolg in Ihrer neuen Stellung.« Er stand auf und schüttelte Cable wohlwollend die Hand, aber nicht mit der früheren Herzlichkeit, die bestanden hatte, als Bill auf dem Weg nach oben ein geschätzter Mitarbeiter gewesen war. Cable ging langsam zum Aufzug. Die plötzliche Erkenntnis, daß man ihm nicht mehr traute – und daß sogar Walker ihn verdächtigte –, warf ihn völlig um. Seit der Untersuchung hatte man ihm weder ein Büro noch etwas zu tun gegeben, also hatte er keine andere Wahl, als nach Hause zu gehen. Er nahm einen Zug von Waterloo nach Teddington. In seinem Haus in Langham Road angekommen, betrachteten seine beiden Töchter ihn mit Mißtrauen. Sie hatten ihn während der zwei Jahre seiner Abwesenheit fast vergessen und von ihrer Mutter erzählt bekommen, daß er an dem Durcheinander und der Freudlosigkeit, die während seiner Abwesenheit in ihrem Heim geherrscht hatte, die Schuld trug. Sarah war jetzt sieben, schlank und sportlich; Lucy war vier – ein pummeliges kleines Mädchen mit einem gewinnenden Lächeln und demselben Anlehnungsbedürfnis, an das er sich noch aus Paris erinnerte. Als sie in ihren Schlafanzügen herumtollten, erschienen sie ihm wunderschön. Judith saß in der Küche und aß dick mit Kirschmarmelade bestrichene Brotscheiben, wobei ihr die Marmelade das Kinn herunterlief. Obwohl die Zentralheizung voll aufgedreht war, stand unter dem Tisch ein Heizlüfter, der ihre dünnen Knöchel mit heißer Luft umblies. Weil sie deprimiert war, tröstete sie
sich immer mit Wärme und Essen. Im Spülbecken türmte sich schmutziges Geschirr; überall standen benutzte Teller und Töpfe herum. Cable hatte sich Gedanken gemacht, wie er ihr die Nachricht von seiner Entlassung beibringen sollte. Als er jetzt in ihre leeren Augen blickte, wurde ihm klar, daß es nicht der Mühe wert war, die Sache überhaupt zu erwähnen. Er verspürte einen Schmerz im Inneren, das Bedauern dafür, daß seine Ehe gescheitert war, und er wußte, daß er daran den größten Teil der Schuld trug. Judith war nicht für einen Ehemann geschaffen, dessen Arbeit soviel Zeit und Energie erforderte – geschweige denn für einen Ehemann, der so dumm war, sie zwei Jahre lang allein zu lassen. Sie war so in sich verschlossen und depressiv, daß sie schon Schwierigkeiten hatte, sich selbst am Leben zu erhalten, geschweige denn, irgendwelche Probleme zu meistern. Er hatte es eigentlich immer gewußt, und er mußte verrückt gewesen sein zu hoffen, daß sich alles wieder einrenken würde. Er legte den Arm um ihre Schultern. »Ich habe eine neue Stellung, Judy – von jetzt an bin ich in London.« »Wir haben nichts zum Essen im Haus«, sagte sie. »Wenn du etwas willst, mußt du dir irgend etwas Fertiges holen. Mir ist das egal.« Er versuchte es wieder, während ihm wegen der Hitze im Zimmer der Schweiß herunterlief. »Judy – ich möchte dir etwas sagen. Ich muß nicht wieder weggehen.« Sie schüttelte seinen Arm ab und bestrich eine neue Brotschnitte mit Marmelade. »Dafür ist es verdammt zu spät – warum haust du nicht einfach wieder ab?« Sie fing an zu weinen, und ihr stoßweises Schluchzen erschütterte ihren ganzen Körper.
Sarah öffnete leise die Küchentür. »Raus mit dir!« kreischte Judith. »Siehst du nicht, daß ich mich mit deinem Vater unterhalte?« »Tut mir leid, Mami.« Das Kind schluckte eine Träne herunter und sah Cable mit verängstigten Augen, die unter ihrem blonden Pony hervorschauten, an. »Papi«, sagte sie zögernd. »Liest du uns eine Gutenachtgeschichte vor?«
Wie Judith gesagt hatte, war es zu spät, aber sie hielten es beide fast ein Jahr lang aus. Liebe gab es in ihrer Beziehung nicht mehr, und Cables Gefühle zu seiner Frau schwankten zwischen Mitleid und Ärger. Die Bitterkeit, die inzwischen ein Teil ihrer Persönlichkeit geworden war, flammte immer wieder auf und bildete eine unüberbrückbare Kluft zwischen ihnen. Cable hatte oft große Lust, sie einfach zu verlassen und die Kinder mitzunehmen, wenn er sich nicht so große Sorgen um die Nachwirkungen, die ein solcher Schritt auf sie gehabt hätte, gemacht hätte. Statt dessen versuchte er, an seinen Kindern wiedergutzumachen, was Judith durch ihre Nachlässigkeit versäumt hatte. Bevor er morgens das Haus verließ, half er den Mädchen beim Anziehen und bereitete das Frühstück vor. Abends bemühte er sich, pünktlich zu Hause zu sein, um sie zu baden und zu Bett zu bringen. Sie hatten ihm schon immer am Herzen gelegen. Und wenn er die beiden unschuldigen, schlafenden Gesichter betrachtete, empfand er eine beinahe schmerzhafte Liebe für sie. Cable pendelte täglich mit dem Zug zu seinem stumpfsinnigen Schreibtischjob im Auswärtigen Amt. Der kalte Februartag, an dem er abends um halb sieben nach Hause kam, hatte nichts Ereignisreiches an sich gehabt. Normalerweise warteten die Kinder auf ihn und öffneten bei
seiner Ankunft die Haustür, aber an diesem Abend war das ganze Haus dunkel. Während er nach seinem Haustürschlüssel suchte, näherte sich eine Nachbarin mit Sarah, die offensichtlich geweint hatte. Das Kind rannte auf ihn zu und umklammerte ihn. »Oh, Vati. Lucy ist verletzt. Sie ist vor ein Auto gerannt, und dann haben sie sie in einem Krankenwagen weggefahren.« »Das stimmt, Bill«, bestätigte die Nachbarin. »Judith ist mitgefahren, und sie sind jetzt im West Middlesex Krankenhaus in Isleworth. Es tut mir schrecklich leid für Sie.«
Cable fuhr voller Panik zum West Middlesex Krankenhaus, während er laut zu einem Gott betete, an den er nicht glaubte. »Laß sie nicht sterben. Bitte laß sie nicht sterben.« In dem hohen Bett in der Intensivstation sah sie so klein, so winzig aus. Ihre Augen waren geschlossen, und ihr Gesicht sah ruhig und schön aus, aber ihr Kopf war mit weißen Mullbinden umwickelt. An eines ihrer kleinen gepolsterten Handgelenke war ein Infusionsapparat angeschlossen. Judith stand am Bett, und Cable schloß sie in die Arme. Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Großer Gott, ich komme mit dem allen nicht zurecht. Es ist nicht meine Schuld.« »Was ist denn passiert, Liebling?« »Sie ist auf die Straße gelaufen«, antwortete Judith mit klangloser Stimme. »Ich habe ihr gesagt, daß sie das niemals tun soll, trotzdem ist sie auf die Straße gelaufen.« Ein pakistanischer Arzt und mehrere Schwestern gruppierten sich um das Bett. Der Arzt nahm Cable beiseite. »Sind Sie der Vater?« »Ja.« »Ich bin Dr. Ibrahim. So leid es mir tut, Ihnen das sagen zu müssen – aber der Zustand Ihrer Tochter ist äußerst
bedenklich. Die Röntgenbilder deuten auf schwere Kopfverletzungen hin – ich benötige Ihre Erlaubnis für eine Operation zur Verminderung des Drucks auf gewisse Gehirnteile.« »Natürlich.« »Dann unterschreiben Sie bitte dies.« Er reichte Cable ein Formular und einen Kugelschreiber. Lucy wurde auf einer Bahre aus dem Zimmer gerollt, und Cable wartete mit Judith in einem kleinen, weißgetünchten Raum. Es vergingen drei Stunden, in denen sie sich wenig zu sagen hatten. Schließlich kam der Doktor herein. »Möchten Sie Ihre Tochter besuchen?« Cable stand auf. »Wie ist ihr Zustand jetzt?« Die sanften braunen Augen des Arztes blickten ernst. »Sie ist noch immer nicht bei Bewußtsein, und sie muß künstlich beatmet werden. In vierundzwanzig Stunden kann ich Ihnen eine klarere Prognose geben. Sie hat massive Gehirnblutungen erlitten, und wir haben alles, was in unserer Macht stand, getan.« Lucys Gesicht war noch immer friedlich und schön, obwohl ihr winziger Körper, der jetzt von einem Krankenhaushemd bedeckt war, durch die Zylinder, Gummiröhren und elektronischen Geräte, die auf Wägen um ihr Bett herumstanden, beinahe verdeckt wurde. Man hatte ihr eine Beatmungshilfe in die Kehle gesteckt, und ihr Handgelenk war noch immer mit einem Infusionsapparat verbunden. »Kann einer von uns bei ihr bleiben?« fragte Cable. »Natürlich«, antwortete die Schwester. »Wenn Sie wollen, können Sie hier auch übernachten. Nebenan ist ein Zimmer mit Bett.« Judith blieb als erste. »Weißt du, Sie ist auch meine Tochter«, sagte sie anklagend, wobei sie ihm klarmachte, wie sehr sie es ihm übelnahm, daß er sich so sehr um die Kinder gekümmert
hatte – obwohl er ihr dadurch alles nur erleichtern wollte. Im Grunde haßte sie ihn dafür, daß er es nicht fertiggebracht hatte, ihr ihre Depressionen zu nehmen und sie glücklich zu machen. Sie haßte ihn für ihre eigene Unzulänglichkeit. Was auch immer er tat, sie würde ihm gegenüber immer Bitterkeit verspüren. Eine Woche verstrich sehr langsam, und Lucy wachte nicht auf. »Die Tatsache, daß sie ihr Bewußtsein nicht wiedergewinnt, bereitet mir Sorgen«, bekannte der Arzt. »Aber bis jetzt gibt es keinen Grund für Sie, die Hoffnung aufzugeben. Es bestehen keine Anzeichen für bleibende Gehirnschäden, und diese lange Bewußtlosigkeit hilft vielleicht auf natürliche Weise bei der Heilung.« Am siebten Tag nach dem Unfall, um etwa fünf Uhr, kam Cable im Krankenhaus an, um Judith abzulösen. Sie stand an der Tür vor Lucys Krankenzimmer, und ihr Gesicht wirkte so erschöpft, daß es wie eine Maske aussah. »Sie ist tot, Bill«, sagte sie tonlos. »Sie ist vor einer halben Stunde gestorben.« Zum ersten Mal seit Monaten trafen sich ihre Blicke ohne Zorn und Bitterkeit, nur in plötzlichem, gemeinsamem Schmerz. »Komm und sieh sie dir an.« Sie reichte ihm ihre zitternde Hand. Die kleine Gestalt in ihrem weißen Krankenhaushemd lag reglos auf dem Bett. Lucy sah aus, als ob sie tief und friedlich schliefe; ihre Augen waren geschlossen, aber sie lächelte. Cable fühlte einen beißenden, unerträglichen Schmerz, der in ihm aufwallte, und Tränen stiegen ihm in die Augen. Judith klammerte sich an ihn, und dann weinten beide hemmungslos.
Einen Monat später verließ Judith ihn, ohne zu sagen, warum und wohin. Nach sechs Wochen schrieb sie ihm aus Sydney und verlangte die Scheidung. Cable verspürte nur eine Art trauriger Erleichterung. An einem Sonntagmorgen erklärte er
Sarah alles, so gut er konnte, damit sie sich an den Gedanken gewöhnte. »Mami kommt nicht zurück zu uns«, sagte er und hoffte, daß er die Fassung behalten würde. »Sie lebt jetzt weit, weit weg in einem anderen Land.« Er schloß das Kind in seine Arme. Sarah, die jetzt acht war, sah ihn ernst an. »Und Lucy kommt auch nicht wieder, stimmt das?« »Ja Liebling. Lucy ist tot. Sie starb im Krankenhaus, kannst du dich erinnern?« Einen Augenblick lang verspürte er einen Kloß in der Kehle, als er sich an den Anblick des Leichenbestatters, der den kleinen Sarg zu Grabe trug, während Judith in seinen Armen kummervoll schluchzte, erinnerte. »Ja, es war sehr traurig, und ich habe viel geweint. Weißt du, Papi, ich habe Lucy liebgehabt, aber nicht nur, weil sie meine kleine Schwester war – aber sie war so… so lieb.« »Wir haben sie alle liebgehabt – Mami auch. Mami hat uns alle noch lieb, Sarah. Es ist nur so, daß sie jetzt woanders leben möchte.« »Ja, Papi.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn. »Mach dir keine Sorgen – wir kommen schon zurecht. Bitte weine nicht, Papi, ich werde mich um dich kümmern.«
Salzburg
Am Morgen nach seinem Mittagessen mit Laszlo Kardos stand Cable früh auf. Um acht Uhr schritt er bereits die Grinzinger Dorfstraße herunter. An der Straßenbahnhaltestelle nahm er sich ein Taxi, und eine Stunde später saß er in einem Zug, der in Richtung Salzburg durch das Donautal fuhr. Wien war, abgesehen von der pittoresken Altstadt im Zentrum, ein öder Ort, der schon etwas Osteuropäisches an sich hatte; aber jedesmal, wenn es Cable gelang, der Großstadt zu entkommen, wurde er von der Schönheit der österreichischen Landschaft überwältigt. Durch das Zugfenster sah er hübsche Dörfer, die in grüne Felder eingebettet lagen, und jeder zweite Hügel schien von betürmten Burgen oder rechteckigen Klöstern mit unzähligen Fenstern gekrönt zu sein. Nach kurzer Zeit befanden sie sich im Gebirge, dessen schneebedeckte Gipfel auf Seen heruntersahen, die blau waren, wenn sie von der Sonne beschienen wurden, aber schwarz und kalt erschienen, wenn sie sich im Schatten befanden. Die Reise bedeutete für ihn eine dreistündige, friedliche Pause, aber sobald der Zug seine Fahrt verlangsamte und sich Salzburg, das sich bei einer Krümmung des Flusses unter dem Vorsprung der Alpen an die Berge schmiegte, zeigte, fühlte sich Cable schon wieder bedrückt und war nervös. Die Felswand ragte etwa 1600 Meter über den zusammengedrängten Häusern auf, und auf ihrem höchsten Gipfel waren die Schutzwälle der Hohensalzburg, der wuchtigen Festung, die im Mittelalter für die Erzbischöfe gebaut worden war, zu sehen.
Er hielt sich an Skilbecks Anweisungen und fuhr mit der Bergbahn zur Festung hinauf. Er hatte noch etwas Zeit und ging inmitten der Touristen auf der Terrasse, von der aus man einen Ausblick auf die Stadt hatte, spazieren. Kanonen auf schweren Eichenträgern waren durch die Zinnen auf die Stadt gerichtet. An einer Zinne war ein junger amerikanischer Soldat dabei, ein Foto von seiner Frau und seinem Baby zu machen, das sich in dem Moment, als er den Auslöser drückte, übergab. »Ach, mein Goott«, klagte die Mutter in langgezogenem Texanisch. »Das ist wirklich ein Jammer – ein Foto davon. Hast du ein paar Tücher bei dir?« Cable trank ein Bier und betrachtete die Stadt, die sich unter ihm ausbreitete. Sie drängte sich um den Dom mit seiner grünen Bronzekuppel. Das Durcheinander von weiß- und rosagetünchten Häusern mit roten Ziegeldächern und die weniger hohen Kirchtürme ließen sie wie eine Stadt aus der italienischen Renaissance anmuten. Gelbe Straßenbahnen fuhren langsam um die Flußkrümmung, und Cable konnte über den Verkehrslärm hinweg das Tripptrapp von Pferdehufen vernehmen. Diese Pferde zogen Fiaker mit Touristen zum Domplatz, auf dessen Pflaster für die Schachspieler ein großes Schachbrett aufgezeichnet war. Das Mißverhältnis ließ ihn beinahe lächeln. Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte er bitter: daß ich mit einer Horde von Touristen auf der Festung herumlungere, während ich mich mit dem Sicherheitsdienst in London unterhalten sollte, bevor man mir die Handschellen anlegt… und er schloß die Augen, als ob er einen physischen Schmerz verspürte.
Die Konferenz fand in der Nonberggasse, die sich hinter der Festung den Berg hinunterschlängelte, statt.
Zunächst führte die Straße durch einen Wald, dann kamen an den Hang gebaute Häuser, die die Ebene und die hohen Gipfel überblickten. Nummer dreizehn war ein graues Steingebäude mit einem steilen Dach; es gab keine Fenster zur Straße. Cable klopfte, und Skilbeck öffnete die Tür sofort und führte ihn in einen sonnigen Innenhof. Zwei Männer, die trotz ihrer Aufmachung in Jeans und T-Shirt offensichtlich Soldaten waren, standen mit Armalit-Gewehren Wache. »Nicht schlecht für ein Sicherheitshaus«, sagte Cable brummig, um zu betonen, daß er ein Recht hatte, hier zu sein, was auch immer sein Kollege denken mochte. Skilbeck schien keinen Groll gegen ihn zu hegen. Er lächelte abwesend. »Eine der schönsten Aussichten in Österreich. Wenn ich mich zur Ruhe setze, werde ich mich um dieses bemühen.« »Heißt das, daß hier tatsächlich jemand wohnt?« »Natürlich. Wie sollen wir es denn sonst sicher halten? Er ist ein Österreicher, der während des ganzen Krieges gekämpft hat – unter unserem Kommando, meine ich. Seine Frau ist aus Nordengland, aus Yorkshire. Sie wohnen hier seit der Besatzung, seit 1947.« Sie saßen um einen Eßtisch im Hinterzimmer gruppiert, und die Frau aus England servierte Kaffee, bevor sie die Tür hinter sich schloß. Außer den Engländern befanden sich dort ein Amerikaner, dem ins Gesicht geschrieben stand, daß er vom CIA war, und ein gutaussehender Pole mit welligen grauen Haaren und einem dichten Schnauzbart. »Ich bin Tadeuz Rozinski«, stellte er sich lächelnd vor. Skilbeck klopfte geschäftsmäßig auf den Tisch. »Guten Tag, meine Herren. Darf ich Ihnen zunächst einen Diplomaten, Mr. Cable, der sich seit heute in unserer Runde befindet, vorstellen? Und bevor wir ins Detail gehen, muß ich hinzufügen, daß die Vereinigten Staaten und Großbritannien
dieses Unternehmen nicht fördern, aber wir sind bereit, auf jegliche Weise Hilfe zu leisten, wenn es sich als erforderlich erweisen sollte.« Er wandte sich an den schnauzbärtigen Polen. »Es handelt sich hier eigentlich um Ihre Sache, Mr. Rozinski, und vielleicht sollten Sie uns selbst die Fakten darlegen.« Der Pole hatte eine tiefe, eindrucksvolle Stimme. »Ich danke Ihnen, daß Sie sich hier mit mir getroffen haben, meine Freunde. Wie manche von Ihnen wahrscheinlich schon wissen, war ich einer der ersten gewählten Führer von ›Solidarität‹, unserer freien Gewerkschaft in Polen. Ich war einmal Professor für politische Wirtschaftswissenschaften, aber als ich mit der Partei in Konflikt geriet, nachdem ›Solidarität‹ gegründet worden war, arbeitete ich plötzlich in einer Traktorenfabrik in der Nähe von Krakau.« Seine Augen blinzelten amüsiert. »Und es ist gut möglich, daß meine Arbeit als Monteur bei weitem produktiver war als das, was ich als marxistischer Wirtschaftswissenschaftler je erreicht habe.« Die Versammlung lachte höflich. »Auch in meiner neuen Arbeitsstelle wurde ich ständig von den leitenden Organen angegriffen; ich wurde zweimal festgenommen, aber nie ins Gefängnis geworfen. Als das Kriegsrecht verhängt wurde, waren viele meiner Kameraden in dem Glauben, daß ich erschossen werden würde, wenn wir vom Militär aufgegriffen würden – ich war viel weniger bekannt als unsere nationalen Führer wie Lech Walesa. Also ging ich in den Untergrund. Ich verließ Polen – Gott sei Dank mit meiner Familie – vor zwei Jahren auf illegale Weise.« Er machte eine dramatische Pause. »Und jetzt ist die Zeit gekommen, wieder zurückzukehren.« Cable sah auf. »Meinen Sie damit, daß Sie als eine Art westlicher Agent der Untergrundbewegung beitreten wollen?«
»Oh, nein«, dröhnte Rozinski mit lauter Stimme. »Ich kehre als Pole zurück, und das nicht allein. Wir kehren zurück, um zu kämpfen.« Cable dachte noch einmal nach und erinnerte sich an die tragischen Ströme von Flüchtlingen, die nach dem ungarischen Aufstand vor den russischen Panzern flohen, und an die Unterdrückung, die dem Prager Frühling folgte. »Um zu kämpfen?« fragte er. »Genau – und was die elenden Ungarn und Tschechen nicht geschafft haben, schaffen die Polen. Wir werden siegen!«
Nach der Konferenz nahm Cable Skilbecks Angebot, ihn nach Wien mitzunehmen an, und sie gingen den steilen Weg hinunter. Skilbecks Lancia stand weiter zwischen den Felsen, in deren Spalten Bergveilchen und Moos wuchsen. Cable bemerkte, daß die CD-Plakette abgenommen und der Wagen mit falschen Nummernschildern versehen worden war. Sie rasten schon über die Autobahn am Mondsee vorbei, bevor Cable etwas sagte. »Ist diese ganze Sache auch sauber, Paul?« »Was wollen Sie damit sagen?« Skilbeck sprach kurzangebunden, als ob ihn diese Frage überraschen würde. »Ich meine, ist es mit dieser Sache ernst? Will Rozinski wirklich mit weniger als dreißig Männern per Fallschirm in Polen landen und eine Art Aufstand erzeugen? Wenn das stimmt, bin ich der Meinung, daß ihr alle verrückt seid – ihr lebt doch nicht in den dreißiger Jahren.« »Natürlich ist diese Sache verdammt ernst. Sehen Sie mal, Bill« – Skilbecks Stimme war jetzt freundlich, aber heiser, was bedeutete – wie Cable aus Erfahrung wußte –, daß er entweder lügen oder sich hochnäsig benehmen würde. »Sie wollten wissen, was los ist – jetzt wissen Sie es. Aber stellen Sie mir,
um Gottes willen, keine Fragen über die Details. Andere haben über ein Jahr damit verbracht, alles auszuarbeiten.« Cables Gesicht rötete sich vor Zorn. »Ich versuche nur herauszufinden, ob das alles so verrückt ist, wie es klingt. Also wird sich alles so ereignen, wie Rozinski es beschrieben hat? Ich finde die ganze Idee, bewaffnete Männer hinter dem Eisernen Vorhang abspringen zu lassen, absurd – und gefährlich, wenn sie keinen Erfolg haben.« »Gefährlich? Für wen?« »Für uns. Für den Westen.« Das Auto überholte einen Lastwagen mit bulgarischen Nummernschildern, der einen schweren Hänger schleppte und eine Weile lang konzentrierte Skilbeck sich schweigend aufs Fahren. »Ja«, sagte er schließlich widerwillig. »Das könnte schon sein. Aber, Bill, Sie müssen verstehen, daß Rozinski und seine Freunde das ohne unsere Unterstützung unternehmen. Sie alle haben Polen mit dem festen Vorhaben verlassen, bewaffnet zurückzukehren und einen Aufstand zu erzeugen, wenn ›Solidarität‹ auf friedlichem Weg keinen Fortschritt machen würde. Seit die Gewerkschaft als ungesetzlich bezeichnet worden ist, sitzen die meisten ihrer Führer im Gefängnis. Das ganze Land befindet sich auf dem Siedepunkt – die Erklärung des Ausnahmezustandes hatte keine Wirkung. Das Essen ist knapp, und viele Krankenhäuser wurden geschlossen, weil so viele Ärzte und Krankenschwestern das Land verlassen haben – und es gibt eine Menge Leute, die zurückschlagen wollen. Rozinski hat vor, genügend Waffen für einen organisierten Aufstand mitzubringen – so wie in Ungarn im Jahre 1956.« »Genau das stört mich. Sind Sie alt genug, um sich an den Aufstand in Ungarn zu erinnern? Es war eine Tragödie. Zum Schluß überrollten die russischen Panzer buchstäblich alle.
Genauso wie sie es in der Tschechoslowakei taten, als die Regierung gemäßigter wurde.« »Na und? Wir haben die Ungarn nicht dazu gezwungen, einen Aufstand anzuzetteln – das war ihre Idee. Wir schicken Rozinski nicht zurück. Er würde auch dann nach Polen gehen, wenn er nur zwei klapprige Lee-Enfields hätte und lediglich einen Freund zum Mitmachen bewegen könnte. Die Amerikaner und wir versorgen sie mit einer vernünftigen Ausrüstung und Funkgeräten, damit sie wenigstens so etwas wie eine Chance haben. Schauen Sie mal, Bill« – er sprach jetzt langsam und deutlich wie zu einem zurückgebliebenen Kind – »es ist doch nichts Neues. Seit der Revolution im Jahre 1917 bedeuten die Sowjets für uns eine Gefahr, sie sind unser Feind. Und Rußland hatte schon immer Probleme mit den Satellitenstaaten, ganz zu schweigen von problematischen Gegenden innerhalb der Sowjetunion. Denken Sie mal an die Ukraine – seit dem letzten Krieg unterstützen wir die dortigen nationalistischen Bewegungen. Soviel ich weiß, haben wir das schon vorher getan.« Cable schnaufte verächtlich. »Das ist doch alles Operettenkram. Diese ukrainischen Nationalisten verstecken sich vor nichts, außer vor dem Gulag. Mein Gott, das klingt genauso wie diese verrückten Infiltrationen in Albanien während der vierziger Jahre, als Hunderte von Freiwilligen mit Fallschirmen herunterkamen, um Hoxha zu Fall zu bringen – und alle wurden von Philby verraten und erschossen.« »Mit den Satellitenstaaten verhält es sich anders«, erwiderte Skilbeck heftig. »Die Russen haben da ein echtes Problem – und das größte ist Polen, besonders wegen der Kirche. Der größte Teil der Bevölkerung – und auch der Armee – ist dafür, daß die Russen rausgeschmissen und die Kollaborateure erhängt werden.«
»Wollen Sie damit sagen, daß ein erfolgreicher Aufstand möglich ist und daß die Armee – die Armee, die den Kriegszustand verhängt hat – sich um hundertachtzig Grad dreht und die Russen bekämpft? Das wäre so jämmerlich wie der Versuch der Polen im Jahre 1939, mit ihrer Kavallerie die deutschen Panzer zu schlagen.« »Vielleicht, Bill, vielleicht. Aber sehen Sie mal, wenn Ihr Feind ein Problem hat, das ihn davon ablenkt, Sie zu verfolgen, dann versuchen Sie doch, es schwieriger für ihn zu machen, anstatt ihm die ganze Sache zu erleichtern. Also unterstützen wir alle – die Polen, die Afghanen, die Ukrainer, sogar die verdammten Marsmenschen – um es den Russen schwerzumachen. Vielleicht gelingt es Rozinski wirklich, eine Konterrevolution auf die Beine zu bringen – schließlich befindet er sich in einer ähnlichen Situation wie Lenin im Jahre 1917. Vielleicht sieht er sich auch vor dem Erschießungskommando. Aber eines sollten wir uns vor Augen halten, Bill.« Seine Stimme versuchte, den Motorenlärm zu übertönen. »Was auch immer geschieht, es bedeutet für London und Washington ein gutes Geschäft. Ich kümmere mich darum, daß er für ein bißchen Aufregung sorgt. Okay?« Cable lehnte sich in seinem Ledersitz zurück. »Weiß das arme Schwein, daß wir ihn so ausnutzen? Glauben Sie eigentlich daran, daß er auch nur eine geringe Chance hat?« »Wenn Sie mich so fragen – ja, das glaube ich, verdammt noch mal.« Skilbecks Stimme klang plötzlich schneidend. »Die Chance ist klein, sehr klein, aber es gibt heutzutage keinen Ort, an dem ein Aufstand eher entstehen könnte als in Polen. Das könnte Feuer fangen. Das glaube ich wirklich – und London und Washington sind der gleichen Meinung.« »Das möchte ich bezweifeln.«
»Jedenfalls sagen sie das.« Skilbecks Stimme klang plötzlich etwas niedergeschlagen. »Auf jeden Fall helfen wir ihnen, eine gute Show abzuziehen.« »Und wann soll das alles passieren – wann dringt Rozinskis private Armee ein? Und wie?« »Das brauchen Sie nicht zu wissen, Bill – jedenfalls noch nicht.« Cable blickte aus dem Autofenster; sie fuhren am Kloster Melk vorbei, dessen dunkelgelbe Mauern auf einem Felsvorsprung über der Donau kauerten. Er wollte schreien »Tut es nicht!«, aber dann hörte er seine eigene Stimme, die Stimme eines Fremden, gelassen sagen: »Ich glaube schon, Paul. Vielleicht sollten Sie sich darum bemühen, daß ich über alles Bescheid weiß.« Er hatte den vierten Schritt getan. Skilbeck sah einen Moment lang von der Straße weg und warf Cable einen neugierigen Blick zu. Dann zuckte er mit den Schultern: »Okay.«
Budapest
Sarah war bewußtlos, als man die Zellentür öffnete. Zwei Wärterinnen zogen sie heraus und brachten sie in ein Verhörzimmer; ihre Haut fühlte sich kalt und feucht an. Sie schüttelten sie, bis sie die Augen öffnete, hüllten sie in eine Decke und riefen wieder den älteren Beamten mit den weißen Haaren herein. Dieses Mal machte er keinen Versuch, onkelhaft zu erscheinen, und sprach kurz angebunden. »Hier ist Ihre Aussage. Unterschreiben Sie sie.« Er schob ihr über den Tisch ein Blatt Papier und einen Stift zu. »Nein.« Sie hatte ungeheure Angst, aber sie wehrte sich dagegen, sie zu zeigen. »Wollen Sie zurück in die Stahlkammer zurück und erfrieren?« »Ich unterschreibe kein Dokument, in dem steht, daß ich eine Drogenschmugglerin bin.« Ihre Stimme zitterte, aber sie zwang sich dazu, die Worte auszusprechen. »Es stimmt nicht. Ich bestehe darauf, den Konsul der britischen Botschaft zu sehen.« »Sie sehen niemanden, bevor Sie nicht dieses Schriftstück unterzeichnet haben.« »Mein Vater ist Diplomat.« Jetzt schluchzte sie. »Ich unterzeichne nichts, womit Sie ihn unter Druck setzen können.« »Sie wären gut beraten, zu tun, was ich Ihnen sage, Miss Cable.« Er schlug drohend mit der Faust auf den Tisch. »Wenn Sie nicht gehorchen, zieht das ganz sicher ein paar schlimme Konsequenzen nach sich.«
»Sie haben kein Recht, mich hier festzuhalten.« Sie schluckte ihre Tränen herunter, und ihre Hände zitterten. »Unterschreiben Sie!« »Nein – ich habe schon einmal nein gesagt!« Ihre Stimme ging in Kreischen über. »Sie können sich Ihre Aussage sonst wo hinstecken. Soll ich Ihnen sagen, wo?« Seine Gesichtszüge veränderten sich, und er machte eine Bewegung, als ob er sie schlagen wolle. Sarah hatte schreckliche Angst, aber sie fühlte, daß sie standhaft sein konnte und daß er bei dem Versuch, sie einzuschüchtern, gescheitert war, wofür er später einmal Rechenschaft ablegen mußte. Dann stand er plötzlich auf. »Nun gut.« Er spie diese Worte beinahe aus und verließ das Zimmer. Zunächst war sie überrascht, dann empfand sie überwältigende Erleichterung; sie hatte erwartet, stundenlang bearbeitet oder vielleicht geschlagen und in die Stahlzelle zurückgebracht zu werden. Dann tippte sie eine der Wärterinnen auf die Schulter, und ihr wurde plötzlich schlecht bei dem Gedanken, was als nächstes passieren würde. Die Frau warf ihr ein Kleiderbündel zu. Dieses Mal handelte es sich nicht um ein hübsches Kleid, sondern um Hosen und eine schwarze Jacke aus einem dünnen, kratzigen Stoff. Sie ärgerte sich, daß, während sie die Decke fallen ließ und sich anzog, die beiden Frauen sie pausenlos beobachteten. Aber sie versuchte, sie zu ignorieren, und zog schnell die scheußlichen Kleider an. Die Schuhe, die sich in dem Bündel befanden, waren ihre eigenen, die sie am Neusiedler See getragen hatte. Nachdem sie sich angezogen hatte, brachten die Wärterinnen sie in einem Aufzug zu einer Garage im Untergeschoß, wo schon ein Gefangenenwagen wartete. Eine der Frauen lächelte sie an; wahrscheinlich versuchte sie, freundlich zu sein, aber ein hervorstehender, mit Plomben gefüllter Zahn ließ ihr
Lächeln häßlich und beinahe teuflisch erscheinen. »Sie haben eine lange Reise vor sich«, sagte sie in gutem Englisch. Sarah warf einen Blick auf den Lieferwagen – er war schwarz angestrichen, und sie vermutete, daß es sich um das handelte, was die Russen einen »tschorni woron«, einen schwarzen Raben, nannten. Und wenn sie eine lange Reise vor sich hatte, konnte das nur bedeuten, daß sie weiter in den Osten gebracht wurde. Sie wich zurück, als man sie zwei anderen Wärtern, die asiatische Gesichtszüge hatten und nach Knoblauch rochen, übergab, aber sie ließ sich in den Wagen und die enge Stahlzelle an der Seite verfrachten. Sie kauerte sich auf den Metallsitz, und dann wurden die Türen zugeschlagen. Der Motor wurde angelassen, und Sarah spürte, daß der Wagen die Rampe hochfuhr. Sie starrte mit unbewegtem Gesicht auf die Stahltür; und plötzlich war sie wieder ein Kind, verletzlich und verängstigt. Sie ließ den Kopf sinken und begann leise zu weinen.
In Wien freute Cable sich darüber, eine weitere Ansichtskarte von Sarah in seinem Briefkasten zu finden. Sie zeigte Yachten, die über den Neusiedler See jagten, und war vor drei Tagen abgeschickt worden. In der Botschaft führte Skilbeck ihn in den kleinen Sicherheitsraum, wo er eine Akte öffnete. »Ich kann Ihnen jetzt etwas mehr über die Sache sagen, Bill. Bitte keine Notizen machen – aber das wissen Sie ja alles von früher.« »Ja natürlich.« Cable versuchte lässig und als ein wenig desinteressiert zu erscheinen. »Die Operation trägt den Codenamen PIRANHA. Rozinski wollte sie SOBIESKI nennen…« »Mein Gott«, murmelte Cable.
»… nach Jan Sobieski, dem König von Polen, der, wie sie bestimmt wissen«, lächelte Skilbeck süffisant, »Wien im Jahre 1683 von der Besetzung durch die Türken befreite. Rozinski fand die Idee, daß dreihundert Jahre später Männer aus Wien Polen befreien sollen, anscheinend gut.« »Diese ganze verdammte Sache klingt immer mehr wie eine Operette.« »Darüber scheiden sich die Meinungen, Bill – und nach der Ihren wird nicht gefragt.« Er machte eine plötzliche Pause. »Nun – was wollen Sie sonst noch wissen?« »Was auch immer Sie mir anvertrauen wollen. Wie groß, zum Beispiel, ist die Befugnis Rozinskis?« »Rozinski ist, wie er schon erwähnt hat, ein früherer Führer von ›Solidarität‹. Er gehörte immer zu denjenigen, die einen gewaltsamen Vorstoß machen wollten, und er entkam, als der Kriegszustand proklamiert wurde. Seitdem lebt er in Paris und schmiedet Pläne, zurückzukehren und sich mit einer gleichgesinnten Gruppe zu umgeben.« »Wie groß ist diese Gruppe?« »Achtundzwanzig Männer, unter denen sich einige Berufssoldaten befinden, die sich während der letzten zwei Jahre abgesetzt haben.« »Und wie, um Himmels willen, möchte Rozinski mit achtundzwanzig Männern einen Aufstand organisieren?« »Das möchte er ja gar nicht, Bill. Er hat vier Quellen. Erstens, Geld – er und seine Leute haben eine Menge, hauptsächlich von den polnischen Gemeinschaften in Amerika, gesammelt. Zweitens, Waffen – sie verfügen über riesige Lager an Maschinengewehren, Granaten, Panzerfäusten und ähnlichen Sachen, die bereits nach Polen geschmuggelt wurden. Sie sind gut versteckt und reichen aus, um ein- oder zweitausend Männer mit Waffen zu versorgen. Vielleicht sogar mehr. Drittens, hat er hier Männer, die in kleinen Gruppen
arbeiten, die nach Vereinbarung gewalttätige Aufstände anzetteln.« »Und viertens?« »Mut – und die Tatsache, daß es sich um Polen handelt. Ein katholisches Land, in dem die Russen verhaßt sind. Es wird nur von einer der Regierung nicht unbedingt loyalen Armee und diesem Schweinehund Jaruzelski regiert. Das ganze Land ist so knochentrocken, daß schon ein bißchen Ärger ausreicht.« Cable seufzte. »Und was will man mit diesen plötzlichen Gewalttätigkeiten erreichen? Glauben Sie wirklich, daß Rozinski es fertigbringt, die Rote Armee nach Rußland zurückzuschicken und eine neue, demokratische Regierung in Warschau aufzubauen?« »Nein, Bill, das wäre wohl etwas zu optimistisch gesehen. Wie ich Ihnen schon gestern sagte – er möchte etwas Aufruhr bereiten, um den Rest der Welt daran zu erinnern, welche Hundesöhne in Moskau an der Macht sind. Das genügt schon. Vielleicht hat es wirklich irgendwelche Auswirkungen. Vielleicht gibt es wirklich einen Aufstand. Aber das weiß ich nicht.« »Und wie können wir helfen, wenn es wirklich zu einem Aufstand kommt?« »Wir?« »Der Westen – die Amerikaner, die NATO, die Europäische Gemeinschaft.« »Davon hat niemand etwas erwähnt, mein Guter – ich bin nur ein kleines Rad in der ganzen Maschinerie. Da Sie jetzt dabei sind, erzählt man Ihnen vielleicht mehr – schließlich sind Sie ein Diplomat.« Er lächelte freudlos und ironisch. »Sie wissen ganz genau, daß niemand auch nur einen Finger krumm machen würde, um ihnen zu helfen. Ganz egal, ob Rozinski und seine Leute Erfolg haben oder nicht, wir können sie vergessen, oder nicht?«
Skilbeck nickte mit gespieltem Ernst. »Das könnte gut möglich sein, Bill. Könnte gut möglich sein.« »Und was hat Kardos vor? Sein Name wurde erwähnt. Was hat er denn mit der ganzen Sache zu schaffen?« »Er hat damit eigentlich nur am Rande zu tun. Mir wurde klargemacht, daß viele Priester in Polen in der ›Solidarität‹ tätig sind. Natürlich nicht die gesamte Kirchenhierarchie – jedenfalls, soweit ich das weiß –, sondern vereinzelte Priester, denen die Russen verhaßt sind. Sie verschaffen Rozinskis Männern Sicherheitshäuser, in denen sie sich verstecken können und in denen sich zum Teil Funksprechgeräte zur Kommunikation befinden – ich bin mir sicher, daß über den Vatikan schon chiffrierte Nachrichten sozusagen im Diplomatengepäck weitergegeben worden sind.« »Und Kardos?« »Er ist der Verbindungsmann für die Geistlichen in Polen, sonst nichts. Er hat mit der Planung nichts zu tun. Wir kämen nie auf die Idee, ihn zu einer Konferenz wie der gestrigen einzuladen, und er hat auch keine Ahnung von den Details. Er ist uns lediglich bei der Verständigung behilflich.« »Weiß der Vatikan über Kardos’ Machenschaften Bescheid?« »Ich glaube nicht, obwohl ich manchmal meine Zweifel habe.« »Er ist doch gar kein Pole – warum beschäftigt er sich mit dem ganzen Kram? Wenn der Vatikan das herausfindet, kann er für den Rest seines Lebens klösterliche Toiletten reinigen.« »Wie ich schon sagte, Bill, ich kann ein offizielles Engagement der Kirche nicht ausschließen, obwohl mir niemand etwas in dieser Art angedeutet hat. Auf jeden Fall ist unser Lazslo entschieden antikommunistisch eingestellt – wie Sie wissen, wurde er in den fünfziger Jahren, bevor er aus Ungarn floh, eingesperrt und gefoltert. Ich verstehe genau, warum er sich für die Sache einsetzt.«
»Ist schon möglich. Wo befinden sich Rozinskis Leute im Moment? Wann haben sie vor, in Polen einzudringen?« »Der genaue Zeitpunkt ist mir auch noch nicht bekannt, und selbst wenn ich die Information bekomme, kann ich Sie Ihnen nicht ohne eine spezielle Erlaubnis geben.« »Aber die haben Sie doch hoffentlich beantragt?« »Ja, das habe ich.« In Skilbecks Augen zeigte sich Ärger, und sein Unterkiefer versteifte sich. »Und Rozinskis Leute?« »Das weiß ich doch auch nicht. Ich glaube, sie befinden sich in Zweiergruppen in der Umgebung von Wien verteilt. Bis vor zwei Wochen trainierten sie noch zusammen in einem unbenutzten Armeelager in Frankreich, aber ich glaube, daß sie jetzt unterwegs sind, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Rozinski kann man durch einen Kanonikus im Kloster Neuburg, der Abtei im Norden der Stadt, erreichen.« »Wo treffen Sie sich mit Rozinski normalerweise?« »In der Abtei im Kloster Neuburg. Ich glaube, daß er sich dort oft mit ein oder zwei anderen aufhält. Es ist groß, für öffentliche Besuche meistens geschlossen und hat eine hohe Mauer, deshalb eignet es sich ganz besonders gut. Bill, übrigens habe ich Ihnen alles erzählt, was Sie wissen müssen – eigentlich mehr, als Sie wissen sollten –, also wollen wir es doch dabei belassen, oder nicht?« Cable stand langsam auf und klopfte an die verschlossene Tür, um die Sicherheitsbeamten wissen zu lassen, daß er hinausgehen wollte. »Das hat mir schön sehr geholfen.« Skilbeck sah ihn neugierig an und war dabei, etwas zu sagen, aber dann schüttelte er den Kopf und verließ schweigend das Zimmer.
Der schwarze Zil fuhr über den Roten Platz, seine Reifen rumpelten über das Kopfsteinpflaster. Nadja Kirow saß
zusammengekauert auf dem ledernen Rücksitz, denn es war ein kalter Herbsttag und das Auto hatte sich auf der kurzen Fahrt vom Dzerschinski-Platz noch nicht aufgewärmt. Draußen war blauer Himmel und frische, kalte Luft, das Sonnenlicht spielte auf den roten und goldenen Kuppeln des Domes des Heiligen Basilius, und die übliche Schlange näherte sich dem häßlichen Porphyr- und Granitblock des Grabes Lenins. Ein Hochzeitspaar – die Frau trug noch immer ihr langes, weißes Kleid – ging, wie es Tradition war, zwischen den Kiefern an der Kremlmauer spazieren, während Verwandte Fotos machten. Als das Auto am Totenkopfplatz mit seiner runden Steinplatte, die einst ein zaristischer Hinrichtungsplatz gewesen war, angekommen war, widmete Nadja Kirow sich wieder ihren Akten. Sie schenkte den grauuniformierten Militärposten, die ihre Waffen präsentierten, als sie durch das Spassky-Tor fuhren, keinen Blick und schien in Gedanken verloren, bis der Wagen plötzlich außerhalb des Ministerratsgebäudes anhielt, von dessen niedriger Kuppel in der Mitte eine rote Flagge flatterte. Die Generalin schritt über die gelben Kieselsteine durch die Glastüren, wo ein Kremlwächter ihre Ausweispapiere überprüfte; selbst ein hochrangiger KGB-Beamter kam hier nicht ohne Sicherheitscheck durch. Sie war immer noch in Gedanken, als sie den Aufzug zum dritten Stock nahm und den hochwandigen Korridor mit den Kristallüstern durchschritt. Die Konferenz würde sich als schwierig erweisen, weil es niemanden gab, der sie unterstützte. Wie so oft würde sie allein kämpfen müssen. Sie war der letzte Ankömmling. Der Außenminister saß schon mit ernstem bleichen Gesicht in einem gutgeschnittenen, grauen Anzug und dunkler Krawatte am Ende des Tisches. Nadja hatte sich schon oft Gedanken darüber gemacht, ob er
schon in frühen Jahren dieses zurückhaltende Grau bevorzugt hatte. Auf einer Seite des Tisches saß Michaelow mit zwei Männern vom Außenministerium, auf der anderen Seite Malinowsky, dessen Marschallsuniform mit goldenen Epauletten und Orden bedeckt war, neben zwei Militärberatern. Malinowsky war ein bärenstarker Mann mit breiten, slawischen Gesichtszügen, einem kahlen Kopf, und sein Atem roch meistens nach teuren kubanischen Zigarren. Die Generalin war immer aufgebracht, wenn er in voller Uniform erschien, um sie in ihrem adretten, blauen Tweedkostüm wie eine Hausfrau aussehen zu lassen. Die beiden Militärberater wurden von einem Sekretär, einem peniblen jungen Mann aus Gromykos Ministerium, angewiesen, den Raum zu verlassen, und dann klopfte der Außenminister auf den Tisch. »Die 48. Konferenz des Komitees G für außenpolitische Angelegenheiten ist hiermit eröffnet.« Wie es bei Konferenzen in diesem Gebäude üblich war, wurde ihr Verlauf in einem Technikerraum am Ende des Korridors aufgenommen; eine ähnliche Prozedur war schon in Stalins Zeiten durchgeführt worden. Der Techniker, der an diesem Morgen Dienst hatte, war ein gutaussehender, etwa dreißigjähriger Mann. Vor zehn Jahren hatte man Anatoly Gretschko die Erlaubnis gegeben, an einer Konferenz für Elektroingenieure in San Francisco teilzunehmen, was für loyale Parteimitglieder, die eine Vertrauensposition einnahmen, ein besonderes Privileg bedeutete. Aber seine Homosexualität, die er in seinem eigenen Land immer zu verbergen gewußt hatte, hatte dazu geführt, daß er in einer Bar einen Freier gefunden hatte; er erlebte eine Nacht voller Lust und Freiheit, wie er sie nie zuvor gekannt hatte; und später wurde er zu einem Gespräch mit zwei knallharten Männern vom FBI, die ihm eine Reihe erschreckend eindeutiger Fotos
von ihm und seinem Freund der Nacht vorlegten, eingeladen. Nach dem Gespräch war Gretschko so durcheinander gewesen, daß er nie auf die Idee gekommen wäre, nicht nach Moskau, in seine Wohnung, zu seiner gutbezahlten Stellung und seinen wenigen wirklichen Freunden zurückzukehren. Am vorigen Abend hatte ihm eine junge Frau von der amerikanischen Botschaft eine Liste der erwünschten Informationen dieser Woche gegeben. Ein Wunsch lautete: »Alles, was mit N. A. Kirow zu tun hat.« Während sich also die Konferenz am anderen Ende des Korridors hinzog, lief ein zweites Band auf einer Spule neben der, die die offizielle Aufzeichnung machte. Später würde er sie in die Tasche stecken und in den Mülleimer im Souterrain werfen; man erwartete von ihm nicht, daß er sie durch die Wachposten des Kremls schmuggelte. Er hatte keine Ahnung, wie die Amerikaner diese Bänder aus dem Müll fischten, aber irgendwie gelang es ihnen immer.
In dieser Nacht lag Cable neben Naomi und hörte ihrem regelmäßigen Atmen zu; er selbst konnte nicht schlafen, denn er dachte immer wieder über sein Problem nach. Er hatte einen weiteren Abend verbracht, ohne eine Entscheidung getroffen zu haben, und hatte nach dem Abendessen viel zuviel Cognac getrunken. Er wußte genau, daß er sich, indem er die Annäherung der Sowjets geheimhielt, eine gefährliche Blöße gab. Er hatte drei Tage vergehen lassen, ohne etwas zu seinem eigenen Schutz zu unternehmen, weil er es einfach nicht ertragen konnte, daß die Anschuldigungen aus dem Jahre 1972 und sein unwürdiges Dasein, das von unausgesprochenem Mißtrauen und Verdacht bestimmt worden war, wieder heraufbeschworen werden sollten.
Bis zum heutigen Tage konnte er seine Lüge dem Untersuchungsausschuß nicht erklären. Er hatte in Vietnam nichts getan, wofür er sich schämen mußte – ganz im Gegenteil, er hatte großen Mut bewiesen –, warum, zum Teufel, hatte er sich also von diesem Giftzwerg Stuart dazu bewegen lassen, zu lügen? Aber jetzt war es zu spät; Golitsyn war tot, und die Tatsache bestand, daß er gelogen hatte. Wenn Cable zugäbe, daß er nach dreizehn Jahren erpreßt wurde, wäre die Schlußfolgerung ganz offensichtlich. Wenn er sich »richtig« verhielt, würde er sofort in Ungnade fallen – ganz zu schweigen von einem Verfahren über die Verletzung der gesetzlichen Schweigepflicht. Er würde mit Sicherheit im Gefängnis landen. Das könnte er ertragen, aber Sarah, das arme Kind, hatte das nicht verdient. Er scheute sich vor seinem eigenen Zugeständnis, das er machte, indem er systematisch mehr und mehr über Skilbecks Operation erfahren wollte, wobei er sich im Unterbewußtsein auf Verrat vorbereitete… wenn es sieben Schritte zum Verrat gab, hatte er schon fünf getan. Er fiel in einen unruhigen Schlaf.
Wien
Der nächste Morgen war klar, und als Cable aufwachte, war das ganze Zimmer von Sonnenschein erfüllt. Naomi stand nackt am Fenster. Plötzlich hob sie ihre Hände, die sie vorher auf ihre muskulösen Hinterbacken gestützt hatte, und machte sechs schnelle Beugen, wobei ihre Finger ihre Fußspitzen berührten. Dann stand sie wieder aufrecht und neigte ihren Oberkörper abwechselnd nach rechts und links, wobei sie ihre Hände an ihren Hüften und Knien heruntergleiten ließ. Er lachte. »Was machst du denn da?« Sie drehte sich um, errötete und lachte mit ihm. »Nur ein paar Übungen, die man mir vor vielen Jahren in der Armee beigebracht hat.« Sie griff nach ihrem Morgenrock und zog ihn an. »Aber ich kann die nicht machen, wenn ich dabei beobachtet werde – das ist ja geradezu obszön! Ich koche lieber Kaffee; und dann, Bill, führe ich dich aus, einen ganzen Tag lang. Du hast offensichtlich eine Menge Sorgen, und du brauchst eine Pause.« »Aber, Liebling, ich kann mir nicht einfach so einen Tag freinehmen.« »Es ist Samstag, Bill. Die Botschaft ist am Wochenende geschlossen. Weißt du das nicht?« Er schüttelte verwirrt den Kopf und fuhr sich mit den Fingern durch seine ergrauenden Haare. »Habe ich tatsächlich vergessen.« Sie fuhren in seinem Auto los, einem grünen Volvo, den er vor einem Jahr steuerfrei – da er Diplomatenstatus hatte – gekauft hatte, aber diesmal saß Naomi am Steuer. Sie kümmerte sich nicht darum, daß er schlechtgelaunt war, nichts
sagte und die vorübergleitende Landschaft nur abwesend betrachtete. Er war nervös und wäre mit seinen Problemen lieber allein gewesen, aber während sie auf die Donau zufuhr, fühlte er sich langsam etwas entspannter. Innerhalb einer Stunde befanden sie sich bereits auf der Donau-Uferstraße, die sich in dem v-förmigen Tal der Wachau am Fluß entlangschlängelte. Auf beiden Seiten ragten steile, grüne Hügel auf, deren untere Partien aus Weinbergen bestanden; auf den Gipfeln thronten Kirchen und Burgen. Das Tal war so schön, daß es wie aus einem Märchen gegriffen schien. In Dürnstein machten sie eine Pause, und Naomi brachte Bill dazu, in der Sonne schwitzend, einen steilen Pfad zu den Ruinen der Burg, in der Richard Löwenherz einst gefangengehalten worden war, hinaufzuklettern. Danach fuhren sie weiter die Donau entlang zu einem Städtchen, in dem sie in einem Gasthof mit Ausblick auf den Fluß Rast machten. Cable war noch viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um Hungergefühle zu verspüren, also aßen sie nur panierte Champignons und tranken ein Viertel Kremser Weißwein. Er starrte auf ein Schleppboot, das drei lange, schwer beladene Frachtkähne langsam stromaufwärts zog und dabei gegen die starke Strömung ankämpfte. Naomi machte von Zeit zu Zeit eine Bemerkung, wobei sie mit Absicht die Tatsache, daß er schon den ganzen Morgen lang mürrisch und still gewesen war, ignorierte. Sie saßen draußen in der Sonne. Naomi trug Jeans und ein kariertes Hemd mit kurzen Ärmeln. Sie hatte ihre nackten, gebräunten Vorderarme, die ihre Muskeln zeigten, auf den Tisch gestützt. Er dachte darüber nach, daß nicht nur ihr Körper stark war. Selbst dann, wenn sie das kleine Mädchen spielte, das mit seinem geheimnisvollen Lächeln zu ihm hochsah, wenn sie sich liebten, hatte er das Gefühl, daß ein Teil der intensiven Kraft, die er in sich
verspürte, von ihr erzeugt wurde; und auch in Momenten wie diesen, als er sich total erschöpft fühlte, übertrug sich ihre innere Stärke auf ihn wie eine Bluttransfusion. Sie holte eine Landkarte aus ihrer Tasche und breitete sie auf dem Tisch aus. »Was würdest du jetzt gerne unternehmen, Bill? Sollen wir weiter das Tal herauffahren?« Sie sah plötzlich verwirrt aus. »Obwohl ich eigentlich keine Ahnung habe, wo wir sind.« »Das werden wir schon erfahren.« Cable rief den Wirt und fragte ihn auf deutsch, wo sie sich befänden. »Sie sind in Mauthausen.« Naomi zuckte zusammen, und der Mann ging wieder hinter die Theke zurück, um weiter seine Gläser zu polieren. »Mauthausen«, flüsterte sie. »Oh, Bill, ich wollte schon immer hierherkommen; mein Vater war hier im Konzentrationslager.« »Das hast du mir nie gesagt«, erwiderte Cable leise. »Das Lager besteht natürlich noch – es wurde als eine Art Museum erhalten. Möchtest du es sehen?« Sie zögerte. »Ich bin mir nicht sicher, ob heute der richtige Tag dafür ist… vielleicht ein andermal.« »Unsinn. Wenn es dir etwas bedeutet, möchte ich bei dir sein.« Sie erkundigten sich bei dem Wirt nach der Richtung. Es schien ihm nicht allzu sehr zu gefallen, über den berüchtigtsten Ort der Stadt Bescheid geben zu müssen, aber er gab ihnen die gewünschte Auskunft. »Folgen Sie ganz einfach den Schildern zum Konzentrationslager – darauf steht KZ Mauthausen.« Er verzog das Gesicht. »Sie können es nicht verfehlen – da oben gibt es nämlich sonst nichts.« Der erste Blick auf das Lager bereitete ihnen einen Schock. Sie waren, wie es ihnen erschien, eine kilometerlange Serpentinenstraße durch die dunklen Wälder – die Sonne ging
langsam unter – heraufgefahren und wurden plötzlich mit den massiven Steinmauern und schwarzen Wachtürmen des Lagers konfrontiert. Es war ein öder Ort, ein Hochplateau, von dem aus man den Steinbruch überblicken konnte, in dem die Gefangenen einst gearbeitet hatten. Der Wind heulte über die Ebene, und die Luft war wesentlich kälter als im Tal, in dem die Donau in der Dämmerung silbern glitzerte. Im Windschatten der hohen Steinmauer, die noch immer von den einst stromgeladenen Stacheldrahtrollen gekrönt war, fuhren sie bis zu dem ehemaligen SS-Parkplatz. Die Garagentore waren hellgrün gestrichen, und innerhalb der Mauer befand sich ein leeres Schwimmbecken. »Das war wohl für die Wachposten der SS bestimmt«, sagte Naomi. »Ich wüßte gern, ob das Becken beheizt war. Man hat nämlich im Winter die Gefangenen gezwungen, im Schnee zu stehen, und sie dann mit Schläuchen bespritzt.« Sie schauderte. Sie gingen die Steinstufen zum Eingangstor hinauf, dessen spitzes Dach mit den beiden Wachtürmen gegen den grauen Himmel ragte, und als sie hindurchschritten, umklammerte Naomi fest seine Hand. Cable zahlte dem Wärter, der sich in einem Häuschen neben den Toren vor der Kälte schützte, zwanzig Schilling Eintrittsgeld. Innerhalb des Lagers breitete sich der Exerzierplatz aus, rechts befanden sich Backstein- und Betongebäude – die Verwaltungsräume, das Lagergefängnis, die Gaskammern und das Krematorium. Auf der linken Seite standen reihenweise erstaunlich lange Holzhütten, deren hellgrüner Anstrich mit der Zeit verblichen war. Ihre Dächer waren mit zerfetzter Dachpappe bedeckt, aus der Lüftungsschächte herausragten, die wie Schornsteine aussahen. Sie schienen die einzigen Besucher zu sein und schritten schweigend durch das Lager, dessen grausame, schmutzige Atmosphäre sie bedrückte. In einer Hütte war die damalige
Einrichtung wieder aufgestellt worden – schmale Holzbetten, in denen zu Zeiten der Überfüllung bis zu sechs Gefangene zusammen schlafen mußten – leere Tische aus Fichtenholz, Blechtassen. Die Gaskammern waren halb in den Boden eingelassen; sie waren klein und wie Duschräume gekachelt. Nebenan befand sich das Backsteingebäude, das das Krematorium enthielt. Durch die verrosteten Gitter konnte man noch Asche und die stählernen Bahren, auf denen die. Körper transportiert wurden, erkennen. Die Außenwände des Krematoriums waren von Erinnerungsplaketten bedeckt, die in mehr als zehn Sprachen – serbisch, russisch, hebräisch bis englisch – verfaßt waren und bezeugten, wie viele Menschen aus verschiedenen Nationen nach Mauthausen geschickt worden waren, um dort zu sterben. Irgend jemand hatte eine Vase mit frischen Blumen auf den Betonboden gestellt. Auf der anderen Seite befand sich der Sezierraum, in dem sich ein leicht gesenkter Steintisch mit einer Rinne in der Mitte, die in einen Abfluß im Boden mündete, stand. »Darauf haben sie ihnen die Goldfüllungen herausgenommen«, murmelte Cable. Naomi erschauderte wieder. Dann gingen sie weiter zum Lagergefängnis, wo Naomi bei der Nummer Neun, dessen winziges, hochgelegenes Fenster im Wind hin- und herschwang, stehenblieb. »In dieser Zelle war mein Vater, das hat er mir erzählt«, sagte sie tonlos. »Er sollte hingerichtet werden, aber das Chaos zu Ende des Krieges rettete ihm das Leben.« Cable legte ihr den Arm um die Schultern, und ein paar Minuten lang standen sie schweigend da. Schließlich sagte er: »Ich kann mir nicht vorstellen, wie alles wirklich war. Dieser Ort ist jetzt total leer – ein Überbleibsel. Damals gab es stinkende Abflußrinnen, Hunger, Krankheit und so viele Qualen.«
Sie drückte seine Hand. »Bitte nicht. Ich bin Jüdin. Schon während meiner Kindheit hat man mir erzählt, was alles passiert ist – ich bin praktisch damit aufgewachsen –, es muß die Hölle gewesen sein. Armer, armer Vater. Arme Menschen.« Aber es waren nicht die Überreste des Lagers, die sie am meisten beeindruckten. In den Ruinen des Lagerkrankenhauses befand sich eine Art von Museum, das so viele Erinnerungen an die Qualen und an den Tod beherbergte, daß es einem fast den Atem nahm. Naomi blieb vor einem Foto, das eine Schlange von Gefangenen mit geschorenen Köpfen zeigte, stehen. Sie trugen Lumpen und quälten sich mit riesigen Granitblöcken, die sie in Körben auf ihren ausgezehrten Schultern trugen, den steilen Abhang des Steinbruchs, der »Treppe des Todes« benannt worden war, hinauf. Naomis Hände krallten sich in Cables Arm, als sie bei einer kleinen Sammlung von den zerrissenen Kleidern der Gefangenen ankamen: dünne, blau-weiß-gestreifte Anzüge, die keinen Schutz vor der Kälte boten, und die abgetragenen Schuhe und Sandalen mit Sohlen, die so dünn wie Papier waren. Irgendwie sagten diese Relikte viel mehr über das grausame Schicksal der Gefangenen aus als die Ausstellung von Peitschen und anderen Folterungsinstrumenten, an der sie vorher vorbeigegangen waren. »Oh, Bill«, flüsterte sie und auf ihren Wangen glitzerten Tränen. »Ich kann mir nicht mehr ansehen. Ich möchte gehen – bitte laß uns nach Hause fahren.«
Auf der Rückfahrt im Auto döste Cable und wachte gerade in dem Moment auf, in dem Naomi an seinem Haus in der Himmelstraße vorbeifuhr. »Wohin fahren wir denn?« fragte er gähnend. »Zu deiner Wohnung?«
»Nein – zu meinem Lieblingsgasthaus, Schübel-Auer in Nußdorf. Ich möchte nicht mehr an dieses verdammte Lager denken.« Man erreichte das Schübel-Auer durch einen Bogengang, der in einen kopfsteingepflasterten Hof führte. Das Gebäude war jahrhundertealt und aus Stein gebaut, und sie fanden einen Tisch in einem der weißgetünchten Räume mit Tonnengewölbe. Cable bestellte einen Liter »Alten« – den ein Jahr alten Wein – und besorge Schwarzbrot und Wurst von der Essenstheke. Er goß ihr ein Glas Rotwein und ein Glas Mineralwasser ein. »Du hast mir noch nie erzählt, daß dein Vater in Mauthausen war. Wie kam es dazu?« Sie zögerte, als ob sie darüber nicht gerne sprechen wollte. »Oh, er stammte aus einer jüdischen Österreich-ungarischen Familie – wie aus dem Namen Reichmann zu schließen ist, wohl eher aus einer österreichischen – und hatte eine Firma in Budapest und eine in Wien. Es war eine Art von Textilfirma, und ich weiß nur, daß er sie nicht mochte.« Sie zögerte wieder. »Als Hitler 1938 Österreich annektierte, arbeitete Vater in Budapest, aber die restliche Familie hielt sich in Wien auf. Sie wurden alle gefangengenommen und nach Treblinka gebracht, wo sie vergast wurden. Vater war in Budapest in Sicherheit, denn Ungarn gehörte zu den Alliierten Nazideutschlands, und ungarische Juden wurden in Ruhe gelassen. Aber er hatte es im Gefühl, daß sich das ändern würde – jedenfalls war er sowieso gegen die Nazis und die ungarischen Faschisten. Also begab er sich in die Wälder und schloß sich den Partisanen an. Wie du siehst, gab es sogar in Ungarn eine kleine Widerstandsbewegung.« Während sie weitersprach, hatte Cable seine Pfeife angezündet, und jetzt war Naomis Redefluß nicht mehr gehemmt. »Er tat sich mit einer Guerillagruppe zusammen, die
Sabotage bei den Alliierten unternahm, bis er 1944 gefangengenommen wurde. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Juden in Ungarn genauso wie alle anderen Juden im nazistischen Europa verfolgt, und Eichmann hielt sich persönlich in Budapest auf, um Massendeportationen nach Auschwitz zu organisieren. Aber zum gleichen Zeitpunkt gab es auch ein paar Leute, die versuchten, die Juden aus Ungarn zu retten – und das nicht nur, indem sie ein oder zwei versteckten; sie führten Verhandlungen mit den Nazis, die 1944 auch nicht mehr so mächtig waren. Es handelte sich um führende Zionisten wie Joel Brand – und natürlich den schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg. Das Resultat der ersten Verhandlung war, daß zweitausend Juden, die nach Auschwitz gebracht werden sollten, gegen ein enormes Lösegeld, das innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Budapests gesammelt wurde – Gold, Schmuck und ausländische Währungen –, in die Schweiz geschickt wurden. Natürlich bedeuteten zweitausend einen Tropfen auf den heißen Stein – es gab immer noch eine halbe Million ungarischer Juden, die nach Auschwitz oder in andere Lager kamen, um dort vergast zu werden. Aber dann wurden mit Hilfe einer jüdischen Agentur in der Schweiz größere Verhandlungen geführt. Achtzehntausend Juden für zehntausend Lastwagen für die Waffen-SS an der Ostfront und ein paar Tonnen Kaffee und Tee und Millionen Dosensuppen. Komisch, sein Leben so genau bezahlt zu sehen – ich würde gerne wissen, wie viele Dosen Suppe ich wert wäre.« Sie lachte bitter und trank einen großen Schluck Wein. »Die Juden in den Internierungslagern konnten frei wählen, wer entlassen werden sollte. Vater hat mir erzählt, daß es schrecklich war. Alle wußten inzwischen, daß Auschwitz ein Todeslager war, aus dem niemand lebend herauskam. Also erboten Eltern sich unter Tränen, dazubleiben, damit ihre
Kinder davonkämen, und verabschiedeten sich von ihnen in dem ganzen Dreck. Es war keine Zeit mehr, die Tragödien zu beweinen oder den Mut, den sie erwiesen, zu honorieren. Vater würde auch ausgewählt – ein Rabbi stimmte für ihn, weil er der Meinung war, daß die jüdische Rasse nach dem Krieg starke Männer bräuchte –, und dann fuhren sechs Züge mit Juden beladen nach Österreich. Irgendein SS-Mann machte sich an den Fahrplänen zu schaffen, so daß einer der sechs Züge doch nach Auschwitz fuhr – das war so ein ekelhafter Nazi-Scherz.« Sie lächelte bitter. »Ich habe keine Ahnung, ob Brand oder Wallenberg ihre Dosensuppen für diese Menschen jemals wiederbekommen haben. Jedenfalls befand Vater sich in einem der Züge, die nach Österreich fuhren. Dort wurde er in ein Arbeitslager gesteckt. Das war kein Zuckerlecken, das kannst du mir glauben – er mußte achtzehn Stunden am Tag in einer unterirdischen Fabrik, die Munition herstellte, arbeiten; aber jedenfalls war er noch am Leben. Dann hatte er Streit mit einem Kollegen – Juden streiten sich oft und gern, weißt du –, und der andere Mann verriet ihn und gab den SS-Wachposten Vaters wirkliche Identität preis, die er bisher verschwiegen hatte, und sagte ihnen, daß er ein Widerstandskämpfer gewesen sei. Nach allem, was er erlitten und dennoch überlebt hatte, schien das wie eine Art Ironie. Vater wurde nach Mauthausen verschleppt, um dort gehängt zu werden, aber nach der Niederlage Deutschlands im Winter hatte niemand mehr Interesse an ihm – und er floh ungefähr zu dem Zeitpunkt nach Budapest, als die Rote Armee Anfang des Jahres 1945 einmarschierte.« »Er floh?« »Nicht direkt; aber ich nehme an, daß die Kapos – die Gefangenen, die die anderen Gefangenen überwachten – zu
dem Zeitpunkt das Lager sozusagen in der Hand hatten, und es war nicht allzu schwierig, herauszukommen.« »Ich habe immer gedacht, daß die Kapos in den Konzentrationslagern eher kommunistisch als jüdisch gewesen seien.« »Wirklich?« Sie zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich nicht.« Ein paar Minuten lang hatte sie kaum geatmet – als ob sie sich in dem Stolz oder der Befreiung ihres Vaters verloren hätte – oder als ob sie die Geschichte ihres Vaters miterlebte. Aber plötzlich war sie wieder verschlossen, und Cable hatte Mühe, das unbehagliche Schweigen zu unterbrechen. »Und wann ging er nach Israel?« »Sofort danach – im Jahre 1945.« »Und deine Mutter?« »Sie trafen sich in Israel. Sie war auch aus Ungarn, aber sie begegneten sich erst in Haifa. Mutter ist vor ein paar Jahren gestorben – das habe ich dir erzählt, nicht?« »Ja, tut mir leid. Und was macht dein Vater jetzt?« »Vater…?« Ihre Stimme wurde heiser. »Oh, Bill, ich hatte nicht vor, dir diese ganzen Geschichten zu erzählen… laß uns nach Hause gehen.« Cable wußte, daß sie ihm alles erzählt hatte, was er hören sollte. Er fragte sich, warum sie plötzlich so zurückhaltend war, und blickte sie fragend an. Sie schien seine Gedanken zu lesen und kaute an ihrer Unterlippe. »Bill, ich möchte nicht ausweichen, ich habe nur keine Lust mehr, darüber zu sprechen. Vater war Soldat der israelischen Armee, das ist alles, bis er sich letztes Jahr in den Ruhestand versetzen ließ. Er lebt in Tel Aviv.« Sie machte eine plötzliche Pause. »Wir verstehen uns nicht mehr sehr gut.«
Sein Haus in der Himmelstraße war kalt, und Naomi schob Cable sanft zur Treppe. »Liebling, stell die Heizung oben an. Ich habe Dr. Sollinger von der Galerie versprochen, ihn anzurufen, bevor er zu Bett geht.« Ein paar Minuten später kam sie verärgert hinauf ins Schlafzimmer. »Verdammter Mist«, sagte sie. »Ich muß morgen arbeiten, obwohl Sonntag ist. Es tut mir leid.« Sie zog ihre Jeans aus und feuerte sie wütend in eine Ecke, aber als er sie in seine Arme schloß, wurden ihre Gesichtszüge sanft. »Diesen Tag werde ich nie vergessen«, flüsterte sie. »Umarme mich ganz fest, Bill…« Einen Moment lang waren ihre Augen feucht. »… weißt du, du strahlst so viel Sicherheit aus.« Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter, und zum ersten Mal fühlte er, daß die Distanz zwischen ihnen nicht mehr existierte. Etwas hatte sich geändert. Er hatte sich an ihren starken Körper und an die wunderbare, unerwartete Fraulichkeit, die dieser Körper in sich barg, gewöhnt; aber jetzt klammerten sie sich mit dem Gefühl intensiver Nähe und Abhängigkeit und Selbstverständlichkeit aneinander, das er zuvor noch nie erfahren hatte. Die Drohungen und Qualen seines anderen Lebens traten total in den Hintergrund. Im Bett schmiegte sie sich natürlich und ohne Hemmungen an ihn, während seine Finger die Gegend zwischen ihren Schenkeln erforschte. Sie seufzte und drehte ihm ihr Gesicht zu; ihre halbgeschlossenen Augen glänzten, und sie küßte ihn hungrig, ließ ihre Zunge in seinem Mund herumwandern. Dann begann ihr Körper sich im gleichen Rhythmus wie seiner zu bewegen, und als er in sie eindrang, öffneten ihre Augen sich plötzlich und strahlten auf. Viel später lag sie nackt auf ihm, und das Licht der kleinen Lampe verlieh ihrer Haut einen goldenen Schimmer. »Oh, Bill, ich habe mir schon immer gewünscht, mich so geborgen zu fühlen, wenn du mich liebst.« Sie lächelte ihn schief an. »Eine femme fatale bin ich mit
Sicherheit nicht.« Sie küßte ihn zärtlich auf die Stirn. »Ich brauche dich so sehr, Liebling… und diese Nacht war so wichtig für mich.«
Am Morgen wachte Cable auf, als die Grinzinger Glocken zur sonntäglichen Messe läuteten. Naomi war schon weg, und er setzte sich verwirrt auf. Dann sah er einen Zettel, der an die Nachttischlampe gelehnt war: »Hab’ dich nicht aufgeweckt – du hast so fest geschlafen. Ich ruf dich an, wenn ich wieder zurück bin. Ich liebe dich. N.« Er zog die Vorhänge zurück und wollte gerade zum Duschen gehen, als das Telefon läutete. Die Stimme eines unbekannten Mannes fragte: »Könnte ich bitte mit seiner Exzellenz sprechen?« Cable wunderte sich über die gespreizte, formale Redeweise. »Ja – ich bin selbst am Apparat.« »Ah, gut. Ich heiße Gordon – Sie haben sicherlich einen Anruf von mir erwartet?« »Wirklich? Haben Sie auch die richtige Nummer?« »O ja, ich habe die richtige Nummer.« Die Stimme klang spöttisch. »Golitsyn – Hanoi – 1971. Wissen Sie, wo das Strombad ist? Das Schwimmbad der Elektrizitätsarbeiter an der Donau in Kritzendorf?« Cables Gesicht war kreidebleich geworden. Er zwang sich dazu, eine Antwort zu geben. »Ich glaube, ja.« »Wir erwarten sie dort morgen um sechs Uhr früh. Keine Verspätung!« Dann wurde der Hörer aufgelegt, der Summton ertönte, und Cable starrte fassungslos auf den Hörer in seiner Hand. Jetzt war es also so weit, jetzt hatte er die Forderung erhalten, von der er sich erhofft hatte, daß sie nie kommen würde – der sechste Schritt. Wenn er diesen Schritt wagte, gab es kein Zurück mehr. Natürlich würde er hingehen, er hatte keine andere Wahl – aber danach blieb ihm nichts anderes
übrig, als die Sicherheitsbehörde zu verständigen; er hatte keine Zeit, länger mit sich zu ringen. Oder doch? Als er die Dusche aufdrehte, verspürte er Angst und war niedergeschlagen.
Fünf Tage zuvor hatte ein junger Geheimdienstbeamter in einem Backsteingebäude in einem Außenbezirk von Cheltenham die Computerausdrucke seiner in den Nächten abgehörten Nachrichten aussortiert. Während seiner achtstündigen Dienstzeit wurden Hunderte von diplomatischen und militärischen Berichten allein in Europa, durch Funk- und Satellitenstationen in Schottland und Westengland, von der Armee in Deutschland und der RAF Nimrods Luftwaffe durchgegeben. Es wurden allerdings nur die Nachrichten, dessen Schlüsselwort er vorher in den Computer eingegeben hatte, ausgedruckt. Bei einem kleinen Stück Papier im DIN A-4-Format hörte er auf zu blättern. Ein numerischer Verweis sagte ihm, daß ein Signal von einer Nimrod, die in der baltischen See patrouillierte, abgegeben worden war. Es schien ein sowjetisches Diplomatentelegramm von Wien nach Moskau zu sein, es war maschinegeschrieben und enthielt das Codewort »PIRANHA« auf russisch, aber nicht in kyrillischen Buchstaben, und die Klassifizierung, Absendedatum sowie den Briefkopf eines Abteilungsleiters im KGB. Der Text des Telegramms war in einem schwierigen Zifferncode abgefaßt, den der Computer nur zum Teil entschlüsseln konnte. Er machte sich Sorgen über dieses Telegramm, denn es war der erste Hinweis darauf, daß die andere Seite über die Operation »PIRANHA« Bescheid wußte, was auch immer das sein mochte. Er wußte nur, daß es sie gab, daß sie als »streng geheim« eingestuft wurde und daß sie mit Wien zu tun hatte.
Besonders beunruhigend war, daß der Text, den der Computer nicht dechiffrieren konnte, offensichtlich von einem Mann aus der britischen Botschaft verfaßt worden war. Oder vielleicht war die Nachricht nur von einer Quelle in der britischen Botschaft hinausgeschleust worden? Er versuchte auf die verschiedensten Arten, die russischen Buchstaben mit Zahlen in Verbindung zu bringen, die er auf einem karierten Block in Bleistift notierte. Schließlich schickte er das Stück Papier an seinen Vorgesetzten, der es an den Sicherheitsdienst des Auswärtigen Amtes weiterleitete und Kopien davon als Information für den Cut machte. Am Nachmittag dieses Tages wurde ein dick gefütterter, versiegelter Umschlag mit dem Stempel »streng geheim« in einen riesigen, dunkelgrün gestrichenen Lastwagen ohne Beschriftung, die hätte verraten können, daß es sich um ein Regierungsfahrzeug handelte, verladen, in dem sich schon Tausende von Paketen befanden. Er machte sich auf seine hundert Meilen lange Fahrt nach London. Wenn es einen Verräter gab, würde er in Kürze entlarvt werden. Den Sonntag verbrachte Cable allein und beschäftigte sich halbherzig damit, einen Bericht aufzusetzen, den er nach seinem Rendezvous in Kritzendorf abschicken wollte. Er spürte die Gefahr, die seine Verzögerung mit sich brachte, aber seine Entscheidung änderte sich von Stunde zu Stunde. Manchmal war er entschlossen, alles zuzugeben; dann wieder überkam ihn die Furcht vor den Konsequenzen, und er schwankte und dachte über seine Zukunft nach. Konnte er ihnen vielleicht geben, was sie wollten, ohne daß es Folgen für ihn hatte? Konnte er mit diesem Verrat auf seinem Gewissen leben? Am frühen Abend fiel ihm auf, daß Naomi sich nicht gemeldet hatte, und er rief bei ihr an, aber niemand hob den Hörer ab. Eine Stunde später hatte er sie immer noch nicht
erreicht. Was hatte sie gesagt? – »Ich muß etwas für die Galerie erledigen«…? Er wußte, daß der alte Dr. Sollinger, dem die Kunstgalerie gehörte, in einem Appartement über dem Laden wohnte. Vielleicht war er zu Hause; vielleicht war auch Naomi dort, um ihm zu helfen, Bilder für eine Ausstellung auszusuchen? Schließlich wählte er die Nummer der Galerie. Er erkannte die dünne, ältliche Stimme, die sich meldete. »Manfred Sollinger am Apparat.« »Grüß Gott, Herr Doktor. Ist Fräulein Reichmann bei Ihnen? Ich hätte gern mit ihr gesprochen.« »Aber nein. Wir haben Sonntag, und die Galerie ist geschlossen. Fräulein Reichmann ist nicht hier – sie ist erst am Dienstag morgen wieder an ihrem Arbeitsplatz.« »Aber ich dachte, daß sie heute mit Ihnen zusammen arbeitete.« »Da müssen Sie sich irren, mein Herr. Fräulein Reichmann hat sich ein paar Tage freigenommen. Ich weiß nicht, wo sie sich aufhält. Auf Wiedersehen, mein Herr.« Cable legte langsam den Hörer auf und ging zum Fenster hinüber, wobei seine Schritte in dem leeren Haus widerhallten. Während er in den dunklen Garten hinaussah, fühlte er, wie Verzweiflung in ihm wach wurde. Warum, um alles in der Welt, sollte Naomi ihn anlügen?
Wien
Es war noch dunkel, als Cable am Morgen um halb sechs sein Haus in der Himmelstraße verließ. Weil er von dem Sicherheitsbeamten am Eingangstor nicht gesehen werden wollte, hatte er am vorhergehenden Abend seinen Volvo an der Straße hinter dem Haus abgestellt. Er schlich sich durch den Hinterausgang zum rückwärtigen Tor. Er ging auf dem Rasen, weil seine Schritte auf dem Kiesweg zu laut gewesen wären. Er kam sich wie ein Dieb vor, und wieder empfand er Abscheu vor seiner eigenen Handlungsweise. Im Wagen beschlug sein warmer Atem die Windschutzscheibe, denn draußen war es bitterkalt; er wischte sie mit seinem Handschuh ab und machte die Handbremse los, so daß das Auto langsam die Straße durch die Weinberge hinunterrollte. Er hatte nur das Standlicht an. Als er außer Hörweite des Sicherheitsbeamten, der sein Haus bewachte, war, startete er den Motor und schaltete die Scheinwerfer an. Er fuhr nördlich durch den stockdunklen Wald die Haarnadelkurven der Straße über den Kahlenberg hinauf. Er war nervös und angespannt. Auf dem Gipfel des Hügels kam er an dem hohen Fernsehturm vorbei, dessen Silhouette sich in der Morgendämmerung klar gegen den grauen Himmel abzeichnete, und fuhr dann die steilen Serpentinen hinunter, die zum Kloster Neuburg führten. Im Zwielicht waren die beiden Türme und Kuppeln zu sehen, die hoch über den dunklen Gebäudetrakt ragten. Vielleicht schlief Rozinski dort gerade tief und fest – ohne zu wissen, daß er verraten werden würde.
Bill fuhr durch die engen, kopfsteingepflasterten Straßen der Stadt, die sich an die Wälle der Abtei schmiegte, und bog ab in Richtung Kritzendorf. Die Straße verlief parallel zur Donau, aber der Fluß befand sich etwa eineinhalb Kilometer entfernt, und die Aussicht wurde von Bäumen verdeckt. Er war noch nie in dieser Gegend gewesen, wußte aber, daß das Gebiet zwischen Straße und Fluß aus einer flachen Ebene mit Wäldern und Sumpfland bestand, durch die enge Wege zu hölzernen Ferienhäusern im traditionellen Stil führten. Im Sommer wurde diese Gegend von Wienern in ihrer Freizeit besucht, wenn die Mücken nicht zur Plage wurden; jetzt war sie verlassen. Nach ein paar Kilometern kam er im Dorf an und fuhr an einem Bauern vorbei, der zwei Kühe mit scheppernden Glocken durch die einsame Dorfstraße trieb. Kurz nach dem Bahnhof bog er rechts ab und rumpelte über einen Bahnübergang. Dann lenkte er das Auto über eine Holzbrücke – die Autoreifen donnerten dumpf auf den Holzplanken – durch ein Tor, über dem ein Schild mit abgeblätterten Buchstaben das »Strombad« anzeigte. Am Ende des Weges führte ein von zwei Holztürmen flankierter Torbogen zum Flußufer. Rechts befand sich eine Ansammlung von Cafés und Verkaufsständen, von denen die Farbe abblätterte und deren Fenster mit Läden verschlossen waren. Im Sommer war es hier wahrscheinlich ganz nett – jetzt mutete die Szenerie wie der Eingang zu Mauthausen an. Cable stieg aus dem Auto. Der Wind fegte durch die kahlen Bäume, der Parkplatz war leer, und es war empfindlich kalt. Das öde Grau der Morgendämmerung spiegelte sich in allem wider – graue Bäume, graue Gebäude, grauer Himmel –, nur das rote »Austria Tabak«-Schild und die weißen Baumstämme von vereinzelten Silberbirken brachten etwas Farbe in die Eintönigkeit. Er schritt durch den Torbogen; offensichtlich war
er nicht der einzige, den dieser Ort an ein Konzentrationslager erinnerte, denn irgend jemand hatte die Worte »Arbeit macht frei« an einen der Holztürme gesprüht. Am matschigen Ufer rauschten die schwarzen Wellen des Flusses vorbei, und auf der anderen Seite konnte er ein Zementwerk, das halb von Nebelschwaden eingehüllt war, erkennen. Es gab nicht das geringste Lebenszeichen. Er ging an den Reihen der trostlosen, schwarzgeteerten Umkleidekabinen vorbei, wobei er mit den Füßen auf den Boden stampfte, um sie warm zu halten. Nach zehn Minuten überkam ihn ein Gefühl der Hoffnung: Vielleicht würde niemand auftauchen. Dadurch, daß er überhaupt zum verabredeten Ort gekommen war, hatte er den gefährlichen sechsten Schritt unternommen, aber vielleicht war der Tag seines Verrats verschoben worden. Aber als er das Motorengeräusch eines sich nähernden Autos und die plötzliche Stille, nachdem der Motor abgestellt worden war, vernahm, verkrampfte er sich wieder. Ein paar Minuten später erschien die Gestalt eines Mannes unter dem Torbogen. Cables Magen machte einen Sprung, denn der Mann hatte kein Gesicht, aber dann sah er, daß er einen schwarzen Hut, eine schwarze Strumpfmaske und einen schwarzen Mantel trug. Der Mann machte eine einladende Bewegung. »Setzen Sie sich wieder in Ihr Auto, und fahren Sie uns nach.« Er sprach mit einem starken slawischen Akzent. Jetzt befand sich ein zweites Auto auf dem Parkplatz – ein unauffälliger Mercedes, an dem sich keine Diplomatenplaketten befanden. Cable ließ den Motor seines Wagens an, und der Mann setzte sich neben ihn. Er hatte eine Hand in seinem Mantel verborgen, als ob er dort eine Pistole hielte. Cable folgte dem Mercedes. Die beiden Autos fuhren nicht zur Hauptstraße zurück, sondern etwa zwanzig Minuten lang durch ein Labyrinth von sumpfigen Waldwegen. Niemand hätte sie verfolgen können, ohne gesehen oder gehört zu werden.
Schließlich hielten sie in einer Lichtung am Fluß, in der ein Holzhaus stand. Ein Fenster war erleuchtet. Vier Männer, die in dem Mercedes gefahren waren, nahmen Stellung um das Haus. Cables Begleiter wies ihn an, die Treppe zur Eingangstür hinaufzusteigen; das Sommerhaus war auf etwa fünf Meter hohen Pfählen erbaut worden, um den Hochwasserfluten der Donau zu entgehen. Im Inneren befanden sich ein paar Korbstühle, es roch feucht. Der Mann mit der Strumpfmaske zog eine schwere Pistole aus der Tasche und postierte sich an der Tür. Cable erkannte die Gestalt, deren Silhouette im fahlen Licht, das von der Donau her durch das Fenster strömte, sichtbar war. Es war der junge Russe mit der hohen Stirn und den mongolisch geschnittenen Augen – der Mann, der ihn vor sechs Nächten im Lagerhaus bedroht hatte, mit dem Unterschied, daß er jetzt freundlich lächelte. »Guten Morgen, Exzellenz. Sie erinnern sich bestimmt noch an mich – ich bin Gordon. Bitte setzen Sie sich. Es tut mir leid, daß es in diesem Land so verdammt kalt ist – hätten Sie gern einen Schnaps, um sich aufzuwärmen?« Er reichte ihm einen silbernen Flachmann. Cable schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, danke. Was wollen Sie diesmal von mir?« Er setzte sich auf den Rand eines Korbstuhles. Der Mann, der sich Gordon nannte, nahm ihm gegenüber Platz und zog eine Zigarette aus einer Packung. Er klopfte sie auf seinem Handrücken, zündete sie an und blies genüßlich einen bläulichen Rauchring aus. »Eins der guten Dinge an meinem Job«, lächelte er, »ist, daß ich mir Virginia-Zigaretten leisten kann.« »Um Himmels willen«, fauchte Cable. »Ich bin nicht in aller Herrgottsfrühe und unter diesen Bedingungen hierhergekommen, um mich gemütlich mit Ihnen zu
unterhalten. Sagen Sie mir, was Sie wollen – ich habe nicht viel Zeit. Wenn ich nicht innerhalb einer Stunde in meinem Haus zurück bin, wird man meine Abwesenheit bemerken.« »Bitte ärgern Sie sich nicht, Bill – ich darf Sie doch Bill nennen? Ich hoffe, daß wir Freunde werden. Ich bin sicher, daß wir genug Zeit haben – wenn ich mich recht erinnere, werden Sie von Ihrem Dienstwagen um halb neun abgeholt?« Cable zuckte mit den Schultern. »Meistens.« Bei dem Gedanken, daß sie so gut über seinen Alltag Bescheid wußten, wurde ihm unbehaglich. »Gut. Wie ich schon sagte, bitte ärgern Sie sich nicht. Ihre eigenen Leute schickten Sie im Jahre 1970 nach Vietnam, und Ihre eigenen Leute prangerten Sie bei Ihrer Rückkehr wegen Verrats an – das war nicht nett. Ich hatte keine Ahnung, daß im grünen, freundlichen England solche Dinge geschehen können.« Er hob ironisch die Augenbrauen, was ihn wie Lenin aussehen ließ. »Dafür, mein Freund, können Sie uns nicht die Schuld geben – und auch nicht dafür, daß wir die ganze Situation etwas ausnutzen. Aber jetzt zu den geschäftlichen Dingen, Bill. Wir wissen, daß es eine Operation mit dem Codenamen PIRANHA gibt, die sich gegen ein sozialistisches Land, ein Mitglied des Warschauer Pakts, richtet. Bitte sagen Sie mir alles, was Sie darüber wissen.« Cable zögerte. »Ich glaube, ich habe den Namen schon einmal gehört, aber von der Operation selbst habe ich keine Ahnung – tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht helfen.« Der Russe zündete sich eine weitere Zigarette an. »Bill«, er ließ sich Zeit und sprach geduldig. »Ich bin kein kompletter Idiot. Sie sind ein Diplomat und diese Operation wird von Ihrer Botschaft aus eingeleitet oder sogar ganz gelenkt.« »Na und?« knurrte Cable. »Wenn Sie soviel wissen, dann sollte es Ihnen doch bekannt sein, daß unser Geheimdienst und unsere Diplomaten unter jeweils anderen Vorgesetzten und auf
vollkommen verschiedenen Ebenen arbeiten. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, daß Geheimdienstbeamte, die als Diplomaten in der Botschaft tätig sind, ohne das Wissen ihres Botschafters auch an anderen Dingen beteiligt sind.« Gordon seufzte. »Ich hoffe, daß Sie mich nicht zum besten halten, Bill. Ich bin bereit, zu glauben, was Sie mir da erzählen. Aber ich bin mir genauso sicher, daß ein Mann in Ihrer Position die bewußten Informationen früher oder später – lieber früher – herausfinden kann.« »Vielleicht«, gab Cable vorsichtig zu. »Aber es ist bestimmt nicht einfach.« »Nein, Bill, nicht vielleicht – sondern mit Sicherheit. Das wird Ihnen nicht die geringste Schwierigkeit bereiten.« Er machte eine Pause, blies die bläuliche Rauchwolke aus und fuhr geschäftsmäßig fort. »Ich bin großzügig und gebe Ihnen 48 Stunden Zeit, um alles über die Operation PIRANHA herauszufinden. Ich werde Ihnen auch einen kleinen Fotoapparat und einen Film geben, damit Sie für uns interessante Dokumente ablichten können. Wenn Sie das für uns tun, mein Freund, werden wir Ihre Vergangenheit nicht Wiederaufleben lassen – Sie verstehen, was ich damit meine?« »Und Sie erwarten allen Ernstes vor mir, daß ich Ihnen traue? Woher weiß ich denn, daß sie nicht versuchen, die nächsten zwanzig Jahre lang Informationen aus mir herauszupressen?« »Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, Bill – Sie können uns vertrauen. Wir sind Ehrenmänner. Wenn Sie uns liefern, was wir verlangen, lassen wir Sie für den Rest Ihres Lebens zufrieden.« »Angenommen, ich vertraue Ihnen nicht?« »Nicht, Bill? Besser, Sie täten es. Wenn Sie uns nicht vertrauen, dann sieht die Sache ganz anders aus.« Seine mongolischen Augen blitzten drohend. »Sie haben doch Familie, Cable, oder nicht?«
»Verdammt noch mal, ich habe Ihnen eine Frage gestellt! Angenommen, 48 Stunden reichen nicht aus, um Ihnen das zu liefern, was Sie wollen? Sie geben mir nicht viel Zeit.« »Wenn ich überzeugt bin, daß Sie es wirklich versuchen, könnte ich Ihnen unter Umständen – ich wiederhole, unter Umständen – ein oder zwei Tage mehr bewilligen.« Cable sah ihm ohne eine Erwiderung herausfordernd in die Augen. »Aber sollten mir nur die geringsten Zweifel darüber kommen, daß Sie unseren Vertrag nicht einhalten, werde ich dafür sorgen, daß die Tonbänder unserer Unterhaltungen und anderes Material an die britischen Sicherheitsbehörden weitergeleitet werden. Das zusammen mit der Golitsyn-Angelegenheit und der Aussage, die Sie in Hanoi unterschrieben haben, bedeutet mit Sicherheit Ihren Ruin. Es würde einen öffentlichen Skandal geben, die Pension können Sie vergessen, Sie bekommen keinen anderen Job mehr – und es ist nicht auszuschließen, daß Sie ins Gefängnis wandern müssen. Wenn ich es mir so recht überlege«, sagte er nachdenklich, »bin ich mir ziemlich sicher, daß Sie nach einer Gerichtsverhandlung zu einer Gefängnisstrafe verurteilt werden würden. Um ehrlich zu sein, sind Sie ein Emporkömmling. Sie sind nicht in Eton zur Schule gegangen. Sie sind kein Gardeoffizier. Sie haben nicht in Oxford oder Cambridge studiert. Sie gehören der falschen Gesellschaftsklasse an, um mit dem, was Sie getan haben, davonzukommen. Sehen Sie das endlich ein, Cable!« Bill zeigte sich von den Drohungen eingeschüchtert und senkte seinen Blick. »Nun gut. Unter den Voraussetzungen, daß Sie nie wieder auf mich zukommen, werde ich versuchen, die Informationen, die Sie wollen, herauszufinden.« »Gut – ich hatte immer das Gefühl, daß Sie Vernunft annehmen würden, Bill. Solange ich Ihnen keine andere Nachricht zukommen lasse, treffen wir uns hier wieder am Mittwochmorgen um sechs Uhr. Falls Sie mit mir in Kontakt
treten wollen, rufen Sie mich unter dieser Nummer an.« Er kritzelte mit einem Bleistift eine Nummer auf eine leere Zigarettenpackung und warf sie Cable zu. »Fragen Sie einfach nach Gordon.« »Ist das alles?« »Ich glaube schon, Bill, ich glaube schon.« Er machte eine gedankenvolle Pause. »Natürlich kommt es vor, daß Männer in Ihrer Position – damit sind Sie nicht gemeint – versuchen könnten, uns reinzulegen: Zum Beispiel zu ihren Vorgesetzten gehen, unsere Unterhaltung wiedergeben und uns danach falsche Informationen geben. Aber das würden Sie natürlich nie tun, Bill, nicht wahr?« Cable fühlte plötzlich, wie seine Kehle trocken wurde. »Nein, natürlich nicht. Ich habe eine Art Abmachung mit Ihnen.« »Das freut mich, Bill.« Die Stimme des Russen war fast nicht zu hören, die Worte waren nur ein Flüstern. »Das freut mich wirklich.« Er zog ein Foto aus seiner Tasche und reichte es Cable. Es zeigte Sarah, die mit verwirrtem Gesichtsausdruck an einem Tisch, der mit einer Blumenvase und einem Teller mit Kuchen gedeckt war, saß. Ihr gegenüber saß ein älterer Herr, der auf onkelhafte Art lächelte. Cable fühlte, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich, und erinnerte sich plötzlich an die indirekte Drohung, die vor ein paar Minuten ausgesprochen worden war. »Was soll das bedeuten?« Er konnte kaum sprechen. »Wo wurde dieses Foto aufgenommen? Wie kam es in Ihren Besitz? Was, zum Teufel, geht eigentlich vor?« »Wissen Sie das nicht? Ich hätte geglaubt, daß Sie das Mädchen wiedererkennen.« Die Augen des Russen zwinkerten ihn spöttisch an. Cables Magen wurde zu einem großen Eisklumpen. »Sie wurde vor ein paar Tagen festgenommen, als sie versuchte, auf illegale Weise in Ungarn einzureisen. Sie
hatte eine große Menge Heroin – das sich meines Wissens nach im Westen Glücksstaub nennt – bei sich, das sie verkaufen wollte, was natürlich gegen das Gesetz verstößt. Sie wird auf die übliche Weise verurteilt werden.« »Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Sarah macht Urlaub im Burgenland. Sie käme nie auf den Gedanken, eine Grenze illegalerweise zu überschreiten, und sie wäre nicht fähig, ein Gramm Heroin von einem Gramm Zucker zu unterscheiden. Sie haben mich in eine Falle gelockt! Was, zum Teufel, wollen Sie sonst noch von mir?« »Ihre Tochter befindet sich in unserer Hand. Nachdem Sie uns am Mittwoch die erwünschten Informationen übergeben haben, werden wir Ihrer Botschaft in Budapest ihren Aufenthaltsort bekanntgeben. Wenn Sie mitarbeiten und wenn Ihre Informationen von uns überprüft worden sind, wird Ihre Tochter ohne Aufhebens freigelassen werden, – und damit ist die Angelegenheit erledigt.« Der Russe machte eine wirkungsvolle Pause, in der er sich eine zweite Zigarette anzündete. »Wenn Sie nicht zur Mitarbeit bereit sind, wird sie nicht freigelassen.« Cables Gesicht sah plötzlich grau und eingefallen aus. »Was wollen Sie damit sagen – was habt Ihr mit Sarah vor, ihr Schweinehunde?« »Wenn sie vor Gericht gebracht wird, dann bedeutet das Urteil für Drogenverkauf den Tod – in Ungarn durch Erhängen, wenn ich mich recht erinnere.« Er schüttelte traurig den Kopf. »Aber natürlich würde die hübsche Tochter eines wichtigen Ausländers – besonders die eines Diplomaten – begnadigt werden und nur zu ein paar Jahren Arbeitslager verurteilt werden. Mir ist gesagt worden, Botschafter, daß sie, wenn Sie auf unsere Bedingungen eingehen, ohne Schaden und ohne großes Aufheben, freigelassen wird. Falls Sie sich nicht zu einer Zusammenarbeit entschließen sollten, wäre es leicht
möglich, daß man Ihre Tochter erhängt in ihrer Zelle vorfindet – ein Selbstmord, der Sarahs Schuld beweist.« Streng geheim Zentral-Geheimdienst Kopie Nr. 5 von 6 Kopien Langley, Va. TR/W/8-A973/Jc Quelle: Normal und verläßlich
Auszug von einer beschädigten Tonbandaufnahme einer Konferenz, die kürzlich im Ministerratsgebäude in Moskau stattfand. Anmerkung: Die einleitenden Bemerkungen des Vorsitzenden weisen darauf hin, daß es sich um die 48. Sitzung des Komitees G handelte, das direkt dem Politbüro untersteht. Während der Diskussion wurden keine persönlichen Namen genannt, sondern nur Andeutungen auf die Titel der Teilnehmenden: der Außenminister (A. Gromyko als Vorsitzender), Marschall Y. Malinowski (Dritter Verteidigungsminister), Generalmajor N. A. Kirow und Oberst I. Michaelow (Komitee für Staatssicherheit) und zwei andere Unbekannte. Das genaue Datum der Konferenz ist nicht bekannt. Der russische Originaltext ist auf Nachfrage lieferbar. Das Band wurde (offensichtlich durch Zigarettenasche im Mülleimer) beschädigt, bevor es vom Geheimdienst in Empfang genommen wurde.
Vorsitzender: Wir haben uns hier zum achtundvierzigsten Komitee G für Fragen des Äußeren versammelt. Die Konferenz wird hiermit eröffnet. Vielleicht sollten wir zunächst einen Blick auf die Notizen unseres letzten… - 3 Minuten und 8 Sekunden lange Störung auf dem Tonband Unbekannter:… diese Änderung wird schriftlich verbreitet werden. Vorsitzender: Würden Sie jetzt bitte Ihre Aufmerksamkeit der Nummer 3, dem Plan, der vom Verteidigungsminister unterbreitet wurde, widmen? Malinowski: Sie wären besser daran, Cyrus und Darius als Alternative anzunehmen. Kirow: Ich hätte nichts dagegen. Vorsitzender: Nun gut. Würden Sie bitte das Dokument vorzeigen, Herr Marschall? Malinowski: Danke. Wie Sie wissen, Genossen, haben wir selbst nach fünf Jahren Schwierigkeiten, in Afghanistan wieder normale Bedingungen herzustellen. Das Hauptproblem liegt bei den moslemischen Guerillas, die die Regierung in Kabul bedrohen und einen Zufluchtsort in den Flüchtlingslagern in den Gebirgen Nordpakistans gefunden haben, die zugleich als Basis für ihre Operationen dienen und… - Störung … haben wir der pakistanischen Regierung Angebote gemacht, aber im Grunde ist sie uns feindlich gesinnt.
Es ist absolut notwendig, daß wir genügend Streitkräfte bekommen, um diese Lager in Pakistan zu zerstören. Der Plan Alexander wurde dafür ausgearbeitet, dies mit der nötigen politischen Unterstützung auszuführen. Wir dachten, daß die Streitkräfte aus zwei Panzerdivisionen und… Kirow: Ich möchte die Einleitung des Marschalls nicht unbedingt unterbrechen, Genosse Vorsitzender, aber geht er nicht etwas zu sehr in militärische Details? Malinowski: Natürlich tue ich das. Kirow: In diesem Fall möchte ich meinen starken und grundlegenden Vorbehalt gegen dieses Projekt aussprechen. Vorsitzender: Aber bitte, Frau General. Kirow: Ein paar Flüchtlingslager in Pakistan zu zerstören, ist wahrscheinlich aus taktischen Gründen berechtigt… Malinowski: Natürlich ist das alles (Fluch) berechtigt. Diesen Guerillaschweinen muß ganz einfach ein Riegel vorgeschoben werden – unsere Jungs haben es wirklich nicht leicht. Sie werden gefangengenommen und müssen sich ihre (obszöner russischer Ausdruck für Genitalien) abschneiden lassen. So kann es nicht weitergehen, sonst haben wir eine Meuterei am Hals. Kirow: Ich verstehe Ihre Gründe, aber ganz so einfach ist es nicht. Das Militär hat diese plötzlichen und gewaltsamen Maßnahmen gegen Pakistan oder den Iran - weil er sich an der Grenze zu Afghanistan befindet - schon einige Jahre lang befürwortet. Das Argument besteht darin, daß man weitere strategische Überlegungen ignorieren
sollte – und daß die Vereinigten Staaten nicht miteinbezogen werden sollten. Sollte das Land, in das wir vorstoßen, einen starken Widerstand aufbringen, der einen kleinen Krieg verursachen würde, könnten wir unser jahrhundertealtes Ziel erreichen – nämlich das eines Hafens im Indischen Ozean. Vorsitzender: Aber das steht nicht im Plan Alexander. Das wird erst in Darius geplant. Kirow: Meine Einwände bestehen darin, daß Alexander auf eine lächerliche Weise unrealistisch ist. Wir können uns keine territorialen Aggressionen leisten. Darüber hinaus würden die Vereinigten Staaten Widerstand leisten, Pakistan unterstützen, und selbst, wenn wir begrenzen… - Unterbrechung ein gefährlicher Kriegshetzer im Weißen Haus… - Unterbrechung ein unmögliches und gefährliches Risiko. Malinowski: Da kann ich nicht zustimmen. Es ist absurd… - Die nächsten zehn Minuten und acht Sekunden auf dem Band sind unverständlich. Mittlerweile scheint das Thema auf die Operation »PIRANHA« gekommen zu sein. Unbekannter:… zusammenfassend, Genosse Vorsitzender, können wir also sagen, daß es sich bei der Operation »PIRANHA« um eine aggressive Operation paramilitärischer Art handelt, die von den Vereinigten Staaten und Großbritannien befürwortet wird und – wie wir glauben – in gewissem Maß den Segen des Vatikans hat. Männer und Waffen sollen in ein sozialistisches Land geschleust werden, um eine Konterrevolution zu schüren. Wahrscheinlich handelt es sich nicht um viele Leute – obwohl es sich um eine Menge
Waffen handeln könnte. Wir arbeiten daran, das genaue Ziel und Datum herauszufinden. Vorsitzender: Welches Ziel vermuten Sie, Frau Generalin? Kirow: Polen ist am nach st liegenden, weil dort im Moment sehr viel Unruhe besteht – und die Beteiligung des Klerus läßt auch auf Polen schließen. Aber das offensichtliche Ziel muß nicht unbedingt das richtige sein. Malinowski: Und wann? Kirow: Darüber sollte es in ein paar Tagen Klarheit geben. Wie Sie aus meinem Bericht ersehen können, war es meinem langjährigen Agenten in Wien, dessen Codename Plato ist, unmöglich, diese Details zu erfahren, aber wir haben eine neue Quelle gefunden – die wir fest im Griff haben –, und zwar innerhalb der britischen Botschaft. Vorsitzender: Hat diese Quelle den Codenamen Sokrates? Kirow: Ja. Sokrates ist ein höhergestellter britischer… - Störung von 4 Minuten und 36 Sekunden – Malinowski:… und das ist das erste Mal, daß ich mit unserer schönen Generalin übereinstimme. (Gelächter.) Diese Doppelerpressung wird Sokrates mit Sicherheit dazu bringen, mit uns zusammenzuarbeiten – Sie sagten, daß Plato feststellen kann, ob Sokrates versucht, uns zu hintergehen? Kirow: Ich erwarte alle notwendigen Informationen in ein paar Tagen – darunter auch die Bestätigung meines zweiten Agenten, daß Sokrates uns die Wahrheit sagt. Wenn er uns
seine Zusammenarbeit verweigert, habe ich ein Mittel, um ihn zur Einsicht zu bewegen… - Störung
…verletzlich, denn die Tochter…
- Störung von 6 Minuten und 3 Sekunden
Vorsitzender: … stimmen wir also alle überein. Wir lassen diese Banditen also eindringen und vernichten sie dann bei ihrer Ankunft mit dem größtmöglichen Aufsehen? Malinowski: Die Rote Armee brauchen wir nicht – die Ortspolizei genügt schon, um… - Der Rest des Bandes (ca. 9 Minuten) ist so stark beschädigt, daß die Wortfetzen keinen Sinn ergeben. Geheim
Anlage zu Streng Geheim – Ultra
Kopie-Nr. 1 von 4 Kopien
An: Generaldirektor
Von: C. H. Stuart Hd/Außendienst Betr. Verstoß gegen die Sicherheit der Mission der Vereinten Nationen in Wien. 1. Im Jahre 1972 war ich der Vorsitzende eines Untersuchungsausschusses, der sich mit dem Verhalten von Mr. J. W. Cable, jetzt Diplomat Ihrer Majestät bei der Organisation der Vereinten Nationen in Wien, beschäftigte. Der Bericht befindet sich in Ihren Akten. 2. Ich möchte Sie bitten, von der beiliegenden Niederschrift von Langley, die meine Aufmerksamkeit erregte, Kenntnis zu nehmen. Meiner Meinung nach könnte es sich bei der
unbekannten Quelle, die darin als »Sokrates« bezeichnet wird, mit Leichtigkeit um Cable handeln. Zugegebenermaßen gibt es keine Beweise dafür, daß man ihm zum Zeitpunkt dieser Konferenz nahegetreten war (die Konferenz fand vor kurzem statt, das genaue Datum ist allerdings nicht bekannt). Ich schlage dringend eine Untersuchung vor. Ich bin bereit, selbst nach Wien zu fahren, um Cable zu befragen oder vorzubereiten, und wäre Ihnen für Ihre Anweisungen dankbar. 3. Eine kürzlich abgehörte Nachricht Ref. Nr. Jv/4u/29 1326/W könnte sich ebenfalls als relevant erweisen. C. H. Stuart Kopien an: Hd/Sicherheitsdienst – FCO Registratur Wien Am Montagmorgen kam Cable kurz nach neun Uhr in der Botschaft an und schloß sich in seinem Büro ein. »Keine Besucher oder Telefonanrufe, Jill«, wies er seine Sekretärin an. »Ich muß einen wichtigen Bericht schreiben.« Sie machte sich eilig aus seinem Büro und überließ ihn sich selbst. Er saß an seinem schönen Mahagonischreibtisch und hatte auf der Lederunterlage ein paar Schmierzettel und einen Schreibblock liegen. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. Wenn er Sarah retten wollte, konnte er das nur über London tun. Es war ein Risiko – er konnte sich nicht unbedingt auf sie verlassen –, aber er konnte den Unbekannten in Moskau noch weniger vertrauen. Jetzt mach schon, schalt er sich selbst – jetzt mach schon endlich. Als er endlich den Anfang gemacht hatte, flossen ihm die Worte nur so aus der Feder; der fertige Bericht klang sehr überzeugend. Er kürzte ihn, da er als Telegramm geschickt
werden sollte, und dadurch wurden die genaue Reihenfolge und die Daten seiner Treffen mit Gordon nicht exakt angegeben. Er betonte, daß Sarahs Leben in Gefahr war und daß der Russe innerhalb von nur zwei Tagen, nämlich am Mittwoch, wieder mit ihm in Kontakt treten würde. Er verlangte unmittelbare Anweisungen für sein Verhalten. Als er fertig war, nahm er sich einen »Einmal-Block« zur Hand und chiffrierte den Bericht selbst und setzte die Überschrift »GEHEIM: AN DEN CHEF DER SICHERHEITSABTEILUNG PERSÖNLICH; VON CABLE IN WIEN« über den Text. Als alle Blätter beschriftet waren, bat er Jill, den obersten Chiffrierbeamten, Squires, zu ihm zu rufen, der auch innerhalb von ein paar Minuten auftauchte. Wie Jill gehörte er der alten Garde an. Er war ein ernst aussehender Mann von etwa Fünfzig, der das Aussehen eines gelernten Handwerkers – wie zum Beispiel eines Elektrikers oder eines Schreiners – hatte. »Was kann ich für Sie tun, Sir?« Er setzte sich niemals, wenn er nicht dazu aufgefordert wurde. »Ich habe dieses Telegramm persönlich chiffriert, Geoff – es handelt sich um ein sehr delikates Problem. Könnten Sie es bitte selbst abschicken? Ich möchte nicht, daß unnötige Gerüchte verbreitet werden.« »Natürlich, Sir. Es wird niemandem vor die Augen kommen, und ich werde Ihnen die Kopien persönlich bringen.« Nach dieser Versicherung wußte Cable, daß es nicht nötig war, ihn noch einmal zu bitten, den Mund zu halten. »Was ist mit der anderen Seite?« »Ich habe einen Freund in der Hauptregistratur in London, Sir. Wenn Sie möchten, werde ich ihn bitten, es anzunehmen und direkt zum Empfänger zu bringen. Ich könnte ihn jetzt anrufen, und innerhalb einer Stunde hat er es.« »Sehr gut – ja tun Sie das. Vielen Dank.«
»Sir?« »Noch etwas, Geoff. Ich möchte, daß es Sir David Nairn persönlich überbracht wird. Er ist der Stellvertretende Generaldirektor für – « »Ja, ich kenne Sir David«, sagte Squires schnell, als ob es unvorsichtig sei, die Position David Nairns selbst in einer Botschaft zu erwähnen. »Kein Problem – ich werde es nach Century House übertragen und mich vergewissern, daß man dort den Code kennt. Sonst noch etwas, Sir?« »Nein danke, Geoff. Ich weiß, daß ich mich auf Ihre Diskretion verlassen kann.« »Natürlich, Sir.«
Cable hatte noch an diesem Nachmittag auf eine Antwort gehofft. Aber es herrschte Stille, und um drei Uhr ließ er den Wagen kommen, um zu einer Konferenz im UNO-Zentrum gebracht zu werden. Es herrschte starker Verkehr, und als sie am Donauufer ankamen, geriet der große Ford in einen Stau auf der Reichsbrücke. Das Bürogebäude der Vereinten Nationen befand sich links nach der Brücke. Obwohl der Komplex oft »UNO-City« genannt wurde, bestand er nur aus sechs Betontürmen verschiedener Höhe, die durch ein zylindrisches Gebäude, in dem sich die Konferenzsäle befanden, verbunden wurden. Es beherbergte das Wiener Büro der Vereinten Nationen und drei autonome UNO-Agenturen. Cable sollte an einer Konferenz zur Hilfe der palästinensischen Flüchtlinge teilnehmen. Das Gebäude war ein einziges, schreckliches Betondenkmal an ein verlorenes Ideal. Es beherbergte viertausend Beamte – eine verrückte Mischung aus idealistischen Schweden und Holländern, undurchsichtigen Männern aus den Entwicklungsländern Lateinamerikas und Afrikas, die oft
mysteriöserweise mit dem derzeitigen Präsidenten verwandt waren und nebenbei krumme Geschäfte machten, sowie Männern und Frauen, die den Geheimdiensten der Sowjetunion oder der Vereinigten Staaten eine viel höhere Loyalität bewiesen, und zahllosen heiratsfähigen Sekretärinnen, die darauf hofften, von jemandem, der ein steuerfreies Gehalt bezieht, mit ins Bett genommen zu werden. Das Auto fuhr langsam die Rampe zu dem Parkplatz, der sich unterhalb des Platzes vor dem Gebäude befand, hinauf, und Cable nahm den Aufzug im mittleren Rundbau. Er schritt durch die riesige, leere Halle, nickte dem bundesdeutschen Botschafter zu, der offensichtlich auf dem Weg zu derselben Konferenz war, und winkte dem bärtigen Laszlo Kardos, der an einem Zeitungsstand stand. Fünf Minuten später setzte er sich mit dreißig anderen in einem Raum nieder, durch dessen Fenster man den See hinter dem Gebäude überblicken konnte. In einer Ecke hing eine blaue UNO-Flagge. Als der pakistanische Botschafter aufstand, um eine Frage zur Geschäftsordnung zu stellen, wurden alle Augen gleichzeitig glasig. Er sprach fast immer mindestens eine Stunde lang. Cable öffnete einen Ordner und starrte auf die Papiere, ohne sie zu sehen. Er dachte nur an Sarah. Nach der Konferenz kehrte er in die Botschaft zurück. Die Sekretärinnen waren nach Hause gegangen, und sein Vorzimmer war leer, aber Jill hatte die Angewohnheit, alle Telegramme und Nachrichten auf seinem Schreibtisch zu deponieren. Unter dem Briefbeschwerer war eine Nachricht: eine Einladung des schwedischen Botschafters zum Abendessen. Sonst nichts. Nichts aus London. Cable saß ein paar Minuten da und trommelte mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch. Er starrte das Telefon an und war bemüht, seiner Furcht und seiner Enttäuschung Herr
zu werden. Schließlich zuckte er mit den Schultern und stand auf – er konnte nichts anderes tun als warten. Fritz fuhr ihn nach Grinzing zurück. Im Auto versuchte er, die englischen Zeitungen zu lesen, die mit dem Ein-Uhr-Flugzeug aus London gekommen waren. Es mochte gefühllos erscheinen – aber sich Sorgen um Sarah zu machen, half ihr auch nicht. Es war wichtiger, daß er fit genug war, um London dazu zu bringen, sie herauszuholen. Was auch immer aus seiner Vergangenheit ans Licht gezerrt worden war, er hatte weder Rozinski noch die Operation »PIRANHA« verraten; und er hatte das Vertrauen, das als Botschafter Ihrer Majestät in ihn gelegt wurde, nicht mißbraucht. Er hatte das Recht, in diesem teuren, kugelsicheren Wagen zu fahren – und das Recht, den Geheimdienst um Hilfe zu bitten. Das war alles, worauf er sich jetzt verlassen konnte. Der dunkelblaue Ford Minster bog von der Grinzinger Hauptstraße in die Himmelstraße ein und fuhr den steilen Hügel hinauf. Als sie um die Ecke fuhren, krallte Cable plötzlich seine Finger um die Zeitschrift »The Economist«, die er überflogen hatte. Vor dem Haus stand kein Sicherheitsbeamter. Er lehnte sich nach vorn und flüsterte durch die offene Glasscheibe: »Fahren Sie weiter, Fritz. Halten Sie nicht an! Irgend etwas stimmt hier nicht.« Der Chauffeur gehorchte, ohne eine Frage zu stellen. Er beschleunigte wieder und fuhr etwa zweihundert Meter die Straße hinauf, bis das Haus von Bäumen verdeckt war. Cable bat ihn, das Auto abzustellen, und beide stiegen aus. »Bitte kommen Sie mit, Fritz. Ich glaube, wir haben einen Einbrecher im Haus.« Der Fahrer sah ihn erstaunt und ängstlich an. »Sollte ich nicht lieber die Polizei anrufen, Sir?« »Ja – und sagen Sie ihnen, daß Eile angebracht ist.« »Da unten ist eine Telefonzelle.« Fritz lief auf sie zu.
Cable ging einen Weg, der zwischen zwei Villen hindurchführte, und dann die Straße, die sich hinter den Häusern befand, hinunter. Zu seiner Rechten bedeckten Reihen von knotigen Rebstöcken den Hügel. In der Dämmerung leuchteten vereinzelte Lichter aus der Stadt herüber. Am Hinterausgang seines eigenen Hauses stand ein verrosteter, brauner Skoda, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Im Zwielicht notierte er die Zulassungsnummer. Er drückte die Türklinke des Hintertores, das verschlossen hätte sein sollen, herunter. Es war offen. Cable schlich vorsichtig in den Garten, der sich fast vollkommen in Dunkelheit befand. Durch ein Fenster im Erdgeschoß des Hauses war ein leichter Lichtschimmer zu sehen. Er huschte über die Terrasse und spähte durch die Glastür, konnte aber nichts erkennen. Etwa einen halben Meter von der Hintertür der Küche entfernt stolperte er über etwas Weiches und fiel schwer auf die Steinplatten. Im schwachen Licht, das vom Eingangstor herüberfiel, konnte er einen Körper erkennen, der eine Polizeiuniform trug. Cable drehte ihn vorsichtig herum und schrak zurück, als der Kopf des Sicherheitsbeamten leblos zurückfiel. In seinem Hals befand sich eine offene Messerwunde, aus der noch immer Blut sickerte. Sein Gesicht war weiß, und seine weit geöffneten Augen blickten überrascht. Cable stand langsam auf. Er würde nichts unternehmen, bevor die Kollegen des ermordeten Mannes angekommen waren. Er wartete etwa fünf Minuten in der Dunkelheit, bis er ein Polizeiauto mit Sirene den Hügel herauffahren, Autotüren schlagen und das Geklapper von Stiefeln an der Vorderseite des Hauses hörte. Man hämmerte wild an die Eingangstür, dann krachte etwas, und er hörte leise Schritte im Inneren des Hauses. Als zwei schattenhafte Gestalten durch die Küchentür eilten und über den Rasen zum Hintertor rannten, verbarg er sich hinter einem Baum. Dann
vernahm er das Surren des Anlassers, und der Skoda fuhr mit quietschenden Reifen und Höchstgeschwindigkeit davon. Cable betrat das Haus und schaltete die Küchenlichter an. Im oberen Stockwerk hörte er Stiefel herumtrampeln, und zwei Polizeibeamte mit Maschinenpistolen befanden sich bereits im Wohnzimmer. Sie hielten ihre Pistolen auf ihn gerichtet und riefen ihn auf deutsch an: »Bleiben Sie stehen! Hände über den Kopf!« »Ich habe Sie rufen lassen. Dies ist mein Haus.« Die Pistolen blieben auf ihn gerichtet. »Bleiben Sie still stehen! Wenn Sie der Diplomat sind, zeigen sie Ihre Legitimationskarte! Aber langsam, wenn ich bitten darf!« Cable zog die kleine rote Identitätskarte aus seiner Brieftasche und reichte sie dem Polizeibeamten. »Ich habe zwei Männer durch den Hintereingang herauslaufen sehen«, sagte Cable ärgerlich. »Sie entkamen in einem braunen Skoda mit einer Salzburger Nummer. Sollten Sie ihnen nicht nachfahren?« Der eine Polizist gab Cable seine Identitätskarte zurück, während der andere in ein Funksprechgerät sprach und nur eine Pause machte, um sich an Cable zu wenden. »Haben Sie sich die Nummer des Autos gemerkt?« »Ja. S 706.315.« Der Mann sprach wieder in sein knisterndes Funksprechgerät, und Cable verließ das Zimmer. In seinem Arbeitszimmer im oberen Stockwerk waren alle Schubladen aus seinem Schreibtisch gezerrt und auf dem Boden ausgeleert worden. Der Schrank stand offen; die Bilder waren während der Suche nach einem Wandtresor abgenommen und achtlos beiseite geworfen worden. Der Teppich war zurückgerollt und der Unterbodentresor mit einem Sprengkörper aufgesprengt worden. Wahrscheinlich war der Sicherheitsbeamte durch
diesen Lärm von seinem Posten am Eingangstor weggelockt worden. Auch in den übrigen Teilen des Hauses waren Schubladen ausgeleert und Schränke geöffnet worden. Kein Zimmer war verschont geblieben, auch nicht Sarahs Schlafzimmer. Überall lagen Dokumente und Kleider verstreut. Das ganze Haus war methodisch durchwühlt worden, aber augenscheinlich fehlte nichts. Cable ging zum Wohnzimmer zurück, in dem mittlerweile ein höherer Kriminalbeamter angekommen war: Seine grüne Uniform war gut geschnitten, und er hatte rote Streifen und goldene Sterne am Kragen. »Herr Abgesandter.« Er stand auf und verbeugte sich leicht, wobei er seine Mütze unter den Arm geklemmt hielt. »Würden Sie bitte das Bedauern der Republik Österreichs für diese Schandtat entgegennehmen. Könnte ich ein paar Einzelheiten aufnehmen?« Cable schüttelte den Kopf. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie gekommen sind – aber ich bezweifle sehr, daß Sie viel unternehmen können, bevor Sie die beiden Männer, die hier eingebrochen sind, gefunden haben.« »Wir tun natürlich unser Bestes.« »Allerdings ist dieses Gebäude britisches Territorium, und bevor Sie mit der Untersuchung beginnen, muß ich einen Kollegen bei der Botschaft anrufen. Vielleicht sollten Sie lieber noch nichts unternehmen – das Motiv meiner ungebetenen Gäste war nicht Diebstahl. Es müssen politische Gründe vorliegen.« »Aber einer meiner Beamten, der zu Ihrem Schutz engagiert worden war, ist ermordet worden.« »Das bedaure ich ungemein, aber ich muß Sie darum bitten, seine Leiche so schnell wie möglich fortzuschaffen – und das durch die Hintertür. Bitte warten Sie hier, während ich telefoniere.«
Zwei Stunden später stieg Cable die Betontreppen zu der Wohnung in der Bayerngasse hinauf. Die Polizei hatte sein Haus verlassen, und zwei Sicherheitsbeamte von der Botschaft waren gekommen, um zu prüfen, ob irgendwelche Dokumente abhanden gekommen waren; um ganz sicherzugehen, würden sie die Nacht dort verbringen. Cable hatte sich entschuldigt und war in seinem Volvo weggefahren. Er stellte den Wagen nicht weit entfernt von dem Appartementhaus im Schatten der Bäume ab, die den Stadtpark säumten. Er hatte ein paar Dokumente, die mit den Genfer Waffenverhandlungen zu tun hatten, auf dem Boden seines Arbeitszimmers verstreut gefunden – da sie keine offiziellen Briefköpfe oder sonstigen Bezeichnungen hatten, waren sie von den Eindringlingen übersehen worden. Der einzige Tresor im Haus war aufgesprengt worden, und die Sicherheitsbeamten der Botschaft waren nicht dazu berechtigt, seine Dokumente zu untersuchen, also hatte er sie in einen Aktenkoffer gesteckt und mit sich genommen. Er hielt den Koffer noch unter seinem Arm, als er im vierten Stock ankam. Naomi öffnete die Tür und umarmte ihn. »Oh, Bill, wie wunderschön, dich zu sehen! Ich bin erst vor einer halben Stunde zurückgekommen – ich wollte dich gerade anrufen.« Er drückte sie an sich, blieb aber ernst. »Wo, zum Teufel, bist du gewesen?« Sie trat hastig zurück. »Ich kann doch einmal einen Tag lang wegfahren – ich bin nicht dein Besitz!« »Natürlich nicht – aber ich dachte, daß du nur am Sonntag in der Galerie arbeiten würdest.« »Das habe ich nicht gesagt. Ich hatte einen Job für den alten Sollinger zu erledigen, aber der bestand darin, daß ich einen ganzen Haushalt in der Nähe von Linz begutachten mußte.« »Warum mußtest du das ausgerechnet an einem Sonntag tun?«
»Es handelte sich um Möbel und Bilder von einem kürzlich Verstorbenen, und der Rechtsanwalt wollte eine rasche Schätzung, bevor er den ganzen Kram verkaufte. Sollinger konnte mich während der Wochentage nicht entbehren, also fuhr ich rauf und erledigte die Sache an einem Sonntag.« Sie zuckte verärgert mit den Schultern. »Du kannst doch nicht vierundzwanzig Stunden gebraucht haben, um von Linz zurückzukommen – das sind doch nur 150 Kilometer.« Sie wurde weiß im Gesicht, hob ihren Arm und schlug ihm ins Gesicht. »Was soll denn das bedeuten – ist das die spanische Inquisition? Glaubst du mir nicht? Es geht dich überhaupt nichts an, ob ich drei Stunden oder drei Tage brauchte, um zurückzukommen – oder ob ich auf dem Rückweg mit der gesamten österreichischen Armee geschlafen habe.« Sie machte eine kleine Pause, um Atem zu holen. »Aber wenn du es wirklich wissen willst, ich habe mit niemandem geschlafen – ich habe übernachtet, ganz einfach in einer Pension, weil ich erst sehr spät fertig wurde, und fuhr heute morgen zurück. Ich brauchte den ganzen Tag, weil ich eine Panne hatte – die Benzinpumpe war kaputt –, und ich mußte stundenlang warten, bis der ÖAMTC kam, um sie zu reparieren. Das ist alles.« Sie fing an zu weinen. »Es tut mir leid, daß ich dich geschlagen habe, aber macht es denn wirklich so viel aus, wenn ich einen Tag lang fortfahre, um Gottes willen?« Während der letzten Nacht noch hatte er versucht, seine Verdächtigungen vernünftig zu betrachten, aber jetzt fühlte er, daß sie ihn anlog. Er war gekommen, um sich ihr anzuvertrauen, aber plötzlich war er vorsichtig. »Ich habe dich gebraucht«, sagte er. »Ich habe während der letzten zwei Tagen sehr viel um die Ohren gehabt – Sarah ist entführt worden.«
»Was? Du machst doch keine Witze?« Aber dann sah sie den Ausdruck in seinen Augen. »Oh, Bill – mein armer Liebling. Was ist passiert?« »Sarah ist von jemandem entführt worden – ich nehme an, vom KGB – und wird in Ungarn gefangengehalten. Ich habe es erst heute morgen erfahren, und jetzt versucht man, mich zu erpressen, Spionage für sie zu treiben, damit sie freigelassen wird.« »Mein Gott – wie schrecklich.« »Und heute abend hat man mein Haus durchwühlt und dem Polizeibeamten, der es bewacht, die Kehle durchgeschnitten.« Sie umarmte ihn. »Und gerade, als du mich brauchtest, war ich nicht da. Oh, Bill – es tut mir so leid.« Er fühlte ihre warmen Tränen an seinem Hals herunterlaufen und sah ihr Gesicht an, das vom Weinen plötzlich häßlich und verschwollen war; trotzdem kam er nicht von dem Gedanken los, daß sie ihm etwas vorspielte. Sie bat ihn, sich hinzusetzen, holte eine Flasche Rotwein und zwei Gläser und kauerte sich auf dem Teppich zu seinen Füßen nieder. Er trank schweigend den Wein und erzählte ihr dann von den Ereignissen der vergangenen Woche, obwohl instinktiv ein kleines Metallgitter in seinem Verstand herunterrollte, das ihn daran hinderte, Golitsyn oder Vietnam zu erwähnen; er sprach auch nicht über Rozinski, obwohl er andeutete, daß er eine Operation verraten sollte, die in einem der sowjetischen Satellitenstaaten eine Revolution anschüren sollte. In der warmen Geborgenheit des kleinen Zimmers hatte er das Gefühl, ein Geständnis abzulegen – er konnte sich ja sonst niemandem anvertrauen –, und er fühlte sich schon viel besser. Naomi hatte aufgehört zu weinen, aber ihr bewegter Gesichtsausdruck zeigte so viel Anteilnahme, daß er versucht war, zu glauben, daß es falsch von ihm gewesen war, ihr zu mißtrauen.
»Ich mache mir schreckliche Sorgen um Sarah«, sagte er. »Sie haben angedroht, daß sie sie töten werden. Sie muß sich in Todesangst befinden – sie ist doch erst neunzehn.« Sie streichelte zärtlich sein Gesicht. »Ja – ich weiß, wie sehr du sie liebst. Aber, um Himmels willen, Bill, du bist doch schließlich ein Diplomat. Was unternimmt denn deine Regierung?« Da rollte das kleine Metallgitter in seinem Verstand wieder herunter, und Cable sagte nichts von dem Bericht, den er nach London geschickt hatte. Er wollte sie nicht bewußt täuschen – aber nach sechzehn Jahren als Geheimdienstbeamter handelte er nahezu automatisch. »Ich habe ihr nichts davon erzählt. Was kann sie denn schon Nützliches unternehmen?« Er nahm einen weiteren Schluck Wein. »Vielleicht sollte ich tun, was diese Hundesöhne verlangen und zu Gott beten, daß sie ihre Abmachung einhalten und Sarah freilassen.« Er hielt inne, um ihre Reaktion zu beobachten. Zunächst antwortete sie nicht und starrte schweigend in ihr Weinglas, ihr Gesicht sah im Schein der Tischlampe ernst aus. »Wahrscheinlich ist es nicht richtig, Bill, aber du hast deinem Land in der Vergangenheit mehr als gedient – und das tust du schon seit Jahren. Jetzt sollte Sarah den Vorrang haben.« Sie sprach ohne Erregung, weder befürwortend noch ablehnend. »Ginge das? Würde das gutgehen?« Er ging gegen Mitternacht, als sie im Halbschlaf auf dem Sofa lag, und verließ die Wohnung auf Zehenspitzen. Als er den Stadtpark erreichte, wurde ihm klar, daß er seinen kleinen Aktenkoffer in ihrer Wohnung gelassen hatte. Er klingelte zweimal kurz, um sie nicht zu plötzlich aus dem Schlaf zu reißen, aber es wurde nicht aufgemacht. Er klingelte wieder, dieses Mal lang und anhaltend, und hämmerte dann an die Tür. Keine Antwort.
Auf derselben Etage öffnete sich eine Tür, und ein übertrieben zurechtgemachtes Mädchen mit blonden Haaren, die so stark mit Haarspray behandelt worden waren, daß sie wie ein Helm wirkten, spähte heraus. Sie trug einen langen, leicht geöffneten Morgenmantel, unter dem sie offensichtlich nackt war. »Sie ist wahrscheinlich nicht zu Hause«, sagte sie, wobei sie ein Knie aufreizend wie eine Nachtclubtänzerin anzog. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?« »Nein.« Cable wandte sich angeekelt um und starrte enttäuscht und wütend die geschlossene Tür an. Er rannte die Treppe hinunter. An der Eingangstür machte er eine Pause und blickte sich nach einer Telefonzelle um, um Naomi auf diese Weise aufzuwecken; seine Glieder fühlten sich bleiern vor Müdigkeit an, als er wieder auf den Stadtpark zuging. Der Mann in dem Volkswagenkäfer, der am Straßenrand geparkt stand, machte sich im gelben Licht seiner Taschenlampe eine Notiz: »Cable hat das Haus zum zweiten Mal um 0 Uhr 25 verlassen.« Der Sitz neben ihm war leer; sein Begleiter war fortgegangen, um die Frau zu beschatten, die, kurz bevor Cable zurückkam, das Gebäude zu Fuß verlassen hatte. Er gähnte und dachte darüber nach, wie lange sie wegbleiben würde und wo sie hingegangen war. Verdammt – er hätte eigentlich schon um Mitternacht Schluß machen sollen. Aber er hatte ja eine Aufgabe zu erledigen, und schließlich hatten sie die Frau erst entdeckt, als sie um sieben Uhr abends mit einem Zug aus Budapest zurückkehrte.
Wien
Zum ersten Mal seit einer Woche war Cable fähig, dem Sicherheitsbeamten ins Auge zu blicken, als er am folgenden Morgen die Botschaft betrat. Ein metallisches »Guten Morgen, Sir« knisterte durch das Mikrofon hinter der kugelsicheren Scheibe in der Eingangshalle. Auch sein Büro wirkte nicht mehr wie ein Gefängnis auf ihn. Seine Sekretärin hatte die morgendliche Post und die Telegramme auf seinem Schreibtisch ausgebreitet. Er ging sie kurz durch – alles Routinesachen, es befand sich keine Antwort auf seinen chiffrierten Bericht, den er gestern abgeschickt hatte, darunter. Damit war die Sache offensichtlich gelaufen; es kam ja nicht jeden Tag vor, daß ein Diplomat – auch wenn es sich nur um einen Botschafter vierten Ranges handelte – berichtete, daß seine Tochter entführt worden war und er selbst vom KGB erpreßt wurde. Natürlich hatte die Sicherheitsabteilung erst gestern nachmittag seinen Bericht erhalten, aber er hatte besonders betont, daß er dringend auf Anweisungen wartete, bevor er den Russen am Mittwoch wiedertraf – und heute war Dienstag. Er ging zur Tür und bat seine Sekretärin, einen Telefonanruf an den Chef der Sicherheitsabteilung des Auswärtigen Amtes in London durchzustellen. Ein paar Minuten später klingelte sein Telefon. Er hob den Hörer ab. »Ja, Jill?« »Der Abteilungsleiter ist nicht da, Chef, aber ich habe einen Mr. Fisher am Apparat.« »Na gut – dann spreche ich mit dem.«
Nach verschiedenen Klickgeräuschen vernahm er eine hochnäsige Stimme: »Fisher – Sicherheitsdienst. Was kann ich für Sie tun?« »Hier ist Cable von der Mission der Vereinten Nationen in Wien. Ich habe Ihnen gestern einen dringenden Bericht geschickt und hatte an diesem Morgen auf eine Antwort gehofft. Wissen Sie über die Angelegenheit, von der ich spreche, Bescheid?« Eine kurze Pause. »Ja – der Fall ist mir bekannt.« Die letzten Worte wurden mit einer Art von Unbehagen ausgesprochen. »Nun – und was, zum Teufel, gedenkt man deswegen zu tun?« »Cable, darüber kann ich mit Ihnen über eine offene Telefonleitung nicht diskutieren. Aber ich glaube, daß jemand Sie in ein oder zwei Tagen besuchen kommt – nicht von hier natürlich, sondern von unseren Freunden südlich des Flusses. Man wird mit Ihnen in Kontakt treten.« »Aber ich habe keine Zeit, zwei Tage zu warten, verdammt noch mal.« »Hören Sie mal, Sie sind nicht der einzige dringende Fall.« Die hochnäsige Stimme betonte das Wort »Fall«. »Führen Sie nur Ihren Job weiter aus, alter Junge, und warten Sie darauf, daß wir wieder mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Sie haben getan, was Sie konnten.« Dann wurde der Hörer aufgelegt. Cable spielte mit dem Brieföffner auf seinem Schreibblock und hielt ihn wie einen Degen. Hinter der ausweichenden Art des Mannes lag etwas Merkwürdiges. Er stieß den Brieföffner heftig in die lederne Schreibunterlage und griff nach dem anderen Telefon, von dem aus er durchwählen konnte, und wählte die Nummer des Cut in London. Als der Telefonbeamte mit »Century House« antwortete, fragte Cable nach David Nairn.
Eine freundliche Frauenstimme meldete sich: »Büro von Sir David Nairn.« »Bitte, ist Sir David zu sprechen? Hier ist Bill Cable, Botschafter bei den Vereinten Nationen in Wien.« »O ja, Mr. Cable. Es tut mir leid, aber Sir David ist nicht da. Seit er Stellvertretender Generaldirektor geworden ist, reist er furchtbar viel herum.« »Wann erwarten Sie ihn zurück?« »In drei Tagen – soll ich ihn bitten, Sie zurückzurufen?« »Wo ist er jetzt?« Die Frau zögerte. »Das sollte ich Ihnen eigentlich nicht sagen, Mr. Cable. Er befindet sich jetzt irgendwo zwischen Hongkong und Singapur, und ich habe keine Möglichkeit, ihn zu erreichen. Aber ich weiß, daß Sie ihm gestern die Kopie eines chiffrierten Berichtes geschickt haben, den habe ich nach Singapur weitergeleitet.« »Vielen Dank. Nun, vielleicht könnten Sie Sir David bitten, mit mir so bald wie möglich in Wien in Kontakt zu treten?« »Natürlich, Mr. Cable.« »Danke.« Er legte den Hörer auf und ging zum Fenster. Das Gebäude der sowjetischen Botschaft stand wie immer schweigend und massiv da; heute parkten keine Autos davor, nur die österreichischen Polizeiposten in ihren langen grünen Mänteln, die ihre Maschinenpistolen auf dem Unterarm wiegten, taten ihren Dienst. Nairns Abwesenheit und die ausstehende Reaktion aus London beunruhigten Bill aufs äußerste – und er sorgte sich schrecklich um Sarah. Eine Woche lang war er mit sich selbst im Widerstreit gelegen. Jetzt, als er das Richtige getan und alles gebeichtet hatte, stand er immer noch allein da – zum Teufel mit ihnen allen. Was die Sache noch verschlimmerte, war dieser bohrende Zweifel, daß er Naomi nicht vertrauen konnte.
Seine Sekretärin trat ins Zimmer. »Ich hoffe doch, daß Sie die Konferenz des IAEV-Ausschusses nicht vergessen haben?« Die hatte er tatsächlich vergessen, und er wunderte sich nicht einmal darüber. Heute war der erste Tag einer viertägigen Sitzung des Entscheidungsausschusses des Internationalen Atomenergie-Verbandes, einer der Verbände der Vereinten Nationen, für die er verantwortlich war. »Danke, Jill. Wie sieht das Programm aus?« »Mittagessen mit den Delegationsleitern der Europäischen Gemeinschaft im Restaurant des UNO-Zentrums zu Zwecken der Koordination. Der Ausschuß beginnt um drei Uhr. Sie sollten um etwa halb eins losfahren.« »Wer ist der Gastgeber bei diesem europäischen Mittagessen?« »Madame Vandenbemdem, die belgische Botschafterin.« »Könnte ich mich vielleicht entschuldigen?« »Nein – das geht nicht. Irgend jemand aus Großbritannien muß hingehen, und Mr. Skilbeck ist nicht abkömmlich.« »Delacroix taucht da auch nie auf.« Jill setzte ein wissendes Lächeln auf und befingerte ihr Kette aus falschen Perlen. »Nun – es ist uns ja allen bekannt, daß in Frankreich die Dinge anders laufen. Soll ich den Wagen für halb eins bestellen?« Cable nickte. Es war allgemein bekannt, daß eine der Freundinnen Delacroixs’ ihre Wohnung in der Nähe der UNOEnklave hatte, aus der er gewöhnlich fünf Minuten vor einer wichtigen Konferenz entspannt und fröhlich auftauchte. »Okay«, sagte Cable. »Ich fahre um halb eins rüber.«
Der Nachmittag war fürchterlich. Das Konferenzzimmer war riesig, fensterlos, und die Klimaanlage brachte die Temperatur auf wenig mehr als den Nullpunkt. Die vierunddreißig
Mitglieder, von denen jedes ein anderes Land vertrat, saßen – ihre Berater hatten sich hinter ihnen postiert – an einem riesigen, hufeisenförmigen Tisch und blickten den Vorsitzenden an, der unter dem weißen Kunststoffemblem eines Atoms, das von einer Girlande von Olivenzweigen umgeben war, saß. Die Lampen leuchteten grell, und der Teppichboden des Raumes war in einem abscheulichen Orange gehalten. Der Vorsitzende war ein höherer Beamter des japanischen Auswärtigen Amtes, der ihnen die langweilige Tagesordnung in perfektem Englisch vorlas – die von Dolmetschern, die sich in Glaskabinen über ihnen befanden, synchron in russisch, französisch und spanisch übersetzt wurde. An jeder Sessellehne befand sich ein Kopfhörer und eine Wählscheibe, auf der man zwischen englisch oder den anderen drei Sprachen wählen konnte. Es war Cables Aufgabe, die britische Meinung zu jedem Thema auszusprechen, die er im allgemeinen von einem maschinegeschriebenen, in London vorbereiteten Dokument ablas. Während der restlichen Zeit war er angehalten, die Diskussion mitzuverfolgen, für den Fall, daß eine weitere Erklärung nötig war. Aber da zwei Drittel seiner Gedanken mit Sarah beschäftigt waren, hatte er Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Gott sei Dank würde für den Rest der Woche ein Staatssekretär aus London statt ihm an der Tagung teilnehmen. Die Konferenz war um sechs Uhr zu Ende, und Cable lief ziellos durch den Raum. Kardos saß in einer Ecke, von der aus er zugehört hatte, denn der Heilige Orden gehörte dem Ausschuß nicht an. »Irgendwelche Neuigkeiten aus Pakistan, Bill?« Seine Augen verzogen sich zu einem Lächeln. »Du siehst müde aus, mein Freund – hast du Zeit, mit mir unten einen zu trinken?«
Cable wollte die Frage gerade bejahen, als eine Sachbearbeiterin der UNO ihn am Ärmel zog. Sie war eine hübsche Österreicherin, die ein Dirndl mit einer Spitzenschürze trug. »Es tut mir leid, Sie unterbrechen zu müssen, Mr. Cable, aber Ihre Sekretärin hat angerufen und möchte Sie dringend sprechen.« »Ist sie noch am Telefon?« »Ja – Kabine drei gleich draußen vor der Tür.« Cable nickte Kardos zu. »Tut mir leid, Laszlo – entschuldigst du mich bitte für einen Moment?« Er eilte in die Telefonkabine im Korridor und hob den Hörer auf. »Ja – Jill?« »Mr. Cable. Ich hatte das Gefühl, daß ich Sie anrufen sollte. Ich habe ein dringendes Telegramm aus London bekommen, das ich nicht verstehe. Soll ich es Ihnen vorlesen? Es ist nicht mit ›Geheim‹ bezeichnet.« »Ja bitte.« Cable verspürte plötzlich Angst. »Es ist von der FCO in London und an Sie adressiert. Es lautet: ›Habe Ihre Nachricht 84271 vom 17. September erhalten. Untersuchungsbeamter des Verteidigungsministeriums kommt am 20. September an. Wir bitten um freundliche Unterstützung in jeder Weise.‹« »Ist das alles?« »Ja – das ist alles. Ich kann mich allerdings nicht daran erinnern, das Telegramm 84271 gesehen zu haben.« »Nein. Ich habe es selbst chiffriert.« Cable biß sich auf die Lippe, um die Fassung zu bewahren. »Okay, danke. Wir sehen uns morgen früh.« Er legte den Hörer auf und blieb in der Zelle stehen, der Schweiß lief ihm in Strömen das Gesicht herunter. Er wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn ab; seine Hände zitterten. Verteidigungsministerium war ein allgemeiner Euphemismus für den Geheimdienst – aber an der Nachricht stimmte etwas nicht, genauso, wie etwas nicht gestimmt hatte, als er am
Morgen mit diesem Fisher aus der Sicherheitsabteilung gesprochen hatte. Er hatte um Hilfe gebeten – nicht um einen »Untersuchungsbeamten«. Er spürte, daß er wieder unter Beschuß stand – und daß seine schlimmsten Befürchtungen wahr wurden. Er schritt zum Rundgebäude und nahm den Aufzug zum Diplomatenparkplatz. Er war voll von großen schwarzen Limousinen, aber am Straßenrand wartete Fritz mit dem Ford Minster. »Zur Botschaft, Sir?« »Nein. Bringen Sie mich bitte nach Hause.«
Als er in Grinzing angekommen war, schickte Cable den Wagen fort und schenkte sich einen großen Whisky ein. Er versuchte Naomi in ihrer Wohnung zu erreichen, sie meldete sich aber nicht, also rief er in der Kunstgalerie an. Der Besitzer sagte, daß sie nach Hause gegangen war. Ärgerlich zog er sich seinen schweren, grünen Lodenmantel an und verließ seine Villa. Er war zornig und deprimiert, und während er zum Dorf herunterschritt, zog er seine Schultern gegen den kalten Wind hoch. Die Hauptstraße Grinzings war dunkel, wurde nur durch ein paar Straßenlaternen beleuchtet – und menschenleer. Die Touristensaison war vorüber, und es war noch zu früh am Abend für die Wiener, ein Heurigen-Lokal zu besuchen. Er ging zu einem Gasthaus, in dem er noch nie vorher gewesen war. Es hatte einen einzigen Raum, von der Straße erreichbar, mit einem geschrubbten Holzboden und grüngestrichenen Tischen und Stühlen. An einem Ende befand sich eine Vitrine mit Wurst und Käse und anderen Köstlichkeiten, und zwei Kellnerinnen in Dirndlkleidern servierten den Wein. Abgesehen von einem Paar in einer Ecke – dem Akzent nach Amerikaner – war das Lokal leer.
Cable setzte sich an einen Tisch neben einem altmodischen, blaugekachelten Ofen, der bis zur Decke reichte. Er war geheizt und strahlte mehr Wärme als ein moderner Heizkörper aus. Eine der Kellnerinnen kam an seinen Tisch, und er bestellte ein Viertel Rotwein, das sie ihm in einem kleinen Henkelglas servierte. Er stürzte es herunter und bestellte ein weiteres, das er etwas langsamer trank. Er überlegte, ob er sich nicht etwas zum Essen oder Mineralwasser zum Verdünnen des Weins bestellen sollte, aber sein Zorn und seine Depression machten ihn gleichgültig. Er dachte ständig an Sarah, die irgendwo eingesperrt war, und verspürte Lust, den jungen Russen, der sich Gordon nannte, umzubringen. Dann dachte er an die Bedrohung, die das Doppelspiel, das er vorhatte, für seine Tochter bedeutete, und er hätte am liebsten geweint. Aber zu einem Zurückzug war es zu spät – er hatte bereits die zuständigen Stellen in London benachrichtigt – noch dazu schriftlich – großer Gott! Es könnte sogar sein, daß das Auswärtige Amt diese Meldung zu Gesicht bekam. Er benötigte dringend die Hilfe seiner Leute, und er schien sie nicht zu bekommen. Nach dem vierten Viertel fühlte er sich wie betäubt und begann, alles doppelt zu sehen. Er bestellte ein fünftes Viertel, obwohl er sich klar war, daß er schon genug getrunken hatte, trank es in einem Zug aus, ließ einen Hundertschillingschein auf dem Tisch liegen und torkelte auf die Straße hinaus, wobei er neugierig von den amerikanischen Touristen beobachtet wurde. Er hörte Schritte hinter sich, und dann zupfte jemand an seinem Ärmel. Es war die Kellnerin, die ihn mit erhitzten Wangen ansah. Er machte sich ärgerlich los. »Was ist denn los?«
»Sie haben Ihren Mantel vergessen, mein Herr«, sagte sie scheu und half ihm in seinen Lodenmantel. »Und Ihr Wechselgeld.« »Behalten Sie’s – danke.« »Ich danke Ihnen, mein Herr.« Sie machte einen Knicks. Die kalte Nachtluft ernüchterte ihn so weit, daß ihm bewußt wurde, wie sehr er schwankte. Er bog von der Dorfstraße in die Himmelstraße ab und hielt dort an, um sich gegen eine Mauer zu lehnen. Aus dem Schatten näherte sich eine Gestalt, die ihn am Ärmel griff. »In diese Richtung, mein Freund. Sie haben es nicht mehr weit.« Cable zuckte bei dem Klang der unbekannten slawischen Stimme zurück, aber ein starkes Händepaar ergriff seine Schultern und führte ihn zu seinem eigenen Eingangstor. »Botschafter«, flüsterte die Stimme eindringlich. »Können Sie mich verstehen?« Cable wich wieder zurück. »Ja – wer, zum Teufel, sind Sie?« Plötzlich bekam er einen lauten Schluckauf. »Sie gehen doch morgen um zehn Uhr früh sicher zu dem Ausschuß des IAEV? Ja? Aber Barker fliegt heute abend von London her, um Ihren Platz einzunehmen?« »Ja.« Sie waren am Eingangstor angekommen. »Dann schlüpfen Sie um elf Uhr aus der Konferenz heraus. Nehmen Sie den Aufzug im Turm A des UNO-Gebäudes zum 27. Stockwerk. Dann gehen Sie zum Notausgang und steigen zwei Stockwerke bis zum Dach hinauf. Dort treffen Sie Gordon.« Die Gestalt wich in den Schatten zurück, und Cable taumelte die Treppe zu seiner Eingangstür hinauf, wo er nach seinen Schlüsseln suchte. Er war nicht zu betrunken, um entsetzt zu sein, daß Gordon ihn so genau überwachen ließ. Im Inneren des Hauses zog er sich die Treppe hoch und schaltete das Licht in seinem Schlafzimmer an, wobei ihn sein Schluckauf noch immer plagte. Naomi setzte sich im Bett auf
und bedeckte ihre Augen mit den Händen, um sie vor der plötzlichen Helligkeit zu schützen. »Hallo, Bill, wo um alles in der Welt bist du gewesen? Du siehst ziemlich betrunken aus.« Der Aktenkoffer, den er in ihrer Wohnung vergessen hatte, lag jetzt auf seinem Nachttisch. »Ich hatte schon eine Ahnung, daß du kommen wolltest«, murmelte er. Ein Mann, der ihn beschattete, eine Frau, die über Nacht ein Auge auf ihn hielt… Er drängte den Gedanken beiseite und beugte sich zu ihr, um ihre nackte Schulter zu küssen.
Wien
Die Ausschußkonferenz des IAEV wurde am Mittwochmorgen um zehn Uhr fortgeführt. Normalerweise blieben die Delegationsleiter während der Sitzung an ihren Plätzen an dem hufeisenförmigen Tisch sitzen, aber ansonsten war ein ständiges Kommen und Gehen von Beratern im Konferenzraum – und hinter den Delegationsleitern saßen Hunderte von Leuten oder standen an die Wand gelehnt, die Papierbündel im Arm hatten und versuchten, beschäftigt auszusehen – infolgedessen war es Cable möglich, ohne Schwierigkeiten kurz vor elf Uhr hinauszuschlüpfen. Das riesige, moderne Gebäude war von der österreichischen Regierung gebaut und den Vereinten Nationen als Geste der neuen demokratischen, neutralen Einstellung des Landes, für die Österreich sich nach seiner Nazivergangenheit entschieden hat, übergeben worden. Als das Gebäude erstellt worden war, hatten die Vereinten Nationen noch den Ruf, eine hoffnungsvolle, sich immer mehr erweiternde Organisation zu sein – das hatte sich inzwischen radikal geändert. Jetzt waren ganze Stockwerke staubig und unbenutzt, und Cable begegnete niemandem, als er zum Aufzug ging. Im 27. Stockwerk eilte er den gewundenen Gang entlang. Eine Tür öffnete sich, und das pockennarbige Gesicht von Hernandez, dem argentinischen Rechtsberater, schaute heraus. »Oh, Bill.« Er erwartete ihn doch hoffentlich nicht? »Haben Sie ein paar Minuten Zeit? Ich brauche Ihre Unterstützung zur Erneuerung meines Vertrages.« Cable schob ihn beiseite. »Nicht jetzt, Larry. Ich bin mit Dingen des Ausschusses beschäftigt – sollten Sie nicht auch dort unten sein?« Er eilte weiter durch den Notausgang, dessen
Tür hinter ihm zuschlug, zur Treppe. Er rannte zwei Treppenfluchten hinauf und kam schließlich durch eine Stahltür aufs Dach. Der kalte Wind schnitt ihm wie ein Skalpell in die Haut, denn er trug über seinem leichten Anzug keinen Mantel. Er befand sich achtundzwanzig Stockwerke hoch, und die Aussicht über die Stadt war atemberaubend, aber die starken Windstöße machten es ihm schwer, aufrecht zu stehen. Gordon winkte ihm vom Schutz des Häuschens, in dem sich die Aufzugmotoren befanden, aus zu: Er trug einen zweckmäßigen, langen Wintermantel und eine Pelzmütze. Die beiden Männer kauerten sich im Windschatten der Betonmauer zusammen. Von dieser Höhe aus sah die gerade Linie der Donau verhältnismäßig schmal aus, und die Autos und Lastwägen, die über die lange Brücke fuhren, wirkten wie schwarze Ameisen. Gordon schenkte ihm ein halbes Lächeln. »Ich glaube, hier oben werden wir nicht gestört, aber wir dürfen uns nicht zu lange hier aufhalten, sonst frieren Sie sich noch zu Tode.« Er hielt inne. »Nun – was haben Sie mir zu sagen?« Cable zögerte und fühlte eine Welle von Zorn in sich aufwallen. Seine eigenen Leute hatten zwei Tage Zeit gehabt, um ihm zu sagen, wie er sich verhalten sollte, aber niemand hatte sich um sein Problem gekümmert. Er mußte also improvisieren. »Die Operation ›PIRANHA‹ ist dazu bestimmt, eine bewaffnete Gruppe in einen Ihrer Satellitenstaaten zu schmuggeln«, sagte er langsam und mußte dabei beinahe schreien, um gegen das Heulen des Windes anzukommen. »Sie soll Unruhe verbreiten und einen Aufstand gegen die Regierung anstiften. Leider war es mir nicht möglich, mehr zu erfahren!« Die Augen des jungen Russen blickten ihn durchdringend an. »Handelt es sich um Polen?«
Cable erinnerte sich plötzlich an Sarahs junges, von Furcht erfülltes Gesicht, als sie nach Lucys Unfall auf ihn zugelaufen war. Scheiß auf das Auswärtige Amt, dachte er. Scheiß auf Century House. »Ja.« »Gut, Bill. Ich bin wirklich davon überzeugt, daß Sie uns helfen wollen, was in Anbetracht Ihrer Tochter auch das Vernünftigste ist. Aber jetzt fehlen uns noch ein paar wichtige Informationen. Datum? Zeit? Wie viele Männer? Wo befinden sie sich jetzt, und wie sollen sie eingeschmuggelt werden? Wie werden sie bewaffnet sein? Schließlich – und das ist am wichtigsten – bringen sie riesige Vorräte an Waffen und Sprengkörpern für die Regimekritiker und Saboteure, die sich jetzt schon in Polen befinden, mit?« »Das weiß ich nicht. Ich habe keinen detaillierten Plan, ich kenne nur die grobe Linie.« Gordons Augen verengten sich. »Aber Sie können es herausfinden, Bill – nicht wahr, das können Sie doch?« Ein plötzlicher Windstoß zwang ihn, seine Pelzmütze festzuhalten. »Ich werde es versuchen – ich möchte Sarah zurückhaben.« »Können Sie die Informationen innerhalb von vierundzwanzig Stunden herbeischaffen?« Cable bemerkte, daß die drohende Haltung, die Gordon bei ihrem letzten Treffen in der Morgendämmerung in Kritzendorf gezeigt hatte, verschwunden war; der junge Russe war bereit, ihm zu vertrauen. »Ich versuche es – könnten wir uns morgen am späten Nachmittag wieder treffen?« »Ja. Auf dem Kahlenberg. Ich werde im Wald in der Nähe des Parkplatzes außerhalb des Krapfenwalder Schwimmbads auf Sie warten. Zu dieser Jahreszeit ist es geschlossen, und es wird vermutlich niemand dort sein. Um zehn Minuten vor sechs.«
Niemals um die volle oder die halbe Stunde, bemerkte Cable. Es muß immer ganz zufällig aussehen. Laut sagte er: »Ich werde da sein.« »Gut – übrigens, Bill, haben Sie noch die kleine Kamera, die ich Ihnen gegeben habe?« »Ja.« »Dann fotografieren Sie so viele Dokumente wie möglich, okay?« Gordon versetzte ihm einen spielerischen Stoß gegen die Schulter. »Das bedeutet nicht, daß wir Ihnen nicht vertrauen, aber wir brauchen stichhaltige Beweise, okay?« Er drehte sich um, eilte durch die Tür in der Nähe der Brüstung und verschwand. Cable lief ihm nach und griff nach dem Griff der orangefarbenen Tür. Sie blieb zu – sie war offensichtlich auf der anderen Seite verschlossen worden. Einen Moment lang geriet er in Panik – wenn man ihn ausgesperrt hatte, konnte er in dieser Kälte umkommen. Dann wurde ihm klar, daß es sich um eine offensichtliche Vorsichtsmaßnahme handelte. Gordon wollte nicht verfolgt werden und hatte sicherlich eine andere Tür für Cable offengehalten. Er kämpfte sich durch den Wind an der hohen Brüstung entlang, bis er eine unverschlossene Metalltür fand. Er öffnete sie, und die plötzliche Wärme und Ruhe ließen ihn erkennen, wie kalt und laut es draußen gewesen war. Nach einem langweiligen Mittagessen mit der britischen Delegation des IAEV ließ Cable sich zur Botschaft zurückfahren. Er bat Jill, in sein Büro zu kommen. Sie setzte sich mit ihrem üblichen tüchtigen Gehabe mit gezücktem Bleistift hin – Haare adrett und nett, zwei Jahre älter als er und mit beiden Füßen auf dem Boden stehend. »Ich möchte ein Eiltelegramm nach London mit einer Kopie an Sir D. Nairn in Singapur schicken.«
»Eiltelegramm?« fragte sie nach. Bei einem Eiltelegramm handelte es sich um die höchste Priorität, die sonst nur für Weltkrisen und Kriegserklärungen reserviert war. »Ja. Eiltelegramm. Einstufung ›Streng Geheim‹: Betreffend mein Telegramm 84271 vom 17. September, ein Untersuchungsbeamter wird nicht benötigt, wird aber bei seiner eventuellen Ankunft unterstützt. Ich benötige jedoch dringende, ich wiederhole, dringende Anweisungen über mein Verhalten gegenüber dem feindlichen Agenten bis spätestens 14 Uhr am 20. September. Cable.« »Ist das alles?« Ihre freundlichen Augen blickten ihn sorgenvoll an. »Stimmt irgend etwas nicht?« »Das kann ich Ihnen leider nicht sagen, Jill. Tippen Sie es, und schicken Sie es bitte so schnell wie möglich ab.« Sie hatte gerade sein Büro verlassen, als an die Tür geklopft wurde und Skilbecks rothaariger Kopf im Rahmen erschien. »Kann ich hereinkommen, Bill?« »Natürlich – setzen Sie sich.« Er deutete auf einen Stuhl in der Nähe des Schreibtisches. Skilbeck setzte sich unbehaglich. »Während Sie im UNOZentrum waren, ist Barron beinahe verrückt geworden. Vielleicht sollten Sie mal zu ihm rübergehen.« Er schlug verlegen seine Augen nieder und sprach dann schnell weiter. »Es liegt eine Benachrichtigung von der ungarischen Botschaft vor. Es handelt sich um Ihre Tochter. Es heißt, daß sie in Budapest wegen Heroinschmuggels festgenommen worden ist.« Cable lehnte sich zurück und fühlte plötzlich, daß er die Situation beherrschte. »Das stimmt nicht ganz«, sagte er ruhig. »Sarah ist entführt worden. Und vor zwei Tagen versuchte jemand von der sowjetischen Botschaft, mich zu einer Mitarbeit zu erpressen, wenn ich tue, was sie von mir verlangen, würde sie freigelassen. Ich habe abgelehnt.«
Skilbeck war verwirrt. »Haben Sie das irgend jemandem erzählt, Bill? Wissen Sie, ich finde wirklich, daß Sie jetzt zu Barron gehen sollten.« Er klang mißtrauisch. »Sagen Sie Barron, daß er willkommen ist, jederzeit herunterzukommen und mich zu besuchen«, erwiderte Cable eisig. »Zu Ihrer eigenen Information, Paul, ich habe am Montag einen umfangreichen chiffrierten Bericht an die Sicherheitsabteilung in London und auch an Ihre Abteilung abgeschickt. Aber, um Himmels willen, behalten Sie das für sich; es ist nicht nötig, daß sonst noch jemand damit zu tun bekommt, jedenfalls nicht im Moment.« Skilbeck sah ihn ärgerlich an. »Aber wenn jemand Sie zu erpressen versucht, hätten Sie mir das sagen sollen. Was ist mit der Operation PIRANHA? Das ist eine ganz empfindliche Angelegenheit, und Sie befinden sich mittendrin – aber die Verantwortung trage ich, nicht Sie.« »Die ganze Sache begann erst vor zwei Tagen«, fauchte Cable. »Und niemand gefährdet die Operation PIRANHA. Jemand hat auf Befehl der Moskauer Zentrale meine Tochter entführt und versucht, mich zu erpressen. Ich habe einen Bericht abgefaßt und um dringende Anweisung aus London gebeten – und ich hoffe, daß spätestens morgen etwas ankommt, wobei die Operation PIRANHA mit Sicherheit berücksichtigt wird.« Er schob ungeduldig die Dokumente auf seinem Schreibtisch herum. »Wir können jetzt nichts tun, außer Ruhe bewahren und warten.« Er blickte kurz auf. »Das ist doch hoffentlich in Ordnung?« »Aber Bill – so einfach ist die ganze Sache nicht!« Was Skilbeck auch immer noch sagen wollte, wurde unterbrochen, als ein kleiner Mann mit schütteren, grauen Haaren und einem roten Gesicht mit einer Zeitung unter dem Arm ohne Vorwarnung die Bürotür öffnete und hereinmarschierte. Es war Barron, der Botschafter für Österreich.
»Cable!« schrie er und schleuderte die Zeitung auf den Schreibtisch. »Was, zum Teufel, geht hier vor?« Bei der Ausgabe handelte sich es um den »Kurier«, eine Boulevardzeitung, auf deren Vorderseite das Foto abgebildet war, das Cable in Kritzendorf gesehen hatte: Sarah zusammen mit dem älteren Vernehmungsbeamten in Budapest. Die Überschrift war deutlich: »Tochter eines britischen Botschafters wird wegen Heroinschmuggels festgehalten.« Cable lehnte sich wieder zurück, wobei er sehr viel gelassener aussah, als er sich fühlte. »Es tut mir leid, daß ich Ihnen von der Sache vorher noch nichts erzählen konnte, Barron. Sarah ist entführt und nach Budapest gebracht worden – der KGB versucht, mich zu erpressen, um ihre Freilassung zu bewirken. Ich habe einen umfangreichen Bericht nach London geschickt und erwarte weitere Anweisungen.« »Aber was, um Himmels willen, soll denn das Gerede über Heroinschmuggel! So wie die Sache dargestellt wird, denkt alle Welt, dieses Mädchen sei meine Tochter!« Cable stand abrupt auf. »Meine Tochter ist entführt worden, Barron. Diese Drogengeschichte ist eine reine Erfindung – ein Mittel, um uns mit einer Gerichtsverhandlung und einem gemeinen Urteil zu bedrohen. Sie wurde im Burgenland in der Nähe der Grenze aufgegriffen und entführt. Ich habe einen ausführlichen Bericht abgeschickt und erwarte Anweisungen. Sie ist schließlich meine Tochter, Barron. Was glauben Sie denn, wie ich mich im Moment fühle?« »Soll das heißen, daß sie gar nicht in Ungarn war? Sie hat also kein Heroin eingeschmuggelt?« Skilbeck sah ihn anklagend an. »Heißt das, daß es sich um ein Komplott handelt?« »Natürlich handelt es sich um ein verdammtes Komplott«, schrie Cable. »Und ich erwarte, daß London Himmel und Hölle in Bewegung setzt, um sie herauszubekommen.«
»Das wird man bestimmt. Übrigens sieht es so aus, als ob man sie gut behandeln würde.« Skilbeck deutete auf die Fotografie, beäugte Cable aber immer noch mißtrauisch. »Und ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie erpreßt werden können, wenn die Geschichte in allen Zeitungen veröffentlicht wird.« »Ich bin mir verdammt sicher, daß der ›Kurier‹ die Geschichte nicht von den Ungarn oder den Russen bekommen hat. Hier gibt es eine undichte Stelle – hier in Ihrer Mission.« Er deutete mit dem Finger auf Barrons gutgeschnittene Weste. »Ja, das macht es sehr schwer für sie, mich zu erpressen – aber, nur zu Ihrer Information, hatten sie damit sowieso nicht sehr viel Glück.« »Nein – natürlich nicht.« Barron machte eine entschuldigende Geste, und seine Stimme klang ebenso. »Wir sollten vielleicht einen Bericht für die Zeitungen ausarbeiten, Cable – so etwas wie eine Art von Dementi. Vielleicht könnten wir das zusammen machen?« Er holte seinen Füllfederhalter mit der goldenen Feder heraus und sah Skilbeck starr über seine Lesebrille an. Der junge Mann begriff die Andeutung und verließ den Raum. Barron setzte sich an dem langen Tisch nieder, zog einen Block mit blauem Papier zu sich herüber und begann, ihn mit seiner umständlichen Handschrift zu bekritzeln. »Ich schlage vor, wir lassen das von London freigeben und versuchen, es in die Morgenausgaben zu bringen.«
Cable kam erst kurz nach 21.00 Uhr in die Himmelstraße zurück. Es überraschte ihn nicht, daß Naomi nicht da war. Der unausgesprochene Verdacht hatte sich verdichtet, und am Morgen hatten sie sich relativ kühl verabschiedet. Er machte sich ein paar Käsetoasts in der Küche und ging dann zu Bett.
Um halb sieben wurde er von lang anhaltendem Klingeln aufgeweckt. Zunächst glaubte er, daß es das Telefon sei, aber als er nach dem Hörer langte, wurde ihm bewußt, daß das Klingeln von unten kam. Jemand war an der Eingangstür. Er zog seinen Bademantel an, konnte aber die Hausschuhe nicht finden. Er lief in die Eingangshalle hinunter, wobei die Kälte der Fliesen durch seine Fußsohlen drang. Er öffnete die Eingangstür und sah drei Gestalten in der Dunkelheit stehen. Das Licht der Eingangshalle fiel auf das Gesicht des kleinsten, der den Klingelknopf betätigt hatte. Ein überhebliches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Hallo, Bill.« »Stuart!« Cable begrüßte distanziert den ehemaligen Kollegen und trat zurück. »Was machen Sie denn hier? Wissen Sie eigentlich, wieviel Uhr es ist?« »Ziehen Sie sich an, Bill. Sie kommen jetzt mit uns.« Stuart trat ein. Sein kleiner Körper war in einen doppelreihigen Mantel gehüllt, sein aalglattes, olivenfarbenes Gesicht hatte sich in dreizehn Jahren kaum verändert. Die beiden Männer, die ihm folgten, waren gut angezogen, aber massiv gebaut und wirkten hartgesotten. Einer von ihnen schloß die Tür hinter sich. »Ich gehe nirgendwo hin«, protestierte Cable mit trockenen Lippen. »Verlassen sie bitte mein Haus!« »Ich befinde mich hier auf Anweisung der Sicherheitsabteilung des Auswärtigen Amtes, Bill. Wir fahren jetzt zusammen zu einem Sicherheitshaus in Salzburg, wo wir uns ohne Störung unterhalten können. Wenn Ihre Botschaft um neun Uhr aufmacht, wird Ihr Büro dementsprechend informiert werden.« Cables anfängliche Furcht wurde von Zorn übermannt. »Raus mit Ihnen!« schrie er, »raus mit Ihnen, bevor ich Sie eigenhändig vor die Tür setze – und schauen Sie bloß, daß Sie
Ihre beiden Freunde mitnehmen! Wer, zum Teufel, glauben Sie eigentlich, daß Sie sind? Ich bin fast überrascht, daß ein Schleimscheißer wie Sie genug Mut hat, sich so zu benehmen!« »Wir befolgen nur die Anordnung von ganz oben, Bill.« Stuarts vornehme Aussprache klang so präzise wie immer. Cable wollte den Telefonhörer abheben, aber einer der Begleiter schob ihn vom Apparat weg. »Sie haben doch gehört, was der Mann gesagt hat«, grummelte er. »Gehen Sie, und ziehen Sie sich etwas an.« »Er hat recht«, nickte Stuart, wobei er einen blauen Briefumschlag aus der Innentasche seines Mantels zog. »Hier habe ich die offizielle Aufforderung der Sicherheitsabteilung, daß Sie uns begleiten sollen. Wenn Sie wollen, können Sie sie durchlesen.« Er nickte wieder, und der andere holte ein Paar Handschellen aus seiner Tasche hervor. »Folgen Sie uns jetzt freiwillig – oder soll ich die Burschen bitten, Sie dazu zu zwingen?« Cable zögerte. »Mein Gott«, brüllte Stuart. »Hören Sie endlich mit Ihren Spielchen auf. Wenn Sie es wirklich so wollen, nehmen wir Sie fest und bringen Sie, so wie Sie jetzt sind, zum Auto – es steht am Hinterausgang, und niemand wird uns sehen.« Cable wußte, daß er keine Wahl hatte. Mit einem verachtungsvollen Blick ging er die Treppe hinauf, wobei ihm die beiden Männer folgten. Eine Stunde später befand er sich auf dem Rücksitz eines Ford Granada zwischen Stuarts beiden Helfern, während sie auf die Salzburger Autobahn zufuhren. Es war genauso, wie von den Russen entführt zu werden.
Moskau und Wien
Sarah war ziemlich sicher, daß sie sich jetzt in der Nähe Moskaus befand. In den Lieferwagen, der sie vom Flugplatz hergebracht hatte, war ein kleines vergittertes Fenster eingelassen, durch das sie einen abscheulichen, altmodischen Wolkenkratzer erblickt hatte, der oberhalb des Flusses auf einem hölzernen Grat stand. Er erinnerte sie an ein Foto des Universitätsgebäudes auf dem Leninhügel, das sie früher einmal gesehen hatte. Niemand sprach sie an, als der Lieferwagen im Hof ankam; zwei Wärter drängten sie eilig einen Korridor entlang und in eine Zelle. Darin befand sich eine schmale Metallpritsche, ein Holztisch und ein Stuhl – und ein Fenster, das ganz oben in die Mauer eingelassen war und durch das sie ein Stück Himmel sehen konnte. Ihre Glieder waren steif, da sie den Großteil der Reise über gefesselt gewesen war, aber jetzt streckte sie ihre Arme und Beine erleichtert aus. In den langen Stunden der Einsamkeit hatte Sarah sich selbst besser kennengelernt, und sie war selbstbewußter geworden. Sie weinte jetzt nur noch selten und hatte eine erstaunliche Reserve an innerer Stärke in sich entdeckt, die sie überraschte. Trotzdem wünschte sie sich, daß sie ihrem Geist mehr zur Unterhaltung bieten könnte – Gedichte, Musik, Mathematik, was auch immer. Um die Leere auszufüllen, hatte sie versucht, sich an die englischen Kirchenlieder, die sie als Kind gesungen hatte, zu erinnern. Sie setzte sich hin und rief sich langsam jedes Wort von »For all the saints…« ins Gedächtnis zurück, denn das hatte viele Strophen und würde sie bestimmt zwanzig Minuten lang beschäftigen. Sie summte die Melodie leise vor sich hin, als
sich die Zellentür öffnete. Ein jüngerer Mann, der einen Anzug trug, kam herein. Er war freundlich und sprach englisch. »Ich bin Bykow vom Komitee für Staatssicherheit. Werden Sie gut behandelt?« Sarah starrte ihn schweigend an. Jedesmal, wenn man sie ansprach, stieg eine Welle von Angst in ihr auf. »Besser als in Ungarn.« »Gut. Ich nehme an, daß Sie gern Ihrem Vater schreiben möchten, also habe ich Ihnen Papier und Schreibmaterial mitgebracht.« Sarah war erstaunt. »Ich habe schon mehrere Male um Erlaubnis gebeten, einen Brief schreiben zu dürfen, aber sie wurde mir immer verweigert – warum gerade jetzt? Werden Sie das, was ich schreibe, zensieren?« Sie blickte ihn mißtrauisch an. »Natürlich werde ich den Brief durchlesen – Sie sind ja schließlich eine Gefangene, was erwarten Sie denn? Aber lassen Sie sich deshalb nicht stören. Sie wollen doch nach Hause zurück, nicht wahr? Sie wollen doch verhindern, daß man Sie wegen Drogenmißbrauchs verurteilt! Unsere Strafen für diese Art von Verbrechen sind äußerst streng.« »Natürlich möchte ich nach Hause zurück – und ich habe keinen Drogenmißbrauch betrieben. Das wissen Sie genausogut wie ich.« »Leider habe ich erwartet, daß Sie das sagen, aber ich habe das Beweismaterial durchgelesen.« Er lächelte dünn. »Wie dem auch sei, ich bin hier, um Ihnen zu helfen, und ich schlage vor, daß Sie jetzt an Ihren Vater schreiben und Ihr großes Bedürfnis ausdrücken, so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren zu können. Es könnte etwas nützen, und wir kümmern uns darum, daß er den Brief erhält.« Sarah setze sich an den kleinen Tisch, auf den er einige Blätter rauhes Schreibpapier und einen Kugelschreiber gelegt
hatte. »Wo sind wir?« Sie nahm den Stift in die Hand. »Moskau?« Er lächelte. »Es hat überhaupt keine Bedeutung, wo wir sind – schreiben Sie ganz einfach nur das Datum. Ich komme später wieder.« Er klopfte an die Zellentür und wurde herausgelassen. Sarah starrte auf den leeren Briefbogen. Endlich hatten Sie etwas verraten – wenn man wollte, daß sie an ihren Vater schrieb, mußte man ihm zumindest gesagt haben, was geschehen war. Während der langen Tage und Nächte seit ihrer Festnahme hatte sie befürchtet, daß er glauben könne, sie sei in einem Anfall verletzten Stolzes einfach verschwunden, und daß er keine Ahnung habe, wo er nach ihr suchen sollte, bis sie – oder wenn sie – vor Gericht gestellt würde. Jetzt fühlte sie sich schon etwas sicherer; wenn er und die Behörden im Westen wußten, wo sie sich aufhielt, würde man doch mit Sicherheit die sowjetischen Botschaften in Wien und London zu ihrer Freilassung drängen. Jetzt, als sie einen Stift in der Hand hielt, war sie begierig darauf, an ihren Vater zu schreiben. Nach dem Schweigen und der Einsamkeit, die sie erlebt hatte, wäre es beinahe so, als ob sie mit ihm sprach. Aber war es klug? Und was sollte sie ihm schreiben? Zum tausendsten Mal fragte sie sich, warum man gerade sie entführt hatte. Wenn man Druck ausüben wollte, warum war man ausgerechnet auf ihren Vater verfallen? Warum nicht auf einen richtigen Botschafter mit mehr Verantwortung in Washington oder Bonn? Armer Papa. Er mußte sich schreckliche Sorgen machen, aber er würde es nicht zeigen; das tat er nie. Er wirkte so zäh und verläßlich, daß niemand ahnte, wie es in seinem Inneren aussah. Er war ein Mann, auf den man sich verlassen konnte – oder man haßte ihn, weil man auf seine Fähigkeiten und den Respekt, der ihm entgegengebracht wurde, neidisch war. In seiner Jugend mußte er ganz schön aufregend gewesen sein:
Sie war noch ein Kind gewesen, als etwas in Vietnam schieflief, bevor Lucy starb und Mutter ihn verließ. Ihre Gedankengänge wurden unterbrochen, als die Tür sich wieder öffnete und eine Frau in einer blauen Uniform sie anwies, in den Korridor zu kommen, wobei sie etwas Unverständliches auf Russisch murmelte. Sie gingen schweigend eine Treppe hinunter in einen kleinen Hof. Die Wärterin machte eine vage Bewegung, aus der Sarah erriet, daß man ihr die Möglichkeit gab, sich die Beine zu vertreten. Sie begann, innerhalb der hohen Steinmauern kräftig auszuschreiten. Sie wäre gerne gerannt, traute sich aber nicht. Es beunruhigte sie, sich im Freien zu befinden. In dem leeren Hof wurde ihr die Gefahr und die Isolation, in der sie sich befand, plötzlich viel stärker bewußt, als innerhalb der schützenden Mauern ihrer Zelle. Die sentimentalen Gedanken über Vater waren ja gut und schön – aber was wird, wenn es ihm nicht gelingt, sie herauszuholen? Sie wurde wieder von einer schwarzen Wolke der Depression eingehüllt, und plötzlich war sie wieder den Tränen nahe.
Cable keuchte die steile Nonberggasse unterhalb der massiven Türme der Burg hinauf, die sich gegen den fahlblauen Herbsthimmel abzeichneten. Stuart ging neben ihm, die beiden Gorillas folgten. Sie hatten das Auto am Fuß des Hügels zurückgelassen und stiegen schweigend hoch. Auf ihrer linken Seite ragten zerklüftete Felsen auf, rechts kauerten Steinhäuser am steilen Abhang. Stuart klingelte, und die dicke Eichentür der Nummer 13 wurde leise geöffnet. Im Hof wartete ein Mann in Jeans und Anorak, der mit einer Browning Maschinenpistole bewaffnet war. »Wer von Ihnen ist Cable?« »Ich.«
»Ausweise?« Cable und Stuart zeigten ihre britischen Pässe vor. »Wo ist Mr. Leslie?« knurrte Stuart. Der Mann mit der Browning ignorierte ihn. »Warten Sie hier.« Er ging ins Haus und ließ die vier im kalten Hof stehen. Nach fünf Minuten kam er wieder zurück. »Okay, Cable – gehen Sie durch ins Speisezimmer.« Stuart wollte ihm folgen, aber die Browning versperrte ihm den Weg. »Sie warten hier, Freundchen. Sie werden Sie später hereinrufen.« »Ich verstehe das alles nicht«, stöhnte Stuart. »Wer wird mich hereinrufen? Was, zum Teufel, geht hier vor? Hier habe ich zu bestimmen!« »Nicht mehr, Sir.« Der Mann betonte das Wort »Sir« so stark, daß es beinahe wie eine Beleidigung klang. »Der Plan ist geändert worden.« Stuarts Gesicht wurde rot vor Wut. Seit er Heathrow gestern abend um sechs Uhr verlassen hatte, hatte jemand es fertiggebracht, ihn auszuschalten. Er spürte, daß sich sein Schicksal wiederholte, und brachte vor Empörung fast kein Wort heraus. »So können Sie mich nicht behandeln.« »Wirklich nicht? Warten Sie im Empfangszimmer – das befindet sich gleich links. Was euch beide anbetrifft« – die Browning deutete auf die zwei Gorillas – »seid ihr Bodyguards?« Sie nickten. »Okay, ich bin Wilson. Von jetzt an befindet ihr euch unter meinem Befehl. Und jetzt verpißt euch in irgendeine Kneipe in der Stadt – und kommt nicht vor fünf Uhr nachmittags zurück.« Cable ging durch den dunklen Korridor in ein Zimmer, durch dessen großes Fenster man Aussicht auf die schneebedeckten Gipfel des Obersalzberges hatte. Vor Verblüffung und Erleichterung wurde ihm beinahe schwindelig. Auf einem Holzstuhl mit einer hohen geschnitzten Lehne am Eßtisch saß die gebeugte, vertraute Gestalt David Nairns. Sein Aussehen
schockierte Cable: Nairn war schon immer mager gewesen, aber jetzt wirkte die Haut seines Gesichts wie Pergamentpapier. Er stand nicht auf, sondern deutete auf einen Stuhl. »Mein Gott«, sagte er ohne Einleitung. »Was für eine verdammte Scheiße.« Er hatte noch immer den leichten schottischen Akzent beibehalten. Cable setzte sich langsam hin. »Ich bin etwas durcheinander«, sagte er schließlich. »Aber glauben Sie mir, David, in meinem ganzen Leben war ich noch nie so froh, jemanden zu sehen.« »Ja, gerade rechtzeitig. Wie die verdammte Kavallerie der Vereinigten Staaten.« Nairn beobachtete Bill, ohne zu lächeln, und begann, seine Pfeife zu stopfen. »Ist ganz schön lange her. Ich würde sagen, etwa zwölf Jahre.« Cable nickte. »Wir trafen uns in einer Kneipe am Fluß in Chiswick, kurz nachdem…« Seine Stimme verlor sich. »In der City Barge, kurz nachdem Ihre kleine Tochter gestorben war«, sagte Nairn sanft. »Aber ich bin nicht gekommen, um über alte Zeiten zu reden. Sie stecken ganz schön in der Scheiße, Bill.« »Ja. Vor ein paar Stunden dachte ich noch, daß ich festgenommen bin. Aber ich verstehe nicht, wie Sie hierherkommen. Was, zum Teufel, geht denn eigentlich vor?« »Ich hatte gehofft, daß Sie mir das erklären könnten, Bill.« Nairn blickte Cable mit denselben blitzenden, durchdringenden Augen an, die sich schon vor Jahren in Cheltenham in ihn gebohrt hatten. »Ich bin auch etwas verwirrt…« Ein unbehagliches Schweigen machte sich breit. »Was wissen Sie über die Sache?« fragte Cable. »Eine ganze Menge, weil ich in London letztlich die Verantwortung für Skilbecks Operation PIRANHA habe.« Nairn machte eine bedeutungsvolle Pause. »Das wußte ich nicht.«
»Es war auch nicht nötig, daß Sie das wußten – und ich selbst bin auch erst vor kurzem eingeweiht worden. Dann bekam ich einige beunruhigende Berichte zugeschickt – und dann die Kopie Ihres Telegrammes an die Sicherheitsabteilung, die mich erwartete, als ich vor ein paar Tagen in Singapur ankam. Die ganze Sache kam mir so verzwickt vor, daß ich meine Reise unterbrach und hierher kam. Jedenfalls«, er lächelte abwesend, »habe ich schon immer gern eine Nacht in Salzburg verbracht – da unten gibt es eine sehr hübsche Pension.« Er deutete durch das Fenster auf eine kleine Ansammlung von Häusern, die sich an den Fuß des Hügels schmiegte. »Sie wird von einem Ehepaar namens Struber geführt und belastet das Spesenkonto nicht übermäßig.« Nairn war für seine Sparsamkeit wohlbekannt. »Sie sind doch nicht nur gekommen, um eine Nacht in Salzburg zu verbringen?« »Nein, ich bin gekommen, weil ich nicht möchte, daß PIRANHA – dem ich übrigens schon immer skeptisch gegenüberstand – eine totale Katastrophe wird. Und natürlich wegen Sarah und Ihnen.« »Ist sie noch am Leben, David? Haben Sie irgendeine Ahnung, wo sie festgehalten wird?« »Ich bin der Meinung, daß sie in Budapest war, bevor man sie nach Lwow oder Moskau geschafft hat. Das werden wir versuchen herauszufinden.« Nairn zündete erneut seine Pfeife an. »Als ich in Singapur war, informierte man mich auch von Stuarts Eingreifen.« Der Ausdruck in seinen Augen verhärtete sich plötzlich, und er sprach mit Abscheu, wobei sein schottischer Akzent noch ausgeprägter wurde. »Irgend jemand in der Sicherheitsabteilung der FCO hat ihm wohl einen Tip gegeben, sobald Ihr Bericht angekommen war; also ging er geradewegs zu Walker und erklärte sich bereit,
hierherzukommen und Sie fertigzumachen. Das ist der dritte Grund, aus dem ich hier bin.« »Aber warum sollte Walker das zulassen?« »Diese Art von Akte wird nie abgeschlossen, Bill. Das wissen Sie genausogut wie ich. Walker hat Ihnen damals im Jahre 1972 kein Wort geglaubt.« Cable errötete. »Wirklich nicht? Aber warum sollte Stuart nach all diesen Jahren versuchen, mich zu ruinieren?« »Vielleicht, weil er Angst hat, daß Sie wieder zurückkommen.« »Da muß er doch verrückt sein.« »Er hat gewisse Zwangsvorstellungen – er ist ein Psychopath.« »Und warum hat er dann immer noch seinen Posten?« fragte Cable leise. »Vor dreizehn Jahren ist niemand auf den Gedanken gekommen, ihn zu feuern.« »Aus verschiedenen Gründen haben wir Psychopathen nötig…« Nairn schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Bill – ich sehe nicht gerne dabei zu, wie ein kleiner Schleimscheißer wie Stuart versucht, einen guten Mann um seine Stellung zu bringen –, aber auch meine Möglichkeiten sind begrenzt. Trotz allem, was geschehen ist, säße ich nicht hier, wenn es sich bei der polnischen Sache nicht um meine Angelegenheit handeln würde – aber ich glaube nicht, daß er in Zukunft noch einmal etwas gegen Sie unternimmt.« »Das ist mir jetzt eigentlich egal. Ich mache mir nur Sorgen um Sarah.« »Ich weiß, Bill.« Eine weitere unbehagliche Pause entstand, dann öffnete Nairn eine Akte. »Wir sollten uns jetzt besser um die Einzelheiten kümmern«, sagte er schroff. »Die Hintergründe sind mir bekannt – bringen Sie mich jetzt bitte auf den neuesten Stand. Was genau haben Sie diesem Burschen, der sich Gordon nennt, erzählt?«
Cable sagte es ihm in zwei, drei kurzen Sätzen. »Sie haben ihnen also bestätigt, daß es sich um Polen handelt?« »Ja, aber ich vermute, daß sie das schon wußten.« »Das mag sein.« Nairn blickte kurz auf ein Telegramm, das an die Akte geheftet war. Cable konnte erkennen, daß es »Streng Geheim« war und ein Symbol trug, das er nicht kannte. »Und Sie haben mit Gordon für heute ein Treffen um kurz nach sechs Uhr vereinbart – wobei er von Ihnen erwartet, daß Sie ihm alle Einzelheiten übergeben.« »Ja – woher wissen Sie das?« »Das wurde abgehört.« Natürlich, dachte Cable; aber es war trotzdem beunruhigend. Er hätte gerne gewußt, wieviel Nairn ihm vorenthielt. Er fühlte, wie ihn die Augen des anderen durchbohrten, als ob sie zu seinem Gehirn durchdringen wollten. »Ich habe Grund zu der Annahme, daß es sich bei Gordon um einen Major des KGB namens Yixri Awramow handelt – und wenn das stimmt, läßt er sich nicht leicht austricksen.« Nairn schob Bill über den Tisch ein maschinengeschriebenes Blatt zu. »Hier sind die Details über die Operation PIRANHA, die Sie ihm heute abend übergeben werden. Machen Sie sich sorgfältig mit ihnen bekannt.« Cable zuckte zusammen. »Sie verlangen von mir, daß ich dieses Papier einfach so übergebe?« »Nein. Sie fotografieren es mit der Kamera, die er Ihnen gegeben hat – er hat Ihnen doch eine Kamera gegeben? Normalerweise tun sie das.« »Ja.« Cable sah auf das Blatt Papier. »Stimmt es, daß in sechs Tagen ein Hubschrauber im Heideland in der Nähe von Poznan landen wird? Zwanzig Männer? Stimmt die Liste der verborgenen Waffen auch?«
»Bill.« Nairns Stimme klang plötzlich schneidend. »Es hat keine Bedeutung, ob es stimmt oder nicht. Lernen Sie ganz einfach alles auswendig, und erzählen Sie es Ihrem Freund Gordon. Ich habe hier noch einen ganzen Packen Dokumente, die Sie als Beweise fotografieren können. Darüber hinaus werden auch in London einige Informationen durchschlüpfen und ein paar Telegramme, die die Russen abfangen können, die alle in dieselbe Richtung weisen. Bringen Sie selbst sich dazu, daran zu glauben – dann wird auch er Ihnen glauben.« Cable fuhr sich mit den Fingern durchs Haar und fühlte, wie die Erleichterung, die er wegen Nairns Anwesenheit in Salzburg empfunden hatte, verflog. »Aber, David, um Gottes willen – sie haben Sarah in der Hand! Wenn ich ihnen Lügen erzähle, finden sie das innerhalb von ein paar Tagen heraus, und dann bringen sie sie um.« »Sie ist festgenommen worden, und das steht in allen Zeitungen, Bill. Das Schlimmste, was ihr passieren kann, ist, daß man sie vor Gericht stellt und ins Gefängnis wirft – aber ich glaube nicht, daß sie das tun werden.« »Er sagte, daß man einen Selbstmord vortäuschen würde – daß man sie erhängt in ihrer Zelle vorfinden würde.« Cables Augen flehten ihn an. »Ich glaube ihm das, David. Ich bin überzeugt, daß man sie umbringt, wenn ich ihnen etwas vormache.« Nairn sah einen Augenblick lang so aus, als ob er etwas zum ersten Mal hörte, aber er nahm sich schnell zusammen. »Ich nehme an, daß sie das tun würden… aber wir müssen jetzt hier anfangen. Sie erpressen Sie, Bill, und das würden sie nicht tun, wenn sie sich in Ihnen nicht getäuscht hätten. Sie haben einen gewissen Ruf, und die Russen sind der Meinung, daß Sie vielleicht zusammenbrechen – aber sie schätzen Sie falsch ein, und Sie werden nicht zusammenbrechen.« Er machte eine gedankenvolle Pause. »Ich möchte also, daß Sie ihnen diesen
Kram übergeben – und Ihr Bestes tun, damit man Ihnen glaubt.« »Habe ich eine andere Wahl?« Nairn zuckte mit den Schultern. »Ich kann Sie nicht dazu zwingen, es zu tun. Sie könnten ihnen auch sagen, daß Ihnen jeglicher Zugang zu den Einzelheiten von PIRANHA verweigert worden ist – was auch stimmt, denn von jetzt an werden Sie nichts mehr darüber erfahren. Ich nehme allerdings an, daß man Ihnen das nicht abnehmen würde, und das würde Sarahs Situation noch verschlimmern.« Er schlug mit der Faust auf den Tisch. »Aber Sie haben doch noch Mumm, Mann. Sie werden tun, was ich Ihnen sage, weil es das Richtige ist – und wenn das nicht zu hochgestochen klingt, weil es Ihre verdammte Pflicht ist.« »Und was ist mit Sarah?« Die Frage war fast unhörbar. »Wir werden alles Menschenmögliche unternehmen, um sie sicher herauszuholen.« »Ist Ihnen das wirklich ernst? Sie versuchen nicht etwa, mich zu täuschen, David?« Nairn erwiderte seinen Blick, aber er wirkte verlegen. »Ich kann Ihnen nicht garantieren, daß wir Erfolg haben.« »Was haben Sie vor?« »Unser Botschafter in Budapest liefert heute einen Brief ab, in dem die Anklage wegen Drogenhandels abgelehnt wird und in dem steht, daß Ihre Tochter entführt worden ist. Dagegen wird starker Protest eingelegt und ihre sofortige Freilassung verlangt.« »Sie glauben mir also, daß sie entführt worden ist?« »Natürlich.« David zog eine Grimasse. »Allerdings tun das nicht alle. Es gibt ein paar Schweine, denen es nur zu sehr in den Kram passen würde, wenn Ihre Tochter mit Heroin handelte – aber jedenfalls ist der Brief an den Außenminister in Budapest gerichtet.«
»Danke.« »Darüber hinaus machen wir auch in Moskau ein bißchen diplomatischen Radau – und vielleicht bei den Vereinten Nationen in New York. Wenn Gordon Ihnen Glauben schenkt und wir die nächsten Tage genug diplomatischen Ärger verursachen, haben wir eine Chance, Sarah vor dem Datum, das in dem gefälschten Dokument angegeben ist, herauszuholen.« »Und wenn uns das nicht gelingt?« Nairn blickte beiseite. »Ich glaube, ich habe die FCO genügend instruiert, damit nichts schiefgehen kann, Bill – und außerdem fliege ich heute abend nach London zurück. Ich verspreche Ihnen, daß ich mich darum kümmern werde.« Er stand plötzlich auf. »Natürlich ist die Sache mit Risiken verbunden. Sarah befindet sich in der Hand unserer Feinde, und das macht uns letzten Endes hilflos. Bis sie über die Grenze gebracht worden ist, befindet sie sich jede Minute in physischer Gefahr. Wir können nur hoffen.« Cable starrte aus dem Fenster auf das kalte Gebirge. Die Wahrheit war, daß er Sarah wahrscheinlich nie wiedersehen würde – und er und Nairn wußten das genau. »Es ist nicht so leicht, zu hoffen, David.« Es war plötzlich sehr still im Zimmer. »Sie ist alles, was ich in der Welt noch habe. Sie haben nie Kinder gehabt – Sie können sich dieses Gefühl nicht vorstellen.« Nairn legte ihm den Arm um die Schultern. »Nein, das kann ich nicht. Aber Sie machen doch mit? Sie werden Gordon heute abend die Informationen geben, oder?« »Ja.« »Ich wußte, daß ich mich auf Sie verlassen kann.« Nairn hielt nachdenklich inne. »Ich habe niemals an Ihrer Loyalität gezweifelt.«
Cable blickte bei dieser bedeutsamen Formulierung verwirrt auf. Nairns Gesicht blieb ausdruckslos. »Es gibt noch etwas, das ich klarstellen möchte, Bill.« »Ja?« »Ich habe erfahren, daß die Sowjets eine Aussage über Golitsyn in Händen haben, die angeblich von Ihnen in Hanoi im Jahre 1971 gemacht worden ist. Erpressungsmaterial.« Cable hatte das Gefühl, als ob ihm jemand in den Magen getreten hätte, und saß ein paar Minuten lang starr vor Entgeisterung da. Als er endlich aufsah, durchbohrten ihn Nairns stechende Augen. »Nun, Bill? Habe ich recht, wenn ich vermute, daß es sich bei diesem Dokument um eine Fälschung handelt – wenn es überhaupt existiert?« Er schwieg einen Moment. »An der Sache ist doch nichts dran, oder?« Cable spürte instinktiv, daß er auf die Probe gestellt wurde – daß Nairn bestens informiert war. Der Himmel wußte, wie er an die Details gekommen war, aber er wußte Bescheid. »Doch, es stimmt.« Bills Stimme klang hohl und wie von weit her. Das war wohl das Ende, aber es war jetzt nur wichtig, Sarah herauszubekommen, alles andere hatte keine Bedeutung mehr. »Es stimmt allerdings nicht, daß ich Golitsyn verraten habe – ich habe nichts verraten, trotz allem… trotz allem, was sie mir angetan haben…« »Ja«, flüsterte Nairn leise. »Fahren Sie fort.« »Aber sie zwangen mich, mitanzusehen, wie Golitsyn an lebendigem Leib verbrannt wurde – es war fürchterlich. Er litt entsetzlich, und es schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann sagte man mir, daß ich an der Reihe wäre – wenn ich nicht bereit sei, die falsche Aussage zu unterzeichnen. Ich hatte nicht nur Angst – sondern war erschöpft und verwirrt… ich litt schon tagelang unter Verdauungsbeschwerden… man hatte mich ein paarmal zusammengeschlagen, und mein Gehirn schien
einfach nicht mehr richtig zu funktionieren… es war wie ein Reflex… ich unterzeichnete die Aussage.« »Oh, Bill, Sie Narr. Sie verdammter Narr. Warum, zum Teufel, haben Sie bei Ihrer Rückkehr nichts davon gesagt?« »Weil mich der Untersuchungsausschuß fertigmachen wollte – ich war noch immer kaputt und total durcheinander. Vielleicht war ich auch zu zornig und zu stolz, um vor Stuart zuzugeben, was ich durchgemacht hatte; ehrlich gesagt, ich weiß nicht mehr genau, wie das alles passierte. Man hätte mich sowieso nicht dorthin, sondern ins Krankenhaus bringen sollen. Die ganze Untersuchung war dazu bestimmt, mich kleinzukriegen.« »Ja – aber ich war doch auch noch da.«
»Da war es schon zu spät.«
Die blitzenden Augen durchbohrten ihn wieder. »Mein Gott,
Bill – ich verstehe, wie das alles geschehen konnte, aber das macht uns die Sache jetzt nicht leichter. Ich glaube Ihnen, aber andere werden das nicht tun, wenn die Sache herauskommt. Das verstehen Sie doch wohl, oder nicht?«
Wien
Cable kehrte mit einem Flugzeug der österreichischen Fluglinie nach Wien zurück und nahm sich am Flughafen ein Taxi nach Grinzing. Er brauchte zwanzig Minuten, um die Dokumente in seinem Arbeitszimmer abzulichten; einige Fotos verwackelte er mit Absicht, um den Anschein zu erwecken, daß er in Eile gewesen sei. Um halb sechs verließ er das Haus mit dem Film in der Tasche seines langen, grünen Lodenmantels. Als er den Hügel zum Dorf hinunterging, pfiff ein eisiger Wind durch die Gassen. Er hielt im Schatten eines Hauseingangs an, um sich zu vergewissern, daß ihm niemand folgte. Im Dunkel war keine Bewegung zu sehen, aber er wußte, daß sie da waren – ob Briten oder Russen. Der Gedanke war beunruhigend, aber er eilte weiter, an einem Heurigen-Lokal vorbei, dessen Eingangstür von zwei Scheinwerfern, die an einer Fichte befestigt waren, beleuchtet wurde und aus dessen Fenstern der Klang von Geigen und Gesang drang. Cable stieg den Hügel an der anderen Seite der Straße hinauf; hier befanden sich große, gemütliche Bürgerhäuser hinter hohen Drahtzäunen. Die Straße wurde von modernen Straßenlaternen erleuchtet, die helles Licht verbreiteten. Während er den Hügel hinaufstieg, konnte er hin und wieder die schwarzen Umrisse der Weinstöcke erkennen. Der Hügel war steil, und Bill war bald außer Atem. Die Anstrengung, weiterzugehen, half ihm dabei, seine Gefühle zu unterdrücken. Er verspürte eine unwirkliche Ruhe, aber er brachte es nicht fertig, den grausamen Gedanken beiseite zu schieben, daß er mit dem, was er vorhatte, vielleicht Sarahs
Todesurteil unterschrieb. Und was wäre dann? Er sah ihr Gesicht vor sich, das Gesicht einer willensstarken jungen Frau, das sich plötzlich in das verängstigte, vertrauensvolle Gesicht des Kindes verwandelte, dessen Schwester gerade von einem Auto überfahren worden war. In der Dunkelheit zuckte er grimmig mit den Schultern. Als er auf dem Gipfel des Hügels angekommen war und sich dem dunklen Gebäude des Schwimmbades näherte, war er versucht, umzukehren und zu seinem Haus zurückzugehen. Es war immer noch genügend Zeit, die Sache abzublasen. Der Film befand sich in seiner Tasche, aber er hatte die Russen noch nicht getäuscht, indem er ihn ihnen übergab. Wenn er nicht auftauchte, stiftete er vielleicht Verwirrung, und man würde Sarah in Frieden lassen, bis die Diplomaten sie herausholten… Er schob den Gedanken beiseite und ging weiter. Vor ihm ragten die Gebäude des Schwimmbades kompakt und schwarz auf, in der Mitte befand sich das Wappen der Stadt. Es gab wenig Mondlicht, und als er zurückblickte, sah er die Lichter Wiens und – außerhalb des schwarzen Streifens der Donau – die Lichter des UNO-Gebäudes. Der Parkplatz war leer, und Cable wartete im Schutz eines Bushaltestellen-Häuschens. Trotz seiner Pelzmütze und seines dicken Wintermantels war ihm kalt. Ein paar Augenblicke später hielt ein Wagen an – ein britischer Jaguar. Eine hübsche Idee. Das Licht der Armaturen erleuchtete die wohlbekannten breiten Backenknochen des jungen Russen. Das Fenster wurde heruntergekurbelt, und eine Hand machte eine einladende Geste. Cable öffnete die Tür und ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten. Der Rücksitz des Autos war leer. Gordon machte keine Anstalten, abzufahren und blieb im Schatten der Bäume stehen. Er ließ den Motor laufen und die
Heizung blies heiße Luft aus. »Nun?« fragte er kurzangebunden. Cable überreichte ihm den Film. »Hier ist alles drauf.« Er war überrascht, wie sicher seine Stimme sich anhörte; sie klang nicht im geringsten, als ob er log. »In sechs Tagen, genauer gesagt, am siebenundzwanzigsten September wird eine Gruppe von Männern – ungefähr zwanzig an der Zahl – per Hubschrauber nach Polen gebracht. Sie werden um etwa zwei Uhr morgens in einem Dorf in der Nähe von Poznan landen. Der Name steht in den Dokumenten, ich kann ihn leider nicht aussprechen.« Die slawischen Augen bohrten sich in Cables Gesicht fest. »Gute Arbeit, Bill. Was gibt es sonst noch?« »Es sind schon einige große Waffenlager vorbereitet worden. Auf dem Film befindet sich eine Liste der Orte und des Waffenbestandes. Die Gruppe, die am siebenundzwanzigsten eingeschleust wird, ist mit automatischen Armalitgewehren, Granaten und ein paar Panzerfäusten bewaffnet.« »Kennen Sie ihr Ziel nach Poznan?« »Ich glaube Gdansk und Warschau.« »Gut, Bill.« Der junge Russe atmete tief ein. »Wirklich gut. Sie sagen, das steht alles in den Dokumenten – war es schwierig, an sie heranzukommen?« »Das nicht – aber es war verdammt schwer, sie zu fotografieren.« »Aber mit Ihrer Erfahrung haben Sie das sicherlich hervorragend gemeistert.« »Ja. Und wie sieht es nun mit Ihrer Seite der Abmachung aus? Was ist mit Sarah?« »Alles zu seiner Zeit, Bill. Ich habe gehört, daß zu ihrer Freilassung schon diplomatischer Druck ausgeübt wurde, und ich werde mich darum kümmern, die Dinge zu beschleunigen. Wenn die Dokumente, die Sie mir gerade übergeben haben,
sich als echt erweisen – woran ich nicht den geringsten Zweifel hege –, verspreche ich Ihnen als Beamter des sowjetischen Geheimdienstes hoch und heilig, daß Ihre Tochter unbeschadet freigelassen wird. Das wird natürlich mit größter Wahrscheinlichkeit nicht vor dieser Landung in Poznan geschehen… das verstehen Sie doch?« »Ich möchte sie aber gleich zurückhaben«, fuhr Cable zornig auf. »Ich habe getan, was Sie von mir verlangten, bin zum Verräter geworden und habe meine eigenen Leute getäuscht. Um Gottes willen, Sarah ist erst neunzehn. Sie wird schon seit zehn Tagen gefangengehalten, und ich kann mir vorstellen, wie Ihre Gefängnisse eingerichtet sind. Ich möchte Sie sofort zurück.« Er schrie beinahe. »Wie ich schon sagte, Bill, ich werde sehen, was sich tun läßt.« Gordons freundlicher Gesprächston konnte schnell einer drohenden Schärfe weichen. »Noch zwei Dinge – wo werden Sie sich heute nacht befinden?« »Zu Hause natürlich.« Die schmalen Augen lächelten. »Vergeben Sie mir die Frage, aber ich glaube, daß Sie sich manchmal woanders aufhalten. Wenn ich also irgendwelche Erläuterungen benötige oder aus den Fotos nichts geworden ist, werde ich Sie zu Hause anrufen. Glauben Sie, daß Ihr Telefon angezapft wird?« »Nicht von meinen eigenen Leuten – Gott weiß, was mit den Österreichern oder anderen ist.« »Gut. Zweitens, Bill, habe ich eine persönliche Nachricht von einem sehr hochstehenden Beamten in meinem Geheimdienst für Sie. Wenn die Information, die Sie uns überbracht haben, echt ist, sind wir Ihnen sehr dankbar – und wir vergessen unsere Freunde nicht. Sie sollten sich auch nicht zu viele Gedanken über die Sache machen. Vielleicht haben Sie uns dabei geholfen, diesen ungewissen Frieden zu bewahren.«
Cable stieß ein verächtliches Lachen aus. »Um Himmels willen, verschonen Sie mich mit diesem Mist. Ich habe getan, was Sie von mir verlangt haben – um mein Gewissen kümmere ich mich schon selbst. Kommen Sie bloß nicht noch einmal auf mich zurück – niemals. Habe ich mich ganz klar ausgedrückt?« »Ich sagte Ihnen doch schon, daß wir das nicht vorhaben. Es ist ein Bestandteil unserer Abmachung. Nun denn, es tut mir leid, daß ich Sie nicht mitnehmen kann, aber um der Sicherheit willen ist es besser, wenn Sie auf demselben Weg zurückkehren, auf dem Sie gekommen sind.« Cable ging in die Kälte zurück, und der Jaguar schoß den Hügel zur Höhenstraße hinauf. Innerhalb von zehn Sekunden waren die roten Rücklichter verschwunden, und er stand allein da. Nairn nahm ein Flugzeug der Austria Airways OS 225 nach Zürich und dann einen Anschlußflug der British Airways nach London. Er landete um zehn Uhr abends auf dem Flughafen Heathrow. Es regnete in Strömen, und sein Chauffeur hielt einen Schirm über ihn, während er von der Ankunftshalle über den Bürgersteig sprintete und sich in den Rücksitz seines schwarzen Rovers fallen ließ. »Danke, Len«, keuchte er, während ein Wasser-Rinnsal langsam seine Stirn herunterlief. »Zuerst einmal volle Action, dann möchte ich gern für eine Stunde nach Hause. Ich habe den Eindruck, daß es eine hektische Nacht wird.« »Das ist in Ordnung, Sir. Ich habe meine Frau schon darauf vorbereitet, daß sie mich nicht vor dem Morgen zurückerwarten soll. Es wird wie in alten Zeiten sein – ist etwas zu ruhig, seit Sie Stellvertretender Chef geworden sind.« »Ruhig? Ja, wahrscheinlich haben Sie recht.« Sie fuhren schnell durch die Straßen, die im Laternenlicht naß glänzten, und schlängelten sich gekonnt durch den dichten Verkehr. Nairn hatte die Leselampe angestellt und sah einige
Dokumente durch; er nahm keine Notiz vom stetigen Geräusch der Scheibenwischer und von dem Trommeln des Regens auf dem Autodach. Zwanzig Minuten später hielt der Wagen außerhalb eines hohen Holztores an, das sich laut öffnete. Len fuhr in den überdachten Hof, und Nairn stieg aus. Er lief langsam, als ob er außer Atem sei, eine Holztreppe hinauf und betrat ein längliches Zimmer im Obergeschoß. Eine Plakette an der Wand identifizierte es als das Hauptquartier eines Regimentes des Territorialheeres, und an den anderen Wänden hingen vergilbte Fotos mit Gruppen von Soldaten. An einem langen Tisch, der mit grünem Billardtuch bedeckt war, saßen sechs Männer. Sie trugen alle Zivilkleidung, aber vier von ihnen hatten dieses makellos gebügelte Aussehen, das sie als Offiziere der Armee markierte. Die vier wollten aufstehen, als Nairn eintrat, aber er bat sie mit einer eiligen Geste sitzenzubleiben und nahm selber auf einem Stuhl am Tisch Platz. »Guten Abend, meine Herren.« Einer der militärisch aussehenden Herren antwortete: »Guten Abend, Sir David. Einige von uns sind erst vor ein paar Stunden aus Hereford angekommen – aber wir sind bereit.« »Haben Sie einen Plan, Oberst Thorne?« »Ja, Sir.« »Okay – dann erläutern Sie ihn.« Cable benötigte zwanzig Minuten, um vom Krapfenwald zu seiner Villa zurückzukommen. Er war erstaunt, Skilbeck anzutreffen, der im Wohnzimmer auf ihn wartete. »Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, daß ich hereingekommen bin, Bill. Außerdem habe ich Ihnen auch noch etwas von Ihrem Gin weggetrunken.« »Bitte bedienen Sie sich – ich wußte gar nicht, daß Sie einen Schlüssel haben. Machen Sie es sich zur Gewohnheit, auf diese Weise einzudringen und sich breit zu machen?« Skilbeck lächelte schief, ohne sich um den Sarkasmus zu kümmern.
»Nein, natürlich nicht. Ich dachte mir nur, daß Sie vielleicht gern jemanden hierhätten, wenn Sie zurückkommen. Ich will mich ja nicht aufdrängen«, fügte er hastig hinzu. »Aber was Sie getan haben, verlangt eine Menge Mut – es muß ganz schön scheußlich gewesen sein.« Cable goß sich ein Bier aus der Hausbar ein und hätte beinahe gelacht. Er hatte Skilbeck noch nie verlegen erlebt, außer, als er ihm die Nachricht von der ungarischen Nachricht über Sarah überbracht hatte. »Ist schon in Ordnung«, sagte Bill schroff. »Ich hoffe nur, verdammt noch mal, daß es funktioniert.« »Sicher, Bill, sicher – ich verstehe.« Skilbeck stellte sein leeres Glas auf den Tisch. Cable bot ihm kein weiteres Glas an, und Skilbeck stand auf, blickte unsicher zur Seite und sagte zu Cable: »Ich dachte mir, Sie würden vielleicht gern hier mal herauskommen – vielleicht mit auf ein paar Viertel in ein Heurigen-Lokal kommen?« Cable trank mit ausdruckslosem Gesicht sein Bier aus. »Okay – warum nicht?« Es stimmte – ein paar Stunden Abwesenheit aus der Welt der Wirklichkeit können Wunder wirken. »Aber nicht zu einem Heurigen – ich habe die Nase von fettem Schweinefleisch und Perlwein voll. Es ist nett von Ihnen, daß Sie mich heute abend besucht haben, Paul – ich möchte Sie in irgendein nettes Restaurant zum Essen einladen. Was halten Sie vom Gasthaus Winter?« Sie fuhren in südlicher Richtung die Donau entlang, wo sich in einer rosagetünchten Villa am Zusammenfluß des Flusses und des Donaukanals das adrette kleine Restaurant befand. Sie kamen erst nach Mitternacht nach einem köstlichen Lachs und zuviel Wein wieder heraus. Cable döste, während Skilbeck ihn in seinem Lancia etwas unsicher nach Grinzing zurückfuhr.
Zwei Stunden später hielt Nairns Rover in einem Außenbezirk von London an der Bentley Priory an. Ein Feldwebel der Royal Air Force öffnete die Autotür. »Man hat mich vom Tor aus angerufen, um mir zu sagen, daß Sie auf dem Weg sind, Sir. Würden Sie bitte mitkommen?« Die gebeugte Gestalt in ihrem schäbigen Anzug lief mit langen Schritten hinter dem Militärangehörigen in seiner frischgebügelten Uniform her. Der Revolvergriff des Soldaten ragte aus dem Halfter, das an einem weißen Gurt befestigt war, heraus. Sie gingen durch eine bewachte Tür und eine Betontreppe hinunter in einen unterirdischen Bunker. Der kleine Kontrollraum war nur von fünf Leuten besetzt: von drei Offizieren und zwei weiblichen Leutnants mit Kopfhörern. Eine beleuchtete Landkarte von Mitteleuropa wurde auf eine Leinwand geworfen und die Frauen und Männer saßen hinter einem Kontrollpult mit aufblitzenden Lichtern. Über die Landkarte lief eine rote Zickzacklinie von Wien, durch die Tschechoslowakei bis nach Polen, die automatisch von einem Computer gezeichnet wurde. Einer der Offiziere sah auf. »Guten Morgen, Sir. Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind – auf der Leinwand ist ersichtlich, wie weit sie vorangekommen sind. Das Flugzeug ist im Zickzack schnell und tief über die Tschechoslowakei hinweggeflogen. Sie wurden nicht entdeckt.« »Danke, Oberstleutnant. Wie weit sind sie vom Absprunggebiet entfernt?« »Sie springen in zehn Minuten mit ihren Fallschirmen ab. Hier, südlich von Krakau.« Er stand auf und deutete mit einem Lineal auf die Landkarte. »Nur, um meine Neugierde zu befriedigen, wie weit ist das von Poznan entfernt?« »Poznan, Sir? Ganz schön weit weg – ungefähr vierhundert Kilometer.«
Nairn nickte. »Wo kommt das Flugzeug her?« »Ein Zivilfrachter mit griechischer Zulassung, Sir. Das werden sie natürlich behaupten, wenn sie abgehört werden – obwohl ich mir nicht vorstellen kann, daß ihnen das so weit hinter dem Eisernen Vorhang etwas nützt.« »Und was passiert nach dem Absprung?« »Totale Funkstille, und dann nimmt das Flugzeug direkten, südwestlichen Kurs nach Österreich auf.« Nairn lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und beobachtete, wie die rote Linie sich zentimeterweise über die Landkarte schlängelte. Er schämte sich wegen des Verrats und ganz im Besonderen wegen der Sicherheitsvorkehrungen, die ihn dazu gebracht hatten, Skilbeck zu bitten, mit Cable an diesem Abend auszugehen – aber es gab keine Alternative. Plötzlich blieb die rote Linie stehen, und eine der Frauen blickte auf, während es in ihren Kopfhörern rauschte. »Sie sind sicher gelandet«, sagte sie. »Es besteht absolute Funkstille.« »So war es abgemacht.« Der Oberstleutnant der Luftwaffe wandte sich an Nairn. »Das war’s, Sir. Scheint funktioniert zu haben. Sieht so aus, als ob Sie Ihre Polen drin hätten.« Er stand rasch auf. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun? Sie haben doch für heute morgen um fünf einen Privatjet nach Wien bestellt. Kann ich Sie vielleicht zum Flughafen Northolt bringen lassen, Sir?« »Vielen Dank, aber ich habe meinen eigenen Wagen draußen stehen«, sagte Nairn nachdenklich. Ja – die Polen waren drin, und das beinahe eine Woche vor dem Datum, das Cable dem Russen angegeben hatte. Armer Cable. Arme Sarah. Es war ihm schwergefallen, diese Entscheidung zu treffen, und als er unter Begleitung des bewaffneten Feldwebels die Betontreppe wieder hinaufstieg, sah sein Gesicht grimmig aus. Achtzehnhundert Kilometer weiter östlich kreuzte eine alte Dakota über der dunklen Landschaft mit Motoren, die durch
die Stille des Nachthimmels dröhnten. Der letzte Pole, der nervös an der offenen Hintertür stand, fühlte den scharfen Fahrtwind an seinem Gesicht vorbeifegen. Das grüne Licht ging an, und er ließ sich ins Leere fallen; ein paar Augenblicke später gab es einen Ruck, und die schwarzen Seidenbahnen des Fallschirms öffneten sich über ihm. Seine rechte Hand hielt das Fallschirmhalfter und die M-16, die über seiner Schulter festgeschnallt war. Wie einige andere trug er einen Rosenkranz um den Hals, und seine linke Hand umklammerte das winzige Kreuz. Er murmelte ein »Gegrüßet seist du, Maria«, während er auf Polen zuschwebte.
Wien
Am nächsten Morgen kam Fritz wie gewöhnlich um halb neun mit dem Ford Minster an, um Cable abzuholen. Cable stieg mit seinem schwarzen Aktenkoffer in der Hand und einem massiven Kater die Treppe außerhalb der Eingangstür herunter. »Ich möchte heute nicht direkt zur Botschaft«, sagte er. »Bitte fahren Sie mich zuerst zur Abtei von Klosterneuburg.« »Nach Klosterneuburg, Sir?« Fritz klang verdutzt. »Ja. Ich möchte mir die Kirche anschauen.« Er legte eine verlegene Pause ein. »Wir haben möglicherweise vor, sie für einen internationalen Gottesdienst zu benutzen – hat etwas mit den Vereinten Nationen zu tun.« Die Lüge klang nicht sehr überzeugend – und war darüber hinaus auch noch unnötig. »Sie wissen doch, daß es sich um eine katholische Abtei handelt, Sir?« »Natürlich weiß ich das«, schnauzte Cable ihn verärgert an. »Nun fahren Sie mich schon endlich hin. Ich muß um zehn Uhr wieder in der Botschaft sein.«
Der Wagen holperte über die kopfsteingepflasterten Straßen, die um die Abtei herum führten, an dunklen, engen Läden vorbei, die sich schon seit Jahrhunderten hier befanden und über deren Ladentüren altertümliche Zunftschilder hingen – ein Schlüssel für den Schlosser, eine Reihe von Flaschen für den Weinhändler. In den Lücken, die der Krieg und die russische Besatzung geschlagen hatten, waren moderne Häuser gebaut worden. Fritz stellte den Wagen auf dem von Bäumen umsäumten
Rathausplatz ab, und Cable schritt allein durch die Tore der Abtei. Er war noch nie hier gewesen. Die Klosterkirche war ein einfaches gotisches Gebäude mit zwei Türmen, die über dem Westflügel aufragten. Der Ostflügel schloß sich an die verzierte Barockfassade des Wohnflügels der Abtei an: vier Reihen von Fenstern in einer habsburggelb-getünchten Fassade, die von einem rotbraunen Ziegeldach gekrönt wurde. Hinter dem Giebel waren zwei Kupferkuppeln in Form von Kronen sichtbar, die oberhalb der unbewohnten, ehemals kaiserlichen Wohnungen aufragten. Vor fünfzig Jahren noch waren schwarzbekleidete Benediktinermönche über den Hof geeilt; jetzt war er menschenleer. Innerhalb der Kirche herrschte ein Chaos an barocken Farben, die allerdings etwas verstaubt waren. Zwischen den Marmorsäulen erleuchteten Lüster die hohen Fresken der Stationen des Kreuzwegs, von der Kanzel aus führte eine mit Miserikordien gesäumte Treppe zum Chor, und das Heilige Licht und der Altar waren reich geschmückt. Cable wollte beten. Er war verzweifelt entschlossen, an denselben Gott zu beten, an den er sich gewandt hatte, als Lucy im Sterben lag. Er setzte sich in eine Seitenreihe und versuchte, mit etwas in Verbindung zu treten, das größer war als er. Aber dann sah er in einer Welle von Bitterkeit den winzigen weißen Sarg, den er in Teddington hatte begraben müssen, den irren, verzweifelten Ausdruck in Judiths Augen, das Krematorium in Mauthausen und den zerschundenen, kaputten Körper Golitsyns. Bill stand auf und wußte tief im Innern, daß er nicht hätte herkommen sollen. Bevor er keine Ruhe in sich selbst verspürte, würde er weder hier noch irgendwo anders Trost finden. Er eilte durch die Kirche, und ein Impuls ließ ihn vor der Statue einer Madonna stehenbleiben. Er warf zehn Schillinge
in einen Opferstock und zündete eine Kerze an. Wenn es dich wirklich gibt, Gott, dachte er, dann hab doch bitte Mitleid und laß nicht zu, daß diese Hunde sie umbringen. Die Statue starrte ihn bewegungslos an, und er bemerkte, daß die Farbe ihres blauen Gewandes an manchen Stellen abgeblättert war. Als er dabei war, die Kirche zu verlassen, kam eine ältere Frau mit einem Kopftuch herein. Sie tauchte ihren Finger in den Weihwasserkessel, bevor sie sich demütig bekreuzigte und zu einem Beichtstuhl in der Ecke schlurfte. Draußen verspürte Cable wieder den kalten Wind; seine Gesichtszüge sahen gequält und starr aus. Er verspürte, wie eine weitere Welle ohnmächtigen Zorns über ihn hinwegspülte, und stieß einen Fluch aus, aber am Tor der Abtei riß er sich zusammen und zwang sich dazu, schnell auf das dunkelblaue Auto, das auf ihn wartete, zuzuschreiten. Fritz stieg aus und hielt ihm die hintere Tür auf. »Zur Botschaft, Sir?« »Ja, Fritz. Zur Botschaft bitte.«
In den frühen Morgenstunden war David Nairn mit einem Privatjet der britischen Luftwaffe im Schutz der Dunkelheit auf einem Militärflugplatz angekommen. Nach ein paar Stunden Schlaf in Skilbecks Wohnung schlüpfte er durch die Hintertür in das Botschaftsgebäude; jetzt saß er in Skilbecks kleinem Büro und hörte dem jüngeren Mann aufmerksam zu. Er kämpfte damit, den Ärger und den Abscheu, die er während der letzten Tage empfunden hatte, abzuschütteln. »Es tut mir leid, Sir David.« Skilbecks Tonfall war beinahe pikiert. »Aber ich muß es einfach jemandem sagen. Es besteht die Tatsache, daß Bill Cable eine sehr enge Freundschaft mit einer jungen, israelischen Frau namens Naomi Reichmann pflegt.«
»Soll das heißen, daß sie ein Verhältnis miteinander haben?« »Ja – das nehme ich an.« »Mein Gott, dann drücken Sie sich doch klar aus. Also – fahren Sie bitte fort!« »Vor ein paar Wochen erfuhr ich, daß Fräulein Reichmann verdächtige Besuche bei einer Adresse im Zweiten Bezirk abstattet – das ist eine ziemlich heruntergekommene Gegend, die eigentlich nicht zu ihrem Status als Kunsthändlerin und als Freundin eines Botschafters paßt.« »Was heißt erfuhr? Soll das bedeuten, daß Sie Ihren eigenen Botschafter überwachen lassen?« Skilbeck errötete. »Nein, natürlich nicht. Also, nicht unbedingt. Jemand, der für mich arbeitet, sah Cable eines Nachts die Wohnung dieser Frau spät verlassen – genau gesagt, um etwa ein Uhr morgens. Ehrlich gesagt, Sir David, er befand sich gar nicht da, um die beiden zu beobachten – er war mehr an Makarow interessiert.« »Ja – die Akte habe ich gelesen.« »Nun denn, kurz danach kommt die Frau heraus, steigt in ihren Wagen und fährt fort. Der zweite Mann meiner Mannschaft folgt ihr in dem Glauben, daß sie irgend etwas mit dem Makarow-Geschäft zu tun hat. Sie fährt runter in den Zweiten Bezirk, bleibt ungefähr eine halbe Stunde in diesem schmuddeligen Wohnhaus in der Nähe vom Prater, in dem ein bekannter sowjetischer Informant wohnt, und fährt dann zurück. Danach habe ich beide… unter Beobachtung gestellt.« Er versuchte, sich zu verteidigen, und rief dann aus: »Was hätte ich denn sonst tun sollen?« »Nichts – Sie haben sich richtig verhalten.« Die ruhige Stimme des Schotten enthielt noch immer einen Unterton von Ekel. »Und was haben Sie herausbekommen?« »Nichts Aufschlußreiches. Die Reichmann hat sich verdächtig benommen, das ist alles. Alle ein oder zwei Tage
fährt sie weg, und das oft spät nachts, als ob sie einen Termin für die Übergabe eines Berichts einhalten oder einen toten Briefkasten benutzen würde.« »Haben Sie nichts unternommen, um herauszufinden, mit wem sie sich trifft – oder tatsächlich einen toten Briefkasten gefunden und ihn überprüft?« »Nein, das nicht.« Nairn sprach ganz sanft: »Also haben Sie unrecht, oder – wenn Sie recht haben, sind Fräulein Reichmann und ihre Freunde richtige Profis…« Es entstand eine lange Pause, und schließlich rief Nairn aus: »Ja, was ist denn nun? Was ist Ihre Schlußfolgerung? Schließlich haben Sie mich um diese Unterredung gebeten, Paul.« »Hören Sie«, fauchte Skilbeck. »Mir gefällt die Sache auch nicht! Aber Bill ist mein Chef, verdammt noch mal, und als Diplomaten respektiere ich ihn sehr. Die Russen versuchen, ihn zu erpressen, und es ist Tatsache, daß die Frau, die er aufgelesen – oder die ihn aufgelesen – hat, sich komisch benimmt. Das ist mehr als ein Zufall. Mir kommt es vor, als ob der Schluß ziemlich naheläge.« »Daß sie eine russische Agentin ist?« »Ja.« Nairn stieß leise einen Fluch aus und zündete seine Pfeife an. »Klein«, murmelte er, als ob er etwas aus einem Dokument in seinem Gedächtnis vorsprechen würde, »hat die Neigung zum Dickwerden, eine Stupsnase und einen ungeheuren Lebenseifer – der ein Zeichen für große Sexualität ist –, was bei mitteleuropäischen jüdischen Frauen allgemein der Fall ist…« »Das klingt nach ihr – woher haben Sie die Beschreibung?« »Es handelt sich nicht um Fräulein Reichmann direkt, Paul. Haben Sie das noch nie gehört? Es handelt sich um eine zeitgenössische Beschreibung Litzi Friedmanns, der Frau, die Philby im Jahre 1933 in genau dieser Stadt aufgabelte. Wissen
Sie, er heiratete sie und nahm sie mit nach England – sie war dreiundzwanzig und war vor Jahren von Peter Gabor, der dem Horthy-Regime in Budapest entkommen war, für die Partei angeworben worden. 1945 wurde Gabor Chef der ungarischen Geheimpolizei – man nannte ihn ›den Beria Ungarns‹, ein richtig gemeiner Lump.« Nairn seufzte tief. »Mein Gott, diese verdammte Gegend deprimiert mich zu Tode – sie ist ein dreckiges Niemandsland zwischen Westen und Osten, das von Gaunern bewohnt wird. Man kann einfach niemandem trauen. Eindringlinge wie die Türken, Nazis oder Russen kommen und gehen, aber sie sitzen nur in ihren verdammten Cafés herum, schmieden Pläne und fallen sich gegenseitig in den Rücken. Eine ganze Stadt voller Spione und Komplotte. Es ist furchterregend.« Er klopfte mit heftigen Bewegungen seine Pfeife aus. »Vielleicht haben Sie mit Cables Freundin recht, Paul. Der Gedanke daran ist mir verhaßt, aber es könnte wahr sein.« »Was geschah mit ihr – Litzi Friedmann, meine ich?« fragte Skilbeck neugierig. »Litzi? Oh, nach ein paar Jahren verließ sie Philby und kehrte nach Wien zurück. Gabor warb Philby natürlich auch an, aber das ist alles schon viele Jahre her. Seit dieser Zeit sind natürlich noch eine ganze Menge mehr angeworben worden… Das letzte Mal, als ich von ihr hörte, war Litzi Friedmann noch am Leben und wohlauf. Lebt jetzt in großem Stil in Ostberlin – sie ist immer noch ein anerkanntes Parteimitglied und nimmt irgendeine offizielle Stellung ein. Wahrscheinlich trägt sie jetzt schon den Leninorden.« Skilbeck nickte. »Also, was zum Teufel, machen wir jetzt?« »Das ist schwer zu sagen. Ich bin froh, daß Sie mir das alles erzählt haben, Paul – ich wünschte nur, daß ich es schon früher erfahren hätte. Glauben Sie, daß Bill Verdacht geschöpft hat?« »Nein, das glaube ich nicht.«
»Ich werde mit ihm sprechen, damit er sich in Acht nimmt. Sie beobachten sie weiterhin und lassen mich alles wissen. Okay?« »Halten Sie es denn für klug, mit Cable zu sprechen?« »Warum denn nicht?« »Nun – falls er auch in der Sache drinsteckt…« Skilbeck machte verlegen eine Pause. »Ich meine, ich habe gehört, daß er vor langer Zeit einmal Ärger in Vietnam gehabt haben soll. Verdammt noch mal, Sir David, sie könnte Cables Kurier für den sowjetischen Kontrolleur sein!« In Nairns Augen blitzte ganz kurz Ärger auf. »Ich weiß – diese Möglichkeit habe ich in Betracht gezogen.« Er zündete seine Pfeife an und erinnerte sich an die Abschrift des verzerrten Tonbandes, die er in Singapur gelesen hatte… an die beiden Quellen in Wien. Cable konnte die in der Botschaft sein – und die Frau die andere. Es schien alles zusammenzupassen, obwohl er zum Himmel betete, daß es nicht stimmte… Etwa eine Viertelstunde später kam Cable in der Botschaft an. Nachdem er den Aufzug im dritten Stock verlassen hatte, schob er seine Magnetkarte in das Schloß der inneren Tür und betrat das Zimmer, als sie sich öffnete. Jill erwartete ihn mit einem ängstlichen Lächeln. »Sir David ist hier, Mr. Cable. Er wartet in Ihrem Büro.«
Ungefähr fünfhundert Meter entfernt saß Naomi in der Galerie und war verärgert und frustriert. Am vorhergehenden Abend hatte sie Cable mehrere Male erfolglos angerufen und war schließlich gegen zehn Uhr zur Himmelstraße gefahren. Das Haus war dunkel, und sie hatte eine Stunde davor gewartet, bis sie verwirrt zu ihrer Wohnung im Dritten Bezirk zurückgekehrt war. Heute hatte sie ihn bereits sechsmal in der Botschaft
angerufen. Jedesmal war das Telefon von seiner verdammten Sekretärin mit der gepflegten Stimme beantwortet worden, die ihr versicherte, daß »der Herr Botschafter sich in einer Konferenz befindet und nicht gestört werden darf. Ich werde ihm sagen, daß Sie angerufen haben.« Naomi wußte, daß sie mit leeren Worten abgespeist wurde. Obwohl er sich noch vor zwei Nächten in so einem schlechten Zustand befunden und sie so sehr gebraucht hatte. Es ergab einfach keinen Sinn… es sei denn, daß etwas fürchterlich schiefgegangen war. Hatte er einen seiner Sicherheitsbeamten am Hals? Hatte man trotz all ihrer Vorsicht ihre Reise nach Budapest bemerkt? Im Laufe des Tages machte sie sich mehr und mehr Sorgen. Kurz nach fünf Uhr nachmittags zog sie ihre Lederstiefel an, knöpfte ihren Mantel gegen die Kälte bis zum Hals zu und machte sich über den Ring auf den Weg zur Reisnerstraße.
Wien
Eine Stunde zuvor hatte Cable an seinem Schreibtisch in der Botschaft gesessen und einige Routinetelegramme unterschrieben. Nach der gestrigen Spannung war es ein deprimierender und enttäuschender Tag gewesen, an dem er ständig wartete, daß etwas passieren würde. Keine Nachricht von den Polen. Keine Nachricht von Sarah. Stuarts schmachvolle Abreise nach London, wo ihm möglicherweise die Entlassung drohte, hatte ihm Genugtuung bereitet. Aber dann hatte er sich eine elende Viertelstunde lang mit Nairn über Naomi unterhalten, und er erfuhr, was er schon vermutet hatte, aber nicht hören wollte. Alles in allem war es ein Tag, den er lieber schnell vergessen wollte. Es wurde an die Tür geklopft, und er sah von seiner Arbeit auf, als Nairn eintrat. Skilbeck begleitete ihn. Die beiden Männer sagten nichts, und ihre Gesichter waren grau; Cable blickte sie fragend an. Schließlich raffte Nairn sich auf, zu sprechen. »Es ist totale Scheiße, Bill«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Wir haben es vor ein paar Minuten erfahren – eine totale Katastrophe.« Cable schnellte von seinem Stuhl auf. »Was wollen Sie damit sagen?« Die Angst in seiner Stimme war unüberhörbar. »Die Polen. Sie sind letzte Nacht mit Fallschirmen abgesprungen. Es handelte sich um eine Geheimoperation – und nur sehr wenige wußten darüber Bescheid –, aber ich wollte Ihnen noch heute davon erzählen. Aber jetzt haben wir erfahren, daß sie gescheitert sind. Sobald sie landeten, wurden sie von der Armee oder dem Kampfflügel des PZPR umringt.
Man hat sie erwartet, Bill – sie wußten über ihre Ankunft Bescheid.« Cable fuhr zurück, plötzlich fühlte er sich unsicher auf den Beinen. »Um Gottes willen – nein. Wie konnte das passieren?« »Die Russen – eine halbe Armee – umzingelten sie mit Suchlichtern, Maschinengewehren und gepanzerten Wagen. Befahlen ihnen, sich zu ergeben. Die Polen weigerten sich. Sie kämpften, Gott sei ihnen gnädig, und leisteten etwa eine Stunde lang Widerstand. Sie wurden alle getötet – außer einem Verwundeten, dem es gelang, sich in einem Graben zu verstecken. Es war mitten in der Nacht, und es gab keinen Mond, also blieb er unbemerkt in seinem Versteck, als die Armee mit den Leichen abzog.« »Der Überlebende kroch zu einem Bauernhaus in der Nähe, wo man den Dorfpriester holte«, fügte Skilbeck hinzu. »Der Priester kannte jemanden, der in der Untergrundbewegung von ›Solidarität‹ beschäftigt ist, der per Funk eine Nachricht nach Warschau schickte. Von dort aus rief dann jemand eine Anzahl westlicher Botschaften an. Sie wußten natürlich nicht, daß wir damit zu tun hatten – sie waren ganz einfach der Meinung, daß wir über die Vorkommnisse informiert werden sollten.« »Das steht also alles mit Sicherheit fest?« Cable ließ sich erschöpft in einen der alten, ledernen Sessel sinken, empfand aber Erleichterung darüber, daß es sich bei den tragischen Nachrichten nicht um Sarah handelte. »Ja, wir haben uns über Warschau noch einmal rückversichert. In Polen gab es davon keine offizielle Nachricht – nichts – aber es gibt natürlich genügend Gerüchte. Das Flugzeug kam übrigens auch nicht zurück – es muß abgeschossen worden sein.« »Die ganze Sache war eine Falle«, flüsterte Skilbeck tonlos. Cable blickte ihn mit weit geöffneten, bittenden Augen an. »Aber wenn sie Bescheid wußten, warum mußten sie dann
Sarah entführen, warum mußten sie ausgerechnet mich erpressen? Das ist verrückt, reiner Wahnsinn – ich verstehe das alles nicht.« »Sie müssen sich noch an jemand anderen, Gott weiß wen, gehalten haben.« Nairn hielt inne, während Cable ihm einen anschuldigenden Blick zuwarf. »Es tut mir sehr leid, Bill, wirklich sehr, sehr leid.« »Leid? Es tut Ihnen leid?« Cables Stimme klang wie der Aufschrei eines Verletzten. »Ist das alles, was Sie zu sagen haben?« Er starrte Nairn mit vor Wut blitzenden Augen an. »Mein Gott, David – wissen Sie, was Sie getan haben? Man wird Sarah umbringen!« Er fühlte, wie ihm Tränen die Wangen herunterrollten, und verbarg sein Gesicht in seinen Händen. »Sie haben mich verraten… Sie Schweinehund.« Weit entfernt hörte er Nairn etwas sagen, und dann fühlte er, wie jemand ihm den Arm um die Schultern legte. Dann schloß sich leise die Tür, und ihm wurde klar, daß er wieder allein war.
Cable blieb länger als eine Stunde unbeweglich in seinem Sessel sitzen. Nach einiger Zeit hörte er auf zu weinen. Im Zimmer wurde es dunkel, aber er machte kein Licht. Um halb sechs wurde erneut an die Tür geklopft, und Jill kam herein. Sie machte die alte, grüne Schreibtischlampe an und leerte seinen Ausgangskorb, als ob es völlig normal sei, daß ihr Botschafter wie ein Zombie in einen Sessel gekauert im Dunklen dasaß. Sie blieb aber an seinem Sessel stehen. »Das mit Sarah tut mir leid«, sagte sie zögernd. »Es tut allen hier leid, aber wir sind sicher, daß man sie herausholt. Sind Sie jetzt in Ordnung – oder kann ich noch etwas für Sie tun?« »Nein, danke, Jill. Ich gehe jetzt nach Hause. Und das sollten Sie auch tun. Gute Nacht.«
»Gute Nacht, Mr. Cable.« Cable rief in der Garage an, um Fritz zu bitten, seinen Wagen zur Eingangstür zu fahren, und zog dann seinen Mantel an. Er hatte keine Ahnung, wo Nairn und Skilbeck sich befanden – und es kümmerte ihn auch nicht. Er schritt langsam aus seinem Büro und nahm den Aufzug ins Erdgeschoß, wo er den Sicherheitsbeamten »Gute Nacht« zuwinkte, als ob nichts geschehen wäre. Der Wagen wartete am Straßenrand im Licht einer Laterne auf ihn, und Fritz hielt die Hintertür für ihn auf. Cable wollte gerade einsteigen, als er herannahende Schritte auf sich zueilen hörte und dann am Ärmel gezerrt wurde. »Was, zum Teufel, machen Sie denn da?« Er drehte sich um – und es war Naomi, deren Augen ihn unter ihrem Kopftuch zornig und anschuldigend ansahen. »Ich habe keine Zeit, um mich mit dir hier zu unterhalten«, fauchte er und drehte sich wieder dem Wagen zu; Fritz hatte sich diskret abgewendet. Sie griff wieder nach seinem Arm. »Doch, die solltest du, verdammt noch mal, haben! Ich bin vor Sorge fast wahnsinnig geworden! Benimm dich doch nicht so ekelhaft! Was, zum Teufel, ist denn los?« Ihre Stimme war in ein Kreischen übergegangen. Cable ergriff sie bei den Schultern und schüttelte sie. »Halt den Mund!« Er hob drohend eine Hand hoch. »Ich habe heute genug um die Ohren gehabt – ohne, daß du vor meiner eigenen Botschaft eine Szene machst!« Er stieß sie auf den Rücksitz des Wagens und wies Fritz an, sie in das Café Landtmann zu bringen. Innerhalb von fünf Minuten befanden sie sich vor dem großen Kaffeehaus am Ring. Cable bat Fritz, draußen auf ihn zu warten. Er eilte, von Naomi gefolgt, durch die Doppeltür und setzte sich an einen Tisch in der Ecke. Außer zwei alten schachspielenden Männern und einer Frau mit einem weißen
Pelzhut, die eine Zeitung las, gab es keine weiteren Gäste. Leere Reihen von Marmortischchen mit verzierten Messinglampen warteten auf den abendlichen Andrang. Ein Kellner in weißem Jackett näherte sich, und Cable bestellte zwei Tassen Kaffee, bevor er sich Naomi abrupt zuwandte. »Nun – was willst du?« Sie hatte ihr Kopftuch abgenommen und strich sich mit einer nervösen, für sie charakteristischen Handbewegung ihr dichtes, schwarzes Haar aus dem Gesicht. Sie sah noch immer wütend aus. »Was, zum Teufel, soll das heißen – ›was willst du‹? Ich war der Meinung, daß wir uns lieben – wir leben seit Monaten praktisch zusammen! Du hast schreckliche Sorgen, und ich möchte dir helfen – und dann merke ich plötzlich, wie du versuchst, mir auszuweichen, und daß deine Sekretärin mich anlügt. Warum, Bill – warum?« »Hast du noch immer den Schlüssel zu meinem Haus?« »Ja.« Er streckte seine Hand aus. »Dann möchte ich ihn zurückhaben. Jetzt.« Der Kellner brachte die beiden Tassen Kaffee auf kleinen Blechtabletts mit winzigen Sahnekännchen und zwei Gläsern Wasser. Naomis Unterlippe begann zu zittern. »Aber warum, Bill? Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Ich liebe dich – es ist nicht meine Schuld, daß du dich in Schwierigkeiten befindest – aber laß mich dir doch, um Himmels willen, helfen.« »Dazu ist es zu spät«, sagte er schneidend. »Es tut mir leid – ich dachte auch, daß wir uns liebten.« Sie fing an zu weinen. »Hat es etwas mit dieser Operation, über die du mir erzählt hast, zu tun – und mit der Erpressung? Haben deine Leute dich vor mir gewarnt? Glauben sie, daß ich eine Art Spionin bin – ist das der Grund?« »Nun – das bist du doch, oder etwa nicht?«
Sie zuckte zurück, als ob er ihr eine Ohrfeige versetzt hätte, und ihr Gesicht war vor Schock starr wie eine Maske. Als sie schließlich antwortete, war ihre Stimme fast unhörbar. »Mein Gott, Bill – wie kannst du so etwas glauben?« »Um Himmels willen, hör auf, mir etwas vorzuspielen! Ich liebte dich, und glaubte, daß du mich auch liebst. Ich dachte wirklich nicht, daß du eine Beziehung anknüpfen würdest, weil dir jemand in Moskau die Anweisung dazu gegeben hat. Und jetzt hau ab. Erzähl deinen Chefs, daß ich dich durchschaut habe – und dann verschwinde aus meinem Leben, verstanden?« Sie starrte ihn an: Ihr Gesicht war rot und von Tränen verschwollen, und ihre Augen blickten voller Qual. »Ist das alles, was ich dir bedeutete, Bill – jemand den man einfach ein bißchen bumst? Und den man beim geringsten Wink eines Sicherheitsbeamten herauswirft? Du Schwein!« Sie schluchzte und ihre Schultern bebten. Sie stand auf und knotete mit zitternden Fingern das Kopftuch unter ihrem Kinn fest, wobei sie versuchte, ihre Tränen herunterzuschlucken. »Du bist ein verdammter Narr, Bill – ich bin der einzige wirkliche Freund, den du hast, aber du bist einfach zu dumm, um das zu erkennen.« Sie wühlte in ihrer Handtasche, zog einen Messingschlüssel heraus und schleuderte ihn heftig auf den gekachelten Boden. »Da – behalte das verdammte Ding!« schrie sie. »Ich hoffe, daß es sich so sehr um dich kümmert wie ich einmal.« Sie drehte sich abrupt um, wobei ihr Stuhl mit einem Krach zu Boden fiel, rannte zur Tür und verschwand.
Wien
Es war am gleichen Abend um etwa zehn Uhr, und die Fenster der Botschaft in der Reisnerstraße waren alle dunkel. Die Flagge am Eingangstor war für die Nacht eingeholt und die Glastüren mit Stahlgittern verschlossen worden. Zwei Polizeibeamte patrouillierten auf der stillen Straße hin und her. Nur zwei schwache Lichter waren zu sehen: Das eine kam aus dem Fenster des Zimmers des Sicherheitsbeamten in der Nähe des Eingangstores, das andere von einer dicken vergitterten Glasscheibe, die in den Gehsteig eingelassen war. Darunter befand sich im Souterrain ein Club für die Angestellten der Botschaft mit einer Bar, einem Billardtisch und verblichenen Werbeplakaten für Guinness an den getünchten Wänden, die im Laufe der Jahre vom Tabakrauch bräunlich gefärbt worden waren. Außer Nairn und Skilbeck, die an der Bar lehnten, war niemand dort. Skilbeck schenkte zwei Bier ein und stellte einen altmodischen Fernseher an. »Tut mir leid, daß wir hier herunterkommen mußten, Sir, aber ich glaube, dies ist der einzige Fernsehapparat im ganzen Gebäude.« Der Altere hielt sein Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit gegen das Licht über der Bar, das die Furchen in seinem mageren Gesicht betonte. »Machen Sie sich keine Gedanken darüber, Paul – das macht mir nichts aus.« Das Bild des Schwarzweißgerätes flackerte, als die Fernsehuhr zehn Uhr anzeigte und das Bild zum Nachrichtensprecher überging. Nairn stöhnte, als Polen erwähnt wurde. Ein Dokumentarfilm wurde gezeigt – von den Polen, deren Leichen neben ihren aufgehäuften amerikanischen Karabinern und Granaten auf
einem Platz in Krakau geschmacklos zur Schau gestellt wurden »… die polnischen Behören haben die Unterstützung der westlichen Regierungen bei dem erfolglosen Versuch, eine Gruppe schwerbewaffneter Partisanen ins Land zu schleusen, streng verurteilt. Die Truppe sollte Unruhe in Südpolen verbreiten…« »Mein Gott«, murmelte Nairn. »Es ist noch schlimmer, als ich erwartet hatte.« Dann wurde General Jaruzelski gezeigt, dessen Augen hinter seiner getönten Brille hart und bewegungslos wirkten. Er zeigte sich während einer Pressekonferenz empört über den Vorfall; dann kam man zu Szenen der Straßenschlachten – Polizisten mit Helmen und durchsichtigen Visieren, mit Knüppeln und Schilden; Wasserwerfer, die auf die Rebellen gerichtet waren. Bevor das Bild zu dem Nachrichtensprecher zurückging, konnte man in der Entfernung das Knattern von Maschinengewehren hören. »Trotz der strengen Sicherheitsvorkehrungen wird klar, daß die Auflösung der Partisanentruppe, deren Mitglieder gleich nach ihrer Landung erschossen wurden, die Anführer der illegalen Organisation ›Solidarität‹ zu einer Protestkundgebung brachte und zu gewaltigen Demonstrationen in vielen Städten Polens führte…« »Wenigstens sieht es nicht so aus, als ob sie den einzigen, der entkommen ist, gefangengenommen haben«, sagte Nairn trocken. »Wie hieß er doch noch – Gierek?« »Jozef Gierek. Nein – ich habe einen Funkspruch, der besagt, daß er sich in der Nähe der tschechischen Grenze verbirgt und in Sicherheit ist. Die Untergrundbewegung von ›Solidarität‹ hofft darauf, ihn in ein paar Tagen nach Wien zurückschmuggeln zu können.«
»Wenn er zurückkehrt, sorgen Sie dafür, daß er eine Zeitlang im Verborgenen bleibt – er könnte uns nützlich sein, wenn die PZPR nicht weiß, daß er noch am Leben ist.« »Sollen wir ihn von den anderen fernhalten?« »Welchen anderen?« »Rozinski und den anderen zwölf Polen, die sich immer noch hier befinden. Wie Sie sich erinnern, sollten sie in zwei Schichten hinüberfliegen. Die zweite Schicht sollte heute nacht abspringen – aber das ist jetzt natürlich abgeblasen worden.« »Natürlich – wo befinden sich die Männer jetzt?« »Seit gestern verbergen sie sich alle in der Abtei von Klosterneuburg. Sie sollten dort eigentlich nur eine Nacht verbringen, aber ich möchte nicht, daß sie sich im Moment frei bewegen. Soll ich Kardos bitten zu versuchen, sie für die nächste Zeit in Klosterneuburg unterzubringen? Er hat so viele rote Schnüre an seiner Soutane – es sollte ihm doch möglich sein, sich mit dem Abt oder der Elfenkönigin oder wem auch immer zu arrangieren.« Nairn lächelte dünn. »Ja – tun Sie das, Paul. Und was ist mit Cable?« »Er ist nach Hause gefahren – ich nehme an, er ist allein und brütet in diesem riesigen Haus in Grinzing, der arme Kerl. Besteht irgendeine Chance, daß wir seine Tochter lebend herausbekommen?« »Keine große, aber das ist mein Problem, mein Lieber, und im Moment mache ich mir mehr Sorgen um ihn. Die Belastung, die er erleidet, ist wirklich schrecklich. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er in diesen Tagen irgend etwas leisten kann.« Er lächelte wieder, freudlos und ironisch. »Wie wird er wohl mit der ganzen Sache fertig?« »Ich glaube nicht, daß er jemals darüber hinwegkommen wird, Sir David«, entgegnete Skilbeck brüsk. »Er befindet sich
in einer scheußlichen Situation, und jemand sollte ihn aus Wien wegbringen, bevor er einen Fehler macht.« Nairn nickte wissend. Er war über Skilbecks Mangel an Mitleid entsetzt, ließ es sich aber nicht anmerken. »Sie sollten Menschen nicht so schnell aburteilen, Paul – Cable hat schon einmal die Hölle durchgemacht – und überlebt.« »Nun gut, solange Sie mich nicht für das, was geschieht, verantwortlich machen. Ich habe genug Probleme am Hals und kann es mir nicht leisten, daß mein diplomatischer Vorgesetzter durchdreht. Sehen Sie – wenn es zu schwierig ist, ihn nach England zurückzubringen, warum schicken wir ihn nicht einfach zum Ferienhaus des Diplomatischen Corps an den Attersee? Es ist nur ein Holzhaus, aber man könnte ihn mit ein paar Sicherheitsbeamten für ein oder zwei Wochen dort unterbringen. Dann wäre er aus dem Weg.« »Sind Sie wirklich der Meinung, daß das nötig ist?« »Ja, das bin ich, verdammt noch mal. Er braucht die Ruhe und Abgeschiedenheit – und Schutz vor unseren Freunden aus der Sowjetunion. Aber Sie müßten selber mit ihm sprechen, Sir David. Er würde mir nie im Leben Folge leisten, wenn ich ihn bitte, Urlaub zu nehmen – schließlich bin ich ja offiziell sein Untergebener. Er würde mir nur sagen, daß ich mich zum Teufel scheren soll.« »Okay, Paul – ich rufe ihn noch heute abend in Grinzing an und fahre morgen früh zu ihm, um mich mit ihm zu unterhalten. Vielleicht haben Sie recht – ich sehe zu, was ich tun kann.« »Danke. Ich kümmere mich darum, daß Sie einen Wagen bekommen.« »Das ist nett. Übrigens, haben Sie noch die letzte abgefangene Information bei sich?« Skilbeck fühlte in der Innentasche seines Jacketts nach. »Ja, aber glauben Sie nicht, daß wir dafür lieber nach oben gehen
sollten?« Er deutete auf die schwarzen Schatten im leeren Zimmer. Nairn hatte das Licht über der Zielscheibe, die an einer Wand des Clubs angebracht war, angezündet und schleuderte Pfeile hinein, wobei er sich auf den doppelten Zwanziger konzentrierte. »Mist«, murmelte er. »Ich würde lieber hierbleiben, Paul – ich könnte noch ein Bier vertragen. Niemand kann uns hören. Außer den Wachposten und einem Dechiffrierbeamten in der Registratur ist doch niemand im Haus.« »Mit allem Respekt, Sir, aber dieser Raum könnte doch abgehört werden.« »Gut, aber hier sind wir sicherer als in Ihrem Büro, da gibt es mit Sicherheit Wanzen.« In einem Anflug von Ärger schleuderte er mit ganzer Kraft einen weiteren Pfeil in die Scheibe. »Sie sind Geheimdienstbeamter – und das hier ist nur die verdammte Bar im Botschaftsgebäude. Außerdem ist die ganze Sache doch sowieso schon öffentlich bekannt.« Nairn deutete auf das Fernsehgerät, auf dem gerade der Film mit den toten Polen noch einmal gezeigt wurde. In der Nahaufnahme sahen die Leichen seltsam blutverschmiert und übel zugerichtet aus. »Mein Gott, glauben Sie, daß man sie mit Panzern überrollt hat? Stellen Sie doch endlich den verdammten Kasten ab.« Skilbeck tat, wie ihm befohlen, und reichte Nairn dann zwei Blätter, deren Inhalt von einem Computer ausgedruckt worden war. Nairn ließ sich in einen Sessel fallen, setzte seine halbmondförmige Lesebrille auf und las die abgefangenen Informationen. »Was bedeutet dieser Hinweis?« Er deutete auf eine Reihe von Buchstaben und Zeilen, die sich unterhalb des Briefkopfes »GEHEIM – NUR FÜR BRITISCHE AUGEN BESTIMMT« befanden.
Skilbeck blickte Nairn über die Schulter. »Das ist noch eins, das die Nimrods über der Baltischen See aufgenommen haben. Vielleicht gehen alle ihre Funksprüche zwischen Wien und Moskau über Ostdeutschland.« »Das wäre möglich… es ist schade, daß es so viele Lücken enthält – sie müssen einen neuen Code haben. Sie nennen Cable Sokrates, wenn ich mich nicht irre?« »Ja.« »Und ihr anderer Agent – der wirkliche Agent – operiert unter dem Namen Plato. Ich nehme an, sie haben sich wieder auf klassische Codenamen verlegt. Aber wer, zum Teufel, ist Plato?« »Ich vermute, daß es sich um Fräulein Reichmann handelt.« »Cables athletische Freundin?« Nairn nickte düster. »Er hat wohl kein Glück, oder?« »Glück?« Skilbecks Stimme klang ungeduldig. »Man könnte doch annehmen, daß jeder Botschafter, der dumm genug ist, sich in dieser gottverdammten Stadt eine israelische Freundin, die niemand kennt, zuzulegen, sich den Ärger nur selbst zuzuschreiben hat.« »Das könnte man, Paul. Das könnte man… Das Schlimme an der Sache ist, daß er in sie verliebt war. Wie in seine frühere Frau, die Sie glücklicherweise nie kennengelernt haben.« »Warum – wie war sie denn?« »Gift. Giftkonzentrat. Überwachen Sie noch immer Frau Reichmann?« »Ja. Sie hatte um etwa sechs Uhr im Café Landtmann Streit mit Cable und ging in Eile nach Hause. Sie befindet sich im Moment in ihrer Wohnung. Vielleicht führt sie uns morgen auf eine Spur.« »Nicht, wenn sie von Moskau angelernt worden ist. In dem Fall verschwindet sie einfach spurlos.« Er gab Skilbeck die
beiden Blätter zurück. »Haben Sie meiner Bitte entsprochen und mit Simon Wiesenthal Kontakt aufgenommen?« »Ja – er nannte mir die Namen von drei Juden, die gegen Ende des Krieges in der Widerstandsbewegung in Budapest tätig waren. Sie leben jetzt alle in Wien. Aber was, um alles in der Welt, wollen Sie von ihnen?« »Naomi Reichmann sagt, daß sie aus Israel stammt. Sie hat Cable darüber hinaus erzählt, daß ihr Vater während des Krieges in der jüdischen Widerstandsbewegung in Budapest tätig war. Entspricht das wohl der Wahrheit? Das weiß der Himmel – aber wenn es stimmt, möchte ich mehr über ihren Vater herausfinden. Eine solche Information könnte sich als nützlich für uns erweisen und uns auch mehr Aufschluß über sie geben. Und wenn sie Cable angelogen hat, wer zum Teufel, ist sie dann, diese Sexmieze, die Ihren Chef seit über einem halben Jahr bezirzt? Wer ist sie wirklich, Paul?« »Ich wünschte, daß ich das wüßte«, murrte Skilbeck verärgert. »Wollen Sie damit sagen, daß ich die Frau schon früher hätte überprüfen sollen?« Nairn nickte müde. »Ich fürchte, ja.« »Aber wie hätten wir das denn tun sollen? Vor noch gar nicht langer Zeit haben Sie mich dafür gerügt, daß ich sie und Cable überwachen ließ.« Skilbecks Tonfall hob sich ärgerlich. »Jetzt sagen Sie mir, daß ich schon viel früher auf die Idee hätte kommen sollen.« »Nein, natürlich nicht – Sie haben sich sehr korrekt verhalten. Etwas zu tun, wenn es zu spät ist, ist ein Tribut an die Demokratie – wenn Sie in der sowjetischen Botschaft wären, hätten Sie Cable routinemäßig überallhin verfolgt, und wir hätten die Frau schon vor Monaten unter dem Mikroskop gehabt.« Als Skilbecks Gesicht sich verfärbte und er protestieren wollte, hob David beschwichtigend die Hand. »Ich weiß, ich weiß. Wir sind diskret und zivilisiert und benehmen
uns nicht so. Wir vertrauen Leuten – respektieren ihr Recht auf ein Privatleben. Wir sind brave Jungen – und brave Jungen verlieren meistens.« »Wenn ich das Sagen gehabt hätte, hätte ich die Frau und Cable schon vor ewigen Zeiten unter strengste Beobachtung gestellt. Ich hoffe, daß diese Ansammlung von jüdischen Kriegshelden uns Aufschluß geben kann…« Skilbeck klang sarkastisch und unwirsch. »Wann wollen Sie sie besuchen?« »Könnten Sie dafür sorgen, daß ich den Wagen für längere Zeit behalten kann? Ich möchte den Kriegshelden nach meinem Gespräch mit Cable ein paar Blitzbesuche abstatten – ohne großes Aufsehen und Ankündigung. Sie sind bestimmt zu Hause, wenn sie alt und pensioniert sind.« »Wahrscheinlich schon – sie sind alle über achtzig, und Wiesenthal war der Meinung, daß einer von ihnen kürzlich gestorben ist. Wollen Sie, daß ich mitkomme?« »Nein – ich habe das Gefühl, daß sie von einem Mann wie mir – vor einem alten Mann eher frei sprechen.« Nairn lächelte ironisch. »Aber ich möchte, daß Sie unsere Freunde in der amerikanischen Botschaft anrufen – ist da im Moment jemand da?« »Ja, die sind vierundzwanzig Stunden am Tag zu erreichen.« »Dann fragen Sie bitte, ob sie einen über sechzigjährigen, ungarischen Juden namens Reichmann, der wahrscheinlich in der israelischen Armee war, finden können. Am frühen Morgen gehen Sie dann hin und erkundigen sich, ob man etwas herausgefunden hat.« »Aber es muß Dutzende von Reichmanns geben, die in der israelischen Armee waren!« warf Skilbeck ein. »Es ist ein sehr verbreiteter deutsch-österreichischer Name.« »Ich habe Grund, anzunehmen, daß er Berufssoldat war und zwanzig oder dreißig Jahre lang diente, also hätte er jetzt schon
einen ganz schön hohen Rang. Das sollte die Sache etwas vereinfachen.«
Am nächsten Morgen stand Cable Nairn in seinem Arbeitszimmer in seinem Haus in der Himmelstraße gegenüber. Nairn war kurz nach acht angekommen und hatte erwartet, daß Cable sich im Zustand tiefster Depression befand. Statt dessen war er jedoch wohlauf, rasiert und mit einem grauen Tweedanzug bekleidet. Es sah aus, als ob er, während er seinen Kaffee in der Küche trank, Dokumente durchsah. Er führte Nairn in sein Zimmer, das mit Bücherwänden, seinem Schreibtisch und gemütlichen Ledersesseln eingerichtet war. »Haben Sie vor, zum Dienst zu gehen?« Nairn konnte seine Verwunderung nicht unterdrücken. »Ich hätte geglaubt, daß Sie nach dieser schrecklichen Woche ein bißchen Ruhe verdient hätten.« »Nein, ich wollte nicht weggehen. Jedenfalls noch nicht. Gibt es irgendwelche Nachrichten von Sarah?« »Nein, Bill – leider nicht.« Cable schüttelte den Kopf. »Ich habe eigentlich auch noch keine erwartet. Ich hatte vor, ein oder zwei Stunden in der Botschaft zu verbringen, für den Fall, daß ein Bericht ankommt.« Nairn war noch immer verblüfft. Cable hatte sich verändert. Er strahlte jetzt innere Ruhe aus. Sein Gesicht war bleich und müde, aber aus seinen Augen leuchtete eine seltsame Stärke, gepaart mit einer tiefen Traurigkeit. Er sah wie ein Mann aus, der schon einmal gestorben und wieder auferstanden war. »Sollten Sie sich nicht ein paar Tage erholen, Bill?« fragte Nairn mit sanfter Stimme. »Sie haben ganz schön viel durchgemacht. Es tut mir leid wegen Sarah, wegen Naomi,
wegen allem, was passiert ist – aber Sie müssen jetzt vernünftig sein. Sie fühlen sich doch bestimmt total zerschlagen.« »Erholen? Wo?« »Vielleicht in London… oder, Skilbeck erwähnte ein Ferienhaus am Attersee.« »Machen Sie sich doch nicht lächerlich! In einem leeren Haus an einem einsamen See, das für den Winter abgeschlossen worden ist? Das würde mir wirklich den Rest geben. David, eins muß ich klarstellen – ich werde nicht an der Sache kaputtgehen.« »Das hoffe ich natürlich auch nicht, Bill – aber es wäre kein Wunder. Jeder, der so etwas wie Sie erlebt hat, stünde kurz vor einem Zusammenbruch.« »Nein. Ich mache mir schreckliche Sorgen um Sarah, und Naomis Verhalten hat mich verletzt; aber ich habe die ganze vergangene Nacht in diesem Mausoleum damit verbracht, über alles nachzudenken… Vor ein paar Tagen fuhr ich nach Klosterneuburg, weil ich beten wollte – und natürlich brachte das nichts, aber es ließ mich erkennen, daß wir alle im Überleben oder im Untergang allein sind.« Cable erwähnte nicht, daß er um drei Uhr morgens, als er nicht schlafen konnte, das Haus verlassen und durch das dunkle Dorf zu der Stille des Waldes auf dem Kahlenberg hinaufgewandert war. Er war zwei Stunden lang zwischen den mondbeschienenen Bäumen spazierengegangen. Als er losging, war er total deprimiert und verzweifelt gewesen, hatte aber verbissen versucht, sein Selbstmitleid zu bewältigen. Während er mit seinen Ängsten kämpfte, hatte er eine Gelassenheit, die tief in ihm ruhte, entdeckt. Als er auf die schattigen Täler der Donau hinunterblickte, hatte Cable sich bereits mit der rauhen Realität, die er nie zuvor in dem Maße
kennengelernt hatte, abgefunden; und in diesem Augenblick entschloß er sich, an dieser Katastrophe nicht zu zerbrechen. Jetzt wandte er sich Nairn zu, der dabei war, seine Pfeife zu stopfen. »Ich möchte nicht davonlaufen, David. Wenn ich diese Sache überstehen soll, muß ich etwas unternehmen, und zwar etwas Nützliches, das hilft, die ganze Scheiße wieder ins Lot zu bringen.« »Dafür sind Sie wahrscheinlich nicht der geeignete Mann, Bill.« »Das mag sein – aber es muß doch etwas geben, was ich tun kann. Sie sagen, daß Naomi eine Agentin ist, die mich getäuscht hat. Ich möchte daran nicht glauben – das wäre für jeden Mann erniedrigend. Aber wenn es wirklich stimmt, könnte ich Ihnen doch bestimmt dabei helfen, herauszufinden, für wen sie arbeitet, und die Wahrheit erfahren.« »Fühlen Sie sich wirklich fit genug dazu, Bill?« Nairn war im Zimmer herumgewandert, um aus dem Fenster zu schauen und hatte, wie es seine Angewohnheit war, der Person, mit der er sprach, den Rücken zugewandt. Am Eingangstor bemerkte er zwei Polizeibeamte mit Maschinenpistolen – seit das Haus vor fünf Tagen auf den Kopf gestellt worden war, hatte man die Wachen verstärkt. Es herrschte Stille. Schließlich sagte Cable: »Wenn ich dazu nicht in der Lage bin, kann ich mich gleich begraben lassen… Wenn ich noch länger herumsitze und brüte, werde ich verrückt, David – lieber möchte ich im Kampf sterben.« Nairn drehte sich um. »Wissen Sie, das glaube ich Ihnen wirklich. Ich habe vor Jahren in Cheltenham wirklich keinen Fehler gemacht, oder…« Cable zuckte mit den Schultern. »Ich bekomme Sarah nicht wieder, wenn ich nur herumsitze und mir Sorgen mache. Ich würde selbst in den Osten fahren, wenn ich nicht wüßte, daß man mich innerhalb von fünf Minuten verhaften würde. Aber Sie haben sicher einen Plan ausgearbeitet, David. Ich war doch
auch einmal Geheimdienstbeamter – um Gottes willen, geben Sie mir etwas zu tun!« »Im Moment sehen Sie nicht besonders gut aus, Bill. Ich sollte Sie eigentlich dazu überreden, etwas Urlaub zu nehmen. Ich kann kein Risiko eingehen und dann eine Bruchlandung erleiden…« »Es besteht für Sie nicht die geringste Gefahr.« Nairns Benehmen wurde plötzlich sehr geschäftsmäßig, als ob er eine schwierige Entscheidung getroffen hätte und handeln wollte, bevor sich seine Meinung wieder änderte. »Nein – das glaube ich auch nicht. Und wahrscheinlich gibt es etwas für Sie zu tun, Bill, etwas, wofür Sie der beste Mann sind…« Zwei Stunden später saß Skilbeck in einem kahlen Raum in der amerikanischen Botschaft und wurde von einem gleichgültigen Marineoffizier in voller Uniform beobachtet. Paul sah die Akten durch, die per Telekopie aus Langley ankamen. Jede Akte wurde von Al Nosenzo, der sich im Büro nebenan befand, vor der Übergabe überprüft, um sicherzustellen, daß dieser fremde Brite auch wirklich nur Papiere zu sehen bekam, die für seine Augen geeignet waren. Das Telefon klingelte, und der Marineoffizier nahm den Hörer ab. »Hallo?« Seine Stimme klang gelangweilt. »Es ist für Sie, Freundchen.« Skilbeck nahm ihm den Hörer ab. »Skilbeck am Apparat.« Es wurde gesprochen, und er hörte stirnrunzelnd zu. »Danke.« Er legte auf und ging zum Tisch zurück, wobei er seine Wut hinunterschluckte. Naomi war an diesem Morgen nicht aus ihrer Wohnung gegangen. Nach ein paar Stunden hatte einer seiner Leute in der Verkleidung eines Inspektors der Stadtwerke, der nach einer undichten Gasleitung suchte, bei ihr geklingelt. Die Tür wurde nicht geöffnet. Nach ein paar Minuten erschien der Hausverwalter und ließ Skilbecks Mann
mit einem Nachschlüssel ein. Die Wohnung war leer, und das Fenster zur Feuerleiter schwang im Wind hin und her. Nairn hatte recht gehabt. Während der letzten Nacht war die Frau verschwunden – spurlos verschwunden.
Gegen Mittag nahm Nairn sich ein Taxi zum Flughafen. Er wollte nicht, daß in der Botschaft bekannt wurde, was er unternahm, und hatte den Wagen abgegeben, nachdem er Cables Haus verlassen hatte. Jetzt wurde er in London benötigt, um das Zentrum in Moskau davon zu überzeugen, daß die Operation »PIRANHA« gelaufen war. Wenn er das fertigbrachte, gab es noch eine geringe Chance, Cables Tochter zu retten, wenn sie noch am Leben war. Er seufzte. Er war nicht optimistisch, aber eigentlich wurde einem ja niemals etwas leicht gemacht.
Moskau und Wien
Am nächsten Morgen passierten viele Dinge auf einmal. Zwischen London und der Botschaft in Wien wurden eine Menge Telegramme ausgetauscht, die sich alle auf die Auflösung der Operation »PIRANHA« bezogen. Die Codierungen waren kompliziert – aber man vermutete allgemein, daß sie von den sowjetischen Abhöranlagen schon geknackt worden waren. Eine Konferenz des Gemeinsamen Geheimdienstkomitees wurde einberufen, das sich über den Schaden, den die gescheiterten Fallschirmabsprünge in der Nähe Krakaus verursacht hatten, beraten und beschließen sollte, keine weiteren Versuche zu unternehmen. Das Protokoll dieser Konferenz, die als »geheim« klassifiziert wurde, führte ein Mitglied des Auswärtigen Amtes. Man wußte, daß ein Beamter dieser Abteilung regelmäßig Dokumente an die tschechische Botschaft weiterleitete.
Um halb zwölf Uhr Ortszeit fuhr ein dunkelblauer Ford Cortina aus dem Hof der britischen Botschaft in Moskau und fädelte sich auf der Uferstraße, die den hohen braunen Mauern des Kreml gegenüberlag, in den Verkehrsstrom ein. Etwa zwanzig Minuten später fuhr das Auto auf den Parkplatz des Außenministeriums, und eine junge Frau, die Erste Sekretärin, stieg aus und ging die Treppe zu den Glastüren hinauf. Unter den Kerzenleuchtern in der Eingangshalle zeigte sie dem uniformierten Wachposten ihre Ausweispapiere. Man ließ sie eine halbe Stunde warten und führte sie dann in das Büro eines Beamten, der mit Großbritannien befaßt war. Man schüttelte
sich höflich die Hände, und dann öffnete die britische Diplomatin ihren Aktenkoffer, auf dessen Vorderseite eine Krone und »E II R« in Goldbuchstaben geprägt war, und zog einen Umschlag heraus. »Es handelt sich um den Fall von Miss Cable«, erklärte sie. »Meine Behörde hat einen Vorschlag für Sie.« Der Mann hinter dem Schreibtisch breitete bedauernd die Arme aus. »Wie ich Ihnen schon gestern sagte, sind dafür die ungarischen Ämter zuständig, Miss Probyn, und die junge Dame wird wegen einer kriminellen Handlung festgehalten. Es tut mir schrecklich leid, aber die Sowjetunion kann sich unmöglich in die Rechtsangelegenheiten anderer Staaten verwickeln lassen.« »Nein? Ich dachte, dafür hat es schon einige Präzedenzfälle gegeben.« Sie lächelte ein wenig. »Aber ich bin nicht hier, um Grundsatzprobleme zu lösen. Meine Regierung weiß, daß Miss Cable in Österreich mit Gewalt entführt und nach Ungarn gebracht worden ist, wo man sie mit einer fingierten Anklage konfrontiert hat. Wir glauben darüber hinaus, daß sie sich im Moment in der Sowjetunion befindet. Man kann ihr keinen Rechtsverstoß vorwerfen – also lassen Sie uns ehrlich miteinander sein – Sie halten sie als Geisel fest.« Der Russe sah die junge Diplomatin teilnahmslos an; er war nicht an einer Diskussion interessiert; er wollte lediglich den Vorschlag, den Miss Probyn ihm zu machen hatte, überdenken. »Sie haben ein Angebot für uns?« »Möglicherweise, Herr Kuprianow. Meine Behörden wünschen, daß Miss Cable so schnell wie möglich entlassen wird – sie ist die Tochter eines unserer Botschafter, wie Sie vielleicht wissen. Wenn man sich zu einer Freilassung bereit erklärt, wäre meine Regierung ihrerseits bereit, Miss Cables Austausch für einen Sowjetbürger, der sich in britischer Gefangenschaft befindet, vorzunehmen.«
»Ich verstehe. Handelt es sich um einen ganz bestimmten Sowjetbürger?« »Es liegt an Ihnen, die Wahl zu treffen.« Dieses Mal war der russische Beamte an der Reihe, ironisch zu lächeln. »Wir halten uns alle so sehr an das Gesetz, daß mir niemand einfällt… aber mir ist schon klar, daß es Fälle gewisser britischer Staatsangehöriger gibt, die angeblich für uns spioniert haben und lange Strafen absitzen…« »Ich bin nicht hier, um mit Ihnen zu verhandeln«, unterbrach Miss Probyn ihn kurzangebunden, »sondern um eine Basis zu finden, auf der sich mein Botschafter mit Ihrem Minister verständigen könnte. Und das Treffen sollte schnell zustande kommen, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« »Ja, natürlich, Miss Probyn. Wenn Sie einen Moment warten, führe ich Sie zu meinem Abteilungsleiter. Würden Sie mich bitte zum Wartezimmer begleiten?« »Gern, Mr. Kuprianow.« Am selben Morgen um kurz vor neun Uhr lief Cable im fünften Stock eines Hauses, das Arbeiterwohnungen beherbergte, im Zweiten Bezirk den langen Betonbalkon entlang, der um das ganze Gebäude führte. Es war ganz in der Nähe des Praters gelegen, und das Riesenrad, dessen rote Kabinen im kalten Wind hin und her schwangen, ragte über den benachbarten Dächern auf. Das Haus hatte keinen Aufzug, und das lange Treppensteigen hatte ihn außer Atem gebracht. In seinem langen, grünen Lodenmantel und seiner Pelzmütze sah er wie ein Österreicher aus, aber die Bewohner der Appartements starrten ihn dennoch neugierig durch ihre Gardinen an, als er an ihren Fenstern vorbeikam. Er hatte Skilbeck und Jill gesagt, daß er sich ein paar Tage Urlaub nähme und nicht gestört werden wolle. Skilbeck hatte ihm das Haus am Attersee empfohlen, aber Cable ging darauf nicht ein, und der Vorschlag wurde nicht wiederholt.
Jill schien erleichtert zu sein, daß er nicht im Büro bleiben wollte. Er befand sich noch immer gefährlich nahe am Ende seiner Kräfte, aber irgendwie war es ihm während der vorhergehenden Nacht gelungen, wieder zum Geheimdienstbeamten zu werden. Er kam sich vor, als ob er auf Autopilot geschaltet worden wäre, und trotz seiner inneren Ängste und Spannungen benahm er sich seltsam professionell und sachlich. Die Appartements waren winzig, und die Wohnungstüren führten geradewegs auf den Balkon hinaus, über den Wind und Regen fegten und von dem aus man steil in den Hof hinuntersehen konnte. Zwischen den Wohnungen waren Holztüren, hinter denen sich, dem Geruch nach zu schließen, nicht sehr gut funktionierende Gemeinschaftstoiletten befanden. Das ganze Gebäude hätte schon vor Jahren abgerissen werden sollen, dachte Cable, aber die Mittellosen mußten irgendwo leben, und Österreich hatte mehr als genug Einwohner, die weniger hatten als das Existenzminimum. Alle paar Jahre seit dem Kriegsende waren Flüchtlingsströme herübergekommen: im Jahre 1955 aus Ungarn, in den siebziger Jahren aus der Tschechoslowakei und jetzt aus Polen. Erst wohnten sie in Überbrückungslagern, die von der Regierung eingerichtet worden waren, und nahmen jede Art von Arbeit an, um etwas Geld zu verdienen. Die meisten fuhren weiter – nach Amerika, Australien oder in die Bundesrepublik Deutschland. Aber ein paar blieben immer zurück. Er drückte die Klingel, nach der er gesucht hatte. Die Tür wurde nicht aufgemacht, aber drinnen konnte er Geräusche vernehmen. Vielleicht funktionierte die Glocke nicht. Er klopfte mit einer Münze an das Milchglasfenster in der Tür, und nach ein paar Minuten wurde sie von einer verhutzelten, alten Frau geöffnet. Sie sah ihn ängstlich an.
»Grüß Gott. Sind Sie Frau Etelka Abels?« fragte er auf deutsch. »Ja – und wenn schon?« Sie klang mürrisch und mißtrauisch. »Darf ich hereinkommen und mich mit Ihnen unterhalten? Ich glaube, Sie könnten mir helfen, einen alten Freund zu finden, der sich gegen Ende des Krieges in Budapest aufhielt.« »Sind Sie von der Polizei?« Sie klang immer noch mißtrauisch, aber jetzt stand er schon in dem kleinen, engen Korridor. Im Inneren sah er, daß sie die heruntergekommene Wohnung so sauber und gemütlich hielt, wie es ihre schwindenden Kräfte und ihr schwaches Augenlicht erlaubten. »Nein, ich bin Engländer. Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen meinen Paß zeigen.« Sie zuckte mit den Schultern. »In einem Paß kann man genauso lügen wie mit der eigenen Zunge. Sie sagen, Sie sind Engländer? Wir wollten gern nach England, aber wir haben es nie geschafft. Wenn Sie Engländer sind, was haben Sie dann in Budapest zu suchen gehabt? Es waren die Russen, die kamen, nicht die Engländer, leider Gottes…« Cable erwiderte nichts, weil er fühlte, daß die alte Frau ein verzweifeltes Bedürfnis hatte, zu sprechen. »Die Russen«, murmelte sie wieder, und ihre Augen flackerten auf. Sie mußte einmal sehr hübsch gewesen sein. »Sie waren Barbaren – sie plünderten und vergewaltigten unsere Mädchen und brannten die Synagoge ab. Im Jahre 1946 erlaubten sie uns, das Land zu verlassen. Wir mußten ihnen alles, was wir besaßen, für ein Visum geben, aber wir dachten, in Wien könnten wir arbeiten und mehr Geld verdienen und uns ein neues Leben aufbauen. Mein Mann war gelernter Uhrmacher und hatte noch seine ganzen Werkzeuge, die er von seinem Vater geerbt hatte. An der Grenze wurde der Zug angehalten, und der NKWD stieg ein. Sie nahmen uns alles ab. Ihr könnt nicht einfach Güter mitgehen lassen, die knapp sind,
lachten sie hämisch. Es ist schlimm genug, daß ihr uns eure Arbeitskraft nicht laßt. Sie nahmen Ferenc die Instrumente ab. Sie stahlen uns unsere Mäntel, obwohl es Winter war, alle übrige Kleidung, die wir eingepackt hatten, meine Uhr, meinen Ehering – sogar unsere Schuhe.« Cable wußte, daß Mitleid nur einen weiteren Schwall von Erinnerungen und Qualen erzeugen würde; und er hatte wenig Zeit. »Ist Ihr Mann da?« fragte er und fürchtete im gleichen Augenblick, daß das, was er erwartet hatte, eintraf. Ihr Mann war wahrscheinlich schon lange tot. Aber sie stieß die Tür zum Wohnzimmer auf. »O ja – er ist hier«, sagte sie voller Verachtung. In einem Sessel kauerte ein alter Mann mit dem schwarzen Hut, dem Bart und den langen, weißen Haaren eines chassidischen Juden. »Er ist hier – deswegen bin ich auch hier. Wissen Sie, nachdem sie ihm sein Werkzeug abgenommen hatten, gab er auf. Er sagte, es sei, als ob er seine Hände verloren hätte.« Sie seufzte. »Wenn er ein bißchen mehr Rückgrat gehabt hätte, würden wir nicht immer noch in dieser gottverdammten Stadt in diesem Scheißhaus leben, das kann ich Ihnen versichern.« Cable streckte die Hand aus, und der alte Mann schüttelte sie, ohne aufzustehen. »Herr Abels«, begann er. »Mein Name ist Freeman. Könnten wir uns vielleicht ein bißchen über das Jahr 1945 in Budapest unterhalten. Ich glaube, Sie könnten mir dabei helfen, einen alten Freund wiederzufinden.« Der Greis sah ihn mit leeren Augen und ohne jegliches Interesse an. »Das ist schon lange her.« Seine Stimme war so glanzlos wie sein Blick. »Wie hieß dieser Freund von Ihnen?« »Reichmann.« »Das ist kein ungarischer Name – er muß Österreicher gewesen sein.« Er zuckte leicht mit den Achseln. »Aber wie dem auch sei, der Name sagt mir nichts – zu diesem Zeitpunkt kamen und gingen die Menschen in Budapest zu Tausenden.«
»Simon Wiesenthal sagte mir, daß Sie Mitglied im Jüdischen Rat waren.« »Also hat Wiesenthal Sie hierhergeschickt?« Der alte Mann wurde für einen Augenblick lebendig. »Ja, ich war im Rat.« »Dann sind Sie Reichmann möglicherweise begegnet – ich glaube, daß er in der Widerstandbewegung aktiv war.« »In der Widerstandsbewegung? Es gab nicht so viele in der Widerstandsbewegung – die meisten von uns gingen brav nach Auschwitz.« Plötzlich sprang er beinahe auf. »Natürlich – Reichmann!« Die Lippen des alten Mannes verzogen sich. »Sie meinen doch nicht etwa Gideon Reichmann – der mit Wallenberg zusammenarbeitete?« »Ja, ich glaube, das könnte er sein.« »Nun – dieser Mann mag ein Freund von Ihnen sein, mein Herr, aber ich kann Ihnen sagen, er ist kein Freund von mir. Ich bot ihm eine hohe Summe für einen dieser schwedischen Pässe, die damals verteilt wurden – Tausende von Pengö –, aber er weigerte sich, mir zu helfen. Er schlug meine Bitte ab, obwohl täglich Züge nach Auschwitz fuhren! Er sagte mir, daß die Anzahl beschränkt sei, daß man schwedische Verbindungen haben müsse…« Seine Stimme verlor sich. »Ja«, ermutigte Cable ihn. »Ich glaube, das ist der Mann, den ich suche. Was können Sie mir noch über ihn erzählen?« »Ihnen erzählen – über diesen Schweinehund? Oh, glauben Sie mir, ich kann Ihnen viel erzählen. Aber er hat mir nicht geholfen – und sehen Sie uns heute an. Verstehen Sie? Wir überlebten den Krieg trotz Reichmanns Verrat, aber hat meine Frau Ihnen noch nichts davon gesagt, was dann geschah? Wie uns die Russen alles abgenommen haben?« Er schaute seine Frau mit einem Blick voller Verachtung an. »Sie haben ihr sogar ihre Unterhosen abgenommen – die, die sie trug –, weil sie aus Seide waren. Hat sie Ihnen das erzählt?«
Die alte Frau verließ eilig das Zimmer, und Cable setzte sich hin, um diesem Mann zuzuhören, dessen Leben vor beinahe vierzig Jahren zum Stillstand gekommen war. »Wo lebten Sie, bevor die Russen kamen?« fragte er sanft und knipste das Miniatur-Tonbandgerät in seiner Jackentasche an, dessen winziges Mikrofon hinter seinem Aufschlag versteckt war.
Im Laufe des Tages machte Cable einen ähnlichen Besuch bei einer Grinzinger Adresse – aber diesmal in einer modernen Luxusvilla – und dann einen dritten in einer Wohnung in einer von Bäumen gesäumten Allee im Achtzehnten Bezirk, aber dort war die Person, die er sprechen wollte, nicht zu Hause. Schließlich fuhr er zu einem pensionierten Bankdirektor, der in einem kleinen Haus an einem See im Schatten des UNOGebäudes am anderen Donauufer lebte. Der Bankdirektor war Gefangener in Mauthausen gewesen, wo er bis zur Befreiung durch die Amerikaner im Jahre 1945 überlebt hatte. Damals war er Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen. Als er das Haus des Bankdirektors verließ, fühlte Cable sich sowohl physisch als aus psychisch erschöpft. Er lief den Kiesweg am Seeufer entlang und zog seine Schultern gegen den kalten Ostwind zusammen. Von Zeit zu Zeit warf er einen Blick nach hinten, aber soweit er es beurteilen konnte, war er den ganzen Tag nicht verfolgt worden. Er hatte am Morgen im Schutze der Dunkelheit das Haus in der Himmelstraße durch die Hintertür verlassen. Er hielt an einer Telefonzelle an, telefonierte mit Austria Airways und machte eine Reservierung für den folgenden Tag. Dann ging er zu der U-Bahnhaltestelle »Alte Donau« und trat seine Fahrt nach Hause an. Die Türme des Gebäudekomplexes der Vereinten Nationen ragten ein paar hundert Meter entfernt in den Himmel auf.
Er lächelte – er fühlte sich nicht mehr wie ein Botschafter. Jetzt war er wieder ein Geheimdienstbeamter, der eine heiße Spur verfolgte.
London und Tel Aviv
Nairns Büro befand sich auf demselben Stockwerk wie das des Generaldirektors, aber es hatte keinen Ausblick auf das Parlamentsgebäude. Von Davids Fenster aus konnte er die Straßen und Fabriken von Südlondon überblicken, und bei geeignetem Wetter sah er manchmal weit entfernt die South Downs. Heute waren die Ebenen und der größte Teil des südlichen Londons von grauem Dunst verdeckt. Nairn hatte wochenlang keinen ganzen Tag in seinem Büro verbracht, und er ließ sich an seinem ramponierten Schreibtisch nieder und blätterte seine Post durch. Die Katastrophe befand sich in dem Ordner mit den Telegrammen – ein einzelnes, rosa Blatt Papier vom Chef des sowjetischen Geheimdienstes. Der sowjetische Außenminister hatte den Vorschlag der Botschaft in Betracht gezogen – und abgelehnt. Es gab niemanden, den die Sowjetunion gegen Sarah Cable austauschen wollte. Alle, die wegen Spionage in britischen Gefängnissen saßen, waren offenbar für die Russen nicht interessant. Das war alles – eine glatte Absage – und kein Hinweis darauf, was man mit dem Mädchen vorhatte. David lehnte sich zurück und stieß einen leisen Fluch aus. Er hatte erwartet, daß sie die Sache verzögern, aber schließlich und endlich die Gelegenheit wahrnehmen würden, einen professionellen Agenten gegen einen verängstigten Teenager auszutauschen. Was, zum Teufel, hatten sie vor? Konnten sie wirklich so sehr von Rachegefühlen angetrieben sein, so wild darauf, Cable dafür zu bestrafen, daß er versucht hatte, sie hinters Licht zu führen? Sie hatten doch schon dreizehn Polen,
die mehr Mut als Verstand hatten, das Leben genommen – was wollten sie denn noch mehr? Er runzelte die Stirn und nahm den Hörer seines roten Telefons ab. Um halb fünf Uhr nachmittags desselben Tages stand Cable in der Ankunftshalle des Flughafens Ben Gurion in Tel Aviv. Er befand sich in einer Schlange von Reisenden, die sich langsam an die Paßkontrolle schob, und kam sich seltsam verdächtig vor, als er seinen Paß vorzeigte, der ihn als Mitglied des diplomatischen Dienstes Ihrer Majestät der britischen Königin auswies. Nachdem der Paß abgestempelt und ihm wieder übergeben worden war, bemerkte er, daß einer der zwei Beamten an dem Schreibtisch etwas in einen Computer ein tippte. Der Mossad würde bald von seiner Ankunft erfahren. Er nahm ein Taxi zu dem Hotel, das Nairn ihm empfohlen hatte – »Maxim’s« in der Hayarkonstraße. Es stellte sich heraus, daß es ein anheimelndes kleines Gebäude mit Aussicht auf das Meer war. Der Inhaber war ein armenischer Jude, der Cable freundlich begrüßte. »Schalom! Jeder Freund von Sir Nairn ist auch mein Freund – es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen.« Er verbeugte sich und hob Cables kleinen Koffer auf. »Ich habe ein hübsches Zimmer auf der Vorderseite. Zehn Prozent Skonto, wenn Sie mit US-Dollars bezahlen.« Cable hatte nicht vorgehabt, seine Beziehung zu Nairn aufzudecken, aber Nairn hatte darauf bestanden. »Je mehr Leute wissen, daß Sie mein Vertreter sind, um so besser, Bill. Maxim ist diskret – er wird nur dem Mossad von Ihnen erzählen –, und das kann eigentlich nur von Nutzen für Sie sein. Es wird sie davon überzeugen, daß Sie der sind, für den Sie sich ausgeben, und nicht irgendein Schwindler, der von Moskau hergeschickt wurde. Das könnte eine große Zeitersparnis bedeuten.«
Cable zog sich um, denn in Tel Aviv war es sehr heiß und sonnig, schlüpfte in ein Sporthemd und Freizeithosen und ließ dann ein Taxi rufen. Der Fahrer nahm die Uferstraße in südlicher Richtung, die an den hohen Hotelbauten aus Beton und Wohnblocks, die links gelegen waren, vorbeiführte, während sich rechts die Wellen des azurblauen Mittelmeers an weißen Sandstränden brachen. Nach einiger Zeit bog er in eine Straße ein, die sich die Hügel hinauf nach Jerusalem wand. Als sie an einem steilen Weg, der von Olivenbäumen beschattet wurde, ankamen, hielt der Fahrer an. Er stellte den Wagen an einer hohen, weißen Mauer ab; von dort aus konnte man die Stadt und die glitzernde, blaue Fläche des Meeres überblicken. Cable stieg aus, bat den Fahrer zu warten und ging zu einem hölzernen Gartentor, das in die Mauer eingelassen war. Zwei mit Metallklammern befestigte Fernsehkameras überwachten die Umgebung außerhalb des Tores, das verschlossen war; daneben befand sich eine Klingel und eine Sprechanlage. Er drückte auf den Klingelknopf. Eine verzerrte Stimme ertönte durch die Sprechanlage, sie sprach hebräisch. Cable drückte nochmals den Klingelknopf. »Britische Botschaft«, sagte er. »Besuch für den General.« Ein paar Minuten später spürte Cable, daß nicht nur die Objektive der Kameras auf ihn gerichtet waren, sondern daß er auch durch einen Spion in der Tür beobachtet wurde. Dann wurde das Tor langsam geöffnet, und ein gutgebauter Mann um die Sechzig trat ihm entgegen. Er war vollkommen kahl und trug nichts als ein dünnes Trägerhemd, blaue Shorts und Sandalen. Sein Körper war von der Sonne dunkelbraun gebrannt. Er hielt einen Revolver und ein Rebmesser in seinen Händen. »Ja?« sagte er betont scharf. »Was wollen Sie?« »Generalleutnant Reichmann?« erkundigte Cable sich. »Ja. Und wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Mein Name ist Cable – ich bin britischer Diplomat. Darf ich hereinkommen?« »Und ich bin Mickey Mouse. Wenn Sie von der britischen Botschaft sind, dann zeigen Sie mir Ihren Paß – und Ihre israelische Identitätskarte.« Cable reichte ihm seinen Paß, und der andere Mann untersuchte ihn Seite für Seite genauestens. »Ich habe keine israelische Identitätskarte«, sagte Cable. »Ich komme aus Wien, um Sie zu treffen.« Der ältere Mann sah ihn verwirrt an. »Ich bin im Moment sehr damit beschäftigt, meine Zitronenbäume zu beschneiden…« Seine Stimme klang argwöhnisch. »Ich gebe Ihnen fünf Minuten Zeit.« Cable folgte ihm in den Garten, der von Reihen aus Zitronen und Orangenbäumen beschattet wurde; ein bißchen weiter oben auf dem Hügel war eine kleine, weiße Villa zu sehen. Der General verschloß das Tor hinter ihnen und führte Cable zu einer bei einem Teich gelegenen Bank, in dem zwischen Seerosen Goldfische umherschwammen. Er setzte sich hin, lud Cable mit einer Bewegung ein, dasselbe zu tun, und blickte ihn durchdringend an. »Nun – was wollen Sie?« »General Reichmann, sagt Ihnen mein Name etwas?« »Vielleicht ja – vielleicht aber auch nein. Sie haben nur noch vier Minuten Zeit.« »Herr General – ich bin der britische Botschafter bei den Vereinten Nationen in Wien. Darüber hinaus bin ich als persönlicher Vertreter des Stellvertretenden Generaldirektors unseres Geheimdienstes hier. Wir brauchen Ihre Hilfe in einer Angelegenheit, die für unsere beiden Länder von Interesse ist.« »In dem Fall sind Sie an der falschen Adresse, Mr…« Er erweckte den Eindruck, als müsse er den Namen in dem dunkelblauen Paß, den er noch immer in der Hand hielt, nachsehen. »Mr. Cable. Ich bin nur ein pensionierter Offizier
der Armee. Wenn es sich um Geheimdienstangelegenheiten handelt, sollten Sie Ihren Botschafter in Jerusalem zu Aaron Yadin, dem Generaldirektor des Mossad, schicken. Warum kommen Sie ausgerechnet zu mir?« Er stand auf und streckte seine Hand aus. »Schalom.« Cable blieb sitzen. »Ich bin zu Ihnen gekommen, Herr General, weil wir mit Sicherheit wissen, daß Sie viele Jahre vor Ihrer Pensionierung einen höheren Posten beim Mossad innehatten. Wir vermuten darüber hinaus, daß Ihre Tochter Naomi – die ich selbst in Wien sehr gut kannte – als Agentin für die Sowjets arbeitet. Wenn wir diese Information bekanntgeben, wäre das für Sie und Ihre Regierung – gelinde gesagt – peinlich. Die Angelegenheit ist sehr ernst.« Reichmanns Gesicht rötete sich vor Zorn. »Versuchen Sie ja nicht, mir zu drohen, Sir! Ihr Land hat einen bedeutend schlechteren Ruf als Israel, was die Anzahl höchster Beamter anbetrifft, die vom KGB beeinflußt, gekauft worden oder durch russische Betten gehuscht sind. Was Sie da sagen ist kompletter Unsinn. Meine Tochter ist eine ehrbare israelische Staatsbürgerin, die zufällig im Moment im Ausland arbeitet.« »Wissen Sie, wo Ihre Tochter sich im Augenblick aufhält?« »Natürlich, sie ist in Wien – wo Sie behaupten, herzukommen.« »Nein, Herr General – Ihre Tochter hält sich nicht in Wien auf. Sie ist verschwunden. Wir haben keine Ahnung, wo sie sich aufhält – und Sie offensichtlich auch nicht. Wir glauben, daß sie als Agentin für die Sowjets arbeitet und daß sie floh, als sie bemerkte, wie das Netz sich um sie zusammenzog.« Reichmann wirkte verwirrt und ärgerlich, aber er forderte Cable nicht noch einmal auf, das Grundstück zu verlassen. Er setzte sich wieder hin, als ob er plötzlich eingesehen hätte, daß er seinen Besucher nicht so schnell loswerden würde.
»Darüber hinaus«, fuhr Cable mit lauterer Stimme fort, »ist meine Tochter vom sowjetischen Geheimdienst entführt worden, sie wird irgendwo in Osteuropa festgehalten und mit dem Tode bedroht, wenn nicht bestimmte strategische Geheimnisse preisgegeben werden. Wir glauben, daß Naomi in diese Angelegenheit verwickelt ist, und wir werden nicht zögern, diese Tatsache bekanntzugeben, wenn Sie nicht bereit sind, uns zu helfen.« Er hielt inne. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem sein Vorhaben scheitern konnte; und wenn er jetzt einen Fehler machte, konnte der Einsatz so hoch wie Sarahs Leben sein. Der alte Mann sprang wütend auf. »Wie können Sie es wagen, Sir! Nehmen Sie sich in acht! Männer mußten schon für weniger ihr Leben lassen, als für den Versuch, einen Generalleutnant der israelischen Armee in seinem eigenen Haus zu erpressen.« Er wandte sich der Villa zu und schrie: »Reuven – Reuven!« Ein junger Mann in Jeans, der eine Uzi-Maschinenpistole trug, tauchte auf; er war sehr gewandt und durchtrainiert, offensichtlich ein Leibwächter. »Laß diesen Mann nicht aus den Augen«, brüllte Reichmann und eilte ins Haus. Er blieb etwa zwanzig Minuten verschwunden. Cable saß schweigend da, während er von dem Leibwächter, der seine MP geradewegs auf ihn gerichtet hielt, beobachtet wurde. Er versuchte, sich den alten Mann vorzustellen, während er fieberhaft eine Telefonnummer in Wien nach der anderen wählte, nur um sich sagen lassen zu müssen, daß Naomi wirklich verschwunden war. Bill verspürte einen Anflug von Mitleid. Als der General zurückkehrte, war er in Gedanken versunken. Er erwähnte Naomi mit keinem Wort und sprach Cable kurz angebunden an. »Also was, zum Teufel, wollen Sie?« »Zunächst einmal könnten Sie mir etwas über Istvan Gyor erzählen.«
Das Gesicht des Generals blieb unbewegt, aber er zuckte leicht zusammen. »Wer ist Istvan Gyor?« »Ich habe gehofft, daß Sie mir diese Frage beantworten können. Ich erfuhr, daß er mit Ihnen 1945 in Budapest zusammen war, als, die Rote Armee eintraf.« Die Pause, die jetzt folgte, war lang und unbehaglich. Schließlich begann der General zu sprechen. »Wie ich sehe, haben Sie Ihre Hausaufgaben gut gemacht, Cable, Sie verdammter Gauner. Wo wohnen Sie?« »Hotel Maxim’s in der Hayarkonstraße.« »Na gut. Ich muß zunächst mit Aaron Yadin sprechen. Wahrscheinlich möchte er Sie erst einmal überprüfen. Sie werden mindestens vierundzwanzig Stunden nichts von uns hören; und selbst danach kann es möglich sein, daß ich Ihnen nichts zu sagen habe. Ich kann nichts versprechen. Bitte lassen Sie mich jetzt allein – ich werde in den nächsten zwei Tagen mit Ihnen Kontakt aufnehmen.« Als sie wieder am Tor angekommen waren, schüttelten sie sich nicht die Hand. Statt dessen blickte Reichmann Cable mit unverhohlenem Widerwillen an. »Mir gefällt die ganze Sache nicht, Cable – und ich glaube, Sie mag ich auch nicht besonders. Sie sagten, Sie wären in Wien ein Freund meiner Tochter gewesen?« »Ja, das stimmt.« »Und jetzt kommen Sie mir so. Mein Gott – haben Sie denn gar kein Ehrgefühl?« »Schalom, Herr General. Versuchen Sie, es in weniger als zwei Tagen zu schaffen.« Cable wußte, daß jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt war, mehr zu sagen. Er stieg wieder in das Taxi ein, das noch immer auf ihn wartete, und ließ sich die holprige Straße zur Autobahn nach Jerusalem herunterfahren. Er entspannte sich auf dem Rücksitz und ließ sich die Unterhaltung noch einmal durch den Kopf
gehen. Er hatte die Sache nicht vermasselt – aber er war noch sehr weit von seinem Ziel entfernt. Er mußte das Vertrauen des alten Mannes gewinnen und ihn zu einer Mitarbeit bringen. Beim nächsten Mal mußte er sich geschickter anstellen, viel, viel geschickter. Während das Taxi den steilen Weg hinunterfuhr und das tiefe Blau des Meeres hinter einem Olivenhain verschwand, zündete er sich eine Zigarette an und sog den Rauch nachdenklich ein.
In Moskau stießen zwei Wärter Sarah durch die schmale Tür in ein Büro zum Schreibtisch und nahmen hinter ihr ihre Positionen ein. Am Tisch saß ein Beamter, den sie noch nie zuvor gesehen hatte. »Sie sind Sarah Cable?« Sein Englisch war gut. »Ja.« »Man hat beschlossen, Sie in ein oder zwei Tagen nach Ungarn zurückzuschicken. Dort werden Sie im Gefängnis unter der Anklage, das Land illegal betreten, eine verbotene Droge – nämlich Heroin – über die Grenze geschmuggelt und sie ungarischen Studenten zum Verkauf angeboten zu haben, auf Ihre Gerichtsverhandlung warten.« Er machte eine bedeutungsvolle Pause. »Sie sollten sich darüber im klaren sein, daß auf die letzten beiden Anklagepunkte die Todesstrafe steht. Jetzt unterschreiben Sie bitte dies hier.« Er schob ihr über den Schreibtisch ein Stück Papier und einen Kugelschreiber zu. Sarahs Hände bebten, als sie den Stift aufnahm. »Was ist das für ein Dokument?« »Sie können es lesen – es ist auf Russisch und auf Englisch verfaßt. Es handelt sich lediglich um die Bestätigung, daß Sie hier gut behandelt worden sind und daß man Sie darüber
informiert hat, daß sie der ungarischen Gerichtsbarkeit unterstehen.« Sarah erwiderte nichts, lehnte sich vor und unterzeichnete das Dokument mit einer krakeligen Unterschrift.
Jerusalem
Cable verbrachte zwei Nächte in dem gemütlichen kleinen Hotel vor Tel Aviv. Er wußte, daß sich mindestens einen Tag lang nichts ereignen würde, aber es fiel ihm schwer, zu warten. Am nächsten Morgen ging er etwa zwei Kilometer am Strand entlang, bis die Reihen der weißen Wolkenkratzerhotels aufhörten und er an einen verlassenen Strandteil zu den Ruinen einer Moschee kam. Die Trostlosigkeit paßte zu seiner eigenen Stimmung, und er stieß ärgerlich einen Kieselstein ins Wasser. Sollten sie sich doch alle zur Hölle scheren. Skilbeck hatte ihm gesagt, daß sie noch immer voller Optimismus seien, Sarah freizubekommen, aber er verspürte eine seltsame Ahnung, daß sie schon jetzt nicht mehr am Leben war. Und Naomi… er konnte einfach nicht begreifen, wie sie mit ihm leben und sich ihm hingeben konnte, während sie ihn verriet und ihn nur als Quelle für Informationen ausnützte. Er wußte, daß er diese bittere, selbstmitleidige Stimmung abschütteln mußte. Am zweiten Tag fuhr er mit dem Bus nach Jerusalem, um sich die Zeit zu vertreiben, und verbrachte einige Stunden damit, durch die engen Sträßchen der Altstadt zu wandern. Am späten Nachmittag verließ er die Stadt durch das Tor des Löwen und spazierte in das Tal Kidron hinunter. Dann kletterte er den steilen, mit Kieseln bestreuten Pfad zum Ölberg hinauf. Nachdem er die Hälfte des Pfades zurückgelegt hatte, spürte er plötzlich sein Alter und mußte keuchend eine Pause einlegen, um sich auszuruhen. Er lehnte sich an die alte Steinmauer, die den verwilderten Garten der russischen Kirche St. Maria Magdalena umgab. Er war dankbar für den dunklen Schatten, den ein Olivenbaum über ihn warf und der ihn vor
der glühenden Sonne schützte. Die Ansammlung der zwiebelförmigen, grün- und goldgestrichenen Kuppeln der Kirche – ein so seltsames Beispiel für russische Architektur hier auf dem verdorrten palästinensischen Hügel – ragte über ihm auf. Er richtete sich auf, um hineinzugehen, aber das Tor war mit einer Kette verschlossen, und seine Farbe blätterte ab, als ob es nicht oft geöffnet würde. Er stieg den Hügel weiter hinauf und wandte sich der Altstadt zu, die auf der anderen Seite des Tales lag und von der goldenen Kuppel der »Kirche auf dem Fels« auf der steinernen Plattform, auf der einst der Tempel gestanden hatte, dominiert wurde. Eine Moschee auf der einen Seite des Tales, eine russische Kirche auf der anderen – Cable dachte über die seltsame Tatsache nach, daß mit Abstand das Jüdischste, was er im Moment sehen konnte, der Mann war, der ihn vom Schatten eines Baumes aus etwa hundert Meter weiter oben diskret beobachtete. Das Überwachungssystem des Mossad befand sich nie weit entfernt. In diesem Moment dachte er wieder an Naomi – und an den Tag, an dem er sich die Geschichte des alten ungarischen Juden in Wien angehört hatte. Nach und nach wurde ihm alles klarer.
Am frühen Abend stattete er dem britischen Generalkonsulat einen Besuch ab und fand den Ortsleiter in seinem Büro. Während der mehr als zehn Jahre, in denen sie sich nicht gesehen hatten, war er dünner geworden. Er hatte eine blaugeäderte Trinkernase, aber Cable erkannte ihn sofort; er hätte sich an ihn erinnern sollen, als Nairn den Namen erwähnt hatte. »Guten Tag, Ryder«, grüßte er. »Ich bin Cable – ich glaube, Nairn hat meinen Besuch angekündigt.«
»Guten Tag, Boß.« Ryder klang recht freundlich; vielleicht hatte er ihre letzte Begegnung in Box Hill vergessen, bei der Cable ihn bewußtlos und mit einer ausgerenkten Schulter zurückgelassen hatte. »Ganz schön lang her. Ja – Nairn hat mich gebeten, Ihnen jede Unterstützung, die Sie brauchen, zu geben. Wie ich das verstanden habe, gehören Sie jetzt nicht mehr zu seinem Team, sondern sind Botschafter oder so was.« »Ich bin Botschafter bei den Vereinten Nationen in Wien.« Ryder ließ die Brauen hochschnellen. »Ich bin beeindruckt! Das hat ein bißchen mehr Klasse, nicht? Ich fühle mich geradezu geehrt. Hätten Sie gern einen Schluck?« Er machte eine Handbewegung zu der Whiskyflasche, die auf dem Tisch stand. »Nein, danke.« »Wie Sie wollen.« Er schenkte sich mit zitternden Händen ein Glas halbvoll. »Lassen Sie mich nur wissen, was Sie brauchen. Unsere armseligen Mittel stehen Ihnen voll zur Verfügung.« Er machte eine scherzhafte Verbeugung. »Ich will gar nicht wissen, was Sie vorhaben…« »Ich hatte auch nicht vor, Ihnen das zu sagen.« »Nein. Wir haben keine Fragen zu stellen, wir versuchen nur, trocken zu bleiben.« Er nahm einen Schluck Whisky und grinste unbewußt bedeutungsvoll. »Ich versuche, den Israelis nicht auf den Schlips zu treten, während ich mich auf Ihrem Territorium befinde.« »Ja – das ist nett.« Ryder klang nicht besonders besorgt. »In dieser Gegend muß man alle mit Samthandschuhen anfassen.« Er übergab Cable einen versiegelten Umschlag. »Zwei Telegramme für Sie. Wir haben sie für Sie dechiffriert; ich hoffe, das war in Ordnung?« Cable öffnete den Umschlag. Beide Nachrichten stammten von Nairn, aber sie enthielten weder Neuigkeiten von Sarah
noch von Naomi. »Keine Antwort nötig«, sagte er. »Ich bleibe mit Ihnen in Verbindung.«
Am nächsten Morgen lehnte er an der Uferbalustrade außerhalb des Hotels und beobachtete die Wellen, die sich in flinken Schaumkrönchen am Sandstrand brachen. Als er ein Motorengeräusch hinter sich vernahm, drehte er sich um und erblickte einen grauen Wagen, der beinahe geräuschlos hinter ihm angehalten hatte. Vom Fahrersitz aus winkte General Reichmann ihm näherzukommen, und er stieg ein. Keiner von beiden sagte etwas, als das Auto die Hayarkonstraße verlassen hatte und am Meer entlang südlich in Richtung Jaffa fuhr. »Ich habe mit Melchior gesprochen«, sagte der alte Mann brummig. »Er hat mir widerwillig die Erlaubnis gegeben, mit Ihnen, unter einigem Vorbehalt selbstverständlich, zu sprechen.« »Ich denke, das wäre für alle Beteiligten von Vorteil.« »Darüber teilen sich die Meinungen. Es sieht wohl eher so aus, daß wir Ihnen geben, was Sie verlangen – also stellen wir ein paar Bedingungen.« »Und wie lauten die?« »Waren Sie der Liebhaber meiner Tochter?« fragte der alte Mann plötzlich. »Das ist eine sehr persönliche Frage, Herr General.« Cable betrachtete Reichmanns Profil, während der den Wagen durch den Verkehr auf der Uferstraße lenkte. Er hatte ein starkes Gesicht, aber heute zeigte es Verletzbarkeit, und seine Hände umklammerten das Steuerrad so fest, daß seine Knöchel unter der sonnenverbrannten Haut weiß hindurchschienen. Schließlich sagte er: »Ihre Behauptung, meine Tochter sei eine Sowjetagentin, ist absoluter Blödsinn,
wissen Sie.« Aber Cable glaubte, einen Anflug von Zweifel – oder sogar Angst – in seiner Stimme zu entdecken. Er sagte nichts, und Reichmann warf ihm einen scharfen Blick zu, bevor er sich wieder der Straße widmete. »Es sieht jedoch tatsächlich so aus, als ob Naomi verschwunden sei – ich mache mir sehr große Sorgen um sie.« Es war offensichtlich, daß er dieses Geständnis nur mit großem Widerwillen machte. »Wir müssen sie finden; deswegen fragte ich, ob Sie ihr Liebhaber waren. Ich glaube, sie hat Sie in ihren Briefen erwähnt, wenn auch nicht namentlich. Ich nehme an, daß auch Sie Naomi finden wollen – Sie waren doch vor ein paar Tagen noch mit ihr zusammen. Werden Sie mir helfen?« »Ja – wenn Sie uns helfen.« »Er wird ganz schön durcheinander sein«, hatte Nairn gesagt, bevor Cable Wien verlassen hatte, »er wird sie verzweifelt wiederfinden wollen. Sagen Sie ihm, daß wir mit ihm zusammenarbeiten und ihm meinetwegen ein Kanonenboot oder, was auch immer, schicken, damit dieser Gyor ausfindig gemacht werden kann. Wenn sie sich in ihre geistige Heimat Moskau begeben hat, dann hilft es ihm sowieso nichts. Wenn sie nur ein langes Wochenende in Golders Green verbringt, dann schon – und dann möchten wir auch ein Wörtchen mit ihr reden.« »Nun gut«, sagte Reichmann grimmig. »General Yadin hat bereits ein offizielles Gesuch zur Mitarbeit an Sir Ian Walker geschickt. Gestern wurden Telegramme ausgetauscht, aber ich wollte mich auch auf Ihr persönliches Engagement verlassen können. Wenn Sie Naomi finden wollen, dann glaube ich, daß wir es zusammen fertigbringen.« Armer alter Knabe, dachte Cable: Er lebte in einer Phantasiewelt und schloß die Augen vor der Wahrheit – er würde am Schluß total am Boden zerstört sein. Bill versuchte, sich den Schmerz vorzustellen, den er verspüren würde, wenn
Sarah ihn verraten hätte, so wie dieser stolze, alte Mann verraten worden war, und fühlte eine Welle des Mitleids über sich hinwegrollen, als das Auto an einem steilen Hügel in der Nähe des Hafens von Jaffa anhielt. Die beiden Männer ließen es stehen und gingen einige Steinstufen hinunter, bis der General stehenblieb, einen Schlüssel aus der Tasche zog und Bill durch eine schwere Eichentür in einen Innenhof führte. An einem Ende befand sich der Eingang zu einem alten arabischen Haus. Drinnen geleitete der General Cable in einen Raum mit einem Balkon, den eine rote Markise vor der grellen Sonne schützte und der Ausblick auf den Hafen und das Mittelmeer bot. Eine Kanne Kaffee und drei Tassen warteten auf sie. Reichmann schloß die Schiebetür, um den Lärm, der vom Hafen heraufdrang, wo ein Frachter mit hölzernen Kisten beladen wurde, zu dämpfen. Ein jüngerer Mann erschien, und der General stellte ihn vor. »Dies ist Nathan Weitz, der den Obersten des Mossad vertritt.« Sie nahmen Platz, und Reichmann wandte sich an Cable. »Nun, Mr. Cable«, sagte er kurz angebunden. »Sie sind gekommen, um mit uns zu sprechen. Was ist Ihnen bereits bekannt?« Cable schlürfte den heißen, aromatischen Kaffee. »Ich weiß, Herr General, daß Sie innerhalb des Mossad mehrere Jahre einen hohen Rang innegehabt haben, bevor Sie letztes Jahr pensioniert wurden. Ich glaube, daß eine Operation, in die mein Geheimdienst verwickelt ist und die sich in Wien gegen einen gemeinsamen Feind richtet, sich auf irgendeine Weise mit einer der Ihren überkreuzt.« »Und wie kommen Sie darauf?« »Ich bin zu dem Schluß gekommen, als ich einige Ereignisse, die kürzlich stattfanden, überprüfte.« Das Gesicht des Generals zeigte noch immer die Anspannung, die Cable schon im Auto bemerkt hatte, aber
jetzt brach er in unnatürliches Gelächter aus. »Besonders mitteilsam sind Sie ja nicht, Cable! Aber ich glaube, es stimmt, daß unsere beiden Länder durch einen gemeinsamen Feind in Wien zu Schaden gekommen sind, und wir täten gut daran, zusammenzuarbeiten. Unter der Bedingung, daß wir auch bei der Angelegenheit, über die ich mit Ihnen schon gesprochen habe, in Verbindung bleiben.« »Selbstverständlich.« »Und daß Sie sich strikt an die Anweisungen halten, die Sir Ian Walker gestern General Yadin gegeben hat.« »Natürlich. Man hat mich bei meiner Botschaft gestern abend von ihrem Telefongespräch und ihrem Telegrammaustausch unterrichtet.« »Sehr gut. Sie werden gebeten, sich keine Notizen zu machen, und wenn Sie sich jetzt bitte kurz erheben, möchte Mr. Weitz gerne nachprüfen, ob Sie auch keine Aufnahmegeräte bei sich haben.« Cable stand schweigend da, während der dritte Mann ihn geschickt durchsuchte. Weitz nickte dem General zu, ohne etwas zu sagen, und Cable setzte sich wieder hin. Reichmann schenkte Kaffee nach und blickte eine Zeitlang auf die Frachter, die im Hafen beladen wurden, als ob er nicht wüßte, wo er beginnen sollte. »Im Jahre 1944 war ich fünfundzwanzig Jahre alt und schlug mich mit einer Partisanengruppe im unteren Teil der Karpaten im Nordosten Ungarns durch. Meine Familie war österreichischungarisch; ist selbst war mit einem österreichischen Namen in Ungarn geboren worden. Mein Vater leitete eine Handelsgesellschaft in Wien und Budapest. Als 1938 der Anschluß kam, lebte die ganze Familie außer mir in Wien. Danach wurde ihr nicht mehr gestattet, aus Österreich – aus Großdeutschland – auszureisen; und ich blieb in Budapest. Alle Familienmitglieder in Wien wurden während der frühen Kriegsjahre nach Treblinka deportiert und vergast.
Im Jahre 1941 trat ich den Partisanen bei.« Er zuckte mit den Schultern. »Es schien keine andere Wahl für mich zu geben, obwohl die Juden in Ungarn in Ruhe gelassen wurden, weil die Regierung mit Nazideutschland alliiert war. Wir waren zu acht in meiner Partisanengruppe: vier Juden, zwei Intellektuelle aus Budapest, zwei Kommunisten. Ein zusammengewürfelter Haufen – aber was uns zusammenhielt, war unser Haß auf die Nazis, auf unsere eigenen Faschisten, die Pfeilkreuzer, und auf die faschistische Regierung unter Horthy. Wir lebten in Berghöhlen und ernährten uns von dem, was wir erjagen konnten oder was uns die Bauern schenkten. Zu Anfang jenes Jahres war ein britischer Offizier, der getarnt über Jugoslawien angereist kam, mit uns in Kontakt getreten. Danach wurden mit Fallschirmen einige Waffen und Vorräte für uns abgeworfen. Aus London kamen in einfachem Code abgefaßte Informationen, die oft in Nachrichten des BBC versteckt waren, durch. Man gab uns Ziele an – manchmal in Ungarn, manchmal in Polen – und wir befeuerten sie oder versuchten es zumindest. Es war alles sehr ähnlich wie die Aktivitäten der Partisanen in Jugoslawien oder die französische Widerstandsbewegung.« »Wer war der Anführer der Gruppe?« »Das war ich.« Der General lachte wieder. »Sie wissen doch, wie es so schön heißt – ein ungarischer Jude ist jemand, der es fertigbringt, hinter Ihnen durch eine Drehtür zu gehen und vor Ihnen herauszukommen. Aber wir hatten vereinbart, daß der zweite Befehlshaber – der im Falle meines Todes oder meiner Gefangennahme die Führung übernehmen sollte – einer der beiden Kommunisten war. Er nannte sich Gyor Istvan – oder, wie Sie sagen würden, Istvan Gyor. Wie viele Kommunisten benutzte er einen Decknamen. Ich kenne bis auf den heutigen Tag nicht seinen wirklichen Namen. Ich weiß jetzt – aber natürlich wußte ich
das damals nicht –, das Istvan zu Beginn des Krieges, als er noch ein Teenager war, von Peter Gabor angeheuert worden war. Gabor war, wie Sie vielleicht wissen, ein stalinistischer Vertreter der harten Linie, der nach dem Krieg aus seinem Versteck kam, um sich an die Spitze der ungarischen Geheimpolizei zu stellen. Istvan war beeindruckend: hochintelligent, ein ausgezeichneter Guerilla-Taktiker und ein tapferer Kämpfer. Ich glaube, man spürte seine marxistischen Ideale und sein Engagement – aber vielleicht sage ich das nur rückblickend. Er hatte einen dichten Schnurrbart, der ihn älter als zwanzig Jahre erscheinen ließ. Er brachte es fertig, den Bauern Hühnchen abzuluchsen – und ihren Töchtern ihre Jungfräulichkeit. Er war ganz einfach ein Teufelskerl. Im April 1944 erhielten wir per Funk die Nachricht, daß ein riesiger deutscher Munitionstransport auf dem Weg zur Ostfront war, an der die Russen langsam vorstießen und die deutsche Armee dabei in Stücke hackten. Wir sollten uns mit einer anderen Partisanengruppe zusammentun und den Transport aus dem Hinterhalt überfallen. Ein paar Tage nach dem Funkspruch sollte ich mich heimlich mit dem Anführer der anderen Gruppe treffen. Als Rendezvousort vereinbarten wir ein Sicherheitshaus – ein Zimmer über einem Café in einem Dorf nördlich von Eger. Als ich ankam, war der andere Anführer nicht da. Das Café war leer. Dann übergab mir ein Bote die Nachricht – Telefon gab es nicht –, so schnell wie möglich zu verschwinden. Das tat ich. Partisan zu sein bedeutet, einen unaufhörlichen Kampf zu überleben; wenn Gefahr im Anzug ist, trödelt man nicht herum. Ich war etwa einen Kilometer weit vom Dorf entfernt und kletterte den bewaldeten Hang an der Seite des Tales hinauf, als die Pfeilkreuzer ankamen. Ich war verraten worden.
Während ich dort oben im Wald versteckt lag, konnte ich alles sehen. Sie kamen die Talstraße entlanggebraust: ein Dutzend knatternde Motorräder mit Beiwagen, ein getarnter Truppenlaster und ein Offizierswagen. Es waren ungefähr fünfzig, die das kleine Dorf wie ein Heer von schwarzen Ameisen umzingelten. Ich sah voller Entsetzen zu, wie die Dorfbewohner zusammengetrieben wurden. Die Männer, die während des Krieges im Dorf geblieben waren, waren zum größten Teil alt und standen bald auf der Dorfstraße aufgereiht; die Frauen und Kinder wurden in die Kirche getrieben. Ich weiß nicht, ob man den Dorfbewohnern versprach, sie am Leben zu lassen, wenn sie meinen Aufenthaltsort preisgäben – ich war zu weit entfernt, um etwas zu hören. Wenn das der Fall war, verriet niemand den Sturmkämpfern, wohin ich gelaufen war, denn man unternahm keinen Versuch, mir zu folgen. Ich mußte zusehen, wie die Pfeilkreuzer in ihren grünen Uniformen und schwarzen Helmen dort unten die Häuser durchsuchten. Sie stießen die alten Männer zum Fluß, erschossen sie und warfen die Leichen ins Wasser. Sie müssen sich vorstellen, daß meine eigenen Landsleute, nicht die Deutschen, das taten – Ungarn war ein Alliierter und nicht besetzt. Danach montierten sie Maschinengewehre an den Lastwagen, der in der Nähe der Kirche stand; drei Soldaten gingen herum und bespritzten die Holzwände der Kirche mit Benzin aus Kanistern. Es herrschte Stille – und dann hörte ich das Knistern von brennendem Holz und schreckliche, tierische Schreie, die vom Wind zu mir herübergetragen wurden. Orangefarbene Flammen züngelten an der Kirche, die sie angesteckt hatten, und eine schwarze Rauchsäule stieg auf. Frauen mit Kindern und Babys im Arm stürzten aus dem Portal; andere kletterten aus den Fenstern. Die Soldaten mähten sie mit ihren Maschinengewehren nieder – niemand entkam. Als das lodernde Kirchendach eingestürzt war,
zündeten die Faschisten das ganze Dorf an und fuhren wieder weg. Mein erster Gedanke war, zum Lager zurückzukehren, aber mein Instinkt hielt mich davon ab. Ich hatte das ungewisse Gefühl, daß auch dort eine Falle auf mich warten könnte. Statt dessen ging ich nach Eger – in meiner groben Kleidung konnte man mich für einen Bauern halten, und ich trug nicht-jüdische Papiere bei mir, mit denen mich unsere Kontaktmänner in Italien versorgt hatten. Während ich mich in Eger versteckte, nahm die Polizei fünf meiner Kameraden fest und erschoß sie, an Pfähle gefesselt, vor dem Bahnhof. Istvan befand sich nicht unter ihnen. Danach floh ich nach Budapest, wo ich glaubte, mich bis zum Ende des Krieges verstecken zu können. Das war ein folgenschwerer Fehler. Da Ungarn ein Alliierter Nazideutschlands war, war der jüdischen Bevölkerung bis 1944 die Massenvernichtung erspart geblieben. Aber als ich in Budapest ankam, war Eichmann gerade dabei, die Deportation unserer Juden in die Gaskammern von Auschwitz zu organisieren. Ich ging mit anderen jüdischen Partisanen in den Untergrund – ich glaube, wir waren die ersten Stadtguerillas überhaupt. Wir lebten in Kellern, bewegten uns in Kanalschächten und taten, was wir konnten, um andere Juden zu retten. Jeden Tag trieb die SS mehr unserer Leute zusammen und steckte sie in Internierungslager – und jeden Tag fuhren lange Züge mit Viehwaggons nach Auschwitz. Aber in Ungarn war es anders: Dies alles passierte nach den Landungen in der Normandie, und die Nazis hatten den Krieg bereits verloren, obwohl die Kämpfe noch ein weiteres Jahr anhielten. Die Amerikaner und ein paar neutrale Länder hatten ein schlechtes Gewissen, daß sie viel zu lange tatenlos zugesehen hatten, wie Hitler Millionen von uns umbringen ließ. Also begannen die schwedischen und schweizerischen
Gesandtschaften, Pässe für die Juden auszustellen – um sie zu Schweizer oder schwedischen Staatsbürgern zu machen. Sie sollten zwar irgendwelche Verbindungen zu Schweden oder der Schweiz haben, aber das war ziemlich theoretisch; und wenn man einen solchen Paß besaß, wurde er von den Deutschen anerkannt. Man wurde nicht deportiert – und behielt seine Freiheit. Man brauchte nicht einmal mehr den gelben Judenstern zu tragen. Es handelte sich nicht nur darum, daß die Deutschen Paragraphenreiter und Bürokraten sind – die meisten waren erleichtert, daß sie einen Vorwand hatten, weniger drastisch vorgehen zu müssen, weil sie bereits die Schlinge erahnten, die ihnen am Ende des Krieges umgelegt wurde. Ich begann, auf einer alten Presse schwedische Pässe zu drucken – Tausende – und verteilte sie. Manchmal funktionierte es, manchmal nicht. Dann wurde ich aufgefordert, in einem Hinterzimmer im Café Gerbaud in der Nähe des Veresmartyplatzes einen Mann der schwedischen Gesandtschaft zu treffen. Ich glaubte, er würde ärgerlich sein und mir befehlen, damit aufzuhören – aber statt dessen ermutigte er mich. Es war Raoul Wallenberg, der gerade aus Schweden in Budapest angekommen war. Er war offiziell Erster Sekretär in der Gesandtschaft, aber seine wirkliche Aufgabe bestand darin, so viele Juden wie möglich zu retten. Er hatte die Unterstützung seiner eigenen Regierung – und Riesensummen von Geld, das ihm die Amerikaner zur Verfügung gestellt hatten. Er war erst einunddreißig, groß und gutaussehend und hatte schwarze, nicht blonde Haare, wie man es von einem Schweden erwartet hätte. Und er bat mich, mit ihm zusammenzuarbeiten. Ich ging auf der Stelle darauf ein, und an jenem Tag stellte man mir einen Paß aus, der mich zum schwedischen Staatsbürger machte. Und so begann eine der verrücktesten
Zeiten meines Lebens. Wallenberg war unglaublich. Er arbeitete mit einem Stab, der aus Gesindel wie mir und einigen echten schwedischen Staatsbürgern bestand, Tag und Nacht. Wir gaben Tausende von Pässen aus – die zwar in Budapest gedruckt wurden, aber trotzdem echte schwedische Dokumente waren. Die Schlange, die jeden Morgen vor der Gesandtschaft auf dem Hügel in Buda wartete, war kilometerlang. Dann legten wir uns mehr Häuser zu, ließen sie als Gesandtschaftsgebäude registrieren und versahen sie mit der schwedischen Nationalflagge. Dort drängten sich Tausende von schutzsuchenden Juden; wir hausten unter unbeschreiblichen Umständen, schmutzig und ärmlich, aber wenigstens waren wir am Leben. Natürlich stempelte Wallenberg nicht nur Pässe ab. Er bedrängte und bedrohte die SS, ihn zu respektieren. Einmal ging ich mit ihm zu einem Bahndamm, wo man einen Zug nach Auschwitz belud. Er stellte sich vor einem Major der SS auf und verlangte die Freilassung derer, die unter schwedischem Schutz standen, während ich den Damm entlanglief und Hunderte von Pässen verstreute – das funktionierte tatsächlich! Die Deutschen waren wütend, aber sie konnten nicht viel unternehmen, denn es gab noch immer eine Art ungarischer Regierung – und die wollte nach dem Krieg natürlich auch ihren Kopf behalten. Aber es wurden immer noch Juden zusammengetrieben, und diejenigen, die keinen neutralen Paß besaßen, wurden weiterhin nach Auschwitz deportiert. Dort wurde beinahe eine halbe Million ungarischer Juden vergast, zehnmal mehr, als Wallenberg und die anderen – die Schweizer und das Rote Kreuz – zu retten vermochten. Wie Sie sich vorstellen können, haßten die SS und die Pfeilkreuzer Wallenberg und seine Gehilfen bis aufs Blut. Sie hatten es auf
uns abgesehen und warteten nur darauf, Vergeltungsmaßnahmen ergreifen zu können. Eines Tages im Oktober 1944 war ich ein paar Stunden lang nicht auf der Hut – ich war bei vollem Tageslicht auf dem Weg von einem schwedischen Haus zum anderen, und das auf der Straße, nicht durch das Kanalsystem. Ich wurde von einer Gruppe von Schlägern der Pfeilkreuzer aufgegriffen. Sie brachten mich zu ihrem Hauptquartier in der Andrassystraße. Ich protestierte und zeigte ihnen meinen Paß – aber sie wußten, wer ich war. Sie zerrissen ihn hohnlachend. Schwedisch?… aber Sie sind beschnitten; wer hat schon jemals von einem beschnittenen Schweden gehört? Man schlug mich und verabreichte mir mehrere starke Elektroschocks; nicht weil sie Informationen von mir wollten, es machte ihnen nur Spaß. Ich glaubte damals, sie würden mich umbringen – sie erschossen nämlich täglich Hunderte von Juden auf dem Korso und warfen sie dann in die Donau. Aber nach ein oder zwei Tagen wurde ich in ein Übergangslager gebracht, wo ich auf einen Transport nach Auschwitz zu warten hatte. Die ganze Zeit dachte ich, Raoul wird mich finden – er wird mit seinem großen Diplomatenwagen auftauchen und mich retten. Aber er kam nicht. Später fand ich heraus, daß er nach mir gesucht hatte, aber die SS und die Pfeilkreuzer wollten Rache nehmen und stritten ab, daß ich mich in Gewahrsam befand.« »Aber Sie wurden doch gerettet, nicht wahr?« unterbrach Cable. »Durch einen dieser Tauschhandel, die Joel Brand mit den Deutschen ausgearbeitet hatte?« »Ja – ich sehe, daß Sie Ihre Hausaufgaben vorzüglich gemacht haben. Ich wurde gegen ein paar Dosen amerikanischer Suppe und einen gebrauchten Lastwagen eingetauscht. Neben dem Paßgeschäft wurden noch ein paar andere Handel getrieben, um die ungarischen Juden zu retten.
Die Pfeilkreuzer hätten mich sofort erschießen sollen – nachdem ich in das Übergangslager geschickt worden war, vergaßen sie mich nämlich. Aber ich hatte unglaubliches Glück. Ich hatte mich schon mit dem Tod in Auschwitz abgefunden, aber statt dessen wurde ich nach Wien geschickt. Es waren 3150 von uns im Zug – siebzig in jedem der fünfundvierzig Viehwaggons – alles war sehr genau berechnet worden. Ich arbeitete in einer Munitionsfabrik in der Nähe von Linz, aber dann wurde ich wieder verraten. Ich hatte Streit mit einem meiner Landsleute, der mir ständig meine Ration an Schwarzbrot klaute. Wir waren alle halb verhungert, und Hunger läßt Menschen zu Tieren werden. Er verriet der SS meine wirkliche Identität: Gideon Reichmann, Partisanenanführer und einer der üblen Gehilfen Wallenbergs. Innerhalb eines Tages befand ich mich in Mauthausen. Mein Urteil wurde in zwei Minuten gefällt – es dauerte etwa so lange, wie der Untersturmbannführer brauchte, um meinen Namen und das Urteil zu schreiben: Tod durch öffentliches Erhängen. Dann wurde ich in das Lagergefängnis eingesperrt, und man vergaß mich wieder. Es war November 1944. Die Deutschen waren sich darüber im klaren, daß ihnen die schrecklichste Niederlage bevorstand. Die Leitung des Lagers wurde den Kapos – Gefangene, die die Verantwortung für die anderen Gefangenen haben – übertragen. Sie waren eine brutale Bande und die meisten von ihnen Kommunisten.« »Haben sie auch Sie – einen Juden – brutal behandelt?« Der General lächelte freudlos. »O nein, mein Freund – schließlich waren es ja die Kapos, die mich herausgelassen haben. Nachdem ich etwa einen Monat dort verbracht hatte, kam ein Kapo, schloß meine Zellentür auf und brachte mich zum Tor. Die SS hatte jegliches Interesse an uns verloren – die meisten versuchten schon, selber zu fliehen. Man konnte sich
damals fast alles erlauben. Aber in Wirklichkeit gab es einen offiziellen Befehl für meine Entlassung. Wallenberg hatte nie aufgegeben. Er hatte die Deutschen dazu gebracht, meinen Aufenthaltsort preiszugeben, und bestand darauf, daß man mich wie einen neutralen Schweden behandelte. Es gab fürchterliche Streitereien, und er hatte Eichmann persönlich aufgesucht – und mit ein wenig Hilfe von seiten der Kommunisten hatte er Erfolg. Der Kapo erwähnte auch Gyors Namen und sagte mir, daß ich in Budapest zurückerwartet würde. Man gab mir Zivilkleidung und etwas Geld. Ich fuhr mit dem Zug in einem richtigen Personenabteil zurück, was zur Abwechslung sehr angenehm war. Die Reise dauerte über zwei Wochen. Normalerweise hätte ich in ein paar Stunden dort sein sollen, aber die Deutschen schickten immer noch Männer – oder vielmehr Jungen von der Hitlerjugend – in den Osten, wo sie von der Roten Armee, die sich durch Ungarn näherte, abgeschlachtet wurden. Die Züge waren von der Armee beschlagnahmt worden. Alles war ein einziges Chaos. In Budapest wurde ich von Raoul willkommen geheißen, der begeistert darüber war, daß die Russen vor den Toren standen. Die ganze Nacht konnte man das Gewehrfeuer sehen, das den Himmel erleuchtete. Ich fand auch Istvan Gyor wieder, der im Untergrund lebte und auf die Ankunft der Russen wartete. Er sagte, daß sie planten, nach dem Krieg Ungarn neu aufzubauen, und fragte mich, ob ich nicht der kommunistischen Partei beitreten wollte. Ich erwiderte, daß ich das nicht könnte, weil ich kein Kommunist sei. Außerdem hatte ich schon damals beschlossen, nach Palästina auszuwandern. Ich wohnte, zusammen mit einem anderen Juden, in einem Keller in Budapest unter den Ruinen eines zerbombten Hauses. Zwei Tage später fand ich meinen Freund bei meiner Rückkehr tot vor – er war in den Kopf geschossen worden, während er
schlief. Ich zog aus und lebte einmal hier, einmal dort, aber ich half Wallenberg noch immer. Obwohl ich hauptsächlich in Kanalschächten wohnte, traf ich mich eines Freitag abends mit anderen Juden, die auch auf der Flucht waren, zu einem einfachen »shabbat« um eine Holzkiste in einem Keller zusammen. Wir hatten ein paar Kerzen und eine Flasche Wein: Weiß Gott, wo wir die aufgetrieben hatten. Plötzlich vergaß ich die anderen und konnte nur noch an Istvan denken. Wie von einem Blitzstrahl getroffen, erkannte ich plötzlich das Muster von Istvans Aktionen. Er war nicht nur ein Kommunist – er befand sich hoch oben in der Hierarchie der Spionage und hatte immer unter Befehl des Cominterns gehandelt, um den Weg freizumachen und alles für die Übernahme nach dem Krieg vorzubereiten. Mir wurde klar, daß Menschen wie ich – nichtkommunistische Partisanen, die zu kämpfen verstanden – eine Gefahr für eine neue kommunistische Regierung bedeuteten. Dasselbe galt für Wallenberg und seine Gehilfen. Dies war ein schrecklicher, furchterregender Moment der Erkenntnis. Istvan war kein Freund – er hatte mich kaltblütig an die Deutschen verraten. Er hatte unsere Kameraden, die in Eger hingerichtet worden waren, verraten. Er hatte auf Befehl gehandelt, als er versuchte, mich für die Partei anzuheuern – und als ihm das mißlang, hatte er versucht, mich umzubringen, aber man hatte den falschen Mann getötet. Die Rote Armee kam im Januar 1945 an und marschierte in Budapest ein. Es fanden erbitterte Kämpfe statt, und die Russen benahmen sich barbarisch; sie vergewaltigten Frauen, plünderten und brannten nieder, was ihnen unter die Finger kam. Kommunisten wie Gyor und Gabor standen aus den Trümmern auf, und die Russen hatten schon einhundertsechzig Kilometer weiter östlich eine provisorische Regierung in Debrecen eingerichtet. Ich machte mir Sorgen um Wallenberg, denn ich wußte, daß Leute wie Gyor und Gabor ihn
denunzieren würden. Sie konnten einfach nicht verstehen, daß er nur helfen wollte. Sie wußten, daß er Geld aus Amerika bekam, und das machte ihn in ihren Augen zu einem amerikanischen Agenten. Er hatte schöne Pläne gemacht, wie er mit amerikanischer Hilfe Ungarn wiederaufbauen wollte – und das war das letzte, was die Kommunisten wollten. Raoul hatte mir das Leben gerettet, und ich warnte ihn, daß er sich in Gefahr befände. Er hörte nicht auf mich und machte sich nach Debrecen auf, um die Russen um Nahrungsmittel für das Ghetto zu bitten. Er wurde festgenommen und nie wieder gesehen. Es ist möglich, daß er jetzt, nach vierzig Jahren, noch immer am Leben ist. Mit Sicherheit befand er sich bis in die sechziger Jahre in sowjetischen Gefängnissen, aber manche glauben, daß er damals starb. Ich weiß es nicht. Ob er lebt oder tot ist, ich werde ihn nie vergessen. Er rettete mir zweimal das Leben – und das Leben Tausender anderer. Es war noch nicht einmal sein Krieg. Er hätte gar nichts zu tun brauchen – er war eine Art Heiliger. Ich konnte auch Istvan nie vergessen – besonders, als ich erfuhr, daß er bei dem NKWD-Kommando, das im Januar 1945 Raoul und seinen Fahrer festnahm, dabeigewesen war. Natürlich kamen sie nicht einmal bis nach Debrecen. Sie wurden außerhalb von Budapest vom NKWD angehalten. Die Schweinehunde durchschnitten die Autoreifen, steckten das Geld und die Wertsachen, die in einem Benzinkanister versteckt waren, ein und nahmen sie in einem Panzerwagen mit. Für mich war damit alles vorbei. Ich verließ Budapest und fuhr mit dem Zug oder mit Armeefahrzeugen, die mich bis nach Triest mitnahmen, wo ich mich mit einer HaganahGruppe zusammentat, die mit einem Schiff nach Haifa fuhr. Ich ging nach Palästina, wo ich gegen die Briten kämpfte, bis Israel geboren wurde. Den Rest meines Lebens kennen Sie.
Wie ich schon sagte, ich habe Istvan nie vergessen. Ich muß zugeben, daß ich für sein eisernes Engagement eine gewisse Bewunderung empfinde, aber er hatte mich und alles, was mir lieb war, verraten. Er hatte versucht, mich umzubringen, nachdem wir zusammen in den Wäldern gekämpft hatten. Er hatte Raoul vernichtet. Ich fürchtete mich vor dem, wofür er einstand – und ich haßte ihn mit einem kalten und doch glühenden Haß. Eines Tages, dachte ich mir, werde ich diesen Mann umbringen. Über dreißig Jahre lang hörte ich nichts mehr von ihm.«
Moskau und Jaffa
Während Cable der Erzählung des alten Mannes zuhörte, verrann die Zeit. An diesem Morgen wurde Sarah in ihrer Zelle in dem Gefängnis in der Nähe Moskaus früh aufgeweckt; die Tür war offen, und in der Füllung stand ein blaubemützter Mann mit zwei bewaffneten Wächtern hinter sich. Er sprach sie in unbeholfenem Englisch an. »Ziehen Sie sich an, Gefangene. Es ist an der Zeit, daß Sie nach Budapest zurückkehren.« Einer der Wächter spie auf den Fußboden. Sarah stand auf, hielt die rauhe, graue Decke um sich geschlungen und starrte ihn mit blauen Augen, die während der letzten zwei Wochen härter geworden waren, schweigend an. Er sah weg, und ihr wurde klar, daß ihr verachtungsvoller Blick ihn getroffen hatte. Sie drehte sich um, um sich anzuziehen, wobei sie die drei Männer, die sie beobachteten, ostentativ ignorierte. An solche Demütigungen war sie bereits gewöhnt. Der Blaubemützte sprach wieder. »Drehen Sie sich um, und nehmen Sie die Hände nach hinten.« Sarah tat, wie ihr befohlen wurde, und fühlte die kalten Handschellen an ihren Gelenken. Sie folgte dem Mann durch den Korridor, die beiden Wächter schritten hinter ihr her. Es gefiel ihr nicht, daß die Männer so offensichtlich vermieden, ihr ins Gesicht zu schauen. Die kleine Prozession bewegte sich mit einer so beunruhigenden Förmlichkeit, als ob sie schon auf dem Weg zum Galgen sei. Sie spürte, wie sich ihr Magen vor Angst umdrehte, aber ihr Gesicht blieb unbewegt, während sie am Ende des Korridors abbogen und eine Steintreppe hinuntergingen.
Die drei Männer saßen schweigend da und blickten zum Hafen von Jaffa hinunter. Der weiße Frachter hatte jetzt die israelische Flagge gehißt und glitt langsam an dem roten Leuchtturm am Ende des Piers vorbei aufs offene Meer hinaus. »An dieser Stelle«, sagte der General, »muß ich betonen, daß alles, was ich Ihnen fortan erzählen werde, einzig und allein zu Ihrer eigenen Information bestimmt ist. Istvan Gyor ist noch am Leben, und der Mossad hat Pläne mit ihm. Sie müssen mir Ihr Wort geben, daß Sie nichts gegen ihn unternehmen werden.« »Wir hatten uns schon gedacht, daß dieses Thema angeschnitten würde«, antwortete Cable. »Ich bin dazu befugt, Ihnen zu versichern, daß wir von heute an einen Monat lang nichts unternehmen werden.« Die beiden Israelis sahen sich an, und Weitz nickte. Es war das erste Mal, daß er etwas sagte. »Die Zeit sollte ausreichen.« »Gut.« Der General steckte seinen Kopf durch den Türspalt und sprach mit unterdrückter Stimme mit jemandem draußen, bevor er zurückkehrte und sich wieder setzte. »Während der siebziger Jahre ist die Sicherheit Israels immer mehr geschwächt worden. Die palästinensische Bewegung dagegen hat an Stärke und Glaubhaftigkeit zugenommen – und erhält jetzt mehr Verständnis in der Welt als je zuvor. Ich persönlich habe schon immer nur Abscheu für das Benehmen der reichen arabischen Ölstaaten übriggehabt, die keinen Finger gerührt haben, um ihren Brüdern in den Flüchtlingslagern zu helfen, und sie lieber als politische Waffe ihrer Misere überlassen.« Er zuckte mit den Schultern. »Aber auch Israel hat seine Schandflecken hinterlassen. Jedenfalls sind einige von uns hier der Auffassung, man sollte ernsthafte Versuche unternehmen, mit der PLO zu einem Einverständnis zu gelangen, wenn unser Land überleben soll. Wir können nicht ewig im Kriegszustand leben.
Die Kanzler von Österreich helfen uns schon seit Jahren sehr dabei, israelische und palästinensische Vertreter – heimlich in Wien – zusammenkommen zu lassen. Wir verdanken der Vermittlung Bruno Kreiskys – und des Kanzlers nach ihm eine ganze Menge. Es sah so aus, als ob wir endlich einen Fortschritt erzielt hätten – aber dann liefen die Dinge plötzlich schief. Gerade wenn ein empfindlicher Punkt erreicht worden war, begann die PLO plötzlich wieder mit terroristischen Aktionen. Daraufhin bombardierte unsere Kriegspartei als Vergeltungsschlag die Flüchtlingslager im Libanon, und das Erreichte war wieder zunichte gemacht worden. Ein Schritt vor, zwei zurück. Natürlich befinden sich sowohl in der Regierung dieses Landes als auch bei der PLO wichtige Männer, die einen Kompromiß nicht wünschen. Der Boden für Konflikte ist immer fruchtbar. Aber es war mehr als nur das. Irgendwie wurden unsere geheimen Gespräche in Wien verraten. Alles – oder fast alles –, was diskutiert oder beschlossen wurde, schien auf wundersame Weise immer in Moskau bekannt zu sein; und von Moskau aus ging dann ein sorgfältig kontrollierter Informationsfluß über die sowjetische Botschaft in Damaskus zur PLO. Kein Wunder, daß die palästinensischen Gruppen der harten Linie, die Volksfront für die Befreiung Palästinas« – er sprach die Worte mit unverhohlenem Abscheu aus – »Schwarzer September, und so weiter, immer gerade ein oder zwei Schandtaten vollbringen konnten, um jeglichen Kompromiß zwischen den vernünftigen Elementen in Israel und der PLO wieder zu zerstören. Wissen Sie, meine Familie hat es am eigenen Leib erfahren. Ich hatte einen Sohn namens Joseph, der mit seiner Frau und zwei Kindern in einem Kibbuz in Galiläa lebte. An einem Wochenende fuhr meine Frau hin, um sie zu besuchen und zusammen mit ihnen einen Ausflug zu machen. Ausgerechnet
an jenem Wochenende hatte eine palästinensische Gruppe geplant, einen Bus mit Maschinengewehrfeuer und Granaten zu überfallen. Es wurden dreißig Menschen getötet – unter ihnen Joseph und seine Familie und meine Frau Esther.« »Das tut mir sehr leid«, sagte Cable leise. Reichmann quittierte die Beileidsbezeigung mit einem Nicken und fuhr mit flacher, monotoner Stimme fort. »Danach war ich fest entschlossen, die undichte Stelle in Wien zu finden. Wir starteten eine große Aktion. Es wurde uns klar, daß die Verantwortlichen nicht im KGB oder GRU zu finden waren oder von anderen osteuropäischen oder feindlichen arabischen Staaten bezahlt wurden. Also wer, zum Teufel, war es? Es mußte sich um jemanden, der sich sozusagen am Kern der Dinge befand, handeln, um jemanden, dem der österreichische Kanzler sein Vertrauen schenkte. Ein Österreicher in einer gehobenen Stellung oder vielleicht ein Diplomat, dem auch Israelis und Palästinenser vertrauten – jedenfalls so weit, daß sie in der Unterhaltung nicht allzu vorsichtig waren. Wir verfertigten eine Liste mit sieben Namen – Ihrer war übrigens auch dabei, ich muß also zugeben, daß ich in meinem Zitrushain von Anfang an wußte, wer Sie sind.« »Ich? Was für eine ausgefallene Idee – warum?« »Sie pflegten Kontakte mit einigen Leuten in der österreichischen Regierung, die uns interessierten. Sie gingen öfter mit dem Außenminister Kurt Jahn zum Entenschießen. Wir wußten auch von Verdächtigungen, die Ihnen nach Ihrer Rückkehr aus Vietnam anhingen, Gerüchte, daß Sie vom GRU gekauft worden wären.« Reichmann lächelte. »Aber machen Sie sich keine Sorgen, Sie wurden ziemlich schnell von der Liste gestrichen, sonst säßen Sie jetzt nicht hier in einem Sicherheitshaus des Mossad. In der Tat wurden nach und nach alle Verdächtigen von der Liste gestrichen. Ich selbst flog
mehrere Male nach Wien, um die Operation zu überwachen – selbst Melchior war einmal dort, zusammen mit Moshe Kagan. Die PLO versuchte, die beiden mit einer Bombe zu töten. Kagan starb dabei tatsächlich. Der Mossad hat eine immer gültige Liste – die sogenannte QListe – von Leuten, die, wie wir glauben, eine Gefahr für Israel darstellen, deren Aufenthaltsort uns unbekannt ist und die wir gerne finden möchten. Das bedeutet nicht unbedingt, daß wir etwas unternehmen, wenn wir sie finden – wir fühlen uns einfach sicherer, wenn wir wissen, wo sie sich aufhalten und was sie tun. Vor vielen Jahren setzte ich Istvan Gyor auf diese Liste, und man schickte ein Dossier mit seiner Geschichte bis zum Jahre 1945 und einigen Zeichnungen seines vermutlichen Aussehens zwanzig Jahre später an alle Posten. Man dachte ein paarmal fälschlicherweise, ihn gesehen zu haben – einmal in Brasilien und einmal in Kanada – und dann passierte jahrelang nichts. Es war Melchior selbst, der ihn fand – und das durch schieren Zufall. Bei dem Empfang, der vor beinahe einem Jahr für Moshe Kagan gegeben wurde, wurde Melchior auf Grund der Explosion zu Boden geworfen und verlor die Besinnung. Als er nach ein paar Minuten wieder zu sich kam, sah er sich unter den Trümmern des Ballsaales im Auersperger Palast um. Überall lagen Verletzte, aber ihm fiel nur ein Mann auf, der hinter einer Säule hervorkam, die ihn vor der Explosion geschützt hatte. Das war alles, aber es war ein Augenblick ungeheurer Spannung, so daß seine Gesichtszüge in Melchiors Gedächtnis haften blieben. Er verbrachte einen Tag im Haus unseres Botschafters, weil er sich nach dem Angriff noch ein wenig schwach auf den Beinen fühlte, und vor seinem geistigen Auge tauchte immer wieder dieses Gesicht auf. Schließlich wurde ihm klar, warum. Obwohl die Explosion schrecklich gewesen war und das ganze Haus brannte, hatte der Mann nicht erstaunt ausgesehen. Und
dann erinnerte er sich an die Ähnlichkeit zwischen dem Gesicht – das durch den Zementstaub irgendwie geglättet und jünger schien – und einer Zeichnung in einer Akte. Ich muß hinzufügen, daß Melchior ein geradezu phänomenales Erinnerungsvermögen für die winzigsten Details hat. Er überprüfte die Q-Akten in unserer Botschaft, und an jenem Abend rief er mich in Tel Aviv an. Gideon, sagte er, ich glaube, ich habe deinen ungarischen Freund gefunden. Natürlich war das erst ein winziger Lichtblick. Wir mußten vieles zurückverfolgen, und ich kann Ihnen nicht alle Einzelheiten erzählen. Aber seit einem Monat sind wir sicher, daß wir Istvan Gyor gefunden haben und daß er der Grund für all diese durchgesickerten Informationen an Moskau war. Gyor, Mr. Cable, ist ein Langzeit-Geheimagent. Er lebt mit einer neuen Identität seit über dreißig Jahren im Westen. Er wird von Moskau aus geleitet – und er ist sehr, sehr gut.« »Wer ist es?« Cables Frage hallte in der Stille des Zimmers wider. Der General lächelte spröde. »Alles zu seiner Zeit. Zunächst einmal besteht das Problem einer unserer Agenten, von dem Sie vermuten, daß er ein Verräter ist und für den KGB arbeitet.« »Einer Ihrer Agenten? Ich verstehe nicht.« »Sie verstehen nicht?« Der General lachte. »Heißt das, daß ich tatsächlich einen Punkt berührt habe, den der arrogante Schachspieler Nairn noch nicht kennt? Es besteht also doch Hoffnung für den Mossad.« Er stand auf und ging an der Tür vorbei auf den Balkon, wobei er über die Schulter hinweg zu Weitz sagte: »Würden Sie uns jetzt bitte allein lassen, Nathan?« Während Weitz das Zimmer verließ, sah Reichmann auf den Hafen hinunter, dann setzte er sich wieder hin. »Ich war der Ansicht, daß Sie Naomi recht gut kennen, Mr. Cable – haben
Sie sich denn nie gefragt, was, um alles in der Welt, die Tochter eines israelischen Generals in einem schäbigen kleinen Kunstladen mitten in Wien zu suchen hatte?« Cable zuckte zusammen, als das letzte Stück des Puzzlespiels unumstößlich auf den richtigen Platz fiel. »Wollen Sie damit sagen, daß Naomi eine Agentin für den Mossad ist?« Der General lächelte trocken. »Nein – und ich glaube auch nicht eine Sekunde lang, daß sie Verbindungen zur Sowjetunion hat. Nach ihrem Wehrdienst blieb Naomi noch ein oder zwei Jahre in der Armee und übernahm ein paar Arbeiten für den Mossad. Ich hätte stolz darauf sein sollen, daß sie sich entschloß weiterzumachen, aber wir haben schon seit einiger Zeit Unstimmigkeiten über verschiedene Dinge. Um die Wahrheit zu sagen, Mr. Cable, ich habe Naomi während der letzten zwei Jahre nur einmal gesehen.« Wieder empfand Cable ein Gefühl von Mitleid für den alten Mann. »Wie können Sie sich dann ihrer so sicher sein? Sie dürfen mir glauben, daß sie sich in Wien mehr als verdächtig benommen hat.« »Das ist gut möglich – Ihrer Ansicht nach.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Naomi ging nach Wien, weil sie von Israel wegwollte; sie sprach es zwar nicht aus, aber ich glaube, sie wollte auch von mir weg. Obwohl ich pensioniert bin, bin ich unvermindert an dem Fall Gyor interessiert; ich möchte so weit gehen, zu sagen, daß mein persönliches Bestreben, ihn zu finden, einen Großteil dazu beigetragen hat, daß diese Akte noch nicht geschlossen wurde. Sie können es meinetwegen eine persönliche Rache nennen.« Cable sagte nichts. Der alte Mann enthüllte mehr, als er sollte, und Bill wollte ihn nicht unterbrechen und ihm die Gelegenheit geben, sich im Zaum zu halten.
»Vor ein paar Monaten mußten meine früheren Kollegen verschiedene Dokumente in Ungarn überprüfen, um sicher zu sein, daß wir Gyor wirklich gefunden hatten. Ich schickte sie zu früheren Freunden von mir, Leuten, die ich zusammen mit Wallenberg gerettet hatte und die sich noch in Budapest aufhielten. Ich hoffte, daß sie das Gefühl hatten, mir einen Gefallen schuldig zu sein. In ein oder zwei Fällen fand unsere Botschaft heraus, daß sie zu mißtrauisch und verängstigt waren, um mitzuarbeiten. Das war verständlich angesichts der Tatsache, daß ich Ungarn vor beinahe vierzig Jahren verlassen hatte. Ich wollte hinfliegen und sie selber besuchen, aber Melchior verbot es mir.« Er zuckte mit den Achseln. »Also erklärte Naomi sich bereit, als meine persönliche Vertreterin zu fungieren und für mich hinzufahren – und es funktionierte. Sie fuhr dreimal nach Budapest und sammelte äußerst wichtige Informationen.« »Ich dachte, Sie hätten sie zwei Jahre lang nicht gesehen.« »Nur einmal. Vor ein paar Monaten flog ich nach Wien, um sie auf diese Mission vorzubereiten. Sie haßt mich nicht, Mr. Cable; es fiel uns ganz einfach schwer, unter einem Dach zusammenzuleben. Und sie war bereit, nebenher diesen Job für den Mossad zu verrichten, weil sie wußte, wieviel mir daran lag – ich bin ja schließlich ihr Vater.« Cable starrte ihn kalt an. »Das ist eine interessante Geschichte, Herr General. Ich bin eher der Meinung, daß Naomi noch immer fest für den Mossad arbeitete – und daß ich ihr Ziel war.« Reichmanns Gesicht verdunkelte sich, aber dann zuckte er wieder mit den Schultern. »Ich habe Ihnen schon viel zuviel erzählt, Cable. Ob Sie mir glauben oder nicht, liegt bei Ihnen. Aber Sie haben mein Ehrenwort als Soldat, daß Sie während des letzten Jahres kein Ziel des Mossad waren – Sie wurden
schon vor langer Zeit von der Liste gestrichen – und daß das, was ich Ihnen erzählt habe, der Wahrheit entspricht.« »Davon, daß Naomi Ihrem Geheimdienst half, diesen Gyor zu identifizieren, hatte ich nie eine Ahnung.« »Warum auch? Es handelte sich um eine geheime Operation, Cable, und Naomi wußte nicht, daß Gyor für Sie oder Ihre Leute irgendeine Bedeutung hatte.« Der alte Mann stand auf und sah plötzlich wieder verletzlich aus. »Tatsache ist, daß Naomi keine professionelle Agentin des Mossad ist, aber sie ist eine der wenigen, die über Gyor Bescheid wissen – und jetzt ist sie verschwunden. Deswegen mache ich mir große Sorgen. Unwahrscheinliche Sorgen.«
Tel Aviv und Moskau
Spionage kann man mit Kriegsdienst vergleichen – lange Zeiten des Nichtstuns, in denen man darauf wartet, daß etwas passiert, werden von plötzlichen Aktionsausbrüchen unterbrochen. Nachdem er das kleine arabische Haus in Jaffa verlassen hatte, ließ Cable sich durch nichts aufhalten. Er nahm sich ein Taxi zurück zum »Maxim’s«, packte und bezahlte seine Rechnung. Mittlerweile war ein Wagen vom Konsulat in Jerusalem mit einem verdrießlichen Stationsleiter angekommen. Sie fuhren schweigend die Küstenstraße in nördliche Richtung und hielten an, als sie die Stadt verlassen hatten. Ryder schickte den Fahrer auf einen Spaziergang am Strand, und Cable studierte einen Flugplan. »Ich nehme den Lufthansaflug nach Frankfurt um fünf Uhr«, kündigte er forsch an. »Von da aus habe ich eine gute Verbindung nach Wien. Jetzt muß ich einige Telegramme ausarbeiten, die Sie heute nachmittag bitte per Expreß abschicken.« »Alles, wie Sie es wünschen, Boß.« Cable beobachtete die Wellen, die sich am Ufer brachen und sagte dann kurz angebunden: »Würden Sie mich bitte allein lassen?« Ryder zuckte mit den Schultern, sah ihn mit einem Blick an, der sagte »Sie können mich mal«, und ging in der entgegengesetzten Richtung des Fahrers davon. Cable hatte den Bericht schon im Kopf. Er chiffrierte ihn schnell, wobei er einen karierten Block, den er auf den Knien balancierte, benutzte. Von Zeit zu Zeit holte er ein kürzlich gemachtes Foto von Istvan Gyor hervor, das Reichmann ihm gegeben hatte,
und schüttelte immer wieder ungläubig den Kopf. Als er fertig war, verbrannte er die benutzten Seiten im Autoaschenbecher; durch die offenen Fenster schwebten dünne, blaue Rauchspiralen. Als er sie sah, kam Ryder zurück. »Sind Sie fertig?« Cable reichte ihm drei zahlenbeschriebene Seiten. »Schicken Sie das an Nairn persönlich. Nur vom Empfänger zu dechiffrieren.« »Bekomme ich keine Kopie?« »Nein.« »Komische Art, eine Firma zu leiten, muß ich schon sagen.« Ryder stieg murrend wieder ein, ebenso der Fahrer, der den Motor anließ und dann auf die Straße nach Jerusalem in Richtung Flughafen bog.
Sarah wurde in einem Militärflugzeug mit zwei Wärtern mit blauen Mützen nach Ungarn zurückgebracht. Sie landeten auf einem Flugfeld irgendwo in der Pußta. Als sie aus dem Kabinenfenster schaute, sah sie nichts als die weitflächige Steppe. Weit und breit war keine Stadt zu sehen. Als sie die Flugzeugtreppe heruntergeführt wurde, fing es gerade an zu dämmern. Das Flugfeld sah wenig benutzt aus, aber sie bemerkte sechs Mig Kampfflugzeuge, die vor einem Hangar aus Wellblech aufgereiht standen, und ein paar Hütten. Von einem Fahnenmast hing schlaff die rot-weiß-grüne ungarische Flagge herunter. Auf dem Asphalt wurden ihr von den Wärtern wieder grob die Handschellen angelegt. Einer der wohlbekannten, schwarzen Gefangenen wagen wartete schon, und Sarah wurde hineingestoßen. Sie mußte sich unbequem auf eine der langen Metallbänke an der Längsseite kauern, weil ihre Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Sie wartete lange und
beobachtete durch die runden Fenster des Wagens, wie es draußen düsterer und düsterer wurde, bis es stockdunkel war. Sie mußte auf die Toilette und trat gegen die verschlossene Hintertür, aber niemand kam. Schließlich wurde der Motor angelassen, und der Wagen setzte sich ruckartig in Bewegung. Mit der Bewegung des Wagens schien ihr physisches Bedürfnis zu verschwinden, aber jetzt überkam sie langsam wieder die Angst. Wenn man sie vor Gericht stellte, würde sie für schuldig befunden und verurteilt werden. Wozu? Zu einem jahrelangen Aufenthalt in einem Arbeitslager? Zum Tode? Sie begann leise zu weinen, fühlte sich verzweifelt und von Angst gepeinigt. Nach einiger Zeit ließ sie sich immer noch schluchzend auf den Boden gleiten, drückte sich in eine Ecke und streckte ihre Beine lang aus. Sie waren dünn und gerade. In dem schwachen, bläulichen Licht der Deckenlampe sahen sie wie zwei dünne Röhren aus, die in grobes schwarzes Tuch gehüllt waren. Sie dachte ironisch, daß sie wie eine Flickenpuppe, die von einem Kind weggeworfen worden war, aussah. Der Gedanke amüsierte sie, und sie hörte auf zu weinen. Dann wurde sie müde, und sie schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein.
Sarah erwachte mit einem Ruck, als der Wagen plötzlich anhielt. Das bläuliche Licht war ausgegangen, und ihr erster Gedanke war, daß sie einen Unfall gehabt hatten. Sie blinzelte in der Dunkelheit und versuchte aufzustehen, wobei sie ihren Körper vorsichtig an der Wagenwand hochschob. Draußen dröhnte das Donnern einer Explosion, die den Wagen heftig erschütterte und sie wieder zu Boden schleuderte. Ihre Ohren summten, und aus einer Kopfwunde sickerte warmes Blut an ihrer Wange herunter. Sie hörte einige vereinzelte Schüsse und das Rattern einer Maschinenpistole – Geräusche, die sie
metallisch und verzerrt wahrnahm – und dann Schreien. Eine Stimme brüllte und fluchte an der Hintertür des Wagens. Dann wurde ihr klar, daß Englisch gesprochen wurde. Ihr Herz machte einen Sprung, und sie schrie zurück: »Ich bin’s! Sarah Cable! Holt mich raus! Um Himmels willen, holt mich hier raus!« Die englische Stimme schrie: »Legen Sie sich hin! Legen Sie sich flach auf den Boden!« Es folgte eine Pause, dann ertönten zwei Schüsse. Die Tür öffnete sich mit dem Knirschen von verbogenem Metall, und ein Mann spähte herein: Er war jung, trug Jeans und einen Anorak und hielt eine rauchende Pistole in der Hand. »Guten Abend. Sind Sie Miss Cable?« fragte er ängstlich. Jetzt klang seine Stimme beinahe normal; trotzdem kicherte sie über seinen unpassend höflichen Ton. »Ja.« »Dann kommen Sie raus – schnell.« Er streckte eine Hand aus, um ihr herauszuhelfen, dann drehte er sie um, und sie spürte, wie er ihre gefesselten Handgelenke hinter ihr hochhielt; sie beugte sich vor, um ihm zu helfen. »Halten Sie still, verdammt noch mal«, herrschte er sie an. Der Schuß kam überraschend und die Metallschellen schürften schmerzhaft an ihren Handgelenken, als die Kugel die Kette, die sie zusammenhielt, durchschoß; aber wenigstens hatte sie jetzt die Hände frei. Sie blickte sich verdattert um und versuchte, wieder etwas Gefühl in ihre tauben Handgelenke zu reiben. Sie standen auf einer unbeleuchteten Straße; sie war von hohen Fichten eingesäumt, die im Abendwind schwankten. Alle Glas teile in der Fahrerkabine des Wagens waren durch Schüsse oder eine Explosion zerschmettert worden, und zwei Gestalten lagen vornübergebeugt mit den Köpfen auf dem Armaturenbrett; sie waren offensichtlich tot. Ein Blutrinnsal floß unter einer der Leichen hervor, tröpfelte über die Wagentür und bildete eine Lache auf dem Asphalt. Ein anderer
Mann in Jeans und Anorak lehnte am Wagen und zertrümmerte ein Funksprechgerät mit dem Gewehrkolben. Ein paar Meter vom Wagen entfernt stand ein Motorrad mit einer roten Laterne auf dem Benzintank. Der Mann, der Sarah gerettet hatte, packte sie und rannte auf die Bäume zu, wobei er sie hinter sich herzog. »Wir haben etwa zehn Minuten Zeit, um aus diesem Scheißland herauszukommen«, keuchte er. »Um Gottes willen, rennen Sie, so schnell Sie nur können.« Sie raste hinter ihm her durch die Dunkelheit, stolperte über hervorstehende Baumwurzeln und rutschte auf glitschigen Blättern aus. Sie verlor ihre Gefängnisschuhe und lief barfuß weiter, während spitze Steine sich in ihre Sohlen bohrten. Plötzlich lichteten sich die Bäume, und sie kamen zu einem Feld. In der Dunkelheit stand ein kleines Flugzeug, dessen Silhouette sich gegen den düsteren purpurfarbenen Himmel abzeichnete. Als sie auftauchten, wurden die Motoren angelassen, und Sarah konnte das ansteigende Brausen der Propeller hören. Sie erreichten das Flugzeug, und sie wurde durch die offene Tür hineingestoßen. Sie krabbelte in die Kabine und warf sich auf den Boden; ihre Brust hob und senkte sich schmerzhaft, während sie nach Luft schnappte. Die beiden Männer warfen sich hinter ihr herein, und die Tür wurde zugeschmissen. Als sie sich hinkniete, sah sie, daß die weißen Scheinwerfer unter den Flügeln eingeschaltet worden waren und das Feld hell erleuchteten. Das Flugzeug rumpelte vorwärts, die Motoren dröhnten, es gewann an Geschwindigkeit, und plötzlich bemerkte sie, daß sie sich in der Luft befanden, daß die Scheinwerfer wieder ausgestellt worden waren und daß die Motorengeräusche nachließen, als das Flugzeug seinen Kurs aufnahm. Die drei saßen aufrecht auf dem Kabinenboden, und dann sprach einer der Männer. »Sind Sie okay?« »Ja«, sagte sie mit zitternder Stimme.
»Gut. T-tut mir leid, daß es hier keine Sitze gibt, außer dem neben dem Piloten. Sie k-können ihn haben, wenn Sie wollen. Ich bin John Peters, und das hier ist Elwyn Evans. Wir sind von der S-SAS.« Sarah fand sein Stottern genauso unpassend wie seine Höflichkeit. Sie saß da und starrte in die Dunkelheit. »Ich nehme an, ich sollte jetzt vor Erleichterung oder so was weinen; aber ich kann es einfach nicht fassen. Ich habe mich daran gewöhnt, eingeschlossen zu sein. Woher wußten Sie, wo ich war? Wie haben Sie den Wagen angehalten? Wohin fliegen wir? Es ist alles zu verwirrend.« »Ich h-habe keine Ahnung, wie die v-von oben herausgefunden haben, wo Sie das Flugzeug abstellen mußten und wo der Wagen hinfahren würde – es wurde uns einfach gesagt.« Der Mann namens Peters lachte. »Ich habe ihn angehalten, indem ich m-mit einem Motorrad und einem ungarischen Polizeihelm auf dem Kopf in der M-Mitte der Straße stand und ein rotes Licht schwenkte: jeder, der nicht auf der Flucht ist, hält bei einem Polizeiposten an, es ist ein natürlicher Instinkt. Dann warf Elwyn eine Granate durch das Wagenfenster, um Ihre Begleiter davon abzuhalten, das FFunksprechgerät zu benutzen.« »Es ist unglaublich – ich hatte jede Hoffnung aufgegeben, daß etwas in dieser Art passieren würde. Wie lange hatten Sie Zeit, den Plan auszuarbeiten?« »Etwa eine Woche«, antwortete der andere Mann. »Aber es hing alles davon ab, daß Sie zur Grenze gebracht werden würden. Auf sowjetischem Territorium hätten wir Sie nicht so einfach entführen können. Das Timing war auch kompliziert – wir haben Ihre Route erst vor einer Stunde erfahren. Da waren wir noch in Österreich.« Er hielt inne. »Und wir befürchteten, daß sich im Rückraum des Wagens noch ein dritter Wärter befinden könnte, der Sie erschießen würde, bevor wir Sie
herausbekommen hätten.« Er fügte nicht hinzu, daß er im Falle des Mißlingens des Rettungsversuchs Anweisungen hatte, Sarah und seinen Partner zu erschießen, bevor er sich selbst das Leben nahm. Sarah wurde eiskalt bei dem Gedanken, wie nahe sie dem Tod gewesen war, und begann endlich vor Erleichterung zu weinen. Der Mann vom SAS legte ihr den Arm um die Schultern. »Hören Sie auf damit«, sagte er streng. »Bewahren Sie Ruhe – wir sind noch nicht in Sicherheit. Wir befinden uns noch immer in ungarischem Luftgebiet und fliegen sehr tief. Sie sind erst in Sicherheit, wenn wir jenseits der Grenze und in Graz gelandet sind.« Sie starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. »Wie weit ist es noch?« »Ungefähr dreißig Meilen. Solange niemand den Wagen findet und Alarm gibt, müßten wir in Sicherheit sein.« Der Pilot drehte sich um und rief ihnen über die Motorengeräusche hinweg zu: »Noch fünfundzwanzig Meilen.« »F-fünfundzwanzig? S-Scheiße? Können wir nicht schneller fliegen? Ich bin mir sicher, daß hinter uns ein Kampfflieger ist. Könnte natürlich nur ein Grenzkontrollflugzeug sein, aber es scheint uns zu folgen…« Peters’ Besorgnis zeigte sich in Schweißperlen, die auf seiner geschwärzten Stirn standen. Das kleine Flugzeug ging weiter herunter. »Ich muß jetzt unterhalb ihres Radars sein«, brüllte der Pilot. »Und wenn er Geschwindigkeit aufnimmt, um uns zu fangen, landet er auch in Österreich. Ich glaube, wir schaffen es. Wir sind beinahe über der Grenze.« In diesem Moment wurde an ihrer rechten Seite eine Leuchtkugel abgeschossen, dann eine auf der linken Seite und die Kabine wurde von blendend weißem Magnesiumlicht
erleuchtet. »Augen zu!« schrie Peters. »Hier ist die Grenze, und jemand hat uns gesehen. Haltet euch fest!« Vor ihnen flammten Leuchtspurgeschosse auf, die wie ein bedrohliches Feuerwerk wirkten. »Ich nehme an, das Kampfflugzeug hat mit der Grenzstation Funkverbindung aufgenommen«, keuchte Sarah. Sie klammerte sich an eine Halteschlinge, während der Pilot das Flugzeug in Querlage brachte und Spiralen drehte, um dem Beschuß von unten auszuweichen. Dann waren sie von allen Seiten von Funken und Rauch umgeben, als das Flugzeug von einer Explosion ganz in der Nähe erschüttert wurde. Es schwankte wie wild, und Sarah wurde von ihrer Halteschlange losgerissen und schlitterte bis zum Cockpit. Die Kabine war mit Rauch erfüllt und orangefarbene Flammen züngelten an einer Tragefläche entlang. Die Motoren waren ausgefallen. Außer dem Prasseln der Flammen und dem Heulen des Windes war nichts zu hören. Der Aufprall erschütterte das ganze Flugzeug, und Sarah verlor für ein paar Minuten das Bewußtsein. Als sie zu sich kam, wurde sie aus dem Flugzeug gezogen, das halb in einem gepflügten Feld vergraben lag. Aus ein paar umliegenden Bauernhäusern kamen Leute gerannt, und sie hörte, daß sie Rufe auf deutsch ausstießen. Sie hatten es nach Österreich geschafft.
Wien
Es war beinahe Mitternacht, und Cable war allein in seinem Haus in der Himmelstraße, als es an der Tür läutete. Er hatte in einem Sessel gedöst, nachdem er spät vom Flughafen zurückgekommen war. Er wachte mit einem Ruck auf. Die Türklingel schrillte noch einmal, und als er die Eingangstür öffnete, stand Nairn ganz allein da. Am Straßenrand war ein Botschaftswagen geparkt. »David?« Cable sah ihn erstaunt an. »Mein Gott – so eine schnelle Reaktion hatte ich nicht erwartet! Ich bin erst vor einer Stunde aus Tel Aviv zurückgekommen. Ich dachte, Sie sind noch in London.« »Kann ich reinkommen, Bill?« Nairn hängte seinen Mantel in der Eingangshalle auf und ging ins Empfangszimmer. »Haben Sie etwas Whisky für einen alten Freund?« »Glenmorangie?« »Ja – das wäre nicht schlecht.« Cable schenkte zwei großzügige Gläser ein und setzte sich dann erwartungsvoll in einen Sessel; er bemerkte, daß etwas in Nairns Verhalten seltsam war. »Haben Sie meinen Bericht erhalten?« »Ja, danke, Bill. Ich habe auch Nachrichten von Sarah.« Cable zuckte nervös zusammen. Die Angst, die er ständig unterdrückt hatte, stand ihm plötzlich ins Gesicht geschrieben. »Was ist passiert?« »Sarah ist in Sicherheit. Wir haben sie heute nacht herausgeholt.« Cable stellte sein Glas unsicher auf dem Parkettboden ab und stützte den Kopf in die Hände. »Oh, Gott sei Dank, David.
Gott sei Dank. Ich kann es nicht fassen – ich glaubte, sie wäre tot.« Er begann zu schluchzen. »Wollen Sie damit sagen, daß sie wirklich in Sicherheit ist? Aber wo ist sie jetzt?« Nairn sah weg, als ob er versuchen würde, seine Verlegenheit nicht zu zeigen. »Sie ist hier in Österreich, in Graz.« Er ging in die Eingangshalle und suchte in einer Manteltasche nach seiner Pfeife. Als er zurückkam, hatte Cable sich wieder gefaßt. »Tut mir leid, David. Sie sagen, sie ist in Graz? Wann wurde sie ausgetauscht – und wann kann ich sie sehen?« »Sie wurde nicht ausgetauscht, Bill. Die Hundesöhne wollten nicht mitspielen. Sie wollten sie in Budapest vor Gericht stellen, also mußte ich ein SAS-Team einsetzen, um sie frei zu kriegen. Wir haben verdammtes Glück gehabt – es funktionierte, und sie haben sie heute abend um neun Uhr herübergeflogen. Es war kein Erfolg auf der ganzen Linie. Ich werde eine Erklärung für den Tod zweier ungarischer Milizsoldaten und für ein Sportflugzeug, das in einem Kartoffelfeld im Burgenland abgestürzt ist, erfinden müssen.« Er nippte nachdenklich an seinem Whisky. »Aber wen juckt das schon?« »Aber sie ist okay?« »Ja – außer ein paar Schnittwunden und Verbrennungen. Sie ist zur Untersuchung im Krankenhaus. Ich möchte, daß Skilbeck morgen den Nachmittag bei ihr verbringt, um alle Informationen von ihr zu bekommen. Sie können sie in ein, zwei Tagen besuchen.« »Aber ich möchte sie gleich sehen! Ich habe mein eigenes Auto draußen stehen – ich fahre sofort nach Graz. Wie kann ich sie telefonisch erreichen?« Nairn streckte Bill sein Glas entgegen, um es sich erneut füllen zu lassen. »Das können Sie nicht – sie hat ein Beruhigungsmittel bekommen und wird jetzt erst einmal mindestens zwölf Stunden schlafen. Äußerlich sieht sie okay
aus, aber sie war in einem sowjetischen Gefängnis, in Einzelhaft und ist fast drei Wochen mit dem Tode bedroht worden – das hinterläßt schon innere Spuren. Sie hätte auch vollkommen durchdrehen können, aber ich glaube, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen; ich habe heute abend mit ihr gesprochen, und ich glaube, daß diese Erlebnisse sogar eine positive Wirkung hatten. Sie ist stärker geworden.« »O Gott, ich bin so froh, daß sie frei ist, David. Ich habe mir so entsetzliche Sorgen gemacht. Ich dachte, daß sie sie umbringen würden, nachdem ich ihnen die falschen Informationen in die Hände gespielt habe.« »Sie ist jetzt in absoluter Sicherheit, Bill, das verspreche ich Ihnen.« Nairn zündete seine Pfeife an und betrachtete Cable aufmerksam. »Und jetzt erzählen Sie mir, was es für ein Gefühl war, für ein paar Tage wieder im alten Stall zu sein?« »Die letzten paar Tage? Oh, wenn ich nicht ständig an Sarah hätte denken müssen, wäre es beinahe ein nostalgisches Erlebnis gewesen. Ich hatte vergessen, wie sehr ich das alles vermißt habe.« »Ich weiß. Sehen Sie, Bill, es hat mich sehr viel Mühe gekostet, Sarah zurückzuholen, und übermorgen wird sie hier sein. Aber jetzt möchte ich Sie um einen Gefallen bitten, bevor allgemein bekannt wird, daß sie aus Ungarn raus ist.« Cable riß sich zusammen. »Wenn Sarah wirklich in Sicherheit ist, tue ich alles, wirklich alles.« Nairn zog nachdenklich an seiner Pfeife. »Und wie denken Sie jetzt über unseren ungarischen Freund?« Cable schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich hatte schon meine Bedenken, als Sie Ihren Blick auf Naomis Vater und die ungarisch-jüdische Herkunft richteten… Aber ich konnte es einfach nicht glauben. Dann zeigte Reichmann mir in Jaffa diese alte Skizze, die von einem Partisanen auf einem groben
Stück Kriegspapier gemacht worden war. Sie war vergilbt und blaß und sagte mir zunächst nichts.« Nairn nickte. »Aber…?« »Ich sah es mir ein paar Minuten lang genau an, und plötzlich starrten mich aus diesem faltenlosen Gesicht des hübschen, jungen Mannes mit den wilden schwarzen Locken die Augen von Laszlo Kardos an. Danach bestätigte Reichmann Ihren Verdacht, daß es sich bei Laszlo Kardos und Istvan Gyor um ein und denselben Mann handelt. Es war das letzte Beweisstück, und ich wußte, daß es wahr sein mußte – aber ich war trotzdem erschüttert.« »Warum?« »Wären Sie das an meiner Stelle nicht? Es handelt sich nicht nur um seine Stellung – Priester und Diplomat des Vatikans –, er schien einfach ein sehr netter Kerl zu sein, so ehrlich. Ich glaubte immer, daß er ein ehrenwerter Mann sei; ich vertraute ihm – er war ein Freund, soweit ein Diplomat in diesem Laden überhaupt als Freund gelten kann.« »Es war eine ausgezeichnete Tarnung.« »Mehr als das, David. Es ist unheimlich – er ist völlig zu einer neuen Person geworden. Er ist ein guter Diplomat – verdammt gut – und wird im Vatikan respektiert. Eine Menge Leute verlassen sich auf Laszlo; ich selbst hätte mich ihm beinahe anvertraut, als man versuchte, mich zu erpressen.« »Er brauchte beinahe dreißig Jahre, um dorthin zu gelangen, wo er jetzt ist. Man benötigt schon eine seltsame Mentalität, um sein eigenes Land zu verlassen, jemand anders zu werden und jahrelang in fremden Ländern zu leben. Es wird sogar gemunkelt, daß er eine Frau oder Geliebte und einen Sohn zurückließ, als er Ungarn verließ. Es heißt, daß der Junge jetzt bei der Politpolizei ist.« »Ich würde gern wissen, ob er seinen Vater seit 1956 gesehen hat.«
»Gott weiß, ob das alles stimmt. Es gibt jedenfalls keinen Beweis dafür, daß Kardos jemals wieder dort war. Er hätte hier bis zu seinem Tod bleiben können, ohne entdeckt zu werden – eine unbezahlbare Quelle für die, wenn Nadja Kirow nicht versucht hätte, auch Sie in die Finger zu bekommen. Sie tendierte schon immer dazu, alles zu übertreiben. Sie spielte damit, einen zweiten Geheimagenten zu bekommen, aber sie versagte – und jetzt wird sie auch Kardos, einen ihrer besten Männer, den sie in ihren gegen den Westen gerichteten Geheimdienstoperationen einsetzen konnte, verlieren.« »Was haben Sie mit ihm vor? Vergessen Sie nicht, daß auch der Mossad nach seinem Blut hechelt.« »Und hier spielen Sie eine Rolle, Bill. Sie wollen ihn doch vernichten, oder?« Cable zögerte. »Will ich das wirklich? Er war eine Art Freund – ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich möchte.« »Großer Gott, Bill, er hat Sie auf ganz miese Art verraten.« Nairns Stimme klang jetzt schärfer. »Sie haben sich fast drei Wochen mit schrecklicher Angst herumgequält, und Sarah hat ein abscheuliches Erlebnis hinter sich, das sie an den Rand des Wahnsinns hätte treiben können! Sie mußte ins Krankenhaus, um sich zu erholen – und obwohl keine physischen Narben zu sehen sind, ist es möglich, daß sie seelische mit sich herumträgt.« »Das haben Sie mir vorhin nicht gesagt.« »Es ist nicht allzu schlimm. Aber Sie müssen sich über eins klarwerden, Bill.« Jetzt schrie er beinahe. »Kardos wußte die ganze Zeit über jede verdammte Einzelheit Bescheid! Er saß mit Ihnen zusammen im Restaurant, während Sarah in einer eiskalten Zelle eingesperrt war, die dazu bestimmt war, ein menschliches Wesen in ein eingeschüchtertes Tier zu verwandeln, ihren Willen zu brechen, ihre Gesundheit, ihre Würde und schließlich ihren Verstand zu zerstören.«
Cable hörte, wie sein Glas auf dem Boden zerschellte. »Wollen Sie damit sagen, daß sie gefoltert wurde, David?« Er sprang auf. »Worauf, zum Teufel, wollen Sie hinaus? Ist sie deswegen im Krankenhaus, ist das der Grund, warum Sie nicht wollen, daß ich sie besuche?« »Nein, nein. Beruhigen Sie sich. Sie wurde nicht gefoltert, nur unter ziemlich scheußlichen Bedingungen festgehalten. Das wird sie Ihnen alles selbst erzählen.« Cable fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Was wollen Sie also sagen?« »Kardos hatte hier die Verantwortung. Er kannte alle Einzelheiten. Er half denen, Sie zu manipulieren – er muß ihnen geholfen haben, Sarah überhaupt zu entführen. Vielleicht war er sogar dabei, als es geschah.« »Okay, David, das reicht.« Cables Stimme klang plötzlich schneidend. »Ich tue, was auch immer Sie von mir wollen. Ich bin zu oft verraten worden – öfter, als es erträglich ist.« Nairn hatte das Gefühl, daß Cable Naomi erwähnen wollte, aber statt dessen verfiel er in Schweigen und starrte durch die Terrassentür in die Dunkelheit hinaus. »So ist’s richtig«, murmelte Nairn beinahe unhörbar. »Hassen Sie den Schweinehund – ich möchte nicht, daß Sie halb auf seiner Seite sind.« Er zündete erneut seine Pfeife an. »Die Sache ist die, Bill, er ist ein unbezahlbarer Fang. Er hält sich seit fast dreißig Jahren in der Verkleidung eines vatikanischen Diplomaten im Westen auf. Ich will nicht, daß er sicher in Moskau unterschlüpft, bevor wir ihn erwischen – und wenn er von Sarah erfährt, wird er das wahrscheinlich versuchen. Er weiß nicht, daß wir ihm auf der Spur sind, aber nachdem er so lange unter falscher Identität gelebt hat, muß er ganz schön sensible Fühler entwickelt haben.« »Warum kann er nicht einfach festgenommen werden?«
»Das könnte nur Österreich tun, aber das werden sie nicht – er besitzt diplomatische Immunität, und außerdem hat er kein Verbrechen gegen Österreich begangen. Ich habe eine Lösung, Bill, die aber erst in ein paar Tagen durchgeführt werden kann.« Er lächelte undurchsichtig und dachte an das lange Telefongespräch, das er nachmittags mit Melchior geführt hatte. Der Mossad plante, Kardos zu entführen und nach Israel zu bringen. Das war nur fair – sie hatten seine Tarnung durchschaut, und er war für sie Freiwild –, aber der Himmel wußte, was dann geschehen würde. Melchior wollte ihn auspumpen und dann in aller Stille erschießen lassen. Reichmann war der Meinung, man sollte ihn gegen Wallenberg austauschen, von dem er glaubte, daß er noch immer irgendwo im Gulag am Leben war. Nairn wollte die Gelegenheit, ihn zu verhören, um herauszufinden, wieviel Schaden er dem britischen Geheimdienst zugefügt hatte. Viele wollten ihn »verdammt noch mal an die Wand nageln«. Niemand hatte sich die Mühe gemacht, den Vatikan zu informieren. Er wandte sich wieder an Cable. »Wir müssen uns also bemühen, daß er nicht Lunte riecht und sich davonmacht, bevor wir bereit sind zu handeln.« »Wie soll ich das bewerkstelligen?« »Unter vielem anderen gab er alles, was er über die Operation PIRANHA wußte, an das Moskauer Zentrum weiter. Die Russen müssen sich also im klaren sein, daß sich die Hälfte der Polen noch immer hier aufhält. Wenn sie einen zweiten Versuch unternehmen, wird Moskau alles wissen wollen – Datum, Zeit, Methode –, damit sie die Männer aufgreifen oder, wie letztes Mal, allesamt umbringen können.« »Also?« »Von Ihnen, Bill, wird man keine Informationen mehr verlangen. Sie haben schon einmal versucht, sie hinters Licht zu führen, und seit sie Sarah verloren haben, haben sie Sie
nicht mehr in der Hand. Der Grund, warum Kardos noch hier ist, besteht darin, daß Nadja Kirow konkrete Informationen über die polnische Operation benötigt. Sie weiß nicht mehr, woran sie ist: Sind unsere Telegramme, in denen steht, daß die Operation gestrichen ist, echt oder ein Ablenkungsmanöver?« »Wer ist diese Kirow, die Sie dauernd erwähnen, David?« »Eine ganz gefährliche Dame, die einzige Frau, die an der Spitze ihrer geheimdienstlichen Hierarchie steht. Sie nahm die maskuline Form ihres Nachnamens vor vielen Jahren an – obwohl sie recht attraktiv sein soll. Wir haben schon einmal die Klingen gekreuzt. Ich bin der Meinung, daß sie hinter allem steckt. Die ganze Sache ist mit ihren gemeinen kleinen Fingerabdrücken übersät.« Cable seufzte und stand auf. Er ging zum Bücherregal und hob ein Foto von Sarah und Lucy, das vor dreizehn Jahren aufgenommen worden war, hoch. »Und was soll ich tun?« »Kardos ist heute nacht in Rom. Eine Art Konferenz der diplomatischen Vertreter des Heiligen Ordens. Er benimmt sich ganz normal und hält seine Routine ein – aber er muß Angst haben. Morgen nachmittag kommt er zurück. Ich möchte, daß Sie ihn am frühen Abend in seiner Wohnung besuchen – benehmen Sie sich ganz gelassen, fahren Sie mit Ihrem eigenen Auto. Behandeln Sie ihn wie einen Freund, erzählen Sie ihm von den guten Nachrichten über Sarah, aber sagen Sie nicht, auf welche Weise sie freikam – und machen Sie eine Andeutung, daß hier in zwei Tagen eine große Konferenz stattfindet. Sagen Sie, daß ich daran teilnehme – und Berger vom CIA.« »Eine Konferenz worüber?« »Halten Sie es etwas vage, und locken Sie ihn mit Andeutungen. Das Endstadium der PIRANHA-Geschichte reicht wahrscheinlich nicht aus. Hat er nicht einmal versucht, Sie über das pakistanische Atomprogramm auszuhorchen? Die
islamische Bombe.« Nairn lächelte dünn. »Deuten Sie an, daß das auch auf der Tagesordnung steht – und daß Sie unter Umständen die Erlaubnis bekommen könnten, ihm danach Einzelheiten zu berichten.« »Glauben Sie, daß er mir das abnimmt?« »Vielleicht, vielleicht auch nicht – aber ich glaube, daß wir ihn damit zwei Tage lang hier festhalten können, und mehr brauchen wir nicht. Er ist der einzige Informant der Generalmajorin Kirow, dem es möglich wäre, über diese Konferenz zu berichten – und er wird so lange hierbleiben, um sich über diese Sache zu informieren.« »Und was geschieht, wenn er es nicht tut?« Nairn nahm einen großen Schluck Whisky und zuckte mit den Schultern. »Wir können ihn nicht hier festhalten. Die Österreicher sind angehalten, ihn an der Grenze, falls er mit dem Auto abhauen will, oder am Flughafen aufzuhalten. Sie könnten einen Grund finden, ihn ein oder zwei Tage festzuhalten, obwohl ich das bezweifeln möchte. Aber er ist ein Profi wie wir, Bill, und ich glaube, daß er seine Chancen abwägt und beschließt, daß er für das Stück Gold am Ende ein paar Tage länger riskieren kann.«
Am nächsten Morgen erwachte Cable mit einem Kater. Nairn war noch bis spät in die Nacht geblieben, sie hatten über alte Zeiten geplaudert und eine Menge getrunken. Während er sich rasierte, beschäftigten sich seine Gedanken mit Naomi; nach Jahren der Einsamkeit hatte er sich an ihre Anwesenheit beim morgendlichen Erwachen gewöhnt. Er schob den Gedanken eilig beiseite. Zwanzig Minuten später kam Fritz mit dem Wagen an. Skilbeck saß schon auf dem Rücksitz, und sie fuhren in Richtung Norden nach Klosterneuburg, wie Nairn sie
angewiesen hatte. Cable war nervös. Es ärgerte ihn, daß er von Sarah ferngehalten wurde, und er machte sich Sorgen, daß er es nicht fertigbrächte, sich in striktem Einklang mit Nairns Textbuch durch den Tag zu lügen. An der Abtei angekommen, fuhren sie durch das Haupttor und durch den Hof zu einem kleinen Torbogen neben der Kirche. Dann glitt der Wagen langsam einen Weg zwischen hohen Steingebäuden entlang und parkte in einem kopfsteingepflasterten Innenhof, der von der gegenüberliegenden Seite des Klosters versteckt lag und sich weit entfernt von den für die Öffentlichkeit bestimmten Anlagen befand. Skilbeck führte ihn zu einem Turm und eine Wendeltreppe hinauf. Rozinski und die anderen Polen warteten in einem dunkel getäfelten Zimmer mit Ausblick auf die steilen Felsvorsprünge und die Stadt. Cable schüttelte ihm förmlich die Hand. Um höfliche Konversation zu vermeiden, betrachtete er einige Minuten lang die Aussicht durch das Fenster. Links lagen die verwinkelten mittelalterlichen Gäßchen der Stadt; gegenüber wurde die Donau von Bäumen verdeckt. Er setzte sich hin und überließ Skilbeck das Reden. Der jüngere Mann erklärte, daß seine Regierung sich mit Washington besprochen habe und der Entschluß gefaßt worden sei, die Operation PIRANHA nach dem ersten gescheiterten Versuch abzusagen. Natürlich handele es sich um Rozinskis Operation, aber es könne keine Rede von weiterer Unterstützung mit Transport, Funkgeräten oder Waffen mehr sein. Die Polen sollten sich ein oder zwei Wochen länger versteckt halten; dann würde man ihnen bei der Umsiedlung in die Vereinigten Staaten oder nach Australien behilflich sein. Weder ein Wimpernzucken noch eine Veränderung in seiner Stimme verriet, daß diese Botschaft nicht echt war. »Mir macht es auch keinen Spaß, die Polen zu täuschen«, hatte
Nairn gesagt. »Aber wenn die Gegner sie unter Beobachtung haben, müssen sie sich dem Aussehen und Benehmen nach wie Männer verhalten, denen man befohlen hat, aufzugeben. Wir können ihnen noch früh genug sagen, daß wir unsere Meinung geändert haben.« Nach ein paar Momenten fassungslosen Schweigens explodierte Rozinski vor Zorn. »Das ist ja lächerlich! Wir haben über ein Jahr damit verbracht, dieses Unternehmen vorzubereiten, und ich bin fest überzeugt, daß es immer noch gelingt, wenn wir unbemerkt in Polen landen können. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt weiterzumachen – gerade wenn man der Meinung ist, uns vernichtet zu haben, und während sie nicht auf der Hut sind!« »Es hat keinen Zweck, sich mit uns zu streiten«, konterte Skilbeck. »Wir sind nur die Überbringer der Nachricht – die Entscheidung ist bereits gefallen.« Cable entspannte sich, stützte die Ellbogen auf den dunklen Eichentisch und hörte mit halbem Ohr dem folgenden emotionsgeladenen, slawischen Redeschwall, der sich über eine Stunde lang hinzog, zu. Von Zeit zu Zeit wanderte sein Blick zu dem weißen Kruzifix aus Elfenbein an der Wand, und er fragte sich zum hundertsten Mal, wie Kardos es fertiggebracht hatte, sich dreißig Jahre lang als Priester und Diplomat auszugeben, ohne enttarnt zu werden. Nach einer Stunde wurde der Beschluß gefaßt, der von Nairn angeordnet worden war: In ein paar Tagen würde eine Konferenz mit allen beteiligten Parteien stattfinden. Wenn die amerikanischen und britischen Gesandten dazu überredet werden konnten, Rozinskis Standpunkt anzunehmen, würde man London und Washington bitten, sich die Sache noch einmal zu überlegen. Der Wagen brachte Skilbeck von Klosterneuburg geradewegs zum Bahnhof, wo er einen Zug nach Graz nahm, und Cable
verbrachte den restlichen Tag in seinem Büro in der Botschaft. Gegen fünf Uhr ließ er sich nach Grinzing zurückfahren, zog sich ein Tweedjackett an und holte den Volvo aus der Garage. Kardos hatte ein Appartement in der Theresianumgasse in der Nähe des Belvederepalastes im Vierten Bezirk, das ihm vom Vatikan zur Verfügung gestellt wurde. Cable hatte seinen Text auswendig gelernt und fuhr geradewegs zum Appartement, denn er wollte etwa um halb sieben dort sein. Er schlängelte sich durch den Verkehr am Ring und bog am Schwarzenbergplatz links ein. Vor ihm befand sich das sowjetische Kriegerdenkmal: ein Bronzesoldat – mit Schild und Banner und unpassenderweise einem Maschinengewehr –, der auf einer von Springbrunnen umgebenen Säule stand. Cable fuhr rechts an diesem Schandfleck vorbei die PrinzEugen-Straße hinunter und bog dann in die ruhige Straße ein, in der Kardos wohnte. Außerhalb des Appartementhauses stand Kardos’ Dienstwagen am Straßenrand geparkt. Es war ein Mercedes, und Cable fiel zum ersten Mal auf, daß es sich nicht um ein 2-Liter 220er-Modell handelte, das von vielen Botschaften in Wien bevorzugt wurde, sondern um eine luxuriöse, dunkelblaue Limousine mit einem kraftvollen 3 oder 4-Liter-Motor – ein seltsam schnelles Auto für einen gesetzten Diplomaten. Er betrat die Eingangshalle und nahm den Aufzug zum zweiten Stock. Die Tür des Appartements wurde von einem Diener in einem weißen Jackett geöffnet. Cable erinnerte sich, daß ihm die Tür schon immer auf diese Weise geöffnet worden war – vielleicht hatte Kardos das so arrangiert, damit er durch den Hinterausgang verschwinden konnte, wenn er unerwünschten Besuch bekam. Er fragte sich, ob der Diener über die wahre Identität seines Herrn Bescheid wußte – vielleicht war er sogar ein Leibwächter? Dann erschien Kardos. Seine Augen über dem buschigen, schwarzen Bart lächelten so warm und freundlich wie immer.
»Mein lieber Bill, wie schön, dich zu sehen! Ich habe gerade die guten Nachrichten von Sarahs dramatischer Rettung vernommen – ganz Wien spricht davon. Ich freue mich so sehr für dich! Komm rein und trink ein Gläschen mit mir.« Sie gingen in das elegante Wohnzimmer, und Kardos holte Campari und Soda hervor. Als er dort mit seinem Priesterkragen mit der schwarzen Halsbinde unter der »Madonna« von Botticelli aus der Sammlung des Vatikans saß, sah er wie der Inbegriff des raffinierten Monsignores des Heiligen Ordens aus. Seine selbstbewußte Gelassenheit übertrug sich auf Cable, der ihm seine Lügen über »PIRANHA« und Pakistan und die bevorstehende Konferenz mit Nairn und Berger erzählte, als ob er selber daran glaube. Kardos nickte ernst. »Ich wäre dir natürlich sehr dankbar, Bill, wenn du mir danach über Details berichten würdest, sofern sich das arrangieren läßt. Aber jetzt mußt du mich entschuldigen. Ich muß mich umziehen und in meinen Smoking werfen. Ich esse heute abend mit einem meiner altmodischen Priesterkollegen zu Abend.« Cable schüttelte ihm die Hand, versprach ihm, sich in ein paar Tagen wieder zu melden und ging. Als er im Auto saß, überkam ihn eine Welle von Abscheu vor sich selbst. Er war verraten worden; und jetzt stellte er Kardos dafür eine Falle, die vielleicht seinen Tod bedeuten, ihn mit Sicherheit aber seiner Freiheit berauben würde. Ein Teil von ihm hatte immer noch Bewunderung für den Mann übrig – er war ein absolutes Genie, das sein ganzes Leben einer Sache gewidmet hatte, die größer war als er selbst – aber der andere Teil von Bill konnte ihn nur hassen… Er fröstelte und wünschte verzweifelt, daß er Sarah besuchen könnte. Ein Impuls ließ ihn vor einer Kneipe in der Favoritenstraße anhalten. Er hatte keine Eile, in das leere Haus in Grinzing zurückzukehren, also ging er hinein und bestellte ein Bier. Die
Kneipe war klein und verraucht, und die Wände waren mit verblaßten Reiseplakaten von Griechenland bedeckt. Aus einer Espressomaschine auf der Bar drangen Dampfwolken, und das Bier wurde in Kühlschränken mit holzverkleideten Türen aufbewahrt. In einer Ecke spielten vier unrasierte Männer in blauen Arbeitsanzügen Karten, und der einzige andere Tisch war von einem alten Mann mit einer schwarzgelben Binde am Ärmel und einem weißen Blindenstock besetzt. Cable trank sein Bier an der Bar und versuchte einem Gespräch mit dem Wirt auszuweichen, der mit ihm über den Finanzskandal während des Baus eines neuen Stadtkrankenhauses diskutieren wollte. Schließlich wurde ihm klar, daß es unmöglich war, sein Bier hier allein und ungestört zu trinken, und er bezahlte mit einer Zwanzig-SchillingMünze, steckte das Wechselgeld ein, ohne es nachzuzählen, und verließ die Kneipe. Er fuhr zum Schwarzenbergplatz zurück und dann die Straße zur Donau hinunter, wobei er sich überlegte, ob er den Fluß überqueren und ein Glas in dem ruhigen Heurigen-Lokal am Bisamberg trinken sollte, bevor er nach Hause zurückkehrte. Der Verkehr am Praterstern war stark, und Bill wurde von einer roten Ampel aufgehalten. Vor ihm stand ein Fiat und davor ein dunkelblauer Mercedes. Die Ampel wechselte auf grün, und der Mercedes bog rechts in Richtung Reichsbrücke ein. Es gab Cable einen Ruck, als er das Nummernschild sah. Es lautete WD 1 – es war Kardos’ Wagen, und obwohl schon ein gewisser Abstand zwischen ihnen bestand, war der Kopf hinter dem Steuerrad unverkennbar. Kardos fuhr selbst, und er war allein. Cable hielt sich etwas zurück und runzelte verwirrt die Stirn. Wenn Kardos mit einem Priesterkollegen zum Abendessen ging, schlug er eine seltsame Richtung ein: über die Donaubrücke, die aus Wien herausführte.
Vielleicht fuhr er zu einem Treffpunkt mit seinem Kontaktmann oder zu einem toten Briefkasten. Cable fuhr ihm neugierig nach.
Wien
Die beiden Wagen überquerten die Reichsbrücke, an den Lichtern des Gebäudes der Vereinten Nationen vorbei, das wie ein Dinosaurier am gegenüberliegenden Donauufer lag. Der Mercedes fuhr weiter die Wagramerstraße hinunter und hielt brav an jeder roten Ampel an; Cable hielt sich immer drei oder vier Autos hinter ihm. Dann war nicht mehr so viel Verkehr, und als sie auf dem freien Land ankamen, befand sich kein Wagen mehr zwischen dem Volvo und den roten Rücklichtern des Mercedes, der ihm etwa zweihundert Meter voraus war. Die schmale Straße bildete einen geraden Streifen inmitten von Feldern, und als sie nicht mehr von Straßenlaternen beleuchtet wurde, begann der Mercedes zu beschleunigen. In diesem Moment dämmerte Cable, daß Kardos nicht auf dem Weg zu einem toten Briefkasten oder einem geheimen Treffen war: Er fuhr geradewegs auf die Grenze zu. Er wollte abhauen. Die Reihe der schattenhaften Bäume am Straßenrand raste in der Dunkelheit mit wachsender Geschwindigkeit vorbei. Cable wußte, daß er umkehren und zur Botschaft zurückfahren sollte. Könnte er die österreichischen Zollbeamten nicht dazu bringen, Kardos an der Grenze festzuhalten? Würden sie das tun? Wie Nairn schon gesagt hatte, war Kardos ein Diplomat und infolgedessen zur freien Ausreise aus dem Land berechtigt. Er hatte kein Verbrechen gegen österreichische Gesetze begangen. Und er würde die tschechische Grenze in etwa einer halben Stunde erreichen – Bill hatte keine Zeit, etwas zu arrangieren. Er gab Gas und raste den roten Rücklichtern nach, die schon achthundert Meter entfernt waren, und erinnerte sich an den geladenen Revolver, den er
im Handschuhfach hatte. Er lehnte sich zurück und umklammerte das Steuerrad mit gestreckten Armen; sein Mund bildete eine dünne Linie. Er war allein – und er würde diese Sache selbst erledigen. Der Mercedes beschleunigte noch mehr; Kardos hatte bemerkt, daß er verfolgt wurde. Der Motor des Volvos röhrte, während er 160 Stundenkilometer fuhr und Cable ihn noch weiter hochtrieb, aber die Rücklichter des Mercedes verschwanden, als die Straße eine Biegung machte – und tauchten dann ein paar Minuten noch weiter entfernt wieder auf. Der Motorenlärm verminderte sich, und das Auto schien dahinzufliegen, trug Cable, der in einen Kokon von Dunkelheit gehüllt war, mit sich. Es war eine mondlose Nacht – die Dunkelheit wurde nur durch die beiden roten Punkte in der Entfernung und den bläulichen Schimmer der Armaturen durchbrochen. Der Volvo raste durch ein schlafendes Dorf; seine Reifen trommelten auf dem Kopfsteinpflaster, und seine Scheinwerfer streiften die länglichen, niedrigen Formen der einstöckigen Häuser. Dann war die Straße wieder glatt und lief neben einer Bahnlinie her. Ein Frachtzug, der von einer schweren Elektrolok gezogen wurde und wie aus einer anderen, normalen Arbeitswelt zu kommen schien, ratterte vorbei. Er blieb hinter ihnen zurück, und Cable schlingerte um einen geparkten Minibus herum. Er fuhr wie ein Roboter, immer mit einer Geschwindigkeit von 160 Stundenkilometern, und es überraschte ihn selbst, wie gut er den Wagen beherrschte. Nach den mit Ängsten und Spannungen erfüllten, vergangenen Wochen, war es beinahe eine Erleichterung, nur ein einziges Ziel zu haben. Ein weiteres Dorf huschte vorbei – Gansendorf –, aber die Durchgangsstraße war breit, und keiner von beiden verringerte seine Geschwindigkeit. An der Kreuzung in der Mitte des Dorfes blinkte ein einsames, orangefarbenes Licht.
Einen Moment lang wurde Cable von den Scheinwerfern eines entgegenkommenden, riesigen Lastwagens geblendet, bevor er wieder aufs freie Land schoß. Fünf Minuten lang spähte er in die leere Dunkelheit vor sich, bevor ihm klarwurde, daß die roten Rücklichter verschwunden waren. Irgendwo in Gansendorf hatte Kardos ihn abgeschüttelt.
Schon zum zweiten Mal an zwei Abenden hatte Nairn sich in das Untergeschoß der Botschaft begeben. Er goß sich sein drittes Glas White Label ein und stellte die Flasche auf die Theke, als der Sicherheitsbeamte hereinkam. »Ich dachte mir schon, daß Sie hier unten sind, Sir. Wir haben Mr. Skilbeck am Telefon – aus Graz.« »Kann ich den Anruf hier entgegennehmen?« »Natürlich, in der Ecke ist ein Telefon, Sir.« »Danke.« »Oh – und ihr Wagen steht draußen bereit, um Sie zum Bahnhof zu bringen.« »Ich komme gleich rauf.« Nairn hob den Hörer ab und vernahm, wie die Verbindung zu Skilbeck hergestellt wurde. »Sind Sie es, Sir David?« »Sprechen Sie nur, Paul – denken Sie daran, es ist eine offene Leitung.« Nairn konzentrierte sich zehn Minuten lang, während Skilbeck ihm seine Unterhaltung mit Sarah erzählte. Schließlich brummte er. »Gut. Kommen Sie heute nacht zurück?« »Ja. Ich glaube, ich habe alle wichtigen Fakten; schließlich befand sie sich die meiste Zeit in Einzelhaft und ist niemandem begegnet.« »Das habe ich erwartet. Gute Nacht, Paul. Ich nehme an, Sie und ich werden irgendwo in den Alpen aneinander vorbeifahren – ich nehme den Nachtzug nach Graz.«
»Soll ich hierbleiben?« »Nein. Ich möchte, daß Sie morgen hier sind, und hätte gern Ihren getippten Bericht, bevor ich nach London zurückkehre. Ich möchte nur mit dem Mädchen selber sprechen.« »Okay. Wie kam Cable mit unserem gemeinsamen Freund zurecht?« »Weiß ich nicht. Ich hatte gehofft, daß er mich vor meiner Abfahrt anruft. Ich habe versucht, ihn in Grinzing zu erreichen, bekam aber keine Antwort. Er muß noch außer Haus sein.« »Bißchen komisch, nicht?« »Ich nehme an, daß sie einen langen Schwatz miteinander haben und vielleicht zusammen zu Abend essen. Würden Sie das bitte überprüfen, wenn Sie morgen früh kommen?« »Ihre Leute haben unseren Freund doch unter Beobachtung, oder nicht?« »Sollten sie eigentlich.« »Das werde ich auch überprüfen.« Nairn legte den Hörer auf und eilte zur Eingangshalle hinauf. Einer der Sicherheitsbeamten schloß ihm die Tür auf. »Wir haben Ihre Tasche ins Auto gestellt, Sir.« »Vielen Dank.« Der Sicherheitsbeamte sah dem Ford Cortina nach, der am Ende der Straße nach links in Richtung Südbahnhof einbog. Er verschloß die Tür, dann das innere Stahlgitter und ging in den Wachraum zurück. »Ein richtiger Agent – einer von der alten Schule«, sagte er zu seinem Kollegen. »Nicht einer von diesen hochnäsigen Emporkömmlingen, wie man sie dieser Tage erlebt.« »Was ist er – Stabsinspektion?« »Nein – Sechs. Ganz oben – manche sagen, Nummer Zwei. Jedenfalls hat er mehr Auszeichnungen als dieser Trottel Barron oder als Cable oder als irgend jemand in diesem
Scheißhaus von Botschaft. Nach dem Krieg war er in Moskau, weißt du, hat öfter mal Stalin besucht.« »Und dann ganz nach oben?« »Klar. Bißchen kalt hier drin, findest du nicht? Ist die verdammte Heizung wieder ausgefallen?« »Ich glaub’ schon.« Der Jüngere zwinkerte ihm zu. »Ich habe schon den Kessel aufgesetzt.« Er holte eine Flasche Rum und eine Schachtel mit Teebeuteln aus dem Holzschrank; und dann machten die beiden Männer es sich für die bevorstehende Nacht bequem.
Cable stieß einen wütenden Fluch aus und trat mehrmals heftig auf die Bremse, bis der große Wagen stehenblieb. Als er endlich mit knirschenden Reifen auf dem Kies am Straßenrand zum Stehen kam, keuchte er wie ein Marathonläufer am Ende des Wettkampfes. Er schaltete die Innenbeleuchtung ein und holte eine Straßenkarte hervor. »Scheiße«, flüsterte er, während er die roten Straßenlinien verfolgte. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Kardos befand sich nicht auf der Straße, die zu dem offiziellen Grenzübergang in Bratislava – oder zu dem in Mikulor im Norden führte. Auf dieser Straße wäre er direkt zu einer Station gekommen, also hatte er vor, die Grenze illegal zu überschreiten. Aber in Gansendorf war eine Gabelung gewesen, und er hatte wohl die südliche Route genommen, die nach Marchegg führte, wo Cable und Naomi einst über den Fluß zur Tschechoslowakei hinübergeschaut hatten. Es war weiter entfernt, aber vielleicht hatte Kardos Vorkehrungen getroffen, die Grenze dort zu überschreiten, oder sein Verfolger hatte ihm Angst eingejagt. Was auch immer der Grund sein mochte, der Schweinehund fuhr genau dorthin.
Cable sah kurz aus dem Wagenfenster und holte den Revolver aus dem Handschuhfach. Der Wagen war an einer kleinen Kapelle stehengeblieben, die dem Heiligen Christopherus geweiht war. »Bete für mich, Christopherus«, murmelte er. »Und sieh zu, daß das Schwein einen Platten kriegt.« Er wendete scharf und fuhr zum Dorf zurück. Die Straße war schwerer zu befahren, manchmal lief sie über Bäche hinweg, die sich durch das Sumpfland in der Nähe des Flusses zogen, aber er begegnete keinem anderen Fahrzeug. Er sah auch Kardos’ rote Rücklichter nicht mehr. Es war eine unheimliche Fahrt durch die Riedgräser, die sich schwarz und schweigend zu beiden Seiten erstreckten. Cable hatte kein Gefühl für die Geschwindigkeit, außer, wenn er mit röhrendem Motor eine scharfe Kurve nahm und spürte, wie die Reifen des schweren Wagens auf dem losen Kies rutschten. Er konzentrierte sich so stark auf die Straße – wobei er den Volvo antrieb, schneller zu fahren –, daß es wie ein Schock für ihn war, als er eine Viertelstunde später einen Steinturm erblickte, der sich in der Dunkelheit abzeichnete. Es war die Ruine des Tores in den mittelalterlichen Stadtmauern Marcheggs. Cable spürte, wie ihn eine kalte Ruhe überkam, als er den letzten Kilometer durch die schlafende Stadt und den zerfurchten Weg zum Uferdamm der Morawa raste. Es gab nichts zu überlegen – nur zu handeln. Er war verraten worden. Dafür würde er töten. Als er heftig auf die Bremse trat, blieb der Volvo mit einem Ruck stehen. Er hatte recht gehabt. Der Mercedes war neben dem mit dem Adler gekrönten Denkmal des österreichischen Zolldienstes abgestellt worden. Er sprang aus dem Auto. Der Fluß rauschte vorbei, und seine Wellen schwappten gegen die Steine am Uferdamm. Durch die Bäume pfiff ein starker Wind. Die Stadt hinter ihm lag in totaler Dunkelheit. Auch das tschechische Ufer auf der gegenüberliegenden Seite war
dunkel – nur der Wachturm zeichnete sich gegen den Himmel ab, denn jetzt drang etwas Mondschein durch die schwarzen Wolken. Cable packte den Revolver und schlich vorwärts. Für einen Moment ließ der Wind nach, und es herrschte eine unheimliche Stille. Kardos war nirgendwo zu sehen. Cable fluchte leise – die verlorene Zeit in Gansendorf hätte ausreichen können, um den Hundesohn entkommen zu lassen. Aber wie? Die Tschechoslowakei war nur hundert Meter entfernt, aber jetzt konnte Cable das schwarze Wasser vorbeirauschen sehen, und er spürte die Kälte, die ihm bis auf die Knochen drang. Bei dieser Temperatur mußte der Fluß eiskalt sein. Es würde für einen sechzigjährigen Mann Selbstmord bedeuten, sich der Kälte und der Strömung auszusetzen. Kardos konnte nicht hinüberschwimmen. Er mußte ein Boot stehlen. Cable klappte den Kragen seines Jacketts hoch und zog es gegen den bitterkalten Wind eng um sich. Die Windstöße waren so stark, daß er sich nach vorne lehnen mußte, um mühsam vorwärtszukommen; er lief zu den etwa hundert Meter entfernten Bäumen, die bis zum Flußufer wuchsen, und erwartete, jeden Moment eine Gestalt in Sicherheit am anderen Ufer auftauchen zu sehen. Der Pfad wurde plötzlich zum Schotterweg, Cable stolperte und fiel schwer hin. Der Revolver rutschte ihm aus der Hand, und sein rechtes Handgelenk knickte um, als es das ganze Gewicht seines fallenden Körpers zu stützen versuchte. »Scheiße«, zischte er und tastete nach seinem Revolver. Wellen von Schmerz jagten durch sein Handgelenk, das demnach entweder gebrochen oder verstaucht war. Seine linke Hand fand den Revolverlauf, und er kniete sich schwankend hin. Und dann hörte er es: ein pfeifendes, keuchendes Geräusch, das über das Heulen des Sturmes hinweg gerade noch hörbar
war. Er spähte in den Wald und konnte zwischen den senkrechten Linien der Bäume eine schwarze Gestalt erkennen. Kardos kniete neben einer kleinen Hütte und betätigte eine Luftpumpe mit der Hand. Der ovale Gegenstand neben ihm war ein Gummiboot, das jetzt voll aufgepumpt war. Er mußte es dort jahrelang vorsorglich aufbewahrt haben. Cable hob den Revolver und entsicherte ihn mit seinem Daumen, aber er wußte, daß er kaum eine Chance hatte, mit der linken Hand etwas zu treffen. »Kardos!« rief er mit heiserer Stimme, die in einen Schrei überging, als die Anstrengung den Schmerz in seinem Handgelenk anschwellen ließ. »Sie sind umzingelt und werden in Schach gehalten. Halten Sie sich still, und heben Sie die Hände hoch, sonst schießen wir Sie auf der Stelle nieder!« Die Gestalt ignorierte ihn und zog das Boot zum Rand des Wassers herunter. Cable schrie wieder. »Kardos – bleiben Sie sofort stehen!« Er gab einen Schuß ab. Der Krach klang wie ein Kanonenschlag, und das Pfeifen der Kugel hallte in der Dunkelheit wider. »Verstehen Sie jetzt, daß es uns ernst ist? Hände hoch, oder wir knallen Sie ab, Sie Schweinehund!« Die Gestalt drehte sich um. »Red doch keinen Blödsinn, Bill. Ich weiß, daß du allein bist.« Die vertraute Stimme dröhnte ohne einen Anflug von Angst durch das Heulen des Windes. »Ja, ich bin allein – aber ich bin bewaffnet. Wenn du das Gummiboot ins Wasser hebst, werde ich es mit einem Schuß sinken lassen! Du kannst mir nicht entkommen, Kardos. Ich bin hier, um dich zu töten. Ich bin hier, um dich um Sarahs willen zu töten, aber wenn du dich ergibst, muß ich dich ausliefern. Es liegt ganz bei dir.« Er feuerte einen weiteren Schuß durch die Bäume ab. Diesmal pfiff die Kugel nahe an Kardos vorbei, und Cable sah die schattenhafte Gestalt zurückzucken.
Der Schatten drehte sich um und kam näher, bis Cable sein Gesicht, eine fahle, graue Fläche, die halb von dem schwarzen Bart verdeckt war, und die feurigen, weißglitzernden Augen sehen konnte. »Ich habe das Gefühl, es ist dir ernst, Bill.« Die Stimme klang jetzt weniger zuversichtlich, hatte aber einen höhnischen Unterton. »Ich glaubte immer, daß du zu unsicher für einen Botschafter bist. Vielleicht sollten wir einen Handel abschließen.« »Kein Handel. Bleib einfach stehen, wo du bist, und nimm die Hände hoch.« »Kein Handel, Bill? Aber ich habe etwas Unbezahlbares, mein Freund. Willst du wirklich nicht verhandeln?« »Worüber verhandeln?« »Ich habe etwas, wofür deine Vorgesetzten sich den rechten Arm abhacken lassen würden, um es zu wissen. Wirf deine Pistole in den Fluß und laß mich in Frieden hinüberrudern. Dafür werde ich es dir sagen.« Seine Stimme klang noch immer spöttisch. »Nein.« Irgendwo in der Nähe von Kardos explodierte etwas, und Cable verspürte einen scharfen, stechenden Schmerz in der rechten Schulter. Seine Heftigkeit warf ihn zu Boden, und er umklammerte die Wunde, wobei seine Finger in warmes Blut tauchten. Er blickte hoch und sah Kardos mit einer Pistole über sich stehen. Sein früherer Freund bückte sich, hob Cables Revolver auf und schleuderte ihn in hohem, silbern glitzerndem Bogen in den Fluß. Cable war von dem Schmerz benommen, aber er hörte Kardos sprechen, eine Stimme, die hoch über ihm widerhallte. »Du verdammter Narr, Bill! Wie konntest du glauben, daß Moskau dich wollte, wenn sie doch schon mich hatten? Warum?« Seine Stimme verlor sich im Wind, kam wieder
zurück – rauh und mit einem Anflug von hämischem Triumph. »… weil Rozinski ihr Mann war. Weil der ganze verrückte Plan von der Generalmajorin Kirow stammte. Du hast doch schon von ihr gehört, oder? Mit ihr kannst du dich nicht messen, alter Freund. Sie hat die ganze Sache geplant…« Einen Moment lang verspürte Cable nur noch Schmerzen. »… einen bewaffneten Aufstand… eine Ausrede, um Polen von außen zu unterdrücken, ohne daß die polnische Armee Widerstand leistet. Eine absolute Notwendigkeit… es kann nicht zugelassen werden, daß ein Pufferstaat in den Westen übergleitet. Die ganze Rozinski-Sache war so weit hergeholt – sie brauchte dich, um zu prüfen, daß eure Leute tatsächlich daran glaubten, daß sie wirklich so etwas Absurdes glauben konnten. O Bill, du verdammter, alter Narr.« Cable stöhnte, als er seine Schulter bewegte. »Waren die anderen Polen echt… außer Rozinski?« Er brachte es kaum fertig, die Worte herauszuzwingen. »O ja, alles patriotische Idioten. Du hättest mitspielen sollen, wie wir es von dir verlangten, Bill. Besonders, da ich jetzt alles für dich beenden muß.« Kardos stand abrupt auf, und wie durch einen Nebel sah Cable, wie er die Pistole hob, sie dann wieder senkte, als der Wind nachließ, und plötzlich war das Knattern eines Motorrads zu hören. Kardos zögerte und blickte über Cable hinweg in Richtung Marchegg. »Gott – die Polizei!« Er drehte sich um und fing an zu laufen, wobei er einen Schuß in Cables Richtung abfeuerte, der aber weit über seinen Kopf hinwegging. Nach einem Moment der Benommenheit richtete Cable sich auf einem Ellbogen auf und spürte, daß sein Hemd und sein Jackett blutdurchtränkt waren. Irgendwo konnte er die Scheinwerfer von zwei Motorrädern sehen, die mit spuckenden Motoren von der Stadt heraufholperten. Kardos befand sich
schon in der Mitte des Flusses. Er saß zusammengekauert in seinem Gummiboot und paddelte wie wild gegen die Strömung an, die ihn flußabwärts zu tragen drohte. Als er das gegenüberliegende Ufer erreicht hatte, wurde auf dem Wachturm ein Suchscheinwerfer eingeschaltet, der am Ufer entlangstrich. Er richtete sich auf Kardos, als er auf die Böschung kletterte: eine korpulente Gestalt, die sich gegen das grelle Licht eine Hand vors Gesicht hielt. Vom Wachturm aus wurde ihm durch ein Megafon etwas zugerufen, Kardos versuchte, zurückzurufen, aber seine Stimme ging im Heulen des Windes unter. Während er, noch immer in den grellen Lichtkegel gehüllt, auf den Turm zuging, erfolgte ein zweiter Anruf. Die Schüsse kamen ohne weitere Vorwarnung: Aus einem Karabiner wurden drei Geschosse hintereinander ohne Pause abgefeuert. Beim ersten stolperte Kardos und warf die Arme hoch, bevor er hinfiel. Das zweite und dritte warfen seinen krampfhaft zuckenden Körper hin und her. Zwei Wachposten kamen vom Turm angerannt, aber sie kamen zu spät, sie konnten nur noch zusehen, wie er wie ein lebloser Kleidersack im Zeitlupentempo über die Böschung rollte und in den Fluß fiel. Die Leiche verschwand in den Strudeln des Wassers. Cable starrte zum Fluß, bis die Motorräder anhielten und zwei Polizisten mit Helmen und Motorradbrillen auf ihn herunterblickten. »Wir haben Schüsse gehört«, sagte einer in starkem Burgenländer Dialekt. »Stimmt etwas nicht?« Cable ließ sich auf den eiskalten Boden zurückfallen, wobei er noch immer die Wunde an seiner Schulter umklammert hielt. »Das dürfen Sie laut sagen«, murmelte er mühsam. »Glauben Sie, Sie könnten mir einen Arzt besorgen?«
Wien
Cables Wunde war nicht ernst – die Kugel war glatt durch das Schulterfleisch gedrungen –, aber schlimm genug, um einen mehrtägigen Krankenhausaufenthalt erforderlich zu machen. Die Botschaft sorgte dafür, daß er ins Josephspital, ein kleines, diskretes, von Nonnen geführtes Krankenhaus am Stadtrand von Wien, gebracht wurde. Sein erster Besucher war Skilbeck, der am frühen Morgen nach Cables Grenzjagd ankam. Er wurde von einer Nonne in weißer Tracht hereingeführt und hob die Augenbrauen, als er das Kruzifix über Cables Bett bemerkte. »Sieht so aus, als ob Sie nie von der Kirche loskämen, Bill, mit Kardos und allem Drum und Dran. Wie geht’s der Schulter?« »Nicht schlecht. Warum ist Sarah nicht hier?« »Ich habe gestern den ganzen Tag bei ihr verbracht. Sie wird wohl doch noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben müssen. Nach den drei Wochen im Gefängnis ist sie ziemlich erschöpft, und bei dem Flugzeugabsturz hat sie Verbrennungen an den Beinen erlitten.« »Aber sie wird doch wieder gesund, nicht wahr?« »Natürlich, Bill.« Cable sank in die Kissen zurück. »Das hoffe ich auch, verdammt noch mal. Es ist komisch, daß es mir nicht gestattet ist, sie zu besuchen, jetzt, wo sie frei ist. Ich frage mich, was Sie alle im Schilde führen.« »Wir führen überhaupt nichts im Schilde, Bill – der Krankenhausaufenthalt ist reine Routine, eine Vorsichtsmaßnahme.«
Es entstand ein unbehagliches Schweigen, das schließlich von Skilbeck unterbrochen wurde. »Bill, es tut mir leid, so geschäftlich zu klingen, aber ich glaube, Sie sollten mir jetzt alles über die vergangene Nacht erzählen. Ich muß heute noch den Bericht abschicken.«
Skilbeck hörte schweigend zu und machte sich auf einem kleinen Block Notizen. Als Cable ihm sein letztes Duell mit Kardos beschrieb, nickte er langsam. »Rozinski war Nairn von Anfang an verdächtig. Wir stellten ein paar Untersuchungen an, aber es kam nichts dabei heraus, also beschlossen wir, es zu seinen Gunsten auszulegen und die Operation trotzdem steigen zu lassen. Wir waren ganz schön blöd, nicht?« »Aber warum, um alles in der Welt, sollte diese Kirow einen Aufstand in Polen fördern?« »Dafür gibt es mehrere Gründe. Es wäre sowieso früher oder später passiert. Auf diese Weise hatte sie ihn unter Kontrolle und konnte ihn garantiert unterdrücken, weil es kein Überraschungsmoment gab. Das ist eine alte List der Tscheka – die andere Seite in die Hand zu bekommen und sie zu führen. Das hat man schon mit Reilly und dem Trust in den zwanziger Jahren so gemacht. Und auf diese Weise konnte sie die ganze Sache so inszenieren, daß sie wie eine unerwünschte Aggression des Westens gegen das polnische Volk wirkte, die ›Solidarität‹ und die Kirche als Verräter, die einen Aufstand unterstützen, in Mißkredit bringen sollte. Und vor allem, um den Ruf des Papstes, der dem Kreml schon lange ein Dorn im Auge ist, zu schaden.« Cable schüttelte den Kopf und zuckte vor Schmerz zusammen. »Und was war mit Kardos selbst? Wie wurde er ein sowjetischer Agent? Wissen Sie, ich kann es immer noch
nicht glauben. Er war ein Freund von mir, nicht nur irgendein Diplomat.« »Der Mossad weiß mehr über ihn als wir. Im Jahre 1947 wurde in Esztergom in Ungarn ein gewisser Laszlo Kardos zum Priester geweiht. Der Mossad ist der Meinung, daß er im Gefängnis starb und daß Ihr Kardos tatsächlich dieser AVOOffizier namens Istvan Gyor war. Er nahm seinen Platz ein und wurde im Jahre 1956 als Flüchtling zunächst in den Westen und dann in den Dienst des Vatikans eingeschleust. Genausogut hätte Gyor aber auch in die Kirche integriert werden können, indem er sich zum Priester weihen ließ und dann als AVO-Informant fungieren können, aber in diesem Fall würden die fünf Jahre im Gefängnis nicht passen – es sei denn, er war überhaupt nicht im Gefängnis. Das wissen wir noch nicht. Vielleicht werden wir es nie erfahren.« »Ihre zweite Theorie sagt mir mehr zu. Laszlo Kardos behauptete, daß er seine gesamte Zeit als Priester in Ungarn damit verbrachte, mit den Armen zu arbeiten. Irgendwie würde es einen verrückten Sinn ergeben, wenn er ein Marxist war, der zum Priester geweiht wurde.« »Ja, aber von da aus ist es ein langer Weg zum Diplomaten und Agenten. Dem Heiligen Orden ist es jedenfalls verdammt peinlich – milde ausgedrückt.« »Befindet Rozinski sich noch auf freiem Fuß?« »Ja, aber er wird scharf beobachtet. Wir müssen ihn bald stellen und den anderen Polen Bescheid sagen. Der Überlebende der ersten Gruppe ist ein Typ namens Jozef Gierek, der letzte Woche herausgeschmuggelt wurde. Er hat vielleicht mehr eindeutige Beweise, die bestätigen, daß Rozinski nicht unser Mann ist. Ich habe keine Ahnung, was wir mit ihm und den anderen Polen machen sollen – es sind noch vierzehn um Klosterneuburg herum zusammengepfercht.«
Den restlichen Tag döste Cable, denn seine Schulter entzündete sich, und der Arzt gab ihm Schmerzmittel. Am Spätnachmittag kam die junge Nonne wieder mit gesenktem Blick herein. »Sind Sie wach, Herr Botschafter?« Cable stöhnte und setzte sich langsam auf. »Sie werden am Telefon verlangt«, lächelte die Nonne. »Es ist Ihre Tochter aus Graz.« »Hallo, Papa – man wollte mich nicht früher telefonieren lassen, aber jetzt bin ich nicht mehr in der Klinik. Ist das nicht herrlich?« »Gott sei Dank.« Cable fühlte albernerweise, wie ihm die Tränen der Rührung in die Augen stiegen. Er wollte ihr sagen, daß er sie liebte, aber statt dessen kamen nur banale Phrasen über seine Lippen. »Wie geht es dir, Liebling? Wie hat man dich behandelt?« »Mir geht es gut. Aber wie ist es mit dir?« Sie klang erstaunlich gelassen und nüchtern. »Ich habe mit diesem netten David Nairn zu Mittag gegessen – das war mal was anderes; da, wo ich vorher war, scheint man keine Messer und Gabeln zu benutzen. Ich bleibe heute nacht noch hier und fliege morgen rüber. Ich werde etwa um zwei Uhr am Flughafen sein.« »Wunderbar. Ich werde dich abholen.« »Nur, wenn du kräftig genug dafür bist, Papa. Ich glaube, die Botschaft wird sich schon um mich kümmern. Ich werde dich im Krankenhaus besuchen.« Cable zögerte. So hatte er es sich nicht vorgestellt. Dies war eine andere Sarah – nicht nur sachlich, sondern beinahe distanziert. »Nein, Liebes«, sagte er mit fester Stimme. »Ich werde da sein.«
Am nächsten Morgen erschien unerwarteterweise Nairn. »Ich habe Ihr Auto draußen stehen, Bill. Ich nehme den Ein-UhrFlug nach London, eine Stunde bevor Sarah ankommt, und ich dachte mir, daß Sie mich vielleicht zum Flughafen mitnehmen könnten.« Cable fuhr fort, sich unbeholfen mit der linken Hand zu rasieren. »Was immer Sie wollen, David – Sie haben sich den Wagen ja sowieso schon unter den Nagel gerissen.« Er brachte ein ironisches Grinsen zustande. »Tut mir leid, daß ich diesen Erzschurken verloren habe.« »Das tut mir auch leid. Es wird ganz schön lange dauern, bis wir herausgefunden haben, wieviel Schaden er angerichtet hat – aber da kann man nichts machen. So geht es nun mal.« Fritz fuhr sie im hellen Sonnenlicht zur Autobahn. Nairn legte sich in dem Ledersitz zurück und schien zu dösen, während sie an kleinen Gruppen von Sommerhäusern, von denen jedes seinen eigenen winzigen, gepflegten Garten hatte, und dann an der massiven Ölraffinierie, die kurz vor dem Flughafen lag, vorbeirasten. Wie immer war die Raffinerie von grauem Dunst umgeben, durch den nur das orangefarbene Flackern der Flammen aus den Türmen drang. Cable dachte, daß Nairns Gesicht mehr als jemals zuvor wie Pergament wirkte; und er hatte das zerknitterte Aussehen eines Mannes, der die ganze Nacht wachgewesen war. Sie folgten Fritz, der Nairns Koffer trug, zum British Airways Check-in. Dann ging Nairn durch die Paßkontrolle zum Warteraum. Cable folgte ihm und zeigte seine rote Diplomaten-Ausweiskarte, um durchgelassen zu werden. Nairn kaufte zwei Dosen Bier, und sie setzten sich an einen blauen Tisch mit einer plastikbeschichteten Platte. »Sie kommen doch auch in zwei, drei Tagen nach London, nicht wahr?« Nairn klang müde, und nicht zum ersten Mal war Cable davon überzeugt, daß er ernstlich krank war.
Cable nickte. »Die Personalabteilung der FCO hat mich vorgeladen – ich nehme an, man wird anordnen, daß ich Wien verlasse.« »Selbstverständlich. Es ist ganz klar, daß man Sie nach Sarahs Entführung versetzt. Das ist so üblich. Sie können wohl kaum weiterhin eine Stellung innehaben, in der Sie täglich mit Russen zu tun haben.« »Ja, Sie haben recht. Vielleicht schmeißen sie mich ganz raus.« »Das möchte ich bezweifeln.« Nairn trank einen Schluck Bier und schien zu einem Entschluß zu kommen. »Hören Sie mal zu, Bill. Sie haben Ihre tapfere Tochter in weniger als einer Stunde wieder sicher bei sich, also denken Sie ausnahmsweise mal ein paar Minuten an sich.« Es entstand eine lange Pause, dann sah Nairn Cable geradewegs in die Augen. »Vor Jahren, Bill, als Sie in meiner Abteilung in Cheltenham anfingen zu arbeiten, wußte ich, daß sie ein Überflieger waren. Ich hatte den vagen Gedanken, daß Sie mir auf meinem Weg nach oben im Geheimdienst folgen würden, vielleicht sogar bis zur Spitze.« Er lächelte reuevoll. »Nun, seitdem haben Sie gute und schlechte Zeiten gehabt; ich auch. Und jetzt im Moment geht es mir nicht so gut – « »Ist es Krebs, David?« »Nein. Es ist mein Herz, und ich nehme an, daß es mich nicht mehr länger als ein Jahr oder so leben läßt. Ich werde mich mit Sicherheit bald pensionieren lassen müssen – der Chef möchte sogar, daß ich sofort gehe – also ist es mit meiner Geheimdienstkarriere bald zu Ende. Schauen Sie mal her, Bill, Sie sind ein guter Agent, aber ein lausiger Botschafter. Wenn Sie Lust haben, aus dem Diplomatenzirkus in die Firma zurückzukommen, könnte ich das mit Sicherheit jetzt arrangieren.« »Nach allem, was passiert ist? Meinen Sie das im Ernst?«
»Mir war es in meinem ganzen Leben noch nie ernster. Ich glaube, daß die Fragen, die nach Vietnam auftauchten, jetzt alle eine Antwort haben. Die Sowjets können Ihnen nichts mehr anhaben. Sie haben versucht, Sie zu erpressen, und sind gescheitert – und sie werden mit Sicherheit Sarah nicht noch einmal entführen. Der Fall Golitsyn ist abgeschlossen. Wenn Sie zurückkommen, wären Sie nicht mehr auf dem Weg zur Spitze – und Sie müßten natürlich von London aus arbeiten. Keine Auslandsposten mehr. Aber ich glaube, Sie wären sehr nützlich.« Cable fing an zu lachen. Er nahm einen Schluck Bier und brach wieder in schallendes Gelächter aus, so daß sich alle im Warteraum nach ihm umdrehten. Nairn blickte ihn verärgert an. »Habe ich irgend etwas Komisches gesagt?« »Oh, David – es ist nur so, daß Sie zu spät damit kommen. Vor ein paar Jahren wäre ich dankbar dafür gewesen. Es war schrecklich für mich, rausgeschmissen zu werden, aber jetzt reicht es mir. Gott, ich habe die Nase voll. Die Königin hat dreißig Jahre meines Lebens gehabt, Gott helfe Ihr. Ich wollte nur einen nützlichen Job verrichten, aber ich fand heraus, daß es zwei Arten von Menschen gab, denen ich nicht trauen könnte: meinen Freunden und meinen Feinden. Ich bin von diesem Miststück in Moskau und diesem Schleimscheißer Stuart hintergangen worden. Ich habe genug von Halbwahrheiten und Intrigen und Verrat. Ich habe noch ein paar Jahre Zeit – und die möchte ich in besserer Gesellschaft verbringen.« Nairn wollte ihn unterbrechen, aber Cable schüttelte den Kopf. »Nein, David, lassen Sie mich zu Ende reden. Sie sind gut zu mir gewesen, und Sie sind der beste Geheimdienstbeamte, der mir je begegnet ist – aber, um ehrlich zu sein, habe ich auch keine Lust mehr, ein Bauer auf Ihrem Schachbrett zu sein.«
»Ich dachte bei Ihnen eigentlich immer eher an einen Springer.« Nairn schenkte ihm sein dünnes, ironisches Lächeln. »Eben. Also vielen Dank für das Angebot – aber nein.« »Was haben Sie vor?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung, aber ich weiß mit Sicherheit, daß ich nicht beim Diplomatendienst bleibe, selbst wenn man mich behalten möchte.« »Ich verstehe«, sagte Nairn schroff. »Aber handeln Sie bitte nicht vorschnell. Denken Sie erst darüber nach.« »Es gibt nichts zum Überdenken. Aber trotzdem vielen Dank.« Nairn zündete seine Pfeife an und stopfte den Tabak mit einer Streichholzschachtel fest, bis sie richtig zog, als ob er Zeit zum Nachdenken bräuchte. »Da ist noch etwas, Bill.« »Ja?« »Nachrichten von Naomi.« »Naomi?« Cable fühlte plötzlichen Ärger in sich aufwallen. »Und warum, zum Teufel, haben Sie das nicht sofort gesagt? Wo ist sie?« »Es tut mir leid, Bill – aber ich glaube, ich habe mich in ihr geirrt. Ich habe von Ryder in Jerusalem erfahren, daß sie kurz nach Ihrer Abreise in Tel Aviv auftauchte.« »Und was für einen Schluß ziehen Sie daraus – wenn es stimmt?« schimpfte Cable. »Ich habe Ihnen gesagt, was ihr Vater mir über sie erzählt hat, daß sie für den Mossad arbeitete und daß er uns bat, ihm zu helfen, sie aufzufinden, nachdem sie verschwunden war – aber Sie haben einen Dreck getan. Dann erzählten Sie mir, Sie glaubten, daß sie auf ihrem Weg nach Moskau in Budapest untergeschlüpft sei!« »Ja, ich hielt sie wirklich für eine sowjetische Agentin, wenn auch eine unwichtige – und alles schien zusammenzupassen. Ich kam zu keinem festen Schluß. Das brauchte ich natürlich
auch nicht, weil sie verschwand und die Sache mit Kardos so schnell hochging.« Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht habe ich unrecht gehabt.« »Um Himmels willen«, stieß Cable aus. »Sie können doch nicht einfach so dasitzen und sagen, vielleicht habe ich unrecht gehabt. Sie bedeutete mir etwas, David. Ich liebte sie – und ich schickte sie auf Ihren Befehl weg.« »Ich hielt sie für eine feindliche Agentin.« In dem Versuch, sich zu verteidigen, knurrte Nairn beinahe. »Und ich habe damals allen Posten befohlen, ihretwegen die Augen aufzuhalten.« »Das haben Sie mir aber nicht gesagt.« »Ich wollte abwarten, ob irgendwelche Reaktionen kämen. Jetzt wissen wir, daß sie nach Israel zurückgekehrt ist, und ich vermute – ich weiß es noch nicht genau, aber ich denke –, daß wir bei einer Nachprüfung die Bestätigung bekommen, daß die Geschichte ihres Vaters stimmt und daß sie überhaupt keine sowjetische Beziehungen hat. Ich war im Unrecht, Bill. Das ist alles – und es tut mir leid.« Cables Augen funkelten, aber er sagte nichts. Es entstand eine gespannte Pause. »Ich bin überzeugt, daß Sie mit ihr in Verbindung treten können, wenn Sie Reichmanns Villa in Tel Aviv anrufen.« Nairn fummelte mit verlegenem Gesichtsausdruck in seiner Tasche und holte ein zerknittertes Kuvert hervor, das er Cable über den Tisch zuschob. »Ryder hat mir die Telefonnummer geschickt.« Er leerte sein Bier, als der Lautsprecher seinen Flug ausrief: »BA 601 Abflug nach London.« »Ich muß gehen, Bill. Viel Glück. Bleiben Sie mit mir in Verbindung.« Er eilte davon und ließ einen sprachlosen Cable zurück. Sobald Nairn in der Sicherheitskontrolle verschwunden war, ging Cable in Gedanken versunken in die Eingangshalle
zurück, wo er seine Schritte zum Postamt lenkte. Dort war eine Reihe von Glaskabinen für internationale Gespräche: Man buchte einen Anruf und bezahlte nach Beendigung des Gesprächs dafür, ohne ständig Münzen einwerfen zu müssen. Er zeigte dem Beamten den zerknitterten Umschlag. »Ich möchte diese Nummer in Tel Aviv, bitte.« Der Beamte schrieb sie auf und begann zu wählen. »Kabine Nummer zwei, mein Herr.« In weniger als einer Minute klingelte es am anderen Ende, und das Telefon wurde in Hebräisch von einer Frau beantwortet, deren geschäftsmäßiger Ton den Eindruck verlieh, daß es sich um die Haushälterin handelte. »Könnte ich bitte mit Naomi sprechen?« fragte Cable auf Englisch. »Wer ist am Apparat?« Jetzt sprach sie auch englisch. »Mein Name ist Cable – ich bin ein Freund aus Wien.« »Einen Moment, bitte.« Es dauerte eine Weile, bis die Frau wieder ans Telefon kam. Sie erzählte ihm weder Lügen noch machte sie Ausflüchte, daß Naomi außer Haus sei und ihn zurückrufen würde. »Es tut mir leid, Miss Reichmann möchte nicht mit Ihnen sprechen«, sagte sie. Eine Stunde später rannte Sarah mit wehendem blonden Haar und fohlenhaften Beinen, die in alle Richtungen zu fliegen schienen, auf ihn zu. »O Papa! Ich glaubte schon, ich würde dich nie wiedersehen.« Er legte seinen linken Arm um sie und küßte sie. Sie verbarg ihren Kopf in seiner Schulter, dann trat sie zurück und sah ihn prüfend an. »Was ist mit deinem Arm los?« »Ich bin durch die Schulter geschossen worden. Aber was ist mit dir? Skilbeck sagt, daß du bei dem Flugzeugabsturz verletzt worden bist.« »Ich habe ein paar blaue Flecken und eine Verbrennung am Bein, die noch immer weh tut, aber das wird schon wieder.« Sie schien weniger distanziert als am Telefon zu sein.
»Wie schlimm ist es, Liebling?« »Nicht allzu schlimm.« Sie biß sich auf die Lippe. »Ich behalte ein paar Narben, das ist alles, und ich werde eine Weile wohl keinen Bikini tragen können. Aber das macht nichts, ehrlich.« Sie hakte ihn fest unter. »Es ist phantastisch, wieder hier zu sein – laß uns nach Hause fahren und feiern.«
Klosterneuburg
Rozinski wurde den anderen Polen überlassen. Er gehörte ihnen und weder den Briten noch den Amerikanern, und er hatte Österreich illegalerweise betreten, also existierte er für die Behörden in Wien nicht. Die vierzehn Männer trafen sich an jenem Abend in einem Zimmer in der Abtei von Klosterneuburg – in demselben Zimmer in dem mittelalterlichen Turm, in dem Skilbeck und Cable noch vor zwei Tagen gesessen hatten. Das Treffen war geheim, und kein Außenseiter erfuhr je, was geschah. Während der ersten Stunde war Rozinski noch anwesend, dann wurde er herausgebracht und in einen Keller gesperrt. Zum Schluß hatten sie Jozef Gierek, den einzigen Überlebenden des gescheiterten Absprungs in der Nähe Krakaus, zu ihrem neuen Anführer gewählt. In jener Nacht wurde in einem Wald oberhalb Greifensteins auf einem Felsvorsprung über der Donau einige Kilometer weiter nördlich ein Grab geschaufelt. Es war noch dunkel, als am nächsten Morgen ein Auto mit vier Männern die Abtei verließ. Sie fuhren schweigend den Hügel zur Stadt hinunter und dann in Richtung Norden an Kritzendorf vorbei. Nach zwanzig Minuten bog das Auto von der Hauptstraße ab und fuhr die Haarnadelkurven durch den dichten Wald. Sie parkten an einem Haufen von abgesägten Baumstämmen. Die vier Männer gingen in den Wald, durch dessen Baumstämme jetzt die Morgensonne glitzerte, die den feuchten, mit Blättern und Fichtennadeln bedeckten Pfad dampfen ließ. Rozinski begann zu zittern, als er das offene Grab sah, das auf ihn wartete. Plötzlich riß er sich von den beiden Männern
los, die ihn festgehalten hatten, und versuchte, durch die Bäume zu entkommen. Der vierte Mann zog eine Pistole und zielte gemächlich. Ein Schuß fiel. Rozinski sprang, von der Kugel getroffen, in die Luft und fiel dann schreiend auf den Rücken, wobei er eine klaffende Bauchwunde zu umklammern versuchte. Die drei Männer beschleunigten ihre Schritte nicht, sondern gingen langsam auf ihren früheren Anführer zu, der sich jetzt auf dem Boden wand, gurgelnde, tierische Schreie ausstieß und dabei dunkles Blut hustete. Der Mann mit der rauchenden Pistole blickte voller Verachtung auf ihn nieder. Rozinskis Gesicht war bleich wie Gips geworden, und große Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Seine Unterarme waren bis zum Ellbogen mit Blut verschmiert, während seine Hände vergeblich versuchten, die klaffende Wunde oberhalb des Unterleibes zuzuhalten. Die Schreie verblaßten und wurden zu einem schluchzenden, gequälten Wimmern. Die drei Männer standen schweigend da, beobachteten ihn neugierig und mitleidslos. Sie töteten ihn mit einem Kopfschuß.
Cable und Sarah verbrachten eine Woche in dem Haus in Grinzing. Sie unterhielten sich, lachten, machten lange Waldspaziergänge und gingen in ihre alten Stammlokale. Beide schienen akzeptiert zu haben, daß sie Wien bald verlassen und nie wieder dorthin zurückkehren würden. Von dem Moment an, als er wußte, daß Naomi sich in Israel aufhielt, hatte Cable darauf gebrannt, das nächste Flugzeug nach Tel Aviv zu besteigen; aber dann war Sarah zurückgekommen, und er konnte nicht wegfahren. Sie hatten beide das Bedürfnis, zusammen zu sein. Er schrieb einen langen Brief an Naomi, in dem er versuchte, alles zu erklären,
und schickte ihn zusammen mit einer Flugkarte nach Wien ab; aber er hatte keine Antwort bekommen. Selbst wenn er nichts erreichte, wußte er, daß er früher oder später nach Tel Aviv fliegen würde, um zu versuchen, sie zurückzugewinnen. In der Zwischenzeit versuchte er jeden Tag, sie anzurufen, manchmal sogar mehrmals täglich, aber die Antwort der Haushälterin war immer dieselbe. Am sechsten Abend beschloß er, Sarah zum Abendessen in die »Drei Husaren« in der Nähe des Doms in Wiens Altstadt auszuführen. Bevor sie gingen, saßen sie auf der Terrasse, und Sarah mixte zwei Gin und Tonic. Obwohl es schon Oktober war, wurde die untenliegende Stadt noch immer von der Sonne beschienen. »Es ist eine wunderschöne Aussicht«, sagte sie verträumt. »Die werde ich vermissen. Aber sonst nicht viel, glaube ich.« »Weißt du schon, was du vorhast?« fragte er. »Bevor all das passierte, dachte ich mir, daß ich mich vielleicht für Sprachen einschreiben lassen würde. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher – vielleicht nehme ich irgendeine Stellung an, wenn ich eine finden kann.« Cable wollte gerade etwas darauf erwidern, als ein schwarzgekleideter Mann an der Seite des Hauses entlangkam; es war ein Eilbote von der Botschaft, der seinen Motorradhelm und seine Brille in der Hand hielt. Er salutierte und reichte Cable einen Umschlag. »Ein persönliches Telegramm, Sir. Soll ich warten, für den Fall, daß Sie eine Antwort abschicken wollen?« »Nein danke, das wird nicht nötig sein.« Cable ging ins Haus und riß den Umschlag auf. Drinnen befand sich ein weiterer Umschlag mit dem Stempel »GEHEIM«. Er enthielt ein Stück Durchschlagpapier; ein Telegramm an Skilbeck, das er selber dechiffriert hatte. Es war von Nairn, und eine Kopie davon ging an Cable.
PRIORITÄT: ROUTINE EINSTUFUNG: GEHEIM FOLGENDES PERSÖNLICH AN SKILBECK, KOPIE AN GABLE, VOM STELLVERTRETENDEN GENERALDIREKTOR DES GEHEIMDIENSTES: BIENEN UNTER KÖNIGIN SCHWÄRMTEN HEUTE FRÜH AUS UND HABEN SICH SICHER IN KÖRBE VERTEILT. LESEN UND VERNICHTEN. Cable lächelte, während er das Stück Papier in einem Aschenbecher verbrannte; dieses Mal hatte es also funktioniert. Es war nur ein schwacher Anfang, aber sie waren ein Haufen tapferer Männer, und er wünschte ihnen viel Glück – sie verdienten es. Als er auf die Terrasse zurückkam, sah Sarah ihn fragend an. Er nickte mit einem leisen Lächeln. »Nichts Wichtiges«, sagte er, aber er konnte sehen, daß sie verstand. »Komm, laß uns essen gehen.«
Am nächsten Morgen wachte Cable früh auf und trat auf den Balkon hinaus. Jetzt war der Herbst richtig hereingebrochen: Es schien keine Sonne, und Wien lag grau, kalt und unwirtlich da. Während des Sommers vergaß man leicht, daß dies eigentlich ein Teil Osteuropas war, wo auch immer die Grenze nach dem Krieg gezogen worden war. Er fröstelte und ging wieder hinein. Als er im Morgenmantel die Treppe herunterkam, war er verwundert, Sarah in der Eingangshalle vorzufinden. Auf dem Boden stand ein kleiner Koffer, und sie bestellte gerade am Telefon ein Taxi. Cable war verblüfft. »Wo, um alles in der Welt, gehst du denn hin?« rief er aus. »Wir fahren morgen nach England zurück.« »Nein, Papa, ich fliege heute, du fährst morgen nach England zurück, es sei denn, du hast hier noch irgend etwas zu
erledigen.« Sie hob fragend die Augenbrauen. In ihrem zweckmäßigen, fest zugegurteten Regenmantel wirkte sie wie eine Sozialarbeiterin auf Besuch. »Ich habe auch einige Dinge zu erledigen, wie zum Beispiel, mir eine Arbeitsstelle zu besorgen und einen Universitätsplatz für nächstes Jahr zu finden. Ich werde ein paar Tage bei meiner Freundin Margaret wohnen. Und ich muß mich beeilen – ich habe den Acht-UhrFlug gebucht.« Dann kam das Taxi an und wartete mit klopfendem Dieselmotor am Straßenrand, und dann war sie weg. Er stand an der offenen Eingangstür, sah dem Taxi nach, wie es um die Ecke nach Grinzing verschwand, und verspürte eine plötzliche Leere in sich. Einem Impuls folgend ging er nach oben in sein Arbeitszimmer und wählte die Nummer Reichmanns in Tel Aviv. Es war sein zehnter Versuch, und nachdem die internationale Verbindung nach mehreren klickenden Geräuschen hergestellt worden war, hörte er eine Zeitlang dem Klingeln am anderen Ende zu. Aber niemand nahm den Hörer ab.
Cable verbrachte den Tag damit, zu packen und den Koffer in den Volvo zu laden. Wie auch immer die Entscheidung des Auswärtigen Amtes lautete, er wußte, daß er Wien verlassen würde, und hatte keinen Grund, seine Kleider und seine persönlichen Dinge hier zu lassen. Das Haus in Teddington stand leer, seit der letzte Mieter vor einem Monat ausgezogen war; zweifellos würden Sarah und er dort bald wieder zusammen wohnen. Würden sie das wirklich? Seit ihrer Rettung hatte er weniger als eine Woche mit Sarah verbracht, bevor sie so übereilt nach London abgereist war; aber jetzt fühlte er sich geradezu
überflüssig. Sie war plötzlich unabhängig, erwachsen geworden. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie noch länger bei ihm wohnen würde; wo auch immer er sich in einem halben Jahr aufhalten würde, er wäre mit Sicherheit allein. Als die Dunkelheit hereinbrach, wurde das Haus immer bedrückender – und Cable fühlte sich immer deprimierter. Er beschloß, auf ein Glas Wein und etwas zu Essen ins Dorf zu gehen, bevor er zu Bett ging, denn er wollte am nächsten Morgen sehr früh losfahren. Er hatte ein makabres Gefühl von déjà vu: Als er vor zwei Jahren allein in Wien angekommen war, bevor Sarah zu ihm kam, hatte er seinen ersten Abend auch so verbracht. Er prallte beinahe mit ihr zusammen, als er auf den Bürgersteig trat. Sie bezahlte gerade ein Taxi, das am Eingangstor stand. Sie drehte sich um, ließ das Wechselgeld in ihre Handtasche fallen und stand lächelnd da, während sie zu ihm aufschaute. »Hallo, Bill.« »Naomi! Was machst du denn hier?« »Freust du dich nicht, mich zu sehen? Du hast mich schließlich oft genug angerufen.« »Mich freuen? Ich bin sprachlos, total von den Socken – aber ich dachte…« Sie sah ihn ernst an. »Was dachtest du?« »Sollen wir ein Glas trinken gehen?« »Okay.« Sie zuckte mit den Schultern. »Nur eins – ich weiß noch nicht, ob ich hierbleibe.« »Aber du bist den ganzen Weg von Israel hierhergekommen.« »Ich habe einen Job und eine Wohnung hier. Ich wollte sowieso kommen. Hier – das gehört dir.« Sie reichte ihm einen Umschlag. »Was ist das?« »Die Flugkarte, die du mir geschickt hast. Sie ist unbenutzt.«
Sie saßen verlegen, mit dem Rücken an den warmen, blauen Kachelofen gelehnt, in einer Ecke des nahegelegensten Lokals. »Du hast mich rausgeworfen«, sagte sie gelassen, aber er fühlte die unterdrückte Leidenschaft in ihrer Stimme. Sie nippte an ihrem Viertel Rotwein. »Du hast geglaubt, daß ich dir nachspioniere, und hast mich weggeschickt.« »Ich weiß. Ich habe unrecht gehabt – ich muß verrückt gewesen sein.« Sie sah ihn durchdringend an und strich sich mit der rechten Hand das dichte, schwarze Haar aus dem Gesicht. »Es hat weh getan, Bill – es hat sehr weh getan. Das hatte ich nicht verdient.« »Es tut mir leid. Wohin bist du damals gegangen? Und warum bist du gegangen, wo wir gerade dabei sind?« »Ich war wütend auf dich und fühlte mich hundeelend. Ich wußte, daß ich die ganze Zeit beobachtet wurde, aber ich wußte nicht, von wem. Ich glaube, mein Vater sagte dir schon, daß ich ein paarmal für den Mossad nach Budapest gefahren bin.« »Ja.« »Das hätte er nicht tun sollen – aber jetzt weißt du es jedenfalls. Ich sammelte Dokumente über Kardos – das heißt, den richtigen Kardos – Fotos von ihm als junger Mann, die Dokumente seiner Priesterweihe, Gefängnisakten und so weiter. Es war schwierig, an sie heranzukommen, weil die AVO alles vernichtete, was sie finden konnte, als Gyor seinen Platz einnahm. Kardos wurde natürlich irgendwann zwischen 1950 und dem Aufstand im Jahre 1956 hingerichtet.« »Das habe ich mir gedacht.« »Es machte mir keinen Spaß, meine Tätigkeiten vor dir zu verbergen, Bill. Das war mir verhaßt, aber ich hatte keine andere Wahl.« Sie seufzte und blickte ihm zögernd in die Augen. »Nach unserem aufsehenerregenden Streit im Café
Landtmann verbrachte ich den Abend allein in meiner Wohnung. Ich weinte viel. Ich weinte, bis keine Tränen mehr kommen wollten und ich mich total leer fühlte und wünschte, daß ich tot sei – und dann bemerkte ich, daß sie draußen auf dem Gehsteig patrouillierten. Zwei Männer. Ich dachte, daß sie vom KGB seien – und plötzlich wurde mir angst und bange.« »Wovor hattest du Angst?« »Ich weiß es nicht – weiß man das jemals so genau? Vielleicht, umgebracht zu werden oder entführt wie Sarah. Ich bin so froh, daß sie wieder da ist, Bill.« »Ich auch.« Naomi nickte. »Da saß ich also – in einer Minute am Rande des Selbstmords, in der nächsten voller Angst, umgebracht zu werden. Ein totales Durcheinander…« Sie lachte bitter auf. »Was hast du unternommen?« »Ich bin abgehauen. Ich ging die Feuertreppe hinunter und schlüpfte durch den Hinterausgang. Ich hatte kein Gepäck oder ähnliches bei mir – man hat mir beigebracht, wie man verschwindet, weißt du… Ich nahm mir ein Taxi zum Südbahnhof und fuhr im Schlafwagen nach Rom. Niemand entdeckte mich, weder eure Leute noch Kardos’ Kumpane, nicht einmal der Mossad!« »Es tut mir leid, daß du dich so gefürchtet hast – und so allein warst. Es war alles meine Schuld.« »Ja, das war es – und ich habe es noch nicht fertiggebracht, dir zu vergeben. Wunden heilen nicht so schnell…« Sie sah in ihr leeres Weinglas. »Am nächsten Tag war ich also in Rom und wohnte dort unter falschem Namen in einer Pension in der Nähe des Hauptbahnhofs. Ich nannte mich Angela Lambert und sagte, ich sei Engländerin. Ein paar Tage lang lief ich ziellos herum und haßte euch alle – dich und Kardos und seine Freunde. Ich lebte die ganze Zeit von Kreditkarten. Es ist erstaunlich, wie wenig Bargeld man heutzutage braucht. Ich
wollte nicht nach Israel, weil mein Vater und ich uns nicht mehr verstehen – aber ich hatte Angst, nach Wien zurückzukehren, und ich konnte mich nicht ewig in Rom verstecken.« Sie zuckte mit den Schultern. »Schließlich sah ich ein, daß ich wohl in Israel am sichersten sein würde, also nahm ich einen Bus zum Flughafen und den nächsten El-Al-Flug nach Tel Aviv.« Sie sah wieder zu ihm auf. »Das wär’s. Eigentlich keine besonders aufregende Geschichte.« Er legte seine Hand auf ihre, und sie zog sie nicht weg. Alles in ihm drängte danach, ihr wieder zu vertrauen, aber er zögerte immer noch. »Wurdest du vom Mossad auf mich angesetzt?« fragte er ruhig. Sie blickte ihn durchdringend an; ihre dunkelbraunen Augen hatten denselben traurigen, ehrlichen Ausdruck, den er von ihrer ersten Begegnung, der Nacht, in der die Explosion im Auersperger Palast geschah, in Erinnerung hatte. »Nein, Bill. Und wenn du mich das noch einmal fragst, verlasse ich dich. Ich verlasse dich und komme nie wieder zurück. Aber ich beantworte dir diese Frage ein einziges Mal. Nein, ich wurde nicht auf dich angesetzt. Ich verliebte mich in dich, und zwar nicht auf Befehl des Mossad.« Sie schenkte ihm ein halbes Lächeln, das sich mit Tränen mischte. »Ich habe dich geliebt, du Schweinehund – und ich glaube, ich liebe dich noch immer.«
Salzburg und London
Drei Tage später fuhren sie in dem grünen Volvo los. Sie brausten über die Autobahn in Richtung Salzburg an den vertrauten grünen Wiesen, an den Seen und Bergen vorbei. Naomi saß am Steuer und blickte mit absoluter Konzentration auf die Straße, während Cable in Gedanken versunken neben ihr saß. Am Ende der Reise oder kurz danach würde er frei sein – arbeitslos und mehr oder weniger pleite, aber frei. Selbst der geringste Zweifel erschien ihm wie ein Verrat an dem schlanken jüdischen Mädchen neben ihm; aber er war beinahe fünfzig, und sie war noch nicht einmal dreißig, nicht sehr viel älter als Sarah. Lebte er nur in der Phantasiewelt eines Mannes mittleren Alters…? Irgendwann schaltete sie das Autoradio ein. In den Nachrichten des österreichischen Rundfunks hieß es, daß in mehreren Städten in Polen Nahrungsmittelaufstände ausgebrochen seien und daß die polnische Armee sie nicht wie erwartet niedergeschlagen habe. Die Zukunft General Jaruzelskis stand in Frage. Cable fragte sich, ob all das nicht auch ohne Gierek mit seinen Waffen sowieso geschehen wäre. An diesem Abend übernachteten sie in Salzburg, in der Pension Struber an der Seite der Hohensalzburg, die die Stadt und den Fluß nicht überblickte. Die Fenster ihres Zimmers boten Ausblick auf die Burg, deren massive schwarze Silhouette sich gegen den dämmrigen Himmel abzeichnete. Eine Lichterkette reichte vom Hügel herunter und markierte die Häuser in der Nonberggasse. Irgendwo unter ihnen befand sich das Sicherheitshaus, in dem er Rozinski zum ersten Mal
begegnet war. Cable zog die schweren Vorhänge zu und drehte sich zu Naomi um, die nackt vor ihm stand. Sie legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn zärtlich. »Ich liebe dich, Bill«, wisperte sie. »Und ich möchte dich jetzt. Nicht nach dem Abendessen, wenn wir uns unterhalten haben und traurig sind.« »Warum sollten wir traurig sein? Wir sind zusammen, und ich habe mich seit langem nicht so glücklich gefühlt.« »Das Leben ist voller Überraschungen, Bill.« Einen Augenblick lang sahen ihre Augen bekümmert aus. »Das weiß ich.« Dann wurde ihr Gesicht von einem Lächeln erleuchtet; sie begann, sein Hemd aufzuknöpfen und küßte seine verletzte Schulter, wobei sie flüsterte: »Um Himmels willen, laß nicht zu, daß ich dir weh tue, Liebling.« Sie zog ihn aufs Bett. Er verspürte Rührung, als er die Linien auf ihrer Stirn und den sorgenvollen Ausdruck bemerkte, der wieder in ihr Gesicht zurückgekehrt war. »Ich liebe dich, meine kleine Hexe.« Er schloß sie in die Arme und plötzlich erschien sie ihm sehr klein und verletzlich.
Am folgenden Morgen schritt ein älterer Mann den Treidelpfad an der Themse bei Chiswick entlang. Obwohl er gebeugt ging, war er groß, größer noch als die langbeinige Blondine, die in einem blauen Hosenanzug, der sich um ihre schmalen Hüften schmiegte, etwas steif neben ihm herging. Ein kalter Wind fegte von der Brücke herüber und ließ die Flaggleinen einer Reihe von Booten, die auf dem Schlamm saßen, gegen die Metallmasten klappern, aber weder der Mann noch das Mädchen schienen es zu bemerken. »Damit wäre die Sache also geregelt«, sagte er, als sie anhielten, um eine Reihe von Schleppkähnen, die vorbeituckerten, zu beobachten. Sarah dachte sich, wie klein
sie im Vergleich zu den riesigen Kornschleppern auf der Donau aussahen. »Wir versuchen es mit Ihnen ein Jahr lang und geben Ihnen dann Urlaub, damit Sie auf die Universität gehen können. Wenn Sie danach zurückkommen wollen, müssen Sie die üblichen Tests bestehen, aber ich bin sicher, daß Ihnen das keine Schwierigkeiten bereiten wird. Ein Monat in einem sowjetischen Gefängnis kommt für uns einem Universitätsabschluß gleich, das kann ich Ihnen versichern.« »Das ist sehr nett von Ihnen, Sir David – ich fühle mich schrecklich geschmeichelt, wissen Sie. Sie gehen ein furchtbares Risiko ein. Glauben Sie wirklich, daß ich gut sein werde?« »Das hoffe ich. Ihr Vater war gut. Er war ausgezeichnet, bis man ihn in Vietnam beinahe umbrachte – und selbst danach war er nicht schlecht.« Sie lächelte, als er in seinen weichen schottischen Dialekt verfiel. Es war anziehend, genauso wie seine buschigen, schwarzen Augenbrauen. Er war nicht halb so ehrfurchtgebietend, wie sie erst geglaubt hatte, als er sie im Krankenhaus in Graz besucht hatte. »Armer Papa«, sagte sie. »Glauben Sie, er wird eine andere Stellung bekommen? Ich bin mir nicht sicher, ob er noch einen Diplomatenposten möchte.« »Ich auch nicht, Sarah – und außerdem weiß ich es nicht. Also, sind Sie bereit, zum Century House zu gehen? Ich habe meine Schuldigkeit getan, aber jetzt sollten Sie lieber gleich Michael Marshall kennenlernen, wenn Sie mit ihm arbeiten werden. Er erwartet Sie.« »Muß ich schon heute gehen? Ich bin schrecklich nervös, und mein Bein tut immer noch weh, wissen Sie.« »Unsinn, Mädchen. Sie sind so zäh wie eine Schuhsohle.« Nairn blickte sie prüfend von oben bis unten an. »Mein Gott, ich wünschte…« Er hielt inne und lachte. »Was wünschten Sie?«
»Nichts, mein Mädchen.« Sie hielten bei dem schwarzen Rover an, der an der Kreuzung des Treidelpfades und der Hartington Road parkte. Nairn öffnete die hintere Tür. »Bringen Sie Miss Cable zum Cut, Len«, sagte er zu dem Fahrer. »Ich komme heute nicht – ich muß nachmittags zum Arzt.« »In Ordnung, Sir. Soll ich Sie morgen früh abholen?« »Ja, um acht, wie immer.« Der Wagen fuhr in Richtung Kew davon, und Nairn ging langsam zu seiner Wohnung zurück. Aus der Entfernung sah die gebeugte Gestalt sehr alt aus, aber von nahem bemerkte man, daß er verschmitzt lächelte.
Cables Schulter schmerzte noch, also fuhr Naomi den ganzen Tag, durch Deutschland und Frankreich, die Autobahnen entlang, die sich jetzt durch jedes Land in Westeuropa ziehen: eintönige 1280 Kilometer in vierzehn Stunden. Um neun Uhr abends hielt der staubige Volvo an der Kaimauer in Le Havre. Hinter einer Reihe von Schuppen konnte man den von Bogenleuchten erhellten, orangefarbenen Schornstein der Townsend Thoresen Fähre, die sich leicht im Wasser wiegte, erkennen. Es war Naomis Idee gewesen. »Ich bin noch nie in England gewesen, Bill. Laß es uns ganz langsam angehen, eine lange Fährenroute aussuchen, wo wir den Kanal nachts überqueren und uns eine Kabine nehmen können. Ich möchte in der Morgendämmerung in Southampton Water einlaufen, als ob wir gerade aus Amerika oder einem anderen weit entfernten Ort ankämen.« Gegenüber der Kaimauer befand sich unter modernen Geschäften ein Café, das bis auf seinen Namen – »Le Restaurant Southampton« – nicht hochgestochen war. Sie aßen
fruits de mer und steak au poivre und tranken dazu roten Bordeaux, und kurz nach zehn rumpelte der Volvo über die Rampe in den Frachtraum.
Als sie in der kleinen Kabine erwachten, bewegte sich das Boot noch langsam vorwärts, und Cable sah Naomi von seiner Koje aus beim Ankleiden zu. Sie lächelte ihn an. »Ich gehe an Deck, Bill – wir legen um sieben Uhr an, und ich kann es kaum erwarten, England zum ersten Mal zu sehen.« Sie standen ganz allein Arm in Arm an der Reling, als die Fähre langsam Southampton Water, das im Zwielicht der Dämmerung, grau und dunstig war, anlief. In einem Moment der Sicherheit wußte Cable, daß er sich ein Leben ohne diese Frau nicht mehr vorstellen konnte. Er drehte sich ihr zu und küßte sie zärtlich. Kurz nach sieben wurde das Auto von einem behelmten Polizisten durch die Hafentore gewinkt, und Cable schaltete das Radio ein. »… in Polen«, sagte die vertraute BBC-Stimme. »Nahrungsmittelaufstände in Gdansk, Poznan und Krakau halten an. Es ist jetzt offenkundig, daß viele Einheiten der Armee ›Solidariät‹ und die Protestierenden unterstützen. Es bestehen Gerüchte, daß das Heer an der Grenze zur Sowjetunion Verteidigungspositionen eingenommen hat, und der neue Generalsekretär der Kommunistischen Partei hat angekündigt, daß jeglicher Einmischung durch andere Staaten des Warschauer Pakts Militärgewalt entgegengestellt wird.« Naomi streckte ihre Hand aus und drückte seinen Arm. »Sie haben es geschafft, Bill, nach dem ersten Mißerfolg. Sie haben es geschafft – ist das nicht phantastisch?« Cable starrte durch die Windschutzscheibe. Es fing an zu regnen. »Haben sie das wirklich? Mal sehen, wie alles ausgeht, bevor wir feiern.« Im Radio knackte es. »Die Krise in
Pakistan. An der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan sammeln sich weiterhin russische Panzerdivisionen und Artillerie; es kommen Berichte von schweren Luftbombardierungen von Lagern in Nordpakistan, die von afghanischen Flüchtlingen bewohnt werden. Die sowjetische Regierung behauptet, daß diese Lager als Ausbildungsstätten und Hauptquartiere für afghanische Guerillas, die gegen das kommunistische Regime in Kabul operieren, bestimmt sind. In einem Ultimatum drohen die Sowjets, innerhalb von vierundzwanzig Stunden in Pakistan einzumarschieren, um sie zu vernichten, sollte die pakistanische Regierung nicht energische Schritte einleiten. Der pakistanische Präsident ist nach Washington geflogen, und zwei Flugzeugträger der Spezialeinheit US Indian Ocean sind auf dem Weg nach Karachi.« Cable schüttelte den Kopf. »Ich habe mir gedacht, daß die Reaktion so aussehen würde. Mal sehen, wie diese Sache ausgeht.« Naomi stellte die Scheibenwischer an, und während sie hin und her surrten, starrte er schweigend vor sich hin. »Woran denkst du, Bill?« »Ich dachte gerade an ein Mittagessen, das ich einmal mit Laszlo Kardos hatte – an eine Frage, die er mir stellte.« »Was war das?« Er schüttelte den Kopf. »Es ist nicht wichtig – jedenfalls hoffe ich das.«
Historische Anmerkung zu Raoul Wallenberg
Raoul Wallenberg ist keine erfundene Figur. Er trat der schwedischen Gesandtschaft in Budapest im Jahre 1944 bei: als Diplomat, der auf Ersuchen der Vereinigten Staaten und des Jüdischen Weltkongresses mit der entmutigenden Aufgabe, so viele ungarische Juden wie möglich vor der Ausrottung zu bewahren, von Stockholm entsandt wurde. Millionen waren schon gestorben, als der Holocaust durch Europa tobte, aber die ungarische Judenbevölkerung war verschont geblieben, weil die faschistische Regierung ihres Landes mit Nazideutschland alliiert war. Diese Immunität kam zu einem Ende, als im Jahre 1944 deutsche Truppen Ungarn besetzten; die SS kam mit Adolf Eichmann als Anführer in Budapest an, und es begannen Massendeportationen zu den Gaskammern in Auschwitz. Wallenberg leistete gegen die Deportationen Widerstand, indem er ein System schuf, in dessen Rahmen Tausende von Juden mit speziellen Pässen versehen wurden, die ihnen den Schutz des neutralen Landes Schweden zusicherten. Er stellte auch eine große Anzahl von Gebäuden, in denen Juden bis zum Ende des Krieges Zuflucht suchen konnten, unter die schwedische Flagge. Er verstärkte diese schwachen Maßnahmen, indem er die deutschen und ungarischen Behörden bestach und einschüchterte, sie zu respektieren, und zeigte angesichts der Gewalt und Bedrohung seines Lebens großen Mut. Zwischen Juli und Dezember 1944 rettete er mindestens dreißigtausend Juden vor der Vernichtung in Auschwitz.
Im Januar 1945 besetzte die Rote Armee Budapest und nahm Wallenberg sofort fest. Für diese Handlung wurde nie eine Erklärung abgegeben. Da seine Arbeit durch Fonds aus den Vereinigten Staaten unterstützt wurde, bestand die Möglichkeit, daß er für einen amerikanischen Agenten gehalten wurde, der für den sowjetischen Plan, eine kommunistische Regierung in Ungarn aufzubauen, eine Bedrohung bedeutete. Er wurde nach Moskau gebracht, in der Lubyanka eingesperrt und ist trotz fast vierzigjährigen internationalen Drucks nie entlassen worden. Als er im Jahre 1945 festgenommen wurde, war er erst 32 Jahre alt, und es gibt Beweise dafür, daß er trotz harter Bedingungen in russischen Gefangenenlagern zumindest bis Mitte der sechziger Jahre überlebte. Es ist möglich, daß er damals starb, obwohl es viele gibt, die der Meinung sind, daß er noch immer lebt und sich in einem sowjetischen Gefängnis aufhält. Was auch immer die Wahrheit sein mag, Raoul Wallenberg war einer der heroischsten Männer im Zweiten Weltkrieg – und eines der geheimnisvollsten und tragischsten Opfer des Kalten Krieges, der darauf folgte.