Ernst Vlcek, Neal Davenport & Earl Warren
Sieg der � er Schwarzen Magie � Magie Dorian Hunter Klassiker � Band 9 �
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Ernst Vlcek, Neal Davenport & Earl Warren
Sieg der � er Schwarzen Magie � Magie Dorian Hunter Klassiker � Band 9 �
ZAUBERMOND VERLAG
DAS BUCH Dorian Hunter ist es gelungen, den Secret-Service-Mann und Leiter der Inquisitionsabteilung, Trevor Sullivan, aus den Klauen der Schwarzen Familie zu befreien. Doch in Sullivans Abwesenheit ist viel geschehen. Eine dämonische Intrige führte zur Auflösung der Abteilung, Dorian Hunter muß seinen Kampf gegen die schier übermächtige Schwarze Familie in Zukunft ohne die Unterstützung des Secret Service führen. Seine Gegner lassen ihm keine Zeit, die Niederlage zu verdauen. Überraschend wird die Jugendstilvilla zum Ziel einer neuen Attacke. Hunter bleibt keine Wahl – um die Gefahr abzuwenden, muß er sich mit Olivaro verbünden, jenem Dämon, der sich bereits einmal zum Schein auf seine Seite schlug und dafür später zum neuen Fürsten der Finsternis küren ließ. Wird Olivaro diesmal sein Wort halten? Wie hoch ist der Preis, den Hunter für den neuen Pakt zu zahlen hat? Als Olivaro seine Forderung enthüllt, wird Hunter klar, daß seine endgültige Niederlage unmittelbar bevorsteht. Die Zeichen stehen auf Sieg. Auf den Sieg der Schwarzen Magie …
Was bisher geschah … � Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen. Unterstützung in seinem Kampf erhält er durch den englischen Secret Service, den er von der Wichtigkeit seiner Mission überzeugen konnte. Der Service gründete die Inquisitionsabteilung, deren Leiter Trevor Sullivan seitdem auch Dorians Vorgesetzter im Kampf gegen die Dämonen ist. Ihr Hauptquartier ist die Jugendstilvilla in der Londoner Baring Road, die durch Dämonenbanner gegen einen Angriff der Schwarzen Familie gesichert ist. Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloß er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Teufel, der ihm daraufhin die Unsterblichkeit gewährte. Um seine Sünden zu büßen, verfaßte de Conde den »Hexenhammer« – jenes Buch, das im 16. Jahrhundert zur Grundlage für die Hexenverfolgung wurde. Doch der Inquisition fielen meist Unschuldige zum Opfer; die Dämonen, auf die de Conde es abgesehen hatte, blieben ungeschoren. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, ging seine Seele in den nächsten Körper über. So ging es fort bis in die Gegenwart. Dorian Hunter begreift, daß er die Wiedergeburt de Condes ist. Es ist seine Aufgabe, den Dämonen nachzustellen und sie zu vernichten. Vielleicht ist dieser angeborene Dämonenhaß der Grund dafür, daß er sich nicht an die Vorgaben des Secret Service hält. Er jagt die Dämonen auf eigene Faust, und als die Erfolge ausbleiben, gerät der »Observator Inquisitor« Trevor Sullivan unter Druck. Die Abteilung wird aufgelöst. Hunters engste Gefährten lassen sich durch die Rückschläge nicht
schocken: Da wäre zunächst die junge Hexe Coco Zamis, die früher selbst ein Mitglied der Schwarzen Familie war, bis sie wegen ihrer Liebe zu Dorian den Großteil ihrer magischen Fähigkeiten verlor. Weiterhin der Hermaphrodit Phillip, der weder Mann noch Frau, weder Mensch noch Dämon ist und dessen hellseherische Fähigkeiten ihn zu einem lebenden Orakel machen – sowie der Puppenmann Don Chapman, der als Agent für den Service arbeitete, bis er von einem dämonischen Puppenmacher auf Zwergengröße geschrumpft wurde. Hunter gelingt es, seine dämonischen Brüder zu töten und Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, zu vernichten. Doch mit Olivaro steht schon ein Nachfolger bereit. Zwar ist seine Position innerhalb der Familie nicht unumstritten, aber das läßt ihn im Kampf gegen Dorian nur um so gewissenloser agieren. Er hat keine Skrupel, mit Hunter zusammenzuarbeiten, wenn es seinen Interessen dient – so zuletzt beim Kampf gegen die Dämonen-Drillinge, die Hunter mit Hilfe des Hermaphroditen Phillip vernichtete. Auf der Suche nach Trevor Sullivan, der offenbar von Dämonen entführt wurde, stoßen Coco und Dorian auf den boshaften Arzt Leonhard Goddard, der Menschen opfert, um seinen greisen Klienten durch ein magisches Ritual die Jugend zurückzugeben. Dorian befreit Sullivan aus Goddards Klauen und macht den Arzt unschädlich. Aber der Dämon, der hinter Goddard stand, lebt und geht zum Gegenangriff über. Noch bevor Dorian das Spiel durchschaut, befinden Coco und er sich in der Gewalt des unheimlichen Fremden – und es scheint, als habe auch Olivaro in diesem perfiden Spiel ein Wörtchen mitzureden …
Vorwort � Der neunte Band der Dorian-Hunter-Serie ist trotz der in sich abgeschlossenen Inka-Trilogie – in den Augen vieler Leser einer der Höhepunkte der Serie – ein Band des Übergangs: Die Suche nach Trevor Sullivan ist zwar abgeschlossen, da es Dorian inzwischen gelungen ist, den früheren Leiter der Inquisitionsabteilung aus den Klauen des dämonischen Arztes Leonhard Goddard zu befreien. Aber Sullivans Rettung bedeutet nicht die Lösung aller Probleme. Olivaro, der selbsternannte neue Fürst der Finsternis, schmiedet neue Ränke, deren schlimme Konsequenzen im ersten Roman dieses Bandes deutlich werden. Wieder einmal sieht es so aus, als wolle Olivaro sich auf Dorians Seite schlagen. Aber der Dämonenkiller hat aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Er wird sich nicht noch einmal von Olivaro an der Nase herumführen lassen … oder? Die Handlung der Inka-Trilogie führt in die Vergangenheit. In seinem Leben als Georg Rudolf Speyer erlebt der Dämonenkiller den spanischen Eroberungskrieg in der Neuen Welt. Die Autoren sind dem treuen Leser wohlbekannt. Earl Warren verfaßte die titelgebende Geschichte »Sieg der Schwarzen Magie« sowie den zweiten Roman der Inka-Trilogie, »Tod in der grünen Hölle«. Für die anderen beiden Teile zeichnen Ernst Vlcek und Neal Davenport verantwortlich. Es ist ihr Verdienst, daß die Serie bis heute nicht nur für ihre unheimlich-phantastischen Bezüge, sondern auch für die hervorragend recherchierten historischen Schilderungen bekannt ist. Ein kurzer Blick in die Zukunft: Vor der Tür steht der Olivaro-Zyklus, ein Meilenstein der Serie. Der selbsternannte Fürst der Finsternis hat einen Trumpf gegen den Dämonenkiller im Ärmel, von dem Dorian zu Beginn dieses Bandes noch nichts ahnt. Die Konfrontation zwischen ihnen stiebt unaufhaltsam ihrem Höhepunkt entgegen … Bis dahin wünsche ich jedoch zunächst angenehmes Gruseln. Dario Vandis
Erstes Buch �
Sieg der Schwarzen Magie von Earl Warren
Ich habe Coco Zamis verloren, die Geliebte meines Herzens und die unerschrockene Gefährtin im Kampf gegen die Schwarze Familie. Früher selbst eine Hexe, verliebte sie sich in mich und machte meine Ziele und Anschauungen zu den ihren. Leicht ist es ihr sicher nicht gefallen. Auch das Zusammenleben mit mir war nicht einfach, denn ich bin ein unbeugsamer und in vielem widerspenstiger Charakter. Ich bin der Dämonenkiller, kein Heiliger. Aber über alle Streitigkeiten und Zerwürfnisse siegte unsere Liebe. Manchmal stritten und trennten wir uns, doch unsere Gefühle füreinander führten uns immer wieder zusammen, ließen uns unsere Zwistigkeiten vergessen. Die meisten der wenigen Stunden des Glücks und der Entspannung, die mir in diesem Leben beschieden waren, seit ich meine Bestimmung erkannte und den Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen aufnahm, verdanke ich Coco Zamis. Ohne sie wird es nie wieder so sein wie früher. Ich verlor Coco auf einer der über dreitausend kleinen und kleinsten Bahamainseln, auf einer Insel, deren Namen niemand kennt, die auf keiner Seekarte eingezeichnet und normalen Menschen nicht ohne magisches Wirken zugänglich ist. Auf der Insel des Dämons Asmagon. Zu dem Schmerz über den Verlust kommt noch die Ungewißheit. Habe ich sie verloren, weil sie sich für mich, für Donald Chapman, Marvin Cohen und die anderen von der früheren Inquisitionsabteilung aufopferte? Oder weil sie das Leben an meiner Seite nicht mehr ertragen konnte? Alles begann an einem sonnigen Märztag in einer Villa in Nassau, der Hauptstadt der Bahamas, auf der Insel New Providence. *
Nassau, Bahamas »Aaaahhh! Aaaaahhh! Ich sterbe! Helft mir doch, steht mir bei, im Namen Gottes oder aller Dämonen!«
Julio Estaban Maria Ruiz, Ex-Diktator einer südamerikanischen Bananenrepublik, jetzt ein steinalter Mann im luxuriösen Exil, sank röchelnd in seinen bequemen Armstuhl zurück. Sein runzeliges Gesicht war verzerrt und blaurot angelaufen, die Adern am Hals und an den Schläfen wollten die welke Haut sprengen. Die blutunterlaufenen Augen starrten nun hervorquellend die anderen drei Alten an der reichgedeckten Prunktafel an. Ruiz' Hand verkrallte sich im Tischtuch, zerrte es mitsamt den goldenen Bestecken, silbernen Kandelabern und erlesenen Köstlichkeiten herab. »Hil …«, röchelte Ruiz. Er starb, bevor er das Wort beenden konnte. Der schwarze Butler mit der geschmackvollen roten Livree erstarrte bei dem Anblick, der sich ihm bot. Die drei Alten an der nun kahlen Tafel unter dem kristallenen Prachtlüster schauten voller Abscheu, Ekel und Entsetzen auf Ruiz, ihren Schicksalsgenossen. Sein Leichnam alterte in Minutenschnelle um ganze Jahrhunderte. Eine giftige Wolke von Verwesungsgasen schwebte durch den großen, prunkvoll eingerichteten Raum, während Ruiz' Körper zu einer Mumie verwelkte und verdorrte. Ein fleischloses, schwärzlichbraunes Ding ohne Augen, mit wenigen Haarsträhnen auf dem Mumienschädel und mit bleckenden Zähnen blieb im Stuhl hängen. Die Zähne des Butlers klapperten wie Kastagnetten. Der Champagner in den hohen Gläsern auf seinem Tablett schwappte über. »Heilige Mutter Gottes«, betete er, »bewahre mich vor diesem Höllenspuk! Ich will dir auch eine große Kerze stiften. Das schwöre ich dir. Ganz bestimmt.« »Den Champagner her, du schwarzer Taugenichts!« schrillte Lydia Goldsteins Greisinnenstimme. »Aber dalli!« Der Butler servierte. »Hol Stanweli und Agathe«, befahl die alte Frau mit den scharfen Gesichtszügen. Mit ihrer zu kurzen Oberlippe, dem hervorspringenden Kiefer und den bleckenden Zähnen erinnerte sie an eine Hyäne. »Schafft das da weg und vergrabt es im Garten!« Das da waren die sterblichen Überreste des Ex-Diktators. Der Butler war froh hinauszukommen. Fünf Minuten später kehrte
er mit zwei Dienstboten zurück: einem dürren, grauhaarigen Schwarzen und einer fülligen Mulattin. Sie wollten die Mumie Ruiz' zunächst nicht anfassen, aber Lydia Goldstein brachte sie schnell zur Räson. Vor ihrer Herrin hatten die drei Dienstboten der Luxusvilla am Stadtrand von Nassau mehr Angst als vor jeder Mumie. Sie schleppten hinaus, was von Julio Estaban Maria Ruiz übriggeblieben war. Silvio Pereira kicherte dünn. »Was gibt es da zu lachen, Pereira?« herrschte die Goldstein ihn an. »Das gleiche kann uns anderen auch jeden Augenblick blühen.« »Ich dachte an das prächtige Mausoleum, das Ruiz sich auf der Insel Andros hat bauen lassen«, sagte der dreiundachtzig-jährige Brasilianer Pereira. »Jetzt bleibt es leer. Ruiz wird genauso verscharrt wie die vielen tausend Opfer, die sein Terror- und Korruptionsregime forderte, ehe ihn die Militärjunta stürzte.« »Was soll der Unsinn?« fauchte Lewis D. Griffith, der älteste der drei. »Ich finde nichts Erheiterndes an Ihren Gedanken, Pereira, und wir haben wahrhaftig keine Zeit, lange solchen Stuß zu reden. Wie Lydia sagte, uns kann es in der nächsten Minute genauso gehen wie Ruiz. Und ich für meinen Teil möchte noch sehr lange leben und mein Geld genießen.« »Wer von uns möchte das nicht?« fragte Pereira. »Aber Dr. Leonhard Godard ist nun einmal tot. Er kann uns nicht mehr die Lebenskraft junger Leute übertragen und uns damit die ewige Jugend schenken.« »Goddard ist hin«, krächzte Griffith. Seine Stimme hatte unter dem Alterungsprozeß schwer gelitten. Er konnte nicht mehr normal sprechen. Er hörte sich wie eine uralte verstaubte Schallplatte mit Fehlern in allen Rillen an. »Daran ist nur dieser verdammte Dorian Hunter schuld.« »Ihm möchte ich bei einer Schwarzen Messe die Lebenskraft aussaugen«, giftete Lydia Goldstein voller Bosheit. »Es wäre mir eine doppelte Genugtuung. Ich möchte sehen, wie seine Haut welk und faltig wird, sein Haar schlohweiß, wie seine Gestalt krumm und gebeugt wird, wie seine Gelenke vor Ischias und Arthritis knacken
und seine Hände zittern. Und dann möchte ich neben ihm stehen, jung und voller Lebenskraft, und lachend zusehen, wie er elend an Altersschwäche krepiert.« Ihr Hyänengesicht nahm einen verzückten Ausdruck an, als sähe sie eine Vision. Sie goß ein Glas Champagner die Kehle hinunter. Die dicke Agathe und der Butler Robair kamen zurück und fingen an aufzuräumen. »Hat noch jemand Hunger?« fragte die Goldstein die beiden alten Männer. Beide schüttelten den Kopf. »Dann wollen wir uns auf die Terrasse begeben. Sonne und Champagner tun mir gut. Sie sind doch einverstanden, Mr. Griffith?« Griffith nickte. Pereira fragte die Goldstein gar nicht erst. Er war ein widerlicher, buckliger alter Knacker mit bräunlichen Pigmentflecken im runzeligen Gesicht, einer Glatze und gichtigen Fingern. Er konnte sich nur humpelnd am Stock fortbewegen. Die beiden Bediensteten hoben Lydia Goldstein in den Rollstuhl. Leise summend glitt er durch die sich elektronisch öffnende Glastür hinaus auf die Terrasse. Pereira mußte von Robair gestützt werden; trotzdem brauchte er eine Ewigkeit, um die paar Meter zurückzulegen. Griffith mit seinen fast hundert Jahren war noch der rüstigste. Er trug einen hellen Anzug und hatte ein eingefallenes Ledergesicht mit groben Poren, einer hohen Stirn und schlohweißem Haar. Obwohl er gebeugt und am Stock ging, wirkte er immer noch sehr groß. Er war ein uralter, böser Mann ohne jegliche Skrupel. Als kleiner Waffenhändler aus dem Mittleren Westen der Staaten hatte er seinen Aufstieg begonnen und seither an allen großen und kleinen Kriegen und Konflikten auf der Welt Geld verdient. Jetzt war er Milliardär, einer der reichsten Männer der Welt. Er besaß Flugzeugwerke, Waffen und ganze Ketten von Maschinenfabriken, auch Elektronikwerke und maßgebliche Anteile an Chemiekonzernen. Der Griffith-Trust, vor zwanzig Jahren wegen der Steuer in eine Stiftung umgewandelt, lieferte Waffen an jeden, der genug bezahlen konnte, war aber andererseits auch maßgeblich am Bau von Weltraumpro-
jekten der NASA beteiligt. So reich und mächtig wie Griffith waren weder die Goldstein noch der alte Knacker Pereira, aber sie waren mindestens ebenso zynisch und skrupellos. Sie saßen auf der Terrasse von Lydia Goldsteins weißer Luxusvilla und blickten über den parkähnlichen Garten, über den nierenförmigen Swimming-Pool mit der Umrandung aus schwarzem Marmor. Die Goldstein dachte daran, daß sie vor drei Wochen noch wie eine junge Frau im Pool hatte schwimmen können. Jetzt benutzte sie den Rollstuhl, um sich fortzubewegen, weil sie das weniger anstrengte, denn jede Anstrengung zehrte an dem kärglichen, ihr verbliebenen Rest Leben. »Ich will nicht sterben«, sagte sie leise und wie in Gedanken. »Leben will ich. Leben, leben, leben! Und ich will jung, schön und gesund sein – um jeden Preis. Ich will es einfach. Es muß einen Weg geben. Haben denn Ihre Experimente noch keinen Erfolg gezeigt, Griffith?« Der uralte Milliardär schüttelte den Kopf. »Schwarze Magie will gelernt sein.« Seine Stimme knarrte wie eine rostige Türangel. »Wir brauchen einen Fachmann. Dr. Goddard konnte uns mit seinen magischen Künsten die ewige Jugend geben. Es ist also möglich, das wissen wir. Es müßte auch anderen außer Goddard gelingen. Aber uns fehlen die Kenntnisse dazu. Ich habe viele sogenannte Magier, Zauberer und Hexen von meinen Leuten befragen lassen und auch selber mit manchen gesprochen, aber es waren alles Stümper und Scharlatane.« »Also keine Hoffnung?« fragte Pereira. »Das habe ich nicht gesagt. Es gibt einen Mann, der uns sicher helfen kann. Aber er wird nicht zur Zusammenarbeit bereit sein.« »Wer ist es?« fragte die Goldstein. In ihrem Hyänengesicht zuckte es. »Bringen Sie mir den Kerl oder nennen Sie seinen Namen! Ich bringe ihn soweit, daß er darum fleht, uns zu Diensten sein zu dürfen.« Sie nannte ein paar Dinge, die sie anwenden wollte, scheußliche Folter und Grausamkeiten. Nicht einmal der härteste Mann würde ihnen widerstehen, davon waren Lydia Goldstein und Silvio
Pereira überzeugt. »Gebt ihn nur den Aufsehern auf meinen Plantagen in Brasilien«, sagte der alte Pereira. »Die bringen sogar Taubstumme zum Heulen und Schreien.« Griffith schüttelte den Kopf. »Der Mann, den ich meine, ist auch von Ihren Hodenquetschern und Nägelausreißern nicht kleinzukriegen, Pereira«, knarrte er. »So? Wer ist es denn? Rücken Sie endlich damit heraus!« »Dorian Hunter, der Dämonenkiller.« Die Goldstein spuckte auf den Boden, und Pereira schlug mit dem goldenen Griff seines Krückstocks auf das kleine Tischchen, daß es krachte. »Sie wollen uns wohl auf den Arm nehmen. Griffith!« rief er. »Der Dämonenkiller ist der letzte Nagel an unserem Sarg. Wie soll der uns helfen?« »Nun, er ist der Fachmann für Schwarze Magie. Er könnte das gleiche erreichen wie Dr. Goddard, davon bin ich überzeugt, wenn er nur wollte. Gewiß, er würde vielleicht andere Methoden anwenden, aber das kann uns egal sein, solange der Effekt der gleiche ist.« »Ausgerechnet Dorian Hunter!« sagte die Goldstein. »Dieser widerliche Hund! Unser Todfeind!« »Sie sollen ihn ja nicht heiraten, liebste Lydia«, krächzte Griffith zynisch. »Er bekämpft die Dämonen schon seit langer Zeit, wie wir hörten, und er kennt die Fähigkeiten, die Tricks, Schlichen und Künste seiner Feinde wie kein zweiter. Er soll sogar selber Schwarzes Blut in den Adern haben. Wenn uns einer helfen kann, dann er.« »Wahr ist es«, sagte die Goldstein nach einer Weile. »Man müßte ihn nur dazu kriegen. Ich schlage immer noch die Folter vor. So hart kann er gar nicht sein.« »Mir schwebt eine weit raffiniertere und sicherere Methode vor«, ächzte Griffith mühsam. »Wenn er uns nämlich bei der Folter stirbt, ist unsere letzte Chance dahin. Wir haben keine Zeit zum Experimentieren. Laßt mir freie Hand und gebt mir alle Unterstützung, die ich brauche. Ich werde den Dämonenkiller dahin bringen, wo wir ihn haben wollen.«
Lydia Goldstein und Silvio Pereira schauten ihn an, überlegten, tauschten Blicke miteinander aus. Die Goldstein war sechsundsiebzig, sah aber wie neunzig aus. Sie war die Tochter und Erbin von Samuel Goldstein, dem Besitzer von Film- und Fernsehstudios, sowie Zeitungsverlagen. Die Goldstein wurde »die Menschenfresserin« genannt, und das nicht nur, weil sie geschäftlich über Leichen zu gehen pflegte. Silvio Pereira war ein Menschenschinder und Ausbeuter übelster Provenienz. Er besaß in Brasilien Kaffee-, Kautschuk-, Baumwoll-, Zuckerrohr- und Tabakplantagen und einige Bergwerke. Auf seinen Plantagen und in den Bergwerken war die Sterbequote höher als im dichtesten Dschungel des Mato Grosso. Pereira war auch maßgeblich an der Ausrottung eines ganzen Stammes von Amazonasindianern beteiligt. Die Weltöffentlichkeit hatte nur am Rande davon erfahren. Pereiras Name war nie genannt worden. Jetzt besaß er große Plantagen in dem riesigen Gebiet, das früher diesem Stamm gehört hatte. Die verübten Greuel konnten Silvio Pereiras Ruhe jedoch nicht stören. Ihn interessierte nur das eigene Wohlergehen. Und jetzt sah er sein kostbares Leben bedroht. Nur wenige Jahre hatte er sich der köstlichen ewigen Jugend erfreuen können. Das Alter und der nahende Tod trafen Pereira wie auch Griffith und die Goldstein doppelt hart. Sie wußten, daß dieses Schicksal nicht unabwendbar war; wußten, daß sie jung und schön und gesund sein konnten, wenn es nur richtig angefangen wurde. Es war ihnen kein Opfer zu groß dafür, besonders, wenn es von anderen gebracht wurde. »Gut«, sagte die Goldstein. »Tun Sie, was Sie für richtig halten, Griffith. Ich baue auf Sie.« Pereira reichte Griffith die knochige Rechte und schüttelte seine Hand. »Zu bestechen ist dieser Narr Hunter leider nicht. Bringen Sie ihn nur so weit, daß er auf unsere Wünsche eingeht. Sollten Sie ihm wider Erwarten nicht beibringen können, daß er uns armen alten hilflosen und kranken Menschen Hilfe schuldet, dann bleiben immer noch meine Aufseher.«
Griffith lächelte zynisch. »Sie kennen den alten Lewis D. noch nicht, Pereira. Ich habe Methoden, die sogar Ihre vielgepriesenen Aufseher zum Flennen und Kotzen bringen würden.« *
London, Großbritannien »Pfoten hoch, oder es knallt!« schrie eine Stimme hinter meinem Rücken. Der neben mir sitzende Marvin Cohen fuhr sofort blindwütig wie ein Stier hoch und zog seinen .38er. Ich ließ mich vom Stuhl fallen. Eine Waffe trug ich nicht bei mir, denn schließlich saßen wir friedlich in der Jugendstilvilla in der Baring Road zusammen. In der Tür stand Phillip, der Hermaphrodit, eine merkwürdig aussehende Pistole in der Hand. Er drückte ab. Eine rote Flüssigkeit spritzte aus der Wasserpistole und bekleckerte Cohens Gesicht. »Peng, peng!« rief Phillip. Cohen lief rot an vor Wut. Er fuchtelte mit dem Revolver herum. »Ich möchte dir am liebsten den Kopf von den Schultern schießen, verdammter Narrenkopf.« Phillip bespritzte ihn wieder mit dem roten Zeug, und das war zuviel für Cohen. Der bullige Mann steckte den .38er weg und ging mit einem Wutschrei auf Phillip los. Ich sprang auf, aber schon fuhr Miß Pickford dazwischen. Wie eine Megäre stellte sie sich vor Phillip. »Wagen Sie es nicht, Phillip auch nur ein Haar zu krümmen!« keifte sie. »Sie brutaler Wüstling!« Cohen packte sie an der Schulter. »Weg mit dir, du alte Schachtel!« Aber plötzlich schrie er auf. Ich stand schon neben ihm, doch es war nicht mehr nötig, daß ich ihm Einhalt gebot. Ächzend griff er an sein Kreuz. »Au, verflucht!« Ich schaute zurück und sah gerade noch, wie Coco Zamis mit den Fingern schnelle Bewegungen machte. Ihr Blick war für eine Sekun-
de stechend, dann saß sie wieder ruhig da und sah ganz normal aus. »Was haben Sie, Cohen?« fragte Trevor Sullivan, der frühere Observator Inquisitor, unwirsch. »Was ist denn das überhaupt für ein Affenzirkus?« »Verdammt, mein Kreuz!« fluchte Cohen. »Ich glaube, ich habe einen Hexenschuß. Ich kann mich kaum rühren.« »So was soll's geben«, sagte der dreißig Zentimeter große Puppenmann Donald Chapman. Er saß auf einem kleinen Stühlchen, das auf einen normalen Stuhl gestellt worden war. Sein Essen war bereits weggeräumt, ein Miniaturglas Bourbon mit Soda stand auf der verbreiterten Armlehne des Stühlchens. Mein kleiner Freund war auch als Zwerg seinen Lastern, dem Rauchen und dem Trinken, treu geblieben. Nur mit den Frauen war es leider nichts mehr. Er grinste schadenfroh, und ich war sicher, daß auch er Cocos schnelle Aktion beobachtet hatte. Coco hatte einen Teil ihrer Hexenfähigkeiten zurückgewonnen, sicher weil sie mich nicht mehr so liebte wie zu Anfang unserer Bekanntschaft. Vielleicht liebte sie mich überhaupt nicht mehr. Cohen humpelte stöhnend zu seinem Platz zurück. »Das kommt davon«, sagte Miß Pickford schadenfroh. Sie nahm Phillips Arm. Ihre Stimme war mitfühlend und mütterlich. Ich hatte schon genug Differenzen mit der sechzigjährigen Haushälterin der Jugendstilvilla gehabt, aber wie sie so mit Phillip sprach, kam sie mir fast sympathisch vor. »Was hast du, Phillip? Bedrückt dich etwas?« Der Hermaphrodit schaute sie entrückt an. »Peng!« rief er wieder. »Pengpengpeng! Rattata! Wumm!« »Was hat er denn nur?« fragte Coco erstaunt. »Spielt er Krieg oder will er uns vor einem Dämonenangriff warnen?« »Dämonen können hier nicht eindringen«, sagte ich. »Vor Einbruch der Dunkelheit habe ich die Dämonenbanner um das Grundstück herum, auf dem Grundstück und am Haus noch einmal überprüft. Hier käme nicht einmal der verblichene Asmodi persönlich herein.« »Na also«, meinte Trevor Sullivan. »Miß Pickford, führen Sie Phil-
lip auf sein Zimmer. Er stört hier nur. Wir müssen uns ernsthaft darüber unterhalten, was jetzt mit uns allen werden soll, nachdem die Inquisitionsabteilung nicht mehr besteht.« Miß Pickford führte den goldhaarigen Hermaphroditen mit den mädchenhaft knospenden Brüsten weg. Sanft schloß sie die Tür. Phillip ging widerstandslos mit, Miß Pickford konnte mit ihm umgehen wie niemand sonst von uns. Cohen wischte sich murrend die rote Flüssigkeit aus dem Gesicht und versuchte, sie vom Hemd zu entfernen. »Scheint Wasser mit Wasserfarbe oder roter Tinte zu sein. Verdammtes, verrücktes Luder!« »Phillip hat uns schon sehr geholfen«, fuhr Coco ihn scharf an. »Und mit ihm ist angenehmer auszukommen als mit dir.« »So?« fragte Cohen. »Stehst du neuerdings auf Hermaphroditen, Coco? Willst du mal was ganz Spezielles, oder ist Hunter dir zu abgeschlafft? Im letzten Fall könnte ich …« Trevor Sullivans Faust krachte auf den Tisch. »Zum Donnerwetter! Ich bitte mir Ruhe und Aufmerksamkeit aus. Sie unterlassen Ihre Ausfälligkeiten, Cohen, und Sie behalten Ihre Bemerkungen auch besser für sich, Coco.« »Sie tun gerade so, als wären Sie noch unser Chef und wir alle dem Secret Service unterstellt, Sullivan«, begehrte Cohen auf. »Die Zeiten haben sich geändert, falls Sie das vergessen haben sollten. Ich habe genausoviel oder so wenig zu sagen wie Sie.« Ich war der Streiterei müde. Am Vortag erst war ich von den Orkney-Inseln zurückgekehrt, nachdem ich dort einen Fall abgeschlossen hatte. Alte Männer und Frauen waren durch die Lebenskraft junger Leute wieder jung geworden. Ich hatte dem üblen Spiel ein Ende bereitet und Trevor Sullivan aus den Händen Dr. Goddards befreit. »Benimm dich zur Abwechslung mal vernünftig, Marvin«, sagte ich. »Du wirst an Phillips paar Wasserspritzern nicht gleich sterben. Also, reden wir weiter über unsere Zukunft. Ich werde den Kampf gegen die Dämonen auf jeden Fall fortführen.« »Von Luft können Sie den nicht finanzieren«, warf Trevor Sullivan
ein. »Rechnen Sie nur mal die teuren Auslandsreisen, die Verpflegung, die Ausrüstung, Autos und Boote – und was Sie sonst noch alles benutzen müssen. Das will alles bezahlt sein.« »Ich will keine Reichtümer ansammeln, Mr. Sullivan. Irgendwie muß es weitergehen.« Sullivans Geiergesicht sah verdrießlich aus. Er hatte viel mitgemacht in der letzten Zeit. Zuerst war er beim Endkampf gegen die Dämonendrillinge lebensgefährlich verwundet worden, dann hatte Dr. Goddard ihn in ein Monstrum verwandelt. Gewiß, Sullivan hatte sein altes Äußeres soweit wieder, aber es waren doch mehr Spuren zurückgeblieben, als er mir und allen anderen gegenüber eingestand. Sullivans rechte Gesichtshälfte war wesentlich heller als die linke, als hätte er eine plasto-chirurgische Operation hinter sich. Und ich glaubte, daß noch weitere, nicht so offensichtliche Schäden geblieben waren. »Was ist mit deinem amerikanischen Freund Jeff Parker?« fragte Coco. »Er schwimmt im Geld. Könnte er nicht …« Eine Explosion unterbrach sie. Wir sprangen auf. Im Flur wurden Stimmen laut, Getrampel war zu hören. Im nächsten Augenblick flog die Tür auf. Gestalten wie von einem anderen Stern standen draußen. Gasmasken mit spiegelnden Scheiben entstellten ihre Gesichter. Sie hielten Mauser-Maschinenpistolen mit dem charakteristischen langen Stangenmagazin in den Händen. Einer warf ein paar Tränengaspatronen. Die Gaspatronen zischten. Ich bekam gleich zu Anfang eine volle Prise in die Lunge und war weg vom Fenster. Wer die Wirkung von Tränengas nicht kennt, unterschätzt sie. Meine Augen brannten, als sei Säure hineingekommen, meine Nase lief, ich bekam keine Luft mehr, und mir wurde schlagartig übel. Ich torkelte benommen. Coco kippte glattweg um, und Don Chapman ebenfalls. Für den Puppenmann war das Gas viel schlimmer als für uns andere. Cohen sprang ächzend auf, die Linke gegen seinen schmerzenden Rücken gepreßt, und schon hielt er den .38er in der Rechten. Er schoß, und der Gaspatronenwerfer brach mit einem dumpf unter der Gasmaske hervordringenden Schrei zusammen. Cohens Ak-
tion war ebenso dumm wie tapfer. Ein kurzer Feuerstoß aus einer Mauser folgte. Cohen ließ den Revolver fallen, brach in die Knie. Außer den Farbwasserspritzern waren jetzt auch andere rote Flecken auf seinem Hemd und seiner Hausjacke aus heller Wolle. Er starrte mit erstauntem Ausdruck darauf, so als wäre ihm so etwas noch nie passiert, als könnte er es nicht begreifen. Dann fiel er abrupt aufs Gesicht und blieb liegen. Ein großer, breitschultriger Kerl kam auf mich zu. Vergrößert und verzerrt sah ich seine Augen hinter den Sichtgläsern der Gasmaske. Er hielt das Gaszeug in der Linken und holte mit der Faust aus. Ich wollte noch ausweichen, aber mein Körper gehorchte mir nicht. Es war, als sei ich schwer betrunken oder seekrank. Die Faust des Gangsters bohrte sich in meinen Magen. Ich klappte zusammen, und alles erschien mir wie in Zeitlupe. Ich sah, wie der protestierende Trevor Sullivan einen Pistolengriff über den Schädel bekam, und wie rotes Blut zu beiden Seiten seiner Geiernase herunterströmte. Dann krachte etwas in mein Genick. Es war die Handkante des großen, breitschultrigen Gangsters. Einen Sekundenbruchteil sah ich noch den Boden, das Teppichmuster, dann war alles weg – die Übelkeit, das Licht, das Bewußtsein. *
Jacht »Dyane II«, atlantischer Ozean Das erste, was ich wahrnahm, war meine Übelkeit. Ich lag auf einem weichen, rhythmisch schlingernden Untergrund. Es roch nach Erbrochenem, nach Salzwasser und Holz. An der Decke brannte eine trübe Lampe; ihr Licht stach wie feurige Pfeile in meine Augen. Ich schloß die Augen wieder und wartete, bis der Kreisel in meinem Gehirn stillstand. Meine Zunge lag trocken und pelzig im Gaumen. Ich fühlte mich wie in Watte gepackt, doch trotz meiner Situation seltsam heiter. Man hatte mich unter Drogen gesetzt. Jetzt erst klang die Wirkung
langsam ab. Von wie vielen Stunden wußte ich nichts? Wo war ich und was war mit den anderen? Ich zwang mich, die Augen wieder zu öffnen und mich umzusehen. Ich lag auf einer Schaumgummimatratze. Meine Hände und Füße waren mit breiten Lederriemen gefesselt. Neben mir lagen, gleichfalls auf Schaumgummimatratzen, die anderen: Coco Zamis, Marvin Cohen, Trevor Sullivan und sogar Miß Pickford. Nur von Donald Chapman sah ich nichts. Cohens Oberkörper war nackt und mit einem breiten Verband umwickelt. Der bullige Mann sah sehr bleich aus, sein Gesicht wirkte wie eine Wachsmaske. Sein Unterkiefer war zurückgeklappt. Ich fürchtete schon, er sei tot, doch plötzlich begann er zu stöhnen. Coco schlug die Augen auf, schaute sich verwirrt um und sah dann zu mir her. »Dorian, wo sind wir hier?« Ihre Stimme klang fremd. »An Bord eines Schiffes, im Laderaum. Aber frag mich nicht, wie lange wir hier schon sind oder wie wir herkamen. Beim Überfall in der Jugendstilvilla ist der Faden bei mir gerissen.« Coco nickte matt. Sie sprach nichts in den nächsten Minuten, denn ihr war genauso übel wie mir. Auch dann redeten wir wenig. Ich zwang mich, tief und regelmäßig zu atmen, und nach einiger Zeit spürte ich, wie mir etwas besser wurde. Von meiner Topform war ich aber noch weit entfernt. Miß Pickford erwachte längere Zeit nach uns. Später wurde eine Falltür oben in der Decke geöffnet. Zwei Kreolen mit schmuddligen, ehemals weißen Hemden und Hosen stiegen die steile Treppenleiter herab. Es waren üble Burschen, muskelbepackt, kraushaarig, mit finsteren, nichts Gutes verheißenden Gesichtern. Beide trugen Pistolentaschen am Gürtel. Die Hosentasche des einen beulte sich aus, als hätte er einen Totschläger darin. Der Größere der beiden leuchtete mit einer Stablampe im düsteren Laderaum umher. »Wer ist Hunter?« fragte er in einem üblen, kaum noch ans Englische erinnernden Slang. »Der Schwarzhaarige mit dem Sichelbart da hinten in der Ecke«,
sagte der andere. »Komm, schaffen wir ihn hoch, Prentice!« Prentice blieb stehen und leuchtete Coco Zamis an. »Was haben wir denn da? Wer hätte gedacht, daß so was Hübsches in den Decken, die wir in Palm Beach an Bord getragen haben, eingewickelt ist? Die Puppe wäre im Mannschaftsquartier besser aufgehoben als hier unten im Laderaum, meinst du nicht auch, Bull?« »Und ob ich das meine! Aber beeil dich jetzt! Der Alte wartet. Wenn er böse wird, ist der Teufel los, das weißt du ja.« Prentice faßte kurz an Cocos Brust und ließ die Hand über ihren kurvenreichen Körper gleiten. Aber er hatte vor dem Alten – wer immer das auch war – eine Menge Respekt, denn er riß sich gleich wieder von Coco los. Sie musterte ihn eiskalt und verächtlich. Natürlich war sie genauso gefesselt wie ich und die anderen. Sogar den schwerverletzten Cohen hatten sie festgebunden. »Anders kriegen Sie wohl keine Frau«, sagte Coco. Prentice drehte sich heftig zu ihr um. Einen Augenblick sah es so aus, als wollte er sich auf die Gefesselte stürzen, aber dann grinste er. »Puppe, du ahnst gar nicht, welches Glück du hast, oder vielleicht auch welches Pech, daß ich gleich zum Alten muß. Aber ich komme auf dich zurück. Verlaß dich drauf!« »Was gibt's da unten so ewig lang zu quatschen?« schrie eine barsche Stimme herunter. »Los, bringt den Kerl hoch, verdammt noch mal! Sonst gibt's was aufs Maul!« Ein schöner Ton herrschte an Bord. Er paßte zur Besatzung. Die beiden Kreolen packten mich und stellten mich auf die Füße. Ich mußte lange gelegen haben, denn mir wurde so schwindelig, daß ich gestürzt wäre, hätten sie mich nicht gehalten. Die Droge mußte sehr stark gewesen sein. Um mich in Palm Beach, Florida, einschiffen zu können, hatten die Gangster mich erst einmal quer über den Atlantik fliegen müssen. Meine Fußfesseln wurden durchschnitten. Die beiden Kreolen stützten mich und schleiften mich zur Treppenleiter. Ich machte mir und auch den anderen die größten Vorwürfe, denn wir hatten uns in London wie dumme Jungen übertölpeln lassen. Nur weil die Dämonenbanner Dämonen abhielten, hatten wir uns
sicher geglaubt. Aber jeder Vorstadtgangster konnte die einfache Alarmanlage der Jugendstilvilla außer Betrieb setzen und bei uns eindringen. Daß die Schwarze Familie, oder wer immer auch hinter diesem Anschlag stand, sich ganz normaler Gangster bedienen könnte, daran hätten wir wirklich denken müssen. Aber nun war es zu spät, wie so oft im Leben. Was geschehen war, war geschehen. Bull schob mich von hinten, Prentice packte mich an den Haaren; und so zerrten sie mich aus dem Laderaum ins Zwischendeck. Ein untersetzter, stämmiger Weißer mit einer Uniformjacke, an der zwei Knöpfe fehlten, einer dreckigen Kapitänsmütze und schweren Tränensäcken in der breiten, verschlossen wirkenden Visage erwartete mich. Ein Priem beulte seine linke Backe aus. Ich mußte ziemlich elend aussehen, denn er musterte mich geringschätzig von Kopf bis Fuß. »Verdammter, hartbrotfressender Sohn einer Seejungfrau«, brummte er. »Deinetwegen also hat der Alte den ganzen Aufwand aufgezogen. Möchte wissen, weshalb. Kerle wie dich findet man in Kingston in jedem Spucknapf.« Ich antwortete nicht, aber ich merkte auf. Kingston, das war die Hauptstadt von Jamaika. Steuerten wir etwa dorthin? »Los, zum Alten!« sagte der Kapitän. Ich wurde durchs Zwischendeck in den Kabinentrakt geschleppt. Es war eine elegante moderne Luxusjacht, auf der ich mich befand. Die Besatzung paßte dazu wie ein Schwein in die Westminster Abbey. Die Wände waren mit Teakholz getäfelt. Ich zählte vier Kabinen. Aus Erfahrung wußte ich, daß dieser Typ Jacht über Bäder und Duschen verfügte, zwei bis drei WCs hatte, einen schönen Salon, eine Messe und sicher auch ein Sonnendeck. Radar, Echolot und Radiotelefon gehörten ebenso zur Ausstattung wie eine leistungsfähige Funkanlage. Diese Luxusjacht gehörte keinem armen Mann, das war sicher. Meine Spannung wuchs, wer wohl der Alte war, zu dem ich gebracht wurde und der hinter der ganzen Aktion stand. Ich stellte
mich schwächer und benommener, als ich war. Vor der letzten Kabinentür blieben wir stehen. Der Kapitän rückte seine Mütze gerade, räusperte sich und nahm eine aufrechte Haltung an, ehe er klopfte. »Herein!« krächzte es heiser von drinnen. Der Kapitän öffnete die Tür, und die beiden Kreolen stießen mich in die Kabine. Es war ein großer, hell und freundlich eingerichteter Raum. Eine Tür führte zum Bad und WC. In der Ecke, unter einem der beiden Bullaugen, stand ein bequemes breites Bett. Ein ausgemergelter alter Mann mit lederartiger Gesichtshaut lag darin. Nur seine Augen schienen zu leben. Dunkel und böse sah er mir entgegen. Seine Krallenhand winkte mir, näher zu treten. Meine Hände waren vorn gefesselt. Ich wankte. Immer noch kam mir alles unwirklich vor, aber die verrückte Heiterkeit war jetzt verschwunden. Hinter mir trat der Kapitän ein, einen großkalibrigen Colt in der Faust. Er schloß leise die Tür hinter sich. »Dorian Hunter, Sir. Wie Sie befohlen haben.« Ich trat vor das Bett mit dem uralten Mann. Irgendwie kam er mir bekannt vor, aber ich wußte erst, wer er war, als ich das Bild an der Wand über dem Bett sah. Es zeigte einen jungen Mann. Alles an ihm war straff und elastisch. Seine Augen blitzten vor Vitalität, und er sah ganz so aus, als könnte er einen dreißigjährigen Nebenbuhler in jeder Beziehung bei einer hübschen und verwöhnten jungen Frau ausstechen. Der uralte Mann im Bett war zweifellos der gleiche wie der auf dem Bild, aber er war nur noch ein Schatten seiner selbst. Der Alte hatte meinen Blick bemerkt. »Dieses Bild wurde vor vier Wochen fertiggestellt. Sechs Wochen habe ich dafür Modell gestanden. Sie hätten mich wohl nicht erkannt, Mr. Hunter? Aber mein Bild erkennen Sie sicher, oder?« Natürlich kannte ich ihn. Wer kannte den geheimnis- und skandalumwitterten Milliardär Lewis D. Griffith nicht? Er hatte einen Nimbus wie Howard Hughes, Al Capone und Aristoteles Onassis zusammen; es hieß, daß all diese Männer gegen ihn Waisenknaben gewesen wären. Er war der Gerissenste, Cleverste und Skrupelloseste.
Und er hatte nicht nur die Geschäftswelt das Fürchten gelehrt. »Weshalb haben Sie mich entführen lassen?« Ich ahnte schon etwas, seit ich das Bild gesehen hatte, aber ich wollte es von ihm selbst hören. »Ich bin alt geworden, Hunter. Besonders in den letzten drei Wochen. Für mich wäre dringend eine Verjüngungskur bei Dr. Goddard auf der Orkney-Insel in der Pentland Firth fällig, aber diese Möglichkeit haben Sie mir genommen. Sie haben mir die ewige Jugend gestohlen, Hunter.« Er war also auch einer von den reichen Alten, die sich ihre Jugend mit dem Leben junger Menschen erkauften. Wie Vampire und Nachtmahre hatten sie ihnen die Lebenskraft ausgesaugt, bis die Unglücklichen mit fünfundzwanzig oder dreißig Jahren an Altersschwäche starben. »Was wollen Sie jetzt tun? Sich an mir rächen? Dann lassen Sie wenigstens meine Gefährten laufen. Sie haben mit der Sache nichts zu tun.« »Rache, Hunter? Was hätte ich davon?« Er schnaubte verächtlich. »Nein, ich will die ewige Jugend wiederhaben. Und ich weiß auch schon, wie ich sie bekommen kann. Aber dazu brauche ich einen Mann, der sich in der Schwarzen Magie auskennt. Einen Experten. Einen Mann wie Sie.« Den letzten Satz bellte er mir heiser ins Gesicht. »Bedaure, man hat Sie falsch informiert. Ich habe keine Ahnung, wie ich Ihnen die ewige Jugend geben könnte. Wenn ich das wüßte, wäre ich reicher als Sie.« Er lachte nicht über diesen Scherz, sondern griff unter sein Kopfkissen, zog einige eng beschriebene Schreibmaschinenseiten heraus und gab sie mir. »Hier – lesen Sie!« Ich setzte mich auf einen Stuhl. Der Kapitän stand schweigend an der Tür. Sein Colt zeigte auf mich. Er kaute seinen Priem. Ich las, was auf den Schreibmaschinenseiten stand, und schon nach wenigen Sätzen überlief es mich kalt, obwohl es Mittag war und die Sonne auf den wogenden Ozean schien. Es war eine Ab-
schrift von Fragmenten des sechsten und siebenten Kapitels des »Daemonicon«, des berüchtigten Hauptwerks über Schwarze Magie und Dämonenbeschwörung. Genauer gesagt, es war die fehlerhafte lateinische Übersetzung der vom Dämon Marchocias besessenen Nonne Alberta von Brabant – eine Kebstochter des französischen Königs Ludwig VIII. Sie hatte im Kloster von Cantimpre gelebt, tagsüber eine fromme Nonne, in manchen Nächten aber dem Dämon ausgeliefert. Unter seinem Einfluß hatte sie einen Teil des »Daemonicon«, dessen Grundlagen schon in Mesopotamien, Persien und im alten Ägypten bekannt gewesen waren, in lateinischer Schrift niedergeschrieben. Alberta von Brabant hatte gräßliche Dinge getan und immer wieder alle möglichen Versuche angestellt, um ihren Inkubus loszuwerden. Bis sie sich endlich im Alter von sechsunddreißig Jahren, nachdem sie von einem Kardinal die kirchlichen Sakramente empfangen hatte, bei Einbruch der Dunkelheit aus eigenem Willen auf einem Scheiterhaufen verbrennen ließ. Ihr Herz war in der Glut unversehrt geblieben und wurde ein halbes Jahrtausend in der Klosterkirche von Cantimpre als Reliquie aufbewahrt, bis es in den Wirren des Revolutionsjahres 1789 verlorenging. Ich las eine Seite und überflog die anderen. Die hier aufgeführten Beschwörungen und Riten waren so schaurig und furchtbar, daß sie mich entsetzten, obwohl ich gewiß allerhand gewohnt war. Das Vermächtnis der unglückseligen Alberta von Braband war unvollständig und fehlerhaft, aber für einen in der Schwarzen Magie erfahrenen Mann reichte es aus. Das Fehlende konnte man leicht hinzufügen, Fehler korrigieren. Ich wußte, daß ich es konnte, obwohl ich kein Anhänger, sondern vielmehr ein Gegner der Schwarzen Magie war. Natürlich hütete ich mich, das Lewis D. Griffith mitzuteilen. »Tut mir leid. Wenn Sie mich und die anderen nur deswegen von Gangstern haben entführen lassen, sind Sie hereingefallen. Damit kann ich nichts anfangen. Das ist kindisches Zeug und barer Unsinn.« Der uralte Milliardär winkte matt mit der Hand. Bevor ich reagieren konnte, stand schon der Kapitän hinter mir und hieb mir den Griff des Colts in die Nieren, daß ich in die Knie ging.
»Lügen Sie mich nicht noch einmal an. Hunter! Ich weiß, daß Sie anhand dieser Aufzeichnungen einen Dämon beschwören können. Und genau das werden Sie auch tun.« »Wissen Sie, was Sie da von mir verlangen? Sie kennen die Dämonen nicht, Griffith. Wer sich ihnen ausliefert, der liefert sich der Hölle aus. Er wird immer der Verlierer sein und ein Schicksal erleiden, das weit schlimmer ist als das, dem er entgehen wollte. Die Dämonen und der Teufel spenden keinen Segen, nur Fluch.« »Geschwätz!« Der Milliardär setzte sich auf. »Ich spüre, wie der Tod nach mir greift. Ich will um jeden Preis leben. Und ich bin nicht der einzige. Es ist mir egal, ob Sie den Satan selbst beschwören und sich und uns ihm auf ewig ausliefern müßten, Dorian Hunter. Sie werden uns zur ewigen Jugend verhelfen.« Ich dachte daran, wie ich mich als Baron Nicolas de Conde 1484 dem Teufel ausgeliefert hatte und welches Elend daraus entstanden war. Mein Entschluß stand fest: Nie wieder wollte ich so etwas tun. Nie wieder! Eher wollte ich sterben. Genau das sagte ich auch Lewis D. Griffith und fügte hinzu: »An Ihren Anstand und Ihre Moral kann ich nicht appellieren, denn Sie haben mir gezeigt, daß Sie beides nicht besitzen. So appelliere ich an Ihren Stolz. Ihre Zeit ist gekommen. Treten Sie würdig ab, wie es alle Menschen müssen, und lassen Sie diese schreckliche dämonische Farce. Sie waren im Leben ein großer Mann, wollen Sie im Tod ein jämmerlicher Halunke und Versager sein?« Er sah mich an, als hätte er es noch nie von der Seite betrachtet, aber dann schüttelte er den alten Kopf. »Nein, Hunter, so kriegen Sie mich nicht herum. Ich weiß genau, was ich will. Sie werden gehorchen. Es gibt Mittel und Wege, um auch Sie gefügig zu machen.« Da griff ich mit beiden Händen nach seinem Hals. Doch blitzschnell fuhr seine Hand unter die Bettdecke, kam mit einem kleinen Sprayfläschchen wieder hervor und sprühte mir etwas ins Gesicht. Ich bekam keine Luft mehr. Feurige Räder kreisten vor meinen Augen. Vor Griffiths Bett brach ich röchelnd in die Knie. »Ein K.O.-Spray«, hörte ich seine Stimme wie aus weiter Ferne. »Ein kleines Nebenprodukt meiner chemischen Forschungslabors.
Kapitän, bringen Sie ihn in den Salon! Prentice und Bull sollen sich um ihn kümmern! Aber richtet ihn nicht zu übel zu, klar?« Er hatte dem Kapitän schon vorher genau gesagt, was zu tun war. »Zu Befehl, Sir. Wir bringen Ihnen diesen Dämonenkiller so zahm wie ein dressiertes Schoßhündchen zurück.« Die beiden Kreolen Prentice und Bull kamen. Sie trugen mich mit Hilfe des Kapitäns aus der Kabine. Die Wirkung des Lähmungssprays dauerte noch an, als sie mich im luxuriös eingerichteten Salon der Jacht an einen am Boden festgeschraubten Stahlrohrsessel banden. Der Kapitän ging zur Brücke, um beim Steuermann nach dem Rechten zu sehen. Die beiden Kreolen bearbeiteten mich unterdessen. Später kam der Kapitän zurück, kaute auf seinem Priem herum, spuckte ab und zu eine Ladung Tabaksaft in einen Spucknapf und sah zu. Was die beiden Kreolen mit mir machten, braucht hier nicht angeführt zu werden. Es genügt zu sagen, daß sie brutale und gemeine Sadisten waren. Sie folterten mich auf demütigende und äußerst schmerzvolle Weise. Irgendwann konnte ich die Qualen nicht mehr schweigend ertragen und fing zu stöhnen an. Ich hörte das Stöhnen eine ganze Weile, bis ich begriff, daß ich selber diese Töne hervorbrachte. Es stank nach Schweiß und versengtem Fleisch. Mir wurde vor Schmerzen so übel, daß ich mich mehrmals übergeben mußte, bis ich nichts mehr im Magen hatte und mir nur noch Speichelfäden über die Lippen liefen. Einmal verlor ich das Bewußtsein. Sie überschütteten mich mit kaltem Wasser, ließen mich Salmiak riechen und machten mich wieder fit für weitere Folterungen. Dann gingen Sie draußen eine Zigarette rauchen. Durch die Tür hörte ich sie reden und lachen. Sie sprachen obszön über die Mulattinnen auf den Bahamas, die sie den weißen Frauen und auch den gelben und roten weit vorzogen. Sie waren Schweine und brutale Sadisten, willige Werkzeuge für einen milliardenschweren und völlig skrupellosen Mann wie Lewis D. Griffith. Der Matrose starrte fassungslos in die Ecke, wo Augenblicke zu-
vor noch der Hermaphrodit Phillip gefesselt gelegen hatte. Phillip war spurlos verschwunden, als hätte er sich in Luft aufgelöst, vom einem Augenblick zum anderen. Er zwinkerte ein paarmal, aber davon tauchte Phillip nicht wieder auf. »Wo ist der Kerl hin?« brüllte er Coco Zamis, Miß Pickford, Trevor Sullivan und den bewußtlosen Marvin Cohen an. Niemand antwortete. Wütend stieg der Matrose die Treppenleiter hoch und rannte zum Kapitän. Coco konzentrierte ihre Hexenfähigkeiten darauf, ihre Fesseln zu sprengen. Sie murmelte die Messerbeschwörung und wollte die Lederriemen mit unsichtbarer Klinge durchschneiden, aber es gelang ihr nicht. Nicht etwa, weil ihre Hexenfähigkeiten zu schwach gewesen wären; irgend etwas hemmte sie, blockierte sie; ein dämonischer Einfluß, der über der Jacht hing und ihre Magie zunichte machte. Coco fluchte wenig damenhaft. Sie war sehr nervös und gereizt und machte sich große Sorgen um Dorian, denn er war schon vor Stunden abgeholt worden. Und jetzt war auch noch Phillip auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Trevor Sullivan begann zu stöhnen. Seine sonst so bleiche rechte Gesichtshälfte hatte sich verfärbt. Er warf sich auf der Schaumgummimatratze hin und her. Seine Augen waren so verdreht, daß man nur noch das Weiße sah, seine Halsmuskeln und Sehnen zum Zerspringen angespannt. Sein Kopf zuckte hin und her. Coco konnte sich nicht erklären, was er hatte, und Miß Pickford begann entsetzt um Hilfe zu rufen. Endlich kamen der Kapitän und der schwarze Matrose. »Halt's Maul, Alte!« rief der Kapitän mit den groben Gesichtszügen. »Sonst kriegst du einen Tritt! Also, Caiman, wie war das mit diesem komischen Jungen oder was immer es auch war?« »Der Kerl lag dort hinten. Ich hab mich nur kurz umgedreht, und als ich wieder hingesehen hab, war er weg. Verfluchter Zauber!« »Er muß irgendwo auf dem Schiff sein«, sagte der Kapitän. »Ich hätte ihn gesehen, wenn er über die Treppe entwischt wäre. Er ist einfach weg!«
»Wenn das der Alte hört!« seufzte der Kapitän. »Na, machen wir Meldung, sonst regt er sich noch mehr auf, weil wir nicht gleich zu ihm gekommen sind.« Die beiden gingen zur Treppenleiter, ohne sich um Trevor Sullivan oder den schwerverletzten Marvin Cohen zu kümmern. Cohen hatte hohes Fieber. Er sprach manchmal irre und kämpfte in seinen wirren Phantasien mit Dämonen, pfählte Vampire und schoß mit Silberkugeln auf Werwölfe. Coco stellte die Fragen, die ihr schon lange auf der Zunge lagen. »Was ist mit Donald Chapman? Ist er nicht an Bord? Und wollt ihr euch nicht um Marvin Cohen kümmern? Hat er etwa noch die Kugel in der Brust?« »Den kleinen Wicht haben wir zum Frühstück gefressen«, antwortete der Kapitän höhnisch. Ohne weiter auf Cocos Fragen einzugehen, verließen er und der Matrose den kleinen Laderaum der Jacht. Etwa eine Viertelstunde später kam der Kapitän wieder, eine Spritze in der Hand. Coco hatte noch einmal versucht, sich durch Hexerei von ihren Fesseln zu befreien – vergeblich. Trevor Sullivan war wieder ruhig geworden. Er war bei Bewußtsein, aber völlig erschöpft. Miß Pickford schimpfte vor sich hin, sorgte sich laut um ihren Schützling Phillip und wünschte den Gangstern alle Qualen der Hölle an den Hals. Der Kapitän trat zu Coco. »Halt still, sonst tut es nur noch mehr weh.« Er krempelte ihren Blusenärmel hoch und suchte die Vene. Die Mühe, die Einstichstelle zu desinfizieren, machte er sich nicht. Er fand die Vene nicht gleich und stocherte ein paarmal herum. Coco hatte die Augen geschlossen. Der Kapitän zog die Spritze heraus. Noch bevor er ohne ein weiteres Wort die Treppenleiter wieder hinaufstieg, hatte Coco das Bewußtsein verloren. Ihr Geist glitt aus der Realität in eine Welt wirrer Phantasien. Sie hörte Stimmen und sah Fabelgestalten und Horrorwesen, sie erlebte Alpträume und Visionen und hatte sie im nächsten Augenblick schon wieder vergessen; nur die Schweißtropfen auf ihrem Gesicht
und ihrem Körper blieben zurück. In ihrem Alptraum wanderte sie durch eine dunkle, große Grotte. Im Hintergrund brannte ein Feuer, weit entfernt, und Schatten huschten und tanzten dort über die Wände. Coco wußte, daß etwas unsagbares Grauenhaftes auf sie wartete, aber sie mußte weitergehen, auf das Feuer zu. Aus den Höhlen in der Grottenwand, die von spärlichem, düsterem Lichtschein beleuchtet war, schauten Monsterund Gnomenköpfe, schlängelten sich häßliche Tentakel. Stimmen wisperten und raunten, geiferten und schimpften. Coco ging immer weiter, und plötzlich stand Olivaro vor ihr, jener Dämon, der sich nach dem Tod Asmodis auf Haiti als Magus VII. zum Herrscher der Schwarzer Familie gemacht hatte. Olivaro war mittelgroß, eher zierlich gebaut, schwarzhaarig und hatte einen olivfarbenen Teint. Er trug einen hellen Leinenanzug und sah durchschnittlich aus – bis man in seine Augen sah. Sein Blick war stechend und verschlagen, durchbohrend und glühend. Nein, Olivaro war kein durchschnittlicher Dämon. »Hilf mir, Olivaro!« Sie konnte zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden. »Rette mich!« »Nichts lieber als das«, antwortete er. »Ich bringe dich sofort in Sicherheit.« Coco wußte, daß ihre Freunde an Bord einer Jacht gefangen waren, zugleich aber erschien ihr ihre Alptraumumgebung auch ganz real, und sie verschwendete keinen Gedanken darauf, wie sie hierher gekommen war. Der Kapitän hatte ihr etwas in die Vene gespritzt, damit sie ihre Hexenfähigkeiten nicht einsetzen konnte. Griffith hatte es angeordnet. »Allein will ich nicht in Sicherheit gebracht werden«, antwortete Coco auf Olivaros Angebot. »Du mußt auch meine Freunde retten. Besonders Dorian Hunter.« Olivaros Blick wurde stechend, als er den Namen hörte. »Was gehen mich diese Würmer an? Dorian Hunter braucht nur Griffiths Angebot anzunehmen und sich der Schwarzen Magie zu verschreiben, dann ist er gerettet.« Coco hörte zum ersten Mal davon. »Das wird Dorian nie tun. Lie-
ber stirbt er.« »Soll er sterben. Ich will erreichen, daß er die Schwarze Familie nicht mehr bekämpft, und wenn Griffith mir die Arbeit abnimmt, kann es mir nur recht sein.« Er musterte Coco, sein verschlossenes Gesicht wurde weicher. Er begehrte Coco, wie ein Dämon eine schöne Hexe nur begehren konnte. Coco war mit ihrem pechschwarzen Haar, dem aparten Gesicht, den hohen Wangenknochen, den dunkelgrünen Augen und der schlanken, kurvenreichen Figur sehr attraktiv. »Du bist eine Zamis, der Abkömmling einer dämonischen Familie und eine Hexe von dunklem Geblüt. Das kannst du nicht verleugnen. Auch dein perverses Zusammenleben mit dem Dämonenkiller macht diese Tatsache nicht zunichte.« Coco warf stolz den Kopf zurück. Selbst im Traum wollte sie sich Olivaro nicht beugen. Er fuhr fort, an sie zu appellieren: »Du gehörst zur Schwarzen Familie, Coco. Du bist eine von uns. Daß du den Grafen Cyrano von Behemoth als Bräutigam abgelehnt hast, obwohl dein Vater es so bestimmt hatte, kann ich ja verstehen. Aber es gibt auch noch andere männliche Dämonen, die an dir interessiert und die viel attraktiver sind, als Behemoth es mit seinen Glotzaugen war.« Es gab für Coco keinen Zweifel, daß Olivaro von sich selber sprach. Als Herrscher der Schwarzen Familie wäre er für jede Hexe und jede Dämonin der Traummann gewesen, aber nicht für Coco. Sie hütete sich jedoch, ihn vor den Kopf zu stoßen. »Willst du uns nicht doch helfen? Um meinetwillen. Wenn Hunter gerettet wird, wer weiß, vielleicht kann ich ein Gefühl für dich entdecken. Wir kommen in der letzten Zeit nicht mehr so gut miteinander aus wie zu Anfang – Dorian und ich.« Olivaro überlegte und sah Coco ins Gesicht. Sein Blick wanderte über ihre attraktive Figur. Er wollte diese Frau haben. »Ich bin Magus VII. der Herrscher der Schwarzen Familie. Es gehört eine Fürstin an meine Seite …« Er ließ die Worte in der Schwebe. Coco tat, als müßte sie nachdenken. Es war ein sehr verlockendes Angebot, die Frau des Fürsten der Finsternis zu werden.
»Rette uns alle, Olivaro! Zeig mir, daß dir an mir wirklich etwas liegt! Wenn Dorian Hunter auf elende Weise ums Leben kommt, wird das unser Verhältnis auf ewig belasten.« Olivaros spitze Zunge fuhr über seine Lippen. »Ich will sehen, was zu machen ist.« * Ich war bei der Folter zum zweiten Mal ohnmächtig geworden. Kaltes Wasser weckte mich. Prentice und Bull, die beiden Kreolen, rissen mich vom Boden hoch. Während meiner Bewußtlosigkeit hatten sie mich vom Stahlrohrsessel losgeschnitten. Mein Körper und mein Gesicht sahen übel aus. Überall hatte ich Brandwunden, Quetschungen und blutunterlaufene Stellen. Alles tat mir weh. Ich war so fertig, daß ich mich am liebsten in eine Ecke gelegt und die Augen zugemacht hätte. Aber das ließen meine Folterer nicht zu. Der Kapitän ging voran. Sie schleppten mich wieder zu Griffiths Kabine. Diesmal erwartete der Alte mich stehend. Er trug einen hellen Leinenanzug und stützte sich auf einen Stock mit Silberknauf. Auf dem Tisch der Kabine stand ein Käfig, ähnlich einem Vogelbauer, aber viel stabiler. In ihm hockte wie ein Häufchen Elend – Donald Chapman. Die Kleider des Dreißig-Zentimeter-Mannes waren zerfetzt. Auf dem Käfigboden sah ich Blutspuren. »Don!« rief ich entsetzt. Er winkte müde ab. »Der alte Satan hat sich persönlich um mich gekümmert und mich fast umgebracht. Als das nichts fruchtete, hat er eine Ratte zu mir in den Käfig gesperrt. Ich konnte ihr die Kehle durchbeißen.« Er schüttelte sich vor Ekel. Griffith verzog keine Miene. Hinter mir stand der Kapitän. Die beiden Kreolen hielten mich mit eisernem Griff fest. »Haben Sie es sich überlegt, Hunter?« »Ich helfe Ihnen nicht. Niemals. Sie können mit mir machen, was Sie wollen.« Der Kapitän versetzte mir einen Tritt. »Der Kerl ist hart wie Stahl«,
sagte er mürrisch. »Seltene Sorte, aber es gibt sie. Solche Burschen lassen sich eher in Stücke schneiden als zu etwas zwingen.« »Nun gut«, sagte Griffith mit knarrender Stimme. »Was Ihnen passiert, ist Ihnen also egal, Hunter. Aber wie sieht es aus, wenn es Ihren Freunden an den Kragen geht? Dem Wichtel da, Coco Zamis, dem schwerverletzten Marvin Cohen, Trevor Sullivan und der alten Pickford? Können Sie ruhig zusehen, wenn sie qualvoll sterben müssen? Chapman lassen wir von Ratten auffressen, und Cohen wird an die Haifische verfüttert. Miß Pickford wird sich unser schwarzer Freund Caiman Mayagunta nach allen Regeln der Kunst vornehmen, Coco Zamis schenke ich der Mannschaft. Was dann noch von ihr übrig ist, legen wir gefesselt in das mit Dieselöl gefüllte Rettungsboot, das angesteckt wird. Für Sullivan wird mir auch noch etwas einfallen.« Mir fiel auf, daß er Phillip nicht erwähnt hatte, der doch auch an Bord sein mußte. »Sie Dreckskerl!« stieß ich hervor. »Wenn ich die Chance dazu habe, drehe ich Ihnen eigenhändig den Hals um, das schwöre ich.« Der Milliardär lachte mißtönend und hämisch. »Soweit wird es nicht kommen, Hunter, das versichere ich Ihnen. Was Ihnen und Ihren Freunden geschieht, haben Sie einzig und allein sich selbst zuzuschreiben. Ich fühle, wie ich von Stunde zu Stunde mehr altere. Um mein Leben zu erhalten und die ewige Jugend zu gewinnen, schrecke ich vor nichts zurück. Merken Sie sich das, Hunter!« Ich schaute die beiden Kreolen an, die mich hielten. Sie machten einen skeptischen Eindruck. Sie hielten Griffith Gerede von der ewigen Jugend vermutlich für Spinnerei. Aber da sie sehr gut bezahlt wurden, stellten sie keine Fragen. »Mit der alten Pickford wird der Anfang gemacht«, krächzte Lewis D. Griffith kaum verständlich. »Ich habe Wichtigeres zu tun. Ich kann nicht zusehen. Wenn Hunter nachgibt, laßt ihn in meiner Kabine bereits mit der Arbeit beginnen.« Er wandte sich an mich. »Ich warne Sie, Hunter! Versuchen Sie nicht, mich zu betrügen. Sie könnten zum Beispiel versuchen, das sechste und siebte Kapitel der Daemonicon falsch zu ergänzen und mir wertlose Unterlagen unterzu-
schieben. Dann sind Sie und Ihre Freunde allesamt dran. Ich spüre, wie der Tod nach mir greift, und ich habe keine Minute zu verlieren.« Er humpelte am Stock aus der Kabine, ein gebeugter alter Mann. Jetzt halfen ihm seine Milliarden nichts, denn ins Grab konnte auch er nichts mitnehmen. Ich wurde aufs Sonnendeck gebracht und an der Reling festgebunden. Der Kapitän trug den Käfig mit Donald Chapman darin. Die beiden Kreolen und Caiman Mayagunta brachten Miß Pickford und Marvin Cohen herauf. Es war Nachmittag, ein frischer Wind wehte, und schaumgekrönte Wogen ließen die Jacht auf und nieder tanzen. Weit vor mir sah ich einige Inseln am Horizont. Waren es die Bahamas oder gar schon die Großen oder Kleinen Antillen in der Karibischen See? Cohen lag auf einer Tragbahre. Er war bei Bewußtsein, sah aber aus wie ein lebender Leichnam. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er wirkte hohlwangig und ausgezehrt. Nur seiner Bärennatur hatte er es zu verdanken, daß er überhaupt noch lebte. »Phillip ist … verschwunden«, flüsterte er. »Vielleicht kann er uns irgendwie …« Den Rest konnte ich nicht mehr verstehen, aber ich schöpfte doch ein kleines Quentchen Hoffnung. Phillip Hayward war kein Mensch und kein Dämon. Mit seinem verwirrten, teilweise in anderen Sphären lebenden Geist und seinem Zwitterkörper war er ein lebendiges Orakel mit wunderbaren Kräften. Leider ließen sie sich nicht steuern, sondern kamen sporadisch zum Einsatz und folgten mir unerklärlichen Gesetzen. Er hatte schon in der Jugendstilvilla in London versucht, uns vor dem Gangsterüberfall zu warnen. Leider hatte niemand begriffen, was er sagen wollte. »Caiman«, sagte der Kapitän, »nimm dir die Alte vor!« Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, ich hätte lachen müssen. Der hünenhafte Matrose zog ein Gesicht, als hätte er eine Ladung Sauerrahm in den Mund bekommen. »Warum die Alte? Warum nicht die Schwarzhaarige?« »Glaubst du, du sollst das zu deinem Vergnügen machen,
Saukerl?« brüllte der Kapitän. »Du sollst sie dir richtig vornehmen und ihr hinterher den Hals umdrehen, klar? Sonst lasse ich nicht Hunter auspeitschen, sondern dich!« Vor uns war die Brücke. Ich sah den Steuermann am Ruder, seinen breiten Rücken und das krause, schwarze Haar. Er hielt gerade Kurs auf die Inseln zu, und sie wurden allmählich größer. Kreischende Möwen umflatterten die Jacht. Hoch am Himmel unter den paar weißen Wolken schwebte ein Albatros. Zwei Dreiecksflossen folgten der Jacht auf der Luvseite. Der schlanke Mast der Jacht war nur Zierde; die Bugwelle schäumte von der Schraube des 230-PS-Motors. Wir machten siebzehn Knoten. Der Matrose sah den Kapitän an, dann Miß Pickford, dann wieder den Kapitän und nickte. Der Kapitän verschluckte vor Wut seinen Priem und würgte ein paar Mal. Dann riß er den Colt aus der Halfter. »Du tust, was ich dir gesagt habe, sonst knalle ich dich ab, Caiman!« Die beiden Kreolen grinsten. Caiman Mayagunta ging auf Miß Pickford zu, nicht eben begeistert von der Aussicht, sie zu vergewaltigen. Sicher dachte er, daß er sich sein Geld an Bord sauer verdienen mußte. Miß Pickford war nicht mehr die Jüngste, und ihr von der Seekrankheit grünes Gesicht machte sie nicht schöner. Die Kreolen ließen sie los. Mit aufgerissenen Augen starrte sie den Matrosen an. »Wagen Sie es nicht, mich anzufassen!« kreischte sie schrill. Er hob die Schultern, knurrte einen Fluch in seiner Muttersprache, packte Miß Pickford an den Schultern und warf sie auf das Deck. Mit einem Schrei stürzte er sich auf sie. Miß Pickford sträubte sich verzweifelt, aber den Kräften Caiman Mayaguntas hatte sie nichts entgegenzusetzen. Durch ihre Gegenwehr in Rage gebracht, gebärdete sich der Matrose wie ein Tier. Ich zerrte an meinen Fesseln. Die Seeluft hatte mich wieder etwas aufgemöbelt, obwohl ich in den letzten zwei Tagen nur ein paar Schluck Wasser bekommen hatte und nach der Folter in miserabler Verfassung war.
Caiman Mayagunta zerrte Miß Pickford die Kleider vom Leib. Sie schrie wie am Spieß. Da war plötzlich Coco Zamis da. Ihr Blick war starr und dämonisch. In ihren Augen tanzten tausend kleine Funken. Sie berührte die beiden Kreolen im Nacken, und sie stürzten wie vom Blitz getroffen zu Boden. Völlig verkrampft, Schaum vor dem Mund, blieben sie reglos in bizarrer und unbequemer Haltung liegen. Der Kapitän riß den Colt hoch, wollte auf Coco zielen, aber da sah er in ihre Augen, und sie vollführte mit dem gespreizten Zeige- und Mittelfinger schlangenartige Bewegungen. Der Kapitän ächzte. Seine Waffenhand sank nach unten, und er blieb mit offenem Mund reglos stehen, gelähmt, hypnotisiert. Caiman Mayagunta ließ von Miß Pickford ab, zog ein langes Messer aus der Gürtelscheide und rannte brüllend auf Coco Zamis los. Sie sah ihm ins Gesicht, machte eine rasche Geste und rief eine kurze Beschwörung. Geschmeidig wich sie dem Angriff aus. Er stürmte an ihr vorbei, wollte stehenbleiben, aber seine verhexten Beine rannten einfach weiter und trugen ihn gegen seinen Willen zur Reling. Er rannte dagegen und stürzte über Bord. Salzwasser spritzte hoch. Caimann schrie entsetzt auf, verstummte aber gleich wieder, denn er hatte Mühe, sich über Wasser zu halten. Seine Beine wollten immer noch laufen. Die beiden Dreiecksflossen schossen auf ihn zu. Während die Jacht sich rasch entfernte, zerrissen die Tigerhaie den Leib des Matrosen. Blut färbte das Salzwasser rötlich, dann war der Kopf unter Wasser verschwunden. Der Steuermann kam von der Brücke, einen automatischen Karabiner in den Händen. Er stieß einen Schrei aus und zielte auf mich. Ich hörte Coco etwas rufen, und ehe der Steuermann schießen konnte, hielt er statt eines Karabiners eine sich windende Schlange in den Händen. Er ließ sie fallen und wollte voller Angst unter Deck flüchten, aber Coco schickte ihm eine Verwünschung hinterher. Seine Beine verhedderten sich, und er stürzte und konnte nicht mehr aufstehen. Wimmernd blieb der Mann liegen. Ich staunte nur noch. Coco zog einem der stöhnend am Boden lie-
genden Kreolen ein Messer aus der Tasche und schnitt mich los. Dann öffnete sie Don Chapmans Käfig. Miß Pickford schrie längst nicht mehr. Sie raffte ihre zerfetzten Kleidungsstücke zusammen, um ihre Blößen zu bedecken. »Wie hast du das geschafft?« rief ich. »Olivaro«, antwortete sie. »Ich erkläre es dir später. Wir müssen schnell weg.« Der Steuermann hatte die automatische Steuerung eingeschaltet. Die Jacht trieb rasch auf die Inseln zu. Ich nahm dem gelähmt dastehenden Kapitän den Colt aus der Hand und machte mich daran, die Jacht zu durchsuchen. Lewis D. Griffiths Kabine war leer. Ich fand den Alten nirgends an Bord, obwohl ich jeden Winkel durchsuchte. Auch Phillip und Olivaro, von dem Coco gesprochen hatte, konnte ich nicht entdecken. Außer den Besatzungsmitgliedern, die wir kampfunfähig gemacht hatten, war niemand da. Ich befreite den im engen, stickigen Laderaum gefesselt auf der Matratze liegenden Trevor Sullivan. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Ich stützte ihn, und als wir an Deck kamen, war die erste Insel nur noch sechs oder sieben Kilometer weit entfernt. Die Jacht steuerte direkt darauf zu. An einem Korallenriff davor schäumte die Brandung. Wir mußten von Bord. Hier hatten Dämonen die Hand im Spiel. Ich lief hinauf zur Brücke und entdeckte eine Seekarte vom Gebiet der Bahamainseln auf der Schautafel. Mit Hilfe des Kompasses, der letzten Navigationsmarkierung auf der Seekarte und des Sextanten konnte ich schnell unsere ungefähre Position herausfinden. Zu einer ganz genauen Ortsbestimmung reichte die Zeit nicht. Wir befanden uns in der Höhe des 76. Längen- und des 24. Breitengrades, etliche Seemeilen vor Cat Island in einem Gewirr kleiner und kleinster Inseln; nur wenige davon waren bewohnt. Nach meiner Schätzung mußten wir vor zwei Tagen von Palm Beach aus in See gestochen sein. Ich stellte die Maschinen auf halbe Kraft und ließ die Jacht auf das Korallenriff zulaufen. Sollte sie zerschellen. Nach allem, was mir die Kerle von der Besatzung angetan hatten, sah ich
keinen Grund, sie zu schonen. Eilig verließ ich die Brücke wieder. Coco und Sullivan halfen mir, Marvin Cohen ins Rettungsboot zu legen. Wir holten den Karabiner des Steuermanns – der wieder eine normale Schußwaffe geworden war – Munition, einige Vorräte, Decken, Kleidungsstücke und einen Kompaß an Bord. Das alles verstauten wir im Boot und ließen es aufs Wasser hinab. Ich sah mich noch einmal an Deck um. Das Rettungsboot war noch angetäut und wurde von der Jacht mitgeschleppt. Die beiden Kreolen, der Steuermann und der Kapitän, von Coco Zamis verhext und außer Gefecht gesetzt, konnten uns nicht gefährlich werden. Coco, Sullivan und Chapman stiegen in das Rettungsboot. Miß Pickford versuchte, während sie die Jakobsleiter hinunterkletterte, ihr zerrissenes Kleid an allen möglichen Stellen zusammenzuhalten. Als hätten wir keine anderen Sorgen. Ich ging als letzter von Bord und kappte die Taue. Das Rettungsboot drehte sich halb im Sog der Jachtschraube, dann waren wir in Sicherheit. Die Jacht entfernte sich rasch. Auf dem Sonnendeck stand wie eine Salzsäule der Kapitän. Ich verteilte die Ruder, und wir legten uns zu viert in die Riemen. *
Skull Key, Bahamainseln Plötzlich war rund um uns Nebel, von einer Sekunde zur anderen. Wir ruderten in einer dicken Milchsuppe. Die Sonne drang nicht durch. Wir konnten unsere Umgebung kaum mehr erkennen. Trevor Sullivan bäumte sich auf, seine rechte Gesichtshälfte brannte leuchtend rot wie ein Fanal. Er keuchte und brach zusammen. Seine Füße schlugen wie Trommelschlegel auf den Boden. Es war ein magischer Nebel. »Es scheint, daß Sullivan auf magische Ereignisse und dämonisches Wirken anspricht, so wie andere Leute wetterfühlig sind«, sag-
te ich zu Coco. »Verdammt noch mal, man sieht keine drei Meter weit. Womöglich rudern wir wieder auf die offene See hinaus.« Das konnte uns passieren. Marvin Cohen hatte erneut das Bewußtsein verloren. Ich sagte Miß Pickford, sie sollte das Ruder weglegen, und ruderte mit Coco allein. Die züchtige Miß Pickford hatte in eine Decke ein Loch für den Kopf geschnitten und sie wie einen Poncho umgehängt. Don Chapman kümmerte sich um Trevor Sullivan, so gut er konnte. Nach einer Weile ließ der Anfall des Ex-Observator-Inquisitors nach. Er kam wieder zu sich, aber er war sehr erschöpft. Der Anfall hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen, wie er sagte. »Was war das für eine Geschichte mit Olivaro?« fragte ich Coco. Sie erzählte von der Drogenspritze, den Alpträumen und ihrem Gespräch mit Olivaro. Er hatte auf magische Weise mit ihr Kontakt aufgenommen. »Er hat mir geholfen. Als ich zu mir kam, fielen die Fesseln von mir ab. Eine drängende Stimme rief mich auf das Sonnendeck. Gerade noch waren meine Fähigkeiten blockiert gewesen, aber nun waren sie plötzlich stärker als ich es erwartet hatte. Den Trick, den Karabiner in eine Schlange zu verwandeln, hätte ich mir nicht zugetraut.« Etwas wie Schwermut befiel mich, denn ich dachte für einige Augenblicke, daß Cocos Liebe zu mir noch mehr erkaltet war. Als sie sich in mich verliebt hatte, hatte sie ihre Hexenfähigkeiten verloren. Ich fürchtete, sie könnte sich vollständig von mir abgewandt haben. Olivaro war ein ernstzunehmender Rivale, dieseraalglatte Dämon, dem keiner trauen konnte. Schließlich hatte er unendliche Reichtümer, Macht, ein dämonisches Leben in Saus und Braus, ewige Jugend, Schönheit, unerschöpfliche sexuelle Potenz und eine immerwährende Gesundheit zu bieten. Daneben nahm ich als Mensch mich recht kümmerlich aus. Ich riß mich zusammen, verscheuchte die trüben Gedanken und versuchte mich mit dem Kompaß zu orientieren. Die nächste Insel hatte ich zuvor im Südwesten gesehen. Aber der Kompaß spielte verrückt. Die Nadel kreiselte, zeigte in alle möglichen Richtungen.
Es war aussichtslos. »Rudern wir in die alte Richtung«, sagte ich, »nur ein wenig mehr nach rechts. Wir sind ein bißchen vom Kurs abgekommen.« Da hörte ich Miß Pickfords überraschten Ausruf. »Phillip, mein Junge, wo kommst du denn her?« Ich wandte den Kopf. Miß Pickford saß im Heck des Bootes, und neben ihr saß der Hermaphrodit Phillip. Ein Leuchten ging von seinem Gesicht aus, hüllte seine Gestalt ein. Fast erschien er uns wie eine übernatürliche Erscheinung. Der Kontrast zwischen ihm und uns anderen, die wir alle verdreckt und zerlumpt waren, erschien besonders groß. Phillip lächelte nur und beantwortete unsere Fragen nicht. Das merkwürdige Geschöpf unterlag dem Zauber und der Gewalt dämonischer Mächte nicht, das hatte ich schon mehrmals festgestellt. Er tätschelte sanft Miß Pickfords Schulter, stieg über den am Boden liegenden Marvin Cohin hinweg und setzte sich vorn hin. »Mehr nach rechts«, sagte er. Ich begriff, daß er uns den Kurs angeben wollte. Ihm zu gehorchen, war aussichtsreicher als alles andere. »Etwas nach links«, sagte er nach einer Weile. »Gleichmäßig rudern!« Seine knappen Anordnungen führten uns durch den undurchdringlichen Nebel. Unsere Fragen beantwortete er nicht. Nur manchmal redete er orakelhaftes und unverständliches Zeug. Einmal sagte er: »Wer den Tod nicht hinnimmt, wenn er kommt, ist verdammt. Die Hölle lacht und freut sich über ihn.« Das konnte ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Ich hatte einmal die relative Unsterblichkeit besessen, durch einen Pakt mit dem Teufel. Nach jedem Tod war ich wiedergeboren worden, als Baby, das zunächst nichts von seiner Vergangenheit und seinen früheren Leben wußte. Viel Leid war mir und anderen daraus entstanden, und ich hatte schwer an der Bürde der Unsterblichkeit getragen. Deshalb war es für mich nicht besonders schlimm gewesen, als ich im Kampf mit dem Moloch durch Asmodis Wirken meine Unsterblichkeit wieder verlor. Jetzt war ich sterblich wie jeder andere Mensch. Natür-
lich hing ich am Leben; es war mein kostbarstes Gut, aber nach meinen Erfahrungen zog ich die ewige Ruhe nach dem Tod, der diesmal ein endgültiger sein würde, der Unsterblichkeit durch Wiedergeburt vor. Ein Leben war genug – für jeden Menschen. »Die jungen Alten rauben die Jugend und verlieren die Seele«, murmelte Phillip ein anderes Mal. Seine Anordnungen waren nun knapper, erfolgten schneller. Vor uns toste und brüllte die Brandung, spritzte uns Gischt ins Gesicht. Phillip wies uns den Weg, als könnte er im magischen Nebel sehen wie im hellen Sonnenlicht. Vielleicht war es so. Coco und ich mußten mit aller Kraft rudern. »Backbord!« brüllte Phillip. »Rudert, rudert!« Eine große Woge erfaßte uns und trug uns durch eine Lücke hinein in ruhiges Gewässer. Nun konnten wir auch wieder klar sehen. Der Nebel blieb zurück. Wir schauten uns um und begriffen, daß Phillip uns durch ein Korallenriff gesteuert hatte. Es war ein Atoll, das eine kleine palmenbestandene Insel mit einem weißen Strand, einem Hügelzug und einem Schloß im Hintergrund umgab. Jawohl, einem Schloß, so prunkvoll wie aus einem Märchen, mit weißen Türmen und goldenen Dächern, Mauern und Zinnen und vielen Kristallfenstern und flatternden Fahnen. Wir staunten alle über das Schloß, und erst als wir es eine ganze Weile gesehen hatten, fiel uns die merkwürdige Form der Insel auf. Sie sah aus wie ein Totenschädel. Der Teil, auf den wir zuruderten, war länglich, im Hintergrund verbreiterte sich die Insel und rundete sich. Ein länglicher See bildete den Mund des Totenschädels, ein kleinerer, runder das linke Auge. Den See des rechten Auges konnte ich nicht sehen, aber ich wußte einfach, daß es ihn gab. Der niedrige Hügelzug waren die Augenwülste des Schädels, das Schloß stand hinter ihm, mitten auf der Stirn. Wir konnten das alles vom Boot nicht mit Sicherheit erkennen und überblicken; wir erfaßten es vielmehr intuitiv; jemand übermittelte es uns, und wir begriffen, daß dies keine natürliche Insel war. Es war ein Eiland der Dämonen. Phillip lachte melodisch. »Skull Key.«
Die Totenkopf-Insel. � * Innerhalb des Atolls war das Wasser fast unbewegt. Die Brandung tobte am Riff, Nebel hüllte es ein. Coco und ich ruderten zum Strand. Der Kiel des Rettungsbootes knirschte auf dem nassen, weißen Sand. »Wir tragen Cohen zu den Palmen, verbergen uns dort und sehen uns erst einmal auf der Insel um«, sagte ich. Eine Brise trieb uns milden, würzigen Duft zu. Wir waren an der linken Seite des Schädels kurz oberhalb des Mundsees gelandet. Ich packte Cohen unter den Armen, Coco und Trevor Sullivan nahmen seine Beine. Sullivan hatte den Colt in der Rechten. Miß Pickford und Phillip trugen unsere ganze Ausrüstung. Chapman war zu klein, um etwas schleppen zu können. So stolperten wir durch den weißen, feinkörnigen Sand auf die achtzig Meter vom Wasser entfernt stehenden Palmen zu. Der Sand war feiner als der an den Privatstränden der Luxushotels in Miami, wo er gesiebt wurde. Aus meinem Plan, die Insel zunächst zu erkunden, wurde nichts. Als wir nur noch zwanzig Meter vom Saum des Palmenhains entfernt waren, traten auf einem Pfad, den ich zuvor nicht bemerkt hatte, fünfzehn Greise und Greisinnen aus dem Hain hervor. Sie waren teuer gekleidet und mit Schmuck behangen, aber sie wirkten schrecklich alt, welk und verfallen. Manche konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. In mir keimte ein Verdacht. »Halten Sie die Waffe bereit, Sullivan!« raunte ich leise. Da krachte ein Schuß. Sullivan stieß einen Schrei aus. Ihm war der Colt Goverment aus der Hand geschossen worden. Und gleich darauf sprangen aus dem Unterholz zwölf hartgesottene, brutal aussehende Gangstertypen hervor. Sie waren mit einem ganzen Arsenal von Maschinenpistolen, Schnellfeuergewehren, Pistolen und Revolvern ausgerüstet. Der Witterung entsprechend trugen sie Shorts
oder Leinenjeans, bunte, kurzärmlige Sporthemden und Sonnenbrillen. »Wie oft wollt ihr uns denn erschießen?« fragte ich. Die Greise und Greisinnen blieben im Hintergrund. »Die Waffen her!« rief der Anführer der Gangstertruppe im schönsten Chicagoer Slang. »Sonst machen wir Siebe aus euch.« »Der könnte sich auch mal einen neuen Spruch einfallen lassen«, meinte der Zwerg Chapman. »Sag mal, Dorian, erkennst du ihn nicht?« Jetzt, da Chapman mich danach fragte, erkannte ich ihn. Es war Al Capone oder zumindest ein Doppelgänger von ihm. Ein fleischiger Mann um die Vierzig mit breitem, offenem, etwas grobschlächtigem Gesicht und schütterem Haar. Auch ein paar andere aus der Gangstertruppe kamen mir bekannt vor. Einer sah Babyface Nelson zum Verwechseln ähnlich, ein anderer konnte ein Zwilling des berüchtigten Maschinenpistolenhelden Kelly der dreißiger Jahre sein. Auch Narbengesicht McGall war mit von der Partie, der berüchtigte Syndikatshenker aus Detroit, und – aus der neueren Zeit – die Dreckigen Drei, die aus einem Zuchthaus im südlichen Texas ausgebrochen waren und eine Blutspur quer durch das Land gezogen hatten, sowie der Würger von Boston. Die anderen kannte ich nicht, aber ich nahm an, daß auch sie in den FBI-Akten und in den Annalen der Kriminalgeschichte der USA verewigt waren. Sie konnten hier indessen nicht versammelt sein, denn sie waren entweder tot oder sie saßen im Gefängnis. Aber was wir sahen, das waren auch keine Visionen, das merkte ich, als einer der Gangster auf mich zutrat und mir hart den Lauf der MP in die Rippen stieß. »Legt den Verletzten auf die Erde!« sagte er. »Und streckt die Hände in den Himmel!« Ich gab es auf, nach einer Erklärung für ihre Ähnlichkeit mit den schlimmsten amerikanischen Gangster- und Killergrößen zu suchen. Ein Maskenbildner war hier nicht am Werk gewesen. Das waren magische Doppelgänger. Wir mußten uns in einer Reihe aufstellen und umdrehen. Dann
wurden wir nach Waffen abgeklopft. Sogar den kleinen Donald Chapman untersuchten die Gangster. Anschließend wurden unsere Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Jetzt erst näherten sich die Greisinnen und Greise. Die Gangster blieben schweigend und einsatzbereit im Hintergrund. Die Alten waren widerliche Geschöpfe. Sie strichen um uns herum. Die Gier leuchtete aus ihren matten Augen, und mit dürren, zitternden Fingern strichen sie über unsere Haare, unsere Gesichter, unsere Körper. »Ich bin Lydia Goldstein«, sagte eine alte Frau mit einem Gesicht wie eine Hyäne zu mir. »Wir haben euch erwartet. Griffith hat euch die Möglichkeit zur Flucht gegeben, aber nur, um euch wieder einzufangen und herzubringen. Ihr wurdet ferngesteuert.« Nun begriff ich überhaupt nichts mehr. Phillip hatte uns doch hergelotst. Ich sah den Hermaphroditen an, aber er lächelte nur unergründlich und hielt sich abseits. Mir fiel jetzt erst auf, daß er nicht mit uns anderen in einer Reihe gestanden hatte und durchsucht worden war. Die Gangster und auch die Greise kümmerten sich überhaupt nicht um ihn, als sei er nicht vorhanden. Ich nahm an, sie konnten ihn nicht sehen. Ich schaute betont in Phillips Richtung. Lydia Goldstein folgte meinem Blick, aber ihr Blick schweifte gleichgültig über die Stelle hin, wo Phillip stand, so daß ich überzeugt war, daß sie dort niemanden sah. Phillip legte den Zeigefinger auf die Lippen und löste sich in Luft auf. Seine Konturen verschwammen, dann war er weg. Ich blinzelte und sah den überraschten Ausdruck in den Gesichtern meiner Gefährten. Also hatten sie es auch gesehen. Phillip war bei uns. Er hatte uns ein Zeichen geben wollen, daß wir nicht zu verzagen brauchten. Deshalb war er ins Boot gekommen und hatte uns auf die Insel begleitet. »Meine Freunde und ich waren alle bei Dr. Goddard in Behandlung«, fuhr Lydia Goldstein fort. »Sie haben uns die Jugend gestohlen, Dorian Hunter, und uns zum qualvollen Alterstod verurteilt.
Wir verlangen von Ihnen, daß Sie einen Dämon beschwören, der uns die ewige Jugend oder wenigstens noch ein paar Jahrzehnte in Jugend und Schönheit schenkt.« »Das kann ich nicht.« Ihr Gesicht verzerrte sich zur Grimasse. Ich glaubte schon, sie würde mir an die Kehle gehen, aber im letzten Augenblick beherrschte sie sich. »Sie wollen nicht«, sagte sie fast flüsternd. »Sie weigern sich. Aber wir werden Sie schon dazu bringen zu gehorchen. Können Sie sich die Lebensgier steinreicher alter Leute vorstellen, Dämonenkiller? Können Sie sich denken, wie wir uns ans kostbare Leben klammern, um Wochen, Tage und Stunden mit dem Tod feilschen? Ihr Jungen habt keine Ahnung davon, wie es ist, wenn einem der Tod schon über die Schulter sieht, wenn man weg soll von der warmen, sonnigen Welt hinab in Finsternis und Kälte!« »Jeder Mensch muß einmal sterben, Mrs. Goldstein.« »So? Wo steht das denn geschrieben? Es ist eine Erfahrung, mehr nicht. Es war immer so. Aber früher sagte man auch, der Mensch kann nicht fliegen. Oder man hielt die Erde für eine Scheibe. Alles Anschauungen, die widerlegt wurden. Wir sind reicher, als Sie es sich vorstellen können. Wir sind gewohnt, unseren Willen durchzusetzen, und die meisten von uns sind wegen weit geringerer Dinge über Leichen gegangen. Können Sie ermessen, wozu wir fähig sind, um unser Leben zu verlängern und die Jugend zurückzuerhalten?« Kalt lächelte ich die Alte an. Sie war immer erregter geworden. »Sie, Mrs. Goldstein, würden mir sicher das Herz aus der Brust reißen, und es roh verzehren, wenn es Ihnen helfen würde. Aber es hilft nicht. Nur die Dämonenbeschwörung nach dem sechsten und siebenten Kapitel des Daemonicon könnte den Effekt erzielen, den Sie fordern. Aber um welchen Preis? Nein, Mrs. Goldstein, ich will mit Schwarzer Magie nichts zu tun haben und ich verschreibe mich keinem Dämon. Niemals!« Die Alte kicherte. Sie war die Sprecherin der Alten – und die schlimmste und gierigste von ihnen. In manchen von den anderen wohnte vielleicht noch ein Funken Anstand.
»Man soll nie nie sagen, Dorian Hunter«, sagte die Goldstein bösartig. »Wollen sehen, ob Sie auch noch so hart bleiben, wenn Ihre Freunde auf gräßliche Weise sterben – einer nach dem anderen. Sie werden Sie mit ihrem letzten Atemzug verfluchen.« Ich schaute Coco Zamis, Don Chapman, Miß Pickford, Trevor Sullivan und den bewußtlosen Marvin Cohen an. Coco sprach für sie alle. »So wartet ein Ende mit Schrecken auf uns, Dorian, aber wenn du dich einem Dämon verschreibst, wird es ein Schrecken ohne Ende. Du würdest uns alle in den Abgrund ziehen. Du mußt hart bleiben, was immer sie auch mit uns und mit dir anstellen werden, diese alten bösen, gierigen, häßlichen Ungeheuer.« Die Greise und Greisinnen fegten auf sie los, bespuckten sie, zogen sie an den Haaren und zerkratzten ihr das Gesicht. Ich fürchtete schon um Cocos Leben, aber da gingen auf einen kurzen Befehl der Goldstein die Gangster dazwischen und drängten die Alten von Coco ab. »Griffith und ich haben uns viel bessere Sachen als einen Lynchmord ausgedacht«, rief die Goldstein. »Los! Wir bringen sie zum Schloß. Und dort kommen alle an die Reihe – bis Dorian Hunter nachgibt, oder bis keiner von ihnen mehr am Leben ist.« * Der Marsch durch die Palmenhaine und den tropischen Dschungel dauerte nicht lange. Wahrscheinlich waren die Entfernungen auf der Insel auf magische Weise verkürzt. Ich schätzte, daß wir nicht mehr als eine halbe Stunde unterwegs waren. Die Sonne brannte auf uns nieder. Mein zerfetztes Oberhemd bot mir nur wenig Schutz gegen die sengenden Strahlen. Ich trug immer noch die Jeans, das karierte Baumwollhemd und die derben Schuhe, mit denen ich in London gekidnappt worden war. Meine Sachen waren verschmutzt und stinkig. Meine Gefährten sahen nicht besser aus. Mein Gesicht schillerte nach der Folterung in allen Farben, war
verquollen und geschwollen. Am Körper hatte ich zahlreiche Wunden. Da ich außerdem schon lange nichts mehr zu essen bekommen hatte, fühlte ich mich scheußlich. Babyface Nelson und drei andere Gangster schleppten die Trage mit Marvin Cohen. Er phantasierte im Delirium; ich wunderte mich, daß er überhaupt noch lebte. Trevor Sullivan hatte an Bord der Jacht nach Cohens Verletzungen gesehen, die Kugeln waren ihm zumindest herausgeschnitten worden. Eine fachmännische Operation, nur hatte Marvin Cohen hinterher kein Morphium oder ein gleichwertiges schmerzbetäubendes Mittel bekommen. Wir erreichten das von einem Wassergraben umgebene Schloß. Fanfaren kündigten unser Kommen an. Die Zugbrücke wurde heruntergelassen. Die Gangster umringten uns. Während des Marsches hatten wir kein Wort miteinander wechseln dürfen. Die Greise und Greisinnen marschierten hinter uns. Als wir durch das Schloßtor schritten, begann plötzlich eine der alten Frauen zu schreien. Auf der Zugbrücke brach sie zusammen. »Helft mir!« ächzte sie. »Hel …« Sie starb mitten im Wort, und ihr Leichnam verdorrte und verwelkte zu einer abscheulichen Mumie. Ein Raunen ging durch die Reihen der anderen Alten. »Wir wollen nicht noch mehr Zeit verlieren«, keifte eine alte, mit Schmuck behangene Vettel. »Bringt endlich einen von ihnen um, damit Hunter sieht, daß wir es ernst meinen!« Die Gangster trieben uns durch einen geräumigen Innenhof über eine Treppe auf den stufenförmig erhöhten oberen Teil des riesigen Schlosses zu. Hier gab es einen prächtige Park und einen großen, silbrig schimmernden See. Ein paar Männer kamen auf uns zu. Ich erkannte unter ihnen den Kapitän der Jacht, die beiden Kreolen und den Steuermann. Also war die Dyane II doch nicht am Riff zerschellt. Sie stellten sich am Ufer des Sees auf. Zwei Gangster hielten mich fest. Einer von ihnen war Al Capone. Er drückte mir einen Revolver in die Rippen und grinste mich jovial an. Seine Augen blieben dabei so kalt wie Glasmurmeln. Er befahl vier Gangstern, Marvin Cohen
zum Seeufer zu tragen. »Im See sind Piranhas«, sagte die Goldstein. »Wenn Sie nicht einwilligen, die Beschwörung durchzuführen, verfüttern wir Cohen an sie.« Der Kapitän der Jacht warf ein Stück rohes, blutiges Fleisch ins Wasser. Es kochte und brodelte. Silbrige, handlange Fischleiber wühlten den See auf. Piranhas, der Schrecken des Amazonas und seiner Nebenflüsse. Diese Süßwasserkiller bestanden zur Hälfte aus einem Rachen mit rasiermesserscharfen Zähnen. Ein Schwarm Piranhas konnte in Minutenschnelle einen Bullen skelettieren. »Was ist, Hunter?« keifte die Goldstein. Coco Zamis schüttelte den Kopf. Trevor Sullivan sah mir fest in die Augen, und ich wußte, was er meinte. Insgeheim hoffte ich auf Phillip, er hatte uns gezeigt, daß er bei uns war. Vielleicht konnte er uns doch irgendwie retten, wenn ich mir auch nicht vorzustellen vermochte, wie er das bewerkstelligen sollte. Schließlich war sein Geist verwirrt. Aber ich klammerte mich an diese Möglichkeit wie der Ertrinkende an den Strohhalm. Von Olivaro erhoffte ich mir wenig, er hatte mich schon einmal sehr übel hereingelegt und für seine Zwecke eingespannt. Ich hatte Asmodi mit ein paar Hilfestellungen von Olivaro getötet, damit letzterer Herrscher der Schwarzen Familie und Herr der Finsternis werden konnte. Nein, Olivaro – oder Magus VII, wie er sich jetzt nannte – würde vielleicht Coco retten, mich aber sicher nicht. »Nein«, sagte ich entschieden. »Ich beschwöre keinen Dämon nach den Schreckensriten des Schwarzbuches.« »Los, Jungens!« rief Al Capone, und die Gangster warfen Marvin Cohen mitsamt der Tragbahre ins Wasser. Er lag im Delirium, aber der Selbsterhaltungstrieb ließ ihn wieder auftauchen. Stöhnend begann er zu schwimmen. Der See war gleich am Ufer schon sehr tief. Wenn Phillip Cohen retten wollte, mußte es jetzt geschehen. Das Wasser um den Verletzten begann zu brodeln. Marvin Cohen stieß tierische Schreie aus, schlug mit den Armen um sich, strampelte mit den Beinen. An seinen Armen hingen silbrige Fischleiber, Blut
tropfte ins Wasser. Um Marvin Cohen färbte sich das Wasser rot. Er tauchte unter, tauchte noch einmal auf. Mehrere Piranhas hatten sich in seinem Gesicht verbissen. Dann ging Cohen endgültig unter. Das Wasser kochte und brodelte noch eine Weile. Nach menschlichem Ermessen mußte Marvin Cohen tot sein. Ich hatte nichts von einem Eingreifen des Hermaphroditen bemerkt. Wir alle schwiegen. Cohen war ein brutaler Bursche gewesen. Bei jedem von uns war er angeeckt; keiner war sein Freund gewesen. Aber so ein Ende hatten wir ihm nicht gewünscht, auch ich nicht, obwohl Cohen mich einige Male mit seiner brutalen und unverschämten Art soweit getrieben hatte, daß ich ihn am liebsten erschlagen hätte. »Das war's«, sagte die Goldstein. »Nun, haben Sie es sich überlegt, Hunter?« Ich schüttelte nur schweigend den Kopf. »Bedenkzeit bis heute abend«, rief die Goldstein. »Dann ist Miß Pickford dran. Einen Mann von der Statur Caiman Mayaguntas können wir ihr hier nicht bieten, aber wir haben einen pockennarbigen Mulatten, der auch nicht ohne ist.« Coco hatte Tränen in den Augen. Sie starrte Lydia Goldstein intensiv an, und ich wußte, daß sie der Alten jetzt etwas ganz Schreckliches wünschte. Aber sie konnte die Goldstein nicht verhexen, auch sonst niemanden. Ihre Fähigkeiten waren wie weggeblasen, seit wir den Fuß auf die Insel gesetzt hatten. * Lydia Goldstein war äußerst unzufrieden. Gerade hatte sie mit Dorian Hunter in seiner luxuriösen Gefangenenzelle gesprochen. Die fünf von der früheren Inquisitionsabteilung waren getrennt worden. Man hatte sie im Westflügel des Haupttrakts untergebracht. Schöne Mädchen hatten den Dämonenkiller gebadet und gesalbt, seine Wunden versorgt, ihn umgekleidet, ihm köstliche Speisen und erlesene Weine vorgesetzt. Dorian mußte gefüttert werden, denn seine Händen blieben mit Handschellen auf den Rücken gefesselt,
und eine Wache von vier Gangstern wich nicht von seiner Zimmertür. Die Mädchen, ausgesuchte Schönheiten aller Rassen und Hautschattierungen, taten alles, um ihn zu verwöhnen. Lydia Goldstein hatte versucht, den Dämonenkiller zu bestechen, hatte ihm unermeßlichen Reichtum und alle Freuden und Genüsse versprochen. Ohne Erfolg. Auch Drohungen fruchteten nichts. Nun war sie auf dem Weg zu Griffith. Ein paar Alte hielten sie an, als sie durch die luxuriösen Gänge des Prachtschlosses wandelte. »Wie steht es, Lydia?« »Gibt es Hoffnung?« »Natürlich gibt es Hoffnung«, keifte die Goldstein zornig. »Wir kriegen den Dämonenkiller schon weich. Wartet nur ab.« »Hoffentlich lebe ich dann noch«, sagte ein uralt aussehender Greis mit einem Gesicht wie rissiges Leder. Er saß im Rollstuhl. Auch die Goldstein hätte sich gern in ihren Rollstuhl gesetzt, aber sie fürchtete, die Alten würden jemand anderen zu ihrer Sprecherin wählen, wenn sie allzu gebrechlich erschien. So schleppte sie sich weiter, benutzte nicht einmal einen Stock. Zum Glück gab es im Schloß wenigstens Lifts, so daß sie keine Treppen zu steigen brauchte. Lewis D. Griffith bewohnte eine Zimmerflucht im dritten Stock. Zwei Leibwächter, mit hellen Leinenanzügen bekleidete Gangster mit Schnellfeuergewehren, bewachten ihn. Einer öffnete für Lydia Goldstein die Tür. Griffith saß im prunkvoll eingerichteten Salon mit Seidentapeten, einem Deckengemälde, einem dicken Perserteppich, einem Lüster und kunstvoll geschnitzten Stilmöbeln. Ein livrierter Lakai, der eine Pistole unter der linken Achsel trug, bediente ihn. Silvio Pereira, der brasilianische Plantagenbesitzer, saß mit Griffith am Tisch. Beide Männer waren in den letzten Tagen um Jahre gealtert, die Goldstein ebenfalls. »Mist!« rief die Alte soeben wütend. »Der Dämonenkiller will nicht. Ihm ist nicht beizukommen. Er ist wie ein Stein.« Griffith war die Ruhe selbst. »Er wird nachgeben«, krächzte er. »Spätestens wenn es seiner Geliebten Coco Zamis an den Kragen
geht, wird er nachgeben, das weiß ich sicher. Aber allzu lange warten dürfen wir wirklich nicht mehr. Wir richten alle Freunde des Dämonenkillers noch heute nacht hin. Zuerst die Pickford. Sagen wir, in einer Stunde. Sag es den anderen, Lydia. Es soll unten im großen Saal stattfinden. Wir werden ein Bankett veranstalten. Miß Pickfords Tod ist die besondere Attraktion.« Lydia Goldstein wollte ihre Sorge und ihre schlechte Laune an Griffith abreagieren, aber der steinalte Milliardär fuhr die Menschenfresserin mit seiner schnarrenden Stimme so zynisch und gemein an, daß sie froh war, den Salon verlassen zu können. Sie hörte noch, wie Pereira wieder von seinen brutalen Aufsehern aus dem brasilianischen Dschungel anfing, aber davon wollte Griffith nichts wissen. »Damit können Sie faule Indios zum Urwaldroden treiben, aber mehr auch nicht.« Die Goldstein schloß die gepolsterte Tür hinter sich. Sie fühlte sich so geschwächt, alt und mitgenommen, daß sie ihr Zimmer aufsuchen mußte. Mühsam schleppte sie sich dahin. Von ihrem Zimmer aus rief sie Stavros Alerkides an, einen berüchtigten Großreeder. Er befand sich gleichfalls auf dem Schloß und hielt sich in seinem Zimmer auf. Alerkides wurde in seiner Branche »Der Seelenverkäufer« genannt. Auf seinen Schiffen wurden die Sicherheitsmaßnahmen äußerst lasch gehandhabt, und er schickte Pötte auf See, die nur noch der Rost zusammenhielt. Immer wieder hatte es Unglücke mit seinen Schiffen gegeben, aber da er stets ausgezeichnet versichert war und die übelsten Kähne auf die Namen von Strohmännern liefen, machte ihm das ganze wenig aus. Sein Vermögen wuchs und wuchs, und wenn ein paar Matrosen elend ersaufen mußten, hatten sie eben Pech gehabt. Alerkides war fünfundachtzig. Bei ihm befand sich Pauline Gatto. Die neunzigjährige, schwarze Frau stammte aus New York. Ihr gehörte halb Harlem, und in allen schmutzigen und undurchsichtigen Geschäften an der Ostküste der Staaten hatte der Familienclan von Grandma Gatto seine Finger. Grandma Gatto fürchtete nur zwei
Dinge: die Armut und den Tod. Alerkides versprach der Goldstein, die anderen zu informieren. Zusammen mit der uralt wirkenden Grandma Gatto machte er sich auf. Lydia Goldstein ließ sich in ihrem Zimmer erleichtert in den Rollstuhl sinken. Sie hätte gern eine Zigarette geraucht oder einen Martini getrunken, aber sie wagte es nicht. Ihr Herz und ihr Kreislauf wurden immer schwächer. Sie rollte auf den Balkon hinaus. Die Sonne versank im Westen wie ein glutroter Ball im Meer. Die Insel und der Ozean waren traumhaft schön. Endlos dehnte sich das wogende Meer, verschmolz mit dem flammenden Horizont. Es mußten andere Inseln auf Sichtweite in der Nähe sein, aber man sah sie nicht. Auch das war eine magische Täuschung. Die reichen Alten waren mit der Luxusjacht und der viermotorigen Maschine Lewis D. Griffiths auf die Insel gekommen. Lydia Goldstein schaute zum Swimmingpool hinunter. Gerade stieg ein braungebrannter, muskulöser, schwarzhaariger junger Mann aus dem Wasser. Wasserperlen glitzerten auf seiner Haut. Er bewegte sich geschmeidig, und weiße Zähne blitzten in seinem gutgeschnittenen Gesicht. Er hieß Ramon und hatte sich erfolglos als Nachtklubsänger in Acapulco versucht, ehe Lydia Goldstein ihn aufgegabelt und zu ihrem sechsten Ehemann gemacht hatte. Damals war sie durch die Behandlung von Dr. Goddard attraktiv gewesen. Seit sie rasend schnell alterte, hatte sie sich ihm nicht mehr unter die Augen getraut. Gestern war er auf Skull Key eingeflogen worden. Er wohnte in einem anderen Trakt des Schlosses. Es gab ihr einen Stich, als sie sah, daß er mit einer jungen attraktiven blonden Frau redete, einer der Schloßdienerinnen. Sie trug einen knappen Bikini und bewegte sich aufreizend vor Ramon. Er legte den Arm um ihre Hüfte und wollte sie zur Bar in dem kleinen Gebäude am Pool führen. Die Eifersucht kochte in Lydia. Plötzlich war sie des Versteckspiels mit ihrem jungen Ehemann müde. Er hatte sie letzten Endes doch nur wegen ihres Geldes geheiratet, sollte er auch etwas für sie tun. »Ramon!« rief sie schrill.
Er sah nach oben. »Was gibt es?« Er erkannte sie nicht einmal. Er betrachtete sie wie eine Fremde. »Komm herauf zu mir!« sagte Lydia Goldstein kalt. »Deine Frau will dich sprechen, sie ist hier«, fügte sie hinzu. Ramon sagte leise etwas zu der Frau, was sie oben im dritten Stock nicht verstehen konnte. Seine Hand lag noch immer auf der Rundung ihrer Hüfte. Lydia hätte auf sie hinabspucken können. Wie jung sie waren! Die Frau ging zum Pool, hechtete hinein. Ramon legte die Hände wie einen Schalltrichter vor den Mund und rief herauf: »Wo finde ich Lydia? Im Schloß kann man sich verlaufen.« »Warte in der großen Empfangshalle unten! Ich schicke dir einen Diener.« Sie fuhr mit dem Rollstuhl ins Zimmer zurück. Neben dem Aufenthaltsraum befanden sich das Schlafzimmer und das Bad. Im Schlafzimmer rief sie übers Haustelefon den Schloßservice an, nannte ihren Namen und verlangte, daß Mr. Ramon Goldstein in zehn Minuten zu ihr heraufgeführt werden sollte. In hektischer Eile machte sie sich an ihr Make-up. Sie schmierte Tinkturen auf ihr welkes, runzeliges Gesicht, überprüfte die künstlichen Wimpern, gab dem blondgefärbten Haar die letzte Fasson. Dann schminkte sie sich die Lippen und betrachtete sich prüfend im Spiegel. Wie häßlich sie war, wie alt! Wie eine uralte Hyäne sah sie aus. Fast bereute sie ihren Entschluß, mit Ramon zu sprechen. Aber dann siegten die Härte und Bosheit in ihr. Er war ihr Mann, ihr Eigentum. Er sollte wissen, wie es um sie stand. Es waren noch knapp vierzig Minuten bis zu dem Treffen im großen Saal. Sie erhob sich mühsam aus dem Rollstuhl und ging nach nebenan in ihren Salon. Im Vergleich zu den anderen war sie noch ziemlich rüstig. Alain Pastis zum Beispiel, ein französischer Industrieller, mußte unter der eisernen Lunge liegen. Es klopfte an der Tür. Ein schlanker junger Mulatte ließ Ramon
ein. Er trug einen weißen Bademantel mit seinen Initialen auf der Brusttasche. Suchend sah er sich im Zimmer um. »Wo ist Lydia?« fragte er. Sie sah ihn nur an. Jetzt erst musterte er sie richtig. Sie sah, wie erst eine vage Ahnung in ihm aufkeimte, wie er begriff und wie sich Sekunden später Abscheu und Ekel in seinen Zügen spiegelten. Dann wurde Ramons Gesicht zur glatten, gutaussehenden, nichtssagenden Maske. »Hallo, Lydia«, sagte er. »Was ist passiert?« »Was soll passiert sein? Ich bin älter geworden, das ist alles.« »Das sehe ich, aber wie ist das passiert? Als wir geheiratet haben, warst du eine attraktive junge Frau. Jetzt siehst du aus wie eine …« Er verstummte. Er hatte Greisin oder sogar alte Schachtel sagen wollen. Ramon versuchte, sich auf die neue Situation einzustellen. Mit fahrigen Händen zündete er sich eine Zigarette an. Lydia kam auf ihn zu, griff ihm unters Kinn, und er zuckte unwillkürlich zurück vor der Berührung ihrer welken, knochigen Finger. Was für ein Scheusal, dachte er. »Ich werde bald wieder jung sein. Es gibt da eine Behandlung, weißt du, Ramon. Es sind Schwierigkeiten aufgetreten, aber sie müssen bald behoben sein. Es – es ist doch nicht so schlimm, daß ich eine Zeitlang ein wenig älter aussehe, oder?« Aber es war schlimm. Sie sah es in seinen Augen und verwünschte sich, daß sie dieses Treffen überhaupt arrangiert hatte. Zwischen ihnen würde es nie wieder so sein wie früher. Er würde in ihr von nun an immer die welke häßliche alte Frau sehen, die Greisin mit dem Hyänengesicht. »Nein«, sagte Ramon, »nicht sehr schlimm.« Sein Gehirn arbeitete wie ein Computer. So, wie sie aussah, konnte sie nicht mehr lange leben, und damit war er reich. Im Ehekontrakt stand eine Klausel, nach der ihm anderthalb Millionen Dollar zustanden, wenn die Ehe ohne sein Verschulden scheiterte, oder wenn Lydia starb. Diese anderthalb Millionen wollte er nicht riskieren. Lydia sah so aus, als stünde sie bereits an der Schwelle des Todes. Viel-
leicht konnte er noch viel mehr herausholen, wenn Lydia in Kürze starb. Etwas Besseres konnte ihm gar nicht passieren. »Küß mich!« sagte Lydia. Ramon zwang sich, sie in die Arme zu nehmen. Er preßte die Lippen kurz auf den runzeligen Mund der Greisin. Der Schweiß brach ihm aus. Sein Herz pochte, und das Gefühl des Ekels vor dem schlaffen Körper der Greisin, den muffigen Ausdünstungen ihres alten Leibes wurde überwältigend. Er wollte sich wieder freimachen, aber Lydia klammerte sich wie eine Klette an ihn. »Küß mich – richtig«, stammelte sie. »Sei zärtlich zu mir. So wie du es sonst immer warst. Denkst du nicht mehr an unsere Liebesnächte, an unsere schöne Zeit?« Er stieß sie hart von sich. Lydia stürzte auf den Teppich. Er wollte ihr aufhelfen, blieb dann aber stehen und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. »Damals war alles anders. Ich wußte nicht, daß du – daß du eine uralte Frau bist. Du stehst ja schon mit beiden Füßen im Grab.« In Lydias Gesicht zuckte es. Mühsam stand sie auf. »Ich enterbe dich«, kreischte sie, »wenn du dich mir gegenüber nicht ordentlich benimmst! Du bist mein Mann! Du hast eheliche Pflichten, sonst kann ich mich scheiden lassen.« Ramon lachte nur. »Schau doch mal in den Spiegel! Ich soll mit dir schlafen? Du spinnst ja. Geh nur ruhig zum Scheidungsrichter und versuche, mir die Schuld zuzuschieben. Da wirst du schön einbrechen. Aus deinem Testament kannst du mich streichen, aber meine anderthalb Millionen sind mir auf jeden Fall sicher, wenn du dich von mir scheiden läßt.« »Du Lump! Du Gigolo! Du Mitgiftjäger!« »Wenn du dich so aufregst, siehst du noch häßlicher aus, Lydia. Du hast mir nichts vorzuwerfen. Ich verlasse dich nicht. Ich begleite dich und gebe mich nicht mit anderen Frauen ab. Ich bin dein ergebener Ehemann, auch jetzt noch, aber intime Kontakte und Zärtlichkeiten können zwischen uns nicht mehr stattfinden.« »Wozu brauche ich denn dann einen Mann?« »Das ist deine Sache. Ich habe dich nicht gezwungen, mich zu hei-
raten. Du hättest dir ja jemanden in deinem Alter suchen können, obwohl ich bezweifle, daß es so alte Knacker überhaupt gibt.« Damit war er zu weit gegangen. Lydia rannte mit einer Geschwindigkeit, die er ihr nicht zugetraut hätte, zum Schrank, riß eine Schublade auf und holte eine lange Schere hervor. Die eine Schneide der Schere zum Stoß erhoben ging sie kreischend und zeternd auf ihn los. Aber sie hatte keine Chance gegen den jungen starken Mexikaner. Er entriß ihr die Schere, drängte sie zurück, stieß sie auf die Couch, warf die Schere in die Ecke und lachte höhnisch. »So alte Leute wie du sollten sich nicht mehr aufregen, Lydia. Die Arterien sind schon zu dünn und verkalkt. Die ganze Zeit habe ich nach deiner Pfeife tanzen müssen, aber das ist jetzt vorbei. Ich mache, was ich will, und wenn es dir nicht paßt, kannst du dich von mir scheiden lassen. Für anderthalb Millionen Dollar.« Ramon hatte sich auf die neue Situation eingestellt. Er wußte, daß er von Lydia Goldsteins Testament nichts zu erwarten hatte. Sich das Erbe zu verdienen, dazu ekelte es ihn zu sehr vor der Alten. Er traute ihr auch nicht. Die Menschenfresserin würde ihn sicher betrügen. Aber den Ehekontrakt hatte er schwarz auf weiß. Solange er keine schwerwiegende Eheverfehlung beging, würde die Schuld bei einer Scheidung immer auf die alte Lydia Goldstein zurückfallen. Ramon Goldstein, als Ramon Ortega in den schlechteren Nachtklubs von Acapulco ausgepfiffen, lachte in sich hinein, als er das Zimmer verließ. Lydia Goldstein lag auf der Couch und schluchzte verzweifelt. Die Wut schüttelte sie. Das sollte Ramon ihr büßen, das schwor sie sich. Aber zuerst einmal mußte Dorian Hunter so weit gebracht werden, daß er ihr und den anderen die entschwundene Jugend zurückbrachte. Damit stand und fiel alles. * Ich trug saubere Kleidung, meine Wunden waren versorgt, und ich hatte reichlich zu essen und zu trinken bekommen. Hübsche Mäd-
chen kümmerten sich um mich. Ich war in einer Prachtsuite im Westtrakt des Hauptgebäudes untergebracht, oben im zweiten Stock. Die Fenster waren vergittert. Auf den Balkon konnte ich nicht, und vor der Tür standen ein halbes Dutzend schwerbewaffneter Gangster. Die Handschellen hatte man mir abgenommen. Das Zimmer war vollklimatisiert. Gedämpfte Musik flutete durch den Raum. Es gab meinen Lieblingsbourbon und Players, meine Marke. Äußerlich ging es mir prächtig, aber innerlich nagte die Sorge um unser aller Schicksal an mir, und Wut und Haß wegen Marvin Cohens Tod erfüllten mich. Ein melodischer Gong ertönte. Eines der fünf Mädchen, ein gertenschlankes Chinesenmischblut mit exotischem Gesicht, öffnete die Tür. Al Capone, Babyface Nelson und acht andere standen draußen und bedrohten mich mit Waffen. »Komm, Hunter!« sagte Capone. »Du bist als Ehrengast zu einem Mahl geladen.« Nelson legte mir Handschellen an. Er achtete darauf, seinen Kumpanen nicht in die Schußlinie zu kommen. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu packen und als Kugelfang zu benutzen. Capone legte mir eine helle Jacke über die Schultern und band mir grinsend eine weiße Seidenkrawatte um den Klagen des weinroten Samthemdes. »Krawattenzwang«, sagte er. »Der Bedeutung des Ereignisses angemessen.« Sie führten mich durch eine verwirrende Vielzahl von Gängen. Jeden Augenblick zeigten zahlreiche Waffenmündungen auf mich. Capone ging neben mir. »Sagen Sie«, fragte ich ihn, »sind Sie wirklich Al Capone?« Er grinste. »Na klar. Willst du ein Autogramm haben?« Ich verzichtete und fragte ihn, wie er hergekommen sei, aber er hüllte sich in Schweigen. Livrierte Lakaien öffneten die Tür eines großen Saales: Kristallüster erleuchteten eine reichgedeckte, hufeisenförmige Festtafel. Davor befand sich eine erhöhte, mit schwarzen Tüchern abgedeckte Plattform mit einem breiten, schwarzen Seidenbett. Neben dem Bett
stand ein fahrbares Serviertischchen. Eine funkelnde, rasiermesserscharfe Machete lag darauf. Die alten Leute standen im Hintergrund des Saales und unterhielten sich. Als ich mich ihnen näherte, wurde Coco gerade durch einen Seiteneingang hereingeführt, gebadet, frisiert, in einem tiefausgeschnittenen, weißen Kleid, ein Brillantdiadem im Haar und eine Halskette im Wert von mindestens einer dreiviertel Million Dollar um den Hals. Wir bekamen die Ehrenplätze an der Stirnseite der Tafel. Zu meiner Rechten saß Coco, zu meiner Linken Lydia Goldstein. Cocos Hände waren wie meine auf den Rücken gefesselt, Silvio Pereira saß neben ihr. Die anderen Alten hatten an der Tafel Platz genommen. Coco und ich wurden von Lakaien bedient und gefüttert. Ein Wandteil an der linken Seite des Saales glitt hoch. Auf einer Bühne saß ein Orchester, das Unterhaltungsmusik und Evergreens spielte. Es war eine sehr gute Band. Sie hätte in Las Vegas, Miami oder in New York in der Carnegie Hall auftreten können. Ich sah, wie Coco die Augen schloß und sich konzentrierte. Erst nach einer Weile öffnete sie sie wieder. Nichts war passiert. »Was ist?« raunte ich ihr leise zu. »Meine Hexenfähigkeiten lassen mich im Stich. Ich kann meine Künste nicht mehr anwenden, seit wir auf der Insel sind.« Die Goldstein stieß mir den knochigen Ellbogen in die Rippen. »Es ist unhöflich, sich so leise zu unterhalten, daß andere nichts mitbekommen.« Sie war auf jugendlich getrimmt und sah dadurch erst recht wie ein altes Wrack aus. Ihre Augen waren gerötet. Sie plauderte mit mir über Hollywoods große Zeit, über Stars, die sie persönlich gekannt hatte, ihre Schwächen und Skandale. »Sie kannten doch sicher den größten Filmliebhaber der fünfziger Jahre?« Sie nannte den Namen eines der größten Hollywoodstars. Natürlich hatte auch ich etliche Filme mit ihm gesehen. »Er war völlig von seiner Mutter abhängig«, erzählte sie. »Noch mit fünfzig Jahren rief er sie bei jeder kleinsten Kleinigkeit an und
fragte sie um Rat. Er hörte immer auf sie. Er machte sich auch mehr aus Männern als aus Frauen.« Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Die Goldstein machte noch ein paar Bemerkungen über ihre diversen Männer. Die alten Männer und Frauen plauderten miteinander. Zwei Dutzend Greise und Greisinnen waren es, alle herausgeputzt und mit Schmuck versehen. Eine sich immer mehr steigernde Spannung lag in der Luft. Die Alten warfen mir und Coco immer wieder Seitenblicke zu. Ich aß wenig von den sechzehn Gängen, ließ mir hinterher jedoch von einem Lakai einen Drink servieren und eine Zigarette anstecken. Die Kapelle spielte einen Tusch. Im Hintergrund öffnete sich eine Tür. Miß Pickford wurde hereingeführt. Ich hätte sie kaum erkannt. Sie trug die Kleidung einer Dame aus der Rokokozeit, Reifrock, enggeschnürte Taille, enges Korsett und eine hohe graue Allongeperücke. Zwei Männer, wie Rokokosoldaten gekleidet, führten sie. Hinter ihr schritt eine unheimliche Gestalt, ein Henker mit schwarzer, enger Hose, nacktem, muskelstrotzendem Oberkörper und einer roten, spitz zulaufenden Kapuze auf dem Kopf. Hinter ihm traten ein halbes Dutzend Gangster ein und bauten sich zwischen mir und Coco auf. Miß Pickford wurde aufs Podium geführt. Lydia Goldstein erhob sich, ging um die Tafel herum und stellte sich mir gegenüber. Aus ihrer krokodilledernen Handtasche nahm sie ein Bündel maschinenbeschriebener Seiten. Es war die fragmentarische Abschrift des Daemonicon. Lydia hielt mir die Seiten vor die Nase und rief mit schriller Stimme: »Wenn du nicht sofort mit der Vorarbeit zur Beschwörung eines Dämons, der uns die ewige Jugend geben kann, anfängst, wird Miß Pickford sterben. Also, wirst du gehorchen?« Ich sah Miß Pickford an. Der Henker stand mit gekreuzten Armen neben ihr. Die Soldaten hielten sie immer noch gepackt. »Nehmen Sie auf mich keine Rücksicht, Mr. Hunter!« rief sie mit brüchiger Stimme. »Ich will eher sterben, als daß wir alle den Dämonen anheimfallen und als Untote oder Schlimmeres vegetieren müs-
sen.« »Nicht weich werden, Dorian«, raunte Coco mir zu. »Nur wer jede Hoffnung fahren läßt und sich selbst aufgibt ist verloren.« Hatte sie noch Hoffnung? Erwartete sie von Olivaro etwas oder von Phillip? In meinem Innersten hoffte ich immer noch auf Phillip. Er konnte einfach nicht zulassen, daß wir nacheinander ermordet wurden. Vielleicht entzog er die bedauernswerten Opfer im letzten Augenblick dem Zugriff der Mörder und hinterließ ein Trugbild an ihrer Stelle. Es war eine verzweifelte winzige Hoffnung, aber es war die einzige. Und nachgeben durfte ich nicht. Ich schüttelte den Kopf. Die Goldstein gab ein Zeichen, die Soldaten warfen Miß Pickford auf das seidene Bett, und der Henker fiel über sie her. Es war ein Vieh von einem Kerl. Wie ein Tier stürzte er sich auf sein unglückliches Opfer. Miß Pickford gab keinen Laut von sich, als er sich brutal an ihr verging. Ich hatte den Kopf abgewandt. Coco schloß die Augen. Nur das Keuchen des Mulatten und das hämische Kichern der Greisinnen und Greise war zu hören. Wäre ich nicht gefesselt gewesen, ich hätte einen verzweifelten Versuch unternommen, einem der Gangster die Waffe zu entreißen und alle abzuknallen. Der Mulatte stieß einen Schrei aus. Nun sah ich doch hin. Er stand neben der auf dem schwarzen Laken liegenden Miß Pickford. Seine Hose hatte er wieder an, und er hatte die Machete zum Schlag erhoben. Miß Pickford stöhnte auf. Die blanke Klinge zischte durch die Luft, traf ihren Hals und durchschnitt ihn. »Du hast zwei Stunden Bedenkzeit, Dorian Hunter«, rief Lydia Goldstein. »Dann stirbt Trevor Sullivan. Die Tafel ist aufgehoben.« * In meinem Zimmer grübelte ich. Die hübschen Mädchen waren verschwunden, Al Capone und Albert DeSalvo, der Würger von Boston, waren bei mir. Meine Hände waren mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. Man befürchtete, daß ich zu einer Verzweiflungs-
tat imstande war. Capone rauchte eine Zigarre, DeSalvo eine Zigarette. Draußen war es dunkel, das Kreuz des Südens stand in heller Pracht am Himmel. Finster starrte ich vor mich hin, dann auf die Wanduhr. Zweiundzwanzig Uhr dreiundzwanzig war es jetzt. Noch sieben Minuten, bis Trevor Sullivan sterben mußte – wenn ich bis dahin meine Meinung nicht geändert hatte. Das Telefon klingelte. Capone meldete sich und nahm seine Anweisungen entgegen. Dann wandte er sich an mich. »Nun, Hunter, hast du es dir überlegt?« »Mein Entschluß steht fest. Ich beschwöre keinen Dämon!« »Nun gut. Komm, Albert! Bringen wir ihn in den Südhof.« Capone schloß die Tür auf. Fünf Gangster kamen herein. Sie packten mich und zerrten mich hinaus. Wieder führten sie mich durch die verwirrenden Gänge des Schlosses, aus dem Gebäudetrakt heraus und über den Hof zum erhöhten oberen Teil des Schlosses. Der Südhof war von Mauern und Gebäuden umgeben. Auf die Dächer der Gebäude waren Flutlichtscheinwerfer montiert. Von Balkonen sahen wie von Logenplätzen die Greise und Greisinnen herab. Ich sah ihre bösen Gesichter, und ohnmächtiger Zorn würgte mich. Statt dem Tod ins Auge zu sehen, häuften sie Verbrechen auf Verbrechen. Auf einem der Balkone sah ich Lydia Goldstein. Vier Gangster waren bei ihr. Sie hatten einen schwarzhaarigen jungen Mann gepackt und zwangen ihn, in den Hof hinabzusehen. Vier andere Gangster hielten Trevor Sullivan fest. Er stand in der Mitte des Hofes. »Das ist ein Dämonenschloß, Hunter«, rief er mir zu, als er mich sah. »Ich habe hier dauernd Anfälle bekommen. Geben Sie auf keinen Fall nach!« Der Südhof maß über dreihundert Quadratmeter. Vier Jeeps standen da. Die Kühler zeigten in vier verschiedene Richtungen. Silvio Pereira kam herbeigehumpelt, auf einen Stock mit silberner Krücke gestützt. Bei dem Schreckensmahl im großen Saal hatte Lydia Goldstein mir seinen Namen genannt. Er fuchtelte mit den Schreibma-
schinenseiten herum. Lewis D. Griffith konnte ich nirgends erblicken. Er war schon bei dem Gastmahl nicht dabeigewesen. »Wie ist es, Hunter? Wollen Sie endlich tun, was wir verlangen, oder soll Trevor Sullivan vor Ihren Augen von den Jeeps in Stücke gerissen werden?« Das also hatten sie vor. Ich entschloß mich zu einer Verzweiflungstat. Die Gangster hielten mich fest, aber meine Füße waren frei. Pereira machte den Fehler, mir zu nahe zu kommen. »Seid verdammt, alle miteinander!« heulte ich und versetzte ihm mit aller Kraft einen Tritt. Er wurde zurückgeschleudert und überschlug sich ein paarmal auf der Erde. Mit puterrotem Gesicht versuchte er sich aufzustemmen, aber dann starb er. Er fiel aufs Gesicht und blieb liegen. Der gräßliche Zerfall seines Körpers, die Verwandlung zur Mumie begann. Entweder hatte ich ihn wirklich böse getroffen, oder seine Zeit war ohnehin gekommen. Die Alten heulten vor Wut. Ein Gangster sprang vor mich hin, schwang einen Totschläger. »Halt!« gellte Lydia Goldsteins Stimme. »An Hunter darf sich keiner vergreifen! Richtet Trevor Sullivan hin!« Der Gangster, ein langer, knochiger, rothaariger Bursche mit einer karierten Schlägermütze, steckte seinen Totschläger wieder weg. Unter dem Sternenhimmel begannen auf dem Prunkschloß die letzten Vorbereitungen zu Trevor Sullivans Hinrichtung. Er wurde auf die Erde geworfen. An seinen Schultergelenken und an den Oberschenkeln wurden Drahtseilschlingen befestigt, die man mit den Stoßstangen der Jeeps verband. Die vier Gangster setzten sich hinters Steuer und ließen den Motor an. Sie fuhren so weit, daß die Seile sich strafften, aber noch kein Zug ausgeübt wurde. Dann warteten sie mit laufenden Motoren und sahen zu Lydia Goldstein auf dem Balkon hoch. »Was ist, Hunter?« Ich antwortete nicht. »Los!« gellte die Stimme der Menschenfresserin.
Die Motoren heulten auf. Phillip, dachte ich verzweifelt, gib mir ein Zeichen, daß das alles nicht wahr ist, daß es ein Trug ist und Trevor Sullivan in Wirklichkeit nichts geschieht! Bitte, Phillip, wenn du deine Hand im Spiel hast, zeig es mir! Ich sah nichts, hörte nichts, spürte keine Gedankenimpulse. Trevor Sullivans Schrei gellte fürchterlich durch die Nacht. Die Räder der Jeeps drehten durch. Dann überwanden zwei Jeeps den Widerstand und fuhren ruckartig weiter. Die Fahrer der beiden anderen Jeeps setzten zurück und gaben Gas. Trevor Sullivan war verstummt. Der ehemalige Observator-Inquisitor war in Stücke gerissen worden. »Zwei Stunden Bedenkzeit«, rief Lydia Goldstein vom Balkon herunter. »Dann ist Donald Chapman dran. Für deinen Zwergenfreund haben wir uns etwas ganz Besonderes ausgedacht, Dorian Hunter.« Wie ich auf mein Zimmer zurückkam, weiß ich nicht mehr. Das Blut dröhnte in meinen Ohren. Ein so wahnsinniger Haß erfüllte mich, daß ich glaubte, ersticken zu müssen. Ich hätte die alten Scheusale kalten Herzens allesamt erwürgen können. Capone schlug mir in meinem Zimmer auf die Schulter. »Nimm's nicht so schwer, Hunter! Jeder muß mal sterben.« Er lachte. »Tu doch einfach, was Griffith, die Goldstein und die anderen von dir wollen, dann hast du Ruhe und bekommst außerdem noch einen Haufen Geld und alles was du sonst noch willst. Mann, du bist schön blöd, daß du dich so widerspenstig zeigst.« »Hau ab!« sagte ich. »Ich will keinen von euch mehr sehen! Meine Hände sind gefesselt, aber ich trete alles zusammen und renne alles um, wenn ihr nicht sofort verschwindet.« Ich mußte meinem Zorn Luft machen. Capone hatte offenbar Weisung, mir kein Haar zu krümmen. Schulterzuckend ging er hinaus. Die fünf anderen Gangster, die mich hergebracht hatten, folgten ihm. Ich sank in einen Sessel, völlig erledigt. Immer noch sah ich Trevor Sullivans blutigen, verstümmelten Körper vor mir. Ich hatte schwere Zweifel, daß Phillip ihn und die anderen gerettet hatte. Aber wer konnte sich schon in die verschlungenen Gedankengänge des Herm-
aphroditen hineinversetzen? Für ihn bedeutete der Tod seiner Freunde vielleicht gar nichts; war lediglich eine Veränderung von einer Daseinsform zur anderen. Oder er war irgendwie verhindert, uns zu helfen. Coco konnte ihre Hexenkünste auf Skull Key schließlich auch nicht anwenden. Während ich grübelnd dasaß, wurde die Tür geöffnet. Zwei Gangster führten Coco Zamis herein. »Bring ihn zur Vernunft!« sagte Babyface Nelson zu ihr. »Sonst bist du auch bald an der Reihe. Wir lassen euch jetzt allein.« Er verließ den Raum und schloß von außen ab. Coco setzte sich auf die Sessellehne. Auch ihre Hände waren mit Handschellen auf den Rücken gefesselt. »Es ist sicher alles halb so schlimm« sagte Coco zu mir. »Ich nehme an, unsere Freunde werden alle irgendwie vor dem Tod gerettet. Schließlich ist Phillip noch in Freiheit und unauffindbar. Und ich bin sicher, wir können auch von anderer Seite mit Hilfe rechnen.« Sie meinte Olivaro. Ich ging nicht darauf ein. »Ich bin gar nicht sicher, ob Marvin Cohen, Miß Pickford und Trevor Sullivan nicht wirklich gestorben sind«, sagte ich. »Ich habe schwere Zweifel und mache mir Vorwürfe.« »Du wirst doch nicht nachgeben wollen?« »Ich weiß nicht, was ich tun soll, Coco. Wenn unsere Freunde wirklich tot sind, wenn sie durch meine Schuld so gräßlich sterben mußten? Wenn jemand sie rettet, warum gibt er uns dann kein Zeichen, keinen Wink und keinen Hinweis, daß wir uns keine Sorgen zu machen brauchen?« Darauf konnte Coco nichts antworten. Dumpf brüteten wir vor uns hin. Endlich öffnete sich die Tür wieder, und Lewis D. Griffith trat ins Zimmer. Auf sein Zeichen hin schleppten Babyface Nelson und ein paar Gangster Coco wieder weg. »Bleib hart, Dorian!« rief sie mir von der Tür aus noch zu. Griffith setzte sich mir gegenüber. Capone und DeSalvo stellten sich seitlich von mir auf, damit ich nicht Griffith trotz meiner gefesselten Hände angreifen konnte.
Griffith sah noch älter aus als auf der Jacht. Sein Ledergesicht war von unzähligen Runzeln und Falten durchzogen. Er trug wieder einen hellen Anzug, hatte eine teure Uhr aus Platin am Handgelenk und spielte mit einer kleinen Spraydose; sicher enthielt sie das K.O.Spray. »Ihre Geliebte hat Ihnen einen schlechten Rat gegeben. Außer Pereira ist noch eine alte Frau gestorben. Die anderen drängen auf eine Entscheidung. Wenn Chapman hingerichtet ist und Sie immer noch stur bleiben, warten wir diesmal keine zwei Stunden, ehe Coco Zamis an der Reihe ist.« Ich antwortete nicht, sondern sah an ihm vorbei auf einen Punkt an der Wand. »Ihr verstocktes Schweigen nützt Ihnen auch nichts. Nehmen Sie endlich Vernunft an, bevor noch mehr Unschuldige wegen Ihres Dickkopfes sterben müssen, Mann!« »Ich bin es nicht, der sie tötet! Was soll das Ganze, Griffith? Hier hat doch ein Dämon die Hand im Spiel. Wahrscheinlich derselbe, mit dem Dr. Goddard paktierte. Ihr Verschwinden von der Jacht, der magische Nebel, das prunkvolle Traumschloß auf der merkwürdigen Insel und die längst vergangenen Gangster- und Killergrößen als Schloßwache lassen keinen anderen Schluß zu. Weshalb ergänzt Ihr Dämon das sechste und siebente Kapitel des Daemonicon denn nicht selbst?« »Sie sind scharfsinnig, Hunter«, krächzte Griffith mißmutig. »Es stimmt. Ich habe die Insel, das Schloß und alles von einem Freund von Dr. Goddard zur Verfügung gestellt bekommen. Al Capone und die anderen sind ganz normale Gangster aus den Staaten. Ich habe sie selber für diesen Job angeworben und hergebracht. Der geheimnisvolle Freund Dr. Goddards hat ihr Aussehen für die Zeit, die sie hier sind, verändert. Er gab mir auch die Abschrift vom sechsten und siebenten Kapitel des Daemonicon. Mehr könnte er nicht für mich tun, sagte er. Nun müßte ich selber sehen, wie ich klarkomme.« Ich glaubte ihm nicht. »Wie sah dieser geheimnisvolle Unbekannte aus?«
»Es war kein Er, sondern eine Sie«, antwortete Griffith mühsam. Seine Stimme pfiff und ächzte wie ein defekter Lautsprecher. »Eine schöne rothaarige Frau mit grünen Augen und einer atemberaubenden Figur.« Die Sache wurde immer undurchsichtiger. Ich blieb bei meinem Entschluß, mich nicht der Schwarzen Magie auszuliefern. Griffith nahm es gelassen hin. »Noch ist das letzte Wort nicht gesprochen. Chapman ist als nächster dran.« Er erhob sich und humpelte hinaus. Auch Capone und DeSalvo gingen, Capone mit einem letzten Augenzwinkern. Ich wartete. Es wurde zwölf Uhr nachts, und unbarmherzig rückte der Minutenzeiger auf zwölf Uhr dreißig vor. Eine halbe Stunde nach Mitternacht sollte Don Chapman sterben. Fünf Minuten vorher holten Al Capone und seine Gangster mich wieder ab. Ich sträubte mich aus Leibeskräften, aber da schlug mir Capone mit dem Pistolengriff ins Genick, und sechs Gangster schleiften mich mit. Ich war am Rande der Bewußtlosigkeit. Sie brachten mich in einen großen Kellerraum. Die Greise und Greisinnen waren bereits versammelt. An den Wänden hingen Folterwerkzeuge, und ein Streckgerät, eine Eiserne Jungfrau und einige Kohlebecken, in denen man eiserne Zangen und andere Geräte erhitzen konnte, standen herum. Auf einem langgestreckten Tisch lagen allerlei Gerätschaften, lange Eisendornen, Daumenquetscher, Nagelzieher und Zahnbrecher. Mich schauderte, als ich die Instrumente sah. Die Gangster hielten mich fest, die Greise und Greisinnen fuchtelten mit den Folterwerkzeugen herum und stießen wütende Drohungen aus. »Gib uns die ewige Jugend, Dämonenkiller, sonst reißen wir dir alle Glieder einzeln aus!« »Beschwöre den Dämon, oder wir probieren alle Foltern an dir aus!« Eine uralte Schwarze zwickte mich mit einer Zange in den Arm. Ich verzog keine Miene. Die keifende, geifernde Schar der Alten rückte immer näher, die Lage wurde bedrohlich. Ich hatte keine
Angst. Lieber wollte ich selber sterben, als all meine Freunde und Coco Zamis auf scheußliche und qualvolle Weise hingemordet zu sehen. Lydia Goldstein trat dazwischen. Sie schlug mit einem Krückstock um sich und trieb die entfesselte Meute der Alten zurück. »Wir kriegen ihn schon weich. Aber wenn ihr ihn ermordet, ist alles verloren. Chapman soll hereingebracht werden.« Vier bildhübsche Schloßdienerinnen brachten den Zwergenmann auf einem Silbertablett. Don Chapman war unter einer sehr großen Glasglocke mit einer trichterförmigen Öffnung eingesperrt. Ein fünftes und sechstes Mädchen brachten einen länglichen, verschlossenen Weidenkorb. Das tischplattengroße Tablett mit Chapman wurde in der Mitte des Folterkellers abgesetzt, der Weidenkorb danebengestellt. Babyface Nelson stellte sich mit einer großen Blechzange dazu. »Hast du es dir überlegt, Hunter?« keifte die Goldstein mich an. Sie blieb wohlweislich aus der Reichweite meiner Füße. Ich spuckte ihr ins Gesicht. Sie kreischte und zeterte, ihr Kopf lief hochrot an, und ich glaubte schon, sie würde wie Silvio Pereira vor Wut sterben. Aber den Gefallen tat sie mir nicht. Capone trat vor mich hin. Zwei Gangster hingen an meinen Beinen, andere hatten mich an den Armen und Schultern gepackt. Ich bin einsneunzig groß und gewiß nicht schwächlich, aber mit gefesselten Händen war ich völlig wehrlos. Capone schlug zu, in meinen Magen und in die Genitalien. Ich wäre zu Boden gegangen, hätten die Gangster mich nicht gehalten. Die Schmerzen waren schlimm, rote Nebel wogten vor meinen Augen. Als ich wieder einigermaßen klar sehen konnte, schleppten sie mich zu der großen Glasglocke. Ein beleibter, aufgedunsen wirkender Greis zog den spitzen Stöpsel aus der Trichteröffnung. »Sag deinem Freund einen Abschiedsgruß!« schrie er Chapman an. »Seinetwegen mußt du sterben.« »Nimm keine Rücksicht auf mich«, hörte ich Chapmans dünne, hohle Stimme.
Die Gangster zerrten mich ein paar Schritte zurück. Babyface Nelson öffnete den Weidenkorb und griff mit der Blechzange hinein. Er förderte eine zappelnde Vogelspinne zutage und schob die häßliche, behaarte Spinne durch die Trichteröffnung. Im Nu hatte er acht Vogelspinnen zu Don Chapman unter die Glasglocke gesteckt: Die Spinnen, faustgroße Exemplare, hatten im Korb miteinander gekämpft. Zweien fehlte ein Bein, einer sogar zwei. Sie bildeten einen Halbkreis um Don Chapman. Er war zurückgewichen und drückte sich mit dem Rücken gegen die Wand der Glasglocke. Ich wollte mich nach vorn werfen, die Glasglocke entzweitreten, aber die Gangster hielten mich fest. Die Greise und Greisinnen raunten und murmelten, kicherten hämisch. Die Vogelspinnen stürzten auf Don Chapman los. Der Puppenmann wehrte sich verzweifelt, schlug und trat um sich, aber gegen acht Vogelspinnen, die im Verhältnis zu seiner Körpergröße so groß wie Wölfe waren, hatte er keine Chance. Zwei der Spinnen konnte er töten, dann begannen ihre Bisse zu wirken. Seine Bewegungen wurden unkontrolliert. Er brach in die Knie, und sie waren über ihm. Ich wandte den Kopf ab. Mein Gesicht brannte, als hätte jemand Säure darübergegossen. Es war dasselbe Gefühl wie damals, als die Anhänger des Dämons Srasham mich in Istanbul auf magische Weise gezeichnet hatten. Die Tätowierung war längst wieder aus meinem Gesicht verschwunden, aber jetzt brannten meine Augen von den Tränen, die ich um meinen gräßlich hingemordeten Freund nicht weinen konnte. * Auf mein Zimmer zurückgebracht, starrte ich durchs Glas der geschlossenen Balkontür hinaus in die Nacht. Ich war allein. Ich hatte eine letzte Bedenkzeit von einer Stunde, dann sollte Coco Zamis sterben. Es war eine herrliche Nacht. Das Märchenschloß wurde im Mondund Sternenlicht gebadet. Aber ich hatte kein Auge für die Schön-
heit rundum, für die weißen Türme und Zinnen, die sich von dem Hintergrund des samtenen, sternenbesäten Himmels abhoben. Ich überlegte, ob ich versuchen sollte, das dicke Glas der Balkontür aus dem Rahmen zu treten und mich vom zweiten Stock in die Tiefe zu stürzen. Aber das konnte ich nicht. In keinem meiner Leben hatte ich Selbstmord begangen; auch in verzweifeltster Lage nicht. Außerdem besaß ich noch ein kleines Fünkchen Hoffnung. Ich dachte mit aller Macht an den Hermaphroditen Phillip. Wo bist du? schrie mein von Zweifeln gequältes Hirn. Wenn du hier bist, gib mir ein Zeichen! Sag mir, ob unsere Freunde noch am Leben sind oder ob sie den gräßlichen Tod gefunden haben, den ich mitansehen mußte. Sag es mir! Ich weiß nicht, wie lange ich da stand und den Ruf meiner Gedanken hinausschickte. Da hörte ich ein sanftes Klingen und Schwingen. Die Luft auf dem Balkon vibrierte, und dann war plötzlich Phillip da. Er trug ein weißes Gewand, und die blonden Haare umschmeichelten glänzend das großäugige, mädchenhafte Gesicht. Seine Gestalt erschien überirdisch. Er trat lächelnd durch das Glas der Balkontür zu mir ins Zimmer. »Phillip!« rief ich und fügte gleich hinzu: »Leise! Sei vorsichtig, damit sie dich nicht erwischen!« Er hatte zwar übernatürliche Fähigkeiten, aber er war keineswegs immun gegen irdische Waffen. Er lächelte nur sanft und deutete auf die elektrische Uhr an der Wand. Der Sekundenzeiger bewegte sich nicht mehr. Ich sah auch, daß einige Stubenfliegen, die zuvor die Lampe umkreist hatten, reglos in der Luft hingen. Phillip hatte auf geheimnisvolle Weise die Zeit angehalten. »Bist du gekommen, um mich und Coco zu retten? Was ist mit den anderen? Leben sie?« Phillips Augen strahlten golden. »Es gibt herrliche Blumen auf dieser Insel«, sagte er mit melodischer Stimme. »Hier möchte ich länger bleiben. Wie sie duften! Und wie schön und zart ihre Blütenblätter sind! Golden, duftig und leicht, mit einem rot-schwarz-blauen Backenrand. Tausend Insekten umsummen sie.«
»Phillip, hast du Cohen, Miß Pickford, Sullivan und Chapman gerettet oder nicht?« »Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Dorian«, flötete der Hermaphrodit. »Ich war die ganze Zeit bei den Blumen.« Die Erkenntnis traf mich wie ein Schock. Ich mußte mich setzen. Meine Knie zitterten. Phillip wußte überhaupt nicht, was vorgefallen war. Er ahnte nicht einmal, daß unsere vier Freunde einen gräßlichen Tod gestorben waren. Als ich ihm berichtete, was geschehen war, reagierte er nicht; er sprach wieder von seinen Blumen. Hätte ich die Hände freigehabt, ich hätte ihn an den schmächtigen Schultern gepackt und durchgeschüttelt. So konnte ich nur beschwörend mit ihm reden. »Phillip, du mußt uns helfen. Verstehst du nicht? Coco soll ermordet werden, wenn ich mich nicht der Schwarzen Magie verschwöre und einem Dämon ausliefere.« »Oh, Dorian, hättest du diese Blumen gesehen, dir könnte nichts anderes mehr im Leben gefallen.« Er ging wieder zur Tür, vielleicht schwebte er auch über den Boden. Ich sah es nicht genau. Verzweifelt schaute ich ihm nach. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Irgendwann sehen wir uns wieder, Dorian.« Er schritt durch das Glas, stand einen Augenblick als strahlende Erscheinung draußen auf dem Balkon und war dann verschwunden. Ich starrte immer noch auf den Fleck, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte. Die allerletzte Hoffnung war beim Teufel. Meine Gefährten waren unzweifelhaft tot. Der Sekundenzeiger der Uhr bewegte sich wieder, die Fliegen umsummten die Lampe. Die Zeit schritt fort, auf zwölf Uhr dreißig zu, auf den Zeitpunkt, an dem Coco sterben mußte. Niemand würde sie vor dem Tod erretten. * Wieder wurde ich abgeholt und weggeschleppt. Lydia Goldstein erwartete mich im Rollstuhl im Gang vor dem Bankettsaal. Ihre
schwarzen Augen funkelten böse. Alt und verfallen saß sie in ihrem chromblitzenden Luxusrollstuhl. »Es findet wieder ein Gastmahl statt, Hunter, mit einer ganz besonderen Spezialität. Hexenfleisch à la Coco Zamis.« Ich schrie auf. Capone und vier Gangster hielten mich fest. Die Goldstein kicherte. »Du hörst richtig, Dämonenkiller. Es haben auch andere schon versucht, die fragmentarischen sechsten und siebenten Kapitel des Daemonicon zu ergänzen. Einer Voodoo-Hexe von Haiti, einer uralten Mamaloi, ist es ebensowenig gelungen wie den anderen, aber sie gab uns immerhin einen Tip. Wenn wir das Fleisch einer jungen Hexe verspeisen und ihr Blut trinken, wird uns das vielleicht für eine Weile die Jugend wiedergeben. Und das ist doch immerhin etwas.« Auf ein Zeichen Lydia Goldsteins wurde ich zur Küche neben dem Bankettsaal geführt. Einer der Gangster zog ein Stück von der Wandverkleidung weg, und durch eine Lücke, vor der sich ein Einwegspiegel befand, konnte ich in die Küche sehen. In einem riesigen Backofen loderte ein großes Feuer. Die Ofenklappe glühte rot. Fast glaubte ich, die Hitze bis hier draußen auf dem Flur spüren zu können. Coco Zamis war nackt auf ein Brett geschnallt. Es hing an einer Art Galgenaufzug und konnte gedreht werden. Unter dem Brett stand ein großer Kessel, um das Blut aufzufangen. Zwei finstere, brutale Burschen mit Metzgerkitteln standen neben Coco, große Schlachtmesser in den Händen. Ein breiter Holztisch zum Zerlegen stand in der Ecke, allerlei Metzgergeräte, Messer und Hackbeile lagen auf der Bank daneben. An einem langen Tisch in der Mitte der Küche waren die Köche angetreten, sechs Männer und Frauen in weißen Schürzen und hohen Mützen. Unbeteiligt und ohne jede Regung betrachteten die Metzger und die Köche Cocos nackten Körper, als sei es ein Stück Vieh, das sie schlachten und zubereiten sollten. Vor meinen Augen drehte sich alles. Mir wurde übel. »Nun zum Bankettsaal!« sagte Lydia Goldstein. Die Gangster schleppten mich in den Saal. Siebzehn alte Männer und Frauen saßen an dem langen, weißgedeckten Tisch. In silbernen
Kandelabern brannten viele Kerzen. Die Goldstein rollte vor mir in den Saal, und als ich hereingeschleppt wurde, ging ein zorniges Gemurmel durch die Reihen der Alten. Die mit dem Rücken zu mir saßen, hatten sich umgedreht. »Hast du ihn endlich soweit, oder sollen wir die Hexe fressen?« fragte eine häßliche alte Vettel. Ein zusammengeschrumpfter Mann mit faltigem Knittergesicht und übergroßer Nase erhob sich. Es war der Großreeder Stavros Alerkides. Eine große Sonnenbrille verbarg seine stechenden Augen. Er tippte mir mit seinem Krückstock vor die Brust. »Verdammter Hund, komm endlich zur Vernunft, sonst steche ich selbst die Hexe vor deinen Augen ab!« Die Goldstein ließ mich wieder auf den Flur hinausschleppen. Sie fuhr im Rollstuhl, Stavros Alerkides humpelte hinterher. Wir warteten im Gang. Ich konnte wieder durch das Loch in der Wand mit dem Einwegspiegel davor schauen. Alerkides humpelte in die Küche. Die Metzger schliffen ihre Messer. Ich bäumte mich so im Griff der Gangster auf, daß sie mich nicht mehr halten konnten. Wir alle stürzten zu Boden, und Gapone pfiff Verstärkung herbei. Ich kämpfte trotz meiner auf den Rücken gefesselten Hände wie ein Tier, trat und biß und stieß mit dem Kopf zu, rammte ihn Capone in den Magen, daß er grün im Gesicht wurde. Aber dann hatten mich ein Dutzend Männer überwältigt. Die Küchentür war geöffnet. Die Goldstein hielt mit ihrem Rollstuhl im Türrahmen. Sie winkte, ich sollte zu der Sichtluke in der Wand geschleift werden. Ich ging freiwillig hin. Coco hing mit dem Kopf nach unten über dem großen Kessel. Alerkides hatte ihr ein Metzgermesser an die Kehle gesetzt. Er wartete auf Lydia Goldsteins Zeichen. Die Menschenfresserin sah mich an. »Nun, Dämonenkiller? Wirst du jetzt endlich tun, was wir verlangen, oder soll es Braten und Blutwein à la Zamis geben?« Der Gedanke, daß sie Coco umbringen wollten, war zuviel für mich. Mein Widerstand zerbrach. Ich gab mich auf. Sollte ich den
Dämonen anheimfallen und ein Verfluchter sein bis in alle Ewigkeit, wenn nur Coco gerettet wurde. In diesen Augenblicken wurde mir klar, wie sehr ich sie liebte. Mehr als mich selbst und mein eigenes Leben und Schicksal. »Halt! Ich will alles tun, was ihr verlangt, aber laßt Coco Zamis frei! Ihr darf kein Haar gekrümmt werden.« Lydia Goldstein gab Stavros Alerkides einen Wink, von Coco abzulassen. Hämisch grinsend tat es der Alte, brachte ihr aber noch einen kleinen Schnitt zwischen den Brüsten bei und fletschte die Zähne in meine Richtung. »Bringt ihn in den Arbeitsraum!« sagte die Goldstein zu den Gangstern. Coco hatte nicht bemerkt, was sich auf dem Flur abgespielt hatte. Sie hing schon einige Minuten mit dem Kopf nach unten und nahm ihre Umgebung überhaupt nicht mehr richtig wahr. Das in den Kopf sackende Blut brauste und dröhnte in ihren Ohren. Ich wurde ins Erdgeschoß geschleppt. Auf der Treppe hörte ich hinter mir das Jubelgeschrei der Greise und Greisinnen. Lydia Goldstein hatte ihnen gerade die frohe Botschaft übermittelt. Der Arbeitsraum war ein großes, atelierartiges Zimmer mit vergitterten Fenstern. Capone, Babyface und weitere Gangster bedrohten mich mit ihren Waffen. Langsam kam ich mir wie ein wildes gefährliches Tier vor. »Mach keine Dummheiten, Dämonenkiller!« sagte Capone. »Wir dürfen dich nicht erschießen, aber mit einer Kugel im Bein oder in der Schulter kannst du genausogut arbeiten.« Er lachte. »Das wäre vielleicht viel einfacher für uns.« »Die Goldstein und die anderen Alten werden das nicht zulassen. Ich kann schnell oder auch langsam arbeiten, und wenn ich langsam vorgehe, werden noch ein paar von den Alten sterben.« Ich bekam eine schwere Eisenkugel mit einer kurzen Kette und einem Ring ans rechte Bein geschnallt. Meine Hände wurden nun nach vorn gekettet. So hatte ich mehr Bewegungsfreiheit und konnte an die Arbeit gehen. Die Goldstein kam mit ihrem Rollstuhl angefahren, flankiert von
Alerkides und Pauline Gatto. Sie gab mir einen Schnellhefter mit den Schreibmaschinenseiten der lateinischen Daemonicon-Abschrift. Lewis D. Griffith sah ich ebensowenig wie oben im Bankettsaal; ich hatte aber auch keine Sehnsucht nach ihm. »Capone und seine Männer werden dich bedienen, Dämonenkiller, und dir alles geben, was du brauchst«, sagte die Menschenfresserin. »Du wirst die Nacht durcharbeiten. Du kriegst schwarzen Kaffee, und wenn es nötig ist, auch Captagontabletten. Ich will bald ein Ergebnis sehen. Wenn du bis morgen früh keine Fortschritte erzielt hast, wird Coco Zamis ausgepeitscht. Und wenn es danach immer noch nicht schnell genug vorwärtsgeht, werden wir uns ein paar andere Sachen für sie einfallen lassen.« Ich antwortete nicht. Was hätte ich auch sagen sollen. Capone berichtete der Goldstein, womit ich gedroht hatte. »Ach«, keifte sie, »du willst deiner Coco wohl gleich eine Tracht Prügel oder noch eine schlimmere Folter zukommen lassen? Alerkides ist ein sehr erfinderischer Mann. Er würde sich Coco gern vornehmen.« Ich mußte mich beherrschen, um nicht auf sie loszugehen, aber das hätte mir nur Unannehmlichkeiten eingebracht. »Behandelt mich und Coco anständig, dann leiste ich gute Arbeit. Aber wenn ihr mit Drohungen, der Folter oder anderen Druckmitteln kommt, beißt ihr bei mir auf Granit. Ich will Coco morgen früh und morgen mittag sehen, um mich davon zu überzeugen, daß es ihr gutgeht. Und wenn ich morgen mit der Arbeit nicht fertig werde, jeden Tag zweimal.« Es war mir klar, daß sie Coco nicht freilassen würden, bevor ich nicht ein Ergebnis erzielt hatte. Lydia Goldstein tuschelte mit den beiden anderen Alten. Nach kurzem Überlegen stimmten sie meinen Forderungen zu. »Wenn meine Arbeit getan ist, muß Coco ein Sportflugzeug und einen Piloten erhalten, um die Insel verlassen zu können«, forderte ich weiter. »Und ihr gebt ihr eine Pistole, damit sie den Piloten nach New Providence dirigieren kann.« Die Goldstein sah mich verschlagen an. Ich mußte aufpassen. Die-
se Alten waren imstande, Coco aus purer Bosheit umzubringen. Ich mußte es mit allen Mitteln – und wenn nötig mit Schwarzer Magie – zu verhindern versuchen. »Miß Zamis wird kein Haar gekrümmt, wenn Sie auf unsere Wünsche eingehen, lieber Mr. Hunter«, flötete die Goldstein falsch. »Mit ihr haben wir keinerlei Absichten. Keiner bedauert mehr als wir, daß Ihre Freunde sterben mußten, wir sind schließlich arme alte Leute und wissen nur zu genau, wie kostbar das Leben ist.« Ich hätte sie erschlagen können. »Lassen Sie mich jetzt allein, damit ich beginnen kann.« Sie gingen hinaus. Al Capones Anblick war mir lieber als ihrer. »Das ist mit Abstand der dreckigste Job, den Sie je gehabt haben«, sagte ich zu Capone. »Wieviel zahlt man Ihnen dafür?« »Genug«, sagte er grinsend. »Wer viel Geld machen will, darf nicht zartbesaitet sein.« »Sie sind ein Kindskopf. Ihr großer Doppelgänger würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüßte, welche Flasche mit seinem Aussehen durch die Gegend läuft.« »He, wie meinst du das, Kerl?« »Sie glauben doch nicht wirklich, daß dieses reiche alte Geschmeiß Sie und die anderen laufenläßt und Ihnen noch einen Haufen Geld gibt, nachdem Sie hinter ihr Geheimnis gekommen sind? Nein, Freund Capone. Skull Key ist für euch alle die Endstation. Ihr bekommt nur den Tod oder was noch Schlimmeres.« »Blödsinn! Wir sind anderthalb Dutzend schwerbewaffnete und zu allem entschlossene Männer. Jeder von uns hat schon etliche Leute gekillt.« »Warten Sie es nur ab, Capone! Und denken Sie mal an mich, wenn es soweit ist!« Knurrend verließ er das Zimmer, Babyface Nelson folgte ihm. Meine Worte waren auf fruchtbaren Boden gefallen, davon war ich überzeugt. *
Zunächst konnte ich mich nicht auf die Lektüre der DaemoniconFragmente konzentrieren. Meine Gedanken schweiften immer wieder ab, zu meinen toten Freunden und zu Coco Zamis. Wenigstens sie sollte davonkommen. Vielleicht war es besser so. Ich war davon überzeugt, daß sie sich innerlich längst von mir entfernt hatte. Eines Tages würde ich nur noch eine ferne Erinnerung für sie sein. Der Gedanke erfüllte mich mit Wehmut und Trauer, aber es war nicht zu ändern. Ich hatte mir noch nie etwas vorgemacht. Entschlossen schob ich alle anderen Gedanken und Gefühle zur Seite und widmete mich der Abschrift des berüchtigten Schwarzbuches. Ich las und schrieb gut Latein, Alberta von Brabant hatte die Abschrift zwar in einer sehr altertümlichen Sprache abgefaßt, aber ich kam zurecht. Bald schon wußte ich, weshalb das Daemonicon so verrufen war, warum sein Name von den meisten nur flüsternd hinter vorgehaltener Hand erwähnt wurde. Ich las erst einmal alles durch, um mir ein Bild machen zu können. Von Zeit zu Zeit trank ich einen Schluck schwarzen Kaffee, Captagon und andere Aufputschmittel verschmähte ich. Ich war allein im Arbeitsraum und saß an einem mächtigen antiken Schreibtisch. Rundum war alles ruhig. Bis auf die Erde reichende Stores verhüllten die Fenster. Im sechsten Kapitel standen allerlei scheußliche Beschwörungen und Ingredienzien für abscheuliche Tränke und Sude. Das Einreiben mit Krötenleber zum Beispiel sollte die Haut einer Frau glatt und glänzend machen, vorausgesetzt, sie schnitt den Kröten in einer Halbmondnacht die Lebern heraus, während der Schatten eines auf den Kopf gestellten Kreuzes auf sie fiel. Dann mußte sie noch eine in brackigem Moorwasser gekochte Kröte verzehren und dreimal über die linke Schulter spucken und den Belial anrufen. Das war noch das Harmloseste, bei weitem nicht das Abscheulichste. Bei manchen Sachen, die ich las, konnte einem übel werden. Nur Dämonen oder völlig pervertierte Menschen konnten solche Riten vollziehen.
Auch die Vorbereitungen für einen speziellen Hexensabbat und zur Beschwörung verschiedener Dämonen waren im sechsten Kapitel erwähnt. Das siebente aber übertraf es noch bei weitem. Nur ein Wahnsinniger konnte sich Dinge ausdenken, wie sie hier aufgeführt wurden. Nachtmahre griffen nach mir, meine Kehle war wie zugeschnürt. Mein Herz pochte, und kalter Schweiß brach mir aus, während ich las. Fast glaubte ich, das Kratzen knöcherner Finger an der Scheibe und Stimmen aus dem Jenseits raunen zu hören. Gegen Ende des siebten Kapitels wurden drei Beispiele kurz und anekdotenhaft aufgeführt, wie es Menschen ergangen war, die so weit zu gehen sich nicht gescheut hatten. Pfalzgraf Notker, ein Magier und Burgherr aus der Zeit Karls des Großen, war spurlos verschwunden; nur sein Schatten war zurückgeblieben. Der wimmernde Schatten hatte noch jahrelang auf der Burg gelebt, bis er endlich gestorben war. Der persische Arzt und Weise Arithrades, ein Schüler des großen, 924 nach Christus gestorbenen Rhazes, war wahnsinnig und mit schlohweißem Haar am Morgen nach der Beschwörung aus seinem Gemach gekommen. Salis, die Tochter des Königs Withred von Kent, der ein großer Gegner von Dämonie und Hexerei gewesen war, hatte die furchtbare Beschwörung schon 685 n. Chr. vorgenommen. Ihre Kammerdiener und der herbeigeeilte Withred fanden ein wimmerndes Ding auf dem Boden der Kellerzelle vor. Es war Salis. Sie war zu einem quallenähnlichen Etwas aus Fleisch, Blut, Eingeweiden, Organen, Muskeln und Sehnen geworden. Sie hatte nicht mehr einen einzigen Knochen im Leib. Ich wußte, daß nicht alle dieser Schilderungen wörtlich zu verstehen waren. Man mußte die Anweisungen richtig interpretieren, um die richtige Wirkung zu erzielen. Ich fuhr mit der Hand über die Stirn und überlegte. Ich wußte, wo das Wesentliche stand und ergänzte die fehlenden Stellen. Es war nicht einmal schwierig, manches mußte ich nur kombinieren. Während dieser Arbeit geschah etwas Merkwürdiges. Ich merkte, wie ich mich in die Schwarze Magie verlor, wie die dämonische
Schrift mich aufzusaugen und zu absorbieren begann. Eine Wandlung meiner Begriffe setzte ein, unmerklich erst, dann immer schneller. Mein Geist schwamm wie ein Atom in einem Kosmos der Schwarzen Magie, wurde unaufhaltsam von einem brodelnden scheußlichen Strudel angezogen, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. Jetzt konnte ich mich nicht mehr von der Arbeit am Daemonicon lösen, selbst wenn ich es mit aller Kraft versucht hätte. Die Mächte der Finsternis griffen nach mir. Ich war ihnen ausgeliefert. * Coco hatte den Tod vor Augen. Als Alerkides das Messer von ihrer Kehle nahm, erschien es ihr kaum faßlich. Sie wurde wieder auf die Beine gestellt, wurde von dem Brett am Galgenaufzug losgeschnallt und bekam ihre Kleider zurück. Sie hatte keine Ahnung davon, daß Dorian Hunter zugestimmt hatte, sich der Schwarzen Magie zu verschreiben. Befürchtungen in dieser Richtung unterdrückte sie. Sie war überzeugt, Dorian zu gut zu kennen. Daß er sich gegen seine Überzeugung der Schwarzen Magie hingab, um sie zu retten, glaubte sie nicht. Gangster und Schloßbedienstete brachten sie in ihr Zimmer zurück. Erschöpft und zittrig sank sie auf die Ledercouch. Da hörte sie ein eigenartiges Klingen und Schwingen. Das Licht der Lampe wurde für einen Augenblick dunkler und dann viel heller. Ein Ziehen, kaum wahrnehmbar, ging durch ihren Körper, und dann stand plötzlich Olivaro bei ihr im Zimmer. Er trug einen weinroten Smoking, war frisiert und manikürt. Er hatte sich Mühe gegeben, um einen möglichst vorteilhaften Eindruck zu machen. Nur seine glühenden Augen, sein verschlagener, bezwingender Blick wollten nicht zu dem Bild des eleganten Weltmannes passen. Er legte eine Hand auf ihre nackte Schulter. Immer noch trug sie das tiefausgeschnittene Abendkleid. »Das alles wäre nicht nötig gewesen, wenn du mir früher gefolgt wärest.«
Sie ließ sich ihre Verzweiflung nicht anmerken. »Ich sagte dir, daß du Dorian Hunter und meine Freunde retten müßtest. Sag mir, sind Marvin Cohen und die anderen tot oder nicht?« »Sie leben«, versetzte Olivaro. »Aber sie sind in meiner Hand und können jeden Augenblick sterben, wenn ich es will. Ich bin gekommen, um dich mit mir zu nehmen, Coco. Der Fürst der Finsternis braucht eine Fürstin. Ich begehre dich, wie ich noch nie zuvor eine Frau begehrt habe.« Er starrte Coco leidenschaftlich an. Seine Brust hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. »Entscheide dich! Kommst du mit mir und akzeptierst alle Konsequenzen, die damit verbunden sind, oder willst du hier ein elendes Ende nehmen? Und nicht nur du – auch deine Freunde und Dorian Hunter werden sterben. Der Dämonenkiller liebt dich nicht mehr. Du hast es mir selbst gesagt. Warum willst du dein Leben nutzlos seinetwegen wegwerfen, die glorreiche Zukunft opfern, die du an meiner Seite hast?« Coco stand auf. Sie überragte den kleineren Olivaro um einige Zentimeter. Fasziniert sah er auf ihr Dekolleté, auf den Schnitt zwischen ihren Brüsten. »Ich bin einverstanden, wenn du auch Dorian Hunter rettest. Das mußt du mir versprechen.« »Er wird am Leben bleiben. Es kommt alles ins rechte Lot. Mein Wort darauf.« Coco bemerkte die Zweideutigkeit nicht, die in seinen Worten lag. Sie reichte Olivaro die Hand. Der Dämon machte mit der Linken eine Geste, sagte eine Beschwörung. Triumph sprach aus seiner Haltung, zeigte sich in seinem Gesicht und funkelte aus seinen Augen. Er hatte seinen Nebenbuhler aus dem Felde geschlagen. Er würde schon dafür sorgen, daß sie sich ihm nicht mehr entziehen konnte. Nie mehr. * Marvin Cohen befühlte zum hundertsten Mal seine Brust. Da waren keine Wunden und auch keine Narben, wo die Kugeln aus der Maschinenpistole des Gangster ihn getroffen hatten. Cohen wußte we-
der, wie er hergekommen war, noch wie lange er sich schon hier befand. Es herrschte ein zeitloser Zustand. Das Paradies war es aber nicht. Don Chapman, Miß Pickford und Trevor Sullivan befanden sich auch hier, und Cohen hatte mit der alten Pickford schon einige heftige Kontroversen gehabt. Im Paradies hatte es vielleicht Schlangen gegeben, aber sicher keine Drachen wie Miß Pickford. Cohen erhob sich von seinem Lager und trat ans Panoramafenster. Das modern eingerichtete Haus stand auf Skull Key. Er konnte die ganze Insel überblicken. Aber das prunkvolle Schloß sah er nirgends, und wenn er über das Meer schaute, sah er die Konturen von fernen Inseln gleich Schatten am Horizont. Die Sonne gleißte. Auf dem großen Grundstück gab es zwei Swimmingpools. Man konnte das Grundstück aber nicht verlassen. Eine unsichtbare Barriere verhinderte es. Die Kühlschränke und die Tiefkühltruhe waren reichlich gefüllt. Es gab eine große Bibliothek im Haus, eine Hifi-Anlage, aber kein Radio, keinen Fernseher und natürlich weder Telefon noch ein Funkgerät. Es gab keinen Tag und keine Nacht; die Tropensonne schien immer. Wenn Cohen schlafen wollte, mußte er die Rollos herunterlassen. Wenn er wach war, pflegte er am Swimmingpool herumzuliegen oder sich mit den Sportgeräten im Keller fit zu machen. Vom Lesen hielt er nicht viel. Er zog ein gefülltes Glas und eine vollbusige, breithüftige Frau jederzeit einem Buch vor. Jetzt trug er eine knappe Badehose. Cohen hatte einen leichten Sonnenbrand auf der Brust und den Schultern. Er trug dreißig Pfund Übergewicht mit sich herum und besaß den Körperbau eines zu kräftig gewordenen Stiers. Fett war er nicht, aber ein bulliges Kraftpaket. Cohen zündete sich eine Zigarette an. Es klopfte leise an der Tür. »Komm sofort in den Aufenthaltsraum, Marvin!« rief Don Chapman mit dünner Stimme. »Coco Zamis ist da!« Cohen zog ein knalliges Hawaiihemd über und eilte barfuß in den Aufenthaltsraum. Miß Pickford, Trevor Sullivan und Don Chapman
waren schon versammelt. Der Puppenmann stand vor Coco auf dem Marmortisch mit der roten Platte, die anderen saßen. »Hallo, Coco!« sagte Marvin Cohen erfreut. »Bist du auch im letzten Augenblick auf geheimnisvolle Weise vor dem Tod gerettet worden und hier wieder zu dir gekommen?« Coco war nervös und befangen. Sie verkrampfte ihre Hände im Schoß. Sie trug eine helle Hose und eine grüne Bluse, in der ihre vollen Brüste gut zur Geltung kamen. Coco hatte eine andere Frisur. Ihr schwarzes Haar war hinten mit einem grünen Band zusammengefaßt. Band und Bluse hatten genau die Farbe ihrer Augen. Sie erschien den anderen fremd, anders als sonst. »Was ist passiert?« fragte Don Chapman. »Olivaro hat euch alle gerettet. Ihr wurdet auf magische Weise entführt, und vor den Augen der Greise und Greisinnen starben belebte Puppen, die aussahen wie ihr. Alles erschien ganz echt, sogar Blut und Leichen waren da.« »Wie?« fragte Trevor Sullivan überrascht. »Ausgerechnet der Fürst der Finsternis soll sich unser erbarmt haben?« »Von Erbarmen kann gar keine Rede sein. Olivaro hat einen hohen Preis verlangt.« »Welchen?« fragten sie wie aus einem Munde. Coco beantwortete die Frage nicht. »Ich wollte mich davon überzeugen, daß es euch gutgeht. Hast du noch Beschwerden wegen deiner Verwundung, Marvin?« Er schüttelte den Kopf. Seine Verletzungen waren auf magische Weise von Olivaro kuriert worden. »Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Bald werdet ihr frei sein. Auch Dorian wird nichts geschehen. Vielleicht sehe ich noch einmal nach euch, bevor … bevor ich weggehe.« »Du willst gehen? Wohin?« Sie erhob sich und verließ das Zimmer. Cohen, Chapman, Sullivan und Miß Pickford sahen sich an. Endlich sprang Cohen hoch, riß die Tür auf und sah hinaus. Der Flur war leer. »Coco?« rief Marvin Cohen. Er rannte durch das ganze Haus, sah auf dem Grundstück nach
und suchte sogar im Keller. Er fand Coco nirgends. Sie war spurlos verschwunden. * Ramon Goldstein, der Ehemann der steinreichen Lydia Goldstein, küßte eine bildhübsche blonde Schloßdienerin. Es war später Nachmittag. Er hatte das Mädchen am Swimmingpool getroffen und mit auf sein Zimmer genommen. Er bedeckte ihre zarte Haut mit Küssen und wollte gerade das Oberteil ihres Bikinis öffnen. Ihre Haut roch frisch. Er schmeckte ihr Sonnenöl auf den Lippen. »Baby«, sagte Ramon leidenschaftlich. »Wir werden …« Da flog die Tür auf, Capone und vier Gangster stürmten herein, Maschinenpistolen und Revolver im Anschlag. Lydia Goldstein kam im Rollstuhl hinterhergerollt, das uralte Knittergesicht verzerrt wie eine Furie. Die Blondine fuhr im Bett hoch und stieß einen Schrei aus. Ramon versuchte, Haltung zu bewahren, aber ihm schlotterten sogar im Liegen die Knie. »So also hast du es dir vorgestellt, du Hurenbock«, kreischte die alte Goldstein. »Und du willst von mir anderthalb Millionen Dollar haben?« »Frenzy und ich haben uns nur unterhalten«, sagte er kläglich. »Das … das ist keine eindeutige Situation, Lydia.« »Für dich bin ich ab sofort wieder Mrs. Goldstein, du mieser Schönling. Los! Steh auf, wenn ich mit dir rede!« Capone stieß Ramon grinsend die Mündung der MP zwischen die Rippen. Der Mexikaner war kein Held. Frenzy wich zitternd in die Ecke zurück. »Ich … ich habe nicht gewußt, daß es Ihr Mann ist, Mrs. Goldstein. Verzeihen Sie mir! Mir hat er gesagt, er wäre ledig.« »Lüg mich nicht an, du kleine Schlampe! Zu dir komme ich später. Du meinst also, du kannst mich aufs Kreuz legen und eine Menge Geld aus mir herauspressen, Ramon? Du meinst, ich lasse mich von einem miesen Heiratsschwindler wie dir ausnehmen? Ich bin schon
mit ganz anderen fertiggeworden. Einen von meinen Ehemännern habe ich sogar aufgefressen.« Sie fuchtelte mit einem Krückstock vor seinem Gesicht herum. Trotz seiner Angst sah er, daß sie in der letzten Zeit unwahrscheinlich schnell gealtert war. Ihr Gesicht war nicht mehr das einer Hyäne, es war ein Totenschädel. »Du Jammerlappen! Die Männer taugen alle nichts. Nichts taugt etwas auf dieser Welt. Geld, Jugend und Gesundheit – das ist das, was zählt. Ich könnte dich hier auf der Insel spurlos verschwinden lassen, und kein Hahn würde nach dir krähen, Ramon.« »Aber Lydia, ich …« Sie schlug ihm den Krückstock über den Mund. »Mrs. Goldstein!« »Mrs. Goldstein, ich bitte Sie, das werden Sie doch nicht tun!« »Du wirst noch gebraucht, Ramon. Ganz dringend sogar.« Ihm fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. »Ich stehe stets gern zu Diensten, Mrs. Goldstein.« Warte nur, du altes Aas, laß mich nur erst von dieser Insel weg sein. »Wie schön, Ramon«, flötete sie. »Wir brauchen dich für eine Beschwörung. Die Kleine da übrigens auch.« Er wurde sofort wieder mißtrauisch. »Warum?« krächzte er mit trockener Kehle. »Nun ja, Ramon, wir brauchen Herz und Hoden eines Mannes, das Herz einer Frau und diverse andere Körperteile für unsere Beschwörung. Da dachte ich natürlich gleich an dich.« »Lydia, mein Gott!« schrie Ramon in höchstem Entsetzen: »Das … das ist nicht dein Ernst!« »So meinst du? Du selber hast doch gesagt, daß du dich zur Verfügung stellst. Los, bringt ihn weg! Die Kleine auch.« * Stavros Alerkides humpelte zu Coco Zamis in die Zelle. Sie war im Keller des Prunkschlosses untergebracht, in einem finsteren Verlies angekettet. Ein Bund schmutziges Stroh und ein stinkender Kübel waren die einzige Einrichtung der Zelle. Sie war sonst völlig dunkel.
Alerkides hatte jetzt die Neonröhre an der Decke eingeschaltet. Coco blinzelte ihm geblendet entgegen. Sie sah mitgenommen aus. »So, mein Täubchen«, sagte der uralte, häßliche Großreeder. »Dorian Hunter hat die Ingredienzen für die Beschwörung bereits zusammen. Jetzt arbeitet er an der entscheidenden Beschwörungsformel. Dein Geliebter ist überhaupt nicht mehr richtig bei sich. Er ist der Schwarzen Magie anheimgefallen.« Coco antwortete nicht. »Wenn wir haben, was wir wollen, wirst du sterben«, fuhr Alerkides fort. »Genauso wie deine Freunde. Durch meine Hand. Ich will dir jetzt schon einmal einen Vorgeschmack geben, du Hexe.« Er wollte sie an den Haaren zu sich heranziehen. Da löste sich ihr Haar wie eine Perücke vom Kopf. Alerkides zog die ganze Kopfund Gesichtshaut ab. Ein Totenschädel grinste ihn an. An Cocos Stelle war ein Phantom angekettet, eine belebte Puppe! Nun rächte sich Olivaro, der Fürst der Finsternis, an dem üblen Alten, der der Frau zu nahe getreten war, die er begehrte. Mit einem Angstschrei wollte Alerkides zur geschlossenen Tür laufen, wollte schreien, man sollte ihm öffnen; aber er vermochte kein Glied zu rühren, wie angewurzelt stand er da. Kein Ton kam über seine Lippen. Von der gräßlichen Erscheinung mit dem schönen Frauenkörper und dem Totenkopf fielen die Ketten ab. Sie kam auf Stavros Alerkides zu und packte den vor Schreck erstarrten Alten an den Armen. »Ein Tänzchen gefällig?« krächzte eine hohle Stimme. Eine feurige Melodie erklang, ein Csardas, von einem Meisterprimas gespielt. Die Fürchterliche wirbelte Alerkides herum, daß ihm Hören und Sehen verging. Stavros Alerkides' altes Herz hämmerte, sein Kopf brauste, Übelkeit würgte ihn. Der wilde Tanz war zuviel für ihn. »Aufhören!« krächzte Alerkides. »Aufhören, bitte! Ich sterbe!« Immer wilder und schneller wirbelte die Schreckensfrau Stavros Alerkides umher. Die Wände der Zelle erweiterten sich, Alerkides war es, als tanzten sie in schwarzer Nacht in der freien Luft. Ein Dämonenlicht umgab sie, und in diesem Dämmerlicht sah er das Or-
chester, das mit dem Primas zum Todescsardas aufspielte. Ertrunkene Matrosen von Alerkides' Schiffen waren es, aufgedunsen und scheußlich anzusehen. Seinen Vater sah der Großreeder, den er in einer Elendshütte in einem Athener Vorort hatte verhungern lassen, nachdem er steinreich geworden war. Seine Schwester und seine erste Ehefrau sah er, die er mit seiner Härte und Bosheit in den Tod getrieben hatte; kurz nacheinander hatten sie sich mit Tabletten vergiftet. Eine verkohlte, verstümmelte Gestalt blies die Klarinette. Es war ein geschäftlicher Konkurrent von Alerkides gewesen. Alerkides hatte ihm eine Bombe ins Privatflugzeug montieren lassen. Stavros Alerkides sah all das Böse, das er in seinem Leben getan und verursacht hatte, das Elend, für das er verantwortlich war. Er wußte, daß es für ihn unwiderruflich zu spät war. »Habt Erbarmen! Ich bitte euch!« Niemand antwortete. Sie spielten nur um so wilder. Seine Blicke suchten nach jemandem, der für ihn eintreten konnte. Sein Enkel Konstantinos! Er hatte ihn in den teuersten Privatschulen erziehen und ausbilden lassen. Er sollte einmal sein Milliardenimperium übernehmen. Alerkides sah Konstantinos in seiner Nähe stehen. Der junge Mann hatte die Arme verschränkt. Sein Gesicht war versteinert. »Hilf mir! Dir habe ich immer nur Gutes getan.« »Ich hasse dich«, antwortete Konstantinos. »Ich habe dich immer gehaßt. Du bist mir im Weg, Stavros. Ich wünsche nur, daß du zur Hölle fährst.« Der Alte fühlte eine kalte Hand in seiner Brust. Die Luft blieb ihm weg, sein Herz versagte. Als Capone Minuten später die Zelle öffnete, lag eine Mumie mit Stavros Alerkides' Kleidern in der Ecke. * Es ging wieder auf Mitternacht zu. Ich arbeitete wie in einem Rausch. Ich dachte an nichts anderes mehr, als meine Arbeit zu beenden. Der Dämon Asmagon war es, den ich anrufen mußte. Für die
Beschwörung wurden allerlei scheußliche und gräßliche Zutaten gebraucht, doch selbst in meinem tranceartigen Zustand hätte ich sie nie besorgt. Lydia Goldstein hatte mir gesagt, einige Sachen wie das Herz eines Mannes und das einer Frau würde sie von einer Organbank einfliegen lassen. In meinem Zustand erschienen mir ihre Worte glaubhaft. Ich dachte auch kaum noch an Coco. In einem Winkel meines Gehirns regte sich etwas, aber nicht klar und deutlich; mir war nicht bewußt, daß sie vielleicht in Gefahr schwebte. Müdigkeit kannte ich nicht; ich aß während der Arbeit, ohne zu merken, was ich hinunterschlang. Mein Gesicht juckte unerträglich. Immer wieder mußte ich mich kratzen. Etwas stimmte nicht. Meine Haut juckte dort, wo mich die Srasham-Diener tätowiert hatten. Endlich lag mir die letzte, entscheidende Beschwörungsformel vor. Ich überprüfte sie noch einmal, Alberta von Brabant hatte im Kloster von Cantimpre allerlei weggelassen. Doch meine Recherchen mußten richtig sein. Eins reihte sich ans andere; es mußte stimmen. Ich klingelte nach Al Capone. »Es ist soweit«, sagte ich, als er eintrat. Er sah mich merkwürdig an. Selbst dieser hartgesottene und skrupellose Gangster spürte, daß etwas besonders Grausiges und Schreckliches in der Luft lag. Er holte Lydia Goldstein. Die Alte kam im Rollstuhl herbeigefahren. »Na, sind Sie endlich soweit? Die Vorbereitungen sind schon getroffen. Ich lasse die anderen wecken. Dann können wir sofort anfangen.« Ich war stolz auf meine Leistung und befand mich in einer Art Rauschzustand. Die Beschwörungen des Asmagon und die Auslieferung an ihn erschienen mir als die Krönung meines Lebens. »Was kratzen Sie sich denn immer im Gesicht?« fragte Lydia Goldstein. Ich hob die Schultern. Sie fragte nicht weiter. Nach einer Weile kam Albert DeSalvo und erklärte, im großen Saal, in dem auch das Gastmahl des Schreckens und Miß Pickfords
Hinrichtung stattgefunden hatten, seien alle versammelt. Die Goldstein tuschelte mit den Gangstern. Endlich wurden mir die Handschellen und die Kugel am Bein abgenommen. Ich hatte den ganzen Tag und den Abend über nicht mehr darauf geachtet. Die Gangster hielten Schlagringe und Totschläger bereit, um über mich herzufallen. Aber ich dachte nicht daran, mich zu widersetzen. Die Wände des großen Saales waren mit schwarzem Samt ausgeschlagen, Kronleuchter mit elektrischen Kerzen hingen von der Decke. In der Mitte des Saales war ein magisches Quadrat mit einem Pentagramm darin mit verschiedenfarbiger Kreide auf den Boden gezeichnet. In den vier Ecken des Quadrates standen dampfende, stinkende Kessel über Propangaskochern. In jedem Kessel rührte ein Greis oder eine Greisin, nackt bis zur Hüfte. Die anderen waren rund um das magische Quadrat versammelt. Einige konnten sich kaum auf den Beinen halten, ein paar saßen in Rollstühlen, und zwei lagen sogar in fahrbaren Krankenhausbetten unter transportablen Sauerstoffzelten. Mit den alten Scheusalen ging es zu Ende, wenn nicht bald etwas geschah. »Wo sind Griffith und Stavros Alerkides?« fragte ich die alte Goldstein. »Von Griffith haben wir nichts mehr gehört. Alerkides und zwei andere sind gestorben. Beeilen Sie sich, Hunter! Jede Sekunde kann es mit einem von uns zu Ende sein.« Mir wurde ein Hexermantel mit magischen Symbolen und kabbalistischen Zeichen um die Schultern gehängt. Er war innen scharlachrot und außen schwarz. Al Capone reichte mir eine Rasierklinge, dann verließen er und die anderen Gangster den Kreis der Alten und nahmen bei den Türen Aufstellung. Ich steckte die Rasierklinge in eine der zahlreichen Taschen des Hexenmantels. Dann schritt ich zum Zentrum des Pentagramms. An der Peripherie des Kreises waren die Tierkreiszeichen auf den Boden gemalt. »Mach deine Sache gut, Hunter!« rief Lydia Goldstein. »Sonst ist Coco Zamis verloren. Merk dir das!« Der Gedanke an Coco berührte mich nur für einen Augenblick.
Von den Kesseln stieg stinkender Qualm auf. Ich zog meine Aufzeichnungen hervor und begann mit meinen Beschwörungen. Zunächst kam die Vorzeremonie. Ich rief die Mächte der Finsternis an und bat sie, meinem Vorhaben gewogen zu sein. Es dauerte eine Weile, denn es war einiges herunterzubeten. Ich mußte einen Sprechgesang intonieren und einige Wartepausen zwischen den einzelnen Litaneien einlegen. Schon während der unheiligen Litaneien spürte ich, wie das Böse mich mehr und mehr durchdrang, wie Dämonie meinen Geist durchflutete und erfüllte. Ich wehrte mich nicht dagegen; im Gegenteil, ich gierte nach dieser Dämonie und machte sie mir zu eigen. Nachdem die Vorzeremonie abgeschlossen war, ging ich zu den vier Ecken des magischen Quadrates, rührte den Inhalt der scheußlichen Kessel um und sprach Beschwörungen in lateinisch darüber aus. Ich hätte auch eine andere Sprache nehmen können. Es kam auf den Sinn und auf gewisse magische Worte an, die ohnehin keiner lebenden oder toten Menschensprache angehörten. In den Kesseln brodelten allerlei Scheußlichkeiten, auch Organteile von Menschen. Ich sah ein Herz in der Brühe auftauchen und machte mir keinerlei Gedanken darüber, ob es wirklich aus einer Organbank stammte. Am letzten Kessel stand Pauline Gatto mit ihrem faltigen Bauch und den schlaff herabhängenden Brüsten. Kichernd rieb sie sich die Hände. Ich umrundete gemessenen Schrittes dreimal den magischen Mittelpunkt des Pentagrammes. Dabei rief ich zunächst flüsternd, dann immer lauter den Namen des Dämons. »Asmagon! Asmagon! Asmagon!« Ich verharrte genau im Mittelpunkt und breitete die Arme aus. Atemlose Stille herrschte. Ich schrie die schreckliche Beschwörung, die den Dämon herbeiholen mußte, wo immer er auch war. Die Beschwörung, die von Pfalzgraf Notker nur den wimmernden Schatten gelassen, die Aristhrades wahnsinnig und zum Greis gemacht und Salia aller Knochen beraubt hatte. In mir war keine Angst, nur Erwartung und dämonische Bosheit. Ich nahm die Rasierklinge aus der Tasche, machte einen Kreuzschnitt in meinen rechten und linken
Arm, ließ das Blut auf den Boden tropfen. Ein Brausen und Sausen erfüllte den Saal. Einen Sekundenbruchteil war es stockfinster und etwas wie ein elektrischer Schlag traf uns. Als es wieder strahlend hell geworden war, stand Asmagon mir gegenüber. Es war der Dämon, und zugleich war es auch ein alter Bekannter. Ein hochgewachsener junger Greis mit lodernden dämonischen Augen, mit Klauenhänden und Reißzähnen wie eine Bestie. Er war einigermaßen verändert, trotzdem erkannte ich ihn auf den ersten Blick. Der Dämon Asmagon war Lewis D. Griffith. Sein schauriges, höhnisches Gelächter gellte durch den Saal. »Du bist mein, Dämonenkiller! Meine Kreatur! Ich gab Dr. Goddard die Macht, alte Leute auf magische Weise wieder jung zu machen. Als du Dr. Goddard zur Strecke brachtest, schwor ich mir, den Tod meines fleißigen und getreuen Dieners, der so viele der reichsten und mächtigsten Leute der Welt in meine Abhängigkeit brachte, zu rächen.« Ich befand mich im Bann des Dämons. »Ja, Herr«, flüsterte ich demütig. »Ich bereue tief, daß ich Euch das angetan habe. Nehmt mein unwürdiges Leben als Sühne.« »Dein Leben? Was soll ich damit? Das hätte ich billiger und einfacher haben können. Nein, Dämonenkiller, meine Rache soll besonders teuflisch sein und mein Ansehen in der Schwarzen Familie steigern. Ich habe den gefürchteten Dämonenkiller dazu getrieben, mein Diener und meine Kreatur zu werden. Deshalb hat all das stattgefunden – von eurer Entführung aus London angefangen. Mein genialer Plan ist gelungen.« Aus seinen Zügen sprach eine teuflische Freude. »Du wirst mir dienen, und ich kann dich züchtigen, wann und wie ich will.« Sein Gelächter dröhnte durch den Saal. »Küß meine Füße!« Die Greise rundum und die Gangster wagten kein Wort zu sagen. Nur Lydia Goldstein brach die Stille. »Was ist mit unserer ewigen Jugend?« fragte sie schrill. »Du bist also überhaupt kein Greis, Griffith. Das war nur Tarnung und …« »Du wagst es, den Dämon zu stören und sein Angesicht mit seinem irdischen Namen zu besudeln? Schweigt alle, und rührt euch
nicht, bis ich geruhe, mich an euch zu wenden!« »Griffith, du mußt …« Es waren ihre letzten Worte. Ein Blitz zuckte aus den Augen des Dämons. Lydia Goldstein verdorrte in ihrem Rollstuhl. Nun wagte keiner von den anderen mehr, auch nur laut zu atmen. Ich beugte mich zu Asmagons Füßen herab. Er war mein Herr und Meister; er beherrschte mich. Plötzlich durchzuckte es mich. Mein Gesicht glühte für einen Sekundenbruchteil, dann war das Jucken verschwunden, das mich zuvor so gepeinigt hatte. Ich spürte, daß sich etwas verändert hatte. Ich konnte wieder klar denken. Der Einfluß des Dämons und der Schwarzen Magie fiel von mir ab wie der Hexermantel, den ich von meinen Schultern warf. Ich sah den Hermaphroditen Phillip am Rande des magischen Kreises stehen, strahlend und überirdisch schön. Ohne jede Angst kam er langsam auf den Dämon zu. Fauchend wich Asmagon vor ihm zurück. Phillips Geist war verwirrt; die Ausstrahlungen eines solchen Gehirns vertrugen die Dämonen nicht. Die goldenen Augen des Hermaphroditen strahlten. »Sieh diese wunderschöne Blume«, sagte er mit melodischer Stimme. »Wie farbenprächtig sie ist und wie herrlich sie duftet! Es ist die Blume des Bösen aus Satans Garten. Oh, ist sie schön!« Seine Stimme war voll atemloser Bewunderung. Asmagon streckte abwehrend die Hände mit den langen Krallen aus. »Geh weg! Bleib mir vom Hals!« Phillips Einfluß lähmte ihn. Er konnte seine magischen Fähigkeiten nicht einsetzen. Er wollte aus dem magischen Quadrat ausbrechen, konnte es aber nicht. Gehetzt lief er an der Peripherie des Kreises entlang. Und dann berührte ihn Phillip. Asmagon schrie auf. Seine dämonische Kraft entfuhr aus ihm. Zurück blieb ein Monstrum, schrecklich anzusehen, stark und gefährlich, aber verletzlich. Asmagon versetzte Phillip einen Stoß, daß er zurücktaumelte. Entsetzt starrte er mich an. Auch durch den Kreis der Alten und die Reihen der Gangster an den Türen lief ein Aufschrei.
»Das Gesicht des Srasham!« schrie Asmagon. »Er trägt es als Stigma!« Ich begriff, daß die Tätowierung unsichtbar noch immer da gewesen sein mußte. Jetzt hatte Asmagons Magie sie wieder zum Vorschein gebracht. Ich stürzte mich auf Asmagon, und ein fürchterlicher Kampf entbrannte. Der Dämon war bärenstark. Mit Reißzähnen und Klauen ging er auf mich los. Ich war wieder der Dämonenkiller, mehr als je zuvor. Ja, in diesen Minuten war ich ein Killer, ein Mensch, der seinen Erbfeind, den Dämon, mit bloßen Händen bekämpfte. Ich achtete nicht auf die Wunden, die ich empfing, dachte nicht an die Schonung meines Leibes und Lebens. Ich wollte Asmagon töten. Genaues über den Verlauf des Kampfes wußte ich später nicht mehr, nur daß Asmagons rechter Arm mit der Klauenhand irgendwann gebrochen herunterbaumelte. Von seinen Reißzähnen fehlten einige, und meine Rechte blutete stark. Die Teufelsfratze in meinem Gesicht glühte mit Asmagons Augen um die Wette. In diesen Augenblicken muß ich ihm selber wie ein Teufel erschienen sein. Dann lag ich über ihm, hielt mit der Rechten seine linke Krallenhand von mir ab und würgte ihn mit der Linken. Er bäumte sich auf, doch meine Hand war wie eine Stahlzange. Sein Leib wurde schlaff, streckte sich. Ich ließ nicht los; wie lange, wußte ich später nicht mehr. Endlich drehte ich ihn um, holte mit meiner blutenden, schmerzenden Rechten aus und schmetterte ihm die Handkante ins Genick. Ich schlug ein paarmal zu, glaubte, meine Hand müßte zerbrechen. Endlich brach Asmagons Genick. Vor meinen Augen fand die Verwandlung statt, die nach dem Tod auch die Greise und Greisinnen in scheußliche Mumien verwandelt hatte. Von Asmagon blieb nur ein schwärzliches, verdrehtes, zähnebleckendes Etwas. Ich erhob mich, nahm Phillip am Arm und zog ihn mit. »Die Blume des Bösen ist verwelkt«, sagte er traurig. »Jetzt müssen auch all die anderen schönen Blumen hier sterben.« Die Greise wagten nicht, uns anzurühren. Zu schrecklich glühte die Teufelsfratze in meinem Gesicht. Die Gangster waren geflohen. Wir rannten aus dem Saal, und hinter uns brach der Tumult los.
»Wie müssen schleunigst verschwinden, Philipp!« sagte ich. Er ging schnell, rannte aber nicht. Noch immer leuchtete er wie von einem starken inneren Licht erfüllt. Ich folgte ihm. Er ging in den Keller. »Bist du sicher, daß das der richtige Weg ist?« »Komm!« sagte er nur. Wir stiegen die Treppen hinab, kamen durch dunkle, modrig riechende Gänge. Mir schien, als würden die Konturen der Mauern verschwimmen, als sei das ganze Schloß nicht mehr stabil. Phillip führte mich in einen Sackgang und schritt direkt auf die Wand zu. Die Luft vor uns spiegelte, und jetzt sah ich das Stigma in meinem Gesicht zum erstenmal mit eigenen Augen. Fast erschrak ich selbst vor mir. Ich sah schrecklich aus mit meinen zerfetzten Kleidern, den blutenden Wunden, dem zerzausten Haar, dem von der leuchtenden Teufelsfratze entstellten Gesicht und dem über die Mundwinkel herabgezogenen Oberlippenbart. Phillip und ich schritten in die Spiegelwand hinein und fielen ins Nichts. Im nächsten Augenblick lag ich auf dem Boden eines modern eingerichteten Zimmers. Ich hatte einen tiefen Fall erwartet und die Muskeln entspannt. Deshalb stürzte ich hin, als ich in dem Zimmer plötzlich mit den Füßen den Boden berührte, als hätte ich nur einen normalen Schritt gemacht. Im Sessel saß Trevor Sullivan, auf dem Tisch stand Don Chapman vor dem Brett, auf dem sie Schach spielten. Miß Pickford saß in der Ecke und strickte. Alle sahen zu mir und Phillip her – der Hermaphrodit war nicht auf die Nase gefallen – und rissen Mund und Augen auf. »Dorian Hunter!« schrie Trevor Sullivan, sprang auf und warf dabei etliche Schachfiguren um. »Alle Wetter!« »Phillip!« rief Miß Pickford und ließ eine Masche fallen. »Wo kommst du her?« »Dorian, wie siehst du nur aus?« fragte Don Chapman. Ich stand auf. »Erschreckt nicht vor der Tätowierung. Sie ist nicht gefährlich.«
»Welche Tätowierung?« fragte Chapman. »Sag mal, wovon redest du eigentlich?« Miß Pickford mußte mir einen Spiegel bringen. Als ich hineinblickte, sah mein Gesicht wie immer aus, von den Kampfspuren abgesehen. Die leuchtende Teufelsfratze war verschwunden. Ich fühlte mich völlig erschöpft und todmüde. Plötzlich tat mir alles weh. Aus meinen Wunden tropfte Blut. Martha Pickford untersuchte ihren Liebling Phillip, ob ihm auch kein Haar gekrümmt worden war. Dann versorgte sie meine Verletzungen mit den Mitteln der Hausapotheke. Marvin Cohen kam vom Swimmingpool herein, einen Bademantel um die mächtigen Schultern. Mit gerunzelter Stirn sah er auf mich nieder. »Du siehst wie ein zerrupfter Hahn aus, Dorian«, sagte er grinsend. Phillip stand in der Ecke und lächelte unergründlich. Meine Verletzungen waren zum Glück nicht ernst. Fleischwunden, Kratzer, Schrammen, Prellungen und Blutergüsse. Ich hatte vielleicht vier oder viereinhalb Stunden geschlafen, seit wir auf die Insel gekommen waren; jetzt machte sich das bemerkbar. Während Miß Pickford mich verarztete und dabei mit Jod nicht sparte, beantwortete ich die Fragen der anderen, soweit ich es für richtig hielt. Daß ich mich der Schwarzen Magie verschrieben hatte und durch Phillip aus der Macht der Finsternis erlöst worden war, verschwieg ich. Ich nahm an, daß Phillip auch das magische Stigma der Teufelsfratze in meinem Gesicht aktiviert und die anderen gerettet hatte. Aber ich war zu müde und zu zerschlagen, um große Freudenausbrüche zu zeigen. Dennoch war ich grenzenlos erleichtert. Ich glaubte, alles sei gut, der Dämon tot und Coco und alle meine Gefährten gerettet. Aber dann fragte ich nach Coco und erfuhr, daß gar nicht Phillip der Retter gewesen war, sondern der Dämon Olivaro. Ich konnte mir vorstellen, welchen Preis er von Coco Zamis gefordert hatte. Still verließ ich den Raum und das Haus und schaute von der Terrasse über die Insel Skull Key. Von dem märchenhaften Traumschloß war nirgends etwas zu sehen. Es war mit den Greisen,
für die es nun keinerlei Hoffnung mehr gab, und den Gangstern irgendwohin entschwunden. »Coco«, flüsterte ich leise. »Werde ich dich je wiedersehen?« Ich ging ins Haus. Ich wollte schlafen, nichts als schlafen und alles vergessen. * Coco konnte ihre Hexenfähigkeiten wieder einsetzen. Auf dem Schloß bemächtigte sie sich Pauline Gattos, hypnotisierte sie und brachte aus ihr alles heraus. Nun wußte sie Bescheid. Olivaro hatte sie betrogen und überlistet. Er hatte versprochen, Dorians Leben zu schonen, aber nicht, ihn zu verschonen und dem Einfluß der Schwarzen Magie sowie der Mächte der Finsternis zu entziehen. Von tiefer Sorge erfüllt, schritt Coco durch den magischen Korridor im Schloß, in dem die Alten reihenweise starben und die Gangster und Schloßdienerinnen endgültig Olivaros Dämonen anheimfielen. Sie tauchte im Haus auf der Insel in Chapmans Zimmer auf. Der Puppenmann war allein. Von ihm erfuhr sie, daß Dorian gerettet war. Ein tiefer Atemzug hob Cocos Brust. Fast hätten die Mächte des Bösen gesiegt. »Bleibst du jetzt bei uns, Coco?« fragte der Puppenmann. Sie strich ihm über den Kopf. Dorian Hunter schlief in einem anderen Zimmer den Schlaf der Erschöpfung, die anderen waren draußen vor dem Haus. »Kannst du dir nicht denken, welchen Preis Olivaro gefordert hat?« »Dich?« Coco nickte. »Bestelle Dorian, wir werden uns nie wiedersehen. Ich gehe einen anderen Weg. Ich habe mich entschlossen, und dieser Entschluß ist nicht mehr rückgängig zu machen. Er soll sein und euer aller Leben als meine letzte Liebesgabe betrachten. Leb wohl, Don!« Ihre Konturen begannen zu verschwimmen, zu flimmern.
»Aber du liebst Dorian doch?« fragte Chapman, und es war ein Schrei. Coco wollte oder konnte die Frage nicht mehr beantworten. Sie verschwand. Im Dämonenschloß tauchte sie wieder auf. Olivaro erwartete sie. Er trug einen scharlachroten Mantel mit Totenkopfemblemen und sah so herrisch aus wie sie ihn noch nie erlebt hatte. Er bot ihr den Arm. * Don Chapman berichtete mir von den letzten Worten, die er mit Coco gewechselt hatte. Ich hatte sechzehn Stunden geschlafen. Mein Körper hatte sich erholt, aber trotzdem fühlte ich mich elend und verzweifelt. In einer Bucht fanden wir die Dyane II verlassen vor. Die magische Barriere existierte nicht mehr. Wir liefen aus und nahmen Kurs auf die Insel New Providence und Nassau, die Hauptstadt der Bahamas. Ich stand auf der Brücke, und während ich über die Wogenkämme blickte, erfüllte Düsternis und Zweifel mein Herz. Ich hatte eine furchtbare Niederlage erlitten, meine größte und schwerste bisher. Ich wußte nicht, ob Coco sich geopfert hatte, um mir und den anderen zu helfen, oder ob sie an meiner Seite nicht mehr glücklich gewesen und zur Schwarzen Familie zurückgekehrt war. So oder so, ich hatte sie an Olivaro verloren. Nur das zählte. Ich war einsam und allein. Ohne Coco würde es nie wieder so sein wie früher.
Zweites Buch �
Die Wasserleiche im Rio Negro von Neal Davenport
Ich hörte einen Schrei und richtete mich auf. »Hast du das auch gehört, Hernand?« fragte ich den brutal aussehenden Mann, der neben mir hockte. Sein breites Gesicht war mit einem wild wuchernden, schwarzen Vollbart bedeckt. »Was soll ich gehört haben?« fragte er unwillig, ohne die Augen zu öffnen. »Einen Schrei«, sagte ich. Er hob die Schultern. »Und wenn schon. Was kümmert es mich.« Er verfiel wieder in sein dumpfes Brüten. Ich lehnte mich zurück und schloß die Augen. Wahrscheinlich hatte ich mich getäuscht. Die lange Reise zerrte an meinen Nerven. Dazu kamen die Schiffsgeräusche. Das Knacken und Ächzen war Tag und Nacht zu hören und vermischte sich mit dem Stimmengemurmel im Mannschaftsraum. Einige Männer lagen in den Hängematten und schnarchten, andere hockten in dem engen, stickigen Raum und würfelten. Das Essen, das aus Dörrgemüse und gepökeltem Fleisch bestanden hatte, lag mir noch schwer im Magen. Dazu hatte es einen Becher brackigen Wassers und eine Schnitte Brot gegeben, mit der man vor dem Essen tüchtig auf den Boden klopfen mußte, damit die Maden herauskrochen. Ich war schmutzig, verlaust und voller Flöhe. Mein Gesicht war mit einem dichten Vollbart bedeckt, und meine Kleider waren verdreckt, zerfetzt und stanken erbärmlich. Aber trotz all dieser unerfreulichen Nebenerscheinungen war ich froh, daß ich mich an Bord der Raja, einer kleinen Karavelle, befand. Unser Ziel war die Neue Welt, die wir in wenigen Tagen erreicht haben sollten. Ich war auf der Flucht vor der Inquisition. Mein richtiger Name war Georg Rudolf Speyer, doch ich hatte mich als Juan Tabera ausgegeben, der ich in einem meiner früheren Leben gewesen war. Tabera war schon lange tot. Er war 1508 gestorben; jetzt schrieb man das Jahr 1532. Wieder hörte ich den Schrei, diesmal ganz deutlich. So schrie nur ein Mensch in höchster Todesangst. Ich stand auf. Das Schiff stampfte, schaukelte hin und her, und ich
mußte darauf achten, mir nicht den Kopf an der niedrigen Decke wund zu schlagen: Hernand Vivelda schlug die Augen auf und blinzelte mich an. »Was ist los?« fragte er brummend. »Ich sehe mal an Deck nach.« »Kümmere dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten!« knurrte er und streckte sich aus. Ich hörte nicht auf ihn, ging zwischen den Schlafenden hindurch und paßte mich den schaukelnden Bewegungen des Schiffes an. Nach wenigen Schritten hatte ich die Stufen erreicht, die zum Hauptdeck führten. Die Mannschaft war ein wilder Haufen. Die meisten waren auf der Flucht, die anderen waren durch die Berichte über die Reichtümer der Neuen Welt animiert worden, Spanien zu verlassen. Ich erreichte das Hauptdeck, blieb stehen und blickte über das Meer. Undeutlich sah ich zwei Karavellen vor uns. Der Himmel war dunkel, und trotz der starken Brise hatte jedes Schiff soviel Segel gesetzt, daß man um die Takelage fürchten mußte. Ich stand unweit des Großmastes und blickte hoch. Über mir blähten sich ein Bonnett und das Rahsegel. Der Wind heulte. Ich drückte mich in den Schatten und sah mich aufmerksam um. Kein Mensch war zu sehen. Da hörte ich wieder einen Schrei, langgezogen und schaurig. Ich lief einige Schritte und erreichte den Aufgang zum Quarterdeck. Das Geräusch meiner Schritte ging im Heulen des Sturms und im Toben der See unter. Ich wunderte mich, daß der Kapitän alle Segel gesetzt hatte. Der Sturm wurde von Minute zu Minute stärker. Ich streckte den Kopf vor, blieb aber noch auf den Stufen stehen. Auf dem erhöhten Halbdeck sah ich einige schemenhafte Gestalten, konnte aber keine Einzelheiten erkennen. Vorsichtig schlich ich an der Bordwand entlang. »Laßt mich los!« hörte ich die Stimme des Kapitäns. Zwei riesige Gestalten hielten ihn gepackt. Ich kam noch näher. Vor dem Kapitän stand Antonio de Aguilar, ein Edelmann, über den die verschiedensten Gerüchte im Umlauf waren. Er sollte auf seinen Anwesen Schwarze Messen gefeiert, den
Teufel angerufen und die Kirche verhöhnt haben. Aguilar hob die rechte Hand, und ich sah, daß er ein gewaltiges Entermesser umklammert hatte. Er holte zum Schlag aus und spaltete dem Kapitän den Schädel. Ich wandte den Kopf ab und atmete schwer. Nach einigen Sekunden sah ich wieder hin, Aguilar hatte sich in die Kehle des Toten verbissen und schlürfte gierig sein Blut. Schaudernd wandte ich mich ab. Eine der dunklen Gestalten stieg vom Halbdeck herunter. Ich drückte mich eng an die Bordwand und wagte nicht zu atmen. Breitbeinig kam die Gestalt an mir vorbei. Für einen Augenblick riß die dunkle Wolkendecke auf, und ich konnte die Gestalt deutlich sehen. Der Mann war bis auf eine weite Hose nackt. Sein breiter Oberkörper war blutverschmiert. Der Schein des Mondes fiel auf sein Gesicht. Es war nicht mehr menschlich. Die Ohren liefen spitz zu, und die Augen waren groß wie Dukatenstücke und schimmerten dunkelrot. Die Nase war flach wie die eines Affen und der Mund zu einem geifernden Maul geworden. Die Lippen waren weit zurückgezogen und entblößten scharfe, blutverschmierte Reißzähne. Das unheimliche Geschöpf stapfte weiter, ohne mich zu bemerken. Sekunden später war es auf der steil abfallenden Treppe zum Hauptdeck verschwunden. Ich stand rasch auf und warf noch einen Blick auf das Halbdeck. Einige Tote lagen auf den Planken. Antonio de Aguilar war von drei der schaurigen, unmenschlichen Scheusale umringt. Er war eben dabei, die Leiche des Kapitäns zu zerstückeln. Ich hatte genug gesehen. Mit klopfendem Herzen ging ich zum Quarterdeck und blieb lauschend stehen. Der Wind war noch stärker geworden und riß an den Segeln, die schon längst eingeholt gehört hätten. Ich sah mich um, bemerkte aber nichts Verdächtiges. Nach wenigen Sekunden hatte ich das Hauptdeck erreicht und betrat die Mannschaftsräume. Nach der frischen Luft kam es mir in dem engen Raum wie in einem Backofen vor. Ich setzte mich zu Hernand Vivelda, der den Kopf hob und mich musterte. »Hör mir zu«, flüsterte ich leise. »Ich habe gesehen, wie Aguilar
den Kapitän ermordete. Er hat vier furchtbare Scheusale bei sich.« »Du phantasierst«, sagte er abweisend. »Du mußt mir glauben«, sagte ich heftig. »Aguilar ist ein Dämon. Ich sah, wie er dem Kapitän das Blut aussaugte.« »Unsinn!« »Ich sage die Wahrheit, Hernand. Wir müssen uns verstecken. Er wird sicherlich einige von uns töten. Er braucht Blut. Er dürfte ein vampirartiges Geschöpf sein.« »Das hört sich ziemlich phantastisch an.« Bevor ich noch etwas erwidern konnte, betrat Antonio de Aguilar den Mannschaftsraum und blieb breitbeinig stehen. Er war ein hochgewachsener hagerer Mann. Sein bleiches Gesicht war schmal, die dunklen Augen lagen tief in den Höhlen. Sein dunkelbrauner Spitzbart war sorgfaltig gestutzt. »Fünf Männer zu mir«, sagte Aguilar. Niemand rührte sich. »Wird's bald!« schrie er und zeigte auf drei Männer, dann auf Hernand und schließlich auf mich. »Ihr kommt mit!« Hernand und ich wechselten einen Blick. Unwillkürlich griff ich nach meinem Dolch, der einzigen Waffe, die ich besaß. Die anderen drei standen fluchend auf und folgten Aguilar. Hernand und ich schlossen uns ihnen an. Wir hielten uns aber einige Schritte zurück. »Sei vorsichtig, Hernand«, sagte ich leise. »Ich weiß, wo wir uns verstecken können. Neben der Kombüse befindet sich das Lebensmittellager. Daran schließt ein Raum, in dem Waffen und allerlei anderes Zeug gelagert sind.« Hernand gab mir keine Antwort. Aguilar stieg zum Halbdeck hoch. Wir blieben zurück. Einer der Männer hatte das Halbdeck erreicht, da stürzte sich eines der Scheusale auf ihn, packte ihn an den Schultern und riß ihn hoch. Ich sah, wie die raubtierartigen Zähne zubissen und die Kehle des Unglücklichen zerfetzten. »Glaubst du mir jetzt?« fragte ich Hernand. »Ja«, sagte er heiser.
»Wir haben keine Sekunde zu verlieren.« Ich wandte mich zur Flucht. Ein Kampf gegen Aguilar und seine vier Helfer war sinnlos. Eines der Scheusale verfolgte uns. Es stieß einen heiseren Schrei aus und fuchtelte wild mit den Armen herum. Ich erreichte die Tür zur Kombüse und riß sie auf. Das unheimliche Geschöpf hatte Hernand erreicht und schlug seine Pranken in seine Hüften. Hernand stieß einen entsetzlichen Schrei aus. Blitzschnell riß ich meinen Dolch aus der Scheide und sprang auf das Monster zu. Die glutroten Augen blitzten mich böse an. Die rechte Pranke des Monsters drückte Hernands Kehle zu, der verzweifelt um sich schlug. Mit drei Sprüngen stand ich neben dem Scheusal. Meine rechte Hand zuckte vorwärts, und der Dolch bohrte sich in die Niere des Monsters. Das Monster ließ Hernand frei, der in die Knie ging. Ich hatte keine Zeit, mich um ihn zu kümmern. Das Scheusal holte zu einem Schlag aus, und die Pranke traf meine Brust. Ich fiel zu Boden und prallte mit dem Kopf gegen die Bordwand. Für einen Augenblick war ich halb ohnmächtig. Der Dolch entfiel meiner steifen Hand und kullerte über Deck. Ich spürte den heißen Atem des Scheusals über meine Wangen gleiten. Ein fauliger Geruch entströmte seinem Maul. Die scharfen Zähne schnappten nach meiner Kehle. Im letzten Augenblick konnte ich den Kopf zur Seite werfen, und die Zähne verbissen sich in meiner Schulter. Ich vergrub meine rechte Hand im borstigen Haar des Monsters und versuchte den häßlichen Schädel zurückzureißen. Es biß stärker zu. Meine Schulter wurde gefühllos. »Hilf mir, Hernand!« keuchte ich. Hernand suchte nach meinem Dolch. Endlich hatte er ihn gefunden. Ich sah, wie er hinter dem Monster auftauchte und den Dolch zum Stoß erhob. Er stach zu, und ein Zittern durchlief den gewaltigen Körper des Monsters. Es hob den Kopf, und da stach Hernand nochmals zu. Diesmal hatte er gut getroffen. Der Dolch bohrte sich zwischen die Rippen des unmenschlichen Geschöpfs und traf das Herz. Ich stieß das sterbende Ungetüm zur Seite und stand schwan-
kend auf. »Danke, Hernand«, sagte ich. »Faß mit an, Juan!« sagte er. »Wir werfen das Biest ins Meer.« Er packte das tote Scheusal an den Beinen und ich an den Handgelenken. Mit einem Schwung warfen wir das Monster über die Reling. Von den anderen Bestien war im Augenblick nichts zu sehen. Wir rannten in die Kombüse. Es war dunkel. Vorsichtig tasteten wir uns weiter. Ich hatte einige Male Küchendienst gehabt und kannte mich recht gut aus. »Ich gehe voraus«, sagte ich leise. Hernand klammerte sich an mir fest. Meine Schulter schmerzte höllisch. Ich konnte meinen linken Arm kaum bewegen. Endlich fand ich den Zugang zum Lebensmittellager. Auch hier war es völlig dunkel. Ich stieß gegen ein Faß mit gepökeltem Fleisch und holte einige Stücke aus der Lake, dann nahm ich einen Laib Brot an mich und ging weiter. Immer wieder stieß ich mir die Schienbeine an, doch dann hatten wir den großen Lagerraum endlich erreicht, in dem sich Kisten mit Degen, Arkebusen und Rüstungen befanden. Hinter einigen Kisten versteckten wir uns. Doch niemand suchte uns. Ich vermutete, daß Aguilar annahm, daß wir zusammen mit seinem Helfer bei dem Sturm über Bord gefallen wären. Das konnte unsere Rettung sein. Wir wagten einige Stunden lang nicht zu sprechen. Das Schiff schwankte noch immer. Die Kisten rutschten hin und her. Ich knabberte an einem Stück Pökelfleisch und aß ein Stück Brot. Dann bekam ich Durst. Wir hatten kein Wasser. Nach einiger Zeit hörten wir Stimmen. Sie kamen aus dem Lebensmittellager, dann war es wieder still. Meine Schulter schmerzte noch immer. Ich schlüpfte aus meiner Jacke und zog das Hemd aus. Notdürftig reinigte ich die Wunde. Ich hoffte, daß ich kein Fieber bekommen würde. »Was nun?« fragte Hernand. »Wir müssen warten«, sagte ich. »Ich bin sicher, daß Aguilar den Großteil der Besatzung getötet hat. Er ist ein Dämon.« Hernand antwortete nicht, und ich hatte auch gar keine Lust auf
ein Gespräch. Ich versuchte zu schlafen, was mir aber nicht gelingen wollte. Hernand ging es da besser. Bald hörte ich sein lautes Schnarchen. Ich legte mich hin und hing meinen Gedanken nach. Nach meinem schrecklichen Erlebnis mit den Dämonen-Drillingen war das kleine Dorf Haßfurt vom Erdboden verschwunden. Die Inquisition schaltete sich ein. Dr. Faustus ließ man in Ruhe, doch man versuchte sich an mir schadlos zu halten. Mir war keine andere Wahl geblieben: Ich mußte fliehen. Ich fuhr nach Spanien, doch dort waren die Zustände nicht besser. Irgend jemand verriet mich an die Inquisition, und ich mußte all meine Habseligkeiten zurücklassen. Ganz Spanien war im Goldrausch. Cortez' Name war in aller Munde. Überall wurde von der Neuen Welt und ihren unermeßlichen Schätzen gesprochen. Täglich stachen einige Schiffe in See, die Nachschub zu den spanischen Kolonien nach Hispaniola und Panama brachten. Mein Spanisch war ausgezeichnet, ich hatte die Erinnerung an eines meiner früheren Leben zurückbekommen. Damals hieß ich Juan de Tabera. Ich nahm ganz einfach seinen Namen an. So hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, auf ein Schiff zu kommen. Leute wurden immer gebraucht. Mir war der Boden in Europa zu heiß geworden und mich reizte die Neue Welt. Außerdem wollte ich nicht mehr mit Dämonen und ähnlichen Nachtgeschöpfen zusammentreffen. Doch ich hatte mich getäuscht. Sie verfolgten mich noch immer. Sogar hier auf dem Schiff. Es schien, als hätte ich die Fähigkeit, überall auf Dämonen zu stoßen. Der Kampf gegen die Geschöpfe des Teufels schien zu meinem Lebenszweck zu werden. Ich überlegte, was ich unternehmen konnte, doch mir fiel keine brauchbare Lösung ein. Hernand und ich konnten nicht viel gegen Antonio de Aguilar ausrichten. Unruhig wälzte ich mich hin und her. Irgendwann schlief ich dann ein. Scheußliche Alpträume verfolgten mich. Ich erwachte, und mein Körper wurde von Fieberschauern geschüttelt. »Wasser«, flüsterte ich mit versagender Stimme. »Wasser.«
»Wir haben kein Wasser«, sagte Hernand. Er tupfte mir den Schweiß von der Stirn und tastete über meine Schulterverletzung. Ich stöhnte gequält auf. »Ich muß die Wunde aufschneiden«, sagte Hernand. »Du hast eine Blutvergiftung.« Ich schloß die Augen. »Warte«, sagte er. »Ich werde in die Kombüse schleichen und sehen, ob ich Wasser bekommen kann.« Undeutlich hörte ich seine Schritte und döste vor mich hin. Ich richtete mich etwas auf, als er mit einem feuchten Tuch meine Lippen betupfte. »Ich habe Glück gehabt«, sagte er. »Niemand war in der Kombüse. Ich habe Wasser geholt.« Einige Tropfen netzten meine Lippen, und ich leckte sie gierig mit der Zunge fort. Er gab mir einen Schluck zu trinken, und ich legte mich erleichtert zurück. »Jetzt schneide ich die Wunde auf«, sagte er. Ich biß die Zähne zusammen, als seine Finger wieder meine Wunde berührten. Es war stockfinster, und Hernand konnte die Wunde nur mit seinen Fingern ertasten. Ich unterdrückte einen Schrei, als sich das Messer schmerzhaft in meine Schulter bohrte. Die Wunde brach auf. Er wischte den Eiter fort und wusch die Wunde notdürftig mit Wasser aus. Ich trank noch einen Schluck, dann schlief ich ein. Ich wußte nicht, wie lange ich fieberte. Ich erwachte alle paar Stunden, und er gab mir Wasser zu trinken. Schließlich kam der Tag, da ich mich besser fühlte. Meine Wunde war verheilt, und ich hatte keine Schmerzen mehr. Das Fieber war verschwunden. Ohne Hernand wäre ich nicht mehr am Leben gewesen. »Ich schlich mich einmal raus«, sagte Hernand. »Es war Nacht. Aguilar hat die Besatzungsmitglieder gefangengenommen. Es sind aber nicht mehr viele am Leben. Ich sah, wie er zusammen mit den drei Scheusalen einen der Männer mordete. Sie tranken sein Blut.« »Wir müssen ihn töten«, sagte ich. »Ihn und die Monster.«
»Und wie stellst du dir das vor?« »Wir haben genügend Waffen. Wir bewaffnen uns, schleichen uns an Deck, töten die Monster und dann nehmen wir uns Aguilar vor.« Hernand blickte mich kopfschüttelnd an. »Aguilar ist ein Dämon«, fuhr ich fort. »Ihn können wir nicht mit normalen Waffen töten. Er dürfte ein vampirartiges Geschöpf sein. Knoblauch ist eine gute Waffe. Wir haben genug davon an Bord.« »Ich weiß nicht«, sagte Hernand ausweichend. »Es bleibt uns keine andere Wahl. Willst du ewig hier im Lagerraum bleiben? Wir wissen ja nicht, wohin Aguilar uns bringt. Vielleicht auf eine Insel, wo andere seiner Artgenossen hausen. Da hätten wir dann überhaupt keine Chance zu entkommen.« Hernand schwieg. Ich holte das kleine Säckchen hervor, das ich unter meiner Hose trug. Darin befanden sich einige Gegenstände, die gut zur Abwehr von Dämonen waren: ein geweihtes silbernes Kreuz, einige Silberstifte und Weihwasser. Dann schlich ich in den Lebensmittellagerraum. Ich mußte ziemlich lange suchen, bis ich gefunden hatte, was ich wollte. Mit einem Säckchen Knoblauch und einigen Schnüren kam ich zurück. Ich fädelte die Knoblauchzehen auf die Schnüre und befestigte sie an meinem Gürtel. Dann riß ich einige Kisten auf, hing mir ein schweres Entermesser und zwei Dolche an den Gürtel und nahm eine Arkebuse an mich. Pulver und Kugeln mußten wir aus der Munitionskammer holen. Hernand war noch immer nicht mit meinem Vorschlag einverstanden, doch als ich ihm sagte, daß ich gewillt wäre, allein den Kampf gegen Aguilar aufzunehmen, schloß er sich mir an. Wir stärkten uns mit einigen Bissen des salzigen Fleisches und tranken brackiges Wasser dazu. Es war stockfinster, als wir das Deck betraten. Der Mond stand hoch am Himmel. Niemand hielt uns auf, als wir zur Munitionskammer schlichen, die früher immer bewacht worden war. Jetzt war kein Posten zu sehen. Ich holte Pulver und Kugeln, und wir luden unsere Arkebusen. Ich war sicher, daß sich Aguilar in der Kabine des Kapitäns ein-
quartiert hatte. »Wir befreien zuerst die anderen Mannschaftsmitglieder«, sagte ich, und Hernand nickte. Vor den Mannschaftsräumen hockte eines der Monster. Es starrte mit halb geschlossenen Augen übers Meer. Ich ging voraus, verschmolz mit den Schatten und kam rasch näher. Als ich noch vier Schritte vom Monster entfernt war, wandte es den Kopf und sprang auf. Ich lief auf das Scheusal zu und schwang das schwere Enterbeil über dem Kopf. Die Bestie versuchte meinem Hieb zu entgehen, doch sie reagierte zu spät. Der Schlag war so gewaltig, daß ich den Kopf vom Rumpf trennte. Ich stieg über das tote Biest und riß die Tür zu den Mannschaftsräumen auf. Eine Lampe erhellte den stickigen Raum. Ein Dutzend Männer lagen fiebernd in den Hängematten. Sie waren nackt und ihre Körper mit unzähligen Wunden bedeckt. Sie mußten auf die brutalste Weise gefoltert worden sein. Von ihnen hatten wir keine Hilfe zu erwarten. Alle rangen mit dem Tod. »Weiter«, sagte ich. »Wir nehmen uns Aguilar vor.« Wir stürmten zum Halbdeck, wo sich die Kapitänskajüte befand. Zwei der Monster sprangen auf, als wir das Deck betraten. Wir schossen augenblicklich. Ich hatte gut getroffen. Das Scheusal griff sich an die Brust und brach tot zusammen. Hernand hatte das andere Scheusal nur verwundet. Es brach in die Knie. Hernand warf die Arkebuse zur Seite und schlug mit einem Beil auf das schreiende Monster ein. Ich achtete nicht auf ihn und raste zur Kapitänskajüte, die geöffnet wurde. Antonio de Aguilar trat heraus. Das Mondlicht fiel auf sein Gesicht. Seine Augen wurden groß, und sein Mund verzerrte sich. Er blähte die Nasenflügel und stieß einen schrillen Schrei aus. Ich schlich näher. Ich hatte mir das Gesicht und die Hände mit Knoblauch eingerieben, und dieser Geruch schien Aguilar nicht zu munden. »Stirb, du Ausgeburt der Hölle!« schrie ich und schlug mit dem Beil zu.
Der Dämon sprang zur Seite und fletschte wütend die Zähne. Das Beil bohrte sich in seine linke Schulter, und eine schleimige Flüssigkeit spritzte hervor. »Hilf mir, Hernand!« brüllte ich, als Aguilar an mir vorbeilief. Hernand stellte sich ihm in den Weg. Sein Beil zuckte herab und spaltete den Schädel des Dämons, der sich aber noch immer bewegte. Er verkrallte seine Finger in Hernands Hals und riß seine Halsschlagader auf. Ein Zittern durchlief den Körper meines Freundes. Er war rettungslos verloren. Ich riß eine der Knoblauchschnüre vom Gürtel, warf sie um Aguilars Hals und zog fest zu. Er versuchte die Schnur herunterzureißen, doch ich zog noch fester daran. Er bäumte sich auf und stieß einen winselnden Schrei aus. Nach einigen Sekunden wurden seine Bewegungen schwächer, und sein Körper sackte zur Seite. Ich machte einen Knoten in die Schnur um den Hals und warf Aguilar auf den Bauch. Dann riß ich seine Hände auf den Rücken, band sie mit einer Knoblauchschnur zusammen, holte einen Silberstift aus meinen Säckchen und trieb ihn durch die Handflächen. Dazu verwendete ich den Griff des Beils als Hammer. Ich wälzte Aguilar auf den Rücken. Er bewegte sich nicht mehr. Sicherheitshalber stopfte ich ihm noch einige Knoblauchzehen in den Mund und band sie mit einer Schnur fest. Schließlich stand ich auf und ging zu Hernand. Ich bekreuzigte mich und kniete neben meinem toten Freund nieder. Seine Augen standen weit offen, seine Kehle war zerfetzt. Um seinen Kopf hatte sich eine große Blutlache gebildet. Mir wurde nicht bewußt, daß dunkle Wolken über den Himmel zogen und ein starker Wind aufgekommen war. Ich weiß nicht, wie lange ich neben meinem toten Freund gekniet hatte. Als ich den Kopf hob, klatschten die ersten schweren Regentropfen in mein Gesicht. Langsam stand ich auf. Ich fand ein Netz, in das ich den toten Dämon wickelte, zerrte ihn zur Bordwand und hob ihn hoch. Es war zu dunkel, als daß ich das Aufklatschen seines Körpers auf der Meeresoberfläche hätte sehen können. Ein gewaltiger Blitz raste neben dem Schiff ins Wasser. Der Him-
mel öffnete seine Schleusen, und der Regen peitschte mir ins Gesicht. Das Schiff hob sich ächzend. Wieder raste ein Blitz heran und spaltete den Großmast. Die Welt schien unterzugehen. Die Finsternis wurde nur gelegentlich von Blitzen aufgehellt. Der krachende Donner hallte schaurig in meinen Ohren. Das Schiff brach in der Mitte auseinander, und ich wurde von den Fluten verschlungen. Ich klammerte mich an eine Holzplanke und ließ mich einfach treiben. Als das Unwetter vorüber war, und es langsam hell wurde, war von der Raja nichts mehr zu sehen. *
Gegenwart Dorian Hunter saß auf dem Balkon seines Zimmers im Nassau Beach und blickte über den Strand. Seit vier Tagen hielt er sich mit seinen Gefährten auf den Bahamas auf, doch er fand keine Ruhe vor seinen quälenden Gedanken. Noch immer hatte er sich nicht damit abgefunden, daß er Coco Zamis, seine Lebensgefährtin, verloren hatte; noch immer hingen ihm die Worte nach, die ihm Don Chapman, der Puppenmann, von Coco übermittelt hatte. Dorian war zusammen mit Don Chapman, Trevor Sullivan, Marvin Cohen und Miß Pickford nach Nassau gefahren und hatte sich im Nassau Beach einquartiert. Dort hatte er sich von den anderen abgesondert. Er wollte allein mit seinen düsteren Gedanken und seiner Erinnerung an Coco sein. Er schenkte sich einen neuen Drink ein, lehnte sich zurück, drehte das Glas in der Hand und lauschte dem Klirren der Eisstücke. Er sah nicht auf, als Trevor Sullivan, der ehemalige O. I. auf den Balkon trat und sich ihm gegenübersetzte. »Blasen Sie noch immer Trübsal, Dorian?« fragte Sullivan leise. Der Dämonenkiller antwortete nicht. Er drehte das Glas schneller in seiner Hand.
»Coco hat uns helfen wollen, Dorian. So begreifen Sie das doch endlich! Es blieb ihr keine andere Wahl. Sie mußte auf Olivaros Wünsche eingehen.« Dorian schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir nicht so sicher, Trevor. Ich zermartere mir schon die ganze Zeit den Kopf, um eine Antwort auf diese Frage zu finden. Nach allem, was mich mit Coco verbunden hat, ist das doch wohl nicht verwunderlich, oder?« Sullivan schüttelte den Kopf. »Ich verstehe Sie, Dorian. Das können Sie mir glauben, doch ich mache mir Sorgen um Sie. Sie machen sich selbst fertig. Sie sind nur noch ein Schatten Ihrer selbst. Mürrisch, gereizt und nach innen gekehrt. Das paßt so gar nicht zu Ihnen. Wachen Sie auf! Ich weiß, daß es sich dumm anhört, aber das Leben geht weiter. Und Sie waren immer ein Mann, der sich mit den Tatsachen abgefunden hat.« Der Dämonenkiller seufzte. »Sie haben recht, Trevor. Jedes Wort stimmt. Aber ich fühle mich lustlos. Ich will einfach nichts tun, nur dasitzen, über den Strand sehen, rauchen und trinken.« »Ihnen bekommt das Nichtstun überhaupt nicht, Dorian«, sagte Sullivan. »Aber ich habe Neuigkeiten für Sie.« Doch nicht einmal das konnte Dorian aus seiner Lethargie reißen. »Sind Sie denn gar nicht neugierig, Dorian?« Der Dämonenkiller schüttelte den Kopf. »Ich kann mir denken, was Sie mir sagen wollen. Es ist Ihnen endlich gelungen, meinen Freund Jeff Parker zu erreichen. Er wird in wenigen Stunden eintreffen. Das ist es doch?« Sullivan schüttelte den Kopf und stand langsam auf. »Nicht ganz. Es geht um Parker. Er ist aber noch immer nicht von seiner Expedition ins Amazonasgebiet zurückgekommen.« Jetzt spiegelte sich etwas wie Interesse auf Dorians Gesicht. »Ein verrückter Kerl ist er schon, mein lieber Freund Jeff.« Er nippte an seinem Glas. »Er war ja damals dabei, als ich Asmodi tötete, und dabei erzählte ich ihm einiges über meine Aufgaben. Er weiß auch, daß ich früher schon einige Male gelebt habe. Damals erinnerte ich mich noch nicht an meine Erlebnisse als Georg Rudolf Speyer. Es war nur eine Ahnung. Ich war der Überzeugung, daß es das sagenhafte El
Dorado wirklich gegeben hat. Und daß ich in einem meiner früheren Leben einmal dort gewesen war.« Er lachte auf. »Und Jeff, dieser Verrückte, hat nichts anderes im Sinn, als sich auf die Suche nach diesem geheimnisvollen Land zu machen.« »Da haben Sie ihm einen ordentlichen Floh ins Ohr gesetzt«, sagte Sullivan vorwurfsvoll. »Gestern gelang es mir endlich, eine von Jeff Parkers Sekretärinnen in Florida zu erreichen. Sie hatte einen Brief und ein Päckchen für Sie, das sie per Luftpost gestern noch wegschickte. Und diese Unterlagen sind eben für Sie abgegeben worden. Ich hole sie.« Sullivan verschwand in Dorians Zimmer und kam wenige Minuten später zurück. Er legte ein Paket auf den Tisch, das Dorian eingehend betrachtete. Schließlich riß er das Paket auf und griff nach einem Briefumschlag, den er langsam öffnete. Er strich den Brief gerade und las laut vor. Lieber Dorian, begann das Schreiben, ich habe mich entschlossen, Deinen Hinweisen nachzugehen. Ich will den sagenhaften Inka-Schatz in der Goldstadt El Dorado suchen. Du hast behauptet, daß diese Stadt existiert – und ich werde sie finden. Falls Du irgendwann Zeit und Lust hast, Dich meiner Expedition anzuschließen, dann setz Dich mit Sancho Parras, einem meiner Verwalter, in Bogota in Verbindung. Herzliche Grüße. Dorian legte das Schreiben kopfschüttelnd zur Seite und griff nach einem zweiten Kuvert, das er rasch aufriß. Wieder las er laut vor. Ich bin auf der richtigen Spur, fing der Brief an. Wir haben unser Hauptlager am Rio Negro aufgeschlagen. Die Suche entwickelt sich recht vielversprechend. Als Beweis lege ich Dir einen Zeremoniendolch der Inkas bei und eine Revolvertrommel. Sieh Dir die beiliegende Analyse genau an. Hoffentlich kommst Du bald. Ohne Dich macht die Sache nur den halben Spaß. Dorian studierte die beiliegende Analyse der Trommel genau, dann öffnete er das Päckchen ganz. Ein Zeremoniendolch kam zum Vorschein. Dorian hob ihn vorsichtig hoch. Der etwa zwanzig Zentimeter lange Dolch funkelte in der hochstehenden Sonne. Die Schneide war halbmondförmig, ähnlich wie bei einem Beil. Auf einem glatten Sockel – anstelle eines Griffes – befand sich eine große Figur mit
einer Art Krone auf dem Kopf. Die Arme der Figur waren seitlich abgewinkelt. Sie war ganz aus Gold; die Augen waren aus Türkissteinen gefertigt. »Ein einmalig schönes Stück«, sagte Sullivan, und Dorian nickte. Er suchte weiter im Päckchen herum und wickelte eine verrostete Revolvertrommel aus, die er flüchtig ansah und vor Sullivan auf den Tisch legte. »Wie alt schätzen Sie diese Revolvertrommel, Trevor?« Sullivan hob die Schultern und betrachtete die Trommel. »Sieht ziemlich alt aus. Vielleicht hundert Jahre?« Der Dämonenkiller schüttelte den Kopf und reichte Sullivan das Gutachten, das Parker beigelegt hatte. »Nach dem Gutachten ist sie Witterungseinflüssen ausgesetzt gewesen, die auf ein Alter von über vierhundert Jahren hinweisen.« »Vierhundert Jahren?« fragte Sullivan überrascht, dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Das ist völlig ausgeschlossen. Vor vierhundert Jahren gab es noch keine Trommelrevolver.« »Sie sagen es, Trevor. Den ersten Trommelrevolver stellte Samuel Colt her, wenn ich mich nicht irre. Das muß so gegen 1830 gewesen sein.« »Was hat das alles zu bedeuten?« Dorian trank sein Glas leer. »Ich fürchte, daß sich Jeff in ein Abenteuer eingelassen hat, das seine Kräfte übersteigt. Was sagte seine Sekretärin?« »Sie hat keine Nachricht von Parker. Er ist seit Wochen im Dschungel verschollen. Ein Suchkommando ist ebenfalls seit einiger Zeit überfällig.« Dorian schloß die Augen. »Ich werde Jeff suchen«, sagte er nach kurzem Überlegen. »Ich fliege mit der nächsten Maschine nach Bogota und setze mich mit Sancho Parras in Verbindung. Seien Sie so freundlich und buchen Sie meinen Flug, Trevor!« »Sie wollen allein fliegen?« Der Dämonenkiller nickte. »Nehmen Sie wenigstens Marvin Cohen mit!«
»Nein, ich fliege allein. Sie und die anderen kehren nach London zurück.« »Warum wollen Sie Parker helfen?« »Er hat mir geholfen«, sagte Dorian, »als ich ihn brauchte. Und durch meine Andeutungen hat er sich auf dieses Wahnsinnsunternehmen eingelassen.« »Wollen Sie mir nicht mehr sagen, Dorian?« »Das ist eine zu lange Geschichte. Ich werde sie Ihnen erzählen, sobald ich zurück bin.« »Wie Sie wollen, Dorian«, sagte Sullivan verärgert, stand auf, ging ins Zimmer und telefonierte. Dorian genehmigte sich noch einen Drink. Der Gedanke an Jeff Parker, der sich wahrscheinlich in Gefahr befand, verdrängte seine düsteren Erinnerungen an Coco und Olivaro. »Es gibt keinen Direktflug nach Bogota«, sagte Sullivan. »In zwei Stunden startet aber eine Maschine nach Caracas. Von dort aus haben Sie dann Anschluß nach Bogota.« »Danke«, sagte Dorian und stand auf. »Dann habe ich keine Zeit zu verlieren.« Sullivan sah ihm zu, wie er seine Koffer packte. Eine Viertelstunde später war der Dämonenkiller reisebereit. Er verabschiedete sich von seinen Gefährten, ließ sich ein Taxi rufen und fuhr zu dem sechzehn Kilometer von der Stadt entfernten Flughafen. Er bestieg die Maschine, schnallte sich fest und schloß die Augen; er öffnete sie auch nicht, als die Maschine zu rollen begann und abhob. Er war ganz in seinen Gedanken versunken. Dorian erinnerte sich an sein Leben, als sein Name Georg Rudolf Speyer gewesen war – damals, gegen Ende des Jahres 1532. * Die Karavelle, die mich aufgefischt hatte, blieb nur einen Tag auf Hispaniola, dann wurde die Reise nach dem 1497 gegründeten Portobello fortgesetzt. Die Reise verlief ohne Aufregung. Ich hatte mich gut erholt, als wir in der Hafenstadt anlegten. Hier
wurde die Ladung gelöscht und auf dem Landweg, über die Ca Real, nach Panama gebracht. Die Stadt war 1519 von Pedrarias Davilla gegründet worden und hatte sich rasch zu einem blühenden Handelsplatz entwickelt. Sie wirkte auf mich nicht anders als eine spanische Hafenstadt; der Kontrast zwischen arm und reich war hier nur noch stärker ausgeprägt. Am Rande der Stadt lagen die armseligen Hütten der Indios, die nicht besser als Sklaven behandelt wurden. Ich trieb mich einige Tage in der Stadt herum und nahm schließlich bei einem Kaufmann einen Posten als Schreiber an, da ich dringend etwas Geld brauchte, ein Dach über dem Kopf und neue Kleider. Tagsüber arbeitete ich und abends trieb ich mich in den zahllosen Schenken herum. Überall wurde von Francisco Pizarro gesprochen, der im Januar 1531 zu seiner dritten Reise nach Peru aufgebrochen war. Er war mit drei Schiffen unterwegs und hatte einhundertdreiundachtzig Mann und siebenunddreißig Pferde an Bord. Die Berichte über Pizarro und seine Abenteuer widersprachen sich teilweise. Schließlich lernte ich Aivar Lopez kennen, mit dem ich mich anfreundete. Er war ein breitschultriger gutmütiger Kerl, immer zu einem derben Scherz aufgelegt und schien in Geld zu schwimmen. Er hatte an Pizarros zweiter Expedition teilgenommen, und von ihm erhielt ich den ersten authentischen Bericht. Am 10. März 1526 waren sie aufgebrochen, zwei Schiffe, die unter der Führung von Bartolome de Ruiz standen. Sie hatten Glück gehabt. Schon als sie das erste Mal vor Anker gingen, stießen sie auf eine Siedlung, bei deren Plünderung ihnen größere Mengen Gold in die Hände fielen. Pizarro führte dann einen Trupp ins Landesinnere, doch die Beute war nur gering. Sie segelten weiter nach Süden. Und immer mehr häuften sich die Anzeichen einer hohen Zivilisation. Sie sahen Städte, und die Indios trugen Gewänder aus farbenprächtigen Baumwollgeweben. Sie fuhren bis Trujillo und kehrten schließlich nach Panama zurück, um eine neue Expedition vorzubereiten. Doch da gab es Schwierigkeiten. Der neue Gouverneur von Panama, Pedro de los Rios, ließ sich von Pizarros Erzählung von den Schätzen
des Königreiches in den Anden nicht beeindrucken und verweigerte seine Zustimmung zu einem neuen Unternehmen. Daraufhin fuhr Pizarro nach Spanien zurück und sprach beim König vor. Er zeigte dem Hof die Gold- und Silberschmuckstücke und führte einige Lamas mit. Es gelang ihm, den König davon zu überzeugen, daß man in Peru auf noch größere Schätze als in Mexico stoßen würde, wo Cortez die Azteken vernichtet hatte. Der König unterzeichnete am 26. Juli 1529 eine Urkunde, die Pizarro zum Gouverneur jener Länder machte, die er aber erst erobern mußte. Pizarro kehrte nach Panama zurück. Er hatte seine Brüder Hernando, Juan und Gonzales mitgenommen, die ihn auf seiner dritten Expedition begleiteten. Ich hörte Alvar Lopez fasziniert zu. Er berichtete mir von den Schätzen und Wundern, die er gesehen hatte. »In zwei Tagen fahre ich los«, sagte Alvar. »Diego de Almagro sucht noch Leute. Komm doch mit!« Ich trank mein Glas leer und überlegte. Diego de Almagro war in Panama geblieben, um weitere Leute anzuwerben, die Pizarros Truppe verstärken sollten. Der Gedanke an die Reichtümer, die zu erbeuten waren, reizte mich wenig, aber die Vorstellung, neue Länder und das alte Reich der Inkas kennenzulernen, gefiel mir. Und wenn dabei eine Stange Geld für mich abfiel, war es auch kein Schaden. Die Arbeit als Schreiber reizte mich nicht. Es gab eigentlich keinen Grund, weshalb ich noch länger in Panama bleiben sollte. »Ich komme mit«, sagte ich. Alvar schlug mir begeistert auf die Schulter. »Darauf müssen wir noch einen trinken.« * Zwei Tage später waren wir schon auf hoher See. Die Reise ins Ungewisse hatte begonnen. Nach vier Wochen Fahrt kam uns eine Karavelle entgegen, die Kurs auf Panama nahm, um weitere Verstärkung zu holen. Ich er-
fuhr Einzelheiten über Pizarros Expedition. Wir nahmen einen Mann an Bord, der uns alles ganz genau berichtete. Pizarro hatte ursprünglich direkt nach Tumbles segeln wollen. Doch heftige Stürme zwangen ihn dazu, schon fünfhundert Kilometer vor seinem Ziel an Land zu gehen. Er wartete einige Zeit in der San-Mateo-Bai, doch das Wetter besserte sich nicht. Deshalb beschloß er, über Land nach Süden zu wandern. Er plünderte einige Küstensiedlungen, machte aber nur wenig Beute. Unbeirrt zog er weiter. Im Gebiet von Coaque hatte er endlich mehr Glück. Er erbeutete Gold und Smaragde, und die Stimmung unter seinen Gefährten hob sich. Er schickte zwei seiner Schiffe nach Panama, in der Hoffnung, daß der Anblick der Schätze andere zur Teilnahme an der Expedition bewegen würde. Tumbles, das Pizarro schon einmal heimgesucht hatte, war geplündert und fast all seiner Schätze beraubt worden. Die Eroberer waren darüber zutiefst enttäuscht, doch als sie den Grund der Plünderung erfuhren, wuchsen ihre Hoffnungen wieder. Pizarro und seine Männer hätten sich keinen besseren Zeitpunkt für ihre Eroberungspläne aussuchen können. Seit einigen Jahren tobte im Inkareich ein brutaler Bürgerkrieg, der das gewaltige Land in zwei feindliche Lager teilte. Der Krieg war nach dem Tod des mächtigen Inka-Herrschers Huayana Capac entbrannt. Der Kampf ging um die Thronfolge. Der verstorbene Inka hatte sein Reich zwischen zwei Söhnen aufgeteilt. Atahualpa, sein Sohn von einer Prinzessin aus Quito, herrschte über den Nordteil des Reiches – das heutige Ecuador. Huascar, der legitime Erbe – der Nachkomme aus der Ehe Capac' und seiner ältesten Schwester – beherrschte von Cuzco aus etwa vier Fünftel des Tahuantinsuyu, des mächtigen Reiches der vier Weltgegenden. Der Waffenstillstand der beiden Brüder dauerte nur wenige Monate an, dann kam es zu einem wilden Krieg, der von 1527 bis 1532 dauerte. Zu diesem günstigen Zeitpunkt traf Hernando de Soto mit der dringend benötigten Verstärkung ein. Pizarro ließ in Tumbles eine Garnison zurück und zog hundert Kilometer in den Süden. An der Mündung des Chira-Flusses gründete er eine Stadt, die er San Miguel nannte.
Hier erfuhr er weitere Einzelheiten über die Auseinandersetzung der feindlichen Brüder. Atahualpas Generäle Quizquiz und Chalocochima kämpften tief im Süden des Reiches gegen die Truppen Huascars, den sie schließlich gefangennahmen und töteten. Atahualpa war nun der Herrscher des gewaltigen Reiches. Zusammen mit einem dritten großen Kriegsführer, Ruminahui, dem Steinernen Auge, ließ er in der Bergstadt Cajamarca das Lager aufschlagen. Vor seinem triumphalen Einzug in die Hauptstadt wollte er sich noch von einer Beinverletzung erholen, die er sich im Kampf zugezogen hatte. Die heißen Quellen in Cajamarca wirkten besonders heilsam. Frauen zu seiner Unterhaltung hatte der Sohn der Sonne genug zur Verfügung. Cajamarca befand sich ungefähr fünfhundert Kilometer von der Stelle entfernt, wo Pizarro mit seinen Männern lagerte. Nach Cuzco dagegen waren es mehr als zweitausend Kilometer. Dorthin hätten sie mehrere Wochen gebraucht, doch Cajamarca war in zwölf Tagen zu erreichen. Als Pizarro erfuhr, daß sich sein Gegner in Cajamarca aufhielt und nicht in der stark befestigten Stadt Cuzco, handelte er augenblicklich. Er wartete nicht auf Almargos Verstärkung, sondern zog mit hundertundsechs Infanteristen, zweiundsechzig Reitern und einigen Kanonen los. Pizarro trieb seine Männer gnadenlos vorwärts. Er gönnte ihnen keine Rast. Der Marsch war unglaublich anstrengend für die Männer in ihren schweren Rüstungen. Zuerst ging es durch die glühende Secura-Wüste, dann über die schneebedeckten Berge. Er hatte Angst, daß er Atahualpa verfehlen konnte. Das durfte auf keinen Fall geschehen. Es herrschte Regenzeit, und die Wege waren schwierig zu passieren. Auf schmalen Bergpfaden ging es weiter. Überall waren Bergfestungen der Inkas zu sehen. Doch Pizarro und seine Begleiter wurden nicht angegriffen. Hier wäre es für eine Handvoll Inka-Krieger ein leichtes gewesen, die ganze Truppe zu vernichten. Einige Steinblöcke hätten genügt, um die spanischen Reiter zu zermalmen und in den Abgrund zu stürzen. Doch der Inka-Herrscher war seiner
Macht zu gewiß. Das Häufchen Spanier betrachtete er als keine ernsthafte Bedrohung. Ein Irrtum, der tödliche Folgen zeitigte. Pizarro hastete weiter. Sein unbändiger Ehrgeiz ließ ihn nicht ruhen. Die Pferde hatten Erfrierungen, die Männer schnappten nach Luft. Eines Tages kam ihnen ein Inka, offensichtlich ein Edelmann, entgegen und überbrachte ihnen seltsame Geschenke. Der Inka-Herrscher verfolgte anscheinend keine bösen Absichten, sondern er ließ die Spanier von seinem Boten willkommen heißen. Er würde sich freuen, die Spanier als seine Gäste zu begrüßen. Aus den Begrüßungsgeschenken wurde Pizarro nicht klug. Der Bote überreichte Festungsmodelle aus Ton und abgehäutete Enten. Am Vormittag des 15. November 1532 war es endlich soweit. Sie trafen in Cajamarca ein, der Stadt, die zwischen sanften grünen Hügeln lag. Die Stadt war verlassen. Pizarro mahnte zur äußersten Vorsicht. Auf dem riesigen Platz in der Stadtmitte stiegen die Reiter von ihren Pferden. Der Platz war nur von zwei Seiten zugänglich, und das verstärkte ihre Unruhe. Weit in der Ferne erblickten sie ein gewaltiges Indianer-Zeltlager, das aus den typischen Rundzelten der Inkas bestand. Sie warteten etwa eine halbe Stunde. Nichts geschah. Pizarro beauftragte Hernando de Soto und seinen Bruder Hernando, mit zwanzig Reitern zum Zeltlager zu reiten. Ungehindert kamen sie näher. Die Indianer wichen vor ihnen zurück und griffen sie nicht an. Endlich fanden sie den Inka-Herrscher. Er saß auf einem kleinen Schemel vor einem Badehaus, umgeben von Edelleuten und vielen Beamten. Den Fingerring, den ihm de Soto als Geschenk überreichte, beachtete der Sohn der Sonne nicht. Dem Dolmetscher de Sotos, der ein Küstenindianer war, antwortete der prächtig gekleidete Herrscher nicht. Der Dolmetscher rühmte die Unbesiegbarkeit der Spanier und bot ihre Freundschaft an. Daraufhin lachte der Inka, und seine Frauen brachten schwere Goldbecher mit schäumender Chicha. Die Spanier tranken, und der Inka versprach, am kommenden Tag in die Stadt einzuziehen.
Sie kehrten zu Pizarro in die Stadt zurück. De Soto war sehr enttäuscht, daß die Inkas, ganz zum Unterschied von den Azteken, keine abergläubische Furcht vor ihnen hatten. Er schätzte, daß mehr als dreißigtausend Krieger auf den Hügeln lagerten. In dieser Nacht schlief kaum einer der Spanier. Alle waren unruhig, viele hatten große Angst. Endlich dämmerte der neue Tag herauf. Doch die Spanier mußten noch einige bange Stunden warten, denn Atahualpa ließ sich mit seinem Einmarsch in die Stadt Zeit. Pizarro hatte mit seinen Brüdern und de Soto einige Pläne gewälzt, konnte sich aber für keinen entscheiden. Er wollte abwarten, wie sich der Inka-Herrscher verhalten würde. Die Spannung unter den Spaniern wurde fast unerträglich. Ihre Nervosität erreichte den Höhepunkt, als sich eine Staubwolke der Stadt näherte. Langsam waren Einzelheiten zu erkennen. Der Zug näherte sich der Stadt. Indios liefen eifrig hin und her und säuberten den Weg. Dahinter war die goldene Sänfte zu sehen, in der der InkaHerrscher saß, wie eine Statue unter dem Baldachin aus Papageienfedern. Ein Bote des Herrschers kam näher. Er berichtete Pizarro, daß der Monarch der Einladung des Spaniers gefolgt sei. Er und seine Männer kämen als Gäste und trügen keinerlei Waffen. Und darauf baute Pizarro seinen verwegenen Plan. Er hielt eine kurze Lagebesprechung mit seinen Soldaten ab. Der Plan fußte auf Cortez' Erfahrungen bei der Gefangennahme Montezumas. Innerhalb weniger Augenblicke war alles für den Empfang des Inka-Herrschers vorbereitet. Die Männer nahmen ihre Positionen ein und warteten. Die Prozession kam näher. Endlich hielt die Sänfte auf dem Hauptplatz, der menschenleer war. In einigem Abstand blieben die Sänften der Edelleute stehen. »Wo sind die Bärtigen?« fragte der Inka und blickte sich um. Laut Plan sollte der Feldgeistliche Valverde als erster den Herrscher begrüßen. Er trat aus einem Haus. In den Händen hielt er ein Kruzifix und eine Bibel. Nur der Dolmetscher begleitete ihn. Vor dem Monarchen blieb der Geistliche stehen und begann sofort mit einer langen Predigt, von der Atahualpa nicht viel mitbekommen
haben dürfte. Valverde verlangte von dem Inka-König, daß er zur katholischen Kirche übertreten und dem spanischen König den Lehenseid schwören sollte. Valverde griff nach dem Arm des Königs, der seine Hand zur Seite schlug, ihm die Bibel entriß und zu Boden schleuderte. Mit stolzer Geste zeigte der Herrscher zur Sonne. »Noch lebt mein Gott«, sagte er. Der Geistliche drehte sich laut schreiend um, und in diesem Augenblick gab Pizarro das Zeichen zum Angriff. In das Krachen der Feldkanonen mischte sich das Gellen der spanischen Hörner. Und das schaurige Gemetzel begann. Die Spanier ritten aus ihren Verstecken. Voran Francisco Pizarro. Er ritt wie ein Wahnsinniger auf den erstarrt dasitzenden König zu und entriß ihm die Binde aus purpurgefärbter Vicsunawolle – das Emblem seines Gottkaisertums. Die Leibwachen, die über diesen unglaublichen Frevel fassungslos waren, wurden von den Soldaten gnadenlos niedergeschlagen. Innerhalb weniger Minuten war der Hauptplatz mit Leichen übersät. Die Indianer setzten sich teilweise verzweifelt zur Wehr, doch die meisten flohen, da sie ja unbewaffnet waren. Die Soldaten verfolgten sie und metzelten sie nieder. Zwanzig Soldaten umstellten den Inka-Herrscher, den Pizarro unbedingt lebend brauchte. Noch während des Gemetzels wurde Atahualpa abgeführt und in eines der Häuser gesperrt. Das war der Bericht, den uns der Mann gab, der alles mit eigenen Augen gesehen hatte. Wir hörten ihm stundenlang zu, als er von den unglaublichen Schätzen berichtete, die sie erbeutet hatten. Die Stimmung an Bord war prächtig, doch ich dachte anders. Ich hatte die Berichte Cortez' gelesen, der das stolze Volk der Azteken besiegt hatte. Und dem Volk des Inka-Herrschers würde es nicht anders ergehen, das ahnte ich. * Ich befand mich nun schon seit drei Tagen in Gajamarca und hatte
mich an den eintönigen Tagesablauf gewöhnt. Zusammen mit einigen anderen Soldaten bewohnte ich ein Haus ganz in der Nähe von dem, in dem Atahualpa gefangengehalten wurde. Unsere Aufgabe war sehr einfach: Wir mußten den Inka-Herrscher und das Dorf bewachen. Zu meiner Überraschung wurde Atahualpa gut behandelt. Er durfte seine Vasallen empfangen, die ihm Geschenke und Frauen brachten. Auch in der Gefangenschaft bewahrte der König seinen Stolz. Atahualpa sprach mit großer Würde. Er war etwa dreißig Jahre alt und sah recht gut aus. Seine Gestalt war stämmig, das breitflächige Gesicht mit den blutunterlaufenen Augen wirkte edel. Er saß auf einem roten Schemel aus Edelholz, umgeben von indianischen Edelfrauen, die ihn bedienten. Sie reichten ihm Schüsseln und Krüge aus feinstem Keramik. Der Inka-Herrscher wechselte täglich ein halbes Dutzend mal seine Kleider, die danach augenblicklich verbrannt wurden. Ich hatte Francisco Pizarro und seine Brüder kennengelernt. Francisco war mir nicht sonderlich sympathisch, er war herrisch und hochnäsig, von seinen Brüdern gefiel mir eigentlich nur Hernando. Auch mit Hernando de Soto konnte ich mich nicht anfreunden. Seine barsche, herrische Art stieß mich ab. Diego de Almagro, Pizarros langjähriger Gefährte, war da aus einem ganz anderen Holz geschnitzt. Er war klein und häßlich, aber immer fröhlich. Atahualpa hatte in seiner Verzweiflung Pizarro einen fast unglaublichen Vorschlag gemacht. Er wollte den Fußboden eines Raumes, der etwa vierunddreißig Quadratmeter groß war, mit Gold bedecken lassen. Pizarro antwortete vor Überraschung nicht. Daraufhin erhöhte der Inka-König sein Lösegeld sofort. Der Raum sollte bis obenhin mit Gold und Silber angefüllt werden. Pizarro zog in zwei Meter Höhe eine rote Linie. Aus allen Teilen des Landes trafen nun goldene Geräte und Figuren ein. Innerhalb weniger Wochen war der Raum bis zur Hälfte mit unglaublichen Reichtümern angefüllt, und es wurden immer mehr. In wenigen Tagen mußte der Raum bis zur vorbestimmten Höhe mit Gold gefüllt sein, dann hätte Pizarro eigentlich sein Versprechen
einhalten und den Inka-Herrscher freilassen müssen. Doch aus den Gesprächen mit den anderen Soldaten wußte ich, daß Pizarro zögerte. Er vermutete, daß Atahualpa, sobald er freigelassen wurde, sein Reich einigen konnte; und dann wäre es ihm ein leichtes gewesen, die Spanier zu vernichten. Ich sonderte mich immer mehr von den Soldaten ab. Sie waren für meinen Geschmack zu primitiv und grausam. Sie dachten nur an das Gold, die Indianer waren ihnen völlig gleichgültig. Ich unterhielt mich in meiner Freizeit eingehend mit den indianischen Dolmetschern und lernte einige Brocken Quechua, die Sprache der Inkas. Pizarro sandte laufend Späher aus, und die Gerüchte verdichteten sich, daß die Armee der Inkas sich im Süden sammelte. Die Nervosität wuchs von Tag zu Tag, und einige der Soldaten bedrängten Pizarro, den Inka-Herrscher zu töten. Wochen vergingen. Meine Kenntnisse der Inka-Sprache hatten sich so gefestigt, daß ich einfache Unterhaltungen führen konnte. Zu Essen hatten wir genug. Es gab Wild, dazu Kartoffeln und Bohnen. Ich vertiefte mich weiter in die Sprache und interessierte mich für die Sitten und Gebräuche der Inkas. Die Soldaten wurden immer gereizter. Das Nichtstun bekam ihnen gar nicht. Dann lernte ich ein Inka-Mädchen kennen, das mir anfangs seinen Namen verschwieg. Aus ihrer Kleidung und der Art, wie sie sich bewegte, schloß ich, daß sie aus einer der besseren Familien stammen mußte. Sie war jung, klein und hatte eine zierliche Figur. Das Gesicht war schmal, mit einer etwas zu lang geratenen Nase, die Augen funkelten wild und waren schwarz wie die Nacht. Ich wurde von ihr seltsam angezogen, doch auf meine Annäherungsversuche reagierte sie eisig. Ich unterhielt mich oft mit ihr und anderen Inkas. Auf meine Fragen bekam ich aber nur ausweichende Antworten. Die Stimmung unter Pizarros Männern verschlechterte sich immer mehr. Das Eisen ging dem Ende zu. Die Hufe der Pferde mußten mit silbernen Hufen beschlagen werden. Immer lauter wurde der Ruf, den Inka-Herrscher endlich zu töten und weiterzuziehen.
Dieser Vorschlag stieß auf den erbitterten Widerstand Hernando de Sotos und Pizarros Bruder Hernando. Ich schaltete mich in die Auseinandersetzung ein und ergriff de Sotos Partei. Pizarro wartete noch. Ich wurde mißtrauisch, als er de Soto und seinen Bruder Hernando zusammen mit vier Soldaten fortschickte, um das Gerücht zu überprüfen, daß sich in einiger Entfernung indianische Truppen sammelten. Ich hatte gerade Wache und sah den sechs Männern nach, die langsam aus der Stadt ritten. Das hatte nichts Gutes zu bedeuten. Die Reiter verschwanden in der Ferne, und ich machte meine Runde. Als die junge Inka-Frau auf mich zukam, blieb ich stehen. Sie hatte mir vor einigen Tagen ihren Namen verraten. Sie hieß Machu Picchu. Zwei Schritte vor mir blieb sie ebenfalls stehen und hob langsam ihren Kopf. »Wann laßt ihr endlich den Inka frei?« fragte sie mit ihrer sanften Stimme. Ich preßte die Lippen zusammen und schwieg. Die Sonne stand hoch und mir war in meiner Rüstung unerträglich heiß. Schweiß rann über meine Stirn. »Antworte!« Ihre Stimme wurde schrill. »Ich weiß es nicht«, sagte ich tonlos. »Ihr wollt ihn töten«, sagte sie. »Ich weiß es. Einer unserer Priester las es gestern aus den Eingeweiden eines Lamas. Morgen wird Atahualpa sterben.« »Das glaube ich nicht«, sagte ich leise. »Hör mir zu«, sagte sie. »Er darf nicht sterben. Mit seinem Tod würden dämonische Kräfte freiwerden. Ein Fluch wird euch alle vernichten. Er darf nicht sterben!« »Ich bin nur ein einfacher Soldat«, sagte ich. »Ich kann nichts dagegen unternehmen, Machu Picchu. Du mußt dich an Pizarro wenden.« »Das habe ich versucht«, sagte das hübsche Mädchen, »doch er hörte mir nicht zu.« »Ich kann dir nicht helfen«, sagte ich. »Ich würde dir und deinem Volk gern …«
Ihr Blick brachte mich zum Schweigen. Sie wandte sich ab und verschwand zwischen den Häusern. Ich sah ihr lange nach, dann setzte ich meine Runde fort. Zwei Stunden später wurde ich abgelöst und lief zum Hauptplatz, der verlassen in der Nachmittagssonne lag. Nur vor dem Haus, in dem der Inka gefangengehalten wurde, standen zwei Posten. Sie hielten mich nicht auf, als ich eintrat. Ich war gerade rechtzeitig gekommen, um die Kriegsgerichtsverhandlung mitzuerleben. Das Gericht bestand aus Francisco Pizarro und seinen Brüdern Juan und Gonzales und seinem Halbbruder Martin de Alcantara. Sie saßen an einem langgestreckten Tisch, und ihnen gegenüber saß der Inka-König mit unbewegtem Gesicht auf seinem Schemel. Im Hintergrund standen mehr als fünfzig Soldaten, zu denen ich mich gesellte. Francisco Pizarro stand auf und verlas die Anklageschrift. Einer der indianischen Dolmetscher übersetzte sie. »Ich klage Euch der Verschwörung gegen den spanischen König an«, begann Pizarro. »Weiter der Vielweiberei, des Inzests, des Brudermordes und des Götzendienstes.« Im Gesicht des Inka regte sich kein Muskel. Die Kriegsgerichtsverhandlung war eine Farce. Ich hörte zu, und Wut stieg in mir hoch. Als ich mich einschalten wollte, wurde mir von Pizarro barsch das Wort entzogen. Der Inka-Herrscher verteidigte sich nicht, was hätte er auch vorbringen können? Die Anklagen mußten ihm völlig unverständlich sein, da er ja nur nach den alten Gesetzen seines Volkes gelebt hatte und seine Taten nur in den Augen der Christen Sünde waren. Das Urteil wurde nach wenigen Minuten gefällt. Atahualpa wurde zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Das Urteil sollte morgen vollstreckt werden. Ich stürzte auf Pizarro zu und berichtete ihm von meinem Gespräch mit Machu Picchu. Pizarro hörte mir einige Zeit ungeduldig zu, dann wandte er sich ab und ließ mich einfach stehen. Die Stimmung hatte sich unter den Soldaten entschieden gebes-
sert. Alle waren froh, daß der Inka-König endlich sterben sollte. Ich tat die ganze Nacht kein Auge zu. Am Vormittag wurde der Scheiterhaufen errichtet. Ich sah grimmig zu, wie zwanzig Soldaten die Holzscheite aufstapelten, dabei scherzten und lachten. Kurz nach Mittag trafen Hernando de Soto und seine Begleiter in der Stadt ein. Ich eilte augenblicklich zu de Soto und berichtete ihm von der Kriegsgerichtsverhandlung. Sein Gesicht wurde bleich, seine Augen flackerten wütend. Er sprang vom Pferd und eilte in das Haus, in dem sich Pizarro niedergelassen hatte. Minuten später waren die erregten Stimmen der beiden zu hören. Einige Zeit danach trat de Soto aus dem Haus. Sein Gesicht wirkte eingefallen. Er ließ die Schultern hängen. »Habt Ihr etwas erreicht, Herr?« fragte ich ihn. De Soto schüttelte den Kopf. »Nein. Das Urteil kann nicht aufgehoben werden. Nur die Todesart wurde geändert.« De Sotos Stimme klang bitter. »Ein Gnadenakt gewissermaßen. Der Inka wird nicht durch das Feuer sterben, sondern durch die Garotte. Er wird erdrosselt. Um dem angedrohten Feuertod zu entgehen, hat er sich von Valverde taufen lassen. Das Urteil wird in wenigen Minuten vollstreckt.« Pizarro und seine Brüder kamen an uns vorbei. Sie sahen uns nicht an. Schweigend betraten sie das Haus, in dem der Inka-Herrscher gefangengehalten wurde. Atahualpa hatte sein Versprechen gehalten. Der Raum war zwei Meter hoch mit Gold gefüllt, doch Pizarro ließ sein Urteil vollstrecken. Ich blinzelte gegen die Sonne. Eine seltsam geformte Wolke schob sich über den dunkelblauen Himmel. Sie war schwarz und wurde immer größer. Dann verdeckte sie die Sonne, und es wurde für einige Augenblicke dunkel. Ich blieb stehen, als ich die Stimme des Inka-Herrschers hörte, verstand aber nicht, was er sagte. Pizarro gab mit lauter Stimme einen Befehl. Ich schloß die Augen. Ein leises Sausen schien in der Luft zu liegen. Ein heftiger Wind kam auf, der sich nach wenigen Sekunden wieder legte. Die Wolke,
die die Sonne verdunkelt hatte, löste sich auf. Ein Soldat trat aus dem Haus. »Er ist tot«, sagte er. Ich ging durch die Stadt und ballte wütend die Hände zu Fäusten. Kein Mensch war zu sehen. Nach einigen Stunden, als es dunkel wurde, kehrte ich zum Hauptplatz zurück, gesellte mich zu den anderen und nahm lustlos das Abendessen ein. Ich erfuhr, daß Atahualpas Leichnam in ein kleines Haus gebracht worden war. Seine Leiche sollte morgen den Indianern übergeben werden. Ich legte mich nieder und schlief zu meiner Überraschung bald ein. Irgendwann erwachte ich und setzte mich auf. Im Zimmer war es dunkel. Nur die regelmäßigen Atemzüge der Soldaten waren zu hören. Irgend etwas trieb mich aus dem Raum. Ich kleidete mich nicht an und schlich geräuschlos zwischen den Schlafenden hindurch. Vor dem Haus blieb ich stehen. Kein Mensch war auf dem Hauptplatz zu sehen. Der Himmel war sternklar. Der Mond verbreitete einen silbernen Schein. Die Stadt sah unwirklich aus. Ich schlich über den Hauptplatz. Ohne zu wissen, wohin ich gehen sollte, schritt ich weiter. Von einem seltsamen Instinkt getrieben, blieb ich vor dem Haus stehen, in dem der tote Herrscher ruhte. Ich zögerte kurz, dann betrat ich das Haus. Als ich Stimmen hörte, drückte ich mich gegen eine Wand und wartete einige Augenblicke, dann huschte ich weiter. Ich blickte in einen großen Raum, der von einer einzigen Fackel notdürftig erhellt wurde. Der tote König lag auf einer Art Sänfte, von einem Dutzend Gestalten umringt. Sie umsprangen die Bahre und gaben wimmernde, klagende Laute von sich. Langsam konnte ich Einzelheiten erkennen. Es waren einfach gekleidete Indianer, die Zeremonienmesser in den Händen hielten. Es befanden sich zu meiner Überraschung aber auch drei Mädchen darunter. Eines kannte ich. Es war Machu Picchu. Und dann geschah das Unglaubliche. Die Gestalten beugten sich über ihren toten Herrscher, zerstückelten seinen Leichnam und wi-
ckelten die Leichenteile in feine Tücher. Ich sah kurze Zeit zu. Dann verschwand ich und rannte zu meinem Haus zurück. Ich blieb im Eingang stehen und verschmolz mit den Schatten. Die Indianer liefen aus dem Haus und verschwanden in der Dunkelheit. Sie hatten ihren Herrscher zu sich geholt. Wahrscheinlich würden sie ihn nach Cuzco bringen, wo die anderen Inka-Herrscher ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Ich blieb noch einige Minuten stehen. Die Zugänge zur Stadt wurden von Soldaten bewacht. Ich wunderte mich, wie es möglich gewesen war, daß die Indianer ungesehen in die Stadt hatten kommen können. Nachdenklich trat ich ins Haus, legte mich nieder, wälzte mich auf den Rücken und dachte nach. Machu Picchu hatte von dämonischen Kräften gesprochen, die nach dem Tod des Herrschers frei werden sollten. Würde sich ihre Prophezeiung erfüllen? Mit diesem Gedanken schlief ich ein. Lautes Gebrüll weckte mich. Ich richtete mich schlaftrunken auf. Wahrscheinlich war das Verschwinden des Leichnams entdeckt worden. Ich zog mich langsam an. Minuten später hörte ich, daß sich der Leichnam des Inka-Königs in Luft aufgelöst hätte. Niemand kam auf den Gedanken, daß es einigen Indianern gelungen sein könnte, unbemerkt in die Stadt zu gelangen und die Leiche zu stehlen. Ich hütete mich, etwas von meinem nächtlichen Erlebnis zu berichten. Auf der Bahre, auf der der Leichnam geruht hatte, war ein Quipu gefunden worden, eine dieser rätselhaften Knotenschnüre, die von den Inkas für Mitteilungen verwendet wurden. Das gefundene Quipu war nicht besonders groß. Von der Hauptschnur hingen etwa zwanzig Nebenschnüre herunter, die in verschiedenen Farben gehalten waren und unzählige Knoten aufwiesen. Die Zahl und Stellung der Knoten und die verschiedenfarbigen Schnüre hatten ganz bestimmte Bedeutungen. Mit diesen Quipus leiteten die Inkas Botschaften weiter, stellten Statistiken und Berechnungen an. Pizarro reichte die Knotenschnur den indianischen Dolmetschern,
die sie aber nicht entziffern konnten, was mich nicht verwunderte, da ich wußte, daß nur bestimmte Inka-Beamte diese Schnüre verstehen konnten; sie wurden ganz speziell für diese Aufgabe vorbereitet. Pizarro schäumte vor Wut. Er ließ einige Inkas herbeiholen und befahl ihnen, die Knotenschnur zu entziffern, doch sie konnten oder wollten es nicht. Schließlich warf Pizarro das Quipu wütend zu Boden, wo es unbeachtet liegenblieb. Ich wartete einige Zeit, dann nahm ich die Knotenschnur an mich. * Der lange Marsch auf die Hauptstadt des gewaltigen Reiches begann. Wir brachen im September 1533 auf. Mehr als fünfhundert Europäer begleiteten Francisco Pizarro. Es gab fast keinen Widerstand. Die Indianer waren völlig demoralisiert. Am 15. November 1533 hatten wir Cuzco erreicht. Die Stadt lag in einem schönen Tal der Hochebene. Im Norden erstreckte sich ein hoher Gebirgszug, und ein kleiner Fluß durchzog die Stadt. Die Straßen waren lang und schmal, die Häuser niedrig – aus Lehm und Rohr gebaut. Aber es gab auch prächtigere Bauten; die Häuser des Adels. Die Häuser und Paläste wurden geplündert, und die geringe Gegenwehr der Indianer war schnell gebrochen. Als wir zu dem berühmten Tempel, dem Stolz des Reiches, kamen, blieb ich andächtig stehen, doch die anderen stürmten wild schreiend ins Innere. Der Tempel bestand aus einem gewaltigen Hauptbau, mehreren Kapellen und Nebengebäuden. Das Tor war reich mit Gold geschmückt, die Außenwand trug ein Reliefflies aus Gold. Vom Tempel führten Terrassen zum Fluß hinunter, wo ein Garten ganz aus Gold lag. Der Anblick der unermeßlichen Schätze ließ einige Soldaten völlig durchdrehen. Sie rannten mit weit aufgerissenen Augen hin und her und stammelten unsinniges Zeug. Ich ließ mich von den anderen nicht anstecken, sondern bewahrte Ruhe und sah mir die herrlichen Gegenstände lange an. Das Innere
des Tempels war überwältigend. Es war eine einzigartige Goldgrube. Auf einer Wand war ein riesiges Gesicht befestigt, ganz aus Gold, aus dem unzählige verschieden dicke Strahlen hervorbrachen. Decke und alle Wände waren mit Verzierungen bedeckt. Die Spanier rissen alles Gold an sich. Sie scheuten nicht einmal davor zurück, aus den Mumien der früheren Inka-Herrscher die Juwelen herauszubrechen. Innerhalb weniger Stunden war der Sonnentempel all seiner Schätze beraubt; die Wände waren kahl und nackt. Die ganze Nacht wurde gefeiert. Unzählige Lamas wurden geschlachtet, die auf offenen Feuern gebraten wurden. Mir war der Appetit vergangen. Zu deutlich waren mir noch die bestialischen Szenen des Nachmittags in Erinnerung, wo hunderte Indianer gnadenlos getötet worden waren. Einigen meiner Gefährten machte es Spaß, die Inkas zu quälen. Sie vergewaltigten brutal alle Frauen, die sich nicht rechtzeitig aus dem Staub gemacht hatten. Rund um die hochlodernden Feuer spielten sich unglaubliche Szenen ab. Die Spanier, diese sogenannten Christen, führten sich abscheulicher als die primitivsten Wilden auf. Und niemand gebot ihnen Einhalt – weder die Geistlichen noch Pizarro und seine Brüder; sie alle beteiligten sich an den Festlichkeiten. Ich wandte mich angeekelt ab. Ich dachte an Machu Picchu, das Inka-Mädchen, das ich wahrscheinlich nie mehr sehen würde, und fragte mich, was wohl aus ihr geworden war und wo sie die Leichenteile des toten Herrschers hingebracht hatte. Damals ahnte ich noch nicht, daß ich sie einige Jahre später wiedertreffen sollte. *
Gegenwart Dorian Hunter verließ die Maschine in Caracas und nahm im Transitraum Platz. Er fühlte sich noch ganz benommen. Zu deutlich war �
die Vergangenheit wach geworden. All die Scheußlichkeiten hatte er nochmals nacherlebt. Der Dämonenkiller wartete, bis der Flug nach Bogota aufgerufen wurde, und bestieg das Flugzeug. Nach dem Start, als der Flughafen Maiquetia in der Dämmerung verschwand, bestellte er einen Bourbon und rauchte eine Zigarette. Seine Gedanken beschäftigten sich im Augenblick nicht mit der Vergangenheit, sondern mit Jeff Parker. Er kannte Jeff seit vielen Jahren und hatte ihn einmal vor dem drohenden Ruin gerettet. Seither waren sie befreundet und verstanden sich recht gut. Dorian sorgte sich um Parker. Eine Suche im Amazonasgebiet war allerdings vergleichbar mit der Suche nach einer Stecknadel in einem Heuhaufen. Unwillkürlich mußte er grinsen, als der Flugkapitän über die Lautsprecher verkündete, daß sie in wenigen Minuten auf dem Flughafen Eldorado landen würden. Parker hatte sich auf die Suche nach jener sagenumworbenen Stadt namens El Dorado aufgemacht; und jetzt war er, wie so viele andere mutige Männer vor ihm, im Dschungel verschollen. Der Dämonenkiller betrat nach der Landung die Abfertigungshalle und ging zum Informationsschalter. Vor dem Abflug aus Nassau hatte er Trevor Sullivan gebeten, sich mit Parkers Verwalter Sancho Parras in Verbindung zu setzen. Die hübsche Frau hinter dem Schalter lächelte ihm freundlich zu. »Mein Name ist Dorian Hunter«, stellte er sich vor. Sein Spanisch war akzentfrei. »Haben Sie eine Nachricht für mich?« »Ein Herr erwartet Sie. Der Mann im weißen Anzug.« Der Dämonenkiller wandte den Kopf. Auf einer Bank saß ein bulliger Mann, der einen weißen Leinenanzug trug. Auf seinen Knien lag ein weicher Filzhut. »Danke«, sagte Dorian zu dem Mädchen und ging langsam auf den Mann zu, der aufstand und ihm interessiert entgegensah. Dabei hatte Dorian Gelegenheit, den Mann genauer zu betrachten. Sein Gesicht war rund wie der Vollmond, die Lippen fleischig und mit einem Menjoubart gekrönt. Sein Haar war pechschwarz und glänzte
ölig. »Señor Hunter?« fragte er, und der Dämonenkiller nickte. »Ich bin Sancho Parras.« Parras streckte dem Dämonenkiller die Hand entgegen, der sie ergriff und glaubte, in einen Schraubstock geraten zu sein. »Señor Parker sprach viel von Ihnen«, sagte Parras. »Gut, daß Sie gekommen sind. Sie werden Señor Parker finden.« »Hoffentlich.« Hunter grinste. »Ich habe alles vorbereitet, Señor«, sprudelte es aus dem bulligen Mann hervor. »Ich habe für Sie ein Zimmer im Cordillera reservieren lassen. Wenn Sie wollen, können Sie morgen zum Lager fliegen.« »Zunächst will ich Näheres über Parkers Expedition hören«, meinte der Dämonenkiller. »Ich bringe Sie in die Stadt, Señor. Dabei kann ich Ihnen alles erzählen.« Dorian nickte, und Sancho Parras schnappte sich den Koffer und ging voraus. Er legte den Koffer in den Kofferraum eines cremefarbenen Buicks und kletterte hinters Lenkrad. Dorian nahm neben ihm auf dem Beifahrersitz Platz. Sancho startete und fuhr wie ein Verrückter los. Vom langsamen Fahren schien er nichts zu halten. »Erzählen Sie, Sancho!« bat der Dämonenkiller. Sancho lehnte sich bequem zurück und lenkte das schwere Fahrzeug lässig mit zwei Fingern. »Vor ein paar Monaten tauchte Señor Parker plötzlich bei mir auf«, begann er. »Er sagte, daß er eine Expedition ins Amazonasgebiet unternehmen wolle. Ich sollte alles dafür vorbereiten. Er schlug sein Hauptlager am Rio Negro auf, etwas oberhalb des Casiquiars, der den Orinoco mit dem Rio Negro verbindet. Zusammen mit einigen Freunden und Wissenschaftlern brach er vor einigen Monaten auf. Dann kehrte er zum Lager zurück. Er hatte einige Hinweise gefunden, die ihn bestärkten, daß er sich auf der richtigen Spur befand. Señor Parker sagte mir, daß Sie möglicherweise kommen und sich ihm anschließen würden. Ich soll Ihnen jede nur mögliche Unterstützung geben. Vor ein paar Wochen drang er wieder in den Dschungel vor, aber diesmal kehrte er nicht zurück. Vor vierzehn
Tagen machte sich ein Suchkommando auf den Weg. Auch von diesem Trupp gibt es mittlerweile keine Spur mehr. Einige Leute sind im Lager zurückgeblieben. Dort gibt es Schwierigkeiten mit einem Stamm Pygmäen.« »Pygmäen?« fragte Dorian überrascht. »Ein Stamm wilder Kopfjäger, von denen nie jemand zuvor etwas gehört hatte.« Das konnte sich der Dämonenkiller vorstellen. Das war auch für ihn neu. Er hatte nie zuvor gehört, daß es im Amazonasgebiet Pygmäen geben sollte. Die Kopfjägerei war aber noch immer in einigen Gebieten verbreitet, und das Amazonasgebiet war einfach zu groß, zu gewaltig. Niemand konnte sagen, welche Entdeckungen man dort noch machen würde. Große Teile hatte nie ein Weißer betreten. Parker war schon seit einigen Wochen verschwunden, das bedeutete nichts Gutes. Möglicherweise war seine Gruppe einem Indianerstamm in die Hände gefallen. »Hat Parker erfahrene Männer bei sich?« »Das weiß ich nicht, Señor Hunter. Es sind hauptsächlich Wissenschaftler.« Die ersten Vororte Bogotas tauchten auf. Der Verkehr auf der gut ausgebauten Straße wurde dichter, und Sancho mußte langsamer fahren, was ihm aber überhaupt nicht zu gefallen schien. Hunter zog die verrostete Revolvertrommel aus der Tasche. »Parker hat mir dieses Ding geschickt. Wissen Sie, wo er es gefunden hat?« Sancho schüttelte den Kopf. »Nein, Señor Hunter, davon weiß ich nichts.« Der Dämonenkiller schob die Trommel zurück in die Tasche und hing seinen Gedanken nach. Viel Chancen, Parker zu finden, hatte er nicht. Aber trotzdem wollte er alles versuchen. Sie fuhren an der Stierkampfarena vorbei und bogen in die Carrera 7 ein – die fünfzehn Kilometer lange Hauptgeschäftsstraße der Millionenstadt. Die Stadt hatte bis 1948 das Aussehen einer spanischen Kolonialstadt gehabt. Nach dem Bürgerkrieg mußte vor allem das Stadtzentrum, das fast völlig zerstört wurde, neu aufgebaut
werden. Jetzt war die Stadt eine verwirrende Mischung aus uralten kleinen Häusern und ganz modernen Wohnblöcken. »Wollen Sie morgen zum Lager fliegen, Señor Hunter?« fragte Sancho, als sie die Plaza de Bolivar erreichten. »Ja«, sagte der Dämonenkiller und warf einen raschen Blick auf das Denkmal Simon Bolivars. »James Rogard wird sie begleiten. Er ist Biologe und wurde von Señor Parker eingeladen, an der Expedition teilzunehmen. Er konnte nicht früher kommen. Sie werden ihn noch heute kennenlernen. Er wohnt in Ihrem Hotel.« Nach wenigen Minuten hatten sie das Cordillera erreicht. Es entpuppte sich als ein aufwendig ausgestattetes Luxushotel. Sancho begleitete den Dämonenkiller auf sein Zimmer. Neben dem Bett standen einige Kartons. »Was ist da drin?« fragte Dorian. »Ihre Urwaldausrüstung, Señor«, sagte Sancho lächelnd. »Sie denken wohl auch an alles?« »Das ist meine Aufgabe, Señor.« Der Dämonenkiller setzte sich und öffnete die Kartons. Feste Leinenhosen, Blusen und Lederstiefel kamen zum Vorschein. Der Dämonenkiller probierte die Kleider; sie paßten wie angegossen. Zufrieden ging er ins Badezimmer, duschte und zog sich um. Gemeinsam mit Sancho betrat er einen der Speisesäle im Erdgeschoß des Hotels. Bei ihrem Eintritt stand ein mittelgroßer Mann auf, der wie Albert Schweitzer aussah. Er trug einen zerdrückten billigen Anzug. Der rechte Hemdkragen stellte sich auf, und die zwanzig Jahre alte Krawatte zierten einige Speiseflecke. »Das ist James Rogard«, sagte Sancho. Dorian stellte sich vor und nahm Platz. »Sie sind einer von Jeff Parkers Freunden?« erkundigte sich Rogard interessiert. »Ja«, bestätigte der Dämonenkiller. »Sancho erzählte mir, daß Sie Biologe sind.« Der Wissenschaftler nickte eifrig. Sein Alter war schwer zu schätzen. Das schlohweiße Haar und das zerknitterte Gesicht ließen Dori-
an vermuten, daß er gegen Sechzig sein mußte. »Ich bekam einige Berichte, an die ich nicht glauben will«, sagte Rogard. »Angeblich sind einige unbekannte Tierarten entdeckt worden, einige richtige Fabelungeheuer, aber das kommt mir unwahrscheinlich vor: Ich interessiere mich besonders für die Piranhas, Mörderbienen und Riesenameisen. Was ist Ihr Spezialgebiet?« Beinahe hätte Dorian es ihm erzählt. »Ich bin Journalist«, antwortete er ausweichend. »Waren Sie schon mal im Amazonasgebiet?« fragte Rogard neugierig. »Ja, das ist aber schon einige Zeit her.« Das war eine maßlose Untertreibung. Es war mehr als vierhundert Jahre her, seit er das Urwaldgebiet des Amazonas betreten hatte. Damals war sein Name Georg Rudolf Speyer gewesen. Er hütete sich aber wohlweislich, dem Wissenschaftler etwas von seinen Erlebnissen im Urwald zu erzählen. Dorian studierte die Speisenkarte, ließ sich aber schließlich von Sancho beraten, der ihnen Chupe – eine Suppe aus gebratenem Fisch – und Lomo – Ochsenfilet nach argentinischer Art – empfahl. Zum Nachtisch gab es Pastelitos de almendras – Mandeltäschchen, die mit Paranüssen bestreut waren. Der Dämonenkiller trank nach dem Essen zwei Tassen Kaffee und unterhielt sich einige Zeit mit Rogard, der sich als ein interessanter Plauderer erwies. Mit Sancho legten sie den morgigen Tagesablauf fest. * Der Himmel über den Anden war wolkenlos und dunkelblau. Sicher steuerte der Pilot, ein kleiner, krummbeiniger Mestize, der wie ein Leichtgewichtsjockey aussah, das kleine Flugzeug über die schneebedeckten Gipfel. Langsam veränderte sich die Landschaft. Die Berge wurden von gewaltigen Ebenen abgelöst, und dann tauchten die ersten Urwaldriesen auf. Zuerst nur in kleinen Gruppen, doch nach wenigen
Minuten war nur noch die dichtgeschlossene Laubdecke des Urwalds zu sehen. So weit das Auge blicken konnte – Bäume, nichts als Bäume. Gelegentlich blitzte für Sekunden die Biegung eines Flusses auf. Der Pilot ließ die Maschine tiefer sinken. Er war die Strecke zu Parkers Lager schon einige Male geflogen. »In zehn Minuten sind wir am Ziel.« Dorian Hunter hatte nur mit halben Ohr Rogards Geschwätz gelauscht, der sich begeistert über die unübersehbare Vielfalt der Tierwelt verbreitete. »Wissen Sie, wie viele Fischarten es im Amazonasgebiet gibt, Mr. Hunter?« »Nein.« »Mehr als fünfzehnhundert. Wenn man bedenkt, daß es im Kongo nur fünfhundert und im Ganges nur etwa dreihundert verschiedene Fischarten gibt … Vor einiger Zeit unternahm die British Royal Geographical Society eine Expedition ins Mato-Grosso-Gebiet. Man ging auf Fischfang und entdeckte dabei, daß ungefähr fünfzig Prozent der gefangenen Fische unbekannt waren.« »Das ist allerdings beachtlich«, sagte Dorian. Das Amazonasgebiet war ein gewaltiges Gebiet von mehr als sechs Millionen Quadratkilometern. Es nahm fast die Hälfte Brasiliens und große Teile von acht anderen südamerikanischen Staaten ein. Der Fluß entsprang als kleiner Bach hoch in den peruanischen Anden und verband sich auf seinem sechstausend Kilometer langen Weg mit mehr als tausend Flüssen, bis er endlich den Atlantik erreichte. Die Mündung des Amazonas hatte eine Breite von dreihundertzwanzig Kilometern. Der Pilot verlangsamte die Geschwindigkeit und ging noch tiefer. Er zog eine Schleife, und für einen Augenblick sah Dorian das Lager. Drei komfortable Bungalows waren zusehen, daneben eine Hütte, in der sich ein Generator befand. Parker hatte sich das Lager einiges kosten lassen. Von Sancho Parras wußte Dorian, daß Parker zuerst Boote den Amazonas hinaufgeschickt hatte, die das Lager und die
Landepiste anlegten. Erst als alles fertiggestellt war, kam er per Flugzeug mit seiner Gruppe. Der Pilot hatte Funkkontakt mit dem Lager. Er zog nochmals eine Schleife, dann ging er steil herunter. Traumhaft sicher setzte er die Maschine auf und ließ sie ausrollen. Sie sprangen aus dem Flugzeug, und einige Leute kamen auf sie zu. Der Dämonenkiller musterte die Gestalten. Einige der Weißen stufte er sofort als Jet-Set-Typen ein, mit denen sich Jeff Parker gern umgab, die Hunter aber nicht besonders mochte. Etliche Indianer hielten sich im Hintergrund auf. Drei Personen stachen besonders hervor. »Ich bin Elliot Farmer«, sagte ein schlaksiger Mann. Sein Dialekt war nicht zu verkennen. Er war Texaner und trug einen breitkrempigen Cowboy-Hut, den er jetzt weit in den Nacken schob. Sein Haar war blond, das Gesicht glatt, und er kaute mit malmenden Kiefern auf einem Priem. »Ich will einen Bericht über die Expedition schreiben. Wenn mich nicht alles täuscht, dann bist du der berühmte Dorian Hunter, von dem Jeff erzählt hat.« »Stimmt«, sagte der Dämonenkiller. Er wunderte sich ein wenig, daß Elliot sofort mit ihm per du war, doch es störte ihn nicht. »Ich stell dir mal die anderen vor«, sagte Elliot Farmer. »Das ist Jean Daponde. Üblicherweise bekommt er nicht den Mund auf, aber wenn die Sprache auf die Inka-Kultur kommt, dann rennt ihm der Schnabel wie geschmiert.« Jean Daponde grinste Hunter freundlich an und verbeugte sich leicht. Er war klein und wirkte wie ein Energiebündel. Sein Gesicht zierte ein üppig wuchernder, rötlicher Vollbart. »Jean Daponde ist Franzose«, erklärte Elliot Farmer spöttisch. Dann senkte er seine Stimme. »Wahrscheinlich rührt daher seine Schwäche für die vier Indianermädchen, die wir im Lager haben. Er geht täglich zu einer.« Jean Dapondes Lächeln wurde breiter. Elliot wandte den Kopf und zeigte auf vier halbnackte, recht hübsche Indianermädchen, die kichernd beisammen standen. Sie waren zwischen vierzehn und achtzehn.
»Sind recht willig, die vier«, sprach Elliot weiter. »Unser einziges Vergnügen in dieser lausigen Gegend. Und vor diesem Kerl muß ich dich warnen, Dorian.« Dorian blickte einen schwarzhaarigen gutaussehenden jungen Mann an, der sich im Glanz seiner südländischen Schönheit sonnte. Er war hochgewachsen und roch aufdringlich nach Parfüm. »Dieser Schönling ist Arturo Pesce«, sagte Farmer. »Ein kleiner Sadist, den sogar unsere Indianerinnen nicht mögen.« Pesce verzog das Gesicht zu einem bösen Grinsen. »Hüte deine Zunge, Elliot!« sagte er und wandte sich ab. Elliot stellte Dorian noch vier Männer vor, alles Playboys, die in dieser Umgebung einen deplazierten Eindruck machten. »Und jetzt kommen wir zum Stolz unseres Lagers«, sagte Elliot und verbeugte sich vor einem hochgewachsenen Mädchen. »Das ist Sacheen, Jeff Parkers Freundin, die schon sehnsüchtig seine Rückkehr erwartet.« Dorian sah das Mädchen genau an. Sie war groß, mindestens ein Meter fünfundsiebzig. Das blauschwarze Haar trug sie in zwei nabellangen Zöpfen, die sich wie zwei dicke Schlangen über ihre volle Brust ringelten. Ihr Gesicht war recht hübsch. Das Indianerblut in ihren Adern schlug überdeutlich durch; sie war ein Mischling mit großen Augen und ungewöhnlich langen Wimpern. Ihre Gestalt war schlank, die Hüften aber etwas zu breit. »Sie ist eine Schönheit«, dozierte Elliot Farmer weiter. »Und sie ist für alle tabu. Nur einer stellt ihr hartnäckig nach, und das ist unser aller Freund Arturo Pesce. Laß die Finger von ihr, Dorian! Sie ist gefährlich. Sie war mal in den Staaten bei einer Indianershow. Da hat sie Jeff kennengelernt. Sie steckte mit so einem üblen Kerl in Las Vegas zusammen. Hüte dich vor ihr! Sie verwendet gern eine drei Meter lange Peitsche, mit der sie dir eine Zigarette aus der Hand schlagen kann.« Sacheen warf Elliot einen spöttischen Blick zu, dann reichte sie Dorian die rechte Hand. »Herzlich willkommen. Jeff hatte gehofft, daß du schon früher kommen würdest.« »Ich war beschäftigt«, sagte der Dämonenkiller ausweichend.
»Gibt es irgendwelche Nachrichten von Jeff?« Sacheens Gesicht wurde ernst. »Nein, und von der Suchexpedition haben wir auch nichts mehr gehört.« Elliot Farmer wandte sich James Rogard zu. »Wer sind Sie?« »Das ist James Rogard«, sagte Dorian. »Zoologe und Biologe.« Rogard deutete eine Verbeugung an. »Kommt mit!« sagte Sacheen. »Ich zeige euch die Unterkünfte.« Sie ging voraus und betrat einen der langgestreckten Bungalows. Die Behausungen waren nicht primitiv, sondern bestanden teilweise sogar aus Stein. Es mußte ein kleines Vermögen gekostet haben, die ganze Einrichtung hierher zu bringen, doch Jeff Parker schwamm in Geld. Die Räume waren großzügig eingerichtet. Es gab sogar elektrisches Licht. Dorians Zimmer war klein, aber gemütlich. Es war mit einem winzigen Badezimmer ausgestattet, und neben dem Bett stand ein Kühlschrank, der voll mit Getränken und Konserven war. Dorian verstaute sein Gepäck und setzte sich auf einen Stuhl. Einige Minuten später trat Elliot Farmer ins Zimmer und reichte Dorian einen breiten Gürtel mit einer Pistole und ein Schnellfeuergewehr; außerdem hatte er noch eine Machete und einige Schachteln Munition mitgebracht. Ungeniert setzte er sich aufs Bett. »Wie wärs's mit einem Begrüßungsschluck?« »Gute Idee«, sagte Dorian, holte zwei Gläser aus einem Schrank und stellte sie auf den Tisch. Elliot angelte eine Flasche aus dem Kühlschrank und schenkte ein. Sie prosteten sich zu und tranken einen Schluck. Dorian blieb vor dem Fenster stehen und sah hinaus. In etwa fünfzig Meter Entfernung begann der Urwald. »Der Urwald sieht recht beeindruckend aus, nicht wahr?« fragte Elliot. Dorian nickte schweigend. »Wir müssen vorsichtig sein«, sagte Elliot. »Seit einiger Zeit treibt sich ein Stamm Pygmäen hier herum. Ich fürchte, daß es mit den kleinen Burschen noch Schwierigkeiten geben wird.« Der Dämonenkiller drehte sich um. »Sancho Parras erwähnte et-
was von Pygmäen. Ich kann es nicht glauben. In Südamerika gibt es keine Pygmäen.« »Das glaubten wir auch alle«, meinte Elliot. Er nahm den Hut ab und strich sich flüchtig durchs Haar. »Aber ich habe sie selbst gesehen. Sind kleine Burschen. Keiner größer als ein Meter fünfzig. Sehen nicht besonders hübsch aus. Sie stecken sich Knochen und Ringe durch die Nasenscheidewand und die Ohren und beschmieren sich über und über mit Erdfarben. Sind unangenehme kleine Kerle.« Dorian setzte sich. »Weißt du, in welche Richtung Jeff gegangen ist?« »Ja, das wissen wir«, sagte Elliot. »Aber das hilft uns nicht viel weiter. Das Gebiet ist einfach zu riesig. Ich halte nicht viel von einer weiteren Suchexpedition.« »Es wird uns aber nichts anderes übrigbleiben«, stellte Dorian fest. »Deshalb bin ich ja hergekommen.« »Und wen willst du mitnehmen?« fragte Elliot und beugte sich vor. »Die fünf Jet-Set-Typen taugen nicht viel. Mit denen ist nichts los.« »Und was ist mit dir, Elliot?« Die Kiefer des Texaners arbeiteten stärker. »Mit mir kannst du rechnen. Wahrscheinlich wird auch Jean Daponde mitmachen. Ebenso Sacheen, aber ich bin dagegen, daß sie mitkommt. Frauen haben meiner Meinung nach bei so einer Suchexpedition nichts verloren. Sie sind nur ein Hemmschuh. Immer und überall muß man auf sie Rücksicht nehmen.« »Von den Playboy-Typen würde keiner mitgehen?« »Ach, das will ich nicht sagen. Aber ich weiß nicht, ob es sehr sinnvoll ist, sie mitzunehmen.« »Ich werde mal mit ihnen sprechen.« »In einer Stunde gibt es Abendessen. Da kommen alle zusammen und du kannst mit ihnen reden.« Elliot trank sein Glas leer, griff nach seinem Hut, winkte Dorian flüchtig zu und verließ das Zimmer. Dorian ging im Raum auf und ab. Es war angenehm kühl. Die Klimaanlage lief auf vollen Touren. Er schnallte sich den Gürtel mit der
Pistole um, holte die Waffe heraus und lud sie. Dann trat er aus dem Haus und blickte sich um. Das Flugzeug war noch nicht gestartet. Kein Mensch war zu sehen. Er ging einmal um die drei Bungalows herum und schlenderte dann zum Urwald. Vor vierhundert Jahren war er in dieser Gegend gewesen. Damals war es aber nicht so leger zugegangen, da hatten fürchterliche Anstrengungen hinter ihm gelegen. Und immer wieder drängte sich bei Dorian der Gedanke auf, ob die Ereignisse vor mehr als vierhundert Jahren etwas mit der Gegenwart zu tun hatten. Damals hatte er sich auch auf die Suche nach dem geheimnisvollen El Dorado begeben und unzählige Entbehrungen auf sich genommen. Er versuchte sich an die damaligen Ereignisse zu erinnern, doch alles war viel zu bruchstückhaft. In seiner Erinnerung klafften Lücken. Er betrat den Urwald. Nach fünfzig Schritten umfing ihn Dämmerlicht. Hier schien sich das pflanzliche Leben völlig planlos abzuspielen. Laubabwurf, Knospen und Blühen – alles geschah zur gleichen Zeit. Die Hitze und das viele Wasser ließen die Vegetation ununterbrochen wuchern. Die Millionen Bäume kämpften um ihren Anteil am Licht. Manche wurden unglaublich hoch und breiteten ihr Laub oben wie einen Schirm aus. Die meisten Stämme waren völlig kahl, nur von unzähligen Schlingpflanzen bedeckt. Auf dem Boden lag eine dichte Schicht Laub, in dem allerlei kleines Getier hauste. Nach weiteren fünfzig Schritten hatte er den Fluß erreicht. Er floß träge dahin. Irgendwo kreischten Brüllaffen, und Insekten setzten sich auf sein Gesicht. Dorian starrte über den Fluß, dann kehrte er zum Lager zurück. Seine Kleider dampften von der feuchten Luft. Er war froh, als er in die Kühle seines Zimmers zurückgekehrt war. Es würde einige Zeit dauern, bis er sich an das Klima gewöhnt hatte. * Das Aufheulen der Flugzeugmotoren trieb den Dämonenkiller aus seinem Zimmer. Er stellte sich neben Sacheen und Sancho Parras,
der beschlossen hatte, sich an der Suche nach seinem Brötchengeber zu beteiligen. Der Pilot winkte ihnen zu, und das Flugzeug setzte sich langsam in Bewegung. Es fuhr über die Startbahn, wurde rasch schneller, und der Pilot zog es steil in den wolkenlosen Himmel. Das Flugzeug drehte noch eine Ehrenrunde, dann verschwand es. »In zehn Minuten gibt es Abendessen«, sagte Sacheen. »Ich will mit allen sprechen«, sagte der Dämonenkiller. »Ich möchte morgen mit der Suche nach Jeff beginnen.« »Ich komme mit«, erklärte Sacheen. »Ich weiß, was du denkst, Dorian, aber …« »Darüber sprechen wir später. Sie kommen doch mit, Sancho?« Sancho Parras nickte eifrig. Sie gingen zu dem Bungalow, in dem die Küche und die Speiseräume untergebracht waren. Und wieder staunte Dorian. Der Speisesaal war groß und unterschied sich in nichts von dem eines erstklassigen Restaurants. Er setzte sich mit Sacheen und Sancho Parras an einen Tisch. Einige Minuten später gesellte sich Elliot Farmer zu ihnen. »Wie lange wollte Jeff eigentlich fortbleiben?« fragte Dorian. »Höchstens drei Wochen«, sagte Sacheen. »Ich mache mir ziemliche Sorgen. Ich fürchte, daß er …« Sie preßte die Lippen zusammen. »Ich wette, daß Jeff noch am Leben ist«, behauptete Elliot. »Er ist ein Glückspilz. Alles, was er beginnt, gelingt ihm. Wahrscheinlich hat er die sagenumwobene Stadt entdeckt und ist mit ihrer Erforschung so beschäftigt, daß er alles andere vergessen hat.« »Das glaube ich nicht«, sagte Sacheen leise. »Er hätte irgend jemanden ins Lager zurückgeschickt, um uns Bescheid zu sagen.« »Das stimmt«, sagte Dorian. »Aber möglicherweise ist dieser Bote unterwegs umgekommen, und Jeff wartet schon lange auf unser Eintreffen.« »Hm«, brummte Elliot. »Das wäre auch eine Möglichkeit.« Im Speisesaal wurde es langsam dunkel. Ein Indio knipste das Licht an. Die fünf Playboy-Typen traten ins Zimmer, begleitet von James Rogard und Jean Daponde, die in eine wilde Diskussion ver-
wickelt waren. Dorian beschloß, bis nach dem Essen zu warten, dann wollte er über die geplante Suchaktion sprechen. Zwei Indios schoben einen Servierwagen herein, auf dem einige Schüsseln standen. Sie servierten die Suppe. Dorian hatte kaum gekostet, als er den Kopf hob. »Da war ein Schuß«, sagte er und stand auf. »Ich habe nichts gehört«, sagte Elliot. Dorian blieb stehen, und alle schwiegen. Er hatte sich nicht getäuscht. Jetzt war das Knattern von Schüssen deutlich zu hören. »Das sind die Pygmäen!« schrie Bruce Ehrlich. Dorian lief aus dem Speisezimmer und betrat den schmalen Vorraum, der zur Eingangstür führte. Während des Laufens riß er seine Pistole heraus und entsicherte sie. Er öffnete die Tür und trat ins Freie. Der Platz vor den Bungalows war dunkel. Der tiefstehende Mond spendete nur ungenügend Licht. Der Dämonenkiller kniff die Augen zusammen. Undeutlich erkannte er einige Gestalten, die rasch näher kamen. Er ärgerte sich, daß er sein Gewehr in seinem Zimmer gelassen hatte. »Wir müssen zu den Unterkünften«, sagte Elliot Farmer, der neben dem Dämonenkiller stehengeblieben war. »Wir brauchen die Gewehre.« Dorian lief los. Einige Männer folgten ihm. Die Pygmäen waren nur undeutlich zu sehen, es mußten aber mindestens dreißig sein. Irgendwo flammte etwas auf, und dann zischte ein brennender Pfeil durch die Luft und bohrte sich in das Dach des Bungalows, in dem der Speisesaal untergebracht war. Das Dach bestand aus getrocknetem Stroh. Immer mehr Pfeile schossen durch die Nacht. Einige fielen zu Boden, doch mehr als ein Dutzend fanden ihr Ziel. Innerhalb weniger Sekunden fingen die Dächer der drei Bungalows zu brennen an. Der große Platz war nun in flackerndes Licht getaucht. Dorian erreichte den Bungalow, in dem sich die Schlafzimmer befanden, und riß die Tür auf. Er hörte einen Schrei und drehte sich um. Hinter ihm stand einer der Playboys. Es war Neil MacCallum, ein fünfund-
zwanzigjähriger jungenhafter Typ, der sich an die Brust griff, in der ein kurzer Pfeil steckte. Er riß die Arme hoch und ging in die Knie. Es war nicht auszuschließen, daß die Pfeile mit Curare bestrichen waren. Der Dämonenkiller hob den Jungen auf und trug ihn in den Bungalow. Er legte ihn auf den Boden, untersuchte ihn rasch und preßte die Lippen zusammen. Für Neil MacCallum gab es keine Rettung. Innerhalb weniger Sekunden wurden seine Bewegungen unkoordiniert. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er wurde bewegungsunfähig. Nur seine Augen waren weit aufgerissen. Dorian stand auf. Das Pflanzengift wirkte verflucht schnell. Es dauerte normalerweise ungefähr drei Minuten bis der Tod durch Atemlähmung eintrat. »Was ist mit Neil?« fragte Elliot. »Curare«, sagte Dorian fast unhörbar. »Wir müssen vorsichtig sein.« Der Dämonenkiller lief in sein Zimmer, holte das Schnellfeuergewehr, setzte ein Magazin ein, entsicherte die Waffe und stellte auf Einzelfeuer. Als er an Neil MacCallum vorbeilief, warf er dem Jungen noch einen raschen Blick zu. Er war tot. Der Dämonenkiller blieb in der Tür stehen. Der Platz war jetzt fast taghell erleuchtet. Die Dächer der Bungalows standen in Flammen. Glutrotes, zuckendes Licht warf gespenstische Schatten, und überall waren die kleinen, sehnigen Gestalten der Pygmäen zu sehen. Sie waren bis auf Penisfutterale völlig nackt. Ihre dunkle Haut war mit grellen Erdfarben beschmiert. Aus dem dritten Bungalow strömten einige Indios, darunter befanden sich auch die vier Mädchen. Etliche der Indios waren bewaffnet. Sie eröffneten augenblicklich das Feuer auf die Pygmäen, die unterschiedlich ausgerüstet waren. Einige trugen bis zu drei Meter lange Blasrohre, mit denen sie die vergifteten Pfeile verschossen, die meisten hatten aber die konventionellen Waffen der Indianer: Pfeil und Bogen. Der Dämonenkiller duckte sich, als ein Pfeil auf ihn zuflog, der sich in den Türstock bohrte und noch einige Zeit wippte. Er riß das
Gewehr hoch und zielte. Er traf einen Pygmäen, der eines der Indiomädchen packen wollte. Dorian sprang ins Freie und duckte sich hinter ein paar Holzkisten, die neben dem Bungalow standen. Unweit von ihm lag ein Toter. Es war Leonard Tivey, ein dreißigjähriger Mann, der beide Hände um den Pfeil gekrampft hatte, der in seinem Bauch steckte. Elliot Farmer hechtete ins Freie. Ihm folgten Sancho Parras und Bruce Ehrlich. »Sie haben es auf die Frauen abgesehen«, sagte der Dämonenkiller. Zwei Indio-Mädchen wurden von den Pygmäen in Richtung Fluß geführt, die beiden anderen versuchten zu fliehen, doch ein halbes Dutzend dunkler Gestalten folgte ihnen. »Wo ist Sacheen?« »Sie war hinter mir, als wir zu den Unterkünften liefen«, knurrte Elliot. Er schoß wie eine Maschine. Alles, was sich bewegte, nahm er aufs Korn. Dorian wandte den Kopf. Ein Pfeil raste neben ihm in die Mauer. Er duckte sich rasch. Ein paar Männer waren im Bungalow geblieben und eröffneten das Feuer auf die Pygmäen. Vielleicht ist Sacheen im Bungalow, versuchte sich Dorian zu beruhigen. Die Pygmäen hatten die vier Indio-Mädchen gefangengenommen. Sie zogen sich langsam zurück. »Wir müssen sie verfolgen«, sagte Dorian. »Wir sollten lieber das Feuer zu löschen versuchen«, meinte Bruce Ehrlich. »Zuerst müssen wir die vier Mädchen befreien.« »Für die riskiere ich doch nicht mein Leben.« Der Dämonenkiller stand auf. Im Zickzack rannte er über den Platz. Von den Pygmäen war nichts zu sehen. Vom Fluß her klang das wilde Dröhnen der Trommeln. Elliot Farmer und Sancho Parras schlossen sich dem Dämonenkiller an, der zum Urwald lief. Der Platz war jetzt in Rauch gehüllt, der sich schwer auf die Lungen legte und die Sicht erschwerte. Nach einigen Metern blieb Dorian keuchend stehen.
»Es hat keinen Sinn«, sagte Elliot. »Die Burschen sind mit Booten gekommen. Bis wir …« Ein gurgelnder Schrei war zu hören. Dorian und Elliot wandten den Kopf. Zwei Schritte hinter ihnen wankte Sancho Parras. Das Gewehr entfiel seiner Hand. Ein Pfeil steckte in seinem rechten Auge. Er brach tot zusammen, und Dorian und Elliot warfen sich zu Boden. »Diese kleinen Bestien können uns wie die Hasen abschießen«, sagte Elliot. Dorian nickte grimmig. Die Pygmäen hatten sich im Urwald versteckt und waren nicht zu sehen. Sie robbten zu den Bungalows zurück. Einige der Indios, die geflüchtet waren, kamen wieder. Irgend jemand hatte einen Schlauch aufgetrieben und versuchte das Feuer zu löschen. »Wo ist Sacheen?« fragte der Dämonenkiller. »Sie ist verschwunden«, antwortete Arturo Pesce. »Vielleicht ist sie …« »Den Bungalow haben wir durchsucht«, berichtete Gene Greene. »Sie ist von den Pygmäen gefangengenommen worden.« »Gibt es dafür einen Beweis?« »Ja«, schaltete sich Jean Daponde ein. »Ich habe es gesehen. Vier Pygmäen haben sie gepackt und in die Dunkelheit verschleppt.« * Bei Tageslicht wurde erst das ganze Ausmaß des Überfalls deutlich. Die Bungalows waren fast völlig niedergebrannt. Es war ihnen aber gelungen, einige Gegenstände zu retten. Auf dem Platz zwischen den Ruinen türmten sich Einrichtungsgegenstände, Kleider und Waffen. Dorian betrachtete grimmig die Verwüstung. Sie hatten drei Tote zu beklagen. Vier der Indios und mehr als ein Dutzend Pygmäen lag tot auf dem Platz. Einer der Pygmäen war schwer verletzt. Er hatte einen Bauchschuß und nicht mehr lange zu leben.
Dorian befahl den Indios, eine Grube auszuheben, in der sie die Toten bestatten wollten. Die Indios wirkten ziemlich niedergeschlagen, nichts war von ihrer sonstigen Heiterkeit zu bemerken. Mißmutig begannen sie mit dem Ausheben einer Grube. Jean Daponde kümmerte sich um den verletzten Pygmäen, der die meiste Zeit bewußtlos war. »Versuchen Sie von dem Burschen herauszubekommen, wohin die Frauen gebracht wurden, Daponde.« Der kleine Franzose nickte. »Ich werde mich bemühen«, sagte er, »aber ich habe keine Ahnung, ob ich mich mit ihm verständigen kann.« »Probieren Sie es!« Der Dämonenkiller sonderte sich von den anderen ab. Er betrat den dichten Urwald, ging zum Fluß und suchte nach Spuren. Viel entdeckte er nicht. Im Urwald hielten sich Spuren nicht lange. Er fand aber die Stelle, wo die Pygmäen angelegt hatten. Sie mußten mit einem halben Dutzend Booten gekommen sein. Aber aus welcher Richtung? Nachdenklich kehrte der Dämonenkiller zurück. Nicht genug, daß Jeff Parker und seine Leute verschwunden waren, jetzt waren auch noch Sacheen und die vier Indio-Frauen geraubt worden. Die Suche nach Jeff mußte warten. Dorian riß die Führung an sich. Er erteilte den Männern knappe Befehle, die sie ohne Widerrede ausführten. Die Indios hatten eine tiefe Grube ausgehoben, in der sie Sancho Parras, Neil MacCallum und Leonhard Tivey begruben. Die Indianer hatten eine andere Art der Bestattung. Sie banden ihre Toten an Bäume. Innerhalb von wenigen Tagen waren nur noch die blanken Skelette übrig. Mit einer widerstandsfähigen Rindenfaser banden sie die Kinnladen zusammen. Die toten Pygmäen wurden ebenfalls auf diese Art bestattet. Dorian gesellte sich zu Daponde, der neben dem sterbenden Pygmäen hockte. Er betupfte mit einem Tuch seine Stirn, und der knapp ein Meter zwanzig große dunkle Mann bewegte sich unruhig. Er schlug die Augen auf und schrie etwas in einer völlig unverständli-
chen Sprache. »Verstehen Sie ihn, Daponde?« »Ich glaube schon.« Der Pygmäe wimmerte und sagte einige Worte. Dann schlug er die Augen auf und sah Daponde entsetzt an. Ein Wortschwall strömte über seine breiten Lippen. Daponde sagte etwas, und der Pygmäe schien zu verstehen. Dorian versuchte die Unterhaltung mitzubekommen, doch der Pygmäe sprach keinen der Dialekte, die er kannte. Nach einigen Minuten reichte Daponde dem Sterbenden ein Glas Wasser, das er gierig trank. »Haben Sie etwas erfahren?« fragte Dorian. Der Wissenschaftler nickte. »Der Kerl stammelte etwas von Opfern. Wahrscheinlich, meinte er, sollen die Mädchen geopfert werden. Er erzählte etwas von zwei Göttern, denen sie gehorchen müssen.« »Und wo ist ihr Lager?« »Flußabwärts. Der Rio Negro macht da einen Knick nach links. Ich hoffe, daß ich das richtig verstanden habe.« »Fragen Sie ihn noch mal!« Daponde sagte etwas, und der Pygmäe nickte. Dann schloß er die Augen und atmete schwer. »Ja«, sagte Daponde. »Ihr Lager ist flußabwärts. Noch heute sollen die Mädchen geopfert werden.« »Dann haben wir keine Zeit zu verlieren«, sagte Dorian und stand auf. »Sie kommen mit, Daponde. Wir benötigen Sie als Dolmetscher.« »Und wen wollen Sie noch mitnehmen?« Der Dämonenkiller überlegte. »Farmer, Pesce und Rogard.« * Eine halbe Stunde später waren sie unterwegs. Die Pygmäen hatten die beiden Boote nicht gefunden, die gut versteckt gewesen waren. Alle Männer waren schwer bewaffnet.
Dorian hatte den zurückgebliebenen Indios befohlen, mit dem Wiederaufbau der Bungalows zu beginnen oder – falls sich das als unmöglich herausstellen sollte – ganz einfach neue provisorische Behausungen zu errichten. Die Boote fuhren langsam den Fluß hinunter. Das Wasser war dunkel, aber nicht schwarz. Es hatte die Farbe von Coca Cola. Der Fluß war stellenweise mehr als fünfhundert Meter breit. Links und rechts breitete sich der immergrüne Dschungel aus. Gelegentlich standen Bäume im Wasser. Das Unangenehmste waren die unzähligen Insekten. Es gab Hunderte von verschiedenen Fliegen, Moskitos und Zecken. Einige der Fliegen legten ihre Eier in Kratzer und Wunden, aus denen dann scheußliche Geschwüre wurden. Die Sonne flimmerte über dem Wasser. Alle setzten sich Sonnenbrillen auf. Es war heiß. Das gurgelnde dunkle Wasser strahlte die Wärme der Sonnenstrahlen zurück. Dorian ließ die Außenbordmotoren anwerfen, und sie steigerten das Tempo. »Was ist das?« fragte Elliot Farmer plötzlich und streckte die rechte Hand aus. Dorian folgte seiner Hand und kniff die Augen zusammen. Irgend etwas schwamm im Fluß. Es war nur sekundenlang zu sehen, dann verschwand es wieder in den roten Fluten, um einige Zeit später wieder aufzutauchen. »Das kann es nicht geben«, sagte Farmer und schüttelte den Kopf. »Es schwimmt gegen die Strömung des Flusses!« Farmer hatte recht. »Das werden wir uns näher ansehen«, meinte der Dämonenkiller und drosselte die Geschwindigkeit des Bootes. »Das ist eine Leiche!« rief Farmer, als sich das Gebilde wieder aus den Fluten erhob. Für einen Augenblick war der Kopf des Toten zu sehen. Der Dämonenkiller zuckte zusammen. Das kann doch nicht möglich sein, dachte er. Er steuerte das Boot auf die Leiche zu, die wieder aus den Fluten auftauchte. Farmer griff zu und erwischte den Toten.
Die Leiche des Mannes war in ein Fischernetz gewickelt. Dorian packte mit an. Er erinnerte sich, daß er vor vielen hundert Jahren die Leiche Antonio de Aguilars in ein Fischernetz gewickelt und ins Meer geworfen hatte. Gemeinsam zerrten sie den Toten ins Boot. Der Dämonenkiller zuckte zurück, als sein Blick auf die Hände des Toten fiel. Sie waren auf den Rücken mit einem Silberstift zusammengenagelt. Genauso hatte er damals de Aguilar unschädlich gemacht. Sie wälzten die Leiche auf den Rücken. »Das ist einer von Jeffs Freunden«, sagte Elliot verwundert. »An seinen Namen kann ich mich nicht erinnern. Er verschwand vor einigen Monaten, bald nach der Errichtung des Lagers.« Elliot Farmer sah den Dämonenkiller an, der den Blick vom Toten abgewandt hatte und über den Fluß starrte. Er dachte an Antonio de Aguilar, an Pizarro und Machu Picchu, an die Zeit vor mehr als vierhundert Jahren, als er das Amazonasgebiet das erste Mal betreten hatte. *
Vergangenheit Mehr als ein Jahr lang hielt ich mich in Cuzco auf. Wir waren alle reich geworden, doch das Leben in der Hauptstadt der Inkas bot keinerlei Reiz. Jeder Tag verlief wie der andere. Die Spanier ließen die Bewässerungskanäle verseuchen, die Felder lagen brach. Jeden Tag wurden einige Lamas getötet, von denen wir uns hauptsächlich ernährten. Cuzco lag viel zu weit im Landesinneren. Es schied als Handelszentrum aus. Pizarro übergab seinen Brüdern den Befehl über die Hauptstadt und zog weiter. Ich schloß mich ihm an. Wir zogen über die Anden, ein gewaltiger Zug, die Lamas schwer mit Gold und Edelsteinen beladen.
Am 18. Januar 1535 erreichten wir die Küste, wo Pizarro eine Stadt gründete, die er hochtrabend die Stadt der Könige nannte. Ich blieb einige Wochen in der neu gegründeten Stadt und fuhr dann mit einem Schiff nach Panama. Mit meinem Anteil an der Beute hatte ich keinerlei finanzielle Sorgen. In Panama kaufte ich ein kleines Haus und legte den Großteil meines Geldes in verschiedenen Geschäften an. Eigentlich hätte ich zufrieden sein sollen, doch das Leben in Panama langweilte mich. Ich überlegte, ob ich mich Gonzalo Jimenez de Quesada anschließen sollte, der eine Expedition zu den Chibcha-Indianern unternehmen wollte, die in den oberen Anden Kolumbiens lebten. Doch zu deutlich waren die Grausamkeiten der Spanier bei ihren blutigen Eroberungen in meiner Erinnerung verankert; deshalb ging ich nicht mit de Quesada mit. Eine kurze Zeit lang spielte ich mit dem Gedanken, nach Europa zu fahren, doch auch das konnte mich nicht reizen. Immer wieder hörte ich Berichte über eine legendäre Stadt namens Manoa, die tief im unerforschten Urwald des Amazonasgebietes liegen sollte. Angeblich sollte dieses Manoa die richtige Hauptstadt der Inkas gewesen sein, doch sie sollte zerstört worden sein. Es gab aber angeblich noch unermäßliche Schätze dort, die nur darauf warteten, abgeholt zu werden. Und El Dorado, die Stadt des goldenen Königreiches, war in aller Munde. Ich hörte den Bericht eines Mannes, der behauptete, in der geheimnisvollen Stadt gewesen zu sein. Überall sollten sich goldene Gehwege befinden und kostbare Tempel stehen. Die Indianer und Höflinge sollten sich mit Öl und Goldstaub salben, bevor sie Hof hielten. Ich wußte nicht, ob an diesen Berichten etwas Wahres dran war; ich glaubte es nicht. Doch laufend brachen mutige Abenteurer auf, die das geheimnisvolle Goldland suchen wollten. Ich beschäftigte mich weiterhin mit der Kultur der Indianer und sammelte einige wertvolle Gegenstände. Die Spanier in ihrem Unverstand, aufgestachelt durch die katholischen Priester, die ich als
eine echte Plage empfand, schmolzen die wertvollen Gegenstände zu Barrengold. Vor allem faszinierte mich das Quipu, das ich an mich genommen hatte. Ich versuchte es zu enträtseln, was mir aber nur teilweise gelang. Ich las aus den Knoten heraus, daß der InkaKönig Atahualpa einst eine glorreiche Wiedergeburt erleben und sein Reich zurückerobern würde. Aber so wie es im Augenblick aussah, stand es um die Inkas ziemlich schlecht. Sie starben wie die Fliegen dahin. Grippe und Blattern dezimierten sie stärker als die Mordlust der Spanier. Ich sammelte alle Erzählungen und Berichte, die ich hörte. Angeblich sollten im Urwald Ungeheuer leben, die so grauenvoll waren, daß man sie gar nicht beschreiben konnte. Eine Erzählung erweckte besonders mein Interesse. Tief im Dschungel sollte ein Stamm weiblicher Krieger hausen, die sich Amazonen nannten, nach denen dann auch der gewaltige Fluß benannt wurde. Sie wohnten in großen Häusern tief im Landesinneren, aßen von goldenen Tellern und trugen kostbare Ketten und Armreifen. Im Unterschied zu den Indianern sollten sie weiß sein, und ihr Haar sollte wie gesponnenes Gold leuchten. Nur einmal im Jahr empfingen sie männliche Krieger von benachbarten Stämmen. Die weiblichen Nachkommen wurden von den Amazonen aufgezogen, während die Knaben zu ihren Vätern geschickt oder einfach getötet wurden. Meine Sammlung von ähnlichen Berichten wurde immer größer, und schließlich entschloß ich mich doch, an einer Expedition teilzunehmen. Das Jahr 1536 neigte sich dem Ende zu, und ich war des Nichtstuns überdrüssig geworden. Ich hatte Pascual Martinez kennengelernt, der etwa fünfunddreißig Jahre alt war. Er war auf Hispaniola geboren und hatte die Neue Welt noch nie verlassen. Martinez war ein kleiner, schmächtiger Mann. Sein Haar war dunkel, die Geiernase und die tiefliegenden, stechenden Augen ließen ihn häßlich erscheinen. Er war ein brutaler, rauher Gesell, den ich nicht besonders mochte. Wie so viele Abenteurer vor ihm, wollte er sich auf die Suche nach El Dorado machen. Wenn er davon sprach, dann kam in seine Augen ein seltsames Leuchten. Er wollte sich weit ins Quellgebiet des Amazonas
vorwagen. Das alles waren keine Gründe, weshalb ich mich ihm schließlich anschloß. Er erzählte mir indessen, daß er eine Indianerin gefangengenommen hatte, eine Inka-Prinzessin, die in der Nähe von Medellin von seinen Gefährten bewacht würde. Er war sicher, daß er ihr das Geheimnis, wo die sagenumwobene Goldstadt liegt, entreißen würde. Und als ich ihn nach dem Namen des Mädchens fragte, sagte er zu meiner größten Überraschung, daß sie Machu Picchu hieß. Das gab für mich den Ausschlag. Ich schloß mich seiner Expedition an und nahm das Quipu mit, das die Inkas auf Atahualpas Totenbahre hinterlassen hatten. Zusammen mit dreißig Spaniern und zweihundert Indios brachen wir auf. Pascual Martinez hatte sein ganzes Geld in die Expedition gesteckt. Wenn sie nicht erfolgreich verlief, dann war er ein armer Mann. Wir führten Hunderte von Lamas und Schweine mit, die den indianischen Treibern ständig zu entkommen suchten. Nach einigen Tagen hatten wir Medellin erreicht, das hoch in den Anden lag. Und hier sah ich Machu Picchu wieder. * Ich sprang vom Pferd, und einer der Indios ergriff die Zügel. Ich folgte Pascual Martinez, der in eines der kleinen Häuser trat. »Wie geht es der Indianerin?« fragte er einen Spanier. »Wir haben sie nicht angerührt«, sagte dieser rasch. Er hatte sichtlich vor Martinez Angst. »Das ist mir egal. Habt ihr etwas aus ihr herausgebracht, Diego?« Diego schüttelte den Kopf. Sein grauer Bart wippte auf und ab. »Sie sagt nichts«, brummte er. »Wir folterten vor ihren Augen mehr als zwanzig Inka-Krieger, doch sie sah nahezu unbeteiligt zu. Auch als wir ihr drohten, daß wir sie bestialisch martern und quälen würden, reagierte sie nicht.« »Verdammt!« brüllte Martinez, und seine Stirnader schwoll an. »Sie muß uns sagen, wo sich die versteckte Hauptstadt der Inkas be-
findet. Sie weiß es.« »Foltern sind sinnlos, Herr«, sagte Diego. »Das werden wir sehen«, fauchte Martinez. »Wo steckt sie?« Diego wies mit der rechten Hand auf eine Holztür. »Laß mich mit ihr sprechen, Pascual«, sagte ich. Martinez blickte mich ungeduldig an. »Was versprichst du dir davon?« »Ich kenne sie«, sagte ich. »Ich habe dir ja bereits davon erzählt. Vielleicht hat sie mehr Vertrauen zu mir.« Martinez starrte mich einige Sekunden an, dann nickte er langsam. »Ein Versuch kann nicht schaden. Geh zu ihr!« »Ich will allein mit ihr sprechen.« Martinez nickte wieder. Ich öffnete die Tür und trat über die Schwelle. Es stank bestialisch. Der Raum war klein, die Mauern unverputzt. An der Decke befand sich eine kleine Öffnung, durch die Licht fiel. Ich schloß die Tür hinter mir. Der Boden war mit Stroh bedeckt. In einer Ecke stand ein Keramikkrug. Es dauerte einige Zeit, bis ich mich an das düstere Licht gewöhnt hatte. Eine Gestalt hockte in einer Ecke und wandte mir den Rücken zu. »Machu Picchu«, sagte ich. Das Mädchen reagierte nicht. Ich kam näher, blieb hinter ihr stehen und legte eine Hand auf ihre Schulter, doch sie bewegte sich nicht. »Steh auf, Machu Picchu!« Ich sprach in ihrer Sprache. Langsam wandte sie den Kopf. Das schwarze Haar hüllte ihren nackten Körper wie ein Schleier ein. In ihren Augen las ich das Erkennen. »Ich will dir helfen, Machu Picchu«, sagte ich leise. In ihren dunklen Augen spiegelte sich grenzenlose Traurigkeit. »Mir kann niemand helfen«, sagte sie tonlos. Ich starrte sie an. Sie war noch schöner, als ich sie in Erinnerung hatte, aber sie war mager geworden. Ihre Haut wirkte farblos, und das lange Haar war stumpf. »Ich kann dir helfen«, sagte ich und hockte mich neben ihr auf den
Boden. Mit beiden Händen warf sie das hüftlange Haar über ihre Schultern. Sie war völlig nackt. Sekundenlang blickte ich ihren geschmeidigen Körper an. »Ich sehne mich nach dem Tod«, sagte sie. »Mein Leben ist sinnlos geworden.« »Du mußt ihm einen Sinn geben.« »Unser Herrscher ist tot«, sagte Machu Picchu. »Das Reich zerfallen und unsere tapfersten Krieger sind nichts anderes als Sklaven. Das ganze Land ist verwüstet. Alles ist hoffnungslos geworden.« »Und was ist mit Manoa?« Sie sah mich verwundert an. »Du kannst mich nicht täuschen, Machu Picchu. Ich weiß mehr als die meisten anderen. Ich war Zeuge, als du und deine Gefährten Atahualpas Leichnam zerstückelten, ihn in Tücher hüllten und ungesehen fortschafften.« Die Augen der Prinzessin schimmerten jetzt stärker. Sie sah mich gebannt an. »Wohin habt ihr den Leichnam gebracht?« Sie antwortete nicht. Ich blickte sie einige Zeit an, dann griff ich in meine Hose und holte das Quipu hervor, das ich ständig bei mir trug. Ihre Augen weiteten sich. »Hier steht geschrieben, daß Atahualpa eine glorreiche Wiedergeburt erleben wird«, sagte ich. »Und außerdem ist hier der Weg nach Manoa beschrieben.« Das war nur eine Vermutung von mir, doch sie schien zuzutreffen, denn ich las das Erschrecken in ihren Augen. »Wer hat dir das erzählt?« fragte sie. »Ich hatte Zeit. Viel Zeit. Ich habe mich eingehend mit eurer Kultur beschäftigt, und ich kann Quipus lesen.« Sie knabberte nervös an ihren Lippen, senkte den Kopf, schloß die Augen, und ihr fester Busen hob sich rascher. »Ich habe mich Pascual Martinez nur angeschlossen, weil er mir von deiner Gefangennahme berichtet hat«, sagte ich rasch. »Du
mußt mir glauben, Machu Picchu. Ich will dir helfen.« »Ich würde dir gern glauben«, sagte sie leise, »aber es fällt mir schwer.« »Du gehst kein Risiko ein. Du führst Martinez und seine Männer in den Urwald, und irgendwann wird sich für dich die Möglichkeit zur Flucht ergeben. Ich habe keinem Menschen – außer dir – von dem Quipu erzählt. Niemand weiß, daß ich auch den Weg nach Manoa kenne.« Sie überlegte einige Sekunden, dann stand sie auf. Ich stützte sie; ihr Körper war leicht wie eine Feder. Selten zuvor hatte mich eine Frau so wie sie fasziniert. »Gut«, sagte sie schließlich. »Ich gehe auf deinen Vorschlag ein. Ich werde die Männer in den Urwald führen. Es ist ein langer, gefährlicher Marsch.« Ich bedauerte, daß ich sie hatte täuschen müssen, doch mir war keine andere Wahl geblieben. Hätte sie sich geweigert, uns nach Manoa zu führen, dann wäre sie sicherlich von Martinez und seinen Leuten grausam gequält worden und hätte schließlich den Tod gefunden. »Ich gebe Martinez Bescheid«, sagte ich und drehte mich um. Ich öffnete die Tür und Pascual Martinez kam mit funkelnden Augen auf mich zu. »Hast du etwas erreicht?« fragte er neugierig. Ich nickte. »Sie führt uns nach Manoa.« Sein häßliches Gesicht verzog sich zu einem freudigen Grinsen. Begeistert schlug er mir auf die Schulter. »Das Mädchen muß aber zu Kräften kommen«, stellte ich fest. »Sie ist völlig geschwächt.« »Ich werde dafür sorgen, daß sie genügend zu essen bekommt«, sagte Martinez. »Schaff sie in einen anderen Raum«, verlangte ich weiter. »Sie braucht auch Bewegung. Sonst klappt sie uns nach wenigen Tagen zusammen.« »Ich werde alles Notwendige veranlassen.« Ich quartierte mich in einem der Häuser ein. Machu Picchu wurde
in einen anderen Raum gebracht und bekam reichlich zu essen. Pascual Martinez ging kein Risiko ein. Sie wurde Tag und Nacht von drei Männern bewacht. Sie war seine einzige Chance, das sagenumwobene El Dorado zu erreichen; nur sie konnte ihn hinführen. Ich unterhielt mich gelegentlich mit ihr, war aber dabei nie allein. Doch das störte mich nicht. Ihre Bewacher verstanden die Sprache der Inkas nicht. Innerhalb von wenigen Tagen war sie kräftig geworden. Ihre Haut bekam Farbe, und ihr Haar schimmerte in der Sonne. Sie bekam ihre Kleider, sowie ein Brust- und ein Hüfttuch, das fast bis zum Boden reichte; beide waren mit Schriftbildern kunstvoll bemalt. Eine Woche nach unserer Ankunft in Medellin zogen wir weiter. Die Spanier hatten alle Pferde. Es wurden sogar noch einige Reservepferde mitgeführt. Es war ein mächtiger Zug, der sich über die Anden bewegte und langsam in die Tiefebenen hinunterging, die zum Urwaldgebiet des Rio Negro führten. Anfangs kamen wir nur sehr langsam vorwärts. Wir mußten uns dem Tempo der grunzenden Schweine anpassen, die für unsere Ernährung unbedingt notwendig waren. Ich hielt mich meist in der Nähe von Machu Picchu auf, die vor einem Spanier im Sattel saß. Sie sprach wenig. An eine Flucht war im Augenblick nicht zu denken, das wurde auch dem Mädchen bald klar. Martinez führte fünfzig Bluthunde mit, die jeden Fluchtversuch vereitelt hätten. Endlich hatten wir die hohen Berge hinter uns gelassen und durchwanderten eine blühende Ebene. Immer wieder erkundigte sich Martinez, wie lange wir noch brauchen würden bis zum Dschungel. Machu Picchu behauptete, daß noch viele Tagesreisen vor uns lagen. Unser Vorrat schmolz gewaltig zusammen. Mehr als die Hälfte der Schweine war bereits geschlachtet worden. Wir stießen nur vereinzelt auf Indianer, die aber friedlich waren und über keinerlei Reichtümer verfügten. Und dann war es endlich soweit. Die ersten Urwaldriesen tauchten auf, Bäume von einer Größe, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte.
Bevor wir weiterzogen, legten wir eine dreitägige Rast ein, um wieder zu Kräften zu kommen. Der Marsch über die Anden hatte uns allen ziemlich zugesetzt. Ich war neugierig, welche Wunder uns im Urwald erwarten würden und ob es uns gelang, die geheimnisvolle Hauptstadt der Inkas zu erreichen. Die Spanier brannten darauf, endlich weiterzuziehen. Zu meiner größten Überraschung kamen wir jetzt ziemlich rasch vorwärts. Wir wanderten an einem schmalen Fluß entlang. Die Bäume standen dicht beisammen, doch es gab nur wenig Unterholz, das einige Indios, die vorausgingen, abschlugen. Entsetzliche Fabeltiere sahen wir nicht, nur unzählige Affen, Ibisse und Löffler, Frösche und Kröten. Und Schlangen gab es in Hülle und Fülle, aber auf die war ich überall in der Neuen Welt gestoßen. Gelegentlich gelang es uns, ein Wasserschwein oder einen Tapir zu erlegen. Außerdem fanden wir unzählige Beeren und eßbare Pflanzen. Kaum ein Tag verging, an dem es nicht regnete. Unsere schweren Rüstungen waren für das heiße Klima nicht geeignet. Nach einigen Tagen fingen sie zu rosten an, und das Pulver für unsere Arkebusen wurde feucht. Es war schwierig, unsere Truppe zusammenzuhalten. Ein paar Indianer machten sich aus dem Staub und nahmen dabei einige Schweine mit. Langsam wurde es ein Problem, Nahrung zu finden. Die Lamas und Schweine waren zum Großteil geschlachtet worden, und die Pferde fühlten sich im Urwald alles andere als wohl. Martinez wurde von Tag zu Tag ungeduldiger. Noch immer hatten wir keine Spur einer Ansiedlung gefunden, und er beschuldigte Machu Picchu, uns in den Untergang zu führen. Sie sagte, daß wir viel rascher vorwärts kommen würden, wenn wir uns Flöße oder Boote bauten. Auf dem Landweg dauerte es zu lange. Doch davon wollte Martinez nichts hören. Ich sprach mit Machu Picchu. Sie behauptete, daß wir uns auf dem richtigen Weg befanden und sagte, daß sie in wenigen Tagen einen Fluchtversuch unternehmen wollte. Ich sollte mitkommen. Sie wür-
de mich allein in die Stadt ihrer Leute führen. Ich überlegte mir ihren Vorschlag und ging darauf ein. Sie sagte mir, daß wir in nächster Zeit äußerst vorsichtig sein sollten. Hier lauerten jetzt überall Gefahren – wilde Tiere und Indianerstämme, die Fremden nicht gut gesinnt waren. Wir hatten uns angewöhnt, bevor wir ein Nachtlager aufschlugen, einige Kundschafter auszuschicken, die die nähere Umgebung untersuchen sollten. Als wir einen geeigneten Platz gefunden hatten, erkundete ich zusammen mit Vincente Cabot, einem fünfzigjährigen Mann, die nähere Umgebung. Wir entfernten uns etwa fünfhundert Meter vom Lager und fanden nichts Verdächtiges. Es wurde rasch dunkel, und ich beschloß zurückzukehren. Cabot befand sich zweihundert Meter zu meiner Linken. »Kehren wir um!« rief ich ihm zu, und er nickte. Ich machte einen Schritt, und plötzlich spürte ich etwas um meinen Hals. Es war eine Liane, die schmerzhaft meine Kehle zudrückte. Ich stieß einen gurgelnden Schrei aus und versuchte die Liane wegzureißen, doch der Druck verstärkte sich nur. »Hilfe!« gurgelte ich. Ich wandte den Kopf und riß meine Augen vor Verblüffung auf. Hinter mir standen drei junge Frauen. Eine von ihnen hielt die Lianenschlinge in der Hand und zog noch fester zu. Vor meinen Augen wurde es schwarz. »Cabot!« schrie ich mit versagender Stimme und wurde bewußtlos. * Als ich erwachte, war es dunkel um mich herum. Ich versuchte mich zu bewegen, doch meine Hände und Füße waren gefesselt. Ich wurde getragen, mit dem Gesicht dem Boden zugewandt. Es dauerte einige Zeit, bis der Druck aus meinem Kopf gewichen war. Ich versuchte den Kopf zu heben, was mir auch mit einiger Anstrengung gelang. Doch ich konnte nichts erkennen. Undurchdringliche Dunkelheit war um mich. Das Krachen von Ästen war zu hören, irgend-
wo schrien einige Nachtvögel. Einmal wurde ich zu Boden geworfen, doch nach wenigen Minuten wurde ich wieder hochgehoben und weitergetragen. Es waren drei junge Frauen gewesen, die hinter mir gestanden hatten. Im Dämmerlicht hatte ich aber nicht viel erkennen können. Sie waren bis auf einen Lendenschutz nackt gewesen und hatten überhaupt nicht wie Indianerinnen ausgesehen. Schließlich sah ich den flackernden Schein eines Feuers weit entfernt. Wir kamen rasch näher, und ich konnte Einzelheiten ausmachen. Ich wurde von vier Frauen getragen, die Riemensandalen anhatten. Sie ließen mich auf den Boden fallen und wälzten mich auf den Rücken. Ich versuchte mich aufzurichten, doch eine der Frauen setzte ihren Speer auf meine Brust. Ich rührte mich nicht mehr. Wir befanden uns auf einer kleinen Lichtung, auf der vier Häuser standen, die auf Pfählen errichtet waren. Die Häuser waren ziemlich primitiv; sie bestanden aus dünnen Holzstämmen, die mit Lianen verbunden waren, und die Dächer waren mit Laub bedeckt. Zwischen den vier Pfahlbauten brannte ein halbes Dutzend Lagerfeuer, um die Frauen verschiedenen Alters saßen. Ich betrachtete die Frau, die mir den Speer an die Brust drückte, genauer. Sie war groß und schlank, hatte fast knabenhafte Hüften und kleine Brüste. Im Schein des Feuers erschien ihre Haut ziemlich hell. Das Haar war lang und fast blond. Meine Gedanken wanderten im Kreis. War ich in die Hände der sagenhaften Amazonen gefallen? Kräftige Frauenhände rissen mich hoch, und meine Beinfesseln wurden aufgeknüpft. Ich wurde zu den Pfahlbauten geführt. Dabei bekam ich einige Schläge in den Rücken, die mich taumeln ließen. Verschiedene Frauen waren aufgestanden und musterten mich interessiert. Sie schnatterten in einer unverständlichen Sprache, und einige lachten und zeigten mit Fingern auf mich. Vor einem Pfahlbau blieben sie stehen. Sie rissen mir die Stiefel herunter, dann lösten sie meine Fesseln und nahmen mir den Brustharnisch ab. Innerhalb weniger Sekunden war ich völlig nackt. Sie trieben mich auf eine Leiter zu.
»Steig hinauf!« sagte eine der Frauen in einem fast unverständlichen Spanisch. Mir blieb keine andere Wahl. Ich mußte folgen. Zur Aufmunterung bekam ich einige Tritte in das Hinterteil. Lachen und Kichern begleiteten meinen Aufstieg. Ich stieg die gut fünf Meter hohe Leiter hoch und erreichte eine schmale Plattform. Kaum hatte ich diese betreten, als die Leiter fortgezogen wurde. Ich drehte mich um und starrte über das Lager. Nur Frauen waren zu sehen. Mir fiel auf, daß es fast alles junge Frauen waren. Alle hatten eine helle Haut und helle Haare. Nur einige der älteren waren rotbraun und hatten dunkles, dichtes Haar. Nach einiger Zeit wandte ich mich um. Vor mir lag eine kleine Öffnung, die in das Innere des Baus führte. Zögernd trat ich ein. Es war schummerig im Innern. Ich hörte eine Bewegung und blieb stehen. »Herzlich willkommen!« sagte eine tiefe Stimme. »Wer bist du?« fragte ich. »Mein Name ist Pedro Vacos«, sagte die Stimme. Eine Gestalt kam mir entgegen und blieb vor mir stehen. Der Schein des Feuers fiel auf sein Gesicht. Es war eingefallen und bartlos. Der Schädel war kahl geschoren. Die weit auseinanderstehenden Augen waren blutunterlaufen. Er war so wie ich völlig nackt. »Bin ich was froh, dich zu sehen!« sagte die ausgemergelte Gestalt. »Endlich kann ich von hier verschwinden.« Ich wurde aus seinen Worten nicht klug. »Seit wann bist du hier?« Er hob die Schultern. »Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor. Es muß Monate her sein, seit mich diese verdammten Weiber gefangengenommen haben. Setz dich!« Ich setzte mich neben ihn auf ein einfaches, mit Laub bedecktes Bett. Pedro Vacos kicherte blödsinnig vor sich hin. »Weshalb darfst du jetzt verschwinden?« fragte ich ihn schließlich. Er kicherte noch einige Zeit weiter, dann klatschte er sich auf die Schenkel. »Du bist meine Ablösung«, sagte er und wieherte vor La-
chen. Ich verstand noch immer nicht. »Ich werde dir alles erklären«, sagte er, als endlich sein Heiterkeitsausbruch vorüber war. »Es wird dir nicht schlecht hier gehen. Du bekommst reichlich zu essen. Anfangs kam ich mir wie ein Pascha vor, das heißt, eher wie ein Zuchtbulle. Verstehst du?« Langsam dämmerte es mir. »Dieser Stamm besteht nur aus Frauen«, sagte Vacos. »Schon seit unzähligen Jahren. Sie behalten keine Männer bei sich. Früher raubten sie ein paar Mal im Jahr einige Männer von benachbarten Stämmen, die für Nachwuchs sorgen mußten, doch sie änderten ihr Leben, als ihnen ein weißer Mann in die Hände fiel. Das muß vor etwa vierzig Jahren gewesen sein. Seither sind sie nur noch auf weiße Männer scharf. Dir wird aufgefallen sein, daß die meisten eine ziemlich helle Hautfarbe haben, einige sind sogar blond. Alle Frauen sind Mestizinnen, manche schon in der dritten Generation. Und mit jeder Generation wird ihre Haut heller. Sie halten sich immer einen weißen Mann, der so lange bei ihnen bleiben muß, bis sie einen neuen fangen. Und nachdem sie dich haben, bin ich frei.« Ich fuhr mir über die Lippen. Die Vorstellung, hier als eine Art Zuchthengst zu fungieren, war nicht unbedingt mein Geschmack. Seine Erzählung bewies mir aber, daß die Berichte über die Amazonen nicht erlogen waren. »Du bist sicher, daß sie dich freilassen?« fragte ich ihn. »Ganz sicher«, sagte er zuversichtlich. Ich war da nicht so sicher. Ich kannte die Bräuche einiger dieser Stämme. Sie sollten der Kopfjägerei huldigen. Doch ich sagte nichts von meinem Verdacht. »Einige der Mädchen sind recht nett«, sagte er. »Aber ich war nichts anderes als ein Sklave. Diesen Pfahlbau durfte ich nicht verlassen. Wenn eines der Mädchen Lust hatte, dann kam es zu mir herauf. Es kam aber nie allein. Immer waren ein paar andere dabei, die aufpaßten, damit ich mir nicht einfallen ließ, einen Fluchtversuch zu unternehmen.« Er richtete sich auf und starrte über den Platz. »Da kommen sie
schon«, sagte er zufrieden. »Die Rotblonde ist ihre Königin. Sie nennt sich Carcho.« Ich stand auf. Eine Prozession näherte sich dem Pfahlbau. Zwei langbeinige, nackte Frauen gingen voran. In den Händen trugen sie goldene Stäbe, die mit seltsamen Mustern verziert waren. Hinter ihnen sah ich die Rotblonde. Um die Stirn trug sie einen goldenen Reif, der mit Edelsteinen besetzt war. Sie hatte einen bodenlangen Umhang aus scharlachroten Federn an. Hinter ihr gingen ein halbes Dutzend Mädchen, die mit Pfeil und Bogen bewaffnet waren. »Sie haben einige seltsame Bräuche«, sagte Vacos, »aber daran wirst du dich gewöhnen.« Die Leiter wurde angelegt, und drei Frauen traten auf die Plattform, eine zeigte auf Vacos und deutete dann auf die Leiter. »Wenn sie dich tatsächlich freilassen«, sagte ich, »dann such die Gruppe, zu der ich gehöre. Sie ist nicht weit entfernt. Erzähle ihnen, wo ich mich befinde.« »Danke für diesen Rat«, sagte Vacos und zwinkerte mir zu. Ich sah ihm nach. Er rutschte fast die Leiter hinunter, wurde von einigen Kriegerinnen umringt und weggeführt. Die Königin stieg gemächlich die Leiter hoch. Zwei der Frauen packten mich an den Handgelenken, die dritte trat hinter mich und drückte mir einen Speer in den Rücken. Sie zerrten mich auf die Plattform, und Carcho, ihre Königin, blieb vor mir stehen. Sie reichte mir bis ans Kinn. Ihre Haut schimmerte wie Elfenbein, die Backenknochen waren hochangesetzt, die Nase war klein, der Mund breit. Ihre schmalen Augen waren dunkelblau. Ich schätzte, daß sie Ende Zwanzig war. Sie musterte mich mehr als eine Minute schweigend. Ihr Blick glitt über mein Gesicht, den Körper und die Beine. Langsam streckte sie die rechte Hand aus, strich über meine Brust, und ihre Hand glitt tiefer. Ich kam mir wie ein Stück Vieh vor, das von einem kauflustigen Bauern auf eventuelle Mängel untersucht wurde. Sie sagte etwas in der unverständlichen Sprache, die wie das Zwitschern eines Vogels klang. Die Frauen nickten eifrig. Carcho untersuchte weiter meinen Körper. Sie ließ keine Stelle aus
und ging dabei nicht besonders sanft vor. Ich war gespannt, wie es weitergehen würde. Die Königin schien nicht viel von Körperpflege zu halten. Sie stank erbärmlich. Die Vorstellung, mit ihr intim zu werden, war nicht unbedingt nach meinem Geschmack. Schließlich zog sie ihre Hand zurück und schlüpfte aus dem Umhang aus Ibisfedern. Sie hatte die Hüften eines Knaben und den Hängebusen einer alten Frau. Carco legte beide Hände auf meine Schultern und drückte ihren stinkenden Körper gegen den meinen. Ich versuchte zurückweichen, doch die Speerspitzen in meinem Rücken bannten mich auf meinen Platz. Ihr Körper war warm und weich. Ihre spitzen Krallen bohrten sich tief in meine Schultern. Der Geruch, der ihrem Haar entströmte, war einfach widerlich. Mir drehte sich der Magen um. Ich versuchte mich aus dem Griff der Mädchen zu befreien, die meine Handgelenke noch immer umklammerten, doch sie hielten mich zu fest. Solche Kräfte hätte ich ihnen gar nicht zugetraut. »Ich bin deine Herrin«, sagte Carcho. Ihr Spanisch klang zu meiner Verblüffung recht ordentlich. »Du wirst mir und meinen Kriegerinnen gehorchen.« Ich dachte nicht daran. »Laß mich frei!« Sie ließ mich los und trat einen Schritt zurück. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. »Wenn du dich gegen mich auflehnst, dann ist das dein Tod.« Ich überlegte sekundenlang. Eine Flucht schied im Augenblick aus. Doch Vincente Cabot mußte gesehen haben, wie ich gefangengenommen wurde. Wahrscheinlich würde mich Martinez suchen. Und wenn sie tatsächlich Pedro Vacos freiließen, dann konnte er Martinez einen genauen Bericht geben. Für die schwerbewaffneten Spanier sollten die Amazonen kein großes Problem sein. Es hatte wenig Sinn, wenn ich die Königin jetzt verärgerte. »Ich folge dir«, brachte ich schließlich über die Lippen, und ihre Miene wurde wieder sanft. Ein zehnjähriges Mädchen kletterte die Leiter hoch und reichte Carcho einen goldenen Becher, den sie an mich weitergab.
»Trink!« befahl sie. Mißtrauisch starrte ich in die grünlich schimmernde Brühe, die unangenehm roch. Ich zögerte, da spürte ich wieder die Speerspitze im Rücken. Langsam setzte ich den Becher an die Lippen und übergab mich beinahe. Den Atem anhaltend, goß ich das bitter schmeckende Getränk hinunter. Carcho nahm mir den Becher ab und gab ihn wieder dem jungen Mädchen, das die Leiter hinunterglitt. Zuerst spürte ich nichts, dann breitete sich in meinem Magen ein unangenehmes Zwicken aus, das in ein Brennen überging. Und plötzlich brach mir der Schweiß aus, und mein Blick trübte sich. Ich sah alles doppelt, dann dreifach. Heiße Schauer durchrieselten meinen Körper, und meine Knie fingen zu zittern an, so als wäre ich nach einer durchzechten Nacht zu früh erwacht. Ich bekam Kopfschmerzen und wankte hin und her. Die Mädchen ließen mich los, und ich war unendlich erleichtert, als ich mich auf das Laublager setzen durfte. Nach einigen Minuten fing alles zu wogen an. Ich schloß die Augen, doch es wurde nicht besser. Ich hustete und legte mich zurück. Alles drehte sich, und mein Körper schien zu glühen. Mein Mund war ausgetrocknet. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ein Körper drängte sich gegen den meinen, weich und warm. Hände strichen über meine Brust, und dann verschwamm alles zu einem seltsamen Traum. Ich lag in den Armen einer wunderschönen Frau, die nicht genug von mir bekam. Sie wand und drehte sich unter mir, und sanfte Stimmen umsäuselten mich. Hände strichen über mein Haar und verkrallten sich in meinem Körper. Stöhnen und Keuchen war zu hören. Alles war unwirklich. Ich schwebte, spürte weiches Fleisch unter meinen Fingern, dann einen harten, biegsamen Körper, der sich mir verlangend entgegenstreckte. Dann erlosch meine Erinnerung. *
Als ich erwachte, war es hell. Ich setzte mich auf und barg mein Gesicht in den Händen. Jede Bewegung fiel mir schwer. Nur undeutlich konnte ich mich an die Ereignisse der vergangenen Nacht erinnern. Ich war gefangengenommen worden – von einem seltsamen Stamm fast weißhäutiger Frauen. Ich blickte mich im Raum um. Bis auf das schmale, laubbedeckte Lager war er leer. Mühsam erhob ich mich. Neben dem Eingang stand ein Krug, der voll mit klarem Wasser war. Gierig setzte ich ihn an die Lippen und trank ihn leer. Dann blickte ich auf den Platz vor den Pfahlbauten. Kein Mensch war zu sehen. Ich erinnerte mich an den Betäubungstrank, der mich völlig willenlos gemacht hatte, und ahnte, was geschehen war. Langsam füllte sich der Platz. Immer mehr Frauen und Mädchen tauchten auf. Die meisten waren völlig nackt, einige trugen Lendenschurze, der Großteil war mit Pfeil und Bogen bewaffnet. Nach dem Stand der Sonne versuchte ich die Tageszeit zu schätzen. Es konnte nicht viel später als neun Uhr morgens sein. Niemand kümmerte sich um mich. Ich setzte mich wieder auf das Laublager und dachte nach. Als ich lautes Geschrei hörte, sprang ich auf. Die Amazonen wurden von dem Angriff völlig überrascht. Dreißig schwerbewaffnete spanische Reiter stürmten auf den Platz vor den Pfahlbauten. Bevor die Amazonen richtig zur Besinnung kamen, war fast alles vorbei. Die Spanier kannten keine Gnade. Sie trieben die Kriegerinnen zusammen und stachen mit den Lanzen auf sie ein. Einige hatten die Schwerter und Degen gezogen und machten alles nieder, was sich bewegte. Sie steigerten sich in einen wahren Blutrausch hinein. Die Amazonen versuchten zu fliehen, doch sie wurden verfolgt und niedergemetzelt. Nur ein halbes Dutzend der jungen Frauen blieb verschont, doch auch sie hatten nicht lange zu leben. Als Martinez und seine Männer merkten, daß es keinen Widerstand mehr gab, nahmen sie sich die überlebenden Frauen vor und vergewaltigten sie zwischen den herumliegenden Leichen. Die Spanier waren
noch nie zimperlich gewesen. Ich machte durch Schreie auf mich aufmerksam, und zwei Soldaten brachten die Leiter. Ich kletterte hinunter und mußte einige spöttische Bemerkungen über mich ergehen lassen. Pascual Martinez trat grinsend auf mich zu. »Du hast Glück gehabt. Cabot hatte gesehen, wie du gefangengenommen wurdest. Es war recht einfach, das Lager dieser kriegerischen Weiber zu finden.« »Danke für die Befreiung. Wo ist Machu Picchu?« »Sie wird von einigen Männern bewacht. Sehen wir uns mal um. Vielleicht gibt es hier etwas zu erbeuten.« »Seid ihr einem Mann namens Pedro Vacos begegnet?« Martinez schüttelte den Kopf. »Wer ist das?« »Er wurde hier gefangengehalten. Angeblich sollte er freigelassen werden.« Einige der Spanier durchsuchten die Pfahlbauten. In einem fanden sie meine Kleider. Ich zog mich rasch an. Das Quipu hatte sich bei meiner Rüstung befunden. Ich steckte es ein. In einer der Hütten machten wir eine schreckliche Entdeckung. Auf Stäben waren mehr als fünfzig Schädel aufgespießt. Blanke Knochen blinkten uns entgegen – nur ein Kopf war noch gut erhalten: der von Pedro Vacos. Schaudernd wandte ich mich ab und dachte daran, daß in einigen Wochen mein Kopf auch so einen Stab geziert hätte. Ich war froh, als ich das Lager der Amazonen verlassen konnte. Martinez' Männer nahmen die überlebenden Amazonen mit. Sie wurden gefesselt. Ihre Königin war tot. Die Pfahlbauten wurden in Brand gesteckt. Viele Wertgegenstände waren nicht gefunden worden, doch immerhin einige Schmuckstücke aus Gold, die den Männern neuen Mut und Hoffnung gaben. Wir setzten unsere beschwerliche Reise fort. Machu Picchu drängte darauf, daß wir uns endlich ein Boot bauen sollten, aber Martinez war noch immer dagegen. Unsere Vorräte waren fast gänzlich aufgebraucht. Die Lamas waren schon lange verzehrt worden, und mit den wenigen Schweinen
kamen wir nicht mehr lange aus. Nur noch ein halbes Dutzend Indios war uns geblieben, einige der Spanier waren an Schlangenbissen gestorben. Machu Picchu erzählte mir, daß überall im Urwald Posten der Inkas verstreut seien. Einmal erwähnte sie beiläufig, daß die sterblichen Überreste Atahualpas nach Manoa gebracht worden waren. Hier wartete der tote Herrscher auf seine Auferstehung. Dazu mußten aber einige Bedingungen erfüllt werden, über die mir die InkaPrinzessin nichts verraten wollte. Endlich ließ sich Martinez überzeugen, daß es sinnlos war, auf dem Landweg weiterzureisen. Als er eine Indianersiedlung entdeckte, ließ er sie kurzerhand überfallen, tötete die meisten Indianer und bemächtigte sich ihrer primitiven Boote. Er ließ eine Handvoll Soldaten mit den Pferden zurück, und wir bestiegen die Boote. Ich war froh, dem Zwielicht des Urwalds entkommen zu sein. Vom Fluß aus sah der Urwald weniger bedrohlich aus. Überall sah man Orchideen und wild wuchernde Baumfarne mit riesigen Wedeln. Schmetterlinge und Kolibris flatterten über die Wasseroberfläche. Wenn die unzähligen Insektenschwärme nicht gewesen wären, hätte man die Bootsfahrt fast als Vergnügen betrachten können. Nach zwei Tagen kam es zu einem seltsamen Zwischenfall. Ich saß zusammen mit Machu Picchu in einem Boot, das etwa zweihundert Meter Vorsprung vor den anderen gewonnen hatte. Plötzlich richtete sie sich auf, und ihr Gesicht erstarrte. Es schien, als hielte sie den Atem an. Dann blähten sich ihre Nasenflügel, und ihre Augen weiteten sich. Angestrengt starrte sie über den dunklen Fluß. Irgend etwas schwamm auf uns zu. Es schwamm gegen die starke Strömung des Rio Negro. Noch war nicht zu erkennen, was es war, doch allein die Tatsache, daß es gegen den Strom schwimmen konnte, ließ es interessant erscheinen. Auf meinen Befehl hin hörten die Männer mit dem Rudern auf und steuerten auf den seltsamen Gegenstand zu, der rasch näher kam. »Da schwimmt eine Leiche!« brüllte einer der Spanier. »Und sie kommt uns entgegen!«
Die Männer brüllten aufgeregt durcheinander. Endlich faßte einer Mut und streckte eine Lanze aus. Er stieß nach dem Körper, und die Lanzenspitze verfing sich in einem Netz. Langsam wurde die Leiche herangezogen. Starke Hände packten zu, und Sekunden später lag der Tote im Boot. »Diesen Mann kenne ich«, keuchte ich. Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Es war Antonio de Aguilar! Ich spürte, wie ich bleich wurde. Sein Körper wies keine Verwesungserscheinungen auf. Seine Schulter war zerschmettert, der Kopf gespalten, die Augen waren weit aufgerissen, das Gesicht schmal und hager. Die Knoblauchschnur befand sich noch immer um seinen Hals, auch die Knoblauchzehen steckten noch in seinem Mund. Er hing in einem Fischernetz, und seine Hände waren mit einem Silberstift zusammengenagelt. Meine Hände zitterten, und mir brach der Schweiß aus. »Du kennst ihn?« fragte mich Machu Picchu. »Es war ein Irrtum«, sagte ich mit zittriger Stimme. »Er erinnert mich an einen Mann, den ich vor einiger Zeit kennenlernte.« Ich schüttelte den Kopf. Nein, es gab keinen Zweifel, der Tote war Antonio de Aguilar, der Dämon, den ich 1532 getötet hatte. Und jetzt schrieb man das Jahr 1537. Fünf Jahre war es her, seit de Anguilar tot war. Mir war das alles unverständlich. Der Dämon mußte durch das Amazonas-Delta gegen den Strom heraufgetrieben sein. Aber das war einfach unmöglich! »Werft ihn zurück in den Fluß!« brüllte ich, als ich mich etwas von meiner Überraschung erholt hatte. »Nein!« kreischte Machu Picchu mit überschnappender Stimme. Sie klammerte sich fast liebevoll an den Toten und nahm ihm den Knebel aus dem Mund. Ich stand halb auf. »In den Fluß mit ihm!« sagte ich hart. Die Spanier sahen mich unsicher an. Einer bückte sich und schnitt das Netz auf, ein anderer löste die Knoblauchschnur von seinem Hals. Und dann spürte ich die seltsame Ausstrahlung, die von dem Toten auszugehen schien. Einige Augenblicke lang konnte ich mich
nicht bewegen. Diese Zeit nützte Machu Picchu. Sie holte den Toten aus dem Fischernetz. Ihre Miene war sanft, und ihre dunklen Augen schimmerten geheimnisvoll. »Die Prophezeiung ist wahr geworden«, sagte sie leise in der Inkasprache. »Ein Toter wird den schwarzen Fluß heraufschwimmen und uns Hilfe bringen.« »Unsinn!« sagte ich. »Hört mir zu, Leute! Dieser Mann war zu seinen Lebzeiten ein gefährlicher Dämon. Er muß zurück in den Fluß geworfen werden.« Doch die Spanier und auch die Indianer beachteten mich nicht. Sie ruderten weiter. Als ich eigenhändig den Toten ins Wasser werfen wollte, stellten sie sich gegen mich. Sie wollten, daß der Tote mitgenommen wurde. Mir blieb nichts anders übrig, ich mußte mich fügen; doch immer wieder irrte mein Blick zu Antonio de Aguilar. Ich hatte geglaubt, diesen Dämon endgültig ausgeschaltet zu haben, doch das war ein Irrtum gewesen. Noch im Tod war er mächtig – wie mächtig, das sollte ich erst einige Tage später erfahren. * Ich unterhielt mich mit Pascual Martinez und sagte ihm, daß es völlig verrückt sei, einen Toten mitzunehmen, doch er war für meine Argumente nicht empfänglich. Machu Picchu weigerte sich, uns El Dorado zu zeigen, wenn wir nicht den Toten mitnahmen. Sie hatte sich verändert. Mit mir sprach sie überhaupt nicht, und sie wich nicht eine Minute von der Seite des Toten, den sie wie einen kostbaren Schatz bewachte. Der tote Dämon schien alle in seinen Bann zu schlagen, nur ich war gegen die Ausstrahlung des Bösen gefeit. Ich war voll düsterer Gedanken und erinnerte mich an meine früheren Leben. Nur zu oft hatte ich die bittersten Erfahrungen mit den Beherrschern der dunklen Mächte gemacht. Ich hatte Dinge gesehen, die mir kein Mensch glauben würde. Deshalb mußte ich alles daransetzen und den toten Dämon endgültig ausschalten. Doch die
Spanier ließen mich nicht an ihn heran, und Machu Picchu wurde von Stunde zu Stunde seltsamer. Sie verschränkte die Hände in ihrem Schoß, und ihre Lippen bewegten sich. Meist blickte sie den Toten an, der sich veränderte. Manchmal hatte ich den Eindruck, als würden mich die Augen des Toten spöttisch mustern und die harten Lippen sich zu einem Grinsen verzerren. Drei Tage, nachdem wir den Toten gefunden hatten, sagte uns Machu Picchu, daß wir nun zu Fuß weitergehen müßten. Ohne viel Gerede wurde eine Bahre für den toten Dämon angefertigt. Alle meldeten sich freiwillig, als es darum ging, wer den Leichnam tragen sollte. Die Männer wechselten sich jede Stunde ab. Ich gewann den Eindruck, als würden sie es als besondere Ehre empfinden, den Toten zu tragen. Wo wir mit dem toten Dämon auftauchten, schien alles Leben den Atem anzuhalten. Kein Tier war zu sehen. Seit Stunden belästigten uns keine Insekten mehr. Es war, als würden wir durch totes Land gehen. Das Rascheln der Blätter war nicht zu hören, das Geräusch unserer Schritte wurde verschluckt, der Urwald war ausgestorben. Unsere Nahrungsmittel gingen zu Ende, doch niemand machte sich Sorgen deswegen. Ich hielt mich meist im Hintergrund. Es war sinnlos geworden, mit Martinez zu sprechen; meist machte er den Eindruck eines völlig Wahnsinnigen, und die Inka-Prinzessin ignorierte uns. »Morgen erreichen wir Manoa«, sagte Machu Picchu, als wir das Nachtlager aufschlugen. Normalerweise hätte diese Nachricht Begeisterung auslösen müssen, doch die Männer blieben still. Sie saßen schweigend um das hochlodernde Feuer und begnügten sich mit einigen Bissen trockenen Fleisches und dem Wasser, das wir aus abgeschlagenen Lianen gewannen. Als alle schliefen, stand ich auf. Ich schlich mich zu der Bahre, auf der de Aguilar ruhte, und zückte meinen silbernen Dolch. Mein Gesicht verzerrte sich, als ich mich über den Toten beugte und den Dolch hob. Ich schloß die Augen halb, als ich zustieß. Doch mein Stich verfehlte den Toten und ich taumelte: Bevor ich noch mal zu-
stoßen konnte, stand Machu Picchu mit blitzenden Augen neben mir. Der Blick ihrer Augen fesselte mich. Ich wurde schläfrig, und meine Sinne verwirrten sich. Benommen steckte ich den Dolch ein, taumelte über die Schlafenden und ließ mich neben einem Baum nieder. Innerhalb weniger Augenblicke war ich eingeschlafen. * Am nächsten Morgen setzten wir den Marsch fort. Ich war müde und voll düsterer Gedanken. Machu Picchu ging voraus. Hinter ihr wurde die Bahre mit dem Toten getragen, dann folgte Pascual Martinez, der in den vergangenen Tagen – so wie alle anderen Spanier – sichtlich verfallen war. Alle waren abgemagert und hielten sich nur mühsam auf den Beinen. Der Urwald wurde immer dichter. Hier wuchsen ganz andere Bäume, die seltsame Formen hatten. Kleine mäuseartige Tiere liefen uns über den Weg. Und dann lag die Stadt vor uns. Ein wenig erinnerte sie mich an Guzco, die Stadt, von der aus die Inka-Herrscher jahrhundertelang geherrscht hatten. Festungsmauern, die aus schweren Steinquadern bestanden und ohne Mörtel fugenlos zusammenpaßten. Für einen Augenblick wunderte ich mich, wie es möglich gewesen war, diese riesigen Steine in den Urwald zu schaffen. »Das ist Manoa!« rief Machu Picchu. Wir waren an unserem Ziel angelangt. Die geheimnisvolle Stadt El Dorado lag vor uns. Doch keine Begeisterung zeigte sich unter den Männern, die viele Wochen unterwegs gewesen waren. Für mich schien die Stadt unbedeutend zu sein, da ich ja Cuzco gesehen hatte. Nur ein Gebäude stach hervor. Es war ein Tempel, der sich von den üblichen Kultstätten der Inkas etwas unterschied, ein gewaltiger Bau, mindestens dreißig Meter hoch und in Form einer Vierkantpyramide erbaut. Der Tempel verjüngte sich nach oben und bestand aus unzähligen Stufen. Ganz oben befand sich ein fünfmal fünf Meter großes Plateau,
auf dem ein gewaltiger Opferstein stand. Wir betraten die Stadt, die aus etwa fünfzig verschiedenen großen Gebäuden bestand, die alle ziemlich prunkvoll aussahen. Eine gespenstische Stille hing über der Stadt. Die Inka-Prinzessin blieb vor dem Tempel stehen und verbeugte sich. Sie kniete nieder und berührte mit ihrer Stirn den Boden. Die Spanier stellten die Bahre mit dem toten Dämon ab und zogen sich zurück. Ihre Bewegungen waren unsicher, so als wären sie betrunken. Ich hob den Blick. Auf der Spitze des Tempels tauchten einige weißgekleidete Inka-Mädchen auf, deren Gewänder mit Girlanden geschmückt waren. Sie stimmten einen seltsam schrillen Gesang an. In den Händen hielten sie kostbare Tücher. Mein Blick fiel auf Machu Picchu, die beide Hände weit von sich gestreckt hatte und die ersten der unzähligen Stufen küßte. Sie setzte sich nach einigen Minuten auf und riß sich das Brusttuch vom Leib. Dann sprang sie hoch und entledigte sich auch des Rockes. Nackt stolzierte sie voller Anmut die Stufen hinauf. Die weißgekleideten Tempeldienerinnen legten die Tücher auf den Opfertisch und knüpften sie auf. Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Leichenteile kamen zum Vorschein. Arme und Beine, ein Rumpf. Alles wurde auf den Opferstein gelegt. Und dann sah ich den Kopf. Eines der Mädchen hielt ihn Machu Picchu hin. Es war Atahualpas Kopf – da gab es keinen Zweifel. Ich trat einige Schritte näher. Das wilde Gesicht mit den gebrochenen Augen war unverkennbar. Die Inka-Prinzessin verbeugte sich, ergriff vorsichtig den Kopf und legte ihn zu den anderen Leichenteilen auf den Opferstein. Zwei dunkelgekleidete Inka-Priester traten aus einem Haus und schritten hochmütig über den Platz. Sie blieben vor der Bahre stehen, packten den toten Dämonen an den Hand- und Fußgelenken, trugen ihn die Stufen hoch und legten ihn neben dem Opferstein auf den Boden. Immer mehr der weißgekleideten Sonnenjungfrauen strömten auf die Plattform und vollführten einen seltsamen Tanz, wobei sie stän-
dig lauter und klagender sangen. Mir war das alles nicht geheuer. Ich lud meine Arkebuse und gab Pascual Martinez einen Stoß in den Rücken, doch er reagierte überhaupt nicht. Sein Gesicht war starr, und seine Augen hatten einen stupiden Ausdruck. Die Kulthandlung auf der Spitze des Tempels ging weiter. Zwei Priester führten ein mächtiges Lama aus einer der Öffnungen und schlachteten es. Dann rissen sie die Eingeweide des Tieres heraus und studierten sie eifrig. In einer Schale, die aus purem Gold bestand und mindestens einen Meter Durchmesser hatte, wurden Blumen und Speisen geopfert. Einer der Priester breitete die Arme aus. »Die Zeichen sind günstig. Alles ist bereit.« Der Priester bückte sich und beschmierte seine Hände mit dem Blut des Lamas. Machu Picchu kam näher, und seine blutverschmierten Hände glitten über ihren Körper und hinterließen breite Spuren. Die Sonnenjungfrauen bewegten sich wilder. Zu meiner Überraschung rissen sie sich die Gewänder vom Leib und bewegten sich immer aufreizender. Eine der Frauen tanzte auf einen der Priester zu, der einen goldfunkelnden Zeremoniendolch erhob und ihr eine klaffende Wunde zwischen den üppigen Brüsten beibrachte. Die Frau beugte sich über die Leichenteile des toten Herrschers, und das Blut tropfte darauf. Immer mehr der Sonnenjungfrauen wurden auf die gleiche Weise entstellt. Ihr Blut netzte den Inka-Herrscher, und einige Tropfen fielen auf den toten Dämon. Die Zeremonie war mir unheimlich. Ich wußte einiges über die Sitten und Gebräuche der Inkas, doch von so einer Zeremonie hatte ich noch nie etwas gehört. Dann war es von einem Augenblick zum anderen still. Die Welt schien den Atem anzuhalten. Plötzlich stieß einer der Priester einen schrillen Schrei aus. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Er warf die Arme hoch und verdrehte die Augen. Seine Lippen bewegten sich. »Steh auf!« brüllte er. »Erwache zum Leben, der du uns nach der
Prophezeiung geschickt worden bist. Steh auf und opfere dein dämonisches Leben, damit der Sohn der Sonne wieder zum Leben erwacht!« Ich traute meinen Augen nicht. Antonio de Aguilar bewegte sich. Ich trat einen Schritt vor und wollte die Stufen hoch, doch eine unsichtbare Kraft hielt mich zurück. Der tote Dämon stand ruckartig auf. Seine Gestalt schwankte hin und her. Er beugte sich über die Leichenteile, und seine Arme bewegten sich wie Windflügel. Ich preßte die Lippen zusammen, riß die Arkebuse hoch und drückte ab. Der Schuß hallte wie ein Donnerschlag über die Stadt. Ich hatte gut getroffen. In der Brust des durch Magie erwachten Dämons klaffte ein gewaltiges Loch. Aus der faustgroßen Wunde quoll eine schleimige Masse, die auf die Körperteile des Inka-Königs tropfte. Immer mehr dieser dickflüssigen Masse rann aus dem Körper des Dämons, der unbeweglich stehengeblieben war. Die gallertartige Masse schien sich selbständig zu machen, eigenes Leben zu gewinnen. Sie warf Blasen, kroch über die Leichenteile und hüllte sie völlig ein. Die Teile des Toten fügten sich zusammen, verschmolzen, wurden eins mit dem Rumpf. Der Dämon brach zusammen; sein Körper glitt einige Stufen hinunter, dann blieb er liegen. Ich zog mich zurück. Meine Gefährten bewegten sich noch immer nicht, doch mich erfüllte eine dumpfe Ahnung. Ich wollte aus dieser unheimlichen Stadt raus – und zwar möglichst schnell. Noch einmal sah ich auf die Plattform des Tempels. Und dann geschah das Unfaßbare. Die Gestalt des toten Inka-Königs bewegte sich. Er setzte sich auf, und einer der Priester reichte ihm seinen Umhang. Ich wich noch weiter zurück, als Atahualpa aufstand und nach seinem goldenen Zepter griff. »Ich lebe wieder!« schrie der Herrscher. »Ich lebe, doch ich will meine Rache nicht sofort. Die fremden Eroberer sind zu mächtig. Aber ich werde wiederkommen. Ich fliehe, doch irgendwann wird die Flucht ein Ende haben. Ich nehme meine Stadt mit und kehre
dieser Welt den Rücken – doch nicht für immer. Eines Tages komme ich zurück und werde mich rächen. Das wird sein, wenn ich mächtig genug bin.« Die Stimme des Herrschers war in der ganzen Stadt zu hören. Aus allen Häusern strömten die Indianer. Ich war nur noch wenige Schritte von einem der Stadttore entfernt. »Machu Picchu, die Prinzessin von königlichem Geblüt, wird einen Traum haben«, brüllte Atahualpa, »in dem wir alle leben werden. Am geeigneten Tag, zur richtigen Stunde, wird sie aus ihrem Traum erwachen und das Zeichen zum Kampf gegen die fremden Eroberer geben.« Die Erstarrung fiel von meinen Gefährten ab. Sie sahen sich von schwer bewaffneten Inka-Kriegern umgeben und stellten sich augenblicklich dem Kampf. Doch diesmal hatten sie es nicht mit willigen Opfern zu tun. Die Inka-Krieger wehrten sich verbissen und töteten einige der Spanier. Ein Sturm kam auf. Er war so gewaltig, daß ich in die Knie ging. Unheimliche Kräfte griffen nach mir. Wie von Geisterhand berührt, löste sich meine Rüstung auf; die Teile flogen durch die Gegend. Ich rappelte mich hoch und stürmte auf das Stadttor zu. Der Sturm wurde zu einem Orkan. Wieder fiel ich zu Boden, verlor meinen Helm und weitere Teile meiner Kleidung, auch das Quipu, das ich seit Atahualpas Tod bei mir getragen hatte, doch darauf konnte ich jetzt nicht achten; ich mußte mich in Sicherheit bringen. Die Stadt begann zu flimmern. Eine dunkle Wolke stieg aus dem Tempel auf und kroch langsam über die Gebäude, schien sie zu verschlucken. Der Tempel war nicht mehr zu sehen. Ein wildes Heulen erfüllte die Luft, und Sandwolken trieben auf mich zu und verklebten meine Augen. Doch ich robbte weiter. Ich verkrallte meine Finger in den Boden. Nur noch wenige Meter, und ich hatte das Stadttor erreicht. Es schien Stunden zu dauern, bis ich endlich aus der Stadt heraus war. Erschöpft blieb ich liegen und starrte auf die Stadt, die in schwarze Wolken gehüllt war. Das Heulen wurde so stark, daß ich mir die Ohren mit beiden Händen zuhielt.
Dann lösten sich die Wolken auf und die Stadt war verschwunden. Ich schloß die Augen und riß sie nach einiger Zeit wieder auf. Die Stadt blieb verschwunden. Ich fühlte mich völlig erschöpft, drehte mich auf die Seite und schlief ein. * Lange konnte ich nicht geschlafen haben. Ich setzte mich auf und rieb mir die Augen. Die Luft flimmerte, und ich sah seltsame Gestalten, die ungewöhnlich gekleidet waren und fremdartige Gegenstände in den Händen hielten, die mich an Waffen erinnerten. Plötzlich sah ich einen Inka-Krieger, der neben einer der seltsamen Gestalten auftauchte und mit seinem goldenen Zeremonienmesser ausholte und den Mann tötete. Dann verschwamm alles. Die Luft flimmerte stärker, und die seltsamen Gestalten lösten sich auf. Einige Minuten lang blieb ich noch liegen, dann stand ich langsam auf und ging zu dem Ort, wo sich die geheimnisvolle Stadt befunden hatte. Ich erinnerte mich an die Worte des wiederauferstandenen InkaKönigs: »Ich fliehe, doch irgendwann wird meine Flucht ein Ende haben. Ich nehme meine Stadt mit.« Der Herrscher war verschwunden und mit ihm seine Stadt, mit all den Inka-Kriegern, Pascual Martinez und den anderen Spaniern und Machu Picchu. Ich wartete noch einige Stunden, doch nichts geschah. Die Stadt blieb verschwunden. Schließlich suchte ich mir ein Nachtlager und trat am nächsten Morgen meinen langen Marsch zur Indianersiedlung an, in der einige Spanier zurückgelassen worden waren. Der Marsch war unbeschreiblich anstrengend. Die größte Schwierigkeit war, Nahrung zu finden. Endlich hatte ich den Fluß erreicht und ging ihn entlang. Wasser hatte ich genug, doch es gelang mir nur selten, ein Tier zu erlegen. Hauptsächlich ernährte ich mich von Wurzeln und Beeren. Ich war ein ausgemergeltes Wrack, als ich endlich das Indianerlager erreichte.
Den Spaniern erzählte ich nicht die Wahrheit. Sie hätten sie mir niemals geglaubt. Ich berichtete ihnen, daß uns Machu Picchu getäuscht hätte. Wir wären in einen Hinterhalt geraten und von unzähligen Indianern angegriffen worden. Alle Männer wurden niedergemacht, nur mir gelang die Flucht. Sie glaubten mir die Geschichte. Ich blieb einige Tage im Lager, bis ich zu Kräften gekommen war, dann traten wir die Rückkehr nach Panama an. Unsere Beute war gering, bestand nur aus den wenigen Gegenständen, die wir von den Amazonen erbeutet hatten. Es dauerte Wochen, bis wir endlich Panama erreicht hatten. Ich zog mich in mein Haus zurück. Mein Bedarf an Abenteuern in der Urwaldregion des Amazonas war für die nächste Zeit gedeckt. Ich beschloß, niemals mehr einen Fuß dorthin zu setzen. * Aber es war anders gekommen, dachte Dorian Hunter. Jetzt war er wieder im Amazonasgebiet. Sein Blick fiel auf die in ein Fischernetz gehüllte Leiche. Es war genau wie damals, als Antonio de Aguilar gegen die Strömung des Rio Negro geschwommen war. Der Dämonenkiller fragte sich, ob die damaligen Ereignisse etwas mit der Gegenwart zu tun hatten. Doch jetzt war keine Zeit für nutzlose Spekulationen. Vorerst einmal hieß es, den Pygmäenstamm zu finden und die Mädchen zu befreien. »Woran denkst du?« riß ihn Elliot Farmer aus seinen Gedanken. Dorian hütete sich, etwas von seinen Erlebnissen in der Vergangenheit zu berichten. »Ich dachte an die Worte des sterbenden Pygmäen. Er faselte etwas von Opfern und zwei Göttern, denen sie gehorchen müßten.« »Wahrscheinlich Fieberphantasien«, stellte Elliot Farmer fest. »Ich glaube, daß die kleinen Burschen ganz einfach Lust auf etwas Abwechslung hatten und deshalb die Mädchen entführten.« Der Dämonenkiller gab keine Antwort; er dachte anders darüber. Nach einigen Stunden legten sie eine kurze Rast ein. Sie fanden
eine geeignete Stelle zum Anlegen, banden die Boote fest und wärmten auf einem Kocher einige Konservendosen, aßen rasch und tranken kalten ungesüßten Tee dazu. Nach dem Essen setzten sie die Fahrt fort. Eine halbe Stunde später änderte sich zu aller Verblüffung die Landschaft. Felsen waren rechts zu sehen. Und nach einigen Minuten machte der Rio Negro einen starken Knick nach links. »Hier muß sich das Dorf der Pygmäen befinden«, erklärte der Dämonenkiller, »wenn der sterbende Pygmäe die Wahrheit gesagt hat. Wir müssen uns eine geeignete Stelle zum Anlegen suchen.« Sie steuerten die Boote näher ans Ufer heran, stellten die Außenbordmotoren ab und griffen nach den Rudern. Unterhalb der Felsen zogen sie die Boote an Land. »In einer halben Stunde ist es dunkel«, sagte Daponde. »Wir haben keine Zeit zu verlieren«, brummte Farmer. »Sollen wir uns teilen oder bleiben wir zusammen?« »Wir bleiben zusammen«, sagte der Dämonenkiller. »Wir bilden eine Linie und durchstreifen das Gebiet. Hat jeder eine Taschenlampe?« Alle nickten. Die Suche nach den Frauen begann. * Sacheen war mit den anderen aus dem Bungalow gelaufen. Sie rannte hinter Bruce Elliot her, stolperte über etwas und versuchte das Gleichgewicht zu behalten, was ihr aber nicht gelang. Sie fiel auf den Bauch und blieb einen Augenblick benommen liegen. Dann sprang sie geschmeidig auf und sah sich plötzlich von einigen kleinen Gestalten umringt, die ihr bis zum Nabel reichten. Sie schlug in eines der häßlichen Gesichter. Eine Hand verkrallte sich in einem ihrer Zöpfe und riß sie zurück, eine andere kleine Hand preßte sich auf ihre Lippen, und noch andere Hände drückten ihre Arme auf den Rücken. Sie schlug verzweifelt um sich und biß in die Hand, die ihr den Mund zuhielt, doch all ihre Befreiungsversuche waren ver-
gebens. Die vier kleinen Kerle, die sie gepackt hatten, zerrten sie rasch in die Dunkelheit. Als sie den Urwald erreicht hatten, wurde sie brutal zu Boden gedrückt und ihre Hände und Beine wurden gefesselt. Dann wurde sie hochgerissen und durch den Urwald getragen. Sie schrie einmal, doch einer der Pygmäen hielt ihr wieder den Mund zu. Nach wenigen Minuten wurde sie in ein schwankendes Kanu gelegt, und ein Pygmäe bewachte sie. Er hielt ihr eine Pfeilspitze vors Gesicht und zischte etwas in einer unverständlichen Sprache. Sacheen fürchtete, daß die Pfeilspitze mit Curare getränkt war und hielt lieber den Mund. Sie hörte das Knattern der Schüsse und wilde Schreie. Der Feuerschein der brennenden Bungalows war deutlich zu sehen. Es dauerte nicht lange, und immer mehr der Pygmäen kamen zu den Booten. Sie zerrten die vier Indio-Mädchen hinter sich her. Diese dachten nicht an Gegenwehr, sondern hatten sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Eines der Mädchen wurde in Sacheens Kanu geworfen, dann kletterten noch drei Pygmäen ins Boot. Sie stießen ab, und die Boote glitten geräuschlos flußabwärts. Niemand sprach ein Wort. Erst, nachdem sie mehr als eine Stunde gefahren waren, schnatterten die Wilden durcheinander. Sacheen versuchte sich ihrer Fesseln zu entledigen, doch vergeblich. Die dünnen Bänder schnitten schmerzhaft ins Fleisch, und ihre Beine und Arme wurden gefühllos. Das Indio-Mädchen, es hieß Tancho, war sechzehn Jahre alt. Ihr waren nur die Arme auf den Rücken gebunden worden. Sie kauerte neben Sacheen im Boot. Die Pygmäen schnatterten noch immer, riefen sich von Boot zu Boot etwas zu, einige kicherten und lachten. Tancho beugte sich vor. »Ich verstehe die Pygmäen. Sie sprechen einen ähnlichen Dialekt wie mein Stamm.« »Was sagen sie?« »Sie wollen uns in ihr Dorf bringen.« »Weshalb haben sie uns geraubt?« »Sie wollen uns opfern«, sagte Tancho. »Sie sprechen immer von
zwei mächtigen Göttern, die sie versöhnen wollen. Sie sind sehr froh, daß sie uns gefangen haben. Das wird die Götter besänftigen. Sie scheinen vor diesen Göttern mächtig Angst zu haben.« »Hör weiter zu«, sagte Sacheen, »und verrate nicht, daß du sie verstehst.« Das junge Mädchen nickte. Doch nach einigen Minuten schwiegen die Pygmäen. Die Fahrt schien Stunden zu dauern. Als es hell wurde, waren sie noch immer unterwegs. Schließlich legten die Boote an, und die gefangenen Mädchen wurden herausgeholt. Einer der Kleinen schnitt Sacheens Fußfesseln durch. Es dauerte einige Minuten, bis sie gehen konnte. Ziemlich brutal wurde sie von zwei Pygmäen gepackt und in den Urwald gezerrt. Nach einer halben Stunde erreichten sie einen Platz, auf dem das Pygmäendorf stand. Es war nicht besonders groß; primitive Kegeldachhütten, nur ein Vierkanthaus stach hervor. Das Dorf war von einem Zaun aus zugespitzten Pfählen umgeben, der als Schutz gegen herumstreunende Tiere diente. Einige Pygmäen kamen ihnen entgegen, die sich über den Anblick der fünf Mädchen sichtlich zu freuen schienen. Sie wurden auf den großen Platz in der Mitte des Dorfes geführt. Aus einer großen, verzierten Hütte trat ein uralter Pygmäe, der ein primitives Beil in der rechten Hand hielt. Hinter ihm tauchte eine mit roten Erdfarben beschmierte Gestalt auf, die eine Holzmaske trug. Der Alte schrie etwas, und die Pygmäen stürzten sich auf die Mädchen. Den Indianerinnen rissen sie die Lendenschurze vom Leib, und auch Sacheen wurde nicht verschont; sie war innerhalb weniger Augenblicke nackt. Der Alte und der Schamane gingen um die Mädchen herum und stießen dabei zufriedene, grunzende Laute aus. Dann brüllte der Alte, der wahrscheinlich der Häuptling des Dorfes war, einen Befehl. Die Fesseln wurden den Mädchen abgenommen und sie wurden auf eine kleine Hütte zugetrieben, die sie betreten mußten. Die Hütte war völlig leer.
Ein halbes Dutzend der kleinen Männer blieb vor dem Eingang stehen und beobachtete die Mädchen. Sacheen massierte sich die Handgelenke, dann setzte sie sich. »Hast du noch etwas erfahren, Tancho?« »Wir sollen heute nacht den Göttern geopfert werden.« »Wir müssen zu fliehen versuchen«, sagte Sacheen. »Das hat keinen Sinn«, schaltete sich eines der anderen Mädchen ein. Sacheen überlegte. Es war nicht ihre Art, sich kampflos zu ergeben, doch so sehr sie auch nachdachte, es gab keine Möglichkeit zur Flucht. Sie untersuchte die Hütte. Sie war zu stabil; und vor dem Eingang standen noch immer die Pygmäen und beobachteten sie aufmerksam. Mittags wurden ihnen eine Schüssel mit Maniokbrei und ein Krug Wasser hingestellt und einige Melonen dazugelegt. Die Indio-Mädchen hatten sich mit ihrem Schicksal abgefunden. Doch Sacheen nicht. Sie war müde und versuchte zu schlafen, was ihr zu ihrer Überraschung auch gelang. Eines der Mädchen stieß sie an, und sie erwachte. Es war dunkel geworden. Sie stand auf und ging zum Eingang. Vor den Hütten brannten Feuer. Auf einem Rost lagen einige Fleischstücke. Tonschalen mit Maniokbrei machten unter den Pygmäen die Runde. Dazu tranken sie Maisbier. Lautes Trommeln war plötzlich zu hören. Der Schamane tanzte wie verrückt zwischen den Feuern hin und her und blieb dann vor der Hütte stehen, in der die Mädchen waren. Er trommelte mit beiden Händen auf seine Brust, und einige Pygmäen sprangen auf. Sie hielten Speere in den Fäusten. Ein paar traten in die Hütte und trieben die Mädchen heraus. Sacheen suchte noch immer nach einer Fluchtmöglichkeit. Sie ging langsam, doch Hiebe in ihren Rücken ließen sie rascher gehen. Alle Pygmäen waren nun aufgesprungen und veranstalteten einen ohrenbetäubenden Krach. Der Zug bewegte sich aus dem Dorf heraus. Einige der Männer hielten hochlodernde Fackeln in den Händen.
Ein schmaler Weg führte durch den Urwald auf einen Hügel zu, der aus massivem Gestein bestand und völlig kahl war. Das Toben der Krieger wurde immer lauter. Vor dem Hügel blieben sie stehen. Der Schamane breitete die Arme aus, und alle waren plötzlich still. Er ging drei Schritte vorwärts und kniete nieder. Tancho drängte sich ängstlich an Sacheen, als der Schamane zu schreien begann. »Was sagt er?« fragte Sacheen leise. »Er fleht die mächtigen Götter an«, sagte Tancho fast unhörbar. »Sie sollen ihnen gnädig gesinnt sein.« Der Schamane verstummte, warf sich zu Boden und blieb mehr als eine Minute bewegungslos liegen. Von irgendwoher war ein lautes knarrendes Geräusch zu hören, dann ein unmenschliches Brüllen, das in eine Art Bellen überging. Es waren zwei Stimmen, die da aus dem Hügel dröhnten. Die Pygmäen trieben die Mädchen den Hügel hoch. Vor einer riesigen Höhle steckten sie ein halbes Dutzend Fackeln in den Boden. Einer sprang einen Schritt vor und schleuderte eine Fackel in die Höhle. Ein wütendes Brummen war zu hören, und der Pygmäe sprang erschreckt zurück. Schwere Schritte näherten sich. Undeutlich waren zwei riesige Gestalten zu sehen, die schwerfällig aus der Höhle kamen. Dann waren Einzelheiten zu erkennen, und Sacheen hielt den Atem an. Zwei furchterregende Gestalten traten vor die Höhle. * Der Dämonenkiller und seine Männer blieben dicht beisammen. Es war dunkel geworden. »Ich höre Trommeln«, sagte Elliot Farmer. Sie blieben stehen. Alle vernahmen das leise Trommeln. Es kam aus südlicher Richtung. »Ich wette, das ist das Lager der Pygmäen«, sagte Daponde. »Folgt mir!« sagte der Dämonenkiller.
Immer wieder knipste er für einen Augenblick seine Taschenlampe an. Sie kamen relativ rasch vorwärts. Das Trommeln wurde von Minute zu Minute lauter, und dann sahen sie einen schwachen Feuerschimmer. Vorsichtig schlichen sie näher. Nach einigen Minuten sahen sie das Dorf. »Sie sind gerade beim Essen«, stellte Farmer fest. »Was sollen wir tun? Es sind zu viele. Das müssen mindestens hundert sein. Gegen die haben wir keine Chance.« »Wir warten vorerst einmal ab«, sagte der Dämonenkiller. Sie mußten nicht lange warten, da sahen sie, wie die Mädchen aus der Hütte geholt und aus dem Dorf geführt wurden. Der Zug kam in etwa zweihundert Meter Entfernung vorbei und bewegte sich langsam auf den Hügel zu. Dorian und seine Leute folgten den Pygmäen in einem Abstand von hundert Metern. Als die Prozession vor der Höhle angelangt war, postierte Dorian seine Leute. »Jetzt ist es günstig«, zischte Pesce. »Die Gewehre auf Dauerfeuer, und wir mähen die ganzen Pygmäen über den Haufen.« »Das ist zu gefährlich«, sagte der Dämonenkiller. »Wir könnten die Mädchen dabei treffen. Keiner schießt, bevor ich nicht den Befehl gegeben habe. Irgend etwas muß sich in der Höhle befinden. Oder vielleicht wollen sie die Mädchen hineindrängen.« Dorian entsicherte seine Waffe und stellte auf Dauerfeuer. Angespannt sah er zu, wie die Pygmäen die Fackeln vor der Höhle in den Boden steckten. Deutlich war ein wildes Brüllen zu hören, das aus der Höhle kam. Der Dämonenkiller richtete sich auf und hob seine Waffe. »Das kann es nicht geben«, keuchte James Rogard, als sich zwei riesige Gestalten aus der Höhle schoben und stehenblieben. Der Schein der Fackeln zeigte sie in all ihrer Scheußlichkeit. Sie waren doppelt so groß wie ein Mensch, affenähnliche Biester, die mit einem dichten dunkelroten Fell bedeckt waren. Die Beine waren kurz und gedrungen, die Arme reichten bis auf den Boden und die Hände mit den riesigen Krallen waren einen halben Meter lang. Die Schädel waren kahl und die rotglühenden Augen groß; oberhalb des
stark vorspringenden Mauls befanden sich zwei kleine Öffnungen, die wohl die Nase darstellten. Eines der Monster griff nach einem der Mädchen, das vor Schreck wie erstarrt war. Die gewaltige Pranke des Ungeheuers schwebte über ihr. »Schießen!« brüllte der Dämonenkiller und zog durch. Die Kugeln rissen eine breite Wunde quer über die Brust eines der Monster. Es wankte, brach aber nicht zusammen. Noch immer wollte es nach dem Mädchen greifen. Jetzt feuerten auch die anderen. Blut spritzte aus den Wunden der Bestien. Eine krachte zu Boden und erwischte eines der Indio-Mädchen. Die Pygmäen wichen zurück. Dorian sprang aus seinem Versteck und legte ein neues Magazin ein. Er feuerte wie verrückt. Die beiden Monster aber waren nicht so einfach zu töten. Sie hielten dem Kugelregen stand, was eigentlich nicht möglich war. Die Mädchen liefen den Hügel hinunter, und die Pygmäen blieben stehen und sahen die beiden sterbenden Monster an, die sie lange Zeit als Götter verehrt hatten. Ihr Häuptling erwachte schließlich aus seiner Erstarrung und brüllte einige Befehle. Nun griffen auch die Pygmäen in den Kampf ein. Mit den Blasrohren schossen sie vergiftete Pfeile auf die wild um sich schlagenden Ungeheuer; andere schossen meterlange Pfeile mit ihren Bögen ab. Ein letztes Zittern, ein letztes Aufbäumen, dann lagen die gewaltigen Leiber still. Dorian wandte sich um und richtete sein Gewehr drohend auf den Pygmäenhäuptling. Seine Begleiter folgten seinem Beispiel. »Reden Sie mit dem Kerl!« sagte Dorian zu Jean Daponde. »Sie sollen die Waffen fortwerfen. Wenn nicht, dann schießen wir sie nieder.« Daponde trat einen Schritt vor und schrie auf den Häuptling ein, der langsam nickte. Er wandte den Kopf und rief seinen Männern etwas zu, die ihn verwundert anblickten, jedoch gehorchten. Sie ließen die Blasrohre, die Pfeile und die Speere fallen und umringten ihren Häuptling.
Sancheen und die Indio-Mädchen kamen rasch näher. »Sie wollten uns diesen scheußlichen Ungeheuern opfern«, sagte Sacheen. Ihr stand der Schrecken immer noch ins Gesicht geschrieben. »Ich weiß«, sagte der Dämonenkiller sanft. »Aber ich habe den Eindruck, als wären die Pygmäen froh, daß die Monster endlich tot sind. Vielleicht kommen wir mit ihnen zu einer Einigung, und sie helfen uns bei der Suche nach Jeff Parker.« »Mich würde interessieren, woher diese affenartigen Wesen kamen«, sagte James Rogard. »Im ganzen Amazonasgebiet gibt es keine großen Affen.« »Fragen Sie den Häuptling, woher diese Monster stammen, Daponde!« Der Franzose palaverte einige Zeit mit dem Häuptling, dann sah er den Dämonenkiller an. »Er weiß es nicht. Sie tauchten plötzlich auf und raubten einige ihrer Leute. Besonders schätzten sie Frauen. Die Monster zogen sich in die Höhle zurück und erschienen nur, wenn sie Hunger hatten. Um dem ein Ende zu setzen, begannen die Pygmäen von anderen Stämmen Frauen zu rauben, die sie den Monstern zum Fraß vorwarfen. Der Häuptling ist glücklich, daß die Monster tot sind.« »Das läßt sich denken«, sagte Dorian. »Fragen Sie ihn, ob er vielleicht Parker gesehen hat.« Daponde fragte den Häuptling. »Ja, er hat Jeff Parker und seine Männer gesehen. Das ist schon lange her. Sie hatten ihn einige Zeit lang beobachtet und verfolgt, sich aber selbst nicht gezeigt.« »Das ist immerhin schon ein Anhaltspunkt«, sagte der Dämonenkiller. »Vielleicht bringen wir den Burschen dazu, daß er uns durch den Urwald führt.« »Ein Versuch kann nicht schaden«, sagte Daponde. Dorian blickte Sacheen lächelnd an, die sich etwas von ihrem Schock erholt hatte. Es war ihm gelungen, die Mädchen zu befreien. Jetzt konnte die Suche nach seinem Freund Jeff Parker beginnen. Und wieder fragte sich der Dämonenkiller, ob die Ereignisse vor mehr als vierhundert Jahren etwas mit Jeff Parkers Verschwinden zu
tun hatten. Das war eine Frage, auf die er im Augenblick keine Antwort hatte.
Drittes Buch �
Tod in der grünen Hölle von Earl Warren
Roman Lipwitz wollte seinen Augen nicht trauen, als er die Stadt im Dschungel sah. Unmittelbar bei dem Lagerplatz der neun Männer vom Suchkommando war sie entstanden, wo am Tag zuvor nur Dschungel gewesen war. Die Männer standen im dichten, verfilzten Unterholz am Rande der riesigen Lichtung. »Das ist El Dorado, die sagenhafte Hauptstadt des Inkareiches«, flüsterte Roger Ballard, der ebenso wie Roman Lipwitz ein Mitglied von Jeff Parkers Playboy-Clique war. Außer den beiden gehörten die brasilianischen Mischlinge Calo und Jorge und fünf indianische Träger zum Suchtrupp. »El Dorado habe ich mir immer etwas größer vorgestellt«, meinte Lipwitz skeptisch. »Das hier sind nur vierzig Gebäude und eine Vierkantpyramide.« Sie spähten durch das Fernglas. »Aber sieh doch nur, wie groß die Gebäude sind!« sagte Ballard. »Die Pyramide ist sicher dreißig Meter hoch. Ich möchte wissen, wie diese riesigen Steinblöcke in den Dschungel gekommen sind. Fugenlos und ganz ohne Mörtel sind sie zusammengefügt.« Die Indios tuschelten aufgeregt miteinander. Tiquito, ihr Sprecher, trat vor Lipwitz und Ballard hin. Äußerlich konnte man sich keinen größeren Gegensatz vorstellen als den kleinen, krummbeinigen Lipwitz mit seinem krausen, schwarzen Haar und den zusammengewachsenen Brauen und den blonden schlaksigen, über ein Meter neunzig großen Ballard. Aber die beiden verstanden sich gut. Sie genossen das Leben in vollen Zügen und machten sich mit Gott und der Welt ihren Spaß. Der Anblick der aus dem Nichts entstandenen Stadt hatte den beiden Playboys aber doch einen Moment den Atem verschlagen. »Böser Ort«, sagte der stämmige Indio Tiquito. »Wir nicht hierbleiben. Schnell weggehen. Sonst alle verloren. Die Überlieferung sagt, Geisterstadt ist verflucht.« Er sprach nur gebrochen Spanisch. Lipwitz, der Sohn eines kolumbianischen Diplomaten, verstand ihn. Ballard sprach als typischer Amerikaner nur Englisch und hatte kein Wort mitbekommen; er konnte sich aber denken, worum es ging. Auch die beiden Misch-
lingsführer schauten äußerst unbehaglich drein. »Ihr kennt diese Stadt?« fragte Lipwitz den stämmigen Indio. »Eure Überlieferungen sprechen davon? Erzähl mir mehr darüber.« Tiquito spuckte aus. Er trug ein zerlumptes Wollhemd und eine ausgefranste Hose. Das strähnige, blauschwarze Haar war in der Mitte gescheitelt und umrahmte ein rundes Gesicht. »Stadt kommen und verschwinden«, sagte er mit kehliger Stimme. »Viele Männer sehen – alle sterben. Böse Dinge geschehen. Hier schlimmer Geist in Dschungel.« Lipwitz schaute durchs Fernglas zur Stadt hinüber. Keine Menschenseele war auf den breiten Straßen zu sehen. Die Parks waren verlassen. Es war keine Ruinenstadt, im Gegenteil, die mächtigen Gebäude schienen nicht älter als einige Jahre zu sein; kein Unkraut wucherte auf den Straßen. Lipwitz wurde es unbehaglich, als er die Dschungelstadt anschaute, ohne daß er erklären konnte, weshalb. »Wenn die Männer alle gestorben sind«, sagte er und setzte das Fernglas ab und sah Tiquito scharf an, »woher wißt ihr dann überhaupt etwas von dieser Stadt?« »Ein paar nicht gleich gestorben«, sagte Tiquito, und sein rotbraunes Gesicht war fahl vor Angst. »Sie verrückt geworden und bei Nacht nie mehr geschlafen aus Angst vor Geistern. Sie nicht mehr lange gelebt. Geister haben sie gerufen. Und eines Nachts sie spurlos verschwunden.« Er verstummte. »Was sagt er?« wollte Ballard wissen. »Dummes Geschwätz.« Lipwitz trat von einem Bein auf das andere. »Wir sehen uns die Stadt an.« Plötzlich wußte er, was mit der Stadt und der riesigen Lichtung, auf der sie stand, nicht stimmte. Der Dschungel ringsum brodelte; Myriaden von Insekten summten, Affen schrien in den Bäumen und Vogel- und Tierstimmen waren zu hören. Auf der Lichtung, im Gestrüpp und zwischen den hohen Farnen regte sich aber nichts. Es war, als seien alle Tiere und sogar die Insekten aus dem Umkreis der geheimnisvollen Dschungelstadt geflohen.
»Mir gefällt das ganz und gar nicht«, sagte Calo, der ältere der beiden lederhäutigen Mestizen. »Ich finde, wir sollten uns so schnell wie möglich verdrücken.« Lipwitz übersetzte es Ballard, doch der schüttelte heftig den Kopf. »Seit zwei Tagen lassen wir uns von Moskitos und allem möglichen Ungeziefer auffressen, schlagen uns mit Panthern, Schlangen und Giftspinnen herum, und nun, wo wir endlich etwas vor uns sehen, sollen wir wieder abhauen? Niemals! Ich behaupte, das ist El Dorado. Eine zweite Stadt wird es hier kaum geben.« »Es ist die Stadt des Dämons«, sagte Jorge, der zweite Mestize. »In Manaus in der Kneipe habe ich davon gehört.« Die Indios fingen an, ihre Lasten abzuwerfen. Lipwitz nahm die Remington-Großwildbüchse von der Schulter, Ballard entsicherte das M16-Schnellfeuergewehr. Tiquito, der außer seiner Packlast auch noch Lipwitz' französischen M49-56-Schnellfeuerkarabiner trug, umklammerte trotzig den Schaft und den Kolbenhals der Waffe. Er machte ein böses Gesicht, hatte aber den Karabiner nicht entsichert. Gefährlicher waren da schon die beiden Mestizen, beides abenteuerliche Gestalten mit Trommelrevolvern und Gewehren. Einer trug einen Winchester-Repetierer, der andere eine Doppelbüchse; und sie konnten mit ihren Waffen umgehen. »Ihr geht mit in die Stadt!« sagte Lipwitz scharf. »Versuchen Sie lieber nicht, uns dazu zu zwingen, Señor«, antwortete Jorge. »Vor den Gefahren des Dschungels, vor den Kopfjägern und den Jaguaren fürchten wir uns nicht, aber mit Dämonen und Geistern wollen wir nichts zu tun haben.« Lipwitz zerbiß einen Fluch zwischen den Zähnen. Da regte sich seitlich von den Männern etwas im Unterholz. Zwei seltsame Gestalten traten hervor. Es waren Indianer, aber keine Angehörigen der primitiven Jäger- und Sammlerstämme, die den Dschungel durchstreiften. Sie trugen Wattepanzer und runde, reich mit Schnitzereien und Einlegearbeiten verzierte Schilde. Über der linken Schulter hatten sie kurze Bögen und einen Köcher mit Pfeilen hängen. In der Rechten hielten sie lange Klingen aus einem schwarzglänzenden, wie poliertes Glas aussehenden Material. Es waren Ob-
sidianklingen, wie die Inkas und andere Völker sie benutzt hatten. Auf dem Kopf hatten die beiden Indios dicke, konische, mit Borten verzierte und bestickte Hauben. Trotz ihrer seltsamen Aufmachung sahen sie wild und kriegerisch aus. Die fünf Indios vom Suchkommando und die beiden Mestizen starrten sie konsterniert an. Einzig Lipwitz und Ballard wußten, wen sie vor sich hatten. Das waren Inkas; und sie sahen so aus, als stammten sie noch aus der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts, als Francisco Pizarro und seine Konquistadores das Reich der Inkas in Blut und Feuer untergehen ließen. Rund um den Suchtrupp traten jetzt weitere Inkas aus den Verstecken. Sie hatten sich zwischen Farnen und Gestrüpp ungesehen herangepirscht. Drohend fuchtelten sie mit den blanken Obsidianschwertern und -beilen herum und richteten Pfeile auf die neun Männer, die sich in die Nähe ihrer Stadt begeben hatten. Einer, prächtiger gekleidet als die anderen und mit einer Federhaube auf dem Kopf, trat vor. Er deutete mit der Obsidianklinge auf die Stadt und sagte mit kehliger Stimme ein paar Worte in einer unbekannten Sprache. »Er will, daß wir zur Stadt gehen«, sagte Ballard zu Lipwitz. Der kleine, kraushaarige Kolumbianer, der mit seiner Stupsnase einem Äffchen ähnelte, hatte jetzt weit weniger Lust, die Stadt aufzusuchen, als noch vor zwei Minuten. »Das gefällt mir ganz und gar nicht«, sagte er auf englisch zu Ballard. Der Inka wiederholte seinen Befehl und fuchtelte mit dem Schwert herum. Die fünf Indios vom Suchkommando zitterten wie Espenlaub. Die beiden weißen Männer und die Mestizen hielten die Waffen im Anschlag, bereit, unter den Inkas ein Blutbad anzurichten, sollten diese sie angreifen. Da hörten sie eine donnernde Stimme, und jeder verstand die Worte, die sie sprach, in seiner Muttersprache. »Werft die Waffen weg, ihr Würmer! Ihr gehört mir! Und einer von euch soll die Reise ohne Wiederkehr machen wie einst der Dämon Aguilar. Ergebt euch dem mächtigen Fürsten der Finsternis!«
Calo und Jorge schrien vor Schrecken auf, und drei der fünf Indios fielen zu Boden und wimmerten um Gnade. Dann trat der Sprecher durch die geschlossene Reihe der Inkas. Er war prächtig gekleidet. Sein roter Umhang wies herrliche Stickereien auf, war mit Gold und Edelsteinen geschmückt. Auf dem Kopf trug er eine Federkrone, und sein Gesicht war edel, energisch und wild zugleich; eine große, gebogene Nase beherrschte es. Seine Augen waren blutunterlaufen, als seien alle Äderchen in ihnen geplatzt. Von Gestalt war er stämmig und groß für einen Indio. Lipwitz starrte diese Erscheinung, den Herrscher der umstehenden Inkas, mit hervorquellenden Augen an. Er war wie vom Donner gerührt, denn er kannte dieses Gesicht; auf einer alten Zeichnung eines Gefolgsmannes des Francisco Pizarro hatte er es gesehen. Es war das Gesicht von Atahualpa, dem Inkaherrscher – jener Atahualpa, der am 19. August 1533 von den Spaniern in Cajamarca nach einem Scheinprozeß hingerichtet worden war. Vor Lipwitz und dem Suchkommando standen Inkas, wie sie vor über vierhundert Jahren gelebt hatten, und sie wurden von einem Mann angeführt, der seit mehr als vier Jahrhunderten hätte tot sein sollen. »Ergebt euch!« rief Atahualpa. Lipwitz riß mit einem erstickten Schrei das Remington-Repetiergewehr hoch und schoß dem Inkaherrscher eine Zehn-Millimeter-Kugel durch den Kopf. Atahualpas Schädel hätte wie eine überreife Melone zerplatzen müssen, doch nichts dergleichen geschah. Der Inka blieb auf den Beinen. Aus dem Einschußloch quoll eine gallertartige, graue Masse und verschloß die Wunde. Atahualpa lachte höhnisch. Als hätte der Schuß einen unheilvollen Bann gebrochen, begann nun ein wilder, kurzer Kampf. Atahualpa zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Roger Ballard. Ihn trafen kein Pfeil, keine geschleuderte Kriegskeule, kein Obsidianbeil, obwohl er drei Inkas mit kurzen Feuerstößen fällte. Calo starb, bevor er mit seiner Winchester feuern konnte. Mehrere Pfeile hatten seine Brust und seine Kehle durchbohrt. Von den Indios lagen drei am Boden, ohne Gegenwehr ihr
Schicksal erwartend, einer versuchte zu fliehen. Eine Kriegskeule zerschmetterte den Schädel des Flüchtenden. Tiquito verteidigte sich verbissen. Er zog immer wieder den Abzug des Schnellfeuerkarabiners durch und wunderte sich, weshalb die Waffe nicht schoß, wie er es bei den weißen Männern gesehen hatte. Er hatte sie noch immer nicht entsichert. Ein Pfeil fuhr ihm in den Unterleib, und dann waren die Inkas heran. Ein wildes Handgemenge begann. Jorge erschoß einen Inka mit seiner Doppelflinte. Dann sauste ein Obsidianbeil horizontal heran, traf seinen aufgerissenen Mund und schlug ihm die Zähne aus. Das Beil blieb im Kieferknochen stecken. Unartikulierte Laute kamen aus Jorges Mund. Er ließ die Doppelflinte fallen. Obsidianklingen teilten ihn förmlich in Stücke. Tiquito schlug mit dem Karabinerkolben um sich und wurde niedergemetzelt. Ein Inka entriß Roger Ballard das Schnellfeuergewehr. Roman Tipwitz, der bis jetzt voller Entsetzen und fassungslos Atahualpa angestarrt hatte, erwachte aus seiner Erstarrung und kämpfte um sein Leben. Er ließ das Remington-Repetiergewehr fallen und zog den schweren Ruger-Revolver aus der Halfter. Der Super-Blackhawk, Kaliber .44 Magnum, krachte wie eine Kanone. Lipwitz spürte den Rückstoß im ganzen Arm. Der Inka, dem er die Waffe vor den Bauch gehalten hatte, wurde von den Beinen gerissen. Wieder schoß Lipwitz und dann noch einmal. Zwei weitere Inkas stürzten zu Boden, tot der eine, schwerverletzt der andere. Der Super-Blackhawk konnte selbst einen Büffel umlegen. Lipwitz hatte sich etwas Luft verschafft. Er sah, wie sein Freund Roger Ballard niedergerungen wurde und wie die Inkas die drei Indios niedermetzelten, die noch am Leben waren. Die Inkas kämpften völlig lautlos, nur das Röcheln und die Todesschreie der Sterbenden und das Stöhnen der Verwundeten waren zu hören. Der kleine Lipwitz hatte einen Brustkasten wie ein Gorilla und enorme Kräfte. Er schlug einem Inka den schweren Revolverlauf quer übers Gesicht, durchbrach mit einem Sprung den Ring der An-
greifer und flüchtete in die Büsche. »Halt!« donnerte Atahualpas Stimme hinter ihm. Lipwitz hörte hinter sich Rascheln, Knacken und die Rufe der Verfolger. Blindlings stürmte er weiter. Nur weg von hier – weg, das war sein einziger Gedanke. Er wich einem völlig verfilzten Gestrüpp aus und fiel fast in einen stinkenden Tümpel. Eine giftige Buschmeisterschlange zischte ihn an, aber Lipwitz sah sie ebensowenig wie das Netz einer faustgroßen, haarigen Spinne. Er rannte hinein und hatte die Spinne am Hals sitzen. Die Giftzangen der Tropenspinne bohrten sich wie glühende Nägel in seinen Hals. Er stieß einen Schrei aus, riß sich die Spinne vom Hals und schleuderte sie weg. Sein rechter Fuß verfing sich in einer Luftwurzel. Der kleine Mann stürzte zu Boden und verstauchte sich ein Fußgelenk. Der Schmerz war so groß, daß ihm Tränen in die Augen traten. Hinter sich hörte er die Rufe der ihn verfolgenden Inkas. Sie kamen näher. Der Spinnenbiß brannte wie Feuer. Lipwitz spürte seinen Puls im Hals klopfen, und sein Herz hämmerte. Er hatte gräßliche Angst vor dem Tod. Vorsichtig kroch er unter den hohen Farnen und zwischen dem Schachtelhalmgras hindurch und entdeckte eine längliche Bodenmulde. Er legte sich hinein und preßte das Gesicht in das feuchte Moos. Ein fingerlanger Tausendfüßler rannte ihm über die heiße Wange. Dann waren die Verfolger heran. Sie hielten Ausschau nach Lipwitz in dem Dämmerlicht unter dem dichten Laubdach der Bäume, die in drei Etappen wuchsen. Mit zitternder Hand umklammerte er seinen Revolver, entschlossen, die letzten Kugeln hinauszujagen, wenn er entdeckt wurde. Sein Kopf tat immer mehr weh, und von seinem rechten Fuß strahlten Schmerzen in den ganzen Körper aus. Schleier wogten vor seinen Augen, und von einer Sekunde zur anderen verlor er das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, hörte er nur noch die Stimmen des Urwaldes – die Vogelrufe und vereinzelten Tierlaute, das Summen der Moskitos, das Rascheln irgendeines Tieres in der Nähe. Die Inkas
hatten die Suche nach ihm aufgegeben. Er wollte aufstehen, aber sein Fuß schmerzte, so daß er unmöglich auftreten konnte. An seiner linken Halsseite war vom Spinnenbiß eine faustgroße Beule entstanden, in seinen Ohren rauschte das Blut, und sein Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt. Nachdem er einige Minuten gelauscht hatte, ob kein Feind mehr in der Nähe war, kroch der kleine Mann mit zusammengebissenen Zähnen zu einem vom Blitz gefällten Baum. Er nahm das scharfgeschliffene Fahrtenmesser aus der Gürtelscheide und hackte damit einen gegabelten Ast vom Stamm. Dann kürzte er die Astgabeln und entfernte die Zweige, dabei immer lauschend, ob nicht die Inkas auf der Suche nach ihm umherschlichen. Mit Hilfe des dünnen, aber starken Astes, den er wie eine Krücke unter die rechte Achsel klemmte, konnte er sich aufrichten. Er hatte Schmerzen und fühlte sich elend, aber er wollte wissen, was mit seinem Kameraden Roger Ballard geschehen war. Er lud seinen Revolver und humpelte durch das Dämmerlicht des Dschungels. Für die Strecke, die er zuvor in panischer Flucht gerannt war, brauchte er jetzt viermal so lange. Dann hörte er die Stimmen der Inkas, einen Chor, dessen Sinn er nicht verstehen konnte, und dazwischen gräßliches Wimmern und hin und wieder einen Schrei. Als er den Rand der Lichtung und den Kampfplatz erreichte, duckte er sich hinter die meterhohen, moosüberwucherten Brettwurzeln eines mächtigen Ceibabaumes. Ein furchtbarer Anblick bot sich ihm. Die toten Mitglieder des Suchtrupps und ein halbes Dutzend toter Inkas lagen noch so, wie sie gefallen waren. Die anderen Inkas, über zwei Dutzend, bildeten am Rand des Dschungels einen Halbkreis. In diesem Halbkreis, dessen Öffnung dem Dschungel zugekehrt war, stand Atahualpa, und zu seinen Füßen lag Roger Ballard. Die Verletzten waren offensichtlich bereits weggebracht worden. Die Hände des blonden Roger waren auf dem Rücken mit einem langen Silbernagel zusammengenagelt, sein Körper in ein Netz eingeschnürt; so straff waren die Schnüre angezogen, daß sie tief in sein Fleisch ein-
schnitten. Roger war noch am Leben. Das Schreien und Wimmern kam von ihm. Auf einen Wink Atahualpas hin eilten nun zwei Inkas herbei und stellten Ballard auf die Füße. Atahualpa packte ihn an den Schultern. Sein Mund näherte sich Ballards Hals. Das Gesicht des Inkaherrschers war eine verzerrte dämonische Fratze, von abgrundtiefer Bosheit geprägt. Lipwitz konnte nicht genau sehen, was er machte; Ballards Kopf und Schultern verdeckten ihm die Sicht. Roger gab nun keinen Laut mehr von sich. Es sah so aus, als bisse ihn Atahualpa in den Hals, als sauge er irgendwelche Köstlichkeiten aus dem geschundenen Körper, und mit ihnen das Leben selbst. Ernährte dieses ungeheuerliche Wesen sich etwa von dem Blut lebender Menschen? Als der schreckliche Atahualpa sich nach einigen Minuten aufrichtete, war sein Mund mit Blut verschmiert. Er gab ein paar Befehle in der Sprache, die Lipwitz nicht verstand, und die beiden Inkas schleppten Ballards leblosen Körper nach Osten, zum Fluß hin. Zwei weitere Männer halfen den beiden Trägern, und Atahualpa ging vor ihnen her. Wie bei einer Prozession folgten die anderen in Doppelreihe. Lipwitz benutzte die Gelegenheit, um sich seinen Schnellfeuerkarabiner und eine Machete zu holen. Dann folgte er dem Zug der Inkas. Er mußte wissen, was mit Roger geschah. Er brauchte lange, bis er mit seiner behelfsmäßigen Krücke zum Fluß gehumpelt war. Der Fluß strömte nach Norden, zum Orinoco hin. Seine Ufer waren versumpft. Lipwitz mußte sich mühsam durch Farne, Schilf und Gestrüpp kämpfen. Er fand den Pfad, der zum Ufer führte, und im Gebüsch verborgen konnte er die Szene auf dem breiten Holzsteg verfolgen. Die Inkas standen auf dem Steg, zu Atahualpas Füßen lag reglos Roger Ballard. Der Herrscher mit dem reichgeschmückten Mantel und der Federkrone murmelte Beschwörungen und beschrieb mit den Fingern magische Zeichen in der Luft. Dann gab er Ballard einen Tritt, daß er ins tiefe Wasser fiel und wie ein Stein unterging. Ein paar Luftblasen stiegen auf.
Jetzt wußte Lipwitz, was die Reise ohne Wiederkehr war. Die Inkas verließen den Steg, und Roman Lipwitz erkannte in jähem Schrecken, daß er sich zu weit vorgewagt hatte. Er lag nur zwei Meter vom Pfad entfernt im dichten Gebüsch; wenn einer der Inkas genau hinsah, konnte er ihn vielleicht entdecken. Roman Lipwitz starb tausend Tode. Er vergaß sogar die Schmerzen in seinem Fuß und das Brennen des Spinnenbisses an seinem Hals. Die Inkas bemerkten Lipwitz jedoch nicht. Als letzter schritt der schreckliche Atahualpa an ihm vorbei. Am Mund des Ungeheuers war noch Roger Ballards Blut. Als die Inkas verschwunden waren, richtete er sich stöhnend auf und humpelte auf den Dschungel zu. Der Inkastadt auf der riesigen Lichtung gönnte er nur noch einen flüchtigen Blick. Lieber wollte er es mit allen Schrecken des Dschungels aufnehmen, als Atahualpa noch einmal zu begegnen. * Das Camp am Rio Negro hatte unter den Kämpfen gegen die Pygmäen schwer gelitten. Die Hütten, Lagerschuppen und Unterkünfte der Indios waren niedergebrannt, die drei Bungalows mehr oder weniger beschädigt; nur die Wellblechhütte mit dem Dieselgenerator hatte kaum etwas abbekommen. Die Indios waren damit beschäftigt, die Bungalows auszubessern und wieder aufzubauen. Dorian Hunter stellte eine dritte Expedition zusammen. Seit unter seiner Führung die schöne Sacheen und die vier Indianermädchen davor gerettet worden waren, von den Pygmäen den Monsteraffen geopfert zu werden, und seit er überdies Frieden mit den Pygmäen geschlossen hatte, war Dorian die unumschränkte Autorität im Lager. Die Wissenschaftler interessierten sich hauptsächlich für ihr jeweiliges Fachgebiet und waren keine Führernaturen. Die Playboys aus Jeff Parkers Clique hatten nicht das Zeug, mit einer solchen Situation fertig zu werden.
Dorian wählte von den Überlebenden James Rogard und Jean Daponde, den Reporter Elliot Farmer sowie die drei Playboys und Parker-Freunde Bruce Ehrlich, Gene Greene und Arturo Pesce aus. Zehn Indianer von einem Aruakstamm sollten die Suchexpedition begleiten, und der ganze Pygmäenstamm wollte mitziehen. Eines der großen, flachkieligen Motorboote war bei den Kämpfen gesunken. An dem zweiten hatten die Pygmäen den Außenbordmotor so schwer beschädigt, daß an eine Reparatur nicht mehr zu denken war. Dorian Hunter hatte über Funk von der kolumbianischen Stadt Mitu, einem Stützpunkt, von dem aus die meisten Camps und Siedlungen in diesem Bereich des Dschungels versorgt wurden, einen Ersatzmotor angefordert. Er machte sich große Sorgen um Jeff Parker und wartete ungeduldig auf die Ankunft der Maschine, um endlich aufbrechen zu können. Am späten Nachmittag endlich tauchte die zweimotorige Piper über den grünen Baumwipfeln auf, flog eine Schleife über dem Lager und setzte dann zur Landung an. Die Betonpiste neben dem Stützpunkt war unversehrt. Dorian Hunter, Jeff Parkers Halbblutfreundin Sacheen und die Wissenschaftler und Playboys erwarteten die zweimotorige Transportmaschine. Als die Piper ausgerollt war, wurde sie sofort umringt. Der Pilot kletterte aus der Kanzel, ein stoppelbärtiger Kolumbianer mit Doppelkinn und einigem schlaffem Speck um die Mittellinie herum sprang auf den Boden herunter und baute sich vor Dorian Hunter auf. »Hier war allerhand los in den letzten Tagen, was?« »Das kann man wohl sagen. Haben Sie alles an Bord? Funkgerät, 80-PS-Außenbordmotor, Medikamente und Munition?« Der Pilot reichte ihm die Liste. »Hier, kontrollieren Sie! Ihre Leute sollen sich beim Ausladen beeilen. Ich will wieder starten, bevor es dunkel wird.« Alle packten mit an. Als die Piper wieder gestartet war, begann Dorian mit Hilfe des überlebenden Mechanikers des Lagers und drei weiteren Männer mit dem Einbau des Außenbordmotors. Erst nach elf Uhr abends wurden sie fertig. Kabellampen, vom Generator ge-
speist, leuchteten ihnen. Obwohl er todmüde war, kontrollierte Dorian noch die Expeditionsausrüstung, die in einem halbzerstörten Bungalow aufgestapelt worden war. Als er seine Unterkunft in einem anderen Bungalow aufsuchen wollte, trat ihm Sacheen in den Weg. »Ich will die Expedition begleiten. Seit acht Wochen sitze ich hier ohne Nachricht von Jeff herum. Er hat es nicht verdient, daß ich ihn im Stich lasse.« »Eine Dschungelexpedition ist kein Sonntagsspaziergang. In der grünen Hölle lauern tausend Gefahren, Jaguare, Panther, Kaimane und Piranhas, giftige Schlangen und Skorpione, Heerscharen von Raub- und Wanderameisen, um nur einige zu nennen. Ganz abgesehen von den Tropenkrankheiten.« »Und? Ich halte ebenso viel aus wie die meisten hier – und obendrein schieße ich besser.« Sie machte einen sehr entschlossenen Eindruck. »Wenn du mich zurückläßt, werde ich der Expedition heimlich folgen. Ich nehme ein paar Aruaks mit und marschiere am Ufer entlang. Vielleicht finden wir auch ein Boot.« Sie war imstande, das zu tun, das wußte Dorian. »Also gut, du kannst mitkommen. Aber beklage dich später nicht! Ich habe dich gewarnt, und wir können keine Rücksicht auf dich nehmen.« Sie umarmte ihn. Er spürte ihren Körper, und im nächsten Augenblick küßte er sie. Es wurde ein langer, heißer Kuß, aber dann schob er sie zurück. »Gute Nacht. Wir haben morgen einen schweren Tag vor uns.« Sacheen sah ihm schweigend nach. Er kam an dem Zelt vorbei, das für die vier hübschen käuflichen Indiomädchen errichtet worden war, und hörte von drinnen einen Schmerzensschrei und gleich darauf erregtes Stimmengewirr. Ein paar Ohrfeigen klatschten. Dorian riß den Vorhang am Zelteingang auseinander und trat ins Innere. Er sah Arturo Pesce zwischen den vier Indiomädchen, die alle nur kurze Lendenschurze aus Glasperlenschnüren trugen. Pesce hatte lediglich eine Unterhose an.
»Was ist hier los?« fragte Dorian scharf. Eines der Mädchen sprach ein verständliches Portugiesisch – eine Sprache, die Dorian gut beherrschte. »Er hat mir weh getan. Immer ist er so gemein und brutal zu uns. Wir mögen ihn nicht.« »Dumme Gänse!« zischte Pesce. »Parker hat sie doch angeheuert, damit sie uns die Zeit vertreiben und uns zur Verfügung stehen. Ich habe bezahlt, und für mein Geld haben sie auch das zu tun, was ich verlange.« »Das sind Menschen, keine Ware«, sagte Dorian. Er mochte den eitlen, eingebildeten und arroganten Pesce nicht, bemühte sich aber, es nicht allzusehr zu zeigen. »Laß sie in Ruhe, Arturo! Wir müssen morgen früh aufbrechen.« Pesce schimpfte noch etwas, aber unter Dorians kaltem Blick wagte er den Mädchen nichts mehr zu tun. Er nahm seine Kleider und verließ das Zelt mit der imprägnierten, gummiüberzogenen Plane. Eine Laterne hing von der Zeltstange herab. Dorian nickte den Mädchen zu und trat hinaus in die Tropennacht. Das Rauschen des Flusses und die vielfältigen nächtlichen Laute des Dschungels waren zu hören. Er ging zu dem aus Naturhölzern errichteten Bungalow, dessen luxuriöse Einrichtung zum Teil zerstört, beschädigt oder unbrauchbar geworden war, und legte sich auf sein Bett. Eine Zeitlang lag er noch unter dem Moskitonetz wach und dachte über die Dschungelexpedition und über die geheimnisvolle Inkastadt El Dorado nach. * Am nächsten Morgen brach die Expedition auf. Die paar Playboys und die zwei Wissenschaftler, die im Lager zurückblieben, winkten ihr nach. Bei Sonnenaufgang hatten die Pygmäen eine Piroge gebracht. In diesem großen, aus einem ausgehöhlten Baumstamm bestehenden Boot ruderten die zehn Aruakindianer hinter dem Motorboot her.
Das Motorboot fuhr mit halber Kraft stromaufwärts. Auf den dunklen Fluten des Rio Negro entschwand es um die nächste Flußbiegung. Im Motorboot fuhren die weißen Expeditionsteilnehmer und das Halbblutmädchen Sacheen. Die Pygmäen vertrauten sich nicht den Fluten an; sie marschierten am Ufer entlang. Den ganzen Tag ging die Fahrt flußaufwärts, an der Mündung des Casiquiare vorbei, des Verbindungsflusses zwischen Orinoco und Rio Negro. Der berühmte Naturwissenschaftler Alexander von Humboldt hatte 1800 den Casiquiare befahren und herausgefunden, daß es zwischen dem Stromgebiet des Amazonas, dessen Nebenfluß der Rio Negro war, und dem des Orinoco eine Verbindung gab. Auf Sandbänken lagen Kaimane und bis zu acht Meter lange Krokodile. Reiher stolzierten zwischen ihnen hin und her, und eine kleine Vogelart pickte ihnen sogar Fleischfasern und andere Nahrung aus den mörderischen Zähnen. Aus dem Urwald gellten Affenschreie und Vogelrufe: Wie eine dichte grüne Mauer stand der Dschungel hinter dem versumpften Unterholz an den Ufern. Manchmal zeigte sich einer der Pygmäen und schwenkte grüßend sein drei Meter langes Blasrohr. James Rogard, der Biologe mit dem Albert-Schweitzer-Bart, machte Dorian auf einen Fischschwarm im dunklen Wasser aufmerksam. Der hünenhafte Bruce Ehrlich, der als einer der letzten ins Camp Jeff Parkers gekommen war, stand bei den beiden Männern an der Bordwand. »Die Fische sehen ganz harmlos aus. Was sind das denn für welche?« »Sie sehen harmlos aus, bis sie das Maul aufmachen«, sagte Dorian. »Das sind Piranhas.« Bruce Ehrlich warf seinen Zigarettenstummel ins Wasser, aber darauf reagierten die Piranhas nicht. Der große Mann, ein Sohn des amerikanischen Brauereikönigs Ehrlich, sah auf die Piranhas, bis sie im wirbelnden Kielwasser der Bootsschraube verschwanden. »Wenn Sie ins Wasser fallen, sind in vier Minuten nur noch die Knochen von Ihnen übrig, Ehrlich«, sagte James Rogard. Er wandte sich an Dorian. »Die Tierwelt des Dschungels ist faszinierend, Mr. Hunter. Ich hoffe nur, daß wir bald auch auf Mörderbienen und Rie-
senameisen stoßen werden.« »Was mich angeht, so hoffe ich genau das Gegenteil«, entgegnete Dorian. »Ich habe schon Züge von Wanderameisen gesehen, die alle vernichten, die ihnen nicht rechtzeitig entkommen konnten, und ich habe kein Verlangen, auch noch Riesenexemplare dieser Gattung kennenzulernen.« Eine halbe Stunde später sah Dorian einen Pygmäen auf einem im Wasser liegenden Baumstamm am Ufer stehen. Der Pygmäe war nur halb so groß wie sein drei Meter langes Blasrohr, er trug einen Gürtel aus Pflanzenfasern, allen möglichen primitiven Schmuck und sonst nichts. Grüßend schwenkte er sein Blasrohr. Als das Boot fast auf gleicher Höhe mit ihm war, rutschte er plötzlich auf dem glatten, faulenden Baumstamm aus und fiel ins Wasser. Ein anderer Baumstamm, wenige Meter von dem anderen entfernt, erwachte zum Leben. Ein Krokodilsrachen klaffte auf. Der Pygmäe stieß einen Schrei aus und wollte ans Ufer, aber schon bohrten sich die Zähne des Krokodils in sein Fleisch. Bruce Ehrlich riß das schwere Mauser-Jagdgewehr mit dem Zielfernrohr hoch. Dorian stand auf der Brücke am Ruder. Er hatte kein Gewehr zur Hand und mußte aufpassen, damit das Motorboot nicht auf eine Sandbank geriet. Ehrlichs Schuß krachte und löste nach einer Sekunde ein empörtes Gekreische der Dschungelbewohner aus. Vögel flogen auf, Affen schrien. Das sechs Meter lange Krokodil peitschte mit dem Schwanz das Wasser und kehrte dann die helle Bauchseite nach oben, ohne sein Opfer loszulassen. Andere Kaimane und Krokodile schwammen aus allen Richtungen herbei und glitten vom Ufer ins Wasser. Ein mörderischer Kampf entbrannte. Das erschossene Krokodil und der Pygmäe wurden förmlich in Fetzen gerissen. Ehrlich, Greene, Pesce und der rotbärtige Inkaspezialist und Naturwissenschaftler Jean Daponde waren gerade an Deck und verfolgten die Szene wie Dorian. »Scheußlich«, sagte der aus New Orleans stammende Kreole Greene und schüttelte sich. »Was wollen Sie?« fragte Daponde und breitete die Arme aus.
»Die Echsen folgen nur ihrer Natur, mehr nicht.« Als die Sonne fast die Baumwipfel berührte, sah Dorian sich nach einem geeigneten Lagerplatz am Ufer um. Bei Nacht zu fahren, war wegen der Untiefen und treibenden Baumstämme trotz der starken Bootsscheinwerfer zu gefährlich. Hinter dem Dschungel glühte das Abendrot. Flammende Wolken trieben über den Himmel, und über dem Fluß lagen schon Schatten. Der Chor der Tiere hatte sich verstärkt. In der Nacht erwachte der Dschungel erst richtig zum Leben. Dorians scharfes Auge entdeckte eine kleine Lichtung in Ufernähe. Er ließ die Bootsglocke ertönen. Elliot Farmer, der lange, schlaksige Texaner mit dem Cowboyhut, kam auf die Brücke. »Wir legen am Ufer an«, sagte Dorian. »Gib den Indianern ein Zeichen.« Farmer nickte, ging nach hinten auf den erhöhten Heckaufbau und winkte den Indianern zu. Da hörte Dorian erregte Rufe vom Bug her. Daponde und Rogard fuchtelten mit den Händen herum. Ehrlich, Greene, Pesce und Sacheen eilten herbei. Auch sie starrten auf das dunkle, wie Tinte erscheinende Wasser, deuteten, gestikulierten und unterhielten sich erregt. Dorian stellte den Motor ab. Er ließ das Boot in der Strömung treiben und trat auf den Brückenaufgang. »Da schwimmt eine Leiche im Wasser!« rief Sacheen ihm zu. »Ein weißer Mann!« »Er ist in eine Art Fischernetz eingewickelt«, sagte Rogard aufgeregt. »Plötzlich sahen wir einen Wirbel im Wasser, und dann ist er aufgetaucht.« »Nehmt den Bootshaken!« sagte Dorian. »Wir ziehen ihn mit an Land und untersuchen ihn dort.« Er trat ans Ruder. Ein böser Verdacht keimte in ihm auf. Er faßte einen Entschluß und rief Gene Greene auf die Brücke. »Steuere du das Boot zum Ufer! Ich muß etwas aus der Kabine holen.« Gene Greene, ein begeisterter Wassersportler, konnte mit dem Motorboot besser umgehen als Dorian. Er nickte und stellte sich ans Ruder.
Dorian ging unter Deck. In jedem Winkel des Bootes stapelten sich Gepäck und Ausrüstungsgegenstände. Auch auf Deck stand und lag noch einiges herum. Die sieben Männer und die Frau hatten eine der zwei Kabinen zur Verfügung, falls sie einmal nicht am Ufer ihr Nachtlager aufschlagen konnten. Dorian öffnete seinen abgeschabten Reisekoffer und suchte den Zeremoniendolch, den Jeff Parker ihm mit der Post geschickt hatte. Unter der Wäsche fand er den zwanzig Zentimeter langen Dolch mit der kurzen, halbmondförmigen Schneide und dem zehn Zentimeter langen Griff in Gestalt einer gekrönten Figur mit seitlich nach oben abgewinkelten Armen. Der Dolch war ganz aus Gold, die Augen der Figur bestanden aus Türkissteinen, und Türkise waren auch zur Verzierung am Griff eingelegt. Der Wert des Zeremoniendolches war nicht zu schätzen; er stammte nämlich noch aus der Inkazeit. Jeff Parker hatte ihn irgendwo in diesem Gebiet im Dschungel gefunden. Es war kein normaler Dolch. Er hatte eine besondere rituelle Bedeutung. Dorian wollte ihn vorsichtshalber in Reichweite haben. Der Dämonenkiller wußte nur zu gut, daß gegen Untote und dämonische Kreaturen irdische Waffen meist nichts halfen. Als Dorian wieder an Deck kam, den Dolch in der Hosentasche und den schweren Colt Government in der geschlossenen Halfter am Gürtel, hatte das Motorboot bereits das Ufer erreicht. Die Indios in der Piroge ruderten herbei. Gerade warf Arturo Pesce den Anker auf eine vorspringende Landzunge. Unter dem Laubdach der Dschungelbäume war schon die Dämmerung hereingebrochen. Pesce sprang mit einem Satz an Land. Daponde und Ehrlich hatten die Wasserleiche mit dem Bootshaken hinter dem Boot hergezogen. Auch Dorian, Gene Greene und Sacheen sprangen ans Ufer. Dorian beugte sich weit vor und nahm den Stiel des Bootshakens aus Dapondes Hand. Er zog den ins Netz gewickelten Leichnam auf die Landzunge. Die Piroge mit den Aruaks legte an, wurde an Land gezogen, und die zehn kräftigen Männer bildeten einen Halbkreis um den Leichnam. Rogard, Ehrlich und Farmer sahen vom Boot aus zu. Ans Aus-
laden und ans Aufschlagen des Lagers war im Moment nicht zu denken. Alle Aufmerksamkeit galt dem Leichnam. Gene Greene, Arturo Pesce und ein Indio durchschnitten die Schnüre des Netzes und wickelten den Leichnam aus. Jetzt konnte man sehen, daß seine Hände mit einem Silberstift zusammengenagelt waren. »Es ist … Roger Ballard«, stammelte Arturo Pesce. Sein Gesicht hatte einen Stich ins Grünliche bekommen. »Er ist zusammen mit Roman Lipwitz, zwei Führern und fünf Trägern vor fünfzehn Tagen aufgebrochen, um Jeff Parkers Expedition zu suchen … Was mag ihm nur zugestoßen sein?« Dorian hatte eine bestimmte Vermutung, aber er behielt sie für sich. Die Sonne war nun hinter den Baumwipfeln versunken, und abrupt – wie in tropischen Breiten üblich – brach die Dunkelheit herein. Es gab so gut wie keine Dämmerung. Gene Greene ließ sich vom Boot eine Zange zuwerfen und zog den Silbernagel aus den Händen des Leichnams. Dorian Hunter sah nachdenklich auf den toten Ballard herab. War er wirklich tot? Sein Körper wies keine Leichenflecken und keine Spur von Verwesung auf; er war nur naß und glitschig vom Wasser. Etwas Tang hing in seinem Haar. Plötzlich kam ein Gurgeln und Glucksen aus der Kehle des Leichnams. Ein Schwall stinkenden Wassers quoll über seine Lippen. Er regte sich, bewegte sich, dann setzte er sich auf. Die weißen und rothäutigen Männer sahen es voller Schreck und fassungslos. Mit einer völlig unverhofften Geschwindigkeit warf sich der Leichnam auf den Indio, der geholfen hatte, ihn aus dem Netz zu befreien. Er packte den Unglücklichen, verbiß sich in seiner Kehle und trank sein Blut. Der Indio hing reglos, mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen und verzerrtem Gesicht im Griff des Untoten, von seinem Biß gelähmt. Bruce Ehrlich riß die Mauser hoch und schoß auf den Leichnam. Gene Greene feuerte mit seinem schweren Smith & Wesson Revolver, und drei Indianer holten ihre Macheten aus der Piroge. Mit den langen Haumessern schlugen sie auf den Untoten ein.
Die Kugeln vermochten ihn nicht zu töten. Die Machetenklingen drangen tief in seinen Körper ein, aber kein Blut floß aus den Wunden; nur ein grauer ekelerregender Schleim quoll vor und wurde an der Luft sofort hart. Die blutunterlaufenen Augen des Leichnams rollten. Blut strömte über sein Kinn. »Weg von ihm!« schrie Dorian Hunter. »So kommt ihr ihm nicht bei!« Er schlug Greenes Magnum-Revolver zur Seite, stieß die drei Indianer mit den Macheten weg und zog den Zeremoniendolch. Die goldene Klinge funkelte im Dämmerlicht. Dorian brachte dem Untoten einen klaffenden Schnitt an der Kehle bei. Endlich ließ der Untote von dem Aruakindio ab. Er richtete sich auf, breitete die Arme aus, als wollte er Dorian umarmen, und ging auf ihn los. Der Indio sank zu Boden. Blut strömte aus seiner zerbissenen Halsschlagader. Der Dämonenkiller stieß dem Untoten den Dolch in die Brust. Der Untote stand wie erstarrt da. Die magische Wirkung des Inkadolches zerstörte sein dämonisches Leben. Er sank in sich zusammen. Dorian riß den Dolch aus der Wunde, und der Untote zerfiel vor den Augen der Zuschauer zu Staub. »Was war das?« ächzte James Rogard. »Ich würde es nicht glauben, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.« »Ein Untoter«, sagte Dorian einsilbig und wischte den Zeremoniendolch im Gras ab. »Wie konnte dieser Leichnam hierher kommen?« fragte Pesce. »Er war noch ganz frisch. Man kann ihn erst heute oder frühestens gestern ins Wasser geworfen haben.« »Er hätte nicht anders ausgesehen, wenn er ein Jahr oder länger im Wasser getrieben wäre«, sagte Dorian. Der Mond war aufgegangen. Man sah die Sterne. Hell und strahlend prangten sie am südlichen Himmel. »Ich nehme an, daß dieser Leichnam in einen Nebenfluß des Orinoco geworfen wurde, den Orinoco entlang ins Meer trieb, zur Amazonasmündung, den Amazonas hoch und dann den Rio Negro bis hierher.« Er wußte durch die Positionsangabe des letzten Funkspruchs der
Lipwitz-Gruppe, wo diese sich befunden hatte. »Das ist doch kompletter Unsinn!« rief Jean Daponde aus. »Abgesehen davon, daß nichts gegen die Strömung treiben kann, wäre die Zeit viel zu kurz gewesen.« Andere äußerten sich ähnlich. Arturo Pesce tippte sich unverblümt an die Stirn. Nur Sacheen musterte den Dämonenkiller nachdenklich. Jeff Parker mochte ihr ein wenig über Schwarze Magie erzählt haben. Dorian störte es nicht, was die anderen sagten oder dachten; er wußte Bescheid. Hier in der Nähe hatte er Anfang 1537 mit der Expedition des Pascual Martinez die Leiche des Dämons Antonio de Aguilar aus dem Rio Negro gefischt. Sie war von Haiti – dem damaligen Hispaniola – aus gegen den Golfstrom den Amazonas hochgetrieben und mehrere Jahre lang unterwegs gewesen. Es sah ganz so aus, als hätten dämonische Kräfte den unglücklichen Roger Ballard die Reise des Dämons unter den gleichen Bedingungen wiederholen lassen. * Das Nachtlager war aufgeschlagen. Dorian rauchte eine Player's und lauschte den Stimmen des Dschungels. Stoisch ertrug er die Stiche der Moskitos. Das auf dem Propangaskocher heißgemachte Corned beef und das Dosenbrot hatten ihm nicht sonderlich gemundet, die eingedosten Pfirsiche hinterher hatten wie Messing geschmeckt. Die Indios hockten an einem zweiten Feuer und tuschelten. Drei Pygmäen waren nach Einbruch der Dunkelheit zu der Expedition gestoßen, die anderen hielten sich irgendwo im Dschungel auf. Ehrlich, Greene und die beiden Wissenschaftler lagen schon unter ihren Decken und Moskitonetzen auf den Luftmatratzen. Elliot Farmer, der sich in den Kopf gesetzt hatte, ein berühmter Schriftsteller zu werden, kritzelte in eines seiner Notizbücher. Sacheen hatte gerade den Lichtbereich verlassen, und Arturo Pesce hielt Wache. Dorian starrte ins Feuer. Sie mußten in dieser Nacht aufpassen, daß die Indios sich nicht aus dem Staub machten. Er hatte es Pesce
gesagt, doch der hatte nur gegrinst und gemeint, außer stromaufwärts treibenden Leichen sähe Dorian nun auch noch flüchtende Indianer. Der Dämonenkiller nahm sich vor, nur mit einem Auge zu schlafen. Er hörte das sanfte Plätschern des Flusses. Im Urwald steigerten sich die Schreie der Affen und der anderen Urwaldbewohner plötzlich in einem Crescendo, daß selbst das Brüllen eines Löwen harmlos daneben geklungen hätte. Irgend etwas hatte die Urwaldtiere aufgestört. Vielleicht hatte nur ein Jaguar eine Beute gerissen, vielleicht war aber auch in einer Affenhorde ein Streit ausgebrochen. Die lärmenden Tiere erschreckten wieder andere. Es mußte nichts Besonderes zu bedeuten haben, das wußte Dorian. Tatsächlich ebbte nach wenigen Minuten der Lärm wieder ab, aber bis dahin waren die Playboys und die Wissenschaftler natürlich wach. »Was ist das?« fragte Gene Greene, fahl unter seiner olivfarbenen Haut. Er hielt seinen Schnellfeuerkarabiner, der neben ihm auf der Decke gelegen hatte, schußbereit. Die Aruakindianer, die um das andere Feuer lagen, störten sich nicht an dem Lärm. Der Schein der beiden niedergebrannten Feuer beleuchtete das Zelt mit Ausrüstungsgegenständen im Hintergrund. Die drei Pygmäen tuschelten miteinander. Keiner antwortete Gene Greene. Als wieder Ruhe eingekehrt war, kam aus dem Unterholz ein wütender, fauchender Laut, von einer Frau ausgestoßen. Gleich darauf hörte man das Knallen einer Peitsche und einen Schmerzensschrei. Sacheen trat aus dem Unterholz. Zwei Knöpfe ihrer Bluse fehlten. Sie sah aufgelöst und wütend aus. In der Hand hielt sie die fünfeinhalb Meter lange Bullpeitsche mit dem kurzen, bleigefüllten Knauf, den langen, zusammengeflochtenen Lederriemen und dem Metallknaller am Ende. Mit dieser Peitsche konnte Sacheen meisterhaft umgehen. Sie war als junges Mädchen eine Zeitlang in einer Wildwestshow aufgetreten, und hatte ihrem Partner die Zigarette mit der Peitsche aus dem Mund geschlagen und Ähnliches.
Arturo Pesce kam hinter Sacheen aus dem Gebüsch. Er hatte die Hand gegen die linke Wange gepreßt. Blut sickerte durch die Finger. Sein Gesicht war eine verzerrte Grimasse. »Das verrückte Weibsbild hat mich mit der Peitsche ins Gesicht geschlagen«, stieß er hervor. »Er ist einfach über mich hergefallen«, rief Sacheen aufgebracht. »Er muß den Verstand verloren haben.« »Hab dich nicht so, du Katze! Ich habe gestern gesehen, wie du dich an Hunter gerieben hast. Bin ich vielleicht schlechter als er, he?« Pesce trat auf Sacheen zu. Schnell und geschmeidig wich sie ein paar Schritte zurück und ließ die Peitschenschnur in der Luft knallen. »Du willst wohl noch einen Striemen auf der anderen Wange, was?« »Warte, du Biest, dir werde ich …« Keiner erfuhr, was er wollte. Mit einem Sprung war Dorian Hunter auf den Beinen, mit einem zweiten bei Arturo Pesce. Der schwarzlockige Italiener hatte sich immer für einen sehnigen, starken Burschen gehalten, aber unter Dorians Griff merkte er, daß ihm noch einiges fehlte. Der Dämonenkiller hatte Arturo Pesce am Genick gepackt und schüttelte ihn durch. »Du bist wohl verrückt, Arturo, im von Schlangen wimmelnden Unterholz Liebesspiele treiben zu wollen? Was glaubst du, wo wir hier sind? Im Playboy Club?« Als Hunter Pesce losließ, brüllte der: »Du hast mir gar nichts zusagen, Hunter! Du bist hier nicht der große Boß!« »Hier gibt der die Befehle, der am meisten von der Sache versteht, sonst kommen wir nie wieder aus dem Dschungel heraus«, sagte Dorian ungerührt. »Du wirst genauso deinen Teil zum Gelingen der Expedition beitragen wie die anderen, Arturo. Du hast dich freiwillig zur Verfügung gestellt, vergiß das nicht. Wenn du noch einmal solchen Blödsinn machst, sollst du mich kennenlernen.« Arturo Pesce wollte sich nicht beruhigen. Die Aruakindianer lagen unter ihren Decken auf dem blanken Boden und sahen zu den Streitenden hin. Die drei Pygmäen grinsten.
»Ihr steht ruhig da und seht zu, obwohl dieses Weib mich ins Gesicht geschlagen und Hunter mich angegriffen hat?« rief Pesce Bruce Ehrlich und Gene Greene zu. »Ich habe geglaubt, ihr seid meine Freunde.« »Benimm dich vernünftig, dann sind wir es«, antwortete der hünenhafte Bruce Ehrlich, der mit seinem blonden Bart, der blonden Haarmähne und den blauen Augen wie ein Wikinger aussah. Jean Daponde mußte Sulfonamidpuder auf Arturo Pesces Wange streuen, denn in der feuchtheißen, bakteriengeschwängerten Luft entzündete sich jede Verletzung leicht. Er verpflasterte die Wunde. Es war ein tiefer Striemen, der sicher eine Narbe hinterlassen würde. Eine Bullpeitsche konnte ein handtellergroßes Stück aus der selbst gegen Dornen unempfindlichen Lederhaut eines Pampastieres reißen. Bruce Ehrlich, der als Nächster mit der Wache an die Reihe kam, löste Arturo Pesce ab. Sacheen legte sich unter ihre Decke. Arturo Pesce suchte gleichfalls sein Lager auf. Er warf einen letzten haßerfüllten Blick auf die hübsche Halbindianerin und wandte ihr dann demonstrativ den Rücken zu. Um drei Uhr morgens wurde Dorian von Bruce Ehrlich geweckt. Verschlafen hängte er seinen Simonow-Selbstladekarabiner über die Schulter, schnallte Pistolengurt und Machete um und stapfte ins Unterholz. Er umrundete den Lagerplatz, die Lichtung, auf der niedriges Gestrüpp umgeknickt und Gras niedergetrampelt worden war. Gegen Morgen wurde das Tierkonzert immer lauter. Ein paar Brüllaffen schrien ein Stück entfernt wie wild. Sehen konnte man diese scheue Affenart mit der grotesken Menschenfratze und dem kräftigen Backenbart nur selten, hören dafür um so öfter. Dorians Sinne waren angespannt. Der Dschungel barg viele Gefahren. Dorian trug aus gutem Grund einen Tropenhelm. Im Geäst der Bäume kletterte und krauchte allerlei Getier umher, und leicht konnte einem eine Schlange oder ein giftiges Insekt auf den Kopf fallen. Vor Dorian raschelte es im Unterholz. Sofort nahm er die Stabtaschenlampe aus der Tasche vorn an der Khakijacke und leuchtete in
die Richtung. Er sah ein Riesenexemplar einer Hyare – anderthalb Meter lang. Diese Marderart war trotz ihrer Größe für den Menschen ungefährlich, wenn man sie nicht gerade mit bloßen Händen festzuhalten versuchte. Ein farbenprächtiges Tinamu-Steißhuhn mit rot-schwarz-weißer Federzeichnung schaute verschlafen ins Licht der Stablampe und gurrte leise. Dorian leuchtete umher. Hinter der Lichtung, in Ufernähe, ragten Bäume auf, vorn die jüngeren, die Höhen bis zu zwanzig Metern erreichten, dahinter die größeren, kräftigeren, die zwanzig bis vierzig Meter hoch waren und deren Kronen das dichte Laubdach bildeten. Und dazwischen die mächtigen Urwaldriesen, die Könige des Dschungels, die sechzig Meter und noch höher werden konnten. Die Kronen der Bäume waren voller Blüten, denn sie bekamen die meiste Sonne, während unten auf dem Boden auch am hellen Tag Dämmerlicht herrschte. Lianen, die in den unteren Bereichen einen Umfang von einem halben Meter und mehr erreichten, wanden sich grotesk nach oben, dem Licht zu, Farne und Gestrüpp verfilzten den Boden. Dorian hatte es längst aufgegeben, sich die Namen der vielen Bäume zu merken. In einem einzigen Quadratkilometer Dschungel konnte man zwei-, dreihundert verschiedene Arten finden. Er sah einen unförmigen Klumpen über sich in dem Geäst eines niedrigen Baumes hängen. Es sah aus wie ein großes Moospolster mit langen Haaren, einer Knopfnase und zwei Augen. Ein Faultier. Stumpf glotzte es Dorian an. Ein großer grüner Leguan mit gezacktem Rückenkamm huschte aus dem Lichtschein der Stablampe nach oben. Dorian schaltete die Stablampe wieder aus und ging weiter. Er umrundete das Lager und wartete auf den Morgen. Die Tierstimmen verrieten ihm, daß die Dämmerung nicht mehr fern war. Als er das erste Grau des neuen Tages sah, schlug er einen anderen Weg ein und näherte sich den höheren Bäumen. Es war pure Langeweile. Er wollte nicht immer die gleiche Route um das Lager patrouillieren. Er schritt unter einem dicken Ast hindurch, und plötzlich wurde der Ast lebendig und umklammerte ihn. Es war
eine Boa constrictor, acht Meter lang und an ihrer stärksten Stelle so dick wie der Oberschenkel eines Mannes. Wenn sie ihre mörderischen Ringe schließen konnte, zerquetschte sie den Dämonenkiller glatt. Dorians rechter Arm wurde gegen den Körper gedrückt. Schon verengten sich die Ringe. Dorians Beine wurden zusammengepreßt. Er spürte einen immer stärker werdenden Druck im Unterleib und schrie um Hilfe. Es ging um Sekunden. Mit ein paar wilden Bewegungen riß er die Machete aus der Lederscheide am Gürtel. Er sah den Kopf der Boa constrictor vor sich. Die Schlange zischte ihn an. Ihre gespaltene Zunge zuckte. Dorian holte aus und vollführte einen Rundschlag um den Schlangenhals. Er schlug noch einmal zu und noch einmal. Der Kopf der Boa flog weg. Sie zuckte konvulsivisch. Ihre Ringe dehnten sich aus. Dorian schlüpfte aus der Umklammerung. Der Schwanz der Boa peitschte den Boden. Dorian bekam einen Schlag gegen ein Bein und knickte weg. Er kroch außer Reichweite der Boa. Es krachte und prasselte im Unterholz, wo die Riesenschlange sich im Todeskampf wand. Ein paar Männer kamen vom Lager herbeigeeilt. »Bleibt weg!« rief Dorian. »Es ist eine Boa constrictor.« Es dauerte lange, bis die Zuckungen des enthaupteten Schlangenkörpers schwächer wurden. Dorians Bein schmerzte höllisch, aber mit zusammengebissenen Zähnen beendete der Dämonenkiller seine Wache. Außer einem Bluterguß am Bein würde er nichts zurückbehalten vom Kampf mit der Riesenschlange. Als die Sonne aufging, erhoben sich die Indios und die weißen Männer. Auch Sacheen erwachte. Sie wollte sich aufsetzen, aber dann erstarrte sie und blieb reglos liegen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Gesicht vor Angst verzerrt. Elliot Farmer trat gähnend zu ihr, reckte und streckte sich. »Los, aus den Federn, Mädchen! Der Tag ist lang, und wir haben einen weiten Weg vor uns.« »Sch!« machte sie. Farmer wollte sie gerade mit dem Fuß anstoßen, da sah er ihr entsetztes Gesicht und die Schweißtropfen auf ihrer Stirn. »Was ist
denn los? Hast du Malaria?« »Schlange«, raunte Sacheen leise. »Eine Schlange? Wo?« »Unter der Decke. Auf meinem Bauch.« Elliot Farmer rief die anderen. Sie umstanden das unter den Decken und dem Moskitonetz liegende Mädchen. Die Wölbung in der Gegend ihres Bauches war deutlich zu erkennen. »Vielleicht ist sie gar nicht giftig«, meinte James Rogard. »Und wenn doch?« fragte Gene Greene. Darauf wußte Rogard keine Antwort. Dorian Hunter und ein paar von den anderen hatten schon Opfer von Schlangenbissen gesehen. »Wir können nicht den ganzen Tag hier stehen«, sagte der Dämonenkiller. »Vielleicht zuckt Sacheen, und die Schlange beißt sie doch. Wer ist ein guter Revolverschütze?« »Ich bin Sportschütze«, sagte Gene Greene. »Experte im Revolverund Pistolenschießen.« »Gut«, sagte Dorian. »Ich kann auch mit der Pistole gut umgehen. Ehrlich und Daponde reißen die Decken blitzschnell weg, wenn ich jetzt sage. Die Schlange wird den Kopf heben, und dann müssen wir sofort schießen. Klar? Wir müssen ihr den Kopf wegschießen.« »Wäre ein Hieb mit der Machete nicht besser?« fragte der sechzigjährige Biologe Rogard. Dorian schüttelte den Kopf. »Das dauert zu lange. Eine Kugel ist schneller. Los, packt die Zipfel der Decken!« Die Schlange hatte Wärme gesucht und war unter Sacheens Decke gekrochen. Da lag sie nun, und jede unvorsichtige Bewegung konnte sie erschrecken und zum Zubeißen bringen. Bruce Ehrlich und der Naturwissenschaftler Jean Daponde hatten die Deckenzipfel gepackt. »Jetzt!« schrie Dorian Hunter. Die Decken flogen weg. Eine Schlange richtete sich auf. Dorian erkannte, daß es eine Lanzenschlange war, eine der giftigsten Arten im Dschungel. Dorian und Gene Greene hielten die Faustfeuerwaffen bereit in den Händen. Hunters .45er Colt Government und Gene
Greenes .357er Smith & Wesson krachten. Der Kopf der Lanzenschlange flog durch die Luft. Mit einem Schrei des Abscheus und des Entsetzens packte Sacheen den zuckenden Schlangenleib und warf ihn weit weg. Eine halbe Stunde nach dem Vorfall war das Frühstück verzehrt. Das Motorboot und die Piroge legten wieder ab. Am Nachmittag winkten die Pygmäen die Boote an Land. Die Fahrzeuge blieben in einem versteckten Seitenarm des Rio Negro unter überhängenden Ästen zurück. Es begann der Marsch durch den Dschungel. Von den etwa dreißig Pygmäen waren nie mehr als drei oder vier bei der Expedition, die anderen streiften im Dschungel umher. Wer die kleinen, bemalten Männer sah, von denen die meisten bis auf einen Gürtel nackt waren, wollte nicht glauben, wie gefährlich sie sein konnten. Sie trugen Knochen und Ringe als Schmuck und hatten sich auch welche durch die Ohren und Nasenscheidewände gesteckt. Die meisten hatten einen deutlichen Bauchansatz. Der Häuptling und ein paar andere, deren Wort in der Horde etwas galt, trugen als Abzeichen ihrer Würde lange Penisfutterale, aus ausgehöhlten Wurzeln bestehend. Die Pygmäen waren gefürchtete Feinde. Um einen vergifteten Curarepfeil aus dem Hinterhalt abzuschießen, brauchte man nicht groß und stark zu sein. Der Dschungel war ihre natürliche Umwelt; sie konnten sich darin bewegen, als seien sie unsichtbar. Die Aruakindianer haßten und fürchteten sie. »Sie sind Kopfjäger und Kannibalen«, sagte Oiziri, der Sprecher der neun Träger, zu Dorian Hunter. Er sprach etwas Spanisch und recht gut Portugiesisch. Er hatte auf einer Kautschukplantage gearbeitet. »Sie führen etwas Böses im Schilde. Da bin ich sicher.« »Sie sind unsere Freunde, seit wir sie von den Monsteraffen befreit haben.« »Trau nie einem Kannibalen«, meinte Oiziri skeptisch. »Sicher haben sie noch einige Frauen im Dschungel versteckt, und auch sonst verbergen sie so manches – da bin ich sicher.« Dorian ging nicht darauf ein. Die Pygmäen konnten ihnen im
Dschungel sehr nützlich sein, und mit ihrer Hilfe konnten sie ein gutes Stück abkürzen. Im Gänsemarsch marschierte die Expedition durch den Dschungel der grünen Hölle. Das dichte Laubdach verhinderte ein Verdunsten; die Luft war feuchtheiß. Auf den Baumstämmen wuchsen Schmarotzerpflanzen, herrliche Blüten leuchteten im Halbdunkel. Auf den Stämmen umgestürzter und lebender Bäume sah Dorian Überpflanzen. Orchideen, Kakteen, Ananasgewächse, Bromeliazeen und Flechten, die nicht im Boden, sondern in den Rissen und Spalten des Wirtsbaumes wurzelten. An anderen Stellen ließen sich Kletterpflanzen von Bäumen mit hochtragen, dem Licht entgegen. Winzige Kolibris schwirrten wie bunte Farbkleckse so schnell von Blüte zu Blüte, daß man ihren Flügelschlag nicht sehen konnte. Bunte Falter und Libellen schwirrten durch die Luft, und natürlich quälten sie Myriaden von Stechfliegen. Tapire, Gürteltiere und kleine Spießhirsche kreuzten ihren Weg, Affen schwangen sich über ihnen in den Ästen. Einmal folgte eine Horde neugieriger rotgesichtiger und schwarzfelliger Kapuzineraffen den Männern mehrere Kilometer weit. Dorian bekam eine faule Feige ins Gesicht. Er schaute nach oben und sah über sich einen Kapuzineraffen an seinem Greifschwanz an einem Ast baumeln. Er drohte dem putzigen Kerl mit dem Finger, und der schnitt ihm eine Grimasse, als verstünde er die Geste. Bäche strömten durch den Urwald. Es gab versumpfte Tümpel mit wuchernden Blatt-, Farn- und Schilfpflanzen. Einmal erblickte Dorian einen Panther auf einer der meterhohen Brettwurzeln eines mächtigen Urwaldriesen. Der Panther verschwand mit einem geschmeidigen Sprung im grünen Gewirr, als er die Menschen sah. Als die Sonne unterging, gesellten sich fünf weitere Pygmäen aus dem Dschungel zu ihnen. Sie waren sehr aufgeregt, palaverten miteinander und wandten sich endlich an Daponde, der als einziger ihre Sprache verstand. »Ein Tropengewitter steht bevor«, sagte Daponde. Eine geschützte Stelle aufzusuchen, war es zu spät. Das Lager wurde aufgeschlagen. Nicht nur die Träger, auch Dorian Hunter, Sacheen, die Wissenschaftler und die drei Playboys hatten seit dem
Verlassen der Boote einiges zu schleppen gehabt. Bald wurde es dunkel. Eine drückende Schwüle und Stille lastete auf dem Dschungel. Über den Kurzwellensender nahm Dorian Verbindung mit dem Stützpunkt am Rio Negro auf. Er gab die übliche Positionsmeldung durch. Mit Hilfe des Kompasses konnte er auf der Karte ungefähr feststellen, wo sie sich befinden mußten. Er sprach mit Doug van der Welten, dem holländischen Arzt, der im Stützpunkt zurückgeblieben war. »Mit dem flotten Playboyleben ist es im Stützpunkt vorbei«, hörte er van der Weltens Stimme undeutlich. »Die Indianer und auch meine Kameraden werden immer unzufriedener. Wir hoffen, daß ihr bald Erfolg habt, damit wir aus dieser Gegend weg können.« »Wir tun unser möglichstes«, sagte Dorian. »Wir melden uns wieder. Ende.« Dorian schaltete das Funkgerät ab. Der Sprechfunk war im Moment ihre einzige Verbindung zum Stützpunkt und zur Zivilisation. Als Dorian das Funkgerät wieder in die wasserdichte Hülle verpackt hatte, brach das Tropengewitter los. Es krachte wie am Jüngsten Tag. Der Donner ließ die Erde erbeben, und der Himmel öffnete seine Schleusen. Gießbäche stürzten herab. Das war kein Regen mehr, das war eine Sintflut. Von den Blitzen sah man wegen des dichten Blätterdachs wenig, den Regen hielt das Laub aber nur die erste Zeit ab. Der Humusboden sog sich mit Nässe voll wie ein Schwamm. Die Indianer hatten Mühe, das eine Feuer nicht ausgehen zu lassen. Eine faustgroße Tropenspinne mit langen, haarigen Beinen lief über Dorians Hosenbein. Er schüttelte sie angewidert ab. Alle Expeditionsmitglieder waren klatschnaß. An Schlafen war nicht zu denken. Die Aruakindios kauerten genauso wie die weißen Männer ums Feuer. Die Menschen wärmten sich mit ihren Körpern. Auch die Pygmäen fügten sich in die frierende, durchnäßte Gruppe ein. Die Indios und die kleinen Pygmäen rochen streng und ranzig. Plötzlich schrie ein Indio auf. Dorian sah gerade noch, wie eine kleine gefleckte Sittichschlange von seiner Schulter glitt. Die giftige Baumschlange mußte herabgefallen sein. Sie verschwand in der
Dunkelheit. Oiziri, der Sprecher der Träger, machte sofort einen Kreuzschnitt in die Schulter des Mannes und saugte an der Bißstelle das Blut aus. Doch es war zu spät. Während rundum die Elemente tobten, als ginge die Welt unter, bekam der Indio Schüttelfrost und Krämpfe. James Rogard spritzte ihm ein Schlangengiftserum aus der Expeditionsapotheke, doch entweder war der Organismus des Aruak besonders anfällig, oder das Serum half gegen das Gift der Sittichschlange nicht. Der Indio krümmte sich. Seine Schulter schwoll an, sein Hals blähte sich wie ein Ballon. Als Dorian sah, daß die Adern am Hals schwarz und geschwollen hervortraten, wußte er, daß es zu Ende ging. Der Indio erstickte qualvoll, noch ehe sein Herz versagte. In der Nähe krachte es, und diesmal war es nicht der Donner. Ein Urwaldriese, dessen mächtige Brettwurzeln unterspült worden waren, stürzte zu Boden und riß ein Dutzend kleinerer Bäume mit sich. Er brach eine Schneise in den Dschungel. Auch andere Bäume stürzten; die Brettwurzeln, die sich bis zu sechs Meter vom Baum weg ausdehnten, sahen zwar mächtig aus, reichten aber nicht tief in den Boden. So konnten auch riesige Bäume umfallen. Plötzlich knackte es ganz in der Nähe. Dorian leuchtete mit der Stablampe. Ein mächtiger, über vierzig Meter hoher und über dem Wurzelwerk mehr als zweieinhalb Meter dicker Baum erzitterte und neigte sich in Zeitlupe. »Achtung!« schrie Dorian. »Weg von hier, sonst schlägt er uns tot!« Die Indios und die weißen Männer flüchteten nach allen Seiten. Der Baum stürzte und fiel genau über das Feuer. Er riß ein paar kleinere Bäume um. Dorian und Elliot Farmer schlugen mit der Machete ein paar Baumäste ab, stapelten sie auf und legten einen viereckigen, sehr heiß und lange brennenden Zündwürfel darunter. Aber selbst mit dem chemischen Zünder dauerte es eine Weile, ehe das nasse Holz endlich zu brennen begann. Wärme spendete die kleine Flamme noch lange nicht.
Das Tropengewitter endete so abrupt, wie es begonnen hatte. Als es endlich vorbei war, konnten die Expeditionsmitglieder ihre Abendmahlzeit aus Dosen, ein paar Riegel Schokolade und Brot essen. Elliot Farmer braute auf dem Propangaskocher starken Kaffee, den alle gut gebrauchen konnten. Sogar die Pygmäen schlürften den heißen Trank, obwohl sie Tabak und Genußmittel sonst strikt ablehnten. Ein Teil der Ausrüstung war vernichtet oder von dem umstürzenden Baum schwer beschädigt worden. Doch zum Glück war das Funkgerät heil geblieben. Nachdem das Gewitter vorbei war, meldeten sich auch die mannigfaltigen Tierstimmen wieder. Bevor ans Schlafen zu denken war, war zuerst noch eine unliebsame Aufgabe zu erledigen. Ins Gepäck und die Ausrüstungsgegenstände der Expedition hatten sich, vor der Nässe flüchtend, alle möglichen Käfer, Larven und Insekten eingenistet, sogar große Tausendfüßler und Spinnen. Sie wurden herausgelesen, die Sachen überprüft. Die Indios und Pygmäen schliefen in dieser Nacht im Sitzen, Rücken an Rücken, da der Boden zu naß war, um sich hinzulegen. Die Weißen konnten auf ihren Luftmatratzen verhältnismäßig gut schlafen. Dorian trank noch eine letzte Tasse Kaffee, während Jean Daponde die erste Wache übernommen hatte. Der Dämonenkiller sah ein paar glühende Augen vor sich in der Dunkelheit. Als er mit der Stablampe leuchtete, sprang eine Zwergtigerkatze weg. Dorian hatte den Colt Government bereits in der Hand gehalten. Fluchend steckte er sie in die Halfter zurück. Als er den auf den Boden gestellten Kaffeebecher aufnehmen wollte, platschte es leise. Etwas war von oben hineingefallen. Nach kurzem Überlegen hielt Dorian den Becher schräg und ließ den Kaffee herauslaufen. Ein fingerlanger Tausendfüßler fiel aus dem Becher. Dorian schüttete ärgerlich den Rest weg und kroch unter seine Decken. Er hatte vom Dschungel die Nase voll. *
In dieser Nacht hatte Dorian keine Wache. Am Morgen weckten ihn Tierstimmen. Nach dem spartanischen Frühstück ging es weiter. Das Tropengewitter hatte die Bäche und Flüßchen anschwellen und überall Tümpel entstehen lassen. Sie überquerten einen Bach, der über die Ufer getreten war, auf einem gestürzten Baumstamm. In der Mitte des Baumstamms glitt einer der Indianer aus, ausgerechnet der, der den Großteil der Munition trug. Er stürzte ins Wasser, wurde ein Stück mitgerissen, bekam eine ausgespülte Wurzel zu fassen und wollte sich an Land ziehen. Da begann er fürchterlich zu schreien. Um ihn herum kochte und brodelte das Wasser. Silbrige Fischleiber hingen an seinem Körper. Es waren jene Fische, die Bruce Ehrlich im Rio Negro so harmlos aussehend erschienen waren. Piranhas. Jetzt stellte sich heraus, daß die Hälfte ihres handlangen Körpers nur aus Maul und Zähnen bestand. Das Wasser färbte sich rot. Der Unglückliche ging mitsamt seiner Traglast unter. An eine Bergung war nicht zu denken. Durch versumpftes Gelände ging der Marsch weiter. Die Pygmäen führten. Arturo Pesce kam unvorsichtigerweise vom Weg ab. Er stieß einen jähen Schrei aus, als der Boden unter seinen Füßen nachgab. Im Nu war er bis zu den Hüften eingesunken. Flehend sah er die anderen an. »Helft mir doch, Kameraden! Um Gottes willen, helft mir doch!« Das Pflaster auf seiner linken Wange, das den Peitschenstriemen bedeckte, war schmutzig. Dorian Hunter hielt ihm den Karabinerkolben hin, aber das nützte nichts. Ein paar Kaimane und Schlangen waren im Sumpf aufgestört worden. Sie glitten auf Arturo Pesce zu. Als er sie sah, begann er wie am Spieß zu schreien. »Knallt die Biester ab!« rief Dorian den anderen zu. »Sacheen, wirf Arturo die Peitschenschnur zu!« Die Bullpeitsche pfiff zum erstenmal durch die Luft und enthauptete eine grüne Wasserschlange, die nur noch einen Meter von Arturo Pesce entfernt war. Er war nun bis zur Brust eingesunken. Schüsse aus Gewehren und Revolvern krachten und trieben die Kaimane
und Schlangen zurück. Dann schleuderte Sacheen Arturo Pesce die Peitschenschnur zu. Dorian Hunter und Bruce Ehrlich zogen ihn heraus. Es war ein schweres Stück Arbeit, denn der Sumpf gab sein Opfer nur widerwillig frei. Als Arturo Pesce endlich schlammverkrustet vor den anderen stand, schlotterten ihm die Knie. »Das werde ich euch nicht vergessen, Kameraden«, versprach er. Dorian sagte nichts. Er kannte Leute vom Schlage Arturo Pesces. Jetzt hätte er allen die Füße geküßt, aber in zwei, drei Stunden würde er wieder der alte sein. Nachdem sie durch den Sumpf hindurch waren, stießen drei Pygmäen zur Expedition. Sie schnatterten aufgeregt mit den dreien, die sich bereits bei der Suchexpedition befunden hatten. »Sie haben etwas gefunden«, sagte Jean Daponde, der kleine, achtundvierzigjährige Franzose mit dem rötlichen Vollbartgestrüpp. »Sie wollen es uns zeigen.« Sie legten eine Pause ein, die nach dem Marsch durch den Sumpf auch dringend nötig war. Dorian Hunter, Elliot Farmer, Bruce Ehrlich und Jean Daponde begleiteten die Pygmäen. Sie wurden zu einem Riesenbaum geführt, über dessen Wurzeln, halb im Buschwerk verborgen, ein menschliches Skelett lag. In der ausgestreckten, abgewinkelten Knochenhand hielt es einen verrosteten Revolver, dessen Trommel fehlte. Jean Daponde, der Naturwissenschaftler, untersuchte das Gerippe flüchtig. »Die Knochen sind uralt. Wie alt, kann ich nicht sagen. Ich glaube, aus dem Boden hier steigen Dünste auf, die sie konserviert haben, sonst müßten sie längst zerfallen sein.« Dorian Hunter nahm seinen Tornister vom Rücken, öffnete ihn und suchte darin herum. Er fand den Inkadolch und die verrostete Revolvertrommel, die nach Aussage der Experten über vierhundert Jahre alt sein sollte. Er nahm den Revolver aus der Skeletthand und setzte die Trommel ein. Sie paßte genau; auch der Zustand entsprach dem des übrigen Revolvers. Hunter nickte. »Das Skelett muß über vierhundert Jahre alt sein. Die geheimnisvolle, über vierhundert Jahre alte Revolvertrommel,
über die wir bereits sprachen, paßt genau zu der Waffe.« »Wenn ein anderer als Sie mir das sagen würde, würde ich ihn auslachen«, sagte Jean Daponde. »Aber hier gehen Dinge vor, die der normale Menschenverstand nicht erklären kann.« »Diese Dinge sind sogar noch viel geheimnisvoller, als Sie annehmen, Monsieur Daponde«, sagte Bruce Ehrlich ernst. »Das Skelett da ist nämlich nichts anderes als das Überbleibsel von Fernando Parras, der zu Jeff Parkers Expedition gehört hat. Seht ihr die Silberplatte im Schädel und die goldenen Zähne? Das ist Fernando. Die Silberplatte mußte er nach einem Flugzeugabsturz in den Anden eingepaßt bekommen.« »Wie kann ein Mann der Gegenwart schon vierhundert Jahre tot sein?« fragte Jean Daponde und sah Dorian Hunter fragend an. »Oder, wenn sein Skelett noch nicht so lange hier liegt, wie kann er dann einen vierhundert Jahre alten Revolver haben, und dazu eine Waffe, die es im sechzehnten Jahrhundert überhaupt noch nicht gab? Andererseits, Fernando Parras ist mit Jeff Parker vor zwei Monaten aufgebrochen, die Knochen sind aber viel, viel älter. Das ergibt alles keinen Sinn. Da kann man wahnsinnig werden.« Dorian Hunter sagte nichts. Er hätte Erklärungen und Theorien äußern können, doch die wären von den anderen als zu fantastisch abgetan worden. Er aber wußte jetzt, daß El Dorado ganz nahe war, und er ahnte, daß die Schrecken der grünen Hölle gegen das, was sie dort erwartete, ein harmloses Kinderspiel waren. * Als Dorian mit den drei anderen Männern und den Pygmäen zur Expedition zurückkam, flüsterten die Pygmäen wieder miteinander. Bevor der Marsch weiterging, schlugen sie sich seitwärts in die Büsche und waren verschwunden. Alles Rufen blieb erfolglos; sie tauchten nicht mehr auf. »Was soll denn das?« wunderte sich James Rogard. »Wir haben ihnen doch nichts getan?« »Vielleicht haben sie Angst wegen des Skeletts«, meinte Bruce Ehr-
lich. Er erzählte den anderen von dem Fund. Alle möglichen Vermutungen wurden angestellt, schließlich angezweifelt, daß die Revolvertrommel wirklich über vierhundert Jahre alt war. Gene Greene meinte, das Skelett könnte vielleicht das eines anderen Mannes als Fernando Parras sein. Aber das wollte sein Freund Bruce Ehrlich nicht akzeptieren. »In diese abgelegene Gegend hat noch kaum ein Weißer seinen Fuß gesetzt«, sagte er. »Und da sollen jetzt gleich mehrere mit identischen Silberplatten und Goldzähnen herumlaufen? Das glaubst du selber nicht, Gene. Nein, das war das Skelett von Fernando Parras. Da bin ich ganz sicher.« Gene Greene sprach jetzt zum erstenmal vom Umkehren. Er meinte, wenn Fernando Parras tot war, hätte die anderen von der ParkerExpedition wahrscheinlich das gleiche Schicksal ereilt. Aber Dorian Hunter, Sacheen, die Wissenschaftler und auch Bruce Ehrlich wollten vom Umkehren nichts wissen. Sie marschierten weiter, ohne die Pygmäen. An diesem Tag waren die Träger so widerspenstig und aufsässig, daß es schon an Rebellion grenzte. In den letzten Nächten hatte keiner zu fliehen versucht, aber für diese Nacht rechnete Dorian Hunter mit einem Fluchtversuch der sieben verbliebenen Träger. Am Abend schlugen die Männer ihr Lager im dichten Dschungel auf. Die Pygmäen hatten sich nicht gezeigt. In der Nähe des Lagers floß ein kleiner Bach. Als Dorian Wasser holte, schaute er sich um und sah eine Bewegung hoch oben im grünen Gewirr der Blätter, Zweige und Äste. Gleich darauf schoß ein länglicher Körper durch die Luft und tauchte in den flachen Bach ein. Es war ein Leguan, ein Artist der Tierwelt. Nur dieser Kletter- und Springkünstler brachte das fertig, was Dorian eben gesehen hatte. Ihm konnte allenfalls noch der Spinnenaffe Konkurrenz machen, der sich, seinen Greifschwanz als Schleuderseil benutzend, bis zu fünfzehn Meter durch die Luft schwingen und dann mit einer Hand einen Ast ergreifen konnte. Dorian kehrte mit dem Wasser ins Lager zurück. Es wurde abge-
kocht. Sacheen bereitete die Abendmahlzeit zu – saftiges Fleisch eines Tapirs, den Bruce Ehrlich während des Tages erlegt hatte. Nach dem Essen kam Oiziri, der Sprecher der Träger, zu Dorian Hunter. Er druckste herum, bis er endlich mit seinem Anliegen herausplatzte. »Wir wollen nicht mehr weiter«, sagte er auf portugiesisch. »Die Gegend hier ist verflucht. Wir nähern uns der verwunschenen Stadt. Diese Stadt bringt allen, die sie sehen, den Tod oder den Wahnsinn. Außerdem fürchten wir, daß die Pygmäen uns überfallen und unsere Köpfe zu Tsantsas machen wollen.« Tsantsas, das waren Schrumpfköpfe. »Ihr seid von Jeff Parker regulär angeworben für die Dauer des Unternehmens und wart bereit, an dieser Expedition teilzunehmen«, erwiderte Dorian. »Ihr könnt uns jetzt nicht mitten im Dschungel im Stich lassen. Das werden wir zu verhindern wissen – mit allen Mitteln.« »Wollt ihr uns mit Gewalt zum Weitergehen zwingen?« fragte Oiziri. »Wenn es sein muß, ja.« Der Aruak sagte nichts mehr, aber seinem Blick entnahm Dorian, daß das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen war. Oiziri kehrte zu den sechs anderen Indios zurück. Sie saßen abseits an einem eigenen Feuer und machten sich bald für die Nachtruhe fertig. Plötzlich raschelte, knackte und quiekte es im Unterholz. Der Todesschrei eines Tieres und ein wildes Fauchen waren zu hören. Dann war die Hölle los. Quer durch den Lichtkreis der Feuer floh ein gefleckter Jaguar. Hinter ihm her tobten Dschungelwildschweine. Der Jaguar hatte einen Versprengten des Rudels angefallen, und jetzt waren die anderen hinter ihm her. Im Rudel scheuten die Dschungelwildschweine mit ihren langen Hauern auch vor einem Jaguar nicht zurück. Ein Dutzend der Wildschweine fegte böse grunzend und quiekend durch das Camp unter den Dschungelbäumen. Sacheen wurde umgerannt. Gene Greene riß ein Wildschwein mit den Hauern das Bein
auf. Dorian erschoß es mit dem Colt Government. Eine Weile noch raschelte, knackte und prasselte es im Unterholz, aber die Geräusche verklangen bald ganz; nur noch die üblichen Laute der Urwaldnacht waren zu hören. Gene Greene hockte stöhnend auf dem Boden. Das Wildschwein hatte ihm fast den Knochen freigelegt. Blut schoß aus der Wunde. Die anderen sammelten sich um ihn. James Rogard, der ein paar Semester Medizin studiert hatte, bevor er sich der Biologie zuwandte, drückte die Wundränder zusammen. Dorian Hunter war kein Mediziner, aber er verstand genug von Wunden und Verletzungen, um zu sehen, daß genäht werden mußte. »So etwas habe ich noch nie gemacht«, jammerte Rogard. »Seinerzeit habe ich mich von der Medizin abgewandt, weil ich zum Operieren und Sezieren nicht die Nerven hatte.« Dorian fand in dem kleinen Apothekentornister Katgut und einen Seidenfaden, eine chirurgische Nadel, Deschamps und Kocherrinne. Er ließ Gene Greene zwei Eudokal-Tabletten schlucken. »Wenn Sie die Wunde nicht nähen können, Dr. Rogard, dann werde ich es tun«, sagte der Dämonenkiller. Rogard sah die tiefe Fleischwunde an, die vom Knöchel bis zur Kniekehle verlief, die chirurgischen Utensilien und dann auf seine zitternden Hände. »Tun Sie es!« sagte er leise. »Ideal wird es nicht«, meinte Dorian Hunter. »Die Schlagader ist zwar nicht verletzt, aber viele der Venen und Adern sind zerfetzt. Vielleicht ist später noch einmal eine Operation nötig, doch ich kann im Moment nicht mehr für Gene tun. Oder kann es einer von euch besser?« Alle wichen dem harten Blick des Dämonenkillers aus. Gene Greene wurde ruhiger, als die Eudokal-Tabletten zu wirken begannen. Sacheen hatte die Instrumente sterilisiert, und Dorian begann mit der Arbeit. Er vernähte die Wundränder und strich Sulfonamidpaste zur Desinfektion auf die Wunde. James Rogard verband sie. Der Kreole aus New Orleans wurde auf seine Luftmatratze gelegt
und mit Decken zugedeckt. Die beiden Playboys Bruce Ehrlich und Arturo Pesce, das Halbblutmädchen Sacheen, der Reporter Elliot Farmer, die Wissenschaftler James Rogard und Jean Daponde scharten sich um Dorian Hunter. »Gene kann nicht weitermarschieren«, sagte Bruce Ehrlich. »Wir müssen umkehren.« Dorian Hunter überlegte lange. Alle fuhren zusammen, als ein Trompetenvogel auf einem hohen Baum seine Stimme erhob. Die sieben Indios lagen bei ihrem Feuer unter den Decken und kümmerten sich anscheinend um nichts. Aber sie schliefen nicht. »Wir … gehen … weiter«, sagte Dorian Hunter, und jedes seiner Worte schien Zentnergewicht zu haben. »Das ist kein Spaziergang, das habt ihr vorher gewußt. Ich glaube immer noch, daß Jeff Parker und die anderen Hilfe brauchen und daß wir sie vielleicht retten können. Wenn wir umkehren, sind sie verloren.« »Was ist mit Gene?« fragte Arturo Pesce. »Würdest du auch weiter wollen, wenn dein Bein zerfleischt wäre, Hunter?« Dorian nickte. »Gene kann am Stock humpeln oder sich auf jemanden stützen, und wenn es nicht anders geht, wird er getragen. Wir machen über Funk Meldung. Sobald wir die Stadt El Dorado erreicht haben, soll ein Flugzeug ihn abholen.« Der Dämonenkiller wußte, daß das nicht so einfach sein würde. Aber die anderen akzeptierten seinen Plan. Arturo Pesce sprang auf. »Die Indios! Sie wollen abhauen.« Gerade wollten die Aruaks aus dem Lichtbereich des Feuers verschwinden. Arturo Pesce riß sein M16-Schnellfeuergewehr hoch. Bevor Dorian ihn daran hindern konnte, hatte er es entsichert und einen langen Feuerstoß hinausgejagt. Er traf den schon fast im Unterholz untergetauchten Aruak mit mehreren Projektilen in den Rücken und einen anderen in die Schulter: Beide Indios stürzten. Die anderen blieben erstarrt stehen. Dorian hatte Arturo Pesce erreicht; er schlug den Gewehrlauf hoch und schmetterte den Italiener mit einem Faustschlag zu Boden. »Ich sollte dir den Schädel einschlagen«, sagte er zu dem stöhnenden, benommenen Pesce.
Die Indios – fünf waren es jetzt noch – kehrten langsam an ihr Feuer zurück, von den Weißen mit den Waffen bedroht. Mit stumpfen, ausdruckslosen Gesichtern blieben sie stehen. Dorian Hunter und Jean Daponde untersuchten die beiden, die Arturo Pesce niedergeschossen hatte. Sie waren tot. Der Oberkörper des einen war scheußlich zugerichtet, der andere hatte die Schockwirkung des in seine Schulter einschlagenden Projektils nicht überlebt. Die Expedition stand unter keinem guten Stern. Dorian ließ die Indios ihre beiden toten Kameraden begraben. Was geschehen war, war geschehen; selbst wenn er Arturo Pesce auf der Stelle erschoß, konnte er es nicht mehr ändern. Den Indios war jetzt alles zuzutrauen; sie durften nicht mehr aus den Augen gelassen werden und waren wie Gefangene zu behandeln. Dorian schickte Bruce Ehrlich auf die erste Wache. Elliot Farmer mußte auf die Indios aufpassen. Jean Daponde und James Rogard unterhielten sich empört über Arturo Pesces Tat. Sacheen rauchte eine Zigarette und saß auf ihrer Luftmatratze. Arturo Pesce starrte finster vor sich hin. »Ohne mich wären sie weg gewesen«, sagte er, als Dorian Hunter zu ihm trat. »Wir sollten umkehren. Es hat keinen Zweck mehr.« »Wir gehen weiter. Was du da gemacht hast, wird noch ein Nachspiel haben, Arturo.« »So? Was willst du denn machen? Mich anzeigen und vor Gericht bringen?« Er lachte höhnisch. »Treib es nicht zu weit und überleg dir von nun an verdammt gut, was du tust, Arturo! Sonst wirst du es bitter bereuen.« So wild war Dorians Gesichtsausdruck, daß Arturo Pesce nichts mehr sagte. Dorian wandte sich ab. Er wußte, daß Arturo Pesce hinter ihm grinste, aber was hätte er mit ihm tun sollen? Bei der Expedition war einer auf den anderen angewiesen. Der nach den Schüssen im Dschungel entstandene Lärm war längst verebbt. Eine winzige Zwergbeutelratte huschte über Dorians Stiefel. Zwei bräunliche Tejuechsen glotzten ihn von einem Baumstumpf herunter an. Dorian schluckte seine abendliche Atebrinta-
blette zur Vorbeugung gegen die Malaria und sah noch einmal nach Gene Greene. Greene war wach. Das Eudokal betäubte seine Schmerzen. »Ich will zurück zum Stützpunkt«, sagte er leise, als Dorian sich über ihn beugte. »Das wollen wir alle«, antwortete Dorian. »Verdammter Drecksack«, röchelte Greene. »Du läßt uns alle krepieren, damit du zu deinem verdammten El Dorado kommst.« Er war verwundet. Dorian nahm ihm seine Bemerkung nicht übel. Sorgenvoll legte er sich zum Schlafen nieder. Mitten in der Nacht hörte er zwei Schüsse. Er fuhr hoch, griff nach dem Simonow-Karabiner, und dann kam Bruce Ehrlich auch schon schreiend ins Lager gestürzt. »Was ist los?« schrien alle durcheinander. Nach den Schüssen war der Dschungel in Aufruhr. »Ich habe einen Mann mit Brustharnisch, Eisenhelm und Kniehosen gesehen«, rief Bruce Ehrlich, bleich wie ein Laken. »Er hat mit einer Armbrust auf mich geschossen. Fast hätte er mich in den Kopf getroffen.« »Du spinnst wohl«, sagte der lange Texaner Elliot Farmer. »Hast du Fieber, Bruce?« Der hünenhafte, blonde Ehrlich sah sich wild um, als erwarte er, gleich Angreifer aus dem Dschungel springen zu sehen. »Ich habe ihn gesehen, wie ich euch jetzt sehe. Als ich einen Schuß auf ihn abgab, tauchte er im Unterholz unter. Den zweiten Schuß habe ich als Alarmschuß abgefeuert.« »Jetzt sag nur noch, er hatte auch ein Schwert.« »Genau. Ein Schwert hatte er auch.« Dorian hatte eine bestimmte Vermutung, aber er behielt sie für sich. »Wir gehen nachsehen. Elliot, du kommst mit! Bruce, du zeigst uns die Stelle!« »Das wollen wir auch sehen«, riefen Jean Daponde und James Rogard. Auch Arturo Pesce und Sacheen wollten mitgehen, aber jemand mußte zurückbleiben, um auf die Indios aufzupassen. Dorian ent-
schied, daß Sacheen im Camp bleiben und zusammen mit dem verwundeten Gene Greene die Indios bewachen sollte. »Brustharnisch und Kniehosen«, sagte Arturo Pesce, als sie mit schußbereiten Waffen durch den stockdunklen Dschungel tappten, nur manchmal mit den Stablampen leuchtend. »So ein Blödsinn! Waren es kurze Jeans oder Lederhosen, Bruce?« »Es waren pludrige, bis zu den Knien reichende, unten mit Riemchen zusammengehaltene Hosen, wie sie in früheren Jahrhunderten Mode waren, du Ochse«, sagte Bruce Ehrlich wütend. »In Spanien hat man so etwas zum Beispiel im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert getragen. Ich sage dir, ich habe den Kerl genau im Lichtkegel der Stablampe gehabt.« Pesce lachte skeptisch. Sie erreichten die Stelle, an der Bruce Ehrlich den Mann gesehen haben wollte, leuchteten umher, suchten. »Hier ist nichts«, sagte Pesce. Und James Rogard meinte: »Sie haben wohl geträumt, Mr. Ehrlich.« Dorian hatte genauer hingesehen als die anderen. »Hier sind Zweige umgeknickt. Da – eine Fußspur. Stand der Mann mit dem Brustharnisch an dieser Stelle?« »Ja«, antwortete Bruce Ehrlich. »Stell dich mal da hin, wo du gestanden hast.« Ehrlich gehorchte. Dorian fragte, wo der Armbrustbolzen an seinem Kopf vorbeigeflogen sei. Er leuchtete in die von Bruce Ehrlich angegebene Richtung. Im Stamm eines mächtigen Urwaldriesen steckte etwas. Dorian zog daran, konnte den Gegenstand aber erst mit seinem Messer aus dem Holz lösen. Er drehte ihn in der Hand. »Was ist das?« fragte Jean Daponde. »Ein eiserner Armbrustbolzen.« Dorian erinnerte sich, daß von den Spaniern, die Ende 1536 mit Pascual Martinez nach dem sagenhaften El Dorado aufgebrochen waren, mehrere eine Armbrust mit sich geführt hatten. Im Gewirr des Dschungels ließ sich die handliche Armbrust besser einsetzen als die schwere, umständlich zu handhabende und zu ladende Arkebuse.
»Wir gehen zum Lager zurück«, sagte Dorian Hunter. Da hörten sie vom Lager her einen Revolverschuß. Es war ein schweres Kaliber, Gene Greenes .357er Magnum. Zwei Pistolenschüsse krachten gleich darauf, und ein paar kehlige Schreie waren zu hören. Die Männer stürmten durch die Dunkelheit zum Lager. Dorian stürzte einmal, raffte sich aber gleich wieder auf. Als sie bei den glimmenden Feuern ankamen, waren die Indios und Sacheen verschwunden. Gene Greene lag mit gespaltenem Schädel auf seinen blutbefleckten Decken. Ein Machetenhieb hatte seinem Leben ein Ende gesetzt. Die fünf Indios waren geflohen. »Sacheen!« rief Dorian. »Sacheen!« »Hier«, antwortete eine Stimme ganz in der Nähe. Die Männer leuchteten mit den Stablampen. Sacheen kam mit blutüberströmtem Gesicht aus dem Dschungel getaumelt. In der Hand hielt sie ihre .39er Automatic. Dorian erschrak, als er sie sah. »Bist du verletzt?« »Nicht der Rede wert. Oiziri hat mir eine Echse ins Gesicht geworfen, die er unbemerkt gefangen hatte. Ich erschrak und ließ das Gewehr fallen. Gene schoß und verletzte einen der Indios, ein anderer schlug mir einen Prügel über den Kopf. Oiziri spaltete Gene den Schädel mit der Machete. Ich konnte die Pistole ziehen und gab zwei Schüsse ab. Aber ich traf nichts. Mir lief Blut über die Augen, und ich war benommen von dem Schlag. Immerhin waren die Indios erschrocken, und Oiziri wagte nicht, mich mit der Machete anzugreifen, die er von den Ausrüstungsgegenständen am Feuer genommen hatte. Ich floh in den Dschungel und versteckte mich.« »Wir hätten sie beim ersten Fluchtversuch allesamt abknallen sollen«, rief Arturo Pesce. »An der ganzen Geschichte sind Sie schuld, Sie Idiot!« herrschte James Rogard ihn an. »Wenn Sie nicht zwei von den Indios über den Haufen geschossen hätten, wäre Gene Greene nicht von ihnen umgebracht worden.« Er war kurz davor, auf Pesce loszugehen. Dorian sah sich die Gepäckstücke und Ausrüstungsgegenstände an. »Der Tornister mit der Apotheke und das Funkgerät fehlen. Au-
ßerdem der Propangaskocher, Sacheens und Gene Greenes Gewehre und Genes Revolver.« »Die Indios werden uns aus der Dunkelheit abknallen«, meinte Jean Daponde. »Wir müssen die Glutstellen austreten und in Deckung gehen.« Dorian Hunter schüttelte den Kopf. »Deswegen mache ich mir keine Sorgen. Von den Trägern kann allenfalls Oiziri mit einer Schußwaffe umgehen – und der auch nicht richtig. Viel schlimmer ist, daß sie das Funkgerät und die Apotheke in das nächste Sumpfloch werfen werden.« Am Abend hatten sie die letzte Meldung an den Stützpunkt am Rio Negro durchgegeben. »Wir müssen sehen, daß wir sie einholen und ihnen die Sachen wieder abnehmen«, meinte Bruce Ehrlich. »Bei Nacht im Dschungel?« fragte Dorian. »Du machst Witze.« In diesem Augenblick hörte man ein gutes Stück vom Lager entfernt Schreie. Zwei Schüsse krachten, die sich beinahe wie Kanonendonner anhörten. Ein Todesschrei gellte durch die Nacht. Die Tiere des Dschungels wurden unruhig. Affen zeterten, aus dem Schlaf geschreckte Vögel schrien. Das Kampfgetümmel dauerte an. Zwei, drei Revolverschüsse krachten. Ein undeutlicher Ruf, dessen Wortlaut nicht zu verstellen war, hallte herüber. Wieder brüllte ein Mensch. »Die Indios sind auf Feinde gestoßen«, sagte Dorian Hunter. »Los! Wir müssen hin.« Die sechs Männer und das Halbblutmädchen hasteten durch den Dschungel. Bis sie den Ort des Kampfes erreicht hatten, war alles vorbei. Nur die Dschungeltiere lärmten noch. Zwischen den Bäumen lagen drei tote Indios. Die abgehauene Hand des einen umklammerte Gene Greenes Revolver. Von den Gegnern der Indios war entweder keiner ums Leben gekommen oder die Kameraden hatten die Leichname mitgenommen. Sacheens französisches Cetmé-Gewehr lag am Boden. Der Kolben war gegen einen Baum geschmettert worden und abgebrochen. Zwei Dutzend Schritte entfernt raschelte es im Gebüsch. Dorian
Hunter und Jean Daponde leuchteten mit der Stablampe hin. Sie sahen drei Gestalten weglaufen. Im Lichtkegel funkelten Brustharnische und Eisenhelme. Einer der Männer hielt eine Arkebuse in der Hand. Die drei sprangen über einen gestürzten Baumstamm und waren im nächsten Moment im Unterholz verschwunden. Arturo Pesce wollte hinterher, aber da krachte ein Schuß wie Kanonendonner. Ein langer Feuerblitz zuckte hinter einem Baum hervor, und die schwere Bleikugel streifte Pesces Tropenhelm. Er stürzte zu Boden. Die anderen Männer knipsten die Lampen aus und gingen in Deckung. Aber nichts rührte sich mehr. »Das waren spanische Konquistadores aus dem sechzehnten Jahrhundert«, sagte Jean Daponde. »Einer hat mit der Arkebuse geschossen. Was wir vorhin hörten, waren ebenfalls Arkebusenschüsse.« »Verdammt noch mal!« schimpfte Elliot Farmer. »Sind wir denn alle übergeschnappt? Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert, zum Teufel, nicht im sechzehnten. Diese Spanier haben seit vierhundert Jahren tot zu sein.« »Dafür ist Fernando Parras seit vierhundert Jahren tot, der frühestens vor sieben Wochen gestorben sein kann.« Bruce Ehrlich war sichtlich erschüttert. Er verstand die Welt nicht mehr. Hilfesuchend wandte er sich an Dorian Hunter. »Was nun?« »Ich will versuchen, mich mit den Spaniern zu verständigen.« Dorian legte die Hände wie einen Schalltrichter vor den Mund und rief in altertümlichem Spanisch, wie es in der ersten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts gesprochen worden war, in den Dschungel: »Wir sind Freunde. Habt keine Angst! Wir haben keine feindlichen Absichten. Wir sind eure Verbündeten.« Er fügte hinzu: »Ist Pascual Martinez bei euch? Oder kennt ihr ihn? Hier ist sein Freund Jorge Rodolfo Speyer.« Nur die Tierstimmen des nächtlichen Dschungels antworteten Dorian. »Hier ist Rodolfo Speyer«, rief er noch einmal. »So antwortet mir doch!« Es kam keine Antwort.
»Ihr bleibt hier!« sagte Dorian zu den anderen. »Ich will sehen, ob ich diese Spanier nicht einholen kann. Falls ich nicht zurückkommen sollte, versucht, euch zum Stützpunkt am Rio Negro durchzuschlagen.« »Was geht hier eigentlich vor?« fragte Jean Daponde. »Woher können Sie das altertümliche Spanisch, das Sie da eben gesprochen haben, Mr. Hunter? Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Was für ein Spiel wird hier gespielt?« Dorian Hunter antwortete nicht und verschwand in der Nacht. Arturo Pesce saß stöhnend auf dem Boden. Die anderen starrten mit schußbereiten Waffen in die Finsternis. Dorian pirschte sich durch den nächtlichen Dschungel. Von den Spaniern sah er nichts mehr. Sie waren im Gewirr der grünen Hölle untergetaucht. Einmal hörte Dorian ein Rascheln hinter einem Lianenvorhang. Er schlug die Lianen mit dem Lauf des Schnellfeuerkarabiners zur Seite und leuchtete mit der Stablampe. Ein großer Ameisenbär schaute geblendet ins Licht der Lampe. Als Dorian weiterging, spürte er plötzlich einen Schlag gegen den rechten Stiefelschaft. Als er die Lampe aufleuchten ließ, sah er eine ihm unbekannte zwei Meter lange Schlangenart. Dorian wußte nicht, ob sie giftig war. Er schlug ihr mit der Machete, die er mitgenommen hatte, den Kopf ab. Danach entschied er, daß es zu gefährlich war, im nächtlichen Dschungel umherzutappen. Auf dem Rückweg geriet er fast in ein Sumpfloch. Als er sich den anderen näherte, rief er sie an. Vom Funkgerät, der Expeditionsapotheke und anderen von den Indios entwendeten Sachen hatten sie am Kampfplatz und in der Umgebung nichts gefunden. Es war nach Mitternacht. Die sechs Männer und das Halbblutmädchen Sacheen kehrten zum Camp zurück und versuchten, noch ein paar Stunden Schlaf zu finden. Die ungelösten Rätsel machten es ihnen schwer. *
Die Expedition marschierte am nächsten Morgen ohne Träger weiter, nachdem Gene Greene und die toten Indios bestattet worden waren. Die Männer suchten noch einmal im Dschungel, aber sie fanden das Funkgerät und den Tornister mit den Medikamenten, dem Verbandszeug und den chirurgischen Instrumenten nicht. Entweder hatten die Indios alles gleich nach der Flucht aus dem Camp in eins der nahen Sumpflöcher im Dschungel geworfen, oder die geheimnisvollen Spanier hatten die Sachen mitgenommen. Arturo Pesce und Bruce Ehrlich drängten darauf, umzukehren. Aber Dorian Hunter, Sacheen, die beiden Wissenschaftler und Elliot Farmer wollten nichts davon hören. Murrend fügten sich Pesce und Ehrlich. Allein konnten sie schlecht zurück. Als Arturo Pesce bei der ersten Rast das Pflaster von der linken Wange nahm, hatte sich die Wunde, die zuerst gut verheilt war, entzündet. Pesce stieß einen gellenden Schrei aus, als er in seinem Taschenspiegel ein paar kleine Maden in der Wunde herumkriechen sah. Sie nährten sich von der Lymphflüssigkeit und den Absonderungen des entzündeten Gewebes. »Mach mir die Dinger raus, Bruce!« schrie Arturo Pesce. »Das – das ist ja scheußlich!« Dorian Hunter sah sich die Wunde an. »Daran stirbst du nicht, Arturo. Die Maden sind harmlos.« Bruce Ehrlich stocherte mit dem Messer die kleinen Fleischmaden aus Arturo Pesces Wunde. Der Sulfonamidpuder und die anderen Desinfektionsmittel waren mit der Expeditionsapotheke verlorengegangen. Dorian träufelte den Saft der Schößlinge einer bestimmten Lianenart auf den Peitschenstriemen, um die Entzündung zu hemmen. Dorian, Sacheen und Jean Daponde hatten noch angebrochene Röhrchen mit Atebrintabletten, und Elliot Farmer besaß ein paar Tabletten, mit denen man Wasser bakterienfrei machen konnte. Sonst war an Arzneimitteln nichts mehr vorhanden, von Augentropfen für James Rogard abgesehen. Rogard hatte eine leichte Netzhautentzündung, die aber schon im Abklingen war. Auch die Munition war
knapp geworden. Immerhin war noch genügend Tapirfleisch vom Vortag da. Es war ihre Mittagsmahlzeit. »Einen Vorteil hat die Sache«, scherzte Elliot Farmer grimmig. »Unser Gepäck ist leichter geworden.« Am Nachmittag kam die kleine Gruppe über eine in den Dschungel eingesprengte spärlich bewachsene kleine Savanne mit Sandboden. Hier brannte die Sonne heiß. Rund um die anderthalb Quadratkilometer große Stelle wucherte üppig der Urwald. Als sie die Savanne überquert hatten, sah Dorian einen Pygmäen am Dschungelrand stehen. Die Männer und das Mädchen Sacheen entsicherten die Waffen, aber der Pygmäe zeigte keine Anzeichen von Feindseligkeit. Auf sein langes Blasrohr gestützt stand er da und grinste den Männern und dem Mädchen mit seinen spitzgefeilten Zähnen entgegen. Als Jean Daponde ihn begrüßte, fing er gleich zu schnattern an. »Er sagt, daß sie die Spuren eines feindlichen Indianer-Stammes gefunden hätten und sich nun zum Kampf gegen diesen vorbereiten«, erklärte Daponde den anderen. »Deshalb sind sie so plötzlich verschwunden. Wir sollen ihm folgen und ihnen helfen. Dafür wollen sie uns dann auch bis in die Stadt El Dorado begleiten und uns nicht nur in die Nähe bringen, wie es zuerst abgemacht war.« »Die Kerle führen eine Teufelei im Schilde«, knurrte Arturo Pesce. »Ich traue diesen Giftzwergen nicht.« Auch Dorian Hunter war mißtrauisch. Vielleicht wollte der Pygmäe sie in einen Hinterhalt locken. Andererseits hörte sich die Geschichte recht logisch an; und nachdem die Träger verschwunden waren, konnte es nur gut sein, wenn die Pygmäen die Expedition unterstützten. »Wir gehen mit ihm«, entschied Dorian. »Aber haltet die Waffen schußbereit und die Augen offen! Falls er uns in einen Hinterhalt führen will, werden er und seine Freunde keine Freude daran haben.« Elliot Farmer und Sacheen waren auf Dorians Seite, die Wissenschaftler vertrauten dem Dämonenkiller und schlossen sich seiner
Meinung an. Bruce Ehrlich und Arturo Pesce beugten sich der Mehrheit, wenn auch unter Murren und nach vielen Einwänden. Der Pygmäe führte die Expedition durch den Dschungel. Er lief voran, geschmeidig wie eine Wildkatze. Dorian und die anderen hatten Mühe, ihm zu folgen. Der Pygmäe war ein Geschöpf dieses Urwaldes mit seinen tropischen, im Halbdunkel leuchtenden Blüten und den Tierschreien, dem Summen der Insekten und den unzähligen Vogelstimmen. Einmal blieb der Pygmäe stehen. Er hob die kleine Hand und bedeutete den anderen, anzuhalten. Dorian hielt schon seinen sowjetischen Schnellfeuerkarabiner schußbereit, denn er befürchtete eine Gefahr. Der Pygmäe hob sein Blasrohr, steckte einen kleinen Pfeil hinein und zielte hinauf in die Baumwipfel. Er holte tief Luft und blies dann scharf hinein. Dreißig Meter hoch flog der Blasrohrpfeil, zwischen dem grünen Blatt- und Rankengewirr hindurch. Dann setzte der Pygmäe das Blasrohr wieder ab. Dorian wollte sich schon an Jean Daponde wenden und ihm sagen, er sollte fragen, was das soll, da sah er eine Bewegung oben. Ein Nasenbär schwang an seinem Greifschwanz wie ein großes Pendel hin und her. Dann lähmte das Curare des Giftpfeils auch die Atemmuskulatur des Nasenbärs. Im Tod ließ der Greifschwanz los, und das Tier fiel dem Pygmäen fast vor die Füße. Der Mann gestikulierte, schnatterte, rieb sich den Magen und deutete auf Bruce Ehrlich. »Was soll denn das?« fragte der blonde Wikinger mißtrauisch. »Wenn er was zu essen haben will, soll er sich an den Nasenbären halten.« »Sie sollen seine Beute tragen«, übersetzte Jean Daponde. »Er meint, Sie seien der Größte und Stärkste.« »Ja, dann«, sagte Bruce Ehrlich geschmeichelt und lud sich zu seinem Gepäck und dem Gewehr noch den Nasenbär auf. Der Pygmäe lief weiter, die anderen keuchten hinterdrein. Ohne daß sie vorher etwas gesehen hätten, tauchten auf einmal drei Pygmäen auf. Sie palaverten mit dem Führer. Zwei der drei Pygmäen
trugen Penisfutterale; sie hatten also etwas zu sagen. Einer von den Futteralträgern wandte sich an Jean Daponde. »Ihre Feinde sind auf der Lichtung vor uns«, teilte der den anderen mit. »Es scheint, daß dort etwas ganz Besonderes vorgeht.« Er lauschte den Erklärungen des Pygmäen. Sein Gesicht verriet seine Spannung. »Die Indios haben einen Gefangenen bei sich«, sagte er. »Einen weißen Mann. Sie wollen ihn töten. Er soll den Ameisentod sterben.« »Ist es ein Spanier?« fragte Dorian Hunter. »Einer von den Männern mit Brustharnisch und Eisenhelm?« Daponde stellte die Frage, der Pygmäe schüttelte heftig den Kopf. »Dann muß es einer von Jeff Parkers oder Lipwitz' Expedition sein«, sagte Dorian. »Vielleicht ist es sogar Lipwitz oder Parker selbst. Wir müssen sofort hin.« Wieder sprach Daponde mit dem Pygmäen. »Er sagt, es sind dreißig Feinde. Sie wollen uns zu den Plätzen führen, von denen wir am besten schießen und angreifen können. Die Feinde sind Arauas. Das ist ein besonders grausamer und gefährlicher Stamm. Wir sollen uns beeilen, wenn wir den weißen Mann noch retten wollen.« »Ich sehe mir diese Lichtung an, und wenn ich einen Signalschuß abgebe, greift ihr an«, sagte Dorian entschieden. Die Pygmäen mußten sich wohl oder übel den Plänen des Weißen anschließen. Dorian, die fünf Männer und Sacheen wurden an die Lichtung herangeführt. Nur einmal sahen sie einen Pygmäen, von den anderen erblickten sie nichts, obwohl sie ganz in der Nähe sein mußten. Der Pygmäe, der die ganze Zeit mit Daponde gesprochen hatte und eine Art Häuptling zu sein schien, deutete auf einen mittleren Baum, an dem eine Würgfeige emporwucherte. An einigen Ästen des Baumes waren die Blätter bereits dürr; die Würgfeige entzog ihm die Nährstoffe. »Sie sollen auf den Baum klettern, Mr. Hunter«, sagte Daponde. »Von oben aus können Sie die Lichtung am besten überblicken.«
Dorian kratzte sich am Kopf. »Ich heiße Hunter und nicht Tarzan. Geht es nicht anders? Der Baum ist sicher dreißig Meter hoch.« Der Pygmäe gestikulierte erregt. In diesem Augenblick hörte Dorian eine Stimme von der Lichtung. Man sah es hell zwischen den Bäumen hindurchschimmern. Dorian konnte den Wortlaut nicht verstehen, aber es waren einige kräftige spanische Verwünschungen darunter. Der Pygmäe schwatzte weiter. »Wenn das Zeichen gegeben wird, sollt ihr die Lichtung angreifen«, erklärte Daponde. »Aus dieser Richtung.« »Na gut.« Dorian legte den Tornister ab und ließ auch den Schnellfeuerkarabiner zurück, der ihm beim Klettern hinderlich war. Zwei Pygmäen verschwanden lautlos im Unterholz, zwei andere stiegen affenartig an der Würgfeige den Baum hoch. Dorian folgte ihnen schwerfälliger. Der Dämonenkiller kletterte höher hinauf. Schon lag der Urwaldboden fünfzehn, zwanzig Meter unter ihm. Ein Baumleguan saß auf einem dünnen Ast und glotzte Dorian an. Wahrscheinlich fragte er sich, was für ein Vieh da herumstieg. Die Pygmäen liefen gewandt wie Katzen über einen waagrechten Ast zu einem anderen, höheren Baum hinüber. Dorian wurde weich in den Knien. Er biß die Zähne zusammen und hoffte, daß er einen Ast greifen konnte, wenn er abstürzte; er wagte den Übergang ebenfalls. Es ging recht gut. Auf dem anderen Baum konnte er noch höher hinauf. Fünfunddreißig Meter über dem Boden wuchs ein Überbaum, der auf einem breiten Ast wurzelte, noch einmal zwölf Meter in die Höhe. Die Dschungelvegetation erstaunte Dorian immer wieder. Die Pygmäen sprangen zwei Meter durch die Luft auf einen dicken Ast eines Urwaldriesen. Dorian wünschte sich, am Boden geblieben zu sein. Zum Glück war er schwindelfrei. Er ging zum Stamm des Urwaldriesen, noch einige Meter hoch hinauf und dann in fünfzig Meter Höhe einen mächtigen Ast entlang bis zu einer Astgabelung. Ein Dreizehenfaultier mit einem Jungen hing von einem darüber
befindlichen Ast herab. Stumpf glotzte es die Eindringlinge an. Von der Astgabel aus hatte Dorian einen guten Überblick über die Lichtung. Sie hatte einen Durchmesser von etwa dreißig Metern. Dorians Sitz schwankte leicht. Um die Lichtung herum saßen kräftige, bis auf einen Flechtgürtel nackte Indianer mit weißer Bemalung und auf die Schultern herabhängendem, schwarzem Haar. Sie waren normal groß und mit Blasrohren, Pfeil und Bogen bewaffnet und mitten auf der Lichtung sah Dorian einen Termitenhaufen. Er hatte die Größe eines kleinen Einfamilienhauses, und unter der Erde mußte er noch riesiger sein. Dorian nahm sein Fernglas. Er erkannte, daß die Termiten die Größe einer mittleren Männerhand hatten. Das also waren die Riesenameisen, von denen James Rogard geschwärmt hatte. Während Dorian noch auf die Lichtung hinabsah, ertönte ein Ruf der Indianer. Vier kräftige Indios schleppten einen geflochtenen Bastkäfig, in dem ein gefesselter Mann sich wie toll gegen die Verstrebungen warf, zum Termitenhaufen. Dorian konnte sein Gesicht nicht erkennen. Die Indios warfen den Bastkäfig auf den Termitenhaufen und wollten Fersengeld geben. Aber schon hatte Dorian den Colt Government in der Hand und schoß. Natürlich traf er nicht auf diese Entfernung, aber die Schüsse gaben das vereinbarte Signal. Die Expedition drang vor, und die Pygmäen griffen ihre Feinde an. Die beiden Indios flohen von der Lichtung. Die Termiten fielen über den Käfig aus Bast und Bambus her und drangen durch die breiten Ritzen. Qualvolle Schreie gellten aus dem Käfig, als die Riesentermiten den Insassen bei lebendigem Leib aufzufressen begannen. Dorian hatte nur einen Gedanken. So schnell wie möglich vom Baum herunterzukommen, um den Gefangenen zu befreien, bevor die Termiten ihm den Rest gegeben hatten. Er kletterte die Äste herunter und hätte sich ein paarmal fast den Hals gebrochen. Die Pygmäen glitten gewandt an ihm vorbei, hangelten sich an Lianen hinunter und schwangen sich auf einen Nachbarbaum hinüber. Wilde Schreie gellten, Schüsse krachten, Feuerstö-
ße ratterten. Für Dorian wurde die Sache zum Problem, als der Baumstamm immer dicker wurde. Der unterste Ast befand sich zwanzig Meter über dem Boden. Er sah eine dicke Liane, die einmal um den untersten Ast geschlungen war und sich dann weiter emporwand. Sie wurde nach unten immer dicker, bis zu einem halben Meter, und war verholzt und grotesk gewunden. Der Dämonenkiller zog prüfend an der Liane und vertraute sich ihr an. Fünf Meter über dem Boden ließ er die Beine baumeln und sich fällen. Eine Schlange zischte ihn an, als er mit allen vieren auf dem Boden landete; aber es war eine harmlose Art. Dorian stürmte zur Lichtung. Ein Arauaindianer rannte auf ihn los. Er schwang ein Steinbeil in der Rechten. Dorian gab einen Schuß auf ihn ab, und der Araua stürzte tot zu Boden. Die Expeditionsteilnehmer feuerten wie wild. Die Giftpfeile der Pygmäen zischten durch die Luft, und die völlig überraschten Arauas hatten keine Chance. Schon lag die Hälfte von ihnen tot oder verwundet auf dem Boden, die anderen suchten ihr Heil in der Flucht. Dorian sah zuerst Arturo Pesce und dann die anderen im Unterholz. Er zog Pesce die Machete aus der Scheide. Ein rascher Blick auf die Lichtung; kein Arauaindio war mehr zu sehen. Dorian mußte sich beeilen. Er rannte auf den riesigen Termitenhügel los. Aus dem Käfig kam nur noch Stöhnen. Es war keine Sekunde zu verlieren. Die weißlichen Termiten hatten den Käfig überflutet. Dorian hieb mit der Machete auf die Bambusstäbe ein. Die Termiten fielen auch über ihn her und krochen an seinen Hosenbeinen hoch. Er streifte sie mit der Machete ab, schlug wieder zu, teilte ein paar mittendurch, als er den Käfig zertrümmerte. Endlich konnte er an den Mann heran, auf dem die Termiten herumwimmelten. Er packte ihn an den Schultern und zerrte ihn aus dem Käfig. Die Termiten bissen ihn in die Hände. Es brannte wie Feuer und stank nach Ameisengift. Dorians Augen tränten. Er mußte husten und schüttelte die Termiten von seinen Händen, Ärmeln und Hosenbeinen ab. Dann schlug er mit bloßen Händen und der flachen Klinge auf den Mann ein, der sich nur noch schwach beweg-
te, warf sich den Gefesselten über eine Schulter und rannte los. Er spürte einen Termitenbiß im Genick und konnte nachfühlen, was der Gefesselte durchgemacht hatte. Die Schüsse waren inzwischen verhallt. Die fliehenden Arauas wurden von den Pygmäen verfolgt. Dorian trug den gefesselten Mann ein Stück in den Dschungel hinein. Es war nicht Jeff Parker, das hatte er gesehen; er wußte noch nicht, wer es war. Der Dämonenkiller warf seine Last ab, wälzte sich auf dem Boden und schlug mit den Händen auf die Riesentermiten ein, die auf ihm herumwimmelten. Ihre Panzer waren hart. Es bedurfte schon eines kräftigen Faust- oder Handkantenschlags, um sie zu erledigen. Die Biester bissen nicht nur, sie versprühten auch Ameisengift aus den Drüsen am Hinterleib. Dorians Augen begannen zuzuschwellen. Er bekam kaum noch Luft. James Rogard, Sacheen und Elliot Farmer stürzten herbei und halfen ihm. Dorian würgte. Sein Schädel dröhnte. »Hier haben Sie Ihre begehrten Riesenameisen, Dr. Rogard«, ächzte er. »Einen ganzen Riesenhügel. Aber seien Sie vorsichtig, daß die Biester nicht Sie studieren und in alle Einzelteile zerlegen!« * Die Pygmäen hatten siebzehn Feinde getötet. Kein Verwundeter war von ihnen am Leben gelassen worden. Nun führten sie wilde Siegestänze auf. Dorian bedauerte die große Anzahl der Opfer, denn er hatte keine Feindschaft mit den Arauas, aber so war es nun einmal im Dschungel. Hier galt das Gesetz des Stärkeren. Verhandlungen wären nicht möglich gewesen. Einmal gewarnt, hätten die Arauas den Pygmäen und der Expedition keine Chance gegeben, sondern viele Gegner umgebracht. So waren nur drei Pygmäen ums Leben gekommen. Bruce Ehrlich hatte ein vergifteter Pfeil eine Fleischwunde beigebracht, und Elliot Farmer hatte im Handgemenge ein Arauaindianer mit dem Obsidianmesser durch die Hand gestochen. Jean Daponde behandelte Bruce Ehrlichs Curarevergiftung mit Zucker und Salz; beides diente auch als Gegenmittel gegen das
Ameisengift der Riesentermiten. Bruce Ehrlich saß an einem Baum. Der große, kräftige Mann konnte keinen Finger rühren. Das Curare lähmte seine Muskeln; er atmete röchelnd. Der Mann, den Dorian Hunter aus dem Termitenkäfig befreit hatte, war Roman Lipwitz. Er war ohne Bewußtsein. Sein Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit angeschwollen. James Rogard und Dorian Hunter hatten ihn nackt ausgezogen. Dorians Termitenbisse brannten wie Feuer. Seine Augen waren so zugeschwollen, daß er nur durch schmale Schlitze sehen konnte; trotzdem bemühte er sich um Lipwitz. Er und Rogard wuschen die Termitenbisse des kleinen, stämmigen Mannes mit Salz- und Zuckerlösung aus. Salmiakgeist oder Kaliumpermanganatumschläge wären besser gewesen, aber beides war mit der Expeditionsapotheke verlorengegangen. Um seine Termitenbisse hatte der Dämonenkiller sich bereits gekümmert. Eine Gänsehaut überzog seinen ganzen Körper, und trotzdem war ihm glühendheiß. Er biß die Zähne zusammen und tat, was zu tun war. Nach zwei Stunden begann es Lipwitz besserzugehen. Er hatte eine Bärennatur; sonst hätte das Ameisengift ihn erledigt. Sein ganzer Körper war mit Blasen bedeckt, die Termiten hatten ihm sogar tiefe, blutende Wunden beigebracht. Aber das Blut schwemmte das Ameisengift aus dem Körper. Am Abend stand fest, daß weder Roman Lipwitz noch Bruce Ehrlich sterben würden. Als seine Hilfe bei den Verletzten nicht mehr gebraucht wurde, war James Rogard, der Biologe, nicht mehr zu halten. Er eilte zu seinen Riesentermiten. Mit seiner Polaroidkamera machte er mehrere Blitzlichtfotos von dem Termitenbau. Die halbe Nacht verbrachte er mit der Stablampe vor dem Hügel. Er fing auch ein paar Termitenexemplare, sezierte gleich welche am Lagerfeuer und machte sich fleißig Notizen. Am Morgen hatte er kaum geschlafen. Die Begeisterung glänzte in seinen Augen. Er ging zu Dorian Hunter. Dessen Schwellungen und Blasen von den Termitenbissen waren etwas zurückgegangen, brannten und juckten aber immer noch.
»Ich habe diese Termitengattung analysiert«, sagte Rogard stolz. »Es handelt sich um eine Abart der Reticulitermes lucifugus, die man auch in Nordafrika findet. Hätten Sie das für möglich gehalten, Mr. Hunter?« Dorian kratzte sich an einer Bißstelle, die besonders juckte. »Mir ist es gleich, wie diese Biester heißen«, sagte er grimmig. »Wenn ich könnte, würde ich den ganzen Riesenbau mit allen Reticuli-Dingsda niederbrennen.« »Ich habe die Riesenart auch gleich benannt«, sagte Rogard schwärmerisch. »Da es sehr große, kriegerische Tiere sind und Sie uns hergeführt haben, Mr. Hunter, habe ich ihnen den Namen Monster Reticulitermes bellicosus Hunter gegeben. Oder würde Ihnen Monster Reticulitermes bellicosus Dorian mehr zusagen?« Dorian rieb sich die verschwollenen und blutunterlaufenen Augen. Er sah den Biologen mit dem Albert-Schweitzer-Bart an, als sei dieser selber eine Riesentermite. »Dr. Rogard«, sagte er laut, »sollten Sie diese Biester, die mich fast aufgefressen haben, mit meinem Vor- oder Nachnamen in Verbindung bringen, so werde ich Ihnen den Bart ausreißen und den Termiten zum Fraß vorwerfen. Glauben Sie nur nicht, daß das eine leere Drohung ist. So, und jetzt wissen Sie, was ich von Ihren Namensvorschlägen halte.« Dorian wandte sich ab und ging zu Roman Lipwitz, der zum ersten Mal seit seiner Rettung bei Bewußtsein war. Er mußte grinsen und wollte es dem Biologen nicht zeigen. »Roher Mensch!« murmelte Rogard. »Nun ja, Monster Reticulitermes bellicosus Rogardis klingt eigentlich auch nicht schlecht.« Lipwitz sah Dorian und die anderen an, als könnte er es nicht fassen, noch am Leben zu sein. »Wer … bist denn du?« krächzte er und schaute zu Dorian auf. »Dorian Hunter, ein guter Freund von Jeff Parker. Ich bin erst vierzehn Tage nach eurem Aufbruch zum Stützpunkt gekommen.« »Dorian Hunter. Jeff Parker hat – von dir erzählt.« Er erholte sich nun schnell. Sich viel bewegen oder aufstehen konnte er noch nicht, aber zu sprechen vermochte er bald ohne Anstrengung. Er erzählte,
was seinem Suchtrupp zugestoßen war, und schilderte, wie sein Freund Roger Ballard von dem Dämon Atahualpa auf rituelle Weise in ein Netz eingewickelt und mit zusammengenagelten Händen in einen Nebenfluß des Orinoco geworfen wurde. Dorians Theorie über den Weg des untoten Roger Ballard hatte also gestimmt. Lipwitz erzählte, daß er tagelang durch den Dschungel geirrt war, seit er die Stadt El Dorado gesehen hatte. Sein Gewehr hatte er in einem Sumpfloch verloren. Die Arauaindios hatten ihn in einer Netzfalle gefangen. Lipwitz war einen Dschungelpfad entlangmarschiert und in ein geschickt auf dem Boden verborgenes Flechtnetz hineingelaufen. Er hatte sich mit dem Kopf nach unten hängend und in ein Netz eingewickelt an einem Baumast baumelnd wiedergefunden. Vom Verbleib Jeff Parkers und seiner Expedition wußte er nichts. Diesen Tag mußte die Expedition an Ort und Stelle bleiben, denn Bruce Ehrlich und Roman Lipwitz waren noch zu schwach, um weiterzumarschieren. Von den Arauaindios war nichts zu befürchten. Die Pygmäen sicherten die Umgebung ab. Dorian schien es, als hätten sich die Pygmäen vermehrt. Man konnte nie genau sagen, wie viele in der Nähe waren. Sie zeigten sich nie alle und tauchten überall auf; sie waren neugierig und unbefangen wie Kinder und von einer primitiven Grausamkeit, wenn man sie zu Feinden hatte. Am Abend und in der Nacht hörten sie die Buschtrommeln der Pygmäen. Sie sahen Feuerschein zwischen den Bäumen, tanzende Gestalten, hörten schrille Schreie und rhythmische Gesänge. Dorian verbot den anderen, die Feier der Pygmäen zu stören oder auch nur zu beobachten. Er wollte die Pygmäen nicht erbosen. Außerdem hatte er auch noch einen Hintergedanken bei seinem Verbot; er fürchtete nämlich, daß die Expeditionsmitglieder Dinge zu sehen bekommen könnten, die es ihnen in Zukunft unmöglich machten, weiter die Freunde und Verbündeten der Pygmäen zu bleiben. Umsonst hatten bestimmt nicht manche von ihnen die Zähne nach Kannibalenart zugefeilt. Am nächsten Morgen ging es nach einem Frühstück aus gebratenem Affenfleisch weiter, der geheimnisvollen Stadt El Dorado ent-
gegen, die nach Roman Lipwitz' Worten aus dem Nichts im Dschungel aufgetaucht war. Der tiefe Peitschenstriemen auf Pesces Wange war jetzt verschorft; er würde eine Narbe zurückbehalten, was ihn nicht wenig ärgerte; im Moment ließ er die Bartstoppeln wuchern. Bruce Ehrlich mußte schon nach zwei Stunden Marsch gestützt werden. Ihm saß das Curaregift noch in den Gliedern. Der zähe Lipwitz marschierte drauflos. Sein verstauchter Fuß war inzwischen wieder in Ordnung. James Rogard hatte vom Hügel der Riesentermiten in einer Blechschachtel drei lebende Exemplare und in einem Thermosbehälter drei tote mitgenommen. Die Pygmäen führten die Gruppe an. Lipwitz wußte nach seinem Umherirren im Dschungel den Weg nicht mehr, aber er war sicher, die Stelle wiederzuerkennen, an der die Stadt stehen mußte. Als es fast Abend geworden war und sie schon nach einem Lagerplatz Ausschau hielten, hörte Dorian Sacheen hinter sich aufschreien. Er wirbelte herum, die Machete in der Faust, mit der er sich den Weg durch das Unterholz gebahnt hatte. Im Moment war kein Pygmäe bei der Expedition. Auf einem niederen Ast über Sachgien saß ein schwarzer Panther. Seine grünen Augen schillerten im Dämmerlicht. Er fauchte und zeigte die Zähne. »Mein Gewehr, Arturo!« schrie Dorian. Arturo Pesce, der direkt hinter ihm marschierte, stand vor Schreck wie eine Salzsäule da. Der Panther duckte sich zum Sprung. Dorian riß den Colt Government aus der Halfter. Er schoß, als der Panther sprang, und spürte den Rückstoß der schweren Waffe. Sacheen warf sich zur Seite. Der Panther landete auf dem Boden und warf sich fauchend herum. Dorian unterstützte die Schußhand mit der Linken und gab drei weitere Schüsse ab. Der Panther wollte springen. Dorian glaubte schon, die Bestie würde sich auf ihn stürzen. Aber eine seiner Kugeln hatte ihr Rückgrat verletzt. Der hintere Teil des Körpers und die Hinterbeine wurden schlaff. Doch der Panther gab nicht auf, und er hatte es auf Dorian abgesehen. Er zog sich
mit den Vordertatzen über den Boden und brüllte und fauchte dabei furchterregend. Dorian hob die Machete auf, die er hatte fallen lassen, und wehrte mit dem langen Haumesser den Panther ab. Arturo Pesce war ein paar Schritte zurückgewichen. Roman Lipwitz entriß nun dem wie gelähmt dastehenden Jean Daponde das Garand-Selbstladegewehr. Er schoß gleichzeitig mit Bruce Ehrlich und Elliot Farmer. Die drei Kugeln töteten den Panther auf der Stelle. Sacheen war blaß. »Ich dachte schon, er würde mich zerreißen.« Dorian grinste. »Einen guten Geschmack hatte er, das muß man ihm lassen.« Vier Pygmäen kamen aus dem Dschungel. Sie stimmten ein Freudengeheul an, fielen über den Panther her und schnitten die schmackhaften Fleischstücke heraus. An diesem Abend gab es im Lager Pantherbraten. Dorian schmeckte er nicht besonders. Das sehnige Fleisch war viel zu zäh. Die Pygmäen verzehrten es auch mehr aus rituellen Gründen. Sie glaubten, durch den Genuß des Fleisches würden die Kraft und Gewandtheit des schwarzen Panthers auf sie übergehen. James Rogard fütterte gewissenhaft seine Riesentermiten. Er war außer sich vor Entzücken über die drei lebenden Exemplare und hatte ihnen sogar Namen gegeben. Sie hießen Frank, Lukrezia und Messauna. Elliot Farmer fragte Dorian nach den Spaniern, die sie im Dschungel gesehen hatten, nach dem untoten Roger Ballard und nach der geheimnisvollen Inkastadt El Dorado oder Manoa. Der schlaksige Texaner hatte es sich in den Kopf gesetzt, ein berühmter Schriftsteller zu werden. Er machte sich ständig Notizen und wollte die Dschungelexpedition literarisch auswerten. Dorian antwortete ihm ausweichend. »Du wirst bald mehr erfahren, Elliot. Ein Buch schreiben kannst du ja über das alles. Ich frage mich nur, ob man dir auch glauben wird. Vielleicht stehst du hinterher als zweiter Münchhausen oder als Horrorphantast da.« Elliot Farmer, seines Zeichens Reporter und freier Mitarbeiter be-
kannter US-Magazine und Zeitungen, drang weiter in Dorian, aber der sagte nichts mehr. Am Morgen sagten die Pygmäen, daß die Inkastadt im Dschungel nur noch drei Tagesmärsche entfernt sei. * Am Vormittag mußte die Expedition einen weiten Umweg machen, denn Wanderameisen zogen durch den Dschungel. Wie ein Strom ergossen sich Millionen der zwei bis zweieinhalb Zentimeter langen, schwarzen Ameisen durch den Urwald, und vor ihnen her flohen und wimmelten – wie von einem geheimen Nachrichtensystem alarmiert – Myriaden von flüchtenden Insekten: Spinnen aller Arten und Größen, Grillen, Kakerlaken, Raupen und Maden, Skorpione und Tausendfüßler. Auch Schlangen und sogar die großen Säugetiere gingen den Ameisen aus dem Weg. Der Jaguar und der gefleckte Ozelot zogen sich ins Baumrevier zurück, Wildschweine, Tapire und Spießhirsche suchten andere Gegenden auf. Nur die Ameisenbären und einige Eidechsen- und Leguanarten hatten ihre große Zeit. Sie tauchten an den Rändern des Wanderameisenzuges auf und fanden reiche Beute. Die Tiere, die nicht schnell genug flüchten konnten oder zu krank oder verletzt waren, fielen den Ameisen zum Opfer. Die Wanderameisen vermochten auch einen Menschen zu erledigen. Sie überwanden Bäche und kleine Ströme, sogar breitere Flüsse, indem sich Tausende zu festen, schwimmenden Kugeln zusammenrollten und dem anderen Ufer zutrieben, wobei die außen befindlichen Beine zappelnde Schwimmbewegungen machten. Am späten Nachmittag hörten die Expeditionsteilnehmer ein Summen und Brummen. Ein paar Pygmäen tauchten auf und schnatterten warnend. »Mörderbienen«, übersetzte Jean Daponde. »Sie leben in zwei hohlen Bäumen. Wir tun gut daran, diese Gegend so schnell wie möglich zu verlassen, denn wenn sie auf uns aufmerksam werden, kann es sein, daß ein ganzer Schwarm über uns herfällt. Zwanzig bis drei-
ßig Stiche dieser Mörderbienen vermögen einen Menschen zu töten.« James Rogard wollte sich die Mörderbienen nicht entgehen lassen. Dorian Hunter hatte von den Bissen der Riesentermiten noch genug; er verspürte keine Lust, sich auch noch den Stichen der Mörderbienen auszusetzen. Rogard ließ aber nicht locker. Auch Elliot Farmer wollte die Mörderbienen gern sehen. Dorian stimmte schließlich zu, daß die beiden Männer sich in Begleitung eines Pygmäen den Stöcken der Mörderbienen näherten, während die anderen weiterzogen. Von den Pygmäen wollte zuerst keiner an die Mörderbienen heran, aber für einen Taschenspiegel, einen Metallkamm und ein Fahrtenmesser erklärte sich schließlich einer bereit. Rogard, Farmer und der Pygmäe näherten sich vorsichtig dem Ursprung des Brummens und Summens. Bald schon flogen die ersten Mörderbienen an ihnen vorbei, kümmerten sich aber vorerst nicht um sie. Die hornissengroßen Insekten schwirrten aus zwei nahe beieinanderstehenden hohlen Bäumen und verschwanden wieder in diesen. Aus den hohlen Bäumen kam ein lautes Summen und Vibrieren. James Rogard nahm seine Polaroid aus dem Etui und setzte den Blitzlichtwürfel drauf. Auch Elliot Farmer hatte eine Kamera mit einem teuren Teleobjektiv. »Ich weiß nicht, ob wir mit Blitzlicht fotografieren sollen«, warnte Farmer. »Wenn es die Bienen wütend macht, wird es übel für uns. Mit dem Objektiv sollte ich auch so ein paar annehmbare Fotos hinkriegen.« »Das ist mir zu riskant. Die Lichtverhältnisse unter dem dichten Laubdach sind zu schlecht. Wer weiß, ob ich je wieder Stöcke mit Mörderbienen zu Gesicht bekomme.« Bevor Elliot Farmer ihn daran hindern konnte, hatte James Rogard schon zwei Fotos geschossen. Nichts geschah, aber Elliot Farmer war es, als würde das Brummen und Summen in den Stöcken lauter werden. »Na also«, sagte der Biologe. »Bei Tropengewittern blitzt es
schließlich auch. Auf ein neues.« Der Pygmäe stand mit weitaufgerissenen Augen da und starrte den weißen Mann an, der den Blitz aus seinem kleinen Kästchen schleudern konnte. Da schwärmten die Mörderbienen aus den Stöcken. Zornig summend quollen Tausende aus den Ein- und Ausfluglöchern und stürzten sich auf die beiden weißen Männer und den Pygmäen. Elliot Farmer und der Pygmäe rannten schon, als die ersten Mörderbienen den Stock verließen. James Rogard dachte erst an die Wissenschaft und dann an sein Leben. Er schoß eine Blitzlichtaufnahme des auf ihn losfliegenden Mörderbienenschwarms, dann erst rannte er los. Schon spürten die Männer die ersten Stiche. Sie rannten, so schnell sie konnten und schlugen um sich. Der Pygmäe warf sein Blasrohr weg, die beiden weißen Männer Gepäck- und Ausrüstungsgegenstände, sogar die Gewehre. Schreiend rannten sie durch den Dschungel, verfolgt vom Gesumm der Mörderbienen. Elliot Farmer und James Rogard wurden durch ihre Tropenkleidung geschützt, aber der Pygmäe war verloren. Er begann zu wanken und zwischen hohen Farnen brach er zusammen. Die wütenden Mörderbienen traktierten den Gestürzten. Elliot Farmer sah zwei Mörderbienen auf seiner durchstochenen, verbundenen rechten Hand herumkrabbeln, und ungeachtet des Schmerzes zerschlug er sie an dem dünnen Stamm eines Palmengewächses. Anderthalb Kilometer weit verfolgten die Mörderbienen James Rogard und Elliot Farmer. Beide Männer erhielten über ein Dutzend Stiche. Als sie endlich bei der Expedition anlangten, waren sie am Ende ihrer Kräfte. Rogard hatte drei dicke Beulen im Gesicht und eine im Nacken, außerdem waren Mörderbienen unter seine Kleidung gekrochen und hatten ihn an verschiedenen Körperstellen gestochen. Die Mörderbienen konnten mehrmals stechen, was sie um so gefährlicher machte. Elliot Farmer sah auch nicht besser aus. Beide Männer keuchten. »Dieser Verrückte hat die Mörderbienen mit seinem Blitzlicht aufgestört«, sagte Elliot Farmer erbost. »Unser Führer ist ihnen zum
Opfer gefallen.« Etwas krabbelte an Farmers Hüfte unter der Hose. Er schlug mit der flachen Hand zu und stieß einen Schrei aus. Eine Mörderbiene war bis jetzt unter seinen Kleidern herumgekrabbelt. Rogard versuchte Farmers Hand festzuhalten. »Nicht! Das ist eine gute Chance, ein Exemplar lebend zu erhalten.« Elliot Farmer hätte ihn am liebsten erschlagen. »Ihretwegen wäre ich beinahe ums Leben gekommen. Gehen Sie mir vom Hals, ehe ich mich vergesse!« Die Bienenstiche der beiden Männer wurden mit Zuckerwasser ausgewaschen. Die drei sie begleitenden Pygmäen erregten sich nicht besonders über den Tod ihres Stammesgenossen. Im Urwald lebten sie ständig mit dem Tod, der ihnen in vielerlei Form begegnete. Der Pygmäe war freiwillig bei Rogard und Farmer geblieben; es war seine Sache und sein Risiko gewesen. James Rogard stellte fest, daß er beim Wegwerfen der Ausrüstung auf der Flucht vor den Mörderbienen auch den Tornister mit den Behältern mit den Riesentermiten weggeworfen hatte. Frank, Lukrezia und Messalina waren verloren. Rogard war untröstlich, als keiner mit ihm in den Bereich der Mörderbienen zurückgehen wollte, um den Tornister zu suchen. Auch die Pygmäen wollten nicht, egal was er ihnen bot. Mit James Rogard war in den nächsten vierundzwanzig Stunden kein vernünftiges Wort mehr zu reden. Die Gewißheit, daß er einige gute Fotografien von den Bienenstöcken und den ausschwärmenden Mörderbienen sowie den Riesentermiten und ihren Bauten besaß, war nur ein schwacher Trost. An den nächsten beiden Tagen geschah nichts Erwähnenswertes. Der Marsch durch den Dschungel war kräfteverzehrend und strapaziös. Am Morgen des dritten Tages nach der Episode mit den Mörderbienen hatte Bruce Ehrlich einen Malariaanfall, und bei Roman Lipwitz kam eine Amöbenruhr zum Ausbruch. Während er durch den Dschungel geirrt war, hatte er oft nicht desinfiziertes Wasser getrunken. Sein Gesicht war fahl. Er hatte Leibschmerzen und mußte alle paar Minuten in die Büsche. Die Pygmäen gaben ihm Kräuter zum Kauen, aber es würde ein paar Tage dauern, bis eine Besserung einsetzte, wenn überhaupt.
Bei Bruce Ehrlich blieb abzuwarten, welche Form der Malaria er erwischt hatte. Bei den verschiedenen Arten der Krankheit erfolgten die Fieberanfälle alle drei oder vier Tage oder sogar täglich. Zu allem Überfluß hatte Ehrlich auch noch das Schwarzwasserfieber. Sein Gesicht war so gelb wie eine Quitte, sein Urin schwarzbraun. Dorian und die anderen gaben ihm Atebrintabletten, und die Pygmäen holten die Rinde des Angostoura-Baumes, die Chinin enthielt und die Bruce Ehrlich kauen mußte. Ans Weitermarschieren war an diesem Tag nicht zu denken, sonst hätte der schwere Bruce Ehrlich geschleppt werden müssen. Am Nachmittag wurde Sacheen von einer Schlange gebissen. Dorian war in der Nähe. Er machte sofort einen Kreuzschnitt und saugte das Gift aus Sacheens Wade. Trotzdem bekam Sacheen Schüttelfrost; sie fantasierte, ihr Körper wurde abwechselnd heiß und kalt, und ihr Puls ging unregelmäßig. Es war ein schwarzer Tag. Bruce Ehrlichs Kreislauf war ohnehin schon ruiniert, seit er den Curarepfeil in die Schulter bekommen hatte. Die Expeditionsteilnehmer mußten fürchten, daß Sacheen und Bruce Ehrlich den Tag nicht überleben würden. Am Abend gab es Affenfleisch. Die Pygmäen hatten mit ihren Giftpfeilen Beute gemacht. Die kleinen Männer betrachteten scheu die Kranken. Nach ihrem Aberglauben steckten hinter den meisten Krankheiten böse Geister, die in den Körper des Kranken gefahren waren. Sie wußten eine Menge über Heilkräuter und -pflanzen, aber ihre Anwendung ging nie ohne magische Beschwörungen, Getrommel und geheime Riten vor sich. Sie wollten jedoch die weißen Männer in ihre Heilriten nicht einweihen und mischten sich daher nicht in die Heilbehandlung ein. Bruce Ehrlich erholte sich gegen Abend. Auch Sacheens Zustand war nicht mehr so kritisch. In der Nacht schlief sie tief und fest. Am Morgen stand sie bereits wieder auf und ging umher. Bruce Ehrlich hatte wieder über vierzig Grad Fieber. Er hatte die Malaria quotidiana erwischt, die schlimmste Form; sogar unter weit besseren Umständen eine schlimme Strapaze für den Kreislauf. Auch bei Roman Lipwitz' Amöbenruhr war keine Besserung einge-
treten. »Ich kann nichts mehr zu mir nehmen, ohne daß es ein paar Minuten später wieder aus mir herausschießt«, beklagte er sich mürrisch. Dorian Hunter drängte trotz allem zum Aufbruch. Bis zur Inkastadt war es nicht mehr weit. Und dort konnten die Kranken ebensogut in einem Lager gepflegt werden wie anderswo. Bruce Ehrlich mußte von Jean Daponde und Elliot Farmer gestützt werden. Lipwitz kam allein vorwärts, wenn er auch öfter Pausen einlegen mußte, um die Büsche aufzusuchen. Sacheen hielt sich den Vormittag über gut, erst nach der Mittagsstunde mußte Dorian sie stützen. Die Expedition kam nur langsam voran. Am späten Nachmittag behaupteten die Pygmäen, dies sei die Stelle, an der El Dorado oder Manoa sich befanden. Die kleinen Männer waren äußerst scheu. Sie wollten ihr Lager ein gutes Stück entfernt aufschlagen. Die drei Pygmäen, die die Expedition geführt hatten, brannten darauf, von dem verwunschenen Platz wegzukommen. Dabei war von einer Stadt weit und breit nichts zu sehen. Östlich vom Standort der Expedition strömte ein Fluß nach Norden hinauf. Dorian wandte sich an Roman Lipwitz, der gerade wieder einmal aus den Büschen kam. »Ich frage mich, weshalb ich meine Hose überhaupt noch anziehe«, sagte der kleine Mann mit dem mächtigen Brustkasten. »Du hast gesagt, du würdest den Ort wiedererkennen, wo du die Stadt gesehen hast«, sagte Dorian Hunter. »Die Pygmäen behaupten, hier ist es. Was meinst du?« Während die anderen eine Rast einlegten, wanderten Dorian und Roman Lipwitz umher. Bald war der kleine Kolumbianer sicher. »Kein Zweifel, hier sind wir auch gewesen. Den riesigen Ceibabaum erkenne ich wieder. Siehst du die dicke Liane, die bis in eine Höhe von zwei Metern abgehackt ist? Das holzige Unterteil haben wir verfeuert. Jetzt müßte dort … Hier, Dorian, das ist unsere Feuerstelle gewesen.« Die Sonne versank. Die Schatten unter den Bäumen wuchsen, und die Tiere des Dschungels wurden unruhiger und lebhafter. Die Ur-
waldnacht begann. Dorian Hunter und Roman Lipwitz fanden die Stelle, an der Lipwitz' Suchexpedition mit den Inkas gekämpft hatte. Dorian entdeckte ein paar Patronenhülsen auf dem Boden, ein Miß-Gewehr mit an einem Baumstamm abgeschlagenem Kunststoffkolben und – halb im faulenden Laubwerk verborgen – einen Trommelrevolver und eine Machete. Lipwitz fand hinter einem Busch den Strohhut des brasilianischen Mestizen Calo. Sonst war nichts da. Die Inkas hatten die Leichen weggebracht. »Hier soll also eine Lichtung gewesen sein?« fragte Dorian. Lipwitz nickte heftig. »So wahr ich hier stehe. Als wir abends kamen, war hier Dschungel – so wie jetzt – und am Morgen stand plötzlich die Stadt auf der Lichtung, eine Stadt mit vielleicht vierzig Gebäuden und einer Vierkantpyramide.« Genauso hatte Dorian Hunter El Dorado in Erinnerung. Nachdenklich drehte er eine Patronenhülse zwischen den Fingern. »Wir werden sehen, Roman«, sagte er. »Jetzt würde mich noch interessieren, ob der Steg noch da ist, von dem Roger Ballard ins Wasser geworfen wurde.« Roman Lipwitz zeigte ihm die Richtung. Ein kaum noch erkennbarer Pfad führte durchs Unterholz und die versumpfte Ufervegetation zum Fluß. Im Licht der Stablampe sah Dorian – inzwischen war abrupt die Dunkelheit hereingebrochen – ein paar morsche Bretter eines einst großen Holzstegs. Lipwitz schüttelte verwundert den Kopf. »Wie ist das möglich? Vor ein paar Tagen war hier ein massiver, recht neuer Steg. Das ist alles völlig verrückt und alles andere als harmlos. Jeff Parkers Suche nach El Dorado hat schon viele gute Männer das Leben gekostet. Ich hätte nie hierherkommen sollen.« Diese Erkenntnis kam zu spät. In tiefe Gedanken versunken, kehrte Dorian mit Roman Lipwitz zu den anderen zurück. Er leuchtete mit der Stablampe und blieb stehen. Eine bunte Sonnenralle, ein hühnergroßer Wasservogel, saß auf der ein Meter zwanzig hohen Brettwurzel eines mächtigen Ur-
waldriesen. Der Baum wuchs sicher siebzig Meter in die Höhe. Er stand am Ufer eines Bächleins, dessen Wasser einige seiner Brettwurzeln unterspült hatte. Die Ralle pickte an etwas herum, was Dorian zunächst für eine braune Eidechse hielt. Dorian schaute nur hin, weil ihm die prächtige Zeichnung der Sonnenralle auffiel, aber dann erregte der Gegenstand, den die Ralle aus den dichten Moosflechten gezerrt hatte, sein Interesse. Die Ralle flog weg, als Dorian sie eine Weile angeleuchtet hatte. Dorian bahnte sich seinen Weg zu der mächtigen Brettwurzel. Er holte sich im Bach nasse Füße, achtete aber nicht darauf. Vorsichtig nahm er den Gegenstand in die Hand, an dem die Sonnenralle gepickt hatte. Ein tiefer Atemzug hob Dorian Hunters Brust. Es war ein Quipu, eine jener komplizierten Knotenschnüre der Inkas. Das Quipu, das Dorian Hunter in der Hand hielt, hatte Schnüre von vierzig Zentimetern Länge. Sie waren aus einem sehr widerstandsfähigen Material geflochten und hatten die Zeit unbeschadet überdauert. Dorian kannte dieses Quipu gut. Als Georg Rudolf Speyer hatte er es 1536 hier verloren. Der Ceibabaum, damals ein kleiner Schößling oder noch gar nicht vorhanden, hatte mit seiner mächtigen Brettwurzel in den mehr als vier seither vergangenen Jahrhunderten das Quipu vom Boden emporgetragen, und ein Zufall – oder eine unergründliche Fügung des Schicksals – hatte Dorian es finden lassen. Der Dämonenkiller hielt das Quipu in der Hand und sah darauf. Unter dem Laubdach der mächtigen Urwaldbäume, im dunklen, von Tierstimmen erfüllten Dschungel in der Gegend zwischen Casiquiare, Orinoco und Guainia, vereinigten sich für Dorian Hunter Gegenwart und Vergangenheit in Gestalt des jahrhundertealten Quipu. Jetzt hatte Dorian Hunter absolute Gewißheit. Hier befand sich El Dorado. Er war am richtigen Platz. Doch wohin war die Stadt entschwunden? Und wann würde er sie wieder zu sehen bekommen? *
Am Morgen, als die Expeditionsteilnehmer frühstückten, krachte im Dschungel ein Schuß. Vögel flogen kreischend auf, und Affen zeterten in den Bäumen. »Was war das?« fragte Roman Lipwitz. »Der Schuß einer Arkebuse«, antwortete Daponde, »einer altertümlichen Luntenschloßmuskete aus dem sechzehnten Jahrhundert.« »Das heißt, die Spanier sind wieder in der Nähe«, rief Arturo Pesce. Er hatte sich in den letzten Tagen recht still verhalten. Gene Greene war ein guter Freund vom ihm gewesen. Er hatte Pesce trotz seiner Fehler und seiner widerwärtigen Art gemocht. Greenes Tod ging Pesce nahe. Dorian nahm seinen Simonow-Karabiner und stürmte los. Pesce folgte ihm, das Schnellfeuergewehr schußbereit. Sie liefen in die Richtung, aus der der Schuß gekommen war. Doch im Dschungel war die genaue Richtung nicht so ohne weiteres festzustellen. Dorian schaute sich suchend um, erblickte aber keinen Menschen. Er stolperte zwischen hohen Farngewächsen fast über den Leichnam eines Pygmäen. Ein Arkebusengeschoß hatte ihn mitten in die Brust getroffen und ein gewaltiges Loch gerissen. Dorian pirschte sich mit schußbereitem Schnellfeuerkarabiner durch die Büsche. Er hörte vor sich einen heiseren Gesang, ein Lachen. Eine rauhe Stimme grölte in altertümlichem Spanisch ein Landsknechtlied. »… den Weinschlauch her, die Brandfackel bereit, die Plünderung beginnt!« Dorian war eigenartig berührt. Es schien ihm, als seien mehr als vier Jahrhunderte nur ein Tag gewesen. Er ging um die hohen Wurzeln eines mächtigen Urwaldbaumes herum – und da sah er ihn: Pascual Martinez, den Mann, mit dem er Ende 1536 mit dreißig Spaniern, hundert Indios und der gefangenen Macchu Picchu aufgebrochen war, um das sagenhafte El Dorado zu suchen. Damals hatte der Dämonenkiller Georg Rudolf Speyer geheißen. Pascual Martinez hatte sich nicht verändert. Er war klein, hatte krumme O-Beine vom Reiten, dunkles Haar, einen Spitzbart und
eine Geiernase. Er trug einen Brustharnisch und enge Kniehosen; seine Eisenhaube hatte er irgendwo im Dschungel verloren. Das Haar hing ihm wirr in die Stirn. Er saß rittlings auf einem umgestürzten Baum und war gerade damit beschäftigt, seine Arkebuse zu laden. Als er Dorian sah, hinter dem jetzt Arturo Pesce hervortrat, zog er seinen langen Degen aus der rostenden Scheide. »Wer seid Ihr?« rief er in altertümlichem Spanisch. Arturo Pesce riß das Schnellfeuergewehr hoch und drückte ab. Doch kein Feuerstoß ratterte aus der Mündung, das hochmoderne Schnellfeuergewehr war sehr empfindlich gegen Verschmutzungen. Arturo Pesce hatte es nicht gründlich genug gepflegt; der Mechanismus versagte. Im nächsten Augenblick hatte Dorian ihm bereits das Gewehr aus der Hand gerissen. »Rühr dich nicht! Wenn du auf ihn schießt, schieße ich auf dich!« Er legte die Hand auf den Pistolengriff. Den Karabiner hatte er fallengelassen. Dorian Hunter tastete mit der Linken nach dem Inkadolch, den er in einem kleinen Beutel am Gürtel trug. Das Quipu, das er am Vorabend gefunden hatte, lag in Dorians Tornister im Camp. »Ihr Hunde!« rief Pascual Martinez und fuchtelte mit dem Degen herum. »Wagt es nicht, mich anzurühren! Beim glorreichen Herrscher Karl V. ich haue euch in Stücke!« In diesem Moment zischte hinter einem dichten Blattvorhang ein Blasrohrpfeil hervor. Er traf Pascual Martinez ins Genick. Der Spanier riß die Augen auf, zuckte einmal und fiel dann vor dem Baum zu Boden. Dorian sah den Pygmäen nicht, der seinen erschossenen Stammesbruder gerächt hatte. »Nimm mein Gewehr!« sagte er zu Arturo Pesce. »Ich trage ihn ins Lager.« Dorian zog den winzigen Giftpfeil aus der Wunde und lud sich den bewegungsunfähigen Pascual Martinez auf den Rücken. Martinez' Muskeln waren vom Curare gelähmt; bald mußte die Lähmung
auf seine Atemmuskulatur übergreifen, und dann war es zu Ende mit ihm. Der Brustpanzer drückte gegen Dorians Schulterblatt. Im Laufschritt brachte der Dämonenkiller Martinez zum Lager. »Schnell, gebt ihm Zuckerlösung!« Er legte Pascual Martinez auf den Boden. Der Spanier hatte die Augen offen. Dorian steckte ihm eine Handvoll Zucker in den Mund und goß Wasser hinterher. »Trink, Pascual!« sagte er in altertümlichem Spanisch. »Sonst mußt du sterben.« Martinez hatte bereits Schwierigkeiten mit dem Schlucken. Aber er war ein zäher Kerl; das mußte ein Konquistador auch sein, der sich mit schwerem Harnisch, Schwert und unhandlicher Arkebuse in die feuchtheißen Dschungel Südamerikas wagte, nur das Vertrauen auf Gott, die Gier nach Gold und stolze, unbeugsame Hochmut im Herzen. Martinez bekam Zuckerwasser eingeflößt, und als er nach einer Viertelstunde noch lebte, wußte Dorian, daß er nicht sterben würde. Die anderen starrten in den Dschungel, die Waffen schußbereit. Dorian hatte ihnen gesagt, sie sollten die Pygmäen abhalten, falls diese Pascual Martinez den Rest geben wollten. Auch Bruce Ehrlich hielt sein Mauser-Jagdgewehr mit Zielfernrohr schußbereit. Doch die Pygmäen zeigten sich nicht. Pascual Martinez' eiserne Natur überwand das Gift überraschend schnell. Bewegen konnte er sich noch nicht, und er hatte schlimme Schmerzen in den gelähmten Muskeln, aber Atmen und Sprechen konnte er bereits mühelos. »Wer seid ihr?« fragte er noch einmal. »Leute wie euch habe ich noch nie gesehen.« »Ich bin jener Mann, der als Jorge Rodolfo Speyer an deiner Expedition nach El Dorado teilgenommen hat, Pascual Martinez. Mach dir keine Sorgen, wir sind deine Freunde.« Martinez machte weniger Schwierigkeiten, als Dorian erwartet hatte. Er mußte Furchtbares erduldet haben. Sein Geist war nicht mehr klar. Dorian hatte es sich schon gedacht, als er ihn im Dschungel singen hörte.
Martinez akzeptierte sogar, daß Dorian Hunter sich als jener Rodolfo Speyer vorstellte, den er gekannt hatte, obwohl Dorian mit seinen ein Meter neunzig, dem schwarzen Haar, den grünen Augen und dem über die Mundwinkel herabgezogenen Oberlippenbart ganz anders aussah. »Rodolfo«, sagte er und lächelte. »El Dorado ist vor meinen Augen verschwunden. Dort sind Sachen vorgegangen, die ich nicht verstehe.« »Wann war das, Pascual? Welchen Tag schreiben wir heute?« »Vor ein paar Tagen. Das Datum weiß ich nicht genau. Ende 1536, zur Zeit der Regierung Karls V. König von Spanien.« Dorian verstand auch nicht, was hier vorging. Er lebte im zwanzigsten Jahrhundert, soviel war klar, aber wie konnte er einem Mann begegnen, der seit über vierhundert Jahren hätte tot sein müssen? »Was ist geschehen, seit wir uns aus den Augen verloren haben?« »Die Inkas haben uns gejagt und verfolgt. Der schreckliche Atahualpa hat welche von meinen Leuten geopfert, hat sie in ein Fischernetz eingewickelt und mit zusammengenagelten Händen in den Fluß geworfen. Es war furchtbar. Wir haben es beobachtet. Eingeborene und Pygmäen haben uns angegriffen, immer wieder, Tag und Nacht. Die fünf Indios und die beiden guten spanischen Kameraden kamen ums Leben. Ich bin allein. Wo die anderen sind, weiß ich nicht. Und wie ist es dir ergangen, Rodolfo? Wo bist du auf diese Leute gestoßen?« Sollte Dorian ihm erzählen, was in vierhundert Jahren passiert war? »Ich irrte im Dschungel umher und stieß auf diese Männer und das Mädchen. Sie sind Freunde.« »Gut«, ächzte Martinez. »Gut.« Plötzlich wurde sein Blick klarer, stechender. »Du bist ein Deserteur, Rodolfo Speyer! Ich werde dich standrechtlich erschießen lassen. Du hattest gehofft, wir alle kämen im Dschungel ums Leben. Du wolltest dich beim Generalgouverneur als Entdecker von El Dorado ausgeben. Gib es zu!« Dorian legte eine Hand aufs Herz. »Pascual, alter Freund.« Pascual Martinez stammelte zusammenhanglose Worte. Dorian war nie Pascual Martinez' Freund gewesen; er hatte ihn auch nicht
besonders gemocht, aber die störrische, unbeirrbare, stolze, zähe Natur des Konquistadors hatte ihm schon immer Achtung abgenötigt. Dorian wandte sich den anderen zu. »Wir müssen das Lager wechseln. Die Pygmäen könnten es leicht falsch auffassen, daß wir Pascual Martinez helfen. Für sie sind die Spanier Feinde, und gerade hat Martinez einen von ihnen mit der Arkebuse erschossen.« Alles wurde zusammengepackt. Dorian führte die Gruppe durch den Dschungel, immer auf der Hut, um nicht in einen Pygmäenhinterhalt zu laufen. Bruce Ehrlich und Arturo Pesce stützten Pascual Martinez. Er konnte seine Beine schon wieder ein wenig bewegen und Schritte machen. Dann standen sie unvermittelt vor einem breiten, langgezogenen Tümpel. Ihn zu umgehen, hätte zu lange gedauert. Ein Urwaldriese war quer über den Tümpel gestürzt. Dorian marschierte als erster hinüber. Als er in das trübe Wasser des Tümpels sah, erblickte er etwas, was ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ. Im Tümpel wimmelte es von Zitteraalen. Die größten maßen drei, vier Meter. Der Zitteraal, ein tropischer Süßwasserfisch vermochte Stromschläge auszuteilen, die seine Beute töteten oder lähmten. Ein Zitteraal von vier Metern Länge vermochte sicher ein Pferd zu töten. Dorian kam gut hinüber. Sacheen, Elliot Farmer und die beiden Wissenschaftler Jean Daponde und James Rogard ebenfalls. Doch Arturo Pesce, Bruce Ehrlich und Pascual Martinez, die sich aneinanderklammerten, rutschten aus, als sie fast das Ufer erreicht hatten. Arturo Pesce konnte sich an einem Ast des über den Tümpel gestürzten Baumes festhalten. Pascual Martinez und Bruce Ehrlich aber klatschten ins Wasser. Die Zitteraale schossen herbei. Dorian Hunter sah Pascual Martinez' Kopf über der trüben Wasseroberfläche, seinen zum Schrei aufgerissenen Mund. Ein vier Meter langer Zitteraal traf ihn mit dem elektrisch geladenen Schwanz. Martinez' Augen verdrehten sich nach oben; er ging unter. Bruce Ehrlich schrie noch einmal kurz auf, bevor ihn Stromschläge töteten. Hilflos standen die anderen am Ufer und mußten zusehen. Trauer
erfüllte Dorians Herz, als er auf die Stelle schaute, wo Pascual Martinez untergegangen war. Es war ihm, als sei ein Teil seiner Vergangenheit, ein Stück von ihm selbst soeben gestorben. * Die auf sechs Männer und eine Frau zusammengeschrumpfte Expedition schlug an einer anderen Stelle ein neues Lager auf. Ein Wirbelsturm hatte die Urwaldbäume entwurzelt und eine anderthalb Kilometer lange Schneise durch den Dschungel gezogen. Der zweihundert Meter breite Windbruch war übersichtlicher. Hier konnten sich die Pygmäen nicht so leicht anschleichen. Niedergeschlagen berieten die Expeditionsteilnehmer, was zu tun sei. Bisher hatte Dorian Hunters Expedition nicht eben viel erreicht. Bruce Ehrlich und Gene Greene waren tot, die zehn Indioträger tot oder geflohen, von Jeff Parker und seinen Leuten gab es keine Spur, und die Stadt El Dorado war vom Erdboden verschwunden. Arturo Pesce verlangte energisch, umzukehren. Sacheen stimmte ihm zu, und Roman Lipwitz wollte von der grünen Hölle auch nichts mehr wissen. Jean Daponde war aus Vernunftsgründen für eine Rückkehr zum Stützpunkt, und James Rogard, der nur seine Mörderbienen und Riesentermiten im Kopf hatte, wollte ebenfalls nicht hierbleiben. Doch Dorian Hunter blieb hart. Einzig Elliot Farmer war auf seiner Seite. Als letzten Trumpf zeigte Dorian das Quipu vor. Er gab es Jean Daponde, dem Inkaspezialisten. »Dieses Quipu kann das Rätsel von El Dorado lösen«, sagte er. »Sollen wir einen Schritt vor dem Ziel aufgeben, nach all den Strapazen, die wir durchgestanden haben? Soll alles umsonst gewesen sein?« Dorian versuchte, die anderen mitzureißen, für seinen Plan zu begeistern. Fast gelang es ihm. Fasziniert schauten alle zu, wie der Franzose und der große schwarzhaarige Dorian Hunter das Quipu zu entziffern versuchten. »Sacre bleu!« rief Daponde aus. »Diesen Schatz haben Sie uns verschwiegen, Monsieur Hunter?«
Dorian Hunter hatte Lipwitz am Vorabend gebeten, über das Quipu Stillschweigen zu bewahren. Lipwitz und die anderen glaubten, das Quipu würde sie geradewegs nach El Dorado führen, in die goldenen Schatzkammern der Inkastadt. »Nun, da ist vieles gleich völlig klar. Wo haben Sie denn das Quipu her, Monsieur Hunter?« »In der Nähe gefunden«, erwiderte Dorian einsilbig. Es stellte sich heraus, daß die Entzifferung des Quipu doch nicht so einfach war, wie Jean Daponde im Überschwang des ersten Augenblicks angenommen hatte. Daponde arbeitete stundenlang, machte Notizen, strich sie wieder aus. Die anderen wurden ungeduldig. Dorian verstand ein wenig von Quipus, aber bei weitem nicht so viel wie der Inkaspezialist. »Was haben Sie herausgefunden?« fragte er Daponde nach der Mittagsstunde. »Es geht um Atahualpa«, sagte der kleine Franzose mit gerunzelter Stirn. »Er wird eine glorreiche Wiedergeburt erleben, hier in El Dorado.« Das hatte Dorian schon seinerzeit als Georg Rudolf Speyer gewußt. »Enthält das Quipu etwas von einer Prinzessin Macchu Picchu?« fragte er. »Von einem Traum, den sie träumt?« »Ja, ja. Hier – diese Knotenschnur bedeutet: Macchu Picchu träumt. Die nächste Schnur scheint mir ein Kalender zu sein, der mit dem dritten Mondjahr von 1500 an beginnt. Er weist in die Zukunft, bis – ja, bis in die heutige Zeit. Nach diesem Quipu sollte sich in unserer Zeit, um den jetzigen Zeitpunkt herum, etwas ereignen.« »Was sagt die nächste Knotenschnur?« »Sie ist dunkel und dann wieder rot wie Blut. Sie enthält Drohungen, schreckliche Drohungen. Nein, nein, das kann nicht sein. Das wäre Wahnsinn.« Alle sahen gespannt den kleinen Franzosen an, hingen an seinen Lippen. »Ungeheuer. Dämonen. Ach was, das ist doch alles Unsinn. Ich kann es jetzt nicht entziffern. Dazu brauche ich viel mehr Zeit. Ein paar Tage – eine Woche, ich kann es nicht sagen. Diese Quipus sind
sehr schwierig zu lesen. Ein Knoten falsch gedeutet, und schon kommt bei allem Nachfolgenden kompletter Unsinn heraus oder ganz etwas anderes. Ich kann einen Fehler gemacht haben. Sicher ist mir irgendwo ein Irrtum unterlaufen. Überlassen Sie mir das Quipu, Mr. Hunter! Irgendwann werde ich Ihnen ganz genau sagen können, was es bedeutet.« »Also Fehlanzeige«, sagte Lipwitz. »Das Quipu bringt uns auch nicht nach El Dorado. Ich sage, wir müssen umkehren.« »Auf jeden Fall müssen wir uns erst einmal mit den Pygmäen verständigen«, sagte Dorian Hunter. »Nachdem Pascual Martinez tot ist, dürften wir auf keine Schwierigkeiten mehr stoßen. Ungefähr wissen wir, wo sie sein müssen. Sie sind immer aus der gleichen Richtung gekommen. Ich nehme an, sie sind irgendwo in der Nähe eines Baches, und ich schlage vor, wir brechen auf und suchen sie.« »Damit sie aus dem Hinterhalt Giftpfeile auf uns schießen?« fragte Arturo Pesce. »Ach was. Wir sind ihre Freunde. Wir haben sie von den Monsteraffen befreit, vergeßt das nicht. Wenn sie Pascual Martinez nicht bei uns sehen, werden sie schon nicht gleich schießen.« Die Gruppe verließ den Windbruch und marschierte durch den Dschungel. Die Männer und Sacheen hielten die Gewehre schußbereit. Roman Lipwitz' Gesicht war verzerrt. Die Amöbenruhr machte ihm wieder schwer zu schaffen. Er fegte in die Büsche, und die ganze Gruppe mußte warten, bis er wieder hervorkam. Dorian Hunter führte die Gruppe. Es war inzwischen später Nachmittag geworden. Im Dschungel war es fast ruhig. Plötzlich traten drei Pygmäen aus einem blühenden Strauch hervor. Die kleinen bemalten Männer mit den überlangen Blasrohren sahen grotesk aus vor der weißen Blütenpracht. Sie palaverten und schwatzten. »Wir sollen umkehren«, übersetzte Jean Daponde. »Sie wollen uns hier nicht haben.« Aber Dorian Hunter hatte bereits andere Stimmen gehört, und in der Nähe plätscherte ein Bach. »Wir sehen uns ihr Lager einmal an. Dann wissen wir wenigstens, mit wie vielen Pygmäen wir es zu tun
haben. Bisher sind unsere kleinen Freunde für meinen Geschmack viel zu sehr im Verborgenen geblieben.« Die drei Pygmäen schnatterten und gestikulierten, aber die weißen Männer gingen an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten; auch Sacheen gönnte ihnen keinen Blick. Die Pygmäen wußten nicht, was sie tun sollten. Sie eilten schließlich der Expedition nach und erreichten zugleich mit dieser das Lager. Dort gab es sechs große Gemeinschaftshütten, errichtet aus festen, biegsamen Hölzern, Farnwedeln, großen Blättern und Grasarten. Eine dieser Hütten war größer als die anderen. Im Lager befanden sich nicht ganz fünfzig Männer, ein halbes Dutzend Frauen und auch einige Kinder. Die Pygmäen hatten also doch nicht ihre ganzen Frauen den Monsteraffen geopfert, wie sie gesagt hatten, und der Stamm war auch größer, als sie die Weißen glauben gemacht hatten. Und noch ein Geheimnis verriet das Lager: Die Pygmäen waren Kopfjäger. Einige von ihnen hatten sich die scheußlichen faustgroßen Trophäen, geschrumpfte Köpfe getöteter Feinde, um den Hals gehängt, andere Schrumpfköpfe hingen vor den Hütten. Die Pygmäen schauten den Weißen entgegen. Einige hielten ihre Blasrohre umklammert, aber noch unternahmen sie nichts. Sie hatten die Wirkung der Schnellfeuergewehre kennen- und fürchten gelernt. Über einem kleinen Feuer, dem besondere Kräuter beigemischt waren, hing der Schrumpfkopf eines weißen Mannes. Er war noch nicht ganz fertig; das Einschrumpfen und Konservieren dauerte Wochen. Zuerst wurden vom abgeschnittenen Kopf Knochenteile und das Gehirn entfernt. Dann wurde er mit heißen Steinen gedörrt, bis er nur noch faustgroß war, geräuchert und mit Pflanzensäften behandelt, die ihn konservierten. Der Kopf über dem Feuer wurde gerade geräuchert. Er hatte ziemlich langes, weißes Haar. »Zum Teufel!« rief Elliot Farmer. »Das ist der Kopf von Wilbur Cricket!« Wilbur Cricket hatte zu Jeff Parkers Expedition gehört. Dorian Hunter war im ersten Moment perplex, seinen Kopf hier zu sehen. »Bist du sicher?« fragte er den schlaksigen Texaner. Elliot Farmer spie einen Strahl Tabaksaft ins Feuer, von dem grün-
lichgelblicher Rauch aufstieg. »Ganz sicher. Wilbur hatte ganz weißes Haar, obwohl er gerade erst dreißig war. Das ist sein Kopf.« Auch Arturo Pesce, Sacheen, Lipwitz und der Wissenschaftler Jean Daponde, die Wilbur Cricket gleichfalls gekannt hatte, stimmten zu. »Gut«, sagte Dorian, und ein harter Unterton schwang in seiner Stimme mit. »Dann wollen wir einmal einen Blick in die Hütten werfen, ob noch mehr Schrumpfköpfe von unseren Freunden hier sind.« Der Dämonenkiller, Arturo Pesce und Elliot Farmer durchstöberten drei Hütten, die anderen hielten mit schußbereiten Gewehren die Pygmäen in Schach. Als die drei Männer sich der größten Hütte näherten, wurden die Pygmäen unruhig. Die Männer schlossen einen festen Ring um die Hütte, Frauen und Kinder zogen sich in den Dschungel zurück. Die kleinen Männer hielten Blasrohre, Steinbeile, -messer und -speere in Händen. Einer von ihnen, offenbar der Häuptling, redete im Pygmäenidiom. »Sie wollen uns nicht in diese Hütte lassen«, übersetzte Jean Daponde. »Wir sollen verschwinden.« »Kommt nicht in Frage«, sagte Dorian Hunter mit lauter Stimme. »Ich will in diese Hütte. Und ich werde mir den Weg mit der Waffe freikämpfen, wenn es sein muß. Sagen Sie ihnen das, Daponde!« Bevor Jean Daponde noch zu übersetzen angefangen hatte, ertönte eine Stimme aus der großen Hütte. Sie sprach amerikanisch, und Dorian Hunter und die anderen – bis auf James Rogard – kannten sie nur allzugut. »Dorian!« schrie die Stimme. »Dich schickt der Himmel. Hol uns heraus! Wir werden zu siebt von den Pygmäen gefangengehalten.« Dorian Hunters Herz machte einen Sprung. Kein anderer als Jeff Parker hatte gesprochen. Als die Pygmäen Parkers Stimme hörten, stieß der Häuptling einen schrillen Ruf aus. Blasrohre flogen hoch, die Pygmäen griffen schreiend die weit größeren Gegner an. Niemand konnte später mehr sagen, wer zuerst geschossen hatte. Es war eine Frage der Selbsterhaltung. Die sechs Männer und die
Frau mußten töten, wenn sie nicht getötet werden wollten. Es war ein kurzes grausames Massaker. Die Schnellfeuergewehre und -karabiner ratterten. Dorian schoß zwei von seinen fünf Magazinen leer, und als er das dritte einsetzte, waren die überlebenden Pygmäen in panischer Flucht im Dschungel untergetaucht. Das mörderische Schnellfeuer der Weißen hatte anderthalb Dutzend von ihnen niedergestreckt. Im ersten Moment sah es so aus, als hätte überhaupt keiner von der Expedition etwas abbekommen, aber dann brach Roman Lipwitz plötzlich zusammen. Für ihn gab es keine Hilfe mehr. Drei Blasrohrgeschosse hatten ihn getroffen. Dagegen half auch der Zucker nicht mehr, den ihn James Rogard sofort in den Mund steckte. Arturo Pesce schwenkte triumphierend sein M16-Gewehr. »Ich habe allein ein Dutzend umgelegt«, prahlte er. »Die Knarre ist toll. Selbst ein Schuß in den Arm oder ins Bein legt einen Menschen um.« Einige der Pygmäen waren nur verwundet. Arturo Pesce wollte sie erschießen. Sein Gesicht mit dem gerade verheilten Peitschenstriemen auf der linken Wange war eine verzerrte Fratze. Dorian richtete den Simonow-Karabiner auf Pesce. »Das läßt du sein, Arturo. Es ist genug Blut vergossen worden. Wir wollen die Pygmäen nicht noch mehr aufbringen, indem wir Verwundete erschießen. Los, in die große Hütte, bevor sie uns ihre Blasrohrpfeile nachschicken!« Dorians Sorge war unnötig. Das Massaker, das weniger als eine Minute gedauert hatte, hatte den Pygmäen einen derartigen Horror eingejagt, daß sie nicht einmal mehr aus dem Hinterhalt zu schießen wagten. James Rogard und Jean Daponde schleppten Roman Lipwitz in die große Hütte. Sie bemühten sich um ihn, versuchten es mit künstlicher Beatmung und Herzmassage, aber es hatte keinen Zweck. In der Hütte hockten Jeff Parker, Jörn Geeregaad, Elmar Freytag, Fernando Parras und die drei Wissenschaftler Abraham Coe, David Astor, der auch Missionar war, und James Wood gefesselt am Boden. Es war ihnen anzusehen, daß sie allerhand mitgemacht hatten. Ihre Stricke wurden durchschnitten.
»Wie kommt ihr hierher?« fragte Dorian Hunter Jeff Parker. »Wir suchen euch schon seit Wochen verzweifelt.« »Wir suchten etwa zwei Tagesmärsche entfernt von hier das sagenhafte El Dorado«, erzählte Jeff Parker. Der vierzigjährige, drahtige Millionär, der mit seinem Jungengesicht sonst viel jünger aussah, als er tatsächlich war, schien um fünfzehn, zwanzig Jahre gealtert. »Wir hatten keinen Erfolg. Unsere Träger meuterten, und unser Funkgerät war defekt. Vor drei Wochen verschwanden die Träger eines Nachts. Sie nahmen den größten Teil unserer Ausrüstung mit. Hauptsächlich wegen meiner Dickköpfigkeit suchten wir fünf weitere Tage. Aber dieses verdammte El Dorado oder Manoa war einfach nicht zu finden.« »Ihr habt an der falschen Stelle gesucht«, sagte Dorian. »Und dann sind da noch ein paar andere Dinge. Aber erzähle erst einmal weiter!« »Wir kehrten um. Ein Jaguar erwischte Bruce Marshall. Abu ed Narudin, der Playboysohn des Ölscheichs von Oman, wurde von Eingeborenen getötet. Wir erreichten nach schlimmen Strapazen den Rio Negro, aber unsere Boote waren verschwunden. So marschierten wir am Ufer entlang und kamen bis in die Nähe des Stützpunkts. Wir waren nur noch einen Tagesmarsch davon entfernt.« »Und da überfielen euch die Pygmäen?« Dorian fragte sich, wie das zugegangen sein sollte. Immerhin mußte Jeff Parkers Expedition doch bewaffnet gewesen sein. Parker senkte den Kopf. »Diese verdammten Pygmäen!« sagte er verbittert. »Sie haben uns auf ganz raffinierte Art gekriegt. Sie müssen uns beobachtet haben. Wir kamen zu einer Quelle im Dschungel. Sie müssen sich wohl ausgerechnet haben, daß wir dort lagern würden. Sie haben etwas ins Wasser der Quelle getan, den Saft einer bestimmten Lianenart oder einer Pflanze. Er wirkte wie ein sehr starkes Schlafmittel. Wir tranken von dem Wasser und kochten ein Gemüse aus jungen Pflanzenschößlingen damit. Wir wurden alle todmüde und schliefen wie Murmeltiere. Auch die beiden Wachen schliefen ein. Die Pygmäen brauchten uns nur einzusammeln. Als wir wieder zu uns kamen, waren wir gefesselt und befanden uns in
ihrer Gewalt. Wilbur haben sie getötet und gefressen, seinen Kopf abgeschnitten und der Schrumpfbehandlung unterzogen. Weshalb sie uns verschont haben, weiß ich nicht. Sie haben uns durch den Dschungel mitgeschleppt, den Weg zurück, den wir mühsam zum Stützpunkt hinmarschiert waren.« Dorian Hunter wußte jetzt Bescheid. Die Pygmäen hatten die Weißen zunächst alle töten wollen, doch nach dem Tod von Wilbur Cricket hatten Dorian und drei andere weiße Männer ihnen gegen die Monsteraffen geholfen. Einerseits sahen die Pygmäen die Weißen als ihre Erzfeinde an, andererseits aber hatten sie die große Gefahr von ihrem Stamm genommen. Die Pygmäen wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Ihrem scheuen, mißtrauischen Naturell entsprechend, hatten sie ihre Gefangenen versteckt und sich Dorian Hunter und den anderen gegenüber freundlich gezeigt, und sie hatten die Gefangenen die ganze Zeit mitgeführt. Als dann einer der ihren von einem Weißen, dem Spanier Pascual Martinez, erschossen wurde und die Expedition ins Pygmäenlager eindrang und einfach die Gefangenen herausholen wollte, war es zu einer Kurzschlußreaktion des Häuptlings gekommen. Das Ergebnis war das Massaker. Vielleicht wäre es möglich gewesen, Jeff Parker und seine Gefährten durch Verhandlungen freizubekommen oder sie loszukaufen, doch darüber nachzugrübeln, war jetzt müßig. »Ich bin sicher, die Pygmäen hätten uns früher oder später umgebracht, aufgefressen und unsere Köpfe zu Tsantsas verarbeitet«, meinte Jeff Parker. »Ich kann sie nicht bedauern. Sie haben uns manchmal auf scheußliche Weise gequält, besonders die Pygmäenweiber.« Sacheen umarmte Jeff und drückte ihn. Alle waren erschüttert, daß die Männer, die sie so verzweifelt gesucht hatten, wobei etliche Mitglieder des Suchtrupps ihr Leben hatten hingeben müssen, die ganze Zeit in ihrer Nähe gewesen waren. Draußen war es dunkel geworden. Die große Hütte war geräumig genug, um allen Platz zu bieten. Sie beschlossen, die Nacht hier zu verbringen. Dorian Hunter sagte Jean Daponde, er solle den Pygmäen zurufen,
daß sie ihre Toten und Verwundeten bergen könnten. Daponde stellte sich neben die Türöffnung, flankiert von Arturo Pesce und Jörn Geeregaad von der Parker-Expedition. Daponde rief den Pygmäen auch noch zu, sie sollten sich nicht mehr im Lager blicken lassen, sobald sie ihre Toten und Verwundeten geholt hätten. Bis zum nächsten Abend sollten sie aus der Gegend verschwunden sein, und wenn sie noch einmal etwas gegen die Weißen unternehmen würden, würde der ganz Stamm ausgerottet. Die Pygmäen antworteten nicht, aber bald setzte in der Dunkelheit ein reges Treiben ein. Mehrere bewaffnete Männer standen an der Tür und den beiden Fensteröffnungen. »Die Pygmäen haben unsere Waffen, die Munition und einen Teil der Ausrüstung in einer der anderen Hütten aufgehoben«, sagte Jeff Parker. »Sie hatten eine Scheu davor, unsere Waffen zu benutzen. Sie trauten ihnen nicht. Ein Pygmäe hat sich nämlich selber erschossen, als er mit Fernando Parras' Revolver herumhantierte.« Dorian sah den kräftigen schwarzhaarigen Fernando Parras an, den Sohn von Sancho Parras, Jeff Parkers Mittelsmann in Bogota. Er erinnerte sich noch gut an das Skelett, das die Pygmäen ihm, Bruce Ehrlich, Elliot Farmer und Jean Daponde gezeigt hatten. Der kleine Inkaspezialist und Naturwissenschaftler Daponde platzte jetzt mit der Nachricht heraus. Aller Augen wandten sich Fernando Parras zu. In der Mitte der Hütte brannte ein kleines Feuer. Zuckender Feuerschein beleuchtete die Gesichter der Anwesenden. Fernando Parras lachte laut. »Mein Skelett soll im Dschungel liegen? Da hat der gute Bruce Ehrlich sich aber gewaltig getäuscht. Ich weiß nicht, wer der arme Teufel war, der wie ich eine silberne Schädelplatte und ein paar Goldzähne hatte, aber meiner Mutter Sohn ist es jedenfalls nicht gewesen.« Dorian schob sich hinter ihn. Er blinzelte Jeff Parker zu. Parker stellte sich so, daß er Arturo Pesces M16-Schnellfeuergewehr an sich bringen konnte. Seit dem Abenteuer mit dem Moloch, dem mörderischen Geschöpf des Fürsten der Finsternis Asmodi, wußte Jeff Parker nur zu gut, daß Dämonen oder dämonische Kreaturen die Ge-
stalt und das Aussehen von Menschen perfekt nachahmen konnten. Sie vermochten sogar ihr Benehmen genau zu imitieren. Das hatte Jeff Parker an Bord seiner Luxusjacht erfahren, zusammen mit Dorian Hunter und dem Mädchen Valiora. Dorian zog den Zeremoniendolch aus dem Beutel am Gürtel. Er gab Jeff Parker einen knappen Wink mit der Linken, sprang vor und setzte Fernando Parras den Dolch an die Kehle. »Stirb, Dämon!« brüllte er. Jeff Parker entriß Arturo Pesce das Gewehr und richtete es auf die anderen. »Keiner rührt sich von der Stelle!« Dorian Hunter ritzte mit dem goldenen Dolch Fernando Parras' Kehle. Ein paar Blutstropfen quollen hervor. »Seid ihr verrückt geworden?« ächzte Fernando Parras. »Jeff, was soll das? Sag diesem Wahnsinnigen, er soll mich loslassen!« Dorian Hunter ließ ihn los. Wäre Fernando Parras ein Dämon gewesen, hätte er im Augenblick der tödlichen Gefahr seine dämonischen Kräfte und Fähigkeiten eingesetzt. Aber er war ein Mensch wie Dorian Hunter und Jeff Parker auch. »Was soll das?« fragte Fernando Parras zornig. »Ich verlange eine Erklärung!« Auch Elliot Farmer, Sacheen, David Astor, Abraham Coe und die anderen bestürmten den Dämonenkiller und Jeff Parker mit Fragen. Dorian Hunter hüllte sich in Schweigen. »Es war eine Probe, die sein mußte«, erklärte Jeff Parker knapp. »Ihr erfahrt, was ihr wissen müßt, zur rechten Zeit. Holt jetzt erst einmal die Waffen, die Munition und die Ausrüstung aus der anderen Hütte! Aber vorsichtig, daß die Pygmäen euch nicht erwischen! Ich muß mit Dorian Verschiedenes besprechen.« »Das glaube ich auch«, knurrte Fernando Parras und wischte sich das Blut vom Hals. »Der Kerl ist ja gemeingefährlich.« Er lief mit zwei anderen Männern hinüber zu einer der Hütten. Jörn Geeregaad, Elmar Freytag, Arturo Pesce und Sacheen hielten sich bereit, um ihnen Feuerschutz geben zu können. Aber die Pygmäen ließen sich nicht blicken. Während die Männer die Sachen herüberbrachten – sie mußten
dreimal laufen – unterhielten sich Dorian Hunter und Jeff Parker leise abseits von den anderen. Jeff Parker war der einzige, dem Dorian sich voll und ganz anvertrauen konnte. Jeff wußte, daß die Dämonen und die Schwarze Magie keine Ammenmärchen, sondern grausige Realität waren. Bei allen anderen wäre Dorian nur auf krassen Unglauben gestoßen. Sie hätten ihn glatt für verrückt gehalten. »Wie erklärst du dir, daß ein Skelett, das genau dem von Fernando Parras entspricht, mit einem über vierhundert Jahre alten Revolver im Dschungel liegt, Dorian? Mit einem Revolver überdies, den es vor vierhundert Jahren noch gar nicht hätte geben dürfen.« »Ich kenne die genauen Zusammenhänge noch nicht, Jeff, aber ich ahne manches. Und meine Ahnungen sagen mir, daß wir schleunigst von hier verschwinden sollten. Wir müssen die Suche nach El Dorado aufgeben.« »Ist das dein Ernst?« »Mein voller Ernst. Schlag dir El Dorado aus dem Kopf, Jeff, sonst wird es ein schlimmes Ende nehmen.« »Ich denke nicht daran, Dorian. All die Strapazen und Entbehrungen, die vielen Todesopfer, soll das umsonst gewesen sein? Wir stehen auf der Schwelle von El Dorado – das hast du den anderen gegenüber selbst behauptet – und da sollen wir einfach fortgehen und den Schatz der Inkas im Dschungel liegen lassen?« »Einem Opfer dämonischer Mächte nützt alles Gold der Welt nichts mehr.« Dorian Hunter sah, daß Fernando Parras einen Colt-Python-Revolver, den er aus der anderen Hütte geholt hatte, in seinem Gürtel trug. Der Colt Python hatte eine ventilierte Laufschiene; auch der Revolver in der Hand des Skeletts war mit einer solchen versehen. »Ist das Fernandos Revolver?« fragte Dorian. »Allerdings.« »Hol ihn her! Ich will dir etwas zeigen.« Jeff Parker ließ sich von Fernando Parras den Colt Python geben, eine schwere Waffe mit fünfzehn Zentimeter langem Lauf, im Kaliber .357 Magnum. Dorian nahm die Revolvertrommel, die Jeff Parker ihm mit dem goldenen Zeremoniendolch zusammen geschickt
hatte, aus dem Beutel am Gürtel. Er hatte den Rost mit Säure und anderen Hilfsmitteln von der uralten Revolvertrommel entfernt. Die Seriennummer war zu lesen, schwer zwar, aber immerhin. Dorian verglich sie mit der von Fenando Parras' Colt-Python-Revolver. Es war dieselbe. Jeff Parker war perplex. Er rätselte herum, konnte aber keine Erklärung finden – weder eine natürliche noch eine magische. Dorian forderte ihn noch einmal auf, umzukehren, die Suche nach El Dorado aufzugeben, aber Jeff Parker wollte nicht – nicht so kurz vor dem Ziel. Er fragte die anderen. Sie stimmten ab. Das Abstimmungsergebnis überraschte den Dämonenkiller einigermaßen. Er war als einziger dafür, umzukehren. James Rogard und Sacheen enthielten sich der Stimme. Alle anderen, auch die, die wenige Stunden zuvor noch auf eine Rückkehr zum Stützpunkt gedrängt hatten, wollten El Dorado suchen. Daß sie ihre Kameraden unversehrt hatten befreien können und jetzt wieder zwölf Mann waren, hatte Arturo Pesce, Jean Daponde und James Rogard die Meinung ändern lassen. Und Jeff Parker und seine Gefährten, die doch gerade dem Tod von der Schippe gesprungen waren, dachten nicht daran, in die Zivilisation zurückzukehren. Dorian blieb nichts anderes übrig, als sich der Entscheidung der Mehrheit zu beugen. »Ich wußte, daß ich es nicht verhindern kann«, sagte er düster. »Was vorherbestimmt und eigentlich schon längst geschehen ist, läßt sich nicht rückgängig machen.« Die Fragen der anderen, was er mit seinen dunklen Redewendungen meinte, beantwortete er nicht. * In der Nacht geschah nichts. Die Pygmäen wagten keinen Angriff. Die Männer wechselten sich bei der Wache ab. Dorian Hunter erfuhr von Jeff Parker, wo dieser den goldenen Zeremoniendolch gefunden hatte. »Es war merkwürdig. In dem Gebiet, in dem wir El Dorado suchten, gab es im Dschungel ein paar Felsformationen mit Höhlen. In
der größten der Höhlen lagen sechs Skelette. Pfeile lagen noch zwischen ihren Knochen, und ihre Schädel und Gebeine wiesen Verletzungen von Hieb- und Stichwaffen auf. Vor Jahrhunderten muß dort ein erbitterter Kampf stattgefunden haben. Unter einem Gerippe lag der goldene Zeremoniendolch.« War eine Gruppe von Männern mit dem Zeremoniendolch nach El Dorado unterwegs gewesen, um dort mit der magischen Waffe etwas Bestimmtes zu vollbringen, und waren sie von Häschern zuvor erschlagen worden? Oder hatte jemand den magischen Inkadolch aus El Dorado gestohlen und war dann verfolgt und getötet worden – mitsamt seinen Gefährten? Dorian wußte es nicht. Wichtig war nur, daß er den Dolch hatte. Am Morgen versuchte er noch einmal, die anderen zur Umkehr zu bewegen. Er stieß auf taube Ohren. Arturo Pesce, am Vortag noch der lauteste Schreier, der zum Stützpunkt zurückkehren wollte, meinte höhnisch, Dorian sei wie ein altes Weib. Dorian Hunter hatte andere Sorgen, als sich mit Arturo Pesce herumzuärgern. Die zwölf Männer und Sacheen marschierten zu der Stelle, an der El Dorado sich befinden sollte. Am Mittag erreichten sie das Stück Dschungel am Fluß. Von einer Lichtung oder einer Stadt war nichts zu sehen. Schon wollte Dorian aufatmen. Doch kaum hatten sie ein provisorisches Lager aufgeschlagen und Feuer gemacht, da geschah es. Die Konturen der Bäume verschwammen. Das Dämmerlicht unter dem Laubdach der mächtigen Urwaldbäume wich strahlender Helligkeit. Die Luft flimmerte und gleißte, und dann waren plötzlich die Bäume, das Unterholz, die dicken Lianen und Schlinggewächse und üppigen Schmarotzerpflanzen, ja selbst die Insekten, Schlangen und Vögel verschwunden. Dorian Hunter, Jeff Parker und die übrigen befanden sich auf einer riesigen Lichtung. Vor ihren Augen erschien Manoa, das sagenhafte El Dorado, die geheime Hauptstadt des Inkareiches. Noch flimmerten die Konturen der vierzig Gebäude und des Vierkanttempels, aber sie wurden immer deutlicher. Und sie sahen nicht nur die Stadt, sondern auch Menschen.
Eine Gruppe spanischer Konquistadoren kämpfte mit Inkakriegern. Dorian hörte das Krachen der Arkebusen, das Kampfgebrüll und das Schreien Verwundeter. Er sah Pascual Martinez, der doch am Vortag vor seinen Augen im Tümpel der Zitteraale gestorben war, mit einem Degen herumfuchteln und Kommandos rufen; und er sah den jungen Mann mit dem Brustharnisch in seiner Nähe stehen. Dorian konnte einen überraschten Ausruf nicht unterdrücken. Der junge Mann war kein anderer als Georg Rudolf Speyer. Er stand sich selbst gegenüber, seinem anderen Ich, das Jahrhunderte zuvor gelebt hatte. Während um ihn herum metaphysische Gewalten tobten, während magische Kräfte die Gesetze der Zeit auf den Kopf stellten, begriff Dorian Hunter auf einmal das Geheimnis der Inkastadt El Dorado. »Wem sollen wir helfen?« fragte Jeff Parker, der die Situation nicht erfaßte, »den Inkas oder den Spaniern?« Die Stadt war jetzt so deutlich und real, wie Dorian Hunters Schnellfeuerkarabiner oder Jeff Parkers Stiefel. Kampf und Tod waren wirklich, und wen eine Arkebusenkugel oder ein Pfeil traf, der würde sterben, ohne jeden Zweifel. »Niemandem«, sagte Dorian. »Wir müssen uns zurückhalten. Wir dürfen nicht eingreifen. Die Folgen wären nicht abzusehen.« Fernando Parras war nicht zu halten. Er stürzte vor, in das Kampfgetümmel hinein. Die Gruppe um Dorian Hunter und Jeff Parker stand abseits. Die Spanier drangen in die Stadt ein. Pascual Martinez griff tollkühn eine ganze Kampfschar von Inkas mit seinem Degen an. Dorian sah die Prinzessin Machu Picchu die Vierkantpyramide betreten. Sie wollte sich zum magischen Traumschlaf niederlegen. Und er sah Atahualpa, den Herrscher der Inkas, dessen Leichnam die dämonische Substanz des Antonio de Aguilar wiederbelebt hatte. Während Dorian noch zauderte, ob er Atahualpa angreifen sollte, begann die Stadt mit den Kämpfenden wieder zu verschwimmen. Sie hatte sich nicht richtig stabilisieren können. Dorian sah Georg Rudolf Speyer, der zu ihm und den anderen herübersah. Ihre Blicke
trafen sich über den Abgrund der Zeit hinweg, aber kein Schimmer des Erkennens huschte über Speyers Gesicht. Wie hätte er auch wissen sollen, daß der fremdartig gekleidete Mann mit der seltsamen Waffe und dem Oberlippenbart sein späteres Ich war? Augenblicke später waren Stadt und Lichtung verschwunden. Dschungel umgab sie wieder. Elf Männer und ein Mädchen; denn Fernando Parras war verschwunden, war von den unerklärlichen entfesselten Kräften in die Vergangenheit gerissen worden. »Was war das?« rief Sacheen. »Wo ist Fernando?« Auch die anderen waren völlig ratlos, wußten nicht, ob sie einen Traum oder die Wirklichkeit erlebt hatten. Der Dämonenkiller hielt es für den geeigneten Zeitpunkt, sein Wissen preiszugeben. Im Dämmerlicht des Dschungels enthüllte er seinen Gefährten das Geheimnis von El Dorado, das zu suchen viele ausgezogen waren. Mancher hatte auf der Suche nach der sagenhaften goldenen Stadt den Tod gefunden. »Magische, übernatürliche und unerklärliche Kräfte bewirken, daß El Dorado zwischen den Zeiten pendelt«, sagte Dorian. »Die Stadt taucht in der Gegenwart auf, vielleicht auch in der Zukunft und in anderen Zeiten, seit 1536, und sie kehrt wieder in die Vergangenheit zurück.« Arturo Pesce fing wie ein Irrer zu lachen an. Dorian ließ sich nicht beirren. »Die Stadt wird schon bald zurückkehren. Unseren Freund Fernando Parras hat es in die Vergangenheit verschlagen, und dort wird er bleiben und sterben. Das erklärt, weshalb wir vor ein paar Tagen sein vierhundert Jahre altes Skelett und seinen Revolver im Dschungel gefunden haben.« Alle schrien durcheinander, gestikulierten, brüllten sich an, tippten sich an die Stirn und beschimpften sich sogar. Sie benahmen sich wie Verrückte, weil das, was sie gehört hatten, einfach unfaßlich für sie war. Sie hatten El Dorado mit eigenen Augen auftauchen und wieder verschwinden sehen. Es ging ihnen auf, daß Dorian Hunter die Wahrheit gesprochen hatte. Sie diskutierten über das Gehörte, und es war alles andere als eine gesittete Debatte.
»Das kann doch nicht wahr sein, was Sie uns da gesagt haben, Hunter«, rief James Rogard plötzlich. »Weshalb sind wir denn schon früher auf spanische Soldaten gestoßen? Und weshalb hat Lipwitz die Inkastadt ohne Kampfgetümmel gesehen?« »Die spanischen Soldaten wurden bei den Kämpfen versprengt«, erklärte Dorian Hunter. »In der Gegenwart und in der Vergangenheit. Pascual Martinez zum Beispiel geriet in die Gegenwart, vielleicht auch ein paar von den Inkas. Daß Lipwitz die Stadt ohne Kampfgetümmel sah, ist einfach zu erklären. Er hat ein El Dorado gesehen, in dem das Gefecht mit den Spaniern bereits siegreich beendet war.« »Das ist zum wahnsinnig werden! Lipwitz hat El Dorado doch früher gesehen als wir. Vor ein paar Tagen schon.« »Na und? El Dorados Reise zwischen den Zeiten ist völlig willkürlich. Wenn die Stadt wieder auftaucht, kann es durchaus sehr viel später sein.« »Oder früher«, meinte Jeff Parker. Das stimmte nicht. Dorian hatte als Georg Rudolf Speyer miterlebt, wie der Dämon Atahualpa während der Kampfhandlungen die Stadt zum ersten Mal auf die Reise geschickt hatte. Aber Dorian hütete sich, seine Gefährten noch mehr zu verwirren. Ihm war klar, daß vielleicht auch zu anderen Zeiten Leute aus El Dorado, Spanier oder Inkas, in den Dschungel verschlagen worden waren. Er dachte nicht weiter darüber nach; ihn schwindelte. Er zog Jeff Parker zur Seite. »Atahualpa ist der Dämon. Der zusammengeflickte und wiederbelebte Leichnam des Inkaherrschers. Wenn wir ihn töten, können wir den magischen Bann brechen. Ich glaube, dann wird El Dorado nicht mehr zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin und her pendeln, sondern in der Gegenwart bleiben.« »Oder es verschlägt uns ins Jahr 1536«, meinte Jeff Parker. Dorian schüttelte den Kopf. »Ich bin damals als Georg Rudolf Speyer im Jahre 1536 an diesem Platz wieder herausgekommen. Nein, ich behaupte, wir werden in der Gegenwart bleiben.« »Hoffentlich. Wie sollen wir Atahualpa oder vielmehr den Dämon,
der ihn beseelt, töten?« Dorian Hunter sagte es ihm. Der Dämonenkiller und Jeff Parker kehrten wieder zu den anderen zurück, die immer noch stritten und debattierten. Sie warteten auf das Erscheinen der Stadt El Dorado. * Der Tag verging, die Nacht kam, und dann graute wieder der Morgen herauf. Langsam nur vertrieb das Dämmerlicht des Tages die Schatten unter den Bäumen. Die Expedition hatte die Nacht unbehelligt verbracht; die größeren Dschungeltiere wagten sich nicht hierher. Die unheimliche Aura dieser Gegend trieb die höher entwickelten Dschungelbewohner zurück. Nur die von der Gier nach den Schätzen El Dorados besessenen Menschen ignorierten die Warnzeichen ihres Instinktes. Dorian Hunter war entschlossen, den Dämon Atahualpa zu töten und damit den magischen Bann zu brechen. Die Expedition hatte sich etwas zurückgezogen, damit sie sich nicht auf der Lichtung befand, wenn die Stadt wieder auftauchte. Am Morgen kam Elliot Farmer angestürzt, der Ausschau gehalten hatte. »El Dorado ist erschienen! Gerade bringen die Inkas einen in ein Fischernetz eingeschnürten Mann zum Fluß.« Dorian Hunter wußte Bescheid. »Ist Atahualpa bei den Inkas?« »Ein großer Mann in einem roten mit Gold und Edelsteinen geschmückten Umhang und einer Federkrone führt die Inkas an.« Die Expedition brach auf. Mit den Munitionsvorräten der ParkerExpedition, die von den Pygmäen mitgeschleppt worden waren, hatten sich alle wieder ausreichend eindecken können. Als die elf Männer und das Halbblutmädchen den Rand des Dschungels erreichten, sahen sie die Stadt El Dorado auf der Lichtung. Gerade hatte der Zug von zwanzig Inkas, angeführt von Atahualpa, den Fluß erreicht. Auf dem Steg nahmen die Gefolgsleute des Dämons Aufstellung. Dorian Hunter und Jeff Parker verteilten ihre Leute zu beiden Seiten des Pfades und pirschten sich langsam heran. Der Dämonenkil-
ler und Jeff Parker wagten sich am weitesten vor. Sie sahen, wie Atahualpa sein unglückliches Opfer mit einem Tritt vom Steg ins Wasser stieß. Der ins Netz eingeschnürte Mann mit den zusammengenagelten Händen ging wie ein Stein unter. Ein paar Luftblasen stiegen auf. So gern Dorian dem Unglücklichen geholfen hätte, den Dämon zu vernichten war wichtiger. Wenn er starb, würden mit ihm seine Geschöpfe vergehen. »Wir kehren zurück zur Stadt«, rief Atahualpa im Ketschua-Dialekt der Inkas, und der Zug formierte sich. Die Inkas mit ihren aus Wolle gewebten Gewändern – einige trugen Wattepanzer oder nur Lendenschurze und reichen Goldschmuck um den Hals – folgten dem Dämon. »Inkas!« schrie Dorian Hunter, als Atahualpa nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war. »Rührt euch nicht von der Stelle! Wir wollen nur dieses Ungeheuer.« »Tötet sie!« brüllte Atahualpa sofort. Die Inkas griffen ohne zu zögern an. Sie rannten in den Tod. Ein Feuerstoß ratterte aus Dorian Hunters Simonow-Schnellfeuerkarabiner, und zwölf Gewehre und Karabiner spuckten Tod und Verderben. Die Geschoßgarben peitschten in die Reihen der Inkas und mähten sie nieder. Männer schrien, taumelten getroffen und brachen zusammen. Es war grausam. Viele Unschuldige mußten sterben. Auch Atahualpa wurde mehrmals getroffen, aber die Kugeln konnten ihn nicht töten. Aus seinen Wunden – selbst aus den das Fleisch zerfetzenden Einschüssen der vier M16-Gewehre – quoll sofort eine gallertartige Masse, die sie auf der Stelle verschloß. Der Dämon stürzte sich auf Dorian Hunter, der an der rechten Seite des Pfades kauerte. Dorian warf ihm den Schnellfeuerkarabiner ins Gesicht und riß den goldenen Zeremoniendolch aus dem Gürtel. »Dämon!« schrie er. »Atahualpa! Antonio de Aguilar! Erkennst du mich wieder? Erkennst du den Mann, der dich ins Netz geschnürt und mit genagelten Händen ins Meer geworfen hat?« »Speyer!« heulte Atahualpa. »Elende Kreatur! Mit welchen Mächten bist du im Bunde, daß du in dieser Gestalt hier auftauchst? Geh
zugrunde, sterblicher Wurm!« Dorian warf sich ihm entgegen, und sie rangen um den Besitz des Inkadolches. Arturo Pesce und ein paar andere rannten mit schußbereiten Gewehren an den Kämpfenden vorbei und hielten die letzten Inkas in Schach. Jeff Parker sprang herzu, das Quipu in der Hand. Er warf die Schnüre des Quipu über Atahualpas Kopf, und Dorian Hunter bekam die Hand mit dem Dolch frei und stieß die goldene Klinge bis zum Heft in Atahualpas Herz. Der Dämon zuckte. Seine Gegenwehr erlahmte. Wieder und wieder stach Dorian Hunter zu. Atahualpa bewegte sich noch, leistete aber keine Gegenwehr mehr. Dorian und Jeff Parker umwickelten seinen Kopf mit dem Quipu und würgten ihn mit den Schnüren. Dorian drückte den Dämon nieder, der sich erheben wollte, unter grauenvollen Schmerzen wie ein Schwerverletzter stöhnend. Parker nahm den Zeremoniendolch, den Dorian hatte fallen lassen. Er stach noch ein paarmal auf Atahualpa ein. Das Fleisch des Dämons war kalt. Aus den Stichwunden quoll eine graue, gallertartige Masse, widerlicher Schleim, die dämonische Substanz, die den Körper belebte. Sie wurde zu einer zwei Meter langen, armdicken Schlange, die auf das Ufer zukroch, um in den Fluß zu flüchten. Aber Jeff Parker bannte die Gallertschlange, den eigentlichen Dämon, mit dem Zeremoniendolch. Das scheußliche Geschöpf zuckte und wand sich, aber die magische Kraft des Dolches hielt es fest. Dorian zog sein Gasfeuerzeug heraus und stellte die Flamme auf groß. Mit dem Flammenstrahl berührte er den Schlangenkörper. Schon die erste Berührung genügte. Die dämonische Substanz brannte wie Zunder. Eine zuckende Feuerschlange wand sich um den goldenen Inkadolch. Die Männer und das Mädchen Sacheen sahen zu, wie die Flammen den Körper des Dämons aufzehrten. Es stank abscheulich, und ein seltsames Geräusch war zu hören, als schmore fettes, saftiges Fleisch in heißer Kohlenglut. Dann war von dem Dämon nichts mehr da. Der Leichnam Atahualpas veränderte sich in Sekundenschnelle. Er wurde zu einer dür-
ren, zusammengeschrumpften Mumie mit bleckenden Zähnen. Dorian ließ die sechs Inkas, die bei der Schießerei unverletzt geblieben oder nur leicht verwundet worden waren, und die schwerer Verletzten zur Stadt tragen. Neun Inkas hatten bei dem Kampf ihr Leben verloren; von den Weißen war nicht einmal einer verwundet worden. Die neuen Herren zogen in der Stadt El Dorado ein. Dorian Hunter und Jeff Parker führten die Expedition an, die mit schußbereiten Gewehren einmarschierte. Aber die Inkas dachten nicht an Gegenwehr. Sie waren an Autorität gewöhnt und unterwarfen sich sofort den Männern, die den mächtigen Dämon getötet hatten. Ein alter Inka warf sich vor Dorian zu Boden und berührte mit seiner Stirn die Erde. »Du bist mein Herrscher«, sagte er in der alten Inkasprache, die Dorian verstehen konnte. Georg Rudolf Speyer hatte ihm dieses Wissen praktisch vererbt. »Unser Leben und alles, was wir haben, gehört dir. Ich spreche für die ganze Stadt.« »Steh auf!« sagte Dorian. »Wir kommen nicht als Feinde. Ich will mit der Prinzessin Machu Picchu sprechen.« »Sie schläft, Herr.« Dorian Hunter hatte geglaubt, mit dem Tod des Dämons würde Machu Picchu erwachen, aber als er sie von ein paar Inkas aus der Pyramide ins Freie tragen ließ, zeigte sich, daß das nicht der Fall war. Dorian rüttelte sie, sanft zuerst, dann heftiger. Doch die schöne Inkaprinzessin schlief weiter, ein rätselhaftes Lächeln auf den Lippen. David Astor, der Missionar und Wissenschaftler mit dem Vollbart und der Kutte, untersuchte sie. »Das ist kein natürlicher Schlaf.« »Laßt die Prinzessin schlafen!« bat der alte Inka. Bis auf fünf hatten sich die Bewohner der Stadt in die Gebäude zurückgezogen. »Sie zu wecken, würde nur Unheil heraufbeschwören.« Jeff Parker und seine Freunde konnten es kaum erwarten, in die Schatzkammern von El Dorado einzudringen. Sie waren am Ziel. Das Goldfieber brannte ihnen in den Augen. Sie waren nervös wie Rennpferde vor dem Start. Dorian Hunter war nachdenklich. Er wollte nichts überstürzen,
denn er ahnte, daß mit dem Tod des Dämons noch keineswegs alles abgetan war. Er sah aber, daß er die anderen nicht abhalten konnte. Gedankenvoll schaute er auf die schlafende Prinzessin nieder, die vor ihm auf einem prächtigen Katafalk lag. »Was beschert uns diese Stadt, Machu Picchu, was erwartet uns? Unermeßliche Schätze oder grausige Schrecken?« Unergründlich lächelte die schlafende Machu Picchu.
Viertes Buch �
Die Monster aus der Geisterstadt von Ernst Vlcek
Von irgendwoher aus dem Dschungel ertönte die schaurige Kakophonie der Brüllaffen, als Jean Daponde die Tempelanlagen der Inka-Stadt Manoa betrat. Er hatte es eigentlich noch immer nicht recht fassen können, daß er sich im sagenumwobenen El Dorado befand. So phantastisch die Geschichte war, die Dorian Hunter ihnen aufgetischt hatte – Jean Daponde war an einem ganz anderen Phänomen interessiert. Er wollte das Rätsel der schlafenden Inka-Prinzessin ergründen. Und er glaubte, daß er sich auf dem richtigen Weg befand. Seine Gefährten hatten sich bei dem Gebäude, in dem sie Quartier bezogen hatten, zu einer Lagebesprechung zusammengefunden. Sie berieten, wie sie bei der Schatzsuche vorgehen sollten. Jean Daponde ließ das Gold, das irgendwo in den Gewölben von Manoa verborgen sein mochte, kalt. Das Quipu, das Dorian Hunter ihm zur Entschlüsselung überlassen hatte, über die Schulter geworfen, marschierte er zielstrebig auf das Tor des dreißig Meter hohen Sonnentempels zu. Es erinnerte ihn mit seinen vielen Steinreliefs irgendwie an das berühmte Sonnentor am Titicacasee, obwohl sich die dargestellten Szenen grundlegend voneinander unterschieden. Als er nun noch wenige Schritte von dem stufenförmig angeordneten Pyramidentempel entfernt war, traten aus dem Inneren vier Priester durch das Tor ins Freie. An ihrer Kleidung erkannte der Inka-Forscher sie sofort als Angehörige der Kaste der Opferpriester. Er schauderte, als er sich unwillkürlich fragte, wie viele Menschen von ihnen schon geopfert worden waren. Doch mit dem Tod des Dämons war hoffentlich auch das sinnlose Morden vorüber. Seitdem legten die Opferpriester sogar eine überraschende Unterwürfigkeit an den Tag. Huica, der Wortführer der Priester, kniete plötzlich vor Daponde nieder, senkte demütig das Haupt, und sagte in altertümlichem Spanisch: »Seid gnädig, Konquistadores, und stört nicht den heiligen Schlaf der Prinzessin Machu Picchu!« Daponde hatte nicht vor, sich auf Diskussionen einzulassen, sondern wollte von seiner Autorität Gebrauch machen, um ans Ziel zu kommen. Von Dorian Hunter und im Umgang mit den Inkas hatte
er deren Sprache ein wenig gelernt, so daß er sich leidlich mit ihnen verständigen konnte. »Gebt den Weg frei!« verlangte er barsch. Die Priester zögerten. Huica erhob sich langsam. In seinem Gesicht zuckte es. Er schien noch einen Einwand vorbringen zu wollen, doch als er Dapondes entschlossenen Blick sah, wußte er, daß jede Widerrede zwecklos war. Die Priester zogen sich in den heiligen Bezirk zurück, wo ihre Unterkünfte lagen. Daponde sah ihnen nach, bis sie seinen Blicken entschwunden waren, dann betrat er das Innere des Sonnentempels, in dem die schlafende Machu Picchu aufgebahrt war. Es gab nur einen einzigen Raum, der verhältnismäßig schmucklos war. Er wurde von einem halben Dutzend Fackeln erhellt. An der einen Wand hing die unvermeidliche Sonnenscheibe aus purem Gold. Aber sie war das einzig Wertvolle. Die sonst üblichen Ziergegenstände, die die Inkas den von ihnen verehrten Toten beistellten, fehlten; es gab nicht einmal Vasen, Krüge oder Schalen aus Porzellan. In der Mitte stand ein grob behauener Steinquader, der zwölf Fuß lang, sechs Fuß breit und drei Fuß hoch war. Der Stein war vom getrockneten Blut der Opfer dunkel gefärbt; das Blut klebte in zentimeterdicken Schichten darauf und bildete Klumpen, die wie Wucherungen aussahen. Und auf diesem Sockel lag Machu Picchu. Sie sah wie eine Schlafende aus – und sie schlief wohl auch tatsächlich. Es war bisher nicht gelungen, sie zu wecken. Der Biologe James Rogard hatte sie untersucht. Ihr Puls schlug nicht, und als er ihr einen Spiegel vor Mund und Nase hielt, beschlug dieser nicht; sie schien nicht zu atmen. Dennoch war auch der Biologe überzeugt, daß sie nicht tot war. Der Dämon hatte sie in diesen Zustand versetzt. Deshalb verblüffte es alle Eingeweihten – und besonders Dorian Hunter –, daß sie nach seinem Tod nicht aufgewacht war. Nur Jean Daponde wunderte sich nicht. Er hatte das Quipu auf seiner Schulter soweit entziffert, daß er es für den Zustand der Inka-Prinzessin verantwortlich machte. Das Quipu barg aber noch Geheimnisse, die er bislang nicht gelöst hatte. Verschiedene Anzeichen wiesen auf einen Zauber hin, der
weit über den Tod des Dämons hinausreichte. Und einige Knoten deuteten auch auf einen Jahrhunderte währenden magischen Kalender hin. Konnte das bedeuten, daß die Vergangenheit mit der Gegenwart untrennbar war? So wie die Knotenschnüre des Quipu? Machu Picchu war schön. Jean Daponde hatte schon immer gewußt, daß die Inkas ein edles Volk waren. Aber der Anblick der lebenden Inka-Prinzessin – wenngleich sie scheintot war – raubte ihm förmlich den Atem. Sie war klein, nicht einmal ein Meter sechzig groß, und hatte eine knabenhafte Figur mit kleinen, harten Brüsten – Daponde zog beschämt seine Hand schnell wieder zurück – und einem schmalen Becken. Ihr Gesicht hatte den rötlichen Teint, war aber nicht so breitflächig wie das anderer Inkas. Ihre etwas zu groß geratene Nase war geradezu klassisch-griechisch. Ihr schwarzes, bis zu den Hüften reichendes Haar war über den Stein ausgebreitet und strahlenförmig angeordnet, als sollten dadurch die Sonnenstrahlen symbolisiert werden. Selbst im Schlaf erinnerte sie an eine kampfbereite Wildkatze. Das bemalte Hüfttuch hatte sich vorn etwas geteilt, so daß er ihre makellosen Beine bis über die Knie hoch sehen konnte. Daponde leckte sich unwillkürlich die Lippen. Wenn sie nun die Augen aufgeschlagen, ihr Busen sich gehoben und gesenkt hätte – wie begehrenswert wäre sie dann erst für ihn gewesen. Er wischte den Gedanken hinweg. »Ich werde dich aus deinem Schlaf wecken, kleine Machu Picchu«, murmelte er und breitete das Quipu auf ihrem Körper aus. Hatte es nicht gerade in ihrem Gesicht gezuckt? Hatte die Berührung mit dem Quipu nicht eine Reaktion bei der Schlafenden hervorgerufen? Daponde breitete die mehr als zwanzig verschiedenfarbigen Knotenschnüre über den kalten Körper der Inka-Prinzessin. Ja – ihr Körper war kalt, und auch die Luft war kalt, als würde der Leib alle Wärme in sich aufsaugen. Irgendwo hinter ihm war ein Geräusch. Er drehte sich gehetzt um, sah aber nichts. Es hatte sich so angehört, als würden sich die Steinquader, aus denen der Sonnentempel gebaut war, verschieben; als
würden Steine gegeneinanderreiben. Vielleicht brachte er den Tempel zum Einstürzen, wenn er mit dem Quipu manipulierte? Daponde belächelte seine närrische Angst. Und doch war er sicher, daß hier Kräfte am Werk waren, die vorerst vielleicht noch schlummerten, die aber mit dem menschlichen Verstand nicht zu begreifen waren. Schon gar nicht mit einem wissenschaftlich geschulten Verstand. »Ich weiß, wie ich dich wecken kann, kleine Prinzessin«, flüsterte der Franzose. »Mit Hilfe dieses Quipu werde ich dich von dem Fluch befreien.« Er nahm eine rotgefärbte Schnur zwischen die Finger, rieb vorsichtig über die Knotenkette und öffnete blitzschnell den untersten Knoten der Schnur. Der Körper Machu Picchus zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Jean Daponde hielt den Atem an. Er war auf dem richtigen Weg; er war dabei, das Geheimnis des Quipu zu enträtseln. Wieder öffnete er mit zitternden Fingern einen Knoten. Diesmal einen fünffachen. Ein seltsamer Laut entrang sich der Kehle des Mädchens. Daponde wertete das als erstes Anzeichen dafür, daß sie im Aufwachen begriffen war. Minuten später hatte er alle Knoten der roten Schnur gelöst. In Machu Picchu kam jetzt Leben. Ihr Körper machte langsame Schlangenbewegungen. Ihre Körpermitte rotierte wie bei einer Bauchtänzerin. Ihre geschlossenen Lider zuckten. »Öffne die Augen, Machu Picchu!« sagte der kleine Franzose beschwörend. Ihm war plötzlich heiß. Schweiß perlte über sein Gesicht und glitzerte wie Tau in seinem Bart. Das Inka-Mädchen warf sich herum. Ihre Arme zuckten, und dabei knackten ihre Gelenke, als wären sie eingerostet gewesen. Dann streckte sie die Arme steif in die Luft. Wieder kam ein seltsamer Ton über ihre Lippen. Wollte sie etwas sagen? Ihre makellose Haut bekam plötzlich Flecke, die sich bläulich verfärbten. Was bedeutete das? Daponde hatte aus den Knotenschnüren herausgelesen, daß ein langer Traum für den Schlaf der Inka-Prinzessin verantwortlich war. Wovon träumte sie jetzt? Sie warf den Kopf hin und her und schnitt
Grimassen, als hätte sie furchtbare Alpträume. »Ich werde dich …« Daponde unterbrach sich, als er wieder das Mahlen gegeneinanderreibender Felsquader vernahm. Der Tempel schien in seinen Grundfesten zu erbeben, als ob übernatürliche Kräfte an dem wuchtigen Bauwerk rüttelten. Machu Picchu bäumte sich auf. Sie schnellte hoch und sackte dann wieder kraftlos zurück. Dann lag sie entspannt da, bis Daponde den nächsten Knoten löste. Da erhielt er plötzlich einen Schlag gegen eine Schulter. Der Schlag traf ihn mit solcher Wucht, daß Daponde sich um seine eigene Achse drehte, und bevor er noch stehenbleiben konnte, wurde er von neuem getroffen. Diesmal prallte ein dunkler Schatten wie eine Gewitterwolke gegen seine Brust, hob ihn vom Boden hoch und schleuderte ihn durch die Luft. Daponde konnte den Angreifer nicht genau erkennen. Der Schmerz machte ihn blind und taub. Er hatte das Gefühl, daß er mitsamt dem Quipu durch die Luft segelte – nein, schwebte. Ja, er schwebte, und als er auf den Boden aufprallte, war ihm, als tauchte er in die Fluten eines Gewässers ein; ein Meer aus rotem Wasser, das aus seinem Arm quoll, der plötzlich wie ein abgetrennter Stumpf aussah. Krallen durchschnitten die in Blut getauchte Sphäre, wirbelten Daponde wieder empor und schleuderten ihn wie ein Spielzeug davon. Obwohl er keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte, klammerte er sich instinktiv an das Quipu wie an einen rettenden Strohhalm. Und auf einmal wußte er, was das alles zu bedeuten hatte. Er war auf dem richtigen Weg gewesen, die Inka-Prinzessin von ihren Alpträumen zu erlösen. Aber auf irgendeine unerklärliche Art war er selbst in diesen Alptraum geraten, und das hatte tödliche Folgen für ihn. Das schattenhafte Ding mit den furchtbaren Krallen zerriß ihn förmlich in der Luft. * Der gespenstische Schrei ließ sie erstarren. Er kam nicht aus dem
Dschungel, sondern aus der Inka-Stadt – vom Sonnentempel. Der Schrei war so durchdringend, daß er selbst das Gekreische der Brüllaffen übertönte. Arturo Pesce hatte gerade vorgeschlagen: »Nehmen wir uns die Inkas vor. Es wäre doch gelacht, wenn wir sie nicht zum Sprechen bringen könnten.« »Kommt nicht in Frage«, lehnte Dorian Hunter ab. Alle anderen stimmten ihm zu. Pesce grinste auf seine widerwärtige Art und meinte: »Wie wäre es dann mit der Inka-Prinzessin? Mit ein paar Leibesübungen könnte ich ihre Träume erotisch gestalten und …« Der Schrei brachte ihn zum Verstummen. Es war der Schrei eines Menschen in höchster Todesnot; der Schrei eines von namenlosem Grauen Geschüttelten. Er ging durch Mark und Bein, und er klang deshalb so besonders grausig, da er immer wieder abbrach, als ob sein Urheber seine Kräfte sammeln müßte, um dann seine Qual erneut in die Welt hinauszubrüllen. Dorian faßte sich als erster. »Das kommt vom Sonnentempel.« Er ließ seinen Blick über die Umstehenden schweifen. »Nur Daponde fehlt.« »Ich habe ihn vorhin mit dem Quipu zu den Tempelanlagen schleichen sehen«, meldete David Astor, der Missionar. Dorian hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Er rannte, als sei der Teufel hinter ihm her. Als er das Tor in der Mauer der Tempelanlagen erreichte, prallte er zurück, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis gerannt. Der Anblick, der sich ihm bot, war selbst für den Dämonenkiller zuviel. Er faßte sich aber sofort und lief weiter. Als er die sterblichen Überreste Dapondes erreichte, hörte er hinter sich jemanden würgen, und dann übergab sich derjenige hemmungslos. Daponde war nur noch ein unförmiger, blutbesudelter Fleischklumpen. Mit der Rechten hielt der Inka-Spezialist immer noch das Quipu umklammert. Seltsamerweise hatte keine der Knotenschnüre auch nur einen Blutspritzer abbekommen. Dorian war benommen. »Hunter«, kam es da kaum verständlich über die Lippen des Ster-
benden. »Das Quipu – geleitet Machu Picchu durch ihre Alpträume. Ungeheuer … schreckliche Gefahr. Ich … wollte sie wecken, aber da … erwischte es mich. Nehmen Sie … Quipu. Es droht Gefahr. Wecken Sie …« Jean Daponde starb, bevor er den Satz vollenden konnte. Dorian sah, wie Jeff Parker Sacheen umarmte. Parkers Gesicht war kreidebleich geworden. Arturo Pesce stand regungslos gegen eine Wand gelehnt und hatte die Augen geschlossen. David Astor schlüpfte aus seiner Kutte und breitete sie über die sterblichen Überreste Jean Dapondes. »Wer kann diese abscheuliche Tat begangen haben?« fragte er und blickte zu den Gebäuden, wo einige Inka-Priester aufgetaucht waren. Dorian hob das Quipu auf und entdeckte, daß einige Knoten geöffnet waren. Er blickte zum Eingang des Tempels hinüber. Jean Daponde mußte die volle Wahrheit erkannt haben, war aber nicht mehr in der Lage gewesen, mehr als einige Andeutungen zu machen. Dorian schritt wie in Trance auf den Tempel zu. Das Quipu lastete wie ein zentnerschweres Gewicht in seiner Hand. Er stieg automatisch die Stufen zum Eingang hinauf und betrat das Innere des Tempels. Als sich seine Augen an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, sah er, daß die Inka-Prinzessin friedlich auf dem Steinsockel lag. Ihm war nur, als hätte sie ihre Lage etwas verändert, aber sicher war er sich nicht. Draußen kreischte Arturo Pesce: »Sucht nicht lange nach den Schuldigen! Da habt ihr sie! Die Spanier werden schon gewußt haben, warum sie die Inkas ausrotteten. Diese scheinheiligen Bestien haben Daponde auf dem Gewissen.« Neben Dorian tauchte ein Schatten auf. Es war der Opferpriester Huica. Sein Gesicht war ausdruckslos wie immer, nur seine Blicke wanderten unruhig umher – von Dorian zu der schlafenden Machu Picchu, über das Quipu und zurück zu Dorian. Er erwiderte den Blick. Da sank der Opferpriester auf die Knie und bat in altertümlichem
Spanisch: »Laßt die Prinzessin im heiligen Schlaf ruhen, Konquistadores! Weckt nicht die Schrecken ihrer Träume!« Dorian nickte leicht mit dem Kopf, dann wandte er sich ab und ging ins Freie. Der Tempelhof zeigte drei große Blutlachen, so als hätte eine ungeheure Macht Daponde immer wieder zu Boden geschleudert. Daponde war Machu Picchus Geheimnis auf der Spur gewesen und hatte mit dem Leben bezahlen müssen. Der kleine Franzose hatte immer wieder die Vermutung geäußert, daß zwischen der InkaPrinzessin und dem Quipu eine magische Symbiose bestehen würde. Was immer er mit dem Öffnen der Knoten beabsichtigte, es hatte nicht den gewünschten Erfolg gebracht, sondern ihn das Leben gekostet. Und wollte Daponde Dorian vor seinem Tod nicht das gleiche raten wie soeben Huica? Nämlich, daß man Machu Picchu ruhen lassen sollte? Als Daponde sie wecken wollte, war er zerrissen worden. Von wem? »Weckt nicht die Schrecken ihrer Träume!« hatte der Inka-Priester verlangt. Und Dapondes letzte Worte waren gewesen: »Wecken Sie …« Machu Picchu nicht, fügte Dorian in Gedanken hinzu. Er kam zu der Ansicht, daß man Machu Picchus Träume vorerst nicht stören sollte. * Sie hatten Jean Daponde begraben, das heißt, das, was von ihm übriggeblieben war. David Astor war wieder in die blutbefleckte Mönchskutte geschlüpft und hatte die Grabrede gehalten. Es war bezeichnend für ihre Unsicherheit und die Angst vor der unbekannten Gefahr, daß sie auch während der kurzen Trauerfeierlichkeiten ihre Waffen nicht abgelegt hatten. Dorian beschloß danach, die Situation auszunutzen, um die Männer dazu zu bewegen, dieser Inka-Stadt, auf der der Fluch eines Dämons lastete, den Rücken zu kehren. Aber obwohl den Männern die Angst in den Knochen saß, war ihre Gier nach Gold größer. Bei einer Abstimmung stellte sich heraus, daß nur er selbst und Sacheen für
eine Rückkehr in die Zivilisation waren. Die anderen brachten mannigfaltigste Gründe und Argumente vor, um hierbleiben zu können. »Ich habe Hunderttausende in diese Expedition gesteckt«, argumentierte Parker. »Einige meiner Freunde mußten ihr Leben lassen. Und wofür das alles? Daß ich jetzt mit leeren Händen zurückkehre? Wir haben etwas geschafft, was noch niemandem vor uns gelungen ist. Wir haben das Land El Dorado gefunden. Wir sind in der InkaStadt Manoa. Jetzt kann mich nichts davon abhalten, ihre Geheimnisse zu ergründen. Das ist sicherlich auch im Sinne der Wissenschaftler.« Der Anthropologe Abraham Coe, die Biologen James Rogard und James Wood und natürlich auch der Missionar David Astor, dem es die Inka-Kultur angetan hatte, stimmten zu. Elliot Farmer steckte seinen Stenogrammblock weg, klemmte sich den Schreibstift hinters Ohr und spuckte in weitem Bogen seinen Priem aus, während er sich den Cowboyhut ins Genick schob. »Ich habe den größten Knüller zu Papier gebracht, aber ich kann meine Aufzeichnungen auf den Lokus hängen, wenn ich sie nicht effektvoll abschließe. Wenn es sein muß, bleibe ich allein hier zurück.« »Auf mich kannst du zählen, Elliot«, sagte Jörn Geregaad. Der hünenhafte Däne mit dem von der Sonne gebleichten Blondbart, der wegen seines offenen Wesens allen sympathisch war, sprach auch diesmal ehrlich aus, was ihn zum Hierbleiben bewegte. »Wenn wir den Inka-Schatz finden, bin ich fein heraus. Ich brauche dann nie mehr wieder reiche abgetakelte amerikanische Witwen zu besteigen.« Elmar Freytag, den alle für einen deutschen Betrüger hielten, der sich vor brasilianischen Erpressern in den Dschungel flüchtete, schloß sich Geregaads Argumenten an. Arturo Pesce, den sie auch »Spaghetti« nannten, weil er so schlüpfrig war wie die Nationalspeise seiner Heimat, sagte überhaupt nichts. Er war sich viel zu gut, um irgendeine Stellungnahme abzugeben. Außerdem war auch keiner neugierig darauf, was er zu sagen hatte. Niemand, nicht einmal Geregaad, mit dem er öfter zusammensteckte, konnte ihn so richtig leiden. Dorian seufzte und deutete zu dem Hügel mit dem einfachen
Holzkreuz, unter dem Daponde begraben war. »Gut, ihr habt euch entschieden. Hoffentlich bekommt Daponde nicht bald Gesellschaft.« »Glaubst du noch immer, daß du uns mit deinen Schauergeschichten Angst einjagen kannst?« rief Pesce spöttisch. Dorian hob besänftigend die Arme. »Kein Wort mehr«, versprach er. »Ich sehe ein, daß meine Warnungen ungehört bleiben. Ihr wollt den Schatz suchen, von dem ihr nicht einmal wißt, ob er überhaupt existiert. Die Inkas jedenfalls behaupten, daß es keine Schätze in Manoa gibt. Aber bitte, ich schließe mich der Mehrheit an. Wie stellt ihr euch die Schatzsuche vor? Ich würde vorschlagen, daß wir uns in drei Gruppen aufteilen. Das garantiert uns einen einigermaßen ausreichenden Schutz und gibt uns gleichzeitig auch einen größeren Aktionsradius als wenn wir zusammenblieben.« »Wovor hast du denn Angst, Hunter, wenn du den Inkas vertraust?« erkundigte sich Pesce. »Vor den unbekannten Mächten, die Daponde auf dem Gewissen haben«, erklärte Dorian. »In diesem Zusammenhang möchte ich allen raten, sich von der schlafenden Inka-Prinzessin fernzuhalten. Sie stellt noch einen zu großen Unsicherheitsfaktor dar. Wer weiß, was passiert, wenn wir ihren Schlaf stören.« »Jetzt kommt er uns schon wieder mit diesen Schauermärchen«, rief Pesce aus und verdrehte die Augen. Aber nicht einmal Jörn Geregaad ging auf ihn ein. * »Dieser Hunter spielt sich auf, als wäre er der liebe Gott.« Pesce schimpfte weiter, während er seine Pistole überprüfte. Das Magazin war gefüllt, eine Patrone steckte in der Kammer. Er legte den Sicherungsflügel zurück und verstaute sie in der Tasche. Dann holte er die Tube mit der Insektensalbe hervor und rieb sich alle ungeschützten Hautstellen damit ein. Er war der einzige, der kaum unter den Moskitos und anderen Stechmücken zu leiden hatte. Die Salbe war nicht mit Gold aufzuwiegen. Er hatte sie den anderen sogar
angeboten, doch nicht einmal Sacheen hatte von diesem Angebot Gebrauch gemacht, weil – wie sie sich ausdrückte – man danach wie alle Insassinnen eines Bordells zusammengenommen stank. Pesce empfand den Duft dagegen anregend und glaubte, Sacheen drückte sich nur so aus, um ihn zu kränken, aber es ließ ihn kalt. Als er sich das Gesicht einrieb und seine Finger dabei die Narbe berührten, die von Sacheens Peitsche stammte, kam die Wut wieder in ihm hoch. Er würde sich bei dieser indianischen Nutte schon noch revanchieren. Jörn Geregaad, der neben Pesce hockte und ebenfalls seine spärliche Ausrüstung überprüfte, grinste. »Wenn ich die Augen schließe und tief einatme, meine ich, im Boudoir jener Senatorenwitwe zu sein, die mich zuletzt aushielt, bevor ich mich aus den Staaten absetzte.« »Fang du auch noch damit an«, knurrte Pesce. »Hab dich nicht gleich so!« Geregaad hob das Jagdgewehr und blickte durchs Zielfernrohr. Es war ein seltsamer Zufall, daß er plötzlich den Biologen James Rogard im Fadenkreuz hatte. Geregaad setzte das Gewehr ab und meinte: »Ich werde mich doch lieber an die Machete halten. Innerhalb der Stadt ist das Gewehr nur hinderlich.« »Auf wen hast du denn gezielt?« erkundigte sich Pesce gedehnt. »Ich habe überhaupt nicht gezielt.« »Du hast Rogard aufs Korn genommen. Er ist dir wohl ebenfalls im Weg?« »Was willst du damit sagen?« »Nichts weiter«, versicherte Pesce. »Nur daß mir Elmar als Begleiter lieber gewesen wäre. Der Deutsche ist mehr nach meinem Geschmack. Mit ihm kann man Pferde stehlen. Aber ich frage dich, was sollen wir mit den beiden Wissenschaftlern?« »Ich verstehe noch immer nicht, worauf du hinauswillst«, sagte Geregaad. »Dann überlege mal!« Pesce griff sich eine Machete und teilte mit der rasierklingenscharfen Schneide ein dickes, behaartes Pflanzenblatt. »Hunter hat uns bewußt Rogard und Coe als Begleiter zugeteilt. Die beiden sollen uns bremsen. Wenn Elmar Freytag bei uns wäre, hätten wir bessere Chancen, den Schatz zu finden. Hunter,
dieser Mistkerl, hat aber Elmar absichtlich von uns getrennt und mit Farmer, Wood und Astor zusammengesteckt. Bei dem Betbruder ist Elmar gut aufgehoben – und wir sind es bei den Wissenschaftlern.« »Auf was für Gedanken du kommst!« sagte Geregaad kopfschüttelnd. »Wir sind doch alle daran interessiert, den Schatz zu finden. Da ist es doch egal, wer zu welcher Gruppe gehört.« »Hunter ist ein Wichtigtuer«, behauptete Pesce wütend. »Wer ist er denn überhaupt, daß er einfach das Kommando übernimmt und Befehle erteilt? Und ihr Waschlappen tanzt auch noch nach seiner Pfeife.« »Nun, er dürfte der einzige sein, der die seltsamen Vorgänge wenigstens einigermaßen zu begreifen scheint«, erwiderte Geregaad. »Oder kommst du da etwa mit, daß Manoa mitsamt den Inkas durch die Zeit in unsere Gegenwart gekommen sein soll? Und dann die spanischen Soldaten, die aus dem sechzehnten Jahrhundert stammen und plötzlich auftauchten? Ich möchte mir nicht den Kopf darüber zerbrechen, sonst werde ich noch verrückt. Hunter aber nimmt das alles als selbstverständlich hin. Du kannst gegen ihn sagen, was du willst, aber er ist der ruhende Pol in unserer Gemeinschaft. Ich vertraue ihm.« »Er ist ein Blender. Oder ein ganz gerissener Hund. Ich halte es sogar für möglich, daß er mit den Inkas unter einer Decke steckt. Warum sollte er verlangen, daß wir die Hände von ihnen lassen? Ich bin sicher, daß ich aus den Inkas herausbekommen könnte, wo sie ihren Schatz versteckt haben.« »Das könnte schon sein«, gab Geregaad zu. »Ich könnte mir auch vorstellen, daß diese Prinzessin, die angeblich schläft, etwas über den Schatz weiß.« Pesce grinste. »Kannst du etwa meine Gedanken lesen, Jörn?« Er rückte näher an den Dänen heran und fuhr mit gesenkter Stimme vertraulich fort: »Vielleicht hast du dich auch schon gefragt, ob Hunter sich den Schatz nicht selbst unter den Nagel reißen und mit niemandem teilen möchte? Er hofft, uns auszuschalten, indem er uns Rogard und Coe anhängt. Aber wenn wir sie abschütteln, dann …« Er ließ den Rest unausgesprochen.
* »Du siehst aus, als sei eine Welt zusammengestürzt, Dorian«, sagte Jeff Parker launisch. »Ich verstehe nicht, daß ausgerechnet du an Rückzug denkst, bevor die letzten Geheimnisse dieser Stadt ergründet sind. Wo dein Schicksal doch so eng mit den Inkas im allgemeinen und mit Machu Picchu verwoben ist.« Dorian blickte der Gruppe von vier Männern nach, die als erste zur Schatzsuche aufbrachen: dem Reporter Elliot Farmer, Elmar Freytag, der die unvermeidliche Fotoausrüstung bei sich trug, dem Biologen James Wood, der sicherlich lieber den Dschungel auf der Suche nach seltenen Insektenarten durchstreift hätte, und dem Missionar David Aster, der die Spitze übernommen hatte. Es war abgemacht, daß diese Gruppe den Südteil der Stadt durchsuchen sollte. »Mir wäre wohler, wenn wir noch unsere Sprechfunkgeräte hätten«, sagte Dorian, ohne den Freund anzusehen. »So sind wir voneinander isoliert, kaum daß wir uns aus den Augen verloren haben.« »Ich mache mir ernstlich Sorgen um dich«, sagte Parker stirnrunzelnd. »Mein Gott, wenn ich daran denke, wie du damals auf Haiti im Kampf gegen Asmodi deinen Mann gestellt hast. Im Vergleich dazu bist du heute nur noch ein Schatten deiner selbst.« »Damals wußte ich, mit wem ich es zu tun hatte«, erwiderte Dorian. »Im Vergleich zu den unbekannten Schrecken dieser Stadt war Asmodi eine sehr reale Bedrohung. Hier weiß ich nicht, woran wir sind. Ich grüble ständig darüber nach, wie Daponde gestorben ist.« »Ich dachte, der Grund für seinen Tod sei darin zu suchen, daß er Machu Picchu aufwecken wollte.« »Das vermute ich. Aber was passierte wirklich? Darüber denke ich ständig nach.« »Denkst du nicht auch über andere Dinge nach?« fragte da eine weibliche Stimme im Hintergrund. Sacheen, die bisher schweigend dem Gespräch der beiden Männer gelauscht hatte, kam zu ihnen. Sie hatte ihr blauschwarzes Haar wieder zu zwei Zöpfen geflochten. Die Peitsche, die sie selbst beim
Schlafen bei sich hatte, steckte zusammengerollt in ihrem Gürtel. Dorian blickte hoch, und am Ausdruck ihrer Augen erkannte er, worauf sie anspielte. Er mußte unwillkürlich lächeln. »Ist es nicht so, daß du nicht nur fort willst, um vor den unbekannten Gefahren zu flüchten?« fuhr sie fort. »Mir machst du nichts vor, Dorian. Meine Intuition sagt mir, daß du einen noch viel wichtigeren Grund hast.« »Du wirst mir langsam unheimlich«, sagte Dorian. »Du hast natürlich recht. Ich muß ständig an Coco denken und kann mich nur schwer auf andere Dinge konzentrieren.« »Schade, daß ich keine Gelegenheit mehr hatte, sie kennenzulernen«, meinte Sacheen bedauernd. »Sie muß eine faszinierende Frau sein, wenn sie dich so stark beschäftigt.« »Faszinierend? In der Tat, das war sie«, bestätigte Parker. Er klopfte Dorian auf die Schulter. »Aber die Welt ist voll von faszinierenden Frauen.« Er deutete mit dem Kopf in Richtung des Sonnentempels. »Und eine davon ist Machu Picchu.« Dorian nickte. Ja, Machu Picchu war eine faszinierende Persönlichkeit, aber sie war für ihn mehr ein geheimnisvolles, exotisches Subjekt. An ihr interessierte ihn mehr der Werdegang, der Leidensweg, das Schicksal. Coco dagegen … Dorian hoffte beinahe, daß bald etwas passierte. Irgend etwas. Nur damit er abgelenkt wurde und auf andere Gedanken kam. Doch er ahnte, daß dies nur die Ruhe vor dem Sturm war – daß bald etwas passierte, was jene Schrecken wieder heraufbeschwörte, die sich mit Dapondes Tod zurückgezogen hatten. Außerdem war da noch Arturo Pesce, ein ganz mieser Typ, der jederzeit zu einem Schurkenstreich bereit war. Dorian zuckte leicht zusammen, als der Italiener mit den anderen drei Männern seiner Gruppe zu ihnen kam. »Dürfen wir uns abmelden, Hunter?« fragte Pesce höhnisch. »Ich hoffe, du fällst nicht aus dem Rahmen, Arturo. Euch gehört der Nordteil der Stadt. Das Gebiet um den Tempel herum überläßt uns. Ich hoffe, daß es zu keinen Übergriffen auf die Inkas kommt. Das könnte nämlich zu unliebsamen Komplikationen führen. Bisher
haben sie sich friedlich verhalten. Und so sollte es bleiben.« »Na klar sind die Inkas friedlich«, erwiderte Pesce spöttisch. »Daß sie Daponde massakriert haben, das war ein reines Versehen.« Parker funkelte den Italiener wütend an. »Hau schon ab!« Pesce trollte sich tatsächlich. Parker war der einzige, dem er sich ohne Widerspruch unterordnete. Als sich die vier Männer der zweiten Gruppe entfernten, meinte Dorian: »Mit Pesce gibt es bestimmt noch Schwierigkeiten. Ich verstehe immer noch nicht, wie du an einen solchen Miesling geraten konntest.« »Ich hatte schon üblere Burschen im Schlepptau. Aber jeweils nur für einen kurzen Trip.« * Arturo Pesce ließ die beiden Wissenschaftler absichtlich vorangehen. Er fiel immer weiter zurück, und als Jörn Geregaad sich einmal nach ihm umblickte, winkte er ihn zu sich. »Sollen Coe und Rogard die Führung übernehmen«, raunte Pesce dem Freund zu, als er mit ihm auf einer Höhe war. »Falls sie in eine Falle der Inkas laufen, sind wir sie wenigstens los.« »Fängst du schon wieder damit an?« regte sich Geregaad auf. »Ich dachte, wir sind uns einig? Was spielst du auf einmal den Unschuldigen?« »Ich lasse mich auf keine krummen Sachen ein. Dir traue ich allerdings zu, daß du Rogard und Coe im Ernstfall im Stich läßt.« Pesce schüttelte grinsend den Kopf. »Davon kann keine Rede sein. Du mißverstehst mich auf der ganzen Linie.« Er stieß Geregaad an und deutete auf einen Hauseingang, in dem für Sekunden das Gesicht eines Inkas auftauchte und sofort wieder verschwand. »Du solltest eher den Inkas jede Gemeinheit zutrauen«, raunte er Geregaad zu. »So geheimnisvoll wie die tun, muß man doch zwangsläufig annehmen, daß sie was im Schilde führen.« Pesce tat, als wollte er an dem Hauseingang vorbeigehen. Plötzlich wirbelte er jedoch herum, sprang mit einem gewaltigen Satz in das
dunkle Tor und zückte gleichzeitig sein Buschmesser. Als Geregaad die Situation erfaßte, hatte Pesce den Inka bereits aus seinem Versteck hervorgeholt. Er drückte ihn gegen die Wand und hielt ihm das Messer an die Kehle. Der Inka zeigte keinerlei Angst. Gefaßt blickte er seinen Gegner an. Rogard und Coe waren durch die Geräusche auf den Zwischenfall aufmerksam geworden und kamen zurück. »Was soll das, Pesce?« rief Rogard ungehalten. »Warum bedrohen Sie den Mann?« »Er hat uns belauert.« Pesce packte den Eingeborenen am Handgelenk und drückte zu, bis dieser die Faust öffnete. Die Hand des Inkas war leer. Pesce, der selbst nicht wußte, welche Entdeckung er sich erhofft hatte, war darüber so wütend, daß er den Inka bei den Haaren packte und seinen Kopf gegen die Wand schlug. »Warum hast du uns beobachtet, du Hund? Los, rede! Sag schon, daß du uns in einen Hinterhalt locken wolltest!« »Kommen Sie doch zur Vernunft!« verlangte Coe. »Der Mann kann Sie doch überhaupt nicht verstehen.« »Er soll uns zum Schatz führen«, beharrte Pesce. »Gold – verstehst du?« brüllte er den Inka an. »Gold! Oro!« Zu ihrer aller Verblüffung nickte der Eingeborene und sagte dann etwas in Quechua, der Sprache der Inka. »Hat einer verstanden, was er sagte?« wollte Pesce wissen. »Es hörte sich so an, als hätte er etwas von einem Versteck gesagt«, meinte der Anthropologe Abraham Coe unsicher. Er hatte nur noch einen Arm – den linken hatten ihm vor fünf Jahren Piranhas abgenagt und nur noch einen Stummel übriggelassen. Außerdem erinnerte noch eine graue Haarsträhne an dieses schreckliche Erlebnis. Als man ihn damals aus dem Tümpel rettete, war sein Haar an dieser Stelle urplötzlich ergraut. Schockwirkung. »Ein Versteck?« wiederholte Pesce. »Das wollen wir sehen. Er soll uns hinführen.« Er zerrte den Inka von der Wand fort und stieß ihn vor sich her. »Los, führe uns! Gold! Oro! Versteck! Los, mach schon!« Der Inka war völlig eingeschüchtert. Zuerst schien er unschlüssig,
in welche Richtung er gehen sollte. Erst als er von Pesce einen Tritt bekam, schritt er zielstrebig auf einen Gang zu, der tiefer in das Gebäude hineinführte. Geregaad und Coe schalteten ihre Taschenlampen ein und leuchteten. Der Inka drehte sich kein einziges Mal nach ihnen um. Erst als er zu einer Steintreppe kam, die in die Tiefe führte, blieb er stehen und deutete nach unten. Dabei sagte er nur ein Wort. »Da unten muß das Versteck sein«, übersetzte Abraham Coe. »Was meinst du, Arturo, sind wir auf der richtigen Spur?« fragte Geregaad erregt. »Ich bilde mir fast ein, daß ich das Gold schon riechen kann.« »Wenn es da unten Gold gibt, wird uns der Bursche hinführen«, sagte Pesce. Er stieß den Inka die Treppe hinunter. »Geh du nur voran! Du glaubst doch nicht, daß wir dir trauen?« Der Inka schritt vor ihnen die Treppe hinunter. Pesce holte seine Pistole hervor und entsicherte sie. Die Einwände der beiden Wissenschaftler überhörte er einfach. Nach etwa vierzig Stufen – und fünf Meter unter der Oberfläche – mündete die Treppe in ein Gewölbe mit einem halben Dutzend Torbögen, die so niedrig waren, daß man den Kopf einziehen mußte. »Weiter!« verlangte Pesce, als der Inka zögernd stehenblieb, und gab ihm einen Stoß. Geregaad leuchtete mit der Taschenlampe durch die Torbögen; aber außer weiteren Gängen und Gewölben konnte er nichts feststellen. Als er sich den Gefährten zuwandte, hörte er Pesce fluchen, und dann entlud sich seine Pistole donnernd. »Verdammt, der Hund ist getürmt!« schrie Pesce wütend. »Wie Sie ihn behandelt haben, wundert mich das gar nicht«, meinte Rogard. »Wir werden dieses unterirdische Labyrinth auch ohne ihn erforschen«, behauptete Pesce. Sie mußten aber über eine Stunde durch die weitverzweigten Gänge und Gewölbe irren, ehe sie eine Entdeckung machten. Und zwar fanden sie einen Geheimgang. Aber eigentlich nur durch Zufall. Coe war so müde, daß er sich mit seiner Hand gegen eine Wand stützte.
Er war einigermaßen verblüfft, als sich der massive Felsquader bewegte. Danach fanden sie schnell heraus, daß dieser Felsquader am längeren Arm eines Hebels saß. Als sie den Quader mit vereinten Kräften herumdrehten, glitt fünf Meter von ihnen entfernt ein Teil der Wand zurück. »Wir haben ihn!« triumphierte Geregaad. »Wir haben den Schatz gefunden!« Als sie jedoch das Gewölbe hinter der Geheimtür ausleuchteten, bekamen sie lange Gesichter. Der Raum war nur viermal drei Meter groß und leer – bis auf einige Menschenskelette. »Wahrscheinlich haben die Inkas früher hier ihre Gefangenen eingemauert und verhungern lassen«, vermutete Abraham Coe. Er betrat den Raum, untersuchte die Wände und murmelte: »Interessant. Die Wände sind mit Zeichnungen versehen. Vielleicht können wir sie entschlüsseln und so etwas über das Schicksal der Gefangenen erfahren.« Rogard schloß sich dieser Meinung an. Geregaad wollte einen Einwand vorbringen, doch Pesce gebot ihm Schweigen. Der Italiener ließ die beiden Wissenschaftler in dem Gewölbe und zog sich zurück. Bevor Geregaad noch erkannte, was er vorhatte, sah er, wie sich die Geheimtür schloß. Die Felsquader fügten sich wieder nahtlos ineinander. Die wütenden Rufe Coes und Rogards verstummten. »Bist du wahnsinnig?« herrschte Geregaad den Freund an und wollte sich auf ihn stürzen. »Nur mit der Ruhe«, sagte Pesce und hielt ihn sich mit der Pistole vom Leib. »Wir wollten uns die beiden doch vom Halse schaffen. Da drinnen sind sie bestens aufgehoben. Jetzt können wir beide ungehindert auf Schatzsuche gehen – und niemand wird uns vorschreiben, wie wir vorgehen sollen. Später können wir dann Coe und Rogard wieder herausholen. Aber jetzt schnappen wir uns erst einmal Machu Picchu. Es wäre doch gelacht, wenn wir sie nicht wecken und zum Sprechen bringen könnten.« »Na schön«, stimmte Geregaad zögernd zu. »Vielleicht hast du recht.«
Es hatte den Dänen immer Überwindung gekostet, reichen, vereinsamten und meist älteren Frauen Zärtlichkeiten entgegenzubringen. Aber er wollte es zu etwas bringen, ohne sich anstrengen zu müssen. Anfangs kam er sich ziemlich dreckig vor, bis er eines Tages entdeckte, daß alles viel leichter war, wenn er seine Tätigkeit humorvoll nahm. Er kam den Beschimpfungen der anderen zuvor, indem er sich über sich selbst lustig machte und augenzwinkernd seine Abenteuer erzählte. Plötzlich akzeptierte man ihn, fand, daß einer, der so offen über sich plauderte, eigentlich kein Dreckskerl sein konnte. Und so war Jörn Geregaad auf einmal »in«. Wie es aber wirklich in ihm aussah, das erfuhr niemand. Und jetzt hatte er auf einmal die Chance, mit seinem früheren Leben Schluß zu machen; reich zu werden, ohne sich schmutzig zu machen – und ohne sich anstrengen zu müssen. »Halt!« rief Pesce leise vor ihm. Sie waren eine Treppe hinaufgestiegen, und Geregaad, erkannte erst jetzt, daß vor ihnen ein Tor ins Freie führte. Der Pyramidentempel lag keine dreißig Meter von ihnen entfernt. »Da! Schau dir mal den superschlauen Hunter an«, raunte Pesce ihm zu – und packte Geregaads Arm. Der Däne sah, wie Hunter zusammen mit zwei Inka-Priestern gerade aus dem Tempel kam. Er hielt das Quipu an der Hauptschnur von sich gestreckt und betrachtete es nachdenklich. »So gescheit wie du sind wir auch, Hunter«, murmelte Pesce. »Aber wir benötigen kein Quipu, um Machu Picchu zum Sprechen zu bringen. Ich hoffe, nach dem, was du eben gesehen hast, hast du keine Skrupel mehr, Jörn?« »Kommt drauf an, was du vorhast«, meinte Geregaad vorsichtig. Anders als Pesce war er nicht bereit, über Leichen zu gehen. »Wir holen uns den Schatz – egal wie«, sagte Pesce entschlossen. »Komm! Die Luft ist rein.« Dorian Hunter war aus ihrem Blickfeld verschwunden und die Inka-Priester waren auch nicht mehr zu sehen. Geregaad folgte Pesce ins Freie. Im Gegensatz zu Pesce ließ er die Hände von den Waffen. Pesce dagegen hielt seine Machete ent-
schlossen umklammert. Sie liefen über den Tempelhof, der schon längst im Schatten lag. Die Sonne war hinter der dunklen Pflanzenwand des Dschungels verschwunden; bald würde es Nacht werden. Aus dem Tor des Sonnentempels fiel flackernder Fackelschein. Pesce hatte die Stufen erreicht und hastete sie hinauf. Als er durch das Tor ins Innere schritt, hörte Geregaad seinen erstaunten Ausruf. Der Däne erfuhr sofort, was der Grund dafür war. Neben dem Opferstein, auf dem die Inka-Prinzessin aufgebahrt lag, standen zwei Priester. Pesce war von ihrem Anblick so überrascht, daß er zuerst zu keiner Bewegung fähig war. Die beiden Priester standen reglos da und betrachteten ihn gefaßt. Dadurch gewann Pesce seine Selbstsicherheit zurück. Er deutete mit der Machete nach draußen und sagte barsch: »Los, haut ab! Wir können euch hier nicht gebrauchen. Verschwindet!« Die beiden Priester verstanden seine Worte nicht, doch seine Geste war unmißverständlich; sie mußten wissen, was er von ihnen verlangte, aber sie rührten sich nicht vom Fleck. »Ihr wollt wohl nicht?« Pesce war mit einigen schnellen Schritten bei ihnen, packte den einen am Kragen und stieß ihn in Richtung Ausgang. »Raus hier!« Er wandte sich dem anderen zu, in den nun etwas Leben kam. Der Priester begann eindringlich und gestenreich auf Pesce einzureden und deutete immer wieder auf die reglos daliegende Prinzessin. Inzwischen war der andere Priester wieder zurückgekommen. »Steh nicht wie ein Ölgötze da!« herrschte Pesce den Freund an. »Hilf mir lieber …« Er machte mit der Machete eine schwungvolle Bewegung, und der eine Priester sank blutüberströmt zusammen. Wieder blitzte die Machete durch die Luft. Der andere Priester versuchte, das tödliche Metall mit den Händen abzufangen. Es war ein furchtbar anzuhörendes Geräusch, als die Klinge auf die Knochen traf. Auch der zweite Priester starb. »Verdammt, Arturo«, flüsterte Geregaad entsetzt und wollte zurückweichen. »Bleib hier, du Narr!« befahl Pesce. »Willst du uns verraten?
Jetzt sind wir schon so weit gegangen, nun führen wir unser Vorhaben auch zu Ende.« Geregaad versuchte, den beiden blutigen Gestalten zu Pesces Füßen auszuweichen. Ihm wurde bei ihrem Anblick fast übel. »Das ist deine Tat«, würgte er hervor. »Ich habe damit nichts zu tun.« »Du hast gesehen, daß es Notwehr war«, entgegnete Pesce. Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Aber wozu sich herausreden? Was bedeutet der Tod eines solchen Wilden denn schon? Wenn es mit rechten Dingen zuginge, dürften sie gar nicht mehr am Leben sein. Sie müßten schon seit Jahrhunderten tot sein. Verstehst du?« Geregaad schüttelte den Kopf. Er verstand nicht und wollte auch nicht verstehen; er wollte nur fort von hier. Aber Pesce hielt ihn zurück. »Gebrauche doch mal deinen Verstand, Jörn! Die Inkas sind mitsamt ihrer Stadt aus der Vergangenheit in unsere Zeit gekommen. Einfach so.« Er schnippte mit den Fingern. »Vor einigen Tagen waren sie noch im sechzehnten Jahrhundert – und plötzlich sind sie hier. Frage mich nicht, wie das vor sich gegangen ist. Ich weiß nur, daß dies keine normalen Menschen sein können. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, wären sie schon seit Jahrhunderten tot. Und wenn sie leben – dann nicht in unserem Sinn. Ihr Tod kann nicht mit herkömmlichen Maßstäben gemessen werden. Es sind Geister – Dämonen, Schattenwesen, oder wie immer man sie bezeichnen will. Sie haben in unserer Zeit keine Existenzberechtigung.« Irgendwie kamen Pesces Worte Geregaad recht vernünftig vor. Pesce ließ ihm keine Zeit zum Nachdenken. »Wir müssen Machu Picchu wecken, bevor jemand nachschauen kommt.« »Aber wie willst du das schaffen, wo es nicht einmal Hunter gelungen ist?« »Hunter! Hunter!« rief Pesce ärgerlich. »Er hat sie eben mit Samthandschuhen angefaßt.« Geregaad ging auf die andere Seite des Opfersteins, um die beiden Leichen nicht sehen zu müssen. Danach war ihm gleich viel wohler. Er hatte immer noch Skrupel, aber er konnte nicht mehr zurück. Er
hatte selbst Schuld auf sich geladen. »Heb ihren Kopf hoch!« verlangte Pesce. »Nicht so sanft! Pack richtig zu! Schmerz weckt den Geist!« Geregaad zögerte zuerst, dann überwand er sich, griff in das dichte Haar des Inka-Mädchens und zerrte ihren Kopf hoch. Eine Gänsehaut überlief ihn. Es kam ihm so vor, als wären die Haare zwischen seinen Fingern Eiskristalle. »So ist es richtig!« lobte Pesce. »Nur nicht zimperlich sein. Hier geht es um ein Milliardenvermögen.« Er holte die Schnapsflasche hervor, die er ständig mit sich herumtrug. »Öffne ihr den Mund!« Als Geregaad dem Mädchen gewaltsam den Unterkiefer heruntergedrückt hatte, hielt Pesce ihr den Flaschenhals in den Mund und flößte ihr den Rum ein. Aus ihrer Kehle kamen gurgelnde Geräusche. Pesce setzte die Flasche erst ab, als sie bis zum letzten Tropfen geleert war. Die Inka-Prinzessin rührte sich jedoch nicht. Pesce schleuderte die Flasche weg, holte blitzschnell mit der Hand aus und schlug dem Mädchen einige Male ins Gesicht. »Du Idiot schlägst ihr noch sämtliche Zähne ein«, sagte Geregaad und versuchte, den Rasenden zurückzuhalten. Aber Pesce war nicht zu bremsen. Er hob das Mädchen hoch, packte es an den Schultern und schüttelte es wie ein Wahnsinniger. Dann faßte er in ihre Haare, zerrte sie vom Opferstein, stellte sie auf die Beine und schleuderte sie gegen die Wand. Sie prallte steif wie eine Puppe dagegen, völlig geräuschlos, dann fiel sie wieder in Pesces Arme zurück, als wäre sie aus Gummi. Plötzlich war ein Rumoren zu hören, ein Geräusch, das aus den tiefsten Tiefen zu kommen schien und den Sonnentempel erbeben ließ. »Jetzt ist es aber genug!« verlangte Geregaad. »Du bringst das Mädchen eher um, als daß du sie weckst.« Pesce schien zur Besinnung zu kommen. Er nickte und wischte sich die blutig geschlagenen Handknöchel am Hemd ab. »Du hast recht«, keuchte er. »Aber ich gebe nicht auf. Hunter soll nicht zum Zug kommen. Wir bringen das Mädchen von hier fort – in ein siche-
res Versteck – und nehmen sie uns später gründlicher vor.« Pesce lud Geregaad den steifen Körper Machu Picchus auf die Schultern und blickte ins Freie. Als er niemanden sah, gab er Geregaad einen Wink und rannte hinaus. Der Däne folgte ihm keuchend. Ihm war so kalt, daß seine Zähne aufeinanderklapperten. Es war, als würde er einen Eisberg mit sich herumtragen, der seinem Körper alle Wärme entzog. »Mach schneller!« Pesce hatte gut reden. Geregaads Bewegungen wurden immer steifer. Er war froh, als sie endlich den heiligen Bezirk hinter sich gelassen hatten. Der Dschungel war nicht mehr fern. Geregaad stolperte weiter. Die Last auf seiner Schulter spürte er überhaupt nicht mehr, nur die Kälte machte ihm zu schaffen. Dann erreichten sie den Dschungel. Pesce nahm ihm die Last ab. Sofort fühlte sich Geregaad wieder besser. »Ich habe bei unserer Ankunft einen hohlen Baum entdeckt«, erklärte Pesce während des Laufens. »Dort können wir sie einstweilen unterbringen. Nachts, wenn die anderen schlafen, können wir sie besser verstecken – falls ich sie bis dann noch nicht aufgeweckt habe.« Geregaad hörte plötzlich ein Geräusch über sich. Er duckte sich instinktiv, blickte hoch und sah einen mächtigen Schatten über sich hinweggleiten. Eine Fledermaus! Eine Fledermaus, so groß wie ein Adler, mit einer Flügelspannweite von drei Metern. »Arturo!« rief Geregaad warnend. Weiter kam er nicht. Wieder hörte er ein Rascheln über sich. Etwas schlug nach ihm. Es war wie bei einem elektrischen Schlag; der Schmerz breitete sich von seinem Gehirn über seinen ganzen Körper aus. Pesce sah bereits den hohlen Baum vor sich, als er Geregaads Schrei hinter sich vernahm. Er entledigte sich der Inka-Prinzessin und wandte sich nach dem Freund um. Geregaad versuchte sich gegen einen Schwarm von Riesenfledermäusen zu wehren. Pesce konnte zuerst nicht glauben, was er mit eigenen Augen sah. Fledermäuse von solch einer Größe konnte es überhaupt nicht geben! Aber sie waren Realität. Und welcher Her-
kunft sie auch immer waren, sie stellten eine tödliche Gefahr dar. Dann sah Pesce einen Schatten auf sich zukommen und schlug mit der Machete zu. Ein unheimlisches Kreischen ertönte, als er dem Untier einen der durchscheinenden Flügel vom Rumpf trennte. Geregaads Todesschreie waren verstummt. Pesce hatte verschwommen zwischen den Leibern der fliegenden Ungeheuer hindurch gesehen, wie sie mit den Klauen auf den Schädel des Dänen eingeschlagen hatten. Jetzt war das Brechen seiner Knochen zu hören. Er selbst gab keinen Laut mehr von sich. Pesce vernahm ein Pfeifen über sich und ließ seine Machete über dem Kopf rotieren. Etwas prallte gegen die Klinge und trudelte mit zuckendem Flügelschlag ab. Pesce rannte weiter. Er kam auf die Lichtung und sah bereits die Bauwerke der Inka-Stadt vor sich. Dorian Hunter und Jeff Parker kamen ihm entgegen. Pesce hätte es nicht für möglich gehalten, daß er sich über ihr Auftauchen noch einmal so würde freuen können. Gerade, als er sich endgültig in Sicherheit wähnte, fuhr ihm eine rasiermesserscharfe Klaue über den Schädel. Pesce rannte dennoch weiter, bis ihn die Kräfte verließen und das in Strömen sich über sein Gesicht ergießende Blut seine Augen verklebte. Keine zwei Meter vor Dorian Hunter brach er zusammen. * Dorian und Jeff Parker trugen Pesce in das Haus, in dem sie Quartier bezogen hatten. Sacheen nahm sich seiner sofort an, desinfizierte seine Kopfwunde mit den Restbeständen aus Rogards Notausrüstung und verpaßte ihm einen Kopfverband. Während sie das tat, suchten Dorian und Jeff den Dschungel in der Nähe der Inka-Stadt nach den Begleitern Pesces ab. Sie fanden aber nur einige Blutspuren und Anzeichen dafür, daß ein Kampf stattgefunden hatte. Geregaad, Rogard und Coe blieben verschwunden. Sie brachen ihre Suche bald ab. Auf dem Rückweg zur Inka-Stadt mußten sie ihre Stablampen einschalten, denn die Nacht war mit der
in diesen Breiten üblichen Plötzlichkeit hereingebrochen. »Vielleicht haben die anderen drei Pesce gar nicht in den Dschungel begleitet«, meinte Parker. »Was hatte er überhaupt im Dschungel zu suchen?« überlegte Dorian. »Das wird er uns hoffentlich erklären, wenn er wieder zu sich gekommen ist. Dann erfahren wir auch, was aus den anderen geworden ist.« »Ich ahne nichts Gutes, Jeff. Ich habe nicht genau gesehen, welche Tiere das waren, die Pesce bedrohten, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, daß es sich um riesige Fledermäuse handelte.« »Ich auch«, erwiderte Parker und schüttelte sich demonstrativ. »Ich wollte dir nur nichts von meiner Beobachtung sagen, weil ich befürchtete, daß du mich für verrückt hältst.« »Du weißt ganz genau, daß ich das nicht tun würde.« Sie verließen den Dschungel. Vor ihnen zeichnete sich Manoa wie ein dunkles, geometrisches Steinmassiv vom helleren Himmel ab. Dorian fuhr fort: »Daponde hat schon Tage vor seinem Tod von Ungeheuern gesprochen, die uns bedrohen könnten. Ich selbst las Ähnliches aus den Knoten des Quipus heraus. Vor seinem Tod hat Daponde ebenfalls wieder von Ungeheuern gesprochen – und alles weist darauf hin, daß er von einem solchen zerrissen wurde. Ich fürchte, daß der Zwischenfall mit Pesce nicht das letzte Ereignis dieser Art war. Ich muß versuchen, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.« »Ich dachte, du wüßtest, daß diese Schrecken auf den Fluch des Dämons zurückzuführen sind, der in Atahualpas Körper gelebt hat«, meinte Parker. »Das glaube ich auch immer noch. Doch ich habe keine Ahnung, warum der Fluch weiterhin wirksam ist. Machu Picchu könnte uns die Antwort geben, aber sie schläft. Und ich fürchte, wenn wir sie wecken, wird alles nur noch schlimmer.« »Du hast doch mit den Inka-Priestern gesprochen«, erinnerte sich Parker. »Hast du von ihnen nichts erfahren?« Dorian machte eine wegwerfende Handbewegung. »Die stellen sich dumm. Entweder ist für sie alles so rätselhaft wie für uns, oder
aber sie wollen nichts verraten. Huica hat nur eine Andeutung gemacht, die uns aber auch nicht viel weiterhilft. Er hat davon gesprochen, daß es in Manoa einen Saal der Träume gäbe, behauptete aber gleichzeitig, daß er nicht wüßte, wo. Wenn wir diesen ominösen Saal fänden, würde uns das vielleicht weiterhelfen.« Parker stieß den Freund an. Sie kamen gerade an dem Tor zum Tempelhof vorbei. Dort waren einige Inkas mit Fackeln zusammengelaufen. Unter ihnen befanden sich auch weißgekleidete Sonnenjungfrauen, die sich sonst nie im Freien blicken ließen. »Sieh mal diesen Auflauf! Sie drängen sich alle um das Tempeltor. Scheint, als sei etwas vorgefallen.« Dorian steuerte auf den Tempelhof zu. Als die Inkas ihn und Parker erblickten, wichen sie zur Seite, um sie durchzulassen. Die Gesichter der Inkas waren ernst und ausdruckslos wie immer; es war unmöglich, in ihnen zu lesen, was in ihnen vorging. Dorian blieb abrupt stehen, als er durch das Tempeltor trat. Er sah zuerst die Blutlachen auf dem Boden, dann erst fiel ihm auf, daß der Opferstein leer war. Machu Picchu war verschwunden. Dorian eilte zu Huica, der sich gerade über die Gestalten von zwei verstümmelten Priestern beugte, die ausgestreckt in ihrem Blut dalagen. »Was ist passiert?« fragte Dorian in Quechua, der Sprache der Inkas. »Die Prinzessin ist gegangen und hat sich vor ihrer Reise mit dem Leben zweier ihrer Diener gestärkt.« Dorian überwand sich dazu, die beiden Toten zu untersuchen. Es gehörte nicht viel dazu, um zu erkennen, daß ihre tödlichen Verletzungen von scharfen Gegenständen stammten – von Messern oder Macheten. »Ist euch irgend etwas Besonderes aufgefallen?« wollte Dorian wissen. Der Oberpriester preßte die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Dorian war sicher, daß er ihm etwas verschwieg. Aber was? Und warum? Dorian gab Parker einen Wink. Sie hatten hier nichts mehr verloren. Plötzlich jedoch war ein Klopfen zu hören. Es wiederholte sich einige Male in unregelmäßigen Intervallen – mal kurz, mal lang.
Ganz ohne Zweifel, es mußte ein bestimmtes Schema hinter diesen Klopfzeichen stecken. Als das Klopfen verstummte, fragte Dorian die Inkas: »Wer war das?« Einige schüttelten die Köpfe, Huica hob bedauernd die Schultern. Dorian seufzte und ging. Als sie draußen waren, sagte Parker: »Wieso kommst du darauf, daß Inkas morsen können?« Dorian griff sich an die Stirn. »Morsezeichen waren es also! Manchmal ist man auch wie vor den Kopf geschlagen. Hast du sie entziffern können?« »Es war ein Hilferuf.« Es war immerhin möglich, daß die Inkas Pesces Begleiter irgendwo unter dem Sonnentempel gefangenhielten. Vielleicht, weil die Wissenschaftler irgendwelche Zusammenhänge erkannt hatten – oder eine Intrige der Inkas aufdeckten. Da Dorian für diese Verdachtsmomente aber noch keine Beweise hatte, sprach er sie nicht aus, sondern wollte vorerst einmal mit Pesce reden. Der war wieder zu sich gekommen, als sie ihr Quartier erreichten. Er war sogar so bei Kräften, daß er Sacheen unzweideutige Angebote machte, aber ein Griff nach ihrer Peitsche ließ ihn schnell zur Besinnung kommen. Er war sichtlich froh, daß Dorian und Parker in diesem Augenblick hereinkamen. »Jetzt schieß mal los, Pesce!« verlangte Dorian. »Wie bist du in den Dschungel gekommen?« Pesce beleckte sich die Lippen, dann grinste er. »Geregaad und ich waren auf der Flucht vor den Ungeheuern. Sie verfolgten uns bis in den Dschungel. Geregaad haben sie erwischt. Armes Schwein! Um ein Haar wäre es mir wie ihm gegangen.« »Nun mal schön der Reihe nach! Was wurde aus den beiden Wissenschaftlern?« »Rogard und Coe?« Pesce zögerte wieder, so als müßte er erst nachdenken. »Wir haben sie in dem unterirdischen Labyrinth aus den Augen verloren. Erst haben wir nach ihnen gerufen, aber …« Er zuckte die Schultern und dann erzählte er die Geschichte von Anfang an. Dorian war sicher, daß er nicht die ganze Wahrheit sagte.
Er erzählte, daß sie von einem Inka in ein unterirdisches Labyrinth geführt worden waren. Dann verschwand der Inka. Coe und Rogard fänden einen Geheimraum. Währenddessen entdeckte Pesce den Inka und nahm mit Geregaad die Verfolgung auf. Rogard und Coe blieben zurück. Als er und Geregaad den Inka wieder aus den Augen verloren, wußten sie nicht mehr, wo sie die beiden Wissenschaftler suchen sollten. Sie fanden eine Treppe nach oben, folgten ihr und kamen beim Sonnentempel heraus. Als sie das Innere betreten wollten, flog ein Schwarm von Riesenfledermäusen auf sie zu, und sie mußten in den Dschungel flüchten. »Diese fliegenden Ungeheuer haben Geregaad auf dem Gewissen«, schloß Pesce ohne besondere Regung und fügte schnell hinzu: »Ich konnte einen kurzen Blick ins Innere des Tempels werfen und sah, wie zwei Priester ebenfalls von den Fledermäusen zerrissen wurden.« »Haben die Fledermäuse etwa Macheten geschwungen?« fragte Dorian spöttisch. »Was?« fragte Pesce verwirrt. »Du lügst«, sagte ihm Dorian auf den Kopf zu. »War es nicht viel eher so, daß du Geregaad dazu überredet hast, die beiden Wissenschaftler im Stich zu lassen und sich an Machu Picchu heranzumachen? Als ihr in den Tempel kamt, wurdet ihr von den beiden Priestern überrascht. Du hast sie mit der Machete erschlagen, Pesce. Als du dich dann an Machu Picchu vergreifen wolltest, tauchten die Ungeheuer auf.« »Du mußt verrückt sein, Hunter. Wie willst du deine Behauptungen beweisen? Mein Wort steht gegen das deine.« »Halt die Klappe!« herrschte ihn Parker an, und Pesce verstummte eingeschüchtert. »Du stehst hier nicht vor Gericht. Merkst du denn nicht, daß Dorian nur die Wahrheit herausfinden will, damit er daraus sehen kann, woran wir sind? Es geht hier um unser aller Kopf und Kragen.« »Ich habe die Wahrheit gesagt«, behauptete Pesce stur. »Und behauptest du auch, nicht zu wissen, wo Machu Picchu
steckt?« wollte Dorian wissen. »Wie denn? Ist sie etwa verschwunden?« Dorian warf ihm einen wütenden Blick zu. »Wie du meinst. Vergiß aber nicht, daß noch mehr solcher Ungeheuer auftauchen können, wenn du dich an der Inka-Prinzessin vergreifst. Dir ist hoffentlich klargeworden, daß sie die Schlüsselperson ist.« »Allerdings«, meinte Pesce. »Und bleibst du bei deiner Behauptung, Rogards und Coes Aufenthaltsort nicht zu kennen?« Wieder zögerte Pesce. Schließlich sagt er: »Ich kenne nicht einmal mehr den Weg ins Labyrinth. Aber vielleicht können ihn dir deine Inka-Freunde zeigen, Hunter.« »Du bist ja noch schlimmer als ich dachte, Pesce«, sagte Dorian abfällig. Der Dämonenkiller hätte noch eine Reihe weiterer ähnlicher Schmeicheleien auf der Zunge gehabt. Er überlegte sich sogar, ob er nicht die Wahrheit aus Pesce herausprügeln sollte, doch da kam es zu einem unerwarteten Zwischenfall. »Die Inkas kommen!« rief Sacheen von der Tür her. »Sie nähern sich diesem Gebäude in einer feierlichen Prozession. Und an ihrer Spitze befindet sich Machu Picchu.« Dorian warf Pesce einen schnellen Blick zu und merkte die Verblüffung, die sich – gepaart mit Wut – auf seinem Gesicht malte. »Sie – sie ist aufgewacht«, sagte Pesce fassungslos. Er stieß Sacheen beiseite, um die sich nähernde Prozession besser sehen zu können. Stolz erhobenen Hauptes schritt Machu Picchu vor den Inkas her. Ihre makellosen Beine wurden bei jedem Schritt unter dem geschlitzten Hüfttuch sichtbar. Das farbenreich bemalte Brusttuch war so schmal wie das Oberteil eines gewagten Bikinis. Das dunkle Haar fiel lose herab, über ihre schmalen Schultern und die rötliche, makellose Haut ihres Oberkörpers. Ihr geschmeidiger Gang verstärkte den Eindruck, daß sie eine Wildkatze war. So hatte sie Dorian aus seinem Leben als Georg Rudolf Speyer in Erinnerung. Was für ein Wunder war geschehen, daß sie aus ihrem magischen Schlaf aufgewacht war? Dorian konnte es nicht glauben,
daß Pesce das durch seine brutalen Methoden geschafft hatte. »Das ist unsere Chance«, raunte Pesce. »Jetzt schnappen wir sie uns und setzen ihr so lange zu, bis sie uns das Versteck des Schatzes verrät.« »Wenn du auch nur den kleinen Finger gegen sie erhebst, schlage ich dir den Schädel ein!« drohte ihm Parker. »Aber wir wollen doch alle dasselbe«, rechtfertigte sich Pesce. »Wir sind wegen des Schatzes hier. Und seid ihr nicht selbst der Meinung, daß …« »Rühr dich nur ja nicht!« drohte auch Dorian. »Überlasse die InkaPrinzessin mir!« Pesces Gesicht verzerrte sich vor Wut, aber ein Wink von Parker brachte ihn zur Vernunft. Er behielt für sich, was er Dorian hatte sagen wollen. Die Begleiter der Inka-Prinzessin waren stehengeblieben. In den sonst so verschlossenen Gesichtern der Inkas konnte Dorian lesen, daß sie nicht minder überrascht waren, Machu Picchu so plötzlich wach und anscheinend bei vollem Bewußtsein unter sich zu haben. Machu Picchu näherte sich dem Eingang ihres Quartiers. Sie schien durch sie hindurchzublicken, als seien sie alle aus Luft. Dorian stieß Pesce beiseite, um den Eingang für sie freizuhalten. Sie ging an ihnen vorbei in den Raum. Als sie die Mitte erreicht hatte, drehte sie sich langsam – wie in Zeitlupe – um. Und jetzt blickte sie Dorian in die Augen. Der Dämonenkiller versuchte, den Ausdruck ihrer Augen zu ergründen, aber es gelang ihm nicht. Obwohl sie offensichtlich ihn anblickte, war ihm gleichzeitig, als würde sie durch ihn hindurchsehen – oder direkt in seine Seele. Da sie immer noch schwieg, ergriff Dorian das Wort. Er hatte nur Angst, daß sie sich beim ersten Ton, den er sagte, in Luft auflösen könnte, aber seine Befürchtungen waren unbegründet. »Machu Picchu«, begann er mit rauher Stimme und mußte sich räuspern, bevor er fortfahren konnte. »Bist du es wirklich?« Sie blickte an ihm vorbei, und der Dämonenkiller sah, daß ihre Augen an dem Quipu, das in einer Ecke über dem Boden ausgebrei-
tet war, hängenblieben. »Hast du sein Geheimnis immer noch nicht gelöst?« Sie sprach mit sanfter, leicht entrückter Stimme; und es war keine Frage, sondern eine wehmütige Feststellung. »Sage mir, welche Bedeutung das Quipu hat und …«, begann Dorian. Ihr Kopfschütteln brachte ihn zum Verstummen. Sie sprach wieder in ihrem fast perfekten, aber altertümlichen Spanisch, das sie von Pizzaros Konquistadoren gelernt hatte. »Ich habe nicht das Recht, dir den Zauber des Quipus zu erklären. Ich bin zum Schlafen verdammt – zum Schlafen und zum Träumen. Wecke mich und es gibt keine Geheimnisse mehr!« »Aber – stehst du nicht vor uns, wie du leibst und lebst?« wunderte sich Dorian. Er bereute seine Frage, kaum daß er sie ausgesprochen hatte, denn er erkannte sofort, daß Machu Picchus Worte nicht wörtlich gemeint gewesen waren. Es mußte eine Botschaft in ihnen stecken – Hinweise, die zu des Rätsels Lösung führen konnten. Er mußte sich ihrem Tonfall anpassen, wenn er nicht zerstören wollte, was kaum begonnen hatte. Hatte Machu Picchu einen Ausweg gefunden, um ihrem Traumgefängnis zumindest zeitweise entfliehen zu können? »Wir sind alle verdammt«, sagte Dorian nach einer Weile. »Ja«, bestätigte Machu Picchu. »Auch ihr seid Gefangene der Träume – obwohl ihr keine Schläfer seid.« Was bedeutete das nun wieder? Meinte sie, daß sie alle Opfer einer einzigen großen Illusion waren? Existierte die Inka-Stadt Manoa überhaupt nicht? Aber nein, das konnte nicht stimmen. Die Stadt war echt, so wie die darin lebenden Inkas aus Fleisch und Blut waren. Sie waren nur Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit, durch die magische Kraft eines mächtigen Dämons ins 20. Jahrhundert versetzt. Von welchen Träumen sprach Machu Picchu also? Von den Ungeheuern, die sie sporadisch aufsuchten? »Sind die Träume ständig um uns, oder kommen sie nur gelegent-
lich? Sind sie einem bestimmten Zyklus unterworfen?« Er hoffte, daß er damit nicht zu weit gegangen war. »Das Quipu gibt die Antwort«, sagte Machu Picchu. »Und im Saal der Träume findet sich die Antwort. Aber frage nicht die Sterblichen von Manoa nach der Lösung des Rätsels. Sie sind unwissende Diener, Opfer des Fluches wie ich, die Schlafende.« Mit diesen Worten drehte sie sich dem Ausgang zu und setzte sich in Bewegung. Dorian war für Sekunden wie gelähmt. Als er sich wieder gefaßt hatte, war die Inka-Prinzessin bereits wieder im Freien. »Machu Picchu!« Er stürzte zum Ausgang. Die Inka-Prinzessin war nirgends zu sehen. »Laß sie nicht entkommen, Hunter!« schrie Pesce hinter ihm. Er stürzte an Dorian vorbei ins Freie. Dort sah er nur die ratlosen Inkas; von Machu Picchu fehlte jede Spur. »Sie kann noch nicht weit gekommen sein«, behauptete Pesce. Seine Augen bekamen einen irren Ausdruck. »So tut doch etwas! Wollt ihr euch diese Chance durch die Lappen gehen lassen? Sie kann nur in den Dschungel geflohen sein. Wir müssen …« »… sie in Ruhe lassen«, vollendete Dorian. Pesce war wie vor den Kopf geschlagen. Er wollte nicht begreifen, daß die Gefährten die Verfolgung der Inka-Prinzessin nicht aufnahmen. Er unternahm noch einen Versuch, sie dazu zu bewegen, dann gab er auf. Allerdings beschloß er, sich allein auf die Suche nach ihr zu machen; er wollte nur eine passende Gelegenheit abwarten. Und die ergab sich, als Sacheen plötzlich auf Klopfzeichen aufmerksam machte, die durch den Steinboden zu hören waren. »Still!« verlangte Dorian. Sie lauschten alle. Als die Klopfzeichen nach einer Weile verstummten, meinte er: »Das sind tatsächlich Morsezeichen. Sie stammen eindeutig von Coe und Rogard.« »Und was bedeuten sie?« erkundigte sich Sacheen. »Daß die beiden Wissenschaftler in einem unterirdischen Verlies eingeschlossen sind und sich ohne Hilfe nicht befreien können«, antwortete Parker ihr. Und stirnrunzelnd fügte er hinzu: »Wenn die beiden in einem Raum eingeschlossen sind, verstehe ich nicht, daß
wir ihre Morsezeichen hier so deutlich wie im hundert Meter entfernten Sonnentempel hören können.« »Das mag auf die eigenwillige Akustik des Labyrinths zurückzuführen sein«, meinte Dorian. Diese Antwort befriedigte ihn selbst nicht ganz, aber eine andere fand er nicht. »Dann machen wir uns am besten gleich auf die Suche nach den beiden«, drängte Parker. »Wenn sie weiter Klopfzeichen geben, können wir ihnen hoffentlich nachgehen.« »Wo ist denn Pesce?« erkundigte sich Sacheen plötzlich. »Ach laß ihn!« meinte Parker. »Der hat wahrscheinlich kalte Füße bekommen, weil er sich für das Verschwinden der beiden Wissenschaftler verantwortlich fühlt. Ich könnte wetten, daß er die beiden im Stich gelassen hat.« * Pesce machte sich aus dem Staub, als er einen Moment lang unbeobachtet war. Er verbarg sich zuerst hinter einem Gebüsch und wartete dort, bis Parker, Hunter und Sacheen ihr Quartier verließen und zwischen den Gebäuden verschwanden, dann tauchte er im Dschungel unter. Obwohl der Dschungel nachts ganz anders aussah, fand er im Licht seiner Taschenlampe den Weg zu dem hohlen Baum fast mühelos. Er brauchte nur die Stelle zu suchen, wo die Riesenfledermäuse Geregaad geschnappt hatten; gleich darauf fand er auch schon das Versteck. Er leuchtete in den hohlen Baum hinein, und dort lag Machu Picchu in derselben Stellung, in der er sie zurückgelassen hatte. »Gutes Mädchen«, murmelte er grinsend. »Bist also wieder in unser gemeinsames Versteck zurückgekommen. Das zeigt mir, daß du zur Zusammenarbeit mit mir bereit bist. Du willst mir doch den Schatz zeigen, Goldmädchen, nicht wahr?« Er kicherte. Sollte er die Inka-Prinzessin jetzt schon aufwecken oder erst später? Er entschloß sich, zuerst einmal in die Inka-Stadt zurückzukehren, um sich den anderen gegenüber nicht verdächtig
zu machen. Von Rogard und Coe hatte er nichts zu befürchten. Die beiden würden nicht mehr lebend gefunden werden, dessen war er sicher. Vielleicht waren sie sogar schon erstickt. Pesce hob die Schultern. Was kümmerte es ihn? * »Uns hört doch niemand«, behauptete Abraham Coe erschöpft und ließ die Pistole sinken. Er hatte über eine halbe Stunde ununterbrochen mit dem Knauf Morsezeichen geklopft. Aber nichts rührte sich. Stille war um sie. Nun waren sie schon mehr als drei Stunden eingeschlossen und hatten alles mögliche versucht, um aus diesem Gefängnis herauszukommen. Zu ihrem Glück war irgendwo ein Spalt, durch den Frischluft hereinströmte. Rogard hatte sein Feuerzeug entzündet und die Flammen an die Ritzen zwischen den Felsquadern gehalten, um herauszufinden, woher die Zugluft kam. Aber die Flamme flackerte nicht, so daß sie annehmen mußten, daß die Frischluft durch die Decke kam. Abraham Coe hatte eine Weile versucht, an der Stelle, wo der geheime Eingang lag, mit der Machete den Spalt zwischen den Quadern zu vergrößern; doch die Felsen gaben nicht nach, bewegten sich nicht einmal um den Bruchteil eines Millimeters. Nicht umsonst sagte man den Inkas nach, daß sie hervorragende Baumeister gewesen waren. Sie hatten es verstanden, die Felsen so zu behauen, daß sie ohne Mörtel fugenlos aneinanderpaßten. Wer hätte gedacht, daß diese Meisterleistung einst zwei Wissenschaftlern zum Verhängnis werden würde? Obwohl Coe wußte, daß sein Unterfangen praktisch aussichtslos war, arbeitete er weiter – bis die Klinge der Machete zerbrach. Danach begann er wieder zu morsen, bis ihm der eine Arm wehtat. Inzwischen machte sich James Rogard daran, eine Idee zu verwirklichen, die er Coe kurz zuvor unterbreitet hatte. Daß sie nicht schon eher darauf gekommen waren! Sie konnten sich mit dem Pulver ihrer Patronen einen Weg frei-
sprengen. Was für ein Glück, daß sie sich mit Patronengurten ausgerüstet hatten! Blieb nur die Frage, wieviel Pulver man nehmen mußte, um eine genügend große Wirkung zu erzielen, ohne des Guten zuviel zu tun; immerhin mußten sie damit rechnen, von Felssplittern getroffen zu werden. Vorsichtig, wie Rogard schon immer war, begann er mit ganz kleinen Mengen. Er streute das Pulver von vier Patronen in einen Spalt zwischen zwei Felsquader und drehte aus Zigarettenpapier eine Zündschnur. Beide – Coe hörte solange zu morsen auf – warteten sie dann im toten Winkel gespannt auf die Explosion. Aber das Pulver verpuffte praktisch wirkungslos; nur einige winzige Splitter brachen von den Kanten ab. Wenigstens war dadurch aber eine Öffnung entstanden, in der Rogard mehr Pulver unterbringen konnte. »Es ist zum Verzweifeln!« sagte Rogard nach dem fünften Sprengversuch. Er hatte jedesmal die Pulvermenge verdoppelt – mit dem Erfolg, daß jetzt zwischen den Felsquadern ein faustgroßes Loch prangte. »Die Quader sind zu dick«, meinte Coe und morste weiter. Da bekam er Antwort. Sind auf dem Weg zu Euch! Als die beiden sonst eher nüchternen Wissenschaftler diese Klopfzeichen entschlüsselt hatten, fielen sie sich vor Freude in die Arme. In der Folge sank ihre Hoffnung aber immer mehr, obwohl ein regelrechter Informationsaustausch zwischen ihnen und ihren Rettern stattfand. Die beiden Wissenschaftler erfuhren, daß die Gruppe mit Elliot Farmer, Elmar Freytag, James Wood und David Astor auf ihre Klopfzeichen aufmerksam geworden war und nun nach ihnen suchte. Coe und Rogard begannen von neuem zu hoffen, als die Retter morsten: Sind in das Labyrinth vorgedrungen. Coe morste nun ständig, damit sich die Retter an den Geräuschen orientieren konnten, aber ihre Antworten kamen immer wieder aus einer anderen Richtung – als bewegten sie sich im Kreis. Die beiden eingeschlossenen Wissenschaftler verzweifelten.
Dann kam die Meldung: Wir haben ein Tor gefunden. Dahinter vollkommene Schwärze. Steckt ihr da drinnen? Coe antwortete: Sind von Mauern umschlossen. Kennen unsere Position nicht. »Ihr seid in meinen Träumen gefangen«, sagte da eine angenehme Frauenstimme aus dem Nichts. »Weckt mich und ihr seid erlöst!« »Haben Sie das auch gehört?« erkundigte sich Coe bei seinem Kollegen. »Ich glaube, ich schnappe schon langsam über.« »Sie machen sich selbst verrückt«, sagte Rogard, der die besseren Nerven hatte. »Ich habe die Stimme auch gehört. Wahrscheinlich hat Sacheen gesprochen.« »In diesem altertümlichen Spanisch?« Coe war skeptisch. »Und warum sollte sie solch konfuses Zeug reden? Na, wenigstens haben Sie die Stimme auch gehört.« Sekunden später war sie wieder da. Sie schien von irgendwoher zu kommen. »Ich bin Machu Picchu. Weckt mich, bevor es für alle Sterblichen in Manoa zu spät ist!« »Schon wieder«, sagte Coe unsicher. »Ich glaube, ich werde doch verrückt. Sagen Sie nur nicht, Sacheen würde sich als die Inka-Prinzessin ausgeben. Es hat sich außerdem so angehört, als würde die Sprecherin nahe sein – mit uns zusammen in diesem Verlies.« »Haben Sie noch nie gehört, daß es Räume mit besonderer Akustik gibt?« fragte Rogard. »Wenn man in dem einen Raum etwas flüstert, kann man es hundert und mehr Meter weiter verstärkt hören.« »Ja, aber hier geht es nicht mit rechten Dingen zu.« »Weckt mich!« flehte die Frauenstimme. »Beendet meinen Schlaf, bevor meine Träume über euch kommen und euer Leben beenden!« Coe sprang plötzlich auf und rannte wie von Sinnen gegen die Wand. »Ich halte das nicht mehr aus, Rogard!« schrie er. »Bringen Sie mich hier raus! Ich verliere sonst den Verstand.« »Aber, aber«, sagte Rogard beruhigend und tätschelte die Schulter des Kollegen. »Warum denn diese Panik? Wo es Machu Picchu doch nur gut mit uns meint.«
Die beiden blickten einander an, und jeder sah den beginnenden Wahnsinn in den Augen des anderen. Und in die Stille ihres Verlieses hinein gellte der Todesschrei eines Menschen. * »Was habe ich hier unten eigentlich zu suchen?« fragte der Biologe James Wood kopfschüttelnd. Seit sie zur Schatzsuche aufgebrochen waren, hatte er ständig etwas zu nörgeln. David Astor, der Missionar mit Inka-Forscher-Ambitionen, der die Führung übernommen hatte, war einige Male nahe daran gewesen, ihn in ihr Quartier zurückzuschicken. Er konnte verstehen, daß der Biologe lieber bei seiner Sammlung exotischer Tiere gewesen wäre. Darwin hätte seinerzeit auch wenig Lust verspürt, das El Dorado zu suchen. Aber im Unterschied zu Darwin war Wood bereits im El Dorado, daran konnte kein Zweifel mehr bestehen. Außerdem ging es hier um mehr als nur darum, einen Schatz zu suchen. In dieser Stadt gab es rätselhafte Geschehnisse, die noch längst nicht geklärt waren und womöglich nie ganz geklärt werden konnten. Auf jeden Fall war Astor ganz Hunters Meinung, daß sie zusammenbleiben mußten. Und das war der Hauptgrund gewesen, warum er den Biologen mit sanfter Gewalt zwang, mitzugehen. Inzwischen war aus der Schatzsuche eine Suche nach den Verschollenen geworden. Sie hatten Coes und Rogards Morsezeichen vernommen und waren in ein unterirdisches Labyrinth vorgedrungen. Astor ließ wohlweislich überall von Freytag mit Fettkreide Markierungen anbringen, damit sie den Weg zurückfanden. Dennoch ließ es sich nicht verhindern, daß sie sich gelegentlich im Kreise bewegten. Immer wieder stießen sie auf ihre eigenen Markierungen, aber sie kamen auch in neue Gewölbe, in denen sie vorher noch nie gewesen waren. Astor versuchte sich vorzustellen, wie es möglich war, daß eine ganze Stadt durch die Jahrhunderte bewegt werden konnte. Hunter
hatte das behauptet – und vieles wies auch darauf hin. Es waren keine wissenschaftlichen Beweise, zugegeben, aber wie sollte man sich sonst erklären, daß plötzlich Inkas aus dem sechzehnten Jahrhundert und spanische Eroberer aus eben dieser Zeit auftauchten? Man mußte eine Zeitversetzung als gegebene Tatsache hinnehmen. Dennoch erwachte Astors Skepsis von neuem, als sie dieses unterirdische Labyrinth fanden. Die Stadt mußte mitsamt diesen unterirdischen Gewölben eine Zeitverschiebung mitgemacht haben. Wie ging das vor sich? Was war aus dem Dschungel geworden, der vor dem Auftauchen der Stadt aus dem Nichts – der Vergangenheit – hier gewuchert hatte? Einige Hinweise – wenn auch keine wissenschaftlichen Erklärungen – gab das Quipu. Auch diese geheimnisvolle Knotenschnur war mit der Stadt aus der Vergangenheit gekommen. Und es hieß – das Quipu und Dorian Hunter sagten es, ebenso wie Jean Daponde dies angedeutet hatte –, daß die schlafende Machu Picchu mit ihren Träumen für verschiedene übernatürliche Phänomene verantwortlich wäre. All diese Aussagen befriedigten Astor nicht. Er versuchte, in der Religion der Inkas Erklärungen zu finden, in alten Prophezeiungen, die nun wahr geworden sein könnten, aber er fand nichts von einer Wiedergeburt Atahualpas – wenn man davon absah, daß Inka-Herrscher als unsterblich angesehen wurden. Aber nun war der untote Atahualpa doch tot. Oder doch nicht? Sein Fluch mußte jedenfalls weiterleben. »Wir finden die beiden nie«, behauptete Elmar Freytag. »Ihre Zeichen kommen ständig aus einer anderen Richtung.« »Wir dürfen sie nicht im Stich lassen«, erwiderte Eliot Farmer. »Wer weiß, für wie lange sie in dem Loch noch Luft haben.« »Coe hat behauptet, daß für Frischluftzufuhr gesorgt sei«, erwiderte Wood. Er zerrte nervös an seinem Hemdkragen. »Ich bekomme hier noch Platzangst.« »Klaustrophobie nennt man das«, sagte Farmer belehrend und schob seinen Kautabak von einer Ecke in die andere. »Und darunter könnten auch Ihre beiden Kollegen in ihrem Verlies zu leiden ha-
ben.« »Schon gut.« Wood winkte ab. »Meine Nerven …« »Kommt einmal hierher!« rief Elmar Freytag. Er war in einem Seitengang verschwunden. Nur der Schein seiner Taschenlampe war zu sehen. »Was ist?« fragte Astor. »Hier ist ein Tor. Und was für ein Tor! Etwas Unheimliches geht davon aus.« Astor wurde immer ganz kribbelig, wenn er Bezeichnungen wie »unheimlich«, »unerklärlich« und Ähnliches hörte. Es gab für alles natürliche Erklärungen. Die Wissenschaft wußte die Antworten. Tatsächlich? meldete sich da sein anderes Ich, mit dem er öfter Streitgespräche führte. Läßt sich auch der Glaube, zu dem du die Amazonasindianer bekehren möchtest, wissenschaftlich erklären? Als Gottsohn von den Toten auferstand, hat er wohl eine Wiederbelebungspille geschluckt …? Astor wischte all diese Gedanken weg. Man mußte das als Gleichnis sehen. Er kam als letzter in den Seitengang, den Freytag entdeckt hatte, und fand sich plötzlich in einem gewaltigen Gewölbe. Es war gut und gern zwanzigmal zwanzig Meter groß und bestimmt sieben Meter hoch, doch es war schmucklos wie alle anderen Räume dieses Labyrinths. Auffallend war nur das Tor. Es war riesig, oben abgerundet, reichte bis einen Meter unter die Decke und war links und rechts von goldenen Fackelhaltern flankiert, in denen Fackeln brannten. Also suchten die Inkas dieses Gewölbe öfter auf; zumindest war vor kurzem jemand hier gewesen, denn die Fackeln waren erst angebrannt. Über dem Tor war ein eigenartiges Relief, das einen der Inka-Kultur fremden Götzen zeigte, eine Abart des Teufels, der sich auf den Torbogen stützte, seine Flügel über die Wand ausbreitete und gewaltige Hörner hatte. Dieser steinerne Dämon wies keinerlei Parallelen zur Inka-Kultur auf. Er hatte europäischen Charakter und war dennoch fremdartig. Freytag fand, von diesem Götzen ging etwas Unheimliches aus. Astor spürte es nun auch. Ein Gefühl der Beklemmung befiel ihn. Einbildung? Oder warnten ihn seine Urinstinkte vor einer wirkli-
chen Gefahr? Vielleicht ging diese unheimliche Bedrohung nicht von dem Götzenbild aus, sondern von dem Tor – oder von dem, was hinter dem Tor lag? »Farmer, fragen sie bei den Eingeschlossenen an, ob sie durch solch ein Tor gegangen sind«, trug Astor dem Reporter mit Bestsellerambitionen auf. »Vielleicht führt dieser Weg zu ihnen.« Während Farmer morste, sagte Freytag, der dem Tor am nächsten stand, zähneklappernd: »Diese Kälte geht mir bis ins Mark. Es ist eine unnatürliche Kälte, wie sie auch die schlafende Machu Picchu ausstrahlt.« Farmer hatte zu morsen aufgehört. Gleich darauf kam die Antwort in Form von Klopfzeichen. Der Reporter entschlüsselte sie. »Coe meint, daß sie von Mauern umschlossen sind und nichts über ihre Position aussagen können.« Astor hatte nur mit halbem Ohr zugehört. Das Tor zog ihn magisch an. »Zieht euch in sichere Entfernung zurück!« befahl er den anderen. »Wer weiß, was passiert, wenn ich die Schwelle übertrete.« Der gläubige Missionar und nüchterne Wissenschaftler rechnete plötzlich mit übernatürlichen Ereignissen. Oder wie sonst sollte man die Warnung auslegen? Astor schritt langsam auf das Tor zu. Ihm war, als gerate die Finsternis dahinter in wallende Bewegung; er glaubte, eine rasend schnelle Bewegung wahrzunehmen. Und er spürte die Kälte. Sie drang nicht nur in seinen Körper, sondern griff auch mit eisigen Klauen nach seinem Geist. Jetzt hatte er das Tor erreicht. Noch ein Schritt, dann konnte er die Finsternis berühren – das absolute Nichts. Was für ein Unsinn, wollte er sich einreden. Schwärze und auch das absolute Nichts waren nicht körperlich. David Astor streckte eine Hand in das pulsierende Etwas – und zuckte mit einem Aufschrei zurück. Er wirbelte um seine Achse, torkelte wie blind gegen eine Wand und prallte zurück. Seine Arme pendelten, als hätte ihnen die Schwärze ein eigenes Leben verliehen. Und er schrie! Es klang nicht wie ein Schrei aus Qual, sondern mehr wie der Schrei eines Menschen, der plötzlich den Verstand verloren
hatte. Aus seinem Mund sprudelten zusammenhanglose Worte. »Astor! Kommen Sie zu sich!« Farmer packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn. Als das nichts half, schlug er ihn auf eine Wange; zuerst leicht, beim zweiten Mal steckte schon mehr Wucht hinter seinem Schlag. Astor schien überhaupt nichts zu spüren. Er stammelte weiterhin zusammenhangloses Zeug, dann sank er in sich zusammen, lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, starrte stupide ins Leere und verkündete blubbernd: »Sie werden – über uns kommen. Ich habe sie gesehen. Irgendwann kommen sie über uns.« »Wer? Was haben Sie gesehen?« fragte Freytag eindringlich. Da spürte er plötzlich in seinem Rücken einen Luftzug. Irgend jemand schrie. Er wirbelte herum und drückte fast automatisch die Polaroid ab, die er ständig mit sich herumtrug. Der Elektronenblitz erhellte die Leere hinter dem Tor gespenstisch. Irgend etwas bewegte sich dort. Dann leuchtete hinter dem Tor plötzlich ein gelblicher, wallender Nebel und daraus stieß etwas hervor. »Achtung! Wood!« schrie Farmer und versuchte, das Heulen eines plötzlich aufkommenden Sturmes, der an ihnen zerrte, zu übertönen. Die Warnung kam für den Wissenschaftler zu spät. Er stand wie gelähmt da, zu keiner Bewegung mehr fähig. Sein logisch geschulter Verstand suchte nach Erklärungen für diese seltsamen Vorkommnisse. Zuerst diese absolute Schwärze und nun der wie von innen glühende Nebel und der Sturm. Woher kam er? Wie war das möglich? Als eine Art Tentakel aus dem Nebel hervorzuckte, war Wood nicht einmal in der Lage, eine Abwehrbewegung zu machen. Er sah das schlangenähnliche Ding mit den Saugnäpfen auf sich zuschießen, und dahinter tauchte der gebogene Schnabel eines Vogels auf. Der Schnabel konnte von einem der längst ausgestorbenen Onactornis stammen, von einem der über zwei Meter fünfzig großen Raubstrauße. Der Tentakel schlang sich um seine Körpermitte. Die Saugnäpfe sogen sich an seiner Kleidung fest. Er hörte das Zerreißen des Stoffes. Dann machte der Schnabel blitzschnelle, ruckartige Bewegungen, hackte auf ihn ein, während er von dem Tentakel herumge-
schleudert wurde und die Muskeln ihn in der Mitte zusammenschnürten. »Wood ist nicht mehr zu retten«, rief Freytag. Er mußte Astor gewaltsam aus dem Gewölbe drängen. Farmer zielte mit seinem schweren Colt und stützte die Schußhand auf den linken Unterarm, um besser zielen zu können. Als der mächtige Schnabel mit dem häßlichen Federkopf dahinter wieder auf Wood einhacken wollte, schoß Farmer. Der Schnabel wurde von dem großkalibrigen Projektil förmlich zerfetzt. Aber das rettete Wood nicht mehr. Ein zweiter Tentakel kam aus dem Nebel hinter dem Tor geschossen. Wieder blitzte es auf, als Freytag ein Foto schoß. Wood gab seinen letzten Schrei von sich, dann war er unter den zuckenden Schlangenarmen mit den Saugnäpfen verschwunden. Farmer stieß Astor hinaus, der sich immer noch benahm, als hätte er den Verstand verloren. Dabei verlor er seinen Notizblock. Gerade als er sich danach bücken wollte, tauchte Freytags Stiefel auf und beförderte den Notizblock mit einem Fußtritt aus dem Gewölbe. Die eng bekritzelten Seiten flogen wie eine lahm mit den Flügeln schlagende Möwe durch die Luft. Ein toter weißer Vogel. Farmer wollte sich diesen Vergleich merken. So mußte er diese Situation beschreiben. Sie erreichten den Seitengang. Astor schien wieder zu sich gekommen zu sein. »Wood«, murmelte er. Dann weiteten sich seine Augen in der plötzlichen schrecklichen Erkenntnis, daß der Biologe von irgendeinem Ungeheuer getötet worden war. Er wollte zurückeilen, doch Freytag stieß ihn in die andere Richtung weiter. Farmer übernahm die Führung. »Rogard! Coe! Können Sie uns hören?« erklang da plötzlich von vorn eine Stimme. »Das war Hunter!« entfuhr es Freytag erleichtert. Sekunden später tauchte Dorian Hunter auch schon aus einem Gang auf. Ihm auf den Fersen folgten Sacheen und Jeff Parker. *
Freytag und Farmer sprachen durcheinander, so daß Dorian zuerst überhaupt nichts verstand. Erst langsam kristallisierte sich heraus, was die drei angeblich erlebt hatten. Dorian wandte sich an den Missionar David Astor, der schweigend danebengestanden hatte und fragte: »Haben Sie nichts zu sagen, Astor?« »Ich habe nicht genau gesehen, wie Wood starb. Ich weiß nur, daß es schrecklich war.« »Hm«, machte der Dämonenkiller. Es klang skeptisch. Nicht daß er die Erzählungen nicht glauben wollte; es war bestimmt ein Körnchen Wahrheit darin. Aber die Männer schienen ihm zu verwirrt, um jedes ihrer Worte für bare Münze zu nehmen. »Sehen wir uns dieses Tor einmal an.«. »Du willst, daß wir dorthin zurückgehen?« fragte Freytag entsetzt und schauderte. »Wer weiß, ob wir den Weg zurück überhaupt finden.« »Wir haben die Markierungen«, warf Farmer ein. Er schlug einige Blätter seines Notizblocks um, den er im Laufen aufgehoben hatte, und hielt dem Dämonenkiller eine Seite hin, auf der eine Skizze zu sehen war. »Ich habe eine Zeichnung von dem Tor angefertigt.« Dorian sah sich die Skizze an. Stirnrunzelnd deutete er auf das Götzenbild über dem Tor, das mit einigen schnellen Strichen hingekritzelt war. »Hast du deiner Fantasie nicht etwas zu sehr die Zügel schießen lassen? Dieser Götze paßt überhaupt nicht in die Mythologie der Inkas.« Farmer schüttelte den Kopf. Astor sagte: »Das ist mir auch aufgefallen. Das Götzenbildnis über dem Tor hatte europäischen Charakter. Es könnte eine Teufelsdarstellung des Mittelalters sein. Vielleicht veranlaßte der Dämon …« Er sprach nicht weiter, weil er erkannte, daß er da seiner Meinung nach zu gewagte Spekulationen anstellte. Der Dämonenkiller aber hatte diesen Gedanken bereits aufgegriffen und spann ihn weiter. Ja, warum hätte der Dämon Aguilar, der von Europa in die Neue Welt gekommen war, von den Inkas nicht eine idealisierte Darstellung von sich anfertigen lassen sollen?
»Ich habe auch noch die Fotos als Beweis«, erklärte Freytag. Er zog das Schutzpapier von den beiden Abzügen und überreichte sie Dorian, ohne selbst einen Blick darauf zu werfen: Er glaubte ja zu wissen, was darauf abgebildet war. Das eine Foto mußte zeigen, wie das Tentakelungeheuer aus dem leuchtenden Nebel hervorstieß; das andere, wie James Wood von den Tentakeln und dem Riesenschnabel traktiert wurde. »Wann willst du denn diese Fotos gemacht haben?« fragte Jeff Parker, der Dorian über die Schulter blickte, um die Abzüge betrachten zu können. »Na, eben«, antwortete Freytag fast empört. »Wieso? Sind Sie nichts geworden? Was stimmt denn damit nicht?« Dorian gab die beiden Farbfotos an ihn zurück. »Aber – das ist unmöglich!« rief Freytag fassungslos, als er die Fotos betrachtete. »Ich habe die Ungeheuer ganz deutlich gesehen, als ich den Auslöser gedrückt habe.« Auf beiden Fotos waren Ausschnitte von Steinreliefen zu sehen, die die typischen Bilddarstellungen der Inkas zeigten: irgendwelche kauernden Figuren. »Das ist unmöglich!« sagte Freytag wieder. »Wir werden sehen«, meinte der Dämonenkiller nur. »Führt uns zu dem Tor! Und haltet eure Waffen bereit! Diesmal werden wir uns nicht von irgendwelchen Ungeheuern überraschen lassen.« »Sollten wir nicht zuerst die Suche nach den beiden Verschollenen fortsetzen?« warf Sacheen schüchtern ein. »Das ist vorerst sinnlos«, sagte David Astor. »Wir sind schon seit Stunden durch dieses Labyrinth geirrt, ohne irgendwelche Hinweise auf die beiden zu finden, obwohl wir möglicherweise dicht bei ihnen waren. Vielleicht …« Der Missionar entriß Freytag die beiden Fotos. »Ja, das könnte tatsächlich ein Hinweis sein«, murmelte er dabei. »Wovon sprechen Sie?« wollte Jeff Parker wissen. »Vielleicht sind die Bilder Ausschnitte aus dem Plan des Labyrinths, in dem Coe und Rogard eingeschlossen sind. Wenn wir diese Reliefwand finden, finden wir vielleicht auch den
Weg zu den Eingeschlossenen. Kommt mit!« Astor führte sie zu dem Gewölbe mit dem geheimnisvollen Tor. Sie näherten sich dem Zugang mit schußbereiten Waffen und zum Schlag erhobenen Macheten. Aber ihre Vorsicht war nicht nötig. Das Gewölbe war leer. Die beiden Fackeln erhellten es mit ihrem flackernden Schein, der auch in den Raum hinter dem Tor fiel. Es gab keine absolute Schwärze und auch keinen leuchtenden Nebel mehr. »Und hier sollen Ungeheuer gewesen sein?« fragte Parker ungläubig. Aber dann sahen sie die mumifizierte Leiche vom James Wood. David Astor entledigte sich wieder einmal seiner Kutte, um damit Woods Leichnam zu bedecken. Die Leiche bot einen schrecklichen Anblick. Dorian war sicher, daß Wood keinen Tropfen Blut mehr in sich hatte. Also mußte irgend etwas Wahres an dem Bericht von den Ungeheuern dran sein. Dorian hatte eigentlich keine Sekunde an ihrer Existenz gezweifelt. Nur – er wollte ihnen selbst einmal begegnen. Wo waren die Ungeheuer? Wohin verschwanden sie nach jeder Attacke wieder? Der Raum, in den sie kamen, war so groß wie das Gewölbe außerhalb des Tores. Es gab keinen sichtbaren zweiten Ausgang. Das Gewölbe unterschied sich aber ganz wesentlich von dem Vorraum. Alle Wände, die Decke und selbst der Boden waren mit Reliefs aus purem Gold geschmückt. Zwischen den Bilddarstellungen füllten Mosaike aus Edelsteinen und Halbedelsteinen die Lücken. »Wir haben den Schatz gefunden!« rief Freytag überschwenglich aus. Er lief wie ein Irrer durch den Raum, betastete die goldenen Reliefs der Wände und küßte in grenzenlosem Überschwang die Einlegearbeiten. »Gold! Gold!« rief er glucksend. »Die Wände bestehen aus reinstem Gold! Tonnen von Gold! Wir sind reich!« Die anderen gingen nicht so aus sich heraus. Astor betrachtete die goldenen Reliefs in erster Linie mit den Augen des Inka-Forschers und vertiefte sich in die Darstellungen. Farmer wirkte beinahe noch besinnlicher. Er überlegte bereits For-
mulierungen für dieses Kapitel seines Buches, in dem er schildern wollte, wie sie in diesen Raum vorgedrungen waren. Der erste Schritt ins El Dorado. Du meinst zu träumen, kneifst dich, aber du wachst nicht auf, bist geblendet von dem Gold um dich herum und dem Feuer der Edelsteine. Alle hatten den toten Wood vergessen und dachten nicht mehr daran, auf welche Art und Weise er umgekommen war. Selbst Dorian hing anderen Gedanken nach. Er sah nicht das Gold, sondern – wie Astor – die Bilder, die die Inkas aus diesem edlen Metall geformt hatten. »Die Fotos, Elmar!« verlangte er von Freytag. Der warf sie ihm, ohne ihn anzusehen, achtlos zu. Dorian mußte sie vom Boden aufheben, betrachtete sie, verglich sie mit den Bilddarstellungen an den Wänden. Dorian hatte schon einige Male erlebt, daß sich Dämonen und deren metaphysische Ausgeburten nicht fotografieren ließen. Er versuchte deshalb den Winkel abzuschätzen, in dem Freytag gestanden haben mußte, als er die Ungeheuer aufnehmen wollte. Durch eine Luftspiegelung oder eine Verzerrung der elektromagnetischen Wellen auf magische Weise waren statt der Ungeheuer die hinter ihnen liegenden Reliefwände auf die Fotos gebannt worden. Dorian verglich die Bildausschnitte auf den Fotos mit den Wänden und erkannte die Übereinstimmung. »Kommen Sie einmal her, Astor!« bat er den Missionar. »Ich glaube, Machu Picchu wollte uns mit diesen Fotos ein Zeichen geben.« »Machu Pucchu schläft«, sagte Astor. Dorian erzählte ihm in kurzen Zügen, wie sie ihm, Parker und Sacheen erschienen war und fügte hinzu: »Sie erwähnte einen Saal der Träume – ebenso wie der Oberpriester Huica. Ich bin nun sicher, daß damit dieser Raum gemeint war. Sehen Sie sich die auf den Wänden dargestellten Szenen genauer an! Dann werden Sie erkennen, daß einige von ihnen Parallelen zu der in dem Quipu enthaltenen Botschaft aufweisen.« Dorian deutete auf eine Darstellung an der Wand, die mit einem Fotoausschnitt übereinstimmte. »Das Original zeigt noch deutlicher, daß es ein Labyrinth darstellen soll. Und
hier – diese beiden Figuren, die die Arme hilflos zum Himmel zu strecken scheinen, könnten sie nicht Coe und Rogard darstellen?« Astor ging zu der Wand, betastete sie, als wollte er sich überzeugen, daß sie nicht nur ein Trugbild war. »Fantastisch, Hunter«, sagte er überwältigt. »Obwohl diese Reliefs schon vor über vierhundert Jahren geschaffen worden sein müssen, scheinen sie auf Ereignisse unserer Gegenwart Bezug zu nehmen. Konnten die Inkas die Zukunft voraussagen? Diese beiden Gestalten sind Fremde, eingeschlossen in ein Verlies. Die Mauern sind durch Edelsteine dargestellt. Streng geometrisch. Nur ein Mosaik ist verschoben. Ein geheimer Zugang. Und das hier ist der Saal, in dem wir stehen. Ein Weg aus Türkisen führt zu den Eingeschlossenen. Hunter, wir haben Coe und Rogard! Wir wissen nun, wo sie sind. Wir kennen auch die Stelle, wo der geheime Zugang sich befindet. Glauben Sie wirklich, daß Machu Picchu uns den Weg zu ihnen zeigen wollte?« »Das werde ich sie fragen, wenn ich sie wieder treffe«, antwortete Dorian lakonisch. »Jetzt werden wir erst einmal Coe und Rogard befreien. Dann hole ich das Quipu. Ein Vergleich der Knotenschnüre mit diesen Reliefs könnte interessante Rückschlüsse ergeben.« * »Sie haben die Suche aufgegeben«, sagte Abraham Coe mit weinerlicher Stimme. Er schleuderte die Waffe fort und trommelte mit der Faust gegen die Wand, bis er es vor Schmerz nicht mehr aushielt. Hätte er einen zweiten Arm gehabt, er hätte sich auch ihn in seiner Verzweiflung wundgeschlagen. »Wer hat die Suche aufgegeben?« fragte James Rogard verständnislos. »Sie haben auf meine Morsezeichen nicht mehr reagiert«, sagte Coe. »Sie können uns nicht hören. Wir sind verloren.« »Ihr werdet erhört werden«, meldete sich da wieder die wohlklingende Frauenstimme aus dem Nichts. »Die Rettung ist nahe.«
Coe und Rogard versteiften sich, lauschten. Ihre Blicke wanderten über die Wände, die sie einschlossen. Nur kalter Stein war zu sehen. »Pst!« machte Coe und hielt den Finger an die Lippen. »Du darfst sie nicht erschrecken, Jimmy, sonst läuft sie davon.« »Ich verscheuche sie gewiß nicht, Abraham«, versicherte James Rogard. Die beiden Wissenschaftler waren in den wenigen Stunden, die sie zwangsläufig auf engstem Raum miteinander verbringen mußten, zu verschworenen Freunden geworden. »Bist du noch da, Machu Picchu?« erkundigte sich Coe vorsichtig. »Ich bin euch nahe«, versicherte die Frauenstimme. »Aber nun wird alles wieder so weit für mich. Ihr entrückt mir, Freunde.« »Geh nicht fort!« flehte Rogard. »Laß uns nicht allein, sonst sind wir verloren!« »Ihr werdet mir auf einmal so fremd«, sagte Machu Picchus Stimme ängstlich. »Warum entfremdet ihr euch mir nur?« Ihre Stimme wurde immer leiser. »Geh nicht fort! Wir sind es doch! Abraham Coe und James Rogard. Geh nicht fort!« »Ich muß. Ich halte es nicht aus. Ihr aber seid gerettet. Denkt daran, mich zu wecken, damit euch meine Träume nichts anhaben können! Weckt mich! Nein, nicht so! Es schmerzt. Und der Schmerz steigert meine Alpträume. Das bringt für euch alle große Gefahren.« Die Stimme verstummte. Obwohl die beiden Wissenschaftler lange in atemloser Spannung lauschten, bekamen sie sie nicht wieder zu hören. »Sie hat uns verlassen«, sagte Coe bedauernd. »Aber nein!« Rogard packte seinen Kollegen am Arm. Er starrte auf die gegenüberliegende Wand, und sein Gesicht verklärte sich. »Sie kommt wieder. Da! Siehst du sie nicht, Abraham? Machu Picchu kommt zu uns.« Coe starrte auf den Punkt an der Wand, den Rogard mit seinen Blicken fixierte. Er tat es lange und intensiv, und dann verklärte sich auch sein Gesicht. »Ja«, hauchte er. »Machu Picchu kommt zu uns. Ist sie nicht
schön?« Es war ein häßliches Geräusch zu hören, als würden alle Felsquader der Inka-Stadt gleichzeitig gerückt. Und auf einmal war die Inka-Prinzessin verschwunden, sie hatte sich in Luft aufgelöst. »Hunter!« rief Coe wütend aus und stürzte sich auf die Gestalt, die in der Wandöffnung erschien. Er trommelte mit seiner wunden Faust auf den Dämonenkiller ein. »Sie haben Machu Picchu verscheucht. Sie sind es, der sie quält. Sie hat es uns gesagt.« Dorian schluckte den Kloß herunter, der ihm plötzlich in der Kehle saß. Er wehrte die Schläge des Wissenschaftlers kaum ab. Es war erschütternd. Sie hatten die Verschollenen gefunden. Aber die beiden hatten den Verstand verloren. * Man brachte die Wissenschaftler ins Quartier. Dorian nahm bei dieser Gelegenheit das Quipu an sich. Sacheen blieb bei den beiden zurück, um sie zu betreuen. Dorian gab ihr zwei Wachhaltetabletten, damit sie nicht vor Müdigkeit umkippte. Die restlichen nahm er mit, um sie an die anderen zu verteilen. Er hoffte, daß diese Nacht die Entscheidung bringen würde. Sacheen ergriff zum Abschied seine Hand. »Was erwartet uns, Dorian?« Er wich ihrem Blick aus. »Übernimmst du dich auch nicht damit, hier Wache zu halten?« Er sah durch die Tür in die Nacht hinaus. »Pesce lauert bestimmt irgendwo da draußen.« »Ihn fürchte ich nicht«, sagte Sacheen und umfaßte den Knauf der Peitsche, die in ihrem Gürtel steckte. »Aber was für andere Schrecken lauern noch auf uns? Willst du mir nicht reinen Wein einschenken, Dorian? Alles ertrage ich leichter als diese nagende Ungewißheit.« Er lächelte schwach. »Die Wahrheit ist, daß ich selbst keine Ahnung habe.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Er hatte gewisse Ahnungen, aber sie waren so konfus, daß er sie vorerst für sich
behalten wollte. Zuversichtlich sagte er: »Aber es kann alles noch gut werden.« Bevor sie ihn entließ, hauchte sie ihm noch schnell einen Kuß auf die Wange. Er stand schon in der Tür, als Rogard ihm nachrief: »Quälen Sie Machu Picchu nicht, Hunter! Jeder Schmerz läßt einen neuen Alptraum in ihr zur Wirklichkeit werden.« Dorian drehte sich nicht mehr um. Was sollte er von dieser Äußerung halten? Was meinte Rogard? Waren es nur die Hirngespinste eines kranken Geistes? Oder steckte mehr dahinter? Dorian wollte Letzteres glauben. Denn was Rogard sagte, stimmte mit dem überein, was er einigermaßen sicher wußte: Machu Picchu konnte der auslösende Faktor sein. Sie war der Ursprung aller Schrecken. Je nachdem, wie sie beeinflußt wurde, konnte sie Tod und Verderben über sie bringen. Aber wie kam Rogard darauf, daß er, Dorian, Machu Picchu quälte? Er hatte sie nicht angerührt, in keiner Weise beeinflußt, ja, sogar ganz bewußt die Hände von ihr gelassen. Wer … Arturo Pesce! Er mußte es sein, der Machu Picchus Schlaf störte, sie quälte und so ihre Träume zum Schlechten beeinflußte. Einer plötzlichen Eingebung zufolge, ging Dorian nicht sofort ins unterirdische Labyrinth, sondern wandte sich dem Sonnentempel zu. Der Tempelplatz war vom Licht der Fackeln erhellt. Durch das Sonnentor, das ins Innere des Tempels führte, drang der Singsang der Priester. Dann folgte Stille – die ein ekstatischer Schrei zerriß. Dorian begann zu laufen. Als er in den Tempel kam, war die Opferung bereits vollzogen. Quer über die schlafende Machu Picchu lag die weißgekleidete Gestalt einer Sonnenjungfrau. Ihre linke Körperhälfte war blutig. Huica zog gerade das Opfermesser aus ihrem Körper. »Ihr bringt sinnlose Opfer dar, Huica«, sagte Dorian in Quechua. »Damit versöhnt ihr die bösen Geister nicht, die nur den Fluch des Dämons Atahualpa erfüllen. Ihr müßt den Fluch aufheben, um die Geister zu verjagen.« Huica gab keine Antwort. Dorian bedrängte ihn nicht. Er wartete so lange, bis die Opferpriester den Körper der geopferten Sonnen-
jungfrau aufgebahrt hatten und aus dem Tempel trugen. Huica verstand sein schauriges Handwerk meisterlich; nicht ein Tropfen Blut war auf Machu Picchu gespritzt. Sie lag reglos da. Aber sie wirkte nicht scheintot. Von ihrem Körper ging auch nicht diese unnatürliche Kälte aus. Sie fühlte sich warm an, und als Dorian ihr Handgelenk ergriff, vermeinte er sogar, ihren Puls zu spüren. »Wollen die Inkas Machu Picchu überhaupt schlafen lassen, Huica?« erkundigte sich Dorian. »Oder ist es ihre Absicht, sie zu quälen, damit ihre Alpträume Wirklichkeit werden, um uns Eindringlinge damit zu vernichten?« »Wir wollen Machu Picchu schlafen lassen – so lange, bis sie aus eigener Kraft zu den Lebenden zurückkehrt.« Dorian breitete das Quipu über sie aus – und sah, wie sich auf ihrem Körper eine Gänsehaut bildete. Huicas Augen funkelten verräterisch. »Wir alle wollen, daß der heilige Schlaf der Prinzessin nicht gestört wird.« Dorian wußte nicht, ob er das glauben sollte. Er war jedoch sicher, daß die Inkas sie haßten – wenn sie das auch nicht offen zeigten – und ihnen alles Böse wünschten. War es vielleicht doch nicht Pesce, der die Inka-Prinzessin quälte, sondern Huica? Andererseits hatte es wiederum den Anschein, daß die Inkas ihre schlafende Prinzessin verehrten. Brachten sie ihr Menschenopfer dar, um sie zu versöhnen – oder um sie gegen die Eindringlinge zu hetzen? »Es ist ein Abtrünniger unter uns«, sagte Dorian. »Es handelt sich um den Mann mit den schwarzen Locken, der so duftet wie hundert Blüten und der Kot der Lamas zugleich. Hat er versucht, den Schlaf der Prinzessin zu stören?« »Jener Mann ist zu feige, um vor uns hinzutreten«, erklärte Huica. »Aber ihr habt ihn gesehen?« »Er schleicht gleich einem kranken Jaguar um unseren Tempel.« »Wenn ihr ihn wieder seht, dann nehmt ihn gefangen und übergebt ihn mir!« verlangte Dorian. »Aber ihr dürft ihn nicht richten.« Huica bestätigte durch ein leichtes Kopfnicken, daß er Dorians Wünschen nachkommen wollte.
Dorian betrachtete das Quipu, das er auf Machu Picchus Körper ausgebreitet hatte. Die Knotenschnur war eng mit ihrem Schicksal verknüpft. Sie hatte es damals im Jahre 1533 beim Raub des zerstückelten Inka-Herrschers Atahualpa zurückgelassen. Der Dämonenkiller im Körper des Georg Rudolf Speyer hatte es damals an sich genommen und immer bei sich getragen, bis er mit Martinez' Konquistatoren Manoa fand. Die wirksam gewordenen magischen Kräfte hatten ihm das Quipu entrissen und mitsamt der Stadt Manoa in die Zukunft geschleudert. Und jetzt war er als Dorian Hunter wieder darüber gestolpert. Das war kein Zufall, sondern eine absichtliche Manipulation. Dorian kam sogar der Verdacht, daß die Sonnenralle nicht zufällig an dem Quipu gepickt hatte, sondern nur dazu da gewesen war, um ihn auf die Knotenschnur aufmerksam zu machen. Ein Wirklichkeit gewordenes Traumgebilde Machu Picchus? Wer weiß … Er griff nach der Knotenschnur und öffnete blitzschnell einen der Knoten. Er sah, wie der Oberpriester instinktiv eine Hand ausstreckte, um ihn daran zu hindern, aber er kam zu spät. Dorian konnte selbst nicht sagen, was er mit diesem Versuch erreichen wollte, aber er war sicher, daß irgend etwas passieren würde. Und da begann sich Machu Picchu zu regen. »Weckt mich«, kam es kaum hörbar über ihre Lippen. Sie sprach spanisch – also war der Ruf nicht an ihre Artgenossen gerichtet. Sie wälzte sich unruhig hin und her. Huica eilte aus dem Tempel »Weckt mich!« verlangte die InkaPrinzessin wieder, diesmal lauter. »Zerstört meine Träume! Befreit mich daraus!« Sie atmete schwer. Langsam öffnete sie die Augen, starrte Dorian an und hob eine Hand, als wollte sie nach der seinen greifen. Dann ließ sie die Hand wieder sinken. Ihr Blick wanderte in unergründliche Fernen. Sie stöhnte. »Nicht so. Ihr dürft mich nicht quälen, sondern müßt die richtige Art finden. Der Weg führt über den Saal der Träume. Aber hütet euch vor …« Sie bäumte sich auf und schrie. Dorian zuckte zusammen. Im nächsten Augenblick rührte sie sich nicht mehr. Sie schlief wieder tief und fest. Dorian fühlte ihren Puls.
Er ging ganz schwach. Wenigstens war sie nicht wieder in die scheintote Starre verfallen. Sollte er einen weiteren Knoten des Quipus lösen? Er hätte den Versuch gewagt, wenn in diesem Augenblick nicht Huica mit den anderen Opferpriestern zurückgekommen wäre. Sie führten eine der Sonnenjungfrauen mit sich. Dorian wußte, was das zu bedeuten hatte. Es wäre sinnlos gewesen zu versuchen, Huica umzustimmen. Die Inkas warteten schweigend. Dorian nahm das Quipu an sich und verließ den Tempel. Da sah er beim Tor der Tempelmauer eine Bewegung. Arturo Pesce! Dorian rannte los, zog im Laufen seine Waffe und feuerte drei Warnschüsse in die Luft. Aber Pesce ließ sich nicht einschüchtern. Er sprang behende über Baumwurzeln und verschwand im Busch. Dorian wußte, daß es besser gewesen wäre, ihn laufenzulassen. Andererseits wollte er verhindern, daß Pesce irgendeine Dummheit beging. Er wollte ihm eindringlich vor Augen halten, daß er die Hände von Machu Picchu lassen mußte. Deshalb folgte er ihm in den Dschungel. Und rannte auch prompt in die Falle. Plötzlich blitzte ein Lichtstrahl auf und blendete ihn. »Keine Bewegung, Hunter! Waffe fallen lassen!« Dorian gehorchte. »Du begehst eine große Dummheit, Pesce. Warum versuchst du es auf eigene Faust anstatt mit uns zusammenzuarbeiten? Du bringst uns durch deine eigenmächtigen Handlungen nur alle unnütz in Gefahr. Und dich selbst auch.« Pesce kicherte. Er war in der Dunkelheit nicht zu sehen. Nur die Lichtquelle zeigte Dorian, wo er stand. »Ich kann mir schon vorstellen, wie es euch wurmt, daß ich mir den Schatz allein hole. Aber ich will einfach nicht teilen.« »Du wirst keinen Schatz finden, Pesce.« »Und warum bist du dessen so sicher?« »Weil wir ihn schon gefunden haben.« Eine Weile herrschte Stille. Dann begann Pesce lauthals zu lachen. »Und das soll ich dir glauben? Ich lasse mich nicht bluffen, Hunter.
Ich weiß, daß der Weg zu dem Schatz nur über Machu Picchu führt. Und ich weiß auch schon, wie ich sie zum Sprechen bringen kann.« »Bleibe dem Tempel fern! Die Inkas bewachen ihn. Und wenn du ihnen in die Hände fällst, kann dir niemand mehr helfen.« »Halt die Schnauze, Hunter! Du ödest mich an. Ihr alle könnt mich mal. Machu Picchu gehört mir. Und ich werde mich nicht daran hindern lassen, sie zum Sprechen zu bringen. Das kannst du den anderen ausrichten. Soll ich dir verraten, was ich mit ihr vorhabe?« »Egal, was du tust, Pesce, es ist das Falsche.« »Hau endlich ab!« Als Dorian zögerte, feuerte Pesce einen Schuß ab. Das Projektil bohrte sich wenige Zentimeter vor Dorians Füßen in den Boden. Er hatte keine andere Wahl, als zur Stadt zurückzukehren. Pesce leuchtete hinter ihm her, bis er den Dschungelrand erreichte, dann verschwand er in den Büschen. * Pesce fand den Weg zum hohlen Baum schon im Schlaf. Als er im Versteck war, leuchtete er Machu Picchu an. Sie lag wie immer steif wie ein Brett da. Nichts regte sich in ihrem Gesicht. »Jetzt muß ich ernst machen, Goldmädchen«, sagte er zu ihr. »Ich habe nicht mehr viel Zeit. Meine Geduld ist am Ende. Ich werde noch einmal versuchen, mich in Güte mit dir zu einigen. Solltest du aber auf meine sanften Versuche hin nicht aufwachen, dann bin ich zu einem Ritual gezwungen, das dir sicherlich nicht unbekannt sein wird. Einen silbernen Nagel habe ich mir bereits besorgt.« * Als Dorian in das mit goldenen Reliefs ausgelegte Gewölbe kam, hatte Astor gerade eine Auseinandersetzung mit Freytag; das heißt, Astor versuchte ruhig und mit stichhaltigen Argumenten den anderen zur Vernunft zu bringen, der die Goldreliefs sofort aus ihren Fassungen lösen wollte.
»Sie sind genauso dumm wie die spanischen Konquistadores, die seinerzeit alle goldenen Kunstgegenstände der Inkas einschmolzen. Ich aber werde nicht zulassen, daß diese Kulturschätze vernichtet werden.« »Was haben wir denn von dem Gold, wenn wir tot sind?« erwiderte Freytag leidenschaftlich. »Packen wir doch soviel davon zusammen, wie wir tragen können, und hauen dann ab.« »Es fragt sich nur, ob die Inkas dich so ohne weiteres gehen lassen würden, Freytag«, warf Dorian ein. »Ah, Hunter!« rief Freytag zynisch. »Hätte ich mir doch denken können, daß du in dieselbe Kerbe schlägst wie unser Missionar. Aber vielleicht wirst du anders denken, wenn du erfährst, was Astor inzwischen herausgefunden hat. Jeff ist schon recht nachdenklich geworden. Ja, ja, es beschleicht einen schon ein seltsames Gefühl, wenn man erfährt, daß unser Tod vorausbestimmt ist. Los, Astor, sagen Sie Hunter schon, was Ihnen die Bilderchen verraten haben! Sie waren doch auch nicht überrascht, als wir Coe und Rogard als Wahnsinnige wiederfanden?« »Nein, ich war nicht überrascht«, gab der Missionar zu. Er trug wieder seine Kutte. Der mumifizierte Leichnam Woods war fortgeschafft worden. »Und ich hätte auch Woods Tod voraussagen können, wenn wir schon früher in diesen Raum vorgedrungen wären.« Er wartete, bis Dorian an seiner Seite war, und erklärte dann eine Reihe von Reliefs. »Die Bilder enthalten viele den Inkas fremde Elemente, obwohl sie eigentlich schon angefertigt gewesen sein mußten, bevor der Dämon seine Herrschaft über Manoa antrat. In ihrer Gesamtheit ergeben sie einen Kalender, der über viele Jahrhunderte reicht – bis tief in die Vergangenheit und weit bis in die Zukunft. Den Anfang und das Ende des Kalenders habe ich nicht gefunden, aber dafür den mittleren Abschnitt, der vom Anfang des sechzehnten Jahrhunderts bis in unsere Zeit reicht. Dieses Relief hier stellt das Jahr 1533 dar. Es ist deutlich zu sehen, wie ein Inka-Herrscher mit der Garotte erwürgt wird, wie Artgenossen seine Leiche zerstückeln und seine Teile – heilige Reliquien – fortbringen. Das ist niemand anderer als Atahualpa. Und ihren Erzählungen nach, Hun-
ter, wurde Atahualpa wirklich von seinen Getreuen zerstückelt und hierher gebracht. Hier ist der Untergang eines Schiffes, zweifellos eine spanische Karavelle, symbolisiert, das eine heilige Fracht an Bord hat. Dieses Heiligtum treibt durch das Meer und einen Strom hinauf zu dessen Ursprung, wo es sich mit Atahualpa vereinigt. Der Dämon hat Atahualpas Körper übernommen. Und von nun an treiben viele rituell geopferte Körper durch die Flüsse. Der Dämon läßt von seinen Opfern seinen eigenen Leidensweg nachvollziehen. Bis hierher noch nichts Neues. Einige Symbole weisen darauf hin, daß die durch die Zeit pendelnde Stadt Manoa in verschiedenen Jahrhunderten Zwischenstation gemacht hat, in die Zukunft und wieder in die Vergangenheit wanderte. Das alles ist nur von geringer Bedeutung. Hier wird es wieder interessant. Der Kalender zeigt unsere Gegenwart an. Der Dämon taucht in den Bildern nicht mehr auf. Ob er wohl seinen eigenen Tod ahnte? Die Prophezeiungen mögen ihn darauf hingewiesen haben, deshalb hat er dafür gesorgt, daß sein Fluch nach ihm weiterlebt. Hier – das Ewigkeitszeichen. Und nun tritt unsere Expedition auf den Plan. Dieser Frauenkörper beherrscht nun das Geschehen. Kein Zweifel, daß die schlafende Machu Picchu damit gemeint ist. In diesem Zusammenhang habe ich eine weitere interessante Entdeckung gemacht. Aber davon später. Zuerst zu unseren Schicksalen. Da ist ein Mann mit einem Quipu. Er hält es so, als wüßte er es zu handhaben, aber eine Riesenfaust zerschmettert ihn. Die Prophezeiung hat sich an Jean Daponde erfüllt, wie wir alle gesehen haben. Hier sehen Sie die beiden Eingeschlossenen, Coe und Rogard. Erst später ist mir aufgefallen, daß ihre Umrisse doppelt eingezeichnet sind. Das soll zweifellos ihren Wahnsinn symbolisieren. Hier haben Sie das Tor, durch das wir in dieses Gewölbe gekommen sind – und hier läßt an der Schwelle ein Fremder sein Blut. Wood. Außer Coe und Rogard – Geistesgestörte zählen in diesem Schicksalskalender nicht – sind wir nun noch sieben Personen. Und jetzt sehen Sie her, Hunter! Hier sind sieben Personen, die auf verschiedene Art und Weise ihr Leben lassen. Alle fallen unbekannten Ge-
fahren zum Opfer – einer wird von herabregnenden Steinbrocken erschlagen. Ich kann natürlich nicht herausfinden, welche der Figuren wen von uns darstellt, aber daß wir gemeint sind, steht für mich fest.« »Verstehst du jetzt, Hunter?« rief Freytag erregt, der nur darauf gewartet hatte, daß Astor eine Pause machte. »Bisher sind alle Prophezeiungen dieses Schicksalskalenders eingetroffen. Sollen wir denn warten, bis es auch uns an den Kragen geht?« Dorian sah ihn ernst an und sagte: »Wer weiß, ob wir unserer Bestimmung entgehen können.« Freytag schluckte. »Na, du machst mir Spaß, Hunter! Kannst du dich denn mit deinem Tod abfinden?« »Ich habe das Quipu«, erwiderte Dorian. »Ja, ja. Quipu ganz großer Zauber«, spottete Freytag. »Aber ich pfeife drauf! Ich will das Gold – und dann nichts wie fort.« »Sagt der Schicksalskalender nicht etwas über einen aus, der vor Goldgier wahnsinnig geworden ist?« erkundigte sich Dorian. Astor brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Ich bewundere Ihre Haltung, Hunter. Oder haben Sie den Kalender ebenfalls gedeutet? Es gibt einige Symbole, die andere Deutungen über unser Schicksal zulassen. Das heißt, daß der Tod für uns nicht unabwendbar ist. Wir könnten unter bestimmten Voraussetzungen unserem Schicksal entgehen.« »Das wußte ich schon, bevor Sie diesen Kalender deuteten, Astor«, erwiderte Dorian. »Mir war die Wichtigkeit des Quipus fast so klar wie Daponde. Aber ich wußte auch, daß etwas fehlte, das das Quipu ergänzte. Und das Fehlende sind diese Reliefs. Sie wollten mir noch etwas im Zusammenhang mit Machu Picchu zeigen, Astor.« »Natürlich. Da, sehen Sie! Diese Gestalt ist die Inka-Prinzessin. Sie ist in allen Teilen des Kalenders – vom sechzehnten bis zum zwanzigsten Jahrhundert – zu finden. Aber hier, im Monat April dieses Jahres, ist sie auf einmal mit zwei Körpern dargestellt.« »Glauben Sie, das soll symbolisieren, daß auch sie wahnsinnig geworden ist?« erkundigte sich Jeff Parker. »Nein«, erwiderte Astor. »Sie ist eine andere Doppelpersönlich-
keit. Was für eine, habe ich noch nicht herausgefunden.« »Ich glaube, daß ich es weiß«, sagte Dorian. »Ja, ich glaube, daß wir den Saal der Träume wirklich gefunden haben. Wir stehen darin. Machu Picchu selbst sagte, daß der Weg zu ihr nur über diesen Raum führt.« »Wovon reden Sie, Hunter?« »Überlegen Sie mal! Die Doppelgestalt von Machu Picchu könnte doch auch bedeuten, daß sich ihre Persönlichkeit im Traume gespaltet hat. Ich meine das so: Während die eine Machu Picchu schläft, realisiert ihr anderes Ich die Träume.« »Das ist es!« rief Astor aus. »Machu Picchu muß schizophren sein, wenn auch nicht im herkömmlichen Sinn. Sie will schlafen, will andererseits aber auch aufwachen. Fragt sich nur, welche ihrer Persönlichkeiten das Gute und welche das Böse verkörpert.« »Will mir denn nicht endlich einer verraten, wovon ihr da faselt?« rief Freytag ärgerlich. »Es ist doch ganz einfach«, erklärte Jeff Parker. »Ich verstehe es zumindest so, daß Machu Picchu träumt – und daß ihre Träume Wirklichkeit werden. Hat sie Alpträume, dann entstehen die Ungeheuer, die schon Daponde, Wood und Geregaad getötet haben. Richtig?« »Exakt«, bestätigte Astor. »Mir wird nur eines nicht klar. Haben wir eine Möglichkeit, ihre Träume zu beeinflussen? Das müßten wir nämlich, wenn wir nicht wollen, daß sie wieder die Ungeheuer auf uns losläßt.« »Es gibt diese Möglichkeit«, sagte Dorian. »Das Quipu gibt sie uns. Aber wie wir die Knotenschnur handhaben müssen, weiß ich selbst noch nicht. Daponde muß die Wahrheit herausgefunden haben, aber er hat sein Wissen mit in den Tod genommen. Als er Machu Picchu wecken wollte, da sind die Ungeheuer aus ihren Alpträumen über ihn hergefallen. Er muß also von zwei Möglichkeiten die falsche gewählt haben. Und doch fleht Machu Picchu, daß wir sie wecken sollen – obwohl sie zu diesen Zeitpunkten bereits scheinbar wach ist. Was steckt hinter diesem Widerspruch?« Er spielte gedankenversunken mit den Knoten des Quipus. Wieder war die Versuchung groß, die Knoten einfach zu öffnen, alles was das Quipu enthielt,
einfach zu löschen. Und er tat es. »Nein, Hunter!« schrie Astor. »Entknoten Sie das Quipu nicht! Das ist genau das, was Daponde getan hatte. Und es wurde ihm zum Verhängnis.« Elmar Freytag deutete plötzlich auf die eine Wand. Als die anderen der Richtung seiner Hand mit den Blicken folgten, war ihnen, als verformten sich die Reliefs. »Das hast du angerichtet, Hunter!« schrie Freytag. Er holte seinen Revolver hervor, zielte und feuerte. Die Detonation des Schusses zerriß ihnen fast das Trommelfell. Das Projektil prallte von der massiven Goldwand ab und surrte als Querschläger durch das Gewölbe. »Nicht die Nerven verlieren, Freytag!« rief Dorian. Die Bewegung der Reliefe breitete sich aus – immer weiter, bis alle Wände davon erfaßt wurden. Dann schoß aus der Decke ein krallenbewehrter Arm auf Parker zu. Dorian hatte seine Machete gezogen und hieb die Klaue mit einem Schlag ab. Ein animalischer Schrei gellte durch das Gewölbe. Aus dem häßlichen Stumpf quollen Tropfen eines grünlichen Saftes. Blut. Grünes Blut! Aus der einen Wand griff ein Tentakel nach ihnen. Freytag feuerte das Magazin darauf leer. Der Tentakel zuckte, rollte sich ein, verdorrte wie eine Pflanze in der Sonnenglut. Der Boden unter ihren Füßen begann Wellen zu schlagen. Dorian stützte Astor, der beinahe hingefallen wäre. Jeff Parker schrie auf, als aus dem Boden ein sehniger Arm griff und ihn am Bein packte. Parker versuchte verzweifelt, sich zu befreien. Aber erst als ihm Freytag mit der Machete zu Hilfe kam und dem nachfolgenden Monster den Schädel spaltete, ließ die Hand Parkers Bein los. Innerhalb weniger Sekunden war in dem Gewölbe die Hölle los. Dorian sah eine Riesenschlange mit einem Krokodilsschädel aus der Wand gleiten. Er schoß auf das Ungeheuer, aber die Kugel prallte von dem Schädelpanzer ab. Parker und Freytag hatten bereits das Tor erreicht. Sie halfen Astor heraus, der gestürzt war, weil ein aus dem Boden auftauchendes
Ungeheuer ihm die Beine unter dem Körper weggerissen hatte. Das Ungeheuer war menschenähnlich, doch von riesenhafter Größe – und es hatte einen gewaltigen messerscharfen Schnabel, mit dem es nach Dorian hackte. Der Dämonenkiller konnte sich mit einem Sprung in Sicherheit bringen – zumindest vor dem Mörderschnabel, doch nicht vor dem Fangarm, der sich gleich darauf um seinen linken Arm schlang. Dorian hörte das seufzende Geräusch, als sich die Saugnäpfe festsogen. Er reagierte sofort und schlug den Tentakel mit einem einzigen Hieb seiner Machete ab. Dann war er frei und stolperte durch das Tor aus dem Saal der Träume. Die anderen hatten auf ihn gewartet. Als er sie erreichte, nahmen sie die Ungeheuer, die nun durch das Tor drängten, unter Beschuß. Es entstand eine Stockung, da die Scheusale alle gleichzeitig herausstürmen wollten. Das menschenähnliche Ding mit dem Riesenschnabel mußte sich kniend vorwärtsbewegen, um mit dem Schädel nicht gegen die Decke zu stoßen – zu solcher Größe hatte es sich ausgewachsen. Hinter ihm flatterten raschelnd die Flügel von Riesenfledermäusen. Zwischen seinen Beinen hindurch schlängelte sich eine Schlange mit einem Krokodilskopf. Sie wurde von einer Salve getroffen und durch die Wucht der Projektile förmlich zerfetzt. Es zischte schaurig, als Blut und Fleischfetzen in die Flammen der Fackeln fielen. Dorian und seine Gefährten zogen sich rückwärtsgehend aus dem Vorraum zurück. Ein Tentakel schlängelte sich durch das Tor, schnalzte wie eine Peitsche durch die Luft, strich um Haaresbreite an Freytags Gesicht vorbei. Einer Fledermaus war es gelungen, sich zwischen den übereinandergetürmten Körpern einen Weg zu bahnen. Mit schrillem Gekreische flatterte sie heran. Dorian schoß sie ab. Ein kleines rattenähnliches Tier mit überdimensional großen Fangzähnen kam herangeschossen. Es war so flink, daß Parker es nicht treffen konnte, obwohl er mehrere Schüsse darauf abfeuerte. Es erreichte sie ungeschoren und verbiß sich in Freytags Bein. Der Abenteurer brüllte vor Schmerz und versuchte, das Biest abzuschütteln, aber es verbiß sich nur noch fester.
Dorian packte das Tier am Rückenpelz und zerteilte es mit einem einzigen Schlag der Machete; er trennte den Schädel einfach vom Rumpf. Doch noch im Tode war es nur schwer von Freytags Bein wegzureißen. Sie zogen sich immer weiter zurück und zwängten sich durch den schmalen Gang, der ins Labyrinth führte. »Macht, daß ihr fortkommt!« befahl Dorian den anderen. »Ich bleibe hier und halte die Dämonenbrut auf.« »Du bist wahnsinnig, Dorian!« rief Parker verzweifelt. »Die fressen dich mit Haut und Haaren auf!« »Hau ab!« war alles, was der Dämonenkiller darauf zu sagen hatte. Er feuerte das Magazin seiner Pistole auf die sich heranwälzende Masse von Ungeheuern leer. Ein quallenähnliches Wesen platzte förmlich, als es von einer Kugel getroffen wurde. Zwei auf allen vieren kriechende Gnome mit von roten Beulen überwucherten Körpern wurden ebenfalls getötet. Dorian mußte nachladen. Aber das war gar nicht so einfach. Zweimal wurde er unterbrochen, als Fledermäuse ihn attackierten. Er brauchte nicht viel mehr zu tun, als ihnen die Machete hinzuhalten. Zum Glück waren Machu Picchus Alptraumungeheuer alles stupide Instinktwesen ohne Intelligenz; das machte sie nur halb so gefährlich, als wenn sie Verstand besessen hätten. Dennoch waren sie in dieser Masse nicht zu unterschätzen. Aus dem Gewölbe kam ein gutturaler Schrei. Dorian blickte auf. Er sah, wie das menschenähnliche Schnabelmonster die Kleintiere mit den Pranken beiseite schleuderte. Offenbar besaß dieses Scheusal doch etwas Intelligenz – oder zumindest ein Charisma, das auf die anderen Ungeheuer wirkte, so daß sie es als Anführer ansahen. Jedenfalls gaben die anderen Ungeheuer den Weg frei. Die Tentakel zogen sich zurück, die Fledermäuse segelten zur Decke empor, klammerten sich dort fest und blieben mit den Köpfen nach unten hängen. Das Schnabelmonster setzte sich in Bewegung. Es erreichte den schmalen Durchlaß gerade, als Dorian seine Pistole nachgeladen hatte. Aber der Dämonenkiller zögerte, von der Schußwaffe jetzt schon Gebrauch zu machen. Er wollte noch etwas warten.
Und das Warten lohnte sich. Das Schnabelmonster war ein Stück in den schmalen Gang vorgedrungen, aber es war viel breiter als der Zwischenraum zwischen den Wänden und auch um einiges größer als die Decke hoch war. Deshalb saß es plötzlich hoffnungslos zwischen den Wänden fest. Dorian sah dem Monster an, welche Anstrengungen es unternahm, um durch diese hohle Gasse zu kommen. Es gelang ihm schließlich, sich unter furchtbarem Gebrüll Zentimeter um Zentimeter vorzuarbeiten. Dorian wartete kaltblütig, bis es ihn fast erreicht hatte. Dann zielte er und schoß. Einmal, zweimal – bis das Magazin leer war und das Monster tot. Es versperrte mit seiner Körpermasse den einzigen Ausgang aus dem Saal der Träume. Wenn die anderen Ungeheuer ins Freie gelangen wollten, mußten sie sich den Weg erst durch seinen Kadaver durchfressen. Dorian kehrte in dem Bewußtsein, daß sie wenigstens einen Aufschub gewonnen hatten, dem toten Monster den Rücken und folgte den Kameraden. Hoffentlich kam ihm in der ihnen verbleibenden Zeit der rettende Gedanke. * Pesce hätte am liebsten heulen mögen. Wütend schleuderte er den Kopfverband fort. Er hatte Machu Picchu geschlagen, gefoltert – sie gedemütigt, wie man eine Frau nur demütigen konnte. Aber sie hatte keine Reaktion gezeigt. Sie lag da wie ein Brett – steif und kalt. Es war zum Verzweifeln. Wo er ihr mit den improvisierten Marterinstrumenten Wunden zugefügt hatte, war nicht einmal Blut zu sehen, als sei ihr Körper eine Attrappe aus Glas. Ja, wie Glas fühlte sie sich auch an. Wie kaltes Glas, das alle Wärme der Umgebung absorbierte. Er zog die Holzspäne unter ihren Fingernägeln wieder heraus. Vielleicht würde ihr Körper wenigstens zucken, wenn er elektrischen Strom durch sie jagte – aber der stand ihm nicht zur Verfügung.
»Verdammte Inka-Hure, bist du denn nicht aufzuwecken?« schrie er ihr ins Ohr. »Muß ich wirklich zum Äußersten greifen?« Er hob sie hoch und ließ ihren grazilen Körper auf das aufgestellte Knie fallen. Sie rollte wie eine Puppe ins Unterholz. »Na schön«, sagte er voll Ingrimm. »Du willst es nicht anders.« Er warf sich den steifen, kalten Körper über die Schulter und nahm die Taschenlampe zwischen die Zähne, um die andere Hand für die Machete frei zu haben. Er kannte den Weg zum Fluß. Er war im Dschungel schon fast zu Hause. Die Schrecken der Nacht fürchtete er nicht. Seine einzige Sorge war, daß er sich nicht beherrschen konnte und in seiner Wut zu weit ging. Nur sein Jähzorn machte ihm zu schaffen. Es wäre auch klüger gewesen, einen großen Bogen um Manoa zu machen, aber irgendwie zog ihn die Stadt magisch an, und so wagte er sich bis zum Dschungelrand vor. Er redete sich ein, daß er so den Weg zum Fluß besser fand, mußte sich aber auch eingestehen, daß er einfach nur neugierig war. Hunter hatte so selbstsicher gewirkt. Hatte er wirklich einen Hinweis auf das Versteck des Inka-Schatzes gefunden? Oder gar den Schatz selbst? Nein, das wollte Pesce einfach nicht glauben. Der Weg zum Schatz führte über dieses Mädchen. Sie war eine Prinzessin und rangierte bei den Inkas sofort hinter dem Herrscher. Was konnte Hunter schon mit dem Quipu erreichen? Vielleicht stand er aber mittels der Knotenschnur – auf irgendeine rätselhafte, unerklärliche Weise – mit Machu Picchu in Verbindung? Vielleicht sagte er ihr, sie sollte aushalten, die Schmerzen und Demütigungen hinnehmen, bis er sie befreite? Pesce kicherte. Du mußt dich beeilen, Hunter, denn bald geht Machu Picchu auf die Reise. Er hoffte aber doch insgeheim, daß er nicht bis zum äußersten würde gehen müssen. Er wollte den Schatz und wenn er ihn nicht bekam, sollte ihn niemand haben. Pesce stutzte plötzlich, als er zwischen den Bauwerken der Stadt eine schlanke Gestalt erblickte. »Professor Coe! Professor Rogard!« rief eine Mädchenstimme.
Und das einige Male; zuerst verhalten, dann immer lauter, ungeduldiger, besorgt. Es war Sacheen. Pesce spürte plötzlich wieder den Striemen an der linken Wange, wo ihn Sacheens Peitsche getroffen hatte. Jetzt wäre eine günstige Gelegenheit, sich zu rächen. Aber nein, das andere war wichtiger. Wenn er erst das Geld hatte, dann konnte er Sacheen damit ködern. Dann war er reicher als Parker. Pesce war überzeugt, daß sie es ohnehin nur auf Parkers Geld abgesehen hatte und es insgeheim mit Hunter hielt. Wie sie ihn schon ansah! Würde ihm mit den Blicken glatt den Hosenlatz öffnen, wenn sie könnte. Klar war Sacheen käuflich. Wie alle Frauen. Und er würde sie sich kaufen. Wenn er sie erst fest in Händen hatte, dann würde er sie büßen lassen. Der Gedanke an das sadistische Vergnügen, das er sich mit ihr bereiten konnte, erregte ihn ungemein. Aber zuerst kam die harte Arbeit mit Machu Picchu, und so ganz ohne Reiz war auch das nicht. Die Lichter von Manoa versanken hinter ihm. Er schaltete wieder die Taschenlampe ein. Ihr Schein war nur ein dünner Strahl in der vollkommenen Schwärze des Dschungels. Aber er fand den Weg zum Fluß. Und er fand den Steg, von wo aus der dämonische Atahualpa seine blutleeren Opfer in den Fluß geworfen hatte. Plötzlich zuckte er zusammen. Aus dem Dschungel kamen Geräusche; nicht die der harmlosen Nachtschwärmer, die er aufgeschreckt hatte. Jemand schlich sich an. Jemand, der selbst nicht entdeckt werden wollte, näherte sich. Stimmen! Sie kamen näher. Pesce war froh, daß die Geräusche von Menschen und nicht von einem nächtlichen Räuber stammten, aber wieder nicht so froh, als daß er erleichtert war. Verfolgte ihn Hunter? Nein. Die Stimmen stammten von zwei Personen, die sich zwanglos miteinander unterhielten. »Hier muß es irgendwo sein, Abraham.« »Hat Machu Picchu das wirklich gesagt, Jimmy?« Rogard und Coe, die in der Stadt von Sacheen verzweifelt gesucht wurden. Pesce erkannte nun ihre Stimmen genau. Sie kamen gera-
dewegs auf ihn zu. Pesce entsicherte die Pistole, wurde sich aber erst zu spät bewußt, daß die Taschenlampe immer noch eingeschaltet war. »Da, ein Licht!« »Ist dort wer?« ertönte Rogards Stimme. Er fragte ganz unbekümmert. »Vielleicht erwartet uns Machu Picchu bereits.« »Ich bin es, euer Freund Pesce! Kommt nur schön mit erhobenen Armen näher!« Er fing die beiden mit dem Schein seiner Taschenlampe ein. Als sie bis auf fünf Schritte herangekommen waren, ohne seiner Aufforderung, die Hände zu heben, nachgekommen zu sein, entdeckte er etwas in ihren Blicken, das ihn stutzig machte; er kam aber nicht sofort darauf, was es war. »Na, ihr beiden Nachtschwärmer«, sagte Pesce höhnisch, »was führt denn euch hierher?« »Machu Picchu hat uns gerufen«, antwortete Coe arglos. »Sie hat …« »Aber da ist ja Machu Picchu!« wurde er von seinem Kollegen Rogard unterbrochen. Mit strenger Miene fuhr er fort: »Haben Sie ihr etwas angetan, Pesce? Waren Sie es, der sie quälte?« »Aber, aber!« machte Pesce entrüstet. Er wußte plötzlich, was ihm an den beiden sofort aufgefallen war. Ihr irrer Blick. Sie waren geistesgestört. Der relativ kurze Aufenthalt in dem engen Verlies mußte sie um den Verstand gebracht haben. Pesce machte sich keine Vorwürfe. Er verleugnete nicht, daß er für ihren Zustand verantwortlich war, zumindest in weiterem Sinne, sondern beglückwünschte sich sogar noch dazu. Jetzt bestand keine Notwendigkeit mehr, sie abzuknallen. Sie konnten ihm nicht schaden. »Die Prinzessin hat uns erzählt, daß sie gequält wird«, sagte Rogard. »Sie will geweckt werden, aber nicht auf die falsche Art. Sind Sie sicher, Pesce, daß Sie sie auch richtig behandeln?« »Absolut«, meinte Pesce grinsend. »Machu Picchu hat sich mir anvertraut. Ich weiß, welche Behandlung sie benötigt. Ihr könnt beruhigt in die Stadt zurückkehren. Nur Hunter darf nichts erfahren.« »Warum nicht?« »Er würde Machu Picchu töten.«
»Oh!« Die beiden Irren sahen einander bestürzt an. »So, jetzt verschwindet wieder! Und kein Wort zu Hunter!« Die beiden nickten eingeschüchtert und zogen sich zurück. Pesce blickte zu den Netzen, die von den Bäumen hingen und noch aus der Zeit von Atahualpas Regentschaft stammten, und er fragte sich, ob die beiden Idioten die richtigen Schlüsse daraus ziehen würden. Nun, wie dem auch war, selbst wenn sie ihn verrieten, würde ihn nichts von seinem Vorhaben abbringen können. Und wenn die beiden zurückkamen, um ihn zu bespitzeln, würde er sie einfach in den Fluß schmeißen. Die Krokodile und Kaimane würden sich schon ihrer annehmen. Er nahm sich die in scheintoter Starre daliegende Inka-Prinzessin vor. * Dorian erreichte ihr Quartier. Er sah, wie Astor, Freytag und Farmer die Vorbereitungen für den Aufbruch trafen, so daß er es sich ersparen konnte, ihnen zu befehlen, ihre Zelte hier abzubrechen und sich im den Sonnentempel zurückzuziehen. Sie wußten selbst, worauf es ankam, packten Lebensmittelkonserven zusammen, um auch für eine längere Belagerung gerüstet zu sein, und rafften so viele Waffen an sich, wie sie tragen konnten. »Wo sind Jeff, Sacheen und die beiden Wissenschaftler?« erkundigte sich Dorian. »Sind sie bereits im Tempel?« »Keine Spur«, erwiderte Farmer. Er grinste freundschaftlich. »Ehrlich, Hunter, ich hatte keinen Cent mehr für dein Leben gegeben. Wie hast du es geschafft, dir die Ungeheuer vom Leibe zu halten?« »Ich habe ihnen gut zugeredet und die Bedingung herausgehandelt, daß sie uns einen kleinen Vorsprung geben«, erwiderte Dorian trocken. »Aber im Ernst, was ist mit den anderen?« »Coe und Rogard sind Sacheen entwischt«, antwortete Astor. »Jetzt sucht sie sie zusammen mit Parker.« »Das auch noch!« stöhnte Dorian. »Ich werde sie zurückholen. Verbarrikadiert ihr euch schon im Tempel!«
»Halt dich nicht zu lange mit der Suche nach den beiden Verrückten auf!« rief Freytag ihm nach. »Wir brauchen jeden Mann, wenn die Ungeheuer erst angreifen.« Dorian hatte ein Schnellfeuergewehr und einen Gurt mit einem Dutzend voller Magazine an sich genommen, bevor er ins Freie rannte. »Jeff! Sacheen!« rief er während des Laufens, so laut er konnte. »Hierher!« War das Parkers Stimme? Sie kam vom Dschungel. Und dann tauchte dort ein Lichtschein auf, tanzte auf und ab, kam näher. »Wir haben die beiden Ausreißer gefunden«, ertönte Sacheens Stimme. Dorian atmete auf. »Dann nichts wie in die Pyramide mit ihnen!« Er rannte den vier entgegen. Er war zufrieden, daß sich auch Jeff und Sacheen bis an die Zähne bewaffnet hatten. Als er hinter sich Laufschritte vernahm, drehte er sich um und sah, daß Astor, Freytag und Farmer mit Munitions- und Lebensmittelkisten beladen in Richtung Sonnentempel rannten. »Wir verbarrikadieren uns im Sonnentempel«, erklärte Dorian hastig, als ihn die anderen erreicht hatten. »Ich spekuliere darauf, daß wir in Machu Picchus Nähe vor den Ungeheuern sicherer sind als anderswo. Das heißt – wenn sie wirklich ihren Alpträumen entsprungen sind.« »Aber Machu Picchu kann gar nicht im Tempel sein«, sagte Rogard. »Pst!« machte Coe bedeutungsvoll. »Wir haben versprochen, nichts zu verraten.« »Natürlich nicht«, stimmte Rogard zu. »Ich wollte ihm auch nicht unser Geheimnis verraten, sondern nur über unsere Begegnung mit der Inka-Prinzessin berichten.« »Ach so.« Coe schien zufrieden. Er blickte zu Dorian. »Wir haben Machu Picchu getroffen. Sie bat uns wieder dringend, sie zu wecken, und bestellte uns zu dem Steg, von dem früher Atahualpa seine Opfer in den Fluß geworfen hat. Und dort …« Rogard stieß ihn an, und Coe kniff die Lippen zusammen und ver-
stummte. Dorian hatte für einen Moment wirklich befürchtet, Machu Picchu könnte nicht mehr im Tempel sein. Immerhin hatte Pesce angedeutet, daß er sie entführen würde. Aber aus den Worten der beiden Geistesgestörten glaubte er herauszuhören, daß sie sich ihre Begegnung nur einbildeten. »Wir ziehen uns trotzdem in den Tempel zurück«, meinte er. »Los, beeilen Sie sich! Die Ungeheuer können jeden Augenblick auftauchen.« »Sie hätten Machu Picchu nicht quälen dürfen«, hielt Coe ihm vor. »Dann wäre …« Plötzlich erbebte die Straße vor ihnen. Mit einem Knall wölbten sich die Steinplatten nach oben und wurden mit ungeheurer Wucht in die Höhe geschleudert. Durch die so entstandene Öffnung ragte plötzlich der Schädel eines solchen Schnabelmonsters, wie Dorian es in dem engen Gang des unterirdischen Labyrinths getötet hatte. Ohne lange zu überlegen, feuerte er eine Salve auf den häßlichen Schädel ab und stellte an den Einschüssen zufrieden fest, daß jeder Schuß saß. Doch Dorians Hoffnung, daß das Monster in der Öffnung steckenblieb und den anderen so den Weg verstellte, erfüllte sich nicht. Das tödlich getroffene Scheusal verschwand nach unten, und im nächsten Augenblick stießen Fledermäuse und andere fliegende Untiere ins Freie. Sacheen und Parker deckten sie mit Sperrfeuer ein, und die Mehrzahl von ihnen war bereits nach den ersten Flügelschlägen tot. Dorian hatte die beiden geistesgestörten Wissenschaftler kurz aus den Augen gelassen. Jetzt sah er Rogard einige Schritte hinter sich stehen. Er hatte die Hände wie zum Gebet gefaltet, und Tränen rannen ihm übers Gesicht. Vor ihm lag eine übermannsgroße Steinplatte, unter der eine verkrampfte, starre Hand hervorragte. Abraham Coe. Dorian lief zurück und mußte den Biologen gewaltsam von seinem toten Kollegen fortzerren. »Warum nur? Warum?« stammelte Rogard immer wieder mit gebrochener Stimme. Dorian hatte sich das Schnellfeuergewehr umgehängt und die Ma-
chete ergriffen. Sie war für den Nahkampf besser geeignet, und darin würde er bald verwickelt sein, denn weiter vorn war die Straße ein zweites Mal aufgebrochen, und heraus quoll ein Strom vielfältiger grauenhafter Ungeheuer, die ihm bald den Weg zum Sonnentempel abschneiden würden, wenn er sich nicht beeilte. Zudem drohte aus der Luft nun auch Gefahr durch die Riesenfledermäuse und die Flugechsen. Etwas schoß über Dorians Kopf dahin. Er duckte sich instinktiv und spürte trotzdem, wie etwas Messerscharfes über seine Kopfhaut strich. Er schlug mit der Machete zu, verfehlte die Bestie aber um Armlänge. Ohne Rogard, der wie ein Betrunkener neben ihm herlief, hätte Dorian schon längst das Tor zu den Tempelanlagen erreicht, wo sich Sacheen und Parker verschanzt hatten und ihnen Feuerschutz gaben. Aber Dorian dachte keinen Moment daran, den Wissenschaftler im Stich zu lassen. Dorian ließ die Machete über seinem Kopf kreisen, erwischte eine riesige Vampirfledermaus im Flug und drosch dann im Vorbeilaufen auf ein quallenähnliches Ding ein, das ihn von der Flanke her anfiel. Jetzt ertönte auch aus der Richtung des Sonnentempels das Rattern von Schnellfeuergewehren. Bei Sacheen und Parker tauchte eine dritte Person auf. Es war Elmar Freytag. Er kam ungeachtet der von überall vordringenden Ungeheuer auf die Straße gelaufen. Als er Dorian und den Wissenschaftler erreichte, tat er etwas, was Dorian nicht sofort begriff. Der Deutsche verpaßte dem Biologen einen klassischen Kinnhaken, fing seinen schlaff gewordenen Körper mit der Schulter auf und rannte so mit ihm in Richtung Tempel. Dorian gab ihm Rückendeckung und fegte mit der Machete den Luftraum um ihn leer. Sacheen und Parker gaben ihnen zusätzlich Feuerschutz. Auf diese Weise erreichten sie relativ mühelos den Tempel, wo die anderen sie bereits erwarteten. Dorian stellte mit einem Blick fest, daß keine Inkas im Tempelinnern waren. Machu Picchu lag bewegungslos auf dem Opferstein. »Die Ungeheuer ziehen sich zurück!« rief Elliot Farmer erleichtert aus. Und dann hing Sacheen an Dorians und Parkers Hals und küßte
sie abwechselnd ab. Ihre Erleichterung war nach den vorangegangenen Schrecken verständlich. Dorian glaubte nicht, daß die Gefahr endgültig gebannt war, nur weil sie im Tempel Asyl gesucht hatten. Aber wenigstens wurde ihnen eine Atempause gegönnt, so daß sie sich sammeln konnten. Und das war schon etwas wert. »Danke, Freytag, daß du mir zu Hilfe gekommen bist«, sagte Dorian zu dem Deutschen. Er sah ihn nun mit anderen Augen – doch er wurde ihm nur noch rätselhafter. War er ein selbstloser, aufopferungsbereiter Held? Oder nur ein Vollblutabenteurer, ein Draufgänger mit großer Risikobereitschaft? Dorian sah auch nicht klarer, als Freytag ihm antwortete. »Nicht der Rede wert, Hunter. Ich habe dir nur geholfen, weil ich weiß, daß du der einzige bist, der uns zu dem Inka-Schatz verhelfen kann.« Aber dabei grinste er, so daß seine Begründung nicht ganz ernst zu nehmen war. Sie begannen alle verfügbaren Waffen zu laden und die leeren Reservemagazine aufzufüllen, damit sie für den nächsten Angriff der Ungeheuer gewappnet waren. James Rogard hatte sich zu Machu Picchu begeben und starrte stumm auf sie herunter. Manchmal bewegte er die Lippen, doch Dorian, der ihn zwischendurch immer wieder beobachtete, konnte nicht hören, ob er irgend etwas sagte. Nachdem das Nachladen der Waffen erledigt war und sie die leeren Munitionskisten zusammen mit Felsquadern zu Barrikaden aufgetürmt hatten, wollte sich Dorian dem geistesgestörten Biologen widmen. Dorian wollte ihn darauf hinweisen, daß er Machu Picchu im Dschungel gar nicht getroffen haben konnte, da die Inka-Prinzessin ja hier schlief; und er hatte vor, den Biologen über das Geheimnis auszufragen, das er mit seinem Kollegen und Leidensgenossen Abraham Coe geteilt hatte. Doch da kam es zu einem Zwischenfall, und Dorian mußte sich um wichtigere Dinge kümmern. »Seht einmal!« meldete Jeff Parker, der mit schußbereiter Waffe
den Tempelhof beobachtete. »Da kommt der Oberpriester mit seinen Dienern. Sie haben sich alle bewaffnet und machen nicht gerade einen vertrauenerweckenden Eindruck.« Dorian ließ von Rogard ab und wandte sich dem Ausgang zu. Während sich auf der einen Seite hinter dem Tor zu den Tempelanlagen die alptraumhaften Ungeheuer sammelten, kamen von rechts die Inkas in einer schweigenden Prozession näher; an ihrer Spitze Huica, der Oberpriester. Es handelte sich um etwa dreißig Männer. Sonnenjungfrauen waren keine darunter. Die Inkas hatten sich alle bewaffnet, trugen ihre Lanzen und Kampfbeile aus Obsidian. »Das bedeutet nichts Gutes«, meinte David Astor. »Nicht genug, daß wir uns mit den Ungeheuern herumschlagen müssen, jetzt machen uns auch noch die Inkas Schwierigkeiten«, schimpfte Elmar Freytag. »Rede nicht soviel!« verlangte Elliot Farmer mit seltsamer Erregung in der Stimme. »Mach lieber einige Fotos! Ich beteilige dich am Erlös. Aufnahmen von Inkas im Kriegsschmuck sind nicht mit Gold aufzuwiegen.« »Da braut sich doch was zusammen?« meinte Parker unsicher. Dorian nickte nur. Er glaubte zu wissen, was die Inkas wollten. In erster Linie ihren Tod. Bisher hatten sie sich nur zurückgehalten, weil sie gehofft hatten, daß die Ungeheuer aus Machu Picchus Alpträumen die fremden Eindringlinge vernichten würden. Jetzt schien es, daß sie die Geduld verloren hatten. »Ich werde mit Huica verhandeln«, beschloß Dorian. »Das darfst du nicht tun!« bat Sacheen. »Es ist zu gefährlich.« Dorian schüttelte den Kopf. »Die Inkas besitzen ein ausgeprägtes Ehrgefühl. Wenn sie freies Geleit zusichern, dann halten sie sich auch daran. Und keine Sorge, ich gehe nur, wenn sie das tun.« Er gab den anderen durch ein Handzeichen zu verstehen, daß sie sich abwartend verhalten sollten, schob Sacheens Hand beiseite und stieg über den niedrigen Wall aus leeren Munitionskisten und Felsquadern. Die Inkas waren etwa zwanzig Meter vor dem Tempeleingang stehengeblieben.
»Willst du mit mir verhandeln?« rief Dorian dem Oberpriester zu. Huicas Gesicht blieb ausdruckslos. Er überlegte lange, bevor er seinen Leuten ein Zeichen gab. Diese wandten sich daraufhin um und zogen sich bis zu den anderen Gebäuden zurück. Huica wandte sich wieder Dorian zu. »Ich erwarte dich!« Dorian schnallte seinen Gürtel mit der Pistolentasche ab und entledigte sich auch der Patronengurte. Er wollte sich schon in Bewegung setzen, als ihm bewußt wurde, daß er das Quipu noch bei sich hatte. Er wollte es lieber zurücklassen. Also händigte er es David Astor aus. Dann erst stieg er über die Treppe hinunter und trat vor den Oberpriester hin. »Warum haben sich deine Leute bewaffnet?« fragte Dorian. »Wir wollen Prinzessin Machu Picchu.« »Warum? Sie ist im Tempel bestens aufgehoben.« »Das glaube ich nicht. Ich verlange, daß ihr die Prinzessin freigebt. Nur dann kann ich sicher sein, daß ihr ihren heiligen Schlaf nicht stören werdet.« Dorian lächelte wissend. »Ich habe dich durchschaut, Huica. Ich weiß jetzt, warum du willst, daß wir die Prinzessin nicht wecken.« Er betrachtete sein Gegenüber genau, doch er konnte in dem Gesicht des Inkas keine Regung entdecken. »Du willst unseren Tod. Und du glaubst, daß er uns ereilen wird, solange die Prinzessin schläft. Denn nur solange die Prinzessin in ihren Alpträumen gefangen ist, besteht die Bedrohung durch die Ungeheuer. Du weißt, daß die Ungeheuer aus ihren Alpträumen kommen, deshalb wolltest du nicht, daß wir sie wecken. Aber genau das werden wir tun. Sie soll aus ihren Alpträumen gerissen werden, damit der Spuk ein Ende hat.« »Ihr werdet es nicht wagen, den heiligen Schlaf der Prinzessin zu stören«, sagte der Oberpriester. »Doch«, erwiderte Dorian fest. »Wir müssen es tun, wollen wir die Bedrohung durch die Ungeheuer beseitigen.« Dorian war gar nicht so sicher, wie er sich gab. Doch als er jetzt Huicas Gesichtsausdruck sah, da wußte er, daß er mit seinen Vermutungen ins Schwarze getroffen hatte. Das Gesicht des Oberpriesters verzerrte sich vor Wut. Jetzt ließ er seine Maske fallen.
»Gebt uns die Prinzessin!« verlangte er. »Nein!« »Dann werdet ihr durch unsere Hand sterben!« Mit diesen Worten drehte er sich um und schritt stolz erhobenen Hauptes davon. Dorian kehrte in den Tempel zurück. Als er die fragenden Blicke der anderen auf sich gerichtet sah, meinte er nur: »Jetzt wird es gleich heiß hergehen.« Alle verstanden. * Sie mußten nicht lange auf den Angriff der Inkas warten. Dorian hatte angeordnet, daß alle Fackeln im Tempel gelöscht wurden und man die Taschenlampen der Reihe nach so auf den Schutzwall legte oder zwischen die Felsquader klemmte, daß sie auf den Tempelhof leuchteten. Vorerst blieben sie jedoch noch ausgeschaltet. Erst als von den gegenüberliegenden Gebäuden ein wütendes Geheul erklang und das Trampeln vieler nackter Füße näher kam, befahl Dorian, die Taschenlampen einzuschalten. Die Inkas hielten für einen Moment inne, als sie plötzlich von den gebündelten Lichtstrahlen geblendet wurden. Aber dann feuerte sie Huicas haßverzerrte Stimme an, und sie setzten den Angriff fort. Eine der Taschenlampen zersprang krachend, als sie von einem Beil getroffen wurde. Dorian zog den Kopf ein, als er einen Speer auf sich zukommen sah. Die Waffe flog knapp über seinen Kopf hinweg. »Feuer!« befahl er. Und dann ratterten die Schnellfeuergewehre los. Dorian hoffte, daß sich alle an seine Anweisungen halten würden. Er wollte die Inkas nicht abschlachten, sondern sie mit der ersten Salve nur einschüchtern. Deshalb hatte er befohlen, knapp über ihre Köpfe zu zielen. Vielleicht wurden sie von den Detonationen so eingeschüchtert, daß sie Fersengeld gaben. Und tatsächlich kam der erste Angriff beim Rattern der Schnellfeuergewehre zum Erliegen. Die Inkas warfen sich teilweise vor
Schreck auf den Boden oder stoben in wilder Panik auseinander. Nur zwei Unerschrockene ließen sich nicht beirren. Vielleicht hatte Huica ihnen die Ohren zugestopft. Den ersten erwischte eine Salve Farmers, als er die Stufen zum Tempel erreichte. Der zweite gelangte wie durch ein Wunder fast unverletzt durch den Kugelhagel. Er erreichte die Barrikade und schlug mit dem Beil nach einer Taschenlampe. Er traf sie auch, doch als er für Sekundenbruchteile so nach vorn gebeugt dastand, tötete Freytag ihn mit einem Genickschuß. »Na, die haben fürs erste die Hosen voll«, meinte Parker grinsend. »Die kommen wieder«, behauptete Astor über die Leiche des Inkas gebeugt. Er holte aus einem seiner Ohren einen Stöpsel aus einem wie Wachs knetbarem Material und hielt ihn hoch. »Der Oberpriester ist ein schlauer Bursche. Jetzt wird er aus der Erfahrung gelernt haben und allen seinen Leuten die Ohren zustopfen, damit sie die Schüsse nicht hören können.« Es dauerte nicht lange, da ertönte wieder das Kriegsgeheul der Inkas. Gerade in dem Moment, als sie aus ihren Verstecken kamen und den zweiten Angriff einleiten wollten, tauchten auch die Ungeheuer auf. Wie auf Kommando wälzten sie sich auf einmal durch das Tor in den Tempelhof, dabei ein unheimliches Gebrüll anstimmend. Durch die Luft kam ein Schwarm von Vögeln, Fledermäusen und Flugechsen angeschossen. Die angreifenden Inkas sahen und hörten sie nicht. Sie rannten stur in Richtung Sonnentempel weiter. Erst als die Bedrohung von der Flanke praktisch in Reichweite war und sich die fliegenden Ungeheuer auf sie stürzten, begriffen sie, daß sie es plötzlich mit einem ganz anderen Feind zu tun hatten. »Welche Ironie!« sagte David Astor. »Nun sterben die Inkas den Tod, den sie uns zugedacht hatten.« »Na, bedauern sollten Sie das nicht gerade«, meinte Freytag. Er blickte mit zusammengekniffenen Augen zu den Scheusalen hinüber. »Wie ist es, sollen wir ein Wettschießen auf sie veranstalten?« »Wir sollten besser Munition sparen«, meinte Parker. »Wer weiß, wie lange die Belagerung durch die Ungeheuer noch andauert.«
Dorian stimmte dem zu. »Warten wir erst einmal ab.« Er nahm das Quipu an sich, das neben Astor lag, und ging zum Opferstein mit der schlafenden Inka-Prinzessin. James Rogard stand an ihrer Seite. »Behaupten Sie immer noch, daß Ihnen und Coe die Prinzessin im Dschungel erschienen ist, Professor?« erkundigte sich Dorian. Rogard schreckte hoch. »Ich …« Er blickte von Dorian auf die Prinzessin und schien Dorians Frage sofort wieder vergessen zu haben. »Ich habe gerade mit ihr gesprochen«, sagte er statt dessen. »Sie will von uns geweckt werden.« »Das vermute ich auch«, sagte Dorian. »Aber ich grüble darüber nach, was sie unter wecken versteht. Denn den gleichen Wunsch hat sie auch schon mir gegenüber geäußert – nur schien sie mir wach und munter zu sein, als sie das tat.« »Sie hat dabei geschlafen und schläft noch immer«, behauptete Rogard. Was mochte Wahres daran sein? Dorian dachte an das Relief im Saal der Träume, das die Prinzessin doppelt dargestellt hatte. Bedeutete das, daß nur ein Ich von ihr wachte, während das andere weiterschlief? Daß immer nur ein Teil ihrer Doppelpersönlichkeit wach sein konnte? »Machu Picchu«, sagte Dorian eindringlich; »kannst du mich hören?« Er wäre schon froh gewesen, wenn wenigstens das eine Ich – egal ob das gute oder böse – jetzt wach gewesen wäre. Aber die Prinzessin rührte sich nicht. Dorian hantierte wieder mit den Knoten des Quipus herum – da zuckte es im Gesicht der Prinzessin. Entschlossen öffnete Dorian einen Vierfach-Knoten. Von draußen erscholl ein infernalisches Gebrüll, und Farmer rief: »Verdammt, was ist geschehen? Wieso beginnen die Ungeheuer plötzlich zu toben?« »Irgend etwas muß passiert sein, das sie zur Raserei gebracht hat«, sagte Jeff Parker. Dorian kannte den Grund. Zwischen dem Quipu und Machu Pic-
chu gab es magische Bande, die auch die Alptraumungeheuer einschlossen. Wenn er einen Knoten öffnete, dann bekamen das die Alptraumgeschöpfe zu spüren. Und Machu Picchu wälzte sich auf dem Opferstein unruhig hin und her. Die Erfahrung, daß eine Manipulation mit dem Quipu auf Machu Picchu und ihre Träume Einfluß hatte, eine Reaktion bei ihr hervorrief, war nicht neu für Dorian; er wußte es schon, seit Jean Daponde den Tod gefunden hatte. Nur hatte Dorian die Vorgänge bisher falsch interpretiert. Er war durch das Verlangen der Inkas, die er damals noch für ihre Verbündeten hielt, irritiert worden. »Stört nicht den heiligen Schlaf der Prinzessin!« hatte Huica gesagt. Und Dorian hatte geglaubt, daß man mit ihr auch die Schrecken ihrer Alpträume wecken würde. Dabei war es genau umgekehrt. Solange Machu Picchu träumte, gebar sie auch in ihren Alpträumen diese Ungeheuer. Jean Daponde hatte das schon vor seinem Tod erkannt und wollte Dorian davon unterrichten. Er hatte verlangen wollen, daß man sie weckte, doch mitten im Satz war er gestorben. Jetzt war für Dorian alles klar: Wenn es gelang, Machu Picchu zu wecken, dann war auch ihr Traum zu Ende, und die Ungeheuer würden sich in Nichts auflösen, diese Ungeheuer, die die wahren Wächter ihres Schlafes waren und gleichzeitig ihre Peiniger. Klar, daß sie zu rasen begannen, wenn man die Knoten des Quipus öffnete, denn das bedeutete ihre Vernichtung und Machu Picchus Erwachen. Draußen ging das höllische Inferno weiter. Und nun ratterten auch die ersten Salven aus den Gewehren der Männer in der Pyramide. »Schießt aus allen Rohren!« brüllte Elmar Freytag, während er breitbeinig dastand und von den Rückstößen seines Schnellfeuergewehres durchgeschüttelt wurde. Dorian ließ sich davon nicht beirren. Er wußte, daß die wilde Attacke der Ungeheuer nur ein letztes Aufflackern ihrer magischen Lebensenergie war. Wenn Machu Picchu aufwachte, dann würden sie sich in Nichts auflösen. Dorian öffnete mit fliegenden Fingern weitere Knoten des Quipus. Da schlug Machu Picchu die Augen auf. Ihr Gesicht war verzerrt,
als litte sie große Schmerzen. »Deine Qualen haben bald ein Ende«, versprach ihr Dorian. »Du mußt jetzt wach bleiben! Du darfst nicht mehr einschlafen, damit du nicht träumen kannst!« Sie starrte ihn mit ihren großen Augen verständnislos an. Dann blickte sie zu Rogard und ergriff schnell Dorians Arm, als erhoffte sie sich von ihm Rettung. »Wecke mich! Schnell!« flehte sie. »Ich treibe dahin und entferne mich immer weiter. Schnell, bevor ich außer Reichweite bin!« »Du bist doch wach«, sagte Dorian eindringlich. »Du mußt nur fest daran glauben.« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Doch!« redete er ihr ein. »Glaube daran, daß du wach bist, dann kannst du auch dein zweites Ich wecken!« »Es treibt den Strom ohne Wiederkehr dahin – den Strom ohne Wiederkehr, der dennoch ewige Wiederkehr bedeutet.« Ihre Verzweiflung griff auf Dorian über. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Dabei wußte er, daß die Lösung so nahe war. War es denn nicht möglich, sie endgültig zu wecken, wenn sie selbst den festen Glauben daran hatte? »Du mußt daran glauben, Machu Picchu!« Er wandte sich zum Eingang um. Über die Köpfe der Kameraden hinweg sah er im Schein der restlichen Taschenlampen vor dem Tempel ein Gewirr von abscheulichen Körpern. Der Hof war mit dem Blut der Ungeheuer aus Machu Picchus Alpträumen getränkt. »Ihr müßt aushalten!« rief Dorian den Gefährten zu. »Der Spuk hat gleich ein Ende.« »So?« meinte Elliot Farmer sarkastisch und wechselte das leere Magazin gegen ein volles aus. »Ich habe eher den Eindruck, daß es immer mehr Ungeheuer werden.« Sacheen schrie auf, als sich eine Fledermaus in ihren Haaren verkrallte. Parker trennte dem Untier mit der Machete einen Flügel ab und erdrückte das zuckende Ding zwischen seinen Händen, bevor es mit seinen Vampirzähnen nach ihm schnappen konnte. »Zündet die Fackeln an!« befahl er. »Wir werden diese Bestien or-
dentlich schmoren lassen.« Dorian wartete nicht ab, bis die Gefährten die Fackeln entzündet hatten und sie in die Reihen der Ungeheuer warfen. Er wandte sich wieder Machu Picchu zu. Die Prinzessin lag auf dem Opferstein und schlief. Dorian empfand in diesem Moment eine solche Enttäuschung, daß er das Quipu am liebsten in tausend Stücke gerissen hätte. Aber dann würde Machu Picchu wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit schlafen und träumen müssen. »Sie schwimmt im Fluß und wird bald den Orinoco erreicht haben«, murmelte Rogard. Dorian horchte auf. »Was sagen Sie da, Professor?« Rogard preßte sich schuldbewußt eine Hand auf den Mund. »Ich wollte es nicht sagen«, beteuerte er. »Abraham und ich haben Pesce versprochen, ihn nicht zu verraten. Und daran muß man sich halten. Aber ich glaube, daß nicht Sie es waren, Hunter, der Machu Picchu quälte, sondern Pesce selbst. Ja, ich denke, Sie verstehen Machu Picchu.« »Was wissen Sie über Pesce?« drängte Dorian. »Abraham und ich haben ihn beim Fluß getroffen, als er gerade mit Machu Picchu auf den Steg trat, von wo aus der dämonische Atahualpa seine Opfer die lange Reise antreten ließ.« »Weit, weit weg«, murmelte da Machu Picchu. »Der Strom trägt mich. Kann mich niemand wecken?« Dorian nahm sie an den Schultern und setzte sie auf. Sie öffnete die Augen. »Erzählen Sie weiter, Rogard!« verlangte Dorian. »Pesce hat uns erzählt, daß er Machu Picchus letzten Wunsch erfüllen wollte«, fuhr Rogard fort. »Er schickte uns fort. Aber Abraham und ich schlichen uns zurück und sahen, wie er die Hände der Prinzessin auf dem Rücken zusammennagelte, sie durch Dutzende große Blutegel zur Ader ließ und dann ihren in ein Netz gebundenen Körper in den Fluß warf. Dabei tobte er und benahm sich auch sonst seltsam. Wir hörten ihn weinen und meinten, daß er um die Prinzessin trauere. Aber jetzt bin ich nicht mehr sicher …«
»Aber daß es Machu Picchu war, die er rituell opferte, dessen sind Sie sicher?« »Ich kenne doch die Prinzessin!« sagte Rogard leicht empört und nahm nur äußerst widerwillig den Blick von der Schlafenden, um Dorian böse anzufunkeln. »Haben Sie sich denn nicht gewundert, daß Machu Picchu den Fluß hinuntertreibt, während sie gleichzeitig auch hier ist?« Da lächelte der geistesgestörte Biologe. »Machu Picchu kann doch mit ihren Träumen überall sein.« Da fiel es Dorian wie Schuppen von den Augen, und er wurde mit einem Schlag ganz ruhig. Er empfand keine Eile mehr, obwohl die Alptraumungeheuer sie arg bedrängten. »Dorian, willst du uns nicht lieber mit der Waffe in der Hand unterstützen?« rief Parker über die Schulter. Er mußte laut brüllen, um die Schußdetonationen zu übertönen. »Auf deine Art kommst du doch nicht weiter.« »Haltet nur noch wenige Minuten aus!« erwiderte Dorian. »Gleich ist alles vorbei.« »Das habe ich schon einmal gehört!« rief Elliot Farmer. Seine Linke hing schlaff von der Schulter herab. Einer der kleinen Nager hatte sich darin verbissen, und obwohl Farmer das Tier mit dem Buschmesser zerstückelt hatte, mußte er den Schädel mit dem messerscharfen Gebiß gesondert abtrennen. Sacheen hatte ihr Gewehr mit Machete und Peitsche vertauscht. Sie kämpfte wie eine der sagenhaften Amazonen, denen sie im Dschungel begegnet waren. Gerade holte sie mit der Peitsche eine der Schlangen mit dem Krokodilschädel heran. Parker erschlug das Scheusal mit dem Gewehrkolben. David Astor, der bisher fast ausschließlich mit Bibel und Rosenkranz für das Gute gekämpft hatte, stand jetzt auch seinen Mann. Bei ihm war jeder Schuß ein Volltreffer. Er tötete die Ungeheuer ohne Skrupel, denn für ihn waren es ohnehin nur Ausgeburten der Hölle, die Verkörperung alles Bösen – und überhaupt des Bösen, das nicht einmal von dieser Welt stammte. Elmar Freytag hatte nicht mehr die Kraft zum Stehen. Der
Schmerz in seinem verwundeten Bein, an dem sich einer der wieselflinken Nager verbissen hatte, war zu übermächtig geworden. Manchmal wurde ihm schwarz vor Augen, aber mit schier übermenschlicher Anstrengung kämpfte er immer wieder erfolgreich gegen eine Ohnmacht an. Dorian tat, als ginge ihn das alles nichts an. Er wußte, daß er die Lösung ihres Problems gefunden hatte. Wenn er außer Triumph über den bevorstehenden Sieg gegen das Böse noch etwas empfand, dann war es Mitleid für Machu Picchu. Während er Knoten um Knoten des Quipus löste, wand sie sich auf dem Opfertisch unter unsäglichen Qualen. Dorian wischte ihr zwischendurch über die schweißnasse Stirn. Er wußte jetzt mit ziemlicher Sicherheit, wie es kommen konnte, daß sie an zwei Orten gleichzeitig war. Er hatte das Rätsel des Reliefs gelöst, das sie doppelt zeigte; er brauchte nur noch eine letzte Bestätigung – und die war nicht einmal unbedingt erforderlich. »Wo bist du jetzt, Machu Picchu?« Fünf der Schnüre waren bereits entknotet. Draußen tobten die Ungeheuer. Sie versuchten sich noch ein letztes Mal gegen jene aufzubäumen, die ihr Schicksal besiegeln würden. »Ich treibe im Fluß«, kam es stöhnend über ihre Lippen. »Findet mich denn niemand, der die Bande zu meinen Alpträumen trennen kann?« »Es wird geschehen, Machu Picchu. Du treibst gar nicht im Fluß. Du bist im Sonnentempel. Und du träumst nicht mehr.« »Doch!« Es klang wie ein qualvoller Aufschrei. »Nein, dein anderes Ich träumt. Du bist wach. Du lebst!« Diese Worte versetzten Dorian einen Stich. Jetzt kannte er die endgültige Wahrheit. Es war also doch die echte Machu Picchu, die von Pesce gefoltert und in den Fluß geworfen worden war. Er hatte sie rituell hingerichtet, und nun trieb sie dem Orinoco entgegen und träumte ihre Wirklichkeit gewordenen Alpträume. Die Prinzessin, die vor ihm lag, war selbst nur eine Traumgestalt. Ich träume, darum bin ich. Das war das Rätsel des Reliefs, das Machu Picchu mit zwei Kör-
pern zeigte. Sie besaß nicht nur eine gespaltene Persönlichkeit, sondern auch zwei Körper. So wie Machu Picchu von den Ungeheuern träumte, konnte sie auch von sich selbst träumen. Da sie selbst zum Schlafen verdammt war, hatte sie ihr anderes Ich in einem Traumkörper ausgeschickt, um einen Retter zu suchen, der sie von den Alpträumen erlöste. Und Machu Picchu träumte auch noch den Traum von ihrem Leben, während sie den Fluß hinuntertrieb, nicht tot war und nicht lebte, sondern träumen mußte – solange von ihren Alpträumen gefangen war, bis jemand die Knoten des Quipus löste. Und Dorian hatte bereits mehr als zehn Schnüre entknotet. Was würde aus der Traum-Machu-Picchu werden, wenn alle Knoten des magischen Quipus gelöst waren? Würde sie vergehen wie die Ungeheuer der sie plagenden Alpträume? Oder durfte sie den Traum von einem Leben weiterträumen? Dorian würde es ihr gönnen. »Du träumst, daß du bist – und du bist«, redete ihr der Dämonenkiller zu. »Träume diesen Traum weiter, solange es dir beliebt!« Es war auch sein Wunsch. Er hatte den Eindruck, als sei das Gewehrfeuer schwächer geworden. »Wir haben kaum noch Munition«, sagte irgend jemand. Dorian hörte die Stimme wie aus weiter Ferne und erkannte sie nicht. »Täusche ich mich – oder sind die Ungeheuer weniger geworden?« »Verdammt, ich träume wohl!« »Mich laust der Affe! Ich muß übergeschnappt sein, denn wie könnte ich sonst sehen, daß sich eines der Scheusale in Luft aufgelöst hat?« »Das ist keine Täuschung. Die Ungeheuer verschwinden tatsächlich.« David Astor legte sein Gewehr weg, sank auf die Knie und betete. »Stellt das Feuer ein!« befahl Parker. »Spart die Munition für den Rückweg ins Camp auf!« Sacheen lehnte sich erschöpft gegen ihn. Machu Picchu beruhigte sich und öffnete endgültig die Augen. Sie
setzte sich auf- und zum ersten Mal sah Dorian sie lächeln. Er hatte den letzten Knoten des Quipus gelöst. Der Alptraum war vorbei, aber die Traum-Machu-Picchu war geblieben. Dorian atmete auf. Ein gnädiges Schicksal gestattete, daß die untote Machu Picchu, die dem Orinoco zutrieb, den Traum von einem freien Leben weiterträumen durfte. * Der Tempelhof war zu einem Schlachtfeld geworden. Der Boden war mit dem Blut der Ungeheuer getränkt. Ihre Kadaver bildeten unförmige Berge von Fleisch. Das erste Licht des neuen Tages offenbarte den acht Menschen, die aus dem Sonnentempel traten, viel deutlicher die abstoßenden Einzelheiten an den Scheusalen, als es der Schein ihrer Taschenlampen vermocht hatte. Und den Kadavern entströmte ein Gestank, daß ihnen übel wurde. »Warum sind nicht auch die Kadaver verschwunden, als der Alptraum zu Ende ging?« fragte Elmar Freytag. »Sie sollen uns eine Mahnung sein«, sagte David Astor. Dorian erwiderte auf diese philosophische Deutung nichts. Warum sollte er versuchen, das Gewesene zu analysieren? »Es ist vorbei«, sagte er. Machu Picchu hatte sich schutzsuchend an ihn geschmiegt. Und es schien auch ganz selbstverständlich, daß Dorian einen Arm um sie legte, nicht besitzergreifend, sondern beschützend. »Es ist noch nicht vorbei«, murmelte sie so leise, daß nur er es hören konnte. »Gehen wir schnell aus der Stadt fort. Der Alptraum kann jederzeit wieder aufflackern.« Selbst wenn einer der anderen ihre Worte gehört hätte, verstanden hätte er ihr altertümliches Spanisch doch nicht auf Anhieb. Sie suchten sich ihren Weg durch die stinkenden Kadaver. Ihre Stiefel hinterließen in dem aufgeweichten Boden Abdrücke und verursachten schmatzende Geräusche. »Was wohl aus Pesce geworden ist?« fragte da Elliot Farmer.
»Hoffentlich hat ihn der Teufel geholt«, meinte Jeff Parker inbrünstig. Sie waren alle froh, als sie den Tempelhof hinter sich gelassen hatten und den Dschungelrand erreichten. Seit Pesces Namen erwähnt worden war, mußte Dorian ständig an ihn denken. Eigentlich hatten sie all die Schrecken der vergangenen Nacht ihm zu verdanken. Mein Gott, das ist alles in einer einzigen Nacht passiert! Wenn Pesce die schlafende Machu Picchu nicht gefoltert hätte, wer weiß … »Kannst du verzeihen?« fragte die Machu Picchu an seiner Seite. Dorian wußte im ersten Moment nicht, was sie meinte, und er war sich später nicht sicher, vermutete aber, daß sie seine Gedanken erraten hatte. Selbst wenn er sich an Pesce nicht rächte, so würde sich Pesce doch vor einem Gericht verantworten müssen. Er hatte zuviel auf dem Kerbholz. Andererseits wiederum konnte man ihm nicht den Prozeß machen, weil er eine Inka-Prinzessin gefoltert hatte, die eigentlich bereits seit Jahrhunderten tot sein mußte. Und wenn Machu Picchu ihm verzieh … »Wartet hier auf mich!« sagte Dorian zu den Gefährten. Er wollte zum Fluß hinunter, sich die Stelle ansehen, von wo aus die schlafende Inka-Prinzessin ihre lange Reise angetreten hatte. Machu Picchu begleitete ihn. Die Gefährten riefen hinter ihm her, wollten wissen, was er vorhatte, aber er antwortete ihnen nicht. Schweigend verschwand er mit Machu Picchu im Dschungel. Es schien ihm, daß er den verwilderten Pfad zum ersten Mal entlangging. Die wild wuchernde Vegetation des Dschungels verändert sich ständig. In einem Jahr konnte eine größere Lichtung zugewachsen sein. In einigen Jahren würde der Dschungel die Inka-Stadt Manoa überwuchert haben. Dorian erinnerte sich noch gut an den Tag, als er als Georg Rudolf Speyer im Gefolge des spanischen Konquistadors Martinez an den Fluß gekommen war, von dem aus der dämonische Atahualpa seine rituell verpackten Opfer auf die lange Reise schickte. Damals hatte dieser Fluß einen ganz anderen Verlauf genommen, hatte sich viel
weiter von Manoa entfernt durch den Dschungel gewälzt. Jetzt konnte man das Flußbett in kaum einer halben Stunde erreichen. Dorian war so in Gedanken versunken gewesen, daß er gar nicht bemerkte, wie Machu Picchu zurückblieb. Auf einmal stellte er fest, daß sie verschwunden war. »Pfoten hoch!« Pesce, ein Gewehr im Anschlag, trat durch die Büsche. »Hast du etwa mich gesucht, Hunter?« Der Abenteurer sah so verwildert und heruntergekommen aus, als hätte er seit Jahren im Busch gelebt. »Nein«, erwiderte Dorian. Die Waffe beeindruckte ihn nicht. »Ich wollte mir nur die Stelle ansehen, von wo aus Machu Picchu die endlose Reise angetreten hat.« Pesce lachte krächzend. »Endlos ist gut. Ihre Reise wird nur so lange dauern, bis Piranhas oder Krokodile sie stoppen.« »Warum hast du es getan, Pesce?« »Warum?« Der Italiener schien nachzudenken, dann sprudelte es aus ihm heraus. »Sie wollte nicht reden. Mann, ich drehte einfach durch, weil dieses Aas nicht den Mund auftun wollte. Ob du mir glaubst oder nicht, Hunter, ich wollte sie nicht töten. Ich dachte nur, daß ich vielleicht an mein Ziel kommen könnte, wenn ich das Opferritual nachvollziehe.« »Aber du hast den Schatz nicht gefunden«, stellte Dorian fest. »Du hast nur erreicht, daß alle Schrecken ihrer Alpträume Wirklichkeit wurden und über uns herfielen.« »Das ist nicht wahr«, verteidigte sich Pesce. »Ich habe euch gerettet. Ihr wäret alle draufgegangen, wenn ich Machu Picchu nicht gerichtet hätte.« »Ich dachte, du wolltest ihr nichts antun?« Pesce sah sich in die Enge getrieben. »Was soll's Hunter, ich weiß, daß du mich nicht leiden kannst. Du würdest mir selbst einen Strick daraus drehen, wenn ich nur hustete. Aber ich werde dir wirklich was husten. Mich bekommst du nicht. Lieber schicke ich dich der Inka-Prinzessin nach.« Pesce hob entschlossen das Gewehr. Da wurden seine Augen
plötzlich groß, und sein Gesicht verlor alle Farbe. »Nein! Das … das … Nein!« stammelte er. Neben Dorian war Machu Picchu aufgetaucht. Sie sagte keinen Ton, kam nur gemessenen Schritts heran und ließ Pesce nicht aus den Augen. Der wich bis an einen Baum zurück. Er zitterte am ganzen Körper. Speichel troff ihm von den Lippen. Plötzlich schleuderte er mit einem Aufschrei das Gewehr von sich und rannte davon. Er achtete nicht darauf, in welche Richtung er lief. Er wollte nur fort von hier. Es konnte nicht wahr sein! Machu Picchu war tot! Er floh vor einem Gespenst! Jawohl! Er wollte fort von diesem Geist – irgendwohin. Pesce rannte gegen ein Hindernis. Er erkannte erst nach dem Zusammenstoß, daß es sich um eine menschliche Gestalt handelte. James Rogard! Pesce schluchzte auf. Er war mit den Nerven völlig am Ende. »Warum denn diese Hast, Pesce?« fragte Rogard in der gemächlichen Art, wie sie Geistesgestörten oft zueigen ist. »Wir brauchen keine Eile zu haben. Den Schatz nimmt uns niemand weg. Die anderen wagen sich nicht mehr nach Manoa hinein. Der Schatz gehört uns.« »Sie sind ja verrückt«, keuchte Pesce. »Wovon sprechen Sie überhaupt?« Rogard tat verwundert. »Ich dachte, Hunter hätte Ihnen erzählt, daß wir den Schatz gefunden haben.« Pesce erinnerte sich plötzlich an sein Gespräch mit Hunter. Und in seine Gedanken hinein begann Rogard zu schwärmen. »Das Gold ist im Saal der Träume. Alle Wände und der Boden und die Decke sind mit Gold ausgelegt. Zentimeterdicke Reliefs aus Gold. Tonnen von Gold. Unermeßlicher Reichtum.« »Sie spinnen«, behauptete Pesce, aber er folgte dem Biologen, der sich langsam in Bewegung setzte. Gold! Wozu brauchte er es eigentlich? Sein Alter hatte Geld genug; er konnte bis ans Ende seiner Tage davon zehren. Aber es war der Inka-Schatz! Es ging ihm nicht nur um den Reichtum. Es galt auch, sich selbst zu bestätigen. Es ging um das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Mit dem Reichtum, den er sich selbst ver-
schafft hatte, konnte er das Halbblutflittchen Sacheen kaufen und … Oh, sie würde leiden! Und er würde sich an ihren Schmerzen weiden. Sie betraten die Inka-Stadt, verschwanden über eine Treppe in dem unterirdischen Labyrinth und kamen in den Saal. »Gold!« entfuhr es Pesce ehrfürchtig. »Wahrhaftig! Alle Wände sind aus Gold. Ich könnte Sie umarmen, Professorchen!« Rogard stand nur da und beobachtete Pesce mit einem geheimnisvollen Lächeln. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich auch nicht, als die Reliefe an den Wänden sich plötzlich zu verformen begannen und sich bewegten, als hätten sie ein eigenes Leben. * »Ich kann doch nicht verzeihen!« rief Machu Picchu aufschluchzend und warf sich Dorian an die Brust. »Es – ist stärker als ich. Ich komme nicht dagegen an. Der Traum läßt mich nicht los.« Sie hatten die anderen erreicht, die die verbliebene Ausrüstung zusammengetragen hatten. Sie wollten bald aufbrechen zum Camp am Rio Negro. Dorian hörte ihre Gespräche nur wie aus weiter Ferne. Elmar Freytag sinnierte darüber nach, ob das Gold im Saal der Träume echt gewesen war oder ebenfalls nur eine Traumreflexion der schlafenden Machu Picchu. Aber nicht einmal er verspürte Lust, Manoa noch einmal zu betreten. Machu Picchus Mahnung, daß die Alpträume wiederkommen könnten, war ihm noch gut in Erinnerung. Jeff Parker bot ihm an, ihm in den Staaten – oder in irgendeinem Land der Erde – einen Job zu verschaffen. Aber Freytag hatte sich anders entschlossen. Er wollte sich David Astor anschließen und an seiner Seite missionarisch tätig sein. »Ich kann ohne den Dschungel nicht mehr leben«, begründete er seinen Entschluß mit einem scherzhaften Unterton. Elliot Farmer machte von allen das unzufriedenste Gesicht. Er wußte noch immer nicht, ob er einen Erlebnisbericht schreiben sollte oder einen Roman. Für einen Erlebnisbericht wäre der Schluß – der
Kampf gegen die Alptraummonster – unglaubwürdig gewesen, und für einen Roman unbefriedigend. Kein Leser würde sich damit zufriedengeben, daß der Held der Inka-Stadt Manoa, nach der Generationen von Menschen gesucht hatten, einfach den Rücken zukehrte, ohne den Versuch gemacht zu haben, das letzte Geheimnis zu ergründen, den sagenhaften Schatz zu heben. Aber in das unterirdische Labyrinth zu gehen, dazu verspürte auch er keine Lust. Da ertönte plötzlich aus den Tiefen der Erde ein Grollen. Unter ihren Füßen erbebte der Boden. Ihnen war, als stünden sie auf schwankenden Schiffsplanken. »Ein Erdbeben?« wunderte sich David Astor. Dann blickte er zu Machu Picchu, die sich verzweifelt an Dorian klammerte, und er ahnte, daß es sich hier um ein letztes Aufflackern ihrer Alpträume handelte. Die Bodenerschütterungen erfaßten die Inka-Stadt. Der Tempel begann zu schwanken. Einzelne Steinquader brachen aus und krachten in die Tiefe. Ein Spalt tat sich in der Erde auf, verschlang ganze Bauwerke und die Berge aus Tierkadavern. Elliot Farmer betrachtete das phänomenale Schauspiel mit verklärtem Gesicht. Ein Wunder schien sich hier anzubahnen; er schien doch noch einen effektvollen und befriedigenden Schluß für seinen Bestseller zu finden. Sie rafften ihre Ausrüstung zusammen und flohen von diesem verfluchten Ort. Sie wollten fort aus dem Dschungel der Dämonen und dem tödlichen Alptraum so schnell wie möglich entfliehen. Und während sie aus dem El Dorado flohen, nahm sich Dorian vor, Machu Picchu mit in die Zivilisation zu retten, gut zu ihr zu sein und sie zu verwöhnen – solange der Traum von ihrem Leben andauerte. ENDE
Vorschau � Der Teufelseid � von Ernst Vlcek, Neal Davenport u. a. �
Das Abenteuer in Mittelamerika ist ausgestanden. Aber Machu Picchu, deren sonderbares Leben auch nach der Rückkehr nach London andauert, wird zu einer beherrschenden Person in Dorians Leben. Sie rät ihm, Cocos Entscheidung, sich Olivaro anzuschließen, nicht vorschnell zu beurteilen. Aber ist es nicht gerade Machu Picchu, die durch ihre Träume verwirrt ist? Woher sollte sie etwas über Cocos wahre Absichten wissen? Fast ist Dorian gewillt, Machu Picchu zu glauben. Aber dann wird er Zeuge eines Sabbats, auf dem Coco ihrem neuen Geliebten Olivaro den Teufelseid schwört …