»Wie schnell sich doch die Dinge ändern. Vor weniger als drei Wochen war ich noch ein zufriedener Pessimist in einem au...
13 downloads
296 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
»Wie schnell sich doch die Dinge ändern. Vor weniger als drei Wochen war ich noch ein zufriedener Pessimist in einem aufgeräumten Leben.« Weniger als drei Wochen zuvor findet der Drehbuchautor Christian Uhlig die E-Mail einer Unbe kannten in seinem Posteingang. Jana, eine Architekturstudentin ist so begeistert von seinem letzten Film, daß Christian sich geschmeichelt fühlt und antwortet. Die E-Mails gehen hin und her, und bald klingen im anfangs lockeren Plauderton Interesse, Zuneigung und eine immer tiefer werdende Verbundenheit an. Jana erzählt, was sie bewegt: Der Mann, den sie für ihren Vater hielt, hat sich von ihr losgesagt, und sie fühlt sich verwaist und verloren. Sie solle ihren leiblichen Vater suchen, rät Christian. Aber das will Jana nicht. Als ihr Freund den Mailwechsel entdeckt und vor Eifersucht rast, ist aus der freundschaftlichen Plauderei längst eine Affäre geworden, die Christians Leben, seine Ehe und sein Selbstbild als Mann auf den Kopf stellt und ihm Ent scheidungen abverlangt, deren Tragweite nicht abzusehen ist. Thommie Bayer erweist sich einmal mehr als raffinierter Psychologe und intimer Kenner literarischer Zwischen töne, mit denen sich von Sehnsucht, Treue, Reue und Verlust erzählen läßt.
Thommie Bayer
Singvogel
Roman
Piper München Zürich
Von Thommie Bayer liegen im Piper Verlag vor: Der langsame Tanz Die gefährliche Frau Der Himmel fängt über dem Boden an
ISBN-13: 978-3-492-04748-7 ISBN-10: 3-492-04748-3 1. Auflage 2005 © Piper Verlag GmbH, München 2005 Gesetzt aus der Bembo Satz: Uwe Steffen, München Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany www.piper.de
Für Bernhard
Tell me that you’ve got everything you want And your bird can sing But you don’t get me You don’t get me John Lennon / Paul McCartney
1
Wie schnell sich doch die Dinge ändern. Vor weni ger als drei Wochen war ich noch ein zufriedener Pessimist in einem aufgeräumten Leben, der glaubte, sich zu kennen, und nicht wußte, daß man auch verlieren kann, was man nie besaß. Es war der neunte Januar, und ich war fünfzig Jahre und zwei Tage alt und so wenig begierig, den Tag zu pflücken, daß ich mich wieder und wieder im Bett umdrehte und bis zum Anschlag weiterschlief. Erst als es mir auch mit Kraft nicht mehr gelang, die Lider geschlossen zu halten, klappte ich die Decke weg und schlurfte ins Bad, um den Morgen mantel zu holen, und dann in die Küche, um mit erwachen den Lebensgeistern an der nagelneuen chromblitzenden Gaggia-Espressomaschine, meinem Geburtstagsgeschenk, zu hantieren. Sie war schon eingeschaltet und damit aufgewärmt, eine Tasse stand davor, und daneben lag eine Notiz: Mülltüten, Glühbirne, OB, Buttermilch, die tägliche Einkaufsliste. Ich ging in den Flur zur Garderobe und steckte den Zettel gleich ins Jackett, sonst würde ich ihn vergessen, wie ich mittler weile nahezu alles vergaß, wenn es nicht aufgeschrieben an der richtigen Stelle klebte, steckte oder lag. Um mich nicht vor Alzheimer fürchten zu müssen oder den Folgen meines Alkoholkonsums, erkläre ich mir diese 9
Vergeßlichkeit neuerdings damit, daß mich die Dinge, an die ich denken soll, einfach nicht mehr interessieren. Das ist eine Ausflucht, wie so vieles, was ich mir zum Herunterspie len meiner Defizite herbeiimprovisiere – falls Alzheimer und Alkohol tatsächlich keine Rolle dabei spielen, ist das Verges sen von Namen, Verabredungen und Erledigungen eine der Peinlichkeiten, die ich seit meinem Geburtstag unaufhalt sam auf mich zukommen sah: eine Alterserscheinung. Die Zeitung fehlte wie immer – meine Frau nimmt sie mit zur Arbeit, um sie dort in Ruhe zu lesen, also trank ich meinen Espresso stehend, frierend und rauchend auf dem Balkon, duschte, zog mich an, verließ die Wohnung und ging zur Garage. Und fuhr zum Büro. Und schaltete dort die Espressomaschine an, eine Saeco, die der Gaggia nicht ganz ebenbürtig ist, fuhr den Rech ner hoch, holte die E-Mail ab, stellte den Anrufbeantworter aus und warf die Millionengewinne, Sonderangebote und Spendenaufrufe, die ich aus dem Briefkasten gezogen hatte, in den Papierkorb. Und zündete mir eine Zigarette an. Nachdem ich all die Kredit-, Viagra- und Software angebote gelöscht hatte, blieben noch vier Mails, die ich der Reihe nach öffnete.
~ Von Walter: Ich weiß, daß es dir gar nichts ausmacht, seit vorgestern ein alter Sack zu sein, aber ich drück dir trotzdem mal mein Beileid aus. Vielleicht erinnerst du dich noch: Letztes Jahr, als es bei mir soweit war, kam ich äußerst scheiße drauf, und du hast mich getröstet. Falls du also Bedarf hast, revanchier ich mich jetzt. Denk dran, in unserem Alter schmeckt der Wein besser, klingt die Musik schöner (natürlich nicht durchs Hörgerät, soweit sind wir ja noch 10
nicht), hält man das Feuilleton für eine tolle Sache und Sex für überschätzt, und das, obwohl einem die schönsten Frauen nachpfeifen, weil sie auf graue Schläfen stehen, kurz: Es ist eindeutig, daß man sich zurücklehnen darf, weil man aus all den bisher absolvierten Dummheiten was gelernt hat. Glückwunsch. Alles andere, das nahende Abkratzen, Gebrechen, Bustourismus, ist nicht wegzureden, also stellen wir uns und rufen höhnisch unserem Schöpfer zu: Fang mich doch, da bin ich doch. Aber ganz leise. So leise, daß er es nicht womöglich noch hört. In diesem Sinne. Walter P.S. Hab deinen Weihnachtsfilm gesehen. War scheiße.
~ Von Ingrid: Lieber Chris, wie ist es? Alles wie immer, oder merkt man doch was? Ich wünsch dir jedenfalls alles Gute, daß du dir noch Sehnsüchte bewahrst und Pläne verfolgst, daß du dich abends aufs Heimkommen freust und morgens aufs Abhauen. Hihi. Du siehst, ich bin verlegen, weil ich nicht weiß, was ich schreiben soll. Ich wünsch dir, daß du glücklich bist. Basta. Und bitte sei so gut, sag mir, daß es überhaupt nicht schlimm ist, fünfzig zu werden, ich mach mir nämlich in die Hosen vor Angst – bei mir ist es im April soweit. Weißt du ja. Wie immer: alles Liebe, Ingrid
~ Von Emilio: Hallo Christian, kannst du mir die Adresse deiner Agentur noch mal schicken? Ich hab sie schon wieder verloren. Und wenn du schon dabei bist, auch die von Sönke Wortmann und der FFA. Danke. Hast du nicht demnächst Geburtstag?
~ 11
Und von einer Unbekannten: Hallo Herr Uhlig, da sitz ich am 22. Dezember allein zu Hause, alle sind weg zu ihren Eltern, zum Skifahren oder in die Wärme geflüchtet, das Wetter vor der Tür ist grauslich grau, und mir wird so seltsam trüb im Herzen, daß ich denke, der einzige Weg, diesen Abend zu überstehen ist: Kuschelrock und Alkohol, und zwar so lange, bis ich den erstbesten Bekannten anrufe und ihm ein Zwei-Stunden-Gespräch aufdränge, nach dem er glaubt, meine große Liebe zu sein. Problem eins: Im Kühlschrank ist nur Sekt. Den hat mir irgendwer, der mich nicht gut genug kennt, mitgebracht, weil er hoffte, mich damit rumzukriegen, aber ich habe ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen, den Sekt genommen und als Geschenk für irgendwen sonst gebunkert. Ich hasse Sekt. Problem zwei: Ich hasse auch Kuschelrock, und deshalb habe ich so was nicht im Haus. Was tun also? Fernsehen. Ich war auf Trash aus und wurde fündig. »Wenn alle Herzen schmelzen« bei RTL. Der Abend war gerettet. Dachte ich. Ich saß also erwartungsvoll, Kakao vor mir, Gebäck im Mund und Krümel schon überall auf dem Sofa verteilt, vor der Glotze und freute mich auf Sülze à la Pilcher, und was kam da? Ein Lastwagenfahrer klaut seinen Sohn und will ihm was Wichtiges zeigen. Und nach ein paar Minuten wird mir klar, daß man mich um mein kitschiges Mädchenfutter betrügt – ich sehe einen guten Film. Einen, der mir ans Herz geht, bei dem ich den Figuren zurufen möchte, sie sollen doch mal hinhören, sie sollen doch mal nachdenken, sie sollen sich doch nicht so dumm weh tun gegenseitig, dann wären sie auch nicht so hilßos, wenn sie mal versuchen, was Liebes hinzukriegen. Kurz: Ich war angerührt, begeistert, mitgenommen von der Traurigkeit und Wärme dieser Geschichte und saß am Ende, wie im Kino, so lange da, bis ich den ganzen Abspann gelesen hatte. Das ist heutzutage eine Leistung, wie Sie sicher wissen, weil man parallel dazu schon die Ohren vollgebrüllt kriegt mit der Ankündigung des nächsten Films. 12
Im Abspann stand Ihr Name, den gab ich dann bei Google ein und landete irgendwann auf der Homepage Ihrer Agentur, dort fand ich Ihre E-Mail-Adresse, und hier kommt meine Frage: Wie kann man einen so ekelhaften Titel für einen so schönen Film verwenden? Jana Brüggemann
~ Jetzt war auch die Saeco warm, und ich machte mir den ersten Cappuccino des Tages. Ich las die Mail noch mal. Fanpost. Das war mir noch nie passiert. Niemand kommt auf die Idee, sich an einen Drehbuchautor zu wenden. Man hält den Regisseur für den Urheber eines Films und denkt, wenn er gut war, das liege an den Schauspielern. Diese Frau war intelligent. Oder sie kannte sich im Metier aus. Und sie lobte mich. Ich antwortete.
~ An Walter: Danke. Brauchst mich nicht zu trösten – ich steh das schon durch. Aber wann hast du je eine Frau mir nachpfeifen gehört? Wüßte ich das nicht? Hab ich was an den Ohren? Das würde ja passen. Servus. Christian P.S. Der Film war ausnahmsweise mal nicht scheiße – entweder hast du ihn nicht gesehen und dir gedacht »ist ja immer Mist, kann ich auch diesmal behaupten«, oder du hast keinen Geschmack. Das allerdings befürchte ich schon länger. Mach dir nichts draus. Ohne lebt man besser.
~ 13
An Ingrid: Liebe Ingrid, mach dir keine Sorgen – alles ist normal. Das Gesicht im Spiegel erinnert noch immer an Ralph Siegel und noch immer nicht an Richard Gere, mental tut sich auch nichts, die Stimmung changiert wie immer in dieser Jahreszeit zwischen mürrisch und melancholisch, die Arbeit macht nur sekundenlang Spaß, die Karre braucht zuviel Öl, und das Wetter ist wie von der Rheumaliga bestellt – alles wie immer. Alles in Ordnung. Gute Antwort? Danke für deine lieben Grüße, Chris
~ An Emilio: Nein, ich hab nicht Geburtstag in der nächsten Zeit. Die Adressen häng ich dran. Gruß, C.
~ Und an Jana Brüggemann: Ja, das frage ich mich allerdings auch. Aber nur rhetorisch, denn ich weiß ja, daß es Leute gibt, die ihr Geld damit verdienen, sich beschissenstmögliche Titel für die Privatsender auszudenken. Das Traurige ist: Die verdienen auch noch richtig gut. Wenn es arme Schweine wären, die auf diese Weise Rache an der Welt, am Sender, an den Autoren, an ihren Eltern oder wasweißichanwem nehmen würden, dann könnte ich’s leichter nachvollziehen. Ich hoffe, Sie haben nicht gedacht, der Titel wäre von mir. Und ich möchte Sie unbedingt was fragen: Wieso schreiben Sie an den Autor? Das tut niemand. Ich vermute, 99,8 Prozent der Menschheit weiß nicht, daß Filme von Autoren ausgedacht werden, und die übrigen null Komma zwei Prozent SIND Autoren. Danke für Ihr schönes Lob, es hat, wie der Ami sagen würde, »meinen Tag gemacht«.
~ 14
Ich schickte alle vier Mails ab. Und nahm mir vor, in der nächsten halben Stunde nicht ins Postfach zu sehen. Dann rief ich bei der Autowerkstatt an und vereinbarte einen Ter min. Die Beifahrertür reagierte nicht mehr auf die Zen tralverriegelung. Das war lästig. Das paßte nicht zu einem Rover, das war Schrottkarrenstil. Und dann sah ich doch in die E-Mail. Online-Casino, Last-Minute-Reise, Schnäppchenangebot und eine Mail von meiner Frau:
~ Mockel, du kannst im Sportstudio gezielt Rückentraining machen. Die haben extra Übungen und Geräte dafür. Das wollte ich dir eigentlich schon gestern abend sagen, aber du mußtest ja unbedingt diesen Gewaltfilm sehen, da hob ich’s vergessen. Heiner sagt, er gibt dir eine kostenlose Einführung und macht mit dir ein Probetraining, wenn du willst. Sollst dich nur auf mich berufen. Ich sag das nicht, weil ich an deiner Figur was auszusetzen hätte, ich kann bloß nicht verstehen, wie man sich andauernd mit schmerzverzerrtem Gesicht ins Kreuz fassen kann und trotzdem nichts unternehmen. Muß weitermachen, Arbeit ruft. Bis heut abend, dein Fussel
~ Daß wir einander Mockel und Fussel nennen, weiß nie mand. Diese zärtlichen Namen sind reserviert für Briefe, Zettel und Geflüster. Was sollte ich denn im Sportstudio. Zappeln, schlechte Musik hören, schwitzen und mich lächerlich machen? Was für eine absurde Idee. Aber sie würde so lang bohren, bis ich wenigstens den Probetermin absolviert hätte. Sie gibt nie 15
auf. Sie ist immer im Recht, meint es immer gut und hält es nicht aus, wenn man sich ihren Manipulationen wider setzt. Ich muß immer alles (außer meiner Arbeit) gleich erledi gen. Briefe beantworten, Rechnungen bezahlen, Anrufe erwidern – ich kann es einfach nicht ertragen, wenn sich Chaos auf meinem Schreibtisch ausbreitet. Also schrieb ich:
~ Lieber Fussel, muß das sein mit dem Training? Der Gedanke, mit Bewegung ein Problem zu lösen, das ich durch Bewegung erst gekriegt habe, kommt mir einfach nicht logisch vor. Ist es okay, wenn ich heut abend nur Kartoffeln mit Quark mache? Mir will einfach nichts anderes einfallen. Bis dann, Mock
~ Eigentlich hätte ich mich an das viel zu lang hinausgescho bene Exposé für Zeppo-Film setzen müssen, ich hatte es bis zum nächsten Tag abzuliefern versprochen, aber da waren erst noch wichtige Updates zu machen, Firewall, Virus definitionen, Windows, das muß man alles pflegen, sonst hackt einem irgendein teigiges Bürschchen das Plus vom Konto. Und außerdem würde bei Zeppo niemand im Büro sein. Die Branche kurierte jetzt ihre Après-Ski- oder AprèsMalediven-Depression. Oder Knochenbrüche. Und das mit der Zentralverriegelung war auch wichtig. Nur wegen eines Abgabetermins läßt man nicht den Haushalt verkommen. Und schon gar nicht den Rover. »Sie haben Post«, sagte die Software, als ich die Mail an Fussel abschickte. Jana Brüggemann hatte geantwortet:
~ 16
Oha, das klingt aber frustriert. Haben Sie denn keinen Einfluß darauf wie Ihre Filme gemacht werden? Und auf die Titel? Dumme Frage, Sie haben mir die Antwort ja schon gegeben. Ich gestehe, ich habe mich außerordentlich gefreut über Ihre Mail. Das hätte ich nicht erwartet. Ich dachte, Sie kriegen sicher täglich Post von Bewunderern und winken müde ab, wenn sich schon wieder ein Haufen Elogen auf ihrem Bildschirm stapelt. Aber: Sind Sie frustriert? Und bin ich dann ein Dummerle, daß ich Ihren Weihnachtsfilm so schön fand? Finden Sie ihn selber vielleicht den letzten Mist und lassen verächtlich die Unterlippe hängen, wenn Sie sich die kleine Spießerin vorstellen, die nicht nur schlechte Filme gut findet, sondern auch noch die Leute belästigt, deren Herzblut daran verschwendet wurde? Bin ich Ihnen lästig mit diesen Fragen? Aber Sie haben mich ja auch was gefragt, nämlich, wie ich daraufkomme, einem Autor zu schreiben. Ich weiß es nicht. Ich dachte, es wäre die richtige Stelle für Fragen. Ihre prozentuale Aufteilung der Menschen kann nicht ganz stimmen – ich bin keine Autorin und denke trotzdem, daß Filme von Drehbuchautoren geschrieben werden. Aber die Abweichung liegt im Promillebereich und ist nicht weiter tragisch. Aus Ihrer Beschreibung der Titelerfinder scheint mir eine ordentliche Portion Zorn herauslesbar. Vielleicht sogar mehr Zorn, als einem Verstümmler Ihres Werkes gebührt. Sind Sie eventuell neidisch? Verdient so ein Trashlieferant mit seinen Titeln mehr als Sie? Oder unterschätze ich die Wut, die man als kreativer Mensch hat, wenn andere einem hineinpfuschen? Das sind eine Menge Fragen. Wenn Sie keine Lust haben zu antworten, bin ich nicht böse. Höchstens enttäuscht. Jana
~ 17
Ich drückte auf den Antwortknopf und tippte los: In Wirklichkeit hab ich keine Ahnung, was so ein Titelheinz verdient, ich hab das einfach mal behauptet. Vielleicht, weil ich glaube, niemand dürfte sich für so etwas hergeben, wenn nicht für viel Geld und weil ich irgendwo mal einen Artikel gelesen habe über Leute, die Namen wie »Zafira« oder »Meriva« für einen Opel erfinden und sich vom Honorar einen Maybach leisten können. Vielleicht herrscht ja in diesem Falle (beim Fernsehen, meine ich) doch eine gewisse höhere Gerechtigkeit, und es gibt nur 100 Euro pro Titel. Mein Zorn kommt, wie Sie ganz richtig erkannt haben, von Herzen und hat nichts mit Neid zu tun. Es ist so, als hätte man ein begabtes, hübsches Kind, und die Frau tauft es Detlef. Oder RolfRalf. Sie sind mir nicht lästig. Es macht Spaß, mit Ihnen zu plaudern, weil ich eigentlich dringend arbeiten müßte und Sie mich davon abhalten. Das ist eine gute Tat. Ja, ich bin frustriert. Wie vermutlich die meisten meiner Kollegen. Ich kenne nicht so viele, aber die, die ich kenne, haben alle so ein leicht zerquältes Kummergesicht und den verhuschten Blick geprügelter Hunde. (Pardon – die Formulierung mußte sein, sie ist Standard –, ich hab noch nie einen Hund geprügelt.) Sie erinnern alle eher an Nicolas Cage oder Andy Garcia als an Johnny Depp. Und die Frauen an Susan Sarandon. Sie haben alle zu oft ein gutes Buch schlecht werden sehen, um noch an das Gute im Menschen, speziell im Redakteur, zu glauben. Und sie haben den Satz »Es gibt hierzulande einfach keine guten Drehbücher« zu oft gelesen oder gehört, um nicht in stiller Verzweiflung oder mit sarkastischem Keckem ihren Rückzug aus der ohnehin desinteressierten Öffentlichkeit angetreten zu haben. Außer natürlich die Jungautoren, die zappeln noch vor lauter Hoffnung, daß Hollywood anruft und Winona Ryder sich in sie verliebt. Oder sie spüren schon das Knistern der Anzahlung für den Porsche in ihrer Dolce-und-Gabbana-Jackentasche. 18
Sie sind kein Dummerle, Sie sprechen mir aus dem Herzen. Ich mag den Film selber, hab ihn schon zweimal auf Video und jetzt bei der Ausstrahlung genossen und wünschte nur, so was käme öfter vor. Daß man sich unter Autor, Producer und Regisseur so gut versteht, jede Drehbuchfassung besser wird als die vorhergehende und der Sender sich freundlicherweise raushält. RTL hat am Anfang die Ansage gemacht: »Blauer Himmel, Schnee und Kerzenlicht« und uns dann in Ruhe gelassen. Das war ein Blick ins Paradies. Natürlich tut es mir leid, daß wir als Truck nur diesen glamourfreien gelben MAN bekommen konnten – stellen Sie sich vor, ein silberner MACK zöge majestätisch seine Bahn durch die Alpen, aber es gibt Grenzen. So ein Film kostet Geld, und für alles reicht es nie. Sie schreiben so flott und elegant – sind Sie Journalistin? Ein Wort wie »Elogen« kommt doch außerhalb des Zeit-Feuilletons allenfalls noch in antiquarischen Büchern vor. Das ist keine Kritik. Es gefällt mir. Danke für die Ablenkung, und bis hoffentlich bald, C. U.
~ Wäre ich im selben Tempo, in dem ich diese Mail ge schrieben hatte, das Exposé angegangen, dann kämen bis zum Abend acht Seiten Gebrauchsprosa aus dem Drucker, die ihren Zweck erfüllte, nämlich den Rotstift des Redak teurs zum Tanzen zu bringen. Aber das war was anderes. Diese E-Mail-Plauderei machte Spaß, eine Filmidee in les bare Form zu bringen war dagegen Arbeit. Und daß Arbeit Spaß machen sollte, davon hatte ich mit etwa fünfundzwan zig noch geträumt. Diese Flause war mir ausgetrieben wor den. Nein. Ich hatte sie mir austreiben lassen. Oder besser: sel ber ausgetrieben. In meinem ständigen Streben nach Rea 19
lismus und Erwachsensein hatte ich jeden Kindertraum bei der ersten Überprüfung, beim ersten Scheitern oder auch nur, wenn sich die Erfüllung anders als erwartet anfühlte, von der Liste gestrichen. Als sei ich nur darauf aus gewesen, mich selbst zu widerlegen, mir zu beweisen, daß alles, wo nach man sich sehnt, im wirklichen Leben nicht vorkommt, war ich in eiliger Beflissenheit zur Entsorgung bereit, wann immer sich die Gelegenheit ergab. Jetzt wehleidig zu werden, stand mir einfach nicht zu. Als Realist und als Mann jammert man nicht. Und man schiebt die Schuld nicht anderen zu. Dem bösen Fernsehen zum Beispiel. Also raffte ich mich auf und begann mit dem Exposé. Aber schon mit der Wahl des Namens für die Hauptperson hatte ich solche Schwierigkeiten, daß ich minutenlang auf und ab ging und schließlich sogar das Vornamenbuch aus dem Regal zog, denn Filmfiguren heißen immer besonders. Und es ist nicht einfach, einen besonderen Namen zu fin den, der auch noch glaubhaft klingt. Sie heißen nicht Win fried Gurkner oder Bärbel Schmidt. Eher vielleicht Kon rad, besser noch: Konstantin von Bruckheim und Julia Fink. Das Telefonbuch hilft nicht in solchen Fällen. Zumal das Alter auch noch stimmen muß. Eine Julia ist höchstens Ende Zwanzig, ein Konrad oder Konstantin eher Ende Vierzig. Zwei Mails im Postfach.
~ Von Walter: Ach herrje, das hätt ich mir ja denken können, daß du empfindlich reagierst. Kritik ist wohl nicht so dein Ding. Kann ich ja verstehen, aber ein offenes Wort unter Freunden sollte doch möglich sein. Bevor ich dich anlüge, halt ich also in Zukunft lieber den Mund. 20
Was nun aber meinen »schlechten Geschmack« betrifft, muß ich dir doch erwidern: Wenn sich die Schauspieler wie ausgemachte Zombies über den Bildschirm quälen, wenn sich die Bilder zäh und mühsam abwechseln und wenn die Musik eine NullachtfünfzehnPhrase nach der anderen abnudelt, dann darf man das doch scheiße finden, oder?
~ Das mußte augenblicklich beantwortet werden. So was kann man nicht einfach stehen lassen. Ich kopierte die ersten drei Sätze und fügte sie ins Antwortformular ein: Ach herrje, das hätt ich mir ja denken können, daß du empfindlich reagierst. Kritik ist wohl nicht so dein Ding. Kann ich ja verstehen, aber ein offenes Wort unter Freunden sollte doch möglich sein. In meinem Fall das Wort vom schlechten Geschmack. Du darfst das scheiße finden. Dochdoch. Das erlaube ich dir. Und du darfst das auch sagen. Aber diesmal darfst du halt nicht auch noch Lob dafür erwarten, weil ich das eben anders sehe. So einfach ist das. Kein Problem. Ich bin weder sauer noch empfindlich, zumal du ja nicht mal mein Drehbuch kritisierst, sondern nur dessen Umsetzung, ich bin nur ausnahmsweise mal überzeugt, daß der Film gelungen ist und deshalb taub für Unkenrufe. 1 Gruß C.
~ Von Jana: ROLF-RALF??? Das hatten Sie doch irgendwo auf einem Zettel stehen, oder? Das ist Ihnen nicht gerade spontan einfach so eingefallen. Ich lach mich jedenfalls kringelig darüber. So läßt sich ein mieser Tag rumbringen. Nachdem ich vorhin glasklar analysiert habe, daß Sie frustriert sind, entnehme ich jetzt Ihren (locker als gütig getarnten, aber in Wirklichkeit herablassenden) Zeilen über Jungautoren, daß Sie 21
selbst nicht mehr ganz jung sind. Wenn ich also mit dem Neid auf die Titelerfinder falsch lag, lieg ich dann jetzt mit Neid auf die Jugend richtig? Falls das so wäre, täte es mir leid und bräche Ihnen einen Zakken aus der Krone. Meine Hochachtung vor dem Mann, der einen so herzlichen und lebensklugen Film schreiben kann, bekäme einen Knacks, wenn er nicht souverän, stolz auf das Erreichte und sich seiner Fähigkeiten sicher wäre. Jetzt bin ich gespannt, was Sie darauf antworten werden. Schließlich hab ich Sie in die Falle gelockt. Antworten Sie »Neinnein, ich bin nicht neidisch«, dann glaube ich vielleicht, Sie sind nicht ehrlich, antworten Sie das Gegenteil, dann fällt das Respektsverlust-Beil. Gemein von mir. Aber vielleicht nehme ich mich auch zu wichtig, und Sie sehen darin gar kein Dilemma. Ich laß mich überraschen. Danke für das Kompliment, ich würde elegant schreiben. Nein, ich bin keine Journalistin. Ich lese viel und schreibe gern, das ist alles. Ansonsten bin ich noch gar nichts. Ich WERDE vielleicht mal Architektin. Wenn ich das Studium nicht irgendwann noch schmeiße und heirate, Kinder kriege, Hausfrau werde und mir nur noch Gedanken darüber mache, ob ich den Carport mit Efeu, Fleißigen Lieschen oder Wildem Wein begrüne. Und jetzt schließen SIE messerscharf, daß ich noch jung bin. Ja, bin ich. Genauer gesagt: zweiundzwanzig. Deshalb die Empfindlichkeit gegenüber eventueller Herablassung. Ich nehm so was gleich persönlich. Reife ist doch nicht alles, oder? Ich nehme an, ein Mack ist ein Lastwagen. Keine Ahnung, wie der aussieht. Aber silbern wäre schön gewesen. Anworten Sie noch mal? Oder hab ich’s mir jetzt verscherzt? Jana
~ 22
Erst als die Zigarette schon brannte, sah ich, daß eine halbge rauchte im Aschenbecher lag. Dummes Klischee. Das würde ich nie verwenden. Aber vielleicht lohnte sich’s, doch noch mal gründlicher darüber nachzudenken. Klischees existier ten ja nicht ohne Grund. Eigentlich sind sie so was wie die Verhaltens-Top-Ten, und jeder Erzähler, der sie immerzu vermeiden wollte, wäre ein Kitschproduzent, wenn er ver suchte, den Leuten die Wirklichkeit als etwas Originelles zu verkaufen. Das ist sie nicht. Sie ist voller abgeschmack ter Gemeinplätze. Alle tun, denken, reden, essen und kau fen, was alle tun, denken, reden, essen und kaufen, und daß sie sich dabei noch für Individualisten halten, ist ihnen auch allen gemein. Wäre das der Schlüssel zum Seelenfrieden? Platitüden? Ich wollte den Gedanken nicht weiterdenken. Da drohte eine anhaltende depressive Verstimmung. Ohnehin hatte ich Besseres zu tun.
~ Liebe Jana, schön, daß ich Sie zum Lachen bringe – ich geb’s zu: Rolf-Ralf lag schon parat. Nicht auf einem Zettel zwar, aber doch zur gefälligen Verwendung bei Gelegenheit in meinem Kop.f Ein Freund von mir hatte behauptet, seinen Sohn so nennen zu wollen. Es wurde ein Mädchen. Er mußte seinen Mut (und seine Grausamkeit) nicht beweisen. Jetzt steh ich vor dem Problem, mir Ihren Respekt erhalten zu wollen, meine Souveränität nachzuweisen und Ihnen den Verdacht, ich könnte mogeln, auszureden. Dafür braucht es vielleicht ein paar Worte mehr. Mal sehen. Sie haben recht. Ich bin alt. Zumindest bin ich nicht mehr jung. Und Sie haben auch recht, mir Herablassung vorzuwerfen, zu vieles wiederholt sich in immergleicher Gestalt, wenn man dem Leben 23
mal eine Weile lang zugesehen hat. Und die großmannsüchtigen Träume junger Autoren kenne ich ja von mir selbst, da ist es kein Wunder, daß ich glaube, sie an anderen auch sicher diagnostizieren zu können. Bin ich neidisch? Allenfalls auf manches. Auf anderes nicht. Vielleicht mach ich mal eine Liste. Neidisch bin ich auf: den Glauben, die Welt sei voll mit besonderen Menschen, die kennenzulernen aufregend sein wird, die Überzeugung, man selber sei zu großen Leistungen ausersehen und in der Lage, die Chance, Venedig, Paris, Rom, New York oder Amsterdam das erste Mal zu sehen, die Beatles oder eine Nachtigall das erste Mal zu hören, das Fell einer Katze zum ersten Mal zu streicheln oder den Geruch des Meeres zum ersten Mal einzuatmen, den Traum mit immer neuen Frauen (in Ihrem Fall natürlich Männern – falls Sie nicht lesbisch sind) ins Bett zu gehen, und jede wird sich anders bewegen, anders lachen, anders riechen, anders stöhnen und natürlich anders aussehen, von etwas anderem träumen und auf andere Art aus Ihrem Leben verschwinden als alle anderen, und dann der eine Mensch, der nicht verschwindet, die große Liebe, ewige Leidenschaft, tiefe Verbundenheit und dauerndes Glück, undundund – ich werde schlapp vor Nostalgie und breche hier ab. Das wird mir zuviel. Nicht neidisch bin ich auf: dieses immer wiederkehrende Erlebnis, unterschätzt, nicht wahrgenommen, nicht ernstgenommen, nicht aufgenommen zu werden, und die Zweifel am eigenen Wert, die daraus entstehen, die bescheuerte Mode, der man sich anpaßt, 24
die dumme Musik, zu der man tanzt, den albernen Selbstdarstellungskult, den man pflegt, bevor man noch eine Ahnung hat, wer man überhaupt ist, die Ignoranz und Arroganz gegenüber klügeren, älteren, gebildeteren und erfahreneren Menschen, die Manierenlosigkeit, die man mit Freiheit verwechselt, den verdammten Lärm, ohne den es anscheinend nicht geht, Auspufflärm, Musiklärm, Lachlärm, Spaßlärm, Kreischlärm, immer ist alles laut, die Bereitschaft, jederzeit anderen weh zu tun, die Stinkfüße, die man von Turnschuhen bekommt, etc., etc., etc. – auch hier mach ich vorzeitig Schluß, weil ich das Gefühl habe, es wird öde. So. Was gedenken Sie jetzt in bezug auf meine Ehrlichkeit oder Souveränität zu entscheiden? Bin ich durchgefallen? Muß ich jetzt mit weniger Achtung Ihrerseits leben? Wär schade. Aber ich steh’s durch, wenn es denn so kommt. Warum ist der Tag heute mies für Sie? Irgendwas schiefgelaufen? Kummer? Haben Sie Lust, mir davon zu erzählen? Ich will nicht indiskret sein, aber der Ausblick auf Heiraten, Kinderkriegen und Carportbegrünen klang für mich nicht gerade wie von inneren Jauchzern begleitet. Also, wenn Sie wollen, erzählen Sie. Ich höre zu. Übrigens fällt es mir schwer, zu glauben, daß Sie erst zweiundzwanzig sein sollen. Sie klingen für mich klug und wach – das paßt nicht zu dem Klischee von Jugend, das ich hege und pflege. Ich bin überrascht. Und erfreut. Und habe jetzt schon fast den halben Tag mit Ihnen verplaudert, anstatt zu arbeiten. Und könnte noch stundenlang so weitermachen. Christian
~ 25
Inzwischen hatte ein Dauerregen eingesetzt, der spätestens bis zum Abend für Glatteis sorgen würde. Ich mußte recht zeitig, bevor es anzog, einkaufen, damit ich noch den Berg hochkam – wenn ich den Zeitpunkt verpaßte, konnte ich’s vergessen. Hoffentlich war Fussel so schlau, früher Schluß zu machen. Sie arbeitet in einer Basler Maklerfirma und hat eine halbe Stunde Fahrt nach Hause, wenn sie den täglichen Stau auf der A 5 umfährt und den kleinen Grenzübergang in Hüningen nimmt.
~ Lieber Fussel, es wär mir lieber, du landest nicht im Graben oder sonstwo, sondern wie sich’s gehört zu Hause. Fahr bitte rechtzeitig los, bevor der Regen zu Glatteis wird. Wärst du so nett? Dein besorgter, dich liebender und zufrieden schmatzen hören wollender Mockel
~ Von Walter: Irgendwie scheint heut nicht dein Tag zu sein. Lassen wir’s lieber dabei bewenden. Vielleicht ein andermal. Wenn du wieder besser drauf bist.
~ Das ging eindeutig bergab, aber ich hatte keine Lust, auf die Bremse zu treten. Wenn Walter so lässig austeilen wollte, dann sollte er auch lässig einstecken. Ich tippte: Okay, wie wär’s ab dem 17. April?
~ 26
Man sollte nicht schriftlich streiten. Der Ton verrutscht, der falsche Hals giert nach Nahrung, es geht immer schief. Man macht einen Witz, und der andere schickt seinen Sekun danten. Man will löschen und nimmt Öl. Wieso reagierte ich eigentlich so harsch, ich kannte ihn doch. Bisher hatte ich mir nie was draus gemacht, wenn er sich so knirschend und kurz angebunden gab. Wieso sollte das auf einmal ein Drama sein? Vielleicht war es einfach mal an der Zeit, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Vielleicht hatte ich mir bisher immer nur eingeredet, mir mache das abfällige Geschnodder nichts aus. Vielleicht hatte es mir immer was ausgemacht, und ich gestand mir das jetzt nur zum ersten Mal ein? Und wieso gerade jetzt? Weil ich dieser jungen Frau meine Frustra tion gebeichtet hatte? Weil man sich das nicht ein Leben lang antun muß? Weil Freundschaft ein bißchen mehr sein sollte, als nur den anderen zum Publikum der eigenen In szenierung zu machen? Das war es nämlich, was Wal ter tat. Er stilisierte sich zum ruppigen, ehrlichen Kumpel mit harter Schale und hoffte, man schließe von selber auf einen weichen Kern. Den sollte er doch auch mal vorzei gen, fand ich, und nicht nur, wenn’s ihm selber ans Leder ging. Er ist mein ältester Freund. Wir kennen uns schon fast dreißig Jahre. Ich war damals Manager einer Folkband, Wal ter deren Sänger, Texter und Gitarrist. Seit dieser Zeit fühlte ich mich verantwortlich für ihn, ich war den Gedanken nie losgeworden, ich müsse auf ihn aufpassen, für ihn sorgen, ihm raten und seine Entscheidungen aufmerksam verfolgen. Ähnlich übrigens wie bei Emilio, dem Komponisten. Wir hatten uns nie aus den Augen verloren, seit die Band nach kleineren Anfangserfolgen, einem radikalen Imagewech sel zur NDW-Zeit, einer kurzen hoffnungsvollen Blüte und 27
dann einem krachenden Absturz mit Pleite, Steuerschulden und Streit auseinandergegangen war. Inzwischen ist Walter Krimiautor, und Emilio produ ziert Jingles und Musik für Industriefilme. Irgendwie, nach vielen Umwegen und Zwischenstopps, sind wir alle wieder in derselben Branche gelandet. Ich machte mir ein Butterbrot mit Senf – etwas ande res war nicht mehr da, nur noch ein halbvolles Gläschen mit eingelegten Zwiebeln, auf die ich keine Lust hatte. Mir wollte einfach kein Beruf einfallen für Konrad. Julia war Architektin, das stand fest, aber für Konrad hatte ich schon Autohändler, Anwalt, Arzt und Bürgermeister einer Klein stadt verworfen. Vielleicht Lehrer?
~ Von Walter: 17. April dieses Jahr?
~ Antwort: Vielleicht ein bißchen früh. Wir sollten nichts überstürzen.
~ Von Fussel: Mockelchen, quatsch nicht von logisch, sondern geh zu Heiner. Er wartet auf dich. Ich kann unmöglich vor halb acht hier raus. Da liegt ein Berg von Nervpaketen vor mir, der heut noch flachgearbeitet werden muß, aber mach dir keine Sorgen. Ich fahr ganz langsam. Hab doch Winterreifen. Spätestens halb neun bin ich da. Freu mich schon auf Kartoffeln mit Quark. Dein Fussel
~ 28
Von der Agentur: Hallo Christian, ein Herr Vohrer von der Sinus-Film in Berlin ist so begeistert von deiner Weihnachtsgeschichte, daß er dir einen Dreiteiler vorschlagen möchte. Der erste Teil sollte auf einem Roman basieren, der auch an Weihnachten spielt, die beiden anderen Teile sollten dann als Sequels mit demselben Personal fortgeschrieben werden. Interessiert dich das? Und denkst du an das Exposé für Zeppo, das du morgen abliefern sollst? Grüße Sven
~ Antwort: Hallo Sven, klar interessiert mich das. Her damit. Bin begeistert. Kannst du die Zeppos vielleicht noch ein bißchen hinhalten? Ich bin dran, aber ich brauch noch ein paar Tage. Wie wär’s mit nächstem Mittwoch? Sei gegrüßt von C.
~ Von Jana: Das klingt alles so poetisch wie traurig, was Sie da schreiben. Mir wird ganz blümerant davon. Haben Sie wirklich dem Leben nur zugesehen? Und wollten Sie wirklich alle Frauen haben? Oder so ziemlich alle? Ist das nicht dumm? Und fürchten Sie wirklich, Entdeckungen wie Venedig, Paris oder New York werden nicht mehr kommen? Und haben Sie den einen Menschen, der für immer bei Ihnen bleibt, nicht gefunden? Oder ihn gar verloren? Seien Sie nicht böse, daß ich jetzt so persönliche Fragen stelle – ich reagiere nur auf Ihre Zeilen. Wenn Sie nicht darüber reden mögen, kein Problem. Aber ich habe das Gefühl, Sie wollen. Sonst hätten Sie diese Punkte nicht in Ihre Liste aufgenommen. Sie haben das richtig herausgelesen, ich bin tatsächlich nicht allerbester Dinge zur Zeit. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob ich davon erzählen mag. Da geht so vieles durcheinander, das eine ist Liebeskummer, den Sie vielleicht in Ihrer altersweisen Weltferne 29
lächerlich finden könnten, das andere geht schon mehr ans Eingemachte, weil es mich so durcheinanderbringt, daß ich nicht mehr weiß, wer ich bin – ach ja, ich glaube, ich will davon erzählen. Zuerst der Liebeskummer: Mein Freund macht mich klein. Er weiß alles besser als ich, verzichtet nie darauf, mir das zu zeigen, er hat an jedem Kleidungsstück, das ich mir ohne ihn kaufe, was auszusetzen, ebenso wie an meinen Haaren, wenn ich eine Stunde lang dran rumgewurschtelt habe, um mit ihm auszugehen, ihm sind meine Beine zu kurz, meine Brüste zu groß und meine Schultern zu breit. Er schwärmt in meiner Gegenwart und, noch schlimmer, auch in der Gegenwart anderer, von Uma Thurman oder Cameron Diaz, und wenn ich ihn bitte, das bleiben zu lassen, sagt er, ich solle doch auch von Brad Pitt schwärmen. Von Stars zu schwärmen sei doch normal. Die kriege man doch nicht. Ich fühle mich wie zweite Wahl, wenn er das tut. Wenn ich mit ihm zusammen bin, vergesse ich das alles, aber wenn ich alleine bin und an ihn denke, dann werde ich traurig und bitter und frage mich, was er wohl an mir findet. Was ich an ihm finde, weiß ich wohl. Er ist klug und originell, sieht gut aus, ist zärtlich und rücksichtsvoll, bringt mich zum Lachen und will mich heiraten. Damit ist Ihre Spekulation, ob ich vielleicht lesbisch bin, erledigt. Und der Gedanke, alle Männer haben zu wollen, ist mir mehr als fern. Die meisten sind doch der nackte Schrecken. Plump, dumpf, so einfältig wie -silbig, angeberisch, hygienefern und … hier brech ich auch mal ab, weil diese Liste ewig lang werden könnte. Sieht man als Frau früher klar, oder hat man als Mann einfach keinen Geschmack? Die Art, wie Sie über Jugend schreiben und über Klischees, die Sie hegen und pflegen, läßt mich glauben, daß Sie keine Kinder haben. Ist das so? Und sind Sie eventuell ein bißchen traurig darüber?
~ 30
Antwort: Nein, ich habe keine Kinder. Das war immer in Ordnung für mich, erst seit einigen Tagen denke ich anders darüber nach. Hätte ich Kinder großgezogen, dann wäre ich nicht auf einen Schlag vergreist, sondern langsam und ohne es zu merken. Kinder schieben einen stetig in Richtung Grab, und irgendwann fällt man dann müde und ausgelaugt rein. Batsch. Und Ruhe. So wie ich lebe, als Dink (Double Income No Kids), ist man zwanzig Jahre lang irgendwie dreißig und dann: Batsch! Alt! Ich gebe zu, das grämt mich. Ich bin fest entschlossen, keinerlei Larmoyanz einreißen zu lassen, aber schon darüber nachdenken zu müssen ist mir peinlich. Das jedoch wird Sie weder interessieren noch unterhalten. Ist einstweilen nicht Ihr Thema. Sie haben wohl recht: Als Frau sieht man früher klar. Vielleicht ist das biologisch. Wenn es stimmt, was all die Artikel in den letzten Jahren als Schluß nahelegen, dann ist die Spezies Mann wohl hauptsächlich in Sachen Samenverteilung unterwegs und die Spezies Frau in Sachen Zuchtwahl. Da braucht er alle Blindheit und sie alle Klarsicht. Ihr Kummer mit dem jungen Mann tut mir leid. Aber bevor ich anfange, Text dazu abzusondern, muß ich wissen, ob Sie daran überhaupt interessiert sind. Von meiner Frau habe ich nämlich gelernt, daß Männer mit ihren dauernden Ratschlägen und Lösungsangeboten als Nervtöter und Besserwisser empfunden werden. Man soll einfach zuhören, mit dem Kopf nicken und mitleidige Laute ausstoßen, wenn einem eine Frau ihren Kummer erzählt. Und man soll das auch noch tun, wenn man diesen Kummer zum dreißigsten Mal hört. Wollen Sie das? Oder wollen Sie meine Meinung zu diesem Schnösel hören, der sich sein Selbstwertgefühl von Ihrem Seelenkonto subventioniert? Oops, das war sie schon, die Meinung. Und war da nicht noch was anderes, das Sie erzählen wollten? Was ans Eingemachte ging?
~ 31
Jetzt aber los und Mülltüten, OB, Buttermilch, Glühbirne, Kartoffeln und Schnittlauch holen. Ich ließ den Schirm ste hen, der Regen war jetzt dünn, ein leichtes Nieseln, fast nur noch nasse Luft. Als ich losfuhr, beschlug die Windschutz scheibe, und vor dem Supermarkt, nachdem ich den Ein kaufswagen die paar Schritte bis zum Eingang geschoben hatte, war ich klatschnaß. Und fror. Mistwetter. Der Schnittlauch war so mickrig, daß ich zwei Bün del nahm. Glühbirnen legte ich drei verschiedene in den Wagen, eine Kerze, eine Kugel und eine normale, weil ich nicht wußte, für welche Lampe sie gedacht war. An der Kasse saß nur die Schöne. Das ärgerte mich, weil ich die eigent lich schneiden wollte. Sie war sich zu gut für diesen Job, tat sich schwer damit, einen Gruß zu erwidern, und wenn sie es doch schaffte, dann grüßte sie allenfalls die Gürtel schnalle des Kunden mit möglichst ausdruckslosem Gesicht. Auf diese Weise würde sie nie den reichen Sack auftun, der ihr ein Leben mit Geländewagen und Putzfrau spendieren sollte, allein dafür, daß sie aussah wie Liv Tyler. Das hätte eigentlich auch noch in die Liste gehört: Blasiertheit. Eine der ekelhaftesten Jugendsünden. Zurück im Wagen sah ich, daß das Außenthermometer noch fünf Grad Plus anzeigte, also war meine Sorge, Fus sel käme vielleicht nicht mehr sicher nach Hause, grund los. Und ich mußte mich auch nicht beeilen. Es war kurz vor sechs, noch Zeit, sich ein paar Gedanken über Konrad von Bruckheim zu machen. Oder einen Blick ins Postfach zu werfen.
~ Ach, Sie sind gerade fünfzig geworden und fühlen sich auf einmal mit Ihrer Sterblichkeit konfrontiert. Ich spotte nicht. Ich stell mir das 32
nicht gerade angenehm vor. Aber ich kann auch nicht mitleiden, wie Sie schon richtig spekuliert haben – ist für mich nur schwer nachvollziehbar. Von mir aus gesehen ist die Fünfzig vier Ewigkeiten weit weg. Ich hoffe, das klingt nicht herzlos für Sie – das will ich nicht. Vielleicht versuche ich, Ihren Tonfall zu kopieren (das gibt es manchmal, wenn man jemanden bewundert), schließlich reden Sie von Kindern, die einen ins Grab schieben. Als ob es darum ginge. Ich will Ihnen ja keine Vorschriften machen, aber über Kinder ließe sich auch noch anders denken als nur in der Art und Weise, wie Sie es tun. Sie könnten Ihre Kinder zum Beispiel LIEBEN! Sie könnten stolz auf sie sein, sich ihrer Gegenwart, ihrer Talente und Eigenheiten erfreuen etc. Das pure Heranwachsen und Weiterleben ist doch wohl nicht das Wesentliche an Kindern, oder? Was Sie über meinen Freund sagen, gefällt mir allerdings gut. Ich bin wohl gerade so stinkig auf ihn, daß mir jede Hetze reinläuft. Ich glaube, Sie haben recht. Er bläht sich auf meine Kosten. So über ihn zu reden fällt mir leicht, weil er noch bei seinen Eltern am Starnberger See ist und seine Magie auf mich nur aus der Nähe wirkt. Aber was Sie so spöttisch und leicht angesäuert übers Zuhören sagen, gefällt mir wieder nicht. Es klingt beleidigt. Anstatt daß Sie die Chance wahrnehmen, die Ihre Frau Ihnen bietet, nämlich zu begreifen, wie Frauen sind, mokieren Sie sich drüber. Na egal. Ich will Sie nicht erziehen. Es stimmt. Da war noch das andere, das ich erzählen wollte, aber auf einmal hat mich der Mut verlassen. Wir kennen uns doch gar nicht. Zwar haben wir jetzt den ganzen Nachmittag miteinander geschwatzt, und ich fühl mich schon ganz zutraulich, aber in Wirklichkeit weiß ich nichts von Ihnen, außer daß Sie einen wunderbaren Film geschrieben haben, eine scharfe Zunge pflegen, sich mit Fünfzig schon steinalt fühlen, kinderlos verheiratet sind und keine Lust aufs Zuhören haben. Ich glaube, ich will Sie erst noch 33
besser kennenlernen, bevor ich meine intimeren Sorgen vor Ihnen ausbreite. Verstehen Sie das?
~ Die fing langsam an, anstrengend zu werden. Jeden Satz, der vielleicht ein bißchen spitz oder witzig daherkam, holte sie mit Kommentar von der Goldwaage und retournierte ihn zur Überarbeitung. Aber das hatte auch was. Sie nahm mich ernst.
~ Ja, das verstehe ich, aber die Aussicht, erst mal einen Lebenslauf schreiben zu müssen, bevor Sie mir Ihren Kummer schildern, lockt mich nicht so recht. Ich bewerbe mich nicht um Ihr Vertrauen. Ihr Interesse reicht mir schon. Verstehen Sie mich nicht falsch. Geschrieben sieht der Satz ruppig aus – das soll er nicht. Es geht mir nur darum, unseren freundlichen Plauderton nicht einfach dranzugehen. Es war ein schöner Tag mit Ihnen. Meine Arbeit ist ungetan, und das ist großartig, meine Mühe, Sterblichkeit auch für mich zu akzeptieren, ist, dank Ihrer heiteren Ignoranz, einstweilen vergessen, und ich habe eine gute Tat vollbracht, nämlich Ihren Kerl einen Taugenichts zu nennen. Das ist viel mehr, als ich mir heute morgen hätte träumen lassen. Zwar habe ich mich auch mit einem Freund überworfen, ihn zumindest so vor den Bug geschossen, daß es eine Weile dauern wird, bis er sich wieder meldet, aber das Gespräch mit Ihnen hat mir den Zorn darüber mehr als aufgewogen. Ich HABE Lust aufs Zuhören. Es fällt mir nur schwer, nicht mitzudenken. Den Rat zum Beispiel, der mir jetzt gerade auf der Zunge liegt, will ich Ihnen nicht vorenthalten: Wenn Ihr Freund das nächste Mal meint, abfällige Töne über Ihre Brüste absondern 34
zu dürfen, dann erklären Sie ihm, nur schwule Männer hätten damit ein Problem. Alle anderen sehnten sich danach. Vielleicht stoppt ihn das. Jetzt muß ich nach Hause und das Essen vorbereiten. Ich würde mich freuen, morgen wieder von Ihnen zu hören. Wenn Sie Zeit und Lust haben. Und jetzt nicht sauer sind. Ich werde heut abend noch ein bißchen an Sie denken. Vielleicht überlege ich mir all Ihre Ratschläge und bin morgen schon ein besserer Mensch. Bis dahin alles Gute. C. U.
~ Ich fuhr den Wagen nicht in die Garage. Die halbwegs schwere Einkaufstüte vom Supermarkt wollte ich nicht wei ter als nötig tragen. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, sogar ein Stück Himmel war aufgetaucht, in dem sich nun, da es dunkel war, ein paar Sterne zeigten.
~ Als ich die Kartoffeln aufgesetzt hatte und den Quark mit Joghurt, Zwiebeln, Schnittlauch, Salz, Pfeffer und Olivenöl anrührte, schüttelte ich den Kopf über mich. Den ganzen Tag mit E-Mail-Geplapper verplempert. So was Bescheuer tes. Ich hätte das Exposé hinter mir haben können, hätte ein paar Mark verdient und den Kopf frei für interessantere Ge danken, statt dessen grübelte ich immer noch darüber nach, ob Konrad nun Konstantin heißen sollte und ob ich diese junge Frau Brüggemann nun beleidigt hatte oder nicht. Ich deckte den Tisch, goß mir ein Glas Wein ein und setzte mich vor die Tagesschau.
~ 35
»Und?« fragte Fussel, noch bevor sie ihre Tasche losgewor den war, »was hat Heiner gesagt?« »Welcher Heiner?« »Dein zukünftiger Trainer. Schon vergessen?« »Hm.« »Du hast es vergessen.« Ich antwortete lieber nicht. An ihrem triumphierend re signierten Ton war zu erkennen, daß sie nicht in der Stim mung war, Widerworte zu ertragen. Das war sie eigent lich selten. Genaugenommen nie. Ich vergaß das nur immer wieder. Beim Essen erzählte sie die Unverschämtheiten und Net tigkeiten des Tages, und ich hörte zu. Zum Glück fragte sie mich nicht, wie sonst manchmal, was ich gemacht hatte. Es wäre mir schwergefallen zuzugeben, daß ich den ganzen Tag mit einer jungen Frau E-Mails gewechselt hatte. Und noch schwerer zu lügen. Ich war mir zwar keiner Schuld bewußt, hatte nicht geflir tet, keine virtuelle Untreue anvisiert oder gar begangen, aber das wußte nur ich, Fussel würde das anders sehen. Und wenn sie die Mails je zu Gesicht bekäme, sogar mit einem gewissen Recht, denn was hatte dieses Mädchen mir von ihren Brüsten zu erzählen? Und ich gegen ihren Freund zu stänkern? Das mußte ich morgen korrigieren. So vorschnell konnte man nicht urteilen. Schließlich behauptet auch Fussel, ich würde sie andauernd verbessern, sie klein machen und alles besser wissen. Und mir liegt nichts daran, mich ihr über legen zu fühlen, das weiß ich sicher. Vielleicht versuchte der junge Mann auch einfach nur, aufrichtig zu sein? Allerdings würde er dann nicht an ihrer Figur herumnörgeln. Das war unterste Schublade.
~ 36
Eigentlich hätte ich Fussel gerne von dem dummen Streit mit Walter erzählt, aber sie war mit den Worten »Ich bin heut zu nix mehr zu gebrauchen« vom Tisch aufgestanden und hatte sich in ihr Zimmer verzogen. Jetzt hörte ich die gelegent lichen Geräusche ihres derzeit bevorzugten Computerspiels und ihre empörten Schreie, wenn sie etwas übersehen hatte und sich von der immergleichen Stimme zurechtweisen las sen mußte: »Dieser Stein hätte angelegt werden können – es wird ein Credit abgezogen.« Und eigentlich sollte ich dringend die jüngste Arbeit eines befreundeten Regisseurs auf Video ansehen, aber im Pro grammheft entdeckte ich »Pulp Fiction«. Das war wichtiger. Auch wenn ich den Film zum dritten Mal sah. Und mich noch immer nicht entscheiden konnte, ob ich ihn genial oder gefährlich finden sollte. Wieso eigentlich nicht beides?
~ Fussel schlief schon n der dritten Werbepause, also ging ich zum Rauchen vor die Haustür, um sie nicht mit der lau ten Balkontür zu wecken. Und schämte und ärgerte mich. Noch im Schlaf schafft sie es, ihre Mißbilligung auf mich abzustrahlen. Sie haßt es, wenn ich vor dem Fernseher sitze. Mein Argument, daß ich doch beruflich glotze, läßt sie nicht gelten, wie sie nie etwas gelten läßt, was ihrer Sicht der Dinge zuwiderläuft. Sie ächtet mich wie eine normale Sofa kartoffel und hält sich für was Besseres, weil sie das dumme Medium Fernsehen nicht braucht. Dabei kann sie sich ein fach nicht konzentrieren. Das ist das ganze Geheimnis ihrer Abstinenz. Sie kann die Figuren nicht auseinanderhalten. Wegen Leuten wie ihr muß man immer eine Blonde und eine Brünette besetzen. Zwei Hauptrollen mit derselben Haarfarbe sind verboten. 37
Ich sehe nicht, wieso sie darauf stolz sein sollte, diese spe zielle Schwäche macht sie in meinen Augen nicht zu einem höheren Kulturwesen, aber meine Augen sind nun mal nicht gefragt. In den nächsten drei Wochen konnte ich nachholen, auf holen, fernsehen, soviel die Kiste bot, denn Fussel mußte übermorgen nach Teneriffa fliegen, um dort mit ihrem Chef, dem famosen, von ihr bewunderten, von mir dagegen mit Degout beäugten Tom, eine Urbanisation an den Mann zu bringen. Dieses Projekt hatte Fussel die letzten Monate so in Atem gehalten, daß ich mich manchmal nicht entschei den konnte, ob ich nun beleidigt, weil vernachlässigt, oder zufrieden, weil in Ruhe gelassen, sein sollte.
~ Wenn das Älterwerden schon eine Reihe von Verlusten ist, das Miteinander-Älterwerden ist es erst recht. Wie fiebrig und euphorisch bindet man sich anfangs aneinander, teilt alles, das kleinste bißchen Blick auf die Welt, jede Meinung, Abneigung, Zuneigung, und staunt eins ums andere Mal, wie perfekt man doch zusammenpaßt. Den einen, einzigen Menschen hat man gefunden, der einen nicht nur versteht, sondern auch begierig auf noch das entlegenste Krümelchen seiner Einzigartigkeit kennenlernen, studieren, auslesen will. Man ist abendfüllend füreinander. Abend für Abend. Und dann irgendwann die Wende. Das Zurücknehmen der Privilegien. Die Kündigung der Symbiose. Auf einmal kommt es wieder auf die Unterschiede an. Dann das Erzie hen: Angewöhnen, Abgewöhnen, Korrigieren, Bedürf nisse formulieren und Machtkämpfe ausfechten. Bis man sich nur noch belogen und entehrt fühlt. Wertlos. Und man liebt einander weiter. Denn man hat ja keinen Handel abge 38
schlossen und den Gegenwert zurückgezogen, sondern sich verändert. Aneinander verändert, durch einander. Und man hat sich damals nicht verliebt, weil der andere so gut paßte, sondern er hat so gut gepaßt, weil man verliebt war. Und auf einmal paßt nichts mehr, außer daß man sich noch liebt. Das wäre mal ein Drehbuch wert.
~ Ich hatte mit Alpträumen gerechnet, in denen entspannte Tarantino-Killer sich an meiner Angst weiden würden, aber als ich gegen fünf Uhr aufwachte, war ich mit einer hüb schen brünetten Jana beschäftigt gewesen, die mich ange sehen und dabei eine Art Bluse oder Hemd geöffnet hatte, weil ich ihre wundervollen Brüste beurteilen sollte. Ich ver suchte, das Bild noch eine Weile festzuhalten, aber es ver blaßte schnell, und bevor ich wieder einschlief, dachte ich noch: Ich bin doch ein echter Mann des Wortes. Man schreibt mir eine E-Mail, und ich sehe, was drin vorkommt.
2
»Ich könnte bei Tom übernachten«, sagte Fussel beim Frühstück, »dann könntest du mich schon heut abend nach Basel fahren und mußt nicht mitten in der Nacht.« »Was dir lieber ist«, sagte ich und fühlte mich augen blicklich betrogen. Um den Abschied am Flughafen, um das intime Durch-die-Nacht-Fahren, um meine ritterliche Tat, gegen drei Uhr schon aufzustehen, aber vor allem um meinen Seelenfrieden, denn der famose Tom könnte sie ja lässig in sein Schlafzimmer winken. Aber dazu hatte er nun ohnehin drei Wochen Zeit, das konnte er auch auf Te neriffa tun. Damit mußte ich leben. Kein schöner Aus blick. »Heut abend ist doch schlauer«, sagte ich, um mir und ihr vorzuspielen, ich sei nicht ängstlich oder eifersüchtig. Seltsam, in meiner Phantasie war Tom immer der Ak tive. Der, auf den es ankam. Wenn er wollte, würde es ge schehen. Daß Fussel Toms Avancen ablehnen könnte, kam mir ebensowenig in den Sinn wie, daß sie selbst die Initia tive ergreifen mochte. Ausblenden, nahm ich mir vor. Was sie mir nicht sagt, ist nicht passiert. »Gehst du heut ins Studio?« »Was denn für ein Studio?« »Fitneßpalast. Heiner. Erinnerst du dich?« »Morgen.« 40
Wenn so ein Laden schon Fitneßpalast heißt, dann kann ein Mann von Geschmack doch da nicht hingehen. Man ißt doch auch nicht in Berti’s Futterluke oder nächtigt im Romantikhotel Stadthalle. Das ist doch wie fertige Salat soße. »Ich will den Wagen halt nicht drei Wochen auf dem Flughafenparkplatz stehenlassen«, sagte Fussel, als ginge es darum, mich zu überreden, daß ich sie nach Basel fuhr, »das kostet mehr als der Flug.« »Ja. Klar«, hörte ich mich sagen, und mein Ton war ärger lich und arrogant und sorgte dafür, daß wir kein weiteres Wort mehr wechselten.
~ Keine Post im Brief kasten, außer einem Briefmarken prospekt und einem Angebot gebrauchter Bundeswehr klamotten. Dafür in der E-Mail die üblichen Arzneimittel, Kredite, Pornolinks und Pseudonewsletter in Massen. Und eine Mail von Jana:
~ Guten Morgen, C. U., es ist zwar mitten in der Nacht, kurz vor drei, ich bin noch mal aufgestanden, weil ich seltsam geträumt habe und nicht gleich wieder einschlafen will, aber Sie werden die Mail ja erst morgen früh lesen. Draußen geht ein Sturm durch den Garten und rüttelt an meinen Fenstern, es ist ein bißchen unheimlich und ein bißchen wunderbar. Ich fühle mich hier drin beschützt, aber gleichzeitig bin ich aufgeregt. Ich habe kein Licht, nur zwei Kerzen und den Bildschirm, und weil ich im Erdgeschoß einer Jahrhundertwende-Villa wohne, in der ehemaligen Dienstbotenwohnung, zieht es durch die 41
alten Fenster, so daß die Kerzen flackern und wilde Schatten werfen. Ich habe eine Tasse Kakao vor mir, denn wenn man schon geschlafen hat, schmeckt kein Wein mehr, und ich fühle mich auf eine süße Art traurig und verlassen, die Ihnen, wenn Sie es nachfühlen könnten, sicher ein herablassendes Lächeln und eine süffisante Bemerkung in Richtung Jungmädchenkitsch entlocken würde. Mag sein. Ist aber schön. Und? Haben Sie an mich gedacht? Sind Sie schon ein besserer Mensch? Aber nein, das will ich gar nicht wissen, es ist Geplänkel, ich interessiere mich für was Wichtigeres: Warum wollen Sie mein Vertrauen nicht? Oder warum wollen Sie es nicht erwerben? Trete ich Ihnen zu nah mit meinem Geplapper? Das will ich nicht. Das täte mir leid. Aber ich will Ihnen vertrauen. Ich weiß nicht, warum, aber ich weiß, daß es so ist. Vielleicht, weil Sie ein Zuhörer sind, vielleicht weil ich Ihnen Freundlichkeit unterstelle nach dem schönen Film oder weil ich so was wie Wärme aus Ihren Zeilen an mich herauszulesen glaube. Aber es könnte auch sein, daß es an dem Traum liegt, der mich so durcheinandergebracht hat. Ich habe nämlich von Ihnen geträumt. Ich stand vor dem Spiegel und betrachtete mich selber. Ich war nackt und suchte nach Fehlern, drehte und wendete und bückte und bog mich, reckte meinen Hintern dem Glas entgegen und sah über die Schulter, daß er rund und hübsch und in Ordnung war, machte Verrenkungen, über die Sie lachen würden, und versuchte eine Bestandsaufnahme all meiner körperlichen Mängel. Und auf einmal war ich nicht mehr allein vor dem Spiegel, sondern in einem leeren, hell erleuchteten Straßenbahnwaggon, der durch die Nacht fuhr. Und Sie standen vor mir. Wie ein Arzt oder ein Juror oder ein Regisseur, der mit nüchternem Blick meinen Körper taxiert und nur darauf aus ist, eine Krankheit oder Verwendbarkeit zu entdecken. Und seltsamerweise war das nicht ekelhaft, sondern angenehm. Ich fühlte mich Ihnen vollständig ausgeliefert und hatte dennoch 42
kein Problem damit. Ich hatte volles Vertrauen in Ihre Augen, es war, als sollten Sie in meinem Auftrag entdecken, was es zu entdecken gab. Und dann sagten Sie: »Der Busen ist zu groß.« Und nicht einmal das machte mich traurig oder verlegen oder wütend, es war eher wie eine Bestätigung meiner eigenen Ansicht. Und dann stiegen wir aus. Mitten in der Nacht, mitten in der Stadt, ich hatte mich bei Ihnen untergehakt, und wir gingen eine breite Straße hinunter. Kein Mensch war unterwegs. Ich war noch immer splitternackt, spürte den Asphalt unter meinen Fußsohlen, und Sie trugen einen weißen Anzug mit Hut und hatten graue Schläfen. Und ich war glücklich. Als ich aufwachte allerdings nicht mehr, denn ich fühle mich Ihnen, einem vollkommen fremden Mann, ausgeliefert, und das ist ein heikler, federnder, unsicherer Zustand, von dem ich nicht weiß, wie er mir bekommt. Mir ist schon klar, daß das doppelzüngig oder dumm von mir ist, denn ich brauchte Ihnen diesen Traum bloß nicht zu erzählen, dann gäbe es kein Ausgeliefertsein. Aber ich will. Ich weiß nicht, warum. Vielleicht weil ich Ihnen vertrauen will. Bitte verwechseln Sie das jetzt nicht mit einem Flirt. Es liegt mir fern, Sie irgendwie anzulocken oder vielleicht scharf zu machen, aber vielleicht ist das ohnehin ein Holzweg, denn in Ihrer abgeklärten Gelassenheit könnten Sie auch müde abwinken und sich sagen: Wer interessiert sich schon für nackte Kinder. Nach Ihren Worten schließe ich jedenfalls auf Gelassenheit, es klang alles so, als wären Sie nicht mehr ausschließlich in Sachen Samenverteilung unterwegs. Wieso haben Sie einen Freund vergrault? Und wieso reden Sie so leichthin darüber, als wäre das keine große Sache? War er dann ein Freund? Es hat mich befremdet. Ich bin noch immer in dieser flirrenden Stimmung. Der Sturm hat aufgehört, es regnet jetzt. Vielleicht nehme ich die Kerzen mit und leg mich in die Badewanne. Oder ins Bett. Jedenfalls schick ich 43
diese Mail jetzt ab und hoffe, sie erwischt Sie nicht morgen früh auf irgendeinem falschen Fuß. Bleiben Sie mir gewogen. Ihre Jana
~ Was war denn nun los? Wurde es jetzt mystisch? Wir hat ten beide das gleiche geträumt. Ich saß minutenlang zu sammengesunken vor dem Bildschirm und wußte nicht, was ich fühlte. Rührung? Ärger? Oder war ich nur ver blüfft? Ich sollte ihr sofort antworten und sie darauf hinweisen, daß Themen wie Nacktheit und dem Spiegel entgegenge reckte Hintern in unserem Briefwechsel nichts zu suchen haben. Sie war zweiundzwanzig und ich fünfzig. Ich war verheiratet und suchte kein Abenteuer. Sie behauptete, nicht flirten zu wollen, aber was sollte das dann? Wäre ich nicht so allergisch gegen Phrasen, dann würde ich anmerken, sie könnte meine Tochter sein. Das Ganze ging in eine falsche Richtung.
~ Es gibt wohl nur falsche Füße für Texte dieser Art, mit einer Ausnahme vielleicht, nämlich der, daß wir beide was miteinander anfangen sollten. Aber das kommt nicht in Frage. Ich möchte mir nicht Ihren Hintern, Ihre Brüste, überhaupt Ihren nackten Körper vor dem Spiegel vorstellen …
~ Das war gelogen. Ich wollte das nicht nur, ich tat es auch schon. Und nichts daran war unangenehm, außer vielleicht 44
meinem schlechten Gewissen. Ich löschte den angefangenen Text und grübelte weiter.
~ Schicken Sie mir als nächstes ein Foto von sich? Im Bikini? Oder ohne? Auch wenn Sie behaupten, mich nicht anlocken zu wollen, was, denken Sie, wird in meinem Kopf wohl vorgehen, wenn ich mir Sie nackt vor dem Spiegel vorstelle? Und möglicherweise bei Kerzenschein. In meiner Jugend hieß es in solchen Fällen, man sei ja schließlich nicht aus Holz – ein besserer Spruch fällt mir mangels Gelassenheit nicht ein. Ob ich nun noch quirlig und viril hinter der Arterhaltung her bin oder nicht, spielt keine Rolle, ich müßte tot sein, um von den Bildern, die Sie in meinen Kopf projizieren, nicht animiert zu sein. Ich bitte Sie also …
~ Auch diesen Text löschte ich. Was sollte der grelle Vorwurfs ton. Meine biologischen Probleme hatte ich ja wohl selber zu lösen, das war nicht Aufgabe einer wildfremden und er staunlich zutraulichen Architekturstudentin in …, ja, wo eigentlich? Vielleicht wohnte sie um die Ecke. Vielleicht im Haus nebenan.
~ Ihre Mail trifft mich unbewehrt. Ich hatte den gleichen Traum. Wir waren nicht in der Straßenbahn, sondern in einem Zimmer, und Sie saßen auf einem Stuhl und zogen »nur« Ihre Bluse aus. Und Ihre Brüste waren wunderschön. Sie hatten braunes Haar. Ich bin aus diesem Traum in durchaus unordentlichem Zustand aufgewacht und seither durcheinander. 45
Ich möchte nicht, daß unsere Korrespondenz in diese Richtung geht. Tut mir leid, daß es mit meiner Gelassenheit nicht soweit her ist, wie ich Sie glauben machen wollte, und daß ich Ihren Satz »wer interessiert sich schon für nackte Kinder« nicht ungelogen nachsprechen kann. Ob ich das nun auf die Biologie schiebe oder auf meinen schwachen Charakter, auf Ihr loses Mundwerk oder sonst irgendwas, die Tatsache bleibt, daß ich Sie jetzt nackt und wunderhübsch vor meinem inneren Auge habe, und dieses Bild ist nicht mehr zu löschen. Mir ist schon klar, daß das mein Problem ist, aber es ist eines. Ich gerate in eine Art Erklärungsnot mir selbst gegenüber. Ich suche keinen Flirt, würde nie eine virtuelle Affäre mit einer wildfremden Frau eingehen, bin mir keiner Schuld bewußt, den Anfang gemacht zu haben, und stecke jetzt doch in dieser eigenartigen Situation, mich Ihnen so offen anzuvertrauen. Das ist mir unangenehm. Allerdings bin ich auch aufgeregt und unsicher, was meine Gefühle angeht, denn daß wir beide den gleichen Traum in derselben Nacht träumen, grenzt für mich an ein Wunder. Vielleicht passiert das Ehepaaren, die sich so gut kennen, daß ihre Assoziationsketten gleichartig verlaufen. Aber doch nicht zwei Fremden. Daß Sie mir Ihren Traum erzählt haben, finde ich, trotz aller Unruhe, die das bei mir auslöst, anrührend und sehr vertrauensvoll. Ich hoffe, ich erweise mich dieses Vertrauens würdig. Niemand kann das versprechen, denn niemand kennt die Zukunft. Und wir kennen einander nicht.
~ Ich schickte die Mail ab, ohne sie noch mal durchzulesen. Ich hatte schon über jedem Satz gegrübelt. Wenn ich noch länger damit zubrächte, würde ich auch diesen Text wieder löschen. Es gab keine Möglichkeit, das Glatteis, auf dem wir uns mit einemmal bewegten, zu schmelzen. Es gab nur die 46
Möglichkeit, es zu meiden – und das wollte ich nicht – oder Schlittschuhe anzuziehen. Oder auf die Fresse zu knallen. Das war das Wahrscheinlichste. An das Exposé brauchte ich erst gar nicht zu denken. Keine Zeile bekäme ich zustande, bevor sie nicht geantwor tet hatte. Also suchte ich bei ebay nach Krawatten, das tat ich manchmal, wenn ich mich von irgendwas ablenken wollte. Ich hatte schon einige ersteigert. Dabei trug ich sie nie. Ich mag Krawatten, aber immer wenn ich mir eine umbinde, erkenne ich mich nicht mehr im Spiegel und zerre sie wie der vom Hals. Das ist eine alberne Marotte, aber sie kostet wenigstens kaum Geld. Früher, als ich noch hinter Sonnen brillen her gewesen war, die ich ebenfalls nicht trug, weil ich mir damit immer halbblind vorkam, hatte das größere Löcher ins Budget gerissen. Auch keine wirklich ruinö sen, aber doch so, daß mir irgendwann das Idiotische an der Sache aufgefallen war.
~ Vielleicht weiß ich, was passiert ist. Ich habe gestern naiv davon erzählt, daß mein Freund meine Brüste zu groß findet, und erst an Ihrer Antwort darauf gemerkt, daß es ungehörig war. Es war frivol. Und das hat mich dann so beschäftigt, unterbewußt, daß ich es in den Schlaf mitnahm und im Traum zu voller Größe ausbaute. Und das gleiche könnte Ihnen passiert sein. Nur daß Scham nicht Ihr Beweggrund war, es in den Traum mitzunehmen, denn Sie haben ja keinen Grund, sich zu schämen, wenn ich meine Themen nicht im Griff habe. Vielleicht war es Ärger darüber, daß ich Ihnen zu nahe trete, Ihnen quasi meine Möpse vor den Latz knalle. (Entschuldigung, die Formulierung mußte einfach sein – ich bin nämlich von Ihrer Mail ebenfalls ergriffen und befinde mich in einer seltsamen, ehrfürchtigen, vorsichtigen Stimmung, und dagegen 47
muß ich was tun, sonst fang ich noch an, Genetive zu benutzen.) Daß wir allerdings beide in derselben Nacht an derselben Bemerkung nagen, finde ich auch unglaublich, vielleicht weht hier ein Nebelfetzen des Schicksals einher und will uns etwas sagen? Dessen Raunen jedoch werden wir gewahr erst in der Nächte Schutz und Dunkel, wenn unsrer Sinne und Gedanken Einssein aller Hemmnisse bar des Tages und der Vernunft … o weia. Hilfe! Die Genetive! Ich müßte jetzt wirklich dringend ein Tourettesyndrom zuschalten können, aber mit Worten wie Möpse oder Titten ist mein Vorrat an Unflat schon bald aufgebraucht. Ich bin ein ziemlich braves Mädchen. Ich sehe den Schaden, den ich angerichtet habe, und es tut mir leid. Aber unser gemeinsamer Traum ist auch ein wunderbares Zeichen. Ich vertraue Ihnen. Sie müssen auf dieselbe Tonart gestimmt sein wie ich. Es könnte vielleicht helfen, wenn ich häßlich wäre und Ihnen ein Foto schicken würde. Dann hätte sich das Thema schnell erledigt. Aber ich bin ganz nett anzusehen (außer meinen Füßen, die sind scheußlich), übrigens tatsächlich dunkelhaarig, und wenn ich Ihnen ein Bild von mir schicken würde (nicht im Bikini und schon gar nicht nackt, ein ganz braves), dann wäre das vielleicht der nächste Übergriff. Ich will Sie nicht belästigen. Das alles schreibe ich schnell und aufgeregt, und ich schicke es sofort ab, damit ich’s nicht noch entschärfen kann. (Entschärfen ist vielleicht das falsche Wort – von Schärfe soll doch nicht die Rede sein.)
~ Diese Mail hatte ich schon in Mantel und Schuhen gelesen, denn ich mußte mich beeilen, um noch rechtzeitig zur Werkstatt im Nachbarort zu kommen. 48
Auf der Fahrt fand ich mich hellwach und bester Laune, das war überraschend, denn eigentlich hätte ich deprimiert sein müssen. Ich bin immer deprimiert, wenn sich zwischen mir und Fussel dieses Rückzugsschweigen einstellt. Auch wenn ich selbst daran schuld bin. Vielleicht gerade dann. Oder nein: Ich bin immer daran schuld, also nur dann. Diese harten, kleinen, kalten Sätze, die mir immer in Mo menten herausfahren, in denen ich mich sinn- und zweck los manipuliert glaube, sind das reine Gift. Sie sind meine Art von Wutausbruch und schießen und treffen schneller ins Schwarze, als ich denken kann. Ich würde mich beherr schen, es jedenfalls versuchen, wenn sich die Eruptionen wenigstens ankündigten. Aber die Worte sind schon drau ßen und unterwegs, noch bevor ich weiß, daß ich wütend bin. Warum mußte Fussel mir mit den Parkplatzpreisen kom men, wenn ich sie doch gern nach Basel fuhr? Was sollte das? Sie unterstellte mir damit, daß ich noch überredet, überzeugt werden müsse, daß ich ihr den Gefallen eigent lich nicht tun wolle, daß ich ihr das Gefühl gab, sie verlange etwas Unzumutbares. Früher hatte ich noch versucht, ihr zu erklären, was in solchen Momenten in mir vorgeht, aber sie gab mir keine Chance, mich verständlich zu machen. Sie verbuchte mei nen Ärger unter »schlechter Laune, die ich an ihr auslasse«, und tat meine Erklärungen als »kompliziert« ab. Als wäre das Richtige immer einfach und das Komplizierte immer falsch. Jetzt war ich doch deprimiert.
~ Auf die Reparatur konnte ich warten. Heutzutage sucht man nicht mehr die knarzende Stelle und rückt ihr mit einem 49
Tropfen Öl zuleibe, sondern man tauscht das Teil aus. Das geht zwar auch nicht schneller, ist aber teurer. Während ich »Auto Motor Sport« und Prospekte durch blätterte, dachte ich schon wieder an Jana und vergaß, daß ich deprimiert war.
~ Liebe Jana, falls Architektur sich doch nicht als das Richtige erweisen sollte, dann wechseln Sie das Studienfach und werden Literatin. Nicht nur der Genetive souveräner Gebrauch und Ihr sichtliches Sprachgefühl, sondern auch Sätze wie »auf dieselbe Tonart gestimmt« lassen mich glauben, einem echten Sprachtalent begegnet zu sein. Allerdings, wenn ich’s mir recht überlege, das müssen Sie nicht studieren – Sie können ja schon schreiben. Also, vergessen Sie den Vorschlag und werden Sie eine berühmte Architektin, deren wegweisende Bauten man in den Feuilletons diskutiert, und wenn Sie das langweilt, dann schreiben Sie Bücher. Ich schulde Ihnen noch eine Antwort auf die Frage, was mit meinem Freund passiert ist. Ich versuche es: Wir kennen uns schon seit vielen Jahren. Uns verbindet viel gelebtes Leben – ein paar Triumphe und viele Enttäuschungen -, ich war vor langer Zeit sein Manager, als er noch Sänger und Gitarrist einer fleißig tourenden Band war. Inzwischen schreibt er Kriminalromane, und obwohl wir uns nicht mehr oft sehen – er lebt in München und ich an der Schweizer Grenze –, war unsere Freundschaft doch immer sicher und verläßlich. Allerdings eben nur so sicher und verläßlich, wie Männerfreundschaften eben sind. Man tauscht sich nicht allzu intensiv über Privates aus, das ist für Männer einfach nicht abendfüllend, eher schimpft man auf Verleger und Lektoren, das Publikum, die Buchhändler, Journalisten (in seinem Falle) oder Redakteure, Producer, Regisseure und Schauspieler (in meinem). Und über dieses Ge50
schimpf und Gejammer entsteht dann so viel Nähe und Wärme, wie unser Ehrgefühl grade noch zuläßt. Mein Freund sieht sich als aufrechten Recken gegen Heuchelei, Spaßkultur und Mittelmaß, und in dieser Rolle hat er meinen Weihnachtsfilm, der Ihnen so gut gefallen hat wie mir selbst, in knappen Worten als »scheiße« markiert. Und auf einmal war mir das zuviel. Ein knappes Wort gab das andere, und vier Mails später haben wir uns auf eine Sendepause verständigt. Und das in aggressivem, harschem Ton, der keinen Zweifel an unserer Verletztheit ließ. Ich bin wohl noch immer wütend, denn jetzt, da ich Ihnen das erzähle, spüre ich kein Bedauern, sondern dieses blöde Stolzgefühl der Selbstgerechtigkeit – daß ich es ihm gezeigt habe, daß er so nicht mit mir umspringen kann, daß er sich gefälligst mal … und so weiter, Sie können sich den Rest der geschluckten Trotztirade sicher vorstellen. Ich muß jetzt leider ab-, weil aufbrechen, zuerst noch einkaufen, dann meine Frau zum Flughafen bringen. Sie verläßt mich für drei Wochen, und ich weiß noch gar nicht, ob ich ein fröhlicher Strohwitwer oder ein trauriger Daheimvergessener sein will. Aber es geht nicht darum, was ich will, sondern kommt halt, wie es kommt. Wenn wir bis dahin noch Kontakt haben, kann ich Ihnen ja Auskunft geben dazu. Ich werde heute abend noch mal in die E-Mail schauen. Falls Sie also Lust haben, mir noch zu antworten, nur zu.
~ Der Mißton vom Morgen schien vergessen. Fussel war ganz mit sich selbst beschäftigt und so erschöpft und nie dergeschlagen wie jedesmal, wenn sie es endlich geschafft hat, einen Koffer zu packen. Sie braucht Stunden dafür und wird immer nervöser, je mehr Sachen sie aus dem Schrank nimmt, anprobiert, verwirft, neu kombiniert und wieder 51
verwirft und probiert, bis sie am liebsten alles mit der Kü chenschere traktieren will, so verzweifelt ist sie darüber, daß nichts paßt, worauf sie am Ende meist einfach alles Schwarze in den Koffer legt. Das ist die Standardnotlösung. Ich trug Koffer und Kleidersack zum Wagen, achtete dar auf, beides nicht in den Kofferraum zu werfen, sondern sanft zu legen, und öffnete galant die Beifahrertür. Fussel schob die Unterlippe nach vorn zu einem künstlichen Unterbiß und blies sich die Haare aus der Stirn, das tat sie immer, wenn sie erleichtert oder erschöpft war, dann setzte sie sich und lächelte. Auf der Fahrt schwiegen wir, aber ohne Groll. Das freundliche ehepaarliche Jeder-bei-sich-Schweigen. Bis wir in der Stadt waren und sie mir den Weg zu Toms Wohnung wies. Dort angekommen, wechselten wir auch nur noch das Nötigste an Worten, mach’s gut, hab’s schön, erhol dich auch ein bißchen, schreib mir SMS, wenn du kannst, oder E-Mails, und verabschiedeten uns mit einem Kuß. Ich stieg in den Wagen und fuhr los. Es wäre blöd, ihr hinterherzu schauen, wie sie durch eine Tür ging – am Flughafen hätte ich das getan. Und hätte das Traurige und Liebevolle die ses Augenblicks genossen, weil mir in solchen Momen ten immer klar wird, daß ich sie vermissen werde, daß ich glücklich bin, wenn sie da ist, und nicht so richtig bei mir, wenn sie fehlt.
~ Mit Lebenserfahrung kann ich Ihnen sicher nicht kommen, daran fehlt es mir noch ziemlich, und die speziellen Verhaltensweisen von Männern sind mir mangels ebendieser auch nicht allzu vertraut, aber ein Instinkt sagt mir, daß zwischen Ihnen und Ihrem Freund 52
ein kleines oder mittelgroßes Gewitter niedergegangen ist, und wenn sich das verzogen hat, sollte alles wieder so sein wie vorher. Mit dem einen Unterschied vielleicht, daß er in Zukunft ein bißchen vorsichtiger sein wird. Und? Sind Sie jetzt der fröhliche Strohwitwer, der die Puppen tanzen lassen wird? Oder traurig und alleingelassen, wie Sie es befürchtet haben. Oder immerhin für möglich gehalten. Ich bin eine ausgesprochen fröhliche »Witwe«, dank der »Gespräche« mit Ihnen – ich vermisse meinen Freund kein bißchen. Wenn ich nicht gerade schreibe, dann denk ich über Sie nach. Ich stelle mir Sie als einen leicht verknautschten, aber attraktiven Mann vor, der sich zwischen Frechheit und Bescheidenheit nicht so recht entscheiden kann, einen Hang zur Melancholie pflegt und sich nur schwer vorzustellen vermag, daß seine selbstbewußte Art anderen auch mal die Luft nehmen kann. Mir nicht. Ich bin auch selbstbewußt. Und ich stelle Sie mir schlank vor. Sind Sie schlank? Müssen Sie eine Brille tragen? Ich ja. Ich bin blind ohne. Ich setze sie nur ab, wenn ich fotografiert werde oder … nein, das ist das Thema, das ich doch meiden wollte. Sie haben sicher schöne Hände. Entschuldigen Sie, das ist alles Mädchenkram. Bestimmt haben Sie noch nie darüber nachgedacht, ob Ihre Hände schön sind oder nicht. So viel weiß ich schon über Männer, daß Ihre Selbstbetrachtung wohl nicht so sehr auf das Äußerliche abzielt. Aber wenn Sie Lust dazu haben, und wenn es Sie davon abhält, sich als trauriger Alleingelassener zu fühlen, dann beschreiben Sie mir doch, wie Sie aussehen. Mädchen wollen so was wissen.
~ Wie sollte ich das jetzt beschreiben? Hab ich schöne Hände? Keine Ahnung. Sie hatte recht, das weiß man nicht als Mann. Mehr wie Ralph Siegel als Richard Gere, den Spruch 53
würde ich nicht verwenden. Erstens beklaut man sich nicht selber, und zweitens wollte ich nicht, daß sie mich als basset ähnlichen Schlabberkopf sieht. Ich hatte keine Lust, mich vor den Spiegel zu stellen. Ich hatte auch keine Lust, mir darüber Gedanken zu machen, ob meine Hände nun schön waren oder nicht. Es waren halt Hände. Ein paar Sommersprossen drauf und ein paar Haare, die Finger länger als der Handrücken – war das schön? Jetzt, da ich sie so aufmerksam studierte, hielt ich es für möglich.
~ Sie haben recht, das ist Neuland für mich, aber ich versuch’s. Ich bin wohl ein spät erblühtes Exmauerblümchen, denn ich kann mich noch gut daran erinnern, daß ich immer übersehen wurde früher, und das scheint sich geändert zu haben, denn inzwischen registriere ich hin und wieder schnelle Blicke von Frauen, die mich so zufällig streifen, als erinnerte ich sie an jemanden und sie müßten nur kurz verifizieren, daß ich der nicht bin. Das gefällt mir. Es tut mir in der Seele gut. Kann allerdings sein, daß das nicht an meinem Aussehen liegt, sondern an der Kleidung – ich trage gern feine Anzüge (die ich mir nur aus dem Outlet leisten kann und deren Silhouette ich zudem mit allerlei in die Taschen gesteckten Utensilien wie Zigarettenetui, Notizblock, Lesebrille, Handy etc. verderbe) –, vielleicht haben die Frauen auch einfach einen Blick für die Stoffe, die da so lässig an mir herunterfallen. Ich habe mir meine Hände angesehen, aber ob die schön sind? Das weiß ich nicht, weil ich keinen Kurs in Handästhetik absolviert habe. Brille muß ich abends tragen, tagsüber geht’s ohne. Schlank bin ich auch, mein Haar ist dunkel, an den Schläfen grau. Ich glaube, meine Nase ist markant. Meine Augen sind grau. Reicht das? Mehr fällt mir nicht ein. 54
Was Sie über den Streit mit meinem Freund sagen, gefällt mir, obwohl es mir noch nicht so recht in den Kram paßt. Noch will ich mich ärgern, will schimpfen und triumphieren, aber ich kenne mich: Das wird verfliegen, und dann ist alles wieder beim alten. Muß nur einer von uns eine unverfängliche Frage stellen, und der Knatsch ist weg und vergessen. Ich werde keinerlei Puppen tanzen lassen, wie Sie das so überraschend altmodisch ausgedrückt haben, das steht schon mal fest. Aber ob ich ein fröhlicher Strohwitwer bin, weiß ich auch noch nicht. Jedenfalls nicht traurig. Der Mailwechsel mit Ihnen macht mir immer noch Vergnügen, und ich denke inzwischen auch nach über Sie. Studieren Sie Architektur, weil Sie später mal bauen wollen, oder studieren Sie es, weil Sie Bauten verstehen wollen? Und wenn Sie bauen wollen, was? Stadthallen? Parkhäuser? Regierungsgebäude? Einfamilienhäuser? Wie leben Sie? Wonach sehnen Sie sich? Was macht Sie glücklich, was macht Ihnen zu schaffen? Wann erzählen Sie mir den Kummer, der Sie plagt? Ich bin bereit, Ihnen zuzuhören, auch bereit, meinen Senf, wenn Sie das wollen, dazuzugeben. Jetzt geh ich nach Hause. War ein langer Tag. Bis morgen. Schlafen Sie gut, und träumen Sie nichts Kompromittierendes. Oder wenigstens nichts, was ich nicht auch träumen würde. Haha.
~ Die Wohnung fühlte sich leer an. Verwaist, leblos, kühl, dabei war Fussel gerade mal vier Stunden weg. Keine Blume konnte seither verwelkt sein, keine Ordnung durcheinander geraten und kein Staub sich irgendwo angesammelt haben. Das fand alles in meinem Kopf statt. Ich war es, der sich leer fühlte. Ich setzte einen großen Topf Kartoffeln auf – den Grund stock für die Ernährung der nächsten Tage. Heute Pellkartof 55
feln mit Käse, morgen Kartoffelsalat, übermorgen Bratkartof feln und dann eine Suppe mit Lauch. Danach würde ich eine Nudelphase einlegen. Da war nicht ein Film, der mich interessiert hätte. Alles nur Hau-renn-stech-und-schieß-Movies (privat) oder Pief und Sülze (öffentlich-rechtlich), also blieb ich an einer Talk show hängen und ärgerte mich erst recht. Pseudoemphati sches Gelaber von langweiligen Leuten über uninteressante Ereignisse, die Höhepunkte ihres öden Prominentenlebens. Am liebsten hätte ich jetzt mit der E-Mail-Schreiberei weitergemacht, aber noch mal ins Büro fahren wollte ich nicht, und mich an Fussels Rechner zu setzen kam nicht in Frage. Das wäre indiskret. Ich las die Zeitung. Und sah mir dann doch einen Jackie-Chan-Film an, der mich zu nichts als Kopfschütteln und dem Absondern konsternierter Ge räusche inspirierte. Wenigstens war ich hinterher müde. Und hatte genügend getrunken.
3
Es war sechs Uhr, als ich aufwachte, und ich wußte sofort, wieso. In diesem Augenblick startete das Flugzeug mit Fussel, wenn es pünktlich war, in Basel. Ich sah ein brennendes Triebwerk, angstverzerrte Gesichter, zerstreute Wrackteile, aufgeregte Journalisten mit Mikrofonen, ent setzte Angehörige, mein eigenes Gesicht darunter – es war immer dasselbe. Wenn Fussel in ein Flugzeug stieg, hatte ich Angst. Und konnte die Gedanken nicht stoppen, bis die Nachricht von ihr kam, daß sie gesund und unversehrt gelan det war. Dabei hatte ich selbst nur Angst beim Landen. Das Star ten und Fliegen machte mir nichts. Aber wenn ich an Fussel dachte, geriet ich in Panik. Ich konnte nicht mehr einschla fen, machte mir Kaffee, holte die Zeitung und versuchte, mich auf das Gelesene zu konzentrieren, aber wieder und wieder kamen diese Bilder. Ich nahm mich nicht ernst, be schwor mich, daß es auch diesmal gutgehen würde, aber die Diashow im eigenen Kopf war nicht abzustellen, und jetzt mischte sich auch die zweite Sorte Zwangsgedanken dar unter: pragmatische, organisatorische – ich sah mich selbst beim Aussortieren ihrer Kleider, beim Umräumen der Wohnung, beim Notar, bei der Bank, ich sah mich den Tod meiner Frau abwickeln und ein neues Leben, ein zweites Leben, ein Leben nach ihr beginnen. Für diese Gedanken 57
schämte ich mich, denn sie waren nicht oder nur selten mit Verzweiflung oder Trauer grundiert, sie waren nüchtern, geprägt von Tatkraft und Vernunft, zeigten mir mich selbst in einem unangenehmen Licht, nämlich als einen, der dar über wegkommt. Der was Besseres zu tun hat als trauern. Der sein neues Büro einrichtet. Der in der Wohnung raucht. Und fernsieht bis zur Verblödung. Und jeden Morgen die Zeitung lesen kann. Und das würde so weitergehen bis nach acht, bis ich endlich die erlösende SMS von ihr bekäme: »Bin gut gelandet, alles okay.«
~ Und genau dieser Wortlaut war es dann schließlich, den ich kurz vor neun auf dem Display hatte. Jetzt war ich müde vor Erleichterung. Auch darüber, endlich die innere Vorfüh rung meiner Kaltschnäuzigkeit nicht mehr ansehen zu müs sen. Jetzt hätte ich noch mal ins Bett gehen und zwei, drei Stunden schlafen können, aber ich nahm Jackett und Mantel vom Haken und ging zur Garage.
~ Hallo, mein süßer Schnuckiputzi, laß deine unendlich schönen Dreckfinger von Jana, sonst komm ich in dein verjurztes Dorf und gebe meinem Golfschläger erst mal dein grindiges Gesicht und dann deine Karre zu fressen. Deine Adresse ist schnell rausgefunden, und deine Frau wird sich auch freuen, wenn ich ihr deine E-Mails zu lesen gebe. Denk dran. Und verpiß dich. Wichser.
~ 58
Ach herrje. Der Freund. Sauer bis zum Haaransatz. Was jetzt? Antworten? Oder den Schwanz einziehen und mich von diesem Knäblein als Dirty-Old-Man abstempeln lassen? Das kam nicht in Frage.
~ Liebe Jana, ein Mensch, der mit dem Namen »Wichser« unterschreibt, hat sich Ihres E-Mail-Postfachs bemächtigt. Sicher ist das Ihr unglücklicher und mangels Charakter und Manieren auch neugieriger Freund, der so wenig Stil besitzt, hinter Ihrem Rücken herumzuschnüffeln. Sie werden jetzt genügend Ärger haben, also will ich Sie mit meinem Abscheu über diesen Rotzlöffel verschonen – ich schreibe nur, um Ihnen zu sagen, daß ich mich nicht mehr melden werde. Und verstehe, wenn Sie sich nicht mehr melden. Tut mir leid, daß es so gekommen ist. Ich wünsch Ihnen alles Glück und alles Gute und bedanke mich für den unterhaltsamen Briefwechsel. Das waren zwei schöne Tage für mich. Machen Sie es gut, und seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem C. U.
~ So. Hoffentlich las er das. Ich spürte, daß ich grinste vor Ver gnügen über meinen Einfall, das Wort »Wichser« einfach zurück übers Netz zu schlagen. Es war zwar kindisch, eine Variante von »Was man sagt, das ist man selber«, aber ich fand mich elegant und sarkastisch und gefiel mir in dieser Rolle ausnehmend gut. Und hoffentlich las sie das. Wenn das Bürschchen allein in der Wohnung wäre, könnte er den Text einfach löschen und verschwinden lassen, so daß Jana glauben müßte, ich hätte gekniffen. Das wäre bitter. Aber nicht zu ändern. Ich war fest entschlossen, mich nicht mehr zu melden. 59
Erst jetzt hörte ich den Anruf beantworter ab. Da bat der Herr Vohrer von Sinus-Film um Rückruf. Na gut. Die Arbeit rief. Erst einen Cappuccino, dann ein heißes Ohr. Herr Vohrer schlug vor, sich nächsten Dienstag in Stutt gart zu treffen. Vorher würde er die Romanvorlage schik ken, dann könne ich schon mal hineinlesen und mir eine Vorstellung von dem Stoff machen. Wir verabredeten uns auf fünfzehn Uhr im Hotel Graf Zeppelin gleich beim Bahnhof, und ich legte auf. Hineinlesen. Diese Formulierung war doch blöder als er träglich. Was sollte denn das sein? Seite vier, Seite zweiund achtzig und Seite hundertneunzig? Und dann eine Vorstel lung vom Stoff haben? So hatten früher die Leute von den Plattenfirmen und Radiosendern auch geredet. Die hatten auch immer »in das Demo reingehört«. Ich konnte mich nicht beherrschen. Ich mußte ins Post fach sehen. Tatsächlich. Antwort.
~ Ich bin gleich da, Herr Uhlig an der Schweizer Grenze. Das geht schneller, als du denkst. Besorg dir schon mal einen Helm oder zwei Bodyguards. Wenn von deiner markanten Nase was übrigbleiben soll. Suspensorium wär auch nicht schlecht. Oder Polizeischutz. Noch einen Mucks, und du bist fällig.
~ So albern das auch war, ich mußte darauf antworten. Die ses Geknurre konnte man einfach nicht so stehenlassen. Ich schrieb nur ein einziges Wort:
~ Mucks.
~ 60
Und schickte es ab.
~ Ich wußte, es war lächerlich. Es war kindisch, mackerhaft, unklug und der netten Jana gegenüber nicht fair, ihren ver letzten Galan noch weiter zu reizen. Es war derselbe dumme Impuls, der mich auch mit Walter hatte brechen lassen. Aber es ging nicht anders. Ich hatte eine Stinkwut. Am liebsten wäre ich selbst losgefahren, um mir dieses golfspielende Bübchen zur Brust zu nehmen. Aber wohin? Ich hatte keine Ahnung, in welcher Stadt sie wohnte. Es konnte jede Uni versitätsstadt sein. Ich gab mir Mühe, das Exposé auf die Beine zu stellen, wenigstens endlich mal die einleitenden Sätze hinzuschrei ben, aber ich war so absorbiert von meinem Ärger über die sen Frechling und gleichzeitig dem Amüsement über das aggressive Geplänkel, daß ich mich wieder nach Krawatten umsah. Und für eine schwarz-grau gestreifte von Trussardi bot.
~ Lieber C. U., das ist alles ganz grauenhaft. Es tut mir so leid, daß ich diesen Unflat von Sebastian über Sie gebracht habe, und ich würde für ihn um Entschuldigung bitten, wenn ich nicht so wütend auf ihn wäre, daß ich ihn hochkant rausgeschmissen habe. Ich will ihn nie mehr sehen. Er hat mir seinen Schlüssel vor die Füße geschmissen und sich getrollt. Aber so, wie ich ihn kenne, hat er sich Ihre E-Mail-Adresse gemerkt. Das heißt, Sie müssen mit noch ein paar Gemeinheiten von ihm rechnen. Wenn ich das irgendwie verhindern könnte, würde ich es tun, aber ich habe keine Ahnung, wie ich jetzt noch auf ihn einwirken soll. Bitte versprechen Sie mir eins: 61
Falls er weitere Mails an Sie schreibt, leiten Sie die an mich weiter. Irgendwas werde ich dann versuchen. Und wenn ich zu seinen Eltern gehe. Oder zu seinem besten Freund. Ich weiß noch gar nicht, wie mir zumute ist. Als ich heute morgen aufwachte, saß er rauchend vor meinem Computer und warf mir einen Blick zu, als wäre ich verdorbenes Katzenfutter oder etwas, das ihm aus dem Klo entgegenkriecht. Es war ekelhaft. Er sagte kein Wort, fing an zu tippen, und erst als ich ihm über die Schulter sah, wußte ich, worum es ging. Er schrieb an Sie. Ich versuchte, ihn vom Computer wegzuziehen, aber er stieß mich so grob, daß ich auf dem Hintern landete und verschreckt in mein Schlafzimmer lief, mich anzog und aus dem Haus flüchtete. Das war dumm. Ich hätte ihm nicht das Feld überlassen sollen, ich hätte nicht zulassen dürfen, daß er Sie so widerlich beschimpft, aber ich hatte Angst vor ihm und begriff erst nach einer Viertelstunde, in der ich wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend irrte, daß ich die Verantwortung übernehmen muß, kehrte um und warf ihn raus. Das fiel mir überraschend leicht. Gestern oder vorgestern habe ich Ihnen noch geschrieben, wieviel mir an ihm liegt, habe von seiner Magie erzählt, daß er originell sei und mich heiraten wolle, und heute bin ich schon froh, ihn loszusein, und kann mir nicht mehr vorstellen, ihn je gern gehabt zu haben. Geschweige denn geliebt. Das ist sehr seltsam. Daran muß ich mich erst noch gewöhnen. Das alles tut mir sehr leid. Ich wünschte, ich könnte es wiedergutmachen. Ihre Jana
~ Es schneite dicke Flocken, und die Geräusche der vorbeifah renden Autos waren dumpf und wattig, obwohl die Straße noch frei war. Aber auf den Dächern, Büschen und Bäumen blieb der Schnee schon liegen. Das Städtchen wurde ein gepackt. Ich war mir nicht sicher, ob ich das mochte. Der 62
Anblick war idyllisch, aber die Fahrt den Berg hoch würde beschwerlich sein.
~ Liebe Jana, machen Sie sich keine Sorgen, ich verkrafte das schon. Der junge Mann ist verletzt und benimmt sich schlecht. Das kann man einsehen. Ist nicht schlimm. Sie werden es jetzt nicht leichthaben, denke ich mir. Wenn Sie Lust haben, unser Gespräch wiederaufzunehmen, melden Sie sich. Wenn Sie den Kopf für anderes frei haben wollen, versteh ich das. Ich bin jedenfalls da und freu mich über Post. Einstweilen einen schönen Gruß. Ich drück Daumen, daß Ihnen der Kummer nicht allzusehr zu schaffen macht. C. U.
~ Und auf einmal ging mir das Exposé von der Hand. Ich schrieb sechs Seiten fast in einem Rutsch, nur unterbrochen von Gängen zur Espressomaschine, Griffen zum Zigaret tenetui und Feuerzeug und gelegentlichen Blicken ins Post fach. Wo allerdings erst nach fast drei Stunden eine Antwort eingetroffen war.
~ Ich habe alle seine Sachen gepackt und vor die Tür gestellt. Meine Vermieter werden sich wundern, denn bisher dürfte ich ihnen eigentlich keinen allzu asozialen Eindruck gemacht haben. Jetzt sieht es vor meiner Tür wie im Slum aus. Ich habe ihm auch auf den Anrufbeantworter gesprochen, er soll sein Zeug abholen, bevor es schneit. Ich hoffe, er tut es. Ich werde die Sachen nicht mehr reinholen. Mir egal, wenn alles naß wird. 63
Das heulende Elend hat mich noch nicht gepackt, aber ich rechne damit. Spätestens, wenn es Nacht wird und sich die erste Wut gelegt hat. Jetzt hilft sie mir noch, mich stark und befreit zu fühlen, aber ich weiß, daß das vorbeigehen wird, und dann WERDE ich das verdorbene Katzenfutter sein, als das er mich gesehen hat. Jetzt geh ich zu einer Freundin, denn ich will nicht zu Hause sein, wenn Sebastian seinen Kram holt. Danke für Ihr Verständnis und Ihre freundliche Ermutigung. Ich übersteh das schon. Ist nicht meine erste Trennung. Auch nicht die erste, die weh tut. Ich fühle mich alt und erfahren. Das wird Sie amüsieren, oder?
~ Allerdings, das amüsierte mich. Aber um eine Erfahrung, nämlich die, einen verletzten Gockel rausgeschmissen zu haben, war sie vielleicht wirklich reicher. Ich machte weiter mit meinem Exposé und ließ Konrad und Julia einander soviel wie möglich antun, bis sie endlich merkten, daß sie füreinander bestimmt waren, und sich in die Arme fielen. Als ich endlich damit fertig war, hatte ich einen Kater vom Rauchen, und meine Nackenmuskulatur war hart wie Back stein. Ich konnte den Kopf nicht mehr zur Seite drehen.
~ Vor dem Fitneßpalast nahm ich die Turnschuhe aus dem Kofferraum, die dort für Spaziergänge bereitlagen, und eine »Balkonhose« aus dünnem Stoff, die mir Fussel für das Probe training aufgedrängt hatte. Mein Wagen hatte eine Haube aus Schnee, aber die Straßen waren immer noch frei. Heiner entpuppte sich als ein professionell immerfröh licher Vierschrot, der keinerlei Distanzprobleme zu haben 64
schien, als er mich auf den verschiedenen Geräten herum schob und zog und drückte, um mir die jeweils richtige Posi tion nahezubringen. Später, als ich mich alleine mit den Übungen vertraut machen sollte und verstohlen umsah, kam ich mir nicht so verloren vor, wie ich das eigentlich erwartet hatte. Die Body builder waren in der Minderzahl. Es gab ältere Herren wie mich, die sich verbissen folterten, Teenager, Mamis und einige Ausgaben dieses typischen Modells von Cabriofrau mit Pferdeschwanz und Werbespotfigur. Es war gar nicht so schlimm. Nur die Musik ballerte so dumpf und blöde wie befürchtet aus den Boxen. Dieser radiotaugliche Techno beat mit pseudogeilem Frauengesang. Aber eine Stunde pro Woche ließe sich das vielleicht sogar aushalten.
~ Meine Schultern waren noch so verkrampft wie vorher, aber ich fühlte mich angenehm schlapp und genoß das leichte Ziehen in den Oberarmen, das ich den Bizepsübungen ver dankte, die ich mir als erstes hatte zeigen lassen. Wer weiß, wozu man’s brauchen kann, dachte ich, dieser Sebastian steht vielleicht wirklich mal vor mir, und dann muß ich sei nen Golfschläger abfangen. Am besten auch gleich verbie gen. Aber das war wohl eher ein Ziel für später. Immerhin war es ein Ziel. Sauna oder Thermalbad wäre jetzt auch nicht schlecht ge wesen, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen. Nach Hause fahren, Badehose und Handtuch einpacken, wieder losfahren, umziehen – das war alles zuviel Action. Und viel leicht wartete ja auch Post auf mich.
~ 65
Hallo Mockel, ich hab hier Internet im Hotel, kann also Mails schreiben und empfangen. Das ist besser als SMS. Bin in Hektik, weil die ersten Kunden schon eintrudeln. Gruslige Leute. Melde mich später. Wetter ist schön. Fussel
~ Hallo Christian, kann deine Agentur eigentlich auch was für Musiker tun, oder vertreten die grundsätzlich nur Autoren, Regisseure und Schauspieler? Gruß, Emilio
~ Hallo Christian, Zeppo wird ein bißchen nervös. Ehrlich gesagt, hab ich sie erst mal nur auf Freitag, also morgen, vertröstet. Wie weit bist du denn mit dem Exposé? Sven
~ Lieber Herr Uhlig, wie geht’s denn unserem Projekt? Wir sind schon sehr gespannt darauf. Wenn wir am Wochenende lesen könnten, wäre toll. Mit freundlichen Grüßen, Karin Rechl, Zeppo Film
~ Guck mal, Schnuckiputzi, ich bin die geilste Hure von ganz München. Bitte komm und fick mich.
~ Also München. Und der Galan hieß Busch. S. Busch, so stand es im Absender. Der Mail war ein Foto angefügt. Ich hätte eigentlich den Charakter haben sollen, nicht darauf 66
zu klicken, aber ich tat es, ohne nachzudenken. Eine junge Frau saß auf einem Stuhl, fast so wie Jana in meinem Traum, nur mit dem Unterschied, daß sie ganz nackt war, die Beine weit auseinandergestellt hatte und mit einem wundervoll geschwungenen Mund in die Kamera lächelte. Das mußte sie sein. Das war Jana. So hatte sie für ihren Freund posiert, ohne für möglich zu halten, daß er dieses Bild eines Tages weitergeben könnte. Sie hatte wirklich große Brüste. Ich schämte mich, aber konnte den Blick nicht abwen den. Es tat weh. Warum, wußte ich nicht, aber ich merkte, daß ich nur flach atmete, in mich zusammengesunken war und eigentlich die Augen schließen wollte. Aber das war unmöglich. Ich mußte sie ansehen. Sie hatte eine Hand im Schoß und die andere auf der lin ken Brust, so als wolle sie sich streicheln. Es war eine Pose. Irgendwo abgeschaut, einem Playboy- oder Kalenderfoto, vielleicht war dieses Bild ein Geschenk für den Kerl gewe sen, als Andenken auf einer Reise und erotisches Verspre chen für die Rückkehr. Dieser Typ war ein Arschloch ersten Ranges, das stand fest. Ich raffte mich auf und klickte auf den Antwortknopf der Mail.
~ Sie sind ein Dreckschwein und sollten sich vorsehen. Wenn Sie so weitermachen, dann geht das nicht gut aus.
~ Ich schickte die Mail ab und beantwortete auch gleich noch die anderen. Emilio schrieb ich, die Agentur kümmere sich, soviel ich wisse, nicht um Musiker, aber er solle doch fra 67
gen, Fussel schrieb ich, daß möglicherweise ein Dreiteiler auf mich zukäme, Sven, ich wolle am nächsten Tag ablie fern, und Frau Rechl dasselbe. Und dann starrte ich wieder auf das Bild.
~ Liebe Jana, Sie hatten recht mit Ihrer Prognose – er kann es nicht lassen. Ich möchte Ihnen allerdings die Mail, die er mir geschickt hat, nicht weiterleiten. Sie ist obszön, beleidigend für Sie, und überdies hängt ein Foto dran, das möglicherweise Sie zeigt. Die junge Frau darauf ist nackt und in einer sehr privaten Pose aufgenommen. Ich scheue mich, Ihnen das zuzumuten.
~ Ich ging das Exposé durch, korrigierte aber nur hier und da einen Tippfehler oder ein Komma. Für mehr reichte meine Konzentration nicht. Immer wieder sah ich mir das Bild an und redete mir ein, ich täte das, weil ich herausfinden wollte, wieso es weh tat, aber ich wußte, daß ich den Anblick auch genoß. Jana war eine schöne Frau.
~ Daß er sich als so ein armseliges Ferkel entpuppt, hätte ich nicht gedacht. Und daß er Ihnen damit auf den Wecker geht, macht mich rasend. Sitzt die Frau auf einem Stuhl und tut so, als wolle sie sich selbst befriedigen? Ich fürchte, das ist ein Bild von mir. Im Jux aufgenommen, als er seine neue Digitalkamera ausprobieren wollte. Bitte schicken Sie mir die Mail. Ich will wissen, wie weit er sich erniedrigt in dem Glauben, mir damit weh zu tun. Naja, er tut mir weh. Das kann ich leider nicht verhindern. 68
Das ist schon komisch. Vorgestern nacht hatten wir einen ähnlichen Traum, und heute haben wir denselben durchgedrehten Idioten am Hals. Er ruft hier in regelmäßigen Abständen an, quatscht auf meinen Anrufbeantworter, daß ich mich noch wundern werde, wirft mir Schimpfworte an den Kopf, die ich mir alle merken müßte für meine Tourette-Schublade, und benimmt sich wie ein keifendes, schrilles, hysterisches Kind, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Und ich fürchte, genau so ist es. Abstoßend und traurig. Seine Sachen hat er noch nicht geholt. Deshalb will ich auch nicht hierbleiben. Ich geh wieder zu meiner Freundin. Allerdings kann ich meine E-Mail auch übers Internet abholen, falls Sie mir also noch schreiben (bitte wenigstens Sebastians Unflat), komme ich dran. Ich werde auf jeden Fall nachschauen.
~ Draußen war es dunkel. Und ich hatte Hunger. Aber keine Lust auf Kartoffelsalat, also fuhr ich zur Pizzeria und setzte mich dort in die dunkelste Ecke. Ich hatte die Mail mit dem Foto kommentarlos weiterge leitet. Obwohl sie mich darum gebeten hatte, war mir mul mig zumute, genaugenommen fühlte ich mich richtig mies. Wenn sie jetzt das Foto ansah und sich vorstellte, daß ich es ebenfalls gesehen hatte, mußte ihr das peinlich sein. Hätte ich ihr das Ganze doch bloß verschwiegen. Es wäre so ein fach gewesen. Aber das fiel mir erst jetzt ein. Man sollte dem Bürschchen einfach ein paar auf die verwöhnte Schnöselnase geben, dann wäre gleich wieder Ruhe. Zwei Kleiderschränke aus der Unterwelt engagie ren und dem ausgerasteten Golferchen eine Lektion ertei len lassen. Das wär’s. Aber in München kannte ich nur ein paar Filmleute, die konnte man nicht mit so was beauftra 69
gen. Und Walter. Aber den durfte ich erst ab 17. April näch stes Jahr wieder um etwas bitten. Der hätte vielleicht sogar den einen oder anderen Kontakt. Als Krimiautor trieb er sich gelegentlich in der Halbwelt herum. Aber das kam nicht in Frage. Überhaupt, was hatte ich denn da für Pläne? Das war ja das reinste Neandertalertum. Beim ersten Streß gleich an Prügel denken. Ich hatte mich bisher immer für einen zivilisierten Menschen gehalten. Damit war es wohl nicht soweit her. Beim Bezahlen ließ ich mir eine Flasche Wein mitgeben. Der Abend konnte noch lang werden, und ich hatte nichts zu trinken im Büro.
~ Lieber C. U., ja, das bin ich. Und der Text paßt zu dem grätigen Kind, als das er sich seit heute morgen gebärdet. Das ist mir sehr peinlich. Bitte vergessen Sie es einfach, wenn möglich. Am liebsten würde ich da weitermachen, wo uns der Irre unterbrochen hat, zurück zu dem herzlichen und freundlichen Ton zwischen uns finden und sämtliche Unappetitlichkeiten, die sich jetzt dazwischendrängen, einfach ignorieren. Ein Gutes hat Sebastians Benehmen immerhin: Ich bin kein bißchen traurig. Eher erschrocken über mich selbst, daß ich so einem kaputten Typen auf den Leim gehen konnte. So alt und erfahren, wie ich mich fühle, bin ich wohl doch nicht. Sonst hätte ich bessere Menschenkenntnis an den Tag gelegt und mich nicht von seinem hübschen Gesicht einfangen lassen. Ich sitze hier in einem großen WG-Zimmer in Haidhausen, meine Freundin liegt in der Badewanne, sie will nachher noch ausgehen. Ich geh nicht mit, obwohl sie mich mit allem Nachdruck dazu überreden will. Ich spüre das heulende Elend nahen und möchte allein sein. Außerdem fühl ich mich hier beschützt, weil 70
noch zwei Männer hier wohnen. Falls Sebastian auf die Idee kommen sollte, hier aufzukreuzen. Und weil das Elend sich ohnehin ankündigt, kann ich Ihnen auch erzählen, was mich umtreibt seit einigen Wochen. Ich habe meinen Vater verloren. Er ist nicht tot. Er hat sich einfach, von einem Tag zum anderen, von mir losgesagt. Meine Mutter und er sind seit sechs Jahren geschieden, und vielleicht, weil sie nicht aufhörte, gegen ihn zu prozessieren, hat er einen Gentest machen lassen und herausgefunden, daß ich nicht seine Tochter bin. Jetzt überweist er meiner Mutter kein Geld mehr. Er will mir das Studium weiterhin bezahlen, hat mir einen Brief geschrieben und mich um meine Kontonummer gebeten, das Ganze hätte nichts mit mir zu tun, ich solle ihm nicht böse sein, zwischen uns ändere sich nichts, er habe nur den Würgegriff und die dauernden Beleidigungen meiner Mutter satt gehabt, aber ich habe ihm nicht geantwortet. Ich weiß nicht, was der größere Schock ist. Daß er auf einmal nicht mehr mein Vater sein soll oder daß er mich so kaltschnäuzig zum Spielball seiner finanziellen Interessen macht. Wir haben uns immer gut verstanden, ich habe ihm vertraut, er war eher ein Freund als eine Autoritätsperson für mich (vor allem nach der Scheidung), und jetzt ist das alles auf einmal ungültig. Es erschüttert mich. Ich fühle mich verloren.
~ Vielleicht war es das gewesen, was mir beim Betrachten des Bildes so weh getan hatte: daß sie so jung war. Zumindest für meine Augen viel zu jung für diese erotische Pose. Ein Kind beim Vater-und-Mutter-Spielen. Der Chianti schmeckte grauenhaft. Gefärbtes Wasser mit undefinierbaren Bitterstoffen. Ich leerte das Glas aus und verkorkte die Flasche, um sie zum Kochen nach oben mit 71
zunehmen. Ich dachte einige Zeit nach, bevor ich antwor tete. Was sollte man einem so verlorenen Kind zum Trost sagen?
~ Liebe Jana, ich würde Sie gern trösten, denn Ihre Erschütterung geht mir ans Herz. Aber ich habe keine Ahnung, was ich Ihnen sagen könnte, außer vielleicht, daß alles Geschehene geschehen ist. Es kann nicht nachträglich anders werden. Auch wenn sich das für Sie gerade so darstellen mag – es ist nicht so. Bis zu dem Zeitpunkt, als er die Bombe platzen ließ, war dieser Mann Ihr Vater, und erst seither ist er nur noch der Exmann Ihrer Mutter. Alles, was Sie mit ihm verbunden hat, ist nicht gelöscht. Inwiefern das allerdings ein Trost sein soll, weiß ich auch nicht. Daß er aber Ihre Verstörung in Kauf nimmt, um aus dem Schlamassel mit Ihrer Mutter herauszukommen, das nehmen Sie ihm zu Recht übel. Auch wenn ich ihn, ehrlich gesagt, verstehen kann – vielleicht war er ja verzweifelt und so unter Druck, daß er sich nicht anders zu helfen wußte. Aber Sie sind erwachsen und können lernen, mit der neuen Situation umzugehen. Das wünsche ich Ihnen jedenfalls. Haben Sie mit Ihrer Mutter darüber gesprochen? Kennt sie Ihren leiblichen Vater? Und denken Sie darüber nach, ihn zu suchen? Vielleicht wäre das die richtige Therapie. Was auch immer dabei rauskommen könnte – vielleicht weiß er nichts von Ihnen, vielleicht will er nichts von Ihnen wissen, vielleicht ist er ein Ekel, ein Dummkopf oder tot, aber vielleicht würde ihn kennenzulernen auch die Unordnung, unter der Sie jetzt so leiden, aufräumen. Allerdings wäre es auch möglich, daß das dann nur um den Preis geschieht, daß Sie Unordnung in SEIN Leben bringen. Falls er nett ist und falls Sie das nicht wollen, sollten Sie sich gut überlegen, wie wichtig es für Sie ist. 72
Seltsam: Vor diesem Hintergrund wird der Ärger, den Sie gerade von Ihrem enttäuschten Liebhaber aufgedrängt bekommen, fast zur Nebensache. Diese Vatergeschichte ist viel trauriger, weil sie so definitiv ist. Sie stehen einer Situation gegenüber, auf die Sie sich einstellen müssen, ohne etwas daran ändern zu können. Das ist hart. Ich bleibe noch ein bißchen im Büro, falls Sie noch antworten wollen. Falls nicht, wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, ungestört und möglichst ohne das angekündigte Elend.
~ Das Exposé konnte ich auch jetzt schon abliefern. Morgen früh würde es auch nicht besser geworden sein. Ich sah es nicht mal mehr durch, bevor ich es per E-Mail losschickte. Statt dessen sah ich mir das Bild wieder an. An diesem Mäd chen war etwas, das mich berührte. Nicht nur der sexuelle Reiz, den ich nicht leugnen konnte, nicht nur der schöne Mund, dessen Schwung mich bezauberte, und nicht nur die Tatsache, daß ich sie zu jung für diese Pose fand, das war sie eigentlich nicht – mit zweiundzwanzig ist man längst ein sexuelles Wesen –, vielleicht weckte das Bild so etwas wie einen Beschützerinstinkt in mir. Vielleicht deshalb, weil der Wüterich sie so hinterhältig auslieferte, aber vielleicht auch, weil ich mich der erotisierenden Wirkung dieses An blicks schämte. Wieso eigentlich. Alte Männer dürfen junge Frauen ansehen. Was war daran so schlimm?
~ Sie meldete sich nicht mehr. Nach einer halben Stunde fuhr ich heim und griff mit verdächtiger Eile, noch bevor ich die Schuhe ausgezogen hatte, in den Schrank, um ein Glas 73
herauszunehmen, und zur Flasche, um mir endlich einen Schluck trinkbaren Wein zu geben. War ich etwa ein Säu fer? Viele wissen das nicht, bis sie sich ein Bein brechen und im Krankenhaus auf einmal weiße Mäuse sehen. Ein altes Waschweib war ich jedenfalls, denn ich heulte vor dem Fernseher, als fünf irische Schwestern zu fieb rig heidnischem Gefiedel aus dem Radio tanzten und die gleichzeitige Freude und Traurigkeit sich in jedem der Ge sichter anders zeigte. Der Film spielte in den dreißiger Jahren und war wunderbares europäisches Kino. Kino, in dem die Menschen einfach so sind, wie sie sind, nicht wie im deut schen Film, immer Prototypen für irgendeine gesellschaft liche Gruppe, oder im amerikanischen, Protagonist und Antagonist eines nach Schnittmuster zusammengestoppel ten Grundkonflikts. Es waren einfach Menschen, von un spektakulären Ereignissen bewegt, die alle ihr Bestes taten und damit nicht soweit kamen, wie sie hofften und es für die anderen gut gewesen wäre. Und sie trugen damit den Film, ganz ohne Nazis, Werwölfe, Aliens, Psychopathen, Mafia gangs und pyromanischen Aufwand. Einmal so einen Film durchkriegen, das wäre ein Lebensziel.
4
Ich frühstückte zwar immer allein, denn Fussel stand, auch an den Wochenenden, lang vor mir auf, aber die Wohnung fühlte sich trotzdem leerer an als sonst. Wenn ich jetzt das Radio anmachen würde, dann klänge es wie beim Umzug. Scheppernd und grell nach nackten Wänden und wie von weit her. Jetzt war ich doch der verlassene Stroh witwer. Sie fehlte mir. Seltsam, der Gedanke, sie könnte sich in Toms Arme wer fen, war blaß und unwirklich geworden. Wie ein Zitat aus einem anderen Gehirn, eine Sorge, die ich einer meiner Fi guren ins Benehmen schrieb, nicht eine, die mich selber um trieb. War da so etwas wie Gerechtigkeit im Spiel? Wenn ich mir eine junge Frau vorstellte, die sich nackt auf einem Stuhl räkelte, dann durfte ich Fussel keinen Seitensprung ver übeln? Das wäre das erste Mal, daß Gerechtigkeitssinn und Eifersucht miteinander korrespondierten. Egal. Es war so. Ich hatte auf einmal keine Angst mehr davor. Wenn es ge schah, dann geschah es eben. Und wenn sie mich nicht damit behelligte, würde ich nicht darunter leiden. Vielleicht.
~ Lieber Mockel, wenn es hier nicht Meer und Sonne gäbe, dann wär’s das nackte Grauen. Die Käufer für unsere Urbanisation ähneln 75
alle, wenn sie jünger sind, Dieter Bohlen und Verona Feldbusch und, wenn sie älter sind, Frank Elstner und Dagmar Berghoff. Ich seh schon die braunkarierten Sessel und gefliesten Couchtische hier einziehen. Und vor Tom graust es mich auf einmal am meisten. Wie er sich den Leuten an die labbrigen Hälse schmeißt, wie er dröhnend lacht und versucht, den Zotenreißer zu geben, das ist nicht zu ertragen. Er ist ein Profi, vermutlich muß er das tun, er kennt sein Business, aber mir wird schlecht, wenn er sich so unter Wert präsentiert. Und ich muß dazu auch noch lächeln. Es ist einfach widerlich. Und wenn sie ihn dann beiseite nehmen, um zu fragen, wieviel sie schwarz bezahlen können und wieviel billiger es dann wird, dann könnte ich jedesmal kotzen. Am liebsten auf die blauen Blazer mit den Goldknöpfen. Jeder Zweite hat so einen an. Die nächsten beiden Wochen wird das hier so weitergehen, wir führen die Leute alle einzeln durch die Immobilie, und es kommt jeden zweiten Tag ein neuer Schub Interessenten angeflogen – ich arbeite vierzehn Stunden am Tag. Kann also gut sein, daß ich mich nur selten oder nur stammelnd melde. Mach dir dann keine Sorgen. Bis auf den Weltekel geht es mir gut. Ich haue so oft wie möglich ab an den Strand, um die Füße ins Wasser zu halten. Das wird mein täglicher kleiner Lichtblick. Das mit dem Dreiteiler ist toll. Viel Geld, oder? Mach es gut, glotz nicht so viel und iß nicht nur Butterbrot. Und denk an deinen armen gequälten Fussel.
~ Ich hatte mir vorgenommen, heute jede Mail einzeln zu öffnen und gleich zu beantworten. Sonst geriete mir alles durcheinander. Die Gefühle für Jana, Fussel und den Irren. Das konnte nicht passen.
~ 76
Ach Fusselchen, das tut mir leid. Ich hoffe, es kommen noch ein paar Nettere daher. Die dann wenigstens aussehen wie Jürgen von der Lippe und Amelie Fried. Oder Uli Wickert und Elke Heidenreich. Dann kannst du dir wenigstens Ikeamöbel vorstellen oder gar Armani-Casa. Allerdings geb ich zu, daß mich dein Schaudern über den famosen Tom doch ein bißchen freut. Zeigt sich der große Geldverdiener, Sportler, Gutausseher und Charmeversprüher mal ohne Maske. Oder wenigstens mit einer peinlichen. Ich treff mich mit dem Producer des Dreiteilers nächsten Dienstag. Bin gespannt, was er vorhat. Vielleicht macht es ja sogar mal wieder Spaß. Ich glotze soviel wie möglich, damit ich was in Reserve habe, wenn du wieder da bist. Ach, übrigens, dein Heiner hat mir alles gezeigt. Ist gar nicht so übel. Ich hab sogar schon Muskelkater. Ich hoffe, du bist stolz auf mich. Bis du heimkommst, kann ich vielleicht schon den Wagenheber wegschmeißen. Oder wenigstens zwei Sprudelkisten in jeder Hand tragen. Volle natürlich. Hau so oft es geht ab und laß es dir gutgehen. Dein Mock
~ Die Mail des Irren war wieder mit Anhang. Ich hatte bisher noch nicht wieder auf das Bild geschaut, und wäre ich ein Ehrenmann, dann würde ich jetzt diese Nachricht löschen, aber das war zuviel verlangt. Ich öffnete sie.
~ Schnuckiputzi, kannst du das auch? Mich so durchficken, daß es mir zu den Ohren rauskommt?
~ 77
Der Anhang war diesmal ein Filmchen. Lösch es, dachte ich noch, aber da hatte ich schon den Mauszeiger darauf bewegt und gedrückt. Zuerst kniete sie auf dem Bett, und der Typ nahm sie von hinten. Von ihm sah man nur das Wesentliche, von ihr nahezu alles, außer ihrem Gesicht, denn sie hatte den Kopf gesenkt und abgewendet, wollte offenbar nicht in die Kamera schauen. In der zweiten Sequenz ritt sie auf ihm, den Rücken zur Kamera, und dieser Teil wirkte nicht mehr gestellt. Sie war mit Leidenschaft dabei, bewegte sich schnell und unkon trolliert, und es schien so, als sei sie nah am Orgasmus, als das Filmchen abbrach. Das werde ich ihr nicht sagen, nahm ich mir vor, ich hab den Film nicht gesehen. Und spielte es noch mal ab. Eine Antwort erübrigte sich. Der Kerl mußte nicht noch weiter ermutigt werden.
~ Er hat seine Sachen abgeholt. Aber er hat sich auch in die Wohnung geschmuggelt, ich weiß nicht wie, und mir einen Film auf den Computer gezaubert, der immer wieder von selber startet, und ich weiß nicht, wie ich den wegbekommen soll. Ich kann auch niemanden um Hilfe bitten, denn der Film zeigt ihn und mich beim Sex. Das darf niemand sehen. Hoffentlich schickt er den nicht auch noch an Sie. Das wäre noch hundertmal peinlicher als das Foto. Wie konnte ich nur so dumm sein, mit ihm vor seiner Kamera herumzuturnen. Ich kann meine eigene Blödheit nicht fassen. Ich habe Ihre liebe Post erst heut morgen gelesen, weil ich gestern abend dann doch noch mit meiner Freundin losgezogen bin. Und in der Nacht konnte ich den Computer nicht mehr anmachen, weil wir im selben Zimmer schliefen und ich sie nicht stören wollte. 78
Das Filmchen macht mich wahnsinnig. Es kommt immer wieder. Ich kann mich nicht konzentrieren. Vielleicht fällt mir jemand ein, den ich am Telefon fragen könnte, wie das zu stoppen geht. Ich muß das zuerst loswerden. Dann melde ich mich wieder.
~ Jetzt sollte man wissen, welches Windows sie auf ihrem Rechner hat, dachte ich, dann wäre es einfach. So mußte ich versuchen, es allgemein genug zu formulieren, und hoffen, daß sie sich trotzdem zurechtfinden würde. Ich konnte mich nicht daran hindern, diesen Sebastian für die Idee zu be wundern. Das war pfiffig. Gemein, aber ganz auf der Höhe der Zeit.
~ Wenn Sie unter Start – Programme – Zubehör irgendwas finden, das Taskmanager oder Taskplaner oder so ähnlich heißt, dann klikken Sie drauf. Und wenn in dem Fenster, das sich dann öffnet, irgendwas mit der Endung .mpg oder .wmv oder .avi zu sehen ist, dann löschen Sie das. Mit Glück ist das Filmproblem dann schon gelöst. Geben Sie mir Bescheid, ob es geklappt hat, falls nicht, mach ich mir Gedanken über den Bildschirmschoner. Der könnte es nämlich auch noch sein. Viel Glück.
~ Erst jetzt öffnete ich die Briefpost. Und machte mir Cappuc cino. Und rief Zeppo-Film an, um auf das abgelieferte Ex posé hinzuweisen. Und Sven, um ihn zu beruhigen und von der Verabredung nächsten Dienstag zu unterrichten. Und sah nach, ob der Virenschutz ein neues Update brauchte. 79
Und sah mir das Filmchen zum vierten Mal an. Und schrieb eine Mail an Ingrid, ob sie mich nächsten Dienstag als Über nachtungsgast verkraften könne. Sie lebte in Stuttgart.
~ Sie sind ein Held. Es hat geklappt. Das Filmchen war genau da, wo Sie mich hingeschickt haben, es hatte sogar noch einen ekelhaften Namen. Ich bin so froh, daß ich heulen könnte. Hoffentlich hat er sein Pulver bald mal endlich verschossen und hört auf mit dem Terror. Jetzt weiß ich auch, wie er in die Wohnung gekommen ist. Er hat die Vermieter rausgeklingelt und behauptet, er habe seinen Schlüssel vergessen. Sie wußten noch nichts von seinem Rauswurf und den Sachen vor der Tür. Mein Eingang liegt um die Ecke im Garten. Ich hätte mir zumindest die Gedanken nicht machen müssen, was sie von mir halten deswegen. Ich habe ihnen gesagt, daß wir uns getrennt haben und Sebastian keinen Schlüssel mehr hat, damit sie ihn nicht noch mal reinlassen. Es war ihnen peinlich. Und mir erst. Was Sie mir gestern abend noch geschrieben haben, tröstet mich doch. Ich muß mich nur daran gewöhnen. Aber Sie haben recht, rückwirkend kann sich nichts ändern. Was ich mit meinem »Vater« erlebt habe, bleibt. Und trotzdem ist es, als wäre ich mein Leben lang belogen worden. Von ihm. Der doch überhaupt nichts dafür kann, nichts davon wußte und nichts falsch gemacht hat. Wenn jemand gelogen hat, dann doch meine Mutter, und der nehme ich gar nichts übel. Er hat mir heute wieder geschrieben. Er wolle mich nicht verlieren. Ich sei seine Tochter, ob biologisch oder nicht, das spiele für ihn keine Rolle, er habe drei Nächte nicht geschlafen vor lauter Angst, ich könnte mich jetzt von ihm lossagen, er heule nur noch, wenn er an mich denke. Jetzt tut er mir leid und ist erst recht nicht 80
mehr mein Vater. Ich weiß nicht, warum ich so reagiere, und finde mich selber abscheulich, aber außer einem schlechten Gewissen fühle ich nichts. Ich will sein Geld nicht, und ich will seine Liebe nicht mehr. Vielleicht schaffe ich es wenigstens, ihm das zu sagen. Irgendwann. Meine Mutter sagt, ich entstamme einem One-Night-Stand, mit dem sie nie wieder Kontakt aufgenommen habe, er weiß nichts von mir, und ihr wäre lieber, es bliebe dabei. Ich glaube nicht, daß ich ihn kennenlernen will. Er wird ein Fremder sein. Ich werde nichts mit ihm gemein haben, außer biologischen Anlagen. Ich glaube, ich will nicht wissen, wie er ist. Ich muß immer wieder nachdenken über Dinge, die Sie mir geschrieben haben – zum ersten Mal das Fell einer Katze streicheln – die Hoffnung, daß man lauter aufregende und interessante Menschen treffen wird – die Bereitschaft, jederzeit anderen weh zu tun – diese Sätze gehen mir ans Herz. Sie fallen mir immer wieder ein und stimmen mich traurig und liebevoll Ihnen gegenüber. Sind Sie ein glücklicher Mensch? Ist Ihr Leben intensiv? Sehnen Sie sich anderswohin, in ein anderes Leben, eine andere Zeit, an einen anderen Ort?
~ Würde ich meinen Vater suchen? Ich glaube ja. Und wenn es nur wäre, um mich von ihm abzugrenzen, mich als eigenes Wesen zu fühlen, die Unterschiede zwischen ihm und mir zu konstatieren. Lebe ich intensiv? Wer weiß denn so was. Die Leute, die das von sich behaupten, sind doch wohl Schauspieler und andere Medienfratzen, die sich kitschige Vorstellungen vom Leben machen oder sich den kitschigen Vorstellungen ihres Publikums anpassen. Was soll das über haupt sein, intensiv leben? Drei Räusche in der Woche? Vier verschiedene Frauen, eine Prügelei, ein Heulkrampf und 81
jede Menge zerbrochenes Geschirr? Oder die pathetischen Gefühle beim Sonnenuntergang auf Mallorca? Ich sah mir den Film noch mal an. Das war allerdings intensiv. Diese Frau war in diesem Moment intensiv bei der Sache. Eigent lich ist »intensiv« ein blödes Wort, fiel mir auf, ein Wort wie einbringen. Oder einlassen. Zulassen. Fallenlassen. Psycho sülze.
~ Liebe Jana, ich bin glücklich. Nicht so, wie man sich das als Zwanzigjähriger vorstellt, das gibt die Wirklichkeit nicht her, aber so, wie man es als jemand sein kann, der schon am Grab von Freunden gestanden hat und sich selbst so langsam kennt, der sich etlichen Anpassungsnotwendigkeiten an die Realität gebeugt und gelernt hat, seine Möglichkeiten einzuschätzen. Falls das resigniert klingt, ist das ein Mißverständnis. Es geht mir gut. Meine Frau und ich sind ein gutes Paar – ich merke das gerade jetzt wieder, da sie weg ist und ich mich allein und einfach nicht ganz richtig fühle –, wir leben die meiste Zeit freundlich miteinander und manchmal auch nebeneinander, was nicht schlimm ist. Es ist richtig so. Man lernt nur einen Teil voneinander besser kennen mit der Zeit, ein anderer Teil wird fremder und geheimnisvoller. Meine Arbeit ist, wie Sie bestimmt schon angenommen haben, nur eher selten mal ein Quell der Freude – na und? Das ist eben so. Und ob ich intensiv lebe, weiß ich nicht. Dazu müßte ich vergleichend in andere Gehirne schauen können. Ich kenne aber nur mein eigenes. Natürlich ist mein Leben eintönig, aber das ist mir recht. Ich sitze da und schreibe. Ich denke mir Geschichten aus, und die sind manchmal, in den besseren Momenten, solang ich noch glauben kann, es liefe auf einen schönen Film hinaus, wie Erlebnisse für mich. Und jetzt gerade lebe ich sogar sehr intensiv, denn Sie fordern 82
mich – ich fühle mich wacher und aufgedrehter als sonst, komme mir intelligenter vor –, vielleicht, weil ich, durch Sie angeregt, auch über mich selber nachdenken muß. Ja, ich sehne mich manchmal nach irgendwas, irgendwo, irgendwem, aber das geht vorbei und ist ein eher schönes Gefühl. Es kann durch Musik angeregt werden, durch Wetterstimmungen, Filme, Bücher, es ist wohl die Ahnung davon, daß wir nur zufällig so leben, wie wir leben. Eine kleine Wendung, irgendwann in unserer Vergangenheit, und wir wären jemand anderer geworden. Allerdings, jetzt gerade sehne ich mich nach gar nichts. Ich genieße den Austausch mit Ihnen und fühl mich sehr lebendig. P. S. Ihren Vater sollten Sie nicht länger als nötig hängenlassen. Er leidet, und das muß nicht sein. Bitte raffen Sie sich auf, sobald Sie dazu in der Lage sind, und sagen ihm, Sie brauchen Zeit. Das ist dann vielleicht eine Lüge, aber vielleicht auch nicht. Falls doch, dann eine, die ihn schonen könnte. Ich sollte Ihnen keine Vorschriften machen, ich bin nur der Brieffreund, aber er tut mir leid, und Diplomatie ist keine Schande.
~ Und was jetzt? Ein ungeschriebenes Exposé vor sich her zu schieben ist besser, als gar nichts zu tun zu haben. Jetzt wäre die Gelegenheit, mal aufzuräumen, endlich Staubsauger, Wischmop, Besen und Putzeimer vom Balkon und aus dem Bad in einen eigens dafür freigeräumten Putzschrank zu verfrachten. Zum Beispiel. Aber dazu müßte man sich auf raffen. Die Bücherstapel könnten ins Regal wandern. Die Zeitschriften in die grüne Tonne. Die überflüssigen Soft wareschachteln ebenfalls. Ich ging statt dessen erst mal einkaufen. Brot, Käse, Tomatenattrappen und Zwiebeln. Und eine Kiste Wein. 83
Eigentlich könnte ich jetzt wegfahren. Aber wohin? Nach München? Und dort Wache halten, falls der Bösewicht wie der quengeln kommt? Und dabei ein bißchen durchs Fenster linsen, wie sie lebt? Ich sah mich im Gebüsch kauern und plötzlich von har ten Polizistenhänden gepackt und zurückgerissen werden. Das Ganze mit subjektiver Kamera aufgenommen, zuerst mein Blick aus dem Gebüsch in die heimelig erleuchtete Wohnung, in der sich Jana arglos hin und her bewegt, dann langsam zurück, der Blick des Polizisten über meine Schul ter, eine Hand nähert sich aus dem Vordergrund, krallt sich in die Schulter, reißt, und Schnitt: Der Polizist fragt: »Was haben Sie hier zu suchen?« Und ich stammle was von einer heruntergefallenen Brille.
~ Lieber Christian, du kannst gern kommen. Ich freu mich über deinen Besuch. Soll ich was kochen? Weißt du schon, wann du da bist? Bis gleich, Ingrid
~ Lieber C. U., ich akzeptiere das alles, was Sie schreiben, ich glaube es, Sie schreiben ehrlich, und trotzdem werde ich traurig von der müden Melodie. Seien Sie nicht böse, es steht mir nicht zu, Ihnen Träume vorzuschreiben oder deren Fehlen zu bemeckern, ich kann nur mit meinen eigenen Vorstellungen daherkommen. Und die sind wohl naiv. Ich stelle mir das Leben erregend vor und fürchte das Gleichmaß und die Eintönigkeit. Dabei weiß ich, daß Sie recht haben. Es wird auch für mich keine Kirmes mit Achterbahn sein, es wird Routine geben und Ruhe, und die Stunden werden von den Uhren fallen. Oder die Sekunden. Kennen Sie das Gedicht? 84
Es ist von Rilke, und es ist zum Weinen schön. Ich weiß das alles, und ich kann es trotzdem (noch) nicht für mich akzeptieren. Ich bin noch nicht soweit. Zu jung vielleicht. Von dieser vielleicht unrealistischen Anspruchshaltung ist wohl auch meine Vorstellung vom Bauen beeinflußt. Ich will die Welt nämlich schöner machen. Das klingt verstiegen und ist es sicher auch, aber ich bin ehrlich. Das ist es, was ich vorhabe. Und dabei seh ich mich nicht als Künstlerin. Ich will eine Handwerkerin werden. Zu Zeiten von Palladio oder auch noch Schinkel waren Architekten nicht Künstler in unserem heutigen Sinn, sondern viel eher Handwerker. Sie kannten die Gesetze, mit denen sich aus disparaten Einzelheiten ein harmonisches Ganzes machen läßt. Sie wußten, welche Proportionen einander stützen und bestätigen und welche nicht. Das will ich lernen. Ich bewundere zwar Leute wie Gehry oder Eibeskind, aber ich will ihnen nicht nacheifern, weil ich nicht finde, daß Häuser ihre Statik verleugnen sollten und aussehen, als könnten sie fliegen oder hätten kein Gewicht. Ich halte mich, was das Nacheifern angeht, an Vorbilder wie Renzo Piano oder Frank Lloyd Wright (obwohl der aus einer anderen Ära stammt), die auf bewährten Traditionen aufbauen und ihre eigene Sprache nicht im Grundsätzlichen suchen. Keine Ahnung, ob das für Sie wie Geschwafel klingt, ob Sie mit den Namen was anfangen und ob Sie mich jetzt altklug finden. Ich möchte gut werden. Und wenn ich Carports baue und Einfamilienhäuser, dann will ich gut bauen. So vernünftig und praktisch wie nötig und trotzdem so schön, daß sie ihrer Umgebung (architektonisch und landschaftlich) nicht nur entsprechen, sondern auch etwas (Schönes) hinzufügen. Ich muß aufhören. Sebastian randaliert vor der Tür. Der Typ ist echt zuviel.
~ 85
Mein Gott, das arme Mädchen. Jetzt mußte sie sich in der Wohnung verbarrikadieren, die Vermieter oder die Polizei zu Hilfe rufen oder schon wieder bei ihrer Freundin unter kriechen, weil der Knabe nicht aufhören wollte, durchzu drehen. Ich spürte den Impuls, nach München zu fahren, aber das war natürlich Unsinn. Sie würde sich bedanken, wenn ich nach Ihrer Adresse fragte – ein unbekannter Ritter aus dem Internet kommt herangaloppiert, um die Jungfrau zu retten. Das war doch eine Spur zu kitschig. Ich wollte aber nicht hier sitzen bleiben und auf Post von ihr warten, deshalb fuhr ich nach Basel, um ins Kino zu gehen, durch die Stadt zu schlendern, nach Büchern und CDs zu stöbern und den Tag herumzubringen. Ich kaufte Turnschuhe, T-Shirts und eine Sporthose. Angemessene Kleidung für den Fitneßpalast. Nachts fuhr ich am Büro vorbei, ohne noch einmal nach E-Mails zu schauen, und warf mich nach zwei Gläsern Wein und dem letzten Drittel eines herangezappten WoodyAllen-Films ins Bett. Und schlief schlecht. Ich knirschte mit den Zähnen. Immer wenn ich aufwachte, und das war oft in dieser Nacht, spürte ich meinen krampfartig geschlossenen Mund und versuchte, die Kiefer zu lockern.
5
Auf einmal war Frühling. Kein Fleckchen Schnee mehr irgendwo, der Himmel klar mit Schäfchenwolken und ein Geruch in der Luft nach Fäulnis und Frische zugleich. Ich riß alle Fenster auf, damit sich dieser Geruch bis in den hintersten Winkel der Wohnung ausbreiten konnte. Der einstmals pfiffige, aber mittlerweile längst zur matten Platitüde heruntergebetete Spruch fiel mir ein: Dies ist der erste Tag vom Rest deines Lebens. Jetzt, in diesem Augen blick, hatte der Spruch wieder was, und ich entschloß mich, diesen Tag mit einigem Aufwand einzuläuten. Ich briet mir zwei Spiegeleier und eine Tomate, holte die Zeitung und frühstückte auf dem Balkon. Es schmeckte wunder bar.
~ Ich ließ den Motor an und dachte, ich kann jetzt einfach nach München fahren. Nichts hält mich hier, niemand braucht mich, keine Arbeit und keine Frau. Aber unten vor dem Büro kurvte ich in die Einfahrt zum Parkplatz. Ich mußte doch wissen, wie sie den Abend überstanden hatte.
~ 87
Das Buch von Sinus-Film war gekommen. Damit ich hin einlesen konnte. Und ein Paket mit Druckerpapier, das ich Anfang der Woche bestellt hatte. Und eine Rechnung von der Agentur, aus der hervorging, daß meine letzte Arbeit, eine schwarze Komödie mit dem Titel »Die bösen Nach barn«, abgenommen worden war. Ein Wunder. Ich hatte die fünfte Fassung schon Anfang November abgeliefert und nicht mehr daran geglaubt, überhaupt noch mal was von der Redakteurin zu hören. Und falls doch, dann Gemecker. Über das zu undeutlich herausgearbeitete emanzipatorische Element. Oder Schwächen in der Struk tur. Das ist Standard. Schwächen in der Struktur sind so was wie Schuppen am Fisch. Als die Evolution einmal auf den Dreh gekommen war, ging es nicht mehr ohne. Die Re dakteure haben einen Kurs besucht oder ein Buch gelesen, und das Wort Struktur hat ihnen so imponiert, daß sie kei nen Satz mehr ohne bilden mögen. Sie finden sicher was an der Struktur einer Speisekarte auszusetzen, wenn sie beim Indonesier sitzen, oder an der ihres Handys, wenn sie die dritte SMS gelöscht anstatt abgeschickt haben. Und an der Struktur ihrer Beziehung, wenn der Kerl sich nach anderen Frauen umdreht. Und jetzt hatte sie das einfach abgenommen, würde die dritte Rate anweisen, und ich konnte mir die nächste Steuer vorauszahlung leisten. Nicht zu fassen. Das paßte zur Cham pagnerluft.
~ Lieber C. U., ich werde abhauen. Wenn er nicht vor meiner Tür herumbrüllt und mit Coladosen wirft, dann keift er auf meinen Anrufbeantworter. Das halte ich nicht aus. Ich sitze jetzt schon 88
wieder bei meiner Freundin im Zimmer und habe ein schlechtes Gewissen, weil ich sie mit meiner Tipperei beim Lernen störe. Sie hat eine Klausur nächsten Mittwoch und büffelt die halbe Nacht. Dabei wollte ich Ihnen so gern schreiben, was mich glücklich macht, wie ich lebe, wonach ich mich sehne (außer tollen Bauten) und was ich liebe. Danach haben Sie mich in einer Ihrer letzten Mails gefragt, und es ist untergegangen in dem Orkan, den Sebastian hier angeblasen hat. Da war noch so ein Satz von Ihnen, der in meinem Kopf geklingelt hat – zum ersten Mal Venedig sehen –, ich war noch nie dort und habe mich jetzt, um Sebastians Terror zu entfliehen, kurz entschlossen in einen Seminarausflug gedrängt, der heute abend losgeht. Wir fahren mit dem Nachtzug und kommen morgen früh um zehn nach sieben an. Ich werde Ihnen also die nächste Mail vielleicht schon aus Venedig schreiben. Jetzt muß ich nur noch jemanden finden, der mit mir nach Hause geht, damit ich packen kann, ohne von Sebastian zusammengeschlagen zu werden. Ich werde an Sie denken, wenn ich durch Venedig gehe, ich werde mich fragen, ob Sie das, was ich schön finde, auch schön finden würden. Ich freue mich auf den Ausflug. Der Professor, der uns führt, ist ein guter Typ, ich kann sicher eine Menge lernen. Wenn er mich Kuckucksei in seinem Seminar akzeptiert. Kuckucksei – das bin ich auch für meinen Vater. Ich meine, meinen Exvater. Ich plappere. Dabei wollte ich doch extra kurz schreiben, um meine Freundin nicht zu nerven. Ich bin ihr so dankbar, sie leiht mir das Geld für die Reise. Aber ich bin ein Singvogel – ich muß immer plappern. Machen Sie es gut – ich melde mich von dort, sobald ich ein Internetcafé gefunden habe und davonwitschen kann. Ihre Jana
~ 89
Schnuckiputzi, holst du dir schön fleißig einen runter? Ich warte. Wenn du nicht bald kommst, dann werd ich dir noch untreu. Mit geilen Grüßen, Janavotze
~ Im Anhang wieder ein Film. Es war die Fortsetzung. Jetzt sah man auch ihr Gesicht, denn sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. Der Film zeigte ihren Orgasmus.
~ Ach mein Mockelchen, danke für deinen Trost. Es ist ja gar nicht so schlimm. Ich hab wohl ein bißchen überreagiert. Die Kunden sind mal so, mal so, und wie sich Tom aufführt, gehört eben dazu. Ich hab mich schon wieder gefangen. Und daß du ins Studio gegangen bist, das rechne ich dir hoch an. Ich bin stolz auf dich. Du mußt nicht gleich mit Sprudelkisten protzen, das reicht noch nächstes Jahr. Wenn du nur weniger Rückenschmerzen hättest, dann wär’s schon gut. Daß du auf Tom so gar nicht gut zu sprechen bist, macht mir ein bißchen Sorgen. Bist du etwa eifersüchtig? Und soll ich mich dann darüber freuen oder ärgern? Hab leider keine Zeit zum Schreiben, deshalb nur so kurz. Ich liebe dich, dein Fussel
~ Ich riß auch hier im Büro alle Fenster auf, aber die Luft löste kein Wohlgefühl mehr in mir aus. Selbst der Cappuccino, der erste an diesem Tag aus der Saeco, dessen Zubereitung ich sonst immer genießerisch zelebrierte, der schönen Crema beim Entstehen zusah und dem feinen, dichten Schaum, der 90
Geduld erforderte und dadurch den kleinen Glücksschock des ersten Schlucks noch hinauszögerte und verstärkte, all das kam nicht gegen das Durcheinander an, das in mir flackerte: Rührung über Janas Zutraulichkeit, Mitleid mit ihr, weil sie fliehen mußte, blumige Phantasiebilder, wie sie staunend vor San Marco steht, kalte Wut auf den häßlichen Furor die ses Jungen, Erregung wegen der Wildheit des Films, Scham wegen dieser Erregung, und ein warmer Strom von Liebe und Zuneigung zu Fussel. Alles unvereinbar.
~ Liebe Jana, das ist gut. Bringen Sie die Alpen zwischen sich und diese rasende Mickymaus – wenn es ihm nicht hilft, sich in die Zivilisation zurückzubewegen, dann hilft es immerhin Ihnen, das Ganze von sich weg zu schieben. Lassen Sie ihn hinter sich. Soll jemand anderes ihn zur Vernunft bringen. Und wenn es die Polizei ist, die von Ihren Vermietern sicher demnächst gerufen wird, wenn er so weiter randaliert. Melden Sie sich, wann immer Sie wollen oder können, ich werde mich auf Post von Ihnen freuen. Und ich freue mich für Sie, daß Sie dieses Wunder aus Kunst, Architektur, Lebensart und entrückter Schönheit sehen werden. Ich wünsche Ihnen, daß Sie so hingerissen sind, wie ich es immer war von dieser Stadt. Alles Gute und bis hoffentlich bald. Ihr C. U.
~ Basti. Obacht. Ich komme. Legen Sie schon mal Ihr Versicherungskärtchen bereit, oder besser, buchen Sie doch gleich ein Bett auf der Intensivstation. Es reicht jetzt.
~ 91
Lieber Fussel, ich bin froh, daß es dir bessergeht. Bei mir hat leider der Muskelkater zugenommen, aber ich weiß, daß man ihn am besten mit Weitermachen bekämpft. Das werd ich tun. Ich geh gleich heut wieder hin. Hab mir sogar schon eine seriöse dunkelgraue Schlabberhose und zwei noch dunkler graue Schlabber-T-Shirts dafür gekauft. Ich will dir doch keine Schande machen. Nein, ich bin nicht eifersüchtig auf Tom, aber so richtig ins Herz hab ich ihn auch nicht geschlossen. Er ist nicht so ganz die Sorte, auf die ich fliege. Und ich finde auch, nicht die Sorte, auf die du fliegen solltest. Ich mach dir da keine Vorschriften, ich sag’s nur, weil du fragst. Also ärger dich bitte auf keinen Fall über meine Ausfälligkeiten. Freuen darfst du dich aber schon. Immerhin ist das ja auf Umwegen eine Liebeserklärung. Für dich nur das Beste. Und Tom gehört nicht dazu. Vielleicht muß ich ein paar Tage weg, es könnte sein, daß der Dreiteiler eine kleine Schauplatzrecherche braucht, aber dann komm ich immer an einem Internetcafé vorbei. Nur falls du telefonieren willst. Aber ich sag’s dir dann noch, falls ich los muß. Am Dienstag jedenfalls bin ich in Stuttgart und übernachte bei Ingrid. Mittwoch dann vermutlich wieder hier. Viele Küsse von deinem Mockel – ich liebe dich auch.
~ Vermutlich? Ein paar Tage weg? Schauplatzrecherche? Zum Beispiel in Venedig? Ich log wie ein geübter Casanova, dabei hatte ich mich noch nicht mal entschlossen, irgendwohin zu fahren, ja kaum darüber nachgedacht. Meine Finger auf der Tastatur waren schneller als mein Kopf. Ich konnte allerdings wahr machen, was jetzt noch eine Lüge war, indem ich dem Herrn Vohrer einfach Venedig als Schauplatz aufdrängte. Der zweite Teil sollte im Urlaub spielen. Warum also nicht in Venedig. Fernsehleute wollen 92
spektakuläre und gleichzeitig bekannte Bilder. Der würde sofort anbeißen. Es gab einen Flug von Stuttgart für dreihundertsieben Euro. Von Basel waren achthundertfünfzig Dollar das billig ste, was ich im Netz finden konnte. Und von Baden-Baden aus, wo sich seit kurzem Ryanair niedergelassen hatte, gab es gar nichts nach Venedig. Ein Hotel fand ich auch nach einigem Suchen – das Belle Arti in Dorsoduro –, das war mir bei früheren Besuchen schon aufgefallen. Es war nicht billig, aber ich bin ja auch nicht arm. Fünfundneunzig für die Nacht. Ich buchte beides. Abflug Dienstag abend.
~ Liebe Ingrid, ich komm jetzt doch nicht zu dir. Schade, ich hätte dich gern mal wieder ausgefragt über das Leben und die Liebe und überhaupt alles, aber es hat sich jetzt ergeben, daß ich am Abend nach Venedig fliege. Ich hoffe, wir holen das bald mal nach – spätestens wenn du mich zum Geburtstag einlädst. Bis dann, Chris
~ Was wollte ich um Himmels willen dort? Einer Studen tengruppe hinterherschleichen? Und was dann? Wußte ich nicht. Bauchentscheidung würden die meisten Leute, die ich kannte, das nennen. Ich würde nie ein so dummes Wort be nutzen. Der Bauch ist für die Verdauung zuständig, von ihm sind Blähungen, Koliken oder Rülpser zu erwarten, keine Entscheidungen. Und war Venedig jetzt nicht extrem unwirtlich? Naßkalt, neblig und leer? Aber das untermauerte ja noch den Charak ter einer rein beruflichen Recherche – es war ja schließlich 93
kein Ausflug zum Spaß. Lächerlich. Ich versuchte mich mit lautem innerem Geschrei selbst anzulügen. Ich wollte sie in Bewegung sehen. Eingemummelt in irgendeine dicke Jacke, einen Schal dreimal um den Hals ge wickelt und eine Mütze in der Stirn, dazwischen würde ihre Brille hervorblitzen und darunter dieser Mund lächeln oder plappern oder einer Kommilitonin etwas zurufen. Unter den dicken Winterkleidern würde ich nichts von ihren Brü sten sehen, nichts von dieser Nacktheit, deren Anblick mir nicht gehörte, nicht zustand, um den ich nicht wissen sollte. Sie würde ein Mensch sein und nicht die Pornoamateurin, die mir Sebastian aufgedrängt hatte, sie würde das Mädchen sein, das sie war. Ich würde Sebastians Gemeinheit korrigie ren. Das eine Bild über das andere legen. Das reizende Mäd chen über die reizende Hure. Hure. Was für ein Wort. Aber irgend etwas daran stimmte auch. Ihr Verflossener hatte sie zur Hure erklärt und zur Hure gemacht durch seine miese Aktion mit den Filmchen. Schon wieder inneres Geschrei. Ich würde vorsichtig sein müssen. Mehr als zwei-, drei mal durfte ich der Studentengruppe nicht »zufällig« über den Weg laufen, ohne Argwohn zu erregen. Andererseits würde man die Touristen im Januar sicher an einer Hand ab zählen können, und es wäre kein Wunder, wenn man sich mehrfach über den Weg liefe. Auf jeden Fall würde ich auf passen.
~ Vor dem Fitneßpalast stand ein dunkelblauer BMW Z3 mit Starnberger Nummer. Ich würde zwar nie einen Sport wagen besitzen wollen, das ist in meinem Alter lächerlich, ein Aufschrei, ein Appell an alle, mich nicht für halbtot zu 94
halten, aber diesen würde ich gern wenigstens mal fahren. Seit Jahren drehte ich den Kopf, wenn einer vorbeikam. Dieser Mix aus Schlank und Rundlich erinnerte mich an das Phantasieauto, von dem ich als Kind geträumt hatte. Und die Frau auf dem Crosstrainer vor mir mußte die Fahrerin sein. Dunkle, fast schwarze Haare, Pferdeschwanz, lange Beine und diese gewisse sehr selbstbewußte Körper haltung von Leuten, die alles haben oder zumindest andere glauben machen wollen, es verhalte sich so. Zuerst faszinierte mich das Wippen ihres Pferdeschwan zes synchron zum Auf und Ab der Stepper und Vor und Zu rück der Hebel, aber irgendwann glitt mein Augenmerk abwärts über die Schultern, deren Schwung ein ebenso hüb scher Anblick war, zum Hintern, der die Hauptrolle in die sem Tanztheater spielte. Ich versuchte, beim Glotzen nicht aufzufallen, wandte den Blick hin und wieder zu einem der Fernseher an der Decke, in denen DSF, MTV und RTL ohne Ton liefen, und durchs Studio über all die Körper in Bewegung und in sich gekehrten Gesichter, aber ich streifte, sooft ich mich traute, wie zufällig über diesen schwingenden, schönen, durchaus nicht kleinen Hintern. Ich versuchte sogar das Schwingen zu kopieren – dachte, daß meine eigenen Bewegungen höl zern und verkrampft aussehen mußten, aber dann kam ich mir tuntig vor, als ich so die Hüften schwenkte, und kehrte zurück zum braven Treppensteigen und Hebelziehen. Später, als ich meine Haltung auf dem Rudergerät im Spiegel kontrollierte, sah ich die Frau von vorn. Sie hatte einen düsteren Ausdruck im Gesicht. Vielleicht war sie tod traurig, depressiv oder krank. Seltsam, welch unterschied liche Botschaften ihr Körper und ihr Gesicht aussandten. Die Bauchübungen taten gemein weh. Jeweils die letz ten drei einer Zwölferserie schienen mir unmöglich, und 95
ich mußte mich zusammenreißen, um nicht laut zu stöh nen. Die Frau stieg in einen weinroten Familienvan, als ich in einer der Pausen aus dem Fenster sah. Der BMW war weg.
~ Die Post oben in der Wohnung kam immer so spät, daß ich sie erst abends aus dem Kasten nahm. Diesmal nur ein Brief. Und der war seltsam. »Frau Uhlig« stand da nur über der Adresse, das Ganze handschriftlich und ohne Absender. Den Ort konnte man schon seit Jahren nicht mehr aus dem Poststempel ersehen, da stand inzwischen nur noch »Brief zentrum« und irgendeine Nummer. Ich ließ den Brief ungeöffnet liegen, schließlich war er an Fussel adressiert und ging mich nichts an, aber nachdem ich gegessen, Nachrichten gesehen und knapp dreißig Seiten des Buches von Sinus-Film gelesen hatte, hielt es mich nicht mehr, und ich öffnete ihn. So etwas hatte ich noch nie getan, jetzt kam zum Lügen auch noch Schnüffeln, was denn noch? Und was, wenn dieser Brief nicht das war, was ich befürch tete? Dann würde ich alles in einem neuen Umschlag neu adressieren. Mit Schreibmaschine. Im Büro stand noch eine von früher. Dann mußte ich ihn allerdings auch noch mal neu abschicken. Vielleicht von Stuttgart aus. Damit er wie der Briefmarke und Stempel hätte. Das war jedoch nicht nötig. Was mir da entgegenkam, war der erahnte Müll. Meine E-Mails an Jana und ihre an mich. Nichts sonst. Aber das hätte gereicht, um Fussel in Verzweiflung zu stürzen.
~ 96
Ich fuhr noch einmal ins Büro. Um die E-Mails dort in den Papierkorb zu werfen, zerrissen natürlich, obwohl das nicht nötig war – niemand interessierte sich für meinen Abfall –, und um im Internet nach Sebastian Busch in München zu suchen. Irgendwas mußte ich tun, um dieses kleine Schwein zu stoppen. Und wenn es wirklich die Variante mit dem Baseballschläger wäre. Es gab drei S. Busch, einen in der Wiltrudenstraße, einen in der Omptedastraße und einen am Nicolaiplatz. Das waren zwei zuviel. Und wie sah er aus? Auf dem Film hatte er sein Gesicht fein säuberlich außerhalb des Kamerablickwinkels gelassen. Ich wollte den Film löschen. Beide Teile. Aber vorher sah ich sie mir noch einmal an. Und ließ sie dann auf dem Rechner. Ich konnte sie auch morgen noch auf den Papier korb ziehen. Und ich beherrschte mich, als ich den Impuls spürte, Se bastian vom Scheitern seines Petzversuchs zu unterrich ten. Wenn er glaubte, sein Brief sei angekommen, würde er es vielleicht gut sein lassen. Es fiel mir schwer, mich nicht voller Hohn und Verachtung über das Bürschchen herzu machen.
~ Ich hatte eigentlich den ganzen Abend lesen wollen, denn am Dienstag, wenn ich Herrn Vohrer treffen würde, wollte ich die Geschichte parat haben, aber ich konnte mich nicht konzentrieren. Die Wut auf Mickymaus ließ mich nicht los und bekam immer mehr den Charakter von Verzweiflung. Das war doch nicht möglich, daß ich diesem Baby hilflos ausgeliefert sein sollte. Der mußte doch irgendwie zu brem sen sein. Und wenn man ihn vor einen Lastwagen schubste. 97
In diesem Augenblick traute ich mir jede nur erdenkliche Barbarei zu. Ich sah mir einen drittklassigen Amifilm an, in dem sehr viel Blech verformt wurde. Und auf dem Weg zum Bett schwankte ich bedenklich, denn ich hatte viel zuviel Wein in mich hineingeschüttet.
6
Das Thermometer zeigte dreizehn Grad. In den Vogesen waren winzigkleine weiße Häuschen zu sehen, und über den Himmel zogen graugelbe ausgefranste Wol kentupfer dahin. Noch so ein Tag, und die ersten Schnee glöckchen wären da. Der Roman, den mir Sinus geschickt hatte, war lesbar und würde eine hübsche Komödie ergeben. Turbulent und charmant, personalreich und vielstimmig – man würde sicher einige Figuren streichen müssen, eine Großfamilie mit Anhang, die an Weihnachten aufeinanderprallt, konnte man auch mit sieben oder acht Leuten erzählen, es mußten nicht vierzehn oder mehr sein. Wenn doch jetzt nur noch der Herr Vohrer ein Mensch mit Geschmack und Durch setzungsvermögen gegenüber den Sendervorlieben wäre, dann könnte die Arbeit des nächsten halben Jahres ein Ver gnügen werden. Ich las bis gegen zwei Uhr nachmittags und fuhr dann erst ins Büro. Von Jana konnte noch keine Post da sein.
~ Und sogar Mickymaus hatte eine Nacht lang stillgehalten. Es lag kein einziger lesenswerter Text im Postfach. Alles nur Viagra, Gewichtsreduktion, Kredite, Last-Minute-Rei 99
sen und Offshore Pharmacy. Nicht mal ein einziges Porno angebot. Vielleicht weil Sonntag war. Der Tag des Herrn. Ich fühlte mich einsam. Dieses Provinzleben ist nur für Paare gut. Allein fällt einem die Decke auf den Kopf. In einer richtigen Stadt hätte ich jetzt einfach losziehen können, das Buch unterm Arm, und mich irgendwo in ein Café setzen, dann vielleicht ins Kino, dann was essen, dann weiterlesen in einer Bar – in einer Großstadt konnte man hundertfach fremdes Leben an sich vorbeiflanieren lassen, hier gab es nur bekannte Gesichter. Und ins Auto zu steigen, um nach Basel zu fahren, dazu hatte ich keine Lust. Der Aufwand hätte der Aktion ihre Beiläufigkeit und damit den eigentlichen Wert genommen. Hier auf dem Land ging nichts einfach so. Man mußte alles extra tun, planen, einrichten. Das störte mich nicht, wenn Fussel da war. Nur jetzt, da ich mir vorkam wie ein Alien unter lauter aufgeräumten Erdlingen, der sein Ufo verpaßt hat und versucht, nicht aufzufallen. Ich fuhr nach oben und las auf dem Balkon weiter, alle halbe Stunde von einem Gaggia-Cappuccino belohnt, und hatte das Buch durch, als es dunkel wurde. Und drei Sei ten Notizen geschrieben. Und das Buch gespickt mit gelben Zetteln an all den Stellen, die ich einarbeiten wollte. Und nach Bratkartoffeln mit Tomatensalat und ZDFNachrichten fuhr ich wieder runter, um die Notizen abzu tippen und in eine lesbare Form zu bringen.
~ Jetzt weiß ich, was Sie meinten. Ich bin nicht mehr derselbe Mensch wie noch heute morgen. Ich muß aufpassen, daß ich das Einatmen nicht vergesse beim Anblick dieser Stadt. Da Sie wissen, wovon ich spreche, versuche ich gar nicht erst, irgendeins von meinen Gefühlen in Worte zu fassen. Was mich heute noch wundert: Warum 100
schreien die Leute hier nicht bei jedem zweiten Schritt vor Ergriffenheit, Begeisterung oder Rührung, warum heulen sie nicht Rotz und Wasser oder machen sich in die Hosen? Morgen werde ich vielleicht schon genauso cool dreinblicken, als wäre es selbstverständlich, die Sinne jeden Tag einem solchen Rausch auszusetzen. Aber jetzt mal von Anfang an: Die Fahrt im Liegewagen war natürlich unbequem, und viel geschlafen hab ich nicht, aber es war auch toll, gab immer was zu kichern – die Gruppe ist sehr nett zu mir, obwohl ich einfach so hineingepurzelt bin –, und die bleichen Bahnhöfe, hohlen Lautsprecherstimmen im Halbschlaf oder im Traum, das Rattern der Räder, und der Mief von sechs schlafenden Mädchen … ich fand’s herrlich. Wir waren alle todmüde bei der Ankunft, schleppten unsere Taschen ins Hotel und gingen dann frühstücken auf einen kleinen Platz, bestellten Kaffee und Sandwiches, süßes Zeug und Cola und sahen der Stadt beim Erwachen zu. Das ging alles ganz langsam und fast ein bißchen feierlich vor sich. Die Leute waren schwarz, dunkelblau und grau gekleidet, viele gingen wohl zur Kirche, auf den Friedhof oder irgendwohin zu Besuch. Das ist an Werktagen sicher anders. Ich bin gespannt darauf Wir sind dann eine Runde mit dem Boot gefahren, den ganzen Canal Grande lang, und ich wußte nicht, wie mir geschah. Ich glaube, ich habe geheult. Ich fürchte, der Prof hat das gesehen, er hat mir jedenfalls sehr liebenswürdig und irgendwie irritiert zugelächelt. Nach dem Essen hatten wir frei, und alle sind in ihre Betten gefallen, um den fehlenden Schlaf nachzuholen. Um fünf treffen wir uns vor dem Hotel, um durch die Stadt zu gehen. Ich habe an der Rezeption gefragt, wo ein Internetcafé ist, deshalb kann ich mich jetzt melden. Aber ich muß gleich los, es ist halb fünf. Den ganzen Tag über hatten wir blauen Himmel und Sonne, es ist nicht direkt warm hier, aber man braucht keine dicke Jacke, erst jetzt wird es neblig und empfindlich kühler. Mir geht das Herz über, wie man so schön sagt, ich hoffe, ich 101
langweile Sie nicht mit meinem Geschreibsel. Und mir ist ein großer Stein runtergefallen, weil Sebastian so schön weit weg ist. Leider sind Sie auch weit weg. Ich würde das alles hier gern mit Ihnen teilen. Keine Ahnung, wann ich mich wieder melden kann. Ich denke an Sie. Jana
~ Jana, Sie machen mich glücklich mit Ihrem Überschwang. Genauso stelle ich mir jemanden vor, der einmal tatsächlich schönere Gebäude in die Städte stellen wird. Ihre Empfindsamkeit für die Kulturleistung vergangener Jahrhunderte rührt mich, und ich fühle mich belohnt, obwohl ich nichts dazu beitrage. Ich bin sozusagen stolz auf Sie. Was mir an Ihren Jauchzern so besonders gefällt, ist, daß sie von einem so jungen Menschen kommen. Sie sind eine Ausnahme. Als ich jung war, hatte ich für gar nichts Augen, schon gar nicht für Kunst oder Architektur. Eine Kirche, wenn ich denn je eine von innen sah, hätte ich mir immer ganz gut als Diskothek vorstellen können, Malerei war Dekoration, und Poesie erreichte mich allenfalls in Form von Rocktexten. Ich war ein blöder, stumpfer Banause, der seine beweglichsten Jahre verschwendet hat an Ideale oder Ziele wie Ruhm, Geld, Sex und ein irgendwie möglichst turbulentes Leben. Ich mußte Venedig einige Male besuchen, um es endlich zu SEHEN, das heißt den Unterschied zu einer Disney-Filmkulisse erkennen. Dann kam es zwar mit Macht, es erschütterte mich nachgerade, aber es war nicht so wie bei Ihnen. Sie sehen es und sind ein anderer Mensch. Und daß Sie schreiben, Sie würden das alles gern mit mir teilen, rührt mich warm und freundlich an – jetzt gerade habe ich so etwas wie Sehnsucht. Nach Venedig, nach diesem Teilen, vielleicht sogar nach Ihnen (das bitte ich Sie aber nicht falsch zu verstehen – es ist platonisch), auf jeden Fall wünschte ich mir, hier rauszukommen, irgendwo fremd zu sein, so ganz und gar innerhalb der eigenen 102
Konturen zu existieren, wie man es nur in der Fremde kann – zu Hause hat man Zwiebelschichten aus Besitz, Aufgaben und Plänen um sich, durch die kein Lüftchen mehr bis zur Haut vordringt. Uaah, jetzt werd ich poetisch, das bitte ich zu entschuldigen. Ist nur so eine Anwandlung und wird gleich wieder vorbei sein. Genießen Sie es, singen Sie Ihren Begleiterinnen die Ohren bunt, und weinen Sie, wann immer es kommt. Das ist ein großes Geschenk. Ich denke auch an Sie. Christian
~ Jetzt mußte ich aber mal aufpassen, daß ich mich von ihrem schwärmerischen Ton nicht zum verliebten alten Esel machen ließ. Sie konnte nichts dafür, sie durfte schwär men, sie war jung, sie durfte mich ruhig für den tollen Mann halten, der ich nicht war, aber ich durfte nicht mitmachen. Mich nicht zu der Annahme verleiten lassen, mir werde eine Affäre, eine zweite Jugend, eine zarte Verliebtheit ange boten. Diesem Mädchen fehlte eher ein Vater als ein Lieb haber. Ich mußte vorsichtig sein mit dem, was ich schrieb. Keine Anbändelei. Nur erwachsenes, abgeklärtes Mentoren gelaber, keine Aufgeregtheiten. Keine Poesie. Und sei sie noch so schlecht. Ich tippte fast zwei Stunden lang den ersten Rohentwurf für ein Exposé und amüsierte mich über die Figur der künst lerisch ambitionierten Rabenmutter, die mir immer schau riger, egozentrischer und geschwätziger geriet. Die würde Spaß machen. Eine exzentrische Spießerin. Erst daran, daß mir schlecht wurde vom zu vielen Rau chen, bemerkte ich, wie spät es schon war – kurz vor eins –, und fuhr den Rechner herunter, lüftete kurz und machte mich auf die Räder. Ich war stolz auf mich. Ich hatte die Filmchen nicht wieder angesehen.
7
Da war ein Gerumpel gewesen in der Nacht, aber ich hatte es nicht weiter beachtet, weil ich glaubte, es seien mal wieder zwei Marder, die sich übers Dach jagten. Aber als ich die Zeitung holen wollte, sah ich, daß jemand den Inhalt aller vier Mülltonnen fein säuberlich auf dem Weg, der Treppe, dem Vorplatz verteilt hatte – eine ungeheure Sauerei. Klar, wer das gewesen sein mußte. Mein Blick ging über die Hauswand, um zu überprüfen, ob nicht irgendwo in großen schwarzen Lettern »Wichser« oder »Kinderficker« oder etwas Ähnliches stünde, aber gottlob war der Wüterich auf diese Idee noch nicht gekommen. Mit Schippe und Besen brauchte ich eine Viertelstunde, um den ganzen Schmodder wieder in die Eimer zurück zu verfrachten – unsortiert natürlich, jetzt war ich ein Müll frevler –, ein Glück, daß die Hausnachbarn in verlängerten Skiferien waren und ich diesen Eklat diskret und alleine be reinigen konnte. Nicht auszudenken, wenn ich sie hätte bit ten müssen, es Fussel zu verschweigen, oder wenn ich ihr gegenüber mit Unschuldsmiene »keine Ahnung, wer das war« hätte sagen müssen. Ich war ein schlechter Lügner – sie würde sofort wissen, daß ich mit irgendwas hinterm Berg hielt. Aber das und noch einiges mehr blühte mir vermutlich 104
ohnehin, denn das Bürschchen schien nicht aufgeben zu wollen. Der hatte einen Feldzug gegen mich gestartet und konnte sich für jede Nacht was Besseres ausgedacht haben. Oder für jedes Wochenende. Zur Polizei zu gehen war sinnlos. Ich schrieb schon lange genug Drehbücher, um zu wissen, daß ich außer dummen Fragen dort nichts zu erwarten hatte. »Sie haben also eine sexuelle Beziehung zur Freundin dieses jungen Mannes?« »Nein, aber er glaubt es.« »Könnten Sie ihm denn nicht sagen, daß er sich täuscht?« »Der Versuch wurde unternommen, hat nichts gefruch tet.« »Und gibt es einen Beweis, daß er die Ordnungswidrig keit begangen hat?« Ordnungswidrigkeit! Das wäre dann der Punkt, an dem ich den Schreibtisch mit Tritten traktieren würde und damit ebenfalls eine Ordnungswidrigkeit begehen, mit Folgen, die nicht nur finanzieller Natur sein würden. Dieses Städtchen war winzig. Innerhalb einer Woche nach ihrer Rückkehr wäre Fussel von gezielter Teilnahme eingekreist und blamiert bis auf die Knochen. Weil ihr Alter eine Junge hat. Undenkbar.
~ Im Zigarettenladen, als ich Feuersteine, Gas und zwei Stan gen Zigaretten verlangte, fiel mir an der Brüchigkeit meiner Stimme auf, daß ich seit Tagen kein Wort mehr gesprochen hatte. Seit ich Fussel in Basel abgeliefert, nein, seit ich mit Herrn Vohrer telefoniert hatte. Wie lange war das her? Fünf Tage? Sechs? Ich hatte seither nur einmal eingekauft und, soweit ich mich erinnerte, niemanden gegrüßt. Halt, das war falsch, im Fitneßpalast hatte ich mit Heiner geredet. 105
Trotzdem. Das war kein Leben. Tagelang nur Worte aus dem Kopf in die Tasten schicken, sich den Klang der Stim men und die Situation, zu der sie gehörten, nur vorstellen, ohne wirklichen Kontakt mit wirklichen Menschen, das war für jemanden, der nicht gerade die Wildnis durchstreifte, ein zumindest skurriler Zustand. Aber es ging ja nicht nur um die Worte. Letztlich waren all meine Erlebnisse so. Im eigenen Kopf, in der Glotzkiste, in einem Buch. Alles vir tuell. Da sollte ich mich eigentlich freuen, daß echter Müll vor meiner echten Haustür lag, von einem echten Arschloch gründlich, breit und umsichtig verteilt.
~ Im Briefkasten lag der übliche magere Montagsschrott und im E-Mail-Postfach ebenso. Keine Zeile von Jana, nichts von Fussel, nichts vom Arschloch. Natürlich nicht. Der war ja hier gewesen. Oder war es noch immer. Ich fuhr den Rechner herunter, schaltete die Saeco aus, den Anruf beantworter an und schloß das Büro ab. Ich würde heute schon losfahren, gemütlich am Bodensee ent lang, und irgendwo übernachten.
~ Gepackt war schnell. Einen Anzug zog ich an, einen zwei ten legte ich in den Koffer zu einem Paar Ersatzhosen, sie ben T-Shirts, Unterhosen, Socken, Waschzeug, einer Uhr, einem Gürtel und einem Paar Schuhe. Fertig. Strickjacke übern Arm, Mantel ebenfalls und los.
~ 106
Ich fuhr nach Osten. Über Waldshut und Schaffhausen nach Konstanz, wo ich zum ersten Mal anhielt, ein Café suchte und das für diese Jahreszeit absurde Frühlingswetter genoß. Und das Gewusel und Geschiebe von Menschen um mich herum. Eigentlich sollte ich froh sein, daß niemand da war, mit dem ich reden konnte. Oder mußte. Das, was ich da gerade tat, einer jungen Frau nachfliegen, mit der ich nur ein paar E-Mails gewechselt hatte, um ihr heimlich durch Venedig hinterherzustiefeln, das war so völlig verdreht, das konnte ich niemandem erklären. Sogar Walter, der immer so tut, als könne ihn nichts im Leben mehr überraschen, würde nur den Kopf schütteln und fragen, ob ich nur einen oder eher doch zwei an der Waffel habe. Und Walter war nicht mehr mein Freund. Jedenfalls zur Zeit nicht. Wann immer ich auf den Gedanken stieß, wich ich stur der Frage aus, was ich eigentlich von Jana wollte. Freund schaft, Seelenverwandtschaft, Zuneigung, intellektuel len Gleichklang, all diese Antworten würde ich vielleicht geben. Wenn die Frage zugelassen wäre. Und alle diese Ant worten enthielten wohl einen Teil Wahrheit, aber ebendes halb wären sie auch gelogen. Zum anderen, fehlenden Teil. Der Film, den ich zwar nicht mehr angesehen, aber auch noch nicht gelöscht hatte, spielte für meinen Wunsch nach Nähe zu dieser jungen Frau, die sich so ganz und gar ver gessen konnte, eben auch eine Rolle. Das würde ich mir nie eingestehen. Gott sei Dank mußte ich nicht. Niemand, schon gar nicht ich selbst, setzte mir deswegen die Pistole auf die Brust.
~ Ich vertrödelte den Tag, hielt in Überlingen und Wasser burg an, um am Ufer entlangzuspazieren, den Möwen nach 107
zuschauen, das Plätschern und den Geruch des Wassers und das Tuten und Blubbern der Schiffe zu genießen. In Lindau nahm ich mir ein Hotel direkt am Hafen – ich schien der einzige Gast zu sein –, ein Montag im Januar war alles andere als Hochsaison, und ich bekam ein Zimmer direkt zum See hinaus, der sich im Licht des Sonnenunter gangs verfärbte. Rot, violett, orange und dann grau. Von einem Internetcafé wußte an der Rezeption nie mand etwas, also ging ich nach dem Essen einfach los. Lin dau, jedenfalls der Inselteil, auf dem ich mich befand, war klein. Wenn es eines gab, dann würde ich es auch finden. Es war empfindlich kalt geworden. Vom See her kroch die Feuchtigkeit als dünner Nebel in die Stadt und durch meinen Mantel in die Knochen. Eine gute Übung für Vene dig. Ich fand kein Internetcafé. Dafür ein Kino, in dem ich »Lost in Translation« sah.
~ Nicht einmal, daß ich hinterher in ganz Lindau keinen Schluck Wein mehr bekam, auch nicht im Hotel, auch nicht vom Nachtportier, machte mir was aus, so erschüttert und zugleich getröstet hatte mich dieser Film in die Nebelnacht entlassen. Alter Mann junge Frau, sie lieben sich und fangen keine Affäre miteinander an, das war genau, was ich gerade erlebte. Oder zu erleben vorhatte. Ich trank das Miniatur fläschchen Whisky aus der Minibar leer und ging schlafen.
8
Obwohl es ein Umweg war, nahm ich am näch sten Morgen die Autobahn über Ulm nach Stuttgart. Ich konnte rasen, den Rover mal wieder so richtig schnurren lassen, und mußte mich nicht durch Städtchen und Dörf chen quälen, von jedem Aldi-Laster, jedem Traktor, jeder Ampel ausgebremst und penetrant daran erinnert, daß gut Ding Weile haben will. Aber dann stand ich zwischen Memmingen und Ulm dreimal im Stau und konnte mich in Ruhe durch alle Radio sender knipsen, nur um in nahezu jedem dasselbe zu hören. Größte Hits, belfernde Jungmoderatoren und Werbung für Möbelhäuser, Baumärkte und Elektronikdiscounter. Ich kam erst kurz vor halb eins in Stuttgart an, fand ein Parkhaus in Bahnhofsnähe und, nach einigem Suchen und schließlich Fragen, auch ein Internetcafé.
~ Lieber C. U., ein Morgen in Venedig ist am Werktag tatsächlich ganz anders. Ich bin eigentlich keine Frühaufsteherin, aber ich habe mich aufgerafft und war schon kurz nach sieben am selben kleinen Platz wie gestern. Es war toll. Lastenträger wuselten durch die Gassen mit ihren Sackkarren, Müllmänner schoben die Eimer zu den Booten, eilige Geschäfts109
leute hasteten, alle dunkelblau und grau, zur Arbeit, und immer wieder flog irgendwo ein Fensterladen auf, knallte an die Hauswand, und jemand rief etwas zur Nachbarin hinüber oder hängte Putzlappen, Wäsche oder auch eine Voliere hinaus. Ich saß draußen und habe gefroren, aber das war’s wert. Als ich zu den anderen zurückmußte, kam ich mir vor wie jemand, der ein Geheimnis hat, der mehr weiß als die Langschläfer, ich fühlte mich privilegiert. Wir waren gestern im Dom von San Marco und im Dogenpalast, alles ist überwältigend, auch wenn ich manches für sich genommen nicht wirklich schön finde und mich zunehmend schwerer damit tue, die Architektur vom Schmuck, der Verzierung, dem Beiwerk zu trennen. Von außen geht das noch einfacher, der Dogenpalast ist zum Beispiel ein wunderbarer klarer Bau, aber von innen geht eins ins andere über, und ich gerate aus dem Gleis. Ich bin richtig froh, daß der Prof uns andauernd mit Details kommt, so kann ich mich festhalten an Voluten, Architraven, Kanneluren und muß nicht fürchten, vor Überlastung der Sinne zu kollabieren. Apropos Sinne: wenn ich mich nicht täusche, dann hat der Prof ein Auge auf mich geworfen. Er sucht meine Nähe, gibt sich Mühe, mich zu integrieren, und wenn er Witze macht, prüft er, ob ich lache. Ich seh manchmal seinen Blick so irgendwie verträumt oder vielleicht auch ein bißchen sehnsüchtig auf mir ruhen. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Einerseits ist mir derzeit nicht nach Abenteuern, weil ich an Sebastian denken muß – er repräsentiert jetzt irgendwie die Gefahr für mich, die schwarze Seite, den Teufel, der sich mit der Sehnsucht nach Liebe und Sex ins Leben schleicht und einen dann mit Haut und Haaren haben will, andererseits erinnert mich der Prof an Sie. Das heißt, natürlich nur daran, wie ich mir Sie vorstelle, und Ihre Wärme und Aufmerksamkeit strahlen auf ihn ab. Und er ist ein richtiger Mann, kein Knabe, das macht ihn interessant. Ich hatte noch nie was mit einem richtigen Mann. Ich sollte Ihnen vermutlich nicht davon erzählen, wir hatten 110
doch ausgemacht, daß das kein Thema für unsere Korrespondenz ist, aber ich führe andauernd Gespräche mit Ihnen, alles, was ich sehe, erzähle ich Ihnen, alles, was mir durch den Kopf, an die Nieren oder über die Hutschnur geht. Ich setze jetzt, in diesem verrauchten Internetcafé, nur fort, was ich ohnehin den ganzen Tag über tue. Plappern. Ihnen die Ohren vollsingen. Ich hoffe, es stört Sie nicht. Ich würde gern alles, was mich betrifft, mit Ihnen besprechen. Irgendwie beschützt mich das. Weiß gar nicht, wovor. Bis später oder morgen. Ihre Jana
~ Vielleicht war es doch keine gute Idee, nach Venedig zu flie gen. Es war sogar ganz sicher keine gute Idee. Wozu sollte ich mir ansehen, wie ein anderer Greis das Rennen macht? Wieso war sie so flittchenhaft, mit dem Gedanken zu spie len? Und so taktlos, mir das mitzuteilen? Ich mußte ein paar Schritte gehen. So sauer, wie ich war, konnte ich nicht direkt antworten. Nein, sauer war nicht das richtige Wort. Es tat mir weh. Es versetzte mir einen Stich. Ich hatte kein Recht und keinen Grund, eifersüchtig zu sein, ich hatte nichts mit ihr, wollte nichts mit ihr haben, und sie wußte das, aber mußte es unbe dingt ein alter Knacker sein? Spielte sie mit mir? Wollte sie eine Reaktion aus mir herauskitzeln? Das Lächerliche an meinem Vorhaben, als einsame Sil houette mit wehendem Schal in Venedig irgendwo am Bild rand auftauchen zu wollen und mit stechendem Blick aus einer Studentengruppe die richtige Figur heranzuzoomen, kam mir mit Macht zu Bewußtsein. Zwar war mir schon, seit ich mich entschlossen hatte, klar, daß es albern war, aber jetzt wußte ich es in Großbuchstaben. Oder in Farbe. Oder mit Ton. 111
Und trotzdem würde ich fliegen. Ohne Publikum war Lächerlichkeit nicht besonders ehrenrührig, und vor mir selber konnte ich mich blamieren, wie ich wollte. Und außerdem: In Großbuchstaben hatte diese Blamage fast etwas Erhabenes. Auch ohne daß der Schal wehte.
~ Ich war so schnell gegangen und hatte so wenig auf meine Umgebung geachtet, daß ich den Rückweg zum Internet café nicht wiederfand. Also ging ich zum Bahnhof zurück, den ich am Ende einer großen Straße sah, und tastete mich von dort aus erneut heran. Inzwischen war es kurz nach zwei, ich durfte nicht mehr allzuviel Zeit mit meiner E-Mail vergeuden. Eine halbe Stunde höchstens, dann sollte ich noch mal in die Notizen schauen und mir die Geschichte ver gegenwärtigen, die ich dem Producer vorschlagen wollte.
~ Alten Männern, die sich an junge Frauen heranmachen, sollte man nicht trauen. Auch wenn Ihnen so einer noch in der Sammlung fehlt, rate ich also ab. Und dabei spielt Eifersucht nur eine untergeordnete Rolle. Zwar gebe ich zu, daß mir der Gedanke nicht gefällt, aber er gefällt mir Ihretwegen nicht. Was immer der Onkel vorhaben mag, es handelt sich im wesentlichen darum, einen wegzustecken. Sie sind dann ein Häkchen auf einer Liste. Falls Ihnen das nichts ausmacht – mir macht es was aus. Schon klar, dazu hab ich kein Recht, aber in diesem Fall geht’s auch mal ohne. Das gibt mir eine gewisse Freiheit, mich auszudrücken, wie es mir in den Sinn kommt. Sehen Sie es doch mal so: Es ist ein Privileg, mit Ihnen zu schlafen. Sie sind schön, jung, talentiert und intelligent, Sie sind 112
etwas Besonderes. Ist der Prof das wert? Hat er Sie verdient? Ist es nicht unter Ihrer Würde, so einem Kerl die Zeit zu vertreiben, bis er wieder zu Frau und Kind zurückfährt? Ich sehe schon, das ist ziemlicher Quark, was ich da schreibe. Das ist alles nicht haltbar, ein blasiertes Schniefen Ihrerseits wäre schon hinreichend schlagkräftig als Gegenargument, es geht mich nichts an und steht mir nicht zu, es bringt Sie nicht weiter und gehört nicht hierher. Ich lasse es trotzdem stehen, damit Sie sehen, was in mir vorgeht. Und wenn es nur ist, weil ich Sie dem Professor nicht gönne, ich habe keine Freude an der Vorstellung, daß er Sie beeindruckt und in sein ausgeleiertes Hotelbett quatscht. Muß leider los. Ein Termin. Arbeit. Nehmen Sie meine Ausfälle bitte mit Humor. Das kommt immerhin alles von Herzen. Und seien Sie weiterhin meiner Wertschätzung gewiß, trotz des lauten Geschimpfes. Bis zur nächsten Mail, Ihr C. U. P. S. Was ist ein Volut? Oder eine Volute? Architrav weiß ich vielleicht halbwegs – das sind die Dinger über den Portalen, oder? Und Kanneluren? Hat wohl nichts mit Zimt zu tun.
~ Herr Vohrer winkte mit dem Roman und erhob sich halb von seinem Stuhl, als er mich sah. Er war dicklich, dunkel haarig, vielleicht Anfang Vierzig und wirkte intelligent und naiv zugleich, was er vielleicht der dicken Brille verdankte, die seine Augen riesig und unschuldig machte. Und er hatte, wie alle seiner Art, sehr viel Text, so daß ich nicht über die paar Floskeln hinauskam, die man immer in solchen Augen blicken absondert: schön, daß wir uns so bald treffen konnten; das Projekt klingt sehr interessant für mich; mit Sinus-Film wollte ich schon immer mal zusammenarbeiten etc. 113
Bis ich dazu kam, die eine oder andere Idee zu schildern, war fast eine Stunde vergangen, in der Herr Vohrer vom allgemeinen aufs große Ganze gekommen war, vom Stöck chen aufs Hölzchen und vom Hölzchen auf den Wald. Mir war’s recht, und ich gab mir keine Mühe, einen Fuß in die Tür zu kriegen. Je länger der Mann ungestört reden durfte, für desto intelligenter, kooperativer und fähiger würde er mich halten. Wieviel Energie und Herzblut hatte ich früher daran ver geudet, meine Sicht der Dinge, meine Ideen und Konzepte zu erklären, bis mir endlich aufgegangen war, daß man mit gelegentlichem Kopfnicken, zustimmendem Grunzen und geheuchelter Begeisterung weiterkommt als mit der Erwäh nung logischer, psychologischer oder dramaturgischer Not wendigkeiten. Den Streß hob man sich tunlichst für später auf, er kam noch früh genug. Ich bin doch ein abgefeim ter alter Sack, dachte ich, als ich Herrn Vohrer beflissen bei pflichtete, der von der Vorstellung schwärmte, mit den Kli schees über Weihnachten zu spielen. Das hieß im Klartext, man sollte nur ja keines auslassen. Der Baum brennt, der Bra ten mißlingt, es gibt Streit, und alle können nur den ersten Vers von »Stille Nacht«. Eins war schon klar: Spaß würde das Ganze nicht machen. Aber einen Dreiteiler lehnt man nicht ab. Davon lebt man ein Jahr lang. Und nicht allzu schlecht. Leider war Venedig nicht durchzusetzen. Als ich end lich dazu kam, meine Ideen zu skizzieren, stieß ich auf kate gorische Ablehnung. Es mußte für den zweiten Teil, der in den Ferien spielen sollte, Mallorca sein oder die Costa Brava. Also hatte Herr Vohrer vor, dort Ferien zu machen, die er sich als Schauplatzrecherche bezahlen lassen würde. Venedig sei ausgereizt, sagte er, und für die angestrebte Zielgruppe sei es auch zu speziell. Zu kulturlastig. Das hieß wohl, es gab 114
zu wenige Surfer mit Waschbrettbauch und gutgefüllte Bi kinis, die man ins Bild rücken konnte. Für den zweiten Teil würde man also heftig mit allen Urlaubsklischees spielen müssen. Beim Einpacken wird die Hälfte vergessen, vor der Paßhöhe oder im Tunnel streikt der Motor, in einer engen Gasse wird ein Obststand umgefahren, die Ferienwohnung ist nicht frei, und die Tochter läßt sich mit einem sinistren Spanier ein.
~ Ich fühlte mich ausgelaugt, als ich endlich wieder allein war, hatte zuviel geraucht, zuviel zugehört, zuviel genickt und zuviel geheuchelt. Aber ich hatte den Auftrag für ein Exposé und zwei Outlines in der Tasche, die ich bis Mitte Februar abliefern sollte. Damit war meine Mitgliedschaft in der Spie ßerversorgungsbranche wieder um vier Wochen verlängert worden. Herr Vohrer war mit dem Zug nach München unter wegs, und ich mußte nicht befürchten, ihn auf dem Flug hafen wiederzutreffen, also holte ich den Wagen aus der Tiefgarage und stotterte mich durch den Feierabendverkehr aus der Stadt.
~ Es war dunkel, als das Flugzeug losraste und abhob. Nach dem die Lichter von Stuttgart unter den Wolken verschwun den waren, gab es nichts mehr zu sehen, also lehnte ich mich zurück und schloß die Augen, um meine Erschöpfung in Ruhe auszukosten. Ausgereizt. Wie konnte ein Schauplatz wie Venedig jemals ausgereizt sein. So klotzdumm konnten doch nur Fernsehleute daherreden. Nein, das stimmte sicher 115
nicht. Das konnten alle anderen auch. Deswegen versuchte man doch als Fernsehmensch, so hohl, platt und oberfläch lich wie die quotenbringende Herde zu denken. Und ich hatte kein Recht, mich als gequälten Künstler zu stilisieren, dies war eine Industrie, die versuchte, mehrheitsfähige Pro dukte herzustellen, und ich war einer ihrer Zulieferer. Die Welt war böse, und ich versuchte nach Kräften, auch böse zu sein. Selber schuld, wenn ich das nicht hinbekam. Basta. Es gelang mir nicht, mit diesem kleinen Plädoyer für Ruhe in meinem Kopf zu sorgen. Ich mußte weiterschimp fen. Was war mir nicht alles schon als »ausgereizt« abge schmettert worden. Ganze Themenbereiche wurden in dieser Branche hektisch abgefrühstückt, um dann ein Jahr später für immer vom Zettel zu verschwinden. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie alle hinter einer »Babykomödie« her waren, dann waren es Geschichten über Mißbrauch, dann Geschichten über Behinderungen und Krankheiten, Geschichten mit Schutzengeln, irgendwas mit Mauerfall, Scheidungsterror, Hochzeitskomödien und was nicht noch alles. Ich hatte längst den Überblick verloren. Erst nach dem Überqueren der Alpen ließ das innere Ge rede endlich nach, und ich begann mich zu entspannen. Im merhin fliegst du gerade in die schönste Stadt der Welt, was verschwendest du Energie an stumpfsinniges Gemecker, das dich selbst schon seit Jahren langweilen sollte, dachte ich und bemerkte, daß die Wolkendecke verschwunden war und man Lichter sah. Zehntausend Meter tiefer waren das Leben und die Welt, waren Dörfer, Städte, Weiler und Einsiede leien, und ich flog erhaben darüber hin und vergeudete den Augenblick mit redundantem innerem Geschwafel. Das war unangemessen.
~ 116
Und dann kam das Blinken und Glitzern von Mestre und Umgebung in Sicht, und ich mußte mich auf meine Lande angst konzentrieren. Der labile Zustand des immer lang samer werdenden Flugzeugs bringt mich jedesmal aus dem Gleichgewicht. Auch wenn ich versuche, so blasiert, ge langweilt und abwesend wie ein weltläufiger Vielflieger dreinzublicken – es geht mir direkt in den Magen, und die Verkrampfung, die meinen ganzen Körper erfaßt, läßt erst nach, wenn das Tempo der Maschine auf der Landebahn so weit gedrosselt ist, daß ein Unfall nicht mehr alle zerfetzen kann. Also erst auf den letzten paar Metern vor dem Ein biegen in Richtung Halteposition. Gräßlich. Es ist jedesmal gräßlich.
~ Fürs Taxi mußte ich Schlange stehen. Zum Glück nicht lange, denn der Flug war nicht sehr voll gewesen. Die Luft war mild und klar, nur ein leichter Wind zauste die Frisur der einen oder anderen wartenden Schwäbin und kräuselte die Wellen, die glucksend an die Bootswände und Stege klatschten. Das hörte man aber nur gelegentlich, denn die Motoscafisti machten mit ihren Rufen und Anordnungen fast genausoviel Lärm wie ihre Motoren. Später auf dem Boot wollte ich eigentlich stehen und über die Lagune schauen, aber der Fahrtwind war kalt, also hob ich mir das feldherrliche Einfahren für die letzten paar hun dert Meter auf, den grandiosen Teil der Fahrt, als das Boot auf San Marco zufuhr und den Canal Grande entlang bis zur Anlegestelle Accademia. In der Stadt war es warm, kein Lüftchen ging, und ich öffnete meinen Mantel, noch bevor ich festen Boden unter die Füße bekam. Und nach ein paar Metern zog ich ihn aus 117
und nahm ihn über den Arm. Hier war Frühling. Das Ge räusch meines Rollkoffers ging mir auf die Nerven, es hallte schmatzend und tuckernd von den Hauswänden wider, es klang verklemmt und auftrumpfend zugleich, es klang un passend, respektlos, spießig, als latsche hier ein bierfetter Trainingsanzug mit Baseballkappe durch eine Fremde, an deren Eigenheiten herumzunörgeln er keine Gelegenheit auslassen will. Niemand außer mir war unterwegs, und bis zum Hotel waren es nur knapp hundert Meter, deshalb nahm ich das Ding nicht in die Hand, ich beeilte mich nur, um das dumme Geräusch abzukürzen.
~ Ich packte nicht aus, stellte mein Gepäck nur im Zimmer ab und ging sofort nach draußen. Der Portier hatte mir ein Lokal am Zattere empfohlen, aber ich wandte mich nach links, zurück zum Ponte dell’Accademia, denn dahinter lag der Campo Santo Stefano, an dem ein Internetcafé sein sollte. Ich hatte den ganzen Tag nichts gegessen, den Imbiß im Flugzeug ausgeschlagen und nur einen Whisky genom men – jetzt riß der Hunger von innen an mir, aber ich blieb auf der Brücke stehen, um den Blick in beide Richtungen auf mich wirken zu lassen. Ich suchte nach einem Gefühl der Freude, der Begeisterung oder Aufgeregtheit in mir, aber da war nur der Hunger. Und etwas wie Verlegenheit. Der Grund, aus dem ich hier war, fiel mir wieder ein. Am Campo gab es ein Lokal mit Fotos auf der Speise karte und voller junger Leute. Wenn das nun die Münchner Gruppe war? Egal. Jana wußte nicht, wie ich aussah. Ich war nur irgend jemand. Irgendein Mensch, der in Venedig her umlief. Ich ging rein und ließ mir einen Tisch zeigen, ganz 118
hinten an der Wand. Den Katzentisch neben der Küchen tür. Ich sah mich um. Es waren Engländer oder Iren. Jeden falls die, die so laut herumkrakeelten, daß ich ihre Sprache erkannte. Vielleicht auch Schotten oder Waliser. So genau konnte ich die Klänge nicht unterscheiden. Und die Pizza schmeckte schon so fies, daß ich es mir ersparte, einen Schluck von dem Wein zu probieren.
~ Wenigstens war ich satt, als ich das Lokal verließ. Oder war mir schlecht? Vor Aufregung? Von der Pizza? Egal. Das Internetcafé lag an der nächsten Ecke. Ich ging langsam, um meine Zigarette aufzurauchen.
~ Und? Wie kommt die neue Gartengestaltung? Und war die Gattin schon beim Anwalt? Und das war noch nicht mal alles, da kommt noch was. Aber was? Und wohin? Auf die markante Nase? Schaumermal.
~ Keine Antwort an die Mickymaus. Nur löschen. Und ver gessen. Es gab Wichtigeres.
~ Mockelchen, gehst du auf Reisen? Ich würd’s dir ja gönnen, du sitzt jetzt schon seit Oktober an deinem Schreibtisch und kannst ein bißchen Luft um die Nase vertragen, aber lieber käme ich natürlich mit. Wohin mußt du? Oder darfst du? 119
Hier geht alles seinen gleichmäßigen Gang, ich hab eigentlich nichts zu erzählen. Nur, daß ich gestern einen relativ gemütlichen Tag hatte. Bloß vier Paare und ein Reiseunternehmer, der vielleicht mehrere Apartments übernimmt. Und morgen kommt Lukas für ein paar Tage. Darauf freu ich mich richtig. Wenn es so ruhig weitergeht, kann ich mit ihm ein bißchen die Insel erkunden. Aber nicht daß du mir jetzt wieder eifersüchtig wirst. Lukas ist immer noch elf, und bis er als Liebhaber in Frage kommt, bin ich steinalt. Na ja, das weißt du ja, und du weißt auch, wie sehr ich ihn mag, und daß ich ihn Tom am liebsten abkaufen würde. Ich muß immer wieder an uns denken, wenn sich eins der netteren Pärchen hier umschaut, wenn man merkt, wie sie versuchen, rücksichtsvoll zu sein, die Interessen des anderen mit einzubeziehen, abzuwarten, ob der andere vielleicht hingerissen ist, bevor man selber was auszusetzen findet. Manche sind so. Wir wären bestimmt auch so. Es ist schon komisch: Paare sind andere Lebewesen. Dieselben Leute allein wären vermutlich viel durchsetzungsfreudiger oder schneller entschieden, aber als Paar sind sie (die netteren meine ich) vorsichtig, manchmal zögerlich, immer mit so einem schnellen, kleinen, scheelen Blick auf den anderen zwischenrein, ob er einverstanden ist, ob er es auch so sieht, ob man ihn nicht aus Versehen überfährt mit irgendwas. Süß. Und ein bißchen traurig. Sie sind dann wie halbe Menschen. Zwei halbe. Anstatt doppelt. Nehm ich dir viel Bewegungsfreiheit weg? Wenn du willst, reden wir mal darüber, wenn ich wieder da bin. Ich will nicht, daß du ein halber Mensch bist wegen mir. Oder nur da, wo es unbedingt sein muß. Du fehlst mir schon. Ich liebe dich, Fussel.
~ Lieber C. U., ich wußte gleich, nachdem ich es abgeschickt hatte, daß das blöd war. Ich rang noch eine Minute lang mit mir, ob ich gleich 120
hinterher eine Entschuldigung schreiben sollte, aber ich hörte nicht die richtigen Worte in meinem Kopf, und die Zeit war knapp, also hoffte ich, Sie nicht allzusehr damit zu verärgern oder zu stören. Das hat nun leider nicht geklappt. Jetzt schwanke ich hin und her zwischen Reue, weil es mir leid tut, daß ich Ihren ausdrücklichen Wunsch, dieses Thema zu meiden, ignoriert habe, und Trotz, weil ich finde, daß Sie so nicht mit mir reden sollten. Das ist eine dumme Zwickmühle. Aber vielleicht gerade deswegen, weil ich in dieser dummen Zwickmühle stecke, fällt mir auf einmal etwas Bemerkenswertes auf: Ich flirte mit Ihnen. Das war mir vorher nicht klar, aber jetzt spüre ich deutlich den Wunsch, Ihnen Reaktionen zu entlocken, die auf eine Art von Kompliment an mich hinauslaufen sollen. Und das ist mir wohl gelungen, denn daß Sie es ein Privileg nennen, mit mir zu schlafen, daß Sie mich zu etwas Besonderem erklären, daß Sie mein Gerede über den Professor für bare Münze nehmen – das spricht alles dieselbe Sprache: Sie sind an mir interessiert. Und das gefällt mir. Und gleichzeitig schäme ich mich auch, ein so kindisches oder anzügliches oder frivoles Spiel mit Ihnen zu treiben – schließlich haben Sie klar gesagt, daß Sie auf so was nicht aus sind. Ich verwirre mich selber. Ich will doch gar kein Spiel mit Ihnen treiben, ich will Sie doch nicht anlocken, ich will die Zuchtwahl-Schrägstrich-Samenverteilungsebene überhaupt nicht betreten, und trotzdem tu ich es. Ich bin mir im Augenblick selbst ein Rätsel. Eigentlich wollte ich Ihnen Voluten und Kanneluren (haben eher mit Cannelloni als mit Zimt zu tun) erklären und von der beeindruckendsten Kirche des Tages erzählen, nämlich Santi Giovanni e Paolo, aber meine Erkenntnis, daß ich das Weibchen spiele und Sie damit zum Männchen machen will, hat mir irgendwie die Luft rausgelassen. Und auf einmal habe ich das Gefühl, mich schriftlich nicht richtig ausdrücken zu können. Wären Sie hier, könnten wir jetzt auf irgendeiner Treppe sitzen und einfach so daherreden, dann würde ich es vielleicht schaffen, meine Gedanken 121
zu sortieren, oder Sie würden mich vielleicht dazu bringen, einen klaren Gedanken zu fassen. Bitte glauben Sie mir: Ich will das nicht. Ich tu es zwar, aber ich will es nicht. Seien Sie mir nicht böse. Jana
~ Es gab sicher mehrere Internetcafés in Venedig, aber viel leicht hatte sie das alles auch hier geschrieben. Vielleicht war ihr Hotel irgendwo in der Nähe, kam sie jetzt gerade auf das Café zu, um weiterzuschreiben, sich zu korrigieren, sich besser zu erklären oder um nachzusehen, ob ich schon ge antwortet hatte. Sollte ich antworten? Ich wußte nicht, was. Ich beherrschte mich, unterdrückte den Impuls, mich im Café umzusehen, starrte auf den Bildschirm, sah mich dann doch um und konnte mich zu nichts entschließen. Ich sollte in dieser Stimmung auch Fussel nicht antwor ten. Jeder Satz wäre eine Lüge, weil ich mir den Kopf über Jana zerbrach, weil ich ihretwegen hier war, sie entdecken und beobachten wollte und wer weiß was noch. Und zu Lukas, dem Sohn aus Toms geschiedener Ehe, fiel mir nichts ein. Ich kannte den Jungen nicht, hörte mir nur immer ge duldig Fussels Schwärmereien an. Geduldig, aber mit Miß trauen, denn ich glaubte, ihre Zuneigung zielte auf den Vater und nahm nur den unverfänglichen Umweg über den Sohn. Manchmal glaubte ich das. Aber jetzt war es mir egal. Ich hatte Angst davor, ihr zu gestehen, daß ich hier war. Ich mußte auf jeden Fall das Handy ausgeschaltet lassen. Meine Stimme würde mich verraten. Schriftlich konnte ich es irgendwie schaffen, meine Scham über diesen Ausflug zu kaschieren. Stimmlich wäre das unmöglich. Ich bezahlte und ging raus in Richtung Markusplatz. Ich brauchte was zu trinken. 122
Janas Hotel würde nicht hier in der Gegend sein. Die bil ligeren lagen alle in der Nähe des Bahnhofs und beim Piaz zale Roma, hier in San Marco und Dorsoduro waren die Zimmerpreise nicht für Studenten gedacht. Aber sie konnte mir jederzeit entgegenkommen, denn zwischen Accademia, Rialto und dem Markusplatz fand der größte Teil des touri stischen Lebens statt. Hier bummelte man, wenn man für den Tag genügend Kirchen gesehen hatte, um sich die gefälsch ten Handtaschen der schwarzen Straßenhändler und die Aus lagen der Designerläden anzusehen, an den unbezahlbaren Hotels wie Gritti oder Bauer-Grünwald vorbeizuschlendern oder die Schmachtmusik aus den beiden berühmten Cafés Florian und Quadri auf der Piazza zu genießen. Ich sah mög lichst unauffällig in jedes mir entgegenkommende Gesicht. Den Markusplatz überquerte ich zügig und wollte eigent lich weiter in Richtung Rialto, als mir einfiel, daß es ver mutlich schon zu spät war, um irgendwo einzukehren. Ve nedig hat kein Nachtleben. Das letzte bißchen gab es hier auf dem Platz. Also setzte ich mich an einen der Tische vor dem Quadri und bestellte bei dem sofort auftauchenden Kell ner einen halben Liter Rotwein. Und wußte, ich würde ein Vermögen dafür bezahlen. Es war kalt. Und erstaunlich viele Touristen tummel ten sich hier. Wenn man bedachte, daß der Januar nicht gerade ein klassischer Reisemonat ist und Venedig im Nebel eigentlich niemanden locken sollte. Waren das alles Kunst genießer? Studenten? Da streunten immerhin ziemlich viele junge Leute herum, die sich nicht in eins der Cafés setzten, weil die absurden Preise ihre Budgets sprengen würden, sie schlenderten einfach so über den Platz, lümmelten auf Trep penstufen und zogen ihre Wintermäntel oder Daunenjacken enger, um wenigstens als Zaungäste dabeizusein. Ich fühlte mich auf einmal ausgestellt. Wie eine aussterbende Spezies. 123
Der geneppte Quadri-Gast, einer der letzten seiner Art, ält lich, dumm und ohne Musikgeschmack, kommt nur noch an Orten wie diesem vor. Hoffentlich sieht mich keiner, wie ich den Wein rein schütte, dachte ich, aber mir war kalt geworden, und ich mußte auf die Mails antworten, also winkte ich dem Kellner und bezahlte das fällige Vermögen, um mich eilig zurück in Richtung Campo Santo Stefano auf den Weg zu machen. Das Internetcafé hatte die Nacht durch offen.
~ Fusselchen, mach dir doch keine Sorgen über so was, du schränkst mich nicht ein. Selbst wenn wir für die Augen eines Fremden auch so ein vorsichtiges Pärchen abgeben würden, was wäre denn falsch daran? Ich finde das gut, wenn zwei Leute, die sich das Leben teilen, so aufeinander eingestellt sind, daß man es von außen sieht. Wenn sie nicht gerade die gleichen Anoraks tragen. Ich will gern deine schlechtere Hälfte sein und finde das nicht traurig. Ich bin in Venedig. Heut geflogen und jetzt grad in einem Internetcafé. Es ist allerdings kalt und feucht, und ich weiß nicht so recht, ob ich es die drei gebuchten Tage hier aushalte. Schön ist es natürlich wie immer, aber ich glaube, ich zieh nur schnell meine Recherchen durch – ich will eine Restaurateurin hier arbeiten lassen –, und dann nix wie heim. Kälte ist bei uns irgendwie besser als hier. Kennst du noch Kälte? Das kannst du dir sicher schon gar nicht mehr vorstellen auf deiner sonnigen Insel. Weiß nicht, wann ich mich wieder melden kann, aber ich versuch’s morgen abend. Hab dummerweise das Handy zu Hause liegenlassen. Deshalb nur E-Mail. Fröstel, bibber, schnatter, dein Mockel
~ 124
Eine Lüge nach der anderen. Es war nicht besonders feucht hier, und mit der Kälte hatte ich auch übertrieben. Als ich ankam, war es frühlingshaft gewesen. Und das Handy lag in meiner Tasche. Von einer Restaurateurin ganz zu schwei gen. Aber warum eigentlich nicht? Die schrille Mutter könnte sich doch in einen Restaurateur verlieben und des halb alle nach Venedig schleppen. Unsinn. Die Kulisse war abgeschmettert. Ausgereizt. Alles gelogen.
~ Liebe Jana, jetzt wird’s ja wirklich kompliziert. Auf welche Seite von Ihnen soll ich denn nun reagieren? Auf die »Ichtueszwar-Seite« oder auf die »Ichwillesabernicht-Seite«? Ganz bestimmt wär’s einfacher, wir könnten auf irgendeiner Treppe sitzen und reden, aber es muß nun mal auch so gehen. Irgendwie muß es gehen, daß unser Verhältnis auf annehmbaren Übereinkünften basiert. Eine Melange aus Motiven, die von Geistesverwandtschaft oder Freundschaft bis zu Begehrlichkeit alles Mögliche beinhalten könnte, dürfen wir nicht einreißen lassen. Vielleicht sind Sie ja nur ehrlicher als ich. Vielleicht bin auch ich von Ihrem Charme und Liebreiz beeinflußt, immerhin habe ich ein höchst »anziehendes« Foto von Ihnen im Hinterkopf, aber Ehrlichkeit hin oder her – es geht eher darum, was man sich erlaubt und was nicht. Ich erlaube mir keinen Flirt mit Ihnen. Und ich erlaube Ihnen keinen mit mir. Tja, so redet man als Mann. Zackzack, Basieren, Einreißenlassen, Erlauben – ich weiß schon, daß diese Worte nur ohnmächtiges Gebrüll sind, der Sound der Hilßosigkeit, deshalb bitte ich ja so eindringlich um Ihre Hilfe. Lassen Sie uns eine Verbindung behalten, die nicht im Schlamassel enden muß. Und danke für das Kompliment. Ich bin mir dessen bewußt, daß Ihre Ehrlichkeit und Ihr Wunsch, mich anzuziehen, eine Ehre 125
sind, eine Art Lob oder zumindest eine Art von Zuneigung offenbaren, die ich wert sein möchte. Ohne mein Leben und Ihres zu versauen. Derart löblich sprach, wie ebenso blöd der Ritter vom Dienst, für den es klar ist, daß er seiner Dame nicht an die Wäsche darf. Schade eigentlich. Seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrem C. U.
~ Auf dem Campo war kein Mensch mehr, und ein scharfer Wind biß mir ins Gesicht, als ich mich schnell in Richtung Brücke bewegte. Ich mußte den Kopf im Mantelkragen ver stecken, so gut es ging, um nicht von diesem fauchenden Element die Haut abgezogen zu kriegen. Auf der Brücke war es am schlimmsten. Dieser Wind war ein Rausschmei ßer, er sagte, Schluß jetzt, Leute, ab ins Bett, morgen ist wie der Flanieren. Im Hotelzimmer merkte ich, wie müde ich war, ich schaffte es gerade noch, mir die Kleider vom Leib zu schä len, das Licht auszuknipsen und, schon schlafend, ins Bett zu sinken.
9
Wieder so ein Frühlingstag. Am Himmel dicke Plusterwolken und strahlendes Blau. Die Sonne war von meinem Fenster aus nicht zu sehen, sie mußte irgendwo über dem Lido oder Flughafen stehen. Ihr Licht war aber da, und mit zwanzig oder dreißig hätte ich gejauchzt oder versucht, ein Gedicht zu schreiben. Mit fünfzig tritt man Gefühlsaufwallungen dieser Art in soignierter Gelassenheit entgegen, man hat doch schon so vieles gesehen, gefühlt, er wartet und verpfuscht, daß man sich keine höheren Pegel ausschläge mehr erlaubt. Oder zutraut. Feige ist das. Oder faul. Vielleicht ist das das Schlimmste, dachte ich beim Du schen und Rasieren, daß man sich für erfahren hält und glaubt, alles müßte von nun an flach und blaß daherkom men. Wieso denn? Ich hatte Grund zu jauchzen. Ich war in Venedig, die Sonne schien, der Cappuccino würde wun derbar schmecken, wieso stilisierte ich mich zum müden Greis, anstatt die Treppe hinunterzusteppen? Nur weil mich jemand dabei sehen konnte? Und wenn schon. Ich steppte nicht. Und sie hatten im Frühstücksraum auch keinen Cappuccino, nur dieses bittere Gebräu mit hei ßer Milch. Ich mußte mir draußen ein Café suchen.
~ 127
Schräg gegenüber dem Eingang des Accademia-Museums stellte eine junge Frau die Stühle zurecht und verteilte Aschenbecher auf drei Tischchen, die in der nächsten halben Stunde von dem Keil Sonnenlicht erreicht werden würden, der sich schon über die Hauswand auf den Boden zube wegte. Ich setzte mich. Am Kiosk hatte ich eine Zeitung bekommen, von gestern zwar, aber immerhin. Ich schlug sie auf, nachdem ich bestellt hatte, aber ich schaffte es nicht, mich auf den Text zu konzen trieren. An diesem Ort durfte man nicht lesen. Man mußte die Augen auf die Leute, die Anlegestelle, die Brücke, den Canal Grande und die Paläste richten. Es wäre eine Sünde. Ich legte die Zeitung auf den Stuhl neben mir. Diese gepflegten alten Damen mit ihrem Schmuck, den hellblauen Haaren und den eleganten Sonnenbrillen hatten mich schon bei früheren Besuchen entzückt. Warum sieht in Deutschland kein alter Mensch so aus? Wer zwingt sie dort, beige Anoraks und betonharte Herrenschnittfrisuren zu tra gen? Wer dekretiert in Deutschland Khakipflicht ab sech zig? Und warum fällt das hier niemandem ein? Die Damen tragen, was ihnen steht, und sind hübsch wie seltene Vögel. Und trotzdem ist es traurig, alt zu sein, dachte ich, das weiß jeder, ich auch, und ich bin darauf nicht vorbereitet. Ich bin noch nicht soweit. Inzwischen hatte sich der Platz belebt und das Sonnenlicht mein Knie erreicht. Immer mehr Leute betraten das Mu seum, immer mehr entstiegen den Vaporetti und eilten irgend wohin, Kunststudenten mit riesigen Mappen schlurften in kleinen Pulks vorbei, und immer mehr Silhouetten zeichne ten sich auf der Brücke gegen das grelle Sonnenlicht hinter ihren Rücken ab. Und der Cappuccino schmeckte großartig.
~ 128
Und was jetzt? Flanieren? Nach einem Geschenk für Fussel suchen und dabei jede Kirche kontollieren? Ob eine Gruppe Studenten drin ist? San Marco, den Dogenpalast und Santi Giovanni e Paolo konnte ich auslassen, die hatte sie schon gesehen. Das, was ich mir da vornahm, war ziemlicher Blödsinn, auf diese Weise konnte ich dreihundert Meter hinter ihr durch Venedig hetzen, aber was sollte ich sonst tun. Etwas anderes, als dem Zufall zu vertrauen, blieb mir gar nicht übrig. Also los. Aber vorher noch kurz ins Internetcafé, vielleicht hatte sie gestern nacht oder heute früh noch geschrieben. Viel leicht sogar, was sie heute vorhätte, dann könnte ich gezielt zum genannten Ort gehen und dort auf sie warten.
~ Kann es sein, daß ich Sie gesehen habe? Daß Sie in Venedig sind? Und vor einer Viertelstunde am Markusplatz saßen, vor dem Quadri, vor einem eilig getrunkenen Rotwein, in einem schwarzen Mantel? Stimmt das? Sind Sie hier? Falls ja, falls Sie das wirklich sind, dann sitze ich jetzt in diesem Internetcafé so ziemlich direkt hinter Ihnen und schreibe diese Mail, denn ich bin diesem Mann gefolgt zum Campo Santo Stefano und hier rein. Ich saß im Quadri innen und konnte Sie lang genug ansehen, um die Ähnlichkeit mit dem Foto von Ihnen auf der Homepage Ihrer Agentur frappierend zu finden. Da ist ein Gruppenfoto von einem Weihnachtsfest, und Sie sind der siebte von links in der vordersten Reihe, zwischen Rufus Beck und Gudrun Landgrebe. Ich weiß jetzt überhaupt nicht, was ich tun soll. Ich trau mich nicht, Sie anzustupsen – wenn Sie es nicht sind, dann zieht der Mann die Augenbrauen hoch und antwortet mir auf polnisch, ukrainisch, italienisch oder was weiß ich, wenn Sie es aber doch 129
sind, dann schauen Sie vielleicht gleich in Ihre Mail und sehen diesen Text. Dann sitze ich hinter Ihrer linken Schulter und surfe ziellos im Netz herum.
~ Lieber C. U. Sie haben einen Doppelgänger hier in Venedig. Vergessen Sie meine vorangegangene Mail. Oder Sie sind es doch, und meine Post kam nicht mehr rechtzeitig bei Ihnen an? Der Mann jedenfalls, den ich für Sie gehalten habe, ist irgendwann gegangen, ohne sich nach mir umzudrehen, deshalb schicke ich jetzt schnell noch diese Mail hinterher, um entweder a. mich für den Unfug zu entschuldigen, den ich geschrieben habe, oder b. Ihnen ein Uhr mittags hier auf dem Platz als Treffpunkt vorzuschlagen. Ich erkenne Sie dann schon. Haha. Jetzt bin ich aufgeregt und habe keine Ahnung, ob ich einschlafen kann. Aber ich geh trotzdem los, weil ich seit sieben Uhr heute morgen auf den Beinen bin und noch ein gutes Stück Weg bis zum Hotel vor mir habe. Es ist am anderen Ende der Stadt. Ich bin verwirrt und weiß nicht, was ich fühle, aber wenn Sie das wirklich sind, dann freu ich mich. Ihre Jana
~ Zehn Uhr dreiundzwanzig. Genügend Zeit, mich noch aus dem Staub zu machen. Ich löschte nicht einmal den Werbe mist aus meinem Postfach, ich saß einfach nur da und starrte auf den Bildschirm. Vielleicht zehn Minuten, vielleicht län ger. Ich drehte mich nicht um. Was jetzt? Ab zum Flughafen oder Bahnhof und das nächste Fluchtfahrzeug besteigen? Und vorher noch schnell eine Mail schreiben, daß ich das nicht gewesen sei? Das war 130
das einzige, was ich tun konnte. Tun mußte. Es war unmög lich, saupeinlich und nicht in logischen Worten erklärbar, wenn sie mich dabei erwischte, daß ich in Venedig hinter ihr her schlich. Also nichts wie weg. Und wenn sie hier saß? Links hinter mir wie gestern? Und nur darauf wartete, daß ich aufstand und mich um wandte? Sie konnte ja früher gekommen sein, um zu sehen, ob der Mann wiederkam, seine E-Mail öffnete, vielleicht ihm über die Schulter linsen und feststellen, ob es ihre war? Ich schaffte es nicht, mich umzusehen. Aber aufzustehen, zur Theke zu gehen, zu bezahlen und mich aus dem Staub zu machen, das schaffte ich, denn in zwischen hatte mich die reine Panik erfaßt, und ich wollte nichts weiter, als auf dem schnellsten Wege zum Hotel, zum Vaporetto, zum Bahnhof und in den nächsten Zug nach Mailand oder München. Der Flug war nicht umzubuchen, und ein normaler Linienflug würde das Dreifache kosten.
~ Ich hatte das Foto vergessen! Wer sieht sich denn so was an? Es steht irgendwo hinter vielen Clicks auf der Homepage der Agentur versteckt. Sie mußte danach gesucht haben. Bezahlt und ausgecheckt war schnell, und diesmal störte mich das Geräusch der Kofferrollen nicht. Zumal sich der Himmel zugezogen hatte und ein leichtes Nieseln entließ, alle beeilten sich, dem Regen zu entkommen, und niemand hielt sich mit Geräuschen auf. Ich rannte zum Vaporetto. Es war die Linie eins, also konnte ich wenigstens noch alles sehen, was am Canal Grande lag, denn das Boot klap perte jede Haltestelle rechts und links ab. Ich fliehe, wie ein Feigling, dachte ich, dabei könnte ich doch einfach so tun, als wär ich’s nicht. Die Chance, daß sie mich noch mal sieht, 131
ist gering, die Chance, daß sie mich anspricht, noch gerin ger, denn sie muß ja dann glauben, sie hätte sich getäuscht. Ich renne weg wie aufgescheuchtes Wild. Aber ich wußte, ich tat gut daran, denn meine Augen würden mich verraten. Sollte ich ihr wirklich über den Weg laufen, dann würde ich es nicht schaffen, sie anzusehen, als wäre sie nur irgendwer. Ich würde sie erkennen. Und daran würde sie mich erkennen. Das war sicher. Ich wich ein Stückchen zurück, als ich auf dem Bal kon des Ca’ d’oro eine Gruppe junger Leute stehen sah. Sie konnte dabeisein.
~ Vor dem Fahrkartenschalter wartete eine Zwanzig-MeterSchlange, also ging ich weiter, fand einen Zug nach Mün chen auf der Anzeigetafel, rannte, denn die Abfahrt war in zwei Minuten von Gleis elf, und erwischte den ersten, das heißt natürlich letzten Wagen kurz vor dem Pfiff der Schaff nerin. Diese ganze peinliche Entwicklung hatte ein Gutes: Ich konnte nun nicht mehr auf die Idee kommen, mich mit Jana treffen zu wollen. Unser Verhältnis war nur noch virtuell möglich, denn sie würde mich erkennen. Und dann gäbe es zwei Dinge, die ich nicht erklären konnte. Wieso ich in Venedig gewesen und wieso ich dann abgehauen war. So potenzierte sich das Unwürdige an der ganzen Sache und bewahrte mich vor Impulsen in Richtung Affäre, Liebelei, Flirt – mehr als eine Brieffreundschaft war jetzt nicht mehr drin. In Mestre stieg eine Gruppe von Rucksacktouristen zu, und ich machte mich, nach einem Blick in den Geldbeutel, auf, um die Erste Klasse zu suchen. Bis München würde es 132
reichen, dort konnte ich an einem Automaten wieder wel ches holen. Was für ein Luxus, dachte ich, einfach einen Zug bestei gen zu können, und dann auch noch einfach in die Erste Klasse zu wechseln, wenn einem danach ist. Und einfach irgendwo Geld aus der Wand zu ziehen, wenn es ausging. Eins der Privilegien, wenn man älter ist. Mit zwanzig ging das nicht. Da mußte jeder Cent umgedreht werden, und ein Glas Wein mehr hier bedeutete eine Packung Zigaretten weniger dort.
~ Ich teilte mir die wenigen Zigaretten ein, durfte nur jede Stunde eine rauchen, und weil ich nichts zu lesen dabei hatte, starrte ich aus dem Fenster auf das Veneto, Trentino, die Alpen, Tirol und Bayern. Mindestens sechs Stunden ins gesamt, denn ich schlief nur hin und wieder für kurze Zeit ein. Fast die ganze Fahrt über hatte ich das Abteil für mich, nur in Bozen stieg ein Mensch mit Janker und Rolex zu und blieb bis Innsbruck sitzen. Zum Glück las dieser Mensch seine »Kronenzeitung« von vorn bis hinten durch und schlief dann ein. Außer einer höflichen Begrüßung, einem »Wie derschaun« und »Gute Weiterreise« wurde nichts geredet.
~ Es war kurz vor halb neun, als ich in München ausstieg. Ein Zug nach Stuttgart ging zehn vor zehn, also hatte ich noch Zeit, mir ein Internetcafé zu suchen, Geld zu ziehen und irgendwas zu essen.
~ 133
Hallo Schnuckiputzi, wie gefällt dir die neue Klimaanlage? Alles Bio und voll umweltfreundlich. Gut, nicht?
~ Mockelchen, das ist ja toll. Venedig. Ich bin ganz neidisch. Wo wohnst du? In San Marco? Hab leider keine Zeit, muß sofort wieder hinter ein paar Schwyzer Spießerli herdackeln. Hab’s schön und genieß die Stadt, auch wenn’s kalt ist. Melde mich bald mit längerer Mail, dein Fussel.
~ Lieber Christian, jetzt hab ich mich lächerlich gemacht. Bin einem Kerl hinterhergestiefelt, den ich für Sie hielt, habe gehofft, daß er sich nach mir umdreht, hab auf ihn gewartet heute mittag, und natürlich kam er nicht. Das ist mir peinlich. Aber ich hätte schwören können, daß Sie das waren. Ich muß gleich wieder los, nachher sehen wir uns zwei Palladio-Kirchen an und eine dritte, die posthum nach seinen Plänen gebaut wurde. Ich muß versuchen, mich wieder auf die Architektur zu konzentrieren, bin ganz durcheinander vom Detektivspielen, Rendezvousverabreden und Spekulieren. Heute abend mehr, Ihre Jana.
~ Was meinte der bloß mit Klimaanlage? War das einer dieser schülermäßigen Streiche, bei denen telefonisch teure Sachen bestellt werden? Wartete womöglich zu Hause irgendein Riesengerät auf mich? Oder war der Kerl eingebrochen und hatte mir einen Schneemann ins Wohnzimmer gebaut? Ich würde es rausfinden. 134
Jetzt hatte ich zu großen Hunger, um auf die Mails von Fussel und Jana zu antworten. Vielleicht konnte ich mich ja heute nacht, wenn ich endlich zu Hause war, noch an den Computer setzen.
~ Als ich in Stuttgart nach Mitternacht aus dem Zug stieg, war ich zu müde, um mir noch ein paar Stunden Autofahrt zu zutrauen. Außerdem schneite es, und ich hatte überhaupt keine Lust, mich auf der Autobahn mit schmalen Augen durch irgendein Schneegestöber zu tasten. Nicht mitten in der Nacht. Ich nahm mir ein Zimmer im Intercity-Hotel, wo ich mir noch irgendeinen Actionquark im Fernsehen ansah und dann einschlief.
10
Der Anblick war abscheulich. Nach knapp vier Stunden Autobahn, diesmal über Karlsruhe, stand ich vor dem Haus und verstand, was mit »Klimaanlage« gemeint ge wesen war. Jedes der Straße zugewandte Fenster war einge schlagen worden. Irgend jemand, sicher Steffen und Moni, die Nachbarn, oder ein von ihnen gerufener Handwerker hatte die Löcher notdürftig mit Karton und Paketband ver klebt, darunter kamen die strahlenförmigen Sprünge hervor und sahen aus wie riesige Eisblumen. Die Mickymaus hatte einen Slum aus meinem und Fussels Heim gemacht.
~ Es war kalt in der Wohnung. Kein Wunder. Auf dem Eß tisch lag ein Zettel: Hallo Christian, hallo Eva, diese Verheerung haben wir Mittwoch abend hier vorgefunden, ich hab notdürftig geputzt, und Steffen hat die Scheiben zugeklebt. Die Polizei war schon da, von der Hartmann gerufen, die den Lärm hörte, ihr sollt euch bitte gleich melden, wenn ihr zurück seid. Glaserei-Fensterbau Friedrich haben wir schon verständigt, er hat noch am Abend alles ausgemessen und hofft, Donnerstag nachmittag schon mit dem Einbau anfangen zu können. Er hat meinen Schlüssel, weil ich erst gegen sieben von der Arbeit komme. Wir haben es auf Christians Handy versucht, aber da war 136
immer nur die Mailbox dran. Und Evas Nummer finden wir nicht mehr. Das ist eine furchtbare Sauerei, wer macht so was? Moni
~ Nachdem ich alle Zimmer inspiziert hatte, ertappte ich mich dabei, daß ich meine vor Wut zitternden Hände ein ums andere Mal schloß, als hätte ich die Gurgel des Bürschchens dazwischen. Ich mußte mich irgendwie beruhigen. Aber ich hatte keine Ahnung, wie. Ich erreichte Moni in ihrer Praxis, bedankte mich und versprach, am Abend reinzuschauen. Dann rief ich den Fen sterbauer an, der schon alles beisammen hatte und in einer Stunde mit den Scheiben dasein wollte, gab ihm die Handy nummer, schaltete mein Handy ein, löschte alle Mail boxnachrichten, ohne sie anzuhören, und ging raus, schloß ab und fuhr zum Polizeiposten.
~ Polizeimeister Vogel machte ein teilnahmsvolles Gesicht und schüttelte mir die Hand so kräftig und kurz, daß es übertrieben und aufgesetzt wirkte, und ich dachte, das hat er in einem Lehrgang gelernt. Beistand und Ermutigung per Handschlag ausdrücken. Beherzt und seriös. Der Mann müsse über den Carport geklettert sein und mit einem Wagenheber oder Brecheisen auf die Scheiben eingeschlagen haben, sagte PM Vogel, anders sei solche Ver wüstung nicht zu bewerkstelligen. Vor allem nicht in der kurzen Zeit. Frau Hartmann, die Nachbarin, hatte am späten Nach mittag, so gegen halb fünf etwa, ein Klirren gehört, sich aber zuerst nichts dabei gedacht. Dann, nach dem zwei 137
ten Klirren, hatte sie vom Balkon geschaut, aber wegen der dichten immergrünen Büsche und Fichten nichts erkennen können. Sie hatte sich nicht nach draußen getraut, aber nach dem letzten Klirren Schritte gehört, zuerst rumpelnde übers Dach, dann klatschende auf dem Weg. Der Mann sei ge rannt, nach unten zur nächsten Straße. Sie glaubt, dort noch Türenschlagen und ein Auto starten gehört zu haben, ist sich aber nicht sicher. Keine Beschreibung. Brauch auch keine, dachte ich und spürte, daß ich noch immer vor Wut verkrampft war. Ich würde morgen Mus kelkater haben. Sachbeschädigung sei kein Offizialdelikt, erklärte PM Vogel, also ermittle die Polizei nur auf ausdrücklichen An trag des Geschädigten. Diesen Antrag könne ich innerhalb eines Vierteljahres stellen, einmal zurückziehen, hernach aber nicht erneut stellen. Ich überleg’s mir, sagte ich und wußte, daß ich log. Das würde ich selber regeln, ich mußte, denn dieser ganze Schla massel durfte sich nicht auch noch zur Zeitungsmeldung auswachsen. Er mache vorsorglich darauf aufmerksam, sagte Vogel, daß die Versicherung ein Protokoll verlange, welches jeder zeit, unbeschadet vom Stellen eines Strafantrags, aufgesetzt werden könne.
~ Der Fensterbauer hatte einen Schlüssel, also konnte ich erst mal ins Büro gehen. Um all die gespeicherten E-Mails vom Server zu holen, nach der Post zu sehen und mir zu über legen, wie ich an das durchgedrehte Bürschchen herankom men konnte. Eins war klar: Der Kerl hatte überzogen. Jetzt war er dran. 138
Wie sollte ich das alles nur vor Fussel geheimhalten? Und wie Frau Hartmann, die keinen weiteren Lebensinhalt außer Tratschen, Blumengießen und Fernsehen hatte, zum Schweigen bringen? Und das, ohne einen Verdacht zu er regen. Das war unmöglich. Und Moni und Steffen? Was sollte ich denen sagen? Die Wahrheit? Das ging nicht. Un möglich. Sie waren nur Nachbarn. Keine Freunde. Duz nachbarn zwar, aber was hieß das schon. Daß man zweimal im Jahr ein Glas miteinander trank und sich im Herbst ab sprach, was der Gärtner alles schneiden sollte. Denen konnte ich nicht einen so intimen Freundschaftsdienst abverlangen, vor Fussel ein Geheimnis aus der Sache zu machen. Vielleicht sollte ich doch Anzeige gegen Unbekannt er statten und einfach von nichts eine Ahnung haben. Keine Ahnung, wer auf so was kommt, keine Ahnung, was ihn dazu treibt, keine Ahnung, was er sich davon verspricht, vielleicht ein Drogi, der einbrechen wollte, nicht rein kam und seine Wut an den Fenstern ausließ? War das plau sibel? Besser als Heimlichtuerei war es zumindest. Ich würde es nicht schaffen, alle, die davon wußten, zum Schweigen zu überreden. Das Ganze würde dadurch erst recht zur erzäh lenswerten Nachricht. Den Stapel überwiegend uninteressanter Post legte ich erst mal zur Seite. Das tat ich sonst nie, ich mußte immer alles gleich sortieren, erledigen, wegschmeißen oder abhef ten, aber jetzt gab es Wichtigeres.
~ Lieber C. U., hat Sebastian wieder was angestellt? Ich hab so seltsame Botschaften von ihm auf der Mailbox, daß ich ganz unruhig werde. Er redet davon, Ihren Kopf ausgelüftet zu haben, und ähn139
lich rätselhaftes Zeug. Hat er Sie angegriffen? Oder sind Sie auf Reisen? Vielleicht hat er irgendwas bei Ihnen zu Hause angerichtet, und Sie kommen heim und sind entsetzt. Nicht auszudenken. Jetzt hab ich so lange nichts von Ihnen gehört, daß mir schon ganz ängstlich zumute wird. Hoffentlich sind Sie nicht böse mit mir, wegen dieser Doppelgängergeschichte. Bitte melden Sie sich schnell, sobald Sie können, denn jetzt geht mir der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, Sebastian könnte Sie verletzt haben. Bis hoffentlich bald, Ihre Jana
~ Liebe Jana, ich war in Stuttgart und Köln und hatte einfach keine Zeit, mich mal für eine halbe Stunde in ein Internetcafé zu schleichen, deshalb kann ich erst jetzt reagieren. Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Mir ist nichts passiert. Ich war auch nicht der Mann, den Sie in Venedig gesehen haben. Schade, ich wär jetzt lieber dort als hier, denn Sebastian ist tatsächlich zu noch größerer Form aufgelaufen – er hat mir die Scheiben in der Wohnung eingeschlagen, als ich weg war. Zur Stunde ist der Glaser dabei, den Schaden in Ordnung zu bringen. Mir reicht es jetzt mit seinen Sperenzchen, deshalb bitte ich Sie, mir seine Adresse zu schicken, damit ich ihm, von Mann zu Mann sozusagen, die Sachlage erklären kann. Bevor er sich selbst um Kopf und Kragen, sein Stipendium oder die Kohle seiner Eltern und mich um den letzten Rest meiner guten Laune bringen kann, will ich versuchen, ihm den rechten Weg zu weisen. Keine Angst, ich bin kein Schläger oder so was. Aber einschüchtern würde ich ihn schon, wenn mir das gelänge. Bitte warnen Sie ihn nicht – ich möchte überraschend vor ihm stehen. Wie fanden Sie die Palladio-Kirchen? Ich kenne sie. Il Redentore auf Giudecca und San Giorgio Maggiore. Ich fand sie wundervoll. Nüchterner und purer als die anderen, die ich in Venedig 140
gesehen habe, aber von einer Ruhe und Raumwirkung, die mich beeindruckt hat. Die dritte, die nach Plänen von ihm gebaut ist, kenne ich aber nicht. Nur diese beiden. Machen Sie sich keine Sorgen, weder bin ich Ihnen böse, noch ist mir mehr passiert als Glasbruch in der Wohnung. Alles okay. Nur die Mickymaus muß gestoppt werden. Mehr davon brauch ich nicht. Machen Sie es gut und melden sich bald, Ihr C. U.
~ Ich brauchte zehn Minuten, um mich endlich zur nächsten Mail aufzuraffen. Den sprichwörtlichen Ruck mußte ich mir mehrmals geben, bis ich endlich soweit war, daß auch meine Finger mitmachten, um den Text in meinem Kopf auf den Bildschirm zu bringen.
~ Hallo Walter, ich weiß, wir grollen eigentlich noch, aber könnten wir ein Moratorium einlegen? Eine Pause? Paar Tage nur, dann grimmen wir wieder weiter, und du darfst mir an den Hals wünschen, was deiner Ansicht nach dorthin gehört, aber jetzt brauch ich erst mal deine Hilfe. Ein junger Mann aus München, der mir, aus Gründen, die ich dir nur ungern und unter größerem Druck erklären würde, nicht allzu gewogen ist, hat mir die Scheiben in der Wohnung zerdeppert. Ich will ihm einerseits die Rechnung präsentieren und ihn andererseits so gütlich wie möglich davon überzeugen, daß er Impulse dieser Art in Zukunft unterdrückt. Kann ich dazu erstens bei dir wohnen, zweitens deine imposante Körperlichkeit zur Unterstützung haben (hoffentlich nur psychologisch) und vielleicht sogar noch einen Kumpel, dem es Freude macht, sich gewaltbereit zu gerieren. Da du Krimiautor bist, kennst du dich doch aus mit bösen Men141
schen. Vielleicht kennst du sogar einen echten, den ich, gegen Honorar selbstverständlich, als Vollstrecker ausgeben könnte? Ihr müßtet euch nicht zwingend als Blues Brothers verkleiden, aber so in der Richtung stell ich mir das schon vor: Ich, sarkastisch und süffisant, du, schwarz und schweigend, gern mit Sonnenbrille, gern mit Schulterpolstern, gern mit irgendwas Dickem in der Innentasche deines Jacketts, und dann noch der menschgewordene Rottweiler mit dem Brustkasten von Ost nach West. Kann auch eine Art Lyle-Lovett-Type sein, der man den perfiden Psycho glaubt. Kennst du so jemanden? Ich muß dieses Kerlchen stoppen und bin mir sicher, es geht nur mit martialischem Getue. Ich würde dich nicht belästigen, wenn ich eine bessere Idee hätte. Wir könnten es ja machen wie beim Fußball – die Unterbrechung wird auf die Spielzeit angerechnet. Hilfst du mir?
~ So schwer mir der Entschluß gefallen war, so leicht hatte sich der alte Plänkelton wieder eingestellt und den Text wie von selbst in die Tasten fallen lassen. Jetzt mußte ich noch Fussel antworten, aber sosehr ich mir den Kopf darüber zerbrach, mir fiel nichts ein. Ich konnte doch nicht nur eine Nacht in Venedig gewesen sein. Das war komplett bescheuert. Und wenn ich eine Erkältung als Grund für den schnellen Ab bruch der Reise erfände und sie mich am Telefon mit nor maler Stimme überraschte? Ich konnte auch nicht so tun, als wäre ich noch dort, weil Moni, Frau Hartmann oder wer auch immer jederzeit erwähnen konnten, ich sei am Don nerstag ja wieder dagewesen. Eine Magen-Darm-Grippe vielleicht? Migräne? Aber das hätte mich beides ans Hotel gefesselt, ich wäre nicht in den Zug gestiegen. Konnte ich behaupten, ich hätte von der 142
Fensterattacke erfahren und mich deshalb gleich wieder auf den Heimweg gemacht? Nein, ich hatte doch offiziell kein Handy dabeigehabt. Verdammt, schon dieses kleine bißchen Lügen war unendlich kompliziert. Irgendwas mußte mir einfallen, aber anscheinend nicht jetzt. Vielleicht heute abend. Hoffentlich.
~ Herr Friedrich hatte schon zwei Scheiben ersetzt und arbei tete an der dritten. »Wird leider teuer«, sagte er, »Vakuum und Schallschutz, ich hab dieselbe Qualität genommen.« Es kostete mich einige Überredungskunst, den Mann dazu zu bringen, daß er gleich telefonisch bei seinem Büro die Rechnung in Auftrag gab, damit ich sie dort abholen konnte. Ich riß mich zusammen, um nicht Dinge zu sagen, wie: »Ich leg dem Arschloch morgen die Rechnung hin und hab eine Minute später das Geld«, denn dann hätte ich er klären müssen, warum ich den Vandalen kannte, oder zu mindest verraten, daß ich ihn kannte, und das wäre wieder ein Paket Gesprächsstoff gewesen. Jetzt rächte sich der Ent schluß, in der Provinz zu leben. In einer Großstadt wäre das allen egal. Hier war es eine große Sache.
~ Als alle Fenster wieder in Ordnung waren, ich die Rech nung geholt und die Wohnung geputzt hatte, drehte ich die Heizung auf, um die klamme Januarkälte zu vertreiben. Es war längst dunkel, und ich stand da und wußte nicht, was tun. Ich kam mir vor wie ein Einbrecher, der auf einmal keine Lust mehr hat zu klauen und sich fragt, was er hier soll. Ich fuhr ins Büro.
~ 143
Moratorium ist gebongt. Anrechnung auf die Spielzeit ebenfalls. Wann willst du kommen? Einen breiten Bösewicht muß ich mir noch ausdenken – es gibt schon ein paar Kandidaten –, aber vielleicht wär ein Bösewichtdarsteller doch besser als ein echter – weiß ich, was dem einfällt, wenn irgendwas nicht so läuft wie besprochen? Und dein Opfer liegt auf einmal mit gebrochenem Kiefer, Bein, Handgelenk und ausgeschossenem Auge da, und der Bösewicht fragt erstaunt, was daran falsch sein soll? Besser, sich erst mal in der Zivilisation umsehen, bevor man auf den Dschungel zurückgreift. Aber eine Bedingung: Die Geschichte erzählst du mir. Soviel Spaß muß sein, und wenn dir das unangenehm ist, find ich es grad gut. Sag Bescheid, bis bald, Walter
~ Walter, du bist klasse. Was immer dir an Manieren fehlen mag, gleichst du mit Charakter wieder aus. Das werd ich dir nicht vergessen. Ich muß jetzt noch warten, bis mir die Adresse des kleinen Arschgesichts verraten wird, dann komm ich umgehend angefahren, und wir können unser Theaterstückchen aufführen. Ich melde mich. Danke. Christian
~ Und jetzt? Ich hatte keine Lust, in die verletzte Wohnung zurückzugehen, keine Lust, irgendwas zu arbeiten, meine Post zu sortieren oder sonst etwas Vernünftiges zu tun. Wenn ich nur eine Idee hätte, wie ich Fussel meinen OneNight-Trip nach Venedig erklären sollte, dann könnte ich ihr jetzt schreiben. An sie zu denken fühlte sich warm an. Es wäre schön, ihr sagen zu können, wie sehr ich mich freue, daß sie noch immer bei mir ist, daß ich mit ihr in Frieden und Zutraulichkeit leben kann, wie schön es ist, mich mit 144
ihr verbunden, von ihr aufgenommen und gemocht zu füh len. Mir wurde richtig jämmerlich und kläglich zumute vor lauter Zuneigung. Das war ganz klar vom schlechten Gewissen generiert. In solchen Stimmungen kaufen Männer teuren Schmuck und legen alle Scham und alle Bitten um Vergebung mit in die Schachtel. Der Preis ist das Opfer, von dem sie sich Er lösung erhoffen. Ich war einem jungen Mädchen nach Ve nedig nachgereist. Das war so irre. So peinlich. So ausneh mend blöd. Und so unendlich lächerlich. Sie durfte das nie rauskriegen. Ich fuhr zur Pizzeria. Zwar ohne Hunger, aber ich hatte außer dem Brötchen zum Frühstück und zwei Äpfeln auf der Fahrt noch nichts gegessen.
~ Es schien noch wärmer zu werden. Vielleicht kam Föhn von den Alpen her. Oder lag es an dem Whisky, den ich mir gegeben hatte, in Erinnerung daran, daß der Wein hier so schauerlich schmeckte? Jetzt war es zu spät, um sich noch bei Moni und Steffen zu bedanken. Sie war Ärztin in Lörrach und er beim Zoll in Weil. Sie mußten beide früh raus und waren jetzt, kurz vor elf, sicher schon im Bett. Die Garagentür sollte auch mal wieder geölt werden. Sie jaulte und wimmerte so laut, daß jeder Anwohner im näheren Umkreis aus dem Bett fallen mußte. Hier in dieser Gegend, wo man das Zwitschern der Vögel schon als Lärm bemäkelt, ist so was ein Grund, sich nicht mehr zu grü ßen. Ich zuckte zusammen und sah mich instinktiv nach einer Waffe um, irgendeinem Ast, den ich abreißen konnte, oder 145
Stein, der greifbar am Wegrand lag, als ich den Schatten sah, der sich von der Treppe erhob. »Herr Uhlig?« Gott sei Dank eine Frauenstimme. Ich entspannte mich. Aber jetzt hatte der Bewegungsmelder mich erfaßt, und das automatische Licht ging an. Es war Jana. Sie war so über rascht wie ich. Sie schien etwas sagen zu wollen und nicht herauszu bringen, einen Augenblick lang sah es so aus, als würde sie sich wieder hinsetzen, weil sie vor Schreck oder Verblüffung oder Verlegenheit ihren Beinen nicht mehr traute, da hatte ich endlich meine Sprache wiedergefunden: »Sind Sie schon lange hier?« Sie schüttelte stumm den Kopf. »Kommen Sie rein.« Ich ging auf sie zu – die Treppe war schmal, und es war schwierig, sich ohne Berührung an ihr vorbeizudrücken –, sie wich aus und klebte mit dem Rücken am Geländer, als ich nach meinem Schlüssel kramte, die letzten vier Stufen mit zwei Schritten nahm und aufschloß. Erst als sie drin war, ihre Reisetasche abgestellt hatte und sich die dunkelblaue Steppjacke von den Schultern zog, sagte sie leise: »Sie waren das doch.« Sie hatte so leise gesprochen, daß ich mir nicht sicher war, ob ich es gehört hatte oder nur gedacht. Trotzdem sagte ich: »Ja« und nahm ihr die Jacke ab, um sie auf den Haken zu hängen. Ich spürte einen Anflug von Ärger darüber, daß diese in meinen privatesten Raum eingedrungene fremde Person mich zur Rede stellte, mir eine Bringschuld zuwies – ich sollte erklären, wieso ich in Venedig gewesen war, aber dann wurde mir klar, daß sie den Satz nicht fordernd ausgespro chen hatte. Sie war verwirrt. 146
Ich ging in die Küche, nahm zwei Gläser aus dem Schrank und öffnete eine Flasche Rotwein. Sie stand noch immer im Flur und schien sich nicht weiter vorzuwagen. »Kommen Sie rein«, sagte ich, »haben Sie Hunger?« »Nein. Ich hab im Zug gegessen.« Ich hielt ihr ein Glas hin. Sie nahm es und trank einen Schluck. Sie sah mich nicht an. Ich hatte mich an die Küchentheke gelehnt, sie stand im Raum, beide Hände um das Weinglas gefaltet, als wolle sie sich daran festhalten, und das Schweigen wurde peinlicher und lauter, je länger es dauerte. Bis ich es endlich brach: »Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, wie ich mit der Situation umgehen soll.« »Daß ich hier bin?« »Ja. Und daß ich mit meiner Venedig-Reise aufgeflogen bin.« Sie trank einen Schluck und schwieg. Aber jetzt sah sie mich an. »Warum waren Sie da?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich wollte Sie einfach mal aus der Nähe sehen. Ohne Ihnen zu nahe zu kommen.« Sie schwieg eine Zeitlang, hielt sich noch immer am Glas fest, dann ging sie in die Hocke, ließ sich mit dem Rücken an der Schranktür herunterrutschen, bis sie zuerst kniete, dann hockte, dann saß und die Beine über Kreuz unter sich schlug. Sie stellte das Glas neben sich auf den Boden, dann sagte sie: »Ich hab mich so gefreut, daß Sie da waren.« »Und ich war in Panik«, sagte ich, »und hab den nächsten Zug genommen.« »Und jetzt?« sagte sie leise und starrte auf den Boden dabei, »ist Ihnen das zu nah?« »Ja.« »Sie müßten mir Geld leihen und ein Hotel sagen, ich 147
hab den letzten Cent im Zug verputzt. Ich hab’s auf einmal nicht ausgehalten, zu denken, Sebastian könnte Sie verletzt haben. Ich mußte herfahren. Ihre Adresse hab ich aus dem Internet-Telefonbuch. Ich hab dauernd Sie vor mir gesehen mit einem Loch im Kopf, ich konnte an nichts anderes mehr denken.« »Haben Sie meine letzte Mail nicht mehr gekriegt?« »Wenn darin stand, daß Ihnen nichts passiert ist, nein.« Einen Moment lang überlegte ich, ob ich mich auch auf den Boden setzen sollte, dann nahm ich die Weinflasche und mein Glas und sagte: »Kommen Sie, es geht bequemer« und ging ihr voran ins Wohnzimmer. »Der Glaser ist gerade fertig geworden. Sebastian hat mir die Scheiben eingeschlagen.« Ich stellte Glas und Flasche ab und wollte mich setzen, aber sie ging zum Fenster und starrte hinaus. »Das ist ja ein unglaublicher Blick.« Das stimmte. Man sah sechzig, vielleicht sogar achtzig Kilometer weit übers Rheintal bis tief nach Frankreich hin ein. Nach Westen auf die Ausläufer der Vogesen und nach Süden in die Burgundische Pforte. Es war tatsächlich Föhn wetter, so daß kein bißchen Dunst oder Nebel den Anblick trübte und sich eine riesige Fläche, von Lichtern übersät, vor dem Auge ausbreitete. Jetzt, bei Nacht, trugen auch die In dustrie- und Hafenanlagen zum Eindruck eines Idylls bei. Wenn ein Idyll solche Ausmaße haben konnte. Ich setzte mich in den Sessel und überließ ihr das Sofa. Sie zog die Schuhe aus und legte sich hin. Sie sah von mir weg wie eine Patientin in Psychoanalyse. Das war mir recht. Sie ist rücksichtsvoll, dachte ich, sie will mich nicht unter Druck setzen. »Sie müssen nicht ins Hotel«, sagte ich, »unten im Ort habe ich eine kleine Wohnung, in der ich arbeite, mein 148
Büro, da können Sie schlafen. Ist alles da. Bad, Küche, Bett wäsche. Wir haben früher dort gewohnt. Bevor wir hierher zogen.« »Danke«, sagte sie. Ihre Zehen waren ständig in Bewegung. Diese Marotte kannte ich von mir selbst. Immer wenn ich lag, mußte ich die Füße drehen, kippen, biegen, damit hatte ich Fussel schon hin und wieder rasend gemacht. Jana schien ihren Wein vergessen zu haben. Oder sie hatte keine Lust darauf und das Glas nur aus Höflichkeit an genommen. Sie lag da, den Kopf leicht zur Seite gelegt, die Arme vor der Brust verschränkt, und atmete ruhig. Die Situation war nicht so unangenehm, wie sie eigent lich hätte sein müssen. Eine junge Frau hier in der Woh nung, in Fussels und meiner Wohnung, nachts bei ausge schaltetem Licht, die es sich auf dem Sofa bequem gemacht hat, das war so falsch, so daneben und ungehörig, daß ich eigentlich alles daransetzen müßte, sie schnellstmöglich wieder hinauszuexpedieren, aber es fühlte sich nicht falsch an. Vielleicht, weil sie einfach schweigend da war und mit nichts im Konflikt lag, was in dieser Wohnung den Geist oder die Atmosphäre bestimmte. Irgendwie paßte sie hier her. Jetzt hielt sie auch die Füße still. Sie schlief.
~ Eine Zeitlang war ich sitzen geblieben und hatte überlegt, ob ich sie wecken sollte, dann war ich dazu übergegangen, mir ihren Anblick einzuprägen. Sie war pummeliger als auf dem Foto und den beiden Filmchen. Und die Brille veränderte sie stark. Es war eine modische, schmale, ziemlich gerade Hornbrille, die ihr sehr gut stand und, zusammen mit dem 149
Pony, der ihr in die Stirn fiel, an die Mode der fünfziger Jahre erinnerte. Sollte ich ihr die Brille abnehmen? Die würde ihr doch beim Schlafen weh tun. Ich versuchte, so leise es ging, aufzustehen und holte eine Decke aus dem Wandschrank, legte sie über ihren Körper, locker, so daß sie sich nicht eingeengt fühlen würde und ich sie nicht berührte. Dann nahm ich ihr vorsichtig die Brille vom Gesicht und legte sie in Griffweite auf den Couchtisch, holte eine Flasche Wasser, falls sie in der Nacht Durst be kommen sollte, stellte sie neben die Brille und ging nach nebenan in mein Schlafzimmer, wo ich ihr das Bett frisch überzog und aufdeckte, eine Kerze anzündete und einen Zettel darunter legte: Das Bad ist die erste Tür links im Flur, schlafen Sie gut weiter. Dann rauchte ich eine Zigarette vor der Haustür, putzte mir die Zähne, legte Handtücher für Jana bereit, zündete auch hier eine Kerze an und ging in Fussels Bett schlafen. Seit ich schnarche, haben wir getrennte Zimmer. Ich wollte eigentlich vor dem Einschlafen noch über legen, wie ich es schaffen sollte, sie morgen an den Nachbarn vorbeizuschleusen, aber als ich lag, merkte ich, wie müde ich war. Und wie charmant ich Janas Zutraulichkeit fand, die sich einfach auf meinem Sofa in den Schlaf verabschiedete, sich damit mir, einem nahezu Fremden, so arglos überließ. Ich hoffte, sie bemerkte den Lichtschimmer und fand das fri sche Bett, wenn sie aufwachte. Eigentlich hätte ich ihr auch noch eine Wärmflasche reinlegen können. Sie war süß. Ein Pummel mit Pony. Wer hätte das gedacht.
11
Ich wachte vom Rauschen der Dusche auf. Dumm, jetzt kam ich nicht an meinen Bademantel. Der hing neben der Duschkabine. Ich hätte gestern nacht daran denken sol len. Ich zog die alten Kleider an, ging in die Küche, schaltete die Espressomaschine ein, schrieb einen Zettel, Bin Brötchen holen, und nahm den Sender für die Garagentür vom Regal. Es war kurz vor acht, früh für meine Verhältnisse, noch immer warm und frühlingshaft, es roch sogar ein bißchen modrig und neu. Nebel hätte mir jetzt besser in den Kram gepaßt. Mit Sichtweiten unter zehn Metern. Dann käme ich mit meinem Gast später ungesehen von der Haustür zum Auto.
~ Es fühlte sich zugleich unangenehm und abenteuerlich an, in getragenen Kleidern, ungeduscht und mit ungeputzten Zähnen die Bäckerei zu betreten. Ich verlangte sechs Bröt chen und machte mich, sobald ich die Tüte in Händen hielt, eilig davon.
~ 151
Sie trug dieselben hellblauen Jeans wie gestern, aber nicht mehr das graue T-Shirt, sondern einen dunkelblauen, weiten Rollkragenpullover, und sie hatte den Tisch ge deckt. »Morgen«, sagte sie, als ich die Tür hinter mir schloß, »soll ich uns ein Ei machen?« »Ja. Gute Idee. Haben Sie gut geschlafen?« »Sehr gut sogar. Im Bett noch besser. Tut mir leid, daß ich einfach so weggekippt bin. Das war unhöflich.« »Nein, es war vertrauensvoll und nett. Mögen Sie einen Espresso oder Cappuccino?« »Cappuccino. Gern.« Ich genoß wie immer den Augenblick, als ich die Kaf feedose öffnete und der Duft mir in die Nase stieg. Dies mal mischte sich das Aroma mit ihrem Parfüm. Wenn Fussel heute abend nach Hause käme, würde sie riechen, daß eine Frau hier war. »Ein Ei oder zwei?« Sie hatte das Wasser schon aufge stellt, die Packung mit den Eiern aus dem Kühlschrank ge nommen und sogar die Nadel zum Anstechen gefunden, die in der Wand neben dem Gewürzregal steckte. »Eins.« Vielleicht schüttelte ich den Kopf ein ganz kleines bißchen, aber ganz sicher lächelte ich, als ich die Milch auf schäumte. »Was ist? Wieso lächeln Sie so in sich rein?« »Wieso finden Sie die Nadel? Das ist irre.« »Weiß nicht. Vielleicht weil ich sie selber auch da hin getan hätte. Keine Ahnung.« Ich stellte ihr den Cappuccino hin. »Ich geh mal du schen.« ~
152
Als ich frische Sachen aus dem Schrank nahm und sie in der Küche hantieren hörte, fiel mir ein Satz ein, den sie ge schrieben hatte: »Ich bin ein ziemlich braves Mädchen.« Das stimmte wohl. Das Bett war aufgeschlagen, die Kissen auf geschüttelt, das Leintuch glattgezogen, das Fenster zum Lüf ten geöffnet und ihre Reisetasche gepackt und geschlossen. Auch im Bad hatte sie außer dem Duft ihres Parfüms, dem benutzten Handtuch und den Wassertropfen an der Duschwand keine Spuren hinterlassen. Ein wirklich braves Mädchen.
~ Als ich den flacheren Teil meines Brötchens in Streifen schnitt, um mit ihnen das Eigelb auszutupfen, sah sie mir lächelnd zu, schüttelte den Kopf, sagte aber nichts, und ich fragte nicht, was sie daran so amüsierte. Ich muß nicht alles von ihr wissen, dachte ich, sie ist nicht meine Geliebte, und sie wird es auch nicht werden. »Ich fahr Sie nach Hause«, sagte ich. »Nach München?« »Ja. Aber eine Gegenleistung will ich dafür.« »Was?« »Sebastians Adresse. Ich will ihm die Rechnung vor die Nase halten.« »Und ihn ein bißchen verprügeln oder so was?« »Nein. Nichts dergleichen. Es wär mir allerdings recht, wenn er mich unfreundlich genug fände, um in Zukunft mit seinen Mätzchen aufzuhören. Mehr will ich nicht. Er soll bloß aufhören mit dem Scheiß.« »Soll ich mitkommen?« »Auf gar keinen Fall. Wenn Sie dabei sind, kann ich mich nicht als der Ungustl aufspielen, für den er mich halten soll.« 153
»Ungustl?« »Wienerisch. Für Unsympath.«
~ »Fahren wir schön oder schnell?« fragte ich beim Einstei gen, und sie antwortete, wie ich es erwartet hatte: »Schön.« Also nahm ich wieder die Strecke wie vor drei Tagen über Waldshut, Schaffhausen und den Bodensee. Ich hatte mich nicht umgeschaut auf dem Weg von der Haustür zum Auto, aber ich hoffte, ungesehen davonge kommen zu sein. Die Hartmann konnte ja nicht nur am Fenster stehen und luchsen. Es war ein bißchen zu eng im Auto, daran mußte ich mich erst gewöhnen. Sie wohl auch, denn sie sah die mei ste Zeit aus ihrem Fenster oder nach vorn auf die Straße. Sie vermied es, in meine Richtung zu schauen. Irgendwann wurde das Schweigen unangenehm, und sie fragte: »Wie wird man Drehbuchautor?« »Mich hat ein Freund dazu gebracht. Den ich jetzt übri gens in München besuche. Er schreibt Krimis. Irgendwann sollte eins seiner Bücher fürs Fernsehen verfilmt werden, und er sollte sich als Drehbuchautor versuchen. Dann ist er an der Aufgabe verzweifelt, und ich habe ihm geholfen, habe mir die Form erklären lassen und probiert, seine Ideen umzusetzen. Das war dann zwar nicht gleich der Volltref fer, die Redakteurin hatte viel daran auszusetzen, aber ich war wohl so anstellig und beflissen, daß sie mich das Buch zu Ende schreiben ließ und mir später noch eines vorschlug. So bin ich reingerutscht. Sie empfahl mich einer Agentur, und nach und nach kamen die Anfragen rein. Das war Glück, der erste Film hatte eine sehr gute Einschaltquote. Das lag an den Schauspielern. Nicht an meinem Buch.« 154
»Der Freund, ist das der, mit dem Sie gebrochen haben?« »Ja. Haben Sie einen sechsten Sinn oder so was?« »Nein. Sie haben mir geschrieben, daß er in München wohnt.« »Wir machen Pause mit Streiten.« »Pause? Wie geht das?« »Jetzt wird einfach grad nicht gegrollt, und später, wenn wir wieder Lust drauf haben, gibt’s wieder ordentlich böse Worte.« »Das geht doch nicht. Wie soll das gehen?« »Wir sind Männer. Wir können so was. Männer halten sich an Vereinbarungen.« »Frauen tun das nicht?« »Oft nicht. Nein.« Sie schien das für ausgemachten Blödsinn zu halten, denn sie sah schweigend aus dem Fenster, als gälte es dort ex trem wichtige Bäume zu beachten. Aber irgendwann sagte sie doch noch: »Ich bin vielleicht zu jung für solche tiefen Erkenntnisse.«
~ Wieder war das Schweigen zäh geworden oder hatten die Straßenbäume an Faszination eingebüßt, als sie sich die Pull overärmel hochschob und fragte: »Und was haben Sie vor her gemacht? Bevor Sie Autor wurden?« »Eine Band gemanagt.« Seltsamerweise schwieg sie jetzt, anstatt nachzufra gen. War irgendwas an der Antwort falsch? Als sie wieder sprach, war sie ganz woanders gelandet: »Tut mir leid, daß ich geflirtet habe. Der ganze Exkurs über den Professor und all die versteckten Links auf Sex. Ich wollte das wirklich nicht.« 155
»Ist doch auch ein Kompliment. Machen Sie sich keine Gedanken darüber. Ein alter Sack wie ich fühlt sich lebendi ger, wenn sich eine schöne Frau in seinem Interesse sonnt.« »Schön? Ich bin fett.« »Blödsinn.« »Sebastian findet …« Sie sprach nicht weiter. »Sebastian ist Geschichte.« »Und es ist lächerlich, wenn Sie sich als alt bezeichnen.« »Es wäre aber noch lächerlicher, mich als jung zu bezeich nen, oder?« »Gibt es denn nichts dazwischen?« »Im besten Alter vielleicht?« »Warum nicht?« »Auch lächerlich.« Ich hatte Lust auf eine Zigarette. Fussel zuliebe rauchte ich nicht mehr im Auto, deshalb fragte ich, ob es in Ord nung sei, eine kleine Pause zu machen. »Gern«, sagte sie, »ich muß eh mal in die Büsche.« Also steuerte ich den näch sten Parkplatz an.
~ Ich sah ihr nicht hinterher, als sie im Wald verschwand, son dern lehnte mich ostentativ in die andere Richtung gewandt an den Wagen und rauchte. Es war zu windig, die Zigarette würde im Nu aufgeraucht sein, ohne meine Beteiligung. Ich brauchte sie nur in die Luft zu halten. Petrus raucht mit, dachte ich, alter Schnorrer. Eigentlich war das ein guter Tag. Ich fuhr durch die Ge gend mit einer jungen Frau, deren Gegenwart ich genoß, auch wenn der Dialog sich manchmal verdickte und ins Stocken geriet. Das machte nichts. Und es war Frühlings wetter. Immer noch. 156
»Kann ich auch eine haben?« fragte sie mit begehrlichem Blick auf meinen Zigarettenstummel. Sie zupfte und schob noch an ihren Kleidern herum, als reiche es nicht, die Hose hochzuziehen und zu schließen, sondern brauche eine ganze Reihe kleiner Korrekturen und Kontrollgriffe, bis man wie der richtig angezogen war. »Sie rauchen?« »Nur manchmal. Jetzt grad hab ich Lust.« Ich gab ihr eine und zündete mir selbst eine zweite an. Dumm. Kann man nicht rauchen, wann man will, dann will man, wenn man kann, dachte ich, das ist gierig und krampfig und ein bißchen peinlich. Aber es ist auch egal. Ich mußte kein Theater spielen.
~ »Ich wollte Sie so viel fragen, und jetzt fällt mir nichts mehr ein«, sagte sie irgendwann, als wir längst schon wieder fuh ren und die Kühle vom Parkplatz nach und nach aus meinen Knochen verschwunden war. »Dann singen Sie mir halt was vor.« »Singen? Ich?« »Sie sind doch ein Singvogel.« »Ein Plappervogel eher. Aber per E-Mail war’s leichter. Ich bin gehemmt. Weiß auch nicht warum.« »Ich hoffe, ich schüchtere Sie nicht ein oder so was. Das täte mir leid.« »Nein. Aber Sie sind wirklich da. Als echter Mensch, nicht nur als Worte. Als Mensch mit Körper und Stimme. Und Sie sitzen so nah, daß ich Sie anfassen könnte. Das ist etwas ganz anderes. Es ist … weiß nicht … Ihr Rasierwasser riecht gut.« 157
»Danke.« »Waren Sie mit dieser Band auch unterwegs?« »Manchmal, ja, auf größeren Festivals oder auch so, wenn es grad paßte. Ich wollte den Kontakt zu ihrer Realität nicht verlieren. Wenn ich konnte, fuhr ich mit.« »Und wie war das?« »Eigentlich war es nur ein Traum. Man fühlte sich immer wie kurz vor dem Durchbruch, jedenfalls wenn alles halbwegs glattging. Wenn’s schiefging, fühlte man sich wie der letzte Dreck. Aber an Abenden, an denen alles gut und richtig war, die Musik toll, das Publikum toll, der Sound perfekt und die Stimmung euphorisch, da war es sensationell. Ich fühlte mich als Teil der Band, kam mir vor wie ein Engel. Die Musiker sind Engel an guten Abenden, ich war dann auch einer. Ich glaube, für dieses Gefühl habe ich das alles gemacht. Nicht fürs Geld. Das war nicht gerade üppig. Zwanzig Prozent der Gage. Nicht toll.« »Und hatten Sie dann jeden Abend eine andere Frau?« »Aber nein. Das ist ein reiner Mythos. Der Schlagzeuger vielleicht. Der kam dem Klischee am nächsten. Er hat ge baggert und gehechelt und mußte es jedem beweisen. Aber die anderen waren nicht so. Und ich schon gar nicht. Ich war doch bloß der Manager.« Sie schwieg und sah aus dem Fenster, wieder als wäre irgendwas an meiner Antwort falsch gewesen. Als hätte ich gelogen, als wisse sie besser Bescheid darüber, ob ich ein Schürzenjäger gewesen war oder nicht. Bevor ich ärgerlich werden konnte, fragte sie weiter: »Hatten Sie nie was unter wegs?« »Doch. Einmal. Nein, zweimal.« Jetzt schwieg sie anders. Als wäre sie zufrieden. Als wäre ich endlich herausgerückt mit der Wahrheit. 158
»Haben wir Hunger?« fragte ich, um diese unsinnigen Gedanken zu verscheuchen. »Ich ja«, sagte sie und lächelte.
~ Ich war an der Bodensee-Südseite entlanggefahren und jetzt kurz vor Rorschach, also bog ich von der Umgehung in Richtung Stadtmitte ab, sobald es ging, und stellte den Wagen auf einen Parkplatz beim Bahnhof. Wir fanden ein Restaurant, aus dessen Gaststube man auf den See schaute, und bestellten beide Nudeln. Ich Linguine mit Waldpilzen, sie Spaghetti mit Tomatensauce. »Wir könnten von hier aus grad wieder nach Venedig fahren«, sagte ich, als sie die Speisekarte schloß und zur Seite legte. »Sollen wir?« »Nein. Ich muß erst den Quälgeist stoppen. Das hat Vor rang.« »Und ich sollte auch mal wieder studieren.«
~ Später gingen wir ein Stückchen am Seeufer entlang, und ich mußte mich bremsen, daß ich nicht den Arm um ihre Schulter legte. Es hätte sich richtig angefühlt in diesem Mo ment, wäre so was wie eine Beschützergeste gewesen und ein Zeichen, daß ich den Augenblick genoß und mir dessen bewußt war. Es war Freitag mittag und die Promenade belebt von den ersten Müßiggängern dieses Wochenendes, die entweder schon am Ziel waren oder, wie ich und Jana, eine Pause auf dem Weg einlegten. 159
»Es stimmt wirklich«, sagte sie irgendwann mit einem kleinen Glucksen in der Stimme, »die Frauen interessieren sich für Sie.« Ich hatte nichts bemerkt, war mit den Gedanken an derswo, bei Jana, in Venedig, bei meiner unterlassenen Be schützergeste, ich hatte keine Augen gehabt für die entgegen kommenden Paare. »Sind Sie sicher?« »Ich hab schon zwei von diesen schnellen kleinen Blicken gesehen, die Sie mir beschrieben haben.« »Waren die nicht mißbilligend?« »Nein. Wieso denn? Wieso sollten die mißbilligend sein?« »Ich bin zu alt für so eine junge Geliebte. Sie müßten mich für einen peinlichen Kerl halten, einen Angeber, der mit einer jungen Frau protzt.« »Wir könnten doch auch Vater und Tochter sein oder Onkel und Nichte.« »Stimmt. Daran hab ich überhaupt nicht gedacht.« »Sie gucken jedenfalls interessiert und nicht empört.«
~ Auf der Weiterfahrt schlief sie. Kurz nachdem sie eingestie gen war, hatte sie sich schon zur Seite sinken lassen und war eingenickt. Ich fuhr so gleichmäßig und ruhig wie möglich, um sie nicht zu wecken, und hing meinen Gedanken nach, während ich mich von einem Stau zum nächsten vorarbei tete. Die Autobahn war alle paar Kilometer unterbrochen und ging einspurig weiter. Keine gute Idee, diese Strecke zu nehmen. An einem Freitag. Der Verkehr wurde zusehends dichter und zäher. Ich sollte umdrehen und schnurstracks nach Süden brau 160
sen, dachte ich, in drei Stunden wären wir am Brenner und in fünf am Gardasee. Vielleicht würde sie erst aufwachen, wenn wir über den Kies einer herrschaftlichen Hotelauffahrt rollten. Es war wie eine Flut. Gedanken, Bilder, die über alles triumphierten, was sich vor mir auf der Straße abspielte. Zwar sah ich die Autos, bremste, wenn ich einem zu nahe kam, und beschleunigte, wenn sich der Abstand wieder ver größerte, aber das alles war nur Nebenhandlung, nur bei läufig, mechanisch, die Haupthandlung war: Jana und ich im Hotel. Sie ritt auf mir, wie in dem Filmchen, nur daß ich sie jetzt von vorn sah, ihre Brüste, die sich bewegten, ihren wunderbaren Mund, der leicht geöffnet war, was den Schwung der Lippen noch verschönerte, ihre Hüften, die sich auf und nieder hoben und senkten, und ihre Hände auf meiner Brust. Ich spürte und sah, was ich eigentlich nur dachte, saß auf einmal unbequem und hoffte, sie würde nicht aufwachen und meine Erektion bemerken. In Anzughosen ist so was nicht zu verbergen. Sie wachte nicht auf. Und irgendwann gelang es mir, auch wieder aus der Phantasie aufzutauchen. Ich zählte Autos, versuchte an Se bastian zu denken, daran, wie ich ihn abkanzeln würde, so arrogant wie möglich, dachte an Fussel, die mich noch immer in Venedig glaubte, und an meinen Rücken, der mir weh tat, seit ich in Rorschach wieder eingestiegen war. ~ Hinter Buchloe war der Verkehr zwar noch dicht, aber er floß immerhin, und hin und wieder konnte ich sogar richtig Gas geben. Jana schlief noch immer, und ich gab mir Mühe, so vorausschauend wie möglich zu fahren, um sie nicht mit einem rabiaten Bremsmanöver zu wecken. 161
Ich ließ die Gedanken fließen, sah vor mir, was immer durch meine Erinnerung schwamm, hielt nichts fest und fuhr wie im Traum. So viel Zeit hab ich schon hinter mir, dachte ich, und sie vergeht immer schneller. Der Rest wird mir schon knapp. Heute fühlt sich ein Jahr wie ein Monat an, früher wollte ein Monat nicht enden. Und jeder Morgen bot irgendeine Hoffnung. Auf Reichtum, Ruhm, wilden Sex, die große Liebe, die ersehnte Anerkennung, ein Hände druck von Springsteen, eine Einladung zum Roskilde-Fe stival, das Leben in aufregenden Städten in Gesellschaft auf regender Menschen. Etwa so hatte ich es Jana geschrieben, deshalb kam es mir wohl jetzt in den Sinn. Das alles hatte sich erledigt. Kaum etwas davon war ein getreten, und nichts wäre jetzt noch willkommen. Außer dem Reichtum natürlich. Der Ruhm wäre ein Mißver ständnis, eine Sache aus Papier und Werbung und Image, die nur zu einem verkrampften, falschen Leben führt, der wilde Sex würde jedesmal einen Menschen verletzen, den, den man betrügt, oder den, den man dann wieder fallenläßt, die große Liebe hatte ich gefunden, mein Leben mit Fussel war das Richtige, die Wirkung der Anerkennung wäre flüchtig und wie bei einer Droge, nur durch immer neue Steigerung der Dosis zu erhalten, ein Händedruck von Springsteen ist nichts, die Städte sind nur überwältigend, wenn man ihrem Mythos glaubt, und Menschen sind in den seltensten Fäl len aufregend, in den meisten dagegen banal. Wie ich. Wie Sebastian. Sie erhoffen sich was, dann tun sie was anderes, dann werden sie müde, und dann sterben sie. Jana wachte auf. Sie streckte sich und gähnte, blinzelte verdutzt in die Welt, als frage sie sich, wie sie hierhergekom men sei. »Hallo«, sagte ich. »Hab ich lang geschlafen?« 162
»Bißchen mehr als eine Stunde vielleicht.« »Ich muß schon wieder aufs Klo.« »Das paßt, ich muß auch mal tanken.«
~ »Eigentlich sind wir doch nur Brieffreunde«, sagte sie ver sonnen, als ich auf der Einfädelspur beschleunigte und in eine Lücke zwischen zwei Lastwagen zog, »aber es fühlt sich ganz normal an, zusammenzusein, finde ich.« »Ja«, sagte ich, »aber warum auch nicht?« »Sie könnten ein gräßliches Rasierwasser benutzen, ich könnte in der Nase bohren, Sie könnten eine alberne Quiek stimme haben, ich könnte Fingernägel kauen, Sie könnten so laut lachen, daß es weh tut, ich könnte dummes Zeug reden, Sie könnten…« »Halt. Es reicht. Je länger Sie weitermachen, desto eher landen Sie den ersten Treffer. Hören Sie auf.« Sie zog eine Grimasse. »Und jetzt reißen Sie sich zusam men, um nicht aus Versehen zu laut zu lachen, stimmt’s?« »Genau.« »Es wäre nicht zu laut. Es wäre in Ordnung. Alles an Ihnen ist in Ordnung.« Ich sagte nichts. Danke wäre mir zu steif vorgekommen, und etwas anderes fiel mir nicht ein.
~ Sie dirigierte mich durch München bis vor Walters Woh nung am Rosenheimer Platz. Ich bot ihr an, sie nach Hause zu bringen, aber sie wollte die S-Bahn nehmen. »Ich bleibe über Nacht, wollen wir uns morgen noch mal sehen? Oder heute abend?« Ich schrieb meine Handy 163
nummer auf einen Zettel und gab sie ihr. »Wenn Sie wollen, rufen Sie an. Wenn nicht, dann bis zur nächsten E-Mail.« »Danke«, sagte sie, »für alles«, und sie stellte in einer schnellen Bewegung ihre Tasche ab, umarmte mich und küßte mich auf die Wange. Dann, ebenso schnell, hatte sie die Tasche wieder in der Hand und ging los in Richtung S-Bahn. »Die Adresse«, rief ich ihr hinterher, »ich brauch noch die Adresse von Sebastian.« »Omptedastraße Acht. Mit O-M-P-T.« Sie winkte, ohne sich umzudrehen, und ging schneller. Es sah fast so aus, als risse sie sich von mir los, müsse sich beeilen, ein schnelles Ende machen, um nicht schwach zu werden.
~ »Kaffee, Alkohol, Massage, Essen, laute Musik, was willst du?« Walter nahm mir die Tasche ab und grinste breit, als wäre mein Besuch allein schon ein Sieg. »Kaffee«, sagte ich, »wenn du Espresso oder Cappuccino machen kannst.« »Was denn sonst, meinst du, ich trink Plörre?« »Darf ich an deinen Rechner und kurz nach E-Mails schauen?« »Klar, wenn du mit einem Mac umgehen kannst.« »Werd ich schon schaffen. Ich frag dich, wenn er raucht.« »Frag vorher.«
~ Lieber Mockel, jetzt hör ich so lang nichts von dir, daß ich ein bißchen unruhig werde. Geht’s dir gut? Nicht daß du mir in einen Kanal fällst und dann mit Fieber im Ospedale liegst, nicht an die 164
E-Mail kommst und mir nicht Bescheid geben kannst. Aber sicher hast du einfach so viel zu tun oder stromerst so ausgiebig durch die Gassen, daß du nicht mehr rechtzeitig ins Internetcafé kommst. Hier ist alles wie immer, es ist schon ein Trott geworden. Lukas ist leider zu keiner Entdeckung zu überreden, er will immer nur am Pool liegen oder Tischtennis spielen, dazu hab ich aber keine Lust, und deshalb macht jeder sein eigenes Ding. Er am Pool, ich am Strand. Schade. Der Verkauf geht ziemlich gut, Tom wird eine prächtige Provision einheimsen. Nur das Wetter macht in den letzten beiden Tagen Zicken, und das wirkt sich auf die Kundschaft aus. Sie sind mäkeliger und mißtrauischer, tun so, als wolle man sie übers Ohr hauen, dabei sind sie doch frei, eine Wohnung zu kaufen oder es bleiben zu lassen. Das sind übrigens mehr die Deutschen. Die Schweizer und Franzosen sind zutraulicher und manierlicher. Kein Wunder eigentlich. Wir kennen unsere Mitbürger doch von daheim. Muff und Murkel von morgens bis abends. Ich hoffe, es geht dir gut, du frierst nicht, freust dich an dem guten Kaffee und meldest dich bald, dein Fussel
~ Alle anderen Mails konnte ich sofort löschen, außer einer von Emilio, in der er nach Walters E-Mail-Adresse fragte, und einer von Sven, die den Vertrag mit Sinus-Film enthielt, den ich durchsehen und absegnen sollte. Walter stellte einen Cappuccino neben mich und verzog sich in sein Wohnzimmer.
~ Lieber Fussel, ich bin in Ordnung. Aber ich bin schon wieder weg. Es war so eklig kalt und feucht, daß ich die Recherchen sehr 165
zügig abspaziert und mich schnell wieder auf den Heimweg gemacht habe. Jetzt grade bin ich in München bei Walter, den ich überreden will, mir eins seiner Bücher zur Bearbeitung zu überlassen. Hier ist Frühling, wunderbares Wetter, vielleicht krieg ich Walter dazu, mit mir in den Englischen Garten zu gehen. Ich soll dich von ihm grüßen. Er ist zur Zeit wieder ohne Freundin und ein bißchen umwölkt und düster. Vielleicht muß ich ihn ein wenig aufbauen. Ich hoffe, dein Wetter wird wieder besser, damit du in der Freizeit was davon hast. Bin eilig, weil Walter an seinen Rechner muß. Laß es dir gutgehen, dein Mockel
~ Ich log schon automatisch. Es machte mir kaum noch was aus. So schnell verkommt man, wenn man sich einen Vorteil davon verspricht oder nicht anders zu helfen weiß, ich sollte mich schämen, dachte ich und tat es nicht. Ich nahm einen Schluck Kaffee und ging zu Walter nach nebenan. »Hast du einen eindrucksvollen Bösewicht gefunden?« »Leider nicht. Die beiden Kandidaten sind weg. Aber glaubst du nicht, wir zwei sind schon furchterregend genug?« »Vielleicht. Du sicher.« »Falls da eine versteckte Spitze drin steckt, hab ich das registriert.« »Nein. War reine Ehrerbietung.« »Also, was machen wir?« »Wir gehen zu dem Bürschchen und klingeln, und er rückt das Geld raus und fertig. So ähnlich jedenfalls.« »Und was sagst du, wenn er vor dir steht?« »Wasserwerke München, Sitzpissererfassung, wir müß ten mal Ihr Klo sehen.« 166
Walter grinste vergnügt, nahm einen Schluck Kaffee und schlug dann vor: »Warum nicht: Fickpolizei, uns liegt eine Beschwerde gegen Sie vor wegen zu frühen Kommens. Was haben Sie dazu zu sagen?« »Nicht Fickpolizei. Phimose-Früherkennung. Oder Pro Familia.« »Wir sind im Auftrag des Herrn unterwegs?« »Wir sind die Heiligen Drei Könige und kommen die Geschenke abholen?« »Die beiden Heiligen Drei Könige.« Es war wieder wie früher. Diese Art von Albernhei ten-Tennis konnten wir minutenlang spielen. Bis einer vor Lachen zusammenbrach. Der hatte dann verloren.
~ Walter hatte die Straße auf dem Stadtplan gefunden und mich gelotst. Wir stellten den Wagen am Englischen Gar ten ab und gingen ein Stück zu Fuß, weil alles zugeparkt war vor den Einfamilienhäusern mit adretten Vorgärtchen, Panoramafenstern und Jägerzäunen. Eigentlich keine Ge gend für Studenten. Haidhausen oder Giesing hätte besser gepaßt. Hierher zog man doch erst mit Kombi und Kinder wagen. An der Tür standen drei Namen, das sah nach Wohn gemeinschaft aus. Hoffentlich nicht drei Gewichtheber, dachte ich und drückte die Klingel. Der junge Mann, der uns öffnete, sah verschlafen oder betrunken aus, irgendwie derangiert, unrasiert und mit rot geränderten Augen, also ging ich davon aus, daß es Seba stian war. »Herr Busch?« »Wer sind Sie?« »Ich bin Schnuckiputzi, und das hier ist die Rechnung 167
für meine Fenster«, ich wedelte mit dem Stück Papier, »und hierhin«, ich streckte die offene Hand aus, »legen Sie bitte das Geld. Neunhundertzweiundachtzig Euro.« Er wollte die Tür zuschlagen, aber ich war längst einen Schritt vorgetreten und hatte den Fuß auf der Schwelle. Auch Walter war aufgerückt und schaute so finster drein, wie er konnte. »Ich hab so viel Geld nicht.« Es klang kleinlaut. »Der Geldautomat hat es, oder?« »Da kann ich nur fünfhundert auf einmal ziehen.« Das klang schon nicht mehr kleinlaut, sondern trotzig und fast triumphierend. Er hatte die Technik auf seiner Seite. »Haushaltsgeld?« sagte Walter mit gütig hochgezoge ner Augenbraue, »Mitbewohner? Oma, Opa, Onkel, Tante, Eltern?« »Urlaubskasse?« fügte ich hinzu, »Dopereserve? Ich nehm auch, wenn’s sein muß, Ihr Auto in Zahlung.« Unser Auftritt war professionell. Er schien irgendwie kleiner zu werden, ergab sich der Übermacht, die wir so glaubwürdig simulierten, und ging nach drinnen. Wir hinterher. »Benni!« rief er nach irgendwo, »leih mir Geld.« Jetzt kommt der Gewichtheber, dachte ich, aber diese Befürchtung war unbegründet, es kam ein mageres lang haariges Bübchen in labbrigen, zu tief sitzenden Hosen die Treppe heruntergeschlurft und schien kaum die Augen aufzukriegen. Mit der Dopereserve hatte ich wohl richtig gelegen. Ich versuchte, Sebastian im Auge zu behalten, falls er sich an den zitierten Golfschläger erinnern und versuchen würde, uns damit in die Flucht zu schlagen, aber er stand verloren und irgendwie mickrig in der Küche, grub in sei nen Hosentaschen, förderte lose Geldscheine und Münzen 168
zutage, wühlte in einer dunkelgrauen Jacke, die über der Stuhllehne hing, und fand weitere Scheine. Arm schien es hier nicht zuzugehen. Der Haufen auf dem Küchentisch war hundertvierund siebzig Euro wert. »Wieviel brauchst du?« fragte Benni und kratzte sich am Hintern. »Was du hast. Kriegst morgen zurück«, sagte Sebastian und ließ die Schultern hängen. Benni ließ zwei Fünfziger und einen Zehner auf den Haufen segeln. Es sah achtlos aus. Diese Jungs schwammen in Geld. Entweder dealten sie oder hatten reiche Eltern. »Muß wohl doch das Auto sein«, sagte ich, »da fehlen noch zweihundertvierzig außer den fünfhundert vom Auto maten.« Sebastian sah Benni an. Benni tat so, als bemerke er’s nicht. »Bitte«, sagte Sebastian, und Benni zuckte mit den Schultern, ging in den Flur, ich hinterher, er langte in eine Jackentasche und zog noch ein Bündel Scheine hervor. Zweihundertfünfzig. »Brav«, sagte ich. »Und jetzt zur Bank.«
~ Wir konnten zu Fuß gehen. Die Bankfiliale lag zwei Stra ßen weiter. Vor der Haustür klopfte Sebastian seine Taschen ab und sah ratlos drein. Dann ging er ein paar Schritte zu einem geparkten Auto – es war ein wunderhübscher dun kelblauer BMW, es war der dunkelblaue BMW. Der Z3 mit der Starnberger Nummer, den ich vor dem Fitneßpalast ge sehen hatte! Ein Schwall von Wut stieg mir den Hals hoch. Dieses Bürschchen fährt mein Traumauto, geht mir auf die Nerven und quält meine nette Jana. Ich war alarmiert, denn 169
ich dachte, jetzt holt er eine Knarre aus dem Handschuh fach, aber es war nur die Scheckkarte.
~ Als der Automat das Geld ausgespuckt hatte und Sebastian es mir mit gesenktem Kopf hinhielt, griff ich danach, steckte es ein und merkte, daß meine Wut schon wieder verraucht war. Das Jüngelchen war zu kaputt. Die Trennung von Jana schien ihm wirklich nahezugehen. Er war nur noch ein lan ges, ehemals hübsches Häufchen Elend. »Das ist ein Schuldeingeständnis«, sagte ich und deutete auf das Geld, »und das hier ist ein Zeuge«, ich deutete auf Walter, »und zusammen mit Ihren sinistren E-Mails reicht das, um bei der nächsten Zicke, die Sie veranstalten, die grü nen Männchen auf den Plan zu rufen.« Er reagierte nicht. So, wie man vor dem Lehrer steht und eine Standpauke über sich ergehen läßt, stand er vor mir und wartete, bis ich fertig wäre. Daran merkte ich wieder, wie alt ich war. »Ich hoffe, Sie haben es kapiert«, sagte ich lahm und ließ ihn stehen.
~ Wir gingen um den Block, durch eine Nebenstraße zum Auto zurück. Mir schlug das Herz bis in die Mandeln. Erst jetzt bemerkte ich, wie aufgeregt ich war. Walter schwieg vor sich hin. Er schien das Theater nicht genossen zu haben oder war in Gedanken versunken. Er bemerkte mich kaum. 170
»Und jetzt?« fragte ich, bloß um irgendwas zu sagen. Diese Stille war mir unangenehm. »Lädst du mich zum Essen ein.« »Okay.« »Und erzählst mir die Geschichte. Darauf bin ich näm lich gespannt.« Und nachdem ich ausgeparkt hatte und in die Richtung fuhr, die er mir stumm mit dem Zeigefinger wies, fügte er noch hinzu: »Schnuckiputzi?« »Nom de guerre«, sagte ich. Und sah ihn übers ganze Ge sicht grinsen. »Ich werd immer noch gespannter.« Ich wollte ins »Rossini«, aber Walter hatte nur Hohn für diesen Vorschlag. »Da gehen so Provinzler wie du hin, aber keine Münchner, die was auf sich halten wie ich«, sagte er und dirigierte mich zu einem Lokal, das ich weder kannte noch schön fand. Palisander, Edelstahl und Leder, die Art von Neo-Sechziger-Einrichtung, die an Bilder von Edward Hopper erinnern soll und inzwischen schon die Provinz überflutet. Die Küche war wie erwartet ein Durcheinander aus aller Welt. Indische Linsen mit italienischer Pasta, Coq au vin mit Bagels und Flammkuchen mit Shrimps. Als ich über dem Studium der Speisekarte den Kopf schüttelte und anfing, mir ein renationalisiertes Gericht zusammenzustellen, nämlich Spaghetti mit Tomaten und Salat, grinste Walter und sagte zu mir gewandt, obwohl sein Charme auf die wartende Kellnerin zielte: »Es kommt nicht drauf an, daß es dir schmeckt, es kommt drauf an, daß es teuer ist.« »Dann bestell du den Wein.« Das tat er. Mit Vergnügen. Und Perfidie. Einen argenti nischen Malbec, dessen Preis mir die Schamröte ins Gesicht trieb. 171
»Das verdient die Kellnerin nicht in drei Tagen«, sagte ich, als sie uns allein gelassen hatte. »Doch«, sagte Walter, »mit deinem Trinkgeld.«
~ Er hörte mir zu und enthielt sich jeden Kommentars, als ich versuchte, die ganze Geschichte von vorn bis hinten zu erzählen. Hier und da schüttelte er den Kopf, hob eine Augenbraue oder zog ein mal teilnahmsvolles, mal ironi sches Gesicht, aber er ließ mich reden, ohne zu unterbre chen. »Da bist du in was ziemlich Verkorkstes reingeschlittert«, sagte er, als ich fertig war. »Weißt du wenigstens, ob du ver liebt bist?« »Platonisch ja«, sagte ich und überraschte mich selber damit. So klar war mir das bis dahin nicht gewesen. »Lügst du dich nicht vielleicht selber an?« »Wenn’s so wär, dann wüßt ich’s nicht.« »Deine Eva wird’s platonisch so scheiße finden wie anders.« Er hatte recht. Fussel würde auf solche Feinheiten nichts geben. »Es ist wie immer im Leben ganz einfach«, sagte er, »du beendest deine Ehe oder du beendest diese Freundschaft. Mehr als diese Wahl hast du nicht.« »Und wenn ich’s verheimliche?« »Du doch nicht. Du bist ein offenes Buch. Eva sieht’s dir an, wenn du lügst. Ich kenn sie nicht gut, aber dich kenn ich gut genug. Du kannst nicht lügen.« »Einen Seitensprung hab ich ihr immerhin verheimlicht. Bis heute.« »Das in Braunschweig?« 172
»Ja.« »Das war keine Beziehung, das war ein Fick. Einmal. Und es war kurz vor eurer Hochzeit. Da kannte sie dich nicht so gut wie heute. Da konnte sie deinen flackernden Blick noch für Liebe oder Verlegenheit oder irgendwas hal ten. Heute wird sie wissen, was los ist.« Er hatte schon wieder recht. Aber ich wollte nicht, daß er recht hatte. »Ein paar E-Mails hin- und herschicken«, sagte ich, »das ist doch kein Verbrechen.« »Mach, was du willst. Ich hab’s dir gesagt. Mehr als schlau sein kann ich auch nicht.« Er winkte der Kellnerin, um sich einen Espresso zu bestel len. Ich verlangte die Rechnung.
~ Das in Braunschweig, wie Walter es genannt hatte, war keine schöne Erinnerung. Seit Jahren hatte ich nicht daran gedacht, es war mir gelungen, die Geschichte vollständig zu vergessen. Erst als Jana mich so eindringlich nach Frauen auf Tournee gefragt hatte, war es kurz vor meinem inneren Auge aufgetaucht. Nicht nur, daß es ein paar Wochen vor meiner Hochzeit passiert war, machte mir zu schaffen, son dern auch, daß ich es nicht wirklich gewollt hatte. Zuerst ja, ich war wie wahnsinnig gewesen vor Gier, aber als ich es dann tat, hatte ich keine Lust mehr gehabt. Das machte alles schlimmer. Absurder, dümmer, gemeiner. Der Veranstalter war frisch geschieden und hatte die Band zum Übernachten in sein Haus eingeladen. Zwei Kinderzimmer, sein Schlafzimmer, ein Gästezimmer und ein Matratzenlager waren für uns und die beiden Techni ker hergerichtet, und wie immer nach einem Gig kamen ein 173
paar Leute mit. Es wurde eine lange Party – die letzten gin gen schlafen, als es draußen schon wieder hell wurde. Ich gehörte zu diesen letzten, deshalb erinnere ich mich daran. Walter übrigens auch. Er bekam die ganze Sache hautnah mit, denn er schlief auch in diesem Matratzenzimmer. Am Anfang war es wie höhere Gewalt gewesen. Co rinna, so hieß die Frau, ließ kein Auge von mir, sie schien wie magisch von mir angezogen. Ich verstand nicht, wieso, aber ich genoß die Situation, weil sie mir schmeichelte. Schließlich war ich nicht auf der Bühne gestanden, hatte keine Aura, keinen Glanz, es mußte um mich gehen. Was immer ihr an mir gefiel, es konnte sich nicht um ein Miß verständnis handeln. Sie war kein Groupie, das den Ruhm berühren wollte, sondern eine schöne Frau, die mich wollte. Sie gefiel mir sehr, und auch ich hatte längst schon begon nen, sie nicht mehr aus den Augen zu lassen, bevor wir die ersten Worte miteinander wechselten. Ich weiß nicht mehr, was wir redeten, denn fast sofort kam es zum Eklat. Ihr Freund tauchte aus irgendeiner dunk len Ecke auf und schaltete sich wütend ein, als er uns mitein ander reden sah. Sie schickte ihn weg. Er beobachtete uns aus der Entfernung. Es war gräßlich. Sie hatte vor kurzem mit ihm Schluß gemacht, aber er gab nicht auf und verfolgte sie, fand sie, wo immer sie war. Er bedrängte sie, tat, als wäre nichts, und zwang sie so dazu, ihn immer wieder aufs neue zurückzustoßen. Das ginge schon drei Wochen so, sagte sie und nahm meine Hand, um sie sich auf den Oberschenkel zu legen. Ich war schon wieder abgekühlt. Der bohrende Blick ihres Freundes hatte mich daran erinnert, daß ich fast ver heiratet und nicht auf erotische Entdeckungen aus war. Und dieses demonstrative Turteln war mir, als ich erst verstanden hatte, worauf es rauslief, zuwider. Ich wurde benutzt, nur 174
zu einem Zweck in Dienst genommen: dem Freund endlich die finale Breitseite zu verpassen. Also zog ich mich zurück mit der lahmen Ausrede, ich wolle jetzt ein Bad nehmen, und hoffte, sie wären beide ver schwunden, wenn ich mir lange genug Zeit nahm dafür. Eine Weile lag ich in der Wanne und dachte an die Frau und daran, wie wir beide auf Kollisionskurs aufeinander zu gerast waren, und dann immer wieder an die starren Fieber augen dieses verletzten Jungen, die mich so haßerfüllt fixiert hatten. Der hatte mir angst gemacht. Und auf einmal saß sie auf dem Rand der Wanne und fragte, ob sie mit reinkommen dürfe. Ich erinnere mich, etwas wie: »Lieber nicht, das geht nicht gut aus« gesagt zu haben, als auf der Treppe Schritte zu hören waren, sie blitzschnell aufsprang, den Schlüssel in der Tür umdrehte und sich die Schuhe auszog. Sie blieb mit ten im Raum stehen, legte den Finger an die Lippen und lauschte. »Corinna?« Er war es. »Bist du da drin?« Sie schüttelte den Kopf, und ich sagte: »Nein, hier ist nie mand.« Das war dumm, denn da er meine Stimme hörte, konnte er sich sicher sein, richtig zu liegen. Er rüttelte an der Klinke und redete mit jämmerlicher Stimme auf die Tür ein. Es war furchtbar. Ich wurde Zeuge seiner Erniedrigung, er bettelte und flehte, fluchte und verwünschte sich, dann sie, dann mich, dann klang es, als kauere er sich auf den Boden und lehne sich an die Tür. Man hörte nur noch ein gelegentliches dumpfes Wummern, so als haue er mit dem Ellbogen oder der Schulter gegen die Tür. Er weinte. Und Corinna zog sich aus. Ich gab ihr Zeichen, das bitte zu lassen, reden konnte ich nicht, er würde es hören, aber mein Dilemma schien sie 175
nicht zu kümmern. Sie zog sich weiter aus und achtete dar auf, das völlig geräuschlos zu tun, sie legte sehr behutsam ihre Kleider auf meine, dann war sie nackt und stieg zu mir ins Wasser. Ich weiß noch, was mir durch den Kopf ging. Ich dachte, so einer autonomen und selbstsicheren Frau bist du noch nie begegnet, wie kann sie einfach mein Kopfschütteln igno rieren und sich sicher sein, daß ich sie nicht wegstoße, aber ich dachte auch, sie weiß, daß sie mich hat. Meine Flucht ins Badezimmer war fadenscheinig, leicht zu durchschauen, vorher hatte ich sie gewollt, war bereit gewesen, ich hatte es nur mit der Angst zu tun bekommen, vor ihrem Typ, vor seinem Kummer, vor einem Eklat, ich war ganz einfach abgesprungen, und im übrigen sprach meine Erektion im klaren Wasser eine ebenso klare Sprache. Leider auch das Plätschern, als sie sich ins Wasser setzte. Ich hatte die Beine angezogen, um ihr Platz zu machen und meinen Zustand zu kaschieren, ich sah sie an und fand sie außerordentlich schön. Ihr Freund hörte das Plätschern. »Was machst du da drin?« fragte er. Seine Stimme klang nach Wut und Angst. Ich schwieg. Sie ebenfalls. Sie lächelte nicht, sah mich aber an, als wolle sie mich austrinken. Sie saß nicht, sie kniete. Sie strich mir mit den Händen die Beine entlang, und ich hätte die Augen geschlossen vor lauter Lust, wenn ich nicht soviel Angst gehabt hätte, die Tür könne jeden Augenblick explodieren. Und ich mußte ihr konzentriertes Gesicht und ihre Brüste ansehen. Draußen wurde es jetzt lebhaft, jemand kam die Treppe herauf und fragte, was los sei. Es war der Veranstalter. Er ex pedierte den Freund sanft, aber mit Nachdruck von der Tür weg, die Treppe runter, und ich hörte ihn sagen: »Du gehst 176
jetzt. Ich kann keinen Streß hier brauchen. Komm nicht noch mal. Du hast Hausverbot.« Es gab nichts mehr zu kaschieren. Ich war wie erloschen. Diese Szene hatte mir die Luft rausgelassen. Als sie es merkte, weil ihre Hände dort angekommen waren, fragte sie: »Nein?« Und ich schüttelte den Kopf. Wir rauchten jeder eine Zigarette und schwiegen. Dann zogen wir uns an und gingen zu den anderen. Inzwischen umrundete der Freund das Haus. Er war über den Zaun geklettert und stand im Garten, sah mit seinen brennenden Augen herein und machte uns alle fertig mit seinem Martyrium. Wir versuchten, ihn zu ignorieren, der Veranstalter ging zweimal raus, um ihn zu überreden, daß er endlich Ruhe gab, aber es war nichts zu machen. Niemand wollte die Polizei holen. Ich trank sehr viel. Zuviel. Sie erzählte mir, er sei ein Junkie, seit zwei Jahren an der Nadel, und wenn sie es jetzt nicht schaffe, sich endgültig von ihm zu trennen, dann hänge sie auch bald dran. Irgendwann ging ich schlafen. Vor ihr. Sie redete noch mit Walter, als ich mich in das Matratzenzimmer verzog. Die besseren Betten waren längst vergeben. Und dann lag sie bei mir. Und wir taten es doch. Verstoh len, leise, unter der Decke. Ich dachte die ganze Zeit über, du bist ein Idiot, du tust etwas, das du nicht tun willst, nicht tun sollst, bereuen wirst, es tut Fussel weh, es ist gemein, und die Ausrede, du wärst nur höflich, ist lächerlich. Du bist nur feige. Walter lag ein paar Meter entfernt von uns. Er schien zu schlafen, aber am nächsten Tag gab er mir zu verstehen, daß er alles mitbekommen hatte. Ich hörte nie wieder etwas von dieser Corinna, hatte mir ihre Adresse nicht geben lassen, ihr meine nicht gegeben, 177
hatte sie morgens vor der Abfahrt zum Abschied geküßt und umarmt und versucht, meine Scham vor ihr zu verbergen. Ob das nun höflich war oder auch nur feige, interessierte mich nicht mehr. Ich weiß noch, daß mich irgendwo auf der Höhe von Kassel eine atemstauende Angst erfaßte, ich könnte Aids haben. Schwule und Junkies waren damals die ersten, die wie die Fliegen starben. Ich machte keinen Test und schwor mir, nie wieder untreu zu sein.
~ Walter bekam Skrupel, als ich zwei Hunderter auf das Tel lerchen mit der Rechnung legte. »Laß mich die Hälfte dazu tun«, bat er, »jetzt hast du genug geblutet«, aber ich blieb stur. Mit dem schlechten Gewissen sollte er ruhig eine Weile leben. »Dafür tu ich jetzt meinen besten Wein raus«, sagte er, als wir draußen waren, »Geschenk vom Verleger. Oder willst du durch die Kneipen ziehen und dich außer Haus besaufen?« »Nein«, sagte ich noch unter dem Eindruck der schockie renden Rechnung für das bißchen Essen und den grade mal ordentlichen Wein, »jetzt wirst du geplündert.« Ich konnte noch fahren. Aber in irgendein Röhrchen zu blasen kam nicht mehr in Frage. Über null Komma fünf hatte ich allemal drin.
~ Sie saß auf der Treppe. Ein Häufchen Elend mit scheuem Blick und neben sich noch immer die Tasche aus Venedig. Ihre Wohnung war geflutet. Sebastian hatte ein Fenster eingedrückt und alle Wasserhähne aufgedreht. Vermut 178
lich schon vor einigen Tagen. Die Wohnung war komplett verwüstet, alle Böden zerstört, die Vermieter in heller Auf regung und Jana ohne Nerven. Sie zitterte. »Kommen Sie mit hoch«, sagte Walter und schloß die Tür auf. »Ich fahr zu meiner Mutter«, sagte sie oben in Walters Wohnung, als ich ihr die Jacke abgenommen hatte, »das halt ich nicht aus.« »Brauchen Sie Fahrgeld?« fragte ich, und gleichzeitig hörte ich Walter: »Wollen Sie hier schlafen?« »Nein, ja«, sagte sie. »Geld hab ich aus der Schublade. Hier schlafen würde ich gern, wenn Ihnen das nicht alles durcheinanderbringt.« »Ich hab noch ein Sofa«, sagte Walter und ging in die Küche, um den angekündigten Wein zu holen.
~ Es dauerte nur Minuten, bis Walter die skeptische Höflich keit ablegte und sein Interesse an Jana nicht mehr verhehlte. Er schlug vor, Sebastians Auto zu holen, aber Jana wollte das nicht. Sie wollte nur weg von allem. Er fragte sie aus und erwies sich bald als gutgelaunter Gastgeber. Das kannte ich gar nicht an ihm. Mir gegenüber hatte er immer den Mür rischen gegeben. Es kränkte mich nicht. Ich war ihm dank bar, daß er sich so nett um sie kümmerte. Ein bißchen war es so, als hätte ich sie nach Hause mitgebracht, und mein Bru der gäbe sich alle Mühe, ihr die Scheu zu nehmen und dafür zu sorgen, daß sie sich nicht examiniert vorkommen mußte, sich wohl und wahrgenommen fühlte. Und irgendwas stimmte auch daran. Ich war zu Hause. Mit Walter zu sein war so etwas wie Heimat. Er war mein Bruder. Der einzige, den ich hatte. 179
»Sie mögen sich«, sagte Jana irgendwann, nachdem wie der mal ein Witz den anderen gegeben hatte, und wir stutz ten beide und sahen uns an. »Das kann man so nicht sagen«, versuchte ich der dro henden Sentimentalität auszuweichen. »Das sollte man so nicht sagen«, fand Walter. »Doch, doch, genauso sollte man das sagen.« Jana wirkte irgendwie stolz oder zufrieden, sie hob ihr Weinglas und prostete uns zu. »Nicht weich werden«, sagte Walter und stieß mit mir an. »Das ist unmännlich.« Es wurde ein richtig fröhlicher Abend. Irgendwann schien Jana ihren Kummer vergessen zu haben, und Wal ter fing an, uns Musik vorzuspielen. Im Gegensatz zu mir hatte er nie aufgehört, sich für neuere Musik zu interessie ren, er kannte sich immer noch aus und entdeckte Bands und Songs aus Stilrichtungen, denen ich schon längst keine Namen mehr geben konnte. Und es war erstaunlich, wie oft Jana, der das meiste nicht neu war, und ich denselben Geschmack zeigten. Beim Album einer Aimee Mann, das mich elektrisierte, mich zu rück- und vorauswarf, mitten rein in die längst vergessen geglaubte Rockseligkeit, wo Euphorie und Trauer eins sein können und sich Zartheit und Energie verschränken, sagte sie: »Das ist das beste, was in den letzten Jahren auf die Welt gekommen ist.« Ich glaube, ich strahlte sie an. Und Walter war glücklich. Musik vorzuführen ist seine Art, jemandem die Welt zu er klären. Für ihn ist alles ein Beispiel. Und die musikalischen sind seine Schätze.
~ 180
Ich erkannte, daß ich den allerletzten Schluck erwischt hatte, den Schluck zuviel oder auch die Zigarette zuviel, daran, daß alles zu schwingen begann, fließend wurde, wie ver wischt und langsamer. Mein Gehirn hielt nicht mehr mit. Und ebenso mein Magen. »Alarm«, sagte ich, »muß ins Bett.« Und die Party war zu Ende.
~ Ich weiß nicht, ob ich aufgewacht war oder träumte, als ich nachts ihre Silhouette sah, die im Sessel saß, in Unterwäsche, und mich zu betrachten schien. Ich sagte nichts, gab nicht zu erkennen, daß ich die Augen offen hatte, und mußte irgendwann wieder eingeschlafen sein, denn beim nächsten Mal lärmten draußen schon die Müllmänner, und der Sessel war leer, und die Wohnung war still.
12
Walter weckte mich mit einem Espresso, den er mir unter die Nase hielt. In der anderen Hand hatte er meine Zigaretten und das Feuerzeug. »Ich muß die Wohnung re novieren, wenn du weg bist«, sagte er, als ich mir eine an zündete. »Oder umziehen«, sagte ich. Er hielt mir wortlos einen Zettel hin: Danke für alles. Den schönen Abend, die schöne Musik und den Blick in die Seele einer Freundschaft. Ein bißchen was von dieser Freundschaft habe ich auch abbekommen. Das war das Schönste. Danke. Ich bin schon unterwegs nach Hause. Glücklich: Jana »Ich kann dich verstehen«, sagte Walter, »das ist ein ganz besonderes Stück Weib.« »Sag nicht Weib. Sie ist ein Mädchen. Eine junge Frau.« »Eine junge, bei der man sich nicht alt fühlt. Was Beson deres.« Er hatte schon fürs Frühstück eingekauft, und ein opu lent gedeckter Tisch erwartete mich. Er überließ mir einen Teil seiner Zeitung, und wir schwiegen uns an, wie man sich unter Männern nicht herzlicher, entspannter und zufriede ner anschweigen kann.
~ 182
Später brachte er mich noch zum Wagen, grinste, als ich die Tür geöffnet hatte, und sagte: »Film war scheiße.« »Arsch«, sagte ich und grinste sicher genauso breit, stieg ein, startete und fädelte mich, lässig aus dem Fenster win kend, in den Verkehr. Irgendwie hatte uns Jana zusammen gebracht. Dies war ein guter Tag in meinem Leben. Ich würde sie nicht aufgeben. Mußte ich eben lügen lernen, na und. Das konnten andere auch. Und an meiner Liebe zu Fus sel änderte sich doch nichts. Dessen war ich mir sicher.
~ Ich nahm die Autobahn über Stuttgart und Karlsruhe, raste, wo ich konnte, versuchte hin und wieder, Radio zu hören, aber hatte keine Geduld für den Mainstream-Quark, der da auf mich einblubberte. Nach der vielen guten Musik gestern abend konnte ich den Top-Twenty-Seich nicht mehr er tragen. Ich nahm mir vor, dieses Aimee-Mann-Album zu kaufen und so laut und oft wie möglich mit Kopfhörern zu genießen. Vielleicht würde ich mir dann vorstel len, wir hörten es gemeinsam, Jana und ich, und würden uns knuffen oder auch nur ansehen an besonders schönen Stellen. Es regnete von Rastatt bis Müllheim. Ich konnte nur achtzig fahren, weil ich manchmal keine dreißig Meter weit sah. Und die Wischblätter mußten auch mal erneuert wer den – da waren immer Schlieren und Streifen zwischen mir und dem vorausfahrenden Verkehr.
~ Eigentlich hatte ich Lust zu arbeiten, aus meinen Notizen ein Exposé zu machen, aber ich wußte, daß es keinen Sinn 183
mehr hatte, jetzt noch anzufangen. Wenn ich nicht morgens loslege, dann komme ich nicht mehr in die Gänge. Ich fuhr trotzdem ins Büro, denn ohne Fussel war die Wohnung nur ein luxuriöser Schlafplatz. Hunger hatte ich keinen, zum Fernsehen war es noch zu früh, und mein Platz in der Welt war ohnehin vor dem Rechner.
~ Mockelchen, ich muß dir was erzählen. Man macht mir schöne Augen. Nicht Tom, der ist ein Gentleman, aber der eine oder andere Single-Kunde strafft seine Haltung, wenn ich ihm gegenüberstehe, und versucht, mich am Abend in die Bar zu kriegen, was ich natürlich immer ablehne, und die Hotelgäste werfen auch Blicke, sobald mich der Fahrstuhl ausspuckt. Denk nichts Falsches, ich flirte nicht mit ihnen. Ich genieße das nur heimlich, niemand kann sich sicher sein, mir damit eine Freude zu machen, aber es ist so: Ich freu mich darüber. Ich komme mir auf einmal so lebendig vor. Ich weiß ja, in einer alten Ehe stehen Anbetung und Auf-Händen-Tragen nicht mehr so auf dem Zettel, das ist normal, und ich beklage mich nicht. Du kriegst sicher auch weniger Bestätigung von mir als früher. Aber jetzt, da sie immer glitzern, sich durch die Haare fahren, sich besser hinsetzen, wenn ich vorbeigehe, merke ich, daß mir das gefehlt hat. Ich werde keinen ausprobieren, hab keine Angst, daß ich die Gelegenheit ausnutzen wollte, ich will dir nur erzählen, wie gut es mir tut, mich auf einmal wieder wie eine Prinzessin zu fühlen. Dabei bin ich doch eine alte Schachtel. Das ist eine echt schöne Überraschung. Die Arbeit ist Routine, geht alles wie von selbst. Lukas ist schon wieder weg. Ich genieße meine kleinen Fluchten an den Strand und jetzt auch, da ich es kapiert habe, meine kleinen Auftritte im Restaurant oder in der Lobby. Ich fühl mich zehn Jahre jünger. 184
Und du? Geht’s dir gut? Vermißt du mich? Ich vermisse dich schon sehr. Freu mich aufs Nachhausekommen. Dauert leider noch ein bißchen. Dein Fussel
~ Hallo Prinzessin, muß ich dann ab jetzt von Fussel zu dir sagen? Hab keine Angst, ich könnte eifersüchtig sein – es gefällt mir. Ich bin stolz auf dich. Wenn die Buben Stielaugen machen, dann ist das kein Wunder, so was wie du läuft normalerweise nicht frei rum. Ich nehme mir das aber zu Herzen, was du über Anbetung und Auf-Händen-Tragen geschrieben hast. Tut mir leid, wenn ich da schlapp geworden bin. Das soll nicht wieder vorkommen. Ich bin richtig reiselustig zur Zeit. Gerade komm ich aus München zurück und bin ganz vollgetankt mit neuer Musik – Walter hat eine große Vorspielarie veranstaltet. Ich mußte ihn nicht trösten – es geht ihm gut. Mir auch, außer daß du mir fehlst. Dein Mock
~ Den Rest des Nachmittags verbrachte ich mit dem Vertrag, den ich durchsah, ausdruckte und unterschrieb, dem Be zahlen zweier Rechnungen und E-Mails an Sven und Karin Rechl von Zeppo-Film, mit der ich ein Telefonat am Mon tag nachmittag verabredete, weil sie natürlich noch jede Menge Einwände gegen das Exposé haben würde. Dann aß ich eine Pizza und fuhr nach oben.
~ Keine Überraschung wartete, als ich mich dem Haus näherte, keine Verwüstung, kein Besuch, keine fiese Post, 185
alles war wie immer, nur daß mir die Wohnung diesmal noch leerer vorkam. Als würde jetzt auch noch Jana fehlen. Ich sah mir das Video an, das ich so lang hatte liegenlas sen, einen Dreiteiler, der mir überhaupt nicht gefiel. Falls der Regisseur mich danach fragen sollte, würde ich lügen und behaupten, ich hätte es noch nicht gesehen. Meine Mei nung darüber konnte ich ihm nicht ins Gesicht schleudern. Es war langweilig, kitschig und pompös.
13
Das Glockengeläut, von dem ich wach wurde, klang schon so eigenartig, daß ich mich nicht wunderte, als ich aus dem Fenster alles wieder dick verschneit sah. Die ganze sichtbare Welt war eingepackt, der Himmel grau und tief, und hier und da segelte noch eine vereinzelte Schneef locke zu Boden. Es war märchenhaft. Fussel hätte ge jauchzt. Sie liebt Schnee und Kälte. Ich gebe mich üblicher weise mürrisch bei solchen Anblicken, aber jetzt, in diesem Moment, hätte ich vielleicht auch zugegeben, daß es mich bezauberte.
~ Das Runterfahren war allerdings heikel und rutschig, ich mußte ein paarmal aufpassen, daß ich nicht einfach in ste hende Autos reinschlitterte. Vor dem Büro war ich naßge schwitzt.
~ Hallo Christian, ich mach dir ein Angebot: Der Grollrahmen wird verkürzt oder ganz storniert, wenn du mich bald wieder mit dieser netten Frau besuchst. Okay? Walter
~ 187
Sag mal, ist das bei dir auch so, daß du nicht mehr einstrahlig pinkeln kannst? Bei mir kommt es auf einmal nur noch so duschkopfmäßig, und ich finde keinen Knopf zum Verstellen. Ist das normal, oder hab ich jetzt was an der Prostata? Besorgt, gedemütigt und geniert, Emilio
~ Lieber Christian, ich habe auf der ganzen Zug fahrt nach Hause nichts anderes denken können, als daß ich dich nicht mehr aus meinem Leben gehen lassen will. Ich saß in der Nacht eine Zeitlang an deinem Bett, während du selig schliefst und lustige kleine Schnarcher von dir gabst, und ich hätte mich am liebsten dazugelegt und an dich gekuschelt, um in deinen Armen weiterzuschlummern. Aber ich packte irgendwann meine Sachen und ging zum Bahnhof, weil ich so aufgewühlt war, daß ich wußte, ich würde nicht mehr einschlafen. Es fällt mir schwer zu schreiben, ich sitze am Computer meiner Mutter und kann die Worte nicht richtig sehen, weil ich heulen muß. Ich weiß noch nicht einmal genau, warum, denn in mir streiten sich die verschiedensten Gefühle: Ich schäme mich, weil ich die ganze Zeit ein Spiel mit dir getrieben habe, ich bin glücklich wie noch nie in meinem Leben, weil ich dich gefunden habe, weil ich dich so mag, weil du mich offensichtlich ebenso gern hast, weil wir uns so nahgekommen sind, so viel gemeinsam haben, uns verstehen und – das gilt jedenfalls für mich – uns brauchen. Ja, ich brauche dich. Das ist mir aufgefallen, als ich merkte, daß in deiner Nähe einfach alles klar zu sein scheint. Der Nebel ist weg, wenn du da bist. Ich kann es nicht besser erklären. Wovor ich nun am meisten Angst habe, ist: du könntest mit Recht so wütend auf mich sein, daß du nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Als ich an deinem Bett saß, wurde mir klar, daß ich dir reinen Wein einschenken muß, daß ich nichts mehr offenhalten 188
kann, daß ich nicht mehr feige sein darf daß es nur noch einen Weg nach vorn gibt: Ehrlichkeit. Du hast mir erzählt, du hättest auf Tour mit den Musikern damals nur zweimal was mit einer Frau gehabt, also erinnerst du dich sicher an eine gewisse Corinna in Braunschweig. Das ist meine Mutter. Und ich bin deine Tochter. Sie hat mir gesagt, wer du bist, daß du inzwischen Drehbücher schreibst, sie hat deinen Namen zufällig irgendwann im Abspann eines Films gesehen. Ich wollte dich kennenlernen, ohne zu riskieren, daß ich dein Leben durcheinanderbringe, ohne zu riskieren, daß ich dich, falls ich dich nicht mögen sollte, am Hals haben könnte, ich wollte dir und mir ein peinliches »Na und« ersparen, falls wir uns träfen und einander nichts zu sagen hätten. Deshalb hab ich mich, so unauffällig und beiläufig es ging, in dein Leben geschlichen, mich dir als Fan vorgestellt und einfach ausprobiert, ob da was ist zwischen uns. Ein Gleichklang, Zuneigung, Interesse. Und all das war da. Gleich vom ersten Brief an spürte ich, daß du mir gefehlt hattest, schon in der Zeit, als ich noch einen »Vater« hatte. So einen, dich, den richtigen, hatte ich nicht gehabt. Wir haben in der Schule »Homo faber« gelesen. Ich mußte immer an diese Geschichte denken, als ich mir überlegte, wie ich es anstellen könnte, dich kennenzulernen, ohne daß du die Wahrheit erfährst. Ich weiß nicht, ob ich mir darüber im klaren war, daß ich mit dir flirten würde, um dein Interesse zu wecken – irgendwo im Hinterkopf wußte ich aber, daß das unausweichlich wäre und daß ich es wollte. Ich wollte wissen, wie du als Mann bist. Und ich dachte, das erfahre ich nur, wenn du mich als Frau siehst. Nicht als Kind. Ich hätte dich nicht ins Bett gelockt, obwohl mir alles an dir gefällt. Du wärst der Liebhaber erster Wahl für mich. Wenn du nicht mein Vater wärst. Ist das nicht klassisch? Alle Töchter wollen ihre Väter heiraten? 189
Eigentlich war ich mir schon sicher, daß ich dir reinen Wein einschenken muß, als ich dich vor deiner Haustür sah und kapierte, daß du in Venedig gewesen warst. Ich hatte es zu weit gehen lassen. Ich hatte dich in eine Situation manövriert, an der du keine Schuld trugst, die dich aber in gewaltige Schwierigkeiten bringen mußte. Ich hatte dich in eine Falle gelockt. Vor lauter schlechtem Gewissen schlief ich dann in deiner schönen Wohnung einfach ein, so mußte ich nicht reden, meine Hinterhältigkeit nicht offenbaren und dich nicht verletzen. Und auf der Fahrt nach München hab ich es auch nicht geschafft, hab mich wieder in den Schlaf geflüchtet und mir vorgenommen, es dir beim Abschied zu sagen. Hab ich nicht getan. Und dann war es so warm und hell und freundlich um euch beide, deinen Freund und dich, daß ich mich sonnte und aalte in eurer Gegenwart und mein Geständnis auf die Nacht verschob. Ich wollte dich wecken. Hab ich nicht getan. Ich weiß, diese Mail platzt wie eine Bombe in dein Leben, und ich weiß, daß ich dir alle Freiheit lassen muß, lassen will, dich für mich oder gegen mich zu entscheiden. Du hast mir geschrieben, daß du schon dreiundzwanzig Jahre verheiratet bist, also war die Nacht mit meiner Mutter ein »Fehltritt«. Was, wenn deine Frau es nicht ertragen kann, von dir betrogen worden zu sein? Es ist schon lang her, und ich kann mir auch nicht deinen Kopf zerbrechen, aber wenn sie es nie erfahren hat und jetzt so erfährt, wird sie dann nicht tief verletzt sein? Du liebst sie, das sprach aus allen deinen Briefen, vielleicht wirst du es nicht schaffen, ihr so weh zu tun. Ich wäre bereit dazu, deine heimliche Tochter zu sein. Das wird dein Leben nicht einfacher machen, aber es könnte verhindern, daß du deiner Frau weh tun mußt. Wir würden uns schreiben und treffen und miteinander telefonieren, als wäre ich deine Geliebte, wir müßten verlogen und verstohlen sein, aber ich würde das tun, weil ich weiß, daß mir heimlich lieber ist als gar nicht. Du bist frei, dich zu entscheiden, das sage ich noch mal, ich 190
werde dich nicht plagen, wenn du die Verbindung kappen willst, ich würde versuchen, dich zu verstehen und in Ruhe zu lassen. Aber ich wünsche mir mehr als alles bisher in meinem Leben, daß du dich für mich entscheidest – wie auch immer, ob heimlich oder offen – und mein Vater sein willst. Antworte mir nicht gleich – ich werde drei Tage weg sein. Sebastian ist hier aufgetaucht, ein Häufchen Unglück und Schmerz, und hat mich gebeten, ihn nach Starnberg zu seinen Eltern zu fahren. Die Polizei war bei ihm, und sein Anwalt hat ihm geraten, sich in die Psychiatrie einliefern zu lassen. Das will er in Starnberg tun. Seine Eltern kommen für den Schaden an meiner Wohnung auf, um der Anzeige meiner Vermieter zu entgehen. Er ist wie ausgewechselt. Keine Wut mehr und keine Gehässigkeit, er will nur noch schlafen und heulen. Ich tu ihm den Gefallen und fahr ihn nach Hause. In dem Zustand kann er nicht Auto fahren, und in den Zug mag ich ihn auch nicht setzen. Ich werde also am Mittwoch wieder da sein und auf deine Antwort hoffen. Und ich werde die ganze Fahrt über an dich denken. Und mir ausmalen, wie wir zusammen Auto fahren und du mir deine Lieblingsmusik vorspielst, wie wir durch Venedig gehen, wie ich dir Santi Giovanni e Paolo zeige, wie du deinen Arm um mich legst und sich niemand, auch nicht wir beide, etwas Falsches dabei denken kann. Eins noch: Ich bin froh, daß es dich gibt, daß du bist, wie du bist, daß du mich kennst und daß du zu mir gehörst. Ob wir nur für diese kurze Zeit zusammen waren oder ob es für unser ganzes Leben reichen wird, das überlasse ich dem Schicksal. Nein, ich überlasse es dir. Ich liebe dich. Deine Tochter Jana
~ Ich hatte kaumgeatmet beim Lesen und spürte mei nen Herzschlag bis in die Zähne. Ich mußte ein paarmal 191
tief Luft holen, während ich zuerst die beiden Filmchen, dann das Foto löschte, dann griff ich zum Telefon und rief Ingrid an. »Lebenskrise«, sagte ich, als sie sich meldete, »ich muß mit dir reden.« »Wann kannst du dasein?« fragte sie nur. »In drei Stunden. Vielleicht vier.« Erst dann merkte ich, daß mir Tränen übers Gesicht lie fen in einem stetigen Strom, der meine Haut kitzelte, die Tastatur meines Computers glitzern ließ und mich erleich terte und beruhigte, obwohl ich von Schluchzern geschüt telt wurde.
~ Es waren weniger als zweieinhalb Stunden von Tür zu Tür. Die Autobahn war frei, Sonntag, kein Laster unterwegs, und die Ausflügler hatten wohl wegen des Schneefalls am Mor gen umdisponiert. Ich konnte den Rover fliegen lassen über die linke Spur, ich rauchte beim Fahren, war hochkonzen triert, dachte nicht an Jana, nicht an Fussel, dachte an nichts, nur an die Fahrbahn vor mir und die schemenhaften Autos der anderen.
~ »Komm rein«, sagte Ingrid, dann ging sie voraus in ihr kleines Wohnzimmer, nahm einen Aschenbecher aus der Schublade, stellte ihn vor mich hin, sagte: »Darfst rauchen.« Dann holte sie mir ein Glas Wasser aus der Küche und setzte sich: »Was ist los?« Und ich erzählte die Geschichte in ganz anderen Worten als gestern noch bei Walter, denn je länger ich sprach, desto 192
erschütterter war ich und fand mich immer weniger zurecht in der Gefühlsverwirrung aus Freude, Verzweiflung, Angst und Euphorie. »Du mußt es ihr sagen«, war das erste, was Ingrid nach einem Moment der Stille verlauten ließ, »dann kann sie dir verzeihen. Wenigstens hast du die Chance, daß sie’s tut. Und es ist immerhin dreiundzwanzig Jahre her. Sehr lang.« »Ich hab das Gefühl, je länger, desto schlimmer«, sagte ich, denn mir stand Fussels Gesicht vor Augen, kalt und starr und so tief verletzt, daß alle Lebendigkeit daraus verschwun den wäre. So würde sie mich ansehen, wenn ich ihr zuerst eine Tochter und dann einen Seitensprung präsentierte. »Ich glaube, das schaff ich nicht.« »Männer sind dumm. Männer fliegen auf. Du kommst nicht durch damit, wenn du versuchst, es zu verheimlichen. Und deine Eva hat ein Recht auf deine Ehrlichkeit. Es geht nicht um irgendwas, es geht um ein Kind.« »Sie hat ein Kind gewollt. Und ich hab mich durchge setzt damals. Ich wollte nicht.« »Ich weiß. Aber dieser kleine Schweizer, den sie so um hegt und umsorgt, glaubst du nicht, daß der sie ein bißchen entschädigt hat?« Ich zuckte die Schultern und sagte nichts. Vielleicht hatte sie recht, aber das änderte doch nichts. »Und glaubst du nicht, daß sie weiß, daß ihr auch deshalb eine gute Ehe führt, weil ihr euch nicht ums Kind oder die Erziehung oder die Lehrer oder die schlechte Gesellschaft oder was auch immer streiten mußtet? Ein Kind ist auch Sprengstoff für eine Ehe.« »Vielleicht. Aber das ändert doch nichts.« »Du könntest ein bißchen mehr Vertrauen in deine Frau haben. Eva ist doch nicht blöd.« »Weiß nicht.« 193
»Was weißt du denn dann? Was willst du? Stellst du mir Fragen, weil du einen Rat willst, oder nur, weil ich dich in irgendwas bestätigen soll?« »Ich kann dieses Mädchen nicht sitzenlassen, ich will’s nicht, und ich kann Fus… Eva nicht einfach so zerschmet tern.« »Eins von beiden wirst du aber tun. Stell dich besser gleich drauf ein. Mittelweg ist nicht. Und du weißt nicht, ob Eva durchdreht. Sie ist erwachsen. Ihr seid keine zwanzig mehr. Ihr habt Lebenserfahrung. Erfahrung miteinander. Ihr seid ein gutes Paar. Das muß nicht alles draufgehen, nur weil du jetzt eine Tochter hast.« »Ach Ingrid«, sagte ich und versuchte, den Anklang von Ärger in meiner Stimme zu unterdrücken, »du bist so schlau wie Walter. Ich hab zwei Möglichkeiten, und eine davon muß es wohl sein.« »Übrigens, wie geht’s ihm?« »Walter? Gut.« Ich wollte nicht über Walter reden. Die beiden waren verheiratet gewesen und hatten sich in einer quälenden Schlammschlacht vor siebzehn Jahren getrennt. Seither war ich mit beiden separat befreundet und stellte fest, daß Wal ter sich nie nach ihr erkundigte und sie sich immer nach ihm. Sie war die treibende Kraft gewesen, hatte ihn verlassen für einen anderen, inzwischen längst vergessenen Mann, ihren damaligen Psychotherapeuten, der die Finger nicht von seinen Patientinnen lassen konnte. »Klüger bin ich nicht, aber danke fürs Zuhören«, sagte ich und stand auf. Und küßte sie auf beide Wangen. Und raste nach Hause.
~ 194
Das wird sie dir ewig übelnehmen, dachte ich auf der Fahrt, du trampelst rein, schüttest dein Herz aus, meckerst über den Rat, den sie für dich hat, und haust wieder ab. Mein Egois mus kam mir dennoch zwar verwerflich, aber auch unaus weichlich vor. Ich konnte jetzt nicht anders. Ich konnte nicht über Walter reden, über Ingrids Leben oder ihre Arbeit. Sie war Lehrerin an einem Gymnasium und voller Frustration über die Arbeitsbedingungen, das Schulamt, die Kollegen, den Direktor und nicht zuletzt die Schüler, die immer blö der würden, wie sie sagte. Ich nahm mir vor, mich schrift lich zu entschuldigen. Mußte ich Corinna treffen? Darauf hatte ich keine Lust. Wir hatten doch nur unschöne Erinnerungen aneinan der. Allerdings waren die alt genug, um sich inzwischen verändert haben zu können. Alles verwandelt sich im Licht der Nostalgie. Und wir hatten diese Tochter. Aber Corinna wollte sie damals nicht mit mir gemeinsam, wieso sollte sie das jetzt wollen. Vielleicht würde sich’s nicht umgehen las sen. Vielleicht mußte ich sie treffen. Wenn Jana es wollte, würde ich es tun. Ich würde Jana um ein Fotoalbum bitten. Mir war klar, daß ich nichts nachholen konnte, ich würde nie mehr wis sen, wie es war, sie schlafend auf dem Arm zu tragen, ihr die Angst nach einem Alptraum zu nehmen, sich gegenüber einem ungerechten Lehrer für sie stark zu machen oder den ersten Jungen, in den sie verliebt gewesen war, zu verhöh nen, all das würde sich nicht im Schnelldurchlauf einsau gen lassen, aber wenigstens Anblicke konnte ich sammeln. Anblicke von ihr, die mir fehlten. Es fühlte sich großartig an zu wissen, daß ich ab jetzt in diese junge Frau verliebt sein durfte. Ich durfte von ihr begeistert sein, zu ihr halten, sie über alle Maßen vergöt tern, verwöhnen und vereinnahmen. Soweit sie das zulassen 195
würde allerdings nur. Aber es konnte nur heimlich sein. In einem zweiten Leben, das ich hinter Fussels Rücken organi sieren mußte. Ich würde Projekte, Recherchen und Bespre chungen erfinden, um Jana sehen zu können, und ich würde lernen zu lügen, ohne ertappt zu werden. Und ich durfte mich nicht schämen. Ich mußte vorgehen wie ein eiskalter Betrüger, den es einen Dreck kümmert, wie seine Frau sich fühlen würde, wenn sie ihm auf die Schliche käme, der sich nur darauf konzentriert, an seinen Unternehmungen nicht gehindert zu werden. Ich schämte mich für diesen Plan. Aber ich sah keine Alternative dazu. Mir wurde schlecht beim Gedanken an all die Hinterhältigkeit, zu der ich fähig sein wollte. Fussel vertraute mir. Und ich wollte das miß brauchen. Andere Männer konnten das auch, wieso sollte ich’s dann nicht schaffen. Aber liebten diese Männer ihre Frauen? Wie verträgt sich Liebe mit Lügen? Lügen ist eine Art Verach tung, man respektiert den Belogenen nicht. Und man ver giftet sich mit Lügen. Bis jetzt, in den paar E-Mails, war es eine Kleinigkeit gewesen, aber ab jetzt, in Worten, Auge in Auge, Stimme und Gesten kontrolliert, mit Bewußtsein und Perfidie – jetzt würde das etwas anderes sein. Gift. Ich mußte es trotzdem tun. Ohne mich zu vergiften, ohne Fussel zu verachten und ohne meine Zuneigung und unsere Einigkeit zu zerstören. Ich würde es schaffen. Es ging nicht anders. Es mußte sein.
~ Lieber Christian, Jana hat mir erzählt, daß sie dich gefunden hat, sie war ganz aufgeregt und begeistert, nach ihrer Beschreibung bist du ein wunderbarer Mann, und ihr beide seid ein Herz und eine Seele. Mir war ihre Suche nach dir nicht sehr willkommen, 196
ich dachte, wenn es bisher ohne dich ging, warum nicht auch in Zukunft, aber sie ist erwachsen und entschied sich für die Suche. Daß ich mich bei dir melde, war nicht vorgesehen, aber du wirst gleich verstehen, wieso ich es tue. Was ich dir zu sagen habe, schreibe ich hin, ohne zu glauben, daß es wahr ist. Jana ist heute gegen sechzehn Uhr in der Nähe von Würzburg gestorben. Ihr Auto ist frontal in einen Schwertransporter gerast, der Fahrer sagt, es habe in einer Baustelle die Absperrung durchbrochen und sei wie gezielt auf ihn zugeschossen. Der Polizist, der mich besucht hat, sagte, am Steuer saß Sebastian. Sie waren beide sofort tot. Ich bin ganz ruhig und sachlich, ich verstehe das nicht, aber es ist so. Nicht daß ich dich sehen wollte, aber da du nun zu ihrem Leben gehört hast, sollst du auch bei der Beerdigung sein dürfen. Wenn du das willst. Übermorgen, Dienstag, elf Uhr dreißig auf dem Friedhof Braunschweig-Bevenrode. Corinna
14
Ich weiß nicht, ob ich gerast bin. Und ich weiß nicht, wie das Hotel war. Und von wem ich mir den Weg nach Bevenrode erklären ließ.
198
15
Es waren nicht viele Leute da, neun oder zehn, ich habe nicht gezählt. Ich kannte nur Corinna, natürlich kannte ich nur sie; als unsere Augen sich für einen Moment begegneten, schien sie auch mich zu erkennen. Aber nichts in ihrem starren Gesicht gab mir zu verstehen, daß ich sie ansprechen durfte, also blieb ich während der Andacht in der letzten Reihe sitzen und ging danach weit hinter den anderen zum Grab. Und ließ meine Schaufel voll Erde erst dann auf den Sarg fallen, als alle sich schon zum Gehen ge wandt hatten. Corinna drehte in einiger Entfernung noch mal den Kopf nach mir um. Sie hatte Janas Mund. Ich blieb stehen.
199
16
Ich weiß nicht mehr genau, wie ich wieder nach Hause kam. Der Rover jedenfalls stand auf dem Rasthof Gräfenhausen. Zuerst hatte ich geglaubt, mir sei ein Reifen geplatzt, hatte die Warnblinker angeschaltet und die Stand spur angesteuert; erst als ich den Motor abgestellt hatte, wurde mir klar, daß mich ein Schüttelfrost so hin und her riß, der sich nur minutenlang unterdrücken ließ. Irgendwie hatte ich es bis zum Rasthof geschafft, den Wagen dort abgestellt und mir ein Taxi gerufen, das mich zur nächsten Apotheke und dann zum nächsten Bahnhof brachte. Und irgendwie war ich vollgepumpt mit Aspirin nach Hause gekommen, hatte mich ins Bett gelegt und außer Brühe, Aspirin und Wasser nichts mehr zu mir genommen.
200
17
Der Arzt diagnostizierte eine schwere Grippe und verschrieb mir ein Antibiotikum. Moni holte es mir aus der Apotheke und erklärte sich bereit, Fussel am nächsten Tag vom Flughafen abzuholen. Ich mußte mit ihr telefoniert und ihr erzählt haben, daß ich krank sei, worauf sie sich ent schlossen hatte, den nächstmöglichen Flug nach Hause zu nehmen. Ich weiß nichts mehr davon.
201
18
Als ich ihre und Monis Stimme hörte, ging ein Ausatmen, ein Leerwerden, ein überwältigendes Gefühl von Erleichterung durch meinen Körper. Als hätte ich bis her verkrampft und starr gelegen und würde mich jetzt zum ersten Mal seit Tagen entspannen. Fussel kam noch in ihren Straßenschuhen zu mir. Ihr Schritt hörte sich ruhig und tröstlich an. Sie hatte ihre Handtasche und ein Bündel Post in den Händen, als sie sich auf mein Bett setzte und sich zu mir beugte. »Mann, hat’s dich erwischt«, sagte sie und strich mir über die immer noch vom Fieber verschwitzte Stirn, »du Armer.« Ich schlief ein.
~ »Was ist das hier?« hörte ich Fussel sagen, und etwas im Klang ihrer Stimme machte mich hellwach. Es waren die E-Mails. Sebastian hatte sie noch einmal geschickt.
~ Ich weiß nicht, ob ich träumte oder wirklich erzählte, ob Fussel mir wirklich zuhörte, ohne ein Wort dazwischen 202
zureden, ob sie wirklich ihre Hand irgendwann wieder auf meine Stirn gelegt hatte, ob mein Kissen wirklich naß von Tränen war, als ich ihre Stimme hörte: »Jetzt werd erst mal gesund.« Doch. Das Kissen war naß. Das weiß ich.
Danke an alle, die das noch unfertige Manuskript mit
ihren klugen Ratschlägen und aufmerksamen Beobach tungen verbessern halfen: Jone Heer, Axel Hundsdör fer, Michael Kröher, Bernhard Lassahn, Claudia und Ulli Kettner, Ines Campagnolo, Patrick Langer und Vera Eich holz-Rohde.
Foto: Peter v. Felbert/Anne Eickenberg
Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei an der Kunst akademie Stuttgart und war Lieder macher, bevor er 1985 begann, Romane zu schreiben, unter denen »Das Herz ist eine miese Gegend« und »Das Aquarium« zu den größten Erfolgen zählen. Zuletzt erschien »Die gefährliche Frau«.
Umschlag und Konzeption: R· M· E, Roland Eschlbeck Bildmotiv: © Kornelia Bunkofer