Gruselspannung pur!
Skandal im Cafe Frankenstein
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Laut trommelte der Regen a...
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Gruselspannung pur!
Skandal im Cafe Frankenstein
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann Laut trommelte der Regen auf das Schieferdach der Friedhofskapelle. Matthias Kreuzer stand auf dem nachtdunklen Kreuzweg und wartete. Über ihm rauschte das Laub in den Trauerweiden. Ein Käuzchen schrie. In der Ferne rollte Donner. Kreuzer war nervös. Immer wieder schob er den Ärmel seiner Lederjacke hoch und leuchtete mit dem Feuerzeug auf das Zifferblatt seiner Armbanduhr. Als es Mitternacht schlug, schrieb er einige Beschwörungsformeln in den nassen Sand des Weges. Dann schaute er erwartungsvoll zum wolkengepanzerten Himmel. »Ich rufe dich, o Mephisto, Fürst der Finsternis und Verkünder des Bösen. Erscheine, o Satan, denn dein Jünger braucht deinen dämonischen Beistand.« Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! 2
Nichts passierte. Kreuzer zündete sich eine Zigarette an. Ein wenig würde er wohl noch ausharren müssen, bis ihm Mephisto die Ehre eines Besuches zuteil werden ließ. Hastig saugte der Mann am Filter des Glimmstengels. Kreuzer, ein stämmiger Koch, arbeitete für knapp zweitausend Mark im Monat in einem drittklassigen Hotel. Seit dem Fall der Mauer hatte der Fünfunddreißigjährige eine Vision, die ihn bis in den Schlaf verfolgte: ein eigenes Restaurant. Gediegen bis ins letzte Detail sollte es sein. Keine Schnellfeuerküche wie die Bulettenschmiede, in der er momentan seine Brötchen verdiente. Diese Wunschvorstellung hatte sich wie ein Krebsgeschwulst in ihm festgefressen. Bald dachte er an nichts anderes mehr. Und deswegen war er heute nacht auch hier, auf dem Friedhof. Kreuzer hatte noch immer Angst. Und das nicht zu knapp. Bevor er den Gottesacker betreten hatte, war er in der Pommernstube gewesen, ein paar Bier zwitschern. Dort war sein Entschluß endgültig gereift. Mit jedem getrunkenen Gerstensaft wuchs sein Selbstvertrauen. Nüchtern hätte er sich lieber unter dem eigenen Bett verkrochen, als sich des Nachts auf dem Friedhof herumzutreiben. Mathias Kreuzer spähte angestrengt in die Dunkelheit. Nichts zu sehen. Nur Bäume, Sträucher, halbzerfallene Beinhäuser, Grabsteine und Abfallcontainer aus Draht. Plötzlich hatte Kreuzer Bedenken. Möglicherweise stand er auf verlorenem Posten. War Mephisto doch nur Fantasiegestalt? Von übereifrigen Männern der Kirche erdacht? Der unglückliche Koch zerquetschte einen Fluch zwischen den Lippen. Insgeheim jedoch machte sich Erleichterung in ihm breit. Die unheimliche Begegnung fand nicht statt. Als der Regen nachließ, schob sich die silbrige Sichel des Mondes durch das Wolkengebirge. Sein geheimnisvolles Licht ließ die Butzenscheiben der Kapelle glitzern. Abermals schaute Kreuzer auf die Uhr. Gleich halb eins. Er war umsonst gekommen. Der Antichrist schien anderweitig beschäftigt. Auch gut. Kreuzer atmete auf. 3
Im Begriff, den Ort des ewigen Schweigens zu verlassen, schleuderte er seine Zigarette weit von sich. Funkensprühend überflog die Kippe die Buchsbaumhecke eines Grabes und verschwand hinter einem Gedenkstein aus Granit. Plötzlich erstarrte Mathias Kreuzer zur Salzsäule. Sein Herz machte einen Satz, als wolle es seine Brust verlassen. Eine Stimme, dumpf wie der tiefste Ton aus einer Tuba: »Was für eine wunderbare Nacht. Finden Sie nicht auch, mein Herr?« Kreuzer fuhr der Schreck durch Mark und Bein. Er hatte weder nahende Schritte noch ein anderes Geräusch gehört. Dabei waren all seine Sinne so geschärft, daß ihm sein eigener Pulsschlag als Lärm vorkam. Demnach mußte ER es sein, der da hinter ihm stand. ER – Kreuzers Hände flatterten. Eine unerklärliche Kühle benetzte die Haut seiner glühenden Wangen. Langsam drehte er den Kopf. Mit einer Mischung aus Furcht und Neugierde stierte er auf die gespenstische Gestalt, die buchstäblich aus dem Nichts aufgetaucht war. ER erschien als ein Mann mittleren Alters, gertenschlank, fast dürr, bekleidet mit einem schwarzen, zweireihigen Anzug, als käme er geradewegs von einer Beerdigung. Unter seinem breitkrempigen Schlapphut quollen lange, schwarze Haare hervor. Die Schuhe, die er trug, waren schwarz und klobig, so wie die orthopädischen Treter, die in den Schaufenstern von Sanitätshäusern ausgestellt waren. Sein hohlwangiges Gesicht wurde von einem aufgesetzten, freudlosen Lächeln beherrscht. Im Nu verlor Kreuzer seine gesunde Gesichtsfarbe. »Sie sind ja leichenblaß«, stellte der dünne Mann fest. »Offenbar rauchen Sie zuviel.« »Ich? Nein, ich…« Kreuzer verhaspelte sich. Fassungslos starrte er auf den Schwarzgekleideten, dessen Lächeln wie festgefroren war. »Wer sind – Sie?« hauchte Kreuzer überflüssigerweise. Er schnupperte unauffällig. Der Schlapphut-Mann stank penetrant nach Verwesung! Kreuzer wich instinktiv zurück, als ihm der andere väterlich eine Hand auf die Schulter legte. – Die Hand war so kalt, als hätte sie 4
stundenlang im Gefrierfach eines Kühlschrankes gelegen. »Beruhigen Sie sich.« Der dünne Mann sah ihn an. »Haben Sie keine Furcht. Alles hat seine Richtigkeit.« Kreuzer fröstelte. »Sind Sie…?« »Ja«, antwortete der andere voreilig. »Ich bin’s. Und mit wem hab ich die Ehre?« »Mathias Kreuzer. Ich bin Koch.« »Oho!« Der Schwarzgekleidete schien überrascht und fixierte sein Gegenüber. »Ein Koch also. Was ist dein Begehr, Mathias Kreuzer? Was hast du auf dem Herzen? Wenn es in meiner Macht steht, könnte ich versuchen, dir einen Dienst zu erweisen. Deswegen bist du doch hier. Oder?« Der Koch nickte hastig. Die Gedanken knatterten wie eine Maschinengewehrsalve durch seinen Schädel. Alles war so unwirklich. Er hatte das Empfinden, einen höchst realistischen Traum zu haben. Kreuzer unterdrückte das alberne Verlangen, sich selbst in die Wange zu kneifen. »Sprich!« ermunterte ihn der dünne Mann. »Hab keine Scheu.« Der Koch riß sich zusammen. »Ich will, das heißt, ich möchte gern ein eigenes Restaurant. Können Sie es mir beschaffen?« Schweigen. In den Augen den Schwarzgekleideten erschienen zwei gelb rote, züngelnde Flämmchen. Seine Miene blieb ausdruckslos. Dann lächelte er. Es war ein eisiges, hintergründiges Lächeln. »Ich bin kein Bankier, Mathias Kreuzer. Ich kann dir kein Geld geben. Und dir ein Restaurant aus dem Boden stampfen, das kann auch ich nicht.« Kreuzer blickte traurig zu Boden. »Sie können mir also nicht helfen?« »Das habe ich nicht gesagt.« Der Koch schöpfte neue Hoffnung. »Ich tu alles, was Sie von mir verlangen«, stieß er verzweifelt hervor. »Das Leben, das ich führe, ist die Hölle auf Erden. Von morgens bis abends stehe ich an einem uralten Kohleherd und muß aus Abfällen Delikatessen zaubern. Für einen Koch mit Leib und Seele, wie ich einer bin, gibt es nichts Scheußlicheres. Und mein Chef speist mich mit einem Trinkgeld ab. Selber kutschiert er mit einem Mercedes durch die Gegend. Ich habe eine schöne Frau. Sie hat 5
Wünsche…« Der Schwarzgekleidete nickte zu Kreuzers leidenschaftlichen Worten. »Du gefällst mir, Mathias Kreuzer«, sagte er. »Darum gebe ich dir eine Chance. Nutze Sie, und du wirst dir eines Tages deinen Herzenswunsch erfüllen können.« »Was ist das für eine Chance?« fragte der Koch. Gebannt hing er an den grinsenden Lippen des dünnen Mannes. Der hob die Stimme. »Es gibt da jemanden, der mich bedrängt, der meine Kreise stört. Er ist sehr hartnäckig und hochgradig gefährlich, sogar für mich. Du könntest ihm einen Besuch abstatten.« »Ich soll jemanden besuchen?« fragte Kreuzer dümmlich. Jäh verschwand das Lächeln auf dem Gesicht des Schwarzgekleideten. Er preßte die Lippen aufeinander, daß die Backenknochen die Haut spannten. Seine schmale, langfingrige Hand krallte sich wie eine riesige Wäscheklammer in den Stoff von Kreuzers Jacke. »Nein, du Narr!« fuhr er den erschrockenen Koch an. »Du sollst ihn nicht besuchen, du sollst ihn mir vom Hals schaffen. Ihn ein für allemal auslöschen. Das wäre deine Aufgabe. Hast du das verstanden?« Kreuzer schluckte. »Wer, wer ist dieser Mann?« »Er heißt Mark Hellmann und wohnt in Weimar. Manchmal arbeitet er für eine Zeitung. Doch immer öfter kommt er mir in die Quere und mischt sich in Dinge ein, die ihn nichts angehen. Ich will, daß du ihn tötest!« »Töten?« echote Kreuzer. »Genau. Erledige ihn, und wir bleiben Freunde.« »Wie soll ich das anstellen?« hauchte Kreuzer. »Ich hab’ noch nie jemandem ein Haar gekrümmt, geschweige denn getötet.« »Meinetwegen erschlage ihn, schieß ihm ein paar Kugeln in den Leib, ersäuf ihn im Fluß oder schneid ihn in Scheiben. Laß dir etwas einfallen. – Das ist jedenfalls der Preis, den du zahlen mußt.« »Und wenn es schiefgeht?« Kreuzers Augen flirrten vor Angst. »Kann doch passieren, oder?« »In einem Monat hast du dein Restaurant. Du wirst eine Küche besitzen, um die dich alle anderen Möchtegern-Gastronomen beneiden werden. Es darf nichts schiefgehen. Eine Hand wäscht 6
die andere.« »Ich kann’s kaum glauben.« Kreuzer schwebte im siebten Himmel. »Eine Küche, mit Konvektomaten, riesiger Bain-Marie, Doppeldecker-Rechauds, Töpfen aus Edelstahl…« Der Schwarzgekleidete schnippte mit Daumen und Zeigefinger. »Töte Mark Hellmann!« raunte er. »Dann wird dein Wunsch Wirklichkeit.« Der ehrgeizige Koch zögerte keine Sekunde mehr. Er biß die Zähne zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und schaute den schwarzen Mann in die funkelnden Augen. »So sei es! Ich werde es tun, so wahr mir…« Der Schwarzgekleidete hob abwehrend beide Arme, »…der Fürst der Finsternis helfe!« vollendete er und reichte Kreuzer die Hand. Begeistert schlug der Koch ein. Der Pakt war besiegelt. Und das Unheil nahm seinen Lauf. * Leise betrat Mathias Kreuzer das Haus. Es war ein Uhr nachts. Heike, seine Frau, würde im Bett liegen und schlafen. Bevor er fortging, hatte er ihr gesagt, er würde wahrscheinlich erst gegen drei Uhr morgens nach Hause kommen. Er hatte ihr vorgeschwindelt, im Greifenhaus, wo er arbeitete, sei eine Sonderveranstaltung. Geräuschlos öffnete er die Wohnungstür. Im Korridor hängte er seine klamme Jacke an die Garderobe und zog die Schuhe aus. Dann ging er in die Küche. Er machte Licht und holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank. Geräuschlos entkorkte er die Flasche und nahm einen langen Zug. Allmählich wurde ihm die Tragweite seines nächtlichen Friedhofsbesuches bewußt. Ich habe mich mit dem Teufel eingelassen, kreiste es ihm durch den Kopf. Auf Gedeih und Verderb! Ich muß einen Menschen umbringen, um meinen Kontrakt zu erfüllen. Aber dann werde ich groß herauskommen! Ich werde ein Restaurant eröffnen, das Furore machen wird. Die Aussicht, bald einer der angesehensten Männer der Stadt zu sein, ließ ihn innerlich jubeln. In seiner Fantasie sah er Scharen 7
von blitzsauber gekleideten Köchen durch eine aufs Modernste eingerichtete Küche wieseln… Ein Geräusch irritierte ihn. Es kam aus der Wohnung und klang, als ob jemand heftig atmete. Mathias Kreuzer neigte den Kopf zur Seite. Er horchte angespannt in die nächtliche Stille. Eine Weile stand er reglos, das Bier in der Hand, vor dem schwarzen Rechteck des Küchenfensters. Die Kreuzers waren seit fünf Jahren verheiratet. Sie lebten allein in der kleinen, rekonstruierten Plattenbauwohnung im Greifswalder Ostseeviertel. Das heftige Atmen wurde zum Japsen. Es kam aus dem Schlafzimmer. Wieso japste seine Frau im Schlaf? Kreuzer stellte das Bier auf das Fensterbrett. Sie schlief doch sonst wie ein Murmeltier. Da stimmte doch was nicht! Eine böse Vorahnung beschlich ihn. Auf Zehenspitzen tappte er durch die Diele. Flauschige Auslegeware dämpfte seine Schritte. Er bemerkte, daß die Tür zum Schlafzimmer nur angelehnt war. Das Japsen war jetzt ganz deutlich zu vernehmen. Solche Geräusche machte keiner, der schlief. Ging seine Heike fremd, weil sie dachte, er käme erst gegen Morgen? Hatte sie die Gunst der Stunde ausgenützt, sich einen Kerl geangelt und ihn mit ins Bett genommen? Zögernd warf Kreuzer einen Blick durch den Türspalt. Seine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Mit offenem Mund glotzte er in das Zimmer. Als erstes sah er seine Frau. Heike hockte im Schneidersitz auf dem zerwühlten Bett. Für gewöhnlich trug sie ihr kastanienbraunes Haar sorgfältig hochgesteckt. Jetzt klebte es schweißnaß an ihrem Kopf. Heike war splitternackt. Sie saß auch nicht still, sondern federte rhythmisch auf und ab. Kreuzer sah, wie ihre Brüste hüpften. Die Augen hatte sie fest zugepreßt. Ihre Schminke war zerlaufen, der Mund rotverschmiert, als wäre sie zu einem blutsaugenden Vampir mutiert. Unter ihr lag ein Kerl! Seine nackten Füße ragten über die Bettkante. Er wackelte 8
genußvoll mit den Zehen, während er Heikes Pobacken fest umklammert hielt. Der Gehörnte stand wie angewurzelt. Sekundenlang konnte er nicht klar denken. Er wußte einfach nicht, wie er sich verhalten sollte. Etwa sich wie ein entfesselter Racheengel auf die beiden stürzen? Sie von der Liebeswiese hochreißen? Dem Kerl die Zähne einschlagen? Nein, so ein Mensch war Mathias Kreuzer nicht. Aber etwas tun mußte er. Er beschloß, zurück in die Küche zu gehen. Irgendwie fürchtete er sich vor der Auseinandersetzung. Was, wenn der andere Kerl stärker war als er und ihn obendrein noch im eigenen Schlafzimmer verdrosch? Zur Eifersucht und Wut kamen dann noch die Schmerzen… Auf Zehenspitzen schlich Kreuzer in die Küche zurück. Er schnappte sich das angetrunkene Bier und goß es sich mit einem einzigen Zug hinter die Binde. Dann, von einem Augenblick zum anderen, sah er Heikes Seitensprung aus völlig gegensätzlicher Sicht. Weiber, dachte er. Wozu ärgere ich mich eigentlich? Jetzt, wo ich einen so mächtigen Verbündeten habe. Er wird mir, wenn ich’s will, die schärfsten Puppen beschaffen. Was Heike sich herausnimmt, kann ich auch. Soll sie doch schlafen, mit wem sie will. Mir steht die ganze Welt offen! Adieu, Heike! Er nahm den Autoschlüssel vom Haken, warf sich die Jacke über und schlüpfte in seine Schuhe. Dann ging er. Der Opel Corsa stand auf dem Parkplatz neben dem Wohnblock. Das grasgrüne Auto glänzte im fahlen Schein des Mondes. Aus der Ferne erklang die Sirene eines Krankenwagens. Sonst war Stille. Alles schien zu schlafen. Kreuzer stieg ins Auto, legte den Gang ein und fuhr los. Wohin wußte er nicht. Noch nicht. Aber es sollte nicht lange dauern, und Mathias Kreuzer würde eine weitere, haarsträubende Überraschung erleben. Eine, die sein weiteres Leben stark beeinflussen sollte. In einer halben Stunde…
9
* »Gib mir mal ‘ne Lulle«, bat Reding. Plottke grabbelte in der Brusttasche seines knautschigen Shirts. »Seit wann paffste denn wieder, Alter?« »Geht dich ‘n Scheißdreck an!« fauchte Reding. »Gib mir lieber Feuer, du Nase!« Er riß Plottke die Zigarette aus der Hand und schob sie zwischen seine Lippen. Unterwürfig gab Plottke ihm Feuer. Reding war der Anführer. Die beiden Männer saßen in einem Ford Sierra und fuhren die Loitzer Landstraße in Richtung Greifswald. Die Strecke war sehr kurvenreich. Es war zwei Uhr nachts. Die Tachonadel näherte sich der 130. »Wieso biste denn so bärbeißig, Rolf?« fragte Plottke den Fahrer. »Wir haben doch allen Grund, uns zu freuen. Zwei Millionen haben wir eingesackt! Das ist kein Pappenstiel. Wir sollten irgendwo hingehen und uns einen ansaufen.« Reding bedachte seinen Komplizen mit einem raschen Blick. »Du bist der größte Idiot, der in MeckPom umherkreucht!« schimpfte Reding. »Morgen steht es in allen Käseblättern: Lottomillionär in Klein Zastrow erschossen! Die Bullen werden hinter uns her sein wie der Teufel hinter den Seelen. Und du? Willst mit drei Achten im Turm, die Tasche mit den Kröten unterm Arm, in der Gegend herumtorkeln?« Rüdiger Plottke sagte nichts. Er saß da und umkrampfte die dicke Aktentasche, die bis zum Rand mit gebündelten Banknoten vollgestopft war. Plottke war dreiundzwanzig, knapp einsachtzig groß und wog gut und gern seine zwei Zentner. Er trug ein weites Shirt mit der Aufschrift Led Zeppelin. Seine langen, braunen Haare waren struppig und stachen weit über seine massigen Schultern. »Musik«, raunte Reding. »Such mal ‘nen vernünftigen Sender. Aber keinen mit diesem verdammten Teenie-Schnickschnack.« Plottke freute sich, dem Kumpel einen Gefallen tun zu können. »Mach’ ich, Alter. Ich such’ nen Sender, wo sie megageilen Hardrock spielen. Black Sabbath, AC/DC oder Deep Purple.« Der Dicke nestelte am Autoradio. Rolf Reding beobachtete, wie die wulstigen Finger des anderen 10
auf den Knöpfen herumdrückten. Dieses Schwein, dachte er. Dieses gottverdammte Schwein hat Kuddel Retschlag kaltgemacht. Wie konnte ich mich bloß mit solch einem Schwachkopf einlassen? Er rief sich die Geschehnisse der letzten Stunde ins Gedächtnis zurück. In der Kneipe hatten sie spitzgekriegt, daß ein Ex-Kumpel unlängst den Jackpot beim Lotto geknackt hatte. Kuddel Retschlag. Laut hatte es der Hirnie vor allen Leuten ausposaunt. Ebenso, daß er das ganze Geld von der Bank geholt hatte, um sich mal so richtig reich zu fühlen. Kuddel war ein spleeniger Typ. Er war fast dreißig, las noch immer >Dagobert Duck<-Stories und lebte mutterseelenallein in einem kleinen verwahrlosten Gehöft in Klein Zastrow. And diesem Abend hatten sie ihm einen Besuch abgestattet, Plottke und er. Normalerweise hatten sie schwarze Strumpfmasken dabeigehabt. Sie wollten Retschlag nicht töten. Sie wollten nur die Millionen. Doch Plottke, diese Intelligenzbestie, hatte sich verraten. Retschlag ahnte, wer ihm da auf die Pelle gerückt war. Da knallte Plottke durch. Er riß seine Walther PPK hoch und schoß dem Ex-Kumpel aus nächster Nähe ins Gesicht. Sie mußten sich erst einmal gründlich waschen, weil sie über und über mit Retschlags Blut bespritzt waren. Glücklicherweise schien niemand den Schuß gehört zu haben. Retschlag war, wie sie, ein Hardrocker. Er hörte gerade eine CD von den Free… »Kriegste noch mal ‘nen ordentliche Sender eingestellt?« blaffte Reding. »Du fummelst und fummelst, aber ‘n geilen Sound kriegste nicht rein!« Der dicke Plottke schwitzte. »Moment noch«, keuchte er. »Gleich hab ich was. Wirst sehen, Alter.« »Da bin ich aber gespannt. Bisher war’s nur Katzendreck, was du reinbekommen hast.« »Die Sender, die Hardrock dudeln, bringen gerade Nachrichten. Als wenn ich was dafür könnte.« »Dann warte nen Augenblick. Die Nachrichten werden ja bald zuende sein. Oder?« Rolf Reding konzentrierte sich auf die Fahrbahn. Die Scheinwerfer des Fords erfaßten plötzlich zwei Rückstrahler, die schnell näher kamen. Er überlegte, ob es nicht besser wäre, hinter dem Vorfahrenden zu bleiben. Wenn er an dieser Schnecke 11
mit über hundert Sachen vorbeidonnerte, schöpfte der Fahrer garantiert Verdacht. Überhaupt dann, wenn er am nächsten Tag seine Nase in die Zeitung steckte und las, daß im Nachbardorf ein Mord passiert war. Sicher ist sicher. Reding stieg auf die Bremse. Der Sierra verlangsamte seine Fahrt. Plottke glotzte den Fahrer ungläubig an. »Was’n los, Alter?« wollte er wissen. »Willst du etwa dem Trabi da vorn hinterhereiern? Du, der Heini da drin kriegt glattweg Höhenflüge, wenn du ihn nicht ins Geschirr nimmst!« »Er könnte sich unser Nummernschild merken«, zischte Reding wütend. »Diese Dorftölpel sind manchmal gar nicht so blöde, wie sie aussehen.« Plottke runzelte die Stirn. Er überlegte und nickte daraufhin begeistert. »Auf das schmale Brett war’ ich gar nicht gekommen«, staunte er. »Echt geil, mit ‘nem ausgeschlafenen Typen wie dir zusammenzuarbeiten.« Ekel stieg in Rolf Reding auf. Am liebsten hätte er seinem dusseligen Beifahrer eine Maulschelle verpaßt. Für sein hirnloses Geschwafel. Die Lichter von Greifswald tanzten bereits vor ihnen. Da blinkte die Rennpappe und bog auf einen Feldweg ab. Redings Augen verengten sich. Die Straße war wieder frei. Um diese Zeit fuhr hier selten jemand. Nachtleben gab es auf den Dörfern nicht. Wer Arbeit hatte, lag schon in den Federn, wer keine hatte, gaffte bis zum Abwinken auf die Mattscheibe des Latschenkinos und ließ sich mit drittklassigen Weltpremieren berieseln. Reding fluchte. Sein Fuß, der auf dem Gaspedal stand, wurde schwer wie Blei. Der Ford schoß vorwärts, raste über den nachtdunklen Asphalt. Hundertdreißig. »Geil, Mann!« tobte der dicke Plottke. »Gib Gummi! Alter! Ich werd’ zur rasenden Wildsau…« Hundertvierzig. Eine gerade, übersichtliche Strecke. Da sah Reding das gelbe Ortseingangsschild. Er nahm den Fuß vom Gas, ließ den Wagen rollen und tippte leicht auf die Bremse. 12
Das Fahrzeug reagierte nicht! »Verdammter Dreck!« Reding traten die Augen aus den Höhlen. Jetzt quetschte er den Fuß mit voller Kraft auf das aufsässige Pedal. Wieder keine Reaktion. »Du mußt bremsen, Alter!« Plottke wurde käseweiß. »Voll auf ‘n Anker, Mann! Zum Teufel, woher kommt denn diese gottverdammte Kurve mit einemmal?« Plottkes Stimme überschlug sich. »Alter, wenn du nicht bremst, wickeln wir uns um einen dieser Scheißbäume da!« »Es geht nicht!« Rolf Reding stieg mit beiden Beinen auf die Bremse. »Die Dinger müssen im Eimer sein!« »Im – im Eimer?« echote der dicke Beifahrer verwirrt. »Die Kiste war doch gerade in der Werkstatt!« Rüdiger Plottke krallte seine Hände um die Aktentasche. Darin waren zwei Millionen Piepen! Sie würden die nächsten Jahre nicht mehr einen Finger krumm machen müssen. Sie könnten alles haben, was sie wollten! Jeden Tag Champagner, Blondinen mit Superkurven noch und nöcher, schnittige Luxusschlitten, einfach alles. Sie hatten wegen dieser Millionen einen Mord begangen… Und jetzt? Der Schweiß lief in Strömen über Plottkes schreckensbleiches Gesicht. Seine Zähne schlugen aufeinander, daß der Schmerz bis hoch in die Schläfen zog. Der Sierra flog geradezu über die Fahrbahn. Eine Querrinne. Sie hopsten kurz von den Sitzen und weiter ging’s! »Die Karre wird immer schneller!!!« kreischte Reding. »Ich kann sie nicht mehr halten!« Wie ein Irrer umklammerte er das Lenkrad, versuchte, es herumzureißen, um über den flachen Graben auf den Acker zu gelangen. Möglicherweise konnte er dort den Sierra wieder in die Gewalt bekommen. Doch auch die Lenkung funktionierte nicht mehr. Der Lenker sprang wild hin und her, als wäre er plötzlich zum Leben erwacht und wollte wütend die Hände abschütteln, die ihn in eine bestimmte Richtung drängen wollten. »B.b.bremsen!« lallte Plottke. »Sonst sind wir futsch, Mann!« »Wie denn?« schrie Reding in Todesangst. Er spuckte die Zigarette aufs Armaturenbrett. Funken stoben. 13
Die glühende Kippe fraß ein Loch in seine Jeans. Neben ihm schrie Plottke wie von Sinnen. Sterben… In diesem Augenblick wurden die Nachrichten im Autoradio beendet. Es gab wieder Hardrock. Eine sympathische Moderatorin kündigte den nächsten Titel an: Allright Now von den Free. Reding glaubte zu träumen. Die Nummer hatten sie doch heute schon mal gehört, bei Kuddel Retschlag! Der Titel lief, als Plottke die Nerven durchgegangen waren und er Kuddel umlegte. Reding hörte noch die ersten Takte des stampfenden Schlagzeugs. Dann war da die braune Borke dieses knorrigen Baumes. Der Aufprall. Rolf Redings Schädel zertrümmerte die Frontscheibe des Wagens. Das letzte, was er hörte, war ein ohrenbetäubender Schrei. Es war der kürzeste Schrei, den er je gehört hatte, und der schrecklichste! Reding wußte nicht, ob es sein eigener oder der seines Beifahrers war. Und er würde es auch niemals erfahren. * »Hallo?« Keine Antwort. »Hallo? Lebt hier noch jemand?« Stille. Mathias Kreuzer hatte hinter dem verunglückten Wagen angehalten. Sein Standlicht beleuchtete ein grauenerregendes Szenarium. Ein dunkelroter Ford Sierra war gegen einen Baum geprallt. Das vordere Teil des Autos existierte nicht mehr. Es sah so aus, als würde der Baumstamm mitten aus der Motorhaube wachsen. Kreuzer schlug das Herz bis zum Hals. Er war allein, es war Nacht und er hatte noch nie einen Toten gesehen, von Angesicht zu Angesicht. Jetzt war Kreuzer sicher, daß es soweit war. Es mußte einen unheimlich starken Rums gegeben haben. Nur 14
selten überlebte ein Mensch einen Frontalzusammenstoß mit einem Baum. Bei Koltenhagen, in Richtung Anklam, hatte es vor Jahren gleich drei Jungs auf einmal erwischt. Die Kreuze hingen noch heute, mit Plüschtieren und Blumen dran. Der Koch trat näher an das Wrack heran. Komisch, dachte er, nicht mal Bremsspuren gibt es. Die Typen scheinen mit vollem Karacho in den Tod gerast zu sein. Vielleicht Selbstmörder? Die Welt spielte verrückt. Er selbst war das beste Beispiel. Jetzt sah er die Gestalt eines Menschen. Es mußte der Fahrer gewesen sein. Der Mann lag im Straßengraben. Sein Körper war unnatürlich verrenkt. Der Kopf mit den langen, blonden Haarsträhnen war eine breiige, blutige Masse. Kreuzer beugte sich vor. Das Gesicht des Mannes war von Glassplittern übersät. Zwischen den zerfetzten Lippen hing die Zunge auf das Kinn hinab. Kreuzer preßte die Zähne aufeinander. Er drehte sich für einen Moment zur Seite, schnappte gierig nach Luft. In seinem Magen rumorte es. Er war nahe dran, sich zu übergeben. Mit aller Kraft unterdrückte er den aufsteigenden Brechreiz. Plötzlich wurde er stutzig. Ungefähr zehn Meter von der Unfallstelle entfernt lag ein zweiter Körper. Mathias Kreuzer hastete vorwärts. Das mußte der Beifahrer sein. Ein übergewichtiger, braunhaariger Mann, der eine rötliche Aktentasche an sich gepreßt hielt. Einen Meter vor ihm blieb Kreuzer stehen. Stumm betrachtete er den Leblosen. Erste Hilfe? Möglicherweise lebte der Mann noch. Doch Kreuzer stand still und starrte ihn an. Der Gedanke an unterlassene Hilfeleistung durchfuhr ihn. Kreuzer blickte sich um. Keine Menschenseele in der Nähe. Die Straße schien durch Niemandsland zu führen. Das Schuldgefühl flaute rasch wieder ab. Er wurde nämlich auf etwas aufmerksam. Und zwar auf eine Pistole! Die schwarzglänzende Waffe lag unter dem rechten Bein des Verunglückten. Lauf und Abzugsbügel lugten hervor. 15
Die Kerle hatten ein Schießeisen dabei! schoß es Kreuzer durch den Kopf. Vielleicht waren das Gangster? Sehr vertrauenerweckend sahen die Typen jedenfalls nicht aus. Er bückte sich, hob die Pistole auf. Eine Walther PPK. Gedankenvoll strich Kreuzer über den geriffelten Kolben. Dann klickte er das Magazin heraus. Der Ballermann war geladen. Nur zwei Patronen fehlten. Kreuzer entsicherte die Pistole. Als er den Hebel wieder umstellen wollte, hörte er, daß jemand leise stöhnte. Der dicke Mann, der da vor ihm lag, lebte! Die Waffe in der Hand, sank Kreuzer auf die Knie und berührte vorsichtig den Kopf des Verletzten. »Wo tut es Ihnen weh?« fragte er. »Ich helfe Ihnen. Sagen Sie, wo Sie Schmerzen haben. Ich hab’ nen Verbandskasten dabei. Sie werden es schaffen!« Der Dicke öffnete ein Auge, richtete es auf Kreuzer, der sich über ihn gebeugt hatte. »Verschwinde!« keuchte er. »Hau ab, Mann!« Kreuzer prallte zurück. Diese Reaktion hatte er nicht erwartet. Der Dicke preßte die Tasche noch fester an seine Brust. Im matten Licht den Standlichts sah Kreuzer, wie in das Gesicht des Verunglückten wieder etwas Farbe kam. »Aber ich will Ihnen doch helfen«, stammelte Kreuzer perplex. »Schnauze, Mann!« blaffte der Dicke. »Verfatz dich, sonst setzt es was!« Fassungslos starrte der Koch den am Boden Liegenden an. Mit jeder Sekunde kam der Dicke mehr zu Kräften. Er ruckte schon mit den Beinen, versuchte aufzustehen. Dabei blinzelte er Kreuzer wütend an. Sein einäugiger Blick fiel auf die Walther, die Kreuzer unschlüssig in der Hand hielt. »Meine Knarre!« Der Dicke richtete sich langsam auf. »Du Kröte hast mir meine Knarre geklaut.« »Aber…« »Warte, du Mistkerl. Dich mach’ ich fertig!« Da fiel es Mathias Kreuzer wie Schuppen von den Augen. Aus der Tasche lugte ein Bündel Geldscheine. Keine kleinen, 16
sondern Tausender und Fünfhunderter! Die Typen hatten einen Coup gelandet, waren mit ihrer Beute verduftet und dann gegen einen Baum geknallt. Wahrscheinlich, weil sie vor Seligkeit völlig aus dem Häuschen waren. Ja, genauso mußte es sein! Kreuzer war auf der Hut. Der Dicke rappelte sich auf. Er blickte kurz zu seinem toten Komplizen und stellte fest, daß dem nicht mehr zu helfen war. Drohend starrte er Kreuzer an. »Kanone her! Aber ‘n bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf!« Kreuzer kämpfte mit sich. In Gedanken trat er bereits den Rückzug an. Sollte dieser blöde Fettwanst doch mit seinem Monetenkoffer in die Hölle fahren… Jäh detonierte eine Sprenggranate in seinen Eingeweiden. Vor seinem inneren Auge erschien der Schlapphut-Mann mit seinem breiten, freudlosen Grinsen. Eindringlich gesprochene Worte hallten dumpf im Schädel des Koches. »Knall den Burschen über den Haufen, Mathias Kreuzer. Der Kerl ist dein Schicksal. Schnapp dir die Tasche und mach dich aus dem Staub! Hörst du? Töte ihn!« Der dicke Hardrocker richtete sich stöhnend auf. Er streckte eine Hand aus. »Mein Ballermann, Alter. Gib ihn mir! Du kannst ihn doch nicht brauchen.« Kreuzers Blick verschwamm. Mephisto hatte ihm ein unmißverständliches Zeichen gegeben. Langsam hob er die Waffe. Er zielte auf die Brust des schwergewichtigen Hardrockers. Der griente abfällig. »Du bist ein feiger Bock, Alter. Ob nun mit oder ohne Knarre!« »Irrtum, Dicker«, widersprach Kreuzer. Dreimal zog er den Abzugsbügel durch. Die Schüsse peitschten durch die Nacht. Dem Hardrocker quollen vor Staunen die Augen aus den Höhlen, als er zu Boden ging. Kreuzer riß wild entschlossen die Tasche aus seinen Händen. Rasch ließ er die Schlösser aufschnappen und spähte hinein. Schwindel packte ihn beim Anblick von so viel Geld. Das mußten Millionen sein! Voller Inbrunst richtete Kreuzer seinen Blick zum Firmament. In seinem Geist erschien das Restaurant, das er sich so sehr 17
wünschte. Es sollte etwas völlig Ausgefallenes sein. Die Gäste würden Schlange stehen, wochenlang vorher reservieren müssen, um einen der begehrten Plätze zu ergattern. Einen Namen für das Lokal hatte er auch schon: Cafe Frankenstein… * Ohne Moos nichts los! Ich mußte wieder einmal ans Geldverdienen denken. Da biß die Maus keinen Faden ab. Zwar erhielt ich inzwischen Honorar für den einen oder anderen Auftrag, doch zu verschenken hatte ich noch nichts. Außer meiner Tätigkeit als Dämonenjäger hatte ich noch meinen Reporterjob. Kopfüber stürzte ich mich in die Arbeit. Max Unruh, Chefredakteur der Weimarer Rundschau, beauftragte mich, eine Artikelserie über berühmte Tafelbilder zu verfassen, die Goethe zu seinem Faust inspiriert haben mögen. Ich marschierte in die >Herzogin-Anna-Amalie<-Bibliothek und besorgte mir das Kulturgeschichtliche Bilderbuch. Als ich den Wälzer durchblätterte, erregte eine Abbildung mein besonderes Interesse. Das Zauberfest auf dem Blocksberg aus dem Jahre 1650, ein Kupferstich von Michael Herr. Er beinhaltete das Dämonische in der Walpurgisnacht. Ein erregtes, explosives Treiben in einer Kirchenruine und in freier Natur. Ich ließ das Bild auf mich wirken. Dann legte ich los, setzte mich an meinen Schreibtisch und schrieb munter drauflos. Bis zum Abend stand der erste Teil meiner Serie. Ich klappte das Notebook zu und mußte eine Pause einlegen. Irgendwann rief ich Pit an. Peter Langenbach ist Hauptkommissar bei der Weimarer Polizei. Seit Jahren gehen wir gemeinsam durch dick und dünn. Vielleicht hatte er heute abend Zeit, und wir könnten mal wieder ausgiebig miteinander plauschen. »Hallo? Hier bei Langenbach. Wer ist dran?« fragte mich eine unbekannte Mädchenstimme. »Hellmann«, sagte ich. »Gib mir mal bitte Herrn Langenbach!« »Nicht zu Hause.« 18
»Und Frau Langenbach?« »Auch nicht.« »Überhaupt jemand zu Hause?« wollte ich wissen. »Ja«, sagte das einsilbige Mädchen. »Floh und ich. Wir sind zu Hause.« Floh war der Spitzname für Pits Tochter Anna, die viel lieber den interessanter klingenden Namen Annika gehabt hätte. Sie war acht und ein Wirbelwind durch und durch. »Toll! Dann gib mir mal Anna. Okay?« »Okay.« Ich hörte, wie das Mädchen >Floh!< durch die Wohnung brüllte. Kurz darauf polterte etwas zu Boden. Jemand schrie entsetzt. Dann war Floh am anderen Ende der Leitung. »Onkel Mark? Bist du’s?« Ich räusperte mich unwohl. »Ja, Kleines. – Sag mal, wo stecken deine Eltern? Kommen Sie bald wieder?« Das Mädchen schien etwas aus der Puste zu sein. »Paps mußte vorhin noch mal los«, keuchte sie. »Eine Tankstelle ist überfallen worden. Ich weiß nicht, wann er wieder da ist.« »Und deine Mutter?« »Mutti ist zur Kosmetik.« Kichernd verstellte der Frechdachs seine Stimme. »Eine Frau ab dreißig ist ein kostbares Juwel. Man muß ihn hin und wieder aufpolieren.« Ich mußte ein Lachen unterdrücken und sagte: »Ich hatte vor, auf einen Sprung zu euch zu kommen. Mir fällt zu Hause die Decke auf den Kopf.« »Tante Tessa ist wohl verreist, wie?« Flohs Stimme klang lauernd. Tessa Hayden war meine Freundin. Ich verbrachte einen Großteil meiner Freizeit mit ihr. »Tessa besucht ihre Schwester Annette in Bansin«, sagte ich. »Sie kommt erst nächste Woche zurück. Naja, nichts zu machen. Dann grüß mal schön, okay?« »Tschüs, Onkel Mark.« Gerade hatte ich das Handy eingesteckt, als mich eine nette alte Bekannte anklingelte. Eigentlich gurrte sie mich an, und so alt war sie auch noch nicht. Erst fünfundzwanzig. Ich meldete mich also. »Mark Hellmann?« kam es säuselnd zurück. 19
Ein Schauder überlief mich, diese Stimme ging mir durch und durch. Sofort hatte ich die Vorzüge dieses Vollblutweibes vor Augen. »Du liegst goldrichtig«, sagte ich. »Debbie, was gibt’s? Warum wählst du einen glücklich verliebten Mann an? Ist kein Solist mehr frei?« »Tu nicht so brav. Ich kenne dich ganz anders. Laß mich noch mal an deiner Seite von früher träumen…« »Debbie, ich bin in festen Händen.« Sie bettelte und bettelte, und da wollte ich ihr halt den Gefallen tun. Eine Stunde später saßen wir an einem Zweiertisch in der neu eröffneten Gaststätte an der Weimarer Kulturmeile. Durchs Fenster sah man die Leuchtreklamen von gegenüber funkeln. Das Lokal war gut besucht. Es duftete appetitlich nach knusprig gegrilltem Fleisch. Debbie trug ein mintgrünes Kleid, Pumps und hatte ihre naturblonden Haare im Nacken zum Knoten geformt. Sie hatte das hübsche Köpfchen voller erotischer Fantasien. Bei unserer ersten gemeinsamen Nacht waren wir heftig zur Sache gegangen. Debbie blieb mir nichts schuldig. Heiß wie ein Vulkan, dauerte es schier unendlich, bis ihre Lava abgekühlt war… Der weißbeschürzte Kellner hatte bereits den Rotwein serviert. Debbie und ich plauderten. Wir warteten auf unsere bestellten Poularden. Plötzlich stieß Debbie einen spitzen Schrei aus. Um ein Haar wäre ihr das Weinglas aus der Hand gefallen. Ich grinste sie an. »Seit wann bist du so schreckhaft, Debbie?« Sie lüftete das Tischtuch, sah auf den Fußboden und verfiel in die Kindersprache. »Ei, was bist denn du für ein niedliches Wollknäuel!« Drei Sekunden später hatte sie ein schmutzigweißes behaartes Etwas auf dem Schoß, das nur entfernt an einen Hund erinnerte. Erleichtert streichelte sie das verfilzte Fell des Tieres. »Was ist das?« fragte ich. »Hat jemand seinen Muff liegenlassen?« »Schuft!« In Debbie schien der Mutterinstinkt zu erwachen. »Das ist ein putziger, kleiner Bologneser. Schau nur, Mark, was er für ausdrucksvolle Knopfaugen hat.« Während Debbie dem Hund das Köpfchen kraulte, blickte ich 20
kopfschüttelnd in die Runde. Zu DDR-Zeiten war es strikt untersagt gewesen, Hunde mit ins Restaurant zu nehmen. Heute gehörte es zum guten Ton, ein Mitglied des hauseigenen Zoos mit in die Kneipe zu schleppen. Ansichtssache. Sollte ich aber ein Fellbüschel aus meinem Essen fischen, würde es einen Aufstand geben. Am Tresen stand ein Mann und wechselte Geld. Er war groß und drahtig, um die dreißig, trug eine dunkle Brille und wirkte hochgradig nervös. Ich nippte am Wein, beobachtete ihn unauffällig. Ich merkte, daß mich der Typ bisweilen durch seine schwarzen Gläser fixierte. Auf was wartete er? Der Kellner kam. Er jonglierte zwei riesige Teller auf seinem Unterarm und setzte sie auf dem Tisch ab. »Zweimal Poulardenkeule mit Madeirasoße.« Der Ober warf einen prüfenden Blick auf die Teller, schenkte noch einmal Rotwein nach und empfahl sich, nachdem er uns unten Appetit gewünscht hatte. Ich ergriff mein Besteck. »Jetzt mußt du aber wieder zu deinem Herrchen, du süßer Fratz.« Debbie setzte den Hund auf den Boden und gab ihm einen Klaps auf den Hintern. Doch das Tier hatte Morgenluft gewittert. Es beleckte sein Maul, stellte sich auf die Hinterläufe und jaulte, als hätte man ihn wochenlang fasten lassen. »Du hast Hunger, nicht wahr?« Debbie tätschelte den Bologneser. Gutmütig riß sie einen Fetzen Fleisch von dem Masthähnchen und hielt es dem kleinen Bettler vor die Schnauze. »Na?« kicherte sie. »Was sagst du dazu?« Das Stück Fell sagte gar nichts, sondern schnappte sich das Stück Fleisch und rannte davon. Ich breitete die Serviette auf meinem Schoß aus. »Was findest du bloß an diesen Bonsai-Kötern?« fragte ich. »Das Exemplar, das du da eben auf dem Schoß hattest, kann man wohl kaum als Hund bezeichnen.« Debbie lächelte kokett. »Eifersüchtig?« »Fast«, flachste ich. »Süßer Fratz hast du früher nie zu mir gesagt.« »Vielleicht in Zukunft.« Debbie gab mir einen Kuß. 21
»Unsere Beziehung ist Vergangenheit, Debbie. Meine Zukunft gehört Tessa.« Ich staunte, daß mir diese Worte so locker über die Lippen kamen. »Hellmann – und wie lange dauert eure glückliche Zukunft? Drei Wochen? Vier? Dann klingelst du wieder bei mir…« »Debbie, bitte, halte dich zurück.« Sie tat es nicht, provozierte weiter. Während sie sich in die Brust warf, daß ich glaubte, mir würde jeden Augenblick ihr BH um die Ohren fliegen, blickte sie mich schmachtend an. »Guten Appetit«, wünschte ich mit neutraler Stimme, doch ich konnte nur mühsam mit der Serviette verbergen, wie heftig dieses Vollblutweib auf mich wirkte. Aus diesem Grund vergaß ich den Mann am Tresen. Wir widmeten uns den Masthähnchen, als im Lokal das Chaos ausbrach. Es begann mit einem abgehackten, schmerzerfüllten Jaulen. Es klang, als ob ein Hund in Todesangst war. Einige Gäste sprangen auf, blickten starräugig auf den Fußboden und wichen erschüttert zurück. Eine Dame, die eine schneeweiße Spitzenbluse trug, fuhr von ihrem Stuhl in die Höhe und schrie gellend auf. Dann griff sie sich an den Hals und übergab sich auf dem Nachbartisch. Alles ging rasend schnell. Was war passiert? Ich ließ Messer und Gabel fallen, schraubte mich hoch und flitzte los. Als ich sah, was der Grund für die allgemeine Hysterie war, verstand ich die Leute plötzlich. Es war der kleine Hund, den Debbie eben noch zärtlich liebkost hatte! Das arme Tier lag rücklings auf dem Gang. Mausetot. Es bot einen beängstigenden Anblick. Seine Baudecke war aufgerissen, als hätte es eine Sprengpatrone gefressen. Das Maul aufgesperrt, die Läufe in die Höhe gestreckt, durchlief ein letztes Zittern seinen mageren Körper. Ich wirbelte herum. Ein schrecklicher Verdacht stieg in mir auf. »Debbie!« schrie ich. »Rühr das Essen nicht an! Es ist vergiftet!« 22
Schockiert ließ Debbie das Besteck fallen. »Machst du Witze?« fragte sie. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, denn die Sache ist verdammt ernst.« Ein Mann, der einen sorgfältig gebügelten Stresemann-Anzug trug, tauchte auf. Ich kannte ihn. Gerfried Kiesewetter, der Chef des Hauses. In der Redaktion der Weimarer Rundschau hatte ich ihn schon ein paarmal getroffen. Stets beschwerte er sich darüber, daß seinem Etablissement seitens der Presse nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Daß er auch Anzeigen schalten konnte, schien er nicht zu wissen. »Was geht hier vor?« näselte Kiesewetter arrogant. »Warum dieser unerklärliche Aufruhr? Ich muß doch wohl sehr bitten, meine Herrschaften.« Die Leute schrien durcheinander und gestikulierten wild. Ich zwang mich zur Ruhe. Am Ärmel zog ich Kiesewetter zu der Stelle, wo der schrecklich zugerichtete Hundeleichnam lag. »Aufruhr ist stark untertrieben!« zischte ich. »Überzeugen Sie sich selbst, was hier vorgeht! Der Hund hat von einem Ihrer Gerichte probiert. Und es sieht beileibe nicht so aus, als hätte er nur eine kleine Magenverstimmung! Das Tier ist regelrecht explodiert.« Kiesewetter wurde erst puterrot, dann leichenblaß. »Ich – verstehe das nicht«, stammelte er. »Ich werde… den Küchenchef – die Polizei, äh…« Indessen war Debbie aufgesprungen und hatte sich bei mir schutzsuchend untergehakt. Über das Rouge auf ihren Wangen kullerten Tränen und tropften auf ihr Mintfarbenes. »Mark! Der arme, süße Fratz«, schluchzte sie herzzerreißend. »Wie kann ein Mensch nur zu so etwas fähig sein?!« Ich hob Debbies Kinn und sah ihr in die Augen. »Das Gift war nicht für den kleinen Kläffer, Süße«, klärte ich sie auf. »Das Mistzeug war für uns bestimmt. Für dich und für mich. Das ist Fakt! Du hast dem Hund einen Happen zukommen lassen. Das hat ihn das Leben gekostet – und unseres gerettet!« Jetzt weinte Debbie hemmungslos. Mit einemmal fiel mir dieser geheimnisvolle Mann mit der schwarzen Sonnenbrille ein. Ich spähte zur Theke. Der Typ war über alle Berge. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß der Kerl bei diesem Giftanschlag seine dreckigen Finger im Spiel hatte. 23
Aber wieso wollte mich die Brillenschlange um die Ecke bringen? Mechanisch betrachtete ich meinen Siegelring, den ich am Finger trug. Ich war zehn, als ich, ohne Gedächtnis und völlig verstört, auf dem Weimarer Marktplatz aufgegriffen wurde. Es war am 1. Mai 1980 gewesen, nach der Walpurgisnacht. Ich besaß nichts weiter als meinen Siegelring, dessen Geheimnisse ich irgendwann zu knacken hoffte. Einiges hatte ich ja schon herausbekommen. Daß der Ring auf dämonische Aktivitäten reagierte, daß er Hitze abgab, prickelte und Licht aussandte – und weshalb und wann er das tat… Ich wurde zum Kämpfer gegen das Böse, zum Träger des Ringes. (Siehe MH 1; >Der Tod in Weimar<) Ich stand auf der Abschußliste eines Unbekannten. Kein erhebender Gedanke. Zudem war der Abend im Eimer. Für Debbie war es noch schlimmer als für mich. Sie heulte wie ein Schloßhund. Sie war eine Frau der großen Gefühle, im Positiven wie im Negativen. Wir warteten nicht, bis die Polizei eintraf. Debbie wollte sofort nach Hause. Verständlicherweise. Wir ließen unsere Adressen da und verließen den kulinarischen Höllentempel. Draußen war es noch ziemlich warm, obwohl die Uhr auf elf ging. Wir schlenderten über den Boulevard. Debbie weinte leise. Aber sie beruhigte sich allmählich. Ich beschloß, nachdem ich Debbie nach Hause gebracht hatte, Pit Langenbach einen Besuch abzustatten. Irgendwann mußte er ja mal in seiner Wohnung sein. Pit mußte mir helfen. Möglicherweise konnte er mir einen Rat geben. Ich hatte keine Lust, mich von einem gedrillten Killerkommando abschlachten zu lassen. Wer wußte schon, was mein anonymer Gegenspieler noch alles in petto hatte? Ich schwebte in akuter Lebensgefahr. Wir bogen in eine enge Seitenstraße ab. Die geschichtsträchtigen Fassaden erstrahlten in neuem Glanz. Schon von weitem hatte ich die Troika bemerkt. Sie gingen nebeneinander, Schulter an Schulter, als wären sie Gunfighter und würden über die Mainstreet einer Rinderstadt am Ende des Trails stapfen. Als ihnen ein Passant entgegenkam, mußte er ausweichen und auf der Straße an ihnen vorübergehen. Debbie und ich marschierten direkt auf sie zu. Es waren drei großgewachsene, breitschultrige Burschen, nicht 24
älter als zwanzig, eher jünger. Alle trugen sie schwarze Jeans, hohe Schnürstiefel und Bomberjacken. Ihre Köpfe waren kahl, blankpoliert wie Glasmurmeln. Ich hörte, wie sie ungeniert rülpsten und Obszönitäten von sich gaben. Ängstlich sah Debbie zu mir auf. »Laß uns auf die andere Straßenseite gehen, Mark«, hauchte sie. »Die Typen da sind nicht sauber.« »Hältst du mich für einen Hasenfuß?« fragte ich. »Ich meinte ja bloß.« Debbie putzte sich die Nase. Noch zehn Schritte, dann würden wir das Trio passieren. Ich ahnte, daß die Begegnung nicht ohne Komplikationen verlaufen würde. Die Typen gingen langsamer und steckten die Köpfe zusammen. Debbie kuschelte sich noch enger an mich. Ich roch ihr dezentes Parfüm. Die hübsche Blondine tat mir leid. Mich kriegte sie nicht, nicht einmal ein Abendessen, statt dessen Aufregung pur. Alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben. Noch hatte ich keinen blassen Schimmer, worum es überhaupt ging. Auch die Jungmänner, die uns da entgegenkamen, führten etwas im Schilde. Dafür hatte ich einen sechsten Sinn. Meine Befürchtungen bestätigten sich prompt. Die Burschen wollten Debbie anmachen. »Hallo, Blondi!« grölte der in der Mitte. »Du bist genau meine Kragenweite. Laß deinen Hampelmann sausen! Komm zu uns. Wirst es gut haben!« Seine Kumpels wieherten. Dann standen wir uns gegenüber. Das schwarzgekleidete Trio ließ uns nicht passieren. Sie standen einfach da und glotzten. Warteten sie, daß wir auswichen, über die Straße an ihnen vorbeigingen? Aber nicht mit Mark Hellmann! »Lassen Sie uns bitte durch!« sagte ich ruhig, fast zu höflich. Wieder sprach der in der Mitte. »Gib uns deine Tussi und mach ‘ne Fliege. Dann ist alles paletti.« Seine Kumpels nickten zustimmend. »Genau, Langer«, sagte der auf der Straßenseite. »Rück Blondi raus und mach dich auf die Socken. Dann tun wir dir nichts.« »Mark, ich…« Debbie zitterte. 25
Der Wortführer der Clique, der in der Mitte, hob langsam einen Arm und streckte ihn in Debbies Richtung aus. Er testete, wie weit er gehen konnte. Im Schein der Straßenlaterne sah ich, wie seine Augen hinterlistig funkelten. »Griffel weg!« Ich fixierte ihn. »Oder ich werde dir Benimm beibringen – müssen.« »Da hab ich aber Schiß«, raunte er großspurig. Doch seine Hand war zurückgezuckt. »Machen wir ihn alle, Rocky!« Der auf der Straßenseite schob sich einen Schlagring auf die Finger. »Das Herumgelabere bringt doch nichts. Wir sollten…« »Halt die Schnauze, Hinz!« Der >Boß<; der Rocky genannt wurde, stieß dem anderen den Ellbogen in die Rippen. Hinz klappte zusammen wie ein Taschenmesser. Er japste nach Luft. Rocky taxierte mich. Offenbar wußte er nicht, woran er bei mir war. »Geht beiseite, Jungs!« schlug ich vor. »Und die Sache ist erledigt.« »Hast Muffengang, he?« Rocky griente. Ich wollte ihm gerade die passende Antwort geben, als ein anderer Umstand meine Aufmerksamkeit erregte. Das kreischende Getöse eines herannahenden Autos. Ein Lieferwagen preschte uns entgegen. Als der Fahrer uns bemerkte, blendete er auf und gab Vollgas. Ein Pfiff ertönte. Die Wegelagerer sprangen beiseite, drückten sich an eine Hauswand. Sie hatten sehr schnell reagiert. Zu schnell. Es wirkte wie einstudiert. Mit halsbrecherischem Tempo raste das Auto auf uns zu. Ich schleuderte Debbie aus der Gefahrenzone. Sie stolperte und wäre fast gestürzt, aber im letzten Augenblick konnte sie sich an einem Verkehrsschild festklammern. »Mark! Rette dich!« schrie sie. Gleißendes Licht nahm mir die Sicht. Ich kam mir vor, als hätte mich jemand in einen Swimmingpool gestoßen, dessen Becken mit weißstrahlenden Glühbirnen gefüllt war. Gleich würde mich das Auto erfaßt haben. Halb auf dem Gehsteig und halb auf der Straße raste es mir entgegen. 26
Kurz vor mir blendete der Fahrer ab. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich hinter der Windschutzscheibe ein verkniffenes Gesicht – der Kerl mit der schwarzen Sonnenbrille. Hatte ich es doch geahnt! Es wurde sehr eng. Ich spannte meine Muskeln und hechtete auf die Straße. Im Flug spürte ich, wie dicht der Wagen an mir vorbeisauste. Dann knallte ich auf die Fahrbahn. Aber ich wußte genau, wie ich zu fallen hatte, ohne mir sämtliche Knochen zu brechen. Beim Polizeisportverein, wo ich gemeinsam mit Pit Langenbach trainierte, hatte ich Tausende Male geübt, fachgerecht mit dem Fußboden Bekanntschaft zu machen. Ich rappelte mich auf und sah dem mörderischen Lieferwagen hinterher. Er bog gerade um eine Ecke. Doch die Gefahr war noch nicht vorüber. Meine drei jungen Freunde kamen auf mich zu. Sie nahmen mich in ihre Mitte. »Also los, Boys«, sagte Rocky. »Machen wir ihn endgültig fertig!« Ich sah, daß sie Messer in den Händen hielten… * Heike Kreuzer verfluchte den Tag, an dem sie ihren Mann mit Charlie Kowall betrogen hatte. Die hübsche Rothaarige schaute aus dem Küchenfenster, kaute an den Nägeln und überlegte, wie sie Mathias, ihren Mann, wieder für sich gewinnen konnte. Seit ihrem Seitensprung war er völlig anders geworden. Früher scharwenzelte er unterwürfig hinter ihr her, hörte genau zu, was sie sagte, heute dagegen guckte er sie kaum noch an. Was Heike Kreuzer nicht minder störte, war, daß Mathias mit einemmal sehr viel Geld besaß und er ihr davon kaum was abgab. Das mußte sich ändern. Heike wollte deshalb unbedingt sein Vertrauen zurückgewinnen. Sie wußte, daß er sich in der kleinen Stube neben dem Wohnzimmer aufhielt, die er sich neuerdings als Arbeitsraum eingerichtet hatte. Manchmal hockte er den ganzen Tag darin und klapperte auf dem Computer herum. 27
Heike schaute prüfend in den Flurspiegel. Sie trug ein enges, gelbes Shirt und einen blattgrünen Rock, nicht größer als ein Taschentuch, den BH hatte sie weggelassen. Die Brustwarzen wölbten den Stoff. Ihre roten Locken schmiegten sich um ihr hübsches Gesicht. Sie war mit sich rundum zufrieden. Zaghaft klopfte sie an die Tür. Es blieb still. Heike klopfte ein zweites Mal. »Wer ist da?« Es klang unwirsch. »Darf ich hereinkommen, Matti?« fragte sie zuckersüß. »Ich möchte mit dir reden.« Schweigen. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen!« Das hatte sie befürchtet. Aber so schnell warf sie die Flinte nicht ins Korn. »O doch! Matti. Ich habe dir sehr viel zu sagen.« Wieder Schweigen. »Meinetwegen«, sagte er dann. »Komm rein!« Sie verbarg ein triumphierendes Lächeln, klinkte die Tür auf und trat ein. Mathias Kreuzer saß an einem Schreibtisch, der mit Bauzeichnungen, Formularen und amtlichen Schreiben übersät war. Auf dem eingeschalteten Monitor reihten sich Kolonnen von Zahlen aneinander. »Was willst du?« Er starrte sie an. An dein Geld, was sonst? dachte sie. Aber sie hütete sich, auch nur eine Silbe davon zu erwähnen. »Es tut mir so leid, das mit Charlie«, flüsterte sie. »Ich würde alles tun, um diese Dummheit rückgängig zu machen.« »Zu spät, Schätzchen. Das hättest du dir früher überlegen müssen.« Die attraktive Frau trat einen Schritt näher. Sie achtete darauf, daß er ihre hübschen Beine im Blickfeld hatte. »Ich weiß, Matti«, sagte sie leise. »Es war eine Riesenfehler, daß ich mit…« »Ich will diesen Namen nicht mehr hören!« »Natürlich, wie du willst«, lenkte sie ein. »Ich bin zu dir gekommen, um dich um Vergebung zu bitten. Verzeih, was ich dir angetan habe. Ich bitte dich!« Mathias Kreuzer wurde unruhig, als sein Blick länger auf ihre 28
herrlichen Beine ruhte. »Du hast mich zu sehr verletzt. Stell dir mal vor, du kämmst nach Hause, und ich läge mit einer fremden Frau in den Federn.« Sie nickte betrübt. »Ich war nicht ich selbst, Matti. Es war, als ob der Teufel in mich gefahren wäre.« Kreuzer erschrak. »Wie kommt du ausgerechnet auf den Teufel?« »Nur so. Eine Redensart.« Er beruhigte sich. Nachdenklich fummelte er an der Entertaste der Computer-Tastatur. »Ich tue alles, was du willst«, flehte sie. »Nur sei wieder lieb zu mir!« »Du verlangst viel«, meinte er. »Stell mich auf die Probe!« Heike kam noch einen Schritt näher, »Matti, du wirst sehen, alles wird wieder wie früher. Es wird sogar noch schöner als früher. Viel schöner. Wir müssen es nur beide wollen.« Er bemerkte ihren schmachtenden Blick. Er spürte ihre Hand, die auf seiner lag. Er wußte gar nicht mehr genau, wann er zum letzten Mal mit Heike geschlafen hatte. Mühsam beherrscht zog er seine Hand unter ihrer vor und räusperte sich unwohl. »Dein Angebot in allen Ehren, Heike«, sagte er. »Aber in mir ist zuviel zerstört, als daß ich dir jetzt einfach so um den Hals fallen könnte.« Heike Kreuzer war eine erfahrene Verführerin. So leicht ließ sie sich nicht abschütteln. Zu allem entschlossen spielte die gutaussehende Rothaarige einen weiteren Trumpf aus. »Ich sagte, ich tue, was du willst.« Ihre rechte Hand glitt dabei aufregend langsam über ihren ganzen Körper. Kreuzer schluckte. Sein Blick klebte auf ihrem Shirt. Er verfolgte jede ihrer lasziven Bewegungen. Heike Kreuzer wiegte sich in den Hüften, schob den winzigen Rock Zentimeter für Zentimeter höher und liebkoste die Innenseiten ihrer Oberschenkel. Dann zog sie den Pulli über den Kopf. Achtlos ließ sie ihn zu Boden gleiten. Mathias Kreuzer ließ seine strippende Frau nicht aus den Augen. Innerlich brannte er bereits, doch äußerlich gab er sich unbeeindruckt. Dann kam ihm plötzlich ein zündender Gedanke. »Du sagtest, du würdest alles tun, was ich von dir verlange?« 29
fragte er lauernd. »Alles, Schatz, denn ich liebe dich«, log sie. »Sag mir, was ich tun soll! Hauptsache, du verzeihst mir!« Er stand auf. »Eine Sache gäbe es da schon, wobei du mir behilflich sein könntest.« »Nur raus damit!« Sie schmiegte sich an ihn, knabberte an seinen Ohrläppchen. »Möchtest du es wie damals in der Hotelküche?« Kreuzer spürte ihre heißen Brüste an seinem Oberhemd. Das Blut zischte geradezu durch seine Adern. Er beschloß, nicht lange um den heißen Brei herumzureden. Eine willenlose Gehilfin käme ihm bei seinen Plänen sehr zupaß. Unbestritten hatte Heike ihre Qualitäten, die man in den Dienst der Sache stellen konnte. »Heike?« Er schaute ihr in die Augen. »Ja, Matti?« »Würdest du noch einmal mit einem anderen Mann schlafen?« Ihr Körper wurde steif wie eine Zaunlatte. »Willst du mich veralbern?« preßte sie hervor. »Ganz und gar nicht«, sagte er. »Es gibt da jemanden, der mir einen Auftrag erteilt hat. Momentan sind von mir bezahlte Leute dabei, ihn auszuführen. Gesetzt den Fall, irgendwas würde schiefgehen, würdest du in die Bresche springen?« »Mit ‘nem anderen pennen?« »Ja.« »Und warum?« Ihre Gedanken schossen Purzelbaum. War ihr Mann plötzlich von allen guten Geistern verlassen? Erst das Tamtam, weil sie sich mit Charlie Kowall eingelassen hatte, und jetzt verlangte er sogar von ihr, daß sie sich zu einem anderen Kerl ins Bett legte. Da sollte einer daraus schlau werden. »Was ist nun?« bohrte er. »Kenne ich den Mann etwa?« wollte sie wissen. »Nein«, antwortete Kreuzer. »Du kennst ihn nicht, Heike. Der Typ heißt Mark Hellmann, kommt aus Thüringen und ist der größte Störfaktor in meinen Plänen. Wenn er ausgeschaltet ist, haben wir’s geschafft, Heike!« Die Frau kämpfte mit sich. Mit allem hatte sie gerechnet. Schimpfen, Demütigung, Rausschmiß, aber nicht damit! Was war nur in Matti gefahren? Ritt ihn der Teufel? Sie spürte seine Hand über ihren flachen Bauch gleiten. 30
Wäre da nicht das viele Geld, das Mathias besaß, würde sie ihm eine zünftige Abfuhr erteilen. Doch die Situation, in der sie sich befand, war äußerst pikant. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen. Eine Weile herrschte Schweigen im Zimmer. Doch die Stille war elektrisch geladen. Heike Kreuzer küßte ihren Mann auf die Wange. »Und?« fragte er. »Kann ich mit dir rechnen?« »Ich tue es ein einziges Mal«, entschied sie. »Aber nur, weil ich etwas gutzumachen habe. Es darf kein Dauerzustand werden.« Kreuzer grinste über das ganze Gesicht. »Es ist wirklich sehr wichtig für mich. Sonst hätte ich das niemals von dir verlangt. Und als Geschäftsfrau machst du bestimmt einen lupenreinen Eindruck.« Heike Kreuzer stülpte gelangweilt die Unterlippe vor, als er anfing, ihren entblößten Oberkörper mit Küssen zu bedecken. »Komm, Schatz«, stöhnte er. »Gehen wir ins Schlafzimmer! Ich halte es nicht mehr aus.« »Ich auch nicht, Matti«, sagte sie gespielt leidenschaftlich. * Ein Kampf auf Leben und Tod stand mir bevor. Das las ich in den Augen der Burschen. Sie wollten keine harmlose Balgerei, Mordlust flackerte in ihren Augen! Rocky griff als erster an. Er holte Schwung und wollte mir seine Fußspitze in die Rippen donnern. Blitzschnell rollte ich zur Seite, genau vor die Füße von Hinz, der mich blöde anglotzte. Bevor er reagieren konnte, mobilisierte ich meine Bauchmuskeln und federte auf die Füße. Diese artistische Einlage hatte viel Schweiß gekostet. Aber sie erwies sich als verdammt wirkungsvoll. Hinz guckte noch immer dumm aus der Wäsche. Schon mußte ich einem erneuten, ungestümen Hieb ausweichen. Der dritte im Bunde hatte mit dem Messer zugestoßen. Der Stahl sauste unter meiner Achsel durch, ohne Schaden anzurichten. 31
»Mach ihn kalt, Frettchen!« knurrte Rocky. »Wir sind drei. War doch gelacht, wenn wir den Kerl nicht flachlegen könnten!« »Der Lulatsch ist schon so gut wie tot«, blökte Rockys Spießgeselle. Frettchen war mir sehr nahe gekommen. Seine niederträchtige Fratze war nur Zentimeter von mir entfernt. Ich spürte seinen ekelhaften Atem im Gesicht, verlagerte mein Gewicht auf ein Bein, wirbelte das andere wie ein Windmühlenrad durch die Luft und donnerte es meinem Gegner an den Kopf. Frettchen geriet aus dem Takt. Das Gesicht schmerzverzerrt, brüllte er auf. Offenbar war er überzeugt, mich mit einem Streich fertigmachen zu können, doch er hatte mich unterschätzt. Röchelnd taumelte Frettchen ein paar Schritte zurück. Das Messer fiel klappernd auf die Straße. Es würde einige Zeit dauern, bis er wieder auf dem Damm war. Nun mußte ich mich um Hinz kümmern. Er war mir gefährlich nahe auf die Pelle gerückt. Seiner krummen Nase war anzusehen, daß sie bereits mehr als einmal gebrochen war. Hinz schien ein harter Brocken zu sein. Er umtänzelte mich, zuckte dabei mit den Schultern, um einen Hieb anzutäuschen. Ich ließ mich nicht ins Bockshorn jagen. Mit halbem Ohr vernahm ich Debbies Aufschrei, mit dem anderen halben Ohr hörte ich hinter mir ein Geräusch! Das mußte Rocky sein! Dieser Feigling schlich sich von hinten an, um mir sein Messer in den Rücken zu jagen. Da kannte ich ein gutes Mittel. Ohne hinzusehen, ließ ich meinen Ellbogen im Halbkreis herumwirbeln. Ein erstickter Schmerzenslaut ertönte. Im selben Augenblick sah Hinz seine Chance. Wie ein wütender Tiger ging er auf mich los. Sein Messer beschrieb einen Bogen und ratschte dicht an meinem Kopf vorbei. Drei Zentimeter weiter, und meine Nase hätte ihre ursprüngliche Form eingebüßt. Aber der Ellbogencheck, den ich nach hinten austeilte, riß mich ein wenig zurück. So verpuffte Hinz’ Attacke. Meine Antwort kam postwendend. Bevor sich Hinz sammeln konnte, klatschte ich ihm eine 32
Handkante an die Schlagader. Er prallte gegen eine Eisentür. Dort war seine vorläufige Endstation. »Mark!« Das war Debbie! Ich riskierte einen schnellen Blick und erkannte sofort, daß Frettchen wieder zu Kräften gekommen war. Der widerwärtige Strolch hatte sich Debbie geschnappt und hielt ihr das Messer an die Kehle. »Deine Kleine kannst du abhaken«, röhrte er haßerfüllt. Debbie war in Lebensgefahr! Der Mistkerl würde glattweg sein Versprechen wahrmachen und Debbie kaltblütig töten. Für einen Augenblick war ich wie gelähmt. Da stach Rocky zu! Eine Schmerzwelle durchlief meinen Körper. Der hinterhältige Maulheld hatte mir sein Messer in den Oberarm gestochen. Ich biß die Zähne aufeinander, daß es knirschte. Mein Blick irrte hilfesuchend an der Hausfassade empor. Alle Fenster waren verdunkelt. Auf Hilfe zu hoffen, war zwecklos. Ich war auf mich allein gestellt. Ich setzte alles auf eine Karte. Rocky fühlte sich ziemlich sicher, als er sich mir näherte. Er dachte, ich würde stillhalten, weil sein Kumpel Debbie in seiner Gewalt hatte. Pustekuchen! Ich vereinigte all meine Kraft in der rechten Hand, atmete tief durch und knallte meine Faust auf Rockys Ohr. »Aber…« Fassungslos stierte er mich an. Er torkelte wie ein Betrunkener. Dann brach er zusammen. Zu seinem Pech knallte er gegen die Bordsteinkante. Blut sickerte zwischen seinen Lippen hervor. Rocky wand sich wie ein Wurm auf dem Asphalt, ehe er reglos liegenblieb. »Rocky!« kreischte Frettchen. »Rocky!!« Ihm schien klar zu werden, daß sein Kumpel einige Zeit nicht mit von der Partie sein würde. Ich nutzte Frettchens Verwirrung. Obwohl mein Arm höllisch weh tat, stieß ich mich vom Boden ab und hechtete Debbies Peiniger entgegen. Ich erwischte ihn mit voller Wucht, verlor aber das Gleichgewicht und fiel. 33
Während ich mich mit dem gesunden Arm abstützte, erschien ein schreckliches Bild vor meinen Augen. Frettchen hatte sich aufgerappelt – und stach Debbie sein Messer in den Leib. Ich schrie, als ich sah, daß sich ihr dünnes Mäntelchen rot färbte. Debbies Gesicht verfiel zusehends. Schlaff fiel ihr Kinn auf die Brust. Plötzlich brannten mir alle Sicherungen durch. Wie ein Blitz stürzte ich auf Frettchen und donnerte ihm ein paar Schlagkombinationen um die Ohren. Sein Kopf flog hin und her, bis er mit dem Gehweg Bekanntschaft schloß. Endlich flammte hinter einigen Fenstern Licht auf. Der Lärm hatte die Anwohner alarmiert. »Is’n hier los?« gähnte ein Mann, der ein ärmelloses Unterhemd trug. »Rufen Sie einen Rettungswagen!« rief ich hinauf. »Die Frau hier ist schwer verletzt! Beeilen Sie sich!« Der Mann reagierte sofort. »Okay!« rief er. »Meine Frau ist Krankenschwester. Ich schick Sie runter. Petra!« Ich atmete auf. »Debbie! Du schaffst es!« Ich streichelte ihre wachsbleiche Wange. »Gleich kommt Hilfe! Halte aus!« Dann sah ich mich um. Wo war Hinz? Er war der einzige von der Gang, der noch im Rennen war. Ich mußte ihn zum Sprechen bringen. Der Überfall war von langer Hand geplant. Er ging nicht allein auf die Kappe der drei Glatzköpfe. Hinz war gerade dabei, sich zu verdrücken. Seine Kampfeslust hatte sich in Luft aufgelöst. Sich an den Hauswänden stützend, torkelte er von dannen. Fünf Sekunden später war ich bei ihm. »Hiergeblieben, Hinz!« Ich packte ihn beim Genick. »Unser Stelldichein ist noch nicht vorbei.« »Geh zur Hölle!« keuchte er. »Nicht ich…« »Leck mich…« Er versuchte, mich abzuschütteln. »Euer Auftraggeber!« Ich starrte ihm in seine verglasten Augen. »Spuck’s aus! Wer hat euch geschmiert?« Hinz kriegte einen Hustenanfall. Ich deutete über die Schulter zurück, dorthin, wo seine Kumpane lagen. 34
»Willst du dich zu ihnen legen?« schlug ich vor. »Ihr seid doch unzertrennlich. Oder?« »Du willst mich töten?« Angst flimmerte in seinen Augen. »Ich hab’ ne alte Mutter. Sie braucht mich«, sagte er leise. »Sie wird’s ohne dich schaffen. Ihr Leben wird ruhiger verlaufen, wenn du sie nicht mehr nervst. Also los! Ich werde schon nervös.« Hinz zerhackte sich die Lippen. Dann murmelte er kaum hörbar: »Da kam so ‘n geschniegelter Typ, der hat uns ‘n Haufen Märker geboten. Ein Angebot, was man nicht abschlagen kann…« »Jedes Angebot kann man abschlagen«, widersprach ich. »Man muß nur nein sagen. Das ist alles. Wie hieß der Typ? Warum solltet ihr mich umlegen. Raus damit!« Anstatt zu antworten, stöhnte Hinz und massierte seine Schläfe. »Spiel nicht den großen Max!« fuhr ich ihn an. »Dein Kumpel hat auf meine Freundin eingestochen. Glaubst du, ich laß dich jetzt so einfach laufen?« »Die Polizei…« »Du willst Polizei? Kriegst du, aber ich will ‘ne Antwort auf meine Frage. Wer ist dieser Kerl?« »Es ist…« Hinz kämpfte den Fight seines Lebens. Schließlich gab er auf. »Der Kerl hat ‘ne Macke, aber viel Moneten. Er hat uns fünfzigtausend geboten, wenn wir dich – umlegen.« Jetzt war’s raus. »Sein Name?« »Den kenne ich nicht. Keiner kennt ihn. Aber wir haben spitzgekriegt, daß er ‘ne Kneipe aufmachen will. Nicht hier, in Weimar, sondern irgendwo im Norden, an der Ostsee.« »‘n Kneipe?« bohrte ich. »Was weißt du darüber?« »Nicht viel«, japste Hinz. »Bloß, daß es so ‘n ausgeflippter Horrorladen sein soll. Genaues weiß keiner von uns.« »Alles?« »Ich glaub’ die Kneipe heißt Frankenstein. Mehr weiß ich wirklich nicht!« Ich lockerte den Griff, mit dem ich ihn gepackt hielt. Frankenstein? Was war das schon wieder für eine Masche? Ich kannte den Roman, den Mary Shelley 1818 geschrieben hatte. Der Horrorroman schlechthin. Aber was hatte ich mit ‘ner Erlebniskneipe zu tun, die sich 35
Frankenstein nannte? Das war mir schleierhaft. Der grauenerregende Schrei einer Frau jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Was war nun schon wieder los? Verwirrt fuhr ich herum. Fast wäre ich über einen Haufen Sperrmüll gestolpert, der akkurat am Straßenrand aufgeschichtet war. Neben der schwer verletzten Debbie kniete eine Frau in Kittelschürze. Sie war dabei, Erste Hilfe zu leisten. Das mußte Petra, die Krankenschwester, sein. Ich folgte dem Blick ihrer angstgeweiteten Augen. Und am liebsten hätte ich mitgeschrien… * Die ganze Zeit hatte ER das Geschehen in seiner magischen Kristallkugel mitverfolgt. Was er sah, gefiel ihm überhaupt nicht! Zuerst der selten dämliche Zufall mit dem Köter, der das Gift gefressen hatte und im Lokal verendet war. Kurz darauf der Trottel im Lieferwagen, der ebenfalls voll versagt hatte. Dann der mörderische Kampf drei gegen Mark Hellmann, der ebenso in die Hose gegangen war. Mephisto stieß einen markerschütternden Schrei aus. Grenzenlose Wut packte ihn. Ihm kam der Gedanke, selbst einzugreifen, aber er verkniff es sich. Statt dessen stampfte er mit seinem Pferdehuf auf, daß die Decke des Gewölbes einen Riß bekam und Sand herunterrieselte. »Die erste Runde ging an dich, Mark Hellmann«, zischte ER. »Aber jetzt beginnt Runde zwei. Die Karten werden noch einmal neu gemischt.« ER konzentrierte sich, murmelte leise dämonische Beschwörungsformeln. Aus seinen pechschwarzen Augen sprühten Funken. Das Gewölbe begann zu vibrieren, als ob ein Düsenjäger im Tiefflug darüber hinwegpfiff. Die Schwarze Magie. Sie sollte helfen, den Träger des Rings zur Strecke zu bringen. 36
»Tja, Mark Hellmann.« Seine Worte hallten von den Wänden wider. »Manchmal, da kommen sie eben wieder…« * Ich glaubte, mich trat ein Pferd. Rocky und Frettchen, die eben noch regungslos auf dem Asphalt gelegen hatten, schraubten sich plötzlich in die Höhe. Abermals griffen sie nach ihren Mordwerkzeugen. Sie wirkten wie Schlafwandler, als sie auf mich zukamen. Jetzt begriff ich, woher der Wind wehte. Mephisto, der Antichrist, hatte seine dreckigen Klauen im Spiel. Er hatte die Mordbubis nochmals aktiviert. – Mein Ring erwärmte sich zusehends. Sie trotteten auf mich zu. Es war wie in der Nacht der lebenden Toten. Schnell sah ich mich nach einer geeigneten Waffe um. Mein Einsatzkoffer stand zuhause, warm und trocken. Wer konnte auch ahnen, daß ein harmloses Abendessen in eine mörderische Schlacht um Leben und Tod münden würde? Der Sperrmüll. Zerschlissene Matratzen, eine alte Kommode, Tische mit drei Beinen. Ich hatte keine Wahl. Rocky und Frettchen waren durch Mephistos Magie zu Zombies geworden, und die kannten nur eines: töten. Sie würden keine Ruhe geben, bis ich ihre untoten Körper kampfunfähig geknüppelt hatte. Das Schlimme war, sie verspürten keinen Schmerz. Ich schnappte mir zwei angeknackste Tischbeine aus dem Sperrmüll. Kampfbereit erwartete ich das teuflische Duo. Fünf Schritte vor mir blieben sie stehen. Aus gebrochenen Augen sahen sie sich an. Es war wie ein stummes übereinkommen. In einer anderen Lebenslage hätte diese Szene auf mich wie ein makabrer Witz gewirkt. Aber nicht in dieser ereignisreichen Nacht. Ich riskierte einen raschen Blick zu Debbie. Die Krankenschwester hatte ihren ersten Schock überwunden. Sie war gerade dabei, Debbie den Mantel aufzuknöpfen, um die Wunde zu verbinden. Wo blieb bloß der Krankenwagen? 37
Die Straße war wie ausgestorben. Aber an einigen Fenstern tauchten sensationslüsterne Gaffer in Schlafanzügen und Nachthemden auf. Der untote Rocky wankte auf mich zu! Das Messer vorangestreckt, als sei es eine Lanze, versuchte er, mich zu durchbohren. Als ich seinem Stich auswich, rückte mir Frettchen auf den Pelz. Er schlug mir die Faust ins Gesicht. Prompt revanchierte ich mich, indem ich ihm ein Tischbein über den Scheitel zog. Jetzt tauchte Rocky von links auf. Dort war meine Achillesferse. Mein Arm, der vorhin eine Stichwunde abbekommen hatte, war natürlich nicht voll funktionstüchtig. Ich sprang zur Seite, und der lahme Rocky stach ein Loch in die Luft. Über mir ertönte Applaus. Ich zerbiß einen Fluch. Da hatten manche Bewohner doch wirklich den Mut, tatenlos zuzusehen, wie jemand auf der Straße erstochen werden sollte, und applaudierten obendrein noch. Man hätte glattweg den Glauben an die Menschheit verlieren können. Aber glücklicherweise waren ja nicht alle so… Dicht hinter mir ratschte Metall auf den Gehsteig. »Nehmen Sie das Beil! Ich komme runter. Wir werden diesen Kreaturen schon Beine machen.« Ich erkannte die Stimme des Mannes, der seine Frau Debbie zu Hilfe geschickt hatte. Ein mutiger Kerl, dachte ich, ließ meine Tischbeine sausen und schnappte mir das Spaltwerkzeug. Erneut mußte ich mich den Anstürmen meiner Gegner erwehren. Ich merkte, daß ich langsam müde wurde. Ständig prallten ihre mörderischen Hiebe auf mich ein. Dann tauchte der Mann im Unterhemd auf. Er hatte ein Kreuz wie ein Kleiderschrank und Hände wie Klodeckel. Er hielt eine Axt gepackt. Geduckt kam er näher. »Passen Sie auf!« warnte ich ihn. »Die Bastarde sind zwar langsam, aber sie entwickeln unheimliche Kräfte.« Der Mann nickte finster. »Ich arbeite auf dem Schlachthof«, raunte er. »Die Brüder können sich frischmachen.« 38
Plötzlich verlor der untote Rocky sein Gleichgewicht. Er war über eines der weggeworfenen Tischbeine gestolpert. Jetzt oder nie! Ich holte aus, so weit wie ich konnte, und – donnerte ihm das Beil auf seinen Glatzkopf. Die Bestie sackte auf die Knie. Doch statt umzufallen, versuchte sie wieder auf die Beine zu gelangen. Der Anblick raubte einem glattweg den Atem. Ein Zombie mit gespaltenem Kopf, der sich mühte, Balance zu halten, um erneut anzugreifen. Fürwahr, das war nicht jedermanns Sache. Die Gaffer an den Fenstern quittierten das Szenario mit irrem Kreischen. Der Mann im Unterhemd sprang hinzu. »Das haben wir gleich«, krächzte er und schwang die Axt wie eine Streitkeule über seinem Kopf. Ich wandte den Blick ab, als er die Axt auf den Zombie niedersausen ließ. »Jetzt schicken wir den letzten dieser Mistkerle in die Hölle!« Mein Kampfgefährte war in seinem Element. »Übernehmen Sie ihn? Dann kann ich mich um die Frauen kümmern!« »Okay!« Ich widmete Frettchen meine Aufmerksamkeit, und der Mann mit der Axt rannte über die Straße. Mit Frettchen schien irgendwas vorzugehen. Um seinen leblosen Körper herum schillerten unversehens farbige Lichter, als hätte man ihn mit einer Partybeleuchtung behängt. Seine schwarzen Klamotten platzten ihm vom Leib, als würde er auseinandergehen wie ein Hefekloß. Was passierte da? Wie gebannt verfolgte ich das seltsame Schauspiel. Frettchen ging immer mehr aus dem Leim. Seine Haut wurde arg in Mitleidenschaft gezogen. Sie platzte auf und fiel ab. Alles dauerte nur Sekunden. Dann war Frettchens Metamorphose beendet. Er war zu einem unförmigen, pulsierenden Fleischklumpen geworden. Ich schätzte sein Gewicht auf wenigstens vier Zentner, wenn seine Kraft mit seiner Größe mitgewachsen war, dann adieu, du schöne Welt! Jäh hörte ich eine Stimme in mir. Lydia, meine Mutter! Sie rief ängstlich meinen Namen. 39
Der Fleischkoloß watschelte auf mich zu. Wollte er mich unter seiner Last erdrücken? Ich wich zurück. Doch nicht weit genug. Ehe ich einen Mucks von mir geben konnte, schnellte aus dem gigantischen Leib eine gefleckte Schlange, die sich mir mit weit aufgesperrtem Rachen entgegenringelte. Ihr angriffslustiges Zischen ging mir durch und durch. Normalerweise waren Schlangen von solcher Größe keine Giftschlangen. Sie erwürgten ihre Opfer. Aber das Reptil, mit dem ich zu tun hatte, war keine normale Schlange. Es war eine Kreatur Mephistos. Da peitschten Schüsse auf, und das Untier wurde zur Seite geschleudert! Immer wieder dröhnte es aus einer Waffe, deren Klang ich bestens kannte – nämlich meiner eigenen. Der Fleischkoloß geriet ins Wanken, kippte um und blieb liegen. Farbloser Glibber quoll aus der Schußwunde und floß in den Rinnstein. Aufatmend schaute ich hoch und in das schnauzbärtige Gesicht meines Freundes Pit Langenbach. Der Hauptkommissar war vollkommen außer Puste. »Woher wußtest du…?« Ich war perplex. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Lydia«, erklärte er kurz und bündig. Mir blieb die Spucke weg. Ungläubig starrte ich ihn an. »Meine Mutter?« »Tja, Markus Nikolaus, auch Adoptivmütter scheinen einen sechsten Sinn zu haben. Plötzlich stand Lydia vor meiner Tür, mit deiner Kanone und ‘nem Tütchen geweihter Silberkugeln im Gepäck. Wie findest du das?« »Astrein«, gab ich voller Staunen zu. Dann stürmte ich über die Straße, wo Debbie noch immer reglos lag. Von irgendwo ertönte die Sirene des Krankenwagens. Endlich! * Das Cafe Frankenstein schlug ein wie eine Bombe! 40
Mathias Kreuzer hatte es nicht nötig, für Werbung in der lokalen Presse Geld auszugeben. Seine Idee, den Gästen einen nachempfundenen Horrorkeller a la Dr. Viktor Frankenstein als gastronomische Sensation zu bieten, erwies sich als absoluter Selbstläufer. Das Restaurant befand sich am Marktplatz, in den Kreuzgewölben eines alten Patrizierhauses. Von außen wirkte das Lokal nach recht unscheinbar. Kreuzer hatte die Auflagen der Stadtväter peinlich genau befolgen müssen. Doch stieg man die Treppe hinab und trat in die Gasträume, fühlte man sich geradezu an den Schauplatz eines Gruselromans versetzt. So ging es auch Dr. Peter Schulz, der seine Gattin zum Diner ausführte. Als das Ehepaar den halbdunklen Vorraum betrat, wurde es von einem verhutzelten Männchen empfangen. Der Liliputaner kauerte an einem klobigen Empfangstresen, fletschte die Zähne und beäugte die Eintretenden lauernd. Er trug eine schwarze Mönchskutte mit Kapuze. »Die Herrschaften hatten reservieren lassen?« näselte er. Während der kleine Mann hinter dem Tresen vorkam, nannte Dr. Schulz korrekt seinen Namen. Bis zuletzt war der Physiker strikt dagegen gewesen, ein Etablissement zu betreten, das Herzschlagsuppen, Flambierte Alräunchen und Vampirmenüs auf der Speisekarte hatte. Doch Monika, seine Frau, hatte sich durchgesetzt. Um den sich anbahnenden Ehekrach zu vermeiden, hatte er sich breitschlagen lassen. »Tisch dreizehn«, quiekte das Männchen und winkte eine Frau, die eine grobe Jute-Tunika anhatte, heran. »Folgen Sie mir bitte!« Die Eheleute wurden in das Hauptgewölbe geleitet. Dr. Schulz sah sich kopfschüttelnd um. Die Ausmaße des Raumes ließen sich nur erahnen. Überall gab es Nischen, in denen kichernde Gäste an grobgezimmerten Tischen saßen. Altarkerzen flackerten. Als Raumteiler fungierten Seziertische, geschickt beleuchtete menschliche Gerippe, aufgestellte Särge und allerlei grauenerregendes Kleinzeug. »Abartig«, meinte Dr. Schulz, als sie ihre Plätze eingenommen hatten. »Wieso?« kicherte Monika. »Hattest du weiße Tischtücher und 41
befrackte Garcons erwartet?« Dr. Schulz betrachtete die dekorativ aufgetürmten Knochen in der Tischmitte. »Einfach geschmacklos«, urteilte er. »Ich frage mich, warum ich überhaupt hier bin.« »Um mir, deinem Schatz, einen unvergeßlichen Abend zu bereiten. Du weißt, ich grusele mich für mein Leben gern.« Er nickte. »Ja, leider.« Aus einem unsichtbaren Lautsprecher klang ein schmerzerfülltes Röcheln. Erschrocken ergriff Monika die Hand ihres Mannes. »Peter, ist das nicht schauderhaft?« wisperte sie. »Sicher, Liebes.« Irgendwo in der Nähe schrie eine Frau auf. Ausgelassenes Gelächter hallte durch das Gemäuer. Der Arzt langte nach der Speisekarte. Jäh zuckten seine Finger zurück. »Das ist ja ekelerregend«, keuchte er. »Was denn, Liebling?« »Da, die Karte. Sie faßt sich an – wie Menschenhaut.« Monika lächelte belustigt. »Wenn du mich berührst, scheint dich meine Haut nicht zu stören.« »Das kann man wohl kaum vergleichen«, entgegnete er bissig. »Glaubst du, die Karte besteht aus echter Haut?« Foppte sie ihn. »Natürlich nicht. Das wäre wohl der Gipfel des Abnormen. Wir befinden uns doch nicht im Mittelalter.« Monika Schulz biß sich auf die Unterlippe, um nicht laut loszuprusten. Als sie die Karte in die Hand nahm, erschauderte sie. »Fühlt sich tatsächlich wie Haut an«, gab sie zu. Neugierig machte sie sich mit dem Angebot vertraut, während ihr Mann wie auf heißen Kohlen saß. »Nimmst du einen Aperitif, Schatz?« fragte sie spitzbübisch. »Da wäre der Nosferatu-Cocktail, der Nachzehrer-Flip, Drakulas Liebchen, MedusaTonic oder vielleicht die Macabros-Tinktur? Entscheide dich!« Irritiert zupfte sich Dr. Schulz am Ohrläppchen. Er kam sich vor wie in seinem eigenen Alptraum. Sein Unbehagen steigerte sich, als er zusah, wie in der Nische nebenan das Essen serviert wurde. Während die anwesenden Damen vor Entsetzen die Hände vors Gesicht schlugen, schob ein 42
humpelnder Koch einen kleinen, weißen Sarg an ihren Tisch und klappte den Deckel hoch. »Voila«, sagte er dumpf. »Zombie-Filets mit Sauce Bearnaise, Pfifferlingen, Austernpilzen, Pommes Duchesse und knackig frischen Blattsalaten, dazu Kräuterdip.« Hiernach wetzte der Koch ein riesiges Tranchiermesser an einem Stahl und machte sich ans Zerteilen des Fleisches. Obwohl ihm ein appetitlicher Duft in die Nase zog, wandte sich Dr. Schulz angewidert ab. »Ich nehme den Nachzehrer-Flip«, sagte Monika. »Möchtest du auch einen?« »Wie bitte?« »Nachzehrer-Flip?« wiederholte Monika. »Jaja, ich werde auch einen probieren.« Dr. Schulz starrte ins Feuer der Kerze, die neben dem aufgetürmten Knochen-Stilleben flackerte. Er mußte gute Miene zum bösen Spiel machen. Mitgegangen, mitgehangen, mitgefangen. Wenn er jetzt patzte, würde ihm Monika tagelang die Hölle heiß machen. Seine Frau hatte ein gutes Gedächtnis. Und seine Schwiegermutter war auch nicht ohne. Gegen ihr loses Mundwerk hatte er nicht die Spur einer Chance. Es war zum Verzweifeln. Sie bestellten das Essen. Gebackene Höllenrippchen mit diversen Beilagen, davor eine Kannibalen-Bouillon. Je näher der Zeitpunkt heranrückte, an dem die Speisen gebracht wurden, desto miesepetriger wurde der Physiker. Sein Magen krampfte sich zusammen. Er ahnte nichts Gutes. Sein Verdacht bestätigte sich prompt. Die Bouillon wurde in einem imitierten Totenschädel serviert. Als die Kellnerin die Suppe absetzte, klickte es plötzlich, und aus einem versteckten Säckchen spritzte ihm eine rote Flüssigkeit ins Gesicht. Er brüllte auf, vollkommen perplex. Monika Schulz wollte sich totlachen, als sie das entgeisterte Gesicht ihres Mannes sah. Seine Wangen waren feuerrot, als er aufsprang und die Bedienung zornig anfunkelte. »Wie kommen Sie dazu, mich mit Blut zu bespritzen?« schimpfte er. »Ich werde mich über Sie beschweren.« »Bitte beruhigen Sie sich, mein Herr.« Die Serviererin lächelte. 43
»Alles ist nur Attrappe. Schrecktinte, wenn Sie’s genau wissen wollen. In fünf Sekunden ist nichts mehr davon zu sehen. Glauben Sie im Ernst, wir schütten Blut über unsere Gäste aus?« Dr. Schulz setzte sich wieder. Nachdem er massiv an seinem Ohrläppchen gefuhrwerkt hatte, breitete er schließlich die Mundserviette auf seinem Schoß aus. Mit Widerwillen begann er, den kleinen Finger abgespreizt, seine Kannibalen-Bouillon zu löffeln. »Schmeckt’s dir?« erkundigte sich seine Frau. Im Begriff zu nicken, biß er jäh auf etwas Hartes: ein Knöchelchen. Dr. Schulz verzog das Gesicht. Mit der Zunge bugsierte er den Fremdkörper auf seinen Löffel und stubste ihn auf den Ablagenteller. »In der Küche scheint es munter herzugehen«, sagte er. »Knochen in der Suppe. Igittegitt!« »Hab dich nicht so. Das ist mir auch schon passiert. Leg ihn weg und damit basta!« Dr. Schulz stutzte. »Das ist ein merkwürdiges Knöchelchen«, sagte er leise. »Wieso merkwürdig?« Er winkte nach einer Serviererin. Flink kam die Frau an den Tisch. »Ja, bitte?« »Geben Sie mir noch mal die Speisekarte.« »Gern.« Sekunden später hielt er sie in der Hand. »Was ist mit dir?« Monika sah ihn ärgerlich an. »Etwas nicht in Ordnung?« »Doch, doch«, beschwichtigte er sie. »Ich möchte nur noch einmal nachsehen, ob die Brühe vom Rind, Wild oder Geflügel ist.« Monika Schulz ließ genervt ihren Löffel sinken, während ihr Mann aufgeregt in der Karte blätterte. »Langsam reicht es mir«, fauchte sie. »An allem hast du etwas auszusetzen. Du bist unmöglich, Peter. Ich frage mich langsam, ob du das mit Absicht machst.« »Du übertreibst, Schatz«, lenkte er ein. »Ich will lediglich nachschauen…« »Du willst mir das Essen verekeln. Das ist alles.« »Monika, ich würde nie…« 44
»Gib es wenigstens zu. Du wolltest ja von Anfang an nicht mitkommen. Jetzt versuchst du es auf diese Tour. Ich bin sehr enttäuscht von dir.« Zerknirscht legte er die Karte beiseite. »Verzeih mir, Schatz.« Er zauberte ein flüchtiges Lächeln auf sein Gesicht. Während er still die Suppe löffelte, schweifte sein Blick immer wieder auf das sonderbare Knöchelchen. Als die Kellnerin kam, um die leergelöffelten Totenschädel abzuräumen, griff er unauffällig nach dem weißen Gebein und steckte es ein. Monika hatte es nicht bemerkt. Im hinteren Teil den Gewölbes war gleißendes Licht aufgeflammt. Auf einem hölzernen Podium war das Labor von Viktor Frankenstein nachgebildet. Sein zusammengeschustertes Monster lag reglos auf einer Pritsche. Als der Meister persönlich auf der Bühne erschien und sich über den leblosen Körper beugte, brandete Applaus auf. »Wie echt es aussieht«, murmelte Monika Schulz. Gebannt verfolgten die Zuschauer, wie Dr. Frankenstein das Monstrum an medizinische Apparate anschloß und mit tiefer Stimme sagte: »Steh auf und wandle!« In den hünenhaften Körper, der auf der Pritsche lag, kam Leben. Zuerst zuckte er nur mit den Füßen. Dann richtete er sich auf und blickte stumpfsinnig in das Kreuzgewölbe. Auch Dr. Schulz war von der Show beeindruckt. Er vergaß das Knöchelchen. Wenigstens für eine gewisse Zeit… * Als die Rettungssanitäter die schwer verletzte Deborah Martens fortgeschafft hatten, gab Pit Langenbach seinen Männern die nötigen Anweisungen. Die Beamten nickten kurz und taten ihren Job. Pit zog mich am Ärmel beiseite. »Was ist hier eigentlich los, Mark?« fragte er. »Ich hab’ den Eindruck, dein Name steht an erster Stelle auf der Totenliste eines Killerkommandos.« Ich nickte beipflichtend. »Ja, Pit.« »Erzähl!« 45
Ohne Umschweife setzte ich den Hauptkommissar über die Ereignisse der letzten Stunden in Kenntnis. Als ich über das grausige Ableben unseres vierbeinigen Vorkosters sprach, seufzte Pit gedankenvoll und sinnierte: »Hättet ihr die Pillen geschluckt, wäre es euch an den Kragen gegangen. Ich kenne diese scheußlichen Präparate. Würde man davon ‘ne Ladung in einen Swimming-Pool voller Menschen kippen, wäre Feierabend. Das Dreckszeug würde absolut alles in seine Atome auflösen.« Ich wollte fortfahren. Aber ein Beamter schleppte Hinz an. Der Mordbubi glotzte mich haßerfüllt an, als fände er es eine bodenlose Sauerei, daß ich mir die Freiheit erlaubte, noch immer am Leben zu sein. »Hab’ den Kerl gerade noch erwischt, als er sich über ‘nen Zaun verdrücken wollte.« Der Polizist zeigte auf Rocky und Frettchen, deren übel zugerichtete Leichen gerade abtransportiert wurden. »Er ist der einzige, der uns noch was flüstern könnte.« »Ich sage kein Wort!« Hinz’ Gesicht war undurchdringlich. Er vermied es, mich anzusehen. Todsicher verfluchte er seine Geschwätzigkeit mir gegenüber. »Nehmt ihn mit aufs Revier«, entschied Pit. »Ich kümmere mich später um ihn.« Der Beamte führte Hinz zum Streifenwagen. Als ich Pit alles, was vorgefallen war, berichtet hatte, sah er mich besorgt an. »Verdammt schlechte Neuigkeiten. Alles deutet darauf hin, daß Mephisto seine Hand im Spiel hat. Wir müssen mit allem rechnen. Jetzt einen Fehler machen, könnte fatale Folgen haben.« »Das Übel kann nur an der Wurzel bekämpft werden.« Ich drückte meinen verletzten Arm. »Der geheimnisvolle Unbekannte, der den Auftrag erteilt hat, mich auszuschalten, muß unschädlich gemacht werden. So schnell es geht.« Der Hauptkommissar zögerte und kratzte sich seinen Schnauzbart. »Mark, wir werden den Fall aufklären.« Pit Langenbach betrachtete grübelnd meine SIG Sauer, die er noch in der Hand hielt. »Schließlich haben wir als einzige Erfahrungen mit überirdischen Kreaturen. Denke nur mal an Brutus Kasput und seine leichenfressenden Ableger.« (Nachzulesen in MH Band 11: Ghul-Alarm in Ostberlin!) »Erinnere mich bloß nicht daran!« Ich sandte einen Blick in den nächtlichen Himmel. »Als dich Kasputs Medusentochter in dein 46
eigenes Denkmal verwandelte, hatten wir alle kaum noch Hoffnung.« »Schnee von gestern«, winkte Pit ab. Er zeigte auf meinen Arm. »Und jetzt marsch zum Doc! Wenn du wieder okay bist, statten wir diesem Frankenstein einen Besuch ab. – He, Reimers!« Ein vierschrötiger Beamter in Zivil kam heran. Er hatte ein rundes, gutmütiges Gesicht und wirkte tapsig wie ein Plüschteddy. »Chef? Sie wünschen?« »Das ist Mark Hellmann«, stellte mich der Hauptkommissar vor. »Ab sofort weichen Sie ihm nicht von der Seite. Personenschutz rund um die Uhr. Verstanden?« Reimers salutierte lässig und grinste mich an. Pit Langenbach erklärte dem Polizisten, was er von ihm erwartete. »Okay, Hauptkommissar«, nickte Reimers. »Sie können sich auf mich verlassen. Herr Hellmann wird glauben, ich sei sein zweites Ich.« »Ich glaube, ich kann sehr gut auf mich allein aufpassen«, protestierte ich. Aber Pit Langenbach schüttelte den Kopf. »Ich hätte keine ruhige Minute, Mark. Tu ausnahmsweise mal, was dir jemand anderes sagt. Bring dich nicht unnötig in Gefahr. Wir müssen jetzt mit allem rechnen.« Widerwillig taxierte ich mein Kindermädchen. Der Beamte zuckte mit den Achseln und grinste. Ich kannte den Namen Reimers vom Hörensagen. Wenn man den untersetzten, schwerfällig wirkenden Mann so vor sich sah, dachte man, er könne keiner Fliege etwas zuleide tun. Aber der Schein trog. Reimers war mit allen Wassern gewaschen. Als unlängst in Erfurt die Tochter eines steinreichen Immobilienmaklers gekidnappt wurde, hatte Reimers das Mädchen im Keller einer Ruine aufgespürt. Im Alleingang hatte er die beiden Wächter ausgetrickst und ihr Opfer befreit. Unter Einsatz seines Lebens, denn die Verbrecher hatten ihre Kanonen nicht mit Knallerbsen geladen. Widerstrebend fügte ich mich und dachte: Toll! Jetzt habe ich einen Babysitter… Wir fuhren zur Hufeland-Klinik. 47
Nachdem man meinen Arm verarztet hatte, erkundigte ich mich in der Notaufnahme nach Debbie Martens. Reimers wich nicht von meiner Seite. Pit Langenbach war ins Lokal gefahren, in dem die Mordanschläge angefangen hatten. Er wollte Gerfried Kiesewetter und den Küchenchef in die Mangel nehmen. Irgendwie mußte das Gift ja auf unsere Teller gelangt sein. »Wie, sagten Sie, war der Name?« Die Schwester, eine kleine, dralle Person mit Brille und erblondeten Haaren, klapperte mit den Augendeckeln. »Deborah Martens«, sagte ich. »Sie wurde in dieser Nacht eingeliefert.« »Sind Sie verwandt mit der Patientin?« wollte die Schwester wissen. »Verwandt würde ich nicht sagen, eher bekannt. Gut bekannt. Wie geht es ihr?« Die Krankenschwester musterte ich. »Frau Martens liegt im OP. Es besteht noch immer Lebensgefahr. Sie hat innere Verletzungen.« Ich schluckte. »Wann darf ich Debbie sehen?« »Frühestens morgen vormittag, wenn die Operation wie erhofft verläuft.« Ich schwieg betreten. Wie erhofft verläuft, dachte ich, während vor meinem inneren Auge Debbies fröhlich lächelndes Gesicht auftauchte. Das Leben war grausam. Eben noch auf Wolke sieben, dem Gipfel der Gefühle, streckte im nächsten Augenblick schon der Sensenmann seine Knochenhand nach einem aus. Die Schwester blickte mich mitleidig an. »Oberarzt Dr. Lakenmacher leitet die Operation«, tröstete sie mich. »Wir haben ihn aus der Theatervorstellung geholt. Dr. Lakenmacher hat goldene Hände. Es wird alles Menschenmögliche getan, um Ihre Bekannte zu retten. Das können Sie mir glauben.« Verlegen lächelnd nickte ich. Unbändige Wut packte mich. Wenn Debbie starb, würde ich diesen gottverdammten Teufelsjünger dorthin verfrachten, wohin er gehörte: in die Hölle! Am liebsten hätte ich mich auf der Stelle auf die Socken gemacht, um ihm das Handwerk zu legen. Aber ich mußte kühlen Kopf bewahren. Dieser Mistkerl hatte einen mächtigen Verbündeten: 48
Mephisto. Der war höllisch gefährlich. Ich kannte seine widerwärtigen Tricks zu Genüge. Deswegen durften wir uns nicht zu unüberlegten Handlungen hinreißen lassen… Reimers fuhr mich in die Florian-Geyer-Straße. Es war zwei Uhr morgens, als wir ankamen. Im Haus war alles dunkel. Die Stille wirkte gespenstisch, als würde etwas in der Luft liegen. Oben angekommen, räumte ich fix ein paar Sachen beiseite. »Möchten Sie einen Drink?« fragte ich meinen Schatten. Reimers Blick wanderte in meiner Bude umher, blieb dann auf meinem Notebook hängen. Er trat an den Schreibtisch und berührte den kleinen Computer sacht mit den Fingerspitzen. Hiernach ging er zu meiner Stereoanlage und beäugte die CDs, die ich darunter eingereiht hatte. »Möchten Sie etwas trinken?« wiederholte ich. Er überlegte. »Haben Sie alkoholfreies Bier?« »Leider nicht.« »Hm, dann nehme ich ein Wasser.« Ich ging in meine winzige Küche und öffnete den Kühlschrank. Zum Glück hatte ich noch einen Sixpack Mineralwasser. Ich riß die Verpackung auf, nahm zwei Flaschen heraus und stellte die anderen wieder zurück. Im Wohnzimmer hantierte Reimers an den CDs. Die Plastikhüllen klapperten. Als ich zwei Gläser aus dem Wandregal holte, meldete sich plötzlich mein Handy. Wie aus dem Boden gestampft, stand mein Leibwächter neben mir. Er schien fliegen zu können. Aus schmalen Augenschlitzen starrte er mich an. »Ja, hallo?« meldete ich mich. Niemand antwortete. Nur ein unterdrücktes Atmen war zu hören. Dann wurde die Verbindung jäh unterbrochen. »Seltsam«, meinte ich, als ich das Handy ausschaltete. »Als wenn sich jemand davon überzeugen wollte, ob ich daheim bin.« Reimers pflichtete mir bei. »Dasselbe denke ich auch. Womöglich steht uns eine ereignisreiche Nacht bevor.« Prompt fiel mir der Kerl mit der Sonnenbrille ein. Er hatte seinen Auftrag noch nicht erledigt. Es war gut möglich, daß ihn Mephisto mit einigen übernatürlichen Hilfsmitteln ausgestattet 49
hatte. Nicht umsonst galt ER als Meister der Schwarzen Magie. * »Versuchen Sie zu schlafen«, sagte Reimers eine knappe Stunde später. »Wenn ich etwas Verdächtiges bemerke, wecke ich Sie. Dann können Sie ja wieder herumwirbeln.« Wir hockten im Halbdunkel des Wohnzimmers. Ich hatte mich in den Sessel gefläzt, ließ meine Beine über die Lehne baumeln und dachte darüber nach, womit uns Mephisto wohl überraschen würde. Ich war auf alles vorbereitet. Auf dem Couchtisch lag der Inhalt meines Einsatzkoffers griffbereit ausgebreitet. Meine SIG Sauer P 6, zwei Magazine mit geweihten Silberkugeln, Holzpflöcke, Holzkreuze, ein armenischer Silberdolch und zwei Flakons mit Weihwasser. »Haben Sie eigentlich einen Vornamen?« fragte ich Reimers. »Ich meine, wir sollten uns duzen.« Er beugte sich vor und hielt mir seine Hand hin. »Ich heiße Hans und du Markus Nikolaus, nicht wahr?« »Man merkt, daß du zu Pit Langenbachs Team gehörst.« Ich runzelte die Stirn. »Aus welcher Ecke stammst du eigentlich? Du sprichst nicht wie ein waschechter Thüringer.« »Ich komme aus der Spreewälder Gegend. Lübbenau. Vor fünf Jahren ließ ich mich hierher, nach Weimar, versetzen. Die Stadt gefiel mir schon, als ich ein kleiner Junge war.« »Hast du eine Frau?« Für längere Zeit herrschte Schweigen. Hans Reimers träumte mit offenen Augen. »Ich hatte mal eine«, sagte er einsilbig. »Geschieden?« »Nicht direkt. Eines schönen Morgens wachte ich auf und lag allein auf der Matratze. Zwei Wochen vor diesem denkwürdigen Tag war die Mauer gefallen. Mein Goldstück hatte Fernweh bekommen. Im Handumdrehen war sie über alle Berge. Aber nicht, ohne vorher unsere gesamte Barschaft vom Sparbuch abzuheben. Ich danke Gott, daß wir keine Kinder haben.« Ich nickte betrübt. »Das hörte man damals oft. Ich weiß von einigen Fällen, wo Eltern ihren Nachwuchs in der Wohnung 50
eingesperrt hatten und dann nie wieder auftauchten. Nachbarn mußten die Tür mit Brechstangen aufhebeln. In einem Fall kam jede Hilfe zu spät. Ein Baby…« »Tja«, seufzte Reimers mich unterbrechend, »die Wendezeit war eine denkwürdige Zeit. Mit nichts zu vergleichen.« Plötzlich hielt Hans Reimers den Kopf schräg. Versonnen beobachtete er eine Fliege, die an dem zugezogenen Vorhang emporkrabbelte. Ich stand auf. »Noch ‘n Wasser, Hans? Mit ‘nem Spritzer Zitrone?« »Zitronensaft verfälscht nur den Geschmack.« Komischerweise ließ Reimers die Fliege nicht aus den Augen. »Hast du gewußt, Mark> daß es in manchen Firstclass-Hotels spezielle Mineralwasserkarten gibt? Und daß die kleinen Portionsflaschen von berühmten Designern entworfen werden?« »Das ist echt toll«, gab ich zu und ging hinaus. »Schone deinen verletzten Arm!« rief er mir hinterher. »Klar doch.« Dieser Reimers konnte einen mit seinem Wissen ganz schön auf die Nerven gehen. In der Küche angekommen, fiel mir plötzlich ein, daß ich mich noch nicht mal bei Lydia bedankt hatte. Das schlechte Gewissen nagte an mir. Was war ich bloß für ein Sohn? Ich nahm einen rotwangigen Apfel aus dem Obstkorb und biß wütend hinein. Gleich morgen früh würde ich sie anrufen. Aber möglicherweise erwartete sie noch jetzt den entwarnenden Anruf. Ich machte erst einmal Kaffee. Ein kleiner Kreislaufbeschleuniger würde Hans Reimers und mir jetzt guttun. Anschließend würde ich Lydia anklingeln. Ich legte den Apfel beiseite. Die Kaffeemaschine begann leise zu knattern. Ich stellte zwei große Kaffeepötte bereit, dazu Löffel, Zucker und Immergut aus Stavenhagen. Als ich die Kaffeesahne aus dem Kühlschrank holte, kam ich ungeschickterweise gegen eine der Tassen. Krachend zerschellte das gute Stück auf dem Fußboden. »Scherben bringen Glück«, sagte ich laut in Richtung meines Wohnzimmers. Gleich würde mein Kindermädchen mit der Knarre in der Faust 51
hereinstürmen. Ich nahm Handfeger und Müllschaufel aus dem Unterschrank der Spüle – und erstarrte in der Bewegung. Wo blieb Reimers? Hatte der Polizist den Krach nicht gehört? Vorhin, als das Telefon bimmelte, war er zwei Sekunden später zur Stelle. Und jetzt? »Hans?« rief ich empört. »Hans? Hast du Feierabend gemacht?« Keine Antwort. Dafür eine andere Erklärung. Mein Siegelring erwärmte sich und fing an zu glimmen. Ich ließ alles fallen und stürzte besorgt nach nebenan. »Hans! Du darfst jetzt nicht schlafen!« Mein Leibgardist rührte sich nicht! Er saß genauso da, wie ich ihn verlassen hatte, den Blick auf den Vorhang gerichtet. Eine Hand umklammerte seine Dienstwaffe. Doch jegliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Seine Haut wirkte transparent, fast wie Pergament. Er schlief mit offenen Augen. »Hans! Verdammt, was ist mit dir?« Ich rüttelte ihn. Hans Reimers sackte zur Seite, hing nun schlaff und völlig willenlos über der Lehne den Sessels. Sein Atem ging flach. Das Stilleben um mich herum wirkte vollkommen friedlich und unverdächtig. Aus der Küche erklang lediglich das Getöse der knatternden Kaffeemaschine. Und hier, im Wohnzimmer, rührte sich auch nichts – bis auf ein paar Fliegen, die scheinbar harmlos an den Fenstervorhängen herumkrochen. * Ich ging hinüber zum Tisch, nahm einen Flakon Weihwasser und entfernte den Stöpsel. Dabei fragte ich mich, mit welch miesem Trick Mephisto meinen Aufpasser eingeschläfert hatte. Langsam ging ich zum Fenster. Ein wütendes Summen erklang. Die Fliegen, die noch eben die Vorhänge hoch- und hinuntergekrochen waren, surrten jetzt durch das Zimmer. Und das mit einem Affenzahn. Die Vorhänge raschelten – und wölbten sich plötzlich unnatürlich aus, obgleich das Fenster dahinter geschlossen war. Etwas war im Busch. Ich fragte mich, was das sein konnte. 52
Drei Atemzüge später wußte ich es. Ein Insektenkopf, groß wie ein Fußball, schob sich durch den Gardinenspalt. Die Fühler pendelten leicht. Die Facettenaugen glitzerten im Licht der Stehlampe. Überrascht prallte ich zurück. Doch im Handumdrehen hatte ich mich wieder in der Gewalt. Mit einem Griff riß ich meine geladene Pistole vom Tisch und entsicherte sie. Das dauerte nicht länger als zwei Sekunden. Das Insektenwesen glotzte mich stur an. Jäh breitete sich bleierne Müdigkeit in mir aus. Meine Knie schienen von einem Moment zum anderen aus Weichgummi zu sein. Mein Herz schlug langsamer. Meine Augenlider wurden schwer, als hingen Gewichte daran. Verdammt! Das Biest hypnotisierte mich! Wenn ich erst einmal bewußtlos war, wäre ich ein gefundenes Fressen für jeden, der mir ans Leder wollte. An erster Stelle dieser Kerl mit der Sonnenbrille. Vielleicht wartete er draußen schon, bis ich Hans Reimers’ Schicksal teilte, unschuldig wie ein Neugeborenes dalag, um mich massakrieren zu lassen. Ohne mich, Mephisto! Um mich kleinzukriegen, mußt du früher aufstehen, Höllenfürst! spornte ich mich in Gedanken an. Mit aller Kraft kämpfte ich gegen die Schwere in Körper und Geist an. Mark, du darfst dich nicht einlullen lassen! Ich pochte mit der Faust gegen meine Schläfe. Der Schmerz überdeckte mein Schlafbedürfnis. Das Weihwasser! Ich hob den Flakon. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis ich den Arm in der Waagerechten hatte. Ein dünner, zirpender Ton ließ mich erschaudern. Ich sah, wie das Rieseninsekt seinen Unterkiefer bewegte, als wolle es zu mir sprechen. Ahnte es, was ich in der Hand hielt? Ich zog den Stöpsel ab, holte aus und schleuderte dem Mistvieh das geweihte Wasser in die Fratze. »Da, nimm, du Satansbrut!« Es gab einen lauten Puff. Stinkender Dampf zischte aus dem Insektenkopf. Das Zirpen wurde schriller, steigerte sich zu einem durch Mark und Bein gehendes Pfeifen, bis es verklang. 53
Ich konnte zusehen, wie sich der niederträchtige Höllenbote in einem Häuflein Asche auflöste. Gleichzeitig erlosch das Glimmen meines Ringes. Diese Attacke hatte ich überstanden. Doch todsicher war das noch nicht alles. Ich täuschte mich nicht. Hans Reimers’ Bewußtsein kehrte zurück, als ich zwei Tassen frisch gebrühten Kaffee auf den Tisch stellte. Er reckte seine Nase und schnupperte. Dann schlug er die Augen auf. »Bin ich eingepennt?« Erschrocken richtete er sich auf. Ich nickte. »Bist ‘n toller Bodyguard. Legst dich hin und machst ‘n kleines Nickerchen. Jeder x-beliebige Ganove hätte hereinkommen und dich hinaustragen können.« Aufgeregt packte er meinen Arm. »Es ist doch nichts passiert, oder?« »Ach wo, alles bestens. Möchtest du den Kaffee mit Sahne?« Reimers sprang aus dem Sessel. Verdattert lief er im Zimmer auf und ab. »Ich kapiere das nicht.« Er rieb sich die Stirn. »Eigentlich schlafe ich sehr schlecht ein, ich muß deswegen sogar oft Pillen schlucken.« »Sahne?« fragte ich ungerührt. »Nein. Ich trinke ihn schwarz.« Er sah mich forschend an. »Ah, habe ich im Schlaf gesprochen?« »Nein. Und was wäre wenn?« Keine Antwort. Wir nippten an dem heißen Getränk. Hans setzte, sich wieder und schwieg verbissen. Ich beschloß, ihm nichts von meinem unheimlichen Besucher zu sagen. Das Insektenwesen hatte nicht mal Spuren hinterlassen. Sogar seine Asche war auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Es war fast drei, als jemand leise an der Wohnungstür fummelte. Hans Reimers reagierte, als ob er ein direkter Nachkomme von Doc Holliday wäre. Blitzschnell riß er seine Pistole aus dem Schulterholster, schnellte vom Sessel hoch und glitt aus dem Zimmer. Ich folgte ihm. Reimers horchte von innen an der Tür. Als ich in den kleinen Flur trat, drehte er sich um, legte einen Finger auf die Lippen und verzog beschwörend sein Gesicht. Dann trat er einen Schritt zur 54
Seite. Jeden Augenblick konnte die Tür aufgehen. Die Klinke bewegte sich bereits. Dann war es soweit. Als sich die Tür einen Spaltbreit geöffnet hatte, zog Hans Reimers sie mit einem gewaltigen Ruck auf. Die Tür schwang nach innen, und ein Mann stolperte herein. Die Brillenschlange aus dem Restaurant! Er mußte es gewesen ein, der Debbie und mir das Gift unterjubeln wollte. Reimers fiel über ihn her wie ein Berserker, hatte den Eindringling in Sekundenschnelle zu Boden geschleudert und die Arme auf den Rücken gebogen. Die schwarze Sonnenbrille fiel auf den Boden. Der Unbekannte stieß einen Fluch aus. Er war völlig konsterniert und wehrte sich nur sporadisch. Widerstand hätte auch wenig Sinn gehabt. Wen Hans Reimers erst einmal in den Fängen hatte, ließ er so leicht nicht wieder los. Im Liegen legte Hans dem Auftragskiller Handschellen an. Dann stand er auf. »Je später der Abend, desto häßlicher die Gäste. – Nun, Freundchen, laß hören, was uns die Ehre deines unverhofften Besuchs verschafft hat!« Der Kerl wand sich auf dem Boden und stöhnte. Jetzt hatte ich Muße, ihn mir genau anzuschauen. Er war ein schmalgliedriger Mann, Ende Dreißig, mit langen, dünnen Fingern, hoher Stirn und sorgfältig frisierten Haaren. Wie ein berufsmäßiger Killer sah er nicht aus, man sollte aber nie vom Äußeren eines Menschen auf sein Inneres schließen. »Ihr werdet euch noch wundern!« keuchte er rauhhalsig. »Glaubt nicht, ihr hättet bereits gewonnen.« »Die Nummer, die du hier abziehen wolltest, ist schiefgelaufen«, erläuterte ich ihm seine Lage. »Wenn einer Grund hat, sich zu wundern, dann du, Sportsfreund. Du wirst in den Knast wandern…« »Ihr werdet nichts aus mir herauskriegen.« Trotzig starrte er mich an. »Ich werde schweigen wie ein Grab. Lieber beiße ich mir die Zunge ab, als daß ich eine Silbe verrate. – Und außerdem will ich einen Anwalt. Auf der Stelle.« Das Bürschchen tat geradeso, als würden wir ihm bitteres Unrecht zufügen! Ich entschied, dem Selbstbewußtsein dieses Schlaubergers 55
einen gehörigen Dämpfer zu verpassen. »Einen Anwalt willst du?« »Der steht mir zu!« Ich nickte unbeeindruckt. »Ich wüßte da einen für dich. Sein Name ist Dr. Frankenstein.« Sein Unterkiefer klappte mindestens zwei Etagen tiefer. * »Schatz?« Dr. Peter Schulz blickte genervt auf. »Was gibt’s denn, Monika?« Die Brille auf der Nase, kauerte der Physiker an seinem Biedermeier-Sekretär und brütete über einer Fachzeitschrift. Seine Frau wuselte geschäftig durch die stilvoll eingerichtete Wohnung. »Ich suche deinen grauen Anzug.« Sie spähte von der Diele ins Zimmer. »Im Kleiderschrank hängt er nicht. Wo hast du ihn wieder versteckt?« Dr. Schulz blinzelte. »Nicht versteckt. Er hängt fein säuberlich auf dem Bügel im Wirtschaftsraum. Wie es sich gehört. Wozu brauchst du ihn?« »Ich will das gute Stück reinigen lassen.« Monikas Schritte entfernten sich. Der Mann senkte seinen Blick auf die Zeitschrift. Sekunden später sprang er vom Stuhl, als hätte er die Bekanntschaft mit einem Skorpion gemacht. So schnell er konnte, lief er seiner Frau hinterher. »Monika!« rief er. »Warte mal!« Verblüfft drehte sie sich um. »Was ist los, Peter? Du benimmst dich so seltsam.« »Äh, wieso seltsam?« Da klingelte es an der Tür. Monika warf ihrem Mann einen prüfenden Blick zu und öffnete dann die Tür. Dr. Schulz hörte, wie sie mit Wilma Krüger, ihrer Nachbarin aus der Parterrewohnung, sprach. Offenbar hatten sich die beiden Frauen zum Einkaufsbummel verabredet. Rasch griff Dr. Schulz in die Hosentasche des aufgehängten 56
Anzuges. Er beförderte einen eigenartigen, kleinen Knochen ans Tageslicht. Das Knöchelchen aus dem Cafe Frankenstein. Fast hätte er es vergessen. Aus den Augen, aus dem Sinn. Dr. Schulz beabsichtigte, das rätselhafte Gebein im Labor des anatomischen Instituts der Universität klassifizieren zu lassen. Natürlich sollte Monika nichts davon erfahren. Sonst müßte er sich wieder anhören, daß er ein unverbesserlicher, phlegmatischer Stimmungskiller sei. »Peter?« rief Monika von der Wohnungstür. »Wilma fragt, ob wir heute abend Lust haben, auf ein Fläschchen Silvaner zu ihr zu kommen? Was sagst du dazu?« Dr. Schulz bemühte sich um ein freundliches Gesicht, als er zur Tür ging, um die Nachbarin zu begrüßen. »Gern, Frau Krüger«, log er. »Aber nur, wenn’s Ihnen nichts ausmacht.« Die dickliche Fleischverkäuferin mit der aufgebürsteten Dauerwelle lächelte großmütig. Seit drei Wochen fuhren sie einen Mercedes. Das gab Selbstvertrauen. Ein Akademiker im Bekanntenkreis machte sich immer gut. »Aber, Herr Doktor«, schmeichelte sie. »Ich bitte Sie. Es ist mir ein Vergnügen.« Mir leider nicht, dachte er und empfahl sich. Wieder im Arbeitszimmer, setzte er sich an den Schreibtisch und versuchte, seine Lektüre fortzusetzen. Doch die Buchstaben flimmerten vor seinen Augen. Es war, als würde er durch das Papier hindurchsehen. Frankenstein, dachte er, irgendwas stimmt mit der Kneipe nicht. Aber ich kriege noch heraus, was es ist. So wahr ich Dr. Peter Schulz heiße. Seine Augen schweiften zu dem Gemälde, das über dem Schreibtisch an der Wand hing. Casper David Friedrich: Zwei Männer betrachten den Mond. Das schaurig-romantische Bildmotiv erinnerte ihn an die Entstehungsgeschichte des Romans Frankenstein. Sein Blick verschwamm. Er sah die Eheleute Percy und Mary Shelley. Marys Stiefschwester Claire Cläirmont, die Geliebte Lord Byrons. Den Lord selbst, den Leibarzt und Hanswurst Dr. Polidori. Alle in einem Schloß am Genfer See. Wegen des schlechten Wetters vertrieben sie sich die Langeweile mit Geschichten aus dem 57
Gespensterbuch von Laun und Apel. Plötzlich reifte der Entschluß, selber eine Spukgeschichte zu schreiben. Byron schrieb über einen Vampir, Polidori wählte eine Frau mit einem Totenkopf als Hauptperson. Dann unterhielten sie sich über die Experimente des Dr. Erasmus Darwin, der angeblich zerhackte Würmer in einem Glas wiederbelebt haben soll. Der Grundgedanke für das Meisterwerk der Horror-Literatur war gelegt… »Tschüs, Hans!« Die Wohnungstür schnappte ins Schloß. Dr. Schulz warf einen Blick auf die Uhr. Halb vier nachmittags. Wenn er sich sputete, würde er es vor Feierabend noch schaffen, seinen Fund ins Labor zu bringen. Also los! Der Physiker flitzte aus der Wohnung, stieg ins Auto und brauste zum Institut. Im gestreckten Galopp hastete er die Treppe zum Labor hinauf. Vor der weißgestrichenen Tür verpustete er eine Weile und brachte seine Frisur in Ordnung, ehe er energisch klopfte. »Herein.« Dr. Schulz betrat einen bis zur Decke gefliesten Raum, in dem eine Handvoll Laboranten in schneeweißen Kitteln an medizinischen Apparaturen hockten. Ein undefinierbarer Geruch hing in der Luft. Im Hintergrund plärrte leise ein Radio. »Dr. Schulz, wie ich mich freue«, begrüßte ihn Luise Bohnsack, die Cheflaborantin. »Kann ich Ihnen helfen, Herr Kollege?« »Ich denke schon.« Der Physiker drückte der rundlichen Frau mit dem blondsträhnigen Bubikopf flüchtig die Hand und reichte ihr dann ein winziges Plastiktütchen. »Was bringen Sie mir denn da?« fragte Luise Bohnsack und rückte ihre Brille zurecht. Mit gespreizten Fingern zog sie das weiße Stück Knochen aus der Tüte und hielt es gegen das Licht. »Es ist nur ein Splitter«, erklärte Dr. Schulz. »Nichts Besonderes, aber ich würde gern wissen, von welchem Tier es stammt.« Die Cheflaborantin sagte nichts. Sie sah aus wie ein Denkmal, wie sie dastand und den daumennagelgroßen Knochen anstarrte. Ihre Augen hinter den Brillengläsern begannen unruhig zu funkeln. Dr. Schulz fragte sich, was sie dermaßen beeindruckte. »Ist 58
etwas mit diesem Ding nicht in Ordnung?« »Doch, doch, alles in bester Ordnung.« Ihre Stimme klang dumpf. Luise Bohnsack wandte sich ab und eilte zu einem vollbärtigen Kollegen, der über einem Mikroskop hockte. Leise tuschelte sie mit ihm. Dann griff er in eine Schablade, holte ein Buch hervor, tippte immer wieder auf dieselbe Stelle und starrte die Frau entgeistert an. Dr. Schulz spürte, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Immer, wenn etwas Unangenehmes bevorstand, schlug es ihm auf den Magen. Es schien Ewigkeiten zu dauern, bis die Cheflaborantin zurückkehrte. Der Mann mit dem Vollbart begleitete sie. »Wo haben Sie diesen Knochen her, Herr Kollege?« »Gefunden.« Dr. Schulz gab sich harmlos. »In der Nähe den Bahnhofs. Ich hatte ihn aufgehoben, weil er mich an etwas erinnerte.« »Und an was?« forschte der Vollbärtige. Dr. Schulz lächelte schwach. »Ich weiß es nicht. Ich habe mich noch nicht intensiv damit befaßt. Außerdem bin ich nun mal kein Mediziner.« »Kommen Sie!« Luise Bohnsack ergriff seinen Ärmel. »Ich werde Ihnen was zeigen.« Sie gingen in den hinteren Teil den Labors. Die diensttuenden Laboranten sahen ihnen neugierig hinterher. In einer Ecke den Raumes baumelte ein menschliches Gerippe von der Decke. Dr. Schulz hielt den Atem an. Sein Herz schlug ein paar Takte schneller. Die Cheflaborantin ging in die Hocke. Hielt das Knöchelchen an die kleine, rechte Zehe den Skelettes. »Phalanx distalis«, sagte sie zu ihm aufschauend. »Man erkennt den obersten, fünften Zehenknochen an seinem Kopf. An den proximalen Phalangen findet man kleine Furchen. Genau wie bei dem Exemplar, das Sie mitgebracht haben. Jetzt wissen Sie, woher der Knochen stammt, Herr Kollege!« Dr. Schulz wurde schwarz vor Augen. Er hätte es wissen müssen. Doch er hatte es wohl nicht wahrhaben wollen. Er hatte inständig gehofft, daß es eine andere, normalere Erklärung geben würde. 59
»Möchten Sie ein Glas Wasser?« fragte ihn der Vollbärtige mitfühlend. »Ja, sehr gern.« Dr. Peter Schulz spürte, wie ihm eine Perle kalten Schweißes über den Rücken lief. Ich hob das Ding in der Suppe gehabt. Seine Hände zitterten plötzlich. Ich hatte diese gottverdammte Phalanx distalis sogar zwischen den Zähnen… * Wie ein zerwühltes Bettlaken lag das graue Wolkengewirr über Greifswald. Pit Langenbach und ich hatten uns schnurstracks in meinen BMW gesetzt und waren in die Stadt am Bodden gebraust. Mit meinem verletzten Arm ging es wieder besser. Ein paar Telefongespräche, und Pit hatte erfahren, wo wir dieses Cafe Frankenstein finden konnten. Beziehungen sind das halbe Leben. Wir spazierten am Museumshafen entlang. Von dort aus war es nur ein Katzensprung in die City. Das Lokal lag am Markt. Pit und ich dachten nach, wie wir an den teuflischen Gastwirt herankommen könnten. Und dann wunderte ich mich in Gedanken. Greifswald schien zu einem Zentrum des Bösen zu werden. Das Gebäude einer lokalen Zeitung kam in Sicht. »Wie wär’s«, fragte ich, »wenn wir mal in die Redaktion hineinschneien? Die Jungs dort wissen bestimmt ‘ne Menge über den Laden.« Pit nickte. »Keine schlechte Idee.« Vier Minuten später betraten wir das Gebäude. In der hellen Vorhalle stand eine Informationstheke, an der zwei hübsche blonde Mitarbeiterinnen vor Computern saßen. Pit erläuterte der einen unser Anliegen. Seine Dienstmarke ließ er stecken. Er wollte keinen Staub aufwirbeln. Blondi I klimperte mit den Wimpern, kicherte kurz und schnappte sich das Telefon. »Timmy? Scher dich mal runter. Ja. Zwei nette Herren wollen dich interviewen. Okay. Ja, du mich auch.« Vergnügt knallte sie den Hörer auf und sagte zu Blondi II: 60
»Schon wieder dicke Luft da oben. Möchte wissen, warum sich die Typen schon wieder in den Haaren liegen.« Dann wandte sie sich an uns. »Moment bitte. Der Lokalredakteur ist gleich unten. Nehmen Sie doch Platz. Dort hinten, in der Ecke, stehen zwei Sessel.« Wir nickten und befolgten ihren Rat. Schweigend plumpsten wir in die Sessel und hörten ungewollt zu, worüber sich Blondi I und II unterhielten. Unsere Gesichter wurden immer länger. Der Mann, der Timmy genannt wurde, erlöste uns. »Thomas Torsten«, stellte er sich vor. »Ich hab’ nur ‘n paar Minütchen. Worum geht’s?« Unauffällig zuckte Pit seine Marke. »Wir hätten gern ein paar Informationen über das neueröffnete Cafe Frankenstein.« Torsten stülpte die Unterlippe vor und nickte stumm. Er war ein drahtiger Typ mit Igelschnitt und Designerbrille. Höflich führte er uns in einen kleinen Raum, der anscheinend als Raucherzimmer genutzt wurde. Es stank nach kaltem Qualm, daß man die Luft buchstäblich in Scheiben schneiden konnte. Pit stellte Torsten einige Routinefragen, bevor er auf die Person des Lokalinhabers zu sprechen kam. »Ob ich Mathias Kreuzer persönlich kenne?« wiederholte Torsten Pits letzte Frage. »Wie darf ich das verstehen, Hauptkommissar?« Mit unbewegter Miene zupfte Pit Langenbach an einem Ende seines prächtigen Schnauzbartes, während ich den Redakteur aufmerksam im Auge behielt. Torsten war die Frage unangenehm. Es war ihm anzusehen, daß er nach Ausflüchten suchte. »Ob Sie ihn privat kontaktieren. Das meine ich.« »Nein. Ich kenne ihn lediglich als Chef den Restaurants. Zur Eröffnung interviewte ich ihn. Was er privat treibt, entzieht sich meiner Kenntnis.« Eine Lüge, ging es mir durch den Kopf. Doch warum log dieser Torsten? Stand er womöglich auf der Gehaltsliste unseres Mannes? Auf die Frage, ob Torsten wisse, woher Kreuzer das Geld hatte, das er in das Lokal investiert hatte, zuckte der Redakteur mit den Achseln. »Bedaure«, versetzte er. »Darüber kann ich keine Auskunft 61
geben. Die Banken sind sehr vorsichtig mit der Vergabe von Krediten an einheimische Gastronomen. Die Kapitaldecke ist zu dünn. Möglicherweise ist Herr Kreuzer Strohmann für einen begüterten Anleger in den alten Bundesländern. So was ist bei uns gang und gäbe.« »Hat Herr Kreuzer Angehörige?« warf ich ein. »Eine Ehefrau zum Beispiel. Wenn ja, kennen Sie sie?« Pit streifte mich mit einem verärgerten Blick. Wir hatten ausgemacht, daß ich bei Befragungen die Klappe halte und nur zuhörte. Torsten rückte seine Brille zurecht. »Ja, wie ich weiß, hat Herr Kreuzer sogar eine sehr attraktive Frau. Leider habe ich sie erst einmal gesehen.« Ich sah dem Mann an, daß er nicht die Wahrheit sagte. Bei den meisten Menschen erkennt man das an den Augen. Die Pupillen verändern sich, wie bei einer Katze, zudem beginnt der Blick unstet zu flackern. Torsten nestelte am laufenden Band an seiner Brille, obwohl seine Sehhilfe blendend saß. Pit Langenbach stellte noch ein paar belanglose Fragen. Dann bedankte er sich bei Torsten. Wir schüttelten uns die Hände und marschierten zum Ausgang. Der Redakteur rannte die Treppe hinauf. Als wir das Gebäude verließen, winkte ich Blondi I und Blondi II zum Abschied. Lächelnd winkten sie zurück. Draußen angekommen, nahm ich Pit beiseite. »Warum hat der Kerl nicht zugegeben; daß er Kreuzer besser kennt, als er uns Glauben machen wollte?« Meine grauen Zellen arbeiteten fieberhaft. »Da stinkt doch was zum Himmel!« Pit nickte bedächtig. »Ja, da ist was faul im Staate Dänemark.« Mein Handy fiepte. »Ja, hallo?« »Unruh am Apparat«, brummte es in mein sensibles Ohr. »Mark, hattest du mir nicht fest versprochen, für die Wochenendbeilage den nächsten Artikel zu liefern?« Heiliger Bimbam! Die Stimme des Chefredakteurs der Weimarer Rundschau, klang, als stünde Max unmittelbar hinter mir. Die Fortschritte der Telekom wurden langsam beängstigend. »Keine Panik, Chef!« Ich sah, wie Pit grinste. »Ich laß Sie doch nicht im Stich. Spätestens morgen ist der Text fertig. Ich brauche ihm bloß noch den letzten Pep zu geben. Dann jage ich das 62
Manuskript durch das nächste Faxgerät.« Max Unruh grunzte argwöhnisch. »Dein Wort in Gottes Ohr. Gnade dir Gott, wenn du mich versetzt.« »Das würde ich mich nie trauen.« »Eben«, sagte Unruh. »Übrigens, ich habe von Lydia gehört, auf dich wäre ein Anschlag verübt worden. Sie wollte nicht so recht raus mit der Sprache. Was ist dran, Mark?« Der Chef witterte eine Story. Ich mußte jetzt auf der Hut sein, sonst fand ich mich als Schlagzeile auf der erste Seite wieder. »Kleine Fische«, wiegelte ich ab. »War mehr ‘ne Balgerei ohne Folgen. Nichts Erwähnenswertes.« »Und was ist mit dieser Frau, Deborah Martens?« Max gab sich nicht geschlagen. »Ein Vöglein hat mir gezwitschert, sie wäre um ein Haar über die Klinge gesprungen. Zufällig kenne ich Dr. Lakenmacher, den Oberarzt der Chirurgischen Klinik.« »Ich muß jetzt Schluß machen«, bremste ich ihn. »Ich habe ein ziemlich wichtiges Rendezvous.« »Wie ich dich kenne, mit einer Frau. Manometer, deine Nerven möchte ich haben. Du läßt wirklich nie etwas anbrennen, wie?« »Ich hab’ doch meine Tessa…« »Ja stimmt, die auch noch«, sagte Unruh und legte auf. * Die schwere Eisentür, die vom Wirtschaftsgang auf den Hinterhof des Restaurants führte, fiel scheppernd ins Schloß. Ein schmuddeliger Mann trat auf den Hof. Er trug zwei blaue Plastiksäcke mit Abfällen aus der Küche. Vor der hohen Mauer, die das Grundstück vor neugierigen Blicken schützte, standen verschiedenfarbige Metallcontainer für alle Sorten Müll. Der Mann hieß Jupp Haarmann. Er trug Pepitahosen, eine bespritzte Kochjacke, Vorstecker und ein Schweißtuch um den Hals. Haarmann arbeitete im Cafe Frankenstein als Koch. ER hatte darauf bestanden, daß Mathias Kreuzer Haarmann einstellte. Kreuzer hatte widerstrebend gehorcht. Schließlich war er in Zugzwang. Die Attentate auf Mark Hellmann hatten nichts gebracht. ER hatte fürchterlich getobt. Nur mit großer Mühe und 63
Zugeständnissen gelang es Kreuzer, seinen allmächtigen Gönner zu besänftigen. Der Teufelskoch klappte nacheinander die Deckel der Container hoch und warf die Plastiksäcke hinein. »Hallo, entschuldigen Sie bitte!« rief eine Stimme. »Ich hätte da eine Frage.« Der schmuddelige Koch fuhr herum. Ein großer, dicker Mann mit einem Camcorder in der Hand erschien in der schmalen Auffahrt, die zum Marktplatz führte. Als er Haarmann von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, blieb er schockiert stehen. Haarmanns Anblick überwältigte ihn. Der Koch schien geradewegs einem Horrorlesebuch entstiegen zu sein. Er war fast quadratisch, Meter mal Meter. Er hatte ein Kreuz wie ein Kleiderschrank, dazu kurze, dicke Beine und riesige Füße. Das Gesicht, voller schlecht vernähter Narben, wurde von einer bombastischen, platten Nase beherrscht, aus der schwarze Haare wuchsen. Der breite Mund zog sich, im wahrsten Sinne den Wortes, von einem Ohr zum anderen. Die undefinierbaren, dunklen Augen lagen tief in den Höhlen und funkelten gefährlich. »Was haben Sie hier zu suchen, Herr?« schnarrte Haarmann. »Hier ist Betriebsgelände. Betreten verboten.« Dem Dicken hatte Haarmanns Anblick die Sprache verschlagen. Noch immer blickte er den zwei Köpfe kleineren Koch starräugig an. Der Teufelskoch watschelte ein paar Schritte auf ihn zu. Er rieb seine behaarten Pranken aneinander und schielte voller Argwohn auf die Videokamera des anderen. »Gefilmt wird hier nicht. Nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Chefs. Verstanden?« Der Tourist riß sich zusammen. »Mein Name ist Höfel«, sagte der Dicke. »Richard Höfel. Ich habe vor Jahren einmal hier gewohnt, im Hinterhaus. Back to the roots, verstehen Sie?« »Nein.« Haarmann schüttelte mißtrauisch den Kopf. »Back tu was?« »Zurück zu den Wurzeln«, erklärte Höfel. »Eine aus England stammende Redensart. Ich befinde mich auf einem Nostalgietrip in meine Jugend. Jetzt lebe ich in Kassel. Seit fast zwanzig Jahren war ich nicht mehr am Bodden. Äh, übrigens ein tolles 64
Restaurant, das Frankenstein. Ich habe mir für heute abend schon einen Platz reservieren lassen. Das Geschäft brummt wohl ganz anständig, wie?« »Wir können nicht klagen«, raunzte Haarmann, während seine stechenden Blicke abschätzend über den korpulenten Körper des Kasselers schweiften. »Viele Leute haben ein Faible für das Absonderliche. Sie wollen Action und Nervenkitzel. Sogar bei den Mahlzeiten. Wir kommen ihnen auf diesem Weg entgegen.« Der Tourist fingerte am Camcorder. »Können Sie nicht mal ‘ne Ausnahme machen und mich filmen lassen? Nur ein paar Sekunden.« Jupp Haarmann legte seine Narbenstirn in Falten. »Sind Sie allein?« forschte er. Allmählich gewöhnte sich Höfel an Haarmanns grotesken Anblick. Nicht jeder konnte aussehen wie Til Schweiger oder Götz George. »Leider«, seufzte er. »Elisabeth und die Kinder machen Urlaub auf Mallorca. Sie lieben Sonne, Strand und Meer. Wohl oder übel mußte ich allein hierherfahren.« In Haarmanns zerhacktem Gesicht zuckte es verräterisch, was dem ahnungslosen Camcorder-Mann jedoch entging. Zu sehr war er mit den Empfindungen und Erinnerungen der Vergangenheit beschäftigt. Da öffnete sich ein Fenster aus Milchglas, aus dem nebliger Wasserdampf quoll. Im Spalt tauchte der hochrote Kopf einer bemützten Frau auf. »Jupp? Wo bleibst du denn? Deine Brühe muß entfettet werden. Soll ich mich um alles kümmern?« »Besorg du das, Lori«, versetzte der Teufelskoch, Höfel unverwandt anstarrend. »Ich komme später. Muß was Wichtiges erledigen.« Der Kopf verschwand. Das Fenster knallte zu. Die nebligen Schwaden wurden vom Wind zerrissen und davongetragen. Höfel reckte den Hals und schnupperte. »Riecht nicht schlecht«, meinte er anerkennend. »Alles noch hausgemacht bei uns. Nicht solch tiefgefrorenes >Convenience-Futter<, wie es heute überall üblich ist. Bisher hatten wir nicht eine Reklamation.« Höfels Blick blieb plötzlich auf einer unscheinbaren Kellertür hängen. Versonnen rieb er sein glattrasiertes Kinn und sagte: 65
»Unser alter Kohlenkeller. Da drin war früher mein Versteck, als ich ein Junge war. Immer wenn bei uns zu Hause dicke Luft war, hab’ ich mich darin verkrümelt. Potz Blitz, ist das lange her!« Haarmann kämpfte mit sich. Du darfst nur töten, wenn ich es dir befehle, hatte ER gesagt. Aber Haarmanns Mordlust wuchs mit jeder Sekunde, die verstrich. Flehend sandte er einen Blick gen Himmel. Der Kerl mit dem Camcorder war allein! Seine Sippe krauchte in Spanien herum! Selten gab es günstigere Vorzeichen… Der Teufelskoch fletschte die Zähne, kniff die Augen zusammen und holte tief Luft. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Keller«, bot er sich hilfsbereit an. Er langte in die Hose und zog einen verbogenen Metallring aus der Tasche, an dem ein paar Schlüssel baumelten. »Das würden Sie tun?« Höfels Augen leuchteten. Liebend gern sogar, dachte Haarmann. Innerlich zitterte er vor Wollust. Die Vorfreude, den fleischreichen Touristen zappeln zu sehen, während er ihn mit einem scharfen Messer überraschte, spaltete seine Lippen zu einem dämonischen Grinsen. »Mein Chef sieht’s zwar nicht gern, daß Unbefugte in den Wirtschaftsräumen umherspazieren. Aber bei Ihnen hat er sicherlich nichts dagegen.« Haarmann geleitete Höfel zum Kellereingang. Der Schlüssel ratschte ins Schloß. Die Tür sprang auf. Die Männer standen vor einer Eisentreppe. Das untere Ende lag im Dunkeln. Der Geruch frischer Farbe strömte aus der Tiefe. Der Tourist seufzte. »So sah es früher nicht aus.« »Wir haben einige Umbauten vornehmen müssen«, erklärte Haarmann. »Was lagern Sie denn da unten?« »Hauptsächlich Ware. Der hintere Keller ist unseren auserlesenen Weinen vorbehalten.« Der Teufelskoch ging voran, drückte auf einen Kippschalter und zog dann die Tür zu, als Höfel ihm gefolgt war. Im Schein des weißlichen Lichtes kletterten die Männer die Treppe hinunter. Die Stufen endeten auf einer Plattform. Wieder eine Eisentür. Statt einer Klinke gab es einen Hebel, den Haarmann entriegelte 66
und mit kräftigem Ruck umlegte. Höfel schauderte. »Komisch, wenn man Jahre später sieht, wie sich alles verändert hat. Auf den Weinkeller freue ich mich schon. Altes Mauerwerk, muffige Luft, an den Wänden wurmstichige Regale.« »Dorthin kommen wir noch«, versprach Haarmann leutselig. »Sie können jetzt Ihre Videokamera einschalten wenn Sie wollen.« In dem Raum, den sie nun durch Pendeltüren betraten, standen zwei silbrig glänzende Edelstahltische, ein Hackklotz und eine Holzkiste mit Küchengerät. Die Wände waren rundum weiß gefliest. Töpfe und Pfannen aus Edelstahl hingen von der Decke herab. Während Höfel seinen Camcorder vorbereitete, glitt eine Hand des Teufelskochs unauffällig in die Kiste. Ohne daß es der Tourist merkte, bückte er sich und nahm ein kleines Ausbeinmesser in die Hand. Geschickt verbarg er es im Ärmel seiner Kochjacke. Sie gingen weiter. Höfel filmte. Haarmann überlegte, wo er den Fettwanst töten sollte. Am günstigsten wäre es, ihn gleich hier abzustechen. Wenn der Kerl erst mal im Weinkeller herumschnüffelte, würde sein Blut die Weinflaschen besudeln. Die Küche war da schon leichter zu reinigen. Arglos richtete Richard Höfel die Kamera auf seinen Begleiter. »Elisabeth«, sagte er fürs Tonband. »Das ist der Kollege, der so freundlich war, mir den Keller zu zeigen, in dem ich als Achtjähriger gespielt habe. Äh, wie heißen Sie eigentlich, Herr Koch?« »Haarmann«, keuchte der. »Jupp Haarmann!« »Hast du gehört, Elisabeth?« feixte Höfel. »Der Herr heißt Haarmann – genau wie dieser schreckliche Totmacher, der in den Zwanziger Jahren die gräßlichen Morde in Hannover beging.« Der Teufelskoch nickte unwillkürlich. Als sich der Nostalgiefan abwandte, um den hinteren Teil des Raumes auf die Kassette zu bannen, schluckte Haarmann vor Erregung. Schnell wie eine Katze riß er das kleine Messer aus dem Ärmel. Drei, vier Schritte, und schon befand er sich im Rücken seines Opfers. 67
»Und das, Elisabeth«, sagte Höfel gerade, »muß die Tür sein, die zum Weinkeller führt…« Haarmann federte in den Knien und sprang auf den großen Mann zu. Die Hand, die das todbringende Messer gepackt hielt, zischte durch die Luft. Höfel ließ die Kamera fallen, riß die Arme hoch und stemmte sich dem Todbringer entgegen. (siehe Titelbild!) Doch seine Kräfte erlahmten rasch. Haarmann stach mit dem Messer auf Höfel ein… Der plötzliche Todesstoß hatte Höfel wie ein elektrischer Schlag getroffen. Unendliches Staunen meißelte sich in sein Gesicht. Während sich ein rhythmischer Blutstrom aus seiner tödlichen Wunde ergoß, wischte Haarmann kaltblütig die Schneide der Mordwaffe an seinem Vorstecker ab. »Brrrrch!« Richard Höfel versuchte vergebens, den Blutfluß zu stoppen. Er preßte beide Hände auf die Wunde, aber es war aussichtslos. Der Stich war mit mörderischer Kraft geführt, und mit geradezu entsetzlicher Präzision. Das Blut spritzte ihm durch die Finger. Höfel taumelte noch einmal um die eigene Achse. Dann brach er röchelnd zusammen. Hart schlug er auf dem Boden auf. Sein letzter, noch immer erstaunter Blick galt seinem heimtückischen Mörder. Der jedoch verzog keine Miene. Geduldig wartete er, bis sich sein Opfer nicht mehr rührte. Er wog das kleine Ausbeinmesser auf der Hand, stieß einen kehligen Laut aus und legte es auf einen Tisch. Das Messer hatte seine Pflicht getan. Jetzt würde er geeigneteres Werkzeug brauchen. Haarmann verriegelte sorgfältig die Tür. Zaungäste wollte er keine. Mit verzücktem Gesicht rückte sich der Teufelskoch den Hackklotz zurecht. Dann überprüfte er fachmännisch den Inhalt der Gerätekiste… * »Helfen Sie mir! Bitte!« 68
Ich stand am Zeitungsstand und verglich die Schlagzeilen des Tages, als die verängstigte Stimme dicht neben mir ertönte. Auf dem Absatz fuhr ich herum. Eine überaus wohlproportionierte Frau mit flammendroten Haaren starrte mich flehend an. »Verzeihen Sie, daß ich Sie belästige«, wisperte sie. »Aber ich werde verfolgt. Ein schrecklicher Mann ist hinter mir her.« Schnell warf ich einen Blick in die Runde. In der Halle den Einkaufscenters herrschte Hochbetrieb. Hunderte von Menschen strömten durch die Gänge, beäugten das Angebot der zahllosen Geschäfte und Verkaufstheken. Pit Langenbach wartete in einem Bistro auf mich, während ich auf einen Sprung zum Presseshop geeilt war, um mir eine Tageszeitung zu kaufen. »Wo ist der Kerl, der Ihnen nachstellt?« Ich schenkte der feuerhaarigen Madonna ein charmantes Lächeln. »Er versteckt sich irgendwo. Er wartet nur auf eine günstige Gelegenheit. Den ganzen Tag ist er schon hinter mir her. Ich habe furchtbare Angst.« Die Frau trug einen knappen Stretch-Mini, eine geräumige Bluse, die dennoch im Brustbereich gehörig spannte, und Pumps mit hohen Absätzen. Sie war das Hübscheste, was sich seit langem bei mir untergehakt hatte, Debbie und Tessa einmal ausgenommen. »Niemand wird Ihnen etwas tun, wenn ich bei Ihnen bin«, beruhigte ich sie. »Vielleicht sollten Sie sich an einen Sicherheitsbeamten wenden? Ich werde jemanden rufen, wenn Sie es wünschen.« Die Frau lockerte ihren Griff. Sie war leichenblaß, und ihre grünen Augen glitzerten wie geschliffene Smaragde. »Sicherheitsbeamte? Nein, kein Aufsehen.« Seufzend sah sie zu mir auf. »Ich werde versuchen, den Mann, der mich verfolgt, abzuschütteln.« »Es ist doch nicht etwa Ihr Ehemann?« fragte ich beiläufig. Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht verheiratet. Es ist ein Fremder. Wahrscheinlich ein Irrer.« »Wie sieht er denn aus, der Irre?« »Schrecklich.« »Könnten Sie etwas genauer werden?« 69
Sie fuhr sich übers Gesicht, versuchte sich zu konzentrieren. »Nun ja, der Kerl ist ziemlich groß, wie Sie ungefähr. Er sieht sehr kräftig aus. An den Unterarmen ist er tätowiert. Ich spüre förmlich seine Nähe.« »Und Sie wissen nicht, was er von Ihnen will?« Sie blickte mich treuherzig an. »Was soll ein Mann wie er schon von einer Frau wollen?« Seltsam, dachte ich. Kaum bin ich mehr als zehn Schritte von Tessa entfernt, schon kreuzt eine andere Frau in meinem Leben auf. Und was für eine! Aber Tessa kann beruhigt sein. Ich liebe nur sie. Plötzlich fiel mir ein, daß ich mich noch gar nicht vorgestellt hatte. Fast scheu schlug sie die Augen nieder, als ich meinen Namen nannte. »Ich heiße Heike Kramer«, entgegnete sie. Im selben Augenblick tönte aus den Lautsprechern des Supermarktes eine Ansage. Die Eltern eines aufgegriffenen Kindes wurden ersucht, ihren Sprößling an der Rezeption abzuholen. Heike Kramer zitterte. Wieder schmiegte sie sich eng an mich. Ich fühlte ihren weichen Busen an meinem Bauch. Mein Beschützerinstinkt erwachte. Ich wünschte mir, daß dieser tätowierte Typ auftauchte, um ihm gehörig den Marsch zu blasen. Mein Wunsch erfüllte sich nicht. Der Verfolger blieb unsichtbar. Die Frau, die Heike hieß, hielt meinen Blazer gepackt, als sei er das Federkleid einer Glucke. »Ich wohne nicht weit von hier.« Beschwörend sah sie mich an. »Wenn Sie mich bis vor meine Haustür begleiten könnten, wäre mir sehr geholfen. In meiner Wohnung fühle ich mich sicher.« »Nun ja«, druckste ich. »Im Cafe wartet jemand auf mich. Wenn ich jetzt sang- und klanglos verschwinde, wird sich mein Bekannter Sorgen machen.« »Verstehe.« Enttäuscht ließ die hübsche Frau meinen Arm los, wandte sich langsam ab. »Tja, da kann man eben nichts machen. Haben Sie nochmals vielen Dank. Ich werde es schon schaffen.« Mit tapsigen Schritten strebte sie der Pendeltür zu, die ins Freie führte. Ich blickte ihr hinterher. Fasziniert und erstaunt. Ich wollte nicht, daß ihr etwas Böses zustieß, deshalb zückte ich mein 70
Handy, wählte Pit an und sagte ihm, ich hätte was Dringendes zu erledigen. Wir würden uns, wie verabredet, in einer Stunde treffen, vor dem Cafe Frankenstein am Marktplatz. Rasch marschierte ich zum Ausgang. Die Frau stand im Vorraum, als hätte sie auf mich gewartet. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte der Anflug eines Lächelns über ihr Gesicht. Das hätte mich stutzig machen müssen. Tat es aber nicht. Ich ahnte nichts Böses. Blauäugig tappte ich in die Falle. Das Haus, in das mich Heike Kramer lotste, lag tatsächlich nicht weit entfernt von dem Einkaufscenter. Es war ein fünfstöckiger, renovierter Neubaublock mit zartblauer Fassade und gelben Baikonen. Im Treppenhaus roch es nach angebranntem Weißkohl. Heike Kramer wohnte im zweiten Stock. Als wir vor ihrer Wohnungstür standen, holte sie tief Luft und lächelte mich verschmitzt an. Jegliche Furcht war aus ihren gleichmäßigen Gesichtszügen verschwanden. »Kommen Sie auf einen Sprung mit rein?« fragte sie kokett. »Ihren Imbiß haben Sie bereits versäumt. Ich habe also etwas gutzumachen.« »Tut mir leid. Mein Bekannter…« »Sie geben mir einen Korb?« Wieder schlüpfte die schöne Frau in die Rolle des bedauernswerten Häschens. Doch diesmal brachte sie zusätzlich ihre körperlichen Vorzüge mit ins Spiel. Sie schaukelte herausfordernd mit ihrem Busen. »Das ist nicht fair«, bemerkte ich. Sie tat unschuldig. »Was meinen Sie? Was ist schlimm daran, wenn ich Ihnen einen Kaffee als kleines Dankeschön anbiete?« Ich streckte die Waffen. Die zehn Minuten konnte das geheimnisvolle Horrorlokal auch noch warten. Einer Frau, die aussah wie diese Heike Kramer, konnte ich einfach nicht abschlagen, ein Täßchen mit ihr zu trinken… Arglos trat ich in die Höhle des Löwen. Das Wohnzimmer schien erst vor kurzem eingerichtet worden zu sein. Sesselgruppe, Couchtisch, Anrichte und Anbaureihe sehen aus, als hätten sie noch in der letzten Woche im Möbelhaus gestanden. Im Zimmer lag ein leichter Geruch von 71
Zigarettenrauch. »Ich geh und koche uns Kaffee. Okay? Sie können schon mal Platz nehmen.« »Ich habe nur ein paar Minuten Zeit«, rief ich ihr hinterher. Heike Kramer eilte in die Küche. Zwei Minuten später kam sie mit dem Kaffeegeschirr zurück, stellte es auf den Tisch und blinzelte mich an. »Wieso haben Sie es so eilig?« Sie öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse. »Termine«, antwortete ich vage. »Wie wär’s, wenn Sie Ihren Termin um eine halbe Stunde verschieben würden?« Der zweite Knopf! Die Bluse sperrte. Die verbleibenden Knöpfe konnten Heikes prachtvolle Zwillinge nicht mehr im Zaum halten. Aufmüpfig drängten sie ins Freie. »Mögen Sie keine selbstbewußten Frauen?« fragte Heike, als ich das nicht kommentierte. »Ich glaube, es ist an der Zeit, daß ich Ihnen die Wahrheit sage. Sie müssen aber fest versprechen, mir nicht böse zu sein.« »Es gibt keinen Tätowierten«, sagte ich leise. Erschrocken klapperte sie mit den Augendeckeln. Ihr Blick wurde unstet. Aber schnell hatte sich die schöne Frau wieder in der Gewalt. »Erraten, Sie sind ein heller Bursche.« Der dritte Knopf! Mir lief das Wasser im Mund zusammen. Tessa, verzeih! »Können Sie sich das nicht denken? Es ist die einfachste Sache von der Welt. Ich habe mich Hals über Kopf in Sie verliebt. Glauben Sie an Liebe auf den ersten Blick?« »Schon möglich.« Ich rutschte unruhig hin und her. »Die Wohnung«, meinte sie. »Ich habe sie erst seit einer Woche. Sie ist noch nicht – eingeweiht.« Der berühmte Wink mit dem Zaunpfahl. Es war wie eine Einladung zu einem erstklassigen Galadiner. Die rothaarige Madonna hatte mich auserkoren, um ihr neues Schlafzimmer gebührend einzuweihen. Na toll! »Also«, sagte sie ohne Umschweife. »Die Sache ist die: Alles war tatsächlich nur ein Trick, das mit meinem Verfolger. Ich wollte Sie zu mir lotsen, um – mit Ihnen zu schlafen.« »Sie sind eine sehr spontane Frau.« Heike Kramer kam hüftwackelnd auf mich zu. »Wenn mir 72
jemand gefällt, gebe ich eben Vollgas! Man lebt so kurz und ist so lange tot.« »Solche Philosophie ist ungewöhnlich und höchst selten, für eine Frau zumindest.« Sie kam einen Schritt auf mich zu, legte eine Hand auf meine Schulter und sah mich an. »Und? Was ist mit Ihnen?« wollte sie wissen. »Gefalle ich Ihnen wenigstens ein klitzekleines Bißchen? Oder ihm?« Ihre Blicke kreisten ihn ein… Auf der Suche nach ausgebeulten Stoffpartien, entdeckte Heike meine Pistole. Erst erstarrte sie, dann zuckte sie zurück. »Sie tragen eine Waffe?« fragte sie überrascht. Ich nickte. »Keine Angst, es ist alles völlig legal.« Heikes Körpertemperatur sackte in den Keller. Es war meine Chance. Ich konnte einen Schluck trinken. Trocken wie mein Mund geworden war… Hart knallte meine Tasse auf die Tischplatte. Plötzlich war mir, als würde ich in einer Luftschaukel sitzen. Die Umrisse der Gegenstände um mich herum verschwammen. Eine bleierne Schwere zog mich wie ein Magnet zu Boden. Ich wollte aufspringen, fiel aber hilflos auf die Couch nieder. »Der Kaffee«, keuchte ich. »Was haben Sie mir in den Kaffee getan?« Sie stand auf, knöpfte gelassen ihre Bluse zu und brachte ihren Rock in Ordnung. »Im Kaffee ist ein Mittel, das aus liebestollen Tigern dösende Kätzchen macht. Es wirkt rasch. Wie es heißt, hab’ ich vergessen.« Schemenhaft sah ich, wie sie Anstalten machte, die Wohnung zu verlassen. »Warum tun Sie das?« Mir schwanden die Sinne. »Wer sind Sie?« »Jedenfalls keine Hupfdohle, wie Sie angenommen haben. Pah – Liebe auf den ersten Blick. Hereingefallen sind Sie, Träger des Ringes!« Die Augen der Frau waren zu Schlitzen geworden. Jetzt starrte sie mich unverblümt haßerfüllt an. »Wer sind Sie?« bohrte ich. Sie lachte theatralisch. »Ich habe ein gutes Herz«, spottete sie. »Bevor Sie sterben, sollen Sie erfahren, wer Sie ins Jenseits verfrachtet hat. Ich heiße nicht Heike Kramer, sondern Heike 73
Kreuzer. Sie kamen, um meinem Mann zu schaden. Das kann ich nicht zulassen. Tja, das Blatt hat sich gewendet, Mark Hellmann! Ich wünsche Ihnen eine gute Reise.« Mit aller Kraft kämpfte ich gegen die zunehmende Bewußtlosigkeit an. Das Weibsstück hatte mich hereingelegt. Es hatte meine Schwäche ausgenützt und wähnte sich nun auf der Siegerseite. »Was haben Sie mit mir vor?« Ich krampfte mich an die Lehne des Zweisitzers. »Ein Freund wird sich um Sie kümmern«, sagte sie leichthin. »Sie kennen ihn nicht. Sein Name ist – Haarmann!« * Mathias Kreuzer, Inhaber des Frankensteins, lief ruhelos im Küchenchefbüro auf und ab. Jedesmal, wenn er an seinem Schreibtisch vorbeikam, blieb er stehen und starrte eine Weile auf das Telefon. Doch das sehnsüchtig erwartete Klingeln blieb aus. Wieso rief Heike nicht an? fragte er sich. Hatte es unverhofft Probleme gegeben, diesen Mann aus Weimar außer Gefecht zu setzen? Der Gedanke schien ihm durchaus nicht abwegig, denn Hellmann hatte bisher all ihre Bemühungen zunichte gemacht. Nachdenklich blickte Kreuzer durch ein kleines Fenster in die Restaurantküche, in dem adrett gekleidete Köche emsig umherwuselten. Dann verschwamm sein Blick. Nacheinander rief er sich die Ereignisse der letzten Wochen zurück. Sein nächtlicher Besuch auf dem Friedhof. Der Pakt mit dem Antichristen. Heikes Seitensprung. Die Tasche mit dem Geld, die er den verunglückten Rockern abgejagt hatte. Schließlich die ergebnislosen Versuche, Hellmann den Garaus zu machen: das vergiftete Essen, die drei bezahlten Killer und der Anschlag mit dem Lieferwagen. Alles für die Katz! Kreuzer zerquetschte einen saftigen Fluch. Sogar Mephistos Insektenwesen hatte eine Bauchlandung erlebt, als es Hellmann in dessen Wohnung einlullen wollte! Kreuzer wurde immer wütender. Statt durch die Erfüllung seines Kontraktes mit dem Teufel endlich frei von Verpflichtungen zu sein, hatte dieser ihm einen 74
wahrscheinlich psychopathischen Koch aufs Auge gedrückt, der obendrein noch Haarmann hieß. Kreuzer wußte, daß ein Fritz Haarmann von 1918 bis zu seiner Hinrichtung im April 1925 über zwanzig junge Männer ermordet hatte. Anschließend hatte er deren Körper mit einem Beil zerstückelt und die Reste einfach weggeworfen. Kreuzer kriegte eine Gänsehaut, als ihm ein Satz einfiel, den der Werwolf von Hannover gegenüber dem Gerichtspsychologen geäußert hatte: »Ein Mensch ist nicht viel – ein paar Aktentaschen voll Fleisch.« Mathias Kreuzer fuhr der Schreck in die Glieder. Ein plötzlicher Gedanke durchzuckte ihn wie ein Stromstoß. Was, wenn dieser Jupp Haarmann eine ähnliche Neigung hatte wie sein berüchtigter Namensvetter? Möglicherweise hatte ihm Mephisto diesen Mann unters Hemd gejubelt, damit dieser einen bestimmten Plan verfolgte… Die Vorstellung, daß die Gäste des Cafes Frankenstein ahnungslos das Fleisch ihresgleichen verzehrten, versetzte Kreuzer in Panik. Das war es nicht, was er wollte! Wenn sich sein Verdacht als begründet erweisen würde, hatte ihn der Teufel schamlos betrogen und ausgenutzt. Kreuzer spann den Gedanken weiter. Das Schlimme daran war jeden Augenblick könnte alles auffliegen, und er, als Inhaber, würde am Pranger stehen. Jeder Mensch auf der Welt würde ihn verdammen. Er würde im Gefängnis sitzen, bis er schwarz würde. Dabei war doch seine Idee, eine Erlebniskneipe mit Horrortouch aufzumachen, ein Knaller gewesen. Erneut irrte Kreuzers Blick zum Telefon. Es schwieg, und er ging zur Tür, öffnete sie und warf einen Blick in die Küche. Lori Ludwig, die Souchefin, trug gerade eine rechteckige Pfanne mit heißem Fett in die Topfwäsche. Über ihr puterrotes Gesicht liefen Schweißperlen. »He, Lori!« rief Kreuzer. »Schick mir mal den Haarmann ins Büro!« Die stellvertretende Küchenchef in sah ihn fragend an. »Muß ein Hühnchen mit ihm rupfen. Nichts Weltbewegendes.« Kreuzer gab seiner Stimme einen beiläufigen Klang. Lori Ludwig kam auf ihn zu. »Der Kerl ist nicht koscher«, sagte sie leise. »Wäre ich Sie, würde ich ihn ohne viel Federlesens 75
feuern!« Kreuzer schluckte. Weiß sie etwas? »Wie kommen Sie darauf?« fragte er. »Hält er die Rezepturen, die ich Ihnen vorgegeben habe, nicht ein?« Die Frau öffnete den Mund, schloß ihn wieder, als wußte sie nicht, was sie sagen sollte. »Sprechen Sie«, forderte Kreuzer. »Am besten, Sie bringen die Pfanne in die Spüle und kommen dann in mein Büro. Okay?« Sie nickte. »Okay.« Kreuzer setzte sich an seinen Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. Ihn beschlich eine dumpfe Vorahnung. Eventuell wußte Lori Ludwig Dinge über Haarmann, die womöglich seine eigenen Befürchtungen bestätigen würden. Jetzt rechnete er mit allem. Im selben Augenblick, als Lori Ludwig ins Büro trat, schien im Gastraum eine Bombe zu explodieren. Es war wie ein Torschrei in einem Fußballstadion, in dem das Heimteam Sekunden vor Schluß das spielentscheidende Tor erzielt hatte. Die Leute schrien, als würden sie irre werden. Stühle polterten, Geschirr zerbrach, Gläser zerplatzen. Und immer wieder Entsetzensschreie. Kreuzer sprang auf. Die Zigarette fiel ihm aus der Hand und brannte ein Loch in die Auslegeware. Er achtete nicht darauf. Er stürzte hinaus, stolperte über die geriffelten Fliesen der Küche, rannte weiter durchs Kellneroffice zur Tür den Gastraumes. Die Köchin rannte ihm hinterher. Das Gebrüll ebbte gerade ab, und Kreuzer hörte die Stimme von Dr. Schulz, dem bekannten Physiker. Dr. Schulz schien außer sich zu sein. Er schwenkte eine kleine Plastiktüte und schrie in die Menge: »Ich habe den Beweis, Herrschaften! In dieser Höllenkneipe wird das Fleisch von Menschen verkauft!« Im Gewölbe des Cafes Frankenstein hallte das Echo der darauffolgenden Schreie tausendfach zurück. Panik brach aus. Im Büro des Küchenchefs läutete das Telefon, doch keiner nahm ab. *
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Irgendwas mußte schiefgelaufen sein. In eine Wolke weißlichen Nebels nahm ich die Gestalt von Heike Kreuzer wahr. Die elektrisierende Rothaarige stand mitten im Zimmer, hatte einen Telefonhörer in der Hand und wurde von Sekunde zur Sekunde nervöser. »Nehmt endlich ab, ihr Idioten?« fauchte sie. Mein Mund war so trocken, daß ich ein paarmal schlucken mußte, bevor ich ein Wort herausbrachte. »Ihr Freund Haarmann scheint bereits ein anderes Rendezvous zu haben«, wisperte ich. Sie fuhr herum, starrte mich wütend an. »Sie haben ja immer noch die große Klappe!« Ihre Augen wurden zu Schlitzen. »Wieso auch nicht? In Gesellschaft einer schönen Frau fühle ich mich immer wohl.« »Sie sind unverbesserlich, Hellmann. Dabei haben Sie weiß Gott keinen Grund dazu, optimistisch zu sein. Wenn sich Haarmann um sie kümmert, wird Ihnen das Lachen gründlich vergehen.« »Pah«, sagte ich geringschätzig. »Ihr Busenfreund kann mir gestohlen bleiben. Ich bin schon mit ganz anderen Kreaturen fertig geworden.« Den Hörer in der Hand, trat sie einen Schritt auf mich zu. Sie zitterte, aber nicht, weil sie fröstelte, sondern weil sie stocksauer war. Offenbar hätte sie es am liebsten gesehen, wenn ich vor ihr zu Kreuze gekrochen wäre, angstschlotternd um mein Leben gewinselt hätte. Aber nicht mit mir, Madame! »Sie haben eine Waffe«, preßte sie hervor. »Ich könnte Sie selbst…« Heike Kreuzer sprach nicht weiter. Ihr regelmäßiges Gesicht verzerrte sich. Es wurde zu einer Maske blanken Hasses. Ich spürte, daß die Schleier, die mich umgaben, lichter wurden. In meinen Armen und Beinen begann es zu prickeln. Das war ein gutes Zeichen. Nicht mehr lange, und ich war wieder Herr meines Körpers. Ich mußte Zeit gewinnen. Das Weibsstück kriegte es fertig und schoß mich vor lauter Frust mit meiner eigenen Pistole über den Haufen. »Lieben Sie Ihren Mann so sehr, daß Sie einen Mord für ihn begehen würden?« fragte ich. Heike Kreuzer knallte den Hörer auf und wählte erneut. Während sie auf den Anschluß wartete, sagte sie: »Wenn Sie tot sind, wird Matti frei sein. Dann hat er seine Verpflichtungen 77
erfüllt. Er wird viel Geld verdienen.« »Und Sie werden es ausgeben«, bemerkte ich. »Schweigen Sie!« brüllte sie. Ich tat ihr den Gefallen. Ohne daß sie es mitbekam, bewegte ich meine Finger, wackelte mit meinen Füßen und drehte kaum merklich den Hals. Sicher, noch war ich hilflos wie ein Neugeborenes, konnte froh sein, meine fünf Sinne halbwegs beieinander zu haben, aber in ein paar Minuten konnte es völlig anders aussehen. Ich hoffte inständig, daß mich dieser geheimnisvolle Haarmann nicht in meiner jetzigen Lage auffand. Heike Kreuzer fluchte unladylike. Sie hielt den Hörer gepackt und giftete ihn an, als wolle sie ihn verschlingen. »Wer ist eigentlich Haarmann?« unterbrach ich die Stille. »Ein gedungener Mörder? Eine Flachzange wie die, die Sie mir bisher auf den Hals gehetzt haben?« Heike Kreuzers Augenlider zuckten. Offenbar fiel ihr ein, daß die bislang auf mich verübten Anschläge Flops im wahrsten Sinne des Wortes gewesen waren. Plötzlich erschien ein boshaftes Lächeln auf ihren Lippen. Von irgendwo ertönte ein Geräusch. Sie lauschte angespannt. Rasch wandte sie sich ab und ging in den Korridor. Jetzt hörte ich es auch. Jemand war an der Tür! Kam der Mann, der mich killen sollte? Ich mobilisierte all meine Kräfte, um aus dem Zweisitzer hochzukommen. Erfolglos! Ächzend fiel ich in die Polster zurück. Meine Muskeln waren wie gelähmt. Wenn nicht gleich ein Wunder geschah, würde sich in Kürze ein skrupelloser Mörder über mich hermachen. Heike Kreuzer debattierte an der Tür. Ich schöpfte Hoffnung. Mein Mörder schien es nicht zu sein. Möglicherweise war es ein harmloser Nachbar, der eine Zwiebel oder ein Stück Bratfett leihen wollte. Zu DDR-Zeiten war es gang und gäbe, sich mit Kleinigkeiten auszuhelfen. Einer war auf den anderen angewiesen. Sollte dieser Umstand mein Leben retten? Da schlug die Tür zu. Ich hörte gedämpfte Stimmen aus dem Korridor. Heike Kreuzer kehrte zurück. Sie hatte die Hände zu Fäusten 78
geballt und blinzelte mich verkniffen an. Hinter ihr trat ein Mann ein, den ich sofort wiedererkannt: Es war Thomas Torsten, der Lokalredakteur. Ich begriff, warum der Mann bei unserem Besuch in der Redaktion nicht die Wahrheit gesagt hatte. Heike Kreuzer hatte ein Verhältnis mit ihm. »Hallo, Herr Hellmann«, sagte Torsten aufgeräumt. »Ich glaube, wir alle sind einem entsetzlichen Mißverständnis zum Opfer gefallen.« »Was ist passiert?« fragte ich gelassen. »Sie sehen ja käseweiß aus, Torsten.« Der Redakteur fuhr sich mit der Hand über seinen Borstenschnitt. Nervös wie ein Huhn, das gleich ein Ei legen wollte. Derweil wirkte Heike Kreuzer wie ausgewechselt. Sie schien schuldbewußt und hochgradig verstört. Stumm starrte sie zu Boden. Jeglicher Haß, den sie mir gegenüber empfunden hatte, war verflogen. Dieser Torsten schien ihr etwas geflüstert zu haben. Etwas, das all ihre Pläne über den Haufen warf. »Spannen Sie mich nicht unnötig auf die Folter«, sagte ich zu Torsten. »Legen Sie schon los!« Er grinste breit, ging um den Tisch herum und blieb vor der Tür, die zur Küche führte, stehen, Umständlich nahm er seine teure Brille ab. Er betrachtete sie eine Zeitlang und entfernte ein unsichtbares Stäubchen. Dann hob er seinen Blick, sah mich an. »Sie hatten einen guten Riecher«, meinte er gedehnt. »Seit ein paar Minuten ist in der Innenstadt der Teufel los!« »Und wieso?« »Das Cafe Frankenstein ist aufgeflogen. Es wurde auf der Stelle geschlossen. Der Besitzer wurde verhaftet. Übrigens war Ihr Freund, der Herr Hauptkommissar Langenbach, auch mit von der Partie.« Mir fiel ein Stein vom Herzen. Doch ich gab acht, meine Gefühlserregung nicht zu zeigen. Es ist nicht gut, Gefühle öffentlich zur Schau zu tragen. »Tolle Neuigkeiten«, meinte ich cool. Torsten setzte seine Brille auf. »Und wissen Sie, warum die Kneipe dichtgemacht wurde?« »Sicher sagen Sie’s mir gleich.« 79
Torten schüttelte sich. »Das hochgepriesene Küchenkollektiv steht im Verdacht, Menschenfleisch aufgetischt zu haben.« Ich war platt. Eine derartige Scheußlichkeit hatte ich nicht für möglich gehalten. Torstens Augen bekamen einen seltsamen Glanz. Wahrscheinlich sah er bereits die morgigen Schlagzeilen in den Gazetten. Im Zimmer war es sehr still geworden. Jeder schien daran zu knabbern, die grauenerregende Wahrheit zu verdauen. Da klinkte jemand die Wohnungstür auf. Heike Kreuzer mußte vergessen haben, sie zu verriegeln, nachdem sie ihren Liebhaber hereingelassen hatte. Im Korridor ertönten Schritte, schwerfällig und dumpf. Ich ging jede Wette ein: Haarmann kam. Aber wieso erwärmte sich mein magischer Siegelring? War Haarmann etwa – kein Mensch? * Als der Neuankömmling eintrat, spannte ich alle Muskeln und murmelte mechanisch einen Bannspruch, den ich in Goethes Faust gelesen hatte. Möglicherweise erzielte ich damit ähnliche Wirkung wie gegen Mephisto. Aber der Winzling mit dem Kreuz eines Holzfällers reagierte nicht darauf. Schnaufend blieb er in der Türöffnung stehen und glotzte in die Runde. Die zerknitterte Plastiktüte in seiner Hand schaukelte. »Wieso hast du nicht angerufen, blöde Kuh«, schnarrte er Heike Kreuzer an. Dann blieb der Blick seiner stechenden Augen auf Torsten hängen. »Was haben Sie hier zu suchen?« knurrte er. Der Lokalredakteur nestelte an seinem Nasenfahrrad. Der Anblick des ungeschlachten Mannes, der ihm kaum bis an die Schulter reichte, verwirrte ihn anscheinend. Ich betete, daß ich bald meine Kraft wiederhatte. Wenn es zum Kampf mit diesem Zwergen-Kleiderschrank kam, würde ich jedes Quentchen brauchen. Das hatte ich im Gespür. Man sollte nie kleinwüchsige Menschen unterschätzen, denn auch in einem 80
kleinen Körper konnte die Kraft eines Giganten stecken. »Ich habe Sie was gefragt!« blaffte der kampflustige Gnom Torsten an. Er hatte sich dem hochgewachsenen Zeitungsmann genähert, stand jetzt bloß noch einen halben Schritt vor ihm. Torsten rang noch immer um Fassung. Seine Nasenflügel bebten. Er schaute von Heike Kreuzer, die beharrlich schwieg, zu Haarmann, der sich ihm wie eine Raubkatze näherte. Torsten räusperte sich nervös. Dann probierte er es auf die arrogante Tour. »Wer gibt Ihnen das Recht, mich einem Verhör zu unterziehen?« Mit erhobener Augenbraue blickte er auf den kleinen Mann, der seinerseits drohend zu ihm aufsah. Eisiges Schweigen herrschte im Zimmer. Durch die Stores an den Fenstern fiel das blutrote Licht der untergehenden Sonne. Im Zimmer machten sich Schatten breit. Gespannt verfolgte ich das Geschehen. Mit jeder Sekunde, die verstrich, kehrte ein Stück meiner Kraft zurück. Hoffentlich hielt Torsten noch ein Weilchen die Stellung. Doch im Nu machte Haarmann meine Hoffnungen zunichte. Seine Augen funkelten plötzlich wie Eissplitter. »Torsten!« schrie ich. »Passen Sie auf!!!« Der Redakteur prallte erschrocken zurück, als er die Klinge des großen Messers, das Haarmann wie durch Zauberei in der Klaue gepackt hielt, blitzen sah. Haarmann bleckte seine brüchigen Zähne, während er Torsten in Schach hielt. »Willst du wissen, was ich mit dir anstelle?« kicherte er. »Ich sage es dir, denn wenn es erst soweit ist, merkst du ja leider nichts mehr davon.« Torsten stand mit dem Rücken an der Wand. Ich sah, wie ihm der Angstschweiß ausbrach. »Ich verstehe nicht…« stammelte er. »Ich mache es wie der alte Fritz. Fritz Haarmann.« Der teuflische Zwerg war in seinem Element. »Schließlich ist er ein Teil von mir. Hör zu, Brilli. Wenn ich dich erledigt habe, lege ich ein schwarzes Tuch über deine Visage. Dann nehme ich ein Spezialmesser, öffne deine Bauchhöhle und tue deine Innereien in einen Eimer. Ich tunke das Blut…« »Aufhören!« schrie Torsten. »Hören Sie endlich auf! Sie sind ja 81
wahnsinnig!« Das Gelächter, das Haarmann ausstieß, klang wie ein Hagelschauer auf einer Natursteinterrasse. Er hob das Messer und ließ es wie einen Krummsäbel durch die Luft wirbeln. Er ergötzte sich an Torstens Todesangst. Jetzt sang er obendrein noch: »Warte, warte nur ein Weilchen. Dann kommt Haarmann auch zu dir. Mit dem kleinen Hackebeilchen. Und macht Hackefleisch aus dir!« Das Messer wirbelte immer dichter vor Torstens Kopf. Jede Sekunde konnte der finale Hieb erfolgen. Da gelang es mir, meinen Ring auf das siebenzackige Mal auf meiner Brust zu drücken. Vor Schmerz krümmte ich mich. Es war, als ob ein Kugelblitz über mich gerollt wäre. Mein Ring flimmerte in allen Farben. Die bleierne Schwere, die meinen Körper gefangengehalten hatte, wich einem gewaltigen Gefühl der Stärke. Ich verlor keine Sekunde. Während ich mich emporschraubte, riß ich meine SIG Sauer aus meinem Schulterholster. »Das ist der falsche Mann!« keuchte ich. Haarmann erstarrte, hielt mir seinen breiten Rücken zugewandt. Die Hand, die das Messer gepackt hatte, schien in der Luft zu versteinern. Rötliches Sonnenlicht spiegelte sich auf der Messerklinge. Es blendete mich ein wenig. »Laß dein Messer fallen, Teufelsbrut!« Mein Finger lag am Abzugsbügel. »Eine falsche Bewegung, und ich spicke dich mit blauen Bohnen!« Hinter Haarmann sah ich den Redakteur, der wie Espenlaub zitterte. Heike Kreuzer dagegen schien völlig unbeeindruckt. Möglicherweise hatte sie einen Schock und nahm überhaupt nicht wahr, was um sie herum passierte. Die Sekunden wurden zu Ewigkeiten. Plötzlich schrillte die Korridorklingel. Im selben Augenblick fuhr Haarmann um die eigene Achse und warf sein Messer nach mir. Der todbringende Stahl sauste mir entgegen. Ich schoß! Mehrmals! Der getroffene Haarmann wurde gegen den Redakteur geschleudert, riß Torsten zu Boden und blieb dann auf ihm liegen. 82
Torsten schrie auf. Seine Brille rutschte ihm herunter und fiel auf Haarmanns Gesicht. Mit entsetzengeweiteten Augen sah Torsten zu, wie Glas und Gestell ebenso zerschmolzen wie der Körper des Verruchten. Mühsam rappelte er sich auf und starrte mich an. »Das Messer«, japste er. »Es steckt in Ihrer Brust, Sie leben trotzdem…« »Gut beobachtet.« Ich zog das Messer aus dem siebenzackigen Mal und legte es auf den Couchtisch. Torsten rieb sich die Augen. »Ich trage eine messersichere Haut«, sagte ich selbstsicher, obwohl ich über diese Tatsache wohl selbst am meisten erstaunt war. Torsten sagte nichts. Entgeistert sah er zu, wie Haarmann zu Asche wurde. Die Klingel schrillte erneut. Ich ging zur Tür. Eine übergewichtige Frau mit roten Lockenwicklern, die obendrein einen blaugrün gestreiften Kittel trug, fragte, ob ich ihr wohl eine Tasse Mehl borgen könnte. Leider mußte ich ihr einen Korb geben. * »Mephistos Humor geht mir allmählich auf die Nerven«, sagte Pit Langenbach. Ich nickte. »Aber wer zuletzt lacht, lacht am besten. Wir haben’s ihm sauber gegeben.« Wir waren auf dem Weg nach Landfried, zu Ulrich, meinem Vater, um ihm über alles, was wir erlebt hatten, Bericht zu erstatten. Debbie Martens hatte die Operation gut überstanden. Es ging ihr den Umständen entsprechend gut. Außer einer Narbe würde sie keinen Schaden davontragen. Ich hatte sie heute in der Klinik besucht. Pit blieb stehen und staunte mich an. »Ich frage mich die ganze Zeit, woher Mephisto die Idee hatte, diesen Haarmann aus Leichenteilen zusammenzubasteln und ihn als Koch auf die Menschheit loszulassen.« »Vielleicht liest er«, meinte ich. »Oder möglicherweise war er es sogar selbst, der Mary Shelley auf den Gedanken brachte, ihren 83
Roman zu schreiben.« »Glaubst du?« »Ja.« »Aber wie kam Mephisto an Fritz Haarmanns Gene?« »Kinderspiel. Als Haarmann 1925 unters Fallbeil kam, wurde sein Kopf zu Forschungszwecken aufbewahrt. Sein Gehirn wurde im Gehirnforschungszentrum in München untersucht. Heute befindet sich der Schädel im Gerichtsmedizinischen Institut in Göttingen. Eine Prise Schwarze Magie und schwupps – hat ER, was Er braucht. Ich kann…« Mein Handy meldete sich. »Hallo, Mark!« flötete Tessa Hayden honigsüß. »Wo du auch sein magst, in einer Stunde bin ich bei dir. Und stell dir vor, du weißt doch, daß ich das Buch über die indischen Liebeskünste lange Zeit vermißt habe, nicht wahr? Mark, freu dich, ich hab’s wiedergefunden – bei Annette, meiner Schwester. Ich hatte es ihr geborgt und einfach vergessen. Aber jetzt ist es wieder da! Wir können da weitermachen, wo wir aufgehört haben. Hallo, Maaark? Freust du dich denn nicht auch?« »Doch, doch«, sagte ich dumpf und versuchte, das Erlebte abzuschütteln. »Bis gleich, Tessa.« »Ich freue mich schon so…«
ENDE Die Glocke ertönte. Mephistos Glocke! Und wer immer ihren ungewöhnlichen Klang hörte, verwandelte sich in eine schaurige Bestie. Glockengießermeister Melchior aus Hamburg, der sich mit der Hölle auf dieses Geschäft eingelassen und die Glocke gegossen hatte, war das erste Opfer! Doch er kam nicht mehr dazu, diese ungewöhnliche Partnerschaft zu bereuen…
Mephistos Glocke Hütet Euch vor ihr, damit es euch nicht genauso ergeht. Lest in einer Woche den 24. Hellmann-Roman von C.W. Bach und laßt Euch von ihm spannend unterhalten.
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