So nah bei dir
Maggie Price
Tiffany Duo 126–03 08/00 Scanned & corrected by SPACY
Diese digitale Version ist FREEWAR...
9 downloads
665 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
So nah bei dir
Maggie Price
Tiffany Duo 126–03 08/00 Scanned & corrected by SPACY
Diese digitale Version ist FREEWARE und nicht für den Verkauf bestimmt
-2-
Die Kripobeamtin Whitney Shea ermittel im Fall eines Serienkillers, der sechs Prostituierte umgebracht hat. Bei einem Einsatz, bei dem sie selbst als Lockvogel agiert, nimmt sie Andrew Copeland fest. Er wollte sie mit Lederriemen fesseln und fährt einen schwarzen Jaguar. Beides Kennzeichen des Mörders. Whitneys Freude, endlich einen Schritt weiter zu sein, weicht hellem Entsetzen, als sie erfährt, dass Copeland wieder freigelassen wird. Der Einfluss seines reichen Vaters hat dafür gesorgt. Wütend stürmt Whitney das Büro des zuständigen Staatsanwalts Bill Taylor. Er bietet ihr an, bei der Aufklärung zu helfen. Zsammen besuchen sie einen Ball im Hause Copeland, um sich Andrew näher anzuschauen. Bei jedem Tanz mit Bill spürt Whitney, wie heißes Begehren in ihr erwacht. Wie gern würde sie sich ganz diesen Gefühlen hingeben, doch ein neuer Mord verdrängt jeden Gedanken an das eigene Glück...
-3-
1. KAPITEL „Was, zum Teufel, soll das eigentlich?“ Die scharfe weibliche Stimme zerschnitt die klare Mainacht, als Staatsanwalt Bill Taylor gerade dabei war, die Tür seines schwarzen Lincoln aufzuschließen. Er drehte sich um und wurde von einem Blick aus tiefgrünen Augen förmlich durchbohrt. Die Scheinwerfer des Wohnmobils, das die Polizei als Kommandozentrale auf einem Parkplatz am Rande einer als Sündenmeile bekannten Straße abgestellt hatte, strahlten in das schmale hochwangige Gesicht der Frau. „Was meinen Sie bitte?“ fragte Bill sanft und musterte sie von Kopf bis Fuß. Sie sah erschöpft aus. Es war für alle ein anstrengender Abend gewesen. In einer verdeckten Aktion hatte die Polizei von Oklahoma City einige Polizistinnen als Prostituierte getarnt auf die Straße gestellt. Eine nicht geringe Anzahl von Männern war in die Falle getappt und festgenommen worden. „Ich möchte wissen, was das soll.“ „Das habe ich durchaus vernommen.“ Bill legte den Kopf schräg und sah in die vor Zorn blitzenden Augen, die seinem Blick standhielten. „Wenn Sie mir sagen würden, wovon Sie sprechen, könnte ich versuchen, Ihre Frage zu beantworten.“ Die Röte, die ihr in die Wangen stieg, war selbst unter dem großzügig aufgetragenen Make-up zu erkennen. Er musterte ihre vollen, in verführerischem Dunkelrot geschminkten Lippen. Eine leichte Brise strich beinahe zärtlich durch ihre schulterlangen rotbraunen Locken und wehte ein geradezu betäubendes weibliches Parfum zu Bill herüber. Er verspürte plötzlich eine höchst unwillkommene körperliche Reaktion. „Ich spreche von Andrew Copeland.“ Ungeduldig streckte und beugte die Frau die Finger mit den langen blutroten Nägeln. „Er war meine erste Festnahme heute. Und nun höre ich, dass die Staatsanwaltschaft ein ,besonderes Interesse’ an der -4-
Verhaftung hat. Also, was soll das?“ „Verstehe.“ Bill ließ seinen Blick abwärts gleiten. Ihr rotes Paillettentop verhüllte nur notdürftig die vollen gut geformten Brüste. Der schwarze Stretch-Minirock, kaum mehr als ein breiter Gürtel, betonte ihre schmalen Hüften und zeigte gebräunte lange Beine mit zarten Fesseln. Als Bill merkte, wie er das alles mit Blicken verschlang, zog er eine Augenbraue hoch. So eingehend hatte er seit langem keine Frau mehr angesehen. Ziemlich verwirrt lehnte er sich an den Wagen und schob den Schlüssel wieder in die Hosentasche. Hätte sie ihm nicht mitgeteilt, dass sie Polizistin war, hätte er sie locker für eine ausgekochte Prostituierte gehalten. Doch sie war ein Cop und kannte ihn ganz offensichtlich, während er keine Ahnung hatte, wer sie war. „Officer ... begann Bill. Er mochte es nicht, wenn er nicht wusste, wen er vor sich hatte. „Verzeihung, ich habe Ihren Namen nicht verstanden.“ Sie hob das Kinn. „Whitney Shea.“ Überrascht starrte er sie an. In dieser Aufmachung, mit den stark geschminkten Augen und dem kunstvoll zerzausten Haar hatte er sie tatsächlich nicht erkannt. Aber eigentlich kein Wunder, sagte er sich. Sie hatte keinerlei Ähnlichkeit mit der blassen, gehetzt wirkenden Frau, die er bei dem Prozess vor zwei Jahren jeden Tag im Gerichtssaal gesehen hatte. Während der Verhandlung hatte sie ihm direkt gegenübergesessen und inständig gehofft, dass der Richter dem Antrag des Staatsanwaltes nicht folgen würde. Vergebens. Niemand hätte ihm sagen müssen, dass der Ausgang des Prozesses ihr Leid zufügte - er hatte es mit eigenen Augen gesehen. „Officer Shea ... „Sergeant. Copelands Verhaftung war absolut rechtens. Ich würde gern wissen, worin dieses besondere Interesse der Staatsanwaltschaft besteht.“ Bill zog eine Augenbraue hoch. „Wie ich dem Lieutenant -5-
bereits gesagt habe, wurde Copeland auf freien Fuß gesetzt ...“ „Die Haftrichterin hat seinetwegen extra ihre Geburtstagsparty verlassen, damit er ihr vorgeführt werden kann. Copeland hat das Gefängnis nicht einmal von innen gesehen.“ „Selbst wenn, er wäre nicht lange darin geblieben. Als Stone Copeland von der Verhaftung seines Sohnes erfahren hat, hat er sofort seinen Anwalt angerufen und der wiederum hat die Richterin benachrichtigt.“ „Er hat auch mit Ihrem Boss telefoniert, richtig?“ Die steife Haltung ihres wohlgeformten athletischen Körpers, die grimmig aufeinander gepressten Lippen, der flammende Blick in ihren Augen alles zeigte ihre Empörung. „Der liebe Daddy alarmiert den Oberstaatsanwalt, nur damit sein Söhnchen nicht mit kriminellem Gesindel in Berührung kommen muss. Ist es nicht so?“ „Sie liegen falsch“, gab Bill gelassen zurück. „Copeland verfügt zwar über hervorragende Beziehungen, und es ist kein Geheimnis, dass solche Leute nun mal etwas vorsichtiger angefasst werden. Oberstaatsanwalt Harriman und ich haben aber streng darauf geachtet, dass juristisch alles seine Ordnung hat. Copeland hat eine hohe Kaution für seinen Sohn hinterlegt.“ Whitney warf wütend den Kopf auf die Seite, so dass der rote glänzende Ohrring ihre nackte Schulter berührte. „Sie brauchen mir nicht zu erklären, wie so etwas funktioniert.“ Hätte Bill sie nicht so genau angesehen, wäre ihm das flüchtige Aufblitzen eines Gefühls in ihren Augen entgangen: Schmerz. Er runzelte die Stirn. Seit der Verhandlung gegen Whitneys Vater hatte Bill Hunderte von Reaktionen im Gerichtssaal erlebt: Niedergeschlagenheit, Triumph, Hohn. Doch Whitney Sheas schmerzvolles Gesicht war ihm am lebhaftesten in Erinnerung, wie ihm plötzlich bewusst wurde. „Sie meinen also nicht, dass da jemand fünf hat gerade sein lassen?“ Die Frage beleidigte ihn. „Wenn ich nicht wollte, dass -6-
Gesetzesbrecher bestraft werden, wäre ich nicht Strafverfolger geworden.“ Er spannte die Kinnmuskeln. Es passte ihm gar nicht, dass sie ihn in die Defensive gedrängt hatte. Der Zorn in ihrem Blick legte sich etwas. „Nun gut, solange die Verhaftung nur nicht stillschweigend unter den Teppich gekehrt wird.“ „Das wird sie nicht.“ Bills Stimme klang barscher als beabsichtigt. Er atmete tief durch. „Sie haben Ihren Bericht geschrieben. Copelands Foto. ist gespeichert, sein Wagen ist beschlagnahmt und sämtliche persönliche Gegenstände sind verzeichnet. Was die Staatsanwaltschaft angeht, wurde das alles öffentlich, gemacht.“ „Ach ja? Es gab heute Nacht genau 50 Verhaftungen. Ich könnte wetten, dass morgen nur die Namen von 49 Personen in der Zeitung stehen.“ Bill hörte die Frustration heraus, und er verstand Whitney gut. „Vermutlich haben Sie Recht. Stone Copeland beschäftigt eine Riege von teuren und sehr gewieften Anwälten. Bestimmt hat einer davon schon den Zeitungsverleger angerufen.“ Whitney blickte an Bill vorbei und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. „Andrew Copeland ist ein gefährlicher Mann.“ Der unvermittelte Themenwechsel ließ Bill aufhorchen. „Übertreiben Sie da nicht etwas? Er ist heute zum ersten Mal in seinem. Leben mit dem Gesetz in Konflikt geraten.“ „Was macht Sie da so sicher?“ Whitney sah ihn wieder an, sie verzog die glänzenden Lippen zu einem zynischen Lächeln. „Wäre es nicht interessant zu erfahren, wie oft Daddy Copeland schon zum Telefon gegriffen hat, um dem Sohnemann aus der Patsche zu helfen?“ Das hatte Bill sich auch gefragt, als er Andrew Copeland kaum eine Stunde zuvor reumütig und zerknirscht vor der -7-
Richterin hatte stehen sehen. Doch er wollte sich nicht auf irgendwelche Spekulationen einlassen. Für ihn zählten allein die Fakten. „Ich tue nur meine Arbeit, genau wie Sie, Sergeant. Wir müssen uns an Tatsachen halten. Als Andrew Copeland heute Abend erwischt wurde, wie er eine Polizistin in Zivil zu käuflichem Sex aufforderte, haben wir ihn verhaftet. Soweit wir wissen, hat er nicht mehr verbrochen als die anderen Männer, die in unsere Freierfalle getappt sind. „Soweit wir wissen“, murmelte Whitney und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. „Und nachdem Daddy diesen kleinen Fehltritt behoben hat, kann Andrew seinen Abend weiterhin nach Belieben gestalten.“ Bill senkte den Blick auf ihre rot lackierten Zehennägel und die Riemchensandaletten mit den Stilettoabsätzen. Er war auf einer Ausstellungseröffnung gewesen, als sein Chef ihn angerufen hatte, um ihm mitzuteilen, dass die Polizei von Oklahoma City soeben Andrew Copeland verhaftet und der Anwalt des Seniors bereits die Räder der Justiz geölt hatte, um die sofortige Freilassung zu bewirken. Und Bill war es fast schon recht gewesen, dass sein Boss ihn deshalb ins Gericht beorderte. Er hatte die Vernissage zusammen mit Celeste besucht, eine von jenen Frauen, die seine Schwester ständig anschleppte, um sein Privatleben zu bereichern, wie sie meinte. Celeste war blond, schön, hatte die Figur eines Models und einen sinnlichen Blick. Und wie bei all den anderen hatte Bill nicht den Hauch eines Reizes verspürt. Die einzige Frau, an der er wirklich interessiert gewesen war, hatte ihn verlassen und einen anderen geheiratet. Die Liebe hatte ihm übel mitgespielt, und er hatte nicht die Absicht, das noch einmal durchzumachen. Zumindest nicht in absehbarer Zeit. Langsam ließ er den Blick an Whitney Sheas faszinierenden Beinen hinauf zu ihrem engen Minirock und -8-
dem glitzernden, gut ausgefüllten Top wandern. Die kalte Gereiztheit, die in ihrem Blick lag, gefiel ihm weit besser als irgendwelches Schmachten. Er sah sie eindringlich an. „Der Mann, den wir suchen, hat in drei Jahren sechs Prostituierte umgebracht. Der letzte Mord liegt noch keine Woche zurück. Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie Copeland in Verdacht haben, unser Mann zu sein?“ „Es ist ... ein Gefühl.“ Eine Falte erschien auf Whitneys Stirn, als missfiele es ihr, dass er ihre Gedanken las. „Kennen Sie die Einzelheiten?“ fragte sie nach einer Pause. „Wie dieser Abschaum von Mann die Frauen gequält und sie bei lebendigem Leib verstümmelt hat?“ „Ich habe die Akte noch nicht ganz gelesen.“ „Das sollten Sie tun.“ Whitney trat vor, so dass nur Zentimeter sie von ihm trennten. Durch ihre hohen Absätze war sie mit ihm auf Augenhöhe. „Wir suchen hier nicht nur einen Mörder, sondern ein sadistisches Monster. Falls Copeland es ist, werden Sie mehr zu tun haben, als nur auf die Korrektheit juristischer Abläufe zu achten.“ Bill wies auf die offene Wagentür. „Wenn Sie Beweise haben, dann steigen Sie ein. Wir fahren zum Gericht, und ich verfasse eigenhändig die Anklageschrift.“ Sie schürzte die Lippen. „Ich frage mich, ob er selbst dann in einer Zelle landen würde.“ „Das ist Sache des Richters.“ Bill zuckte die Schultern. „Hören Sie, mir gefällt es auch nicht, wie gewisse Leute bevorzugt werden. Aber vorhin bei Copeland waren mir die Hände gebunden.“ Sie neigte den Kopf, und die kastanienfarbene Flut ihres Haars fiel ihr über die Brust. „Das wollte er mit mir auch machen.“ Bill kniff die Augen zusammen. „Wie bitte?“ Sie lehnte sich leicht vor. Eine Brise wehte ihren -9-
aufreizenden Duft zu ihm, und für einen Moment verschwamm ihm die Umgebung vor den Augen. „Meine Hände ans Bett binden“, erläuterte sie, während, Bill das Verkrampfen seines Magens zu ignorieren versuchte. „Alle anderen Männer wollten von mir wissen, was ich ihnen Aufregendes zu bieten hätte. Copeland nicht. Dieser feine Knabe fuhr vor und erzählte mir, was er mit mir anstellen würde.“ „Ihre Hände fesseln.“ Bills Stimme war belegt. „Und die Füße. Er hat mir tausend Dollar angeboten, wenn ich mich fesseln ließe.“ Sie zuckte die Schultern. „Wenn Sie mehr von den abstoßenden Details wissen möchten, dann hören Sie das Tonband im Einsatzwagen ab. Wir haben ihn auch auf Video. Alle Frauenleichen zeigten übrigens Spuren von Lederfesseln an Händen und Füßen. Interessant, oder?“ „Sicherlich. Aber das reicht nicht aus, Copeland zu verdächtigen. Er ist bestimmt nicht der einzige Mann mit derartigen Neigungen.“ „Es gibt noch einen Hinweis. Bevor das dritte Opfer verschwand, hatte eine ihrer Kolleginnen einen schwarzen Jaguar in der Gegend gesehen. Bill dachte an den Polizeibericht von vorhin. „Copeland fuhr heute dieselbe Marke.“ „Vielleicht sogar denselben Wagen.“ „Kann sein. Muss nicht.“ „Hören Sie, Copeland ist doch kein pickelgesichtiger verdruckster Junge, der sich weibliche Gesellschaft kaufen muss.“ Ihre Stimme überschlug sich fast. „Er kommt zwar erst vom College, aber er ist mit allen Wassern gewaschen. Außerdem sieht er aus wie ein junger Gott. Der könnte sich einen ganzen Harem halten. Warum ist so einer auf Prostituierte aus?“ „Interessante Frage.“ In Whitneys Augen blitzte etwas auf, und sie legte die Hand - 10 -
auf ihre nackte Taille. „Eine von vielen, die ich beantworten werde.“ Sie kniff die Lippen zusammen und blickte zu einer Lagerhalle am Rand des Parkplatzes hinüber. Im trüben Licht musterte Bill ihr Profil, das zart und zugleich entschlossen wirkte. Sie holte scharf Luft und drückte stärker auf ihren Magen. „Haben Sie etwas?“ „Nein, nein.“ Sie schloss kurz die Augen und verharrte regungslos. Er hatte instinktiv das Bedürfnis, über die sanfte Haut ihrer plötzlich erblassten Wange zu streichen. „Geht es Ihnen nicht gut, Sergeant?“ „Warum sind Sie hier?“ Heftig wandte sie sich zu ihm herum. „Sie hätten dem Lieutenant auch telefonisch mitteilen können, dass die Haftrichterin Copeland freigelassen hat. Dafür hätten Sie nicht persönlich kommen müssen.“ Bill schwieg und beobachtete, wie der Wind mit den Locken auf diesen verführerischen nackten Schultern spielte. Er begriff, dass Whitneys abrupter Themenwechsel seine Aufmerksamkeit von ihr ablenken sollte. Ja, er hätte einfach anrufen und zu Celeste in die Kunstgalerie zurückkehren können. Nur hatte ihn sein Job einfach mehr interessiert. Mit einem ausweichenden Lächeln konterte er: „Sonst haben Sie keine Fragen?“ „Doch. Zum Beispiel, wer der Kerl ist, der sich Frauen von der Straße holt, sie vergewaltigt, foltert und ermordet. Und wie er das seit drei Jahren unbehelligt treiben kann.“ Die Erregung und der Zorn in ihrer Stimme rührten etwas in ihm an. Er begriff die emotionale Belastung von Polizisten, wenn sie einen Täter einfach nicht zu fassen bekamen. Auch er empfand den starken beunruhigenden Wunsch, etwas zu fassen zu bekommen - aber nicht einen Täter, sondern diese Frau. „Ich habe den Eindruck, Sie werden die Antworten darauf schon finden.“ - 11 -
„Der Kollege, der diesen Fall bis vor einem Monat bearbeitet hat, erlitt einen Zusammenbruch, weil er den Mörder nicht fassen konnte.“ „Ich weiß. Bill betrachtete Whitneys Hand auf ihrem Magen, die jetzt zur Faust geballt war. „Da wir gerade von Gesundheit sprechen, haben Sie nicht doch ...“ „Mein Partner und ich kriegen den Bastard. Ihr Blick war stahlhart. „Und dann liefern wir Ihnen Fakten, die selbst ein Copeland nicht unter den Teppich kehren kann.“ „Das wäre mir höchst willkommen. Gute Nacht, Sergeant.“ Bill atmete langsam aus, als er hinter das Lenkrad glitt. Whitney Shea war eine reizvolle und reizbare Frau. Eigentlich litt er doch noch am Scheitern seiner letzten Beziehung. Warum zog ihn diese Kratzbürste dann so an? Egal ob sie ihm gefiel oder nicht. Er wollte sich nicht gefühlsmäßig auf eine Frau einlassen. Noch nicht. Während sie den Rücklichtern des Lincoln nachblickte, spürte Whitney, wie die Schmerzen in ihrem Magen immer stärker wurden. Sie holte ein Tablettenröhrchen aus dem Gurtband ihres Minirocks und schluckte hastig drei Pillen. Die Hand auf den Leib gepresst, lief sie schwankend auf, ihren hohen Hacken ein paar Schritte und sank auf eine verwitterte Betonbank. Sie zog eine Grimasse angesichts des brennenden Schmerzes und der verunglückten Begegnung mit dem Staatsanwalt ihres Bezirks. Was, zum Teufel, soll das eigentlich? Unglaublich, aber mit genau diesen Worten hatte sie Bill Taylor konfrontiert. Sie musste den Kopf schütteln. Seit langem war das Temperament nicht mehr so mit ihr durchgegangen. Aber nach diesen sechs Morden konnte sie nicht stillhalten und einen Verdächtigen einfach davonkommen lassen, nur weil er der Sohn einer prominenten Persönlichkeit von Oklahoma City war. Was war dieses „besondere Interesse“ - 12 -
der Staatsanwaltschaft denn anderes als heimliche Absprachen, die den Mann jeglichem Zugriff des Gesetzes entzogen. Copelands Verhaftung sollte aktenkundig sein und seine Fingerabdrücke registriert werden. Und wie Bill Taylor versichert hatte, war dem so. Bill Taylor. „Ausgerechnet er“, murmelte Whitney. Sie hatte sich gar nicht erst nach dem Namen des Staatsanwalts erkundigt, der plötzlich am Einsatzort auftauchte, sondern war sofort auf den großen breitschultrigen Mann zugeschossen, um gegen Copelands Freilassung zu protestieren. Erst als er sich umdrehte, hatte sie Bill Taylor erkannt. Ihre polizeiliche Ausbildung half ihr, die Überraschung zu verbergen. Doch ihre Knie hatten gezittert, und die Kehle war ihr trocken geworden. Und dann war sie explodiert. Ihr Vater hatte sie immer geneckt, dass Pfefferschoten noch harmlos wären im Vergleich zu ihrem Temperament. Whitney schloss die Augen. Ihr Vater. Sie hatte sich längst mit seiner Schuld abgefunden. Er war Bezirkskommissar gewesen, ein Beamter, der sich bestechen ließ und öffentliche Gelder veruntreut hatte. Er hatte Verfehlungen begangen und musste dafür bestraft werden. Natürlich hatte die Staatsanwaltschaft keinerlei Veranlassung gehabt, auf eine milde Strafe zu plädieren. Zudem war es für den Staatsanwalt ein Wahljahr gewesen, und er hatte Härte an den Tag gelegt. Es wäre einem politischem Selbstmord gleichgekommen, einen korrupten Beamten zu schonen. Vom Verstand her war ihr das alles klar. Doch als Tochter litt sie wegen ihres Vaters. Wochenlang hätte sie neben ihrer wie versteinerten Mutter im Gerichtssaal gesessen und Bill Taylors gewandtes Auftreten verfolgt. Noch heute tat es ihr weh, wenn sie daran dachte, wie ihr Vater, der einst so vor Leben sprühte, als geknicktes Häufchen Elend auf - 13 -
der Anklagebank gesessen hatte. Vor wenigen Monaten war er aus dem Gefängnis entlassen worden, ein gebrochener Mann, dem jede Würde genommen war. Whitney legte den Kopf in den Nacken und blickte in den sternenübersäten Himmel. Hegte sie gegen Bill Taylor noch Groll? War sie deshalb wütend geworden, weil die Justiz unbarmherzig gegen ihren Vater vorgegangen war, während sie bei dem einflussreichen Copeland so butterweich wurde? Vielleicht. Sie konnte es nicht genau sagen. Und obwohl es eigentlich ihr Verdacht gegen Andrew Copeland war, der sie beschäftigen sollte, kreisten ihre Gedanken stattdessen um diesen unverschämt attraktiven Staatsanwalt. Whitney atmete tief durch und strich sich das Haar aus der Stirn. Sie machte sich nichts vor: Es war nicht der Cop in ihr, der Bill Taylors schmales attraktives Gesicht, die markanten Wangenknochen, den sinnlich geformten Mund genauestens registriert hatte. Nicht die Polizistin in ihr war alarmiert, als der Blick seiner klaren, intelligenten blauen Augen den ihren festhielt und die Scheinwerfer des Einsatzwagens goldene Lichter auf sein sandfarbenes volles Haar warfen. Sie hatte als Frau reagiert. Und jetzt saß diese Frau auf einer schäbigen Betonbank und atmete noch immer Bill Taylors würzigen männlichen Duft. Vor zwei Jahren hatte sie nur den gnadenlosen Strafverfolger gesehen. Heute hatte sie den Mann in ihm erkannt. Und das war das Letzte, was sie jetzt brauchen konnte. Sie schloss die Augen und horchte auf das Rattern eines Zugs in der Ferne und das blecherne Krächzen des Polizeifunks aus dem Streifenwagen. Da kamen Schritte näher. „Lass uns gehen, Partner.“ „Gleich, Jake.“ - 14 -
„Das war doch eben Bill Taylor, nicht? Bist du mit ihm aneinander geraten?“ Whitney sah auf. Jake Ford war hoch gewachsen und sehnig, er hatte glattes schwarzes Haar, große dunkle Augen und ansprechende Züge - ein richtiger Frauentyp. „Wie kommst du denn darauf?“ „Na, wie du auf ihn zugerauscht bist. Ein Anblick für Götter. Die Kollegen haben ihn sehr genossen.“ „Schön, dass ich euch ein bisschen Unterhaltung bieten konnte.“ „Hast du.“ Jake setzte sich neben sie und zog eine Schachtel Zigaretten aus der Brusttasche. Im Schein des Feuerzeugs musterte Whitney sein scharf geschnittenes Profil. Sie wusste, welcher Kummer sich hinter der lockeren Art und dem liebenswürdigen Grinsen verbarg. „Diese Glimmstängel werden dich noch umbringen“, stellte sie fest, als der Tabakrauch ihr in die Nase stieg. „Und dich dein Magengeschwür.“ „Es ist nur Sodbrennen“, korrigierte sie und merkte, dass sie noch immer die Hand auf den schmerzenden Leib presste. „Ja ja.“ Jake tat einen langen Zug. „Also, was hast du zu Taylor gesagt?“ Sie legte den Kopf schräg. „Du lässt nicht locker, wie?“ Er grinste. „Siehst du, Whit, das macht dich zu einem so guten Cop: Dir entgeht einfach nichts.“ Whitney warf ihr Haar zurück. „Ich habe ihn bloß gefragt, ob Copelands Verhaftung noch steht.“ „Und das in deiner üblichen besonnenen Art?“ „Na ja, ich war am Anfang vielleicht etwas aufgebracht“, gab sie zu. Jake schnaufte. „Was du nicht sagst.“ „Ich musste mich eben vergewissern, dass Copeland nicht ungeschoren davonkommt. Wir wissen doch alle, an welchen Fäden gezogen wird, wenn jemand mit Beziehungen verhaftet - 15 -
wird.“ „Kein Einspruch.“ Jake betrachtete seine glimmende Zigarette. „Glaubst du wirklich, Copeland ist der Mörder, den wir suchen?“ „Möglich.“ Sie sah ihrem Partner direkt ins Gesicht. „Auf mich wirkte der Junge wie aus dem Bilderbuch: ein netter junger Amerikaner.“ „Ich habe mit ihm gesprochen... besser, ich habe mir seine Anmache angehört. Ich kann mir nicht helfen, aber ich spüre da etwas.“ Sie zog die Stirn kraus und suchte nach Worten für ihre Empfindung. „Der Mann ist ungut, Jake. Ich will ihn überprüfen.“ „Wir müssen auch die anderen 49 Festgenommenen überprüfen, Whit. Da kommt Arbeit auf uns zu. Julia und ich haben gerade die Liste der Namen aufgestellt, als Taylor hier auftauchte.“ Jake blies den Zigarettenrauch aus. „Julia hat ihn bemerkt, aber es schien sie nicht sonderlich zu interessieren.“ Whitney sah auf. „Warum sollte es?“ „Sie war mal mit Taylor verlobt.“ Er sah sie schief an. „Bekommst du eigentlich nichts mit vom Klatsch im Büro?“ „Das Gerede interessiert mich nicht.“ Sie hatte sich nicht mehr darum gekümmert, seit ihr Vater verhaftet worden war. Jake zuckte die Schultern. „Die beiden waren eine ganze Weile zusammen“, erzählte er. „Julia löste die Verlobung, als Sloan Remington in die Stadt zurückkam. Zwei Monate später war sie mit Sloan verheiratet. Das ist jetzt fast ein Jahr her.“ Er nahm wieder einen Zug. „Die Sache muss Taylor ziemlich getroffen haben.“ „Ja.“ Whitney wusste nur zu gut, wie es war, verschmäht und verlassen zu werden. Sie kannte den herzzerreißenden Schmerz, wenn man von seinem Partner betrogen wurde. Sie erinnerte sich an ihre einsame Verzweiflung, als ihr Mann sie verlassen hatte. Um den Schmerz zu betäuben, hatte sie sich damals in die Arme eines anderen Mannes geflüchtet, eines Mannes, der - 16 -
rein gar nicht zu ihr passte und der ihren Schmerz nur noch vergrößerte. Selbst jetzt, fast zwei Jahre nach der Scheidung, wagte sie sich noch nicht wieder auf das unsichere Gebiet einer Liebesbeziehung. Da Whitney schwieg, zog Jake die Brauen hoch. „Sorgen, Whit?“ „Ich werde Copeland nicht aus den Augen lassen“, sagte sie hastig. „Es klingt sicher verrückt, aber ich habe das Gefühl, als wäre er heute Abend meinetwegen gekommen. Nur wegen mir.“ Die Tabletten wirkten endlich, und Whitney atmete auf. Entspannt strich sie sich über den Nasenrücken. „Ich werde mal ein bisschen in seiner Vergangenheit stochern, vom Zeitpunkt des ersten Mordes an.“ Jake streckte die jeansbekleideten Beine aus. Die Spitzen seiner Cowboystiefel zeigten senkrecht nach oben. „Wenn du meinst, Andy-Boy braucht besondere Überwachung, bin ich dabei.“ „Danke, Jake, nett von dir.“ „Klar doch.“ Er sah sie prüfend an. „Hat sich dein Magengeschwür beruhigt?“ „Sodbrennen“, murmelte sie und blickte zur Uhr. „Wollen wir noch etwas trinken, bevor wir Feierabend machen?“ „Warum schluckst du nicht gleich ein Glas Benzin und ein Streichholz hinterher?“ meinte er sarkastisch. „Das hätte dieselbe Wirkung auf deinen Magen wie Alkohol.“ Whitney knirschte mit den Zähnen. „Ich hatte an Milch gedacht.“ Frische kühle Milch, die ein Labsal für ihre Magenwände wäre. „Abgemacht. Darrold macht einen sagenhaften White Russian. Du musst nur den Wodka weglassen.“ Whitney blinzelte. „Wer ist Darrold?“ „Darrold Kuffs, der Inhaber von ‚Spurs’.“ - 17 -
„Ich gehe doch nicht in eine Western-Bar und bestelle Milch.“ „Dann bestelle ich eben für dich.“ Jake stand auf und trat seine Zigarette aus. „Ich bin dort mit Loretta verabredet. Sie hat versprochen, mir Lederklatschen beizubringen. „Ich hoffe, das ist ein Tanz“, bemerkte Whitney. Jake wackelte mit den Augenbrauen. „Ich hoffe, nicht.“ Whitney lächelte. „Ist Loretta deine neue Freundin?“ „So kann man es nennen. Seit einer Woche zumindest.“ Sie legte ihm die Hand auf den Arm. „Du brauchst wieder eine feste Beziehung, Jake.“ „Mir geht’s ganz gut so.“ „Wirklich?“ Er blickte über ihre Schulter zu der verlassenen Lagerhalle am Rand des Parkplatzes. „Ich habe keine Verpflichtungen, niemand verlangt etwas von mir. Ist doch herrlich.“ Whitney antwortete nicht darauf. Ein Jahr war es nun her, dass in jenem unglückseligen Flugzeug eine Bombe explodiert war und die Maschine in tausend Teile zerfetzt hatte. Jakes Frau und seine kleinen Zwillingstöchter waren an Bord gewesen. An jenem Tag war auch ein Teil von ihm gestorben. Seitdem meldete er sich häufig krank, und Whitney musste ihn oft decken, wenn er verspätet, unrasiert und mit blutunterlaufenen Augen zum Dienst erschien. „Du wirst doch nicht wieder trinken und anschließend auf dein Motorrad steigen?“ erkundigte sie sich besorgt. „Keine Angst, Darling.“ Kameradschaftlich legte er ihr den Arm um die Schulter, während sie zum Einsatzwagen gingen. „Loretta passt schon auf mich auf. Also, was ist, kommst du mit ins ,Spurs’?“ Whitney rieb sich die verspannten Nackenmuskeln. Im Stillen gestand sie sich ein, dass sie den ganzen Abend an den attraktiven Staatsanwalt denken würde, wenn sie jetzt nach Hause ginge. Keine angenehme Aussicht. - 18 -
„Gut, ich komme, ich möchte Loretta in Augenschein nehmen. Aber ich kann nicht lange bleiben.“ Jake zwinkerte. „Hast du noch eine Verabredung?“ „Ja, morgen früh um acht. Beim Staatsanwalt.“ Jake warf ihr einen anzüglichen Blick zu. „Hast du dich so gut mit Taylor ins Einvernehmen gesetzt, dass er dich morgen schon wieder sehen will?“ Whitney verspürte eine merkwürdige Erregung. War das Vorahnung? Mit erzwungener Sachlichkeit erwiderte sie: „Keineswegs. Ich treffe mich mit Rick Elliott. Wir wollen meine Aussage im Kinsey-Fall besprechen. Die Vorverhandlung ist in zwei Wochen.“ Während sie über den Parkplatz gingen, kaute Whitney nachdenklich auf ihrer Unterlippe. In den vergangenen zwei Jahren hatte sie oft vor der Glastür zu den Büros der Staatsanwaltschaft gestanden und Bill Taylors Namen auf der Scheibe gelesen. Von heute an würde sie jedoch nicht nur den Staatsanwalt, sondern vor allem den Mann damit in Verbindung bringen. Und das gefiel ihr überhaupt nicht.
- 19 -
2. KAPITEL Die zierliche Blondine kam wie eine Gewehrkugel in Bills Büro geschossen. Ergeben sah er von seinem Schreibtisch auf, er hatte mit diesem Überfall gerechnet. Wenngleich nicht hier und jetzt. „Du hättest mich gestern Abend anrufen sollen“, sagte sie vorwurfsvoll. „Wer hat dich hereingelassen?“ erkundigte er sich nüchtern, anstatt zu antworten. „Spielt das eine Rolle?“ „Ja. Ich werde die Person entlassen.“ Lächelnd schob sie die Stapel von Akten, Notizblättern und Computerausdrucken beiseite und hockte sich auf die Ecke des Schreibtisches. „Ich bin deine Schwester.“ Sie strich die knapp sitzende rote Kostümjacke zurecht. „Mich müssen sie hereinlassen.“ Widerstrebend klappte Bill den vergilbten Aktendeckel mit Zeitungsausschnitten zu. Staub wirbelte auf. Er lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und legte die Fingerspitzen aneinander. „Was willst du?“ „Ich muss unbedingt wissen, was du von Celeste hältst.“ „Sie ist interessant, anbetungswürdig und sieht umwerfend aus.“ Bill tippte mit seinem Stift auf den Aktendeckel. Tatsache war, dass er sich kaum an das Gesicht seiner Begleiterin von gestern Abend erinnern konnte. „Ein guter Start also.“ Nicole strich sich über das blonde Haar, das sie im Nacken zu einem komplizierten Knoten gesteckt hatte. „Weiter so. Dem ersten Abend müssen schnell andere folgen.“ „Wir waren kaum eine halbe Stunde zusammen, ich möchte es also nicht unbedingt einen Abend nennen.“ Das Entsetzen im Blick seiner Schwester entlockte Bill ein Grinsen. „Harriman hatte mich angerufen. Ich musste weg. Der Job, weißt du?“ - 20 -
„Die arme Celeste“, fing Nicole wieder an. „Hör mal, Schwesterlein, vielleicht solltest du deine Geschäftspraktiken mal überdenken. Andere Partneragenturen verkuppeln ihre Kundinnen auch nicht ständig mit dem Bruder der Inhaberin. Und fürs Protokoll: Ich bin überhaupt nicht an einer Beziehung interessiert. Nicole schnaubte aufgebracht. „Meinst du nicht, du solltest dich so langsam wieder nach einer Frau umschauen?“ „Meinst du nicht, du solltest dich so langsam wieder in dein eigenes Büro trollen?“ „Ich will dich nur daran erinnern, dass das Leben nicht allein aus Arbeit besteht. „ „Meins schon. Im Moment jedenfalls.“ Er spannte die Kinnmuskeln und zog eine Akte heran. „Ich habe zu tun, Nicole.“ Ungerührt griff sie nach einer eleganten Einladungskarte, die auf seinem Schreibtisch lag. „Sieh an, wie begehrt du doch bist. Du darfst mit dem Gouverneur und Stone Copeland an ein und demselben Abend anstoßen.“ „Die Einladung ging an Harriman. Er ist nach London geflogen und will, dass ich ihn heute Abend vertrete.“ Er nahm Nicole die Karte aus der Hand. „Es geht um beträchtliche Wahlspenden.“ Und vor allem um den Fall. Noch gestern Nacht hatte er seinen Chef wegen dieser Einladung angerufen. Er musste an die Vorkehrungen denken, die Harriman heute in aller Frühe mit Whitneys Vorgesetztem getroffen hatte - ob Detective Shea wohl bereits von diesem Vorhaben unterrichtet war? „Brauchst du eine Begleiterin?“ fragte Nicole zuckersüß und glitt von seinem Schreibtisch. „Wenn, dann finde ich schon selbst eine. Und jetzt ab mit dir, du Nervensäge.“ „Ruf mich an, falls ich dir aushelfen soll.“ Damit war sie aus der Tür. - 21 -
Bill betrachtete die in Goldschrift geprägte Einladung. Das große C in der oberen Mitte sprach deutlich von Stone Copelands Macht und Einfluss. Copeland ist ein gefährlicher Mann. Es war mehr als Abscheu, was Bill in Whitneys Augen gesehen hatte, als sie sich mit diesen Worten über den Sohn des Prominenten äußerte. Es war Instinkt - der sechste Sinn eines erfahrenen Cops. Bill glaubte Whitney, dass Copeland weitaus mehr vorgehabt hatte, als nur die üblichen Dienste einer Prostituierten in Anspruch zu nehmen. Er schürzte die Lippen. Er hatte Andrew Copeland gestern Abend nur kurz gesehen, während die Richterin die Formalitäten erledigte. Ein junger Mann - kaum zweiundzwanzig und frisch vom College -, höflich, kooperativ und sichtlich froh, die Nacht nicht in einer Gefängniszelle verbringen zu müssen. War sein reumütiges Getue nur Schauspielerei gewesen? Dieser Frage würde er nachgehen müssen. Nachdenklich schob Bill die Einladung unter die Schreibtischauflage. Er hatte noch weitere Fragen ... aber die betrafen eher eine grünäugige, langbeinige Polizistin. Bill beugte sich wieder über die Akte, die er vor Nicoles Überfall durchgesehen hatte. Er nahm einen Zeitungsausschnitt in die Hand. „Mutige Polizistin rettet Kind aus brennendem Haus“. Doch nicht die Story fesselte seine Aufmerksamkeit, sondern das Bild von Whitney Shea in Uniform, an einen Streifenwagen gelehnt, ein schluchzendes Kind in den Armen. Das Blitzlicht ließ einen breiten Rußfleck auf Whitneys Stirn scharf hervortreten. Die rechte Wange war blutüberströmt. Er blickte von Whitneys rührendem, versehrtem Gesicht zu ihrer linken Hand, mit der sie den Kopf des verängstigten Kindes an sich drückte. Deutlich war da ein Ehering zu sehen. Sie war verheiratet. - 22 -
Jetzt mal nicht enttäuscht sein, ermahnte er sich. Stirnrunzelnd versuchte er sich vorzustellen, wie Whitneys Ehemann wohl aussah. Unwillig klappte er die Akte zu. Hast du wirklich so viel Zeit, dich mit Sergeant Sheas Eheleben zu befassen? fragte er sich kritisch. Plötzlich empfand er es als große Narrheit, Harriman um jenen Gefallen gebeten zu haben. „Zu spät“, murmelte er. Es war gut, dass sie gebunden war. Er brauchte - er wollte jetzt keine Beziehung. Er musste diese Frau aus seinen Gedanken streichen. Was nicht einfach sein würde, denn sie würden demnächst eng zusammenarbeiten. Er atmete aus, griff zum Telefon und wählte die Nummer seiner Sekretärin. „Ja, Sir?“ „Myra, bitten Sie Sergeant Whitney Shea vom Morddezernat zu mir.“ Whitney holte sich noch einen Kaffee vom Automaten im Wartebereich der Staatsanwaltschaft und sah zur Uhr. Sie war extra überpünktlich zu ihrem Termin mit Rick Elliott erschienen, um dann von seiner Sekretärin zu erfahren, dass ihr Chef irgendwo im Stau steckte. Wie lange das wohl dauern mag? Ungeduldig rieb Whitney sich den Nacken. Sie fühlte sich so unendlich müde. Sie hatte das „Spurs“ erst weit nach Mitternacht verlassen. Und als sie im Bett lag, kreisten ihre Gedanken unablässig um Bill Taylor und verhinderten jeden Schlaf. „Reiß dich zusammen, Mädchen“, sagte sie sich und nippte an ihrem Kaffee, der kaum besser schmeckte als das braune Wasser, das sie im Morddezernat geboten bekamen. „Hallo, Zuckerpuppe, so sieht man sich wieder.“ Whitney sah auf. Na fantastisch. Jetzt auch noch dieser - 23 -
schleimige Anwalt. Es kam wohl immer alles auf einmal. „Gassway“, seufzte sie über den Rand ihres Styroporbechers hinweg. Peter Gassway war mittelgroß, mittelschwer - und hielt sich für unwiderstehlich. „Sie sollen mich doch Pete nennen.“ „Und Sie sollen mich Sergeant nennen.“ Er lachte und nahm sich einen Kaffee, während er ihren schmalen olivefarbenen Blazer und den engen Rock beäugte. „Sie sehen heute wieder hinreißend aus.“ „Lassen Sie mich raten, weshalb Sie hier sind.“ Sie zog die Nase kraus, als er gleich zwei Tütchen Zucker in seinen Becher ausleerte. „Sie wollen mal wieder eine Anklage wegen Mordes so verwässern, dass man am Ende meint, der Täter wäre nur bei Rot über die Ampel gegangen.“ „Ich bin heute wegen einem Raubüberfall hier.“ Er verzog die dünnen Lippen zu einem Grinsen. „Aber irgendwann darf ich sicher einen von Ihren Mördern verteidigen. Ich freue mich schon darauf, Sie in den Zeugenstand zu rufen.“ „Ich kann es kaum erwarten.“ Sie sah an Gassway vorbei. In diesem Moment betrat Bill Taylor den Warteraum. Whitneys Pulsschlag stand kurz still, nur um dann, umso heftiger wieder einzusetzen. Er sah sich im Raum um und hielt abrupt inne, als sein Blick auf ihren traf. Wenn er überrascht war, sie zu sehen, gab er es nicht zu erkennen. Das Klingeln der Telefone, das Summen der Computer, die Gespräche um sie herum - all das trat in den Hintergrund, so bewusst nahm sie die Gegenwart dieses Mannes wahr. Der perlgraue Anzug war ihm wie auf den Leib geschneidert, zu dem makellosen weißen Hemd trug er eine taubenblaue dezent gepunktete Krawatte. Gestern Abend meinte sie, es hätte an den Scheinwerfern des Einsatzwagens gelegen, dass Taylors Augen so tiefblau aussahen. Aber es stimmte. Sogar aus dieser Entfernung waren sie atemberaubend blau! - 24 -
Plötzlich beugte sich Gassway über sie und verstellte ihr den Blick. „Warum machen Sie mich nicht zu Ihrem Liebessklaven, Zuckerpuppe?“ „Nie im Leben, Gassway. Und wenn Sie mich noch einmal Zuckerpuppe nennen, kann ich nicht mehr für Ihre körperliche Unversehrtheit garantieren.“ „Hallo, Gassway“, sagte Taylor und trat neben ihn. „Oh, Taylor.“ Er schüttelte dem Staatsanwalt die Hand. Der senkte grüßend den Kopf. „Sergeant Shea.“ „Guten Morgen.“ Sie versuchte ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu bringen. „Ich warte auf Rick Elliott“, erklärte sie hastig. Sie wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, sie sei seinetwegen hier. „Ich weiß.“ Er lächelte freundlich. „Er steckt im Stau.“ Zu Gassway gewandt, sagte er: „Ich habe mit Sergeant Shea etwas zu besprechen. Sie haben doch nichts dagegen?“ „Keineswegs.“ Gassway nahm seine Aktentasche vom Boden auf und ging davon. „Die Idioten werden nicht weniger“, murmelte Whitney. Taylor zog eine Braue hoch. „Habe ich Gassway gerade richtig verstanden?“ Sie nahm einen Schluck Kaffee. Obwohl sie sich mit aller Kraft zusammennahm, machte Taylors Gegenwart sie nervös. Der intensive Blick seiner blauen Augen tat ein Übriges. „Wie?“ „Hat er Sie Zuckerpuppe genannt und sich als Ihr Liebessklave angeboten?“ „Richtig.“ Taylor verzog den Mund. „Dann bin ich wohl gerade noch rechtzeitig gekommen.“ Ich habe alles im Griff, redete Whitney sich ein, wobei ihr Herz laut pochte. Sie holte tief Atem. „Nur für Ihre Akten, Herr Staatsanwalt: Ich brauche keinen Schutz vor diesem Schürzenjäger. Mit dem komme ich noch leichter zurecht als - 25 -
mit einem zehnjährigen Handtaschendieb.“ „Ich dachte auch eher daran, dass Gassway Schutz vor Ihnen braucht.“ „Oh.“ „Aber ich werde in der Akte vermerken, wie durchsetzungsfähig Sie sind.“ Betont setzte er hinzu: „Ich merke mir nämlich alles, was meine künftigen Arbeitskollegen betrifft.“ „Ihre künftigen Arbeitskollegen?“ Zu seinem heimlichen Vergnügen genoss Bill das plötzlich aufflammende Misstrauen in Whitneys Blick. „Ganz recht. Diese Verhaftung gestern Abend hat uns nämlich auf eine Idee gebracht.“ Er vermied es, Andrew Copelands Namen zu nennen, solange sie sich in dem öffentlich zugänglichen Warteraum aufhielten. „Der Oberstaatsanwalt hat gewisse Vorkehrungen getroffen.“ Whitney hob das Kinn. „Vorkehrungen?“ „Vorkehrungen.“ Bill schob eine Hand in die Hosentasche und musterte Whitney gelassen. Die kastanienbraune Mähne von gestern Abend war jetzt in einem schlichten Zopf gebändigt, was die hohen Wangenknochen zur Geltung brachte. Ein Hauch Lidschatten betonte die grünen Augen, der dunkelrote Lippenstift den vollen Mund. Whitney trug ein schmal geschnittenes Kostüm, dessen Olivton ihrer Haut einen elfenbeinernen Schimmer verlieh. Es kribbelte ihm in den Fingern, über diese zarte Haut zu streichen. „Sie sagten doch, die Verhaftung sei aktenkundig.“ Ihre scharfe unnahbare Stimme riss ihn aus seiner Betrachtung. „Das ist sie auch. Ich habe mit Ihrem Lieutenant gesprochen. Ryan meinte, ich könnte es Ihnen gleich persönlich mitteilen, und sagte mir, dass Sie hier auf Elliott warten. Die genauen Einzelheiten bespricht Ihr Chef später mit Ihnen und Ihrem Partner.“ - 26 -
Sie fingerte am Riemen ihrer Schultertasche. „Wollen Sie mir diese ,Vorkehrungen` nun erläutern, oder soll ich Sie erst dazu vernehmen?“ Bill stellte fest, dass die langen blutroten Fingernägel verschwunden waren. Ihre eigenen Nägel waren unlackiert und auf eine zweckmäßige Länge gefeilt. Kein Ehering. „Lassen Sie den Gummiknüppel stecken, ich erkläre es Ihnen freiwillig“, meinte er trocken. „In meinem Büro.“ „Gut.“ Whitney warf den Styroporbecher in den Papierkorb und ging voran, wobei ihre aufregenden Beine und die schlanken Hüften mehr als einen Männerblick auf sich zogen. Bills Magen krampfte sich zusammen. Er schloss kurz die Augen und rief sich zur Vernunft. Wenn er nicht aufpasste, würde er mit dieser Frau Probleme bekommen. Gewaltige Probleme. Hoch aufgerichtet ging Whitney an den Büros vorbei, die sie fast alle schon von innen gesehen hatte. Nur mit dem Mann, dessen Schritte ihr jetzt in den Ohren klangen wie ihr eigener Herzschlag, hatte sie noch nie zu tun gehabt. „Möchten Sie noch einen Kaffee?“ erkundigte sich Taylor und ging nun auf gleicher Höhe wie Whitney. Ein Hauch seines männlichen Dufts streifte sie. Einen Moment lang fühlte sie, sich an den gestrigen Abend zurückversetzt, als sie denselben verwirrenden Duft gespürt hatte. Da war sie auf einmal kein Cop mehr gewesen, sondern eine Frau, die rein instinktiv auf einen Mann reagierte. Zu instinktiv, ermahnte sie sich, während sie die Empfindungen zu unterdrücken versuchte, die ihre Sinne vernebeln wollten. „Nein danke“, sagte sie kühl. Das Ende des Flurs weitete sich zu einem Empfangsbereich mit einem Schreibtisch, hinter dem eine adrette Frau im schwarzen Kostüm saß und geschäftig auf einen Computer eintippte. - 27 -
„Sergeant Shea, das ist Myra Irwin.“ Bill wartete, bis die Frauen sich begrüßt hatten. „Stellen Sie bitte keine Anrufe durch, Myra.“ „Ja, Sir.“ Bill deutete auf eine der beiden offen stehenden Türen. „Bitte, Sergeant.“ Whitney hatte sich Taylors Büro wahrhaftig anders vorgestellt. Aktenstapel lagen auf den Schränken und am Boden neben den zwei ledernen Besuchersesseln. Und auch auf dem Schreibtisch aus Massivholz türmten sich zentimeterhoch Ordner und Papiere. Wie konnte Bill Taylor vor Gericht so penibel wirken und eine solche tadellose Erscheinung abgeben, wenn in seinem Arbeitszimmer dieses Chaos herrschte? Sie warf ihm einen Seitenblick zu. Welche verborgenen Seiten mochte dieser nach außen so streng wirkende Strafverfolger noch besitzen? Er lehnte sich mit der Hüfte an die Schreibtischkante und wies auf die Besuchersessel: „Setzen Sie sich doch.“ „Ich stehe lieber. Also, was sind das für ,Vorkehrungen`? Und wie kommen Sie zu der Annahme, wir würden zukünftig zusammenarbeiten?“ Er neigte den Kopf. „Sie kommen gern sofort zur Sache.“ „Das vereinfacht vieles.“ Da sein intensiver Blick sie nervös machte, legte sie ihre Tasche auf einen der Sessel und begann den Raum näher in Augenschein zu nehmen. Nirgends war etwas Persönliches zu entdecken, keine Fotos, keine Urlaubsgrüße von Kollegen, keine Pflanzen. Kein Hinweis auf das Wesen dieses Mannes, dessen kühle blaue Augen sie verfolgten. Hatte jemals das Foto seiner Verlobten auf seinem Schreibtisch gestanden? Hatte Taylor unter der Trennung von Julia gelitten? Litt er womöglich immer noch? Kannte er den stechenden Schmerz, der einen beim Anblick gewisser Fotos überfiel? „Gut, Sergeant, kommen wir zur Sache.“ - 28 -
Das leise Mitgefühl erstarb, als sie seinen harten Blick auffing. Sie lehnte sich ans Fensterbrett und wartete ab. „Mein Chef und Ihr Vorgesetzter sind der Meinung, dass die Kommunikation zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei verbessert werden sollte. Von heute an wird jedem Team, das einen Mordfall bearbeitet, ein Staatsanwalt zugeordnet, der die Ermittlungen von Anfang an begleitet.“ Whitney warf ihm einen scharfen Blick zu. „Was genau meinen Sie mit ,begleiten’?“ Taylor verzog die Lippen, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Niemand will Ihnen dreinreden, Sergeant.“ „Bestens“, bemerkte sie kühl. „Der Staatsanwalt wird den Tatort besichtigen und zum Beispiel bei Durchsuchungen oder Vernehmungen sofort beratend zur Stelle sein. Wir denken an ein richtiges Teamwork.“ „Teamwork“, wiederholte Whitney. Die Idee als solche war nicht schlecht. All die unzähligen Stunden, die sie damit verbrachte, die Staatsanwaltschaft zur Beschleunigung gewisser Vorgehen zu bewegen oder einen juristischen Rat einzuholen ... Taylor verließ den Schreibtisch, zog sein Jackett aus und hängte es an die Garderobe. „Wenn wir direkt in die Untersuchung einbezogen sind, können wir später vielleicht auch der Verteidigung so manchen Wind aus den Segeln nehmen.“ Whitney betrachtete die breiten Schultern in dem blütenweißen Hemd, und ihr stockte der Atem. Ihr Blick ging abwärts zu den schmalen Hüften, den schlanken Schenkeln. Taylors Körper war ebenso eindrucksvoll wie sein Gesicht. Ihr Puls raste, sie wandte sich zum Fenster um. Es bot dieselbe Aussicht wie der Sitzungssaal drei Etagen höher. Während der Verhandlung gegen ihren Vater hatte sie oft dort hinausgestarrt und sich mit der Frage gemartert, warum dieser geliebte, - 29 -
bewunderte Mensch zum Gesetzesbrecher geworden war. Sie biss die Zähne zusammen. Jetzt hatte sie dasselbe Bild vor sich, während ein dummes, unsinniges Gefühl sie zu jenem Mann hinzog, der ein Teil der qualvollen Geschehnisse von damals war. „Wollen Sie gar keinen Kommentar dazu abgeben, Sergeant?“ fragte Taylor nach einer Weile. Whitney atmete tief durch und drehte sich um. „Was hat dieses Programm mit Copelands Verhaftung zu tun?“ Erleichtert stellte sie fest, dass ihre Stimme gleichmütig klang. „Nicht viel, falls er nicht unser Prostituiertenmörder ist. Sehr viel, wenn er es ist.“ Bill setzte sich in seinen Ledersessel und schien sich angesichts des Chaos auf seinem Schreibtisch völlig heimisch zu fühlen. „Und da Sie gestern Abend eine bestimmte Bemerkung machten, haben wir beschlossen, sofort mit dem Programm zu beginnen.“ „Welche?“ „Sie sagten, ich sollte mir mal die Akten von den bisherigen Morden durchsehen. Sie hatten völlig Recht. Wären mir das Tatmuster und die Aussage über den beobachteten schwarzen Jaguar bekannt gewesen, hätte ich Andrew Copeland genauer unter die Lupe genommen.“ Das Eingeständnis freute Whitney. „Harriman gibt uns also für den Prostituiertenmörder-Fall einen Staatsanwalt zur Seite.“ „Richtig.“ „Wen? „Mich.“ Whitney blinzelte verblüfft. „Sie sind Harrimans bester Mitarbeiter, Sie haben sicher Besseres zu tun.“ „Auch richtig.“ Er lehnte sich zurück und tippte mit den Fingerspitzen aneinander. „Zu Ihrer Information: Harriman hat mich nicht beordert. Ich habe mich dafür beworben.“ „Warum?“ „Aus mehreren Gründen. Erstens liegt mir dieses neue - 30 -
Programm am Herzen, ich möchte aktiv am Gelingen beteiligt sein.“ Whitney wandte den Blick nicht von ihm. „Zweitens?“ „Sie haben mein Interesse an dem Fall geweckt, Sergeant. Ich gebe eine Menge auf die Intuition von Polizisten.“ Er legte den Kopf schräg. „Ihr sechster Sinn gibt Ihnen etwas über Andrew Copeland ein. Ich möchte wissen, was dabei herauskommt.“ Obwohl Whitney sich geschmeichelt fühlte, gab sie abweisend zurück: „Ich könnte Sie telefonisch auf dem Laufenden halten.“ „Ich möchte den Verlauf der Ermittlungen lieber live miterleben.“ Bill beugte sich vor, zog die Einladungskarte hervor und reichte sie ihr. „Stone Copeland gibt heute Abend einen Empfang, um Wahlkampfspenden für den Gouverneur zu sammeln. Vermutlich ist sein Sohn auch da. Ich dachte, das könnte interessant für Sie sein.“ Whitney riss ihm die Karte fast aus der Hand. Der gesuchte Mörder war enorm clever, er hatte sich bislang durch nichts verraten. Falls Andrew Copeland dieser Mörder war, sollte er merken, dass Whitney ihn beobachtete. Er sollte ihren Blick im Nacken spüren, ihre ständige Gegenwart. Sie wollte ihn nervös machen, bis er einen Fehler beging. „Und wie“, bestätigte sie. „Danke für die Einladung. Jake und ich werden da sein.“ Bill hob die Brauen. „Jake?“ „Mein Partner Jake Ford. Das wird uns ein Festessen - in jeder Beziehung.“ Taylors Blick blieb kühl und gelassen. „Die Einladung gilt für zwei Personen, Sergeant. Und eine davon bin ich. Whitney fragte sich kurz, ob er sie hier gerade um ein Rendezvous bat. Unsinn. Dies war rein beruflich. „In Ordnung, ich komme.“ „Soll ich Sie abholen?“ Überrascht gab sie zurück: „Nein, natürlich nicht.“ „Okay. Ich möchte bis heute Nachmittag alle Unterlagen über - 31 -
diesen Fall in Kopie haben. Und Sie werden mir in Zukunft täglich berichten.“ Whitney faltete die Hände. „Zu Befehl, Sir. Jake oder ich werden Ihnen täglich Bericht erstatten.“ Bill kniff die Augen zusammen. „Wer von Ihnen ist bei diesem Fall federführend?“ „Ich.“ „Dann möchte ich die Berichte gerne von Ihnen hören. Umwege wären nur störend.“ „Wie Sie wollen.“ Bill blickte auf seinen Schreibtisch. „Wirklich?“ fragte er nach einer Pause. „Wirklich was?“ „Haben Sie nichts dagegen, mit mir zusammenzuarbeiten?“ Whitney hob die Schultern. „Als Cop lernt man, jeden als Kollegen zu akzeptieren.“ Taylor stand auf und kam auf sie zu. „Ich muss es wissen. Immerhin war ich an der Verurteilung Ihres Vaters beteiligt.“ Sie atmete langsam ein, um sich gegen das Stechen im Magen zu wappnen. „Er war schuldig.“ „Das wollte ich nicht hören.“ Er kam näher, sein Blick ließ ihren nicht los. „Haben Sie irgendwelche Vorbehalte gegen mich, Sergeant?“ Whitney sah zum Fenster. Dieser Ausblick hier würde sie immer an jenen Prozess erinnern. Das Urteil Bill Taylor zur Last zu legen wäre kindisch, unprofessionell und falsch. Dennoch war er der Staatsanwalt gewesen, der ihren Vater hinter Gitter gebracht und damit ihr Leben für immer verändert hatte. Ob sie das je vergessen könnte? „Ich habe nichts gegen Sie ... gegen eine Zusammenarbeit“, bekannte sie. Zögernd setzte sie hinzu: „Ich habe nur manchmal etwas gegen das ganze verdammte System.“ „Ich auch.“ Er schob eine Hand in die Tasche. „Und gestern Abend war Andrew Copeland genauso schuldig wie die anderen - 32 -
Männer, die in unsere Falle getappt sind. Doch sein Vater besitzt Einfluss und das System hat sich seinen Interessen gefügt. Das ist bitter, aber leider die Realität.“ Whitney nickte. „Und leider läuft der Mörder von sechs Frauen noch frei herum. Wenn unsere Zusammenarbeit dazu dient, den Mann hinter Gitter zu bringen, bin ich dabei.“ „Okay.“ Taylor lächelte ihr kurz zu und kehrte hinter den Schreibtisch, zurück. „Dann bis heute Abend.“ Sie nahm ihre Tasche und ging zur Tür. „Eins noch, Sergeant.“ „Ja?“ „Man erwartet uns in Abendkleidung.“ Whitney stellte sich Bill Taylor im Smoking vor. Diese breiten Schultern unter nachtschwarzem Tuch, glänzende Satinaufschläge über dem muskulösen Brustkorb... Sie nickte stumm und flüchtete.
- 33 -
3. KAPITEL Als sie in der Tiefgarage unter dem „Myriad“ Kongresszentrum aus ihrem Wagen stieg, hatte Whitney das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Neonlampen summten leise, während sie wachsam die parkenden Autos musterte. Es war niemand zu sehen und nichts zu hören, kein Geräusch, keine Bewegung in der weiten Halle, keine Schritte auf dem Betonboden. Dennoch verspürte sie Unbehagen. Sie kniff die Augen zusammen, spähte in die dunklen Ecken und tastete mit steifen Fingern nach ihrem Revolver in dem Abendtäschchen. Nur die Nerven behalten, sagte sie sich. Whitney war sich bewusst, dass sie fast eine Stunde zu spät zum Empfang kam. Sie und Jake hatten beim Durchsehen der Berichte über die fünfzig Männer, die gestern Abend verhaftet worden waren, vollkommen die Zeit vergessen. Als sie schließlich auf die Uhr gesehen hatte, war sie nach Haus geeilt, hatte geduscht und sich umgezogen. Auf ihrem Weg zum „Myriad“ hatte sie einige Verkehrsvorschriften recht großzügig ausgelegt, um nicht noch mehr Zeit zu verlieren. Sie bedauerte die verlorene Stunde, weil sie Andrew Copeland so ausgiebig wie möglich hatte beobachten wollen. Und nun wurde sie offensichtlich selbst beobachtet. Vorsichtig ging sie zwischen den Luxuskarossen hindurch. Die Absätze ihrer schwarzen Satinschuhe klapperten laut in dem höhlenartigen Gebäude. Whitney bekam eine Gänsehaut. Sie schaute durch Windschutzscheiben, in Rückspiegel, auf schimmernde Chromleisten, ohne das geringste Anzeichen einer anderen Person zu bemerken. Dennoch war da jemand. Das spürte sie. Gereizt rieb sie sich den Nacken. Okay, vielleicht war sie nur deshalb so nervös, weil vier Stockwerke höher Bill Taylor auf sie wartete. Der Mann hatte sie den ganzen Tag über beschäftigt, - 34 -
und das ärgerte sie. Whitney merkte, dass ihr die Kehle eng wurde. Ja, Taylor hatte sie getroffen, aber das musste nichts weiter heißen. Er war nicht der Einzige, der eine unglückliche Beziehung hinter sich hatte: Auch sie war durch die Hölle gegangen, nachdem sie ihren Mann mit ihrer besten Freundin im Bett überrascht hatte. Mit ihrer wunden Seele hatte sie verzweifelt Trost gesucht und hatte sich mit einem Mann eingelassen, der absolut falsch für sie gewesen war. Eine weitere Katastrophe. Diese niederschmetternden Erfahrungen hatten sie so stark verunsichert, dass sie auf ihre Urteilskraft in Bezug auf persönliche Beziehungen nicht mehr vertrauen wollte. Nur die Dienstmarke am Revers verlieh ihr noch ein wenig Selbstvertrauen. Zum Beispiel jetzt. Sie hob das Kinn. Ihre innere Stimme signalisierte Gefahr. Aber wo? Durch wen? Erleichtert entdeckte Whitney die Tür zu den Aufzügen. Sie umklammerte ihre Tasche und ging darauf zu. Im nächsten Moment hielt sie inne. Ein makellos polierter schwarzer Jaguar parkte mitten in der FeuerwehrAnfahrtszone. Dem Nummernschild nach zu urteilen Copelands Wagen. Sie blickte durch die getönte Scheibe ins Innere. Nichts Auffälliges war zu sehen. Was hätte Whitney darum gegeben, jetzt die Spurensicherung hier zu haben. Bei allen Leichen waren platinblonde Haare - lang und glatt - gefunden worden. Analysen hatten ergeben, dass diese Haare bei drei Opfern von derselben Person stammten. Die bei den anderen Leichen gefundenen Haare stammten von drei unterschiedlichen Menschen. Die Polizei ging davon aus, dass es sich um Perücken aus Menschenhaar handelte. Entweder trug der Mörder eine Perücke, oder er setzte sie seinen Opfern auf. Whitney legte die Hand auf die Motorhaube des Jaguars. Sie war heiß. Instinktiv ging sie in die Hocke und hielt unter den - 35 -
Bodenblechen nach Füßen Ausschau. Es roch durchdringend nach Motoröl. Sie spitzte ihr Gehör. Nichts. Doch da war jemand. Als sie sich aufrichtete, ging eben eine Fahrstuhltür zu. „Verflixt!“ Sie rannte hin und sah die Leuchtanzeige langsam nach oben wandern. Schnell zog sie ihre hochhackigen Schuhe aus und stürmte die Treppen hinauf. Sie musste wissen, wer sich in dem Lift befand. Bill nahm an der Bar den bestellten Scotch in Empfang und blickte sich im Ballsaal um. Er betrachtete die elegant gekleideten Gäste und die Kellner mit ihren Tabletts, fing Gesprächsfetzen auf, roch teures Parfum, nahm gedämpftes Lachen und im Hintergrund den Pianisten wahr, der eine gefühlvolle Melodie intonierte. Er unterhielt sich ein paar Minuten mit der Pressesprecherin des Gouverneurs. Dann wanderte er ziellos durch die Menge. Als er an der Eingangstür ankam, sah er zur Uhr. Eine Viertelstunde zuvor hatte Bill den uniformierten Officer an der Tür gefragt, ob Sergeant Shea vielleicht schon eingetroffen sei, ohne dass er es bemerkt hatte. Doch weder sie noch Andrew Copeland waren bislang gesichtet worden. Aller Vernunft nach besteht da keine Verbindung, sagte er sich. Aber dass bis jetzt weder die Jägerin noch der Gejagte aufgetaucht waren, beunruhigte ihn. Er nahm einen Schluck Scotch und rief sich zur Besinnung. Wieso machte er sich Sorgen? Whitney Shea war eine ausgebildete Polizistin, die sich wahrlich selbst verteidigen konnte. Außerdem war sie nicht seine Untergebene. Wenn sie nicht kommen wollte, war das ihre freie Entscheidung. Er dachte an die dicken Aktenordner, die Whitney ihm am Nachmittag geschickt hatte. Unter den Fotos der sechs ermordeten Prostituierten waren Großaufnahmen gewesen, die - 36 -
Lederfesseln an geschwollenen rotfleckigen Hand- und Fußknöcheln zeigten. Die Gerichtsmediziner hatten festgestellt, dass alle Opfer gefoltert worden waren. Gestern Abend hatte Andrew Copeland Whitney tausend Dollar geboten, damit sie sich an Armen und Beinen fesseln ließe. Doch das bewies nichts. Viele Männer hegten BondageFantasien. Bill umklammerte sein Glas. Warum nahm ihm die Vorstellung, dass Copeland so mit Whitney umgehen könnte, die Luft zum Atmen? „Verflixt murmelte er. Seit er dieser Frau vor kaum vierundzwanzig Stunden begegnet war, ging sie ihm nicht mehr aus dem Sinn. Er wollte nicht an sie denken. Nicht alle paar Minuten. Er würde damit aufhören. Ganz einfach. Sofort. In diesem Moment sah er sie. Sie stand am Rand der Tanzfläche, atemlos und mit geröteten Wangen. Die Glut, die sich in Bills Körper ausbreitete, sagte ihm, dass es nicht gerade einfach werden würde, diese Frau aus seinem Kopf zu verbannen. Bedächtig trank er einen Schluck Scotch und nahm ihren Anblick in sich auf. Sie hatte den züchtigen Haarzopf von heute Morgen gelöst, und das weiche braune Haar fiel ihr schmeichelnd über Schultern und Brüste. Dezenter Lidschatten hob das Grün ihrer Augen hervor. Das schwarze Cocktailkleid schmiegte sich wie eine zweite Haut um diesen atemberaubenden Körper und ließ viel von ihren langen Beinen sehen, die in hauchzarten Strümpfen steckten, Die Beine einer Tänzerin. O Gott, wie er diese Frau begehrte! Sie rief Gefühle in ihm wach, die er nicht haben wollte. Nicht jetzt, und vielleicht auch nie wieder. Was er wollte, war, sie in die Arme nehmen. Bill war völlig durcheinander. Er biss die Zähne zusammen und ermahnte sich zur Vernunft. Er würde sich nicht von rein - 37 -
körperlichen Impulsen beherrschen lassen. Als er einem vorbeikommenden Kellner sein leeres Glas gab, entdeckte er Andrew Copeland, der sich in einem nachtschwarzen Smoking wie ein Panther von hinten an Whitney heranpirschte. Der Blick in Copelands Augen bewirkte, dass sich Bills Nackenhaare aufstellten. Dieser Mann betrachtete die Frau nicht nur, er verschlang sie geradezu. Whitney wusste, dass Copeland anwesend war. Neaves, der Cop an der Tür, hatte ihn aus dem Lift kommen sehen, kurz bevor sie aus dem Treppenhaus gestürmt kam. Wie sollte sie nun in diesem Gewühl den Mann finden? Frustriert nippte sie an dem Mineralwasser, das sie im Vorbeigehen an der Bar mitgenommen hatte. Ihr Puls hatte sich noch nicht von dem Sprint über vier Etagen erholt, ihr Magen rebellierte. Jenseits der Tanzfläche entlockte der Pianist den Tasten ein sanftes Liebeslied. Whitney musterte die tanzenden Paare. Copeland war nicht darunter. Nach Information von Neaves hatten Stone Copeland und der Gouverneur einen Tisch im hinteren Bereich des Ballsaals. Die Assistenten des Gouverneurs lauerten in dessen Nähe, um sofort eventuelle Spenden einzustreichen. Vielleicht sollte sie dort nach Andrew Copeland Ausschau halten. Und nach ihrem „neuen Kollegen“, wie Jake Bill Taylor nach dem Gespräch mit Ryan bezeichnet hatte. Eigentlich wollte sie den Staatsanwalt, der ihr den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen war, gar nicht sehen, aber schließlich war sie auf Grund seiner Einladung hier. Er hatte sogar ihren Namen an der Tür hinterlassen, damit Neaves sie nicht etwa abwies. Und sie würde ihn über die Ergebnisse der Vernehmungen der anderen Festgenommenen unterrichten müssen. Beim Gedanken an Taylor wurde ihr die Kehle trocken. Sie hob - 38 -
ihr Glas an die Lippen. Da verspürte sie plötzlich ein eisiges Gefühl im Nacken. Dieselbe unheilvolle Ahnung wie in der Tiefgarage, nur viel stärker. Whitney sah sich um. Nichts Verdächtiges. Aber sie spürte Andrew Copelands Blick genau wie gestern Abend. Auf ihrem Gesicht, dem Hals, den Brüsten, auf Bauch und Beinen. „Officer Shea.“ Die weiche Stimme ließ sie herumfahren. Vollkommen lautlos war Andrew Copeland dicht hinter sie getreten. Verflixt, wo kam er auf einmal her? Er lächelte. „Was für eine Überraschung.“ „Sergeant Shea“, korrigierte sie. „Und wieso sind Sie überrascht? Sie haben mich doch schon in der Tiefgarage gesehen.“ „In der Garage?“ Er zog die schwarzen Brauen zusammen. Whitney zwang sich zu Gelassenheit, während sie sein hübsches, auf fast romantische Weise übernächtigt wirkendes Gesicht aufnahm. Gestern Abend hatte Copeland in Polohemd und Khakihosen dem Idealbild des amerikanischen Boys entsprochen. Heute, im dunklen Smoking und mit glänzendem schwarzen Haar, gab er locker den erfahrenen Mann von Welt ab. „Ja, wo Sie vor zehn Minuten Ihren Jaguar in der Feuerwehrzone geparkt haben.“ Sein Blick wich ihr nicht aus. „Ich habe da nicht geparkt.“ „Ihr Wagen steht aber da.“ „Kann sein. Ein Assistent meinen Vaters hat den Jaguar gefahren. Ich hatte noch eine Verabredung zum Dinner mit einer neuen Bekannten, da schien mir die Limousine passender.“ Sein goldener Manschettenknopf blitzte auf, als er wie um Verständnis bittend die Hand hob. „Oder finden Sie das zu aufschneiderisch?“ fragte er vertraulich. „Das müssen Sie die Dame fragen“, gab Whitney zurück und ärgerte sich über ihr kurzes Zögern. Andrew lächelte gewinnend. „Damit wollen Sie mich bestimmt - 39 -
darauf aufmerksam machen, dass die Polizei lieber Fragen stellt, als sie zu beantworten.“ Für Whitneys gut trainierte Wahrnehmung spiegelte sich in Copelands glatten Zügen eine Mischung aus verwöhntem Jungen und bereits leicht verlebtem Frauenhelden. Schillernd war das Wort, das ihr dazu einfiel - viel Glanz und nichts dahinter. Aber sicher war er der Traumtyp so manch einer Frau. Doch falls er der gesuchte Mörder war, konnte der Traum in einem tödlichen Albtraum enden. „Ganz richtig“, sagte sie. „Cops, stellen gern Fragen. Wie ich gestern Abend.“ Andrew hob sein Champagnerglas und meinte charmant: „Ob Sie es glauben oder nicht, Sergeant, aber ich freue mich, Sie zu sehen.“ „So? Erwarten Sie von mir etwa eine größere Spende für die Schatzkiste des Gouverneurs?“ Andrew lachte leise. „Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen. Nein, eigentlich wollte ich Sie anrufen und mich bei Ihnen entschuldigen.“ Whitney kniff die Augen zusammen. „Wofür?“ „Für gestern Abend.“ Er legte den Kopf schief. „Ich hielt Sie für ein käufliches Mädchen und habe meine Wünsche wohl etwas zu deutlich ausgedrückt.“ Andrew beugte sich näher - sicher nicht mit erotischen Absichten, dennoch bekam Whitney eine Gänsehaut. „Ich, hoffe, Sie ordnen das Ganze als DummenJungen-Streich ein.“ Aalglatt, dachte sie und stellte ihr leeres Glas auf ein Tablett. „Ein Streich, der immerhin zu Ihrer Verhaftung führte.“ „Darauf bin ich keineswegs stolz. Ebenso wenig wie mein Vater.“ Zu höflich, zu reuevoll, zu ... kalt. Instinktiv spürte Whitney, dass unter der polierten Oberfläche ein Vulkan brodelte. Schweigend betrachtete sie seine Hand, als er die Champagnerflöte an die Lippen führte. Er hatte lange, kräftige - 40 -
gebräunte Finger. Die Gerichtsmediziner hatten festgestellt, dass alle Opfer erwürgt worden waren. Von diesen Händen? Heimlich ballte sie eine Hand zur Faust. Seit drei Jahren trieb der Mörder nun schon sein Unwesen, ohne sich jemals, verraten zu haben. Der Mann vor ihr war überlegen und gewitzt, keiner, der sich verunsichern ließ und dann einen Fehler machte. Doch vielleicht konnte sie seine Sicherheit ein wenig erschüttern. „Sie haben Ihr Universitätsstudium am 16. dieses Monats abgeschlossen“, stellte sie ausdruckslos fest. „Am 19. sind Sie nach Hause gekommen.“ Copeland schwenkte den Champagner in seinem Glas. „Ist das eine Frage?“ „Wo waren Sie am Abend des 20. Mai?“ fuhr Whitney ungerührt fort. An jenem Tag war das letzte Opfer zuletzt lebend gesehen worden. „Keine Ahnung.“ Andrew zuckte mit den Schultern. „Ich müsste in meinem Kalender nachsehen. Ich kann Sie anrufen.“ „Ich bin morgen ab acht im Büro.“ Sie nahm ihre Visitenkarte aus der Tasche. Ohne hinzusehen, steckte er die Karte ein und fixierte Whitney weiter. „Sie hören von mir.“ Dass ihn diese doch sehr persönliche Frage nicht zu stören schien, erhärtete ihren Verdacht. „Sergeant Shea.“ Bill Taylor berührte ihren Ellbogen. „Nett, Sie zu sehen.“ Whitney wollte etwas erwidern, aber ihr stockte der Atem. Taylor bot im Smoking einen so umwerfenden Anblick, dass jede normale Frau auf der Stelle schwach geworden wäre. Diese breiten Schultern. Das scharfe Profil, das im hellen Licht der Lüster wie aus Stein gemeißelt schien. Und das hintergründige Lächeln, das von seinen Lippen bis in diese faszinierenden blauen Augen ausstrahlte. Mit der Hand an Whitneys Ellbogen nickte Bill Copeland zu. - 41 -
„Mr. Taylor“, sagte Andrew. „So trifft man sich wieder.“ „Und unter angenehmeren Umständen“, antwortete Bill und schüttelte Copeland die Hand. „Ich beschwere mich keineswegs über...“ „Andrew, Darling, hier steckst du!“ Whitney musterte die Frau, die auf Copeland zustürzte. Sie war Mitte fünfzig und hatte blondes, leicht ergrautes, sorgfältig gestyltes Haar. Ihr voluminöser Körper war in ein viel zu enges Glitzerkleid gehüllt. Die langen Nägel an den üppig beringten Händen, mit denen sie Andrews Arm umklammerte, waren ebenso rot wie ihr Kleid. Sie hauchte Copeland Küsse auf beide Wangen und drohte mit dem Finger. „Böser Junge, dass du so spät kommst. Dein Vater möchte dich mit auf den Fotos für die nächste Ausgabe haben.“ „Für dich tue ich doch alles, Xena.“ Die Frau nickte zufrieden, hängte sich bei Copeland ein und wandte sich Bill und Whitney zu „Andrew, du musst mich diesem reizenden Paar vorstellen.“ „Gern“, sagte Copeland freundlich. „Staatsanwalt Taylor, Sergeant Shea, dies ist Xena Pugh, Redakteurin bei ,Stadtgespräch’.“ „Uiii, Verbrecherjäger!“ rief Xena. Ihre Augenbrauen schossen theatralisch in die Höhe. Taylor ergriff ihre ausgestreckte Hand. „Ich lese Ihre Zeitschrift mit großem Vergnügen, Miss Pugh.“ „Xena, bitte.“ Sie betastete ihr Haar. „Lassen Sie mich nachdenken der Oberstaatsanwalt ist heute mit seiner Frau für drei Wochen nach England gereist. Demnach sorgen Sie währenddessen hier für Recht und Ordnung?“ „Ich versuche mein Bestes.“ Der Blick der Journalistin glitt zu Bills Hand an Whitneys Ellbogen. „Und was ist Ihr Bereich, Sergeant?“ „Mord und Totschlag.“ - 42 -
„Wie aufregend.“ Die Brillanten an Xenas gestikulierender Hand glitzerten. „Sie beide müssen mir unbedingt ein Interview geben. Das wird unsere Leser interessieren: Cop und Strafverfolger - tagsüber kämpfen sie Seite an Seite für Gerechtigkeit und nachts liegen sie sich in den Armen.“ Whitney richtete sich starr auf. „Hören Sie, wir sind...“ „Momentan nicht für Interviews zu haben“, beendete Bill ihren Satz und drückte Whitneys Arm. „Schade“, meinte Xena. „Aber ich gebe nicht auf. Jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Es ist kurz vor Redaktionsschluss, und ich muss Andrew für die Fotos entführen.“ „Wirklich schade“, bemerkte Whitney sarkastisch, nachdem die beiden entschwunden waren. „Ein Glück“, stellte Taylor fest. Er umfasste ihre Taille und zog sie auf die Tanzfläche.
- 43 -
4. KAPITEL „Moment mal, Mr. Taylor... „Bill“, berichtigte er. „Ich bin nicht hier, um zu tanzen, sondern um einen Fall zu lösen.“ Whitneys Blick folgte Andrew Copeland und Xena Pugh. „Das ist mir bewusst.“ Er genoss den Hautkontakt und hielt ihr Handgelenk fest. „Das Objekt unserer Observierung hat einen Fototermin mit dem Gouverneur. Bei all den politischen Rücksichten, die dabei zu nehmen sind, dauert das gut und gern eine halbe Stunde. Und wir müssen miteinander reden.“ Sie machte schmale Augen. „Dazu muss man nicht tanzen. „Natürlich nicht. Wir können auch nach draußen gehen.“ „Nicht, solange Copeland junior hier ist.“ Sie deutete auf den Beeper, den sie an den Schulterriemen ihrer Tasche geklemmt hatte. „Der Officer an der Tür funkt mir einen Code zu, sobald Andrew geht. Bis dahin rühre ich mich nicht vom Fleck.“ Bill legte die Stirn in Falten. Whitney hatte also vor, dem Mann auf den Fersen zu bleiben. Das war nicht nur juristisch bedenklich, sondern konnte auch gefährlich für sie werden. Aber wenn er das Thema ansprach, würde er sie nur verärgern. „Trotzdem, wir müssen uns dringend unterhalten. Ich möchte wissen, was Sie Neues herausgefunden haben.“ Er beugte sich näher zu ihr. „Und ich fürchte, dieses Gespräch erfordert einen ... intimeren Rahmen. Wenn wir tanzen, kann uns nicht gleich jeder zuhören.“ Ein paar Zentimeter weiter, und sein Mund würde ihren berühren. Die Vorstellung ging ihm durch und durch. „Meinen Sie nicht?“ fügte er leise hinzu. Sie öffnete die Lippen und nahm den Kopf zurück. „Na gut“, brachte sie hervor. Bill legte den Arm um sie und fand, dass ihre Körper perfekt zueinander passten. „Und für Ihre Akten, Sergeant - ich hätte es - 44 -
doch vorgezogen, Sie abzuholen“, bemerkte er und sah ihr in die Augen. „Dann hätte ich mich nicht eine Stunde lang sorgen müssen.“ Whitney legte den Kopf schräg, so dass ihre goldenen Ohrringe hin und her schwangen. „Sie haben sich Sorgen um mich gemacht?“ „Copeland ist hier ewig nicht aufgetaucht.“ Sie bewegten sich im Rhythmus der langsamen weichen Klaviermusik. Und im vollen Einklang ihrer Körper. „Ich hatte Angst, Sie wären mit ihm zusammengestoßen. „Ich bin Polizistin und kann mich verteidigen.“ „Das habe ich mir auch immer wieder gesagt.“ Gestern Abend war ihm ihr aufreizendes Parfum aufgefallen. Heute Morgen im Büro hatte Bill einen frischen frühlingshaften Hauch an ihr wahrgenommen. Jetzt trug sie einen klassischen Rosenduft mit einer leicht sündigen Note. Er verstärkte den Druck seiner Hand an ihrer Taille und zog Whitney näher an sich. „Aber ich war trotzdem unruhig.“ Sie entspannte ihre Hand an seiner Schulter. „Sind Sie Hellseher, Herr Staatsanwalt?“ „Wieso?“ „Ich wäre tatsächlich um ein Haar mit Copeland zusammengestoßen - unten in der Tiefgarage. Er hat mich beobachtet.“ Bilder von ermordeten Frauen gingen Bill durch den Kopf. Blutgetränkte Lederfesseln. Misshandelte Körper. Der Nachhall von Schreien. Er versteifte sich. „Was hat er gemacht?“ „Nichts. Ich habe ihn auch nicht direkt gesehen, aber ich weiß, dass er da war“, erklärte sie leise. „Die Motorhaube seines Jaguars war noch wann. Er hat mir weismachen wollen, ein Angestellter seines Vaters hätte den Wagen gefahren.“ „Und das nehmen Sie ihm nicht ab?“ Sie zog die Brauen zusammen. „Leider habe ich keinerlei - 45 -
Beweise. Andrew ist sehr gerissen.“ „Ich habe gesehen, wie er eben von hinten auf Sie zuging“, sagte Bill ebenso leise. „Die Blicke der Menschen, die ich im Gerichtssaal überführt habe, waren in der Regel weniger tödlich.“ Er streichelte mit dem Daumen ihre Handfläche und spürte die sanfte Wärme ihrer Haut. „Der Kerl bringt die Frauen reihenweise um, und wir finden rein gar nichts.“ Ihre grünen Augen funkelten. „Irgendwann wird er einen Fehler machen, das ist sicher“, versuchte er sie zu trösten. „Hat die Überprüfung der anderen Verhafteten nichts ergeben?“ „Wir haben die Namen durch alle Computer jagen lassen. Von denn fünfzig festgenommenen Männern sind acht schon einmal wegen sexueller Delikte auffällig geworden. Aber das ist eine langwierige Angelegenheit.“ „Sie konzentrieren sich also jetzt hauptsächlich auf Copeland?“ Sie nickte. „Heute habe ich ein paar Stunden im Zeitungsarchiv über den Klatschspalten der letzten drei Jahre verbracht. Ein hartes Stück Arbeit.“ „Kann ich mir lebhaft vorstellen.“ Whitney zuckte die Schultern. „Jedenfalls habe ich herausgefunden, dass Copeland vier Jahre an der Universität von Südkalifornien studierte. In den Ferien kam er immer nach Hause und ließ sich keine Party entgehen.“ „Und keine Gelegenheit, in die Zeitung zu kommen“, fügte Bill hinzu. „Richtig. Ich habe eine Aufstellung begonnen, ob er zur Zeit der Morde hier war.“ „Und wenn nicht?“ „Mörder dieser Art sind Wiederholungstäter. Ich habe die Polizei in Los Angeles gebeten nachzuprüfen, ob sie ungelöste Mordfälle haben, die unseren ähneln.“ „Ergebnis?“ „Das leichte Erdbeben kürzlich hat einige Computer abstürzen lassen. Der Kollege ruft mich wieder an.“ - 46 -
Der Pianist beendete ein Stück und ging ohne Unterbrechung in ein neues hinüber. Bill. genoss die Nähe von Whitneys warmen Körper und strich mit der Hand höher an ihrem Rückgrat hinauf. Wo der Seidenstoff ihres Kleides endete, spürte er ihre weiche Haut. Die Nervenenden seiner Fingerspitzen vibrierten. Befriedigt stellte er fest, dass ihre Pupillen weit wurden und ihre Augen die Farbe dunkler Jade annahmen. Dann richtete sie sich auf und trat zögernd einen Schritt zurück. „Ich weiß nicht ....“ Ihre Stimme stockte. „Das führt zu nichts.“ Er sah die Röte, die ihr in die Wangen stieg. „Vermutlich haben Sie Recht“, gab er leise zurück. Er sollte Whitney nicht begehren, vor allem, solange er seiner eigenen Gefühle nicht sicher war. Aber er tat es. Er wollte sie am liebsten verschlingen, mit Haut und Haar. Sie an einen ruhigen Ort bringen, wo er ihr das elegante schwarze Kleid ausziehen und sie genießen konnte, langsam, Zentimeter für Zentimeter, während sie ihre herrlichen langen Beine um seinen Körper schlang. Bill spannte die Kiefermuskeln. Warum gab ihm diese Frau das Gefühl, als würde er besinnungslos auf einen Abgrund zurasen? In diesem Moment meldete sich Whitneys Beeper. Sie blickte auf das Anzeigefeld. „Ich muss gehen. Copeland bewegt sich.“ Bill ergriff ihren Arm. „Wollen Sie ihn wirklich verfolgen?“ Ungeduldig blitzte sie ihn an. „Das letzte Mordopfer verschwand vor einer Woche von der Straße. Gestern Abend sprach Copeland mich an. Falls er der Mörder sein sollte, steht er unter einem enormen Druck und sucht nach einem neuen Opfer.“ Betont langsam machte sie ihren Arm los. „Es ist meine Aufgabe, ihn zu überwachen.“ Damit wandte sie sich ab. „Unsere Aufgabe, Sergeant.“ Bill drängte sich neben ihr durch - 47 -
die Menge. „Schon vergessen? Wir bearbeiten diesen Fall zusammen.“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Sie sind kein Polizist, Taylor.“ „Das schließt nicht aus, dass wir Partner sind. Und ich heiße Bill.“ Whitney wusste nicht, wie sie mit diesem Mann fertig werden sollte - es sei denn, sie hielt ihn auf Distanz. Das Problem war, dass er so dicht neben ihr stand. Der warme männliche Duft, der ihm zu Eigen war, umfing sie, als sie in einer Nische vor dem Ballsaal warteten. Wenige Meter entfernt plauderte Andrew Copeland am Lift mit anderen Gästen. Taylor flüsterte ihr ins Ohr: „Wir müssen uns beeilen, wenn wir vor Copeland in der Garage sein wollen.“ Sein Atem streifte ihre Wange. Die Hitze, die in ihrem Rücken aufstieg, strömte in jeden Muskel ihres Körpers aus. Gereizt gab sie zurück: „Wenn Sie sich überfordert fühlen, können Sie gern hier bleiben.“ „Ich glaube, ich komme schon klar, Sergeant.“ Da war sie nun hinter einem Mordverdächtigen her und musste sich mit irgendwelchen primitiven sexuellen Begierden abgeben. Das konnte sie wahrlich nicht gebrauchen. Whitney ließ Copeland kurz aus den Augen und sah den Mann neben sich an. Himmel, was für ein attraktiver Mensch. Stark, selbstbewusst, beherrschend. Wahnsinnig sexy in seinem Smoking. Und diese Augen! Sie konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Warum hatte sie auch mit ihm tanzen müssen? Sie leckte sich über die trockenen Lippen und dachte an das Verlangen, das sie in seinen intensiven blauen Augen gesehen hatte, als er sie in den Armen hielt. Dunkles verzehrendes Verlangen. So ein Blick konnte eine Frau zutiefst verunsichern - oder aber zutiefst anziehen. Sie hätte das Weite suchen sollen. - 48 -
Aber sie war geblieben und hatte voller Erregung die Versprechungen erkannt, die in seinem Blick lagen. Sie leugnete keineswegs ihre Reaktion auf den intimen Körperkontakt, auf den Druck seiner Hand auf ihrem nackten Rücken. Ihr Puls war in die Höhe geschossen. Verwirrt hatte sie durch den Stoff seines Smokings den sehnigen starken Körper gespürt, seine Glut und Verlockung. Ihr Magen verkrampfte sich. Okay, Taylor zog sie an, schließlich war sie eine empfindungsfähige Frau. Aber hier sprachen in erster Linie ihre Hormone, zumal sie lange nicht mehr mit einem Mann in Berührung gekommen war. Erinnerungen überfielen sie. Erinnerungen an Zeiten, als Gefühle ihr Denken regierten. Die Scheidung hatte so wehgetan, dass Whitney sich in eine neue Beziehung gestürzt hatte, die alles andere als gut für sie war. Hinterher war es ihr noch schlechter gegangen, und das sollte ihr nicht noch einmal passieren. Bill Taylor hatte sie in einem schwachen. Moment überrascht. In Zukunft würde sie ihn in Schach zu halten wissen. Die leise Glocke des Lifts riss sie aus ihren Gedanken. Zusammen mit den anderen Wartenden stieg Copeland ein. Whitney nickte. „Los jetzt.“ Neben Taylor eilte sie im Treppenhaus nach unten. In der Garage angekommen, stellten sie befriedigt fest, dass der Lift noch unterwegs war. „Sie müssen noch auf einer anderen Etagen angehalten haben“, meinte Taylor. „Ja.“ Der schwarze Jaguar stand noch am selben Platz. Die Kühle der Tiefgarage umfing sie, ihre Schritte hallten auf dem Betonboden nach. Außer Atem erreichten sie Whitneys Auto und stiegen ein. Sie ließ den Motor an und setzte den Wagen vorsichtig hinter den schwarzen Jaguar. Gerade als sie den Motor abgestellt hatte, ging die Fahrstuhltür auf, und die Gäste zerstreuten sich. Auf dem Weg - 49 -
zu seinem Jaguar holte Copeland aus der Innentasche seines Jacketts eine lange schlanke Zigarre. Ein goldenes Feuerzeug flackerte auf. Andrew lehnte sich an den Jaguar und rauchte gelassen. Ein Gästepaar trat zu ihm und plauderte einvernehmlich mit ihm. Die Frau lächelte und legte die Hand auf Copelands Arm. Der warf den Kopf zurück und lachte herzlich. „Ein charmanter Kerl“, murmelte Whitney verbittert. „Sergeant“, begann Taylor bedächtig, „darf ich Sie daran erinnern, dass einer der Vorteile unserer Zusammenarbeit in meiner sofortigen juristischen Beratung besteht?“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu. „Ich nehme an, gleich bekomme ich eine. „Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Sie Copeland nicht ohne weiteres verfolgen dürfen. Er könnte es als Übergriff auffassen.“ „Falls ich ihn verfolge“, gab Whitney zurück. „Aber wenn ich nun zufällig gleichzeitig mit ihm die Garage verlasse und in die gleiche Richtung fahren muss, kann ich auch nichts dafür.“ „Eine schwache Ausrede. Überlegen Sie lieber noch einmal.“ „Überlegen Sie lieber mal. Die Gerichtsmediziner meinen, der Mörder hat seine Opfer tagelang irgendwo versteckt gehalten, bevor er sie umbrachte. Er muss also einen sicheren Ort haben, wo er sich in aller Ruhe ans Werk machen kann.“ Sie sah Taylor in die Augen. „Und diesen Ort will ich finden.“ „Und Sie hoffen, Copeland führt Sie heute Abend dorthin.“ „Erraten. „ Bills eindringlicher, fast intimer Blick reizte sie. „Wenn er merkt, dass Sie ihm folgen, könnte er das als Belästigung auslegen. Im Endeffekt könnte so ein Verfahrensfehler seine Haut retten.“ „Ich werde nichts tun, was unsere Ermittlungen gefährden könnte.“ - 50 -
Bill legte den Arm auf die Rücklehne ihres Sitzes und wandte sich Whitney zu. Ihr Atem stockte. Sein Arm war zu nah. Er war zu nah. „Ich freue mich, das zu hören“, bemerkte er. „Da die juristischen Fragen geklärt sind, möchten Sie vielleicht zu dem Empfang zurückkehren. Bestimmt hat Xena Pugh inzwischen Zeit für das Interview.“ „Sie will uns beide interviewen.“ Er lächelte. „Sie wissen doch, wir sind das heldenhafte Rächerpaar. Wollen Sie nicht mit hinaufkommen?“ „Wir sind kein Paar. Das sollten Sie Xena klarmachen, wenn Sie mit ihr plaudern.“ „Das wird nicht heute sein, denn ich bleibe bei Ihnen.“ „Hören Sie, Taylor, ich habe Sie über sämtliche Fakten dieser Mordfälle informiert. Was wollen Sie denn noch?“ Er schob den Arm weiter herüber und spielte mit ihren Haarspitzen. „Das weiß ich nicht genau, und ich heiße Bill.“ Die Luft im Auto war plötzlich wie aufgeladen. Whitneys Puls geriet ins Stocken. Dieser Mann schaffte es, sie innerhalb von Sekunden aus dem Konzept zu bringen. „Aber sobald ich es weiß, sage ich es Ihnen“, versprach er. Dann spähte er durch die Scheibe. „Ich fürchte, wir vergeuden hier unsere Zeit.“ Whitney fuhr herum und sah, wie das Paar, mit dem Copeland sich unterhalten hatte, in einen jagdgrünen Luxuswagen stieg. Copeland selbst ging zum Lift zurück. „Verflixt!“ Sie griff nach ihrem Handy und tippte eine Nummer ein. „Wen rufen Sie an?“ wollte Bill wissen. „Die Zentrale. Sie sollen mich zu dem Kollegen vor dem Ballsaal durchstellen.“ Schnell gab sie ihre Anweisungen, und Sekunden später hatte sie Officer Neaves in der Leitung. „Copeland ist auf dem Weg nach oben“, erklärte sie. „Geben Sie mir Bescheid, sobald er auftaucht.“ - 51 -
Regungslos wartete sie und versuchte den Duft von Taylors würzigem Rasierwasser zu ignorieren. „Sergeant, der Lift ist nicht heraufgekommen“, berichtete der Officer nach einer Weile. „Und das Treppenhaus? Vielleicht ist er zu Fuß gegangen?“ „Fehlanzeige. Keine Spur von Copeland. Ich lasse ihn über Funk suchen und rufe Sie zurück, Sergeant.“ In Ordnung.“ Sie gab Neaves ihre Nummer, klappte das Handy zu und sah Taylor an. „Copeland ist nicht zu dem Empfang zurückgegangen.“ „Dann muss er in einer anderen Etage ausgestiegen sein.“ Whitney nickte und starrte zu dem schimmernden schwarzen Jaguar hinüber. „Er spielt Katz und Maus.“ „Sieht ganz so aus“, bestätigte Bill. Das Handy klingelte. Whitney meldete sich. „Shea.“ „Copeland ist im Erdgeschoss ausgestiegen“, berichtete Officer Neaves. „Er hat vor ungefähr zwei Minuten das Gebäude verlassen. Fitzpatrick steht am Haupteingang und hat einen Mann gesehen, auf den die Beschreibung passt. Copeland ist in ein Taxi gestiegen.“ „Hat Fitz sich das Taxiunternehmen gemerkt?“ „Leider nicht.“ „Danke.“ Sie schaltete das Handy ab und berichtete Taylor. Wenn sie Glück hatte, würde sie bis Mitternacht den Taxifahrer ausfindig gemacht haben, der Copeland aufgenommen hatte. „Andrew hat seinen Sportwagen hier“, sagte sie, zu Taylor gewandt. „Vor dem Eingang steht die Limousine seines Vaters samt Chauffeur. Aber er nimmt ein Taxi. Glauben Sie jetzt, dass der Bursche etwas im Schilde führt?“ „Vielleicht, aber Taxi fahren ist nicht verboten.“ „Das weiß ich selbst.“ Whitney umklammerte frustriert das Lenkrad. „Und wenn er nun der Mörder ist? Wenn er heute - 52 -
Nacht wieder zuschlägt?“ „Sie hätten sich nichts vorzuwerfen.“ „Doch. Ich sollte ihm auf den Fersen sein.“ Sie verspürte ein Stechen im Magen. „Zur Stelle sein, wenn er eine fremde Frau anspricht.“ „Seien Sie nicht so streng mit sich.“ Langsam, ohne den Blick von ihr zu lassen, berührte Bill mit den Fingerspitzen ihre Wange. Whitney lief eine Hitzewelle den Rücken hinunter. „Sie können nicht für alles und jeden verantwortlich sein.“ Whitney schloss einen Moment die Augen. Er bot ihr Trost. Aber sie wäre verrückt, wenn sie darauf einginge. „Ich muss los“, sagte sie und ließ den Motor an. „Wo steht Ihr Wagen? Ich setze Sie da ab.“ „Wie viele Taxiunternehmen gibt es in der Stadt?“ Sie warf ihm einen Blick zu. „Sechs bis sieben.“ Bill überlegte kurz, nickte und öffnete die Beifahrertür. „Dann sollten wir anfangen.“ „Womit?“ „Zu versuchen, das Taxi zu finden.“ Er verharrte in der offenen Tür und wandte sich noch einmal um. „Wir gehen am besten in Ihr Büro. Ich rufe die eine Hälfte der Unternehmen an, Sie die andere, das geht doppelt so schnell. Vielleicht haben wir danach sogar noch Zeit, irgendwo etwas zu essen.“ „Essen?“ „Sie haben doch garantiert nicht zu Abend gegessen.“ „Nein.“ „Na bitte.“ „Aber ich habe keinen Hun...“ Ein scharfer Schmerz schoss durch ihren Magen, unwillkürlich holte sie tief Luft. Automatisch griff, sie nach den Tabletten im Handschuhfach. Mit gerunzelter Stirn sah Taylor zu, wie sie zwei Pillen schluckte. „Haben Sie ein Magengeschwür, Sergeant?“ „Das behaupten alle“, murmelte sie. - 53 -
„Sie sollten zum Arzt gehen.“ „Es ist nur Sodbrennen. Whitney schluckte. „Und Sie sind schuld daran.“ Bill hob eine Augenbraue. „Kann ich etwas für Sie tun?“ „Nein danke.“ Sie sog scharf die Luft ein. „Und Sie brauchen mir mit den Taxiunternehmen nicht zu helfen. Das kann Jake machen.“ „Und wenn er nicht da ist?“ Whitney runzelte die Stirn. „Dann werde ich ihn zu finden wissen.“ „Umso besser, dann werden wir noch schneller fertig.“ Bill drückte den Sicherungsknopf an ihrer Tür. „Wir sehen uns in Ihrem Büro.“ „Das ist wirklich nicht nötig.“ „Ich weiß.“ Er schloss die Tür. Whitney zerkaute die Tabletten und sah der breitschultrigen Gestalt nach. Taylor bewegte sich wie ein Schatten, gewandt, wachsam und beherrscht. Als er außer Sicht war, sank sie in den Sitz zurück und rieb sich den schmerzenden Magen. Dieser Mann zog sie zu sehr an, beunruhigte sie mehr, als ihr gut tat. Sie sollte seine Nähe meiden. Irgendwie, musste sie es schaffen, die kaum begonnene Zusammenarbeit zu beenden, damit sie ihm nicht täglich begegnete. Sie atmete langsam aus. Ja, Rückzug war der vernünftige Weg. Nur leider reizte der Angriff sie weit mehr.
- 54 -
5. KAPITEL Drei Tage nach dem Empfang redete Bill sich noch immer ein, dass er nicht ernsthaft an einer Beziehung interessiert wäre. Er hatte nicht vergessen, wie es ihm den Boden unter den Füßen weggezogen hatte, als seine Verlobung in die Brüche ging. Er brauchte Zeit und Raum für sich. Aber das macht mir ja auch niemand streitig, sagte er sich, während er auf dem Weg in sein Büro war. Die einzige Frau, die er in den letzten acht Monaten näher in Augenschein genommen hatte, hielt ihn auf Distanz. Warum also schlug er sich Whitney Shea nicht einfach aus dem Kopf? Vor drei Tagen hatten sie im fast menschenleeren Morddezernat einander gegenübergesessen und Taxiunternehmen angerufen. Seitdem hatte er Whitney nicht mehr gesehen. Trotzdem ließ ihr Bild ihn nicht los. Es war nicht nur ihr Anblick in dem hinreißenden schwarzen Seidenkleid gewesen. Es waren ihre aufregenden grünen Augen, die Intelligenz und Entschlossenheit in ihren schönen Zügen. Die Erinnerung an einen Duft nach Rosen und Sünde. Es war, so schloss er, als er an seinen Schreibtisch trat, das ganze verflixte Weib. Auf Bills Schreibtisch stapelten sich die Berichte. Er setzte sich in seinen Sessel, strich sich über die Stirn und machte sich auf einige anstrengende Stunden gefasst. Myra kam herein und brachte ihm nicht nur eine Tasse Kaffee, sondern auch eine Menge an Nachrichten, die während seiner Abwesenheit für ihn hinterlassen worden waren. „Das meiste hat Zeit bis morgen. Anfragen von Kollegen und dergleichen“, sagte sie und ging den Zettelhaufen kurz durch. „Nur das hier ist seltsam. Eine gewisse Xena Pugh vom ,Stadtgespräch`. Sie bat um ein Interview mit Ihnen und Ihrer - 55 -
Partnerin vom Morddezernat. Ich wusste nicht, wen sie damit meinte.“ „Meine Partnerin scheint untergetaucht zu sein.“ „Sir?“ „Vergessen Sie’s.“ Er sah aus dem Fenster. Die Sonne hing wie ein roter Feuerball über dem Horizont. „War jemand vom Polizeidepartment hier?“ „Sergeant Jake Ford, gegen Mittag. Er sagte, es sei dringend, und ich habe ihm Ihre Handynummer gegeben.“ Bill nickte. „Er hat mich erreicht.“ Neben einer Landstraße war eine weitere ermordete Frau aufgefunden worden. Jake Ford hatte ihm die grässlichen Details mitgeteilt. Es war der dritte Tagesbericht in Folge, den Ford überbracht hatte. Von Whitney Shea hatte Bill Taylor nichts mehr vernommen. Er biss die Zähne aufeinander und versuchte die schwelende Verärgerung darüber zu verdrängen. Er hatte in der Sache nichts unternehmen können, weil er anderweitig in Anspruch genommen war. „Vielen Dank, Myra, Sie können Feierabend machen.“ Als seine Sekretärin gegangen war, stand er auf und trat ans Fenster. Vier Stockwerke tiefer spazierte ein Pärchen Hand in Hand über den Gehweg und genoss offensichtlich die Wärme des frühen Abends. Wärme. Drei Tage waren vergangen, seitdem sie miteinander getanzt hatten, und noch immer war ihm die Wärme von Whitneys Haut gegenwärtig. Ebenso spürte er noch den Nachklang des Verlangens, das ihn beim Kontakt mit ihrem Körper durchzuckt hatte. Bill war geradezu verrückt danach, sie wiederzusehen. Er fuhr sich durchs Haar. Ja, verrückt war er. Von Sinnen. Ein Narr. Whitney wich ihm aus, das war sonnenklar. Und er ließ es zu, denn er hoffte, mit der Zeit würde ihr Bild verblassen. - 56 -
Mit zusammengekniffenen Augen starrte er aus dem Fenster und versuchte sich auf einen blassblauen Chevrolet an der Ampel zu konzentrieren, auf einen streunenden Hund auf dem Trottoir - auf alles Mögliche, nur nicht auf Whitney Shea. Sie beschäftigte ihn den ganzen Tag und ließ ihn auch nachts keine Ruhe finden. Es war wie Hunger und Durst, und es machte ihn fertig. Wenn er die Sache nicht in den Griff bekam, würde sich das ehrgeizige Projekt der verbesserten Kommunikation zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei bald in nichts auflösen. Und das nur, weil die Dame der Meinung war, ihr Partner Jake sei für die Berichte zuständig. Nein, so konnte das Projekt nicht funktionieren. Außerdem hatte Whitney auch etwas anderes zugesagt. Bill ballte die Hände zu Fäusten. Er musste seine Gefühle unter Kontrolle bringen, musste die Frau und die Polizistin getrennt sehen. Es war die Frau, die er in den Armen gehalten hatte, die sein Blut in Wallung gebracht hatte. Es war die Polizistin, die ihn genauso zum Kochen brachte, weil sie die Abmachung, ihn persönlich zu informieren, nicht einhielt und die Zusammenarbeit torpedierte. Und da würde er ansetzen. Je eher, desto besser. Er ging zum Schreibtisch und wählte die Nummer des Morddezernats. „Sind Sie sicher, dass dies die Frau ist, die Sie vor drei Tagen hier bedient haben?“ Whitney tippte auf das Foto, der strahlenden sonnengebräunten Frau, deren geschundener Körper nun in der Leichenhalle lag. „Hundertprozentig.“ Olivia Logan stand neben dem kleinen Tisch, das Serviertablett auf die Hüfte gestützt, und strich sich das lockige rote Haar zurück. „Sie saß hier, genau an diesem Tisch. Ich habe ihr drei oder vier Drinks gebracht.“ Whitneys Sinne waren. geschärft wie die eines Spürhundes. - 57 -
Das „Encounters“ war der dritte der eleganteren Clubs der Stadt, den sie aufsuchte. Die Cocktailbar lag im hinteren Bereich der Hotelhalle und war wie ein englischer Pub eingerichtet. Die Gäste saßen auf bequemen Ledersofas an kleinen Tischen, während Frauen in knappen schwarzen Kleidern die Drinks servierten. Hinter der massigen messingbeschlagenen Bar aus Mahagoni füllte ein emsiger Barkeeper Eiswürfel in Gläser und mixte Getränke. „Drei oder vier“, wiederholte Whitney. „Was hat sie getrunken?“ „Scotch. Pur.“ „Kennen Sie ihren Namen?“ Olivia schürzte die geschminkten Lippen. „Den kennen Sie von der Polizei doch sicher besser.“ Sechs Stunden, nachdem Carly Bennetts nackte Leiche in einem von Unkraut überwucherten Straßengraben gefunden worden war, wusste Whitney in der Tat weit mehr als nur den Namen der jungen Frau. Zusammen mit Jake hatte sie Carlys Zimmergenossin in einem Wohnheim der Universität von Oklahoma vernommen. Dann hatten sie die traurige Pflicht erfüllt, die Eltern vom Tod ihrer Tochter zu unterrichten. Whitney hatte die Schränke des Mädchens untersucht, Bücher und Zeitschriften durchblättert. Sie hatte sich inzwischen ein recht gutes Bild von der Studentin gemacht. Nur den Namen des Mörders kannte sie noch immer nicht. Whitney betrachtete erneut das Foto und rieb sich geistesabwesend den schmerzenden Magen. Sie hatte gerade mit Jake zum Mittagessen gehen wollen, als sie von dem Mordfall erfuhren, und seitdem waren sie unterwegs. Jetzt war es sechs Uhr, ihr brannte der Magen. Sie holte die Tabletten aus ihrer Tasche und schluckte zwei davon. „Könnte. ich einen Rohkostsalat haben?“ fragte sie. „Sicher.“ Olivia schrieb die Bestellung auf und reichte den Zettel an eine Kollegin weiter. - 58 -
„Danke.“ Whitney sah wieder auf das Foto. „Sie wissen also nicht, wie sie heißt?“ „Nein, aber ihr Outfit werde ich nie vergessen. „Erzählen Sie.“ Olivia wedelte mit der Hand. „Sie hatte eine sagenhafte Figur, und sie war sichtlich stolz darauf. Ihre schwarze Lederhose saß so eng“ dass sie sie bestimmt mit dem Schuhlöffel anziehen musste. Und quer auf dem hautengen Stretchtop stand ‘Ich bin ein Luder’.“ Whitney schloss die Augen. Die Studentin Carly Bennett hatte eine Menge gemeinsam mit den ermordeten Straßenmädchen. „Ich kann Ihnen sagen, den Männern fielen fast die Augen aus dem Kopf“, fügte Olivia hinzu. „Kann ich mir denken.“ Whitney trank von dem Mineralwasser, das sie beim Hereinkommen bestellt hatte. „Sie sagten, sie kam allein, saß allein am Tisch und sprach mit keinem Mann länger. Hatten Sie den Eindruck, dass sie auf jemanden wartete?“ „Ich glaube nicht. Sie flirtete mit ein paar Gästen, aber. keiner setzte sich zu ihr. Nach einer Weile bat sie mich um Kleingeld zum Telefonieren.“ „Sie hat ihnen natürlich nicht zufällig gesagt, wen sie anrufen wollte?“ „Nein. Und sie kam dann auch nicht mehr zurück. Das hat mich sehr geärgert, denn sie hat ihre Zeche nicht bezahlt.“ „Um welche Uhrzeit war das?“ „Gegen halb elf.“ „Ich brauche eine Liste der Nummern, die von den Telefonen in der Hotelhalle angerufen wurden“, sagte Whitney. „Können Sie mir die beschaffen?“ „Mache ich. Mein Chef ist nur eben in die Küche gegangen, ich werde ihn nachher fragen.“ Olivia sah über die Schulter. „Ich muss langsam wieder an die Arbeit, Sergeant. Der Barkeeper guckt schon ganz böse.“ - 59 -
Whitney blickte zur Bar hinüber. „Wenn er Ihnen Ärger macht, sagen Sie mir Bescheid. Ich brauche nur die Kollegen von der Sitte um eine kleine Razzia zu bitten, dann arbeitet er vielleicht bereitwilliger mit der Polizei zusammen.“ Olivia grinste. „Ihr Stil gefällt mir, Sergeant.“ „Freut mich. Eins noch.“ Whitney holte einige Fotos aus der Tasche. „Erkennen Sie vielleicht einen von denen?“ Mit angehaltenem Atem wartete Whitney, bis das Mädchen alle angeschaut hatte. „Tolle Männer, durch die Bank“, murmelte Olivia. „Sie kommen mir alle irgendwie bekannt vor, aber am Dienstagabend war keiner von denen hier.“ „Danke.“ Leicht enttäuscht sammelte Whitney die Bilder ein. „Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich bitte an.“ Sie gab Olivia ihre Karte. „Wird gemacht.“ Das Mädchen steckte die Karte in die Tasche. „Aber ich sage Ihnen, an jeden von den Männern hätte ich mich erinnert.“ Sie sah auf und setzte vertraulich hinzu: „Genau wie an den sagenhaften Typen, der gerade hereinkommt.“ Olivia schnalzte leise und schüttelte ihr Haar. „Ich wünschte, der wollte zu mir.“ Whitney blickte zur Tür und fuhr zusammen, als sie Bill Taylor erkannte. Zielstrebig kam er auf sie zu - groß, breitschultrig und so verflixt attraktiv in seinem kaffeebraunen Anzug, dass ihre Hand bebte und sie etwas Wasser über die Fotos verschüttete. „Heute scheint Ihr Glückstag zu sein, Sergeant“, murmelte Olivia, als Taylor sich neben Whitney setzte. „Was darf es sein, Sir? „Das gleiche wie die Lady.“ „Kommt sofort.“ Mit einem leisen Seufzer eilte Olivia davon. Während Whitney das Foto trockentupfte, spürte sie Bills Blick fast körperlich. Das Stechen in ihrem Magen nahm zu. „Guten Abend, Sergeant.“ - 60 -
Sie zwang sich, in die beunruhigenden blauen Augen zu sehen. „Guten Abend.“ In den drei Nächten seit dem Empfang hatte sie kaum geschlafen. Noch jetzt spürte sie Taylors feste Hand auf ihrem nackten Rücken und das dunkle Verlangen, das er in ihr geweckt hatte. Sie wollte nichts mit diesem Mann zu tun haben, der sie mit so einer flüchtigen Berührung schon um den Schlaf bringen konnte. Doch da war er, Zentimeter entfernt. „Sind Sie hier Stammgast, Taylor?“ „Ich bin Ihretwegen hier.“ Der runde Tisch war winzig, der Raum beengt. Sobald Bill sich bewegte, berührten sich ihre Knie. Ihn schien es nicht zu stören, er ließ seinen Schenkel locker an ihrem ruhen. Whitney wurde es heiß in ihrem schwarzen Hosenanzug. Ihr Herz pochte so hart, dass sie kaum klar denken und noch weniger ein vernünftiges Wort herausbringen konnte. „Stimmt etwas nicht?“ erkundigte er sich, als sie beharrlich schwieg. „Ich frage mich, wie Sie mich gefunden haben.“ Behutsam rückte sie von ihm ab. „Ganz einfach, ich habe im Morddezernat angerufen. Der diensthabende Beamte sagte mir, dass Sie hier sind.“ „Dann kann ich mich also bei ihm bedanken“, sagte sie. „Hat er Ihnen nicht gesagt, dass ich im Dienst bin?“ „Ich bin auch ausschließlich dienstlich hier, Sergeant. Ihr Partner hat mich über den letzten Mord informiert. Eigentlich wäre das Ihre Aufgabe gewesen.“ „Ich war beschäftigt. Ich musste zum Fundort, die Identität des Opfers feststellen und ...“ „Ich verstehe“, gab er ruhig zurück. „Ich beanstande nur, dass es Ihr Partner war, der mich angerufen hat. Seit drei Tagen hält er mich auf dem Laufenden, aber das wissen Sie ja.“ „Jake ist äußerst zuverlässig.“ „Darum geht es nicht.“ Taylors Stimme war sanft, sein - 61 -
Verhalten gelassen, und doch spürte Whitney seinen zurückgehaltenen Ärger. „Wir wollen das neue Projekt der Zusammenarbeit auf den Weg bringen, und Sie haben sich einverstanden erklärt, Sergeant.“ Er schwieg einen Moment. „Ich hatte auch angenommen, die Sache mit Ihrem Vater wäre zwischen uns geklärt. Haben Sie noch Vorbehalte gegen mich?“ „Nein.“ Whitney schloss die Augen. „Er war schuldig. Sie haben Ihre Pflicht getan. Das akzeptiere ich voll und ganz.“ „Gut, das ist also nicht der Grund, warum Sie mich meiden. Welcher ist es dann?“ Weil ich nicht mehr klar denken kann, wenn ich dich nur sehe. Weil ich sonst mitten in die nächste Katastrophe hineinrenne. Mit trockenen Lippen nippte sie an ihrem Glas, während sie Taylor einen Seitenblick zuwarf. Sie bemerkte die harten Falten um die festen Lippen. Das dichte Haar wirkte zerzaust, als, hätte er es vor kurzem mit den Händen durchkämmt. Urplötzlich empfand Whitney den Wunsch, in dieses Haar zu greifen. Begehren machte sich in ihr breit. Sie wollte so gern nachgeben und nur Frau sein. Aber sie konnte nicht. Es ging einfach nicht. „Wollen Sie mir nicht antworten, Sergeant?“ „Bitte sehr, die Herrschaften. Einmal Mineralwasser, einmal Salat.“ Whitney war geradezu dankbar für die Unterbrechung. Nachdem die Bedienung sich entfernt hatte, spießte Whitney hastig ein Blumenkohlröschen auf die Gabel und schob es in den Mund. Bill betrachtete sein Glas. „Mineralwasser.“ Sie biss in ein Radieschen. „Ich, bin schließlich im Dienst.“ Er spähte auf ihren Teller. „Und Kaninchenfutter“, stellte er fest. „Wahrscheinlich das Vernünftigste für Ihr Magengeschwür.“ Verärgert zerteilte sie einen Karottenstift. „Es ist Sodbrennen.“ - 62 -
„Das ich angeblich verursacht habe.“ Er lehnte sich zurück und ließ die Eiswürfel in seinem Glas klirren. „Gehen Sie mir deshalb aus dem Weg?“ „Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, dass Sie erstaunlich starrköpfig sind?“ „Ich betrachte mich eher als beharrlich.“ Er trank einen Schluck. „Ich möchte wissen, warum Sie mein Projekt unterlaufen.“ Whitney rief sich zur Vernunft. In beruflichen Dingen war sie stets korrekt und direkt. Aber Taylor brachte sie aus dem Konzept, und das durfte sie nicht zulassen. „Ich habe keineswegs vor, Ihr Programm zu torpedieren“, sagte sie ruhig. „Von jetzt an bekommen Sie die Berichte von mir. Zufrieden?“ Bill sah sie durchdringend an. „Fürs Erste.“ Er wies auf die Fotos. „Darf ich mal sehen?“ Whitney lenkte ihre Gedanken zurück auf den Mord. „Carly Bennett, das letzte Opfer.“ Sie schob ihm das Bild zu. „Studentin. Ihre Zimmergenossin hat uns erzählt, dass Miss Bennett gern auf Männerfang ging, wenn sie knapp bei Kasse war. Das Mädchen war sexuell sehr freizügig.“ Auf Bills Fragen teilte sie ihm die weiteren Einzelheiten mit, die sie in Erfahrung gebracht hatte, und schloss: „Das Tatmuster passt genau zu den anderen Morden. Lederfesseln an Händen und Füßen und Blutergüsse am ganzen Körper. Der Tod trat durch Strangulieren ein.“ Taylor nickte ernst. „Wie lange mag der Mörder sein Opfer gequält haben?“ „Laut Gerichtsmediziner etwa eine Stunde.“ „Er hat sich also absolut in Sicherheit gefühlt.“ „Ja, das erhärtet unsere Theorie, dass er ein Versteck hat.“ „Er misshandelt seine Opfer offenbar immer länger.“ Taylor blickte zur Seite. Im gedämpften Licht des Clubs wirkten seine Augen dunkel, seine Wangen eingefallen. Whitney sah, wie - 63 -
sein Kinnmuskel zuckte. Als er sich ihr wieder zuwandte, lag etwas Kaltes, Hartes in seinem Blick. „Hat der Täter Spuren hinterlassen?“ „Keine Haare, kein Sperma, nicht einmal Schweißspuren.“ „Auch keine platinblonden Haare?“ „Carly war ja selbst blond. Aber morgen früh wird Sky Milano vom Labor mir mehr sagen können.“ „Der Kerl hat sieben Frauen umgebracht, und wir tappen im Dunkeln.“ Taylor betrachtete nachdenklich seine Hand auf dem Tisch. „Er könnte sogar hier in diesem Raum sein und sich ins Fäustchen lachen.“ Whitney sagte sich, dass seine Worte keine Kritik an ihr bedeuteten. Er wusste, wie viel Zeit und Mühe ihre Abteilung auf den Fall verwendet hatte. Und sie war ja ebenso frustriert wie Taylor. „Jake und ich haben begonnen, uns in den besseren Clubs umzusehen“, berichtete sie weiter. „Und ich hatte Glück. Bennett war am Dienstagabend hier.“ Bill schob sein Glas beiseite. „Am Abend des GouverneurEmpfangs.“ „Ja. Das Mädchen hat sich ungefähr eine Stunde hier, aufgehalten. Gegen halb elf ging sie telefonieren und wurde danach nicht, mehr gesehen. „ „Denken Sie, Andrew Copeland kam her und nahm sie mit?“ Whitney beugte sich näher. „Möglich.“ Sie beschrieb Carlys Kleidung. „Ein Top mit der Aufschrift ‘Ich bin ein Luder’ muss auf Männer, die es auf Prostituierte abgesehen haben, wie ein Magnet wirken.“ „Der Taxifahrer, der Copeland vor dem Myriad aufnahm, setzte ihn gegen zehn am Anwesen von Copeland senior ab“, sagte Taylor nachdenklich. „Das ist nicht weit von hier. Er hätte genug Zeit gehabt, herzufahren und Carly Bennett in der Lobby anzusprechen.“ - 64 -
„Vielleicht kannte sie ihn“, warf Whitney ein. „Womöglich war er es sogar, den sie anrufen wollte.“ „Das ist leicht festzustellen“, meinte Bill „Wir haben genügend in der Hand, um die Telefonate offiziell überprüfen zu lassen.“ „Ich habe die Aufstellung schon veranlasst.“ „Ich möchte die Überprüfung lieber hieb- und stichfest machen, damit die Verteidigung mir später nicht in den Rücken fallen kann. Nachher gehe ich mit der Liste in mein Büro und fülle den Antrag aus. Morgen früh können Sie ihn dem Richter vorlegen und die Telefongesellschaft angehen.“ Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. „Spricht das nicht für mein Programm der kurzen Wege, Sergeant?“ „Und für den Sieg der Bürokratie“, murmelte sie. „Wir Juristen leben von der Bürokratie“, gab Taylor trocken zurück. Er griff nach den anderen Fotos und sah sie durch. Seine Lippen wurden schmal. „Haben Sie diese Bilder auch herumgezeigt?“ „Ja, in drei Clubs. Jake hat ebenfalls einen Satz. „Sie stammen offenbar aus der Zeitung.“ Whitney schob ihren Teller weg und legte die Unterarme auf den Tisch. „Das ist nicht verboten. Wenn es ein Gesetz dagegen gibt, nennen Sie es mir bitte, Herr Staatsanwalt.“ Er beugte sich so nah herüber, dass sein Mund nur Zentimeter von ihrem entfernt war. Eine gefährliche Nähe. Whitney saß da wie gelähmt. „Es geht nicht um’s Gesetz. Diese Männer sind alle stadtbekannt. Wenn sie erfahren, dass ein paar Cops ihre Fotos herumzeigen, könnte jemand hellhörig werden.“ „Irgendwo muss ich doch ansetzen. Hier läuft ein Sadist herum, der Frauen quält und ermordet. Wenn ich dabei dem einen oder anderen auf die Zehen trete, kann ich es leider nicht ändern.“ „Seien Sie vorsichtig.“ Taylor legte seine Hand auf ihre. „Bitte.“ Whitneys ganzer Körper reagierte auf die Berührung; sie wollte ihre Hand zurückziehen. Er hielt sie fest, seine Augen - 65 -
wurden dunkel. „Ich glaube, wir müssen beide sehr vorsichtig sein“, setzte er hinzu. Das Blut pochte ihr in den Ohren und dämpfte die Geräusche der Umgebung. Und die Alarmsirenen in ihrem Kopf. Sie blickte auf seinen Mund, seine schönen Lippen. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie etwas sehnlicher gewünscht, als diesen Mund zu küssen. „Das habe ich vor“, brachte sie mühsam heraus. „Ich auch.“ Sie sah ihn an. „Geht es hier eigentlich um die Fotos?“ „Nein. Um viel mehr. Das wissen wir doch beide.“ Benommen schüttelte sie den Kopf. „Nein, ich...“ „Doch, Whitney. Wir haben miteinander getanzt. Ich habe dich in den Armen gehalten, dich berührt. Du weißt, was zwischen uns passiert ist.“ „Nichts, was...“ „Du hast die Anziehung gespürt. Den Funken.“ Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Es war so schwer, vernünftig zu bleiben. „Ich muss mich auf den Fall konzentrieren“, sagte sie schließlich. „Auf meine nächsten Schritte.“ „Bezieh mich ein. Ich bin dabei.“ „Na, ihr zwei scheint ja gut voranzukommen.“ Whitney fuhr hoch, als sie Jakes Stimme hörte. Die anzügliche Bemerkung ihres Partners ärgerte sie, genauso wie die Röte, die ihr in die Wangen stieg. „Wir hatten eine Diskussion“, erklärte sie und zog schnell ihre Hand aus Taylors Griff. „Das sieht man“, meinte Jake munter. Er nickte dem Staatsanwalt zu und angelte sich einen Stuhl, Es wurde so eng, dass Whitney näher an Taylor heranrücken musste. Ihr Bein berührte seinen Schenkel. Obwohl sie auf Distanz gehen wollte, schien sich der Abstand zwischen ihnen ständig zu verringern. - 66 -
„Hast du etwas herausgefunden?“ wollte Jake wissen. Whitney blinzelte. „Wie? Ich?“ Jake sah von ihr zu Taylor und zurück. „Über Carly Bennett.“ Er griff sich ein Radieschen vom Salatteller und biss hinein. „Du erinnerst dich, Whit? Oder hast du für so was gerade keine Zeit?“ „Bennett war am Dienstag hier“, sagte sie und überhörte zähneknirschend Jakes Anspielung. Sie gab ihm eine kurze Zusammenfassung dessen, was sie herausgefunden hatte. „Obwohl der Täter seine Opfer bisher immer auf der Straße angesprochen hat und nicht in Nobelclubs, ähneln sich die Muster“, stellte sie abschließend fest. „Und er scheint weitermachen zu wollen“, fügte Jake hinzu. „Jake Ford, Sie Herzensbrecher“, sagte Olivia, die an den Tisch kam. „Schön, Sie zu sehen. Das Übliche?“ Jake schenkte der Bedienung ein gewinnendes Lächeln. „Hallo, Olivia. Ja, das Übliche.“ Olivia reichte Whitney ein Kuvert. „Hier ist die Telefonliste.“ „Danke.“ Whitney gab den Umschlag an Taylor weiter, der der ihn einsteckte. „Ihr Tempo gefällt mir, Sergeant“, bemerkte er. Olivia wandte sich wieder Jake zu. „Ihr Drink kommt sofort, Sugar.“ Whitney legte den Kopf schräg. „Sugar?“ Jake lachte. „Ich bin eben ein süßer Kerl.“ „Vielleicht ein bisschen zu süß konterte sie scharf und dachte an die vielen Male, als ihr Partner verkatert zum Dienst erschienen war - oder auch gar nicht. „Kann sein.“ Doch der Blick, den sie von Jake auffing, war hart und kalt. Zum ersten Mal hatte sie Angst um ihn. Die Besorgnis ließ ihre Stimme schärfer klingen als beabsichtigt. „Bist du in sämtlichen Clubs der Stadt Stammgast?“ Ich glaube, an der Ecke von Stiles und Second Street ist noch - 67 -
einer, den ich nicht kenne“, meinte er lässig. „Das ist kein Scherz, Jake, du solltest wirklich ...“ „Ich habe schon eine Mutter, Whit, eine zweite brauche ich nicht.“ „Wie du meinst.“ Sie nahm ihre Tasche. Ich gehe.“ „Ich begleite Sie hinaus“, sagte Taylor und stand auf. „Nicht nötig.“ „Ich tu’s trotzdem.“ „Okay.“ Steif durchquerte Whitney an Taylors Seite die Hotellobby und trat hinaus in die warme Mainacht. In der Nähe plätscherte ein Brunnen, der Himmel war sternenübersät. Auf dem hell beleuchteten Parkplatz bildeten die hochpolierten Autodächer ein schimmerndes Meer. „Zwischen Ihnen und Ihrem Partner herrscht eine starke Spannung“, bemerkte Taylor. Erleichtert stellte Whitney fest, dass er zum Sie zurückgekehrt war. „Ach, das ist nichts weiter.“ Sie suchte in der Tasche nach ihren Autoschlüsseln. Sie verstummte, als Taylor sie am Ellbogen fasste und zu sich herumdrehte. „Genug, um Sie blass werden zu lassen und Ihre Hände zum Zittern zu bringen.“ Sein Blick schien in ihre Seele zu dringen. „Was ist zwischen Ihnen und Jake?“ „Es ist...“ Ihr Blick schweifte über die Autos. „Das ist privat.“ „Aber wenn es sich auf Ihre Zusammenarbeit auswirkt, geht es auch mich an.“ Wohl oder übel musste Whitney zugeben, dass er Recht hatte. Sie sah ihm in die Augen. „Erinnern Sie sich noch daran, als vor etwa einem Jahr ein Flugzeug über dem Golf von Mexiko abstürzte?“ „Richtig, ein Bombenanschlag. Es gab keine Überlebenden.“ „Jakes Frau und seine, Zwillingstöchter waren an Bord.“ Taylors Griff wurde reflexartig stärker. „Jake versucht Tag um Tag hinter sich zu bringen.“ Der - 68 -
Wind trug zarten Blumenduft heran. „An manchen Tagen fällt es ihm leichter, an anderen weniger.“ Taylor streckte die Hand aus und strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Er wird nicht damit fertig?“ „Ich fürchte, ohne Hilfe schafft er es nicht. Ich mag ihn sehr, aber ich dringe nicht mehr zu ihm durch.“ „Er muss es selbst wollen, Whitney.“ Als er den, Arm um ihre Taille legte, fuhr Whitney zusammen. „Bitte nicht. Lassen Sie das, Taylor.“ „Wenn das so einfach wäre“, sagte er leise und hielt ihren Blick. „Du gehst mir unter die Haut, Whitney Shea.“ Sie hätte wissen müssen, dass er mit einem einzigen fordernden Blick ihren Körper zum Beben bringen konnte. „Ich kann nicht“, stieß sie hervor. Nur nicht in Panik geraten, sagte sie sich. „Ich will dich nicht.“ Bills Lächeln war bitter. „Was wir wollen, scheint in diesem Fall unerheblich.“ Er legte die Hand an ihre Wange. „Ich habe mir geschworen, dies nicht zu tun, aber es nützt nichts.“ „Was nicht zu tu...“ Whitneys Stimme versagte, als er näher kam, Zentimeter um Zentimeter, bis ihre Körper sich berührten. Er verharrte eine Ewigkeit, wie ihr schien, den Mund dicht über ihrem. Dann berührte er sanft ihre Lippen, und augenblicklich stand sie wie unter Strom. Sie konnte sich nicht rühren, kaum atmen. Alles, was sie vor drei Tagen auf der Tanzfläche gespürt hatte, war wieder da nur hundertfach verstärkt. Das Herz klopfte ihr in der Kehle, während Bills Mund sie lockte. Ich sollte ihn abwehren, dachte sie benommen. Abstand gewinnen von diesem Mann, der sie in einen heftigen Kampf zwischen Verlangen und Zweifel stürzte. Sie konnte nicht. Wollte nicht. Sein Duft, seine Nähe waren verführerisch wie ein heißer unentrinnbarer Traum. „Bill ...“ Ihre Stimme war rau. „Ich ...“ Sie konnte nicht anders, öffnete die Lippen und gab sich ihm hin. - 69 -
Er stöhnte, griff ihr ins Haar, bog ihren Kopf zurück und vertiefte den Kuss. Begehren durchströmte sie heiß. Whitney grub die Finger in seine muskulösen Oberarme und nahm seinen Körper mit allen Sinnen auf. Über ihnen breitete sich der kühle Nachthimmel aus, doch Whitney kam sich vor wie unter einer glühenden Sonne. Das Verlangen, das Bill in ihr auslöste, machte ihr Angst. Sie konnte nicht mehr klar denken, wusste nur, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als nackt in seinen Armen zu liegen und ihn hemmungslos zu lieben. Sie nahm den Kopf zurück. „Das ist Wahnsinn“, keuchte sie atemlos. „Wir sollten sofort aufhören.“ Vermutlich hast du Recht“, bestätigte Bill mit heiserer Stimme. Die knappe Spanne zwischen ihren Lippen war wie elektrisch aufgeladen. Whitney versuchte ihrer Begierde Herr zu werden. Sie spürte die Spannung seines Körpers und wollte nichts anderes, als den Rest der Nacht in seinen Armen verbringen. „Ich muss gehen“, sagte sie, obwohl sie vor Sehnsucht bebte. „Bleib.“ Er strich mit beiden Händen an ihren Hüften hinunter. Im Licht der Laternen wirkte sein Gesicht kantig, die Augen schimmerten dunkel vor Begehren. „Ich kann nicht.“ „Wir sollten darüber reden, was hier mit uns passiert. Whitney trat zur Seite, so dass Bill sie freigeben musste. „Ich will nicht reden.“ Ihre Stimme war belegt und stockend, ihr Herzschlag ging ungleichmäßig. Obgleich sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte, wusste sie, dass dieser Mann etwas tief in ihrem Inneren anrührte, was kein anderer auch nur annähernd erreicht hatte. Die Erkenntnis war erschütternd. Sie musste wieder zu sich kommen und hielt den Riemen ihrer Tasche fest umklammert, als ob sie davon Halt bekommen würde. Sie schaute Bill ins Gesicht. Im Mondlicht sah er geradezu bedrohlich aus. - 70 -
Bezwingend. Verwegen. Gefährlich. Sie durfte sich nicht in ihn verlieben. Nicht ihr Herz verlieren an einen Mann, der einer missglückten Beziehung nachhing. Und auch sie selbst war ja noch immer dabei, die Trümmer ihrer eigenen Katastrophe wegzuräumen. Weitere Komplikationen konnte sie überhaupt nicht gebrauchen. „Ich muss gehen“, wiederholte sie eindringlich. „Sofort.“ „Warum?“ „Weil ...“ Sie schauderte, obwohl ihr keineswegs kalt war. Sie stand in hellen Flammen. Das Luxushotel, das sie eben verlassen hatten, lag vor ihren Augen. Es war ihr, als ob sie das leise Rascheln zerdrückter Laken in der stillen Nacht vernehmen würde. „Weil, wenn du mich noch einmal küsst, ich nicht mehr fähig bin, dir zu widerstehen.“ Bill trat auf sie zu. „Dann küsse ich dich noch einmal.“ „Nein. Ich ... nein.“ Whitney lief zu ihrem Auto, fingerte die Schlüssel aus ihrer Tasche. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie riss die Tür auf, stieg ein. Mit zitternden Fingern startete sie den Motor und blickte starr geradeaus. Doch beim Abfahren zwang etwas sie, in den Rückspiegel zu sehen. Bill stand noch immer an derselben Stelle, die Arme verschränkt, und blickte ihr nach. Benommen legte sie die Finger auf ihre heißen geschwollenen Lippen. Es kostete sie ihre ganze Willenskraft, nicht zu ihm zurückzufahren.
- 71 -
6. KAPITEL „Entschuldige wegen gestern.“ Whitney legte den Bericht nieder, den sie gerade studierte, beugte sich vor und zog die Nase kraus. Jake hatte einen Pappbecher mitten auf ihren überfüllten Schreibtisch gestellt. „Milch?“ „Mit einer Kräutermischung. Genau das Richtige für dein Magengeschwür.“ Sie legte die Hand an die Pistole, die sie am Gurt ihres schmalen schwarzen Rocks trug. „Ford, wenn du noch einmal behauptest, ich hätte ein Geschwür, stehe ich auf und zerschieße dir die Kniescheibe.“ „Autsch“, sagte Jake und ließ sich an seinem schiefergrauen Schreibtisch Whitney gegenüber nieder. Er grinste aufmunternd. „Ich sollte wohl lieber artig sein.“ „Würde ich dir raten.“ Whitney blickte zur Uhr, über dem Dienstplan. Viertel nach acht - so früh war Jake seit langem nicht mehr zum Dienst erschienen. Sein Blick folgte ihrem, sein Grinsen erstarb. „Ich war nicht fair zu dir, Whit. Es tut mir ehrlich Leid. Ich werde mich bessern.“ Whitney musterte ihren Partner. Sein glattes schwarzes Haar war säuberlich zurückgekämmt, unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, er wirkte erschöpft. Sie fragte sich, welche Dämonen ihn des Nachts wohl heimsuchten. Sie wies auf die Stapel von Akten und Berichten auf den beiden Schreibtischen. „Können wir loslegen?“ „Auf der Stelle.“ Die Beziehung zwischen ihr und Jake war felsenfest. Sie waren zusammen auf Patrouille gegangen, waren gemeinsam befördert worden. Sie standen sich nicht nur beruflich nahe, sondern auch privat. Jake hatte sie während des qualvollen Prozesses gegen ihren Vater gestützt. Sie hatte an seiner Schulter geweint, als - 72 -
ihr Mann sie betrogen und ihr das Herz gebrochen hatte. Und Whitney hatte versucht, ihn über den Verlust seiner Familie zu trösten, seine Verfehlungen zu decken, weil sie meinte, ihm damit einen Gefallen zu tun. Doch der Wortwechsel gestern im „Encounters“ hatte ihr gezeigt, dass sie ihm nur Ausflüchte bot. Jake musste sich endlich der Realität stellen. Sie blickte über die Schulter. Um diese Tageszeit herrschte im Morddezernat bereits rege Betriebsamkeit. Auf dem Flur tummelten sich mehrere Kollegen, Grant Pierce saß an seinem Schreibtisch und telefonierte. Julia Remington und ihr Partner Javis Halliday standen am Kaffeeautomaten und unterhielten sich mit dem Ballistik-Experten. Niemand achtete auf Whitney und Jake. „Jake, ich muss mit dir reden.“ Er kniff die Lippen zusammen. „Kann ich mir denken.“ „Ich hab dich lange gedeckt, aber allmählich halte ich das für einen Fehler. Du hast ernsthafte Probleme, und ich finde, du solltest ...“ „Ich weiß.“ Beschwichtigend hob er die Hand. „Ich habe mich etwas ... gehen lassen.“ „Ziemlich“, stellte sie richtig. „Ja.“ Er hieb durch die Luft. „Ich muss endlich wieder Tritt fassen.“ „Jake ...“ Angesichts seines Kummers wurde ihr die Kehle eng. „Ich bin für dich da“, sagte sie leise. „Wenn du dich aussprechen willst oder eine Schulter zum Anlehnen brauchst ich bin immer für dich da. Das weißt du doch, oder?“ Er lächelte schief. „Ja. Danke, Whit.“ Er rieb sich übers Gesicht und atmete langsam aus. „Okay, wir haben einige Mordfälle zu lösen. Wie gehen wir weiter vor?“ „Wir müssen uns an Carly Bennett halten“, erklärte Whitney bereitwillig. „Lass uns rekapitulieren: Sie könnte sich vom Hotel aus telefonisch mit jemandem verabredet und anschließend das Haus verlassen haben. Andererseits hat sie ihre Zeche nicht - 73 -
bezahlt, das passt irgendwie nicht zu ihr. Bei ihrem nächsten Besuch hätte man sie darauf angesprochen, es wäre ihr sicher peinlich gewesen.“ „Vielleicht hat sie es einfach vergessen“, gab Jake zu bedenken. „Sie ist im ‘Encounters` nicht fündig geworden, also brach sie so schnell wie möglich zu anderen Jagdgründen auf. Offensichtlich hat sie dabei leider keinen Mann gefunden, sondern ein Monster. Was sagen eigentlich die Kollegen in Los Angeles? Irgendwelche ungelösten Prostituiertenmorde aus der Zeit, als Copeland dort studierte?“ „Sie wollen mir heute Nachmittag Bescheid geben. Computerprobleme.“ Whitney nahm einen Schluck Milch und verzog das Gesicht. „Wie bekommt man so ein Zeug nur hinunter?“ „Nase zuhalten und schlucken. Weißt du noch, was Darrold Kuffs neulich im ‚Spurs’ sagte? Trink jeden Tag ein Glas davon, und du hast keine Probleme mehr mit deinem ... Magen.“ Whitney schob den Becher beiseite. „Kuffs betreibt einen Western-Schuppen und keine Arztpraxis.“ „Loretta schwört auf sein Mittel gegen Heuschnupfen. Ich habe keine Ahnung, ob etwas dran ist. Jedenfalls habe ich sie kein einziges Mal niesen hören, seit ich sie kenne.“ „Hey, Shea“, raunzte Detective Sam Rogers hinter seinem Zigarrenstumpen hervor, während er den Raum betrat. „Das hier hat gerade jemand von der Staatsanwaltschaft für Sie abgegeben.“ „Danke, Sam.“ Whitney fing das braune Kuvert auf, das wie eine Frisbeescheibe durch die Luft gesegelt kam. Sie erstarrte, als sie Bill Taylors Namen unter dem offiziellen Siegel der Staatsanwaltschaft von Oklahoma erkannte. Er hatte ihn eigenhändig mit großen eleganten Buchstaben geschrieben. Langsam atmete sie aus. Die Erinnerungen an den gestrigen Abend, an den Mann, der sie unter dem Sternenhimmel in den - 74 -
Armen gehalten hatte, überfielen sie mit Wucht. Sie dachte an die zärtlichen Berührungen, die verhaltene Kraft seiner Schultern und die Glut in seinen Augen. Whitney verspürte ein leichtes Flattern in der Magengegend und schloss die Augen. Es war so lange her, dass ein Mann sie berührt hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, jemals etwas so intensiv empfunden zu haben wie Bills Kuss. Noch jetzt glaubte sie den Nachhall seiner Zärtlichkeiten zu spüren. Erneut wandte sie sich um. Julia Remington war vom Kaffeeautomaten an ihren Schreibtisch zurückgekehrt und tippte auf ihrem Computer. Sie war eine schöne Frau mit langem blonden Haar und eindrucksvollen Augen. Und Bill Taylor war mit ihr verlobt, in sie verliebt gewesen. Ob er noch Gefühle für sie hatte? Höchstwahrscheinlich, dachte Whitney. Obwohl ihr eigener Mann sie mit ihrer besten Freundin betrogen hatte, trotz des glühenden Schmerzes und der Bitterkeit, die sie verspürt hatte, war dennoch ein Funken Gefühl für den Menschen, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, übrig geblieben. Das und die verzweifelte Sehnsucht nach Trost hatte sie in die Arme eines anderen getrieben. Whitney sagte sich, dass es Bill jetzt ebenso gehen mochte wie ihr damals. Sie zwang sich, gleichmäßig zu atmen. Sie machte sich nichts vor, sondern gab ehrlich zu, dass der Staatsanwalt sie bereits mehr beschäftigte, als gut für sie war. Und wenn sie nicht auf Distanz ging, würde ihr die Sache im Nu über den Kopf wachsen. Sie hatte Fehler gemacht und die schmerzliche Quittung dafür erhalten, dass sie ihren Gefühlen nachgegeben hatte. Das würde nicht noch einmal passieren. „He, Whit, bist du in Trance gefallen?“ Sie fuhr herum. „Hier? Du bist gut.“ „Es sah aber ganz danach aus. Alles okay?“ fragte Jake besorgt. „Ja ja.“ - 75 -
„Wirklich?“ Er schien nicht ganz überzeugt. „Wirklich. Und starr mich nicht so an, als wären mir plötzlich Hörner gewachsen.“ „Na gut.“ Er wies auf ihr Pult. „Was ist in dem Umschlag?“ Whitney riss das Kuvert auf. „Der Antrag auf Überprüfung der Telefonate aus der Hotellobby.“ Jake zog die Brauen hoch. „Wie hast du Taylor dazu gebracht, deinen Papierkram zu erledigen?“ „Es ist unser Papierkram, Partner, und der Vorschlag kam von ihm. Er wollte gestern Abend ohnehin noch ins Büro, also hat er es wohl gleich mit erledigt.“ Sie lächelte Jake kurz zu. „Jetzt muss ich nur noch den Richter herumkriegen.“ Jake tippte sich mit einem Bleistift auf die Handfläche. „Als ich gestern ins ‘Encounters` gekommen bin, hatte ich den Eindruck, ihr zwei versteht euch recht gut. Und ich hätte darauf gewettet, dass keiner von euch den restlichen Abend im Büro verbringt.“ Er kräuselte die Lippen. „Jedenfalls nicht allein.“ Äußerlich ungerührt schob Whitney die Papiere wieder in den Umschlag. Ein Glück, dass Jake nicht auf den Parkplatz hinausgekommen war, als Bill und sie sich in aller Öffentlichkeit geküsst hatten. „Taylor ist ins Büro gegangen und ich bin nach Hause“, erklärte sie und stand auf. Jake erhob sich ebenfalls. „Du bist so leicht zu durchschauen wie ein Sieb, Whit.“ Er grinste. „Mach mir doch nicht vor, zwischen euch wäre nichts.“ Sie hob das Kinn. „Da ist wirklich nichts.“ Sie hatten sich geküsst. Ein einziges Mal. Und es würde nicht wieder vorkommen. Das würde sie Bill mitteilen, wenn sie ihm später Bericht erstattete. Bill beobachtete Whitney, wie sie mit geschmeidigen - 76 -
Bewegungen ans andere Ende des Zimmers ging. Es war, als nähme sie nicht nur räumlich Abstand, sondern auch gefühlsmäßig. Er fuhr sich durchs Haar und sagte sich, dass er mit dem Stand der Dinge eigentlich zufrieden sein sollte. Er wollte nicht wieder auf die Achterbahn der Gefühle. Sein Gleichgewicht war noch nicht hergestellt, und er war wahrlich auf keine ernsthafte Beziehung aus. Die Kinnmuskeln angespannt, musterte er die Frau, die wie ein real gewordener Traum aus weiblichen Kurven und seidiger Haut vor ihm stand. Er erkannte, dass die Gefahr des sich Verlieren nicht mehr drohte - er war bereits verloren. Bill beschloss zu retten, was zu retten war, und konzentrierte sich auf die vorliegende Aufgabe. Er kreuzte die Arme vor der Brust und sagte: „Du hast meinen Antrag bekommen und die Telefongesellschaft kontaktiert?“ „Ja“, bestätigte sie. „Sie haben alle Anrufe aus der Hotelhalle am Abend von Carly Bennetts Verschwinden aufgelistet.“ „Dein Gesicht verrät mir, dass keiner davon zu Copelands Anwesen ging.“ „Das wäre auch zu einfach gewesen.“ Wie eine gefangene Tigerin durchmaß Whitney die Länge des Raums, kehrte um und kam zu Bill zurück. „Ein paar Anrufe waren Ferngespräche, andere an örtliche Firmen. Bis jetzt können wir keinen Anruf mit Bennett in Verbindung bringen.“ Bill zuckte die Schultern. „Den Versuch war es zumindest wert.“ „Stimmt.“ Als Whitney beim Fenster ankam, blieb sie stehen und blickte hinaus, Nach einer Weile wurden ihre Augen schmal, und Bill fragte sich, ob sie außer den Parkplätzen und der Gebäudekulisse noch etwas sah. „Sonst gibt es nichts?“ wollte er wissen. „Ich habe mich etwas näher mit Copeland befasst.“ - 77 -
„Und?“ „Andrew wird eines Tages ziemlich viel erben. Sein Vater ist nicht nur Eigentümer von Copeland Industries, er besitzt auch die größte private Rinderranch im Staat, Schlachthäuser und Düngemittelfabriken und so viele Gasbohrstellen, dass sie kaum zu zählen sind.“ „Der Junge hat Glück.“ „Und Verstand dazu. Er hatte während des ganzen Studiums an der Universität von Südkalifornien ein Stipendium für Hochbegabte. Sein IQ ist Schwindel erregend.“ „Ein Mann, der sieben Morde begehen kann, ohne gefasst zu werden, muss wohl über einige funktionsfähige Gehirnzellen verfügen.“ „Es könnten sogar acht Morde sein.“ Bill runzelte die Stirn. „Acht?“ „Das erfuhr ich von der Polizei in Los Angeles. Sie hatten vor drei Jahren einen Mord, der unserem Muster entspricht - das Opfer war eine Prostituierte, ihre Leiche wurde vier Tage nach ihrem Verschwinden gefunden. Lederfesseln an Händen und Füßen sowie Körperverletzungen. Tod durch Erwürgen. Der Kollege schickt mir eine Kopie der Akte. „Weißt du denn, ob Copeland zu der Zeit in Kalifornien war?“ „Es sieht ganz danach aus. Der Mord geschah Ende Mai, etwa einen Monat vor unserem ersten Fall. Der Detective in Los Angeles wird versuchen herauszufinden, wo Andrew während des Studiums wohnte. Es ist nur eine Vermutung, aber vielleicht ergibt sich etwas Brauchbares. Und bis jetzt habe ich noch, keinen Anhaltspunkt dafür gefunden, dass unser Goldjunge je eine feste Freundin hatte. Das könnte eine Menge bedeuten, muss aber natürlich nicht.“ Whitney schlang sich die Arme um die Taille, trat vom Schreibtisch zurück und nahm ihre Wanderung wieder auf. Bill beobachtete sie. Plötzlich wurde ihm bewusst, was für eine Spannung von ihr ausging. - 78 -
„Hast du noch etwas?“ fragte er ruhig. „Ja, ich habe noch etwas.“ Gereiztheit klang aus ihrer Stimme. Im Gehen schob sie eine Hand unter ihr Haar und rieb sich den Nacken. „Es ... betrifft nicht den Fall. Es ist privat.“ Von einer Sekunde zur anderen hatte sich die selbstsichere energische Polizistin in eine verletzliche scheue Frau verwandelt. Dies ist eine der vielen Facetten ihrer Persönlichkeit, sagte sich Bill. Einer der Widersprüche, die sie zu diesem einmaligen Wesen machten. Plötzlich verspürte er den Wunsch, über die körperliche Anziehung hinauszugehen und alle Schichten freizulegen, dieser Frau in Herz und Seele zu dringen. Er wollte die Teile, aus denen Whitney Shea bestand, zu einem Ganzen zusammenfügen. „Ich könnte mir vorstellen, dass du über gestern Abend sprechen möchtest.“ Bei seinen ruhig gesprochenen Worten hielt sie neben dem Besuchersessel inne. „Richtig.“ Sie reckte das Kinn eine Spur höher. „Ich glaube - nein, ich weiß, dass dieser Kuss ein Fehler war.“ „Verstehe.“ Es machte ihm ja auch zu schaffen. Er brauchte Zeit, um sich wieder zur Vernunft zu bringen, dass er keine Beziehung wollte, dass er die Trennung noch nicht völlig überwunden hätte. Das Begehren, das ihn wie in einem Spinnennetz gefangen hielt, sagte ihm allerdings etwas ganz anderes. Er wollte Whitney. Wollte ihre glatte sonnengebräunte Haut unter seinen Händen spüren. Wollte hören, wie ihr Atem schnell und abgehackt wurde, wie sie seinen Namen in der Hitze der Leidenschaft hervorstieß. Allein seinen Namen. Bill verließ seinen Schreibtisch und ging auf sie zu. „Was gestern Abend passiert ist, war kein Versehen. Ich hatte die volle Absicht, dich zu küssen.“ Bei seinen Worten wurden ihre Augen dunkel wie kostbare Jade. Tiefe Röte stieg ihr in die Wangen. - 79 -
„Aber in einem Punkt muss ich dir Recht geben“, fuhr er fort, als sie stumm blieb. Wenige Zentimeter vor ihr blieb er stehen und strich mit der Fingerspitze über ihre Wangenlinie. „Ich bin ziemlich sicher, dass es nicht sehr klug von mir war, dich zu küssen.“ Sie trat einen Schritt zurück. „Mir geht es genauso.“ Die unverhüllte Erleichterung in ihrer Stimme gefiel ihm ganz und gar nicht. „Ach ja?“ „Ich hatte eine ... Beziehung, die unglücklich endete.“ Whitney zog die Schultern hoch und sah ihn eindringlich an. „Und du auch. Das ist noch nicht lange her. Ich weiß nur zu gut, wie es einem geht, wenn der andere einen ...“ Sie verstummte. „Sitzen lässt?“ half Bill nach. Er empfand eine grimmige Befriedigung an dem Unbehagen, das er in ihren Augen erkannte. „Hör zu, mir ist das genauso passiert. Mein Mann hat mich wegen meiner besten Freundin verlassen. Ich war sehr verletzt, richtig gebrochen. Ich brauchte ... Sagen wir so: Ich ließ mich danach auf einen Mann ein, der nicht zu mir passte.“ Bill legte den Kopf schräg. „Lass es mich verdeutlichen. Du glaubst also, ich hätte dich geküsst, weil ich Ablenkung suche?“ „Du und Julia ... „ Whitney brach ab und fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. „Wie könnte es anders sein?“ Er kam näher. „Als ich dich küsste, habe ich an keine andere als an dich gedacht.“ Er hätte es auch gar nicht gekonnt. Obwohl er Whitney Shea erst seit kurzem kannte, hatte sie ihn den ständig spürbaren Stich von Julias Zurückweisung fast vergessen lassen. Whitney wandte den Blick ab. „Ich habe es doch selbst erlebt. Wie leicht macht man sich in solchen Situationen etwas vor, was nicht da ist. Man hat bestimmte Gefühle, weil man sie haben möchte.“ Bill legte ihr die Hand unters Kinn und zwang sie, ihn - 80 -
anzusehen. „Betrachten Sie es ruhig als erwiesen, Sergeant“, sagte er ernst, „ich habe nichts wettzumachen. Was zwischen uns ist, hat mit uns zu tun. Nur mit uns.“ Der Zweifel in ihrem Blick sagte ihm, dass er sie nicht überzeugt hatte. „Okay.“ Sie wandte sich ab, er musste die Hand sinken lassen. „Ich denke, man kann auf jeden Fall festhalten, dass keiner von uns eine komplizierte Beziehung gebrauchen kann.“ „Sollte man meinen“, warf er ein. „Wir haben einen Fall zu lösen“, setzte Whitney hinzu. Sie fuhr sich durchs Haar, und die Strahlen der Nachmittagssonne zauberten leuchtende Kupfertöne auf die dunkelbraunen Strähnen. „Da draußen treibt sich ein sadistischer Verbrecher herum, und den müssen wir finden. Darauf sollten wir uns konzentrieren, das ist das einzig Vernünftige.“ „Das sage ich mir auch dauernd“, murmelte er. Das Dumme war, dass ihn die Vernunft gründlich im Stich ließ. Es kostete ihn alle Mühe, Whitney nicht in die Arme zu nehmen. Der gestrige Kuss war weit mehr gewesen als ein körperliches Ereignis. In jenem sinnverwirrenden Moment hatte er nach nichts anderem verlangt, als sie hochzuheben, sie in ein Bett zu tragen, sich in ihr zu verlieren und nicht an die Folgen zu denken. Und nach nichts anderem verlangte es ihn jetzt. Doch innerlich lag sein Bedürfnis nach Selbstschutz im Widerstreit mit dem Begehren. Er erkannte deutlich, dass diese lebensvolle fordernde Frau ihn verletzen könnte. Und auch er könnte ihr wehtun. Sie bedeuteten eine Gefahr füreinander. Es stand so viel auf dem Spiel. Dessen musste er sich stets bewusst bleiben. „Gut...“ Sie nickte knapp, als hätte sie im Geist eine Liste abgehakt, und sah zur Uhr. „Ich muss gehen. Jake wartet auf mich bei der Autowerkstatt, wo ich meinen Wagen abgeben will. Anschließend wollen wir Carly Bennetts - 81 -
Zimmergenossin noch einmal vernehmen.“ „Dann sehen wir uns morgen.“ „Ja.“ Als Whitney sich hinunterbeugte, um ihre Tasche aufzunehmen, fiel ihr das Haar über die Schultern, schmiegte sich an ihre Brüste. Bill spürte, wie seine Entschlossenheit ins Wanken geriet, wie er die Beherrschung zu verlieren drohte. Er sah zu, wie sie sich umdrehte und zur Tür ging. Obwohl der Verstand ihm Zurückhaltung befahl, bis er mit sich innerlich zu Rate gegangen wäre, konnten die Gefühle in ihm sie nicht weggehen lassen. Noch nicht. „Whitney.“ Leise sprach er ihren Namen aus. Sie verharrte und wandte sich zu ihm zurück. „Ja?“ „Noch eins.“ Er ging auf sie zu, den Blick fest auf sie geheftet. Als er bei ihr war, ergriff er ihre Hand und verwob seine Finger mit ihren. Er sah den Kummer in ihren Augen, doch sie schaute rückhaltlos zu ihm auf. Dieser Kummer hätte ihm Zurückhaltung gebieten müssen. Stattdessen verspürte er heißes Begehren. „Du bist eine faszinierende Frau, Sergeant. Ich bewundere deine Fähigkeiten, deinen Verstand.“ Er lächelte. „Und deine Beine.“ Sie öffnete die Lippen und kniff sie gleich wieder fest zusammen. Als er Whitneys Hand hob und sie an den Mund zog, spürte er, wie sie zitterte. „Als Anwalt verlasse ich mich auf Tatsachen. Cops tun das ebenso.“ „Tatsachen?“ wiederholte sie mit rauer Stimme. „Du hast Recht, wenn du sagst, es wäre vernünftiger, auf Abstand zu gehen.“ Er neigte den Kopf und strich mit den Lippen über ihren Handrücken. „Aber ich muss dich auf eine weitere Tatsache aufmerksam machen.“ Whitneys Lider flatterten, sie schloss die Augen. Er musste an sich halten, um sie nicht an sich zu ziehen und sich das zu nehmen, was er mit jeder Faser begehrte. - 82 -
„Welche ... Tatsache?“ „Wenn ich dich jetzt nicht küsse, heißt das nicht, dass ich es nicht möchte. Ich würde dich gern küssen. Wahnsinnig gern.“ Wieder beugte er sich über ihre Hand und sog Whitneys unverwechselbaren Duft ein. Er durchströmte ihn wie eine warme lockende Verheißung. „Ich habe vor, dich wieder zu küssen. Irgendwann. Wenn wir beide bereit dafür sind. Wenn wir es beide wirklich wollen.“ Und wenn es so weit war, würde er nicht nur ihre Lippen kosten, sondern alles an ihr. Mit dem Daumen liebkoste er die zarte Innenseite ihres Handgelenks. Befriedigt stellte er fest, dass ihr Puls unregelmäßig war. „Diese Tatsache solltest du nicht aus dem Auge verlieren.“ „Ich ... Okay. Gut.“ Ohne ihn anzusehen, entzog sie ihm ihre Hand, ging zur Tür, öffnete sie und entschwand seinen Blicken. Bill verharrte in der Stille seines Büros und widerstand dem Drang, ihr nachzulaufen.
- 83 -
7. KAPITEL Whitney stieg aus Jakes Wagen und ließ die Tür sanft hinter sich ins Schloss fallen. Die Nachtluft umhüllte sie wie eine schwüle Wolke. In dem bleichen Mondlicht hatte sich der Vorgarten in einen Teppich aus grauen und schwarzen Flecken verwandelt. Ihre niedrigen Absätze verursachten hohle Echos in der Stille der Nacht, als sie die Auffahrt hochlief und auf den gepflasterten Gartenweg trat. Das Geißblatt und die blutroten Rosen entlang der Veranda verströmten ihren schweren Duft. Dumpf klang das Motorgeräusch, als Jake sein Auto zurücksetzte. Die Hausschlüssel, die Whitney aus ihrer Handtasche hervorgeholt hatte, klimperten leise. Whitney trat vor die nur schummrig beleuchtete Eingangstür. Nachdem sie den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, wandte sie sich nochmals um und winkte Jake zum Abschied. Im selben Moment, als die Wagenrücklichter verschwanden, zog sich ihr Magen zusammen - sie war nicht allein, das spürte sie instinktiv. Sie zückte den Revolver. Eiseskälte kroch ihr den Rücken empor, ihr Herz schlug wild. Langsam drehte sie sich um und versuchte die Dunkelheit der Veranda zu durchdringen. Da nahm sie eine Bewegung wahr, die ihre angespannten Muskeln erschauern ließ. Ihr Finger am Abzug der Waffe krümmte sich. „Guten Abend, Sergeant Shea.“ Whitney gefror der Atem, als Andrew Copeland schemenhaft aus dem Schatten der Veranda auftauchte. Wo er auf sie gewartet hatte. Er warf einen kurzen Blick auf die Waffe, die sie auf seine Brust gerichtet hielt. „Verzeihen Sie, wenn ich Sie erschreckt haben sollte. „Sie leben gefährlich. Einen Cop zu erschrecken ist eine - 84 -
gute Methode, sich eine Kugel einzufangen.“ Whitney versuchte sich zusammenzureißen. Adrenalin pumpte ihr durch die Adern. Sie knirschte mit den Zähnen und zwang sich, ihren Atem zu beruhigen. „Schon kapiert“, gab er leichthin zurück. Für einen Moment glaubte sie einen Funken Bedauern in seinen Augen zu erkennen. Aber das mochte auch mit der dürftigen Beleuchtung zusammenhängen. „Wie, zum Teufel, haben Sie herausgefunden, wo ich wohne?“ Wie die meisten ihrer Kollegen hielt sie ihre Telefonnummer und Adresse geheim. Sie hatte kein Bedürfnis, die Verbrecher, mit denen sie ständig zu tun hatte, wissen zu lassen, wo sie wohnte. „Mein Vater hat so seine Beziehungen.“ „Die auszunutzen Sie wohl keine Skrupel haben. „Weshalb auch? Ich habe nicht gegen das Gesetz verstoßen, als ich mir Ihre Adresse beschafft habe. Ich musste nur jemanden anrufen. Oder ist Telefonieren jetzt schon verboten?“ „Wie heißt der Maulwurf?“ „Wir haben etwas gemeinsam, Sergeant.“ Langsam verzog er die Lippen zu einem Lächeln. „Ich behandle meine Quellen auch lieber vertraulich.“ In den dunklen Leinenhosen und dem sportlichen weißen Hemd wirkte er so elegant, als käme er gerade von einem Treffen im Country Club. Mit zusammengekniffenen Augen unterzog Whitney ihn einer gründlichen Betrachtung. Sie fand kein Anzeichen einer Waffe. Sie schob ihren Revolver in das Halfter zurück, ließ jedoch die Hand auf dem Schaft der Waffe. „Ich gebe Ihnen genau zwei Sekunden, um mit einer guten Begründung herauszurücken, warum ich Sie nicht wegen Hausfriedensbruchs einlochen sollte.“ „Ich muss Sie sprechen. Es ist wichtig.“ „Rufen Sie im Büro an und machen Sie einen Termin aus.“ Er zog eine Zigarre aus der Tasche und entzündete sie, - 85 -
wobei er mit der einen Hand die Flamme des goldenen Feuerzeugs abdeckte. Der Lichtschein beleuchtete seine dunklen Augen, die hohen Wangenknochen, die harte Linie der Lippen. Wie schon bei anderen Gelegenheiten empfand Whitney seine Fassade aus Gewandtheit und Charme auch jetzt wie eine brüchige Tarnung eines gefühllosen unbarmherzigen Inneren. Die Rauchwolke, die er ausstieß, hing in der warmen Nachtluft. „Ich habe in Ihrem Büro angerufen, aber Sie waren nicht da.“ „Man kann auch eine Nachricht hinterlassen, meinen Sie nicht?“ „So etwas mag ich nicht. Man kann sich nie darauf verlassen, dass sie auch übermittelt wird.“ „Sicher, Nachrichten werfen wir grundsätzlich zusammen mit unseren Berichten sofort in den Abfall.“ Er lächelte. „Ich schätze eine Frau mit Humor.“ Sie blickte auf die Straße, wo ein weißer Range Rover am Bordstein parkte. „Ihr Fahrzeug?“ Sein Blick folgte ihrem. „Ja.“ Der Range Rover war eine robuste Maschine. Die Sorte, die sich sehr gut für eine Querfeldeintour eignete, mit ausreichend Platz für eine Leiche. Whitney spürte, wie sich schmerzhaft Magensäure ansammelte. Trotz ihrer Waffe wünschte sie, Jake hätte sie zur Tür begleitet, damit sie jetzt Unterstützung hätte. Na schön, ihr Partner war nun mal nicht hier. Sie war mit Copeland allein und musste die Situation in den Griff bekommen. „Also, worum geht’s, Mr. Copeland.“ „Bei der Party für den Gouverneur neulich haben Sie mich gefragt, wo ich mich am zwanzigsten Mai aufgehalten habe.“ Whitney nickte. „Ich nehme an, es ist Ihnen plötzlich wieder eingefallen.“ In einem Anflug von Belustigung hob er die dunklen Augenbrauen. „So ist es. Ich war zusammen mit meinem Vater - 86 -
und seinem Anwalt zum Abendessen.“ „Wie nett.“ Und es gab keine Möglichkeit, seine Angaben zu überprüfen. „In der Tat.“ Ihre Schultern spannten sich, als er langsam eine Hand in die Hosentasche schob. „Jetzt möchte ich Sie aber auch etwas fragen, Sergeant.“ Sie hob den Blick. „Eigentlich ist es meine Aufgabe, die Fragen zu stellen.“ „Ich dachte nur, ich sollte diese Sache persönlich mit Ihnen besprechen. Möglicherweise finden wir einen Ausweg, ohne irgendjemanden aus der Justizverwaltung mit einbeziehen zu müssen“, bemerkte er leichthin. Whitney presste bei der kaum verhüllten Drohung die Lippen aufeinander. Irgendetwas musste ihn angestachelt haben, die direkte Konfrontation mit ihr zu suchen. Sie behielt ihn fest im Blick, während sie sich das psychologische Täterprofil ins Bewusstsein rief, das ihre Freundin A.J. Ryan über den Serienmörder erstellt hatte: ein sexueller Sadist, hinterlistig und geübt darin, andere zu täuschen. Macht, Kontrolle und das Leiden des Opfers sind die Antriebsfedern für die krankhafte Besessenheit des Mörders. Whitney musste die Möglichkeit in Betracht ziehen, in dem geschmeidigen lächelnden Mann hier jenen Sadisten vor sich zu haben, der mindestens sieben Frauen umgebracht hatte. Sie holte langsam und tief Atem, um ihren Puls zu beruhigen. Sie konnte förmlich fühlen, wie Copeland mit Blicken ihren Körper abtastete. „Wofür sollten wir einen Ausweg finden?“ fragte sie kühl. „Sie haben mein Bild in verschiedenen Clubs herumgezeigt. Ich wüsste gern, warum.“ Bill hat Recht behalten, musste Whitney sich eingestehen. In den höheren Kreisen verbreiteten Nachrichten sich äußerst schnell. „Ich untersuche den brutalen Mord an einer Frau, die diese Clubs besuchte.“ - 87 -
Schleppend krochen die Sekunden dahin, während Copeland in die Glut seiner Zigarre vertieft zu sein schien. Endlich hob er den Blick und sah Whitney in die Augen. „Werde ich verdächtigt?“ Seine Stimme klang so kühl und sanft, als hätte er sich nach dem Wetter erkundigt. Sie schloss die Finger um ihre Waffe. Wenn Copeland schon hier war, konnte sie die Gelegenheit gleich wahrnehmen und feststellen, ob er sich nicht noch etwas mehr aus der Reserve locken ließ. „In der Nacht, in der sie verschwand, hat ein Augenzeuge sie zusammen mit einem Mann gesehen und uns eine ziemlich exakte Beschreibung gegeben“, begann sie; im Stillen wünschte sie dabei, es möge tatsächlich so sein. „Diese Beschreibung würde auch auf Sie zutreffen.“ „Tatsächlich?“ „Also bin ich zur Zeitung gegangen, habe mir ein paar Bilder von der Gesellschaftsseite zeigen lassen und sie dann in einigen Clubs herumgezeigt.“ Sie hob die Schultern betont gelassen. „Und bevor hier jemand allzu sehr ins Grübeln gerät, können Sie den Anwalt Ihres Vaters daran erinnern, dass Zeitungsfotos öffentliches Eigentum sind.“ Copeland schob das Kinn vor und stieß einen dünnen Faden blauen Zigarrenrauches hervor. „Kompliment, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht.“ „Mache ich immer.“ „Wieder eine Gemeinsamkeit zwischen uns beiden“, knurrte er. „Ich hoffe, Ihr Augenzeuge konnte Ihnen weiterhelfen.“ „Mit Sicherheit konnte er das.“ Sie gab vor, eine Motte zu verfolgen, die das Verandalicht wild umkreiste. „In der Regel reichen die Indizien aus, die die gerichtsmedizinische Abteilung am Körper, des Opfers findet, aber bei diesem Mord liegen die Dinge anders.“ „Weil Sie keinerlei Spuren finden konnten?“ War das lediglich glücklich geraten, oder besaß Copeland - 88 -
persönliche Kenntnisse von dem Mord? „Doch, wir haben welche gefunden“, gab sie zurück. „Aber ich habe die Befürchtung, sie stammen von dem Freund des Opfers. Sie waren einige Stunden zuvor zusammen, bevor sie in dieser Nacht ausging.“ Provozierend bewegte Whitney sich bis ans Verandageländer und blickte hinunter. Die roten Rosen wirkten fast schwarz. „Ich glaube, der Verdächtige, nach dem ich suche, leidet unter einem Problem.“ „Was für ein Problem?“ Sie wandte sich Copeland. zu, um ihn direkt zu fixieren. „Ich glaube, er kann mit Frauen nicht sexuell verkehren.“ „Stand in der Zeitung nicht etwas von Vergewaltigung?“ „Das ist richtig. Aber ich nehme an, dass der Täter dazu - wie soll ich es sagen - nicht ein gewisses Körperteil benutzt.“ „Interessant.“ Copelands Gesichtsausdruck blieb freundlich, doch trotz des diffusen Lichts der Eingangsbeleuchtung konnte sie den Blick in seinen Augen klar erkennen: hart wie Stahl. „Es wird Zeit, dass Sie verschwinden, Copeland. Wenn Sie das nächste Mal das Bedürfnis haben, mit mir zu plaudern, dann verständigen Sie bitte mein Büro. Sollte ich nicht da sein, hinterlassen Sie eine Nachricht.“ Ihr Griff um die Waffe verstärkte sich. „Und sollten Sie noch einmal irgendwo unvermutet aus dem Schatten treten, erschieße ich Sie. Aus Versehen natürlich. Aber das würde Ihre Situation dann auch nicht mehr ändern. Habe ich mich klar ausgedrückt? Er blickte ihr prüfend ins Gesicht, dann ließ er den Blick über ihren Körper gleiten. Ein Schauer überlief Whitney. „Träumen Sie was Schönes“, murmelte er grinsend, drehte sich gelassen um und ging davon. Whitney hielt noch immer ihre Dienstwaffe umfasst. Ruhig beobachtete sie, wie Copeland sich geschmeidig in den Range Rover schwang, startete und davonfuhr. Die Arme über der Brust gekreuzt, stand Bill an seinen - 89 -
Schreibtisch gelehnt und sah Whitney aufmerksam an. Sie strich sich eine Haarsträhne zurück und atmete tief durch. „Copeland ist letzte Nacht bei mir aufgetaucht. Vor meinem Haus.“ Bills Schultern strafften sich. „Deinem Haus?“ „Ich wollte gerade die Tür aufschließen, da trat er aus einer dunklen Ecke der Veranda. Wenn Copeland mit seinem schwarzen Jaguar gekommen wäre, hätte ich den Wagen möglicherweise erkannt, aber er hatte einen weißen Range Rover dabei.“ „Was, zum Teufel, hat der Kerl bei dir gemacht?“ „Hauptsächlich mich zu Tode erschreckt. Sonst hat er eigentlich weiter nichts angestellt. Möglicherweise deshalb, weil ich so unhöflich war, während der ganzen Zeit die Hand nicht von der Waffe zu nehmen.“ Sie schlang sich selbst die Arme schützend um die Taille und begann in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. „Er tauchte aus genau den Gründen auf, die du vorhergesagt hast.“ Bill verfolgte ihre Bewegungen. „Die Bilder?“ „Genau. Copeland muss erfahren haben, dass Jake und ich in einigen Clubs Fotos von ihm herumgezeigt haben. Er wollte wissen, wieso.“ „Was hast du ihm gesagt?“ „Dass wir den Mord an einer Frau untersuchen, die diese Clubs besucht hat.“ Sie verzog die Mundwinkel. „Ich hatte den Einfall, ihm vorzuflunkern, wir hätten einen Augenzeugen, der das Opfer vor dem Verschwinden zusammen mit einem Mann gesehen hätte, dessen Beschreibung auch auf ihn zutreffen könnte.“ Bill nickte zustimmend, weil er die Logik einsah. „Wenn er es war, sollte ihn das nervös machen.“ „Ich bin auch ganz schön nervös geworden gab sie über die Schulter zurück, während sie ihr unruhiges Hin-und-Her-Gehen fortsetzte. „Copeland hat mir indirekt gedroht, den Anwalt - 90 -
seines Vaters in der Fotoangelegenheit einzuschalten.“ Sie hob abwehrend die Hand, bevor Bill zu einer Erwiderung ansetzen konnte. „Keine Panik wegen irgendwelcher Rechtsschritte. Ich habe unserem Goldjungen gesagt, dass die Fotos aus der Zeitung stammen und daher als öffentliches Eigentum gelten.“ „Juristisch einwandfrei, Sergeant. Für die Akten: Ich mache mir keineswegs Sorgen um Copelands Anwälte“, stieß Bill mit harter Stimme, die seine innere Spannung verriet, hervor. „Ich mache mir Sorgen um dich.“ Dieser unerwartete Ausbruch ließ sie innehalten. Sie wandte sich ihm zu, um ihn quer durch den Raum direkt anzusehen. „Danke, aber ich kann sehr gut selbst auf mich aufpassen.“ „In den meisten Fällen bin ich mir dessen sicher“, sagte Bill und versuchte dabei seine Stimme gelassen klingen zu lassen. „Aber sollte Copeland schuldig sein, dann hat er mindestens sieben Frauen auf dem Gewissen.“ „Ich bin mir durchaus bewusst...“ „Mit der Konfrontation bei dir zu Hause wollte er dir zeigen, dass er weiß, wo du wohnst, und dass er keine Angst vor dir hat.“ Sie wandte heftig den Kopf ab. „Ach so, und ich dachte, er wäre nur gekommen, weil er Sehnsucht hatte, mich zu sehen.“ Bill blinzelte. „Wie? Glaubst du, er hat Interesse an dir?“ „Hältst du mich für so blöd, Taylor? Ich weiß ganz genau, warum Copeland bei mir aufgetaucht ist. Ich nehme diesen Besuch keineswegs auf die leichte Schulter.“ Die harte Entschlossenheit der Polizeibeamtin, die in Whitneys Augen aufblitzte, klang auch in ihrer Stimme durch. „Ich habe einen Bericht gemacht, damit ist die Sache offiziell. Vertrau mir, wenn Copeland der Mörder sein sollte, werde ich schon mit ihm fertig.“ „Das haben diese sieben Frauen wahrscheinlich auch gedacht.“ - 91 -
„Aber die hatten keinerlei Ausbildung und waren unbewaffnet.“ „Jede von ihnen kannte sich auf der Straße aus. Und jetzt Herrgott - jetzt sind sie alle tot.“ Ohne zu antworten, nahm sie ihren Rundgang wieder auf. Bill atmete langsam aus. Er durchschaute sie jetzt. Erkannte die quälende Ruhelosigkeit, die sie antrieb. „Was ist sonst noch vorgefallen, während Copeland bei dir auf der Veranda war?“ erkundigte er sich ruhig. „Ich habe ihn mit ein paar falschen Informationen über den Mord an Carly Bennett versorgt.“ „Was für Informationen?“ Ein spitzbübisches Funkeln blitzte in ihren Augen auf. „Ich habe ihm gesagt, ich hätte die Vermutung, der Verdächtige käme mit Frauen sexuell nicht zurecht.“ „Du hast seine Männlichkeit herausgefordert.“ „Genau!“ bestätigte sie und machte einige Zentimeter vor Bill Halt. „Wenn unser Goldjüngelchen nicht der Mörder ist, wird meine Bemerkung völlig bedeutungslos für ihn sein. Ist er es aber doch, dann wird diese kleine Attacke auf sein Ego ihn womöglich so aufregen, dass er anfängt, Fehler zu machen.“ „Und da du diejenige bist, die ihn attackiert, wird er seinen ganzen Unmut gegen dich richten.“ „Mit so was muss ich rechnen.“ Die Hände in die Hüften gestemmt, sah Bill ihr direkt in die Augen. „Wenn er hinter dir her ist, dann hat er die Absicht, dir seine Männlichkeit unzweifelhaft zu beweisen. Wie, zum Teufel, meinst du wohl, wird er das anstellen?“ Sie schob das Kinn vor. „Wenn er hinter mir her sein sollte, dann greife ich ihn mir, und dann haben wir ihn. Es dürfte ihm reichlich schwer fallen, zu vergewaltigen, zu quälen und zu morden, wenn er hinter schwedischen Gardinen sitzt.“ Blitzartig ergriff Bill ihre Arme und presste Whitney gegen die Wand. - 92 -
„Wenn du ihn erwischst. Wenn er dich zuvor nicht vergewaltigt, quält und dann umbringt.“ Sie stieß ihm die Hand gegen die Brust. „Hör mal, ich bin seit Jahren auf der Straße unterwegs und habe schon mehr von diesem Pack hinter Gitter gebracht, als du jemals im Gerichtssaal unter Anklage gestellt hast. Das ist nun mal mein Job, und darin bin ich ganz gut. Verdammt gut.“ Sie senkte den Blick zu der Stelle, wo er ihre Unterarme mit den Händen umklammert hielt. „Selbst jetzt, wenn ich nicht wollte, dass du mich anfasst, könnte ich es ohne weiteres verhindern.“ „Ich weiß. Ich weiß“, lenkte er sanft ein. „Du bist schließlich ausgebildet.“ Er dachte an die Waffe, die neben der Polizeimarke an ihrer Taille im Futteral steckte. „Ich weiß auch, dass du mit deinem Revolver einem Mann den Kopf von den Schultern schießen könntest. Verdammt, Whitney, das spielt im Zweifelsfall nicht die geringste Rolle. Nicht wenn ich mir vorstelle, was Copeland dir antun könnte.“ Whitney blickte ihn weich an; sie öffnete die Hände, die sie gegen seine Brust gepresst hatte, und legte sie ihm sanft auf die Schultern. „Nichts ist passiert. Ich ... nichts ist passiert.“ Hätte sie nur den trotzigen Blick in den Augen beibehalten, er hätte sich noch zurückhalten können. Aber die Offenheit, diese Verletzlichkeit, machte all seine Vorsätze hinfällig. Er legte ihr die Hand an den Hals. Unter der Haut raste ihr Puls. „Ich rede mir ständig zu, ich müsste auf Distanz bleiben.“ Er blickte auf ihre üppigen Lippen. „Dass keiner von uns schon dafür bereit ist, dass auf Distanz zu bleiben das einzig Vernünftige ist.“ „Vernünftig ...“ Sie schloss die Augen. „Wir müssen vernünftig bleiben.“ „Ich kann es aber nicht.“ Er strich ihr über die Hüfte, kämmte mit den Fingern sanft durch das braune Haar. „Vernunftregeln sind einfach nicht anwendbar auf dass, was zwischen uns passiert, jedenfalls nicht für mich.“ Sie blickte ihn an; ihre Augen hatten ein dunkles Grün - 93 -
angenommen. „Für mich auch nicht.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin so verwirrt über das alles.“ „Geht mir genauso“, stellte Bill fest. Er bog ihr den Kopf zurück. „Vielleicht sollten wir auf die Vernunft pfeifen und uns einfach auf unser Gefühl verlassen?“ schlug er vor. „Ja.“ Er küsste sie, nahm den Geschmack ihrer Lippen in sich auf. Leidenschaftlich presste er sie an sich, um sie ganz zu spüren. Ihr Mund war warm und feucht. Sie küsste ihn auf eine unwiderstehliche drängende Art, die ihn fast um den Verstand brachte. Bill stöhnte leise. Sein Kuss wurde fordernd, er wollte sich noch mehr von dem nehmen, was sie so bereitwillig darbot. Als sie seinen Nacken umschlang, ihm durchs Haar fuhr, war es, als durchzuckten ihn Stromstöße. Er zog sie so eng an sich, dass sie miteinander zu verschmelzen schienen. Ihre Hitze übertrug sich auf ihn. Er dachte an nichts, wusste nur, dass ihr anschmiegsamer Körper ihn bis zur Unerträglichkeit erregte. Er begehrte sie. Er wollte ihr die Seidenbluse ausziehen, und mit ihr ins besinnungslose Nichts versinken. Als er den Mund von ihr löste, seufzte sie tief wie zum Protest. Er presste die Lippen an ihren Hals, spürte ihren Puls hart und schnell pochen. Sein eigenes Herzklopfen dröhnte ihm dumpf im Kopf. Er flüsterte unverständliche Worte, während er mit den Lippen den köstlichen Bogen ihres Halses abtastete. Sie drängte sich ihm noch stärker entgegen. Er küsste sie mit plötzlich aufwallender Heftigkeit, strich ihr über den Po, folgte der üppigen Kurve ihrer Brust, bis er die seidenbedeckte Knospe unter der Handfläche spürte und ihre harte Kontur langsam mit den Fingern umschloss. Er hörte, wie sie seufzend einatmete, spürte, wie sie erschauerte. Sie umklammerte seine Schultern und presste sich in verzehrendem Verlangen an ihn. Ein unvermitteltes Klingeln zerschnitt die Stille des Raums. - 94 -
„Was ... zum Teufel ... ist das?“ „Telefon“, keuchte sie unter Küssen. „Telefon.“ Sein Telefon, fiel es Bill siedend heiß ein, als sein Verstand langsam wieder zu arbeiten begann. Er fluchte leise. Warum musste sein Boss ausgerechnet jetzt außer Landes sein und ihm alles aufhalsen? Er schob Whitney gerade so weit von sich, um nervös in der Tasche seines Jacketts nach dem Mobiltelefon angeln zu können. Mit den Lippen dicht an ihrem Mund, flüsterte er: „Ich mach’s kurz. Ganz kurz.“ „Ja“, erwiderte Whitney schwer atmend und mit schwankender Stimme. Ihre Brust hob und senkte sich. Das zerzauste rotbraune Haar umrahmte ihr Gesicht wie eine duftige Wolke. Er klappte den Apparat auf und raunzte seinen Namen hinein. Sekunden später versteifte er den Griff um Whitneys Taille. „Ich konnte Ihren...“ Bills Stimme verstummte, als ihm klar wurde, dass die Leitung tot war. „Teufel.“ Er klappte den Apparat nachdenklich zu, nahm den Arm von ihrer Hüfte und trat zurück. Die Polizistin in ihr war sofort alarmbereit. „Wie?“ Whitneys Gesicht war gerötet, der Mund von Küssen geschwollen, ihr Blick aber bereits wieder hart. Sie griff nach seinem Arm. „Was ist los?“ „Ein anonymer Anruf.“ Er schüttelte den Kopf. „Niemand gibt die Nummer meines Mobiltelefons heraus. Meine Sekretärin nicht. Niemand. Woher hat er sie nur?“ „Ich weiß nicht ...“ Sie runzelte die Stirn und warf das Haar in den Nacken. „Was hat er denn gesagt?“ Bill blickte ihr unsicher in die Augen und strich ihr zärtlich eine wirre Strähne hinters Ohr. „Dass der Mann, der all die Stricherinnen umgebracht habe, ein Cop sei.“
- 95 -
8. KAPITEL Zehn Minuten später durchschritt Whitney nervös das Büro ihres Chefs von einem Ende zum anderen. Ihr war bewusst, dass es nicht allein der anonyme Anruf war, der sie so aufgewühlt hatte, sondern eher das, was zwischen ihr und dem Staatsanwalt gerade passiert war. Während sie auf und ab ging, warf sie einen Blick zur Seite. Bill saß auf einem der beiden Stühle vor dem Schreibtisch in Lieutenant Ryans Dienstzimmer. Er zeigte seinen üblichen, kühl-geschäftsmäßigen Gesichtsausdruck, trug seinen untadeligen dunklen Anzug, gestärktes Hemd und Seidenkrawatte. Hätte sie es nicht selbst erlebt, Whitney hätte es für einen Traum gehalten, dass dieser Mann sie noch vor wenigen Augenblicken in seinem Büro wie rasend geküsst und berührt hatte. Aber ihre brennenden Lippen, die aufgepeitschten Nerven, der noch immer heftig pochende Puls überzeugten sie von der Wirklichkeit dessen, was zwischen ihnen geschehen war. Im Stillen war sie dankbar dafür, dass Bills volle Mähne nicht zerzaust wirkte, ihr Lippenstift kussecht war und dass sein maßgefertigter Anzug keine Spuren ihrer leidenschaftlichen Umarmungen zeigte. Sie spreizte die Finger, als sie bei einem Aktenschrank anlangte, machte kehrt und nahm ihren Gang wieder auf. Sie hatten sich hier versammelt, um über den anonymen Anruf zu diskutieren. Doch sie konnte ihre Gedanken nicht von dem Mann lösen, der ihre Welt auf den Kopf gestellt hatte. Wenn Bills Telefon nicht gerade in diesem Moment geklingelt hätte, wie weit wären sie dann gegangen? „Ein Polizist“, stellte Lieutenant Ryan hinter seinem ordentlich aufgeräumten Schreibtisch fest. „Bill, sind Sie sicher, den Anrufer richtig verstanden zu haben?“ „Absolut, Mike. Die Stimme war zwar verzerrt, wie aus - 96 -
einem Synthesizer, aber die Verbindung war einwandfrei. Er sagte deutlich, der Mann, der die sieben Strichmädchen umgebracht habe, sei ein Polizist.“ Whitney lehnte sich mit der Schulter gegen den nächsten Aktenschrank und verschränkte die Arme. „Es lässt sich nicht ausschließen - bei Mord ist nichts ausgeschlossen. Wir haben sieben Morde, aber keinerlei Spuren. Das bedeutet, der Mörder ist schlau und vorsichtig. Ein Polizist wüsste durchaus, wie man belastendes Beweismaterial vermeidet.“ „Das kann man genauso über jemanden sagen, der schon mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist, inzwischen aber gelernt hat, sich nicht erwischen zu lassen“, warf Ryan ein. „Wie wollen Sie jetzt weiter vorgehen?“ Sobald ich den Bericht über den anonymen Anruf abgefasst habe, schicke ich eine Kopie an A.J. Sie soll analysieren, ob das Täterprofil, das sie von dem Mörder erstellt hat, auch auf einen Polizisten passen könnte.“ „Gut“, sagte Ryan und schwieg eine Weile. „Wir sollten uns allerdings auch überlegen, warum dieser Kerl sich ausgerechnet einen Staatsanwalt für seinen Anruf ausgesucht hat“, nahm er nach einiger Zeit das Gespräch wieder auf. „Warum hat er sich nicht an den mit dem Fall befassten Polizisten gewendet?“ „Ja, das ergibt keinen Sinn“, meinte Whitney, die neben Bill Platz genommen hatte. „Es sei denn, Copeland wäre der Anrufer.“ „Der Wohltätigkeitsball!“ bemerkte Bill. „Copeland hat uns dort zusammen gesehen, also stellt er wohl eine Verbindung zwischen uns her. Aus den Augenwinkeln konnte Whitney wahrnehmen, wie Ryan den Blick misstrauisch zwischen Bill und ihr hin und her schweifen ließ. Eine Sekunde lang hob ihr Chef die dunklen Augenbrauen. Ob er wohl etwas ahnt? fragte sich Whitney. Aber damit konnte - 97 -
sie sich jetzt nicht auch noch beschäftigen. Sie musste einen Fall lösen. Am Nachmittag ließ Whitney sich von einem Kollegen zur Werkstatt fahren, um ihren Wagen zu holen, war aber rechtzeitig wieder auf der Dienststelle, um A.J. Ryan noch abzupassen, bevor das Polizeilabor für diesen Tag schloss. Whitneys Magen brannte. Die letzten beiden Tabletten hatte sie heute Morgen geschluckt, jetzt war die Packung leer. Als die Freundin ihr einen Platz vor ihrem überladenen Schreibtisch anbot, ließ Whitney sich dankbar in den nächsten Sessel sinken. „Danke, dass du auf mich gewartet hast.“ Sie beugte sich vor und reichte A.J. die Orangenlimonade, die sie auf dem Weg hierher aus dem Automaten geholt hatte. „Kein Problem. Mike muss heute Abend zu einer Konferenz, da dachte ich, ich bleibe hier und nehme mir etwas von dem Papierkram vor.“ A.J. setzte ihre Lesebrille auf. Langes schwarzes Haar umrahmte ihr schön geschnittenes Gesicht mit dem ebenmäßigen Teint. Sie war eine zierliche Frau mit einem geschmeidigen Körper. Vor fast zwei Jahren hatte sie Lieutenant M. Ryan geheiratet. Whitney hatte ihren Boss und ihre Freundin mehrfach glühende Blicke austauschen sehen und sich oft gefragt, ob sie selbst so etwas Schönes jemals wieder würde erleben dürfen. Sie glaubte nicht daran. Jedenfalls bis vor kurzem. Whitney öffnete eine Milchtüte, die sie für sich selbst besorgt hatte. Sollte die Milch das Brennen nicht löschen, wollte sie auf dem Heimweg noch einmal bei ‘Spurs’ Station machen, um sich von Darrold einen seiner Kräuterdrinks mixen zu lassen. „Jetzt kommt die alles entscheidende Frage: Könnte der Killer ein Polizist sein?“ fragte sie. A.J. stellte ihre Limonade ab und stützte die Ellbogen mitten in ein Durcheinander aus Aktenordnern und Ausdrucken. - 98 -
„Könnte schon sein. Fest steht jedenfalls, dass jemand mit einem Polizeiabzeichen sich im Griff hat. Ein Polizist muss bei einem Feuergefecht die Schüsse mitzählen, gleichzeitig muss er Anweisungen geben und spontan Entscheidungen treffen. Wenn ein Mörder ein Opfer in seiner Gewalt hat, verhält er sich ähnlich.“ „Tja, alles, was wir Polizisten so machen, wirkt immer so selbstverständlich.“ Whitney lehnte sich entspannt in den Sessel zurück und streifte ihre Schuhe ab. „Ich denke, dass unser Mann in einer Umgebung groß geworden ist, in der er manipuliert und von anderen beherrscht wurde. Es wäre nicht allzu überraschend, wenn er sich für einen Beruf entschieden hätte, wo er selbst dominieren kann.“ „Tagsüber ein Polizeibeamter und nachts der Fürst der Finsternis.“ Whitney drückte mit der Handfläche gegen die Stelle, wo ihr Magen am heftigsten schmerzte. A. J. fragte besorgt: „Alles in Ordnung?“ „Sodbrennen, nichts weiter.“ Whitney nahm noch einen Schluck Milch. „Die Tests, denen wir uns unterziehen mussten, all die Befragungen zu unserem persönlichen Hintergrund, um überhaupt zur Polizeiakademie zugelassen zu werden, verraten sicher nicht alles, aber der Kerl, der diese Morde begeht, ist ein ausgemachter Sadist. Falls er wirklich Polizist ist: Wie hat er es geschafft, alle zu täuschen?“ „Die meisten Serientäter sind routinierte Lügner und perfekte Schauspieler.“ A.J. zuckte mit den Schultern. „Denk an Bundy. Er streifte sich einen falschen Gips über, um sich die Sympathien der Frauen zu erschmeicheln und sie in die Finger zu kriegen.“ „Und dieser Kerl, hinter dem ich her bin, ist genauso, sagen wir mal normal wie du und ich?“ erkundigte sich Whitney. „Er wirkt ganz normal, das ist der Unterschied. Die Morde sind klassische Lustmorde - von einer Person begangen, die zwar eine schwere Persönlichkeitsstörung hat, sie aber nur in gewissen - 99 -
Momenten auslebt.“ „Schöne Störung“, schnaubte Whitney. „Ich habe sieben tote Frauen und keine einzige heiße Spur.“ Sie nippte an ihrer Milch. „Warum der Typ sich ausgerechnet Prostituierte aussucht, könnte man ja damit erklären, dass es kein Problem ist, eine Professionelle ins Auto zu bekommen. Außerdem wird ein Straßenmädchen nicht so schnell vermisst.“ „Möglich wäre aber auch, dass er unbewusst auf käufliche Frauen fixiert ist“, gab A.J. zu bedenken. „Dass er besessen ist von dem, was sie darstellen. Womöglich rührt seine vordergründige Abscheu vor ihnen aus einem tieferen Verlangen nach ihnen. Eine Frau, die sich auf der Straße anbietet, ist unter seiner Würde. Er tötet sie, um ihr seinen Ekel, aber auch seine Überlegenheit zu zeigen.“ Whitney wiegte den Kopf. „Das liefe darauf hinaus, dass er die Welt von den Objekten seiner eigenen Begierde und seiner Verachtung befreien will.“ „Das erscheint mir plausibel.“ „Reichlich krank“, stellte Whitney fest. „Und am Ende ist er womöglich auch noch ein Cop.“ „Vielleicht aber auch nicht.“ A.J. machte eine Pause. „Ich habe den Bericht über Copelands nächtlichen Besuch bei dir gelesen. Kann sein, dass ihm gefallen hat, was er bei seiner Verhaftung von dir zu sehen bekam. Er ist eitel genug, sich einzubilden, sein Charme würde reichen, dich zu einem Rendezvous zu überreden.“ „So viel Charme gibt es auf der ganzen Welt nicht.“ „Was immer er für Absichten verfolgt, ich würde sein Interesse an dir ernst nehmen. Mir kommt es irgendwie so vor, als habe Copeland dich letzte Nacht testen wollen.“ Whitney ließ abwesend die Hand über ihre Waffentasche an der Hüfte gleiten. „Mich testen, wofür?“ „Kommt darauf an, was er vorhat. Aber das wissen wir leider nicht.“ „Noch nicht, doch ich werde es herausfinden.“ - 100 -
A.J. legte die Stirn in Falten. „Du denkst, Copeland ist der anonyme Anrufer?“ „Ich habe leider keinen einzigen Beweis, aber ich weiß es trotzdem. Instinkt, Gefühl ...“ „Eine, Sache bei dem Anruf beschäftigt mich“, begann A.J. wieder. „Copeland ist bei dir aufgetaucht, weil du eine ganz besondere Rolle für ihn spielst. Nehmen wir mal an, sein Besuch hat ausschließlich mit dem Fall zu tun. Dein Name stand groß in den Zeitungen, er weiß also, du bist die leitende Ermittlerin. Wenn er dich mit einem Verdächtigen in Verbindung bringen könnte - dem unbekannten Polizisten -, hätte das großen Einfluss auf die gesamte Untersuchung, also auch auf dein Vorgehen. Ich denke, wenn Copeland wirklich der Anrufer wäre, würde er dich oder einen für den Fall direkt Zuständigen anrufen. Ich nehme an, der Staatsanwalt ist aus rein beruflichen Gründen in den Fall involviert?“ „Tja ...“ Whitney fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Es gibt einen Gesichtspunkt, den ich in dem Bericht schlecht erwähnen konnte.“ A.J. ließ sich in ihren Stuhl zurücksinken. „Du meinst, Bill Taylor ist auch aus persönlichen Gründen an der Untersuchung interessiert?“ „Sagen wir, er interessiert sich für einen der Untersuchenden.“ „Ich kann mir schlecht vorstellen, dass der Staatsanwalt ein Auge auf Jake geworfen hat. Es geht also um dich?“ „Ja.“ Whitney umfasste ihre Schultern. „Irgendwie. Copeland hat wahrscheinlich gesehen, wie Bill und ich auf dem Wohltätigkeitsfest miteinander getanzt haben, und sich wohl etwas zusammengereimt.“ A.J. hob die Augenbrauen. „Ihr habt getanzt?“ „Nun ... wir waren beide da, um Copeland zu beobachten.“ Whitney studierte intensiv ihre Füße unter dem Schreibtisch. „Es war ziemlich laut, also haben Bill und ich getanzt, um ungestört über den Fall sprechen zu können. Das hat wohl so ausgesehen, - 101 -
als wären wir irgendwie liiert...“ „Aha Also du und Bill, ihr seid irgendwie liiert. Definiere mir bitte irgendwie.“ „Hab ich doch“, maulte Whitney. „Hör mal, A.J., zwischen uns läuft rein gar nichts. Ich habe das nur erwähnt, um das Täterprofil eventuell zu ergänzen.“ „Vergessen wir doch mal die Täterstudie.“ A.J. erhob sich, kam um den Tisch und setzte sich auf den Stuhl neben Whitney. „Wir sind jetzt seit einem Jahr befreundet, und die ganze Zeit habe ich ständig von dir gehört, dass du von Männern die Nase voll hast. Und nun tanzt du mit einem Staatsanwalt, der rein zufällig so sexy ist wie die Sünde selbst. Ich glaube dir kein Wort, dass ihr nur getanzt habt.“ Diese Beschreibung ließ Whitney heiß zusammenzucken. Weiß Gott, und wie sexy! A.J. hob energisch das Kinn. „Du kommst hier nicht eher raus, bis ich sämtliche Einzelheiten weiß.“ „Na schön, wir haben uns geküsst. Ein paar Mal. Nur geküsst ...“ Eine heiße Welle stieg in ihr hoch, als sie sich daran erinnerte, mit welcher Intimität Bill ihre Brust umfasst hatte. Wie sich diese Berührung wohl angefühlt hätte ohne die Seide dazwischen? Bei dem Gedanken verkrampfte sie die Zehen. „Es war rein körperlich. Es packte uns plötzlich, als wir zusammen waren“, brach es aus ihr hervor. „Es hat euch gepackt, soso.“ „Es war ein Fehler.“ Noch durch den Anzugstoff hatte sie die verhaltene Kraft seiner muskulösen Schultern spüren können. „Ein absoluter Fehler.“ „Wieso?“ Whitney wandte den Blick ab. „Das fragst du noch? Vor einem Jahr wollte er Julia Remington heiraten. Er hat sie geliebt, und sie ließ ihn übel fallen. Das muss ihm das Herz gebrochen haben. Darüber kommt man nicht so ohne weiteres hinweg.“ - 102 -
„Das erklärt aber nicht, wieso ihn zu küssen ein Fehler sein soll.“ „Dieser Mann will sich nur ablenken. Er kann gar nicht anders.“ Whitney fuhr sich nervös durchs Haar. „Ich weiß besser als sonst wer, wie das ist. Als meine Ehe in die Brüche ging, war lange Zeit nichts mit mir anzufangen - manchmal denke ich, das ist noch immer so. Ich wusste nicht mehr, was ich wollte oder wen oder unter welchen Umständen. Ich habe nur noch wie in Trance gehandelt, war unfähig zu einem klaren Gedanken, habe mich auf alles gestürzt, was Ablenkung versprach.“ „Und jetzt glaubst du, Taylor würde das gerade auch durchmachen?“ „Er streitet es ab, aber ich weiß es besser.“ Whitney schüttelte den Kopf. „Auf alle Fälle habe ich bei der Auswahl meiner Liebschaften wirklich eine erbärmliche Erfolgsquote. Ich möchte einfach nicht schon wieder einen Fehler machen. Ich könnte es nicht ertragen.“ „Ob es ein Fehler ist, kannst du aber nur feststellen, wenn du den Dingen ihren Lauf lässt.“ Whitney unterdrückte die Frustration, die sie plötzlich überkam. Sie warf die leere Milchtüte in den Abfallkorb neben dem Schreibtisch, schlüpfte in ihre Schuhe und stand auf. „Ich muss einen kühlen Kopf behalten.“ Und sie musste dringend eine neue Packung Medikamente besorgen, denn trotz der Milch brannte ihr Magen wie die Hölle. „Da draußen läuft ein sadistischer Killer herum. Man erwartet von mir, dass ich mit Taylor zusammenarbeite und nicht, dass ich mit ihm ins Bett gehe.“ „Was erwartet wird, ist selten das, was wirklich eintritt.“ „Sag das deinem Ehemann, meinem Boss, wenn er sich erkundigen sollte, was der Staatsanwalt und ich während unserer Dienstzeit treiben.“ „Michael kannst du getrost mir überlassen“, sagte A.J. und - 103 -
machte eine abwehrende Geste mit der Hand. „Ich brauche ihn nur daran zu erinnern, wie jämmerlich wir beide versagt haben, als wir versuchten, während unseres ersten gemeinsamen Mordfalls die Hände voneinander zu lassen.“ Whitney sah sie groß an. „Ehrlich?“ „Ganz ehrlich. Im Rückblick denke ich, wir waren völlig verrückt.“ Whitney rieb sich die Stirn. „A.J., ich kann nicht mehr geradeaus denken. Ich habe immer nur meine Arbeit im Kopf gehabt. Plötzlich erscheint Bill, wie aus dem Nichts, und wirft mich völlig aus der Bahn. Ich weiß überhaupt nicht, wie das passieren konnte. Ich weiß noch nicht einmal, was passiert ist.“ Lächelnd erhob sich A.J. „Was es auch sein mag, es kam dir richtig vor, also ist es passiert.“ „Es muss aber wieder ungeschehen gemacht werden. Wenigstens bis zum Abschluss dieses Falles.“ „Hört sich vernünftig an. Viel Glück.“ Barfuß und in verwaschenen Jeans ließ Bill den Blick über den Inhalt seines Kühlschranks schweifen. Er hatte großen Hunger und konnte sich dennoch nicht dazu aufraffen, etwas dagegen zu unternehmen. Zu essen war reichlich vorhanden, und kochen konnte er eigentlich auch. Schließlich hatte seine Mutter, eine Gourmetköchin, ihren Kindern mehr beigebracht, als nur eine Suppe aufzuwärmen. Er könnte zum Beispiel einen Salat aus frischem Spinat zubereiten, dazu italienisches Brot, vielleicht noch eine marinierte Hühnchenbrust in den Grill schieben oder sich wenigstens ein Omelett braten. Nein, er hatte keine Lust. Zumindest nicht auf Essen. Missmutig schlug er die Kühlschranktür wieder zu. Eigentlich hätte er schon längst im Bett sein sollen. Stattdessen hatte er einen dicken Stapel von Berichten durchgearbeitet, den er aus dem Büro mitgenommen hatte. Dann hatte er sich durch zahllose TV-Kanäle geschaltet, nur um - 104 -
nicht denken zu müssen. Nachdem der Fernsehapparat abgeschaltet war, breitete sich im Haus Stille aus. Unangenehme Stille. Die Ruhe hatte ihn nie gestört, und bis vor einer Woche war sie ihm nicht einmal aufgefallen. Jetzt dachte er jedes Mal, wenn er durch die Eingangstür trat, wie ruhig es hier war. Und leer. Er wusste nicht mehr, was er mit sich anfangen sollte. Seine Gedanken kreisten nur um eine langbeinige Polizistin vom Morddezernat. Im Moment stellte er sich gerade vor, wie er sie nackt in seinem Schlafzimmer vorfinden würde, wenn er dort hineinging, das braune Haar wie ein Fächer über das Kissen ausgebreitet, Verlangen in den grünen Augen. Bill lehnte sich gegen die Kühlschranktür und betrachtete seufzend seine Küche. Dank der unermüdlichen Hingabe seiner Haushälterin glänzten die blauen Thekenoberflächen, Kupfergeschirr hing in geordneten Reihen an Haken über der Kochinsel, der schneeweiße Fliesenboden funkelte im Deckenlicht. Der Rest des Hauses war ebenso sauber und aufgeräumt. Wie sein Leben bis vor einer Woche. Doch dann war er dieser Frau begegnet, und nichts war mehr so, wie es war. Was für ein heilloses Durcheinander! Voller Unmut trommelte er mit den Fäusten gegen die Oberschenkel. Diese Grübelei über Whitney Shea brachte doch rein gar nichts. Zum ersten Mal seit einem Jahr war er von einer Frau andauernd und heftig angezogen, und sie hielt seine Leidenschaft lediglich für eine Körperreaktion, ungefähr so, als ob er mit Brennnesseln in Berührung gekommen wäre. Aber hatte sie nicht Recht? Es war einfach ausgeschlossen, dass ein Mann, der seine letzte Beziehung kaum überwunden hatte, sich so in eine Frau verlieben konnte. Er kniff die Augen zusammen. Oder doch? Niemals! sagte er sich mit Nachdruck. Allerdings, war er über Julia nicht schon seit einiger Zeit hinweg? Auch wenn er noch nicht fähig war, über eine feste Beziehung nachzudenken, so - 105 -
war er doch bereit, einen ersten Schritt in diese Richtung zu tun. Das einzige Problem bestand darin, dass er nicht genau wusste, was „einen ersten Schritt tun“ in Bezug auf Whitney Shea bedeutete. Sex, sicher. Er begehrte sie körperlich, so viel stand fest. Aber wollte er auch eine Gefühlsbeziehung? War er schon imstande dazu? Erschöpft presste er die Handballen gegen die Augen. Die schlaflosen Nächte, in denen er über Whitney grübelte, hatten seinen Verstand benebelt. Er schien kaum eines klaren Gedankens mehr fähig und weit entfernt von seiner vollen Leistungsfähigkeit. Er wusste nur eines: Er musste auf der Hut sein. Gerade hatte er sein Leben wieder einigermaßen in Ordnung gebracht. Er konnte unmöglich schon wieder sein Herz aufs Spiel setzen. Außerdem wollte er Whitney nicht verletzen. Niemals. Bis sie beide sicher wussten, was wirklich mit ihnen geschah - und wie sie damit umgehen sollten -, wäre es besser, sie blieben auf Distanz. Das Läuten des Telefons zerriss die Stille und unterbrach Bills Gedanken. Als er die Küche durchquerte, hoffte er im Stillen, es möge Whitney sein. „Dich hat’s bös erwischt, Kumpel“, knurrte er, bevor er den Hörer abnahm. „Ich habe weitere Neuigkeiten.“ Bills Schultern versteiften sich. Es war die gleiche Stimme wie die des anonymen Anrufers auf seinem Mobiltelefon heute Morgen. Jetzt rief diese namen- und gesichtslose Stimme bei ihm zu Hause an. Bill schaute auf das Display seines Telefons. Anonymer Teilnehmer, las er. Er langte zum Anrufbeantworter und betätigte den Aufnahmeschalter. „Ich brauche Ihren Namen“, erklärte Bill gelassen. „Was Sie brauchen, sind die Informationen, die ich habe.“ „Und Ihren Namen“, wiederholte Bill. Ob die verzerrte Stimme die von Andrew Copeland war, konnte er nicht sagen. „Ihre - 106 -
Identität wird vertraulich behandelt, Mister ...“ „Sie möchten doch endlich in diesem Nuttenfall weiterkommen, oder?“ Bill umklammerte den Hörer mit schmerzhafter Heftigkeit. „Ich werde Ihre Informationen in Betracht ziehen.“ „Na gut. Dann hören Sie zu.“ Es rauschte kurz in der Leitung, dann wurde die Verbindung wieder klar. „Wissen Sie, welcher Bulle diese Flittchen umgelegt hat?“ „Haben Sie irgendwelche Beweise dafür, dass ein Polizeibeamter diese Morde begangen hat?“ „Lassen Sie die verdammten Beweise doch die Polizei selbst besorgen Ich gebe Ihnen jetzt den Namen, und dafür sollten Sie mir dankbar sein.“ „Ich höre...“ „Jake Ford.“ Die durch einen Synthesizer verzerrte Stimme krächzte durch die Leitung. „Jake Ford ist der Bulle, der all die Weiber kaltgemacht hat.“ Bill schloss die Augen. „Jake Ford“, wiederholte er matt. „Ganz genau. Jetzt müssen Sie ihn nur noch schnappen.“ „Ich möchte Ihren Namen wissen“, wiederholte Bill. „Ich will genau wissen, was für Beweise ...“ „Ford ist ein Wahnsinniger. Er ist wirr im Kopf. Schon seit drei Jahren macht er die Weiber kalt, direkt vor jedermanns Nase, einschließlich Ihrer.“ „Wir müssen uns treffen. Sagen Sie mir nur, wann und wo“, forderte Bill. „Nichts zu machen, Taylor. Keine Zeit mehr. Ford macht übrigens gerade die nächste Nutte fertig, während wir hier sprechen. Er schneidet sie in Streifen.“ „Wo ist er?“ „Das müssen Sie schon selbst herausfinden.“ Es klickte in der Leitung. Dann Stille.
- 107 -
9. KAPITEL Als Bill die Treppe zur Veranda des zweistöckigen Backsteinhauses hochstieg, musste er sich eingestehen, dass er überrascht war. Das Haus strahlte von außen eine gemütliche, fast schon romantische Atmosphäre aus. Er hätte in Whitney nicht die Frau vermutet, die Rosen und Geißblatt züchtet. Genauso wenig konnte er sich vorstellen, wie sie auf der hölzernen Verandaschaukel geruhsame Abende verbrachte. Aber das würde er ja bald herausfinden. Etwas in ihm wollte jede Facette dieser Frau entdecken, die jedes Mal, wenn er sie traf, rätselhafter wurde. Jedes Mal, wenn er sie küsste. Er schritt über die Veranda und verharrte einen Moment in dem safranfarbenen Licht der altmodischen Laterne, die über der Eingangstür hing. Sein Gefühl sagte ihm, dass Whitney zu Hause war. Außerdem schimmerte ein schwacher Lichtschein durch eines der Fenster in der oberen Etage. Statt einfach so kurz nach Mitternacht hier aufzutauchen, hätte er eigentlich auch anrufen können. Oder bis zum Morgen warten können, um Whitney von den anonymen Beschuldigungen gegen ihren Partner in Kenntnis zu setzen. Schließlich waren diese völlig haltlos. Hätte ich wenigstens eine Spur von Jake Ford gefunden, dann würde ich jetzt auch nicht hier stehen, versuchte Bill sich einzureden, während er auf den Klingelknopf blickte und mit dem Finger unschlüssig darauf zielte. Aber Sergeant Ford war nicht zu Hause gewesen und auch nicht in jenem Club, wo sich die Cops nach Dienstschluss für gewöhnlich trafen. Bill war noch in drei andere Clubs gegangen, um nach Jake zu suchen. Aber keine der Personen, bei denen er sich erkundigte, hatte ihn an diesem Abend gesehen. Alle Nachrichten, die Bill über die Einsatzzentrale der Polizei an Fords Rufmelder übermittelt hatte, blieben unbeantwortet. - 108 -
Bill tastete über seine verspannten Nackenmuskeln. Es war nicht so, als hielte er das, was der anonyme Anrufer über Ford gesagt hatte, für glaubwürdig. Es war lediglich eine gewisse Unruhe, die ihn dazu gebracht hatte, sich von der Polizeizentrale Whitneys Adresse geben zu lassen. Irgendetwas ist hier faul, sagte ihm sein Gefühl, und er wollte ihre Meinung dazu hören. Zum hundertsten Mal seit jenem zweiten Anruf wanderten seine Gedanken zurück zu der Nacht, in der sie das „Encounters“ verlassen hatten. Sie hatte signalisiert, sie habe Angst um Jake. „Ich fürchte, ohne Hilfe schafft er es nicht“, hatte sie gesagt. „Ich mag ihn, aber ich dringe nicht mehr zu ihm durch.“ Bill fragte sich, wie ein Mann, der mit dem plötzlichen Verlust von Frau und Kindern fertig werden musste, überhaupt noch funktionieren konnte. Langsam atmete er aus und betätigte die Türklingel. Eine Minute später drang trübes Licht durch das weite Erkerfenster. Das Schloss über dem Türknopf wurde mit einem scharfen Schnappen geöffnet, und die Tür schwang auf. Im nächsten Moment fand sich Bill einem streng blickenden Sergeant mit zerzaustem Haar gegenüber. Sie hatte eine Pistole in der Hand, der Lauf zeigte jedoch nach unten. „Ist es nicht ein bisschen spät für einen Höflichkeitsbesuch, Taylor?“ Ein Dutzend Herzschläge lang gestattete sich Bill, den Anlass seines Besuches zu vergessen und einfach nur den Moment auszukosten. Whitney war ungeschminkt, und im Schein der Laterne waren ihre Augen kaum zu sehen, so dass Wangenknochen und Kinn stärker hervortraten. Auf ihren seidigen Haarsträhnen spielte das Licht. Das ausgebleichte T-Shirt gab aufreizend eine Schulter frei. Die kurzen Shorts, die knapp unter dem Saum des T-Shirts hervorlugten, enthüllten gebräunte Schenkel und jene endlosen Beine, die jeden Mann - 109 -
ins Schwärmen bringen konnten. Als Bill so auf sie herunterblickte, wurde ihm bewusst, dass er sie zum ersten Mal ohne hochhackige Schuhe sah und sie fast einen Kopf kleiner war als er. Was ihr allerdings an Körpergröße fehlte, machte die blau schimmernde Automatik mehr als wett. Selbst mit der zu Boden gerichteten Mündung wirkte sie noch beeindruckend genug. Er deutete ein schwaches Lächeln an, während er die Hände hob. „Ich ergebe mich freiwillig, Sergeant.“ Whitney blinzelte. Nachdem sie vom Läuten der Türglocke aufgeschreckt worden war, hatte sie sich lautlos zur Tür bewegt und einen Blick durch den Spion geworfen. Hätte sie Andrew Copeland erblickt, sie hätte genau gewusst, wie sie reagieren würde. Ihre Polizeimarke gab ihr dazu den Rückhalt. Was den Staatsanwalt betraf, so nützte ihr das goldene Abzeichen allerdings herzlich wenig. Es konnte ihr keine Anweisungen geben, wie sie sich verhalten sollte, sie nicht mit Regeln versorgen, denen man einfach nur zu folgen brauchte. Whitney spürte, wie die intime Musterung, der Bill sie beim Öffnen der Tür unterzogen hatte, ihr das Herz bis zum Hals schlagen ließ und sie in helle Aufregung versetzte. Es half auch nichts, dass ihr Magen heftiger brannte als der tiefste Höllenschlund. Sie presste eine Hand gegen die Stelle am Oberbauch, wo der Schmerz den Tag über am heftigsten gewütet hatte. Die Qual hatte zwar nach einer von Darrold Kuffs Kräutermixturen etwas nachgelassen. Doch das Brennen war immer noch stark genug, um ihr den Schlaf zu rauben. Also hatte sie zu Hause erneut die ganzen Berichte gewälzt, entschlossen, jedes Detail des Prostituierten-Mordfalls noch einmal durchzugehen. Dummerweise waren ihre Gedanken stattdessen hartnäckig zu Bill zurückgekehrt. Sie hatte darüber nachgedacht, welche Verwirrung seine Gegenwart regelmäßig in ihr auslöste. Wie ihre - 110 -
Selbstbeherrschung verloren ging, wenn er sie küsste, dass sie, wann immer sie sich zu nahe kamen, schließlich einander in den Armen lagen. Die Erinnerung daran ließ sie reflexartig zurücktreten, was ihn dazu veranlasste, einen Schritt auf sie zuzugehen. Mit Herzklopfen stand sie vor dem Mann, der mit seinen breiten Schultern die gesamte Eingangstür auszufüllen schien. Jetzt fiel ihr auch auf, dass sie ihn das erste Mal ohne Anzug und Krawatte sah. Eine verwaschene bequeme Jeans saß ihm locker auf den Hüften und brachte seine muskulösen Oberschenkel zur Geltung. In den Hosenbund hatte er ein blaues Polohemd gestopft, dessen Kragen offen stand. Dieser Mann sah umwerfend aus. Geradezu sündhaft gut. Und dazu teuflisch sexy. Als er sie im hellen Licht betrachtete, runzelte er die Stirn. „Du bist ja weiß wie Kalk.“ „Das kommt davon, dass hier ständig alle möglichen Leute kurz nach Mitternacht auf meiner Veranda aufkreuzen“, gab sie zurück. Sie sicherte den Revolver und legte ihn auf ein Tischchen neben der Tür. „Verzeih, ich hätte anrufen sollen.“ Sie hob die Schultern. „Als es klingelte, habe ich schon gedacht, Copeland wäre zur zweiten Runde erschienen.“ Dass sie Bills Anwesenheit als mindestens ebenso gefährlich für ihr Wohlbefinden ansah, verschwieg sie wohlweislich. „Copeland ist möglicherweise auch der Grund für mein Kommen.“ Bill stützte sich mit beiden Händen gegen den Türrahmen und blickte sie eindringlich an. „Wir müssen reden.“ Bei seinem ernsten Ton kniff sie die Augen zusammen, und ihr Magen begann noch heftiger zu revoltieren. „Was ist los?“ fragte sie und trat von der Tür zurück, um ihn einzulassen. „Ich habe einen zweiten anonymen Anruf bekommen. Vor zwei Stunden.“ - 111 -
„Derselbe Anrufer wie heute Morgen?“ „Ja“, erwiderte er, als sie die Tür hinter ihm schloss. Dass Bill so lange gewartet hatte, bevor er sie benachrichtigte, beunruhigte sie. Ein tief sitzender Instinkt, dem sie stets vertraute, verriet ihr sofort, dass etwas faul war. Oberfaul. „Was hat er gesagt?“ Bill schaute sich in der getäfelten Vorhalle mit den dunklen Hölzern und der ruhigen Farbgebung um. „Das möchte ich dir gerne in Ruhe erzählen.“ „In Ordnung. Gehen wir ins Wohnzimmer.“ Fast ungeduldig führte sie ihn durch den langen Korridor. Im Wohnzimmer angekommen, ließ sie ihm einen Moment Zeit, sich umzusehen: ein naturfarbenes Sofa und passende Sessel, poliertes Parkett. Sie nickte in Richtung Couch. „Nimm Platz.“ „Später vielleicht“, erwiderte er und lehnte sich mit der Schulter gegen die rauchig gebeizte Holzverkleidung des Kamins. Er ließ seinen Blick über die Bücherreihen in den Einbauregalen gleiten. Whitney setzte sich in einen Lehnsessel, der schräg zum Sofa stand. „Was hat der Anrufer gesagt?“ Bill wandte ihr langsam wieder seine Aufmerksamkeit zu. „Er hat den Namen des Polizisten genannt, der angeblich die Prostituierten umbringt.“ Ihre Schultern strafften sich. „Wer ist es?“ „Jake.“ „Jake?“ Sie spürte, wie Eiseskälte sich in ihr ausbreitete, dann, im nächsten Moment, fuhr ihr eine Hitzewelle durch den Körper. Blitzartig schnellte sie hoch. „Dieser Bastard beschuldigt Jake?“ „Ja“, bestätigte Bill und fügte hinzu: „Und er meinte, Jake wäre gerade dabei, eine weitere Prostituierte umzubringen.“ „Lass mich raten“, zischte Whitney zwischen - 112 -
zusammengebissenen Zähnen. „Diese Ratte hat keinerlei Beweis für ihre Behauptung, oder?“ „Er meinte, Beweise seien Sache der Polizei. Ich habe alles auf Band aufgenommen. Falls du es anhören möchtest, kann ich es dir morgen früh mit ins Büro bringen.“ „Auf jeden Fall.“ Sie drückte ihre Hand auf die Stelle, wo der Schmerz am meisten pochte, und zwang sich nachzudenken. Mit einem Mal ging ihr auf, warum Bill sie erst jetzt informierte. „Du hast nach Jake gesucht, nicht wahr?“ „Ja“, erwiderte er nur und sah sie an. „Ich habe in der Zentrale angerufen und mir seine Nummer und Adresse geben lassen - deine übrigens auch. Ich fuhr dann bei ihm vorbei. Es war dunkel und niemand öffnete auf mein Klingeln.“ „Stand sein Wagen vor der Tür?“ „Nein, nur ein Motorrad.“ Sie fröstelte. „Das heißt, dass Jake mit seinem Dienstwagen unterwegs ist. Er hat immer das Radio angestellt. Hast du die Zentrale gebeten, sich mit ihm über Polizeifunk in Verbindung zu setzen?“ „Ja, und seinen Beeper anzurufen. Aber nichts. Keine Antwort.“ Whitneys Kehle verengte sich. Sie wusste, Jake hatte seinen Rufmelder für gewöhnlich dabei. Er meldete sich immer, wenn ihn jemand anpiepste. Immer. „Ich habe überall nach Jake gesucht“, fuhr Bill fort. „Aber niemand hat ihn heute Nacht gesehen.“ Whitney nahm das schnurlose Telefon vom Beistelltisch neben dem Sofa. „Ich wähle seinen Beeper an, wenn er meinen Namen liest, ruft er zurück, egal was er gerade treibt oder wie blau er ist.“ Bill hob eine Braue. „Aus welchem Grund sollte er die Anrufe der Zentrale denn ignorieren?“ Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar. „Vielleicht hat er den Polizeifunk im Auto abgestellt. Aber seinen Beeper hat er immer an. Wenn er auf dem eine Nachricht erhält, ruft er - 113 -
auf jeden Fall zurück.“ Vielleicht hat sich der Operator in der Zentrale auch in der Nummer geirrt. Oder der Akku von Jakes Rufmelder ist leer. „Vielleicht.“ Sie wusste nicht, warum, aber Bills sachlicher Ton betäubte jedes Gefühl in ihr. „Vielleicht ist Jake mittlerweile ja schon zu Hause; ich werde zuerst mal bei ihm daheim anrufen.“ Sie tippte seine Nummer ein. Als der Anrufbeantworter sich einschaltete, schloss sie die Augen und hörte der körperlosen Stimme ihres Partners zu, der sie aufforderte, eine Nachricht zu hinterlassen. „Jake! Whitney hier. Nimm ab, es ist dringend.“ Keine Antwort. Auch nicht, als sie seinen Rufmelder anwählte und ihre Nummer übermittelte. Noch immer an den Kamin gelehnt, hakte Bill den Daumen in die Hintertasche seiner Jeans. „Hat Jake irgendetwas gesagt, wo er heute Abend hin wollte?“ „Nein.“ Whitney ließ sich auf die Couch fallen und massierte sich nachdenklich die Schläfe. „Wie sieht es bei ihm eigentlich mit Frauen aus“, fragte Bill. „Mit wem trifft er sich denn so?“ „In der letzten Zeit mit einer Frau namens Loretta. Ich habe sie neulich im ‘Spurs` kennen gelernt, aber leider weiß ich ihren Nachnamen nicht.“ Während sie sprach, zog Whitney eine Schublade aus dem Seitentisch neben der Couch und holte ein Telefonbuch hervor. Wenig später hatte sie Darrold Kuff vom „Spurs“ in der Leitung. „Hallo“, meldete sich Kuff durch eine Geräuschkulisse aus Gläserklirren und dem schmachtenden Gesang einer Countrysängerin. „Ja, Jake war einige Stunden, nachdem Sie sich Ihre Kräutermilch geholt haben, hier. Später ist dann auch noch Loretta gekommen. Sie schien ein bisschen sauer zu sein. „Wieso das?“ „Jake hatte sie anscheinend angerufen und sich hier mit ihr - 114 -
verabredet. Als sie kam, flirtete er gerade heftig mit einer ganzen Gruppe Frauen. Loretta hat sich dann jedoch wieder beruhigt. Jake hat ein paar Mal mit ihr getanzt, aber der Gute schien etwas unsicher auf den Beinen.“ Whitney schloss die Augen. „Zu viel Whiskey?“ Der Barmann kicherte in sich hinein. „Möglich, kann jedoch auch sein, dass ihn Lorettas Anblick in dem winzigen Glitzerfummel aus der Bahn geworfen hat. Ich weiß nur, dass sie ihn mit zu sich nehmen wollte, und dann ist er rausgeschwankt, und sie hat ihn gestützt. Das war so gegen halb neun. „ Whitney spürte eine Welle der Erleichterung. Jetzt wusste sie wenigstens in etwa, wo Jake steckte. „Darrold, Sie kennen nicht zufällig Lorettas Nachnamen?“ fragte sie, „oder wissen, wo sie wohnt?“ „Sie heißt Smith. Letzte Woche ist sie bei einer Freundin eingezogen, die in einem Apartmenthaus im Süden der Stadt wohnt.“ Das Gläserklirren im Hintergrund wurde lauter. „Wie geht es Ihrem Magen, Sergeant?“ „Prächtig“, log Whitney. Sie hängte ein und gab Bill eine kurze Zusammenfassung dessen, was sie von Darrold Kuff erfahren hatte. „Wir könnten die Einsatzzentrale beauftragen, Loretta ausfindig zu machen“, schlug Bill vor. „Vielleicht hat man ihr in der letzten Woche ja einen Strafzettel verpasst, wodurch wir ihre Adresse erfahren.“ Whitney nickte, als sie die ausschließlich für den Dienstgebrauch bestimmte Sonderleitung anwählte. „Wenn wir ihre Adresse herausbekommen, schicke ich einen Streifenwagen zu Lorettas Apartment. Fünfzehn Minuten später kam die Rückmeldung. Die Polizeizentrale hatte keine Unterlagen über Jakes Freundin. Ein Suchdurchlauf am Computer von sämtlichen Inhabern der Kundenkonten der Stadtwerke förderte ebenfalls keine Loretta - 115 -
Smith zu Tage. „Die Abbuchungen erfolgen anscheinend auf den Namen ihrer Mitbewohnerin“, stellte Bill fest. „Genau.“ Whitney legte den Hörer zurück. „Bis zum Morgen können wir nichts unternehmen.“ Bill blickte auf seine Armbanduhr. Er presste die Lippen aufeinander. „Hoffentlich taucht dein Partner in den nächsten Stunden wieder auf.“ Ein Schauer durchlief Whitney. „Ich habe zwar keinen Beweis, aber mein Instinkt sagt mir, Copeland steckt dahinter.“ „Aber Beweis ist das Schlüsselwort. Wir wissen nicht, wer der Anrufer ist. Und so lange können wir nicht viel unternehmen.“ „Du sagst es.“ Sie erhob sich von der Couch und begann im Zimmer umherzugehen. „Angenommen, Copeland ist der Anrufer, warum klagt er Jake an, wenn es keinen Beweis für seine Anschuldigungen gibt?“ „Gute Frage.“ „Vielleicht steckt sein Ego dahinter. Er ist intelligent und ist es gewohnt, dass Frauen ihn umwerfend finden. Außerdem wird er mal ein Millionenvermögen erben. Was er will, das bekommt er auch. Es hat etwas mit seinem Ego zu tun. Ganz bestimmt.“ „Da ist etwas dran“, gab Bill zu, während er mit gesenktem Blick ihren Schritten folgte. „Letzte Nacht hast du ihm einen Korb gegeben.“ Sie lächelte schief, als sie zu der Stereoanlage hinüberschlenderte. „Er wollte sich doch nicht mit mir verabreden.“ „Trotzdem hast du seinen Stolz herausgefordert, auch wenn er es nicht offen gezeigt hat. Deine ablehnende Haltung hat ihn mit Sicherheit sehr gekränkt. Am nächsten Tag erhalte ich prompt zwei anonyme Anrufe, und dein Partner wird beschuldigt, sieben Frauen ermordet zu haben. Das kann doch - 116 -
kein Zufall sein.“ „Für mich hört sich das alles zu simpel gestrickt an.“ Jake, wo bist du nur? dachte sie verzweifelt. Wo bist du? „Wenn ich nur wüsste, was für eine Absicht hinter all dem steckt“, äußerte Bill. Whitney ballte die Hand, die sie gegen den Oberbauch gepresst hielt, zur Faust. „Darüber möchte ich gar nicht nachdenken.“ Das, worüber sie jedoch unausgesetzt nachdachte, befand sich dort vor dem Kamin. Bill war in einer offiziellen Angelegenheit gekommen; dabei hatte er ihre private Welt betreten. Die Dinge zwischen ihnen würden dadurch ganz gewiss nicht weniger persönlich werden. Sie atmete tief ein und ging über den dicken Teppich auf ihn zu. „Was hättest du gemacht, wenn der Anrufer jemand anderen als Jake genannt hätte?“ „Ich hätte morgen im Büro einen Bericht abgefasst und eine Kopie an Chief Berry weitergeleitet. Das habe ich auch jetzt noch vor.“ „Nur weil Jake mein Partner ist, bist du die halbe Nacht herumgefahren, um ihn zu suchen?“ „Er ist wichtig für dich.“ Bill sah sie aufmerksam an, während er ihr mit dem Handrücken über die Wange fuhr. „Und du bist wichtig für mich.“ Er nickte bekräftigend. „Vielleicht war ich deiner Ansicht, als du sagtest, wir bräuchten Zeit, wir sollten einen klaren Kopf behalten und nichts überstürzen.“ „Ich glaube, das wäre am besten.“ „Wahrscheinlich. Aber wenn wir zusammen sind, wenn ich, dich so anschaue wie jetzt, dann wird mir immer mehr bewusst, wie sehr ... ich dich brauche.“ Ihr Herz pochte heftig. Es ist lediglich sexuelles Begehren, versuchte sie sich zu beruhigen. Chemie. Ein biologisches Bedürfnis nach Körperkontakt. „Du glaubst, wir sollten uns nicht zu nahe kommen“, fuhr Bill ruhig fort. „Du meinst, ich hätte mich noch nicht völlig aus - 117 -
meiner alten Beziehung gelöst und würde dich nur körperlich begehren.“ Whitney stockte fast der Atem. „So ist es doch, oder?“ gab sie zurück. „Da bin ich mir nicht so sicher. Seine Stimme klang ein wenig gereizt, worauf sie trotzig die Hände in den Taschen vergrub. „Erzähl mir nur nichts darüber, wie es ist, wenn eine Beziehung zu Bruch geht“, begann sie wieder. Sie musste hart gegen den Drang, ankämpfen, in seine Arme zu stürzen und sich an ihn zu schmiegen. „Ich weiß, wie leicht man jemandem wehtun kann, weil man sich aus völlig falschen Motiven mit ihm eingelassen hat.“ „Falsche Motive?“ In einer schnellen Bewegung beugte er sich vor und umfasste ihr Kinn. „Das, was zwischen uns vorgeht, geschieht nicht aus falschen Motiven.“ „Ich bin keine von der Sorte, die Sex leicht nimmt. Ich kann mich nicht auf eine Affäre einlassen und mich einfach umdrehen, wenn sie zu Ende ist.“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Schön zu wissen“, sagte er leise und fuhr ihr dabei mit dem Daumen über, die Unterlippe, „mir geht es nämlich genauso.“ Ihr Atem beschleunigte sich, als sie ihm in die Augen sah. „Wenn ich in deiner Nähe bin, kann ich nicht mehr klar denken.“ Sie trat zurück. „Es ist genau wie nach dem Scheitern meiner Ehe. Ich war so durcheinander, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte: Ich reagierte rein aus dem Affekt heraus, stürzte mich kopfüber in eine Beziehung, die ich nicht hätte eingehen sollen, und nachher ging es mir nur noch schlechter.“ „Ich handle aber nicht aus Affekt heraus. Ich habe wirklich alles versucht, dich mir aus dem Kopf zu schlagen“, gestand er. „Und ich bin genauso verletzlich wie du, aber eines weiß ich ganz sicher: Ich möchte dir nicht weh tun. Niemals.“ - 118 -
„Ich wollte auch niemanden verletzen, aber ich konnte es nicht verhindern.“ Sie strich sich über den Hals und stellte fest, dass ihre Haut feucht geworden war. „Es hat lange gedauert - sehr lange -, bis ich mein Leben wieder im Griff hatte. Ich möchte nicht...“ Sie wollte Atem holen, doch die Lungen versagten ihr den Dienst. „Was möchtest du nicht?“ „Ich ... möchte ...“ In diesem Moment traf es sie mit voller Wucht. Ein plötzlicher scharfer Schmerz, als würde ihr der Magen zerschnitten. Sie brachte nur noch ein Stöhnen hervor. Bill packte sie bei den Schultern. „Was ist los?“ „Schon ... gut.“ Kaum hatte sie die Worte gestammelt, wurde sie von einer zweiten Welle des Schmerzes erfasst. „Whitney ...“ „O Gott.“ Das Feuer im Magen ergriff Besitz von ihrem ganzen Körper. Kalter Schweiß überzog sie. Ihre Beine begannen zu zittern und gaben nach. Sie wäre zu Boden gestürzt, hätte Bill sie nicht aufgefangen. Du musst auf der Stelle in ein Krankenhaus.“ „Nein.“ Selbst jetzt, als sie, wie um den Schmerz zurückzudrängen, die geballten Fäuste gegen den Leib presste, nahm Whitney die kraftvollen Arme wahr, die sie wiegten. „Es ist gleich vorbei“, stöhnte sie gequält. „Es geht immer schnell vorbei.“ „Immer?“ Für einen Moment flackerte Ärger in seinen Augen auf. „Wie oft ist das schon passiert?“ „Zwei Mal.“ Sie holte Atem. „Vielleicht ... drei Mal.“ Es mochte auch öfter gewesen sein, aber ihr Verstand war im Augenblick zu benebelt, als dass sie darüber hätte nachdenken können. „Whitney, du brauchst sofort einen Arzt.“ „Das Sofa.“ Sie röchelte hilflos. „Leg mich auf das Sofa. Bitte ... bitte ... Bill.“ Sie nahm sein Zögern wahr, bevor er ihrer Bitte nachkam und - 119 -
sie mit besorgter Sanftheit in die Polster bettete. Er musterte sie eindringlich, als er sich über sie beugte und die kühle Handfläche auf ihre heiße Stirn legte. „Hast du irgendwo Medikamente?“ „Kühlschrank.“ Ihre Hand zitterte, als sie auf den Korridor wies, der zur Küche führte. „Blaue Flasche.“ Als er durch die Tür nach draußen ging, überfiel sie Übelkeit. Whitney biss die Zähne zusammen und betete, dass sie sich nicht übergeben müsse. Nicht in Anwesenheit von Bill. Den Schmerz konnte sie ertragen. Das hatte sie schon früher getan, und es würde ihr auch jetzt gelingen. Bill kehrte aus der Küche zurück. „Hier ist deine Medizin.“ „Danke.“ Whitney nahm die Flasche, führte sie zu den blutlosen Lippen und sog schwach an dem Strohhalm. Die stille Verletzlichkeit weckte seinen Beschützerinstinkt. Er kam sich ohnmächtig vor. Whitney so leiden zu sehen brachte ihn schier um den Verstand. Er setzte sich neben sie auf die Couch und zog sie sanft an sich. „Wenn du in fünf Minuten deine Gesichtsfarbe nicht zurückhast, bringe ich dich ins Krankenhaus“, murmelte er leise, aber bestimmt und strich ihr zärtlich das schweißnasse Haar aus der Stirn. Schon eine Minute darauf nahm er Whitneys tiefe Atemzüge wahr, als sie in den Schlaf glitt. Er ließ sich auf den Rücken sinken, indem er sie mit sich zog, ihren Kopf in seine Armbeuge gebettet. Mit einem Seufzer drehte sie das Gesicht seinem Nacken zu und murmelte unverständliche Worte. Er hob den Kopf leicht an, um sie zu betrachten. Eine schwache Falte zeigte sich zwischen ihren Brauen. Er strich ihr mit dem Daumen über die Stirn. „Schlaf“, flüsterte er leise. „Ich bin bei dir. Du kannst dich darauf verlassen, dass ich auf dich aufpasse. Schlaf nur.“ Wie zur Antwort kuschelte sie sich an ihn und legte eines - 120 -
ihrer langen Beine über seine. Bill verzog den Mund zu einem hintergründigen Lächeln. Hatte er sich das nicht erträumt? Sie in seinen Armen, die Beine um ihn geschlungen? Jetzt hatte er, was er wollte. In gewisser Weise. Und wie soll es mit uns weitergehen, fragte er sich. Ein Teil seines Selbst wollte alles daransetzen, sie zu gewinnen. Ein anderer Teil - der Teil, der ihm sagte, sie sei noch lange nicht bereit, sich einer neuen Beziehung hinzugeben entsann sich wohl, wie es war, verletzt zu werden, innerlich in Aufruhr zu sein und den Boden unter den Füßen zu verlieren. Dieser Teil gab ihm den Rat, einfühlsam und behutsam vorzugehen. Sich in Acht zu nehmen. Er neigte den Kopf und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Alles, was er brauchte, war ein wenig Geduld. Mit der Zeit würde ihm schon klar werden, was, zum Teufel, er mit Whitney Shea anfangen sollte.
- 121 -
10. KAPITEL Whitney erwachte schlagartig. Sie richtete sich kerzengerade auf und verharrte auf dem Sofarand, während die Morgensonne durch die Rollläden ins Zimmer schien. Für einen Augenblick hatte sie nicht die geringste Ahnung, warum sie die Nacht hier statt in ihrem Bett verbracht hatte. Dann kam die Erinnerung. An den sengenden Schmerz. An die Zärtlichkeit und Fürsorge von Bill. An die Gegenwart seines Körpers, die ganze Nacht hindurch. Sie blickte auf die leere Couch; ihr Magen meldete sich. Doch dieses Mal hatte das Übelkeitsgefühl nichts mit ihrem Geschwür zu tun. Angenommen, es war nichts passiert, aber ... Ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Hatte sie nur geträumt, erwacht zu sein, sich an ihn geschmiegt und einen sanften Kuss auf seinen kräftigen Nacken gehaucht zu haben, oder hatte sie es tatsächlich getan? Whitney schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht wahrhaben, wie natürlich es ihr vorgekommen war, mit ihm aneinander gekuschelt zu liegen. Wollte die Anteilnahme nicht wahrhaben, die er ihr entgegengebracht hatte. Nicht das Mitgefühl in seinen Augen. Nicht die Wärme, die in seiner Stimme klang, als er ihr zuflüsterte, er werde sich um sie kümmern. Sie hatte ihm ohne Zögern vertraut. Sie wusste nur nicht, ob sie ihm aus ganzem. Herzen vertrauen konnte. Whitney strich sich das Haar aus dem Gesicht. Warum kam ihr das jetzt in den Sinn? Sie war doch nicht etwa dabei, sich in ihn zu verlieben? Oder doch? Niemals, sagte sie sich, als sie wie eine Stahlfeder vom Sofa hochschnellte. Niemals. Es ging hier nicht um Liebe. Ein Mann, der von seiner Verlobten so fallen gelassen worden war wie Bill, wollte keine Liebe, sondern Sex. Pure Lust trieb sie und Bill immer wieder - 122 -
zueinander. Nicht mehr, nicht weniger. Sie straffte die Schultern unter dem verknitterten T-Shirt und ging auf die Treppe zu. Wenn sie ehrlich zu sich war, musste sie sich eingestehen, dass ihre Gefühle für Bill mittlerweile leider weit über die körperliche Anziehung hinausgingen. Die Erkenntnis durchfuhr Whitney wie ein Schock. Sie war froh, dass Bill sich schon aus dem Staub gemacht hatte, denn sie hatte dringend eine Verschnaufpause nötig, um sich noch einmal die Unmöglichkeit einer Beziehung mit einem Mann, der seine alte Liebe noch nicht überwunden hatte, ins Gedächtnis zu rufen. Sie würde versuchen, ihre Gefühle wieder in geordnete Bahnen zu lenken. So einfach war das. Nach einer kurzen Dusche schlüpfte Whitney in den roten Seidenmorgenrock, der im Badezimmer am Haken hing. Während sie sich die Zähne putzte, listete sie im Kopf sämtliche Nummern auf, die sie gleich anrufen würde, um Jake zu finden. So weit gekommen, öffnete sie schwungvoll die Tür und erstarrte. Ein verführerischer Duft zog das Treppenhaus herauf. Sie lief zur Küche. Da stand Bill in seiner Jeans und dem blauen Polohemd, das ihm hinten aus der Hose hing. Stoppeln zierten sein Kinn. Das volle Haar war gerade so weit durcheinander, dass es sie in den Fingern juckte, es glatt zu streichen. Die Tatsache, dass er in der Küche mit den weißen Kacheln und dem cremefarbenen Mobiliar überaus heimisch wirkte, erfüllte sie mit Unwillen. „Was treibst du hier?“ „Auch dir einen guten Morgen.“ Er nickte in Richtung Herd, wo er gerade dabei war, Brotscheiben in einer Pfanne zu wenden. „Diese dir offensichtlich fremde Tätigkeit nennt man anderswo ein Frühstück zubereiten.“ Sie hob die Brauen. „Du kochst?“ Den Bratenwender in der Hand, deutete er einen komischen Salut an. „Wie ein Gourmetkoch.“ - 123 -
Siedend heiß wurde ihr bewusst, dass sie unter ihrem Morgenmantel nackt war. Sie schlang den Gürtel fester um die Taille. „Ich dachte ... du wärst schon fort.“ „Ohne auf Wiedersehen zu sagen?“ Sein breites Lachen war typisch männlich. „Das wäre nicht meine Art, nachdem ich die Nacht mit einer wunderschönen Frau in den Armen verbracht habe.“ Whitney fuhr mit den Fingerspitzen über die Theke. „Ich hatte nicht die Absicht, neben dir einzuschlafen und dich die ganze Nacht festzuhalten.“ „Ich mache dir auch nicht den geringsten Vorwurf.“ Er holte zwei Tassen von der Serviertheke, kam näher und behielt sie dabei ruhig im Blick. „Ich wollte sichergehen, dass es dir gut geht.“ „Du hast Kaffee gemacht“, stellte sie erwartungsvoll fest, als sie die Tasse entgegennahm. „Milch“, korrigierte er. „Wir trinken beide Milch. Ab sofort gibt es keinen Kaffee mehr.“ Er wandte den Blick von ihrem Gesicht zu dem tiefen Bademantelausschnitt, hinunter zu ihren Beinen und wieder zurück. Wie eine lange Liebkosung. Whitney musste sich zusammenreißen, um einigermaßen ruhig atmen zu können. „Nun, Sergeant, wie fühlen Sie sich?“ Nackt, dachte sie. „Bestens.“ Nervosität stieg in ihr auf. „Außerdem bin ich hungrig“, fügte sie hinzu, ihre Gedanken aufs Praktische lenkend. „Ich könnte den ganzen Kühlschrank leer essen.“ „Nur zu. Es gibt Rühreier, Milch und französischen Toast.“ „Hört sich gut an.“ Sie spähte zum Telefon mit dem Anrufbeantworter auf der Küchentheke. Die Anzeige verriet, dass seit gestern Abend kein Anruf eingegangen war. „Aber zuerst möchte ich Jake finden.“ „Ich habe vor einer halben Stunde bei ihm angerufen“, berichtete Bill, als er zum Herd zurückkehrte. „Sein - 124 -
Anrufbeantworter meldete sich. Vielleicht hast du ja mehr Glück.“ Aber sie hatte keines. Auch die Zentrale, die sie angewiesen hatte, Jake über dessen Funkgerät zu kontaktieren, konnte keinen Erfolg melden. Whitney versuchte sich einzureden, ihr Partner vergnüge sich immer noch in Lorettas Bett. Minuten später saß sie mit Bill an dem antiken Eichentisch in der sonnendurchfluteten Küche und kostete den in Ei und Milch aufgebackenen Toast. „Und, schmeckt es?“ erkundigte er sich. Sie blickte auf. „Köstlich.“ Schalkhaftigkeit blitzte in seinen Augen auf. „Ich bin für meinen französischen Toast in Kennerkreisen des ganzen Landes berühmt.“ „Bei mir können Sie damit nicht landen, Herr Staatsanwalt“, gab Whitney zurück. „Ich gehöre zur festen Einrichtung sämtlicher Fast-Food-Restaurants der Stadt.“ „Das überrascht mich überhaupt nicht, wenn man den Inhalt deines Kühlschranks in Betracht zieht.“ Er legte die Gabel beiseite, lehnte sich zurück und kreuzte die Beine. Die Tatsache, dass er barfuß war, verstärkte noch den Eindruck, er wäre hier zu Hause. „Sieht so aus, als hieltest du Säurehemmer für ein Grundnahrungsmittel. Das sind ja Dutzende von Arzneiflaschen in deinem Kühlschrank.“ Whitney zuckte mit den Schultern. „Beim Kauf von drei Flaschen bekommt man in der Apotheke eine gratis, also habe ich mich eingedeckt.“ „Schon mal was von gesunder Ernährung gehört?“ „Sicher.“ Sie schlürfte ihre Milch; ihr Blick traf sich mit seinem über den Becherrand hinweg. „Bedauerlicherweise sind die Leute nicht so rücksichtsvoll, sich nur an Wochentagen zwischen acht und fünf gegenseitig umzubringen. Ich esse, wenn ich Zeit dazu habe, falls ich überhaupt Zeit habe. „ „Na ja, wenn du noch kein Loch im Magen hast, bist du auf - 125 -
dem besten Wege dazu, eins zu kriegen.“ Er nahm ihre Hand und verschränkte die Finger mit ihren. „Whitney, du darfst diese Schmerzen nicht auf die leichte Schulter nehmen. Du musst auf dich aufpassen.“ Sie spürte seine Berührung bis in die Zehenspitzen. „Ich komme schon klar.“ „Tatsächlich?“ fragte er sanft. „Du nennst das ,klarkommen`, wenn du plötzlich totenbleich wirst und dich vor Schmerzen krümmst?“ Bei der Erinnerung an die Qualen letzte Nacht zog sich ihr der Magen zusammen. Da die Mahlzeit beendet schien, löste sie die Hand aus seiner, stand auf und trug die Teller zur Spüle. „Einen solchen Anfall hatte ich erst ein paar Mal“, erklärte sie, während sie ihm den Rücken zuwandte. „So etwas passiert nur, wenn ich unter Stress stehe. Ich hatte in letzter Zeit eine Menge am Hals.“ Dich zum Beispiel. „Ein Mal ist schon ein Mal zu viel.“ Sie hatte nicht bemerkt, dass er sich vom Tisch erhoben hatte, bis er neben ihr den Becher abstellte. Er fasste sie bei den Schultern. Seide raschelte an ihren Schenkeln, als er sie zu sich umdrehte. „Warst du schon bei einem Arzt? Hast du dich untersuchen lassen?“ „Ich kann mir etwas Schöneres vorstellen, als mir von einem Arzt Kontrastmittel einflößen zu lassen und danach einen dicken Gummischlauch zu schlucken, damit man ein paar nette Schnappschüsse von meinem Magen machen kann.“ Bill runzelte die Stirn. „Die Untersuchung kann auch nicht schlimmer sein als der Schmerz, und ich bezweifle, dass sie ähnlich lange dauert. Wenn du keinen Hausarzt hast, rufe ich gerne meinen an und mache dir einen Termin.“ „Ich gehe, wenn ich Zeit habe.“ „Selbst Superwoman hat Grenzen der Belastbarkeit. Ich mache mir Sorgen um dich, Whitney.“ - 126 -
„Fang mir nicht damit an, Taylor“, konterte sie und versuchte ihn wegzuschieben. Er rührte sich keinen Millimeter. „Wir haben doch bereits angefangen.“ Er umfasste ihr Kinn, hob es ein wenig an, als sie sich abwenden wollte. „Aber ich bin nicht sicher, wohin dies alles führen soll.“ „Nirgendwohin“, gab sie zurück. „Es führt zu gar nichts. Das haben wir doch schon besprochen.“ „Sicher, wir haben ...“ „Uns einverstanden erklärt, die Hände voneinander zu lassen.“ Selbst als sie die Worte aussprach, hielt Whitney seine Schultern fest umfasst. „Aber nicht unsere Lippen, wie es scheint. Wenn ich den Stand unserer Beziehung an deinen Handlungen letzte Nacht messe. Whitney stockte der Atem. Unsicher blickte sie ihn unter halb geschlossenen Lidern an. „Du hast mich geküsst. Er deutete lächelnd auf eine Stelle am Hals. „Genau hier.“ Also hatte sie nicht geträumt. Wie eine Verliebte hatte sie in der Nacht nach ihm getastet, sich an ihn gedrängt und ihm einen Kuss auf den Hals gedrückt. „Ich ... kann mich nicht entsinnen.“ Tausend Mal konnte sie sich einzureden versuchen, dass sie diesen Mann nicht begehrte. Und zwar aus der ganzen Litanei von Gründen, die sie sich zurechtgelegt hatte: Er befand sich in der Ablösungsphase. Sie musste ihr Herz vor weiteren Verletzungen schützen. Keiner von beiden wusste richtig, was er wollte. Aber, verdammt, sie wusste es. So, wie er hier vor ihr in der Küche stand, wurde ihr endgültig klar, was sie wollte. Ihn. „Zur Hölle damit.“ Mit diesen Worten stellte sie sich auf die Zehenspitzen und zog seinen Kopf zu sich herunter, seine Lippen auf ihre. „Was ist ...“, murmelte er an ihrem Mund. Er bog ihr den Kopf - 127 -
zurück. „Was machst du denn da?“ Whitney schlang ihm die Arme um den Nacken und lächelte schief. „Was denkst du, was ich da mache?“ „Ich denke, wenn wir so weitermachen, wird es nicht beim Küssen bleiben.“ „Wir sind offensichtlich auf derselben Wellenlänge, Herr Staatsanwalt.“ „Bist du sicher, dass du das wirklich willst?“ fragte er mit misstrauischem Blick. „Ich weiß nur, dass ich es jetzt will.“ Sie schloss die Augen. Sie wusste, dass dies alles nicht folgenlos bleiben würde, aber in diesem Moment überwältigte das Verlangen in ihr schlicht die Vernunft. „Vielleicht ist es ein Fehler, vielleicht nicht. Keine Ahnung. Wenn ich mit dir zusammen bin, ist in meinem Hirn kein Platz mehr für vernünftige Überlegungen.“ Sie kämmte ihm mit den Fingern durchs Haar. „Jedenfalls habe ich im Moment ein gutes Gefühl...“ „Klingt irgendwie ehrlich“ murmelte er mehr zu sich selbst. Dann küsste er sie. Augenblicklich wurde Whitney bewusst, wie sehr sie sich bei den Küssen, die sie bisher ausgetauscht hatten, emotional zurückgehalten hatten. Jetzt gab es keinerlei Beherrschung mehr, nur noch leidenschaftliches verzehrendes Verlangen. Bill verschlang sie förmlich mit den Lippen. Dann berührte er sie. Er umfasste ihre Brust; streifte flüchtig die Knospen, die sich unter der Seide des Morgenmantels sofort aufrichteten. Ihr Atem beschleunigte sich. Wie ein Fieber fuhr es ihr durch den Körper, verursachte hunderterlei Empfindungen. Durch den dünnen Mantel spürte sie den Stoff seiner Jeans an Schenkeln und Bauch, als er sich ihr begierig entgegendrängte. Whitney schob die Hände unter Bills Poloshirt und zog es ihm ungeduldig über den Kopf. Mit den Lippen streifte sie über seine Brust und nahm mit all - 128 -
ihren Sinnen den warmen salzigen Geschmack in sich auf. Sie fuhr mit den Fingern durch die leichte Brustbehaarung. Ihr Puls schlug kräftig und schnell. „Whitney“, keuchte er, während er ihren Hals mit Küssen bedeckte. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich bewegt hatten, bis sie mit dem Po gegen die Kante des Frühstückstisches stieß. Sie schob mit dem Fuß einen Stuhl beiseite, der im Weg stand. Bill hielt ihren Nacken umfasst und bog sie sanft über den Tisch. Durch die dünne Seide spürte sie die Kühle des polierten Holzes. Er streifte mit der Hand über den Seidenstoff und liebkoste die empfindsamen Knospen. Whitney gab sich der fast unerträglichen Welle der Lust hin. Sie atmete in kurzen heftigen Stößen. Ihr Körper zerschmolz förmlich wie Wachs. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Bill öffnete den Gürtel ihres Morgenmantels, schob die Seide ungeduldig beiseite. Er wollte sie unverhüllt. Als er sie anschaute, bemerkte Whitney, dass seine Augen dunkel geworden waren. Seinen Blick auf ihren Körper empfand sie so heiß und unmittelbar wie seine Berührung. „Du bist schön“, flüsterte er heiser. „Wunderschön. „Du auch“, erwiderte Whitney. Sie berührte den Verschluss seiner Jeans. Sofort umklammerte er ihr Handgelenk. „Ich komme erst später dran.“ Es klang fast wie ein Befehl. Sie sah die Bestimmtheit in seinem Blick, als er sie an den Armen fasste und gegen die Tischplatte presste. Whitney machte große Augen. Für einen Augenblick glaubte sie, ihr Herzschlag habe ausgesetzt. Sein Mund näherte sich ihrer Brust, berührte die harte Knospe. Hitze überflutete Whitney. Sie spürte ein erregendes Pulsieren zwischen ihren Schenkeln. Minuten - oder waren es Stunden? - vergingen, während Bill ihren ganzen Körper mit - 129 -
Küssen bedeckte. Whitney zerriss es fast vor Verlangen. Um sie herum versank alles wie in einem Nebel. Außer Bill existierte nichts mehr für sie. In einem Winkel ihres Herzens ahnte Whitney wohl, dass sie Gefahr lief, einen unwiderruflichen Schritt zu tun: sich in ihn zu verlieben. Bill streichelte sie. Zärtlich streifte er über ihren Oberköper hinab zur Taille. Unter seiner Liebkosung spannte sich ihr Körper so straff wie eine Bogensehne. Er fuhr ihr mit der Hand über den flachen Bauch, dann abwärts über die Innenseite der Schenkel. Mit quälender Sanftheit streichelte er jene ganz besonders empfindsame Stelle, bis Whitney vor Begierde erschauerte. Sie war kurz davor, einen Höhepunkt zu bekommen. „Bill ... ich ...“ Das durchdringende Klingeln des Telefons brachte sie zurück in die Realität. Zuerst wollte Whitney es ignorieren, die Außenwelt im Zaum halten, solange Bill sie mit seinen magischen Händen verwöhnte. Doch das Klingeln hielt hartnäckig an. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. „Whitney, Lieutenant Ryan hier. Nachricht von der Einsatzzentrale. Wir haben einen weiteren Mordfall, der in das Schema unseres Serienmörders passt.“ „Verdammt“, entfuhr es Whitney und Bill gleichzeitig. Bill hob Whitney vom Tisch. Sein Blick signalisierte eine Mischung aus Bedauern und Verlangen. Einen kurzen Augenblick drückte er sie an sich, hielt sie nur in den Armen und küsste ihr Haar. Dann lockerte er, den Griff und ließ sie auf die Füße gleiten. Er lehnte die Stirn an ihre. „Hört sich ganz so an, als ob die Arbeit ruft.“ Zärtlich strich er ihr über die Arme, über ihre Brust, bevor er sie endgültig freigab. - 130 -
„Sieht ganz so aus“, stieß sie in einem zittrigen Atemzug hervor und nahm mit unsicherer Hand den Hörer ab. Sein Leben lang würde Bill Whitneys Anblick auf der polierten Holzfläche ins Gedächtnis eingebrannt sein. Sie hatte ausgesehen wie eine flammengekrönte Königin; ihr leicht gebräunter Teint, die sanften Kurven, die langen Beine leicht geöffnet. Und in ihren Augen nichts als Hingabe. Er fasste das Lenkrad fester. Whitney hatte ihn gebeten, sie zum Tatort zu fahren. Eine gute Idee, denn auf diese Weise konnte sie sowohl das Funkgerät wie auch das Mobiltelefon bedienen, das sie zwischen Kinn und Schulter geklemmt hielt, während sie Notizen auf ihren Block kritzelte. Ohne Übergang war Whitney von der leidenschaftlichen Frau in die Rolle der entschlossenen Polizistin geschlüpft. Bill hatte sie beobachtet, während sie in ihrer Küche splitterfasernackt mit Lieutenant Ryan telefonierte, und war fasziniert von der plötzlichen Konzentration in ihrem Gesicht. Noch wenige Sekunden zuvor hatte er eine andere, eine sinnliche Facette ihrer Persönlichkeit entdeckt. Die er, sobald er Gelegenheit dazu haben würde, noch weiter ergründen wollte. Bis gestern Nacht hatte er sich eingeredet, diese Frau jederzeit wieder aus seinen Gedanken verbannen zu können. Doch dann hatte er Whitney hilflos vor Schmerz in den Armen gehalten. Und heute Morgen war sie unter seinen Händen dahingeschmolzen. Er wollte sie nur noch besitzen. Für immer. Keine andere Frau hatte je seine Sinne so schnell zu fesseln vermocht. Niemals hatte er ein solch drängendes Verlangen empfunden. Was tun? Bill hielt die Lippen zusammengepresst, als er den Wagen an den Weizenfeldern vorbei lenkte, die im Schein der Morgensonne golden leuchteten. Er hatte sich heftig und schnell in Whitney verliebt, das stand fest. Doch ob seine - 131 -
Gefühle auch nach ein paar leidenschaftlichen Nächten noch Bestand hätten? Er fühlte sich schrecklich verletzlich; er hatte schon früher sein Herz aufs Spiel gesetzt. Und er hatte verloren und den Preis gezahlt. Die Bartstoppeln kratzten gegen seine Hand, als er sich übers Kinn fuhr. Er kam sich vor wie ein Mann, der verzweifelt versucht, den Boden unter den Füßen nicht zu verlieren. Ob er von dieser faszinierenden, teuflisch anziehenden Frau überhaupt jemals wieder loskommen könnte? Whitney schaute durch die Windschutzscheibe. Sie fuhren gerade an einer Wiese vorbei, auf der Schafe grasten. „Wenn du an die nächste Kreuzung kommst, halte dich bitte rechts. Der Fundort ist etwas nördlich davon.“ „Komisch, nicht so weit draußen wie sonst. „Ist mir auch schon aufgefallen“, antwortete sie und sah ihn an. „Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass unser Mann bis jetzt immer sorgfältig darauf geachtet hat, wo er seine Opfer ablegt. Als ob er ein System dabei hätte. Sollte unser Kandidat diese Frau getötet haben, war er entweder nachlässig oder er hat seine Methode bewusst geändert.“ „Vielleicht wollte er, dass wir sie schnell finden.“ „Ich hätte ihn beschatten sollen.“ Sie verkrampfte die Hand auf dem Schenkel zur Faust und öffnete sie wieder. „Ich hätte ihn keine Sekunde aus den Augen lassen sollen.“ Bill warf ihr einen Seitenblick zu, sah die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen. „Copeland“, stellte er fest. „Hätte ich ihn beschattet, dann hätte ich ihn vielleicht auf frischer Tat ertappt. Vielleicht sogar einen Mord verhindert.“ „Das sind eine Menge ,Vielleichts`, Sergeant“, erwiderte Bill. „Dein Verdacht gegen Copeland beruht nur auf einem Gefühl, du hast keinen einzigen sicheren Beweis. Und für die Akten: Du warst letzte Nacht in keiner Verfassung, irgendwen zu beschatten.“ - 132 -
„Dann eben Jake“, gab sie zurück. „Ich hätte Jake auf ihn ansetzen sollen. Wenigstens wüsste ich dann jetzt, wo mein Partner steckt.“ Eine viertel Meile später sahen sie die roten und blauen Lichter eines Streifenwagens, der quer auf der Fahrbahn stand. Absperrungen waren errichtet. Ein stiernackiger Beamter in Uniform stand vor der Barriere und spähte mit ärgerlichem Blick zu einem Haufen Journalisten hinüber, die fotografierten, filmten und ihre Notizen miteinander verglichen. „Hat ja nicht lange gedauert, bis die Geier hier aufgekreuzt sind“, bemerkte Whitney, als Bill den Wagen vor der Absperrung zum Stehen brachte. „Das ist eben ein gefundenes Fressen für die Presse“, stellte Bill fest. „Ein Mörder mit sieben toten Frauen auf dem Konto läuft immer noch frei herum.“ „Diese hier könnte Nummer acht sein.“ Der Uniformierte lehnte sich in den Wagen hinein, als Bill das Fenster hinunterließ. Der Cop erkannte sie und schob eine Absperrung beiseite, um sie durchzuwinken. An der nächsten Biegung parkten einige Streifenwagen und der Transporter der Spurensicherung der Polizei von Oklahoma City. Kiesel und Splitt knirschten unter den Rädern, als Bill von der Straße abbog und den Wagen hinter dem schwarzen Kombi des Gerichtsmediziners zum Stehen brachte. „Na denn, an die Arbeit“, sagte Whitney und griff zum Türöffner. Bill fasste sie am Handgelenk, um sie noch einen Moment für sich zu behalten. „Eine Sache, Sergeant...“ Sie blickte durch die Frontscheibe auf das geschäftige Treiben draußen und wandte sich ihm mit ungeduldigem Ausdruck zu. „Was ist?“ Er strich ihr mit dem Daumen zart über das Handgelenk. „Wenn wir das nächste Mal zusammen sind, stellen wir jedes Telefon, - 133 -
das sich auch nur entfernt in Reichweite befindet, ab.“ Er spürte, wie ihr Puls kurz stockte. Der Ausdruck in ihren Augen wurde weicher, eine flüchtige Röte überzog ihre Wangen. Als Polizistin wirkt sie so abgebrüht, dachte er, und doch ist die Frau in ihr so einfach hervorzulocken. „Ja“, erwiderte Whitney mit leicht belegter Stimme. Sie verzog ein wenig das Gesicht und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Darf ich bemerken, dass Sie ein paar gute Ideen haben, Herr Staatsanwalt.“ „Ihre sind auch nicht gerade die schlechtesten, Sergeant.“ Sie verließen den Wagen und gingen schweigend zu der Stelle, wo eine Beamtin mit einem langen blonden Zopf stand, ein Klemmbrett in die Hüfte gestemmt. „C.O. Jones“ las Bill auf dem Messingschild an der Uniform. Jones überprüfte seinen und Whitneys Ausweis und trug dann ihre Namen, Dienststellen und ihre Ankunftszeit in ein Formular ein. „Waren Sie die erste Beamtin, die hier eingetroffen ist“ fragte Whitney und schob sich die Sonnenbrille, die ihr im Haar steckte, auf die Nase. „Ja“, bestätigte die Beamtin kurz. „Das Opfer ist eine unbekannte weiße Frau. Unbekleidet, keine Kleidung oder Sonstiges zur Identifizierung in der näheren Umgebung. Der Junge, der hier draußen die Zeitungen austrägt, hat die Leiche vor etwa einer Stunde entdeckt. Ich habe seine Aussage aufgenommen. Er wartet drüben bei seinem Lieferwagen, falls Sie noch mit ihm reden wollen.“ Bill sah in einiger Entfernung einen jeansbekleideten Mann Anfang zwanzig, der auf der Anhängerkupplung eines kirschroten Lieferwagens saß. „Konnte man die Leiche von der Straße aus sehen?“ fragte er die Beamtin. „Sie liegt sogar halb auf der Straße“, erwiderte Jones. „Es ist ein Wunder, dass niemand im Dunkeln sie überfahren hat.“ „Kommt ganz darauf an, wie lange sie da schon liegt“, wandte Whitney ein. - 134 -
„Genau...“ Die Polizistin schluckte kurz und fuhr dann fort. „Ich kannte das mit den Lederriemen an Hand- und Fußgelenken ja schon aus den Berichten, aber als ich die Frau gesehen habe, ist mir doch schlecht geworden. Wer macht so was?“ Nachdem sie noch ein paar weitere Einzelheiten in Erfahrung gebracht hatten, gingen Bill und Whitney am Straßenrand entlang auf eine Gruppe von Leuten zu. Einige Schritte von der Leiche entfernt machte ein Kollege von der Spurensicherung Fotos von der Toten und dem Fundort. Ein anderer pickte mit einem pinzettenähnlichen Instrument gerade einen Zigarettenstummel von der Straße auf und ließ ihn in einen Plastikbehälter fallen. Bill zog die Stirn kraus. Er wäre überrascht gewesen, wenn die Zigarette vom Mörder stammte. Bei allen bisherigen Morden waren die Indizien eher mager gewesen. Er tat einige Schritte vorwärts und schaute sich die Leiche an. Die Tote lag auf dem Bauch, die Arme ausgestreckt, die Handflächen nach oben. Langes blondes Haar, von einem unheimlichen Dunkelrot durchtränkt, lag über ihren Schultern. Das verkrustete Blut, das sich über den Rücken und die Beine hinab ausbreitete, schimmerte in der bereits intensiven Morgensonne. Für sie war der Tod kalt und brutal gekommen. Mit regungslosem Gesicht schrieb Whitney einige Notizen auf ihren Block. Als ein großer dunkelhäutiger Beamter sich näherte, grüßte sie ihn mit einem Nicken. „Sergeant Thomas Washington, Staatsanwalt Bill Taylor“, stellte sie vor. Einer der Leute von der Spurensicherung kam heran. „Wir sind hier so weit fertig. Dr. Upchurch wird sie sich jetzt ansehen.“ „Was haben wir?“ fragte Whitney. „Einen Zigarettenstummel, zwölfeinhalb Zentimeter von der rechten Hand des Opfers entfernt. Mit einem dunklen Fleck am Filter - könnte Blut sein. Ich geb’s an Sky Milano vom Labor - 135 -
weiter.“ Whitney atmete langsam aus und sah Bill an. „Bereit für einen Blick aus nächster Nähe?“ „Bereit.“ Er kämpfte gegen das Bedürfnis an, sie zu berühren, die schwachen Linien um ihre Mundwinkel zu streicheln. „Können Sie uns schon etwas sagen, Dr. Upchurch?“ erkundigte sich Whitney. „Guten Morgen, Sergeant, Staatsanwalt.“ Mit der Zunge rollte er einen Zahnstocher von einem Mundwinkel in den anderen. Sein braunes Haar stand stachelförmig in alle Richtungen, als wäre er direkt aus dem Bett gekommen. Seine Chirurgenhandschuhe hatten denselben grauen Ton wie die Haut der toten Frau. „Sie ist noch nicht allzu lange tot. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, aber ich würde sagen, sie ist vor fünf Stunden gestorben, plus minus eine Stunde. Ich schau sie mir nachher in der Gerichtsmedizin genauer an. „Sie ist die Frischeste bis jetzt“, stellte Whitney fest. „Ich möchte wissen, ob sie vergewaltigt wurde. Untersuchen Sie die Haut bitte auch auf Fingerabdrücke.“ „Wird erledigt.“ Upchurch rieb sich die Stirn mit dem Ärmel seines T-Shirts. „Ihre Hände und Arme zeigen Stichwunden - sieht aus, als hätte, der Mörder ein Messer gehabt, und sie hat sich gewehrt.“ Eine schwache Brise spielte mit Whitneys Haar. „Vielleicht ist von seiner Haut etwas unter ihren Nägeln hängen geblieben.“ „Das Schwein, das das gemacht hat, gehört direkt in die Hölle“, meinte der Mediziner. „Habt ihr alles aufgenommen?“ fragte Upchurch in die Richtung seiner Kollegen von der Spurensicherung. „Dann drehe ich sie jetzt um.“ Vorsichtig legte er die Tote auf den Rücken und schob die Haare von ihrem Hals. „Eine Menge Würgemale. Keine Narben oder Tätowierungen, um sie zu identifizieren. Wer sind Sie bloß, Lady?“ Bills Mund wurde schmal, als er den Blick über das entstellte - 136 -
Gesicht gleiten ließ. Aufgerissene Augen, die blicklos in die Sonne starrten. Ihr Mund war schlaff, mit Spuren von rotem Lippenstift, der auf schauerliche Weise der Farbe ihres Blutes glich. „Nein, das darf nicht wahr sein.“ Whitney trat mit zwei schnellen Schritten auf die Leiche zu. Eine Sekunde später ballte sie die Hände zu Fäusten. „Mein Gott...“ Bill fasste sie beim Ellbogen. „Stimmt etwas nicht?“ Als sie nicht antwortete, trat er vor sie. Die dunklen Gläser ihrer Sonnenbrille ließen ihre Haut noch blasser erscheinen. Sofort war er alarmiert. Irgendetwas schien Whitney aus der Fassung zu bringen. „Sergeant“, sprach er sie mit ruhiger Stimme an. Sie hob den Kopf und sah ihn an. „Es ist Loretta“ stieß sie fast tonlos hervor. Bill war es, als hätte man ihm einen Schlag auf die Brust versetzt. „Jakes Loretta?“ Whitney nickte. Ihr Blick irrte hin und her. Was war geschehen? Sie griff nach seinem Arm. „Jake“, entfuhr es ihr mit dünner brüchiger Stimme. „Wir müssen ihn suchen.“
- 137 -
11. KAPITEL Die folgenden Stunden waren beinahe unerträglich für Whitney. Nur mit äußerster Disziplin konnte sie sich zusammenreißen und ihre Arbeit erledigen. Ihre Sorge um Jake erdrückte sie fast. Wo steckte er? Lebte er noch? Oder war auch er dem Mörder in die Hände geraten? Bill und sie befanden sich nun auf dem Weg zu Jakes Haus. Sie waren nur noch wenige Minuten entfernt. Je näher sie kamen, desto größer wurde ihre Angst, dass etwas Grauenvolles passiert sein könnte. „Ryan schickt uns ein Team von Detectives“, erklärte Whitney, als sie ihr Mobiltelefon zuklappte und auf den Sitz warf. Sie fasste das Lenkrad fester und gab Gas. „Hoffentlich finden wir einen Anhaltspunkt, wo er stecken mag. „ „Vielleicht hat er irgendwo Lorettas Adresse aufgeschrieben“, bemerkte Bill vom Beifahrersitz her. „Wie willst du denn ins Haus kommen?“ „Ich habe einen Schlüssel. Wenn Jake nicht in der Stadt ist, sehe ich nach dem Haus, bringe die Post rein und kümmere mich um die Pflanzen.“ Sie bog bei dem Wohnblock, hinter dem Jakes Haus lag, ein. „Die Einsatzzentrale hat bereits eine Suchmeldung nach Jakes Wagen herausgegeben“, sagte sie kaum hörbar. Bill drückte ihren Arm. „Wir sollten den Teufel nicht an die Wand malen. Jake ist ein ausgebildeter Polizist. Er kann auf sich selbst aufpassen. Verlass dich drauf.“ Das Sonnenlicht, das schräg durch das Seitenfenster einfiel, verwandelte sein attraktives Gesicht in eine Landschaft aus hellen Flächen mit dunklen Schatten. Die Stoppeln auf seinem Kinn hatten sich verdichtet. Whitney entsann sich des erregenden Gefühls, das diese Bartstoppeln an ihren Wangen und Brüsten ausgelöst hatten. Wechselnde Empfindungen verengten ihr die Brust. Empfindungen, die sie in diesem Moment nicht auseinander zu halten vermochte. Alles, was sie - 138 -
wusste, war, dass es da mehr gab - viel mehr - als nur sexuelle Anziehung. „Danke“, sagte sie einfach. Er blickte. sie erstaunt an. „Wofür?“ „Dass du hier bist.“ Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Ich möchte nirgendwo anders sein.“ Sie wollte gerade etwas erwidern, als Jakes Haus in Sicht kam. „Jakes Wagen! Er steht in der Einfahrt.“ Bill beugte sich vor, um besser sehen zu können. „Das Motorrad, das ich letzte Nacht gesehen habe, ist auch da.“ Whitney parkte das Auto am Randstein und sprang heraus. Als sie bei Jakes schokoladenbraunen PKW angekommen war, holte Bill sie ein. Whitney spähte durch das Fahrerfenster in den Innenraum, während Bill durchs Rückfenster sah. Routiniert vermieden sie jede Berührung des Wagens. „Leer“, konnte sie nur feststellen. „Whitney!“ Die Schärfe in seiner Stimme ließ sie herumfahren. „Sieh dir das an!“ Sie kam an seine Seite, beugte sich vor und schaute angestrengt durch das Rückfenster. Ein glitzerndes Tuch lag verknüllt auf dem Wagenboden. Selbst durch das verstaubte Glas konnte sie die dunklen Flecken erkennen, mit denen das Tuch übersät war. Bill sah Whitney an. „Dieser Barkeeper, mit dem du letzte Nacht gesprochen hast, hat er nicht gesagt, dass Loretta ein rotes Glitzerkleid trug?“ Der Knoten, der sich in Whitneys Kehle gebildet hatte, zog sich enger zusammen. „Ja. Wir brauchen sofort die Spurensicherung hier. Die soll den Wagen auseinander nehmen.“ Sie sah zu dem Backsteinhaus mit den hohen Bäumen und wuchernden Sträuchern, die es umgaben. „Ich muss da rein. Sofort.“ Whitney fluchte, als sie feststellte, dass die Eingangstür nur - 139 -
angelehnt war. „Die war doch zu, als ich letzte Nacht hier war“, stellte Bill fest. „Ich habe am Türknauf gerüttelt, aber es war abgeschlossen.“ Aufs Äußerste angespannt, zog Whitney ihre Waffe. Eine tote Loretta, ein blutgetränktes Kleidungsstück in einem Dienstwagen und jetzt noch eine unverschlossene Tür - bleib ruhig, befahl sie sich, bleib ruhig. Sie entsicherte die Automatik und spannte den Zeigefinger um den Abzug. Sie kannte zwar jeden Winkel von Jakes Haus, aber was würde sie jetzt da drinnen vorfinden? Sie blickte hoch in Bills Gesicht. „Ich habe keine Ersatzwaffe dabei, sonst würde ich sie dir geben“, sagte sie leise. „Bleib hier auf der Veranda, während ich nachsehe.“ „Nein.“ „Taylor ...“ „Auf keinen Fall gehst du da alleine rein.“ Sie warf ihm einen bitterbösen Blick zu. „Du hast kein Recht...“ „Du verschwendest deine Zeit, Sergeant“, unterbrach er sie im Flüsterton. Das Funkeln in seinen Augen verriet, dass es aussichtslos war zu widersprechen. Sprungbereit stieß sie die Tür mit dem Handrücken auf. Bill trat an ihrer Seite in die Eingangshalle. Rechts ging ein geräumiges Wohnzimmer ab. Whitney tastete mit den Blicken über die bunt karierte Couch und die dazu passenden Lehnsessel. Eine schwarze Trainingstasche mit der Aufschrift „Polizei“ stand mitten auf einem farbenfrohen Webteppich. Stapel von Zeitungen und Sportmagazinen türmten sich auf dem verstaubten Beistelltischchen. Von ihrem Standort aus konnten sie die Küche einsehen, wo sich auf der Theke die Teller stapelten, während der Abfalleimer von Fast-Food-Verpackungen überzulaufen drohte. „Sieht alles aus wie sonst?“ fragte Bill mit gedämpfter Stimme. „Ja.“ Sie bewegten sich lautlos zu dem Korridor, der zu den Schlafzimmern führte. Nur das verhaltene Summen der - 140 -
Klimaanlage war zu hören. Sonst Stille. Die Badezimmertür am Ende des Ganges stand offen. Der Raum dahinter lag im Dunkeln. Der Duschvorhang war zurückgezogen und gestattete Whitney, sich davon zu überzeugen, dass niemand in der Wanne hockte, um sie anzuspringen. Mit professioneller Gründlichkeit unterzog sie die angrenzenden Schlafräume mit den gerafften Samtvorhängen, rosa überzogenen Betten und Stofftierzoos einer schnellen Untersuchung. Ein Kloß schien ihr in der Kehle zu stecken, und sie musste die Erinnerung an die beiden kleinen Mädchen, die dieses Zimmer einstmals bewohnt hatten, gewaltsam zurückdrängen. Schweißperlen liefen ihr über die Haut, sie fasste den Revolver fester, als sie sich Jakes Schlafzimmer näherte. Bill folgte ihr den Gang entlang. Mit dem Rücken zur Wand spähte Whitney langsam um die Ecke der Schlafzimmertür. Sie konnte den oberen Teil der Kommode erkennen; die Kristallknäufe der Schubläden glitzerten im einfallenden Sonnenlicht. Auf der Kommode lag ein Schlüsselbund. In der erdrückenden Stille fühlte sie, wie sich plötzlich die Härchen auf ihrem Arm aufrichteten, als sie über der Bettkante ein jeansbekleidetes Bein und abgenutzte Cowboystiefel sah. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie betrat den Raum und warf einen schnellen Seitenblick zu dem angrenzenden kleinen Badezimmer, um sicherzugehen, dass es leer war. Die Lammellentür des Kleiderschranks stand offen und gab den Blick frei auf ein Durcheinander von Kleidungsstücken. Sie holte tief Luft und wandte sich dem Bett zu. Ihre Hand, in der sie die Waffe hielt, erstarrte und fing dann an zu zittern. „Jake „ Mit geschlossenen Augen und teigigem Gesicht lag er auf dem Rücken, mitten auf dem Bett zwischen zerknitterten - 141 -
Betttüchern. Blut hatte sein Oberhemd dunkelrot gefärbt. „Bleib hier.“ Bill fasste ihre Schultern, bevor er ans Bett trat. Sein Blick war konzentriert, als er seine Fingerkuppen an Jakes Hals legte. „Er lebt.“ Whitney hatte unbewusst den Atem angehalten, bis Bill sprach. Sie schob die Waffe in das Halfter und eilte zum Bett. „Er ist verletzt. Wir brauchen einen Krankenwagen.“ „Sein Puls ist ordentlich. Auf dem Laken ist kein Blut.“ Bill nahm Jakes Hemd in Augenschein, wo dunkelrote Blutflecken eingetrocknet waren. „Ich bin mir nicht sicher, ob das sein Blut ist.“ Bills Andeutung traf Whitney wie ein Schlag. Lorettas Blut. Sie schüttelte den Kopf. „Zu so etwas wäre er niemals fähig.“ In diesem Moment stöhnte Jake auf. Er ruderte mit dem rechten Arm in ihre Richtung. Auf seinem Handrücken war eine lange blutige Schnittwunde. Whitney packte ihn bei den Schultern. „Jake. Ich bin’s. Bist du schwer verletzt?“ „Whit?“ Er öffnete die Augen einen Spaltbreit. „Was ... zur Hölle ...?“ „Jake, hör doch. Du musst mir sagen, wie schwer es dich erwischt hat.“ „Ich...“ Wimmernd setzte er sich auf, schwang die Beine aus dem Bett, so dass sie ausweichen musste, um seinen Stiefeln zu entgehen. „Ich hab einen Kater“, krächzte er. Mit den Ellbogen auf den Knien vergrub er das Gesicht in den Händen. „Einen grauenvollen Kater.“ „Verdammt, Jake, schau mich an.“ Langsam kam sein Kopf hoch. Die dunklen verschlafen blickenden Augen waren blutunterlaufen. „Okay, Whit. Ich schau dich an.“ Seine Sprechweise war stockend, die Worte kamen nur undeutlich. Leise stöhnend hob er die Hand und rieb sich den Schädel. „Was treibst du denn in meinem Schlafzimmer? Hast du Kaffee gebracht?“ „Beantworten Sie die Frage Ihrer Kollegin, Ford“, - 142 -
forderte Bill ihn auf. „Wie schlimm sind Sie verletzt?“ „Taylor?“ Jakes verkniffene Augen weiteten sich. „Was, zum Teufel, machen Sie denn hier?“ Bill machte einen weiteren Schritt auf das Bett zu. „Sollen wir einen Krankenwagen rufen?“ „Wegen ... einem Kater?“ Bill schob den Kopf vor. „Schauen Sie sich Ihre Kleidung an, Ford.“ Jake senkte den Blick. Er rutschte vom Bett und hielt die Arme wie ein Chirurg von sich, der sich gerade hatte desinfizieren lassen. „Was, zum Teufel, ist mit mir passiert?“ „Das würden wir auch gerne wissen“, gab Bill ihm Bescheid. „Ich ... zur Hölle.“ „Vorsichtig!“ riefen Bill und Whitney gleichzeitig aus. Jeder griff nach einem Arm, als Jake auf die Matratze zurücksank. „Mir ist so höllisch schlecht. Ganz benebelt. Meine Beine ... weich, wie Pudding“, stellte er ungläubig fest und sah auf die klaffende Wunde auf seinem Handrücken. Dann bemerkte er die Abschürfungen, die seinen ganzen Arm bedeckten. „Ich muss ... in eine Prügelei geraten sein...“ „Warst du gestern Nacht mit Loretta zusammen?“ fragte Whitney. „Ja.“ Er sah sie erschöpft an und runzelte die Stirn. „Wieso?“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das wild vom Kopf abstand. „Was ist mit Loretta?“ fragte er langsam. „Du würdest doch nicht nach ihr fragen, wenn nicht irgendetwas passiert wäre.“ „Sie ist tot, Jake.“ Er fuhr zurück, als hätte ihn ein Hieb getroffen. „Was? Nein, das kann nicht sein, ich habe sie doch noch gesehen.“ „Tut mir Leid.“ Whitney legte ihm die Hand auf die Schulter. „Jake, ich muss unbedingt wissen, was gestern Nacht passiert ist.“ Mit aufgerissenen Augen sah er sie an. Das ohnehin bleiche Gesicht war jetzt blutleer. „Ich kann mich nicht ... Was ist - 143 -
passiert?“ „Das würden wir gerne von Ihnen erfahren“, bemerkte Bill ruhig. „Aber bevor Sie damit anfangen, möchten Sie vielleicht einen Anwalt heranziehen.“ Mit geballten Fäusten erhob Jake, sich vom Bett. Er schwankte, konnte sich aber aufrecht halten. „Was, zur Hölle, wollen Sie damit andeuten, Taylor? Dass ich Loretta umgebracht habe?“ „Ich deute überhaupt nichts an. Ich will Ihnen lediglich nahe legen, dass es in Ihrem eigenen Interesse wäre, einen Anwalt dabeizuhaben, bevor Sie mit uns sprechen.“ „Ich habe sie nicht getötet. Ich brauche keinen verdammten Anwalt.“ Whitney griff nach seinem Arm und zog Jake hinunter aufs Bett. „Erzähl uns, was du letzte Nacht gemacht hast.“ Sie ließ sich neben ihm auf der Matratze nieder und warf Bill einen Seitenblick zu. „Wann hast du gestern das Büro verlassen?“ fragte sie. „Gegen sechs. Bin wie üblich ins ‘Spurs` gegangen.“ Er sah zu ihr hinüber. „Auf ein Bier.“ Bill ging auf eine Kommode zu und lehnte sich dagegen. „Wie viele Biere haben Sie getrunken?“ „Ich weiß nicht genau. Da saßen ein paar Frauen. Haben sich amüsiert und eine Kellnerin zu mir an die Bar geschickt, ob ich nicht zu ihnen kommen wollte. Ich hatte nichts dagegen. Dann kam Loretta, hat ein Riesentheater gemacht.“ Er verstummte und legte die Hand über die Augen. „Gott, Loretta.“ Es war mehr als offensichtlich, dass die ganze Geschichte eine Qual war für Jake. Whitney fühlte aus ganzem Herzen mit ihm, und sie gab ihm einen Moment, den Schock zu verdauen. „Was ist passiert, nachdem sie aufgetaucht ist“ fragte sie sanft. Jake ließ die Hand fallen und schüttelte ungläubig den Kopf. „Als sie mich an dem Tisch mit all den Mädels sitzen sah, - 144 -
ist sie völlig ausgeflippt und wollte wissen, wieso ich ihr eine Nachricht auf Band gesprochen hätte, sie solle mich im ‚Spurs’ treffen.“ „Hatten Sie denn eine Nachricht hinterlassen?“ warf Bill ein. „Nein.“ Jake hob die Schultern. „Aber sie hat mir nicht geglaubt ... war mir dann auch egal, wahrscheinlich hatte sich jemand verwählt, was weiß ich. Ich hab `ne Weile gebraucht, bis Loretta nicht mehr sauer war. Wir haben ein paar Drinks genommen und getanzt. Und plötzlich haut’s mich um wie aus heiterem Himmel. Meine Beine wurden wackelig, und der Raum begann sich zu drehen.“ „Und dann?“ . Obwohl Bill gefragt hatte, blickte Jake Whitney an. „Loretta stützte mich. Auf dem Weg nach draußen habe ich Kuffs noch zugerufen, er hätte zu viel Whiskey in meine Drinks getan. Loretta und ich sind dann rausgetorkelt.“ „Weiter?“ ermunterte Whitney ihn. Er berührte mit einem Finger die Schnittwunde auf seiner Hand. „Verdammt, ich weiß es nicht. Ich muss umgekippt sein. Das Nächste, woran ich mich erinnere, seid ihr beide hier in meinem Schlafzimmer.“ „Versuchs“, drängte sie. „Du musst versuchen, dich zu erinnern, was vorfiel, als ihr auf den Parkplatz kamt.“ Er sah sie an. „Whit, was ist mit Loretta? Wie ist sie umgekommen?“ Whitney atmete behutsam ein, um ihr Magendrücken unter Kontrolle zu halten. Sie blickte an seinem blutigen Hemd herunter. Auf seine Hand, die Kratzer überall auf dem Arm. Er hatte kein Alibi vorzuweisen, also war er ein Verdächtiger. Der Hauptverdächtige. Sie wusste selbst - wenn es nicht Jake gewesen wäre, sie hätte ihm längst seine Rechte vorgelesen. Nervös fuhr sie sich durchs Haar. Sie musste wie eine Polizistin des Morddezernats denken, nicht wie Jakes Freundin. Wenn sie nicht korrekt vorging, könnte das seine Lage nur noch - 145 -
verschlimmern. „Ich kann dir nicht sagen, was mit Loretta geschehen ist“, sagte sie mit gezwungener Gelassenheit. „Noch nicht.“ „Sergeant, auf ein Wort.“ Der stählerne Klang in Bills Stimme ließ Whitney die Augen schließen. Einen Moment lang fühlte sie sich wieder in den Gerichtssaal versetzt, wo diese schneidende kontrollierte Stimme geradezu tödlich wirkte. Vater war schuldig, besann sie sich gleich. Sie kannte Jake. Wusste, das der Mann, der hier zusammengesunken auf dem Bett hockte, absolut außerstande war, einen blutigen Mord zu begehen. Sie drückte Jakes unverletzte Hand. Sie war eiskalt. „Ich bin gleich zurück.“ Er sah sie kurz an. Seine Züge waren gespannt, aber sein Blick war ruhig. „Ich hab’s nicht getan, Whit. Ich hab sie nicht umgebracht.“ „Ich weiß.“ Auf dem Weg zur Tür griff sie ein Hemd und eine Jeans von dem Kleiderstapel in der Ecke und legte sie aufs Bett. „Zieh dich um“, forderte sie ihn sanft auf. „Deine Hand muss genäht werden. Ich fahr dich ins Krankenhaus.“ Sie ging in den Flur, wo Bill sie schon erwartete. Seine Augen blickten kühl und beherrscht. Sein Gesicht war undurchdringlich. „Wir haben ein Problem, Sergeant.“ „Ich habe ein Problem“, gab sie zurück. „Du bist zu diesem Fall nur hinzugezogen, Taylor, aber ich bin verantwortlich, und ich werde die Ermittlungen so führen, wie es mir passt.“ Er nickte. „Und wie passt es dir?“ „Nach dem richtigen Tatverdächtigen zu suchen. Keine voreiligen Schlussfolgerungen zu ziehen. Ein großer Teil meiner Arbeit basiert auf Instinkt, nicht auf Gesetzbüchern.“ „Dein Instinkt in allen Ehren, aber es sieht schlecht aus für deinen Partner. Sehr schlecht“, erwiderte er. „Ich weiß, wie es aussieht.“ Sie blickte zur Schlafzimmertür, dann wieder zu Bill. „Aber noch weiß ich nicht, wessen Blut auf - 146 -
Jakes Hemd ist“, stellte sie klar und zwang sich zur Ruhe, während sie in ihrem Kopf die Dinge zu ordnen versuchte. „Ich bin kein Arzt, aber die Schnittwunde auf seiner Hand ist sehr tief. Das bedeutet, dass er wahrscheinlich stark geblutet hat. Außerdem hat er Wunden auf den Armen. Möglich, dass sich Jake gestern Nacht mit irgendeinem Cowboy auf dem Parkplatz geprügelt hat. Vielleicht hat Loretta ihm mit dem Glitzerfetzen, der ihrem Kleid ähnelt, danach das Blut etwas weggewischt. Möglicherweise hat sie ihn in seinen Wagen gesetzt, damit er sich ausschlafen kann, und ist dann mit einem anderen Kerl weitergezogen. Vielleicht ist Jake heute Morgen aufgewacht, ist irgendwie nach Hause gefahren und hat es gerade noch ins Bett geschafft.“ „Klingt das nicht alles sehr konstruiert?“ „Jeder Tropfen Blut, den wir hier zu Gesicht bekommen haben, könnte von Jake sein“, beharrte sie. „Soweit mir bekannt, ist es nicht strafbar, sich mit dem eigenen Blut zu bekleckern. Solange das Labor mir nichts anderes sagt, gehe ich von der Annahme aus, dass all das Blut seines ist und nicht Lorettas. Und das heißt, ich habe keinerlei Grund, ihn festzunehmen.“ „Du wandelst auf einem schmalen Grat, Sergeant.“ „Ich kenne diesen Mann“, sagte sie, indem sie einen Schritt auf Bill zuging. „Wenn das Blut auf seiner Kleidung von Loretta stammt, dann hat irgendwer es dort absichtlich platziert. Jake ist ein Cop vom Morddezernat, und er ist schlau. Wenn er jemanden umbringen wollte, würde er nicht so nachlässig sein. Er säße jetzt nicht auf seinem Bett mit benebeltem Kopf. Er wäre auf seiner Dienststelle, ruhig und gesammelt, und hätte ein Alibi.“ Bill warf einen abwägenden Blick in Richtung Schlafzimmer. „Kann schon sein. Tatsache bleibt jedoch, er hat kein Alibi für letzte Nacht.“ „Leute, die reingelegt werden, haben keine Alibis.“ Whitney legte die Stirn in Falten. „Die ganze Sache hier stinkt doch zum - 147 -
Himmel. Ich werde mich weiterhin so verhalten, dass Jakes Rechte auf alle Fälle gewahrt bleiben. Lass mich nur meinen Job machen.“ Bill verschränkte die Arme vor der Brust. „Und was genau willst du jetzt tun?“ „Als Erstes werde ich Ryan verständigen. Dann werde ich Jake eine freiwillige Verzichtserklärung unterzeichnen lassen, damit ich die Kleider einpacken kann. Wenn die Spurensicherung hier eintrifft, um den Wagen zu untersuchen, werde ich sie anweisen, nach Indizien Ausschau zu halten, ob sich außer Jake noch eine andere Person in dem Fahrzeug aufgehalten hat. Sie sollen nach Fingerabdrücken oder Handschuhspuren suchen. Ich möchte erfahren, ob das Radio auf Jakes üblichen Sender eingestellt ist. Ich will wissen, ob im Aschenbecher Zigarettenstummel sind, die nicht von Jakes Marke stammen, und wenn es doch seine Marke ist, dann will ich wissen, wessen DNA auf jedem Stummel zu finden ist. Vielleicht gibt es Fasern auf den Sitzen, die nicht mit Jakes Kleidern zusammenpassen. Wenn ein schmutziger Fußabdruck auf der Fußmatte ist, möchte ich die Schuhgröße wissen. Und ich werde ein paar Kollegen in der Nachbarschaft herumschicken, um herauszufinden, ob es Zeugen gibt, die die Abfahrt oder Ankunft des Wagens beobachtet haben, und wer ein- oder ausstieg. Sobald Jakes Hand genäht ist, bringe ich ihn ins Department und nehme seine Aussage zu Protokoll. Heute Abend werde ich dem ‘Spurs` einen Besuch abstatten, mit dem Barkeeper reden, um die Namen der Gäste herauszufinden, die Jake und Loretta auf dem Parkplatz eventuell gesehen haben könnten.“ Bill hob die Augenbrauen. „Fertig?“ „Fürs Erste.“ „Drei Dinge, Sergeant. Wenn deinem Partner die Hand genäht wird, sollen die im Krankenhaus gleich einen Bluttest machen, vielleicht gibt es Spuren von Drogen.“ - 148 -
Dieser Einwand löste Angst in ihr aus. „Du bist auf dem Holzweg, Taylor. Jake nimmt keine Drogen. Niemals.“ Bill neigte den Kopf. „Ich habe auch nicht behauptet, dass er welche nehmen würde. Vor zwei Monaten habe ich in einem Fall die Anklage vertreten, bei dem dem Opfer eine bewusstseinstrübende Droge eingeflößt wurde. Jake hat erweiterte Pupillen und leidet offensichtlich an kurzfristigem Gedächtnisverlust. Das sind zwei Nebenwirkungen dieser Droge.“ Whitney zog die Stirn in Falten. Sie hatte sich auf die Düsternis in Jakes Augen konzentriert, aber nicht darauf, wie sie aussahen. „Ich muss... das übersehen haben.“ „Weil du das Ganze zu persönlich nimmst. Du lässt dich, zu sehr von deinen Gefühlen leiten.“ „Und was ist die zweite Sache?“ „Dass du Recht hast, wenn du behauptest, es wäre gerade von einem Polizisten verdammt unklug, jemanden zu ermorden und all diese offensichtlichen Indizien zu hinterlassen. Aber diese Indizien existieren nichtsdestotrotz, also müssen wir sie auch beachten. Wenn man Jake seine Rechte vorlesen muss, wird das geschehen, ob du es tust oder jemand anders mit einer Dienstmarke.“ Dagegen ließ sich nichts vorbringen. Es wäre schlimmer für Jake, viel schlimmer, wenn die Prozedur nicht streng nach Vorschriften erfolgen würde. „Was ist die dritte Sache?“ „Mein Ziel ist dasselbe wie deines, Sergeant, nämlich den wahren Killer zu überführen. Wir stehen auf derselben Seite. Keiner von uns möchte einen Unschuldigen hinter Gitter bringen.“ „Jake ist unschuldig.“ „Ich bewundere Loyalität, deshalb fällt es mir nicht leicht, dagegen zu argumentieren“, bemerkte Bill ruhig. „Aber ebenso ist mir bewusst, dass sie eine Person für gewisse Dinge blind machen kann. Hoffen wir, dass du Recht hast.“ Bill strich ihr sanft - 149 -
über den Hals. Whitney schloss die Augen und spürte die Wärme seiner zärtlichen Berührung. „Um Jakes willen“, fügte Bill hinzu, „und um deinetwillen hoffe ich, du hast Recht.“ Es war bereits Nachmittag. Whitney befand sich gerade auf dem Weg zum Verhörzimmer in der dritten Etage des Departments, als ihr Chef sie in sein Büro rufen ließ. Sie klopfte an Ryans Tür und trat auf sein brüskes „Herein“ ein. „Lieutenant“, begann sie, kaum dass sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Jake ist freiwillig hier. Ich nehme ihn mit ins Verhörzimmer, um seine Aussage zu protokollieren. „Setzen Sie sich.“ Ryan wies auf einen der Sessel vor seinem Schreibtisch. „Ich werde seine Aussage selbst aufnehmen, Whitney. Sie sind von dem Fall abgezogen. Von jetzt an werden Rogers und Pears sich darum kümmern.“ Sie ballte die Hände zu Fäusten. „Ich komme mit dem Fall zurecht, Sir.“ „Jake ist Ihr Partner. Dadurch wird es zu einer persönlichen Angelegenheit. Ihnen ist nicht nur dieser Fall entzogen, sondern auch die Untersuchung in der Sache des Prostituiertenmörders.“ Sie sah ihn verständnislos an. „Warum?“ „Das Labor hat Lederriemen im Kofferraum von Jakes Wagen gefunden. Sie ähneln denen, die bei allen acht Opfern gefunden wurden.“ Whitney sprang auf. „Das ist doch nur ein Ablenkungsmanöver. Andrew Copeland weiß, dass ich ihm auf den Fersen bin. Er hat diese anonymen Anrufe bei Staatsanwalt Taylor gemacht, und jetzt versucht er Jake die Morde anzuhängen.“ Ryan sah sie gelassen an. „Setzen Sie sich, Sergeant.“ Als sie sich beschweren wollte, fragte er: „Können Sie Copelands Beteiligung beweisen?“ - 150 -
„Nein.“ Sie, fühlte sich, als drückte eine Faust ihr das Herz zusammen. „Ich kann nichts beweisen - noch nicht.“ „Bis Sie so weit sind, müssen wir uns an das halten, was wir haben. Ich habe soeben Sky Milans vorläufigen Laborbericht erhalten.“ Er nahm einen Bogen von seiner Schreibunterlage. „Das Blut auf Jakes Hemd ist vom Typ AB negativ. Dieselbe Blutgruppe wie auf dem roten Kleidungsstück, das im Fußraum von Jakes Wagen gefunden wurde. Milano hat die Autopsie zwar noch nicht abgeschlossen, aber die Blutgruppe von Loretta Smith hat er schon durchgegeben. Sie ist AB negativ. Morgen Nachmittag werden wir die Ergebnisse des Gentests vom Blut auf Jakes Hemd haben.“ Ryan legte den Bericht zur Seite. „Laut Personalakte hat Jake Blutgruppe 0. Er hatte also wahrscheinlich das Blut einer ermordeten Frau auf seinem Hemd, ein blutiges Kleid in seinem Wagen und Lederfesseln in seinem Kofferraum.“ „Das ist kaum überraschend, weil es fingiert ist.“ „Der Zigarettenstummel, der in der Nähe von Smiths Leiche gefunden wurde, stammt von derselben Marke wie die im Aschenbecher von Jakes Wägen.“ „Er hat sie nicht ermordet. Er hat niemanden ermordet. Und wenn Sie noch so viele Indizien haben.“ Während sie in der Aufnahmehalle des Krankenhauses gewartet hatten, hatte sie Jake immer wieder angefleht, sich an letzte Nacht zu erinnern. Aber sein Gedächtnis war wie ausgelöscht. „Lieutenant, ich bin mehr als befähigt, die Untersuchung dieser Fälle zu leiten. Sämtlicher Fälle.“ „Ich zweifle auch in keiner Weise an Ihrer Kompetenz. Sie sind eine verdammt fähige Kriminalistin.“ Ryan lehnte sich in seinem Sessel zurück und betrachtete sie ruhig. „Ich würde vorschlagen, Sie lassen sich einige Zeit beurlauben, bis das alles aufgeklärt ist.“ Sie hielt seinem eisblauen Blick stand., „Jake ist unschuldig. Ich werde meinen Partner nicht hängen lassen.“ - 151 -
„Ich kann mich nicht erinnern, Sie dazu aufgefordert zu haben, Sergeant.“ Er brummte. „Die Presse nimmt uns bereits unter Beschuss. Sie beobachten jeden Schritt, den wir unternehmen.“ „Ich habe keinen falschen gemacht.“ „Weiß ich. Und ich zweifle, dass Sie welche machen werden, während Sie beurlaubt sind.“ Ryans Andeutung war kristallklar. Er gab ihr zu verstehen, dass sie freie Hand hatte, den Fall privat zu verfolgen. Und genau das hatte sie vor.
- 152 -
12. KAPITEL Im selben Augenblick, als am anderen Ende der Leitung der Anrufbeantworter anging, knallte Bill den Hörer auf die Gabel. Er hatte schon längst aufgehört, die Nachrichten zu zählen, die er Whitney auf Band hinterlassen hatte. Wo war sie nur? Er begann an den dunkel gebeizten Bücherschränken, die eine Wand seines Wohnzimmers bedeckten, auf und ab zu gehen. Die Messinguhr auf dem massiven polierten Sockel schlug zehn. Es war schon die zweite Nacht, in der er seinen Wohnzimmerteppich durch unablässiges Hin-und-Her-Wandern strapazierte. Gestern hatten sie Lorettas Leiche entdeckt. Gestern hatten sie Jake Ford aus dem Bett gezerrt. Dann hatte er Whitney dabei zugesehen, wie sie mit ihrem Partner in ihren Wagen gestiegen und Richtung Krankenhaus gestartet war, um seine Hand verarzten zu lassen. Seitdem hatten die DNA-Tests einwandfrei bestätigt, dass es Lorettas Blut war, das sich auf Jakes Hemd befand. Spuren seiner Haut wurden unter ihren Fingernägeln gefunden. In Jakes Wagen stellte das Labor als Indizien die blutige Kleidung des Opfers und Lederriemen sicher. Die gleichen Lederriemen wie bei den übrigen sieben ermordeten Frauen. Wie bei sämtlichen Opfern des Prostituiertenmörders fanden sich einige platinblonde Haare in Lorettas eigenem Haar. „Verdammt“, knurrte Bill. Mit einem Blick auf die Uhr stellte er fest, dass, seit seinem letzten Anruf erst zehn Minuten vergangen waren und er schon wieder dabei war, es erneut zu versuchen. Wo steckst du? Er war in großer Sorge. Ryan hatte Whitney von allen Fällen abgezogen und sie beurlaubt. Bill kannte Whitney mittlerweile, wusste, wie sie empfand. Sie war überzeugt, Copeland sei der - 153 -
Killer, also würde sie sich auf ihn konzentrieren. An seinen Fersen kleben, ihn unablässig verfolgen. Copeland. Nicht einmal jene Verhaftung neulich gab ausreichend Grund zu der Annahme, dass der Sohn des reichsten Mannes von Oklahoma City so mörderische Abgründe besaß. Sollte hinter all dem Reichtum, der Kultiviertheit und der vornehmen Erziehung wirklich ein Killer lauern? Dieses ständige Grübeln ist doch nutzlos, ermahnte Bill sich. Er wusste nur eines: Wenn er noch länger zu Hause blieb, würde er bald durchdrehen. Er würde noch mal zu Whitneys Haus fahren. Schon wieder. Wahrscheinlich umsonst, aber wenigstens unternahm er etwas, anstatt nur auf und ab zu laufen. Er trottete aus dem Wohnzimmer durch den Flur Richtung Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Mit dem verwaschenen T-Shirt, dass er trug, konnte er vielleicht noch auf die Straße, nicht aber mit der Jogginghose, die ihm tief auf den Hüften hing. Beim Schrillen der Türglocke zuckte er zusammen. Er brauchte nicht mehr als fünf Sekunden, um die Eingangstür aufzureißen. „Whitney.“ „Ich ... weiß nicht recht, warum ich gekommen bin.“ Im Schein der Türlampe sah er die dunklen Spuren der Abgespanntheit unter ihren Augen, die Linien der Übermüdung in ihren Mundwinkeln. „Spielt keine Rolle.“ Er griff ihr Handgelenk und zog sie an sich. In dem kühlen ruhigen Vorraum überfiel ihn unendliche Erleichterung. Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar, sog den Duft in sich auf. Die Erkenntnis, wie besorgt er wirklich um sie gewesen war, erschütterte ihn zutiefst. „Nur dass du hier bist, spielt eine Rolle. Dass alles mit dir in Ordnung ist.“ „Alles in Ordnung“, sagte sie an seiner Brust. „Ich habe in der ganzen Zeit Leute befragt, Hinweise verfolgt, Indizien überprüft, versucht ...“ Sie legte ihm die Hände auf die Hüften. - 154 -
Bill schloss die Augen. Ihre Berührung verursachte eine Hitzewallung in ihm. Doch er bezwang die Lust, die ihn augenblicklich durchfuhr. Whitney brauchte jetzt Halt, nicht Verführung. „Ich musste einfach mit jemandem reden“, fuhr sie fort, brach ab und legte den Kopf zurück, um ihn anzusehen. „Das ist nicht ganz zutreffend, ich musste mit dir sprechen.“ Er sah nur ihre Verlorenheit, ihre Zerbrechlichkeit. Aber er kannte auch ihre erstaunliche Kraft. „Ich bin froh, dass du zu mir gekommen bist.“ „Ryan hat mir den Fall entzogen.“ „Ich weiß. Es war die richtige Entscheidung.“ Sie löste sich aus seinen Armen, wandte ihm den Rücken zu und ging durch den Bogengang ins Wohnzimmer. Er verstand, dass sie nicht stillsitzen konnte, während sie nachdachte, also lehnte er sich gegen den nächsten Bücherschrank und verfolgte ihren Gang. Das übergroße weiße Männerhemd, das sie trug, steckte in einer knappen schwarzen Jeans, die ihre langen Beine mehr zur Geltung brachte als jeder Minirock. Aufmerksam registrierte er alle ihre Bewegungen. Das goldblitzende Abzeichen, die Waffe an ihrem Hosenbund erinnerten ihn, dass sie Polizistin war, trainiert, auf sich selbst aufzupassen. Wie lächerlich war es gewesen, sich in seiner Sorge um sie derartig nervös machen zu lassen! Fast so lächerlich wie die Intensität, mit der er sie begehrte. Bei der plötzlichen Erkenntnis verkrampften sich ihm die Hände. Sosehr es ihn auch körperlich nach ihr verlangte, es war mehr, was ihn zu ihr hinzog. Er wollte ihr in die Augen schauen, um nur sich selbst darin widergespiegelt zu sehen. Er wollte das Recht haben, sie in den Armen zu halten. Wollte ... War er etwa dabei, sich ernsthaft zu verlieben? Liebte er sie womöglich schon? „Ich hätte den Fall abschließen können“, sagte Whitney, als sie vor der gemütlichen alten Couch auf und ab ging. - 155 -
„Sämtliche Mordfälle.“ Sie verschränkte die Arme. „Er ist eingesperrt.“ Sie zögerte einen Moment, um sich unter Kontrolle zu bekommen. „Eine Zelle! Da gehört Jake einfach nicht hin. Ich muss eine Möglichkeit finden, ihm zu helfen. Ich muss ...“ Sie hob die Hand und presste sie auf den Mund, um ihr Schluchzen zu ersticken. „Whitney.“ „Nein.“ Sie schrak zurück, als Bill die Hand nach ihr ausstreckte. „Es ist nichts.“ Sie drehte ihm den Rücken zu. „Ich weine nie.“ Ohne ihre Worte zu beachten, trat er auf sie zu und umarmte sie fest. Sofort schlang sie die Arme um ihn und drückte ihr Gesicht an seine Schulter. „Ich kenne die Laborergebnisse“, brachte sie stockend hervor. „Ich weiß, wie schlecht es für Jake aussieht.“ Bill massierte ihr sanft die verkrampften Schultern. Er wiegte ihren Kopf. „Lass es nur heraus“, redete er ihr zu. „Lass es heraus. Denke für eine Nacht nicht mehr daran. Morgen wirst du schon klarer sehen.“ „Heute Nacht“, gelang es ihr hervorzubringen. „Ich muss heim. All die Fälle noch einmal durchsehen. Ich habe Kopien von jedem Bericht, jedes Foto, ganze Aktenordner mit Aufzeichnungen. Irgendetwas muss ich übersehen haben, etwas, das mir entgangen ist, weil ich nicht gründlich genug war. Sie umschlang seine Hüften enger. „Irgendetwas.“ Bill erwiderte den Druck. Er bekämpfte das Verlangen, mehr zu tun, als sie nur zu halten. Behutsam fasste er ihr unters Kinn und sah ihr in die Augen. „Morgen. Du nutzt Jake überhaupt nicht, wenn du keine Pause einlegst. Wie lange ist es her, dass du etwas gegessen hast?“ „Ich hatte keine Zeit...“ „Jetzt hast du Zeit.“ Er wischte ihr eine Träne von der - 156 -
Wange. „Offensichtlich bin ich derjenige, der darauf zu achten hat, dass du ordentlich isst. Ich werde Sie füttern, Sergeant. Dann bringe ich Sie zu Bett.“ „Nein.“ „Im Gästezimmer.“ Er küsste sie auf die feuchte Wange, schmeckte das Salz ihrer Tränen auf den Lippen. „So gern ich dich auch in meinem Bett hätte; es ist besser, wenn du Schlaf bekommst.“ Dreißig Minuten später saß Whitney in der Küche, einen halb leeren Teller mit einer herzhaften Suppe vor sich. Um sie herum glänzten Kupfertöpfe, die Fliesen schimmerten. Whitney seufzte. Das Essen hatte geholfen; sie fühlte sich wieder halbwegs wie ein Mensch. Dennoch war sie unendlich erschöpft, schließlich hatte sie in den letzten vierundzwanzig Stunden kein Auge zugetan. „Aufessen“, verlangte Bill und blickte ihr über die Schulter. „Ich bin satt.“ Sie schob den Teller beiseite. „Du hast mir die doppelte Portion gegeben.“ Sie lächelte. „Glaub mir bitte, ich bin nicht hergekommen, um auf dein Hemd zu heulen und mich danach von dir füttern zu lassen.“ Sie betrachtete Bill, der lässig gegen die Theke gelehnt stand. „Von Heulen kann gar keine Rede sein, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund habe ich ständig das Bedürfnis, dich zu füttern.“ Er kam auf sie zu und streichelte ihr die Wange. „Ich passe eben gern auf dich auf.“ Whitney schloss die Augen und schmiegte das Gesicht in seine Handfläche. Hier ist ein Mann, dachte sie, der bereit ist, ein Teil der Last auf sich zu nehmen, die so schwer auf meine Schultern drückt. „Danke.“ „Es gibt nichts zu danken.“ Er kreuzte die Arme vor der Brust. „Nachdem ich die letzten 24 Stunden damit verbracht habe, mir Sorgen um dich zu machen, finde ich, dass ich auch ein Anrecht darauf habe zu erfahren, wo du dich herumgetrieben hast. - 157 -
Schuldbewusstsein erfasste sie. „Tut mir Leid, ich wollte dich nicht in Unruhe versetzen.“ Bill blieb eine Weile stumm. Dann fragte er: „Wo warst du, nachdem du das ‘Spurs` verlassen hast?“ „Woher weißt du, dass ich dort war?“ „Gestern bei Jake hast du mir gesagt, du wolltest herausfinden, ob jemand ihn und Loretta auf dem Parkplatz gesehen hätte. Als ich dich nirgends finden konnte, bin ich selbst dorthin gegangen. Der Barkeeper meinte, ich hätte dich um knapp zehn Minuten verpasst.“ „Oh.“ „Irgendwelche Zeugen aufgetrieben?“ „Nein.“ Sie unterdrückte ihre Enttäuschung. „Aber vorgestern Nacht, als Jake und Loretta da waren, ist eine Tanztruppe aufgetreten. Die Truppe hat ihre Vorstellung etwa zu der Zeit beendet, als die beiden das Lokal verlassen haben. Ich habe eine Liste der Mitglieder der Truppe - ungefähr dreißig. Mit der Hälfte von ihnen habe ich schon gesprochen. Den Rest werde ich morgen befragen.“ Bill löste den Blick nicht von ihrem. „Ich wiederhole meine Frage, Sergeant: Wo waren Sie, nachdem Sie das ‘Spurs` verlassen haben?“ Whitney spürte, wie sich ihr die Kehle zusammenzog, weil sie ahnte, dass er es bereits wusste. „Ein Zivilermittler vom Drogendezernat hat mir den Gefallen getan, Copeland zu beschatten, als er letzte Nacht sein Haus verlassen hat. Nachdem ich im ‘Spurs` fertig war, nahm ich seine Spur auf. Copeland war in drei verschiedenen Clubs. Ich bin ihm gefolgt.“ Sie schob das Kinn vor. „Ich habe dafür gesorgt, dass er mich auch bemerkt. Ich wollte Copeland zu verstehen geben, dass sein Täuschungsmanöver bei mir, nicht zieht. Er kann mich nicht abschütteln. Ich wollte ihn wissen lassen, dass ich die Wahrheit kenne.“ „Du hättest Verstärkung anfordern sollen“, bemerkte er, und - 158 -
seine Augen funkelten. „Obwohl du der Ansicht bist, dass er acht Frauen ermordet hat, verfolgst du ihn ganz allein.“ „Ich kann auf mich aufpassen. Copeland hat diese Frauen ermordet. Nach unserem Gespräch neulich Nacht bei meinem Haus wusste er, dass ich hinter ihm her bin. Irgendwie hat er Jake und Loretta dahin gebracht, wo er sie haben wollte. Und mich ebenso.“ Ohne sie richtig wahrzunehmen, betrachtete Whitney die farbenfrohe Sammlung eingerahmter alter Menükarten über der Arbeitsfläche. „Das psychologische Täterprofil sagt, dass der Killer ein sexueller Sadist ist. Das Übelste, was man sich überhaupt vorstellen kann.“ „Ich kenne das Profil“, sagte Bill ruhig. „Dann weißt du auch, dass es auf Jake nicht passt. Aber es gibt noch andere Dinge, die ihn als Täter ausschließen.“ „Ich höre.“ „Dieser Killer macht seine Sache schon seit drei Jahren, und nie ist ihm ein Fehler unterlaufen. Nicht einer. Auf einmal hinterlässt er einen Zigarettenstummel mit seiner DNA darauf in unmittelbarer Nähe des Opfers. Nachdem Loretta ihn gekratzt hatte, müsste er eigentlich gewusst haben, dass Hautfetzen unter ihren Fingernägeln waren. Es hätte diesem Mann absolut nichts ausgemacht, ihr die Nägel auszureißen. Stattdessen lässt er Hautreste von sich zurück, obwohl er wissen muss, dass wir sie finden. Er vergisst ein blutiges Kleidungsstück auf dem Boden seines Wagens und Lederriemen im Kofferraum.“ Bei ihrem wachsenden Unmut hielt es Whitney nicht mehr auf ihrem Hocker. „Vielleicht schlucken Sie das, Herr Staatsanwalt. Ich jedenfalls schlucke das nicht.“ „Ich denke, Jake wird zwar alles, was er besitzt, als Sicherheit geben müssen, um die Kaution zahlen zu können, aber er wird auf freien Fuß gesetzt. Und sobald er den Gerichtssaal verlässt, folgt ihm ein Mitarbeiter meines Büros. Einer meiner - 159 -
Leute wird ständig in der Lage sein, Auskunft über seinen Aufenthalt zu geben.“ Whitney schloss die Augen, während sie die Einzelheiten überdachte. „Copeland wird alles daransetzen, den Verdacht gegen Jake zu erhärten“, sagte sie. „Wenn er hört, dass Jake draußen ist, wird er wieder morden.“ „Er wird ebenfalls beschattet. Wenn er auch nur eine falsche Bewegung macht, schnappen wir zu.“ Whitney sog die Luft ein. Bill hatte ihr Herz einfach dadurch gerührt, dass er ebenso verzweifelt die Wahrheit erfahren wollte wie sie selbst. „Ich habe morgen früh eine Verabredung mit Xena Pugh.“ Bill hob die Augenbrauen. „Was willst du denn bei der?“ „Ich habe überall versucht, mir Informationen über Copelands Hintergrund zu verschaffen - wen er trifft, wie sein Leben verlaufen ist, seine Kindheit. Sämtliche Informationen, die ich habe, stammen aus der Zeitung, vor allem aus ,Stadtgespräch`. Aber ich muss noch mehr wissen. Soweit mir bekannt ist, kennt Xena Pugh nicht nur fast den gesamten Jetset, sie tratscht auch gern darüber. „Das scheint mir eine gute Idee zu sein, Sergeant. Aber bis dahin brauchst du etwas Schlaf.“ Der Anflug eines Lächelns zeigte sich in seinem Gesicht. „Ich habe ein hübsches Gästezimmer.“ Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit erschien wieder ein Lächeln auf Whitneys Lippen. Sie fasste seine Hand, genoss die Wärme seiner Berührung. Eine merkwürdige Ruhe überkam sie. Mit plötzlicher Klarheit wurde ihr bewusst, was er ihr bedeutete und was sie von ihm wollte. Und das ging wesentlich tiefer als rein körperliche Bedürfnisse. Wie weit ihre Gefühle für ihn wirklich gingen, würde sich noch herausstellen. Im Augenblick wusste sie zumindest, dass sie ihn aus einer tiefen Empfindung heraus begehrte. Dass sie ihn brauchte. „Ich möchte nicht im Gästezimmer schlafen“, sagte sie ruhig. - 160 -
Bill schob das Kinn vor und blickte sie gespielt streng an. „Aber ich werde dich heute Nacht nicht fortlassen.“ „Ich werde in deinem Zimmer schlafen.“ Sie verschränkte die Finger mit seinen und zog ihn an sich. „In deinem Bett.“ Whitney bemerkte das kurze Aufleuchten in seinen Augen. „Aber du bist total erschöpft. Du bist emotional total ausgelaugt. Ich möchte nicht, dass du etwas tust, was du später bereuen könntest.“ „Das Einzige, was ich bereuen könnte, wäre, heute Nacht nicht mit dir ins Bett zu gehen.“ Es war eine ruhige Feststellung, die von Herzen kam. „Du bist dir sicher?“ Whitney überkam es heiß. Sie erhob sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Ist dies ein formeller Einspruch, Herr Staatsanwalt?“ „Nein.“ Er legte die Hand an ihren Hals, berührte zärtlich. die kleine Vertiefung am Schlüsselbein. „Ich will nur sicher sein...“ „Ich bin mir sicher.“ Whitney legte, ihm die Arme um die Schultern. Sie fühlte, wie seine Muskeln sich spannten. „Ich brauche dich.“ „Und ich brauche dich“, sagte er. Er umfasste sie mit plötzlicher Heftigkeit, hob sie hoch und trug sie durch den schwach beleuchteten Flur Richtung Schlafzimmer. Whitney bedeckte seinen Nacken und die Ohrläppchen mit ungeduldigen Küssen. „Mach nur weiter so, dann kommen wir nie im Schlafzimmer an“, warnte er. Aber nach einem kleinen Zusammenstoß mit der Türfüllung schafften sie es schließlich. Mondlicht fiel durch das Fenster und tauchte ein großes wuchtiges Bett in silbernes Licht. Als er sie auf die Füße stellte, hatte Whitney den flüchtigen Eindruck eines weitläufigen, in ruhigen Farben gehaltenen Raums mit schweren Möbeln. Bill nahm ihre Hände und küsste ihr die Handflächen. - 161 -
Whitney stockte der Puls, nur um gleich darauf umso heftiger einzusetzen. „Ich werde es sehr, sehr langsam tun“, flüsterte er und bedeckte ihr Kinn mit Küssen. „Heute Nacht brauchen wir beide viel Zeit.“ Er nahm ihre Lippen so leidenschaftlich, dass ihr die Knie weich wurden und sie befürchtete, ohnmächtig zu werden. Kaum hörbar hauchte sie seinen Namen, als er begann, ihr Hemd zu öffnen. Knopf für Knopf. Ihr fiel auf, dass er nicht so fiebrig agierte wie noch zwei Tage zuvor, als er in leidenschaftlicher Raserei die Seide weggefegt hatte und es fast zum Äußersten gekommen wäre, hätte nicht Lieutenant Ryans Anruf sie unterbrochen. Jetzt dagegen schien sich die Zeit wie in Zeitlupe endlos zu dehnen. Es kam ihr vor, als ob die Atmosphäre um sie herum sich verdichtete. Bill fuhr mit den Fingerspitzen über ihre Haut und löste einen Erregungsschauer nach dem anderen aus. Ihr Hemd fiel zu Boden. Er küsste ihre Schultern, ihren Hals, streifte über ihre Hüften; die Brüste. Whitneys Herzschlag beschleunigte sich. Ein Schauer durchlief sie, während seine verführerischen Lippen sie verwöhnten. Sie spürte, wie er ihr die Jeans und das, Höschen langsam herunterstreifte. Kühle Luft umfächelte ihren Körper, als sie entblößt vor ihm stand. „Ich will alles von dir“, flüsterte er dicht an ihrem Hals. „Ich will dich ganz.“ „Ja. „ Mit zitternden Händen zog Whitney ihm das verwaschene T-Shirt über den Kopf. Sie fuhr mit dem Mund über die breite Brust, fühlte das Pochen seines Herzschlags. Vorsichtig ertastete sie seinen Körper. Seine Muskeln vibrierten unter ihren Fingern. Er ließ sie herab und legte sie aufs Bett. Während er aus seiner Jogginghose und den Boxershorts stieg, blickte er ihr ununterbrochen in die Augen. Endlich stand er im fahlen - 162 -
Mondlicht vor ihr, und sie betrachtete seinen herrlichen Körper mit den geradezu erstaunlichen Proportionen. Whitney pochte das Herz bis zum Hals, als er sich neben ihr auf der Matratze niederließ. Sie wusste nicht, ob Minuten oder Stunden vergingen, in denen er langsam und bedächtig ihren Körper erkundete, als wollte er sich ihn Zentimeter für Zentimeter aneignen; um sich später genau daran zu erinnern. Sie hatte nicht gewusst, dass sie je einen Mann derart begehren würde. Ihn so sehr brauchte. Er war ihr Mann. Bill fuhr mit den Lippen über ihre Brüste, umschloss ihre Knospen und liebkoste sie mit quälender Langsamkeit. Whitney stöhnte vor Lust. Sie empfand ihre Begierde fast schon als Qual. Er streifte über ihre Taille, den Bauch, tastete sich weiter vor. Als er die weiche Wölbung erreichte, wurde ihr fast schwindelig. Whitney gab sich ganz seiner Liebkosung hin, ließ sich von seinem sanften unaufhörlichen Streicheln höher und höher tragen. Sie fuhr ihm durchs Haar, bedeckte seine Lippen mit verzehrenden Küssen. Ihr Bedürfnis nach Erlösung wurde übermächtig. Sie wollte, ihn anflehen, sie ganz zu nehmen. Wellen der Erregung durchfluteten sie. Am ganzen Körper zitternd, schmiegte sie das Gesicht an seine Schulter; sie hatte sich nicht mehr unter Kontrolle. „Whitney.“ Es klang wie ein Raunen in der Stille des Raums. Bill griff ihr ins Haar, bog ihren Kopf zurück. Er berührte ihren Mund mit den Lippen und flüsterte mit heiserer Stimme: „Ich will dich ganz.“ Als er sie nahm, bäumte sie sich ihm in fast unerträglicher Lust entgegen und stöhnte seinen Namen. In stetigem langsamen Rhythmus bewegte er sich, trieb sie dem Höhepunkt zu. Whitney hatte jeglichen Halt verloren. Er war ihr einziger Halt. Sie schlang die Beine um seine Taille. In totaler Hingabe folgte sie seinem Rhythmus, nahm ihn ganz in sich auf. Gemeinsam erreichten sie den Gipfel und verschmolzen miteinander. - 163 -
Später lag sie in tiefem Erschöpfungsschlaf neben ihm, einen Arm über seine Brust gelegt, die Beine mit seinen verschränkt. Ihr Haar breitete sich wie ein wilder Feuerbusch über die zerknüllten Bettlaken aus. Bill beobachtete, sie, lauschte den gleichmäßigen entspannten Atemzügen. Jetzt gehörte sie ihm. Sie gehörte ihm, und er liebte sie. Gefühle, noch vor wenigen Stunden verworren und unklar, hatten sich in einem blitzartigen Moment der Erkenntnis offenbart und verfestigt. Er liebte sie. Zurückblickend wurde ihm klar, dass es wahrscheinlich schon in dem Augenblick um ihn geschehen war, als Whitney ihm in ihrem knappen Top, dem Stretchmini und den hochhackigen Riemchensandaletten auf dem Parkplatz gegenübergetreten war. Zärtlich strich er mit den Fingerspitzen die elegante Linie ihrer Schulter entlang. Ihre gebräunte Haut schimmerte im Mondlicht und tauchte die sanften Kurven in silbernes Licht und tiefe Schatten. Nie hatte er eine Frau mit solcher Heftigkeit begehrt. Alles, was er sich je erträumt hatte, schien greifbar nahe. Er liebte sie. So einfach war das. So überwältigend. Bill presste die Lippen aufeinander. Ihm war klar, er würde sie überzeugen müssen. Sicherlich würde sie weiter auf ihrer Theorie beharren, nach der er lediglich einem körperlichen Bedürfnis nach Nähe folgte, und behaupten, er könne sie niemals lieben. Er wisse noch nicht einmal, was Liebe überhaupt sei. Und ob er es wusste! Er würde alles daransetzen, sie davon zu überzeugen. Wie gern hätte er sie jetzt sachte gestreichelt, sie langsam wachgeküsst und ihr gesagt, was er für sie empfand. Er sah die Schatten der Erschöpfung um ihre Augen, deshalb strich er nur ganz sanft mit dem Finger über ihre blasse Wange. Mehr als - 164 -
alles andere brauchte sie jetzt Schlaf. Ganz vorsichtig zog er sie in seine Arme und küsste sie zart auf die Schläfe. Am Morgen würde er ihr sagen, was ihm jetzt endgültig klar geworden war: Er liebte sie.
- 165 -
13. KAPITEL Vorsichtig löste Whitney sich aus der Umarmung mit Bill. Wie gern sie noch geblieben wäre! Sich an ihn gekuschelt hätte. Ihn noch einmal geliebt hätte. Aber das muss warten, sagte sie sich, während sie ihre Kleider vom Boden aufsammelte. Wenn sie vor ihrer Verabredung mit Xena Pugh noch einmal ihre Notizen durchgehen wollte, die sie sich über Copeland gemacht hatte, dann musste sie jetzt los. Doch es fiel ihr schwer, sich endgültig loszureißen. Über den dicken Teppich tappte sie noch einmal zum Bett. Bill lag auf der Seite, einen Arm über die Stelle ausgestreckt, wo sie eben noch gelegen hatte. Die frühmorgendlichen Sonnenstrahlen, die durchs Fenster fielen, erhellten schwach sein kantiges Kinn und die hohen Wangenknochen. Sein Haar war zerwühlt. Whitney streckte die Hand aus und strich zärtlich über die wirren Strähnen. Sie spürte, wie sich ihr die Kehle verengte. Ihre Gefühle für Bill gingen so tief, dass es sie erschreckte. Sie schloss die Augen., Auf keinen Fall durfte sie sich damit aufhalten, darüber nachzugrübeln, was die Zukunft wohl bringen mochte, wenn die Gegenwart sie so dringend forderte. Eins jedoch war sicher: Die vergangene Nacht hatte alles verändert - sie hatte ein starkes unsichtbares Band zwischen ihnen geknüpft. Ein Band, das sich weit von allem unterschied, was sie bisher mit anderen Männern erlebt hatte. Lautlos verließ sie den Raum. Jake würde heute Morgen auf Kaution entlassen werden, aber das bedeutete nicht, dass sie jetzt in ihrer Suche nach dem entscheidenden Puzzleteil nachlassen durfte. Sie hatte einen Mörder zu finden und Jakes Unschuld zu beweisen. Ihr Instinkt sagte ihr, dass der entscheidende Hinweis in Copelands Vergangenheit zu finden sei. Irgendetwas hatte seinen Geist verwirrt, ihn zum Serienmörder gemacht. Dieses Etwas musste sie ans Tageslicht bringen. - 166 -
Zu Hause angekommen, duschte Whitney sich und zog ein dunkles Kostüm mit einem engen Rock an. Da ihr Magen sich schon wieder unangenehm bemerkbar machte, entschloss sie sich, ihre Aufzeichnungen über Copeland in einem in der Nähe ihres Hauses gelegenen Cafe durchzusehen und ordentlich zu frühstücken. Eine Stunde später betrat sie Xena Pughs ultramodernes Büro. Die Redakteurin thronte hinter einem wuchtigen Schreibtisch aus Mahagoni. Sie wies einladend auf eine Art Regiesessel aus schwarzem Leder und verchromtem Stahlrohr. „Sergeant Shea! Sagen Sie bloß, Sie sind hier, um mir ein Interview über sich und Bill Taylor zu geben?“ „Nicht ganz.“ Whitney nahm einen Becher mit dampfendem Kaffee in Empfang, der ihr von Xena Pughs Assistentin gereicht wurde, einem jungen Mädchen mit struppiger, grell gefärbter Igelfrisur und einem Diamanten in der Nase. Sie trank einen Schluck und studierte die Redakteurin über den Becherrand hinweg. Blondes Haar mit grauen Strähnen an den Schläfen umrahmte ihr scharf geschnittenes Gesicht. Das bonbonrosa Leinenkostüm war mit Sicherheit maßgeschneidert, Lippenstift und Nagellack waren exakt auf die Farbe des Kostüms abgestimmt. Whitney vermutete, dass das Fehlen jeglicher Alterslinien um den Mund und um die wachsamen Augen der Kunstfertigkeit eines Schönheitschirurgen zu verdanken war. „Ich bin in einer ganz anderen Angelegenheit hier“, begann Whitney. „Ich benötige Ihre Hilfe.“ Xena nahm einen kleinen Schluck von dem Milchkaffee, den ihre Assistentin vor sie auf die Schreibtischunterlage gestellt hatte. „Ich kann mir kaum vorstellen, wie ich Ihnen in einer polizeilichen Angelegenheit behilflich sein könnte.“ „Es handelt sich eher um eine private Angelegenheit ... es hat mit den Copelands zu tun.“ - 167 -
Interesse blitzte in den Augen der Frau auf. Sie verschränkte die juwelenverzierten Finger. „Oh?“ Whitney beugte sich mit verschwörerischer Miene vor. „Sagen wir mal so: Ich habe ein, nun ja, gewisses Interesse an Andrew“, verriet sie mit einem schüchternen Augenaufschlag. „Aber ich bin etwas irritiert wegen einiger Dinge, die ... ich ihn ungern selber fragen möchte.“ „Tatsächlich?“ Die Redakteurin hob die schmalen Augenbrauen. „Andrew ist ein wenig rätselhaft, nicht?“ „Ständig sieht man Bilder von ihm auf der Gesellschaftsseite der Zeitung, aber nie zwei Mal mit derselben Begleiterin. Das macht mich ehrlich gesagt etwas stutzig.“ „Ich verstehe Sie gut.“ „Ich möchte nicht enttäuscht werden“, sagte Whitney nachdenklich und machte eine kurze Pause. „Was ist eigentlich mit Andrews Mutter? Er hat sie mir gegenüber nie erwähnt. Ich finde, die Beziehung eines Mannes zu seiner Mutter verrät doch sehr viel über ihn.“ Xena tippte mit ihrem perfekt manikürten Fingernagel auf die Schreibtischplatte. „Ach, mit Chrystal Copeland bin ich nie so richtig klargekommen.“ Whitney war alarmiert. „Warum das?“ „Sie war ursprünglich ein kleines Showgirl in Las Vegas und hatte das große Glück, Stone Copelands Aufmerksamkeit zu erregen, während sie in Pailletten und Stilettos über die Bühne wirbelte. Stone hat sich leidenschaftlich in sie verliebt und heiratete sie kurz darauf. Plötzlich ist dieses Showgirl also Millionärsgattin und lebt auf einer Ranch irgendwo westlich von Oklahoma City.“ „Eine ziemliche Umstellung“, murmelte Whitney. „Allerdings.“ Xena wiegte den Kopf. „Wir haben nach der Heirat einen großen Artikel über sie gebracht. Ich habe nie einen derart verliebten Mann gesehen. Stone kaufte Chrystal Pelze, Juwelen, baute ihr sogar ein eigenes Tanzstudio auf dem - 168 -
Anwesen. Hat ihr offensichtlich alles nicht gereicht. Zwei Wochen nach Andrews Geburt verschwand sie.“ „Sie verschwand?“ „Mit all ihren Pelzen und Juwelen. Hat Kind und Gatten verlassen, ohne sich noch einmal umzudrehen.“ Jetzt beugte Xena sich vor. „Zuerst war Stone am Boden zerstört. Als jedoch die Scheidungspapiere eintrafen, war er sehr schnell ernüchtert. Chrystal hat die Hälfte seines gesamten Besitzes gefordert. Ich möchte nicht wiederholen, in welchen Worten er sich selbst heute noch über sie äußert.“ „Was erzählt Andrew über seine Mutter?“ „Er erwähnt sie nie.“ Whitney nickte. „Könnte ich vielleicht eine Kopie des Artikels über Chrystal Copeland haben?“ „Selbstverständlich.“ Xena nahm den Telefonhörer ab, gab einer Assistentin eine Anweisung und wandte sich wieder Whitney zu. „Chrystal war eine wunderschöne Frau. Bezauberndes Gesicht und platinblondes Haar. Das Foto, das wir in dem Artikel von ihr brachten, ist in ihrem privaten Tanzstudio aufgenommen.“ Whitneys Puls beschleunigte sich. Bei allen Opfern des Mörders waren lange platinblonde Haare gefunden worden. „Dieses Tanzstudio“, hakte Whitney nach, „befindet es sich noch immer auf der Ranch?“ „Soweit ich weiß, ja. Nach der Scheidung hat Stone das Studio verriegelt und jeden Zutritt verboten.“ Xena schürzte die Lippen. „Zuerst dachten die Leute, er würde es niederbrennen.“ Xena schenkte Whitney ein verschwörerisches Lächeln. „Ein Hausangestellter hörte, wie Andrew seinen Vater bat, das Studio stehen zu lassen. Offensichtlich dachte der Junge, solange das Studio existiere, würde seine Mutter vielleicht eines Tages doch zurückkehren.“ Whitney konnte es fast bildlich vor sich sehen, wie die Puzzleteile sich zu einem Ganzen formten. Chrystal Copeland - 169 -
war nie zurückgekommen, sie hatte ihren Sohn im Stich gelassen. Mit den Jahren hatte sich Andrews Schmerz in krankhafte Wut gewandelt, die er auslebte, wenn er diese Frauen umbrachte. Sie repräsentierten die Mutter, die ihn im Stich gelassen hatte. Das Tanzstudio, einst Symbol der Hoffnung, dass die Mutter wieder zurückkehrte, war nun der Ort, wo dieser verwirrte Geist seine Rache zelebrierte. Einige Stunden später hatte Whitney in Erfahrung gebracht, wo Stone Copelands Ranch lag. Hätte sie etwas mehr Zeit gehabt, hätte sie sicherlich genügend Beweismaterial zusammengetragen, um eine Hausdurchsuchung zu erwirken. Doch jetzt war jede Minute kostbar. Auf ihrem Weg zur Ranch hielt sie kurz bei einem Einkaufszentrum, um sich eine neue Ration Tabletten zu besorgen. Ihr Magen schmerzte wie die Hölle. Die Sonne brannte unerträglich, während sie zwischen den eng geparkten Fahrzeugen auf dem Parkplatz hindurchschlüpfte. Im Gehen zog sie ihr Mobiltelefon hervor und wählte Bills Nummer. „Er ist in einer Konferenz“, erklärte seine Sekretärin. „Aber er hat mich gebeten, ihn sofort zu verständigen, falls Sie sich melden. Bleiben Sie bitte am Apparat.“ Whitney erreichte ihr Auto, das sie in der abgelegensten Reihe abgestellt hatte. Die Sonne spiegelte sich in den Frontscheiben. Sie öffnete die Wagentür. Ein Schwall heißer Luft schlug ihr entgegen. Während sie im Winkel zwischen Wagenschlag und Karosserie, stand, zwängte sie sich aus der schwarzen Kostümjacke und warf sie zusammen mit ihrer Tasche auf den Beifahrersitz. Sie hörte ein leises Klicken, in ihrem Telefon, dann Bills Stimme. „Sergeant“, begann er sanft. „Sie sind heute Morgen leider etwas zu früh gegangen.“ „Hast du meine Nachricht nicht gefunden?“ „Doch. Aber du hast mir gefehlt.“ - 170 -
Eine heiße Welle durchflutete Whitney. „Vielleicht sollten wir heute Nacht da weitermachen, wo wir gestern aufgehört haben.“ Da gibt es kein ,Vielleicht`.“ Bills Stimme war weich. „Außerdem muss ich dir unbedingt etwas sagen.“ Sie schluckte. „Was denn?“ Gerade in diesem Moment rumpelte ein Abfallwagen auf den Parkplatz und hielt mit kreischenden Bremsen. „Wo bist du?“ fragte Bill. „,Shoppers Paradise’ Einkaufszentrum, ungefähr 15 Meilen nördlich von Oklahoma City“, antwortete sie und richtete ihre Gedanken auf den Fall. „Ich fahre jetzt gleich raus zu Copelands Anwesen. Andrews Mutter hat sich kurz nach seiner Geburt aus dem Staub gemacht und ist nicht wieder aufgetaucht. Sie hatte platinblondes Haar ...“ „Verdammt!“ „Genau. Sie hatte ein Tanzstu...“ Whitney versagte die Stimme, weil sie plötzlich instinktiv spürte, dass jemand hinter ihr stand. Sie fuhr herum und blickte direkt in Andrew Copelands Gesicht. Er stand keinen halben Meter von ihr entfernt und hatte sie praktisch in dem Winkel zwischen Tür und Fahrzeug in der Falle. Er trug ein Polohemd und Khakishorts und wirkte genauso wie immer. Nur der Ausdruck in seinen Augen war alles andere als normal. „Hallo Copeland“, sagte Whitney und fügte dann ins Telefon hinzu: „Ich muss Schluss machen. Auf Wiederhören.“ Ohne die Leitung zu unterbrechen, ließ sie die Hand mit dem Apparat sinken. „Sergeant.“ Copelands linke Hand war deutlich sichtbar. Die rechte jedoch verbarg er hinter seinem Oberschenkel. Sie konnte nicht erkennen, ob er eine Waffe hatte. Sie wollte die Hände frei haben und ließ das Telefon auf den Sitz fallen. „Was wollen ... Seine Hand schnellte so plötzlich hoch, dass Whitney zwar - 171 -
ihre Waffe erreichte, sie aber nicht mehr zücken konnte. Sie sah gerade noch die Betäubungspistole, bevor Copeland sie mit einem heimtückischen Elektroschlag in den Nacken traf. Als wären ihr die Beine unter dem Leib weggerissen worden, schlug sie hart auf dem Zement auf. Mit aller Gewalt versuchte sie sich noch hochzustemmen, aber ihr Körper versagte ihr den Dienst. Ein hohles Dröhnen hallte ihr durch den Kopf, dann verlor sie das Bewusstsein. „Whitney! Whitney! Mein Gott ...“ Bill sprang vom Schreibtisch hoch und schrie ihren Namen in den Hörer. Aber über die Leitung kam kein Laut. Das elektrische Knistern, das kurz zuvor zu hören war, dröhnte in seinen Ohren wider. Übelkeit stieg in ihm hoch. Er hatte sie noch „Hallo, Copeland“ sagen hören und „Auf Wiederhören“. Dann“ das unheimliche Geräusch einer Betäubungspistole, danach Stille. Es war etwas passiert, das wusste er. „Verdammt.“ Hektisch schlug er das polizeiinterne Telefonverzeichnis auf und wählte die Nummer von Jake Fords Mobiltelefon. „Ford“, meldete sich Jake beim zweiten Klingeln. „Bill Taylor hier.“ „Hm, ja, ich möchte Ihnen danken...“ „Whitney ist in großen Schwierigkeiten. Ich glaube, Copeland hat sie erwischt.“ „Wo?“ fragte Jake. Seine Stimme verlor ihren unsicheren Klang und wurde scharf. „Sie hat von einem Einkaufszentrum nördlich von Oklahoma City aus angerufen und wollte zu Copelands Anwesen. Copelands Mutter hat platinblondes Haar gehabt. Whitney hat noch irgendetwas von Tanz gesagt.“ Bill bellte nahezu ins Telefon, als er den Rest erzählte. Jake fluchte. „Eine Betäubungspistole! Der Bastard!“ - 172 -
Bill zwang sich, einen klaren Kopf zu behalten. „Wo sind Sie?“ „Zwei Blocks von Ihrem Büro entfernt“, antwortete Jake. „Ich hole Sie in drei Minuten am Westeingang ab.“ „Einverstanden. Bill legte auf. „Myra, kommen Sie her, sofort!“ Seine Sekretärin hastete erschrocken herein. Nie zuvor hatte ihr Chef in dieser Weise nach ihr gerufen. „Holen Sie mir Key ans Telefon“, befahl Bill und meinte damit den Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft, den er angewiesen hatte, Copeland zu beschatten. „Er ist irgendwo da draußen unterwegs.“ Während Myra zurück an ihren Schreibtisch eilte, rief Bill Harry Quinlin an, den Mitarbeiter, der auf Jake angesetzt war. „Harry, sind Sie noch an Ford dran?“ „Jawohl. Er fährt gerade in Richtung Ihres Büros.“ „Warten Sie“, unterbrach Bill, als Myra wieder in der Tür erschien. „Sir, Key ist nicht aufzutreiben. Ich habe sein Büro angerufen. Die machen sich Sorgen, er hat sich seit ein paar Stunden nicht mehr gemeldet.“ Bill lief ein Schauer über den Rücken. Wenn Copeland dem Mann entwischt war, gab es keine Möglichkeit, herauszufinden, wo der Bastard steckte. Wo Whitney steckte. Bill wandte sich wieder Quinlin zu. „Harry Ford holt mich ab. Sobald ich im Wagen bin, kümmern Sie sich um Key. Finden Sie verdammt noch mal heraus, wo er sich rumtreibt: Er verfolgt Andrew Copeland. Rufen sie mich sofort an, wenn Sie was herausgefunden haben.“ Mühsam versuchte Whitney die Augen zu öffnen. Wie durch einen nebligen Schleier hindurch registrierte sie den harten Untergrund, auf dem sie lag, und die dunkle schräge Decke über ihr. Als sie den Kopf zu heben versuchte, stach ihr ein heftiger Schmerz durch Nacken und Schultern. Im Kopf, hinter ihren Augen pochte es. Sie wollte eine Hand heben, um - 173 -
sich die Stirn zu reiben, konnte sich aber nicht rühren. Nach und nach kam sie wieder zu Bewusstsein. Panik überfiel sie, als sie merkte, dass sie flach auf dem Rücken lag, Arme und Beine gespreizt. Hand- und Fußgelenke waren mit Lederriemen an ein stabiles Objekt gefesselt. Das Blut kreiste ihr im Kopf, als sie verzweifelt freizukommen versuchte. Die Lederriemen schnitten ihr ins Fleisch. Whitney schluckte, Übelkeit würgte sie. Da bemerkte sie einen hellen Reflex eine Perücke! Sie trug eine platinblonde Perücke! Schweiß brach aus all ihren Poren. Im gleichen Moment nahm sie die stickige Luft und den widerwärtigen Geruch von eingetrocknetem Blut wahr. Schluchzend zwang sie sich, genauer um sich zu schauen. Copeland hatte ihr einen schwarzen Minirock und ein knappes goldenes Top angezogen und sie auf einer Art hölzernem Podest festgebunden. Die Wand vor ihr bestand zur Gänze aus einem Spiegel. Die anderen beiden Wände in ihrem Blickfeld waren aus lackiertem Holz mit etwa in Hüfthöhe verankerten Messingstangen. Chrystal Copelands Tanzstudio. Ihr klopfte das Herz so heftig, dass sie kaum noch atmen konnte. Hierher brachte Andrew Copeland seine Opfer. Hier mordete er. Und nun hatte er auch sie in seinen Schlupfwinkel gebracht. Wie ein Opfer lag Whitney auf einer Art Altar. Mit fieberhafter Verzweiflung kämpfte sie gegen die ledernen Fesseln und schluchzte dabei wie ein verzweifeltes Kind. Hör auf! versuchte sie sich aus ihrer Panik zu reißen. Wenn sie überleben wollte, musste sie sich beruhigen und scharf nachdenken. Sie hatte mit Bill telefoniert, als Copeland sie überwältigte. Sie hatte die Verbindung nicht unterbrochen. Bill kannte ihren letzten Aufenthaltsort. Er würde dorthin kommen, um nach ihr zu suchen. Bill. Das Grauen, das sie gefangen hielt, ließ die Dinge - 174 -
deutlich hervortreten. Auf einmal war alles so klar. Sie wusste nun, dass sie ihn liebte. Warum ist mir das nicht gestern Nacht klar geworden, dachte sie verzweifelt. Sie hätte es ihm sagen können. Sie hätte es ihm gesagt. Jetzt sah sie ihn vielleicht nie wieder ... Heftig atmend fuhr Whitney fort, gegen die Lederriemen anzukämpfen. Doch vergebens. Schmerz brannte in ihren blutenden Handgelenken. Da nahm sie hinter sich plötzlich eine Bewegung wahr, hörte das Geräusch einer sich schließenden Tür. Erneut verfiel sie in Panik, als sich Schritte auf dem Holzfußboden näherten. Einige Sekunden darauf trat Copeland in ihr Blickfeld. Er hatte ein Messer in der Hand, das er mit solch lässiger Leichtigkeit hielt wie jemand, der gewohnt war, mit einer Klinge umzugehen. Seine dunklen Augen glitzerten, als er auf sie herablächelte. „Gut, dass du wach bist. Dann können wir ja anfangen. Bill nahm Whitneys Telefon vom Fahrersitz ihres Wagens. „Die Verbindung besteht noch“, bemerkte er und klappte den Apparat zu. Das würgende Gefühl in seinem Hals verstärkte sich. Verzweifelt hatte er gehofft, Whitney hier zu finden, hatte gehofft, dass alles nur ein Missverständnis gewesen sei. Aber sie war verschwunden. Ihr Wagen stand unverschlossen auf dem Parkplatz vor dem Einkaufszentrum, ihre Tasche und das Jackett lagen auf dem Beifahrersitz. „Vielleicht finden wir hier irgendeinen Hinweis“, sagte Jake, während er die Tasche vom Beifahrersitz nahm. Er zog ein gefaltetes Papier hervor und reichte es Bill. „Eine Straßenkarte“, stellte .Bill fest und breitete sie auf der Kühlerhaube aus. In einer Ecke der Karte war eine Notiz in Whitneys Handschrift. Gemeinsam versuchten sie sie zu entziffern. „Schauen Sie mal hier!“ rief Jake und legte Kopien von - 175 -
Zeitschriftenseiten auf die Karte. „Ein Artikel über Chrystal Copeland.“ Bill starrte auf ein schönes fein geschnittenes Gesicht, eingerahmt von platinblondem Haar. „Whitney erwähnte, dass Copelands Mutter platinblondes Haar hatte, dann sagte sie etwas wie ,Tanz`.“ „Studio“, ergänzte Jake, mit dem Finger war er den Artikel entlanggefahren. „Ein privates Tanzstudio. Der Alte hat es für diese Chrystal auf seiner Ranch eingerichtet.“ Bill bezähmte seine aufsteigende Angst, zwang seinen Verstand, sich zu konzentrieren. Nur so konnte er Whitney helfen. „Das müssen die Zufahrtswege zu Copelands Ranch sein“, kommentierte er, während er mit dem Finger einer Markierung auf der Karte folgte. Er tippte auf einen Punkt. „Irgendwo auf diesem Grundstück muss das Tanzstudio sein.“ Jake nickte grimmig. „Das private Schlachthaus eines Killers.“ „Wir wissen, dass er seine Opfer am Leben lässt, manchmal tagelang“, erklärte Bill, mehr, um sich selbst zu beruhigen. „Wenn wir mit Verstärkung anrücken, könnte Copeland in Panik geraten und bringt sie womöglich um.“ Wenn er das nicht schon längst getan hat. Bill tauschte einen grimmigen Blick mit Jake; sie dachten beide, was er nicht auszusprechen wagte. „Ich bin der gleichen Ansicht“, sagte Jake mit unsicherer Stimme. „Keine Kavallerie.“ In diesem Moment klingelte Bills Mobiltelefon. Er riss es aus der Tasche. Als der Anruf beendet war, sah er Jake an. „Ich hatte einen meiner Leute auf Copeland angesetzt. Die Polizei hat meinen Mann soeben mit durchschnittener Kehle gefunden.“ Jake presste die Lippen aufeinander. „Dieses Schwein ist eine Killermaschine.“ „Wir müssen zur Ranch“, drängte Bill. Er wollte nicht daran denken, dass es längst zu spät sein konnte. - 176 -
Whitney verbarg ihre Furcht, als sie Copelands dunklem kaltem Blick begegnete. „Jeder im Morddezernat weiß, dass Sie es sind, der all diese Frauen umgebracht hat“, sagte sie und versuchte ihre Stimme beherrscht klingen zu lassen. „Sie wissen es.“ „Tatsächlich?“ Copeland verzog den Mund zu einem hässlichen Grinsen. Genüsslich verfolgte er ihren Kampf gegen die ledernen Fesseln. Er war ebenso glatt und geschmeidig wie in der Nacht, als sie ihn festgenommen hatte. „Warum hat man dann deinen Partner der Morde beschuldigt?“ „Sie haben Jake in, eine Falle gelockt.“ Whitneys Handgelenke brannten wie Feuer; das Blut sickerte die Arme hinunter. „Jeder weiß ...“ „Dass du eine Polizistin mit einer etwas lebhaften Fantasie bist, die unhaltbare Verdächtigungen gegen mich vorbringt.“ Copeland fasste eine lange platinblonde Strähne und begann damit herumzuspielen. „Als ich dich neulich Nacht an jener Straßenecke stehen sah, hielt ich dich für eine Hure.“ Seine Augen verengten sich. „Und du bist auch eine. Letzte Nacht hast du mit dem Staatsanwalt verbracht, und siehe da, heute ist dein Partner auf Kaution entlassen worden.“ Whitney biss die Zähne aufeinander. Sie war unvorsichtig gewesen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Copeland ihr in der Nacht gefolgt war. Oder am nächsten Morgen. „Du hast dich für deinen Partner verkauft.“ Er beugte sich vor. „Du musst gut sein im Bett, Hure. Sehr gut.“ Mit liebevoller Langsamkeit fuhr er mit der Fingerkuppe die Klinge entlang. „Wieso Jake?“ Ihr verzweifelter Kampf hatte Whitneys Stimme in ein abgerissenes Keuchen verwandelt. „Wieso Jake?“ „Deine Schuld“, stellte Copeland fest und lächelte zynisch. „Du bist mir zu nah auf den Pelz gerückt. Ich musste dich ablenken, dir etwas anderes verschaffen, worüber du - 177 -
nachdenken konntest, statt hinter mir herzuschnüffeln.“ „Wie haben Sie das mit Jakes Freundin herausgefunden?“ fragte Whitney. Ihre Muskeln schrien förmlich vor Schmerz, aber sie warf sich immer wieder gegen die Fesseln. Sie konnte sich nur zur Wehr setzen, wenn sie freikam. Wie haben Sie von ihr erfahren?“ „So viele Fragen“, murmelte Copeland. „Da du diesen Ort nicht lebend verlassen wirst, sehe ich keinen Grund, deine Neugierde nicht zu ... Übrigens: Neulich hast du gesagt, ich hätte ein Problem, Frauen zu befriedigen. Du wirst bald herausfinden, dass ich keines habe. Im Gegenteil.“ Er lächelte teuflisch. Whitney schüttelte es vor Abscheu und Angst. „Sie widerliches Schwein.“ Er fasste sie unter dem Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. „Schon in der Nacht, in der du mich verhaftet hast, wusste ich, ich würde dich eines Tages hierher bringen.“ Sein Griff verstärkte sich, die manikürten Fingernägel gruben sich in ihre Haut. „Ich wollte alles über dich herausbekommen. Also fuhr ich nach meiner Freilassung gleich wieder zu eurem hübschen Parkplatz und bin dir gefolgt.“ ‘Spurs’, kam Whitney die plötzliche Erkenntnis. Sie und Jake waren ins „Spurs“ gegangen, weil Loretta dort auf ihn wartete. Copeland hatte Jake und Loretta dort zusammen gesehen. Copeland ließ den Blick über ihren Körper schweifen. „Du gehörst mir, Hure. Es liegt in meiner Macht, wann du stirbst und wie.“ Unter der Perücke lief Whitney der Schweiß den Nacken hinunter. „Sie haben einen gewaltigen Mutterkomplex, Sie Irrer. Jedes Mal, wenn Sie eine Frau ermorden, wollen Sie in Wirklichkeit Ihre Mutter dafür bestrafen, dass sie Sie verlassen hat. Aber ich bin nicht Ihre verdammte Mutter.“ Sein Blick verdunkelte sich gefährlich. Copeland schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Der Schlag warf Whitneys Kopf zur Seite. Vor ihren Augen zersplitterte das Licht. - 178 -
„Ich schneide dir die Zunge heraus, wenn du diese Hure noch einmal erwähnst“, schnaubte er und griff ihr an die Kehle. „Ich werde dich so langsam foltern, dass es Tage dauert, bis du stirbst. Tage. Danach schnappe ich mir deinen Partner. Man wird euch beide zusammen auffinden, tot. Es wird so aussehen, als hätte er dich umgebracht, bevor er sich selbst ins Jenseits beförderte.“ In Whitneys Wange pochte es. Sterne tanzten ihr vor den Augen, während sie unter seinem Griff keuchte. Ein letzter Adrenalinstoß schoss ihr durch die Adern; unter grausamen Schmerzen bäumte sie sich gegen die Fesseln. Da riss der Lederriemen um ihre rechte Hand. Im Bewusstsein, nur diese eine Chance zu haben, versteifte sie den Daumen und rammte ihn Copeland ins Auge. „Du ... Miststück!“ heulte er. Er bedeckte sein verletztes Auge mit der Hand und torkelte zurück. Blut sickerte ihm durch die Finger. Whitney riss an dem Riemen um ihre linke Hand. Aber die Lederfessel hielt, der Knoten wollte sich einfach nicht lösen. „Hure!“ Das eine Auge bedeckt, das andere vor Schmerz zusammengekniffen, schwankte Copeland wie ein wahnsinniger Dämon auf sie zu, wobei die Hand mit dem Messer hin und her schwang. Voller Angst warf sich Whitney zur Seite, um der Attacke zu entgehen. Die Klinge zischte herab und schlitzte ihr den Oberarm auf. Doch sie spürte keinen Schmerz. Bloß Überlebenswillen. Sie bekam Copelands Hand zu fassen. Auf der Stelle verdrehte sie seinen Daumen hart gegen das Handgelenk, bis der Knochen knackte. Copeland brüllte vor Schmerz; das Messer klirrte auf den Holzboden. „Du bist tot“, schrie er. Plötzlich ein ohrenbetäubendes Krachen und Splittern. Ein gellender Fluch. Von irgendwo sprang Bill hinter ihr hervor und stieß mit Copeland zusammen, wobei beide zu Boden gingen. Unter wilden Verrenkungen rollten sie aus Whitneys Blickfeld. - 179 -
In diesem Moment flog die Tür auf der anderen Seite des Studios nach innen. Jake stürmte herein, die Waffe im Anschlag. „Hilf Bill!“ rief Whitney. Sie erreichte das Messer und zerschnitt die Lederfessel an Hand und Füßen. Jake war in zwei Sätzen bei dem kämpfenden Knäuel, verstaute die Waffe in der Hintertasche seiner Jeans. Er riss Copeland am Genick hoch und nahm seinen Hals in den Würgegriff; Bill ließ die Faust gegen Copelands Kinn krachen und dann gleich noch einmal in seine Magengrube. „Sie sind ja schwer in Form, Taylor“, lobte Jake trocken, als Copelands Körper in seinem Griff erschlaffte. Bill hechtete zu Whitney und half ihr dabei aufzustehen. „Mein Gott, er hat dich verletzt. Was hat er mit dir gemacht? stieß er mit wildem Blick hervor. „Nein, er wollte es ... aber ...“ „Dein Arm ... du blutest ja! Verdammt, er hat dich mit dem Messer erwischt.“ Sie blickte benommen auf das Blut, den tiefen Schnitt. „Oh!“ Mit fliegenden Fingern riss sich Bill die Krawatte herunter und schlang sie als Druckverband um ihren Arm. Als er Whitney an sich zog, fiel ihr die Perücke vom Kopf. Ein Zittern durchlief sie, als er das Gesicht in ihrem Haar vergrub. „Ich dachte, wir würden zu spät kommen.“ Seine Stimme stockte. „Ich hatte solche Angst, ich dachte, er würde dich umbringen.“ „Es geht mir gut.“ Sie schmiegte das Gesicht an seinen Hals und spürte seinen rasenden Herzschlag. Am liebsten hätte sie sich einfach nur halten lassen, aber sie war schließlich Polizistin und hatte eine Aufgabe zu erfüllen. „Hier hat er gemordet.“ Über Bills Schulter sah sie in Jakes grimmiges Gesicht. „Er hat Loretta und die anderen ermordet. Ruf die Spurensicherung an, die sollen jeden verdammten Winkel hier auseinander nehmen.“ - 180 -
„Schon geschehen“, rief Jake durch den Raum, während er Copeland Handschellen anlegte. „Der Krankenwagen ist auch unterwegs“, fügte er hinzu und ließ das Telefon in seiner Hemdtasche verschwinden. „Ich brauche kei...“ Das Adrenalin in ihren Adern hatte sich abgebaut, der Schmerz durchzog Whitneys Arm und ließ ihr den Atem stocken. Ihr Magen flatterte. Die Beine gaben nach, der Raum begann sich zu drehen. Ihr Kopf fiel gegen Bills Schulter. Er fing sie auf und hob sie hoch. „Keine Diskussion. Du fährst mit dem Krankenwagen, und ich begleite dich.“ „Hört sich gut an“, gelang es ihr noch hervorzubringen, bevor sich ihr Blick verschleierte und sie bewusstlos wurde.
- 181 -
EPILOG Zwei Stunden später saß Whitney auf einem Untersuchungstisch in einem durch Vorhänge abgetrennten Raum der Notaufnahme des Krankenhauses. Sie hielt ihr Mobiltelefon in der Hand. Die frisch genähte Stichwunde pochte heftig unter den Bandagen. Die Hand- und Fußgelenke waren unter Mullbinden verschwunden. Ihr ganzer Körper schmerzte. Der schwarze Minirock und das goldene Top waren durch ein großes rosa Krankenhaushemd ausgetauscht worden. Hinter dem Trennvorhang hörte sie Telefonklingeln, Stimmengemurmel und das Tappen von Kreppsohlen auf dem Fliesenboden. Die wachsame Schwester, die eine Minute zuvor fortgegangen war, hatte das Mobiltelefon konfiszieren wollen, doch Whitney hatte sich erfolgreich dagegen zur Wehr gesetzt. Zum Glück, denn auf diese Weise erfuhr sie von ihren Kollegen vom Morddezernat, dass man hinter einer Wand des Tanzstudios auf eine versteckte Kamera gestoßen war. In dem kleinen Raum befanden sich auch die Kleidungsstücke von sämtlichen Mordopfern. Whitney ahnte, es würde eine ganze Weile dauern, bis sie die schrecklichen Erinnerungen überwunden haben würde. Andererseits war Jake jetzt entlastet und Copelands mörderische Karriere beendet. Eines aber war ihr nun endlich gewiss: Sie liebte Bill. Liebte ihn von ganzem Herzen. Whitney verharrte regungslos und ließ diese Erkenntnis in ihr Bewusstsein sickern. Es war schon eine verrückte Idee, sich ausgerechnet in einen Mann zu verlieben, der eine intensive Gefühlsbindung weder wünschte noch brauchte. Aber einerlei, es war passiert. Vielleicht würde er nie in der Lage sein, ihre Liebe zu erwidern und sich ihr ganz hinzugeben. Doch egal, dachte sie und schluckte krampfhaft. Sie liebte ihn, und wenn Bill Taylor - 182 -
ein Fehler war, würde sie mit den Folgen schon irgendwie fertig werden. Hinter ihr wurde der Vorhang aufgezogen. Whitney drehte sich mühsam um. Mit von Sorge gezeichneten Zügen kam Bill auf sie zu. „Wie fühlst du dich“ fragte er ruhig. Whitney schluckte, als sie die blutige Vorderseite seines Hemdes bemerkte. Die Brusttasche war abgerissen, und auf seiner Wange hatte sich eine rote Schwellung gebildet. Sie streckte die Hand nach ihm aus, damit er sich auf die Bettkante setze. „Das könnte ich dich auch fragen.“ „Ich habe zuerst gefragt.“ „Mir tut zwar alles weh, aber ich werd’s überleben. Danke, dass du rechtzeitig aufgetaucht bist.“ Er neigte den Kopf. „Eigentlich warst du bereits dabei, die Situation unter Kontrolle zu bekommen.“ „Kann schon sein.“ Beim Gedanken, wie nahe sie dem Tode gewesen, war, stiegen ihr Tränen in die Augen, doch sie drängte sie trotzig zurück und straffte den Rücken. „Ich habe gehört, einer von Copelands Anwälten hätte sich bereits an den Gouverneur gewandt“, meinte sie. Bill blickte auf das Mobiltelefon auf der anderen Seite des Bettes. „Allzu lange hält dich nichts am Boden, was?“ „Ich wollte nur wissen, was los ist.“ „Copelands Anwälte verbreiten nur heiße Luft. Sie kreischen bereits, Jake und ich seien widerrechtlich auf die Ranch und in das Tanzstudio eingedrungen.“ „So ähnlich werden sie wohl auch meine Anwesenheit dort erklären wollen“, fügte sie trocken hinzu. Bill hob die Schultern. „Es wird mir ein ganz besonderes Vergnügen sein, Fallbeispiele aus der Rechtsprechung zu zitieren, die jeden Schritt von Jake und mir voll. rechtfertigen.“ Er unterbrach sich, den Blick voll Anteilnahme, als er ihr wundes Gesicht musterte. „Whitney, bist du wirklich okay?“ - 183 -
Weil er so intensiv schaute, ließ sie ein theatralisches, Stöhnen vernehmen. „Mir ginge es besser, wenn du dem Arzt nicht gepetzt hättest, dass ich ein Magengeschwür habe. Jetzt besteht er darauf, einige Untersuchungen durchzuführen.“ „Gut“, kommentierte Bill und verzog offensichtlich vergnügt das Gesicht. „Das war ein ganz übler Trick, Taylor.“ „Überhaupt nicht. Ich mache mir eben Sorgen um dich.“ Er legte ihr seine Hand an die unverletzte Wange. Seine Finger bebten. „Ich hatte solche Angst um dich.“ Ihr Puls stockte. Sie griff nach seiner Hand und genoss die Kraft, die sie in seiner Berührung spürte. „Ich hatte auch Angst.“ „Ich liebe dich, Whitney.“ Sie blinzelte. Ihr Herz stand still. „Manchmal lassen sich Leute kurz nach dem Scheitern einer Beziehung zu schnell auf ein neues Verhältnis ein. Sie glauben, sie wären verliebt, in Wirklichkeit geht es nur um Sex ...“ „Eines wollen wir doch klarstellen: Ich habe Julia geliebt, und es war mir ernst mit ihr. Aber ich habe erkannt, dass ich mich nicht voll auf sie eingelassen hatte, weil ich niemals sicher sein konnte, was passieren würde, wenn ihr Exverlobter wieder auf der Bildfläche erschien. Und ich hatte Recht mit meiner Vorsicht, denn sie beendete unsere Beziehung und heiratete ihn.“ „Sie hat dich verletzt.“ „Ja, aber darüber bin ich hinweg. Ich meine es vollkommen ehrlich mit dir, Whitney, ich halte mit nichts zurück. Ich habe nie in meinem Leben eine Frau so begehrt wie dich.“ „Körperlich viell...“ „Auch körperlich, ja. Vor allem aber mit meinem Herzen. Du musst mir glauben, wenn ich dir versichere, dass ich dich in jeder Weise begehre, in der ein Mann eine Frau begehren kann.“ - 184 -
„Ich ... Wenn man verletzt wurde, glaubt man manchmal an Empfindungen, die...“ Er brachte sie zum Schweigen, indem er ihr einen Finger auf die Lippen legte. „Madam, Sie könnten mich glatt aus dem Gerichtssaal argumentieren“, stellte er fest und fuhr ihr mit dem Finger zärtlich über die Unterlippe. „Ich weiß, wie ich empfinde.“ „Ganz sicher?“ Behutsam streichelte er ihre Hand. „Als ich dich in diesem Studio sah, blutig und in Fesseln ...“ Er atmete tief. „Ich hätte für dich töten können, Whitney. Ich wäre für dich gestorben.“ Wieder stiegen ihr die Tränen hoch, und wütend unterdrückte sie sie aufs Neue. „Gott ...“ Er umfasste ihr Gesicht, damit sie ihn anschauen musste. „Ich bin nicht in den Nachwehen einer gescheiterten Beziehung. Ich liebe dich, und ich will dich heiraten. Finde dich damit ab.“ „Mich heiraten?“ „Ja.“ Er küsste sie sanft. „Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen.“ Sie fuhr zurück und sah ihn aus großen Augen an. „Ich ... ich ...“ „Wäre es denn so schlimm für dich, meine Frau zu werden?“ „Der Doktor, bei dem du mich verpfiffen hast, wird mir möglicherweise eine gesunde Ernährung ans Herz legen. Ein guter Koch wäre da sicher sehr von Nutzen.“ Lächelnd lehnte sich Bill gegen den Untersuchungstisch und legte ihr einen Arm um die Taille. „Ich bin einfach Spitze in der Küche.“ „Und wenn ich mal verklagt werde, wäre es doch ganz praktisch, einen guten Anwalt parat zu haben.“ „So ist es“, murmelte er und tupfte ihr kleine Küsse auf den Hals. „Ich bin auch noch in anderen Sachen Spitze.“ Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als er lustvoll an ihren - 185 -
Ohrläppchen knabberte. „Wirklich?“ Er nahm sie in die Arme und begann sie zu küssen, langsam, zärtlich, voller Liebe, bis ihr Körper ganz anschmiegsam wurde. „Also heiraten wir?“ flüsterte er. „Ja.“ „Kein Einspruch?“ „Kein Einspruch!“ Sie bedeckte sein Gesicht mit Küssen. „Ich liebe Sie, Herr Staatsanwalt. Ich beantrage lebenslang.“ - ENDE -
- 186 -